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HANDBUCH
DER
KLASSISCHEN
AETEKTÜMS-WISSENSCHAFT
in systematischer Darstellnng*
mit besonderer Rücksicht auf Geschichte und Methodik der einzelnen
Disziplinen.
In Verbindung mit Gymn.-Rektor Dr. Autenrieth (Nürnberg), Prof. Dr. Ad.
Bauer (Graz), Prof. Dr. Blass (Kiel), Prof. Dr. Brugmann (Leipzig), Prof.
Dr. Busolt (Kiel), Prof. Dr. v. Christ (München), Prof. Dr. Flasch (Erlangen),
Prof. Dr. Gleditsch (Berlin), Prof. Dr. Günther (München), Prof. Dr. Heer-
degen (Erlangen), Oberl. Dr. Hinriehs f (Berlin), Prof. Dr. Hommel (Mün-
chen), Prof. Dr. Hübner (Berlin), Prof. Dr. Jul. Jung (Prag), Dr. Knaack
(Stettin), Priv.-Doz. Dr. Krumbacher (München), Dr. Larfeld (Remscheid), Dr.
Lolling (Athen), Prof. Dr. Niese (Marburg), Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Nissen
(Bonn), Priv.-Doz. Dr. Öhmichen (München), Prof. Dr. Pöhlmann (Erlangen),
Prof. Dr. 0. Richter (Berlin), Prof. Dr. Schanz (Würzburg), Geh. Oberschulrat
Prof. Dr. Schiller (Giessen), Gymn.-Dir. Schmalz (Tauberbischofsheim), Ober-
lehrer Dr. F. Stengel (Berlin), Professor Dr. Stolz (Innsbruck), Prof. Dr.
Unger (Würzburg), Geheimrat Dr. v. Urlichs t (Würzburg), Prof. Dr. Moritz
Voigt (Leipzig), Gymn.-Dir. Dr. Volkmann (Jaüer), Dr. Weil (Berlin), Prof.
Dr. Windelband (Strassburg), Prof. Dr. Wissowa (Marburg)
herausgegeben von
Dr. Iwan von Müller,
ord. Prof. der klassischen Philologie in Erlangen.
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Achter Band.
Geschichte der römischen Litteratur
bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian.
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HONOHEN.
C. fl. BBCK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG (OSKAR BECK).
- 1890.
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GESCHICHTE
DER
ROMISCHEN LITTERATÜR
ii
Von
Martin Schanz,
ord. Professor an der UniTeraitit Würzburg.
Erster Teil:
Die römische Litteratnr in der Zeit der Republik.
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KÜNCHEN.
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBÜCHHANDLÜNÖ (OSKAR BECK).
1890.
HANDBUCH
DER
KLASSISCHEN
AETEETÜMS-WISSENSCHAPT
in systematischer Darstellung-
mit besonderer Rücksicht auf Geschichte und Methodik der einzelnen
Disziplinen.
In Verbindung mit Gymn.-Rektor Dr. Autenrieth (Nürnberg), Prof. Dr. Ad.
Bauer (Graz), Prof. Dr. Blass (Kiel), Prof. Dr. Brugmann (Leipzig), Prof.
Dr. Busolt (Kiel), Prof. Dr. v. Christ (München), Prof. Dr. Flasch (Erlangen),
Prof. Dr. Gleditsch (Berlin), Prof. Dr. Günther (München), Prof. Dr. Heer-
degen (Erlangen), Oberl. Dr. Hinriehs f (Berlin), Prof. Dr. Hommel (Mün-
chen), Prof. Dr. Hübner (Berlin), Prof. Dr. Jul. Jung (Prag), Dr. Knaaek
(Stettin), Priv.-Doz. Dr. Krumbacher (München), Dr. Larfeld (Remscheid), Dr.
Lolling (Athen), Prof. Dr. Niese (Marburg), Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Nissen
(Bonn), Priv.-Doz. Dr. Öhmichen (München), Prof. Dr. Pöhlmann (Erlangen),
Prof. Dr. 0. Richter (Berlin), Prof. Dr. Schanz (Würzburg), Geh. Oberschulrat
Prof. Dr. Schiller (Giessen), Gymn.-Dir. Schmalz (Tauberbischofsheim), Ober-
lehrer Dr. F. Stengel (Berlin), Professor Dr. Stolz (Innsbruck), Prof. Dr.
Unger (Würzburg), Geheimrat Dr. v. UrUchs f (Würzburg), Prof. Dr. Moritz
Voigt (Leipzig), Gymn.-Dir. Dr. Volkmann (Jaüer), Dr. Weil (Berlin), Prof.
Dr. Windelband (Strassburg), Prof. Dr. Wissowa (Marburg)
herausgegeben von
Dr. Iwan von Müller,
ord. Prof. der klassischen Philologie in Erlangen.
Achter Band.
Geschichte der römischen Litteratur
bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian.
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HONOHEN.
C. fl. BBCK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG (OSKAR BECK).
' 1890.
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GESCHICHTE
DER
RÖMISCHEN LITTERATÜR
Von
Martin Schanz,
ord. Professor an der Universität Wfirzbarg.
Erster Teil:
Die römische Litteratur in der Zeit der Republik.
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KÜNCHEN.
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG (OSKAR BECK).
1890.
AUo Bechte Torbehidteii.
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C. B. Beok'ache Bacfadruckeret lu Nördllngeo.
Vorrede.
Wie die Einleitung besagt, soll die Geschichte der römischen
Litteratur bis zum grossen Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian vor-
geführt werden. Wir geben, hiemit dei^ ersten Teil, der den Anfang
der Litteratur und ihre EntwicklTO^ in der republikanischen Zeit um-
fnsst und zwar, da eine in sich geschlossene Periode zur Darstellung
kommt, als einen für sich bestehenden und selbständigen. Die Fort-
setzung des Werks wird in kurzer Zeit erfolgen.
Es wird dem freundlichen Leser nicht unerwünscht sein, wenn
ich mich hier über die Art und Weise der Behandlung mit einigen
Worten ausspreche.
Vor allem war mein Bestreben darauf gerichtet, dem Stoff eine
möglichst übersichtliche Form zu geben; zu dem Zweck habe
ich innerhalb bestimmter chronologischer Abschnitte den generischen
Gesichtspunkt durchgeführt und alles sachlich Zusammengehörige ver-
einigt; weiterhin habe ich durch Inhaltsangaben, welche an die
Spitze der einzelnen Paragraphen treten, den Gang der Betrachtung
aufs schärfste markiert; endlich wurde durch Einführung des grossen
und des kleinen Drucks ein Mittel gewonnen, gewisse Partien vor-
zuschieben und andere dagegen in den Hintergrund zu rücken.
Die Knappheit, die schon durch die Einreihung meiner Arbeit
in ein grösseres Ganze geboten war, bildete den zweiten Gegen-
stand meiner Sorge. Ich glaubte dieselbe vornehmlich zu erreichen
durch Einschränkung der Litteraturangaben. Alle Abhandlungen kriti-
scher und sprachlicher Natur, welche unsere Wissenschaft in fast un-
VI Vorrede,
absehbarer Weise erzeugt, konnten, da sie mit der Litteraturgescliichte
wenig oder nichts zu thun haben, übergangen werden. Für die Kenntnis
solcher Schriften haben wir so vortreffliche bibliographische Hilfsmittel,
dass sich die Litteraturgeschichte mit einem ein für allemal ausge-
sprochenen Hinweis begnügen darf. Sie darf dies um so eher thun,
als auch die weitgehendsten Angaben in dieser Beziehung dennoch
nicht die Benützung bibliographischer Hilfsmittel für den, der sich
eingehender mit einem Schriftsteller beschäftigen will, entbehrlich
machen. Auch eine Geschichte der Ausgaben lag nicht in unserm
Plan ; wir führten in der Re^el nur die neusten Ausgaben, besonders
diejenigen an, welche die kritische Grundlage eines Schriftstellers fest-
setzen. Wer mehr erfahren will, hat sich an Engelmann-Preuss'
hibUotheca scriptorum classicorum und an die Vorreden grösserer Aus-
gaben zu wenden. Da in den kritischen Editionen auch über die
handschriftlichen Quellen mehr oder weniger ausführlich Rechenschaft
abgelegt wird, so durften wir uns hier ebenfalls auf die allerwesent-
lichsten Angaben beschränken. Schriften dagegen, welche sich auf
litterarische Fragen beziehen, mussten, wenn nicht veraltet oder un-
brauchbar, dem Leser zur Kenntnis gebracht werden; doch geschah
dies manchmal in der Weise, dass nur auf ein Hauptwerk, in dem
sich die ganze vorausgehende Litteratur angegeben findet, aufmerksam
gemacht wurde. Durch die Weglassung oder Beschränkung der Lit-
teraturangaben, welche sich bei genauerem Zusehen als drückender
Ballast der Litteraturgeschichte darstellen, haben wir mehr Kaum für
die schriftstellerischen Produkte selbst gewonnen. Über dieselben den
Leser nach verschiedenen Seiten hin zu instruieren, war unser vor-
nehmstes Ziel. Vor allem haben wir über die Lebensumstände des
Autors, soweit es notwendig, Aufschlüsse erteilt, dann durch knappe
Inhaltsangaben eine bestimmte Vorstellung von den Werken zu er-
wecken versucht, weiter kurze Charakteristiken angeschlossen, endlich
auch bei den wichtigem Schriftstellern die Wirkung ihrer Produkte
auf die Zeitgenossen und die späteren Epochen mit einigen Strichen
gezeichnet. Mit Vorliebe flochten wir in unserer Darstellung Stellen
aus den Schriftwerken oder den Fragmenten ein; solche sind ja oft
mehr geeignet als die längste Auseinandersetzung, zu erreichen, was
jeder Litterarhistoriker erreichen will, dass nämlich der Name aufhört,
blosser Name zu sein und zu einem lebensvollen Bilde wird. Was
Vorrede. VII
die Beweismittel und Belege anlangt, so mussten alle, welche zur Er-
kenntnis des litterarisclien Thatbestands notwendig sind, zur Vorlage
kommen. Dem Leser soll in unserm Buch kein Stückwerk geboten
werden, es muss ihm die Möglichkeit gewahrt bleiben, alle Behaup-
tungen an der Hand der Belege zu kontrollieren ; er hat ein Anrecht
auf eine, wenn auch kurz gefasste, doch für die erste Orientierung
völlig ausreichende Litteraturgeschichte. In Bezug auf die Mitteilung
der Beweise und Belege haben wir einen doppelten Weg eingeschlagen,
die minder wichtigen teilten wir in einfachen Zahlencitaten meist
j^leich im Text mit, die wichtigeren dagegen ausgeschrieben in den
klein gedruckten Partien.
Dies wäre es, was ich über die äussere Einrichtung des Buchs
zu sagen hätte. So sehr ich nun überzeugt bin, dass der äussere
Rahmen für die Erreichung des gesteckten Ziels nicht belanglos ist,
so hängt doch der Erfolg der Arbeit wesentlich von dem dargebotenen
Inhalt ab. Darüber muss nun die Entscheidung kompetenter Beur-
teiler abgewartet werden. Eines darf ich aber vielleicht hervorheben,
dass ich es an Sorgfalt nicht fehlen liess. Die Zeugnisse wurden
aufs gewissenhafteste geprüft, die sekundäre Litteratur, soweit sie mir
zugänglich war, durchgearbeitet, auch den litterar-historischen Werken
die gebührende Beachtung geschenkt; doch der Hauptnachdruck wurde,
um ein klares, frisches Bild zu erhalten, auf die fort und fort
wiederholte Lektüre der Schriften und Fragmente der Autoren gelegt.
So möge denn nach diesen Worten das Buch in die Welt hinaus-
treten und freundliche Aufnahme finden! Gerade der Litterarhistoriker,
der des Beizes, den die Einzelforschung gewährt, fast ganz entbehren
muss, der sein Hauptaugenmerk stets auf die Abwehr des Verfehlten
und Verkehrten zu richten hat, der den Druck der ungeheuer an-
schwellenden sekundären Litteratur auszuhalten hat, bedarf zu seiner
Aufmunterung der gütigen Nachsicht und der freundlichen Belehrung
von Seiten der Fachgenossen.
Würzburg im Monat Mai 1890.
Prof. Dr. Martin Schanz.
i
A.
InhaltsYerzeiclmis zum Ersten Teil.
BlnleltUllg. Seite
1. Ziel 1
2. Umfang und Gliederung 1
3. Methode 2
4. Entwicklung der römischen Litteraturgeschichte 3
Erste Periode:
Blemeiile der nationalen Lllterainr.
1. Volk und Sprache.
5. Verhältnis des römischen Volks zur Litteratur 9
6. Die Stellung der lateinischen Sprache; ihre Entwicklung . 10
2. Poesie.
7. Das nationale Versmass 11
8. Die heiligen Lieder 12
9. Die Fescenninen 13
10. Die Totenklagen und die Ahnenlieder 14
11. Weissagungen und Sprüche 15
3. Prosaaufzeichnungen.
12. Die Schrift 16
13. Die Amtsbücher 17
14. Die amtliche Chronik 18
15. Die Xn Tafeb 20
16. Jus Papirianum 21
17. Jus Flavianum ■ . 22
18. Verträge und Gesetze 22
19. Die Leichenrede und das Elogium 23
20. Der erste römische Schriftsteller 24
21. RückbHck 25
Zweite Periode:
Die römische Knnsllltterainr.
A. Die Litteratnr Tom zweiten punischen Krieg bis xain Aasgang des
Bandesgenossenkriegs (240--88).
22. Der Hellenismus in der römischen Litteratur 28
a) Die Poesie.
1. L. Livius Andronicus.
23. Die lateinische Odyssee 28
24. Das griechische Drama in Rom 28
25. Die römische Dicht«rzunft ' . . 29
InhaltsTerzeiohnis Emn Enten Teil. IX
2. Cn. Naevius. Seite
26. Naevius* Komödien und Satiren 30
27. Das historische Schauspiel 32
28. Das historische Epos 32
29. Naevius' Ende 33
3. T. Maccius Plautus.
30. Leben des Plautus 33
31. Sichtung des plautinischen Corpus durch Varro 34
32. Die Sto£fe in den plautinischen Komödien 35
Amphltnio 8. 86; Aaiiutfi» 8. 85; Aulalari» 8. 96: Gaptivi 8. 36; CurouUo 8. 37; GMina
8. 87 ; GisteUsHa 8. 87 ; SpicUcoa R. 88 ; BMCbides 8. 88 ; MostellarU 8. 39; Menaeohml 8. 89;
Miles &, 40; Mercator 8. 41; Fieudolns 8. 41; Poentilns 8. 42; Pena 8. 48: Rndens 8. 43;
Stictans 8. 44; Trioommtis 8. 44; Truoulentns 8. 45; VidaUria 8. 46.
33. Die plautinischen Prologe 46
34. Charakteristik des Plautus 47
35. Fortleben des Plautus 50
4. Q. Ennins.
36. Das Leben des Ennius 53
37. Ennius' dramatische Dichtungen 54
38. Das Ennianische Epos «die Jahrbücher* 55
39. Ennius' übrige Gedichte 57
5. M. Pacuvius und Statins Caecilius.
40. Die Schule des Ennius 59
6. P. Terentius und andere Palliatendichter.
41. Leben des P. Terentius Afer 61
42. Die Chronologie der Terenzianischen Komödien 62
43. Die Stoffe der Terenzianischen Komödien 63
Andria B, 68; Heeyra & 64; Heantontimoromeiios 8. 65; Eanuobns 8. 66; Phormlo 8. 67;
Addpboe 8. 68.
44. Charakteristik des Terentius 69
45. Fortleben des Terentius 70
46. Die übrigen Palliatendichter 72
47. Rückblick. Charakteristik ,der PalliaU 73
7. L. Accius.
48. Der Höhepunkt der Tragödie 76
49. Accius' Parerga 77
50. Accius' Schriftreformen 78
8. C. Titius und C. Julius Caesar Strabo.
51. Symptome des Niedergangs der Tragödie ....... 79
52. Rückblick. Charakteristik der röm. Tragödie 80
9. Titinius, T. Quinctiu« Atta, L. Afranius.
53. Das lateinische Originallustspiel (fabula togaia) 82
54. Das Theaterwesen 85
10. C. Lucilius.
55. Die Buchsatura 88
56. Das Leben des C. Lucilius 90
57. Das Corpus der Satiren des Lucilius 91
58. Inhalt einzelner Bücher der Satiren 91
59. Charakteristik des Lucilius . . , 92
11. Die übrigen Dichter.
60. Dramatisches 94
61. Episches (Hostius, A. Purins) 95
62. Didaktisches 96
63. Die epigrammatische Dichtung 97
X InhaltsverseioliniB snm Ersten Teil.
b) Die Prosa.
a) Die Historiker.
1. Q. Fabius Pictor and andere Annalisten. ^^^
64. Römische Annalistik in griech. Sprache 98
Q. FabiuB Piotor 8. 96; L. Oinclus Alimentns 8. 99; P. Coroelins Scipio 8. 99; A. PoBtumiaa
Albinm 8. 99; C. AciUaa 8. 100.
2. M. Porcius Gato.
65. Reaktion gegen den fortschreitenden Hellenismus 100
66. Catos Unterweisungen — die erste lateinische Encyklopädie . . . 102
67. Catos fachwissenschaftliche Spezialschriften 103
68. Catos Ur- und Zeitgeschichten 104
69. Catos Reden und Briefe 105
70. Fortleben Catos • 106
3. Die lateinischen Annalisten.
71. Die allgemeinen Stadtchroniken 106
L. OmbIob HemiD» 8. 106; L. GUpnrnius Plso 8. 107; 0 8emproiila8 TudiUnus 8. 107;
Cn. GelHus a 107; Yennonius 8. 107; 0. Fanniu« Stnbo 8. 107.
4. L. Coelius Antipater.
71*. Die historische Monographie 108
5. Sempronius Asellio.
72. Die Zeitgeschichte ... 109
6. M. Aemilius Scaurus, Q. Lutatius Catulus, P. Rutilius Rufus.
73. Die Autobiographien und die Denkschriften 110
ß) Die Redner.
74. Die Beredsamkeit bis C. Gracchus 111
75. Die Beredsamkeit von C. Gracchus bis M. Antonius und L. Crassus . 114
y) Die Fachgelehrten.
1. Die Philologen (L. Aelius Stilo Praeconinus)
76. Die Entstehung der römischen Philologie 118
77. Die grammatische Streitfrage: Analogie oder Anomalie 119
2. Die Juristen.
78. Die erste umfassende Bearbeitung des Rechts 120
79. Regularjurisprudenz 121
80. Systematisches Recht 122
3. Die landwirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen
Schriftsteller.
81. Das Werk des Karthagers Mago 122
82. Die einheimischen Schriftsteller 123
83. Rückblick 123
B. Tom Ausgang des Bandcsgenossenkriegs bis «um Ende der Republik
(87—80 T. Chr.).
84. Die Latinisierung Italiens 126
a) Die Poesie.
1. L. Pomponius und Novius.
85. Die Atellana (die oskische Posse) 127
2. Decimus Laberius und Publilius Syrus.
86. Der Mimus oder das Lebensbild 129
87. Charakteristik des Mimus 130
88. Decimus Laberius 131
89. Die Sprüche des Publilius Syrus 132
3. Cn. Matius, Laevius, Sueius.
90. Mimiamben 134
Inhaltsverseichnis sam Ersten TeiL XI
Seite
91. Erotopaegnien (Liebesscherze) , . 134
92. Das erste römische Idyll 135
4. T. Lucretius Carus.
93. Biographisches 135
94. Lucretius* Gedicht über das Wesen alles Seins (de verum natura) 137
95. Würdigung des Gedichts 139
5. Die jungrömische Dichterschule.
96. Charakter der neuen Richtung 141
a) Valerius Gato und G. Licinius Macer Galvus.
97. Die Führer der neuen Richtung 142
98. Valerius Gates Dichtungen 143
99. Die Dirae und die L^dia ... 143
100. G. Licinius Galvus' Dichtungen 145
/9) M. Furios Bibaculus.
101. Des Furius Spottpoesie 146
y) Valerius Gatullus.
102. Gatulls Leben . . - 146
103. Die Sammlung der catnUischen Gedichte 148
104. Gatulls grössere Gedichte 149
105. Gatulls kleine Gedichte 151
106. Fortleben GatuUs 152
(f) G. Helvius Ginna und die übrigen Dichter der Schule.
107. Ginnas Smyma und Propempticon 153
108. Die übrigen Dichter des Kreises 154
0 Menmüiu a 154; Ticidat 8. 154; Q. CorDiflciiu S. 154; Cornelius Ncpoe 8. 155.
6. P. Terentius Varro.
109. Verbindung der nationalen und alezandrinischen Richtung . . 155
7. Die übrigen Dichter.
110. Annalen und Lehrgedichte 156
111. Satiren 156
b) Die Prosa.
«) Die Historiker,
. 1. Q. Glaudius Quadrigarius, Valerius Antias, Licinius Macer,
Q. Aelius Tubero und andere.
112. Die allgemeinen Stadtchroniken 157
Q. OUudftu QuadrigariuB 8. 157. Valerius Antias 8. 158. C. Lioliiins Hacer 8. 159.
Q. Aelius Tubero 8. 159. Soribonius Libo. FrocUins 8. 100.
2. Gornelius Sisenna und andere.
311. Die Zeitgeschichte 160
3. L. Gornelius Sulla.
114. Die Autobiographien 162
4. Voltacilius Pitholaus.
115. Die Biographie 162
5. T. Pomponius Atticus.
116. Die Zeittafel (annalis) des Atticus 162
6. G. Julius Gaesar.
117. Biographisches 164
118. Gaesars Memoiren (commentarii) 165
119. Gharakteristik der Memoiren 166
120. Nicht erhaltene Schriften Gaesars 167
7. Hirtiüs und andere Fortsetzer Gaesars.
121. Die Supplemente zu Gaesars Gommentarii 169
122. Die Autorschaft der Supplemente 170
Xn Inhaltsverseichnis zum Ersten Teil.
8. Cornelias Nepos. Seite
123. Sein Leben 174
124. Die Feldherrnbiographien 175
125. Die Struktur des biographischen Werks des Nepos 176
126. Die verlorenen Schriften 177
127. Charakteristik des Cornelius 178
9. C. Sallustius Crispus.
128. Sein Leben . 179
129. Die Monographie über die catilinarische Verschwörung (beUum CcUüinae) 180
130. Der jugurÜiinische Krieg (de hello Jugurthino) 182
131. Sallusts Historiae 182
132. Charakteristik des Sallust 184
133. Fortleben des Sallust 185
134. Pseudosallustiana 187
135. Die römische Stadtzeitung 188
ß) Die Redner.
1. Q. Hortensius Hortulus.
136. Der asianische Barockstil 189
137. Der asianische Barockstil in B^m 190
2. Die Attiker.
138. Reaktion. Die rhodische und die attische Beredsamkeit 191
139. AnhAnger der attischen Richtung 192
M. Calldina 8. 192; G. Lidnius Calvus 8. 192; M. Junio« Bratna 8. 198; Q. Ctorniflolos
8. 193; 0. SoriboniuA Ourio nnd M. OmUhs RnfOs 8. 194.
3. M. Tullius Cicero.
140. Biographisches 194
a) Ciceros Reden.
141. Die erste Periode der ciceronischen Beredsamkeit (81 — 66) . 196
p. Qolnotlo 8. 196; p. Boaclo Am. 8. 197; p. Boedo oomoedo 8. 198; p. Talllo 8. 199.
Die Im Procen g. Yerres gehaltenen 7 Beden 8. 200; p. Fonteio 8. 202; p. Ohedna 8. 202.
142. Die zweite Periode der ciceronischen Beredsamkeit (66 — 59) . . 203
Do imperio Cn. Pompei 8. 203; p. Glaentio 8. 204; Aber das Ackergeeetc 8. 205; p. Ba-
blrio perduelUonls reo 8. 206; Catilln. Beden 8. 207; p. Horena 8. 209; p. Solla 8. 210;
p. Aichia a 211; p. Flaooo 8. 211.
143. Dritte Periode der ciceronischen Beredsamkeit (57 — 52) . . . . 212
Die Beden : poet reditnm Im Senat 8. 212, Tor dem Volk 8. 218, de domo 8. 218, de barn-
■ptonm zeaponso 8. 218, p. Seetlo 8. 214, in YaUnlum 8. 215, p. Caelio a 215, de proTincüe
coneolaribna 8. 216, p. Balbo 8. 217, in Pfaonem 8. 217, p. Planclo 8. 218, p. Scauro 8. 218.
p. C. Babirio Poetmno 8. 219« p. Milone 8. 220.
144. Die vierte Periode der ciceronischen Beredsamkeit (46 — 43) . . . 221
p. Marcello 8. 221; p. Ligarlo a 222; p. Delotaro 8. 228; die 14 pbllfpp. Beden 8. 223.
145. Verlorene Reden 226
146. Kommentare zu den ciceronischen Reden 228
147. Charakteristik der ciceronischen Beredsamkeit 229
/9) Ciceros rhetorische Schriften.
148. Rhetorica 231
149. De oratore 232
150. Brutus de claris oratoribus 233
151. Orator ad M. Brutum 234
152. De optimo genere oratorum 235
153. De partitione oratoria (PartUiones oratariae) 236
154. Ad C. Trebatium Topica 236
y) Ciceros Briefe.
155. Die erhaltenen Briefsammlungen 238
156. Entstehung der Briefsammlungen 240
157. Charakteristik 241
Ocflchichte der Oberliefening der Briefe 8. 242.
6) Ciceros philosophische Schriften.
158. De republica 1. VI 243
159. De legibus 1. UI 245
160. Paradoxa Stoicorum ad M. Brutum 246
161. De finibus bonorum et malorum 1. V 247
InhaltsverseicliiiiB snai Eroten Teil. XIII
Seite
162. Academica 248
163. Tnscnlanarum disputationum 1. V 250
164. De deomm natura I. III 251
165. Cato maior de senectute 253
166. De divinatione 255
167. De fato 256
168. Timaeus 257
169. LaeliuB de amicitia 258
170. De officiis 1. III 259
171. Verlorene phüosophische Schriften 260
ConaolaUo 8. 260; Hortendna S. 261; de glorto 8. 262 ; de TirtaUbiu 8. 262; de auguriUi
8. 262; de iure dvlU 8. 262; die Übenetzungen des Xenophonttachen Oeoonomicns und
des plAt. ProtagorM 8. 26.^.
172. Charakteristik der philosophischen Schriftstellerei Giceros .... 263
e) Die historischen und geographischen Schriften Giceros.
173. Die Memoiren Giceros 265
174. Geographisches 266
b) Giceros Gedichte.
175. Giceros politische Gedichte 266
176. Giceros übrige Gedichte und Obersetzungen 267
177. Rückblick auf die ciceronische Schriftstellerei 268
178. Fortleben Giceros 269
M. TolUns Uro; TironiMbe Noten 8. 272.
4. Quintus Tullius Cicero.
179. Das Cammentariolum petUionis 273
180. Die verlorenen Schriften des Q. Cicero 274
y) Die Fachgelehrten.
1. Die Polyhistoren.
a) P. Nigidins Figulus.
181. Abstruse Gelehrsamkeit 274
ß) M. Terentius Yarro.
182. Das Leben Yairos 276
183. Der Katalog der varronischen Schriften 276
184. Varros Saturae Menippeae (1. GL.) 277
185. Philosophisch-historische Abhandlungen (Logistoricon /. LXXVI) 279
186. Vereinigung von Wort und Bild (Imagines) 280
187. Römische Altertumskunde (antiquitatum rerum hum, et divin. L XLI) . 281
188. Die erste Encyclopftdie der artes liberales (DiscipUnarum L IX) . 283
189. Varros juristisches Werk (de iure civüi l XV) 283
190. Miscellanea (Epiatclieae quaeetiones) 284
191. Varros Geographie (de ora maritima) 284
192. Die erhaltenen Bücher Varros de lingua latina 285
193. Die erhaltene Schrift Varros über die LandwirUichaft (rerum rusticarum L III) 287
2. Die Philologen.
194. Trennung des grammatischen und rhetorischen Unterrichts .... 288
195. Lehrer der Grammatik und Rhetorik 289
AnreUne Opiliiu 8. 289; Antonius Gnlphoa 289; M. PompUlus Audrouicua 8. 289; L. Or-
biUas PupiUus 8. 289; li. Ateim PnetexUtns 8. 290; SUberlus Eros 8. 290; Oartius NicU
8. 290; Epldins 8. 290; Sextos Clodlus 8. 291.
196. Andere Philologen 291
8«ntrm 8. 291 ; Q. Cosoonius 8. 291 ; Ser. Olodios 8. 892.
197. Auetor ad Herennium (das voReüglichste Lehrbuch der römischen Rhetorik) . 292
3. Die Juristen.
198. Die Schule des Servius Sulpicius Rufus 296
199. RechtsdenkmAler 297
4. Die Schriftsteller des geistlichen Rechts.
200. Die disciplina auguralis 298
201. Die disciplina Etrusca 299
Ttoqoltius PriscoB 8. 399; A. Osedna 8. SOO.
XIV ZeittofeL
5. Die Schriftsteller der realen Disziplinen. ScUg
202. Landwirtschaft 301
203. Hauswirtschaft 301
204. Naturkunde 302
SUttufl Sebonii 8. 302; L. Maaliiifl 8. 303 ; L. TaruUuii FlrmanTis 8. 808.
205. Rückblick 303
B.
Zeittafel.
508 erster Handelsvertrag der Römer und Karthager (nach Polybius).
498 Bundesvertrag des Sp. Cassius mit den Latinem.
456 Lex Icilia de Äventino puhlicando,
451—450 Gesetzgebung der XII Tafehi.
444 Bundesvertrag mit Ardea.
428 Weihung des linnenen Panzers des Yejenterkönigs Tolumnius.
887/6 Brand des Kapitel.
864 etrurische Schauspieler treten an den ludi Bomani auf.
848 erster Handelsvertrag der Römer und Karthager (nach Diodor).
c. 804 Veröffentlichung des ganzen Kalenders, einschliesslich der Gerichtstage, der Prozeas-
formulare durch Flavius.
296 Appius Claudius Caecus Ifisst im Tempel der Bellona seine Ahnenbilder mit In-
schriften aufstellen.
280 Rede des Appius Claudius Caecus gegen den Frieden mit Pyrrhus. Der erste Rechts-
lehrer Ti. Coruncanius Cons.
272 Andronicus kommt nach Rom.
264 — 241 der erste punische Krieg, den der Dichter Naevius mitmacht und später besingt,
c. 251 Plautus' Geburt.
249 Seit diesem Jahr werden die Prodigien in der amtlichen Chronik ausführlicher ver-
zeichnet.
240 An den ludi Bomani fuhrt Livins Andronicus eine griechische Tragödie und Komödie
in Übersetzung auf.
239—169 Q. Ennius.
235 Naevius beginnt seine dramatische Thätigkeit.
234—149 M. Porcius Cato.
221 Die Leichenrede des Q. Caecilius Metellus auf seinen Vater.
220 Geburt des M. Pacuviua, Zeitgenossen des Statins Caecilius. Wahrscheinliche Ein-
führung der ludi plehei,
216 Der Historiker Q. Fabius Pictor wird nach Delphi geschickt.
218 Die einlaufenden Weissagungen werden nach Senatsbeschluss gesammelt. Der vates
Marcius,
212 Errichtung der ludi ApoUinares,
210 Der Historiker L. Cincius Alimentus Pr&tor.
207 Bittgesang des Livius Andronicus. Dankeslied. Gründung der römischen Dichterzunft.
204 Ennius kommt durch M. Porcius Cato nach Rom.
198 Sex. Aelius Paetus Catus, der Verfasser der Tripertita Cons.
189 Ennius begleitet den M. Fulvius Nobilior auf semem Zug nach Ätolien.
184 Tod des Piautus. M. Porcius Cato Censor.
180—103 C. Lucilius.
174 Die Errichtung einer steinernen Bühne.
173 Die Epikureer Alkaeos und Philiskos werden aus Rom ausgewiesen.
170 Geburt des Dichters L. Accius.
168 C. Sulpicius Gallus sagt die Mondfinsternis vom 21. Juni voraus.
167 Rede des L. Aemilius Paulus Macedonicus über seine Kriegsl^aten.
167 — 150 die achftischen Geiseln in Rom, darunter Polybius.
166 Terentius' erstes Stück, die Andria aufgeführt.
Zeittafel. XV
c. 165 Der pergamenische Grammatiker Krates kommt nach Rom. Entstehung der römi-
schen Philologie.
164 Rede des Ti. Sempronius Gracchus in griechischer Sprache in Rhodos gehalten.
161 Ausweisung der griechischen Rhetoren und Philosophen. Rede des Dichters C. Titius
für das Luxusgesetz.
[59 Tod des Terentius.
[55 Die athenischen Gesandten Critolaus, CameadeSi Diogenes in Rom.
[54 — 121 C. Gracchus, der grösste Redner Roms (G. Papirius Carho).
[52 Tod des Urhebers der regula Cataniana, M. Porcius Cato, Sohnes des Gato Gensorius.
151 Der Historiker A. Postnmius Albinus Gons.
[50 Trebius Niger begleitet den Prokonsul L. Lucullus nach Baetica.
[49 Die erste quaestio perpetna auf Grund der lex Calpumia des Historikers L. Gal-
pumins Piso. Der Jurist M'. Manilius Gons., sein Zeitgenosse der Jurist M. Junius
Brutus.
145 Mummius lässt ausser der Bfihne fttr die Schauspiele einen Zuschauerraum mit
Sitzplätzen errichten (Holzbau).
[44 Der Redner Ser. Sulpicius Galba Gons.
[43 — 87 Der Redner M. Antonius.
142 G. Acilius schreibt eine römische Geschichte in griechischer Sprache.
[40 — 91 Der Redner L. Licinius Grassus.
[38 — 78 L. Gomelius Sulla (Eriminalgesetzgebung, Memoiren). Sein litterarischer Ge-
hilfe Epicadus. Auetor ad Herennium.
[37 Der Redner M. Aemilius Lepidus Porcina Gons.
[34 Der Historiker Semoronius Asellio Milit&rtribun.
[33 Rede des jüngeren Scipio Africanus gegen die lex iudiciaria des Ti. Gracchus. Der
Jurist P. Mucius Scaevola Gons.
Kreis dM Sclplo nnd LaellDs. Q. Valerlufi SnraniiP, Poreius Liclnim. L. Afranin«.
[31 berQhmte Rede des Q. Gaecihus Metellus Macedonicus über die Volksvermehrnng.
[29 Der Historiker G. Sempronius Tuditanus Gons. Um diese Zeit besingt Hostius den
istrischen Krieg.
[22 Der Historiker G. Fannius Strabo Gons.
15 Die Monographie des L. Goelius Antipater Über den zweiten punischen Krieg.
[21 Der Redner G. Scribonius Gurio Prfttor.
16 — 27 M. Terentius Yarro. Zeitgenosse der Dichter Laevius, jüngerer Zeitgenosse der
Gelehrte Santra.
15 Gensorische Massregel gegen die ars ludicra. Der MemoirenschrifUrteller M. Aemilius
Scaurus Gons.
14 — 50 Q. Hortensius Hortalus.
[09 — 32 T. Pomponius Atticus. Zeitgenosse Gomelius Nepos.
[06 — 43 M. Tullius Gicero. Gleichzeitig die Grammatiker Gurtius Nicia, Ser. Clodius, der
Astrolog L. Tarutius Firmanus.
[05 die Gladiatorenspiele werden zur staatlichen Feier erhoben. Der Memoirenschrift-
steller P. Rutilius Rufns Gons.
[05 — 43 der Mimendichter D. Laberius.
[05 — 43 der Jurist Ser. Sulpicius Rufus. Seine Schüler A. Gfilius und P. Alfenus Varus.
103 Tod des Palliatendichters Turpilius.
102—43 Q. Tullius Gicero.
[00 L. Aelius Stilo begleitet den Q. Metellus Nnmidicus ins Exil.
100—44 G. Julius Gaesar. Sein Lehrer M. Antonius Gnipho. In Beziehungen zu ihm
standen der Jurist G. Trebatius Testa der Schriftsteller über Hauswirtschaft und G
Matius.
99 die künstlerische Dekoration im Theater durch Glaudius Pulcher eingeführt.
97—53 T. Lucretius Garus.
95 der Jurist Q. Mucius Scaevola Gons.
92 Massregelung der lateinischen Rhetoren durch L. Licinius Grassus.
c. 91 Einführung der Masken.
c. 89 Blüte des Atellanendichters L. Pomponius (Novius).
c. 88 die erste lateinische Rhetorschule des L. Plotius Gallus (Sevius Nicanor Gründer
der ersten lat. grammatische Schule).
88 Gassins Dionysius widmet seine griechische Obersetzung des Garthagers Mago dem
Prfttor Sextiuus.
87 Tod des Tragödiendichters und Redners G. Julius Gaesar Strabo.
c. 86 — 34 G. Sallustius Grispus.
c. 84—54 G, Yalerius GatulXus.
83—30 Triumvir M. Antonius (die Rhetoren Epidius, Sextus Glodius).
XVI Zeittafel. - - Beriohtigimgen.
83 Brand des Gapitol. Untergang der sibyllinischen Bücher.
82 Geburt des P. Terentios Yarro Atacinus.
82 — 47 der Redner und Dichter C. Licinius Calvus. Zeitgenosse des Grammatikers an
Dichters Valerius Cato und des Dichters M. Furius Bibaculus.
81 L. Voltacüius Pitholaus eröffiiet in Rom eine lateinische Rhetorschule.
78 der Historiker L. Cornelius Sisenna Pr&tor.
77 Tod des Toeatendiohters T. Quinctius Atta.
74 Sueius (IdyUendichter) Ädil.
73 der Historiker C. Licinius Macer Volkstribun.
72 der griechische Dichter Parthenius kommt nach Rom.
67 Tod des Historikers L. Cornelius Sisenna, des Zeitgenossen der Historiker Q. Clai
dius Quadrigarius und Valerius Antias.
63 der Lehrer L. Orbilius Pupillus konmit nach Rom.
59 der landwirtschaftliche Schriftsteller Cn. Tremellius Scrofa Vigintivir mit Varr<
Organisation der römischen Stadtaseitung durch Caesar. Au&eichnung und Publ
kation der Senatsverhandlungen.
- 57 — 56 der Prfttor C. Menmiius, Qatijll, C. Helvius Cinna in Bith3mien.
55 Pompeius errichtet ein steinernes Tlieater.
54 der Auguralschrifteteller Appius Claudius Pulcher, Gönner des Philologen L. Ateiv
Praeteztatus Cons. M. Turnus Tiro von Cicero freigelassen.
52 der Redner M. Caelius Rufus Volkstribun.
48 der Jurist und Historiker Q. Aelius Tubero kämpft in der Schlacht von Pharsalu)
47 Tod des Redners M. Calidius.
46 A. Caecinas Querelae.
45 Wettstreit der beiden Mimendichter D. Laberius und Publilius Syrus. Tod des N
gidius Figulus.
44 Rede des M. Brutus auf dem Eapitol. (Sein Lehrer Staberius Eros.)
43 Tod des A. Hirtius, Fortseizeers Caesars.
41 Tod des Dichters Q. Comificius.
Berichtisrungen.
p. 79 Anm. Col. 2 Z. 3 von unten lies , Antonius" für «Antouins*.
p. 104 Z. 14 von unten lies ,Tode (149)* für „Tode*.
p. 108 Anm. besteht Inkonsequenz bezüglich der Schreibung des Kompendiums F.
p. 108 ist durch ein Versehen des Setzers § 71 nochmals gesetzt worden; ich bezeichnet
daher diesen zweiten § 71 im Inhaltsverzeichnis mit § 71*.
p. 109 Anm. lies „Untersuchung.* für „Untersuchung*.
p. 111 Z. 10 von oben lies „P. Rutilius Rufus (Cons. 105)* statt „P. Rutilius Rufus*.
p. 115 Text Z. 11 von unten lies „p. 107* statt „p. 117*.
p. 118 Text Z. 5 von unten sind d^e Worte „nach Smyma* zu streichen. Es werden vei
schiedene Orte des Exils angegeben, aber nicht Smyma.
p. 192 Abs. 2 Z. 5 von oben lies „§ 100* statt „§ 101*.
p. 269 „§178 Fortleben Ciceros*. Hier hatten noch die Verse des Cornelius Severus au
den Tod Ciceros {rhetar Seneca p. 37 Bu.) erwähnt werden sollen,
p. 289 ist bei Sevius Nicanor nach dem Wort „erhalten* hinzuzufügen „vgl. § 111*.
p. 290 Abs. 7 Anm. Z. 5 von oben ist statt „Ober Lenaens war § 133 die Rede* zu lese
„Über Lenaeus war § 111 und § 133 die Rede*.
Da der Druck bereits im vorigen Jahr begonnen wurde, so fehlen manche der neuere
Litteraturerscheinungen.
Einleitung.
1. Ziel. Die römische Litteraturgeschichte hat die Aufgabe, das
Geistesleben des römischen Volkes, soweit es durch Sprache und Schrift
zur Erscheinung kommt, darzustellen. Ihr erstes Geschäft ist daher, das
gesamte Schrifttum, das die Römer hervorgebracht haben, zu verzeichnen.
Allein bei diesem äusserlichen Registrieren darf sie nicht stehen bleiben,
sie muss auch darnach trachten, das aufgespeicherte Material nach einer
Idee zu verarbeiten. Diese Idee kann nur die Idee der Kunst sein; es
muss untersucht werden, wie sich Stoff und Form durchdringen, es muss,
mit anderen Worten, die Komposition eines Schriftwerks Prüfung und
Würdigung erfahren. Es gibt Schriften, für welche die äussere Form
nebensächlich ist, da alles Schwergewicht auf den Inhalt fällt. Hieher
gehört zum grossen Teil die philosophische und die sich aus ihr ab-
zweigende fachwissenschaftliche Litteratur. Solche Werke treten in der
Litteraturgeschichte zurück, ihre volle Geltung erhalten sie in der Ge-
schichte der Wissenschaften. Allein eine scharfe Grenze kann nicht
gezogen werden, denn es können auch Schriften dieser Art Meisterstücke
der Komposition sein, wie dies z. B. Plato im Gegensatz zu Aristoteles er-
weist. Bei anderen Zweigen des litterarischen Schaffens dagegen ist, da
sie die Phantasie der Leser oder Hörer in Anspruch nehmen, die künst-
lerische Form wesentlich, so bei den verschiedenen Grattungen der Poesie,
dann bei der historischen und der rhetorischen Prosa. Diesen Zweigen
wendet daher die Litteraturgeschichte mit Recht die grösste Aufmerk-
samkeit zu.
Da wir der Litteratorgeschichte die RegiBtriemng des gesamten Schrifttums zuweisen,
so gehören zu ihr theoretisch betrachtet auch die Inschriften; denn das Schreibmaterial
kann keinen wesentlichen Unterschied begründen; auch sind thatsächlich die verschieden-
artigsten litterarischen Formen auf Inschriften zu Tage getreten wie Gedichte, Reden u. A.
Allein da dieselben überwiegend rein praktische, keine künstlerische Zwecke verfolgen,
80 hat die Litteraturgeschichte nur selten Gelegenheit, sie heranzuziehen, zumal eine eigene
Disziplin, die Epigraphik für sie besteht. — Ribbbck, Aufgaben und Ziele einer antiken
Litteraturgeschichte Leipz. 1887.
2. umfang und Gliedenmg. Unsere Aufgabe ist die Darstellung
der Litteratur des römischen Volks. Da dieses im Jahre 476 vom Schau-
platz der Geschichte abtrat, so könnten wir hier die Grenze unserer Auf-
gabe setzen. Allein der Verlust der politischen Selbständigkeit eines
Volkes bedingt nicht notwendiger Weise auch den Untergang seiner Lit-
Bandlnich der klaM. Altcrtarngwiflseiucluift. VIIL 1
2 BOmiflche Litteratnrgesohichte.
teratur. Wir können daher über dieses Jahr hinausgehen und müssen es
thun, wenn sich uns in der nachfolgenden Zeit ein Ereignis darbietet, das
sich besser zur Grenzmarke eignet. Wir meinen, ein solches Ereignis ist
das grosse Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian (527 — 565). In dem-
selben ist das Grdsste, was der römische Geist geschaffen, zusammen-
gefasst worden; keine Schöpfung der römischen Litteratur hat auf alle
modernen Kulturvölker so tief eingewirkt als diese. Wir gedenken daher,
unsere Litteraturgeschichte von den Anfängen bis zu dieser Epoche aus-
zudehnen. Der grosse Zeitraum, den wir hiemit abgesteckt haben, fordert
eine Gliederung. Wir gewinnen dieselbe, wenn wir die Litteratur der
Bepublik trennen von der Litteratur der Kaiserzeit. Durch die Änderung
der Regierungsform ist die Stellung der Litteratur in Rom eine wesentlich
andere geworden; denn der Schriftsteller richtet jetzt nicht mehr seine
Blicke auf die Nation, sondern auf den Herrscher. Innerhalb des ersten
Teils werden wir wiederum folgende Abteilungen machen. Wir behandeln
zuerst die Elemente der nationalen Litteratur. Darauf folgt die mit dem
zweiten punischen Krieg beginnende, unter hellenischem Einfluss stehende
Kunstlitteratur. In dieser zweiten Abteilung macht einen starken Ein-
schnitt das Ende des Bundesgenossenkriegs, durch welchen die Latini-
sierung Italiens angebahnt wurde. Auf diese Weise stellt sich folgende
Gliederung heraus:
I. Elemente der nationalen Litteratur.
n. Die unter dem Einfluss des Hellenismus stehende Kunstlitteratur.
A) Vom zweiten punischen Krieg bis zum Ende des Bundesgenosaen-
kriegs.
B) Vom Ende des Bundesgenossenkriegs bis zum Untergang der
Republik.
Über die Gliederung des zweiten Teils werden wir in der Einleitung
zu demselben handeln.
3. Methode. Nach zwei Methoden kann die Litteraturgeschichte
behandelt werden; entweder man legt die einzelnen Fächer der Litteratur
zu Grunde und verzeichnet chronologisch Alles, was in denselben geleistet
worden (eidographische Methode), oder man geht von einzelnen Schrift-
stellern aus und führt sie mit ihren Schriften der Zeitfolge nach vor
(synchronistische Methode). Beide Methoden haben ihre Vorzüge und ihre
Nachteile. Bei dem eidographischen Verfahren erhalten wir eine genaue
Einsicht in die Entwicklung der einzelnen Grattungen der Litteratur, aber
wir erfahren nichts von den Zeitströmungen, unter denen der Schriftsteller
arbeitete, auch tritt uns das Bild der schriftstellerischen Individualitäten
nur unvollkommen entgegen, besonders wenn sich dieselben in mehreren
Litteraturzweigen versucht haben. Die zweite Methode zeigt uns das
Werden der Gesamtlitteratur, das Werden der schriftstellerischen Persön-
lichkeiten, nicht aber das Werden der Gattungen. Es ist sonach klar,
dass beide Methoden miteinander verbunden werden müssen. Diese Ver-
bindung darf aber nicht in der Weise bewerkstelligt werden, dass man
zwei Teile unterscheidet und in dem einen Teil diese, in dem andern Teil
jene Betrachtungsweise zu Grunde legt. Wir werden beide Methoden mit-
Eiiileitung« 3
einander zu verschmelzen suchen. Zu dem Zweck setzen wir nicht allzu-
grosse Zeitabschnitte fest; innerhalb derselben scheiden wir aber die Schrift-
steller, soweit dies nur angeht, nach Gattungen; jedoch werden wir die
Schriftstellerei, falls sie sich auf mehrere Zweige verteilt, nicht zerreissen.
Dafür hoffen wir noch durch Übersichten und Rückblicke dem systema-
tischen Moment vollends gerecht zu werden. Was die Behandlung der
einzelnen Schriftsteller anlangt, so haben wir eine vierfache Aufgabe zu
lösen. Die erste ist die Feststellung der Zeit- und Lebensumstände des
Autors. Hiebei handelt es sich aber nicht um eine vollständige Biographie,
sondern um Hervorhebung der Momente, welche zum Verständnis der
Wirksamkeit des Schriftstellers notwendig sind. Die zweite Aufgabe ist,
die litterarischen Schöpfungen des Autors zu verzeichnen. Nicht selten
ist derselbe unbekannt und muss erst durch Kombination ermittelt werden;
oder es laufen unechte Werke unter seinem Namen um, es muss daher
Echtes und Unechtes geschieden werden. Sind diese beiden Aufgaben
gelöst, so ist damit die Grundlage zur Beurteilung des litterarischen Er-
zeugnisses gegeben. Wir haben dann zu untersuchen, in welchem Zustand
der Verfasser das Werk hinterlassen hat, wie weit es Original oder Kopie
ist, welche Stellung es in der Litteratur einnimmt. Endlich haben wir
noch das Schicksal des Werkes ins Auge zu fassen, seine Überlieferung
und seine Wirkung auf spätere Zeiten. Es ist klar, dass der Schwerpunkt
in den drei t^rsten Aufgaben liegt. Der Litterarhistoriker hat, wenn er
ein richtiges BUd der Litteratur gewinnen will, sowohl die verlorenen als
die erhaltenen Schriften zu berücksichtigen; selbstverständlich wird er
länger bei den erhaltenen verweilen.
4. Entwicklung der römischen Litieratnrgescliichte. Bei einer
naturgemässen Entwicklung der Litteratur tritt die wissenschaftliche Be-
handlung derselben erst verhältnismässig spät hervor. >) Da aber in der
römischen Litteratur durch den Zusammenstoss derselben mit der hoch«
entwickelten griechischen der organische Verlauf unterbrochen ist, so
finden wir sehr früh litterarhistorische Studien. Die griechisch-perga-
menische Philologie gehörte ja zu den ersten Fächern, welche nach Rom
verpflanzt wurden. Die erste litterarhistorische Thätigkeit, auf die wir
bei den Römern stossen, besteht in der Anlegung von Verzeichnissen der
litterarischen Schöpfungen {indices); solche waren besonders dann not-
wendig, wenn es sich um Scheidung echten und unechten Gutes handelte.
Plautus bot hie^u reichliche Gelegenheit. Gleichzeitig finden wir auch das
litterarhistorische Gtedicht, für das die Römer eine grosse Vorliebe hatten.
Dasselbe fand Pflege durch Accius, Porcius Licinus, Volcacius Sedigitus
und Andere. Eine grosse Ausdehnung gewann die litterarhistorische
Forschung bei Varro. In einer Reihe von Schriften handelte er über die
verschiedenartigsten Stoffe, über Dichter, im besonderen über Plautus,
über die Stileigentümlichkeit der Autoren, über das Theaterwesen, über
') Bier handelt es sich nur um einen
gaoE allgemein gehaltenen Üherhh'ck; denn
der nnten folgenden Daratellung durften wir
nicht vorgreifen. Auch Schriften, -welche
zwar litterarhistoriaches Material enthalten,
aher andere Zwecke verfolgen (Velleius,
Quintilian u. A.) ntflssen übergangen werden.
4 BOmisohe Litteratnrgesohichte.
Bibliotheken u. a. Auch schuf er ein epochemachendes Werk, Portraits
berühmter Persönlichkeiten mit Epigrammen und einem erläuternden Text.
In demselben waren natürlich auch die hervorragenden Schriftsteller be-
rücksichtigt. Ebenso hatte Cornelius Nepos in seinen Biographien die
Grössen der Litteratur geschildert, mit ihm werden Santra und Hyginus
erwähnt. Aus den iitterarhistorischen Schriften der republikanischen Zeit ist
nur eine einzige ganz erhalten, nämlich Ciceros Brutus, der einen Abriss der
Geschichte der Beredsamkeit bis zum Ende der Republik giebt. In der
Eaiserzeit war das wichtigste litterarhistorische Werk Suetons De viris
(in üteris) iüi^stribas. Würde uns dasselbe erhalten sein, so würde es für
die römische Litteratur grundlegend sein. Allein von demselben ist nur
ein Fragment auf uns gekommen, nämlich der letzte Abschnitt über
die Grammatiker und Rhetoren und selbst dieser ist am Schluss ver-
stümmelt. Hiezu gesellen sich Ergänzungen aus Hieronymus' Bearbeitung
der Eusebianischen Chronik und noch einige anderweitig gerettete Bestand-
teile. Vorbild ward Sueton für den Kirchenvater Hieronymus, der die
kirchlichen Schriftsteller von Christus bis 392 behandelte, und für seinen
Fortsetzer Gennadius.
Im Mittelalter richtete die Litteraturgeschichte, soweit von einer
solchen die Rede sein kann, ihre Blicke fast ausschliesslich auf die scrip-
tares ecclesuistici, nur ausnahmsweise auf die scriptores profaniA) Auch
nach dem Wiederaufleben der Wissenschaften dauerte es noch sehr
lange, bis sich die Litteraturgeschichte zu einer fest geschlossenen Disziplin
entwickelte. Von Werken, welche litterargeschichtlicher Natur waren, nenne
ich Gyraldus (1479 — 1552) De historia poetarum tarn graecorum quam
latinorum diahgi (1545). Eine bedeutende und auch noch heutzutage nicht
entbehrlich gewordene Leistung ist G. J. Vossius' Werk: De historicis h'
tinis 1. ni 1627. Da der Verfasser auch de historicis graecis geschrieben,
so ist sein Blick für diese Litteraturgattung besonders geschärft worden.
Es folgt das Repertorium des J. A. Fabricius, die Bibliotheca latina, welche
über die Äusserlichkeiten nicht hinauskam. Einen höheren Standpunkt
gewinnt die gruppierende Darstellung des J. Nie. Funccius (Giessen 1720),
der die Namen für die Gruppen den Lebensaltern entnommen. Falsters
Quaestiones Romanae s. idea histori(ie Uterarum Romanarum, Leipzig 1718,
gehen tiefer auf die inneren Kräfte der Litteratur ein. Ziel und Aufbau
der ganzen Disziplin zeigt F. A. Wolf in seiner Geschichte der römischen
Litteratur, ein Leitfaden für akademische Vorlesungen, Halle 1787, wozu
als Ergänzung kommt: Vorlesung über die Geschichte der römischen Lit-
teratur, herausgegeben von Gürtler, Leipzig 1839. Auf dem Fundament,
das F. A. Wolf gelegt, ruhen die neueren wissenschaftlichen Darstellungen
der römischen Litteratur. Unter denselben ragen drei hervor, die vollständigen
Litteraturgeschichten von Bernhardy und Teuffei und die Geschichte der
römischen Dichtung von 0. Ribbeck. Die Werke von Bernhardy und Teuffei
haben miteinander gemein, dass sie den Stoff in einem allgemeinen und in
^) Einen derartigen Versuch des Govbad
TOH HiBBOHAU (c. 1070—1150) ;Dialogu8
super auctores sive diäascalon'^ hat der in
der mittelalterlichen Litteratur sehr bewan-
derte G. Schepps, Wflrzb. 1889 herausgege-
ben und sachkundig erläutert.
Einleiiimg. 5
einem besonderen Teil darlegen, jedoch mit dem Unterschied, dass Bern-
hardy in dem aUgemeinen Teil die litterarische Bewegung schildert (innere
Litteraturgeschichte), in dem besonderen dagegen die einzelnen Fächer des
litterarischen Schaffens behandelt (äussere Litteraturgeschichte), Teuffei um-
gekehrt zuerst das in den verschiedenen Sparten von den Römern Ge-
leistete in einem siunmarischen ümriss dem Leser vorführt (sachlicher Teil)
xmd dann in dem Hauptteil (besonderer und persönlicher Teil) die Schrift-
steller chronologisch aufzählt und würdigt. Wir sehen, der eine schreitet
von der chronologischen Behandlungsweise zur systematischen, der andere
von der systematischen zur chronologischen. Wir haben uns bereits oben
gegen diese Teilung ausgesprochen, will man sie aber einmal vornehmen,
so scheint mir der Weg, den Bemhardy eingeschlagen, der bessere zu sein.
Jeder der beiden Autoren hat seine Vorzüge und seine Mängel. Bemhardy
ragt hervor durch die Tiefe der Auffassung und den Reichtum der Betrach-
tungen, Teuffei durch klare, mit den Quellenstellen belegte, kritisch gesich-
tete Darlegung des Stoffs. Bei Bernhardy liegt der Schwerpunkt in der
zusammenhängenden Darstellung des Textes, bei Teuffei in den Noten. Als
Hand- und Nachschlagebuch ist daher Teuffei mehr zu empfehlen, Bem-
hardy dagegen für die Lektüre und das Studium geeigneter. In der Be-
urteilung der litterarischen Produkte ist Bernhardy weit origineller und
ausführlicher als Teuffei. Die Darstellungsweise Teuffels ist durchsichtig
und leicht verständlich, der Stil Bernhardys dagegen leidet an Schwer-
fälligkeit und an Vorliebe für philosophische Abstraktionen, wenn gleich
diese Schattenseite in der römischen Litteraturgeschichte weniger hervor-
tritt als in der griechischen. Beide Werke wenden sich an das gelehrte
Publikum, für alle gebildeten Kreise ist dagegen Ribbecks Geschichte der
römischen Dichtung bestimmt. Ist es an und für sich erfreulich, wenn die
Resultate der gelehrten Forschung allgemein zugänglich gemacht werden,
so ist es doppelt erfreulich, wenn ein Meister des Fachs sich einer solchen
Aufgabe unterzieht. Eine seltene Vereinigung einer Reihe von Eigenschaf-
ten hat Ribbeck in den Stand gesetzt, ein vortreffliches Werk zu liefern.
Er beherrscht das Gebiet, das er behandelt, nach allen Seiten hin, er be-
sitzt ein scharfes Urteil und einen feinen Geschmack, er verfügt über die
OtBbe der lichtvollen, vom Druck der Gelehrsamkeit völlig freien Darstellung.
Der Leser spürt den Hauch klassischen Denkens und Fühlens in diesem
schönen Buch.
Litte rata r. Wir geben eine Auswahl. 8ohobll, Histoire de lalütirature ramaine,
Paris 1815. 4 Bde. Bahb, Geschichte der römischen Literatur, Karlsruhe 1828. 4. Ausg.
in 2 Bd. 1868 — 70. Hiezu kommen drei Sopplementbftnde: L Die christlichen Dichter und
Geschichtschreiber 1836 (2. Aufl. 1872), IL Die christlich-römische Theologie 1837, IIL Ge-
schichte der römischen Literatur im Earolingischen Zeitalter 1840. Klotz, Handbuch der
lat. Litteraturgeschichte L Teil, Leipz. 1846 (nicht vollendet). Bbbnhabdt, Grundrias der
römischen Litteratur, 5. Aufl. Halle 1872. Tbuffkl, Geschichte der römischen Litteratur
4. Aufl. bearbeitet von L. Schwabs, Leipz. 1882. Mukk, Geschichte der röm. Litteratur.
2. Aufl. von 0. Sbtffsbt, I. Bd. Berl. 1875, II. Bd. Berl. 1877, (enthält viele abersetzte
Stellen). Sellab, The roman poets of the Eepuhlic, Oxford 1881. Patin, iltudes 8ur
la poesie latine, Paris 1883. 0. Ribbeck, Geschichte der römischen Dichtung, I. Dichtung
der Republik, Stuttg. 1887. Ebebt, Geschichte der christlich-lat. Literatur bis zum Zeitalter
Karls des Grossen. Leipz. 1874. —Kompendien: Hobbxakn, Leitfaden zur Geschichte der
röm. Litteratur, Magdeburg 1851. Kopf, Geschichte der röm. Litteratur 5. Aufl., Berl. 1885.
Bevdbb, Gmndriss der römisch. Litteraturgeschichte, Leipz. 1876. Fflr griech. und röm.
6 Römische LitteratiirgeBcliiclite.
Litteratur: Passow, GnindzQge der griech. und rnm. Litteraturgeschichte. 2. Aufl. Berlii
1829. l^EODSR, Handbuch der griech. und röm. Litteraturgeschichte nach dem Dfinischei
von HoFFA, Marb. 1847. Mably, Geschichte der antiken Litteratur 2 Bde., Leipz. 188€
Hilfsmittel: Hübnbb, Grundriss, zu Vorlesungen Ober die röm. Litteraturgeschichte 4. Aufl.
Berl. 1878 (enthält Titel und Litteraturangaben). Bei dem furchtbaren Anschwellen de
philologischen Litt-eratur, das besonders durch die Programme und Dissertationen hervor
gerufen wird, ist es für den Litterarhistoriker ganz unmöglich, die auf einen Schriftstelle
bezügliche Litteratur vollständig zu geben. Wir haben uns auf eine sehr knappe Auswah
beschränkt, indem wir vorzüglich die Schriften, welche Litterarhistorisches bieten, namhaf
machen, dagegen die Abhandlungen, welche Kritisches, Grammatisches, Metrisches behan
dein, mit Stillschweigen Übergehen. Wir glaubten um so mehr unsere Litteratnrgeschicht<
von diesem Ballaste befreien zu dürfen, als es jetzt vortreffliche bibliographische Hand
bücher gibt, aus denen man die gesamte Litteratur, die man braucht, kennen lernen kann
Solche sind: Enoelmank, Bibliotheca scriptorum classicorum* 8. Aufl. bearbeitet von E
Pbevss, Leipz. 1882 (gibt die Litteratur von 1700 — 1878). Calvary's bibliotheca philolo
gica elassica, welche jährlich in vier Heften erscheint. Bibliotheca phüologica. Geordnete
Übers, aller auf dem Gebiete der klass. Altertumswissensch , wie der älteren und neuerer
Sprachwissenschaft — erschienenen Bücher. Göttingon jährl. in 2 Heften (dem Herme«
beigegeben). Hiezu kommen die Referate in Bursiahs Jahresber. der Fortschritte dei
klass. Altertumswiss. herausgegeb. von I. Müller und im Philologus. — Clinton, Fasti Ro-
mani 2 Bde. Oxford 1845. Fischer, Röm. Zeittafeln von Roms Gründung bis auf Augustu«
Tod 1846. Peter, Zeittafeln der römischen Geschichte 6. Aufl. Halle 1882.
Erster Teil.
Die römische Litteratur
in der Zeit der Republik.
J
Erste Periode:
Elemente der nationalen Litteratur
i. Volk und Sprache.
5. Verhältnis des römischen Volks zur Litteratur. Die natür-
lichen Lebensbedingungen sind es, welche zumeist die geistige Eigentüm-
lichkeit eines Volkes bestimmen. Dem römischen Volk war von der Natur
eine Wohnstätte angewiesen, welche dasselbe zwang, fortwährend auf der
Hut zu sein und stete Kämpfe mit den Nachbarn zu führen. Ein Volk
mit solchem Wohnsitz konnte sich daher nicht eines freien, ungebundenen
Daseins erfreuen; um seine Existenz zu wahren, musste es sich in um-
friedete Orte zusammenschliessen und sich eine Organisation schaffen,
welche die Unterordnung des individuellen Willens unter den Gesamtwillen
zur Voraussetzung hatte. Dies führt zur Bildung der politischen Gemeinde
und zur Heeresorganisation, aber vernichtet jene Freiheit des Geistes,
welche für das litterarische Schaffen unerlässlich ist. Nach den natür-
lichen Existenzbedingungen kann also die Grösse des römischen Volkes
nicht in der Litteratur liegen. Sie liegt auch nicht in der Durchbildung
religiöser Ideen und in der Schöpfung religiöser Eunstgebilde; denn auch
die Religion nahm den Charakter der Gebundenheit an, d. h. das religiöse
Leben stellte sich als strenge, durch Furcht diktierte Beobachtung gewisser
Vorschriften dar. Wie im politischen und im religiösen Leben Alles zur
festen Norm drängte, so auch im Privatleben. Hier muss die starre Ord-
nung, welche das Römertum ausmacht, feste Sitte, festes Recht herbei-
führen. Damit haben wir die Wurzeln der römischen Grösse aufgedeckt;
es ist dies einmal die militärisch-politische Organisation, welche zum Welt-
reich führte, dann die feste Ordnung der privaten Lebensverhältnisse,
welche der Welt das vollkommenste Privatrecht liefert. Wenn Heine die
Römer »eine casuistische Soldateska" nennt, so hat er witzig das wahre
Wesen des römischen Volkes dargelegt. Sonach dürfen wir nicht mit
allzuhoch gespannten Erwartungen an die römische Litteratur herantreten;
sie hat keine originellen Schöpfungen ersten Rangs aufzuweisen, ihre Be-
deutung ruht vielmehr darin, dass die Ideen, welche der griechische Geist
10 Bömische Litteratnrgeachichie. I. Die Zeit der Bepublik. 1. Periode.
ausgeprägt hat, durch sie eine universelle Verbreitung erhalten. Die
römische Litteratur bildet die Brücke, die den Hellenismus zur modernen
Welt überleitet.
Über die Lage Roms handelt einsichtig POhlmakk, „Die Anfänge Roms, Erl. 1881.
Vgl. p. 24. „Es war gewiss von grosser Bedeutung, dass Höben wie der Palatin und das
Kapitel, die isoliert und rings von Senkungen umgeben, für die ältesten Befestigungs-
anlagen vorzüglich geeignet waren, gerade am Strome lagen, der die natürliche Grenzwehr
Latiums gegen die nördlichen Nachbarn war, und zwar gerade an der Stelle, wo die ein-
zige Insel im Unterlauf des Stromes das Überschreiten dieser Schutzwehr erleichterte. Der
Besitz dieser Position muss für die ganze Ebene von Anfang an eine Lebensfrage gewesen
sein und die Sage ISsst es noch deutlich erkennen, wie viel umstritten dieser inmitten
dreier Volkergebiete an der Landesmark gelegene Punkt seit uralten Zeiten gewesen ist.
Diese Lage hatte aber auch noch eine weitere Bedeutung. Sie hat ohne Zweifel mächtig
dazu mitgewirkt, dass die ursprünglich isolierten Niederlassungen auf den Tiberhdhen sich
zu einem einheitlichen politischen und ökonomischen Organismus zusammenschlössen, d. h.
dass aus einem Aggregat von selbständigen Ortschaften die Stadt Rom entstand." Ähnlich
WiBTBRSHBiM, Völkerwanderung 1, 374. — Zur SteUe Heines (Ges. W. 8, 171) bemerkt
Bebkats, Ges. Abh. 2, 255 vortrefflich: „Das Ineinander von Gericht und Gefecht, die
Doppelschneide der juristischen Logik und des Kriegsschwertes ist ein wesentlicher Zug
des Römertnms ; ja man darf sagen, dass er im Verein mit der nicht minder wesentlichen
und ebenfalls junstisch gefärbten Götterangst das römische Wesen erschöpft* Sehr be-
lehrend sind rar Erkenntnis des römischen Volkscharakters Jhbriko, Geist des römischen
Rechts, Leipz. 2. Aufl. 1866—71. Nissen, Ital Landeskunde, Berl. 1883. Zbllbb, Religion
und Philosophie bei den Griechen in den Abh. 2, 93.
6. Die Stellung der lateinischen Sprache; ihre Entwicklung. Die
lateinische Sprache gehört zu der Gruppe indogermanischer Sprachen, welche
man die „mittelitalische'' nennt und deren vorzüglichste Glieder ausser dem
Lateinischen das Oskische und das Umbrische sind. Das politische Über-
gewicht des römischen Volkes hinderte die Entwicklung jener verwandten
Idiome, sie wurden keine Litteratursprachen und gingen schliesslich zu
Grund. Uns sind sie nur durch Inschriften bekannt geworden, das Oskische
besouders durch die tabula JBantina, ein Verfassungsgesetz der Stadt Bantia
in Apulien, durch den Cippus Ahellanus, einen Bundesvertrag'zwischen Nola
und Abella wegen eines gemeinsamen Tempels, durch die Weihinschrift
von Agnone, endlich durch eine Execrationstafel von Capua, das Umbrische
durch die rituelle Normen enthaltenden 7 Tafeln von Iguvium. Was nun
die Geschicke der lateinischen Sprache anlangt, so dringt sie in dem Masse
vor, in dem sich die Herrschaft der Römer ausbreitet. Sie besiegt nicht
nur die mittelitaUschen Idiome, sondern auch die übrigen Sprachen Italiens,
ja auch Sprachen der ausseritab'schen Länder werden dmxh sie dem Unter-
gang geweiht. Ihre Entwicklung zur Schriftsprache spielt sich aber in
Rom ab ; denn fast die gesamte römische Litteratur ist in Rom entstanden
und Rom ist noch weit mehr das Zentrum für die lateinische Litteratur
geworden als heutzutage Paris das Zentrum der französischen Litteratur
ist. Wie die Verfassung des römischen Reichs im Wesen ein Stadtregiment
bleibt, so ist die lateinische Litteratur fast nur Stadtlitteratur d. h. Litteratur
Roms geblieben. Mit Recht spricht man daher von einer römischen, nicht
von einer lateinischen Litteraturgeschichte. Erst in den spätesten Zeiten
bildeten sich andere Zentren für die lateinische Litteratur, z. B. in Gallien und
in Afrika. Die Ausbildung des Lateinischen zur Litteratursprache erfolgte in
erster Linie durch Fremde, deren Ziel vor allem sein musste, Orthographie
und Flexion fest zu regeln. Es folgten dann die Versuche der Periodi-
Poesie. Der satamiflohe Vora.
11
Biening; sie führten zu bewunderungswürdigen Resultaten und fanden ihren
Höhepunkt in Cicero. Die kommende Periode strebt das Pikante des Stils
an; es verschieben sich oft die Grenzen der Poesie und Prosa; die Periodo-
logie kommt in Verfall. Endlich drang die Volkssprache in die Litteratur
ein; damit ward das Ende der lateinischen Sprache vorbereitet. Die all-
mählich zu Litteratursprachen sich ausbildenden Volksidiome schmälern das
Gebiet der lateinischen Sprache und belassen sie nur als Verständigungs-
mittel der gelehrten Welt. Aber auch in dieser zurückgedrängten Position
hört sie nicht auf, sich weiter zu entwickeln und die Bedürfnisse der Spre-
chenden zu decken, bis sie durch den Humanismus, der die ungeheuere
£[luft zwischen Vergangenheit und Gegenwart gewahrend auf die alten
Muster verwies und die Nachahmung als das leitende Prinzip für die
Lateinschreibenden hinstellte, zu einer wirklich toten Sprache wurde. Nach
der Ausbildung, welche die lateinische Sprache erfahren, ist sie wegen des
ihr innewohnenden Numerus sehr geeignet für die rhetorische Darstellung,
die sich leider nur zu oft auch der Poesie mitteilte. Dagegen ist sie viel
weniger passend für die philosophische Rede; denn sie ist verhältnissmässig
arm an Substantiven, besonders an Abstractis, auch in Zusammensetzungen
ist sie beschränkt. 0
Eine brauchbare Übersicht Ober Charakter der mittelitalischen Sprachen und der
darauf bezflglichen Litteratur giebt Deecxb in GbGber's Grundriss der roman. Philol. 1,
835—350. BuDiKSKY, Die Ausbreitung der lat. Sprache über Italien und die Provinzen
des r5m. Reichs, Berl. 1881. Nettlbship, The kistorical Development of CktssiccU Latin
Prose, The Journal of Philology 15, 35. Wie durch den Humanisnius, bes. durch des
Lanrentius Valla Buch Elegantiae laiini sermonis die lateinische Sprache eine tote wurde,
zeigt sehr schön Vablen in Lorenzo Valla. Ein Vortrag, Almanach der Wiener Ak. 1864.
2. Poesie.
7. Das nationale Versmass. Die gebundene Rede stellt sich zu-
nächst dar in dem Verse. Die Römer hatten hiefür den Ausdruck Carmen,
Allein es gibt noch eine zweite Form der gebundenen Rede, die Formel,
der Spruch, die zwar nicht dem Metrum unterworfen sind, aber doch eine
feste unabänderliche Gestalt erhalten und sich dadurch der individuellen
Willkür entziehen. Auch von dieser Form der Rede wurde Carmen ge-
braucht. So bezeichnet Livius 1, 24 die Formel für ein Bündnis als
Carmen^ ebenso die Formel der Kriegserklärung (1, 32), Gesetzesworte
(1, 26; 3, 64), die Schwurformel (10, 38). Beide Formen der gebundenen
Rede können durch Alliteration gestützt werden. Für die altlateinischo
nationale Poesie war das regelmässige Organ der saturnische Vers.
Mit dem Namen „satumisch" wollte man (wie mit dem in Anlehnung an
Ennius fr. 155 B. gebrauchten „ faunisch ") auf das hohe Alter des Verses
hinweisen. Der satumische Vers ist aber nicht bloss den Römern, sondern
auch andern Völkern des mittelitalischen Sprachstammes eigentümlich.
Das Wesen des Saturniers beruht auf der Quantität, jedoch so, dass nur
die Hebungen als massgebend erscheinen, während die Senkungen für den
^) Vielleicht darf anch hier ein witziger
Auaspmch Hbikss angefahrt werden (Ges. W.
5, 144): .Die Sprache der ROmer kann nie
ihren Ursprung yerlengnen. Sie ist eine Kom-
mandosprache für Feldherm, eine Dekretal-
sprache für Administratoren, eine Justiz-
Sprache für Wucherer, eine Lapidarsprache
für das steinharte KOmervolk."
12 Römische Litteraturgesohichte. L Die Zeit der Republik, 1. Periode.
Bau des Verses ziemlich indifferent sind. Das Indifferente der Senkungen
zeigt sich darin, dass sie einmal lang oder kurz . sein dürfen, dann (natür-
lich mit gewissen Beschränkungen) durch zwei kurze Silben ausgedrückt
werden können, endlich dass dieselben (in der Begel nur die sechste,
ausnahmsweise auch die dritte) unterdrückt werden können. Eine andere
hervorstechende Eigentümlichkeit des Verses ist, dass derselbe in zwei
Hälften zerfällt und demnach als zusammengesetzter Vers erscheint. Das
ursprüngliche Element des Verses bilden drei Hebungen und vier Senkungen
eno8 Loses imate.
Dieses Element wird, um den Saturnier zu bilden, in der Weise verdoppelt,
dass entweder in dem zuerst gesetzten die letzte Senkung, oder in dem
an zweiter Stelle stehenden die erste Senkung in Wegfall kommt. Daraus
ergeben sich folgende zwei Formen des Saturniers:
... I — .-.
hone omo ploirume cosentumt Bomai
mälum diibimt MeteUi Naevio poetae.
Die zweite Form ist die Normalform geworden.
Zwei Streitfragen spielen hier herein; die eine bezieht sich darauf, ob das Carmen
stets metrische Form haben müsse. Ich glaube, dass diese Frage zu verneinen ist Zeigt
uns doch die Geschichte anderer Völker, dass auch diese nicht metrische Sprüche
und nicht metrische Rechtsformeln haben; auch in der Etymologie des Wortes findet jene
Anschauung keine genügende Stütze, vgl. BIhrens, Fleckeis. J. 185, 65. Ober diese Streit-
frage handeln Ritschl, Opusc. 4, 298; DOktzer, Zeitschr. f. d. Gymnasialw. 11, 2; Petes
in eomm. philol. in honorem Beiffersckeidii p. 65; Jordan, Krit. Beitr. p. 178. Die zweite
Streitfrage ist die, ob das quantitierende oder das accentuierende Prinzip dem Saturnier
zu Grunde lag. Für das accentuierende Prinzip hat sich in neuester Zeit besonders nach
dem Vorgange Westphals 0. Keller ausgesprochen. Nach seiner Ansicht sei das quanti-
tierende Prinzip für die römische Litteratur erst durch Ennius eingeführt worden. Allein
das völlige Verschwinden der accentuierenden Poesie — sie tritt ja erst weit später auf —
lässt sich bei jener Annahme nur schwer erkl&ren. Vgl. W. Meter, Anfang und Ursprung
der lat. und griech. rythmischen Dichtung in den Abb. der bayr. Akademie 17 Bd. 2 Abth.
p. 267.
Litteratur mit Auswahl: Ritsohl, Opusc. 4, 82. Bt^oHSLSR, Fleckeis. J. 87,
328. A. Spevoel, Philol. 23, 80. Havbt, De Satumio Latinorum versu, Paris 1880.
L. Müller, Der Satumische Vers, Leipz. 1885. Bahrbns, Fragmenta poetarum Born.,
Leipzig 1886 p. 6. BOoheler, Änthotogiae epigr, lat, spec, lil, Bonn 1876 (Bearbei-
tung der inschriftlichen Saturnier). 0. Keller, Der Satumische Vers als rhythmisch
erwiesen, Prag 1883. Der Satumische Vers, zweite Abhandlung, Prag 1886. Thurnetsen,
Der Saturnier und sein Verhältnis zum späteren römischen Volksverse, Halle 1885.
ÜSEKSB, Altgriech. Versbau, Bonn 1887 p. 76. Über den Saturnier als italischen Vers
„quem {sc. Satwmium) nostri existimavernnt proprium esse Italicae regionis*' vgl. Cae-
8IU8 Bassüs, Gr. L. 6, 265, vgl. BOoheler, Rhein. Mus. 80, 441 ; 33, 274.
a) Anfänge der lyrisohen Poesie.
8. Die heiligen Lieder. Als die älteste Form der Poesie werden
wir diejenige zu betrachten haben, in der zugleich gesungen und getanzt
wird. Diese Verbindung von Tanz und Gesang kam nach ausdrücklichem
Zeugniss in den heiligen Liedern vor. Wir kennen genauer zwei Arten
derselben, die Lieder der Salier (Springer) und die Lieder der Fratres
arvales (Flurbrüder). Die Salier, die in zwei Kollegien von je zwölf
Mann geteilt waren, in die Salii Palatini mit dem Heiligtum auf dem
Palatium und in die Salii Agonales oder Collini mit dem Heiligtum auf
Poesie. Die heiligen Lieder. Die FescennineiL 13
dem Quirinal, fOhrten im Monat März zu Ehren des Mars gradivus und
später auch des Quirinus mehrere Tage hintereinander einen Festzug auf.
Hiebei tanzten sie, an die heiligen Schilder, die sie trugen, schlagend, einen
Waffentanz und sangen Lieder (Dionys. 2, 70). Über diese Lieder liegt uns
bei Festus ein wertvolles Zeugnis vor. Darnach zerfielen sie in zwei Teile,
in Anrufungen der einzelnen Gottheiten, wie des Lichtgottes Leucesius, des
Sonnengottes Ozeul und anderer, dann in eine Gesamtanrufung, der dann
die blossen Namen der Angerufenen folgten. Dieser letzte Teil führte den
Namen axamenta und nahm in der späteren Zeit auch fürstliche Persön-
lichkeiten wie Augustus, Qermanicus u. a. auf. Diese Lieder waren später
den Saliern selbst nicht mehr verständlich (Quint. 1, 6, 40, Hör. ep. 2,
1, 86). Sie wurden daher konmientiert z. B. von L. Aelius Stilo (Yarro
de 1. 1. 7, 2). Ausser einer Anzahl Glossen sind uns drei schwer verdor-
bene Bruchstücke überliefert, deren Herstellung auf verschiedene Weise
versucht wurde. Wichtiger als diese Fragmente ist das alte Lied der Flur-
brüder (Varro de 1. 1. 5, 85), deren Cult ihren Mittelpunkt in einer sonst nicht
näher bekannten ländlichen Gottheit, der Dea dia, findet. Li deren Hain
führten die Flurbrüder im Monat Mai einen Tanz mit Gesang auf, um
Segen für die Fluren zu erflehen. Das dabei gesungene Lied ist uns durch
ein Steinprotokoll des Jahres 218 nach Chr., in dem die zur Feier vorge-
nonunenen Handlungen verzeichnet waren, erhalten. Auch dieses Lied
bietet der Rekonstruierung und Erklärung grosse Schwierigkeiten. Soviel
ist aber klar, dass das Gebet zuerst von den Lases Hilfe erfleht, dann den
Mars um Schonung angeht, endlich zum Schluss nochmals an diesen Gott
sich wendet.
Für die Lieder der Salier liegt die wichtige Stelle bei Feetua im Auszag des Paulas
vor p. 3 0. Müller: axamenta dicebantur carmina Saliaria, quae a Saliia sacerdotibus
canehantur, in universos liomines camposita, nam in deos singtUos versus facti a nami-
nibus eorum appeüabantur, tU Januli, Jimonii, Minervii. Dass homines verdorben ist,
erscbeiDt uiusweifelhaft Härtung setzt dafür semones, eine Konjektur, welche Nifpbbdbt
zu Tac. Ann. 2, 83 annimmt, während sie Jobdan, Kr. Beitr. p. 204 verwirft, indem er in den
auch im Arvallied erscheinenden semones Saatgottheiten erkennt Allein an unserer Stelle
erfordert der Gegensatz untüersos deos und setno kann, wenn es mit Mommsen gleich se hemo
gefasst wird, deus bedeuten. Die Zweiteilung des Carmen Saliare steht unter allen Um-
BtAnden fest. Carminis Saliaris reliquiae. £d. Zavdbb, Lund 1888; BlHBSirs, Fragm. nr.
1 — 19. Erlftuterungen bei Bbbok, Op. 1, 477; Jobdak, Krit Beitr. p. 211.
Ffir die Denkmäler der Arvafbrflder ist jetzt die Hauptschrift Hbnzbk, Acta Ar-
vaiium, Berl. 1874, vgl. p. CCIV. Weisweilbb, Zur Erklärung der Arvalact. Fleckeis. J. 139,37.
Über die ursprüngliche Bedeutung der Arvalbrüder vgl. Hoffmavh, Verh. der 27. Philologen-
▼eia. in Breslau p. 67—97. Babbbks, Äcca Laurentia, Fleckeis. Jahrb. 131, 787. Die
reiche Litteratnr zur Erklärung des Lieds findet sich verzeichnet in Scbkeu>bb's didUcUirum
Itaiioarum exempla selecta, Lei^z. 1886 1, 103. Vgl. Mommsen, R. Gesch. 1^ 222.
Hier erwäme ich auch die Zaubergebete z. B. Vabbo de r. r. 1, 2, 21, terra pestim
ienüo, salus hie manHo; vgl. Plin. n. h. 28, 29.
b) Anfänge der dramativohen Poesie.
9. Die Fescenninen. Die Anfänge der dramatischen Poesie knüpfen
sich, ^*ie bei andern Völkeiii, so auch in Rom an die Festesfreude. Bereits
Yarro hatte in seinem Werke über den Ursprung der dramatischen Poesie
in den verschiedenen Festen, z. B. den Compitalien, Luperealien Ansätze
zum Drama gefunden. Bekannt ist die Schilderung des Erntefestes bei
Horaz Ep. 2; 1, 139; hier erhalten wir für ein dramatisches Element einen
14 Bömiflche Litteratnrgeachiohte. !• Die Zeit der Bepnblik. 1. Periode.
bestimmten Namen; es ist dies die Fescmnina licentia. Sie stellt sich dar
in Versen, welche Scherz und Spott zum Inhalt, den Dialog zur Form haben.
Der Name Fescennintis wird von Fescennium in Etrurien abgeleitet; man
müsste darnach annehmen, es seien jene Spottverse besonders dort gepflegt
worden; allein viel wahrscheinlicher ist ein Zusammenhang des Wortes mit
fascinum, einem Symbol der Zeugungskraft. Ausser dem Erntefest finden
diese dialogischen Scherz- und Spottlieder auch bei Hochzeiten Verwendung.
Auch hier heissen sie Fescennini, Dass diese „fescenninische Ausgelassen-
heit* uns den Anfang des italischen Drama darstellt, kann nicht bezweifelt
werden; auch die gelehrte Forschung des Altertums verkannte das nicht,
wie ein ätiologischer Bericht bei Livius 7, 2 zeigt. Hier wird nämlich
ausdrücklich eine Weiterentwicklung der Fescenninen mit der Bühne in Ver-
bindung gebracht. Der Bericht überliefert folgendes: Im Jahre 364 v. Ch.
wurden an den ludi Romani zu den Girkusspielen, die im Wettfahren und
Pferderennen bestanden, Bühnenspiele hinzugefügt, indem Schauspieler,
die aus Etrurien herbeigeholt wurden, Tänze zur Flötenbegleitung auffühi*-
ten. Dieses Beispiel wirkte auf die Jugend; es führte zu einer Reform der
Fescennini^ diese wurden jetzt mit Gesang und Tanz zur Flötenbegleitung
verbunden. Dieses Gebilde hiess nach dem Bericht satura. Allein dieser
Bericht fordert Zweifel heraus. Es ist unmöglich, dass Gesang und Tanz
erst später hinzukamen; denn, wie wir bei den heiligen Liedern sahen, ist
die Verbindung von Tanz und Gesang der naturgemässe, daher ursprüng-
liche Ausdruck der gehobenen Stimmung. Der Fortschritt beruhte wohl in
dem Heraustreten aus der Improvisation, in einem aufgezeichneten Text.
Schwierig ist die Etymologie des Wortes satura. Am wahrscheinlichsten
ist die Deutung als Spiel der saiyri. So konnten die lustigen, in Bocks-
felle gehüllten Landleute, die das Fest feierten, genannt werden. Der erste,
dem Satura^ zugeschrieben werden, ist Naevius. Bei ihm werden wir wohl
noch an die Form zu denken haben, die nicht für die Lektüre, sondern für
die Darstellung berechnet war.
Fesius p. 85. Fescennini versus, gut canebantur in nuptiis, ex urhe Fescennkia di-
cuntur aüati, sive ideo dicti quia fascinum putdbantur arcere, Dbeckb, Die Falisker
p. 46 u. 113. Das Hochzeitslied wurde auch ein Zweig der Kunstdichtung. Vgl. Catull
61 u. 62. Ober den Livianischen Bericht handelt ausfUhrlich Lbo» Hermes 24, 75. Die
Eauptstelle ist 7, 2, 7 : non, sicut ante, Fescennino versu simüem incomposüum temere ac
rudern ältemis iaciebant, sed inpletas modis saturas descripto tarn ad tAicinem cantu mo-
tuqtie congrtienH peragebant. Über saiura vgl. Mommsek, R. Gesch. P 28; 0. Eellrb,
Phüol. 45, 389; Ribbeck, Gesch. d. r. Dichtung 1, 9.
Ausser den Fesceninn&fi bieten uns noch die carmina triumphcdia der Soldaten Scherz
und Spott, sowie auch den Dialog Liv. 4, 53, 11 altemis inconditi versvts militari licentia iactati.
0) Anfänge der epischen Poesie.
10. Die Totenklagen und die Almenlieder. Als zweite Form der
Poesie betrachten wir die Gedichte, in denen sich der Tanz abgelöst hat
und nur noch der Gesang vorhanden ist. Es sind dies die Totenklage und
das Ahnenlied. Die Totenklage kennen wir nur in der späteren Form.
Eine Frau (praefica) wird gedungen, um vor dem Hause des Verstorbenen
Zeichen der Trauer zu geben und das Trauerlied anzustimmen, in das dann
die anderen miteinstimmten. Dieses Lied, welches den Namen nenia führte,
Hef auf eine Verherrlichung des Verstorbenen hinaus. Das Lied erstarrte
PooBie« Die Totenklagen und die Ahnenlieder. Weieeagungen und Sprüche. 15
später und kam dann in Verruf und Yerachtung. Über das Ahnenlied
liegen uns zwei Zeugnisse vor, eines, das auf den alten Cato zurückgeht,
ein anderes, das von dem Antiquar Yarro herrührt. Beide Zeugen berich-
ten übereinstimmend, dass beim Gastmahl das Lob berühmter Männer ge-
sungen wurde. Sie weichen aber insofern von einander ab, dass nach Yarro
Knaben diese Gesänge aufführten, während nach Cato die Teilnehmer am
Gastmahl der Reihe nach jene Lieder sangen, weiterhin dass Yarro die
Lieder mit und ohne Flötenbegleitung recitieren lässt, während Cato Tisch-
lieder ohne Flötenbegleitung nicht erwähnt. Was diese Differenzen anlangt,
80 ist die letztere einfach dadurch zu lösen, dass man die Flötenbegleitung
zwar nicht als obligat, aber doch als regelmässig ansieht, die erste dadurch,
dass man in dem Enabengesang und in dem Rundgesang zeitlich ge-
trennte Formen erblickt und zwar den Enabengesang für die ursprüngliche,
den Rundgesang für die spätere von den Griechen rezipierte Form hält.
Diese Sitte der Tischlieder war bereits zur Zeit Gates seit längerem ausser
Gebrauch gekommen. Über den Inhalt der Lieder sind uns keine genaueren
Mitteilungen überliefert. Allein die römische Geschichte bietet uns eine
Reihe der schönsten Sagen dar. Diese Sagen müssen doch einmal von
Dichtem geschaffen worden sein. Wir werden nicht irren, wenn wir an-
nehmen, dass dieselben in den Tischliedem ihre Wurzeln haben. Soweit
ist die Hypothese Niebuhrs im höchsten Grade wahrscheinlich, dagegen an
den Zusammenschluss der Lieder zu einem die ganze ältere Geschichte um-
fassenden Ganzen braucht man nicht zu denken.
Festua p. 163. natnia est Carmen, quod in funer e laudandi groHa eantaiur ad iibtam
(,ad tibifu et fides'^ Yabro bei NoDins I, 210 MOllsb). Festus p. 223 praeficae dicun^
tur mulierea ad lamentandum mortuum conductae quae dant ceterts modum plangendi etc,
Vabbo de ]. I. If 70 praefica dicta, ut Äureliua scrtbit, mutier, ad lu,ctum quae conduceretur,
quae ante domum mortui laudes eiua caneret. Wehr, De Rom. nenia im Propempticon
f. £. CüBTirs, Gott. 1868, p. 11. Mit der nenia ist die metrische Grabaufschrift {elogium)
verwandt Am wichtigsten sind die elogia Scipionum, von denen vier im satumischen
Maas abgefasst sind, vgl. Scbnbidbb, Dieilect, Itodic. exempla 1 nr. 88 — 91.
Cic. Tose. 4, 2, 8 m Origin^us dixit Cato, morem apud maiores hunc epuiarum
fuisse, ut deincepa qui accubarent canerent ad tibiam elarorum virorum laudes atque vtr-
iutes; ibid. 1, 2» 3; Brat. 19, 75; Yabro bei Nonius 1, 105 Müller: in conviviia pueri mo^
desH ut caniarent carmina antiqua, in quibus laudis erant maiorwm, et assa voce et cum
teibidne. Auf diese Sitte spielt Hör. cann. 4, 15, 25 an. Schwegler, R Gesch. 1, 58.
d) Anfänge der didaktiachen Poeaie.
IL Weissagungen nnd Sprüche. Während die von uns bisher be-
trachteten Formen der Poesie mit Gesang und Tanz oder mit Gesang allein
verbunden waren, erhalten wir in der Spruchdichtung im weitesten Sinne
gefasst eine Form der Poesie, welche lediglich durch das Wort zu wir-
ken bestimmt ist. Vor allem gehören hieher die Weissagungen. Ausser
/den sibyllinischen Büchern, die als offizielles Wahrsagebuch galten, waren
auch viele Privatweissagungen seit den ältesten Zeiten in Umlauf. Beson-
ders berühmt waren die Sprüche des Sehers Marcius. Livius erzählt 25, 12,
dass 213 V. Gh. ein Senatsbeschluss die Sammlung der umlaufenden Weis-
sagungen anordnete. Hiebei kamen auch zwei vaticinia des Sehers Marcius
zum Vorschein; in dem ersten war die Schlacht von Cannä vorausgesagt;
in dem zweiten war als Mittel zur Vertreibung der Feinde die Einsetzung
von Spielen zu Ehren des Apollo vorgeschrieben. Dieselben (ludi Äpolli^
16 BömiBohe Litteratnrgeschichte. I. Die Zeit der Bepnblik. 1 Periode.
nares) wurden in der That 212 eingerichtet. Das Factum wird nicht an-
gezweifelt werden können, dass im J. 213 solche Weissagungen unter dem
Namen des Marcius in Umlauf waren. Dass dieselben seitdem aufbewahrt
wurden, berichten nur spätere Quellen. Wenn dies aber auch geschah, so
werden sie wohl im J. 83 mit den sibyllinischen Büchern bei dem Brand
des Gapitol untergegangen sein. Da die Citate bei Livius an Hexameter
anklingen, so ist wahrscheinlich, dass dieselben erst in viel späterer Zeit
gemacht wurden. Auch weltliche Sprüche gab es von Marcius; es sind
uns drei Fragmente überliefert; das eine lautet: sprich zuletzt, schweig
zuerst. Wie Marcius, so werden noch andere ihre Erfahrungen in Regeln
niedergelegt haben. Eine landwirtschaftliche Vorschrift ist uns aus einem
alten Gedicht eines .Vaters an seinen Sohn überliefert. Zur religiösen Spruch-
dichtung gehörten auch die Lose (sortes), es waren dies Sprüche, die auf
Stäbchen geschrieben waren, die von den nach der Zukunft Forschenden
gezogen wurden. Den Charakter dieser sortes können wir aus späteren
Proben kennen lernen.
Cicero spricht von zwei Brfldem Marcii de div, 1, 40, 89; Livius dagegen kennt nur
einen. Wahrscheinlich hahen die zwei Weissagungen zu zwei BrQdem geführt. Die Auf-
bewahrung der vaticinia Mardana hericfaten Serv. zur Aen. 6, 70, Symmachus, ep. 4, 34.
Vgl. Madvio, Verfassung des rOm. Staats 2, 646) Erörterungen bei ÖXhbevs, fragm. p. 22
vgl. p.d6. — Die erwähnte Bauernregel Festus p. 93 lautet: hibemo pulvere, t>emo luto grandia
farra, camiUe, metea. Die Sortes im CLL. 1, 267, bei Sobnbideb, Dialect. Italic, exempla 99.
3. Prosaaufzeichnungen.
12. Die Schrift. Das Lied bedarf der schriftlichen Fixierung nicht,
durch das Metrum gestützt vermag es sich im Gedächtnis fortzupflanzen.
Auch der gebundene Satz, das Sprichwort und die Formel (carmenj ist
nicht auf die schriftliche Fixierung angewiesen. Allein zur Ausbildung der
Prosa ist die Schrift unbedingt notwendig. Die Italer haben die Schrift-
zeichen von den öriechen erhalten; von dem chalkidischen Alphabet, das
bei den campanischen Griechen üblich war, stammen zwei Gruppen von
Alphabeten, einmal die etruskisch-umbrisch-oskische Gruppe, andrerseits die
lateinisch-faliskische Gruppe. Beide Gruppen haben sich unabhängig von-
einander aus jenem Mutteralphabet entwickelt. Das lateinisch-faliskische
Alphabet hat die Eigentümlichkeit, dass es für den Laut F das Digamma
nimmt, wodurch die Fähigkeit verloren geht, U und V in der Sphrift zu
differenzieren und die Notwendigkeit entsteht, das Vokalzeichen auch für
das Eonsonantenzeichen zu setzen, während die andere Gruppe für den Laut
F ein eigenes Zeichen geschaffen. Die Zahl der überkommenen Lautzeichen
blieb nicht intakt. Einmal fielen die Aspiraten weg. Dann als die Aussprache
nicht mehr scharf zwischen der gutturalen Media und Tenuis unterschied, wurde
ein Zeichen (E) überflüssig, man behielt conform der Aussprache das Zeichen
für die Media bei. Ebenso fiel, weil Z in der Aussprache mit S nahezu zusam-
menfiel, das Zeichen Z weg. Diese ausgeschiedenen Buchstaben wrurden zwar
später wieder eingeführt, allein man griff hiebei nicht ganz zu dem Ursprüng-
lichen zurück. Das Zeichen der gutturalen Media (C) wurde nämlich für die
Tenuis willkürlich festgesetzt und für die gutturale Media ein neues Zeichen
aus Abzweigung von C (G) eingeführt. Dieser neue Buchstabe trat an den Platz
Prosa. Die Schrift, öffentliche Denkm&ler. 17
des verdrängten Z. Als daher in späterer Zeit auch dieses Zeichen besonders
wegen der griechischen Worte wieder hervorgesucht wurde, konnte es seinen
ursprünglichen Platz, der besetzt war, nicht mehr erhalten, sondern musste
an den Schluss des Alphabets gestellt werden. Zu gleicher Zeit wurde, da
das ü im Laufe der Zeit im Griechischen zu Ü geworden war, wegen der
Schreibung griechischer Wörter die Form Y im Lautwert von Ü aus dem
Oriechischen herübergenommen und vor Z gestellt. Beide Lautzeichen, Y
und Z, wurden aber immer als fremde empfunden. Damit war das latei-
nische Alphabet im wesentlichen zum Abschluss gekommen.
Die weiteren Versuche zur Verbesserung des Alphabets bezogen
sich auf die Bezeichnung der aspirierten Laute durch die betreffenden
Tenues in Verbindung mit H, dann auf die Einführung der Doppelzeichen,
endlich auf den Ausdruck der Vokallänge durch die Schrift. Der Gram-
matiker Verrius Flaccus und der Kaiser Claudius machten noch einmal
den Versuch, das Alphabet durch neue Zeichen zu bereichern, allein ohne
Erfolg. Dass auch die Schriftzeichen ihren Entwicklungsgang durchgemacht
haben, zeigen die Inschriften und Ritschl hat an Hand derselben diesen
Entwicklungsgang in einer trefflichen Abhandlung aufgedeckt.
Wie alt die Schreibkunst bei den Römern ist, kann nur vermutungs-
weise bestimmt werden. Schon die Eönigszeit kennt Schriftdenkmäler,
allein Mommsen nimmt mit Recht an, dass wir noch bedeutend weiter zu-
rückgehen müssen. An eines soll aber hierbei erinnert werden, dass das
Schriftdenkmal noch kein Litteraturdenkmal ist. Letzteres kann erst auf-
treten, nachdem die Schreibkunst lange Zeit geübt ist und die Schreib-
materialien sich vervollkommnet haben.
KiBCBHOFT, Studien zum griech. Alphabet* p. 116 und 121; Mommsek, Rom. Gesch.
1* 216; BrrscBL, zur Geschichte des lat Alphabets op. 4, 691; Corssbn, Aussprache 1* p. 1.
a. Öffentliche Denkmäler.
13. Die Amtsbücher. Am meisten sind auf die Schreibkunst die
Behörden angewiesen; denn hier reicht mündliche Tradition am wenigsten
aus. Das Amt erfordert die schriftliche Anleitung, es erfordert auch der
Zukunft wegen die schriftliche Fixierung der Amtshandlungen. Die Amts-
bücher gehören daher sicherlich zu den ältesten Denkmälern des Schrift-
tums. Wir können vier Gattungen derselben unterscheiden: 1) Agenda^
d. h. Schriften, welche die Normen für die Ausübung des Dienstes ent-
hielten ; 2) die Entscheidungen strittiger Fälle und die Verfügungen ; 3) Pro-
tokolle {acta\ welche die Amtshandlungen verzeichneten; endlich 4) die
Mitgliederverzeichnisse der Kollegien {album, fasti). Die beiden ersten
Gattungen glaubte man bisher durch die festen Bezeichnungen libri und
commentarii unterschieden ; in der That werden oft Ubri pontificales und
cammentarii pantificumy libri augurales und daneben commentarii augurum^
commentarii consulum u. s. w. erwähnt; allein wenn auch zugegeben werden
muBS, dass in unsern Quellen sehr oft dieser Unterschied gemacht ist, so
finden sich doch auch wiederum Stellen, wo derselbe nicht beachtet worden
ist. Dagegen tritt uns eine entschieden spezifische Bezeichnung von ge-
wissen Amtsschriften der ersten Art in den „Jndigitamenta^* des Pontifikal-
IlMMlIvaflb der klMB. AltertonuiwtaeiuebAlt VIII. 2
18 BOmiflche Litteraturgeachiohte. L Die Zeit der Repablik. 1. Periode.
archivs entgegen; es sind dies .öebetsformulare", welche die Anweisung
enthielten, welche Götter in bestimmten Lagen des Lebens und zu be-
stimmten Zwecken anzurufen seien und in welcher Weise. Bei der grossen
Zahl der Götter, welche durch Personifizierung der Begriffe gewonnen
wurden, bei dem abergläubischen Sinn der Römer, welcher auf die Form
den höchsten Wert legte, kam diesen Gebetsformularen sicherlich eine grosse
Bedeutung zu. Auch bei den weltlichen Behörden stossen wir auf einige
Amtsschriften mit speziellem Namen. Es sind dies die fdbulae censoriae,
Instruktionspapiere für die Vornahme des Gensus. Ausserdem werden noch
Ubri Untei erwähnt, es sollen dies Magistratsverzeichnisse sein, welche, auf
Leinwand geschrieben, im Tempel der Juno Moneta auf dem Kapitel auf-
bewahrt waren. Auf sie berufen sich die Historiker Licinius Macer und
Q. Aelius Tubero. Allein die Echtheit derselben ist nicht glaubhaft. Dass
auch die Amtsbücher durch die gallische Katastrophe hart mitgenommen
wurden, ist von vornherein wahrscheinlich, von dem Pontifikalarchiv bezeugt
dies Livius ausdrücklich (6, 1, 2). An die Amtsbücher knüpft sich ein
Litteraturzweig , den wir den isagogischen nennen können. Dionysius
1, 74 berichtet uns von censorischen Leitfäden {ufirjrixd vnoiivi^iiaxa), die
sich vom Vater auf den Sohn vererbten. Es ist sehr glaublich, dass ähn-
liche „Leitfäden*^ noch mehrere vorhanden waren.
Den Unterschied zwischen libri und commeniarü, den präzis H&bnbb, Flbokeis. J
79, 408 formnliert hat, leugnet Reiffebsohbid; vgl. Reobll, De augurum libris p. 41. Chei
den Inhalt der tabultie censoriae sieh Mommsbv, Rom. Staatsr. 2, 1, p. 380 Anm. 2. Auszüge
daraus hei Varro de 1. 1. 6, 86. Überreste von Verzeichnissen der Mitglieder von Priester
koUegien sind gesammelt CIL. 6, 1976. Die libri Untei werden bei Livius erwähnt 4| 7, 12
4, 18, 7; 4, 20, 8; 4, 28, 3.
Litte ratur: Axbbosoh, Über die ReligionsbQcher der Römer, Bonn 1843; Pbbtbisch
guaest de libris pontificüa, Berl. 1874, fragmenta librorum pontificiorum, Tilsit 1878
Rbqbll, de augurum publiearum libris^ part.I, Berl. 1878; Fragmenta augur,, Hirschberg 1882
14. Die amtliche Chronik. Wie im Mittelalter aus der Ostertafe
die Chronik entstanden ist, so bei den Römern aus dem Kalender. Ei
war Sache der Pontifices, die Zeitrechnung festzustellen und zu diesen
Zweck die Schaltung vorzunehmen. Mit dem Kalender mussten aber zu
gleich aus religiösen Rücksichten die Tage festgestellt werden, an dene]
es gestattet war, Recht zu sprechen (fari) und mit dem Volk zu verhandeh
{dies fasH im ursprünglichen Sinn), und die Tage, an denen beides nich
gestattet war {dies nefinsti). Da der dies fasti bedeutend mehr waren al
der dies nefasti, so erhielt der Kalender den Namen fasH, Den Kaiende
machten die Pontifices in Abschnitten bekannt; Cn. Flavius veröffentlicht
den ganzen Kalender für ein Jahr (c. 304). Seitdem musste der ganz
Kalender jährlich bekannt gemacht werden. Jedoch ist uns über die Ai
der Bekanntmachung nichts überliefert. Damit eine Jahreszählung durch
geführt werden konnte, wurde dem Kalender wohl zugleich ein Verzeichni
der eponymen Magistrate beigegeben. Nur aus dieser Verbindung erkläi
sich, dass auch diese Eponymenliste den Namen fasti erhalten konnte
Auch ist sehr wahrscheinlich, dass dem Magistratsverzeichnisse historisch
Notizen beigeschrieben wurden. Diese drei Teile des Kalenders, die wi
auf diese Weise bekommen, die Tages- oder Monatstafel, die Jahres
oder Magistratstafel, die Chronik mussten mit der Zeit durch die FüU
Prosa. Öffentliche Denkmäler. 19
des Stoffes ihre Vereinigung lösen. Bei der Chronik scheint dies sehr bald
eingetreten zu sein. Nach den beiden uns vorliegenden Zeugnissen hatte
dieselbe, selbständig geworden, folgende Gestalt: Der Pontifex maximus
Hess vor seinem Amtslokal eine weisse Tafel aufstellen, auf der oben die
Konsuln und die anderen Magistrate verzeichnet waren. Trat nun ein
wichtiges Ereignis ein, so wurde dasselbe mit dem Tagesdatum auf die
Tafel geschrieben ; die zweite Version der Überlieferung, es seien die That-
sachen erst am Ende des Jahres auf einmal auf die Tafel geschrieben
worden, ist wenig wahrscheinlich. Die auf der Tafel stehenden Notizen
waren kurz und dürftig (Gell. 5, 18, 8); es waren nicht bloss politische
Ereignisse notiert, sondern auch Teuerung, Sonnen- und Mondsfinstemisse
(Gell. 2, 28, 6); der Prodigien war seit 249 v. Chr. ausführlicher Erwähnung
gethan. Selbstverständlich, dass diese Chronik, als von den Pontifices aus-
gehend, offiziellen Charakter trug. Diese Tafeln wurden im Amtslokal der
Pontifices aufbewahrt, sie konnten also dort eingesehen und abgeschrieben
werden. Auf diese Weise mussten sich Chroniken in Buchform bilden,
welche natürlich durch Weglassungen oder auch durch Zusätze verschiedene
Fassung erhielten. Diese Annalen, welche sich Privatpersonen auf diese
Weise anlegten, traten aber in den Hintergrund, als mit dem Abkom-
men der amtlichen Annalentafel eine Redaktion der Annalen in Buch-
form und zwar in 80 Büchern eintrat. Da diese Annalen jetzt die voll-
ständigsten und wegen des offiziellen Charakters zugleich die wichtigsten
waren, erhielten sie den Namen annales maximi und traten dadurch in
Gegensatz zu jenen weniger umfangreichen Privatannalen. Das Abkommen
der öffentlichen Annalen wird mit dem Pontifikat des P. Mucius Scaevola
(um 123) in Verbindung gebracht. Die Geschichtschreibung war damals
so entwickelt, dass jene rudimentäre Form nicht mehr genügen konnte.
Wahrscheinlich ist aber auch die litterarische Bearbeitung der Annalen
auf diesen P. Mucius Scaevola zurückzuführen. Die Tafeln gingen beim
gallischen Brand zu Grunde, es sind also die vor diesem Ereignis voraus-
liegenden rekonstruiert worden. Am besten lernen wir die Annalen aus
Diodor kennen.
Die Steinkalender sind gesammelt und erlftutert von Mommsen, CIL. 1, 293; die
Bacfakalender werden wir später besprechen. Eine Magistratstafel (zugleich mit einer
Triumphtafel) sind die fasti CapitoUni, sogenannt, weil sie sich jetzt auf dem Gapitol befinden.
UrsprOnglich bedeckten sie die Amtswohnung des Pontifex nuiximus, die Regia, wo sie
und zwar die Magistratstafeln früher als die Triumph tafeln zur Zeit des Augustus aufge-
steUt und einige Zeit fortgesetzt wurden. Vgl. Hibschfbld, Die Capitolinischen Pasten
Hermes 9, 94 u. 11, 154; Mommsbn, Rom. Forsch. 2, 58—85; Hülsen, Die Abfassungszeit
der Capitolinischen Fasten Hermes 24, 185. Sie stehen CIL. 1, 414. In einer scharfsin-
nigen Abhandlung de fasHs consularibus antiquissimis Leipz. Stud. IX sucht Gichorius sie
auf eine in AtHcus* Annalis vorgenommene Redaktion (vgl. p. 258) zurückzuführen.
Die zwei Stellen Über die annalea mcucimi sind: Servius in Verg. Aen. 1, 873
üa auUm annales conficiebantur : inbtdam dealbatam quoiannia pontifex maximua habuit,
in qua praescriptis consuium nominibus et aliorum magisiratuum digna memoratu noiare
consueverat domi müüiaeque terra marique gesta per singtdoa dies, cuius düigentiae
annuo8 commentarios in octoginta libroe veieres rctulerunt eoaque a pontificibus maximis,
a qmbfU fiebant, annales maximos appellarunt, Cic de or. 2, 12, 52 ab inüio rerum
Bomanarum usque ad P. Mucium pontificem maximum res omnes singulorum annorum
nuMndabat Utteris pontifex maximus referebatque in album et proponebat tabulam domi,
potestas tU esset populo eognoscendi. Soltau, R^m. Chronologie p. 445 will nach diesen
beiden Zeugnissen eine Pontifikaltafel« durch welche dem Volke gesicherte Kunde der
2*
20 BOmiflche Litteraturgeflohichte. L Die Zeit der Republik. 1. Periode.
wichtigeren Ereignisse za teil werden sollte'' (Bulletins) und eine Jahreschronik unter-
scheiden.
Litteratur: Sohwegler, ROm. Gesch. 1, 7; Hübneb, Die annales nuuntni der Römer
Flbckbis. J. 79, 401—423. Petes, Historicorum Eomanorum reliquiae 1, IX. Nitzsch,
Die röm. AnnaJistik. BerL 1873. Nissen, Ent Untersuchungen ttber die Quellen des
livius p. 86.
15. Die Xn Tafeln. Als das grösste Werk, das in Prosa in dieser
Zeit abgefasst wurde, sind die Gesetze der auf dem Forum aufgestellten
xn Erztafeln zu betrachten, von denen zehn im J. 451, zwei im J. 450
abge&sst wurden. Über das Wesen dieser Gesetzgebung besteht keine
Divergenz der Meinung; im grossen Gkinzen haben wir in den XU Tafeln
das nationale Gewohnheitsrecht der Römer kodifiziert, und zwar ist Kriminal-,
Givilrecht, Cüvilprozess noch nicht geschieden, ja auch einzelne staatsrecht-
liche Bestimmungen waren darin aufgenommen. Die politische Bedeutung
dieser Gesetzgebung besteht darin^ dass der Willkür im Rechtsprechen ein
starker Damm entgegengestellt wird. Denn einmal gewinnt der Rechtssatz
erst durch schriftliche Fixierung einen klaren und bestimmten Inhalt, als-
dann kann die Rechtsprechung jederzeit der öffentlichen Kontrolle unter-
worfen werden. Neben der politischen Bedeutung haben die Tafeln noch
eine sehr hoch anzuschlagende litterarische, Sie enthalten den ersten
Versuch, die lateinische Sprache für die Schriftprosa gefügig zu machen^
d. h. den ersten Versuch der Periodologie, durch die ja die geschriebene
Rede von der gesprochenen sich besondei*s abhebt. Der harte Perioden-
bau der Fragmente, der auf den Subjektswechsel gar keine Rücksicht
nimmt, zeigt, wie schwierig dieser Versuch war. Aber noch in anderer
Hinsicht tritt die litterarische Bedeutung der XII Tafeln hervor. Sie
wurden das Lese- und Memorierbuch der römischen Jugend; dadurch
wirkten sie nicht bloss auf die Charakterbildung mächtig ein, sondern die
Jugend lernte die Schriftprosa zuerst aus den Xu Tafeln. Wie bei uns
Luthers Bibelübersetzung unsern Sprachschatz wesentlich beeinflusst, so
muss auch die Sprache der XII Tafeln den römischen Stil durchtränkt
haben. So finden sich denn in der That in den Autoren genug Stellen,
die nur durch die Beziehung auf ein XII Tafelgesetz ihr volles Licht er-
halten. Weiterhin werden die XII Tafeln das Objekt, an dem die römische
Phüologie ihre Kräfte versuchte, indem sie ausser Kurs gekommene Wörter
erklärte. Doch die nachhaltigste Wirkung übten die Tafeln auf die Ent-
wicklung des Rechts und der Rechtswissenschaft aus. Die Interpretation
suchte das XII Tafelgesetz zu erläutern und fortwährend in Einklang mit
den Bedürfnissen des Lebens zu erhalten. Darauf beruhte die stetige
Weiterentwicklung des Rechts.
Von den XII Tafeln ist uns keine erhalten; sie gingen bei der Gallischen Eroberung
(887/6) zu Grund; ob sie wieder hergestellt wurden oder ein anderweitiger Ersatz gesucht
wurde, ist nicht sicher. Vgl. Kablowa, Rechtsgesch. 1, 108. Wir sind daher auf die An-
gaben bei den Schriftstellern angewiesen, welche aus rechtlichen oder sprachlichen Rück-
sichten entweder ganze Gesetze oder Teile zitieren. Die Restauration des Gesetzgebungs-
werkes ist daher ein sehr schwieriges Problem und kann nur in unvollkommener Weise
gelöst werden; einmal erscheint der Wortlaut der Gesetze vielfach modernisiert, indem
sie sich der Sprache der jeweiligen Generation anpassen. Alte Formen, die in den
XII Tafeln vorhanden sein mussten, sind nicht selten spurlos verschwunden. Es ist daher
sehr fraglich, ob es Überhaupt möglich ist, die Urform der Gesetze herzustellen und ob wir
ans nicht zufrieden geben müssen, wenn es ims gelingt^ die Gesetze in der Fassung,
Prosa, öffentliohe Denkmäler. 21
in der eie bei den Schriftsiellem einer bestimmten Epoche eischeinen, zn geben. Noch
weniger ala die Form der Gesetze können wir die Reihenfolge der Tafeln und der Oesetze
ermitteln. Ein nm die Geschichte des römischen Rechts hochverdienter Gelehrter Duuc-
snr z. B. hat einen derartigen Versuch gemacht, allein derselbe hftlt genauerer Prüfung
nicht Stand.
Litteratnr: DiBKSBf, Kritik und Herstellung des Textes der XII Tafelfragmente.
Leipz. 1864 M. Voigt, Geschichte und allgemeine juristische Lehrbegriffe der XII Tafeln.
2 Bde. Leipz. 1883. Legis XII tahülarum reliqutae. Ed. R. Schokll. Leipz. 1866.
16. Jos Papirianuni. Ausser den Xu Tafeln begegnet uns noch
eine Kodifikation, nämlich die Kodifikation der Königsgesetze {leges regiae)
im sog. ius Papirianum. Dieselbe ist aber eine litterarische, d. h. in Buch-
form gebrachte. Nach dem Zeugnis des Pomponius (Dig. 1, 2, 2, 2) ist
es eine Sammlung der Gesetze, welche die Könige gegeben haben, ver-
anstaltet von einem Sex. Papirius zur Zeit des Tarquinius Superbus. Dio-
nysius berichtet 3, 36 noch ausführlicher, dass ein Oberpontifex G. Papirius
nach der Vertreibung der Könige eine Sammlung sakraler Bestimmungen
wieder zur öffentlichen Kenntnis gebracht habe, nachdem eine solche Pu-
blikation des Ancus Marcius im Lauf der Zeit zu Grund gegangen sei.
Allein es ist schwer, sich jene Gesetze des »u8 Papirianum als von den
Königen erlassene Gesetze zu denken^ es ist unmöglich, in jenem Papirius,
dessen Vorname schwankend angegeben wird, den Redaktor der Gesetzes-
sammlung zu erblicken. Die erste schriftliche Gesetzgebung erhalten wir
mit den XII Tafeln; deren Notwendigkeit zeigt, dass zuvor eine kodifizierte
Gesetzgebung nicht existierte. Sonach haben wir die Zeit der Redaktion
und die Person des Redaktors als apokryph anzusehen. Wie steht es nun
mit dem Inhalt? Soweit die Fragmente es erkennen lassen, sind die Königs-
gesetze Bestimmungen ritueller und sacralrechtlicher Natur, welche für
das Publikum allgemeines Interesse haben, und zwar solche, die in den
Amtsbereich der Pontifices fielen. Sonach werden die Königsgesetze auf
einem Auszug aus den Pontifikalbüchern beruhen. Dieser Sammlung, welche
auf privatem Weg erfolgte, wurde der Name jenes Oberpontifex Papirius
vorgesetzt, um ihr mehr Gewicht zu verleihen. Kommentiert wurde das
Buch von Granius Flaccus, einem Zeitgenossen Gäsars (Dig. 50, 16, 144).
Also muss die Sammlung schon damals bestanden haben. Ob sie noch
weiter zurückgeht, hängt davon ab, ob anzunehmen ist, dass Gassius Hemina
(um 146), der von Numa zwei Gesetze anführt (fr. 12 und 13 p. 99 Peter),
dieselben aus dem papirischen Rechtsbuch entnommen. Ist die Verteilung
der Gesetze unter die einzelnen Könige ein Werk des Redaktors, so ist
die Frage entschieden. Waren aber schon von den Pontifices die Gesetze
mit den Königen verknüpft, so ist das Zeugnis für die Zeit der Redaktion
irrelevant.
Neben den leges regiae finden wir auch zitiert commerUarü regii. Beide sind ver-
schieden. «Die Kommentarien sind die pontificale Sacralordnnng Oberhaupt, die leges re*
giae eine daraus fQr das Publikum ausgezogene Anweisung, hauptsächlich zur Vermeidung
des piaculum^ MoufSBV, Staatsr. 2, 1 p. 42, 2. Nach Sohm, Instit.' 29, Anm. 1 führen die
leges regiae ihren Namen wahrscheinlich lediglich daher, dass diese Ordnungen dem un-
mittelbaren Schutz der Könige unterstellt waren, geradeso wie altattische Kultusordnungen
den Namen «königliche Gesetze" lediglich deshalb f&hrten, weit ihre Handhabung dem
Archon-KOnig. oblag.
Litteratnr: Das gesamte Material gibt M. Voigt, Über die leges regiae. Abb. der
süchs. Oesellsch. der Wissensch. 7/ 557, seine Darlegung kommt aber zu unhaltbaren Re-
sultaten.
22 BömiBche Litteraturgeachichie. I. Die Zeit der Bepnblik. 1. Periode.
17. Jus Flavianum. Das Landrecht war kodifiziert, man wusstc,
was Rechtens ist, allein es fehlte noch die allgemeine Kenntnis der Mittel
und Wege, sein Recht geltend zu machen. Zu diesem Zwecke war es
notwendig, einmal zu wissen, welches die Tage waren, an denen Recht
gesprochen werden durfte, dann welches die Prozessformen waren, um
einen Rechtsstreit giltig einzuleiten. Dieses Wissen war aber ein Privi-
legium der Pontifices. Sonach war noch immer das Recht gebunden und
unfrei. Diese Gebundenheit wurde beseitigt durch eine kühne That, welche
Appius Claudius Caecus hervorgerufen hatte. Sein Schreiber Cn. Flavius
stellte (vgl. § 14) ein Verzeichnis der Gerichts- und der anderen Tage aui
dem Forum auf (Liv. 9, 46), femer veröffentlichte er Prozessformulare (legis
actiones Dig. 1, 2, 2, 7) in Buchform. Dieses Buch hiess jus Flavianum
Mit dieser Publikation hörte alles Geheimnis des Rechtes auf. Wir stosser
daher auch bald auf den ersten Rechtslehrer, Ti. Goruncanius (Cons. 280), wel-
cher der erste plebejische Pontifex maximus war. Er erteilte nämlich seine
Rechtsbescheide öffentlich, so dass zuhören konnte, wer wollte, nicht blosi
der einen Rechtsbescheid Suchende, und knüpfte Erörterungen daran. Dami
that wiederum die Rechtskunde einen weiteren Schritt in die Öffentlichkeit
Die Kunst, das Recht anzuwenden, ward jetzt verallgemeinert, sie tra
aus dem Kreis der Pontifices heraus. Schriften hinterliess Goruncaniui
nicht, allein es hatten sich von ihm mehrere Rechtsbescheide und merk
würdige Äusserungen oder Handlungen {memorabilia) durch Tradition er
halten.
Hauptaiellen Aber Ti. CorancanioB Dig. 1, 2, 2, 85 und 38. Vgl. Jobs, Römiscb
RecbtswiBsenscbaft zur Zeit der Republik 1, 73.
Die Fragmente der vorjustinianiscben Jurisien sind gesammelt von Huschke iurii
prudeniiae Anteiuatinianae quae supe^sunt. Ed. IV Leipz. 1879. Eine Sammlung di
Fragmente der Juristen aus der Zeit der Republik nebst Kommentar stellt Jobs in Aussich
18. Verträge und Gesetze. Ihre Zahl ist klein; denn durch de
Brand, der bei der gallischen Eroberung (387/6) Rom mit Ausnahme de
Eapitol einäscherte, sind die meisten zu Grund gegangen. Durch Auger
zeugen haben wir nur von folgenden Schriftdenkmälern aus der Zeit vc
dem gallischen Brande Kunde erhalten. 1) Dionysius sah noch (4, 2(
den Bündnisvertrag, der zwischen Rom und den Latinern unter Servil
Tullius abgeschlossen wurde. Derselbe war auf eine eherne Tafel m
altgriechischen Buchstaben eingegraben; die Tafel war in dem Bundestemp«
der Diana auf dem Aventin aufgestellt. 2) In gleicher Weise schildei
nach Autopsie Dionysius 4, 58 den Vertrag eines Tarquinius mit Oabii ; <
stand auf einem mit einer Rindshaut überzogenen Schild im Tempel d<
Sancus auf dem Quirinal, welcher Tempel wahrscheinlich auch der gallische
Katastrophe entgangen war. Auf diesen Vertrag spielt Horaz Ep. 2, 1, 25 a
3) Polybius setzt (3, 22) den ersten Handelsvertrag der Römer mit den Karthj
gern, dessen Inhalt er angibt, ins Jahr 508; er fügt bei, dass derselbe in ein<
Sprache abgefasst war, welche den Gelehrten seiner Zeit Schwierigkeit^
machte. Allein es ist strittig, ob dieser Vertrag hieher gehört, da Diod<
16, 69 den ersten dieser mit Karthago geschlossenen Handelsverträge ii
Jahr 348 setzt. 4) Cicero erinnerte sich noch, in seiner Jugendzeit d<
Bundesvertrag gesehen zu haben, den Sp. Cassius 493 v. Gh. mit den L
Prosa. Familiendenkmäler. 23
tinem schloss; er stand auf einer ehernen Säule, die auf dem Forum auf-
gestellt war (Cic. p. Balbo 23, 53). 5) Livius gedenkt 7, 3 des Gesetzes
{lex priscis litteris verbisque scripta) vom Einschlagen des Jahresnagels;
dasselbe war im kapitolinischen Tempel angeheftet. 6) Zur Zeit des Dio-
nysius (10, 32) befand sich noch im Aventintempel die eherne Säule, auf
der das Gesetz des L. Icilius Ruga (456) betreffend die Verteilung des auf
dem Aventiu befindlichen ager püblicus an die armen Plebejer für Bauplätze
geschrieben stand. 7) Der Bundesvertrag mit Ardea (444) scheint noch
dem Licinius Macer aus der Zeit des Sulla zugänglich gewesen zu sein
(Liv. 4, 7). 8) Endlich — um auch dies gleich hier zu erwähnen — las
die Inschrift auf dem linnenen Panzer des Vejenter Königs Tolumnius den
der Konsul A. Cornelius Cossus im Fidenatenkrig besiegt und dessen Panzer
er im Tempel des Juppiter Feretrius geweiht hatte (wahrscheinlich 428),
noch Augustus (Liv. 4, 20).
Das sind die ältesten Schriftdenkmäler, von denen uns noch die
späteste Zeit auf Autopsie hin Kunde gibt. Alles sonstige der galli-
schen Katastrophe vorausliegende Schrifttum, das wir erwähnt finden, ist
zweifelhafter Natur. Man begreift darnach, wie unsicher die Überlieferung
der ältesten römischen Geschichte sein musste, und versteht die Klage
des Livius (6, 1).
Varro erwähnt nach Macrobins 1, 13, 21 antiquissimam legem incisam in columna
aerea a L, Pinario et Fwrio consulxbtM (472).
Litteratur: Sohweoleb, Rom. Geschichte 1, 18—21. Moxmsen, R. Gesch. 1', 216.
Forsch. 2, 159. 238. Rom. Chrono!.' p. 93. Die reiche Litteratur flher die karthagischen
Vertrfige siehe bei Meltzbb, Geschichte der Karthager 1, 487 and bei Soltau, Philolog. 48,
131. Besonders wichtig sind Mommsen, Rom. Chronologie* p. 320, welcher den ersten
Yerkag ins Jahr 348 v. Ch. setzt, und Nissen, Fleckeis. J. 97, 321, welcher Polybius folgt.
b. Familiendenkmäler.
19. Die Leichenrede und das Eloginm. Von Privataufzeichnungen
sind für die ältesten Zeiten nur wenige Spuren vorhanden. Die wichtigste
ist die Leichenrede {laudatio funebris). Es war Sitte, dass auf den
vornehmen Verstorbenen von einem Angehörigen, der dem Toten am
nächsten stand und zugleich befähigt war, oder wenn es sich um ein öffent-
liches Leichenbegängnis handelte, von einem hiezu bestellten Beamten auf
dem Forum eine Leichenrede gehalten wurde. Diese Sitte, welche auf
Polybius grossen Eindruck machte und ihn zu einer sehr interessanten, den
Leser ungemein fesselnden Schilderung veranlasste (6, 53), geht sehr weit
zurück, wie man aus Dionysius 5, 17 zu schliessen berechtigt ist. Solche
Reden wurden wohl anfangs nicht aufgeschrieben; schriftlich fixiert fan-
den sie ihre .passende Stätte im Familienarchiv; von da aus nahmen sie,
besonders wenn es sich um berühmte Persönlichkeiten handelte, nicht selten
auch den Weg in die Öffentlichkeit. Die Schriftsteller geben uns Kunde
von solchen umlaufenden Reden; so bezeugt Plutarch ausdrücklich, dass
zu seiner Zeit noch die Leichenrede vorhanden gewesen sei, die Fabius
Maximus Gunctator auf seinen Sohn hielt (Fab. 1, 30); Plinius (n. h. 7, 139)
führt aus der Leichenrede des Q. Gaecilius Metellus auf seinen Vater
(221 V. Gh.) Gedanken an. Auf den jüngeren Scipio gab es eine Leichenrede,
24 BOmisohe litteraturgeschichie. L Die Zeit der Republik. 1. Periode.
die Laelius für Q. Fabius Maximus schrieb. Die schoUa Bobiensia haben
uns p. 283 Or. aus dieser Rede ein Kolon erhalten. Nach Cicero scheinen
diese Reden von künstlerischer Form weit entfernt gewesen zu sein (de or. 2,
84, 341). Verwandt mit der Leichenrede ist das elogium^ die Aufschrift
unter dem Ahnenbild (auch index, titulus). Dasselbe kann als eine abge-
kürzte Leichenrede angesehen werden. Es war nämlich Sitte, die Ahnen-
bilder und die Stammbäume im Atrium aufzubewahren und bei jedem Ahnen-
bild die Thaten und Ehren des Dargestellten kurz zu verzeichnen. Auch
diese Sitte muss sehr weit zurückgehen; dies erhellt daraus, dass Appius
Claudius in dem von ihm 296 v. Ch* gestifteten Tempel der Bellona seine
Ahnenbilder mit den Aufschriften aufstellen konnte (Plin. n. h. 35, 12). Auf
diese Weise war eine Familienchronik in Rudimenten vorhanden; später,
wohl gegen Ende der Republik, wurden, wie es scheint, aus diesen elogia
Familienchroniken gemacht; so erwähnt Gellius 13, 20, 17 eine Denkschrift
über die Porcische Familie. Die Autoren klagen, dass durch diese Leichen-
reden und Elegien die Geschichte verfälscht wurde (Cic. Brut. 16, 62, Liv. 8,
40) 4). Man wird diese Klage berechtigt finden, man braucht sich nur
daran zu erinnern, wie nach Aufkommen der Aeneassage es üblich wurde,
den Stammbaum auf trojanische Helden hinaufzuführen.
Litteratur: Schweolkb, Rom. Geech. 1, 14. Gbaff, De Bomanorum laudaHonibus,
Dorpat 1862. Hübher, Hermes 1, 440. Mommben, CIL. 1, 277. Peteb, Historicorum roma-
norum reliquiae 1, XXVÜL
o. Appins GlandiuB Caecns.
20. Der erste römische Schriftsteller. Die bisherige Betrachtung
hat uns Schriftdenkmäler kennen gelehrt, welche durch äussere Bedürfnisse
hervorgerufen wurden; sie hat uns aber auch freie Schöpfungen des Geistes
und zwar in mannigfacher Gestalt vorgeführt. Allein an bestimmte Namen
konnten wir diese Produkte nicht anknüpfen. Wir hatten Schriftwerke,
aber keine Schriftsteller. Mit Appius Claudius Caecus (Cons. 307 und 296),
dessen grossartigen Einfluss auf die Verfassungsverhältnisse, Rechtsentwick-
lung (vgl. § 17) die politische Geschichte darzulegen hat, dessen grossartige
Bauten seinen Namen unsterblich gemacht haben, erhalten wir auch den
ersten römischen Schriftsteller. Es sind zwei Werke, welche die Litteratur
von ihm lange Zeit bewahrt hat, ein Werk der Prosa und ein Werk der
Poesie. Als der König Pyrrhus im J. 280 durch einen Abgesandten, den
Thessaler Kineais, mit dem Senat wegen eines Friedens unterhandeln liess,
trat Appius Claudius, schon hochbetagt damals, auf und sprach in so ein-
dringlicher Weise dagegen, dass die Friedensanträge zurückgewiesen wurden.
Diese berühmte Rede des Appius Claudius wurde aufgezeichnet und publi-
ziert; sie war noch zu Ciceros Zeit vorhanden (Cato m. 16). Noch wichtiger
ist das zweite Werk, eine Spruchsammlung {sententtae), in Satumiem.
Drei Sprüche sind uns aus derselben erhalten, darunter der jetzt in aller
Mund lebende „Jeder ist seines Glückes Schmied.* Cicero nennt diese
Spruchsammlung pythagoreisch, er denkt wohl an die goldenen Sprüche
des Pythagoras (Tusc. 4, 2, 4). Möglich, ja wahrscheinlich ist es, dass die
griechische Spruchdichtung auf Appius Claudius eingewirkt hat.
Appins Clandins Caeons. 25
Die ersten Schriftsteller sind zugleich die ersten Sprachmeister. Auch
bei Claudius tri£Et dies zu. Es werden einige Neuerungen in der Schrift
ihm zugeschrieben. Er führte die Schreibung von r statt s in gewissen
Wörtern durch; es scheinen dies besonders Eigennamen gewesen zu sein,
die noch die. alte Schreibung bewahrten, nachdem längst der Lautwandel
von s zu r sich vollzogen (Dig. 1, 2, 2, 36); er verdrängte das z aus dem
lateinischen Alphabet; später wieder aufgenommen, konnte es seine frühere
Stelle im Alphabet nicht mehr erhalten, sondern blieb ans Ende desselben
gebannt (Mart. Cap. 3, 261 p. 64 Eyssenh. vgl. § 12).
Aach im Altertum bestand die Tradition, dass Appios Claudios der erste Sohriflsteller
sei. Ungeschickt Isidor. orig. 1, 87, 2: apud Bomanos — Äppius CaectM adverstu Pyrrhum
solutam ortUionem primus exercuiL
In den Big. 1, 2, 2, 86 wird dem Appius Claudius auch eine Schrift de iMur-
pationibua beigelegt, jedoch mit dem Beisatz qui liber non exstat. Was mit uswr-
pationea hier gemeint sei, ist strittig. Die einen verstehen darunter Fälle der Anwen-
dung der XII Tafeln und halten das Werk IQr eine Responsensammlung, andere fassen
usurpationes als Unterbrechungen des usus und erblicken in dem Werk eine Sammlung
von Formularien fftr Usurpationen. Die Autorschaft des Appius Claudius ist mir sehr
zweifelhaft; vielleicht wurde einer Usurpationen-Sammlung der Name Appius Claudius bei-
gefügt, wie der des Papirius der Sammlung der leges regiae. Vgl. Jobs, Köm. Rechts-
wissensch. 1^ 86.
Die Einf&hning des r statt s durch Appius Claudius bezweifelt Jobdan, Erit.
Beitr. p. 155, Cichorius de fastis p. 175, vgl. dagegen 6. Mbteb, Zeitschr. f. österr.
Gymn. 81, 121. Wenn Jordan p. 154 dem Appius Claudius statt dem Spurius Canrilius
die Erfindung des neuen Zeichens fOr die gutturale Media beilegen will, so ist richtig, dass
zwischen der Ausscheidung des z und der Einführung des g insofern ein Zusammenhang
gegeben ist, als das neu eingeführte g im Alphabet die Stelle des ausgeschiedenen z ein-
nimmt Allein dies kann auch durch die Annahme erklärt werden, dass zwischen Appius
Claudius und Spurius Canrilius persönliche oder zum mindesten geistige Beziehungen be-
standen haben. Vgl. Hayst, Bevue de pkü, 2, 15-18.
21. Bfickblick. Wenn wir auf die erste Periode der römischen Lit-
teratur zurückblicken, so erkennen wir, dass von einer Litteratur im strengen
Sinne des Wortes noch nicht die Rede sein kann, dass uns hier nur Keime
und Ansätze zur Litteratur vorliegen. Allein es wäre unrecht, dieselben
gering zu schätzen oder gar beiseite zu lassen. Diese Keime und Ansätze
haben ja ihre Wurzeln noch in nationalem Boden. Nicht als ob es in
dieser Periode an Anregungen von aussen, besonders von Griechenland
völlig gefehlt hätte; allein von solchen Anregungen ist noch ein weiter
Weg bis zur förmlichen Übernahme einer fremden Kultur und Litteratur.
Die Litteraturanfänge des römischen Volks tragen deutlich an der Stirne,
wess Gteistes Kind sie sind. Nehmen wir die gebundene Rede, so fehlt der
aus dem Herzen frisch hervorsprudelnde Liederquell, der uns des Sängers
Leid und Freud erschliesst, dafür sprosst empor das Kultuslied, das den
Segen der Himmlischen erfleht, das Ahnenlied, das die Thaten der Vor-
fahren preist, der Spruch, durch den der Vater den Sohn unterweist. Nur
als Begleitierin des Festes stellt sich die Dichtkunst in den Dienst der
individuellen Ungebundenheit und Freiheit. Nehmen wir die Prosa, so
knüpfen die Formen, die über das Bedürfnis des praktischen Lebens hinaus-
gehen, wie das Ahnenlied an das Gemeinwesen an. Es sind dies die
schlichten* historischen Aufzeichnungen, welche aber alle Keime der £nt-
26 ROmiaohe LiüeratnrgeBchichie. I. Die Zeit der Republik. 1. Periode.
Wicklung in sich tragen, und die Leichenrede, die zum Preise berühmter
Toten gesprochen wurde. Dass aus diesen Elementen eine Litteratur heraus-
wachsen konnte, wer wollte das leugnen? Wer wollte z.B. in Abrede stellen,
dass sich aus dem Festlied und Festspiel eine dramatische Form heraus-
bilden konnte? Allein andrerseits dürfen wir nicht vergessen, dass zu
einer vollen Blüte einer Litteratur vor allen Dingen die Freiheit, Unge-
bundenheit des individuellen Lebens gehört — auf diese Güter musste aber
das römische Volk verzichten, wenn es die ihm von dem Geschick über-
wiesene Rolle durchführen wollte.
Zweite Periode:
Die römische Kunstlitteratur.
A. Die Litteratur Yom zweiten punischen Krieg bis zum
Ausgang des Bundesgenossenkriegs (240-88).
22. Der Hellenismns in der römiscfaen Litteratur. An mannig-
fachen Beziehungen zwischen Rom und Griechenland hat es seit den ältesten
Zeiten nicht gefehlt. Das Alphabet erhielten die Römer von den Griechen;
griechische Religionsvorstellungen ergossen sich nach Rom; ein interessanter
Beleg hiefür sind die in griechischer Sprache abgefassten sibyllinischen
Orakel, welche in schwierigen Lagen befragt wurden. Bezeugt ist der
griechische Einfluss auf die Zwölftafelgesetzgebung; auch in den staatlichen
Einrichtungen der Römer lassen sich unschwer griechische Elemente er-
kennen. Ferner bestanden ausgedehnte Handelsbeziehungen zwischen Rom
und Griechenland, welche die Kenntnis der griechischen Sprache von Seiten
der Römer zur Notwendigkeit machten. So war denn der römische Boden
für die griechische Litteratur sehr empfänglich gemacht. Diese musste
sich in vollen Strömen nach Rom ergiessen, als die politischen Verhältnisse
die Römer und Griechen in noch engere und häufigere Beziehungen zu
einander brachten. Dies geschah durch den Krieg mit Tarent (282 — 272),
der die unteritalischen Griechen, dann durch den ersten punischen Krieg
(264 — 241), der die sicilischen Griechen den Römern näher rückte. Durch
diese Kriege kam eine Masse Hellenen nach Rom. Diese aber brachten
mit nach Rom ihre heimische Litteratur. Diese Litteratur aber hatte be-
reits alle Stufen der Entwicklung durchgemacht; sie lag da als ein voll-
endetes Ganze von unvergänglicher Schönheit, die römische Litteratur da-
gegen stak noch in den allerersten Anfangen. Von einem Kampf der
römischen Litteratur mit der griechischen konnte sonach keine Rede sein; da
das Schwache dem Starken zu weichen hat, war der nationalen Litteratur
die weitere organische Entwicklung versagt. Es tritt jetzt die Überführung
der griechischen Litteratur nach Rom ein. Durch Übersetzungen der grie-
chischen Schriftwerke suchte man zunächst die Bedürfnisse der gebildeten
Gesellschaft, besonders der Schule zu befriedigen. Man verfuhr hiebei sehr
28 Römische Litteratargeschichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
willkürlich, je nach Laune, je nach Zufall griff man bald zu diesem, bald
zu jenem Werk. Damit ist der fragmentarische Charakter der römischen
Litteratur für alle Zeiten festgestellt. Diese Litteraturübertragung ging
in der Zeit des zweiten punischen Kriegs vor sich; von dieser Zeit an
datiert die römische Eunstlitteratur. Mit Recht singt daher der Dichter
Porcius Licinus (Gell. 17, 21):
Poenico beüo secundo Musa pinncUo gradu
InMit 86 hdlicosam in Bomuli gentem feram,
a) Die Poesie.
1. L. Livius Andronicus.
23. Die lateinische Odyssee. Ein zufalliges Ereignis sollte eine
grosse Wendung im römischen Geistesleben herbeiführen. Durch den Ta-
rentinischen Krieg kam der Grieche Andronicus (272) mit anderen Ge-
fangenen nach Rom; er muss damals sehr jung gewesen sein, da wir ihn
noch 207 thätig finden. Sein Herr wurde der berühmte M. Livius Salinator,
dessen Kinder er später unterrichtete. Freigelassen führte er den Namen
L. Livius Andronicus. Er blieb Schulmeister, sein Unterricht erstreckte
sich auf beide Sprachen (Suet. de gramm. 1). Für seinen griechischen
Unterricht hatte er Lehrmittel in Fülle; dagegen fehlte es für den lateini-
schen an Litteraturwerken , an denen sich der jugendliche Geist bilden
konnte. Wohl um diesen Notstand zu beseitigen, übersetzte Livius die
Odyssee; wir finden noch zur Zeit des Horaz diese Übersetzung als Schul-
buch, mit dem Orbilius seine Schüler quälte. Als Versmass wählte Li-
vius das nationale Mass, den Saturnier. Seine Übersetzung begann mit
den Worten
virüm mihi, Camina, insed versutum.
Schon aus diesem Verse erkennt man, dass der Ton dieser Übersetzung
ein ganz anderer war als der des Originals. Sie muss einen steifen, mit-
unter komischen Eindruck gemacht haben. Schon die konsequente Wieder-
gabe der griechischen Qöttemamen durch römische (wie z. B. Moria statt
MoTqa fr. 12 B.) mutet uns eigentümlich an. Seine Kenntnis der homeri-
schen Sprache muss nicht besonders tiefgegangen sein; wenigstens wäre
das sonderbare Missverständnis im 31. Fragment sonst nicht möglich ge-
gewesen. Die spätere Zeit konnte kein Gefallen mehr an diesem Werke
finden; Cicero vergleicht es Brut. 18, 71 mit den rohen Versuchen des
Dädalus auf dem Gebiete der Kunst.
Die Bedenken wegen des Vornamens L. beseitigt Moxhbbn, R. Gesch. 1* 881. Die
Herkunft aus Tarent und die Gefangennahme des Livius gebt hervor aus Gic. Brut 18, 71.
Hieronym. ad. a. 1830 (2, 125 Seh.) ob ingenü meritum a Livio ScUinatore, cui'u^ liberos
erudiebat, libertate donattts est.
Die Fragmente sind gesammelt bei L. MüIler, Der satum. Vers p. 124, bei BIh-
BENS, fragmenta p, r. p. 37.
24. Das griechische Drama in Rom. Dramatische Elemente waren
in Rom vorhanden, sie versprachen auch eine erfreuliche Blüte; allein ihre
Entwicklung wurde gestört durch ein Ereignis des Jahres 240. In diesem
Jahre wurde nämlich an den ludi Romani von Andronicus eine Tragödie und
eine Komödie in lateinischer Bearbeitung auf die Bühne gebracht. Schon
in formeller Beziehung war dies eine ganz bedeutende That. Das alte
L. livins Andronicns. 29
satuiiiische Mass, dies war klar, konnte hier nicht zur Anwendung gelangen;
auch war eine grössere Mannigfaltigkeit von Massen geboten. Andronicus stand
also vor dem Problem, wie die griechischen Metra auf die römische Sprache
zu fibertragen seien. Dies erforderte vor allem genaueres Eingehen auf
die Quantität der Silben. Aber auch für das metrische Schema mussten
bestimmte Normen aufgestellt werden. Diese Normen sind grundlegend
für die römische Verskunst geworden. Bezüglich der Aufführung seiner
Stücke erhalten wir einen merkwürdigen Bericht von Livius (7,2). Andronicus
habe selbst die Hauptrolle übernommen; da er die Gesänge {Monodien)
infolge des Dacaporuf ens öfters habe wiederholen müssen, hätte seine
Stimme versagt; um sich zu schonen, habe er die Erlaubnis erbeten und
erhalten, durch einen Knaben die Arie singen zu lassen, während er nur
die entsprechenden Gesten dazu machte. Wir haben Grund, diese Er-
zählung anzuzweifeln; der ganze Bericht des Livius trägt einen unverkenn-
bar ätiologischen Charakter an sich; die Erzählung wird daher nur ein
Versuch sein, die Thatsache, dass später die Schauspieler die Monodien
öfters nicht mehr selbst sangen, aus dem Ursprung des römischen Dra-
mas heraus zu erklären. Von den Dramen, die Andronicus übersetzte, sind
nur wenige Fragmente erhalten; von den Komödien haben wir nicht viel
mehr als einige Titel. Die von Andronicus bearbeiteten Tragödien sind, soweit
wir sie kennen, folgende: Achilles, Aiax mastigophoros, Equos Troianos,
Aegisthus, Hermiona, Andromeda, Danae (welches Stück L. Müller dem
Naevius zuteilt), Ino, Tereus. Auch über diese Stücke fällte die spätere
gebildete Zeit ein hartes Urteil; Cicero meint (Brut. 18, 71), sie verdienten
nicht zum zweitenmal gelesen zu werden. Allein trotzdem haben diese
Versuche eine grosse Bedeutung; sie haben der römischen Welt ein hoch-
bedeutsames Stück der griechischen Litteratur zugänglich gemacht.
FQr die Festste! lang dieses wichtigen Ereignisses sind massgebend Cio. Brot. 18, 72,
lAvius primtu fahulam C. Claudio Caeci filio et M, Tudüano cansidibus docuit, anno ipso
ante quam natus est Ennius, post Bomam conditam autem quarto decumo et quingentesumo,
ut hie ait, quem nos seqmmur. Est enim inter scriptores de numero annorum controversia
in Bezog aof das Jahr, Cassiod. Chron. zom J. 239 in Bezog aof das Festspiel (ludis Romanü
primum tragoedia et comoedia — ad scenam data). Über den ätiologischen Charakter der
Livianiachen Erzählong vgl. Lbo «Vabbo ond die Satire* Hermes 24, 75.
Die Fragmente der Tragiker ond Komiker sind gesammelt von 0. Ribbbck, vol. I
fragm. tragie,, Leipz. 1871 vol. II fragm, comtc, Leipz. 1873, aof die ein ffir allemal hiermit
▼erwiesen wird. Ergänzend tritt hinzo Ribbeck, Die röm. Tragödie, Leipz. 1875. Livi Andro-
nid et Cn, Naevi fobularum reliquiae. Ed. L. Müller, Berlin 1885.
25. Die römische Dichterznnft. Im Jahre 207 stellten sich sehr
tramige Vorzeichen ein; zur Abwehr derselben beschlossen die Pontifices,
dass dreimal neun Jungfrauen durch die Stadt ziehen und ein Lied singen
sollten. Das Lied wurde von Andronicus verfasst. Als die Jungfrauen im
Tempel des Juppiter Stator es einübten, schlug der Blitz in den Tempel der
Juno Regina auf dem Aventin ein. Dieses Prodigium deuteten die Haru-
spices auf die Matronen und verlangten für die Göttin eine Sühne. Zu
einem Geschenk, das der Juno dargebracht wurde, kam noch die mit
ganz besonderer Feierlichkeit ausgestattete Prozession, die uns Livius
27, 37 beschrieben hat. Bei derselben wurde das von Andronicus ge-
dichtete Lied von den 27 Jungfrauen gesungen. Auch Tanzbewegungen
waren mit dem Gesang verbunden. Livius fällt über das Lied kein
30 BOmische Litteratnrgeschichte. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
günstiges Urteil; für die damalige Zeit, die noch keine Kultur entwickelt
hatte, sei es vielleicht annehmbar gewesen, jetzt müsse es dem Leser ab-
stossend und holpericht erscheinen. Aus Festus erhalten wir ebenfalls
Kunde von einem Jungfrauenlied. Dasselbe kann nicht mit dem vori-
gen identisch sein, während das vorige Lied ein Bittgesang war,
haben wir in dem von Festus erwähnten ein Danklied; denn Festus
bezeichnet ja als Entstehungsursache ausdrücklich die günstigere Wendung,
die im zweiten punischen Krieg in der politischen Lage eingetreten sei;
diese günstigere Wendung wurde aber bekanntlich durch die Schlacht bei
Sena (2Ö7) herbeigeführt. Was liegt also näher als die Annahme, dass
Livius dieses Lied zum Preise seines Patrons geschrieben, des M. Livius
Salinator, der in jener entscheidenden Schlacht mit Claudius Nero den
^ Hasdrubal geschlagen hatte? An dieses Lied knüpft sich ein für die Lit-
teratur nicht unwichtiges Ereignis. Zur Belohnung des Dichters wurde
den Dichtem und Schauspielern (scribis histrionibusque) der Tempel der
Minerva auf dem Aventin angewiesen, in dem sie zu gemeinsamem Gottes-
dienst und zur gemeinsamen Beratung „zusammentreten** {consistere) konnten.
Damit hatte der Stand der Dichter offizielle Anerkennung gefunden.
Festus p. 333 cum Livius Andronicus hello Punico secundo scripsisset Carmen quod
a virginibus est cantatum, quia prosperius resp, popüli romani geri coepta est, publice
adtributa est ei in Aventino aedis Minervae, in qua liceret scribis histrionibusque consistere
(über diesen technischen Ausdrack Mommsen, Hermes 1, 309) ac dona ponere, in honorem
Um, quia is et scribebat fdbulas et agebat.
In die Zeit des Livius fällt das Carmen Priami in Satumiem und das Carmen Nelei
in Senaren; vgl. Bahbbns fragm. p. 52.
Blicken wir auf die Thätigkeit des Livius zurück, so sehen wir, dass
er in drei Gebieten sich versuchte, im epischen durch seine Odyssee, im
dramatischen durch seine Tragödien und Komödien, endlich im lyrischen
durch seine Jungfrauenchöre {Parthenien). Zu allen drei Gattungen wurde
er durch praktische Bedürfnisse geführt, zur Odyssee durch den Mangel
an lateinischen Lehrmitteln, zu den Dramata und den Jungfrauenchören
durch das Streben, die öflfentliche Feier durch das Festspiel und das Fest-
gedicht zu erhöhen. Als Schulmeister und als Maitre de plaisir, um mit
Mommsen zu reden, hat Livius die römische Eunstlitteratur begründet.
2. Cn. Naevius.
26. Naevins' Komödien und Satiren. Als zweite Persönlichkeit er-
scheint in der römischen Litteratur Cn. Naevius. Wenn wir zwischen ihm
und seinem Vorgänger einen Vergleich ziehen, so ergeben sich gleich in den
äusseren Verhältnissen bedeutende Differenzen. Livius ist ein aus der
Fremde stammender Sklave, Naevius ist freier Lateiner aus Gampanien;
der erstere ist Schulmeister, Naevius Soldat im punischen Krieg; Livius
wird durch Bedürfnis und Gelegenheit zum Dichter, den Naevius dagegen
führt sein Genius auf den Parnass ; der Tarentinische Freigelassene schreibt
ein Gedicht zum Lobe eines vornehmen Römers, der Gampaner, eine starke,
selbstbewusste, ja trotzige Natur, greift in seinen Gedichten die vornehme
römische Welt an. Wie Livius, so versucht sich auch Naevius zugleich
in mehreren Gebieten der Dichtkunst, im Drama und im Epos. Im Drama
Cn. NaoTias. 31
zog ihn die Komödie bei weitem mehr an als die Tragödie. Man sieht
dies daraus, dass Eomödientitel beträchtlich mehr überliefert sind als
Tragödientitel. Seine Komödien haben die Eigentümlichkeit gehabt, dass
sie die Gegenwart hereinzogen und sich Ausfälle gegen vornehme Staats-
männer der damaligen Zeit gestatteten. Gellius berichtet uns (3, 3, 15),
dass Naevius wegen seiner Schmähungen ins Gefängnis geworfen wurde,
auf welches Ereignis Plautus Mil. glor. 211 anspielt, und seine Befreiung
erst dann erwirken konnte, als er in neuen Komödien sein Unrecht den
angegriffenen Personen gegenüber gut gemacht hatte. In den vorhandenen
Fragmenten der Komödien finden wir, soweit bestimmte Stücke in Frage
kommen, zwar Sätze, die eine persönliche Spitze haben können wie fr. 9
und 72 Ribb., allein eine Verhöhnung mit Namen können wir nur bei dem
Maler Theodotus (fr. 99 Ribb.) aufzeigen. Aber jene Verse, in denen der
Dichter von dem Sieger von Zama erzählt, dass ihn seinerzeit der Vater
vom Liebchen heimtreiben musste (Gell. 7, 8), werden einer Komödie ent-
nommen sein. Die Zuteilung anderer Fragmente ist zweifelhaft, da Naevius
noch eine Gattung gepflegt hat, in der er zu Angriffen genug Gelegenheit
fand, die satura. Und zwar scheint dieselbe die Form der Fescenninen
gehabt zu haben, d. h. Rede und Gegenrede. Wenigstens weist das einzige
Fragment, das ausdrücklich einer Satire beigelegt wird (Festus p. 257),
auf einen Dialog hin. >) Sonach wird allem Anschein nach auch der Streit
mit den Metellern Gegenstand einer Satire gewesen sein. Diese Pflege
der alten nationalen dramatischen Form entspricht ganz dem Wesen des
Naevius. Mit der Berücksichtigung der Gegenwart in den Komödien
setzt er aber gewissermassen die Richtung der satura fort. Naevius
nimmt also seinem Original gegenüber nicht bloss die Stelle eines Über-
setzers oder Bearbeiters ein, sondern behält sich eigenes Schaffen vor.
Diese Freiheit prägt sich auch noch in einer andern Erscheinung aus, in der
Kontamination (Prol.Ter.Andr.18). Man versteht darunter die Verschmel-
zung zweier Stücke zu einem. Wenn der Inhalt der beiden Stücke nicht
sehr ähnlich war, konnte es sich natürlich nur um einzelne Szenen bei der
Herübemahm% handeln. Aus den Fragmenten können wir fast nur „das
Mädchen von Tarenf" (Tarentilla) in einigen Hauptzügen feststellen; diesem
Stücke gehören die reizenden Verse an, in denen das schelmische Mädchen
geschildert wird, das für alle irgend eine Gunst bereit hat*) (75 Ribb.).
Über die PersonalnoÜzen des Naevius vgl. Moxxsem, R. Gesch. 1", 899. Seine dra-
matische Thätigkeit scheint der Dichter nach Varro bei Gellins 17, 21, 45 285 v. Chr.
begonnen za haben. Es heisst: eodemque anno (519 u, c.) Cn, Naevius poeta fahulas
apud populum dedU, quem M, Varro in libro de poetis primo stipeyxdia fecisse ait hello
Poenico primo idque ipeum Naevium dicere in eo carmine quod de eodem hello scripsit.
Die zwei berQhniten Satamier, die den Streit zwischen Naevius und den Metellern dar-
legen, sind : Faio MeUlU Mömai cönsulia fiunt und malüm dabünt Metilli Ndeviö poitae.
Über die Folgen dieses Streits ist die Hauptstelle Gellius 8, 8, 15: De Naemo — accepi*
*) Was sonst noch BIhbens den Sati-
ren znteilt (vgl. Fleckeis. J. 188, 404),
beruht lediglich auf Vermutung. Besonders
bedenklich ist seine Behandlung der Stelle
Ciceros Gato m. 7, 20, wo er durch Verbindung*
der geteilten Überlieferung in Naevii poe-
tae ludo und m Naem posteriore libro, zu
m Naevii poetae ludorum posteriore libro
zwei Bflcber „Scherze" d. h. Satiren des
Naevius gewinnt. Vgl. dagegen Ribbbck,
Tragic. fragm.* p. 278.
') Wir werden nicht irren, wenn wir
den Naevius als den Vorläufer der Togaten-
I dichter betrachten.
32 Römisch« Litteratargeschichte. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
mu8 fabuUiS ewn m carcere duas icripsisse, Hariolum et Leontem, cum oh assiduam nutle-
dicentiam et prohra in principes civitatis de Graeeorum poetarum more dicta, in vincula
Bomae a triumviris coniecttis esset, ünde post a U-ibunis plebis exemptus est, cum in his
quM supra dixi fahulis delicta stMi et pettäantias dictorum quibus multos antea laeserat
diluisset. Da Q. Gaecilios Metellns Gonsal 206 war, so wird die Einkerkerung des Kaevius
in dieses Jahr fallen. Ausführlich behandelt diese Sache West American J. of Philology 8, 17.
27. Das historische Schauspiel. Der Tragödie schenkt Naevius, wie
gesagt, weniger Aufmerks^unkeit; es werden nur 7 Tragödientitel mit Frag-
menten überliefert, darunter zwei, »Das Trojanische Pferd" und „Danae*', die
auchLivius bearbeitet hatte. Ausser diesen beiden kennen wir noch: der aus-
ziehende Hektor, Aesiona, Andromacha, Iphigenia, Lykurgos. Allein trotz-
dem ist hier das Wirken des Dichters noch einschneidender; er schuf mit
Anlehnung an die Form der Tragödie das historische Schauspiel. Mit
genialem Blick erkannte der Dichter, dass die eigenen Thaten des römi-
schen Volks das Feld für das ernste Schauspiel der Römer seien, nicht
eine fremde Götter- oder Heroenwelt. Da also in dieser Gattung statt der
griechischen Helden römische Könige und Feldherren auftraten, und diese
die toga praetexta trugen, so erhielt das historische Schauspiel den Namen
fabula praetexta oder praetextaia. Zwei Stücke sind uns von Naevius be-
kannt. Den Stoff entnahm er einmal aus der Romulussage, er schrieb
einen Romulus, dann auch aus der Geschichte der Gegenwart, es geschah
dies in dem Stück, in dem er den Sieg des Marcellus über den Galater-
häuptling Virdumarus bei Clastidium (222) feierte.
Bezüglich der Praetextae besieht eine Schwierigkeit wegen des Romiilus, Varro
zitiert nämlich diesen (de 1. 1. 7, 54; 7, 107), Festus p. 270 einen Lupus, Donat zu Ter.
Ad. 4, 1, 21 eine cUimonia Betni et Bomuli, Dass der erste und der driÜe Titel auf das-
selbe Stack hinweisen, ist wohl nicht zweifelhaft. Vgl. M. Haupt, opusc. 1, 190. Aber
auch der Romulus und der Lupus werden identisch sein, da im Lupus nach fr. 5 der König
Amulius auftritt. Die Identität leugnete einst Ribbbck, Die röm. Trag. p. 63. Mit Clastidium
ist vielleicht identisch die bei Diom. 490 K. genannte Prätexta eines ungenannten Dichters.
V^. Ribbbck, Trag, fragm.' p. 365. Müllbb nimmt sie für Ennius in Ansprach (Q. £nn.
p. 102). — Lün Ändronici et Un, Naevi fabidarum reliquiae, Em. L. Müllbr, Berlin 1885.
28. Das historische Epos. Auch im Epos ging Naevius weit über
Livius hinaus, nicht eine Übersetzung lieferte er, sondern ein selbständiges
Werk, dessen StoflF der Geschichte entnommen war. Als alter Mann (Cic.
Cato m. 14, 50) schrieb er ein Gedicht über den ersten punischen Krieg im
saturnischen Masse. Er hatte diesen Krieg selbst mitgemacht und sich
auch dessen in seinem Epos gerühmt. Das Gedicht war nicht abgeteilt;
erst der Grammatiker Octavius Lampadio zerlegte dasselbe in sieben Bücher;
allein diese Buchausgabe scheint erst später allgemein geworden zu sein.
Der Fragmente sind uns nur wenige erhalten, doch von jedem Buch, mit
Ausnahme des fünften, dem wir mit Sicherheit kein Fragment zuteilen
können. Die Beschreibung des Kriegs begann erst mit dem dritten Buch;
in den zwei vorausgehenden Büchern behandelte der Dichter die dem Kriege
vorausliegende Geschichte, er griff zurück bis auf Aeneas. unter den Frag-
menten ist keines, das sich durch poetische Schönheit auszeichnet. Das
Gedicht scheint versifizierte Prosa gewesen zu sein, also ein nüchternes
und steifes Werk; aber die geschilderten grossen Thaten der Römer sprachen
um so beredter. Damit steht im Einklang das Urteil Ciceros (Brut. 75),
der es einem Werke Myrons, d. h. einem nicht durchgeistigten plastischen
Werke vergleicht und als Vorzug desselben nur die Klarheit hervorzuheben
T. Mftcoins PlantiiB. 33
weiss. Ein Bild von dem Tone mag das mehrfach angeführte Fragment
(37 B 41 M) geben:
iransii Melüdm Romänua, tnsulam integram, oram
urü populdtur västat; rem hosttüm concinncU,
Commentatoren des Epos erwähnt Varbo, de 1. 1. 1, 39. Über die Bocheinteilung
baDdelt BOcbblsb, Rh. Mus. 40, 148. Die Fragmente siehe bei MOllsb, Ausg. des Ennius
p. 157 und der Sat Vers p. 134, Bahbevb, fragin. p. 43. Über den Ton können ausser 37
noch belehren fr. 3, 4, 24 u. 48 B.
29. NaeviuB' Ende. Traurig sind die letzten Schicksale des Naevius.
Nach einem Bericht des Hieronymus starb der Dichter in der Verbannung
in ütica, wohin er durch seine Feinde, die Meteller, getrieben wurde. Es
kann sein Tod nicht vor dem Ende des II. punischen Kriegs stattgefunden
haben, denn sein Angriff auf Scipio setzt dessen Sieg bei Zama voraus.
Allein trotz dieser Verfolgungen hatte sich Naevius doch einen Platz im
Herzen des römischen Volkes erobert. Noch späterhin fühlte es, welchen
Genius es in diesem Dichter besessen. Eine zu seinen Ehren verfasste
Grabschrift (Gell. 1, 24, 1) klagt, dass die Römer ihr Latein vergessen
hätten, seit Naevius ins unterirdische Haus hinabgestiegen. Und noch
Horaz muss bekennen, dass der alte Dichter in den Händen seiner Zeit-
genossen sich befand (Ep. 2, 1, 53).
Cic. Brut 15, 60: his consulibus, ut m veteribus commentariis scriptum est (204 v. Chr.)
Naevius est morttMs; quamquam Varro noster — putat in hoc erratum vitamque Naevi
produeit langius. Hieronymus zu J. 1816 = 201 y. Chr. (2, 125 Seh.): Naevius comicus
Utieae morüur, puls%M Roma f actione nohüium ac praecipue Meteüi,
Litteratur: Klussmakk, On. Naevü — vitam descripsit, carminum reliquicts coU
legit . . . .lena 1843. Bibchbm, De Cn, Naevii poetae vita et scriptis, MQnster 1861.
3. T. Maccius Plautus.
30. Leben des Piautas. T. Maccius Plautus stammt aus dem um-
brischen Sarsina. Über sein Leben ist die klassische Stelle Gellius 3, 3, 14.
Es treten drei Abschnitte in demselben hervor. Plautus war zuerst in
Rom Bedienter von Schauspielern; in dieser Stellung verdiente er sich so
viel, dass er in die Fremde ziehen und einen Handel anfangen konnte;
nachdem er alle seine früher gemachten Ersparnisse eingebüsst, kehrte er
nach Rom zui*ück und nahm bei einem Müller Dienste. Hier schrieb er
seine drei ersten Stücke, den Saturio, den Addictus und ein drittes, dessen
Titel wir nicht kennen. Sonst ist uns aus seinem Leben nichts bekannt
als sein Todesjahr, welches 184 anzusetzen ist (Cic. Brut. 15, 60). Welches
Alter er erreicht, d. h. wann er geboren wurde, kann annähernd etwa durch
folgende Kombination ermittelt werden. Wenn Cicero in seinem Dialog
Cato m. 14, 50 den Pseudolus, der 191 aufgeführt wurde, als ein Werk be-
zeichnet, dem das Alter des Dichters gewidmet wurde, so werden wir wohl
annehmen können, dass Plautus damals etwa 60 Jahr alt war. Dies würde
ungefähr auf 251 als Geburtsjahr führen. Wenn weiterhin aus dem wechsel-
vollen Leben des Plautus der Schluss gezogen werden darf, dass er wohl
kaum vor dem dreissigsten Lebensjahr anfing, Komödien zu schreiben, so
bekämen wir als Zeitraum, in dem sich die dichterische Thätigkeit des
Plautus entfaltete, etwa 221 — 184, d. h. sie würde den zweiten punischen
Krieg und noch anderthalb Dezennien darüber hinaus umfasst haben.
Frflher hiess man den Dichter M. Accius Plautus. Den wirklichen Namen T. Maccius
Huidbiich der kliM. Altertnmiwlaaenacban. Vm. 3
34 ROmisohe Liüeratargeschichte. I. Die Zeit der Eepablik. 2. Periode.
Plautus ernierte Ritschi aus dem Ambrosianischen Palimpsest, er liegt auch zu Grund im
Prolog des Mercator 6 und im Index des Accius bei Gell. 3, 3, 9 (Parerga p. 13). Gegen
diese Entdeckung erhob sich mehrfach Opposition, die wiederum von Herte wirksam be-
kämpft wurde, zuletzt solche von CoccMa Riv, di filologia 1884 p. 20. Einige Schwierigkeit
macht Asin. Prol. 11
Demophüus scripsU, Macctia vortit harbare
die bestbezeugte Form Maccus. Diesen Wechsel von Maccius und Maccus erklärt BOohbleb,
Rh. Mus. 41, 12 so: Sarsinas poeta dum Romae scaenam tenet ludosque facit populo,
simpliciter maccus rocäbatur, ioculator yeXtotonoios etc. Fosiea Umher civüatem Ro-
manam adepius cum tria nomina sumeret ritu civium, tra^o gentüicio ab artis opera et
appellatione qua inclaruerat, ex Ploto macco (actus est T. Maccius Piautus. ConsimiU
ratione persaepe accidit, qui publicus erat servus, ut in libertatem vindicatus T, Publicius
existeret. Die Stelle des Gellius 3, 3, 14 lautet: Saturionem et Addictum et ieriiam
quandam, cuius nunc mihi nomen non subpetit, in pistrino eum scripsisse, Varro et ple-
rique alii memoriae tradiderunt, cum pecunia omni, quam in operis artißcum scenicorum
pepererat, in mercatibus perdita inops Romam redisset et ob quaerendum victum ad circum-
agendas molas, quae trusatiles vocantur, operam pistori locasset,
31. Sichtung des plantinischen Corpus durch Varro. Unter Plautus'
Namen waren nach Gellius Zeugnis 3, 3, 11 ungefähr 130 Komödien in
Umlauf. Von vornherein ist nicht wahrscheinlich, dass alle diese Stücke
plautinisches Erzeugnis waren. Da Plautus in der Palliata tonangebend
war, so wird sich, wie dies bei allen hervorragenden Litteraturerscheinungen
der Fall ist, an den Meister ein Kreis von Nachahmern und Nachtretern
angeschlossen haben. Die auf diese Weise entstandenen Nachahmungen
konnten aber um so leichter den Namen des Plautus annehmen, als es an
einer durchgreifenden Kontrolle von selten des Publikums fehlte. Die Stücke
kamen ja zumeist nur durch die Aufführung zur allgemeinen Kenntnis.
Wenn das Stück gefiel, war der Name des Autor von sehr untergeordneter
Bedeutung. Auch die Theaterdirektoren, welche die Stücke für die Auf-
führung sammelten, hatten kein Interesse, sorgfaltige Untersuchungen über
die Autorschaft der einzelnen Komödien anzustellen. Daher ist es nicht
zu verwundem, wenn bei dieser Sorglosigkeit die Sonderung des Eigentums
zurücktrat und der berühmte Name des Plautus für eine ganze Reihe von
Produkten herhalten musste. Es war daher keine geringe Aufgabe für
römische Philologie, in diesem Chaos Ordnung zu schaflFen. An dieser
Arbeit beteiligten sich Aelius Stilo, Aurelius Opilius, Volcacius Sedigitus,
L. Accius, Serv. Clodius, Manilius (Gell. 3, 3, 1). Sie entwarfen Verzeich-
nisse der echten plantinischen Stücke. Einen entscheidenden Abschluss
erhielten diese Studien durch Varro. Er unterschied drei Klassen der
plantinischen Stücke. In die erste KJasse setzte er die Stücke, welche
von allen Forschern als plautinisch bezeugt waren. Der zweiten Klasse
wies er diejenigen zu, für welche als plautinische die Mehrzahl der Zeu-
gen sprachen und ausserdem historische Erwägungen und Stilbeobach-
tungen. Es blieb dann noch eine kleine Klasse übrig, die in den Ver-
zeichnissen der Gelehrten entweder fehlten oder auch ausdrücklich als
nichtplautinische aufgeführt waren; hier konnten nur Gründe, aus dem Stil
und der Darstellung hergenommen, den plantinischen Ursprung darthun.
Für die erste Klasse erhielt er 21 Stücke. Nun sind uns auch gerade
21 Stücke überliefert, eines, die Vidularia, das im Mittelalter verloren
ging, stand noch im Ambrosianischen Palimpsest. Hier an einen Zufall
zu denken, ist unmöglich; wir werden vielmehr zu dem Schluss gezwungen,
T. Maooins Plaatus. 35
dass unsere 21 Stücke diejenigen sind, welche Yarro in die erste Klasse
gestellt hat. Es sind dies die sogenannten fabulae Yarronianae. Wir
liaben sonach nur Komödien von Plautus, welche den Gelehrten des Alter-
ums bezüglich der Echtheit gar keinen Zweifel darboten; es ist unbe-
strittenes Gut.
Meisterhaft ist diese Sache untersucht von Ritschl, Parerga p. 72 und besonders
p. 121. Gell. 8, 3, 3: praeter üIm unam ei viginti, qucLe ^Varronianae* vocantur, quas
idcirco a ceieris aegregnvit, quaniam dubiosae non erant, sed consensu omnium Plauti esse
eens^>ani%irf quasdam item alias prohavü adductus filo atque facetia sennanis Plauto con-
gruentis easque tarn nominibus aliorum occupattis Plauto vindicavit,
32. Die Stoffe in den plautinischen Komödien. Wir zählen die
Komödien auf in der Reihenfolge, in der sie uns die zweite Quelle der
Überlieferung erhalten hat.
1. Amphitruo. Der Inhalt dieser Komödie beruht auf Yerwechs-
lungen und zwar werden diese Yerwechslungen durch göttliche Personen
bewirkt. Juppiter gibt sich nämlich für den thebanischen Feldherrn Am-
phitruo aus und nähert sich unter dieser Yerhüllung dessen Gattin Alkmene,
Mercur aber nimmt die Gestalt des Dieners des Amphitruo, des Sosia, an.
Die Situationen, die sich daraus entwickeln, sind ungemein amüsant. Der
Prolog nennt v. 59 das Stück eine Tragicomoedia. In der That ist es eine
Parodie des Mythos von Juppiter und Alkmene, indem das Göttliche in
niedrige Situationen gebracht ist. Das Original rührt wahrscheinlich von
einem Dichter der mittleren Komödie her.')
Durch den Verlust einer Blätterlage sind im 4. Akt nahezu 300 Verse verloren ge-
gangen, welche den Schluss der 2. Scene, 2 ganze Scenen und den Anfang der 3. ent-
hielten. Wir sind hier nur auf die von Grammatikern zitierten Verse angewiesen. Den
Inhalt und den Aufbau des Verlorenen suchen zu bestimmen ausser Ussing (p. 330) und Gobtz-
T/OBWB(p. 114), E. HoFFXAVV, De Plautinae Ämphitruonis exemplari et fragmentis, Breslau
1S48; ScBHOEOBH, De fragmentis Ämphitruonis, Strassburg 1879; Bbakdt, Rh. Mus. 34, 575.
Den Stoff des Amphitruo behandelt in elegischem Masse die mittelalterliche Dich-
tung des Vitalis. Moderne Bearbeiter des Amphitruo sind MoLiiütB (1668) und H. von
Klbist (1807).
2. Xsinaria (Eselskomödie). Das Stück, das nach dem ^Ovayog des
Demophilus bearbeitet ist, hat seinen Namen von der für verkaufte Esel
an den Hausverwalter abzuliefernden Geldsumme, welche von einem Sklaven
unterschlagen wird, um dem jungen Herrn sein Liebchen zu sichern. Da
auch der Vater an diesem Liebchen seinen Anteil haben möchte, hilft er
zur Erschwindelung der Summe getreulich mit. Doch die Strafe folgt, er
wird von seiner Frau über seiner Nichtswürdigkeit ertappt. Das Stück
hat viel Possenhaftes.
Prolog. 13 inest lepos ludusque in hac comoedia. Ridicula res est. Ribbeck ur-
teilt über dieses Stück (Rh. Mus. 37, 54): „Der Verfasser scheint sich im Grossen und
Ganzen an sein griechisches Original gehalten zu haben, einer etwas ausgelassenen, bis-
weilen (III 2) ins Kindische fibergehenden Posse mit anmutig sentimentalen Intermezzi,
aber widerwärtig senilem Hautgout. Von Kontamination keine Spur. Aber besonders die
beiden Sklavenrollen sind betrftchtlich romanisiert.* Weiterhin erkennt Ribbeck Spuren der
Überarbeitung für eine wiederholte Aufführung und statuiert nach dem Vorgang A. opbnoels,
Die Akteneinteilung bei Plautus p. 47 wegen Vs. 580—584 eine grösHcre LQcke nach Vs. 495 ;
femer eine solche nach Vs. 809 zur Ausfüllung der dort vorhandenen Pause, die Verse 829,
SSO seien die Reste der ausgefallenen Scene. Gegen die Annahme einer doppelten Recen-
sion des Ausgangs I 1 von Gobtz-Lobwb, praef, p. XXII vgl. Rautsrbkro, qnnest. Plautin,
Wilhelmshaven 1883 p. 2. Weitgehende Hypothese über Lückenhaftigkeit bei H. Schenkel,
Zeitschr. f. österr. Gymn. 33, 42.
') BsROK, Griech. Literaturgesch. 4, 123 Anm. 8.
3*
36 BOmische LitieratnrgeBohichte. 1. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
3. Aulularia (Die Topfkomödie). Diese Komödie ist ein Charakter-
stück von grosser Schönheit, sie schildert uns einen Geizhals, von dessen
Goldtopf sie den Namen hat. Die Verwicklungen knüpfen sich einmal an
den Goldtopf, welchen der Geizhals in grösster Angst hütet und versteckt
und trotzdem nicht vor Entdeckung und Diebstahl schützen kann, dann
an des Geizhalsen Tochter, welcher der junge Lyconides Gewalt angethan
hatte, und die dessen Onkel Megadorus in Unkenntnis der Sachlage zur
Frau nehmen will. Der Schluss des Stückes ist verloren gegangen, allein
über den Ausgang der Handlung kann kein Zweifel aufkommen. Lyconides
erhält des Geizhalsen Tochter zur Frau, der Geizhals dagegen wieder seinen
Goldtopf, den der Sklave des Lyconides gestohlen hatte; allein da in einem
Fragment der Geizhals sagt, dass er jetzt ruhig schlafe, während ihn früher
die Unruhe verzehrte, so wird er den Groldtopf seinem Schwiegersohn als
Mitgift überlassen haben. Die Schilderungen sind ausserordentlich spannend,
da der Geizige überall Verrat wittert; besonders ergötzlich ist die Szene,
wo er, als er seinen Schatz verbergen will, einen Sklaven entdeckt.
Welcher Dichter das Original geliefert, Iftsst sich nicht sicher nachweisen. Am
wahrscheinlichsten ist noch Menander, vgl. Fbanckek, Verslagen en Mededeelingen Deel. XI
Amsterdam 1882. Ein Problem, das die Auifassung der Komposition beeinflusst, ist die
Erscheinung, {dass der Sklave Strobilos zugleich Sklave des Lyconides und seines Onkels
Megadorus ist. Gobtz, Yorr. zur Ausg. p. VIII erkl&rt dieselbe durch die Annahme einer
Überarbeitung. Der Sklave des Megadorus habe bei Plautus den Namen Pythodicus geführt
und dieser Name habe sich 11 7 durch Zufall in die Überarbeitung hinübergerettet. Einen
andern Weg der L(ysung schli> Dziatzko, Rh. Mus. 87, 266 ein. Er glaubt, Plautus habe
bei seiner Bearbeitung des griechischen Stücks den Hausstand des Megadorus und seiner
Schwester Eunomia bzw. des Lyconides miteinander verbunden, so dass er letztere im Hause
des ersteren, bzw. in einer Abteilung wohnen liess, habe aber diese Änderung des Originals
nicht konsequent überall beachtet und sei in Widersprüche gefallen. Der Sklaven seien
aber bei Plautus zwei gewesen, und zwar habe der des Megadorus wahrscheinlich im Ori-
ginal wie bei Plautus Pythodicus geheissen, der des Lyconides Strobilus. Erst eine spätere
Überarbeitung habe, Plautus in verwirrender Weise überbietend, den Sklaven Strobilus zum
gemeinschaftlichen gemacht.
Auf freier Nachahmung der Aulularia beruht der Querolus, etwa aus dem LV./V. Jahrh.
Bekannt ist, dass die Aulularia auch für Molibbb*s TAvare (1668) Vorbild war.
4. Captivi (Die Gefangenen). Dieses Stück, das nicht durch
strenge Einheit der Zeit zusammengehalten wird, steht unter den plautini-
schen Stücken einzig da; es enthält keine Frauenrolle, keinen Kuppler,
keine Liebesintrigue. Nur der Rollentausch und die Figur des Parasiten
erinnern an die Komödie. Es ist ein Rührstück. Ein Ätoler hatte zwei
Söhne verloren, der eine war im Alter von vier Jahren von einem Sklaven
verkauft worden, der andere war in Kriegsgefangenschaft nach Elis ge-
kommen. Um den kriegsgefangenen Sohn auslösen zu können, hatte der
Vater elische Gefangene angekauft. Zwei derselben, Herr (Philocrates)
und Sklave (Tyndarus) werden nun der Mittelpunkt der Handlung. Es
findet ein Rollentausch statt, der Herr gibt sich für den Sklaven, der
Sklave für den Herrn aus. Der vermeintliche Sklave wird von dem Ätoler
nach Elis geschickt, um die Auslösung des Sohnes zu bewirken. Nach der
Abreise wird der Rollentausch entdeckt und der treue, aufopfernde Tyn-
darus hart bestraft. Da kommt Philocrates mit dem gefangenen Sohn des
Ätolers aus Elis — und weiter ergibt sich, dass Tyndarus der zweite im
vierten Lebensjahr geraubte Sohn des Ätolers ist.
T. Maccins Plaatns. 37
Bekannt ist das günstige Urteil Lessings Über dieses Stück: „Die Gefangenen sind
das schönste Stück, das jemals auf die Bühne gekommen ist und zwar aus keiner anderen
Ursache als weil es der Absicht der Lustspiele am nächsten kommt und auch mit den
übrigen zufälligen Schönheiten reichlich versehen ist." £inige Widersprüche hebt Langen,
Flaut Stnd. 116 hervor.
5. Curculio. So heisst der Parasit, in dessen Händen die Intriguo
des Stückes ruht. Durch dieselbe (vermittelst eines Ringes) gelingt es,
das für ein Mädchen von einem Soldaten hinterlegte Geld zu erhalten und
damit vom Leno das Mädchen. Das Erscheinen des Soldaten bringt die
Verwicklung. Sie löst sich dadurch, dass das Mädchen als Schwester des
Soldaten erkannt und seinem Liebhaber verlobt wird. Wir haben ein
schwaches Intriguenstück mit Erkenntnisszene; doch finden sich hübsche
Einzelheiten. Merkwürdig ist eine Art Parabase im Anfang des IV. Aktes,
wo der Garderobenmeister darlegt, wo die verschiedenen Menschenklassen
in Rom aufzufinden; dieselbe enthält aber sicher unplautinische Bestandteile.
Ober die Zeit des Originals (nach 303) vgl. Wilamowitz, Philol. Unters. 9, 37. Das
Original hat wahrscheinlich Kürzungen erfahren. Vgl. Ribbeck, Ber. über die Verb, der
Sachs. Ges. der Wissensch. 31 (1879) p. 80—103.
6. Gasina. Das Stück hat seinen Namen von der Casina, um die
sich die Handlung des Stückes dreht. Nach ihr ist Vater und Sohn lüstern.
Beide schieben aber ihre Diener vor, für die Gasina als Frau erkoren
werden soll, der Vater seinen Hausverwalter, der Sohn seinen WaflFenträger.
Da keiner der beiden Diener von Gasina ablassen will, wird das Los ge-
worfen. Davon führt das griechische Original, die KXifjqovfieroi des Diphilos,
seinen Namen; auch für die lateinische Bearbeitung findet sich der Titel
«Sortientes". Das Los entscheidet für den Hausverwalter und damit für
den Vater. Beide 'ISnden aber als Braut den verkleideten Waffenträger,
der ihnen übel mitspielt. In einem kurzen Epilog wird auf die weitere
Entwicklung der Handlung als im Hause vor sich gehend hingewiesen ;
Casina wird nämlich als Tochter des Nachbars erkannt, sie wird jetzt die
Frau des jungen Herrn.
TsüFFBL vermutet, dass bei einer späteren Aufführung des Stücks der Schluss des
Originals weggelassen wurde, während der Prologschreiber das vollständige Stück noch
kannte und zur Erläuterung des abgekürzten benützte (Stud. u. Charakt. p. 259). Machia-
VEiJj's Clizia hat zur Quelle die Casina.
7. Gistellaria (Die Eästchenkomödie). Alcesimarchus liebt
leidenschaftlich die Selenium; allein sein Vater hatte für ihn die Tochter
Demiphos bestimmt. Ein Kästchen mit Erkennungszeichen (crepundia)
bringt die Entdeckung, dass Selenium auch eine Tochter Demiphos von
seiner jetzigen zweiten Frau ist, der er in seiner Jugend Gewalt angethan
hatte. Der naturgemässe Ausgang, dass Alcesimarchus nun doch der
Schwiegersohn Demiphos wird, kommt nicht mehr zur Darstellung, es wird
in dem Schlusswort nur gesagt, dass das Weitere im Innern des Hauses
sich abspielen werde. Das Stück ist im Grunde genommen keine Komödie,
sondern ein Rührstück. Da eine Stelle (87) eine Übersetzung eines Frag-
ments Menanders ist (558 Kock), so werden wir als Original ein Stück
Menanders anzusehen haben.
. Das Stück hat in der einen Quelle der Überlieferung nach Vs. 215 einen grossen
Ausfall erlitten; derselbe kann wegen Schwierigkeit der Lesung nur sehr unvollkommen
durch den Ambrosianischen Palimpsest ersetzt werden. Hiezu kommen einzelne Zitate,
38 Römische Litteratargesohichie. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
vgl. Studemcnd, Ind, schoh Gryphisw. 1871/72 p. 8. Fbstüs zitiert p. 301, p. 352 den Vs. 384
uoter dem Namen Syrus. Man hat angenommen, dass der Sklave Syrus in der ausgefallenen
Partie eine Rolle gespielt und dass nach ihm auch das 6tück (von Gelehrten) benannt
wurde (Ritschl, Parerga p. 164). Andere nehmen dagegen ein eigenes Stück Syrus an,
in dem der Vers der Cistellaria wiederholt wurde (Winteb, Plaut fragm. p. 6).
8. Epidicus. Für Stratippocies, der in den Krieg gegen die The-
baner gezogen war, hatte der Sklave Epidicus eine Saitenspielerin vom
Kuppler gekauft. Um das hiezu nötige Geld zu erhalten, hatte er dem
Vater des Stratippocies Periphanes vorgeschwindelt, die Saitenspielerin sei
dessen natürliche Tochter. Mittlerweile war Stratippocies heimgekehrt ; er
hatte sich eine Gefangene aus der thebanischen Beute gekauft. Auch für
dieses zweite Liebchen sollte von Epidicus das Kaufgeld beschafft werden.
Zufällig erfuhr der Sklave, dass Periphanes von dem Liebesverhältnis seines
Sohnes zur Saitenspielerin Kunde erhalten und darüber betrübt sei. Dies
benutzend redet Epidicus dem alten Herrn ein, man müsse diese Saiten-
spielerin schnell selbst kaufen, um sie dann beiseite zu schaffen und dem
Sohne zu entziehen. Auch diese List glückt, eine bereits seit längerer
Zeit frei gewordene Saitenspielerin wird gemietet und ins Haus des Peri-
phanes gebracht; der Sklave hat wiederum das nötige Geld. Allein nun
kommen die schlimmen Streiche an den Tag. Es stellt sich heraus, dass
die zweite Saitenspielerin nicht die Geliebte des Stratippocies und die erste
nicht die natürliche Tochter des Periphanes ist. Ein Zufall hilft Epidicus
aus der Klemme. Das aus der Beute angekaufte Mädchen war die wirk-
liche natürliche Tochter des Periphanes. Stratippocies hatte also statt
einer Geliebten eine Stiefschwester erhalten. Die Intrigue des Stücks ist,
wie man sieht, ziemlich verwickelt.
So spannend und lebhaft die Handlung durchgeführt ist, so finden sich doch im ein-
zelnen vielfach Widerspräche, auf die hingewiesen haben Sgaliger, vgl. die Ausgabe des
p]pidieus von G5tz p. aXI Anm., Ladbwig, Z. f. A. 1841 p. 1086, Langbbhb, Miscell. philol.,
Göttingen 1876 p. 12, Fbanckbn, Mnemos. 1879 p. 185, Rbinhabdt, Fleckeis. J. 111, 194,
Götz, Ausg. p. XXI. Man hat daher Umarbeitung (retractatio) oder Kontamination des Stücks
angenommen. Dagegen sucht Schbbdinger, obs, in PL Epidicum^ Mttnnerst. Progr. 1884,
nach dem Vorgang R. MOllrb's, De Plauti Epidico, Bonn 1855 (p. 13), zu zeigen, dass
iveder contaminatio (p. 20) noch retractatio (p. 49) stattgefunden habe, wogegen Lakobehr
in seinen Plautina (Programm von Friedland 1886) seine Ansicht über Kontamination des
Stücks im wesentlichen aufrecht hält (p. 17). Über das Stück und einen schlechten Schaa-
spieler in demselben spricht Plautus Bacch. 214.
9. Bacchides. Zwei Hetären, Schwestern des Namens Bacchis,
geben dem Stück den Namen, dessen Anfang verloren gegangen ist. Das
Original war wohl das Stück Menanders mit dem Titel Jlg i^anatwv. Den
zwei Hetären stellt der Dichter zwei junge mit einander befreundete Leute
als Liebhaber gegenüber. Das eine Verhältnis entwickelt sich vor unseren
Augen, wir sehen, wie ein braver Jüngling ins Garn der Liebe gezogen
wird. Dies gibt dem Dichter zugleich Gelegenheit, eine köstliche Neben-
figur einzuführen, den über den Fall seines Zöglings janmiernden Päda-
gogen. Das andere Verhältnis dauert schon geraume Zeit; die Bacchis,
die der junge Mnesilochus liebt, befindet sich in den Händen eines Soldaten.
Um sie zu befreien, bedarf es einer beträchtlichen Geldsumme. Diese wird
von der Hauptperson des Stücks, dem Sklaven Chrysalus, erschwindelt.
Allein durch ein Missverständniss gibt Mnesilochus das Errungene wieder
preis. Es muss daher zum zweitenmale und zwar unter weit schwieri-
T. MaccinB Plaatus. 39
geren Verhältnissen der Betrug durchgeführt werden. Chrysalus ist aber
seiner Sache so sicher, dass er den Alten sogar durch einen Brief vor
seinen Schlichen warnen lässt. Wiederum ist Chrysalus siegreich, ja er
schlägt eine noch grössere Summe heraus als das erste Mal. Endlich
kommen die Gaunereien heraus; die Väter der beiden jungen Freunde
wollen ihre Söhne von den Hetären holen — und sie werden selbst
das Opfer derselben. Ein heiteres, anmutiges Stück, in dem vorzüg-
lich die Siegesgewissheit des Chi'ysalus unser volles Interesse in An-
spruch nimmt.
Über den verlorenen Eingang hat mit Benützung der von Grammatikera mitgeteilten
Stellen in einer bahnbrechenden Abhandlung Ritschl gehandelt (Opusc. 2, 292), die in einem
wesentlichen Punkt Ussino (Ausgabe p. 372) berichtigt hat. Vgl. auch Leo zum Eingang
des Stocks. Einen neuen Versuch, den Inhalt der verlorenen Szenen zu bestimmeD, machen
Tabtaba, De Plauti Bacchidibus, Pisa 1885 (vgl. Bubsians, Jahresber. 47. Bd. II. Abtlg.
p. 79), Ribbeck, Rh. Mus. 42, 111. Eine kurze Disposition gibt Götz in seiner Ausgabe p. 8.
Auch bei diesem Stück wurde Umarbeitung in einem Umfang angenommen, der ganz un-
zulSssÜch erscheint, von BRACHif ann, De Bacchidum Plautinae retractatione scenica capita V
in den Leipz. Stud. 3, 59 und von Anbpaoh, De Bacchidum retractatione scenica, Bonn 1882.
Gegen dieselbe richtet sich Weise, De Bacchidum Plautinae retractatione quae fertur,
Berlin 1883.
10. Mostellaria (Gespensterkomödie). In dieser Komödie handelt
es sich zuerst darum, einem Alten, der von der Fremde heimkehrt, den
Zutritt zum Hause, in dem sich gerade der Sohn mit einem bereits be-
trunkenen Freunde beim Gelage befindet, zu verwehren. Der listige Sklave
bewirkt dies durch die Lüge, das Haus sei verlassen worden, da sich in
demselben ein Gespenst gezeigt habe. Die Ankunft eines Wechslers, der
sein Geld haben will, bringt eine neue Verwicklung. Der Sklave lügt
dem Alten vor, der Sohn hätte für das geliehene Geld das Nachbarhaus
gekauft. Der Vater will das Haus besichtigen. Auch dieser Schwierigkeit
wird der Sklave Herr. Endlich reisst das Lügengewebe. Der Sklave
schützt sich durch die Flucht auf einen Altar. Der Vater wird versöhnt,
nachdem der Freund seines Sohnes für ihn gesprochen und, was am wirk-
samsten war, die Bezahlung der Schulden in Aussicht gestellt. Wie in
den Bacchides der Sklave Chrysalus, so ist hier der Sklave Tranio die
Glanzfigur des Stückes.
Als Original des Stücks wird mit grosser Wahrscheinlichkeit das ^aafxa des Fhilemon
hingestellt. Ja nach der sinnreichen Verbessernng Lbo*8 (Hermes 18, 560), hat Pliilemon
sich sogar scherzweise selbst genannt 1135: si amicus Deiphilo aut Philemoni es, dicito
eis quo pacto tuos te servos ludificaverit vgl. Ritschl, Parerga p. 159. Utlsere Komödie wird
daher auch ^«a/itt zitiert Festus, p. 162 und p. 305. Die Mostellaria liegt der ausgezeich-
neten Komödie des dänischen Dichters Holbero: «Das Uausgespenst oder Abracadabra* zu
grund, vgl. Lorenz, Ausg. p. 56. Die Namen der zwei Sklaven Tranio und Grumio sind be-
kanntlich in Shakebpeabb's : «Der Widerspenstigen 2^hmung* übergegangen.
11. Menaechmi. Die Zwillingsbrüder Menaechmus und Sosikles
werden durch ein widriges Schicksal von einander getrennt, der eine lebt
in Epidamnus, der andere, Sosicles, in Syrakus. Um seinen Bruder zu
suchen, durchzieht der Syrakusaner die ganze Welt. Er kam auch nach
Epidamnus. Da der S3rrakusaner dem Epidamnier in allem Äusserlichen
vollständig gleich ist und seit dem Verschwinden seines Bruders auch noch
den Namen Menaechmus führt, so entsteht eine Reihe der ergötzlichsten
Verwicklungen.
Über das Original ist eine sichere Angabe nicht möglich, da der Stoff in der grie-
40 Bömiaohe Litteraturgeschichte. I. Die Zeit der Republik. 8. Periode.
chischen Komödie unter dem Namen Jidv/ioi oder Jl^vfjua vielfach behandelt wurde. Sehr
ausgedehnte Oberarbeitung des Stücks behauptet mit Büchblkb, Rh. Mus. 35, 481 Sonnen-
BUBO, De Menaechmis Plautma retractata, Bonn 1882 (p. 44) „misere ab retractatoribus tur-
hatam et laceratam noa habere fabulam**, besonders gelte dies von IV 2. Gegen eine solche
erklären sich mit Recht Vahlbn, Ausg. p. IV und Ribbbck (Rh. Mus. 37, 531), der aber zugibt,
dass auch dieses Stück mit nachplautinischen Zuthaten versetzt ist Eine solche Vs. 1099—1110
umfassend, wies nach Götz, Kh. Mus. 35, 481. In der modernen Litteratur wirkt unser
Stück nach z. B. in der Komödie der Irrungen von Shakespbabbj der aber durch Einfüh-
rung eines zweiten Zwillingspaares (nach Amphitruo) die Verwirrung noch gesteigert hat.
12. Miles gloriosus (Der bramarbasierende Soldat). Die
Haupthandlung des Stücks ist, einem prahlerischen und lüsternen Soldaten
sein Liebchen, die Philocomasium, zu entreissen, welche der junge Pleu-
sicles liebt. Dies bewirkt der intriguierende Sklave dadurch, dass dem
Soldaten der Glaube beigebracht wird, der alte Nachbar habe eine junge
schöne Frau, welche sterblich in ihn verliebt sei. Der Soldat lässt sich
auf die Sache ein. Ja um mit dieser Nachbarsfrau ungestört zusammen-
leben zu können, gibt er der Philocomasium den Laufpass. Diese zieht
mit Pleusicles von dannen. Dem Soldaten wird aber übel mitgespielt;
kaum hatte er sich ins Nachbarhaus begeben, um seiner neuen Liebe froh
zu werden, da fallt man über ihn als Ehebrecher her und droht ihm mit
dem Schb'mmsten, was dem Mann widerfahren kann. Dieser Handlung
geht eine ganz anders geartete voraus. Um Pleusicles, der im Nachbar-
hause seinen Wohnsitz aufgeschlagen, Gelegenheit zu geben, mit der Philo-
comasium ungestört zusammen zu kommen, wird die Wand zwischen der
Wohnung des Soldaten und dem Nachbarhaus durchbrochen. Als nun der
Wächter des Mädchens dasselbe einmal in den Armen eines anderen im
Nachbarhause entdeckt hatte, wurde diesem Wächter ein reizendes Doppel-
spiel vorgeführt, indem Philocomasium bald in dem einen, bald in dem
dem andern Hause erscheint. Seine Ungläubigkeit wird durch die Finte
beschwichtigt, es sei die ganz gleich aussehende Schwester der Philoco-
masium angekommen und im Nachbarhause eingekehrt.
Das Stück, das keine eigentlichen Cantica hat, ist überaus anmutig
und unterhaltend. Bei dem frischen Zug, der durch das Ganze weht, lassen
wir uns über manche Schwäche der Komposition gern hinwegtäuschen.
Als Original des Stücks wird im Prolog vs. 86 ein UXaCviy genannt; des Dichters
Name wird verschwiegen. Aus unserer Inhaltsangabe geht hervor, dass wir eine Komödie
in der Komödie haben; denn die Geschichte von der durchbrochenen Wand und das sich
daran knüpfende Qpppebpiel steht für sich da; der Dichter benutzt das Motiv nicht weiter,
sondern bringt eine ganz anders aufgebaute Entführungsgeschichte. Es scheint also, dass
zwei Argumente in unserer Komödie miteinander verwoben wurden. Die Frage entsteht,
ob diese Zusammenarbeitung dem griechischen oder dem lateinischen Dichter zuzuschreiben
ist. Bei der zweiten Annahme hätte man sich zwei Originale folgenden Inhalts zu denken.
Das eine, der UkaCoiy, gab eine Entführungsgeschichte, einem prahlerischen Soldaten wird
sein Mädchen entrissen. Aber auch das andere Original lief auf eine Entführungsgeschichte
hinaus, nur dass hier die Entführung vermittels der durchbrochenen Wand durchgeführt
war. Dies beweisen Erzählungen, die wirklich diesen Sehluss enthalten. Vgl. Zarncke,
Parallelen zur Entführungsgeschichte im Mües gloriosus, Rh. Mus. 39, 22. Plautus würde
also, um seinen Stoff so mannigfaltig als möglich zu gestalten, die Entführungsgeschichte
des ersten Originals durch eine anders geartete eines zweiten Originals ersetzt haben. Die
grosse Länge des Stücks, manche Anstösse und Widersprüche in der Komposition würden
sich daraus erklären. Viel schwieriger gestaltet sich die Sache, wenn wir schon dem
Alazondichter die Entwicklung der Handlung, wie sie bei Plautus gestaltet ist, zuweisen.
Wir müssten uns dann die Sache nach Zabncke p. 25 etwa so denken: Dem Alazondichter
lag eine griechische Novelle vor, in der eine Entführungsgeschichte auf der durchbrochenen
Wand basierte. Dieses Motiv der durchbrochenen Wand benützte der griechische Komödien-
T. Maoointf PlautuB. 41
dichter, führte aber noch den Prahlhans, ein; am nicht zu ermüden, sah er im weiteren
Verlauf des Stücks von jenem Motiv ab, nur am Schluss verwertete er jene Novelle wiederum
für seine EntfOhmngsszene. Mir erscheint die zuerst vorgetragene Ansicht als die natür-
lichere. Vgl. Lorenz in seiner Ausgabe p. 34, der für die episodische Charakterschilderung
695—764 ein drittes Original annimmt. Ribbbck, Älcuson mit Obersetzung des Mües glo-
riosus p. 55—75 spricht sich ebenfalls dahin aus (p. 72), dass mehrere getrennte Originale
in eins verschmolzen sein mögen oder vielmehr Teile derselben. Überarbeitung und Kon-
tamination sucht weitläufig nachzuweisen J. Schmidt, Fleckeis. J. IX. Supplementb. p. 323
vgl. besonders p. 390 und p. 401. Bezüglich der Abfassungszeit erhalten wir einen Wink
durch Vs. 21 1 : nam os columnaium poet<ie esse indatidivi barharo, quoi bini custodes semper
totis horis occubant, wo auf die Gefangenschaft des Dichters Naevius deutlich angespielt
ist. Diese Anspielung führt auf die erste Zeit des dichterischen Schaffens unseres Dichters,
auf das Jahr 206 oder nicht lange darnach. Vgl. West American J. of Philology 8, 17,
der aber mit unrecht in der militärisch gehaltenen Aufforderung 218 fg. eine Zeitanspielung
aus dem J. 205 sieht. Über die Figuren des Miles gloriostts und seines Parasiten bei
älteren und neueren Dichtem vgl. Lorenz, Miles' p. 230—247.
13. Mercator (Der Kaufmann). Auch in diesem Stück, dessen
Original nach Angabe des Prologs der "EfXTtoQog des Philemon ist, spielt
das hässliche Motiv, dass sich Vater und Sohn um ein Liebchen streiten.
Der junge Charinus hatte von seiner Handelsreise nach Rhodos eine schöne
Hetäre mitgebracht. Als der Vater das Schiff des Sohnes besichtigte und
des schönen Mädchens ansichtig wurde, entbrannte er in Liebe für dasselbe.
£s war sein fester Entschluss, dasselbe in seinen Besitz zu bringen. Er
schlägt daher dem Sohne, der die Hetäre als Dienstmädchen für die Mutter
gekauft zu haben vorgibt, vor, man müsse, da eine solche Person für die
Mutter nicht geeignet sei, dieselbe wiederum verkaufen. Nach einem er-
götzlichen Gegenkampf des Charinus setzt der Vater seinen Willen unter
Beihilfe seines Freundes, des Lysimachus, durch ; dieser kauft das Mädchen
und bringt es in sein Haus. Eben war man daran, ein lustiges Mahl zu
bereiten, als die Frau des Lysimachus unvermutet vom Land kommt und
die Hetäre im Hause findet. Es entsteht eine peinliche Situation, welche
der gedungene Koch noch verschärft. Zum Glück erscheint Eutychus, der
Sohn des Lysimachus. Nachdem er lange vergeblich die verkaufte Hetäre
seines Freundes, der aus Kummer über sein Liebesunglück in die Fremde
ziehen will, gesucht, findet er sie im eigenen Haus. Er vermag daher seine
Mutter vollständig zu beruhigen. Dem Vater des Charinus wird sein Un-
recht vorgehalten; er tritt einen heuchlerischen Rückzug an. Das Stück
ist im ganzen nur mittelmässig, sowohl in der Erfindung als in der Durch-
führung.
Spuren einer Umarbeitung findet an drei Stellen Ritsohl, vgl. p. VI seiner Ausgabe,
p. X G(>TZ, welchen Qedanken Kibbbck aufgreift und weiter verfolgt» Etnendationum Mer-
catoris PlauHnae spicüegium, Leipz. 1883, p. 4— 14. Derselbe führt auch aus, dass eine
wesentliche Abweichung vom Original nicht anzunehmen ist (p. 2 — 4).
14. Pseudolus. Um diesen Sklaven, die Hauptperson des Stücks,
konzentriert sich alles Interesse. Der Hauptreiz besteht darin, dass der
Schalk ausdrücklich vor seinen Schlichen warnt und die Gewarnten trotz-
dem übertölpelt. Das Argument ist die alte Liebesgeschichte. Calidorus
liebt Phoenicium; aber der grausame Leno Ballio hatte dieselbe treuloser-
weise um zwanzig Minen an einen Soldaten verkauft; fünfzehn Minen waren
bereits 'bezahlt. Werden auch noch die schuldigen fünf Minen entrichtet,
80 ist Phoenicium für Calidorus verloren. Der sicherste Weg scheint daher
zu sein, die ganze Kaufsumme zusammenzubringen und dem Soldaten zuvor-
42 Römisohe LitteraturgeBchiohte. I. Die Zeit der Republik. 8. Periode.
zukommen. Der Zufall kommt Pseudolus zu Hilfe. Der Soldat schickt
einen Boten mit den fünf Minen und mit Brief und Siegel. Diesen trifft
glücklicherweise Pseudolus; das Geld vermag er dem Boten nicht zu
entlocken, wohl aber Brief und Siegel — damit ist er Herr der Situation
geworden. Es wird rasch ein Kerl als Bote des Soldaten ausstaffiert, mit
Geld, Brief und Siegel versehen und zum Leno geschickt; er erhielt die Phoe-
nicium. Schon frohlockt der gewarnte Ballio darüber, dass er nun jeder
Gefahr seitens des Pseudolus überhoben sei, als der echte Bote erscheint.
Sein Unglück ist jetzt da; er verliert die Phoenicium, muss die erhaltenen
zwanzig Minen zurückzahlen, ja noch dieselbe Kaufsumme an den Vater des
Calidorus Simo infolge der Wette, dass Pseudolus ihm nicht die Phoenicium
entlocken werde, entrichten. Aber diese Summe geht dem Simo wieder
verloren; denn auch er hatte eine Wette von zwanzig Minen mit Pseudolus
eingegangen, dass diesem die Entführung der Phoenicium nicht glücken
werde. Die Zeichnung des Pseudolus ist eine ganz vortreffliche. Wir
staunen über sein unerschütterliches Selbstvertrauen und über seine Genia-
lität, mit der er alles wie spielend abwickelt. Auch Ballio ist, wenngleich
mit etwas starken Farben, gut charakterisiert. Über das ganze Stück ist
Frische und Heiterkeit ausgegossen.
Zwei Episoden bilden III, 1 (767) u. Ifl, 2 (790), über welche Sauppe bemerkt {quaesf.
Plautin. p, 8): et mnilis huixis puer et coquits in alia fahüla, an dicam in pluribus, xylebe-
ctdae ita placuerant, ut poeta personas spectatoribiM gratissimas etiam huic fabiUae risus
captandi causa praeter necessitatetn adderet. Über eine vom römischen Dichter herrüh-
rende Zeitanspielnng (296—298) vgl. Kiessling, Rh. Mos. 28, 416. Von den neueren hat
das Stück direkt nachgeahmt Holbebo in seinem «Diderich Menschenschreck*. Vgl. Lobekz,
Ausg. p. 80.
15. Poonulus (Der Punier). Von zwei in den Händen eines Huren-
wirts zu Kalydon in Ätolien befindlichen karthagischen Mädchen liebt eines
ein Jüngling, der ebenfalls aus Karthago stammte, später als Freigelassener
in sehr guten Verhältnissen lebte. Da der Hurenwirt nicht willfahrig ist,
wird von dem Sklaven des Jünglings ein Schabernack inszeniert, der den
Hurenwirt vor Gericht und in grosse Verlegenheit bringen soll. Allein
die gerichtliche Verhandlung wird unterlassen, der junge Mann kommt auf
diesem Weg nicht zum Besitz seiner Geliebten. Hiezu verhilft ihm eine
Erkennungsgeschichte. Es kommt der Karthager Hanno, der seine ihm
einst geraubten Töchter sucht; er trifft den Jüngling und entdeckt, dass
er sein Verwandter ist; in den zwei karthagischen Mädchen erkennt er
seine Töchter. Den Schaden im Stück trägt der Hurenwirt; der Jüngling,
der Karthager, ja endlich noch eine Nebenfigur, ein Soldat, stürmen auf
ihn ein. Der Poenulus ist zwar reich an schönen komischen Einzelnheiten,
allein die Komposition ist sehr mangelhaft. Es scheint, dass zwei argii-
menta verschmolzen wurden. Auch Spuren einer zweiten Rezension trägt
das Stück an sich, so hat es einen doppelten Schluss. Berühmt ist in
dem Stück das eingestreute Punische. Als Original lag ein KaQxrj^ovwg
vor. Der römische Dichter nannte sein Stück Poenulus, bei einer späteren
Aufführung kam wahrscheinlich der Titel Patruus pultiphagonides >) auf.
Die Zusammenarheitung aus zwei Stücken begründet eingehend Fbanckbn, De Poenidi
^) oder vielleicht Patruus allein. Fbanckbn, Mnem.^ 4, 164.
T. MaocioB Plaatos. 43
compoaüione , Mneiii.' 4, 168, dem mit einigen Modifikationen Lahobeur, De Plauti
^Poenulo, Friedl. 1883 p. 20 folgt. Vgl. auch Reinhabdt in Studbxukd*s Stud. 1, 97. Da-
gegen sucht GCViz, De composüiane Poenidh 1883/84 p. 8, durch Veraetzung der Szenen
IV 1 und 2 vor Sz. II die Schwierigkeiten zu beseitigen, gibt aber die Möglichkeit der Kon-
tamination zu. Die Umstellung billigt Seyffebt, Burs. Jahresber. 47 Bd. II p. 115. Über
den doppelten Ausgang handelt Haspbr, De Poenuli duplici exitu, Fleckbis. J., Suppl. 3,
279—305; die übrige Litteratur darflber ist zusammengestellt in der Ausgabe von Götz und
Löwe p. 170. Über retrnctatio und interpolcUio Schubtb, De Poentüo Plautina quaest.
crit , Bonn 1883.
16. Persa (Der Perser). Der Liebende ist diesmal ein Sklave; er
will sein Liebchen von einem Leno loskaufen, hat aber nicht das nötige
Geld dazu. Dies verschafft ihm ein anderer Sklave durch Unterschlagung
einer für den Einkauf von Ochsen bestimmten Summe. Nun soll aber
dem Leno diese Loskaufsumme wieder entrissen werden. Dies geschieht
dadurch, dass jener Kollege zum zweitenmale hilft; er verkleidet sich als
Perser — daher der Name des Stücks — und verkauft die verkleidete
Tochter des Parasiten als eine angeblich aus Arabien entführte Freie an
den Leno. Da der Parasit gleich nach der Auszahlung der Kaufsumme
seine Tochter als Freigeborne reklamiert, verliert der Leno Geld und Mäd-
chen und wird noch schrecklich verhöhnt. Ein niedriges Stück mit dürrer
Handlung und niedriger Komik, angemessen der niedrigen Gesellschaft,
aus der sich die handelnden Personen zusammensetzen. Das Stück ist für
ein rohes Publikum bestimmt.
Kontamination nimmt an und begründet in ganz unzureichender Weise Jjsbnoijk, De
T. Jdacci Plauti Persa, Utrecht 1884 p. 47—92, bes. p. 88. Verkürzung der Szene IV 9
erscheint Ritscbl wahrscheinlich, Ausg. p. IX. Vgl. Götz, Acta soc, Lips. 6, 300.
17. Rudens (Das Seil). Die Voraussetzung des Stücks ist ein See-
sturm. Durch denselben werden zwei Mädchen, welche ein Kuppler nach
Sizilien führen wollte, an die Küste von Cyrene verschlagen. Diese Reise
des Kupplers schloss aber einen Vertragsbruch gegen Plesidippus in sich,
welcher eines dieser Mädchen (Palaestra) liebte und um eine bestimmte
Summe aus den Händen des Kupplers befreien wollte. Am Landungsort
befand sich ein Tempel der Venus und die Wohnung des alten Daemones.
Nach einiger Zeit kommt der ebenfalls ans Land verschlagene Kuppler
und will die Mädchen, die sich ins Heiligtum der Venus geflüchtet hatten,
mit Gewalt fortreissen. Dem widersetzt sich Daemones. Plesidippus wii*d
geholt, der Kuppler kommt vor Gericht. Inzwischen wird von einem
Sklaven des Daemones, Gripus, ein Koffer aus dem Meer ans Land gezogen.
Derselbe enthält crepundia, aus denen sich ergibt, dass die Geliebte des
Plesidippus die Tochter des Daemones ist. Der ävayvoiQUTig folgt die Ver-
lobung mit Plesidippus. Den Schaden hat wiederum der Kuppler. Das
Stück, dessen Original eine Komödie des Diphilos war, lässt die heitere
Komik vermissen, es ist mehr ein Schauspiel, das aber schon durch die
reiche Szenerie den Hörer einnehmen musste. Eine Merkwürdigkeit ist zu
Anfang des zweiten Aktes der Chor, in dem die Fischer ihr ärmliches
Dasein schüdem.
Den Titel des Originals überliefert der Prolog (vs. 32) nicht. F. Scholl vermutet
als solchen JJiJQa (Rh. Mus. 43, 298). Der lateinische Name rfihrt von dem Seile her, an
dem Trachalio den Koffer festhält, so dass ihn Gripus nicht fortschaffen kann (Vs. 1015, 1031).
Es stellt dies eine komische Scene dar. Den sonderbaren Titel wählte der Dichter wohl
deshalb, weil er bereits eine Vidularia — dies wäre die passendste Bezeichnung gewesen ••-
44 BOmiaohe LitteratiirgeBohiohte. I. Die Zeit der Bepublik. 2. Periode.
geschrieben faaiie. Bezüglich der Komposition bemerkt Fbanoxen, Mnemos.^ 3, 35: scma
iUa, in qua de possessione thesauri inventi aUercantur TrachcUio et Chripus, nimis protracla
est; coÜoquium Scepamionis et Ampelisccie (414—484) plane poterat abesse. Tum melius
fortasse exspectationi speclcUorum canstduisset poeta, si vidulo primum invento apparuissel
Palaestram esse Äthenis natam (741), Die Schwächen des Stücks erörtert auch Lakobehb,
Plautina, Fried!. 1888, wobei er p. 8 zu dem Ergebnis kommt: uniPlawto nimis festinanti
et dummodo specUUarum delectoHoni servuxtf argumentum levius persequenti eius modi
offensiones adscribamtM necesse est.
18. Stichus. Zwei Schwestern harren bereits seit drei Jahren ihrer
Gatten, zweier Brüder, die in die Fremde gezogen waren, um ihre durch
Leichtsinn zerrütteten Vermögensverhältnisse wiederherzustellen, aber bisher
keine Nachricht von sich gegeben hatten. Der Vater redet seinen Töchtern
zu, die Gatten fahren zu lassen. Allein die Töchter bewahren fest die
eheliche Treue und sie werden für ihre Treue belohnt. Eben kommen die
beiden Gatten mit Schätzen reich beladen zurück. Der Schwiegervater ist
jetzt auch versöhnt. Es wird auf ein Mahl der Familienglieder hingewiesen,
zur Darstellung aber kommt es im Stücke nicht. Dafür aber finden wir
in der letzten Szene ein Gelage der Sklaven der beiden Familien, des
Stichus, nach dem das Stück benannt ist, des Sagarinus und der gemein-
schaftlichen Geliebten Stephanium. Aus der Inhaltsangabe ersieht man,
dass keine Verwicklung vorliegt, und dass die letzte Szene in einem sehr
losen Zusammenhang mit dem Vorausgehenden steht. Die Komik des
Stücks liefert ein Parasit, ein elender Hungerleider. Einige Einzelheiten
sind reizend, z. B. die Schilderung des Botens, der die Nachricht von der
Ankunft der Herren überbringt; allerliebst ist ferner, und für den Schau-
spieler äusserst dankbar, der apologus des Schwiegervaters (538); auch die
Schlusszene hat viel Drolliges. Allein von einer künstlerischen Komposition
unseres Stücks kann keine Rede sein.
Als Original des Stücks waren in der Didaskalie die Adolphen Menanders ge-
nannt. Da diese Komödie, soweit sie uns aus Terenz* Nachahmung bekannt ist, nicht mit
dem im Stichus behandelten Argument übereinstimmt, so hat man eine Verderbnis der Di-
daskalie gefolgert. Vgl. Ritschl, Parerga p. 270; Stüdbhund, De actae Stichi tempore
in Comment. Momxsen p. 801 (nee ctmstai^ utrum fahulae an poetae an adeo utriusque
nomen falso in didctsciuiam irrepserü). Diese bedenkliche Folgerung beseitigt F. Scholl,
der gestützt auf ein Scholion zu Plato p. 276 Herm. eine zweite Komödie Menanders, des
Titels AdelpJhoe gewinnt (Flbckbis. J. 1879 p. 44). Vgl. Dziatzko zu Terenz Ädelphoe 6, 1.
Um die merkwürdige Beschaffenheit des Stichus zu erklären, hat man zwei Wege
eingeschlagen; man nimmt Kontamination an, wie solche Wintbu, Plauti fragm. p. 82 — 8(3
ausführlicher begründet hat. Nach ihm ist der jetzige Stichus sehr bald aus zwei plauti-
nischen Komödien zusammengesetzt worden, aus einer Nerrolaria am Anfang und aus
einem Stichus am Ende. Als Stütze für diese Hypothese dient Festus, bei dem zwei in
unserm Stichus stehenden Verse (352 u. 91) der Nervolaria zugeschrieben werden. Andere
Gelehrte statuieren dagegen mit Recht Verkürzung eines Originals und zwar werden wir
diese abbreviierende Thätigkeit gleich dem Dichter selbst, dem es nur um Aneinanderrei-
hung einiger wirksamen Scenen zu thun war, nicht erst einem Diaskeuasten beUegen. Vgl.
Götz, Acta soc. Lips. 6, 302.
19. Trinummus ist dem Schatz Philemons nachgebildet. Das plau-
tinische Stück hat seinen Namen von dem Dreier, den der Sykophant für
seine Dienste erhielt. 0 Sin junger Mann mit Namen Lesbonicus war in
der Abwesenheit seines Vaters Charmides sehr verschwenderisch gewesen,
so dass er zuletzt gezwungen war, sein Haus zu verkaufen. In diesem
') Vs. 841 huic ego die nomen Tri-
nummo facio : nam ego operam meawi \ tri-
bus nummis hodie locavi ad artis nuga-
torias.
T. Maccins Plantua. 4
K
Haus aber war ein Schatz verborgen. Dies wusste Callicles, dem Cliar-
mides für die Dauer seiner Abwesenheit den Lesbonicus anvertraut hatte.
Um diesen Schatz zu retten, hatte Callicles das Haus selbst gekauft. Nun
tri£ft es sich, dass um Lesbonicus' Schwester ein trefflich gearteter Jüngling
aus guter Familie wirbt. Um die nötige Mitgift zu beschaffen, zugleich
aber Lesbonicus in Unkenntnis des Schatzes zu erhalten, wird von Callicles
ein Sykophant gedungen, der angeblich die Mitgift von dem in der Fremde
weilenden Vater überbringt. Allein der Sykophant trifft mit dem inzwischen
zurückgekehrten Charmides zusammen. Dies führt zu einer heiteren Szene.
Der Schluss ist, dass der junge Taugenichts unter der Bedingung Ver-
zeihung erhält, dass er die Tochter des Callicles zur Frau nimmt. Das
an moralischen Ergüssen reiche Stück verläuft im ganzen sehr ruhig und
ist mehr ein Familiendrama als eine Komödie. Bemerkenswert ist, dass
keine weibliche Rolle in demselben erscheint.
FOr die Abfaasungszeit gewinnt Ritschl iu der Erwähnung der neuen ÄdUen Vs. 990
einen Anhaltspunkt (Parerga, p. 339). Vom Amtsantritt der Magistrate im März ausgehend
schliesst er, von neuen Ädilen könne nur bei den im Apnl stattfindenden Megalesia
gesprochen werden, sonach müsse das Stück nach 194 fallen, da erst in diesem Jahr diese
Spiele szenisch wurden. Das LBSSiKo'sche Stück ,der Schaiz* (1750) ist eine vortreffliche
Bearbeitung der plautinischen Komödie; vgl. Sbldkbb, Lessings Verhältnis zu altr. Korn.
Mannh. 1881 p. 28. Über andere moderne Bearbeitungen vgl. Lessing, Hamb. Dramaturgie
9. Stück (7, 56 Göschen).
20. Truculentus (Der Polterer). Eine Hetäre hat drei Liebhaber
und beutet alle drei in schändlicher Habsucht aus. Die einzige schwache
Verwicklung des Stücks besteht darin, dass die Hetäre, um einen der drei
Liebhaber, einen Soldaten, gehörig auszunützen, vorgibt, sie habe ihm einen
Sohn geboren. Zu diesem Zweck wurde ein fremdes Kind unterschoben.
Es stellte sich aber bald heraus, dass dieses Kind einer Freigeborenen zum
Vater den zweiten der drei Liebhaber hat. Damit ist dieser für die Hetäre
verloren, denn er muss das verführte Mädchen heiraten. In dem Stück
kommt ein Sklave vor, der sehr grob, truculentus, und dem Hetärenvolk
feindselig ist; dieser Sklave gibt dem Stück seinen Namen. Merkwürdig
ist aber, dass dieser Sklave plötzlich ^ ein ganz anderer wird. Von allen
plautinischen Stücken ist nach meiner Ansicht der Truculentus das un-
erfreulichste; denn der Stoff ist ein sehr abstossender und gemeiner, und
wir werden nicht durch wahrhaft heitere Szenen entschädigt.
Diesem traurigen Eindruck gegenüber, den das Stück macht, muss man sich wun-
dem, wenn uns Cicero erzählt, dass Plautus am Truculentus als einem Werk seines Alters
besondere Freude gehabt habe. Cato m. 14, 50 qiMm gaudebat hello suo Punico Naevius !
quam Truculenio PlauttM! quam Fseudolo! Obwohl die Überlieferung des Stückes die
denkbar schlechteste ist, so lassen sich doch die Gebrechen derselben unmöglich aus ihr
erklären, es irrt daher Spekgbl, wenn er in seiner Ausgabe p. V schreibt : iertii actus qui
integer non est sunt scaenae III 1, et III 2^ quartus totus intercidit (nisi quod III 1 et
III 2 etiam quarti actus et tertius totus intercidisse potest). Es liegt allem Anschein
nach eine Verkürzung des Originals vor. Ribbbok bemerkt hier passend (Rh. Mus. 37, 422) :
«schon der Titel Truculentus lässt vermuten, dass dieser Rolle in dem unverkürzten Stück
ein weiterer Spielraum als in den zwei einzigen uns erhaltenen Scenen eingeräumt gewesen
sein muss. namentlich kann in der zweiten (III 2) die Umwandlang des Charakters kaum
so unmotiviert eingetreten sein, wie sie Donat bereits vorfand." Welches Original vorlag,
wissen wir nicht; denn Schills Ansicht, dass dieses der Sikyonios des Menander sei, hat
Ribbeck, Alazon p. 79 widerlegt.
^) Er motiviert es damit v. 672 postquam in vrbem crebro commeo.
46 Bömiache LÜteratnrgOBohichte. t. Die Zeit der Aepnblik. 2. ^eriode.
21. Vidularia (Das Kofferstück). Von diesem Stück haben wir
ausser den örammatikerzitaten noch grössere Bruchstücke im ambrosiani-
schen Palimpsest. Die Handlung ist der im Rudens dargestellten ausser-
ordentlich ähnlich. Der junge Nicodemus hatte sich aus einem Schiffbruch
gerettet, aber dabei seinen Koffer {vidultis) verloren, der den Ring, welcher
das Erkennungszeichen seiner Abkunft war, enthielt. Später findet ein
Fischer — die Handlung spielt am Meere — den Koffer des Nicodemus.
Der Ring verhilft dem Nicodemus zu seinem Vater, bei dem er, ohne es
zu wissen, nach dem Schiffbruch Dienste genommen hatte.
Aus dem Prolog hat Stüdemxtkd mit grossem Scharfsinn Züge ermittelt, aus denen
sich das Wort Schedia (das für vorübergehenden Gebrauch rasch hergestellte Schiff) ergibt.
Ohne Zweifel war damit das Original bezeichnet. Da wir nun von keinem andern Dichter
als von Diphilos eine l'jifecfta kennen (Kook fragm. 2, 567), so war damit der Verfasser
des Originals festgestellt. Nun ist das Original für den Rudens ebenfalls eine Komödie
des Diphilos. Wir hätten sonach zwei , Parallelkomödien' desselben Autors. Vgl. Studemund,
Über zwei Parallelkomödien des Diphilos nebst dem Anhang ,die Fragmente der Plautini-
schen Vidularia auf Grund einer erneuten Vergleichung des Ambrosianischen Palimpsestes*
in den Verh. der 36. Philologenvers, zu Karlsruhe 1882 p. 33. (Ein Abdruck der Fragmente
findet sich auch bei Winter, Plauti fragm. p. 49).
Dies sind die sog. fdbulae Varronianae des Plautus. Überschauen
wir die Namen, so finden wir Sachnamen und zwar doppelter Art,
einmal in adjektivischer Gestalt mit Ergänzung von fabula z. B. Mostel-
laria, dann als Substantive z. B. Rudens, ferner Personennamen und zwar
sowohl Eigennamen als Gattungsnamen (Stichus — Der Kaufmann).
Über die Zeit der einzelnen Stücke wären wir genau unterrichtet,
wenn uns die Didaskalien erhalten wären. Wir haben aber deren nur
zwei in Trümmern im Ambrosianus erhalten, eine zum Stichus und eine
zum Pseudolus. Die Didaskalie zum Stichus belehrt uns, dass derselbe
200 V. Chr. an den plebeischen Spielen,^) die zum Pseudolus, dass derselbe
bei den megalesischen Spielen d. J. 191 aufgeführt wurde. Die relative
Zeitbestimmung der übrigen Stücke beruht auf anderen Indicien. Wir
haben auf solche beim Truculentus, beim Miles gloriosus, beim Epidicus,
beim Rudens, beim Trinummus aufmerksam gemacht.
Verlorene Stücke des Plautus. Ausser den 21 fdbulae Varronianae haben
wir noch Kenntnis und grösstenteils auch Fragmente von folgenden StQcken: Acharistio,
Addictus, Agroecus, Anus, Artemo, Astraba, Bac^ria, Bis compressa, Caecus vel Praedones,
Galceolus. Carbonaria, Cesistio (Cacistio, Ritschl Parerga p. 151, Cocistrio, Löwe Prodr. p. 291),
Colax (dieses Stück hält Ritschl Parerg. p. 104 nach dem Prolog, des Terenz zu £un. 25
für eine Neubearbeitung des Menandreischen Colax des Naevius), Gommorientes, Condalium,
Comicula, Dyscolus, Faeneratrix, Fretum, Frivolaria, Fugitivi, Gemini lenones, Hortulus,
Lipargus (?), Nervolaria, Pagon, Parasitus medicus, Parasitus piger, Saturio, Sitellitergus,
Syrus, Trigemini. Vgl. RitschLi opusc. 3, 178. Fr. Wintbb, Flauti fahularum depe^-dita-
mm fragmenta. Bonn 1885.
33. Die plautinischen Prologe. Eine eigene Erörterung erfordern
die plautinischen Prologe. Es ist nämlich eine Eigentümlichkeit der neueren
Komödie, durch einen Prolog die Zuschauer üher die Voraussetzung, und
den Gang der Handlung im allgemeinen zu unterrichten, auch Namen und
^) Dass die Didaskalie ivirklich zum
Stichus gehörtOi setzt Studemund De actae
Sticht Plautinae tempore, nachdem Ritschl
mit der scharfsinnigen Abhandlung „die
Plautinischen Didaskalien* Parerga p. 249
den Weg gezeigt, in den Comm. Mommsen.
p. 7^2 bes. 802 dadurch ausser Zweifel, dass
er beweist, dass Worte des auf demselben Blatte
stehenden Arguments, welche er entzifferte,
zweifellos auf den Stichus sich beziehen.
T. Maccina Planioa.
47
Verfasser des Originals und der Bearbeitung mitzuteilen. Das letzte war
aber nicht unbedingt notwendig, weil vor der Aufführung eine feierliche
Vorstellung des Theaterpersonals ^) und die pronuntiatio tituU statthatte.
Vielleicht konnte auch der ganze Prolog fehlen. Das Institut des Prologs
der neueren Komödie ist eine Fortsetzung des euripideischen Prologs. Zu
Plautus sind uns 15 Prologe erhalten, zu 6 Stücken liegen keine vor,
nämlich zu Bacchides, Epidicus, Mostellaria, Persa, Stichus, Curculio. *) Von
den 15 uns erhaltenen Prologen werden 4 von allegorischen Personen ge-
sprochen, der zum Trinummus von der Luxuria (und Inopia), der zur Au-
lularia vom Lar familiaris, der zum Rudens vom Arcturus, der zur Cistel-
laria vom Auxilium; in 3 Stücken spricht eine handelnde Person des Stückes
selbst den Prolog, im Mercator, Miles gloriosus, Amphitruo, dagegen in den
übrigen Stücken, in den Captivi, den Menaechmi, im Tiiiculentus, in der
Asinaria, im Pseudolus,') im Poenulus, in der Casina, in der Vidularia*) ein
jüngerer Schauspieler im eigenen Kostüme, der selbst den Namen Prologus
führte.^) Die Prologe des Miles gloriosus und der Cistellaria werden nicht
vor der Eröffnung des Stückes gesprochen, sondern nach dem ersten Akt.
Die Prüfung der Prologe ergibt den Satz, dass kein einziger völlig
als plautinisch betrachtet werden kann. Von dem zur Casina steht fest,
dass er für eine zweite Aufführung bestimmt war (v. 11 — 13). Bei anderen
stehen bald äussere, bald innere Gründe, bald beide zugleich der vollen
Autorschaft Plautus' entgegen. Äussere Gründe, wenn feste Sitzplätze
erwähnt werden, die es zur Zeit des Plautus nicht gab; innere Gründe,
wenn fade Spassmacherei und unerträgliclies Geschwätz sich breit macht.
Wieder andere können einen plautinischen Kern haben, aber Überarbeitungen
und Zusätze haben die ursprüngliche Gestalt bis zur Unkenntlichkeit ge-
trübt.®) Es bleibt endlich eine ganz kleine Anzahl von Prologen, in denen
trotz der Thätigkeit einer zweiten Hand das plautinische Eigentum er-
kennbar ist. Dies dürfte beim Trinummus und beim Rudens der Fall sein.
Die Wfirdignng der plautinischen Prologe hat scharfsinnig Ritschl angebahnt (Pa-
rerga p. 180). — Libbio, De prologta Terent. et Plaut. Görlitz 1859. Dziatzko, De pro-
logig Plaut, et Ter. Bonn 1864. tlber die plant. Prolog. Luzem 1867. Lobenss zum
Miles p. 38. — Über den Rudensprolog Dziatzko, Rh. Mus. 24, 576 ; Akspach, Fleckeis. .7.
139, 109. Über den Truculentusprolog Dziatzko, Rh. Mus. 29, 51. Über den Mercatorprolog
1. c. 26, 421; 29, 63. Akspaoh, Fleckeis. J. 139, 171. Über den Poenulusprolog Schubth.
De Poenulo quaest. Bonn 1883 cap. I.
34. Charakteristik des Plautus. Da Plautus in seinen Komödii.i
keine Originale, sondern Übersetzungen lieferte, so bestand die erste Thätig-
keit desselben in der Auswahl der zu bearbeitenden Komödien. Zu den
vorhandenen 21 Stücken können wir vier Dichter als Schöpfer von Origi-
*) Vgl. RoHDB, Rh. Mos. 38, 264.
') Dieses Stflck bat aber eine Art Para-
base IV, 1.
') Von dem Prolog zu diesem Stück
haben wir nur zwei Verse.
*) Reste des zu diesem StOck gehörigen
Prologs hat aus dem Ambrosianus Stude-
JIUHD entziffert. Vgl. Verh. der Karlsr. Phi-
lologenvers. 1882 p. 43.
*) Hec. prol. II, 1 orator advenio or-
tMtu prologi. Studbmukd unterscheidet 1. c.
p. 41 drei Arten dieser Prologgattung; a)
ausser der Erzählung des argumentum wird
auch das nomen d.h. Namen und Verfasser
des griech. Orginals und des lat. Stückes
angeführt; b) bloss das argumentum wird
erzählt, das nomen nicht erwähnt; c) bloss
das nomen wird erwähnt, das argumetUum
zu erzählen abgelehnt.
^) Vgl. die Bemerkung Ribbbcks zum
Miles Vs. 79.
48 fiOmiache Litteratiirgeschichte. t. Die Zeit der fiepublik. 2. Periode.
nalen sicher nachweisen, Menander, Philemon, Diphilos und Demophilos. 0
Da der letzte Dichter uns nicht weiter bekannt ist, so ist zu folgern, dass
Plautus auch zu ganz entlegenen Quellen griff, falls ihm ein Stück zusagte.
Die ausgewählten Stücke repräsentieren uns ganz verschiedene Seiten der
Komödie. Es findet sich unter denselben eine Charakterkomödie (Au-
lularia), vielleicht war auch das Original des Truculentus eine solche, eine
mythologische Travestie (Amphitruo), Rühr- und Familienstücke
wie die Captivi, der Trinummus, der Stichus in seinem Hauptteil und die
drei unter sich verwandten Stücke Cistellaria, Rudens, Yidularia. Bei den
meisten Stücken ruht aber das Hauptgewicht auf der Intrigue. Die Muster
dieser Gattung sind Pseudolus und Bacchides, in denen die Unerschöpflich-
keit der intriguierenden Hauptperson in der Auffindung neuer Mittel und
Wege dargelegt wird. Auf eine Erkennungsszene laufen hinaus Curculio,
Epidicus, Poenulus. Rivalität in der Liebe zwischen Vater und Sohn spielt
sich ab in der Casina und im Mercator. Durch ein ganz neues Motiv,
durch ein angebliches Gespenst wird die Intrigue in der Mostellaria ge-
tragen. Auch die Verwechslungskomödie ist vertreten, eine solche
sind die Menaechmi, in der Nebenhandlung der Miles. Auch im Amphitruo
war dieses Motiv verarbeitet. Manche Stücke lassen die niedrige Komik
so stark hervortreten, dass wir sie als Possen bezeichnen können, wie
die Asinaria und der Persa. Die gelungensten Stücke dürften sein: Au-
lularia, Captivi, Epidicus, Bacchides, Mostellaria, Menaechmi, Miles, Pseu-
dolus, Trinummus. Wir sehen also, dass Plautus sich in den verschiedensten
Gattungen versucht hat und daher als die vorzüglichste Quelle für die
Erkenntnis der neueren Komödie betrachtet werden kann. Es entsteht
nun die Frage, wie sich Plautus' Bearbeitung zu den Originalen verhält.
Das erste, was hier berücksichtigt werden muss, ist die Kontamination.
Dass auch Plautus von diesem Kunstmittel Gebrauch gemacht hat, bezeugt
der Prolog zur Andria vs. 15; denn hier beruft sich Terenz zur Abwehr
der Angriffe auf seine kontaminierende Thätigkeit auf den Vorgang des
Naevius, Ennius, Plautus. Allein der Nachweis der Kontamination in den
einzelnen Stücken ist deswegen erschwert, weil uns hier äussere Zeugnisse
abgehen und wir lediglich auf die Betrachtung der Komposition angewiesen
sind. Mit ziemlich grosser Wahrscheinlichkeit kann die Kontamination
für den Poenulus und den Miles angenommen werden. Ausser der Kon-
tamination scheint der Dichter auch Verkürzung des Originals vorge-
nommen zu haben. Solche liegt höchst wahrscheinlich vor im Curculio,
Stichus, Truculentus; wir haben keinen stichhaltigen Grund, diese ver-
kürzende Thätigkeit erst späteren Bearbeitern der Stücke beizulegen. Dass
beide Operationen der Komposition nicht zum Vorteil gereichen konnten,
ist klar. Es fehlt nicht an Anzeichen, dass auch sonst der Dichter nicht
ängstlich auf der strengen Durchführung des Arguments verharrte. Wir
stossen vielfach auf Widersprüche, Vergesslichkeiten, Sprünge und andere
Mängel der Komposition. Die Plautusforscher suchen meistens spätere
Bearbeitungen verantwortlich zu machen, die „retractatio" ist zu einer Art
') Poseidippos, der ftir die Menaechmi (vgl. Schobll p. XVI) und Curculio die Ori-
ginale geliefert haben soll, wagten wir nicht aufzunehmen.
T. Kacoins Planta«.
49
Panacee geworden. Allein wenn man sich die rasche Produktion des
Dichters vergegenwärtigt, wenn man bedenkt, dass die Stücke zunächst
zu einer einmaligen Aufführung, nicht zur peinlichen Lektüre bestimmt
waren, wird man der Ansicht nicht beipflichten können, welche den Dichter
von allen derartigen Verstössen zu befreien trachtet. ^ Hat doch der
Dichter auch die Dissonanz der Darstellung nicht vermieden. Wir finden
bei ihm eine Menge Dinge, welche für die griechischen Zuschauer, nicht
aber für die römischen berechnet waren. So sind z. B. die Lokalitäten,
die Anspielungen auf die tragischen Mythenkreise, sehr viele sakrale Dinge
und historische Persönlichkeiten, Geldverhältnisse unverändert aus dem
Original herübergenommen. Daneben aber sucht Plautus mit Vorliebe
römische Lokaltöne einzumischen; er ersetzt, wo er nur kann, in seiner
Schilderung griechische Verhältnisse durch analoge römische. Dadurch ist
ein vom Standpunkt der Kunst durchaus zu verwerfendes Durcheinander
entstanden; die Einheitlichkeit des Hintergrunds ist zerstört. Wenn man
aus diesen römischen Bestandteilen geschlossen hat, dass sich Plautus
seinem Original gegenüber aufs freieste bewegt hat, so ist dies unrichtig.
Hätte Plautus sich nur ganz allgemein an sein Original gehalten, so würde
er die griechischen Unverständlichkeiten doch wohl zuerst beseitigt haben.
Es ist keine Frage, nicht die Komposition, sondern die reiche metrische
und sprachliche Gestaltung ist es, in der die Meisterschaft des Dichters
zu suchen ist. In der Metrik musste Plautus vielfach selbständig und
produktiv vorgehen. Der römische Komödiendichter hatte eine Reihe von
Metra in Anwendung zu bringen, für die in seinen Originalen gar keine
Muster vorhanden waren, weil die Griechen diese nicht gebrauchten. Aber
auch sonst war der Dichter durchaus nicht an das Metrum seiner Vorlage
gebunden, er konnte nach freier Wahl einen Wechsel eintreten lassen.
Die grösste metrische Selbständigkeit entfalte aber Plautus ohne Zweifel
in den Cantica. Als Metriker ist Plautus bewunderungswürdig durch die
Mannigfaltigkeit, die er in seinen Gebilden zeigt. In dieser Beziehung
steht er weit über Terenz. Auch die strenge Gesetzesmässigkeit des Vers-
baus hat man immer mehr anerkennen müssen, seit die Geschichte der
lateinischen Sprache erforscht wurde; durch dieselbe sind viele anscheinende
Unregelmässigkeiten und Härten in ein anderes Licht getreten. Wohl noch
höher ist die sprachliche Kunst des Dichters zu stellen. Freilich ist es
die Sprache der Gasse, die er im Gegensatz zu Terenz kultiviert. Aber
') Auch in modernen Dichtem weist
solche Widersprflche und Vergesslichkeiten
nAch 6. Sauppb, Wanderangen auf dem Ge-
biete der Sprache u. Literatur 1868 p. 222.
Vgl. Geppbrt, Plant. Stud. 1, 61. Auf eine
interessante Inoonseqnenz in Wielahds ^Lady
Jobanna Gray*, das nach dem englischen
Original des Nicholas Rowb bearbeitet ist.
macht Lbssdio in seinen Briefen die neueste
Utteiator betreffend nr. 64 (5, 147 Gdschen)
aoftnerksam. WnLANO hat die rührende
Episode des Pembrocks herausgerissen, trotz-
dem ISsst er den Guilford zur Johanna sa-
gen: .Fembrok, ach mein Freund, Mein
Haadbaoh der Uim. AltcrtumflwlBaeittcbmn. Xlll.
Pembrock selbst, vom Gardiner betrogen.
Fiel zu Marien ab.* Man weiss gar nicht,
fährt Lbssino fort, was das für ein Pem-
brock hier ist und wie Guilford auf einmal
eines Freundes namentlich gedenkt, der in
dem Stücke ganz und gar nicht vorkommt?
Aber nun werden Sie dieses RAtsel auflösen
können. Es ist eben der Pembrock des
RowB, dem er in seinem Stücke keinen Platz
gönnen wollen, und der ihm dafür den Possen
thut, sich, gleichsam wider seinen Willen,
einmal einzuschleichen. Vgl. Götz, Acta soc.
Lips. 4, 812.
50 BOmiache litteratnrgeBcliiohte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
hier verfügt er über alle Mittel, die Rede komisch zu gestalten; AUittera-
tionen, Assonanzen, etymologische Figuren, Wortspiele, komische Neubil-
dungen fesseln den Leser. Sein Wortschatz ist, da er aus dem Born
der Volkssprache schöpft, ein ungeheuer reicher; besonders an Schimpf-
Aorten besitzt er den denkbar grössten Vorrat. Dieser plebejische Zug,
der ohne Zweifel das Original vergröberte, erregte bei den fein gebildeten
Schriftstellern der augusteischen Zeit Anstoss, wie wir aus Horaz' Poetik
270 ersehen. Aber derselbe Horaz hat auch an einem anderen Ort auf das
hingewiesen, was jederzeit den Leser des Dichters erfrischt, auf die leben-
dige, rasch dahin eilende Rede, einen Vorzug, den auch Varro an Plautus
erkannt hat. Und in dieser Lebendigkeit und Frische der Diktion hat
kein späterer römischer Schriftsteller den Dichter erreicht, geschweige denn
übertroffen. Wir finden es daher entschuldbar, wenn Aelius Stilo in starker
Übertreibung sagte, die Musen würden, wenn sie lateinisch sprächen, sich
des plautinischen Idioms bedienen, und wir streiten nicht dagegen, wenn
des Dichters Epitaphium klagt, dass seit seinem Tode die Komödie trauert,
die Bühne verlassen dasteht, Scherz, Spiel, Lust und zahllose Weisen ver-
stummt sind.
Beiträge zur Charakteristik des Piautas liefert der bekannte Aufsatz im 2. Band der
opusc. Ritsouls p. 732, Klein im 2. Band seiner Geschichte des Dramas p. 480. So geist-
reich der Verfasser unleugbar ist, so ungeniessbar ist seine Darstellung; es ist gährender
Most, kein reiner, klarer Wein. Weise, Die Komödien des Plautus — beleuchtet. Qued-
linb. 1866. Sehr nützliche Winke geben Lahobn*s Plaut. Studien. Berl. 1886. In diesem
Buch werden die Mftngel der plautinischen Dichtung durch alle Stücke hindurch behandelt
um ein Fundament dafür zu gewinnen, wie weit die retractatio an diesen Mängeln schuld
ist. Mit Recht spricht sich Langen gegen die allzu ausgedehnte Anwendung dieses Heil
mittels aus; ebenso Ribbbck, Rh. Mus. 87, 581. Die Ansicht, dass Plautus sich enger an
seine Vorlage angeschlossen als man bisher glaubte, hat Kiessling in seinen ÄncUecta
Plautina (1878. 1883) ausgesprochen und begründet. Seinen Gedanken führen weiter aus
seine Schüler Schuster, Quomodo Plautus AtHca exemplaria transtulerit. Greifsw. 1884,
wo die religiösen Dinge behandelt sind und Osterkatbb, De historia fabulari in eomoe-
diia Flautinis. Greifsw. 1884, wo die mythischen Anspielungen untersucht sind. Dass
Plautus auch Dinge aus dem Original herübernahm, die römische Zuhörer unmöglich ver-
stehen konnten und die Plautus wohl selbst nicht verstand, beweist schön Aulul. 394, wo
sich eine Anspielung auf den Angriff der Gallier auf das delphische Heiligtum im J. 279
findet. Vgl. Kiessling, Rh. Mus. 23, 214. Einige feine Beobacntungen über das. Verhältnis
des Dichters zum Original bei Leo, Herm. 18, 559.
Über Prosodie und Metrik handeln (Auswahl): Müller, Plautinische Prosodie, Berlin
1869. Nachtr. Berl. 1871. Studemund, De cantids FL, Halle 1863. Cbain, Die Composition
der nl. Cantica, Berl. 1865. Cbbist, Metr. Bemerk, zu den cantica des PI. Sitzungsber.
der Münchener Ak. 1871, 41. Winteb, Die metr. Reconstruction der plant. Cantica. Mün-
chen 1879. A. Spenoel, Reformvorschlftge zur Metrik der lyr. Versarten bei PI. und den
übr. Scenikem. Berl. 1882. W. Meter, Ober die Beobachtung des Wortaccentes in der
altl. Poesie. Abb. der Münch. Akad. 17. Bd. 1. Abth. Leo, Rh. Mus. 40, 162.
Die Eigentümlichkeiten der pl. Sprache sind gut gekennzeichnet von Lorenz zu Pseudol.
p. 37. Viele Beobachtungen über den Sprachgebrauch bietet Langen, bes. in der Schrift Bei-
träge zur Kritik u. Erklärung des PI. Leipz. 1880. Hör. ep. 2, 1, 58 Plautus ad exemplar
Siculi properare Epicharmi (dicitur). Varro in der satvra Menippea Parmeno nr. 309
Buech, in argumentis Caecüius poscit palmam, in ethesin Terentius, in sermanibus Plautus.
Quint. 10, 1, 99 in comoedia maxiine daudicamus^ licet Varro Musas Aelii Stilanis sen-
tentia Plautino dicat semione locuturas fuisse, si latine loqui veUent. Gell, 1, 24 Epigramma
Plauti, quod dubitassemus an Plauti foret, nisi a M. Varrone positum esset in libro de
poetis primo: Postquam est mortem aptus Plautus, Comoedia luget | Scacna est deserta,
dein Bisus, Ludus Joeusque \ Et Numeri innumeri simul omnes conlacrimarunt.
35. Fortleben des Plautus. Auch nach dem Tode des Dichters
lebten seine Werke fort. Als nach dem frühen Hinscheiden des Terenz
T. MacciiiB Plantas. 51
die dichterische Produktion auf dem Gebiet der fabula palliata nachgelassen,
wurden die alten Stücke des Plautus wieder vorgesucht und da sie dem
Bewusstsein der damaligen Generation fast ganz entrückt waren, gleichsam
als fabulae novae wieder auf die Bühne gebracht. Eine interessante Stelle
über diesen Vorgang enthält der Casinaprolog, wo es im Eingang heisst:
Antiqua Opera et verba quom vohis placent,
Aequam est plaeere ante dlias veteres fabtäas;
Nam nunc novae quae prodeunt comoediae,
MuUo sunt nequiores quam nummi navi.
No8 postquam popuii rumorem inteUeximus
Studioae expetere voa Plautinas fabuka,
Aniiquam eius edidimua eomoediam,
Quam V08 probastis^ qui estis in senioribus ;
Nam ittniorum qui sunt^ non norunt, scio.
Diese Wiederaufführung der plautinischen Stücke wurde aber insofern für
den Dichter verhängnisvol], als dieselbe zu Überarbeitungen und Inter-
polationen führte, wodurch der ursprüngliche Text der Komödien vielfach
getrübt wurde. Auch das gelehrte Studium warf sich sehr früh auf die
Werke des Dichters. Dasselbe äusserte sich einmal in Anlegung von Ver-
zeichnissen der echten Stücke des Plautus (pinakographische Thätigkeit),
dann in Erklärung seltener Wörter (Glossographie), endlich in Kommen-
tierung ganzer Komödien. Die Pinakographen sind bereits oben von uns
aufgeführt worden. Als Glossographen, welche neben anderen Schrift-
steilem auch Plautus benützt haben, lernen wir kennen z. B. Am*elius
Opilius, .Servius Clodius. Kommentatoren ^ des Plautus sind Sisenna und
Terentius Scaurus. Zu den Konmientaren können wir auch die metrischen
Inhaltsangaben {argumenta) rechnen. Sie zerfallen in zwei Klassen, in
akrostichische, welche durch die Anfangsbuchstaben der Verse den
Namen des Stückes darstellen. Diese sind uns lediglich durch die zweite
Klasse der Überlieferung, die Palatini, erhalten, nicht durch den Ambro-
sianus. Die zweite Klasse umfasst die nichtakrostichischen Argumenta.
Akrostichische sind uns zu allen Stücken überliefert, die Bacchides und
die Vidularia ausgenommen, also im ganzen 19 Stück. Von den nicht-
akrostichischen überliefert uns die palatinische Rezension vier (Amphitruo,
Aulularia, Mercator, Miles), der Ambrosianus ein vollständiges zum Pseu-
dolus, zwei unvollständige zum Persa und zum Stichus. Den Inhalt können
die nichtakrostichischen Argumente besser darlegen als die akrostichischen.
Im Mittelalter fand Plautus wenig oder gar keine Beachtung. Beim Wieder-
aufleben der Wissenschaften waren in Italien nur die acht ersten Stücke
bekannt; gelegentlich des Basler Konzils wurde von Nikolaus von Trier
eine Handschrift gefunden, welche ausser den drei ersten und Captivi bis
Vs. 503 auch die 12 letzten Stücke enthielt. Damit war Plautus der mo-
dernen Kultur zugänglich gemacht.
Über die WiederftuffQhroDg der plautiniscben EomOdien, die Kommentatoren, Glosso-
graphen handelt grundlegend Ritscbl, Parerg p. 199 p. B57. — Zar plautinischen Glosso-
graphie (Placidus) vgl. dessen opusc. 3, 55 ; Lobwe, Prodromus 254. — Zur retractaUo sieh
Rbikhasdt in SruosinnfDs Stud. 1, 79; GOtz, Acta, Lips. 6, 235. — Die argumenta hat
>) Textesrecensionen oder doch wenig-
stens Textesstudien nimmt mit Unrecht von
Seiten des Ser. Clodius (und vielleicht Si-
senna) Bbrqk, Beitr. zur lat Gramm. 1,
124 an.
52 Römische Litteratorgesohiohte. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
zaletzt geprüft Opitz, De argumentorum metricorum latinorum arte et origine, Leipz. Staid.
6, 195, wobei er zu folgendem Ergebnis gekommen ist: Die nichtakrostichischen stammen
aus derselben Zeit wie die von Sulpicius Apollinaris verfassten Periochae zu Terenz (p. 227),
sie rfihren zwar nicht von Sulpicius Apollinaris her, sind aber derselben Schule zuzuweisen
(p. 229). Die akrostichischen Argumenta fallen in die Zeit der Antoninen (p. 275) ; der
Verfasser der Akrosticha ahmt die Non-acrosticba nach (p. 261). Endlich wird noch fol-
gende allgemeine Betrachtung über die Argumente der Komödien angeschlossen (p. 279) :
Plautina orta esse post Terentiana, quia ad T^orum exemplar videntur esse conseripta, tU
liceat iam cum aliqua prohabüüate hanc proponere seriein, qua periochis StUpicii succe-
dunt non-acrosticha, Ms acrosticha. Bezüglich der Akrosticha bestreitet dies Ergebnis
0. Seyffert, von dem Satz ausgehend, dass bei dem Verfasser eine solche genaue Kenntnis
der plautinischen Prosodie vorliege, wie sie zur Zeit der Antoninen nicht möglich war, die
Akrosticha seien daher schwerlich später als 100 Jahre nach dem Tod des Dichters anzu-
setzen (Philo!. 16, 448 ; Bubsiak, Jahiesber. 47 (1886) p. 22).
Überlieferung. Die handschriftliche Überlieferung des Plautus führt auf zwei
Quellen, den ambrosianischen Palimpsest in Mailand (A. s. V) und die Rezension der Pf&lzer
Handschriften (Palatini), Der ambrosianische Palimpsest, ursprünglich dem Kloster Bobio
angehörig, wurde im 8. Jahrhundert auseinandergenssen und ein Teil nach Austilgung der
ursprünglichen Schrift benützt, um die Bücher der Könige des alten Testaments darauf zu
schreiben. Es sind 236 Pergamentblfttter in Grossquart. Ritscbl, opus. 2, 168 gibt folgendes
Bild: , Abgesehen von 7 Komödien, von denen gar nichts oder wenig mehr als nichts Übrig
ist, lässt sich das, was von den 14 übrigen erhalten ist, genau auf die Hftlfbe derselben
berechnen, so jedoch, dass es sich — keineswegs zu unserm Schaden — sehr ungleich auf
sie verteilt, indem an 2 Stücken nur sehr wenig fehlt, 2 mit mehr als der Hälfte, 3 unge-
fähr zur Hälfte, 7 mit weniger als der Hälfte erhalten sind. Von dieser Gesamtzahl muss
freilich noch die nicht ganz kleine Zahl von Blättern in Abzu^ kommen, deren Inhalt zwar
im allgemeinen bestimmbar, auf denen aber im einzelnen wenig oder so gut wie gar nichts
zu lesen ist.^ Genauere Au&ählung des Erhaltenen bei Geppbbt, Über d. Cod. Ambroe. p. 26.
Den C^dex hat Mai entdeckt und zu entziffern versucht. (Plawti fragm, medita, Mailand
1815). Weiter haben sich mit demselben beschäftigt Sohwabzkann 1885, Ritschl 1837,
Geppebt 1845 u. 1846, Studbmuvd (von 1867 an), endlich Löwe. Die dieser Handschrift zu
Grunde liegende Recension fällt in die Zeit nach dem Metriker Heliodor und vor dem
Grammatiker Charisius. (Studexund, Festgruss, Würzb. 1868 p. 40). Dieser Recension steht
die der Palatini gegenüber. Diese Handschriften waren ursprünglich im Besitz des Game-
rarius und kamen dann in die Heidelberger Bibliothek. Die eine derselben, der sog. vetus
(B. s. XI.) befindet sich jetzt in Rom, er enthält 20 Komödien, von der Vidularia nur den
Titel; die andere, der sog. Decurtatus (C. s. XI), der in Heidelberg aufbewahrt wird,
enthält nur die 12 letzten Stücke (Bacchides— Truculentus). Zu dieser Recension gehört
auch Vaticanus 3870 oder (nach seinem ehemaligen Besitzer, dem Kardinal Orsini) Ursinia-
nus D. s. XI, sehr ähnlich dem C; in den 12 Stücken, die er mit C gemeinsam hat, stammt
er aus derselben Quelle; diesen Stücken gehen aber voraus Amphitr., Asinar., Aulul.,
Gaptivi zum Teü; hier zeigt er grosse Übereinstimmung mit B. Es ist die Handschrift,
durch welche die 12 letzten Stücke in Italien bekannt wurden. Für die acht ersten Stücke
gehören noch hieher ein Ambrosianus (E. s. XIII) und ein Britanniens (I. s. XI). Über einen
jetzt verschollenen Codex des Tumebus, einen vorzüglichen Vertreter der Palatinischen
Kecension handelt Götz-Löwe praef. zum Poenul. p. VII. über das Verhältnis der beiden
Recensionen zu einander vgl. Bbbgk, Beitr. zur lat. Gramm. 1, 122: ,Die verhältnismässig
J'ungen Pfälzer Handschriften repräsentieren die ältere Recension. während der weit höher
linaufreichende Mailänder Palimpsest eine spätere Recension darbietet, ** und weiterhin:
«Die Recension der Palatini entfernt sich weniger oft von der echten Form des Originals
als der Ambrosianus.* Vgl. Niekbteb, De Plauti fabularum recensiane duplici, Berl. 1877.
Baieb, De Plauti fabularum recensionibus Ämbrosiana et Palatina, Berl. 1884. Richtig
abwägend Ribbeck zu Emendat. Mercat. p. 21.
Ausgaben. Die erste vollständige Ausgabe des Plautus, besorgt von G. Morula,
erschien 1472 zu Venedig. Die nächste epochemachende Leistung war die Ausgabe des
Pjlades Buccardus, Brescia 1506. Durch die Aldina (1522) wurde dieser Text die Vulgata
bis auf CAXEBABnrs, der durch die Benützung der Palatini Plautus eine ganz neue Ge-
stalt gab (Basel 1552). Die Erklärung wurde durch D. Laxbin gefördert. Von den
späteren Ausgaben gewann grossen Einfluss die von J. Fb. Gbonov (Leyden 1664), ihr Text
wurde Vulgata bis in die neueste Zeit hinein. Die Auffindung des Ambrosianus gab den
plautinischen Studien einen neuen Aufschwung, derselbe ist unzertrennlich mit dem Namen
Fb. Ritsohl verbunden. Seine Ausgabe begann zu erscheinen 1848, der erste Band enthält
die berühmten Prolegomena. Diese Ausgabe wurde nicht vollendet. Dafür wurde 1871
^eubnbb) eine ganz neue Ausgabe begonnen und von Götz, Löwe, Scholl fortgesetzt. Die-
Q. EnniaB.
53
selbe ist zur Zeit nicht beendigt. Yollständig liegt dagegen üssing's Ausgabe vor in fünf
Bänden (Kopenh. 1875 — 1886). Femer wurde eine Ausgabe begonnen von Leo (Wsid-
xavh). Nicht vollendete Textausgabe von Fleckeisen (Teübnbb). Ausgaben einzelner StQcke
(Auswahl): Truculentus, En. A. Spengel, Götting. 1868; Aulularia with notes by W. Waoker,
Cambridge 1876, von Laeoen, Paderb. 1889; Trinummus von Waokee, Cambr. 1875; Me-
naechmi, ed. J. Yahlen, Berl. 1882; Miles Gloriosus, ed. 0. Ribbegk, Leipz. 1881; Ober-
setzung dazu im Alazon, Leipz. 1882; Mostellaria with notes by Sonnemscheik, Cambridge
1884. Ausgaben mit deutschem Kommentar von Lorenz: Pseudolus, Mostellaria, Miles
rWBiDHANN); von Bbix: Trinummus, Captivi, Menaechmi, Miles (Teubner).
Über das Fortleben des Plautus in der modernen Bühnendichtung handeln unter an-
deren Steinhoff, das Fortleben des Plautus auf der Bühne, Blankenburg 1881 ; Günther,
PlautusemeueruDgen in der deutschen Litteratur des XV. — XVII. Jahrb., Leipz. 1886; Rein-
HARD8T(yTTNER, Die plsut. Lustspiolo in spät. Bearb., Leipz. 1880.
4. Q. Ennius.
36. Da43 Leben des Ennius. Ennius ist in Rudiae, dem heutigen
Rugge') 239 geboren. Zwei Sprachgebiete drängten sich ihm auf, das
griechische und das oskische. Beide Sprachen musste er daher kennen
lernen. Als er nun auch Latein dazu erlernt hatte, konnte er von
sich rühmen, dass er drei Zungen {tria corda) habe (Gell. 17, 17, 1). Er
that Kriegsdienste in Sardinien. Und von da nahm ihn — ein für die
Entwicklung der römischen Litteratur wichtiges Ereignis — M. Porcius
Gate im J. 204 mit nach Rom (Nep. Cato 1, 4). Hier gab er Unterricht
im Lateinischen und im Griechischen (Suet. gramm. 1). Seine Dichtungen
verschafften ihm die Gunst der vornehmen römischen Welt. Er war mit
dem älteren Scipio Africanus vertraut; auch Scipio Nasica zählte er zu
seinen Bekannten und Cicero erzählt de or, 2, 276 eine gar ergötzliche
Anekdote. Der Historiker oder Graecomane A. Postumius Albinus widmete
sein historisches Werk dem Ennius. Dass die Dichtkunst bereits eine
Macht war, beweist die Thatsache, dass M. Fulvius Nobilior den Dichter
auf seinem Zug nach Ätolien (189) mitnahm, nicht dass er dort mitkämpfe,
sondern dass er der Verkünder seines Ruhmes werde (Cic. Tusc. 1, 3).
Dieser vornehmen Familie verdankt Ennius auch das römische Bürgerrecht.
Der Sohn des M. Fulvius Nobilior Quintus geleitete im J. 184 eine Bürger-
kolonie nach Potentia und Pisaurum und hatte das Recht, ^) auch Fremde
unter die Zahl der Kolonisten aufzunehmen, wodurch sie römische Bür-
ger wurden (Cic. Brut. 20, 79). Von diesem Rechte machte er dem
Ennius gegenüber Gebrauch, so dass dieser dann später von sich singen
konnte:
«Römer sind wir jetzund, die vordem Rudiner nur waren.*
Von seinem Privatleben erfahren wir, dass er auf dem Aventin wohnte
und zwar in sehr bescheidenen Verhältnissen, nur von einer Magd bedient.
Sein Hausgenosse war der Dichter Statins Caecilius. Sein Charakterbild
können wir aus dem Dichter selbst entwerfen; in seinen Jahrbüchern wird
von ihm der Vertraute eines vornehmen Römers geschildert; es ist ein
Mann, dem der hohe Herr, wenn er nach des Tages Mühen heimkehrt,
sein Herz ausschütten kann; denn der Hausfreund ist verschwiegen und
') Die Lage desselben auf der Strasse
zwischen Brindisi und Tarent weist nach
£. CoccmA, Riviata dt füologia 1*3, 31. So-
nach war das Griechische seine Mutter-
sprache.
>) Vgl. MoMifSBN, Rom. Gesch. 1«, 798.
54 BOmische LitteratnrgeBohiohte. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
ohne Arg, er ist wohl unterrichtet, treu, lieb, beredt, genügsam, zufrieden,
geschickt, mit seinem Worte zur rechten Zeit bereit, umgänglich, des Wort-
schwalles Feind, der Vorzeit trefflicher Kenner. Der erste römische Philo-
log L. Aelius Stilo bezeugt, dass mit diesen Worten der Dichter sich selbst
schildere (Gell. 12, 4, 1). Nur ein Zug ist vergessen, den uns Horaz auf-
bewahrt hat, dass nämlich Ennius den Becher liebte und denselben gern
leerte, ehe er zur Arbeit schritt (Ep. 1, 19, 7). Ennius starb im Jahre 169
am Podagra.
Das Geburtsjahr wissen wir darch Varro bei Gell. 17, 21, 43 consules secuntur Q, Va-
leriuB et C. Mamilius, quibtis natum esse Q. Ennium poetam M. Varro in primo de poelü
libro scripsit. Ober des Dichters häusliche Verhältnisse vgl. Hieronym. 2, 123 Seh.
37. Ennius' dramaidsche Dichtungen. Höchst wahrscheinlich be-
gann Ennius seine dichterische Thätigkeit mit Tragödien; er entfaltete
hier eine grosse Fruchtbarkeit und pflegte diese Gattung, die er zu grosser
Blüte brachte, bis an sein Lebensende; noch in seinem Todesjahr wurde
eine Tragödie, der Thyestes, von ihm aufgeführt (Cic. Brut. 20, 78). Es
sind uns 22 Titel mit Fragmenten überliefert. Bei der Auswahl der Ori-
ginale bevorzugte Ennius den trojanischen Sagenkreis, von den Dichtern
wiederum den Euripides, zu dem ihn schon dessen skeptische, aufgeklärte
Gesinnung hinziehen musste. Zu den Originalen nahm er eine vielfach
freie Stellung ein; belehrend ist hier besonders eine Vergleichung der Frag-
mente seiner Medea exul mit der euripideischen. Gleich der Eingang zeigt
dem Original gegenüber sowohl Kürzung als Erweiterung. Dass der Dichter
die Metra seine Vorlage hie und da änderte, können wir öfters nachweisen,
ein Beispiel möge genügen; in der Hecuba gab er die Rede der Hecuba,
die bei Euripides in Trimetern abgefasst ist, in trochäischen Septenaren vgl.
fr. 189 M. mit Eur. 293. Interessant ist seine Behandlung von Aeschyl.
Eum. 902, wo ein sprachliches Kunststück angebracht wird (fr. 229 M).
Aber auch in den Organismus der griechischen Vorlage griff der römische
Dichter ein; um hier nur ein Beispiel zu erwähnen, in seiner Iphigenie
hat er den euripideischen Jungfrauenchor durch einen Soldatenchor ersetzt
(fr. 54 M). Auf der andern Seite freilich behielt er wieder Züge seines
Originals bei, die für die Römer nicht verständlich waren; z. B. brachte
er Etymologien, die den griechischen Namen erläutern wie die der Namen
Alexander und Andromache (Varro de 1. 1. 7, 82). Dieselbe Wahrnehmung
eines Schwankens zwischen freier und sklavischer Übertragung des Ori-
ginals konnten wir ja auch bei Plautus machen. Die Tragödien des Ennius
waren, wie wir aus Cicero ersehen können, selbst in späterer Zeit noch
sehr beliebt. Auch eine Prätexta können wir mit Sicherheit Ennius bei-
legen, nämlich den Raub der Sab ine rinnen; denn das einzige daraus
von Julius Victor (rhet. lat. min. 402 H) erhaltene Fragment führt auf ein
Drama. Dies kann aber in dem gegebenen Fall nur eine Praetexta sein;
für eine solche eignete sich der gewählte Stoflf ganz vortrefflich. Einen auf
einen Dialog hinweisenden Vers enthält auch die Ambracia (p. 77 v. 35 M);
wir werden daher mit Wahrscheinlichkeit diese Schöpfung ebenfalls als
eine Praetexta betrachten dürfen, in welcher der Dichter die Eroberung
Ambracias im ätolischen Feldzug durch seinen Gönner M. Fulvius Nobilior
Q. Enniiifl. 5
K
verherrlicht hat. Für die Komödie scheint Ennius wenig Neigung gezeigt
zu haben. Zwei Eomödientitel lassen sich feststellen. Bemerkenswert ist,
dass er von Terenz im Prolog zur Andria 18 zu denen gezählt wird, welche
die Kontamination in Anwendung brachten.
FOr eine Praetexta hält die Ambracia Ribbbck, Rom. Trag. p. 207, fQr eine den
Satiren zuzuteilende epische Dichtung L. Mülleb, Ennius p. 108; Babbens (fr. 495) fQr einen
ausserhalb der Satiren stehenden Panegyricus, indem er sich hiebei auf de vir. ill. 52 stützt:
qtuim »ictoriam (M, Fulvi de Ämömcia) — Q. ü^nnius atnicus eius insigni laude ceh'
bracü, eine Stelle, die ebensogut auf eine Praetexta bezogen werden kann.
38. Das Ennianische Epos »,die Jahrbücher'^ Naevius' punischer
Krieg regte Ennius zur Nachahmung an; auch er wollte die Thaten des
römischen Volkes besingen. Sein Umgang mit der vornehmen römischen
Welt, der ihn den grossen historischen Ereignissen näher brachte, mag die
Anregung zu diesem Gedanken gegeben haben. Sein Epos, das er „Jahr-
bücher*' (Annales) betitelte, behandelte die Geschichte Roms von der Ein-
wanderung des Aeneas bis auf seine Zeit herab. Die grosse Masse des Stoffes
zwang den Dichter sofort zu einer Gliederung desselben und führte zur
Bucheinteilung, während Naevius sein Gedicht ohne jede Abteilung erschei-
nen lassen konnte. Es wird uns von 18 Büchern berichtet (Diom. p. 484 K).
Wie schon der Titel des Gedichts zeigt, besang der Dichter in grossem
Ganzen die Ereignisse nach der chronologischen Reihenfolge; die Gliede-
rung kann sich also nur darin zeigen, dass er Wendepunkte der Geschichte
aufsucht und markiert. Eine höhere Einheit und Abgeschlossenheit findet
bei einem solchen Werke nicht statt; es können daher auch Fortsetzungen
gegeben werden. Von einer solchen Fortsetzung berichtet Plinius. Die
Heldenthaten eines Bruderpaares im istrischen Kriege (178/7) war die Ver-
anlassung, dass Ennius das 16. Buch hinzufügte. Wir müssen also hier
einen Einschnitt annehmen. Allein damit war die Thätigkeit des Ennius
noch nicht abgeschlossen, denn es kam noch ein 17. und 18. Buch hinzu.
Noch im Jahr 172, also drei Jahre vor seinem Tod, arbeitete Ennius an
seinen Jahrbüchern. Auch in den vorausgegangenen 15 Büchern gewahren
wir deutlich einen Einschnitt; diesen bildet das 7. Buch, mit dem die Dar-
stellung der punischen Kriege anhebt; der Dichter sprach hier von seinem
Unternehmen im Gegensatz zu seinem Vorgänger und scheint in einem
Fragment (224 M) auf Einwürfe seiner Gegner geantwortet zu haben. Es
müssten sonach die ersten 6 Bücher bereits bekannt gewesen sein. Von
dem ganzen Epos sind uns etwa 600 Verse oder Versteile erhalten, also
sicherlich nur ein geringer Bruchteil des Ganzen. Der Aufbau ist daher
ein schwieriger. Soweit wir isehen können, schloss der Dichter öfters drei
Bücher zu einem grösseren Ganzen zusammen. So schilderten die Bücher
1 — 3 die Ankunft des Aeneas und die Königszeit, die Bücher 7 — 9, wie
es scheint, die punischen, 10 --12 den macedonischen Krieg. Weiter lässt
sich zeigen, dass im 6. Buch der Krieg mit Pyrrhus, im 13. und 14. der
Krieg mit Antiochus, im 16., wie bereits erwähnt, der istrische Feldzug
behandelt war. Wie weit der Stoff geführt war, können wir nicht genau
angeben, da die Fragmente des 17. und 18. Buchs zu unbestimmt sind.
Die Behandlung des Stoffs war eine ungleiche; über die ältere Zeit ging
der Dichter rascher weg; dagegen verweilte er länger bei der Geschichte
56 BOmiBohe LitteratnrgeBohichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
seiner Zeit, und der erste punische Krieg wurde, weil bereits von Naevius
besungen, kürzer abgemacht (Cic. Brut. 19, 76). In der Art der Behandlung
unterscheidet sich Ennius wesentlich von Naevius. Während Naevius in
schlichter Weise und im nationalen Versmass die Heldenthaten der Römer
im I. punischen Krieg erzählte, lehnt Ennius sein Epos an Homer an und
will eine Kunstdichtung liefern. Seine Abhängigkeit von Homer deutet
der Dichter gleich im Eingang seiner Jahrbücher an; er führt sie mit
einem Traum ein, es sei ihm, erzählt er, auf dem Parnass Homers Schatten
erschienen und habe ihm unter Thränen die Geheimnisse des Weltalls er-
schlossen; auch das Leben nach dem Tode habe er berührt und dabei
mitgeteilt, dass seine Seele, die auch einmal ein Pfau beherbergt, später
in Ennius übergegangen sei. Man sieht, wie der Dichter mit der schönen
Vision sich als zweiten Homer bei den Römern einführt. Und in der That,
wollte Ennius dem vielfach dürren StoflF der Chroniken Leben einhauchen,
so blieb ihm nichts anderes übrig, als die poetischen Züge und die poetische
Technik dem Homer zu entlehnen. So konnten die Gleichnisse verwendet
werden, in den Fragmenten finden wir das Bild vom Pferde, das seine
Fesseln sprengt und durch die Ebene rast (II. 6, 506 fr. 458 M). Aber der
Nachahmer scheut sich auch nicht, ganze Schilderungen Homera auf ähn-
liche Situationen zu übertragen;*) so wird das, was Homer vom Kampf
des Aias singt, auf den Kampf eines Römers übertragen (IL 16, 102 vgl.
mit 450 M). Auch in dem Versmass schliesst sich Ennius an Homer an,
indem er den Satumier aufgibt und den Hexameter für seine Dichtung
wählt. Selbstverständlich mussten die Gesetze des homerischen Hexameters
vielfach modifiziert werden; z. B. gleich in der Gäsur wich Ennius von
Homer ab; während bei Homer die männliche und weibliche Cäsur des
HI. Fusses gleich häufig sind, setzte er hier die männliche Gäsur als die
Normalform fest. So wurde der Ennius der Ordner des lateinischen
Hexameters. Da aber der Hexameter der Normal vers wurde, nach dem
sich auch andere Metra richteten, so reicht der Einfluss des Ennius in der
lateinischen Metrik noch weiter. Aber noch in einer anderen Beziehung
wirkte Ennius bahnbrechend, nämlich in der Prosodie. Für den sceni-
schen Dichter war es in den meisten Fällen gleichgültig, ob in der Senkung
eine lange oder kurze Silbe stand; er kam daher hier viel seltner in die
Lage, die Natur einer Silbe auf ihre Quantität hin zu prüfen. Der dak-
tylische Dichter kennt nur kurze oder lange Silben, er ist daher auf Schritt
und Tritt auf Untersuchungen über die Länge und Kürze der Silben an-
gewiesen. Diese Aufgabe war aber um so schwieriger, als die Schrift
Ennius nicht so zu Hilfe kam wie bei den Griechen. Ennius musste sich
daher grösstenteils auf sein Ohr verlassen. Aber auch die Positionslänge
erforderte eine genaue Regelung. Sie erfolgte im Anschluss an die Griechen
und Ennius unterschied hier genau zwischen daktylischer und scenischer
*) Diese Nachahmung Homere benutzt
£. Zarncke, um bei den Historikern die Spa-
ren der Ennianinchen Annalen nachzuweisen.
«Wo wir in DareteUungen der Geschichte
jener Zeit, die auch £nniu8 in seinen An-
nalen schilderte, den Homer nachgeahmt
finden, da haben wir auch — mit gewissen
Ausnahmen, aber doch in überwiegender
Mehrzahl der Fälle — den Ennius.' {Com-
ment. philol. in honoren Ribheckii p. 274).
Belehrend Liv. 2, 20, 1 und II. 8, 15.
Q. EnniuB. 57
Poesie. Auch auf orthographische Probleme ward er dadurch geführt ; die
Konsonantenverdopplung in der Schrift wird auf ihn zurückgeführt (Festus
p. 293). Aus dem Gesagten wird man abnehmen können, wie weit Ennius
den Naevius hinter sich liess. Sein Gedicht blieb das Hauptepos der Re-
publik. Als die sich auf die Alexandriner stützende Eunstpoesie aufkam,
wollte man Ennius beiseite schieben. Allein dass auch damals Ennius
noch ein gern gelesener Autor war, ersieht man aus Hör. ep. 2, 1, 50, Die
Kaiserzeit prägte sogar für das Gedicht einen neuen und zwar viel ent-
sprechenderen Titel Romais aus (Diom. p. 484 K). Unter den Fragmen-
ten befinden sich manche, die uns ein Bild von der Kunst des Dichters
gewähren können. Vielleicht genügen, um einen ersten Eindruck zu er-
halten, die zwei längeren Bruchstücke, die Cicero seinem Werk über die
Wahrsagung einverleibt hat, die eindringliche Erzählung, die Ilia ihrer
Schwester über ein ihr gewordenes, für die Zukunft bedeutungsvolles Traum-
bild gibt (1, 20, 40), dann die anschauliche Schilderung der Vogelschau des
Brüderpaares Romulus und Remus (1, 48, 107).
Über die Gliederung der ÄDnalen handelt zuletzt Varlbk, Abh. der Berl. Akad. 1886
p. 1 — 88, der nachzuweisen versucht (p. 35), «dass Ennius* 18 Bücher der Annalen in drei
Hezaden zerfielen, deren jede für sich abgeschlossen und möglicherweise fUr sich heraus-
gegeben war, und femer dass an das Ende der zweiten Hexas d. h. an den Schluss des
XU, Buchs ein Epilog gefügt war, der mit einem Rückblick auf die grossen Männer Roms
Äusserungen über des Dichters eigenes Leben verband.* Ausgangspunkt für diese Betrach-
tung ist Gell. 17, 21, 43, wo aus Yarros Schrift de poetis über Ennms mitgeteilt wird, cum
septimum et sexageeimum annum haberet^ diwdecimutn annalem scripgisse idque ipsum
£nnium in eodem libro dicere. Nach dieser Stelle hätte also Ennius 172 d. h. 3 Jahre vor
seinem Tode das 12. Buch geschrieben. Abgesehen davon, dass dann Ennius die 6 folgen-
den Bücher in drei Jahren hätte abfassen müssen, tritt jener Annahme hindernd in den
Weg, dafls das 16. Buch nicht lange nach 177 anzusetzen ist. Durch Bergk's Entdeckung
des istrischen Königs Epulo in diesem Buch steht nämlich, wie mir scheint, fest, dass der
istrische Krieg der Jahre 178/7 darin behandelt war. Da nun, wie aus Plinius n. h. 7, 101
Q, Ennius T, Caecüium Teucrum fratremqiie eins praecipue tnircUus propter eos eextum
dedmum annum adieeü annalem hervorgeht, die Ueldenthaten zweier Brüder den Anlass
zu diesem Buche gaben, so ist zu vermuten, dass dieses nicht lange nach jenen Heldenthaten
abgefasst ist. Und, wie L. Müller fein beobachtet hat (Q. E. p. 178), weist das Fragment 430 M.
selbst darauf hin. Wir müssen also die Buchzahl bei Gel lins för verdorben erachten; statt
XII ist wahrscheinlich XVIII zu setzen. Ist dies richtig, d. h. schrieb der Dichter am
letzten Buch im J. 172, so konnten die Ereignisse kaum über 173 hinaus behandelt sein.
Tgl. F. ScBöLL, Rhein. Mus. 43, 158. Für nicht vollendet hält L. MüUer das Werk, von
dem er vier Ausgaben statuiert, die erste B. I— VI, die zweite B. I— XV, die dritte
B. I-'XVI, die vierte B. I— XVIII. An der Vollendung — es sollten 20 Bücher werden —
sei Ennius durch den Tod verhindert worden (Q. Ennius p. 128).
Für die Beliebtheit der Annalen zeugt die Thätigkeit, die sich an dieselben anschloss.
Das Epos wurde bald nach seinem Entstehen in öffentlichen Versammlungen vorgelesen, so
TOD Q. Vargunteius (Suet. gr. 2). Ja noch zu Gellins' Zeit trat ein solcher Vorleser, En-
nianista, auf (Gell. 18, 5, 2). Auch Grammatiker machten Ennius zum Gegenstand ihrer
Biodien. So emendierte nicht lange nach Ennius' Tod Octavius Lampadio die Annalen
(Gell. 18,5, 11), M. Pompilius Andronicus (zur Zeit Sullas) schrieb annalium elenchi, welche
dann später Orbilius herausgab. Auch der um dieselbe Zeit lebende Antonius Gnipho com-
mentierte das Epos (BOchbleb, Rhein. Mus. 36, 334).
39. Ennius' übrige Qedichte. Ausser den Tragödien bearbeitete
Ennius auch andere griechische Produkte. In seinem Epicharmus setzt
Ennius in troch. Tetrametern naturphilosophische Lelu*en auseinander. Als
die vier Elemente erscheinen Wasser, Erde, Luft, Sonne. Der Leib ist
Erde, die Seele Feuer. Juppiter ist die Luft. Die Einkleidung war ein
Traum; Ennius glaubte sich in die Unterwelt versetzt. Da nun nach
einigen Zitaten (Yarro 1. 1. 5, 59, 5, 68) Epicharmus in dem Gedichte selbst
58 BOmiache Litteraturgeschichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
spricht, so wird anzunehmen sein, dass Ennius seine Lehre als eine Offen-
barung des Epicharmus, die ihm in der Unterwelt geworden, dargestellt
hat. Diese Einkleidung wird aber nur den Sinn haben, dass dem Ennia-
nischen Gedicht ein griechisches und vielleicht ein unterschobenes 0 Werk
des Epicharmus zu Grunde lag. Dem Epicharmos wohnte die Tendenz der
Aufklärung inne. Diese Tendenz zeigt noch in verstärktem Masse der
Euhemerus oder die heilige Geschichte. Euhemerus, Freund des Kas-
sander, schrieb ein Buch, betitelt „heilige Urkunde" {leQa avayqcKprj). Er
gab nämlich vor, auf einer fernen Insel in einem Zeustempel auf einer
Säule eine Inschrift über die Urgeschichte der Welt gefunden zu haben,
darnach seien die Götter nichts als durch Klugheit hervorragende Menschen
gewesen, die man vergötterte. Aus der Ennianischen Bearbeitung gibt
uns Lactantius die meisten Auszüge; dieselben sind in Prosa abgefasst
und zwar in einer Prosa, die gar nichts Alteitümliches enthält. Wenn
also der Euhemerus des Ennius im Gegensatz zu seinem Original in ge-
bundener Rede abgefasst war — es fehlt hiefür aber an einem stichhaltigen
Argument^) — , so müsste man annehmen, dass das Gedicht später in Prosa
umgesetzt wurde. Unter dem Titel „Feinschmeckerisches" (Hedu-
phagetica vgl. Apul. Apol. 39) schrieb Ennius ein gastronomisches Gedicht,
aus dem sich ein der Form nach sehr hartes Fragment über die verschie-
denen Fundorte der Fische erhalten hat. Es war, wie die Vergleichung^)
zeigt, eine Bearbeitung der gastronomischen „Rundreise'' des Archestratos
von Gela mit dem Titel '^HdvnaS-Ha. Sehr wenig Fragmente sind uns
auch von Sota erhalten. Sota ist die Koseform von Sotades. Dieser zur
Zeit des Ptolemaeus Philadelphus lebende Dichter ist der Hauptvertreter
einer meist schlüpfrigen Unterhaltungsgattung im jonischen Mass. Diese
führte der Sota des Ennius in die römische Litteratui- ein und mit ihr
zugleich das metrum Sotadeum. Aus den Praecepta, mit denen wohl der
anderweitig zitierte Protrepticus identisch ist, haben wir nichts als eine
Sentenz in troch. Tetrametern und ein Wort. Auch Epigramme schrieb
Ennius; es sind uns drei erhalten; zwei beziehen sich auf Scipio, in dem
dritten verbittet sich der Dichter die Thränen nach seinem Tod, denn er
lebe fort im Andenken der Menschen. In diesen Epigrammen kam zum
erstenmal das elegische Distichon in der römischen Litteratur
zur Anwendung. Das letzte, was wir von Ennius zu verzeichnen haben,
sind Satirae. Es werden 6 Bücher zitiert. Dass die dialogische Form
darin vorkam, beweist das Gespräch zwischen Tod und Leben, das den
Satiren beigeschrieben wird (Quintil. 9, 2, 36). Dieselbe zeigt sich noch
einigemal in den Fragmenten. In die Satiren war auch die Äsopische Fabel
von der Haubenlerche aufgenommen, am Schluss war ausdrücklich die
Lehre beigefügt, dass man in dem, was man selbst thun könne, sich nicht
*) Vgl. Bbrok, Gr. Literaturgesch. 4, 33.
^) MtJLLEB bemerkt Edüius p. 113 .dass
die Übertragung des Eunias poetisch war,
ist schon an sich wahrscheinlich, da von
prosaischen Schriften desselben nichts be-
|[annt ist. Auch meint Vahlen mit Grund,
dass bei Golumella 9, 2 die Worte EuJie-
merus poeta auf Ennius gehen."
«) fr. LVI p. 156 bei Brandt, Parod,
epic. Graecorum et Ärchestrati reliquiae.
Über den Einfluss des Gedichts auf Lucilius
vgl. Marx, Stud. Lucil. p. 78.
M. PacuTioB. Btaüns Caoilins. 59
auf die Freunde verlasse. Der Metra können wir in den Satiren verschie-
dene nachweisen.
Als drittes Bach der Satiren oder wenigstens als Bestandteil desselben wird in der
Regel der Scipio betrachtet, ohne dass hiefÜr ein Zeugnis vorliegt. Von dem Scipio sind
ans mit namentlicher Quellenangabe drei Fragmente überliefert; in den zwei ersten (Gell.
4, 7, Macrob. 6, 2, 26) erscheinen trochäische Tetrameter, in dem dritten (Macrob. 6, 4, 6)
der berüchtigte Hexameter: sparsis hastis longus campus aplendet et hortet. Gerade diese
Verschiedenheit des Metrums hat die Annahme eines Cyclus von Scipioliedem und die Zu-
teilung dieses Cvclus zu den Satiren veranlasst. Allein da Ennius in diesem Gedicht sagte,
nur ein Homer könne Scipio wQrdig besingen, so wird man nicht sowohl an eine Satire,
als an ein Epos denken mQssen. Vielleicht ist ein Irrtum bei dem Zitat des Hexameters
anzunehmen. VgK Huo bei Vahlbn p. LXXXV. Anders löst die Schwierigkeit Ribbeck, Comic,
fragm,, p. GXVII. Aus dem Scipio stammen die wunderschönen Verse, in denen der Dichter
schildert, wie sich Stille über das ganze Weltall senkt, wie Neptun den Wogen Einhalt
gebietet, der Sonnengott der Rosse Lauf hemmt und das Laub in den Bäumen sich nicht
mehr regt Ausser dem Scipio werden von manchen Gelehrten auch die oben genannten
nach griechischen Autoren oearbeiteten Stücke den Satiren eingereiht. Auch diese Zu-
teilung beruht lediglich auf Vermutung und auf der Vorstellung, die man sich von der
Satire macht Die Zahl von 6 B. beruht auf Donat Phorm. 2, 2, ?5; Porphyr, p. 2il M. hat 4 B.
Ennius' litterarische Bedeutung ruht vorzugsweise in seinen Tra-
gödien und in seinen Annalen. Weder seine Komödien noch seine Satiren
scheinen tieferen Eindruck gemacht zu haben. Er ist der Schöpfer der
römischen Eunstdichtung nach griechischem Muster. Er hat, wie Lucretius
singty den unverwelklichen Ki*anz von Helikons Höhen in Italiens Gefilde
gebracht. Er hat, wie die Muse ihm sagte, den Römern das feurige Lied
aus dem Herzen heraus kredenzt, aber er hat ihnen auch den Giftbecher
gereicht, der für die heimischen Sitten tötlich werden sollte.
Litteratnr: Enniancte poesis reliquiae, Rec. J. Vaqlek, Leipz. 1854. Bbbgk, En-
Diana in seinen El. philol. Sehr. 1 p. 211 — 316. Q. Enni carminum reliquiae. Accedunt
I^aevii belli Poenici qtuie super sunt. Em, et adnot. L. Mülleb, Petersb. 1884. L. Mülles,
Q. EnnioB. Eine Einleitung in das Studium der r5m. Poesie. Petersb. 1884. BIhbbns, Ennius
nnd seine Vorgftnger, Fleckbis. J. 133, 401.
Hier muss noch eines jüngeren Ennias gedacht werden, über den wir Kunde erhalten
aus Snet. gr. 1: quod nonnulli tradunt duos libros de litteris syllabisque, item
de metris ab eodem Ennio (d. h. dem Verfasser der Annalen) editos, iure arguit L, Cotta
non paetae sed posterioris Ennü esse, cuius etiam de augurandi disciplinn Volumina
feruntur. Wohl diesem lungeren Ennius ist auch zuzuschreiben, was Isidob von stenogra-
phischen Zeichen (notaej berichtet (orig. 1,22 p. 98 M.): vulgares notas Ennius primus
tnüle et centum invenit,
5. M. Pacuvius und Statins Gaecilius.
40. Dio Schule des Ennius. Als Schüler und Anhänger des Ennius
erscheinen sein Schwestersohn M. Pacuvius, der 220 v. Chr. in Brundisium
geboren wurde und später nach Rom wanderte, in hohem Alter sich nach
Tarent begab und dort starb, und Statius Gaecilius. Beide unterscheiden
sich dadurch von Ennius, dass sie nur eine dramatische Gattung kultivieren,
Pacuvius die Tragödie und das mit ihr in Zusammenhang stehende histo*
rische Schauspiel, Gaecilius dagegen nur die Komödie. Ausserdem ver-
suchte sich Pacuvius auch in Satiren (Diom. p. 485 K.); allein von dieser Thä-
tigkeit des Pacuvius sind alle Spuren erloschen. Die Zahl seiner Tragödien
ist nicht sehr gross, wir zählen deren etwas über ein Dutzend. Allein
wir dürfen nicht vergessen, dass Pacuvius auch Maler war und sich daher
nicht ausschliesslich der Dichtkunst widmen konnte. Überschaut man die
Stoffe, so erkennt man, dass der Dichter einsame Pfade wandelt und ent-
60 Bömisohe Litteratnrgeschichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
legene Sagenkreise aufsucht. Sehr berühmt sind geworden Teucer (Cic. de
or. 1, 58, 246), in der die viel bewunderte Anrede Telamons an Teucer
vorkam (1. c. 2, 46, 193), Iliona, aus der Cic. Tusc. 1, 44, 106 die ergreifende
Scene mitteilt, in welcher der Schatten des ermordeten Deiphilos seiner
Mutter erscheint und um ein Begräbnis bittet; die Antiopa, welche eine
Hauptrolle für den Schauspieler Rupilius bildete (Cic. de off. 1, 31, 114),
die Niptra, aus denen wiederum eine packende Scene Cicero mitteilt (Tusc.
2, 21, 48), Chryses, der den edlen Wettstreit des Orestes und Pylades ent-
hielt (Cic. de amic. 7, 24). Unter den Fragmenten hat von jeher die präch-
tige Schilderung eines Sturms die Bewunderung erregt; vgl. Cic. de div. 1,
14, 24, de or. 3, 39, 157. Auch die Stimme der Aufklärung hören wir
einigemal, wie wenn der Dichter vor den Zeichendeutem warnt (Cic. de
div. 1, 57, 131) oder wenn er das schöne Fragment des Euripides (fr. 836 N.)
von dem Äther als Vater, der Erde als Mutter aller Dinge in vergröberter
Übersetzung dem Leser bietet (fr. 86). Wie Ennius, so hat auch Pacuvius
das historische Schauspiel nicht unangebaut gelassen. Es ist dies sein
Paulus, der allem Anscheine nach den Sieg des L. Aemilius Paulus über
den König Perseus bei Pydna (168) feierte. Über Pacuvius liegen uns
mehrere Urteile aus dem Altertume vor. Cicero nennt ihn (de opt. g. 1, 2)
den grössten Tragiker, er thut dies wahrscheinlich wegen des nachhaltigen
Eindrucks, den die Stücke auf die Zuschauer machten. Horaz charakterisiert
ihn (ep. 2, 1, 56) als poeta doctus, und dieses Prädikat verdient Pacuvius
schon wegen seiner Kenntnis auch der entlegensten Sagenkreise, dann
wegen der künstlerischen Behandlung der Stoffe. Seinem Stil teilt Varro
bei Gellius 6 (7), 14, 6 die Eigenschaft der „Fülle" zu, Cicero dagegen (Brut.
74, 258) will Unlateinisches in seiner Darstellung wie in der des Caecilius
finden; und in der That zeigen die Fragmente manches Auffallige in der
Diktion.
Über Beine Lebensverhältnisse vgl. Cic. Brut 64, 229. — Plin. n. h. 85, 19 celebrata
est in foro boario aedes Herculis Pacuvii poetae pictura; Enni sorore genitus hie fuit
clariaremque artem eam Romae fecU glaria scenae, — Über seinen Abgang nach Taren t
▼gl. Gell. 13, 2, 2. — Die Sonderbarkeiten in der Diction des P. behandelt eingehend Kubik,
De Ciceronis poetarum studiis p. 50. L. Müller, De Pacuvii fcLbuUs, Berlin 1889.
Statins Caecilius ist ein Insuhrer und gehört sonach dem kelti-
schen Stamme an; ursprünglich Sklave mit dem Namen Statins, nahm er
später den Gentilnamen seines Herrn Caecilius an (Qell. 4, 20, 13). Er
war Hausgenosse des Ennius. Er schrieb nur Komödien, meist nach Me-
nander; es sind über 40 Titel überliefert, in der Regel griechische. Die Frag-
mente sind nur in ganz wenigen Fällen ausreichend, um einige Grundzüge
der Handlung zu erkennen. Selten zieht ein Fragment unsere Aufmerk-
samkeit in höherem Grade auf sich, wie z. B. das über die Macht des
Liebesgottes (fr. 259) oder die Klage des Jünglings über die Nachsicht seines
Vaters (fr. 199 bei Cic. de nat. d. 3, 29, 72). Gellius stellt 2, 23 aus dem
Halsband (Plocium) mehrere Stellen der Übersetzung und des Originals
zusammen, um zu zeigen, wie stark die Kapie vom Original abstach und
wie willkürlich auch noch der Dichter verfuhr. Eine Roheit, von der im
Original keine Spur vorhanden, ist besonders charakteristisch; einer Frau
wird unterschoben, dass sie vom heimkehrenden Gatten geküsst sein will,
P. TerenüuB. 61
damit er ausspeie, was er auswärts getrunken. Schon die grosse Anzahl
der Stücke gestattet den Schluss, dass Gaecilius, wenn auch nach manchem
verfehlten Versuch (Prolog. Hecyr. 2, 14), lebhaften Anklang fand. Ja, als
Terenz seine Andria zur Aufführung bringen wollte, erhielt er von den
Adilen den Befehl, sie erst von Caecilius prüfen zu lassen. Von den spätem
Kunstrichtern rühmt Yarro sein nddvg, Horaz seine gravUas.
ChAris. p. 241 K. itaStj vero Trabea et Caecilius et Atilius facüe fnoverunt. Hör. ep.
2, 1, 59 dicitur vincere CaecUius gravüate, Terentius arte. Skeptisch zu betrachten sind
die Worte Ciceros ad Attic. 7, 3, 10 C, malua latinitatis auctor est. Das andere Lob
Vahbo's (Non. 1, 610 M.) in argumentis poscit palmam gebührt nicht CftciJius, sondern seinen
Originalen. An das Faktum der Vorlesung knüpft sich eine Streitfrage. Die Andria wurde
106 V. Chr. aufgeführt Nun berichtet aber Hieronymus zu 1838 = 179 v. Chr. (2, 125 Seh.):
S, C. dartat habetur, natione Itisuber GaUua et Jannii primum contubemdlis, Quidam Me^
diolanensem ferunt, Mortuus est anno post mortem Ennii. Das Todesjahr wftre sonach
168 ▼. Chr. Man hat dieses Jahr bezweifelt, weil man die Prüfung und die AufflÜimng des
Stocks nicht zeitlich trennen wollte. Allein die Annahme, dass trotz des Lobes» das Cae-
cilius der Andria spendete, dieselbe doch einige Jahre später zur Aufführung kam, kann
nicht als eine unmögliche bezeichnet werden.
6. P. Terentius und andere Palliadendichter.
41. Leben des P. Terentius Afer. Durch den Kommentar des
Donat besitzen wir eine Biographie des Terenz, welche Sueton verfasst
hat. Dieselbe stellt sich als ein Extrakt der verschiedenen Untersuchungen
dar, welche die Gelehrten des Altertums über Terenz anstellten. Wie
sehr in den Nachrichten über das Leben der Schriftsteller sich die Phan-
tasie der Berichterstatter wirksam erwies, wie wenig Sicheres hier man
eigentlich wusste, vermag das Suetonische Schriftstück aufs beste zur
Anschauung zu bringen. Aus der Summe der Notizen über Suetons Leben
wird sich folgender fester Kern herausschälen lassen. Das Leben und
Wirken des Dichters Terenz fällt in die Zeit vom Ende des zweiten puni-
sehen Krieges bis zum Anfang des dritten. Er war geboren zu Karthago,
der Beiname Afer weist aber darauf hin, dass er kein Punier war, son-
dern einem afrischen (libyschen) Stamme angehörte.^) Durch Kauf oder
durch Geschenk kam er in die Hände des römischen Senators Terentius
Lacanus, der ihn wegen seiner hohen geistigen Anlagen und seiner kör-
perlichen Vorzüge unterrichten Hess und später freigab. Als Freigelassener
fand er Zugang zu den vornehmen Häusern des Scipio Africanus minor
und des Laelius, was für seine Ausbildung höchst erfolgreich wurde, denn
in jenem Kreise war edle griechische Bildung und feine Umgangssprache
heimisch; auch verkehrten dort die hervorragendsten Schriftsteller der da-
maligen Zeit. Das erste Stück, mit dem Terenz auftrat (166), war das
Mädchen von Andres. Der noch unbekannte Dichter musste aber diese
Komödie erst dem berühmten Caecilius zur Prüfung vorlegen. Nach dem
Mädchen von Andres schrieb Terenz noch fünf Komödien. Nachdem alle
seine Schöpfungen aufgeführt waren — die letzten Aufiführuiigen fallen in
das Jahr 160 — , machte er eine Reise nach Oriechenland, von der er
nicht mehr zurückkehrte; er starb bereits 159. Dieses Jahr ist als ein
fester Punkt im Leben des Terenz zu betrachten, d. h. auf eine wahre
Überlieferung zurückzuführen. Dagegen scheint das Geburtsjahr auf Kom-
') BlHBEKS, FUECKSIS. 123, 401.
62 Römische Litteratnrgeschiohte. I. Die Zeit der Republik. 8. Periode.
bination zu beruhen. Die Biographie berichtet, dass Terenz, ehe er noch
das fünfundzwanzigste Lebensjahr überschritten, die eben erwähnte Reise
nach Oriechenland im Jahre 160 unternahm. Sonach müsste er nahezu
185 geboren sein. Allein dann würde Terenz bereits im Alter von 19
Jahren sein Mädchen von Andros (166) aufgeführt haben, was ungewöhn-
lich früh sein würde, da ein solches Werk doch auch längere Studien und
Übungen voraussetzt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Jahr 185 des-
wegen als Geburtsjahr des Terenz angesetzt wurde, weil es auch das Ge-
burtsjahr des jüngeren Scipio war, dessen Beziehungen zu Terenz allge-
mein bekannt waren. Wir müssen das Geburtsjahr des Terenz ohne
Zweifel weiter hinauf rücken.
Die Biographie des Terenz stand in Suetons Werk De rtm %llu9tribuA und zwar in
dem Abschnitt de poetis. Dieselbe ist vortrefflich von Ritschl bearbeitet in Rkiffer*
BCHEiDS C, Suetonü reiiquiae und opusc. 3, 204. Zu dieser Biographie kommt noch der
Zusatz des Donat, das sog. auctarium Donati. Die Differenzpunkte der alten Litteratur
historiker beziehen sich 1) auf die Art und Weise, wie T. nach Rom kam; 2) auf das
Verhältnis des T. zu Scipio und Laeliua in freundBchaftlicher und litterarischer Beziehung ;
8) endlich auf seinen Tod. — über die Unrichtigkeit des Geburtsjahrs 185 handelt vor-
trefflich Sauppe, Nachr. d. Gott. Ges. 1870 p. 111.
42. Die Chronologie der Terenzianisclien Komödien. Terenz schrieb
sechs Komödien, welche sämtlich aufgeführt wurden. Die äussere Geschichte
derselben lernen wir aus den didaskalischen Notizen kennen, welche den
einzelnen Stücken (mit Ausnahmen der Andria) in den Handschriften vor-
ausgeschickt werden und welche sich in den dem Donat zugeschriebenen
praefationes (mit Ausnahme des Heautontimorumenos) vorfinden. Auf
wen diese Notizen zurückgehen, lässt sich nicht bestimmt sagen, viel-
leicht war die Quelle eine einschlägige Schrift Varros. In diesen didas-
kalischen Notizen waren, wenn sie vollständig waren, folgende Punkte
berücksichtigt: 1) Namen des Stücks und des lateinischen Dichters; 2)
Festspiel der Aufführung ; 3) die Leiter des Festspiels ; 4) Hauptschauspie-
ler und Direktor der Truppe; 5) Komponist; 6) die Gattung der Flöten-
musik; 7) Dichter und Titel des griechischen Originals; 8) die Nummer
des Stücks in der Reihenfolge der Werke des Dichters; 9) die Konsuln
des Jahrs, in dem die Aufführung des Stücks statt fand. Mit Hilfe
dieser Angaben können wir Zeit der Aufführung und das Festspiel be-
stimmen:
166 Andria an den ludi Magalenses,
163 Heautontimorumenos an den ludi Megalenses,
161 Eunuchus an den ludi Magalenses,
161 Phormio an den ludi Romani,
160 Adelphoe an den ludi funerales des Aemilius Paulus,
160 Hecyra an den ludi Romani.
Bezüglich der Hecyra ist jedoch zu bemerken, dass bereits 165 an
den ludi Megalenses eine Aufführung des Stücks versucht wurde, dieselbe
aber nicht zu Stande kam, ferner dass 160 an den ludi funerales des
Aemilius Paulus die Aufführung begonnen, aber nicht beendigt wurde.
Als Darsteller für alle Stücke wird L. Ambivius Turpio genannt; wir wer-
den ihn als den Hauptschauspieler und Direktor der Truppe anzusehen
haben. Schwieriger ist es, die Aufgabe der in der Regel noch vorkommen-
P. Terentins. 63
den zweiten Persönlichkeit, des L. Hatilius aus Praeneste zu deuten. Ent-
weder ist an ein Kompagniegeschäft mit einem zweiten Schauspieldirektor
zu denken oder die neben Ambivius Turpio genannte Persönlichkeit war
bei einer zweiten Aufführung thätig. Der Komponist der Flötenmusik,
welche von einem einzigen Bläser ausgeführt wurde, ist in allen Stücken
Flaccus, der Sklave des Claudius.
43. Die Stoffe der Terenzianisclieh Komödien. Wir legen in der
Aufzählung der Stücke die Zeit der Abfassung zu Grunde.
1. Andria(DasMädchen von Andres). Pamphilus liebte ein verlasse-
nes Mädchen aus Andres. Sein Vater Simo hatte ihm aber die Tochter des
Chremes bestimmt. Und eine solche Verbindung war auch ganz nach dem
Sinn und Wunsch des Chremes. Allein als Chremes von dem Liebesver-
hältnis des Pamphilus Kunde erhielt, zog er seine Einwilligung zurück.
Um nun eine feste Handhabe zu erhalten, gegen seinen Sohn ernstlich
vorzugehen, fingiert Simo Vorbereitungen zur Hochzeit. Der listige Sklave
Davus rät seinem Herrn Pamphilus, scheinbar auf die Heirat« einzugehen,
dadurch komme Simos' Plan in Verwirrung u. s. w. Allein bald darauf
gelingt es Simo, Chremes umzustimmen, sodass dieser zum zweiten Mal
seine Einwilligung zur Hochzeit gibt. Für Pamphilus wird die Situation
um so peinlicher, als das Mädchen von Andres inzwischen eines Knaben
von Pamphilus genesen ist. Doch Davus ist nicht verlegen, er weiss das
neugeborene Kind dem Chremes vor Augen zu bringen. Jetzt weigert sich
Chremes entschieden, dem Pamphilus seine Tochter zu geben. Da kommt
zui* rechten Zeit ein Fremder, durch den sich herausstellt, dass das Mäd-
chen von Andres eine Tochter des Chremes ist. Mit dieser Entdeckung
steht der Verbindung des Pamphilus und des Mädchens aus Andres kein
Hindernis mehr im Wege. Was wird aber jetzt aus der ersten von Pam-
philus verschmähten Tochter des* Chremes? Ihre Geschicke werden durch
eine Nebenhandlung entschieden, deren Träger Charinus und sein Sklave
Byrria sind. Charinus liebt die dem Pamphilus zugedachte Tochter des
Chremes, dadurch berühren ihn die Verwicklungen des Stückes in hohem
Grad. Die erwähnte Entdeckung bringt auch ihn zum erwünschten Ziel.
Allein die Verlobung des Charinus kommt nicht mehr im Stück zur Dar-
stellung, auf dieselbe wird als im Innern des Hauses vor sich gehend hin-
gewiesen.
Das Original ist die Andria des Menander, allein er benutzte auch
die Perinthia desselben Dichters. Das Stück ist spannend geschrieben; die
auftretenden Personen sind gut charakterisiert. Die Exposition der ersten
Scene, in der ein sogenanntes nqoaonnov TtQotatixov verwendet ist, muss
als ganz vortrefflich bezeichnet werden.
Die Uvi^la und die neoiy&ia hatten das gleiche Argument, das sie aber nicht in
gleicher Weise darchfQhrten. Dies besagen die Worte dea Prologs: non üa dianmüi sunt
arguwiento, ei tarnen diseimüt oratione sunt faetae ae stilo. Die erste Scene der beiden
Stücke haUe aber auch fast gleichen Wortlaut; Donat zu proi. 10 prima seena Perinthiae
paene üsdem verbia quibus Ändiia {Menandri) scripta est, cetera dissimilia sunt exceptis
duolnts lociSj altero ad versus XI, alter o ad versus XX qui in utraque fabula positi
mmt; nur bestand ein Unterschied der Komposition, indem in der Andria die Scene einen
Monolog des Alten, in der Perinthia einen Dialog zwischen ihm und seiner Frau enthielt (Donat
pro]. 13). Den Dialog der ersten Scene hat Terenz sonach aus der Perinthia genommen,
64 BOmiaohe Litteratnrgeschichte. I. Die Zeit der Bepnblik. 8. Periode.
i'edoch mit der Modifikation, dass er statt der Frau den Freigelassenen einführte. Die
Nebenhandlung hat der Dichter selbst erfunden; zu dieser Annahme wird man durch die
klaren Worte Donats zu 2, 1, 1 gezwungen : /utö persontu Tereniius addidü fahulcLe, nam
non sunt apud Menandrum. Vgl. Gbauebt, Analekten p. 193. Die Behauptung Ihnes
quaest, Terentianae, Bonn 1843 p. 8, dem Teüffbl, Stud. p. 280 und Ribbkck, Gesch. der
röm. Dichtung 1, 133 beistimmen, dass die beiden Personen aus der Perinthia entlehnt
seien, ist eine irrige. *
Mit weisem Bedacht hat der Dichter auf die Verlobung des Charinus nur hinge-
wiesen ; in jOngeren Handschriften findet sich ein zweiter Schluss, in dem diese Verlobung
noch dargestellt wird. Dass dieser Scbluss nicht von Terenz sein kann, steht fest. Ober die
Zeit der Abfassung desselben gehen die Ansichten sehr auseinander. Nach Ritsghl, Parerga
p. 62 wurde derselbe bald nach Terenz von einem Dichter für eine zweite Aufführung ge-
macht, dagegen teilt ihn einem Schauspieler der auf Terenz folgenden Zeit Obeifbld, De
Andricie gemino eontu, Berl. 1886 p. 41 zu, einem Gelehrten des IL Jahrh. n. Ch. Dziatzko
(Flbokbis. J. 1876 p. 235), Bbaun, Quaest. Ter. p. 21 einem solchen des IV. Jahrh. n. Ch.
Einen dritten Schluss, in dem auch Simo auftntt, hat Zuckbb in einem Erlanger Codex
entdeckt, vgl. Schmidt, Ober die Zahl der Schauspieler bei PI. und Ter. p. 39.
2. Hecyra (Die Schwiegermutter). Pamphilus, der eine Hetäre
liebte, wird von seinem Vater zur Ehe mit Philumena gezwungen. Er
lässt sie daher unberührt, aber von Tag zu Tag ziehen ihn die trefflichen
Eigenschaften der Frau mehr an. Eine angefallene Erbschaft führt ihn
in die Fremde. Während seiner Abwesenheit zieht sich Philumena von
der Schwiegermutter zurück und kehrt schliesslich ins väterliche Haus zu-
rück. Daraus erwachsen der armen Schwiegermutter, von der das Stück
den Namen hat, Vorwürfe von seiten ihres Gatten; die Schuld an dem
Zerwürfnis wird auf sie abgeladen. Da kommt Pamphilus von seiner Reise
zurück und erfahrt zu seinem Schrecken, dass seine Frau schon vor der
Hochzeit infolge einer nächtlichen Vergewaltigung schwanger war und
eben einen Knaben geboren hatte. Da er der Mutter der Philumena
Schweigen gelobt und auch sein Schwiegervater den wahren Sachverhalt
nicht erfährt, kommt er mit seiner Weigerung, seine Frau ins Haus zu-
rückzuführen in eine peinliche Situation. Aus derselben befreit ihn die
von ihm früher geliebte Hetäre. Man hatte sie kommen lassen, weil man
noch an fortdauernde Beziehungen derselben zu Pamphilus glaubte. Sie
trägt den Ring, den Pamphilus einst Nachts einem Mädchen abgezogen
und ihr zum Geschenk gemacht hatte. Es war der Ring, den bei jenem
nächtlichen Abenteuer Philumena verloren hatte. Somit war der Vater
des geborenen Knaben entdeckt, es war Pamphilus selbst. Das Stück hat
keine komischen Scenen, es ist ein Familienstück mit einer einfachen Ver-
wicklung. Da der Hecyra alle heiteren Momente fehlen, so begreift man,
wie das römische Publikum nur schwer für dieselbe zu erwärmen war.
In Bezug auf das Original bestehen abweichende Angaben. Donat fflhrt in seinem
Kommentar 5 Stellen aus Apollodor an und vergleicht damit den lateinischen Wortlaut.
Der Codex Bembinus nennt dagegen in der Didaskalie als Original ein Stttck Menanders
(Graeca Menandru). Es kann keinen Augenblick zweifelhaft sein, dass die letzte Angabe
gegenüber der ersten, welche uns Originedstellen mitteilt, nicht beachtet werden darf, und
dass wir demnach eine 'ExvQa des Apollodor als Vorlage für Terenz anzusehen haben.
Wenn Donat in der praef. zur Hecyra sagt: haec fabtäa Apollodori dicUur esse Graeca
(ähnlich im Auctarium zur vita), so werden wir nicht daraus schliessen, dass Donat an der
Autorschaft Apollodors gezweifelt hat, sondern dass er die Originale nicht selbst eingesehen,
sondern Gewährsmännern folgt. Wenn endlich Apoll. Sidon. £p. 4, 12 Ähnlichkeit zwi-
schen der Hec3rra und den "iRniTginoyxeg Menanders finden will, so besagen diese Worte
nichts über das Original der Hecyra. Nur soviel lassen sie erkennen, dass die *Eni,rQenot^eg
dies nicht waren. Hildebrandt, De Hecyrae Terentianae origine, Halle 1884 will eine
spätere misslungene Überarbeitung des Stücks durch den Dichter nachweisen (p. 51).
X. Terentina. ' 65
3. Heautontimorumenos (Der Selbstpeiniger). Menederous hatte
seinen Sohn Clinia, der die Antiphila liebt, durch seine fortwährenden
Vorwürfe in fremden Kriegsdienst getrieben. Aus Reue darüber legt sich
Menedemus die grössten Entbehrungen auf und quält sich Tag und Nacht
für seinen Sohn. Diesen seinen Kummer legt er seinem Nachbar Chremes
dar, dessen Sohn Clitipho ein heimliches Liel^verhältnis mit der ver-
schwenderischen Bacchis unterhält. Glinia kam bald von der Fremde zu-
rück, aus Furcht vor seinem Vater steigt er heimlich bei seinem Freunde
Clitipho ab. Das Erste ist, dass er Erkundigungen über die Antiphila ein-
ziehen lässt. Der Sklave Syrus bringt sie selbst, aber mit ihr auch die
Bacchis ins Haus des Chremes, dem vorgespiegelt wird, die Bacchis sei
die Geliebte Clinias; zu ihrem Gefolge gehört Antiphila. Chremes teilt
dem Menedemus die Ankunft Clinias mit, zugleich schildert er die Ver-
schwendungssucht der Bacchis. Als Menedemus trotzdem in seiner Freude
über die Ankunft des Sohnes zu allen Opfern bereit ist, so rät Chremes
ihm, wenigstens sich dieselben ablocken zu lassen, damit auf seine Güte
nicht allzusehr gesündigt werde. Ja er muntert sogar den Syrus zu
einem Anschlage gegen Menedemus auf. Da wird durch einen Ring die
Entdeckung gemacht, dass Antiphila die Tochter des Chremes sei. Die Ent-
deckung bringt aber den Trug, dass Bacchis die Geliebte Clinias sei, in
grosse Gefahr, das Liebesverhältnis des Clinia und der Antiphila braucht
ja jetzt nicht mehr die Öffentlichkeit zu scheuen. Syrus fordert daher den
Clinia auf, wenn er ins väterliche Haus zurückkehre, auch die Bacchis
mitzunehmen, seinem Vater aber den Sachverhalt darzulegen. Eine neue
Schwierigkeit stellt sich ein, die Bacchis verlangt die ihr versprochenen
zehn Minen. Syrus entlockt mit Leichtigkeit dieselben dem Chremes. Allein
die Täuschung bezüglich der Bacchis naht ihrem Ende. Zwar stellt sich
Chremes, als ihm Menedemus die Wahrheit mitteilte, noch immer ungläu-
big und vermutet eine dem Menedemus gestellte Falle — Syrus hatte ja
ebenfalls die Wahrheit von diesem Gesichtspunkt aus mitgeteilt — allein
nur zu bald muss er erkennen, dass er der Übertölpelte ist. In Zorn ent-
brannt will er Clitipho enterben, allein der gütliche Zuspruch der Mutter
und die Bereitwilligkeit Clitiphos, die Bacchis fahren lassen und eine or-
dentliche Ehe eingehen zu wollen, versöhnt ihn; auch Syrus erhält Ver-
zeihung.
Das Stück ist sehr mittelmässig. Die Intrigue ist schwach, es ist
kein rechter Zug in derselben, dem Syrus fehlt ein fester Plan, wir wer-
den hin und her geworfen. Die einzige Komik des Stückes besteht darin,
dass Chremes, der so klug zu sein glaubt und die väterliche Strenge durch-
aus gewahrt wissen will, selbst ein Opfer der Täuschung wird. Der Charakter
des Selbstquälers verliert sich sofort nach dem ersten Akt, aus demselben
wird fast ein Schwächling. Charakterfigur des Stückes ist bloss Chremes.
AuBdrücklich sagt der Prolog, dass der Dichter hier keine Kontamination vorgenom-
men. Den Charakter des Stückes bestimmt der Prolog, indem er es eine fctbula stataria
neoani, d. h. ein Stück mit ruhiger, gemessener Handlung. Über die Komposition siehe
Ybtkdiqxb, Flscksis. J. 109, 129, der nachzuweisen versucht, dass Terenz die sich auf
Clitipho mid Bacchis beziehenden Scenen aus eigener Erfindung hinzugefügt habe; allein
dam widerstreitet ProL v. 4. Vgl. Kampe, Die Lustspiele des Terenz und ihre griech.
Originale, Halberst. 1884 p. 15.
^wdbQoh der Ubm. AlfteitamawineiiachAfL Vin. 5
66 BOmlache litteratargeBchichte. I. Die Zeit der Republik. 2, Periode.
4. Eunuchus (Der Verschnittene). Mit der Hetäre Thais war
ein schönes Mädchen aufgezogen worden, das die Mutter als Geschenk von
einem Kaufmann erhalten; es war ein geraubtes Kind. Nach dem Tod
der Mutter hatte der habgierige Bruder der Thais das Mädchen zum Ver-
kauf ausgeboten. Zum guten Glück kam gerade der Geliebte der Thais,
der Soldat Thraso dazu, er kauft, ohne den Sachverhalt zu kennen, das
Mädchen, Pamphila mit Namen, als Geschenk für seine Freundin. Die
Übergabe verzögert sich aber, "vveil Thais auch dem Phaedria ihre Gunst
zugewendet hatte. Um den Soldaten zu beruhigen, bestimmt Thais den
Phaedria, sich auf zwei Tage von ihr zurückzuziehen; denn auf den Be-
sitz der Pamphila legt sie den höchsten Wert, da sie deren Bruder auf
der Spur zu sein glaubt. Phaedria fügt sich in das Unvermeidliche; ehe
er sich zurückzieht, gibt er seinem Sklaven Parmeno den Befehl, die für
Thais gekauften Geschenke, eine äthiopische Magd und einen Eunuchen,
an Ort und Stelle zu bringen. Auch der Soldat lässt jetzt die Pamphila
von seinem Parasiten Gnatho ins Haus der Thais bringen. Der Zufall
wollte, dass Phaedrias Bruder Chaerea der Pamphila ansichtig wird ; er ent-
brennt in Liebe zu ihr und wünscht in ihre Nähe zu kommen. Scherzend
riet ihm Parmeno, das Kleid des Eunuchen anzuziehen und sich in dieser
Verkleidung ins Haus der Thais führen zu lassen. Chaerea greift mit Leiden-
schaft diesen Plan auf, er kommt als verkleideter Eunuche in die Nähe
der geliebten Pamphila. Das Unheil, das er hier angerichtet, erfahren wir
aus der Unterredung, die er mit einem ihm begegnenden Freunde pflegt.
Im Hause der Hetäre entsteht eine grosse Verwirrung. Die Mägde mel-
den die Gewaltthat und Flucht des Eunuchen dem Phaedria. Dieser holt
den wirklichen Eunuchen aus dem Hause — es stellt sich heraus, dass
der Übelthäter ein ganz anderer, — der Bruder Phaedrias ist. Die
weitere Entwicklung der Handlung knüpft sich an Pamphila. Durch das
Erscheinen ihres Bruders Chremes entsteht eine eifersüchtige Scene zwi-
schen dem Soldaten und der Thais; der Soldat will sein Geschenk, die
Pamphila wieder haben, er schreitet in komischer Weise mit seinen Tra-
banten zu einem militärischen Angriff; da proklamiert Chremes die Pam-
phila als seine freigeborene Schwester. Durch diese Erklärung erhält jetzt
Chaerea auch die Möglichkeit, sein Unrecht zu sühnen, er erbittet sich die
Pamphila zur Frau. Phaedria kann wieder in den Besitz seiner geliebten
Thais treten, jedoch räumt er auch dem Soldaten einen Anteil ein, damit
er die Kosten der Liebe auf dessen Schultern abladen kann. Parmeno
büsst durch die namenlose Angst, in die ihn die Erzählung einer listigen
Magd von dem seinem Herrn drohenden Unheil versetzt hatte, für seinen
Ratschlag.
Aus dieser Darlegung dürfte erhellen, wie spannend diese Komödie
geschrieben ist. Sie erregt unser Interesse durch den von der Heeres-
strasse abliegenden Stoff, den sie behandelt. Die einzelnen Phasen der
Handlung sind enge verbunden. Die Personen sind vortrefflich gezeich-
net; besonders gelungen ist Chaerea und unter den Nebenpersonen die
Magd Pythias. Das Original ist der Eunuch des Menander; aber den
Soldaten und den Parasiten entlehnte er dem „Schmeichler" desselben
P. Terentina. 67
Dichters J) Es sind dies zwei köstliche Figuren. Wir begreifen, dass
das Stück so sehr dem Publikum gefiel, dass es sofort wiederholt werden
musste, und dem Dichter ein grosses Honorar eintrug.
Die Komposition beleuchten vorzugsweise folgende Zeugnisse: Schol. zu Pers. Sat.
5, 161 hunc locum de Menandri Eunucho trcuHt, in quo Darum servum Chaerestratus adO'
lescens adloquiiur, tanquam amore Chrysidis meretricis derelictus, idemque tarnen ab ea
rtvocatu9 ad illam redit. apud Tereniium peraonae inmutatae sunt. Donat zu 3, 4, 1 bene
inventa persona est, eui narret Cha^rea, ne unus diu loquatur, ut apud Menandrum, Pro-
log. 30 Colax Menandrist: in east parasitus colax et miles gloriosus: eas se non negat
personas transtulisse in Eunuchum suam ex Graeca, Warum Terenz Personennamen ge-
ändert hat — beim Menandrischen Eunuchus (wie beim Eolax in der eingeschobenen Partie)
— daf&r vermögen wir keinen Grund aDzugeben. Was den zweiten Punkt, die EinfUhrung
des Antipho (539) betrifft, so sehe ich keinen Grimd, der Notiz des Donat mit Ihne,
Quaest. Ter. p. 15 und Teupfel, Stud. p. 282 zu misstrauen ; denn die Möglichkeit wird nicht
geläugnet werden können, dass Ghaerea auch in einem Monolog seine Schandthat bekannt
geben konnte. Freilich ist der Dialog hier passender. Die richtige Auffassung der letzten
Stelle hängt von der Vorstellung ab, die man sich vom Eunuchen Menanders macht. Fast
zweifellos erscheint, dass auch dieses Stttck einen Rivalen dem Liebhaber gegenüber-
stellt«. Das Zerwürfnis mit der Geliebten, auf das auch Fragmente hinweisen, die Tren-
nung für einige Tage und anderes erklären sich so auf einfache Weise. Dass aber gerade
ein Soldat der Rivale war, lässt sich natürlich nicht behaupten, ja es ist nicht einmal
nach der obigen Stelle wahrscheinlich. Die Kontamination wird darin bestanden haben,
dass Terenz den einfachen Rivalen durch zwei Gharakterfiguren, den Soldaten und den
Parasiten des Eolax ersetzt hat. Vgl. Gbauebt, Anal. p. 168. Interessant ist es, was der
Prolog weiter berichtet, dass der Eolax schon früher lateinisch bearbeitet war.
Über die ganze Frage der Komposition handelt Bbaün, Quaest. Terent. p. 23 — 40,
der aber den Rivalen im Eunuchen Menanders läugnet. Über die Benützung des Eunuchus
durch Holbero vgl. Lobeitz, Miles'^ p. 243.
5. Phormio. Dieses Stück ist nach dem ^Entdixa^ofievog des Apol-
lodor bearbeitet; Terenz nahm aber statt der für die Römer weniger ver-
ständlichen Appellativbezeichnung das Nomen proprium. Phormio ist der
Parasit, der die Intriguen durchführt. Die zwei Brüder Ghremes und De-
mipho waren verreist. Während ihrer Abwesenheit übertrugen sie die
Aidfsicht über ihre Söhne dem Sklaven Geta. Allein dieser hielt mehr zu
den Söhnen als zu den Vätern. So konnte es geschehen, dass die beiden
jungen Herrn in Liebeshändel verflochten wurden. Antipho, Demiphos Sohn,
hatte eine Ehe mit einer armen Waise Phanium aus Lemnos eingegangen,
nach einer von Phormio eingefädelten Intrigue scheinbar als nächster Ver-
wandter durch das Gesetz dazu gezwungen, wobei Phormio den Kläger
machte {imiixa^oiisvoq). Phaedria, der Sohn des Chremes aber hatte sich
in eine Zitherspielerin verliebt. Im Verlaufe der Komödie wird Phaedria
von dem Missgeschick betroffen, dass der Kuppler die Zitherspielerin ver-
kauft hat und nur auf vieles Zm*eden hin sich bestimmen lässt, wenn Phaedria
des andern Tags die Kaufsumme (von 30 Minen) früher erlege, die Zither-
spielerin ihm überlassen zu wollen. Den heimgekehrten Vätern gegenüber
gilt es nun einmal, die Ehe Antiphos aufrecht zu erhalten, dann das Löse-
geld für die Geliebte Phaedrias aufzutreiben. Beide Aufgaben löst Phor-
mio; er setzt zuerst beim Zweiten an. Dem über die Ehe Antiphos be-
stürzten Vater erklärt er, er wolle Phanium selbst heiraten, wenn ihm 30
Minen gegeben würden. Seine List glückt ihm. Aber was wird nun aus
Antipho ?
0 Dies zeigt tre£flich Gbauebt, Anal. p. 153. Über Thraso vgl. Ribbsok, Alazon
p. 39, LoBBirz, Mües> p. 236.
5*
68 BOmiBclie Litteratnrgesohichte. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Hier wäre nun eine neue Intrigue des Parasiten notwendig gewesen,
um zunächst einen Aufschub seiner Heirat mit Phanium zu bewirken. Allein
die Lösung führt die Tyche herbei, Phanium wird als die Tochter des
Chremes aus einer Verbindung, die er in Lemnos hatte, erkannt. Sie war
Antipho ohnehin zugedacht, er ist also ihres Besitzes sicher. Phormio
aber zieht sich und Phaedria dadurch aus der Schlinge, dass er die Liebe
des Chremes dessen Frau denunziert.
Die einfache Intrigue ist gut und frisch durchgeführt und die beiden
Alten und die beiden Jungen sind trefflich gezeichnet.
MoLiiRs's Les faurberiea de Scapin stehen unter dem Einfluss des Terenzianischen
Phormio.
6. Adelphoe (Die Brüder). Das Stück führt uns zwei Brüder,
Micio und Demea vor; der erste ist ein feiner Junggesell, der andere ein
strenger, engherziger Bauer. Neben diesen beiden Alten lernen wir die beiden
Söhne Demeas kennen, den Aeschinus, der von Micio, und den Ctesipho,
der von Demea erzogen wird. Die Erziehung leitet natürlich Jeder nach
seiner Weise. Micio vertritt milde und liberale Grundsätze, Aeschinus
strenge und altvaterische. Das Resultat ist aber bei beiden das gleiche,
Aeschinus hat hinter dem Rücken seines Onkels Pamphila, die Tochter
einer armen Witwe Sostrata verführt, Ctesipho heimlich ein Liebesverhält-
nis mit einer Zitherspielerin angefangen. Die Verwicklung, welche das
Stück darbietet, besteht darin, dass Aeschinus die Zitherspielerin (Ys. 451)
dem Kuppler, der. sie verkaufen will, entreisst und dadurch einen öffent-
lichen Skandal hervorruft. Diese Gewaltthat kommt zur Kenntnis der So-
strata; die vermeintliche Untreue des Aeschinus ruft dort die grösste Be-
stürzung hervor. Auch Demea hatte Kunde von Aeschinus' Gewaltthat er-
halten; sein Unwille gegen Micios Erziehungsweise tritt stark hervor; er
freut sich, dass wenigstens der von ihm erzogene Sohn andere Bahnen
einschlägt. Der Sklave Syrus bestärkt ihn boshaft in seinem Glauben.
Da muss er die Entdeckung machen, dass Ctesipho so schlimme Wege
wandelt wie sein Bruder. Nachdem Demea zur Erkenntnis gelangt ist,
dass er mit seiner Erziehung Schiffbruch gelitten, geht er zu dem entge-
gengesetzten System über; er will jetzt Micio an Liberalität überbieten
und führt dies gleich praktisch durch, jedoch so, dass Micio fast allein die
Kosten trägt. Aus lauter Liberalität muss Micio sogar die alte Sostrata
zur Frau nehmen. Was will der Dichter mit diesem sonderbaren, ja un-
vernünftigen Vorgehen Demeas? Bisher hatte Demea den Spott tragen
müssen; auch waren die Sympathien der Zuschauer sicher mehr auf sel-
ten des frischen und selbständigen Aeschinus als auf selten des ängst-
lichen, auf fremde Hilfe angewiesenen Ctesipho. Allein auch die Er-
ziehungsmethode Micios hatte ihre grossen Schattenseiten, sie ging in
der Nachsicht und Milde zu weit, sie artete in Schwäche aus. Wie
leicht aber auf diesem Wege Beifall erlangt werden kann, legt der
Dichter durch eine starke Übertreibung am Schlüsse dar. Das rich-
tige Erziehungsprinzip beruht auf Strenge und Milde zugleich; und
dieses spricht Demea deutlich aus, wenn er Willfahrigkeit nur am
rechten Platz gestatten und in das ungebundene Treiben der Söhne,
P. Terentins.
69
wenn es Not thut, mit einem Tadel oder einer Korrektur eingrei-
fen will.
Das Stück verdient schon darum die grösste Beachtung, weil dasselbe
ein praktisch-ethisches Problem behandelt. Die psychologische Durchfüh-
rung dieses Problems erhält unser Interesse bis zum Schluss, in dem uns
die erzwungene Heirat Micios abstösst. Das Original war eine gleich-
namige Komödie Menanders, hinein verwoben wurde noch eine Scene der
»Miteinandersterbenden" des Diphilus.
Von Menander gab es zwei Stücke des Namens ^J^eXtpoL Das eine liegt dem plan-
tiniscben Stichus zu Gnmde, das zweite bearbeitete Terenz für die vorliegende Komödie.
Allein die lateinische Bearbeitung nahm .Änderungen am Original vor, deren wir einige
vorführen wollen. Bei Menander geht Micio bereitwillig auf die ihm angesonnene Ehe
ein, bei Terenz sträubt er sich dagegen (Donat zu Vs. 938). Durch dieses Sträuben wird
aber für uns die Sache noch peinlicher, denn jetzt erscheint die Ehe als Strafe. Andern-
falls wirft die sofortige Bereitwilligkeit, Sostrata zur Frau zu nehmen, ein Licht auf den
leichtsinnigen Charakter Micios. Eine zweite, minder wichtige Abweichung, die Donat zu
Vs. 351 anmerkt, besteht darin, dass bei Menander für die Sostrata ihr Bruder eintritt,
bei Terenz dagegen ein Verwandter ihres verstorbenen Mannes. Diese .Änderung steigert
die Hilflosigkeit und Verlassenheit der armen Familie (Grauebt, Anal. p. 146).
Ausser den Änderungen, die am Original vorgenommen wurden, verschmolz Terenz
auch noch eine Scene der Zvyano&y^axoyre^ des Diphilus mit seiner Bearbeitung. Es ist
dies die erste Scene des zweiten Aktes, in der die 2Utherspielerin dem Leno gewaltsam
entrissen wird (Prolog. Vs. 9). Allein der fremde Ursprung dieser eingeschobenen Partie
ist noch ersichtlich, das entrissene Mädchen ist hier eine Freie (vgl. Vs. 194), in den Adel-
phoe dagegen ist die SUtherspielenn eine Sklavin. Ob die Entlehnung noch weiter geht,
ist strittig und verschieden beantwortet worden. Siehe Grauebt, Anal. p. 134 ; Ihke, Quaesi
Ter. p. 26 ; Textffel, Stud. p. 284 ; Spenoel, Ausg. p. XIII ; Dziatzko, Ausg. p. 9. Vgl. noch
über die Komposition Fielitz, Fleckeis. J. 97, 675 mit den Entgegnungen von Elasen,
Quam rationem Terentius in corUaminatis fabulis componendis aecutus esse videatur P, I giKie
Adelphos eompUctitur. Rheine 1884. p. 16.
44. Charakteristik des Terentius. Ans unseren Darlegungen über
die Stoffe der Terenzianischen Komödien hat sich ergeben, dass nur zwei
griechische Dichter die Originale geliefert haben, Menander und ApoUodo-
ms. Terenz griff bloss nach den Dichtern, welche ihm ruhig gehaltene
Komödien darboten. Es fragt sich, wie der Dichter sich zu seinen Ori-
ginalen verhält. Eines ergibt sofort die Lektüre der sechs Komödien, dass
nirgends der griechische Charakter verwischt wurde. Es findet sich in
sämtlichen Stücken so gut wie keine Anspielung auf römische Verhältnisse. ^)
Nicht einmal die Titel mag der Dichter latinisieren, auch die „redenden
Namen" der auftretenden Personen, selbst wenn sie Terenz erfunden hat,
sind durchweg griechische. Wollen wir nun weiter feststellen, in wel-
chem Grade Terenz seine Originale erreicht hat, so sind wir bei dem
Fehlen derselben auf Zeugnisse angewiesen. Zum Olück rühren diese
von bedeutenden Sachkennern, von Cäsar und Cicero her. Cäsar nennt
den Terentius einen „halbierten Menander", da er zwar die Feinheit und
Zierlichkeit seines Vorbilds erreiche, nicht aber seine Kraft. Ganz ähn-
lich lautet das Urteil Ciceros: Terenz habe uns den Menander mit ge-
dämpften Affekten {sedatis motibus) gegeben. Diese Urteile werden durch
') Ich weiss, dass man auch hei Terenz
Anspielungen auf römische Verhältnisse und
.ajsderungen zu Gunsten des römischen Puh-
likimis hat finden wollen (vgl. Regel, Terenz
im YerhAltnis zu seinen griech. Originalen,
Wetzl. 1884 p. 12: «Ben auf griechischem
Grunde gehaltenen Komödien ist eine ge-
wisse römische Färhung gegehen*), allein die-
selben sind sehr zweifelhafter Natur und
scheinbar.
70 BOxnische Litteratnrgeschichte. I. Die Zeit der Republik. 2, Periode.
die erhaltenen Komödien bestätigt. Alles Sehwergewicht fallt auf das
fj&ogy nicht auf das na&og. Alle derbere Komik, alles Zotenhafte und
Burleske ist vermieden. Auch das lyrische Element tritt sehr in den Hin-
tergrund und infolge dessen sind die metrischen Oebilde bei ihm einfacher
und dürftiger als bei Plautus. Im übrigen scheint er sich treu an seine
Vorlage gehalten zu haben, nur von einem Kunstmittel hat er reicheren
Gebrauch als seine Vorgänger gemacht, von der sogenannten Kontamina-
tion, die wir in der Hälfte der Stücke mit Sicherheit nachweisen konnten.
Aber gerade dieses Hineinarbeiten von Partien aus fremden Stücken lässt
sehliessen, dass es dem Dichter an eigener Erfindungsgabe mangelte. Mit
der Kompositionsweise des Terenz steht auch seine Sprache in Einklang.
Wenn Plautus die Sprache der Gasse spricht, so spricht Terenz die Sprache
des Salon. Den komischen Verdrehungen, den Neubildungen, den griechi-
schen Brocken des Plautus geht er aus dem Weg. Wie Cäsar urteilt, ist
Terenz Freund des reinen Stils, nach Cicero ist seine Sprache zierlich und
anmutig. Die Verschiedenheiten, welche Terenz von Plautus trennen, er-
klären sich, wenn man das Publikum ins Auge fasst, an das sich Terenz
wendet. Es ist die vornehme, von hellenistischen Ideen erfüllte Gesell-
schaft Roms, die für ihn bei der Komposition und der Darstellung mass-
gebend war. Wenn seine Gegner, unter denen sich besonders Luscius
Lanuvinus hervorthat, die Meinung verbreiteten, dass vornehme Leute ihm
bei der Bearbeitung der Komödien an die Hand gingen — es wurden be-
sonders Scipio und Laelius genannt — , so werden wir aus dieser Nach-
rede den Schluss ziehen dürfen, dass Terenz' Dichtungen in jenen Kreisen
reichen Beifall fanden.
Über sein litterarisches Schaffen und seine litterarischen Kämpfe geben die Prologe
interessante Aufschlüsse. Bei Terenz dient nämlich der Prolog wesentUch dazu, die An-
gelegenheiten des Dichters oder Direktors dem Publikum vorzutragen. Die Darlegung des
Arguments, die früher dem Prolog zugewiesen war, konnte dadurch erspart werden, dass
in dem Stück selbst eine klare Exposition gegeben wurde. Hiezu dienen (in Andria,
Phormio, Hecyra) itQocfana nQoratixa d. h. Personen, welche im Eingang auftreten, um
die Zuschauer in die Handlung des Stücks einzuführen, dann aber vom Schauplatz ver-
schwinden. Zu allen Stücken sind Prologe erhalten, zur Hecyra sogar zwei, nämlich Reste
eines zur zweiten versuchten Aufführung, ein vollständiger zur dritten. Ob sich von den
übrigen Prologen auch manche auf eine spätere Auffülming beziehen, ist strittig. In der
Andria hängt die Entscheidung ab von der Auffassung des Plurals im Verse 5 nam in
prologis scribundüt operam abutitur, ob prologis im eigentlichen Sinn zu verstehen ist oder
nicht. Gesprochen wurden der Prolog zum Heautontimorumenos und der zweite zur Hecyra
vom Schauspieldirektor L. Ambivius, die übrigen von einem jüngeren Schauspieler in einem
besonderen Kostüme.
Drei Vorwürfe sind es, welche die Gegner gegen Terenz erheben und welche er zu
widerlegen sucht, 1) die Kontamination (Andria 16); 2) Beihilfe von Seiten seiner vorneh-
men Freunde (Adelphoe 15); endlich 3) tenuis oratio et seriptura levis (Phorm. 5). —
DziATZKo, De prologis Plaut, et Terent. qiiaest, sei. Bonn 1863; Schindler, Ohserv. crit.
et hist. in Ter. Halle 1881 ; Havet, Retnde de philol. 10, 16. Roebicht, Quaest. scenicae
ex prologis Terentianis petitae, Strassb. 1885; Boissier, Les pi'ologues de T4rence (M^lan^es
Graux p. 79).
45. Fortleben des Terentius. Auch nach dem Tode des Terenz
wurden seine Stücke noch aufgeführt. Man griff gern zu den Meistern
zurück, da es bald an Palliatendichtern fehlte. Für diese zweiten Auf-
führungen geben uns die didaskalischen Notizen Anhaltspunkte. Aus den-
selben hat DziATZKO^) eine zweite Aufführung der Andria in der Zeit von
0 Über die Terenz. Didaskalien Rh. Mos. 20, 570; 21, 64.
P. Terentius.
71
143 — 134, des Eunuchus im Jahre 146, des Heautontimorumenos ^ im Jahre
146, des Phormio^) im Jahre 141 erschlossen. Aber nicht bloss im Re-
pertoire erhielt sich Terenz längere Zeit, auch in den Kreis der gelehrten
Forschung trat er ein. Es beschäftigten sich mit ihm die Litteraturhisto-
riker, Biographen, Altertumsforscher; aus der von Sueton verfassten vita
lernen wir eine ganze Reihe von solchen Gelehrten kennen: Fenestella,
C5ornelius Nepos, Porcius Licinus, Volcacius Sedigitus, Varro, Santra, Q.
Cosconius, Cicero, Caesar. Aus dem Auctarium Donati kommt noch hinzu
der Kritiker Maecius (Tarpa) und der Dichter Vagellius oder wie er hiess. Auf
scenische mit Terenz zusammenhängende Studien weisen unsere Didaska-
lien hin. Sie fanden wohl ihren Abschluss in der ausgedehnten Thätigkeit
M. Varros. Als Terenz dem Sprachbewusstsein ferner trat, war kommen-
tierende Thätigkeit geboten. Solche bezeugt von Probus, Aemilius Asper
der Kommentar des Donat, von Helenius Acre (zum Eunuchus und den
Adelphi) und vielleicht von Arruntius Celsus (zum Phormio) lateinische
Grammatiker. Erhalten ist uns einmal ein Kommentar unter dem Namen
des Aelius Donatus s. IV zu allen Stücken mit Ausnahme des Heautonti-
morumenos. Allein dieser Kommentar ist kein einheitliches Werk. Es
sind zwei Hauptmassen zusammengeflossen, ein Kommentar des Donat und
ein solcher des Euanthius, eines älteren Zeitgenossen Donats.'*) In dem
Kommentar stecken Notizen, die für uns sehr wertvoll sind. Besonders
interessieren uns die Vergleichungen der griechischen Originale. Einen
weit geringeren Nutzen hat für uns der Kommentar des Eugraphius; der
Zweck dieses Kommentars ist, den Schülern die rhetorischen Regeln an
der Hand des Terenz darzulegen. Dies setzt aber das Verständnis des
Autors voraus. Es werden daher auch erklärende Bemerkungen gegeben.
Hier waren ihm Quellen ein Virgilkommentar und die Terenzkommentare
des Donatus und Euanthius und zwar wahrscheinlich in ihrem unverbun-
denen Zustand.^) Die rhetorischen Bemerkungen haben nur für die Ge-
schichte der Rhetorik und des Unterrichts einige Bedeutung.^) Ohne Wert
') GsppEBT dagegen über die Terenz.
Didaskalien, Jahrb. Suppl. 18 (1852) p. 560
nimmt das J. 138 an.
*) RrrscHL erachtet auch das Jahr 140
f&r möglich (Parerga p. 251 Anm.), Leo, Rh.
Mus. 38, 342, dagegen hält mit Wilmanns
das COS. für falsch und glaubt, dass die
Caepiones vielmehr in gleichem Jahr iidUen
waren, d. h. etwa 149 — 147. Von der He-
cyra sehe ich ab, da hier die 8chlussfolge-
rung auf dem zweiten Schauspieler L. Sergius
beruht. Von den Adelphoe wollte Dziatzko
früher mit andern die Aufführung des Jahres
160 als die zweite ansehen ; neuerdings
(Ausg. des Phormio p. 12) stellt er die Sacne
als zweifelhaft hin.
') So ist z. B. in dem unserem Kommentar
vorausgehenden commentum de comoedia (her-
assgegeben von Reifferscheid, Bresl. Ind.
lect 1874/5) der erste TeU bis 8, 4 von
Euanthius, der folgende von Donat. Die
den einzelnen Stücken vorausgeschickten
praefationes legt man gewöhnlich dem Donat
bei, während Scheidemaktel , Quaestiones
EuanthianWf Leipz. 1883 sie dem Euanthius
beigelegt wissen will (p. 25 — 46). Zur Schei-
dung des Eigentums der beiden hat Usener
ein Kriterium Rh. Mus. 23, 495 aufgestellt.
Auch ScHEiDEKAivTEL p. 47 uud Leo, Rh.
Mus. 38, 330 beschäftigen sich mit dieser
Frage. Ehe eine kritische Ausgabe Donats
vorliegt, ruhen solche Untersuchungen auf
keinem festen Boden.
*•) Gebstenbero, De Eugraphio, Jena
1886, p. 55 fg.
^) Die Zeit des Eugraphius kann nur
durch Kombination ermittelt werden. Ger-
stekberg kommt p. 117 durch Betrachtung
des Verhältnisses des Eugraphius zu Cassio-
dorius und Isidor zu dem Satz : Eugraphium
rhetorem Cassiadorn aequalem natu minorem
fuisse et medio aaeculo sexto vel paulo post
medium commentarios Terentianos scripsisse
contendimus.
72 Komische Litteratnrgeschiolite. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
sind die Scholien des codex Bemhinua, Zu den Kommentaren gehören in
gewissem Sinne auch die metrischen Inhaltsangaben zu den einzelnen
Stücken. Sie rühren von G. Sulpicius Apollinaris her und umfassen je
12 Senare.
Die handschriftliche Überlieferang des Terenz stellt sich uns in zwei Quellen dar;
die eine ist der cod. Bembinus s. IV/V (von seinem früheren Besitzer, dem Kardinal Pietro
Bembo so genannt); ihm stehen gegenüber alle übrigen Handschriften (mit Donat), welche
in der subscriptio auf die Rezension eines Calliopius (wahrsch. s. Uiy hinweisen. Diese
calliopischen Handschriften zerfallen in zwei Gruppen, die eine ist, um wenigstens ein
Kriterium anzugeben, durch Bilder illustriert (Parisinus, Vaticanus, Ambrosianus u. a.),
die zweite dagegen ist bilderlos (Victorianus, Decurtatus). Welche von beiden Gruppen
massgebend sei, ist strittig. Während Leo, Rh. Mus. 38, 317 in der Sippe des Victorianus
die beste Überlieferung der calliopischen Recension erkennt, nimmt Dziatzko (mit Schind-
leb) an, dass der Text dieser Sippe ursprünglich mit dem Bembinus dieselbe Grundlage
gehabt habe, dass er aber dann allmählich der calliopischen Rezension nahegebracht wurde
und auch die subscriptio mit aufnahm. Die Entscheidung der Frage ist von geringem Be-
lang, da feststeht, dass für die Texteskritik des Terenz der Bexnbinus Führer sein muss;
denn die calliopische Rezension gibt eben einen mit Absicht zugerichteten Text. Vgl. Stdow,
De fide librorum Terentianorum ex CaUiopii recensione ductorum. Berlin 1878. Entspre-
chend der doppelten Überlieferung des Terenz stellen sich auch die didaskalischen Notizen
in doppelter Fassung dar, in der des codex Bembinus und in der der calliopischen Hand-
schriften, welcher sich die prctefationes Donats anschliessen. Auch in den Didaskalien
spiegelt sich wiederum der Charakter der beiden Quellen der Überlieferung. Der Bembinus
gibt eine „zufällige und kritiklose, aber im einzelnen zuverlässige', die calliopische Rezen-
sion eine «überlegte* Fassung. Grundlegend für die Didaskalien ist die Abhandlung Dziatz-
K08 Rh. Mus. 20, 570; 21, 64 bes. 88.
Ausgaben. Terentii Comoediae. Ed. Bevtley. Cambridge 1726. Epochemachend
bes. wegen der metrischen Behandlung. Berühmt das vorausgeschickte de metris Teren-
tianis schediasma. Hauptausgabe P. Terentii Comoediae. Ed. Fr. Umpfenbach (mit vollstän-
digem Apparat). Die Scholien des Bembinus publizierte Umpfenbach, Hermes 2, 387 ; Er-
gänzungen und Berichtigungen hiezu von Studemund, Fleckeis. J. 97, 546. Textausgaben
von Flegkeisen (Teubner) und Dziatzko (B. Tauchnitz), letztere mit Prolegomena über das
Leben des Dichters u. s. w. Kommentierte Ausgaben von W. Waoner (mit englischen
Noten), Cambridge 1869, A. Spenoel (Andria, Adelphoe bei Weidmann), von Dziatzko (Phor-
mio, Adelphoe bei Teubner), von C. Meissneb (Andria, Bemburg 1876).
Die Scholien des Donat und Eugraphius sind bequem vereinigt in der Terenzausgabe
von Klotz. 2 Bde. Leipz. 1838 und 1840.
Erläuterungsscnriften: Conbadt, Deventuum Terentianorum structura, Berl. 1870
iHerm. 10, 101), Die metrische Composition der Komödien des T., Berl. 1876; Meissneb,
)ie Cantica des T., Leipz. 1882.
46. Die übrigen Palliatendichter. In die Zeit des Gaecilius und
Terenz gehören noch einige Palliatendichter, über die uns meist nur sehr
dürftige Notizen überliefert sind. Trabea wii'd von Varro neben Atilius
und Gaecilius als ein Dichter genannt, der in Erregung der Affekte aus-
gezeichnet gewesen sei (Charis. p. 241 E.). In den Tusculanen teilt uns Cicero
4,31,67 ein Fragment mit, in dem mit lebhaften Farben die Erwartung eines
Liebenden, die Geliebte zu sehen, geschildert wird. Ein Aquilius erscheint
als Dichter der Boeotia, während sie Varro des Stils wegen dem Plautus
beilegen wollte (Gell. 3, 3, 3). Von Licinius Imbrex (vielleicht identisch
mit P. Licinius Tegula, dem Verfasser eines heiligen im Jahre 200 ge-
sungenen Gedichts, Liv. 31, 12) wird eine Neaera zitiert (Gell, 13, 23, 16).
Den Luscius Lanuvinus kennen wir als vetus poeta aus den Prologen des
Terenz. Er verfocht mit Leidenschaft das Prinzip, die griechischen Pal-
liatae wortgetreu zu übertragen. Ein Phasma (Gespenst) und einen The-
saurus hat er nach Prolog. Eun. 9 geschrieben, die Argumente der beiden
Stücke erzählt Donat in seinem Kommentar zu der Stelle. Palliatendichter
waren femer Juventius (Gell. 18, 12,2) und Vatronius, von dem ein Burra
TarpilioB und andere Palliatendichter.
73
betiteltes Stück ermittelt ist. Endlich ist Turpilius (f 103 in Sinuessa;
vgl. Hieron. Seh. 2, 133) zu nennen. Es sind nur 13 Komödientitel über-
liefert. Sie sind alle griechisch. Die Fragmente, die an seltenen Wort-
bildungen reich sind, haben nichts besonders Anziehendes. Abgegriffene
Sätze enthalten das Fragment 9, dass es nicht leicht sei dahin zu gelangen,
wo die Weisheit thront, es sei ein langsamer Gang, und das Fragment
142 „Mit je weniger Jemand zufrieden ist, desto glücklicher ist er, wie
jene Philosophen sagen, denen alles genügt ; eine . lebhafte Aufforderung,
eine Hetäre zu verlassen, gibt Fragment 160.
Die Ermittlung des Dichters Vatronius aus der Placidus-Glosse Deuerl. p. 13 Burrae
Vatroniae, fatuae ac atupidae, a fabula quadam Vatroni auctoris quam Burra inscripsit
vel a meretrice Burra verdaiiJcen wir Bücheler, Rh. Mus. 33, 310. Er weist den Namen
Vatronius in Pränestinischen Inschriften nach. ,,Praenestino8 Plauti et Lucili temporihus
qui latine loquebantur propter sermanis viiia fere despiciebant. agnoscendua igitur VatrO'
nius est poeta praeteritus quidem a Volcacio in iudicio comieorum, aed quem fabulam fecisse
ßurramque inscripsisse fortasse meretricis nomine auctor fide dignus tradiderit. Burra
latine est quae Graecis HvQ^ay idque Diphilus nomen indiderat fahuJae cuius unus super est
cersiculus pronuntiatus a miPiere," — Die 13 Titel der Turpilianischen Komödien sind : Boe-
thuntes, Canephorus, Demetrius, Demiurgus, Epiclerus, Hetaera, Lemniae, Leucadia, Lindia,
Paedium, Paraterusa, Philopator, Thrasyleon. Üher die Leucadia vgl. Ribbegk Flsckeis.
J. 69, 34. — Grautopf, Turpü, comoediarum reliquiae, Bonn 1853.
47. Rückblick. Charakteristik der Palliata. Die Palliata ist im
Wesentlichen an drei Namen geknüpft, an Plautus, Gaecilius Statins und
Terenz. Ihre Entwicklung verläuft in der Weise, dass bei Plautus Grie-
chisches und Römisches bunt durcheinanderlaufen, seine Nachfolger dagegen
mehr und mehr die Reinheit der Gattung anstreben. Die Dichter erringen
damit den Beifall der Gebildeten, allein sie verlieren den Boden bei der
grossen Masse der Zuschauer.^) Die Rolle der Palliata war ausgespielt, es
traten andere Formen, die Togata, die Atellana, der Mimus an ihre Stelle. >)
Ehe wir von derselben scheiden, wollen wir noch einige Worte zur Cha-
rakterisierung derselben beifügen. In der fabula pailiata haben wir das
vielfaiCh getrübte Abbild einer ausländischen Litteraturgattung, der neueren
griechischen Komödie; wir müssen uns das stets gegenwärtig halten; wir
nennen oft Plautus und Terenz, wo nur der griechische Dichter gemeint
sein kann. Der Römer ist zunächst Bearbeiter eines griechischen Ori-
ginals, das Argument ist nicht sein Werk.^) Allein trotzdem bleibt ihm
noch genug Spielraum zur Bethätigung eigener Kraft. Die wörtliche Über-
setzung kennt das Altertum nicht ; der Übersetzer ist also hier Nachdichter.
Er kann sein Original kürzen, erweitern, er kann es metrisch verschieden
') BoissiEB, Milanges Graux p. 85:
Ceti une difficulti qu*on a Mt^e chez nous
en ouvrant des thMtres diffirents pour les
direrses classes de la sociiti: chacun va oü
san ^ducation VappeUe et oü il est sür de
trourer fe plaisir, Mais U n'y avait alors
qu*un seul th^atre; les jeux sciniques itant
des fetes religieuses destin^es au peuple en-
tirr, il fallait qWil y füt rSuni, et des gens
d'intelligence et d^Mucation diffSrentes Haient
condamnees ä eniendre les memes pi^ces, Si
le poHe pHaisaU aux uns, il risquait de di-
plaire aux autres, et quand ü voulait tenir
le milieu, ü y avait de grandes chances qu'Ü
les m^contentdt tous ä la fois.
*) Inwieweit die censorische Massregel
des J. H5 artem ludicram ex urbe remove-
runt, wobei der latinus tibicen cum cantore
und der Itidus tdlarius (Cassiodor p. 620 M.
vgl. Hebtz, Ind. Yratislav. 1873) ausgenommen
wurden, auf die Entwicklung der Komödie
einwirkte, wissen wir nicht.
') argumentum graecissat heisst es im
Prolog zu den Menaechmi Vs. 11.
74 BöxnlBche Litteratnrgeschichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
gestalten ; er kann Scenen aus einem zweiten Stück in das seinige hinein-
arbeiten, er kann endlich Nebenfiguren aus eigener Erfindung hinzufügen.
Immer bleibt aber die Bearbeitung ein fremdes Gewächs, das seinen Ursprung
nicht verleugnet. Dass ein solches fremdes Produkt von den Römern herüber-
genommen werden konnte, beruht auf dem kosmopolitischen Charakter dessel-
ben. Während die alte griechische Komödie durch und durch national gehalten
ist, gibt die neuere Komödie ein Oesellschaftsbild und zwar in so allge-
meinen Zügen, dass es mit entsprechenden Modificationen bei allen Völkern
vorkommen kann. Die Zeit brachte diese Veränderung der Komödie mit
sich ; seit dem Untergang der griechischen Freiheit war die politische Sa-
tire gebrochen, es blieb die Familie übrig, auf diese zog sich die Komödie
zurück. Die Figuren, die uns jetzt entgegentreten, sind: leichtsinnige
Jünglinge, verschlagene, spitzbübische Sklaven, habsüchtige und wortbrü-
chige Kuppler und Kupplerinnen, Hetären in verschiedenen Abstufungen,
geldgÜBrige, liebenswürdige, kokette, ferner betrogene Väter, hungrige und
spassmachende Parasiten, grosssprecherische Soldaten.^) Es ist eben die
Gesellschaft, wie sie ein im Niedergang befindliches Volk hervorbringt.
Für den Dichter bestand nun die Aufgabe darin, diese Figuren plastisch
darzustellen und in eine Intrigue zu verflechten. Diese Intrigue ist in der
Kegel sehr einfach und wiederholt sich bis zum Überdruss. Ein junger
Herr hat eine Liebe, dieser Liebe stellt sich ein Hinderniss entgegen, ge-
wöhnlich fehlt es an Geld, ein verschlagener Sklave wird zu Hilfe geru-
fen, die Intrigue beghint, ein Vater oder ein Kuppler wird weidlich ge-
prellt. Oft tritt noch durch eine ävayvdqimg eine glückliche Lösung ein,
es wird nämlich eine Geliebte als ein freigeborenes Mädchen erkannt. Ein
solches Gesellschaftsbild lässt sich mit entsprechenden Änderungen auf
alle Völker übertragen ; und wirklich haben durch Vermittlung der Römer
fast alle modernen Kultlirnationen aus diesem Quell geschöpft. Freilich ist
es ein sehr bedenkliches Gut, das die Römer aus Griechenland geholt
haben; es kann auch nicht dem mindesten Zweifel unterliegen, dass diese
Hetärenwelt demoralisierend auf die Zuschauer einwirken musste.*)
Der Bau der neueren Komödie war sehr einfach ; charakteristisch für
sie ist, dass ihr der Chor fehlt, was aber nicht ein Zusammenauftreten
mehrerer Personen ausschliesst. In den Stücken unterscheiden wir den Prolog
und den Epilog. Im Prolog führt der Dichter die Zuschauer in die Handlung
ein, indem er einen Umriss derselben gibt ; einen andern Charakter gibt, wie
wir gesehen haben, dem Prolog Terenz. Denn diesem Dichter dient der-
selbe dazu, sich gegen die Angriffe seiner Gegner zu verteidigen. Im
Epilog wird der Zuschauer aufgefordert, Beifall zu klatschen. Wenn der
Hörer nicht ermüden und die richtige Wirkung des Stücks erfahren sollte,
so waren Pausen notwendig. Dass solche Pausen bestanden, bezeugt aufs
bestimmteste eine Stelle im Pseudolus (Vs. 551), wo der Flötenspieler
eingeladen wird, einstweilen das Publikum zu unterhalten. Der Dichter
wird daher sein Stück in eine Anzahl Akte zerlegt haben. Da die mass-
*) Einige dieser TyP®^ greift der Pro-
log zu den Captivi heraus Vs. 57 : hie neque
periurua lenost nee meretrix mala neque mi-
les gloriostis.
') Neuiiann, Geschichte Roms 1, 50.
Charakteristik der Palliata.
75
gebende handschriftliche Überlieferung des Plautus und Terenz eine Akten-
einteilung nicht kennt, so können wir nur auf innere Gründe hin be-
stimmen, in wie viel Akte ein Dichter ein Stück zerlegt hat. Die An-
zahl von fünf Akten, welche später die Gelehrten, vielleicht unter dem
Einfluss Varros, als Regel festgesetzt haben und die auch Horaz (ad. Pis.
189) von dem Dichter fordert, scheint keineswegs absolut notwendig zu
sein ; dagegen ^ird die Anzahl von drei Akten die normale sein, denn der
Aufbau einer Komödie setzt Exposition, Verwicklung, Lösung voraus. Von
untergeordneter Bedeutung für die Komposition des Stückes ist die Sce-
nenabteilung. Diese hat sich in unsrer Überlieferung mehr oder weni-
ger erhalten. Sie wird durch ein vorausgeschicktes Verzeichnis der in
einer Scene auftretenden Personen markiert. Ursprünglich waren nur die
Rollen aufgezählt,^) zu denen die griechischen Buchstaben, durch welche
die Personen im Text unterschieden wurden, hinzutraten, erst später wurden
zur grösseren Deutlichkeit die wirklichen Personennamen hinzugefügt.
Da das Drama fast im gesamten Altertum für die Aufführung, nicht
für die Lektüre bestimmt ist, so ist zur Würdigung eines Stückes durchaus
notwendig, von dem Vortrag sich eine bestimmte Vorstellung zu machen.
Es werden in den Komödien gesprochene und gesungene Partien un-
terschieden. Die Termini, die hiefür ausgeprägt wurden, sind diverbia
(deverbia^) und cantica, welche in den Codices Palatini des Plautus in der
Form der Noten DV und C erscheinen. Aus diesen den einzelnen Scenen
vorausgeschickten Noten haben Ritschi und Bergk interessante Aufschlüsse
über die Vortragsweise der Komödien gewonnen. Als rein gesprochene
Partien erscheinen bloss die in jambischen Senaren abgefassten Partien.
Alle übrigen Versarten dagegen hatten Musikbegleitung und erhalten in-
folge dessen die Note C, d. h. es sind cantica. Allein bei denselben kann
nicht eine Art des Vortrags stattgehabt haben; die trochäischen Septe-
nare (mit den jambischen Septenaren und den jambischen Oktonaren) wur-
den unter Musikbegleitung gesprochen, die übrigen lyrischen Metra da-
gegen unter Musikbegleitung gesungen. So lösen sich in der Komödie De-
klamation, Melodrama und Rezitativ in bunter Reihenfolge ab.
Die neuere Komödie ist ausführlich charakterisiert in der Gr. Literaturgeschichte
Bebgks 4, 170; trefflich auch hei 0. Mülleb 2, 251. Üher die Charakterfiguren derselben
handelt meisterhaft Ribbeck in seinen ethologischen Studien, Alazon, Leipz. 1882; Colax
IX. Bd. der Abh. Sachs. Ges. der Wiss. (1883); Agroikos ebenda X. Bd. (1888) p. 1, dann
in der (veschichte der römischen Dichtung 1, 63.
Cber die Aktencinteilung vgl. Donat, Praef. zum Eunuch. 10, 6 R. Actus sane in-
piicaiiores sunt in ea, ut qui non facile a parum doctis distingui possint, ideo quia tenettdi
»pectcUoris causa vült poeta noster omnes quinque actus velut unum fitri, ne respiret quo-
dammodo atque distincta alicubi cantinuaiione succedentium verum ante aula^a sublata fa-
stidiosius spectator exurgai; zu den Adelphoe 7, 1 R. hoc etiam ut cetera huiusmodi poe-
maia quinque actus habeat necesse est choris divisas a Graecis poetis: quos etsi retinendi
causa [iam] inconditi spectatoris minime distinguuHt Latini camici metuentes scilicet, ne
quis fastidiosus finito actu velut admonitus aheundi reliquae comoediae fiat contemptor et
stirgat, tarnen a doctis veteribus discreti atque disiuncti sunt, Euanthius, De comoedia 6,
4 B. quod Latini fecerunt comici, unde apud iUos dirimere actus quinquepartitos difficile
est. Speuoel, Die Akteneinteilung der Komödien des Plautus. München 1877 stellt fol-
* ) Se YFFBRT, Burs. Jahresb. 47 (1886), p. 1 1 .
'-') Diese Form hält Dziatzko für die
allein richtige. Vgl. Rhein. Mos. 26, 101;
Fleckeis. J. 103, 819. Dagegen vgl. Bü-
CHELER, Fleckeis. J. 103, 273 ; Ritschl, Opusc.
3, 25.
76 BOmiBche litteratorgeBohichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
genden Satz p. 57 auf: «Die Akteinieilung steht mit der metrisclien und musikalischen
Komposition im engsten Zusammenhang, das musikalische Element bildet einen integrieren-
den Bestandteil eines jeden Aktes; nur der erste, der die Exposition enthält, kann dessen
entbehren. Keine Komödie hat sechs oder mehr Akte, auch aie Dreiteilung muss als mit
der metrischen Komposition unvereinbar aufgegeben werden ; ebensowenig finden sich f&r
die Vierteilung stichhaltige Beispiele. Jede Komödie hat vielmehr fünf Akte und die An-
gaben des Donatus (und Euanthius) müssen wieder zu Ehren konunen/ Vgl. dagegen
Lorenz zur Mostell. 16, 20; Ribbeck, Gesch. der röm. Dichtung 1, 109. Auch für die
Scenenabteilung betont Spenoel „Scenentitel und Scenenabteilungen in der lat. Komödie"
Sitzungsber. der Münchener Akad. 1883 p. 257 sehr die musikalische Begleitung als ein
massgebendes Element. Die Litteratur über die Bezeichnung der Rollen durch griechische
Buchstaben siehe bei Scholl zur III. Ausg. des Trinummus p. LIY. — Die Abhandlung
RiTSCHLS über die Cantica und die Diverbia findet sich Opusc. 3, 1 — 54, die Beboks Opusc.
1, 192 — 207. Auch für Terenz sind Noten der Vortragsweise bezeugt durch Donat, Praef.
Adelphoe 7, 11 R. modukUa est (fabula) tibiis dextris — saepe tarnen mutatia per scaenam
modis cantcUa, quod significat tituli4s acaenae Habens subiectas personis lUteras M. M. C.
item diverbia d histrionibus erebro pronuntiata sunt, quae significantur D et V litteris
secundum personarum nomina praescriptis in eo loeo ubi incipit scaena. Statt der Note C
der plautinischen Palatini tritt hier M. M. G auf, bezüglich DV herrscht Übereinstimmung
zwischen Donat und den Palatini. Ritschl hält den Bericht Donats für unvollständig.
.Er geht mit einem Sprunge von den „cantica saepe mutatis modis" = M. M. C. zu den
Diverbia = DV über und lässt die dazwischen liegende Stufe, die cantica non mutatis oder
wenigstens non saepe mutatis modis = C ganz aus* (p. 41).
7. L. Accius.
48. Der Höhepunkt der Tragödie. L. Accius (Attius) war 170 vor
Chr. geboren. Sein Vater, Freigelassener eines Accius, nahm an der 184
nach Pisaurum in Umbrien deduzierten Kolonie Teil. Des Dichters Todes-
jahr kennen wir nicht, aber er lebte so lange, dass Cicero als junger Mensch
sich mit ihm unterhalten konnte (Brut. 28, 107). Er stand in näheren
Beziehungen zum Dichter Pacuvius, dem er seinen Atreus vorlas (GeU. 13,
2, 2). Mit ihm erreicht die römische Tragödie ihren Höhepunkt. Dies
erkannten schon die Alten, bei Velleius ist es klar ausgesprochen. Kein
Dichter hat eine so grosse Anzahl Tragödien hinterlassen, es werden nahe-
zu 50 Titel erwähnt, keiner hat in so umfassendem Masse die verschie-
denen^Sagenkreise seinen Landsleuten vorgeführt und keiner soviel Dichter
ausgeschöpft wie er. Aus den überlieferten Titeln heben wir die hervor,
welche bei Cicero berücksichtigt werden:*) Aegisthus, Armor um Judicium,
Athamas, Atreus, Clytemestra, Epigoni, Epinausimache, Eurysaces, Medea,
Melanippus, Meleager, Myrmidones, Nyctegresia, Philocteta, Prometheus,
Telephus, Troades. Mehrere Stücke erhielten sich längere Zeit auf dem
Repertoire; Eurysaces wurde z. B. 57 aufgeführt, Clytemestra 56, Tereus
104 und 44. Wie bei den andern Dichtem, so haben wir auch bei Accius
in seinen Tragödien im allgemeinen freie Übersetzungen vor uns. Dies er-
kennen wir deutlich, wenn wir das Fragment, das den Anfang der Phoe-
nissen (fr. 581) enthält, mit dem Original vergleichen. Allein auch selb-
ständiges Schaffen des Accius ' vermögen wir nachzuweisen. Stellen, wie
die in den Myrmidonen (fr. 4), wo scharf zwischen pertinacia und pervica-
cia geschieden wu-d, müssen dem Original fremd gewesen sein. Aber er
ging noch weiter; auch in dem Aufbau des Stücks nahm er Änderungen
vor. In seiner Antigene hielt er sich nicht strikte an Sophokles, sein
*) KuBiK, De Ciceronis po9tarum Latinorum studiis, p. 73.
L. Accins. 77
Philoktet weist auf Benützung mehrerer Originale hin. Seine stilistische
Kunst müssen wir hoch anschlagen; es blickt Schwung und Kraft nicht
selten aus den Fragmenten. Am besten wird der Leser sich einen be-
stimmten Eindruck von der Darstellungsweise des Accius machen können,
wenn er von dem berühmten Fragmente Kenntnis nimmt, in dem ein Hirte,
der noch niemals ein Schuf gesehen hatte, das Herankommen der Argo
schüdert (Cic. De nat. d. 2, 35, 89; fr. 391).:
tanta moles labitur
Fremibunda ex alio ingenti aonitu et apiritu,
Prae se undas volvit, vortices vi auscitat;
Ruü prolapsa, pelagus respargit reflat.
Jta dum interruptum credas nimbutn volvier,
Dum quod sublime ventis expulsum rapi
Saxum aut procellis, vel globosos turbinea
Existere ictos undis concursantibua:
Nisi quas terreatris pontua atragea canciet,
Aut forte Triton fuacina evertena apecua
Supter radicea penitua undante in freto
Molem ex profundo aaxeam tid eaelum erigit.
Ausser den Tragödien schrieb Accius auch zwei Praetextae, den Bru-
tus und die Aeneadae oder den Decius. Die erste Praetexta behandelt
den Sturz der Tarquinier durch Brutus infolge der Schandthat, welche der
Königssohn an der Lucretia verübt hatte. Es ist eine ansprechende Ver-
mutung, dass diese Prätexta zu Ehren des D. Junius Brutus (Cons. 138),
mit dem der Dichter aufs innigste befreundet war (Cic. p. Arch. 11, 27),
gedichtet wurde. Durch Cicero (de div. 1, 22, 44) sind uns zwei grössere
Fragmente erhalten. Das erste schildert einen Traum, den König Tar-
quinius gehabt, in einfacher und schlichter Weise; in dem zweiten wird
der Traum von den Traumdeutern erklärt und der Königssturz vorausge-
sagt. In den Aeneadae (P. Decius Mus) wird der Opfertod des einen Kon-
suls, des P. Decius Mus in der Schlacht bei Sentinum 295 verherrlicht.
Der Titel Aeneadae zwingt uns zur Annahme, dass die Familie der Decier
mit Aeneas in Zusammenhang gebracht war.
Hieronym. 2, 129 Seh. — Acciua natua Maneino et Serrano coaa. (170 vgl. Cic. Brut.
64, 229) parentUma ?ibertinia — aeni iam Pacuvio Tarenti aua acripta recitavit, a quo et
fundua Aeeianua iuxta Piaaurum dicitur, qiUa üluc inter colonoa fuerat ex urbe dedudua.
Die letaEte Bemerkung kann nur auf den Vater bezogen werden, da die Kolonie 184 dedu-
ziert wurde. Persönliche Vorkommnisse berichten aus seinem Leben Comific. 1, 24; 2, 19;
Plin. n. k 34, 19; Quint. 5, 13, 43; Valer. Max. 3, 7, 11 — Vell. 1, 17, 1 in Aecio circaque
eum Romana tragoedia eat.
49. Accins' Parerga. Ausser den Tragödien und Prätexten dichtete
Accius auch noch anderes. Es wird erwähnt Praxidika, d. h. ein Ge-
dicht, welches der segenspendenden Göttin, der Tochter der Demeter
gewidmet war. £s war in jambischen Senaren abgefasst und behandelte
Landwirtschaftliches, Weiter haben wir Kunde und Fragmente von Di-
dascalicon libri. Dieselben hatten, wie Lachmann nachgewiesen, Sota-
deen zum Versmass und bestanden mindestens aus 9 Büchern. Diese Lit-
teraturgattung wurde von Aristoteles begründet, der auf Grund inschrift-
lichen Materials ein Werk dtdaaxah'ai schrieb, in dem alle amtlichen No-
tizen, welche sich auf die Aufführung der Dramen bezogen, zusammenge-
stellt waren. Dieses Werk also reizte Accius zur Nachahmung. Nach
78 RömiBche Litteratargesciiiclite. I. Die Zeit der ißepnblik. 2. Periode.
den wenigen Fragmenten, die uns erhalten sind, besprach Accius nicht
bloss Römer, sondern auch Griechen, dann scheint er ausser der dramati-
schen noch andere Dichtungsgattungen behandelt zu haben. Ein verwandtes
Werk waren die Pragmaticon libri. Von denselben sind drei Frag-
mente übrig, welche aus trochäischen Septenaren bestehen. Auch ein
annalistisches Gedicht des Accius ist durch eine Reihe von Hexametern,
welche aus demselben sich erhalten haben, festgestellt. Ferner zählt Pli-
nius Ep. 5, 3, 6 den Accius unter denjenigen auf, welche Liebesgedichte
geschrieben haben. Endlich lesen wir bei Cicero in der Rede für Archias
11, 27, dass Accius saturnische (schol. Bob. p. 359 Or.) Epigramme ver-
fasste, mit denen D. Junius Brutus den von ihm errichteten Tempel des
Mars schmückte. Alle diese Gedichte waren vielleicht in einer Sammlung
unter dem Titel Parerga vereinigt.
Der zuletzt ausgesprochene Satz wurde von 0. Ribbeck, Rh. Mus. 41, 631 aufge-
stellt. Seine Beweisf&hrung ist folgende : Plinius gedenkt 18, 200 (vgl. noch Ind. zu B. 18)
eines Werkes des Accius mit dem unverständlichen Titel Prazidicum. Das Citat enthält
eine Vorschrift üher das Säen. Mit Rücksicht darauf hahen wir als den richtigen Titel
Praxidica, d. h. Persephone, die aus der Erde den Fruchtsegen emporsendet, anzusehen.
Bei Nonius 1, 82 MüUer werden zwei Senare dem Accius heigelegt, welche das Pflügen
behandeln. Es ist kaum zweifelhaft, dass diese Senare der Praxidica des Accius entnom-
men sind. Da aber Nonius seinem Zitat die Worte Parergon lib. I beifügt, so spricht Rib-
beck die bestechende Vermutung aus, dass die Praxidica das erste Buch der Parerga bil-
deten. Da von den Annalen die auffallende Buchzahl XXVII angegeben wird, so vermutet
er weiter, dass dieses XXVII Buch nicht auf die Annalen, sondern auf die Parerga sich
bezog. So werden auch die Didascalica, Pragmatica und die übrigen poetischen Kleinig-
keiten in dieser Sammlung sich befunden haben.
50. Accius' Schriftreformen* Wie wir aus Lucilius ersehen kön-
nen, war die Reform der Schrift lange Zeit ein sehr beliebtes Thema bei
den Römern. Auch Accius beteiligte sich an derselben in ziemlich inten-
siver Weise. Vor allem beschäftigte ihn das Problem, wie die Vokallänge
durch die Schrift zu bezeichnen sei ; er wählte für a, e, u nach dem Vor-
gang der Osker das Mittel der Verdoppelung der Vokale, für langes i da-
gegen die Schreibung durch den Diphthongen ei-O Gegen die Verdopp-
lungen erklärte sich im IX. Buch Lucilius, auch mit der Schreibung ei
war er nicht einverstanden, hier wollte er Scheidung zwischen offenem i
(ei) und dem geschlossenen i (i), welche Laute damals schon anfingen
zusammenzufliessen.^) Zu Lebzeiten des Dichters fand die Reform Anklang,
wir treffen sie in Lischriften, später verschwand sie. Ferner wollte er
ggf gc statt ng, nc geschrieben wissen, also aggulus, agcora.
Aus den Zitaten ergibt sich nicht, ob diese Neuerungen von Accius
nach Art des Lucilius theoretisch in einer eigenen Schrift behandelt, oder
ob dieselben nur praktisch in seinen Gedichten durchgeführt waren. Ist
das erstere der Fall, so wird diese Schrift ebenfalls in den Parerga ihren
Platz gehabt haben. ')
^) Dass er, wie es scheint, oo vermied,
erklärt Ritschl Opusc. 4, 157 daraus, dass
in dem Vorhild des Dichters, im Oskischen
sich kein oo fand, da hier überhaupt der
Vokal o aufgegeben ist. Auch i wurde hier
nicht verdoppelt. Dass auch bei andern
Stämmen diese Gemination Üblich war, zeigt
JoRDAK, Krit. Beitr. p. 125.
') L. Müller, Leben des Lucil. p. 39.
Thxtrketsen, Ztschr. f. vergl. Sprachf . 30,
498.
^) L. Müller, Lucil. p. 318 quotqtiot
C. Titinfl. C Jnlins Caesar Strabo. 79
Schwieriger ist die Notiz zu beurteilen, dass Accius in seiner Schrift von y und z
keinen Gebrauch machte, da zugleich auf das gegenteilige Verfahren eines Livius und
Naevius hingewiesen wird: Mar. Vict. p. 8 K. idem (Accius) nee z liferam nee y in Hbros
suos retttUU quiaquae ante fecerant Naevius et Livius; Ritschl (Opusc. 4, 150) schreibt
retiulU, quamquam ülud ante fecerant Naevius et LAvius, Mülleb dagegen dem Gedanken
nach richtig: qui<is duplicata et u apte videhantur exprimi; nam neque ante fecerant Nae-
vius et Livius, Bährens rettulit, quod aeque ante fecerant N. ei L, vgl. Priscian 1, 30 H.
— Über die Gemination Mar. Vict. p. 8 E. cum longa- syllaha scribenda esset, duas vocales
ponehat, praeterquam quae in „i^ literam incideret; hanc enim per e et i scribebat vgl.
V^el. Long. p. 55 K. — Über die Schreibung gg, gc Mar. Vict. p. 8 K. Accius cum scriberet
angueis, aggueis ponebat (nach Ritschl-Müller) Priscian, 1, 30 H. — Über griechische
Formen in seinen Tragödien vgl. Varro de 1. 1. 10, 70.
Litteratur: Die Fragmente der Parerga stehen in Müllers Lucilius p. 303—311,
bei Bahbens Fragm. p. 266 — 272. — G. Hermann, De L. Attii libris didasealicon (Opusc.
8, 390). liAcmcANN, De versibus Sotadeis et Attii didascalicis (El. Schriften 2, 67). Mad-
viG, De L. Attii Didascalicis commentatio (Opusc. acad., Eopenh. 1887 p. 70). Ritschl, De
rocalibus geminatis deque L. Acdo grammatico (Opusc. 4, 142).
8. C. Titius und C. Julius Caesar Strabo.
51. Symptome des Niedergangs der Tragödie. Reinerhaltung der
Gattung gilt als ein oberstes Gesetz im litterarischen Schaffen des Alter-
tums. Dieses Gesetz verletzte C. Titius, der zugleich Redner und Dichter
war. Von seinen Reden ist diejenige bekannt, welche er als junger Mensch
im Jahre 161 für das Luxusgesetz hielt. Daraus ist uns die berühmte
Stelle') erhalten, welche einen Richter schildert, der noch halbtrunken von
einem Gelage zur Sitzung sich begibt, dort mit Widerwillen die Zeugen
und Advokaten anhört und sich bei seinen Genossen beklagt, dass ihn die
langweilige Geschichte vom Trunk und Mahl abhalte. Das Fragment zeigt
einen Meister in der Kunst zu charakterisieren. Seine dichterische Thä-
tigkeit kann nur nach den Äusserungen Giceros beurteilt werden. Denn
lediglich einen Tragödientitel Protesilaus können wir durch Konjektur ihm
beilegen (Ribbeck, Tragic. fr. p. 116). Von seinem Stil sagt aber Cicero,
dass er den tragischen Charakter verleugnete; denn das Zugespitzte, Wi-
tzige in seinen Reden übertrug er auch in seine Tragödien. Es ist daher
nicht zu verwundern, wenn ihn der Togatendichter Afranius sich zum
Muster nahm. Den tragischen Ton wusste auch C.Julius Caesar Strabo
(t 87) nicht recht anzuschlagen. Er war zu gleicher Zeit mit Accius thä-
tigy aber es scheint eine gewisse Spannung zwischen beiden Dichtern be-
standen zu haben, wenigstens wird erzählt, dass Accius vor dem vorneh-
men Mann nicht aufstand, wenn derselbe in der Dichterzunft erschien
(Valer. Max. 3, 7, 11). Wie Titius, so war auch Julius Caesar Redner und
Dichter zugleich. Als Redner gehörte er zu den berühmtesten Sachwal-
tern, auch dem Tragödiendichter spendet Asconius (p. 22 K. S.) Lob. Sechs
Reden können wir von ihm nachweisen, darunter die Rede gegen T. Al-
bucius wegen Erpressung (103), die gegen den Volkstribunen C. Scribonius
€XtaiU auctorum veterum testimonia de L,
Acdo grammatico, ad autographa scriptorum
tius et quidem potissimum tragoediarum (nam
rrliqua mufto minus percr^uere) videntur
spectare. Auch Ritschl äussert sich bezüg-
lich eines eigenen Werks sehr skeptisch
(Opusc. 4, 153).
^) Bei Macrobius 3, 16, 14. Übersetzt
von MoMxsEN, R. G. 2*, 403. L. Mülleb,
Q. Ennius p. 96 stellt die Identität des Ver-
fassers dieses Fragments mit dem Tragö-
diendichter in Abrede, Macrobius habe sich
im Namen geirrt. Auf das Ciceronische
(Brut. 45, lßl)eiusdem aetatis (wie M. Antonius
und Crassus) ist meines Erachtens kein ent-
scheidendes Gewicht zu legen.
80 EOmisohe Lüteratni'geschiohte. L Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
(90) und die gegen den Volkstribunen P. Sulpicius Rufus (88). Tragödien von
ihm kennen wir drei, Adrastus, Teuthras, Tecmesa ; an Fragmenten (p. 227
R.) haben wir im Ganzen drei, von denen zwei dem Adrastus angehören,
eines dem Teuthras. Sein Stil prägte sich nach dem Urteil Ciceros in glei-
cher Weise in seinen Tragödien wie in seinen Reden aus, es war «Anmut
ohne Kraft" (lenitas sine nervis). Diese Anmut arbeitete aber auf Aus-
gleichung der Gegensätze hin, so dass er das Tragische fast komisch, das
Traurige milde, das Ernste heiter behandelte, kurz Ernst und Scherz mit-
einander verband. Diese Art der Darstellung war eine ganz neue.
Gic. Brat. 45, 167: Huius (TUii) orationes tantum arguiiarum, tantum exemptorum^
tantum urhanüatis habent, ut paene Attieo atih scriptae eaae videantur, Easdem argtäias
in tragoedicu satia guidem iUe acute, sed parum tragice transtulit. Quem sttulebat imitari
L. Afraniua po9ta, hämo perarguius, in fabulis quidem etiam, ut sciiis, diaertus. Diese
Nachahmung des Afranius beschränkt Mommbbn wohl unrichtig auf die Reden des Titius
(R. G. 2*, 455). Bei dem Atellanendichter Novius (Vs. 67) wird nee unquam \ vidit rostrum
in iragoedia tantum TUi[theatrum] auf untom Titius bezogen. Vgl. Büoheleb, Ind, lect.
Oryphisw, 1868/69 p. 4. Über den Sinn der Verse siehe Ribbeck, R. TragÖd. p. 613. —
Gic. Brut. 48, 177 sunt eiua (C. Julii Caesaris) aliquot orationes, ex quibtts, sicut ex eius-
dem tragoediis, lenitas eiua sine nervis perspici potest; de or. 3, 8, 30 quid? noster hie
Caesar nonne novam quandam raiionem attulit orationis et dicendi genus induxit propt
singulare? quis unquam res praeter hune tragice^ paene eomice, tristis remisse, severas
hilare, forensis scenica prope venustate tractavit, ut neque iocus magnitudine rerum exclu"
deretur nee gravitas facetiis minuereturf
62. Rflckblick. Charakteristik der römischen Tragödie. Wenn
wir auf die Entwicklung der Tragödie zurückblicken, so sehen wir sie in
fortwährendem Aufsteigen bis auf Accius. Livius führte die übersetzte
Tragödie ein, ihm werden wir die Einführung der metrischen Gesetze im
wesentlichen zuzuschreiben haben. Naevius machte den kühnen Versuch,
statt der übersetzten Tragödie eine originale zu schaffen ; dies führte zum
historischen Schauspiele. Stil und Komposition fanden ihre Vollendung
durch Ennius, Pacuvius und Accius. Besonders mit Accius war der Kul-
minationspunkt der Tragödie erreicht. Aber bereits zu seiner Zeit zeigten
sich Symptome des Niedergangs derselben, und bald erlosch fast gänzlich
die tragische Produktion. Dass sich die Stoffe der alten griechischen Sage
erschöpfen mussten, ist nicht verwunderlich. Aber merkwürdig ist, dass
die nationale Form der Tragödie, das historische Schauspiel nicht zur vol-
len Entfaltung gelangte. Da hier die Stoffe der römischen Qeschichte ent-
nommen wiirden, so hätte man bei dem Nationalstolz der Römer erwartet,
dass die Praetexta völlig an Stelle der übersetzten Tragödie trete. Dass
dies nicht eintrat, kann seinen Grund nur darin haben, dass im grossen
Ganzen den Römern jene feinere und edlere Bildung, welche zum Genuss
der tragischen Schönheit befähigt, abging. Das Theater war den Meisten
viel mehr eine Quelle der Erholung als eine Quelle der Erhebung. Inter-
essant ist, was wir im Prolog des Amphitruo lesen (Vs. 51). Als der Pro-
logsprecher das Wort »Tragödie" in den Mund nahm, runzelten die Zu-
schauer die Stirn. Die komische Produktion überragt daher die tragische
um ein Beträchtliches. Im Jahre 105 trat überdies ein Ereignis ein, wel-
ches der gesamten dramatischen Dichtung recht schädlich werden sollte.
In diesem Jahre ward nämlich unter den Konsuln P. Rutilius Rufus und
Charakteristik der Tragödie.
81
C. Manlius die Gladiatorenspiele zu einer staatlichen Feier erhoben. Durch
den häufigen Anblick solcher Metzeleien musste das Oefühl der Zuschauer
ungemein verwildern und für Aufnahme edlerer Dichtungen unempfäng-
lich gemacht werden, i)
Es wird hier der geeignete Ort sein, von der römischen Tragödie
ein allgemeines Bild zu entwerfen. Wie die Komödien, so waren auch
die Tragödien, wenn man von den wenigen Prätextatae absieht, Übersetzun-
gen. Bei diesen Übersetzungen war es aber niemals auf genaue, wörtliche
Übereinstimmung abgesehen. Da die Tragödie sich in einer gehobenen,
der Alltäglichkeit abgewandten Sphäre bewegt, so muss dem entsprechend
die Sprache einen gewissen Schwung erhalten. Die Nachlässigkeiten der
Volkssprache, die sich der Komödiendichter gestatten kann, sind hier aus-
geschlossen. Für Anwendung rhetorischer Figuren bietet sich dem tragi-
schen Dichter vielfach Gelegenheit. Oft begnügte sich aber der Dichter
nicht mit der blossen Thätigkeit des freien Übersetzens, sondern nahm
selbständige Änderungen am Originale vor. Wir haben dafür das Zeugnis
Ciceros (Tusc. 2, 21, 49), der uns berichtet, dass Pacuvius die Scene der
Niptra, in der Sophokles den verwundeten Odysseus furchtbar jammern
lässt, änderte. Die Klagen des Odysseus erschienen dem Kömer unmänn-
lich. Ziemlich weitgehend waren die Änderungen in den Massen, so wur-
den z. B. oft die Trimeterpartien in trochäische Tetrameter umgesetzt; dann
wendeten die Römer auch Metra an, welche den Griechen ganz unbekannt
waren. Auch Spuren der Kontamination sind vorhanden. Am durchgrei-
fendsten war die Diskrepanz zwischen der Bearbeitung und dem Original
in den Chorgesängen. Dass solche sowohl in der Tragödie als in der Prä-
textata vorhanden waren, kann nicht bezweifelt werden. Schon die Titel
der Stücke, als auch erhaltene Fragmente erweisen dies. Freilich war die
Stellung des Chors in der römischen Tragödie eine andere als in der grie-
chischen. Schon äusserlich macht sich ein bemerkenswerter Unterschied
geltend; der griechische Chor hat in der Orchestra seinen regelmässigen
Standort, . der römische Chor weilt mit den Schauspielern auf der Bühne.
Damit ist aber eine wesentliche Einschränkung der Tanzbewegungen und
Evolutionen desselben gegeben. Auch wird der auf der Bühne erschei-
nende Chor viel mehr in die Handlung hineingezogen als der in der Or-
chestra. Dass viele Chorgesänge nicht mehr für die jetzige Stellung des
Chors auf der Bühne passten, ist einleuchtend. Aber auch das dürfte klar
sein, dass ein ständiger Aufenthalt des Chors auf der Bühne vielfach hin-
derlich sein musste; es wird daher der römische Bearbeiter sich in der
Regel darauf beschränkt haben, den Chor nur zeitweilig auftreten zu las-
sen, wobei er auch den Chor wechseln konnte. Donat endlich deutet im
') BücHELEB hat dieses Faktum aus £n-
nodioB p. 284 Hartel gewonnen (Rh. Mus. 38,
478). Er bemerkt noch : «Zehn Jahre vorher
war aüe ars ludicra nicht einheimischen Ur-
Hpnmgs aus Rom ausgewiesen worden (Cas-
siodor chron. J/6B9/115); es offenbart sich in
dieser ganzen Periode so mannigfach, besonders
Haadlrach der klsH. AltertnmawlaensohAft Vm.
auch in ihren Schauspielen ein Antagonis-
mus gegen die mit dem Griechentum ver-
wachsene feinere und edlere Art, ein ge-
wisser Rückfall in die Rohheit des italischen
Naturmenschen ; auch die staatliche Aufnahme
jener Metzeleien kann ein S3rmptom davon
scheinen.**
6
82 Römiache LitteratnrgeBchichte. I. Die Zeit der Bepnblik. 3. Periode.
Argument zur Andria^ an, dass der Chor auch in den Zwischenakten ge-
sungen habe ; hier konnten Embolia, frei eingelegte Lieder verwendet wer-
den. Sonach war in den Ghorpartien eine gewisse Selbständigkeit des Be-
arbeiters durchaus notwendig ; wir können solche auch nachweisen ; so z. B.
hat Ennius in der Iphigenie den Jungfrauenchor durch einen Soldatenchor
ersetzt. Aber wie auch der römische Dichter verfahren mochte, die Idea-
lität des griechischen Chors war dahin, nur ein zertrümmertes Bild des
Ghorlieds bot die römische Tragödie.
Wie die Komödie, so zerfiel auch die Tragödie in zwei Partien, Di-
verbia (Deverbia) und Cantica. Wenn wir das, was über die Vortrags-
weise der beiden Partien in der Komödie ermittelt ist, auf die Tragödie
übertragen^) dürfen, so ist der Umfang der Cantica grösser als man bis-
her angenommen hat, indem nicht bloss die gesungenen Partien, sondern
auch die zur Musikbegleitung gesprochenen dazu gehörten. Für reine De-
klamation waren nur die jambischen Senare bestimmt, die anderen trochä-
ischen und jambischen Verse (Septenare, jambische Oktonare) dagegen
wurden unter Flötenbegleitung gesprochen. Was den Vortrag der in freien
lyrischen Massen abgefassten Cantica anlangt, so wird uns berichtet, dass
solche von einem eigenen Sänger zur Flötenbegleitung gesungen wurden,
während der Schauspieler sich auf die Gestikulation beschränkte. Allein
dies kann sich nur auf die Monodien bezogen haben, und wird selbst da
nicht stete Regel gewesen sein.
Ribbeck, Die röm. Tragödie (Leipzig 1875) p. 632. L. Müllbb, Q. Ennius, p. 75.
Bebgk, Opusc. 1, 225 handelt über das Verhältnis der latein. Bearbeitungen zu den Originalen.
— Gbysar, Das Canticum und der Chor in der röm. Tragödie in den Sitzungsber. d. Wien.
Ak. 15, 365. 0. Jahn, Hermes 2, 227 «Über den Chor der röm. Tragödie*. Jahk ver-
mutet (p. 229), dass für die Gestaltung des röm. Chors der Nebenchor der griech. Tragödien
von grossem Einfluss war; «in ihm waren die Elemente gegeben, welche weiter zu ent-
wickeln waren, indem man die brauchbaren Bestandteile des Hauptchors in denselben hin-
überleitete.*
9. Titinius, T. Quinctius .Atta, L. Afranius.
53. Das lateinische Originallustspiel (Fabula togata). Wir ru-
fen uns die Worte des Horaz (ad Pis. 285) ins Gedächtnis:
Nil intemptatum nostri liqtiere poeiae,
nee minimum meruere decus vestigia Graeca
misi deserere et celehrare domestica facta
rel qui praetextaa vel qui docuere togatas.
Wie in der Tragödie neben den Übersetzungen aus dem Griechischen
eine Originalform in der Prätexta sich herausbildete, so erscheint auch in
der Komödie neben den übersetzten Stücken (fabulae palliatae) das Origi-
nallustspiel, die fabula togata, in der die Darstellenden nicht das griechi-
sche Pallium, sondern die römische Toga trugen. Das nationale Schauspiel
verdanken wir dem Naevius ; vielleicht verdanken wir ihm auch das latei-
nische Originallustspiel. So kann z. 6. die Tunicularia sehr gut ein sol-
ches gewesen sein. Allein die nächste Zeit nach Naeviüs hatte noch ge-
*) Est igitur attente animadrerten-
dum, iäfi et quando acena vacua sU Omni-
bus personiSf ut in ea charus vel tibicen au-
diri po8sit, quod cum riderimus, ibi actum
esse finitum debemus agnoscere.
*) Bergk Überträgt es auch auf die
griechische Tragödie (Opusc. 1, 199, 7).
TitimuB. T. Qninotins Atta. L. Afranias.
83
nug mit den griechischen Übersetzungen zu thun; erst nachdem hier eine
Ermattung eingetreten, versuchte man sich in selbständigen Schöpfungen.
An drei Dichter knüpft sich diese neue Entwicklungsstufe der römischen
Komödie, an Titinius, T. Quinctius Atta und L. Afranius. Über die
Zeit dieser Dichter sind wir nur sehr mangelhaft unterrichtet. Der Tod des
Atta wird von Hieronymus (2, 135 Seh.) in das Jahr 77 verlegt, Afranius
wird von Velleius Paterculus (2, 9, 2) als ein Zeitgenosse des Scipio und
des Laelius aufgeführt; über Titinius gebricht es durchaus an chronologi-
schen Angaben, nur aus der Varronischen Aufzählung Titinius, Terentius,
Atta kann man schliessen, dass Titinius älter als Terentius war. Das
Wirken dieser Dichter muss in die Zeit nach Terenz fallen, denn seine
an litterarischen Anspielungen reichen Prologe berichten noch nichts über
das Originallustspiel, obwohl sich Anlass zur Erwähnung genugsam dar-
geboten. Allem Anschein nach liegt das Wirken der drei Dichter zeitlich
nicht weit auseinander. Das neue Produkt charakterisiert sich dadurch,
dass es nicht mehr Übersetzung, sondern Nachdichtung ist. Allein
auch diese Neuschöpfung bewegt sich durchaus in dem Rahmen des grie-
chischen Intriguenstückes ; der Schauplatz der frei erfundenen Handlung
ist aber nicht mehr Griechenland, sondern Italien 0^ die Familie nicht mehr
die griechische, sondern die lateinische. Die Latinisierung der Familie ist
dadurch gekennzeichnet, dass der listige Sklave, der seinen Herrn über-
tölpelt, als dem römischen Gefühl widerstreitend ausgemerzt wird, und dass
das weibliche Element der Familie stärker hervortritt. Es ist selbstver-
ständlich, dass die Titel heimisches Gepräge tragen und dass auch die
griechischen Brocken, die aus dem Original die Übersetzer der palliata
beibehalten, hier keinen Platz mehr hatten. Im Selbstgefühl des Lateiners
spricht Titinius (148, 104) verächtlich sogar von den Leuten, welche os-
kisch und volskisch sprechen, da sie das Latein nicht kennen. Wir be-
klagen es sehr, dass von diesen lateinisches Leben darstellenden Stücken
keines auf die Nachwelt gekommen ist. Wir können daher nur aus den
Titeln und wenigen unzusammenhängenden Fragmenten ein dürftiges Bild
gewinnen. Von Titinius sind Titel von fünfzehn Stücken überliefert, neun da-
von tragen Frauennamen. Mehrere dieser Titel führen uns in lateinische
Landstädte wie die Zitherspielerin oder die Ferentinatin, die Setinerin, die
Veliternerin. Von Atta haben wir sehr wenige Fragmente aus zwölf
Stücken'). In der Charakterzeichnung war er von Varro neben Titinius
und Terentius als Meister hingestellt. Fronte p. 62 rühmt seine Kunst,
die weibliche Rede darzustellen. Seine Stücke scheinen noch in der Augu-
') MoioisEK stellt die Ansicht auf, dass
der Schauplatz der fahula togata stets eine
Stadt lateinischen Rechts war. Die Stadt
und die Bfirgerschaft Roms auf die Bühne
zu bringen sei überhaupt dem Lustspieldich-
ter untersagt gewesen. , Durch die Erstre-
ckong des Bürgerrechts auf ganz Italien ging
den Lustspieldichtem diese lateinische In-
scenienmg verloren, da das cisalpinische Gal-
lien, das rechtlich an die Stelle der lateini-
nischen Gemeinden gesetzt ward, fOr den
hauptstädtischen Bühnendichter zu fem lag,
und es scheint damit auch die fahula togata
in der That verschwunden zu sein. Indess
traten die rechtlich untergegangenen Ge-
meinden Italiens, wie Capua und Atella, in
diese Lücke ein und insofern ist die fabula
Atellana gewissermassen die Fortsetzung der
togata,'' (R. Gesch. 1», 904).
') Darunter eines mit dem Titel Satura,
welches daher BXhbens in seine Sammlung
p. 274 aufgenommen hat.
6*
84 BOmisohe LitteratnrgeBchiohie. I. Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
steischen Zeit zum Repertoire gehört zu haben (Hör. ep. 2, 1, 79). Die
reichste Thätigkeit aber auf dem Gebiet der Togata entfaltete L. Afranius.
Die Titel von über 40 Stücken sind überliefert. Sie beziehen sich auf
einzelne Stände wie der Haarkräusler (cinerarius), der Augur, der Ober-
schaflfner, auf Charaktere wie der Verschwender (Prodigus), der Heuch-
ler (Simulans), der Wagehals (Temerarius), auf verwandtschaftliche Ver-
hältnisse wie die Schwestern, die Gatten, die Tanten, auf Handlungen und
Vorgänge wie das Verbrechen, die Scheidung, der Brand, der Aufgefangene
(exceptus), auf Gegenstände wie der Brief, auf Feste wie die Compitalien
u. s. f. Gewiss eine reiche Mannigfaltigkeit der Stoffe. In der Ausführung
hat sich Afranius von seinen Vorgängern entfernt; wie es scheint, tritt
bei ihm die Schilderung des lateinischen Lebens zurück .und das allgemeine
Gesellschaftsbild wiederum vor. Wenigstens liegen uns ausdrückliche Zeug-
nisse vor, dass er sich an Menander angeschlossen hat. Bekannt ist der
Ausspruch des Horaz (Ep. 2, 1, 57), dass Afranius' Toga auch dem Menan-
der wohl angestanden (convenisse) haben würde. Ferner weist Cicero de
finibus 1, 3, 7 auf die Entlehnungen des Afranius aus Menander hin. End-
lich liegt uns noch das Zeugnis des Dichters selbst vor. In dem Prolog
zu den Compitalien (168, 25) gesteht er auf die Vorwürfe, die ihm wegen
dieser Entlehnungen gemacht wurden, offen ein, dass er dem Menander
manches entnommen, allein dies sei nicht bloss bei Menander, sondern
auch bei andern Dichtern geschehen, er nehme eben das Gute da, wo es
zu finden sei. Und in der That wird einmal in den Fragmenten das Dik-
tum des Pacuvius angeführt (165, 7), dass sich nicht leicht eine treffliche
Frau finde. Ein anderer Vers des erwähnten Prologs zu den Compitalien
drückt seine Bewunderung für Terenz aus, indem er zweifelnd fragt, ob
man einen nennen könne, der sich mit diesem Dichter vergleichen lasse')
(169, 29). Es scheint aber, dass Afranius nicht bloss Einzelheiten — da-
runter wieder griechische Brocken — andern Dichtern entlehnt hat, son-
dern auch ganze Argumente. So wird seine Thais nach der Menandri-
schen gearbeitet sein. Leider führte der Dichter auch ein griechisches
Laster, die Knabenliebe in seine Stücke ein (Quint. 10, 1, 100). Von sei-
nen Stücken wurde der Simulans noch im Jahre 58 aufgeführt (Cic. pro
Sestio 55, 118), sein Incendium noch unter Nero (Suet. Ner. 11). Aus den
Fragmenten der drei Togatendichter wollen wir wenigstens einige heraus-
heben. Wie bei den andern Komikern, so waren auch hier allgemeine
Sentenzen dem Scherz und Spiel beigemischt. «Den Kindern ist das Leben
der Eltern wenig wert, die lieber von den Ihrigen gefürchtet als verehrt
sein wollen* (170, 34). „Warum streben wir nach Allzuviel? Das Allzu-
viel frommt niemandem" (175, 78). In einem Fragment (202, 298) stellt
sich uns die Weisheit als eine Tochter des Usus und der Memoria dar.
Unter den übrigen Fragmenten ragen stark diejenigen hervor, welche sich
auf das Familienleben beziehen. Eine Frau beklagt sich über ihren Mann,
welcher ihre Mitgift verprasst (135, 15). An einer andern Stelle machen
*) Dass dieser Vers einer Randbemer-
kung seine Entstehung verdanke, ist eine
ganz unwahrscheinliche Annahme Nipperdeya
(Opusc. p. 588).
Das Theaterwesen. g5
die Männer wegen der Mitgift den gehorsamen Diener der Frauen
(144, 70). «Wie glücklich, ruft wohl eine Frau aus (177, 100), sind die
Gattinnen auf der Bühne, die ihren Mann plötzlich durch Streit und auch
durch Wohlwollen ins Gedränge bringen (urgent)! Was geschehen soll,
wenn einer mit seiner Hure aufs Land entweichen will, wird uns 139, 43
verraten. „Wer bist du, der hier in Sandalen, blossen Hauptes bei später
Nacht dem Zug ausgesetzt unter freiem Himmel weilt, während der Frost
Kieselsteine spaltet?* wird Einer, der sicherlich eine Liebesaffaire hatte,
angerufen (178, 104). Entrüstet fährt jemand darein (184, 161) „Einen
Müller soll sie heiraten? Warum nicht lieber einen Konditor, damit sie
dem Sohn des Bruders Torten schicken kann." Auch in das Treiben der
Handwerkerwelt führen manche Reste. Die Walker, deren Geschäft ein
interessantes Fragment des Titinius (137, 28) schildert, klagen, dass sie
Tag und Nacht keine Ruhe haben (137, 27). Die Weberinnen werfen den
Walkern vor „Wenn wir nichts weben, habt ihr Walker Feierabend* (136,
26). Ein Schuster will mit seinem Leisten seinem Gegner die Zähne ein-
schlagen (218, 419). In anmutiger Weise preisen öfters unsere Dichter
Jugend und Schönheit. „Schön ist die Jungfrau, die halbe Mitgift nenneii
dies die, welchen die Frage der Mitgift keine Sorge macht* (184, 156).
In frischer Weise hebt ein Mädchen seine Eigenschaften hervor, es befin-
den sich darunter Jugend und Schönheit^ die ihm, wenn es will, die Gunst
der Männer einbringen (173, 61). Eine arme Frau bildet sich ein, sie
könne durch inneren Wert ersetzen, was ihr äusserlich fehlt (142, 58).
Allein die wahren Zaubermittel der Frau sind ausser der Willfährigkeit
Jugend und ein schönes Gesicht (213, 378):
Si possent homines deUnimentis capiy
Omnes haherent nunc amatores onus.
Aetas et corpus tenerum et morigeratio,
Haee sunt venena farmosarum mulierum;
Mala a^tcts nuUa delenimenta invenit.
Wegen der vielfachen Daxstellung des Handwerkerlebens hiessen diese Komödien
auch tabemariae (Diomedes p. 489 K). Über das Zurücktreten des Sklavenelements vgl. Donat
zu Ter. Eun. 12: Concessum est in palliata poetis comicis servos dominis sapienti^yres fingere,
quod item in togata fere non licet. Die Varronische Charakteristik lautet: Charis. p. 241 K:
^9fj nullis aliis servare convenit quam Titinio, Terentio, Attae. Einen Kommentator des
A£nanius mit Namen Paulus erwähnt Charis. p. 241 K. Neukibch, De fahuJa togata Roma-
norum, accedunt fabulnrum togatarum reliquiae, Leipzig 1833. Die Fragmente sind jetzt
in der RiBBEGK*schen Sammlung nachzusehen 2', 133 — 222.
54. Das Theaterwesen. Zum Verständnis der dramatischen Dich-
tung gehöi*t, dass man ein klares Bild von der Aufführung derselben ge-
winnt; das dramatische Produkt tritt ja eigentlich nur durch die Darstel-
lung in das Leben ein. Wie bei den Griechen, so war auch bei den
Römern die dramatische Aufführung Festspiel. In der republikanischen
Zeit sind es vornehmlich vier Feste, an denen regelmässig scenische Dar-
stellungen stattfanden. Zuerst sah das uralte zu Ehren der kapitolinischen
Gottheiten gefeierte Fest der ludi Romani (magni) eine dramatische Auf-
fQhrung, als Livius Andronicus im Jahre 240 eine Tragödie und eine Ko-
mödie auf die Bühne brachte. Die Festfeier fiel in den September, Leiter
derselben waren die curulischen Ädilen. Seit 214 dauerten die Bühnen-
86 BömiBche Litteratnrgeschiohte. I. Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
aufführungen vier Tage (Liv. 24, 43). Wahrscheinlich i. J. 220 kamen die ludi
plebei hinzu, ') deren Feier in den November fällt. Die Festleitung hatten die
plebejischen Ädilen. Aus der Didaskalie zum plautinischen Stichus erfahren
wir, dass derselbe im J. 200 an diesem Fest aufgeführt wurde. Damit
ist der scenische Charakter dargethan. Ein neues Fest brachte das Jahr 212,
nämlich die ludi Apollinares, die im Juli vom Praetor urbanus ausgerichtet
wurden. Hier waren scenische Spiele gleich von Anfang an eingeführt.*)
Das vierte Fest, die ludi Megalenses, wurde zum erstenmal im April 204
zu Ehren der Magna mater gefeiert. Die erste scenische Aufführung
leiteten die curulischen Adilen des Jahres 194 (Liv. 34, 54). Nur Darstel-
lung von Mimen, wie es scheint, war an einem fünften Feste gestattet,
den tloralia, welche seit 173 regelmässig April — Mai von den curulischen
Ädilen ^) abgehalten wurden. Nach der Berechnung Mommsei^s ergeben sich
etwa 48 Tage im Jahr für Theateraufführungen. ^) Allein diese Zahl steigert
sich beträchtlich durch die Vorstellungen, welche bei ausserordentlichen
Festlichkeiten gegeben wurden. Es wird uns berichtet von scenischen ludi
funebres, ludi votivi, Dedikationsspielen und Triumphalspielen. Die Fest-
leiter erhielten vom Staate eine bestimmte Summe, die im Laufe der Jahre
beträchtlich stieg, allein dieselbe reichte nicht aus, besonders seit es Sitte
wurde, durch glänzende Ausstattung der Spiele sich beim Volke für künf-
tige Wahlen zu empfehlen. Was hier verschwenderisch verausgabt wurde,
musste aus den Provinzen wieder erpresst werden.
Sehr langsam entwickelte sich der Theaterbau. Anfangs wurde so-
wohl die Bühne als ein Stehplatz für die Zuschauer (caveä) provisorisch bei
der Festfeier hergestellt. Aus diesen provisorischen Einrichtungen stabile
zu schaffen, musste die Aufgabe der nächsten Zukunft sein. Einen solchen
Versuch machte zunächst der Gehsor M. Aemilius Lepidus 179 für die ludi
Apollinares (Liv. 40, 51); allein der Bau scheint bald wieder weggerissen
worden zu sein. Im Jahre 174 wurde die Errichtung einer steinernen
Bühne von den Censoren für die vier grossen Bühnenfeste in Pacht ge-
geben; es war dann nur mehr der Platz für die Zuschauer herzustellen
(Liv. 41,27). Dem Vorhaben des Gensor Gassius Longinus, ein stehendes
steinernes Theater zu errichten (154), trat Scipio Nasica entgegen; der
Bau wurde eingestellt (Vell. 1, 15, 3). Endlich brachte das Jahr 145 eine
entscheidende Verbesserung. Mummius, der Eroberer Korinths, Hess für
seine Triumphalspiele ausser der Scene einen Zuschauerraum mit Sitz-
stufen errichten. Damit war das erste vollständige Theater nach grie-
chischem Muster gegeben. Allein auch dieser Bau war, weil von Holz,
nur provisorisch (Tac. Ann. 14, 20). Ein stehendes Theater mit steinernem
Zuschauerraum kam in unserer Periode nicht mehr zu stände; dies war
der folgenden vorbehalten. Erst Pompqus errichtete 55 ein solches. Auch
die Dekoration hielt sich längere Zeit auf einer sehr primitiven Stufe.
Erst im J. 99 scheint eine künstlerische durch Glaudius Pulcher eingeführt
worden zu sein (Val. Max. 2, 4, 6). Der Dekorationswechsel beschränkte
>) MoMMSEN, R.G. 1« 808. Staatsr. 2, 1 , p.489.
*) Marquardt, Rom. Staatsverw. 3, 480.
Anders Ribbeck, Rom. Trag. p. 649.
') Man sollte plebejische Ädilen erwar-
ten. Vgl. MomsEN, R. Staatsr. II, 1, p. 490.
*) MoMMSBK, CIL 1, p. 377.
Das TheaterweBen. 87
sich vorläufig auf die Hinterwand (scena dudilis), bis später die Periakten
(scena versilis) hinzukamen (Yal. Max. 2, 4, 6).
Die Hauptsorge der Fest leite r war, ein durchschlagendes Stück für
die Spiele zu erhalten. Zu diesem Zwecke mussten sie sich mit einem
Dichter in Beziehung setzen und ihm ein Stück abkaufen (Ter. Eun.
prol. 20). In der Regel aber werden die Festleiter sich einer Mittelsperson,
des Schauspieldirektors (dominus gregis) bedient haben, dem sie gegen eine
Pauschalsumme Ankauf des Stücks, Ausstattung u. s. w. übertragen haben
werden (Ter. Hec. Prol. l\ 47). 0» D^r Schauspieldirektor besass dann ein
solches von ihm gekauftes Stück als Eigentum und konnte es bei späteren
Aufführungen wiederum verwerten.
Die Zahl der Schauspieler war im römischen Drama an keine Be-
schränkung gebunden. Ausser dem Honorar, das sie vom Direktor aus
dem Staatsschatz erhielten, wurden sie von dem Festgeber noch bei erfolg-
reichem Spiel mit freiwilligen Geschenken bedacht. Unter den Direktoren
der verschiedenen Gesellschaften, welche zugleich die Hauptrolle übernahmen,
fand, wie aus Anspielungen ersichtlich ist,^) ein Wettkampf statt. Dem
Sieger ward eine Palme zu teil. Im Gegensatz zu den Griechen spielten
anfanglich die römischen Schauspieler nicht mit Masken. Perrücken ge-
nügten, um die verschiedenen Typen der darzustellenden Personen zu er-
halten. Allein gegen das Ende unserer Epoche kam der Gebrauch der
Masken auf. Donat berichtet de com. p. 10, 1 R., dass mit Masken in der
Komödie zuerst Gincius Faliscus, in der Tragödie Minucius Prothymus auf-
getreten sei. Der Grammatiker Diomedes dagegen hat aus einer guten
Quelle die Notiz (p. 489 K.), dass zuerst der Schauspieler Roscius wegen seiner
scheelen Augen die Masken benützt habe. Vielleicht lassen sich die beiden
Nachrichten miteinander vereinigen, wenn wir mit Ribbeck annehmen,
dass Roscius unter jenen Direktoren mit der Neuerung auftrat. Im J. 91
war sie bereits vor nicht gar langer Zeit eingeführt worden; denn Gic. de
or. 3, 59, 221 heisst es, dass die älteren Leute mit den Masken noch nicht
zufrieden waren. Also hatten diese noch maskenlose Schauspieler gesehen.
Die Musik in dem Drama war entweder selbständig wie in den
Zwischenakten oder begleitend. Sie bestand in Flötenmusik, die von einem
Bläser ausgeführt wurde. Das Instrument, das hiebei in Anwendung kam,
war stets die Doppelflöte, d. h. es waren zwei I(phre durch ein Mundstück
miteinander verbunden. In den erhaltenen Didaskalien wird dieses Flöten-
paar entweder bezeichnet durch tibiis 'paribus, tibiis duabus dextris, tibiis
imparibus, tibiis Sarranis.
Diese Bezeichnungen machen der Interpretation Schwierigkeiten. Die Doppelflöte
konnte so zusammengesetzt sein, dass das rechte Rohr entweder dieselbe Länge und die-
selbe Konstraktion hatte, wie das linke, oder auch nicht. Im ersten Fall hatte man tünae
pares, im zweiten tHHae impares. Nun sollte man meinen, dass die tibiae pares entweder
*) Anders erklärt Donat (fahulas) pretio
meo emtas» Danach „hätte der Schauspiel-
direktor eine Abschätzung des zu erwer-
benden Stttckes den Festleitem gemacht, da-
mit aber zugleich eine Garantie übernom-
men für das Bühnenglück des Stücks, so
dass er den Kaufpreis dem Käufer zurück-
erstatten musste, wenn das Stück durchfiel.'
Diese Ansicht billigt und führt durch Ritschl,
Parerga p. 328.
') Bie Stellen finden sich zusammenge-
stellt bei Ribbeck, Rom. Trag. p. 670 Anm.
125 (Trinumm. 705 ; Phormio prol. 16 u. s. w.).
88 Römische Litieratnrgeschichte. I. Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
dttae dextrae oder duae sinistrae sein konnten. Bei dieser Annahme aber würde die Be-
zeichnung tibiis parihua unvollkommen sein, femer würde man auch duahus sinistrut er-
warten. Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, ist man gezwungen, entweder tibiis paribm
mit tibiis duabtis dextris zu identifizieren und die tibiis Sarranis dann für eine zweite
Gattung der tibiae pares anzusehen oder die tibiae pares als eine überhaupt von dem dtme
dextrae und Sarranae verschiedene Gattung aufzufassen. Vgl. Dziatzko, Rh. Mus. 20, 594.
Litteratur: Das Theaterwesen der Republik ist in meisterhaften Abhandlungen von
RiTSCHL aufgehellt worden; dieselben finden sich in seinen Parerga. L. FriedlInder im
111. Bd. des Handb. der röm. Altert, von Marquardt u. Mommsen p. 462 u. p. 508. Ribbeck,
Rom. Trag. p. 647 («Theater und Schauspieler"). Arnold, Bas altrömische Theatergebäude.
Würzb. 1873. Populär: Opitz, Schauspiel und Theaterwesen der Griechen und Römer.
Leipzig 1889.
10. C. Lucilius.
55. Die Buchsatura. Schon mehrmals war in unserer Darstellung
von der satura die Rede. Zuerst lernten wir sie kennen als ein dramati-
sches Gebilde, als eine Vereinigung von Dialog, Tanz und Gesang. Dann
trafen wir sie wiederum bei Naevius; allein das einzige uns erhaltene
Fragment konnte uns keinen andern Aufschluss erteilen, als dass dasselbe
auf einen Dialog hinwies. Bei dem nächsten Satirenschriftsteller, bei Ennius,
sind wir besser daran; hier liegt eine kleine Anzahl von Fragmenten vor;
dagegen sind bei seinem Nachahmer, Pacuvius wiederum alle Spuren
erloschen. Für Ennius und Pacuvius erhalten wir aber eine Begriffsbestim-
mung der von ihnen gepflegten Satire; sie wird als „ein aus verschiedenen
Dichtungen zusammengesetztes Gedicht^ definiert. Allein in dieser Gestalt
kann die Definition unmöglich richtig sein, ein Gedicht, das aus mehreren
Dichtungen besteht, ist kein Gedicht mehr, sondern eine Sammlung von
Gedichten. 1) Und als eine Sammlung vermischter Gedichte werden
die Satiren des Ennius allgemein angesehen. Mit dieser Begriffsbestimmung
wird auch der Name satura in Einklang gebracht. Wie satura im reli-
giösen Leben die mit verschiedenen Opfergaben besetzte Schüssel heisst,
wie eine aus verschiedenen Ingredienzien bestehende Pastete den Namen
satura führt, wie in der Gesetzessprache satura mit Ergänzung von lex
das Gesetz genannt wird, welches verschiedene Materien zusammenfasst,
so soll satura (mit ünterverstehung von poesu) die vermischte Dichtung,
die Miscellanpoesie bedeuten. Dass auch der Plural saturae in Anwendung
kam, wird durch den ganz analogen Gebrauch von silvae und prata statt
Silva und pratum gerechtfertigt. Dieser Erklärung steht aber eine grosse
Schwierigkeit entgegen. Es fehlt die Brücke, die von der Buchsatura zur
dramatischen führt; denn selbstve):*ständlich kann ja dort nicht von einer
Sammlung von Gedichten die Rede sein; es müsste also dort das „Ver-
mischte" auf die einzelne satura bezogen werden; allein eine solche Be-
ziehung erlaubt nicht der Inhalt, denn auch das dramatische Gebilde muss
einheitlich sein; aber auch nicht von der Mischung der Formen, Dialog,
Tanz und Gesang, wie man annahm, kann der Name satura herrühren,
denn auch andern Dichtungsgattungen sind solche Mischungen eigentümlich,
wie z. B. den heiligen Liedern die Mischung von Gesang und Tanz. Um
diesen Schwierigkeiten zu entgehen, haben Kiessling und Leo *) die Ansicht
*) Luc. Müller, Q. Ennius p. 106.
'*) Kiessling, Einl. zu den Satiren p. VII;
Leo, Hermes 24, 77 „Jedenfalls muss die
vorhistorische satura aus der Geschichte der
Die Bnohsatnra.
89
ausgesprochen, dass die Bezeichnung satura für die alten Improvisationen
der römischen Bühne bloss in den Köpfen derjenigen Litteraturhistoriker
existiert hat, „welche bei der Vergleichung der römischen Bühnendichtung
mit ihren attischen Mustern, neben der Tragödie und Komödie eine der
Gattung der Sotvqoi entsprechende primitive Form römischer scenischer
Dichtung vermissten.** Allein diese Ansicht kann nicht richtig sein, wir
finden zweimal satura als Titel von Komödien und zwar, was wichtig ist,
von nationalen Komödien. Atta betitelte so eine Togata, Pomponius so
eine Atellana. Ein solcher Titel lässt sich nur durch Anlehnung an die
alte satura erklären. Hiess aber die alte dramatische Form wirklich satura,
so muss die Buchsatura des Ennius sich an dieselbe angeschlossen haben ;
es ist nicht denkbar, dass satura hier etwas anderes und wiederum dort
etwas anderes bedeutete. Wir müssen also zeigen, welches Band zwischen
der dramatischen satura und der Buchsatura besteht.
Wir haben die dramatische satura als Spiel der Satyri, der Böcke
d. h. der in Bocksfelle gehüllten Landsleute betrachtet. Der Charakter
dieses Spiels war Scherz und Heiterkeit, die Form Dialog, Gesang, Tanz.
Eine schwache Vorstellung desselben kann die Einlage vom Kampfe des
Sarmentus und des Messius in Hör. sat. 1, 5, 51 und die Erzählung vom
Rechtshandel des Rupilius Rex und des Persius (Hör. sat. 1, 7) uns ge-
währen. Wird die satura nun Lesern, nicht Zuschauem vorgeführt, so
bleibt als Gemeinsames der heitere Charakter und die dialogische
Form. Und ich denke, diese beiden Dinge machten ursprünglich das
Wesen der Buchsatura aus. Der Inhalt konnte natürlich verschieden sein,
nur auf das Ethos und die dialogische Einkleidung kam es an. Und diese
können wir bei Ennius mehrfach nachweisen. So stellte er einen Streit
zwischen Tod und Leben dar; im dritten Buch verteidigte sich, wie es
scheint, *) der Dichter in einer Unterredung gegen AngriflFe auf seine Werke,
auch dem Fragment des sechsten Buchs liegt ein Dialog zu Grund. Es
ist nicht notwendig, dass jede satura einen förmlichen Dialog enthält ; der
dialogische Charakter ist gewahrt, wenn der Dichter hie und da einen
Anderen sprechen lässt und das Ganze als eine Plauderei mit dem Leser
erscheint. Mit der Zeit konnte auch der Dialog zurücktreten, allein noch
bei Horaz weisen nahezu alle Satiren das dialogische Element auf.^) Einen
eigenen Charakter gab der Satura Lucilius, indem er das Moment der
Kritik und der Belehrung in sie aufnimmt und das ysXoTov zum cr/roi;-
doyälwov wendet. Besonders sind es die öffentlichen Zustände, die Gegen-
stand seiner Plaudereien werden. Dadurch tritt die satura an Stelle der
alten attischen Komödie. 3) Dass auf die Buchsatura auch griechische Vor-
römiflchen Poesie in ihre Quellenkunde ver-
setEt werden. ** Und vorher: „Der Litterar-
historiker hat augenscheinlich nur nach einem
Ausdruck gesucht, der eine noch in freier
Form sich bewegende Dichtungsart schick-
lich bezeichnen konnte; er fand den von
£nnin8 aus der Sprache des Lebens (per
saturam) eingeführten Titel bezeichnend. Mög-
lich auch, dass er der Etymologie satura
— tfarv^M folgend den Namen nach dem
aristotelischen did t6 ix aarvgixov fjietaßa-
Xeiy oip^ «jiBCBfAvvv^ (Poet. 1149 a 20) bil-
dete ; sicher, dass er — diese satura in Ana-
logie zum Satyrspiel setzt. **
*) Ribbeck, Gesch. der r. Dicht. 1, 49.
^) VgL Oebtneb, Horazens Bemerkungen
Aber sich selbst in den Satiren. Gr.Strelitz
1880 p. 6.
•) Marx, Interpretationum HexaSf Ro-
stock 1888/89 p. 12.
90 Römisohe Litteratnrgeschichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
bilder einwirkten, kann nicht bezweifelt werden. Es gab von Timon unter
dem Titel aarvqoi Gedichte, denen dieselben Eigenschaften zugeschrieben
werden, die wir der Buchsatura zugeschrieben haben.') Horaz nennt die
Plaudereien des Bion (Ep. 2, 2, 60). Auch Erates und besonders Menippus
aus Gadara lieferten dem römischen Dichter Muster. Der Ausspruch Quin-
tilians 10, 1, 93 satira tota nostra est läast sich nicht aufrecht halten.
Über die satura ist die Hauptstelle bei Diomedes p. 485 K Satira dieitur cartnen
apud Romanos nunc quidem maledicum et ad carpenda hominum vitia archaeae comoediae
Charaktere compositum, quäle seripserunt Lucilius et Horatiua et Persius (vielleicht bloss
quäle scripsit Lucilius, vgl. Leo, Hermes 24, 69) ; et (sed REiFFEBSOHEiDy) clim carmen quod
ex variis poematibus constabat satira vocabatur, quäle scripserunt Pacuvius et Ennius. Sa-
tira autem dicta sive a Satyris, quod simüiter in hoc earmine ridiculae res pudendaeque
dicuntur, quae velut a Satyris proferuntur et fluni; sive satura a lanee, quae referta variis
multisque primitiis in sacro apud priscos dis inferebatur et a copia ac saturitate rei satura
vocabatur — sive a quodam genere farciminis, quod muUis rebus refertum saturam dicU
Varro vocitatum. est autem hoc positum in secundo libro Plautinarum quaestionum „satura
est uva passa et polenta et nuclei pini ex mulso consparsi ad haee afii addunf
et de malo punico grana , alii autem dictam putant a lege satura, quae uno rogatu multa
sim\U conprehtndat, quod scilieet et satura earmine mufta simul poemata conprehenduntur,
cuius saturae legis Lucilius meminit in primo per saturam aedilem factum qui legi-
bus solvat et Sattustius in lugurtha „deinde quasi per saturam sententiis exqui-
suis in deditionem accipitur"
Mit MoHMSEN, R. Gesch. 1', 28 und Ribbeok, Gesch. der r. Dicht. 1, 9 halten wir
an dem Zusammenhang der satura mit aatvQoi fest; freilich bleibt eine Schwierigkeit, näm-
lich die Entstehung der Form «o/tira. 0. Eelleb erklärt Philol. 45, 391 : .Der Titel (satura)
wurde statt saturi vorgezogen, weil den Römern ein substantiviertes satura schon geläuüg
war, während ihnen die hellenischen Halbgötter aatvQoi fremd waren.*
Litteratur: Casaubonus de satyrica Gra^corum poesi et Romanorum satira (1605);
hier wird der Unterschied zwischen dem Satyrdrama und der römischen Satire dargelegt;
allein dass zwischen beiden doch ein Zusammenhang besteht, dürfte aus dem Obigen her-
vorgehen. Vgl. Ghbist, Gr. Litteraturgesch. p. 144. Von den vielen Abhandlungen, welche
sich mit der Satire beschäftigen, nenne ich folgende: Roth, Kl. Schriften 2, 384 u. 411.
Haase, Die römische Satire in Prutz' Deutsch. Mus. 1851 p. 858. Biet, Zwei politische
Satiren des alten Rom, Marb. 1888. Heinze, De Horatio Bionis imitatore, Bonn 1889.
56. Das Leben des G. Lucilius. Suessa Aurunca in Gampanien ist
die Heimat des Dichters Lucilius. Daher nennt ihn Juvenal 1, 20 magnus
Auruncae alumnus. Hier wurde er 180 aus einem vornehmen Geschlechte
geboren. Von seinen Familienverhältnissen wissen wir noch, dass sein
Bruder Senator war und eine Tochter hatte, welche nachmals die Mutter
des Pompeius Magnus geworden ist. Unter Scipio diente er im numan-
tinischen Krieg (134). Sein Leben brachte er, wie es scheint, grösstenteils*)
in Rom zu; die Satiren wenigstens können nur dort abgefasst sein. Er
besass ein eigenes Haus (Asconius p.l2 K. Seh.). Seinem vertrauten Umgang
mit Scipio und Laelius hat Horaz ein schönes Denkmal Sat. 2, 1, 71 gesetzt.
Auch mit .dem Philosophen Glitomachus muss er sehr befreundet gewesen
sein, da ihm dieser ein Buch widmete (Cic. acad. 2, 32, 102). Gestorben
ist Lucilius im J. 103; verheiratet war er, wie es scheint, nicht.
Hieronymus gibt als Geburtsjahr 1870 a. Abrah. = 147 y. Chr. (2, 129 Seh.) an, als
Sterbjahr 1914 a. Abrah. = 103 v. Chr. (2, 133 Seh.): C. Lueüius satirarum scriptor
Neapoli moritur ac publica funere effertur anno aetatis XLVL Allein das Geburtsjahr ist
unrichtig bestimmt, denn es würde dann Lucilius in einem kaum glaublich jungen Alter
Kriegsdienste gethan haben ; auch fordert das vertrauliche Verhältnis zu Scipio ein höheres
Alter; endlich würde Hör. Sat. 2, 1, 34 senex von Lucilius auffallend gesagt sein, wenn er mit
■*) Wachsmuth, Sillographi' p. 25, de-
finiert die adti^^oi als carmina axatnuxd
colloquentium personarum vicihus distineta.
') Eine längere Abwesenheit (von etwa
126—119) sucht Mabx, Stud. Luc. p. 93 zu
erweisen.
G. Lnciliiis.
91
dem 46. Lebensjahre gestorben wäre. Es ist eine sinnreiche Vermutung M. Haupt's, dass eine
Verwechslung der Konsuln A. Postumius Albinus und C. Calpumius Piso des Jahres 180
mit Sp. Postumius Albinus und L. Calpumius Piso des Jahres 147 stattgefunden. Damit
werden alle Schwierigkeiten beseitigt. För die Lebensverhältnisse des Lucilius sind noch
folgende Stellen zu berücksichtigen: Vell. Pat. 2, 9, 3 qui (Luc,) 8ub P. Äfricano Nu-
matUino hello eques militaverat. 2, 29, 2 Cn. (Pompeius) genitus matre Lucilia, stirpis sena-
toriae. Acro ad Hör. sat, 2, 1, 75 fertur Lucilius maior avuncuius fuisse Pompei Magni.
(Falsch bei Porphyrie zur Stelle: etenim avia Pompei LucUii soror fuerat. Diese Worte
sind Interpolation. Vgl. Marx, Stnd. Lucil. p. 92, 1.)
57. Das Corpus der Satiren des Lucilius. Die Satiren^) des Lu-
cilius waren in 30 Bücher eingeteilt. Diese 30 Bücher wurden aber nicht
auf einmal, sondern successiv veröffentlicht. Auf diese successive Ver-
öffentlichung führen folgende Spuren: Varro citiert de 1. 1. 5, 17 eine Aus-
gabe der ersten 21 Bücher; Nonius' Citaten liegen zwei Ausgaben zu Grund,
darunter eine, welche die letzten fünf Bücher nicht kennt. Dies führt
allem Anschein nach auf 3 Teile, von denen der erste die Bücher 1 — 21,
der zweite 22—25, der dritte 26 — 30 umfasste. Diese drei Teile charak-
terisieren sich aber als Einheiten durch das verschiedene Mass, in dem
sie gedichtet sind; die Bücher 1 — 21 weisen nur den Hexameter auf, von
den Büchern 22 — 25 sind so wenig Fragmente überliefert, dass hier über
das Metrum keine sichere Entscheidung getroffen werden kann; soviel ist
aber gewiss, dass das Distichon in dem 22. Buch, das hier fast allein in
Betracht kommt, angewendet wurde. In dem dritten Teil endlich erschienen
verschiedene Metra, am häufigsten trochäische Septenare und jambische
Senare.^) Eine Sonderstellung nimmt hier wieder das 30. Buch ein, das
aus lauter Hexametern bestand und vielleicht für sich herausgegeben wurde.
Diese di*ei Bände sind nicht chronologisch zu einer Gesamtausgabe ver-
bunden. Der dritte Teil ist der früheste. Man kann dies schon daraus
ersehen, dass der Dichter im Eingang des 26. Buchs sein Satirenschreiben
rechtfertigt, sozusagen sein Programm entwirft. Es sind aber auch chro-
nologische Judicien dafür vorhanden. Diese weisen im 26. Buch auf c. 131
(26,57), im 1. auf c. 126 d.h. auf die Zeit unmittelbar nach dem Tode
des Lupus. Die Anordnung der drei Teile erfolgte augenscheinlich nach
metrischen Rücksichten, man begann mit dem geläufigsten Masse, dem
Hexameter, an das sich natürlich die Partie in Distichen am*eihte; die
gemischten Metra des dritten Teils bildeten den Schluss.
Über das Corpus vgl. Laohmann, El. Schriften 2, 62, Müller's Ausgabe p. IX — Xu
zu Nonios 2, 371. Unsere Darstellung schliesst sich an die scharfsinnige Untersuchung der
Studio LußUiana von Marx, Bonn 1882, p. 86 — 91 an. Die Abfassung des zweiten Buchs
setzt Mabx p. 91 c. 119, das elfte c. 110 an.
58. Inhalt einzelner Bücher der Satiren. Fragmente sind uns
von allen Büchern erhalten mit Ausnahme der Bücher 21, 24 und 25, 3)
zu denen Müller noch Buch 23 hinzufügt. Die Bestimmung des Inhalts
einzelner Bücher ist deshalb schwierig, weil in einem Buche mehrere Sa-
^) Die er vielleicht schon sermones
nannte vgl. 30, 34 M. und dazu Mabx, Stud.
LuciL p. 44.
') Nach Laghxann bestand das B. 26
und 27 aus trochXischen Septenaren, 28 aus
jambischen Senaren, 29 aus beiden Yers-
arten, M&llbr weicht ab in Bezug auf B. 28
und 29, f&r die er neben den trochäischen
Septenaren auch jambische Trimeter und
dactylische Hexameter annimmt (Leben des
Lucil. P- 27, Ausg. ]p. XI).
^) £in kurzes Citat des 25. Buches wird
von MüLLXB dem 26. (Vs. 99) zugewiesen.
92 RömiBohe Litteratiirgeschiohte. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
tiren vereinigt sein konnten und höchst wahrscheinlich, worauf die Frag-
mente führen, auch vereinigt waren. Doch sind immerhin einige Andeu-
tungen möglich. Im 1. Buch wird in zwei öötterversammlungen über den
princeps senatus L. Cornelius Lentulus Lupus beraten und sein Untergang
beschlossen (Serv. Aen. 10, 104). Eine Satire des 2. Buchs behandelte den
Prozess des Q. Mucius Scaevola und T. Albucius; der letztere hatte den
ersteren wegen Erpressung in Asien belangt. Im 3. Buch war eine Reise
von Rom bis zur siciliachen Meerenge geschildert. Diese Reisebeschreibung
wurde bekanntlich von Horaz Sat. 1, 5 nachgeahmt. Von dem 4. Buch
wird berichtet, dass Persius seine dritte Satire nach der lucilischen ge-
staltete, in der gegen die Üppigkeit zu Feld gezogen wurde. Das 9. Buch
bezog sich auf grammatische und litterarische Probleme, besonders auf die
damals schwebenden orthographischen Fragen. Das 10. Buch begeisterte
Persius zur Abfassung von Satiren und zur Nachahmung des Eingangs.
Im 13. Buch weisen mehrere Fragmente auf ein Thema hin, wie es bei
Horaz Sat. 2, 4 behandelt ist. Das 14. Buch führt den jüngeren Scipio
redend ein; er erzählt seine grosse Reise. Das 16. Buch überschrieben
die Grammatiker „CoUyra**, weil Lucilius in demselben viel von dieser
seiner Geliebten sprach. Aus den Fragmenten des 26. Buchs können drei
Satiren herausgeschält werden, eine, in der er sein litterarisches Unter-
nehmen rechtfertigt, eine zweite, welche Scipios numantinischen Krieg pries,
endlich eine dritte, welche erotische Dinge behandelte. Auch im 30. Buch
war von seiner satirischen Dichtung die Rede.
Porph. zu Hör. sat. 1, 5, 1 Lucilio hoc satira a^mulatur Horatius Her suiim a Borna
Brundesium usque describens, quod et ille in tertio lihro fecit; primo a Roma Capuam usque
et inde fretum Siciliense. Schol. Fers. 3, 1 hanc satyram poeta ex Lucili libro quatio
transtulit castigantis luxuriam et vitia divitum. Vita Pereii p, 238 ed, Jahn lecto libro
Ldicilii decimo vehementer satiras comjyonere instituity cuius libri initium imitatus est, sibi
primOf mox omnihus dctracturus etc. Porphyr. Hör. Carm. 1, 22, 10 liber Lucüii sextwt
decimiM Collyra inscribitur, eo quod de Collyra amica scriptus sit, Reconstructionsver-
suche stellten ausser den Herausgebern an in neuerer Zeit Marx, Stud. Lucil. für das 1. B.
p. 54, für das 2. p. 68, für das 13. p. 77, für das 14. p. 81, für das 30. p. 42; Bücheler,
für das 10. B. Rh. Mus. 39, 287; 0. Keller, für das 3. Philol. 45, 553; Birt, Zwei polit.
Sat. für das 26. B. p. 74, p. 89, p. 112.
59. Charakteristik des Lucilius. Die Beurteilung des Lucilius muss
sich zunächst auf die Fragmente des Dichters stützen; ergänzend treten
drei Horazische Satiren (1, 4; 1, 10; 2, 1), in denen Lucilius' dichterisches
Schaffen beurteilt wird, hinzu. Bei der Durchmusterung der Fragmente
erkennt man, dass Lucilius das Leben in allen seinen Erscheinungen seiner
Kritik unterworfen hat. Im Vordergrund stand aber die Politik; bekannt
ist der Horazische Vers (Sat. 2,1,69):
Primorea populi arripuit populumque trUnUim.
Besonders im ersten Buch waren die Gebrechen des staatlichen Lebens
schonungslos aufgedeckt; es beraten dort die Götter über die schleichende
Krankheit*) (16 M.) und über die Mittel und Wege, wie dem römischen
Gemeinwesen aufgeholfen werden könne (14). Gern vergleicht der Dichter
') Wir eitleren durchweg nach Müllers
Ausgabe, da die willkürliche Behandlung,
welche die Fragmente in der neuen Ausgabe
von Bahreks erfahren haben, die Benützung
derselben erschwert.
C. LncilioB. 93
die grosse Zeit, in der das römische Volk zwar in Schlachten, aber nie-
mals im Krieg besiegt worden sei (26, 53) und in der es den alten, schlauen
Wolf, den Hannibal, aus Italien verjagt (29, 2 — 5), mit der Jetztzeit, in
der es einem Viriathus unterlegen sei (26,55). Den politischen Grössen
seiner Zeit, einem Lupus, einem Metellus, einem Asellus, geht er scharf
zu Leibe. Noch sind uns in den Fragmenten einige Bilder dieser Art
erhalten (11, 14 fg.). Aber auch die Gebrechen der Gesellschaft entgingen
dem scharfen Blick des Dichters nicht; bekannt ist jenes schöne Fragment,
in dem er mit lebhaften Farben schildert, wie alles in Rom vom Tages-
grauen bis in die Nacht hinein sich abmüht, andere zu täuschen und zu
prellen, selbst aber in der Rolle des Biedermanns aufzutreten (p. 133, 15).
Die zu seiner Zeit stark hervortretende Gräkomanie verhöhnt er in der
Person des Albucius, der griechisch begrüsst sein wollte (p. 135, 26). Gegen
den um sich greifenden Luxus werden scharfe Worte geschleudert. Der
Prasser Gallonius, der den Stör auf die Tafel brachte, wird als ein un-
glücklicher Mann geschildert, der niemals gut gegessen, da er alles auf
diesen seinen Lieblingsfisch verschwendet (4, 4). Selbst auf die religiösen
Anschauungen richtet er sein wachsames Auge, er tadelt in merkwürdigen
Versen die abergläubische Verehrung der Bildwerke, als seien sie Personen
(15, 5). Sehr beschäftigen den Dichter wie den scipionischen Kreis dio
grammatischen Fragen und die Litteratur. Die Orthographie war damals ein
viel behandeltes Problem geworden, auch unser Dichter beteiligt sich durch
positive Vorschläge an demselben (9, 12 fg.). In der Litteratur erregt der
Schwulst und der unnatürliche Ausdruck der tragischen Dichter seinen
Spott (29, 81). Aber auch die kleinen Ereignisse seines Lebens, wie z. B.
seine Reise bis zur sicilischen Meerenge weiss er in anmutiger Weise zu
erzählen. Kurz was auf den Dichter in der langen Zeit seines Lebens
Eindruck gemacht, das legt er in seinen Plaudereien dem Leser vor, so
dass Horaz mit Recht sagen kann, Lucilius' Leben liege in seinen Satiren
wie auf einer Votivtafel offen vor den Augen des Lesers da. Der Form
hat der Satiriker weniger Sorgfalt zugewendet; spottet er doch des ge-
drechselten Stils und vergleicht ihn einer Mosaik (p. 135, 33); er ist weit-
schweifig (Hör. sat. 1,4,11), er mischt lateinische und griechische Worte,
wie sie ihm gerade in den Wurf kommen (Hör. sat. 1, 10, 20). Kein Wunder,
dass der augusteische Kunstdichter an seiner Schlottrigkeit Anstoss nimmt
und spöttisch bemerkt, dass Lucilius oft in einer Stunde 200 Verse herab-
leiere. Lucilius verschmähte eben alles Gemachte und Gekünstelte; wie
sich ihm ein Gedanken aufdrängte, wurde er ohne grosse Ängstlichkeit
hingeworfen. Aber diese unmittelbare Darlegung der Empfindung muss
einen Hauptreiz dieser Dichtungen ausgemacht haben; es kommt hinzu,
dass an die Beurteilung der Dinge eine scharf ausgeprägte, in ihrem Kern
vortreffliche Individualität herantritt, der nicht der Spott das alleinige
Ziel ist. Nicht ohne Rührung lesen wir jene schöne Stelle, in der er be-
kennt, dass er durch seine Verse mit allem Eifer des Volkes Wohl zu
fordern suche, und gleich darauf finden wir ein Gebet um reichen Segen
für das Vaterland (27, 1). In einem anmutigen Fragment, in dem er die
altrömische virtus schildert, führt er unter anderem aus, Tugend sei e^,
04 fiOmiBche Litteratargeschiohte. L Die 2eit der Bepublik. 2. Periode.
der bösen Menschen und der bösen Sitten Feind zu sein^ dagegen der guten
Menschen und der guten Sitten Freund, das Wohl des Vaterlandes in die
erste Linie zu stellen, das Wohl der Eltern in die zweite, das eigene in
die letzte (p. 133, 9). Bei der hohen Meinung, die er von seinem Dichter-
beruf hat, darf man sich nicht wundern, wenn er o£fen ausspricht, dass
ein Lucilius kein Steuerpächter werden kann (26, 16), und sich rühmt, dass
seine Gedichte von vielen allein noch gelesen werden (30, 4). Lucilius'
Bedeutung für die römische Litteratur ist eine grosse; er hat den von
Naevius ausgestreuten Samen weiter entwickelt, durch ihn ist der satura
Kritik der Gegenwart vorwiegend als Aufgabe zugefallen; seine Satiren
gaben den Römern Ersatz für die alte griechische Komödie.
Luciliua wurde bald kommentiert, so von Laelius Archelans und Vettius Philocomus,
bei dem letztem hörte die Erklärung der Grammatiker und Dichter Valeriua Cato, der
später selbst die Verbesserung der Lucilianischen Satiren unternahm (Suet. gr. 2; Hör.
sat 1, 10 in den vorausgeschickten unechten Versen, Aber welche zu vgl. Marx, Rh. Mus.
41, 553). In der Ciceronischen Zeit schrieb Curtius Nicia über Lucilius (Suet. gr. 14). In
der Augusteischen Zeit wurde er viel gelesen, wie dies aus der Opposition des Horaz er-
hellt. Der Kritiker Valerius Probus zur Zeit Neros besorgte eine kritische Ausgabe, vgl.
Anecd. Parisin. p. 137 Rei£fersch.: Probus, qui UIcls (sc, notas) in Vergüio et Horatio et
Lueüio (überliefert Lucretio, das Richtige stellte her Bernhardt) apposuU ut Homero ÄrU
starchus. Zur Zeit Hadrians, da man die alten Schriftsteller sehr kultivierte, wurden auch
die Satiren des Lucilius fleissig behandelt ^
Litteratur: Die erste vortreffliche Ausgabe stammt von Franz Doitsa, Leyden
1597, dem sein Vater Janvs Doüsa und Scalioer Beiträge spendeten. In neuester Zeit hat
die erste grundlegende Ausgabe L. Müller, Leipzig 1872 publiziert. Als Ergänzung hiezu
erschien desselben Verfassers Schrift, Leben und Werke des G. Lucilius, Leipzig 1876. Aus
dem Nachlass C. Lachmann*s veröffentlichte J. Vahlen, C. Lueilii saturamm, Berlin 1876,
wozu als Ergänzung kommt Härder, index, LuciL, BerL 1878. In den Frcigmenta poeta-
rum Romanorum von BIhrens findet sich Lucilius p. 139 — 266. Da die meisten Fragmente
von Nonius überliefert sind, so hängt die Kritik des Lucilius mit der Kritik des Nonius
zusammen. Um die Erklärung und Kritik der Fragmente haben sich ausser den Heraus-
gebern Franckbn, Büchbler, Marx, Stowasser bemüht
Hier ist vielleicht der passende Ort, des lustigen Kneipgesetzes (lex convivalis) zu
gedenken, welches Valerius aus Vibo Valentina verfasst hatte. Da als Antragsteller Tappo
eingeführt wurde, so hiess die lex auch lex Tappula, Und unter diesem Namen wird sie
auch bei Lucilius erwähnt (p. 158, vs. 177). Vgl. Fest p. 363 M. Tappulam legem con-
tiralem ficto nomine conscripsit iocoso carmine Valerius VcUentinus, cuius meminit Lucilius
hoc modo: Tappulam rident legem congerrae Opimi. Von dieser lex Tappula ist die Ein-
leitung in einer bronzenen Kopie in neuerer Zeit in Vercellae aufgefanden worden. Vgl.
Philol. Wochenschr. 1882 n, 25 p. 795 — 796. Wohl derselbe Valerius machte auch ein Gedicht,
in quo puerum praetextatum et ingenuam virginem a se corruptam poetico ioco significarerat
(Vaier. Max. 8, 1, 8). Als er daher den G. Cosconius wegen Erpressungen anklagte, liess
der Verteidiger das schändliche Gedicht vorlesen und erreichte, dass G. Gosconius trotz
seiner offenkundigen Schuld freigesprochen wurde.
11. Die übrigen Dichter.
60. Dramatisches. Als Palliatendiehter wird ein Atilius in dem
Kanon des Volcacius Sedigitus an fünfter Stelle genannt. Wir kennen
nur eine Palliata unter dem Namen des Atilius; es ist ein „Weiberfeind"
{misogynos), den Cic. Tusc. 4, 11, 25 erwähnt. Aus einer unbekannten Palliata
desselben citiert Cicero an einer andern Stelle einen Vers ; zugleich nennt
er ihn hier in Bezug auf den Stil einen poeta durissimus (ad Attic. 14, 20, 3).
Cicero kannte aber von einem Atilius auch eine Tragödie, nämlich eine
Übersetzung der Sophokleischen Elektra, er nennt sie eine schlechte Über-
Die übrigen Dichter. 95
Setzung (de fin. 1, 2, 5). Seinem Urteil fügt er das Ui*teil des Licinius bei,
der Atilius einen ferreus scriptor nennt. Im Stil gleichen sich also beide
Dichter, der Komiker und der Tragiker, wir werden sie daher identifizieren
dürfen. Ganz anders lautet das Urteil in Bezug auf die dramatische Wir-
kung. Varro zählt den Atilius neben Trabea und Caecilius zu denjenigen,
welche die ndOiri besonders zu erregen verstanden (Charis. p. 241 K). Und
dieses Lob wird bestätigt durch die Nachricht Suetons (Gaes. 84), dass
beim Leichenbegängnis Caesars ein Canticum aus der Elektra des Atilius
aufgeführt wurde. Ist die Identifizierung des Komikers und des Tragikers
richtig, so wird Atilius bald nach Ennius anzusetzen sein; und vor Caeci-
lius nennt ihn auch Varro an der angeführten Stelle.
RiTSCHL wollte unseni Dichter mit dem Schauspieler L. Hatilios aus Praeneste iden-
tifizieren, vgl. Parerga p. 11 Anm. p. 196; allein dies ist ganz unsicher. Siehe Bziatzko,
Rh. Mus. 21, 72, Anm. 18.
61. Episches. Wir haben zwei Dichter zu verzeichnen:
1) Hostius. Ennius hatte den istrischen Erleg der Jahre 178 und
177 in seinem Epos besungen. Dieses Beispiel reizte Hostius, einen spä-
teren Krieg mit den Istrern, nämlich den des Jahres 129 zum Gegenstand
eines Epos zu machen. Die Annahme scheint aber unabweislich zu sein,
dass ein Mann nur dann auf den Gedanken kommen kann, diesen unbe-
deutenden Krieg zu besingen, wenn er zu gleicher Zeit lebte und wenn er
einen Zeitgenossen verherrlichen wollte. Von dem Epos, das mindestens
drei Bücher hatte, sind nur c. 7 Fragmente erhalten.
Die Beziehung auf den Krieg des J. 129 hat zuerst Bebok behauptet. Vgl. Fleckeis. J.
83, 322 (Opusc. 1, 2M). Über diesen Krieg berichtet Mommsek 2^, 169. ,129 demütigte der
Konsul Tnditanus in Verbindung mit dem tüchtigen Decimus Brutus, dem Bezwinger der
spanischen Gallaeker, die Japyden und trug, nachdem er anfönglich eine Niederlage erlitten,
schliesslich die römischen Waffen tief nach Dalmatien hinein bis an den Kerkafiuss, 25
deutsche Meilen abwärts von Aauileia.* Dieser Sempronius Tuditanus war auch Geschicht-
Bchreiber; vielleicht wurde durcn ihn das Epos veranlasst.
2) A. Furius von Antium. Gellius teilt uns 18,11 von Furius
(ex poenicUis Furianis) sechs Hexameter mit, um dessen Vorliebe für In-
choativa darzuthun. Die Bruchstücke sind allgemeiner Natur, weisen aber
doch auf Kampf (fr. 1 u. 3 B. p. 276) und damit auf ein historisches Gedicht
hin. Da in der Kapitelüberschrift ausdrücklich Furius Antias genannt
wird, so kann hier über den Autor kein Zweifel obwalten. Nicht ohne
Schwierigkeit ist die Zuteilung anderer Fragmente. Macrobius gibt im
6. Buch ebenfalls mehrere Hexameter eines Furius und zwar aus einem
Gedicht, das er mit „annalis^ bezeichnet. Er citiert von diesem Gedicht
das 11. Buch. Zeitanspielungen finden sich auch hier nicht. Endlich tritt
bei Horaz ein Furius auf; es wird dort (Sat. 2, 5, 40) der Vers desselben
JuppUer hihern<is cana nipe conspuit Alpes
verspottet. Acre teilt zur Stelle mit, dass der Vers aus des Furius Biba-
culus „Pragmatia belli Oallici" stamme. Allein hier muss ein Irrtum des
Berichterstatters vorliegen. Niemand berichtet etwas von einem histori-
schen Epos dieses Furius; ein solches widerstreitet auch ganz der Richtung
der Schule, zu der er gehörte. Endlich können wir ihm, den wir aus den
echten Fragmenten als einen ganz vorzüglichen Dichter kennen lernen, die
von Horaz gerügte Geschmacklosigkeit nicht zutrauen. Horaz muss also
96 BdmiBohe LitteratnrgeBchiohie. L Die Zeit der Aepnblik. 2. Periode.
einen andern Furius im Sinne haben; welchen er im Sinne hat, ersehen
wir aus Sat. 1,10, 36, wo allem Anschein nach wiederum unser Furius
auftritt; denn an beiden Stellen haben wir einen „schwülstigen'' Dichter;
auch scheint die zweite Stelle jenes Gedicht über den gallischen Krieg zu
streifen. Ist diese Identifizierung richtig, so müssen wir den Furius nach
der zweiten Stelle Alpinus nennen und ihm noch ein Gedicht, eine Aethiopis,
beilegen. £s wären also noch die von Macrobius mitgeteilten Fragmente
zu beurteilen; hier sehe ich nun keinen stichhaltigen Grund, dieselben dem
Furius Antias abzusprechen. Das annalistische Gedicht des Furius scheint
bis auf die Gegenwart herabgegangen zu sein; denn wenn der Sieger im
Cimbernkrieg, Q. Lutatius Gatulus, eine Denkschrift in Form eines Briefs
über sein Konsulat und seine Thaten an Furius schickte, so wird der Zweck
der Zusendung gewesen sein, dass er in den Annalen des Furius berück-
sichtigt sein wollte (Cic. Brut. 35, 132).
Zu Hör. Sat. 2, b, 40 teilt Acro den oben stehenden Vers mit und bemerkt: Furiun
Vivaculus in pragmcttia belli GalHci, vgl. Quint. 8, 6, 17; zu 1, 10, 36 heisst es bei Acro:
Bibaculum quendam poetam gcUlum tangit, bei Porphyrio Cornelius Alpinus (Memnona) hexa-
tnefris versihus nimirum describit, wobei aber zu bemerken, dass die Worte Cornelius
Alpinus in der besten Handschrift fehlen. Ein anderes Verfahren als das im Texte einge-
haltene schlagen Bähbens und Ribbeck ein; Bahrens belässt nur die von Grellius mitge-
teilten Verse dem Furius Antias, in dem von Macrobius und Horaz erwähnten Dichter er-
kennt er den Furius Bibaculus, vgl. fragm. p. 318 und Comment. Catull. p. 21. Ribbeck
dagegen Gesch. d. röm. Dicht. 1, 295 sieht bei Gellius, Macrobius, Horaz (von Sat. 1, 10, 44
ist nicht die Rede) denselben Dichter und zwar Furius Antias, dessen Annalen den galli-
schen d. h. cimbrischen Krieg behandelt hätten. Dass an den zwei Stellen des Horaz der
Dichter Furius Alpinus gemeint ist, hat Nippebdbt Opusc. p. 499 dargethan.
62. Didaktisches. Lehrhaftes dichtete Q. Yalerius aus Sora, den
Cic. de or. 3, 11, 43 den literatissimus omnium togatorum nennt. Er gehörte,
wie es nach fr. 1 B. p. 272 scheint, dem Kreise des jüngeren Scipio
an. Unter den wenigen Fragmenten, welche wir Varro und Plinius ver-
danken, tadelt eines eine prosodische Eigentümlichkeit des Dichters Accius,
zwei Hexameter besingen Juppiter im stoischen Sinne. Ferner erwähnt
Plinius praef. 33 ein Werk desselben mit dem Titel inomidsg. Hier war
wohl über den geheimen Namen Roms gehandelt (Plin. n. h. 3, 65). Ein
litterarhistorisches Lehrgedicht, dessen Titel wir nicht kennen, schrieb
Porcius Licinus.i) Er gehört allem Anschein nach der Zeit des Scipio
und Laelius an; er wird von Gellius 19,9 vor Q. Lutatius (Cons. 102) ge-
stellt. Aus diesem Werk stammt das Dutzend trochäischer Tetrameter
über Terentius, welche uns eine Vorstellung von dem Werke liefern; es war
der litterarische lüatsch darin niedergelegt. Auch Angaben über Ennius
und über Atilius enthalten die Fragmente. Diesem litterarhistorischen Ge-
dichte entstammen jene vielcitierten Verse, welche den Einzug der Muse
in das kriegerische Rom besingen (Gell. 17, 21,45). Ungefähr in dieselbe
Zeit gehört das Gedicht „über die Dichter* des Volcacius^) Sedigitus.
Da er die Togata und den Mimus nicht berücksichtigt, scheint er die Blüte-
zeit dieser Gattungen nicht erlebt zu haben. Aus diesem Buch stammt
der Kanon der zehn Palliatendichter, den er nach dem Muster des wohl
V) Madvio, Opusc. 85.
^) Dies die richtige Sclireibung, nicht Volcatius. Vgl. Bücheleb, Rh. Mus. 33, 492.
Die übrigen Dichter. 97
in Pergamon entstandenen Kanon ') der zehn Redner entworfen hatte. Es
folgen sich die Dichter in dieser Reihenfolge, für welche ein Prinzip bis
jetzt nicht sicher nachgewiesen werden konnte: Gaecilius, Plautus, Naevius,
Licinius, Atilius, Terentius, Turpilius, Trabea, Luscius, Ennius (Oell. 15, 24).
Aus einem litterarischen Gedicht, in welchem dem Terenz vorgeworfen wird, dass
seine St&cke von Scipio herrOhrten, werden von Donat in seinem Zusatz zum Leben des
Terenz 35 drei Senare aufgef&hrt und einem Vallegius in actione beigelegt. Statt Vallegius
haben Bücheleb und Ribbeck Vagdlius geschrieben, was Ritschl aufgenommen. Neuer-
dings vermutet Bücheleb, Rh. Mus. 33, 492 den bekannten Dichter Volcctciua, Leo, Rh. Mus.
38, 321 greift diese Vermutung auf und schreibt weiter statt in actione — in enumeratione,
damit auf denselben Abschnitt der Schrift des Volcacius de po^is hingewiesen werde, aus
dem Sueton in der Vita des Terenz einen Senar über die Hecyra mitteilt. Aliein ich be-
zweifle die Richtigkeit dieser Vermutungen. Die Anrede Terenti passt nicht gut in ein
litterarhistorisches Werk, wohl aber in eine „Verhandlung"^, welcher der Dichter unterworfen
wird. Vagellius wird der nächsten Zeit nach Terenz angehören.
Litteratur: Über Porcius Licinus vgl. Vahlen, Monatsber. der Berl. Akad. 1876
p. 789. Labewio, Über den Kanon des Volcacius Sedigitus, Neustrelitz 1842 betrachtet als
Kriterium des Kanons den grösseren oder geringeren Grad von Originahtät, Ibbb, De Vol-
codi SedigUi canone, Münster 1865 das grössere oder geringere Mass des nd&og (p. 4).
63. Die epigrammatische Dichtung. Das Epigramm im eigent-
lichen Sinn des Wortes findet die häufigste Anwendung auf dem Grab-
denkmal. Die ursprünglich einfache Form desselben mag die Grabschrift
auf Pacuvius zur Anschauung bringen^) (Gell. 1,24,4):
Adulescens, tarn etsi properas, te hoc aaxum rogat,
Üt sese aspicias, deinde quod scriptum est legas:
Hie sunt poetae Pacuvi Marci sita
Ossa . hoc voleham nescius ne esses . vcde.
Auch inschriftlich sind uns mehrere Grabepigramme erhalten, welche durch
die Natürlichkeit des Tons den Leser fesseln; man vergl. in den Exempla
von Schneider die Nr. 324, 325 und 326. Ganz anderer Art ist das künst-
liche, nach alexandrinischer Manier gedichtete Epigramm. Hier kommt
alles auf einen scharf zugespitzten Gedanken an. So werden in einem
Epigramm des uns bereits bekannten Porcius Licinus die Feuer suchenden
Hirten auf eine alles in Brand steckende Persönlichkeit aufmerksam ge-
macht (Gell. 19,9,13). In sehr künstlicher und gesuchter Weise malt ein
Epigranmi des Valerius Aedituus die Angst und Scheu des Liebhabers,
der Geliebten sein Verlangen kundzugeben; 3) ein anderes Epigramm des-
selben Dichters enthält die Gedankenspitze, dass das Feuer der Liebe nur
durch die Liebe gelöscht werden könne (Gell. 19, 9, 11 u. 12). <) Der aus
dem Cimbernkrieg bekannte Q. Lutatius Catulus dichtet nach Callima-
chus ein Epigramm, in dem er sein verlornes Herz bei dem geliebten
Theotimus suchen will (Gell. 19, 9, 14). In einem andern feiert er den
Schauspieler Roscius in folgender schwärmerischer Weise (Gic. de n. d. 1,
28, 79)
Constiteram exorientem Auroram forte salutans,
cum subito a laeva Roscius exoritur.
Pace mihi liceat, caelesteSf dicere vestra,
mortalis visust pulcrior esse deo.
') Brzoska, De canone decem oratorum
Atticorum, p. 79.
') BücHBLEB, Rh. Mus. 87, 521 vergleicht
in einer interessanten Darlegung ein ganz
ähnliches, das er auf den aus Lucilius he-
kannten praeco Granius bezieht.
') ScHüLZB, Fleckeis. J. 131, 631 macht
auf die Nachahmung der berühmten sapphi*
sehen Ode (pttiyetai uoi aufmerksam.
*) Ein diesem ännliches pompejanisches
Epigramm der sullanisch-ciceronischen Pe-
riode behandelt Büchbleb, Rh. Mus. 38, 474.
Bandbnob der Uom. AltortnnuwiHenadutft. vm 7
98 BOmiBohe Litteratiirgeschiohte. L Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
Yabbo führt in einer satura Menippea Non. 1, 122 M. einen Pompilios vor, der sich
einen Schüler des Pacnvius nennt. Biesen Pompilius stellt man dorcn Gonjector (statt
Papinius) Vabro 1. 1. 7, 28 her and legt ihm das dort stehende scherzhafte Epigramm bei.
— Zar Kritik und Erklftrnng der epigrammatischen Dichtung vgl. Usekeb, Rhein. Mus. 19,
150; 20, 147; Maixneb, Ztschr. f. Osten*. G. 36, 583; 38, 17.
b) Die Prosa.
a) Die Historiker.
1. Q. Fabius Pictor und andere Annalisten.
64. Bömische Annalistik in griechischer Sprache. Wir finden
bei den Römern dieselbe Erscheinung, die wir auch bei andern Völkern
in der Zeit der beginnenden Litteratur finden. Der Dichter bedient sich
zur Darstellung der Geschichte des heimischen Idioms, der Prosaiker eines
fremden. Die Entwicklung der Poesie geht ja der Entwicklung der Prosa
voraus. Es bedarf längerer Zeit, bis die Prosa fähig wird, das Organ für
eine längere zusammenhängende Rede zu werden. >) Die Verschiedenheit
des Idioms beim Dichter und beim Prosaiker schliesst aber auch eine Ver-
schiedenheit des Lesepublikums in sich; der lateinische Dichter wendet
sich an die gesamte römische Welt, der griechisch schreibende römische
Historiker richtet seine Worte nur an die Gebildeten seiner Nation, zu
gleicher Zeit aber auch an das Ausland. Die Schriftsteller, welche in
griechischer Sprache römische Annalen schrieben, sind folgende:
1. Q. Fabius Pictor. Dieser vornehme Mann wurde nach der
Schlacht bei Gannä zum delphischen Orakel geschickt, um dasselbe wegen
der gefahrvollen Lage zu befragen (Liv. 22, 57). Seine Geschichte (Graeci
annales Gic. de div. 1, 21, 43) ging von Äneas bis auf seine Zeit. Über
die Art und Weise, wie Fabius den Stoff behandelte, spricht sich Dionys.
1, 6 allgemein so aus: er und Gincius Alimentus hätten das Selbsterlebte
ausführlich behandelt, die Zeit nach der Gründung Roms dagegen kurz,
Danach muss man vermuten, dass auch die Gründungsgeschichte ausführ-
lich behandelt war. Dass Fabius für den zweiten punischen Krieg eine
sehr wichtige Quelle werden musste (Liv. 22, 7), kann man bei seiner her-
vorragenden Lebensstellung von vorn herein abnehmen ; es geht dies selbst
aus den tadelnden Bemerkungen des Polybius hervor (3, 9; 1, 14). Aber
auch für die vorausgehende Zeit verdanken wir ihm höchst wichtige Nach-
richten. So stammt nach Niese (Hermes 13, 410) die wertvolle polybia-
nische (2, 18) Darstellung der gallischen Kriege bis zum Jahre 222 aus
Fabius, ebenso die wichtige Übersicht der römischen Geschichte von dem
Gallierbrand an (1, 6). Auch das Verzeichnis der italischen Wehrfähigen
aus 225 V. Gh. bei Polyb. 2, 24 geht nach ausdrücklichem Zeugnis (Eutrop.
3, 5; Oros. 4, 13) auf Fabius zurück. Vgl. Mommsbn, R. Forsch. 2, 382;
Beloch, Der ital. Bund, p. 93.
Neben den griechischen Annalen werden auch lateinische Annalen eines Fabius Pictor
erwähnt z. B. von Quint. 1, 6, 12. Femer wird von Nonius 2, 171 M nach dem Zitat
Fabius Pictor verum Ramanarum lib. I fortgefahren: idem iuris pontificii lib. III (vgl.
Grell. 1, 12, 14; 10, 15). Alle diese drei Werke teilten unserem Q. Fabius Pictor zu Nippbr-
DEY, Opusc. p. 399, Hertz, Fleckeis. J. 1862 p. 47 — 49. Allein diese Annahme verträgt sich
^) Zarnckb, Der Einfluss der griechi-
achen Literatur auf die Entwicklung der
rdm. Prosa in Gomm. philol. zu Ehren Rib-
becks p. 270.
Oriechisch schreibende Annalisten. 99
nicht mit der oben dargelegten Ansicht von der Unzulftnglichkeit der lateinischen Sprache
fOr ein Prosawerk in der damaligen Zeit. Auch bestehen Discrepanzen zwischen den grie-
chischen und lateinischen Annalen, vgl. Soltau, Fleckeis. J. 1886 p. 479. Es müssen da-
her das Werk de iure pantificio und die lateinischen Annalen, die vielleicht eine Über-
arbeitung der griechischen Annalen waren, Fabiem einer späteren Zeit zugewiesen werden.
Manche wie Du Risu nehmen als Autor der lateinischen Annalen und des ins pantificium
den bei Cicero Brut. 21, 81 genannten Ser. Fabius Pictor in Anspruch, vgl. Petbb, fr.
p. LXXVnil, p. CLXXX ; allein Cicero erwähnt an der Stelle keine Schriften des Ser. Fabius
Pictor, er sagt bloss et iuris et litterarum et antiquUatis bene peritus und in den Zitaten
findet sich daftir kein Anhalt. Dagegen liegen bestimmte Zeugnisse von einem andern
Fabier, dem Q. Fabius Maximus Servilianus (Cons. 142) vor; Macrobius teilt 1, 16, 25 ein
Fragment unter seinem Namen aus einem XII. Buch einer pontifikalen Schrift mit; die
Schol. Veron. zu Georg. 3, 7 p. 79 E. sprechen von einem Servilianus histariarum scriptor.
Vgl. Dionys. 1, 7, der den Fabius Maximus mit Cato und Valerius Antias zusammenstellt
(Peter f. CLXXXÜ).
Hablbss, De Fahiis et Aufidiis rerum ramanarum scriptaribus, Bonn 1853. Du
RiEU, Disputatio de gente Fabian Lejden 1856. Hetdbnbbich, Fabius Pictor und Livius,
Freib. 1868.
2. L. Cincius Alimentus. Mit Fabius Pictor wird von Dionys. 1,6
zusammengenannt L. Cincius Alimentus. Er war Praetor 210 und im han-
nibalischen Kriege thätig. In seinen Annalen erzählt er, dass er in Ilan-
nibals Gefangenschaft geriet (Liv. 21, 38). Seine Annalen waren, wie wir
oben gesehen haben, ganz so angelegt wie die fabischen. Das Werk wird
nicht viel angeführt, dagegen werden von Cincius noch erwähnt antiqua-
rische und staatsrechtliche Schriften wie de fastis (Macrob. 1, 12, 12), de
comüiis, de consulnm potestate (Festus p. 241), de officio iuris consulti (Fe-
stus p. 173), mystagogicon libri (Festus p. 363), de re militari (Qell. 16, 4, 1),
de terbis priscis (Festus p. 330). Es ist unmöglich, mit Niebuhb, Rom.
Gesch. 1^, 281 den Altertimisforscher und den Geschichtschreiber für eine
und dieselbe Person zu halten. Eine Schrift de verbis priscis ist zu einer
Zeit, wo es noch fast keine Litteratur gab, nicht denkbar.
Die Zeit des jüngeren Cincius fällt gegen den Anfang unserer Ära ; Verrius Flaccus,
ans dem Festus schöpft, lagen bereits die Schriften desselben vor. Bezüglich des griechi-
schen (jeschichtswerks spricht Mommsbn, Rom. Gesch. 1*, 921 die Vermutung aus, dass das-
selbe wahrscheinlich unterschoben und ein Machwerk aus augusteischer Zeit sei (vgl. dazu
MomcscN, Rom. Chronol. 268). Plüss, De Cineiis rerum Ramanarum scriptoribus, Bonn
1865 nimmt p. 84 an, der Antiquar Cincius habe auch lateinische Annalen geschrieben, die
mit den griechischen des filteren Cincius ttfters verwechselt worden seien. M. Hbbtz, De
Luciis anciis, Berlin 1842. Plüss, N. Schw. Mus. 1866, p. 36.
3. P. Cornelius Scipio, der Sohn des Africanus verfasste eine Ge-
schichte in griechischer Sprache, welche nach dem Urteil Ciceros (Brut.
19, 77) ausserordentlich anmutig geschrieben war. Da kein Fragment von
dieser Schrift erhalten ist, kann der Inhalt nicht näher bestimmt werden.
4. A. Postumius Albinus (Cons. 151) schrieb ein griechisches
Gedicht und eine griechische von den ältesten Zeiten anhebende Geschichte,
welche Polyb. 39, 12 (40, 6) eine pragmatische nennt. In diesem Werke
hatte der Verfasser im Eingang für etwaige sprachliche Fehler sich die
Nachsicht des Lesers erbeten, da er ja gebomer Römer sei. Darüber
spottete der alte Cato, es sei ja nicht notwendig gewesen, griechisch zu
schreiben ^ell. 11, 8, 2). Aus einem neuerdings entdeckten Bruchstück
eines Historikers erfahren wir, dass die Geschichte dem Dichter En-
nius, dem Hauptvertreter des Hellenismus in der damaligen Zeit gewidmet
war ; sie musste also vor 169 v. Ch., dem Todesjahr des Ennius abgefasst
r
100 BOmiBche Litteratnrgesohichte. I. Qie Zeit der Republik. 2. Periode.
sein und war demnach wohl ein Jugendwerk, in dem sich jene Entschul-
digung weniger sonderbar ausnimmt. Weiter hören wir, dass im Prooe-
mium von den zwei sich befehdenden Richtungen, der hellenisierenden und
der nationalen die Rede war. Dass Albinus Graecomane war, besagt nicht
bloss der Anonymus, sondern auch andere Schriftsteller wie Polybius a. a. 0.
und Cicero, der eine sich auf die bekannte griechische Gesandtschaft be-
ziehende Anekdote erzählt (Acad. pr. 2, 45, 137).
Das Bruchstück des Anonymus wurde von Giac. Cortese gefunden und publiziert
Rivista di filogia 12, 396 ; publiziert und besprochen ist es auch von Bücheler, Rhein. Mus.
39, 623. Da Macrobius einen lateinischen Satz aus dem ersten Buch des Geschichtswerks des
Albinus citiert (3, 20, 5), so wird man auf eine lateinische Übersetzung des Geschichtswerks
schliessen dürfen. Servius citiert zu Aen. 9, 710 Po«tumius de adventu Aeneae; es wird
hier ein Irrtum des Servius vorliegen. Gedicht und Geschichtswerk identifiziert Ribbeck
Gesch. d. röm. Dicht. 1, 51.
5. C. Acilius. Es wird uns berichtet, dass der Senator C. Acilius
155 V. Gh. die Reden der athenischen Gesandten im Senat verdolmetschte
(Gell. 6, 14, 9). Cicero erwähnt einen Acilius, der in griechischer Sprache
eine Geschichte schrieb, in der die Schlacht bei Cannä vorkam (de off. 3,
32, 115). Von vornherein ist die Annahme wahrscheinlich, dass beide Per-
sonen identisch sind. Unser Historiker ist ohne Zweifel auch in der Li-
vianischen Periocha 53 anzunehmen, nach der ein Senator G. Julius im
Jahre 142 eine griechische Geschichte schreibt. Einen Historiker C. Julius
kennen wir nicht, wohl aber den gerade damals lebenden Senator G. Aci-
lius, den Hertz auch an der erwähnten Stelle hergestellt hat. Das Ge-
schichtswerk begann mit der Urzeit (Plut. Rom. 21) und ging bis auf seine
Zeit herab (Dionys. 3, 67).
Liyius 25, 39, 12 ist von einem Claudius die Rede, qui annahs Acilianos ex Of'oeco
in Latinum sermonem veriit; 35, 14, 5 heisst es Claudius secMtua Graecoa Acilianos lihroa —
tradit. Üher das Verhältnis des Claudius zu Acilius werden wir bei Claudius handeln.
Litteratur: Vossius, De historicis latinis libri IIL Ed. II. Leyden 1651. Die
Fragmente der älteren lateinischen Historiker findet man jetzt am besten gesammelt in
Histaricorum Romanorum reliquiae. Ed. H. Peteb, toI. I, Leipz. 1870 (dazu Ausgabe von
1883); auf dieses Werk sei ein für allemal hingewiesen. In den Prolegomena findet man
auch die Litteratur zu den einzelnen Historikern. Recht brauchbar ist der Abriss der grie-
chischen und römischen Geschichte von A. Schaefeb, 2. Abt. Römische Greschichte bis
auf Justinian. 2. Aufl. bes. von H. Nissek, Leipz. 1885, weil hier die entscheidenden Stel-
len abgedruckt sind. Nitzsch, Die römische Analistik bis auf Valerius Antias, Berl. 1873.
Nissen, Krit. Unters, über die Quellen der IV. und V. Dekade des Livius, Berl. 1863 (eine
'musterhafte, reiche Belehrung gewährende Leistung).
2. M. Porcius Cato.
65. Beaction gegen den fortschreitenden Hellenismus. Nach
dem zweiten punischen Krieg gewahren wir ein bedeutendes Fortschreiten
. der hellenistischen Richtung. Die persönUchen Berührungen mit den Grie-
chen mehrten sich. Im Jahre 167 wurden tausend Geiseln aus vornehmen
achäischen Familien nach Italien gebracht und hier siebzehn Jahre lang
(167—150) zurückgehalten. Es ist klar, dass eine solche Masse hochste-
hender und feingebildeter Griechen die italische Gesellschaft mit ihrer Bil-
dung beeinflussen musste. Am deutlichsten zeigt sich dies im Hause des
AemiUus Paulus, des Siegers von Pydna. Unter seiner Beute befand sich
die griechische Büchersammlung des Königs Perseus; er schenkte sie sei-
.|ien Söhnen (Plut. Paul. 28) ; es war, die erste griechische Bibliothek, die
X. PorohiB Cato. 101
nach Rom kam (Isidor. orig. 6, 5). Um seinen Sohn Scipio Africanus
minor und dessen Freund Laelius sammelten sich hervorragende Griechen
und Freunde der griechischen Bildung, wir finden hier einen der tausend
Geiseln, den Megalopolitaner Polybius, dem der Gedanke einer Vereinigung
der Welt unter römischer Herrschaft auf Grundlage der griechischen Bil-
dung klar vorschwebt, und den Stoiker Panaetius. Auch Terentius und
Lucüius gehörten diesem Kreise an. Im Jahre 155 kamen drei Philoso-
phen als athenische Gesandte nach Rom, es waren dies der Peripatetiker
Critolaus, der Akademiker Cameades und der Stoiker Diogenes (Gell. 6 (7),
14, 8). Mit Begeisterung lauschten die Jünglinge Roms den Vorträgen
dieser Philosophen und bewunderten besonders die überlegene Dialektik
des Cameades (Plut. Cato 22). Nicht weniger erfolgreich war zehn Jahre
zuvor die Gesandtschaft des berühmten pergamenischen Grammatikers und
Rivalen Aristarchs Crates von Mallos gewesen (Suet. gramm. 2). Durch
ihn wurden die Römer mit der griechischen Grammatik und der griechi-
schen Philologie bekannt, die sie auf die heimische Sprache und Litteratur
übertrugen. Auch die griechische Rhetorik mit ihren Spitzfindigkeiten
bürgerte sich in Rom ein. An Reaktionsmassregeln gegen diese helleni-
sierenden Bestrebungen fehlte es nicht. Bereits 173 wurden zwei Epiku-
reer Alkaeos und Philiskos aus Rom ausgewiesen (Athen. 12 p. 547); im
Jahre 161 wurde ein Senatsbeschluss gefasst, der die Behörden ermächtigte,
den (griechischen) Philosophen und Rhetoren den Aufenthalt in Rom zu
untersagen (Sueton rhet. 1; Gell. 15, 11, 1). Der entschiedenste Geg-
ner des Hellenismus war M. Porcius Cato. Gebürtig in Tusculum 234
machte er als junger Mann mehrere Feldzüge mit, war Quästor des P.
Scipio in Sicilien und Afrika, verwaltete als Prätor (198) Sardinien und
kommandierte als Konsul in Spanien (195). Seine Censur (184) war so
berühmt geworden, dass ihm die spätere Zeit den Beinamen Censorius
erteilte. Diesen Römer von echtem Schrot und Korn kränkte der Helle-
nismus mit seinen kosmopolitischen Tendenzen. Er bekämpfte ihn daher,
wo sich nur eine Gelegenheit dazu darbot. Als die athenischen Philosophen
durch ihre Vorträge auf die römische Jugend einen grossen Eindruck
machten, drängte Cato zur schleunigen Erledigung ihrer Angelegenheit,
damit die Jugend wieder ihre gewohnten Beschäftigungen aufnehme. Auch
die zahlreichen griechischen Ärzte in Rom waren ihm ein Dorn im Auge.
Sie haben sich verschworen, polterte er, alle „Barbaren* durch ihre Arz-
nei zu töten und lassen sich noch dafür bezahlen. Sein Hass gegen die
Griechen bekundet sich in dem Schmäh wort „es ist ein nichtsnutziges Ge-
schlecht*. Von dem Umsichgreifen der griechischen Litteratur befürchtet
er schwere Nachteile. Wenn jenes Volk, klagt er, uns seine Litteratur
aufdrängt, wird es alles zu Grunde richten. Er wollte, dass man ihre
Schriften sich ansehe, aber nicht sich aneigne (Plin. n. h. 29, 7, 14). Um
die griechische Litteratur wirksam bekämpfen zu können, machte er sich
selbst im Alter mit ihr bekannt. Ersatz für sie suchend griff er .. ^^st
zum Griffel. Als ein Mann, der nicht einmal dem otium die Ungebunden-
heit gönnte (Cic. Plane. 66), richtete er hier seine Blicke zunächst auf das,
was den Römern notwendig und nützlich ist. Allein damit konnte er die
102 BönÜBohe litteratnrgesohichte. I. Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
wachgewordenea Geister nicht bannen. Auch in dem Reich des Geistes
gilt das Recht des Stärkeren. Die griechische Litteratur war eine Macht.
Sich derselben weise zu unterwerfen, das Gute aus ihr für die Nation nutz-
bar zu machen, das Schlechte zu verdrängen, dies wäre die richtige Auf-
gabe gewesen. Allein dazu war der Blick des alten Cato zu wenig um-
fassend gewesen. Die Reaktion gegen den Hellenismus missglückte. Ja
an Cato vollzog sich die Nemesis; indem er den Dichter Ennius aus Sar-
dinien nach Rom brachte, gab er Rom einen der hervorragendsten Reprä-
sentanten des Hellenismus. So musste sich denn erfüllen, was später der
Dichter sagt, dass der Besiegte dem Sieger seine Bildung aufzwang.
Über Cato haben wir zwei Biographien, die des Comelins Nepoa und die des Plutarch.
Druxann, Geschichte Roms 5, 97.
66. Catos ünterweisiingen — die erste lateinische Encyklopä-
die. Wir leiten unsere Besprechung der Gatonischen Schriftstellerei mit
dem Werke ein, durch das er einen Ersatz für die griechische Wissen-
schaft geben wollte. Citate bringen Unterweisungen Gates über Ackerbau,
Beredsamkeit, Medizin. Da diese Unterweisungen öfters an den Sohn ge-
richtet erscheinen, so werden wir vermuten dürfen, dass sie der Verfasser
zu einander in Verbindung gesetzt wissen wollte. Wenn es aber, wie man
annehmen muss, Catos Absicht war, seinem Sohn Regeln für alles, was
not thut, zu geben, so wird er auch noch andere Disziplinen behandelt
haben. So ist es kaum denkbar, dass er die Jurisprudenz weggelassen,
zumal Cicero auf eine solche Schriftstellerei hinweist (de or. 3, 33, 135),
und die Rhetorik stark zur Behandlung der Jurisprudenz drängte. Auch
dem Kriegswesen wird er seine Aufmerksamkeit zugewendet haben. Allein
wir können dies alles nicht nachweisen.- Ebensowenig können wir dar-
thun, dass das carmen de moribus „der Spruch über die Sitten^ an
seinen Sohn gerichtet und somit ein Teil jener Encyklopädie war. Aus
den . überkommenen sicheren Fragmenten, besonders aus dem über die
griechischen Mediziner, gewinnen wir eine Vorstellung von der Behand-
lungsweise. Die Sätze, die Cato in den einzelnen Sphären erprobt hatte,
wurden apodiktisch, im Befehlston vorgetragen. Es fand keine Erörterung
statt, wie ein Seher wollte er nach seinen Worten seine Sätze verkünden.
Dass viele der vorgebrachten Sätze engherzig waren, lässt sich schon aus
der Stelle über die Mediziner entnehmen; manche aber sind wahre Gold-
körner, wie das wundervolle: rem tene, verba sequeniur, halte die Sache
fest, die Worte werden schon folgen.
Wie das Werk betitelt war, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Nonius 1, 206 M.
citiert in praeceptis ad filium; Servius ad Verg. Georg. 2, 95 in libris quoa scripsü ad filium
2, 412 in libris ad filiitm de agricuUura, Plinius n. h. 7, 51, 171 CcUo ad filium. Vielleicht
war der Titel nur ad filium, F. Scholl, Rhein. Mus. 38, 481 nimmt nach Plinius 7, 51,
171 ; 29, 1, 27, Seneca controv. p. 49 Bu., Columella 11, 1, 26 den Titel „oraculum^ für das
Werk in Anspruch. Allein jene Citate sind so zu erklären, dass öfters Cato seine Lehren
als Seher- und Orakelsprfiche hinstellte. Belehrend ist hier das Fragment über die Medi-
ziner, wo es heisst ,et hoc puta vatem dixisse", mit Rücksicht darauf sagt dann Plin. n. h.
29, 1, 27 lues morum vatem prorsus coUidie facit Calonem et oraclum.
Aus dem carmen de moribus werden von Gellius 11, 2 drei Stellen citiert (darnach
Nonius 2, 69 M.) ; die erste handelt von der avaritia, die zweite von der guten alten Zeit,
in der die Dichtkunst noch nichts galt und der Dichter ein Bummler hiess, die dritte ver-
gleicht das Menschenleben mit dem Eisen, das, wenn es nicht gebraucht wird, vom Rost
zerfressen wird. Sowie die Sätze bei Gellius vorliegen, sind sie Prosa. Ob sie früher in
X. Poroins Cato. 103
gebundener Fonn abgefasst waren (in diesem Fall wohl in Satomiem), wissen wir nicht;
eannen nötigt nicht zu einer solchen Annahme. Anders Ritschl, Opusc. 4, 300 ; L. Mülleb,
Der sat. Vers p. 95.
0. Jahn, Über röm. Encyclopäd. in Ber. der sftchs. Ges. der Wissensch. I (1849)
p. 263.
67. Catos fachwissenschaftliche Spezialschriften. Ausser den Unter-
weisungen verfasste Gate auch noch Spezialschriften über einzelne Fächer.
So finden wir in unsern Quellen öfters eine Schrift Gates über das Kriegs-
wesen erwähnt (Plin. n. h. praef. 30; Festus p. 214, p. 306; Qellius 6 (7), 4,
5). Die daraus erhaltenen Fragmente weisen keine Beziehung zu dem
Sohne Gates auf. Das Buch scheint sich an das Volk zu wenden, es wer-
den die Missbräuche im MUitärwesen besonders scharf behandelt worden
sein. In einem Fragment heisst es: Das Volk soll arbeiten, damit nicht
die Bekränzung wegen des Verkaufs in die Sklaverei, sondern wegen des
Sieges erfolge (Festus p. 306). Ferner schrieb Gate neben den Unterweisungen
über die Landwirtschaft einen Wirtschaftsratgeber (de agricuUurq), die
einzige Schrift, die uns von Gate erhalten ist, und die älteste
der uns erhaltenen lateinischen Prosaschriften. Das Gharakteri-
stische dieser Schrift ist, dass Landwirtschaft und Hauswirtschaft noch
nicht geschieden sind. Wir finden nämlich neben landwirtschaftlichen Vor-
schriften Heilmittel, Kochrezepte, Formularien, Religiöses u. s. w. Die An-
ordnung der Vorschriften erfolgt in der Weise, dass sich die verwandten
zu Gruppen zusammenschliessen wie c. 1—22 die über die Outseinrichtung.
Allein sehr oft findet sich die grösste Regellosigkeit. Es fragt sich, wie
dieselbe entstanden ist. Der erste Gedanke dürfte sein, die Störung der
Überlieferung zuzuschreiben. In der That hat dieselbe nachteilig auf das
Werk eingewirkt; denn einmal erkennen wir, dass die alten Schreibweisen
und viele Formen systematisch ausgemerzt und dafür solche aus der Zeit
des Augustus eingeführt wurden. Ferner finden wir öfters dieselbe Regel
in einer doppelten Form, in einer älteren und einer jüngeren z. B. 51. 52
II 133; 5 II 142. 143; 91 jj 129. Da sich beide Formen bei PUnius nach-
weisen lassen z. B. 51. 52 || Plin. 15, 44; 133 || Plin. 15, 127, so muss die
jüngere Rezension vor Plinius fallen. So werden auch Störungen in der
Anordnung dem willkürlichen Eingreifen späterer Hände aufzubürden sein ;
allein eine vollständige Erklärung für die jetzige Beschaffenheit unserer
Schrift wird dadurch nicht ermöglicht werden. Wir werden daher kaum
der Annahme entgehen können, dass das Werk nicht völlig geordnet und
fertig aus der Hand Gates hervorgegangen ist.
NiTzscH hat Z. f. Alterthumsw. 1845 p. 493 den Nachweis zu liefern versucht, dass
Cato bei Abfassung seiner Schrift einen bestimmten Güterkomplez des L. Manlius bei Ca-
sinum und Yenafrcun im Auge gehabt habe, der auf Öl- und Weinbau eingerichtet war,
wfthrend das Getreideland in Händen von^Pftchtem lag; daher sei vom Getreidebau wenig
die Rede. Diese Ansicht ist unhaltbar. — Die Annahme Vahlens, Z. f. 5sterr. Gymn. X
(1859) p. 170, dass der commerUarins ^t4o medeatur filio, servis, familiaribtis (Plin. 29. 8, 15)
verschieden von den an den Sohn gerichteten Mahnungen und Vorschriften über ärztlichen
Gebrauch sei, ist nicht wahrscheinlich.
Überlieferung: Die landwirtschaftliche Schrift Catos beruht (wie die Yarros) auf
einer verloren gegangenen Handschrift der Markusbibliothek in Florenz, welche nach Keil
die Quelle aller übrigen Codices der beiden Werke wurde. Zur Restituierung des Marcia-
nus dienen apographa und bes. eine in Paris befindliche Kollation der Marcianus, welche
Politianns in die edUio princeps eingetragen hatte.
104 BOmische Litieratargeschichie. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Litteratur. M. CkUonia de agrictUtura liber M, Tereniii Varranis rerum rustkO'
rum libri IIL Rec. H. Keil, Lips. 1884. R. Klotz, Über Gatos Schrift de re rustica,
N. Jahrb. f. Philol. X (1844) 1 — 73. Schoendobffer, De genuina Catonis de (igricuUura
libri forma Pari. I de sgntaxi Catonis, KOnigsb. 1885. P. Weiss, Qtiaestionum Catoniana-
rum capita V 1886 (trefifliche Dissertation). Ergänzend nnd berichtigend hiezu vgl. Rli-
TZEN8TEIN, Wochonschr. f. kl. Philol. 1888 Nr. 19 p. 587.
68. Catos ür- und Zeitgeschichten. Die erste römische Geschichte
in lateinischer Prosa sind Catos Ursprungsgeschichten (origines). Über
dieselben belehrt uns des Näheren die klassische Stelle des Cornelius Nepos
im Cato 3; wir müssen um so mehr Bedeutung dieser Stelle zuerkennen,
da Nepos sich mit Cato eingehend beschäftigt hat. Das Werk bestand
aus sieben Büchern; im ersten war die römische Königszeit behandelt,
im zweiten und dritten der Ursprung der italischen Gemeinden, das
vierte Buch schilderte den ersten punischen Krieg, das fünfte den
zweiten, die folgenden Kriege waren bis zur Prätur des Servius Oalba
(151, allein die Erzählung ging noch etwas weiter, bis 149) Gegen-
stand des sechsten und siebenten Buchs. In dieser Inhaltsübersicht treten
uns sofort zwei Schwierigkeiten entgegen, einmal passt der Titel nur auf
einen Teil des Werks, nämlich auf die drei ersten Bücher — auch Cor-
nelius Nepos ist dies nicht entgangen — dann bemerken wir in der In-
haltsangabe eine grosse Kluft, es fehlt nämlich die Zeit von der Vertrei-
bung der Könige bis auf den ersten punischen Krieg. Zwar haben manche
Forscher hier eine mangelhafte Berichterstattung des C. Nepos angenom-
men und behauptet, jene Zeit sei entweder im zweiten und dritten Buch
oder in der Einleitung des vierten behandelt worden. Allein die erste An-
nahme bestätigt kein Fragment des zweiten und dritten Buchs; gegen die
zweite Annahme spricht schon der Gegensatz, in dem sich Cato nach einem
uns überkommenen Fragment des vierten Buchs (fr. 77 P.) zu der dürren
annalistischen Behandlung, welche hier hätte in Anwendung kommen müssen,
stellt. Beide Schwierigkeiten lösen sich sofort, wenn wir es nicht mit
einem Werk zu thun haben, sondern mit zwei Werken, von denen das
erste die Vorgeschichte Italiens, das andere im wesentlichen die Zeitge-
schichte des Verfassers gibt. Für diese Ansicht spricht der Umstand, dass
nach Cicero Brut. 23, 89 Cato noch wenige Tage oder Monate vor seinem
Tode mit dem siebenten Buch beschäftigt war. Es darf also als wahr-
scheinlich angenommen werden, dass Cato die vier letzten Bücher gar
nicht selbst herausgab. Die drei ersten Bücher aber waren, scheint es,
bereits längere Zeit publiziert; denn im zweiten Buch wird ein Ereignis
vom Perseuskrieg, also doch wohl von der Gegenwart aus und für die
Gegenwart datiert (fr. 49 P.). Wurde die Zeitgeschichte erst später mit
der Ursprungsgeschichte vereinigt, so erklärt sich leicht, wie der Titel
„origines" auf das Ganze übertragen werden konnte. Cato hat also mit
richtigem Blick für seine Geschichtschreibung zwei Gebiete ausersehen,
die reichen Stoff bargen, das Gebiet der Sage und das Gebiet der Zeit-
geschichte. In den „ Origines '^ war nicht bloss die Gründung Roms und
dessen Geschichte erzählt, sondern auch die übrigen Volksstämme, die mit
Rom in Berührung kamen, behandelt, ihre Herkunft, die Gründung ihrer Ge-
meinden. Manche treffliche Bemerkungen waren hier eingestreut wie »Gal-
X. Porcina Cato. 105
lien wirft allen seinen Eifer auf zwei Dinge, aufs Kriegswesen und auf
die geistreiche Rede* (fr. 34P.). Seine Zeitgeschichte war hauptsächlich
eine Geschichte der Kriege. Aber auch hier schlug Cato einen neuen Weg
ein, er führte die Ereignisse nicht nach den Jahren auf, wie es die An-
nalisten thaten, sondern verband das Zusammengehörige zu einem „Ab-
schnitt**. Weiterhin war es eine Eigentümlichkeit dieser Bücher, dass die
Feldherrn nicht mit Namen, sondern lediglich nach ihrem Amt bezeich-
net waren, wie es auch in den alten Annalen üblich war.^) Ein Bild von
der Dai*stellung gewinnen wir durch die berühmte Erzählung von der That
des Tribunen Q. Caedicius, welche er mit der des Leonidas vergleicht (fr.
83 P,). Es ist eine höchst anschauliche und eindringliche Schilderung. Diese
Anschaulichkeit wird auch durch Einlage der Reden, welche Cato hielt,
gefördert. Als charakteristische Eigenschaft des ganzen Werkes gibt Nepos
noch an, dass besonders auch Merkwürdigkeiten in geographischer und
ethnographischer Hinsicht berücksichtigt waren, dann dass demselben der
gelehrte Anstrich, wie er sich in Reflexionen und allgemeinen Betrach-
tungen kundgibt, fehlte, dagegen überall Sorgfalt und Fleiss sichtbar war.
Der Verlust dieses Werks ist unersetzlich. Mit Recht sagt Niebuhr*):
Wäre es möglich, ein verloren gegangenes Werk durch Beschwörung der
Geister wieder zu erlangen, so würde das erste alte Werk, das wir zu ver-
langen hätten, die Origines des Cato sein.
69. Catos Beden und Briefe. Die grosse staatsmännische Thätig-
keit Catos hatte eine ausgedehnte rednerische Thätigkeit im Gefolge. In
seinem Alter redigierte er eine Sammlung der berühmtesten Reden (Cic.
Cato 38). Cicero kannte deren mehr als 150 (Brut. 17, 65).') Uns sind
besonders durch Grammatiker Fragmente aus etwa 80 erhalten, von denen
keine über sein Eonsulatsjahr (195) zurückgeht. Ein grösseres Bruchstück,
welches uns ein Bild von der catonischen Beredsamkeit geben kann, ist
das aus der Rede für die Rhodier, welche während des Kriegs mit Per-
seus eine bedenkliche Hinneigung für den König an den Tag gelegt hat-
ten. Diese Rede war in das Geschichtswerk Catos aufgenommen worden
(p. 21 Jordan). Mit Recht sagt Gellius 6 (7), 3, 53, dem wir die Erhaltung
dieses Bruchstückes verdanken, dass all dieses geordneter und wohlklin-
gender, aber nicht eindringlicher und lebendiger gesagt werden konnte.
Von dieser wundervollen Eindringlichkeit zeugt auch ein Fragment, wel-
ches der Rede „über seinen Aufwand^ entnommen ist (p. 37 J.), und die
Fragmente, welche aus den' Reden gegen Q. Minucius Thermus stammen
und dessen grausame Auspeitschung einer Senatskonmiission wegen schlech-
ter Proviantlieferung zum Gegenstand haben (p. 39, p. 41 J.), endlich die
Bruchstücke, in denen ein komisches Bild eines Volkstribunen entworfen
wird (p. 57 J.). Wie jetzt noch unsere Fragmentsammlung zeigt, müssen
die Reden einen Schatz von kernigen Sätzen und Wahrheiten enthalten
*) NiJSSE, De annalibus Ramanis obser-
vationes, Marb. 1886.
') Körn. Geschichte nach NiebnhrB Vor-
trftgen« Von ScmaTz (Zeiss) 1, 56.
•) Auch sein Enkel M. Cato (Cons. 118)
hinterliess fntdt€is orationes ad exem^lum
am scripta« (Gell. 13, 20 (19), 19). Auffallend
ist aber, dass Cicero ihn im Brutus nicht
erwähnt. Vielleicht floss sein Eigentum mit
dem seines Grossvaters zusammen (Teuffel,
R. Literaturg. § 141, 1).
106 Römische Litteraturgeschichte. I. Die Zeit der Bepnblik« 2. Periode.
haben, vgl. V, 1 p. 38 ; LXV, 1 p. 67*; LXX, 1 p. 69 (über die ungleiche
Behandlung der grossen und der kleinen Diebe).
Auch eine Sammlung der Gatonischen Briefe gab es. Cicero wenig-
stens citiert de off. 1, 11, 37 einen Brief Gates an seinen Sohn.
Wie diese beiden Gattungen durch Cato in die Litteratur eingeführt wurden, so auch
eine dritte „die Blumenlese*, das Florilegium; er sanunelte nämlich witzige kernige
Aussprüche anderer {dnoq>&fyfiata xal yytofi^oylai); vgl. Cic. de off. 1, 29, 104; Plutarch
Cato m. 2.
70. Fortleben Catos. Die Schriften Gates hielten lange Zeit das
Interesse der Leser wach. Besonders gefielen die treffenden Lebenswahr-
heiten und Aussprüche. Es wurden daher dieselben in einer Sammlung
vereinigt. Schon Cicero scheint ein solches Gorpus vor sich gehabt zu
haben; noch deutlicher liegt dasselbe in der Plutarchischen Biographie
Catos vor. Weiterhin regte die Sprache Catos zu Forschungen an; Ver-
rius schrieb eine Schrift de obscuris Catonis (Gell. 17, 6, 2), d. h. erläuterte
die nicht mehr gebräuchlichen Worte. Femer erregte die scharfe Unter-
scheidung der Begriffe bei Cato die Aufmerksamkeit der Grammatiker und
führte zu Sammlungen von Synonyma. In der archaisierenden Periode
wurde Cato mit Vorliebe behandelt, Cornelius Fronto und besonders A.
Gellius sind Bewunderer desselben.
Isidor. differerUiarum aive de proprietate sermonum l. II praef. 5, 10 Migne consue-
tudo obtinuU pleraque ab auctaribus indifferenter accipi, quae quidem quamvis similia vide-
antur, quadam tarnen prapria inier se origine distinguuntur. De kis apud Latinos Cato
primtis scripsit, ad cuius exemplum ipse paucissimas partim edidi, partim ex auctorum
libris deprompsi; dass Cato seihst eine solche Sammlung angelegt, ist natürlich unrichtig.
In späterer Zeit erhält Cato sogar typische Bedeutung, es sammeln sich um seinen Namen
als den eines weisen Mannes (Cato philosophits) Spruchsanmilungen. So werden 74 fast
nur einzeilige Sprüche (in Hexametern), welche Riese in der Antiiol. 1. unter Nr. 716 ver-
öffentlicht hat, auch als proverbia Catonis philasophi handschriftlich bezeichnet. Wölfflin
hat 13 sententiae, die den Namen Catos tragen, aus Gnomensammlungen herausgeschält
(Senecae monita p. 26). Doch am wichtigsten wurde eine Sammlung, die mit einem Briefe
beginnt, 56 (57) kurze prosaische Sprüche folgen lässt, dann in 4 Büchern zweizeilige aus Hexa-
metern bestehende Lebensregeln darbietet. Diese Sammlung muss bereits im 4. Jahrhun-
dert vorhanden gewesen sein, vorausgesetzt, dass der Brief des comes archiatrorum Vin-
dicianus an Valentinian (f 375), in dem II, 22 erwähnt ist, echt ist. „Kein Werk hat wäh-
rend des Mittelalters eine entfernt so weite Verbreitung gefunden, wie die unter dem Namen
des Cato bekannten lateinischen Distichen. Sie waren das Faktotum beim Unterricht der
Jugend, die aus ihnen die Anfangsgründe der Grammatik, Poesie, Moral kennen lernte, sie
blieben meistens ein Lieblingsbuch auch noch der Erwachsenen* (Zarnoke, Der deutsche
Cato, Leipz. 1852 p. 1). Fast alle europäischen Litteraturen enthalten Bearbeitungen Catonis
phihsophi libri. Ed. F. Hauthal, Beriin 1869. Anthol. lat. Ed. Bähbens, vol. HI, 205.
Allgemeine Litteratur über Cato: M. Catonis praeter librum de re rustica
quae extant, Rec. H. Jobdan, Lips. 1860. 0. Ribbeck, M. Porcius Cato als Schriftsteller,
Schweiz. Mus. 1, 7 — 33. Vollebtsen, Qwustionum Catonianarum capita duo, Kiel 1880.
3. Die lateinischen Annalisten.
71. Die allgemeinen Stadtchroniken. Den Erfolg hatte die histo-
rische Schriftstellerei Catos, dass jetzt die lateinische Sprache die fast all-
gemein regelmässige für die öeschichtschreibung wurde. Dagegen drang
nicht die Opposition Catos gegen die Chroniken durch ; denn es treten uns
auch nach Cato noch Darstellungen entgegen, welche im Anschluss an die
offizielle Chronik die Ereignisse von der Gründung der Stadt bis auf die
Gegenwart fühi'ten. Solche Darstellungen Ueferten:
1. L. Cassius Hemina. Von seiner Geschichte werden vier Bücher
Die lateinischen Annalisten. 107
citiert; das erste behandelte die Urzeit, das zweite die Zeit von Romulus
bis wenigstens auf den gallischen Krieg, das vierte, das den Separattitel
„bellufn Punicum posterior*' führte (Prise. 7 p. 347 H.)) den hannibalischen
Krieg. Da die Geschichte noch ein Ereignis des Jahres 146 v. Ch. er-
wähnte (Gensorinus 17, 11), so ist wahrscheinlich, dass sie mehr als vier
Bücher umfasste. Die Herausgabe erfolgte wohl successive.
Wegen des Citats bei Nonius s. r. moliri 1, 560 M. 1. 11 de censaribus: et in area
lin] CapUoli aigna quae erant demoliunt mit Hertz, De hüttoricorum Roman, reliquiis
quaegtümum capUa quinque Index lect, aestiv., 1871 p. 2 eine eigene Schrift HsiONAa über
die Cen8<»«n anzunelunen, iat keine unbedingte Notwendigkeit vorhanden.
2. L. Galpurnius Piso Frugi, Gegner der öracchen, auf dessen
Gesetzesvorschlag hin 149 v. Ch. die erste ständige kriminale Kommission
und zwar über das Verbrechen der Erpressung eingesetzt wurde, verfasste
Annalen in sieben Büchern von Äneas bis auf seine Zeit. Zwei Züge
treten, wie es scheint, in seiner Geschichte scharf hervor, einmal das Be-
streben, der eingerissenen Sittenverderbnis zu steuern (fr. 33; 40), dann
ein die Sage auflösendes Grübeln (fr. 6). Die Darstellung war nach Cicero
eine dürre und trockne (Brut. 27, 106). Dieses Urteil bestätigen die Frag-
mente, man vergl. die Erzählung von Romulus (fr. 8) und die von dem
Schreiber Cn. Flavius (fr. 27).
Man hat wegen gewisser Fragmente (z. B. 4 nnd 44) noch einen Antiquar Piso (0. Jahv)
oder wenigstens ein zweites antiquarisches Werk unsres Piso (Hebtz) angenommen; allein
mit Unredbt, vgl. Pbteb CLXXXXIU. Dagegen haben wir noch einen jüngeren sonst nicht
näher bekannten Historiker C. Piso bei Plut. Mar. 45, 5, mit einem Fragment über den
Tod des Marins.
3. C. Sempronius Tuditanus (Cons. 129). Seine allgemeine Stadt-
chronik reichte bis zum Triumph des T. Quinctius Flaminius (fr. 6). Auch
libri magistratuum verfasste er, es wird das 13. Buch bei Gellius 13, 15, 4
citiert.
4. Cn. Gellius, derselbe, gegen den M. Cato eine Rede filrL. Turins
hielt (Gell. 14, 2, 21), begann ebenfalls mit den ältesten Zeiten ; er muss
sehr ausführlich gewesen sein, denn es wird das 97. Buch angeführt (Cha-
risios p. 54 E. ; fr. 29) ; im 3. Buch war erst der Raub der Sabinerinnen er-
zählt (fr. 15); im 1. Buch war viel von Erfindungen die Rede. Bei Livius
ist sein Werk nicht berücksichtigt.
Man hat wegen eines Gitates bei Nonius s. v. bubo 1, 285 M. unter dem Namen A.
Gellius, femer wegen des Plurals Gellii bei Cic. de div. 1, 26, 55 — Cic. de leg. 1, 2, 6 ist
nur durch Konjektur Gellii hergestellt worden — einen zweiten Historiker A. Gellius sta-
tuiert; allein bei Nonius liegt entweder eine Verwechslung des Cn. Gellius mit dem be-
kannten A. Gellius vor oder esistAsellio mit Antonius Augustinus zu schreiben; der Plural
bei Cicero beweist nichts. Vgl. Nippebdey, Opusc. 399; Meltzbb, Fleckeis. J. 1872 p. 429.
5. In dieselbe Zeit wird gehören der Historiker Vennonius. Nur
an drei Stellen wird derselbe erwähnt: Cic. de leg. 1, 2, 6; ad Attic. 12, 3,
1 ; Dionys. 4, 15.
6. C. Fannius Strabo. Der Schwiegersohn des Laelius und Schüler
des Panaetius, stand zuerst auf Seite des C. Gracchus, durch dessen Ein-
flnss er 122 v. Gh. das Konsulat erhielt, wandte sich aber in seinem Kon-
sulat von demselben ab und bekämpfte ihn in einer Rede. Von seiner
Oeschichte wird das erste und das achte Buch citiert. Das einzige
Fragment des ersten Buches enthält einen allgemeinen Gedanken; im ach-
108 Römische Litteratorgenchichte. I. Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
ten Buch war mehrmals von Drepanum die Rede (fr. 3); es wird also in
demselben der erste punische Krieg behandelt worden sein. Für die grac5-
chische Zeit war Fannius eine Hauptquelle, Plutarch scheint ihm in seinen
Biographien der Gracchen gefolgt zu sein. Von dem Ansehen, dessen
sich sein Werk erfreute, zeugt auch die Thatsache, dass M. Brutus sich
aus demselben einen Auszug machte (Gic. ad Attic. 12, 5, 3).
Die von Cic. Brut. 26, 99 — 102 durchgefObrte Unterscheidung von zwei Schriftstellern
des Namens Fannius (der eine C. F., der andere fi. F.) betrachtet als eine irrige Momxsev,
C. J. L. 1, 158; nach ihm ist der C. Fannius C. f. zu streichen. Zweifel gegen Mommsen
erhebt Hirschfeld, Die Annalen des C. Fannius, Wien. Stud. 7, 127: „Ob der Geschicht-
schreiber Fannius mit dem Schwiegersohn des Laelius (an der Identität mit dem Konsul
d. J. 122 V. Ch. C. Fannius M. f. ist allerdings wohl nicht zu zweifeln) identisch sei, ist
mir sehr fraglich. Atticus ist der Ansicht nicht gewesen (ad Attic. 12, 5, 3).** Über Fannius
als Redner werden wir unten p. 115 handeln.
4. L. Coelius Antipater.
71. Die historische Monographie. Gegenüber der Geschichtschrei-
bung, welche mit der Gründung von Rom begann, muss das Aufkommen
der historischen Monographie als ein grosser Fortschritt angesehen wer-
den ; denn das Herausgreifen eines wichtigen Zeitabschnitts leitet über zur
tieferen Auffassung und zur kunstmässigen Darstellung des Stoffs. An
den Namen des Coelius Antipater knüpft sich dieser Fortschritt in der
Geschichtschreibung. Er wählte sich eine Zeitepoche aus, welche einmal
wegen ihrer hohen Bedeutung für eine Sonderdarstellung geeignet war
und dann als eine der nächsten Vergangenheit angehörige der Forschung
keine übergrossen Schwierigkeiten entgegenstellte. Es ist dies der zweite
punische Krieg.
Das Werk, das unter verschiedenen Namen citiert wird, bestand aus
sieben Büchern, im ersten Buch waren die Kriege der Punier in Spanien
und die ersten Feldzüge Hännibals in Italien erzählt, in dem zweiten stand
die Schlacht bei Cannä, das dritte begann mit dem Jahre 214, ins sechste
fiel die Landung Scipios in Afrika (fr. 41), das siebente erzählte die Ge-
fangennahme des Königs Syphax (fr. 44) und die übrigen Ereignisse bis
zum Schluss des Kriegs. Antipater benutzte für sein Werk sowohl ein-
heimische Quellen als auch, was sehr wichtig ist, fremde aus dem gegne-
rischen Lager ; unter den letzten wird Silen, der sich bei Hannibal befand,
ausdrücklich genannt (fr. 11); von den einheimischen zog er zu Rat Fabius
Pictor, Cato (fr. 25), die Leichenrede auf Marcellus (fr. 29). Diese letzte
Stelle zeigt, dass er zwischen verschiedenen Berichten kritisch zu scheiden
versuchte. Andrerseits erkennen wir aus den Fragmenten, dass er zum
Aberglauben geneigt war und auf Träume und Vorzeichen grosses Gewicht
legte (fr. 19; 20; 34). Auch Ausschmückungen finden sich, so war die Über-
fahrt Scipios nach Afrika in wunderlicher Weise erzählt. Zur Charakte-
risierung seiner Darstellung heben wir hervor, dass er häufig von der
Form der Rede Gebrauch machte,') dass er mit Vorliebe das Praesens
historwum setzte, endlich dass er in der Wortstellung sich dichterische
*) GiLBEBT p. 464 ,Es sind nicht weni-
ger als 16 Fragmente uns erhalten, welche
Reden entlehnt sind, und wir können we-
nigstens 6 verschiedene Beden erkennen, die
in dem Werk des Coelius Platz gehabt ha-
ben."
L. Ooelins Antipater. Sempronins Aaellio. 109
Freiheiten gestattete. Ausdrücklich wird berichtet, dass er stilistisch En-
nius nacheiferte (Fronte p. 62 N.). Antipater muss sonach der Darstellung
grosse Aufmerksamkeit gewidmet und dahin gestrebt haben, den Leser zu
fesseln. Und wenn Cicero von dem modernen Geschmack aus vieles an
Antipater vermisst, so geht doch soviel aus seinen Urteilen (de or. 2, 12,
54; Brut. 26, 102) hervor, dass Antipater in Bezug auf die Darstellung
seine Vorgänger überholte. Ein Werk wie das Antipaters musste sich
eines hohen Ansehens erfreuen ; es bildet die Hauptquelle für den zweiten
punischen £[rieg. M. Brutus machte von demselben einen Auszug (Cic. ad
Attic. 13, 8).
Ausser diesem Werk hat man noch ein zweites Antipater beigelegt z. B. Sieolin,
der die Fragmente 1. c. p. 88—92 ausgeschieden, und zwar weil sich ' gewisse Fragmente
schwer in den Rahmen des punischen Kriegs einreihen lassen, dann aber ganz besonders
weil fr. 50 den Tod des C. Gracchus voraussetzt, w&hrend der punische Krieg dem um 128
V. Ch. gestorbenen Laelius, dem Freunde Scipios gewidmet war. Vgl. Cic. or. 69, 229, wo
die Wamimg erlassen wird, ne aut verha traiciamus aperte. — quod ae L. Caelius Anti-
pater in prooetnio belli Punici ni»i neceasario facturum negai. Et hie quidem, qui hanc a
Laelio, ad quem scripsit, rui se purgat, veniam petit et uiitur ea traiectione verborum et
nihilo tarnen aptius expUt cancluditque aententiaa. Allein an dieser Stelle ist L. Aelio statt
Laelio zu lesen. Dies zeigt Comificius 4, 8 ^ W verborum traiectionem vitabimua, niai
quae erit eoncinna, qua de re poateriua Joquetnur, quo in vitio eat Coelitta (dies ist die
massgebende handschriftliche Überlieferung, nicht Lucilius) ut haec eat : In priore (so inter-
pungiert Mabx) libro haa rea ad te acriptaa Lud misimua Aeli, Wie bei Cicero, so wird
also auch bei Comificius die traiectio terborum als Eigentümlickeit des Coelius hingestellt.
Dieser L. Aelius ist der bekannte Grammatiker L. Aelius Stilo, der Lehrer Ciceros, der
noch Ober 100 v. Ch. hinauslebte. Vgl. die scharfsinnige Deduktion bei Mabx, Stud. Lucil.
Bonn 1882 p. 96—98. Damit fällt das gewichtigste Argument, das für ein zweites Werk
Antipaters geltend gemacht werden kann. Schon der Umstand, dass auch von dem sup-
ponierten zweiten Werk wie von dem ersten ebenfalls 7 Bücher bekannt sind, ferner dass
Citate ohne jede Bezeichnung des Werks einfach die Buchzahl anführen z. B. fr. 32, hätte
misstrauisch machen sollen. Die Fragmente, die einer Einreihung in den punischen Krieg
Schwierigkeiten bereiten, sind teils andern Autoren zuzuweisen — L. Coelius wird oft mit
ähnlichen Namen verwechselt — teils bildeten sie einen Bestandteil von Excursen.^) Für
die Zeit der Abfassung bildet das Jahr 122 v. Ch., das Todesjahr des C. Gracchus eine Grenze,
über die wir nicht zurückgehen dürfen. Weiter hinab führt eine von Neümann, Phil. 45,
385 veranstaltete Betrachtung des fr. 56, wo als Afrikaumsegier, den C. A. gesehen haben
wül, Eudoxos von Kyzikos vermutet wird. Diese Reise fällt aber einige Jahre nach 117
v. Ch. — Gegen den Anfang des 8. Buchs mit 214 (nach Gell. 10, 1, 3 fr. 59) streitet
Gilbert 1. c. p. 374.
Festns p. 158 M. citiert Alfius libro I belli Carthaginiensis. Da wir keinen Alfius
kennen, vermutet Nipperdey, Opusc. p. 402 Caelius für Alfius, wogegen Einwände erhebt
Peter 1, CCXXXVI.
Litteratur: Meltzeb, De L. Caelio Antipatro, Leipz. 1867. E. Wölfplin, Antio-
chus von Syrakus und Caelius Antipater, Winterthur 1872. Hesselbabth, Hist. kritische
Untersuchungen zur dritten Dekade des Livius, Halle 1889. Gilbert, Die Fragmente des
L. Coelius Antipater, Fleckeis. J. Suppl. 10, 365. Sibqlin, Die Fragmente des L. Caelius
Antipater. Ebenda 11, 3.
5. Sempronius Asellio.
72. Die Zeitgeschichte. In der öeschichtsclireibung macht es einen
wesentlichen Unterschied, ob der Historiker Selbsterlebtes oder von anderen
Berichtetes zu erzählen weiss. Im zweiten Fall kann der Stoff nicht ver-
mehrt werden, der Darstellende kann ihn prüfen und sichten, er kann ihn
künstlerisch gestalten, allein immer bleibt die Abhängigkeit von seiner
Quelle bestehen. Dagegen bei dem Selbsterlebten gibt der Historiker neuen
') Hesselbarth, Hist. krit. Untersucbung p. 659.
110 BOmische Litteratnrgeschichte. 1. Die Zeit der fiepnblik. 2, Periode.
Stoff, wenn gleich nur nach seiner eigenen subjektiven Auffassung. Auch
den Alten war diese Unterscheidung nicht entgangen, sie wählten den
Ausdruck „historia** für die Darstellung des Selbsterlebten. Praktisch be-
thätigten sie diesen Gegensatz, indem sie in ihren Geschichtswerken die
alte Zeit summarisch, die eigene dagegen ausführlich behandelten. Beson-
ders einschneidend war hier der Vorgang Gates, der nur Sage und Zeit-
geschichte darstellte. Durch diese Behandlungsweise war aber die Ein-
heitlichkeit des Werkes gestört. Es war daher ein grosser Schritt, dass
Sempronius Asellio, der Militärtribun im numantinischen Krieg (134)
war, sich entschloss, mit dieser Gewohnheit zu brechen, in seinem Ge-
schichtswerk die alte Zeit ganz wegzulassen und sich auf Darstellung des
Selbsterlebten zu beschränken (Gell. 2, 13). Sempronius ist sich seiner
Neuerung wohl bewusst, denn er setzt seine Geschichtschreibung in den
schärfsten Gegensatz zu dem Verfahren der Annalisten, welche sich mit
der bekannten Aufzählung der äusseren Ereignisse begnügen ; er will auch
den inneren Verhältnissen seine Aufmerksamkeit zuwenden ; er will ferner
den inneren Beweggründen der Handlungen nachgehen, d. h. pragmatische
Geschichte schreiben und endlich auch patriotisch-ethische Wirkung erzie-
len (Gell. 5, 18, 7). Über den Umfang des Werkes, das den Titel histo-
riae oder verum gestarum libri führte, sind bei der geringen Anzahl der
Fragmente nur Vermutungen gestattet. Das letzte Ereignis scheint die
Ermordung des M. Livius Drusus (91) gewesen zu sein; denn fr. 13 ist zu
unbestimmt, um daraus Schlüsse zu ziehen. Begonnen hat das Werk wahr-
scheinlich mit dem numantinischen Krieg. Auch die Buchzahl lässt sich
nicht sicher bestimmen.
Stelkens, Der röm. Geschichtschreiber Sempronius Asellio, Grefeld 1867. Hertz,
Opusc. Gelliana p. 211 (Fleckeis. J. 101, 303).
6. M. Aemilius Scaurus, Q. Lutatius Catulus, P. Rutilius Kufus.
73. Die Autobiographien und die Denkschriften. Zur Zeitge-
schichte gehört auch die Autobiographie und die Denkschrift oder
die politische Brochüre. Als Vorläufer dieser Gattung können wir
betrachten den griechischen Brief , den der ältere P. Coi*nelius Scipio
Africanus an den König Philipp von Makedonien über sein Verfahren
im spanischen Kriege richtete (Polyb. 10, 9), und einen zweiten grie-
chischen Brief, den P. Cornelius Scipio Nasica (Cons. 162) an irgend
einen König über den letzten Feldzug gegen Perseus, an dem er sich
beteiligt hatte (Plut. P. Aemil. 15), geschrieben. Die Gattung selbst be-
gründete C. Gracchus; er hatte eine Schrift zum Schutz der gracchischen
Politik geschrieben, die dem M. Pomponius gewidmet war, er erzählte da-
rin von einem im Hause seines Vaters erschienenen Schlangenpaar und
dessen merkwürdiger Deutung durch die haruspices (Cic. de div. 1, 18, 36;
2, 29, 62), wahrscheinlich handelte er darin auch von sich selbst, i) Zur
vollen Entfaltung gelangte aber diese Litteraturgattung erst gegen das
Ende unserer Periode durch die Bürgerkriege. In dieser Zeit der wilden
Parteikämpfe hatten die Handelnden nur zu oft Anlass zu Rechtfertigungs-
*) NiPPKBDEY Opusc. p. 99.
Verfasser von Antobiograpliien und Denkschriften.
111
Schriften. Es treten uns drei Personen mit solchen Schriften entgegen,
M. Aemilius Scaorus (Cons. 115, gest. um 88 v. Gh.), der aus dem Cimbern-
krieg bekannte Q. Lutatius Catulus und endlich P. Rutilius Kufus. Der
schlaue M. Aemilius Scaurus schrieb über sein Leben drei Bücher^), die
dem L. Fufidius gewidmet waren (Gic. Brut. 29, 112), sie wurden später
nicht mehr beachtet. Q. Lutatius €atulus (gest. 87) verfasste über sein
Konsulat eine Denkschrift, welche die Form eines Sendschreibens an den
Dichter A. Furius von Antium hatte (Gic. Brut. 35, 132); sie sollte ihm
aller Wahrscheinlichkeit nach Material für dessen historisches Gedicht zum
Preis des Gatulus liefern. P. Rutilius Kufus, von dem wir wissen,
dass er durch eine ungerechte Anklage in die Verbannung (zuerst in Mity-
lene, dann in Smyrna) getrieben wurde, schrieb eine Autobiographie von
wenigstens fünf Büchern in lateinischer Sprache (Gharis. p. 139 K.). Daneben
wird auch ein Qeschichtswerk in griechischer Sprache erwähnt (Athen. 4,
168 d). Über das Verhältnis der beiden Werke lassen sich bloss Vermu-
tungen aufstellen. Nissen glaubt, dass die in griechischer Sprache abge-
fasste Geschichte nur eine Bearbeitung der Autobiographie ist, Peter da-
gegen nimmt ein selbständiges Werk an. Die letztere Ansicht halte ich
für die richtige.
Über die Brieffonn der Denkschrift des Q. Lutatius Catulus bandelt nach Fronte
p. 126 N. eingebend Jordan, Hermes 6, 75. Es werden aucb cammunes historiae (oder
communis higtoria) unter dem Namen Lutatius bis zum 4. Buch (Peter fr. 7 p. 193) citiert;
dass unter diesem Lutatius nicbt der Konsul, sondern sein gelehrter, frflber im Besitz
des TragOdiendicbters Accius gewesene Sklave Dapbnis, den er, nacbdem er ibn um eine
bobe Summe gekauft hatte (Suet. gr. 3 ; Plin. n. b. 7, 128), bald darauf freiliess, zu verstehen
sei, macht Peter, Fleckeis. J. 115, 751 wahrscheinlich. Den communes historiae werden
aucb die Fragmente einzureiben sein, in denen Lutatius ohne Angabe des Werks angefahrt
wird, nicht aber einem andern antiquarischen Werke, da eine Kunde von einem solchen
febltl Die Fragmente weisen auf Etymologisches und Antiquarisches. Der Titel wurde
wohl deshalb gewftblt, weil in dem Buch „complurium populär um res continehantur^ ,
Eine ungelöste Schwierigkeit bietet die Stelle in Usenebs Commenta Bern, zu Lucan 1, 544
(p. 35), wo es beisst sed hoc fabulasum esse inveni in libro CatuUij vgl. Pbteb 1. c.
Über P. Rutilius Rufus vgl. Nissen, Krit. Unters, p. 43; Peteb, Fragm. 1, CICLXV.
Er muss nach den Citaten in den Digesten zu scbliessen (z. B. 7, 8, 10, 3) auch Juristisches
geschrieben haben.
Litteratur: Wiese, Comment. de vitarum scriptoribus RomaniSf Berlin 1840; Su-
RiKOAB, De Romanis atUcibiographis, Leyden 1846.
p) Die Bedner.
74. Die Beredsamkeit bis C. Oracchus. In der Beredsamkeit
waren bei den Römern alle Vorbedingungen für ein gedeihliches Wachs-
tum gegeben. Die Senats- und Volksversammlungen, die Gerichtsverhand-
lungen machten das lebendige Wort unentbehrlich. Es kam hiezu die Sitte,
berühmte Verstorbene durch Leichenreden zu feiern. Von den bei diesem
Anlass gehaltenen Reden sind manche in Buchform gebracht verbreitet
worden, wir haben solche § 19 namhaft gemacht. Als die erste publizierte
Rede galt die Rede, die Appius Claudius Caecus im Senat gegen die Frie-
densvorschläge des Königs Pyrrhus hielt. Ihm folgten viele Redner; wir
behandeln hier nur diejenigen, von denen Reden kursierten; denn erst
>) Auch Reden kursierten von ihm. Als
Eigenschaft derselhen gibt Cicero 29, 111
an: gravitas summa et naturalis quaedam
auctoriias.
112 Bömische Litteratnrgeschichte. 1. Die 2eit der Republik. 2. Periode.
dann tritt der Redner in die Litteratur ein, wenn sein Wort schriftlich
fixiert wird. Von den Reden Catos sehen wir als bereits behandelt hier
ab. Von dem älteren Scipio lief eine Rede um, die er in dem bekann-
ten Prozess gegen den Volkstribunen M. Naevius gehalten haben soll.
Gell. 4, 18 und mit Ausschmückungen Liv. 38, 50 führen eine wirksame
Stelle daraus an ; in derselben weist -der Redner darauf hin, dass er am
heutigen Tage Hannibal besiegt habe und dass es sich daher gezieme,
statt auf die Anklage zu hören, lieber den unsterblichen Göttern Dank
darzubringen. Allein diese Rede war apokryph, bereits Livius 38, 56 und
Gellius 4, 18 deuten ihren Zweifel genugsam an; es kommt hinzu, dass
Cicero (de officiis 3, 1, 4) ausdrücklich das Vorhandensein litterarischer
Denkmäler des älteren Africanus in Abrede stellt. Ebenso unterschoben
ist die Rede, welche der Vater der Gracchen Tiberius Sempronius Gracchus
in dieser Angelegenheit zur Rechtfertigung seiner Interzession für die Sci-
pionen gehalten haben soll, denn auch hier deutet Liv. 38, 56 seinen Zweifel
an, und dieser ist vollständig berechtigt, wenn man den von Livius skiz-
zierten Inhalt der Rede ins Auge fasst.*) Dagegen ist eine Rede^ welche
Ti. Sempronius Gracchus etwa 164 in griechischer Sprache in Rhodus
gehalten, und die noch zu Ciceros Zeit vorhanden war (Brut. 20, 79), von
dem Verdacht der ünechtheit frei. In dieselbe Zeit fiel die von Cicero
(Brut. 46, 170) als noch vorhanden erwähnte Rede des L. Papirius aus
Fregellä für seine Landsleute und die lateinischen Kolonien. Sehr berühmt
war auch die Rede, die der Sieger über Perseus L.AemiliusPAulusMace-
donicus kurz nach seinem Triumphe (167) über seine Kriegsthaten sprach.
Dem Redner waren kurz vorher zwei Söhne durch den Tod entrissen wor-
den. Anknüpfend hieran sagte er in ergreifender Weise, er habe immer
gebetet, falls eine Bitterkeit dem Vaterland bestimmt sei, mögen die Göt-
ter dieselbe lieber auf sein Haus abladen. Das sei jetzt von den Göttern
erfüllt worden, es sei besser, dass das Volk über des Aemilius Paulus Lage
wehklage als umgekehrt.^)
Die Redekunst war inzwischen eine Macht geworden; kein Wunder,
wenn die Griechen massenhaft nach Rom strömten, um hier giiechische
Rhetorik vorzutragen. Zwar regte sich, wie wir bereits S. 101 gesehen,
die nationale Opposition, es kam im Jahre 161 ein Senatsbeschluss zu
Stande, der dem Prätor die Vollmacht erteilte, die griechischen Rhetoren
und Philosophen^) aus der Stadt auszuweisen. Allein die Massregel blieb
^) MoMMSEN, Rom. Forsch. 2, 506 hält
die Rede des Gracchen für eine Parteischrift
aus dem Bürgerkrieg, die unter dieser f&r
die Zeitgenossen durchsichtigen Maske Cae-
sar angnff. „Fast alle jene Dinge, die auf
Scipio Africanus bezogen wahre Ungeheuer-
lichkeiten sind, lassen für Caesar sich nach-
weisen" (504). Für Abfassung in der Zeit
des Augustus Niese. De annalibu^ Romanis
observ. II, Marb. 1888 p. XIH. Für diese
Unterschiebung von Reden sei hier noch
ein Beispiel angeführt. P. Sulpicius Rufus
(Yolkstrib. 88) hatte keine Reden herausge-
geben und doch waren von ihm solche in
Umlauf. Wer sie unterschoben, berichtet
Cicero Brut. 56, 205 : Sulpici oratianes quae
feruniur, eas post mortem eius scripsisse P.
CantUiu8 (ein Zeitgenosse Ciceros) putatur.
^) Ein Dekret des Aemilius Paulus aus
dem Jahre 189, im spanischen Feldlager er-
lassen, wurde 1866 gefunden. Vgl. E. Hüb-
neb, Hermes 3, 243; £. Schkeideb, Dial,
it, exempl, 1, 12.
') Das Dekret lautet: Suet. rhet. 1 C,
Fannio Strabone, M. Valerio MessaJa cons.
M, Pomponius praetor senatum consuluit,
Quod verba facta sunt de philosophis et rhe-
toribus, de ea re Ha censuerunt, ut M, Pom-
Die Redner.
113
ohne Erfolg. Der griechische Unterricht konnte nicht mehr zurückgedrängt
werden; er bildete einen wesentlichen Teil in der Ausbildung der römi-
schen Jugend.
Nach Aemilius Paulus erscheinen als hervorragende Redner P. Cor-
nelius Scipio Africanus minor und sein Freund Laelius. Von Scipio
existierten mehrere Reden; aus denselben sind uns einige ausführlichere
SteUen erhalten, welche gegen die eingerissene Sittenverderbnis eifern.
In der Rede gegen die lex iudiciaria des Ti. Gracchus (133) beklagt er
aufs bitterste (Macrob. 2, 10), dass die römische Jugend in verächtlichen
Künsten, im Singen, Tanzen unterrichtet und dabei die Unzucht gefördert
werde; in der Rede gegen P. Sulpicius Gallus (142) schildert er mit einigen
kräftigen Strichen die Verweichlichung im Äussern und das unanständige
Verhalten beim Mahle (Gell. 6 (7), 12). Aus der Rede gegen den Volkstribu-
nen Ti. Claudius Asellus teilen interessante Stellen mit Gell. 6(7), 11; 2,20;
Cic. de or. 2, 66, 268; in einer (6 [7], 11) bricht der Redner in den wirkungs-
vollen Vorwurf aus: „Du hast auf ein Freudenmädchen eine höhere Summe
verwendet als die Schätzung des gesamten Inventars deines sabinischen
Landguts beträgt.^ Auch sein Freund Laelius war ein geschätzter Red-
ner; am berühmtesten war seine Rede, die sich gegen den Vorschlag des
Volkstribunen G. Licinius Crassus richtete, bei den Priesterkollegien statt der
Kooptation die Wahl durch das Volk eintreten zu lassen. Cicero findet
an seinem Stile im Unterschied von Scipio etwas Altertümliches und
Schmuckloses (Cic. Brut. 21, 83). Interessant ist auch, dass er Leichenreden
für andere schrieb, z. B. die auf seinen Freund Scipio für Q. AeHus Tubero ^)
(Cic. de or. 2, 84, 341) und für Q. Fabius Maximus; aus der letztern teilen
die Ciceronischen Schollen von Bobio p. 283 0. Stellen mit. Neben Scipio
und Laelius war ein hervorragender Redner Ser. Sulpicius Galba^) (Cons.
144), der durch seinen schändlichen Verrat gegen die Lusitaner in der
Geschichte bekannt ist. Cicero berichtet von ihm, dass er zuerst von den
römischen Rednern rhetorische Kunstmittel in Anwendung brachte, d. h.
mit klarem Bewusstsein und in reicherem Masse, so z. B. die Abschwei-
fung, die Übertreibung, den Gemeinplatz. Allein trotzdem findet Cicero,
dass seine Reden dürrer und altertümlicher sind als die des Scipio und
des Laelius und sogar des Cato und dass sie daher nahezu verschollen
seien (Brut. 21, 82). Unter seinen Reden zogen die grösste Aufmerksamkeit
auf sich diejenigen, in denen er sich wegen seines an den Lusitanem be-
ponius praetor animtulverteret curaretque, ut
si ei e re p. fideque sua videreturf uti Romae
ne essent. Unrichtig ist der Zusatz latinis
nach rheiaribus in der Einleitung bei Gell. 15,
11, 1. Wie hei phüasophis nur an gnechi-
8che gedacht weitien kann, so auch bei rhe-
toribwi.
*) Schüler des Panaetius. Über ihn als
Redner siehe Cic. Brut. 31, 117 fuit conatans
civi9 et foriia et inprimis C. Graceho mote'
stuBf quod indicat Gracehi in eum oratio.
Sunt etiam in Gracehum Tuberonis, Is fuit
medioeri» in dicendo, doetis8imu8 in dispu-
Biadbach der kUas. AltertumiwiMAiiflchaft. YDI.
tando. Von seiner juristischen Kenntnis
sprach Cicero in seinem Buch de iure civili
in artem redigundo rühmend : nee vero scientia
iuris maioribus 8uis Q, Aelius Tubero defuii,
doctrina etiam auperfuit (Gell. 1, 22,7). Vgl.
NiPPERDBY, Opusc. p. 408.
*) Auch sein Sohn C. Galba (Quftst. 120)
war ein angesehener Redner, vgl. Cic. Bnit.
33, 127 rogatione Mamilia, Jugurtkinae eon-
iurationis invidia, eum pro sese ipse dixiaset,
oppressua est, Exstat eins peroratio, qui
epihgus dicitur; qui tanto in honore pueris
nobis erat, ut eum etiam ediseeremus.
114 Römiflohe LitterainrgaBohiohta. I. Die Zeit der Republik, d. Periode.
gangenen Treubruchs gegen den Volkstribunen L. Scribonius Libo ver-
teidigte (Liv. per. 49). Auch Cato hatte mit einer gewaltigen Rede hier
eingegriffen. An M. Aemilius Lepidus Porcina (Cons. 137) will Cicero
unter den lateinischen Rednern (Brut. 25, 95) zuerst Glätte des Perioden-
baus, rednerischen Rhythmus und kunstvolle Darstellung beobachtet haben.
Q. Caecilius Metellus Macedonicus, der Besieger des Andriskus hielt in
seiner Censur (131) eine berühmte Rede über die Volksvermehrung, welche
durch Einschränkung der Ehelosigkeit angebahnt werden sollte. >) Dieser
Rede gehört das Bruchstück an, welches Gellius 1, 6, 1 irrtümlich dem Metel-
lus Numidicus beilegt. In demselben kommt der Gedanke vor, dass man
die Frau als ein notwendiges Übel ansehen muss. Diese Rede gefiel Augu-
stus so gut, dass er, als er mit der Eheordnung (de ordinibus marüandis)
sich beschäftigte, sie im Senat vorlesen liess (Liv. per. 59). Auch von
Lucius Mummius, dem Zerstörer Eorinths und seinem auch dichterisch
thätigen (Cic. Att. 13, 6, 4) Bruder Spurius Mummius waren Reden in
Umlauf (Cic. Brut. 24, 94). Den grössten Einfluss auf die Entwicklung der
römischen Beredsamkeit hatte die wild gärende Zeit der Gracchen. War
schon Tiberius Gracchus*) ein ausgezeichneter Redner (Cic. Brut. 27, 104),
so wurde er noch weit übertroffen von seinem Bruder, mit dem eine neue
Epoche der römischen Beredsamkeit anhebt.
Hier mögen auch die zwei Fragmente aus einem Brief der Cornelia an ihren jün-
geren Sohn G. Grracchus Erwähnung finden. Dieselben sind uus überliefert durch die Hand-
schriften des Cornelius Nepos, angeblich entnommen aus dem Abschnitt seines Werks über
die lateinischen Historiker. Allein da der Brief nur in dem Ijoben des C. Gracchus gestanden
sein kann, dieser aber lediglich als Redner seinen Ruhm erlangt hat, so ist anzunehmen,
dass die Exzerpte aus dem Abschnitt des Werks über die lateinischen Redner herrühren.
Die Fragmente, aus denen das Ziel der Briefschreiberin hervorleuchtet, den C. Gracchus
von der politischen Laufbahn zurückzuhalten, imd die deshalb ins Jahr 124 fallen müssen,
sind mit Unrecht verdächtigt worden. Dieselben sind ein schönes Denkmal echt weiblicher
Seelengrösse. Man vgl. das herrliche Fragment : Dices ptUchrum esse inimicos tücisci . id neque
maius neque pulchrius cuiquam atque mihi esse videtur, sed si liceai re publica salva ea
persequi . sed quatenus id fieri non potest, multo tempore multisque partibus inimici nostri
non perihunt atque, uti nunc sunt, erunt potius quam res publica profiigetur atque perea4.
(Nach Halh's Ausgabe des Nepos p. 123). Über diese Fragmente handelt meisterhaft Nip-
PERDEY, Opusc. p. 95—120. Ergänzend dazu Jordan, Hermes 15, 530.
75. Die Beredsamkeit von C. Gracchus bis M. Antonius und
L. Crassus. Die glänzendste Erscheinung in der Geschichte der römischen
Beredsamkeit ist der jüngere Gracchus. Ihm gegenüber waren die übrigen
Redner wie stammelnde Kinder (Plut. C. Gr. 1), auch Cicero hielt ihn für
den grössten römischen Redner (p. Font. 39, Brut. 33, 125). Das Geheimnis
seiner Redekunst beruhte auf der Fülle und Eindringlichkeit der Gedanken
(Cic. Brut. 33, 125), dann auf der Glut und Innigkeit seines Vortrags (Tacit.
dial. 26). Als er die Worte sprach „Wohin soll ich Unglücklicher mich
wenden? wohin mich flüchten? Aufs Kapitel? Das trieft vom Blute meines
Bruders --In mein Haus? damit ich die unglückliche Mutter in Jammer und
Elend sehe" (Cic. de or. 3, 56, 214), geschah dies mit solcher Lebhaftigkeit
der Aktion, dass selbst die Gegner ihre Thränen nicht zurückhalten konnten.
^) Vielleicht hatte Lucilios dieselbe in
seinen Satiren berQcksichtigt. Vgl. Marx, Stad.
Lucil. p. 90 ; BiRT, Zwei polit. Satiren p. 120.
') Unter den Gegnern des Tiberius Grac-
chus führe ich an T. Annkis Luscus (Cons.
153) ; bei Festus p. 314 wird zur Erlftuterung
des Wortes satura eine Stelle aus einer ge-
gen T. Gracchus gehaltenen Rede mitgeteilt.
Die Redner. 115
Die wenigen Fragmente, die uns erhalten sind, lassen uns ahnen,
welcher Schatz mit den Gracchischen Reden uns verloren gegangen ist.
Sie werden mit Recht als Perlen der Beredsamkeit betrachtet. Oft wird
hingewiesen auf die elegischen Worte, die einer Rede an das Volk ent-
nommen sind: „Wollte ich vor euch sprechen und das Verlangen an euch
richten, ihr möchtet, da ich edlem Stamme entsprossen bin und euretwegen
meinen Bruder verloren habe und von dem Heldenstamm des P. Africanus
und Ti. Ghracchus niemand mehr übrig ist als ich und ein Knabe, zur Zeit
mich feiern lassen, damit nicht mit der Wurzel unser Stamm ausgerottet
werde und damit noch ein Sprosse unseres Geschlechts übrig bleibe, so
hege ich keinen Zweifel, dass ihr mir diese Bitte bereitwillig erfüllen
werdet* (Schol. Bob. p. 365 0.). Ebenso ergreifend ist der Bericht, den er
nach der Rückkehr aus Sardinien über seine dortige Verwaltung erstattet.
Es kamen hier die Worte vor: „Ich habe, als ich von Rom in die Provinz
ging, Beutel voll Geld mitgenommen; leer habe ich sie zuiückgebracht —
andere dagegen haben Amphoren voll Wein, die sie in die Provinz mit-
führten, mit Geld gefüllt in die Heimat zurückgeleitet (Gell. 15, 12). Zwei
Erzählungen von dem Übermut römischer Beamten wie die Geschichte eines
Konsuls in Teanum Sidicinum und die eines Legaten ergreifen durch den
schlichten Ton (Gell. 10, 3,3 u. 5). Das umfangreichste Fragment bietet
uns Gellius 11,10; es handelt von dem Egoismus und der Bestechlichkeit
der Redner gewöhnlichen Schlages in sehr anschaulicher Weise.
Dass die an Leidenschaften so reiche Zeit der Gracchen noch andere
Redner hervorbringen musste, ist klar. Wir wollen uns mit der Charakteri-
sierung von dreien begnügen, von C. Papirius Garbo, G. Fannius und
G. Scribonius Curio. Der erstere schloss sich in der Beredsamkeit an
M. Aemilius Lepidus an (Cic. Brut. 25, 96). Seine Reden waren nicht sowohl
durch glänzende Diktion als durch die Schärfe der Gedanken hervorstechend.
Er liess sich die rednerischen Übungen sehr angelegen sein und war ein
gesuchter Anwalt (Brut. 25, 104), wenngleich Cicero tiefere Rechtskenntnis
an ihm vermisst (de or. 1,10,40). Sein Charakter war sehr zweifelhaft;
obwohl früher Anhänger des C. Gracchus, verteidigte er doch L. Opimius, der
die Ermordung des C. Gracchus veranlasst hatte (Cic. de or. 2, 25, 106). Ein
Gegner des jüngeren Gracchus war der Historiker (vgl. p. 117) C. Fannius
M. f., als Konsul hielt er im J. 122 eine Rede (de sociis et nomine latino Cic.
Brut. 26, 99) gegen den Antrag des C. Gracchus, den Italikern das Bürgerrecht
zu verleihen. 0 An diese Rede knüpft sich ein Gerücht, als sei sie nicht
volles Eigentum des Redners, wie ja Ahnliches auch dem C. Gracchus vor-
geworfen wurde. Von C. Scribonius Curio (Prätor 121) war die Rede für
Servius Fulvius wegen Incest sehr berühmt. Uns, sagt Cicero Brut. 32, 122,
schien in unserer Jugend diese Rede von allen die beste zu sein.
Unter den nächstfolgenden Rednern sind die bedeutendsten M. Anto-
nius (143 — 87) und L. Licinius Crassus (140—91). M. Antonius gab keine
seiner Reden heraus, angeblich damit er nicht des Widerspruchs in seinen
') Einen Satz aus dieser Rede überlie-
fert Jolins Victor Ars p. 224 Or. Si Latinis
ciritatem dederitis, credo, existimatis, vos
ita ut nunc consuestis in contione hahituros
locum atU ludia et festia diebus interfuturos.
Nonne iUoa omnia occupcUuros ptUatis ?
8*
116 Bömiache Litteratnrgeachichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
verschiedenen Reden überfuhrt werden könne (Cic. p. Cluentio 50), in der
That aber, weil bei ihm das geschriebene Wort merkwürdig von dem ge-
sprochenen abstach. Sie scheinen aber von fremder Hand aufgezeichnet
worden zu sein.^) Auch ein kleines, noch dazu unvollendetes Büchlein
(Quint. 3, 1, 19) über die Theorie der Beredsamkeit war wider seinen Willen
in die Öffentlichkeit gedrungen. In demselben stand sein Ausspruch, er
habe viele Beredte, aber keinen Redner kennen gelernt (Cic. or. 5, 18).
Von seinen Reden kennen wir zwei durch Referate und Erwähnungen ge-
nauer, die für M'. Aquillius und die für C. Norbanus. Die erste wurde
im J. 98 gehalten. M'. Aquillius, ein tapferer Soldat und tüchtiger Feld-
herr, hatte durch Niederwerfung des zweiten Sklavenaufstandes in Sizilien
(99) sich die grössten Verdienste erworben, allein zu gleicher Zeit hatte
ihn seine Habsucht zu Erpressungen verleitet, wegen deren er von
L. Fufius angeklagt wurde. Antonius verteidigte ihn und erlangte, trotz-
dem an der Schuld des Angeklagten nicht zu zweifeln war, seine Frei-
sprechung. Besonders wirksam war der Coup, dass der Redner die Toga
des Angeschuldigten auseinanderriss und den Richtern die Wunden zeigte,
welche sich derselbe in den Kämpfen für das Vaterland zugezogen (Liv.
per. 70). Auch in der Rede für C. Norbanus war der Redner siegreich.
Hier lag folgende Anklage vor. Der Volkstribun C. Norbanus hatte den
Q. Servilius Caepio, der im Cimbemkrieg eine schmähliche Niederlage er-
litten hatte, wegen dieser Schmach und einer begangenen Unterschlagung
in Anklagezustand versetzt und seine Verurteilung herbeigeführt. Es war
aber dabei die Gesetzeswidrigkeit vorgekommen, dass Norbanus die für
Caepio intercedierenden Tribunen mit Gewalt verjagte. Er wurde deshalb
von P. Sulpicius Rufus (94) belangt. Auch hier siegte der Redner nach dem
Referat, das ihm Cic. de or. 2,48, 199 in den Mund legt, dadurch, dass er
auf die Schuldfrage so wenig als möglich einging, dagegen den gegen
Caepio bestehenden Hass möglichst ausnützte. Wenn man unbefangen das
allgemeine Urteil Ciceros über die Beredsamkeit des Antonius betrachtet
(Brut. 37, 139), so lag der Schwerpunkt seiner Kunst in dem Vortrag und
in der Aktion. In Bezug auf die Darstellung legte er das Ebiuptgewicht
auf wirksame Gruppierung des Materials und auf Ausschmückung der Ge-
danken.
Der zweite hervorragende Vertreter der Beredsamkeit ist L. Licinius
Crassus, der Schüler des L. Coelius Antipater. Seine Reden waren nur
zum Teil ganz veröffentlicht, manche lagen bloss in Skizzen vor (Cic. Brut.
43, 160; 44, 164). Eine seiner Reden behandelte eine cause celibre. Ein
römischer Bürger hatte die testamentarische Bestimmung getroffen, dass,
falls seine Frau einen Sohn gebären und dieser vor erlangter Volljährigkeit
sterben sollte, M'. Curius der Erbe seines Vermögens werde (Boethius in
Cic. Topica p. 341). Nun wurde aber gar kein Sohn geboren, da die
Voraussetzung, dass die Frau schwanger sei, eine irrige war. Infolgedessen
trat ein Verwandter des Erblassers mit einer Klage auf, welche Q. Mucius
') „Antonius ipse nüUas orationes edi-
dis/te traditur, aed nihif&tninus et a Cicerone
laudantur: lihrarii enitn eas aut integras
aut ex parte memoriae tradiderant'* (Meter,
tt ah aliis veltU exempla eloquentiae saepe \ Fragm. or. Rom. p. 281).
Die Bedner.
117
Scaevola vertrat, und verlangte Intestaterbfolge; ihm trat M*. Curius ent-
gegen und beanspruchte für sich die Erbschaft. Sein Anwalt war L.Crassus;
er gewann den Prozess. Im Jahre 106 verteidigte L. Crassus das Gerichts-
verfassungsgesetz des Q. Servilius Caepio, durch welches die Gerichte den
Senatoren übertragen werden sollten. Aus dieser Rede lesen wir bei Cic.
de or. 1, 52, 225 ^) eine wirksame Stelle. Crassus war nach der Darlegung
Cieeros dem Antonius überlegen ; sein Stil war durchaus korrekt und elegant,
seine Darstellung ganz besonders durch die Kunst, alles klar zu machen,
ausgezeichnet, es kamen ihm hiebei seine ausgezeichneten juristischen
Kenntnisse zu statten. Unübertrefflich war sein Geschick, die Rede plötz-
lich in den Dialog umzusetzen (Cic. Brut. 43, 159). Auch verfügte er über
die Gabe des Witzes (38, 143), dagegen war sein Vortrag und seine Aktion
weniger lebhaft als dies bei Antonius der Fall war. So ausgebildet uns
die Rhetorik bei diesen Rednern entgegentritt, auch die Kehrseite fehlt
nicht, nämlich durch die Rede die schlechte Sache zur guten zu machen.
Merkwürdig ist, dass unter L. Licinius Crassus als Censor (92) eine Mass-
regelung der lateinischen Rhetoren eintritt. Es wurde ein Dekret erlassen
des Inhalts: Es wurde uns gemeldet, dass es Leute gebe, welche eine neue
Methode des Unterrichts einführten; zu ihnen käme die Jugend in die
Schule; diese Leute hätten sich den Namen „lateinische Rhetoren" beige-
legt, bei ihnen sässen die Jünglinge ganze Tage. Unsere Ahnen haben
bestimmt, was ihre Kinder lernen und welche Schulen sie besuchen sollten.
Die vorliegende Neuerung, die gegen Sitte und Gewohnheit der Vorfahren
verstösst, gefällt uns nicht und scheint nicht recht zu sein. Daher
erscheint es angezeigt, sowohl denjenigen, welche solche Schulen halten,
als denjenigen, welche sie zu besuchen pflegen, unsere Anschauung dahin
kundzugeben, dass uns diese Dinge nicht gefallen (Suet. rhet. 1). Damit
war die Schliessung der lateinischen Rhetorenschulen ausgesprochen. Cicero
lässt de or. 3, 24, 93 den Crassus diese Massregel verteidigen; er hebt hervor,
dass die lateinischen Rhetoren nichts als Dreistigkeiten lehrten, während
die griechischen doch noch Wissensstoff mitteilten. Und in der That, wenn
man die Schulthemata ins Auge fasst mit ihrer Ungeheuerlichkeiten und
UnWahrscheinlichkeiten, wenn man erwägt, dass es bei diesen Übungen
nur darauf ankam, auch der unwahrscheinlichsten Sache zum Siege zu
verhelfen, so wird man jene Lehrinstitute als verderblich ansehen müssen.
Allein mit dem negativen Mittel der Schliessung der Schulen war keine
entschiedene Heilung des Übels gegeben; diese konnten nur positive Vor-
schläge für den Unterricht herbeiführen.
Hanptquelle ist Cieeros Bratos, welcher die Entwicklung der römischen Beredsam-
keit bis auf seine Zeit gibt. Oratvrum Romanorum fragmenta coli, atque illustr, Hekr.
MsTEB. Ed. n. Zürich 1842. Westerkaiw, Geschichte der rOmischen Beredsamkeit. Leipz.
1835 (ein dürres, ungeniessbares Buch). Ellenbt, Historia eloquentiae Romanae usqtie ad
Caemres in seiner Ausgabe von Cieeros Brutus, Eönigsb. 1825. Bebobr, Histaire de Vilo-
quence latine depuis Vorigine de Rome juaqu'ä Cic^ron hsg. von Y. Cucheval. 2 Bde. Paris
1872 (1881); auch andere Zweige der litteratnr sind hier beigezogen. Enderleik, De M.
AnUmio oratore, Leipz. 1882.
*) Eripite noe ex miseriis, eripite ex
faucibus eorum, quarum crudelitas nostro
sanguine non polest expJeri; ndite sinere
no8 cuiquam eervire, nisi i>obi8 univeraiSf
quibtts et poseumus et debemus.
11g Bömiflohe LitieratnrgeBohiohte. I. Die Zeit der Republik, 2. Periode.
y) Die Fachgelehrten.
1. Die Philologen (L. Aelius Stilo Praeconinus).
76. Die Entstehung der römischen Philologie. Bei einer werdenden
Litteratur stellt sich als erste philologische Beschäftigung ein: Regelung
der Schrift und der Orthographie. Dies war auch in der römischen Lit-
teratur der Fall. Wir haben oben gesehen, wie die ersten römischen
Schriftsteller mit orthographischen Problemen beschäftigt waren. Das
eigentliche philologische Studium kam von aussen nach Rom; es war ein
zufälliges Ereignis, welches hier mächtig einwirkte. Der berühmte Gegner
Aristarchs, Grates von Mallos, kam als Gesandter des pergamenischen Hofs
ungefähr zur Zeit des Ablebens des Dichters Ennius nach Rom. Er fiel
in eine Kloake und brach ein Bein. Da die Heilung längere Zeit in An-
spruch nahm, hielt er zu seiner Zerstreuung fleissig Vorlesungen und Dis-
putationen über Philologie (Suet. gramm. 2). Dadurch wurden die Römer
mit der Philologie vertraut gemacht, wie sie sich damals durch die Studien
und Kämpfe der Alexandriner und Pergamener herausgebildet hatte, und
zwar kam durch Grates die römische Philologie stark unter pergamenischen
Einfluss. 0 Zwei Seiten sind es, welche die damalige Philologie der Griechen
zeigt; einmal die litterarische, dann die grammatische. Die litterarische
Philologie urofasst die Aufzählung der Schriftwerke mit litterarhistorischen
Notizen in Katalogen, die Lesbarmachung, Verbesseining, Erklärung, Wert-
schätzung der Autoren. Die grammatische Philologie konzentriert sich
auf den Streit zwischen Analogie und Anomalie. Wir haben jetzt darzu-
legen, welche Früchte jene Vorlesungen des pergamenischen Philologen
zeitigten. Vor allem wurden die römischen Autoren einer philologischen
Behandlung unterworfen. Dieselben wurden in grösseren Kreisen vorge-
lesen, kommentiert und wohl auch kritisch revidiert (Suet. gramm. 2). So
beschäftigte sich G. Octavius Lampadio mit dem pimischen Krieg des Naevius
und teilte ihn in sieben Bücher. Laelius Archelaus und Vettius Philo-
comus lasen die Satiren des Lucilius vor, Q. Vargunteius recitierte unter
grossem Zulauf die Annalen des Ennius. Auch das litterarhistorische Ge-
dicht, wie es Accius (vgl. § 49) und andere (vgl. § 62) pflegten, wird auf
die pergamenische Anregung zurückgehen. Doch als den ersten Philologen
im eigentlichen Sinn des Wortes haben wir L. Aelius Stilo Praeconinus
aus Lanuvium anzusehen. Aus seinem Leben wissen wir, dass er ein
eifriger Anhänger der Optimaten war; dies bewies er dadurch, dass er
Reden für sie abfasste (Gic. Brut. 56, 206) und Q. Metellus Numidicus ins
Exil nach Smyrna begleitete. Die Früchte seiner Studien legte er in
Schriften dar, dann in freier Lehrthätigkeit. Zu seinen Schülern zählen
Varro und Gicero (Gell. 16, 8, 2, Gic. Brut. 56, 207). Der Historiker Gaelius
Antipater hatte ihm sein Geschichtswerk gewidmet (vgl. § 71 Anm.). Seine
Schriftstellerei anlangend, so haben wir zuerst seine interpretatorische
^) Reiffebscbeid, Rede, Breslau 1881/2.
^Erst ro&ter hat Alexandria Einfluss auf Rom
ausgeübt, aber Pergamon hatte ihm den Vor-
sprung abgewonnen imd wurde niemals völlig
durch die (xegnerin aus seinem Besitze ver-
drängt, wenn es auch einen Teil an sie ab
treten musste/
Die PhUologea. 119
Thätigkeit zu verzeichnen. Er kommentierte die Lieder der Salier (Festus
141 M., Varro de 1. 1. 7, 2). Auch mit der Erklärung der zwölf Tafeln be-
schäftigte er sich, wenigstens wird er für zwei Worte angeführt (Cic. de
leg. 2, 23, 59, Festus 290 M.). Ob dies in einer eigenen Schrift geschehen,
ist nicht sicher. Neben der kommentierenden Thätigkeit gewahren wir
auch die recensierende (Fronto p. 20N., Suet. Reiflfersch. p. 138). Aber auch
auf litterarhistorische Probleme wurde Aelius Stilo geführt; er untersuchte
die Echtheit der unter dem Namen des Plautus verbreiteten Komödien
und stellte 25 Stücke als echte auf (Gell. 3, 3, 1 u. 12). Seine genaue Kennt-
nis des Altertums nach seiner äusseren und inneren Seite bezeugt Cicero
Brut. 56,205; allein Schriften scheint er hier nicht hinterlassen zu haben
(Cic. Acad. post. 1^2,8). Für seine sprachlichen Studien zeugen einmal die
wahrscheinlich in einem eigenen Werk') niedergelegten zahlreichen Ety-
mologien, die von ihm angeführt werden, dann eine ausdrücklich (Gell. 16,
8, 2) erwähnte Schrift de proloquiis (= nsQi a^KofxdroDv); wir werden die-
selbe als eine Lehre der Satzformen im stoischen Sinn zu betrachten haben. <)
Aber auch dem berühmten Streit zwischen Analogie und Anomalie kann
er nicht aus dem Weg gegangen sein, zumal da Sueton bezeugt, dass
Aelius Stilo und sein Schwiegersohn Ser. Clodius die Grammatik nach
allen Seiten hin gepflegt haben (gramm. 2).
NiFPEBDET, Opusc. 315 wiU Tacit. dial. 23 qui rhetorum nostrarum comment^irios
fastidiunt oderurU, Calvi mirantur statt Calvi schreiben L, Äeli. Allein solche Kommentare
werden nirgends erwähnt. Heitsdis, DUquisitio de L, Aelio Stilone, ütr. 1839. Mentz, De
L, Aelio Stihne, Leipz. 1888 (Jenaer Dissertation) ; p. 28 — 35 siad die Fragmente behandelt.
Die Altertumswissenschaft verdankt ihr Entstehen nicht der griechischen Ein-
wirkimg, sie hat ihre Wurzel im Pontifikalarchiv, femer in den Aufzeichnungen der Be-
amten (vgl. § 13). Wir finden daher dieselbe ziemlich früh in der Litteratur. M. Fulvius
Nobilior, der Bezwinger Ätoliens (189) verfasste Fasti. Vgl. Macrob. 1, 12, 16 Ftävius Nobi-
lior in fastis quos in aede Herculis Musarum poauit. C. Sempronius Tuditanus (Cons.
129) schrieb, wie wir § 71, 3 sahen, lihri magistratuum. Der Freund des C. Gracchus Junius
GracchanuB, mit dem Beckeb, Zeitschr. f. Altertumsw. 1854 Nr. 16 den als homo curiosus
et diligens eruendae vetusUUis charakterisierten Tschol. Bob. p. 264 Or.) imd von Lucilius (26, 2 M.)
genannten Junius Congus identifizieren will, hinterliess ein dem Vater des Atticus ge-
widmetes Werk De potestatibue (Cic. de leg. 3, 20, 48), von dem das 7. Buch citiert wird
(Big. 1, 13, 1 pr.). In unsere Zeit gehörte wohl auch der bei Macrob. 3, 9, 6 genannte vetustis-
Hmus liber Furii, aus dem Serenus Sammonicus in 1. V. rerum reconditarum den Spruch
mitteilt, quo di evoeantur, cum opptignatione eivUas cingitur, und den, durch welchen urhes
exerritusque dovotentur tarn numinihua evocaiis. M. Hebtz denkt an L. Furius Philus (Cons.
136) ; vgl. Flbokbis. J. 85, 54. L. Mebckldt, De Junio Crracchano, 2 Teile, Dorpat 1840,
1841. M. Hbbtz, De Cinciis p. 88.
77. Die grammatische Streitfrage: Analogie oder Anomalie. Den
ersten Forschern trat die Sprache als Chaos entgegen. Bald bemerkte
man aber die Wiederkehr bestimmter Erscheinungen, d. h. auf gleiche Weise
gebildete Formen. Es musste sich daher der Gedanke aufdrängen, in der
Sprache herrsche Regelrechtigkeit, Analogie, und Aufgabe der Forschung
sei es, die Analogie aufzudecken. Diese Analogie fand man in der Flexion.
Allein bald zeigten sich Schwierigkeiten. Glaubte man nämlich, ein Flexions-
schema gefunden zu haben, so stiess man wiederum auf Fälle, welche
0 MSKTZ 1. c. p. 21.
') Vgl. Stshtthal, Geschichte der Sprach wissensch. p. 310.
120 Römische Litteratargeschichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
diesem Flexionsschema widersprachen. War z. B. die Akkussativendung em
der dritten Deklination festgestellt, so widerstritten der Regel die Akkus-
sative auf im u. s. w. Diese Ausnahmen machten andere in dem Glauben
an die Analogie der Sprache bedenklich und verführten zu der Annahme,
in der Sprache herrsche nicht Analogie, Regelrechtigkeit, sondern Anomalie,
Regellosigkeit. Dieser ihrer Ansicht von der Sprache zum Siege zu ver-
helfen, mussten sie daher darauf bedacht sein, den Regeln d. h. den Sche-
mata, welche die Analogisten aufstellten, die Ausnahmen gegenüberzustellen.
Das Resultat dieses S[ampfes musste so lange dauern, bis alle Regeln und
Ausnahmen festgesetzt waren, bis die gesamte Flexion des Nomons und
Yerbums dargelegt und damit der Aufbau der formalen Grammatik voll-
endet war. Es ist nicht denkbar, dass jemand, der sich mit der Gram-
matik in der damaligen Zeit beschäftigte, nicht Stellung zu dieser Frage
nahm. Auch Aelius Stilo musste daher dieser Kontroverse nahe treten.
Allem Anschein nach war er Analogist (vgl. Charis. 129 K.). Wie sehr
diese Frage die Geister aufregte, ersehen wir daraus, dass selbst ein Cäsar
in diese Frage mit einer Schrift eingriff.
2. Die Juristen.
78. Die erste umfassende Bearbeitung des Bechts. Nachdem
das Landrecht in den XII Tafeln kodifiziert war, ergab sich als erste Auf-
gabe, das Verständnis des Textes zu vermitteln. Wir sehen, dass sich
die Philologie dieser Aufgabe zuwandte. Allein auch die Juristen konnten
sich derselben nicht entziehen. So lesen wir denn auch, dass z. B. dem
L. Acilius, der wegen seiner Rechtskenntnis der „Weise*' genannt wurde
(Cic. Lael. 6), Zeitgenossen des M. Cato eine Worterklärung zu den XII Tafeln
zugeschrieben wird (Cic. de leg. 2, 23, 59). Eine zweite, noch wichtigere
Aufgabe fUr die Jurisprudenz war, das neue Recht mit dem geschriebenen
durch Interpretatio im Einklang zu erhalten, für den neuen Rechtsstoif
das Fundament im alten Gesetz nachzuweisen. Durch diese Thätigkeit
wurde das jeweils gültige Recht festgestellt ; es geschah dies in der Regel
durch die Form des Rechtsbescheids, des responsum. Endlich musste der
Jurist im Einklang mit dem Gesetz Formularien für die Rechtsgeschäfte
entwerfen und die Klageformen zusammenstellen. Das grosse Verdienst,
diese dreifache Thätigkeit zugleich in einem Werke in Anwendung gebracht
und damit die erste umfassende Bearbeitung des Rechts geliefert zu haben,
gebührt dem Sex. Aelius PaetusCatus (Cons. 198). Dieses Werk betitelte
er Tripertita (sc, commentaria) ; es enthielt in allem Anschein nach äusser-
lich voneinander getrennten Teilen 1) den Text der XII Tafeln mit den
nötigen Worterklärungen; 2) die juristische interpretatio, d. h. die Darlegung
des geltenden Rechts; endlich 3) die Klagforraen. Das Werk bildet einen
Abschnitt in der Geschichte des Rechts.
Pomponius berichtet in den Dig. 1, 2, 2, 7 im Anschluss an das ius Flavianum: Sex,
AeUu8 alias actiones compoauit et librum populo dedit, qui appellatur ius Aelianum. Da-
gegen spricht er § 38 von einem Buch qui inscribitur Tripertita, qui Über veluti cunahula
iuris eontinet. Die gewöhnliche Ansicht ist, dass beide Werke identisch sind. Diese Iden-
tität leugnet Husohkb, Zeitschr. f. g. Rechtsw. 15, 177 und Jobs stimmt ihm Rom. Rechtsw.
1, 103, 1 bei. Allein da sicherlich das, was als Inhalt des ersten Buchs bezeichnet wird.
Die Juristen. 121
auch in den Tripertita stand, so wird die gewöhnliche Ansicht aufrechtzuerhalten sein.
YieUeicht wurde aus den Tripertita die Formelsammlung noch eigens herausgehoben. Weiter
werden § 38 noch drei Bücher erwähnt, welche seinen Namen trugen, allein ihre Echtheit
war strittig.
Litteratur: M. Voiot, Über das Aelius- und Sabinussystem, Abb. der s&chs. Gesellsch.
d. W. VII, 319 (Verunglückter Versuch ein , System" des Aelius zu konstruieren).
79. Begnlariurisprudenz. Nach der umfassenden Bearbeitung des
Rechts in den Tripertita warf sich die Jurisprudenz mit gesteigerter Kraft
auf Einzelheiten des Rechts. Diese Arbeit spiegelt sich ab in der juristi-
schen Kontroverse und hat zum Ziel die Rechtsregel. Gelegenheit
boten dazu die Disputationen bei Erteilung der Rechtsbescheide und beim
Rechtsunterrichte. Im Gebiete dieser Thätigkeit tritt uns der Sohn des
Cato censorius mit einem Werke entgegen, das mindestens aus 15 Büchern
bestand (Dig. 45, 1, 4, 1). Gellius rühmt 13, 20 (19), 19 sehr diese Leistung;
ob „d€ iuris disciplina*' , womit er Catos Werk bezeichnete, auch der Titel
desselben war, ist nicht sicher. Aus dieser Schrift wird wohl die regula
Catoniana (Dig. 34, 7, 1 pr.) stammen, die wir mit Arndt, Pandekten p. 550
also formulieren: ^Ein Legat, welches unwirksam wäre, wenn der Testator
sofort nach Testamentsvollstreckung stürbe, bleibt ungeachtet der bis dahin
eingetretenen Veränderung der Umstände unwirksam, wenn auch der Tod
erst später erfolgt.* Es ist klar, dass solche Regeln für die theoretische
Ausbildung des Rechts von der grössten Bedeutung sein mussten. An die
Catonen reiht Pomponius Dig. 1, 2, 2, 39 die drei Juristen P. Mucius, Brutus
und Manilius; er spricht von ihnen als Begründern des Rechts. Wir werden
nicht irren, wenn wir auch diesen Männern die erfolgreiche Behandlung
juristischer Kontroversen und Auffindung juristischer Regeln zuschreiben.
Ausdrücklich wird von Cicero de fin. 1,4, 12 eine zwischen diesen drei Ju-
risten schwebende Kontroverse, ob der parfus ancillae zu den Früchten ge-
höre, berichtet. Eine andere erwähnt Gellius 17, 7, 3. Im einzelnen ist über
ihre Schriftstellerei noch folgendes zu bemerken: P. Mucius Scaevola
(Gons. 133), derselbe, dem wir wahrscheinlich die Redaktion der Annalen in
Buchform verdanken, schrieb 10 Bücher juristischen Inhalts. M. Junius
Brutus legt Cicero de or. 2, 55, 224 drei Bücher über das Civilrecht bei,
während die Pandekten von sieben Büchern berichten. Dass aber nur
drei Bücher echt seien, bemerkt Cicero ausdrücklich mit Berufung auf das
Zeugnis des M. Scaevola. Diese Schrift hat noch eine ganz besondere
litterarische Bedeutung; sie ist die erste dialogische Darstellung des Rechts
und, soweit wir sehen können, die erste dialogische Darstellung der
römischen Litteratur überhaupt. Aus den Mitteilungen Ciceros pro
Cluentio 51, 141 und de or. 2, 55, 224 erkennen wir, dass jedes der drei
Bücher einen verschiedenen Schauplatz hatte, das erste Privernum, das
zweite Albanum, das dritte Tibur. Diese dialogische Gestaltung erkennt auch
Qnintilian 6, 3, 44 an. Von M'. Manilius (Cons. 149) führen die Digesten
drei Bücher an; daneben sprechen sie von monumenta desselben. Es sind
das Geschäftsformulare; Cic. de or. 1, 58, 246 erwähnt die Formulare für den
Verkauf; auch Varro kennt solche Formulare, er nennt sie Manilii actiones.
Festns citiert p. 157 0. Mülleb von Cato commtntarii cipiles; die Forscher sind
nicht einig, oh dieselben dem älteren oder jüngeren Cato angehören. Ehenso zweifelt man,
ob Cic. de or. 2, 88, 142 video in Caionis et in Bruti Hhris nominatim fere referri, quid
122 Bömische Litteratorgesohiohte. I. Die Zeit der BepabUk. 2. Periode.
alicui de iure viro atU mtUieri responderit der ältere oder der jüngere Cato gemeint ist.
Ich glaube, dass es rätlicher erscheint, in beiden Fällen an den jüngeren Cato zu denken.
— Die Pandektenstelle über die drei folgenden Juristen lautet: Post hos (CkUones) fuerunt
Publius Mucius et Brutus et Manilius, qui fundaverunt ius civil e. Ex his Publius
Mueius etiam decem libellos reliquit, Brutus Septem, ManiUus tres; et extant volumina scripta,
Manüii monumenta,
80. Systematisches Recht. Einen grossen Einschnitt in der Ent-
wicklung der Jurisprudenz bildet das litterarische Schaffen des Q. Mucius
Scaevola (Cons. 95, f 82), des Sohnes des obengenannten Mucius Scaevola.
Wir kennen denselben bereits als Redner aus dem Prozess des M'. Curius,
in dem er sich sehr an den Buchstaben des Gesetzes anklammert. Noch
in einer andern sehr berühmt gewordenen Rede trat er auf, er verteidigte
nämlich den P. Rutilius Rufus, den er in seiner Provinz Asia als Legat
bei sich hatte, d. h. er verteidigte seine eigene durch ihre Unbestechlich-
keit ausgezeichnete Verwaltung. Scaevola fasste den Gedanken, den bis
dahin in den Formelsammlungen, Rechtsbescheiden, Kontroversen, Regeln
zerstreut vorliegenden Rechtsstoff in ein System zu bringen und führte
diesen Gedanken in einem 18 Bücher umfassenden Werke durch. Um an
eine solche Aufgabe heranzutreten, ist eine tiefer gehende philosophische
Bildung unerlässlich. Dass Scaevola eine solche besass, darauf weist eine
zweite Schrift schon durch ihren griechischen Titel oqoi d. h. Definitionen
hin. In dieser Monographie waren Rechtsbegriffe aufgestellt. Die hohe
Bedeutung des Mucius erhellt daraus, dass sich an das Hauptwerk eine
reiche Litteratur anschloss, und dass das Kompendium {oQOi) Muster für
die späteren Rechtsbücher geworden ist.
Pompon. Diog. 1, 2, 2, 41 ius civile primus eonstituit, generatim in libros XVIIl redi-
gendo, £ine Übersicht des Systems gibt RudobfFi Rom. R^chtsgesch. 1, 161 ; Eshabch,
Rechtegesch.' p. 196. Die oqoi werden mehrmals in den Dig. citiert z. B. 41, 1, 64. Auch
Hörer des Macius werden erwähnt, z. B. C. Aquilius Gallus, der mit Cicero 66 Prätor war
imd der durch seine formula de dolo malo u. a. in der Geschichte des Rechts fortlebt.
3. Die landwirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen
Schriftsteller.
81. Das Werk des Karthagers Mago. Nach Cato griff ein fremdes
Werk tief in die Entwicklung der italischen Landwirtschaft und der land-
wirtschaftlichen Litteratur ein, das Werk des Karthagers Mago. Der
römische Senat liess es durch eine Kommission, an deren Spitze D. Silanus
stand, ins Lateinische übertragen. Es ist dies das einzige Beispiel, dass
von Seiten der Regierung in Rom ein litterarisches Unternehmen eingeleitet
wurde. In diesem 28 Bücher umfassenden Werk waren wahrscheinlich
die Grundsätze der Plantagenwirtschaft entwickelt;') nach Cic. de or. 1, 58,
249 und Columella 1,1,6 muss jene Übersetzung unter den römischen Land-
wirten eine grosse Verbreitung gefunden haben. Auch bei den Griechen
wurde der Karthager durch Übersetzungen eingebürgert, so dass dieses
landwirtschaftliche Buch einen völlig internationalen Charakter erhalten
hat. Zuerst übersetzte es Gassius Dionysius von Utica in 20 Büchern; die
Übersetzung, zu der auch manches aus griechischen Schriftstellern hinzu-
0 MoMMSBN, R. Gesch. 2«, 680.
Dia laadwirtBchaftUchen Sohriftsieller. 123
kam, war dem Prätor Sextilius gewidmet (88 v. Gh.). Diese zwanzig Bücher
brachte in einen Auszug von 6 Büchern Diophanes und widmete denselben
dem König Deiotarus. Zuletzt machte wiederum eine Epitome aus Dio-
phanes in zwei Büchern Pollio von Tralles.
Plin. n. h. IS» 22 Poenus etiam Mago, cui quidem tantum honorem senatus noster
habuü Carthagine capta, ut, cum regulis Africae hihliothecas donaret, unius eius XXVIII
vofumina eenaeret in laiinam linguam transferenda, cum iam M, Cato praecepta eondidtsaet,
peritisque Punieae linguae dandum negotium, in quo praecessU omnie vir clari88im€te fami-
liae D. Silanus, Varro de r. r. 1, 1, 10 hoa nobüitate Mago Carthaginiensis praeteriit, poe-
niea lingua qui res disperetu eonprendit libria XXVIII, quoa Ckissiua Dionyaiua üticensia
ifertii lAris XX ae graeea lingua Sextilio praetori misit : in quae volumina de graecis libria
eorum quaa dixi adiecit non pauca et de M<tgonia dempait instar librorum VUL hoaee ipaoa
utiliier ad VI libros redegit Diophanes in BUhynia et misit Deiotaro regi. Siiid. 8. v.
nmUmy 0o<piarevaag iv nafitj inl Jlofintjiov tov fiayäXov — fyga^sy — hiitofA^v ttuy
Jiotpäyovs ystaffyinuov iv ß^ßXioif f,
83. Die einheimischen Schriftsteller. In der landwirtschaftlichen
Schriftstellerei folgten auf Gate die Sasernae, Vater und Sohn. Ihre Lehren,
die in einem aus mehreren Büchern bestehenden Werk de agricuUura (Varro
de r. r. 1, 2, 22 1, 2, 26) niedergelegt waren, hatten sie aus der Praxis ge-
zogen; es war hier ein Gut im diesseitigen Gallien ins Auge gefasst
worden (Varro de r. r. 1, 18, 6). Wie Gato berührten dieselben auch Dinge,
die mit der Landwirtschaft im entfernten Zusammenhang standen (Varro
de r. r. 1,2,24). In diese Zeit fallen auch die ersten Schriftsteller über
astronomische, geographische und naturhistorische Dinge. Als erster römi-
scher Astronom erscheint G. Sulpicius Gallus, der die Mondfinsternis
vom 21. Juni 168 voraussagte (Liv. 44, 37). Dass er auch darüber schrieb,
besagt Plinius n. h. 2, 53. Auch wird er unter den Quellen des zweiten
(astronomischen) Buchs aufgeführt; eine astronomische Ansicht von ihm
lernen wir aus Plin. 2, 83 kennen. Plinius citiert im Quellenverzeichnis
des m. Buchs, das Geographisches behandelt, TuranniusGracilis, ebenso
im BUch IX, in dem die Wassertiere behandelt werden. Auch Landwirt-
schaftliches berührte er, da ihn das XVIII. Buch im Quellenverzeichnis
aufführt. Er war, wie aus Plin. 3, 3 erhellt, ein Spanier. Ein naturhisto-
rischer SchriftBteller war auch der Begleiter des Prokonsul von Baetica
L. Lucullus (150), Trebius Niger. Ihn erwähnen die Quellenverzeichnisse
des Plinius für das IX. Buch (Wassertiere) und das XXXII. (Heilmittel
von Wassertieren). Über Vögel muss er nach Plin. 1 0, 40 geschrieben haben.
Über Ma^o und die Sasemae handelt Reitzeksteik, De aeriptorum rei ruatieae — libria
deperditis, Berhn 1884 p. 47, p. 3. Auch sind hier die Stellen, wo beide Schriftsteller .citiert
sind, gesammelt p. 57, p. 52.
83. Rflckblick. Eine bedeutsame Zeit des litterarischen Ringens
und Strebens liegt hinter uns ; es dürfte sich daher verlohnen, die erzielten
Resultate hier kurz zusammenzufassen. Fremdlinge waren es, welche den
Ghund zur römischen Eunstlitteratur gelegt haben, indem sie lateinische
Übersetzungen griechischer Poesien dem römischen Volk darboten. Sie
wurden durch praktische Bedürfnisse dazu veranlasst, durch Rücksichten
anf den Schulunterricht, dem sie ein Lehrmittel zuführen, und durch Rück-
sichten auf das Fest, dem sie das Festspiel spenden wollten. Von der
Obersetzung führte der Weg zur selbständigen Schöpfung.
124 Bömiflohe LitteraturgeBohlohie. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Überblicken wir zuerst die poetischen Leistungen unseres Zeitraums,
so finden wir, dass das Epos und das Drama im Vordergrund stehen.
Zwar fand auch das didaktische, besonders das litterarhistorische Gedicht
Pflege, allein zu einer hervorragenden Schöpfung, zu einem didaktischen
Gedicht in grossem Stil brachte es unsere Periode nicht. Die Lyrik trieb
aber so gut wie keine Blüten. Die epische Poesie begann mit der Über-
setzung der Odyssee durch Livius; den Weg des freien Schaffens betrat
hier zuerst Naevius; er zeigte zugleich den Römern, woher sie den Stoff
für ihre Epen nehmen müssten, nämlich aus ihrer glorreichen Geschichte.
Ennius setzte diese nationale Richtung fort; aber während Naevius in Bezug
auf die Kunst der Komposition auch bescheidenen Ansprüchen nicht ge-
nügte, bildete Ennius im Anschluss an Homer die epische Technik aus.
Seine Annalen blieben das Hauptepos der Republik; als Nachahmer von
ihm sind Hostius und Furius anzusehen. Auch in der dramatischen
Poesie gewahren wir den Übergang von der übersetzenden zur freien Thätig-
keit. Lange Zeit begnügte man sich in der Komödie mit Bearbeitungen
von Stücken Menanders und anderer Dichter derselben Gattung; endlich
nach längerer Übung versuchte man sich in gleichartigen, freien Gebilden;
es wurde die fabula palliata abgelöst durch die fabul<i togata. In der Tra-
gödie vollzog sich derselbe Prozess ; an die Stelle der übersetzten griechi-
schen Stücke traten die fabulae praetextae, welche ihren Stoff aus dem Leben
der römischen Könige und Feldherrn nahmen. Allein diese Spielart gedieh
nicht zur vollen Blüte. Die römische Natur zeigte sich für die tragische
Schönheit viel weniger empfänglich als für die komische; daher kommt
es, dass die tragische Dichtung, welche in unserer Epoche ihren Höhepunkt
erreicht hat, bald herabsinkt und erlischt, während noch später neue
Sprossen an dem Zweig der Komödie hervorkeimen. Eine eigentümliche
Gattung der Poesie lernten wir in der Buchsatura kennen. Wie es scheint,
in Anlehnung an die alte dramatische Satura entstand durch Naevius und
Ennius eine Buchpoesie, deren ursprüngliche Form der Dialog oder die
Plauderei mit dem Leser, deren Ethos das der Heiterkeit war. Der Inhalt
dieser Buchsatura war völlig frei; Lucilius gab ihr aber das Element der
Kritik der Gegenwart.
Später als die Poesie gestaltete sich die Kunstprosa; es ist dies ja
eine allgemeine Erscheinung in der werdenden Litteratur. Für die Prosa
bedurfte es nicht der Fremden; in dem Pontifikalarchiv waren die Elemente
für eine lateinische Schriftprosa vorhanden. Nehmen wir den wichtigsten
Zweig der Kunstprosa, die Geschichte, so war in der offiziellen Chronik
ein Rudiment gegeben, das der Ausbildung fähig war. Freilich kostete
es der Mühen genug, bis eine historische Kunstprosa, die diesen Namen
verdient, sich herausarbeitete. Die ersten römischen Historiker bedienten
sich der griechischen Sprache; durch Cato wurde die lateinische Sprache
in die Annalistik eingeführt. Die Form der Geschichtschreibung war an-
fänglich die Erzählung der Ereignisse von Gründung der Stadt an. Zwar
hatte Cato auch hier reformierend eingegriffen und die Scheidung zwischen
der Sagenzeit und der selbsterlebten Zeit nahegelegt; allein es währte
doch ziemlich lange, bis an Stelle der allgemeinen Stadtchronik die histo-
Rückblick. 125
rische Monographie, die Zeitgeschichte, die Autobiographie, die Denkschrift
traten, durch welche Formen die Geschichtschreibung auf eine höhere Stufe
der Vollendung gebracht werden konnte. Hand in Hand damit ging die
Ausbildung der Darstellung, welche immer mehr auf Fesselung und Unter-
haltung des Lesers hinarbeitete. Neben der Geschichte entfaltete sich die
Beredsamkeit. Für diese Disziplin lagen die Verhältnisse in Rom ausser-
ordentlich günstig, da das öffentliche Leben die Kunst der Rede gebiete-
risch verlangte. Der litterarische Fortschritt musste sich hier darin zeigen,
dass von der natürlichen Beredsamkeit immer mehr zur künstlichen über-
gegangen wird. Die rhetorische Ausbildung war eine wesentliche Auf-
gabe des Schulunterrichts und durch denselben konnte auch das Griechen-
tum eingreifen. Dieses starke Betonen der Rhetorik in der Schule hat
entschieden dazu beigetragen, der römischen Litteratur einen rhetorischen
Charakter aufzudrücken. Auch für die Fachwissenschaften war die
Amtsthätigkeit der Pontifices von einschneidender Bedeutung; die Jurispru-
denz erhielt durch sie ihre erste Pflege; die enge Verbindung der Praxis
und der Theorie erhob diesen Zweig zur glänzendsten Fachdisziplin der
römischen Litteratur. Durch einen Zufall wurden die Römer auch mit den
philologischen Studien, wie sie damals bei den Griechen gepflegt wurden,
bekannt; sofort gewannen diese Studien eine feste Stätte in Rom und
leisteten der Jurisprudenz bei der Auslegung der XH Tafeln wertvolle
Dienste. Die landwirtschaftliche Schriftstellerei, welche die gesamte Haus-
wirtschaft umfasste, wurde besonders durch ein punisches Werk angeregt.
Dies sind in kurzen Zügen die Resultate des litterarischen Schaffens
unseres Abschnitts. Der Hellenismus ist das befruchtende Element, die
von Cato ausgehende Reaktion gegen denselben scheiterte. Erhalten sind
uns aus der ganzen Epoche nur Werke von drei Schriftstellern, von Plautus,
Terenz und von Cato. Sonst liegen uns lediglich zersprengte Reste vor.
B. Vom Ausgang des Bundesgenossenkriegs bis zum
Ende der Republik (87-30 v. Gh.).
84. Die Latinisiemng Italiens. Wir beginnen einen neuen Ab-
schnitt der römischen Litteraturgeschichte mit dem Ende des Bundes-
genossenkriegs. Wir glauben hiezu berechtigt zu sein, weil mit dem
Kriege nicht bloss politische, sondern auch litterarische Interessen ent-
schieden wurden. Unternommen wurde der Krieg von den Italikern in
der Absicht, sich die Gleichberechtigung mit den Römern zu verschaffen;
allein bald spitzte sich der Kampf dahin zu, dass nicht um die Gleich-
berechtigung, sondern um die Herrschaft gefochten wurde. In diesen
Kampf war aber zugleich das Organ der Litteratur, die Sprache, hinein-
verflochten. Zwar waren mehrere Schwestersprachen des Lateinischen wie
die sabellischen Idiome und das Umbrische^ gebrochen; allein das Oskische
war noch die herrschende Sprache von Samnium und ein lebenskräftiges
Organ. Ein Sieg der Italiker würde daher zugleich einen Sieg der oski-
schen Sprache bedeutet haben. Hatte man doch, als man den neuen
Bundesstaat Italia errichtete, bereits neben lateinischen Münzen auch solche
mit oskischer Umschrift geprägt. Der Sieg entschied für die Römer; damit
war die lateinische Sprache von einer Katastrophe gerettet, ihr Gebiet
erweitert, für die römische Litteratur erschlossen sich neue Kräfte. Natur-
gemäss reicht unser Abschnitt bis zum Beginn der Alleinherrschaft des
Octavian (30 v. Gh.); denn mit der Änderung der Regierungsform musste
auch die Litteratur neue Bahnen einschlagen.
Über die Latinisienuig Italiens ftussert sich treffend Jordan, Krit. Beitr. p. 130 :
Die zwangsweise erfolgte Einftkhmng erst der lateinischen Sprache, dann — wie es scheint
durch Augustus — des römischen Masses und Gewichtes und, nach dem spurlosen Ver-
schwinden von Exemplaren italischer Kalender zu schliessen, wohl auch des römischen
Kalenders, hatte im entgegengesetzten Sinne, wie es die Erhebung der Italiker beabsichtigte,
die Einheit Italiens herbeigeföhrt. Zwar das Leben der Mimdorten konnte so wenig wie
die Sitten der Stänmie durch Gresetze imd Verordnungen mit einem Schlage vernichtet
werden. Aber es vollzog sich in einem Menschenalter jener natttrliche Prozess, den wir
noch heutzutage bei aussterbenden, von einem anziehungskräftigeren oder siegreichen Staate
aufgesogenen Nationalitäten beobachten können : Die Jugend, deren Väter noch ihre Mund-
art gesprochen hatte, wandte sich nicht bloss in Rom, sondern auch in der Heimat fast
mit Schamgefühl von derselben ab; auf dem Markt und an der Landstrasse verschwanden
die urkundlichen Zeugnisse der alten StammeseigentOmlichkeit, und wenn in den engen
^) BuDiNSZKY, Die Ausbreitung der lat. Sprache p. 22, p. 26.
L. Pomponiiis und Novins. 127
Kreisen dee Kultes und des Hauses noch dieses und jenes sicli erhielt und noch eine, ja
mehrere Generationen hindurch die Mundarten ein stilles Dasein fortgeführt haben mögen
— schwerlich darf man die Abfassung der jüngsten der iguvinischen Tafeln bis in oder
gar über die Zeit des Augustus hinabrflcken — so drang doch kein Ton derselben
mehr wie früher herüber in die Hauptstadt oder er verhallte dort, von den Gebildeten un-
beachtet, unter der dienenden Klasse. Das stolze Wort Quintilians war lange vor ihm zur
Wahrheit geworden : licet omnia Italica pro Romanis habeam.
a) Die Poesie.
1. L. Pomponius und Novius.
86. Die Atellana (die oskiBche Posse). Die dramatische Poesie
ist in unserer Periode in entschiedenem Verfall ; die Tragödie treibt keine
Blüten mehr, in der Komödie aber beherrscht jetzt die Posse das Feld
und zwar in zwei Formen, die sich ablösen, in der fabula Atellana und im
Mimus. Die Atellana hat ihren Namen von der oskischen Stadt Atella
in Gampanien; sie hiess auch allgemein das oskische Spiel {oscus ludus
Cic. ep. 7, 1,3; oscum ludicrum Tac. A. 4, 14). Dieses Spiel gelangte, wohl
nach Verlust der campanischen Selbständigkeit (211), nach Rom und wurde
hier von der Jugend als Dilettantenposse aufgefühii. Die Spieler trugen
Masken und ihr Spiel brachte ihnen keinerlei bürgerlichen Makel. Die
hervorstechendste Eigentümlichkeit dieser Posse waren feststehende Rollen,
die sogenannten personae oscae. Es waren dies Pappus, Maccus, Bucco
und Dossennus. Pappus ist der Alte, Maccus der Dümmling, Bucco der
Schwätzer und Aufschneider, Dossennus der Pfiffikus, der zugleich Schma-
rotzer •) ist. Unwillkürlich erinnert man sich an die Figuren der italieni-
schen Komödie, den Pantalon, den PulcineU, den Dottore. Aber auch einen
feststehenden Schauplatz für die Handlung scheint diese Posse gehabt zu
haben, nämlich Atella; denn die Narrheiten brauchen ein Narrenheim, eine
Schildburg, ein Seldwyla. So mag die Posse lange Zeit die römische Jugend
unterhalten haben; an einen geschriebenen Text wird man in den seltensten
Fällen zu denken haben; meistens wird das Spiel das Werk der Improvi-
sation gewesen sein. Diese Dilettantenposse musste zur Eunstposse
werden, seit sie aus den Privatkreisen heraustrat und als Nachspiel zu
den Tragödien auf die Bühne kam. Jetzt lag ihre Darstellung in den
Händen von Schauspielern. Weiterhin brauchte man jetzt einen schriftlich
ausgearbeiteten Text und damit tritt die Atellana in die Litteratur ein.
An zwei Namen knüpft sich diese Entwicklung, an L. Pomponius aus
Bononia und an Novius. Über die Zeit dieser Dichter sind wir nur mangel-
haft unterrichtet. Die Blüte des Pomponius wird von Hieronymus (2, 133 Seh.)
ums Jahr 89 gesetzt. Und in der That, wenn wir die Entwicklung des
Dramas in Rom ins Auge fassen, werden wir die Blüte der Atellana in
die sullanische Zeit setzen, welcher dann in der Zeit Cäsars der Mimus
folgte. Von den Stücken des Pomponius und Novius sind uns nur Titel
und einzelne Fragmente erhalten; wir können von keinem einzigen Stück
den Gang der Handlung feststellen. Die Charaktermasken erscheinen öfters
schon in den Titeln, wir finden den Pappus als Landmann (P. agricola),
*) Varro de 1. 1. 7, 95 dictum mandier a mandendo, unde manducari, a quo in ÄteU
lanis Dossennum vocant Manducum,
128 ROmiBcbe LitteratnrgeBchiohte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
ihn bei einer Wahl durchgefallen (P. praeterüus); ein Stück führt den
Titel Braut des Pappus (sponsa Pappt), ein andres heisst Bruch des Pappus
(hirnea Pappi), der Maccus ist "in den Titeln verbannt (M. exul), Wirt
(M. copo), Soldat (M. miles), Jungfrau (M. virgo), Mittelsperson (M. Seque-
ster), auch ohne Beisatz erscheint er; ein Titel führt uns zwei Macci und
zwar als Zwillinge vor (Macci gemini). Der Bucco kommt zweimal vor,
einmal als adoptiert (B. adoptatus), das andere Mal ist er auctoratus, d. h.
er hat sich als Fechter verdungen. Die vierte Charakterfigur gibt der
Titel „Duo Dossenni^. In den Fragmenten lässt sich Dossennus nachweisen
fr. 109 P. in der „Phüosophia^ ; hier wird er aufgefordert, zu sagen, wer
das Geld gestohlen, worauf er erwidert, dass er seine Vermutungen nicht
umsonst zum besten gebe; ferner in den „Campa^ii" (fr. 27 P.); hier soll von
Staats wegen dem Dossennus und den Walkern Speisung zu teil werden;
bei einer schmutzigen Handlung wird er im Maccus virgo des Pomponius
(fr. 75) gesehen. Den Pappus treflfen wir in den „Pictores*^ (fr. 111 P.);
hier wird auf seine Wohnung hingezeigt. In dem Aruspex (fr. 10 P.) wird
Bucco angeredet; jemand sagt zu ihm, bucco, puriter fac ut rem tracfes,
worauf er dsLS puriter absichtlich missverstehend antwortet: lavi iandudum
manus. Die Titel der Stücke zeigen uns die mannigfaltigsten Stoffe, es
sind behandelt Handwerker, wie die Walker (FuUones), die Maler (Pictores),
die Fischer (Piscatores), der Küster (Aeditumus), der Augur, der Arzt
(Medicus); grosse Aufmerksamkeit ist dem ländlichen Leben gewidmet, wie
die Titel Landmann (Agricola), die Winzer (Vindemiatores), der Feigen-
gärtner (Ficitor), das kranke Schwein (Verres aegrotus), das gesunde Schwein
(Verres salvos), das Borgschwein (Maialis), das Mutterschwein (Porcetra),
die Eselin (Asina), die Ziege (Capeila) bekunden; auf Charakterbilder
deuten hin die Boshaften (Malivoli), der Sparsame (Parcus), der Taube
(Surdus); dass auch Volkstypen Gegenstand unserer Posse waren, besagen
die Titel die Campaner, die Galli transalpini, die mUites Pometinenses ; auf
die Darstellung von Festen weisen Titel wie Kalendae Martiae, Quinquafrus,
Nupfiae, Merkwürdig sind die Titel Mortis et vitae iudicium des Novius,
da auch Ennius diesen Stoff in einer Satire behandelt hatte, und Satura
des Pomponius. Durch beide Titel werden wir an die alte dramatische
Satura erinnert. Eine eigene Klasse der Titel bilden die mythologischen,
wie der unterschobene Agamemnon (Agamemno supposüus), Marsya, Her-
cules coactor, Hercules petitor, Phoenissae, Pytho Gorgonius, Mania medica;
Stoffe, welche mit der Hilarotragoedia des Rhinthon aus Tarent vielleicht
in Verbindung standen. ^ Was die Form der Titel anlangt, so sind die
meisten lateinisch; bemerkenswert ist, dass auch die aus der Palliata be-
kannte adjektivische Gestaltung der Titel mit Ergänzung von fabula be-
gegnet, so z. B. Gallinaria, Lignarixi, Sarcularia, Tabellaria, Togularia.
Werfen wir noch einen Blick auf die Fragmente. In manchen er-
kennen wir unseren Maccus, auch wenn er nicht genannt ist; so in der
tiefsinnigen Äusserung (fr. 19 P.) „wenn du nicht schwanger bist, wirst
du niemals gebären*'; in der Drohung (fr. 79 N.) „greif zur Waffe, mit der
») Ribbeck, Rom. Dicht. 1, 213.
Die Himendiohter. 129
Binsenkeule schlage ich dich tot' ; in der Anrede an die obere Thürschwelle,
die dem Anredenden den Kopf zerschlagen, während die untere die Finger
gebrochen hat (fr. 49 N.). Dramatisches Leben leuchtet noch aus manchen
Trümmern hervor. Im fr. 67 P. macht einer die für ihn peinliche Entdeckung,
dass ein vermeintliches Mädchen ein Mann ist; in fr. 57 P. wird einer auf der
Bühne instruiert, die weibliche Stimme nachzuahmen; fr. 71 P. will der Spre-
cher, wahrscheinlich der Soldat Maccus, für zwei Mann essen. An Obscöni-
taten müssen die Atellanen reich gewesen sein, denn in den Fragmenten findet
sich noch ein ziemlicher Vorrat.') Auch die Roheit ist stark ausgeprägt;
von den natürlichen Bedürfnissen wird ungeniert gesprochen (z. B. fr. 130 P.).
Derbe, ungeschlachte Äusserungen stossen uns öfters auf; fr. 33 P. will
ein Flegel seine Frau zur Thür hinauswerfen; fr. 31 P. wird es als ein
mos hingestellt, dass jeder Mann den Tod seiner Frau herbeisehnt, endlich
fr. 142 P. erzählt ein Unhold von einem Sohn, dass er seinen Vater eigens
vor die Thür geführt habe, um ihm ohne Zeugen mit Behagen Maulschellen
verabreichen zu können. Das volkstümliche Leben war jedenfalls in diesen
Stücken, deren Verlust wir sehr zu beklagen haben, in drastischer Weise
zum Ausdruck gekommen.^)
Diom. p. 489 K. tertia apeciea est fabularum latinarum, quae a civitaie Oacorum
AteUa, in qua pritnum coeptae, appelkUae sunt AteUanae, argumentis dictiaque iorularibwt
similes saiyricia fabulia graeeis. l2y. 7, 2, 12 quod genus ludorum (ae. ÄteU.) ah Oscis ac-
reptum tenuit iüventus nee ab histrionibua poüui pasaa est. eo ingtittttum manet, ut aHores
Atettanarum nee tribu maveantur et stipendia tamquatn expertea artis fudicrae faciant. Festus
p. 217 per Atellanos qui proprie voeantur personati, quia ius est iis non cogi in scena po-
nere personam, quod ceteris histrionibus pati neeesse est.
Wenn Mommsen, R. Gesch. 2^, 438 behauptet ,die wirkliche Heimat dieser Stücke ist
Ijatium, ihr poetischer Schauplatz die latinisierte Oskerlandschaft ; mit der oskischen Nation
haben sie nichts zu thun", so dürfte dieser Ansicht widerstreiten, dass das Spiel ausdrück-
lich als oskisches bezeichnet und auch die personae ausdrücklich oseae genannt werden.
Diese Bezeichnungen weisen auf die oskische Heimat des Spiels ; den poetischen Schauplatz
.Atella* hatten ihm bereite die Osker gegeben.
MuivK, De fabufis Ateüanis, Leipz. 1840. Die Bruchstücke sind jetzt nachzusehen in
RiBBBCKS Fragm. comie. p. 225.
Von einem Aprissius citiert Varro de 1. 1. 6, 68 einen Vers, der durch den Anfang
Jo Bucco auf eine Atellana zeigt, vgl. Ribbeok 1. c. p. 278.
2. Decimus Laberius und Publilius Syrus.
86. Der Himus oder das Lebensbild. Das Wesen des Mimus be-
ruht auf scurriler Nachahmung von Personen und Situationen. Der Schwer-
punkt liegt also hier in dem Mienen- und Gebärdenspiel. Solche lustige
Abkonterfeiungen sind natürlich mehr oder weniger bei jedem Volk vor-
handen. Bei verschiedenen Anlässen, besonders aber bei Mahlzeiten, finden
wir sie als eine Quelle der Unterhaltung. Von diesen Mimen der Privat-
kreise ist hier nicht die Rede ; uns beschäftigt nur der Theatermimus. Als
Vorläufer oder als Spielart desselben haben wir den in der Orchestra, nicht
auf der Bühne dargestellten lasciven Tanz zu betrachten. Er dient als
Intermezzo (emboHum) bei Theateraufführungen. Als dramatische Posse
^) Quint. 6, B| 47 iUa obseena, quae Atel-
lanae more eaptant,
') Ein spezifischer Ausdruck f&r die
Posse, auf welche di| Atellana aufgebaut [ist, | tricaturas f
nuMlbaoh der kla«. AltortanwwiMenaclMlt. VIII, 9
scheint trieae gewesen zu sein; Varro fragt
Sat. Menipp. Nr. 198 p. 182 Büchbusr putas
eos non eitius trieas Atellanos quam id fx-
130 BOmisohe Litieratnrgesoliichte. I. Die Zeit der Repnblik. 2« Periode«
in Vereinigung von Gesang, Tanz und Dialog erscheint der Mimus auf der
Bühne und zwar entweder selbständig wie bei den Floralia oder als Nach-
spiel (Exodium), Als solches verdrängte er die Atellana ; im Jahre 46 war
dieser Wandel, wie wir aus einem Brief Ciceros wissen, vollzogen. Die
Anfänge dieser dramatischen Posse liegen natürlich weiter zurück; bereits
zur Zeit des Accius war sie vorhanden, wie uns ein Vorfall aus seinem
Leben beweist. Er wurde nämlich von einem Schauspieler in einem Mimus
mit Namen angegriffen; er strengte deshalb eine Injurienklage gegen den
Schauspieler an, die für ihn einen siegreichen Ausgang nahm. Nicht so
glücklich war Lucilius, der ebenfalls von einem Schauspieler und zwar
aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls in einem Mimus angegriffen worden
war, denn er verlor seinen Prozess (Cornif. 1, 14, 24 2, 13, 19). Der Dichter
Atta bezieht sich in einem Fragment (fr. 1) auf einen Mimus. Zur Zeit
Sullas begegnet uns auch schon ein Chef von Schauspielern des Mimus,
der Archimimus Sorix (Plut. Süll. 36). Zur vollen Blüte gelangte aber der
Mimus erst in der Zeit Gäsars durch die beiden Dichter Decimus Labe-
rius und Publilius Syrus.
Den Mimus als Intermezzo bezeugt Festus p. 826 : solebant — prodire mimt in orchestra,
dum in scena actus fubulae componerentur, cum gestibus obsccienis. Gleich darauf ist die
Rede von einem 211 auftretenden Mimen qui ad tibicinem saUaret, Bezüglich des Aus-
drucks embolinm vgl. Cic. pro Sestio 116 mit der Anmerkung Halms; die Darsteller eines
solchen embolium heissen emholiarii und emboliariae (Fl. n. h. 7, 158). Für di^se Intermezzi
diente ein eigener Vorhang, sipaHum genannt (Donat. de com. p. 12 R. Siparium est mimi-
cum velum, quod papulo obsistit, dum fabularum actus commutantur (Cic. de prov. cons. 6, 14).
Bezüglich der Aufführung des Mimus an den Floralien vgl. Lactant. Inst. 1, 20, 10,
Ovid. F. 4, 945.
Der Mimus als Exodium, Nachspiel liegt vor bei Cicero Ep. 9, 16, 7 (d. J. 46)
secundum Oenomaum Accii non, ut olim solebat, Atellanam, sed ut nunc fit, mimum intro-
duxisti.
Nicht bloss das Stück, sondern auch der Schauspieler desselben führt den Namen
mimus (Suei Calig. 57); der Mimendichter heisst mimi scriptor oder mimographus. Vgl.
WöLPPLi», Publil. p. 5.
Hebtz, Fleckeis. J. 93, 581—583 ; Mommsen, R. Gesch. 3^, 590 ; Ribbeck, Gesch. der
r. Dicht. 1, 217 ; Grtsar, Der röm. Mimus, Sitzungsber. der Wiener Ak. Philos. bist. El. 12, 237
S7. Charakteristik des Mimus. Im Wesen ist der Mimus eine
neue Gattung der Posse und berührt sich daher mit der Atellana. Charak-
teristische äussere Eigenschaften desselben sind, dass der Schauspieler hier
keine Maske trägt — das starke Hervortreten des Mienenspiels machte
dies notwendig — und keine Theaterschuhe — daher planipes genannt —
und dass die Frauenrollen auch von Frauen gegeben wurden. Sowohl
durch diese Äusserlichkeiten als durch das Fehlen der personae oscae unter-
schied er sich von der fabula Atellana, Zweck des Mimendichters war,
durch Vorführung komischer Scenen Lachen zu erregen (Hör. Sat. 1, 10, 7);
der Komposition wurde daher nur eine geringe Sorgfalt zugewendet und
wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn plötzlich der Reiche zum Bettler
wird oder wenn die Lösung einer Verwicklung sich dadurch vollzieht, dasa
eine Person die Flucht ergreift und damit den Schluss des Stücks herbei-
führt. Die Stoffe, in denen sich der Mimus bewegte, sind mit Vorliebe
obscöne, besonders sind es komische Ehebruchsscenen, die den Zuschauern
dargeboten wurden ; es konnte daher Ovid zu seiner Entschuldigung fragen
und ausrufen (Trist. 2,497):
Decimns Laberiiui. 131
Quid, si scripsissem mimos ohscena iocantes,
Qui aemper ficH crimen amoris hahent?
In quihu8 asaidue ctUtus procedit aduUer,
Verhaque dat stulto callida nupta viro.
Bei der nur lose geschürzten Handlung des Mimus musste alles Schwer-
gewicht auf die äussere Darstellung fallen, die aus Dialog, Gesang und
Tanz sich zusammensetzte (Gell. 1,11,12). An grobem Sinnenkitzel Hessen
es die Schauspieler nicht fehlen, bei den Floralien kam es vor, dass sich
die Schauspielerinnen dem Publikum nackt zeigen mussten (Val. M. 2, 10^ 8).
Die ganze Handlung konnte sich wegen der geringen Verwicklung in einem
Hauptschäuspieler konzentrieren, von dem daher „mimum egit^ gesagt
wurde (Juv. 8, 187). Ihm standen zur Seite Nebenfiguren wie der auch in
der Atellana vorkommende Sannio (Gic. de.or. 2, 61, 251), der Grimassen-
schneider, der Clown, der Spassmacher und der Stupidus, der als hinter-
gangener Ehegatte kahlköpfig auftritt (Non. 1, 9 M.). Als charakteristisches
Kostüm des Mimus erscheint die Harlekinsjacke, der centunculus (Apul.
apol. 13) und der viereckige Frauenmantel, das ricinium.
Die laxe Komposition beleuchten Cic. Phil. 2, 27, 65 in eius viri copias cum ae subito
ingwffitasaet, exultabat persona de mimo „modo egens, repente dives" ; pro Gael. 27 , 65 mimi
est iam exitus, non fahtUae: in quo cum clausula non invenitur, fugit aliquis e manibus,
deinde scabifla conerepant, aulaeum tollitur.
Festus statuiert p. 326 als eine fast ständige Nebenperson (serundarum partium) den
Parasiten, er denkt wohl irrig an die Palliata. Über die Aufgabe der secundae partes
siehe Hör. ep. 1, 18, 14 (sai 1, 9, 46) und ein drastisches Beispiel bei Suet. Calig. 57.
Über das ricinium, nach dem auch die Stücke genannt wurden, vgl. Non. 2, 210 M. rici-
nium — pallioHum femineum breve. Festus p. 274 recinium — esse dixerunt vir(ilis) toga(e
simile vestimentum quo) mulieres utebantur, praetextum clavo purpureo, unde reciniati mimi
planipedes vgl. Tbuffel, R. L. 8, 10. Nach planipes nennt Donat de com. p. 9 R. den
mimus planipedia.
88. DecimuB Laberins. Der Mimendichter D. Laberius (geb. 105,
gest. zu Puteoli 43) gehörte dem Ritterstand an und konnte daher, ohne
seine bürgerliche Stellung zu schädigen, nicht die Bühne betreten. Erst
im hohen Alter, im J. 45 (Suet. Caes. 39), wurde er von Cäsar gezwungen,
sich mit einem improvisierten Mimus in einen Wettstreit mit Publilius
Syrus einzulassen. Bei dieser Gelegenheit hielt er den wunderschönen
Prolog, der uns noch erhalten ist. Seine litterarische Wirksamkeit können
wir jetzt nur ermitteln aus de^ Titeln der Stücke (c. 40), den Fragmenten
und endlich aus dem erwähnten Prolog. Die Titel zeigen uns, dass der
Stoff für das Lebensbild den verschiedensten Sphären entnommen ist. Es
wird uns vorgeführt das Ständebild wie der Walker (fullo), der Färber
(colorator), der Fischer (piscator), der Seiler (restio), die Hetäre, das Völker-
bild (die Kreter, die Gallier, die Etruskerin, die Gätuler), das Charakter-
bild wie der Vergessliche (Cacomnemon) , der Schmeichler (Colax), das
Familienbild wie die Zwillinge (Gemelli), die Schwestern, die Jungfrau,
das Festbild wie die Hochzeit, die Compitalien, die Saturnalien. Selbst
mythologische Stoffe werden nicht verschmäht, wie dies der Titel Anna
Perenna zeigt. Die Titel stimmen nicht selten mit solchen der Togata,
der Atellana und sogar der Palliata überein, ein Beweis, dass alle diese
Spielarten der Komödie auf derselben Grundlage ruhten. Die Fragmente
lehren uns vor allem, dass Laberius ein kühner Sprachmeister war. Sie
9*
132 RömiBche Litteratnrgeachichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
zeigen uns Obscönitäten z. B. fr. 23, £r. 139, daneben aber auch feine An-
spielungen wie im anmutigen Fragment des Seilers (fr. 72) die eines Geiz-
halses auf die Selbstblendung des Democritus, der nicht mehr das Glück
der Schlechten sehen wollte, und fr. 154 die auf die Lehre des Pythagoras.
Auch an politischen Seitenhieben fehlt es nicht. In dem „Totenorakel''
(Necyomaniia) wird fr. 63 ein angeblicher Plan Cäsars, die Bigamie einzu-
führen wie die von ihm wirklich durchgesetzte Vermehrung der vier Ädilen
auf sechs ^) berührt. Noch deutlicher sprachen die Verse in dem Wett-
kampf (fr. 125 u. 126):
ParrOf QuirÜes! Hbertatem perdimus.
Necesse est multos titneat quem muUi timerU,
Eine hohe Vorstellung von der Begabung des Dichters gewinnen
wir aus dem mehrfach erwähnten Prolog, der zu den schönsten Denkmälern
der lateinischen Poesie gehört. Der Dichter beklagt sein Schicksal, das
ihn zwinge, auf der Bühne aufzutreten, mit Wehmut denkt er daran, dass
er als Ritter vom Hause fortgegangen und als Mime heimkehre, er ver-
weist auf sein Alter, das ihn verzehre wie der sich herumschlingende Epheu
des Baumes Kraft.
Ut hedera serpens vires arhoreas nectU,
Ita me vetustas atnplexu annarum eneeat;
Septdcri similis nil nisi nomen retineo.
Laberius wurde in dem Wettkampf besiegt und bei der nächsten
Vorstellung verkündete er selbst in hochherziger Rede das Schwinden seines
Ruhms und seine Niederlage (fr. 127). Das äussere Ungemach, das ihm
widerfahren, suchte zwar der Diktator wieder auszugleichen, indem er ihm
ausser einem Honorar von 500,000 Sestertien den goldenen Ring verlieh
und ihn dadurch wieder in den vorigen Stand einsetzte. Allein ganz konnte
die Makel nicht abgewischt werden; als er im Theater unter den Rittern
seinen Platz nehmen wollte und keinen finden konnte, bemerkte Cicero
spöttisch, ich würde dir Platz machen, wenn ich nicht selbst so eng sässe,
was Laberius parierte, indem er verwundert fragte, wie das möglich sei,
da doch Cicero so gern sich auf zwei Stühle setze (Macrob. 2, 3, 10).
Das Greburtsjahr ergibt sich aus dem im Prolog erwähnten Alter von 60 Jahren (jfr. 109).
Das Todesjahr berichtet Hieron. 2, 139 Seh. — Über den Wettstreit belehrt uns Macrob. 2, 7, 2.
Dazu £. HoFFMANN, Rh. Mus. 89, 474. — Über die Sprache des Laberius vgl. Grell. 16, 7,
wo eine Zusammenstellung von neugebildeten und seltenen Worten sich findet.
Cicero schreibt im J. 53 an den Juristen Trebatius (ep. 7, 11, 2) si cito te rettideris, sermo
nullus erit; si diutius frustra abfueriSf non modo Liaberium, sed etiam sodalem nostrum
Valerium pertimesco. Mira enim persona induci potest Brittanici iureconsuUi, Danach
ist sehr wahrscheinlich, dass, wie Laberius, auch der Jurist Valerius, an den Cicero ep. 1, 10
richtet und den er 3, 1, 3 dem Appius Claudius empfiehlt, Mimen geschrieben. Von Priscian
G. L. 2, 200 wird ein Phormio eines Valerius citiert. Ribbeck hält diesen Valerius mit dem
Juristen für identisch (Comic. Jfr. p. LXXXVIUj und betrachtet demnach den Phormio als
einen Mimus, was wenig wahrscheinlich ist.
89. Die Sprüche des Publilius Syrus. Neben Decimus Laberius
wird als Repräsentant des Mimus Publilius Syrus genannt. Derselbe stammte
aus Antioehia, kam als Sklave nach Rom und wurde wegen seiner hohen
geistigen Gaben freigelassen. Von dem Wettkampf, in dem er vor den
Augen Cäsars Laberius besiegte, ist bereits die Rede gewesen. Angesichts
0 Bebok, Op. 1, 409. MoMMSEK, B. G. 3« 591.
PublilioB Sjmui.
133
dieser Thatsache ist es merkwürdig, dass in der Litteratur beide Männer
eine ganz verschiedene Stellung einnahmen. Von Laberius konnten wir
eine Reihe von Mimentiteln mit Fragmenten nachweisen, dagegen sind uns
von Publilius nur zwei Titel mit je einem Fragment überliefert, dann steht
bei Petronius ein längeres Stück „über den Luxus', welches für eine blosse
Nachahmung zu halten uns nichts berechtigt, endlich überliefert uns noch
Isidor orig. 19, 28 ein Fragment. Wir müssen uns über diese geringe Be-
rücksichtigung des Publilius um so mehr wundem, weil aus Seneca ep.
mor. 108 hervorzugehen scheint, dass seine Mimen damals noch im Theater
aufgeführt wurden, man also doch vollständig ausgearbeitete Exemplare
vorauszusetzen hat. Publilius würde für den Litterarhistoriker eine schatten-
hafte Gestalt sein, wenn nicht die kernigen Sätze und treffenden Lebens-
wahrheiten, welche in seine Mimen eingestreut waren, die Aufmerksamkeit
auf sich gezogen hätten. Diese wurden gesammelt ^ und dadurch kam
Publilius in die Litteratur. Also nur die Lichtstrahlen kennen wir aus
seinen Werken, die Werke selbst und ihre Komposition sind uns für immer
verschlossen. Die Sammlung der Sprüche unter dem Titel „Publilü Syri
mimi sententiae" war alphabetisch angelegt und umfasste etwa tausend
Verse, entweder jambische Senare oder trochäische Tetrameter. Allein
dieselbe ist verloren gegangen, wir sind daher auf die verschiedenen Aus-
züge aus derselben angewiesen. Die Sprüche sind nicht auf dem Boden
eines philosophischen Systems erwachsen, sie beruhen auf der Erfahrung
und bieten deshalb einen reichen Schatz gereifter Lebensweisheit. Manche
bekunden eine tiefe psychologische Einsicht wie
Aut amat aut odit mtUier, nihil est tertium.
Über den richtigen Namen Publüins (statt Publius) vgl. Wölfflin, Philol. 22, 4'^9,
Ausg. p. 3. Seine Heimat u. a. bezeugen Plin. n. h. 35, 199, Macrob; 2, 7, 6. Die Testimonia
de P. S. sind zusammengestellt in IiLbybbs Ausg. p. 1 — 4.
Eine Sammlung von Sprüchen des P. S. kennt Gell. 17, 14. Zur Herstellung der
ursprOnglichen Sammlung ist oesonders wichtig die Veroneser Sammlung (0) in der
Veroneser Handschrift nr. 168 (155), weil hier die Sprflche mit dem Namen Publius oder
Publius Svrus oder Publius mimus eingeführt werden; denn bisher fehlte es an einer hand-
schriftlichen Beglaubigung der Sprflche. Weiterhin müssen wir benützen die Pfftlzer
Sammlung (il), die uns im Vatic. 239 vorliegt, die Zürcher Sammlung (Z), für die
wir die Codices Monac. 6369 und Turic. C. 78 haben, endlich die in vielen Handschriften
überlieferte Senecasammlung (2) d. h. die Sammlung, welche nur die Reihen des Publi-
lius von A — N umfasste, dagegen zum Ersatz in den Reihen von N — Z prosaische Sprüche,
zugestutzt und gekürzt, grösstenteils aus dem sog. Über de moribus des rseudoseneca hinzu-
fügte und daher die Aufschrift Senecae sententicie oder Seneeae Praverbia trftgt. In« der
Freisinger Sammlung (^, für die der Hauptkodex Monac. 6292 ist, sind die Pfälzer
und die Senecasammlung vereinigt. Einige Sprüche sind endlich in eine Sammlung über-
gegangen, welche aus dem Griechischen übersetzt ijst und die Wölfflin mit Unrecht dem
CaeciliUB Baibus zugeschrieben (Reiffbbsgheid, Rh. Mus. 16, 12). Aufgabe der Kritik ist,
diese verschiedenen Sammlungen zu einem Ganzen zu vereinigen; wie diese Aufgabe Meyeb
gelöst, darüber gibt er in seiner Ausg. p. 13 Aufschluss.
Die ausser den sententiae von Kibbbck p. 303 — 305 dem Syrus zugeschriebenen Verse
zweifelt Mstsr Ausg. p 4 an. Bezüglich der Verse bei Petronius bemerkt er „differunt a
$implici et puro gener e dicendi, qmd in sententiis est,** Doch siehe Wölfflin Ausg. p. 13.
Litteratur: Geschichte der Ausgaben der sententiae bei Meyeb Ausg. p. 14. Ed. Wölff-
Liv, Leipz. 1869; A. Spekqel, Berl. 1874; Ribbeck in fragm. comic. 1873 p. 309; W. Mbteb,
Leipz. 1880; Fbiedbich, Berl. 1880; Mbteb, Die Spruchverse des Publilius Byrus, Leipz. 1877.
*) Ribbeck glaubt, dass es höchst wahr-
scheinlich ist, dass sich um den Namen Publi-
lius auch Sprflche anderer gruppierten. Doch
vgl. Meyer, Abb. der Mflnchner Akad. 17, 1
p. 21 Anm.
134 Bömisohe litteratargesohiolite. L Die Zeit der Repnblik. 2. Periode.
3. Cn. Matius, Laevius, Sueius«
90. Mimiamben. Das Organ der herben Spottpoesie des Hipponax
und Ananius war der Gholiambus, d. h. der durch den Spondeus im sechsten
Fuss in seinem Lauf gehemmte jambische Trimeter. Dieses choliambische
Mass wurde auch im alexandrinischen Zeitalter gebraucht. Herodas ^) ver-
wendete dasselbe zu einer neuen Litteraturgattung, den Mimiamben, heiteren
Bildern aus dem Leben, die wohl nicht selten auf eine praktische Lehre
hinausliefen.^) Diese Litteraturgattung ahmte Cn. Matius, den wir wohl
in unsere Epoche setzen müssen, nach und führte sie bei den Römern ein.
Nur wenige Verse sind aus denselben erhalten, wir setzen einige, um ein
Bild von der Poesie des Dichters zu geben, hieher:
Jam tarn albieascit Phoehus et recentatur,
Commune homintbus lumen et voluptatie.
Quaprapter edtUcare convenit vitam
Cur<isqt4e aeerhae aensibus gubernare.
Auch die Ilias übersetzte Matius, wie es scheint, sehr frei. Etwa
acht Fragmente sind uns aus dieser Übersetzung überliefert.
Eifrig las unsem Dichter Gellius, dem wir deshalb die meisten Fragmente verdanken ;
auch Varro hatte ihn berücksichtigt (de 1. 1. 7, 95 u. 96). Terentianus Mauros v. 2416 ver-
gleicht ihn mit Hipponax. Hoc mimiambos Mattius dedit metro; \ nam vatem eundem Ute
Attico thymo tinctum \ pari lepore est consecutus et metro. Die Fragmente bei L. Müller,
Catoll p. 91 ; Bähreks p. 281. Den Übersetzer der Ilias und den Dichter der Mimiamben
hält L. Müller mit nicht durchschlagenden Gründen für verschiedene Personen. ,,Die
zahlreichen Archaismen (der Übersetzung) weisen darauf, dass Matius nicht sp&ter gelebt
hat als ums Jahr 100 und nicht identisch ist mit dem Verfasser von Mimiamben zu Ciceros
Zeit. Dazu kommt, dass er von Varro citiert wird, der sehr selten gleichzeitige Dichter
erwähnt" (Q. Ennius p. 279).
Eine andere Übersetzung eines Ninnius Crassus der Ilias citiert Priscian 1, 478 H.
Ninniua Crassus in XXIV Iliados, femer Nonius 2, 88 M., Crassus lib, XVI Iliados, Danach
wird wohl auch Prise. 1, 502 H. statt nemus in Iliadis secundo zu lesen sein: Ninnius etc.
Vielleicht darf man aber noch weiter gehen und auch Chans, p. 145 K. statt nevius Cypriae
Iliadis lihro I mit Scriverius lesen Ninnius etc. Es hätte dann Ninnius Crassus noch ein
zweites Gedicht, eine Cypria Ilias geschrieben. Bahreks weist alle Fragmente diesem
Gedicht zu, allein die Bücherzahl ,24*^ des ersten Citats weist auf eine Übersetzimg der
homerischen Ilias hin. Wann dieser Dichter gelebt, wissen wir nicht. Vgl. L. Müller,
Q. Ennius p. 279.
91. Erotopaegnien (Liebesscherze). Der Dichter Laevius ist von
seinen Zeitgenossen wahrscheinlich aus Verachtung mit Stillschweigen über-
gangen worden; seine Zeit kann daher nur durch Kombination bestimmt
werden. Wahrscheinlich ist er identisch mit dem von Sueton gramm. 3
genannten Laevius Melissus, der Lutatius Daphnis, den Freigelassenen des
Q. Lutatius Catulus, Jlavog aydnriiia nannte. Diese Verspottung setzt
BücHELEB, Bh. Mus. 41,12 ungefähr in die Zeit von Sullas Tod. Auch
dürfte kaum zweifelhaft sein, dass das Fragment 3 „meminens Varro corde
volutai^ sich auf den Polyhistor Varro bezieht. Laevius ist daher Zeit-
genosse Varros. Er schrieb Erotopaegnia; es ist dies eine besondere Art
der nalyna, Gedichte in leichter, tändelnder Manier, welche nach dem
Vorgang des Gnesippus die Dichter Philetas, Monimus, Krates und andere
^) Die Zeit dieses Schriftstellers ist strit-
tig, manche halten ihn für einen Zeitgenossen
Xenophons, andere, wohl richtiger, für einen
Zeitgenossen des Callimachus. Vgl. Bebok,
poet. lyr. 2\ 509.
*) Bebgk, Opusc. 2,551.
Cn. Matiaa. Laevins. Sneins. 135
behandelt hatten. ■) Von diesen Erotopaegnia werden sechs Bücher citiert
(Char. p. 204 K.). Daneben finden wir aber auch noch Gitate mit anderen
Titeln wie Adonis, Alcestis, Gentauri, Helena, Ino, ProtesUaudamia, Sireno-
circa, Phoenix. £s ist höchst wahrscheinlich, dass auch diese Gedichte in
den Paegnia standen und dass sonach jedes Buch derselben Abteilungen
mit eigenen Überschriften hatte. Priscian spricht auch von Polymetra des
Laevius. Wahrscheinlich gehörten auch diese Gedichte zu den Erotopaegnien
und bildeten ebenfalls dort eine eigene Abteilung. In denselben wurde,
wie es scheint, das metrische Kunststück durchgeführt, aus einer bestimmten
Anzahl von Silben Verse zu bilden. Dass sich Laevius mit solchen Spiele-
reien abgab, zeigt der Schluss der Sammlung; dort tritt als Bote der Venus
der Vogel Phoenix auf, aus seinen Versen wird ein Flügel gebildet. Leider
sind die Fragmente zu wenig zahlreich, um den Gang eines Stücks zu er-
kennen. Die Eigentümlichkeiten der Laevianischen Dichtung aber zeigen
sie deutlich, zahlreiche Metra (mit Künsteleien), zahlreiche Wortschöpfungen
(Gell. 19, 7), einen frivolen Zug.
Bemerkenswerte Fragmente sind besonders 18 und 27; fr. 23 wird die lex Licinia
sumptuaria des J. 108 erwähnt; fr. 28 erscheint eine Geliebte des Laevius, Vatiena. Das
Citat, das Prise. 1, 258 H. aus den Polymetris beibringt, lautet: amnes sunt denis syllabis
rersi, ebenfalls 10 Silben umfassend. BIhrbnb und Haebbrlik p. 93 halten die Polymetra
für eine andere Bezeichnung der Erotcpaegnia. Fragmente bei Müllsr in der CatuUausg. p. 76 ;
BlHBSNS p. 287; Bügheler, Fleckeis. J. 111, 306, Rh. Mus. 41, 553; Haebeblin, Philol. 47, 85.
92. Das erste römische Idyll. Bekannt ist das im Corpus der
Yergirschen Gedichte befindliche Idyll Moretum, bekannt ist auch, dass
Vorbild für dasselbe das Mörsergericht (fivTTwvog) des Parthenius, der im
J. 72 als S[riegsgefangener nach Rom kam, gewesen ist. Allein es begegnet
uns in der römischen Litteratur noch ein zweites Moretum, das Macrobius
3,18,11 einem Dichter Sueius beilegt. Höchst wahrscheinlich ist dieser
Sueius identisch mit dem bei Varro de 1. 1. 7, 104 citierten Dichter Sueius
und mit dem M. Sueius, den uns Varro de r. r. 3, 2, 7 als eifrigen Züchter
von Geflügel, Bienen, Fischen u. s. w. vorführt. Es wäre dann Sueius der
Ädilis curulis des Jahres 74 (Plin. n. h. 15,2). Zu der von Varro geschil-
dei'ten landwirtschaftlichen Thätigkeit des Sueius würde sehr gut ein zweites
Idyll passen, mit dem Titel Pulli, aus dem uns Nonius (freilich mit ent-
stelltem Namen des Autors) mehrere Fragmente mitteilt. Auf ein annali-
stisches Werk und zwar auf ein fünftes Buch desselben führen zwei Stellen
bei Macrobius 6, 1, 37; 6, 5, 15.
£iii drittes Idyll Nidus will Bühbenb durch Konjektur aus Charisius 103 K. gewinnen.
Die Fragmente bei Bähreks p. 285, bei Luciak Müller im Lucilius p. 311. Ribbfck, Gresch.
der r. Dicht. 1, 306. Der Name unterlag fast regehnässig der Verderbung; ihn stellte her
L. MüLLBB, Rh. Mus. 24, 553.
4. T. Lucretius Carus.
93. Biographisches. Über das Leben des Lucretius sind uns nur
wenig Nachrichten überliefert und selbst diese bedürfen der Nachprüfung.
Als Geburtsjahr des Dichters ergibt eine sorgfältige Betrachtung aller
Zeugnisse das Jahr 97, als Todesjahr 53; er starb sonach im kräftigsten
*) BsRiTHARDY, Griech. Litteraturgesch. 3. Aufl. IIa p. 566.
136 BOmiaclie Litteratargeschichte. I. Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
Mannesalter, 44 Jahre alt. Hieronymus berichtet uns, dass Lucretius durch
einen Liebestrank in Irrsinn verfiel, dass er einige Bücher seines Gedichts
in den lichten Pausen schrieb, dass er durch eigene Hand ums Leben kam,
endlich dass Cicero sein Werk verbesserte. Für den Wahnsinn spricht
unzweideutig der Selbstmord des Dichters; es steht daher auch der Angabe
nichts im Wege, dass ein Teil seines Schaffens in die Periode seines Wahn-
sinns fiel; ist ja die Grenze, durch welche das Genie vom Wahnsinn ge-
schieden wird, ohnehin nur eine geringe. Dagegen kann die Geschichte
vom Liebestrank nur eine Dichtung sein, vielleicht dadurch hervorgerufen,
dass der Dichter so sehr gegen die Liebe geeifert hatte. Die Thätigkeit
Giceros hat zur Voraussetzung, dass der Dichter verhindert war, seiner
Schöpfung die letzte Feile angedeihen zu lassen, dass er sonach vor der
Veröffentlichung starb. Der Zustand des Gedichts und zwar in seinem
ganzen Umfang beweist die Richtigkeit dieser Annahme. Wir finden näm-
lich eine* Anzahl von Stellen, welche sicherlich vom Dichter herrühren, die
aber nicht in den Zusammenhang passen. Es waren ohne Zweifel neue
Entwürfe des Dichters, die der Herausgeber da einreihte, wo es ihm passend
erschien. Lucretius hinterliess also sein Gedicht in unfertigem Zustande;
ein harmonisches Ganze aus den einzelnen Teilen herzustellen versagte
ihm der Tod; der Herausgeber änderte zum Glück nicht den ursprünglichen
Charakter des Werks. So wie uns das Gedicht jetzt vorliegt, besteht es
aus sechs Büchern.
Hieron. zum J. 94 (nach A und F 95) 2, 133 Seh. TUus Lucretius poeta naacUur .
postea amatorio poctdo in furorem versus cum aliquot libros per intervatta insanicte con-
scripsisset quos postea Cicero etnendatHt, proprio se manu interfecit anno aetaiis XLIIIL
Donat. vit. Verg. bei Reiffersch., Suetoni rel. p. 55 initia aetaiis Cremonae egit (Vergüius)
usque ad virilem togam, quam XVII anno natali suo accepit isdem iUis consulibus iterum
duobus quibus erat natus evenitque ut eo ipso die Lucretius poeta decederet. Cod. Monac.
14429 8. X Titus Lucretius poeta nascitur — anno XXVII ante VirgÜium, Diese drei
Zeugnisse würdigt Woltjeb, Fleckeis. J. p. 129, 1.34 — 138 also: Nach der Münchner Glosse
wurde Lucrez 27 Jahre vor Vergil geboren, dies ergibt, da Vergils Greburtsjahr 70 ist, 70
-|. 27 = 97 als Geburtsjahr des Lucrez. Nach Donat wäre Lucrez gestorben, als VergU
im 17. Lebensjahr die toga virilis erhielt. Dies führt auf 70 — 17 = 53, also auf 53 als
Todesjahr. Damit stimmt aber nicht die zweite Angabe, dass Vergil, als dieselben Konsuln,
unter welchen er geboren war, zum zweitenmal das Konsulat inne hatten, die toga virilis
erhalten, denn dies führt auf das Jahr 55. Da aber auch Hieronymus 2, 137 Seh. das
Jahr 53 für die Annahme der toga virilis von Seiten Vergils bezeugt, so werden die Worte
isdem Ulis consulibus — erat natus eine Interpolation sein. Das Jahr 53 als Todes* und
97 als Geburtsjahr bestätigt die Angabe des Hieronymus, dass Lucretius ein Alter von
44 Jahren erreicht habe. Sein Ansa^ des Geburtsjahres des Dichters ist dagegen irrig.
Ohne auf Woltjeb Rücksicht zu nehmen, versucht Mabx, Rh. Mus. 43, 136 eine andere
Lösung der Schwierigkeiten, die aber viel komplizierter ist und gegenüber welcher Woltjebs
Verfahren entschieden den Vorzug verdient.
Wer unt«r dem von Hieron. genannten Cicero zu verstehen sei, ist eine Streitfrage.
Lachmaitk hält ihn Commentar p. 63 für Quintus Cicero, Berge dagegen (Opusc. 1, 426;
2, 726) für Marcus Cicero. Soviel ist klar, dass wir, wenn wir, wie bei Hieronymus, Cicero
lesen, zuerst an den berühmten M. Cicero zu denken haben. Die Stelle, in der Cicero in
einem Briefe des Jahres 54 an seinen Bruder Quintus 2, 9(11), 3 des Lucretius gedenkt,
gibt keine Entscheidung; sie lautet nach der Überlieferung : Lucretii poemata ut scribis ita
sunt multis luminibus ingenii, multae tamen artis, sed cum veneris, virum te putabo, si
Scdlustii Empedoclea legeris, hominem non putabo. Hier weist tamen auf einen Fehler hin,
ich schliesse mich Berge (Opusc. 1,428) an, welcher non vor multae einsetzt; durch die
Einschiebung des non vor multis, welche Lachmaitn und Vahlen gebilligt, entsteht ein ver-
kehrtes Urteil über die Lucretianische Dichtung, dessen wir Cicero nicht für fähig halten
können. Die folgenden Worte dürfte Vahlen gegen Konjekturen (Berge z. B. liest cum
ad umbilicum veneris, vergl. neuerdings Mnemos. 17, 128 und 387) geschützt haben, sie
T. LnoretiuB Carns.
137
haben nichts mehr mit LacretioB zu thnn» sondern beziehen sich bloss auf Sallost (Ind. leci.
Berolin. 1881/2 p. 8). Wenn man aus den Worten geschlossen hat, dass sie den Tod des
Lucretius zur Voraussetzung haben, so ist dieser Schluss unrichtig. Die Kenntnis des
Lucretianischen Gredichtes (oder Teile desselben) konnte noch bei Lebzeiten des Dichters
erfolgen. Die ThAtigkeit Ciceros als Herausgeber war sicherlich eine ganz untergeordnete.
94. LncretiuB' Oedicht ttber das Wesen alles Seins (de remm
natura). Das Oedicht de rerum natura ^) in Hexametern ist einem Memmius
gewidmet; wenn es auch nicht völlig bewiesen werden kann, so werden
wir es doch als sehr wahrscheinlich ansehen, dass dieser Memmius derselbe
ist, der uns auch im Leben Gatulls begegnet, der Prätor Bithyniens. Selbst-
verständlich ist es aber der gebildete Römer, an den sich Lucretius eigent-
lich mit seinem Gedichte wendet. Die Rücksicht auf Memmius hat daher
nur geringen Einfluss auf die Komposition des Werks gehabt; das wunder-
volle Gebet zur Venus im Eingang des Gedichts dürfte zum Teil wenigstens
dem Adressaten verdankt werden, denn wie Medaillen bezeugen, war Venus
die Hausgöttin der Familie der Memmier. In seinem Gedicht ist Lucretius
der Interpret der Lehre Epikurs. Aber nicht ein theoretisches Interesse
ist es in erster Linie, welches ihn für diese Lehre begeistert, sondern ein
praktisches. Das Epikureische System bringt Erlösung von den Leiden,
welche das menschliche Geschlecht unglücklich machen, es sind dies der
Glaube an das Eingreifen der Götter in die Schicksale der Welt und die
Furcht vor dem Tode. Der Götterglaube bannt den Menschen in ewige
Angst; er weiss ja nicht, was die Gottheit im nächsten Moment über ihn
verhängt. Die Todesfurcht aber, diese stete Begleiterin des menschlichen
Lebens, überragt noch die Angst vor dem Eingreifen der Götter; denn
auch das jammervollste Leben erscheint noch immer besser als das Un-
gewisse, das uns der Tod bringt. Von diesen Leiden befreit uns Epikur
durch seine Betrachtung und Erkenntnis der Natur. Diese führt uns darauf,
dass ein unzerstörbares Etwas vorliegt, denn es kann nicht etwas aus nichts
werden und nicht etwas in nichts zurückfallen; sie führt uns aber auch
darauf, dass ein Raum vorhanden sein muss, in dem sich der Stoff bewegen
kann. Die unzerstörbaren, nicht mehr teilbaren, kleinsten Körperindi-
viduen, die Atome (primordia rerum) und das Leere, der Raum (inane),
welche einander ausschliessen, welche miteinander von Ewigkeit existieren
und unendlich sind, erklären alle Erscheinungen der Welt. Die ruhelosen
Atome bewegen sich vermöge ihrer Schwere nach unten hin, aber durch
eine Abweichung von der senkrechten Richtung entstehen Verwicklungen
und indem sich die passenden Atome zusammenschliessen, die Gebilde der
Welt. Also nicht bedarf es eines Eingreifens einer höheren Macht, von selbst
bilden sich alle Dinge des Universums. Auf dieser Grundlage, welche im
ersten und im zweiten Buch entwickelt wird, ruht die Lehre von dem
Geist und der Seele im dritten Buch. Der Geist (anitnus), mit dem die
Seele (anima) unzertrennlich verbunden ist (136), ist körperlich, er besteht
aus kleinen, feinen und runden Atomen, welche, sobald der Geist aus dem
Körper entwichen, zerfallen (437). Nur mit dem Körper hat also der Geist
') Unsere Aufgabe kann es nicht sein,
das philosophische System Epikurs in allen
seinen Einzelheiten darzulegen; f&r unsere
litterarhistorischen Zwecke genügen die Grund-
ztlge.
138 RömiBche Litteratnrgeachichte. I. Die Zeit der Bepublik. 2. Periode.
Bestand, wie umgekehrt der Körper nicht ohne den Geist bestehen kann;
mit dem Körper wächst, schwindet und stirbt der Geist. Ist aber der
Geist sterblich, so ergibt sich die wichtige praktische Folgerung (828):
Nil igitur mors est ad noa neqm pertinet hüum.
Die Todesfurcht ist dann eitel. Im vierten Buch wird die Anthro-
pologie dargelegt; besonders sind es die Sinneswahmehmungen, die aus-
führlich erklärt werden. Hier stossen wir auch auf die wichtige Deduktion
von der Untrtiglichkeit der Sinne (467 — 519); der Dichter sagt:
non modo enim ratio ruat omnis, vita quoque ipsa
Concidat eoetemplo, nisi credere sensibus ausis.
Das fünfte Buch ist der Kosmologie gewidmet und legt dar, wie
Erde, Himmel, Meer, Gestirne und die Lebewesen entstanden sind (65).
Eine Glanzpartie dieses Buchs ist der Abschnitt von der allmählichen Ent-
wicklung des Menschengeschlechts und der menschlichen Kultur (922), reich
an scharfsinnigen Beobachtungen und grossartigen Gedanken. Endlich im
letzten Buch werden die meteorischen Erscheinungen erklärt, Donner, Blitz,
Wolken, Regen, Erdbeben, der Feuerausbruch des Ätna, das Anschwellen
des Nils, die aus gewissen Stellen des Bodens entstehenden Dünste (loca
Averna), merkwürdige Eigenschaften von Quellen, z. B. der Temperatur-
weehsel der Quelle des Ammonstempels, der Magnet, die Krankheiten.
Eine Schilderung der athenischen Pest schliesst das Gedicht; wie uns der
Anfang des Gedichts ein glänzendes Bild des Lebens entrollte, so wird
am Schluss ein furchtbares Bild des Todes uns dargeboten.
Des Dichters Aufgabe ist nun gelöst, er hat gezeigt, dass von einem
Eingreifen der Götter in die Welt keine Rede sein kann. Zu diesem Zweck
hat er die Naturerscheinungen, die ja besonders den Menschen mit Staunen
und Angst erfüllen, so eingehend erörtert und gezeigt, dass dieselben auf
natürlichen Ursachen beruhen; er hat aber auch gezeigt, dass die Seele
sterblich ist und wir daher den Tod nicht zu fürchten brauchen.
Das Verhältnis des Lucrez zum Memmius in dem Gedichte ist Gegenstand verschie-
dener Hypothesen geworden. Nachdem BocKEifÜLLBB in einer sehr verwickelten Entstehungs-
geschichte des Gedichts von dem Satz ausgegangen war, dass Memmius erst später zum
Adressaten gemacht wurde (vgl. Brieger, Burs. Jahresb. 4 ü p. 162), suchte Kankenoiesser,
Fleckeis. J. 125, 833, 131, 59 nachzuweisen, „dass der Name Memmius oder eine direkte
Beziehung auf ihn nirgends in einem Hauptstttck des Werkes vorkommt, dass vielmehr
aUe Partien, in denen entweder der Name des Memmius oder eine ganz direkte Bezie-
hung auf ihn sich findet, entweder dem carmen continuum sich überhaupt nicht einreihen
oder sich leicht loslösen und als spätere Zusätze erkennen lassen.' Dass dieser Beweis
nicht gelungen ist, zeigt Brakdt, Fleckeis. J. 131, 601. Bruns führt dagegen in seinen
Lucrezstudien die Ansicht durch, dass Lucretius ursprünglich sein Gedicht für Memmius
bestimmt hatte, im Laufe des Gedichts aber statt des einzigen Adressaten das Publikum
substituierte und, da der Zweck ein anderer geworden war, Memmius nur gelegentlich noch
erwähnte. Ich glaube, dass von vornherein das gebildete Publikum als der wirkliche
Adressat zu denken ist.
Das zweite Problem, welches uns das Gedicht des Lucrez stellt, ist das Verhältnis
des Dichters zu Epikur. Da Lucrez mit seinem Gedicht in erster Linie praktische Zwecke,
nicht rein theoretische, verfolgt, so ist es für ihn nicht notwendig, das epikureische System
in allen seinen Teilen darzulegen. So ist z. B. die Ethik nicht im Zusammenhang behsmdelt,
nur zerstreut finden sich über dieselbe Bemerkungen. Vgl. Martha, Le po9me de Lucrkce
p. 173 und p. 184. Auch die Lehre von der Erkenntnis, die Eanonik, ist nicht zur Dar-
stellung gekommen, nur der Fundamentalsatz, dass die Sinne nicht trügen, ist wiederholt
beigezogen worden; so z. B. ausser der oben angegebenen Stelle 1, 422 und 1, 699:
T. LnoretiaB Cams. 139
corpus enim per se communis dedicat esse
sensus; cui nisi prima fides fundata wüebit,
haut erit oecuUis de rebus quo referentes
confirmare animi quiequam ratione queamus,
quid nobis certius ipsis
sensibus esse potest, qui vera ac falsa natemus?
Unwahrscheinliclie Ansichten ttber die Komposition und das Verhältnis des Dichters
zu seinen Quellen stellt, besonders von der Kanonik ausgehend, Bruhs, Lucrez-Studien,
Freib. 1884 auf.
Litteratur über des Systems Quellen und Bearbeitung (mit Auswahl): Braun,
Lueretii de atomis doctrina, Münster 1857. Hildebbakdt, Lucretii de primordiis doctrina,
Magdeb. 1864. Mabson, T%e atomic theory of Lucretius contrasted wüh modern doctrines
of atoms and evolution, London 1884. Höfeb, Zur Lehre von der Sinneswahmehmnng im
4. B. des L., Progr. von Seehausen 1872 (Die Lehre vom Sehen). Schütte, Theorie der Sinnes-
enipfindungen bei Lncrez, Danzig 1888. Bi]n>SBiL, de omnis infinitate apud Lucr., Eschwege
1870. HoKBSGHELiujfN, obs. Lucretianae alterae, Leips. 1877. — Reisackbb, quaest, Lueretianaef
Bonn 1847. Epicuri de animorum natura doctrina a Lueretio tractata, Köln 1855. Der
Todesgedanke bei den Griechen. Eine bist. Entwicklung mit bes. Rücksicht auf Epikur
und Lucrez, Trier 1862. Uallibb, L. carmina e fragmentis Empedoclis adumbrata, Jena 1875.
Bastlezk, Quid L. debuerit EmpedocH, Schleusing. 1875. Woltjeb, Lticretii phVosophia
cum fontihus comparata, Groningen 1877 (wichtige Schrift). Dazu vgl. Lohmann, Quaest.
Lucret., Braunschweig 1882 (im zweiten Kapitel qucte ratio intereedat inter Lucretium et
EpicurumJ. Rtjsch, De Posidonio Lucreti auctore, Greifsw. 1882. Eichnbr, Annotationes
ad Lucretii Epicuri interpretis de animae natura doctrinam, Berl. 1884.
96. Würdigung des Oedichts. Aus dem spröden Stoff, den die Lehre
Epikurs darbot, hat der Dichter ein Gedicht von hoher Vollendung und
nachhaltigster Wirkung geschaffen. Dies war nur dadurch möglich, dass
ihn die glühendste Begeisterung für die Lehre Epikurs erfüllte; ihm ver-
dankt nach seiner Überzeugung das Menschengeschlecht die Aufklärung
über die letzten Gründe alles Seins. Der Dichter wird daher nicht müde,
Epikur zu preisen und zu verherrlichen, er ragte, sagte er, unter allen
Sterblichen hervor, wie die Sonne in der Sternenwelt (8, 1041), er geleitete
unser Leben aus der tosenden Flut zur Ruhe, aus der Finsternis zum Lichte,
ein Gott war er, ja sein Wirken stand höher als das der Geres, des Bacchus,
des Hercules, denn er hat uns den Trost des Lebens gespendet und unsere
Brust von Furcht und Leidenschaft befreit (5, 9) ; als der Mensch von der
Wucht des Aberglaubens niedergestreckt da lag, wagte er es, diesem Wahn
mit festem Blick entgegenzutreten, unbekümmert um Donner und Blitz,
siegreich durchzog er mit seinem Geiste das unermessliche All (1, 62).
Seine Worte sind daher golden und ein unvergänglicher Schatz, und wie
die Bienen auf den blumigen Gefilden den Honig einsammeln, so müssen
wir diese väterlichen Lehren in uns aufnehmen (3, 9). Man sieht, was
Epikur dem Dichter war. Dass er sich so sehr für den griechischen Weisen
begeistern konnte, begreift man, wenn man sich die von entsetzlichen
Leidenschaften und Gräueln bewegte Zeit, in die das Leben des Dichters
fiel, ins Gedächtnis zurückruft. In solchen schweren Zeiten sehnt sich das
Menschenherz nach Ruhe und Frieden und weiss diese Güter höher zu
schätzen als in den Tagen des Glücks. Die Begeisterung, welche den
Dichter beseelt, weiss er auch auf den Leser zu übertragen; dies erreicht
er durch die Eindringlichkeit, mit der er fort und fort auf die Hauptsätze
zurückkommt, durch die Klarheit und Anschaulichkeit, die er überall er-
strebt, endlich durch die prachtvollen Gleichnisse, Bilder und Schilderungen,
die wie Perlen dem Gedichte eingefügt sind und die uns die Dichtergrösse
140 BOmiflclie Lüteratnrgeachiclite. I. Die Zeit der Bepablik. 2. Periode.
des Lucretius zeigen. Wenn der Dichter uns malt die ihr Junges suchende
Kuh (2, 355),
(U mater viridis sciltus arbata peragrans
noscit humi pedibus veatigia pressa bistUcis,
omnia canvisens oculis loea, si queat usquam
conspieere amiasum fetum, completque quereUis
frandiferum nemus adsiduis, et erehra revisit
ad atabiäum, deaiderio perfixa iuvenci,
nee tenerae aalices atque herhae rore vigentes
fluminaque üla queunt summis labentia ripis
dbUctare animum dubiamque averiere curam
nee vittUorum aliae speeies per pahtUa laeta
derivare queunt animum curaque levare.
den alles befruchtenden Regen (1, 250), das Walten der Mutter Erde
(2, 991), den verheerenden Wind (1, 271), die phrygische Göttermutter
(2, 600) und die athenische Pest (6, 1136)^ so werden wir von der Süs-
sigkeit dieser Poesie mit fortgerissen und vergessen die öden Stellen
der Epikureischen Philosophie. Mit Recht kann sich daher der Dichter
rühmen, dass er seine Lehren durch die Poesie versüsst, wie man den
kranken Kindern die bittere Arznei durch Zusatz von Honig versüsst
(1, 936). Allein die poetische Gestaltung eines nicht besonders dankbaren
Stoffs ist nicht das einzige Verdienst des Dichters; er hat sicher auch zur
Erläuterung des Systems manches beigetragen. Nicht bloss Epikur, sondern
auch andere Quellen, wie Empedokles, Thukydides, vielleicht auch Posi-
donius, wurden von ihm gelegentlich zu Rate gezogen. Nicht gering ist
das Verdienst, das sich Lucretius um die Ausbildung der Sprache erworben
hat. Ein Versuch, Epikur der römischen Welt zugänglich zu machen,
wurde bisher nicht gemacht; der Dichter schreitet daher, wie er sich dessen
rühmen durfte, auf Stätten der Musen einher, die noch keines Sterbh'chen
Fuss betreten. Er musste daher die Sprache erst für seine Bedürfnisse
zurecht machen, öfters entfallen ihm Klagen über die Armut des vater-
ländischen Idioms (1, 136, 832 3, 260). Vorbild für Sprache und Versbau
ist ihm Ennius, der zuerst den nie welkenden Lorbeerkranz vom Helicon
herabgenommen, der weithin seinen Ruhm unter Italiens Völkern verkün-
dete (1, 117). Aber er hat den Meister weit übertroffen. Sein Stil bekommt
durch die Archaismen einen feierlichen Charakter, auch sein Versbau steht
durch den Mangel an «Anmut und Mannigfaltigkeit" 0 ^^^ ^^^ harten Stoff
in Einklang.
Kein Zweifel, Lucretius und GatuUus sind die grössten Dichter der
Römer. Beide haben miteinander gemein, dass ihre Dichtung uns den
Wellenschlag ihres Lebens spiegelt. Der eine Dichter lässt uns in ein von
Liebe und Hass zerrissenes Herz blicken, das andere Gedicht führt uns
ein Menschenleben vor, das, sicherlich nach manchem Sturm, im heissen
Ringen die Wahrheit gefunden zu haben glaubt und damit die Erlösung
von den beiden feindlichen Mächten des Lebens, von dem Götterglauben
und der Todesfurcht. Wer nur einmal im Leben nach dem Licht der Auf-
klärung gerungen, wird sich zu der Hoheit des Lucrez unwillkürlich hin-
gezogen fühlen und sich gern die Worte Virgils ins Gedächtnis zurück-
rufen. (Georg. 2, 490):
1) L. MüLLEB, Q. Ennius p. 291.
Die juigrOmische Dlohteraohole. 141
Felix, gut patuU verum eagnoseere eausas
Ätque metus omnis et inexorabile fatutn
SubiecU pedibus strepitumque Ächerontis avari.
Viel gelesen im Altertum erstreckte Lucretius auch auf die moderne
Zeit seine Wirkung; vom Wiederaufleben der Wissenschaften an bis zui*
Blüte der Naturwissenschaften rankt sich das freie Denken gern an dem
römischen Dichter empor.
Die Spuren des Lucretius bei seinen Nachfolgern sind vielfach nachgewiesen worden:
Jessen, Über L. und sein Verhälinis zu Catull und Späteren, Kiel 1872. Reisacksb, Hora-
tins i|i seinem Verhältnis zu Lucr., Bresl. 1878. Wbinoabtmbb, de Horatio Lucretii imi"
tatae, HaUe 1874. Wöhleb, Über den Einfluss des Lucr. auf die Dichter der augusi Zeit,
L rVergil), Greifsw. 1876, vgl. GeU. 1, 21, 7. Zinqeblb, Ges. Abh. 2. Heft 1870.
Die Überlieferung des Lucretius beruht im wesentlichen auf zwei in Leyden befind-
b'chen Handschriften, dem Vassianus oblonffus 8, IX und dem Vossianus quadratus 8, X,
mit dem einige Brnchstttcke (schedae Havnienses, Vindobanenses) zu verbinden sind. Vgl.
Lachxahv, Conmient. p. 9: omnis vetu8tae leetionis memoria e Vossianis codicibus repetenda
est; nisi quod obiUmgo fidem interdum Itafiei abrogant, quadrati aueioritatem aliquando im-
minuunt schedae (Woltjeb, De archeiypo quodam codice Lticretiano in Fleckeis. J. 123, 769.
Dagegen Brisger, Ein vermeintlicher Archetypus des L. in Fleckeis. J. 127, 553).
Die erste kritische Ausgabe von Lachkann ; der zweite Band enthält einen kritischen
nnd sprachlichen Kommentar, Berl. 1850. Einen indea: zum Kommentar fertigte Härder,
Berl. 1882. Diese Ausgabe ist eine der glänzendsten Leistungen auf dem Gebiete der
klassischen Philologie. — Ausgabe von Munro in englischer Sprache (Text, erklärender
Kommentar, Übersetzung), 4. Ausg, Cambridge 1886. Teubner^sche Textai:Aig. von Berkays.
Ausgabe mit deutschem Kommentar von Bockbicüller, Stade 1873.
Zur allgemeinen Würdigung des Dichters gibt vortreffliche Winke das geistreiche
Buch Martha's, Le pdhne de iMcrhce, 2. Edit., Paris 1873. Dann MXhlt, Der römische
Dichter Lucretius im Neuen Schweiz. Mus. 5, 167. Briboer, Ein Kind der Welt in der
Zeitschr. Gegenwart 8, 169. Interessant ist auch das Kapitel tlber den Dichter bei Lange,
Geschichte des Materialismus p. 36 — 59.
Bekannt ist, dass sich der Goetheische Kreis sehr für Lucrez interessierte. Dieses
Interesse weckte besonders die KNEBEL'sche Übersetzung (erste Ausgabe 1821, zweite 1831).
Unter den deutschen Übersetzungen erachte ich als die gelungenste die des Prof. des
Staatsrechts in München, Max Sbydel (Max Schlierbach), München und Leipz. 1881.
5. Die jungrömische Dichterschule.
96. Charakter der neuen Bichtung. An mehreren Stellen pole-
misiert Cicero gegen eine Dichterklasse seiner Zeit» welche er poeiae novi
oder auch veaittQoi nennt. An einer dieser Stellen setzt er diese Dichter
in Gegensatz zu Ennius und bezeichnet sie spöttisch als Sänger des Euphorien
(cantores Euphorionia). Die Giceronischen Stellen lehren uns zunächst ein
Doppeltes, einmal dass jene Dichter metrisch und prosodisch von den bis-
herigen Normen abwichen ; dann dass sie sich in den Bahnen des Euphorien
aus Chalkisy d. h. des Alexandrinismus mit ihrer Dichtung bewegten.
Welche Dichter waren dies? Es gab zur Zeit Ciceros einen Kreis von
Leuten, die durch die Bande der Freundschaft und zum grossen Teil auch
durch landsmannschaftliche Bande — viele waren Transpadaner — zu-
sammengehalten wurden. Von diesen Leuten ging eine starke Opposition
aus gegen die bisher übliche Form des dichterischen Schaffens, gegen den
damals herrschenden rednerischen Stil, gegen die damaligen Machthaber
Roms. In der Poesie zeigt sich ihre Opposition darin, dass sie das natio-
nale Epos, das Lehrgedicht, das Drama perhorrescieren und das kleine
Kunstgedicht der Alexandriner zum Gegenstand der Nachahmung erwählen.
Es umfasst dies das mythologische Epyllion, das Schmähgedicht, das Epi-
142 fiömiflche litteratnrgescliiolite. I. Die 2eit der ftepnblik. 2, Periode.
gramm, das Liebesgedicht, die Elegie. Als eine wesentliche Eigenschaft
des Dichters betrachteten sie die Belesenheit in den griechischen poetischen
Werken und genaue Kenntniss der griechischen Mythen, d. h. der Dichter
musste doctus sein. Auch in der Form schlössen sie sich an die Alexan-
driner an; es kam darauf an, feine und saubere Technik zu zeigen, es
wurden neue metrische Formen aus Alexandria entlehnt und strenge Regeln
und Eigentümlichkeiten im Bau der Verse beobachtet. In der Rhetorik
verwarfen sie die asiatischen Stilmuster, welche zu einem überladenen oder
zerschnittenen, schlotterigen Stil führten, und proklamierten Attiker, vor
allem Lysias, als Vorbilder, d. h. wie in der Poesie, so verlangten sie auch
in der Rede feine, saubere und straff angezogene Darstellung. In der
Politik endlich kehrte sich ihre Opposition gegen Pompeius und Cäsar,
welche sie mit giftigen Pfeilen verfolgten.
Der Einfiuss der jungrömischen Dichterschule auf das geistige Leben
Roms kann nicht hoch genug angeschlagen werden. Sie haben eine römische
Lyrik geschaffen, und welche mächtige Bewegung sie in der Beredsamkeit
hervorgerufen haben, dessen ist Cicero Zeuge, der in seinen alten Tagen
seinen rednerischen Ruhm gefährdet sah und gegen sie als die „Attiker"
zu Felde zo&
Cic. Tusc. 3, 19, 45 o poetam egregium! (er redet von Ennius) quamquam ah his
cantoribus Euphorionis contemnitur; ad. Att. 7, 2, 1 Ua belle nobis „flavit ab Epiro lenissi-
mu8 OnchesmiteB** , Hunc cnoy&eta^oyttt ai cui voles tdSy yeoiteQüiy pro tuo vendito. Or. 48,
161 quin etiam, quod iam aubrusticum videtur, olim autem politius, eorum f>erbarum, quarum
eaedem erant postremae duae litterae, quae sunt in „optumua^, postremam litteram detra-
hebant, nisi vocalis insequebatur. Ita non erat ea offenaio in versibuSf quam nunc fugiunt
poetae notd.
Über die neue Beredsamkeit äussert sich von seinem Standpunkt aus Cic. Tusc. 2, 1, 3
reperiebantur nonnulU, qui nihil laudarent, nisi quod se imitari posse confiderent quemque
sperandi sibi, eundem bene dicendi finem proponerent et cum obruerentur copia sententiarum
atque verborum, ieiunitatem et famem se malle quam ubertatem et copiam dicerent; unde
erat exortum genus Atticorum, Wir werden später genauer über diesen Streit handeln. —
KiESSLiNO, de Helvio Cinna poSta in den Oomment. Momms. p. 351. Bährens, Proleg. zu
Catull. p. 1—22.
a) Valerius Cato und C. Licinius Macer Calvus.
97. Die Ftthrer der neuen Bichtimg. Aus dem Kreise treten uns
zwei Persönlichkeiten entgegen, welche wir als Führer der Opposition zu be-
trachten haben. Es ist dies Valerius Cato und C. Licinius Calvus, jenem
müssen wir die Führung in der Poesie, diesem die Führung in der Bered-
samkeit zuweisen. Cato war es, der den jungen Leuten, welche nach dem
dichterischen Lorbeer strebten, die Wege zeigte. Wie gross hier sein Ein-
fiuss war, bezeugen die Verse des Furius Bibaculus:
Cato grammaticus, Latina Siren,
Qui 8olus legit ac facit po9tas.
Des C. Licinius Calvus Führerschaft auf dem Gebiete der Beredsamkeit
bezeugen die Briefe, die Calvus (und Brutus) mit Cicero über den redneri-
schen Stil führte, ferner die Angriffe, die Cicero in seinen rhetorischen
Schriften gegen ihn richtete, endlich das hohe Ansehen, dessen sich Calvus
als Redner erfreute. Ausser diesen beiden Männern zieht noch ein Grieche,
den wir mit dem Kreis in Verbindung bringen müssen, unsere Aufmerk-
samkeit auf sich, nämlich der Dichter Parthenius. Dieser kam im Mith-
Valerins Caio. 143
ridatischen Krieg, als seine Heimat Nicäa von den Römern genommen war
(72 V. Gh.), nach Rom. Er gelangte in die Hände eines Ginna; wahrschein-
lich war aber dieser Ginna der Vater eines Dichters unserer Gruppe, näm-
lich des Helvius Ginna. Wir werden uns um so leichter zu dieser Annahme
entschliessen, da wir später sehen werden, dass sich die Dichtungen des
jungen Helvius Ginna mit denen des Parthenius berühren. Ist schon hieraus
ein Einfluss des Parthenius auf unsern Dichterkreis sehr wahrscheinlich,
so kommt noch hinzu, dass wir auch anderweitig des Parthenius' Einwir-
kung auf die römische Poesie nachweisen können, wir haben bereits oben
gesehen, dass sein Moretum von römischen Dichtem nachgeahmt wurde,
wir wissen, dass er dem Gomelius Gallus eine noch vorhandene Sammlung
von Geschichten unglücklicher Liebe zusammenstellte, wir kennen Beziehungen
zwischen ihm und Vergil (Gell. 9, 9 und 13, 27). Ist es wahrscheinlich, dass
ein solcher Dichter einem Kreise fremd bleibt, der gerade die alexandri-
nische Dichtung auf seine Fahnen geschrieben?
Tac. dial. 18 Ugistis utique et Calvi et Bruti ad Ciceronem missaa epistulas, ex quibus
faciU est deprehendere Calpum quidetn Ciceroni visum exanguem et aridutn, Brutum autem
otiasum atque diiunctum rursusque Ciceronem a Calvo quidetn male audiase ianquam solutum
et enervem, a Bruto autem — tanquam factum atque elumhem, Sen. controv. 7, 19, 6 p. 210 Bu.
Calvus, qui diu cum Cicerone iniquissimam litem de principatu eloquentiae habuit, Quint.
10, 1, 115 inveni qui Calvum praeferrent omnilms. Genaueres geben wir im Kapitel über
die Redner. — Ober Parthenius ist die Hauptstelle bei Suidas s. v. Vgl. Meikeke, Anal.
Alex. p. 255.
98. ValeriuB Gates Dichtungen. Die Nachrichten über sein Leben
verdanken wir Sueton. Er stammte aus Gallia und zwar ohne Zweifel aus
Oallia cisalpina. Während seiner Minderjährigkeit verlor er in der Zeit
der Sullanischen Wirren Hab und Gut. Seine äusseren Verhältnisse waren
auch später dürftig; eine Villa, die er vielleicht zum Geschenk erhalten,
musste er seinen Gläubigern abtreten. Cato war nicht bloss Lehrer, er
war auch Schriftsteller; er verfasste über grammatische Dinge mehrere
Schriften; auch legte er die bessernde Hand an die Satiren des Lucilius,
wie wir aus Hör. Sat. 1, 10 erfahren; ob diese kritische Arbeit zur Voll-
endung gedieh, können wir nicht sagen. Als Dichter fand Cato den meisten
Anklang mit einer Diana und einer Lydia. Beide Gedichte wurden von
den Genossen gepriesen; der Diana wünscht Cinna Dauer durch Jahrhun-
derte, die Lydia wird von Ticidas als ein von den Gebildeten eifrig stu-
diertes Werk hingestellt. Ausserdem erwähnt Sueton noch eine Schrift
unter dem Titel „Indignatio"", ohne beizufügen, ob sie ein poetisches oder
ein prosaisches Werk sei. In derselben verteidigte sich Cato gegen die
üblen Nachreden, welche über seine Abstammung verbreitet wurden. Am
wahrscheinlichsten ist es, dass die „Indignatio'* eine Satire war, ebenso
hatte Sevius Nicanor in einer Satire über seine Herkunft gehandelt.
Sueton de gramm. 11 scripait praeter grammaticos libellos etiam poemata, ex quihus
praecipue probantur Lydia et Diana. Über Hör. Sat. 1, 10 vgl. Nippebdey, Opusc. p. 490.
Mabx, Rh. MuB. 41, 553.
99. Die Dirae und die Lydia. Unter dem Namen Vergils ist uns
ein Gedicht mit dem Titel „Dirae* überliefert. Dass dieses Gedicht niclit
von Vergil herrühren könne, erkannte man bald; weder Stil noch die
Lebensverhältnisse passen auf ihn. Da nun der Autor in dem Gedichte
144 BOmische Litteratnrgescldchte. I. Die Zeit der Bepnblik. d. Periode.
den Verlust seines Gutes und eine von ihm geliebte Lydia erwähnte, da
aber auch, wie wir soeben sahen, Valerius Cato sein Gut verloren und eine
„Lydia*' geschrieben, so schloss Scaliger, dass der Verfasser dieses von
Sueton nicht erwähnten Gedichts Valerius Cato sei. Später (1792) ent-
deckte Jacobs, dass in den Dirae zwei Gedichte zusammengeflossen seien,
von denen das erste den Namen „Dirae'' richtig führe, das zweite dagegen
den Titel „ Lydia '^ erhalten müsse. Gegen diese Trennung lässt sich kein
vernünftiger Einwand erheben ; denn es sind in der That ganz verschiedene
Situationen in den beiden Gedichten ausgeprägt. In den Dirae schleudert
der Dichter auf das Gut, aus dem er durch einen Veteranen Lycurgus ver-
trieben wurde und auf dem er seine Geliebte Lydia zurücklassen musste,
allen Fluch. Misswachs, Pestilenzhauch, Verheerung durch Feuer und
Überschwemmung soll über dasselbe kommen. Zuletzt aber wird der
Dichter weich, er ruft ein Lebewohl dem Gute und seiner Lydia zu. Merk-
würdig ist die Komposition des Gedichtes. Der Dichter wiederholt nur
die Verwünschungen, welche er einst gegen sein Gut ausgesprochen. Be-
gleitet wird er hiebei zur Rohrflöte von Battarus. Durch Schaltverse sind
die Verwünschungen gegliedert. In der Lydia dagegen beneidet der Dichter
die ländliche Stätte, auf die sich die Geliebte begeben, er beklagt sein
trauriges Los der Vereinsamung, weist darauf hin, dass doch den Tieren
die Natur das Beisammensein gestatte, dass die Götter sich ihrer Liebe
erfreuen, dass im goldenen Zeitalter auch die Sterblichen in ihrer Liebe
glücklich waren, und fragt zum Schluss entrüstet, warum dem gegenwär-
tigen Zeitalter ein so hartes Los in der Liebe auferlegt sei. Man erkennt
aus dieser Inhaltsangabe, dass beide Gedichte unvereinbar sind. Im ersten
Gedicht ist die Lydia zurückgeblieben und der Dichter in der Ferne, im
zweiten ist der Dichter zurückgeblieben und die Lydia fort aufs Land ge-
gangen ; zuerst ist dem Dichter eine Gegend Gegenstand der Verwünschung,
dann der heissesten Sehnsucht. Der vorgenommenen Teilung gemäss hat
weiter Jacobs angenommen, dass das erste Gedicht sonach als ein von
Sueton nicht erwähntes Gedicht „Dirae'' anzusehen sei, das zweite dagegen
als ein Teil der von Sueton angeführten Lydia. Vergleicht man aber nun
die Lebensumstände des Valerius Cato, wie sie uns Sueton schildert, mit
den in den Dirae vorliegenden, so ergeben sich Discrepanzen. Cato verlor
sein Patrimonium als l^nderjähriger, der Dichter der Dirae war dagegen,
als er aus seinem Gute vertrieben wurde, im Besitz einer Geliebten, also
ein junger Mann; bei Cato erfolgte die Beraubung allem Anschein nach
durch Prozesschikanen, >) bei dem Dichter der Dirae durch eine Ackerver-
teilung an Veteranen. Der minderjährige Cato hatte Hab und Gut in
Gallia cisalpina, der Boden, den die Dirae verwünschen, lag in Sicilien.
Sonach müssten wir Valerius Cato als Verfasser dieser Gedichte aufgeben.
Und zu diesem Resultat sind Merkel,*) K. F. Hermann, Haupt ^) und andere
gekommen. Trotzdem glaube ich, dass Ribbeck recht thut, wenn er die
Autorschaft des Valerius Cato nicht aufgeben will. Einen Dichter, dem
M Nabke, Carmina Valerii Catonis p,262,
'') Ovid. Ibis p. 364.
«) Opusc. 1, 119.
G. liciniiui CalviiB. . . 145
fQr sein Gedicht offenbar die alexandrinischen Ghittungen der Verwünschungen
(aQai) und der Bucolica vorschweben, der also Nachahmer ist, einen Dichter,
der seine Poesie dadurch deutlich als Reflexionspoesie kennzeichnet, dass
er nur eine Wiederholung, eine Wiederauffrischung seiner früheren
Verwünschungen geben will, einen solchen Dichter darf man nicht für bio-
graphisches Detail verantwortlich machen. Ich sehe daher ganz von der
Vertreibung durch den Veteranen hier ab, ich benütze lediglich die That-
sache, dass in beiden Gedichten eine Lydia erscheint, dass sonach beide
Gedichte auf einen Autor hinweisen; denn sie zu trennen und an zwei ver-
schiedene Autoren zu verteilen, dafür liegt kein durchschlagender Grund
vor. Der Verfasser dieser zwei Gedichte behandelt aber in dem einen allem
Anschein nach die Ackerverteilung des Jahres 41. Um diese Zeit lebt
aber auch Gate und von ihm ist bezeugt, dass er eine Lydia geschrieben.
Gewiss ein eigentümliches Zusammentreffen, das uns doch dringend ermahnen
dürfte, die Scaliger'sche Entdeckung nicht voreilig über Bord zu werfen.
Die Scaliger'sche Hypothese hat einen scharfen Angriff durch Rothstbin (Hermes
28, 508) erfahren. Rothstsik geht mit K. F. Herkank davon aus, dass beide Gedichte
verschiedenen Verfassern angehören; die Ackerverteilung der Dirae sei auf -die Zeit zu
beziehen, in der S. Pompeius auf Sicilien hauste; etwas jünger 8*)i die Lydia, denn hier
sei in Vers 9 o fortunati nimium muUumqiie beati Virgil Q«org. 2. 458 o fortunaios nimium,
9aa 8% bond^norint, agrieoUis nachgeahmt. Allein es müsste doch als ein wahres Wunder
erscheinen, wenn so ziemlich zu gleicher Zeit drei Dichter eine Lydia besingen.
Hauptausgabe: Carmina Valerii Catonis mit breitem Kommentar und Exkursen von
Nabkb, Bonn 1847. Femer in Ribbecks Appendix Vergiliana, Leipz. 1868 p. 167, in
M. Haupts Vergil, Leipz. 1878 p. 576; Bähbknb, Po^tcte lat, min, 2, 73. — Zur Streitfrage
Jakobs Yerm. Sehr. 5, 639. K. F. Hermaito, Ges. Abb. p. 114. Ribbbok, Gesch. d. röm.
Dicht 1, 809.
100. C. LiciniuB Calyns' Dichtungen. Nicht selten werden bei den
Alten Catullus und der Sohn des Historikers Licinius Macer, G. Licinius
Calvus (82 — 47), zusammengenannt. Für diese Verbindung dürfte einmal
massgebend gewesen sein die aus den Gedichten Gatulls sich ergebende
Freundschaft beider Männer, dann aber noch mehr die Gleichheit der poeti-
schen Richtung. Wie Catull pflegte er das Liebeslied (Ov. Trist. 2, 431),
das Epithalamium (Prise. 1, 170 H.), das mythologische Epyllion in der Jo
(Serv. Vergil. ecl. 6, 47. 8, 4), die Elegie in einem Gedicht auf den Tod der
Quintilia, wahrscheinlich seiner Frau (Prep. 3, 33, 89, Catull. 96, 5), endlich
das Epigramm (Suet. Gaes. 73). Einige Gitate deuten auf eine Sammlung
seiner Gedichte, wie Gharis. p. 147 K. in poemate, p. 101 K. in carminibus.
Unter den angegriffenen Personen erscheint der aus Horaz bekannte Ge-
sangsvirtuose Tigellius aus Sardinien, der in einem Gholiambus verkauft
wird (320, 3 Bähreks); dann war Gäsar Gegenstand heftiger Befehdung;
gegen Pompejus richtete er das beissende Epigramm (p. 322 B.):
MagnuSy quem metuunt omnes, digito captU uno
Scalpit: quid credcta hunc 8ibi veUe? tirum.
Sein Geburtsjahr erhellt aus Plin. n. h. 7, 165. Als Cicero den Brief fep. 15, 21, 4)
schrieb (47 v. Gh.), war Calvus tot. Seine kleine Figur verspottet Catull 5o, 5, dass er
einen, der ein glänzendes Plaidoyer des Calvus gegen Yatinius angehört hatte, ausrufen
lAsst „Di niagniy salaptUium disertumJ* Martial 14, 196 lesen wir ein £pigranun mit der
Aufschrift „Calri de aquae frigidae usu^. Wenn die Worte, die Charis. p. 81,24 K. dem
Calvus zuteilt, quorum praeduleem eihum stamachus ferre non patest, aus dieser Schrift
entnommen waren, so war es eine prosaische. Vgl. BXhrens, Kommentar zum Catull p. 614.
Bandbneh der Ush. AltertnmtwtoeiuohAfL Vm. IQ
146 Bömische LitteratnrgeBchichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Dagegen hat man mit Unrecht prosaische Briefe des Calvus an seine Frau angenommen;
denn die Stelle Diom. p. 376, 1 X. ist nicht heil, vgl. die Anmerkung Keils.
ß) M. Furius Bibaculus.
101. Des Purins SpottpoSsie. M. Furius Bibaculus wurde zu Gre-
mona geboren. Das Geburtsjahr 103 oder 102, welches Hieronymus an-
gibt (2, 133 Seh.), ist irrig, er muss später geboren sein, da dies sein Ver-
hältnis zu Cato und Orbilius bedingt. Die Schriftsteller finden seine Stärke
in der iambischen Spottpoesie und vergleichen ihn in dieser Einsicht mit
CatuU und Horaz. Die drei grösseren Bruchstücke, die von seinen Ge-
dichten uns erhalten sind, beziehen sich alle auf den Meister der Schule,
Cato. Das erste, in dem Cato als der, welcher Dichter „macht", gefeiert
wird, haben wir bereits oben kennen gelernt. Das zweite nimmt den not-
gedrungenen Verkauf der Villa desselben zum Vorwurf eines harmlosen,
heiteren Gedichtchens; alle Fragen, scherzt der Dichter, vermag Cato zu
lösen, nur mit dem Namen im Schuldbuch kann er nicht fertig werden.
In dem dritten wird das genügsame Leben Catos in so anmutiger Weise
vorgeführt, dass wir das Gedichtchen zu den Blüten der römischen Dicht-
kunst zählen müssen. Wir lassen es hier folgen (p. 317 B.):
si quis forte mei domum Ckitanis,
depieiaa minio aeatdas, et illos
custodis videt hortüloa Priapi,
miratuTf quibua ille disciplinis
tantam sit patientiam asaectUus,
quem tres cauliculi, selihra farris,
racemi duo tegula aub una
ad aumtnam prope nutriant senectam.
Aus diesen wenigen Proben ersehen wir, dass Furius Bibaculus auch andere
Saiten als die des Spottes anzuschlagen weiss. Dagegen lehrt uns ein
viertes nur aus einem Verse bestehendes Fragment Furius als Spötter
kennen; er verhöhnt hier den alten Orbilius wegen seiner Vergesslichkeit ^)
(p. 318 B.).
Eine prosaische Schrift des Furius erwähnt Plinius praef. 24 unter
dem scherzhaften Titel „Nachtarbeiten (lucubrationes)*" .^)
Tac. A. 4, 84 carmina BibacuU et Catulli referta contumeliis Caesarum leguntur; aed
ipae divua Juliua. ipae divua Auguatua et tider e iata et reliquere. Quint. 10, 1, 96. Man
hat dem Furius Bibaculus auch ein Epos „über den gallischen Krieg" beilegen wollen, vgl.
Bährsks fr. p. 818 Comment. zum Catull p. 21, mit Unrecht, wie wir oben p. 96 dargelegt
haben (Nifperdby, Opusc. p. 500).
y) C. Valerius Catullus.
102. Catnlls Leben. C. Valerius Catullus wurde um 84 v. Ch. in
Verona aus begüterter und mit Cäsar befreundeter Familie geboren. Seine
dichterische Entwicklung vollzieht sich in Rom, besonders im Ei^eise gleich-
strebender Genossen. Den in ihm schlummernden göttlichen Funken brachte
zur reichsten Entfaltung seine Liebe zur Lesbia. Dass der Name ein er-
dichteter ist, darf von vornherein als wahrscheinlich angenommen werden.
^) Der Vers lautet: Orhiliua ubinam
eat, lUterarum öblivio? So kann nicht ein,
wenn Hieronymus recht hätte, fast gleich-
altriger Mann fragen.
») BlHBSxs, Comment. zum Catull p. 13.
C. ValeriuB Gatullas. 147
68 wird überdies ausdrücklich von Ovid. Trist. 2, 428 bezeugt. Den wirk-
lichen Namen Glodia hat uns Apuleius Apol. 10 überliefert. Es darf jetzt
als ausgemacht gelten, dass diese Clodia die Schwester des bekannten
Volkstribunen Clodius Pulcher ist. Wir kennen keine Glodia jener Zeit,
welche der von dem Dichter geschilderten Glodia-Lesbia so gleicht wie
diese. Um nur die Hauptähnlichkeiten hervorzuheben, die Geliebte Catulls
war anfangs verheiratet, auch Clodia war mit Q. Caecilius Metellus Geler
(Gons. 60) verheiratet, seit 59 war sie Witwe; um 59 — 58 bekämpft Gatull
einen Rivalen in seiner Liebe zur Lesbia, Namens Rufus, um diese Zeit
liebte aber Glodia den Redner Gaelius Rufus; Gatull berührt im 79. Ge-
dichte unsittliche Beziehungen der Lesbia zu einem Lesbius; wenn die
Lesbia Glodia ist, so muss ohne Zweifel Lesbius Glodius sein; von einem
Sex. Glodius wissen wir aber (Gic. de dom. 10, 25), dass ihm gerade jene
dort geschilderte Unsittlichkeit mit Lesbia vorgeworfen wurde ; aus GatuUs
Gedichten erhellt, dass Lesbia einen, sittenlosen Wandel führte, die Rede
Giceros für Gaelius belehrt uns, dass dasselbe von der Glodia galt und dass
ihr Gaelius deshalb den Namen „quadrantaria" (Quint. 8, 6, 53) gab. Die
Geliebte Gatulls war von bestechender Schönheit, Gicero erwähnt öfters
die funkelnden Augen der Glodia (p. Gael. 20, 49) und nennt sie ''H^a ßoämg
(ad Att. 2,(9, 1). Das Liebesverhältnis zur Glodia währte etwa vier Jahre,
von 61 — 58. Nachdem dasselbe gelöst war, schloss sich Gatull im Früh-
ling des Jahres 57 mit Helvius Ginna dem Gefolg des Propraetors G. Mem-
mius an, der die Verwaltung der Provinz Bithynien übernahm; hier ver-
weilte der Dichter bis zum Frühjahr 56. Auf der Heimreise besuchte er
das Grab seines Bruders in Troas. Seine Hoffnung, dort seinen Finanzen
aufzuhelfen, war nicht in Erfüllung gegangen. Nach seiner Rückkehr
knüpfte Gatull noch das eine oder das andere Liebesverhältnis an, allein
jene Innigkeit, wie sie in der Liebe zur Lesbia hervorbricht, gewahren
wir nicht mehr. Mehr regte den Dichter die Politik auf, er führte einen
Kampf gegen Gäsar, besonders aber gegen dessen Günstling Mamurra.
Allein später trat eine Versöhnung Gatulls und Gäsars ein. Ums Jahr 54
erlöschen die Zeitanspielungen in den Gedichten; wir schliessen daraus,
dass der Dichter nicht lange mehr nach diesem Jahre lebte.
Hieronymos lässt Catnll 87 geboren (Sohobnb 2, 133), 57 (58) im dreiBsigsten Lebens-
jahr gestorben sein (Sohobve 2, 137). Dass das Todesjahr unrichtig ist, ergibt sich aus
den oben erwähnten Zeitanspielungen; ist die Angabe, dass Catull im Alter von dreissig
Jahren gestorben, nicht durch Berechnung entstanden, sondern aus Überlieferung geschöpft,
80 muss Catull etwa ums Jahr 84 geboren sein; die meisten Gelehrten nehmen aber das
Jahr 87 als richtiges Geburtsjahr an und verwerfen das Lebensalter von 30 Jahren und
das Sterbejahr 57 (vgl. B. Scshidt Ausg. p. LIX). Dass Catull im jugendlichen Alter ge-
storben, steht durch Ovid. Am. 3, 9, 61 fest.
Gegen die Identität der Lesbia-Clodia mit der Schwester des Volkstribunen Clodius
Pulcher, welche bereits von Victorius aufgestellt wurde, äusserten Zweifel Voblaenobb, De
CatuUi ad Lesbiam carminibuSf Bonn 1864. Ebook, qtuiest, CcU., Leyden 1864. Riese,
Fleckeis. J. 105, 747. Hebkes, Beitr. zu Catull, Frankf. a. 0. 1889. Die Frage wurde zum ersten-
mal methodisch behandelt und im Sinn der Identität entschieden von BIhbees in den Analecta
Catull., Jena 1876 p. 1—21, später in den Proleg. zur Ausg. p. 31—35. Auf dessen Seite
traten Schulze, Zeitschr. f. d. Gymnaaialw. 28, 699. Ellis im Kommentar zum Catull p. LV.
Magnus, Fleckeis. J. 113, 402. Fb. Sohoell 121, 482. B. Schkidt, Proleg. zur Ausg. p. XVI.
her des Dichters Beziehungen zu Cäsar berichtet Suet. Jul. 73: VoUerium CatuUum,
a quo Hbi versictäis de Mamurra perpetua Stigmata impoaita non diasimulaveratf aatiafaciet^
tem eadem die adhibuit eenae hospitioque patris eiua, sicut conauerat, uti perseveravit.
10*
148 Römische LitteratnrgeBohichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
103. Die Sammlung der catullischen Gedichte. Die Oedichtsamm-
lung Gatulls stellt sich uns dar als eine Vereinigung von drei Teilen. Im
Anfang stehen die kleinen Gedichte in verschiedenen lyrischen Massen, in
der Mitte die grossen und gelehrten Gedichte» am Schluss die Epigramme.
Das Hochzeitsgedicht in lyrischem Masse (61) leitet zu dem Hochzeits-
gedicht in Hexameter und damit zum zweiten Teil über; die Elegien des
zweiten Teüs führen hinüber zu den distichischen Epigrammen. Die Samm-
lung ist nicht vollständig, denn wir haben Kunde von Gedichten CatuUs,
welche in dieser Sammlung sich nicht finden. Das erste Gedicht enthält
eine Widmung an Cornelius Nepos. Dieselbe passt aber nicht auf die
vorliegende Sanmilung. In derselben redet der Dichter von einem „lepidus
libellus"; das Corpus umfasst aber beiläufig 2300 Verse, also eine Summe
von Versen, welche für ein einzelnes Buch von Gedichten viel zu hoch ist.
Weiterhin bezeichnet Catull hier seine Gedichte als „nugae", als Kleinig-
keiten. Eine solche Bezeichnung ist aber für die grossen und gelehrten
Gedichte durchaus nicht passend. Wir müssen demnach schliessen, dass
sich diese Vorrede nur auf einen Teil unserer Sammlung bezog und zwar
eine solche mit kleinen Gedichten, ferner dass dieser Teil vom Dichter
selbst herausgegeben wurde. Martialis führt eine Sammlung von Gedichten
Gatulls mit „Passer* (4, 14; 11, 6) an. In unserer Sammlung folgt aber
auf die Widmung das berühmte Sperlingslied. Wenn man sich nun erinnert,
dass die Alten oft Schriftwerke so citieren, dass sie nur das erste Stück nam-
haft machen, so wird man zu der Annahme gedrängt, dass jene Sammlung
V Passer '^ wenigstens im Anfang mit der unsrigen identisch war, dass sie
aber nicht die grossen Gedichte enthielt. Mit dem vom Dichter selbst
herausgegebenen „Passer* wurden noch andere Gedichte Catulls verbunden.
Diese Verbindung nahm aber nicht der Dichter selbst vor, denn unser
Corpus nimmt so wenig Rücksicht auf den Leser und erschwert durch
Trennung des Zusammengehörigen und durch die Störung der Zeitfolge so
das Verständnis, dass man den Dichter unmöglich als Urheber dieser Ver-
wirrung betrachten kann. Auch nicht durch handschriftliche Störung er-
klärt sich dieselbe. Also hat ein anderer die Gedichte zusammengestellt.
Woher nahm er dieselben? Die Annahme, dass Catull bloss den „Passer*
herausgegeben und die übrigen Gedichte aus seinem Nachlass hinzukamen,
ist unwahrscheinlich. Catull wird noch andere Ausgaben seiner' Gedichte
veranstaltet haben. Hätte der Redaktor diese einfach zusammengestellt,
so würden wir in der Chronologie der Gedichte nicht mit den grossen
Schwierigkeiten zu kämpfen haben, die uns jetzt bedrücken. Allein da-
durch, dass der Redaktor nach einem neuen Prinzip die Gedichte anordnete,
musste er die vorhandenen Sammlungen zerreissen; dadurch ist aber das,
was der Dichter zusammengestellt hatte, selten beisammengeblieben.
Bezüglich des Passer bestellt eine BifPerenz; manche meinen, derselbe hätte nicht
mit einem Widmungsgedicht an Nepos beginnen können, das Sperlingslied müsse den An-
fang machen; sie nehmen daher eine zweite Sanmilong mit dem Widmungsgedicht an der
Spitze an (Schxu>t Proleg. XCIV). Allein dass das Widmungsgedicht eine Sonderstellung
emninmit, erhellt aus Mart. praef. zu 1. IX.
Litte ratur: Westphal, Catulls Gedichte in ihrem geschichtl. Zusammenhange, Bresl.
1867. Süss, Gatulliana in den Acta seminar. Erlang. 1, p. 1 — 48, bes. p. 27. Richtbr, Catul-
liana, Leipz. 1881. Bruk^b, De ordine et tempor^ma carminum V, C. in Acta sog. scient.
C. ValerioB GatalluB.
149
Fennicae 7, 599 (bahnbrechend). Schulze, Catollforschungen (in der FestBchriffc des Friedr.
Werderschen Gymn. zu Berlin), Berl. 1881 und Fleckeis. J. 1885 p. 857. Bist, Das antike
Buchwesen, Berl. 1882 p. 401.
104. Catnlls grössere Oedichte. In der Beurteilung des Dichters
wird es nötig sein, die grösseren Gedichte von den kleineren, seinen „nugas"^
zu trennen; denn in jenen ist er der Dichter der Schule, hier der Dichter
des Lebens; dort gilt es, seine Belesenheit in der Mythologie zu zeigen
und einen gegebenen Faden kunstvoll weiterzuspinnen, hier das, was das
Herz bewegt, auszusprechen. Den Reigen der grossen Gedichte eröffnen
zwei Hochzeitslieder (Epithalamien) Nr. 61 und Nr. 62. Das erste ist für
die Hochzeit des Manlius Torquatus und der Vinia Aurunculeia bestimmt;^)
es ist in lyrischem Masse abgefasst und auf 2 Chöre verteilt, in der ersten
Hälfte hören wir den Chor der Jungfrauen, dann den Chor der Jünglinge.
Mit einer Anrufung des Hymenäus beginnt das Lied, dann wird die zag-
hafte Braut aufgefordert, zu erscheinen und sich ins Haus des Bräutigams
führen zu lassen. Auf dem Wege dahin ertönt nach alter Sitte Scherz
und Spott auf den Bräutigam. Als der Zug vor dem Hause des Torquatus
angekommen war, mahnt der Chor die Braut, ins Gemach zu treten, wo
ihrer der liebestrunkene Bräutigam harret. Liebliche Bilder ehelichen
Glückes malt der Chor. Man lese die zarten Verse (216):
TorqtuUua volo parvulus
matria e gremio suae
porrigens teneras tnanua
dülce rideat ad patrem
semhianie lahello.
Die Aufforderung, das Gemach zu schliessen, schliesst auch das Gedicht.
Dies ist der äussere Rahmen einer ungemein zarten und innigen Schöpfung.
Anderer Art ist das Hochzeitsgedicht 62; es stellt uns einen Wettgesang
zweier Chöre, eines Jünglingchors und eines Jungfrauenchors, dar. Ln
Wesen eines solchen Wechselgesangs liegt es, dass Bild und Gegenbild
einander ablösen. So vergleichen die Jungfrauen das von dem Manne
berührte Mädchen mit dem geknickten Blümlein des Gartens, die Jünglinge
dagegen die dem Mann sich ergebende Jungfrau mit der Weinrebe, die
sich an der Ulme emporrankt. Sehr interessant sowohl wegen des Stoffs
als wegen des Versmasses ist das Gedicht 63. Attis ist mit seinen Ge-
nossen übers Meer nach Phrygien gekommen; dort entmannte er sich, von
religiösem Wahn ergriffen; ihm folgen die Genossen, Attis greift nun zum
Tympanon und fordert seine Begleiter auf, mit ihm zum Hain der Göttermutter
zu wandern, deren Kult er mit frischen Farben schildert. In wildem Rasen
bewegt sich der Zug dahin. Angelangt überkommt die Schar Müdigkeit;
sie sinkt in tiefen Schlaf. Als Attis erwachte, standen vor seinen Augen
die Folgen seiner That, ihn ergreift Sehnsucht nach dem Vaterland, nach
dem Elternhaus, nach der Palästra; er vergleicht, was er war und was er
jetzt ist; ihn überkommt tiefe Reue. Dies hört die Göttermutter, sie löst
einen ihrer Löwen und stachelt ihn auf zu wildem Rasen. Attis flieht in
den Hain zurück, er bleibt fürs Leben der Gottheit Diener. Die Kunst
*) ,In der Litterator aller Völker gibt
es nichts, was so sehr gesunde Sinnlichkeit,
reines Familienleben und harmlose Festfreude
atmet als dieses Lied" (ETSSBNHABnr in seiner
Biogr. B. G. Niebuhrs p. 280).
150 BOmische LitteratnrgeBcbichie. I. Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
dieses einem alexandrinischen Muster nachgebildeten Gedichts ruht nicht
in der Schilderung des Vorgangs — hier sind sogar Lücken wahrnehmbar
— sondern in der meisterhaften psychologischen Charakteristik. Auch die
metrische Technik des Dichters ist bewunderungswürdig, es war ein schwie-
riges Mass, der versus Galliambicus, hier zu bewältigen. Das ausgedehnteste
Gedicht ist das 64., die Hochzeit des Peleus und der Thetis, ein ganz in
alexandrinischer Manier gearbeitetes Epyllion. Der anmutige Dichter
schildert, wann Peleus in Liebe zur Thetis entbrannte, und führt uns dann
zum glänzenden Hochzeitshaus, wir sehen das Brautbett mit einem Teppich,
in den die Geschichte des Theseus und der Ariadne eingewoben war. Dies
benützt der Dichter zu einer Episode, welche die Hälfte des Gedichts ein-
nimmt; aber selbst diese Episode schreitet nicht geradlinig fort. Erst mit
y. 265 wird der Faden wieder aufgenommen, es kommt das Hochzeitsmahl
und hier singen die Parzen das Hochzeitslied, in dem der künftige Sprosse
verherrlicht wird. Mit dem Hinweis auf die glückliche Zeit, in der die
Götter noch mit den Menschen verkehrten, klingt das Gedicht aus. Trotz
der nicht straffen Komposition ist das Epyllion wundervoll und entzückt
durch eine Reihe kunstvoll gearbeiteter Einzelgemälde von verschiedener
Farbe. Während wir dieses Epyllion als eine selbständige Dichtung, wenn-
gleich nach alexandrinischem Vorbild zu betrachten haben, liegt uns in
Gedicht 66 die Übersetzung eines Callimacheischen Gedichtes vor, welche
er, um seinen Schmerz über den Tod seines Bruders zu lindem, auf An-
regung des Redners Hortensius Ortalus gemacht und ihm in dem schönen
Gedicht 65 zugesandt hatte. Dieses Callimacheische Gedicht ist die Locke
der Berenike {nXoxafiog BeQsvUtfi), die erzählt, wie sie Sternbild geworden
sei. Die Königin Berenike hatte nämlich für den Fall der glücklichen
Rückkehr ihres Gemahls aus dem Kriege ihr Haar den Göttern gelobt.
Als dies eingetreten war, wird die Locke in einem Tempel niedergelegt,
dort verschwindet sie, der Astronom Conen entdeckt sie aber als Sternbild
am Himmel. Trotz der ihr widerfahrenen Auszeichnung sehnt sich doch
die Locke nach dem Haupte ihrer Herrin zurück. Es folgt im 67. Gedicht
ein Gespräch mit einer Thür, welche von schmutzigen Geschichten zu be-
richten weiss. Das letzte der von uns zu behandelnden Gedichte (68) ist
eine Elegie, welche der Dichter in Verona schrieb, als er noch sehr von
Kummer über den Tod seines in Troas verstorbenen Bruders niedergedrückt
war. Sie ist an M'. Allius gerichtet, den eben auch Unglück in der Liebe
getroffen und der den Dichter bittet, ihm zum Trost Liebesgedichte ^) zu
übersenden. In seiner jetzigen Stimmung kann der Dichter nur ein Loblied
auf M'. Allius geben, indem er schildert, wie ihm Allius in seiner Liebe
behilflich gewesen. Dies gibt ihm Anlass, in anschaulichen Bildern seine
Liebe auszumalen und die Geliebte mit der Laodamia zu vergleichen. Das
Geschick, das dem Gatten derselben, Protesilaus, widerfahren, bringt ihn
auf Troja und damit wiederum auf den Tod seines Bruders; er kehrt zu
Laodamia zurück und schildert ihre Liebe durch packende Vergleiche.
Dann erinnert er sich wieder der mit Laodamia verglichenen Geliebten.
Zum Schluss wendet sich der Dichter an Allius und wünscht ihm alles
*) Ich folge in der Erklärung M. Haupt.
C. Valerins CatuUas. 151
Gute. In diesem Gedicht ist besonders die zur reichen Anwendung ge-
kommene Kunst der alexandrinischen Digressionen beachtenswert. Es ist
anmutig, zu sehen, wie den Dichter die Welle der Grundstimmung von
einem Gedanken zu andern hinübergeleitet.
Litteratnr: Wbidbmbach, de Catuüo Caüimachi imitatore, Leipz. 1873. Bovnr,
Untere, über das 62. Ged., Bromb. 1885. Fükst, de CattMi carmine 62, Melk 1887. Ober
das 68. 6ed. handelt Wilamowitz, Die Galliamben des Kallimachos und Catollus (Hermes 14, 194
bis 201). Das 66. Gedicht besprechen Couat, La Poisie Alexandrine, Paris 1882 p. 118;
Vahlsn, Über ein alex. Gedicht des GatuUos (Sitzanj|sber. der Berliner Akademie 20. Dez.
1888 p. 1361 mit einem Nachtr. 31. Jan. 1889 p. 47). über das 67. Ged. spricht B. Sgexidt in
seiner Ausg. p. ^YII; Dbachmank, De CatuUi carmine 67 (Wochenschr. f. klaas. Fhilol.
5, 538). Auf die Erklärung des 68. Gedichts und die Frage, ob dasselbe als einheitliches
zu beti'achten sei, beziehen sich folgende Abhandlungen: Kiessliko, Analecta CataUianap
Greifsw. 1877; F. Scholl, Fleckeis. J. 1880 p. 471; M. Schmidt ebenda p. 780. Bahbbns,
Die Laodamiasage und Catullus' 68. Ged. (Fleckeis. J. 115, 409); Habitecksb, Das 68. Ge-
dicht des C, Friedeberg 1881 (Beboeb , Moritz Haupt*^ p. 247 gibt die Haupt'sche Erklftmng).
105. Catnlls kleine Gedichte. Nugae nennt Gatull seine kleinen
Gtedichte, allein durch diese nugae ist er der grösste Ijrrische Dichter der
Römer geworden, eine eigenartige Erscheinung in der gesamten römischen
Litteratur. Das was der römischen Lyrik anhaftet, das Beflektierte und
Rhetorische fehlt diesen kleinen Gedichten vollständig. Sie haben nichts
Gemachtes, nichts Erkünsteltes; in ihnen gibt uns der Dichter, was sein
Herz ergriffen hat, er redet darum auch zu uns in der einfachen Sprache
des Herzens. Überall voll der tiefsten Empfindung weiss er auch dem
Leser seine Stimmung mitzuteilen und ihn mit sich fortzureissen. Am
meisten ziehen uns die Lesbialieder an, in denen uns der Dichter sein
Liebesglück und sein Liebesleid schildert. Wenn es uns jetzt auch nicht
mehr gelingen will, die chronologische Reihenfolge jener Perlen der Poesie
herzustellen, so gewahren wir doch deutlich die Entwicklungsphasen dieser
Herzensgeschichte. Die aufkeimende Liebe spricht sich in dem hohen
Liede 51 aus, das einer Ode der Sappho nachgebildet ist, und in dem Ge-
dicht auf den Sperling der Geliebten (3). Der volle Jubel des Liebesglücks
klingt durch die Lieder 5 und 7, in denen der Dichter der Küsse nicht
satt werden kann. Doch ist der Seligkeit keine lange Dauer; dem „ Himmel-
hochjauchzend'^ folgt nur zu bald das „Biszumtodebetrübt^ ! Dem Dichter
kommen Zweifel ob der Treue der Geliebten an; er rafft sich zur Entsagung
auf, in dem schönen Gedicht 8 ruft er sich zu, was verloren, als verloren
anzusehen und festen Sinnes auszuhalten. Allein wer wird dem Dichter
Standhaftigkeit genug zutrauen? Es fand eine Versöhnung zwischen den
Liebenden statt, Lesbia bot zuerst die Hand. Der Dichter segnet den Tag
und ist der glücklichste der Sterblichen (107). Allein auch diesmal sollte
CatuU nicht lange seiner Liebe froh werden. Es wurde ihm zur bitteren
Wahrheit, dass Lesbia seiner Liebe unwert sei. Lesbia, ruft er, die Lesbia,
lyelche CatuU einst so heiss geliebt, ist zur Strassendime geworden (58).
In einem wunderschönen Gebet fleht er zu den Göttern, ihn von der Krank-
heit, die ihn bis ins innerste Mark getroffen, zu erlösen (76). und sie
erlösen ihn; voll Resignation erzählt er später, dass seine Liebe durch ihre
Schuld dahinsank wie ein Blümlein am Wiesensaum, nachdem es die Pflug-
schar berührt.
Ausser den Lesbialiedern fesseln sehr durch die Innigkeit des Tones
152 Römiflohe LitteratnrgeBchiohte. I. Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
die Gedichte auf den Tod seines Bruders. Aber auch reizende Freundes-
lieder bietet uns das Liederbuch, wie jenes, welches die Liebe des Septi-
mius zur Akme so traulich schildert (45), und das an Galvus gerichtete (50),
aus welchem die Liebe zum Freunde so hell hervorleuchtet, femer liebliche
Landschaftsbilder wie das entzückende Lied auf die Halbinsel Sirmio (31),
dann Schilderungen von heiteren Erlebnissen wie die ergötzliche Erzählung,
wie ihn das lose Liebchen des Varus aufsitzen liess (10), und die lustige
Anekdote vom kleinen Galvus (53). Die Kehrseite zu diesen zarten Ge-
dichten bilden die Invektiven, die CatuU gegen seine Feinde und Gegner
richtet. Da ist vor allem der Machthaber Cäsar und sein Günstling Ma-
murra, die mit unbändigem Hass verfolgt werden, da ist der Bruder des
Asinius PoUio, Asinius Marrucinus, der ihm eine Serviette gestohlen, da
ist der Hungerleider Aurelius und sein Kamerad Furius, die ihm in einer
Liebesaffaire mit dem schönen Juventius im Weg stehen. Da ist Gellius,
der die Lesbia Uebt, ihn auch in Epigrammen angegriffen, und noch viele
andere, gegen die Catull seine giftigen Pfeile sendet. Wir staunen: dort
ein Dichter, der die süssesten Töne anzuschlagen weiss, hier ein Dichter,
glühend von wildem Hass, dort die Leidenschaft der Liebe, hier die Leiden-
schaft des Hasses. Und in dieser Leidenschaftlichkeit zerreibt sich der
Dichter, wie er selbst bekennt (85):
Odi et amo, Quare id faciam, fortaase requiris .
nescio, sed fieri serUio et excrucior.
„In einem Distichon ein ganzes Menschenleben,^ bemerkt M. Haupt.
Litte rat ur zu den kleinen Gedichten : Über die Lesbialieder vgl. zu § 102. Rettio,
de epigrammatis in Gellium scriptis, Bern 1881. Habkegker, Des Gatullus Juventiuslieder
(Fleckeis. J. 133, 278). Über das an Cicero gerichtete Gedicht 4.9 vgl. Harnbckeb, Cicero
und CatuUus (Philol. 41,465), wo die übrige Litteratur verzeichnet ist. Ablt, Catulls 86. Ged.,
Wohlan 1888. Habnbckeb, Zum 36. Ged. (Bayr. Gymnasialbl. 21, 556). Textbeb, Fleckeis. J.
187, 777.
Allgemeine Litteratur zur Würdigung Catulls: Ribbeck, C. Yalerius Catullus,
eine litterarhistorische Skizze, Kiel 1868. Couat, Aude sur CatüUuSf Paris 1875. Nett-
IiBship, Catullus in Fortnightly Review, Mai 1878 und in dessen Lectures and Essays,
Oxf. 1885.
106. Fortleben Catulls. Das Fortleben Catulls zeigt sich am ein-
dringlichsten in den Spuren, welche er bei den späteren Dichtern zurück-
gelassen hat. Vergil, Properz, Ovid zeigen vielfach Anklänge an Catull,
so dass man sieht, dass er ein viel gelesener Autor war. Unter den nach-
folgenden Dichtern fühlt sich besonders Martialis zu Catull hingezogen.
Aus den Briefen des jüngeren Plinius erkennen wir, dass der Dichter auch
damals in den Herzen der Gebildeten lebte. Die Gelehrten in der Zeit
der Antoninen lasen ebenfalls eifrig den Dichter, wie dies aus Gellius er-
hellt. Von da an werden die Spuren Catulls seltner; im Mittelalter Ver-
lieren sie sich. Eine genauere Kunde des Dichters bringt uns das Jahr
965. Damals las der Bischof Rather von Verona den Catull, offenbar
nach einer eben in Verona aufgefundenen Handschrift. Dann aber ver-
schwand wiederum Catull, bis er im Anfang des XIV. Jahrh. (vor 1330)
zum zweitenmal in Verona zum Vorschein kam. Dieses Wiederauferstehen
des Dichters von den Toten wird in einem dunklen Epigramm des Ben-
venuto de Campesanis aus Vicenza gefeiert. Wir dürfen vermuten, dass
C. HelTioB Ciima und andere Dichter, 153
dieser aufgefundene Kodex derselbe war, den Rather in Händen gehabt
hatte. Jetzt werden Abschriften von dem Kodex genommen, Gatull war
damit der gebildeten Welt erhalten. Ausser diesem Veroneser Kodex,
dessen Spuren wir zum letztenmal 1456 verfolgen können, haben wir noch
eine zweite Quelle der Überlieferung, aber dieselbe fliesst nur für ein
einziges Gedicht, nämlich 62. Es ist dies eine Anthologie lateinischer
Gedichte, welche etwa im YIII. Jahrh. gemacht wurde.
Für das Fortleben des Dichters vgl. den Index der Stellen, wo Catall oder Verse
von ihm erwähnt sind, in Schwabbs Ausg., Berl. 1886. Daittsz, De seriptorum rom. stud,
CatuU,, Breslau 1876. Pauckstadt, De MartiaU Catuüi imitatore, Halle 1876 (womit zu
vergl. die Martiiüausgabe Fbiedlähbbbs). Süss in den Gatulliana (Nachklänge Catollischer
Poesie) in den Acta seminarii philol. Erlangensis 1 (1878) p. 6. Zikobbls, Ovid nnd sein
Verhältnis zu den Vorgängern und gleichzeitigen rOm. Dichtem 1. Heft (1869) Ovid, GatuU,
Tibull, Properz. Vgl. die zusammenfassende Übersicht der Nachahmer von Magkus in
Bun. Jahresb. E. Abt. 51 Bd. (1887) p. 289.
Überlieferung. Da alle GatuUhandschriften direkt oder indirekt auf den Veronensis
zurückgehen, so ist die Aufgabe der Becensio klar vorgezeichnet: , Wiederherstellung
des verlorenen Codex Veronensis.* Führer sind hiebei der Codex Sangermanensis
in Paris (G), 1375 in Verona geschrieben und der gleichalte oder nicht viel jüngere Oxo-
niensis (0). Ein drittes apographan aus der Schar der übrigen aus dem 15. Ji^hundert
stammenden Handschriften zu konstruieren, ist wegen der Interpolationen, welche dieselben
erfahren, mit fast unübersteiglichen Schwierigkeiten verknüpft; wir können daher diese
Quelle nur mit der grüssten Vorsicht benützen. Für das Gedicht 62 ist dagegen noch eine
von dem Veronensis unabhängige, aber mit ihm auf denselben Ursprung zurückgehende
Handschrift, der Thuaneus (T) in Paris aus dem Ende des IX. Jahrh. vorhanden. Stdow,
de recensendis CkstuUi carminibus, Berl. 1881.
Ausgaben: Erste epochemachende Ausg. von Laohxakit, Berl. 1829. Catnll. Tibull.
Propert. rec. M. Haupt, Leipz. 1853 (1861, 1868, die Ausg. 1879 und 1885 sind von Vahueh
besorgt). Wertvoll die Abhandlungen Haupts über Catull Opusc. I. Rossbagh 1854 (1860).
L. Mülles (mit Tibull u. Propert. u. a.), Leipz. 1870 (1874). Schwabe, Giessen 1866 (mit
ausführlichen Prolegomena). Ellis, Oxf. 1867 (1878). A CommetUary an C^uZ/tw. Oxf. 1876.
BIhbeks, Leipz. 1876 (mit grundlegendem Apparat, aber durch willkürliche Konjekturen
sehr entstellt; hiezu ein latein. Kommentar, Leipz. 1885). Schwabs, Berl. 1886. B. Schhidt,
Leipz. 1887 (auf Grundlage der Haupt'schen Ausgabe d. J. 1868). Riese, Leipz. 1884 (mit
deutschem Kommentar). Th. Hstsb 1855 (Text und gelungene deutsche Nachbildung im
Originalversmass).
(f) C. Helvius Cinna und die übrigen Dichter der Schule.
107. Gixmas Smyma und Propempticon. Auch G. Helvius Ginna
stammte, wie es scheint, aus Oberitalien; denn er erwähnt dortige Gegenden
in seinen Gedichten (fr. 1 und 13 B.). Mit Catull war er in Bithynien
(Cat. 10, 29);i) er brachte von dort ein Exemplar des Aratos mit, das er
einem Freunde mit zwei Distichen übersandte (fr. 11). Das Hauptwerk
des Cinna ist die Smyrna, ein Gedicht, an dem er, obwohl es massigen
Umfangs war, neun Jahre arbeitete (CatuU. 95). Der Stoff ist alexandri-
nisch. Das Gedicht behandelt nämlich die unnatürliche Liebe der Smjrma
zu ihrem Vater und die Frucht dieser Liebe, den Adonis. Die neunjährige
Arbeit bei einem verhältnismässig kleinen Gedicht ist nur erklärlich, wenn
auf die Technik und die Feile nach alexandrinischer Manier ein übergrosses
Gewicht gelegt wurde. Als sein zweites Werk wird genannt ein Geleits-
gedicht (Propempticon) für Asinius Pollio, als dieser eine Reise nach
Griechenland antrat. Beide Gedichte waren so dunkel, dass sie kommentiert
werden mussten. Zur Smyrna schrieb in der Zeit des Augustus L. Crassicius
aus Tarent einen Eommentaf, über den ein spöttisches Epigramm in Um-
') Haupt, Op. 1,72.
154 Römische Littoratargesohichte. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
lauf war (Suet. gr. 18); das Propempticon kommentierte Hyginus (Charis.
p. 134 K.) Wie es scheint, war der Meister, dem Cinna in diesen beiden
Gedichten nacheiferte, Parthenius von Nicaea. Auch dieser hatte ein Pro-
pempticon^) gedichtet, ferner über den Mythos der Smyma gehandelt.')
Ja noch mehr; auch persönliche Beziehungen bestanden allem Anschein
nach zwischen beiden Dichtem. Wie wir bereits § 97 bemerkten, ist es
wahrscheinlich, dass der Cinna, in dessen Hände Parthenius nach Eroberung
von Nicaea kam, der Vater unseres Dichters ist. Ausser diesen beiden
Hauptgedichten schrieb er noch erotische Gedichte {illepida bei Gell. 19, 9, 7),
Choliamben (fr. 2) und Epigramme (fr. 11), deren wir eines eben kurz be-
zeichneten.
Vergil klagt Ecl. 9, 35 neque adhuc Vario videor nee dicere Cinna digna; es scheint
daher, dass wie Yarias so Cinna damals (40 v. Ch.) noch am Leben war. Ist dies richtig,
so kann die Notiz Plutarchs Brut. 20, dass der „noiijunog dvrJQ*' Cinna bei Cäaars Leichen-
feier umkam, nicht richtig sein. Eiessluto, de Helvio Cinna poHa in den Commentationes
Momms. p. 351 — 355.
106. Die Übrigen Dichter des Kreises. Zu der jungrömischen
Dichterschule müssen wir noch folgende Poeten zählen:
1. G. Memmius, den bekannten Statthalter von Bithynien 57 v. Ch.
Schon der Umstand, dass der Prätor die jungen Dichter Helvius Cinna und
CatuU seiner Kohorte einreihte, zeigt, dass ihm die Richtung der neuen
Schule sympathisch war. Cicero schildert ihn als enthusiastischen Verehrer
der griechischen Litteratur (Brut. 70,247); aber er war auch Dichter; nach
Ovid. Trist. 2, 433 schrieb er erotische Gedichte, von denen uns ein Vers
erhalten ist (p. 326 B.).
2. Ticida s. Ein Lob auf die Lydia des Valerius Cato zeigt uns
die Schule, der er angehört. Er war Erotiker; seine Geliebte war Metella,
die er unter dem Namen PeiiUa feierte (Apul. apol. 10). Ausser dem
lobenden Pentameter auf die Lydia haben wir noch ein glykoneisches
Fragment aus einem Hymenaeus (p. 325 B.).
3. Q. Cornificius. An Cornificius ist das Gedicht 38 CatuUs ge-
richtet, in dem derselbe um etwas Trost (maestius lacrimis Simonid^is)
gebeten wird. Ist schon daraus auf einen Dichter zu schliessen, so wird
dies noch durch andere Zeugnisse bestätigt. Ovid führt ihn an der be-
kannten Stelle Trist. 2, 436 unter den Erotikern auf. Auch Hieronymus
nennt ihn einen Dichter, wie seine Schwester Cornificia, von der es aus-
gezeichnete Epigramme gab. Dieses Zeugnis berichtet ferner, dass Corni-
ficius, von seinen Soldaten, die er „behelmte Hasen'' nannte, verlassen, im
J. 41 fiel. Dies kann nur in Afrika gewesen sein, welche Provinz er vom
Senat nach Cäsars Tod erhielt und welche er nach Errichtung des Trium-
virats nicht an Octavian abtreten wollte. 8) Nur zwei Fragmente sind von
seinen Gedichten erhalten, eines aus einem Epyllion Glaukos und ein
Hendekasyllabus (325 B.). Als Redner werden wir später Cornificius kennen
lernen; wie als Dichter, so ist er auch als Redner Anhänger der jung-
attischen Richtung.
^) MEnfEKE, Anal. Alex. p. 272.
>) MsiKEXB 1. c. p. 279.
') Dbumann, Gr«8ch. Roms 2, 619.
P. TerentiuB Varro. 155
Hieronym. zum J. 41 (2, 139 Seh.) Cornificius poeta a milUibus dtaertus interik, quaa
saepe fugientes qaleatos lepores appeUarat. Huius aoror Carnificia, cuius inaignia extant
tpigrammata. Von einem Cornificius wird noch ein etymologisches Werk über die Götter-
namen (de etymis deorum Prise. 1, 257 H.; das dritte Buch citiert Macrob. 1, 9, 11) angeführt;
in demselben war Cioeros de natura deorum (44 vollendet) berücksichtigt. Es ist nicht
wahrscheinlich, dass dieses Werk von unserem Dichter stammt. Für solche Dinge hatte
wohl Cornificius damals am wenigsten Müsse. Bebgk, De Cornificio poeta Opusc. 1, 545
teilt auch diese Schrift dem Dichter Cornificius zu und erblickt in demselben auch den
obirectator Vergiln (darüber werden wir genauer unter Vergil handeln).
4. Cornelius Nepos. Erotische Gedichte von ihm erwähnt Plin.
ep. 5, 3, 6. Das schöne Widmungsgedicht, nach dem er den „nugae** GatuUs
hohen Wert beimass, wird uns den Schluss gestatten, dass er auch in
seinen Kleinigkeiten dem von ihm bewunderten Gatull nacheiferte.
Einen Dichter des Kreises, Caecilius aus Novum Comum, nennt Catull im Gedicht 35;
derselbe hatte ein Epyllion auf Cybele angefangen, ob dasselbe vollendet wurde, wissen wir
nicht. Vielleicht dürfen wir auch, obwohl hier ein äusseres Zeugnis fehlt, Q. MuciusScae-
vola hieher stellen, den Freund Q. Ciceros, mit dem er 59 in Asien war. £s ist uns ein
Enigramm auf Ciceros Gedicht »Marius*^ erhalten, femer ein griechisches Epigramm in der
Pfftlzer Anthologie 9, 217 «auf ein Kunstwerk, das eine Bildsame des Fan zwisdien mutwillig
kämpfenden Ziegen abbildete **. Epigramme auf Schüpfnngen der^Kunst und litteratnr waren
nänuich bei den Alexandrinern beliebt. Vgl. Haupt Op. 1,211.
Gar nicht näher bekannt ist L. Julius Calidus, quempost Lucretü CatuUique mortem
multo elegantisaimum poetam nostram tuliese aetatem vere tideor poeae contendere neque
minus vtrum honum optimisque artibus eruditum. Ihm leistete Atücus einen grossen Dienst,
indem er ihn post proscripiionem equitum propter magnas eius Africanas poseeseionea in
proecriptorum numerum a P. Volumnio, praefecto fabrum Antonii, absentem relatum expe-
divU (Com. Nep. 25, 12, 4).
6. P. Terentius Varro.
109. Yerbindnng der nationalen nnd alezandrinischen Bichtang.
P. Terentius Varro, geb. 82, stammt aus Atax im narbonensischen Gallien.
In diesem Dichter finden wir die nationale und alexandrinische Richtung
vereinigt. Die nationale Richtung fand ihren Ausdruck in einem Epos über
den Eoieg Gäsars gegen die Sequaner, in dem bellum Sequankum, aus dem
uns Priscian 1, 497 H. einen einzigen Hexameter mitgeteilt hat, dann in
Satiren, die wir nur aus Horaz kennen, der in den Satiren 1, 10, 46 über
sie ein ungünstiges Urteil fällt. Alexandrinische Studien, wenngleich andere
als die von Catull und Genossen gepflegten, dagegen bekunden die Argo-
nauten, eine Bearbeitung des gleichnamigen Gedichts des ApoUonios, mit
dem Beinamen des Rhodiers, welches das begeisterte Lob Ovids (Am. 1,15, 28)
eintet, dann ein geographisches Gedicht, eine Chorographie, wahrschein-
lich nach Alexander von Ephesos, endlich eine Witterungskunde (Ephemeris)
nach Aratos. Diese drei Gedichte waren in Hexametern abgefasst. End-
lich schrieb er auch Elegien, von denen uns lediglich Propertius 3, 34, 85
und Ovid Trist. 2, 439 berichten, der erste Autor nennt auch die Geliebte
Varros, Leucadia. Es fragt sich, ob Varro diesen beiden Richtungen zu
gleicher Zeit folgte oder ob sich dieselben zeitlich ablösten. Da Hieronymus
erzählt, dass Varro im Alter von 35 Jahren sich mit dem grössten Eifer
auf die griechische Litteratur geworfen, da femer Propertius an der ange-
gebenen Stelle die Mitteilung macht, dass Varro nach Vollendung der
Argonautica Elegien geschrieben, so sind wir gezwungen, die alexandrini-
schen Dichtungen in die spätere Lebenszeit des Dichters zu rücken. Nach
156 BOmische Litteratargeschichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
den erhaltenen Fragmenten müssen wir die Darstellungskunst Varros hoch
stellen; vergleicht man z. B. das bekannte Fragment der Argonauten, das
die Ruhe der Nacht schildert, mit dem Original des Apoll. 3, 749:
ov dk xvytay vXaxrj st ayd nroXiv, ov ^goog rjev
iJXV^^^ ' ^^yV ^^ f^eXaivofjiiyfjy B^fy oQq^yrjy
desieratU latrare canes urbesque süehant:
omnia noctis erant, placida composta quiete, |
SO wird man der Nachbildung den Vorzug einräumen müssen. !
Hieronym. 2, 133 Seh. zu 82 v. Ch. P. Terentiua Varro vico Ätace in provincia
Narbanensi nascitur . qui postea XXXV . annum agens graecas litteras cum summo studio
didiciU Prop. 3, 34, 85 haec quoque perfecto ludebat Jasons Varro, Varro Leucadias maxima
flamma suae. Vgl. Ovid. Trist. 2, 439. — Wüllnbb, De P. 21 V, pita et scriptis, Münster
1829. Die Fragmente bei Riebe, Varr, sat. Menipp. p. 261; bei BIhbenb p. 332.
7. Die übrigen Dichter.
110. Annalen nnd Lehrgedichte. Ausser den epischen Oedichten
der Ciceronischen Brüder, die wir geeigneten Orts besprechen wollen, sind
noch die Annalen des Yolusius zu verzeichnen. Dieser Dichter ist uns nur
durch Catull bekannt, der seiner in zwei Gedichten in nicht erfreulicher
Weise gedenkt; im Gedicht 36 werden die „Annales Volusi, caeata charta**
dem Feuer geweiht als scripta pessimi poetae; im Gedicht 95 heisst es:
At Volusi annales Paduam morientur ad ipsam
et Jaxas scombris saepe dabunt tunicas.
Aus diesen Versen wird man auf Padua als Heimat des Dichters schliessen
müssen.^)
Lehrgedichte treten uns zwei entgegen, eine Darstellung der Lehre
des Empedokles, das einem Sallust beigelegt wird. Wer dieser Sallust
war, ob der Historiker oder Cn. Sallust, der in Ciceronischen Briefen vor-
kommt, lässt sich nicht entscheiden. Über dieses Gedicht fällt Cicero in
der bekannten Stelle, in der von Lucretius gesprochen wird (ad. Q. fr. 2, 9)
ein höchst ungünstiges Urteil; es seien starke Manneskräfte, heisst es,
nötig, um es durchlesen zu können. Das andere Lehrgedicht mit dem Titel
de verum natura wird einem Egnatius von Macrobius 6, 5, 2 zugeschrieben.
Zwei Fragmente sind uns daraus überliefert, von denen das zweite den
hereinbrechenden Morgen nicht übel schildert (1. c. 6, 5, 12) :
roscida noctivagis astris labentibus Fhoebe
puJsa loco cessit concedens lucibus fratris.
Vielleicht ist dieser Egnatius, wie zuerst B£rgk Opusc. 1, 430 veimutet
hat, mit dem Kelten Egnatius identisch, den uns Catull 39 als einen ewig
lachenden und seine weissen Zähne zeigenden Menschen schildert. Da
Lucretius sich rühmt, zuerst die Bahn auf diesem Gebiet gebrochen zu
haben, so werden wir dieses Gedicht als eine Nachahmung des Lucretiani-
schen Werks zu betrachten haben.
Über die versuchte Identifizierung des Yolusius mit Tanusius Geminus werden wir
bei letzterem handeln. — A. Schöne, Die Empedoklea des Sallustius in Fleckeis. J. 93,751.
— Über Egnatius vgl. Bähsens, Analect.-Cakill. p. 45, Kommentar zu Catull p. 219.
111. Satiren. Von dichterischer Thätigkeit auf dem Gebiet der Satire
ist in unserer Periode mehrfach die Rede. Wir hören, dass der Gram-
^) Vgl. B. Schmidt, Gr. Ausg. p. XLIII. Anders BXhbeks Kommentar p. 579.
Q. Claudius Qnadrigarins.
157
matiker SeviusNicanor eine Satire schrieb, in der er über seine Lebens-
verhältnisse berichtete (Suet . gr. 5) . Der Freigelassene des Pompeius L e n a e u s
richtete eine Satire gegen Sallust wegen der auf seinen Herrn gemachten
Angriffe (Snet. gr. 15). Die Indignatio des Valerius Cato kann ebenfalls
eine Satire gewesen sein. Auch von Varro aus Atax haben wir Satiren
kennen gelernt. Es erübrigt noch, auf L. Abuccius hinzuweisen, dessen
libelli Lucilianischer Charakter beigelegt wird. Doch scheinen alle diese
Arbeiten keinen dauernden Eindruck hinterlassen zu haben. Dagegen war,
wie es scheint, von tiefeinschneidender Wirkung eine neue Gattung von
Satiren, die Menippeische Satura des Re atiners Varro. Über diese werden
wir, wenn wir zu Varro kommen, eingehend handeln.
Über L. Abuccius liegt das Zeugnis Varros vor (de r. r. 3, 2, 17): L, Abitccius, homo
adprime doetus, cuiua Lueiliano charaetere sunt libeUi, vgl. noch 3, 6, 6. Zweifelhaft ist,
ob Fronto p. 113 N. g[uis ignarat ut graeÜia sit Lueilius, Albuciu8 aridus, stiblimis Lucretius,
mediocris Pacuvius, inaequalis Aecitts, Ennius multiformia? zu lesen sei Abuccius oder ob
T. AlbuciuB, der in den Satiren des Lucilius vorkam und den als Graecomanen Cicero
Brut. 35, 131 auch in seinen Reden erkennt, gemeint ist, ygl. Hebtz, Fleckeis. J. 107, 338.
Im Anhang seien noch zwei Dichter aufgeführt: 1) Quintipor Claudius. Von ihm
sagt Varro sat. Menipp. nr. 59 Buech. „cum Quintipor Clodiua tot comoedias sine ulla fecerit
muaa, ego unum libeUum non edolem. ut alt Enniua. Vgl. Nonius 1, 165 Müller. 2) Vo-
lum nius. BücHELSB weist einen Bfendekasyllabus eines Volumnius bei Keil gr. 5, 574, 1
nach und denkt bei diesem Volumnius an V. Eutrapelus (Cic. ad. fam. 7, 32 7, 33). Bahbbns
rechnet ihn p. 326 zu der jungrömischen Schule.
b) Die Prosa.
a) Die 'Historiker.
1. Q. Claudius Quadrigarius, Valerius Antias, Licinius Macer,
Q. Aelius Tubero und andere.
112. Die allgemeinen Stadtclironiken« Die Historiographie schleppt
auch in dieser Zeit noch die Stadtchronik mit fort, d. h. sie beginnt mit
den ältesten Zeiten, in der Regel mit Erbauung der Stadt. Aber man
suchte jetzt, da das Geschichtswerk zugleich eine unterhaltende Lektüre
sein sollte, die überlieferten dürren Notizen rhetorisch auszuschmücken.
Das Material lieferten zumeist griechische Schriftsteller.^)
1. Q. Claudius Quadrigarius. Einen Zeitgenossen Sisennas nennt
ihn Velleius; sonst ist über seine Person nichts bekannt. Von seinen
Annalen werden 23 Bücher citiert. Eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit
zeigt dieses Werk, es beginnt erst mit der gallischen Katastrophe;
im 5. Buch kam die Schlacht bei Cannä vor (53), im 13. Buch berichtete
Claudius über Q. Metellus Numidicus (76), im 19. Buch war von dem Kampf
Sullas gegen Archelaus und von dem siebenten Konsulat des Marius die
Rede (81. 82). Höchst wahrscheinlich waren die Ereignisse bis zum Tode
Sullas geführt. Die Fragmente hat uns grösstenteils Gellius erhalten. Zum
Olück teilt er auch längere Auszüge mit, so dass wir über des Claudius
Stil uns eine bestimmte Vorstellung machen können. Wir können den*
1) Vgl. E. Zarrcke, Der Einfluss der
griechischen Litteratur auf die Entwicklung
der römischen Prosa in den Comm. Rihheck.
p. 269.
158 BOmische tiitteratnrgeBchielite. t. IM« 2eit der ftepublik. 2. Periode.
selben den zerschnittenen nennen, da die Darstellung auf kunstvolle Perio-
disierung verzichtend sich in meist unverbundenen Sätzen rasch vorwärts
bewegt. Interessant ist ein in das Werk eingelegter Brief der Konsuln
an den König Pyrrhus (41). Da sich in demselben ganz der claudianische
Stil zeigt, so haben wir ihn als ein Kunstmittel der Geschichtschreibung
zu betrachten, welches für die alte Historiographie charakteristisch ist.
Velleitts 2, 9, 4 vetustior Sisenna fuit C<ieliu8, aequalia Sisenncie Rittiliua Claudiusque
Quadrigariua et VaUrius AtUias. Livius benutzt den Claudius vom 6. Buch an; er citiert
ihn an 10 SteUen 6, 42 8,19 9,5 10,37 33,10; 30; 36 38,23; 41 44, 15 (wozu noch einige
Stellen aus Orosius kommen); ausserdem spricht Livius an 2 Stellen 25, 89, 35, 6 (vgl. § 64, 5)
von Claudius als Übersetzer und Benutzer der Acilianischen Annalen. Man hat hier einen
andern Claudius finden wollen als den an den 10 Stellen genannten, z. B. Sigonius, andere
wie GiESEBBECHT, MoMMSEN haben — und dies ist das Richtige — sich fOr denselben
Claudius an allen Stellen ausgesprochen. Dass aber dann dieser Claudius identisch mit
dem von andern Schriftstellern genannten Claudius Quadrigarius ist, hat mit Unrecht
Nissen, Erit. Unters, p. 40 geleugnet. Vgl. MoiatSEK, R. Forsch. 2, 426, 27. Es fragt sich
nun weiter, wie das an den 10 Stellen aufgeführte und das an den 2 Stellen mit Acilius
in Verbindung gebrachte Werk sich zu einander verhalten. Zwei Schriften des Q. Claudius
Quadrigarius mit Ukgbb, Phil. Suppl. 8, 3 anzunehmen, ein selbständiges Werk und eine
Übersetzung des Acilius ist bedenklich; vgl. Mommsen, R. Forsch. 2,427 Anm. Ebenso be-
denklich ist es, was neuerdings Peteb gethan Fleckeis. J. 1882 p. 103, im Anschluss an
Thoubet, Fleckeis. J. Suppl. 11, 156 die Behauptung aufzustellen, dass nur ein selbständiges
Werk, keine Übersetzung des Acilius dem Claudius beizulegen ist, dass in diesem Werk die
Annalen des Acilius als Quelle benützt und an jenen zwei Stellen namentlich erwähnt
waren. Die wahrscheinlichste Lösung der Schwierigkeit besteht nach Moxmsen in der An-
nahme, dass Claudius die alten Zeiten im Anschluss an Acilius bearbeitete, wobei er aber
die Partie bis zur gallischen Katastrophe wegliess, und dann denselben weiterführte.
Noch eine Schwierigkeit ist mit Claudius verknüpft. Plntarch spricht Num. 1 von
einem gewissen Clodius, der in einem eXeyx^ /^öi^oii^ behauptet habe, dass die alten Stamm-
bäume in der gallischen Katastrophe zu Qrund gegangen seien. Niebuhb hält diese Schrift
für identisch mit den Annalen (R. G. 2, 3), Unoeb erklärt sie für ein drittes Werk des
Claudius Quadrigarius. Richtig bezieht sie Peteb auf einen von Appian I p. 46 Mendels,
oitierten Paulus Claudius. — Giesebbecht, Q. Claudius Quadrigarius, Prenzlan 1831.
2. Valerius Antias. Ein sehr umfangreiches Werk war die Ge-
schichte des Valerius Antias, der ebenfalls ein Zeitgenosse Sisennas war;
es wird das 75. Buch citiert. Sie begann mit den ältesten Zeiten und
reichte mindestens (64) bis zum Jahr 91. Wie ausführlich die alte Zeit
behandelt war, ersieht man daraus, dass erst im 2. Buch Numa behandelt
war (5 und 6), Valerius wurde benutzt von Dionysius, von Plutarch, wohl
am meisten aber von Livius; denn von allen Autoren citiert ihn Livius
am häufigsten, nämlich an 35 Stellen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass
das Werk des Valerius Antias von Livius hauptsächlich benutzt wurde;*)
da dieser aber noch andere Quellen zum Vergleiche heranzog, so ergaben
sich oft Discrepanzen, so dass er gegen Antias Stellung nehmen musste.
Besonders rügte er den Zahlenschwindel, den Antias getrieben und der
sich in einer doppelten Weise manifestiert, einmal Zahlen anzugeben, wo
solche unmöglich beglaubigt sein konnten, z. B. über ein Ereignis des
Jahres 464 (3, 5), ferner bei Zahlenangaben zu offenbaren Übertreibungen
zu greifen, dies zeigt sich besonders bei Berichten über die Zahl der ge-
0 Gegen die Annahme einer zu grossen
Abhängigkeit des Livius von V. A. wendet
sich Niese 1. c. p. XVI non rede eos existimare,
qui a Livio aaepe Valerium AtUuUem ita ex-
pressum esse putant, ut nihil iile sit nisi
Antias pauUo ornatior et urbaniar. Quodsi
verum esset, profecto non fugisset opinar,
homines paullo doctiores nee tantam laudem
adeptus esset Livius,
Valexiiu Antias. C. lieiniiiB Maoer. Q. AeUns Tnbero.
159
fallenen Feinde (30, 19 33, 10 34, 15). Aber nicht bloss Übertreibungen,
sondern auch Erdichtungen und Ausschmückungen müssen wir diesem
Historiker zur Last legen. Ein Beispiel bietet der Scipionenprozess.
LiBBSALDT, de Valerie Antiate, Naumb. 1840. Nissen, Krit. Untersuchungen p. 43.
NiTZSCH, Rom. AnnaUstik p. 349. Mommsbn, Rom. Forsch. 2, 493. Friedrich, Biogr. des
Barkiden Mago, ein Beitr. zur Kritik des Valerius Antias, Wien 1880. Niese, de annal.
Rom. obs. II, Marb. 1888 (Aber die SteUung des V. A. zu den Scipionenprozessen).
3. C. Licinius Macer. Der Vater des Dichters und Redners C.
Licinius Calvus ist in der Geschichte wegen seines Tribunats vom J. 73
V. Chr. bekannt. Eine auf die Wiederherstellung der Rechte des Volks be-
zügliche Rede gibt Sallust in seinen Historiae. Von dem Prätor Cicero
wegen Erpressungen angeklagt und verurteilt verübte er Selbstmord (Plut.
Cic. 9). Seine Annalen begannen mit der Gründung Roms; citiert wird
noch das 21. Buch. Ein besonderes Charakteristikum dieses Geschichts-
werks war das Zurückgehen auf Urkunden. Livius berichtet an
mehreren Stellen (4, 7 4, 20 4, 23), dass Licinius die libri lintei d. h. die
Magistratsverzeichnisse benützte. Niebuhr bewundert ihn daher. Allein
MoMMSEN erachtet jene Angaben als Fälschungen. Da in einem Fall eine
solche Fälschung (Liv. 4, 7) offen vorliegt, so bleibt nur der Ausweg noch
übrig, anzunehmen, in der Vorlage des Licinius seien bereits jene Fäl-
schungen aus den libri lintei enthalten gewesen. Auch Vorliebe für die
Licinier (Liv. 7, 9) und demokratischer Parteigeist wird ihm zur Last ge-
legt. Für die Charakterisierung seines Stils muss, da der wörtlichen Frag-
mente nur sehr wenige sind, das Urteil Ciceros (de leg. 1, 2, 7) beigezogen
werden, allein dasselbe kann auch nur mit Vorsicht benützt werden, da
Cicero ein Gegner des Licinius ist; überdies sind die Worte nicht unver-
sehrt überliefert. Die Stelle enthält einen Tadel; indem sie zwischen der
Erzählung und den eingestreuten Reden scheidet, findet sie dort Klügeleien
und Redseligkeit, hier (nach der wahrscheinlichen Verbesserung) Überhebung
und Unverschämtheit.
LiBBALDT, G. Licinins Macer, Naumb. 1848. Nitzsch, Annalistik p. 351 — 355. Nis-
BUHB, R. G. 8, 175 Anm. 276 (,L. M. der einzige, welcher Urkunden unterBuchte"). Moioisbn,
Rdm. Chronol. p. 88, Forsch. 1, 315. Die Stelle aus Cic. de leg. 1, 2, 7 lautet: ifacrtim, euius
loquacita» habet aliquid argutiarum, nee id tarnen ex illa erudita Graecorum copia, sed
ex librariolis Latinis, in orationilms autem multa, sed inepta elatio, summa impudentia (die
Überlieferung muUas ineptias, elatio summam impudentiam). Die übrigen Verbesserungs-
Tersnohe zählt Peter CCCXXXXIII auf.
4. Q. Aelius Tubero kämpfte in der Schlacht bei Pharsalus an Seite
des Pompeius (Cic. p. Lig. 127). Wir wissen ferner, dass er mit einer An-
klage gegen Ligarius (Quint. 10, 1, 23) hervortrat. Er wandte sich dann
der Jurisprudenz zu und schrieb mehrere sehr angesehene Schriften. Auch
historiae gab es von ihm. Sie reichten von den ältesten Zeiten wenigstens
bis zum Beginn des Bürgerkriegs zwischen Cäsar und Pompeius >) (11).
Citiert wird noch das 14. Buch. Sein Stil war wie in den juristischen
Schriften (Dig. 1, 2, 2, 46), so auch im Geschichtswerk altertümelnd.
') Suet. Caes. 56 Feruntur et a puero
(Caesare) et ah adufescentulo quaedam scripta.
Ba statt „et a puero et" der Codex Mem-
mianus ,ef ait vero* hat, so schlJlgt Rbiffeb-
8omm>, Ind. lect., Vratisl. 1870/71 p. 5 un-
zweifelhaft richtig vor ,ut ait Tubero*. Man
wird wohl annehmen müssen, dass er in seinem
Geschichtswerk noch den Tod Cäsars he-
handelte und daran eine Charakteristik Cäsars
anschloBs.
160 Bömiaohe LitieratiirgeBchichte. t Die 2eit der fiepablik. 2. Periode.
Der genannte Q. Aelius Tubero ist der Sohn des L. Aelius Tubero, der auch an
einem Geschichtswerk arbeitete (Cic. lEtd Q. fr. 1, 1, 3, 10), dasselbe aber allem Anschein nach
nicht vollendete. Q. Aelius Tubero dagegen, dem Dionysius die Schrift negl tov Govxvdldov
XaQamiJQOf widmete, ist der Sohn unseres Historikers und Juristen. Nippbbdet, Opusc.
p. 406-408.
5. Scribonius Libo. Procilius. Von einem Libo, wahrscheinlich
L. Scribonius Libo, dem Schwiegervater des Sex. Pompeius citiert Cicero
(45 y. Chr.) Annalen und zwar das 14. Buch, wo die Konsuln des J. 132
P. Popillius und P. Rupilius erwähnt werden (ad. Attic. 13, 30, 3 32, 3
44, 3). Varro führt de 1. 1. 2, 148 eine Geschichte des Procilius an, auch
Cicero sagt (ad Attic. 2, 2, 2) gelegentlich einer Erwähnung des Dicaearchus,
dass man von diesem mehr lernen könne als von Procilius. Bei Plinius
n. h. 8, 4 wird er für ein Ereignis aus dem J. 81 angeführt. Nach der
erwähnten Varronischen Stelle behandelte er den Opfertod des M. Curtius
(362 y. Gh.). Beide Schriftsteller sind also auf die älteren Zeiten einge-
gangen; ihre Werke gehören daher zu den allgemeinen Stadtchroniken.
Über Libo vgl. die sorgfältige Untersuchung von M. Hebtz, De Liv. fragm.. comm.
part. n Index' lectionum, Breslau 1864/5 p. 14.
Ein Historiker, der über Hannibal schrieb, Sulpicius Blitho, wird
lediglich von Com. Nepos 13 für das Todesjahr Hannibals citiert; das ist
die einzige Stelle in der römischen Litteratur, die seiner gedenkt.
Mit Voss, de bist. p. 29 Amsterd. 1697 hält Unoeb, Der sog. Com. Nep. p. 154 den
Sulpicius Blitho fOr Sulpicius Galba, Grossvater des Kaisers, den Verfasser einer historia
multiplex nee incuriosa (Suet. Galba 3). Allein diese Ansicht ist nur denkbar, wenn Nepos
nicht der Verfasser des Feldhermbuchs ist. HOchst wahrscheinlich benützte ihn Com. Nep.
gar nicht direkt, sondem fand ihn im liber annalia des Atticus, den er allein an jener
Stelle eingesehen hatte. Vgl. Rosevhaueb, Phil. Anz. 13, 746.
2. Cornelius Sisenna und andere.
113. Die Zeitgeschichte« In unserer Epoche sind unstreitig das
bedeutendste Werk über die Zeitgeschichte die historiae des L. Cornelius
Sisenna, der Prätor im J. 78 war, im Prozess gegen Verres zu dessen
Verteidigern gehörte und im J. 67 als Legat des Pompeius im Seeräuber-
krieg starb. Das Werk, das Sisenna in reiferem Alter schrieb (Vell. 2, 9,
5), umfasste mindestens 23 Bücher; die meisten Fragmente daraus sind
uns durch Nonius erhalten; sie sind vorzugsweise den ersten Büchern ent-
nommen. Im ersten Buch behandeln Fragmente (1 u. 2) die mythische Zeit,
ein anderes (6) desselben Buchs bezieht sich auf den beginnenden marsi-
schen Krieg. Diese Erscheinung findet durch die Annahme ihre Erklärung,
dass Sisenna in einer Einleitung einen Blick auf die alte römische Ge-
schichte geworfen. Die Fragmente reichen allem Anschein nach bis zum
Jahre 82 (vgl. 132); allein wahrscheinlich endete das Werk mit dem
Tod Sullas und stellte sonach die Geschichte des Bundesgenossenkriegs und
Sullanischen Bürgerkriegs dar. Wenn unsere Annahme, dass Sempronius
Asellio mit dem Tod des Livius Drusus (91 v. Chr.) geschlossen, richtig ist, so
würde sich ergeben, dass Sisenna sein Werk an jenes angeschlossen wissen
wollte. Damit hätten wir eine neue Form der Geschichtschreibung, die
losgelöste selbständig gewordene Fortsetzung. Das Werk Sisennas
war die Hauptquelle für die Sullanische Zeit, ausdrücklich bemerkt Sallust
ComeliaB Bisenna und andere. 161
lug. 95, dass Sisenna diese Zeit am besten behandelt, wenn gleich nicht
völlig freimütig, was sich aus seiner Zugehörigkeit zur gern Cornelia leicht
erklärt. Den Stil anlangend, so zeigen uns die Überreste viele altertüm-
liche, der Schriftsprache fremde Formen, ein Verlassen der chronologischen
Aneinanderreihung zu Gunsten der künstlerischen, viele Züge der klein-
lichen Ausmalung. Es scheint sonach, dass Sisenna bestrebt war, sein
Geschichtsbuch zu einer fesselnden Lektüre zu gestalten; darauf wird zu
beziehen sein, wenn Cic. de leg. 1, 2, 7 als Vorbild für Sisenna Clitarchus
hinstellt, der in romanhafter Weise den Zug Alexanders beschrieb.
Auf den schongeistigen Zug Sisennas deutet seine Beschäftigung mit den milesischen
Erzählungen des Aristides, welche er übersetzte. Seiner Übersetzung dieser schlüpfrigen
Geschichten fügte er noch obscöne Spässe hinzu (Ovid. Trist. 2, 443). Die Fragmente sind
gesammelt in Büchelers Petronius' p. 237. Der Erklärer des Plautns Siseima ist mit
unserem Historiker nicht identisch, derselbe lebte nach Yergil (Charis. p. 221 E.).
Die stürmische Zeit, die Sisenna beschrieb, regte noch andere zu
schriftstellerischen Versuchen an. Bei Cicero Ep. 5, 12, 2 lesen wir, dass
L. Lucceius im J. 56 eine Geschichte des Bundesgenossen- und des Bürger-
kriegs beinahe vollendet hatte. L. Licinius LuculTus, dem Sulla seine
Memoiren widmete, schrieb ebenfalls eine Geschichte des Bundesgenossen-
kriegs in griechischer Sprache (Plut. Luc. 1, Cic. ad Att. 1,19,10). Oben
S. 107 lernten wir einen C. Piso kennen, der in einem Geschichtswerk über
den Tod des Marius handelte.
Auch TanusiusGeminus wird hier einzureihen sein. Von ihm citiert
Suet. Caes. 9 aus einer „historia" ein Ereignis des Jahres 66 aus dem Leben
Cäsars. Ohne das Werk namhaft zu machen, führt Plutarch Caes. 22 ein
Ereignis des Jahres 55 aus dem Leben Cäsars, Strabo 17, 829 einen Vor-
fall aus dem Leben des Sertorius an. Es ist kaum zu bezweifeln, dass
auch die zwei letzten Stellen jener historia entnommen sind. Es scheint
also eine Geschichte der jüngsten Zeit der Republik gewesen zu sein.
Diese Geschichte wurde nach dem Tod Cäsars geschrieben, die feindselige
Tendenz, die den zwei Mitteilungen über Cäsar innewohnt, nötigt zu dieser
Annahme. Sie fällt aber vor Strabo, der sie ja bereits benützte. Also gibt
der Verfasser die Geschichte seiner Zeit.*)
An das Geschichtswerk des Tanusius knüpfen sich einige Streitfragen. Seneca Ep.
93, 9 et paucorum verstuum Hher est et quidem laudandus atque utilis: annaies Tanusii 8cis
quam panderosi sint et quid vocentur, hoc est vita quorundam longa et quod Tanusii sequiiur
annales. Identifiziert man den hier genannten Tanusius mit dem obengenannten und die
annales mit der historia, so ergibt sich, dass jene Geschichte weitschichtig war und zur
Zeit Senecas mit einem verächtlichen Ausdruck bezeichnet wurde. Allein sowohl die
Identitftt der beiden Werke (vgl. M. Haupt, Op. 1, 72) als sogar die Identität der beiden
Personen (Tgl. Bahrens zu Catull p. 207) wurde geleugnet, wie ich glaube, mit Unrecht.
Man ist noch weiter gegangen. Catull spricht im 36. Gedicht von den poetischen Annalen
eines Volusius und nennt sie „cacata charfa". Muhet sprach zweifelnd die Ansicht aus,
dass unter dem Namen Volusius hier Tanusius verspottet werde und dass sich auf diese
Verspottung (eaeata charta) Seneca beziehe. Diese Hypothese Mubets fQhrt aber unbedingt
zu der Annahme, dass zwei historische Werke dem Tanusius Geminus beizulegen sind, ein
Soetisches {annales), zur 2ieit Catulls erschienenes, dem allein der Spott Catulls gilt,
ann ein prosaisches, erst nach dem Tod Cäsars veröffentlichtes. Vgl. Schwabe, Fleckeis^
J. 1884 p. 380. Allein ist diese Annahme schon nicht ohne Bedenken, so wachsen die«
Schwierigkeiten, wenn man erwägt, dass es ganz unerklärbar ist, warum Catull überhaupt,
ein Pseudonym gewählt hat und dann noch dazu den Namen eines vornehmen Geschleohtsk
0 Eine römische Geschichte in griechi- Cic. Tusc. 5, 38, 112 ; von derselben wissen^
scher Sprache von Cn. Aufidius erwähnt noch vor aber gar nichts.
HADdbnch der kluB. AltortumawinenflchAlt. VDL 11
162 Bömiedhe litteratargeschichte. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Mit Recht leugnet daher Sovkenbijbo, dass Volusius = Tanusius sei (histor. Untersach. zu
Ehren Schäfers, Bonn 1882 p. 158—165).
Litteratur: Roth, L. Carnelii Sisennae vUa, Basel 1834. Riese, Über das Ge-
schichtswerk des C. S., Heidelb. Festschr. 1865. Schkeideb, De Sisennae historiarum reli-
quiis, Jena 1882. Nuse, Über Tanusius, Rhein. Mus. 38, 600. Hier wird die bei Strabo 17, 829
überlieferte Lesart Tayvaiog (für Faßiyios) in ihre Rechte eingesetzt.
3. L. Cornelius Sulla.
114. Die Autobiographien. Das bedeutendste Werk dieser Litteratur-
gattung in unserer Epoche sind die Denkwürdigkeiten (rerum gestarum
libfi), die L. Cornelius Sulla (138 — 78), nachdem er sich von dem öffent-
lichen Leben zurückgezogen hatte, kurz vor seinem Ende verfasste und
dem L. Lucullus widmete. Er stand im 22. Buch, als ihn der Tod über-
raschte. Sein Freigelassener, Cornelius Epicadus, ergänzte das Werk,
d. h. er wird das Ende Sullas hinzugefügt haben. Die Haupttendenz dieser
Denkschrift, welche Plutarch für die Biographien des Marius und Sulla
stark benützte, war, alle seine Handlungen als ein Werk der Vorsehung
hinzustellen (Plut. Sulla 6).
Den Titel rerum gestarum libri hat Gellius 1, 12, 16; Priscian 1, 476 H. citiert in
vicesimo primo rerum suarum, Suet. gr. 12 Cornelius EpicaduSf L, Cornelii Syllae die-
tatoria lä)ertu8 — librum auiem. quem Sylla novissimum de rebus suis imperfectum reli-
querat, ipse supplerit. Plut. Sulla 37 rd eixoctoy xai devTSQoy ttSy vnofiytj/^ataty tt^o dveiy
fjfieQtoy fj iteXevitt yQd<p<oy inavcaro.
4. Voltacilius Pitholaus.
116. Die Biographie. Von der Autobiographie führt sehr leicht der
Weg zur Biographie, wenn eine Persönlichkeit durch einen Befreundeten
ihre Thaten erzählen und rechtfertigen lässt. Dazu eignet sich aber vor-
züglich der gelehrte Freigelassene, der auf die Gunst der vornehmen Welt
angewiesen ist. Das erste Beispiel einer solchen Biographie liefert uns
L. Voltacilius Pitholaus, überhaupt der erste Freigelassene, der
über römische Geschichte schrieb. Er eröffnete im J. 81 v. Ch. eine
lateinische Rhetorenschule und war der Lehrer des Cn. Pompeius Magnus in
der Rhetorik. Er scheint dadurch in vertrauliche Beziehungen zu der
Familie gekommen zu sein; er schrieb die Biographie des Cn. Pompeius
und die dessen Vaters Cn. Pompeius Strabo in mehreren Büchern (Suet.
rhet. 3).
Den Namen Pitholaus hat zuerst festgestellt Hertz, Rhein. Mus. 43, 312. Bei Macro-
bius 2, 2, 13 wird ein M. Voltacilius (überliefert Yotacilius) Pitholaus erwähnt, welcher
derselben Zeit angehört. Dieser ist wahrscheinlich zu verstehen Suet. Caes. 75 Pitholai
carminibus maledicentissimis lacercUam existimationem suam civili animo tulit und unter
dem Namen Pitholeon Horat. sat. 1, 10, 22.
5. T. Pomponius Atticus.
116. Die Zeittafel (annalis) des Atticus. T. Pomponius Atticus,
nach seiner Adoption Q. Caecilius Q. f. Pomponianus Atticus (109 — 32),
dessen etwas überschwengliche Biographie Cornelius Nepos verfasst hat,
war durch sein grosses Vermögen und seine feine Bildung eine der ein-
flussreichsten Personen seiner Zeit. Von der Staatslaufbahn hatte er sich
femgehalten, da ihm als geborenem Geschäftsmann sein Privatinteresse
T. PomponiuB Atüciu. 163
höher stand. Sein nüchternes, leidenschaftsloses Wesen hatte ihn befähigt,
nach allen Seiten hin zu wirken. ,,Ohne Liebe und ohne Eass, ohne Farbe
und Gepräge vermochte er allen alles zu sein." ') Er stand mit den ver-
schiedensten Persönlichkeiten in regem Verkehr, mit Hortensius, Cicero,
dessen Briefwechsel mit ihm erhalten ist, Cornelius Nepos, M. Terentius
Van^o und anderen. In der Litteratur nimmt er eine Doppelstellung ein,
er ist einmal Buchhändler, der durch seine Sklaven Bücher abschreiben
Hess,') dann ist er selbst Schriftsteller. Unter seinen Schriften war die
wichtigste seine Zeittafel, sein Über annalis. Dieser chronologische Abriss
umfasste von Gründung der Stadt Rom (753) in runder Zahl 700 Jahre;
es waren darin die Konsuln und andre Magistrate chronologisch verzeichnet,
wobei zugleich durch Angabe der Vornamen der Vorfahren das genealo-
gische Moment berücksichtigt war; dann waren auch wichtige historische
Ereignisse erwähnt. Die römische Geschichte bildete zwar die Grundlage,
allein auch die Geschichte anderer Nationen war nebenbei berührt. Die
Herausgabe der Zeittafel ist zwischen 51 und 46 anzusetzen; denn die
Anregung zu der Schrift führt Atticus auf Giceros Schrift über den Staat,
welche 51 herausgegeben wurde, zurück; im Brutus, der ins Jahr 46 fällt,
wird aber des liber annalis bereits gedacht. Wahrscheinlich endete der-
selbe mit dem Anfang des Bürgerkriegs, mit dem Jahr 49.^) Es ist eine
richtige Beobachtung, dass zunächst auf dieser Zeittafel die kapitolinischen
Fasten und der Chronograph des Jahres 354 beruhen. Eine Ergänzung
zu der Zeittafel bildeten die genealogischen Monographien über verschiedene
Geschlechter, die Junier, die Marceller u. s. w. ; dieselben kamen der gegen
Ende der Republik aufgekommenen Richtung, den Stammbaum in die
ältesten Zeiten zurückzuführen, entgegen. Die historische Richtung verfolgt
auch seine Dichtkunst; er verfasste nämlich Verse, die er den Bildnissen
berühmter Persönlichkeiten beifügte; es waren darin kurz die bekleideten
Ämter und die ruhmvollen Thaten der betreffenden Personen geschildert.
Ausserdem schrieb Atticus noch eine Lobschrift über das Konsulat Ciceros
in griechischer Sprache; im Jahre 60 las dieselbe bereits Cicero (ad Att.
2, 1, 1; Com. Nep. Attic. 18, 6).
Zeugnisse über die Zeittafel: Corn. Nep. Attic. 18 (antiquUaiem) adeo dUU
genier habuU cognUam, ut eam totam in eo volumine expoeuerü, quo magietratus ordinavU.
Nitüa enim lex neque pax neque bellum neque res iUustris est pcpuli Ramani, quae non in
eo suo tempore sit notata, et quod difflcillimum fuit, sie familiarum originem subtexuit,
ut ex eo clarorum virorum propagines possimus cognoseere, Cic. orat. 34, 120 eognoseat
(oraior) etiam rerum gestarum et memoriae veteris ordinem, maxime scilicet nostrae civitatis,
sed etiam imperiosorum populorum et regum illustrium. Quem laborem nobis
Attici nostri levavit labor, qui conservatis notatisque temporibus, nihil cum illustre praeter-
mitteret, annorum septingentorum memoriam uno libro colligavit; vgl. noch Cic. Brut. 3, 14.
Cic. Brut. 3, 19 läset Cicero den Atticus sagen: ut illos de republica libros edidisti, nihil a
te sane postea accepimus: eisque nosmet ipsi ad veterum rerum nostrarum memoriam eom-
prehendendam impulsi atque incensi sum%is, — Die Ansicht, dass die Fasti capitclini zum
^) Dbumahv, Gesch. Roms 5, 70.
') Ob die Atticusausgaben, die sogen.
'jirtixiaya mit unserem Atticus zusammen-
hängen, ist zweifelhaft. Vgl. Christ, Die
Atticusauflgabe des Demosthenes, Abb. der
bayr. Akad. I. Kl. 16, 20. ^Vielleicht erhielt
sich die Bücherfabrik des Atticus auch noch
über den Tod ihres Begründers hinaus unter
ihrem ursprünglichen Namen, so dass auch
Werke, die unter dem Nachfolger des be-
rühmten Atticus in jener Fabrik ediert wur-
den, unter dem Namen 'Atrutiaya in Umlauf
gesetzt wurden. '^
*) CioHOBiüs p. 257.
11*
164 Bömiaohe litteratargeBchichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Fundameut den Über annalis des Atticus haben, sprach zuerst Stephan Pighins und dann
Vossius de bist. lat. CXI p. 16, Amsterd. 1799 aus. Allein diese Wahrheit blieb unbeachtet,
bis in neuester 2ieit Matzat, Rom. Chronol. 1, 353 Anm. 2 und Cichobius, de fastia conau-
laribus, Leipz. Stnd. 9, 249 dieselbe wieder aufgriffen. Letzterer hat überdies eine bündige
und überzeugende Begründung gegeben.
Zeugnis über die genealogischen Monographien: Com. Nep. Attic. 18, 3 Fecit
hoc idem (wie im Annalis) eeparatim in aliis libria, ut M, Bruti rogatu luniam famüiam a
stirpe ad hanc aetaUm ordine enumeraverit, natans, qui a quoque ortus quos honores quibus-
que temporibua cepisset, pari modo MareeUi Clawdii de Marcellarum, Scipicnis Carnelii et
Fabii Maximi Fabiarum et Aemiliarum.
Wenn es bei Plin. n. h. 35, 11 heisst: imaginum amarem flagrasse quondam festes
sunt Atticus ille Ciceronis edito de iis volumine et M. Varro, so wird die Stelle kaum
anders zu deuten sein, als dass Atticus eine Porträtsammlung veröffentlichte, nicht aber
mit Leo, dass Atticus eine Schrift vielleicht technischer Art verfasst habe; nach Gellius
(3, 10, 1) war ja auch das Varronische Werk de imaginibus betitelt.
Über die Verse unter den imagines Com. Nep. Attic. 18, 5 attigit poeticen quoque —
nam de viris, qui honore rerumque gestarum amplitudine ceteros Bomani populi prae-
stiterunt, exposuit ita ut sub singulorum imaginibus facta magistratusque eorum non amplius
quatemis quinisve versibus descripserit. Aus diesen Worten geht nicht mit Bestimmtheit
hervor, dass Varro, wie Leo, Rh. M. 38, 346 will, der Porträtsammlung die erläuternden Verse
beigegeben hat, er kann die Verse auch unter die Bilder seiner Villa in Epirus gesetzt
haben (Dbumanic, Gesch. Roms 5, 87)
Litteratur: Hullema]v17, diatribe in T. P. Atticum, Utr. 1838. Schnbidbb, de T.
P. A, anncUi, Zeitschr. f. Altw. 6, nr. 5.
6. C. Julius Caesar.
117. Biographisches. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, ein so
reiches Leben wie das Caesars zu schildern; ein solche Aufgabe ist der
Geschichte zuzuweisen. An diesem Ort können nur einige Hauptdata zur
allgemeinen Orientierung vorgeführt werden. C. Julius Caesar wurde ge-
boren den 13. Juli 100. Seine Mutter war die geistreiche Aurelia. Seine
erste Ausbildung erhielt er durch den Gallier M. Antonius Gnipho (Suet.
gramm. 7). Seine verwandtschaftlichen Beziehungen wiesen auf Marius und
damit auf die demokratische Partei. Seine Vermählung mit Cornelia, der
Tochter Cinnas, brachte ihn in Konflikt mit Sulla. Schon hier zeigte sich
die Energie seines Willens. Den Kriegsdienst begann er unter dem Pro-
prätor M. Minucius Thermus in Asien. Zurückgekehrt nach Rom (78), lenkte
er die Aufmerksamkeit auf sich durch eine Klage gegen Cn. Dolabella wegen
Erpressung in der von diesem im J. 80 verwalteten Provinz Macedonien.
Dann suchte er seine rednerische Ausbildung durch einen Kursus bei dem
Redner Molo in Rhodus zum Abschluss zu bringen. Die Beamtenlaufbahn
durchschritt er in folgender Weise: Er war Quästor 67, Ädil 65, Pontifex
maxiraus 63, Prätor 62. Auf die Prätur folgte 61 die Verwaltung der
Provinz Hispania ulterior, wo er sich bereits durch kriegerische Thaten
auszeichnete. Es kam das erste Triumvirat (60), das, auf Anregung Caesars
begründet, die Macht in die Hände des Pompeius, Caesar und Crassus legte
und ein Gegengewicht gegen den Senat bildete. Das Konsulat bekleidete
Caesar mit Bibülus im J. 59. Durch die Statthalterschaft in Gallien erhielt
Caesar eine geeignete Stätte für seinen grossartigen Geist, hier konnte er
zeigen, was das römische Volk von ihm erwarten durfte; hier konnte sich
sowohl sein militärisches als sein staatsmännisches Talent in reichstem
Masse entfalten. Der Bruch mit Pompeius und mit der Partei des Senats
G. JnlinB Caesar. 165
führte zum Bürgerkrieg. Die Schlachten bei Pharsalus (48), bei Thapsus
(46), bei Munda (45) entschieden den Sieg Caesars. Alleiniger Machthaber
im Staat, endete er sein Leben unter Mörderhand am 15. März 44. —
Caesar ist die grossartigste Erscheinung der römischen Geschichte. In ihm
vereinigten sich alle Eigenschaften, welche für den Staatsmann notwendig
sind, wundervolle Klarheit des Geistes, realistischer, allem Abenteuerlichen
abgeneigter Sinn, eiserne Energie des Willens, ausdauernde Eörperkraft,
imponierende Erscheinung.
Eine meisterhafte, glänzende Charakteristik Caesars gibt Moiocsen, Rom. Gesch. 3,
461—469. Wir entnehmen aus ihr folgende Schilderung (p. 463): Caesar war durchaus Realist
und Verstandesmensch; und was er angriff und that, war von der genialen Nüchternheit
durchdrungen und getragen, die seine innerste Eigentümlichkeit bezeichnet. Ihr verdankte er
das Vermögen, unbeirrt durch Erinnern und Erwarten energisch im Augenblick zu leben;
ihr die Fähigkeit, in jedem Augenblick mit gesammelter Kraft zu handeln und auch dem
kleinsten und beiläufigsten Beginnen seine volle Genialität zuzuwenden; ihr die Vielseitig-
keit, mit der er erfasste und beherrschte, was der Verstand begreifen und der Wille zwingen
kann ; ihr die sichere Leichtigkeit, mit der er seine Perioden fQgte wie seine Feldzugspläne
entwarf; ihr die «wunderbare Heiterkeit', die in guten und bOsen Tagen ihm treu blieb;
ihr die vollendete Selbständigkeit, die keinem Liebling und keiner Maitresse, ja nicht einmal
dem Freunde Gewalt über sich gestattete.
Biographien Caesars aus dem Altertum sind von Plutarch und von Sueton erhalten.
Von neueren DarsteUungen ist Dbttmann im 3. Bande seiner Geschichte Roms grundlegend.
NAPOLiov in., Histoire de Jules Cdsar, Paris 1865/66 (besonders wegen der Terrainstudien
und der Karten von Wichtigkeit).
118. Caesars Memoiren (commentarii). Die Denkschriften Caesars
behandeln in zwei für sich dastehenden Werken den gallischen und den
Bürgerkrieg, den ersten in sieben, den letzten in drei Büchern. Die Statt-
halterschaft der beiden Gallien und lUyricums und damit einen Schauplatz
für grosse Thaten erhielt Caesar im J. 59 zunächst für die Zeit von fünf
Jahren (58—54); auf Antrag der Konsuln Pompeius und Crassus wurde
im J. 55 die Statthalterschaft Cäsars auf fünf weitere Jahre verlängert
und hätte sich demnach auch auf die Zeit von 53 — 49 erstrecken sollen.
Allein der Ausbruch des Bürgerkriegs gestattete ihm nicht, das zehnte
Jahr in der Provinz zu bleiben; seine Statthalterschaft währte daher nur
von 58 — 50. Seine Memoiren behandeln aber nur sieben Jahre, nämlich
die Zeit von 58 — 52. Es sind also die zwei letzten Jahre von Caesar
übergangen worden. Der Stoff ist in naturgemässer Weise so gegliedert,
dass für die Ereignisse eines Jahres ein Buch bestimmt wird; wir erhalten
also sieben Bücher. Die Memoiren sind aber nicht successive veröffentlicht
worden, sondern auf einmal, denn bereits 1, 28 erscheinen die Boier den
Häduem gleichgestellt, 7, 10 waren sie aber in der hier geschilderten
Phase des Kriegs noch zinspfiichtige Unterthanen derselben. Da die Boier
die Oleichberechtigung mit den Häduem erst nach dem Krieg mit Vercin-
getorix, welchen das siebente Buch behandelt, erlangt haben werden, so
begann Caesar seine Memoiren nach dieser Zeit, d. h. offenbar nach dem
Krieg mit Yercingetorix, nach 52. Es lässt sich die Zeit noch genauer
bestimmen. Caesar macht 7, 6 eine Anspielung auf die infolge der milo-
nischen Händel von Pompeius getroffenen Massregeln und zwar in lobendem
Sinn; es war also damals noch kein offenkundiger Bruch eingetreten. Da
dieser Bruch spätestens 29. September 51 eintrat, so ist die Abfassung der
Memoiren mit hoher Wahrscheinlichkeit in das Jahr 51 zu setzen. Bei
166 Römiflohe Litteratargescliichte. I. Die Zeit der Republik. 8. Periode.
dieser Annahme erklärt sich auf einfache Weise, dass Caesar die Ereignisse
der Jahre 51/50 nicht mehr berücksichtigt hat. Die Memoiren wurden
rasch abgefasst; es bezeugt dies ausdrüddich EQrtius. Die Quellen für
seine Darstellung werden die Akten der Operationskanzlei gewesen sein.
Spezielle Tagbücher Caesars anzunehmen, dafür liegt keine Nötigung vor.
Die Tagbücher, welche die Schriftsteller erwähnen, sind nur ein anderer
Name für unsere Memoiren.^)
Die Memoiren über den Bürgerkrieg beginnen mit dem 1 . Januar 49 ;
da hier die vorausgehenden Ereignisse als bekannt vorausgesetzt werden,
so ist anzunehmen, dass Caesar auch die zwischen 51 — 49 liegende Zeit
damals behandeln wollte. In diesem Werk weicht Cäsar von der im galli-
schen Krieg beobachteten Manier, jedem Jahr ein Buch zuzuweisen, ab;
denn die ersten zwei Bücher erzählen uns die Ereignisse des J. 49, das
dritte die des J. 48. Am Schluss ist noch der alexandrinische Krieg er-
wähnt; man sieht, dass auch diesen Cäsar schildern wollte. Yerfasst sind
diese Memoiren nach dem Bürgerkrieg, es erhellt dies aus Stellen wie
3,57,5; 3,18,5; 3,60,4. Da die Fortsetzung unterblieb, so wird die An-
nahme nicht abzuweisen sein, dass er an der Ausführung durch den Tod
gehindert wurde.
Über die Zeit der Abfassung und Herausgabe der Gommentarien des b. g. vgl. Schiteideb
in Wachlers PhilomaÜiie 1, 184, &öchlt-Rüstow, Einleit. zu dem gall. Krieg p. 51, Momxben,
R. Gesch. 3*1 616 .Wer die Geschichte der 2ieit aufoierksam verfolgt, wird in der Äusserung
Aber die milonische Krise 7, 6 den Beweis finden, dass die Schrift vor dem Ausbruch des
Bürgerkriegs publiziert ward; nicht weil Pompeius hier gelobt wird, sondern weil Caesar
daselbst die Ausnahmegesetze vom J. 52 billigt. Dies konnte und musste er thun, solange
er ein friedliches Abkommen mit Pompeius herbeizufOhren suchte, nicht aber nach dem Bruch,
wo er die auf Grund jener fttr ihn verletzenden Gesetze erfolgten Verurteilungen umstiess.
Darum ist die Veröffentlichung dieser Schrift mit vollem Recht in das Jahr 51 gesetzt
worden."
119. Charakteristik der Hemoiren. Das Ziel, welches sich Caesar
mit seinen Memoiren steckt, ist nicht ausdrücklich ausgesprochen, aber es
lässt sich aus den Zeitumständen, unter denen jene beiden Werke ent-
standen sind, abstrahieren. Die Memoiren über den Bürgerkrieg können
nur den Zweck gehabt haben, den Nachweis zu liefern, dass er alles ge-
than, was in seinen Kräften stand, um den Bürgerkrieg zu vermeiden.
Schwieriger ist das Ziel der anderen Schrift zu bestimmen. Selbstverständ-
lich kann nicht der Endzweck derselben gewesen sein, eine Materialsamm-
lung zu liefern. Auch wird die Tendenz der Schrift zu niedrig gesteckt,
wenn man glaubt, Caesar habe sein Vorgehen gegen die gallischen und
germanischen Völker als unvermeidlich rechtfertigen und damit die Angriffe
seiner Gegner entwaffnen wollen. Allerdings sucht er überall sein Ver-
fahren als ein notgedrungenes erscheinen zu lassen, allein der Mehrzahl
der Römer gegenüber bedurfte es sicher keiner Rechtfertigung der Er-
oberungen. Das letzte Ziel der Schrift kann nur gewesen sein, kurz vor
Ausbruch des Bürgerkriegs dem Volk zu zeigen, was er für die Grösse
des römischen Volks gethan, welche schwierige Aufgaben er gelöst und
welche noch zu lösen er befähigt ist. Caesar schreibt nicht als Historiker,
*) NiPFBBDBT, OpUSC. p. 5.
C. Julius Caesar. 167
sondern als Statthalter. Aber als seine Leser betrachtet er nicht Militärs,
sondern das gebildete Publikum überhaupt. In den Memoiren fesselt uns
die Klarheit, Gedrungenheit und Einfachheit der Darstellung, ferner der
objektive Ton, in dem Caesar wie ein fremder Zuschauer von den Ereig-
nissen spricht. Niemals ermüdet der Leser, sondern stets folgt er mit
Spannung der Erzählung. Nur eine in sich fest geschlossene, durchweg
bestimmte, allem Verschwommenen abgeneigte Persönlichkeit konnte eine
solche Herrschaft über den Stoff entfalten und ein Meisterwerk schaffen,
wie es in den Memoiren über den gallischen Krieg vorliegt. Die Sprache
ist durchweg rein, vermeidet alle ungewohnten Ausdrücke wie archaische
und vulgäre, verzichtet auf den Schmuck der Rede und hält sich durchweg
knapp und einfach. Selbst dem in ganz anderen Bahnen sich bewegenden
Cicero hat dieser Stil Caesars ein hohes Gefühl der Bewunderung abge-
rungen. Für die Frage nach der Glaubwürdigkeit muss man sich stets
vor Augen halten, dass Caesar mit seinen Memoiren nicht litterarische,
sondern politische Ziele verfolgt; er muss daher manches- verschweigen
und manches beschönigen, allein trotzdem ist die Objektivität des Schrift-
stellers bewunderungswürdig. Besonders in den Memoiren über den galli-
schen Krieg gibt uns der Schriftsteller im grossen Ganzen ein zuverlässiges
Bild; etwas getrübter ist die Denkschrift über den bürgerlichen Krieg,
da es hier für den Autor schwieriger war, sich die Unbefangenheit des
Urteils zu wahren.
Cic. Brot. 75, 262 nudi (cammentarii) sunt, recti et venusti, omni ornatu orationis
tamquam veste detracta, Sed dum roluit (Caesar) alioa habere parata, unde sumerent qui
veTlent scribere historiam, ineptis gratum fortasse fecU, qui volent üla calamistris inurere:
sanos quidem homines a scribendo deterruit; nihiJ est enim in historia pura et iüustri
brevitate dulcius, Hirtius bell. Gall. VIII praef. constat inter omnea nihil tarn operoae ab
aliia eaae perfectum, quod non herum elegantia commentariorum auperetur. Qui aunt editi,
ne acientia tantarum verum acriptoribua deeaaet, adeoque probantur omnium iudirio, ut
praerepta, non praebita facultas acriptoribua videatur. Momhsen, R. Gesch. 3^, 616 «Die
Tendenz der Scnrift (Über den gallischen Krieg) erkennt man am deutlichsten in der be-
ständigen, oft, am entschiedensten wohl bei der aquitanischen Expedition 8,11, nicht glflck-
lichen Motivierung jedes einzelnen Eriegsakts als einer nach Lage der Dinge unvermeid-
lichen Defensivmaasregel. Dass die Gegner Caesars Angriffe auf die Kelten und Deutschen
vor allem als unprovociert tadelten, ist bekannt (Suet. Caes. 24)."
Ein hartes Urteil über die Glaubwürdigkeit f&Ut Asinius PoUio bei Suet. Caes. 56
Foilio Aainiua parum diligenter parumque integra veritate compoaitoa putat, cum Caeaar
pleraque et quae per alioa erant geata, temere crediderit, et quae per ae, vel conaulto vel
eiiam memoria lapaua perperam ediderit; exiatimatque reacripturum et correcturum fuiaae.
Wahrscheinlich bezieht sich dasselbe doch vorzugsweise auf die Memoiren über den Bürger-
krieg. — Putsch, Die bist. Glaubwürdigkeit der Comm. v. gall. Krieg, Glückst. 1885 — 1886.
120. Nicht erhaltene Schriften Caesars« Als schriftstellerische
Jugendversuche werden erwähnt ein »Lob des Herkules*', eine Tragödie
Oedipus; auch hatte er «sich eine Sammlung geistreicher Aussprüche {dicta
coUectanea, dnotp&hyfAaTa) angelegt und sie, wie man aus Cic. ep. 9, 16, 4
schliessen muss, noch später fortgesetzt. Die Publikation dieser Schriften
verbot Augustus. Sie kommen also für uns nicht weiter in Betracht.
Ausser diesen Schriften und den Commentarien gibt Suet. 56 noch folgende
litterarische Schöpfungen an: 1) De Analogia 1. II; 2) Anticatones eben-
falls in zwei Büchern; 3) ein Gedicht mit dem Titel „Die Reise* (üer).
Mit der ersten, Cicero gewidmeten Schrift griff Caesar in den bekannten
Streit über Analogie und Anomalie der Sprache ein, den wir oben § 77 kurz
168 Röndache litteratargeBohiohte. I. Die Zeit der Republik. S. Periode.
gekennzeichnet haben. Es handelte sich im wesentlichen darum, ob die
Flexion der Worte auf bestimmte Regeln zurückgeführt werden könne.
Cäsar entschied sich im grossen Ganzen für die Analogie d. h. die Begel-
rechtigkeit der Sprache und drang darauf, dass die subjektive Willkür in
der Handhabung der Sprache soviel als möglich beseitigt werde. Charak-
teristisch für ihn ist der in dieser Schrift (Gell. 1, 10, 4) ausgesprochene
Grundsatz, ein ungebräuchliches Wort müsse man wie eine Klippe fliehen.
Nicht minder charakteristisch ist für den umfassenden Geist Caesars, dass
er diese Schrift schreiben konnte, als er aus dem diesseitigen Gallien über
die Alpen zu dem Heere zurückkehrte. Es war dies wahrscheinlich ^) der
Winter 53/2. Das zweite Werk „Anticatones* kam ebenfalls in ungewöhn-
licher Weise zu stände; es wurde im Feldlager von Munda (45) geschrieben.
Nach dem freiwilligen Tode Catos in Afrika hatte nämlich Cicero einen
Panegyrikus auf Cato geschrieben und darin die republikanische Idee ver-
herrlicht. Derselbe machte grosses Aufsehen und regte auch den Brutus und
den M. Fadius Gallus (Cic. ep. 7,24,2) zu solchen Lobschriften an.<) Nach-
dem Caesar zuerst Hirtius veranlasst hatte, von Spanien aus eine Gegen-
schrift zu schreiben und dieselbe an Cicero zu richten (Cic. ad Att. 12, 40, 1),
machte er sich selbst daran, die Lobschrift Ciceros zu entkräften. Zwar
trat er gegen Cicero fein auf, allein um so schärfer ging er gegen Cato
vor,') wie aus dessen Biographie von Plutarch zu ersehen ist (36). End-
lich das dritte der von Sueton erwähnten Werke, „Die Reise", beschrieb
in poetischer Form die Reise, die Caesar im Jahre 46 von Rom nach
Spanien zur Bekämpfung der Söhne des Pompeius unternahm. Auch Samm-
lungen von Reden Caesars gab es. Sueton erwähnt eine solche, die bereits
unechte Produkte aufwies, wie die Rede vor den Soldaten in Spanien.
Seiner Beredsamkeit erteilen Sachkenner das höchste Lob. Ferner waren
von seinen Briefen Sammlungen veranstaltet; Sueton führt deren mehrere
an, Briefe an den Senat, an Cicero, an Freunde. Li den Berichten an den
Senat führte er eine Neuerung ein, indem er das Papier nach Art einer
Schreibtafel in mehrere Blätter faltete. Manche Briefe über vertrauliche
Gegenstände waren in Chiffiren geschrieben.
Über die Schriften Caesars handelt Sueton in der Biographie Caesars in den Kap. 55
und 56. Macrobius erwähnt ein astronomisches Werk Caesars (1,16,39): Julius Caesar
siderum motus, de quibus non indoctos libros reliquit, ab aegyptiis disdplinis hausit. Ebenso
citiert ihn Plinins im Quellenverzeichnis zum 18. Buch und im Texte dieses Buchs, femer
Ptolemaeus und Lydus. Höchst wahrscheinlich war dieses Werk nicht von Caesar selbst
verfasst, sondern nur von ihm angeregt; daher das Schweigen Suetons über dasselbe.
Femer teilt uns Sueton in der Biographie des Terenz sechs Hexameter mit, welche über
die Dichtungsweise des Terenz handeln. Ob daraus auf eine litterarhistorische Schrift
Caesars zu schliessen ist oder ob wir hier nur ein Epigramm vor uns haben, ist zweifelhaft;
ich glaube eher das letztere ; wird er doch auch von Plin. ep. 5, 3, 5 unter den Dichtem
von Erotischem aufgezählt. Vgl. Tac. dial 21.
Andere Zeugnisse über die von Sueton angeführten Schriften sind: Fronte p. 221 N.
cogUes G. Caesarem atrocissimo hello GaUico (Übertreibung) cum alia muüa militaria tum
etiam duoa de Analogia libros scrupiäosissimos scripsisae; inter tela volantia (!) de nominibus
declinandis, de verborum aspirationibus et rationibus inter classica et tubas, Cic. Brut. 72,
253 qui (Caesar) etiam in maximis oceupationibus ad te ipsum, inquit in me (Cic,) in-
tuens, de ratione loquendi accuratissime scripaerit primoque in libro dixerit, verborum
') KöcHLY-RüsTOW, Einl. 91, 59. schrift auf Cato (Plut. Cat. min. 37).
') Auch von Munatius gab es eine Lob- ') Göttling, Opusc. p. 160.
Hirüns und andere Fortsetzer Caesars. 169
deledum oriffinem esse eloguentiae, — Flut. Gaes. 54 fy^mpe K^xigtay iyxaSfiioy Kätmyos —
xal noXXoig 6 Xoyog ^y ovd anov&ijs, tog sUog, vno tov deiyottttov tiSy ^rjroQioy eig xijy
xaXXiffTfjy nenoirjuiyog vno^eaiy, Tovto ijyia Kaiaaga xatijyoglay avjov yofilCoyta xoy
xov xed^ytjxotog oi avtoy htaiyoy: '^ga^Bv ovy noXXdg tiyag xccrtc tov Kdtiayog ahiag
cvyayaytSy, x6 di ßißXloy *j4ynxdx(oy iniyäyQonxai, — Gell. 17, 9, 1 Jibri sunt epistidarum
C Qiesaris ad C. Oppium et Balbum Cornelium, Als Einlagen finden sich Briefe
Caesars in der Atticussammlung: 9, 6, A.; 9, 7 C; 9, 13 A; 9, 16; 10, 8 B.
Litteratar: Die Fragmente der untergegangenen Schriften sind zusammengestellt
in NiPFEBDEYS grosser Ausg. p. 747, in Binters Ausg. Bd. 3. Schlitte, De C. Julie Caesare
grammatico, Halle 1865. Göttlivg, De Cic. laudatione Catonis et de Caesaris Auticatonibus,
opnsc. p. 153.
7. Hirtius und andere Fortsetzer Caesars.
121. Die Supplemente zu Caesars Commentarii* Die von Caesar
hint erlassenen Schriften waren in zweifacher Hinsicht unvollständig; es
fehlten die zwei letzten Jahre des gallischen Kriegs; somit war eine Lücke
zwischen dem gallischen Krieg und dem Bürgerkrieg vorhanden. Weiter-
hin fehlte eine Darstellung des alexandrinischen, afrikanischen und spani-
schen Kriegs. Diese Lücken wurden durch vier Supplementbücher aus-
gefüllt. Es sind folgende:
1. Das achte Buch des Bellum Gallicum. Der Verfasser beginnt
mit einem an Baibus gerichteten Brief, in dem er sich über seinen Plan,
Caesars Werke zu ergänzen und fortzusetzen, des Näheren ausspricht. Das
vorliegende Buch bespricht die Ereignisse der Jahre 51 und 50; ausdrück-
lich wird (48, 10) motiviert, warum abweichend von der Methode Caesars
die Geschehnisse zweier Jahre in einem Buch vereinigt sind. Die Ereignisse,
die uns vorgeführt werden, sind nicht von besonderer Wichtigkeit. Die
letzten Kapitel leiten zu dem Bürgerkrieg über. Am Schluss ist eine kleine
Lücke. Zu beachten ist, dass die Geschichte des Commius, die eigentlich
im 7. B. c. 75 u. 76 hätte behandelt werden sollen, hier nachgetragen wird
(c. 23, 3, c. 47 u. c. 48, 1 — 9.). Die Darstellung ist im ganzen etwas leblos
und monoton.
c. 48, 10 scio Caesar em singuhrum annorum singulos (dies gilt jedoch nur für den
gallischen Krieg) eommentarias coufecisse; quod ego non existimavi mihi esse f<tciendum,
propterea quod insequens annttSf L, Paulo, C. Marcello eonstdibus nullas habet tnagnopere
GaUiae res gestas. Über den Stil äussert sich Nipperdey Ausg. p. 13 also: desideramus
et elegantem illam facüitatem et vigorem atque alacritatem, — Lentitudinem enim quandam
et mediocritatem agnoscimus sine motu et, quod maxime reprehendas, sine varietate. Nam
immodice ea compositione usus est Hirtius, ut protasin per ,eum* particulam ineipientem apo-
dosi praemitteret, coniungeret autem sententias per pronomen relativum, quarum rerum illa
longa fere enuntiata effieit, utraque tardam et motu carentem orationem. Atque ut forma
complerionum varietate caret, ita ordo quoque verborum nimium saepe idem recurrit,
2. Das Bellum Alexandrinum. Dieses Buch behandelte zuerst
den alexandrinischen Krieg (1 — 33), dann den Feldzug des Domitius gegen
Phamaces (34 — 41), weiter den illyrischen Krieg (42 — 47), ferner die Un-
ruhen in Spanien (48—64), endlich die Besiegung des Phamaces durch
Caesar (65 bis zum Schluss). Aus dieser Inhaltsangabe sieht man, dass
der Titel nur einen Teil des Inhalts deckt. Unter den Supplementbüchem
ist dieses das bedeutendste.
3. Das Bellum Africanum. Aus dem vielen minutiösen Detail,
das uns der Verfasser bietet, ersieht man, dass derselbe den Krieg mit-
gemacht hat. Eine künstlerische Gestaltung des Stoffes fehlt in der
170 BömiBohe Litteratnrgesohichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Schrift. Der Verfasser legt die zeitliche Anordnung zu Grund, daduixh
wird aber Zusammengehöriges öfters getrennt und sind fortwährend Rück-
verweisungen geboten. Seine Unfähigkeit, den Stoff zu formen, kann sta-
tistisch nachgewiesen werden, 68mal gebraucht er interim, um die Rede
fortzusetzen. Auch die öftere Wiederholung derselben Phrase wie non
intermiUere und anderes lassen eine noch ungeübte Hand erkennen. Der
politische Standpunkt des Verfassers ist der caesarianische.
WöLPFLW, Sitzungsbericht d. Münchner Akad., Jahrg. 1889 1, 328 „Oberst Stoffel,
der im Auftrage Napoleons Afrika bereiste, um die Spuren Caesars zu verfolgen, bekennt,
dass der Verfasser des bellum Afr. die Lokalitäten und Terrainverhältnisse vorzüglich
schildere, dass er daher notwendig müsse Augenzeuge gewesen sein." Über die sprachlichen
Eigentümlichkeiten und das Historische der Schrift vgl. Fröhlich, das beUum Äfricanumy
Brugg 1872. Kohles, de auctarum belli afr. et hisp, latinUate Acta Erlang, 1, 377. Laxd-
GRAF 1. c. p. 37.
4. Das Bellum Hispaniense. Auch bei dieser Schrift, die uns in
einem sehr verdorbenen Zustand überliefert ist, steht fest, dass ihr Ver-
fasser den Krieg mitgemacht hatte. Wir haben es mit einem ungebildeten
Mann zu thun; mechanisch folgt er in der Darlegung der Ereignisse der
Zeit, ein künstlerischer Aufbau ist ihm gänzlich unbekannt. Auch die Be- ^
deutung der historischen Thatsachen vermag der Autor nicht abzuschätzen;
Wichtiges und Unwichtiges wird in gleicher Weise behandelt. Die Dar-
stellung schreitet in abgerissenen Sätzen vorwärts; die Sprache ist überladen
und niedrig; sucht sie einmal sich zu erheben, so fällt sie ins Lächerliche.
Seinem politischen Standpunkt nach ist der Verfasser Caesarianer.
Über Sprache uud historischen Wert der Schrift handelt sehr sorgfältig Deoeithabt,
De auctoris belli Hispaniensis elocutione et fide histarica, Würzb. 1877.
Von seiner Geschmacklosigkeit legen Gitate aus Ennius in c. 23 und c. 31 oder Ver-
gleiche wie c. 25 ut fertur Achillis Memnonisque congressus oder Übertreibungen wie c. 42
legiones, quae non solum vobis obsiatere, sed etiam caelum diruere possent Zeugnis ab.
122. Die Autorschaft der Supplemente. Das einzige Zeugnis, das
uns das Altertum über die Autoren der Supplementbücher überliefert hat,
rührt von Sueton her, der uns 56 berichtet, dass über den Verfasser des
alexandrinischen, afrikanischen und spanischen Kriegs Ungewissheit bestehe,
indem die einen die Autorschaft des Oppius, die andern die des Hirtius an-
nehmen. Sicher ist aber für Sueton, dass der Verfasser des achten Buchs
des gallischen Kriegs Hirtius ist; und unter dessen Namen wird daher
auch eine Stelle aus der Vorrede zu dem Buch angeführt. Mit dieser An-
gabe Suetons stimmt auch die handschriftliche Überlieferung; denn in
Handschriften verschiedenen Ursprungs findet sich der Name A. Hirtii am
Schluss des achten Buchs. In der dem Supplementbuch vorausgeschickten,
an Baibus gerichteten Vorrede gibt Hirtius von seinem Vorhaben, die Kom-
mentare Cäsars zu ergänzen und fortzusetzen, Aufschluss. Er will einmal
das Band zwischen den Kommentaren über den gallischen Krieg und den
Kommentaren über den Bürgerkrieg hergestellt, dann aber auch eine Fort-
setzung der Bürgerkriege von den alexandrinischen Unruhen bis auf den
Tod Caesars gegeben haben. Er spricht von seiner Absicht als einer bereits
durchgeführten und gebraucht zu dem Zweck Perfecta. Sonach müssten
wir sämtliche Fortsetzungen, wie das eingeschobene achte Buch, als ein
Werk des A. Hirtius ansehen. Allein diese Annahme ist unmöglich, es
Hirtiufl nnd andere Foriaetzer Caesars.
171
ist klar, dass die verschiedenen Supplemente gar nicht von einem Ver-
fasser herrühren können, es ist zweifellos, dass z. B. das bellum Hispaniense
nicht von dem Autor des achten Buchs geschrieben sein kann. Um sonach
den Widerspruch, in dem die Worte der Vorrede mit den Thatsachen stehen,
zu lösen, müssen wir annehmen, dass Hirtius den Brief an Baibus vor der
Durchführung seiner Absicht geschrieben, an der Vollendung aber durch
den Tod in der Schlacht bei Mutina (43) gehindert wurde. ^) Wir haben
daher nur die Autorschaft des achten Buchs als gelöst zu erachten; für das
bellum Alexandrinum, Africanum, Hispaniense gilt es noch, die Verfasser zu
ermitteln. Wir können hierbei von stilistischen Kriterien ausgehen. Solche
können wir für Hirtius, den die antike Tradition neben Oppius als Verfasser
der drei beüa bezeichnet, in Anwendung bringen, da wir in dem achten
Buch eine Probe seiner Schriftstellerei haben. Dagegen sind sie nicht an-
wendbar für C. Oppius. Wir wissen zwar, dass derselbe ein Leben Caesars
geschrieben (Suet. Caes. 53. Plut. Pomp. 18), allein es sind uns daraus nicht
solche Bruchteile erhalten, welche über den Stil des Oppius Aufschluss
erteilen könnten. Hier kommen uns aber äussere Kriterien zu Hilfe.
Sowohl der Verfasser des afrikanischen Kriegs als der Verfasser des spa-
nischen müssen diese Kriege mitgemacht haben. Ist dies richtig, so kommt
Oppius für keinen dieser Kriege in Frage, denn wie Nipperdey festgestellt
hat, war Oppius bei beiden Kriegen nicht beteiligt.') Für den afrikanischen
Krieg kommt auch Hirtius in Wegfall, denn nach eigenem Geständnis war
er diesem Krieg ferngeblieben. Legen wir nun den stilistischen Gesichts-
punkt zu Grund, so ersehen wir sofort, dass das bellum Africanum nicht
von dem Verfasser des achten Buchs herrühren kann,^) noch weniger das
bellum Hispaniense. Dagegen stellen sich unleugbare Ähnlichkeiten zwischen
dem achten Buch und dem bellum Alexandrinum heraus. Auf diese Ähn-
lichkeiten gestützt hat Nipperdey den Satz ausgesprochen, dass das bellum
Alexandrinum, wenn es auch an Lebhaftigkeit der Darstellung das achte
Buch übertreffe,^) doch denselben Verfasser, nämlich A. Hirtius, habe. Im
Anschluss hieran ergab sich der weitere Satz, dass das bellum Africanum
und das bellum Hispaniense nichts mit Hirtius zu thun haben, und dass
beide Supplemente verschiedenen Verfassern angehören. Diese Nipperdey-
schen Sätze wurden zum Gemeingut der Wissenschaft. Allein in neuester
Zeit erhob sich gegen dieselben von verschiedenen Seiten Opposition. Viel-
haber, E. Fischer, Fröhlich^) glaubten solche sprachliche Verschieden-
') Die Tmiy in der Hirtius seine Absicht
aosf&hren konnte, währte sonach vom Tod
Caesars (15. Mftn 44) bis 27. April 43.
^) Ausg. p. 10 Alexandriae sane ne Op-
pius quidem fuit cum Caesare, aed eo tem-
pore Bomae sive in Italia eommorabatur (Cic.
ep. ad Att. XI 7, 5; 8, 1; 14, 2; 17, 2; 18)
neqtie in Africam Caesarem camitatus est
(eiusd. ep. ad Farn. IX 6, 1). Itaque Oppius
leff€ttus, gni b, Afr. €8 commemoratur, nan
fuit hie Gaius Oppius, notus Caesar is fami-
liaris, Sed ne in Hispaniam quidem contra
Pompeii liberos Oppius cum Caesare profec-
tus est: nam Romas cum remansisse Cic. (epp.
ad Att.Xn 29,2; 44,4; Xin 19,2; 50) de-
monstratur,
') Phraseolog. Verschiedenheiten stellt
znsanunen Wölfflin 1. c. p. 328.
*) Ausg. p. 14 inter hos commentarios
differentiam quandam iniercedere confUendum
est, sed ea in sola compositione ifersatur.
Neque vero genus scribendi diversum est, sed
cum tUerque liber narrationem rerum gesteh
rum nudam habeat atque simplicem, posterior
(b. Afric.) venustior est magisque perpolUus.
Eae autem res nequaquam obstant, quominus
ab eodem scniptus sit.
^) Realiatisches und Stilistisches p. 30.
172 BOmische Litteraturgeschichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
heiten zwischen beiden Werken gefunden zu haben, dass zum mindesten
die Identität der Verfasser zweifelhaft erscheine. Auf einen neuen Gesichts-
punkt in der Frage machten Petersdorff und besonders H. Schiller auf-
merksam, nämlich dass die sprachlichen Verschiedenheiten auch durch die
verschiedenen Quellen in den verschiedenen Teilen der Erzählung ihre Er-
klärung finden können. Soweit war die Frage gefördert, als Landgraf
mit einer kühnen These in dieselbe eingriff. Der wesentliche Inhalt
dieser These ist, dass Asinius Pollio Redakteur und Herausgeber
des Gaesar-Hirtianischen Nachlasses und dass er Verfasser des
bellum Africanum ist. Der Beweis für die Behauptung ist lediglich ein
sprachlich-stilistischer, als Fundament dienen die in der Ciceronischen Brief-
sammlung erhaltenen drei Briefe des Asinius Pollio. (Ep. 10, 31, 32, 33).
Obwohl nun einige sprachliche Übereinstimmungen vorhanden sind, so ist
doch der Eindruck, den die Briefe machen, ein ganz anderer als der, den
das bellum Africanum hervorruft. Dort haben wir es mit einem der Dar-
stellung völlig mächtigen Mann zu thun, hier mit einem, der ein grosses
stilistisches Unvermögen an den Tag legt. Ein Mann, der 68mal interim
gebraucht, um die Rede fortzuleiten, ist ein stilistischer Stümper, als einen
solchen können wir uns den berühmten Kritiker, Redner und Historiker
Asinius Pollio nicht denken und in dieser Oestalt erscheint er auch nicht
in den Briefen. Noch von einer anderen Seite steht der These eine Schwie-
rigkeit entgegen. Bekanntlich schrieb Asinius Pollio eine Geschichte der
Bürgerkriege vom ersten Triumvirat an bis wohl zur Schlacht bei Philippi.
In diesem Werk musste also der afrikanische Krieg erzählt werden wie
der spanische erzählt war; und dass der letztere ausführlich behandelt war,
zeigt Suet. Caes. 55. Es müsste also zwischen beiden Werken in einer
wichtigen Partie völlige Übereinstimmung des Inhalts vorhanden sein.
Selbst wenn der Verfasser von seinem früheren Werk, dem bellum Afri-
canum geschwiegen hätte, was aber wenig wahrscheinlich ist, so hätte der
Mitwelt und auch der folgenden Zeit diese Übereinstimmung nicht entgehen
können, zumal die historiae des Asinius Pollio „bis in das zweite Jahr-
hundert nach Chr. in hohem Ansehen gestanden". ^ Der Urheber der These
bemerkt am Schluss seiner Betrachtung: „Wäre uns dieses Werk (über
die Bürgerkriege) überliefert worden, so wäre gewiss schon längst seine
(des Asinius Pollio) Mitwirkung auch an jenen Eommentarien entdeckt
worden. ** Ich denke, dass diese Entdeckung auch jene römischen Kritiker
machen konnten, welche die Frage der Autorschaft der Supplemente unter-
suchten. 2)
Sonach können wir die LANDORAF'sche Hypothese nicht billigen und
müssen bei den NippERDEY'schen Aufstellungen stehen bleiben; nur in einem
Punkte können und müssen dieselben modifiziert werden, nämlich dass in
dem bellum Alexandrinum, das eine Reihe von kriegerischen Operationen
auf ganz verschiedenen Schauplätzen darlegt, die Darstellung des Hirtius
je nach den Vorlagen, die von ihm benützt wurden, eine verschiedene
') WöLPFLIK 1. c. p. 325.
') Anders liegt die Sache bei der Bio-
graphie Caesars von Oppius; hier konnten die
Kriege sehr kurz behandelt werden, so dass
die Kritiker für ihr urteil keinen festen
Boden hatten.
HirtiuB imd andere Fortsetzer Caeears.
173
Färbung erhielt. Diese stilistischen Discrepanzen haben auch das Urteil
über die Autorschaft lange Zeit erschwert. Ö
Es bleibt noch die Frage übrig, wie sich die verschiedenen Supple-
mente zusammengefunden haben. Es ist möglich, dass die Supplemente
sich im Nachlass des Hirtius befanden oder auch dass solche erst später
hinzukamen. Für das bellum Africanum möchte ich das erstere annehmen,
für das bellum Hispaniense das letztere.
Suefc. Caes. 56 Alexandrini Africique et Hispaniensis incertus auetor est; aJii Oppium
putant, alii Hirtiutn, qui etiam Galliei belli noinsaimum imperfectumque librum suppleverit.
Weiter führt Sueton unter dem Namen Hirtius die Worte ciäeo probantur — acimus aus
der Vorrede an. Hirtius sagt in der Vorrede zu B. VIII: Caesaris nostri commentarios
rerum gestarum Galliae non eohaerentibiis superioribus atque insequentibits eius scriptis
contexuij navissimumque imperfectum ab rebus gestis Alexandriae canfeci usque ad exitum
non quidem civilis dissensionis, euius finem nullum videmus, sed vitae Caesaris. Die Dis-
krepanz, die zwischen beiden Stellen besteht, indem Sueton als den novissimtis imperfectus-
que Über „das von Caesar wohl begonnene, aber sicher nicht weit geführte achte Buch des
gallischen Krieges bezeichnet, in dem Brief des Hirtius unter denselben Worten das letzte
Buch des Bürgerkriegs gemeint ist,** beseitigt Hirsohfeld, Hermes 24, 103 durch die An-
nahme einer Lücke, die nach imperfectum etwa so auszufüllen sei imperfectum [supplevi;
tres (?) aliosj.
Die Abhandlungen, welche sich mit der Frage nach der Autorschaft der Supplemente
beschäftigen, sind folgende: Fröhlich, Das Bellum Africanum sprachlich und historisch
behandelt, Brugg 1872 (Bdbus, Vf. des b, Alexandr. p. 9). Realistisches und Stilistisches zu
Caesar und dessen Foitsetzem, Festschr. d. philolog. Kränzchens in Zürich 1887. Viel
HABSB, Zeitschr. f. Osten*. Gymn. 20, 547. Ed. Fischer, Das achte Buch vom gall. Kriege
und das bell, Alex,. Passau 1880. Pbtebsdobff, Zeitschr. f. d. Gymnasialw. 34, 215. Schilleb,
Bayr. Gymnasialbl. 16, 251. Landgbaf, Untersuchungen zu Caesar und seinen Fortsetzen!,
München 1888.
Seine Hypothese führt Lakdoraf im einzelnen so durch: Von Asinius Pollio rührt
her das bellum Africanum, welches sein Tag buch über diesen von ihm mitgemachten
Krieg enthält. Auch die Erzählung über die spanischen Unruhen, die Kap. 48 — 64 des b. Alex.
bilden, gehen auf einen Bericht Pollios zurück, der nur von Hirtius redigiert wurde und
an dem «nur relativ unbedeutende Änderungen ** vorgenommen werden (vgl. p. 63). In dem
achten Buch sind ausser kleineren Zusätzen von A. P. eingelegt die Kap. 23; 47; 48, 1 — 9
und die Schlusskapitel 58; 54; 55, die zum bellum civile überleiten. Die im 3. Buch des
b. civ. von Kap. 107 an vorhandene lückenhafte Darstellung Caesars vervollständigte A. P.
in den Schlusskapiteln 108—112; auch sonst sind noch Spuren der Pollionischen Thätigkeit
im bellum civile wahrnehmbar (vgl. p. 78). Dem eigentlichen bellum Alexandrinum (1 — 33)
liegen Aufzeichnungen Caesars zu Grund, welche von Hirtius und PoUio ergänzt und er-
weitert wurden. Für die erste Abteilung des bellum Ponticum (84—41) hatte Hirtius sehr
wenig ausgearbeitet, hier musste Pollio mit Ergänzungen stark eingreifen; weniges blieb
für Pollio zu thun übrig in den Abschnitten Über den illyrischen Krieg (42—47) und die
zweite Abteilung des pontischen Kriegs (65 — 76).
Hiezu nur noch einige Bemerkungen. Dass es ganz unmöglich ist, auf Grund des
geringen sprachlichen Materials, das zur Verfügung steht, solche ins Einzelne gehende Schei-
dungen des liiterarischen Guts vorzunehmen, dürfte kaum bestritten werden. Eine Zusammen-
stellung der Ähnlichkeiten, welche besonders beweisend sein sollen, findet sich p. 37. Es
sind: pro eontione dicere^ nuUum vestigium diseedere; quonam modOf in agris et in villis, die
Form nactus in der gleichen Verbindung mit occasio, utrobique, die Deklination des Nom.
propr, Bogud in der Verbindung regnum Bogudis, in potestate sua tenere, die Nachstellung
des Vornamens, der Gebrauch des Singulars legio bei Angabe mehrerer Legionen, der Ge-
brauch der Distributiva für die Cardinalia. cupidissime = libentissime, Umschreibung mit
facere, se ducere und subducere, depugnarCy pclHcitatio. Dagegen wendet R. Schnei deb ein
und zeigt durch Beispiele (Berl. philolog. Wochenschr. 9 [1889] nr. 2 p. 55), „dass sämtliche
Wörter und Wendungen, die Landobaf als specifisch poUionisch betrachtet, auch bei
an[dern Schriftstellern sich finden." Bei dem bellum Africanum kann der Urheber der
Hypothese die grossen Mängel der Komposition nicht abstreiten ; er sucht dieselben dadurch
zu erklären, dass er die Schrift für ein „ Tagebuch* erklärt, lülein dass ein solches nicht
^) Eine Ahnung hatte der vortreffliche
NiPPKRDKT auch hieven; denn er sagt p. 15
in priore Hbri parte, quae est de rebus Ale-
xandriae gestis, etiam Caesaris narrationi
nonnihil videtur tribuendum.
174 fiOmiflohe LüteratnrgeBchichte. 1. Die 2eit der fiepublik. 2. Periode.
vorliegt, erkennt man aus den eingestreuten Reden (c. 22, 85, 44, 54) und daraus, dass ja
der Verfasser von seiner Person ganz absieht, vgl. WGlfflin 1. c. p. 842. Auch die anonyme
Herausgabe, das vOUige Schweigen des Autors Über seine Person ist nicht probabel gemacht
worden. Gegen die Hypothese erkllirt sich neuerdings Köhler, Bayr. Gymnasialbl. 25, 516.
Überlieferung des Corpus Caesarianum. Die Überlieferung der im Corpus
Caesarianum vereinigten Schriften ist eine doppelte ; die acht Bücher des gallischen Kriegs
sind durch eine ältere, reinere, aber vielfach lückenhafte Quelle überliefert; daneben geht
einher eine jüngere, schlechtere und interpolierte Überlieferung, welche alle Denkschriften
(Caesars wie der Fortsetzer) enthält. Vgl. Nipperdby p. 87. Während die Konmientare
über den gallischen Krieg zu den bestüberlieferten (eine Einschränkung macht Bebgk, Zur
Geschichte und Topographie der Rheinlande p. 34, der für dieselben eine durchgreifende
Redaktion statuiert) Schriften des Altertums gehören (Nippbbdet p. 49), sind die übrigen
Kommentare ungemein verdorben (Maovio, Opusc. 1887 p. 579). Zur ersten Klasse gehören
der Amstelodamensis oder Bongarsianus s. lA oder K (A) und der Parisinus 5763 s. X (B),
zur zweiten der Thuaneus oder Parisinus 5764 s. XII (T) und der Ursinianus oder Vaticanus
3324 s. XII (ü). Eine Übersicht der Stemmata, wie sie von Nipperdey, Heller (Philol.
17, 508), Dbtlefsen (Philol. 17, 653), Fbiqell, Dittenbebobb (Gott. Gel. Anz. 1870 p. 14),
DiKTEB, Dübkeb, Holdeb aufgestellt werden, stellt übersichtlich Eusskeb in Bursians
Jahresber. 27, lat. Abt. p. 222 f. zusammen.
Ausgaben (mit knapper Auswahl): Epochemachende Ausgabe von Nippebdey mit
vorausgeschickten meisterhanen Quaestiones Caeaariaftae, Leipz. 1847 (Textausgabe Leipz.
1847; 2. Ausg., 1857). Dübnbb, Paris 1867. Em. Hopfmaiin, Wien 1856, 2. Aufl. 1890.
Fb. Kbanbb, Leipz. 1861 (B. Tauchnitz). B. Divtbb, Leipz. 1864—76 (Teubner). — Ausgaben
des bellum OaUicum (mit dem 8. Buch) von Fbioell, Upsala 1861, von Holdeb, Freib.
1882, von Whitte, Hanniae 1887 (unter dem Einfluss Madvigs stehend). Zahllose Schul-
ausgaben z. B. von Held, Kbakeb, Dobebeez, Waltheb u. a. C, Asinii Pollionis de belle
Africo cammentarius. Rec. Wölffliv et Miodonski, Leipz. 1889. Landobaf, Der Bericht
des C. Asinius Pollio über die span. Unruhen des J. 48 v. Gh. (Bell. Alex. 48 — 64), Erlang,
und Leipz. 1890.
Hilfsmittel: Die hervorragendsten Hilfsmittel sind die Lexika von Mebotjet zu
Caesar und seinen Fortsetzen! (Jena 1884), von Pbbuss zu den pseudocaesarischen Schriften
(Erlangen 1884), von Menge und Pbeuss {lexieon Caesarianum, Leipz. 1885), von Meusel
{lexicon Caesarianum, Berl. 1884), dann der Index von Holdeb in seiner Ausgabe. Die
Litteratur zu Caesar ist nahezu unabsehbar. Ein brauchbarer Führer ist JJLhns, Caesars
Konmientarien und ihre litterarische und kriegswissenschaftliche Folgewirkung, Beiheft zum
Militärwochenblatt 1883.
8. Cornelius Nepos.
123. Sein Leben. Cornelius Nepos wird von dem älteren Plinius
(n. h. 3,127) als Anwohner des Po bezeichnet; nach dem jüngeren Plinius
4,28 war er ein Angehöriger des Municipiums, dem auch der „Insubrer''
Titus Catius entstammte. 0 IBr ist daher den Transpadanern beizuzählen,
welche damals in der römischen Litteratur eine hervorragende Stellung
einnahmen. Als solcher war er befreundet mit Catull, der ihm durch die
Widmung seiner Gedichte ein unvergängliches Denkmal setzte. Auch mit
Atticus, mit dem er ungefähr gleichen Alters war (Corn. Nep. 25, 19, 1),
unterhielt er sehr enge Beziehungen. Dass er auch dem Cicero nahe stand,
davon legte ein eigens publizierter Briefwechsel desselben mit ihm Zeugnis
ab (Macrob. 2, 1, 14).^) Vom politischen Leben scheint er sich wie Atticus
gänzlich zurückgezogen zu haben; wenigstens war er nicht Senator (Plin.
ep. 5, 3, 6). Aus einer Stelle Frontos müssen wir schliessen, dass er wiederum
wie sein Freund Atticus sich mit Buchhandel abgab. Cornelius Nepos er-
reichte ein hohes Aller.
über das Leben des Cornelius Nepos handelt vortrefflich Nippebdey in der Einleitung
») Vgl. MoMMSEN, Herrn. 3, 62.
') In den vorhandenen Briefen wird G. N. von Cic. erwähnt ad Att. 16, 14, 4; 16, 5, 5.
ComeliiM Hepoa.
175
ZU seiner Ausgabe. Vgl. ftitch Unoeh, Der sog. Comel. Nep. p. 8 — 12. Die lückenhafte
Stelle Frontos Nab. 20, 7 lautet: quorum libri pretiosiores habentur et aummam gJoriam
retinent, 8i sunt a Lampadione aut Staherio atU , . , td aut [Tirone] aut Aelio . . . atU
Attico aut Nepote.
124. Die Feldhermbiographien. In Handschriften sind uns 23 Bio-
graphien nichtrömischer Feldherm (darunter nr. 21 eine Skizze über die
Feldherrn, welche zugleich Könige waren) unter dem Namen des Aemilius
Probus überliefert. Hieran schliessen sich zwei Biographien Atticus und
Cato an, ^) welche als einem Buch des Cornelius Nepos über lateinische Histo-
riker entnommen sich darstellen. Auf dasselbe Buch des Cornelius Nepos
werden zwei Fragmente aus einem Brief der Cornelia, der Mutter der
Graechen zurückgeführt.^) Über den Aemilius Probus gibt uns lediglich
Aufschluss ein Epigramm von sechs metrisch mehrfach fehlerhaften Disti-
chen, in dem ein Probus einem Kaiser Theodosius ein Buch (corpus) sendet,
an dem er, sein Vater und sein Orossvater geschrieben. Da aber aus-
drücklich als Inhalt des Buches „Gedichte" (carmina) angegeben werden,
so folgt, dass das dem Theodosius übersendete Buch gar nichts mit unsern
Feldherrnbiographien zu thun hat und dass Probus weder der Schreiber
noch der Verfasser derselben sein kann. Und selbst ein flüchtiger Blick
genügt, um zur Überzeugung zu gelangen, dass unser Buch nicht in die
Zeit eines Theodosius, mag es der erste (379—395) oder der zweite (408 — 450)
sein, fallen kann. Der Name Probus ist also nur durch einen Irrtum mit
den Feldhermbiographien verknüpft worden. Der Hergang dürfte folgender
gewesen sein: Zur Füllung eines leeren Raums der mit der 23. Biographie
schliessenden Seite wurde jenes Epigramm verwendet; es muss ursprüng-
lich die jetzt verloren gegangene Überschrift Aemilius Probus gehabt haben,
denn diese (nicht bloss Probus) finden wir an der Spitze und am Schluss
des Feldherrnbuchs. Ein flüchtiger Leser des Epigramms machte den
unrichtigen Schluss, dass dieser Aemilius Probus der Verfasser des Feld-
hemibuchs sei, und setzte an Stelle des richtigen Autors den falschen;
vielleicht war aber auch der Name des Autors verloren gegangen. Sonach
steht uns für die Autorschaft des Feldherrnbuchs kein brauchbares hand-
schriftliches Zeugnis zur Verfügung; wir müssen daher den Verfasser durch
Kombination ermitteln. Mehrere Stellen führen deutlich auf die Zeit des
Übergangs von der Republik zur Monarchie (17, 4, 2; 18, 8, 2; 1, 6, 2), ja
genauer betrachtet scheinen sich die zwei letzten auf das Ende des J. 36
v. Ch. zu beziehen. 3) In dieser Zeit lebte T. Pomponius Atticus und einem
Atticus ist das Feldherrnbuch gewidmet; in dieser Zeit lebte aber auch
Cornelius Nepos, der mit Atticus sehr befreundet war und ein Buch über
berühmte Männer (mit verschiedenen Abteilungen) geschrieben hatte. Muss
uns schon dieses Zusammentreffen die Annahme, dass Cornelius Nepos der
Autor der Feldherrnbiographien sei, nahelegen, so wird diese Annahme
zur Gewissheit, wenn wir sehen, dass zwischen den von der Überlieferung
dem Cornelius Nepos zugeteilten Biographien des Cato und des Atticus
und dem Feldherrnbuch in Stil, Komposition und Gedanken Übereinstim-
') über diese handschriftliche Reihen-
folge Roth, Aem. Prob. p. 149.
') Wir haben über dieselben § 74 ge-
handelt.
>) Vgl. RosENHAUBB p. 738 und p. 751.
176 IftOmiBche Lüteratnrgeschiolite. L Die Zeit der Republik. 2. Periede.
mung besteht. Eine solche tritt uns aber so eindringlich entgegen, dass
die Identität des Verfassers nicht geleugnet werden kann. Oifanius hatte
daher 1566, als er die Feldherrnbiographien unserm Cornelius Nepos zu-
erkannte, das Richtige gesehen.
Die anderen Wege, die eingeschlagen wurden, den Verfasser des Feldhermbachs zu
bestimmen, sind verfehlt. An Aemilius Probus als Verfasser hält Rinck fest; in sehr aus-
führlichen, Roths Ausgabe vorausgeschickten Prolegomena sucht er die These zu erweisen
(p. XXXV): Äemilium Prdbum aevo Theodosiano sine fratide nomine C&rn, Nepotis libf*um
de exeeUentibus dticibus scripsisae, mutilumque opus Carnelianum de viris illustribtis supple-
visse, sictdi Hirtius commentarios Itäii Caesaris et Freinshemius Curtii historiam de Ale-
xandra supplevU. Allein von aUem andern, wie Stil, Zeitanspielungen, abgesehen, widerlegt
diese Ansicht schon die kurze Bemerkung Lachmakks, Kl. Sehr. 2, 188, dass nach dem
Epigranmi Frobus nicht vitas, sondern carmina an seinen Kaiser schickt. In der neuesten
Zeit ist eine andere Hypothese an den Tag getreten; ünobb will nämlich in einer gelehrten
Abhandlung „Der sogenannte Cornelius Nepos (Abb. der Münchner Akad. 16. Bd. I.Abt
1881)" den Nachweis liefern, dass nicht Cornelius Nepos, sondern Hygin der Autor des
Feldhermbuchs ist. Allein dass diese H3rpothese sowohl in ihrem negativen als in ihrem
positiven Teil irrig ist, hat ebenso bündig wie schlagend Rossnhaueb, Fhilol. Anzeiger 13,
733 — 759 nachgewiesen. Man vgl. nur z. B. die Tafel, in der die sprachlichen Überein-
stimmungen des Feldherm- und des Historikerbuchs zusammengestellt sind, und man wird
RosBNHAUER beistimmen, „dass sich nicht leicht unter zwei verschiedenen Schriften irgend
eines andern Autors eine solche Fülle sprachlicher Übereinstimmung findet, wie sie uns
hier vorliegt" (p. 758). Vgl. Liebebkühn, Vindicuie, Leipz. 1844 p. 106. Lupus, Fleckeis.
J. 1882 n. 379 (Der Sprachgebr. des C. N., Berl. 1876). Die Ansicht, dass wir im Feld-
hermbuch (wie im Cato) Exzerpte aus dem biographischen Werke des Cornelius Nepos
haben (vgl. H. Haupt, de auctoris de viris iUttstribus libro p. 39 u. a.), ist niemals ein-
gehend begründet worden. Noch ist eine Vermutung Bebgks, Opusc. 2, 729 nr. 33 zu er-
wähnen. Da das Epigramm nur einen Probus, Überschrift und Unterschrift des Feldherm-
buchs aber den Namen Aemilius Probus aufweist, so glaubt Bbbok, dass Aemilius aus
einem missverstandenen Em(endavi) Probus entstanden sei. Da aber neben dem Epigramm
sich eine solche subseripiio schwer annehmen lässt, so ziehe ich die Deutung Lachmanns
(1. c), dass das Epigramm ursprünglich eine jetzt verlorene Überschrift (Aemilius Probus)
gehabt habe, vor.
125. Die Struktur des biographischen Werks des Nepos. Das
Werk über die berühmten Männer (de viris illustribus) umfasste mindestens
16 Bücher, denn dieses Buch wird noch von Gharisius citiert (1,220). Es
handelt sich nun darum, den Aufbau des Werkes festzustellen. Da Nepos
am Schluss des Feldherrnbuchs (23,13,4), in dem griechische und andere
ausländische Feldherrn geschildert werden, zu den römischen Feldherrn
überzugehen verspricht, da wir ferner ein Buch über lateinische Historiker
kennen, in dem die Biographien des Cato und des Atticus standen, und
10,3,2 auf ein solches über griechische Historiker verwiesen wird, so
müssen wir folgern, einmal dass die berühmten Männer nach Kategorien
behandelt waren, dann dass in jeder Kategorie zuerst die Ausländer
(Griechen) geschildert wurden, dann die Römer in einem zweiten. Es
erübrigt noch festzustellen, welche Kategorien ausser den Feldherrn und
den Historikern aufgestellt waren. Aus dem Feldhermbuch erfahren wir
(21, 1), dass eine eigene Kategorie die „Könige** bildeten und vor den
Feldherm standen (10,9,5). Die Fragmente*) weisen „Dichter" (23) und
„Grammatiker** auf (30). Wir erhalten also 5 Kategorien: Könige, Feld-
herm, Historiker, Dichter, Grammatiker mit 10 Büchern insgesamt. Da
aber das Werk aus mindestens 16 Büchern bestand, so fehlen uns noch
drei Kategorien. Wahrscheinlich wurden diese von Staatsmännern, Rednern
*) Wir eitleren dieselben nach Halx.
Comelins NepoB. 177
und Philosophen gebildet. Die Reihenfolge der Kategorien kann nicht mit
Sicherheit eruiert werden. Doch ist der Aufbau, wie ihn Nipperdey ent-
worfen hat, sehr wahrscheinlich: 1) Könige, 2) Feldherm, 3) Staatsmänner
(Nxppebdey: Juristen),*) 4) Redner, 5) Dichter, 6) Philosophen, 7) Geschicht-
schreiber, 8) Grammatiker. Jedes dieser Fächer umfasste zwei Bücher.
Da die Ausländer den Inländern vorausgingen, so fallen die Bücher mit
ungeraden Nummern auf die ausländischen, die mit geraden auf die römi-
schen Berühmtheiten. Dass noch andere Klassen von Beiiihmtheiten be-
handelt waren, lässt sich nicht erweisen.
Dieser Anordnung steUen sich einige Schwierigkeiten entgegen. GeUius citiert n&m-
lieh 11, 8, 5 das Buch über die lateinischen Historiker als XIII.; femer wird im Feldherm-
bnch 10, 3, 2 auf den liber über die griechischen Historiker in der Vergangenheit hinge-
wiesen (expasita sunt). Die zweite Schwierigkeit l5st sich durch die Anmjune, dass Nepos
nach einem fertig vorliegenden Plane schrieb und dass das Werk nicht successiv erschien ;
die erste dagegen durch die Schreibung XUII statt XIU. Eine neue Kategorie .Eflnstler*'
wollte H. Bruvk hinzufügen, Sitzungsb. der Mflnch. Akad. 1875 p. 311. Mit Unrecht vgl.
ÜBLiCBS, Burs. Jahresb. 1876 H p. 18.
Das Werk erschien in zwei Ausgaben, wie aus folgendem ersichtlich: Das Feld-
hermbuch wendet sich in der Vorrede an Atticus, setzt also denselben als lebend voraus;
im Leben des Hannibal dagegen findet sich c. 13 eine Äusserung {Atticus — in annali suo
scriptum reliauit), nach welcher Atticus gestorben sein muss, vgl. Asbach, Analeeta, Bonn
1878 p. 34. Ebenso ist die Biographie des Atticus im Historikerbuch bis zum 18. Kap. bei
Lebzeiten desselben herausgegeben worden, das übrige nach seinem Tode, der im J. 32
eiatrat. Wir haben also zwei Ausgaben, die erste erschien vor dem J. 32, die andere
nach diesem Jahre. Und zwar erschien die erste Ausgabe nicht lange vor 32, etwa 35
oder 34, vgl. Nippebdby p. XVn, Rosenhaübb p. 739.
Die zweite Auflage erschien zwischen 31 — 27, denn Octavian hatte bereits den Titel
Imperator, aber nicht den Titel Augustus (25,19,2). Die Verftndemngen der zweiten Auf-
lage gibt Cornelius Nepos fttr das Historikerbuch selbst an; er fügte die Kapitel 19, 20,
21, 22 im Leben des Atticus hinzu. Wahrscheinlich ist auch, dass in dem Vorausgehenden
die Stellen, in denen er von den Gewohnheiten des Atticus in der Vergangenheit s^cht,
jetzt erst diese Zeit erhielten. Die erste Auflage des Feldhermbuchs schloss aller Wahr-
scheinlichkeit nach mit der Skizze über die KOnige, denn diese bilden gewissermassen einen
Anhang zu den Feldherrenbiographien. Da nun dieser Skizze die Biographien Hamilcars und
Hannibak nachfolgen, so scheinen dieselben mit der Stelle 21, 3, 5 erst in der zweiten
Ausgabe hinzugekommen zu sein. Auf dieselben wurde aber bereits 13, 4, 5 hingewiesen.
126. Die verlorenen Schriften. Auch die übrige Schriftstellerei
des Nepos — von seinen erotischen Gedichten, deren Plin. ep. 5, 3, 6 ge-
denkt, haben wir p. 155 gesprochen — bewegt sich auf dem Gebiete der
antiquarisch-historischen und der verwandten geographischen Forschung.
Das älteste Werk war eine Chronik in drei Büchern; dieselbe erwähnt
Catull in dem Widmungsgedicht; sonach war sie nicht nach spätestens
52 V. Chr. geschrieben. Nach den wenigen erhaltenen Fragmenten zu
schliessen, gab hier Cornelius nicht bloss die wichtigen Daten aus der
römischen, sondern auch aus der ausländischen Geschichte (fr. 8). Auch
die mythischen Zeiten waren behandelt und zwar, wie fr. 3 zeigt, mit
rationalistischer Tendenz. Eine litteraturgeschichtliche Angabe (über Ar-
chilochus) enthält fr. 6. Muster dürfte die in Versen abgefasste Chronik
des ApoUodor gewesen sein; ihre Benützung wenigstens zeigt fr. 5. Weiter-
hin schrieb Nepos „Beispiele*^ (exempla) in mindestens 5 Büchern (Gell.
6, 18, 11). Dieselben fallen nach 43 v. Chr., wenn das, was Sueton Aug. 77
erzählt, in diesem Werke stand. Die erhaltenen Fragmente berühren
') Vgl. RoSBKHAinER, p. 740.
BMklbnch der kUw. AltertumawiMcnachaft. VUI. 12
178 BOmiBohe Litteraturgefichiclite. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
grösstenteils Kulturhistorisches; z. B. nr. 17 über das Aufkommen der ver-
schiedenen Purpurarten, nr. 14 über die Verwendung des Marmors, nr. 12
über die Zeit, wann die Schindelbedachung abgekommen u. a. Von Pom-
ponius Mela und dem älteren Plinius wird öfters Cornelius Nepos für geo-
graphische Angaben angeführt; wir müssen daher auch ein geographisches
Werk des Cornelius annehmen. Dasselbe war aber unkritisch, wie aus
dem Tadel des Plinius n. h. 5, 1, 4 hervoigeht. Endlich verfasste er eine
Monographie über den alten Cato (Corn. Nep. 24, 3, 5) und eine Bio-
graphie Ciceros (Gell. 15, 28).
127. Charakteristik des Cornelius. Die hervorstechenden Eigen-
tümlichkeiten der Schriftstellerei des Cornelius Nepos sind, dass sie über
das Römische hinausgreift und auch das Ausländische beizieht, dann dass
sie vorwiegend das biographische und kulturgeschichtliche Moment pflegt.
Sein schriftstellerisches Talent können wir nur aus den Überresten seines
biographischen Werks beurteilen. Das erste, was der Würdigung unter-
stellt werden muss, ist der Aufbau desselben nach Fachwerken. Zu diesem
Zweck war es notwendig, einmal die Fachwerke richtig auszuwählen und
dieselben passend zu ordnen, dann für jedes Fachwerk die hervorragendsten
Persönlichkeiten auszusuchen und die ausgesuchten in eine natürliche Reihen-
folge zu bringen. Wie hat Nepos diese doppelte Aufgabe gelöst? Die
erste anlangend können wir nur ein bedingtes Urteil abgeben, da hier die
Überlieferung uns zu wenig Daten an die Hand gibt. Wenn aber Nipper-
dey's Aufstellung das Richtige getroffen hat, so dürfte unser Autor keinem
erheblichen Tadel begegnen. Nur einmal zeigt es sich, dass ihm sein Fach-
werk Schwierigkeiten bereitet. Der Aufbau desselben beruht nämlich
darauf, dass den Königen die Nichtkönige gegenübergestellt werden, nach
den Fächern des Wissens und Könnens geschieden. Allein trotzdem kommt
er in dem Feldhermbuch auf die Könige zu sprechen, welche zugleich
Feldherrn waren. Nur mangelhaft hat Nepos die zweite Aufgabe gelöst,
weder ist die Auswahl der Berühmtheiten in den einzelnen Fächern durch-
weg eine glückliche zu nennen, es fehlen auf der einen Seite hervorragende
Personen, andererseits sind minderbedeutende aufgenommen; noch ist die
Reihenfolge der Biographien eine naturgemässe, der Autor scheidet nicht
scharf die zwei Klassen der ausländischen Feldherrn, Griechen und Nicht-
griechen; ja er spricht einmal sogar unkorrekt von Griechen, obwohl er
auch Nichtgriechen unter den ausländischen Feldherrn behandelt hatte (21, 1).
Nachdem einmal der Autor beschlossen hatte, seine Biographien nach Fach-
werken anzuordnen, so musste bei der Ausführung seine erste Aufgabe sein,
in jeder Biographie die Seite in den Vordergrund zu stellen, welche auf
das betreffende Fach hinweist. Auch dies ist nicht beachtet worden. Man
sieht, das Fachwerk ist nur ein äusserer Rahmen, dasselbe hat nicht be-
stimmend auf die Komposition eingewirkt. Aber auch abgesehen davon
sind die Biographien keine Meisterwerke. C. Nepos ist nicht im stände,
ein adäquates Lebensbild zu zeichnen; er verfahrt nicht psychologisch,
sondern äusserlich-schematisch. Das Anekdotenhafte tritt stark hervor.
Es fehlt ihm der weite Gesichtskreis und der höhere Massstab; nur zu
leicht lässt er sich gerade von der Persönlichkeit, die er behandelt, zu
C. SallaBiilis CriBpuB. 179
einer Überschätzung der Bedeutung derselben hinreissen; im Zusammen-
hang damit steht, dass er lieber das Rühmliche als das Tadelnswerte an
seinen Helden hervorhebt, was für ein liebevolles Gemüt, aber nicht für
einen scharfen Geist spricht. In den historischen und geographischen Daten *)
ist er ungemein nachlässig, Verwechslungen, Auslassungen, Widersprüche,
Unrichtigkeiten finden sich das ganze Buch hindurch. Quellen werden
mehrere namentlich aufgezählt; allein es ist sehr fraglich, ob sie alle wirk-
lich benützt wurden; wenigstens ist 7, 11, 1, wo er drei Quellen nennt,
nachzuweisen, dass er nur eine herangezogen hat.^) Der Stil ist der
schlichte, der sich frei hält von grosser Periodologie und sich in einem sehr
beschränkten Wortschatz bewegt. Derselbe ist aber durch das Rhetorisch-
zugespitzte imd Zierliche gehoben. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es
der Stil der Jungattiker.
Vorzüglich handelt über Nepos die Einleitung Nippbbdets zu seiner Ausgabe; von
ihr hat jede Betrachtung des Autors auszugehen. Zu der Quellenfrage vergleiche Wichebs,
disquisitio eritica de fontibus et auctoritate C. N,, Groning. 1828. Ekkeb, de fontibus et
auetaritate C. N, in Nova Acta soc. Rheno-Traiect. lü (1828) p. 193. Fbeui>skbbbo, Quaest.
higt, in C. N, vUas, EOln 1889, Bonn 1842. Göthe, Die Quellen des N. zur grieoh. Ge-
schichte, Glogau 1878. Habhkel, Die Quellen des C. N. im Leben Hannibals, Jenaer Diss.
1888. Hiezu kommen die Abhandlungen, welche die Quellenfrage des C. N. in Verbindung
mit andern Autoren darlegen, z. B. Lippelt, Qwiest, biographicaej Bonn 1889.
Überlieferung: Die Überlieferung beruht auf zwei Familien; der beste Codex, der
Cod. Gifanii oder Danielis ist verloren; unser Repräsentant der besseren Familie ist jetzt der
Cod. Parcensis in LOwen (s. XV). Zalilreich sind die Handschriften der zweiten, geringeren
Familie; bestes Exemplar der Gudianus 166 in Wolfenbüttel (s. Xn/UI). Über die Hand-
schriften Roth Ausg. p. 207, Rh. Mus. 8, 626. Gemss, philol Wochenschr. IX p. 801—804.
Ausgaben: Aus der ungeheuren Zahl hebe ich folgende heraus: Lambin, Par. 1569
Aemilius Prabus et Cornelii Nepotis quae supersunt, £. J. Roth (mit den Proleg. von
Rikck), Bas. 1841. Ausgabe von Halk mit hnt. Apparat, Leipz. 1871 (Flbos:eisen 1884).
NiPPBBDBY (Textausgabe mit Apparat), Berl. 1867. Cobst 1881. Akdbbsbk, Leipz. 1884.
A. Weidker, Leipz. 1887. Obtxakv, Leipz. 1886 u. a. Von den erklärenden Ausgaben
ist unstreitig die beste die von Nipperoet, Leipz. 1849. Sie kontrolliert fortwährend die
historischen Angaben des C. Nep. und enthält eine Fülle treffender sachlicher und sprach-
licher Bemerkungen. Ergänzend treten hinzu die spicilegia eritica (jetzt gesammelt in den
Opusc., Berl. 1877), welche Nippebdbt als feinen Beobachter des Sprachgebrauchs und ganz
hervorragenden Kritiker darthun, so dass Halk mit Recht sagen konnte : nemo post Lam-
binum melius de Nepote emendando meruit.
9. C. Sallustius Crispus.
128. Sein Leben. C. Sallustius Crispus stammt aus der sabinischen
Stadt Amiternum. Als sein Geburtsjahr werden wir das Jahr 86 v. Ch.
anzunehmen haben. Seine politische Laufbahn begann er mit der Quästur.
Volkstribun wurde er im Jahre 52, als solcher sprach er sehr heftig gegen
Milo in den bekannten Händeln. Im Jahr 50 wurde er von dem Censor
Appius Claudius Pulcher aus dem Senat ausgestossen (Dio 40, 63). Der
Grund war sein anstössiger Lebenswandel. Ein Faktum ist uns überliefert.
Varro erzählte in einem Logistoricus „Pius de pace*', dass Sallust von
Milo im Ehebruch mit dessen Frau (Fausta) ertappt, mit Ruthenstreichen
gezüchtigt und gegen eine Geldentschädigung frei gegeben worden sei
{Gell. 17, 18). Von Caesar wurde er durch Verleihung der Quästur wieder
in den Senat aufgenommen. Er übernahm dann mehrere militärische Kom-
») Vgl. ÜN6BB p. 20 und p. 28.
') G6THE, Die Quellen des C. N. p. 19.
12*
180 Bömiache LitteratnrgeBohiclite. I. Die Zeit der Republik, 2. Periode.
mandos; wir finden ihn in Illyrien, wo er mit Basilus gegen Octavius und
Libo kämpfte, aber besiegt wurde. Dann wurde er zur Unterdrückung
einer Meuterei der Soldaten nach Campanien geschickt (47), wo er fast
ums Leben gekommen wäre. Im afrikanischen Krieg ist er als Prätor bei
Operationen zur See verwendet (b. Afric. 8 und 34); er blieb dann als pro
consule cum imperio in dem vormaligen Königreich Jubas, in Africa nova.
Hier hatte er durch grosse Erpressungen sich so bereichert, dass er die
Tiburtinische Villa Caesars kaufen^) und die nach ihm benannten Gärten
(Tac. A. 13, 47 ; Vitruv. 3, 2) auf dem Quirinal anlegen konnte. Dem politi-
schen Leben blieb er von da an fern und beschloss sein noch übriges Leben
der Oeschichtschreibung zu widmen. Bezüglich des Todesjahrs ist die
glaubwürdigste Angabe die, nach welcher dasselbe das Jahr 34 (oder 35) ist.
Sein Adoptivsohn und Grossne£fe, ein vertrauter Freund des Augustus,
wird uns von Tacitus A. 3, 30 charakterisiert und ist bekanntlich der in der
Ode 2, 2 des Horaz Angeredete.
Hieronymus 2, 133 Sghokne fügt zu dem Jahr 87 das Geburtsjahr des Sallust; und
der codex Freherianus zu dem J. 86. Das Chronic. Paschale 1, 347 gibt als Greburtsjahr
des Sallust unter Angabe der Konsuln ebenfalls 86 an. Über das Sterbjahr differieren die
Quellen. Hieron. stellt p. 139 zu dem J. 36 die Notiz : SaUustius diem obiit quadriennio ante
Actiacum bellum. Das Chronicon Paschale dagegen verlegt den Tod (wiederum unter An-
gabe der Konsuln) ins Jahr 39. Ascon. p, 33 K. Seh. Inter primos et Q. Pampeiua et C.
Sallustius et T. Munatius Plancua tribuni plebis inimicissimas eontiones de Miione habe-
bant, invidiosas etiam de Cicerone, quod Milonem tanto studio defenderet, Invect. in Sali.
6, 17 Saüu8tiu8, qui in pace ne Senator quidem manserat, posteaquam res publica armis
oppressa est, idem a Victore, qui exsules reduxU, in senatum per quaesturam reductus est.
Vgl. MoMMSEN, R. Staatsr. 2, 1, 396 Anm. Oros. 6» 15, 8 Basilus et SaUustius cum singulis
legionibus, gutbus praeerant, — adversus Octavium et Libonem profecti et victi sunt. Dio
Cass. 42, 52 rd di drj argaioneda ov/ ijavxß avtov haqa^sv — itf KafJinaviif dk ol nXeiovg
avrtjy cJs* xal ig rtjy ^JtpQixrjv nQonXevcovuByot rjcav ' ovxoi, ovr rov xb £aXovanoy nag*
oXlyov dnixxBivav — xai insidij xai ixiiyog diaq>vyaiy avxovs ig xrjv 'Poiuijy ngog xov
Kttiaaga üigfÄtjae, xd yiyvofjtevd ol drjXioatoy, ifpitmovxo XB avx^ av^vol fXfjoByog <fBMfAB~
voi, xai a)iXovg xB xtay ivxvxovxmy atpiai xal ßovXßvxdg dvo Batpa^ay. Vgl. App. b. civ. 2,
92. Bell. Afric. 97 ex regnoque (Jubae) protdncia facta atque ibi SaJlustio pro consule
cum impeiHo relicto ipse (Caesar) Zama egressus Uticam se recepit,
129. Die Monographie über die catilinarische VerschwOning
(Bellum Catilinae). Nicht die gesamte römische Geschichte nahm sich
Sallust nach seinem Abgang aus dem politischen Leben zum Ziel, sondern
nur einzelne Partien. Zu diesem Zweck hatte er sich von dem be-
rühmten Philologen L. Ateius einen Abriss der römischen Geschichte ver-
fertigen lassen. Zuerst lenkte er seine Blicke auf ein durch die Neuheit
der Ruchlosigkeit und des Wagnisses bemerkenswertes Ereignis (c. 4), auf
die Catilinarische Verschwörung. Als er dieselbe schrieb, war Caesar
bereits tot; denn den Tod Caesars setzt die schöne Schilderung voraus,
die er von ihm entwirft (54,1 — 4). Als Quellen konnte er benützen die
Senatsakten, die Ciceronischen Reden, die Schriften Ciceros undAtticus' über
des ersteren Konsulat, die an Pompeius gerichtete Denkschrift Ciceros über
den gleichen Gegenstand, die Litteratur über den jüngeren Cato*) u. a.
Auch aus eigenen Erinnerungen und aus Mitteilungen von Zeitgenossen
*) Invect. in Sali. 1, 19. Jordak hfilt
Hermes 11, 325 ohne Grand Tiburti für ein
Glossem und den Erwerb einer Villa des Cäsar
und j,der Übrigen Besitzungen** für erfunden.
^) DüBi, Die jüngeren Quellen der ca-
tilinarischen Verschwörung in Fleckeis. J.
113, 851. {De S. fontibus ac fide, Bern 1872.)
C. SallnstinB Grispiui. 131
konnte er reiches Material schöpfen. Allein eine gewissenhafte Benützung
dieser Quellen unterliess Sallust. Ihm war es mehr darum zu thun, ein
lebensvolles Gemälde, das den Leser packt, zu entwerfen, glänzende Cha-
rakterschilderungen zu geben als die Ereignisse mit Sorgfalt im einzelnen
festzustellen. Wir finden grosse chronologische Verstösse. So ist längst
bemerkt worden, dass er die Verschworenenversammlung bei dem Senator
M. Porcius Laeca und das Attentat auf Cicero vor dem senatus consuUum
i///mum geschehen sein lässt (27,3 — 28,3), während diese Ereignisse nach
demselben fallen. ^ Aber auch die ganze Grundlage der Erzählung ist
durch einen chronologischen Irrtum Sallusts eine schwankende geworden.
Der Historiker verlegt nämlich den Anfang der Verschwörung ins Jahr 64,
also vor die Konsularkomitien filrs Jahr 63, bei denen Catilina als Be-
werber auftrat. Allein diese Datierung ist unrichtig, erst die Niederlage
Catilinas bei den Konsularkomitien für 62 war die Veranlassung der cati-
linarischen Verschwörung; ihre Entstehung fällt also nicht in das Jahr 64
(17, 1), sondern 63. Die Folge ist, dass ein Ereignis, das sich in wenigen
Monaten abspielt, sich jetzt durch einen Zeitraum von über ein Jahr hin-
durchzieht.^) Eine ganze Reihe von unrichtigen und schiefen Auffassungen
ist dadurch bedingt. Es kann also, wie bereits oben angedeutet, die Be-
deutung der Monographie nicht in der Treue der historischen Erzählung,
sondern in der Kunst der Darstellung gesucht werden. Die Charakteristik
der Sempronia, die des Catilina, die Reden Caesars und Catos, das Pro-
oemium und die Exkurse werden auf jeden Leser einen grossen Eindruck
machen. Den politischen Standpunkt des Autors kennzeichnen seine Aus-
fälle gegen die Optimatenpartei; auch seine Vorliebe für Caesar ist be-
sonders aus dem Schweigen über gewisse Vorgänge ersichtlich; allein die
Monographie mit Mommsen »als politische Tendenzschrift anzusehen, welche
sich bemüht, die demoki*atische Partei, auf welcher ja die römische Monarchie
beruht, zu Ehren zu bringen und Caesars Andenken von dem schwärzesten
Fleck, der darauf haftete, zu reinigen, nebenher auch den Oheim des Triumvir
Marcus Antonius möglichst weiss zu waschen'', dürfte nicht zulässig sein.
Die Abfassung der Schrift nach dem Tode Caesars lässt eine solche Haupt-
tendenz nicht völlig erklärlich erscheinen.
4,2 staiui res gestas poptUi Romani carptim, ut quaeque memoria digna videban^
tur, ptrscribere, Suet. gr. 10 X. Ateiua phüologus — coluit postea famüiarissime C. Saf-
lustium et eo defuncto Asinium Pollionem, quos historiam companere aggressos alterum
hreviario rerum omnium Romanarum, ex quitius quas vellet eligerei, instruxit, alterum prae-
ceptis de ratione scrihendi.
Über die Chronologie der Sallust'schen Erzählung handelt sehr mnsichtig John, Die
Entstehungsgeschichte der catilin. Verschwörung in Fleckeis. J. 8. Suppl. p. 703, wo die
fibrige Litteratur in den Anmerk. angegeben ist. Hier ist bes. der Satz mit Nachdruck auf>
gestellt und im Gegensaiz zu Sallust erwiesen (p. 755): Die Niederlage Catilinas bei
der Bewerbung um das Konsulat für 62 war die Veranlassung der catilinari-
schen Verschwörung. Johk urteilt daher ungünstig über den historischen Wert der
Monographie (p. 811): Über die Geschichte der Verschwörung vom Ausbruch des Bürger-
kriegs an ist seine Erzählung eine brauchbare und besonders durch die Briefe wertvolle
Quelle, seine Schilderung der vorangehenden Periode aber hat fOr den Geschichtsforscher
0 Durch Umstellung der betreffenden
Partie, wie sie Likksr in seiner Ausgabe
Wien 1855 vorgenommen, zu helfen, und
sonach eine Blattverschiebung vorzunehmen,
ist unzulässig. Vgl. Johk 1. c. p. 704, 9, wo
die Gegenschriften verzeichnet sind.
«) John 1. c. p. 803.
182 ROmisolie Litteratargesohiolite. I. Die Zeit der Bepublik. 2. Periode.
nicht mehr Wert als ein historischer Roman und wirft geringere Ausbeute ab als selbst die
kurzen Berichte der sekundären Quellen Plutarchus und namentlich Cassius Dio.
Über Sallust. Angriffe auf die Optimatenpartei vgl. 11, 4 Sed postquam L, Stäla
armis recepta re publica bonis initiis malos eventiM habuit, rapere omnea, trahere, domum
aliuSf aiiu8 agros cupere, neque modum neque modestiam vietores habere, foeda crudeliaque
in civis facinora facere. 20, 7 postquam res publica in pauearum potentium iue atque
didonem cancessit, eemper Ulis reges, tetrarchae vectigaJes esse, populi, nationee stipendia
pendere, ceteri omnea, sirenui, boni, nobilea atque ignobÜes, vcHgus fuimus sine gratia, sine
auctoritaU, eis obnoxii, quibus, si res publica vdieret, farmidini essemus. Vgl. 23, 6;
30, 4; 17, 6.
130. Der jugurihiiiische Krieg (De bello Jugurthino). Im Ein-
gang der Schrift gibt der Schriftsteller an, was ihn zur Wahl dieses Stoffs
veranlasst hat; einmal die Gefährlichkeit und die grosse Bedeutung des
mit wechselndem Erfolg geführten Kriegs (111 — 105), dann der Umstand,
dass damals zum erstenmal der Nobilität entgegengetreten wurde. In dieser
Monographie konnte Sallust die Kenntnis des Landes, die er sich bei seinem
Aufenthalt als Proconsul cum imperio in der Provinz Neuafrika erworben,
verwerten. Im übrigen war er auf seine Quellen und Zeugnisse anderer
angewiesen; es wird dies öfters durch comperio angedeutet (45,1 67,3
108,3 113,1). An Hilfsmitteln fehlte es nicht, es konnten benutzt werden
die Memoiren Sullas, des M. Aemilius Scaurus wie die des P. Rutilius Rufus
(vgl. § 114 und § 73). Dass auch punische Schriften zu Rate gezogen wurden,
wird 17, 7 angedeutet. In dieser Monographie ist das Bestreben des
Schriftstellers, ein abgerundetes Bild zu geben, aufs bestimmteste ausge-
prägt. Er lässt daher die Chronologie sehr stark zurücktreten, indem er
sich mit allgemeinen Angaben begnügt wie interim 28, 4 36, 1 40, 1 82, 2,
interea 12,2, paucos post annos 9,4 u. s. w. oder solche auch ganz beiseite
lässt. Selbst zu Verschiebungen führt ihn hie und da die Komposition.
Der Historiker, der auf die Reihenfolge der Ereignisse schaut, wird also
nicht selten unbefriedigt gelassen. Wie der Gatilina, so beginnt auch
unsere Monographie mit allgemeinen Reflexionen über die Herrschaft des
Geistes. Exkurse bietet sie drei dar, einen geographischen über Afrika
(17.18.19), einen über das Parteileben in Rom (41.42), endlich die schöne
Sage über den Wettlauf der philänischen Brüder (79). Reden sind mehrere
eingestreut, am interessantesten sind die Reden des Memmius (31) und
des Marius (85). Das Treiben der Nobilität wird oft berührt (8,1 13,5
15,3 27,2 28,5 31,2 41,6 64,2 85,10 85,37). Die Monographie ist eine
der schönsten Denkmäler der lateinischen Historiographie.
c. 5 bellum scripturus sum, quod populus Romanus cum Jugurtha rege Numidarum
gessit, primum quia magnum et atrox variaque victoHa fuit, dehinc quia tunc primum super-
biae nobüitatis obviam itum est.
Über die Vernachlässigung der Chronologie vgl. Mokksen, Rom. Gesch. 2', 146 Anm. ;
Hermes 1, 427 ; Haits Wibz, Die stoffliche und zeitiiche Gliederung des bellum Jug. des S.
in der Festschrift der Eantonsschule in Zürich 1887.
131. Sallusts Historiae. Das reifste Werk Sallusts, das er bereits
bei der Abfassung des Jugurtha ins Auge gefasst hatte, waren die Historiae
in 5 Büchern. Dieselben umfassten einen Zeitraum von 12 Jahren. Da
das Jahr 78, das Konsulat des M. Lepidus und Q. Gatulus als Anfang des
Werks durch ein Fragment feststeht, so muss das Ende in das Jahr 67
fallen; und in der That führt kein Fragment über dieses Jahr hinaus.
C. SallnstiiiB CrispiiB. Ig3
Das Werk reihte sich an das Sisennas an, der mit dem Tod Sullas ge-
schlossen hatte. Es war also in dem Werk der Krieg gegen Sertorius
(80—72), der Fechter- und Sklavenkrieg (73—71), der Krieg gegen die
Seeräuber (78 --67), endlich auch noch der Krieg gegen Mithridates zum
Teil behandelt. Mit dem Hervortreten des Pompeius in diesem Kriege
musste das Werk geendet haben. Das Werk ist leider verloren gegangen.
Doch sind uns Teile daraus erhalten und zwar
a) sämtliche Reden und Briefe des Werks durch eine Samm-
lung aller Reden und Briefe aus den historischen Schriften Sallusts. Es
sind folgende vier Reden und folgende zwei Briefe:
1. Die Rede des Konsuls M. Aemilius Lepidus, des Vaters des Triumvir,
an das römische Volk aus dem J. 78, um dasselbe gegen die Sullanischen
Einrichtungen aufzustacheln und sich als Führer zur Wiedererlangung der
Freiheit anzubieten.
2. Die Rede des M. Philippus im Senat gegen Lepidus, der in seinem
revolutionären Treiben bis zum äussersten geschritten war; er stellte den
Antrag, Lepidus für einen Feind des Vaterlands zu erklären und die nötigen
Massregeln gegen ihn zu ergreifen (77).
3. Die Rede des Konsuls G. Aurelius Cotta an das römische Volk
aus dem J. 75, um eine infolge der drückenden Lage ausgebrochene Gärung
zu beseitigen.
4. Die Rede des Volkstribunen C. Licinius Macer, des Vaters des
Dichters C. Licinius Calvus an das Volk (73), um dasselbe zur Wieder-
gewinnung seiner Rechte aufzustacheln.
5. Der Brief des Gn. Pompeius aus Spanien an den Senat, die Auf-
forderung enthaltend, seinem Heer Unterstützung zu teil werden zu lassen.
Der Brief ist 75 abgesendet, aber erst 74 angekommen.') Es ist ein von
masslosen Lügen und Übertreibungen strotzendes Dokument.
6. Das Schreiben des Königs Mithridates an den Partherkönig Arsaces
aus dem J. 69 (oder Anfang 68), um ihn zur Teilnahme an dem Krieg gegen
die Römer zu bewegen.
b) Auch verschiedene handschriftliche Überreste sind uns von
dem Werk erhalten; es sind folgende, aus einem Godex stammende:
1. Das Berliner Fragment. Das Blatt wurde im Jahre 1847 von
Heine in Toledo gefunden und Pertz übergeben. Pertz entzifferte das-
selbe und glaubte, dass es zum 98. Buch des Livius gehöre. Bergk (Zeitschr.
f. Altertumsw. 1 848 S. 880) und Roth (Rh. Mus. 8, 433) erkannten als Ver-
fasser Sallust.
2. Die vatikanischen Fragmente. Es sind zwei Blätter, jede Seite
mit zwei Kolumnen, im ganzen also 8 Kolumnen; sie beziehen sich auf
den Krieg mit Spartacus (73 v. Gh.). Die Aufmerksamkeit auf diese Frag-
mente wurde durch Niebühr wieder wach gerufen, als er sie im J. 1817
in der Vaticana aufgefunden hatte (Hauler, Wiener Stud. 9, 140).
3. In neuester Zeit kamen die Orläaner Fragmente hinzu. Es sind
dies zwei Palimpsestfragmente, welche E. Hauler in dem Orleaner Godex
^) Hauieb, Wien. Stud. 9, 46; Sitzungsber. der Wiener Ak. 113, 661.
184 BömiBohe Litteratorgescliiolite. I. Die Zeit der Bepublik. 2. Periode.
169 aufgefunden. Das kleinere Bruchstück (fol. 20) bildete zwei Blätter
einer Sallusthandschrift. Das erste Blatt schliesst sich in der Kolumne I
und rV an die fragmenta Berolinensia Kol. I und IV an und ergänzt die-
selben. Von dem folgenden Blatt sind nur Züge von zwei Kolumnen I
und IV übrig. Die vereinigten Berliner und Orleaner Fragmente beziehen
sich auf das Konsulatsjahr des L. Octavius imd C. Aurelius Cotta (75 v. Gh.).
Das zweite Bruchstück (fol. 15 — 18) enthält acht vollständige und vier seit-
lich verstümmelte Kolunmen. Davon behandeln vier Kolumnen auf fol. 15
und fol. 18 die Angriffe der Piraten auf das Lager des P. Servilius und die
Übergabe vonisaura nova (wahrscheinlich aus dem Jahr 75). Zwei Kolumnen
auf fol. 16 beziehen sich auf den zwischen Sertorius und Pompeius in
Spanien geführten Krieg. Drei Kolumnen auf fol. 16 und 17 enthalten einen
grossen Teil des schon bekannten Briefs des Pompeius an den Senat, eine
Kolumne handelt über die Verlesung des Schreibens im Senat und die
Folgen. Die zwei letzten (fol. 15) Kolumnen handeln über des M. Antonius
Creticus kriegerische Unternehmungen.
c) Es kommen noch hinzu zahlreiche Gitate aus dem Werk bei
Schriftetellem.
d) Es kann endlich noch benützt werden die Erzählung des ersten
Bürgerkriegs von Julius Exuperantius (s. IV/V), welche aus Sallust
ausgezogen ist (Bubsian, Juli Exuperanti Opusc. p. VI).
Im Jugmiha 95, 2 lesen wir qtumiam n&s tanti tnri (SuUae) res ctdmonuit, idoneum
Visum est de natura cultuque eius paucis dicere; neque enim alio loco de SulUu rebus
dicturi sumus et L. Sisenna optume et diligentissume omnium, qui etts res dixere, per-
secuius parum mihi libero ore locutus videtur. Es war also in den Historiae von SuUa nicht
mehr die Rede.
Der Anfang des Werkes ist uns erhalten: res populi Romani M, Lepido Q. Catulo
coHSulibus ac deinde milUiae et dami gestas composui (fr. I). Die Darlegung eines Zeit-
raums von 12 Jahren folgt aus Auson. 13,2,61 p. 38 Sghbnkl:
ab Lepido et Catulo iam res et tempora Romae
orsus bis senos seriem conecto per annos.
Litteratur: Jobdan, Die Überlieferung der Beden und Briefe aus Sallusts Historien
(Rh. Mus. 18, 584) ; De Vatieanis SaUusti historiarum l, III reliquiis (Hermes 5, 396). Über
die Orleaner Fragmente handelt Hauler, Wiener Stud. 8, 315 9, 25 ; über das kleinere Bruch-
stück, Revue dephilologie 10, 113 und über das grössere Sitzungsber. der Wiener Akad. 113, 615.
132. Charakteristik des Sallust. Die politische Richtung, welche
Sallust verfolgt, ist die demokratische. Diese Richtung tritt in allen drei
Schriften hervor, im Catilina durch die schonende und rechtfertigende Be-
handlung Cäsars, im Jugurthinischen Krieg durch die Verherrlichung des
Marius, in den Historien durch seine Angriffe auf Pompeius (Suet. gr. 15).
Angriffe auf die Nobilität bietet sowohl Catilina als der Jugurthinische
Krieg. In der letzten Monographie ist besonders die Geldgier und die Be-
stechlichkeit der Nobilität mit grellen Farben geschildert. Wenn auch
der demokratische Standpunkt des Verfassers der Wahrheit hie und da
Eintrag gethan, so hat er sich doch nicht in der Weise geltend gemacht,
dass dadurch die Schriften Sallusts zu Parteischriften herabsinken. >) Auf
die Komposition legte Sallust den grössten Wert. Bei der Lektüre treten
uns sofort als charakteristisch entgegen die langen Einleitungen und die
eingestreuten Reden und Briefe. Die Einleitungen sind voll von Reflexionen,
*) MoxxsBir, R. Gesch. 3^, 195 Anm.
C. SallaBÜnB Crispns. 185
die zu Catilina und zum Jugurthinischen Krieg haben viele Gedanken-
reihen, die miteinander korrespondieren. ^) Die Briefe und Reden sind, ab-
gesehen von zwei Fällen, dem Briefe des Catilina an Q. Gatulus (c. 35) und
dem des Lentulus an Catilina (c. 44) von SaUust erfunden, um Personen
imd Zustände zu charakterisieren. In den beiden Eigentümlichkeiten be-
gegnet er sich mit seinem Vorbild, dem Thukydides. Das Chronologische
tritt in den beiden Monographien zurück und kommt nicht selten zu Schaden,
Sallust verlässt das annalistische Schema, ihm ist es darum zu thun, die
zerstreuten und zeitlich getrennten Einzelheiten zu einem Bilde zu vereini-
gen. Das psychologische Moment hat er in der römischen Historiographie
zuerst gepflegt. Der Stil Sallusts ist ein künstlich gemachter, der Schrift-
steller will den Leser reizen und bewegen, es muss daher alles markig
und pikant gesagt werden. Das Pathetische seines Stils erreicht der Schrift-
steller durch archaische Wendungen, für welche ihm besonders Cato Quelle
war, durch Gedrungenheit und Kürze, endlich durch Streben nach Wechsel
und Aufsuchen von Dissonanzen. Wie durch den Inhalt, so wird der Leser
auch durch die Form gepackt und mit fortgerissen. Die beiden Monogra-
phien sind Perlen der römischen Geschichtschreibung.
«Über die Reden mid Briefe bei Sallnst" handelt Schnobb yok Cabolsfeld, Leipzig
1888. Znsanunenfassend sagt er p. 77. «Die Analysen der einzelnen Reden haben gezeigt,
dass hinsichtlich der Charakterisierung die verschiedenen Schriften Sallusts auf einer wesent-
lich verschiedenen Stufe stehen, dass er aber bestrebt war, in dieser sich selbst immer
mehr zu veryoUkommnen und weiterzubilden. Charakterisierung ist im Catilina eigentlich
nur bei Cäsar und Cato versucht, die Sallust oft genug gehört haben mag: die Situation
ist manchmal bedenklich ausser acht gelassen. Die Reden Catilinas sind von geringem
Werte, weder den historischen Verhftltnissen noch dem Wesen des Redners angepasst. Das
bellum Jugurth. weist nach diesen schwachen Anfängen immerhin bemerkenswerte Fort-
schritte auf: das von Marius entworfene Bild ist ein höchst lebendiges. Freilich würde
sich Thucydides ein Hereinziehen seiner Persönlichkeit, wie es Sallust in der Rede des
Memmius that, niemals gestattet haben. Bedeutend höher als die beiden ersten Schriften
stehen die Historien, hier ist es dem Historiker gelungen scharf gezeichnete und deutlich
umrissene Persönlichkeiten ohne Verstösse gegen die historischen Verhältnisse vor Augen
zu fuhren ; die Art wie die einzelnen Redner sprechen, ist eine durchaus individuelle, Form
und Inhalt ihren EigentOmlichkeiten angepasst. Als ein Meisterstück darf die Rede Phi-
lipps gelten, in der Sallust die ihm eigene Sprechweise vollkommen aufgegeben und sich
der seines Redners assimiliert hat.
Über die historische Kunst des S. sei noch das urteil Madvios, Opusc. acad. Haimiae
1887 p. 679 angeführt: SaUustn laus toHua verum imaginis expUcandae arte, iudicii sub-
tilUate, sentetUiarum pondere, oratianis gravitaie censetur {quamquam his omnibtis affectatio
admixta est); ülam singularum rerum summam düigentiam Homo praetarius, eloquentiae et
prudentis gravitatis gloriam petens, non primo loco habuit.
Über Sallusts Sprache vgl. Jobdan, Erit. Beitr. p. 851. Über die Nachahmung Catos
haben wir das Zeugnis des Augustus (Suet. 86) verbis quae Cr, SalL excerpsit ex Origini-
bu8 Catonis; Frontos p. 62 N. M, Porcius eiusque frequens aectator Cr, Sallustiua. — Bbuennebt,
De Sallustio imitatore Catonis Sisennae aliarumque veterum historicorum rom., Jena 1873.
133. Fortleben des Sallust. Die Oeschichtswerke Sallusts machten
auf die Mit- und Nachwelt einen tiefen Eindruck. Am meisten frappierte
der ungewöhnliche Stil und die Darstellung. Der erste Kritiker der da-
maligen Zeit, Asinius PoUio schrieb eine Schrift, in der er den altertü-
melnden Wortschatz tadelte (Suet. gr. 10). Man erkannte hier eine Nach-
ahmung des alten Cato (Suet. Aug. 86), ja man sprach sogar von Dieb-
stahl. Quintilian 8, 3, 29 teilt uns folgendes umlaufende Epigramm mit:
0 Eussnbb, Festgrass Würzburg 1868 p. 179.
186 RömiBohe Litteratnrgescliiclite. I. Die Zeit der Repablik. 2. Periode.
Et verba antiqui muUum furate CkUonitty
Crispe, Jugurthinae condUor historiae,
Pompeius Trogus tadelte die vielen eingeschobenen direkten Reden
(Jußt. 38, 3), von Livius wird ein die Darstellung betreffender Tadel mit-
geteilt (Senec. controv. 9, 24, 14). Auch in sachlicher Beziehung erfuhren die
Werke Angriffe. So veranlasste der antipompeianische Standpunkt des
Historikers Lenaeus, einen Freigelassenen des Pompeius, zu einer Satire,
in der er die grössten Schmähungen gegen Sallust vorbrachte (Suet. gr.
15). Aber der Bewunderer waren doch beträchtlich mehr. L. Arruntius,
erzählt uns Seneca ep. 114, 17, schrieb eine Geschichte des punischen
Kriegs in der Manier Sallusts. Ventidius feierte seinen über die Parther
im J. 38 errungenen Sieg durch eine aus Sallust entlehnte Rede (Fronte
p. 123 N.). Velloius Paterculus (2, 36) nennt Sallust einen Nebenbuhler des
Thukydides und Quintilian (10, 1, 101) scheut sich nicht, Sallust dem Thu-
kydides geradezu an die Seite zu stellen. Martialis feiert den Historiker in |
einem Epigramm (14, 191):
Hie erit, ut perhibent doctorum eorda virorum,
Primus Romana Crispus in historia. |
Sehr begeistert für Sallust ist Tacitus, er nennt ihn (A. 3, 30) der I
römischen Geschichte „florentissimus audor". Dass für die Bildung seines
Stils Sallust ein wesentliches Moment bildet, ist durch genaue Analysen
dargethan. Ungefähr in diese Zeit wird auch der Kommentar des Gram-
matikers Aemilius Asper zu Sallust zu setzen sein (Charis. p. 216, 28 K).
Zur Zeit Hadrians übersetzte Zenobios den Sallust ins Griechische (Suidas
s. V. Zen.). Auch für den rhetorischen Unterricht wurde Sallust nutzbar
gemacht. Nach Granius Licinius (p. 43 Bonn.) sollte Sallust nicht als
Historiker, sondern als Redner gelesen werden. Ein Rhetor veranstaltete
eine Sammlung aller Reden und Briefe aus den Werken Sallusts. Erzeug-
nisse der Rhetorenschulen sind auch einige fälschlich den Namen Sallusts
tragende Produkte, welche wir im folgenden Paragraphen besprechen wer-
den. Zur Zeit der Frontonianer wurde Sallust wegen seines eigentüm-
lichen Wortschatzes aufs eifrigste gelesen ; der Briefwechsel Frontos gedenkt
unseres Autors p. 131 Naber. Nach längerem Stillstand finden wir wieder
Nachwirkungen unseres Historikers seit dem 4. Jahrh. ; er ist z. B. benützt
in der Geschichte des trojanischen Kriegs des sog. Diktys, in der latei-
nischen Bearbeitung des Flavianischen jüdischen Kriegs des sog. Hegesippus.
Auch in der Chronik des Sulpicius Severus gewahren wir auf Schritt und
Tritt Spuren des Sallustischen Studiums. Julius Exupemntius' Erzählung
des ersten Bürgerkriegs ist ganz nach Sallust gearbeitet. Auch im Mittel-
alter hat Sallust auf die Historiker noch seine Wirkung ausgeübt.
Testimonia veterum seleria sieh in der Teubner*schen S.-Ausgabe von Eussker p. XII.
YooEL, 'OfÄotojtjreg Sallust, im 1. Bd. der Acta sem. Erlang, p. 316. In einer zweiten Ab-
handlung Quaestianum SaUustianarum pars altera (Acta sem. Erlang. 2, 405) sucht Vogel
die Spuren Sallusts zu verfolgen für die Zeit „inter Ammianum MarcelUnum et Isidorum,
itemque ab Isidoro usque ad Ekkehardum IV p. 406. (Bes. die Nachahm. des Hegesippus
wird 1,348 des Genaueren dargethan.) Pratje, Quaest. Sallust. Götting. 1874 legt durch
Tabellen ausführlich die Nachahmung Sallusts von Seiten des Lucius Septimius (Dictys
Cretensis) und des Sulpicius Severus dar (p. 9 — 40). Hertz, De Ammiani MarceUini studiis
SallustianiSy Bresl. Index lect. 1874 (p. 16 „Catilinam Sallustii, cuius et Jugufihn et histo-
riis usus est, non legisse vel cerie non excetysisse videtur Ammianus**),
G. SallosüiiB CrispaB. 187
134. Psendosallnstiana. Unter dem Namen des Sallust sind uns
dm*ch den Vaticanus 3864 zwei Suasorien an Caesar überliefert, in denen
Vorschläge über die Neuordnung des Staatswesens gemacht werden. Die
zweite hat die Form des Briefs^), die Form der ersteren ist unentschie-
den, sie kann als Rede betrachtet werden. Weiterhin ist uns (aber in
der Regel in Verbindung mit echt-sallustischen Schriften) unter dem
Namen des Sallust eine Schmährede (invectiva oder richtiger controversia)
auf Cicero erhalten, der zugleich die Schmähantwort Ciceros beigegeben
ist. Die Autorschaft Sallusts ist bei den vier Produkten nicht anzu-
nehmen.
Die Invectiva gegen Cicero legt zwar bereits Quintilian dem Sallust
bei, allein die Autorschaft wird schon durch den einen Umstand erschüt-
tert, dass die Schmähantwort Ciceros allem Anschein nach von demselben
Verfasser herrührt,*) von dem auch die Invectiva auf Cicero verfasst ist;
zwischen beiden Produkten herrscht Gleichheit des Stils.*) Sonach werden
wir annehmen, dass in einer Rhetorenschule das Thema „Feindschaft zwi-
schen SaUust und Cicero'' von einem der Schüler in Bild und Gegenbild
behandelt wurde.
Was die Suasorien anlangt, so ist vor allem zu beachten, dass 2,
9, 2 und die Invectiva gegen Cicero 3, 5 eine Stelle fast wörtlich wieder-
holen. Aus Gemeinsamkeit der Quelle diese Erscheinung zu erklären ist
nicht zulässig ; es besteht vielmehr das Verhältnis von Original und Kopie.
Die Worte stellen sich uns vollständiger in der Invectiva dar, auch sind
sie hier ganz am Platz, während sie in der Suasoria nicht recht passen
und zugestutzt sind. Danach wäre die Invectiva das Original, die Suaso-
ria die Kopie. Der übermässig häufige Gebrauch alter Formen führt bei
den Suasoriae auf die Zeit der Frontonianer. Sallust als Verfasser ist
übrigens schon durch die innere Unwahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Ob
die Suasorien von einem Verfasser abgefasst sind, ist zweifelhaft. Zwar
haben sie in Sprache und Gedanken manches gemeinsam, allein es würde
sich bei einem Verfasser kein rechter Zweck der zweimaligen Behand-
lung des Thema absehen lassen, viel leichter erklärt sich die Sache, wenn
wir zwei Verfasser annehmen, von denen der eine Nachahmer des anderen
ist. Vielleicht entstammen die beiden Produkte einer und derselben Rhe-
torenschule. Ist die Zusammengehörigkeit der Suasorien feststehend wie
die der Invectivae, so müssen wir auf Grund der obigen Beobachtung über
das Verhältnis der einen Invectiva zur einen Suasorie verallgemeinernd
sagen, dass die Invectivae früher abgefasst wurden als die Suasoriae.
') 2, 2 neque eo quae visa sunt de re-
publica tibi acripsi 12, 1 forsUan, im»
perator, perlectis litteris desideres.
*) JosDAK praef. zu Sallust. 2. Ausg.
p. XII : Has sive invectivas sire ccntroversias
dixeris uiramque ab eodem rhetore composi-
tas esse evincunt sententiarum ineptiae in
utraque eonsimUes, eodem in detorquendis
Tußianis verbis perveraitas, aequabilis ser-
monis impuri Habitus, in rebus tractamdis
sire potius pervertendis malitia utrobique
ridicula eademque praeter paucissima quae-
dam summa exilitas atque adeo errares non-
nuUi pueriles. Vgl. Vogel, Act. Erlang. 1, 327.
») VooBL, Acta Erlang. 1, 326 in utra-
que oratiuncula idem dicendi genus cognosci-
tur , ita ut facile demanstrare possis unum
eundemque seriptarem uiramque camposuisse.
Quod optime intellegUur ex simüUudine cum
omnis verborum ropiae tum locutionum atque
floscuhrum. Vgl. eine Zusammenstellung auf
S. 327.
188 BömiBohe litteratnrgesohichte. I. Die Zeit der Bepublik. 2. Periode.
Quintilian ciidert folgende Stellen der Invectwa Sallustii in Ciceronem: 4, 1, 68
Quid? non SaUustiua directo ad Ciceronem, in quem ipsum dicebat^ usus est prindpio et
quidem protinus, „Graviter et iniquo animo maledicta tua paterer, Marce
Tuinr" (= 1, 1); 9, 3, 89 apud Sallustium in Ciceronem 0 Ramule Arpinas (= 4, 7).
Vgl. auch Quint 11, 1» 24 mit der Invectiva in Gic. 3, 5 — 4, 7; Servius zur Aen. 6, 623
mit 2, 2. Die zweite Invectiva citiert Diomedes p. 387 K. sed Didius ait de Saüustio ^co-
mesto patrimonio*. Das weist auf Invect. in Sali. 7, 20 patrimonio non comesto. Statt
Didius ist mit Jordan Herrn. 11, 312 zu lesen Tullius (Linkbb „Epidius"),
Die gemeinsame Stelle in der zweiten Suas. und der ersten Invectiva lautet: Invect.
in TuU. 3, 5 (von Cicero) „euius nüUa pars corporis a turpitudine f?acat, Hngua vana, manus
rapacissimae, gula immensa, pedes fugaces: quae honeste nominari non possunt, inkonestis-
sima = Suas. 2,9,2 an L. Domiti magna vis est F quoius nuflum membrum a fiagitio aut
facinore vacat, Hngua vana manus cruentae pedes fugaces; quae honeste nominari nequeunt
inhonestissima, Dass auf den als grausam bekannten Domitius die Worte nicht recht passen
und erst zugestutzt werden mussten, zeigt Jordan, Hermes 11, 312 (Vooel, Acta Erlang. 1, 344).
Die Überlieferung der StMsoriae beruht lediglich auf Vaticanus 3864 s. X, fttr die In-
vectivae sind massgebend ein Codex Gudianus in Wolifenbüttel 335 s. X, drei Harleiani in
London nr. 2716 (s. IX oder X), 2682 s. XI, 3859 s. XH; es kommen noch hinzu zwei
Monacenses 19472 (s. XI), 4611 (s. XII).
Litter atur: Jobdan, de stuisoriis, Berl. 1868. Spandau, Eine Salluststudie, Bayreuth
1869. Härtung, de Sallusti epistulis ad Caes., Halle 1874. Hellwio, de genuina SdUusti
ad Caes. epistula etc., Leipz. 1873.
Überlieferung der Sallustischen Bella. Grundlage der Kritik der bella bildet
die gute, besonders durch die Lücke Jug. 103,2 necessariorum — 112,3 pacem vellet ge-
kennzeichnete Handschriftenklasse. Für die Rekonstruktion des Archetypus muss besonders
verwertet werden ein Parisinus der Sorbonne 500 s. X und ein zweiter Parisinus 1576 s. X,
welche sich sehr ähnlich sind, femer die aus einer Quelle stammenden Vaticanus 3325 s. XI
und Leidensis s. Yossianus 75 s. XL Die Herbeiziehung der zweiten Familie ist schon zum
Zweck der AusfüUung der Lücke notwendig; ein Haup&epräsentant derselben ist ein Mona-
censis 14477 s. XI. Die Reden sind uns ausserdem vollständig im Vaticanus 3864 erhalten.
Jedoch steht diese Überlieferung der guten der heüa nach.
Sallustausgaben: Corte 1724. Havercamp, Amsterd. 1742. Kritz 3 Bde., Leipz.
1828 — 53. DiETSCH 2 Bde. Leipz. 1859 („liher levitate et negligentia insignis^ Nipperdby,
Odusc. p. 540). H. Jordan 3. Ausg. 1887. Textausg. von Eussner (Teubner); von Schbindler
(^eytag). Schulausgaben von Fabri, Jacobs-Wirz, Schmalz u. a.
135. Die römische Stadtzeitung. Für die vornehmen Römer, welche
von Rom abwesend waren, musste sich das Bedürfnis ergeben, von den
Vorgängen in Rom auf dem Laufenden erhalten zu werden. Dieses Be-
dürfnis konnte zunächst durch Briefe von Freunden befriedigt werden ; in
welcher Weise dies geschah, lernen wir aus dem Corpus der Ciceronischen
Briefe kennen. Allein mit der Zeit nahm das Verlangen, die politischen
Neuigkeiten zu erfahren, eine solche Ausdehnung an, dass die Privatindu-
strie eingreifen konnte. Zu diesem Zwecke stellte ein Unternehmer die
Nachrichten zusammen, Hess sie kopieren und dann an seine Besteller ver-
senden. Caesar traf nun während seines Konsulats des J. 59 die Einrich-
tung, dass er durch einen amtlich bestellten Redakteur eine Zusammen-
stellung der wichtigsten politischen Verhandlungen und Ereignisse machen
liess, mit der sich dann auch Mitteilungen privater Natur wie Geburtsan-
zeigen, Todesfälle u. dgl. verbanden. Diese acta diurna oder populi (auch
acta urbana, acta publica u. a.) wurden jetzt wiederum von Unternehmern
kopiert oder ausgezogen und an die Interessenten verschickt. Aufbewahrt
wurden die acta im Staatsarchiv. Auf die Litteratur gewann die Stadt-
zeitung, soweit wir sehen können, keinen Einfluss.
Auch Aufzeichnung und Herausgabe der Senatsverhandlungen ordnete Caesar an ;
allein Augustus hob die Veröffentlichung derselben auf. Suet. Caes. 20 inito honore (d. h.
Q. Hortensins Hortalns. 189
das Konsulat 59) primus omnium instituU, %U tarn aetuUus quam populi diurna acta con-
fierent et publicarentur. Snet. Aug. 36 ne acta aenatua publiearentur. — Hübneb, De aenatun
populique Romani €tctia, Leipz. 1859 im 3. Supplementband von Jahns Jahrb.
ß) Die Redner.
1. Q. Hortensius Hortalus.
136. Der asianische Barockstil. Eine veränderte Form gewann
die griechische Beredsamkeit in Eleinasien. Das Einfache, Natürliche und
MassvoUe machte auf das dortige Publikum keinen Eindruck mehr, es
waren stärkere Reizmittel notwendig, welche zur Verletzung des guten
Geschmacks führten. Man knüpft das Aufkommen dieser asianischen Be-
redsamkeit vorzugsweise an den Namen Hegesias von Magnesia. Sein
B^izmittel war der sogenannte zerschnittene Stil, d. h. er geht aller Perio-
disierung aus dem Weg und fügt lauter kurze Sätze schlottrig aneinander.
Auch in seinen Gedanken muss er recht geschmacklos gewesen sein, denn
Cicero sagt, wer den Hegesias kenne, wisse, was er unter einem geschmack-
losen Menschen zu verstehen habe. Den asianischen Stil seiner Zeit cha-
rakterisiert Cicero durch zwei Richtungen; die eine, deren Hauptvertreter
die von ihm gehörten Brüder Hierocies und Menecles aus Alabanda waren,
legt das Hauptgewicht auf gesuchte und abgezirkelte, auf eintönige Caden-
zen hinauslaufende Ziererei und Worte ohne entsprechende Gedanken, die
andere, etwas später zu Geltung gekommene bewegt sich in einer schwül-
stigen, aufgeregten, bilderreichen, künstlichen Darstellung. Als Hauptver-
treter dieser Richtung stellt Cicero den Aeschylus aus Gnidus und den
Aeschines aus Milet hin.
Über Hegesias vgl. Strabo 14 p. 648 oV ^^|c (AttXuna tov Uffiavov Xeyofidyov ^^Xov
nagaff^eigag to xa^earijxog i9og to JttMoy. Cic. Brut 83, 286 iaque ae Ua putat Atticum,
ut veroa üloa prae ae paene agreatia putet. Ät quid eat tarn fractum, tarn minutum, tarn
in ipaa, quam tarnen conaequitur, concinnUate puerile? Orat. 67,226 numeroaa comprehenaio ;
quam perverae fugiena Hegeaiaa, dum tue quoque imitari Lyaiam nuU, alterum paene Demo-
athenem, aaltat incidena particulaa. Et ia quidem nun minua aententiia peceat quam verhiM,
ul non quaerai, quem appeüet ineptum, qui illum cognaverU.
Ober die beiden Richtungen des asianischen Stils seiner Zeit sagt Cic. Brut. 95, 325 :
genera Aaiaticae dictionia duo aunt^ unum aententioaum et argutum, aententiia non tarn gra-
vibua et aeveria quam concinnia et venuatia; qtuilia in hiatoria Timaeua, in dicendo autetn
pueria nobia Hieroclea Alabandeua, magia etiam Meneclea f rater eiua fuit, quorum utriuaque
arationea aunt in primia, ut Aaiatico in genere, laudabilea. Aliud autem genua eat non tarn
aententiia frequentatum quam verhia volucre atque incitatum, quali eat nunc Aaia tota, nee
flumine aolum orationia, aed etiam exornato et facto genere verhorum; in quo fuit Aeachylua
Gnidiua et meua aequalia Mileaiua Aeachinea, In eia erat admirabiJia orationia curaua,
ornata aententiarum concinnitaa non erat, Orat. 69, 230 apud alioa autem et Aaiaticoa
maxime numero aervientea inculcata reperiaa inania quaedam verba quaai complementa nunte-
rorum. Sunt etiam qui ülo vitio, quod ab Hegeaia maxime ftuxit, infringendia conciden-
diaque numeria in quoddam genua cänectum inddant veraiculorum aimiUimum, Tertium eat,
in quo fuerunt fratrea iUi Aaiaticorum rhetorum principea Hieroclea et Meneclea, minime
mea aententia contemnendi. Etai enim a forma veritatia et ab Atticorum regula cUtaunt,
tarnen hoc Vitium compenaant vel facuUate vel copia; aed apud eoa varietaa non erat, quod
omnia fere concludebantur uno modo.
Ober den asianischen Stil im allgemeinen urteilt Dionys von Halicamass (de orat.
ant. 1): iv yaQ &rj xois ngo ijfitSy /^oyots 17 f*^y a^/ata xac ipiXocoipof ^rjtoQixtj tiqo-
nfßiKa^ofAiytj xai detydg vßqaig vnofAiyowsa »axaXv^ro, aQ^afiiytj (jikv dno r^g 'AXe^dyd^ov
tov Maxedoyog reXetn^s ixnyBiy »al fiagalyBC^ai »at oXiyoy, inl di rijs xad^ ^f*ds ijXixlag
fAM^ov dBfjcaa« etg jäXog i^tpayic^ai . Mq« da tk M xtjy ixeivijg noQeX&ovaa rd^iy,
defoQiitog dyeudaiff ^sat^ucj xal dydytayoq xai ovta tpiXoaotpog ovr' aXXov naidcvfAatog
ovdayog fiaTaiXrjqjvTti iXev&ef^iov, Xa&ovaa xal naQOX^ovcafjidrri rijy rvSy o^Xa^y äyyouty ov
190 Römische LiUeratnrgeBohiolite. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
fÄOVoy iy Bvnoglff »at tQVipß »al fiOQ(pj nXelovi xijf ktiqa^ difjyiv, aXXn xal tag xifÄag »al
rag nQoaraffias riSy noXeiayy ä( edei trjy tptXoaotpoy ly^ty, ^k iatftijy dt^^tijaatOj xal ^y
tpoQti»^ ris ndyv xai ox^ti^d, tal JsXevtiSca naQtmXrjciay inoirjce ysyia^M tijy *EXkAdu rmg
rtoy dcioxioy xal xaxodMfioytay oixlais,
137. Der asianische Barockstil in Born. Der asianische Stil ver-
pflanzte sich auch nach Rom und fand besonders in Q. Hortensius Hör-
talus (114 — 50) einen hervorragenden Vertreter. Nach Cicero vereinigte
er die beiden zulezt charakterisierten Richtungen der aManischen Bered-
samkeit, d. h. sowohl gesuchte Zierlichkeit als RedefQUe. Seine Manier
stiess zuerst auf den Widerstand der älteren Generation, dagegen die junge
Welt und der gewöhnliche Haufe hatte an derselben grosses Gefallen. Sein
Gedächtnis war ganz bewunderungswürdig und kam ihm bei seinem Vor-
trag sehr zu statten. In seinen Reden traten die sorgfältigen Einteilungen
und Rekapitulationen des von den Gegnern und ihm Vorgebrachten in
starker Weise hervor. Seine Rede wirkte aber nur gesprochen, die ge-
schriebene machte einen bedeutend geringeren Eindruck. Zum erstenmal
trat er auf im Alter von 19 Jahren (95) in einer Rede für die Provinz
Afrika (Cic. de orat. 3, 61, 229). Von den später gehaltenen Reden heben
wir hervor seine Verteidigung des C. Verres, in der er zum Ankläger und
Gegner bekanntlich Cicero hatte. Quintilian (10, l, 23) hatte die bei die-
ser Gelegenheit gehaltene Rede noch vor sich.') Gegen l^ompeius trat er
auf, indem er gegen die lex Gabinia (67) und die lex Manilia (66) sprach.
Oft führte er mit Cicero Verteidigungen, so für C. Rabirius (63), für Mu-
rena (63), für Cornelius Sulla (62), für Valerius Flaccus (59), für P. Sestius
(56), für M. Aemilius Scam*us (54). Wir haben keine Satzfragmente aus
diesen Reden. Ausser den Reden verfasste Hortensius auch eine rheto-
rische Schrift Communes hei, welche über allgemeine rhetorische Fragen
handelte.
Cic. Brat. 95, 326 Hortensius utroque genere florens clamores faciebat adulescens.
Habebat enim et Meneclium iUud Studium crebrarum venustarumque sententiarum, in quibu»,
ut in illo Graeco, sie in hoc, erant quaedam magis venustae dtdcesque sententiae quam aut
necessariae aut interdum utües; et erat oratio cum ineitata et vibrans tum etiam accurata
et polita. Non probabantur haee senibus — sed mirabantur adulescentes, muUitudo more-
batur. Erat exceUens iudicio wdgi et faeVe primas tenebat adulescens, ibid. 88, 301 (Hor-
tensius) memoria tanta, quantam in nuüo cognovisse me arbitror, ut, quae secum eommenttUuM
esset, ea sine seripto verbis eisdem redderet, quibus cogitavisset. ibid. 88, 302 attuLeratque
minime vulgare genus dicendi; duas quidem res, quas nemo alius: partitiones, quibus de
rebus dicturus esset, et collectiones eorum quae essent dicta contra quaeque ipse dixisset,
Cic. orat. 38, 132 dicebat melius quam scripsit Hortensius.
Über die rhetorische Schrift vgl. Quint. 2, 1, 11 (communes loci) quibus quaestiones
generaliter tractantur, quales sunt editi a Q. quoque Hortensio, ut Sitne parvis argumentis
credendum P
Auch ein annalistisches Werk schrieb Hortensias. Vgl. Vell. 2, 16, 3; femer
poetische Kleinigkeiten. Grell. 19, 9, 7 Laevius implicata et Hortensius invenusta et Cinna
inlepida et Memmius dura ac deinceps omnes rudia fecerunt atque absona. Zu den Erotikem
zählt ihn Plin. ep. 5, 3, 5 und Ovid Trist. 2, 441.
Die Tochter des Hortensius, Hortensia, war durch eine Rede, die sie vor den Trium-
vim 43 hielt, als die Frauen durch eine schwere Steuer gedrückt wurden, sehr berühmt
geworden, da sie mit ihrer Rede Erfolg hatte. Valer. Max. 8, 3, 3 Hortensia — cum ordo
matronarum gravi tributo a triumviris esset oneratus, nee quisquam virorum patrocinum
eis accommodare auderet, catisam feminarum apud triumviros et constanter et feliciter egit.
') Wenn Cicero Orai 37, 129 sagt nMs
pro familiari reo summus orator non respon-
dit Hortensius, so wird das so aufzufassen
sein, dass Hortensius auf die später geschrie-
benen Reden Ciceros gegen Verres nicht
antwortete.
Die Atüker. 191
Repraeatntata enim patria facundia impetravit, ut maior pars imper'atae pecuniae iis remit-
ier etur vgl. Quint. 1, 1, 6.
Anhänger des asianiscliexi Barockstils war auch der Triumvir M. Antonius. Vgl.
Plut. Ant. 2 iXQ^^o di tt^ xuXovfA^yta fihy 'Aaiav^ ^fjXt^ ttSv Xoyiav ay&ovyri fidXiaxa xat
ixsTyoy toy xf^oyoy, i^^'^^ ^^ TtoXXtjy ouoiotrjta nf^og roy ßioy avJov xo/intodf^ xal tpQvay-
fAtnlay oyta xal xeyov yavQidfiato^ xal g^iXorifdiag dywfÄoXov fjtemoy vgl. Suet. Octav. 86.
— ScHKLLE, De Antonii epist, I, Frankenh. 1883,
2. Die Attiker.
138. Beaction. Die rhodische nnd die attische Beredsamkeit.
Hortensius schritt in seinem Alter nicht mehr fort, sondern wurde lässig.
Ihm erstand bald ein Gegner, der seinen Ruhm verdunkeln sollte, es war
dies M. Cicero. Anfangs hatte sich Cicero der asianischen Beredsamkeit
zugewendet und dem Pathos und dem Schwulst der Rede gehuldigt. Allein
schon körperliche Schwäche riet zur Schonung der Stimme und zur Ver-
meidung jeder grösseren Anstrengung. Cicero reiste im J. 79 nach Grie-
chenland und Asien und kam hier mit den bedeutendsten Rednern in Be-
rührung. Doch erst sein Aufenthalt in Rhodos, wo er den berühmten
Lehrer der Beredsamkeit Molo hörte, bewirkte, dass er einen massvolleren
und ruhigeren Stil sich aneignete, was gegenüber der Hortensianischen
Manier einen grossen Fortschritt bedeutete. Als er nach Verlauf von zwei
Jahren zurückkehrte (77), konnte er von sich sagen, dass er „ganz umge-
staltet" sei. Allein im Grunde genommen war das künstliche Pathos und
die Wortfülle in den Ciceronischen Reden noch immer eine zu grosse. Es
ist daher kein Wunder, wenn sich auch gegen Cicero eine Opposition er-
hob, welche in dem Einfachen und Schlichten die wahre Beredsamkeit er-
blickte und daher die Attiker, besonders aber Lysias als Muster erkor.
Diese Opposition ging von den sogenannten Attikem aus. Sie war noch
nicht erstarkt, als Cicero im J. 55 seine Schrift über den Redner schrieb ;
denn hier geschieht dieser jungattischen Bestrebungen keine Erwähnung;
dass das Gespräch ins Jahr 91 verlegt wird, rechtfertigt dieses Schweigen
nicht, da in den Prooemien leicht sich eine Gelegenheit dargeboten hätte,
jene Frage zu streifen. Dagegen haben der Brutus und der Orator, welche
in das Jahr 46 fallen, jenen Gegensatz vorzugsweise zum Gegenstande.
Cic. Brut. 93, 320 is (Hortensius) post consttlatum — summum iUud suum Studium
remisity quo a puero fuerat incensus, atque in omnium rerum abundantia voluit beatius,
ut ipse putabat, remissius certe vivere.
Den Einfluss Molos auf seine rednerische Entwicklung schildert Cicero Brut. 91, 316
Is (Molo) dedit operam, si modo id consequi potuit, ut nimis redundantis nos et superfluentis
iuvenili quadam dicendi impunUate et Ucentia reprimeret et qucisi extra rip<is diffiuentis
coerceret, Ita reeepi me hiennio post non modo exercitatior, sed prope mutatus. Nam et
contentio nimia vocis resederat et quasi deferverat oratio, lateribusque vires et corpori me-
dioeris habitus accesserat.
Über den Gregensatz der asianischen und attischen Diktion äussert sich Quint. 12, 10, 12
parteiisch: (M. TuUium) — suorum homines temporum incessere audebant ut tumidiorem et
Asianum et redundantem et in repetitionibus nimium et in salibus frigidum et in compo-
»itione fraetum, exultantem ae paene, quod procul absit, viro moUiorem, — Praecipue vero
presserunt eum qui videri Atticorum imitatores concupierant, Haec manus, quasi quibusdam
sacris initiata, ut alienigenam et parum studiosum devinctumque Ulis legibus insequebatur,
unde nunc quogue aridi et exsucci et exsangues. Hi sunt enim qui suae imbecillitati sani-
tatis appeüationem, quae est maxime contraria, obtendunt; qui, quia clariorem vim eloquentiae
relut solem ferre non possunt, umbra magni nominis delitescunt, 12, 10, 16 Et antiqua
quidem Wa dimsio inter Atticos atque Asianos fuit, cum hi pressi et integri, contra inflati
ffli et inanes haberentur, in his nihil superflueret, Ulis iudicium maxime ac modus decesset.
192 BömiBche LitteratnrgeBohiohte. I. Die 2eit der Republik. 2. Periode.
Litteratur: 0. Habnecker, Cicero und die Attiker, Fleckeis. Jahrb. 125, 601. Rohdb,
Die asianische Rhetorik und die zweite Sophistik, Rh. Mus. 41, 170.
139. Anhänger der attischen Richtung. Es ist ein kleiner Kreis,
welcher die neue Bahn in der Beredsamkeit einschlägt. Es sind folgende:
1) M. Galidius, Schüler des ApoUodoros von Pergamon, Prätor 57,
ein Caesarianer, der *GaUia cisalpina verwaltete und im J. 47 starb, war
der älteste Atticist, denn es wird von ihm eine Bede aus dem J. 64 er-
wähnt, in der er den Q. Gallius wegen Amtserschleichung anklagte. Dass
sein Stil der attische war, ergibt sich aus der interessanten Schilderung,
welche Cicero im Brutus von 79, 274 an von ihm entwirft.
Cic. Brut. 80, 276 cum a nohis patdo ante dictum »it, tria videri esse, quae araior
efficere deberet, ut doceret, ut delectaret, ut moveret: duo summe tenuit, ut et rem Ulustraret
disserendo et animos eorum, qui audirent, detfineWet voluptate. Aberat tertia üla laus, qua
permoveret atque incitaret animos, quam plurimum poliere diximus, nee erat idla vis atque
contentio, sive cansilio, quod eos, quorum altior oratio actioque esset ardentior, furere et
hacchari arbitraretur, sive quod natura non esset ita factus, sive quod non consuesset sire
quod non posset,
2) G. Licinius Galvus. M. Galidius hatte der asianischen Redeweise
die seinige gegenübergestellt, welche die Überschwenglichkeiten des asia-
nischen Stils vermied; zu einem offenen Kampf war es hiebei nicht ge-
kommen ; ein solcher wurde von G. Licinius Galvus eröffnet. Wir haben
§101 gesehen, 1) dass Galvus in der Dichtkunst sich der neueren Richtung
angeschlossen hatte. Wie in der Dichtkunst das Feine, Knappe ange-
strebt wurde, so auch in der Rhetorik; und hier übernahm Galvus die
Führerrolle. Sowohl theoretisch als praktisch wurde der Streit durchge-
fochten ; theoretisch durch einen Briefwechsel, den Galvus und Brutus mit
Gicero führten; praktisch durch Reden auf der Gerichtsstätte. Herausge-
geben waren 21 Reden (Tac. dial. 21). Die berühmtesten waren die Reden
gegen Vatinius; sie wurden noch zu Tacitus' Zeiten mit Bewunderung ge-
lesen (dial. 21). Auf eine dieser Yatinischen Reden bezieht sich der
Scherz Gatulls im 53sten Gedichte. Unser Urteil über die Redekunst des
G. Licinius Galvus hängt wesentlich von den Mitteilungen Giceros, also
eines Gegners ab. Das Lob aus diesem Mund muss daher stärker wiegen
als der Tadel. Wir vernehmen, dass seine Reden mit der grössten Sorg-
falt und in der grössten Reinheit abgefasst waren, dass sie daher von
Kennern sehr bewundert wurden, während sie dem Geschmack des grossen
Haufens weniger entgegenkamen. Dass Gicero Kraft m seiner Darstellung
vermisste, ist bei dem Gegensatze, der ihn von Galvus trennte, nicht zu
verwundern. Seinen lebhaften Vortrag schildert Seneca Gontrov. 7, 4, 6.
Über den theoretischen Streit vgl. Tacit. dial. 18 legistis utique et CkUvi et Bruti ad
Ciceronem missas epistolas, ex quibus faeüe est deprehendere, Calvum quidem Ciceroni visum
exsanguem et aitritum, Brutum autem otiosum <ttque diiunctum; rursusque Ciceronem a Calro
quidem male audisse tanquam solutum et enervem, a Bruto autem, ut ipsius verbis utar,
tamquam fractum atque elumbem. Diesen Briefwechsel erwähnt Cic. Ep. 15, 21.
Das Urteü Giceros Über Galvus' Beredsamkeit lautet: Gic. Brut. 82, 283 qui orator
(Calvus) fuit cum litteris eruditior quam Curio, tum etiam accuratius quoddam dicendi et
exquisitius afferebat genus; quod quamquam scienter eleganterque tractabat, nimium tarnen
inquirens in se atque ipse sese observans metuensque ne vitiosum coUigeret, etiam verum
sanguinem deperdehat, Itaque eius oratio nimia religione attenuata doctis et attente audien-
*) Einigemal mussten wir von unserer Regel, die Schriftsteller nicht an verschiedenen
Orten zu behandeln (§ 3), abweichen.
Die Attiker. 193
tiims erat iUuatris, a muUitudine autem et a foro, cui nata eloquetUia est, dev&rabatur. —
Atticiim ae Calvua noster dici oratorem volebat: inde erat ister exiiitas, quam iüe de in-
dustria consequebdtur. Gegenfiber dem Tadel Ciceros vgl. Quint. 10, 1, 115: inveni qui
Calin*fn praeferrent amnibus, inveni qui Cieeroni crederent, eum nimia contra ae caJumnia
rerum sanguinem perdidiase; aed est et aancta et gravia oratio et cuatodita et frequentia
vehemens quoque.
Über die verschiedenen Reden gegen Vatiniua handeln Nippebdby, Opusc. p. 330.
Matthibs, de Cdlvi in Vatinium accuaationüma in den Comment philol. Leipz. 1874 p. 99.
Tac. dial. 23 qui rhetorum nostrorum commentarios fastidiunt et oderunt, Oalvi mirantur.
Diese Kommentare werden nur an unserer Stelle erwfthnt. Es wurden daher Änderungen
vorgeschlagen, L. Aelii von Nippebdby, Opusc. p. 318 (vgl. § 76), Valgi von Bahbeks in
seiner Ausgabe des Dialogs. Vielleicht ist aber unter diesen commentarii jener die Frage
des rednerischen Stils behandelnde Briefwechsel des Calvus mit Cicero zu verstehen.
3) M. Junius Brutus. Dass dieser in die Verschwörung gegen
Caesar verwickelte Mann in Bezug auf den rednerischen Stil im Gegensatz
zu Cicero auf Seite der Attiker sich befand, geht daraus hervor, dass er
in Gemeinschaft mit Calvus in einen rhetorischen Streit mit Cicero ein-
trat (Tac. dial. 18). Auch lassen die rhetorischen Schriften Orator und
Brutus vielfach durchblicken, dass Brutus zur Ansicht Ciceros über den
Stil der Rede bekehrt werden soll. Dieses Ziel erreichte aber Cicero nicht ;
denn in einem Brief an Atticus (14, 20, 3) berichtet er, dass Aas was
er „d^ optimo genere dicendi*' auf Veranlassung des Brutus geschrieben,
dessen BeifaU nicht gefunden habe. Von Brutus Reden erwähnt Cicero
(ad Attic. 15, P, 2) die auf dem Kapitel am 17. März 44 gehaltene. Brutus
hatte ihm dieselbe zugeschickt, damit er sie vor der Herausgabe einer
Revision unterziehe. Das Urteil Ciceros über dieselbe lautet, dass er sie
feuriger gestaltet hätte. Aus Quintilian erfahren wir, dass Brutus eine
Rede über die Diktatur des Pompeius publizierte (9,3,95), dann dass er
zur Übung eine Verteidigung Milos herausgab (3, 6, 93 10, 1, 23). Ferner
werden angeführt Reden für Appius Claudius (Cic. Brut. 94, 324), für den
König Deiotarus (Cic. Brut. 5, 21). Hiezu kommen noch laudationes, die auf
M. Porcius Cato (Cic. ad Attic. 13,46 12,21) und die auf den gen. Appius
Claudius (Diom. p. 376 K.). Philosophisches schrieb Brutus folgendes: 1) de
virtute (Cic. Tusc. 5, 1; de fin. 1,3,8), Cicero gewidmet; 2) nsfl xa&fjxfntog
(Sen. ep. 95, 45) ; 3) de patientia (Diom. p. 383 K.).
Cic. ad Attic. 14, 20 quin etiam, cum ipsius (Bruti) precibus paene adductus acrip^
aiaaem ad eum „de optimo genere dicendi", non modo mihi, aed etiam tibi acripait sibi iUud,
quod mihi pfaceret, non probari. ad Attic. 15, 1^, 2 Brutus noster misit ad me orationem
auam habitam in concione Capitolina petivitque a me, ut eam ne ambitiöse corrigerem,
antequam ederet. Est autem oratio scripta elegantissime aententiis, verbis, ut nihil poasit
ultra; eao tarnen, ai illam cauaam habuissem, scripsisaem ardentius.
über Brutus' phüosophischen Standpunkt vgl. Cic. Brut 40, 149 veatra, Brüte, vetus
academia dixit, Quint. 10, 1, 123 egregius vero muUoque quam in orationibus praestantior Brti-
tus, suffecit ponderi rerum: scias eum aentire quae dicit. Sehr gClnstig auch Cic. Ac. post. 3, 12.
AuB den Geschichtswerken Fanniua' und Antipaters machte Brutus sich Auszüge.
Vgl. p. 108, p. 109, ebenso aus Polybios (Flui Brut. 4 Bygatpi avyxdtxtoy imtofÄijy noXvßiov).
Auch eine Briefsammlung von ihm gab es (Quint. 9, 4, 75).
4. Q. Cornificius. Als Dichter lernten wir Q. Cornificius § 108
kennen; wir fanden ihn dort als einen Genossen der jungrömischen Dichter-
schule. Cicero schickt ihm seinen Orator und deutet bei dieser Gelegenheit
klar an, dass Cornificius einen ihm entgegengesetzten Standpunkt in der
Rhetorik einnehme, d. h. Attiker sei.
Cic. ep. 12, 17, 2 proxime acripai de optimo genere dicendi, in quo aaepe auapicatus
Budboch der klMi. AlteiiunwwinenflcbAfi vm. 13
194 ROmiBohe Litteratargesohiohie. I. Die Seit der Republik. S. Periode.
»um ie a iudicio nostro, «ic »cilicet, ut doctum hominem ab nan indocto, patdlum dissidere:
huic tu libro maxime relim ex animo, si mimis, gratiae causa auffragere.
5. Vielleicht dürfen wir hieher stellen auch C. Scribonius Curio
und M. Gaelius Rufus. Die Redekunst beider wird als sehr gleich an-
gegeben; in M. Gaelius Reden wurde aber von Quint. 10,2,25 eine gewisse
asperitas gefunden, von Tacit. dial. c. 21 „antiquüas^, an einer andern Stelle
des Dialogs (c. 25) spricht Tacitus von einem „amarior Caelius^,
Vell. 2, 68 M, Caelius, vir eloquio animoque aimilUmus, sed in tUroque perfectiot-f
nee minus ingeniöse nequatn. Von M. Caelins Rufas sind ans 17 Briefe erhalten, welche
er an Cicero, als dieser Cilicien 51 verwaltete, richtete; sie bilden das 8. Buch der sog.
ep, fam. (8, 16 ist auch ad Attic. 10, 9 eingelegt.) — Weoehaupt, Das Leben des M. Caelius
Rufus, Bresl. 1878. Wixschhölteb, Das Leben des C. R., Leipz. 1886.
Dass auch der Stil Caesars und Cornelius Nepos' mit dem attischen
verwandt war, kann füglich nicht bezweifelt werden.
Die Thätigkeit der Attiker währte nur kurze Zeit, meist wurden sie
von einem frühen Tod dahingerafft. Als Cicero seine Tusculanen schrieb
(44 V. Ch.), konnte er triumphierend ausrufen, dass die Neuattiker, vom
Forum selbst verlacht, verstummt sind.
3. M. Tullius Cicero.
140. Biographisches. Was wir bei Caesar sagten, dass es nicht
möglich ist, in einer Litteraturgeschichte ein auch nur annähernd voll-
ständiges Bild desselben zu entwerfen, das gilt auch hier von Cicero. Wir
können nur einige Hauptdata aus dem Leben desselben vorführen; doch
wird im Verlauf, besonders bei den Reden noch sich Gelegenheit ergeben,
auf das eine oder das andere biographische Ereigniss aufmerksam zu machen.
Cicero ist geboren den 3. Januar 106 in Arpinum. Dieser Ort ist
auch die Heimat des Marius. Dass durch dessen weithin leuchtenden Ruhm
der Ehrgeiz des Jünglings geweckt wurde, ist zweifellos. Seinen Unter-
richt erhielt Cicero in Rom, Er lief vorwiegend auf die Bildung zum
Redner hinaus. Sehr fördernd war für ihn der Umgang mit den berühm-
ten Rednern M. Antonius und L. Crassus. Auch mit dem hochbejahrten
Dichter M. Accius (Brut. 28, 107) und mit dem griechischen Poeten Archias
trat er in Verkehr (pro Archia 1,1). Da dem Redner juristische Kennt-
nisse unbedingt nötig waren, so suchte Cicero solche im Anschluss an den
berühmten Rechtslehrer, den Augur Q. Mucius Scaevola und den uns aus
§ 80 bekannten pontifex Q. Mucius Scaevola (Cons. 95) zu gewinnen. Auch
der Philosophie blieb Cicero nicht fremd ; aber er pflegte sie doch nur, um
die rednerische Fertigkeit dadurch zu steigern. Er fand daher an der
epikureischen Lehre seines ersten Lehrers der Philosophie, Phaedrus, wenig
Gefallen; er fühlte sich zu der dem Redner sehr entgegenkommenden Aka-
demie hingezogen; diese wurde ihm zuerst vermittelt durch Philo, den
Schüler des Clitomachus. Ausserdem war der Stoiker Diodotus in die
Ciceronische Familie gezogen worden. Es begannen nun die schriftstel-
lerischen Versuche Ciceros; auch trat er als Redner in mehreren Prozessen
auf. Doch hielt er seine Bildung noch nicht für abgeschlossen; er suchte
dieselbe durch eine Reise nach Griechenland abzurunden. Hier verweilte
er von 79 bis 77. In Athen hörte er den Akademiker Antiochus, dann
M. TaUiiu Cicero. 195
die Epikureer Zeno und den ihm bereits von Itom her bekannten Phaedrus;
allein auch diesmal konnte er sich für den Epikureismus nicht erwärmen;
femer den Lehrer der Beredsamkeit Demetrius. Von Athen wandte er
sich nach Asien und Rhodus. In Asien wurde er mit dem sog. asianischen
Barockstil bekannt, in Rhodus gewann der Redner Molo auf ihn den gröss-
ten Einfiuss. Von diesem Unterricht datiert Cicero einen völligen Um-
schwung seiner Beredsamkeit. Nach seiner Rückkehr setzte er seine red-
nerische Thätigkeit fort; im Jahre 75 betrat er als Quästor von Sicilien
die Beamtenlaufbahn; 69 wurde er curulischer Adil, 66 Praetor urbanus,
endlich 63 Konsul. In sein Konsulat fiel die catilinarische Verschwörung,
durch deren Unterdrückung er sich unleugbare Verdienste um den römi-
schen Staat erworben. Allein diese Verdienste wurden getrübt durch die
masslose Eitelkeit und Überhebung, mit der er bei jeder Gelegenheit selbst
seinen Ruhm verkündete. Übrigens führte die catilinarische Verschwörung
verhängnisvolle Folgen für Cicero herbei. Wider Gesetz und Verfassung
wurde vom Senat die Todesstrafe gegen die Verschwörer beschlossen und
von Cicero als Konsul vollzogen. Da Cicero den Triumvirn unbequem
geworden war, benützten sie jenen Verstoss gegen das Gesetz, um ihren
Gegner zu beseitigen. Ihr Werkzeug, der Volkstribun Clodius Pulcher
brachte den Gesetzesvorschlag ein, ut qui civem Romanum indemnatum in-
teremisset, ei aqua et igni interdiceretur. Gegen wen diese Worte gerichtet
waren, wusste alle Welt. Cicero beschloss in den Kampf nicht einzutreten
und die Stadt zu verlassen. Jetzt kam das Verbannungsgesetz gegen ihn
zu stände. Seine Verbannung währte von April 58 bis August 57. Ein
Beschluss der Centuriatkomitien genehmigte seine Rückkehr. Dieselbe er-
folgte unter grossen Ehrungen. Von 51 — 50 war Cicero Prokonsul von
Cilicien. Nach seiner Rückkehr fand er tiefgehende Differenzen zwischen
Caesar und Pompeius, die bereits zu offenem Kampf geführt hatten. Die
Notwendigkeit, Partei zu ergreifen, fiel Cicero ausserordentlich schwer.
Nach längerem Zögern entschied er sich für Pompeius ; er folgte ihm nach
Dyrrhachium. Als der Kampf entschieden war, harrte Cicero in Brundi-
sium der konmienden Dinge (48 — 47). Auch die folgenden Jahre zwangen
ihn, zurückgezogen vom öffentlichen Leben dahinzubringen, er versenkte
sich ganz in die litterarische Thätigkeit. Erst mit dem Tod Caesars
(15. März 44) ward die Bahn für Cicero wieder frei. Allein dieses erneute
Hervortreten sollte ihn dem Untergang weihen. Er trat in einen Kampf
mit M. Antonius ein, der seine Proscription und infolgedessen seinen Tod
(7. Dezember 43) herbeiführte.
Die reiche Schriftstellerei Ciceros werden wir nach folgenden sechs
Rubriken behandeln: er) Die Reden; ß) Die rhetorischen Schriften; /) Die
Briefe; d) Die philosophischen Schriften; s) Die historischen und geogra*
phischen Arbeiten; f) Die Gedichte. Besondere Ausführlichkeit werden wir
in der ersten Rubrik walten lassen, da auf den Reden grösstenteils die
litterarische Bedeutung Ciceros beruht.
Von Plutarch haben wir eine Biographie Ciceros. Verloren ist Atdcus' Lobschrift
anf GiceroB Konsalat in griechischer Sprache, vgl. § 116, femer die von Comelins Nepos
verfasste Biographie, vgl. § 126, endlich das Leben Ciceros von Tiro.
Ober das Jahr und den Tag seiner Geburt vgl. Gell. 15, 28, % a Q. Caepione et Q, Ser-
13*
196 BOmische Litteratnrgesohichte. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
rano, guibus cansulibus ante diem teriium Nonas Januarii m. M, Cicero ncUus est. Seinen
Gebiirtstag gibt Cicero selbst an ad Att. 7, 5, 3.
Wir geben nur die Hauptbelegstellen über den Bildungsgang Ciceros. Andere Daten
werden bei den Reden ihre Beglaubigung finden.
Ober seinen Anschluss an die beiden Scaevola vgl. Cic. Lael. 1, 1 Ego a patre tta
eram deductua ad Seaevolam (augurem) aumpta virUi toga, tU, quoad possem et liceret, a
aenis latere nunqiMm diacederem. Itaque — fieri atudeham eius pntdentia doctior. Quo
martuo me ad pantificem Scaevolam cotUtdi.
Seinen ersten philosophischen Unterricht beleuchten folgende Stellen: Ep. 13, 1, 2
a Phaedro, qui nobia, cum pueri eaaemua, antequam Philonem cognovimua, vaide ut philo-
aophua, poatea tarnen ut inr bonua et auavia et officioaua probabatur. Brut. 89, 306 cum prin-
cepa Academiae cum Athenienaium optumatibua Mithridatico beUo domo profugiaaet Romam-
que veniaaet, totum ei me tradidi admirabiU quodam ad philoaophiam atudio concitatus.
90, 309 Eram cum atoico Diodoto, qui cum habitariaaet apud me mecumque vixiaaet, nuper
eat domi meae mortuua. A quo cum in aliia rebua tum atudioaiaaime in dialectica exercebar.
Auch Aber seine griechische Reise wird im Brutus ausführlich berichtet. 91, 315
Cum veniaaem Athenaa, aex menaea cum Antiocho, veteria academiae nobüiaaimo et prüden-
tiaaimo philoaopho fui atudiumque philoaophiae nunquam intermiaaum a primaque adofe-
acentia cuUum et aemper auctum hoc rtiraua aummo auciore et doctore renovavi. De deorum
nat. 1, 21, 57 Zenonem, quem Philo noater coryphaeum appeUare Epicureorum aolebat, cum
Athenia eaaem, audiebam frequenter, et quidem ipso auctore Philone. Dass er mit Atticus
auch den Phaednis in Athen hörte, geht hervor aus Cic. de fin. 1, 5, 16.
Die rhetorischen Studien, die er auf der Reise gemacht, schildert Brut. 91, 315 Eodem
tempore Athenia apud Demetrium Sgrum, veterem et non ignobüem dicendi magiatratum,
atudioae exerceri aolebam, Poat a me Aaia tota peragrata est — die von ihm gehörten Redner
waren Menippus aus Stratonicea in Earien, dann Dionjsins aus Magnesia, Aeschylus aus
Gnidus, Xenocles aus Adramytteum. Qutbua non contentua Rhodum veni meque ad eundem,
quem Romae audiveramy Molonem applicavi, cum actorem in veria cauaia acriptoremque prae-
atantem tum in notandia animadvertendiaque vitiia et inatituendo docendoqueprudcntiaaimum.
Litteratur: Die beste Darstellung Aber Cicero findet sich bei DRüXAinr, Geschichte
Roms; sie steht im V. und VI. Band. Auch Middlbton, history of the life of Cicero^ Lond.
1741 ist ein gutes Werk. Nicht vollendet BbOckneb, Leben des Cicero I. Teil, Gott. 1852.
SuBiNOAB, commentarii rerum auarum a. de vita aua, London 1854. Populär Boissier,
Cic^ron et aea amia, Paris 1865 (deutsch von Döhler, Leipz. 1869).
a) Ciceros Reden.
141. Die erste Periode der ciceroniBchen Beredsamkeit (81—66).
Bei den Beden sehen wir uns nach gewissen natürlichen Einschnitten um.
Ich meine, als solche ergehen sich ungesucht das erste rednerische Eingreifen
Ciceros in eine Staatsangelegenheit, die Rückkehr von der Verbannung,
die Zeit nach der Rückkehr von Cilicien. So erhalten wir vier Perioden
der ciceronischen Beredsamkeit. Der ersten gehören folgende Beden an:
1. pro P. Quinctio. Diese Rede, welche die älteste der erhaltenen
ciceronischen Beden ist, fällt in das Jahr 81 und betrifft eine Privatrechts-
streitigkeit. Cicero verteidigt die Sache des P. Quinctius gegen Sex. Nae-
vius vor dem Vorsitzenden C. Aquilius. Gegnerischer Anwalt war Q. Hor-
tensius (1, 8). Der Bechtsfall war folgender: C. Quinctius, ein römischer
Bitter, der in Gallia Narbonensis eine ausgedehnte Ökonomie betrieb, ging
mit Sex. Naevius ein Eompaniegeschäft ein. Als C. Quinctius im J. 85
starb, war sein Bruder P. Quinctius, der Beklagte sein Erbe. P. Quinctius
suchte das von seinem Bruder mit Sex. Naevius eingegangene Societäts-
verhältnis zu lösen. Allein durch die Intriguen des Sex. Naevius wollte
die Lösung sich nicht in gütlicher Weise bewerkstelligen lassen. Ver-
hängnisvoll für die Sache des P. Quinctius war, dass Naevius klagte, es
sei ihm ein von Quinctius zugesichertes Vadimonium nicht eingehalten
worden und auf Grund dieses Vadimonium desertum und einer nachgewie-
Cioeros Beden. 197
senen Schuldfordening, die er an P. Quinctius habe, vom Prätor Burrienus
Einweisung in die Güter des Beklagten (missio in bona P, Qiiinctii rei ser-
vandae causa) verlangte (6, 25). Der Prätor gewährte diese Forderung.
Es erhob dagegen Einspruch der Vertreter des P. Quinctius, Sex. Alf onus.
Allein da dieser eine gesetzliche Förmlichkeit nicht beobachten wollte, so
trat wiederum eine Verschleppung der Angelegenheit ein. Sex. Naevius
regte nun eine neue Streitfrage an; er behauptete, er sei im Besitz der
Güter des Beklagten nach prätorischem Edikt seit dreissig Tagen. P.
Quinctius sei daher als infamis, als unzuverlässig, anzusehen und müsse
für den Rechtsstreit Bürgschaft (satisdatio iudicatum sohi) leisten. Der
Prätor Gn. Dolabella dekretierte, dass P. Quinctius entweder satisdatio leiste
oder den Nachweis liefere, dass Sex. Naevius nicht seine (des P. Quinc-
tius) Güter seit dreissig Tagen nach dem prätorischen Edikte besitze. Da
P. Quinctius, um seinen Ruf nicht zu gefährden, die satisdatio verweigerte,
so war nach der Entscheidung des Prätors ein eigenes Gerichtsverfahren
notwendig, um die zweite Alternative zu entscheiden. Die anbefohlene
Form war die sponsio praeiudidalis. Und auf diesen Sponsionsprozess be-
zieht sich unsere Rede. Die Beweislast wurde dem Quinctius auferlegt;
er wurde dadurch in die Rolle eines Klägers gedrängt (9, 35) ; er hatte den
Nachweis zu liefern, dass die Behauptung des Sex. Naevius, er sei dreissig
Tage im ediktmässigen Besitz der Güter des P. Quinctius, unrichtig sei.
Der springende Punkt der Klage erhellt aus 8, 30 a Cn. Dolabella denique praetore
pastulai, ut sibi Quinctius iudicatum solvi satis det, ex farmula: QUOD AB EO PETAT,
QUOIUS EX EDICTO PRAETORIS BONA DIES XXX POSSESSA SINT — Jubel
(Dolabella) P, Quinctium sponsionem cum Sex. Naevio faeere: SI BONA SÜA EX EDICTO
P. BÜRRIENI PRAETORIS DIES XXX POSSESSA NON ESSENT, Recusabant qui
aderant tum Quinctio, demonstrabant de re iudicium fleri oportere, ut aut uterque inter ae
aut neuter acUis daret; non necesse esse famam alterius in iudicium venire, Clamabat porro
ipse Quinctius sese idcirco noUe satis dare, ne videretur iudicasse bona sua ex edicto pos-
»essa esse; sponsionem porro si istius modi faceret, se, id quod nunc evenit, de capite suo
priore loco causam esse dicturum. DolabeUa — iniuriam faeere fortissime perseverat; aut
satis dare aut sponsionem iubet faeere, et interea recusantes nostros advocatos acerrime stib^
moteri, Conturbatus sane discedit Quinctius; neque mirum, cui haec Optio tarn misera tamque
iniqua daretur, ut aut ipse se capitis damnarety si satis dedisset, aut causam capitis, si
sponsionem fecisset, priore loco diceret. Cum in altera re causae nihil esset, quin secus iudi-
caret ipse de se, quod iudicium gratissimum est, in altera spes esset ad talem tamen virum
iudicem veniendi, unde eo plus opis auferret, quo minus atttUisset gratiae, sponsionem faeere
mcUuit; fecit; te iudicem, C. AquUi, sumpsit; ex sponso egit. In hoc summa iudicii causaque
tota eonsistit.
Ober die Gliederung der Rede vgl. 10, 36 negamus te bona P. Quinctii, Sex. Naevi,
possedisse ex edicto praetoris. In eo sponsio facta est. Ostendam primum causam non fuisse,
cur a praetore postulares, ut bona P. Quinctii possideres, deinde ex edicto te possidere non
potuisse; postremo non possedisse. Der erste Teil ist im Grunde genommen für die Rechts-
frage irrelevant. Im zweiten Teil 19, 60 — 27, 85 steckt der Hauptbeweis. Der dritte Teil
ist verloren gegangen. (Nach Mommsen 1. c. p. 1099 „scheint Cicero yielmehr absichtlich
diesen minder interessanten Teil bei der Herausgabe weggelassen zu haben wie pro Fonteio 5,
pro Mur.27*.)
Die Oberlieferung der Rede beruht nur auf jüngeren Handschriften. Einige Para-
graphen enthält der Palimpsestus Taurinensis (vgl. Baitbr in der Notarum explicatio).
Litteratur: Das Juristische erörtern Eelleb in den Semestr. ad M. T. Cic. libri sex
p. 1 — 198. (MoxKSEN, Ztschr. f. Altertumsw. 1845 p. 1084.) Habtmanh, R. Kontumazialverf.
p. 10. Fbei, Der Rechtsstreit zwischen P. Q. und S. N., Zürich 1852. Bekfby, Philol. 10, 126.
BBTHKAim-HoUiWEO, R. Civilproz. 2, 784. Oetliiyo, Ober Ciceros Quinctiana, Oldenb. 1882.
2. pro Sex. Roscio Amerino. Es ist dies die erste Kriminal-
klage, in der Cicero auftrat (80 v. Chr.). Sex. Boscius aus Ameria in
198 Bömiflohe LitieratargeBchiohte. I« Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Umbrien, ein sehr reicher Mann, wurde, als er abends vom Mahle heim-
kehrte, in der Nähe der pallacinischen Bäder in Rom ermordet (7, 18).
Obwohl das Aufhören der Proscriptionen schon angeordnet war (44, 128),
wurde doch der Name des ermordeten Sex. Roscius auf die Proscriptions-
listen gesetzt (8, 21); von seinen Landgütern erhielt drei ein Verwandter,
Titus Roscius Capito, elhen Teil kaufte der Günstling Sullas Chrysogonus,
auch ein zweiter Verwandter, Titus Roscius Magnus, wusste sich seinen
Vorteil zu sichern. Auf Anstiften dieser drei Gesellen, welche für ihren
Raub fürchteten, wurde Erucius veranlasst, gegen Sex. Roscius, den Sohn
des Getöteten, eine Klage wegen Vatermordes einzubringen. Die Verhand-
lung leitete der Prätor M. Fannius. Die Verteidigung Ciceros war wegen
des Interesses, das der mächtige Chrysogonus an der Verurteilung des
Sex. Roscius hatte, sehr erschwert; doch gelang es seiner Beredsamkeit,
die Freisprechung seines Klienten zu erreichen. Wenn auch Cicero sicht-
lich bestrebt ist, Sulla zu schonen, so ist doch der Freimut, welchen die
Rede zeigt, anerkennenswert.
Schol. GronoY. p. 424 Orelli. Sex. Roscius adclescens parricidii cuicuscUus est — et
absolutus. Über die Schwierigkeit der Verteidigung vgl. 13,35: tres sunt res, quantum ego
existimare possum, guae obstent hoc tempore Sex. Roscio, crimen adversariorum et audacia
et potentia. Criminis confictionem aecusator Erucius suscepit, audaeiae partes Roscii sibi
poposcerunt, Chrysogonus ttutem, is qui plurimum potest, potentia pugnat.
Überlieferung: Poggio war es, der unsere Rede nach Italien brachte. Auf dieses
Exemplar gehen alle unsere (jfingem) Codices zurück. Unter denselben ist ein Wolfen-
buttelanus nr. 205 beachtenswert. Schon das Original hatte eine grössere Lficke 45, 132,
in welcher der Beweis geliefert war, dass die Güter des Sex. Roscius nicht zum wirklichen
Verkauf gelangten. Für 1, 1 — 2, 5 possem kommt auch der Vatikanische Palimpsest in Betracht
3. pro Q. Roscio comoedo. In dieser Rede handelt es sich um
folgenden verwickelten Privatrechtsfall. C. Fannius Ghaerea hatte einen
Sklaven Panurgus. Da er in demselben ein schauspielerisches Talent er-
kannte, so übergab er ihn dem Schauspieler Roscius zur Ausbildung und
schloss zugleich mit ihm einen Societätevertrag, nach* dem die Einkünfte
welche Panurgus' Kunst abwerfe, zwischen ihm und Roscius geteilt werden
sollten. Die Ausbildung des Panurgus nahm guten Fortgang; er konnte
schon um eine hohe Summe vermietet werden (10, 28). Da wurde er
von Q. Flavius aus Tarquinii getötet. Die beiden Societäre stellten nun
Klage auf Schadenersatz; und zwar fungierte Fannius in der Klage als
cognitor (Stellvertreter) des Roscius. Allein Roscius verglich sich auf pri-
vatem Weg mit Flavius, indem er ein Landgut, welches von Fannius auf
600,000 Sesterzien ^) geschätzt wurde, von Flavius annahm. Damit war ein
Streitobjekt gegeben. Fannius behauptete, jener Vergleich mit Flavius sei
für die Societät geschlossen und verlangte Entschädigung. Nun hören wir
von einem merkwürdigen Vergleich, den C. Piso vermittelte; er stellte an
Roscius das Ansuchen, dem Fannius 100,000 Sesterzien auszuzahlen, aber
zugleich Fannius zu verpflichten, von allem, was er von Flavius erhalte,
dem Roscius die Hälfte zuzusichern. Auf diesen Vergleich ging Fannius
freudig ein; Roscius zahlte die erste Hälfte, 50,000 Sesterzien; die zweite
Hälfte von 50,000 Sesterzien weigerte er sich zu zahlen, er hatte nämlich
in Erfahrung gebracht, dass Fannius von Flavius 100,000 Sesterzien be-
0 MomcsEV; Hermes 20, 317.
Gioaros Beden. 199
kommen hatte. Um diese zweite Rate dreht sich der Prozess, der wiederum
vor Piso geführt wird und in dem als Vertreter des Fannius P. Saturius
auftritt. Die Rede ist am Anfang und am Ende verstümmelt.
U, 32 Panurgum inquit (Fannius), hunc servum communemf Q, Flavius TarqmniensU
quidam inierfecU. In hanc retn, inquit, me eognitorem dedisti. tAte contestata, iudicio damni
iniuria constUuto tu sine me cum Flavio decidisti. — ,118 CCCIOOD (unrichtig vgl. MomcsEi«
1. c.) tu abstuListi,* 12, 38 sed hanc decisionem Rosci oratione et opinione augere licet;
re et teritate mediocrem et tenuem esse invenietis. Accepit enim agrum temporibus iis, cum
iacerent pretia praedi&rum — qui nunc muUo pluris est quam tunc fuit. 12, 34 Hue universa
rmtsa deducitur, utrum Roscius cum Flavio de sua parte an de tota societate fecerit pac-
tionem, 13,37 criminaiio tua quae est? Roscium cum Flavio pro societcUe deddisse.
Über den Vergleich des Piso lautet der Bericht 13,38: Tu (Piso) Q, Roscium pro
opera ac labore, quod cognitor fuisset, quod vadimonia obisset, rogasti, ut Fannio daret HS
CCCIOOD hac condicione, ut, si quid ille exegisset a Flavio, partem eius dimidiam Roscio
dissolveret. Die Summe 100,000 Sestertien hat man für verdorben erachtet und durch eine
andere ersetzt, mit Unrecht vgl. Babon 1. c. p. 126. — 17, 51 falsum subornavU testem Roscius
Cluvium! (Einwand) Cur, cum altera pensio solvenda esset, non tum, cum prima? nam iam
antea HS lOOO dissolverat, — 13, 89 Quid si tandem planum faeio, post decisionem veterem
Rosci, post repromissionem recentem hanc Fanni HS CCCIOOO Fannium a Q. Flavio
Fanurgi nomine abstutisse?
Corradus setzt die Rede ins J. 70, Manutius ins J. 68, Ferratius ins J. 77, Landgraf,
De Cic. elocut,, Wflrzb. 1878 p. 47 ins J. 77 oder 76; am wahrscheinlichsten ist das Jahr 68.
Vgl. Dbumavn 5, 348.
Über die Überlieferung vgl. Baiteb-Halx 2, p. 111. Die Rede stand in der von
Poggio aufgefundenen Handschrift. Sie folgte auf die Rede pro Rabirio perdueüionis reo.
Durch den Ausfall einiger Blätter ist der Schluss der Rede pro Rabirio und der Anfang der
Rede pro Roscio verloren gegangen. Aber auch am Schluss der Rosciana fehlen Blätter.
AVir sind auf jüngere apographa angewiesen.
Litteratur: Pucbta, Über den der Rede p. R. C. zu Grunde liegenden Rechtsstreit
in Civil. Schriften p. 272. Schmidt, Cic. or. pro Q, R., Leipz. 1839. Bbthmann-Hollwbo,
R. Civilproz. 2, 804. Babok, Der Prozess gegen den Schauspieler Roscius in der Zeitschr. für
Rechtsgesch. Rom. Abt. 1, 117. Ruhstbat ebenda 3,34.
4. pro M. Tullio. Von dieser Rede sind uns nur Bruchstücke durch
einen Palimpsest in Turin und einen Palimpsest in Mailand überliefert. Die
Rede, welche die zweite in der Angelegenheit ist (2, 4; 2, 5), hat eine
Schadenersatzklage zum Gegenstand, welche vor recuperatores verhandelt
wurde. Kläger ist M. Tullius, von Cicero vertreten; Beklagter ist P. Fa-
bius, den L. Quinctius verteidigt. Der Fall ist kurz gefasst folgender:
Fabius hatte in der Gegend von Thurii in Lucanieii ein Landgut, welches
an die Besitzung des M. Tullius angrenzte, gekauft. Zwischen beiden
Nachbarn kam es zu einem Besitzstreit; Fabius beanspruchte nämlich für
sich die populische Feldmark (centuria Populiana), die M. Tullius als aus
seinem väterlichen Besitz stanmiend, sonach als sein Eigentum bezeichnete.
Fabius begab sich zum Tullius und verlangte, er solle auf herkömmliche
Weise das Eigentumsrecht absprechen oder sich absprechen lassen. Tullius
sagte das zu und versprach sein Erscheinen vor Gericht in Rom. Allein
in der folgenden Nacht drangen Sklaven des Fabius in das auf der popu-
lischen Feldmark liegende Gebäude ein, richteten dort grosse Verheerungen
an und töteten die dort befindlichen Sklaven des M. Tullius mit Ausnahme
eines einzigen. Wegen dieses Vergehens stellte M. Tullius Klage wegen
Schadenersatzes.
Die Klage formuliert Cicero also 3, 7 iudicium vestrum est, recuperatores, QUANTAE
PECUNIAE PARET DOLO MALO FAMILIAE P. FABI VI HOMINIBÜS ARMATIS
COACTISVE DAMNUM DATUM ESSE M, TULLIO, Eius rei taxationem nos fecimus;
200 ROmisohe Litteratnrgescbiohte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
aestimatio vestra est; iudicium datutn est in quadruplum. In der Rede handelt es sich be-
sonders um die Interpretation des dolo malo.
Die Zeitbestimmung hängt davon ab, wann der in der Rede (17, 39) erwähnte Metellus
Prätor war. , Unter den Cäciliem war Q. Metellus Creticus 69 Konsul und sein Bruder
Lucius 68; in demselben Zeitverhältnisse übernahmen sie die Prätur 72 und 71, deshalb
und weil in der Rede der Vorname fehlt, ist es nicht zu verbürgen, dass die angeJFührte
Stelle sich auf den jüngeren bezieht, und also die Rede in das Jahr 71 und nicht schon
in das vorhergehende gehört/ (Drumakn 5, 258.)
Litteratur: Saviony, Verm. Schriften 3, 228. Ph. E Husghke in J. G. Huschke*s
analecta litteraria, Leipz. 1826 p. 77. Keller, Semestr, ad Ciceronem p. 539.
5. Die im Prozess gegen Verres gehaltenen 7 Reden. C.Ver-
res erhielt im J. 73 als Proprätor die Provinz Sicilien, welche er erst im
J. 70 nach Eintreffen seines Nachfolgers L. Caecilius Metellus verliess.
In seiner Verwaltung liess sich Verres schamlose Erpressungen zu Schul-
den kommen; als er die Provinz verlassen, erhoben die sicilischen Gemeinden
(70) mit Ausnahme der Syracusaner und Mamertiner Klage und erwählten
sich den ihnen von seiner sicilischen Quästur her bekannten Cicero als
ihren Vertreter. Hauptverteidiger des Verres war Q. Hortensius. Als die
Klage bei dem Prätor M'. Acilius Glabrio angemeldet war, suchte Q. Cae-
cilius Niger, der Quästor des Verres war, um Gewährung der Klage nach.
Es musste also ein Vorverfahren eintreten zur Entscheidung, wem von
beiden die Klage zu übertragen sei. Dieses Vorverfahren vor unbeeidigten
Richtern hiess divinaiio. Die Thätigkeit der Richter bestand hier nicht
in einem iudicarej da ja Beweismittel fehlten, sondern in einem divinare,
im Ahnen und Vermuten, wer sich am besten zur Durchführung der Klage
eigne. Durch seine Rede, die sog. divinatio in Caecilium setzte es Cicero
durch, dass er die Klage stellen durfte. Nun erbat sich Cicero eine Zeit
von 110 Tagen, um sich in Sicilien die nötigen Beweisbehelfe zu ver-
schaffen. Da meldete sich auf Anstiften der Gegenpartei ein unbekannter
Mann, der Verres wegen Erpressungen in Achaja belangen wollte und sich
zu diesem Zweck eine Frist von 108 Tagen erbat (Actio pr. 2, 6). Dieses
Vorgehen sollte bewirken, dass zuerst dieser Prozess behandelt und Ciceros
Klage verschoben würde. Allein Cicero beendete trotz aller Schwierig-
keiten, die ihm gemacht wurden, seine Nachforschungen viel früher, als
in 110 Tagen, nämlich' in 50 Tagen. Der unbekannte Kläger erschien
nicht an dem festgesetzten Termin. Dagegen drohte jetzt eine andere
Gefahr. Für das Jahr 69 war zum Prätor M. Metellus gewählt worden.
Das Los überwies ihm auch den Vorsitz gerade in dem Gerichtshof, der
über Erpressungen zu urteilen hatte (Actio pr. 8, 21). Dieser Metellus war
dem Verres günstig gestimmt. Da für den Prozess eine zweite Verhand-
lung (comperendinatio) vorgeschrieben war, so suchte die Partei des Verres
diese zweite Verhandlung, welcher das richterliche Urteil zu folgen hatte,
in das folgende Jahr, in dem Metellus zu amtieren hatte, hinüberzuspielen. ^
Diese Intrigue vereitelte Cicero dadurch, dass er bei der ersten Verhand-
lung zur Abkürzung des Verfahrens auf eine zusammenhängende Rede
verzichtete und nur eine kurze Einleitung vorausschickte und dann an der
Hand der Zeugen und auf Grund der Beweismittel gleich die einzelnen
Klagepunkte vorführte. Die von Cicero formulierte Klage lautete dahin,
^) In welcher Weise dies möglich war, zeigt Cicero Actio pr. 10, 30 f.
CioeroB Beden. 201
dass Verres widerrechtlich in Sicilien eine Summe von 40 Millionen Se-
sterzien erpresst habe. Das Material, das Cicero vorführte, war so er-
drückend, dass Yerres während der Verhandlung sich freiwillig in die
Verbannung begab. Es kam also gar nicht zu einer zweiten Verhandlung;
lediglich eine Verhandlung zur Feststellung des Schadenersatzes war not-
wendig. Nachdem die Verhandlung vorüber war, verarbeitete Cicero seinen
reichen Stoff in 5 Büchern, behielt aber die Fiction bei, als seien diese
Reden bei einer zweiten Verhandlung gehalten worden, während
doch eine solche gar nicht statt hatte. Von diesen 5 Büchern behandelt
das erste besonders die städtische Prätur des Verres vom Jahre 74 (de
praetura urbana), gehört also eigentlich nicht zum Elaggegenstande. Die
übrigen vier Bücher beziehen sich alle auf Verres' Verwaltung von Sicilien.
Das zweite Buch erörtert hauptsächlich seine Jurisdiction in Kriminal- und
Privatsachen (de praetura Siciliensi), das dritte schildert seine Verwaltung
des Getreidewesens (Oratio frumentaria), das vierte erzählt seine Eunst-
räubereien (de »ignis), endlich das fünfte über das, was Verres für die
Sicherheit der Provinz gethan. Da hier besonders Gewicht darauf gelegt
wird, dass Verres über römische Bürger die schwersten Leibesstrafen ohne
Grund verhängt, gaben die Grammatiker diesem Buch den Titel de suppli-
ciis. Die Einleitung zu der Verhandlung, die wirklich gehalten wurde, ist
die Actio prima, während die fünf Bücher die fingierte actio secunda dar-
stellen. Diese fünf Bücher gehören zu den wichtigsten Quellen des römi-
schen Altertums; für die Verwaltung der römischen Provinzen, für die
Geschichte Siciliens, für die antike Kunst geben sie uns die wertvollsten
Zeugnisse an die Hand. Der rhetorische Wert derselben ist dagegen viel
geringer anzuschlagen, da schon die Fiction, auf der diese Beden beruhen,
einen reinen Genuss nicht aufkommen lässt.
Ül)er die divinatio Gellius 2, 4 cum de constituendo acciisrUore quaeritur Uidicium-
que super ea re redditur, cuinam potissimum ex duobus plurihusve accusatio »ubseripiiove
in reum permittatur, ea res atque iudicum cognitio divinatio appellatur, — Gavius Bassus in
tertio fibrarum, quas de origine vocabulorum compasuU, divinatio, inquit, iudicium appel-
latur, quoniam divinet quodam modo iudex oportet, quam sententiam sese ferre par sit,
was dann Gellius weiter ausffthri.
Ober sein Verfahren bei der ersten Verhandlung 11,33 fructum istum laudis, qui
ex perpetua oratione percipi potuit, in alia tempora reservemus; nunc hominem tabxdis,
testibus, privatis publieisque litteris auctoritafibusque accusemus, 17, 55 faciam hoc non
norum, sed ab iis, qui nunc principes nostrae civitatis sunt, ante factum, ut testibus utar
staiim; illud a me novum, iudices, cognoscetis, quod ita testes constituam, ut crimen totum
explicem, ubi id argumentis atque oratione firmavero, tum\ testes ad crimen accommodem,
ut nihil inter iüam usitatam accusationem atque hanc novam intersit, nisi quod in iUa tum,
cum omnia dicta sunt, testes dantur, hie in singulas res dabuntur, ut Ulis quoque eadem
interrogandi facultas, argumentandi dicendique sit, Si quis erit, qui perpetuam orationem
accusationemque desideret, altera actione audiet. Vgl. noch Actio sec. 1« 10, 29.
Das lOagobjekt lautet (17, 56) Dieimus C. Verrem, cum muUa libidinose, multa cru-
deliter in eives Romanos atque socios, multa in deos hominesque nefarie fecerit, tum praeter ea
quadringentiens sestertium ex Sicilia contra leges abstulisse.
In der ersten Rede der Actio secunda sagt Cicero 12, 34 quaestor Cn, Papirio con-
sule fuisti abhinc annos quattuordecim. Ex ea die ad hanc diem quae fecisti, in iudicium
voco; hora nulla vaoM a furto, scelere, crudelUate, flagitio reperietur, Hi sunt anni consumpti
in quaestura et legatione Äsiatica et praetura urbana et praetura Siciliensi. Quare haec
eadem erit quadripertita distributio totius aceusationis meae. Die drei ersten Punkte sind
in der ersten Rede behandelt, der vierte dagegen in der zweiten Rede.
In der dritten Rede disponiert der Redner also : 5, 1 1 m causa tripertita, iudices,
erit in accusatione, primum de decumano, deinde de empto dicemus frumento^ postremo de
202 Bömiache Lüteratnrgeschiohte. I. Die Zeit der Bepnblik« 2. Periode.
aesHmato (d. h. über den Fruchtzehnt vom ager publicuSf über die Gretreidelieferungen zur
Verteilung in Rom, für die eine bestimmte Taxe gezahlt wm*de; endlich von dem Getreide,
das für den Haushalt (in cellam) des Prätors bestimmt war und das entweder in natura
entrichtet oder nach einem Normalpreis bezahlt werden konnte).
In der Rede de signis zeigt der Redner zuerst, welche Kunstschätze Verres Privat-
personen, dann welche er Städten und Tempeln geraubt (vgl. 32, 72).
In der fünften Rede weist der Redner nach, dass mit Unrecht Verres den Ruhm in
Anspruch nimmt, Sicilien von flüchtigen Sklaven und Kriegsgefahren gerettet zu haben
(provinciam Siciliam virtute istitis et mgilantia aingxdari dtibiis farmidoJosisque iemparihus^
a fugitivis atque a belli periculis tutam esse servatam 1, 1); er schliesst seine Beweisführung
mit den Worten nihil ex fugitivorum hello aut suspitione beUi Jaudis adeptus est, quod
neque bellum eius tnodi neque belli periculum fuit in Sicilia neque ab isto provisum est, ne
quod esset (17,42). Er zeigt nun im zweiten Teil, dass Verres die Flotte sträflich vernach-
lässigte und eine schmähliche Niederlage durch die Seeräuber verschuldete (17, 42 — 52, 136).
Im letzten Teil endlich wird ausgeführt, dass Verres ohne Grund die schwersten Leibes-
strafen über römische Bürger verhängt hat (causa ^ quae non ad sociorum salutem, sed ad
cimum Romanorumj hoc est ad unius cuiusque nostrum, vitam et sanguinem pertinei [53, 139]).
Überlieferung: Für die Divinatio in Caecilium, actio prima und das Buch 1 der
actio secunda sind die verlässigsten Quellen zwei Guelferbytani, dann ein vetus codex
Stephani und ein vetus codex Lambini. — Für die Bücher 2 und 3 ist der beste Zeuge
der Lagomarsinianus nr. 42. — Für die Bücher 4 und 5 ist die reinste Überlieferung in dem
Parisinus Regius 7774 A s. IX. (Msusel, Berl. Progr. 1876. Nohl, Hermes 20, 56.)
Litteratur: Brauneisen, Bemerk, über die verr. Reden, Hadersl. 1840. Deoknkolb,
Die lex Uieronica und das Pfändungsrecht der Steuerpächter, Beitr. zur Erklärung der
Verrinen, Berl. 1861. König, De Cic, in Verr, artis operum aestimatore, Jever 1863, uoeh-
LiNo, De Cicerone artis aestimatore, Halle 1877.
6. pro M. Fonteio, höchst wahrscheinlich aus dem J. 69. Die Rede
ist uns nur in Bruchstücken erhalten durch einen Vaticanus (im Tabularixtm
Basükae Vatkanae), Hierzu kommen noch Teile aus einem PalimpsestuH
PalatinuB' Vaticanus und einer Handschrift des Nicolaus von Cues (bei Trier).
In der Rede wird M. Fonteius wegen der Erpressungen, die er sich während
seiner Statthalterschaft in Gallia Narbonensis zu Schulden kommen Hess,
belangt. Die Anklage erfolgte besonders auf Betreiben des Indutiomarus, des
Häuptlings der AUobroger (21, 46). Als Ankläger lernen wir M. Plaetorius
kennen, als Subscriptor M. Fabius (15, 36). Unsere Rede bezieht sich
auf die zweite Verhandlung (16, 37; 17, 40). Aus den Bruchstücken er-
kennt man, dass Cicero die Anklagen nicht entkräften konnte, er verlegt
sich daher auf Gemeinplätze, den gallischen Zeugen könne man nicht
glauben u. dgl.
Die Vorwürfe, die dem M. Fonteius wegen seiner Verwaltung Galliens gemacht
werden, sind besonders drei: 5, 11 hoc praetore oppressam esse aere alieno Gaüiam, 8, 17
obiectum est etiam quaestum M. Fonteium ex viarum munitione fecisse, ut aut ne cogeret
muntre aut id, quod munitum esset, ne improbaret, 9, 19 cognoscite nunc de crimine vinario,
quod Uli invidiosissimum et maximum esse voluerunt. Vgl. 9, 20 Video, iudices, esse crimen
et gener e ipso magnum (vectigcU enim esse inpositum fructibus nostris dicitur et pecuniam
permagnam ratione ista cogi potuisse confiteor) et intddia vel maximum.
Die Rede fällt nach der Aurelischen Rogation, welche in einem der letzten Monat«
des J. 70 bestätigt wurde. — Der Zeitbestimmung 69 „fehlt der strenge Beweis, aber steht
auch ihr nichts entgegen.*^ (Dbumaiw 5, 330). Für 69 entscheidet sich auch Schneideb p. 28.
Litteratur: Schneide», Quaest, in Cic. pro Fonteio, Grimma 1876 (Dispos. p. 48).
7. pro A. Caecina, wahrscheinlich aus dem J. 69. Es handelte
sich um eine Besitzstörung durch bewaffnete Gewalt. Auf den Besitz
eines Grundstücks erhob sowohl Sextus Aebutius als A. Caecina Anspruch.
Sextus Aebutius hatte das fragliche Grundstück gekauft, nach seiner Be-
hauptung für sich, nach der Behauptung Gaecinas für Caesennia, welche
später die Gattin Caecinas wurde. Man kam nun überein, dass dem Gae-
Gioero0 Beden.
203
cina nach herkömmlicher Weise das Eigentumsrecht abgestritten werde,
um dann das Prozessverfahren einleiten zu können. Es wurde ein Tag
bestimmt, allein als Caecina in die Nähe des Grundstücks kam, da erfuhr
er, dass Aebutius bewaffnete Mannschaft aufgeboten habe, mit der er die
Zugange zu dem fraglichen Grundstück und zur Umgebung besetzte. Als
Caecina den Versuch machte, an das Grundstück heranzukommen, liess
Aebutius ihm durch einen Sklaven verkünden, wer das Grundstück betrete,
werde getötet. Caecina musste vor der bewaffneten Macht fliehen. Auf
erhobene Beschwerde Caecinas erlässt der Prätor Dolabella ein Interdict
wegen Anwendung von Gewalt durch Bewaffnete, es soU der von dem Ort
Vertriebene wieder in denselben eingesetzt werden. Da Aebutius sich
dessen weigerte, so kam die Sache vor die Recuperatoren; es musste jetzt
darüber entschieden werden, ob die Voraussetzung, auf der das Interdict
des Prätors beruht, wirklich vorhanden sei. Die Form der Klage war die
sponsio. Aebutius wurde von C. Piso verteidigt, die Sache des Caecina
vertrat M. Cicero.
Nachdem die narratio vollendet, bestimmt Cicero die Klage 8, 23 : hia rebus Ua gestia
P. Dolabella praetor interäixU, ut est consuetudo, DE VI HO MINIBUS AHM ATIS sine
Ulla exeeptiane, tantutn ut, unde deiecisset, restUtteret, Bestituisse *) se dixit. Spansio facta
est. Hae de sponsione vobis iudicandum est. Das Interdiktnm de ei hominilms coactis arma-'
tisre war eine Verschärfimg des einfachen interdictum de vi. Die Verteidigung Pisos be-
ruhte besonders auf dem Satz 11, 81 non deieei, sed obstiti, vgl. 12, 35 ita dicis et Ua con-
stUuis (C. Piso), si Caecina, cum in fundo esset, inde deiectus esset, tum per hoc interdictum
cum restitui oportuisse; nunc vero deiectum nullo modo esse inde, ubi non fuerit; hoc inter-
dicto nihil nos adsecutos esse. Es spielen noch andere Fragen in die Streitsache herein:
6, 17 Caesennia fundum possedit locavitque; neque ita müUopost Ä. Caecinae nupsit, üt in
pauca conferam, testamento facto mulier moritur; facit heredem ex deunce et semuncia
Caecinam, ex dudbus sextulis M. Fulcinium, libertum superioris viri (des M. Fulcinius),
Aebutio sextulam aspergit — Iste autem hac sextula se ansam retinere omnium controversiarum
putat. lam principio ausus est dicere non posse heredem esse Caesenniae Caecinam, quod
is deteriore iure esset quam ceteri eives propter incommodum Volaterranorum calamitatem-
que civilem. Die Frage des Besitzes kommt nach Cicero bei dem Interdikt nicht in Be-
tracht: 36, 104 «ff iudieium non venire, utrum A. Caecina possederit necne, tamen doceri
possedisse; muUo etiam minus quaeri, A. Caecinae fundus sit necne, me tamen id ipsum
docuisse, fundum esse Caecinae.
Über die Zeit der Rede (69 oder 68) vgl. Dbumann 5, 387.
Der Erfolg der Rede scheint günstig gewesen zu sein, weil Cicero Orator 29, 102 sagt:
Tota mihi causa pro Caecina de verbis interdicti fuit . res involutas definiendo explicavimus,
ius civile laudavimus, verba atkbigua distinximus. Die letzte Bemerkung bezieht sich be-
sonders auf die ErklAmng von unde (sowohl = ex quo loco als = a quo loco vgl. 30, 87).
Überlieferung: Die besten Handschriften sind die Tegemseensis s. Monacensis s. XI
18787, der Erfurtensis s. Berolinensis s. XII. (Fragmente im Palimpsestus Taurinensis.)
Litteratur: Die Jurist. Fragen erOrtem ausführlich Kxlleb, Semestr. 1,275 — 431
JoKDAK in seiner Ausgabe, Zxyss, Zeitschr. für Altertumsw. 1848 p. 865, Bethmanv-Hollweg,
R. Civilproz. 2, 827. Auch Fbaxcksn berührt einiges Mnemos. 9 (1881) p. 245.
142. Die zweite Periode der ciceronischen Beredsamkeit (66—59).
1. De imperio Cnei Pompei, von Cicero im J. 66 gehalten. Es war
seine erste Staatsrede. Der Volkstribun G. Manilius stellte den Antrag,
dem Pompeius den Oberbefehl in dem Ej-iege gegen Mithradates und Tig-
ranes zu übertragen. Zugleich sollte er, der bereits über die Meere und
Küsten gebot, noch die Verwaltung der Provinzen Bithynien und Kilikien
^) Über das restituisse der Antwort
bemerkt Frakcksv p. 254 voUbat, opinor, hoc
(AebutiusJ: se neque vi deiecisse neque resti-
tuere posse; ideoque perinde nunc rem se
habere ac si restituisset.
204 Römisohe Litteraturgeschiohte. I. Die Zeifc der Republik. 2. Periode.
erhalten; auch war ihm für seine Eriegsführung volles Recht, Frieden und
Bündnisse zu schliessen, eingeräumt worden. Es ist klar, dass die Über-
tragung einer solchen Macht an eine Person für den Bestand der Republik
gefahrlich war. Cicero hätte daher vor allem als seine Aufgabe ansehen
müssen, diese Bedenken, welche Q. Hortensius und Q. Gatulus anregten,
zu beseitigen. Allein diesen Kardinalpunkt übergeht die Rede Giceros; in
schönen Worten sucht sie nachzuweisen, dass der Krieg gegen Mithradates
notwendig, dass derselbe schwierig sei und dass für die Führung desselben
Pompeius vor allem geeignet sei. Die Übertreibungen, die sich der Redner
in Bezug auf Pompeius erlaubt, vernichten sich selbst. Das Gesetz wurde
mit grosser Majorität angenommen.
Über das Manilische Gesetz sind Hauptstellen: Plutarch Pomp. 30 ygafpei vouov tU
rtay dijfAaQXtoy MäXXiog, ontjg jleixoXXog «QX^^ X*'^Q^^ "'^ dvräfjtstag no^nijtov naoaXaßoyta
naaay, nQoaXaßoyrtt di xai Bi>&vyiay, fjy l/et rXaßQlfoyy noXefieiy Mi&QiiaTp xai Tiygayn
toig ßaaiXsvüiyy e^oyta xai xrjy ravuxtjy dvyafuy xai to xQarog t^g &ttXna(fr^g e<p' olg eXaßey
i^ «QXV^' l^io Cass. 86,42 p. 121 Bekkeb toy tov Tiyqavov xai xov rov Mid-gidtitov no-
Xefjioyj tijy re Bi&vylay xai rijy KiXixlay afia «QXV^ avtip TtQocäxa^ey {MaXXioa). Appian.
Mi&Q. 97 (1, 537 Mendels.) sVXot^o tov ngog Mi&Qirdtttfjy noXifiov cxqattiyoy inl xrjg ofioias
i^ovaiag, avxoxQtixoQa ovxa, onjn 9iXoi, avtrri&eir&al xe xai TtoXefieTy, xai <piXovg ^ noXs-
filovg 'Pwfialoig ovg doxifidaeie noiBui&ttt * axQaxwg x$ nfiffr^g, öarj nioay icxl x^g 'IxaXiag,
KQX^^^ B^ioxay ' aneg ovdeyi n<o nayxänafft nQo xovde ofjiov narxa iao&rj.
Die Rede zerfftUt in drei Hauptteile, der dritte HauptteU wiederum in vier Teile.
Diese Disposition ist gut zusammengefasst in den Worten: 16,49 cum et bellum sit ita
necessarium, ut neglegi non possit, ita magnum, ut accuratissime sU administrandum, et
cum ei imperatorem praeficere possitis, in quo sU eximia belli scientia, singularis virtus,
clarissima auctoritas, egregia fortuna.
Scharf, aber richtig urteilt Neumamv, Gesch. Roms 2, 147 über die Rede: «Wie hohe
Erwartungen Cicero auch durch die Einleitung erweckt, so liefert doch die Rede den über-
zeugenden Beweis, dass in ihm keine staatsmännische Ader vorhanden war. Es findet sich
in ihr kein einziger politischer Gedanke, ja die Rede berührt nicht einmal den Kern der
Frage, sondern gibt nur das politische Geschwätz der Spiessbürger in veredelter Ausdrucks-
weise wieder, sie ist ja nur ein volltonendes Echo der herrschenden TagesmeLnung."
Überlieferung: Dieselbe beruht in erster Linie auf dem Erfurtensis s. Berolinensis
und dem Vaticanus 1525, dann auf dem Tegemseensis s. Monacensis 18787. In dem Tegems.
ist aber nur der letzte Teil erhalten. Als Ersatz für denselben tritt die Kopie, der voll-
ständige Hildesheimensis ein. Vgl. Nohl, Hermes 21, 193.
Litteratur: Nikl, levUatem et faHaciam argumentationis in Cic. or. , , . astendit,
Kempten 1842. Reinhard, De aliquot locorum in Cic. . . . fide histarica, Freib. 1852.
Bauebmeisteb, Cic. Rede de i, Cn, P. nach ihrem rhetor. Wert erläutert, Luckau 1831.
2. pro A. Cluentio Habito (66 v. Chr.). In der Rede für Cluentius
Habitus enthüllt sich uns ein verbrecherisches Treiben, das uns mit Ent-
setzen erfüllt. Wir unterlassen hier eine Schilderung aller Verbrechen und
beschränken uns auf kurze Darlegung des Prozessfalls. Die Mutter des
A. Cluentius Habitus, Sassia, hatte Statins Albius Oppianicus zum Manne
genommen. Im Jahre 74 belangte A. Cluentius Habitus seinen Stiefvater
vor C. Junius, als Vorsitzendem des Gerichtshofes, gegen ihn einen Gift-
mord versucht zu haben. Oppianicus wurde auch verurteilt; allein das
Urteil wurde wegen der in dem Prozess vorgekommenen Bestechung der
Richter sehr verdächtigt. Besonders der Verteidiger des Oppianicus, der
Volkstribun L. Quinctius schlug grossen Lärm. Es fanden auch gericht-
liche Verurteilungen statt, wie die des Vorsitzenden C. Junius und cen-
sorische Rügen. Oppianicus starb plötzlich im Exil. Da veranlasste Sassia
im J. 66 ihren Stiefsohn, eine Klage gegen A. Cluentius wegen Giftmordes,
den er an seinem Stiefvater Statins Albius Oppianicus begangen, nach dem
CioeroB Beden. 205
cornelischen Gesetz einzureichen. Oppianicus wurde vertreten von Titus
Actius aus Pisaurum, Gluentius dagegen von Cicero. Iudex quaestionis war
Q. Voconius Naso. Allein noch viel mehr beschäftigt sich die Rede mit
der Widerlegung, A. Gluentius Habitus habe durch Bestechung der Richter
in dem Prozess des J. 74 die Verurteilung des Statins Albius Oppianicus
herbeigeführt.
1, 1 animadverti, iudices, omnem accusatoris orationem in duas dieisam esae pariis,
quarum altera mihi niti et nmgno opere canfidere videbatur inmdia iam inveterata iudieii
Juniani, altera tantum modo fonsuetudinis causa timide et diffidtnter atiingere rationem
veneficii criminum, qua de re lege est haec quaestio constituta. Itaque mihi certum est hanc
eandem distribtäionem invidiae et criminum sie in defensione servare, ut omnes intellegant
nihil me nee subterfugei'e voluisse reticendo nee obscurare dieendo, Sed cum considero, quo
modo mihi in utraque re sit elaborandum, altera pars et ea quae proprio est iudieii vestri
et legitimae veneficii quaestionis, per mihi hrevis et non magnae in dieendo eontentionis fore
ridetur, altera autem, quae proeul ab iudicio remota est, quae contionibus seditiose concitatis
accommodatior est quam tranquillis moderatisque iudiciis, perspicio, quantum in agendo
diffieuitatis et quantum laboris sit habitura.
Was nun den ersten Punkt anlangt (4, 9) „Corrupisse dieitur Ä. Cluentius iudieium
peeunia, quo inimieum suum innocentem, StcUium Albium, condemnaret,** so kündigt Cicero
an: Ostendam, iudices, primum, quoniam caput illius atrocitatis atque invidiae fuit inno-
centem peeunia eireumventum, neminem unquam maioribus criminibus gravioribus testibus
esse in iudieium vocaium; deinde ea de eo praeiudieia esse facta ab ipsis iudieibtut, a qttibus
eondemnatus est, ut non modo ab isdem, sed ne ab aliis quidem uUis absolvi uUo modo
passet. Cum haee doeuero, tum ülud ostendam, quod maxime requiri intellego, iudieium
Ulud peeunia esse temptatum non a Cluentio, sed contra Cluentium. Die Widerlegung der
Bestechung reicht bis 58, 160. Die Anschuldigung, daas Gluentius seinen Stiefvater ver-
giftete, sucht Cicero zu widerlegen 61, 169 bis zum Epilog.
Streitfrage ist, ob Cluentius lediglich des Giftmordes oder des Giftmordes und der
Richterbestechung, durch welche die Verurteilung des Oppianicus herbeigeführt wurde, an-
geklagt war. Die Entscheidung hängt davon ab, ob durch die lex Cornelia nicht bloss
Amtspersonen, sondern auch Privatpersonen getroffen wurden, welche die Ursache waren,
dass jemand widerrechtlich zu einer Eapitals^afe verurteilt wurde. Babdt sucht den Nach-
weis zu liefern, dass Cluentius nur wegen Giftmords angeklagt war. Der Nachweis dürfte
nicht gelungen sein. Die Eruierung des wahren Sachverhalts wird sehr erschwert durch
die Entstellungen, die der Redner sich zu schulden konmien lässt. Vgl. Quint. 2, 17, 21
se tenebras offudisse iudieibus in causa Cluenti gloriatus est.
Oberlieferung: Die besten Handschriften sind der Salisburgensis 34 s. Mona-
censis 15784 und der Laurentianns 48, 12. Hiezu kommen einzelne Teile im Palimpsestus
Taurinensis.
Litteratur: Nismsteb, Über den Prozess gegen A. Cl„ Kiel 1871. Babdt, Zu
Ciceros Cluentiana, Neuwied 1878. (Nbttlbship, Lectures and Essays, London 1885 p. 67.)
3. Es folgen nun die konsularischen Reden. Die frühesten sind die
über das Ackergesetz, das der Volkstribun P. Servilius RuUus Ende
64 y. Chr. beantragt hatte. Dessen Zweck war, Kolonien in Italien zu
gründen. Es sollte daher für fünf Jahre eine Kommission von 10 Männern wie
die pontifices von 17 erlosten Tribus erwählt werden; wählbar waren nur
diejenigen, die sich persönlich gemeldet hatten — diese Bestimmung war
gegen den abwesenden Pompeius gerichtet. Für die Kommission hatte ein
Prätor die lex cur lata zu beantragen; allein ein Nichtzustandekommen der-
selben soUte die Wirksamkeit der Kommission nicht hemmen. Auch mit
richterlicher Gewalt war die Kommission bekleidet. Die derselben gestellte
Aufgabe bestand darin, italisches und besonders ausseritalisches Staats-
gebiet zu verkaufen, auch Steuerquellen, Beutegelder flüssig zu machen
und mit dem gewonnenen Oeld Ländereien in Italien zu kaufen, um darauf
Kolonien zu gründen. Expropriation war hiebei ausgeschlossen. Diese
letzte Bestimmung machte die Durchführung der lex volkswirtschaftlich
206 Römisohe Lüteraturgescliichte. 1< IHe Zeit der Republik. 2. Periode.
unmöglich. Gegen diese Anträge sprach Cicero in vier Reden; uns sind
nur drei erhalten; die erste, deren Anfang verloren gegangen, hielt Cicero
im Senat beim Antritt seines Konsulats (1. Jan. 63). Die zweite ist an
das Volk gerichtet, sie ist f(ir uns die Hauptrede. Eine Ergänzung hiezu
ist die dritte kurze Rede, die gleichfalls an das Volk gehalten wurde; in
derselben wird die Anschuldigung des Rullus zurückgewiesen, als habe
Cicero aus Rücksicht für die Besitzer sullanischer Landanweisungen dem
Gesetz Widerstand entgegengestellt. Cicero zeigt, dass die Sache sich ganz
anders verhält. Ebenfalls kurz war die verloren gegangene vierte Rede,
über deren Inhalt Näheres wir nicht wissen.
Das ganze Gesetz war ein Versuch Caesars und der demokratischen
Partei, dem Pompeius eine Macht gegenüberzustellen. Dieser Versuch war
aber keineswegs geschickt eingeleitet; es war daher ein Leichtes für Cicero,
das Gesetz ad absurdum zu führen. An grossen Übertreibungen und Prah-
lereien fehlt es auch in diesen Reden nicht; aber geschickt weiss Cicero
das, was geeignet war, auf die grosse Masse Eindruck zu machen, hervor-
zuheben. Das Gesetz wurde noch vor der Abstimmung zurückgezogen
(Plut. Cic. 12).
Die besten Handsclirifteii sind der Erfürtensis s. Berolinensis und der Erlangensis 38.
Hiezu kommen noch die Lesarten, die Pithoeus aus einer Handschrift der edit. Lamb. 1581
beigeschrieben. Über den Lagom. 9, auf den Züicpt seine Ausgabe basiert hat, vgl. Richter,
Fleckeis. J. 87, 251 und Sohwabz 1. c. p. 4; demselben wohnt kein Wert für die Kritik inne.
Litteratur: Dbumaitk 3, 148. Mommsen, R. Gesch. 3^ 181. Züicpt in seiner Ausg.
1861. Laitob, Rom. Altert. 3, 233. Haenioke, Zu Ciceros Reden de lege agraria, Stettin
1883; nach einer Darlegung des Inhalts wird besonders p. 12 f. das letzte Ziel des Gesetzes
ins Auge gefasst Über einzelne Fragen handelt Sghwabz, Mise. Philolog., Tfib. 1878 p. 5—12.
4. pro C. Rabirio perduellionis reo. Auf Anregung Caesars wurde
der Yolkstribun T. Labienus veranlasst, eine Klage gegen den Senator C.
Babirius anzustellen, weil er im J. 100 bei der aufständischen Bewegung
den Tribunen L. Appuleius Satuminus ersehlagen habe. Der Zweck dieser
Klage konnte nicht sein, eine vor vielen Jahren geschehene Blutthat zu
sühnen, sondern er war ein politischer, es sollte dem Senat die Gefahr,
die mit einem Eingreifen gegen revolutionäre Bewegungen verbunden sei,
vor Augen gestellt werden; zugleich sollte die Yolkssuveränität eclatanten
Ausdruck finden. Der Kläger drang daher auf Anwendung des uralten
Perduellionsprozesses, es wurde auch das duumvirialische Hochverratsver-
fahren durch ein plebiscitum beschlossen, allein auf Ciceros Betreiben in
wesentlich gemilderter Form. Rabirius wurde von den Duumviri C. und
Lucius Caesar verurteilt. Gegen dieses Urteil ergriff C. Rabirius die Pro-
vokation an das Volk, allein die Verhandlung wurde gestört und kam nicht
zum Abschluss. T. Labienus leitete nun das Multverfahren gegen C. Ra-
birius ein. Die Rede, die uns nur unvollständig erhalten ist — es ist
in der Mitte ein Blatt ausgefallen, auch ist der Schluss lückenhaft —
bezieht sich auf diesen Multprozess, nicht auf das Perduellionsverfahren.
Über den Prozess sind die Hauptstellen Dio Cass. 87, 27 (p. 141 Bekk.) anovdai re
oty raQu^fodsi^ xai (piXoyeixiai dtp ixariQtoy tibqI tb tov dixaartjQiov, rtSr fikv ontag fdn
cvvttx^fi, ttÜy di Vya xaOt^au dixaiovifToty, xal inetdrj xovto M re rot' Kaiaaga xal 6t
äXXovg riyag iyixtjae, neffl ys r^g XQiceiog av&ig trvvdStjaay . xal ^y ydq avrog ixetyog u$rd
rov KaiaaQog rov Aovxlov dixdCtoy (ov ydg dnhSg^ aXXd ro drj Xeyofieyoy nsQ^oveXkuoyog
0 'PttßiQiog ixQl^), xare%l}tjq>laayro avrov, xairoi fitj nqog rov dijfiov xttrd rd ndr^a, dXkd
CiceroB Reden. 207
7t q6^ aviov Tov ctgarrjyov ovx i^ov nlQ^^ivtBg . xttl i(p^xe ^hv 6 'Paßigio^. mcyrto^ cf' ley
xai naQit r^ ^f*^ iä'Ata, ei (jltj 6 MitMog 6 KbXsq oitoytarije re toy xtti argarTjyiöy eVe-
nodurey * ineidfj ydq ovte aXXiog insi&oyro oi, ov&* ort nagu td vByogjLiafiiya 17 x^lcig iye^
yoysi iye&vfÄOvyro, dyi&Qafiey ig x6 ^laylxovXoy, ngiy xai onovy atpäg xfft](piaaü&ai, xai t6
fffjfdeToy ro ctgauiouxoy xatdanaaey, diäte firjdiy et avtotg i^eiyta diayytoyai — ovtto fiiy
&1J tote ^ re ixxXrjala xa&aige&et^og tov atifieiov dieXvSij xai 6 'Paßigiog iaoß&t^ * i^ijy fiiy
ydg t(p Aaßiijyfa xai av9tg ducdaaü&ai, ov fieytoi xai inoirjaey avtö. Suet. Jul. 12 sab'
ornavit etiam (Caesar) qui Gaio Rabirio perduelUania dient diceret, quo praeciptio adiutore
aliquot ante annos Lud Saturnini seditiosum tribunatum senattis coereuerat, ac sorte iudex
in reum ductus tarn cupide condemnavit, ut ad populum provocanti nihil aeque ac iudicis
acerhitas profuerU.
Wie oie Klage verlaufen, ist vielfach strittig. Besonders schwierig ist die Fest-
stellung des Sinns der Worte 3,10 de perduellionia iudicio, quod a me sublatum esse
criminari soles, meum crimen est, non Rabiri, Dass unsere Rede sich auf einen Mult-
prozess hezieht, legte zuerst Nibbuhb M. T. Ciceronis araiionum pro M, Fonteio et pro
C. Rabirio fragmenta — edita a Niebuhrio, Rom 1820 p. 69 dar. Die Stelle, auf die er
sich stutzte, ist 3,8 nam quid ego ad id longam arationem comparem, quod est in eadem
multae irrogatione praescriptum, hunc nee suae nee dlienae pudicitiae pepercisse ? Üher
den Prozess vgl. MoimsEK, R. Gesch. 3", 169. Madvig, R. Verfassung 2, 304. Die ührige
reiche Litteratur ist zusammengestellt bei Putsche, Über das gen%is iudicii der Rede Ciceros
pro C. R., Jena 1881 p. 3. (Lallibb, Revue historique 12, 257: Wibz, Fleckeis. J. 119, 177;
ScHKEiDRB, Der Prozess des C. R., Zürich 1889.)
Überlieferung: Die Textkritik ruht mit Ausnahme von Fragmenten des Schlusses,
die wir zwei vatikanischen Palimpsesten verdanken, auf jüngeren Handschriften, z. B. dem
Salisbui^ensis 34 s. Monacensis 15734. Die Worte f^rdueüionis reo** in der Überschrift
müssen, wenn die Rede eine Multklage betraf, spftterer Zusatz sein.
5. Gatilinarische Reden. Die catilinarische Verschwörung gab
Cicero Anlass zu vier Reden. Die erste hielt er am 8. November 63 im
Senat. Das merkwürdige Ziel, das Cicero mit dieser Rede verfolgte, ist,
den Catilina zu bestimmen, aus der Stadt hinauszugehen und seine An-
hänger mitzunehmen. Das erste that Catilina und würde es wahrschein-
lich auch ohne die Rede Ciceros gethan haben, allein das Zweite geschah
nicht. Dem naheliegenden Einwand, dass es doch viel einfacher gewesen
wäre, Catilina unschädlich zu machen, begegnet Cicero mit der Ausrede,
er wolle zusehen, bis auch der grösste Bösewicht die Schuld Catilinas niclit
mehr bezweifeln könne. Catilina verliess in der Nacht vom 8./9. November
die Stadt und begab sich zur Revolutionsarmee nach Etrurien. Am 9. No-
vember zeigt dies Cicero in der zweiten Rede dem Volke an. Jetzt, führt
er aus, sei Catilina aus seinem Hinterhalt zu offenem Vorgehen gedrängt
worden (1, 1). Allein — nun kam die Hiobspost — die Anhänger Cati-
linas seien in der Stadt zurückgeblieben. An diese erlässt nun Cicero
seinen Warnungsruf ergehen, der natürlich in diesem Fall, wo nur Thaten
der Entschlossenheit am Platz waren, nichts nützen konnte. Es trat nun
ein anderes Ereignis ein, welches einen handgreiflichen Beweis der Ver-
schwörung Cicero in die Hände spielte. Die Verschworenen hatten näm-
lich mit den Gesandten der AUobroger, welche nach Rom gekommen waren,
um sich über die Bedrückungen ihres Landes durch die Wucherer zu be-
schweren, Verbindungen angeknüpft; sie hofften sich die Hilfsquellen dieses
Volkes zu sichern. Die AUobroger waren anfangs schwankend, allein
längere Überlegung hielt sie doch ab, sich in das gefahrvolle Unternehmen
einzulassen. Sie teilten die Sache ihrem Patron mit, der schleunigst
Cicero Nachricht gab. Um Beweismittel zu erhalten, bestimmte Cicero
die Gesandten, sich von den Verschworenen Schriftstücke geben zu lassen,
die sie ihrem Volke vorlegen konnten. Die Gesandten thaten dies. Es
208 ROmiBohe LitteratnrgeBohiohte. t. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
wurde nun verabredet, dass die Allobroger auf der Heimreise von Regie-
rungstruppen angehalten und ihnen bei dieser Gelegenheit die Briefschaften
abgenommen werden sollten. Auch dies geschah. Cicero berief sofort am
3. Dezember den Senat, es wurden die Verschworenen vorgerufen. Auf
Grund der aufgefangenen Briefschaften wurden sie überführt und Senatoren
zur Verwahrung übergeben. Für die glückliche Errettung aus der Gefahr
wurde ein Dankfest beschlossen. Die Senatssitzung hatte bis zum Abend
gedauert; sofort teilte Cicero den Verlauf der Verhandlungen in der drit-
ten Rede dem Volke mit. Am 5. Dezember wurde über das Schicksal
der überführten Verschworenen verhandelt. Es machten sich zwei An-
sichten geltend, die eine drang auf Todesstrafe, die andere von Caesar
vertretene führte aus, dass dies verfassungswidrig sei, und drang auf
lebenslängliche Internierung der Schuldigen in den Munizipien und Ein-
ziehung ihres Vermögens. Die Rede Caesars machte gewaltigen Eindruck,
die Senatoren wurden schwankend. Da ergriff Cicero das Wort — es ist
dies die vierte Rede — und obwohl er den referierenden Standpunkt
einnahm, liess er doch deutlich merken, dass er für die Todesstrafe sei;
er führt daher den Gedanken aus, es sei die Macht vorhanden, den Be-
schluss des Senats durchzuführen. Man sieht deutlich die Angst des Kon-
suls, irgend eine Verantwortung in der Sache zu übernehmen. Dass solche
Worte keinen Eindruck machen konnten, ist zweifellos. Erst die leiden-
schaftliche Rede Catos hat über das Geschick der Verschworenen ent-
schieden; die Hinrichtung ward beschlossen und von Cicero vollzogen.
Die vier Reden wurden aus dem Stegreif gehalten. Die Aufeeichnung konnte also
erst später erfolgt sein. Im Jahre 60 hatte sie Atticus, wie aus der p. 209 angefahrten
Stelle hervorgeht (ad Att. 2, 1, 3) noch nicht gelesen; damals wurde das Corpus der konsu-
larischen Reden zusammengestellt. Wenn nun auch Cicero noch manches von den extem-
porierten Reden im Gedächtnis hatte, so mussten doch die später geschriebenen Reden vielfach
anders werden als die von der Macht des Augenblicks getragenen. Manches wurde jetzt
gesagt, das nicht mehr völlig in die damalige Situation passte. Auch die rhetorischen Aus-
schmückungen werden erst jetzt hinzugekommen sein. Am deutlichsten sieht man dies
aus der vierten Rede, die mr ein Referat viel zu lang ist. Vgl. Madvio, optisc. acad..
Kopenh. 1887 p. 680. Bjjm, Einl. zu den cat. Reden p. 26 Anm. 94. (John p. 653.)
Bezüglich des Tags der ersten Rede wurden Zweifel angeregt, indem sich mehrere
Gelehrte für den 7. Nov. aussprachen. Allein John stellt ausser Zweifel, dass die erst«
Rede am 8. Nov. (wie die zweite am 9.) gehalten wurde. Vgl. Philol. 46, 650, wo p. 650
die übrige Litteratur verzeichnet ist.
Merkwürdig sind die Verdächtigungen, denen diese Reden längere Zeit ausgesetzt
waren. Den Anstoss gab F. A. Wolf, indem er bald die dritte, bald unbestimmt aUeram
ex mediis duabus für verdächtig erklärte. Es entstand nun ein wahrer Wettkampf, df'e
catilinarischen Reden eine nach der andern für unecht zu erklären. Zuerst wurde die
zweite von Cludius verdächtigt (1826). Dann kam die vierte an die Reihe, gegen welche
ZiMKEBicANi^ (1829) und Ahbens (1832) zu Felde zogen. Der letztere hatte im Vorbeigehen
auch die dritte mit einem Verdammungsurteil gestreift. Alle drei auf einmal athetierte
Orelli (1836). Es war noch die erste Rede übrig; diese erfuhr ihre Verdammung durch
MoRSTADT (1842), dann durch die Holländer Bake und Rinkes (1856). Heutzutage bezweifelt
niemand mehr die Echtheit jener Reden. (Madvig, Opusc, Kopenh. 1887 p. 671.)
Überlieferung: Aus den zahlreichen Handschriften ragt hervor Mediceus 45, 2
s. XIV „paene nuUa in eo inveniuntur Itcentiae corrigentis vestigia et vitia nee numero nee
genere cum ceteris sunt comparandaJ' Müller, Ausg. p. LXFV. (Lehmann, Hermes 14, 625 )
Litteratur: Clüdius, De authentia II or. CkitiHnariae, Gumbinnen 1826, dann in
Sebbodes Archiv 2, 47. Ahrens, ober die vierte Catilinaria, Programme, Eoburg 1832 — 1837.
Orelli, Orot, selectae p. 176. Morstadt, Über Ciceros catilinarische Reden, Progr.,
Schaffhausen 1842 und 1844. Rinkes, Disputatiö de oratione I in Catilin. a Cicerone ah-
iudicanda, Leyden 1856. — Schutzschriften: Schnitzer, Quaest, Ciceronianae, Progr.,
CiceroB Beden. 209
Aarau 1836, Heilbronn 1837. Kolstbr, Diane t^t, qua or. IV in Cot. non esse a Cic. abtudi-
candam demonstratur, Meldorf 1839. Orai. I in Catilinam, Rec, et a M. Cicerone male
ahiudicari demanstravU Boot, Amsterd. 1857. Epkema, Epistola eritica de oratione I in
Catilinam frustra a Cicerone abiudicata^ Amsterd. 1857. Frauke, Joh. Bahium orationem I
in Catilin. a Cicerone male dbiudicasse demonstrat, Sagan 1863.
6) pro L. Muren a. Für das Jahr 62 waren als Bewerber um das
Konsulat aufgetreten L. Sergius Gatilina, D. Junius Silanus und Ser. Sul-
picius Rufus. Gewählt wurden D. Silanus und L. Murena. Erbittert über
diese Niederlage suchte Sulpicius Rufus, der berühmte Jurist, die Wahl
Murenas zu annullieren, indem er im November 63 gegen Murena eine
Klage wegen Amtserschleichung (ambitus) einbrachte. Seine Klage unter-
stützten M. Porcius Gato, ferner Postumus und ein jüngerer Ser. Sulpicius
(26, 54). Verteidigt wurde Murena von Q. Hortensius, M. Grassus und Gicero
(4, 10). Wie gewöhnlich, wenn mehrere Redner zusanmienwirkten, sprach
Cicero an letzter Stelle. Seine Rede gliedert er in drei Teile (5, 11); zuerst
sucht er die Unbescholtenheit des Wandels seines Klienten darzuthun (5, 11
bis 7,15); dann bespricht er die Würdigkeit Murenas, indem er besonders
die Wirksamkeit Murenas und Sulpicius' miteinander vergleicht und zu
dem Ergebnis kommt, dass die militärische Tüchtigkeit höher stehe als
die juristische (7, 15—26, 54); im letzten Teil kommt er auf den eigentlichen
Gegenstand der Klage, den ambitus. Hier bestand aber für Gicero eine
Klippe insofern, als die Klage auf Grund einer lex, welche Giceros Namen
trug (Lex Tulliana de amiitu), erfolgte. Er beantwortete zuerst die An-
klagen des Postumus und des jungen Ser. Sulpicius; allein diese Partie
liegt in der vorliegenden Rede nicht ausgearbeitet vor; sie war lediglich
Gegenstand der mündlichen Ausführung, wir lesen (27, 57) bloss die Worte
De Postumi criminibus. De Servil adulescentis. Der Schluss beschäftigt sich
mit den Anschuldigungen Gates. Hier wird besonders ein Gedanke ge-
schickt durchgeführt, dass es in einer so gefahrvollen Zeit — Gatilina hatte
sich bereits nach Etrurien begeben — unverantwortlich sei, den einen
militärisch erprobten Konsul zu beseitigen und die Aufregungen eines neuen
Wahlkanipfs heraufzubeschwören (39, 85). — Die Rede gehört zu den besten
Reden Giceros, sie leidet nicht an besonderen Übertreibungen, sie zeigt
das rednerische Geschick ihres Verfassers und stimmt den Leser heiter
durch die Witzeleien, die gegen die Jurisprudenz mit Rücksicht auf den
Ankläger vorgebracht werden; interessant sind auch die Ausführungen
gegen den Stoicismus Gates. Murena wurde freigesprochen.
Die DiBposition der Rede (Gbuxmb, or, pro Mur, dispositio, Gera 1887) gibt 5, 1 1 :
inteüego tris totius aceusationis partis fuisse et earum unam in reprehensione vitae, alieram
in contentione dignitatia, tertiam in criminibus ambitus esse versatam. Über den Ausgang
vgl. Qnint. 6, 1, 34 sie habenda est auctoritatis ratio, ne sit invisa securitas. Fuit quondam
inter haec omnia potentissimum, quo L. Murenam Cicero accusantibus clarissimis piris
eripuisse praecipue videtur persuasitque nihil esse ad praesentem rerum statum utilius
quam pridie Kalendas Januarias esse in re p. duas consules.
Die Überlieferung der Rede ist eine sehr schlechte, alle Handschriften gehen
auf das Exemplar zurflck, welches Poggio zu Anfang des 15. Jahrh. nach Italien brachte.
Eine verhfiltnismAssig gute Kopie ist eine Wolfenbüttler Handschrift nr. 205 s. XY. Halm,
Die Himdschriften zu Giceros Rede pro M., Sitzungsber. der Münchner Akad. 1861 1, 487.
0. Frahckbn, Ifnemos. 5 (1877) p. 295.
Das Corpus der konsularischen Reden. Im Jahre 60 schreibt Cicero an
Atticns (2, 1, 8) fuit mihi commodum — curare, ut meae quoque essent orationes, quat con"
Uandbnöh der klMs. AltertiunflWiMeiMcbalt Tin. 1^
210 Bömisohe Litieratnrgeschiohte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
siUares nominarentur. Quorum una est in senatu Kai, Jan,; altera ad popuium de lege
agraria; tertia de Othone; quarta pro Rabirio; quinta de proseriptorum fiiiis; sexta, cum
provinciam in condone deposui; aeptima, cum Catüinam emisi; octava, quam habui ad
popuium pofitridie, quam Catüina profugU; nona in condone, quo die Äücibroges f invocarunt;
decima in senatu, Nonis Decembr, Sunt praeterea duae hreves quasi änocnaafAana legis
agrariae. Hoc totum ütüfjttt curaho ut habeas, et quoniam te cum scripta tum res meae
delectant, iisdem ex libris perspicies et quae gesserim^et quae dixerim: aui ne poposcisses;
ego enim til>i me non offereham. Es fehlt die Rede pro Morena.
7) pro P. Cornelio Sulla. Gehalten im J. 62. In dieser Rede
handelt es sich um die Verteidigung eines der Teilnahme an der catilina-
rischen Verschwörung Angeschuldigten. Die Klage ging von L. Manlius
Torquatus aus, demselben, dem Cicero in dem Werk de finibus bonorum
et malorum bei der Darlegung der epicureischen Philosophie die Hauptrolle
zuteilt. Unterstützt wurde er in seiner Klage von dem Sohn des Ritters
C. Cornelius (18,51). P. Sulla war mit P. Autronius Paetus zum Konsul
für das Jahr 65 gewählt worden; aber er wurde von unserm L. Torquatus
wegen atnbüus erfolgreich angeklagt und verlor damit das Konsulat; nicht
besser ging es dem P. Autronius (17,49). Nun hätten, behauptet die An-
klage, beide sich mit anderen, darunter Catilina, verschworen, am 1. Jan.
65 die beiden Konsuln und Senatoren zu ermorden. Es ist die sogenannte
erste Verschwörung. Weiterhin legt ihm die Anklage auch Förderung der
zweiten sog. catilinarischen Verschwörung zur Last. Die Verteidigung des
Angeklagten führten Hortensius und Cicero und zwar teilten sie sich so
in ihre Aufgabe, dass Hortensius die erste Verschwörung, Cicero die zweite
behandelte. Dass es ungemein auffallen musste, dass Cicero eine solche
Verteidigung übernahm, ist klar; und der Ankläger beutete dieses Moment
ganz besonders aus. Cicero musste daher, wenn seine Verteidigung wirk-
sam sein sollte, ganz besonders den Gedanken vorkehren, dass, wenn ihm
nicht die Unschuld seines Klienten feststände, er Sulla nicht verteidigt
haben würde, und er that dies im ersten Teil seiner Rede (1, 1 — 12, 35); im
zweiten Teil geht er endlich zur Widerlegung der Anklagepunkte, soweit
sie die Förderung der zweiten catilinarischen Verschwörung betreffen, über,
allein er verfügt hier nicht über viel entlastendes Material; er sucht daher
besonders aus einer Vergleichung des Lebens des Sulla mit dem der anderen
Revolutionäre die Unmöglichkeit der Annahme, dass sich Sulla an der Ver-
schwörung beteiligt, darzuthun. Sulla wurde freigesprochen.
Die Rede hinterlässt keinen befriedigenden Eindruck beim Leser, weil
er des Gefühls nicht los werden kann, dass eine ungerechte Sache ver-
teidigt wird und die Verlegenheit des Redners klar hervortritt.
Nach welcher lex die Klage erfolgte, ob nach der lex Plaulia de pi v. J. 89 oder
nach der lex Lutatia v. J. 78, ist strittig; vgl. Halm-Laubmann zu 33, 92. Die Anklage ist
kurz zusammengefaast 4, 11 duae coniurationes ahs te, Torquate, constituuntur, una, quae
Lepido et Volcacio consulibus, paire tuo consule designato, facta esse dicitur, altera, quae
me consule; harum in utraque SuUam dicis fuisse. Über seinen Anteü an der Verteidigung
spricht sich der Redner 4, 13 und 5, 14 aus: mei consulatus autem tempus et crimen maxi-
mae coniurationis a me defendetur, — Et quoniam de criminibtis superioris coniuratümis
Hortensium diligenter audistis, de hoc coniuratione, quae me consule facta e^t, hoc primum
attendite. Was Cicero zur Obemahme dieser seinen Ruf schädigenden Verteidigung ver-
anlasste, lässt sich nicht mit voller Sicherheit sagen. Ein vielleicht hieher gehöriges Mo-
ment berichtet uns Gell. 12, 12; cum (Cicero) emere reitet in PakUio domum et pecuniam
in praesens non haberet, a P, Suüa, qui tum reus erat, mutua sestertium viciens tacite ar-
cepit. Die Freisprechung Sullas ergibt sich aus den Notizen über sein späteres Leben.
OiceroB Reden. 211
Überlieferung: Haupthandschriften sind der Tegemseensis s. Monacensis 18787
und der Palatinus-Vaticanus 1525, der aber nur die Rede bis zu 15,43 meminisse enthfilt.
Halm bevonugt den Tegemseensis, Müllbb den Vaticanus.
8) pro Archia aus dem Jahre 62. Der Dichter Archias aus Antiochia
in Syrien kam im J. 102 nach Rom; hier kam er mit der Familie der
LucuUer in nähere Beziehungen. Er begleitete später den M. LucuUus
nach Sicilien; auf der Rückreise erhielt er in Heraclea das Bürgerrecht,
wohl auf Fürsprache des Lucullus hin. Durch die lex Plautia Papiria des
J. 89^) wurde bestimmt, dass alle Nichtitaliker, die in italischen Städten
das BürgeiTecht erlangt hätten, zugleich des römischen Bürgerrechts teil-
haftig werden sollten, vorausgesetzt, dass sie zur Zeit, als das Gesetz er-
lassen wurde, in Italien sich aufhielten und innerhalb 60 Tage bei einem
Prätor sich anmeldeten (4, 7). Auf Grund dieses Gesetzes meldete sich
Archias, der ja schon längere Zeit in Italien gelebt hatte, beim Prätor
Q. Metellus Plus. Dieses auf solche Weise erlangte Bürgerrecht des Ar-
chias focht ein sonst nicht näher bekannter Gratius nach der lex Papia
V. J. 65, welche gegen die Erschleichung des Bürgerrechts gerichtet war,
an. besonders den Umstand benutzend, dass Archias niemals in die Gensus-
listen eingetragen war (5,11). Die Verteidigung des Archias übernahm
Cicero, der Dichter war ja daran, ein Gedicht^) über sein Konsulat zu
schreiben. Die Rede berührt die Rechtsfrage nur wenig (2,3—6,12); der
übrige Teil der Rede enthält einen Panegyrikus auf die Poesie und die
Wissenschaften, durch welche Archias unter allen Umständen ein Anrecht
auf das römische Bürgerrecht erhalte. Diese Deklamationen gaben Ver-
anlassung, die Rede für unecht zu erklären, was gänzlich unbegründet ist.
Die Klage erfolgte vor dem Prfttor Q. Cicero, dem Bmder des Redners. Vgl. schol.
Bob. p. 354 Or. hanc causam lege Popia de civitate Romana aput Quintum Ciceranem dixit
Archias huius M. TuUii fratrem. Sie Unechtheit der Rede suchten darzuthun Schboeter
(M. C. B.) in seiner Ausgabe, Leipz. 1818. BuBCHinER, commentatio qua M, TulUum Cice-
ronem orationis pro Archia auctorem non esse demonstratur, Schwerin 1839 und 1841. Treff-
liche Gegenschrift von hxmuüxv, Ciceronem orationis pro Archia rerera esse auctorem
demonstratur, Gott. 1847. Richtig urteilt Tacit. dial. 37 nee Ciceronem magnum oratorem
P, Quintius defensus aut Licinius Archias faciunt.
Überlieferung: Der beste Codex ist der Gemblacensis s. Bruxellensis 5352 s. XI/XII.
9. pro L. Flacco aus dem J. 59. L. Valerius Flaccus war Prätor
unter dem Konsulat Ciceros ; er unterstützte Cicero bei der Unterdrückung
der catilinarischen Verschwörung und führte den verabredeten Überfall
gegen die allobrogischen Gesandten aus. Im J. 62 verwaltete er die Pro-
vinz Asia. In seiner Verwaltung liess er sich grosse Erpressungen zu
schulden kommen. Deshalb strengten die Provinzialen eine Repetunden-
klage gegen ihn an. Sie wurden vertreten von D. Laelius, der, um Be-
weise gegen Flaccus zu sammeln, selbst die Provinz Asia durchreiste.
Die Verteidigung führte Hortensius und Cicero, der nach Hortensius sprach
(17, 41; 23, 54), Aus der Rede gewinnen wir den Eindruck, dass die An-
klagen nicht zu widerlegen waren. Der Redner muss daher sein Haupt-
bestreben darnach richten, die Zeugen zu verdächtigen. So stellt er die
Griechen überhaupt als unzuverlässig hin, auch die Juden werden hart
*) oder Ende 90; vgl. MoncsEK, Rom. I ') Das Qedicht wurde nicht vollendet;
Gesell. 2«, 238 Anm. vgl. Cic. Attic. 1,16,15.
14*
212 Bdmiache LüteratnrgeBchiohte. I. Die 2eit der Republik. 2. Periode.
behandelt (28, 66). Nachdem die öffentlichen Erpressungen behandelt sind,
schreitet der Redner zu der Widerlegung der von römischen Bürgern vor-
gebrachten Beschwerden. Zum Schluss sucht er die Richter dadurch für
seinen Klienten günstig zu stimmen, dass er auf die Folgen der Verur-
teilung aufmerksam macht, an die Verdienste des Flaccus bei der catili-
narischen Verschwörung erinnert u. s. w. L. Flaccus wurde freigesprochen.
Über des Hortensios' Rede sagt Cic. ad Att. 2, 25, 1 At Hartalits, quam plena manu,
quam ingenue, quam arnate nostras laudes in astra sugtulU, cum de Flacci praetura et de
iUo tempore Aüobrogum diceret! Sie habeto, nee amantiue nee honorifieentius nee eopiosius
patuisse diei.
Fttr die Gliederung vgl. 12, 27 etenim tarn universa istorum eognita cupiditate ac-
eedam ad singulas querellas criminationesque Graeeorum. 29, 70 veniamus iam ad eivium
Ramanarum quereUas. 37, 94 Sed quid ego de epistulis Faleidi aut de Androne Sextüio
aut de Deeiani censu tarn diu dispute, de saluie amnium nostrum, de fortunis civitatis, de
summa re puldiea taceo?
Die FreiBprechiing des Flaccus erhellt aus Macrob. 2, 1, 13 pro L. Flaceo, quem re-
petundarum reum ioei opportunitate de manifestissimis criminibus exemit; is ioeus in ora-
tione non extat: mihi ex libro Furii Bibactdi notus est et inter aJia eius dicta celebratur.
Überlieferung: Die Rede bat nach dem Eingang eine Lflcke. Zur Ausfüllung
derselben dienen die scholia Bob., dann das fragm. Mediolanense, das zuerst A. Mai heraus-
gegeben. Massgebende Handschriften sind der Vaticanus (Tabularii BasUicae) s. VHI/IX,
welcher aber nur 17,39—23.54 enthält, dann der Salisburgensis 34 s. Monacensis 15734
und der Bemensis 254. (Oetlivo, Progr. v. Hameln 1872; MoiucaBN, Hermes 18, 169 über
820, 21 Tut.)
148. Dritte Periode der ciceronischen Beredsamkeit (57—52).
Nachdem Cicero in die Verbannung gegangen war, dauerte es nicht lange
und es wurden Versuche zu seiner Rückberufung gemacht. Diese Versuche
gewannen Aussicht auf Erfolg mit dem J. 57. Von den Konsuln dieses Jahrs
war P. Lentulus Spinther ihm gewogen, der andere Konsul Q. Metellus
stand wenigstens von einer Offensive ab. Von den Volkstribunen wirkten
besonders für ihn P. Sestius und T. Annius Milo. Mehrere Versuche,
Ciceros Verbannung aufzuheben, scheiterten, namentlich durch das gewalt-
same Eingreifen des Clodius. Endlich am 4. August 57 kam ein Volks-
beschluss zu stand, durch den Cicero zurückgerufen wurde. Cicero langte
am 4. September in Rom an; gleich am folgenden Tag hielt er eine Rede
in dem Senat; es ist die
1. oratio cum senatui gratias egit. In dieser Rede spricht er
nicht bloss seinen Dank aus, sondern ergeht sich in reichlichen Schmähungen
gegen die Konsuln Gabinius und Piso, welche in dem entscheidenden Jahr
eine so feindselige Haltung gegen ihn angenommen hatten; auch recht-
fertigt er sich, warum er vor Clodius freiwillig das Feld geräumt habe.
Die Rede ist weder in Komposition noch in Gedanken ein erfreuliches
Produkt; die Selbstverherrlichungen und die gegen die Gegner geschleu-
derten Schmähungen stossen den Leser ab. Der Ausdruck ist stark überladen.
Cic. ad Att. 4, 1 ante diem VL Idus Sextiles cognovi, cum Brundisii essem, litteris
Quinti, mirifieo studio omnium aetatum atque ordinum, ineredibili coneursu Itaiiae legem
comitiis centuriatis esse perlatam, Inde a Brundisinis honestissimis decretis omatus, iter
ita feei, ut undique ad me cum gratulatione legati convenerint. Ad urbem ita veni, ut
nemo uUius ordinis homo nomenclatori notus fuerit, qui mihi obviam non venerit, praeter
eos inimieos, quihus id ipsum, se inimicos esse, non liceret aut dissimulare aut negare.
Cum venissem ad portam Capenam, gradus tempHorum ah infima plebe completi erant, a qua
plausu maximo cum esset mihi gratuUUio signifieata, similis et frequentia et plausus me
usque ad CapUolium celehravit, in foroque et in ipso Capitolio miranda multitudo fuit,
Postridie in senatu, qui fult dies Non, Septemhr., senatui gratias egimus.
Cicero« Reden. 213
2. Oratio cum populo gratias egit. Diese Rede hat im wesent-
lichen denselben Inhalt wie die vorige. Auch hier haben wir wiederum
eine unleidliche Verherrlichung seiner Rückberufung und eine Lobpreisung
der Personen, welche für ihn thätig waren. Der Wortschwall ist nahezu
unerträglich.
3. De domo sua ad pontifices, gehalten am 30. Sept. 57. Giceros
Haus war nach seiner Verbannung niedergerissen worden. Glodius liess
auf dem Platz einen Tempel der libertas errichten. Um Cicero die Mög-
lichkeit zu benehmen, je wieder in den Besitz seines Hausplatzes zu ge-
langen, liess er denselben durch den Bruder seiner Gemahlin, den jungen
Pontifex L. Pinarius Natta konsekrieren. Durch diese Konsekration wurde
der Platz der menschlichen Benützung entzogen. Als Cicero zurückgekehrt
war, wollte er auch diese macula beseitigt wissen. Der Senat verwies die
Sache an das Pontifikalkollegium, um von demselben feststellen zu lassen,
ob die Eonsekration giltig sei. Cicero sprach selbst vor dem EoUegium
und suchte zu beweisen, dass Glodius nicht zur Eonsekration befugt war,
dann dass auch bezüglich des Objektes der Eonsekration Bedenken be-
stünden, endlich dass auch die Form der Eonsekration nicht die richtige
war. Das Eollegium entschied, wenn der Eonsekrierende nicht namentlich
zu dem Akt durch Volksbeschluss ermächtigt war, so stünden keine reli-
giösen Rücksichten im Weg, den Hausplatz Cicero zurückzugeben. In
diesem Sinn entschied auch der Senat.
Cic. ep. 14,2,3 Qtwd de domo scribis, hoc est, de area: ego vero tum denique mihi
ridehor restitutus, H illa nobis erit restituta. ad Attic. 4, 2, 2 secuta est summa corUetUio
de domo (nämlich im Senat am 1. Okt.): diximus apud pontifices pridie Kai, Octobres,
Acta res est accurate a nobis — itagne oratio iuventuti nostrae deberi non potest; quam
tibi, etiamsi non desideras, tarnen mittam cito. Cum pontifices decressent ita, SI NEQXJE
FOPÜLI lüSSU NEQüEPLEBTS SCITU IS, QUI SE DEDICASSE DICEBET, NOMI-
NATIM EI BEI PBAEFECTUS ESSET, NEQUE POPULI lüSSÜ AUT PLEBIS
SCITU ID FACEBE lUSSUS ESSET, VIDEBI POSSE SINE BELIGIONE EAM
PABTEM ABEAE MIHI BESTITUI, mihi facta statim est gratulatio — nemo enim dubi-
tabat, quin domus nobis esset adiudicata. Über die Schwierigkeiten, die Glodius und ein
Tribon machten, gibt derselbe Brief interessante Aufschlüsse; doch tags darauf (2. Okt.)
kam der Senatsbeschluss zu stände, durch den jene eonseeratio aufgehoben wurde.
In der Rede berührt Cicero 2, 1— 12, 31 zuerst einen Gegenstand extra causam;
Glodius hatte nftmlich Angriffe gegen Gicero gerichtet, weil dieser wesentlich mitgeholfen
hatte, dass dem Pompeius das Getreidewesen übertragen wurde. Gicero entschuldigt sein
Verfahren mit den Worten 12, 32 inteUego, pontifices, me plura extra causam dixisse quam
aut opinio tuierit aut txAuntas mea — sed hoc compensabo brevitate eius orationis, quae
pertinet ad ipsam causam cognitionemque vestram; quae cum sit in ius religionis et in ius
reiptibticae distributa, religionis partem, quae muUo est verbosior, praetermittam, de iure
reipublicae dicam. Den Gang der Rede deuten die Worte an, welche zum letzten Teil
hinttberleiten (54, 138) : ac si, pontifices, neque is, cui ficuit, neque id, quod fas fuit, dedi-
ravii, quid me attinet iam illud tertium, quod proposueram, docere, non iis institutis ae
rerbis, quibus caerimoniae postulant, dedicasse? Dixi aprincipio nihil me de scientia vestra,
nihil dt saeris, nihil de apscondito pontificum iure dicturum. Quae sunt adhuc a me de iure
dedicandi disputata, non sunt quaesita ex occulto aliquo genere litterarum, sed sumpta de
medio, ex rebus palam per magistratus actis ad coUegiumque delatis, ex senatus consuUo,
ex lege.
4. De haruspicum response. Im Jahre 56 unter dem Konsulat
des Gn. Lentulus Marcellinus und L. Philippus wurde auf dem latiniensi-
schen Feld ein Donnern der Erde vernommen. Die Haruspices wurden
zu einem Gutachten aufgefordert. Unter anderem enthielt dieses Gutachten
auch den Satz, dass heilige Orte entweiht wurden. Glodius beutete sofort
214 Bömiflohe LüteraturgeBchichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
diesen Satz zu neuen Angriffen gegen Cicero aus; er bezog nämlich diese
Worte auf den Hausbau Ciceros, durch denselben werde ein der Liberias
konsekrierter Platz entheiligt. Cicero widerlegte im Senat diese Interpre-
tation und zeigte, dass sich im Gegenteil die einzelnen Passus des 'Gut-
achtens der haruspices auf Clodius bezögen. Der Senat entschied offenbar
gegen Clodius, da Cicero seinen Hausbau fortsetzte (ad Q. fr. 2,4; 2,6).
Hauptetelle 5, 9 responaum harttspicum hoc recens de fremitu (in agro Latiniensi
10, 20) in contiane recitavit (Clodiua), in quo cum aliis muUis scriptum etiam illud est, id
qttod audistis, LOCA SACRA ET RELIGIOSA PROFANA HABERL In ea causa esse
dixit domum meam, a religiosissimo sacerdote, P. Clodio, consecratam.
Der ftlteste Zeuge f&r diese Rede ist Asconius, der p. 61 E. S. schreibt: in ea autem,
quam post aliquot annos habuit (Cicero) de aruspicum responso und daraus eine Stelle
(12,24) citiert.
Die vier Reden, welche Cicero nach seiner Rückkehr hielt, wurden in Bezug auf
ihre EchÜieit verdächtigt. Die ersten Zweifel regte der Engländer Markland an. Sowohl
in seinem Vaterland als auch in Deutschland wurde er bektoipft, in Deutschland wirksam
durch M. Gessner in Göttingen. Der Streit ruhte, bis F. A. Wolf durch seine Ausgabe
der vier Reden von neuem ein Verdammungsurteil gegen die vier Reden aussprach. Der
Glanz seines Namens verschaffte seiner Ansicht lange Zeit fast unbestrittene Geltung. In
neuerer Zeit ist man von dem Verdammungsurteil ziemlich allgemein zurftckgekommen.
Bei der Rede 1, 3 und 4 machen schon die äusseren Zeugnisse der Athetese Schwierig-
keiten; der zweiten fehlt es zwar an einem solchen, allein auch hier kann die Unechtheit
nicht mit durchschlagenden Gründen dargethan werden.
Litteratur: Mabeulmd, Remarks on the epistles of Cicero to Brutus and of Brutus
to Cicero. — With a Dissertation upon four Orations ascribed to M, TuHius Cicero, By Jer.
Markland, London 1745. — F. A. Wolf, Ciceronis quae pulgo feruntur IV orationes, Berl.
1801. M. Lange, De Ciceronis altera post reditum oratione, Leipz. 1875. — Schutzschriften:
Gessneb, Comm. soc, Gott. 3, 223. Savels, disputatio de vindicandis Cic. quinque orationibus
(unsere vier Reden und pro Marcello), Köln 1828. Dazu kommt Progr. zu der dritten
Rede, Essen 1833. Lucas, Quaestionum Ttdlianarum specimen, Hirschb. 1837. Lahmster,
orationis de harusp. resp. hahitae originem Tüll, def., Gott. 1859. Hoffmakn, de fide et
auctoritate orationis Ciceronianae quae inscribitur de haruspicum reyponso, Burg 1878.
Rück, De M. T Ciceronis oratione de domo suo, München 1881, wo im liingang noch mehr
Litteratur verzeichnet ist.
Überlieferung der 4 Reden: Der beste Codex ist der Parisinus 7794 s. IX; nach
ihm ist besonders der Gemblacensis s. Bruxellensis 5345 von einiger Bedeutung. (Stock,
Genethl. Gott. p. 106.)
5. pro P. Sestio. Unter den Tribunen, welche unter dem Konsulat
des P. Cornelius Lentulus Spinther und des Q. Metellus Nepos im J. 57
besonders für die Berufung Ciceros thätig waren, befand sich, wie bereits
erwähnt, auch P. Sestius. Um die Zurückberufung zu hindern, störte Clodius
die Versammlungen durch bewaffnete Scharen, die er angeworben hatte.
Bei einer Verhandlung, deren Gegenstand uns nicht bekannt ist, kam es
wieder zu einem blutigen Zusammenstoss, bei dem P. Sestius schwer ver-
wundet wurde (37, 79). Zu seinem Schutz umgab sich jetzt auch Sestius
mit bewaffneten Rotten, wie dies auch der Volkstribun Milo gethan hatte.
Auch nach der Rückkehr Ciceros hörten die bewaffneten Zusammenstösse
nicht auf. Um sich an P. Sestius für dessen Bemühungen um Zurück-
berufung aus dem Exil zu rächen, stiftete Clodius im J. 56 eine Klage gegen
ihn an de vi auf Grund der lex Plautia. Kläger war M. Tullius Albino-
vanus, Präsident des Gerichtshofes M. Aemilius Scaurus. Die Klage lautet,
P. Sestius habe in seinem Volkstribunat durch Anwendung bewaffneter
Gewalt die Sicherheit des Staates gestört. P. Sestius wurde von mehreren
Rednern verteidigt, darunter von Q. Hortensius und M. Cicero. Cicero
hielt die Schlussrede (2, 3). Dadurch bestinmit sich der Charakter der
Cicero« Beden. 215
Rede. Sie legt alles Gewicht auf die Darlegung des Lebens des Sestius,
besonders seines Tribunats. Eine Episode, in der er die Geschichte seiner
Verbannung erzählt, schaltet er 6,15-32,70 ein. Dann wird der Lebens-
lauf des Sestius fortgesetzt (bis 44, 96). Daran schliesst sich ein Exkurs,
das Lob der Optimaten, auch die Geschichte seiner Rückberufung ist hier
eingeflochten. Endlich folgt die Peroratio (69, 144). Sestius wurde frei-
gesprochen.
Als Verteidiger des Sestius f&hrt das Argumentam der scholia Bobiensia p. 292
Orelli ausser Cicero und Hortensius noch auf M. Crassus, L. Licinius Calvus.
Das Klageobjekt berfihrt kurz Cicero 36» 78 (accusator) P. Seatium queritur cum
muüitudine in tribunatu et cum praesidio magno ftUsse und 39, 84 homines, inquU (accusator),
emisti, coigisti, parasti.
Seine Rede charakterisiert Cicero 2, 5 Sed quoniam singulis criminibus eeteri respon-
derunt, dicam ego de omni statu P. Sesti, de genere vitae, de natura, de moribus, de in-
credibUi amore in bonos, de studio conservandae salutis communis atque otii contendamque,
si modo id consequi potero, ut in hoc eonfusa atque universa defensiüne nihil ab me, quod
ad vestram quaestionem, nihil, quod ad reum, nihU, quod ad rempublicam pertineat, praeter-
missum esse videatur.
Die erste Epipode leiten die Worte ein 6, 15 Sed necesse est, antequam de tribunatu
P. Sesti dicere incipiam, me totum superioris anni rei publicae naufragium exponere, in
quo coUigendo ae reficienda saJute communi omnia reperientur P. SeMi facta, dieta, consilia
rersata; den Exkurs am Schluss der Rede 44, 96 Nimirum hoc illud est, quod de me po-
tissimum tu in aceusatione quaesisti, quae esset nostra 'natio optimatium': sie enim dixisti.
Rem quaeris praeclaram iuventuti ad discendum nee mihi difficilem ad perdocendum; de
qua pauca, iudices, dicam: et, ut arhitror, nee ab utüitate eorum, qui audient, nee ab officio
restro nee ab ipsa causa P. Sesti abhorrebit oratio mea, (GavinfE, Orot. Sestianat disp.,
Gera 1885.)
Den Ausgang dek Prozesses schreibt Cicero seinem Bruder (adQ. 2, 4, 1): Sestius
noster absolutus est a. d, V. Idus Martias et — omnibus sententiis absolutus est,
6. In Yatinium testem interrogatio. In dem Prozess gegen
Sestius trat als Belastungszeuge P. Vatinius auf. Da die Parteien das
Recht hatten, die gegnerischen Zeugen zu befragen, so richtete Cicero,
nachdem Vatinius als Zeuge vernommen war, gegen denselben in der Form
der Frage eine Flut von Schmähungen.
Auch diese Rede hatte Erfolg. Cicero schreibt an seinen Bruder (2, 4, 1) : scito hoc
nos in eo iudicio consecutos esse, ut omnium gratissimi iudicaremur: nam defendendo,
moroso homini cumulatissime satisfecimus et — id quod tue maxime cupiebat — Vatinium,
a quo palam oppugnabatur, arbitratu nostro concidimus, dis hominibusque plaudentibus —
ßumo petulans et audax (Vatinius) valde perturbatus debilitatusque discessit.
Überlieferung: Das kritische Fundament für beide Reden bildet der Parisinus
*7794. Nach 2,4 hat die Rede in Vatinium eine Lttcke.
7. pro M. Gaelio, aus dem J* 56. M. Gaelius Rufus, den wir als
Redner oben p. 194 charakterisiert haben und dessen Briefwechsel mit Cicero
das achte Buch der sog. epistolae familiäres bildet, wurde durch eine Klage
de vi verfolgt. Der Hauptankläger war L. Sempronius Atratinus, dessen
Vater von Gaelius wegen ambitus angeklagt worden war und gegen den
Gaelius eben wieder gerichtlich vorgehen wollte. Unterstützt wurde er
von L. Herennius Baibus. Die Anklage, die unter dem Vorsitz des Prätors
Gn. Domitius Galvinus erfolgte, umfasste fQnf Anklagepunkte, nämlich
1) Gaelius habe in Neapel einen Aufstand angezettelt; 2) er habe gewalt-
sam die Güter der Palla in Besitz genommen; 3) er habe die Gesandten
des Ptolemaeus misshandelt; 4) er habe sich von der Glodia Geld geben
lassen, um einen der Gesandten, Dio, zu töten; 5) er habe Glodia zu ver-
giften versucht. Die Verteidiger Grassus und Gicero teilten sich so in i
216 Bömische Lüteratargesohichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
ihre Aufgabe, dass Crassus zuerst die Anklagepunkte 1—3, dann Cicero
die zwei übrigen, 4 und 5, zu widerlegen versuchte. Ausserdem sprach
Gaelius selbst. Die ciceronische Rede bestreitet zuerst die Anschuldigungen,
welche sich gegen das Privatleben des Gaelius richten, dann geht sie auf
die eigentliche Klage ein; hier aber wird zuerst Glodia, die frühere Buh-
lerin des Gaelius, die aus Rache, weil er sie verlassen (65,61), die Klage
angestiftet hatte, mit schwarzen Farben gezeichnet. Die beiden Anklagen
sucht der Redner zurückzuweisen, indem er auf das Unwahrscheinliche
aufmerksam macht; dies geschieht besonders durch eine Menge aufgewor-
fener Fragen, welche Zweifel anregen sollen. Gaelius wurde freigesprochen.
Für das soziale Leben der Zeit bietet die Rede reichen Stoff.
Das Crimen berfihrt Cicero am Schluss 29, 70: De vi quaerUia (iudices). Quae lex
ad imperium, ad maiestatem, ad statum patriae, ad saltUem omnium pertinet, quam legem
Q. Catulus armata dissensione citnum rei publicae paene extremis temporibus tulit, quaeque
lex sedata illa flamma consulatua mei fumantis reliquias eoniurationis extinxit, hacine
lege Caeli adtdescentia nan ad rei publicae poenas, aed ad mulieria libidines et delicias de-
posciturf Clodius war also nach der lex lAUtatia angeklagt; über das Verhältnis dieser lex
zur lex Plautia bemerkt Fbakcken 1. c. p. 202 neque enim per Lwtatiam abrogata erat
antiquior (Plautia), sed in 8ummo reip. discrimine eanfirmata, adiectis quibusdam de ardine
iudicii aeveriore et breviore.
Die einzelnen Anschuldigungen 10, 23 partem eauaae graviter et omate a M. Crasso
peroratam de aeditionibus Neapolitania , de Älexandrinorum pulaatione Puteolana, de honis
Pallae. Vellem dictum eaaet ab eodem etiam de Diane, Die zwei der Verteidigung Ciceros
anheimfallenden crimina berührt die Rede 21, 51 Duo aunt erimina una in mutiere aum-
morum facinarum: auri, quad aumptum a Ciadia dicitur, et reneni, quod eiuadem Clodiae
necandae causa parasae Caelium criminantur. Aurum aumpait, ut* dicitia, quad L, Lueceii
aervia daret, per quaa Alexandrinua Dia, qui tum apud Lucceium habitabat, neearetur.
Die Zeit der Rede bestimmt Fravoksn, Mnemos. 8 (1880) p. 201 auf 4. April 56.
Oberlieferung: Einzelne Teile in dem Mailänder und in dem Turiner Palimpsest.
Dazu Parisinus 7794, Erfnrtensis s. Berolinensis, Gemblacensis s. Bruxellensis 5345, Salis-
burgensis (34) s. Monacensis 15734, Harleianus 4927. (BIhrevs, Revue de philol. 8, 33.)
8. De provinciis consularibus, eine Senatsrede, gehalten Mai 56.
Als es sich um Anweisung der Provinzen für die künftigen Konsuln des
J. 55 nach der lex Sempronia handelte, suchten die Optimaten im Senat
einen Schlag gegen Caesar zu führen. Es kamen vier Provinzen in Frage,
die beiden Gallien, dann Macedonien und Syrien. Unter den Vorschlägen
tauchte auch der auf, Caesar die beiden Gallien oder wenigstens eines zu
entziehen. Allein dieser Antrag war ganz ungesetzlich, denn Caesar waren
durch Senats- und Volksbeschluss die gaUischen Provinzen bis zum Ablauf
des J. 54 verliehen. Cicero bekämpfte diesen Vorschlag und sprach sich
für die Zuweisung der Provinzen Syrien und Macedonien an die künftigen
Konsuln des J. 55 aus. Dort waren Statthalter Gabinius und Piso, die
persönlichen Feinde Ciceros, die während ihres Konsulats das meiste zu
seiner Verbannung beigetragen hatten. Durch die Bede suchte sich Cicero
Caesar zu nähern. Der Ausgang der Verhandlungen entsprach nicht völlig
den Vorschlägen Ciceros. Zwar behielt Caesar seine Provinzen; allein
auch Gabinius blieb noch in Syrien; nur Piso wurde abberufen und seine
Provinz Macedonien dem Prätor Q. Ancharius überwiesen (55).
In der Rede spricht Cicero zuerst fOr die Abberufung des Piso und Gabinius, indem
er ihre Verwaltung als eine schreckliche darzustellen sucht; dann wendet er sich gegen
die Abberufung Caesars vgl. 8, 18 Quodai eaaent Uli (Gabiniua et Piaa) apHmi viri, tamen
ega mea aententia C. Caeaari auccedendum non putarem. Sein Verhältnis zu Caesar kommt
besonders zur Sprache. (Müller, Einleitung zur Rede, Kattowitz 1886.)
GiceroB Beden. 217
Überlieferung: Zar Konstitniemng des Textes wurden beigezogen der genannte
Parisinus 7794, der Codex Gemblacensis s. Bruxellensis 5345 und der Codex Erfurtensis
8. Berolinensis.
9. pro L. Gornelio Balbo, aus dem J. 56. L. Cornelius Baibus
aus Gades erhielt von Cn. Pompeius das römische Bürgerrecht. Pompeius
war hiezu befugt durch die lex des L. öellius und Gn. Cornelius; nach ihr
sollten alle diejenigen römische Bürger sein, denen Pompeius nach dem
Gutachten seines Eriegsrates das Bürgerrecht verliehen. Als Baibus durch
seine intimen Beziehungen zu Pompeius und Caesar zu grossem Einfluss
gelangte, suchten seine Neider ihn durch Bestreitung seines Bürgerrechts
zu schädigen; auch wurde mit dieser Klage ein Schlag gegen Pompeius
und Caesar geführt. Da die Klage nicht bestreiten konnte, dass Baibus
das Bürgerrecht von Pompeius erhalten, so focht sie die Gültigkeit des-
selben durch den Einwand an, dass hiezu die Genehmigung der Gaditaner
als eines verbündeten Volkes notwendig war. Für Baibus trat ein Pom-
peius, dann Crassus und Cicero. Wie gewöhnlich, so hielt Cicero die
Schlussrede (1,4; 7,13). Baibus wurde freigesprochen. Für die Erkenntnis
des römischen Bürgerrechts ist die Rede von grosser Wichtigkeit.
Klar wird die Substanz der Klage formuliert 8, 19: Nascitur, iudicea, causa Corneli
ex ea lege, quam L. GelHus Cn. Cornelius ex senatus sententia tulerunt; qua lege videmus
(unsichere Lesart) sanctum, ut cive^ Romani sint ii, quos Cn. Pompeius de consilii sen-
tentia singWatim civitate donaverit. Donatum esse L. Comelium praesens Pompeius dicü,
indieant puMicae tabulae, aeeusator fatetur, sed negat ex foederato populo quemquam potuisse.
nisi ispqptUus fundus f actus esset, in hanc civitatem venire. (Hoche, De C. B., Roesleb. 1882.)
Oberlieferung: Sie beruht auf dem Cod. Parisinus 7794, dem Gemblacensis s.
Bruxellensis 5345, dem Erfurtensis s. Berolinensis und dem Wolfenbuttelanus.
10. In Pisonem, eine am Anfang verstümmelte Senatsrede des J. 55.
In der Rede über die konsularischen Provinzen waren von Cicero seine
persönlichen Feinde, die Konsuln des J. 58, arg mitgenommen worden.
Als nun Piso, von seiner Provinz zurückberufen, in Rom angekommen
war, hielt er im Senat eine Schmährede auf Cicero. Ihm antwortete Cicero
in der vorliegenden Rede. Auch diese Rede stellt sich als eine grobe
Invectiva dar; sie ist eine wahre Fundgrube für Schimpf werte. Cicero
vergleicht darin sein staatsmännisches Leben mit dem Pisos; dort findet
er nur Licht-, hier nur Schattenseiten. Die Übertreibungen sind ausser-
ordentlich stark. Unter den Einzelheiten dürfte zu erwähnen sein, dass
Cicero in dieser Rede bereits den berüchtigten Vers
eedant arma togae, eoncedat laurea laudi
gegen Piso verteidigen muss.
Über die Abfassungszeit spricht mit kritischem verständigem Urteil Asconius p. 1 K.S..
er kommt zu dem richtigen Resultat: Haec oratio dicta est Cn. Pompeio Magno II M.
Crasso II coss, (55 v. Gh.) ante paucos dies quam Cn. Pompeius ludos faceret, quibus theo-
trum a se factum dedicavit.
Gegen die Invectiva Ciceros schrieb Piso eine Schrift; der Bruder Ciceros war der
Ansicht, dass auf dieselbe eine Entgegnung zu erfolgen habe. Cicero lehnt dies ab mit
den Worten (3, 1, 11): Alterum est, de Calventii Marii (er meint damit Piso) oratione quod
scribis: miror tibi placere me ad eam rescribere, praesertim cum iJJam nemo lecturus sit,
si ego nihü rescripsero, meam in iüum pueri omnes tamquam dietata perdiscant.
Überlieferung: Die vorzüglichsten Handschriften sind der Turiner Palimpsest,
durch den wir einzelne Fragmente kennen lernen, und der Codex Vaticanus (tahularii
Basilicae Vaticanae s. VIII), der 14, 32 tamen — 30, 74 ratione hoc enthält. Ausserdem die
Codices deteriores, von deneii der beste ist der Cod. Salisburgensis 34 s. Monacensis 15734.
218 Bömisohe litteratnrgesohiohte. l. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Zur AusfOlluiig der Lücke asA Anfang liefert einiges die Handschrift des Nicolaus Gusanius.
Vgl. Eleiiv, Die Handschrift des N. Gus., Berl. 1866 p. 49.
11. pro Cn. Plancio, aus dem J. 54. Im J. 55 bewarb sich Plancius
um die curulische ÄdilitÄt für das J. 54. Allein die unter Crassus abge-
haltenen Komitien^wurden nicht vollendet (20, 49). Erst im J. 54 wurden
die Ädilen für den Rest dieses Jahres gewählt; es waren dies A. Plotius
und Plancius. Mitbewerber war M. Juventius Laterensis, der aber durchfiel.
Nach der Wahl klagte Laterensis den Gn. Plancius auf Grund der lex
Licinia de sodaliciis d. J. 55 an, d. h. der Kläger behauptete, Plancius habe
durch unrechtmässige Beihilfe von Clubs die Wahl zum Ädilis curulis
durchgesetzt. Die Klage unterstützte L. Cassius Longinus. Um dieselbe
zu entkräften, zeigt Cicero zuerst, dass der Durchfall bei der Wahl für
Laterensis nichts Schimpfliches habe, das Volk folge eben seinen Neigungen ;
dann geht er (15, 36) auf den eigentlichen Klagepunkt über; endlich wendet
er sich (24, 58) noch gegen L. Cassius Longinus und verteidigt sich hiebei
gegen den Vorwurf des Laterensis, dass Cicero die Verteidigung des Plancius
übernommen habe, und gegen sonstige persönliche Angriffe.
Aus Cic. ad Q. fr. 3, 1, 11 Orationes efflagUatas pro Scauro et pro Plancio absolvi ist
zu schliessen, dass die vorliegende Rede erst später schriftlich ausgearbeitet wurde.
Über den Klagepunkt 15, 36 sed aliquando veniamua ad causam. In qua tu nomine
legis Liciniae, quae est de sodaliciis, omnis ambitus leges complexus es»
Überlieferung: Die besten Handschriften der Planciana sind der Tegemseensis
s. Monacensis 18787 und der Erfurtensis s. Berolinensis.
12. pro M. Aemilio Scauro. Im J. 54 wurde M. Aemilius Scaurus,
der als Proprätor Sardinien (und Corsica) verwaltet hatte, wegen Erpres-
sungen von P. Valerius Triarius und drei Subskriptoren belangt. Es ge-
schah dies besonders deswegen, um Scaurus von der Bewerbung um das
Konsulat zurückzuschrecken, auf Betreiben seiner Mitbewerber. Dem Ge-
richtshof präsidierte M. Cato ; Scaurus nahm in ungewöhnlicher Weise sechs
Verteidiger, darunter Hortensius und Cicero. Die vorliegende, nur in Frag-
menten durch den Ambrosianischen und Turiner Palimpsest erhaltene Rede
bezieht sich auf eine zweite Verhandlung der Sache (13, 29 14, 30). Aller
Wahrscheinlichkeit nach sprach Cicero die Schlussrede.*) Er behandelte
zuerst die dem Scaurus zugeschriebene Ermordung des Bostar bei einem
Gastmahl, dann den Tod der Gattin des Aris (der ^später die Mutter des
Bostar zur Frau nahm). Scaurus habe nämlich die Gattin des Aris zur
Befriedigung seiner Lust verlangt, Aris sich dessen geweigert und die Flucht
ergriffen, die Frau aber sich den Tod gegeben. Nachdem der Redner diese
Anschuldigungen zurückgewiesen, geht er auf die eigentliche Sache ein
und handelt über die Art und Weise der Anklage, über die sardischen
Zeugen, über Scaurus; es folgte die Behandlung des crimen frumentarium,
welche Partie nicht erhalten ist, es schliessen sich Teile äer peroratio an.
Scaurus wurde freigesprochen, allein nicht lange darauf, im J. 52 wurde
er von demselben Triarius wegen ambitus angeklagt und, obwohl wiederum
von Cicero verteidigt, verurteilt.
Die Zeit der Rede ergibt sich aus der Erwähnung des Konsulats des Appius Claudius
Pulcher (13,31). Vgl. die einleitenden Worte des Kommentars des Asconius p. 16 K.S.
0 Gaümitz p. 266.
Gioeros Beden. 219
hanc quoqite orationem eisdem consutibus dixit, quibfia pro VatiniOy L. Domitio ÄhetwbarbOf
Appio Clat*dio Pukhro coss, Summus iudicii dies ftUt a. d. IUI Nona^ Septemb. Über
die Subscriptares Asconius 5,17: Sübscripserunt Triario in Scaurutn L, Marius L. f. M,
et Q, Pacuvii fratreSf cognomine Claudi; als Patrani führt Asconius p. 18 folgende auf:
P. Glodius Pulcher, M. Marcellus, M. Cididins, M. Cicero, M. Messala Niger, Q. Hortensius.
Die spätere Abfassung dieser Rede wie der Planciana erhellt aus Cic. ad Q. fr. 3, 1, 11.
Die Disposition des Teiles, der sich auf die causa bezieht, enthalten die Worte 10, 22
Dicam primum de ipso genere accusationis, postea de Sardis, tum etiam pauca de Scauro;
quibus rebus explicatis tum denique ad hoc horribile et formidulosum frumentarium crimen
aecedam. Vgl. Gauxitz p. 268, eine übersichtliche ausführliche Disposition gibt er p. 279.
Von der Rede waren bis 1814 nur wenige Fragmente bekannt; in diesem Jahr teilte
Mai grössere Bruchstücke aus dem Ambrosianischen Palimpsest, und später Petbon aus
einem Turiner Palimpsest mit; und zwar ergänzen sich beide Palimpseste; „in partibus
Ulis quae in Taurinensi et Ämbrosiano simul sunt (§ 18 — 24, 31 — 36) paulo melior est
Thurinensis^ (Fbanckjsn, llnemos. 1883 p. 385). Das Verlorene berechnet Gauxitz p. 276
also : Tota Scauriana si incolumis exstaret 1404 fere wrsus, sive 35 fere paginas editionis
Bau. Kays, impleret,
Litteratur: Um die Fragmente machte sich verdient Beieb, Orot, pro TulL in Clod.
p, Scauro p, Flacco, Leipz. 1825. Von ihm rühren auch die Ergänzungen her, die, wenn
sie oft aucn scharfsinnig erdacht sind, doch mit Recht Halx (Sitzungsber. d. Münch. Akad.
1862 11 p. 9) in den kritischen Ausgaben beseitigt wissen will. Gauxitz, De M. Aemilii
Scauri causa repetundarum et de Ciceronis pro Scauro oratione, Leipz. Stud. 2, 249 (treff-
liche Abhandlung).
13. pro C. Rabirio Postumo, aus dem J. 54. A. Gabinius, der
bekannte Prokonsul von Syrien, wurde der Erpressungen beschuldigt. Ein
besonderer Klagepunkt war, dass er von dem flüchtigen König von Ägypten,
Ptolemaeus Auletes, 10,000 Talente erhalten habe, um denselben mit be-
waffneter Macht in sein Reich zurückzuführen (8, 21). Gabinius wurde
verurteilt; er konnte aber die Strafsumme, zu der er verurteilt wurde,
nicht zahlen. Nun wurde auch C. Rabirius Postumus in die Sache ver-
wickelt. G. Rabirius Postumus war der Sohn des G. Gurtius, der die
Schwester des C. Rabirius, den Cicero im J. 63 in einem Prozess wegen
Hochverrats verteidigte, zur Frau hatte. Von diesem C. Rabirius adoptiert,
führte der Sohn des G. Gurtius, unser Rabirius Postumus, seinen Namen.
Wie sein Vater, so gab sich auch Rabirius Postumus mit Geldgeschäften
ab. Er lieh besonders dem König Ptolemaeus Auletes grosse Summen.
Als Gabinius den vertriebenen König nach Alexandria zurückgeführt hatte,
erschien auch dort Rabirius; er wurde vom König zum ersten Schatz-
beamten gemacht; Gabinius stellte ihm Truppen zur Verfügung. Er konnte
nun für sich und Gabiiäus erpressen. Er scheint dies in so schrecklicher
Weise gethan zu haben, dass der König ihn verhaften lassen musste;
Rabirius wurde zur Flucht gezwungen. Das julische Gesetz über Erpres-
simgen d. J. 59 enthielt die Bestimmung, dass, wenn ein Verurteilter die
Strafsumme nicht zahlen konnte, die beigezogen werden sollten, die auch
von dem erpressten Geld erhalten. Da man den Rabirius als den Raub-
genossen des Gabinius ansah, so wurde er auf Grund der erwähnten lex
Julia belangt. Der Prozess stellt sich sonach als ein Anhang zu dem
gegen Gabinius durchgeführten dar. Über den Ausgang des Prozesses
fehlen uns positive Nachrichten.
Die ProzeSBsache legt klar folgende Stelle 3, 8: est haec causa, QUO EA PECUNIA
PERVENERITf qtuisi quaedam appendicula causae iudicatae atque damnatae. Sunt lites^
aestimatae A, Gabinio^ nee praedes dati nee ex bonis populo universa peeunia exacta est,
Jubet lex Julia per sequi ab iis, ad quos ea peeunia, qttam is ceperit, qui damnafus sit, per-
220 BömiBohe Litteratargeachichte. I; Die Zeit der Bepoblik. 2. Periode.
venerit. Weiter vgl. 11,30 ait enlm, Gabinio pecuniam Postumus cum eogeret, deeumas
imperatarwn pecuniarum Mi coegisae. (Halm, Abh. der bayr. Akad. 7, 3 p. 629.)
Überlieferung: Unsere Handschriften stammen alle aus einem Exemplar, das
Poggio nach Italien brachte, es sind daher nur junge Handschriften ims zur Veriugung.
14. proMilone. Die Verteidigung des T. Annius Milo wegen Er-
mordung des bekannten P. Glodius Pulcher fällt in das J. 52. Der That-
bestand war folgender: Milo begab sich mit seiner Frau Fausta, einer
Tochter des Diktators Sulla, und grossem Gefolge Anfang des J. 52 in
seine Vaterstadt Lanuvium, um dort als Diktator von Lanuvium einen
Flamen zu ernennen. Auf der Reise dahin begegnete ihm in der Nähe
von Bovillae beim Heiligtum der Bona dea Glodius. Zwischen beiden be-
stand schon längere Zeit bittere politische Feindschaft; besonders war es
die Person Giceros, die beide Männer trennte, indem Glodius ein heftiger
Gegner des berühmten Redners war, Milo dagegen ein warmer Verteidiger
desselben. Da Glodius sich mit bewaffneten Banden umgab und dieselben
gegen seine Gegner wirken liess, so griff auch Milo zu diesem Mittel; es
kämpfte daher die eine Bande gegen die andere. Bei jener Begegnung in
der Nähe von Bovillae geriet zuerst das beiderseitige Gefolge aneinander.
Bald wurde aber auch Glodius verwundet; nun kam es zu einem allge-
meinen Kampf, in dem die Übermacht, die auf Milos Seite war, siegte.
Den verwundeten Glodius, der in ein Wirtshaus von Bovillae gebracht
worden war, liess Milo herausreissen und umbringen. Die Leiche wurde
nach Rom gebracht; es wurde eine grosse Erbitterung rege; bei den tumul-
tuarischen Vorgängen brannte die Guria Hostilia ab. Es waren ausser-
ordentliche Massregeln geboten, um den Unruhen ein Ziel zu setzen. Pom-
peius war es, der, zum Konsul ohne Kollegen ernannt, eingriff und das
Prozessverfahren gegen Milo regelte. Zum Quäsitor wurde L. Domitius
Ahenobarbus ernannt. Richter waren es 51. Da das Faktum der Tötung
des Glodius m'cht geleugnet werden konnte, so musste die Verteidigung
Giceros darauf gerichtet sein, dass Milo nur aus Notwehr gehandelt. Als
Gicero zu sprechen begann, wurde er von dem Geschrei der Glodianer
unterbrochen; er sprach daher nicht mit der gewohnten Festigkeit; Milo
wurde mit 38 Stimmen von 51 verurteilt, er ging nach Massilia ins Exil.
Die vorliegende Rede ist ein ganz vortreffliches Denkmal ciceronischer
Beredsamkeit, allein sie ist nicht die wirklich gehaltene, sondern eine erst
später aufgezeichnete. Aber auch die wirklich gehaltene Rede, von Steno-
graphen nachgeschrieben, hatte sich längere Zeit erhalten.
Über die Vorgänge in der Milonischen Sache handelt meisterhaft Asconius in seinem
argumentum (p. 26 K. S.). Über das Auftreten Ciceros vgl. p. 36 Cicero cum inciperet
dtcere, exceptus est ac€lamati<me Ciodianarum, qui se continere ne metu qtUdem circum-
stantium militum potuerunt. Itaq%is non ea qua solüus erat eonstantia dixit, Manet autem
iU4i quoque excepta eius oratio: scripsit vero hanc quam legimus ita perfecte, ut iure prima
haheri possit, (Über das Rhetorische Meusburoer, Progr. von Ried [Österreich] 1882.)
Über das Ziel der Verteidigung 9, 23 reliquum est, iudices, ut nihil iam quaerere aJiud
debeatis, nisi uter utri insidias fecerit, Asconius p. 36 Cicero — Clodium Mifoni feeisse
insidias disputavit, eoque tota oratio eius spectavit.
Über den Ausgang des Prozesses sagt Asconius p. 47 : Senatares condemnaverunt XU,
absoherunt VI; equites condemnaverunt XIII, absolverunt IUI; tribuni aerarii condemnave-
runt XIII, absoherunt IIL Gassius Dio 40, 54, 2 p. 235 Bekkeb tovxoy roV Xoyov tov rvv
fftQOfA&vov wg xtti vn^Q jov MlXiavog tore Xs/^eyra X9^^^ ^^^' vareQoy xal xitt« axoXiqr
nfu^aQai^ag ey^atj/ey * xal d»j xal roiovde ti ne^l €evjov nagadidotai, * o MiXwy rw Xoytp
Ci<}eros Reden« 221
ntfi^syri ol vn ttvtov itrtpxwy — (tyzBniaruXe Xdytay öii iv ^^XB ^'vr^ ivByeto to fitj
lavd'* ovtia xat iy rai cfi xor^m^^io) Xe^^^^m ' ov ydo ay tMovrag iy rj MaaatXnf, iy ^ xara
tijy tpvyrjy i^y, r^iyXag ia&ieiy, eincQ ri roiovroy aTteXoyfjto.
Haupthandschriften: der Tegemseenisis s. Monacensis 18787 und der Erfurtensis s.
Berolinensia (für einzelne Stellen der Turiner Palimpsest).
144. Die vierte Periode der ciceronischen Beredsamkeit (46—43).
Nach dem J. 52 zeigt die uns vorliegende Sammlung der ciceronischen
Reden eine längere Pause; erst mit dem J. 46 erscheinen wieder redne-
rische Produkte Ciceros. Zwei Gruppen von Reden treten uns in diesem
letzten Abschnitt der ciceronischen Beredsamkeit entgegen, die Gruppe der
vor Caesar gehaltenen Reden der J. 46 und 45 (die sog. caesar.), dann die
Gruppe der gegen M. Antonius gerichteten (philippischen) Reden von 44 und 43.
1. pro M. Marcello. M. Claudius Marcellus, ein heftiger Gegner
Caesars, hatte sich nach der Schlacht bei Pharsalus nach Mytilene frei-
willig ins Exil begeben. Sein Bruder C. Marcellus erwirkte im Senat (46),
indem er sich «Caesar zu Füssen warf und die Senatoren sein Gesuch unter-
stützten, dessen Begnadigung. Caesar erklärte nämlich, er wolle einem
kundgegebenen Willen des Senats hierin nicht entgegentreten. Bei Dar-
legung ihrer Meinung erging eine Reihe von Senatoren sich in Dankes-
äusserungen gegen Caesar. Auch Cicero brach sein seit längerer Zeit beob-
achtetes Schweigen und feiert in überschwenglicher Weise Caesars Milde
und da Caesar Befürchtungen laut werden liess, als stelle man seinem
Leben nach, führt er den Gedanken durch, dass Caesars Leben zu kostbar
sei und dessen Erhaltung im Literesse aller liege, da noch zahlreiche Auf-
gaben ihrer Lösung durch ihn harrten.
Nach dem Vorgang des spanischen Jesuiten Juan Andrez (1782) suchte
F. A. Wolf*) in seiner Ausgabe des J. 1802 die Rede als unecht zu er-
weisen, allein weder die sachlichen noch sprachlichen Bedenken, die vor-
gebracht werden, sind stichhaltig.
Ober die Vorgftnge, welche der Danksagung Ciceros zu Grunde liegen, berichtet er
Ep. 4, 4, 3 an den berOhmten Juristen Ser. Sulpicius Rufiis, der mit M. Marcellus im J. 51
Konsul war: ipse Caesar aeeusata acerbUate MarcelH ^- repente praeter spem dixit se senatui
roganti de Marcello ne hominis quidetn causa negaiurum; fecerat auiem hoc senatus, ut,
cum a L, Pisone meniio esset facta de Marcello et C, Marcellus se ad Caesaris pede«
ahiecissfty cunctus consurgeret et ad Caesarem supplex accederet — ita mihi pulcher hie
dies risus est, ut speciem aliquam viderer videre quasi retdviscentis rei publicae. Itaque
cum omnes ante me rogati gratias Caesari egissent praeter Volcadum — is enim, si eo
loco esset, negavit se facturum fuisse — ego rogatus mutavi meum consilium; nam sin-
tueram non mehercule inertia, sed desiderio pristinae dignOatis in perpeiuum tacere:
fregit hoc meum consilium et Caesaris magniiudo animi et senatus officium; itaque pluH-
bus verhis egi Caesari gratias; meque metuo ne etiam in ceteris rebus honesto otio ptivarim,
quod erat unum solatium in malis; sed tarnen, quoniam effugi eius offensumem, qui fortasse
arbitraretur me hane rem publieam non putare, si perpetuo tacerem, modice hoc faeiam
aut etiam intra modum, ut et illius voluntati et meis studiis serviam. Als Marcellus im
folgenden Jahre nach Italien zurttckkehren wollte, wurde er im Piräus von F. Magius Cilo
ermordet und von Ser. Sulpicius Rufus in Athen begraben. (Cic. ep. 4, 12.)
Die Verdfichtigungsgrttnde stützen sich auf die Anschauung, dass die Rede in der
Form, in der sie vorliege, nicht hätte gehalten werden kOnnen, da sie das Mass einer
Danksagung Oberschreite, auch die Caesar Flut. Cic. 39 bei dem Frozess des ligarius in
') Soman, Untersuchung p- H h< die
Unechtheitserkl&rung Wolfs „nlr eine Persi-
flage auf die in jener Zeit herrschende Mode,
Litteraturwerke nach oberflächlicher Betrach-
tung den durch die Überlieferung bezeichne-
ten Urhebern zu entziehen und filr unterge-
schoben zu erklären."
222 BOmische Litteratnrgescliichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
den Mund gelegten Worte tl xwXvei Sid ^Qoyov Ktxegtoyos äxovaai Xeyot^iog; eine Rede
Ciceros vor der Ligariana unglaublich erscheinen lassen, ferner auf die Anschauung, dass
die Veröffentlichung einer solchen Rede, auch wenn sie gehalten worden w&re, weder im
Interesse Marcellus* noch Ciceros lag, endlich auf anscheinend sachliche und sprachliche
Verstösse, die man Cicero nicht zu&auen könne. Alle diese Einwürfe halten genauerer
Erwägung nicht stand. Man vgl. z. B. das, was Passow über das aus (fta /^oi^ot; herge-
nommene Argument sagt (p. 276). Heutzutage darf es wohl als ausgemacht gelten, dass
die Rede von Cicero herr&nrt. Auch die von Jacob (de oratiane pro MarcelJo Ciceroni vel
ahiudicanda vel adiudieanda, Berl. 1813) begründete vermittelnde Ansicht, dass der Grund-
stock der Rede echt, aber durch Interpolationen verwischt sei, kann nicht mehr fest-
gehalten werden. Nur Eines darf in der Frage nicht ausser acht gelassen werden, dass
höchstwahrscheinlich die Rede nicht von Stenographen sofort aufgenommen, sondern erst
später von Cicero rekonstruiert wurde, also die wirklich gehaltene Rede immerhin von der
geschriebenen merklich differieren konnte.
Litteratur: F. A. Wolf, M. T, Ciceronia quae vtUgo fertur oratio pro MarceUoj
Berl. 1802. Spaldüto im Mus. der Altertumsw. 1 (1808), 1. Passow, Verm. Schriften p. 258.
Hahxe, oratumem pro M. denuo def, (Jenaer Diss.), Braunschweig 1876. Schwaioue, De
Ciceronis oratione pro M. MarceUo, Bromberg 1885 (Erlanger Diss.) verteidigen die Rede.
ScHKiD, Untersuchung über die Frage der Echtheit der Rede pro M., Zürich 1888, der aber
die Abhandlung von Schwanke nicht kennt, verwirft sie. Sohxid will einen Anachronismus
entdeckt haben; „die Reformen, deren Verwirklichung 8,23 gewünscht • wird, seien 1 — B
Monate vor der Zurückberufung des M. grösstenteils ganz neu durchgeführt, zum kleinem
Teil aus früheren wiederholt imd ergänzt worden** (p. 100). Allein selbst die Richtigkeit
dieses Satzes zugegeben, so würde bei einer späteren Abfassung der Rede ein Anachronismus
von 1 — 3 Monaten sicherlich bei Cicero nicht wunderbar sein.
2. pro Q. Ligario (aus dem J. 46). Q. Ligarius war im Bürgerkrieg
auf Seiten der Pompeianer gestanden. In Adrumetum fiel er in die Hände
Caesars, welcher ihn mit Verbannung bestrafte. Seine Brüder und andere
Angehörige suchten bei Caesar seine Begnadigung zu erwirken, auch Cicero
fand sich als Fürsprecher mit ein. Allein für den Augenblick konnte das
Ziel nicht erreicht werden, wenngleich ersichtlich war, dass Caesar sich
zur Milde herbeilassen werde. Diese Hoffnungen schienen aber völlig zu
scheitern, als Q. Aelius Tubero Klage gegen Ligarius wegen seines ehe-
maligen politischen Verhaltens erhob. Ihn verteidigte Cicero (mit C. Pansa) ;
Ziel der Rede konnte nicht sein, den Angeklagten zu rechtfertigen, sondern
lediglich, für Ligarius Verzeihung zu erlangen. Der Umstand, dass auch
der Vater des Anklägers und der Ankläger auf seite der Pompeianer wie
Ligarius standen, gibt dem Redner zu spitzigen Angriffen Anlass. Tubero
drang mit seiner Klage nicht durch; vielleicht war die Klage sogar auf
Anregung Caesars eingebrachjb, um dadurch die Begnadigung des Ligarius
in ein helleres Licht zu rücken.
Bell. Afric. 89 Adrumetum pervenit (Caesar), Quo cum sine mora introisset, armin,
frumento pecuniaque conaiderata Q. Ligario^ C Conaidio filio, qui tum ibi futrant, tdtam
concesftit. Über die dem Prozess vorausgehenden Bemühungen, fttr Ligarius Begnadigimg
zu erlangen, berichtet Cicero £p. 6, 14 an Ligarius folgendes: ego — cum a, d, V. Kai.
interealares priores rogatu fratrum tuorum venissem mane ad Caesarem atque omnem ad-
eundi et conveniendi illius indignitatem et molestiam pertulissem, cum fratres et propinqtii
tui iacerent ad pedes et ego essem locutus, quae causa, quae tuum tempus postulabaty non
solum ex oratiane Caesaris, quae sane moUis et liheralis fuit, sed etiam ex oculis et vuliu,
ex multis praeterea signis, quae facilius per^icere potui quam scribere, hoc cpinione dis-
cessi, ut mihi tua salus dubia non esset, — Das Ziel der Rede spricht Cicero gleich an-
fangs aus: omnis oratio ad misericordiam tuam conferenda est; um auf diese misericordia
hinzuwirken, wird am Schluss (12, 38) der Gemeinplatz verwertet: homines ad deos nulla re
propius accedunt quam salutem hominibus dando, — Über den Ausgang des Prozesses vgl.
Dig. 1, 2, 2, 46 (Tubero) transit a causis agendis ad ius civile, maxime postquam Qu, Liga-
rium accitsavit nee obtinuit apud C, Caesarem, — Über die Verbreitung der Ligariana siehe
Cic. ad Att. 18,12 13,20 13,44 13,19.
Cicero« Roden. 223
3. pro rege Deiotaro (aus dem J. 45). Der Tetrarch von Galatien,
Deiotarus, hatte wegen seiner Verdienste um das römische Volk, besonders
um Pompeius, Kleinarmenien und den Königstitel erhalten. Im Bürgerkrieg
stellte er sich auf seite des Pompeius. Es wurde ihm daher von Caesar
ein Teil seines Besitzstandes genommen, der Königstitel aber belassen.
Im J. 45 klagte ihn sein Enkel Castor in Rom an, er habe Caesar, als
dieser nach dem Feldzug gegen Pharnaces bei ihm verweilte, nach dem
Leben gestrebt; als Hauptzeuge erscheint der Arzt Phidippus, ein Mit-
glied der Gesandtschaft, welche Deiotarus nach Bom zu seiner Recht-
fertigung gesandt hatte, ein Mann, der angeblich von Castor bestochen
wurde. Auf Bitten der übrigen treu gebliebenen Gesandten übernahm
Cicero die Verteidigung des Königs in der Wohnung Caesars; er sucht
das Unwahrscheinliche der ganzen Anklage darzuthun, auch die Angabe
zu widerlegen, Deiotarus sei Caesar gegenüber immer „auf der Lauer '^
(8,22) gestanden und habe ein grosses Heer gegen ihn ausgerüstet. Zum
Schluss erörtert der Redner, dass Deiotarus von keiner feindseligen Ge-
sinnung gegen Caesar beseelt sei und nicht an das denke, was er durch
Caesar verloren, sondern an das, was er durch ihn gerettet habe. Über
den Ausgang der Sache fehlen uns positive Nachrichten, wahrscheinlich
verschob der Diktator die Entscheidung. Durch die bald darauf erfolgende
Ermordung Caesars entging Deiotarus der Gefahr.
Ober diese Rede urteilt Cicero anscheinend geringschätzig, indem er an Dolabella
schreibt (£p. 9, 12, 2) : aratiunctUam pro Deiotaro, quam requirebas, habebam mecum, quod
non putaram: itaque eam tibi misi; quam velim sie legas, ut causam tenuem et inopem
nee seriptiane magno opere dignam; sed ego hospiti veieri et amico munusculum volui
mittere levidense crasso filo, euiusmodi ipaius solent esse munera.
Es wurde die Behauptung aufgestellt, dass Cicero in den Reden pro Ligario und
pro Deiotaro mit Rücksicht auf Caesar, an den die Reden gerichtet sind, sich des attischen
Stils bediente. Diese Ansicht, welche zuerst von Wilaxowitz, Hermes 12, 332 ausge-
sprochen, dann von GurrMAim in seiner Dissertation De earum quae vocantur Coesarianae
orationum TuUianarum genere dicendi, Greifsw. 1883 eingehend durchgeführt wurde, ist
nicht haltbar; einmal ist die Marcelliana ebenfalls an Caesar gerichtet und doch in einem
tumidum genus geschrieben, auch die Deiotarana ist von überladener Diktion nicht frei-
zusprechen; am einfachsten ist die Diktion der ligariana und doch dürfte es auch hier
zweifelhaft sein, dass der Stil der attische ist.
Überlieferung: In der Marcelliana sind die besten Führer der Codex Gemblacensis
8. Bruxellensis 5345 und der Erfurtensis s. Berolinensis, in der ligariana dieselben und
der Codex Coloniensis Graevii, in der Rede für Deiotarus der Codex Gemblacensis s. Bru-
xellensis 5345, der Gudianus s. Wolfenbuttelanus 2, der Erfurtensis s. Berolinensis, der
Salisburgensis 34 s. Monacensis 15734. (Anders Nohl, Fleckeis. J. 137, 398. Dagegen
MCllbr 1. c. p. 137.)
4. Die 14 Philippischen Beden. Dieselben fallen in die Jahre 44
und 43. Nach Caesars Ermordung riss M. Antonius alle Gewalt an sich.
Er liess nämlich den Senat den Beschluss fassen, dass die Mörder Caesars
nicht gerichtlich verfolgt werden sollten, dass aber auch alles das, was
Caesar angeordnet (acta Caesaris), durchgeführt werden sollte. Da Antonius
den schriftlichen Nachlass Caesars in seinen Besitz brachte, so hatte er
damit ein Mittel gewonnen, das, was er durchsetzen wollte, als eine An-
ordnung Caesars hinzustellen. Hiebei ging ihm Caesars Schreiber Faberius
an die Hand, indem er die nötigen Urkunden fälschte oder unterschob.
Als Qegner seines Treibens trat unter anderen Cicero auf. Nach dem Tod
224 Bömisohe LitteratargMchichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Caesars, als durch die Leichenfeier tumultuarische Scenen hervorgerufen
wurden, hatte Cicero Rom verlassen. Er hielt sich auf seinen Landgütern
auf, nach seiner Gewohnheit die Entwicklung der Dinge erwartend. Von
Dolabella, der die Provinz Syrien erhalten, zu seinem Legaten ernannt,
bekam er einen passenden Verwand, sich von Italien zu entfernen. Schon
befand er sich auf der Reise, um anscheinend seinen Posten anzutreten, da
erfuhr er, dass in Rom die Dinge sich zum Bessern gestalteten; er kehrte
daher nach Rom zurück. Der erste Zusammenstoss zwischen ihm und
Antonius fand aus Anlass einer Senatssitzung am 1. September 44 statt;
in dieser Senatssitzung hatte Antonius beantragt, es sollte bei den suppU-
catianes ein Tag zu Ehren Caesars hinzugefügt werden. In dieser Sitzung
war Cicero nicht erschienen, was Antonius als etwas Ungewöhnliches (2, 13),
als eine Beleidigung ansah und mit Drohungen vergalt. Am 2. September
erschien Cicero im Senat und hielt die 1. philippische Rede. In derselben
legte zuerst Cicero Rechenschaft von seiner Entfernung aus Rom und
seiner Rückkehr ab, dann wendete er sich gegen die Drohungen des An-
tonius wegen seiner Abwesenheit von der Senatssitzung, endlich greift er
die politischen Handlungen des Antonius an. Antonius war in der Sitzung
nicht anwesend. Am 19. September 44 gab er in einer Senatssitzung die
Antwort auf den Angriff Ciceros, der aber der Sitzung nicht beiwohnte;
es war eine heftige Anklage. Cicero erwiderte in der 2. philippischen
Rede; er weist zuerst die Anschuldigimgen des Antonius zurück, dann
(17,43) geht er zum Angriff auf seinen Gegner über. Sie beruht auf der
Fiktion, als habe Cicero sofort im Senat auf die Schmähungen des Antonius
geantwortet; allein sie erschien nur schriftlich und zwar nachdem Antonius
bereits Rom verlassen hatte. Antonius forderte auf Grund eines Volks-
beschlusses nämlich von D. Brutus die Provinz Gallia cisalpina. Da sich
dessen D. Brutus weigerte, kam es zum Krieg, Antonius belagerte den
D. Brutus vor Mutina. Daher stellte Cicero in der 3. Rede im Senat
(20. Dez.) den Antrag, dass D. Brutus' Entschluss, seine Provinz gegen
Antonius zu halten, zu billigen sei, ferner dass die Statthalter ihre Pro-
vinzen behalten, bis ihnen Nachfolger bestimmt seien, endlich dass Caesar
Octavian wegen seines Widerstands gegen Antonius und die Truppen, die
sich von Antonius abgewendet, belobt werden sollen. An demselben Tage
teilte in der 4. kurzen Rede Cicero die Senatsbeschlüsse, die in seinem
Sinn erfolgt waren, dem Volke mit. Am 1. Januar 43 beriefen die Kon-
suln Pansa und Hirtius den Senat und referierten über die politische Lage.
Es machte sich in Bezug auf das Vorgehen gegen Antonius eine mildere
Ansicht geltend, welche den Krieg vermeiden und den Weg der gütlichen
Unterhandlung durch Absendung einer Gesandtschaft einschlagen wollte.
Cicero vertrat in der 5. Rede den kriegerischen Standpunkt (12,30) und
sprach eifrig für Belobung der Gegner des Antonius. Die Verhandlungen
dauerten vier Tage. Die verschiedenen Belobungen wurden zwar beschlossen,
aber auch zugleich, dass Gesandte an Antonius geschickt werden sollen.
Über diese Absendung von Gesandten belehrt Cicero in der 6. Rede (4. Jan.)
das Volk (1,3). Die Gesandten waren noch nicht zurückgekehrt, als Cicero
neuerdings (Anf. Febr.) im Senat gegen einen Frieden mit Antonius sicli
Cicerös Reden.
225
aussprach. Dies ist der Gegenstand der 7. Rede.^ Von d^n drei 6e-^
sandten, die zu Antonius geschickt wurden, Ser. Sulpicius, L. Pliilippus
und L. Piso, starb Ser. Sulpicius in Ausübung seines Berufs. Die beiden
anderen kamen mit unannehmbaren Forderungen (8, 8, 25) des Antonius
zurück. Es wurde nun die Anwendung von Waffengewalt beschlossen,
allein man vermied in dem Beschluss das Wort „Krieg'' (bellum), sondern
wählte dafür „ Landfriedensbruch ** (tumultus). Diese Halbheit tadelte Cicero
aufs stärkste, indem er sich besonders gegen Q. Fufius Galenus wendet, in
der 8. Rede (Febr.), und beantragt zugleich, wer vor dem 15. März Antonius
verlasse, solle straflos ausgehen, und es solle niemandem gestattet sein
(mit Ausnahme des L. Yarius), ins Lager des Antonius zu gehen. In der
9. Rede sprach Cicero für den Antrag, dass der in Ausübung seines Be-
rufs *) gestorbene Ser. Sulpicius durch eine Statue und ein öffentliches Be-
gräbnis geehrt werden solle. Die 10. Rede bezieht sich auf M. Brutus.
Von Caesar war die Provinz Macedonien dem M. Brutus, die Provinz Syrien
dem C. Cassius zugewiesen. Nach dem Tode Caesars wurde Macedonien
für M. Antonius, Syrien für Dolabella bestimmt. M. Antonius liess aber
seinem Bruder C. Antonius die Provinz Macedonien übertragen. Aber
M. Brutus hatte bereits Griechenland, Macedonien, lUyricum okkupiert wie
Cassius Syrien. Auch hatte sich M. Brutus eine grosse Militärmacht ver-
schafft. Als daher C. Antonius von seiner Provinz Besitz nehmen wollte,
wurde er von M. Brutus zurückgedrängt und nach ApoUonia geworfen.
Über diese Vorgänge berichtete M. Brutus an den Senat. Als darüber
verhandelt wurde, beantragte Cicero, dass man M. Brutus im Besitz seines
Heeres zum Schutze Macedoniens, Illyricums und Griechenlands belasse
und dass Q. Hortensius die Provinz Macedonien weiterverwalte, bis ihm
ein Nachfolger geschickt werde. Diese Verhandlungen fanden statt im
Februar.*) Als Dolabella in die Provinz Syrien gehen wollte, stiess er in
der Provinz Asien auf den Prokonsul derselben, C. Trebonius, einen
der Caesarmörder und liess ihn hinrichten. Als dieser Frevel in Rom
bekannt wurde, beschloss der Senat, Dolabella den Krieg zu erklären.
Eine Ansicht ging dahin, den Konsuln Asien und Syrien und damit die
Leitung des Krieges zu übergeben. Cicero dagegen wollte Cassius mit
dieser Aufgabe betraut wissen. Dies führt er in der 11. Rede durch.^)
Bald darauf regten Anhänger des Antonius von neuem Friedensverhand-
lungen an; es wurde auch eine Gesandtschaft gewählt, in derselben befand
sich merkwürdiger Weise auch Cicero. Allein bald bereute er seine Teil-
nahme und lehnte dieselbe ab, wie er sich überhaupt über das Zwecklose
der Absendung von Gesandten an Antonius aussprach (12. Rede). Es
unterblieb die Gesandtschaft; Pansa zog mit seinen Legionen gegen Anto-
') Die Disposition der Rede siehe 3, 9
cur igUur pacem noio? quia turpis est, ^ia
periculosa, quia esse non potest,
') 9, 1, 2 cum tarn ad cangressum con^
loquiumque eius pervenisset, ad quem erat mis-
susy in ipsa cura ac meditatume dbeundi sui
muneris excessU e vita,
^) Nach CoBBT (p. 156) März. Cicero
Handbuch der Umi. AltertumawtaBeniiehaft. TUL,
drang durch, denn 11 Philipp. 11,26 heisst
es: ni Brutum cmUigassemus in Graecia et
eius auxüium ad Italiam vergere quam ad
Asiam maluissemus,
*) Cicero drang nicht im Senat durch;
er brachte nun die Sache mit Hilfe eines
Tribunen vor das Volk. Allein auch dieser
Versuch schlug fehl. Vgl. Cic. Ep. 12, 7.
15
226 RömiBohe Litteratnrgesoliichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode,
nius zu Feld. Einen neuen Anlass zu einer Rede (13) erhielt Cicero, als die
Statthalter L. Plancus und M. Lepidus Schreiben an den Senat richteten,
in denen sie zum Frieden rieten (Cic. Ep. 10, 6). Cicero führt durch Ver-
lesung und Analyse eines Briefes des Antonius im Senate aus, dass mit
Antonius ein Friede unmöglich sei.O Am 15. April schlug Antonius bei
Forum Gallorum den Konsul Pansa, welcher eben mit seinen Truppen auf
dem Kriegsschauplatz angekommen war. Pansa erlitt eine schwere Ver-
wundung; allein am Abend desselben Tages wurde Antonius von Hirtius
geschlagen. Der Bericht über diese Vorgänge wurde am 22. April im
Senat verlesen. Es war ein Dankfest beantragt. In die Verhandlungen
darüber greift Cicero mit der 14. Rede ein. Er beantragt angesichts der
Verdienste der Konsuln Pansa und Hirtius und des Proprätors C. Caesar
ein Dankfest von 50 Tagen und die Errichtung eines Denkmals für die
Gefallenen, Belohnungen für die Truppen und die Angehörigen der Ge-
fallenen. Bald nach jenen Grefechten wurde die entscheidende Schlacht
bei Mutina geschlagen; Antonius wurde vollständig besiegt, allein Hirtfus
fiel in der Schlacht und Pansa starb an den erhaltenen Wunden. Die
streitenden Machthaber versöhnten sich ; im Oktober schlössen M. Antonius,
Caesar Octavianus und Lepidus ein Bündnis, das zweite Triumvirat ge-
nannt. Die Folge dieses Bündnisses war, dass Cicero auf Betreiben des
Antonius geächtet wurde. Die Häscher vollzogen ihr Werk am 7. Dez. 43.
Über den Namen heisst es Cic. ad Brat. 2, 3, 4 p. 648 W. legi arationes duas tuas,
quarum altera Kai, Jan, U9U8 es (5. Rede), aüera de lüteris meis, quae hainta est abs te
contra Calenum (10. Rede). Nunc scilicet hoc exspectas, dum eas laudem: nescio, animi an
ingenii tui maior in his libeÜis laus contineaiur ; iam concedo, ut vel Philippici poceniur,
quod tu quadam epistola iocans scripsisii. ibid. 2, 4, 2 p. 649 W. de te etiam dixi tum quae
dicenda putavi: haec ad te oratio perferetur, quoniam te video ddectari Philippicis nostris.
Gellius gebraucht die Bezeichnung orationes Antonianae, Vgl. Halm, Einl. p. 36.
Aus einer 16. Rede bringt der Rhetor Arusianus Messius zwei Fragmente herbei.
Vgl. Zflrcher Ausg. p. 1410, wo noch einige Citate aus philippischen Reden angeführt sind,
die sich nicht in ihnen finden.
Auch an den philippischen Reden wurde ein Athetisierungsversuch unternommen;
er betraf die 4. Rede durcn Krause.
Überlieferung: Weitaus die beste Quelle ist der Codex Vaticanus (tabularii Ba-
silicae Vaticanae) H. 25, der enthält p. 360 Müller — 514, 20 ad pirum, 526, 27 sumus iudi-
care — 530, 19 corpo, 534 — 538, 18 acerbam. Sekimdäre Quellen sind ein Bamberger, ein
Hemer u. s. w.
Litteratur: Cobbt, ad Ciceronis Philippicas, Mnemos. 7 (1879), 113, der nicht bloss
kritische, sondern auch historische Beiträge zu den Reden liefert. Krause, Ciceros 4. phi-
lippische Rede (Jahns Archiv 13, 297). Schuster, Vindiciae or. Phil. IV, Lüneburg 1ö51.
Jbntzen, Ciceros 4. phil. Rede, Lüb. 1820. Schirlitz, Cic. philippische IX, Wetzlar 1844
146. Verlorene Beden. Ausser den Reden, welche uns erhalten
sind, haben wir noch Fragmente von über 17 Reden, ausserdem kennen wir
noch die Titel von c. 30 Reden. Von den ersteren sind uns einige durch
Argumente und Kommentare so bekannt, dass wir die Grundzüge derselben
feststellen können. Es sind folgende:
1) pro G. Cornelio de maiestate, aus dem J. 65. Der Volks-
tribun G. Gornelius hatte im J. 67 Gesetzesvorschläge gemacht, welche den
Interessen der Optimaten entgegenstanden. Sein Tribunat war daher ein
sehr stürmisches. Nachdem dasselbe abgelaufen war, belangten ihn die
*) Die Anträge des Lepidus und Plancus wurden vom Senat zurückgewiesen
(Ep. 10, 27).
CiceroB Reden. 227
Brüder Gominii (66) nach der lex Cornelia de maie^tate, da er trotz der
Interzession eines Tribunen einen Oesetzesvorschlag vorgelesen. Allein die
Gerichtsverhandlung kam infolge von Gewaltthätigkeiten gegen die An-
kläger nicht zu stände. Im nächsten Jahr wurde die Klage von den Gominii
wiederholt eingebracht; Cicero verteidigte Cornelius vier Tage hindurch;
zwei Reden gab es von ihm über diesen Prozess. Cornelius wurde mit
grosser Majorität freigesprochen.
Das Argument ist von Asconius; vgl. p. 50 K. S. Die Bruchstücke der Rede bei
MöLLEB, P. IV vol. m p. 238. Beck, Quaestumes in Cic, pro Camelio oraUones, Leipz. 1877.
2. In toga Candida, aus dem J. 64. Cicero hatte bei der Be-
werbung um das Konsulat als Mitbewerber C. Antonius und L. Catilina,
die sich beide verbündet hatten, Ciceros Wahl zu hintertreiben. Da sie
zu diesem Zweck die offenkundigste Bestechung ausübten, wurde im Senat
angeregt, ein verschärftes Gesetz de ambitu zu erlassen. Allein der Volks-
tribun Q. Mucius Orestinus interzedierte. Als Cicero bei der Verhandlung
im Senat um seine Meinung gefragt wurde, benützte er die Qelegenheit,
Antonius und Catilina scharf anzugreifen. Dies ist der Gegenstand der
Rede in toga Candida.
Das Argument ist von Asconius; vgl. p. 73 E. S. Die Bruchstflcke der Rede bei
MüLLEB 1. c. p. 259. KoBTSOHAU, De Cic. oratiane in toga Candida habita, Leipz. 1880.
3. In Clodium et Curionem. Clodius war im J. 61 wegen des
am Feste der Bona Dea begangenen Frevels in eine Anklage verwickelt
worden. Sein Verteidiger war C. Curio, der Vater. In dem Prozess war
als Zeuge gegen Clodius Cicero aufgetreten, der ein von diesem vorge-
gebenes Alibi zu schänden machte. Obzwar Clodius freigesprochen, so
fasste er doch von dieser Zeit einen heftigen Hass gegen Cicero. Diesem
seinem Hass gab er Ausdruck in Reden vor dem Volk und im Senat; er
suchte hier Cicero lächerlich zu machen. In einer Senatssitzung vom 15. Mai
sprach zuerst Cicero in zusammenhängender Bede gegen Clodius, dann kam
es zu einem Redegefecht zwischen ihm und Clodius, von dem er in einem
Briefe an Atticus 1, 16 eine packende Schilderung gibt. Später arbeitete
Cicero eine Invectiva gegen Clodius und Curio aus.
. Das Argumentum gibt uns der ScholiastaBobiensis p. 329, er sagt: sed quoniam habuerant
in senatu quandam iurgiosam decertatioMeiHf vi8um Ciceroni est hanc orationem conscribere
plenam sine dubio et asperitaiis et facetiarum, quibus mores utriusque proscindit et de sin»
gulorum vitiis quam potest acerbissime loquitur. Die erhaltenen Fragmente enthalten nur
eine Stelle gegen Curio fr. 21. Cic. ad Attic. 1, 16, 9 Clodium praesentem fregi in senatu
cum oratiane perpetua, plenissima gratntatis tum altercatione eiusmodi. — Inwieweit die oratio
perpetua und die altercatio zu der neuen Rede benutzt wurden, Iftsst sich nicht sicher fest-
stellen. Fragmente bei Mülleb 1. c. p. 271. — Beck, Einl. u. Dispos. zu C. Rede «fi Cl. et C.
Zwickau 1886.
4. Für das Jahr 52 hatte sich T. Annius Milo um das Konsulat be-
worben. Seine Bewerbung bekämpfte aufs heftigste P. Clodius Pulcher,
der unter anderem geltend machte, dass Milo so verschuldet sei, dass er
sein Konstdat ohne Zweifel dazu benützen würde, um sich aus seiner miss-
lichen Lage zu befreien. Es kam zu einem Streite zwischen Clodius und
Cicero. Auf diesen Streit bezieht sich unsere Rede d. J. 53 de aere alieno
Mlonis und zwar wählt sie wie die in Vatinium die Form der interrogatio.
Das Argument liefern die scholia Bobiensia p. 341. Die Fragmente bei MOllsb 1. c. p. 276.
15*
228^ RömiBche LitteratargesoMohte. I. Die Zeit der Bepablik« 2. Periode.
Verlorene laudationes. Auch das genus demonstralivum pflegte Cicero. Za
demselben gehören die von ihm verfassten Lobreden. Am berühmtesten ist die Lobrede
aufdenjttngerenCato nach seinem Selbstmord geworden; sie war eine Verherrlichimg der
Republik und gegen Caesar gerichtet (46). Wir haben oben p. 168 gesehen, welche Gegen
Schriften diese laudatio hervorrief. Weiterhin verfasste er einen Paneg^ricus auf die
verstorbene Porcia, die Schwester Catos und die Gemahlin des L. Domitius Ahenobarbus
im J. 45 (ad Attic. 13, 37« 3 13, 48, 2). Auch Caesar wurde in einer Lobrede gefeiert (56) ; es
war dies ein Bussgang, und es ist äusserst interessant zu sehen, wie Cicero (ad Attic. 4, 5)
diese „subturpicula nttXiyi^ia'^ rechtfertigt. (Eine laudatio funehris bei ad Q. tr. 3, 8, 5.)
ScHNEiDEB, de Ciceronis Colone minore, Zeitschrift f. d. Altertnmsw. 1837 nr. 140.
GöTTLiNG, De Ciceronis laudatione Catonis et de Caesaris AntieatonibuSf Opusc. p. 153.
Unechte Reden sind die Rede Pridie quam in exilium iret und die gegen Sallust
(vgl. § 134).
Unter dem Namen des L. Racilius schrieb Cicero eine Invectiva gegen Clodius; vgl.
Schol. Bob. p. 268 Or.
146. Kommentare zu den ciceronischen Beden. Schon im Altertum
wurden die ciceronischen Reden viel gelesen und auch kommentiert. An
Kommentaren sind uns folgende überliefert:
1. Der Kommentar des Q. Asconius Pedianus (3 — 88 n. Ch.).
Derselbe ist ein ganz ausgezeichnetes Denkmal sachlicher antiker Ge-
lehrsamkeit; soweit er erhalten ist, bezieht er sich auf fünf Reden: contra
L. Pisonem, pro Scauro, pro Milone, pro Gomelio, in toga Candida. Da
wir geeigneten Ortes ausführlich über diesen vortreMichen, gewissenhaften
Gelehrten handeln werden, unterlassen wir hier weitere Bemerkungen.
Hauptausgabe: Q. Äsconii Pediani orationum Ciceronis quinque enarratio. Rec.
A. EiBSSLiNG et R. ScHOBLL, Borl. 1875.
2. Scholia Bobiensia. Diese Schollen, die wohl bald nach Asconius
in christl. Zeit entstanden, beziehen sich auf die Reden pro Flacco, cum
senatui gratias egit, cum populo gratias egit, pro Plancio, pro Milone, pro
Sestio, in Yatinium, in Glodium et Gurionem, de aere alieno Milonis, de rege
Alexandrino, pro Archia, pro Sulla. Hierzu kommt ein £xzerpt aus dem
Kommentar zu den Verrinen im Schol. Gronov. A. Auch diese Kommentare
sind überwiegend sachlich gehalten und sehr wertvoll. Es ist nicht er-
wiesen, dass Früchte der reichen Gelehrsamkeit des Asconius in diesen
Schollen stecken. Jünger sind die Schollen in Catilin. IV, pro Marcello,
pro Ligario, pro Deiotaro, pro Scauro.
Gauxitz, Zu den Bobienser Ciceroscbolien, Leipz. 1884. (Stakol, Rh. Mus. 39,231 u.428.)
3. Der Kommentar zur Divinatio in Caecilium und einem
Teil der Verrinen (Actio I, Actio 11 lib. I und lib. 11 [bis 14, 35]). Dieser
Kommentar wurde früher ohne handschriftliche Gewähr ebenfalls dem
Asconius beigelegt, alleiil derselbe hat, wie selbst eine oberflächliche Be-
trachtung ergeben kann, nichts mit Asconius zu thun und besitzt nur einen
sehr geringen Wert.
Der Kommentar stand in demselben jetzt verloren gegangenen Codex SGallensis, in
dem auch der echte Asconius stand; aus zwei apographa desselben teilen Eiesslino und
ScHOBLL eine KoUation in ihrer Ausgabe p. 87 mit. (Stanol 1. c. p. 568.)
4. Scholiasta Gronovianus. Dieser Scholiast, der von dem ersten
Herausgeber Jakob Gronov den Namen hat, behandelt 11 Reden, nämlich:
Divinatio in Caecilium, actio I in Verrem, Actio II lib. I, Catilinariae (II,
in, IV), pro Ligario, pro Marcello, pro Deiotaro, pro Roscio Amerino, pro
lege Manilia, pro Milone. Allein von diesen Reden sind bloss die Kom-
CiceroB Eeden. 229
mentare zu der 3. und der 4. catilinarischen Rede vollständig, die übrigen
mehr oder weniger verstümmelt; von der Rede pro Milone ist nur einiges
vom Anfang erhalten. Auch diese Scholien, in denen man vier verschiedene
Verfasser neuerdings erkennt, haben nur einen sehr geringen Wert, sie
gleichen den pseudoasconischen Scholien.
Diese Scholien sind uns lediglich erhalten durch eine Leydener Handschrift (Voss.
Quart. 138 s. X). Durch Is. Vossius kam sie in die Hädde des bertthmten J. F. Gronovins.
An der Heransgabe hinderte ihn der Tod; sein weit geringer begabter Sohn Jakob publi-
zierte zum erstenmal den Kommentar in seiner Ciceroausgabe, Lejden 1672. Jakob Gronov
erkannte auch, dass in den Verrinen zwei Kommentare stecken; einen dritten spürte in den
Verrinen Mai in seiner Ausgabe der Scholia Bobiensia auf; in neuerer Zeit statuierte einen
vierten f&r die übrigen Reden Th. Stakol. Derselbe bezeichnet die vier Scholiasten mit
A, B, C, D; auf A fftllt in Verr. act. H lib. I § 1—62 (Gronov), auf B Divinatio in Caecil.
und in Verr. act. I § 1 — 46 (Mai), auf C in Verr. act. I § 16 — 20 (Gronoy), auf D die noch
übrigen Reden von in Catilinam ü bis pro Milone (Stakol). Über schol. A vgl. nr. 2
(Gaciotz p. 15). — Stakgl, Der sog. Gronovscholiast, München 1888.
Die Kommentare zu den ciceronischen Reden finden sich gesammelt in der zweiten
H&lfte des V. Bandes der Zürcher Ausgabe (1833). — Madyio, de Q, Asronii Pediani et
aliorum veterum interpretum in Cic. arationes Commentariis, Kopenhagen 1828.
147. Charakteristik der ciceronischen Beredsamkeit. Nur die
Rede, in welcher der Redner seiner tiefen Überzeugung Ausdruck gibt,
kann einen mächtigen Eindruck auf den Hörer oder Leser hervorrufen. Wer
die Staatsreden des Demosthenes >) liest, wird mitfortgerissen, denn man
erkennt, dass das, was der Redner gibt, Sache seines Herzens ist. Ganz
anders ist der Eindruck, wenn der Leser an die Lektüre der ciceronischen
Reden herantritt. Trotz der schönen, reichen Worte wird der Leser nur
selten erwärmt; unter diesen Reden ist keine einzige, die uns bis in
das Innerste erschüttert. Wie können z. B. Reden wirken, welche auf
einer Fiktion beruhen, wie die Verrinen und die zweite philippische Rede?
oder Reden, die, wie das wohl gewöhnlich geschah, erst längere Zeit,
nachdem sie gehalten worden, in einer ganz anderen Stimmung und für
eine nicht mehr lebendige Situation niedergeschrieben wurden ? Es kommt
noch anderes hinzu. Nehmen wir die Staatsreden, so stört uns die un-
erträgliche Eitelkeit, mit der Cicero stets von sich spricht, die Lächer-
keit, mit der er seine zweifelhaften Verdienste bis in den Himmel erhebt,
der rohe Hass, mit dem er seine Oegner verfolgt, die Feigheit, die ihn
niemals das rechte Wort zur rechten Zeit sprechen lässt, der Wankelmut,
der ihn zu einem höchst unzuverlässigen Politiker macht. Greifen wir
zu den Plaidoyers, so merken wir, dass wir einen Advokaten haben, der
bereit ist, alles zu verteidigen, der heute gegen die Catilinarier wettert
und morgen einen der catilinarischen Verschwörung Verdächtigen vertritt.
War doch selbst einmal Catilina von ihm verteidigt worden; Vatinius, den
er 56 aufs gröblichste beschimpft hatte, verteidigte er zwei Jahre später.
Auch in der Rede pro Cluentio musste er eingestehen, dass er in dieser
Sache früher auf der gegnerischen Seite plaidierte. In den Staatsreden
vermissen wir staatsmännische Gedanken, in den Gerichtsreden scharfe
logische und streng juristische Argumentation. Um so reicher sind sie
') NXgblsbach pflegte gern (vgl. Bayr.
Gymnasialblätter 8, 196) auf das PfeffeFsche
Epigramm hinzuweisen:
Wenn Cicero von der Tribtlne stieg,
Rief alles Volk entzückt: Kein Sterblicher
spricht schöner!
Entstieg ihrDemosthen, so nefen die Athener:
Krieg gegen Philipp, Krieg!
230 Römische Litteratorgeschichie. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
an Gemeinplätzen. Wenn daher mehrere Redner in einer Sache auftraten,
so wurde in der Regel Cicero die Schlussrede zugewiesen, in der nicht
mehr die Beweisführung, sondern £rweckung des Mitgefühls die Aufgabe
war. Die Bewunderung, welche die ciceronischen Reden finden, verdanken
sie der schönen und reinen Sprache und der kunstvollen Periodisierung,
allein auch hier darf eine Schattenseite nicht übersehen werden. Es ist
eine gewisse Wortfülle, von der sich Cicero niemals vollständig losmachen
konnte. Wenn er auch vorgibt, er sei durch Molo von seinem Redeschwulst
geheilt worden, so zeigt doch ein Blick in die Reden, dass der überflüs-
sigen Worte noch immer viel zu viel sind.
Für seinen Wankelmut fEkhrt Cicero an (pro Plancio 39, 94) : Ego vero haec didici,
haec vidif haec scripta legi; haec de sapientisHmis et clarissimis viris et in hoc rt publica
et in aliis cimtatibus monimenta nobis et lUterae prodiderunt, non semper eaadem sententias
ab eisdemf sed quascumque reipublicae Status, inclinatio temporum, ratio concordiae postularet.
esse defensas. In derselben Rede wirft ihm der Gegner vor, dass Cicero „nimium mtiUos
verteidige (34,84). Seine Plaidoyers charakterisiert er (pro Cluentio 50, 139) : Errat vehe-
menter, si quis in orationibus nostris, quas in iudiciis habuimus, auctoritates nostras con-
signatas se habere arbitratur, Omnes enim illae causarum ac temporum sunt, non hominum
ipsorum aut patronorum, £inen Fall verteidigt er (1. c. 19,51) so: CoUegi me aliquando
et ita constitui, fortiter esse agendum; Uli aetati, qua tum eram, solere laudi dari, etiam
si in minus firmis causis hominum periculis non defuissem.
Das erkünstelte Pathos spricht klar und deutlich Cic. Tnsc. 4, 25, 55 aus: Oratorem vero
irasci minime decet, simulare non dedecet. An tibi irasci tum videmur, cum quid in causis
acrius et vehementius dicimus? Quid? cum iam rebus transactis et praeteritis orationes
scribimus, num irati scribimus?
Über seine Stärke im Epilog vgl. Cic. erat. 37, 130 : Quid ego de miseraJtionibus
loquar9 quibus eo sum usus pluribus, quod, etiamsi plures dicebamus, perorationem mihi
tamen omnes relinquebant; in quo ut viderer exceUere, non ingenio, sed doUn'e adsequebar.
Vgl. aber oben Tiisc. 4, 25, 55.
Die spätere Abfassung der Reden haben wir öfters oben angedeutet; vgl. p. 201, 208,
218, 219, 220, 223, 224. Nicht aUe Reden wurden ausgearbeitet, manche lagen bloss in
Skizzen und Entwürfen (commentarii) vor; in der Rede pro Murena ist ein Teil nicht
ausgearbeitet, sondern nur angedeutet. — Tiro sammelte solche Entwürfe. Quintil. 10, 7, 31
Ciceronis ad praesens modo tempus aptatos (commentarios) Tiro contraxit.
Litter atur (mit knapper Auswahl):
a) Gesamtausgaben: Manutius 3 Bde., Venedig, der Kommentar auch separat.
Lambinus 3 Bde, Venedig 1570. Graevius (cum notis variorumj 3 Bde., Amsterd. 1695 — 1699.
Klotz (erläutert) 3 Bde., Leipz. 1835—39.
b) Ausgewählte Reden: a) Textausgaben: Heine (14 R.) HaUe (Waisenhaus)
1870. Madvig (12 R.), Kopenhagen 1820. Halx (18 R.) 2 Teile, Berl. 1868. Eberhard
und HiRSCHFELDSR (19 R.), Leipz. 1874. Nohl (15 R.), Leipzig (fVeytag). Müller (21 R.)
aus der Teubneriana.
ß) Kommentierte Ausgaben: Teubner'sche von Richter-Eberhard (pro Roscio A.
[FLECKEiSEif], in Q. Caecilium, Verrinae 4. und 5. B., de imperio Cn. Pompei, Catilinariae,
pro Sulla [Landgraf], pro Milone, pro Marcello, Ligario et Deiotaro, pro Archia). Teubner'sche
von Koch-Eberhard-Landoraf (pro Murena, pro Sestio, Philippicae I und II). Weid-
männische von Halm-Laubxann (pro Roscio A. und de imperio Cn. Pompei, contra Q. Cae-
cilium und Verrinae 4. und 5. B., Catilinariae und pro Archia, pro Sestio, pro Milone und
pro Ligario und pro Deiotaro, Philippicae I und 11, pro Murena und pro Sulla).
c) Ausgaben der fragmentarischen Reden: Cic, sex, orationum partes ineditae,
Ed. A. Mai, Mailand 1817. Orationum pro M. Fonteio et C, Babirio fragmenta, Ed. Nie-
BUHR, Rom 1820. Orationum pro Scauro, pro Tuüio et in Clodium fragm. ined,, Ed.
A. Peyron, Stuttg. 1824. Orationum pro Tullio, in Clodium, pro Scauro, pro Flacco
fragm. ined.. Coli. C. Baier, Leipz. 1825.
d) Einzelausgaben mit Kommentaren: pro Roscio Amerino: OsENBRitooEN,
Braunschw. 1844; Landgraf, Erlangen 1882 und 1884 (Schulausgabe Gotha 1882). —
pro Roscio com.: C. Ad. Schmidt, Leipz. 1839. — Verrinae: C. G. Zumpt, Berl. 1831. —
IV et V: Thomas, Paris 1886, 1885. — pro Caecina: Jordan, Leipz. 1847. — De imperio
Cn. Pompei: Gossrau, Quedlinb. 1854. — pro Cluentio Habito: mit englischen Noten
von Ramsay, Oxford 3, Ausg. 1883. — De lege agraria: A. W. Zumpt, Berl. 1861. —
Cioeros rhetorisohe Bohriften. 231
Catilinariae: Bbnbckb, Leipz. 1828. or. I: Boot, Amsterd. 1857. or. IV: Ahbens,
Kob. 1832. — pro Murena: A. W. Zümpt, Berl. 1859. — pro Sulla: Fbotschbb, Leipz.
1831, 1832. — pro Archia: Stubbenbubo, Leipz. 1832 (deutecb 1839); Thomas, Paris 1883.
— pro Flacco: Du Mbsnil, Leipz. 1883. — post reditnm: F. A. Wolf, Berl. 1801. — post
rediinm in senatu: Saybls, Köln 1830; Waokbb, Leipz. 1857. — pro Sestio: MCllbb,
Köslin 1831. — In Vatinium: Halm, Leipz. 1846. — pro Caelio: Vollgbaff, Leyden
1887. — De provinciis cons.: Tisohbb, Berl. 1861. — pro Balbo: Reid, Cambridge 1879.
— pro Plancio: Wündbb, Leipz. 1830; Köpke (Landgraf), Leipz. 1887. — pro Milone:
Osbhbbüggbn, Hamb. 1841 (Wirz 1872). — pro Marcello: F. A. Wolf, Berl. 1802; Kbllbb
(lat. und deutsch), Ratibor 1860 (Programm). — pro Ligario: Soldak, Hanau 1839. —
orationes Philippicae: Wbbksdobf 2 Bde., Leipz. 1821 und 1822.
Hilfsmittel: Mbboubt, Lexikon zu den Reden Ciceros, Jena 1873 — 1884.
ß) Ciceros rhetorische Schriften.
148. Rhetorica. In seiner Jugend verfasste Cicero eine Lehrschrift
über die Rhetorik, die aber nicht zur Vollendung kam; denn sie behandelt in
zwei Büchern nur die Lehre von der Erfindung des rednerischen Stoffes.
Das Werkchen beginnt mit einer allgemeinen Frage, ob die Beredsamkeit
dem Menschengeschlecht mehr Nutzen oder mehr Schaden bringe. Längeres
Nachdenken brachte ihn zu dem Satz, dass die Weisheit ohne Beredsam-
keit den Staaten wenig nütze, dass aber die Beredsamkeit ohne Weisheit
meistens grossen Schaden, niemals aber Nutzen stifte. Daran reiht sich
eine Betrachtung über die Entstehung der Ktdtur; die Weisheit ist die
Schöpferin derselben, aber ohne Beredsamkeit hätte dieselbe ihr Werk nicht
vollbringen können. Es folgt dann eine Erklärung für den Missbrauch
der Beredsamkeit; in den Händen schlechter Menschen führe sie grosse
Nachteile herbei. Nur im Bunde mit der Weisheit vermag sie Heil und
Segen zu stiften. Dass hier ein Philosoph spricht, ist nicht zweifelhaft.
Es kann als ausgemacht gelten, dass es Posidonius ist, dessen Ansichten
Cicero folgt. Nach dieser Einleitung geht der Autor auf seine Materie
ein, allein er scheint bald die Freude daran verloren zu haben, ') denn das
genus demonstrativum ist in einem Kapitel, dem Schlusskapitel in Bezug
auf die vorliegende Materie, behandelt. Seinen Stoff schöpft Cicero aus
anderen Schriften; er spricht sich darüber mit Beiziehung eines Vergleichs
im Eingang des zweiten Buchs aus; sein Verdienst erblickt er darin, dass
er von allen Seiten das Beste zusammengetragen. Mehrmals' wird Herma-
goras genannt. Schwierig ist das Verhältnis der Schrift zu dem Auetor ad
Herennium zu bestimmen. Was aber die Darlegung des Stoffs anlangt,
so ist zweifellos, dass Ciceros Schrift keinen Vergleich mit dem genannten
trefflichen Lehrbuch aushalten kann; sie trägt die Spuren der Flüchtigkeit
nur zu sehr an sich; später war die Veröffentlichung der Schrift dem
Verfasser unbequem. Im Altertum wurde die Schrift kommentiert von
Marius Victorinus im 4. Jahrh. und von Grillius im 4/5. Jahrh. (Orelli 5, 1, 1 ;
Halms rhet, min, p. 153. — Excerpta ex Grillio Halm 1. c. p. 596.)
Der Titel Rhetorica ist bezeugt durch die Würzburger Handschrift, welche die Worte
darbietet: explicU liher rethoricae. Weidner betitelt sie in seiner Ausgabe ar» rhetorica, sich
mit Unrecht stutzend auf Quint. 2, 17, 2. Öfters citiert Quintilian die Schrift mit rhetarici
libri oder rhetorici (3, 6, 49 3, 11, 10, 3, 11, 18 2, 15, 6), Priscian mit rhetorica (2, 81 u. s. f.).
Über Posidonius als Quelle der Einleitung handelt Philippson, Fleckeis. J. 133, 417.
^) Vgl. Spenoel, Rh. Mus. 18, 495.
232 BAmiBche Litteratorgesoliiohte. I. Die Zeit der Bepublik. 2. Periode.
Er fasst das Resultat seiner üntersnchnng p. 422 mit den Worten zusammen: «es kann
als sicher gelten, dass Cicero dem Poseidonios im Prooeminm gefolgt ist, wahrscheinlich
auch in seiner Polemik gegen Hermagoras, möglicherweise in dem ganzen Abschnitt Aber
die argumentatio,^
Über die Gliederung des Stoffes äussert sich Cicero zusammenfassend 2, 3, 11 primus
libeTj exposUo genere huius artia et officio et flne et materia et partibus, genera conirover-
Hamm et inventiones continebat, deinde partes orationis et in eas omnes omnia praecepta,
Quare cum in eo ceteris de rebus distinctius dictum sit, disperse autem de confirmatione
et de reprehensione, nunc certos confirmandi et reprehendendi in singüta eatisarum genera
locos tradendos arbitramur. Et quia, quo pacto tractari conveniret argumentationeSf in libro
primo non indiligenter expositum est, hie tantum ipsa inventa unam quamque in rem ex-
ponentur sin^pJiciter sine uUa exornatione, ut ex hoc inventa ipsa, ex superiore autem ex-
polUio inventorum petatur. Quare haec, quae nunc praedpientur, ad confirmationis et re-
prehensionis partes referre oportebat.
Die Abhängigkeit von den Quellen sprechen die Worte aus 2, 2, 4 omnibus unum in
locum coactis scriptoribus, quod quisque commodissime praedpere videbatur, excerpsimus et
ex variis ingeniis excellentissima quaeque libavimus,
Dass der auctor ad Herennium Cicero vorgelegen, behauptet Badeb, de Ciceronis
rhetoricorum libris, Greif sw. 1869 p. 6 u. f. „quem Cicero ubique ante oculos habuit, etiam
in iis locis, ubi alios artis scriptores secuius est" (p. 17); seine zweite Quelle sei Herma-
goras (p. 18); Eigenes gebe er so gut wie nicht (p. 23). Ebenso L. Spenoel, Rh. Mus.
18, 495: «Cicero will überall streng logisch zu Werk gehen und führt viele Dinge als
wichtig und bedeutend weitläufig aus, während der autor, den er vor sich liegen hatte
und häufig benutzte, derartiges absichtlich übergeht, weil er es für den angehenden Redner
nicht praktisch hält; man vgl. 2,27 — 30 mit de inv. 1,51 — 77, um sich zu überzeugen,
dass zwei ganz verschiedene Personen vorliegen, von denen die letztere es immer anders
und besser machen zu müssen glaubt, es aber gewöhnlich schlechter macht; es ist daher
eine Gunst des Glücks, dass uns der autor erhalten ist. Es hat den Schein, als wollte
er ein ganz neues Lehrbuch verschieden von dem seines Vorgängers geben, aber die
äussere Form täuscht, es ist im Grunde derselbe, nur nicht so einfach und natürlich ; daher
man sich dort besser zurechtfindet und die Sache viel leichter lernt.* Wbidneb bestreitet
diese Abhängigkeit von dem auctor und setzt den lezteren später an (Ausg. p. VIII).
Die Übereinstimmung erklärt durch eine gemeinschaftliche lat. Quelle (mit Kiessling)
Thiele, Quaest. de Cornificii et Cic. artibus rhetor., Greifsw. 1889. Genaueres bei Comificius.
Für die Abfassungszeit liegt nur ein allgemeines Zeugnis vor: de or. 1,2,5 quae
pueris aui adolescentulis nobis ex commentaridis nostris inchoata ac rudia exciderunt,
rix videntur hoc aetate digna et hoc usu, quem ex causis, quas diximus, tot tantisque consecuti
sumu^ Philippson (1. c. p. 422) seüct sie in die Zeit nach Ciceros Rückkehr aus Griechen-
land ; allein diese Hypothese ist schwach begründet und es widerstreitet pueris aut adules-
Centulis,
149. De oratore. Die Schrift über den Redner verfasste Cicero im
J. 55 und widmete sie seinem Bruder Quintus. Sie fällt sonach in seine
reife Lebenszeit. Sie umfasst drei Bücher, von denen das erste das
Wesen des Redners und seine Ausbildung, das zweite die Auffindung des
Stoffs, die Anordnung und die Einprägung, das dritte rednerische Form
und Vortrag behandelt. Cicero tritt nur in den Proömien zu den einzelnen
Büchern hervor, zur Durchführung des Themas wählt er die Form des
Dialogs. Er gibt uns ein Gespräch, welches angeblich auf einem Landgute
des Crassus bei Tusculum im J. 91 an zwei aufeinander folgenden Tagen
gehalten wurde, so zwar, dass das erste Buch allein die Unterredung des
ersten Tags, das zweite und dritte Buch die des ganzen zweiten Tags in
Anspruch nahm (3, 30, 121). Die Form des Dialogs ist die aristotelische,
d. h. es findet zusammenhängende Entwicklung statt, nur hie und da durch
Fragen und Einwürfe unterbrochen. Die Hauptpersonen des Dialogs sind
L. Licinius Crassus und M. Antonius, 0 die Nebenpersonen die jungen
Männer P. Sulpicius Rufus, der sich zu Crassus hingezogen fühlte, und
') Vgl. über die beiden Redner § 75.
Cioeros rhetodBohe Sohrifien.
233
C. Aurelius Cotta, der Bewunderer des Antonius, ferner am ersten Tag
noch der Augur Q. Mucius Scaevola,^ ^^ zweiten der Sieger über die
Gimbrer Q. Lutatius Catulus und sein Stiefbruder G. Julius Gaesar Strabo.
Die Hauptpersonen teilen sich so in den Stoff, dass sie zusammen das
Fundament aufbauen, Antonius den Stoff des zweiten, Grassus den des
dritten Buchs behandelt. Die Schrift ist die beste der rhetorischen Schriften
Giceros. Sie hält sich einmal frei von den dürren Regeln der Schule und
behandelt die Materie vom Gesichtspunkt des Nützlichen aus, hütet sich
aber auch, blosser Routine das Wort zu reden. Sie zeigt Begeisterung
für den Gegenstand und hält den Blick auf das Ganze gerichtet. Nur
das Kapitel über den Witz (2, 54) tritt so stark hervor, dass man von einem
Exkurse reden kann. Durch die dialogische Form kommt ein anmutiger
Wechsel in die Rede, auch können dadurch die verschiedenen Seiten der
Betrachtung zur Geltung kommen. Dem Ausdruck ist alle Sorgfalt zu-
gewandt.
Im Nov. 55 schrieb Cicero an Atticus (4, 13,2): De libris artUoriis factum est a me
düigenter: diu müUumque in manibus fuerunt; describas licet, 13, 19, 4 sagt er yon dieser
Schrift: sunt etiam „de oratore" nostri tres (libri), mihi vehementer probati: in eis quoque
eae persanae sunt, ut mihi tacendum fuerit, Crassus enim loquitur, Scaevola, Antonius, Ca^
tulus seneXf C. Julius, f roter Catuli, Cotta, Sulpicius; puero me hie sermo inducitur, ut
nullae esse possent partes meae. Quae autem his temporibus scripsi, 'JgiinotiXetoy morem
habent, in quo sermo ita inducitur ceterorum, ut penes ipsum sit principatus, Aach über
diese Schrift gibt Spengbl treffende Bemerkungen (Rh. Mus. 18,495): „Die sprechenden
Hauptpersonen, Crassus und Antonius, drücken nur die Überzeugung des Verfassers über
die Rhetorik aus. Cicero, der durch die Macht der Rede seine hohe Bedeutung erlangt
hatte, wollte sich näher aussprechen, was er für Beredsamkeit halte, was dazu gehöre,
worin sie bestehe. Die gewöhnlichen Lehrbücher (der autor ad Herennium) galten ihm
als zu trivial, um sie einer Beachtung wert zu halten, daher er fiberall dagegen eifert; und
doch waren sie es, die ihn gross gezogen hatten, und die er noch einige Jahre später in
der Verteidigung Milos so genau befolgte. In der Person des Antonius belehrt er uns,
wie er seine Reden technisch ausarbeitete, aber Cicero war mehr; mit grosser Begabung
verband er ausgebreitete Kenntnisse auf dem Gebiete der Philosophie; er hatte sich in den
verschiedenen Schulen umgesehen, nicht als Zweck, um einer philosophischen Sekte anzu-
hftngen, sondern nur als Mittel, um seine Rhetorik über die gewöhnliche triviale Kunst zu
erheben. Im Gegensatze zum Antonius, der sich strenge an sein Handwerk zu halten und
nicht darüber hinauszugehen scheint, aber auch nur scheint, vertritt Crassus die Rolle
eines philosophischen Redners, der alles umfasst, was den Redner stärken und erheben
kann. In der Verachtung der gewöhnlichen rhetorischen Lehrbücher stimmen beide über-
ein; beide sagen nur, was Cicero selbst will, auch da wo sie einander entgegen sind.
Wenn Antonius den Crassus und seine philosophischen Tendenzen widerlegt, so soll diimit
nur angedeutet werden, dass man dieses philosophische Studium nicht missverstehe; nicht
qua phUosophus müsse man Philosophie kennen lernen, sondern qiut orator. . . . Auch der
dritte Sprecher über ioctis und facetiae gibt nur Ciceros Ansichten.*
150. Brutus de claris oratoribus. Zwischen der Schrift de oratore
und dem Brutus liegt ein Zeitraum von nahezu zehn Jahren. Die Zeit,
in welcher der Brutus entstand, war für Cicero eine Zeit der unfreiwilligen
Müsse, welche ihm das siegreiche Vorgehen Caesars auferlegt hatte. Die
0 Über den Grund des Verschwindens
des Q. Mucius Scaevola nach dem ersten
Gespräch spricht sich Cicero ad Attic. 4, 16, 3
ans: Quod in iis libris, quos laudas, perso^
nam desideras Scaetölae, non eam temere
dimopiy sed feeit idem in Ttohrsitf deus ille
naster Flato, der auch den alten Kephalos,
um ihn nicht so lange an den Gesprächen
festzuhalten, verschwinden liess: muUo ego
magis hoc mihi cavendum putavi in Scaevola,
qui et aetate et valetudine erat ea, qua esse
meministi, et iis honoribus, ut vix satis de-
corum videretur eumplures dies esse in Crassi
Tusculano; et erat primi libri sermo non
alienus a Seaevolae studiis, reliqui libri rt/-
yoXoyiav habent, ut scis: huic ioculatorem
senem iUum, ut noras, interesse sane nolui.
234 Römische Lüteratnrgeschichie. I. Die Zeit der Bepublik. 2. Periode.
Schrift wurde im J. 46 verfasst. Seit dem Erscheinen des Buchs de ora-
tore waren aber auch andere, Cicero feindliche rhetorische Bestrebungen
zur Geltung gekommen. Die Opposition ging von den Jungattikern
aus. Cicero hatte für seine mühsam errungene rednerische Position zu
fürchten ; er bekämpfte daher die neue Richtung durch mehrere Schriften.
Zu denselben gehört auch der Brutus, in dem Cicero die Entwicklung der
römischen Beredsamkeit bis auf seine Zeit gibt. Die Schrift hat die
Form eines Gesprächs, das zwischen Cicero, M. Brutus und Atticus, ehe
Brutus nach Gallien ging, im J. 46 stattgefunden haben sollte. Allein
im Grunde haben wir einen Vortrag Ciceros, der hie und da von den Mit-
anwesenden unterbrochen wird, um die Sache nach einer andern Seite hin
zu beleuchten. Es werden ausserordentlich viele Redner vorgeführt; die
Behandlung derselben ist eine sehr ungleiche, oft erhalten wir nur eine
Namenreihe mit dürren Bemerkungen, dann fesseln uns wieder glänzende
Charakteristiken wie die des Hortensius, auch die Darlegung des eigenen
Entwicklungsgangs Ciceros flösst uns grosses Interesse ein. Dadurch, dass
der Verfasser nicht bloss die römischen Redner aufzählt, sondern auch
charakterisiert und kritisiert, gewinnt er zugleich die Gelegenheit, seine
rhetorische Richtung zu verteidigen und die nach seiner Ansicht unberech-
tigten Bestrebungen zurückzuweisen. Die Angriffe richten sich besonders
gegen die Jungattiker. Da auch Brutus mit dieser Strömung geht (vgl. § 139),
so verfolgt Cicero zugleich den Zweck, diesen Mann, auf den er in Bezug
auf die Beredsamkeit die grössten Hoffnungen baut, zu seiner Richtung
zu bekehren. Durch diese Bezugnahme wird auch „Brutus^ im Titel der
Schrift gerechtfertigt. Für die Gewinnung des Materials dient ihm als
Leitfaden der Annalis des Atticus, auch annalistische Werke und Varro
sind benützt. Das Werk ist eines der wichtigsten Denkmäler für die
römische Litteraturgeschichte.
Die angesetzte Zeit des Gesprächs des J. 46 ergibt sich aus 46,171; Brutus war
eben im BegiiOT, auf die Weisung Caesars hin nach Gallien cisalpina abzugehen. Als Brutus
in Gallien war, schrieb Cicero den Orator, in dem bereits des Brutus gedacht wird (7, 23).
Das Ziel seiner Schrift spricht er klar aus 5, 20 expone nobis quod quaerimus. Quid-
nam est id? inquam. Quod mihi nuper in TuscuJano inchoavisii de oratoribus, qnando
esse coepissenty qui etiam et quales fuissent. 69, 244 vdo hoc perspici, omnibus conquisitis
qui in multitudine dicere ausi sint^ memoria quidem dignos perpaucos, verum qui omnino
nomen habuerint, non ita muUos fuisse. In der Aufsählung unll sich Cicero auf die Leben-
den beschränken, vgl. 65, 231 in hoc sermone nostro statui neminem eorum qui viverent
nominarey ne vos curiosius eliceretis ex me, quid de quoque iudicarem, allein einigemal weiss
es Cicero doch einzurichten, dass auch Lebende erwähnt werden.
Der handschriftliche Titel ist Brutus de claris oratoribus. Diese Verbindung von
einem Eigennamen und der Inhaltsangabe ist eine Eigentümlichkeit der Logistorici Varros.
Über die Benützung des liber annalis des Atticus vgl. 3, 14 und 15 (NAUKAim, De
fontibus et fide Bruti Cic, Halle 1883 p. 6). Ausserdem citiert er die Annalen des Fannius
(21,82 87,299). Jobdai? erachtet es für wahrscheinlich, ,dass die Aufzählung der Redner
vor den punischen Kriegen (14, 53 — 57) unmittelbar oder mittelbar sich anlehnt an fingierte
Reden in einem annalistischen Werke, vielleicht des Valerius Antias* (Hermes 6, 213).
151. Orator ad M. Bmtum. Im Brutus hatte Cicero die Geschichte
der Beredsamkeit bis zu der Stufe, die er erklommen, zur Darstellung
gebracht. Schon in dieser Schrift leuchtet der Gedanke durch, dass Cicero
den Höhepunkt in der römischen Beredsamkeit erreicht. Es galt nun,
seine rednerische Richtung als die allein berechtigte hinzustellen. Dies
CioeroB rhetoriaohe Sohriiten. 235
geschieht in der Weise, dass er ein Bild des vollkommenen Redners, ein
rednerisches Ideal in der Schi-ift i^Orator'' entwirft. Sie ist auf Aufforde-
rung des Brutus, der damals Statthalter der Provinz Gallia cisalpina war,
im J. 46 abgefasst (10,34) und ihm auch gewidmet. Nach seiner An-
schauung ist nur derjenige ein vollkommener Redner, welcher alle Töne
anzuschlagen und für jeden Gegenstand den richtigen Ton zu finden weiss,
also über alle Stilarten verfügen kann. Damit ist , der Standpunkt der
Jungattiker verurteilt, welche nur den schlichten Stil, das tenue genus
dicendi, kultivierten. Sehr ausführlich spricht er sich am Schluss über
den rednerischen Numerus aus. Es ist nicht zweifelhaft, dass er auch in
dieser Hinsicht Angriffe abzuwehren hatte. Sonach stellt sich auch diese
Schrift als eine Apologie seiner rhetorischen Kunst dar. Trotz der glän-
zenden Diktion, welche diese Schrift auszeichnet, erhält der Leser doch
keinen völlig befriedigenden Eindruck, weil die tiefgehende, prinzipielle
(Gestaltung der Gedanken fehlt. Der Verfasser hielt grosse Stücke auf
diese Schrift, auch von Quintilian wird sie hoch geschätzt (1,6, 18),
Ep. 15, 20, 1 Oratarem meum — sie enim inscripsi — Sabino ttw commendavi. Nach
dem Inhalt wird die Schrift einigemal (Ep. 12, 17, 2, ad Attic. 14, 20, 3) durch de optimo
gentre dicendi bezeichnet.
Sein Ziel legt der Verfasser öfters dar z. B. 14, 43 nuUa praecepta ponemus — neque
enim id suscepimus — sed exceUentia efoquentiiie speciem et formam adumbrabimus; nee
quibus rebus ea paretur exponemus, sed quaiis nobis esse videatur.
Ober seinen Idealredner vgl. 21, 69 erit eloquens — is qui in foro causisque eivifibus
ita dicet, ut probet, ut deleetet, ut fleetat. 29,100 is est eioquens, qui et humilia subtiliter et
magna graviter et mediocria temperate potest dicere. 36, 123 m erit eloquens, qui ad id,
quodcumque deeebit, poterit aecommodare orationem, Quod cum statuerit, tum ut quidque
erit dicendum ita dicet, nee satura ieiune nee grandia minute nee item contra, sed erit
rebus ipsis par et aequalis oratio. 29, 102 sucht Cicero an seinen Reden zu zeigen, dass
er je nach der Sache auch eine verschiedene Darstellung gewählt: nuUa est uilo in gener e
laus oratoris, cuius in nostris orationibus non sit aliqua, si non perfectio, at conatus tarnen
atque adumbratio (103).
Den Numerus behandelt er, wie er sagt, ausführlicher als irgend jemand vor ihm
(52, 174 67, 226), er disponiert (52, 174) : primum origo, deinde causa, post natura, tum ad
extremum iisus ipse explicetur orationis aptae atque numerosae, — Wuest, De clausula
rhetoriea quae praecepit Cicero quatenus in Orationibus secutus sit, Strassb. 1881. Ernst
MÜLLEB, De numero Cireroniano, Kieler Diss. 1886.
Ep. 6, 18, 4 oratorem meum tanto opere a te probar i vehementer gaudes; mihi quidem
sie persuadeo, me quidquid hdbuerim iudicii de dicendo, in iUum librum contulisse: qui si
est talis, qualem tibi videri scribis, ego quoque aliquid sum; sin aliter, non recuso, quin
quantum de iUo libro tantundem de mei iudici fama detrahatur,
152. De optimo genere oratonmi. Auch diese kleine Schrift steht
mit der Opposition gegen die Jungattiker in Verbindung. Es handelt sich
um die Stilmuster. Die Jungattiker verehrten Lysias als ihr Ideal unter
den attischen Rednern. Cicero sieht das als eine Einseitigkeit an, er macht
geltend, dass auch Demosthenes zu den attischen Rednern gehöre. Dass
hier ebenfalls echte Beredsamkeit vorliege, sollte durch eine gut lateinische,
keineswegs streng wörtliche Übersetzung der Rede des Demosthenes fttr
den Kranz und der parallelen Rede des Äschines der römischen Welt ge-
zeigt werden. Zu dieser Übersetzung bildete das vorliegende Schriftchen
die Einleitung. Allein von dieser Übersetzung ist uns keine Spur erhalten.
Es ist daher überhaupt fraglich, ob Cicero sein Vorhaben wirklich ausführte
und die Vorrede nicht zu einer Zeit geschrieben ward, in der die Reden
236 Römiaohe Lüieratargeschiohte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
noch gar nicht übersetzt waren. *) Der Titel wenigstens hätte wohl anders
lauten müssen. Über die Zeit des Schriftchens haben wir keine positive
Angabe; allein da dasselbe eine Ergänzung zu dem Brutus und dem Orator
bildet, wird es auch in derselben Zeit erschienen sein.
4, 13 ifUellegitur, quoniam Graecorum artUorum praestantissimi aint ei qui fuerunt
Athenis, eorutn autem princeps facile Demosthenes, hunc si qui imitetur, eum et Ättice
dicturum et optime, — Sed cum in eo mcLgnua error esset, qudle esset id dicendi genus, putatn
mihi suscipiendum laborem utilem studiasis, mihi quidem ipsi non necessarium. Corwerti
enim ex Atticis duorum eloqusntissimarum nchilissimas arationes inter seque contrarias,
Aeschini et Demostheni; nee converti ut interpres, sed ut orator, sententiis isdem et earum
formis tamquam figuris, verhis ad nostram consuetudinem aptis; in quibus non verbum pro
verbo necesse habui reddere, sed genus omne verhorum vimque servavi, Non enim ea me
adnumerare lectori putavi oportere, sed tamquam appendere. Hie labor meus hoc adsequetur,
ut nostri homines, quid ab iUis exigant, qui se Atticos volunt, et ad quam eos quasi formulam
dicendi revocent, intellegant. Und am Schluss heisst es 7,23: Quorum ego orationes si ut
spero ita expressero, virtutibus utens Ulorum omnibus, id est sententiis et earum figuris et
rerum ordine, verha persequens eatenus ut ea non abharreant a more nostro — quae si e
Graecis omnia conversa non erunt, tamen ut generis eiusdem sint elaboravimus — , erit
regula, ad quam eorum dirigantur orationes qui Attice volent dicere, — Philippbon,
Fleckeis. J. 133, 425.
153. De pariitione oratoria (Fartitiones oratoriae). Auch einen
rhetorischen Katechismus schrieb Cicero, es ist das Schriftchen über die
rhetorische Einteilung. Dasselbe gibt uns eine kurze Darstellung der
rhetorischen Begriffe in der Form eines Gesprächs, das zwischen Cicero
und seinem Sohn auf dem Land gehalten wird. Aber auch hier haben
wir den Scheindialog, d. h. der Vater dociert, der Sohn streut hie und
da einige Woi*te ein. In drei Teilen wird der Stoff abgehandelt: 1) die
Lehre von der rednerischen Thätigkeit (1,1 — 7,26); 2) die Lehre von der
Rede und ihren Teilen (8,27—17,60); 3) endlich die Lehre vom Thema
(18, 61 — Schluss). Die Zeit des leblosen Gesprächs lässt sich nicht sicher
bestimmen, wahrscheinlich fällt sie in dieselbe Zeit, in der der Brutus und
Orator geschrieben wurden.
Die Disposition ergibt sich aus 18, 61 quoniam et de ipso oratore et de oratione
dixisti, expone eum mihi nunc, quem ex tribus extremum proposuisti, quaestionis locum.
Da Cicero diese Schrift nicht mehr erwähnt, woUte Angelus Decembrius dieselbe für
unecht erklären, mit Unrecht vgl. Dbumaiw 6, 293. Quintilian citiert bereits dieselbe unter
dem Namen Ciceros (3, 3, 7).
154. Ad C. Trebatium Topica. Die Topik definiert Cicero als die
Wissenschaft, die Beweise aufzufinden, indem sie uns die tonoi^ loci auf-
zeigt, aus denen sie gewonnen werden. Es sind dies einmal loci, welche
in der Sache selbst liegen, oder loci, welche ausserhalb der Sache liegen.
Die ersten erfahren eine vielfache Gliederung; die Behandluhg der zweiten
ist eine ganz kurze. Mit 21, 79 beginnt eine neue Partie, welche bis zum
Schluss reicht und mit der Topik nur schwachen Zusammenhang hat
(vgl. 23, 87). Es ist eine Erörterung über das Thema.*) Die Beispiele
sind mit Vorliebe aus dem juristischen Leben entnommen, ohne Zweifel
^) Bei Hirtius liegt ja derselbe Vorgang
vor; vgl. § 122.
') Spekoel, Rh. Mus. 18,497: ^Mit § 78
war erklärt und geleistet, was Trebatius
wissen wollte; das Weitere hat mit der Topik ^
nichts zu thun, sondern ist die Rhetorik und
ihre Einteilung, die er anderswo schon ge-
geben hatte; er hatte das Buch zugleich auch
ftlr das Publikum bestimmt (§ 72) und des-
wegen für geeignet gehalten, noch anderes
hinzuzufagen.* Daher sagt er 26, 100 plura
quam a te desiderata erant, sum complexus.
CioeroB rhetöriBche iSohriften. 237
aus Rücksicht auf den Adressaten. Eigentümlich ist die Entstehung des
Schriftchens, über die uns die Vorrede berichtet. Der Rechtsgelehrte
C. Trebatius befand sich bei Cicero auf dessen Tusculanum; er stiess hier
in der Bibliothek auf die Topik des Aristoteles. Er fragte Cicero nach
dem Inhalt der Schrift und als er darüber Aufschluss erhalten, zeigte er
Verlangen, Näheres über diese Disziplin zu erfahren. Allein von der Lek-
türe des Buchs schreckte ihn die Dunkelheit desselben ab; ein berühmter
Rhetor aber, an den ihn Cicero wies, wusste auch nichts von der Sache.
Cicero machte sich nun selbst an die Bearbeitung der Materie und zwar
geschah dies auf einer Seereise von Velia nach Rhegium im J. 44, wie
er hinzufügt, ohne Bücher. Nach der Vorrede sollte man meinen, eine
Bearbeitung der Aristotelischen Topik vor sich zu haben. Auch sagt er
Ep. 7, 19 in einem Brief an Trebatius, dass er sich entschlossen habe, die
vTopica Aristotelia^ zu bearbeiten. Allein eine Vergleichung der beiden
Schriften zeigt, dass dies nicht der Fall ist und dass die ciceronische Topik
80 gut wie nichts mit der aristotelischen gemein hat. Zur Erklärung
dieses eigentümlichen Widerspruchs werden zwei Ansichten aufgestellt;
nach der einen hat Cicero bei dem Worte Aristotelia in der Vorrede und
in dem Briefe nicht auf eine Bearbeitung der aristotelischen Schrift hin-
weisen, sondern nur ganz allgemein die Topik als eine aristotelische Er-
findung charakterisieren wollen; nach der zweiten wäre Cicero (im ersten
Teil) dem Akademiker Antiochus gefolgt und hätte irrtümlich dessen Lehre
für die aristotelische gehalten. Zu den Topica schrieb Boethius einen
Kommentar, .der bis 20, 77 reicht (Orelli V 1, 269).
Cicero schreibt £p. 7, 19 am 28. Juli 44 von Rhegion aus ut primum Velia navigare
coepi, institui Topica Aristotelea conscribere, — Eutn librutn tibi miai Bhegio, Top. 1, 5
haee cum mecum libros non haberem, memoria repetita in ipsa navigatione conscripsi tibique
ex itinere misi.
Die Definition der Topik lautet 1,2 discipHna inveniendorum argumentorum, der
loci 2, 8 = eae quasi sedes, e quibus argumenta promuntur. Es heisst weiter: ex eis locis, in
quibus argumenta inclusa sunt, alii in eo ipso, de quo agitur, haerent, alii adsumuntur
extrinsecus. Eine zusammenfassende Übersicht der inneren argumenta erhalten wir 18,71
Perfecta est omnis argumentorum inveniendorum praeeeptio, ut, cum profectus sis a defini-
tione, a partitione, a notatione, a coniugatis, a genere, a forma, a similitudine, a differeniia,
a contrariis, ab adiunctis, a consequentibus, ab antecedentibus, a repugnantibus, a causis,
ab effectis, a comparatione maiorum, minorum, parium, nuUa praeterea sedes argumenti
quaerenda sit und dann geht er auf die argumenta extrinsecus allata über; de iis pauca
dicamus.
Eine Vergleichung der aristotelischen und ciceronischen Topik nimmt Klein, De
fontibus Topic. Cic,, Bonn 1844 (p. 25) vor und erhält das Resultat (p. 33): multum, quod
ad summam vel caput attinet artis didUdicae, utraque topica inter se differre nemo est, quin
intellegat. Auch im einzelnen zeigen sich tiefgreifende Unterschiede, vgl. p. 35 — 48. Dieser
Thatsache stehe weder die Vorrede noch Ep. 7, 19 entgegen, denn (p. 54) nequaquam per verlm
iUa (Ep. 7, 19) vel in topicorum prooemio iudicavit sua topica esse compendium commenta-
riumre Aristotelicorum librorum. Dagegen hält Wallibs, De fontibus Topicorum Ciceronis,
Halle 1878 p. 48 fiir die Quelle des ersten Teils der Topica (bis c. 21) den Akademiker
Antiochus, der seine Topik als aristotelisch hingestellt; auch Cicero sei dieses Glaubens
gewesen (p. 46). Der Versuch Hajoiers, De Cic, Topicis^ Landau 1879, eine grössere An-
zahl von Stellen auf die aristotelische Topik zurückzufflhren, ist nicht gelungen (p. 5—17).
Von den rhetorischen Schriften Ciceros sind die wertvollsten und an-
mutigsten die Werke de oratore, Brutus und der Orator, lauter Schöpfungen
seines reiferen Alters. Alle diese drei Schriften sind von dem GedankeU'
getragen, dass die ciceronische Beredsamkeit die höchste Stufe der römi-
238 Bömisohe Litteratargeschiohte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
sehen repräsentiere. In der Schrift de oratore geben Antonius und
Crassus nur die Ansichten Ciceros wieder; auch der Abschnitt über den
Witz ist ciceronisch. Im Brutus und im Orator nimmt diese Darlegung
seiner Beredsamkeit zugleich einen apologetischen Charakter an. Eine
wesentliche Förderung der Theorie ist durch die rhetorische Schriftstellerei
Ciceros nicht bewirkt worden. Wenn es sich um scharfe Begriffsbestim-
mung handelt, finden wir grosse Mängel. Allein in der populären Behand-
lung, in dem Hervortreten des Persönlichen^ in der schönen Sprache ruht
die grosse Anziehungskraft dieser Schriften.
Überlieferung der rhetorischen Schriften Ciceros: Fflr die Rhetorica sind
die massgebenden Handschriften der Wircebnrgensis s. IX, der Parisinus nr. 7774 A s. IX und
der Sangallensis s. IX. Für die Schrift de partitione oratoria ist die reinste Quelle der
Parisinus 72B1 s. X (Stböbel p. 12), für die Topica die zwei Leydner 84 und 86 s. X. (das
handschriftl. Material haben vermehrt Stafol, Bayr. Gynmasialbl. 18, 1 durch zwei Münchner,
zwei Bamberger, vgl. auch Haxmeb, De Cicer, Topicia p. 30), für den Traktat de opttmo
genere oratorum der StGallener 818 s. XI. Die übrigen rhetorischen Schriften sind durch
ein gemeinsames Schicksal miteinander verbunden. Im J. 1422 wurde in Lodi eine Hand-
schrift aufgefunden, welche die Kenntnis der rhetorischen Schriften Ciceros bedeutend er-
weiterte. Bis dahin hatte man die Bücher de oratore und den Orator nur in unvollständi-
gem Zustand, den Brutus aber kannte man gar nicht. Durch diese Handschrift erhielt man
zum erstenmal den bis dahin unbekannten Brutus und den Orator und de oratore in voll-
ständiger Fassung. Diese Handschrift (Codex Laudensis) ist aber wieder verloren gegangen.
Aus emem Brief Lamolas (vgl. Wochenschr. f. klass. Philol. 1886 nr. 24) ergibt sich, dass
nach einem apographon die drei rhetorischen Schriften verbreitet wurden. Lamola machte
sich eine genaue Abschrift nach dem Original. Die Auffindung dieser Kopie wäre von
grösster Bedeutung. Aus dieser Textesgeschichte ergeben sich die Grundzüge der Rezension.
Für Brutus handelt es sich lediglich um Wiederherstellung des Codex Laudensis; hiefÜr
erachtet Heebdboen, Fleckeis. J. 1885 p. 110 drei apographa desselben (im Gegensatz zu
Stai7gl) als ausreichend: Ottobonianus 1592, Ottobonianus 2057 und den Florentinus J 1, 14.
Vgl. auch Stroebel, Wochenschr. für klass. Philologie 1886 nr. 29. Für den Orator ist
als Repräsentant der verstümmelten Überlieferung der Codex aus Avranches 238 (Abrin-
censis A) zu betrachten ; für die Restituierung des Laudensis zieht Heebdboen herbei den
Codex Florentinus J. 1, 14 (F), den Codex Vaticanus Palatinus 1469 (P), endlich den Codex
Ottobonianus 2057 (0). Für die Schrift de oratore sind neben dem Abrincensis auch noch
der Harleianus 2736 s. IX/X, den Fbiedbich (QuaesL in Cie, lihr. de oratore p. 5) höher steUt
als den erstgenannten, und der Erlangensis 848 s. X selbständige Repräsentanten der Codices
mutüi (Stboebel, De Cic. de oratore librorum codicibus mtUUis, Erl. 1883 p. 48), Haupt-
repräsentanten der auf den Laudensis zurückgehenden Codices integri: Ottobonianus 2057
und der Vaticanus-Palatinus 1469. {Sahbadini i eodici deW opere rettoriche di C, Rivista 16, 97.)
Litteratur mit Auswahl: M. 71 Ciceronis artis rhetoricae Hbri II, Rec. A. Weidneb,
Berl. 1878. (Über die alten Hdschr. Stböbel, Philol. 45, 469.) — De oratore. Ed. Ellendt,
Königsberg 1840 (Hauptausgabe). Ausgabe von Sobof in 3 Bänden (Weidmann), von
Pidebit-HIbkeckeb (Teubner), beide mit deutschem Konmientar. itf. T. Cic. de oratore
WUh introduction and notes hy S. WiLKiire lih. I, Oxford 1879, lib, II 1881. —
M, T, Ciceronis Brutus, Ed. Ellendt, Königsb. 1825 und 1844 mit einer succineta elo-
queniiae Romanae usque ad Caesares historia, von Peteb, Leipz. 1839, von Stanol, Leipz.-
Prag 1886 (vgl. dazu Simon, Krit. Bemerk., Kaisersl. 1887). Treffliche erklärende Ausgabe
von 0. Jahn (Ebebhabd) bei Weidmann. Von Pidebit ebenfalls mit deutschem Kommentar
(Teubner). — M, T. Ciceronis Orator, Ed. Peteb und Welleb, Leipz. 1838. Ed. Heebdboen
(treffliche Rezension), Teubner 1884. Ed. Stanol, Leipz., Prag 1885. Gute erklärende
Ausgabe von 0. Jahn (Ebebhabd) bei Weidmann; von Pidebit bei Teubner. — De par-
titione oratoria, mit deutschem Konunentar von Pidebit (Teubner). Stböbel, Zur Hand-
schriftenkunde und Kritik von Cic. Partit, orat,, Zweibr. 1887. — Das Schriftchen de optimo
genere oratorum ist von 0. Jahn hinter dem Orator herausgegeben.
y) Ciceros Briefe.
156. Die erhaltenen Briefsammlungen. Aus der grossen Masse
der Briefe Ciceros sind uns zwei Gruppen erhalten, eine Generalkorrespon-
denz und drei Spezialkorrespondenzen«
Cioeros Briefe. 239
Die Generalkorrespondenz führt gewöhnlich den Namen ad fami-
liärem, eine Bezeichnung, die von Stephanus herrührt, früher hiessen sie
epistolae familiäres, später ejnstolae ad diversos. Allein diese Titel haben
in der massgebenden Überlieferung keine Gewähr ; dort werden die einzelnen
Bücher nach dem ersten Adressaten bezeichnet ; ein allgemeiner Titel fehlt.
Die Generalkorrespondenz hat 16 Bücher, welche die Zeit von 62—43 um-
fassen. In dieser Briefsammlung finden sich neben den ciceronischen Briefen
auch solche, die von anderen an ihn gerichtet sind. So besteht das ganze
VIII. Buch lediglich aus Briefen des M. Gaelius an Cicero; das X. Buch
bietet uns eine stattliche Anzahl von Briefen des L. Munatius Plauens,
das XL eine Beihe von Briefen des D. Brutus. Auch von M. Cato, G. Cas-
sius, Asinius PoUio, M. Lepidus u. a. finden sich Briefe in der Sammlung.
Wie im VIII. Buch haben wir bloss einen Adressaten im HI. Buch, das nur
Briefe an Ap. Claudius Pulcher, im XIV. Buch, das nur Briefe an die
Terentia und die übrige ciceronische Familie, endlich im XVI., das nur
Briefe der ciceronischen Familienglieder an Tiro (ausgenommen 16) enthält.
Alle übrigen Bücher vereinigen Briefe verschiedener Adressaten in sich.
Das Xin. Buch enthält lediglich ciceronische Empfehlungsbriefe.
VonSpezialkorrespondenzen sind uns drei Sammlungen überliefert.
1) die Briefe Giceros an seinen Bruder Quintus in 3 Büchern.
Man erwartet einen grösseren Briefwechsel, allein auch dem Altertum
lagen nicht mehr Briefe vor. Sie reichen von 60 — 54.
2) die Briefe an Atticus in 16 Büchern. Sie umfassen die
Zeit von 68 — 43. Auch in dieser Sammlung haben wir als Beilagen oder
Einlagen Briefe von andern Personen z. B. des L. Cornelius Baibus, des
Cn. Pompeius Magnus und einige Briefe Giceros an andere.
3) Der Briefwechsel zwischen Gicero und M. Brutus aus dem
J. 44. Derselbe erscheint in den bisherigen Ausgaben in zwei Büchern. Die
Briefe des ersten Buchs sind uns handschriftlich überliefert ; bezüglich der
5 (nach alter Zählung 7) Briefe des IL Buchs sind wir aber nur auf die
Basler Ausgabe des Gratander vom Jahre 1528 als Quelle angewiesen. Als
n. Buch hat diese Gratandrischen Briefe erst Schütz gegeben. Allein es
steht fest, dass diese 5 Briefe früher sind als die des sogenannten ersten
Buchs — diese schliessen sich zeitlich genau an jene 5 Briefe an — und
dass alle diese Briefe zusammen das IX. Buch einer Briefsammlung ad
Brutum bildeten. Die handschriftlichen Spuren eines solchen noch jene
5 Briefe enthaltenden IX. Buchs lassen sich nachweisen. Es ist daher
zweifellos, dass Gratander diese 5 Briefe, wie er sagt, einer Handschrift
entnommen hat. Die Briefsammlung umfasst 15 Briefe Giceros an M. Bru-
tus, 7 Briefe des M. Brutus an Gicero, 1 desselben an Atticus. Mit den
Spezialkorrespondenzen ist noch verbunden
ein Brief Giceros an Octavian, über dessen Unechtheit kein
Zweifel sein kann.
Der Briefwechsel zwischen Cicero und M. Bmtus wurde angezweifelt. Zum erstenmal
erklärte der Engländer Tunstall im Jahre 1741 die Briefe ftir unecht. Von seinen Lands-
leuten trat auf seine Seite Makkt^and, während Middlbton opponierte. Seitdem wur lange
Zeit die Unechtheit der Sammlung fast Axiom, bis K. F. Hermann in mehreren Abhand-
lungen der Jahre 1844 und 1845 die Frage wieder aufnahm und den echten Ursprung der
240 RömiBche LiUeratiirgeBohichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Briefe verteidigte. Allein er drang nicht durch. In neuester Zeit kam besonders durch
CoBET (1879) wieder Leben in die Streitfrage. Mit grosser Wfirme verfocht er die Echtheit.
Wahrscheinlich angeregt durch Cobets Abhandlungen, machte nochmals P. Meyeb den
Versuch, in der ausführlichsten Weise das Verdammungsurteil der Engländer zu recht-
fertigen. Allein seine Abhandlung ftthrte den entgegengesetzten Erfolg herbei. Fast all-
gemein wird jetzt die Echtheit der Briefe angenommen. Nur in einem Punkt herrscht
noch Meinungsverschiedenheit. Nippebdby hatte gelegentlich (Abb. der sächs. Gesellsch.
1865 p. 71 Anm.) die Meinung ausgesprochen, alle Briefe der Sammlung seien echt, aus-
genommen die Briefe 1, 16 und 1, 17. Diese Ansicht wurde dann genauer begrOndet von
R. Heine, mit der Erweiterung, dass auch 1, 15, 3 — 11 unecht sei von Gublitt, endlich von
0. E. ScHioDT. Dass die Ausscheidung von 1, 15,3 — 11 höchst bedenklich und unnötig ist,
hat des Näheren 0. E. Schiudt dargethan (Fleckeis. J. 129 [1884] 635). Allein auch die
Zweifel bezüglich der Briefe 1, 15 und 1, 16 sind keineswegs gerechtfertigt. Hier hängt
alles davon ab, ob diese Briefe auch dem Plutarch (oder vielmehr seiner Quelle), Brut. c. 22,
Cic. 45 vorlagen oder nicht. Die Übereinstimmungen sind derart, dass dies meines Er-
achtens nicht geleugnet werden kann. In diesem Fall aber müssen wir unsere zwei Briefe
der Zeit des Brutus und Cicero möglichst nahe rücken. Aber auch die anderen Briefe
verraten eine solche Kenntnis der damaligen Zeitgeschichte, dass ihre Entstehung in die
allernächste Zeit nach Brutus und Cicero fallen müsste. Allein damals wäre der Betrug
schwerlich unbeachtet geblieben, selbst den Fall angenommen, dass alle echten Briefe der
Sammlung verloren waren und der Fälscher die 9 Bücher, nicht bloss das IX. Buch unter-
schoben hätte. Aber das Altertum weiss nichts von einem solchen Betrug, selbst die
vielangeführte Stelle Plutarchs (Brut. 53) beruht nur auf einer Schlussfolgerung des Autors,
nicht auf einer Thatsache. Weder sprachlich noch sachlich geben die Briefe Anlass zu
Bedenken, die unübersteiglich wären.
Neuere Litteratur: Standpunkt der Echtheit: C. F. Hebmann, Vindiciae Latini-
tatis epistolorum etc., Gott. 1844; Epimetrum Gott. 1845. Zur Rechtfertigung der Echtheit
u. s. w. 2. Abt., Gott. 1844. Cobbt im VH. Bd. (1879) der Mnemos. Ruetb, Die Korrespondenz
Ciceros 44 und 43, Marb. 1883. — Unechtheit: P. Meteb, Untersuchungen über die Frage
der Echtheit des Briefwechsels Cicero ad Brutum, Stuttg. 1881. Bechkb, de Cieeronia —
ad Brutum epistuHSfR^xh, 1886. Ober die Sprache der Briefe ad Brutum Rhein. Mus. 37, 576,
Philol. 44, 471. — Teilweise Unechtheit: R.Heine, Quaestionum de Ciceronia et Bruti
mutuis epistulis cap, duo, Leipz. Dissert. 1875. Güblitt, Die Briefe Ciceros an M. Brutus,
IV. Supplementb. des Philolog. p. 551. Drei Suasorien in Briefform im V. Supplementb.
des Philolog. p. 591. Schibmeb, Über die Sprache des M. Brutus, Metz 1884. Stbeno, de
Cic. ad Brutum epistolarum libro II, Helsingfors 1885 (p. 8). — Die Frage der Überliefe-
rung behandeln Gublitt, Der Archetypus der Brutusbriefe in Fleckeis. Jahrb. 131 (1885)
561. Webxuth, Quaestianes de Ciceronis episttdarum ad M. Brutum libris IX. Basel 1887.
Man vgl. auch noch 0. E. Schmidt, Die hdschr. Überlief, der Atticusbriefe p. 279.
156. Entstehung der Briefsanunluxigen. Ausser den erhaltenea
Briefsammlungen Ciceros besass das Altertum noch eine Reihe anderer;
es werden citiert ad Axium L II, ad Pansam 1. III, ad Hirtium 1. IX, ad
Caesarem u. a. Bezüglich der Entstehung der Sammlungen sind wir fast
nur auf Vermutungen angewiesen. Wir wissen, dass Tiro nach einem
am 9. Juli 44 an Atticus gerichteten Brief (16, 5, 5) eine Sammlung von
etwa 70 Briefen beisanmien hatte, und dass Cicero für eine spätere Publi-
kation derselben seine Fürsorge in Aussicht stellte. Allein da Cicero am
7. Dez. 43 ermordet wurde und die unruhige politische Lage in der Zwi-
schenzeit ihn ganz in Anspruch nahm, so ist eine Herausgabe des Brief-
wechsels zu seinen Lebzeiten sehr wenig wahrscheinlich. Vom Briefwechsel
an Atticus kann gezeigt werden, dass derselbe geraume Zeit nach Ciceros
Tod veröffentlicht wurde. Als nämlich Asconius seine Kommentare zu
Ciceros Reden schrieb, kannte er diesen Briefwechsel nicht; der Philosoph
Seneca (ep. ad Luc. 97 und 118) dagegen kennt ihn. Derselbe wird also
erst etwa 60 n. Ch. erschienen sein. Wegen der vielen Urteile über Poli-
tik mag die Herausgabe nicht rätlich erschienen sein, sie blieben >daher im
Archiv des Atticus liegen, wo sie Cornelius Nepos mehrere Jahre vor
CiceroB Briefe. . . - 241
Atticus Tod für eine Herausgabe wohlgeordnet gesehen hatte >). So werden
auch andere Korrespondenzen Glceros erst später von den Adressaten oder
deren Erben aus den Hausarchiven an das Licht der Öffentlichkeit gezogen
worden sein. Schwierig ist das Verhältnis der Generalkorrespondenz zu
den Spezialkorrespondenzen festzustellen. Man hat die Generalkorrespondenz
als einen Auszug — wenigstens zum grössten Teil — aus den Spezial-
korrespondenzen hingestellt; allein dann müsste die grösste Willkür und
der grösste Unverstand bei der Auswahl geherrscht haben. Auch lässt
sich von manchen Briefgruppen zeigen, dass sie so gut wie keine Lücken
zeigen. Ein anderes Verfahren, die Schwierigkeit zu lösen, besteht darin, eine
Sanmilung, welche sowohl die Generalkorrespondenz als die Spezialkorrespon-
denzen umfasst, und einen Sammler anzunehmen ; in die Generalkorrespondenz
sei aufgenommen worden, was nicht als Spezialkorrespondenz zu erscheinen
geeignet war. Allein bei dieser Anschauung begreift sichs nicht, wie trotz der
vorhandenen Spezialkorrespondenzen doch noch Briefe, die dahin gehörten, in
der Generalkorrespondenz erscheinen konnten. So gab es eine Sammlung der
Briefe an M. Brutus, und trotzdem finden sich in der Generalkorrespondenz
Briefe an denselben Adressaten. Nonius citiert 1, 435 M. eine Stelle aus
1. I ad Gassium, diese Stelle findet sich auch in der Generalkorrespon-
denz 15, 16, 3, es finden sich aber auch noch andere Briefe an Cassius in
der Sammlung. Am besten lösen sich die Schwierigkeiten, wenn wir die
Generalkorrespondenz als die erste Sammlung betrachten, der dann die
Spezialkorrespondenzen als Ergänzungen folgten. Es liegt ja in der Natur
der Sache, dass man zunächst bestrebt war, nur einmal zu geben, was
man an Korrespondenzen Ciceros auftreiben konnte. Wer diese erste
Sammlung unternommen, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Man
hat auf Tiro geraten; und dessen Autorschaft hat auch viel Wahrschein-
lichkeit für sich, da er ja wirklich eine Sammlung Ciceronischer Briefe
veranstaltet hatte. Immerhin ist auch mit dem Fall zu rechnen, dass
Sammler und Herausgeber, wie bei den Briefen an Atticus, nicht zusam-
menfallen. Die Sammlung, sowie sie uns vorliegt, ist von dem Ordner
nicht nach einem einheitlichen Prinzip gestaltet. Überwiegend ist zwar
der Adressat für die Anordnung bestimmend gewesen, allein für das XIII.
Buch ist der Inhalt Norm geworden. Durch successive Entstehung der
Sammlung erklärt sich diese Diskrepanz am leichtesten.
Litteratur: L. Gublitt, de Ciceronis epiatulis, GOtting. Dies. 1879 entscheidet sich
nach dem Vorgang E. F. Herkanns fOr eine Sammlung und einen Sanmiler (mit Aus-
nahme der Briefe an Atticus), vgl. p. 4. Die Excerptentheorie fdr die Mehrzahl der Bücher
ad familiäres verixitt B. Nake, historia eritiea Ciceronis epistularum, Bonn 1861, vgl. p. 19.
Die Priorität der Greneralkorrespondenz behauptet F. Hoffmaiw, Ausgew. Briefe Ciceros,
Einleitung. Vermittelnd Leiohton, historia crUica Ciceronis epist. ad famiL, Leipz. Diss.
1877. Die Publikation des Briefwechsels ad Att. nach Asconius deduziert BOcheleb, Rh.
Mus. 34 (1879) p. 352—355 aus Asconius p. 76 K. defenstis est Catüina etc.
GuBLiTT, Nonius Marcellus und die Cicerobriefe, Steglitz 1888 verwirft eine Brief-
sammlung ad C. J. Caesarem und nimmt nur eine ad Caesarem d. i. Octavianum (vgl. aber
L. MüLLEB, Nonius 2, 203, 26) an; auch die Briefsammlung ad Pompeium 1. IV erklärt er
^) Com. Nep. 25, 16 eum (Atticum) prae-
cipue dilexU Cicero, — Ei rei sunt indicio
praeter eas libros in quibus de eo facit men-
tUmem, qui in vulgus sunt editi, sedecim Vo-
lumina epistularum ab consulatu eius usque
ad extremum tempus ad Atticum missarum:
quae qui legat non multum desiderabit histo^
riam contextam eorum iemporum.
Bftodbach der klaas. AltcrtumswiMenecliaft. vni 16
242 BOmisohe LiUeratargeBoliiohte. L Die Zeit der Republik, d. Periode.
fOr einen Intam; eine solche sei nie veröffentlicht worden; im obigen Citat Nonius 1, 435 M.
tilgt er 1. 1.
167. Charakteristik. Die Worte Goethes „Briefe gehören unter die
wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann. Was
uns freut oder schmerzt, drückt oder beschäftigt, löst sich von dem Her-
zen los ; und als dauernde Spuren eines Daseins, eines Zustands sind solche
Blätter fQr die Nachwelt immer wichtiger, je mehr dem Schreibenden nur
der Augenblick vorschwebte, je weniger ihm eine Folgezeit in den Sinn
kam^, geben uns den Standpunkt für die Wertschätzung der Briefe an.
Unsere Briefsammlungen enthalten allerdings eine Menge Briefe, welche
nicht bloss für den Adressaten, sondern auch für weitere Kreise bestimmt
waren. Diese Briefe fesseln uns durch die feine Kunst der Berechnung
und die hohe stilistische Vollendung. Muster dieser Gattung dürfte sein
der Brief Gates ah Cicero Ep. 15, 5 und dessen Antwort 15, 6. Der grösste
Teil dagegen, besonders die an Atticus gerichteten, sind ohne Rücksicht
auf die „Folgezeit'' geschrieben. Diese Dokumente spiegeln daher das
Seelenleben Giceros mit seinen Schwächen, Schwankungen, Kleinlichkeiten
und Eitelkeiten in einer Weise, dass die guten Seiten ausserordentlich
zurücktreten. Man wird kaum, wenn man diese Briefe gelesen, von Gice-
ros Persönlichkeit eine hohe Meinung festhalten können. Ausser Gicero
lernen wir aber noch eine stattliche Schar anderer Berühmtheiten jener
Zeit aus den Briefen kennen. In dieser Hinsicht sind uns besonders die
Briefe sehr willkommen, welche nicht von Gicero herrühren. Die Indivi-
dualität der Briefschreiber tritt in der Regel klar zu Tage, man lese nur
die Briefe des leichtfertigen Gaelius, den schönen Brief des Matius Ep. 11,
28, die anmutige Erzählung des Juristen Sulpicius Rufus Ep. 4, 12. Über-
haupt sind die Briefe, welche sich vom Jahr 68 — 43, allerdings nicht un-
unterbrochen, erstrecken, eine reiche Fundgrube für die Zeitgeschichte,
wenn wir auch viel Kleinliches dabei in den Kauf nehmen müssen. Eben-
so fällt auf das litterarische und soziale Treiben der damaligen römischen
Gesellschaft durch die Briefe ein helles Licht. Endlich sind die Samm-
lungen für die Erkenntnis des lateinischen Briefstils und der römischen
Umgangssprache die Hauptquelle. Wir haben hier den Brief in allen
seinen Formen vor uns; es begegnet uns das rasch hingeworfene Billet,
die sich gehen lassende Plauderei, das abgemessene, wohlerwogene, für die
Öffentlichkeit bestimmte Schreiben, der in festem Geleise sich bewegende
Empfehlungsbrief, endlich sogar die Abhandlung in Briefform. Die Um-
gangssprache mit ihrer Beimengung griechischer Brocken zeigt uns den
grossen Abstand von der Schrift-sprache.
Geschichte der Überlieferung der Briefe. Die Überlieferang der General-
korrespondenz erfolgt getrennt von der der Spezialkorrespondenzen. In Italien knüpft sich
die Wiederaoffindung der Ciceronischen Briefe an den Namen Petrarca. Derselbe stiess
in Verona etwa 1340 auf eine Handschrift, welche Ciceronische Briefe enthielt; nach seinen
Citaten waren es die Spezialkorrespondenzen. Diese schwer leserliche Handschrift schrieb
Petrarca mit eigener Hand ab. Weder Original noch Kopie ist erhalten. Etwa 1390 hatte
der florentinische Staatssekretär Coluccio Salutato erfahren, dass der Herzog von Mailand,
Visconti, Handschriften aus den Bibliotheken von Verona und Vercelli erhalten und dass
unter diesen Handschriften auch die von Petrarca benützte Cicerohandschrift sich be-
finde, femer dass eine Handschrift von Vercelli Ciceronische Briefe enthalte. Als nun
Salutato um eine Abschrift Ciceronischer Briefe bat — er hielt die Sammlungen der beiden
CioeroB philosophifloho Sohriften. 243
Handschriften fOr identisoh — und sie empfing, waren es ganz andere Briefe als die Petrarca
bekannt gewordenen; es war die Generalkorrespondenz. Nun Hess sich Salutato auch die
Veroneser Handschrift, d. h. die Spezialkorrespondenzen abschreiben. Beide fOr Salutato
gemachten Abschriften sind uns erhalten, das apogr. des Yeronensis in cod. 49, 18 der
Laurentiana und das apogr. des Yercellensis im cod. 49, 7. Beide hielt man bisher
irrig für Kopien von der Hand Petrarcas. Auch das Original der Generalkorrespon-
denz, der Yercellensis, ist in die Laurentiana gekommen; es ist dort die Handschrift 49, 9.
Sonach f&hrt die italienische Überlieferung auf zwei Quellen, ftlr die Generalkorrespon-
denz auf 49, 9 (aus dem Ende des s. IX.), fQr die Spezialkorrespondenzen auf 49, 18. Lange
Zeit hat man nur diese Textesquellen als die einzigen zu Grunde gelegt. Jetzt steht aber
fest, dass noch andere Kanäle der Überlieferung vorhanden waren. Fflr die Generalkorre-
spondenz kommt ausser andern Handschriften bes. der Harleianus 2682 für B. IX — XYI in
Betracht, der zwar demselben Archetypos wie 49, 9 entstammt, von ihm aber unabhängig
ist. Für die Gruppe der Spezialkorrespondenzen sind als unabhängige Quelle einzelne
Bl&tter einer Würzburger Handschrift s. £X (vgl. die letzte übersichtliche Zusammenstellung
der erhaltenen Reste und ihrer Bearbeiter von G. Schbpss im XX. Bd. der bayr. Gymna-
sialbl.) erkannt worden. Mit denselben stimmen auffallend überein die Randnoten, welche
sich in Cratanders Ausgabe d. J. 1528 finden. Auch der jetzt verlorene Tomaesianus ist
von 49, 18 unabhängig. — Yoiot, Über die handschr. Überlieferung von Ciceros Briefen, Be-
richte Sachs. Gesellsch. d. Wissensoh. 1879 p. 41 — 65. Yibbtel, Die Wiederauffindung von
Ciceroe Briefen durch Petrarca, Königsb. 1879. Ygl. Fleckeis. J. 1880 p. 231. 0. £. ScHxmr,
Die handschriftliche Überlieferung der Briefe Ciceros an Atticus u. s. w., Abhandl. sächs.
Gesellsch. d. Wissensch. 1888 p. 273—880.
Ausgaben: Af. T. Ciceronis epistolae. Rec. Wesbnbbro, 2 vol., Leipzig 1880 (der
Apparat nicht durchsichtig genug, scharfsinnige Emendation). M, T, Cieeronis epistolarum
Cid Atticum. Rec. J. C. G. Boot, 2 vol., Amsterd. 2. Aufl. 1886 (für die Erklärung von
Wichtigkeit). Auswahl mit deutschen Anmerkungen von Fr. Hofmanh, SOpfle, Fbey.
Chronologische Untersuchungen: Gbubbb, de tempore atque aerie epistolarum
Cic, Stralsund 1836. Nakb, Über den Briefwechsel zwischen Cicero und Caelius, Fleokeis.
89, 60; de M. Caeli Ruft epist. in Symh, phüolog. Bonn, in hon, Ritschelii p. 373; De Planet
et Ciceronis epistutis, Ben. 1866 ; Der Briefwechsel zwischen C. und D. Brutus, Fleckeis. J.
Suppl. VHl p. 647. ScmcHB, Zu Ciceros Briefen an Atticus, Berlin 1881 und 1888; Hebmbs
18, 588. 0. £. Schmidt, de episttdis et a Casaio et ad Caattium post Caesarem occisum datis,
Leipz. 1877; Zur Chronologie der Korrespondenz Ciceros seit Caesars Tod Fleckeis. J. 129, 331.
Moll, de tempoHbus epistularum TuUian., Berlin 1883. Schbllb, de M, Antonii epistulis
p. I, Frankenb. 1883. Stbbitkopf, quaestiones .... de episttdis (50—49), Marb. 1884.
Kobbnbb, de epistulis Cic. quaestiones chronologiae {hl — 54), Leipziger Diss. 1885. Rauschbk,
Ephemerides TuUianae (von 58—54), Bonn 1886. Ziehbn, Eph, Tüll, (49—48), Budap. 1887.
(f) Ciceros philosophische Schriften.
158. De republica 1. VI. In dieser nur in Fragmenten erhaltenen
Schrift wird die Frage behandelt, welche Staatsform die beste sei. Es
geschieht dies in Form eines Gesprächs, das im J. 129 im Garten des
jüngeren Scipio Africanus stattgefunden haben soll. An dem Gespräche,
dessen Leitung Scipio übernommen, beteiligten sich noch Q. Aelius Tubero,
P. Rutilius Rufus, L. Furius Philus, C. Laelius, Spurius Mummius, die
Schwiegersöhne des Laelius C. Fannius und Q. Mucius Scaevola und der
Jurist M\ Manilius. Das Gespräch will Cicero von P. Rutilius Rufus ge-
hört haben, als er bei ihm in Smyrna verweilte. Dem Gespräch geht eine
Einleitung voraus, in der auseinandergesetzt wird, dass es Pflicht sei, sich
am Staatsleben zu beteiligen.^) Das Gespräch selbst nimmt seinen Anfang
von der eben vorgekommenen Erscheinung der „duo aoles**, dann wendet
sich dasselbe zur Frage nach der besten Staatsform. Scipio erörtert zu-
erst die den Staat konstituierenden Elemente, dann führt er die drei Ver-
*) 1,7, 12 haec pluribus a me verbis dicta
sunt ob eam causam, quod his libris erat
instituta et suscepta mihi de re publica dis^
putatio; quae ne frustra haberetur, duhi-
tationem ad rempublicam adeundi in
primis debui tollere,
16*
244 RömlBche Litteraturgeschichte. I. Die Zeit der Bepublik. 2. Periode.
fassungsfonnen, die monarchische, die aristokratische und die demokratische,
vor; die beste Verfassung ist ihm diejenige, welche aus den drei Grund-
formen gemischt ist. Das Muster einer solchen Verfassung ist die römische,
das zweite Buch gibt die geschichtliche Entwicklung derselben. Im dritten
Buch, von dem Augustin de civitate dei 2, 21 eine Inhaltsübersicht gibt,
verlässt das Gespräch den historischen Boden und wendet sich wiederum
theoretischen Betrachtungen zu; das Problem, das jetzt behandelt wird,
ist die Gerechtigkeit ; dieselbe wird von Philus als Vertreter einer fremden
Anschauung verworfen, von Laelius dagegen verteidigt. Jetzt greift
wiederum Scipio in das Gespräch ein und führt den Gedanken durch, dass
eine Staatsform nur in Verbindung mit der Gerechtigkeit ihre Existenz
habe. Das vierte Buch handelt über die ethischen Einrichtungen und die
Erziehung im Staatsleben. In dem fünften Buch war die Rede von der
Ausbildung des Staatslenkers (redor verum publicarum). Über den Inhalt
des sechsten Buchs sind wir fast ganz im Dunkeln, obwohl uns ein grosses
Stück, der Traum des Scipio, durch Macrobius, der ihn kommentierte, er-
halten ist. Durch denselben wird den Männern, die sich um das Vater-
land verdient gemacht, hoher Lohn auch im Leben nach dem Tode zu teil.
Seinen Stoff entnimmt Cicero zumeist aus griechischen Quellen, doch bot
ihm manches auch seine politische Wirksamkeit.
Die Entstehungsgeschichte des Werks können wir aus dem ciceroni-
schen Briefwechsel abnehmen. Dasselbe wurde begonnen im Mai des J. 54
auf dem Cumanum und dem Pompeianum. Allein die Arbeit schritt nur
langsam fort, öfters änderte Cicero Plan und Komposition. ^) Im Oktober
waren zwei Bücher fertig, das Ganze sollte aber neun Bücher werden,
welche die Gespräche von neun Tagen umfassten. Als er die fertig ge-
wordenen Bücher Sallust vorlas, fand derselbe die Einführung toter Per-
sonen anstössig und wünschte Cicero als Sprecher. Er beabsichtigte nun,
sich und seinen Bruder Quintus als Redende einzuführen. Allein er führte
diesen Plan nicht durch, nur soviel ward an der früheren Komposition ge-
ändert, dass statt der neun Tage nur drei angesetzt wurden (Lael. 4, 14)
und jeder Tag zwei Bücher zugewiesen erhielt. Allein bis zur Vollendung
oder wenigstens bis zur Bekanntmachung des Werkes gingen noch einige
Jahre hin; erst im Jahre 51 las es Atticus (ad Attic. 5, 12, 2), auch schrieb
um diese Zeit Caelius an Cicero, dass die Bücher allgemein gelesen werden
(Ep. 8, 1,4).*) Im J. 50 erfuhr Cicero aus dem Briefwechsel mit Atticus,
dass seinem Freunde das Werk sehr gefiel.
Das Werk war dem Mann gewidmet (1, 8, 13), mit dem er als einem
adolescentulus ^) von P. Rutilius Rufus das Gespräch in Smyrna vernommen
haben will ; die Erwägung aller Umstände führt auf seinen Bruder Quintus.
*) Aus den Worten de div. 2, 1, 3 hU
Ubris adnumeraftdi sunt sex de republica,
quo8 tum scripsimus, cum gubemacula rei"
publicae tenebamus will Richabz, De Politi-
carum Cic, Uhrorum tempore natali, W2bg.l829
p. 9 schliessen, dass Cicero in seinem Kon-
snlatsjahr oder 1 — 2 Jahre nach demselben
den Bohentwurf gemacht und im J. 54 erst
diesen in die dialogische Form gebracht habe.
Allein diese Ansicht ist nnhaltbar; der Aus-
druck gubemacula reipublicae tenebamus
braucht nicht in dieser engen Bedeutung
gefasst zu werden.
*) Im wesentlichen hat bereits Richabz
1. c. p. 13 dies hervorgehoben.
*) Es kann deshalb nicht an Atticus
gedadit werden; denn Cicero konnte wohl
nur dann die Jugend seines Begleiters ein-
CioeroB philosophische Schriften.
245
Den Inhalt der zwei ersten Bücher gibt Scipio an 2, 39, 65 de optima autem statu
equidetn arbitrabar me satis respondisse ad id, quod quatsierat Laelius Primum enim
numero definieram genera civUatum tria probabilia, perniciosa autem tribus Ulis totidem
contraria, nuUumque ex eis unum esse Optimum, sed id praestare singulis, quod e tribus
primis esset modice temperatum. Quod autem exemplo nostrae civitatis usus sum, non ad
definiendum Optimum statum valuit — nam id fieri potuit sine exemplo — sed ut dvit^Ue
maxima reapse cemeretur, quate esset id, quod ratio oratioque describeret.
Die EniBtehungsgeechichte des Werks beleuchtet besonders folgende, Ende Oktober
oder Anfang November 54 geschriebene Stelle (ad Q.fr. 3, 5, 1): Quod quaeris, quid de Ulis
libris egerim, quos cum essem in Cumano, scribere institui, non cessavi neque cesso, sed
saepe iam scribendi totum consilium raiionemque mutavi; nam iam duobus f actis libris, in
quibus novendialibus iis feriis, quae fuerunt Tuditano et Aquilio consulibus, sermo est a
me institutus Africani paullo ante mortem et Laelii, Phili, Manilii, F. Rutilii, Q. Tuberonis
et Laelii generorum, Fannii et Scaevciae, sermo autem in novem et dies et libros distributus
de optima statu civitatis et de optima cive — ii libri cum in Tusculano mihi legerentur
audiente Salfustio, admonitus sum ah illo multo maiore auctoritate Ulis de rebus dici passe,
si ipse loquerer de re publica, praesertim cum essem non Heraclides Ponticus, sed consularis
et is, qui in maximis versatus in re publica rebus essem; quae tam antiquis hominibus attri'
buerem ea visum iri ficta esse; oratorum sermonem in Ulis nostris libris, qui essent de
ratione dicendi, belle a me removisse, ad eos tamen rettulisse, quos ipse vidissem; Aristotelem
denique, quae de re p^iblica et praestanti viro scribat, ipsum loqui. Commovit me, et eo magis,
quod maximos motus nostrae civitatis attingere non poteram, quod erant inferiores quam
iüorum aetas, qui loquebantur; ego autem id ipsum tum eram secutus, ne in nostra tem-
pora incurrens offenderem quempiam. Nunc et id vitabo et loquar ipse tecum, et tamen Uta,
quae institueram, ad te, si Romam venero, mittam. (Andere Stellen Tauchnitzausg. p. 145.)
Von der Schrift waren bis zu unserm Jahrhundert nur einzelne Citate und der Traum
des Scipio bekannt; Ajvoblo Mai entdeckte in dem vatikanischen Palimpsest 5757 grössere
Bmchst&cke des Werks und gab dieselben 1822 heraus.
Litteratur: M. TuUii Ciceronis de republica quae supersunt, £d. A. Mai, Stuttg.
1822. (Über den Palimpsest vgl. Franoken, Mnemos. 1885 p. 288. Pfaff, de diversis
manibus quibus Ciceronis de republica libri in codice Vaticano correcti sunt, Heidelb. 1883.)
Ausgaben von Heikrich (Bonn 1823), Stbikackeb (Leipz. 1823), Moser (Frankf. 1826),
OsAim (Götting. 1847). Das Somnium Scipionis mit deutscher Erklärung von C. Meissner
(Teubner). Zachariab, Staatswissensch. Betrachtungen Ober Ciceros Werk vom Staate,
Heidelb. 1823. Schubert, Quos Cicero in libro I et II de republica auctores secutus esse
videatur, Würzb. 1883. Corssen, De Posidonio — in somnio Scipionis auctore, Bonn 1878.
169. De legibus 1. m. Ausdrücklich als Ergänzung zu den Büchern
über den Staat schrieb Cicero, dem Beispiel Piatos folgend, die über die
Gesetze. Auch sie haben dialogische Einkleidung. Cicero unterhält sich
mit seinem Bruder Quintus und mit Atticus zuerst in den schattigen Spazier-
gängen seines Landgutes bei Arpinum, dann vom zweiten Buch an auf der
nahen Insel des Flusses Fibrenus (2, 1, 1 2, 3, 6). Für das Gespräch war
ein Tag bestimmt (2,27,69). Erhalten sind uns drei Bücher, und auch
diese nicht ohne Lücken (1,22,57 2,16,41 2,21,54 3,8,18). Im ersten
Buch wird der Satz durchgeführt, dass das Recht von der Natur stammt;
im zweiten werden die sakralen Gesetze aufgestellt und erklärt, im
dritten die Behördenorganisation dargelegt und erläutert. Die entworfenen
Gesetze sind in altertümelnder Sprache abgefasst. Das Werk ist nicht
vollendet; Macrobius 6, 4, 8 citiert noch ein fünftes Buch. Am Schluss des
dritten wird eine Untersuchung „de potestatum iure*' angekündigt. Wie viel
Bücher es waren, wissen wir nicht. Die Quellenfrage bedarf für diese Schrift
noch einer genaueren Erörterung; soviel ist aber sicher, dass auch hier
seiüg hervorheben, wenn derselbe jünger war
als er selbst; Atticus war aber nm 3 Jahre
älter. Auch hat Cicero im Brutus 3, 14 — 4, 16,
wo er von dem ihm dedicierten annalis
spricht, mit keiner Sübe angedeutet, dass
ein Gegengeschenk vorliege, im Gregenteil
er stellt eine Gegenleistung in Aussicht.
(Wachsmutb, Leipz. Stud. 11, 197.)
246 Bömische Litteratnrgesohiohte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
zumeist griechische *) Quellen voriagen (3,5,13 3,6,14 2,6,15 1,21,55).
Für die Zeit des Gesprächs muss das Intervallum Jan. 52 bis Mai 51 an-
gesetzt werden; denn 2, 17, 42 setzt den Tod des Clodius voraus, der Jan. 52
erfolgte, im Mai 51 begab sich aber Cicero in seine Provinz Gilicien, also
konnte er später nicht wohl eine Unterredung auf dem Arpinum ansetzen.
Es scheint aber, dass auch in dieser Zeit das Gespräch geschrieben wurde;
denn die Leges hängen ja aufs innigste mit den Büchern über den Staat
zusammen und in den letzteren wird fortwährend auf die ersteren Bezug
genommen. Allein zum Abschluss kamen diese die Republik ergänzenden
Bücher damals nicht; sie lagen dem Publikum nicht vor im J. 46, denn sonst
hätte Ätticus (Brutus 5, 19) nicht sagen können, dass Cicero seit den Büchern
über die Republik nichts mehr veröffentlichte ; selbst in den Jahren 45 und 44
schweigt noch Cicero von denselben, weder in der Einleitung zu dem vierten
Buch der Tusculanen noch in der Vorrede zu dem zweiten Buch der
Divinatio spricht er von ihnen. Man darf daher die Vermutung aussprechen,
dass diese Bücher gar nicht von Cicero herausgegeben, sondern erst aus
seinem Nachlass veröffentlicht wurden. Auch steht nicht einmal das fest,
ob sie überhaupt ganz zum Abschluss kamen. Wenigstens scheint aus
Ep. 9,2,5 hervorzugehen,^) dass Cicero noch im J. 46 mit dem Werk be-
schäftigt war.
Cicero verweist anf de republica: 1, 5, 15 quoniam scriptum est a te (sagt Atticus)
de optima reipublicae statu, eonsequens esse videtur, ut scr%b<%s tu idem de legibus, 1, 6, 20
1, 9, 27 2, 10, 23 3, 2, 4 3, 5, 13 3, 17, 38.
Leitende Stellen: 1,6,20 repetam stirpem iuris a natura, qua duce nohis omnis est
disputatio explicanda. 1, 10, 28 nihil est profecto praestabilius quam plane inteUegi nos ad
iustitiam esse natos, neque opinione, sed natura constitutum esse ius. 2, 4, 8 videamus prius-
quam adgrediamur ad leges singutas^ vim naturamgue legis, 2, 7, 17 exprome (sagt Quintus
Cicero), si placet, istas leges de religione, worauf Cicero unter anderem erwidert: leges a
me edentur non perfectae (nam esset infinitum) sed ipsae summae rerum aique sententiac.
Am Schluss des zweiten Buchs hodierno sermone conficiam, spero, hoc praesertim die;
Video enim Platonem idem feeisse, omnemque orationem eius de legibus peroratam esse uno
aestivo die. Sic igitur faeiam et dicam de magistratihus; id enim est profecto, quod con-
stituta religione rem publicam contineat maxime. Am Schluss des dritten Bucns heisst es
3, 20, 47 de iudiciis arbiträr (dicendum); id est enim iunctum magistratibus\ 3, 20, 48
faciendum tibi est, ut, magistratihus lege constitutis de potestatum iure disputes.
Üher die Zeit der Abfassung handelten Chafmak, Dissert, de aetate chronol, — in
TunstaU Ep, ad Middleton, Cambr. 1741, der die Schrift etwa 44 ansetzt; gleicher Ansicht
ist Peteb in seiner Ausg. des Brutus p. 270, der die Schrift nach Brutus entstanden sein
lässt. Dagegen FbldhÜoel Ausg. p. XaYI. Vgl. DBUMAim 6, 105. Horrmaitn, de tempore,
quo — scripsisse videatur, Detm. 1845.
Die Überlieferung beruht auf den beiden Yossiani 84 und 86, der Heinsianus 118
hat denselben gegenüber nur die Bedeutung einer Ergänzung da, wo die Lesarten der
beiden ersten Codices nicht sicher eruiert werden können.
Xitteratur: Ausgaben von Davis (neu besorgt von Rath), Halle 1809; Moser und
Cbeuzer, Frankf. 1824; Bake, Leyden 1842; Feldhüoel, Zeitz 1852. Massgebende kritische
Ausg. von Vahlen, 2. Aufl. 1883. Mit deutscher Erklärung von Du Mesnil (Teubner).
Über die entworfenen Gesetze und die altertfimelnde Sprache handelt Jordan, Krit. Beitr. p. 230.
160. Paradoxa Stoicomm ad M. Bmtum. Durch diese Schrift will
') über Antiochus als Quelle vgl. Hoter,
De Antiocho p. 15.
') Cicero will, si nemo utetur opera, tarnen
et scribere et legere noXireiag et si minus
in curia atque in foro, at in litteris et libris
— gubernare rem publicam et de moribus
ac legibus quaerere. Vielleicht ist auch
hieher zu ziehen eine SteUe eines Briefs ad
Attic. 13, 22, 1 aus dem Jahre 45 te autem
düfASvaitaxa intexui (nämlich in den Acade-
mica) faciamque id crebrius. In den Leges
ist ja Atticus redend eingeführt.
Cioeros philosophisohe Sohriften. 247
Cicero zeigen, dass man auch Sätze, welche mit dem gewöhnlichen Be*
wosstsein in Widerstreit stehn {naqddo^a^ admirabäia), rhetorisch behandeln
und verständlich machen kann. Es sind folgende Paradoxa: 1) Das sitt-
lich Gute ist das alleinige Gut (§ 9); 2) die Tugend ist für das Glück
ausreichend (§ 19); 3) alle Vergehen und alle guten Handlungen sind sich
gleich (§21); 4) von dem vierten Paradoxon, dass der Thor allein wahn-
sinnig ist, sind nur einige Worte des Anfangs erhalten; von dem folgenden
ist der Anfang verloren ; es lautet: der Weise ist allein Bürger, die Thoren
dagegen sind Verbannte (§ 31); 5) der Weise ist allein frei (§ 34); 6) der
Weise ist allein reich (§ 52). Die Kunst der Behandlung zeigt sich be-
sonders in der Anwendung der Frage und des Beispiels. Philosophischer
Wert ist dem Schriftchen nicht beizumessen; es ist eine rhetorische Übung.
Für die Zeit der Abfassung ist die Vorrede entscheidend; hier ist von
Cato als einem noch Lebenden die Rede; Cato tötete sich aber im April
d. J. 46. Sonach muss das Schriftchen vor diese Zeit fallen; aber es muss
nach dem Brutus geschrieben sein, denn Brutus 5, 19 wird ausdrücklich
gesagt, dass zwischen der Republik und dem Brutus kein Werk inmitten
Hegt. Der Brutus ist aber ebenfalls im J. 46 geschrieben. Da nun § 5
der Vorrede auf das Frühjahr hinweist, so werden wir als Entstehungszeit
des Traktates Frühjahr 46 ansetzen.
Den Charakter der Schrift bestimmt der Verfasser in der Vorrede: ego tibi Ula ipsa,
quae vix in gymnasiia et in otio Staici probant, ludena conieci in communes locos, Quae
quia sunt admirdbUia contraque opinionem omnium, temptare volui possentne proferri in
lucem et ita dici, ut probarentur, an alia quaedam esset erudita, alia popularis oratio,
eoque hos locos scripsi libentius, quod mihi ista nagddoia quae appeUant maxime videntwr
esse Socratica longeque verissima. Äccipies igitur hoc parvum opusculum his iam eon-
tractioribus noctibus, quoniam illud maiorum fHgiliarum munus in tuo nomine ap-
paruit, et degustabis genus exercitationum earum, quibus uti consuevi, cum ea, quae dieuntur
in scholis &erixt5s, ad nostrum hoc Oratorium transfero dicendi genus.
Ober die Überb'eferung vgl. zu § 164 p. 253.
Litteratur: Mobobnstebn, Prolegomena in P, in Fbiedemanks nnd Sbebodbs Mise,
crit. 1, 386. Ausgaben von Obblli (mit den Tusculanen), Zürich 1829. Mosbb, Gott. 1846.
161. De finibus bonomm et malomm 1. Y. Als die relativ be-
deutendste philosophische Schrift Ciceros wird das dem M. Brutus gewid-
mete Werk in fünf Büchern über das höchste Gut und Übel betrachtet.
Er schrieb dasselbe im J. 45 auf seiner Villa in Astura. Wir erhalten
in dem Werk drei der Zeit und dem Ort nach verschiedene Gespräche.
Das erste Gespräch fand angeblich statt im J. 50 auf der ciceronischen
Villa in Cumae. Der Hauptredner ist L. Manlius Torquatus, welcher die
epikureische Lehre vom höchsten Gut im ersten Buch entwickelt ; ihm ent-
gegnete Cicero im zweiten Buch. Der dritte Teilnehmer am Gespräch,
G. Valerius Triarius, hält sich ganz im Hintergrund. Das zweite Gespräch
wird in das Jahr 52 verlegt; als Ort der Unterredung das Tusculanum
des LucuUus angenommen. M. Cato entwickelt im dritten Buch die stoische
Doktrin vom Thema; ihm entgegnet wiederum Cicero im vierten Buch vom
akademischen Standpunkt aus, besonders den Gedanken durchführend, dass
die stoische Doktrin im wesentlichen mit der alten peripatetisch-akademi-
schen im Einklang stünde. Das dritte Gespräch wird im J. 79 in Athen
gehalten; hier vertritt im fünften Buch M. Pupius Piso vor Cicero und
andern die Lehre der Akademiker und Peripatetiker vom höchsten Gut
248 BOmiflche LitteratnrgeBohichte« I« Die Zeit der Bepablik. 2. Periode.
nach der Anleitung des Antiochus; auf seine Darlegung wird von Cicero
nur weniges erwidert. Aus dieser Skizze ersieht man, dass im vierten
und fünften Buch zum grossen Teil dieselben Dinge behandelt werden
mussten. Auch das erhellt selbst bei oberflächlicher Lektüre, dass ein
selbständiger Aufbau und eine philosophische Durchdringung des Stoffs
nicht stattgefunden. Der Schwerpunkt der Schrift ruht in der Yergleichung
der verschiedenen Theorien, aber auch hier vermisst man oft eine tiefere
Begründung der ethischen Prinzipien aus dem ganzen philosophischen
System heraus. Auch in diesem Buch ist Cicero seiner Methode, philo-
sophische Schriften zusammenzuschreiben, treu geblieben; er kompiliert
einige Handbücher. Dadurch ist es gekommen, dass oft der dogmatische
und der polemische Teil gar nicht miteinander harmonieren, ^ weil eben
die ausgeschriebenen Handbücher nicht für einander berechnet waren. Diese
Handbücher mit Sicherheit zu ermitteln, ist nicht möglich. Fest steht,
dass im vierten und fünften Buch eine Schrift des Antiochus von Ascalon
benützt ist. Bezüglich der anderen Bücher sind nur Vermutungen gestattet.
Die Form des Werks ist der aristotelische Dialog, d. h. der Scheindialog.
Über den Titel der Scbrift gibt Aufschluss 5, 8, 23 haec quaestio de finibus et quasi
de extremis bonorum et malorum. 3, 7, 26 sentis, credo, me tarn diu, quod riXog Graeci
dicunt, id dicere tum extremum, tum ultimum, tum aummum; licebit etiam finem pro ex-
tremo aut ultimo dicere, 3, 17, 55 2, 2, 4.
Das Ziel legen dar die Stellen: 1,4, 11 his libris quaeritur, qui sit finis, quid ex-
tremum, quid ultimum, quo sint omnia hene vivendi recteque faciendi eonsilia referenda,
quid sequatur natura ut summum ex rebus expetendis, quid fugiat ut extremum malorum?
1, 4, 12 hane omnem quaestionem de finibus bonorum et malorum fere a nobis expHcatam
esse his litteris arbitramur, in quibus, quantum potuimus, non modo quid nobis probaretur,
sed etiam quid a singulis philosophiae disciplinis diceretur, persecuti sumus.
Die Zeit der Entstehung gibt uns der Briefwechsel an Atticus an die Hand. Im
Juli 45 schreibt Cicero (13, 21, 4): scripsit BaUms ad me se a te quintum „de finibus^ librum
descripsisse, in quo non sane muUa mutavi, sed tamen quaedam; tu autem eommode feceris,
si reliquos continueris, ne et adioQ&oita habeat Balhus et iwXa Brutus; ebenda § 5 mirifice
CctereUia studio videlicet philosophiae fiagrans describit a tuis: istos ipsos „de finibus** habet.
Die Quellenfrage behandelt Hibzbl, Untersuchungen ü. Teil 2. Abt. p. 567 — 721.
Dass fOr das 5. Buch Cicero Antiochus ausgescluieben, erhellt aus 3, 8 5, 14 6, 16
Carneadia nobis adhibenda divisio est, qua noster Antiochus libenter uti solet, 27, 81 sdo
ab Antiocho nostro dici sie solere. Madyios Annahme einer zweiten Quelle beseitigt Hibzel
p. 691. Auch fOr das 4. Buch ist Antiochos Quelle, nur die am Schluss stehende Kritik
der stoischen Paradoxa (27, 74) will Hibzel p. 629 ausgenonunen wissen. Im 1. Buch folgt
Cicero einem jüngeren Epikureer, sei es dass dies Zeno oder Philodem war (Hibzel p. 690).
Die Kritik der epikureischen Lehre im 2. Buch will Madvig auf Chrysippus, Zietzsohxakn,
de Tusc, fontibus p. 8 auf Panaetius, Hibzbl auf dieselbe Schrift des Antiochos zurück-
führen, der auch das 4. und 5. Buch entnommen ist (p. 656). Als QueUe des 3. Buchs
wurde von Pbtebsen Chrysippus, von Madvig Diogenes oder doch ein Anhänger desselben,
für einzelne Teile aber Chiysippus und Panaetius oder Posidonius aufgesteUt (Excurs. V
p. 845). Hibzel dagegen kommt durch seine Untersuchung auf Hecaton als Quelle (p. 619).
Hoyeb, de Antiocho ^. 1 — 10 nimmt weitgehende Benutzung des Antiochus an.
Die grossen Schwächen in der philosophischen Au&assung berührt auch Madvig
Ausg. p. LXY.
Überlieferung: Die besten Textesquellen sind vor allem der Codex Palatinus
Vaticanus nr. 1513 s. XI, der bis 4, 7, 16 reicht, dann die auf eine Quelle zurückgehenden
Palatinus-Vaticanus 1525 s. XY und Erlangensis nr. 38 s. XV.
Litteratnr: Enochemachende Ausg. von Madvig 3. Aufl., Kopenh. 1876. Englische
Ausgabe von Reid 3 Teile, Cambridge 1883; von Holstein (Teubner).
162. Academica. Im Jahr 45 schrieb Cicero die akademischen Unter-
suchungen in zwei Büchern. Die Hauptträger des angeblich zuerst auf
0 Hibzel 1. c. p. 628 und p. 636.
Ciceros philoBophisohe Schriften. 249
einer Villa des Catulus an der campanischen Küste, dann am folgenden
Tag auf der Villa des Hortensius bei Bauli gehaltenen (pr. 3, 9) Gesprächs
waren Q. Lutatius Catulus (Gons. 78), der Sohn des aus dem Cimbemkrieg
bekannten Catulus, und L. Licinius Lucullus (Cons. 74), als Nebenpersonen
erschienen Hortensius und Cicero selbst. Die beiden Bücher wurden nach
den beiden Hauptpersonen Catulus und Lucullus genannt. So liess Atticus
die Bücher abschreiben. Die Erkenntnis, dass Catulus und Lucullus sich
nicht als Träger der spinösen Untersuchungen eigneten, führte ihn zu
einem neuen Plan, die Hauptrollen dem Cato und dem M. Brutus zuzuteilen.
Allein kaum war dies geschehen, so stellte sich die Notwendigkeit ein,
das Werk noch durchgreifender umzugestalten. Cicero hatte nämlich von
Atticus erfahren, dass der Polyhistor Varro den lebhaftesten Wunsch hege,
Cicero möge ihn durch eine Schrift auszeichnen. Daraufhin erweiterte
Cicero das Werk zu vier Büchern und gab dem Varro eine hervorragende
Stelle, ausserdem beteiligten sich noch am Gespräch, das auf die varro-
nische Villa bei Cumae verlegt wird, Cicero und Atticus. Mit einem uns
in der Ep. 9, 8 erhaltenen Dedikationsschreiben wurden die Bücher an
Varro geschickt. Dem Publikum lagen jetzt zwei Ausgaben vor. Von
der ersten Bearbeitung (Äcademka priora) haben wir das zweite Buch,
den Lucullus, von der zweiten (Academica posteriora) ist uns das erste
Buch (freilich nicht vollständig) erhalten und mehrere Fragmente. Das
Werk behandelt das Problem der Gewissheit der Erkenntnis. In dem
zweiten Buch der ersten Bearbeitung verteidigt Lucullus die Möglichkeit
der Erkenntnis, er schliesst sich hier dem Antiochus und zwar höchst-
wahi*scheinlich dem Sosus desselben an; der Darlegung des Lucullus folgt
Cicero mit einer Verteidigung der Skepsis, wohl im Anschluss an eine
Schrift Philons. In dem Fragment der späteren Bearbeitung gibt Varro
einen Abriss der philosophischen Schulen bis auf Carneades. Auch hier
folgt er dem Antiochus.
Einige Stellen Aber die Komposition des Werks: ad Attic. 13, 19, 4 quae his Um-
poribus acripsij 'JfftaxojäXeioy morem habentf in quo sermo ita indueUur ceterorum, ut penes
ip9um 8Ü principatua. — Haec Academica, ut acis, cum Catulo, LucuUo, Hortensie contu-
leram. 13, 32, 2 Tarquatus Romae est: misi, ut tibi daretur, CkUulum et LucuÜum, ut
opinw, antea: his liSris novo prooemia sunt addita, quibus eorum uterque laudatur. Nach
Krischb, Gott Stud. p. 140 wftren diese Prooemien erst hinzugesetzt worden, nachdem die
Bficher bereits vom Fubliknm gelesen waren. 13, 16, 1 quia na^d to nf^inov videbatur,
quod erat haminibus nota non üla quidem anatdevaia, sed in iis rebus aiQi^ia, simul ac
reni ad viUam, eosdem illos sermones ad Catonem Brutumque transttäi, 13, 12, 3 ergo illam
^AxadrifAlxrjv y in qua homines nobiles Uli quidem, sed nullo modo philoloffi nimis acute
loquuntur, ad Varronem transferamus , etenim sunt Äntiochia, quae iste valde prob<U.
13, 19, 3 aus dem J. 45 (Juli), dialogos (nämlich die akademischen) eonfeci et absolvi nescio
quam bene, sed ita aecurate, ut nihil possit supra, Academicam omnem quaestionem libris
quattuor. In eis, quae erant contra axaxaXijtffiay praeelare coUecta ab Antiocho, Varroni
dedi; ad ea ipse respondeo; tu es tertius in sermone nostro.
Das Verhältnis der beiden Ausgaben bespricht Cicero 13, 13, 1 commotus tuis litteris,
quod ad me de Varrone scripseras, totam Academiam ab haminibus nobilissimis absttUi,
transtuUque ad nostrum sodalem et ex duobus libris eontuli in quattuor: grandiores sunt
omnino, quam erant Uli, sed tarnen multa detracta. — Libri quidem ita exierunt — nisi
forte me communis fpiXaviia decipit — ut in UUi genere ne apud Graecos quidem simile
quidquam. Tu illam iacturam feres aequo animo, quod üla, quae habes de Academicis,
frustra descripta sunt; muUo tamen haec erunt splendidiora, breviora, meliora. Krische
(p. 188) bestimmt das Verhältnis näher dahin, dass das erste und zweite Buch der zweiten
Ausgabe dem Catulus, das dritte und vierte aber dem Lucullus entsprachen.
250 HOmisohe LitteraturgeBohichte. I. Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
Die Quellenfrage behandeln Kbische 1. c. p. 191 — 200; Hibzbl, Unters. 3, 251. Be-
züglich der Acad. pr, vgl. 4, 12 tum et Uta dixit ÄntiochuSf quae heri CtUtdus cammemoramt
a patre suo dicta Philini, et alia plura, nee se tenuit, quin contra auum doctorem librum
etiam ederet, qui Sosus inscribitur. Für die Erwiderung Ciceros hatte Kbibche (p. 194)
GlitomachuB und Chrysippus, femer eine historische Darstellung der Ansichten vom tdXog
(p. 195), Erantor negl niv^ovq (p. 196), Lucrez als Quellen angesehen. Dieser Vielheit
der Quellen gegenüber stellt Hibzbl den Satz auf (p. 318), dass eine Schrift Philons die
Quelle der ciceronischen Darstellung war; nur 32, 102 — 104 und 45, 137 sei eine Schrift
des Clitomachus eingesehen worden. Reid will Clitomachus als die Hauptquelle für die
ciceronische Erwiderung angesehen wissen. Die Partie 112 — 146 vindiziert dem Antiochus
HoTEB, De Antiocho p. 8. — Die Quelle der Aead. posteriora stellen die oben ausgehobenen
Briefstellen ausser Zweifel. Vgl. Kbische p. 199. (Sghwei^ke, Phil. Rundschau 4, 878.)
Überlieferung: Von den Acad. posteriora sind nur junge Handschriften vorhanden,
für die Acad. priora kommen in Betracht die beiden Vossiani 84 und 86, der Vindobonensis
189 und der Florentinus Marcianus 257 s. X (Ebbliito, Philol. 43, 705).
Litteratur: Ausgaben von Davis, Cambridge 1736. Obelli (mit de finibus), Zürich
1827. Reid, Cambridge 1874, zweite Aufl. 1885 (mit guter Einleitung).
163. Tusculanamm disputationum 1. V. In dieser dem Brutus ge-
widmeten Schrift haben wir fünf Gespräche über fünf Themata, welche an-
geblich nicht lange vorher in fünf Tagen auf seinem Tusculanum gehalten
wurden. Die fünf behandelten Themata der einzelnen Bücher sind folgende:
1) Von der Verachtung des Todes; 2) von der Ertragung des Schmerzes;
3) von der Milderung des Kummers; 4) von den übrigen Gemütsbewegungen;
endlich 5) dass die Tugend für das glückliche Leben sich selbst genüge.
Alle diese Disputationen werden durch den gemeinsamen Grundgedanken
zusammengehalten, yne der Mensch glücklich werden kann. Die Form der
Einkleidung ist die, dass von einer Persönlichkeit (A)^) eine These aufgestellt
wird, welche dann von einer zweiten (M) bekämpft wird. Diese fünf Thesen
enthalten die negative Fassung der obigen fünf Sätze.') Es sollte die
Wahrheit durch Rede und Gegenrede gefunden werden, allein der Form
der dialektischen Entvdcklung ist Cicero nicht gewachsen; denn nur zu
bald stellt sich der zusammenhängende Vortrag wieder ein. Eine andere
hervorstechende Eigentümlichkeit des Werkes ist die ungemein starke
Heranziehung von Dichterstellen. Dies hängt aber mit dem Charakter des
ganzen Werks zusammen, das eine populäre Lebensphilosophie geben will,
daher auch rhetorischen Charakter trägt. Dass Cicero nicht eigene Ge-
danken vorführt, ist selbstverständlich; welchen Quellen er aber folgt, ist
bei dem Mangel direkter Hinweise sehr schwer festzustellen.
Die Zeit der Abfassung ergibt sich wiederum aus dem Briefwechsel
mit Atticus; die Schrift wurde begonnen im J. 45, vollendet im J. 44.
1, 4, 7 hanc perfectam phUosophiam semper iudicavif quae de maximis quaestionibus
copioae posset ornateque dicere, in quam exercitationem ita nos studioae dedirnua, ut iam
etiam scholas Graecorum more habere auderemus; ut nuper tuum poet diseeaaum in Tua-
cuiano cum eaaent complurea mecum familiäres, temptatn, quid in eo genere poaaem, üt
enim antea declamitabam cauaaa, quod nemo me diutiua fecit, aic haec mihi nunc aenüia
est declamatio, Ponere iubebam, de quo quia audire vellet; ad id aut aedena aut ambulana
disputabam, Itaque dierum quinque acholas, ut Graeci appellant, in totidem libroa contuli.
Fiehat autem ita, ut, cum ia, qui audire vellet, dixiaaet, quid aibi videretur, tum ego contra
dicerem. Haec eat enim, ut acta, vetua et Socratica ratio contra dUeriua opinionem diaae-
') A. Spengel, Die Personenzeichen in
den Tusc. (Philolog. 48, 367).
') 1, 5, 9 malum mihi videtur eaae mora,
2, 5, 14 dolorem exisfimo maxumum malorum
omnium. 3, 4, 7 videtur mihi cadere in aa-
pientem aegritudo. 4, 4, 8 non mihi videtur
omni animi perturbationepoaae aapiena vacare,
5, 5, 12 non mihi videtur ad beate vivendum
aatia poaae virtutem.
Ciceroa philosophisolie SobrUtea.
251
rendi. Nam Ua facüUme quid veri similUmum esset, inveniri posse Socrates arbUmbatur.
Sed quo commodius dispulationes nostrae eacplicentur, sie eas exponam, quasi agatur res, non
q^Aosi narretur. Das Endziel aller fünf Gesprftche spricht er de dir. 2, 1, 2 aus: lihri Tus^
culanarum dispiUationum res ad heate vivendum maxime necessarias aperuerunt. Primus
enim (liber) est de cantemnenda morte, secundus de tolerando dolore, de aegritudine lenienda
tertius, quartus de reliquis animi perturhationibus, quintus — doeet ad beaie tnvendum
virtutem se ipsa esse contentam.
Über die Quellen unserer Schrift handelt 0. Heine, de fontibus TStsculanarum
disputationum, Weim. 1863, der die Quellen des 1. und 4. Buchs untersuchte.^) Da das
3. Buch in Bezug auf die Quellenfrage im grossen Ganzen mit dem 4. zusammenhängt, so
war das nächste, die Quellen des 2. und 5. Buchs zu untersuchen. Dieser Aufgabe unterzog
sich ZiSTZscHXAKK, De Tusc, disputationum fontibus, Halle 1868; er nahm als Quelle des
2. Buchs einen Brief des Panaetius an (p. 31), als Quellen des 5. für den ersten Teil
(c. 5 — 26) Posidonius (p. 51), fOr den zweiten (c. 29 — 31) Antiochus (p. 56), fOr den dritten
(c. 31—41) einen späteren Epikureer, etwa Phaedrus oder Zeno (p. 6o). Einen neuen Weg
schlug P. CoBSSEN ein {De Posidonio Bhodio — in libro I. Tusc, Disp. et in Somnio Scipionis
auctore, Bonn 1878); er stellt als Quelle des ersten Teils des 1. Buchs Posidonius hin.
Vgl. DiELS, Rh. Mus. 34, 487. In einer späteren Abhandlung (Rh. Mus. 36, 506) dehnt er
die Autorschaft des Posidonius auf das ganze Buch aus. Saltzkakk, Über Ciceros Kenntnis
der plat. Schriften I. Teil Cleye 1885, &. 1886 will 2, 25 den Protrepticus des Posidonius
und die Schrift Erantors negi niv&ovg als Quellen des 1. B. angesehen vrissen. Für das
3. und 4. Buch sucht Poppelreuteb (Quae ratio intercedat inter Posidonii nsQt na^y
nffayßaxBiaq et Tusc. disp, Cic., Bonn 1883 p. 5) nachzuweisen, dass alles, was über die
Gemütsbewegungen hier mitgeteilt wird, auf Posidonius zurückzuführen ist. Diese Hypo-
these bekämpft Hirzel,') Untersuchungen 3, 342 f. und erblickt in einer Schrift Phüons
(wahrscheinlich der Xoyog xtnd g>iXoao<play, ygl. p. 481) die Hauptquelle der Tusculanen.
Allein auch diese Hypothese ruht auf schwachem Fundament. (Dagegen Sohwekxe, Phil.
Rundschau 4, 876.) Kbeüttner, Andronici qui fertur libelli negl naihoy pars prior de
affectibus, Heidelb. 1884 berührt in Kürze die Quellenfrage des 3. und 4. Buchs; er denkt
nach einigem Schwanken besonders an Antiochos (p. 24 und Anm. 3). Weitreichende Be-
nützung des Antiochus behauptet Hoyeb, De Äntiocho Äscalonita. Bonn 1883 p. 11 — 15.
Auch ÜSENER streift die QueUenfrage der Tusculanen (Epic. LVU): unde (ex Protreptico
Posidonii) Tusculanarum disputationum caput quod legitur 1. V 24, 68 — 28, 82 petitum est,
Ac Posidonii pratrepticum secutus Antiochus Ascalonita, quem extrema disputatione Tuscu-
lana Y 29, 83 — 41, 120 Cicero expressit, etc, Fowler, Panaetii et Hecatonis fragm., Bonn
1885 gibt einiges p. 8—10.
Dass der Beginn der Tusculanen in das Jahr 45 fällt, ersieht man aus ad Attic.
13,32,2 Dicaearchi negl ^fv^fff utrosque velim mittas et xrcraßäaetag . TQinohtixoy non
intenio et epistoJam eius, quam ad Aristoxenum misit. Tres eos libros maxime nunc vellem;
apti essent ad id quod cogito, vgl. Tusc. 1,11,24 (Druhann 6, 347). 13,38,1 apite lucem
cum scriberem contra Epicureos, ygl. das 2. Buch der Tusc. Im Mai 44 hatte Atticus
bereits das erste Buch gelesen; denn Cicero schreibt an ihn (15, 2,4): Quod prima dispu^
tatio Tusculana te confirmat, sane gaudeo. Die Bücher de finibtis waren bei der Veröffent-
lichung der Tusculanen bereits erschienen (5,11,32).
Überlieferung: Die glaubwürdigsten Zeugen der Überlieferung sind der Codex
Gndianus 294 s. IX oder X und der Codex Pansinus 6232 s. X.
Litteratur: Ausgaben von Davis, Cambridge 1738, Oxford 1805; Kühner, Hannov.
1874; Orslli (mit den Paradoxa), Zürich 1829; Moser 3 Bde., Hannov. 1836; M. Setffert,
Leipz. 1864; Schiche, Leipz. 1888. Deutsch kommentierte Ausgaben von Klotz, Leipz. 1835;
von TisGHER-SoROF (Weidmann), Heine (Teubner), Meissner, Leipz. 1872 u. a.
164. De deorum natura 1. HE. Die Schrift über das Wesen der
Götter ist an M. Brutus gerichtet. Sie ruht auf folgender Scenerie: In den
lateinischen Ferien (etwa 77) kommt Cicero zu G. Aurelius Qotta, der seiner
philosophischen Richtung nach Akademiker war, und trifft dort bei ihm
noch den Epikureer G. Yelleius und den Stoiker Q. Lucilius Baibus. Es
') In der dritten Auflage seiner Ausgabe
wiU er fttr das 1. Buch Posidonius und
Krantor, fOr das 2. einen jflngeren Stoiker,
für das 3. und 4. Chrysippus ncQi naStoy,
fQr das 5. einen jüngeren Stoiker und einen
Epikureer als Vorlagen angesehen wissen«
') Auch Afelt stellt fest (Fleckeis. J.
131, 532), dass des Posidonius Erklärung
Yon den Affekten eine wesentlich andere war
als diejenige, die uns im dritten und vierten
Buch von Ciceros Tusculanen entgegentritt.
Vgl. noch p. 518.
252 BOmiBohe LitteratnrgeBcliiohte. I. Die Zeit der Republik. 8. Periode.
entspinnt sich ein Gespräch über das Wesen der Oötter. Zuerst tritt
C. Velleius auf. Seinen Vortrag eröffnet er mit einer Polemik gegen Plato
und die Stoa, schaltet dann eine Übersicht der theologischen Anschauungen
von Thaies bis auf Diogenes von Babylon ein und stellt endlich die epikureische
Lehre selbst dar. Alsdann ergreift Cotta das Wort, um das von Velleius
Vorgebrachte zu widerlegen. Im zweiten Buch gibt Baibus eine Darstellung
der stoischen Theologie in vier Abschnitten, der erste handelt über das
Dasein der Götter, der zweite über das Wesen derselben, der dritte über
die göttliche Leitung der Welt, der vierte endlich über die Fürsorge der
Götter für die Menschen. Im dritten Buch versucht Cotta eine Wider-
legung der Auseinandersetzung des Baibus; diese Widerlegung schliesst
sich an die vier Abschnitte des zweiten Buchs an; durch eine grosse Lücke
(25, 65) ist die gegen den dritten Abschnitt gerichtete Deduktion verloren
gegangen, wie der Anfang der gegen die Fürsorge der Götter für die
Menschen gerichteten Partie.
Was die Quellen anlangt, so ist unzweifelhaft, dass Cicero im 3. Buch
sich wesentlich auf eine Schrift des Clitomachus stützt. Schwieriger ist
die Frage nach den Quellen in den zwei vorausgegangenen Büchern; hier
gehen die Ansichten der Forscher auseinander; doch wird für das erste
Buch der Epikureer Zeno, für das zweite Posidonius ziemlich allgemein
als eine Quelle angenommen.
Die Schrift ist ganz besonders flüchtig gearbeitet. Um dies an einem
Beispiel zu zeigen, sei darauf hingewiesen, dass er 2, 29, 73 und 3, 7, 18
plötzlich ein mehrere Tage umfassendes Gespräch annimmt, während dies
doch nach dem Anfang des zweiten und dritten Buchs ausgeschlossen ist.
Auch in philosophischer Beziehung lässt sich der Verfasser die grössten
Blossen zu schulden kommen. (Schoemann Ausg. p. 23.)
Die Schrift wurde vor dem Tode Caesars geschrieben, also vor März 44.
Dass Cicero im J. 45 mit derselben beschäftigt war, ergibt sich aus einem
Briefe an Atticus 13, 39, 2. Vollendet wurde sie, nachdem die Tusculanen
erschienen waren, also 44.
Die Überlieferung des Titels schwankt zwischen de deorum natura und de natura
dearum. Die Grammatikerzeugnisse yerst&rken das Gewicht für de deorum natura.
Über die Ausfüllung der Lücke aus Minucius Felix ygl. Nevkaiw, Rh. Mus. 36, 155 ;
Wilhelm, Bresl. phil. Stud. II. Bd. 1. Heft p. 4.
Quellen frage: Für die Quellenuntersuchung des 1. Buchs ist die Gliederung
im Auge zu behalten: a) Darstellung der epikureischen Lehre, b) Kritik derselben. Die
Kritik führt Hibzel mit Schoemaw auf eme akademische Quelle (wahrscheinlich Clito-
machus) zurück (Unters. 1, 43 1, 45), Schwenke auf eine stoische (Posidonius n€(fl ^€tSy),
vgl. Fleckeis. J. 119, 64 und 65), Reinhardt 21, 57—37, 102 auf Clitomachus, 87, 103—44, 124
auf Posidonius, vgl. Bresl. phil. Stud. 3. Bd. 2. H. p. 33. In der Darstellung der epi-
kureischen Lehre sind wiederum drei Abschnitte auseinanderzuhalten : a) die Polemik gegen
die platonische un<t die stoische Lehre (8,18 — 10,24); b) eine historische Übersicht der
Lehren über das göttliche Wesen (10, 25 — 15, 41); endlich c) die epikureische Lehre
(16, 42—20, 56). Nach Hirzel sind die nichthistorischen Partien aus Zeno (p. 31), die
historische aus Philodemus negl evaeßeiag (p. 4 und p. 9) entlehnt. Schwenke dagegen nimmt
für alle drei Partien eine Quelle, Zeno, an (p. 56 und 57), Reinhabdt endlich statuiert
wieder eine Mehrheit von Quellen, für 1, 1—10, 24 beansprucht er Eigentum Ciceros, für
10, 25—15, 41 Abhftngigkeit von Philodemus, für 16, 42—20, 56 Abhängigkeit von Zeno.
Auch für das 2. Buch muss bei der Quellenuntersuchung von der Disposition 1, 3
ausgegangen werden: Omnino dividunt nostri totam istam de die immartalibus quar'
stionem in partis quattuor. Primum docent esse deos (1,3 — 16,44); deinde quales sint
CiceroB philosophiBohe Bohriffcen. 253
(17,45 — 28,72); tutn tnundum ab ih (uiministrari (29,73—61,153); posiremo consulere
rebus humanis (61, 154 — 66, 167; Hirzel und Schwbnke beginnen diesen Abschnitt bereits
mit § 133, anders Reinhardt p. 48). Ffir alle Teile nimmt eine Quelle an Schwenke und
zwar Posidonius Schrift hbqi ^£(Jy, deren vier ersten Büchern die vier Teile entsprechen,
ohne dass Cicero jedoch in § 3 ihren Inhalt vollständig angegeben hätte, vgl. p. 140. Ihm
pflichten Wendland, Archiv der Gesch. der Philos. 1,206, die Herausgeber Mayob und
GoBTHE bei. An einer Mehrheit von Quellen halten Hibzel und Rbinhabdt fest. Hibzel
spricht die Meinung aus, dass der erste und letzte Abschnitt aus Posidonius ttc^c ^$<oy,
der zweite aus Apollodors gleichnamigem Werke, der dritte aus Panaetius' Schrift ne^i
TiQoyoiac geschöpft habe, wobei nicht ausgeschlossen sei, dass Cicero hie und da für ein-
zelnes noch andere Quellen benützt habe, wie Caelius Aiitipater (p. 224). Reinhardt sta-
tuiert für den ersten und zweiten Abschnitt die Benützung des Chrysippus, wozu aber noch
eigene Gedanken Ciceros kommen, für den dritten die Benützung des Panaetius (mit eigenen
Gedanken), für den vierten die Benützung des Posidonius (p. 55). Usbnbb, Epicurea p. LXVIl
spricht folgende Ansicht aus: in altera de natura deorum libro utprimum theologiae Stoicae
Caput esse deos explicet, loeas ex Posidonio temere arreptas cum enchiridii iüius arademici
(Carneadis), quo fortasse ipse adulescens Athenis usus erat, reliquiis ineptissime miscet:
hine discimus enchiridUm iilud quod Cameades discipulis paraverat ita institutum fuisse,
ut sub singulis capUibus sententiae aut argumentationes deinceps Zenanis CleatUhis Chrysippi,
nuUo opinor verbo addüo, adponerentur. Siehe dagegen Reinhardt p. 54.
Für das 3. Buch ist als Hauptquelle eine Schrift des Clitomachus allseitig anerkannt.
Das Bedauern Cottas Über den Untergang von Corinth und Carthago (38, 91) wird jetzt, da
es von Clitomachus stammt, weniger fmffallend. Genaueres über die Komposition des
3. Buchs bei Schwenks p. 140 und Reinhardt p. 56.
Dass die Bücher de natura deorum vollendet wurden, nachdem die Tusculanen
herausgegeben waren, sagt Cicero ausdrücklich de div. 2, 1, 3 quibus rebus (libris TuscuL
disputat.J editis ires libri perfecti sunt de natura deorum, Dass dieselben vor dem Tod
Caesars herausgegeben waren, ergibt dieselbe Vorrede, welche infolge Caesars Tod ein
neues Progranmi vorführt. Dies geht auch aus 1, 4, 7 hervor, in welcher Stelle cum otio
langueremus et is esset rei fublicae Status, ut eam unius consüio atque cura gubemari necesse
esset deutlich auf die Alleinherrschaft Caesars hinweist. Im J. 45 schreibt Cicero an Attic.
13, 39, 2 libros mihi, de quibus ad te antea scripsi, vetim mittas et maxime ^aidgov TtBQi ^eaiy
et ne^l HaXlados; er trug sich also damals schon mit dem Gedanken, über deorum natura
zu schreiben. Der Tod seiner Tochter Tullia (45) veranlasste ihn, Trost in der Schriftstellerei
zu suchen (1,4, 9): hortata est, ut me ad haec eonferrem, animi aegritudo, fortunae magna
et gravi commota iniuria; euius si maiorem aliquam levationem reperire potuissem, non ad
kane potissimum eonfugissem,
Überlieferung: Die beiden Vossiani 84 (mit Vindob. 189) und 86 sind unsere
Führer. Vgl. genaueres Stemma (nach Mayor) Schwenke, Burs. Jahresber. 47, 285. Mit de nat,
deorum haben ausser dem Lucullus gleiche Schicksale der Überlieferung Paradoxa, de
dirinatione, de fato, IHnweus, Vgl. noch de legibtis § 159, Topica p. 238.
Litteratur: Ausser den citierten Abhandlungen sind noch zu nennen: Krische,
Forschungen auf dem Gebiete der alten Philos. I. Bd., (jött. 1840. Lenonick, Ad emen-
dandos explicandosque Cicer, libros d. n. d. quid ex Philodemi scriptione negl evaeßeiag
redundet, Halle 1871. Diels, Doxogr. p. 121 und p. 529. — Ausgaben von Davis, Oxf.
1807; Heindorf, Leipz. 1815; Moser und Creuzer, Leipz. 1818; Schoekann (Weidmann);
Goethe (Teubner). Englische Ausgabe von Mayor in 3 Bänden, Cambridge 1885.
166. Gato maior de senectute. Diese Schrift über das Alter ist
dem T. Pomponius Atticus gewidmet. Es ist ein Dialog, der sich zwischen
dem jüngeren Scipio, Laelius und Gato im Jahre 150 abspielt. Allein auch
hier ist die dialogische Form Schein, denn Cato führt fast allein das Wort;
nur hie und da wird er von den Anwesenden unterbrochen. Gates Rede
weist folgende vier Vorwürfe, welche gegen das Alter gerichtet werden,
zurück: 1) Dass es die Thatkraft hemme; 2) den Körper schwäche; 3) fast
aller Vergnügungen beraube; endlich 4) dem Tode nahe sei. Obgleich das
Thema sehr allgemeiner Natur ist, so scheint auch hier Gicero wieder
einer griechischen Quelle gefolgt zu sein. Oleich im Eingang wird auf
eine Schrift eines Peripatetikers Aristo hingewiesen; hier war eine mythische
Person, Tithonos, Führer der Rede. Indem Gicero ausdrücklich konstatiert,
254 Bömisohe LüteratnrgeBchichte. 1. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
dass er im Gegensatz zu Aristo eine historische Person, den Gato, zum
Träger der Rede gemacht, scheint er andeuten zu wollen, dass er jener
Schrift in sonstiger materieller Beziehung gefolgt ist. Die Beispiele aus
der römischen Geschichte mit chronologischen Daten werden einem liber
annalis entnommen sein; höchstwahrscheinlich war es der des Atticus, den
Cicero ja auch im Brutus benützte. Es würde in dieser Benützung zu-
gleich ein Kompliment für den Adressaten liegen. Die Schrift ist anmutig
zu lesen; Gato als Hauptfigur gut gewählt; Atticus hatte an dem Werkchen
grosse Freude.
Für den Ansatz des Qesprftclis im Jahre 150 spricht 5, 14, wo T. FlamininoB nnd
M'. AciliuB als „hi cansules^ bezeichnet werden, es sind die Konsuln des J. 150.
Seinen Vortrag disponiert Cato 5, 15 cum complector animo, quaUuor reperio causas,
cur senectus miaera videatur, unam, quod avocet a rebus gerendiSf alteram, quod corpus
faciat infirtnius, tertiam, quod privet fere omnibus voluptatibus, quartatn, quod huud procul
absit a morte.
Die Stelle Aber Aristo lautet (1)3): omnem sermonem tribuimus non Tithono, ut
Aristo Cius — parutn enim esset auctoritatis in fabula — sed M. Catoni seni, quo maiorem
auctorUatem haberet oratio; apud quem Laelium et Scipionem facimus admirantes, quod is
tarn faciJe senectutem ferat, eisque eum responderUem. Qui si erudUius videbüur disputare,
quam consuevit ipse in suis libris, attr^ito litteris Oraecis, quarum constat eum per^
studiosum fuisse in seneetute.
Für die Bestinunung der Abfassungszeit ist die Hauptstelle der am 11. Mai 44
geschriebene Brief an Atticus 14,21,3: legendus mihi saepius est Cato maior ad te missus.
Die Schrift muss also vor 11. Mai 44 geschrieben sein. Die zweite Stelle gibt uns die
Schrift de divinatione an die Hand (2, 1,3): interiectus est etiam nuper liber is, quetn ad
nostrum Atticum de seneetute misimus. Aus der Vorrede des zweiten Buchs de dif>. geht
hervor, dass sie nach Caesars Ermordung geschrieben wurde. Das erste Buch dagegen
fällt vor Caesars Ermordung; deim gerade dueses wichtige Erei^is gab den Anlass, dass
sich der Schriftsteller in jener Vorrede über die Änderung semes rrogramms aussprach,
während er im ersten Buch gleich zur Sache schritt. Die Vorrede scheidet genau zwischen
Vorher und Jetzt: (2, 1, 6) id ipsum a PUUone philosophiaque didiceram, naturalis esse quas-
dam conversiones rerum publicarum, ut eae tum a principibus tenerentur, tum a populis, (Hi-
quando a singulis. Quod cum aceidisset nostrae reipublicae, tum pristinis orbati muneribus
haec studia renovare coepimus, ut et animus mclestiis hoc potissimum re levaretur et pro-
dessemus civibus nostris, qua re cumque possemus. In Hbris enim sententiam dicebamus,
contionabamur, philosophiam nobis pro rei publicae procuratione substUutam putabamus —
nunc quoniam de re publica consuli coepti sumus, tribuenda est opera rei publicae, vel
omnis potius in ea cogitatio et cura ponenda, tantum huic studio relinquendum, qtiantum
vacc^bU a publica officio et munere. Da nun in dieser Vorrede der Cato bereits als nuper
interiectus, also als bereits geschrieben erwähnt wird, so muss er vor Caesars Tod fallen.
Vgl. Maubeb, Fleckeis. J. 129, 388. Er wird daher zwischen den Büchern de deorum natura
und dem ersten Buch de divinatione verfasst worden sein.
Ist diese Datierung richtig, so kann sich in der Stelle ad Attic. 16, 3, 1 (geschrieben
Juli 44) Quod vero scribis te magis et magis delectari ,0 TUe si quid", auges mihi scri-
bendi ala^ritatem, Quod Erotem non sine munusculo exspectare dicis, gaudeo non fefellisse
eam rem opinionem tuam, sed tamen idem avvrayfia misi ad te retractatius, et quidem
ir^/erfTToy ipsum crebris locis inculcatum et refectum, das avyrayfza nicht auf Cato be-
ziehen, sondern auf eine andere Schrift und zwar, wie aus 16, 2, 6 hervorgeht, auf die
Schrift de gloria. Damit fallen auch die Schlussfolgerungen, die man für die Kritik des
Cato (Otto in den philol. Abb. zu Ehren Hertz's p. 94; Lüthojanv, Rh. Mus. 37,496) aus
dieser Stelle gezogen.
Überlieferung: Eine hervorragende Stelle nehmen der durch Momusek bekannt
gewordene Leidensis (früher im Besitz des P. Dakisl) s. X und der Parisinus 6332 s. X ein.
Von Wichtigkeit scheint auch zu sein der Vossianus 0 79 s. X, da in diesem wie im Leid.
§ 8 die Glosse ignobilis weder im Text noch über der Zeile steht. Vgl. Gemoll, Hermes
20, 333. C. ToMANBTZ, Über Wert und Verhältnis der Hdsch. von C, Wien 1883 und 1886.
Dahl, Zur Handschriftenkunde und Kritik des C, Christiania 1885, 1886. De Vbus, De
Cic. Cot. mai. codice Ashbumam,, nunc Parisino, Leyden 1890.
Litteratur: Cato et Laelius von Madvio, Eopenh. 1835; von Schiohb (Freytag).
Erläuternde Ausgaben von Tibchsb, Halle 1847; Lahmsteb und Meisskeb (Teubner); Sommeb-
OiceroB philoBophische Sohriften. 255
BBODT (Weidmann); C. W. Naucx, Berl. 1855. Englische Schnlaosgabe von Reid, Cam-
bridge 1888.
166. De diyinatione. L 11. An die Schrift über das Wesen der Götter
schliessen sich als Ergänzungen an die Abhandlungen über die Wahrsagung
und über das Schicksal. Die Schrift über die Wahrsagung (de divinatione)
besteht aus zwei auf dem Tusculanum gehaltenen Unterredungen, die auf
zwei Bücher verteilt sind; im ersten Buch hält der Bruder Ciceros einen
Vortrag zur Verteidigung der Wahrsagung; er stützt sich besonders auf
den Gedanken, wenn es auch nicht gelinge, das Warum zu ergründen,
so müssten doch die hieher gehörigen Fakta uns zu dem Glauben an die
Wahrsagung bestimmen. In dem zweiten Buch, welches in der Vorrede
die wichtige Übersicht der philosophischen Schriftstellerei Ciceros enthält,
ergreift Cicero selbst das Wort, um die Nichtigkeit der Wahrsagung
darzuthun. Die Schrift ist interessant, weil sie uns das System des
Aberglaubens kennen lehrt. Das System beruht auf der Scheidung der
künstlichen und natürlichen Wahrsagung; die erste erfolgt
durch Eingeweide, Vögel, Blitz, Wunderzeichen, Gestirne, die natürliche
durch Träume und Ekstase. Auch in dieser Schrift gibt Cicero wenig
Eigenes. Das erste Buch enthält die stoische Doktrin der Wahrsagung,
wie dies ausdrücklich 2,3,8 gesagt wird. Er folgt hier im wesentlichen
der Schrift des Posidonius nsQi fAavuxijg. Die Widerlegung des zweiten
Buchs steht nicht in rechter Harmonie mit dem ersten, dies ist nur mög-
lich, wenn die Widerlegung nicht direkt durch die Quelle des ersten Buchs
hervorgerufen wurde; ^) diese Widerlegung ist in der Hauptsache aus einer
Schrift des Akademikers Clitomachus geflossen. Der Abschnitt 41, 87—
47,97 ist nach bestimmter Angabe Ciceros (46,97) dem Panaetius ent-
nommen.
Die Abfassung der Schrift gehört dem Jahre 44 an; das zweite Buch
ist nach Caesars Tod geschrieben, yne dies aus dem Prooemium aufs deut-
lichste zu erschliessen ist, denn es enthält ein verändertes Programm; das
erste Buch dagegen muss vor Caesars Tod fallen.
Das8 die Bficher de divinatione eine Ergänzung zu de deorutn natura bilden sollen,
l&Bst Cicero seinen ßnider sagen 1, 5, 9 quod praetermisttum est in Ulis libris — credo, quia
commodius arhitratus es separatim id quaeri deque eo disseri — , id est de divinaiionef quae
est earum rerum, quae fortuitae putantur, praedictio atque praesensio, id, siplacet, videamus
quam habeat vim et quäle sit.
Über die verscbiedenen Arten der divinatio vgl. 1, 52, 118 (placet Stoicis) — ita a
principio inchoatum esse mundum, ut certis rebus certa signa praecurrerent, alia in extis,
alia in aribus, alia in fulgaribus, alia in ostentis, alia in steÜis, alia in somniantium visis,
alia in furentium voeibus, 1, 18, 34 iis adsentiar, qui duo genera divinationum esse dixerunt:
«iiMffi, quod particeps esset artis, alterum quod arte careret — carent autem arte ii, qui non
ratione aut eaniectura observatis ac notatis signis, sed coneitatiane quadam animi aut soluto
liberoque motu futura praesentiunt, quod et somniantibus saepe contingit etnonnumquam
vaticinantibus per furorem.
Für die Quellenfrage des 1. Buchs sind Leitstern die Worte 2,3,8, wo Cicero zu
seinem Bruder sagt: adcurate tu quidem, Quinte, et Stoice Stoicorum sententiam defendistt.
Dass für das erste Buch Posidonius im wesentlichen die Quelle gewesen, haben dargethan
ScHiCHE, de fontibus librorum Ciceronis qui sunt de divinatione, Jena 1875 (p. 25); Habt-
PBLDEB, Die Quellen von Ciceros zwei Büchern de div,, Freib. i. B. 1878 (p. 11). (Die dem
Posidonius nnzweifelhaft angehOrigen Partien scheidet Cobssbk, De Posidonio, Bonn 1878
*) SCBICHE p. 30.
256 HOmisohe Litteratnrgeschlohte. I. Die Zeit der Bepnbliki 2. Periode.
p. 14 aus.) Sghichs will aus der ciceronischen Anordnung auch den Inhalt der 5 Bücher des
Posidonischen Werka erkennen, quorum in primo P, divinationem universe defendit, altero
demonstravit divinationem artificiosam re vera esse, iertio idem de ea, quae arte earet, quarto
quihus rebus divinatio confirmetur, quinto quae eius sü ratio. Die Yon Cicero öfters unter
dem Namen des Caelius hinzugefügten geschichtlichen Beispiele (24, 48 24, 49 26, 55 26, 56
35, 78) gehen auf das Geschichtswerk des Caelius Antipater zurück und zwar, scheint es,
benutzte Cicero das Werk in dem Auszug, den M. Brutus aus demselben fertigte (vgl.
§ 189, 8), denn Juni 45 schrieb er an Atticus (13,8): epitomen Bruti Caefianarum velim
mihi mitlas et a Phüoxeno üayaitlov negl ngoyoiag. (Scsighe p. 15.)
Die Quelle des 2. Buchs muss ein jüngerer Akademiker sein. Nun wird Öfters
Carneades erwfthnt (3, 9 21,48 28,51 41,87 (47,97) 72,150); allein derselbe hat keine
philosophischen Schriften hinterlassen; von seinen Schülern kann nur Clitomachus in Be-
tracht kommen, der 41, 87 genannt wird. Auch in diesem Punkt stimmen Hartfelder
(p. 19) und ScmcHB (p. 42) überein. Wie im ersten Buch, so glaubt auch hier der letztere
aus Cicero Schlüsse auf das griechische Werk machen zu können: Quod tribus eonstitisse
libris probabüiter conici posse videtur ex specie libri Ciceroniani, qui quidem manifesto ex
tribus potissimum partibus compositus est, Quae enim antecedunt c. 11 (c. 8 — 10), continent
universae divinatianis refuiationem {!), reliqua autem dispuiatio (c. 11 — 72) iis, quae Cicero
seeundum alias fontes aut suo Marte disserU (c. 41 — 58), ita in duas partes dividitur, ui
earum prior (c. 12 — 40) seeundum dipisionem c. 11 propositam eontineat reiectionem sin-
gulorum generum dipinationis artificioscte (11), altera (c. 54 — 72) divinationis naturalis
refutationem (III). Das Zeugnis, dass die Partie 41, 87 — 47, 97, welche die monstra Chal-
daeorum enthält, aus Panaetius stammt, lautet videsne me non ea dicere, quae Carneades,
sed ea quae pHnceps Stoicorum Panaetius dixerU? (Hartfelder p. 21; Sghiche p. 18); der
Abschnitt über den ortus Haruspicinae (22, 50) ist vielleicht auf A. Caecina zurückzuführen.
(SCHICHE p. 43.)
Über die Abfassung des 2. Buchs nach dem Tod Caesars vgl. die entscheidende Stelle
§ 165 bei Cato maior.
Litteratur: Ausgaben (mit de fato) von Davis, Cambridge 1730; von H. Moser,
Frankf. 1828. — Gibse, Leipz. 1829.
167. De fato. Die Schrift über das Schicksal (de fato) ist nur frag-
mentarisch erhalten; es fehlt der Anfang; dann sind mehrere Blätter vor
Kap. 3 ausgefallen; ') endlich fehlt der Schluss. Die Einkleidung der Unter-
suchung ist folgende: Aulus Hirtius kommt zu Cicero auf sein Puteolanum
und fordert ihn auf, einen Vortrag zu halten. Dieser Vortrag bezieht sich
auf das Schicksal {elfiaQfiävrjj fatutn) und begreift in sich den Streit zwischen
Notwendigkeit und Freiheit. Es werden die Ansichten des Posidonius
(durch die Lücke vor c. 3 grösstenteils verschlungen) und besonders des
Chrysippus erörtert und bekämpft. Die Bekämpfung basiert auf der neueren
Akademie; es tritt uns der Name Carneades entgegen (14,31 und 32). Da
nun Carneades keine philosophischen Schriften hinterlassen hat, so müssen
wir annehmen, dass die Bekämpfung der stoischen Lehre einer Schrift
entstammt, welche ein Schüler des Carneades entworfen. Es wird dies
wie im zweiten Buch de divinatione Clitomachus gewesen sein. Die Schrift
ist im J. 44 nach Caesars Tod {post interitum Caesaris 1, 2) verfasst. Bei
derselben tritt recht klar hervor, dass Cicero des Stoffs nicht Herr ge-
worden.
Angekündigt ist die Sclirift de div. 2, 1, 3 tres libri perfecti sunt de natura deorum,
in quibus omnis eius loci quaestio continetur, Quae ut plane esset cumulateque perfecta, de
divinatione ingressi sumus his libris scribere; quibus, ut est in animo, de fato si adiun^
xerimus, erit abunde satisfactum toti huic quaestioni.
Über die Komposition 1, 1 : quod in aliis libris feci, qui sunt de natura deorum, item-
que in iis, quos de divinatione edidi, ut in utramque partem perpetua explicaretur oratio,
quo facüius id a quoque probaretur, quod cuique maxime probabüe videretur, id in hoc
disputatione de fato casus quidam ne facerem impedivit. Über die Scenerie der Schrift
') Vgl. Christ zu der Stelle. Eine kleine Lücke ist noch vor 20,46 anzusetzen.
Ciceros philoBophische Schriften. 257
vgl. If 2 cum essem in Puteolano Hirtiusque noster, cansul designaius, iadem in locis, vir
nobis amicissimus et his studiiSf in quilm3 nos a pueritia viximuSf deditus mtdtum una
eramus, bei dieser Gelegenheit sagt Hirtios: ponere aliquidt ad quod audiam, si tibi non
eM moiestum, volo (2,4).
Als Quelle der ciceronischen Schrift sieht ohne ausreichende Begründung Gsrcke,
Chry»ippea Fleckeis. J. 14 Suppl. p. 693 Antiochus von Ascalon an: Certo Cicero in com-
ponendo de fato libeflo secutus est Antiochum Ascalonitam, id quod inde elucet, quia non
»olum inde a § 31 Carneadis auctoritas evocatur tamquam philosophi inctoris sed etiam
§ 44 adffersariorum senlentiae ita comparantur aliaque alii accomodatur, ut conclusio fiat
*verbi8 eos, non re disaidere^.
168. TimaeuB. Es sind uns Bruchstücke einer Übersetzung des
Timaeus überliefert. Allem Anschein nach war diese Übersetzung bestimmt,
in einem Dialog verwertet zu werden. Es ist nämlich der Übersetzung
eine Einleitung vorausgeschickt, in der von dem pythagorisierenden Philo-
sophen Nigidius Figulus die Bede ist. Derselbe erwartete angeblich Cicero,
als dieser in seine Provinz Gilicien sich begab, in Ephesus. Ebendahin
kam auch von Mytilene der Peripatetiker Cratippus. Diese Personen waren
wohl Träger eines Gesprächs, das über die Naturphilosophie handelte.
Hatte doch Cicero de div. 2, 2, 4 versprochen, wenn sich kein Hindernis
einstelle, alle Teile der Philosophie behandeln zu wollen. Danach würde
die Übertragung in die Zeit nach de divinatione fallen; dass sie nach den
Academica entstanden, besagt die Einleitung ausdrücklich. Auch setzt die
Einleitung den im J. 45 eingetretenen Tod des Nigidius Figulus voraus.
Wie und inwieweit die Übersetzung in dem Dialog verwendet werden
sollte, entzieht sich unserer Erkenntnis. Allem Anschein nach wurde die
Vollendung des Dialogs durch die politischen Ereignisse verhindert. Für
die Beurteilung der philosophischen Schriftstellerei ist das Fragment nicht
ohne Interesse. 0
Die Einleitung lautet muita sunt a nobis et in Academicis conacripta contra physicos
et saepe cum P. Nigidio Carneadeo more et modo dispuiata, Fuit enim vir ille cum ceteris
artibuSf qwu quidem dignae libero essent, ornatus omnibus, tum acer investigator et diligens
earum rerum, quae a natura involuiae videntur; denique sie iudico, post iUos nobiles Pytha-
goreoSy quorum disciplina extineta est quodam fnodo, cum aliquot saecla in Italia Siciliaque
riguisset, hunc extitisse qui iUam renovaret. Qui cum me in Ciliciam proficiscentetn Ephesi
expedavisset Bomam ex legatione ipse decedens, venissetque eodem Mytüenis mei salutandi
et risendi causa Cratippus, Peripateticorum omnium, quos quidem ego] audierim, meo iudicio
facile princeps, perlibenter et Nigidium vidi et cognovi Cratippum. Ac primum quidem
tempus 8alut€Uionis in percontatione consumpsimus.
Der Traktat zeigt dem Original gegenüber folgende Lücken: 1) gleich im Eingang
fehlen 11 Seiten des platonischen Timaeus von p. 17 — 27 g iany ovy dij xaj iurjv do^av
TtQioToy d^ttiQtiioy rcrdc. Von da erst beginnt die lat. Übersetzung; 2) 8,28 lehlt eine
Seite des plat. Textes; die Obersetzung schhesst mit 37c (oray di av negi to Xoyiauxoy ij)
und flQirt lort mit 38 c Vya yeyyrj&j XQ^^^^y wozu ein Fragment bei Nonius konrnit; 3) 13, 48
schliesst die Obersetzung mit 43 b xcfroi re xai ayta xal ndyxrj und ffthrt fort mit 46 a
ircq r€ av negi trjy Xeiotijttty es fehlen c. 3 Seiten. Die Übersetzung schliesst mit 47 b
d(üfffj9iy ix ^ecüK, während das Original bis 92 reicht.
Litteratur: Hauptabhandlung ist C. F. Hermann, De interpretatione Timaei Plat.
diaJ, a Cic. relicta, Gott. 1842. — HocHDAirz, QuaeaL crit. in Tim. Cic. e Piatone trän-
scriptum, Nordhausen 1880 führt den sonderbaren Qedanken durch (p. 13): Ciceronem hoc
quod diahgi habemua socio cuidam literario docto (vielleicht Tiro) in sermonem Romannm
transferendum mandasse, ut sua de difficilUmi et obscurissimi Piatonis dialogi singulis locis
sententia cum hotninis alicuius comparata, cui satis eruditionis et ingenii inesse confidere
poterat, Graeci philosophi placita ea accuratius percogitata et perspecta civibus suis in
proprio opere offerret.
0 HiRZSL, Untersuch. 1,2.
Bftodbach der klM>. AlteiinmswlweiMoliAn. V1J|, 17
258 BOmische LüteratnrgeBoliiohte. I. Die Zeit der Repnblik. 2. Periode.
169. Laelius de amicitia. Der dem Titus Pomponius Atticus ge-
widmete Dialog Laelius über die Freundschaft ist im Jahr 44 nach
dem Cato maior und vor dem Werk über die Pflichten entstanden. Der
Hauptredner ist der Freund des jüngeren Scipio, Laelius, die Zwischen-
redner die Schwiegersöhne des Laelius G. Fannius und Q. Mucius Scaevola.
Das Gespräch wird in das Todesjahr des jüngeren Africanus (129) versetzt
und spielt in dem Hause des Laelius. In der Einleitung gibt Cicero an,
es sei ihm von Scaevola erzählt worden. Zuerst spricht Laelius ganz all-
gemein*) über den Wert der Freundschaft (5, 17—7, 24), dann über das
wahre Wesen derselben (8, 26—9, 33), indem er auf den Ursprung «) der
Freundschaft eingeht, endlich über die Bethätigung derselben (10, 33—26, 100),
worauf der Epilog folgt. Diese drei Abschnitte sind durch die Unter-
brechungen genau markiert; am ausführlichsten ist der letzte Teil. Obwohl
die Schrift anmutig zu lesen ist, so vermisst man doch auch bei ihr
reiferes Nachdenken über die Sache und scharfe logische Gliederung. Seine
Hauptquelle war Theophrasts Werk über den gleichnamigen Gegenstand;
bereits Gellius 1, 3, 10 hat diese Beobachtung gemacht.
Das Yerhältms zum Cato berfthrt C. 1, 4 ut in Colone Maiare, qui est scriptus ad
te (Atticus) de seneetuie, CkUonetn induxi senem disputantem, quia nuUa videhatur aptior
persona quae de illa aetate loqueretur, quam eius, qui et diutissime senex fuisset et in ipsa
senectute prcteter ceteros floruisset, sie, cum aecepissemus a patribus maxime memorabilem
C, Laeli et P. Scipionis familiaritatem fuisse, idonea mihi Laeli persona visa est, quae
de amicitia ea ipsa dissereret, quae disputata ah eo meminisset Scaevola. — de off. 2, 8, 31
de amicitia alio libro dictum est,
Zeit und Ort des Gesprftchs erhellt aus 1, 3 Scaevola exposuU ndbis sermonem Ladt
de amicitia habitum ab iüo secum et cum altera genero, C, Fannio M, F,, paucis diebus
post mortem Africani und 1, 5 C. Fannius et Q, Mucius ad socerum veniunt post mortem
Africani; ab his sermo oritur, respondet Laelius, cuius tota disputatio est de amicitia.
Die Disposition enthalten die Worte (4, 16): pergratum mihi feceris, si — de ami-
citia disputaris, quid sentias, qualem existumes, quae praecepta des. Wbissbnborn, Gedanken-
gang und Gliederung von C. L., Idfililhausen i. Th. 1882 will (vgl. p. 13) als ersten Teil
5,17—7,24, als zweiten 8,26—17,61, als dritten 17,62—26,100 aufgefasst wissen. Der
zweite Teil umfasst nach ihm a) Ursprung der Freundschaft, b) Wirkungskreis derselben,
c) Grad- und Massbestimmung ihrer Intensität. Durch diese Gliederung soll der Anstoss
beseitigt werden, der darin hegt, dass eine Untersuchung angekündigt wird: qualis sit
amicitia und dann nur über den Ursprung gehandelt wird. Allein einmal sind in dieser
Gliederung die äusseren Einschnitte nicht beachtet worden, durch welche der Schriftsteller
seine Disposition markiert hat, dann fehlt dem zweiten Teil der einheitliche theoretische
Charakter. Auf der andern Seite dürfte auch erwogen werden, dass eine Untersuchung
über den Ursprung der Freundschaft zugleich in das Wesen derselben einführt.
Gell. 1,3, 10 sagt Über Theophrast als Quelle: eum libtum (de amicitiaj M. Cicero
videtur legisse, cum ipse quoque librum de amicitia componeret. Et cetera quidem, quae
sumenda a Theophrasto existimavit, ut ingenium facundiaque eius fuit, sumpsit et trans-
posuit commodissime aptissimeque; hunc autem locum, de quo satis quaesitum esse dixi,
omnium rerum aliarum diffidUimum strictim atque cursim transgressus est, neque ea, quae
a Theophrasto pensiculate atque enucleate scripta sunt, executus est, sed anxietate iUa et
quasi morositate disputationis praetermissa, genus ipsum rei tanttim paucis verbis notavit.
Die Stelle ist 17, 61 his igiiur finibus — dari venia possit. Das Theophrast'sche Werk
sucht in den Grundzügen zu rekonstruieren Heylbut, De Theophrasti Jibris ns^l <piXias,
Bonn 1876. Hiebei wird fortwährend auf Ciceros Laelius Rücksicht genommen; allerdings
regt der Vf. Zweifel an, ob Cicero selbst die Theophrast'sche Schrift in Händen gehabt,
vgl. p. 36 quin ne Ciceronem quidem Theophrasti libros negl <piXiag evolvisse, eo certe tem-
poris momento ubi LaeJium libellum condiderit, sunt quae suspicionem maveant. Über die
Methode Ciceros vgl. p. 38 ex inconstanti disputandi genere ad hanc modo ad illam quae-
*) Dieser Teil wird deutlich abgeschlossen
7,24 hactenus mihi videor de amicitia quid
sentirem potuisse dicere.
^) Der Abschnitt wird abgeschlossen
durch die Worte (9, 32) ortum quidem amicitiae
videtis, nisi quid ad haec forte vuUis.
CiceroB philosophische Schriften. 259
9tionem aucior se confert. Seine Flüchtigkeit erhellt ganz besonders aus 6, 22 neque ego
nunc — fuUf welche nicht vorbereitet sind, vgl. p. 14.
Überliefe rnng: Die beste Handschrift ist der Codex Parisintis s. IX oder X,
den MoMXSBN bei Dibot gefunden (Rh. Mus. 18,594); neben ihm ist der Monacensis 15514
von Wert.
Litter atur: Ausgaben von Madvio und Schichb vgl. zu Cato. Erläuternde Aus-
gaben von Sbyfpebt 2 T., Brandenb. 1844 (2. Aufl. von C. F. W. Müller, Leipz. 1876);
Nauck (Weidmann); Lahmbteb (Teubner); Meissnbb (Teubner); Stbelitz (Gotha); Rbid,
Cambridge 1883 (in engl. Sprache).
170. De officiis 1. in. Die Schrift über die Pflichten ist an den
Sohn Ciceros, Marcus, gerichtet. Der Aufbau des Ganzen erfolgt in der
Weise, dass im ersten Buch über das Sittliche und den Konflikt des Sitt-
lichen mit dem Sittlichen, im zweiten über das Nützliche und den Konflikt
des Nützlichen mit dem Nützlichen, endlich im dritten Buch über den
Konflikt des Nützlichen mit dem Sittlichen gehandelt wird. Diese Gliede-
rung rührt im wesentlichen von Panaetius her, der drei Bücher über die
Pflichten geschrieben; nur den Konflikt des Sittlichen mit dem Sittlichen
und den Konflikt des Nützlichen mit dem Nützlichen hatte er übersehen;
auch hatte er die Erörterung des dritten Problems, obwohl von ihm an-
gekündigt, unterlassen. Cicero konnte also in den zwei ersten Büchern
fast ganz dem Panaetius folgen; und er ist ihm auch nach seinem eigenen
Zeugnis gefolgt. Dagegen musste er sich nach andern Quellen umsehen
in den kurzen Partien, in denen der Widerstreit des Sittlichen mit einem
andern Sittlichen und der Widerstreit des Nützlichen mit einem andern
Nützlichen auseinandergesetzt wird. Im dritten Buch musste ebenfalls eine
neue Quelle ausfindig gemacht werden. In der Ergänzungspartie des ersten
Buchs scheint er dem Posidonios, dessen Benützung ad Attic. 16,11,4 zu-
gestanden wird, gefolgt zu sein (1,45 1,59), in der des zweiten Buchs
dem Antipater aus Tyrus (2, 24, 86) oder Athenodorus Galvus. Für das
dritte Buch ist die bereits angeführte Stelle aus dem Brief an Atticus von
Wichtigkeit. Nachdem er nämlich die zwei ersten Bücher vollendet, schrieb
er an Athenodorus Galvus und bat ihn, er möge ihm seine Umrisse [rd
x€(pdkaia) schicken; als er dieselben erhalten, gefielen sie ihm sehr (ad
Attic. 16,14,3). An diesen Abriss wird sich Cicero im 3. Buch gehalten
haben, sowohl was den Inhalt als die Gliederung anlangt. Die Beispiele
aus dem römischen Leben, die sich in diesem Buch besonders zahlreich
finden, rühren wohl alle von Cicero her. Über die Zeit der Abfassung
gibt uns der Briefwechsel mit Atticus Aufschluss. Im Nov. 44 waren
zwei Bücher vollendet (ad Attic. 16,11,4).
Auch in diesem Werk vermissen wir die philosophische Befähigung
Ciceros. Sein Wert ruht in den praktischen Lebensregeln. „Diese Stellen,
einzeln herausgehoben, sind so vortreiflich, dass immer noch das Buch
seine warmen Freunde und Verehrer behalten wird, wie sehr auch der
Schein eines Ganzen ohne innere Totalität den systematischen Denker be-
leidigen muss."" 9
Cic. ad Attic. 16, 11,4 Ta itegl tov xa^xoviog, quatenus Panaetius, absolm duobus:
aitus tres sunt; sed, cum initio divisisset ita, tria genera exquirendi officii esse, ununif cum
deliberemus, honestum an iurpe sit, alterum, utile an inutile, tertium, cum Jiaec inter se
») Hkrbart, Ges. Werke 12, 172.
17
260 Komische LitteraturgeBohichte. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
pugnare videaniur, quomodo iudicandum 8Ü — de duobua primis praeclare disseruU, de
tertio poUicetur se deincepSf sed nihil scripsit. Eum loeum Posidonius persecuius est (de
off. 3, 2f S), ego autem et eius lihrum areessivi et ad Athenodorum Caltfum seripsi, ut ad me
j« xBffttXaut mitteret, nQoag>ayi5 atUem Ciceroni filio.
Über die Ergftnziingspartien sagt Cicero (1,3,10): hac divisione — duo praeter-
missa sunt; nee enitn solum utrum honestum an turpe sit, deliberari solet, sed etiam duohus
proposUis honestis utrum honestius, itemque dtiohus propositis utilibus utrum utilius, Jta
quam nie {Panaetius) triplieem putavit esse rationem, in quinque partes distribui debere
reperitur. Vgl. 1, 43, 152. Über die Quellen vgl. Hirzel, Unters. 2, 723.
Darüber, dass Panaetius den versprocbenen dritten Teil nicht geliefert, spricht Cicero
ausführlicher 3. 2, 7. Über Gebühr betont er hier seine Selbständigkeit (3, 7, 34): han€
partem relictam expUbimus nullis adminiculis, sed, ut dicitur, Marte nostro, Neque enim
quicquam est de hoc parte post Panaetium explicatum, quod quidem mihi probaretur, de iis,
quae in manus meas venerunt, (Klohe, p. 36.)
Über seinen Anschluss an die Stoiker und besonders an Panaetius vgl. 1, 2, 6 sequemur
hoc quidem tempore et hac in quaestione potissimum Stoicos, non ut interpretes, sed, ut
sdemus, e fontibus eorum iudicio arbitrioque nostro, quantum quoque modo videbUur, hau-
riemus, 3,4,20 erit haec formula Stoicorum rationi diseiplinaeque maxime consentanea;
quam quidem his libris sequimur. 3, 2, 7 Panaetius, qui sine controversia de officiis accu-
ratissime disputavit, quemque nos correctione quadam adhibita potissimum secuti sumus.
1, 3, 9 2, 5, 16 2, 14, 51 3, 4, 18. Im dritten Buch wird Hecaton citiert 15, 63 23, 89. Ein
Streit zwischen Diogenes und Antipater wird berührt (12, 51). Höchst wahrscheinlich sind
aber diese Quellen nicht direkt benutzt. Über die Quellen des dritten Buchs spricht
HoTKR, De Antiocho p. 19. Panaetii et Hecaf^mis librorum fragm., Coli. Fowleb, Bonn
1885. Klohe, De Cic. lihr, de officiis fontibus, Greifsw. 1889. Hikzel, Unters. 2, 736.
Überlieferung: Zur ersten Familie gehören Codex Bambergensis s. X, Wuerze-
burgensis s. X, Bemensis 391 s. X; zur zweiten geringeren, mit willkürlichen Änderungen
durchsetzten, der Harleianus 2716 s. IX oder X, der Palatinus 1531 s. XII und der Bemensis
104 s. XIII. Vgl. ScmcHE, Ausg. p. V. Über die zweite Familie vgl. Popp, Acta sem. Erlang.
3, 245 und De Palatino 1531, Erlang. 1886.
Litteratur: Ausgaben von C. Th. Zumpt, Braunschw. 1838; Beier, Leipz. 1820 — 31.
Mit deutschem Kommentar von Ungbb (1852), J. v. Gbuber (Teubner); C. F. Müller
(Teubner); Heine (Weidmann) u. a. Kritische Handausgabe von Schiche (Freytag).
171. Verlorene philosophische Schriften. Ein Teil der in das
Gebiet der Philosophie einschlagenden Schriften ist uns nicht erhalten.
Es sind folgende:
1) Consolatio. Im Anfang des J. 45 war Ciceros vielgeprüfte*)
Tochter gestorben. Seine Freunde sprachen ihm Trost zu; ein schönes
Denkmal ist der Brief des Sulpicius Severus (Ep. 4, 5). Allein Cicero suchte
auch sich selbst zu trösten; er las daher griechische Trostschriften und
schrieb selbst eine solche, welche uns verloren ging. Allein ein Bild der-
selben erhalten wir einmal durch die bald darauf entstandenen Tusculanen,
welche im ersten und dritten Buch verwandte Gedanken aussprechen und
auch öfters auf die Consolatio Bezug nehmen; dann durch das Epitaphium
Nepotiani (Ep. 60) des hl. Hieronymus, der hier die Consolatio benutzte.
Was die Quellen anlangt, so steht durch ausdrückliches Zeugnis Ciceros
fest, dass Krantors berühmte Schrift negl näv&ovg benützt wurde. Eine
genauere Untersuchung der Quellen kann nur in Verbindung mit den
^) Kurz führt Drümann 6, 710 ihre Schick-
sale vor: Das Unglück verfolgte sie von der
Jugend bis zum Grabe, und aus Haas gegen
den Vater verleumdeten sie freche l^en-
Schänder, als sie nicht mehr war. Ihr erster
Gemahl (C. Calpumius Piso Frugi), ein braver
Mann, lebte nicht lange; von dem zweiten
(Furius Crassipes) wurde sie geschieden, nach
harten Prüfungen auch von dem dritten
(P. Cornelius Dolabella), weil er zu dem
Auswurf der vornehmen Welt gehörte; der
Vater verstiess die Mutter; ein Kind nahm
ihr der Tod, bald nach der Geburt des andern
starb sie selbst, und zu dem allen gesellte
sich der Bürgerkrieg.
Giceros philosophische Schriften. 261
Tusculanen angestellt werden. Die meisten Fragmente der Schrift sind
uns durch Lactantius erhalten, dem sie zur Polemik Anlass gegeben. Es
sind besonders die Gedanken, dass das Leben eine Strafe für die Sünden
sei (fr. 8 M.), dass es das beste sei, gar nicht geboren zu sein, das nächst-
beste aber, sobald als möglich zu sterben (fr. 9).
ad Att. 12, 14, 3 qiwd me ab hoc maerore reereari vis, facis %U omnia; sed nie mihi
HÖH defuisse tu tesiis es: nihil enim „de mcterore minueHdo^ scriptum ab ullo est, quod ego
HÖH domi tuae legerim; sed omnem consolatianem vincit dolor. Quin etiam feci, ^^wd pro-
fecto ante me nemo, ut ipse me per lUteras consolarer, quem librum ad te mittam, si de-
scripserint librarii: affirmo tibi nüUam Consolationem esse talem. Der Brief geschr. März 45.
Auf die CoHsolatio nehmen die Tusc. Bezug 4,29,63 1,34,83 1,31,76 1,26,65
3,31,76 3,28,70. Bxtresch p. 95 ist der Ansicht, dass Cicero die Gedanken der Conso-
latio, nur in besserer Ordnung, in die Tose, herübergenommen.
Hieron. ep. 60 legimus Crantorem, cuius volumen ad eonfovendum dolorem secutus est
Cicero, Plaionis Biogenis Clitomachi Carneadis Posidonii ad sedandos luctus opuscula
percurrimus qui diversis aetatibus diversorum luctum vel libris vel epistolis minuere sunt
conati, ut etiam si nostrum areret ingenium de iUorum posset fontibus irrigari Quid
memorem Bomanos ducesf . . . quorum non minor in luctu quam in bellis virtus fuit et
quorum orbitates in Consolationis libro TuUius explicavit. Dass Hieronymus nicht die ge-
nannten Quellenschriftsteller gelesen, verrät er selbst, Cameades hatte ja ausser Briefen
nichts geschrieben. Hieronymus benützte bloss Ciceros Consolatio, (Bübesch p. 48.)
Die Benützung Crantors bezeugt Cicero bei Plinius n. b. praef. 22 in Consolatione
filiae, Crantorem, inquit, sequor.
Litteratur; Schneider, De consolatione Cic,, Bresl. 1835. Schulz, De Cic. eonsoL,
Greifsw. 1860. Bubbsch, Consolationum a Graecis Romanisque scriptarum hist, crit,, Leipz.
Stnd. 9, 1 vgl. p. 94.
2) Hortensius. Als Cicero infolge der politischen Verhältnisse eine
unfreiwillige Müsse erhielt und daran ging, alle Teile der Philosophie für
seine Landsleute lateinisch zu bearbeiten, war sein erstes, durch eine Schrift
zum Studium der Philosophie aufzumuntern, d. h. einen Xoyog nqoxqsTmxdq
ngog ipikoao<piav zu schreiben. Es geschah dies in einem Dialog, der Hör-
tensius betitelt war. Die Handlung wird in die Villa des LucuUus verlegt
(fr. 17. 18 M.). An dem Dialog beteiligten sich LucuUus (fr. 11) und Catulus
(fr. 14); die Hauptträger des Gesprächs aber waren Hoiiiensius und Cicero.
Wie es scheint, begann die Unterredung mit der Wertschätzung der
verschiedenen Wissenschaften; Lucullus lobte die Geschichte; auch von der
Rhetorik war die Rede (fr. 14). Alsdann kam man auf die Philosophie,
welche von Hortensius bekämpft, von Cicero aufs wärmste verteidigt wurde.
Unter den Argumenten, welche Hortensius gegen die Philosophie ins Treffen
führte, befand sich der, dass ja diese Disziplin erst in verhältnismässig
später Zeit aufgekommen sei, woraus sich ergebe, dass sie nicht Weisheit
sei (fr. 32). In der Gegenrede Ciceros war besonders der Gedanke durch-
geführt, dass wir alle glücklich werden wollen (fr. 36), dass wir aber nur
durch die Philosophie glücklich werden können, denn das Streben, die
Wahrheit zu erforschen, bringt uns, auch wenn sie nicht gefunden werden
kann, allein das von uns allen gewünschte Glück. Das geistige Leben ist
das wahre Leben (fr. 95). Dasselbe verbürgt uns auch ein glückliches
Ende (fr. 97).
Vorbilder für Cicero bei der Abfassung waren der Protreptikus des
Aristoteles und der Protreptikus des Posidonius.
Die Schrift Ciceros fand gleich bei den Zeitgenossen Anklang. Noch
mehr wurde sie aber wegen der weihevollen Haltung von den Kirchen-
262 Römiflohe Litteratnrgeschichte. I. Die Zeit der Republik. 8. Periode.
Vätern bewundert; das Buch regte Augustin zum Studium der Philosophie
an und erzeugte bei ihm eine gänzliche Sinnesänderung. ^) Maximus (fr. 103)
und Boethius^) kennen noch den Hortensius, dann verschwindet er.
Bereits in der Schrift de fin. weist Cicero auf den Hortensius als ein gelesenes
Büchlein (1, 1, 2) : philasophiae vituperatorihus satia responsum est eo libro, quo a nMsphil<h-
Sophia defensa et coüaudata est, cum esset accusata et vituperata ab Hortensio. Qui liber
cum et tibi (Bruto) probatus videretur et iis quos ego posse iudicare arbiträrer , plura suscepi.
Das Ziel der Schrift spricht auch de div. 2, 1, 1 aus: cohortati sumus, ut maxime potuimus,
ad philosophiae Studium eo libro, qui est inscriptus Hortensius.
Litteratur: Bywateb, Journal of Philology 2, bb (grundlegende Abhandlung für
die Erkenntnis, dass der Protrepticus des Jamblichus aus dem Protrepticus des Aristoteles
geschöpft habe), üsekeb, Rh. Mus. 28, 895. Hibzel, Hermes 10,61. Diels, Archiv für
Geschichte der Philos. 1,478. Hartlich, De exhortationum a Graecis Romanisque scrip-
tarum historia et indole, Leipz. Stud. 11,209, wo über Hortensius p. 291 — 300 gehandelt
wird. Habtlich nimmt zwei Quellen an, den Protrepticus des Aristoteles und den des
Posidonius. „Fieri polest, si Aristotelis librum Cicero in manibus non habuit, ut Aristoteiis
loci, qui in Hortensio leguntur, ex Posidonio petiti sint, Quod ego tarnen contendere noUm**
(p. 300).
3) De gloria 1. II. In einem Brief an Atticus des J. 44 (Juli) 15, 27, 3
verspricht Cicero, ihm eine Schrift über den Ruhm baldigst zukommen
zu lassen. In einem etwas späteren Brief 16,2,6 lesen wir, dass das
bereits geschehen. Es war dies aber eine Abschrift, später (16, 3, 1) folgte
auch das Original, aber erweitert und verbessert. In den Büchern über
die Pflichten (2, 9, 31) wird bereits auf die Schrift Bezug genommen. Wie
flüchtig die Schrift abgefasst war, beweisen zwei Thatsachen. Einmal war
Hector und Aiax mit einander verwechselt (Gell. 15,6,1), dann hatte er
ein Prooemium verwendet, welches bereits im 3. Buch der Äcademica unter-
gebracht war; er schickte daher an Atticus ein anderes.
ad Attic. 16, 6, 4 nunc negligentiam meam cognosce: „de gloria'' librum ad te misi;
at in eo prooemium id est, quod in Äcademico tertio — itaque statim novum prooemium
exaravi et tibi misi. — Schkeider, Ztschr. f. Altertumsw. 1839 nr. 28.
4) De virtutibus handelte über die vier Kardinaltugenden; die
Schrift wird eine Ergänzung zu de officiis gewesen sein.
Hieronym. in Zach. 1,2 quattuor virtuies, prudentia, iustitia, fortitudo, temperantia,
de quibus plenissime in officiorum libris Ttdlius disputat acribens proprium quoque de
quattuor virtutibus librum. (Charis. p. 208 E.)
5) De auguriis, allem Anschein nach Ergänzung zu den Büchern
de divinaiione, daher diese Schrift hier noch nicht erwähnt wird.
de div. 2, 35, 75 existimo ius augurum, etsi divinationis opinione principio constitutum
sit, tarnen postea rei publicae causa conservatum ac retenium. Sed de hoc loco plura in
aliis, nunc ha^tenus.
6) De iure civili in artem redigendo. Durch die Beredsamkeit
trat Cicero auch in Beziehungen zu der Jurisprudenz. Freilich eine Ver-
tiefung in die einzelnen Bechtssätze wird man bei ihm nicht erwarten
können. Dagegen zeigte er Interesse für die philosophische Behandlung
des Rechts, insofern dieselbe auf Systematisierung hinauslief. Die gram-
matischen und die rhetorischen Studien hatten ja auch damals diese Rich-
tung genommen. In seiner Schrift de oratore lässt er 1, 42, 190 den Crassus
den Plan, ein Rechtssystem zu entwerfen, in Qrundzügen entwickeln. Es
') de beata vita c. 4; Confess. 3,4, 7.
2) ÜSEiTER, Rh. Mus. 28, 400.
GiceroB philosophiBche Schriften. 263
wird von der Gliederung des Rechts in Hauptabteilungen, der Gliederung
der Hauptabteilungen in Unterabteilungen, dann von den notwendigen
Begriffsbestimmungen gesprochen. Wir werden nicht irren,*) wenn wir
die Meinung aussprechen, dass Cicero selbst diesen Plan in der Schrift,
welche Quintilian allgemein andeutet (12,3,10), Gellius genauer de iure
civili in artem redigendo citiert (1, 22, 7), wirklich durchgeführt hat. Während
P. Mucius Scaevola in seinem berühmten Werk (vgl. § 80) den gesamten
Rechtsstoff in ein System zu bringen versuchte, war es Cicero sicherlich
nur darum zu thun, eine knappe Übersicht der Rechtsbegriffe zu geben.
Quint. 12, 3, 10 Et M, Tuüius non modo inier agendum nunquam est destitutua scientia
iuris, sed etiam componere aHqua de eo coeperat (hier ist der Ausdruck coeperat auffällig).
Grell. 1,22,7 M. autem Cicero in libro, qui inscriptus est de iure civili in artem redi-
gendo verba hciec posuit. Deor. 1, 42, 190 si aut mihi facere lieuerit, quod iam diu cogito,
aut alius quispiam aut me impedito occuparit aut mortuo effecerit, ut primum omne ius
civile in genera digerat, quae perpauca sunt, deinde eorum generum quasi quaedam membra
dispertiat, tum propriam euiusque vim definitione decJaret, perfectam artem iuris civilis
habebUis, magis magnam atque uberem quam difficilem et obscuram, (Dibkssk, H. Sehr. 1,1.)
7) Die Übersetzungen des Xenophontischen Oeconomicus
und des platonischen Protagoras. In seiner Jugend übersetzte Cicero
Xenophons Oeconomicus in 3 Büchern (Macrob. 3, 20, 4). Auch die Über-
setzung des platonischen Protagoras hat man als eine Jugendarbeit an-
sehen wollen, allein aus de finibus 1, 3, 7 geht hervor, dass bis dahin Cicero
noch keine platonische Schrift in der Weise des Protagoras übersetzt hatte.
Cic. de off. 2, 24, 87 Oeconomicus, quem nos, ista fere aetate cum essemus, qua es tu
nuttc, e Graeco in Latinum convertimus, — De fin. 1, B, 7 quamquam, si plane sie verterem
Platonem aut Aristotelem, ut verterunt nostri poUae fctbulas, male, credo, mererer de meis
civibus, si ad eorum cognitionem divina illa ingenia transferrem, Sed id neque feci adhuc,
nee mihi tamen, ne faciam, interdictum puto. Vgl. die Interpretation dieser Stelle Yon
Philippson, Fleckeis. J. 133, 423.
172. Charakteristik der philosophischen Schriftstellerei Giceros.
Zur Beurteilimg der philosophischen Schriften Giceros ist es vor allem
notwendig, sich die äusseren Bedingungen vor Augen zu halten, unter
denen sie zu stände kamen. Nicht durch einen inneren Drang wurde
Cicero zur philosophischen SchriftsteUerei geführt, sondern erst in seinen
späten Lebensjahren durch die äusseren politischen Verhältnisse. Durch
dieselben zum Rückzug von der Politik verurteilt, glaubte er seine Zeit
am besten anwenden zu können, wenn er sie der Schriftstellerei widmete.
Bereits der nach dem ersten Triumvirat eingetretene Umschwung der Dinge
hatte ihm eine unfreiwillige Müsse auferlegt;^) eine zweite schuf die Dik-
tatur Caesars. In dieses letzte Otium, das den Zeitraum von etwa zwei
Jahren umfasste, fallen zahlreiche Arbeiten auf dem Gebiet der Philo-
sophie. Es ist klar, dass in einer so kurzen Zeit in keiner Weise selbst-
ständige Forschungen geliefert werden konnten. Es war dies um so weniger
möglich, als Cicero auch früher niemals den Schwerpunkt in das Studium
der Philosophie gelegt hatte. Cicero gab daher im wesentlichen nur Über-
tragungen aus dem Griechischen, in bezeichnender Weise nennt er selbst
seine philosophischen Werke „apographa^ . Für die Form dieser Über-
tragungen war der philosophische Standpunkt, den Cicero einnahm, mit-
') DiBKSBN p. 17.
') Dbumann 6, 27 mit den SteUen unter nr. 31.
264 Bömische Litteratnrgeflcliiclite. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
entscheidend. Die neuere Akademie, der er anhing, verlangte eine grosse
Zurückhaltung mit dem Urteil, eine gewisse Skepsis, eine vorurteilsfreie
Betrachtung fremder Ansichten. Er konnte daher in seinen Schriften die
verschiedenen Schulen zu Wort kommen lassen. Dies legte die Form des
Dialogs nahe, nicht des künstlichen platonischen Dialogs, sondern des aristo-
telischen d. h. des Scheindialogs. Es halten die verschiedenen Yeitreter
der Philosophie zusammenhängende Reden, nur die Scenerie und einige
eingestreute Worte erinnern an den Dialog. Den Stoflf schöpft unser Autor
aus landläufigen Kompendien. Wir können noch nachweisen, wie flüchtig
er dieselben benützt und wie oft er sie missverstanden hat. Auch das
lässt sich noch darthun, dass manchmal, wenn ein System zur Widerlegung
eines anderen vorgeführt wird, Sätze und Gegensätze nicht in Harmonie zu
einander stehen ; es rührt dies daher, dass die von Cicero benützten Kom-
pendien eben nicht für einander verfasst waren. Mehr von Eigenem konnte
Cicero geben, wenn es sich um moralische Gemeinplätze handelte; auch
Erläuterungen durch Beispiele aus der Geschichte konnten hier in die Theorie
eingeschaltet werden. Bei einer solchen Sachlage kann darum von einer
wesentlichen Förderung der Philosophie durch Cicero keine Bede sein.
Sein Verdienst ist in der Latinisierung und Popularisierung der
griechischen Philosophie zu suchen. Was die Latinisierung anlangt, so
sind die Schwierigkeiten, welche zu überwinden waren, nicht gering an-
zuschlagen; schon die Ausprägung einer lateinischen philosophischen Ter-
minologie war keine leichte Aufgabe. Noch mehr Wert legte aber Cicero
auf die geschmackvolle, anmutige Form und hier scheint er Epoche gemacht
zu haben, denn seine Vorgänger, die Epikureer Amafinius, Rabirius und
Catius, hatten nach seinem Zeugnis die Kunst der Darstellung vollständig
vernachlässigt. Das, was Cicero anstrebte, durch seine Schriften das Inter-
esse für die griechische Philosophie in ihrem ganzen Umfang in den weiteren
Kreisen seiner Mitbürger zu wecken, hat er ohne Zweifel erreicht.
Über sein otium als Anlass seiner philosophischen Schriftstellerei spricht er oft in
seinen Vorreden z. B. de div. 2, 2, 6 ac mihi ^idem explicandae philoacphiae causam adtulU
casus gravis civitatis, cum in armis civilibus nee tueri meo more rem publicam nee nihil
agere poieram nee, quid potius, quod quidem me dignum esset, agerem, reperiebam.
Die bezeichnenden Worte bezüglich der apographa stehen ad Attic. 12, 52, 3 'Jn6y^ag>a
sunt: minore labore fiunt; verba tantum affero, quibus ahundo.
Über seinen philosophischen Standpunkt äussert er sich mehrfach. Acad. pr. 3, 7
neque nostrae disputcUianes quidquam aliud agunt, nisi ut in tUramque partem dicendo
et audiendo eliciant et iamquam exprimant aliquid, quod aut verum sit aut ad id quam
proxime accedat; nee inter nos et eos, qui se scire arbitrantur, quidquam interest, nisi
quod illi non dubitant, quin ea vera sint, quae defendunt, nos prdabilia muHa hdbemus,
quae sequi facile, adfirmare vix possumus; hoc autem libertäres et solutiores sumus, quod
integra nobis est iudicandi potestas, nee, ut omnia, quae praescripta et quasi imperata
sint, defendamus, necessitate ulla eogimur. De fin. 1, 2, 6 tuemur ea, quae dicta sunt ab
iis, quos probamfts, eisque nostrum iudicium (?) et nostrum scribendi ordinem adiungimus.
De off. 2, 2, 8 quid est igitur, quod me impediat ea, quae probabüia mihi videantur, sequi,
quae contra, improbare atque adfirmandi arrogantiam vitantem fugere temerUatem, quae
a sapientia dissidet plurimum?
Ciceros nachlässige Benützung der Quellen charakterisiert Useneb, Epic. p. LXV
bene profecto actum nobiscum esset, si optimorum librorum vel Panaetii ac Posidonii apo-
grapha nobis reliquisset . at nego Ciceronem eum fuisse qui philosophum Graecum veritatem
spinosa arte exputantem et in viscera rerum penetrantem sequi aut vellet aut passet . foro
natum erat hoc ingenium, non scholas . . . igitur, ut quanta ubique Ciceronis sit fides ex-
ploretur, non id solum quaerendum est, quem sequatur scriptorem Graecum, sed sana
Ciceros historische und geographische Schriften. 265
strenmaque interpretatione, observando renim tractatianem et aententiarum ordinem specu-
landum, qua scribat ratione, quo modo quem sequendum sibi proposuerit exprimat . quam
viam cum G. 'Ueylbutiua indicasset, qui post eum de auctoritale Ciceronis disptUaveruni
pJerique minime ea qua par fuit eonstantia tenuerunt — umbram captes eamque fdüacem
si quaeras quem auctorem sequi Cicero voJuerit, nisi aimul quo modo sequatur, expresserit
necne, explares.
Seine Vorgänger charakterisiert Cicero Acad. post. 1, 5 vide8 non passe nos Amafinii
aut Rabirii similes esse, qui nuUa arte adhibita de rebus ante ocufos positis tmlgari sermone
disputant, nihil definiunt, nihil partiuntur, nihil apta interrogatione concludunt, nullam
denique artem esse nee dicendi nee disserendi putant. Tose. 1, B, 6 2, 3, 7 4, 3, 6; Cic. £p.
15,9,2 Epicurus, a quo omnes Catii et Amafini, mali verborum interpretes proficiscuntur,
15, 16, 1. Dagegen Quint. 10, 1, 124 in Epicureis levis quidem, sed non iniucundus tarnen
auctor est Catius,
Über die Popularisierung der griechischen Philosophie vgl. Tusc. 1, 3, 5 phUosophia
iacuii usque ad hanc aetatem nee uUum habuit lumen Utterarum Latinarum; quae inlu-
stranda et excitanda nobis est, ut, si oecupati profuimus aliquid civibtis nostris, prosimus
etiam, si possumus, otiosi. De nat. deor. 1, 3, 7.
Bezüglich der Vorreden ist interessant ad Atüc. 16, 6, 4 habeo volumen prooemiorum:
ex eo eligere soleo, cum aliquod avyyQafifia institui,
Litteratur: Eühker, Cic. in philosophiam merita, Hamb. 1825. Herbabt, Über
die Philosophie Ciceros, SftmÜ. W. 12, 169 findet an Ciceros philosophischer Schriftstellerei
drei Momente rOhmend hervorzuheben 1) die skeptische Sinnesart; 2) die feste und tiefe
Überzeugung, womit er der Gültigkeit der moralischen Ideen huldigt; 3) seine lautere
Achtung f£' die Philosophie in ihrem ganzen Umfange, als eins der vorzüglichsten
Bildungsmittel der Menschen, ja der Nationen; welches an die römische Sprache zu knüpfen
ihm eine Angelegenheit ist, die er seinen übrigen Sorgen um den Staat zur Seite stellt (p. 174).
e) Die historischen und geographischen Schriften Ciceros.
173. Die Memoiren Ciceros. Die historische Schriftstellerei Ciceros
beschränkt sich auf das Memoire. Vor allem war es sein Konsulat, das
er einer mehrfachen Verherrlichung in Prosa und in Poesie, in lateinischer
und in griechischer Sprache für wert hielt (vgl. § 175), Als Pompeius in Asien
stand, richtete Cicero an denselben einen Brief über sein Konsulat, welcher den
Umfang eines Buchs hatte, und schlug in demselben einen sehr hochfahrenden
Ton an. Im J. 60 schrieb Cicero an Atticus (1, 19, 10), dass er ihm ein
Memoire über sein Konsulat in griechischer Sprache überschicke. Zu
gleicher Zeit stellt er die Übersendung einer lateinischen Bearbeitung 'in
Aussicht. Auf die äussere Form scheint er grosse Sorgfalt verwendet zu
haben; in einem zweiten Brief an Atticus (2, 1, 1) wird von ihm berichtet,
er habe die ganze Salbenbüchse des Isokrates, die Schmuckkästchen der
Schüler desselben ausgebeutet, ja auch aristotelische Farben aufgetragen.
Posidonius, den er auch um Verherrlichung seines Konsulats angegangen,
sei durch das Werk nicht ermimtert, sondern abgeschreckt worden. Dieses
vnofivrjfia tfjg vTraretag ist uns verloren gegangen, allein wir können das-
selbe in seinen Grundzügen restituieren, da Plutarch dasselbe in seinem
Leben Ciceros c. 10 — 23 ausgezogen hat. Im J. 59 begann er eine ge-
heime Geschichte, dvtxdoTa,^) auch expositio consiliorum suorum (Ascon. p. 74
K. Seh.) oder p-atio consiliorum suorum (Charis. p. 146 K.) genannt. Auch
nach dem Tod Caesars ist in den Briefen an Atticus viel von diesem
Heraklidischen Unternehmen die Rede.*) Die Schrift wurde ohne Zweifel
erst nach dem Tode des Verfassers herausgegeben.
«) ad Attic. 2, 6, 4 14, 17, 6. Vgl. Habnbckeb, Fleckeis. J. 123, 184.
«) ad Attic. 15, 4, 3 15, 13, 3 15, 27, 2 16, 2, 6.
266 BOmiBche Lüteratnrgeflchiolite. I. Die Zeit der Bepnblik, 2. Periode.
Das Zeugnis über das an Pompeius gerichtete Memoire steht schol. Bob. p. 270 0.
significat epiattdam nou mediocrem ad instar voluminia scriptam, quam Pompeio in Asiam
de rebus suis in eonsulatu gestia miserat Cicero aliquanto, iU vidMtur, insolentius
scriptam, ut Pompei stomachum non mediocriter eommoveret: quod quadam superhiore iac-
tantia omnibus ae gloriosis ducibus anteponeret, (pro Sulla 24, 67.)
Über das vnofiytjfia jfjg fSnatsiag ad Attic. 1, 19, 10 commentarium consulatus mei
Graece compositum misi ad te, — Ijotinum si perfecero^ ad te mittam. 2, 1, 1 meus liber
totum Isocrati myrothecium atque omnes eius discipulorum areulas ac nonnihil etiam
Aristotelia pigmenta consumpsit — ad me scripsit iam Bhodo Posidonius, se nostrum illud
vnofiytjfia cum legeret, quod ego ad cum, ut ornatius de iisdem rebus scriberet, miseram,
non modo non excUatum esse ad scribendum, sed etiam plane perterritum. — Tu, si tibi
placuerit liber, eurabis ut et Athenis sit et in ceteris oppidis Graeciae; videtur enim posse
aliquid nostria rebus lucis adferre, Dass dieses vnSfiyrjfia im Auszug bei Plutarch Gic.
10—23 vorliegt, hat Weizsäcker in einer trefflichen Abhandlung Fleckeis. J. 111,417 dar-
gethan. Ergänzungen gibt Buresch in den Comm. philol. zu £hren Ribbecks p. 219.
Ober die Änecdota vgl. Die 39, 10 p. 190 Bekksb ßißUoy ii anog^roy avyi&tpcs xai
indygaiffsy avj^ tug xai negi xiav iavrov ßovXsvfidtoMf dnoXoyiafioy riya ex^'^^'
174. Oeographisches. Im J. 59 wurde Cicero von seinem Freund
Atticus aufgefordert, ein geographisches Werk zu schreiben. Und wirklich
finden wir ihn von dieser Aufforderung an mit dem Gegenstand beschäftigt.
FreiJich stiess er auf mehr Schwierigkeiten, als er erwartet hatte. Die
Geographie widerstrebt ja der rhetorischen Behandlung in hohem Grade.
Er scheint aber doch zu Ende gekommen zu sein; denn Priscian citiert
1,267, 5 H. eine Stelle aus einer Ghorographia Giceros.
ad Attic. 2f 4, 3 (aus dem J. 59) De geographia, dabo operam, ut tibi satisfaciam;
sed nihil certi polliceor. Magnum opus est, sed tamen, ut iubes, curabo, ut huius peregri-
nationis aliquod tibi opus extet, 2, 6, 1 yetay^afpixa, quae constitueram, magnum opus est.
— Et hercule sunt res dif fidles ad explicandum et ofioeidetg nee tam possunt ay&tjgo-
ygtt(peTa&ttt, quam videbantur, 2, 12, 3 quod me, ut scribam aliquid, hortaris, crescit mihi
quidem materies, ut dids, sed tota res etiam nunc fluctuat; xar' ontugt^y tqv(. Quae si
desederit, magis erunt iudicata, quae scribam; quae si statim a me ferre non potueris,
primus habebis tamen et aliquamdiu solus.
Vielfache Berührung mit der Geographie haben auch die Admiranda gehabt, ein
ciceronisches Werk, das Plinius an mehreren Stellen, zweimal mit Angabe des Titels
(31,12 31,51), citiert.
() Ciceros Gedichte.
175. Ciceros politische Gedichte. Von Cicero als Dichter kann
ernstlich nicht die Rede sein; es ging ihm jede dichterische Anlage ab;
nur die Kunst des Versificierens konnte er sich bei seinem ausgesprochenen
formalen Talent aneignen. Allein der Ehrgeiz lockte ihn auch auf dieses
Gebiet. Nicht bloss versuchte er sich in Übersetzungen und Bearbeitungen
griechischer Muster, sondern er ging auch selbständig vor und verfasste
einige politische Gedichte. Das passendste Objekt für eine Dichtung schie-
nen ihm natürlich seine eigenen Thaten zu sein ; er liess es auch an Auf-
munterungen an andere, dieselben zu besingen, nicht fehlen. Da dies keinen
rechten Erfolg hatte (ad Attic. 1, 16, 15), so musste er im Jahre 60 selbst
ans Werk gehen imd der Verkünder seines eigenen Ruhmes werden. Es
sollten zugleich drei Schriften seinem Konsulat gewidmet werden, eine
griechische Denkschrift, eine lateinische und endlich ein Gedicht (ad Attic.
1, 19, 10). Dieses Gedicht war im Jahre 55 in den Händen des Publi-
kums; denn in der Rede gegen Piso, welche in dieses Jahr fällt, musste
er bereits den viel verspotteten Vers
cedant arma togae, concedat laurea laudi
Cicerofl Gedichte. 267
verteidigen (29, 72). Doch dieses Gedicht über sein Konsulat, das drei
Bücher umfasste, genügte ihm noch nicht; auch die Zeit seiner Verbannung
und seine Rückkehr bot Stoff zur Selbstverherrlichung. In einem Briefe
des J. 54 (Ep. 1, 9, 23) spricht er von einem Gedicht „de temporibus meis*'.
Da er dieses Gedicht ausdrücklich als ein noch nicht herausgegebenes
in jenem Briefe bezeichnet, so können wir dasselbe nicht mit dem bereits 55
bekannten Epos über sein Konsulat identifizieren, wir haben vielmehr eine
Ergänzung zur ersten Dichtung. Von diesem Gedicht de temporibus meis,
das auch aus drei Büchern bestand, haben wir kein sicheres Fragment;
dagegen sind uns mehrere aus dem Preise seines Konsulats erhalten, dai'-
unter die langweilige Rede der Urania über die Zeichen, welche der cati-
linarischen Verschwörung vorausgegangen waren (de div. 1, 17 — 22).
Gleichfalls im Jahre 54 schrieb er, um sich Cäsar gefällig zu erweisen, ein
Gedicht über dessen britannische Expedition (ad Q. fr. 2, 13,2; 3, 9,6);
wir kennen kein Fragment dieser Dichtung. Endlich ist noch das Epos
«Marius' zu erwähnen, welches sicher durch landsmannschaftliche Rück-
sichten hervorgerufen wurde. Die Zeit desselben lässt sich nicht sicher be-
stimmen. An das Gedicht knüpfen die „Gesetze* Ciceros (wohl aus dem Jahre
52) an; allein wenn der Vers, den Cicero in einem Briefe an Atticus (2,
15, 3) anführt, wie kaum zu bezweifeln ist, aus dem Marius stammt, so
war das Gedicht bereits 59 vorhanden. Höchst wahrscheinlich müssen wir
noch weiter zurückgehen. Ein längeres Bruchstück bietet de div. 1, 106.
176. Ciceros ttbrige Oedichte und Über Setzungen. In seiner
Jugend schrieb Cicero in Tetrametern ein Gedicht über den Meergott Glau-
kos, das zur Zeit Plutarchs (Cic. 2) noch vorhanden war. Weiterhin wird
eine Elegie von ihm erwähnt (Serv. zu Vergil. Ecl. 1, 58), als deren wahr-
scheinlichen Titel Heinsius „Thalia tnaesta^ hergestellt hat. Es wäre so-
nach die Geschichte einer sicilischen Nymphe behandelt (Bähbens zu
fr. 21 p. 306). Jul. Capit. Gord. 3, 2 lehrt uns die drei Gedichte Alcyone,
eine Verwandlungsgeschichte, Nilus, eine Beschreibung des Nil und Uxo-
rius, der Weiberknecht kennen. Von dem letzten Stück abgesehen weisen
alle diese Versuche auf alexandrinischen Ursprung. Was der „Uxorius**
gewesen, lässt sich nicht sicher sagen, wahrscheinlich eine Komödie (viel-
leicht nach einer yvraixoxQaTta). In der vita des Terenz 5 citiert Sueton
unter dem Namen Cicero einen Limon und teilt daraus 4 Hexameter über
Terenz mit. Auch ciceronische Epigramme gab es, vgl. Quint. 8, 6, 73.*)
Ein solches skizziert Plinius Ep. 7, 4, 6 ; wir sehen daraus, dass es mit
Catull 99 auffallende Ähnlichkeiten hatte. ^)
An Übersetzungen griechischer Dichter haben wir einmal Einlagen
seiner Schriften, dann die für sich bestehende des astronomischen Lehr-
gedichts des Aratos, von der ein grosser Teil erhalten ist. Aratos behan-
delte in erster Linie die ^atvofuva, die Himmelserscheinungen, in einem
Anhang die Wetterzeichen (die Grammatiker nennen daher diesen letzten
Teil Jtocrjfietai, Cicero Prognostica = nQoyvwaei^ did aijfietcov). Seine Über-
*) Das Citat nennt einen „ioeularis libeüus".
') Harubcksb, Fleckeis. J. 133, 275.
268 RönÜBche Litteratorgeflchiohie. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Setzung der Aratea bezeichnet Cicero bestimmt als ein Jugendwerk (de nat.
deor. 2f 104), und jugendliche Fehler sind nicht selten. Auf die Übersetzung
der Prognostica in späterer Zeit (um 60) aus ad Attic. 2, 1, 11 ^) zu schliessen,
erachte ich für bedenklich.
Litteratur: Ausser den Ausgaben gibt die poetischen Fragmente Ciceros Bahbens
und zwar die Areata vol. I pofitae lat min. p. 2, die übrigen fragm. ^o6t. Roman, p. 298.
Für die Aratea haben wir nicht bloss einzelne Stellen, sondern auch einen aus 480 Versen
bestehenden, zusammenhängenden Abschnitt der Phaenomena handschriftlich (Harleianus
647 s. IX, Dresdensis 183 s. X). Bekannt ist die geistreiche Ergänzung der Aratea von
Hugo Grotius. — Sibo, De , , . Ärati interpretibue, Halle 1886. Gbollmus, de M. Cicerone
pcS^ta, Königsb. 1887. M. Haupt, Opusc. I 211 über den Marius, den er kurz vor den .Ge-
setzen* ansetzt. Ribbeck, Rom. Dient. 1, 296 — 302.
177.' Bttckblick auf die ciceronische Schriftstellerei. Nachdem
wir die verschiedenen litterarischen Zweige, in denen sich die Schrift-
stellerei Ciceros bewegte, durchgegangen haben, erübrigt noch, die Schriften
Ciceros, soweit möglich und rätlich, nach den Jahren vorzuführen.
81 p. Quinctio. 56 De harusp. response, j). Sestio, in Vatin.,
80 p. Roscio Am. p. Gaelio, de provinciis consularibus, p.
72 oder 71 p. Tullio. Balbo.
70 die Yemnen. 55 In Pison., De oratore.
69 p. Fonteio, (p. Gaecina). 54 p. Plancio, p. Scauro, p. Rabirio Postume,
(68 p. Roscio com.) De republica begonnen (De tempo-
68 — 43 Briefwechsel mit Atticus. ribus meis), Gedicht über die brit.
66 de imp. Gn. Pompei, p. Gl. Habito. Expedition Gaesars.
65 n. Gomelio. 53 De aere alieno Milonis.
64 In toga cand. 52 p. Müone, De legibus angefangen.
63 Die kons. Reden: de lege agraria, pro 46p.Marcello,p.Ligario,Brutu8,Paradoxa,
Rab. perd. reo, die catilinarischen Reden, Orator, De optimo genere orator.,
p. Murena. (De partitione erat.).
62 p. Sulla, p. Archia. 45 p. Deiotaro, Gonsolatio, Hortensius,
62 — 43 £p. ad familiäres. De finibus, Acad., Tuscul. ange-
61 In Glod. et Gur. fangen.
60 Memoire Über sein Konsulat, Ge- 44 Die ersten 4 philipp. Reden, Briefwechsel
dicht über dasselbe. mit Brutus, De natura deorum voll-
60 — 54 Briefw. mit Q. Cicero. endet, Gate maior. De divinatione,
59 p. Flacco, dyexdora begonnen, Gho- De fato, (Timaeus), De gloria, To-
rographie (Marius). pica, Laelius, De officiis, (De vir-
57 die Reaen post reditum:. im Senat, vor tutibus), (De auguriis)*
dem Volk, de domo. 43 Die übrigen philipp. Reden.
Aus dieser Übersicht ersehen wir sofort, dass die rednerische Thätigkeit
Cicero von der Jugend bis zum Alter begleitet, dagegen die eigentliche
wissenschaftliche Schriftstellerei erst in den späteren Jahren seines Lebens
hervortritt. Und zwar sind es besonders zwei Perioden, in denen er wissen-
schaftliche Schriften produziert, die Jahre 54 — 52 und die Jahre 46 — 44.
Beide Male war es die Unzufriedenheit mit der politischen Lage und die
Vereinsamung, welche Cicero zur litterarischen Beschäftigung veranlasste
und zwar, nachdem er die Mittagshöhe des Lebens überschritten. Auch
das erkennen wir, dass Cicero besonders in der zweiten Periode eine so
reiche Schriftstellerei entfaltet, dass er in derselben unmöglich Originelles
darbieten kann. Und in der That sind der eigenen Gedanken in diesen
Schriften wenige ; was er gibt, schöpft er fast alles aus griechischen Schrift-
stellern. In den rhetorischen Schriften konnte sich noch seine reiche Er-
fahrung geltend machen; auch in den politischen Traktaten brauchte der
») Vgl. Jordan, Krit. Beitr. p. 299.
Rftckblick. Fortleben Ciceroa.
269
Verfasser nicht auf Selbständigkeit zu verzichten; dagegen ist er in den
eigentlich philosophischen Abhandlungen nichts als ein Eompilator. Es
kann keinem Zweifel unterliegen, die glänzende Form ist es, welche den
ciceronischen Schriften ihren Zauber verleiht. In der Periodisierung und
in der damit notwendig verbundenen Wortfülle hat er es zu anerkannter
Meisterschaft gebracht. Diese glänzende Aussenseite hat ihm die Bewun-
derung seiner Zeit und der späteren Epochen eingetragen. Nicht aber
konnten diejenigen bei Cicero Befriedigung finden, welche in dem Schrift-
steller zugleich eine grossartige Persönlichkeit suchten und welche das
Wort als den Ausdruck innerer Überzeugung auffassten; selbst die Reden
mussten ihnen eine Enttäuschung bereiten. Heutzutage, wo der Kultus der
lateinischen Rede verschwunden ist, muss Cicero als eine gefallene Grösse
angesehen werden.
Um richtige Würdigung Giceros hat sich niemand grössere Verdienste erworben als
Dbuxann in seinem § 140 erwähnten Werk. Auch Moxxsev hat in seiner römischen Ge-
schichte an verschiedenen Stellen (3*, 579 619 622) mit scharfen Strichen ein Bild Giceros
gezeichnet, das mit der landläufigen Vorstellung sehr kontrastiert
Gesamtausgaben Giceros. Wir f&hren nur die neueren an: Die von Obelli,
Zürich 1826 — 30 4 Bde. Hiezu kommt ein V. Band, der die Scholien und Erläuterungs-
schriften zu Gicero enthält, und drei Bände (VI — VIII), Onomasticum TuUianum etc. um-
fassend. Zweite Ausgabe von Obelli, Baiteb, Halm, Zürich 1845 — 62. Diese zweite bildet
die kritische Grundlage der cic. Schriften. Textausgaben von Klotz, in neuer trefflicher
Bearbeitung von Mülleb (Teubner), von Baiteb und Katseb (Tauchnitz).
178. Fortleben Giceros. Eine Geschichte des Giceronianismus ist
noch zu schreiben. Wir können selbstverständlich nur einige Beiträge geben.
Sehr bald trat Cicero in die Litteratur ein; sowohl seine politische als
seine litterarische Thätigkeit wurden Gegenstände der Forschung. Noch
zu Lebzeiten Giceros schrieb Atticus eine Geschichte seines Konsulats in
griechischer Sprache (§ 116); es kam die Biographie Giceros von Gornelius
Nepos (§ 126), endlich die jedenfalls apologetische Lebensbeschreibung, welche
Giceros Freigelassener, M. Tullius Tiro, verfasste. Eine hervorstechende
Eigentümlichkeit der ciceronischen Schriften war der witzige Ausdruck.
Auf diesen Gegenstand warf sich zuerst das litterarhistorische Studium.
So legte G. Trebonius (43 von Dolabella ermordet), wie man aus Ep. 15,21
schliessen muss, eine Sammlung der ciceronischen Witzworte an.^) Auch
unter dem Namen Tiros war eine solche Witzsammlung in Umlauf. Weiter-
hin erregte das litterarische Interesse der Briefwechsel Giceros. Als Gicero
noch am Leben war, hatte Tiro bereits eine Sammlung von 70 Briefen
zusammengebracht. Die Veröffentlichung der Korrespondenz Giceros er-
folgte nach seinem Tode allmählich; so kann das spätere Erseheinen des
Briefwechsels mit Atticus aus Zeugnissen erschlossen werden. Auch die eine
oder die andere Schrift wie die Anecdota, wahrscheinlich die leges, ist erst
aus dem Nachlass herausgegeben worden. Dass bald das Bedürfnis sich
ergab, zusanmienfassende Ausgaben der ciceronischen Schriften zu veran-
stalten, liegt in der Natur der Sache. In der That hören wir von einer
Ausgabe ciceronischer Reden durch Tiro. Auf die Reden warf sich zuerst
*) Die Stelle heisst: liber iste, quem mihi
mitistif quanlam höhet declaraiionem amaria
tuif primum, quod tibi facetum videtur, quid'
^id ego dixi, quod aliis fortasse non item;
deinde, quod iüa, sive faceta sunt sive sectM,
fiunt narrante te venustissima; quin etiam,
antequam ad me reniatur, risu8 omnis paene
conmimitur.
270 BOmisohe LitterainrgeBohiohte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
auch die kommentierende Thätigkeit; im Anfang unserer Ära schrieb
Asconius zu denselben seinen ausgezeichneten historischen Kommentar und
zwar nach einer Ausgabe, in der die Reden chronologisch geordnet waren.
Sehr früh trat die ästhetische Würdigung Ciceros in der Litteratur hervor.
Der berühmte Kritiker Asinius PoUio und der geistreiche Historiker Velleius
Paterculus sprechen Cicero ewigen Ruhm zu. ^ Aber auch an gegnerischen
Stimmen fehlte es nicht. Der Sohn des Asinius Pollio, C. Asinius Gallus,
(t 33 n. Ch.) schrieb eine Parallele seines Vaters und Ciceros und erteilte
seinem Vater die Palme.') Gegen diese Schrift schrieb der nachmalige Kaiser
Claudius.^) Selbst Griechen griffen in die litterarische Debatte ein; der be-
kannte Grammatiker Didymus schrieb gegen die Bücher über die Republik,
auf die in späterer Zeit Sueton eine Gegenschrift*) erscheinen liess. Von
den Schriftstellern der Kaiserzeit sind Quintilian und Plinius enthusiastische
Bewunderer unseres Autors; der erstere that den bekannten Ausspruch, dass
der überzeugt sein soll, Fortschritte gemacht zu haben, der an Cicero grossen
Gefallen finde ;^) der jüngere Plinius stellt aber ausdrücklich Cicero als
sein Vorbild hin.^) Aber auch damals fand Cicero seine Gegner. Von
einem Largius Licinus') wird er in leidenschaftlicher Weise angegriffen,
wahrscheinlich demselben, den die beiden Plinii öfters citieren. Den
Rhetorschulen konnte Cicero selbstverständlich nicht fremd bleiben; für
manche Themata musste er den Stoff liefern.^) Das eine oder das andere
dieser Produkte kursierte dann unter dem berühmten Namen wie z. B. die
Rede pridie quam in exilium iret (§ 145) und die Invektiva gegen Sallust
(§ 134), die epistula ad Octavianum (§ 155). Als in späterer Zeit die latei-
nische Sprache schon merkliche Unterschiede gegenüber der ciceronisehen
zeigte, musste die Wortforschung unsern Schriftsteller zum Gegenstand
machen. Etwa gegen Ende des zweiten Jahrhunderts schrieb Statilius
Maximus über vereinzelte Erscheinungen bei Cicero.®) In alten Hand-
schriften finden wir differentiae sermonum Ciceronis und eine Synonymik
unter seinem Namen. ^^) Auch die kommentierende Thätigkeit wendet mehr-
fach die spätere Zeit Cicero zu. Im vierten Jahrhundert schrieb C. Marius
Victorinus Kommentare zu Ciceros Topica und zu den philosophischen Schriften ,
*) Seneca Suas. 6, 24 p. 36 Bu. gibt uns das
Urteü des Asinius PoUio mit den Worten : huius
viri (Cic.) tot tantisgue operibus mansuri in
omne devum praedicare de ingenio cUque in-
dustria supervacuum est. Velleius 2, 66, 5 vivU
vivetque per omnem saectUorum memoriam,
') Plin. ep. 7, 4, 8 libri Asini Galli de
comparatione patria et Ciceronis, 7, 4, 6 libros
Galli, quibus iUe parenti ausus de Cicerone
dare est palmam decusque.
') Suet. Glaud. 41 composuit — Ciceronis
defensionetn (utversus Asini Galli libros satis
eruditam,
*) Suidas s. v. TQayxvXXog • ey^aipe —
n$Qi Ttjg Kixi^foyog nohreias ti ' ävTiXiyst d^
^) Quint. 10, 1, 112 hunc spectemus, hoc
propositum nobis sit exemplum, ille se pro-
fecisse sciat cui Cicero v<üde placebit,
•) Plin. ep. 4, 8, 4 M. TuUius, quem aemu-
lari studiis cupio,
7) Gell. 17, 1, 1 nonnufli tarn prodigiofti
tamque vecordes extiterunt, in quibus sunt
Gnüus Asinius et Largius Lieinus, cuiusliber
etiam fertur infando titulo 'Ciceromastix*,
ut scribere ausi sint M. Ciceronem parum
integre atque improprie atque inconsiderate
locutum,
«) Senec. Suas. VII p. 39 Bu. deliberat
Cicero an scripta sua conhurat, prominente
Antonio incolumitatem, si fecisset. Gontrov.
7, 17 p. 196 Bu.
') Gharisius p. 194, 11 Statilius Maximus
de singularibus apud Ciceronem posUis. Auch
als Emendator finden wir ihn. Vgl. unten
p. 272.
^^) Die Differentiae sind herausgegeben
von Hagbk, Suppl, gr, lat,, Leipz. 1870 p, 275.
Bezüglich der Synonyma siehe Orblli 4, 1063.
Fortleben CiceroB.
271
welche verloren gingen, dagegen sind erhalten seine Erläuterungen zur
Schrift Rhetorica. Diese Abhandlung kommentiert ungefähr um dieselbe Zeit
Grillius (§ 148). Der ersten christlichen Zeit werden wir auch den Kom-
mentar zu Ciceros Reden, bekannt unter dem Namen scholia Bobietisia,
zuzuteilen haben. ^) Von den philosophischen Schriften fand der Traum des
Scipio in den Büchern de republica einen Erklärer in Macrobius (§ 158).
Noch im sechsten Jahrhundert war die Exegese Ciceros nicht erloschen;
so schrieb Boethius einen Kommentar zur Topik (§ 154).
Durch das Mittelalter hindurch Cicero zu verfolgen, mtissten wir noch
mehr solcher Vorarbeiten haben, wie sie Schwenke für die Karolingerzeit
geliefert.^) Im grossen Qanzen lässt sich sagen, dass Ciceros Name sehr be-
rühmt war, dass er aber wenig gelesen wurde. ^) Der Kreis seiner gelesenen
Schriften war daher sehr eingeschrumpft; manche waren verschollen; manche
existierten in unvollständiger, lückenhafter Gestalt wie de oratore und der
Oratop\ Das Wiederaufleben des Ciceronianismus ist für immer mit dem
Namen Petrarca verbunden. Petrarca (1304—1374), von der glühendsten
Begeisterung für das römische Altertum erfüllt, bot seine ganze Kraft
auf, die Schriften Ciceros aus ihrem Versteck hervorzuziehen und sie
wieder zum Gegenstand der Lektüre zu machen, so dass nun die Kopierung
der Ciceronischen Werke begann. Aber auch ganz verschollene Schriften
traten jetzt ans Licht, die Auffindung eines Teils des ciceronischen Brief-
wechsels wird jederzeit eine Ruhmespalme im Leben Petrarcas bilden.
Bald folgte die Entdeckung der übrigen Teile des Briefwechsels (§ 157).
Poggio (1380 — 1459) spürte eine Reihe ciceronischer Reden auf.*) End-
lich wurde im Jahre 1422 in Lodi eine alte Cicerohandschrift aufgefunden,
durch welche die Kenntnis der rhetorischen Schriften erweitert wurde; de
oratore und der Orator waren, wie gesagt, bisher nur in verstümmelter
Oestalt bekannt, jetzt hatte man sie vollständig; der Brutus war aber ganz
verschollen. Mit dem Studium der ciceronischen Schriften ging Hand in
Hand die Nachahmung seines Stils. Wie Cicero schreiben zu können, war
das höchste Ziel der Humanisten. Diese Nachahmung, welche besonders
durch des Lauren tius Valla Elegantiae latini sermonis befördert wurde,
machte die lateinische Sprache zu einer wirklich toten. Die Auswüchse,
die sich an den stilistischen Ciceronianismus anschlössen, zu schildern,
kann nicht unsere Aufgabe sein. In unseren Tagen, in denen die Kunst
des lateinischen Stils eine untergeordnete Bedeutung hat, sind Verirrun-
gen in dieser Beziehung nicht mehr möglich. Sobald aber das Interesse
an der lateinischen Form erloschen, musste auch das Interesse an Cicero
sich mindern. Eine grössere Bewegung rief noch zu Anfang unseres Jahr-
hunderts die Entzifferung von Palimpsesten mit ciceronischen Werken
^) Einen Kommentar des Volcacins zu
den Reden Ciceros erwflhnt Hieronym. apol.
c. Rafm. 1, 16 puto quod puer legeris Äspri
in Vergüium ei Saüustium cammentarioa,
Vuleaeii in orationes Cieeronis, Vidarini in
dialogos eiua etc. Charisius p. 21 1, 20 gedenkt
eines Kommentars zur Rede p. Rabirio per-
dnellionis reo von Sacbr.
') Des Hadoardus Cicero-Exzerpte Philol.
5. Supplementb. p. 402.
') VoiOT, Die Wiederbelebung des klass.
Altert, p. 27.
^) Es sind folgende: pr. Caec, de leg.
agr., in Pison., p. Rab. Post., p. Rab. p. r.,
p. Roscio Am., pr. Roscio com., p. Murena.
272 BOmiBohe Idtieratnrgeaohiohte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
hervor. An dieser Entzifferung beteiligte sich in erster Linie Angelo Mai,
dann Peybon und Niebuhb. Wir erhielten durch dieselben Teile der Bücher
über die Republik und Fragmente von Reden (§§ 147 (p. 231), 158).
M. TulliuB Tiro, der aditUor in lUeris studiarum eiu8 (Gell. 13,9, 1), wurde von
Cicero freigelassen im J. 54 (£p. 16, 16). Seine Biographie Giceros bezeugt uns Asconius
p. 43 K. Seh., wo das 4. Buch citiert wird. Das Werk benutzte Plutarch vgl. 41 und 49.
Die Sammlung der Witze bezeugt Quint. 6, 3, 5 utinam libertus eius Tiro aut alius quis-
quis fuit, qui tris hoc de re Ubros edidit, parcius dictarum nutnero indtUsisaent,
Für die Herausgabe ciceronischer Schriften war Tiro mehrfach thfltig. Grellius er-
wähnte eine Ausgabe der Verrinen (1, 7, 1 13, 21, 16). Wahrscheinlich veranstaltete er aber
eine Ausgabe sämtlicher Reden; darauf weist eine Subscriptio hin: Statilius Maximus rursiis
emendavi ad Turonem et Laetanianum et Dom, et alioa veteres. Vgl. Jahn, Ber, d. sflchs.
Ges. 1851 p. 329. Auch Entwürfe Giceros zu Reden publizierte er. Quint. 10, 7, 30 plerum-
que muUa agentibus accidtt, ut tnaxime neeesaaria et utique initia scribant, cetera, quae
domo afferunt, cogitatiane compJectantur, subitis ex tempore occurratU. Quod feeisse M.
Tullium commentariis ipsius apparet, — Ciceronis ad praesens modo tempus aptatos (com-
mentarios) libertus Tiro contraxit: quos non ideo excuso, quia mm probem, sed ut sint
magis admirabiles. Auch um Sammlung und wohl auch um Herausgf&e der ciceronischen
Korrespondenz machte sich Tiro verdient (§ 156).
Eigene Schriften Tiros. Auch mit selbständigen Arbeiten trat Tiro hervor. Gell.
13,9,2 (Tiro) Ubros compluris de usu atque rationelinguae fatinae, item de variis
atque promiseis quaesttonibus composuit. In his esse praecipui videntur, quos Graeco
titulo naydixrag inseripsit, tamquam omne rerum atque doctrinarum genus continentis
(Gell. 6, 3, 10).
Tironische Noten. Die römische Stenographie. Da bei den Römern das
lebendige Wort eine so grosse Rolle spielte, so musste sich das Bedürfnis, dasselbe zu
fixieren, herausstellen. Die wohl auf Sueton zurückgehende Hauptstelle über die römische
Stenographie steht bei Isidor Orig. 1,21 Vulgares notas Ennius primus mille et eentum
invenit. Notarum usus erat, ut quidquid pro contione aut in iudiciis dieeretur, librarii
scriberent simuf astantes, divisis inter se partibus, quot quisque verba et quo ordine exeiperet.
Romae primus TuUius Tiro Ciceronis libertus commentaius est notas, sed tantum prae-
positionum. Post eum Vipsanius Philarggrus et Aquila libertus Maeeenatis alias addiderunt,
Denique Seneca contractu omnium digestoque et aucto numero opus effecit in quinque milia.
Notae autem dictae eo quod verba vel syUabas praefixis characteribus notent et ad notitiam
legentium revocent; quos qui didicerunt, proprie iam notarii appeUantur,
Die Abkürzung der Schrift erfolgt entweder durch Schreibung der Worte vermittels
einzelner Buchstaben, Sigeln, literae singtdares (meist der Anfangsbuchstaben) oder durch
eigene stenographische Zeichen. Die literae Singular es gehen senr weit zurück. Hier an
unserer Stelle ist nur von stenographischen Zeichen die Rede. Von den Personen, an
welche die Entwicklung der römischen Stenographie geknüpft wird, ist kein Zweifel be-
züglich des Philargyrus, der Freigelassener Agrippas 0io Gass. 55, 7) war, und des Aquila,
dessen Persönlichkeit durch die Bezeichnung als libertus Maeeenatis festgestellt ist. Audi
in Bezug auf Seneca ist jetzt Übereinstimmung erzielt, seit in Notenhandschriften „Seneca
Gordubensis poeta*^ oder „Seneca Neronis praeceptor* erscheint (Mitzschkb p. 45). Nur Ennius
macht noch Schwierigkeiten, indem die einen an den rudinischen Dichter, die anderen an
einen Grammatiker der ciceronischen Zeit denken. Allein wenn es sich um stenographische
Zeichen, nicht um literae Singular es handelt, kann man nicht den Dichter Ennius nennen
(§ 39 p. 59). Jene Zeit hatte noch mit der Konstituierung des Alphabets zu thnn, die
stenographische Zeichenschrift gehörte einer späteren Zeit. Dass erst in der ciceronischen Zeit
die Stenographie praktisch ausgeübt wurde, folgt aus Plut. Gat. min. 23 ovnta rjaxovv ovcT
ix^xtfjyro rovg »aXovfjtiyovg <rf}fi€ioyQtt(povg, dXXd tore TtgcStoy stg txyog ti xaxaaxrjpai Xiyoviny.
Über die Weiterentwicklung der Stenographie bemerkt Schmitz, Philologenvers, zu Trier
p. 62 : „Nach Seneca erhält sich die tachygraph. Kunst durch den folgenden Restdes Altertums,
geht dann in den Besitz des Mittelalters Über und erlebt in der Karolingerzeit eine hoho
Blüte, nimmt aber nach dem Anfang des 10. Jahrh. ab und verschwindet nach dem 12. Jahrb.
gänzlich.*) Vom 13. bis 16. Jahrh. geschieht der Tironischen Noten keine Erwähnung.**
Es ist in verschiedenen Handschriften (die älteste eine Gasseier s. VIII) eine Sanun-
lung von stenographischen Zeichen unter dem Titel Notae Tironis et Senecae erhalten.
Dieselbe zerfällt in 6 Gommentarii aus verschiedener Zeit. Abgedr. in Grutebs Thesaurus
inscr., Heidelb. 1603. Vgl. Kopps Palaeographia critiea, Mannh. 1817. Mit einem Gorpus
der tironischen Noten ist Schmitz beschäftigt.
') Über einen Versuch in der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. J. Rose, Hermes 8, 303.
Qnintmi Tnllius Cicero. : 273
Litteratur: Lehmann, Quaest. de notis Tironis et Senecae, Leipz. 1869. MitzscbTIc«,
QtMest, Tiraniatuie, Rostock. Dias. 1875. Schmitz, Beitr. zur lat. Sprachgesch. p. 179—807,
wo die sftmtliehe litteratur berücksichtigt ist.
4. Quintus Tullius Cicero.
179. Das commentariolum petitionis. Wir reihen auch den Bruder
Ciceros, Q. Tullius Cicero (102—43), obwohl er von der praktischen Be-
redsamkeit sich fern hielt, unter die Redner ein; denn in seiner Schrift-
stellerei ist lediglich das formale Moment das hervorstechende. Auch ist
die geistige Verwandtschaft der beiden Brüder, trotz Marcus ungleich be-
gabter war als Quintus, eine solche, dass dieselben nicht füglich getrennt
werden können. Von Q. Cicero sind uns erhalten vier Briefe, drei an Tiro
(Ep. 16, 8 16, 26 16, 27) und einer an Marcus (16, 16), dann das sogenannte
commentariolum petitionis, ein Essay über die Amtsbewerbung in
Form eines Briefs an seinen Bruder, geschrieben im J. 64, als sich dieser
um das Konsulat bewarb. Da aber das Gesagte auch auf andere petitores
Anwendung finden kann, so bekommt sein Brief einen allgemeineren Charakter
und gehört seinem Wesen nach zur isagogischen Litteratur, welche bei den
Römern einen festen Platz hatte (§ 13), Der Verfasser vermag nach eigenem
Geständnis nichts Neues zu liefern, sein Ziel ist, das über den Gegenstand
Zerstreute zusammenzufassen. Drei Gesichtspimkte führt er seinem Bruder
vor, dass er homo novus sei, dass er sich ums Konsulat bewerbe und dass
Rom es sei, wo sich die Bewerbung vollziehe. Am Schluss ersucht er
seinen Bruder, Verbesserungen, Streichungen, Zusätze vorzunehmen, damit
die Denkschrift die möglichst grosse Vollkommenheit erhalte. Das Ganze
ist ein schwaches Produkt, den Leser stört die pedantische Einteilung und
Gliederung und der trockene Ton; lehrreich ist das Schriftchen für die
Geschichte des ambitus. Ein Seitenstück und Gegengeschenk bildet der im
J. 60 von Marcus an Quintus geschriebene Brief über die Provinzialver-
waltung (Ep. ad Q. 1, 1). Man hat das commentariolum für unecht er-
klären wollen, besonders weil Entlehnungen aus der Rede in toga Candida,
der Rede pro Murena und der erwähnten Episttda des Marcus stattgefunden
hätten. Allein für die beiden letzten Produkte stellen sich keine schla-
genden Ähnlichkeiten mit dem commmtariolum heraus. Dagegen ist ein
Konnex zwischen dem commentariolum und der Rede in toga Candida zuzu-
geben. Allein man sieht nicht ein, was M. Cicero abhalten konnte, einzelne
Gedanken in der in demselben Jahr gehaltenen Rede in toga Candida zu
verwerten. Die übrigen Gründe wiegen nicht viel. Schon der Umstand,
dass man gezwungen war, die Abfassung des Schriftchens in die aller-
nächste Zeit nach Cicero zu verlegen, hätte Misstrauen erregen sollen.
Der Verfasser leitet seine Schrift mit den Worten ein 1, 1 non sum alienum arhi--
tratus ad ie perseribere, ea quae mihi veniebarU in mentem dies ac noctes de petitione tua
eogitatUi, non ut aliquid ex iis navi addisceres, sed ui ea quae in re dispersa atque infinit a
Hderentur esse, ratione et distribuiione sub uno aspectu ponerentur. Der Schluss lautet
14, 58; haec sunt, quae putuvi non melius scire me quam te, sed facilius his tuis occupatio-
nibus eoUigere unum in locum posse et ad te perscripta mittere, Quae tametsi ita sunt
scripta, ut non ad omnes qui honores petant, sed ad te proprie et ad hanc petitionem tuam
vdUant, tarnen tu, si quid mutandum esse videbitur aut omnino tollendum aut si quid erit
praeteritum, velim hoc mihi dicas; voh enim hoc commentariolum petitionis haberi omni
ratione perfectum. Die Disposition siehe 14, 54 haec reniebant mihi in mentem de duabus
Uuidbooh der klaas. AltcrtunmwiaMnaohaft VIH. 18
274 RönÜBohe litteraiurgeBchiolite. L Die Zeit der Bepnblik. d. Periode.
Ulis cammentcUionibus mattUiniSf quod tibi eotidie ad forum descendenti meditandum esse
dixeram: „nopus sum; consulatum petoJ* Tertium restat: „Borna est,**
Die Unechtheit will £us8neb besonders durch folgende Gründe darthun (p. 18):
vidimus ea, quae de Quinto et tradita sunt et a nobis fieri possunt, iudieia nequaquam cum
hoc commentarioH oratione congruere; cognovimus totum libellum ita esse compositum, ut
rhetoricae disciplinae alumno fortasse dignus sit, homini erudito et ab artis rhetoricae
ieiunitate alienissimo omnino non conveniat; denique talem inteUeximus esse commentarioH
similüudinem cum permültis Marci scriptorum locis, qualis casu nata esse nequeat qutteque
in eum hominem quadret, qui, cum ipse et cogitandi facuUate et dicendi copia careret^ alienas
tum locutiones tum sententias in suum usum convertit quique non eo, quo ipse simulavit anno
(c. Jan. 64, Bücheleb p. 3), sed aliquanto post ita scripsit, ut hune libellum Marco con-
sulatum peteuti suppeditari fingeret. Verständig dagegen Wirz, Philol. Anz. 5, 498.
Oberlieferung: Massgebende Quellen der Harleianus 2682 s. XI und der Beroli-
nensis 252 s. XI/XII.
180. Die verlorenen Schriften des Q. Cicero. Auch als Dichter
trat Q. TuUius Cicero auf. Im J. 54, als Legat Caesars in Gallien^ hatte
er vier Tragödien in 16 Tagen vollendet. Es war darunter eine Electra
und eine, deren Titel verdorben ist; die zwei andern sind uns unbekannt.
Weiterhin bearbeitete er die Zechgenossen {IvvSemvoi) des Sophokles
und machte eine Er igen a fertig (vielleicht beide Satyrspiele ^). Auch der
epischen Poesie wandte Q. Cicero seine Kräfte zu; er arbeitete an einem Epos
über Caesars Expedition nach Britannien. Endlich schrieb er auch ein
annalistisches Werk; unsere Quellen lassen aber keine Entscheidung zu,
ob dasselbe in gebundener oder nicht gebundener Rede abgefasst war.
ad Q. h*. 3, 6, 7 quattuor tragoedias sedecim diebus absolvisse cum scribas, tu quid'
quam ab alio mutuarisf Der verdorbene Titel ist trodam; wof&r man Troadas, Troilum,
ASropam geschrieben. Über die Erigona ad Q. fr. 3, 1, 13 3, 9, 6, über die XvvdBinvo^ 2, 15, 3.
über die britannische Expedition') ad Q. fr. 2, 15, 4 (i. J. 54) o iucundas mihi tuas
de Britannia litteras! — te vero vno&eaiy scribendi egregiam habere video. Quos tu situs,
quas naturas rerum et locorum, quos mores, quas gentes, quas pugnas, quem vero impera-
torem hohes! ego te libenter ut rogas, quibus rebus vis adiuvabo et tibi versus quos rogas
yXavx' eig *A^vag mittam. Ob das Gedicht vollendet wurde, ist nicht bekannt.
Die Annalen erwähnt Cicero ad Attic. 2, 16, 4 Q, f rater me rogat ut Annales suos
emendem et edam,
20 Hexameter de XII signis Überliefert unter dem Namen Q. Cicero der Vossianus 111.
Litteratur: Q. Ciceronis reliquiae, Rec. F. Bücheleb, Leipz. 1869 (mit Prolegomena).
EussNEB, Commentariolum petitionis, Würzb. 1872.
y) Die Fachgelehrten.
1. Die Polyhistoren.
er) P. Nigidius Figulus.
181. Abstruse Gelehrsamkeit. Vertreter einer ins Wunderliche
gehenden Gelehrsamkeit ist P. Nigidius Figulus. Bekannt durch sein ver-
trautes Verhältnis zu Cicero, den er bei der catilinarischen Verschwörung
unterstützte (Plut. Cic. 20 Cic. p. Sulla 14, 42), trat er im Bürgerkrieg auf
Seite des Pompeius (Cic. Ep. 4, 13), wurde von Caesar verbannt und starb in
«) Ribbeck, Rom. Trag. p. 620.
') Diese brit. Expedition verherrlichte auch
M. Cicero in einem Gedicht (vgl. § 175). Auch
ein anderer Legat Caesars, L. Aurunculeius
Cotta, behandelte die britannische Expe-
dition. Athen. 6, 273 'lovhos KaiaaQ 6 riQuiros
näytioy avd^^ntiy neQaitu&eig irti rcr; Bqst^
rayidag yijaovg fierd x^Xltoy axafpwy r^et;
otxitag jovg Ttayvag avysnfjysto, io£ Kojtag
Urtogei 6 rore vnoaxqaxrjydiv «rvr^ iy xto
negl xfjg ^Ptouaitay noXireiag avyyQafifÄtni,
0 tji nargio} tjfAtiy (d. h. römischer) yiyQanrat
(ptayf. Vgl. BücHBLER, Fleckeis. J. lll, 136.
P. HigidiuB FignlvB. 275
der Verbannung im J. 45.*) Die Prätur bekleidete er 58 (Cic. ad. Q. fr. 1, 2, 16).
Drei Gebiete sind es, in denen sich seine Schriftstellerei bewegte: 1. die
Grammatik, 2. die Theologie, 3. die Naturwissenschaft.
In der Grammatik wird ein aus mindestens 29 Büchern bestehendes
Werk „commentarii grammatici^ (Gell. 10, 5, 1) angeführt. Dasselbe war
mehr eine Sammlung von grammatischen Untersuchungen als eine syste-
matische Darlegung der grammatischen Disziplin. In demselben bekannte
sich der Verfasser zu der Ansicht, dass die Wörter ihre Entstehung nicht
der Übereinkunft, sondern der Natur verdanken, welche Ansicht er in
merkwürdiger Weise zu erläutern suchte (Gell. 10, 4). Die verschieden-
artigsten grammatischen Dinge waren hier behandelt; besondere Aufmerk-
samkeit war der Orthographie zugewandt, er suchte durch die Schrift die
Casus mit gleichem Ausgang zu differenzieren (Gell. 13, 26). Man hat ihm
auch die Einführung des apex zuschreiben wollen,*) allein dafür fehlt es
an zwingenden Beweisen. Hier wollen wir zugleidi einer rhetorischen
Schrift, de gestu, Erwähnung thun, von der ausser dem Titel nichts
weiter bekannt ist (Quint. 11,3,143).
Unter den theologischen Schriften war am wichtigsten die ^über die
Götter* (de diis). Von ihr wird das 19. Buch von Macrob. 3, 4, 6 citiert.
Es sind hier der Fragmente beträchtlich weniger erhalten als bei den
grammatischen Untersuchungen. Nicht bloss die Namen der Götter, sondern
auch Kult und Ceremonien waren erörtert. Hierzu kommen noch drei
Schriften über die Weissagung (divinatio); Gellius führt 7, 6, 10 das erste
Buch eines augurium privatum an, 16, 6, 12 citiert er de extis; bei
Lydus (de ost. 45) wird ein Buch über Traumdeutung (rj rdiv ovbiqwv
imtrxeipig) erwähnt.
An naturwissenschaftlichen Schriften lernen wir kennen: Die Sphaera
Graecanica und die Sphaera barbarica, ein astronomisch-astrologisches
Werk (Serv. Georg. 1,43 1,218, 1,19), de vento (Gell. 2, 22, 31), de ani-
malibus (Macrob. 3, 16, 7), de hominum naturalibus (Serv. Aen. 1, 177).
Von beiden wird das 4. Buch citiert.
Die Gelehrsamkeit des P. Nigidius Figulus war eine abstruse. Sie
konnte daher nicht neben der Varros, mit der sie sich vielfach berührte,
aufkommen; dem grossen Publikum blieb sie verschlossen (Gell. 19, 14).
Auch was wir sonst noch über des Mannes Treiben vernehmen, klingt
sonderbar. Er wollte den längst abgestorbenen Pythagoreismus wieder zum
Leben erwecken (Tim. 1, 1), er sammelte daher einen Kreis um sich, was
ihn in den Verdacht der Geheimbündelei brachte (Schol. Bob. p. 317 0.).
Auch die Wunderthätigkeit des Pythagoras führte er praktisch durch. So
berichtet uns Sueton Aug. 94, dass Nigidius, als Augustus geboren wurde,
aus der Stunde der Geburt dessen künftige Weltherrschaft voraussagte.
Ein magisches Kunststück, den Nachweis verloren gegangenen Geldes durch
„pueri carmine instindi**, erzählte Varro (Apul. de magia 42).
Joann. Lanr. L^dus gibt de ost. c. 27 — 38 p. 57 W. eine itpijfABQog ßgoytoaxonin
TOTfunj nQOi ttjy trsXtjytitf xarit xov l^tafiaToy ^iyoi'Xoy ix rtoy Taytjrog xa!^ igfitjyelay
>) Hieronym. bei Enaeb. 2, 137 Schoene.
*) Usbner, Rh. Mus. 24, 108. Dagegen Swoboda p. 24.
18'
276 Bömisohe litteratnrgeBohiohte. L Die Zeit der Republik. 2, Periode.
ngog Xe^iy. In dieser Tafel wird die Bedeutung des Donners fOr jeden Monatstag fest-
gestellt : quae omnia, bemerkt Wachsxuth p. XXXII, tarn sunt ridicula, tarn aupra modum
inepta, ut ea Nigidio astronomiae peritissimo attribuere vesani »U, Dagegen will einen
Kern Nigidianischen Gutes Swoboda anerkennen (p. 32). Über das Verhfiltnis der sphaera
Graecanica und harhariea bemerkt Büchelbr, Rh. Mus. 13, 179: , Beide cammentarii bildeten
gewiss ein grösseres Ganze und standen in genauem Zusammenhang, so dass Nigidius,
nachdem er im allgemeinen von den Himmelszeichen, ihren Stellungen und Namen u. s. w.
berichtet, beim Übergang auf die eigentlichen Phaenomena, den Aufgang und Untergang
der Gestirne eine Scheidung eintreten liess zwischen der auf Athen zurückgehenden „sphaera
graecanica** und der auf ägyptischen und chaldäischen (assyrischen) Beobachtungen basie-
renden „harhariea". Bei den einzelnen Sternbildern aber, von denen also nur einmal die
Rede war, mischte Nigidius griechische und ägyptische Mythen, welche er überliefert fand,
indem er, wie es scheint, jedesmal eine Deutimg sich zu eigen machte und in den Vorder-
grund treten liess und zwar in Übereinstimmung mit der ihm nachgesagten obseuritas sub-
tiliiasque gewiss die abstruseste und spitzfindigste." Dagegen will den astrologischen Cha-
rakter des Werkes betonend Swoboda die Verschiedenheit der Bezeichnung der beiden Teile
daraus erklären, dass sphaera Graecanica dicerentur apotelesmata, quae Graeci observare
solebant, harhariea ea, quorum observatio Äegyptiorum propria erat (p. 48). — Serv. ad
Aen. XI 715 gewinnt Kleix p. 26, indem er de terris statt des überlieferten de terras schrieb,
eine Schrift des Nigidius j,de terris"; es ist aber wahrscheinlich hier de sphaera zu lesen.
Vgl. p. 128 Swoboda.
Litteratur: Hertz, de K F. studiis atque operibus, Berl. 1845. Klein, Quaest,
Nigid.f Bonn 1861. Roehbio, de P. N, F. capita IJ, Leipz. Diss. 1887. Swoboda, P. N.
F, operum reliquiae mit Prolegomena, Wien 1889.
ß) M. Terentius Varro.
182. Das Leben Yarros. M. Terentius Varro wurde 116 in Reate
geboren und starb 27, also beinahe 90 Jahre alt. Als seine Lehrer werden
genannt L. Aelius Stilo (Cic. Brut. 56, 205) und der Philosoph Antiochus
aus Askalon (Cic. acad. post. 4, 12). Seiner politischen Gesinnung nach Pom-
peianer, war er in verschiedenen Stellungen im Krieg und im Frieden
thätig; im J. 49 geriet er in Spanien in die Kriegsgefangenschaft Caesars.
Aber es muss dann eine Versöhnung zwischen ihm und Caesar einge-
treten sein; denn er widmete den zweiten Teil seiner aniiquüates dem
Pontifex Caesar; andererseits wurde er von Caesar mit Ordnung und Ein-
richtung der öffentlichen Bibliotheken betraut. Von Antonius wurde Varro
im J. 43 proskribiert, aber durch Fufius Calenus gerettet. Von der Zeit
an scheint er zurückgezogen lediglich seinen Studien gelebt zu haben.
Über Geburts- und Todesjahr berichtet Hieronymus 2,131 Schöne; 1. c. 2, 141. —
Caes. b. civ. 2, 20 tradita legione Varro Cordubam ad Caesarem venu; relatis ad eumpublicis ctim
fide ratianibus quod penes eum est pecuniae tradit et quid ubique habeat frumenti et navium
ostendit, — Suet. Caes. 44 bibliothecas Graeeas Laiinasque quas maximas posset puhlieare,
data Marco Varroni cnra comparandarum ae digerendarum. — Die Rettung Varros nach
der Proskription durch Fufius Calenus erzählt Appian 1. c. 4, 47 (p. 974 Mbndelss.). Roth,
Das Leben des Varro, Bas. 1857.
183. Der Katalog der varronischen Schriften. Über die reiche
Schriftstellerei Varros belehrt uns am genauesten ein Katalog, den Hiero-
nymus von der Schriftstellerei Varros gegeben hatte, um mit ihr die Schrift-
stellerei des Origines zu vergleichen und an der Hand der beiden Ver-
zeichnisse die grössere Produktivität des griechischen Schriftstellers dar-
zuthun. Dieser Katalog stand, wie wir von Hieronymus selbst de vir. ill. 54
erfahren, in einem Briefe desselben an Paula; allein dieser Brief ist uns
nicht mehr erhalten. Einiges daraus ging aber in die Apologia des Rufinus
(2, 20) über und gelangte dadurch zu unserer Kenntnis. Endlich fand sich
unvermutet der ganze Katalog der Schriften der beiden Autoren in der
M. Terentiua Varro. 277
Vorrede zu Rufinus' Übersetzung der Homilien des Origines zur Genesis,
zuerst in einer Handschrift von Arras, dann auch in zwei Handschriften
von Paris nr. 1628 und 1629. Leider führte Hieronymus nicht alle Schriften
auf, sondern brach in der Mitte ab. Wir erhalten daher nur 39 Titel,
wobei aber zu bemerken ist, dass unter einer Nummer zehn Monographien
(libri singulares) zusammengefasst werden, so dass sich also im ganzen
48 (oder 47) >) Schriften Varros ergeben. Die Gesamtzahl aller varronischen
Schriften berechnet Ritschl auf etwa 74, welche etwa 620 Bücher um-
fassten (Opusc. 3, 487).
Der Katalog der varronischen Schriften wurde ausgezeichnet bearbeitet von Ritsohl ;
die darauf bezügUchen Abhuidlungen stehen im III. Band der Opnscula. Der Katalog
schliesst mit den Worten: et alia pJura quae enumerare longum est, Vix medium descripsi
indUem et legentibus fastidium est Aller Wahrscheinlichkeit nach , haben wir an dem
* Katalog des äieronymus mit nichten eine litterarhistorische Zusammenstellung von fremder
Hand, sondern eine von Varro selbst entworfene Liste seiner Werke *" (Ritschl, Opusc. 3, 527).
184. Varros Satorae Henippeae (1. CL.) In unserer Darlegung der
varronischen Schriftstellerei beginnen wir mit den freien Schöpfungen. Unter
denselben ragten am meisten hervor die Saturae Menippeae. Das
Eigentümliche dieser von der kynischen Schule, besonders aber vonMenippos
aus Gadara (Mitte des 3. Jahrh.) gepflegten Litteraturgattung war das
ixnovdoyäXoioVy d. h. unter der Hülle des Scherzes wurden ernste Wahr-
heiten gepredigt. Eine formale Eigentümlichkeit dieser Satire war die
wunderliche Mischung von Poesie und Prosa. Diese Gattung ahmte Varro
frei nach. Dass auch er Prosa und Poesie gemischt, kann nicht bezweifelt
werden. Das wird durch das Zeugnis des Probus zu Vergils Ecl. 6, 31
angedeutet; dann scheint das Fragment 57 Buch. (XIII Bimarcus) den
Übergang von Poesie zur Prosa darzuthun ; *) endlich liegt eine Reihe von
Fragmenten vor, welche gar nicht oder nur mit Gewalt sich in gebundene
Rede umsetzen lassen. Der Verlust dieser Satiren ist ausserordentlich zu
beklagen; denn nirgends ist die kernige Natur Varros so rein hervor-
getreten wie hier. Schon die Titel lassen ahnen, welcher Schatz in Scherz
und Ernst in diesen Schöpfungen geborgen war. Wir führen einige an:
Nimm dich vor dem Hund in Acht {Cave canem). Es fand der Topf den
Deckel {evgev i^ Xonäq %6 nSfia, ttcqI /f/a/ii^xorcoi^). Du weisst nicht, was
der späte Abend bringt {nescis quid vesper serus vehat). Was dem einen
recht, ist dem andern billig {Idem Atti quod Titi), Der Nachttopf hat sein
Mass (Est modus matulae, ncQi fiev^tjc). Morgen glaube ich, heute nichts
{Cras credo, hodie nihü). An den cynischen Ursprung der Gattung erinnern
der Hunderhetor {xvvoQrjwQ), Cynicus, der Ritterhund {tiinoxvtov), das
Leichenbegängnis des Menippus {f'Cc^rj Msvinnov), Auch aus der mytho-
logischen Welt sind Titel genommen, wie der befreite Prometheus {Pro-
metheus liber)j die Eumeniden, die Meleagri, die Endymionen, Tithonus,
die Säule des Hercules (columna Hercxdis negi io^rjg), Ganymedes (Gata-
mitus). Auch seine Person hat der Verfasser in die Titel hineingebracht,
storicns „MessaUa de tfoletudine tuenda** iden-
^) Das Schwanken zwischen 48 und 47
rKhrt daher, dass es zweifelhaft ist, ob de tisch ist (Ritschl, Opusc. 3, 440, 475).
vaietudine tuenda eine eigene Schrift oder, *) Vahlek, Coniect. p. 138.
was das wahrscheinliche ist, mit dem Legi-
278 Römiflche Litteraturgeschichte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
z. B. die Mareusstadt (Marcopolis, negl a^x^O» ^^^ Sklave des Marcus
(Marcipor)y der doppelte Marcus (Bimarcus). Von den meisten Satiren
lässt sich, sei es wegen der Dürftigkeit der Fragmente oder ihrer Ab-
gerissenheit, der Inhalt auch nicht einmal annähernd feststellen. Einige
aber reichen doch aus, um wenigstens in allgemeinen Zügen ein Bild zu
gewinnen; es ist dies z. B. der Lehi'er der Alten (Y^QovtodiddaxaXog), in
welcher Satire die alte und die neue Zeit einander gegenübergestellt werden. M
Verwandt ist der „Mann von sechzig Jahren" (Sexagesis).*) Derselbe ist
als Knabe von 10 Jahren eingeschlafen, und erwacht im Alter von 50
Jahren (491) und staunt nun über die Veränderungen, welche unterdessen
in Rom eingetreten. Im Bimarcus ist das Thema „der Römer von ehedem
und von jetzt". Auch im Manius ertönt das Loblied auf die gute Zeit
der Väter. In der Satire „Lerne dich selbst kennen" {yvad-i (reavTov) wird
der Naturphilosophie gegenüber die Selbsterkenntnis empfohlen. Die meisten
Fragmente sind von den „Eumeniden" erhalten. Das Thema führt den Wahn-
sinn der Menschen in den verschiedensten Gestalten') dramatisch vor unsere
Augen. Die „Meleagri" verspotten die übertriebene Jagdlust; es war ein
Dialog zwischen einem schwärmerischen Jagdliebhaber und einem Verächter
der Jagd. „Papia Papae" handelte über die Lobreden; es werden einige
Proben gegeben, z. B. das Lob auf ein schönes Weib (375).^) Litterarischer
Art war der „Parmeno* ; es fanden hier Erörterungen über poema, poesis,
über Rhythmus und Melos statt, auch kam hier die bekannte Charakteristik
der drei Dichter Caecilius, Terentius und Plautus vor.*) Von der Satire
Nescis quid serus vesper vehat erzählt Gell. 13, 11, von der Satire Jlcgl
ideaixdxfav 6, 16 in anmutiger Weise das Argument. Wir sehen schon
aus dieser kurzen Darlegung, welche bunte Welt in diesen Dichtungen an
den Augen des Lesers vorüberzog. Aber überall blickt die grundehrliche
Überzeugung des Dichters hervor, die Einfachheit seines Denkens und
seiner Sinnesart, seine Bewunderung des alten, festen, römischen Wesens,
sein Hass gegen alle Neuerungen. Von den Fragmenten sind manche
ausserordentlich reizend, wie das Lob des Weins (111):
vino nihil iucundius quisquam hihit:
hoc aegritudinem ad medendam invenerunt,
ho^ hUaritatis dtdce seminarium,
hoc continet coagtdum convivia
oder über die Sorgen (36):
noH fit thesauris, non auro pectu* solututn;
non demunt animis curas ac religiones
Persarum montea, non atria divitV Crassi
oder über das Lebensschicksal (288):
nemini Fortuna currum a carcere intimo missum
labi inoffensum per aecor candidum ad calcetn sivit
oder die wundervolle Schilderung eines Regenschauers auf dem Meer (269).
') Analysiert von Mohmsen, R. Gesch.
3«, 610. RiBBBCK, Rom. Dicht 1, 255.
') Eine Analyse gehen Mokmsen 1. c.
p. 611. Ribbeck 1. c. p. 256. Vahlen, Con-
iect. p. 110.
^) Ribbeck p. 250. Anders Vahlen,
Coniect. p. 172 (die Schicksale eines Wahn-
sinnigen).
*) Ribbeck p. 260. Vahlek, Coniect.
p. 39.
^) Ribbeck p. 260. Vahlbn, Coniect.
p. 91, p. 96.
IL Terentiiui Varro. 279
Die Satiren fielen, wie es scheint, grösstenteils in die Jugend Varros,
da er in Giceros Academica (im J. 45) sie vetera sua nennt.
Acad. post. 1,8 sagt Varro: in Ulis veteribus nostris, qtioe Menippum imitati,
non iMterpretati, qttadam hUaritate eonspersimus , quo faeiliua minus docti intellegerent
iueunditate quadam ad legendum invitaii, muUa admixta ex intima phUasophia, muUa dicta
dialectice. 1, 9 (zu Varro) ipse varium et elegans omni fere numero poema fecisti philo-
sophiamque müUis locis inchoasii, ad impeUendum satis, ad edocendum parum. Probus z. Verg.
Ecl. 6, 31 Varro quist Menippeus non a magistro, cuius aetas longe praecesserat, nominatus,
sed a sociekUe ingenii. quod is quoque omnigeno carmine satiras suas expoliverat. (Rohde,
Gr. Rom. p. 249.) G«ll. 2, 18, 7 Menippus^ cuius libros M, Varro in satiris aemulatus est,
quas alii cgnicas, ipse appeüiu Menippeas. Quintil. 10, 1, 95. — M. T, V. saturarum Menipp,
reliquiae, £d. A. Riesb. Wir eitleren nach der Sammlung in der Ausgabe des Petronius
von BOchelkb' p. 163.
Ausserdem werden noch folgende dichterische Arbeiten Varros verzeichnet:
1) Pseudotragoediarum 1. VI. £s sind dies sogenannte Tragödien, d. h. Tra-
gödien, welche nicht zur AuffEQirung bestimmt waren, wie sie die Gyniker Diogenes,
(PhiÜskos), Oenomaos geschrieben. Vgl. £. Rohde 1. c. p. 249.
2) Poem at um 1. X. Hier werden die kleineren Poesien Varros Platz gefunden haben.
Ober Epigramme vgl. § 186.
3) Satirarum 1. IV. Diese Satiren werden zum Unterschied von den Menippeischen
die Mischung von Poesie und Prosa vermieden haben.
4) Ob ein Lehrgedicht aus Quint. 1, 4, 4 propter Empedoclem in Graecis, Varronem
ac Lucretium in Latinis, qui praecepta sapientiae versibus tradiderunt zu folgern, ist ungewiss.
185. Philosophisch-bistorische Abhandlungen (Logietoricon 1.
LXXVI). Die Logistorici waren Abhandlungen in Prosa, welche, wie der
Titel besagt, auf einer Verflechtung von Philosophie {Xiyoi) und Geschichte
(iaio^ia) beruhten. ^ Diese philosophisch-historischen Abhandlungen
behandelten Themata von allgemeinem Interesse, wie Kindererziehung,
Qesundheit, Oötterverehrung , Geschick, Friede, Thorheit, Geschichte.
Charakteristisch ist für diese Aufsätze der Doppeltitel, indem dem in
lateinischer Sprache formulierten Thema ein Personenname vorangeht, z. B.
Catus de liberis educandis,^) Curio de deorutn cuUu, Marius de fortuna, Orestes
de insania, Me^sala de valetudine, Pius de pace, Sisenna de historia. Eine
wichtige Frage ist, in welcher Beziehung diese Personen zu den Aufsätzen
standen. Aller VTahrscheinlichkeit nach waren diese Aufsätze (aristotelische)
Dialoge und den in den Titeln genannten Personen die Hauptrolle darin
zugeteilt. Dadurch ergab sich auch die Möglichkeit, diese Personen aus-
zuzeichnen. Eine annähernd richtige Vorstellung der ganzen Gattung er-
halten wir wohl durch die Ciceronischen Aufsätze Cato de senectute und
Latlius de amicüia. Zwei Eigenschaften scheinen diese Aufsätze ausgezeichnet
zu haben, einmal der populäre Charakter, dann die stark hervortretende
patriotische Tendenz. Beides erreicht der Schriftsteller, indem er seine
theoretische Erörterung mit der Geschichte verknüpft.
RrrscHL, Opusc. 3, 408. Fragmente bei Riese, Varronis Sat. Menipp, p. 247. Die
meisten Fragmente haben wir von Catus de liberis educandis.
Andere freie Schöpfungen Varros auf dem Gebiet der Prosa sind:
Orationum 1. XXII und Suasionum 1. III. Über dieselben wissen wir nichts
weiter.
Auch die historischen Werke dürften hier ihren richtigen Platz erhalten:
^) ,In betreff der Logistorici dflrfte die
allgemeine Vorstellung von philosophi-
schen, namentlich ethischen^ jedoch mit
einem reichhaltigen Beiwerk histo
populär als systematisch gehaltenen Dis-
kursen dem Wahren inuner noch am näch-
sten kommen.* Ritschl, Opusc. 3, 483.
^) Diesen Logistoricus rekonstruiert
rischer Belege durchwirkten und mehr , Moxmsen, R. Gesch. 3^610.
280 Römische LitteratargoBohichte. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
1) Legationnm 1. III. Nach Ritscbl soll hierin Varro von seinen eigenen Lega-
tionen gesprochen haben (Oehhicuen, Plin. Stad. p. 27 ; Reitzensteik, Hermes 20, 517).
2) De Pompeio 1. III. Die engen Beziehungen, in denen Varro zu Pompeius stand,
befähigten ihn vorzugsweise, über Pompeius zu schreiben und seine Handlungen zu recht-
fertigen.
3) De sua vita 1. III. Gitiert von Charis. p. 89 K. de vUa sua,
4) Annalium 1. III. Die geringe Anzahl der Bücher lässt schliessen, dass es ein
chronolog. Abriss war. (Charis. p. 105 K.; Gell. 17,21,23; Ublichs, Anfänge der griech.
Künstlergesch. p. 35.)
186. Yereinigung von Wort und Bild (Imagines). Das erste
lateinische illustrierte Buch waren die Imagines oder Hebdomades Varros.
Diese Gallerie, welche Varro im J. 39 abfasste (Gell. 3, 10, 17), bestand nach
dem Katalog aus 15 Büchern und zählte nach Plinius 700 Bildnisse, von
denen immer je 7 zu einer Einheit, zu einem Blatte 0 zusammengeschlossen
waren, daher der Titel Hebdomades. Die Verteilung der 700 Bildnisse
oder 100 Hebdomaden auf die Bücher ist ein Problem, das durch vereinte
Bemühungen mehrerer Gelehrten also gelöst wurde: Varro nahm 7 Zweige
der Ruhmesbethätigung an. Da er seine Berühmtheiten sowohl in der nicht-
römischen als in der römischen Welt suchte, führte er eine Zweigliederung
des Werks in der Weise durch, dass er in jedem der 7 Fächer ein Buch
den Nichtrömem (Griechen), ein zweites den Römern widmete. Auf diese
Weise erhielt er 14 Bücher, wozu noch ein Einleitungsbuch kam. Die
Bücher mit den geraden Nummern waren den Nichtrömem, die mit un-
geraden den Römern gewidmet. Auf diese 15 Bücher waren die 100
Hebdomaden Bilder so verteilt, dass das Einleitungsbuch die ältesten
Vertreter eines jeden der 7 Fächer sowohl bei den Griechen als bei den
Römern aufführte, sonach zwei Hebdomaden Bilder enthielt, jedes der fol-
genden 14 Bücher 7 Hebdomaden in sich schloss, was für die 14 Bücher
98 Hebdomaden ausmacht. Die 2 Hebdomaden des Einleitungsbuchs und
die 98 Hebdomaden der 14 Bücher geben aber 100 Hebdomaden, d. h.
700 Bildnisse. Jedes Bildnis wurde erläutert durch ein metrisches Elogium,
das nicht immer Varro zum Verfasser hatte (Syinm. ep. 1, 2) und durch einen
prosaischen Text. Aus Gellius 3, 11 kennen wir z. B. das Epigramm zum
Bildnis Homers und erfahren ausserdem, dass Varro dort auch die Frage,
ob Homer oder Hesiod älter sei, behandelte. Als die von Varro aufgestellten
7 Fächer vermuthet Ritschi *) 1. Könige und Feldherm, 2. Staatsmänner,
3. Dichter, 4. Prosaiker, 5. Fachmänner, 6. Künstler, 7. sonstige Berufs-
arten. Zwei Eigenschaften charakterisieren das merkwürdige Werk, einmal
der wunderliche Pedantismus, den Varro mit der Siebenzahl, über die das
Einleitungsbuch handelte, treibt, dann das Streben der Römer, sich den
Griechen überall gleichzustellen.
Plin. n. h. 35, 11 imaginum amorem ftagrasse qtwndam festes sunt Atticus ille Ciceronis
edito de iis rolumine, M, autem Varro benignissimo invento insertis voluminum suorum
fecundidati septingentorum illustrium aliquo modo hominum imaginibus, non passus inter-
cidere figuras auf vetustatem aeH contra homines valere; inventor muneris etiam die in-
ridiosif qiuindo immortalitatem non solum dedit, verum etiam in omnis terras mtsit, ut
prae^^entes esse uhique ceu di possent. (Vgl. § 116 p. 164.)
An der Erforschung der Frage beteiligten sich ausser Ritschl besonders noch
Mercklin, Brunn und Urlichs, deren Abhandlungen im 3. Band der Opusc. mit den
M Brunn-Ritschl, Opusc. 3, 580.
') Opusc. 3, 552.
M. Terentiofl Varro. 281
RiT8CHii*8chen abgedruckt sind. Der Fortschritt der Untersuchung knüpft sich namentlich
an drei Momente: 1) an die Erkenntnis, dass die von Plinius überlieferte Bilderzahl 700
keine runde ist; 2) dass das Einleitungsbuch je 7 Repräsentanten der Griechen, je 7 der
KOmer enthielt; 3) dass für die Auswahl dieser Repräsentanten nicht die Qualität, sondern
das Alter d. h. das chronologische Prinzip massgebend war.
Durch die Pariserhandschriften des Eatdogs erfahren wir (Ritschl, Op. 3, 528),
dass Varro von dem Werk auch eine Epitome in vier Büchern (vielleicht ohne Bilder)
gemacht hatte, wahrscheinlich die vier Rubriken Staat, Litteratur Kunst, Anderweitiges zu
Grund legend (Ritschl 3, 554).
Andere litterarhistorische Schriften Varros sind:
1) de bibliothecis 1. III. Der bibliothekarische Auftrag Caesars mag diese Schrift
hervorgerufen haben. Gitiert von Gharis. p. 146 K.
2) de lectionibus 1. III handelte vielleicht über die den Römern eigentümliche
Sitte der reeitationes, (Ritschl 3, 461.)
3) de proprietate scriptorum 1. III., citiert noch von Non. p. 334. Nach Ritschl
3, 463 war wohl stilistische Vergleichung von Autoren und Gattungen ein darin hervor-
tretender Gesichtspunkt.
4) de poematis 1. III (Charis. p. 140, p. 99 E.), wohl eine Art Poetik ,von den Ein>
teilungen, Gattungen und Arten der Poesie.* (Ritschl 3, 454.)
5) de noctis (nicht im Katalog). Diesem Werk und zwar dem ersten Buche teilt
Gelliu8l,24 nie Grabschrift des Plautus zu; wahrscheinlich standen in demselben auch die
dort aufgeführten Grabschiiften auf Naevius und Pacuvius. Über Ennius und Naevius
macht aus demselben Mitteilungen ebenfalls Gellius 17, 43 und 45.
6) de orig'inibus scaenicis 1. III., eine römische Theater- und Bühnengeschichte,
welche dramatische Anfänge in den Volksbelustigungen nachwies, dann die Entwicklung
der ludi scenici aufzeigte, endlich auch auf das Bühnentechnische einging. Eine sehr sorg-
fältige Erörterung über diese Schrift liefert Cichobius in den Commentationes zu Ehren
Ribbecks p. 415. Servius zu Georg. 1, 19 Varro de scaenicis originibtis vel in Scauro liest
er p. 420 mit Riese II et statt vel; auch Spuren des Werks bei Plinius sind aufgedeckt.
7) de actionibus scaenicis 1. V. Charisius citiert p. 95 K. Varro de actionibus
scenieis L V, unser Katalog dagegen de seenicis actionibus IIL Die Schrift handelte über
die dramatischen Aufführungen.
8) de actis scaenicis 1. III. Ritschl (3, 457) will de actibus scaenicis geschrieben
wissen, danach hätte Varro hier die Akteinteilungen der Schauspiele untersucht ; F. Scholl,
Rh. Mus. 31, 469 dagegen hält die überlieferte Lesart fest und statuiert eine Schrift über
die dramatischen Urkunden, d. h. die Didaskalien.
9) de personis 1. III über die Theatermasken. Man vgl. Aristophanes negl ngo-
atinioy.
10) de descriptionibus 1. III soll nach Ritschl 3, 460 über die typischen Cha-
raktere der Komödie gehandelt haben.
11) de comoediis Plautinis (nicht im Katalog). Gellius3, 3, 9 citiert in libro
de comoediis Plautinis primo. Die Schrift untersuchte wohl die Echtheit der plautinischen
Komödien. Vgl. § 31.
12) (jnaestionum Plautinarum 1. V. Diomedes citiert n. 486 K. 1. II des Werks,
ebenso Nonius p. 9. Nach diesen Citaten muss man annehmen, dass es glossographischer
Natur war.
13) De compositione satnrarum (nicht im Katalog). Citat bei Nonius p. 67.
Büchelbr bemerkt retronius' p. 186 zur Satura Kvyodidaaxahxd : huius libelli argumentum
non videtur discrepare cum eo quem Nonius p. 67 memorai „ Varro de compositione saturarum**.
187. Römische Altertumskunde (antiquitatum renim humanarum
et divinarum 1. XLI). Der Schwerpunkt der gelehrten Thätigkeit Varros
ruhte in der Erforschung des Lebens des römischen Volks; diese Studien
fanden einen glänzenden Ausdruck in den 41 Büchern der Äntiquitates
rerum humanarum et divinarum. Die Gliederung dieses Werks kennen wir
aus Augustin, de civ. dei 6, 3. Den menschlichen Dingen waren 25 Bücher
gewidmet, den göttlichen 16. Die erste Abteilung enthielt nach einem
Einleitungsbuch vier Hexaden, entsprechend den Rubriken: Menschen,
Orte, Zeiten, Sachen. Zu diesen vier Rubriken kam in der zweiten
Hälfte noch eine fünfte Rubrik „Götter* hinzu. Während die erste Hälfte
über die menschlichen Dinge die Rubriken in je sechs Büchern durchführte.
282 Bömisohe LitteratnrgeBohiohte. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
sind in der zweiten je drei Bücher den fünf Rubriken zugeteilt. Dies gibt
mit dem Einleitungsbuch sechzehn Bücher. Von der zweiten Hälfte, welche
dem Pontifex Caesar gewidmet war (Aug., de civ. d. 7, 35), teilt uns Augustin
auch den Inhalt der einzelnen Bücher mit, dagegen kann der Inhalt der
einzelnen Bücher der ersten Abteilung nur durch Kombination näher be-
stimmt werden ; solche Kombinationen liegen vor für die „Zeiten" und für
die „Orte". Das Werk ist von epochemachender Bedeutung für die römische
Altertumskunde geworden. Wir kennen keinen Versuch in der römischen
Litteratur, der in so umfassender Weise die römische Welt darzustellen
versucht hätte.
Die Bisposition der Abteüüng rerum divinarum war folgende (August 1. c. 6, 3) :
Einleitung Buch 26.
1. Ho min es: 27 (2) de pontificibus, 28 (3) de auguribus, 29 (4) de quindecimviris,
II. Loci: 30 (5) de sacellis, 31 (6) de sacris aedibus, 32 (7) de locis religiosis,
III. Tempora: 33 (8) de ferüs, 34 (9) de ludis circensibus, 35 (10) de ludis scaenicis,
IV. Res: 36 (11) de consecrationibus, 37 (12) de sacris privatis, 38 (13) de sacris publicis,
V. Dei: 39 (14) de deis certis, 40 (15) de deis incerüs, 41 (16) de deis praecipuis ac selectis.
Für die Tempora der rerum hum, begründet Gbuppe, Herrn. 10,54 folgende Glie-
derung: 14 prooemium (de aevo), 15 de saeciüis, 16 de lustris, 17 de annis, 18 de mensi-
bus, 19 de diebus; für die loci vermutet Reitzenstein, Herrn. 20, 545 und 550 folgende
Disposition: 8 über Rom, der Inhalt von 9 und 10 ist unbekannt, 11 über Italien, 12 über
das übrige Europa, 13 über Asien einschliesslich Afrika. (Eettneb, Krit. Bemerk, zu Varro,
Halle 1868.)
Schwarz, de T, V, apud patres vestigüs, Fleckeis. J. Supplementb. 16 p. 462 hat er-
kannt, dass aus Aug. de civ. d. 7, 30 sich der Inhalt des 16. B. der rerum divinarum fest-
stellen lasse; „Capite 30 enim huius libri Augustinus ostendit, quaecunque diis selectis munera
tributa sint, omnia unum Deum verum administrare, eaque utitur raüane, ut aut singula
singulorum munera aut plura interdum aeque gravia enumeretJ' Am Schluss sagt 1. c.
Augustin : ista sunt certe, quae diis selectis per nescio quas phgsicas interpretationes vir
acutissimus atque doctissimus Varro, sive quae aliunde accepit, sive quae ipse coniecit,
distrihuere laboravU. Die Rekonstruktion des 16. B. der res divinae gibt Schwabz p. 473 — 499.
Litteratur: Mibsch, De Varronis antiq, rerum humanarum libris mit der Samm-
lung der Fragmente, Leipz. Stud. 5, 1. (Der Aufgabe nicht völlig gewachsen vgl. Rbitzek-
STEIN, Hermes 20, 515). Sammlung der Fragmente der res divinae von Mebkel in seiner
Ausg. der Fasti Ovids p. CVI. — Kbahveb, de M. T, Varronis antiquitatum rerum h. et
d. libris XLJ, Halle 1834. Über das X. Buch der antiq, div., Zeitschr. f. A. 1852 p. 385,
1853 p. 97, 193. Fbancken, fragmenta Varronis quae inveniuntur in libris S. Augustini
de civitate dei, Leyden 1836. Lüttoert, Theologumena Varroniana a, S. Augustino in
iudicium vocata, Sorau 1858 und 1859. Eyssenhardt, zu Martianus Capella p. XXXII.
Gruppe, oberlief, der Antiq, rer. h,, Gomm. Momms. p. 540.
Eine Epitome aus dem Werk in 9 Büchern berichtet nur der Katalog.
An dieses Greneralwerk schliessen sich folgende Monographien über res h. an:
1) De familiis Troianis (nicht im Katalog). Citiert von Serv. Aen. 5,704. Hier
war über die römischen Familien gehandelt, welche ihren Stammbaum auf trojanische Helden
zurückführten.
2) tribuum über (nicht im Katalog). Citiert von Varro de 1. 1. 5,56. (Mercexin,
Quaest. Varr,, Dorp. 1852 p. 5.)
3) rerum urbanarum 1. III., noch citiert von Charis. p. 133 K, wohl eine Topo-
graphie Roms auf geschichtlicher Grundlage. (Jahit, Hermes 2, 235 vgl. die Argeerurkunde.)
4) de gente populi Romani 1. IV. („Über die Herkunft des römischen Volkes.*)
Da nach Amobius adv. nat. 5, 8 die Zeit von der deukalionischen Flut bis zum Konsulat
des Hirtius und Pansa berechnet war, so werden wir die Entstehung der Schrift in das
Jahr 43 zu setzen haben. Zweck des Werks war, die Stellung der römischen Nation zu
den übrigen Nationen darzulegen, was starkes Hervortreten der Chronologie notwendig
machte. Hiebei war Varro besonders bestrebt, „Analogien zwischen ausländischen und
einheimischen Institutionen, Sitten, Sprachformen ausfindig zu machen und ohne weiteres
aus Entlehnung der letzteren zu erklären ** (Scholl, Hermes 11, 337); vgl. Serv. zu Aen. 7, 176
maiores enim nostri sedentes epülabantur, quem morem habuerunt a Laconibus et Cretensibus:
ut Varro docet in libris de gente populi Romani, in quibus dicit, quid a quaque traxerint
M. TerentiuB Varro. 283
gente per imitatianem, (Angust. de civ. d. 18,2. — Kettkeb, Varron. Stadien, Halle 1865;
Pbteb, fr. hiBt. p. 228. Frick, Die Quellen August, im 18. B. de civ. dei, Höxter 1884.)
5) de vita populi Romani 1. IV ad Atticum. Vgl. Gharis. p. 126 K. ,ein merk-
würdiger Versuch emer römischen Sittengeschichte, die ein Bild des häuslichen, finanziellen
und Kulturzustandes in der Königs-, der ersten republikanischen, der hannibalischen und
der jüngsten Zeit entwarf ** (Momüsen, R. Gesch. 3^, 625). Kettkeb, Varronis de vita populi
Bomani quae extarU, Halle 1863.
6) Aetia (Attia nicht im Katalog). Kallimachus hatte mit seinen Aixia (Christ,
Gr. L. p. 402) eine Litteraturgattung gepflegt, welche den Ursprung von Gebräuchen, von
Sitten, Spielen u. s. w. darlegt. Ihm schliesst sich Varro an, wie Serv. Aen. 1.408 aus-
drücklich bezeugt. Höchst wahrscheinlich schöpfte aus diesem Werk besonders Plutarch
für seine Atua ^otfiatxa. Vgl. Mercklin, Phil. 3, 267 13, 710. Thilo, de Varrone Plut,
quaest, rom, auctore praecipuOf Bonn 1853. F. Leo, de Plutarchi quaest. rom. aueiorihuSf
Halle 1864. Glaesser, De Varron, doetrinae apud Pltä. vestigiis, Leipz. Stud. 4, 157.
Mit RiTSCHL können wir hier anreihen den Isagogicus ad Pompeium, eine An-
leitung zur Führung des Konsulats für Pompeius (im J. 71) geschrieben. Die Schrift war
aber nach Varros eigenem Zeugnis verloren gegangen (Grell. 14, 7, 2). Über diese isago-
gische Litteratur vgl. § 13 und Büchblbb, Q. Ciceranü reliq. p. 6.
188. Die erste Encyklopadie der artes liberales (Disciplinarum
1. IX). Bereits im Beginn der römischen Prosa lernten wir eine encyklo-
pädische Zusammenfassung mehrerer Wissensgebiete kennen ; es waren dies
die Unterweisungen Catos (§ 66). Ungleich wichtiger ist die Encyklo-
padie Varros, denn an sie lehnen sich die sieben freien Künste des Mittel-
alters an. Nach den Untersuchungen Ritschis waren in den disciplina-
rum libri IX folgende Disziplinen und wahrscheinlich in folgender Anord-
nung behandelt: 1. Grammatik, 2. Dialektik, 3. Rhetorik, 4. Geometrie,
5. Arithmetik, 6. Astrologie, 7. Musik, 8. Medizin, 9. Architektur. Durch
Weglassung der Medizin und der Architektur ergaben sich die bekannten
artes liberales^ Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik,
Astronomie, Musik, wie sie sich bei Martianus Gapella, Cassiodorius, Isidor
und mit einer Abweichung schon bei Augustin finden.
Die Zeit der Abfassung bestimmt Ritschl 3, 400 nach Plin. n. h. 29, 65 cunctarer in
proferendo ex his remedio, ni Varro LXXXIII vitae anno prodidisset. Wenn dieses Heil-
miUol im 8. Buch der disciplinae stand, so schrieb er dieses Buch im Jahre 33. Sonach
würde das Werk zu den spätesten Varros gehören. Die Fragmente stellt zusanmien Ritschl
3, 372, die des ersten Buchs auch Wilmakks, de T, V, libris grammaticis p. 208.
Monographien über diese artes sind:
1) de forma philosophiae 1. III. Vgl. Gharis. p. 103 K., der das II. Buch citiert.
Augustin de civ. dei 19, 1 citiert nur einfach einen liher de philoaophia, in dem der For-
malismus Varros recht springend hervortrat; dort berechnet er nämlich die möglichen
philosophischen Systeme auf 288. Man muss demnach annehmen, dass neben einem Werk
aus 3 Büchern noch ein Monobiblos oder ein Logistoricns über Philosophie existiert habe.
Diese philosophische Schriftstellerei fällt nach Ciceros Academica (post. 1, 3 2, 8).
2) Rhetoricorum libri (nicht im Katalog) citiert und zwar das III. Buch lediglich
Priscian 1, 489 H.
3) de mensuris (nicht im Katalog). Wir kennen das Buch aus Priscian 1,420H
und Boethius, de geometria p. 1234 ed. Basil. 1546. Dasselbe erörtert die Gromatik, die
Feldmesserkunst. Anlass dazu mag Varro das Ackerverteilungs-Kommissorium des J. 59
gegeben haben. Vgl. unten § 202.
4) de principiis numerorum 1. IX, Zahlenlehre nach den Pythagoreem.
Kbahkeb, Friedl. Progr. 1846 (de V,ph%losophia). Etssbneuüidt, M. Capella p. XXXII.
189. Varros juristisches Werk (De iure civili L XV). Da dieses
Werk uns nur durch den Katalog bekannt geworden ist, so fehlen uns
Fragmente. Bei dieser Sachlage ist es gewagt, das Werk näher zu
charakterisieren, noch gewagter aber, dasselbe als ein Quellenwerk nach-
zuweisen.
284 BOmiBche LitteratargeBclüchte. I. Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
Beides hat Sanio in seiner Schrift ^Varroniana', Leipz. 1867 gethan; er erklärt p. 213,
dass Varros Werk ,kein fachwissenschaftliches, vielmehr nur ein isagogisches, zur Vor-
bildung künftiger Icti oder iHri civiles überhaupt bestimmtes, vorzugsweise propädeutisches
Werk gewesen sei, und (p. 231), dass dieses Werk die Grundlage für das ebenfalls isa-
gogische (p. 221) Enchiridion des Pomponius abgegeben habe/
Juristischen Inhalt hatte femer:
de gradibus libri (nicht im Katalog), bekannt aus Serv. zur Aen. 5,412, handelte
wohl über die Verwandtschaftsgrade. Vgl. Sanio p. 235.
190. Miscellanea (Epistolicae quaestiones). In dieser Schrift, die
nicht im Katalog steht, waren Erörterungen in Briefform über verschiedene
Gegenstände, über Staatsrechtliches, Grammatisches, Antiquarisches gegeben.
Kitschi nimmt wenigstens 8 Bücher an, indem er Gharis. p. 84 E. i^epistu-
larum VUI^ in „epistolicarum VUI^ korrigiert. Das grdsste Bruchstück aus
denselben gibt Gell. 14, 7; es handelt über Senatus consulta (Ritsbhl 3, 477).
Daneben werden auch epistulae citiert und zwar bei Nonius, epistolae latinae, z. B.
1, 172 MüxLEB 1. 1 und 2,84 1. II. Danach muss man wohl noch ein Corpus eigentlicher
Briefe und zwar in zwei Abteilungen, einer lateinischen und einer griechiscnen, annehmen.
Vgl. Müller zu 1, 172. (Mebcklin, Quaest, Varron, p. 11.)
191. Varros Geographie (De ora maritima). Durch vier Stellen,
nämlich Serv. zu Aen. 1, 108 1, 112 5, 19 8, 710 (nicht durch den Katalog)
erhalten wir Kunde von einer varronischen Schrift mit dem Titel „de ora
maritima". An der ersten Stelle wird eine Beobachtung der SchMfer für
die Fahrt von Sicilien nach Sardinien mitgeteilt, an der zweiten eine Er-
klärung von „vadus" gegeben, die zwei letzten endlich beschäftigen sich
mit den Winden. Nach diesen Stellen sollte man meinen, unsere Schrift
habe über Schiffahrt gehandelt. Diese Ansicht wurde auch aufgestellt; und
zwar hielt man unsere Schrift entweder für eine praktische Schiffahrts-
kunde, *) oder für ein historisch-antiquarisches Kompendium über die' Schiff-
fahrtskunde. ^) Allein der Titel will zu diesem Inhalt nicht passen; nach
dem Titel sollte man vielmehr eine Erdbeschreibung erwarten, welche dem
Lauf der Küsten folgt. Als eine solche wurde sie auch aufgefasst, indem
man überdies noch zu erweisen versuchte, dass sie in die geographische
Partie der naturalis historia des Plinius eingewoben sei.') Ich erachte diese
Ansicht für die richtige.
Die von Solinus 11,6 de litoralibus genannte Schrifl; ist zweifellos mit der Sclirift;
de ora maritima identisch. Weiterhin wird erwähnt eine ephemeris nava^is, welche Varro
dem Pompeius, als er um 77 y. Ch.^) einen Zug nach Spanien unternehmen wollte, dedi-
zierte; nach der Inhaltsangabe des Itinerarium Alex. 6 hätten wir in dieser Schrift einen
Traktat fiber die SchifTahrtskunde, besonders nach der Seite der Vorzeichen. Die von
Yegetius de r. m. 5, 11 genannten libri navalea sind allem Anschein nach identisch mit der
ephemeris navalis, Reitzensteik dagegen leugnet die Identität (p. 529) und identifiziert die
Schrift de ora maritima mit den libri navales oder will sie höchstens als Teil der libri
navales gelten lassen (p. 525). Kaibel hält ebenfalls an der Identität der libri de ora
maritima mit den libri navales, aber er identifiziert, wie man schliessen muss, diese beiden
auch mit der ephemeris navcUis (p. 610).
Varro citiert de 1. 1. 9, 26 einen liber, den er de aestuariis geschrieben. Als Inhalt
dieses Über erachtet Reitzeksteik p. 527 die Erscheinung der Ebbe und Flut und betrachtet
ihn als einen Teil des Werks de ora maritima. Auch wenn man an eine Küstenbeschreibung
denkt, lässt sich ein solches Buch als Teil derselben denken; denn Varro musste doch
wohl auch vom Meere reden.
0 So Reitzbkstein, Hermes 20, 530.
«) So Kaibel, ibid. 20, 610, vgl. auch
Oeumichen, Plin. Stud. p. 47.
') So Detlefsen, Hermes 21,255.
<) Bergk, Rh. Mus.1,369.
M. TerentiuB Varro. 285
Priscian 1, 256 H erwähnt eine ephemeris, welche offenbar von der epheme^Hs navalis
verschieden ist; dieselbe ist, da über die Herkunft des Namens des Monats Julius die Rede
war,, nach der Kalenderreform 46 v. Gh. abgefasst. Bebok spricht folgende Vermutung aus
(Rh. Mus. 1,369): videtur prognostica in agricolarum nMxime %umm iUustravisse, ecique far-
tiuse, ut ab üla segregaretur, dicta est ruattca »ire agrestis ephemer is. Zu dieser Be-
stimmung gibt aber das Gitat bei Priscian keinen festen Anlass ; vgl. Reitzenstein de scrip-
forum rei ru8t, libris p. 44; Hermes 20, 529.
192. Die erhaltenen Bttcher Yarros de lingua latina. Durch den
Katalog sind uns 25 Bücher eines Yarronischen Werks über die lateinische
Sprache (de lingua latina) bezeugt. Yon demselben sind uns jedoch nur
die Bücher 5 — 10 erhalten, freilich sind auch diese vielfach verstümmelt
und verderbt überliefert. Durch das Erhaltene und die fortwährenden
Rekapitulationen der Einteilungen sind wir im stände, fast alle Umrisse
des Werks zu zeichnen. Nach einem Einleitungsbuch kamen drei grosse
Abteilungen, von denen die erste der Etymologie, die zweite der De-
klination im weitesten Sinn, die dritte der Wortverbindung (Syntax)
gewidmet war (7, 110). Jede der beiden ersten Abteilungen enthielt eine
Hexade, welche wiederum in zwei Triaden zerlegt war. Der dritten Ab-
teilung dagegen waren zwei Hexaden, also vier Triaden zugewiesen. Es
ist sonach die Symmetrie verletzt; Ritschi stellte daher die Ansicht auf,
dass ,Yarro, von der Absicht* einer Dreiteilung des Ganzen ausgehend,
erst im Yerlauf des Werks auf den Gedanken gekommen sei, diesen Plan
durch Hinzufügung eines vierten Teils zu erweitern, dass sonach diese
Bücher nicht völlig zur Herausgabe vollendet worden, sondern ohne den
letzten Abschluss herausgekommen sind** (Opusc. 3, 466). Allein auch in
den Antiquitäten ist in der zweiten Abteilung die Symmetrie nicht völlig
aufrechterhalten. Die Triaden der zwei ersten Abteilungen verhalten sich
so zu einander, dass in der ersten Triade das Allgemeine (Philosophische),
in der zweiten das Spezielle behandelt war. So war in der ersten Triade (2 — 4)
nach der bekannten Manier Yarros eröii;ei*t 1) was gegen die Etymologie,
2) was für sie, 3) was von ihr zu sagen sei (5,1. 7,109); in der zweiten
Triade wurde die Etymologie vorgetragen nach den Klassen der Orts-
bezeichnungen (B. Y), der Zeitbezeichnungen (B. YI) und der poetischen
Ausdrücke (B. YH). Auch die erste Triade der zweiten Abteilung (8 — 10)
schlug einen ähnlichen Weg der Untersuchung ein, wie die erste Triade
der ersten Abteilung, sie untersuchte, was gegen die Analogie (B. YHI),
was gegen die Anomalie (B. IX) spreche, endlich was von der Analogie
zu halten sei (6. X). Ygl. 8, 24. Es ist uns sonach erhalten der spezielle
Teil der ersten Abteilung und der allgemeine der zweiten.
Die Bücher 2 — 4 waren dem P. Septimius gewidmet, die übrigen dem
Cicero, der Yarro dafür seine Academica dedizierte. Diese Doppelwidmung
erklärt sich am einfachsten, wenn man annimmt, dass die dem Septimius
gewidmeten Bücher bereits publiziert waren, als Yarro Cicero für eine
Widmung in Aussicht nahm. Die für Cicero bestimmten Bücher waren
im Jahre 47 angekündigt, im Jahr 45 aber waren sie noch nicht in den
Händen Ciceros (ad Att. 13, 12), aber sie wiu*den fertig, ehe Cicero starb, da
er in dem Werk als Lebender angeredet wird. Als die älteste der uns er-
haltenen grammatischen Schriften der Römer ist das Werk Yarros, das in
286 ROmisohe Litteratnrgesohiolite. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
seine spätere Lebenszeit fällt, fUr uns von dem grössten Interesse, besonders
weil es uns einen Einblick in den Streit der Analogisten und Anomalisten
gewährt. Man sieht aus dem Werk, dass der Streit sich seinem Ende nähert
und dass in der Versöhnung beider Prinzipien die Wahrheit liegt. Varro
will Analogist sein, allein er beschränkt die Analogie so, dass ihr Wesen
nicht mehr intakt bleibt. In den ersten Bfichern finden wir viele wunder-
liche Etymologien, allein durch die Belegstellen, besonders durch die Dichter-
citate erhalten auch diese Bücher hohen Wert. Die Darstellung ist sehr
abgerissen und hart.
Bezfiglich der Widmung sagt Varro im Eingang des 5. Buchs tris ante hunc (dem 5.)
feci, quo8 Septumio misi, also 2, 3, 4. Ob die Einleitung, das erste Buch eine Widmung
enthielt, wissen wir nicht
In Bezug auf den Aufbau des Werkes nahm man daran Anstoss, dass 12 Bücher
für die Syntax zu viel seien. 0. Müllbb Ausg. p. L vermutet daher, dass in den sp&teren
Büchern der Schriftatelier den „usus vocabuhrum et orationie omatus*^ behandelt habe,
eine Ansicht, der auch Ritschl beipflichtet, indem er annimmt, dass die Syntax nur von
Buch 14 — 19 reichte (3,465). Allem dass die Syntax, wenn sie nach stoischem System,
wie dies bei Varro der Fall war, behandelt wurde, genug Stoff für 12 Bücher darbot, zeigt
z. B. die reiche Schrifistellerei des Ghrysippus (Wiijeahits p. 15),
Die Überlieferung beruht lediglich auf dem Mediceus in Florenz 51, 10 s. XI. Aus-
gaben von 0. MüLLEB, Leipz. 1833, aus dem Nachlass L. Spengels von A. Spkkgel, Berl.
1 885 (Hauptausgabe). — Die Fragmente der verlorenen Bücher finden sich bei Wilxakks
p. 141—170.
Von einem Auszug aus dieser Schrift in 9 Büchern erhalten wir Kunde durch
einen Titel des Katalogs. Dieser Auszug spricht auch gegen die Annahme, dass das Werk
Varros unvollendet blieb.
Ausser diesem Werke verfasste Varro noch folgende granmiatische Werke:
1) de sermone latino ad Marcellum 1. V. Diese Buchzahl gibt der Katalog.
Rufinus GL. 6, 556 K. citiert' zweimal das VII. Buch; wahrscheinlich ist mit 0. Jahn IV zu
schreiben. Diese Schrift, die einem nicht näher zu bestinmienden Marcellus gewidmet ist
(Gell. 18, 12, 8), handelt zum Unterschied von der Schrift de lingua latina über die gut«
Latinität, für welche natura, analogia, cansuetudo, auctoritas massgebend waren (Wilhanus
p. 80). Es handelt sich um das Einzelwort und dann um die zusammenhängende Rede.
In erster Beziehung musste auf die Laute, Silbenverbindungen, den Accent, den Rhythmus
eingegangen werden, in anderer Beziehung war eine Lehre vom Stil geboten. Ein wert-
volles Fragment über den Accent nr. 60 p. 186 WiLMAmvs.
2) de similitudine verborum 1. III ist eine Spezialschrift über die Analogie.
(Charis. p. 91 K.)
3) de utilitate sermonis (nicht im Katalog) ist das Gegenstück zu der voraus-
gehenden Schrift und handelt von der Anomalie der Rede. Die Schrift ist uns bekannt
durch Charis. p. 123 K, der das IV. Buch citiert.
4) ncQi /o^axTi^^aiy (nicht im Katalog), nur durch Gharisius p. 189 K bekannt,
der das III. Buch citiert. Rftschl gegenüber, der die /a^a«r^^€f mit den descriptianes
„Charakterbilder" identifizierte (Op. 3, 459) hat Usekeb richtig die Schrift als eine gramma-
tische erkannt. «Varro hatte die verschiedenen Formen (tvnoi) der Wortbildung, der
declinatio in dem weiten Sinn, den er dem Wort beizulegen pflegt, darin so behandelt,
dass er Paradigmen der Analogie aufstellte, um daran seine weiteren Bemerkungen zu
knüpfen. Wie sich diese Schrift zu den drei Büchern de similittidine verborum und zu
dem Abschnitte de lingua latina B. XI — XITI verhaltet habe, wenn sie nicht identisch war
mit einem von beiden, weiss ich nicht zu sagen. Dürften wir Spezialtitol für einzekie
Stücke des Werkes de 1. 1. annehmen, so würde unser Fragment sich sehr einfach auf
B. XIII zurückführen lassen, worin die dichterischen Abweichungen in der declinatio be-
handelt waren* (Fleckeis. J. 95, 248).
5) de antiquitate litter arum (nicht im Katalog), citiert von Priscian 1, 8H, wo
das II. B. angeführt wird. Ritschl zeigt (3, 469), dass die von Pompeius comm. Don. p. 98 K.
citierten Bücher ad Attinm mit dieser Schrift identisch sind; es war eine Geschichte des Alpha-
bets; da Attius wahrscheinlich der Tragiker ist, so gehurt die Schrift zu den frühesten
Arbeiten Varros (Ritschl 3, 498).
6) de origine linguae latinae 1. III vgl. Priscian 1,30H. Nach Jo. Lydus de
magistr. 1, 5 p. 125 Bekk. war das Werk dem Cn. Pompeius gewidmet.
Aussenlem war die Grammatik in dem Werk der disciplinae behandelt.
M. Tsreatins Tarro.
287
Die Fragmente aller dieser Schriften sind zusammengestellt und erörtert von Wil-
MANKS, de M, T, F. liMa grammaticis, Berl. 1864.
193. Die erhaltene Schrift Yarros ttber die Landwirtschaft
(remm msticamm 1. O). Im Alter von 80 Jahren (1,1, 1), schrieb Varro
diese landwirtschaftliche Schrift.*) Wie Tremellius Scrofa (vgl. § 202), so
ging auch Varro darauf aus, den Stoff in eine systematische Form zu
bringen und daher alles Ungehörige auszuscheiden. Auch das ist be-
merkenswert, dass er die aristotelische Form des Dialogs für seine Dar-
stellung wählte; er führt uns drei verschiedenen Personen (seiner Gattin
Fundania, Turranius Niger, Pinnius) gewidmete Gespräche vor, die zu ver-
schiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten stattfanden. Das Beispiel
Ciceros mag hier bestimmend eingewirkt haben, im besonderen der von ihm
übersetzte Xenophontische Öconomicus.') Die Verteilung des Stoffes ge-
schieht in der Weise, dass im ersten Buch über den Feldbau (de agri
culiura), im zweiten über Schafe, Ziege, Schweine, Ochsen, Esel, Pferde,
Maulesel (de re pecuaria), im dritten endlich über die Tiere des Hofs,
d. h. des Geflügels, der Bienen, Fische und einiger Wildarten (de viUaticis
pastianibus), gehandelt wird') (3,1,9). Die Einführung des letzten
Teils als eines selbständigen Zweigs der Disziplin ist ein Werk
Varros. Den Stoff schöpft der alte Gelehrte, der besonders Viehzüchter
war (2 praef. 6), aus eigener Erfahrung (1, 1, 11), dann aber auch, und
zwar das meiste, aus mündlichen Mitteilungen und anderen Schriften; im
ersten Buch zeigt sich genaue Berücksichtigung Catos. Der Blick ist nicht
durch die enge Scholle des eigenen Bodens gebunden, sondern zieht ver-
gleichsweise auch die Verhältnisse anderer Gegenden und anderer Länder
herbei. Man sieht, wie sich eine Summe landwirtschaftlichen Wissens
entwickelte. Kritisches Urteil lässt Varro nicht selten vermissen. Die Dar-
stellung ist eine sachgemässe, durch eingestreute Witze belebte, nament-
lich die Einleitungen sind anmutig zu lesen. Die Maschinerie des Dia-
logs ist steif und ungelenk. Die doktrinäre und pedantische Art Varros
kann sich auch in dieser Schrift nicht verleugnen ; einmal benützt er jede
Gelegenheit, seine Etymologien anzubringen; alsdann gefällt er sich in
schablonenhaften Gliederimgen und Einteilimgen ; ein wahrhaft monströses
Beispiel bietet die Anordnung des zweiten Buchs, wo der Stoff zunächst
in künstlicher Weise in drei Fächer zerlegt wird, dann jedes Fach in drei
Rubriken, jede Rubrik in neun Unterabteilungen, so dass sich 81 Gesichts-
punkte für den Schriftsteller ergeben. Diese werden mit einer durch die
Natur der Sache gebotenen Ausnahme dem Leser wirklich vorgeführt, man
kann sich denken, welches Gefühl der Ermüdung sich bei der Lektüre
dieses zweiten Buches einstellen muss.
Das Gespräch des zweiten Buchs wird ins Jahr 67 verlegt, vgl. II praef. 6, das des
') In dieser Schrift finden wir bereits
die jetzt so viel besprochene Bacillentheorie
klar ausgesprochen (1,12,2): animadverten-
dum etiam, H qua erunt loca palustria —
guod ereaeunt animalia quaedam minuta, quae
non possunt oetdi c&nsequi et per adra intus
in corpus per os ac nares perveniunt atque
efficiunt difficilis tnorbos,
') RBiTZüifSTEDr, de scriptorum rei rusti-
cae libris deperditis p. 2.
*) Den Gegensatz zwischen Buch II und
Buch III bezeichnet Varro 3, 1, 8 mit agrestis
pastio, mllatica pastio.
288 Bömisohe Litteratnrgesohichte. L Die Zeit der Bepablik. 2. Periode.
dritten Buchs ins J. 54 (3, 2, 3). Im ersten Gespräch geschieht (1, 2, 10) des Tremellius
Scrofa als des Kollegen des Varro ad agros dipidendos Campanos Erwähnung. Diese
Kommission war im J. 59 thätig.
Ober die Quellen gibt ein treffendes Urteil ab Hbivzb in den Gonmi. zu Ehren
Ribbecks p. 440: Varronem magnam per certe libri rerum rustiearum tertii, per maximam
lihri alterius partem, exceptis eis quae de rebus Bomanis (imprimis de etnptionibus) et quae
historica addit, ad fontes suos rebus verbisque presse se applicasse inielJegimus, cum ea
omnia camponimus, quae eadem fere in Geaponieis vidimus et ad fontes cammunes revaea-
vimus. Nee minus certum est non pauca ex his ad Magonem i. e. ad Cassium Dionysium
rel Diophanem (vgl. § 81) redire. Einen trefflichen methodischen Wink gab auch Bücheleb,
Rh. Mus. 39, 291.
Die Überlieferung ist dieselbe wie die Catos; vgl. § 67. — Ausgabe von Kbil (mit
Cato), Leipz. 1884. Kleine Spezialausgabe Yarros, Leipz. 1889.
Sehen wir auf die Schriftstellerei Varros zurück, so werden wir unser
Erstaunen über die grosse litterarische Produktionskraft nicht unterdrücken
können. Sein Oeist umspannte das ganze damalige Wissen. Litteratur,
Altertumskunde, Fachwissenschaften hat er in zahllosen Schriften erläutert.
Aber diese reiche Schriftstellerei wird auch von einer Idee getragen, der
Idee, das alte römische Wesen zu Ehren zu bringen und der neuerungs-
süchtigen Zeit entgegenzutreten. Neben der Reproduktion schritt aber
auch eine sehr interessante Produktion einher, welche die altvaterische, aber
kerngesunde Natur des Mannes ganz besonders zu Tage treten Hess.
Dass von einem so reichen litterarischen Nachlass Jahrhunderte zehren, ist klar.
Eine genauere Untersuchung des Fortlebens Varros lAuft zugleich auf eine Sammlung
sämtlicher Fragmente hinaus, welche bedauerlicherweise noch fehlt. Varros hohes Ansehen
spricht sich auch in einer Sammlung von Sprüchen aus, die unter seinem Namen umlief
(bei Riese, Sat. Menipp. reliq. p. 265). Ob unter denselben varronisches Eigentum sich
befindet, ist zweifelhaft.
2. Die Philologen.
194. Trennnng des grammatischen und rhetorischen Unterrichts.
Für den reifen Jüngling, der die Elementarbildung sich angeeignet, eröff-
neten sich als höhere Stufen des Unterrichts sowohl im Griechischen als
im Lateinischen die grammatische und die rhetorische Schule. Früher
waren diese beiden Stufen nicht geschieden, indem die Grammatiker auch
zu der Rhetorik Anleitung gaben; und selbst nach der Trennung der beiden
Schulen schlössen sich noch an den grammatischen Unterricht vielfach
Übungen an, welche zur Vorbereitung für die Rhetorik dienen konnten,
z. B. Aufsätze, Paraphrasen, Anreden u. s. w. Die Scheidung scheint zu
Anfang unserer Periode völlig durchgedrungen zu sein; wir lesen, dass
um 88 1) L. Plotius Gallus die erste lateinische Rhetorschule eröffnete.
Die erste selbständige lateinische grammatische Schule scheint Sevius
Nicanor geleitet zu haben. Diese Schulen erhalten jetzt eine überwiegend
griechische Prägung, besonders die Spitzfindigkeiten der griechischen Rhe-
torik wurden jetzt der römischen Jugend eingepflanzt.
Suet. de gr. 4 veteres grammatici et rhetoricam dacebant, ae multorum de utraque
arte commentarii feruntur. Secundum quam eonsuetudinem posteriores quoque existimo,
*) Also nach der Schliessung der lat.
Rhetorenschulen des Jahres 92 (vgl. p. 117).
Anders Mabx, Rh. Mus. 43, 382 Anm., der
durch die Schliessung unsem Plotius, «den
Freund des C. Marius/ betroffen werden Iftsst.
Die Philologen. 289
quamquam tarn discreiis profesHonibus, nihilo minus vel retinuusse vel instituisse et ipsos
quaedam genera instütUionum ad eloqueniiam praeparandam, ut problemata, paraphraais,
aüoeuiiones, ethohgias atque alia hoc genus, ne 8cilicet aicci amnino atque aridi pueri rhe-
toribus traderentur, Quae quidem omitti iam video, desidia quorundam et infantia; nan
enim faMidio putem, — Äudiebam etiam, memoria patrum quosdam e grammatici statim
ludo transiase in forum atque in numerum praeatantissimorum patronorum receptos.
Hieronym. 2, 133 Scsoens zu 88: Ftotius GaÜus primus Romae Latinam rhetoricam
docuit, de quo Cicero sie refert: Memoria teneo pueris nobia primum Latine docere coepisse
Plotium quendam. Bei Sueton de rhet. 2 lesen wir weiter: Ad quem cum fieret concursus,
quod studiosissimus quisque apud eum exerceretur, doleham mihi idem non licere. Conti-
nebar autem doctissimorum hominum auctoritate, qui existimabant Graecis exercitationibus
ali melius ingenia posse. Eine Schrift de gestu von ihm erwähnt Quint. 11, 1, 143. Auch
schrieb er Reden ftlr andere (Suet. 1. c).
Sevius Nicanor wird von Sueton an erster Stelle unter den Grammatikem aufgeführt:
primum ad famam dignationemque docendo pei'venit. Er handelte auch in einer Satire
über sein Leben, aus derselben sind uns zwei Verse bei Sueton erhalten.
196. Lehrer der Grammatik und Bhetorik. Wenn wir das Ver-
zeichnis der Grammatiker und Rhetoren, das uns Sueton überliefert, durch-
gehen, so finden wir 1) dass die meisten auch schriftstellerisch thätig
waren, 2) dass diese Schriftstellerei in der Regel mit ihrem Lehrberuf in
Einklang stand; endlich 3) dass dieselben sehr oft mit vornehmen MänneiTi
in Beziehungen standen. Wir zählen im Anschluss an Sueton folgende auf:
1. Aurelius Opilius. Er lehrte zuerst Philosophie, dann Rhetorik,
endlich Grammatik. Später löste er seine Schule auf und folgte dem
Rutilius Rufus ins Exil nach Smyrna. Hier schrieb er unter anderm ein
Werk »Die neun Musen" (novem Musae). Nach den Citaten, die wir (aus
demselben) bei GeUius (1,25, 17) und bes. bei Varro^ (de 1. 1.) und Pestus
lesen, muss er sich besonders mit Worterklärungen befasst haben. Ferner
erwähnt Sueton einen Jliva^ mit dem Akrostichon „Opillius". Da wir aus
Gellius 3, 3, 1 (vgl. § 31) wissen, dass sich Opilius mit Scheidung der echten
und unechten Stücke des plautinischen Corpus abgab, so werden wir nicht
irren, wenn wir diese Schrift dafür in Anspruch nehmen.
2. Antonius Gnipho war, bevor er eine eigene Schule eröffnete,
Hauslehrer Caesars. Er trug auch Rhetorik vor. Seine Schule war hoch-
berühmt, wie daraus hervorgeht, dass selbst Cicero in seinen reiferen
Jahren dieselbe aufsuchte. Unter seinem Namen kursierte eine Reihe von
Schriften; allein nach der Ansicht des Ateius Philologus stammten von
ihm nur zwei Bücher de latino sermone, in denen wahrscheinlich der
Streit zwischen Analogie und Anomalie behandelt war.
Von diesen angeblich unechten Schriften kennen wir nur einen Kommentar zu Ennius'
Annaleii, den Bücreler, Rh. Mus. 36,334 aus den Bemer Scholien zu Yerg. Georg. 2, 119
erschloss. (Vgl. § 38.)
3. M. Pompilius Andronicus hatte mit seiner Lehrthätigkeit keinen
rechten Erfolg und konnte besonders gegenüber Antonius Gnipho nicht
aufkommen. Er zog sich daher nach Cumae zurück und lebte der Schrift-
stellerei. Von seinen Schriften kennen wir nur die Erläuterungen zu
Ennius Annalen (Ennii annalium elenchi), welche er, durch die J^'ot
gezwungen, verkaufen musste und die dann später Orbilius publizierte.
(Vgl. p. 57 Anm.)
4. L. Orbilius Pupillus aus Benevent. Nach verschiedenen
') Vgl. UsENER, Rh. Mus. 23, 682.
Handbach der UtM. AltertumtwlflseniichAft. VIU 19
290 Römische Litteratnrgescldohte. I. Die Zeit der Kepnblik. 2. Periode.
Lebensschicksalen wurde er Schulmeister in seiner Vaterstadt; unter dem
Konsulat Giceros (63) verpflanzte er seine Lehrthätigkeit nach Rom. Von
seinen Schriften kennen wir eine genauer, nämlich die, welche er „/7f^#-
aXyr^<;^^ (der Leidensmann) betitelte. Höchst wahrscheinlich war sie
ein Gedicht, in welchem Orbilius die Leiden des Lehrerberufs schilderte.
In seiner herben, verbitterten Stimmung griff er seine Schüler und andere,
selbst hochstehende Personen an. Aus Horaz ist er als Orbüius plagosus
bekannt.
Seine Yerspothmg durch Forius Bibaculus berührten wir § 101. Auch wird er wahr-
scheinlich (Hör. sat. 1, 10) als grammaticarum equitum doctissimus in einer ästhetischen
Schrift Ober Lucilius wegen seiner Stumpfheit getadelt.
5. L. Ateius Praetextatus „der Philologe. L. Ateius, der sich
Philologus nannte, war in Athen geboren. In Rom schloss er sich besonders
an das Haus der Claudier an (Appius Claudius und Clodius Pulcher). Er
fertigte für Sallust einen Abriss der römischen Geschichte (vgl. § 129) und
für Asinius PoUio eine Anleitung zum guten Stil. Von seinen Schriften,
deren Zahl nicht gross war, erwähnt Sueton seine „Miscellanea", mit
griechischem Ausdruck TAij benannt, welche 800 Bücher umfassten.
Asinius Pollio, der Sallust wegen seines altertOmelnden Stils angriff, berichtet (Suet.
de gr. 10): in eam rem (für die altertOmelnde Redeweise) aditüorium ei fecit maxime
quidam Ateius Praetextatus nohilis grammaticus Latinus, declamantium deinde auditor
atque praeceptar, ad summatn Philologus ab semet n&minatus. Sueton bezweifelt aber die
Richtigkeit: quo magis miror Asinium credidisse, antiqua eum verba et figuras solitum esse
colligere Satlustio; cum sibi sciat ni aliud suadere quam ut noto civilique et proprio sermone
utatur, vitetque maocime obseuritatem SaUusti et audaciam in translation^ms. Die Sache
scheint bei dem feindseligen Standpunkt des Asinius Pollio wenig wahrscheinlich. Von
anderer Seite wurde dem Sallust Diebstahl aus Cato vorgeworfen (vgl. § 133).
Über seine Schrift sagt Ateius selbst in einem Briefe bei Sueton: Hylen nostram
aliis memento commendare, quam omnis generis coegimus, uti scis, octingentos in libros.
Andere Citate: Festus p. 181 M. in libro glossematorum; Charis. p. 184, 4 K Pinacon III;
Gharis. p. 127, 17 K. „an amaverU Didun Aeneas*^. — Gbaff, Bulletin der Petersb. Akad.
3 Bd. (1861) p. 112, p. 145.
6. Staberius Eros war Lehrer des Brutus und Cassius. In der
sullanischen Zeit lehrte er die Kinder der Proskribierten unentgeltlich.
Er schrieb über die Analogie der Sprache (de proportione Prise.
1, 385 H.), auch waren seine Ausgaben sehr geschätzt (Fronte p. 20 N).
7. Curtius Nicia war vertraut mit Cn. Pompeius, C. Memmius und
mit Cicero, in dessen Briefen er mehrmals erwähnt wird (Ep. 9, 10,2; ad
Attic. 7,3,10 12,26,2 12,51,1 13,29,1), Von ihm gab es einen ästheti-
schen Essay über Lucilius.
Über F. Yalerius Cato handelten wir §§ 97, 98, 99, über Cornelius Epicadus
§ 114 (bei^fügen ist nur noch, dass ihm Charis. p. 110,3 E. ein Buch de cognominibus
und Victorinus p. 209, 9 K. ein Buch de metris beilegt; auch ein antiquarisches Werk
scheint er verfasst zu haben, wie Pbtbb, fr, hist. I p. CCEKXVU n. 1 aus Macrob. 1, 11, 47
schliesst). Über Lenaeus war § 133 die Rede; hier sei nur noch bemerkt, dass Plinius
n. h. 25, 5 in der Einleitung zur Lehre von den Heilmitteln sagt: antea (vor Valgius) con-
diderat solus apud nos, quod equidem inveniam, Pompeius Lenaeus Magni libertus, quo
primum tempore hanc scientiam ad nostros pervenisse animo adverto.
Wir wenden uns nun zu den von Sueton behandelten Lehrern der
Rhetorik:
8. Epidius war Lehrer des M. Antonius und des Augustus. Sein
Vorname ist im Index bei Sueton M., im Text steht bloss Epidius. Danach
Die Phüologen. 291
ist die Zuteilung der unter dem Namen des G. Epidius bei Plinius auf-
geführten Kommentare zweifelhaft.
Es waren in denselben wanderbare Dinge berichtet (Plin. n. h. 17, 243): C Epidi
cammentarii, in quibus arbores locutae quoque reperiuntur.
9. Sextus Clodius, durch seine intimen Beziehungen zu dem Trium-
vir Antonius, dessen Lehrer er war, bekannt. Der Rhetor erhielt von
seinem Gönner reichlichen Ackerbesitz in Sicilien angewiesen; Antonius
wird daher von Cicero in den philippischen Reden (2, 17, 43 3, 9, 22) ver-
spottet, weil er nicht dem hohen Honorar Entsprechendes gelernt. Clodius
dozierte sowohl lateinische als griechische Rhetorik; er war ein sehr
witziger Mensch (ad Attic. 4, 15, 2). In griechischer Sprache schrieb er
vüber die Götter', ein Werk, welches Arnobius (5, 18) und Lactantius
(Inst. 1, 22) benutzten.
ünaerm Clodius teilt BerkaySi Theophrastos' Schrift p. 11 über Frömmigkeit, die
im ersten Buch von Porphyrius' Schrift Oher Enthaltsamkeit von Fleischnahrung bezeugte
Schrift eines Clodius zu (ügog tovg anexo/Ltiyovg xaiy aaQxtoy p. 87, 10 Nauck), in
welcher «auf Grund des Opferkults das Töten und Essen der Tiere mit grossem Aufwand
antiquarischer Notizen und mit (grosser) AusfOhrlichkeit yerteidigt wurde* (p. 12). Der Um-
stand, dass Porphyrius den Autor einen Neapolitaner nennt, während ihn Sueton ^e Sicilia"
herstammen Iftast, ist kein entscheidender Grund gegen die Identifizierung (Bbbvatb p. 141).
Über den Rhetor L. Voltacilius Pitholaus haben wir gehandelt oben § 115.
«Rhetor" heisst der Gfinstling des M. Antonius, T. Annius Cimber, der Sohn des
Lysidicus (Cic. Phil. 11,6,14) in dem merkwürdigen, schwierig zu erklftrenden (vgl. die
treffliche Erklärung des Tau gaüicum von Eaibel, Rh. Mus. 24, 316) Epigramm der Vergil-
schen sog. CkUäUcta 2 p. 163 B. Nach demselben haschte er nach altertümlichen sprach-
lichen Formen (im Griechischen) ; auch auf seinen Brudermord wird angespielt
196. Andere PhilologexL Wir kennen philologische Gelehrte, welche
von Sueton nicht unter den Lehrern der Orammatik iind Rhetorik auf-
geführt sind und daher allem Anschein nach dem Lehrberuf fem standen :
1. Santra. Von Santra wird bei Festus (p. 277 M.) und Nonius
ein Werk de antiquitate verborum angeführt. Hieronymus zählt ihn
(de vir. ill. praef.) unter den Autoren auf, welche über berühmte
Männer schrieben. Die Reihenfolge ist: Varro, Santra, Nepos, Hyginus.
Da, wie es scheint, in der Aufzählung die chronologische Ordnung ein-
gehalten wurde, so hätten wir Santra als jüngeren Zeitgenossen Yarros
zu betrachten. Damit stimmt auch, dass er eine Schrift des Gurtius Nicia
über Lucilius belobt hat; dieser Gurtius Nicia war aber mit Gicero be-
freimdet (vgl. § 195, 7). In dieses biographische Werk werden wir die Nach-
richten verweisen, die wir von ihm über Terenz (Vita Ter. p. 31 R.) und die,
welche wir von ihm über die Entstehung der asianischen Beredsamkeit
(Quint. 12, 10, 16) lesen. Nach Art der alexandrinischen Gelehrten ver-
suchte sich Santra auch in der Dichtung und zwar, wie es scheint, auf
dem Gebiete der Tragödie.
Über Santra*s Zeit handelt Ribbbck, Rom. Trag. p. 616 Anm. BOchelbb, Rh. Mus.
40, 148 «wahrscheinlich schrieb er nach oder neben den Arbeiten Varros — auf keinen
Fall vor rund 700*. Das Gedicht heisst bei Nonius 1, 107 MOlleb «Nuntiis Bacchus*, was
Ribbeck in «Nuptüs Bacchi* ändert. — Lersoh, Zeitschr. f. Altertumsw. 1839 nr. 13; Sprach-
philosophie 8, 165.
2. Q. Gosconius. Aus der Schar von Autoren, welche Sueton für
das Leben des Terenz benutzt hat, erscheint auch ein Q. Gosconius; der-
19*
292 BOmisohe Litteratnrgesohiohte. I. Die Zeit der Kepnblik. 2. Periode.
selbe ist wohl identisch mit dem bei Varro de 1. L 6, 36 6, 89 erwähnten
Gosconius.
An letzter Stelle wird citiert «Coaconins in actionibus*. Ritsghl erl&utert (Opusc.
3, 256): fueruni qui de Icto potius vel de oratore cogitarenti immerUo, Nam „de actionibus^
acribere grammaticus C. potuit eodem atque ipse Varro instiiuto, cuius „de actionibus acae-
nicis" lihroB fuisae — scUis constat,
3. Ser. Clodius. Es ist der Schwiegersohn des Begründers der
römischen Philologie Aelius Stilo. Er wurde beschuldigt, ein noch nicht
vollendetes Werk seines Schwiegervaters entwendet zu haben (Suet. de
gramm. 3). Was seine Schriftstellerei anlangt, so lag er in Kommen-
tarien (Gell. 13, 23, 19; Serv. Aen. 1, 176) der Worterklärung ob; dieselben
benützte Varro in seiner grammatischen Schrift. Auch beteiligte er sich
an der Sichtung des plautinischen Corpus (vgl. § 31). Hier muss er sehr
eingehende Studien gemacht haben. Sein Gefühl für die plautinische Sprache
war so geschärft, dass er ohne Mühe einem Vers es ansah, ob er plau-
tinisch oder nichtplautinisch sei (Cic. Ep. 9,16,4).
Im J. 60 schreibt Cicero an Atticus (1, 20, 7 2, 1, 12), dasB der Stiefbruder des Ser.
Claudius, L. PapiriusPaetus, ihm den litterariachen Nachlass desselben übergeben habe.
Über den Grammatiker Ennius vgl. § 39 p. 59 Anm. Einen Grammatiker Hypsi-
erstes bei Varro de 1. 1. 5, 88.
Erw&hnung mag hier noch finden L. CorneliusBalbus (nicht zu verwechseln mit
dem § 121, 1 § 143, 9 p. 300, 2 genannten Baibus), der im J. 43 eine von ihm verfasste
Praetexta de suo itinere in Gades aufführen liess, da er wohl identisch ist mit dem Cor-
nelius Baibus, dessen i^tjyrjtixd zu Vergil Macrob. 3, 6, 16 erwähnt (Serv. Aen. 4, 127).
197. Anctor ad Herenninm (das yorzttglichste Lehrbuch der
römischen Rhetorik). Den Anlass zu der hier zu beBprechenden Schrift
gab Herennius, der sich in der Rhetorik ausbilden wollte und darum seinen
Freund und Verwandten (4, 56 69), unseren Verfasser ersuchte, ihm einen
rhetorischen Lehrgang abzufassen. Diesem Wunsch kam der Verfasser
nach in einer Schrift, welche gewöhnlich unter dem Titel „Auetor ad
Herenmum*^ kursiert. Dieselbe geht für die Darstellung von den bekannten
Teilen der Rhetorik, inventio, dispositio, elocutio, pronuptiatio, memoria aus,
berücksichtigt aber auch zugleich die Gattungen der Rede, das genus iudi-
ciale, deliberativum und demonstrativum. Im ersten und zweiten Buch wird
die inventio abgehandelt, soweit das genus iudiciale in Betracht kommt;
es sind hiebei die Teile der Rede zu Grund gelegt. ^ Im dritten Buch wird
bis zu3, 8, 15 die inventio auf das genus deliberativum und demonstrativum
angewendet, es schliesst sich daran die Lehre von der dispositio (3, 9, 16 —
3, 10, 18), pronuntiatio (3, 11, 19—3, 15, 27) und memoria (3, 16, 28— Schluss).
Das ganze vierte Buch ist der elocutio gewidmet.
Der Verfasser will eine kurze und eine klare Darstellung der Rhe-
torik geben. Die Kürze erreicht er dadurch, dass er, das praktische Be-
dürfnis stets im Auge behaltend, alle theoretischen Spitzfindigkeiten, welche
nur ersonnen wurden, um die Kunst schwieriger erscheinen zu lassen, bei
Seite schiebt, dann dass er überall die prinzipielle Seite hervorkehrt und
die Einzelheiten der Praxis überlässt, endlich dass er alles Abschweifen
von seinem Gegenstand und von der natürlichen Ordnung vermeidet. Die
*) 1, 3, 4 inf>entio in aex partes [oratio^
nisj cansumitur: exordium, narrationem, divi'
sionem, confirmationenif confutaiionem, con-
clusionem. (Vgl. aber Thiblb p. 96.)
Anoior ad Herennimn. 293
Klarheit erzielt er durch völlige Beherrschung des Stoffes, durch ständigen
Gebrauch römischer Terminologie, >) endlich dadurch, dass er die Lehre
vom Ausdruck fast stets durch eigene Beispiele erläutert.
Über seine eigenen Verhältnisse teilt uns der Verfasser manches mit.
Wir lesen, dass er durch häusliche Angelegenheiten sehr in Anspruch ge-
nommen ist (1,1,1 1,17,27), dass ihm die Philosophie höher steht als die
Rhetorik (1,1,1), dass er noch Schriften über die Grammatik (4,12,17),
über Militärwesen und über Politik (3, 2, 3) in Aussicht stellt. Auch eine
Widerlegung der Dialektiker will er, falls es Herennius verlangt, liefern
(2,11,16). Seine politische Gesinnung erhellt aus den von ihm gemachten
Beispielen, er ist Anhänger der Volkspartei. ^) Aus 4, 22, 31 'ersieht man,
welche Männer seine Sympathien haben, es sind die Gracchen, Apuleius
Satuminus, M. Livius Ih*usus und Sulpicius. ^) Über die Zeit der Abfassung
erhalten wir Aufschluss durch ein vielumstrittenes Beispiel der brevitas
(4, 54, 68), über dessen Beziehung auf Marius (nicht Sulla) jetzt Überein-
stimmung vorhanden ist.^) Da diese Stelle den Tod des Marius voraus-
setzt, 80 muss unsere Schrift nach 86 verfasst sein. Sie wird auch nicht
viele Jahre danach geschrieben sein,'^) denn der Verfasser spricht als Poli-
tiker von der Gegenwart heraus gegen die suUanische Partei.
In der handschriftlichen Überlieferung wird das Werk Cicero bei-
gelegt; dass es von ihm nicht herrühren kann, ersieht man auf den ersten
Blick. Als der wirkliche Verfasser kann mit der grössten Wahrschein-
lichkeit Cornificius bezeichnet werden. Den Beweis hiefür liefert Quin-
tilian; er führt unter dem Namen Cornificius Dinge an, welche wir in
unserem Lehrgang finden und nicht wohl anderswoher genommen sein
können. So nimmt der Verfasser für sich die lateinische Terminologie in
Anspruch (4, 7, 10). Nun finden wir eine Reihe von lateinischen Termini,
die bei unserem Autor vorkommen, auch bei Quintilian und zwar unter
dem Namen des Cornificius. Auch Beispiele, die doch der Autor entweder
selbst gemacht oder übersetzt hat, finden sich in beiden Autoren in gleicher
Weise. Es kann sonach die Autorschaft des Cornificius nicht zweifelhaft
sein. Welcher Cornificius der Autor war, lässt sich jedoch nicht genauer
bestimmen. •)
Eigentümlich sind die Schicksale des Werkes. Nach Quintilian kam
der Autor in Vergessenheit ; der Glanz des ciceronischen Namens Hess ihn
in den Hintergrund treten. Erst ums Jahr 400 n. Chr. kommt er wieder
zum Vorschein; der Kirchenvater Hieronymus erwähnt die Schrift,^) und
^) Hie und da sind die griech. Termini
in einem Relativsatz beigefügt z. B. 1, 4, 6
2.30,47 1,16,26.
*) Wie wohl auch Herennius; vgl. Boch-
rem, in demortui loeum qui petat, in contione
nominare, den tertninus ante als gegeben
erachten. Dieses Gesetz sei durch SuUa im
J. 81 abgeschafft worden. Allein völlige Be-
MANN, De Carnifici — rerum Romanarum | weiskraft besitzt dieses Beispiel nicht, da der
ifcientia, Leipz. Diss. (Zwickau) 1875 p. 20. ■ Vf. auch ein nur auf die Vergangenheit pas-
') Man vgl. noch 4, 54, 67 (Satuminus), sendes Beispiel wählen kann. Vgl. Wbidner
1, 15. 25 (Sulpicius), 4, 9, 13 (für die Bundes- ; Cic. artin rhet, L II p. XXII.
genossen); vgl. V. Sc ALA, Fleckeis. J. 131,221. j ") Vermutungen bei Kayser p. VI (der
*) FowLKR, Journal ofphihlogy 10, 197. i bei Cic. Verr. 1, 30 genannte). Dagegen
Mabx, Rh. Mus. 43, 398.
*) BocHXAmr 1. c. p. 4 will in 1, 11,20,
wo die lex erwähnt wird, welche iubet augu-
BOCHMANN p. 7.
'j Die Stelle bei Kaysbr p. XIII, 1. Vgl.
Marx, Rh. Mus. 43, 386 s^uh finem saecuU D"
29-1 Römische Litteratnrgesohiohie. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
zwar unter dem Namen Ciceros. Von da an schützte der berühmte Name
die Lehrschrift; sie wurde viel gelesen und oft abgeschrieben.
Eine wichtige Frage ist das Verhältnis unseres Lehrgangs zu der
rhetorischen Schrift Ciceros über die Erfindung (§ 48). Dass beide
Schriften vieles gemeinsam haben, auf der anderen Seite aber wieder grosse
Verschiedenheiten darbieten, erkennt man leicht. Die Entscheidung hängt
von Cornif. 1, 9, 16 ab. Hier erklärt der Verfasser eine Neuerung, die
Aufstellung von drei Fällen, in denen die Insinuatio statt des Principium
zur Anwendung kommen soll, als seine Erfindung. Wir finden aber auch
bei Cicero diese drei Fälle bei der Insinuatio, freilich falsch subsumiert.
Diesen Fehler wird jeder, der weiss, wie Cicero bestrebt ist, Neuerungen
in seiner Schrift anzubringen, damit aber in der Regel sehr unglücklich
ist, Cicero, nicht aber einer vorausliegenden Quelle zuschreiben* Und ver-
gleicht man die beiden Autoren, so findet man selbst in dem Ausdruck
solche Übereinstimmungen, dass man sich der Überzeugung nicht ver-
schliessen kann, Cicero habe neben anderen Quellen auch den Comificius
vor sich liegen gehabt.
Über die Trefflichkeit des Lehrbuchs sind alle kompetenten Beurteiler
einig; mit Recht nennt es Spengel*) einen „liber auro pretiosior^. Was
uns die Lektüre der Schrift so anziehend macht, ist die Persönlichkeit des
Verfassers. Wir haben einen Mann vor uns, der mitten im Leben steht
und über dem kleinlichen Treiben der gewöhnlichen Rhetoren erhaben
erscheint. Mit schneidigen Waffen bekämpft er die Schulpedanten und ihre
M geschwätzige Kunst der Redeunfahigkeit'', die Dialektiker, welche nach
Amphibolien jagen und aus lauter Furcht, zweideutig zu sprechen, nicht
mehr ihren Namen auszusprechen wagen. Und nachdem der Verfasser
am Schluss seines rhetorischen Lehrgangs angelangt ist, drängt es ihn zu
dem Bekenntnis, dass die Rhetorik der Güter höchstes nicht ist und dass
es noch Dinge gibt, die höheren Strebens wert sind als die Rhetorik.
Den Anlass der Schrift spricht der Verf. zu Anfang aus (1, 1): tua nas, C. Herenni,
voluntcis commovit, ut de ratione dicendi eonscriberemus — et eo studiosius hoc negotium
8U8cepimu8f guod te non »ine causa veüe cognoscere rhetoricam inteüegebamus und gleich
darauf non 8pe quaestus aut gloria commoti venimus ad scribendum, quemadmodum ceteri,
sed ut industria nostra tuae morem geramus voluntati. — Dass Herennius die einzebien
Bücher zugeschickt erhielt, besagt er deutlich 3, 1, 1 : quem, ut arhitror, tibi librum (quar-
tum) celeriter absolutum mittemus — interea prima quaeque et nobiscum, cum votes, et
interdum sine nobis legendo consequere, ne quid impediare, quin ad hanc uiilitatem pariter
nobiscum progredi possis.
Die Disposition des Werkes wird stark hervorgehoben ; am besten erhellt sie aus
dt Ifl: ad omnem iudicialem causam quemadmodum conveniret inventionem rerum adcommodari,
saiis abundanter arbitror superioribus libris demonstratum. Nunc earum rationem rerum
inveniendarum, quae pertinebant ad causas deliberativas et demonsfrativas, in hunc librum
transtulimusy ut omnis inveniundi praescriptio tibi quam primum persoheretur. Reliquae
quattuor partes erant artificii. De tribus partibus in hoc libro dictum est, dispositione,
2}ronuniiatione, memoria. De elocutione, quia plura dicenda videhantur, in quarto libro
scribere maluimus, Dass verschiedene Systeme ineinander gearbeitet sind, sucht aus In-
kongruenzen und Inkonsequenzen der Disposition, die sich nicht ableugnen lassen, nachzu-
weisen Thiele p. 96.
pauilo ante Hieronymi aetatem Cornificii opus, ' dam inclutum, fortasse per doctorem Hiero-
quod post Quintüianum plane neglectum ia- ' nymi Aelium Donatum Ciceronem invenit
ceret, denuo in grammaticorum et rhetorum \ auctorem.^
cathedras provenit et per grammaticum quen- , ') Rh. Mus. 16,391.
Anctor ad Herennivm.
295
Kttrze und Deutlichkeit strebt der Vf. ausdrücklich an. 1, 17,27 sedulo dedimus
operam, tU breviter et dÜucide diceremus. 3, 21, 34 quod docere non grawiremur, ni metue^
remuSy ne, cum ab instüuto nostro recessissemiM, minus commode servaretur haec dilucida
brevUas praeceptionia. 2, 1, 2 locuti aumus nee pluribus verbis, quam necesse fuit, nee
minus dUucide quam te velle existimabamus.
Mittel zur Erreichung der Kürze: 1, 1, 1 iUa, quae Graeci scriptores inanis adrogan-
tiae causa sibi adsumpserunt, reliquimus: nam Uli, ne parum multa scisse viderentur, ea
eonquisiverunl, quae nihü aitinebant, ul ars difficHior cognitu putaretur, — 2, 4, 7 initia
intfentionis ab arte debent proficisci, cetera comparabit exercüatio, 3, 23, 39 praeceptoris est
docere, quemadmodum quaeri quidque conveniat, et unum aliquod aut alierum, non omnia,
quae eius generis erunt, exempli causa subicere, quo res possit esse dilucidior, Quod genus
cum de prooemiis quaerendis disputamus, rationem damus quaerendi, non mille prooemiorum
genera conscribimus, — 4, 1, 1 in superioribus Itbris nihil neque ante rem neque praeter
rem locuti sumus, — Über die lateinische Terminologie: 4, 7, 10 nomina rerum Graeca
convertimus: ea remota sunt a consuetudine.
Die Wahl eigener Beispiele verteidigt der Vf. sehr eingehend im Anfang des
4. Buchs. Dass er aber nicht fiberall Eigenes gibt und auch griechische Autoren benützt
hat, beweisen 4, 34, 45 = Demosth. 18, 129 4, 49, 62 = (Demosth.) 25, 52 4, 29, 40 = Dem.
18,20; 4,15,22 = Dem. 18,71; vgl. Spbnobl, Rh. Mus. 16,406/ Marx, Rh. Mus. 43,397.
Für die Autorschaft des Cornificius gibt Eatseb die Belege und zwar für die
Terminologie p. VI Anm. 7, für die Beispiele p. YÜ Anm. 1. Für die Terminologie ist die
HanptsteUe Quint. 9, 3, 97 adicit his — Cornificius interrogationem, ratiocinationem, subiectio-
nem, transitionem. occuUationem; praeterea sententiam, membrum, articulum, interpretationem,
conclusionem. Alle diese 10 Termini finden wir auch im Autor (4, 15, 22 f.). Die Reihen-
folge ist zwar eine andere, der Autor gibt sie in der Ordnung: interrogatio, ratiocinatio,
sententia, membrum, articulus, subiectio, transitio, occultatio, interpretatio, conclusio. „At
Q. dupUcem seriem figurarum affert, Primum enim Itbrum Cornificii pervolvens eas ex-
cerpit, quas We verborum, ipse sententiae figuras ptäat; deinde vero Herum omnia Schemata
percurrens ea nominal, quae ipsius sententia Schemata omnino non sunt, Divisa hoc modo
Serie figurarum plane idem est ordo qui apud nostrum** (KrosHNERT p. 41). Weiter vgl.
Q. 5. 10,2 = 4, 18, 25 9, 3, 90 = 4, 24, 35 9,2,27 = 4,36,48. — Beispiele 9, 3, 31 =
4, 14, 20 9, 3, 72 = 4, 22, 30.
Die im einzelnen von Badeb (vgl. § 148 p. 232) und von Kaysbr p. X durchgeführte
Ansicht von der Abhängigkeit Ciceros von Cornificius wird neuerdings angefochten. Marx
(Rhein. Mus. 43, 397) hält die Angabe des Cornificius 1, 9, 16 adhuc quae dicta sunt arbitror
mihi constare cum ceteris artis scriptoribus, nisi quae de insinuationibus nova excogitavimus,
quod eas soli praeter ceteros in tria tempora divisimus, ut plane certam viam et perspicuam
rationem exordiorum haberemus für unglaubwürdig, sich darauf stützend, dass Cornificius
auch versprochen habe, nur durch eigene Beispiele die elocutio zu erläutern und doch Bei-
spiele aus griechischen Rednern entnommen habe. Allein hier muss doch entgegengehalten
werden, dass es sich um einige übersetzte Beispiele handelt, welche für das römische Publi-
kum als neue gelten konnten, abgesehen davon, dass sie ja zum Teil auch verändert wurden.
Auf die falsche Subsumienmg sich stützend, erachtet Thible, Quaest. de Cornif. et Cic, artibus
rhetoricis, Greifsw. 1889 p. 19 die Lehre Ciceros für eine andere als die des Cornificius.
Auch dies ist unrichtig, denn das Beweisende sind hier die drei Fälle, die sich bei beiden
Autoren finden, nicht die Subsumierung. Thiele sucht durch eingehende Vergleichimg der
beiden Schriften die Ansicht seines Lehrers Kibssliko durchzuführen, dass die xüinlich-
keiten durch eine gemeinsame lateinische Quelle zu erklären seien. (Comif. 1, 11, 18 noster
doctor tres sc. causarum constitutiones putavit esse); wer der lateinische Rhetor war, bleibt
unaufgeklärt 0 Würde diese Ansicht richtig sein, so müsste unsere Bewunderung des
Cornificius sehr reduziert werden; er wäre nicht mehr als ein Plagiator, der sogar im
Ausdruck von seiner Quelle abhängig ist. Allein eine solche Vorstellung passt nicht zu
dem Bilde, das wir von des Autors schriftstellerischer Individualität aus dem Werke ge-
winnen. Überall sehen wir einen zielbewussten, klar denkenden, seinen Stoff innehabenden
Schriftsteller vor uns; nirgends verrät sich der Ausschreiber. Als solchen kennen wir
aber Cicero aus seinen philosophischen Schriften. Die Abweichungen, die Thiele viel zu
stark betont, sind teils eigene Zusätze Ciceros, wie sie jeder machen kann, teils beruhen
sie auf anderen Quellen.
Überlieferung: Die Handschriften zerfallen in zwei Familien, in eine lückenhafte,
aber alte, und in eine vollständige, aber jüngere Sippe. Die Hauptvertreter der (bes. am
^) Marx p. 382 dagegen: ars Cornificii
— ex Plotii sive Plotiani cuiusdam schola
profeeta esse videtur: at Cicero — StÜonis
acroaseif. in schola exceptas in libris de in-
ventione edidit multum abhorrentes a Corni-
ficii doctrina.
296 Bömische Idtterainrgeschiohie. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
Anfang) lückenhaften sind der Herbipolitanus s. IX/X, der ParLsinus 7714 b. IX, der
Bemensis 433 s. X. Hauptvertreter der zweiten Sippe ist der Bambergensis 423 s. XIL
(Über zwei Äste der ersten Familie vgl. Mabx, Rh. Mus. 43, 377.) Die Hauptfrage für die
Becensio ist, ob das, was die zweite Sippe mehr hat, Ausfüllung einer Lücke der Hdschr.
der ersten Familie oder Interpolation ist. Eine sichere Entscheidung ist oft nicht leicht.
Halm, Rh. Mus. 15,536; Spenoel 16,391; Destinok, De codic, Comificiorum ratiane, Kiel
1874; Simon, Schweinf. Progr. 1863 und 1864.
Ausgaben: Eayser, Leipzig 1854 (mit unmethodischem Apparat). Friedrich in
Müllers Ausg. Giceros.
3. Die Juristen.
198. Die Schule des Servius Sulpicius Bufus. Nach der epoche-
machenden Leistung des Q. Mucius Scaevola machte sich Servius Sulpicius
Rufus (gest. 43 vgl. p. 225, Gons. 51) um die Rechtswissenschaft in hervor-
ragender Weise verdient. Derselbe war wie sein Freund Cicero anfangs der
Redekunst zugethan; es gab noch zur Zeit Quintilians (10, 7, 30) von ihm drei
Reden und vortreffliche Skizzen für solche. Allein bald widmete er seine
ganze Kraft der Jurisprudenz. Hier entfaltete er eine quantitativ ungeheure
schriftstellerische Wirksamkeit. Pomponius berechnet sie in den Dig. 1, 2,
2, 43 auf nahezu 180 Bücher. Diese grosse Masse von Schriften zeichnete
sich auch durch einen intensiv hohen Gehalt aus. Nach der vielleicht
etwas parteiisch günstigen Charakteristik, die Cicero imBrutus 41, 152 ent-
wirft, lag der Schwerpunkt seines Schaffens in der ars, in der Theorie,
wie sie nur die Dialektik an die Hand geben konnte. Seine Schriftstellerei
behandelte einmal einzelne Teile des Rechts, so werden von ihm citiert
eine Schrift de dotibus (Gell. 4, 3, 2) und eine rfe sacris detestandis (Gell.
7 (6), 12, 1). Er behandelte zum erstenmal das prätorische Edikt, indem
er zwei kurzgefasste, an M. Brutus gerichtete Bücher zu demselben schrieb
(Dig. 1, 2, 2, 44); zu dem systematischen Werk des Mucius verfasste er
kritische Noten (Gell. 4, 1, 20). Vielleicht hatte er auch das Zwölftafel-
gesetz kommentiert (Dig. 50, 16, 237). Seine Schriften waren auch inso-
fern für die Litteratur von grosser Bedeutung, als er die elegante Dar-
stellung in die juristische Schriftstellerei einführte (Cic. Brut. 41, 153). Ein
Bild von seinem Stil erhalten wir durch zwei in die Generalkorrespondenz
Ciceros aufgenommenen Briefe, der eine (4, 5) ist ein Trostschreiben für
Cicero beim Tode der TuUia, der andere (4, 12) eine ErzäJilung vom Tode
des Marcellus. Ich stehe nicht an, diese Briefe als ein Muster schlichter
und sachgemässer Darstellung zu bezeichnen. Servius Sulpicius zog auch
eine grosse Schule — ebenfalls ein Beweis seiner hohen Bedeutung. Unter
seinen Schülern sind die bedeutendsten A. Ofilius, der Lehrer des Ateius
Capito, ein vertrauter Freund Caesars, und P.AlfenusVarus, der vielleicht
mit dem bei Hör. sat. 1, 3, 130 genannten identisch ist. A. Ofilius legte
durch seine Schriftstellerei zu allen Teilen des Rechts Fundamente; wie
sein Lehrer wendete er sein Augenmerk auch auf das prätorische Edikt
und kommentierte dasselbe zum erstenmal in sorgfaltiger Weise (Dig. 1,
2, 2, 44). Yarus scheint sich mehr auf die Kasuistik verlegt zu haben,
wenigstens weisen darauf die XL libri digestorum, die eine geordnete (di-
gerere) Responsensammlung enthalten zu haben scheinen (Gell. 7 (6), 5, 1).
Ausserhalb der Schule des Sulpicius wirkte C. Trebatius Testa, Lehrer des berühmten
Antistius Labeo. Er war mit Cicero sehr befreundet und von demselben an Caesar in
Die JnriBten. 297
Gallien empfohlen worden. Es ist uns eine Reihe von Briefen Ciceros an ihn erhalten
(Cic. fam. 6 — 22), in denen der Briefschreiber fortwährend Anspielungen auf den juristischen
Beruf des Adressaten macht. Er muss zu grossem Ansehen gelangt sein, weil ihn Horatius
sat. 2, 1 als einen typischen Juristen einführen konnte. Femer sind zu nennen A. Cascellius,
Über dessen Charakter zu vgl. Yaler. Max. 6, 2, 12, und der auch als Geschichtschreiber
bekannte Q. Aelius Tubero, qui Ofilio operam dedit, Dig. 1,2,2,45 und 46; vgl. p. 159,
Auf Verbindung von Jurisprudenz und Grammatik weist des C. Aelius Gallus Schrift de
aignificatione verborum quae ad ius cirile periinent, welche von Verrius Flaccus benutzt
wurde (Gell. 16, 5, 3). — Karlowa, Rom. Rechtsgesch. I 483—488.
199. Bechtsdenkmäler. Auch die grossen legislatorischen Werke
wird die Litteraturgeschichte , welche alle Schriftdenkmäler, in denen
sich der Geist des Volkes manifestiert, interessieren, nicht völlig ausser acht
lassen. Wir haben daher seiner Zeit ausführlicher der zwölf Tafeln und
anderer Gesetzeswerke gedacht. Auch in unserer Periode ist eine grosse
legislatorische Arbeit zu Tage getreten; wir meinen die Reformen, welche
Sulla in Bezug auf das Kriminalwesen traf. „Die Gesamtheit der
suUanischen Quästionenordnungen lässt sich als das erste römische Gesetz-
buch nach den zwölf Tafeln und als das erste überhaupt je besonders er-
lassene Kriminalgesetzbuch bezeichnen.* 0 Durch diese Gesetzgebung wurde
eine feste Schranke zwischen der Kriminalsache und der Civilsache gezogen.
Aber auch im Zivilrecht hatte sich, wenn auch keine Kodifikation, doch
eine Art Gesetzbuch sozusagen spontan gebildet, nämlich das prätorische
Edikt. Die Entstehungs weise desselben ist folgende: In jedem Gerichts-
jahr erliess der Prätor ein Edikt, in dem er die Normen darlegte, nach
denen er seines Amtes walten wollte. Dieses Edikt dauerte immer nur,
solange das Amtsjahr währte; ja selbst während des Amtsjahres war der
Prätor nicht absolut daran gebunden, erst die lex Cornelia des J. 67 ver-
pflichtete ihn ausdrücklich dazu. Bei der Aufstellung des Edikts war der
Prätor nicht gezwungen, seine Vorgänger zu berücksichtigen; allein es lag
in der Natur der Sache, dass sich aus den verschiedenen Edikten ein fester
Kern herausschälte, der übernommen und mit Zusätzen und einzelnen Ab-
änderungen versehen wurde. Auf diese Weise bildete sich „eine Art
Gesetzbuch des Privatrechts in der Gestalt von Bestimmungen über Ge-
währung von Klagen, Einreden u. s. w., nicht gerade angenehm zu lesen
und nicht gerade in Ciceros Stil, aber ein Gesetzbuch, welches in seiner
altvaterischen Sprache und seinen ungelenken Wendungen die Erfahrungen,
die Weisheit, die Vorsicht der Voreltern von Generation zu Generation
überlieferte.***) Zur Zeit Ciceros musste dieser Kern der Edikte schon
bedeutend gewesen sein, weil bereits von seinen Wirkungen gesprochen
wird. Freilich wäre eine einheitliche Kodifikation jetzt vielleicht besser
am Platz gewesen; und es ist ein des grossen Caesar würdiger Gedanke
gewesen, hier reformatorisch vorzugehen. Auch diesem Plane bereiteten
die Mörderhände ein Ende.
Cic. de leg. 1,5, 17 non a praetoris edieto, ut plerique nunCy neque a XII tahtüis,
ut »uperiores, sed penitus ex intima philasophia hauriendam iuris discijüinam piUas, In
Verrem II 1, 42, 109 qui plurimum tribuufU edicto praetoris edictum legem annuam dicunt
es9e. Suet. Caes. 44 (Caesar destinahat) ius civile ad certum modum redigere atque ex im-
mensa diffusaque legum copia optima quaeque et necessaria in paucissitnos conferre libros,
') MoMMSKH, R. Gesch. 2*, 359.
•) SoHM, Inst.» 50.
298 BömiBche LitieratiirgeBchiohie. I. Die Zeit der Republik. 2. Periode.
4. Die Schriftsteller des geistlichen Rechts.
200. Die Disciplina auguralis. Das Kollegium der Augurn hatte
die Aufgabe, durch Beobachtung von Auspicia zu ermitteln, ob eine Hand-
lung den Göttern genehm sei oder nicht. Zur Lösung dieser Aufgabe
bestand eine eigene Technik, die disciplina auguralis. Bire Quellen hatte
dieselbe in den Schriften des Auguralarchivs, wohl auch in der Tradition.
Da die Auguralwissenschaft mit der Staatsverwaltung aufs innigste ver-
bunden ist, so war ihre Kenntnis für den Römer von grosser Wichtigkeit.
Wir werden es daher natürlich finden, wenn sich auch die Litteratur dieses
Zweiges bemächtigt, zumal die Römer für diese isagogische Litteratur
grosses Interesse zeigten. >) Vor allem ist zu nennen Appius Claudius
Pul eher, der Bruder des bekannten P. Glodius Pulcher und der Schwieger-
vater des M. Brutus (§ 139,3), Konsul im J. 54, Gensor 50 (als solcher
stiess er Sallust aus dem Senat; vgl. § 128), und der Vorgänger Ciceros
in der Verwaltung der Provinz Gilicien. Zwischen beiden Männern bestanden
ausgedehnte Beziehungen; das dritte Buch der ciceronischen Generalkorre-
spondenz enthält nur Briefe Ciceros an Appius Claudius. Im Brutus 77, 267
wird Appius Claudius als gewandter Redner und als ein genauer Kenner
des gesamten Rechts und der Altertumskunde charakterisiert. Einen Zweig
des öffentlichen Rechts bearbeitete er auch in einem eigenen Werk, nämlich
die Auguraldisziplin. Das Werk wurde Cicero gewidmet; das erste Buch
erhielt Cicero im J. 51 (Ep. 3, 4, 2); die Fortsetzung scheint sich aber ver-
zögert zu haben, denn Cicero sprach in seinen Briefen mehrmals den Wunsch
aus, auch die übrigen Teile des Werks zu erhalten (Ep. 3, 9, 3 3,11,4).
Noch eine merkwürdige Eigenschaft des Appius Claudius berichtet uns
Cicero, er war nämlich Geisterbeschwörer.*) Zu gleicher Zeit schrieb
ein C.Claudius Marcellus ebenfalls über die Auguralwissenschaft, denn
Cicero erwähnt (de leg. 2, 32) einen Streit der beiden Autoren über die
auspicia. Von M. Messala') (Cons. 53) citiert Gellius an drei Stellen
(13,14,5 13,15,3 13,16,1) eine Schrift, welche über die Auspicien {de
auspiciis) handelte. Nach der Untersuchung Peters^) ist der Messala, den
Plinius (zum Unterschied von dem berühmten Redner Messala) bald senex
(Ind. 35), bald Messala Bufus (Ind. 7 und 34) nennt und der eine Geschichte
de familiis schrieb,*) mit unserem Autor identisch. Ober Auspicien schrieb
auch Vera ni US, wie wir aus Verrius Flaccus ersehen.^) Derselbe be-
handelte femer Fragen aus dem Pontifikalrecht. Als Augm*alschriftsteller
erscheint endlich noch L. Caesar (Macrob. 1, 16,29 Prise. 1,380H.).
Von Yeranius* Thätigkeit auf dem Gebiete des pontifikalen Rechts werden wir durch
Macrobius unterrichtet und lernen hiebei folgende Scnriften kennen: 3,5,6 (quaestiones
pontificales), 3,6,14 (pontificalium is Über quem fecit de aupplicationihus). 3,20,2
^) Die verschiedensten Funktionen wur-
den behandelt, so schrieb z. B. Nicos tratus
einen liber de senatu habende (Festus
p. 347 Mülleb). Vgl. oben § 13.
*) Tusc. 1, 16, 37 Appius yexvofAayieta
faciebat, de div. 1, 58, 132 psi/chomaniia,
quihus Appius uti solehat.
^) Macrob. 1, 9, 14 Marcus Messala, Cn,
Domitii in consulatu eollega idemqiie per
annos quinquaginta et qninque augur.
*) Fleckeis. J. 125, 107.
') Plin. 35, 8 34, 137 7, 173. Die Frag-
mente sind zusammengestellt in der kl. Ausg.
der bist. Fragmente von Petes p. 265.
^) Festus p. 289 Veranius in eo qui est
auspiciorum de comitiis.
Die Schriftsteller des geistlichen Rechts.
299
(de verbis pontificalibus). Worterklärangeii von ihm finden sich öfters bei Festus.
Wahrscheinlich stammen dieselben ans einem (an einer verstümmelten Stelle bei Festus
p. 158 citierten) Werke, in dem sakrale Ausdrücke behandelt waren. — Hieher gehört auch
Granius Flaccus; nach Censor. 3, 2 Hbrum ad Caesarem de indigitantentis scriptum
reliquU. In den Dig. 50, 16, 144 wird ein Buch „de iure Papiriano" imgeführt. — Über
Anfustins vgl. Festus p. 94 (Usbkeb, Rh. Mus. 24, 101).
201. Die disciplina Etmsca. Die Kunst, aus den Eingeweiden der
Tiere (exta), aus Wahrzeichen (ostenta), aus dem Blitz (fulgura) den Willen
der Götter zu ermitteln (Cic. de div. 2, 12, 28 18, 42), ist die disciplina Etrusca.
Die Kunst ist in Etrurien zu Hause, sie wurde zwar auch nach Rom verpflanzt,
behielt aber stets den fremdartigen Charakter bei. Bei den Etniskern war
die Disziplin in eigenen Schriften niedergelegt; lateinische Bearbeitungen
derselben bringt unser Zeitraum; an denselben beteiligten sich besonders
Personen, die aus Etrurien stammten. Nach der dreifachen Thätigkeit der
Haruspices gliedert sich auch ihre Litteratur, es gab libri haruspicini im
engeren Sinn (Opferschau), libri fulgurales und ostentaria, *) Hierher gehörige
Schriftsteller sind:
1. Tarquitius Priscus. Von ihm teilt uns Macrobius Gitate aus
zwei Werken mit, dem ostentarium arborarium (3, 20, 3), dann einem Buch,
welches er als „transcriptus ex ostentario Tusco*' (8, 7, 2) bezeichnet. All-
gemein wird bei Ammianus Marcellinus 25,2, 7 von „Tarquitiani libri in
tiiulo de rebus divinis" gesprochen. Der Autor wird auch von Plinius im
Quellenverzeichnis des II. und XL Buchs angeführt. Eine in Tarquinii
gefundene und sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf unsern Tarquitius
Priscus beziehende Inschrift erwähnt ein dichterisches Werk über die
etruskische Disziplin (carminibus edidü). Und in der That scheint es, dass
dem Gitat bei Macrobius 3, 7, 2 (und nach Böcheleb auch 3, 20, 3) Verse
zu Orunde liegen, und zwar, wie Bücheleb annimmt, trochäische Septenare.
Unsern Tarquitius Priscus nennt Vergil in dem wunderschönen Gedicht,
in dem er seinen bisherigen Bestrebungen Lebewohl sagt und sich zur
Philosophie wenden will (Bährens, poet. min. 2,165):
Et vo8j Selique Tarquüique Varroque
Scolasticarum natio madens pingui,
Ite hinc, inane cymbaJon iuventutis.
Macroh. 3, 7, 2 ibi (in Ostentario Tusco) repperitur: Purpuren aureove colori ovis
arieste si aspergetur, principi ordinis et generis summa cum felicitcUe largitatem äuget,
genus progeniem propagat in claritate laetioremque efficit. Schwierig ist zu heurteilen
Lactant. div. inst. 1, 10, 2 hunc (Aesculapium) Tarquitius, de iüustribus piris disserens, ait
ineertis parentibus natum, — Chironi traditum didicisse medicinam; fuisse autem Messe-
nium, sed Epidauri moratum; es wird hier wohl eine von der disciplina Etrusca ver-
schiedene Schrift sein.
0 Cic. de div. 1, 33, 72 führt an Etrus-
corum et haruspicini et fulgurales et rituales
libri. Schwierig ist die Bestimmong des
Verhältnisses der ostentaria zu den libri
rituales. Zimheiwaivk erachtet, dass die
rituales libri auch die ostenta enthielten
{p. 29); ScHMEissER, Die etruskische Disziplin,
Liegn. 1881 p. 16 ,In den libri r. muss auch
die Deutung der Prodigien nach bestimmten
Regeln niedergelegt gewesen sein ; zu dieser
Species der Ritudbücher bildeten die fort-
während weitergefOhrten ostentaria (Wimder-
verzeichnisse) die Ergänzung und verhielten
sich wahrscheinlich zu den Ritualbfichem,
wie die Eommentarien der Auguren zu den
Auguralbüchem ; die libri r. enthielten näm-
lich die Regeln über die Prodigiendeutung
nur skizziert, während sie in den Ostentarien
spezialisiert waren. ** Ich glaube, dass die
libri rituales alle Zweige der Disziplin um-
fassten, dass daher Cicero ungenau ist.
300 BömiBche LüieratnrgoBchichie. I. Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
Kritisch gesichtet hat die Stellen über T. Pr. zusammengestellt M. Haupt, Opusc.
2, 15, 2. — Die ein dichterisches Werk anführende Inschrift erörtert Bormaivn, Arch. epigr.
Mitteil, aus Österr. 11,94—103.
2. A. Gaecina. In der Generalkorrespondenz Giceros findet sich ein
höchst interessanter Brief eines Gaecina an Gicero aus dem J. 46 (£p. 6, 7).
In demselben schildert er in einer sehr anschaulichen, wahrhaft dramati-
schen Weise, wie schwer es ihm geworden sei, eine allem Anschein nach
prosaische Schrift zu verfassen, welche den Zweck haben sollte, die Auf-
hebung des Exils, in dem er lebte, von Gaesar zu erwirken. Sie führte
den Titel „Querelae** und belobte Gaesar als eine milde, versöhnliche Natur
(Ep. 6, 6). Seine Verbannung hatte sich der Verfasser dadurch zugezogen,
dass er nicht bloss mit den Waffen gegen Gaesar kämpfte ') (Ep. 6, 7),
sondern ihn auch in einer Schmähschrift angriff. Dieselbe erwähnt Sueton
Gaes. 75 und nennt sie ein „criminosissimus liber".^) In der Generalkorre-
spondenz finden sich auch drei Briefe Giceros an Gaecina (6, 8 6, 5 6, 6).
Von diesen belehrt uns der sechste, dass Gaecina die etruskJsche Disziplin
von seinem Vater erlernt. Da die Familie aus Volaterrae in Etrurien
stammt (Plin.n.h. 11, 197), so ist die Kenntnis einer solchen Disziplin nicht
auffallig. Nur erwähnt Plinius (Ind. 2) einen Gaecina als Autor einer
etruskischen Disziplin; auch Seneca lag ein solches Werk eines Gaecina
vor, er stellt es sehr hoch, denn er nennt den Verfasser einen beredten
Mann, der, wenn Gicero nicht gewesen wäre, es zu einem bedeutenden
Namen gebracht hätte (qu. nat. 2, 56); an zwei Stellen gibt er Auszüge
aus dem Werk, an der ersten sind die drei Gattungen der Blitze behandelt
(1. c. 2, 39), an der zweiten (2^ 49) die Namen der Blitze. Es fragt sich, ob
dieser Schriftsteller der Schreiber des siebenten Briefs oder sein Vater ist.
Die Hervorhebung der kunstvollen Darstellung und die Heranziehung Giceros
passt mehr für die Zeit des Sohnes.^) Dieser Sohn wird aber auch der
Gaecina sein, den Gicero im J. 69 verteidigte und der sich wohl des-
wegen (Ep. 6, 7, 4) seinen alten Klienten nannte.^)
£p. 6, 8 In Caesare haec sunt: mttis clemensque natura, quatis exprimitur praeclaro
iUo libro Quaerelarum tuarum, Gaecina bearbeitete bloss einen Teil der Disziplin, die
Blitze; wir teilen ein Bruchstück mit: Senec. qu. nat. 2,39 genera fulgurum tria esse ait
Caeeina, consiliarium, auctoritatis et quod Status dicitur. ConsUarium ante rem fit,
sed post cogüationem, cum aliquid in animo versantibus aut suadetur fuiminis ictu aut dis-
suadetur, AuctoritcUis est, übt post rem factam venu quam bono futuram majore significet.
Status est, ubi rebus quietis nee agentibus nee cogitantibus quicquam fulmen quidem inter-
f>enit et aut minatur aut pramittit aut monet etc, — ZuofSRHAifsr, De A. Caeeina scriptare,
Berl. 1852. Schhbisseb, Quaest, de etrusca disciplina, Bresl. 1872 p. 23 (über die Fragmente).
Aus dem Quellenverzeichnis zu Plin. n. h. B. 11 lernen wir noch einen Schriftsteller
der etruskischen Disziplin kennen: Julius Aquila. Von des Cfigidius Schriftstellerei auf
diesem Gebiet war oben § 181 die Rede.
') Es ist derselbe, der Bell. Afric. 89
erwähnt wird. Vgl. Zimmermann p. 12.
') Dass eine so bedeutende historische
Persönlichkeit wie Caesar eine Litteratur
hervorrufen musste, ist nicht zu verwundem.
Wie A. Caeeina, so schrieben gegen Caesar
auch Curio f 53, der Vater des § 139 ge-
nannten in dialogischer Form (Cic. Brut. 60,
218), femer T. Ampius Baibus {Cic.Ep. 6,
12, 5 Suet. Caes. 77), M. Actorius Naso
(Suet. Caes. 9 u. 52) und Tanusius vgl. p. 161.
Caesarische SchriftsteUer waren L. Cornelius
Baibus (§ 121, 1 § 143, 9) vgl. Suet. Caes. 81;
L. Aurunculeius Cotta vgl. p. 274 Anm. 2;
C. Oppius vgl. p. 170 (auch Biograph des
älteren Africanus Gell. 6, 1, 2). Auch die
Streitlitteratur über Cato vgl. p. 168 p. 228
greift hier ein.
') Zimmermann p. 25.
Zimmermann p. 6. Dbumann 6, 279, 7.
Die Schriftaieller der realen Dieziplinen. 301
5. Die Schrifsteller der realen Disziplinen.
302. Landwirtschaft. Cn. Tremellius Scrofa war im J. 59 mit
Varro „ Vigintivir ad agros dividendos Campanos^ (Varro de r. r. 1, 2, 10).
Derselbe schrieb, wie uns Columella berichtet, ein landwirtschaftliches Werk.
Dasselbe scheint einmal den Zweck verfolgt zu haben, die Landwirt-
schaft von der Hauswirtschaft zu scheiden und dieselbe auf
Ackerbau und Viehzucht zu beschränken. Weiterhin brachte er
seinen Stoflf in eleganter Darstellung vor. Von Varro wurde Scrofa als
Landwirt ungemein hoch geschätzt (de r. r. 1,2,10); in dem ersten und
zweiten Buch seiner Schrift lässt er ihn in hervorragender Weise am Dialog
teilnehmen.
Die Zeugnisse Colnmellas sind: 2,1,2 qui (Tremellius) cum plurima rwtticarum
rerum praecepta aimul eleganter et scUe memoriae prodiderit, 1, 1, 12 Scrofa Tremellius
(agricciationem) eloquentem reddidit.
Bei Varro stellt sich Scrofa in scharfen Gegensatz zu denjenigen, welche in land-
wirtschaftlichen Schriften alles Mögliche hereinziehen; besonders tadelt er in dieser Be-
ziehung die beiden Sasemae (1,2,22). Es ist daher anzunehmen, daas er auch in seiner
SchriftsteUerei die Abgrenzung der Limdwirtschaft von der Hauswirtschaft durchgeführt
hat. Da er in den zwei ersten Büchern Yarros, welche über Ackerbau (1) und Viehzucht
(2) handeln, sich am Gespräch in leitender Weise beteiligt, so wird er auf diese zwei Teile
den Umfang der Landwirtschaft eingeschränkt haben. (REiTZEKSTEnr, De scriptorum rei
rusticae libris deperditis p. 15.)
Um die Zeit der Abfassung des Werks zu bestimmen, benutzt Heikze in den Com-
ment. philolog. zu Ehren Ribbecks (Leipz. 1888) p. 433 die Thatsache, dass das Werk
Scrofas niemals bei Varro ausdrücklich citiert wird. Diese Nichterwähnung soll darin ihren
Grund haben, dass zu der Zeit, in welche die Dialoge der zwei ersten Bücher Varros ver-
legt werden, Scrofas Werk noch nicht erschienen war. Da nun das erste Buch wegen
1, 2, 10 nicht vor 59 angesetzt sein könne (das Crespräch des 2. Buchs wird ins J. 67 vor-
legt) und Varro im J. 37 diese Schrift geschrieben, so müsste Scrofas Werk vor 37 (vgl.
Columella 1, 1, 12) und nach 59 entstanden sein.
Vielleicht ist noch vor Scrofa als landwirtschaftlicher Schriftsteller anzusetzen
C. Licinius Stolo. Varro 1,2, 12 ad te (sagt Agrius zu Scrofa) rudern esse agri eulturae
nunc, olim ad Stolonem fuisse dicunt, Colum. praef. 82 muüum profecerit, si usu Tremellios
Sassernasque et Stolones nostros aequaverit, — Reitzeksteik, de scriptorum rei rusticae
libris deperdüis, Berl. 1884 p. 8.
fBü<^: Plin. n. h. 18, 16, 143 werden wegen einer Futtersorte Gate, dann Sura Mamilius
und endlich Varro genannt. Wir haben sonach einen neuen landwirtschaftlichen Schriftsteller
vor uns, der von Plinius auch in den Quellenverzeichnissen der B. 8, 10, 11, 17, 18, 19
angeführt wird. (Mommsen, Rh. Mus. 16, 282.)
203. Hauswirtschaft. Nachdem die Landwirtschaft die Hauswirt-
schaft ausgeschieden hatte, musste die letztere in der Litteratur selbst»
ständig werden. Columella führt als Schriftsteller auf diesem Gebiete an
M. Ambivius, Menas Licinius und C. Matius. Von diesen drei Schrift-
stellern ist uns nur C. Matius, besonders durch den ciceronischen Brief-
wechsel, näher bekannt. Im J. 53 spricht Cicero seine Freude darüber aus,
dass der Jurist Trebatius mit C. Matius, einem suavissimus doctissimusque
hämo, befreundet geworden sei (Ep. 7, 15, 2). Später, als die Katastrophe
des Bürgerkriegs über Rom hereinbrach, suchte Matius und Trebatius eine
Annäherung zwischen Caesar und Cicero herbeizuführen. Es liegt ein
Schreiben aus dem J. 49 vor, in dem Matius und Trebatius Cicero die
Mitteilung machen, dass Pompeius mit seiner Heeresmacht von Brundisium
abgefahren nnd Caesar in die Stadt einmarschiert sei, dieselbe aber wiederum
verlassen, um auf Rom zu ziehen (ad Attic. 9, 15, 6). Damals besuchte Matius
(März) Cicero auf dessen Formianum (ad Attic. 9, 11, 2) und erhielt von ihm
302 BOmische Lüieraturgesohichie. L Die Zeit der Bepnblik. 2. Periode.
Instruktionen fttr Caesar. Ein zweiter Besuch des Matius bei Cicero fand in
Brundisium statt, als sich dieser nach der Schlacht bei Pharsalus dort nieder-
gelassen (Ep. 11, 27, 4). Nach der Ermordung Caesars wurden Stimmen gegen
Matius laut, weil er seinen Schmerz über die Gewaltthat nicht zurückhielt.
Auch Cicero gehörte zu den Tadlem. Als dies Matius bekannt geworden,
beklagte er sich durch Trebatius darüber bei Cicero. Daraufhin schrieb
Cicero einen sehr berechneten Briefe) (Ep. 11,27). Die Antwort, welche
Matius ergehen liess (Ep. 11, 28) gehört zu den schönsten Denkmälern der
römischen Litteratur; man wird nicht leicht ein Schriftstück auffinden,
das so sehr des Verfassers Adel und Reinheit der Oesinnung, Uneigen-
nützigkeit, Standhaftigkeit und Treue bekundet, wie dieser schöne Brief.
Matius hatte keine politische Stellung inne ; er konnte daher mit den
Personen verschiedener politischer Richtung verkehren. Sein Interesse war
der Litteratur zugekehrt. Wie Cicero selbst berichtet, gab ihm Matius
den Anstoss zu seiner philosophischen Schriftstellerei. Auch mit dem be-
rühmten Rhetor ApoUodorus aus Pergamon muss er enge Beziehungen
unterhalten haben, denn dieser widmete ihm seine Ars. Matius' eigene
Schriftstellerei lag auf dem Gebiet der Hauswirtschaft; er schrieb ein Werk
in drei Büchern über die Kochkunst, das erste führte den Titel ,Cocu8*,
das zweite „Cellarius*', das dritte „Salgamarius''.^)
Coltun. 12, 4, 2 postquam a bellis otiutn fuU, qu<Mi quoddam tributum victui humano
conferre dedignati non sunt, ut M, Ämbivius et Menas Licinius, tum etiam C. Matius,
quihus Studium fuit pistoris et coci nee minus cellarii düigentiam suis praeceptis instituere.
Auch mit Augustus war Matius eng befreundet, divi Augusti amicus nennt ihn
Plin. n. h. 12, 13.
Anregung Giceros zur philosophischen SchriftsteUerei: Cic. Ep. 11,27,5 Tandem ali-
quando Romae esse eoepimus: quid defuit nastrcte famUiaritati? in maximis rebus quonam
modo gererem me adversus Ctiesarem, usus ttto eonsilio sum, in reliquis officio: cui tu tri-
buisti excepto Cktesare praeter me, ut domum ventitares horasque multas saepe suamssimo
sermone eonsumeres? tum, cum etiam, si meministi, ut haec <piXoao<povfd6ya seriberem, tu
me impulisti. — Quint. 8, 1, 18 (ÄpoUodori) sola videtur Ars edita ad Matium.
Über seine Schrift Columella 12, 46, 1 nee ignoro plurima in hunc librum non esse
collatOf quae C, Matius ditigentissime persecutus est; Uli enim propositum fuit urbanas
mensas et lauta convivia instruere; libros tres edidit, quos inscripsit nominibus Coci et
Cellarii et Salgamarii.
204. Naturkunde. Hier haben wir nur wenige Arbeiten zu verzeichnen,
und zwar sind es solche, welche keinen wissenschaftlichen Charakter haben.
Die Naturbeschreibung verbindet sich mit der Sucht, wunderbare Dinge
zu berichten und zwar stellt sich als bequemes Organ hiefür die Reise-
beschreibung ein; die Himmelskunde aber verquickt sich mit Astrologie.
Es sind folgende Autoren hier aufzuzählen:
1. Statins Sebosus. Derselbe wird von Plinius n. h. in den Indices
der Bücher 2, 3, 5, 6, 7, 12, 13 als Sebosus, im Index des Buchs 9 und im
Text als Statins Sebosus angeführt. In dem Text teilt uns Plinius 9, 46
seinen Bericht über wunderbare Würmer des Ganges mit. Dass das Buch
die Beschreibung einer Seereise war, erhellt aus 6,201. Diesen Statins
Sebosus hält Hardouin für identisch mit dem von Cic. ad Attic. 2, 14, 2
2, 15, 3 genannten Sebosus.
^) In seinen Briefen an Atticus redet er
freilich mehrmals in Schimpfnamen von ihm
(ad Attic. 14, 2, 2, 14, 5, 1 16, 11, 2).
^) d. h. derjenige, welcher die Früchte
einmacht.
Rückblick.
303
2. L. Manlius. Die Fragmente führen auf ein ^Reise- und Wunder-
buch''. Nach Dionys. antiq. 1,19 teilte er einen Orakelspruch mit, den er
selbst auf einem der dodonäischen Dreifüsse gesehen; bei Pliniusn. h. 10, 4
wird er als der Gewährsmann für die dort erzählte wunderbare Geschichte
des Vogels Phönix namhaft gemacht; an dieser Stelle erhalten wir auch
ein chronologisches Datum für seine Schriftstellerei, das Jahr 97. i) Es
sind aber auch Fragmente in gebundener Form überliefert; darunter be-
findet sich ein scherzhaftes Epigramm (Baehbeks, fragm. p. 283)
Caseum duxisse eascam non mirabUe est,
quoniam eariosas conficiebat nuptias.
Die übrigen zwei Fragmente enthalten Mythologisches. Es ist kaum wahr-
scheinlich, dass auch das Poetische in dem , Reise- und Wunderbuch'' ge-
standen. *)
3. L. Tarutius Firmanus, derselbe, den Cicero seinen familiaris
nennt (de div. 2, 98), schrieb in griechischer Sprache „de astris*' (Plin. n. h.
Index zu B. 18). Dass aber diese Schrift auch auf das Astrologische Rück-
sicht nahm, zeigt die ciceronische Stelle.
Litteratar: HuDEMAim, Der rBmiache Seefahrer Staiius Sebosus, Ztschr. für die
Altertiunsw. 1852 nr. 3p. 17. Über L. Manilas ist die grundlegende Abhandlung von Mommsbk,
Rh. Mus. 16, 284. — Über Tarutius: Mohhsbn, R. Chronol.^ p. 145. Er berechnete den
Grfindungstag von Rom ; vgl. Soltat;, Philolog. 45, 439.
205. Bttckblick. So hätten wir denn wieder einen bedeutsamen Ab-
schnitt der römischen Litteratur zurückgelegt und es erübrigt noch, einen
kurzen Blick auf das durchmessene Gebiet zu werfen.
In der Poesie hatten wir einen entschiedenen Verfall des Dramas
zu verzeichnen. Die tragische Muse ist so gut wie verstummt, die Komödie
aber nimmt in der Atellana und im Mimus, welche beide Formen jetzt
gepflegt werden, eine entschiedene Wendung zur Posse. Auch das natio-
nale Epos tritt fast ganz in den Hintergrund. Ein günstigeres Geschick
wird der Satura und dem Lehrgedicht zu teil. Die Satura fand in einer
durch wunderliche Vermischung der gebundenen und ungebundenen Rede
hervorstechenden Spielart, der Menippea, eine ausgezeichnete Bearbeitung
durch Varro. Das Lehrgedicht erreicht mit Lucretius eine Höhe, welche
die Bewunderung herausfordert. Am einschneidendsten aber beeinflusste
die Entwicklung der Poesie in unserer Epoche die jungrömische Dichter-
schule. Im Anschluss an alexandrinische Muster beschränkte sie sich auf
das kleine Gedicht, das mjrthologische Epyllion, das Schmähgedicht, das
Epigramm, die Elegie, das Liebeslied und legte auf feine, saubere Technik
den grössten Wert. Die Schule gab der römischen Litteratur ihren grössten
Dichter, Valerius GatuUus, der durch die Innigkeit der Empfindung in
der römischen Dichterwelt einzig dasteht.
Grosse Fortschritte machte in unserm Zeitraum die Prosa. In der
Historiographie zeigen sich die mannigfaltigsten Spielarten, wir
finden die Zeilgeschichte, die Autobiographie, die Denkschrift, die Biographie,
*) Wir haben unsem Schriftsteller nicht
der Toraosgehenden Periode angeschlossen,
weil die Annahme Mohksehs (p. 287) an-
sprechend ist dass er der Statthalter des
narbonensischen Galliens um 77 ist.
') Ebenso bezweifle ich, dass Manilius
identisch ist mit dem Pinakographen Mani-
lius (§ 31).
304 Römische LitieratnrgeBohichie. L Die Zeit der Republik. 2. Periode.
das historische Gemälde, daneben auch die allgemeine Stadtchronik. In
Bezug auf den Stoff greift die 6eschichtschreibung über Rom hinaus und
zieht auch das Ausland in ihr Bereich, eine Wirkung der römischen Welt-
herrschaft. Die Kunst der Darstellung entfaltete sich in bewunderungs-
würdiger Weise. Sprechende Beweise hiefür sind der klare, von erhabener
Ruhe getragene StU Caesars und die pikante, den Leser dui*ch seine psycho-
logische Analyse packende Darstellung Sallusts. In der Beredsamkeit
kam es zu einem erbitterten Kampf wegen des rednerischen StUs. Durch
Hortensius wurde der asianische Barockstil in Rom eingebürgert. Dagegen
erhob sich eine scharfe Opposition und zwar ging sie von denselben Kreisen
aus, die auch in der Poesie reformierend auftraten. Diese Opposition der
sog. Attiker proklamierte den einfachen, schlichten Stil und wies auf die
Attiker, besonders auf Lysias als normgebende Muster der Eloquenz hin.
Zwischen beiden Richtungen suchte eine vermittelnde Stellung Cicero ein-
zunehmen, allein in Wahrheit zog ihn seine Individualität nach der ersten
Seite hin. Mit Cicero tritt ein Mann in die Litteratur ein, der zeigen
kann, wie leicht die schöne, anmutige Form über innere Hohlheit Jahr-
hunderte hindurch wegtäuschen kann. Unter seinen Schriften ist auch
nicht eine einzige, welche als ein Litteraturwerk ersten Rangs gerühmt
werden kann. Selbst seine Reden machen auf den Leser keinen tieferen
Eindruck, weil sie sich nicht als Produkt tiefinnerer Überzeugung kund-
geben; seine philosophischen Schriften sind aber nichts als übertünchte
Kompilationen, welche keinen Denker befriedigen können. Am besten
übersteht noch die Sonde der Kritik die eine oder andere seiner rhetori-
schen Schriften. Sehr weite Kreise zieht die Fachgelehrsamkeit. Den
nicht geringen Umfang des gelehrten Wissens in der damaligen Zeit
repräsentiert durch eine über alle Massen reiche Schriftstellerei Yarro,
auch sonst eine eigenartige Erscheinung, ein Römer von altem Schrot und
Korn. Die philologischen Studien erhalten durch die jetzt eingetretene
schärfere Trennung des grammatischen und rhetorischen Unterrichts eine
reichere Pflege; auch der Rhetorik erwuchs eine glänzende Leistung in
dem trefflichen Lehrbuch des Auetor ad Herennium. In der Jurisprudenz
ist es Sulpicius und seine Schule, welche an dem Weiterbau dieser Dis-
ziplin in der regsten Weise sich beteiligten. Die Vorliebe für isagogische
Schriftstellerei führte jetzt auch zur Bearbeitung des geistlichen Rechts.
In der Landwirtschaft bricht immer mehr die Abgrenzung und Gliederung
des Stoffs durch; die ausgeschiedene Hauswirtschaft findet zum erstenmal ihre
Pflege. Wenig wussten wir von wissenschaftlicher Naturkunde zu berichten.
Hand in Hand mit den grossen Fortschritten der Prosa ging auch
die Entwicklung der lateinischen Sprache vor sich. Der Streit zwischen
Analogie und Anomalie führte zur schärferen Fixierung der Schriftsprache,
das Redegefüge wurde durchsichtiger, die Periodologie durch Cicero zur
höchsten Blüte gebracht. Die Ausdehnung des römischen Reichs führte
zugleich zur Erweiterung des lateinischen Sprachgebiets.
r
HANDBUCH
DER
KLASSISCHEN
AUERTÜMS-WISSENSCHAFT
in systematischer Darstellung
mit besonderer Rücksicht auf Geschichte und Methodik der einzelnen
Disziplinen.
In Verbindung mit Gymn.-Rektor Dr. Autenrieth (Nürnberg), Prof. Dr. Ad.
Bauer (Graz), Prof. Dr. Blass (Halle), Prof. Dr. Brugmann (Leipzig), Prof.
Dr. Busolt (Kiel), Prof. Dr. v. Christ (München), Prof. Dr. Gleditsch (Berlin),
Prof. Dr. Günther (München), Prof. Dr. Heerdegen (Erlangen), Prof. Dr.
Hommel (München), Prof. Dr. Hübner (Berlin), Prof. Dr. Jul. Jung (Prag),
Dr. Knaack (Stettin), Prof. Dr. Krumbacher (München), Dr. Larfeld (Rem-
scheid), Dr. LoUing (Athen), Prof. Dr. Niese (Marburg), Geh. Regierungs-
rat Prof. Dr. Nissen (Bonn), Priv.-Doz. Dr. Ohmichen (München), Prof.
Dr. Pöhlmann (Erlangen), Qymn.-Dir. Dr. 0. Richter (Berlin), Prof. Dr.
Schanz (Würzburg), Geh. Oberschulrat Prof. Dr. Schiller (Giessen), Gymn.-
Dir. Schmalz (Tauberbischofsheim), Prof. Dr. Sittl (Würzburg), Oberlehrer
Dr. F. Stengel (Berlin), Professor Dr. Stolz (Innsbruck), Priv.-Doz. Dr.
Traube (München), Prof. Dr. Unger (Würzburg), Geh.-Rat Dr. v. Urlichs f
(Würzburg), Prof. Dr. Horitz Voigt (Leipzig), Qymn.-Dir. Dr. Volkmann f
(Jauer), Prof. Dr. Windelband (Strassburg), Prof. Dr. Wissowa (Marburg)
herausgegeben von
Dr. Iwan von Müller,
ord. Prof. der klassischen Philologie in Erlangen.
Achter Band.
Geschichte der römischen Litteratur
bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian.
~^'«o<D>f^=>f~;>»'- — '
MÜNCHEN.
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG (OSKAR BECK).
1892.
GESCHICHTE
DER
RÖMISCHEN LITTERATUR
BIS im GEmEüiCSlRK DES KAISERS 111.
Von
Martin Schanz,
ord. ProfeMor su der Uulvenilät Würzbnrg.
Zweiter Teil:
Die Zeit vom Eode der Bepublik (30 v. Chr.)
bis anf Hadrian (117 n. Chr.)-
MÜNCHEN.
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG (OSKAR BECK).
1892,
A.I10 Rechte vorbehalten
C. H. Beck'sclxc Bachdrnckcrel In Nordllngen.
A.
Inhaltsverzeichnis zum zweiten Teil.
Einleitung. Seite
206. Litterarische Strömong der Augusteischen Zeit 1
207. Übersicht 2
Die rdmisclie liitteratur in der Zeit der Monarchie.
A. Die Litteratiir rom Ende der Republik bis zum Tode Aug^vstus (80 t. Ch. bis 14 n. Cli).
1. Augustus.
208. Einfluss des Augustus auf die Litteratur 7
209. Die Schrift»tellerei des Augustus 8
210. Der schriftliche Nachlass des Augustus 10
211. Das Monumentum Ancyranum 11
2. G. Mäcenas.
212. Biographisches 18
213. Der Kreis des Mäcenas 14
214. Maecenas* Schriftstellerei 15
8. M. Valerius Messalla Corvinus.
215. Messallas Einfluss auf die Litteratur 16
4. C. Asinius Pollio.
216. Pollios Verdienste um die Litteratur 18
217. Polbos SchriftsteUerei 19
a) Die Poesie.
1. P. Vergilius Maro.
218. Quellen der Vergil'schen Biographie 21
219. Vergils Leben 22
ff) Die Bucolica.
220. Die Sammlung der bucolischen Gedichte 23
221. Gedichte mit rein ländlichem Charakter 23
222. .Verkleidete* Hirtengedichte 25
223. Zeit der Abfassung der Bucolica 27
224. Würdigung der Bucolica 28
ß) Die Georgica.
225. Skizze der Georgica 30
226. Abfassungszeit der Georgica 31
227. Die Ausgaben der Georgica 32
228. Quellen der Georgica 33
229. Kunst des Dichters 35
y) Die Aeneis.
230. Äussere Geschichte der Aeneis 37
231. Übersicht des Inhalts der Aeneis 39
232. Die Aeneassage 41
VI
233.
234.
235.
236.
237.
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279.
InhaltsTerzeichnis zam zweiten Teil.
Die Komposition der Aeneis
Würdigung der Aeneis
(f) Appendix Vergiliana (Die sog. Jugendschriften Vergils).
Bestandteile der Appendix Vergiliana
Culex (Die Mücke) ....
Der Autor des Gedichtes
Der Aetna
Abfassungszeit und Autor des Aetna
v/ins ......
Das Catalepton (Poetische Kleinigkeiten)
Copa (Die Schenkwirtin)
e) Anderes Pseudovergiliana.
Moretum (Das Iftndliche Frühstück)
Die zwei Elegien auf Maecenas ....
Rückblick auf die Vergilischen Dichtungen
C) Wirkungen der Vergilischen Poesie.
Aufnahme der Vergilischen Dichtungen bei den Zeitgenossen
Vergils Fortleben im Altertum
Erhaltene Vergil-Kommentare
Der Vergil des Mittelalters
Vergil in der Neuzeit
2. Q. Horatius Flaccus.
Sein Leben
Erste Satirensammlung
Die Epoden
Zweite Satirensammlung
Charakteristik der Satirendichtung
Erste Liedersammlung
Die erste Epistelsammlung
Die Litteraturbriefe (zweite Briefsammlung)
Charakteristik der Briefe
Zweite Liedersammlung
Charakteristik der Oden
Verstechnik der Oden
Rückblick auf die Horazische Dichtung
Horaz im Altertum
Erhaltene Horazkommentare
Horaz in der Neuzeit
3. L. Varius Rufus.
Gedichte des Varius Rufus
4. Aemilius Macer.
Die drei didaktischen Gedichte des Aemilius Macer
5. Cornelius Gallus.
Die Liebeselegie
Das Leben des Gallus
Gallus' Liebeselegien (Lycoris)
Gallus' Übersetzungen aus Euphorion
6. C. Valgius Rufus.
Die Elegien des Valgius
7. Domitius Marsus.
Cicuta (Epigrammensammlung)
Elegisches
Amazonis (Epos über die Amazonen)
8. C. Melissus.
Die fahuia trabeata
9. Die Dichter des Messallakreises (Albius Tibullus und andere).
Die Messalla'sche Sanmilung
a) Albius Tibullus.
Das Deliabuch . . .
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InhaltsTerzeiolinis zum zweiten Teil. YII
Belle
280. Das Nemesisbuch 110
281. Charakteristik Tibulls 110
ß) Lygdamus.
282. Das Neaerabuch 112
y) Der Panegyrist.
283. Der Panegyricus auf Messalla 114
(f) Die Dichterin Sulpicia.
284. Die £legienkränze des TibuU und der Sulpicia 115
10. Sex. Propertius.
285. Sein Leben 117
286. Das Cynthiabuch 118
287. Neue Liebesgedichte 120
288. Das letzte Buch. — Die römischen Elegien 122
289. Charakteristik des Properz 124
290. Fortleben des Properz 126
11. P. Ovidius Naso.
291. Biographisches 127
292. Kntwickelung der Ovidischen Dichtung 129
ff) Erste Periode der Ovidischen Dichtung. Die Liebespoesien.
293. Chronologie der Liebespoesien 130
294. Liebeselegien (Ämorea) 131
295. Die Heroides 133
296. Die Echtheitsfrage der Heroides 139
297. Charakteristik der Heroides 142
298. De medicamine faciei (über die Schönheitsmittel) 145
299. Ars amatoria (Liebeskunst) 145
300. Remedia amoris (Heilmittel der Liebe) 147
ß) Zweite Periode der Ovidischen Dichtung. Die Sagengedichte.
301. Die ätiologische Elegie 148
302. Der Festkalender (Fasti). - Seine Genesis 149
303. Würdigung des Werkes 150
304. Die Metamorphosen 152
/) Dritte Periode der Ovidischen Dichtung. Die Dichtungen von Tomi.
305. Die Elegien der Klage (Tristia) 154
306. Die pontischen Briefe (Epintülae ex Ponte) 157
307. Das Verwünschungsgedicht Ibis 159
808. Das Gedicht von den Fischen (llalieutica) 161
309. Verlorene Gedichte Ovids 161
(f) Pseudoovidiana.
310. Die Klage dos Nussbaums {über nucis) 162
311. Das Trostgedicht für die Livia (Consolatio ad JAviam) 163
312. Rückblick auf Ovids Dichtungen 165
313. PorÜeben Ovids 166
12. Grattius.
314. Des Grattius Gedicht über die Jagd {cynegetica) 167
13. Albinovanus Pedo.
315. Des Albinovanus Pcdo Epen und Epigramme 168
14. Rabirius.
316. Der ägyptische Krieg Octavians 169
15. Cornelius Severus.
317. Des Cornelius Severus Gedichte 170
16. Die übrigen Dichter.
318. Der Ovidische Dichterkatalog 171
319. Eriäuterung des Katalogs 172
Anhang.
17. Die Priapeendichter.
320. Corpus Priapeorum 176
YUI InhaltsTerzeiohniB zum zweiten Teil.
Seite
b) Die Prosa.
a) Die Historiker.
1. T. Livius.
321. Biographisches - 177
322. Aufbau des Livianischen Werkes 178
323. Erhaltene Bücher •. . . 180
324. Ersatz der verlorenen Bücher 181
325. Seine Quellen 182
326. Charakteristik des Livius * ... 184
327. Fortleben des Livius 186
2. Pompeius Trogus.
328. Die erste lateinische Universalgeschichte 189
329. Die Vorlage des Trogus 191
330. Die Epitome des Justinus 193
3. Fenestella.
331. Fenestellas antiquarische und historische Schriften 195
ß) Die Geographen,
M. Vipsanius Agrippa.
332. Die Weltkarte des Agrippa und des Augustus 196
333. Agrippas Kommentarien 197
y) Die Redner (Deklamatoren),
334. Die Quelle (Senecae oratorum et rhetorum aententiae divisiones colores) . 198
335. Charakteristik der Schulberedsamkeit . 200
336. Die einzelnen Deklamatoren 202
337. Analogie und Anomalie in der Rhetorik 210
(f) Die Philosophen.
338. Die Schule der Sextier 211
339. Die Lehre der Sextier 213
e) Die Fachgelehrten.
a. Philologen.
1. M. Verrius Flaccus.
340. Biographisches. — Verlorene Schriften 214
341. Verrius Flaccus de verborum significatu 215
2. Der Bibliothekar C. Julius Hyginus.
342. Biographisches 217
343. Hygins landwirtschaftliche Schriften 217
344. Hygins philologische Kommentare 219
345. Hygins historische und geographische Werke 219
346. Antiquarische Schriften 220
3. Der Mythograph Hyginus.
347. Die unter dem Namen Hyginus erhaltenen Schriften 220
348. Hygins Schrift de astronomia 222
349. Hygins mythologisches Handbuch 223
350. Trennung des Bibliothekars Hygin und des Mythographen Hygin . 224
4. L. Crassicius.
351. Der Kommentar zu Cinnas Smyma 226
5. Q. Caecilius Epirota.
352. Die Einführung der modernen Dichtungen in die Vorlesungen . 226
b) Die Juristen.
M. Antistius Labeo und C. Ateius Capito.
353. Analogie und Anomalie in der Jurisprudenz 227
354. Die Schriftstellerei dos Labeo und Capito 228
c) Die Techniker.
Der Baumeister Vitruvius Pollio.
355. Vitruvs Werk über die Architektur 229
856. Rückblick auf die augusteische Zeit 233
InhaltsverzeichniB zum zweiten Teil. IX
Seite
B, Tom Tode des Aiignstns bis zur Reglernng Hadrlans (14 n. Ch. bis 117 n. Ch.)-
Die Stellung der Regenten züi Litteratur.
357. Tiberius (14—37) 236
358. C. Cäsar Caligula (37 -41) 237
359. Claudius (41-54) 238
360. Nero (54—68) 240
361. Die Flavier (69-96) 242
362. Nerva (96-98) und Traian (98-117) 243
a) Die Poesie.
1. M. Manilius.
363. Astronomicon 1. V des Manilius 244
2. Germanicus.
364. Die Aratea des Germanicus 248
3. Phaedrus.
365. Leben und Schriftstellerei des Phaedrus 249
366. Schicksale der Phaedrischen Fabelsammlung 251
367. Charakteristik des Phaedrus 253
4. Der Dichter Seneca.
a) Seneca als Tragiker.
368. Die neun Tragödien Senecas 255
369. Hercules (furens) 257
370. Die Troerinnen (Troades) 258
371. Die Phönissen 259
372. Medea 260
373. PhÄdra 261
374. Oedipus 262
375. Agamemnon 263
376. Thyestes 264
377. Hercules (Oetaeus) 265
378. Charakteristik der Tragödien 266
ß) Seneca als Satiriker und Epigrammatiker.
379. Divi Claudii UnoxoXoxvytoxns (Claudius' Verkttrbsung) 270
y) Pseudoseneca.
380. Octavia 272
5. P. Pomponius Secundus.
381. Leben des Pomponius. Seine Tragödien 274
6. A. Persius Flaccus.
382. Biographisches 275
383. Persius' Satiren 276
384. Charakteristik des Persius 278
7. T. Calpurnius und der sog. Einsiedler Dichter.
385. Die Zeit des Calpurnius . . . ' 280
386. Die sieben Eklogen des Calpurnius 281
387. Panegyricus in Pisonem 283
388. Die zwei Einsiedler bucolischen Gedichte 285
8. M. Annaeus Lucanus.
389. Biographisches 285
390. Skizze der Pharsalia 287
391. Beurteilung der Pharsalia 288
392. Fortleben Lucans 291
9. Petronius Arbiter.
393. Petrann Satirae 292
394. Skizze des Romans 294
395. Zeit und Persönlichkeit des Autors 296
396. Charakteristik 298
10. C. Valerius Flaccus Setinus Baibus.
397. Biographisches 299
398. Skizze der Argonautica 299
399. Charakteristik der Argonautica 301
X
InhaltsverzeichniB zum zweiten Teil
400.
401.
402.
403.
404.
405.
406.
407.
408.
409.
410.
411.
412.
413.
414.
415.
416.
16
417.
418.
419.
420.
11. Curiatius Maternus und andere Tragödiendichter.
Die Tragödien des Matemus
12. Ti. Catius Silius Italiens.
Sein Leben
Kurze Inhaltsangabe der Punica
Beurteilung des Gedichtes
Die lateinische Ilias
Zeit und Autor der Ilias
Seile
303
304
305
306
308
309
13. P. Papinius Statius und andere Epiker.
Biographisches
Skizze der Thebais ....
Würdigung der Thebais
Die Achilleis
Die Stoffe der Silven
Charakteristik der Silven
Rückblick
14. M. Valerius Martialis.
Biographisches
Das Korpus der Epigramme
Würdigung Martials
15. Die Dichterin Sulpicia und andere lyrische Dichter.
Das unterschobene Gedicht der Sulpicia
311
312
316
319
320
323
324
325
328
331
335
Die Komödiendichter Catullus, M. Pomponius und Vergilius Romanus.
Verschiedene Versuche auf dem Gebiet der Komödie
17. D. Junius Juvenalis.
Biographisches
Der Inhalt der einzelnen Satiren
Charakteristik Juvenals
336
337
340
343
b) Die Prosa.
«) Die Historiker.
1. C. Velleius Paterculus.
421.
422.
423.
424.
425.
426.
427.
428.
429.
430.
431.
432.
433.
434.
435.
436.
437.
438.
439.
440.
441.
442.
Historiae Romanae 1. II
Charakteristik
2. Valerius Maximus.
Factorum ac dictorum memorabüium 1. IX
Charakteristik des Valerius
3. Q. Curtius Rufus.
Die Alexandergeschichte. Zeit und Autor
Charakteristik
4. Cornelius Tacitus.
Sein Leben
Der Dialog über den Redner
Charakteristik des Dialogs
Agricola
Charakteristik
Die Germania
Die Quellen der Germania
Die Tendenz der Germania
Die Genesis der Taciteischen Geschichtsschreibung
Die Historien
Die Annalen
Die Quellen des Tacitus
Charakteristik der Geschichtschreibung des Tacitus
5. Die übrigen Historiker.
Darstellungen der römischen Geschichte
Historische Specialschriften
Die Memoirenlitteratur
346
347
349
350
352
354
357
359
361
363
365
367
368
369
371
372
373
374
377
380
383
383
InhaliBvereeichniB zum zweiten Teil. XI
Seite
ß) Die Geographen.
Pomponius Mela.
443. Die ftlteste lateinische Geographie 384
y) Die Redner.
1. C. Plinius Caecilius Secundus.
444. Biographisches 386
445. Plinius als Redner. Der Panegyricus auf Traian 387
446. Die Dichtungen des jüngeren Plinius . 389
447. Die allgemeine Briefsammlung 390
448. Der Briefwechsel des Plinius und des Kaisers Traian 392
449. Charakteristik 394
2. Die übrigen Redner.
450. Verlorene Reden 396
d) Die Philosophen.
451. Allgemeines 398
L. Annaeus Seneca.
452. Biographisches 400
tt) Die in einem Corpus enthaltenen Schriften.
453 Die zwölf Bücher der Dialoge 401
454. Ad LuciUum qaare (üiqua incommoda bonis viris accidant, cum Providentia sit
(De Providentia) 402
455. Ad'Serenum nee iniuriam nee contumeliam accipere sapientem {De constantia
sapientis) .............. 403
456. Ad Novatum de ira l. III 404
457. Ad Marciam de consolatione 405
458. Ad Gallionem de vita heata 407
459. Ad Serenum de otio 407
460. Ad Serenum de tranquillitate animi 408
461. Ad Paulinum de brevitate vitae 409
462. Ad Poltjhium de consolatione 409
463. Ad Helviam matrem de consolatione 410
ß) Die ausserhalb des Corpus stehenden erhaltenen Schriften.
464. Ad Neronem Caesarem de dementia . 411
465. De beneficiis l. VII 412
466. Ad Lucilium naturaliiim quaestionum Jibri VII 413
467. Ad LucUium episttdarum moralium l. XX 416
y. Die verlorenen Schriften.
468. Aufzählung der verlorenen Schriften 418
(f) Apokryphes und Exzerpte.
469. Der sogenannte Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus 419
470. Die Florilegien aus Seneca 419
471. Die Exzerpte aus Seneca 420
472. Rückblick auf die prosaische Schriftstellerei Senecas. Beurteilung . 421
«) Die Fachgelehrten.
1. Die Encyklopädisten.
A. Cornelius Celsus.
473. Die Encyklopädie des Celsus 424
474. Die Medizin des Celsus 427
2. Die Grammatiker.
1. Q. Remmius Palaemon.
475. Die verlorene Ars des Palaemon 428
2. Q. Asconius Pedianus.
476. Des Asconius historischer Kommentar zu den Reden Ciceros und seine ver-
lorenen Schriften 429
3. M. Valerius Probus.
477. Die Probusausgaben 431
XII InhaltsverzeichniB zum zweiten Teil.
Seite
478. Die grammatischen Schriften des Probus 433
479. Die unterschobenen Probusschriften 434
3. Die Rhetoren.
1. P. Rutilius Lupus und andere Rhetoren.
480. Die Figurenlehre des Rutilius Lupus * 436
2. M. Fabius Quintilianus.
481. Biographisches 438
482. Die verlorene Schrift de causis corruptae eloquentiae 439
483. Institutionis oratoriae libri XII 440
484. Die zwei Sammlungen der Quintilianischen Deklamationen .... 442
485. Die Unechtheit der beiden Sammlungen 443
486. Charakteristik 445
4. Die Juristen.
487. Die Rechtsschulen der Proculianer und Sabinianer 447
488. Die Proculianische Schule ^ . . 448
489. Die Sabinianische Schule 449
5. Die Schriftsteller der realen Disciplinen.
1. Der Encyklopädist G. Plinius Secundus.
490. Biographisches 450
491. Die naturalis historia 451
492. Die Quellen der naturalis historia 454
493. Charakteristik . 456
494. Verlorene Schriften des Plinius 457
2. C. Licinius Mucianus.
495. Die Schriften des C. Licinius Mucianus 459
3. L. Junius Moderatus Columella und die übrigen Landwirte.
496. Columellas landwirtschaftliches Werk 460
497. Charakteristik Columellas 462
4. Caelius.
498. Apici Caeli de re coquinaria libri X 464
5. Scribonius Largus.
499. Das Rezeptbuch des Scribonius Largus 465
6. Sex. Julius Frontinus.
500. Die Schriften Frontins 467
7. Die Agrimensoren.
501. Die agrimensorischen Schriften 469
502. Rückblick 471
B.
Zeittafel
70 V. Ch. — 19 V. Ch. P. Vergilius Maro.
70 V. Ch. — 27 V. Ch. Cornelius Gallus.
65 V. Ch. — 8 V. Ch. Q. Horatius Flaccus.
64 V. Ch. — 8 n. Ch. M. Yalerius Messalla Corvinus.
59 V. Ch. — 17 n. Ch. T. Livius.
52 V. Ch. — 19 n. Ch. der Antiquar und Historiker Fenestella.
48 V. Ch. — 18 n. Ch. Ovid. Sein Lehrer der Rhetor Arellius Fuscus. Zeitgenosse der
Didaktiker Grattius.
42 V. Ch. Horaz macht die Schlacht hei Philippi mit.
41 V. Ch. Asinius Pollio verlfisst seine Provinz, das jenseits des Po gelegene Gallien.
Alfenus Varus tritt an seine Stelle. Verteilung von Land an die Veteranen. Vergil,
Horaz, Properz geschädigt.
40 V. Ch. C. Asinius Pollio Konsul, hesiegt die Parthiner imd Dalmatier.
39 Asinius Pollio gründete die erste öffentliche Bibliothek. (Recitationes.)
38—36 V. Ch. der sizilische Krieg, besungen von Cornelius Severus.
36 v. Ch. Maecenas Stellvertreter Octavians in Rom.
31 V. Ch. Die Schlacht bei Actium. Maecenas mit Agrippa Stellvertreter Octavians
in Rom.
29 V. Ch. Die Tragödie Thyestes des L. Varius Rufus wird aufgeführt.
28 V. Ch. Gründung der bibliotheca PcUatina durch Augustus (vorher die Octavia).
27 V. Ch. Octavian nimmt den Beinamen Augustus an. Triumph des M. Valerius Mes-
salla Corvinus. Die Dichterin Sulpicia.
22 V. Ch. Der Geschichtschreiber der punischen Kriege L. Arruntius Konsul.
20 V. Ch. — 4 n. Ch. Gaius der Enkel des Augustus, sein Lehrer M. Verrius Flaccus.
19 V. Ch. Tod des Tibull. L. Varius und Plotius Tucca geben nach diesem Jahre die
Aeneis heraus.
17 V. Ch. — 2 n. Ch. Lucius der Enkel des Augustus, sein Lehrer M. Verrius Flaccus.
17 V. Ch. Die Sftkularfeier.
16 V. Ch. Tod des Dichters Aemilius Macer.
c. 16 V. Ch. — 13 V. Ch. Vitmvius Pollio schreibt sein Buch über die Architektur,
c. 15 V. Ch. Tod des Propertins.
15 V. Ch. — 19 n. Ch. Germanicus, der Dichter der Aratea.
12 V. Chr. Tod des M. Vipsanius Agrippa. Blüte des Rhetors L. Cestius Pius. — Der
Grammatiker Q. Caecilius Epirota.
9 V. Ch. Der Redner Cassius Severus klagt den Freund des Augustus, Nonius Asprenas,
wegen Giftmords an.
8 V. Ch. C. Asinius Gallus, der Sohn des Asinius Pollio, Konsul. Tod des C. Maecenas.
Zeitgenossen die Dichter C. Valgius Rufus, Domitius Marsns und Maecenas' Freigelassener
C. Meb'ssus, der Schöpfer der Trabeata.
c. 5 V. Ch. Blüte des Rhetors Albucius Silus.
4 V. Ch. Tod des M. Porcina Latro.
2 V. Ch. M. Valerius Messalla beantragt für Augustus den Titel pater patriae.
XIV Zeittafel.
Die Jahre nach Christas.
4 Der Historiker C. Glodios Licinus Consul auffectus, der Freund des Bibliothekars und
Schriftstellers Hyginus.
5 Der Jurist C. Ateius Capito Konsul. Sein wissenschaftlicher Gegner M. Antistius
Labeo.
8 Verbannung des Ovid.
9 Pompeius Trogns schreibt sein Geschichtswerk.
12 Vorgehen des Augustus gegen litterarische Produkte.
14 Tod des Augustus {MonumerUum Ancyranum). Sex. Pompeius, der Gönner des Va-
lerius Maximus, Konsul. Die Philosophenschule der Sextier. Der Grammatiker L.
Crassicius.
14—37 Tiberius. Der Encyklopädist Cornelius Celsus. Der Dichter der Astronomica
Manilius. Der Jurist Masurius Sabinus. Der Rhetor P. Rutilius Lupus. Über den
Rhetor Cassius Severus wird Verbannung und Vermögensverlust ausgesprochen.
16 Fahrt des Germanicus durch die Ems in den Ozean (Albinovanus Pedo).
23—79 Der ältere Plinius.
23 Die Schauspieler werden vertrieben.
25 Senatsbeschluss, dass die Annalen des A. Cremutius Cordus verbrannt werden sollen.
26 Tod des Rhetors Q. Haterius.
30 Konsulat des Vinicius, dem C. Velleius Paterculus zum Antritt des Amtes seinen
geschichtlichen Abriss widmet.
31 Tod des Redners P. Vitellius. Anklage gegen P. Pomponius Secundus, den Tragödien-
dichter und Feldherm.
32 Der Philosoph Seneca kehrt von Ägypten zurück.
33 Tod des Juristen M. Cocceius Nerva, des Grossvaters des nachmaligen Kaisers. Sein
Nachfolger Proculus.
34-62 A. Persius Flaccus.
34 Tod des Redners Scaurus Mamercus.
37—41 C. Caesai* Caligula. Der ältere Seneca schreibt sein rhetorisches Werk.
38 Tod des landwirtschaftlichen Schriftstellers Julius Graecinus.
39-65 M. Annaeus Lucanus.
39 Der Redner Domitius Afer Cons. »uff. — Der Redner Julius Africanus.
c. 40 Phaedrus gibt sein 3. Buch der Fabeln heraus.
41—54 Claudius. — Der Historiker Aufidius Bassus. — Der Grammatiker Remmius
Palaemon.
41 Q. Curtius Rufiis bringt seine Alexandergeschichte zum Abschluss. Verbannung
des Philosophen Seneca nach Korsika. Suetonius Paulinus, als prätorischer Legat
bei der Unterwerfung Mauretaniens thätig.
43—4 Abfassungszeit der Geographie des Pomponius Mela.
46 Edikt des Claudius zur Regelung des Eigentums von grossen Landstrecken in Tirol.
47 Edikt des Kaisers Claudius gegen den Theaterunfug.
47 8 Scribonius Largus schreibt sein Arzneibuch.
48 Claudius hält die durch die Lyoner Erztafel erhaltene Rede im Senat.
49 Der Philosoph Seneca wird aus dem Exil zurückgerufen.
52 L. Junius Gallio (M. Annaeus Novatus von dem Rhetor L. Junius Gallio adoptiert),
der Bruder des Philosophen Seneca verwaltet Achaia.
54—68 Nero. Der bukolische Dichter T. Calpumius Siculus. — Der Panegyricus in
Pisonem. Curiatius Matemus beginnt Tragödien zu schreiben.
54 — 57 Q. Asconius Pedianus schreibt seinen Kommentar zu den Reden Ciceros.
55 Wahrscheinliches Geburtsjahr des Juvenal.
c. 56 Blütezeit des philologischen Kritikers M. Valerius Probus.
58 Der Memoirenschriftsteller L. Antistius Vetns Befehlshaber in Germanien.
59 Tod des Historikers M. Servilius Nonianus (Cons. 35) und der Memoirenschrift-
stellerin Agrippina, der Mutter Neros.
60 Nero stiftet die Quinquennalia. Bei der ersten Feier trägt Lucan einen Panegyricus
auf Nero vor.
62 Der Philosoph Seneca zieht sich vom Hof zurück.
64 Martialis zient nach Rom.
c. 64—5 Columella schreibt sein landwirtschaftliches Werk.
65 Entdeckung der Pisonischen Verschwörung. Tod des C. Calpumius Piso, auf den
sich der Panegyricus in Pisonem bezieht. Tod des Philosophen Seneca. Der Rhetor
Verginius Flavus, der Jurist C. Cassius Longinus. der Philosoph Musonius werden ins
Exil getrieben.
66 Tod des Romandichters Petronius Arbiter und des P. Thrasea Paetus.
Zeittafel. XV
67 Tod des Feldherm und Memoirenschriftstellers Domitius Corbulo.
68 Der Dichter Silius and der Redner Galerius Konsuln. Der Historiker Cluvius Rufus von
Galba zum Statthalter der Provinz Hispania Tarraconensis bestimmt. Quintilian, von
(ralba nach Rom geführt, eröffnet seine rhetorische Schule. Comutus wird verbannt.
68—69 Galba, Otho. Vitellius.
69 — 79 Vespasian. Der Jurist Pegasus praefecttis urbi unter ihm. Der Dichter der Ar-
gonautica G. Valerius Flaccus.
69 Der Jurist Caelius Sabinus Cons. suffectus. Der Verfasser von Biographien Junius
Rusticus Arulenus Praetor; Vipstanus Messalla nimmt an dem Feldzug dieses Jahres
teil.
71 Die Philosophen und Astrologen werden aus Rom hinweggewiesen.
72 Zum drittenmal Konsul C. Licinius Mucianus, der Freund Vespasians.
74 Der Redner Eprius Marcellus Konsul (und 61).
76 Titus verfasst ein Gedicht über einen Kometen. Blflte des Rhetors Sex. Julius
Gabinianus.
78 Tacitus heiratet die Tochter Agricolas.
79—81 Titus. — Der Historiker Antonius Julianus.
80 Titus weiht das Flavische Amphitheater ein. Martials Epigramme auf die bei dieser
Gelegenheit gefeierten Spiele.
81->96 Domitianus. Der Dichter P. Papinius Statins.
86 stiftet Domitian den Agon Capitolinus.
88 Tacitus wirkt als Prätor und als Quindecemvir bei den Säkularspielen. Quintilian
zieht sich von der Schule zurück.
89 Die Astrologen und Philosophen werden vertrieben,
c. 90 Tod des Redners Vibius Crispus.
93 Tod Agricolas. Zweite Vertreibung der Astrologen und Philosophen,
c. 95 Der Jurist P. Juventius Gelsus, der Sohn nimmt an einer Verschwörung gegen Do-
mitian teil. - Statins in Neapel.
96— 98 Nerva.
97 Tacitus Konsul, Julius Frontinus curator aquarum.
98 — 117 Traian. Die Gromatiker Hyginus und Baibus. Die Juristen Neratius Priscus
und Priscus Javolenus. — Bibliotheca Ulpia. Unter Traian und Hadrian schreibt
Juvenal seine Satiren.
98 Martial kehrt in seine Heimat Bilbilis zurück — Die Dichterin Sulpicia.
100 Der jüngere Plinius Konsul hält seinen Panegyricus auf Traian. — Die Historiker
Fabius Rusticus, C. Fannius. Der Redner Pompeius Satuminus.
101 Tod des Epikers Silius Italiens.
c. 104 Tod des Epigrammatikers Martialis.
111—112 oder 112—113 Der jüngere Plinius an der Spitze von Bith3mien.
Berichtigrungen und Zusätze.
P. 105 lies im letzten Absatz .Ob Domitius* statt ^Ob Marsus*.
^ 10b ^ „ „ „ «umlaufenden' für «einlaufenden**.
« 105 füge nach .Schwierigkeiten** hinzu: ,in Bezug auf die Feststellung des Eigentums;
an der Identität mit Domitius Marsus ist nicht zu zweifeln**.
, 153 Z. 10 von oben lies «des Minyas' statt «der Minyas*.
« 154 Z. 28 und 33 von oben lies «Phaethonsage' statt «Phaetonsage**.
« 161 ist § 309 durch einen Strich von § 308 abzutrennen.
« 176 füge über nr. 17 «Anhang** hinzu.
« 182 Z. 12 von unten lies «Partien* statt «Parteien**.
« 187 Z. 2 ist zu bemerken, dass Wetmann (Abh. fttr Christ, p. 147) ein dem Gelasius
vorausliegendes Zeugnis aufgefunden hat.
« 238 Z. 6 von oben ist «Carnnas** zu lesen statt «Carina**.
« 238 Z. 8 von oben ist statt «dem Feuertod überliefert** zu lesen «verbannt** (vgl. p. 244
Anm.)
« 248 Z. 2 von oben füge hinzu: «Bbchkrt, De M. Manilio poeta, Leipz. 1891*.
« 280 Absatz «Überlieferung* lies Persins (durch den Aristarch der Römer Valerius
Probus) statt «Persius durch den Aristarch der Römer Valerius Probus**. Vgl.
p. 433 Anm. 1.
« 339 Absatz «Das Geburtsjahr* Z. 7 lies «55 n. Gh.* statt «55 v. Gh.«.
« 381, 3. Anm. Z. 2 tilge «spätere*
Da der Druck ein Jahr in Anspruch genommen hat, fehlt manche neuere Litteratur.
Einleitung.
206. Litterarische Strömung der Augusteischen Zeit. Die Schlacht
bei Actium war geschlagen, und damit waren die Geschicke Roms ent-
schieden. Das politische Leben konzentrierte sich jetzt in der Hand eines
Einzigen; für die übrigen blieb nur noch ein geringer Spielraum, ihre
Kräfte den öffentlichen Interessen zu widmen. Diese Revolution musste
auch eine gewaltige Wirkung auf die Litteratur ausüben, sie war jetzt
fast das einzige Mittel für aufstrebende Talente, ihren Ehrgeiz :^u be-
friedigen. Das litterarische Leben gelangte daher zu einer reicheren Ent-
faltung, es begann sich eine Reihe von dauernden Einrichtungen zu schaffen.
So finden wir jetzt, dass vornehme Römer die litterarischen Persönlich-
keiten um sich sammeln, um dieselben geistig wie materiell zu fördern,
und dass sich dadurch Litteraturkreise bilden. Es jst bekannt, wie mächtig
Maecenas und Messalla durch solche Vereinigungen auf die geistige Pro-
duktion einwirkten. Den Verkehr zwischen Autor und Publikum organi-
sierte Asinius PoUio; er las zuerst seine Schriften vor einer eingeladenen
Gesellschaft vor und wurde dadurch der Schöpfer der Recitationes, welche
fast die ganze Kaiserzeit hindurch in Wirksamkeit blieben. Durch diese
Vorlesungen konnte der Autor den Eindruck, den sein Werk auf das Pu-
blikum machen würde, versuchsweise kennen lernen, ehe er dasselbe in
die Öffentlichkeit gab. Die litterarische Kritik fand hier den günstigen
Boden für ihr Wachstum. Neben den Recitationen waren die rednerischen
Vorträge (Declamationes) eine sehr beliebte Arena des geistigen Wett-
kampfs. Vor einem ausgewählten Kreis oder vor dem grossen Publikum
erörterten die Rhetoren in pathetischer Diktion und mit Aufgebot alles
Scharfsinns die fingierten Themata mit ihren verwickelten unnatürlichen
Fällen. Es kam alles darauf an, eine Sache von irgend einem neuen Licht
aus zu betrachten und durch irgend eine unerwartete Sentenz einen guten
Treffer zu machen. Diese rhetorischen üebungen wurden jetzt die Schule
des lateinischen Stils; besonders die epigrammatische Schärfe hat er hier
gelernt. Auch für die Erhaltung und die Verbreitung des geschriebenen
Wortes wurde jetzt neue Fürsorge getroffen. Asinius PoUio gründete die
erste öffentliche Bibliothek, welcher bald andere folgten. Auch der Buch-
handel musste infolge der gesteigerten litterarischen Bedürfnisse eine er-
Handbuch der klass. AUertnmswlnenscliaft. Vm. 2. Teil. 1
2 BOmisohe IdtteratargoBchichte.
höhte Bedeutung erhalten. So zeigt sich auf allen Wegen grosse geistige
Regsamkeit, und die Schriftstellerei wurde Modesache, wie es der Dichter
schildert (Hör. Ep. 2, 1, 108):
mutavit mentem poptdus levis et calet uno
serihendi studio; pueri patresque severi
fronde camas vincti cenani et rarmina dietant.
Es kam hinzu, dass auch die griechische Litteratur immer mehr in den
Kreis des römischen Denkens eindrang, und dass sich zwischen der griechi-
schen und römischen gemeinsame Berührungspunkte und gemeinsame
Schicksale herausbildeten. Trotz dieser fast unruhigen Betriebsamkeit war,
genaiier betrachtet, die Litteratur doch innerlich gebrochen. Gebannt in
ihrem Wirken an die Stadt Rom, hatte sie in der republikanischen Zeit
nur die römische Gesellschaft als Richterin; jetzt aber, da in Rom ein
Mann über alle Macht gebot, musste sie unwillkürlich ihre Blicke auf ihn
richten. Wir finden daher fast in allen Publikationen der Kaiserzeit Be-
ziehungen zum Herrscherhause. Besonders auf die Poesie möchte man das
Goetheische Wort anwenden: „In allen souveränen Staaten kommt der Ge-
halt für die Dichtkunst von oben herunter." i) Die Geschicke der Litteratur
hingen fortan von der Gunst und Ungunst dieses Einzigen ab. Es kamen
Zeiten, wo die Schriftstellerei mit grossen Gefahren verbunden war und
das geschriebene Wort seinem Urheber schwere Verfolgungen eintrug.
Gewisse Fächer hatten daher von vornherein ein gedrücktes Dasein. Der
Historiker musste, um nicht anzustossen, sich von der Gegenwart abwenden
und entlegene Zeiten aufsuchen, und selbst hier war es schwierig, alle
Klippen zu umschiffen. Der Redner hatte nur noch einen sehr eingeengten
Wirkungskreis im Senat und vor dem Centumviralgericht; er musste seine
Stätte aus dem Licht der Öffentlichkeit in die dumpfe Schulstube verlegen.
Selbst die Gesinnung wurde durch die neue Gestaltung der Dinge wesent-
lich beeinflusst; entweder wurde sie nach oben hin adulatorisch oder sie
wurde verbissen, beide Eigenschaften durchziehen das gesamte monarchische
Schrifttum. Kurz, es fehlt der Litteratur das, was ihrem Gedeihen so not-
wendig ist wie der Pflanze Licht und Luft, es fehlt ihr die Freiheit.
207. Übersicht. Wie wir gesehen haben, bildet die Schlacht bei
Actium (31 V. Ch.) für uns den Ausgangspunkt eines neuen Teils der
römischen Litteratur, welcher seinen Abschluss in dem Gesetzgebungswerk
des Kaisers Justinian (527 — 565) findet. Dieser grosse Zeitraum bedarf
natürlich der Gliederung; er zerlegt sich in zwei ungleiche Hälften, deren
Grenzscheide die Regierung Hadrians bildet. Während bis dahin die
Litteratur in einer Fortentwicklung begriffen ist, beginnt mit Hadrian die
Produktionskraft zu versiegen. Die Nachahmung, das Ausschreiben, die
Verkürzung der vorhandenen Autoren werden massgebende Faktoren der
Schriftstellerei. Nur die Jurisprudenz schreitet auch in diesem Zeitraum
ungestört vorwärts, ja sie erreicht in demselben sogar ihren Höhepunkt.
Noch zwei andere Momente geben diesem zweiten Abschnitt ein charakte-
ristisches Gepräge. Während bisher die römische Litteratur Stadtlitteratur
') Aus memem Leben, Cotta 1871 23, 6.
Einleitung. 3
war, d. h. sich lediglich in Rom abwickelte, stossen wir jetzt auch auf
provinzielle litterarische Mittelpunkte, wodurch die Einheit der Sprach-
entwicklung gefährdet ward. Von noch grösserer Tragweite erscheint das
zweite Moment, dass der nationalen Litteratur eine mächtige Gegnerin in
der jetzt auftretenden christlichen entsteht. Zwar haben beide Litteraturen
die Sprache und auch gewisse Elemente der Bildung gemeinsam, allein
ihr Ideengehalt ist ein total verschiedener. Die nationale Litteratur zehrt
noch von den Erinnerungen an eine grosse Vergangenheit, sie lebt und
webt im alten Römertum, ja sie hält selbst krampfhaft die unhaltbar ge-
wordenen Vorstellungen von den vaterländischen Göttern fest; die christ-
liche Litteratur dagegen sprengt die Schranken der Nationalität ^und be-
trachtet alle Menschen als Kinder eines und desselben Vaters, sie erblickt
ihr wahres Vaterland im Himmelreich. Dieser Kampf zweier grund-
verschiedener Welten verleiht der Epoche eine hohe Anziehungskraft.
Von den beiden genannten grossen Abschnitten wird der erste in dem
vorliegenden Teil zur Darstellung kommen. Auch dieser verlangt einen
Ruhepunkt, wir erhalten denselben durch den Tod des Augustus. Die
augusteische Zeit stellt die Übergangsstufe von der republikanischen Lit-
teratur zur monarchischen dar; entsprechend der veränderten politischen
Lage, müssen jetzt der schriftstellerischen Thätigkeit neue Wege geebnet
werden; der hohe Aufschwung, den die Poesie genommen, ist die Glanz-
seite dieser Epoche. In dem folgenden, von Tiberius bis zu Hadrian
reichenden Zeitabschnitt gewahren wir die Resultate der vorausgegangenen
Gärung. Die Rhetorenschulen ernten jetzt was sie gesät. Die Poesie er-
hält ein rhetorisches Gewand, die Prosa nimmt einen pikanten, manierierten
Stil an. Es verschieben sich die Grenzen von Poesie und Prosa. Schäd-
liches Eingreifen der Staatsgewalt in den Gang der Schriftstellerei macht
sich jetzt viel stärker geltend und hemmt den ruhigen Entwicklungsgang
des litterarischen Schaffens. Immerhin regen sich aber auch in dieser
Periode einige bedeutsame Talente.
Litteratar: Ausser den p. 5 des ersten Teils verzeichneten Werken sind noch zu
nennen: Ribbeck, Geschichte der röm. Dichtung II. Augusteisches Zeitalter, Stuttg. 1889.
SsLLAR, The Roman poetf. of the Äugastan Age, 2 Edition., Oxford 1883, enthält ausser
einer allgemeinen Einleitung hloss Vergil. Nisard, iltudes sur les poetes latins de 1a de-
cadence, 2 Bde., Paris 1878 (4. Aufl.).
Zweiter Teil.
Die römische Litteratur
in der Zeit der Monarchie.
Erste Abteilung:
Die Zeit Tom Ende der RepnblilL (30 t. Cli.) bis auf Hadrian (ii7 n. CIi.).
A. Die Litteratur vom Ende der Republik bis zum Tode
des Augustus (30 v. Ch. bis 14 n. Ch.)-
Die Patrone der Litteratur.
1. Augustus.
208. EinfluBS des AugastuB auf die Litteratur. Unsere Betrach-
tung hebt naturgemäss mit den Persönlichkeiten an, welchen es beschieden
war, in den Gang der Litteratur einzugreifen. In erster Linie erscheint
hier der Inhaber der Regierungsgewalt, Augustus. Ihm musste die Litte-
ratur eine ungemein wichtige Regierungsangelegenheit sein, denn sie konnte
seinen Interessen in hohem Grade dienstbar gemacht werden. Ein Grund-
gedanke des Prinzipats war, die durch die ewigen Parteikätnpfe erbitterten
Gemüter zu beruhigen und mit der Gegenwart auszusöhnen. Bei dem
niederen Volke konnte das Ziel leicht durch materielle Spenden, durch
glänzende Feste und Schaustellungen erreicht werden. Allein der Klasse
der Gebildeten musste doch ein Feld zur Befriedigung des Ehrgeizes er-
öffnet werden. Was konnte man ihnen aber, nachdem die politische Arena
sehr eingeengt war, anders bieten als das grosse Reich der Litteratur,
in dem Ruhm und Unsterblichkeit des Namens den Jüngern entgegen-
winkte? Aber die Litteratur konnte zu gleicher Zeit der versöhnenden
Mission des Monarchen die Hand entgegenstrecken; sie konnte das Friedens-
regiment des Herrschers als das goldene Zeitalter feiern, die Grösse des
römischen Weltreichs in erhabener Weise vor Augen stellen, den Römer-
sinn durch lebensfrische Schilderung alter Gebräuche und Sitten wecken,
endlich die Philosophie der Entsagung und des Quietismus predigen. Auf
diese Vorteile der Litteratur durfte der Regent aber nur dann rechnen,
wenn er den litterarischen Persönlichkeiten das grösste Wohlwollen ent-
gegenbrachte. Er zeigte dies in der mannigfachsten Weise, er besuchte
die Recitationen und hörte mit der grössten Ausdauer dieselben an (Suet.
Aug. 89); er zog die Schriftsteller an seinen Hof und hob dadurch ihre
soziale Stellung; für Leute, welche in niederen Verhältnissen emporge-
wachsen waren, musste diese Auszeichnung ein grosser Sporn sein. Wie
freundlich er mit den Autoren verkehrte, welchen hohen Wert er auf
ihren Umgang legte, besagen deutlich Stellen aus Briefen an Horaz. Auch
8 Römische Litteratnrgeschichte. Ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
verhehlte er nicht, dass ihm die Erwähnung von Seiten eines angesehenen
Schriftstellers eine grosse Ehre sei. Wie musste das den Stolz dessen,
der eine solche Ehre erweisen konnte, heben? Auch die Sorgen des Lebens
nahm er gern den hervorragenden litterarischen Persönlichkeiten ab; es
war ihm die reinste Freude, den Weg für die Produktion durch Gewährung
einer behaglichen Existenz zu ebnen. Schon in seinen Jugendgedichten,
den Bucolica, konnte Yergil dankerfüllten Herzens sagen: Dens nobk haec
otia fecü; diese fürstliche Freigebigkeit begleitete den Dichter bis zu
seinem Tode. Yarius erhielt für seinen Thyestes, der bei den actischen
Spielen aufgeführt wurde, als Geschenk eine Million Sesterzen. Horaz bot
er eine Sekretärstelle an. Doch auch auf das Schaffen selbst gewann
Augustus grossen Einfluss. Besonders ist es die Dichtung, in welcher wir
seine Spuren finden. Bekannt ist der Anteil, den er an der Komposition
wie an der Erhaltung und der Herausgabe der Aeneis nahm; der Anregung
des Kaisers verdanken wir Horazens Carmen saeculare, das vierte Buch
der Oden und den schönen ersten Litteraturbrief im zweiten Buch der
Episteln; die wundervollen römischen Elegien des Properz kamen einem
Lieblingsgedanken des Augustus entgegen. Von Panegyriken und gelegent-
lichem Preis des Herrscherhauses wollen wir hier ganz absehen. Für die
litterarischen Bedürfnisse sorgte er, nachdem Asinius PoUio die Initiative
ergriffen, durch Anlegung zweier neuer Bibliotheken, einer in der Säulen-
halle der Octavia^) und einer zweiten am Tempel des palatinischen Apollo.*)
Von grosser Bedeutung für die Entwicklung der Jurisprudenz war seine
Verfügung, dass die responsa fortan unter kaiserlicher Autorität erteilt
werden sollten.^) »Von diesem Augenblick an verschwindet der Einfluss
des Pontifikalkollegiums auf die Entwickelung des Civilrechts und der prin-
ceps im Bunde mit der jetzt endgültig laisierten Jurisprudenz tritt in den
Vordergrund."^)
Allein auch die Schattenseiten fehlen dem Bilde nicht. Einmal wurde
durch das Eingreifen des princeps in die Litteratur der adulatorische Ton
nach dem Muster von Alexandria grossgezogen. Dann begannen schon unter
Augustus, obwohl er Angriffen gegenüber gern ein Auge zudrückte, polizei-
liche Massregeln gegen die Schriftsteller und ihre Werke. Wir erinnern
nur an die Verfolgungen des Labienus, Cassius Severus und des Ovid.
Sie zeigen, dass trotz allen Glanzes, den die Litteratur im augusteischen
Zeitalter entfaltete, doch der Todeskeim bereits in ihr schlummerte.
Campe, Litterar. Tendenzen und Zustande zu Rom zur Zeit des Horaz (Fleckeis.
Jahrb. 103, 463). Sellar, Ute Roman Poets of the Augustan Age (Einleitung p. 1—58).
Friedländer, Sittengesch. 3* p. 375. Boissier, Vopposition sous les Cdsars, Paris 1885.
209. Die Schriftstellerei des Augustus. Die ausgezeichnete Bil-
dung, die Augustus durch angesehene Lehrer wie durch den griechischen
Philosophen Areios, den berühmten griechischen Lehrer der Rhetorik,
ApoUodoros von Pergamon (Suet. Aug. 89), und den lateinischen Rhetor
M. Epidius (Suet. de rhet. 4) zu teil ward, befähigte ihn auch zur eigenen
produktiven Thätigkeit auf dem litterarischen Gebiete. Sein Biograph
^) Suet. de gramm. 21.
^) Suet. Aug. 29, de gramm. 20.
8) Pomp. Dig. 1, 2, 2, 47.
*J SoHM, Instit.* p. 61.
Angnatus. 9
Sueton hatte noch zwei dichterische Werke von ihm; das erste in Hexa-
metern führte den Titel „Sicilien" und schilderte wahrscheinlich den von
ihm gegen Sextus Pompeius in Sicilien geführten Krieg; das andere um-
fasste Epigramme, die er im Bade auszusinnen pflegte. Martial (11,20)
hat uns eines erhalten; leider ist dasselbe sehr obscöner Natur und be-
weist uns, wie sehr damals die Zotenpoesie in Flor war. Sogar an eine
Tragödie wagte sich Augustus, mit Feuereifer nahm er einen „Ajax^ in
Angriff; allein als er mit dem Werk nicht recht vorwärts kommen wollte,
brach er ab und gab teilnehmenden Freunden, die sich nach dem Schick-
sal der Arbeit erkundigten, zur Antwort, sein Aiax habe sich in den
Schwamm „gestürzt**. Auch von Spottgedichten (Fescennini), die er ge-
legentlich verfasste, haben wir Kunde erhalten (Macr. 2, 4, 21). Von seinen
prosaischen Schriften vermissen wir am meisten seine „Denkwürdig-
keiten'* in 13 Büchern, welche bis zum cantabrischen Kriege reichten,
also mit der dauernden Einrichtung des Prinzipates 27 v. Gh. abschlössen. 0
Auf den im J. 9 v. Gh. im Feldlager verstorbenen Drusus machte er nicht
nur die poetische Grabschrift, sondern verfasste auch einen Abriss seines
Lebens in Prosa. In die Gatolitteratur griff Augustus mit einer Ent-
gegnung auf den Panegyricus des Brutus ein (Rescripta Bruto de Catone).
Ausserdem pflegte er die Gattung der koyoi nQo%Q€mixoi\ indem er eine
Schrift (hortationes ad phüosophiam) verfasste, in der er zum philosophi-
schen Studium anregen wollte. Als Redner war Augustus sehr sorgfaltig;
er sprach nur nach eingehender Vorbereitung, sein Stil vermied alles Manie-
rierte und strebte vor allem Klarheit des Gedankens an (Suet. Aug. 84
und 86). Eine Reihe von Reden wird von den Autoren erwähnt. End-
lich gab es auch Sammlungen seiner Briefe, denn die Schriftsteller ge-
denken mehrfach solcher, und allgemein bekannt sind die Stellen, welche
Sueton in seiner Horazbiographie augusteischen Briefen entnommen.
Von allen diesen litterarischen Schöpfungen ist keine auf die Nach-
welt gekommen. Sie scheinen also nicht sehr bedeutend gewesen zu sein;
und selbst die hohe Stellung des Autors konnte offenbar nicht über die
Mängel hinweghelfen.
Die Gedichte des Augustus. Suet Aug. 85 Poetica summatim attigit, Unus
liber extat, scriptus ah eo hexametris versibus, cuius et argumentum et titulus est Steil ia;
extat alter aeque modicus Epigrammatum, quae fere tempore balinei meditabatur. Nam
tragoediam magno impetu exorsus, non succedenti stilOf abolevit quaerentibusque amicitt,
quidnam Aiax ageret, respondU Äiacem auum in spongiam incubuisse. Suidas p. 194 Bekk.
Avyovaxog — ey^a^s — xal rgayt^dlay AUtvxog rs xal UxMetogt wozu Dindorf, Soph.
fragm.f Oxf. 1860 p. 208 bemerkt „AchiUis nomen addidit, quin denegata Aiaci arma
Achillis tragoediae argumentum pratbuerunt." Ein von Haoens, Rhein. Mus. 35, 569 aus
Cod. Bern. 109 veröffentlichtes, den Namen Octavianus Augustus tragendes Epigramm
ist unecht.
Die prosaischen Schriften des Augustus. Suet. 85 muUa carii generis prosa
oraiione compoauit, ex quibus nonnülla in coetu familiarium reliä in auditorio recitaritf
aicut Rescripta Bruto de Catone, quae volumina cum iam senior ex magna parte
Ugisset, fatigatus Tiberio tradidit perlegenda; item Hortationes ad philosophiam et
aliqua De vita sua, quam tredecim libris, Cantabrico tenus bello nee ultra , exposuit. Das
letzte Werk citiert Plut. comp. Demosth. c. Gic. 3 cJ$ aviog 6 Kaiaag iv totg nqog 'Ay^in-
nav nal Maixtjyay vnofiyijfiaaiy etQtjxey. (Die Fragmente bei Pkter p. 252.) — Über die
Hortationes vgl. Dibls, Doxogr. p. 83. Hartlich, Leipz. Stud. 11,305. - Suet. Claud. 1
>) Nissen, Rhein. Mus. 41,492.
10 BOmiflche Litteratargesohiohte. n. Die Zeit der Honarohie. 1. Abteilung.
nee corUentus elogium iumulo eius (Drusi) versibus a se eompositis insetdpsisse, etiam
vitae memoriam prosa aratione composuit. — Über die Reden vgl. Meybb, fragm. arat,
p. 518. — Stellen aus Briefen siehe bei Suet. Aug. 71, 76 u. 86, besonders aber Suet. Claud. 4.
210. Der schriftliche Nachla43B des AugastuB. Für den Fall seines
Todes hatte Augustus in ausserordentlich umsichtiger Weise Bestimmungen
getro£Fen. Fünf Aktenstücke, die er teils selbst geschrieben, teils diktiert
hatte, wurden nach seinem Hingang im Senat verlesen. Zunächst waren
dies Anordnungen über sein Leichenbegängnis, dann sein bürgerliches
Testament. Aber ungleich wichtiger waren die Dokumente, welche den
Zweck hatten, sein Andenken nach seinen Intentionen der Nachwelt zu
überliefern, d. h. welche die Summe seines Lebens ziehen sollten. Er
veifasste nach Sueton einen Abriss seiner Thaten mit der ausdrücklichen
Verfügung, dass derselbe auf zwei Säulen eingegraben werde, welche vor
seinem Grabmal, dem Mausoleum, zur Aufstellung kommen sollten, *) dann
gab er eine Übersicht über die Finanzen und das Militär des Reichs. Dienten
diese zwei Schriftstücke der Feststellung des Thatsächlichen, so fasste er
in einem an Tiberius und den Senat gerichteten Schreiben die Zukunft
des Reiches ins Auge und erteilte politische Ratschläge. Er warnte, durch
zu häufige Freilassungen und Erteilungen des Bürgerrechts den Grundstock
des Staates zu schädigen, er empfahl, die Beteiligung an den Staats-
geschäften allen Befähigten zugänglich zu machen und nicht alles in Ab-
hängigkeit von Einem zu bringen, d. h. er plädierte für die Aufrecht-
haltung der gegenwärtigen Verfassung, endlich in Bezug auf die aus-
wärtige Politik verurteilte er alles auf Expansion zielende Streben. Von
diesen fünf Aktenstücken ist uns nur ein einziges erhalten, der „Abriss
seiner Thaten" im Monumentum Ancyranum.
Zeugnisse Über den schriftlicben Nacblass des Augustus. Über denselben
liegen folgende Stellen vor: Tac. Ann. 1, 8 nihil primo aenatua die agi poLSsm est niai
de supremis Äugusti; cuius teatatnentum, inlatum per virginea Veatae, Tiberium et
Liviam heredes habuit. 1, 11 proferri libellum recitarique iuaait (Tiberiua). Opea publica^
continebantur, quantum civium aociorumque in armia, quot clasaea regna provinciae, tribtUa
aut vectigalia et neeessitatea ac largitionea. Quae euncta sua manu peracripaercU Augttatua
addideratque conailium cdürcendi intra terminoa imperii. Suet. Aug. 101 de tribua voluminibua,
uno mandata de funer e auo complexua est, (Utero indicem rerum a ae geatarum,
quem vellet inddi in aeneia tabulia, quae ante Mausoleum atatuerentur, tertio breviarium
totiua imperii, quantum militum atib aignia ubique eaaet, quantum pecuniae in aerario et
fiacia et vectigdliorum reaiduia. Adiecit et libertorum aervorumque nomina, a quibua ratio
exigi poaaet. Dio 56,32 xal tag diad^ijxag avrov IloXvßioi rig xaiaagetog aviyvta, 56,33"
xocttvxa fiiy al Sva^'^xaL iSrjXovy, iaexofiia^rj dk xai ßißXla xiaaaqa • — iyiyQtmxo di iy
fiky T^ TiQüittf) oaa xijg tatprjg eix^ro, iv rf^ t^ devrigift tu egya a enga^e ndyra, « xai
ig /aAÜKa; atijXag ngog tc^ V9^^ avtov ara^eiaag avaygatpijvai, ixiXavaev * ro tgiroy zd
xe xdüy axgaxiarxcSv xai xa xaSy ngoaoStov xuiv xe dyaX(Of£.dxwv xtoy drjfioclmyy x6 xe nXij&og
xtSy iy xoig ^aavgoTg ^gwdxfay, xtd oaa äXXa xo^ovx6xgona ig xtjy ijyefioyiay (pigovxa i^y,
eixB xai x6 xixagxov iyxoXdg xai iniax^tpeig X(^ Ttßegit^ xai xm xoiy^y aXAa; re
xai oniog fiijx' dneXev^egotai TtoXXovg, Vya fiij nayxodanov oxXov xijy noXiy TiXtjgiuiaaMrty fiijx'
av ig xtjy noXixeiay avx^ovg iaygdifxoai^yy i'ya noXv x6 dia<pigoy avxoTg ngog xovg vnrjxoovg
j * tu xe xoty« ndai xotg dvyafiiyoig xai si^iyai xai ngdtxeiy inixginuyy^ xai ig fArjdiya
dyagxdy avxa nagpyeae inpiaiy, örtiag fiijx e xvgayyiSog xtg ini&vfÄijau, fiijx' av nxalaayxog^
ixBivov x6 dt^ficaioy atpaXn ' yywfiijy xe etvxotg Icfoixe xoTg xe nagovaiy dgxea&ijyai, xai
[jirj6afAiag ini nXsioy xrjy agxfjv inav^aai i^eXijatti ' dvatpvXaxxoy xe ydg avxijy eaea9ai
xai xtydvyetlaeiy ix xovxov xai xd oyia dnoXiaat ^q>i].
Diese Zeugnisse gehen auf eine Quelle zurück (vgl. Nissen, Rh. Mus. 41, 481), welche
fünf Aktenstücke des Augustus namhaft machte, nämlich:
^) Vgl. Geppert, Zum Monum. Ancyr. p. 11.
AagUBtoB. 11
1. Anordnungen über sein Leichenbegängnis (Suei., Dio);
2. sein bürgerliches Testament (Tacitus, Dio);
3. sein politisches Testament (Dio). Bei Tacitus ist offenbar auf dasselbe hinge-
wiesen mit den Worten addideratque consilium cöercendi intra terminos imperii. Nach
Tacitos wäre es also ein Anhang zu dem Breviarium und ihm folgt Mommsen (Sybels
bist. Zeitschr. 57 [1887] 390), nach Dio aber eine eigene Schrift;
4. der Index rerum (Suet., Dio);
5. Breviarium (Suet., Dio, der libellua des Tacitus).
Discriptio totius Italiae. Plinius (n. h. 3, 46) schreibt: nunc ambUum eins
(liaUae) urhesqtie enumerabimus, qua in re praefari necessarium est auctarem nos divum
Augustum secuturos discriptionemque ab eo factam Italiae totius in regiones XI, sed ordine
eo qui litorum tractu fiet, urbium quidem vicinitates oratione utique praepropera servari
non posse, itaque interiore exin parte digestionem in litteras eiusdem nos secuturos, coloniarum
mentione signata quas Üle in eo prodidit numero. Nach diesen Worten gedenkt Plinius die
1 1 Regionen zu Grunde zu legen, aber nicht in der von Augustus festgesetzten Reihenfolge,
sondern nach dem Lauf der Küste, bei Beschreibung des Binnenlands will er die Verzeich-
nisse der Städte nach der von Augustus gewählten alphabetischen Anordnung geben und
dabei die Kolonien besonders hervorheben, die Augustus erwähnt hatte. Die Wiederher-
stellung dieser augusteischen Verzeichnisse als höchst wichtiger Urkunden ist von der
grössten Bedeutung. Mit dem Breviarium werden diese Verzeichnisse nicht im Zusammen-
hang gestanden sein (Guirrz p. 49). — BoaxAim, Bemerkungen zum schiiftl. Nachl. des
K. Aug. p. 33. Detlefsen, Comment. Momms. p. 23. Cüntz, De Augusto Plinii geographi'
corum auctore, Bonn 1888, der Buchform dieser Verzeichnisse statuiert.
211. Das Monumentuin Ancyranum. Unsere Kenntnis von dem
Bericht des Augustus über seine Thaten beschränkte sich lange Zeit auf
das Wenige, das uns Sueton darüber mitgeteilt. Niemand ahnte, dass in
einem entlegenen Ort des fernen Ostens der Bericht selbst zum Vorschein
kommen sollte. Es war im J. 1555, dass eine kaiserliche Gesandtschaft
nach Ancyra, der ehemaligen Hauptstadt Galatiens, kam. Dieselbe fand
in dem Pronaos des Tempels, der einst Augustus und der Göttin Roma
geweiht war, den Bericht des Augustus in der lateinischen Originalsprache
und in griechischer Übersetzung; sie Hess Teile des lateinischen Textes
abschreiben. Allein trotz dieser Entdeckung und trotz weiterer Mitteilungen
von Reisenden blieb ,die Königin der Inschriften« drei Jahrhunderte hin-
durch ein ungehobener Schatz. Erst im Jahre 1861 wurden wir durch
eine französische Expedition über das Denkmal genauer unterrichtet; der
lateinische Text und Teile des griechischen wurden jetzt durch ein Facsimile
bekannt gemacht. In allerneuester Zeit hat endlich auf Anregung Momhsens
der bekannte Baumeister Humann Gipsabgüsse der Inschrift angefertigt;
dieselben befinden sich in Berlin und ersetzen uns fast das Original. Auf
Grund derselben wurde von Mommsen eine meisterhafte Bearbeitung der
Inschrift gegeben. Von der griechischen Übersetzung, die allem Anschein
nach erst in Galatien angefertigt wurde, ^) haben sich auch wenige Bruch-
teile in dem einst zur Provinz Galatien gehörenden Apollonia vorgefunden.
Die 35 Kapitel umfassende Inschrift zerfallt ihrem Inhalt nach in
drei Teile, zuerst (c. 1 — 14) zählt sie die Ämter und Ehrungen auf, die
Augustus erlangt hatte, im zweiten Teil (c. 15 — 24) macht sie die Auf-
wendungen namhaft, die Augustus für Staat und Bürgerschaft gemacht,
wie Geldspenden, Bauten, Feste; der dritte Teil endlich (c. 25 — 35) ent-
hält seine politischen Thaten im Krieg und Frieden. Auf eine völlige Ein-
haltung der Disposition ist es nicht abgesehen, da ja im ersten Teil bei
0 Nissen, Rh. Mus. 41, 494.
12 Römische LitteratargeBchiohte. Ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Erwähnung der Auszeichnungen auch manchmal die Thaten zu berühren
waren. Was will Augustus mit diesem merkwürdigen Dokument? Er zieht
in demselben die Summe seines Lebens, er legt am Ende seiner Tage
Rechenschaft von seinem langen staatsmännischen Wirken ab, er stellt zu
diesem Zweck seinen Ehrungen seine Thaten gegenüber, er zählt auf, was
er vom römischen Volk empfangen, und was er dem römischen Volk ge-
geben. Schwieriger als der Zweck der Inschrift ist deren litterarischer
Charakter zu bestimmen. Von grosser Wichtigkeit wäre in dieser Hinsicht,
wenn wir ermitteln könnten, wie Augustus selbst seinen Bericht genannt
hat. Aus der jetzigen Überschrift gewinnen wir diese Kenntnis nicht,
denn diese Überschrift stammt nicht von der Hand des Augustus. Da-
gegen dürfte uns Sueton zu einem Ergebnis führen. Als Augustus letzt-
willige Bestimmungen über die Aufstellung seiner Denkschrift vor seinem
Orabmal traf, musste er dieselbe, die wahrscheinlich ohne Titel war, doch
irgendwie bezeichnen. Sueton teilt uns diese für den Todesfall erlassenen
Verfügungen mit. Da er nun die wegen des Platzes des Dokuments er-
gangene Anordnung durch den Konjunktiv einführt, mithin als fremde
Meinung darstellt, ^) so ist sehr wahrscheinlich, dass auch die Bezeichnungs-
weise der Inschrift nicht von ihm, sondern von Augustus selbst herrülwt.
Sie wird aber hier index rerum a se gestarum genannt, was wir natürlich
in index rerum a me gestarum umsetzen müssen. Ist diese Vermutung
richtig, so hätte also Augustus seine Denkschrift in die Gattung der „res
gestae^ eingereiht, welche in der That als ein Zweig der Historiographie
in der römischen Litteratur erscheint. Allerdings würde der Titel streng
genommen nur auf den zweiten und dritten Teil passen, also a potiori
gewählt sein. Eine Schwierigkeit bleibt noch übrig, die Aufstellung des
Berichts vor dem Orabmal des Augustus. Dieser Umstand hat angesehene
Forscher bestimmt, in dem Dokument eine Grabschrift zu erkennen.
Allein dass die Form der Grabschrift nicht vorliegt, sieht man auf den
ersten Blick. Wohl aber ist möglich, dass Augustus seinen Bericht zu-
gleich als Ersatz für eine Grabschrift angesehen wissen wollte. Doch
wie man auch darüber denken mag, die hohe Bedeutung der Inschrift ist
keinem Zweifel unterworfen. Diese schlichte, einfache Aufzeichnung der
Thaten eines reichen Lebens erfüllt jeden Leser mit Ehrfurcht.
Der Titel der Inschrift und der Anhang. Der Titel lautet im lateinischen
£xemplar: Herum gestarum divl Augusti, quibus orhem terrarum imperio populi Rom,
subiecit, et inpenaarum^ quas in rem publicam populumque Romanum fecit, incisarum in
duabus aheneis piliSf quae sunt Romae positae, exemplar subiectum. Die Inschrift schliesst
mit den Worten: cum scripsi haec, annum agebam septuagensufmum sextum]. Dann folgt
ein Anhang, in dem zuerst die Summe der Geldspenden, dann die neuen oder restituierten
Bauten aufgefühi't werden, endlich noch ganz allgemein angegeben wird, worauf sich die
impensae des Augustus erstreckt haben. Mommsen bemerkt richtig (Sybels bist. Zeitschr.
57 [1887] 397,3): , Titel und Schluss geben sich ausdrücklich als nicht von Augustus ge-
schrieben; es sind Zusätze und zum Teil recht einfältige, nicht Interpolationen." — Über
das exemplar subiectum vgl. Momhsen p. Xi, dagegen Nissen, Rh. Mus. 41,494.
Abfassungszeit. Die letzten Ereignisse, die erwähnt werden, fallen in das Jahr
14 n. Ch., wie der dritt« Census (Frühjahr 14 n. Ch.) und das 37. Tribunat (Juni 14
n. Ch.). Aus einer Störung der Ordnung, welche in der Reihenfolge der Spenden eine
Schenkung an die Veteranen erfahren, will Momxsen folgern, dass die Inscnrift bereits
*) J. Schmidt, Philol. 45, 403. Mommsek, Sybels hist. Zeitschr. 1. c. p. 391.
G. Haecenas. 13
vor 2 y. Ch. und nach 5 v. Ch. von Augustus geschrieben wurde und im J. 14 n. Ch. Zu-
sätze erhalten habe. Neuerdings äussert er sich so (Sybels bist. Zeitschr. 57 [1887] 397):
«Nach sprachlichen Judicien ist das Schriftstück von Augustus nicht erst wenige Monate
vor seinem Tode, sondern früher aufgesetzt und durch Überarbeitung von fremder Hand
auch das Datum umgeschrieben worden, welches es trägt/ Vgl. jedoch Bobmann p. 11.
Berok, Ausg. p. 4.
Litterarischer Charakter der Inschrift. Während über die grosse Bedeutung
der Inschrift alles einig ist, gehen die Meinungen über den litterarischen Charakter der
Inschrift auseinander. Gelegentlich wurde sie ein „politisches Testament*^ genannt
von HiBSCHFELD, Wien. Stud. 3 (1881) p. 264; ein „Rechenschaftsbericht* von Mommsen,
Hermes 18(1883) p. 186; eine „Grabschrift" von Nissen, Sybels bist. Zeitachr. 46 (1881)
p. 49 Anm. 5, Ital. Landesk. 1 (1883) p. 31 und p. 81. Aus diesen gelegentlichen Äusse-
rungen entwickelte sich eine Streitfrage, nachdem Borkann, Bemerkungen zum schriftl.
Nachl. des Kaisers Augustus (1884) p. 4 in ausführlicher Weise für die Charakterisierung
des Denkmals als „Grabschrift'' eingetreten war. Auf seine Seite stellte sich sofort
J. Schmidt, Philol. 44 (1885) p. 455, während Hirschfeld ihm entgegentrat und jetzt die
Inschrift „memoria vitae* d. h. einen Bericht über sein öffentliches Leben und Wirken
genannt wissen wollte (Wien. Stud. 7 [1885] p. 174), was wieder Schmidt Anlass zu einer
lebhaften Replik gab (Philol. 45 [1886] p. 393). Auch Wilamowitz bekämpft die Auf-
fassung des Denkmals als „Grabschrift* (Hermes 21 [1886] p. 623). Vgl. dazu Geppert,
Zum Monumentum Ancyr., Berl. 1887 p- 13. In diesen Streit warf eine originelle Ansicht
WöLFFUN ein (Münchn. Sitzungsber. 1886 p. 280); derselbe stellt das monumentum als ein
„Rechnungsbuch* hin, das nach Art der tahulae accepii et expensi die Ehrungen des
Augustus als Einnahmeposten, das was er für das Volk gethan, sei es durch Spenden an
seine Mitbürger, sei es durch Eroberungen und Erweiterung des Reichs als Ausgabeposten
auffasse und mithin eine Bilanz des Begründers der römischen Monarchie ziehe. Es
folgten die eingehenden Abhandlungen Nissens (Rh. Mus. 41 [1886] p. 481) und Mommsens
(Sybels bist. Zeitschr. 57 [1887] p. 384); dort wurde mit aller Schärfe dem Monumentum
der Charakter als „Grab schritt*, hier als „Rechenschaftsbericht* oder „Denk-
schrift* vindiziert.
Ausgaben: Augusti rerum a se gestarum indicem — ed. Bebok, Göttingen 1873.
Res gestae divi Äugusti iterum ed. Th. Mommsen, Berl. 1883.
2. G. Itfaecenas.
212. Biographisches. G. ]\ilaecenas stammte aus vornehmem etru-
skischem Geschlecht; er wurde geboren am 13. April (Hör. c. 4, 11, 14),
etwa in der Zeit von 74 — 64 v. Ch. und starb 8 v. Gh. (Dio 55, 7). Seine
historische Bedeutung liegt in zweifacher Richtung, in dem verständnis-
vollen Eintreten für die Monarchie und in der mächtigen Förderung der
Litteratur. Für Augustus waren seine Dienste von hohem Werte. Seine
konziliante Natur machte ihn besonders zur Mittelsperson geeignet; es
wurden ihm daher öfters diplomatische Sendungen übertragen; seine erste
galt der Gewinnung des Sex. Pompeius für die Sache Octavians; um dieses
Ziel zu erreichen, brachte er ein Heiratsbündnis zwischen Scribonia, der
Schwester des Schwiegervaters des Sex. Pompeius, und Octavian zu stände
(App. b. c. 5, 53). An dem Ausgleich zwischen Antonius und Octavian, der in
dem brundisinischen Friedensschluss im Jahre 40 v. Gh. erfolgte, war er
ebenfalls beteiligt (App. b. c. 5, 64). Als bald darauf wiederum Differenzen
zwischen den beiden Machthabern ausbrachen, erhielt er neuerdings eine
Friedensmission, welche Horaz in seinem launigen Reisegedicht (Sat. 1, 5, 27)
berührt; es wurde (37 v. Gh.) der Friede von Tarent geschlossen. Weiter-
hin betraute ihn Octavian während seiner Abwesenheit von Rom mit seiner
Stellvertretung, es geschah dies zuerst im J. 36 v. Gh., zum zweitenmal
versah er diesen Aultrag mit Agrippa im J. 31 v. Gh. '(Dio 49, 16 51, 3).
Sonst hielt er sich von den Staatsämtern fern, da ihm das behagliche
14 Römische LitteratnrgeBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
Privatleben höher stand. Allein dass auch das Wort des Privatmannes
bei dem Monarchen schwer wog, dafür legt ein Ereignis, das uns Dio 55, 7
berichtet, Zeugniss ab. Octavian war im Begriff, mehrere Todesurteile zu
fällen, da warf ihm Maecenas seine Schreibtafel zu, auf der die Worte
standen „Stehe doch auf, Henker.^ Sofort hob Augustus die Verhandlung
auf. In seiner Müsse gab sich Maecenas einem verweichlichten Leben hin ;
die Autoren wissen manches Auffällige zu berichten über seine Kleidung
(Seneca ep. 114, ß), über seine Tafelgenüsse (Plin. n. h. 8, 170), über seine
Vorliebe für Pantomimen, über seinen Umgang mit Schauspielern (Tac. Ann.
1, 54) u. a. Allein die merkwürdigste Eigenschaft des Mannes war, dass er,
sobald es galt, sich zu unerhörter Energie aufraffen konnte, um nach voll-
brachtem Werk wieder in die gewohnte Schlaffheit zurückzusinken.
Maecenas* vornehme Gebart feiert Horaz Sat. 1, 6, 1 C. 1, 1, 1 3,29,1 Prop.
4, 9, 1. Mit dem Geschlecht der Cilnier soll Maecenas mütterlicherseits zusammenhängen.
(Bobmann, Index lect., Marburg 1883 p. IV). '
Über die Stellvertretung vgl. noch Tac. Ann. 6,11 Vell. 2, 88 App. b.c. 5, 99
5, 1 12. Die Staatssorgen des Maecenas in der Abwesenheit des Augustus in späteren Jahren
streift Hör. C. 3, 8, 17 mitte civilis super urbe curcut (aus dem J. 29 v. Ch.) ; 3, 29, 25 tu
civitatem quis deceat stcUus, curcis et urbi sollicitus times (aus dem J. 27 v. Gh.).
£ine treffliche Charakteristik des M. entwirft Velleius 2, 88, 2 mit folgenden
Worten: tunc urbis custodiis praepositus C. Maecenas, equestri, sed splendido genere natus,
vir, ubi res vigiliam exigeret, sane exsomnis, j^oridens atque agendi sciens, simul vero
aliquid ex negotio retnitti passet, otio ac mollitiis paene ultra feminam fluens, non minus
Ägrippa Caesari carus, sed minus honoratus (quippe vixit angusti clavi fine contentus) nee
minora consequi potuit, sed non tarn concupivit.
213. Der Kreis des Maecenas. Noch viel grösser als die politi-
schen sind die litterarischen Verdienste des Maecenas. Ein Mann von
feiner Bildung und Freund edler Geselligkeit, ein Kenner der beiden
Sprachen (Hör. G. 3, 8, 5), sah er gern um sich einen Kreis hochstrebender
jüngerer Talente und indem er denselben ihre materiellen Sorgen abnahm
und auch auf ihre dichterische Thätigkeit Einfluss gewann, trug er wesent-
lich zur Blüte der Dichtkunst in der augusteischen Zeit bei. Auch an
dem höfischen Charakter der damaligen Poesie hat er seinen Anteil, da
er die Beziehungen zwischen dem Monarchen und den Dichtern herstellte
und unterhielt. So kam es, dass die bedeutendsten damaligen Dichter sich
um ihn scharten. Seinem Kreise gehörten an L. Varius Rufus, durch die
Tragödie Thyestes besonders berühmt geworden ; er und Vergil führten den
Horaz bei ihrem Gönner ein; gar anmutig erzählt uns der venusinische
Sänger diese erste Begegnung mit Maecenas (Sat. 1,6,54). Ein hochange-
sehener Genosse des Kreises war Vergil; später kam hinzu der geniale
Elegiker Propertius. Von Geistern zweiten Ranges sind zu nennen der
gelehrte Freigelassene des Maecenas, C. Melissus, der in einer neuen Spiel-
art der Togata seine Kräfte versuchte und der Epigrammatiker Domitius
Marsus, der nach den Andeutungen des Dichters Martialis ebenfalls Maecenas
nahe gestanden sein musste (7, 29 8, 56). Wenn wir dann noch hinzu-
nehmen die Freunde des Vergil und des Horaz, z. B, Tucca und Quintilius
Varus (Horat. Sat. 1, 5, 40 Ep. 2, 3, 438), so erhalten wir eine stattliche
Schar bedeutender Persönlichkeiten, welche sich der Anregung und Gunst
des Maecenas erfreuten. Wie sich sein Einfluss äusserte, lässt sich im
einzelnen nicht darlegen; denn das Korn, das auf dem Feld des Geistes
C. Maecenas. \
K
keimt und wächst, ist in der Regel unsichtbar; wir haben uns zu halten
an das fertige Werk. In dieser Hinsicht aber zeugen für Maecenas die
weithin strahlenden Schöpfungen seiner Genossen. Doch fehlt es nicht
ganz an Einzelzügen, welche uns die Einwirkung des Patrons kennen
lehren. Wir lesen, dass Maecenas den Horaz zur Herausgabe der Epoden
drängte, dass er Vergil zu seinem landwirtschaftlichen Gedicht anregte,
dass er Propertius auf grössere Stoffe hinwies (4, 9). Vielleicht darf man
auch vermuten, dass das Werk des Sabinus Tiro über Gartenkunst, das dem
Maecenas gewidmet war, mit Rücksicht auf den schönen Park, den dieser
sich geschaflfen, geschrieben wurde (Plin. n. h. 19, 177). Auch an materiellen
Förderungen Hess er es nicht fehlen, er schenkte Horaz das Landgut Sabi-
num, auf dem der Dichter Ruhe und Frieden fand. Ohne Zweifel war es
kein gewöhnliches Gönnertum, das bei ihm waltete und schaltete. Und
wenn es auch richtig ist, dass durch das Maecenatentum Talente nicht ge-
schaflfen werden, so ist auf der anderen Seite auch nicht zu leugnen, dass
manches Talent ohne die schützende Hand eines Maecenas verloren geht,
so dass der Dichter doch nicht unrichtig sagen kann (Mart. 8,56,5):
Sint Maecenates, non deerunt, Flacce, Maronea,
214. Maecenas' Schriftstellerei. Schon oben haben wir eine merk-
würdige Dissonanz in Maecenas' äusserem Leben kennen gelernt, den
Wechsel zwischen grosser Thatkraft und schlaffer Ruhe. Auch in seinem
geistigen Sein tritt uns ein auffallender Widerspruch entgegen ; der Mann,
der einen so feinen Sinn für die Litteratur zeigte, war selbst ein mittel-
mässiger, ja schlechter Schriftsteller. Auf uns gekommen sind nur einige
Trümmer, aus denen wir ersehen, dass sich Maecenas auf den beiden Ge-
bieten der Rede versuchte, sowohl in der Poesie als in der Prosa. Unter
den wenigen dichterischen Überresten sind jene priapeischen Verse am
bekanntesten, in denen Maecenas alle erdenklichen körperlichen Unbilden
um den Preis des Lebens auf sich nehmen will (fr. 3 B.) :
Debilem faeUo manu, debilem pede, coxa,
tuher adstrue gibberum, lubricoa quate dentes:
Vita dum supereat, bene est . hanc mihi vel acuta
si sedeam cruce, sustine.
Die spärlichen Prosafragmente weisen auf dilettantische Versuche über
verschiedene Themata hin; sie erregten eine Zeitlang Aufmerksamkeit
durch ihren sonderbaren Stil, der sich in seltenen Worten, gesuchten
Wendungen, unnatürlichen Stellungen gefiel. Schon Augustus verhöhnte
denselben, indem er ihn in Briefen an Maecenas konterfeite (Suet. Aug. 86
Macrob. 2,4,12); der Philosoph Seneca nahm öfters Anlass, über denselben
seinen Spott auszugiessen (Ep. 19, 8, bes. 114, 5); auch Quintilian tadelte die
verschrobene Wortstellung des Autors (9, 4, 28).
Die Citate lehren ans folgende Titel von Prosaschriften kennen:
1) Prometheus, von Seneca (Ep. 19, 8) wegen der unnatürlichen Redeweise ipsa
enim altitudo attonat summa, die ihm ein ebrius sermo erscheint, angeführt. Den „liber",
wie die Schrift Seneca nennt, für eine Tragödie zu halten, erscheint bedenklich.
2) Symposion. Nach Serv. Aen. 8, 310 nahmen an diesem Gastmahl ausser Maecenas
teil Vergil, Horaz, Messalla. Die von den Griechen ausgebildete Litteraturgattung der
Symposien ist bekannt; Reden mit dramatischer Scenerie bildeten den Rahmen. In der
Torhegenden Schrift liess Maecenas den Messalla von den Wirkungen des Weins reden
16 ROmiBclie Litteratnrgeachichte. H. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
(ut idetn umor ministrat faciles ocvlos, pulchriora reddit omnia et dulcis iuventae reducit
bona). Wahrscheinlich folgt hier Maecenas dem Symposion Epicurs, in dem auch über
den Wein gesprochen wurde (Usener, Epic. p. 115). Unrichtig bezieht Hibzel, Rh. Mus.
43, 316 auf diese Schrift auch Aelian ed. Horcher II 239, 10 (iy t^ avvSeinyip xov Maixijya).
3) De cultu suo (über seine Lebensweise). Aus dieser Schrift teilt Seneca
(Ep. 114,5) eine wahre Blumenlese gezierter und unnatürlicher Wendungen mit, z. B. al-
reum lintribus arant versoqtie vado hortoa remittunt,
4) In Octaviam. Diese Schrift citiert Priscian 1,536, 6 H. und daraus die Worte
pexisti capiUum naturae muneribua gratum, welche für ein Prosawerk sprechen. Unter
Octavia wird die unglückliche Gemahlin des Triumvirs M. Antonius, welche im J. 11 v. Gh.
starb, verstanden. Allein über den Gharakter des Buchs ist schwer zu einer irgendwie
begründeten Vermutung zu gelangen; Kbehl schreibt daher in octavo statt in Octa-
viam; vgl. den folgenden Passus.
5) Dialogi. Bei Gharisius p. 146 E. lesen wir für die Form volucrum als Beleg
„Maecenas in dialogo II". Wenn man aus «volucrum* auf Behandlung auch natur-
wissenschaftlicher Dinge in den Dialogen schliessen darf — allerdings ein sehr problema-
tischer Schluss — , so werden hier auch die Quellenangaben bei Plinius Platz finden müssen,
im 9. Buch (aquatilium natura), im 32. (medieinae ex aquatilibus), im 37. (origo gemma-
rum) wird nämlich unter den benutzten Autoren Maecenas genannt. Für die Geschichte
vom zahmen Delphin führt Plin. 9, 24 als Gewährsmann Maecenas neben Fabianus und
Alfitts Flavus an.*)
Schwierigkeiten macht das Gitat des Gharisius p. 79 K. ut Maecenas in X mit einem
darauffolgenden Hexameter; denkt man hier an einen 10. Dialog, so müsste man annehmen,
dass in die Dialoge auch Verse eingestreut waren; anderenfalls wird man mit Meibom
carminum zu ergänzen haben.
G. 2, 12, 9 ruft Horaz dem Maecenas zu: tuque pedestribus dices historiis proelia Cae-
sariSj Maecenas, melius ductague per vias regum coUa minacium. Daraus leitet Serv. Greorg.
2,42 als Thatsache ab: etiam Äugusti Cfusaris gesta descripsit. Allein zu dieser Schluss-
folgerung berechtigen uns die Worte keineswegs, selbst die Notiz über Augustus, welche
uns Plin. n. h. 7, 148 mit Berufung auf Agrippa und Maecenas macht, reicht nicht aus,
um ein historisches Werk des Maecenas über Augustus anzusetzen. Lobende Äusserungen
über Vergils Kunst, welche Seneca Suas. 1, 12 2, 20 mitteilt, werden dem Freigelassenen
des Maecenas, Melissus, den Plin. n. h. 28, 62 Maecenas Melissus nennt, und der Über Vergil
schrieb, angehören.')
Litteratur: Meibom, Maecenas, Leid. 1633. Lion, Tironiana et Maecenaiiana,
Gott.' 1846. FRAin>SEN, G. Gilnius Maecenas, Altena 1843 (ein geschmackloses Buch). Ein-
fach und nüchtern handelt über das Leben des Maecenas Matthes im 5. Bd. der symbolae
literariae, Amsterd. 1843 p. 5. Nach Meibom und Lion hat die Fragmente zusammen-
gestellt und erläutert Habder, Über die Fragmente des Maecenas Berl. Progr. 1889.
3. M. Yalerius Messalla Corvinus.
215. Messallas Einfluss auf die Litteratur. M. Yalerius Messalla
(geb. 64 V. Gh., gest. 8 n. Ch.) studierte gleichzeitig mit Horaz und dem
jungen Cicero in Athen. Wie Horaz, so schloss auch er sich der Sache
des Brutus an. Allein nach der Schlacht bei Philippi trat er zu Antonius
über (App. b. c. 4, 38). In dem nachfolgenden Kampf zwischen Octavian
und Augustus entschied er sich für Octavian, bei dem er grosses Ansehen
gewann. Nach der Schlacht bei Actium, die er mitmachte, wurde er mit
verschiedenen wichtigen Missionen betraut, er führte ein Kommando im
Orient gegen Syrien und Cilicien, später zog er gegen die Gallier ins Feld.
Siegreich in einer Schlacht am Atax erhielt er im Jahre 27 v. Ch. einen
Triumph. Obwohl er seine warme Anhänglichkeit an Augustus dadurch
bekundete, dass er für ihn 2 v. Ch. den Titel „pater patriae*' beantragte,
so war er doch auf der anderen Seite fest entschlossen, seiner Über-
*) Härder spricht p. 21 die Yermutung
aus, dass die Titel Prometheus, Symposium,
Octavia, vielleicht sogar „de cultu suo" Spe-
zialtitel der Dialogi sind.
») Härder p.21. (Donats Vita p. 58 R.)
M. Valerins Hessalla Gorvinna. 17
Zeugung nichts zu vergeben. Als er zum Stadtpräfekten ernannt ward,
legte er schon am sechsten Tag nach dem Antritt das Amt nieder, da
er sah, dass es seinen politischen Anschauungen widerstritt (Hieronym.
2, 141 Seh.).
Aber nicht bloss im öffentlichen Leben, auch in dem litterarischen
nahm Messalla eine bedeutsame Stelle ein. Er wurde der Mittelpunkt
eines Kreises, dessen vorzüglichste Glieder TibuU, Lygdamus und die
Dichterin Sulpicia^) waren. Wie sehr man sich um die Gunst des
vornehmen Mannes bemühte, zeigen noch zwei erhaltene Panegyriken,
welche unbekannte, unreife Dichter ihm widmeten. Gegenüber diesem
fördernden Einfluss auf heranwachsende Talente stehen seine eigenen
litterarischen Arbeiten erst in zweiter Linie. Jugendversuche waren wahr-
scheinlich seine bukolischen Gedichte in griechischer Sprache und seine
Übersetzungen gi'iechischer Reden ins Lateinische. Mehr vermissen wir
ein historisches Werk, vermutlich Denkwürdigkeiten, auf welches ver-
schiedene Spuren bei den Historikern führen. Erwähnt wird ferner ein
Protest (indignatio) gegen den Versuch, die Ahnenbilder der Laeviner
seinem Geschlechte einzureihen. Auch mit gelehrten Problemen beschäf-
tigte er sich, allem Anschein nach in Briefform (Suet. gr. 4), es wird ein
Traktat über „S" angeführt (Quint. 1, 7, 23) und eine Äusserung über
„literator^ (Suet. gr. 4). Als Redner schloss er sich im grossen Ganzen
dem Stil Giceros an, denn dieser hebt rühmend hervor, dass Messalla in
dem „verissimum genus dicendi" sich ausbilde. Das was ihn von Cicero
trennte, war die Zierlichkeit und das Gesuchte im Ausdruck. Seine Manier
diente dem nachmaligen Kaiser Tiberius zum Vorbild (Suet. Tib. 70).
Geburts- und Todesjahr Messallas. Mit dem Zeugnis des Hieronymus, der
die Geburt in das Jahr 59 v. Ch. (Sghoene p. 137j und den Tod in das Jahr 11 n. Ch.
(ScHOENE p. 147) versetzt und wie ausdrücklich bemerkt wird, Messalla ein Alter von
72 Jahren erreichen lässt, lassen sich andere Zeugnisse nicht in Einklang bringen. So
schreibt Ovid aus dem £xil (P. 1, 7, 29), dass er bei dessen Leichenbegängnis persönlich
seinem Schmerz Ausdruck gegeben. Da Ovid Ende 8 n. Ch. in die Verbannung ging, so
ist jenes von Hieronymus angegebene Todesjahr unrichtig, es muss früher fallen. Auch
das Geburtsrjahr 59 v. Ch. stimmt nicht zu Jen Lebensverhältnissen Messallas; wiederum
brauchen wir einen früheren Ansatz. Wie es scheint, fand eine Verwechslung der Kon-
sulate statt. Im Jahre 59 v. Ch. waren Konsuln Caesar und Bibulus, im J. 64 v. Ch.
Caesar und Figulus (H. Schulz, (/e Messallae aetate, Stettin 1886 p. 8). Nehmen wir nun
das J. 64 V. Ch. an, so würden wir, wenn wir das von Hieronymus angegebene Alter von
72 Jahren festhalten, auf das J. 8 n. Ch. kommen, so dass Messalla kurz vor der Ver-
bannung Ovids starb. Mit diesem Ansatz stimmt Frontin de aquis c. 99, nicht dagegen
Tacitus dial. 17, wo mit Nippebdey ein Fehler der Überlieferung zu statuieren ist.
Schrift stellerei Messallas. Die bukolischen Gedichte in griechischer Sprache
preist der Paneg. im Catalepton Verg. 9 (11) v. 14 fg. Seine Übersetzungen griechischer
Reden ins Lateinische bezeugt Quint. 10, 5, 2. — Über die Denkwürdigkeiten vgl. Plut.
Brut. 40. 42. 45. — Plin. 35, 8 ertat Mesaallae oraioris indignatio, quae prohibuit inseri genti
8uae Laevinonim alienam imaginem. Über Messalla als Redner vgl. Meyer, arat, fragm.
p. 509. Cic. ad Brut. 1, 15, 1 ita gravi iudicio multaque arte se exercuit in verisaimo gener e
dicendi, Tacit. dial. 18 Cicerone mitior Corvinus et dulcior et in verbis magis elahoratua,
Sen. controv. 2, 4 (12), 8 fuit Messalla exactissimi ingenii quidem in omni studiorum parte,
latini utique sermonis observator diligentissimus,
Litteratur: Wiese, De M. V, M, tita et studiis doctrinae, Berl. 1829. Valeton,
M. V. M. C, Groningen 1874.
») Vielleicht auch der Dichter der Ciris (v. 54), C. Valgiuö Rufus (Tib. 4, 1, 179) und
Aemilius Maccr (Tib. 2, 6, 1).
Bandbucb der klan. AltertamswlMieDBchaft. Vm. 2. Teil. 2
18 Römische LitteratargeBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
4. C. Asinius Pollio.
216. Pollios Verdienste um die Litteratur. Asinius Pollio, geb. 76
(Tac. dial. 34), bewegte sich als junger Mann im Kreis der jungrömischen
Dichter. Catull nennt ihn „leporum disertus puer ac facetiarum^ (12, 8).
Als er eine Studienreise nach Athen unternahm, schrieb ein Genosse des
Kreises ihm das Geleitsgedicht (Propempticon, vgl. § 107). Konsul im
J. 40 V. Ch. besiegte er die Parthiner und Dalmatier und erlangte im
folgenden Jahr einen Triumph. Damit zog er sich vom politischen Leben
zurück. Als Octavian den Wunsch aussprach, dass er ihn zur Schlacht
bei Actium begleite, gab er zur Antwort: Ich habe zu viel für Antonius
gethan und er zu viel für mich, ich werde daher dem Kampf ausweichen
und mich dem Sieger als Beute hingeben (Vell. 2, 86). Fortan ging er ganz
in litterarischen Bestrebungen auf. Gleich sein Triumph gab ihm Anlass,
einen schon von Caesar gefassten, für die Litteratur sehr wichtigen Ge-
danken praktisch durchzuführen; er gründete nämlich von der gewonnenen
Kriegsbeute die erste öffentliche Bibliothek; im Atrium des Tempels der
Libertas auf dem Aventin (Ovid T. 3, 1, 71) wurden nicht nur die litterari-
schen Schätze der Griechen und Römer aufgespeichert, sondern auch die
Büsten der hervorragenden Schriftsteller aufgestellt;') von den lebenden
Autoren wurde aber nur Varro diese Ehre zu teil (Plin. n. h. 7, 115). Nach
dem Muster dieser Bibliothek wurden im Verlauf der Zeit noch andere er-
richtet. Aber nicht bloss die Werke der Litteratur, sondern auch die der
Kunst sollten dem grossen Publikum zugänglich gemacht werden. Er hatte
sich eine ausgezeichnete Kunstsammlung angelegt, zu welcher jedermann der
Zutritt offen stand. Die berühmte Gruppe des farnesischen Stiers stammt
aus derselben (Plin. n. h. 36, 33). Noch eine für die Schriftstellerei sehr
wichtige Einrichtung verdankten die Römer dem eifrigen Gelehrten. Er
war es, der zuerst vor einem geladenen Kreise seine Schriften vorlas und
dadurch der Schöpfer der Recitationes wurde, die den Werken des
Autors den Zugang zum Publikum anbahnten (Sen. contr. 4 praef. 2). Die
Erzeugnisse der Rhetorschulen wie die litterarischen Schöpfungen verfolgte
er mit kritischem Auge. Der Vater Seneca hat uns eine Reihe von Äusse-
rungen von ihm über die Rhetoren seiner Zeit mitgeteilt. Noch merkwürdiger
sind seine Urteile über verschiedene Autoren. Bekannt ist, dass er in der
Sprache des Livius einen Anklang an die Heimat des Verfassers, eine ge-
wisse Patavinität finden wollte, dass er an Sallusts Schriften viel zu tadeln
wusste, dass ihm Ciceros Stil keineswegs behagte, und dass er selbst an
Catull, dem Dichterfreund in grammatischer Beziehung nörgelte. Bekannt
ist auch sein herbes Urteil über die Glaubwürdigkeit der Memoiren Caesars.
Pollios kritische Urteile: 1) Livius. Die Zeugnisse stehen im Quint. 1,5,56,
8, 1, 3; vgl. bei Livius. 2) Sallust. Suet. gr. 10 Ä. P. in libro, quo Sallustü scripta
reprehendit; vgl. noch Gell. 10, 26, 1, wo in einem Brief an Plancus ein sprachlicher Aus-
druck kritisiert wird. tS) Cicero. Quint. 12,1,22 nee Asinio utrique (Cicero videtur scUis
esse profectus), qui vitia orationis eins (Ciceronis) etiam inimice pluribus locis insequuntur.
4) Catull. Charis. p. 97, 11; es handelt sich darum, dass Catull die Form pugillaria
') Dass die Büsten der verstorbenen 7 y IIb msLcht (unius piventis posita tmago est)
Schriftsteller auch aufgestellt waren, ist wohl zu schliessen; und so hat wohl auch schon
aas dem scharfen Gegensatz, den Plinius n. h. Isidor orig. 6, 4 geschlossen.
C. Aslnins PoUio. 19
statt pugillares gebraucht. 5) Caesar. Suet. Gaes. 56 (vgl. oben § 119)., Die Stellen,
an denen er über die Deklamatoren seiner Zeit urteilt, finden sich zusammengestellt in den
Ausgaben des Seneca rhetor von Kiesslivq und Müller.
217. Pollios Schriftstellerei. Über Pollios eigene schriftstellerische
Arbeiten belehrt uns in trefflicher Weise Horaz in der Eingangsode zum
zweiten Buch seiner Sammlung. Als er dieselbe schrieb, hatte PoUio
gerade eine Darstellung der Bürgerkriege unter den Händen, ein plenum
opus aleae, wie der Dichter sagt. Pollios tragische Muse, fährt Horaz fort,
müsse jetzt für einige Zeit der Bühne Lebewohl sagen, wenn das Geschichts-
werk vollendet sei, werde wieder auf dem tragischen Kothurn einherschreiten
insigne maestis praesidiutn reis.
Klar und deutlich weist also Horaz auf eine dreifache Schriftstellerei
Pollios hin, auf seine Tragödiendichtung, seine Historiographie und
seine Reden. Von seinen Tragödien spricht schon Vergil in den Ecl.
8,10, er nennt sie mit einem Kompliment für den Verfasser
sola Sophocleo tua carmina digna ccthurno.
Auch in den Satiren des Horaz erscheint PoUio als der, welcher die Thaten
der Könige in dreigeteiltem Verse besingt (1, 10, 42). Diese Tragödien
lagen noch dem Tacitus vor (dial. 21), denn er will in denselben die Spuren
des Accius und Pacuvius wieder erkennen. Sehr zu beklagen ist der Ver-
lust des Geschichtswerks, der Historiae. Ehe er dasselbe begann —
es war dies nach dem Tode Sallusts (34 v. Ch.) — Hess er sich von dem
Philologen Ateius eine stilistische Anleitung schreiben; in derselben war
besonders der einfache, reine und natürliche Ausdruck empfohlen (Suet. de
gr. c. 10). Das Werk begann mit dem Triumvirat (60 v. Ch.) und umfasste
nach Suidas die etwas aufföllige Zahl von 17 Büchern. Wie weit es sich
erstreckte, lässt sich nicht genau bestimmen. Die Fragmente weisen auf die
Schlacht bei Pharsalus (Plut. Gaes. 46), auf den Krieg in Spanien (Suet.
Gaes. 55), auf den Tod Giceros (Senec. suas. 6, 24), auf die Schlacht bei
Philippi (Tacit. Ann. 4, 34). Walwscheinlich schlössen sie mit diesem Er-
eignis und stellten also die Kämpfe des Octavian und des Antonius nicht
mehr dar. Die Spuren des Werks lassen sich ziemlich weit herab ver-
folgen. Der Rhetor Seneca (1. c.) teilt uns daraus die interessante Gharak-
teristik Giceros mit, das einzige Fragment, aus dem wir eine Vorstellung
von dem Stil erhalten. Bei Valerius Maximus (8, 13 ex. '4) wird das
3. Buch angeführt. Der ältere Plinius citiert das Werk im Quellen-
verzeichnis des 7. Buchs, Tacitus (1. c.) kannte es, Sueton benutzte es im
Leben Caesars und entnahm ihm höchst wahrscheinlich das vielbesprochene
ungünstige Urteil über die Kommentare Caesars. Grundlegend wurde es
verwertet von Plutarch und Appian. Als Redner vertrat Pollio besonders
die unschuldig Angeklagten, daher das Lob des Horaz. Auch an den
Deklamationen beteiligte er sich, und der ältere Seneca hat uns von dieser
Thätigkeit manche Proben aufbewahrt. Nicht erwähnt werden von Horaz
Pollios grammatische Schriften und Briefe. Auf die ersteren führen
aber Citate der Grammatiker, von den Briefen liegen uns drei an Cicero
gerichtete in der Generalkorrespondenz Giceros vor (10,31 — 33).')
0 Vgl. noch CliariB. p. 134,3 Asinios Polio ad Caesarem I.
2*
20 Bömische Litteratorgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
Zur Beurteilung des Stils des Asinius Pollio stehen uns einmal die
Urteile der Alten zur Verfügung, dann die drei Briefe und die Stelle
über Cicero. Die Urteile aus dem Altertum rühren von dem Philosophen
Seneca, Quintilian und Tacitus her. Seneca nennt Pollios Darstellung holprig
und sprunghaft, Quintilian schreibt, dass dieselbe so weit von der Glätte
Ciceros entfernt sei, dass man meinen sollte, der Schriftsteller habe ein
Jahrhundert früher gelebt. Tacitus will nicht bloss in den Tragödien,
wie bereits erwähnt, sondern auch in den Reden Pollios Pacuvius und
Accius wiedererkennen; so trocken und hart findet er ihn, d. h. er hebt
die archaistische Diktion der Reden: hervor. Zwei Eigenschaften also,
Archaismus und eine gewisse Holprigkeit, werden von den Alten als
Eigenschaften des Stiles Pollios hingestellt. Ziehen wir nun die genannten
Überreste heran, so belehrt uns allerdings die Lektüre, dass die Rede
nicht leicht dahinfliesst, und dass ungewöhnliche Worte auftreten. Diese
Eigenschaften finden in dem Charakter Pollios ihre Erklärung, ihm ist
nicht das Wort wie dem M. TuUius Cicero Selbstzweck, sondern weit höher
steht ihm die Sache und er flucht der Rede, die ihre Bestimmung nicht
in der klaren Darlegung der Sache findet (Schol. a. Hör. Cruq. p. 311).
Das Geschichtswerk Pollios. Für die Frage, wie weit das Werk reichte, ist
die kurze Notiz bei Prise, p. 386, 9 H. von Wichtigkeit „cuius experta virtus heUo Germaniae
traducta ad custodiam Illyrici est, Nipperdey bezieht die Stelle auf Tiberius und setzt
sie in das Jahr 12 v. Ch. ; neuerdings will Hirschfeld (bei Wölfflin, G. Asinius Pollio p. 828)
an Agrippa denken, „der im Jahre 88 den Rhein Überschritt und im Jahre 84 den Krieg
in Dalmatien begann." Allein zu welcher Ansicht man sich auch bekennen mag, man wird
aus dieser Fixierung nur eine Folgerung für die Zeit der Abfassung gewinnen, denn da
Fragmente über die Kriege des Octavian und Antonius fehlen, so ist waJu^cheinlicher, dass
jene Notiz in der Schlussbetrachtung (Nipperdey) oder in einem andern Zusammenhang
gelegentlich (Wölfflin) angebracht war. Die Worte bei Charis. p. 100, 24 Polio, Veneria
antistita Cuprus, die man bisher für den Rest eines Verses gehalten, erachtet Wölfflin
als ein Fragment des historischen Werks; sie seien gelegentlich der Erzählung der Er-
oberung Cypoms durch Cato (59 oder 58 v. Ch.) gebraucht worden. — Bailleu, Quomodo
Appianus in bellorum civ, L II— V usus sit Ä. P. historiis, Gott. 1874. Thourbt, De Cic.f
Asinio PoUione, Gaio Oppio, Leipz. Stud. 1,303 (p. 824). Peter fr. 262.
Bezüglich der grammatischen Schriften verweisen wir auf Halt>t, Opusc.
2, 67 f.
Die Landgraf'sche Hypothese. Neuerdings wollte man Asinius Pollio „als
Redakteur und Herausgeber des Caesar-Hirtianischeu Nachlasses und als Verfasser des
bellum Africanum" ansehen. Ich habe mich § 122 gegen diese Hypothese erklärt und
vermag dieselbe auch nicht nach dem, was jetzt Wölfflin p. 326 zu ihrer Unterstützung
vorbringt, zu vertreten. Ja Wölfflin gibt uns selbst ein gegenteiliges Moment an die
Hand, indem er eine* Diskrepanz zwischen der Darstellung des bellum Africanum und der
historiae in Bezug auf die Schlacht bei Ruspina höchst wahrscheinlich macht (p. 850 j, eine
Diskrepanz, für die ich seine Erklärung nicht ausreichend finde.
Der Stil des Asinius Pollio. Die Stellen der Alten sind: Sen. ep. 100,7 (com^
positio) PoUionis Asinii salebrosa et exiliens et uhi minime exspectes relictura, denique
omnia apud Ciceronem desinunt, apud Pollionem caduntj exceptis paucissimis quae ad
certum modum et ad unum exetnplar adstricta sunt, Quint. 10, 1, 118 multa in Asinio
PoUione inventio, summa diligentia, adeo ut quibusdam etiam nimia videatur, et eonsilii
et animi satis; a nitore et iucunditate Ciceronis ita longe abest ut videri pos-
sit saeculo prior, Tac. dial. 21 Asinius — videtur mihi int er Menenios et Appios
studuisse; Pacuvium certe et Accium non solum tragoediis, sed etiam oraiionibus suis ex-
pressit: adeo durus et siccus est. Daraus darf man nicht mit Wölfflin (p. 334 und p. 837)
auf ein poetisches Element in der Sprache des Asinius Pollio schliessen, sondern nur auf
Archaismus. Sen. contr. 4 praef. 3 floridior erat aliquanto in declamando quam in agendo:
illud strictum eius et asperum et nimis iratum ingenio suo iudieium adeo cessabat, ut in
muUis Uli venia opus esset, quae ab ipso rix inpetrabatur. — Schmalz, Der Sprachgebr.
des A. P.; 2. Aufl.; Manchen 1890.
P. Yergilias Haro.
21
Litter atur: Grundlegende Abhandlung Thorbecke, De CA. P., Leiden 1820 (andere
Schriften bei Thoubet 1, 324). Revision von Wölfflin, Münchn. Sitzungsber. 1889 p. 319).
a) Die Poesie.
1. P. Vergilius Maro.
218. Quellen der Yergil'sclieii Biographie. Über das Leben Ver-
gils ^) sind uns verhältnismässig ausführliche Berichte überliefeii. Es kommt
dies daher, weil Vergil sehr bald Gegenstand der litterarischen Forschung
wurde. So hat gleich der Herausgeber der Aeneis, L. Varius,^) über Vergil
geschrieben, ferner C. Melissus, der Freigelassene des Maecenas.^) Dass
auch die Gegner des Dichters litterarisch nicht unthätig waren, geht dar-
aus hervor, dass Asconius es für nötig erachtete, die Angriffe derselben
in einer eigenen Schrift zurückzuweisen.^) Da Asconius, wie wir aus seinem
historischen Kommentar zu den Reden Ciceros ersehen, ein ungemein ge-
wissenhafter und besonnener Gelehrter war, so müssen wir die Nachrichten,
die wir auf ihn zurückführen können, mit dem vollsten Vertrauen hin-
nehmen. Von den erhaltenen vitae sind drei als gute Quellen anzusehen:
1) die vila, welche dem Kommentar des Valerius Probus voraus-
geschickt ist; sie ist nicht in ihrer ursprünglichen Fassung erhalten, son-
dern in einem Auszug; doch hat sie am Schluss auch eine Interpolation
erfahren.^) Sie gibt ein dürres Gerippe von Thatsachen. Viel reicheren
Inhalts, freilich auch anekdotenhafter ist
2) die vita, welche unter dem Namen Donats überliefert ist. Auch
sie ging einem Vergil-Kommentar voraus, von dem sich aber nur die Vor-
rede, die erwähnte Biographie und die Einleitung zu den Bucolica gerettet
haben.®) Diese vita ist im wesentlichen Eigentum Suetons, in dessen be-
kanntem litterarhistorischem Werk sie stand.') Dieselbe Quelle liegt den
Notizen des Hieronymus über Vergil, die er in die Eusebianische Chronik
eingestreut, zu Grund. Die Donat'sche vita erlangte sehr grosses Ansehen,
sie wurde von dem Grammatiker Phocas im 5. Jahrhundert in Hexametern
versifiziert und bildete das Fundament für andere vitae. Auch wurde sie
im Laufe der Zeit durch Einfügung von läppischen Sagen entstellt.®) End-
lich haben wir noch heranzuziehen
3) die vita, welche im Eingang des Servianischen Kommentars steht
und ebenso wie die des Valerius Probus durch kurze Fassung in Gegensatz
zu der Sueton'schen sich charakterisiert.^)
Nettleship, Ancient Utes of Vergil mth an essay of the poenis of V., Oxford 1879.
*) Dass lediglich die Form , Vergilius",
nicht »Virgilius* die richtige Schreibweise ist,
wird durch die Inschriften erhärtet.
«) Vgl. Ribbeck, Proleg. p. 89.
*) Ribbeck, Proleg. p. 89. Ihn citiert
Donat p. 58 R.
*) l)onat p. 66 R. Ascanitis Pedianus libro,
quem contra obtrectatores VergiHi scripsit.
^) Reiffekscheid, Suetoni reliq. p. 398.
Steup will diese Biographie einem jüngeren
Valerius Probus zuweisen {De Probis, Jena
1871 p. 123).
') Dass AeliusDonatus, nicht Ti. Clau-
dius Donatns mit der vita in Verbindung
zu bringen, erweist Reiffrscheid p. 400.
^) Reifferscheid p. 401 patet opinor
vitam quidem Suetoni no9 habere^ sed retrac-
tatam illam Donati ctira. Die Überlieferung
beruht besonders auf dem Bemensis 172. Vgl.
Hagen, Fleckeis. Jahrb. 4. Supplb. p. 676.
^) Man vgl. Reifferscheid p. 399.
^) Gegen die Ansicht Reifferscheids,
dass die vita nicht die echte des Servius sei,
vgl. Haqen, schol. Bern. p. 682.
22 Römische LitteratargeBchichte. II. Die Zeit der Honarchie. 1. Abteilang.
219. Yergils Leben. Vergil wurde am 15. Okt. 70 in Andes bei
Mantua von Eltern geboren, welche in bescheidenen äusseren Verhältnissen
lebten. Über den Stand des Vaters ist die Überlieferung eine geteilte,
die einen sagen, er sei ein Töpfer gewesen, die anderen, der Taglöhner
des. Amtsboten Magius, dessen Tochter (Magia Polla) er späterhin zur
Frau nahm. Doch müssen sich die Eltern zu einem gewissen Wohlstand
emporgearbeitet haben, da sie ihrem Sohne eine höhere Ausbildung ge-
währen konnten. Vergil lag den Studien zuerst in Cremona, dann nach
Anlegung der Toga virilis in Mailand und bald darauf in Rom ob. Unter
seinen Lehrern ist besonders auszuzeichnen der Epikureer Siro, weil dessen
Unterricht von tiefgehender Wirkung auf ihn war. Das äussere Leben
Vergils verlief im ganzen in ruhigen Bahnen; nur die Ackerverteilung an
die Veteranen brachte in dasselbe eine grosse Erschütterung. Die Ereig-
nisse jener Zeit spiegeln sich in den Eclogen; von ihnen, nicht von den
Zeugnissen der Grammatiker ist unter allen Umständen auszugehen.
Zwei Stadien sind es, die sich in jenen Wirren deutlich abheben. Nach
der Schlacht bei Philippi sollten die Veteranen durch eine grosse Acker-
verteilung für ihre Mühen entschädigt werden. Zunächst war das Ge-
biet von Cremona zur Aufteilung ausersehen worden, allein da es nicht
ausreichte, wurde Mantua miteinbezogen. So kam es, dass auch das Gut
des Dichters für die Konfiszierung bestimmt wurde. Da traten für den
Dichter seine Freunde ein. Es stand damals an der Spitze des jenseits
des Po gelegenen Galliens Asinius Pollio, der den Dichter zu den bukoli-
schen Versuchen angeregt hatte und seine Muse bewunderte. Wahrschein-
lich war es in erster Linie der Einfluss dieses Mannes, welcher Vergil die
Gunst Octavians erwarb. Diese Gunst hatte zur Folge, dass Vergil vor-
läufig in seinem Besitz geschützt wurde. Die Sachlage änderte sich jedoch,
als Asinius Pollio die Provinz im Sommer 41 verliess und Alfenus Varus
an seine Stelle trat. Jetzt wurde Vergil aus seinem Gut vertrieben, und
es fehlte nicht viel, so hätte er hiebei sogar sein Leben verloren. Allein
den Dichter entschädigte bald die Gönnerschaft des Maecenas, durch welche
er mit dem Herrscherhaus in noch engere Beziehungen kam. Ihm zu
Ehren und, wie es heisst, auf seine Anregung dichtete er die Georgica
(von 37 oder 36 an), dann zum Preis des Augustus die Aeneis (seit 29).
Das letzte Gedicht war fertig, der Dichter hatte bereits das 5L Lebens-
jahr zurückgelegt, als er sich zu einer Reise nach Griechenland und Asien
entschloss, um noch drei Jahre der Ausarbeitung seines Epos zu widmen
und dann sich ganz der Philosophie hinzugeben. In Athen traf er mit
Augustus zusammen, der eben im BegriflF war, nach Rom' zurückzukehren
und ihn einlud, sich ihm anzuschliessen. Krank infolge der grossen Hitze,
welcher er beim Besuch Megaras ausgesetzt war, kam er an Bord; das
Leiden verschlimmerte sich während der Fahrt; als er in Brundisium ge-
landet, raffte ihn die Krankheit in wenigen Tagen dahin (21. Sept. 19 v. Gh.).
Seine Gebeine wurden nach Neapel gebracht. Auf seinem Grab waren die
Worte zu lesen:
Mantua tne genuit, Calahri rapuere, tenet nunc
Parthenope: cecini pascua, rura, duces.
Yergile Bncolica. 23
Den Unterricht Siros bezeugt Serv. Aen. 6, 264 (2, 46 Thilo) ex maiore parte Sironem,
id est magistrum suum Epicureum sequitur. Als seinen Lehrer nennt weiterhin die vita
Bemensis p. 745 den Rhetor Epidins; es heisst: studuU apud Epidium oraiarem cum Caesare
Augusto (Flbokbis. Jahrb. Suppl. 4, 745). Allein auf praktische Rhetorik ging nicht die
Neigung des Dichters; Donat p. 58 R. egit et causam apud iudices unam omnino nee amplius
quam semel; nam et in sermone tardissimum ac paene indocto similem fuisse Melissus
tradidit.
Über die Ackervertoilung sei ein Zeugnis hier angeführt: Serv. Ecl. 9,28 ortis hellis
civUihus inier Antanium et Augustum Augustus tftctor Cremonensium agros, quia pro An-
tonio senserant, dedit militihus suis, qui cum non suffecissent, his addidit agros Mantua-
no8, non propter civium culpam, sed propter vieinitatem. Die sich aus den Eclogen er-
gebenden zwei Stadien (Gefahr der Beraubung und Vertreibung) halten die Berichte nicht
auseinander. Auch in den Angaben über die Fürsprache einflussreicher Gönner bei Octa-
vian herrscht keine strenge Scheidung. So sagtValerius Probus 1, 7 K. restitutus heneficio
Alpheni Vari, Asinii PoUionis et Cornelii GaJli, quibus in Bucolicis adtdatur, 6, 1 da-
gegen : insinuaius Augusto per Cornelium Gallum. condiscipulum suum, promeruit, ut agros
8UOS reciperet. Das Eintreten des Cornelius Galfus für Vergil ist übrigens nicht unwahr-
scheinlich, denn a triumviris praepositus fuU ad exigendas pecunias ab his municipiis,
quorum agri in Transpadana regione non dividebantur (Serv. Ecl. 6, 64).
tt) Die Bucolica.
220. Die Sammlmig der bukolischen Gedichte. Zehn Oedichte
mit idyllischem Charakter sind in einem Corpus vereinigt. Dieselben müssen
früher einzeln erschienen sein, denn es sind manche darunter, welche einen
bestimmten Zweck in einer bestimmten Zeit erreichen wollten. Die Samm-
lung nannte Vergil Bucolica, weil alle Stücke (mit Ausnahme des vierten)
das Hirtenleben zur Grundlage nehmen; in Handschriften wurde das einzelne
Gedicht mit dem Namen Ecloga bezeichnet. Die Sammlung ist von Vergil
selbst gemacht worden, denn am Schluss der Oeorgica weist er durch den
Anfangsvers der ersten Ecloge auf dieselbe hin; man wird die Ansicht
aussprechen dürfen, dass auch die übrigen Gedichte in der jetzigen Reihen-
folge von ihm zusammengestellt waren. Bezüglich der Anordnung hat der
Dichter uns einige Winke in den Gedichten gegeben; die 10. Ecloge, die
er zuletzt geschrieben, steht auch an letzter Stelle; in der 5. Ecloge wird
V. 86 u. 87 auf die Eclogen 2 und 3 hingewiesen. Man sollte demnach an-
nehmen, dass für die Anordnung das Prinzip der Zeit massgebend war.
Allein diese Annahme ist unrichtig. Die chronologische Richtschnur ist
nicht durchweg zur Anwendung gekommen; so ist die erste Ecloge nicht
die früheste, sie ist von Vergil an die Spitze der Sammlung gestellt worden,
weil sie eine Verherrlichung Octavians enthält. Ausserdem war der Dichter
bestrebt, durch Abwechslung Ermüdung des Lesers zu verhüten; es sind
daher die Gedichte, welche die Form des Wechselgesangs haben (1, 3, 5, 7, 9),
durch diejenigen getrennt, welche dieser Form entbehren (2, 4, 6, 10); selbst
die 8. Ecloge begründet keine Ausnahme, denn es sind dort einfach zwei
Lieder vom Dichter einander gegenübergestellt.
Serv. Georg, p. 169 L. Bucolicorum (tUülum) transtuiU. Prob. p. 6, 9 K. Bucolica
seripsit, sed non eodem ordine edidit, quo scripsit, Serv. Bucol. p. 96 L. incertum est, quo
ordine scriptae sint (eclogae). Das Prinzip der variatio hat zuerst Waoneb ausgesprochen.
Noch einen Schritt weiter geht Krause, Quibus temporibus etc, p. 6, indem er nachzuweisen
versucht, dass überdies die Gedichte verwandter Art voneinander geschieden wurden (1.9;
2.8; 3.7; 4.6).
221. Qedichte mit rein ländlichem Charakter. Wir besprechen
zuerst die Eclogen, welche im Stil Theocrits gedichtet sind und sich von
24 Römische Litteratnrgescliiohte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
Allegorie im wesentlichen freihalten. Sie gewähren uns eine Vorstellung
von der bukolischen Dichtungsgattung. Es sind dies die zweite, dritte,
fünfte, siebente und achte; von diesen fünf Belogen bieten die dritte,
siebente und achte einen Wettgesang, in welchem das eigentliche Element
der bukolischen Poesie zu suchen ist. In der dritten Ecloge treffen die
beiden Hirten Menalcas und Damoetas mit ihren Herden zusammen. Sie
ergehen sich eine Zeitlang in gegenseitigen Sticheleien. Endlich fordert
Damoetas zu einem Wettstreit im Gesang auf. Er setzt ein Kalb als
Wettpreis ein, Menalcas ein kunstvolles, mit Bildnissen geschmücktes
Becherpaar. Da kommt der Nachbar Palaemon hinzu, er wird als Schieds-
richter bestimmt. Der Kampf beginnt. Je zwei Hexametern des Vor-
sängers setzt der Rivale zwei andere gegenüber. Es sind verschiedene
Dinge, über die gesungen wird, aber stets bilden die zwei Paare in der
Weise eine Einheit, dass auf ein Bild das entsprechende Gegenbild folgt.
Auch Zeitgenössisches berühren die Sänger; Damoetas feiert (88) den Asinius
Pollio, auf diesen Preis PoUios antwortet Menalcas mit einer Schmähung der
Dichterlinge Bavius und Mevius. Mit einem berühmten Rätselpaar schliesst
der Kampf. Einen Wettgesang der gleichen Art enthält die siebente
Ecloge. Derselbe findet unter dem Vorsitz des Daphnis auf einer Wiese
am Mincius zwischen Corydon und Thyrsis statt und wird von Meliboeus
erzählt. Hier streiten die Gegner mit je vier Versen gegeneinander. Auch
in diesem Gedicht wird mit der Erwähnung des Dichters Codrus der Rahmen
des Hirtengedichts überschritten. In einer ganz anderen Form haben wir
den Wettstreit in der achten Ecloge, welche dem Asinius Pollio gewidmet
ist. Während in der dritten und siebenten Ecloge der Sängerkrieg in eine
Anzahl kleiner Kampfesbilder zerfallt, wird hier alles auf einen Wurf
gesetzt. Jeder der beiden Gegner produziert sich nur mit einem Lied.
Der Gesang des Hirten Dämon behandelt das alte Thema über die Untreue
der Geliebten; der Morgen ist angebrochen, an dem die treulose Nisa mit
Mopsus verbunden werden soll. Sein Lied ist durch einen Schaltvers in
neun Strophen geteilt. Es folgt der Hirte Alphesiboeus mit einem Lied,
in dem geschildert wird, wie ein verliebtes Mädchen, unterstützt von einer
Gehilfin, verschiedene Zaubereien vornimmt, um den Daphnis, der sie ver-
lassen, wieder zu sich zurückzuführen. Auch dieser Sang ist durch einen
Schaltvers in Strophen geteilt. Verwandte Komposition zeigt die fünfte
Ecloge. Nur findet hier kein Wettstreit statt, in friedlicher Weise singt
jeder der beiden Hirten sein Lied. Sie bewundern und beschenken sich
gegenseitig. Die beiden Lieder stellen uns in ganz besonders anschaulicher
Weise Bild und Gegenbild dar. Während der Hirte Mopsus den dahin-
geschiedenen Daphnis besingt, feiert Menalcas den zum Olymp erhobenen.
Während daher in dem ersten Lied alles voll Trauer ist, finden wir in
dem zweiten alles in hellen Jubel aufgelöst. Man hat hier ebenfalls eine
Allegorie finden wollen; der in den Olymp eingegangene Daphnis soll der
im J. 42 vergötterte Caesar sein; allein der Dichter hat dafür nirgends
in seinem Gedicht einen Wink gegeben. Auch führt die wörtliche Inter-
pretation keine Schwierigkeiten herbei. Kein Carmen amoebaeum ist das
zweite Hirtenlied. Der Hirte Corydon schwärmt für den schönen Alexis,
Yergils Bncolica. 25
den Liebling seines Herrn. Allein seine Liebe findet keine Erhörung.
An einsamen Orten klagt er daher Bergen und Wäldern sein Leid. Zu-
letzt aber kommt er zu sich und tröstet sich damit, dass, wenn ihn Alexis
verschmähe, er eine andere Liebe finden werde.
332. „Verkleidete'' Hirtengedichte. Die Stücke, die wir bisher
betrachtet haben, waren im Stil Theokrits gedichtet, und es that ihnen
wenig Eintrag, wenn hie und da der Boden des bukolischen Gedichts ver-
lassen wurde. Ganz anderer Art sind die Eclogen, zu denen wir uns jetzt
wenden. Auch diese Gedichte beruhen auf der ländlichen Scenerie; allein
diese ländliche Scenerie mit ihren Hirten ist nur ein Schein, es stecken
entweder andere Personen hinter dem Hirtengewand oder es sind Dinge
in das Hirtenleben übertragen, die mit demselben nichts zu thun haben.
Wir legen zuerst den letzten Fall an dem zehnten Gedicht dar; hier
sehen wir, wie ein Stoff aus der natürlichen Sphäre herausgehoben und
dem Hirtenleben angepasst werden kann. Dem Dichter Cornelius Gallus
ist die Geliebte Lycoris untreu geworden. Der Verlassene wünscht zu
seinem Trost eine Pastorale von Vergil. Der Freund schreibt die zehnte
Ecloge; ausdrücklich kündigt er sie im Eingang (6 u. 7) als ein Hirten-
gedicht an. Wir haben zwei Teile, in dem ersten lässt der Dichter nach
einer vorwurfsvollen Anfrage an die Musen die Hirten mit der gesamten
ländlichen Umgebung um Gallus trauern, auch verschiedene Gottheiten
nahen sich, unter ihnen Pan, der mahnt, des Liebesgrams genug sein zu
lassen. Darauf antwortet Gallus — und dies ist der zweite Teil. Er will
trotzdem, dass seine Liebe von den Hirten besungen werde; ja er wünscht,
er wäre selbst ein Hirte geworden, er malt sich ein idyllisches Dasein
aus und stellt es in Gegensatz zu seinem jetzigen, er fasst sogar den Ent-
schluss, das Leben eines Hirten oder eines Jägers zu führen. — Plötzlich
wird sein Phantasiegemälde unterbrochen durch den rauhen Gedanken,
dass sich die Liebe doch nicht bändigen lasse; denn
Omnia vincU Amor; et nos cedamt*s AmorL
Nehmen wir die erste Ecloge: in derselben unterreden sich zwei Hirten;
der eine, Meliboeus, von seinem Hofe vertrieben und im Begriff, in die
Ferne zu ziehen, stösst auf Tityrus, der sich seines Besitzes in voller
Behaglichkeit erfreut. Auf seine Frage, wie das komme, erzählt ihm
Tityrus, dass er sein Glück einem jugendlichen Gotte in Rom schulde,
der ihn in seinem Eigentum geschützt; er werde ihm steten Dank
bewahren. Der Dichter berichtet hier ein Ereignis aus seinem Leben;
auch ihm, wie so vielen andern, war die Vertreibung von Haus und Hof
durch die Veteranen angedroht worden; da griff Octavian ein und rettete
ihm seine Habe. Auf dem Gegensatz der Stimmungen des Geschützten
und des Verjagten beruht der Reiz des Gedichts. Auf die durch die Acker-
verteilung an die Veteranen entstandenen Wirren bezieht sich weiterhin
die neunte Ecloge. Es begegnen sich zwei Hirten, Lycidas und Moeris.
Der letztere treibt Böckchen zu seinem neuen Herrn in die Stadt; sein
alter Gebieter, Menalcas mit Namen, war verjagt worden. Die beiden
Hirten beklagen dies, wir hören, dass dem Menalcas früher seine Gedichte
26 Bömiflche LitteraturgeBchiohte. n. Die Zeit der Honarchie. 1. Abteilung.
den Besitz des Gutes gerettet hatten, allein dass jetzt auch über ihn das
Verhängnis hereingebrochen, denn im Wafifengeklirr hätten die Gedichte
keinen Wert. In ihrem Schmerz gedenken sie der Lieder, welche Menalcas
gedichtet; sie teilen sich Bruchstücke derselben, soweit sie solche im Ge-
dächtnis haben, mit; darunter ist eines, in dem der Dichter dem Varus
hohen Ruhm durch sein Lied in Aussicht stellt, falls nur Mantua erhalten
bleibe, Mantua, das leider so nahe bei Cremona liegt. Durch den letzten
Zusatz wird die Anspielung auf die Ackerverteilung völlig sicher gestellt.
Menalcas ist Vergil. Er, den anfangs Octavians Gunst bewahrt, war jetzt
unter Gefahr seines Lebens von den Veteranen vertrieben worden. Er richtet
aber seine Hoffnung auf den neuen Legaten Varus und will dessen Hilfe
durch ein Lobgedicht sich erringen. An die neunte Ecloge schliesst sich
allem Anschein nach die sechste an. In der neunten Ecloge war dem
Varus ein Panegyricus versprochen worden; in der sechsten erklärt Vergil,
er habe ein Epos über „Könige und Schlachten^ zu schreiben beabsichtigt,
allein Apollo habe ihn abgemahnt, er wolle daher, zumal da sich sicherlich
Leute finden, welche das Lob des Varus singen werden, sich wieder an
die Hirtenpfeife halten, übrigens werde ja auch durch Erwähnung in diesem
Hirtenlied Varus verherrlicht. Wir sehen, an Stelle des versprochenen
Panegyricus tritt die Widmung unserer Ecloge. Auf diese Einleitung folgt
das eigentliche bukolische Lied. Es ist dem Silen in den Mund gelegt,
wird aber nicht direkt vorgetragen, sondern erzählt. Silen fing an, so
lautet der Bericht, mit der Entstehung der Welt und ging dann zu den
verschiedensten Mythen über. In der Mitte wird plötzlich des Dichters
Gallus gedacht. Er wird in den Musenchor eingeführt, alles erhebt sich
bei seinem Eintritt, der Sänger Linus reicht ihm die Syrinx, welche
einst Hesiod gespielt, und mahnt ihn, die Geschichte des gryneischen
Orakelhaines zu besingen. Drei Dinge helfen uns, die Komposition des
Gedichts zu ergründen, einmal dass Gallus Nachahmer und Übersetzer
Euphorions war, dann dass Euphorien einen Hesiod geschrieben, endlich
dass wirklich Gallus die Geschichte des gryneischen Orakels aus Euphorien
übersetzt hat. Wenn wir dazu nehmen, dass die Einführung des „umher-
schweifenden'' Gallus in den Musenchor nur die Bedeutung haben kann,
dass Gallus statt der Liebeselegien jetzt ein gelehrtes Epyllion schrieb,
so werden wir die längst ausgesprochene Vermutung^) billigen müssen,
dass es eben der Hesiod des Euphorien war, den Gallus übersetzt hatte
und dass er mit einem zweiten Werk desselben Euphorien beschäftigt war,
in dem die Geschichte des gryneischen Orakels vorkam. Wir werden
noch weiter gehen dürfen, wahrscheinlich stand auch der grösste Teil
der von Silen mitgeteilten Mythen im Hesiod und wahrscheinlich ist aus
den letzten Versen zu schliessen, dass dieselben dem Phöbus in den
Mund gelegt waren.*) Völlig tritt aus dem Rahmen der ländlichen Ge-
dichte die vierte Ecloge heraus. Gleich im Eingang stellt der Dichter
sie als ein Lied höheren Schwungs hin. Sie ist an den Konsul Asinius
PoUio gerichtet und verkündet die Ankunft eines neuen goldenen Zeit-
*) Vgl. unten bei GaUus.
«) Ribbeck, Rom. Dicht. 2, 28.
Vergila BncoUca. 27
alters; es sei die letzte Periode des Weltjahrs erschienen; nach deren
Ablauf wiederhole sich dasselbe, es komme daher wiederum die goldene
Epoche des Menschengeschlechts. Diese neue Ordnung der Dinge bringt
der Dichter mit der Geburt eines Knaben in Verbindung und zwar in
der Weise, dass, je weiter derselbe in den Jahren fortschreitet, desto
reiner sich das goldene Zeitalter entwickelt. Wer ist dieser Knabe? Aus
V. 17 muss man auf einen Sohn des Asinius PoUio schliessen. Diese An-
schauung war auch im Altertum verbreitet. Wir haben dafür ein Zeugnis
des Asconius, der uns berichtet, er habe von Asinius Gallus, dem Sohne
des Asinius Pollio, gehört, dass er (Gallus) in dieser Ecloge verherrlicht
worden sei.') Wenn wir die spätere Beamtenlaufbahn des Gallus be-
trachten, so würde in der That seine Geburt in das Konsulatsjahr des
Asinius Pollio fallen.') Man hat daran Anstoss genommen, dass diesem
Gallus eine so überschwenglich ruhmvolle Laufbahn vorausgesagt wird
wie (17)
pacatumque reget patriis virttätbus orhem.
Allein diese Übertreibung darf nicht so stark urgiert werden, sie ist wahr-
scheinlich veranlasst worden durch einen sibyllinischen Spruch, in dem
in ebenso überschwenglicher Weise ein Knabe als künftiger Herrscher
eines glücklichen Geschlechts gefeiert wurde. Es bleibt noch die Frage
übrig, warum gerade mit Pollios Konsulat die Anzeichen einer neuen
Ordnung der Dinge in Verbindung gebracht werden. In demselben Jahr, in
dem Pollio das Konsulat bekleidet (40), war der brundisinische Frieden und
zwar unter Mitwirkung Pollios geschlossen worden. Freilich waren noch
nicht alle Streitpunkte beseitigt (v. 14), allein man hatte jetzt Hoffnung
auf eine Ära des Friedens. Was Wunder, wenn die Geburt eines Sohnes
im Hause Pollios den Dichter veranlasste, seinem Wohlthäter ein be-
geistertes Denkmal zu setzen!^)
223. Zeit der Abfassung der Bncolica. Als festen Punkt haben
wir das Zeugnis des gewissenhaften Asconius, das uns im Kommentar des
Probus überliefert wird, zu betrachten; nach demselben gab Vergil im
28. Lebensjahr bukolische Gedichte heraus. Dieses Lebensjahr hatte der
Dichter im Oktober 42 zurückgelegt. Ein zweites Zeugnis, das uns in
der Vergilvita Donats erhalten ist, berichtet, dass die bukolischen Gedichte
in drei Jahren zum Abschluss kamen. Kombinieren wir beide Zeugnisse
miteinander, so gewinnen wir für das Triennium das Intervallum vom
Oktober 42 bis Oktober 39. In diese Zeit müssen sonach die Eclogen
fallen. Die nächste Aufgabe wäre nun, die Abfassungszeit der einzelnen
Eclogen, soweit dies möglich ist, genauer festzustellen. Die vierte
Ecloge ist an Asinius Pollio als Konsul gerichtet; da wir das Konsulats-
jahr desselben kennen, so ergibt sich mit völliger Sicherheit ihre Ab-
fassungszeit, es ist das Jahr 40. An denselben Asinius Pollio wendet sich
*) ServiuB 2, 121 L. Asconitis Pedianus
a Gallo audisse se refert hanc eclogam in
honorem eins factam. Noch ist als eine
Schwierigkeit zu bemerken, dass nach Ser*
vius manche zwischen Asinius Saloninus und
Asinius Gallus schwanken.
^) Feilghenfeld p. 32.
') Im wesentlichen auch so Sellar p. 147
(anders Hermes, Vergilii Bucolica p. 29).
28 Bömische Litteratargeachichte. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
die achte Ecloge, als er aus seinem dalmatinischen Feldzug zurückkehrte;
da dies im Jahr 39 der Fall war, so muss das Gedicht in diesem Jahr ge-
schrieben sein. Nach der Angabe des Dichters ist die zehnte Ecloge die
letzte; da die neunte schon in das Jahr 39 fallt, so darf sie nicht vor
dieses Jahr fallen, sie kann aber auch nicht später als Oktober 39 ver-
fasst sein, da sonst das Triennium überschritten würde. Für die Chrono-,
logie der ersten, neunten und sechsten Ecloge bildet die Acker-
verteilung an die Veteranen die Grundlage. Diese Gedichte müssen in
der angegebenen Reihenfolge entstanden sein; denn in der ersten Ecloge
war der Dichter durch Octavianus' Gunst vor der Vertreibung geschützt
worden, in der neunten hatte er nach dem Abgang des Asinius PoUio
sein Gut verloren, und rechnet jetzt auf den neuen Legaten Varus, dem
er für seine Huld ein Lobgedicht in Aussicht stellt. In der sechsten
Ecloge entschuldigt sich der Dichter, dass er statt des Lobgedichts ein
bukolisches Lied gebe, in dem jedoch Varus erwähnt worden sei. Die
Bedrohungen des Gebietes von Mantua durch die Veteranen gehören dem
J. 41 an; in dieses und vielleicht noch zum Teil in das folgende Jahr
müssen daher die drei Eclogen fallen. Bezüglich der übrigen Gedichte
fehlen uns chronologische Indicien. Fest steht aber, dass das fünfte
später ist als das zweite und dritte, da auf dieselben verwiesen wird
(5,86), ferner dass das fünfte vor dem neunten liegt, da in diesem
V. 19 der v. 40 der fünften Ecloge verwertet wird. Es sind also diese
drei Eclogen die frühesten von allen. Ihnen wird die siebente anzu-
reihen sein.
ProbuB p. 1 K. 8crip8it Bucolica annos natus VIII et XX TheoctHtum secutus. p. 7, 7
Asconitis Pedianus dicit (eum) XXVIII annos natum Bucolica ediäisse. Donati Vita p. 60 R.
hiicoJica triennio perfecit.
Die Hypothese Schaper 8. Eine eigentümliche Ansicht bezüglich der £cIogen
stellt ScHAPER in seiner Abhandlung ^Über die Entstehungszeit der Vergilischen Eclogen,
Fleckeis. Jahrb. 89, 633— 657, p. 769-794* auf. Nach ihm schrieb Vergilius die sieben
rein bukolischen Gedichte 1. 2. 3. 5. 7. 8. 9 in den Jahren von 42 bis etwa 88. Nach der
Vollendung der Georgica und nach der ersten nicht sogleich glücklichen Arbeit am Epos
kehrte er noch einmal zu der bukolischen Dichtung zurück und veranstaltete eine neue
Ausgabe seiner Idyllen unter dem Namen eclogae, in welcher er die Zahl derselben durch
die drei letzten (4. 6. 10) vermehrte. Er begann diese Arbeit auf Anraten des Asinius
Pollio und vollendete sie in den drei Jahren 27 — 25* (p. 794). Diese Ansicht ist in beiden
Teilen unhaltbar; weder ist eine zweite Ausgabe der Eclogae zu begründen, noch die späte
Entstehungszeit der drei Eclogen (4. 6. 10) wahrscheinlich zu machen; wer die sonderbaren
Erklärungen wie z. B. die 10. Ecloge beziehe sich auf den verstorbenen Dichter Gallus
oder kritische Operationen wie die Ersetzung von Pollio (4, 12) durch orbis (p. 794) be-
trachtet, wird eine breite Widerlegung der Hypothese nicht für notwendig erachten.
Litteratur: Eine kurze Geschichte der Arbeiten über die Zeitfolge der Eclogen
gibt Feilchenfeld, De V. BucoUcon temporibuSy Leipz. 1886 p. 5 — 8. Von den neueren
Gelehrten behandeln die Frage noch Kbause, Quibus temporihua quove ordine V. eelogas
scripserity Berl. 1884 und Przyoodb, De eclogarum VergiUanarum temporibuSf Berl. 1885
(eine mit guter Methode geschriebene Dissertation).
224. Würdigung der Bncolica. Es wird uns berichtet, dass Vergil
zuerst mit einem epischen Versuch in das Reich der Poesie eintreten
wollte; da lenkte Asinius Pollio die Blicke des jungen Dichters auf Theo-
crit und führte ihn dadurch auf eine ganz andere Bahn, zur idyllischen
Poesie. Als „kleines Gedicht** stellt das Idyll geringere Anforderungen
an die Kräfte des Anfängers als ein Epos; dann mochte auch Vergils
Vergils Bncolica. 29
Liebe zur Natur und sein für das Stilleben schwärmender Sinn ihn für die
Hirtenpoesie empfänglicher gemacht haben. Mit treuem Fleiss versenkte
er sich in die reizenden Gebilde des sicilischen Sängers; Wortschatz,
Komposition, Gedankenwelt war ihm geistiges Eigentum geworden. Aber
zugleich regte sich in ihm der Drang der Nachahmung; hier stand ihm
als leichtester Weg die freie Übertragung der einzelnen Stücke offen, und
auf Übungen dieser Art lassen Bruchstücke, die im 9. Gedicht mitgeteilt
werden, schliessen. Allein in der vorliegenden Sammlung steht Vergil
auf einer höheren Stufe; er ist nicht mehr Übersetzer, sondern Bildner
eines gegebenen Stoffs ; er führt neue Gebäude auf, aber die Steine hiezu,
den Plan, die Einrichtung entlehnt er dem griechischen Original, das eine
aus diesem Gedicht, das andere aus jenem nehmend. So ist das stark
hervortretende Prinzip seiner Komposition die Kontamination. Und es
ist interessant zu sehen, wie der römische Nachahmer mit dem fremden
Gut wirtschaftet. Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen. Theocrit
hatte den liebeskranken Daphnis von der ganzen landschaftlichen Umgebung
betrauern lassen (1); Vergil überträgt diese Klagen auf den Dichter Gallus^
dem die unglüclcliche Liebe zur Lycoris Leid gebracht hatte (10). Bei
Theocrit jammert der Cyklope Polyphem, weil die Galatea seine Liebe
nicht erwidert (11); Vergil verwendet die hier dargebotenen Farben, um
die nicht erhörte Liebe Corydons zu Alexis auszumalen (2). Theocrit hatte
in der 2. Idylle eine Scene geschildert, in der Simaetha den untreuen Ge-
liebten durch einen Zaüberspuk in einer Mondnacht zu sich zurückführen
will; Vergil lässt diese Scene in einen Wettgesang zweier Hirten oin-
fliessen (8). In der 6. Idylle Theocrits liegt ein Kampf vor und zwar
in der Form, dass dem einen Lied des Vormann» ein Lied des Rivalen
folgt; in der 7. Ecloge entnimmt Vergil die Einleitung diesem Gedicht,
lässt aber die andere Form des Wechselgesangs folgen, in der die Gegner
Strophe um Strophe einander entgegenstellen.
Den Anfangspunkt der nachahmenden Thätigkeit Vergils bilden die
ländlichen Gedichte Theocrits; aber noch barg der griechische Dichter in
sich einen Keim, der zur reicheren Entfaltung aufgeschlossen werden
konnte. Theocrit lässt nämlich einigemal verkleidete Personen in seinen
Idyllen auftreten, so nennt er sich in dem 7. Simichidas, den zeitgenössi-
schen Dichter Alexander den Ätoler verhüllt er dort wohl unter dem
Hirtennamen Tityrus. Diese Verkleidung zog den grübelnden römischen
Dichter ungemein an; er schuf sich das allegorische Idyll, in dem er
seine persönlichen Verhältnisse, seine Bedrängnisse durch die Ackerver-
teilungen, den Preis auf seine Gönner und Freunde Asinius PoUio, Octa-
vian, Varus und Gallus in die bukolische Sphäre hineinzog.
Dies sind die wesentlichen Elemente in der Komposition der Vergili-
schen Bucolica. Ein Vergleich des Theocrit und Vergil kann nur zu Un-
gunsten des Nachbildners ausfallen. Theocrits Dichtung hat, wenn sie auch
durchweg Kunstdichtung ist, doch ihre natürliche Grundlage in den Liedern
der sicilischen Hirten; in der lombardischen Tiefebene, der Heimat Vergils,
ist für die Entfaltung eines charakteristischen Hirtenlebens und Hirten-
treibens kein rechter Boden; es müssen daher, wenn der Römer das Drama
30 Itömiflche Liüeratnrgeschichte. C Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
der griechischen Vorlage an den Mincio verlegt, Inkongruenzen sich heraus-
stellen. Die Vergilische bukolische Poesie ist durch und durch Treibhaus-
pflanze, sie entbehrt der natürlichen Frische und der dramatischen Lebendig-
keit, die wir so sehr an Theocrit bewundern, sie verleugnet nicht den
Charakter des Gemachten und den Mangel an Originalität, denn das vierte
Gedieht ausgenommen, das sich ganz von dem bukolischen Genre entfernt,
gewahren wir überall die Vorbilder und die peinliche, wenn auch saubere
Arbeit des Nachtreters. Das Hereinziehen fremdartiger Verhältnisse in
die Hirtenwelt erzeugt ein Zwielicht, das unseren Augen wehe thut. Wenn
wir daher von einer überfeinerten Kultur gedrückt uns nach dem einfachen
Naturleben zurücksehnen, so greifen wir nicht zu den krankhaften Ge-
bilden Vergils, sondern wir flüchten uns zu den anmutigen Schöpfungen
Theocrits; und in ihrer Lektüre finden wir Ruhe und Frieden.
»
ß) Die Georgica.
225. Skizze der Georgica. Auf Anregung des Maecenas schrieb
Vergil sein ländliches Gedicht, die Georgica; ihm hat der Dichter seine
Schöpfung auch zugeeignet. Der Inhalt wird im Eingang angekündigt:
Quid faciat laetas segetes, quo nidere terram
Vertere, Maecenas, ulmtsque adiungere pitia
Conveniat, quae cura houm, qui cultua habendo
Sit pecori, apihus quanta experientia parcis,
Hinc canere incipiam.
Derselbe ist ein vierfacher und diesem vierfachen Inhalt entsprechen die
vier Bücher der Georgica. Das erste Buch handelt über den Ackerbau,
das zweite über die Baumkultur, das dritte über die Viehzucht, endlich
das vierte über die Bienenpflege. Auch den Gartenbau hätte Vergil noch
geschildert, allein bei der Lehre von den Bienen angekommen, wollte
er dieses sich an die Bienenzucht anschliessende Thema nicht mehr durch-
führen, sondern dasselbe andern überlassen (4, 148). Wenn wir vorläufig
von dem poetischen Schmuck, den Einleitungen und den Exkursen absehen,
tritt uns folgende Gliederung des Stoffs entgegen: Der erste Gesang be-
ginnt mit der Pflege des Feldes und zwar sowohl vor als nach der Saat;
dann geht er zu den Dingen über, welche der Landmann ausserdem ins
Auge zu fassen hat, zu den Ackergeräten, der Tenne, den Kriterien der
Fruchtbarkeit, der Behandlung des Samens; es folgt der Bauernkalender,
der eine Anweisung für die Zeit der verschiedenen ländlichen Beschäfti-
gungen enthält, und diesem das Wetterbuch. Im zweiten Gesang erörtert
Vergil die Entstehung der Bäume und Gesträucher auf natürlichem und
auf künstlichem Weg, den Anbau derselben, ihre Verschiedenheit und
wendet sich hierauf zu der speziellen Kultur des Weinstocks; zum Schluss
berührt er kurz die Gewächse, welche keine intensive Kultur erheischen,
z. B. Oliven, Obstbäume. Die Viehzucht behandelt das dritte Buch in der
Weise, dass es zuerst auf die Pferde und die Rinder eingeht, dann die
Schaf- und Ziegenzucht darlegt, dort die Fortpflanzung, hier die Weide,
Wolle und Milch, die Gefahren, die Seuchen ins Auge fassend. Das an-
mutigste Buch ist das den Bienen gewidmete vierte; wir folgen gern dem
Vergils Georglca. 31
Dichter, wenn er uns über die Wohnung, das Schwärmen, den Haushalt,
die Zeidelung, die Krankheiten und endlich über die künstliche Erzeugung
der Bienen in anschaulicher Weise belehrt.
ServiuB 1, 2 Th. proposuit Maecenas Georgien. Der Gartenbau, den Vergil weg-
gelassen, fand bald von .einer anderen Persönlicbkeit aus dem Kreise des Maecenas eine
litterarische Bearbeitung, nämlich von SabinusTiro. Plin. n. h. 19, 177 fei-ro quoque non
expedire tangi rutam, cunilam, mentam, ocimum auctor est Sabinua Tiro in libro cepuricon
quem Maeeenati dicavit
226. AbfaSBungBzeit der Georgica. Am Schluss der Georgica stellt
sich der Dibhter selbst dem Leser vor und belehrt ihn über die äusseren
Umstände seiner Dichtung, über Zeit und Ort. Er erzählt, dass, als er
mit den Georgica beschäftigt war, Octavian im fernen Osten weilte und
„am Euphrat donnerte** 0 (4> 561).«) Sonach ist klar, dass die Georgica voll-
endet waren, ehe Octavian von seinem Kriegszug aus dem Ostön zurück-
kehrte. Dieae Rückkehr fand aber im Sommer des J. 29 v. Ch. statt.^)
Und über das J. 29 hinaus führen keine Spuren des Gedichts. Dass wirk-
lich das Gedicht damals fertig war, dafür ist der sprechendste Beweis,
dass Vergil dasselbe dem Octavian nach dessen Heimkehr vorlas. Aller
Wahrscheinlichkeit nach war das Werk nicht lange vorher zur Vollendung
gekommen. Wäre es geraume Zeit vor der Vorlesung abgeschlossen ge-
wesen, so würde es vermutlich auch an das Licht der Öffentlichkeit ge-
treten sein. Wir werden daher höchstens bis in das Jahr 30 zurück-
greifen dürfen. Wie bei den Bucolica, so arbeitete Vergil auch an diesem
Gedicht verhältnismässig lange Z'eit. Derselbe, anscheinend auf Asconius
zurückgehende Bericht, der uns belehrte, wie viel Jahre der Dichter auf
die Eclogen verwendete, unterrichtet uns auch über das Intervall, durch
welches Anfang und Ende der Georgica voneinander getrennt waren. Das-
selbe umfasste sieben Jahre. Der Dichter begann also mit seiner Schöpfung
im J. 36 oder 37. Da die Bucolica nicht über das J. 39 hinaus erstreckt
werden können, so würde zwischen den Bucolica und den Georgica ein
Zeitraum von einigen Jahren liegen, welche den Vorbereitungen für die
neue Dichtung zugewiesen werden können. Die Anspielungen auf Zeit-
ereignisse des Dichters reichen von 36 oder 37 bis 29. Auf Grund der-
selben die Abfassungszeit der einzelnen Bücher zu bestimmen, ist un-
fruchtbar, da die siebenjährige Arbeit an dem Gedicht durch Nachträge
die Zeitgrenzen verschob.
Donats Vita p. 60 R. georgica VIT perfecit annis. Serv. Vita p. 2, 9 Th. georgica,
quae scripsit etnendavitque Septem annis. Donat 1. c. p. 61 georgica reverso post Actiacam victo-
riam Augusto atque AteUae reficiendarum faucium causa commoranti per eontinuum quatri'
duum legit, suscipiente Maecenate legendi picem quotiens interpeUaretur ipse vocis offensione.
Über die Abfassungszeit der Georgica ist die grundlegende Abhandlung Ribbecks,
De georgicon temportbus in den Proleg. p. 13 vor allem zu berücksichtigen. Ausserdem
untersuchen die Chronologie der Georgica Boroius, De temporihus quibus VergUi Georgica
scripta et perfecta sint, Halle 1875; derselbe setzt nach den Zeitanspielungen die Abfassung
in die Jahre 32 — 29, nimmt aber wegen des Zeugnisses des Asconius für die Emendation
noch die Jahre 29 — 26 in Anspruch. Eine scharfe Trennung der compositio und emendatio
') August 30 zog Octavian von Ägypten
nach Asien und brachte noch in diesem Jahr
die Provinz zur Ruhe.
^) Man hat diese Verse fOr einen frem-
den Zusatz erklären wollen, allein dies geht
ebensowenig als wenn man das Schluasge-
dicht der Amores bei Ovid (3, 15) oder das
Gedicht bei Properz (1, 22) tilgen wollte.
«) Dio 51,21.
32 Römische LitteratargeBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
ist unmöglich. Unrichtig bestimmt Schafeb (De Geoi-gicUt a V. eniendatiSf Beri. 1873) die
7 Jahre, indem er noch die zwischen einer ersten und zweiten Ausgabe liegende Zeit hinzu-
rechnet; er setzt für die Abfassung die Jahre 31 — 29 fest, und lässt die zweite Ausgabe
im J. 25 erscheinen. Van Wagbntngbn, De Vergili Georgicis, Utrecht 1888 p. 24 gibt als
das Resultat seiner Untersuchung, Vergil habe sich in den Jahren 33 und 32 auf das Werk
vorbereitet, 31 — 28 dasselbe geschrieben, endlich 27 dasselbe verbessert und den Schluss
neu gestaltet. Zuletzt ist die Abfassungszeit der Georgica mit gutem Urteil untersucht von
PuLVEBMACHEB {De Georgtcis a Vergilio retractatis, Berl. 1890 p. 7 — 30).
Zeitanspielungen enthalten folgende Stellen: 1,24 1,509 2,161 2,171 (erst zur Zeit
der Beendigung des Werks hinzugefügt, vgl. Pulvebiiacheb p. 118) 2, 495 3,26 (erst später
von der Hand des Dichters hinzugefügt, vgl. Pulvebmacheb p. 118) 4, 560.
227. Die Ausgaben der Georgica. Vergil gab die Georgica selbst
heraus; es wird dies bald nach der Vorlesung derselben vor Octavian ge-
schehen sein. Allein gewisse Spuren führen darauf, dass von dem Dichter
eine zweite Ausgabe veranstaltet wurde. Es wird uns nämlich berichtet,
dass das letzte Buch in der Schlusspartie einen Panegyricus auf den
Dichter Cornelius Gallus enthalten habe; da aber dieser Cornelius Gallus
sich infolge der Ungnade Octavians im J. 27 den Tod gegeben, soll der
Herrscher den Wunsch ausgesprochen haben, dass jene Partie geändert
werde. Daraufhin habe der Dichter das Lob des Gallus durch die mytho-
logische Erzählung vom Aristaeus oder, wie eine andere Quelle bezeugt,
vom Orpheus ersetzt. Man hat die Glaubwürdigkeit des ganzen Berichts
bestritten.') Die Entscheidung wird von dem Nachweis abhängen, ob etwa
noch Störungen auf eine ursprünglich anders geartete Fassung hindeuten;
denn für das litterarische Schaffen gilt , der Satz, dass derselbe Moment
der Konzeption niemals völlig wiederkehrt. Wir legen daher den Zu-
sammenhang dar. Der Schriftsteller hatte von den Krankheiten der Bienen
gesprochen. Im Anschluss daran behandelt er auch den Fall, dass alles
Bienenvolk umkommt, und schlägt als Rettungsmittel die künstliche Er-
zeugung der Bienen vor, eine Erfindung des Aristaeus, welche besonders
in Ägypten grossen Nutzen stifte. Das Verfahren wird in kurzem mit-
geteilt. Es folgt der M3rthus von Aristaeus. Dieser hatte durch Krank-
heiten und Hunger seine Bienen verloren; in seinem Schmerz wendet er
sich an seine Mutter, die Nymphe Cyrene, und macht ihr Vorwürfe. Cyrene
weist den bekümmerten Sohn an den Meergott Proteus, der aber nur gefesselt
seine Weisheit kundgibt. Aristaeus begibt sich zu Proteus; man sollte nun
meinen, der Meergott hätte dem Aristaeus mitgeteilt, was er zu thun
habe, um wieder Bienen zu erhalten; wir erwarten dies um so mehr, als
Aristaeus ausdrücklich Errettung aus seiner Not als Zweck seines Kommens
angibt (4,449):
venimus, hinc lapais quaesitum oracula rebus.
Allein Proteus enthüllt nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit; er
deckt die Ursache des Unglücks auf, aber spendet keine Batschläge; er
offenbart, dass die Verwünschungen des Sängers Orpheus auf Aristaeus
lasten, weil er der Gattin des Orpheus nachgestellt und diese auf der
Flucht durch den Biss einer Schlange den Tod gefunden habe. Merk-
würdigerweise erzählt dann Proteus die Trauer des Orpheus und seine
*) Zuletzt iat dies von Pulverhaohbr in der erwähnten Abhandlung De Georgicis
ß Vergilio retractatis, Berl. 1890 geschehn.
Vergils Georgica. 33
Fahrt in die Unterwelt. Erst Cyrene sagt dem Sohn, was er zu thun
habe, um wieder in den Besitz von Bienen zu gelangen. Hier liegt ein
offenkundiger Mangel der Komposition vor. Die Schilderung der Orpheus-
sage passt nicht hieher, in dem Munde des nur durch Zwang zum Wahr-
sagen zu bestimmenden Proteus erregt sie noch mehr Befremden. Auch
muss, wie bei Ovid (Fasti 1, 363), Proteus den Weg der künstlichen Bienen-
erzeugung mitgeteilt haben. Hier hat also ursprünglich etwas anders
gestanden; es wäre thöricht, nach dieser Erkenntnis nicht die erhaltene
Überlieferung einer zweiten Ausgabe zu verwerten. Das später gestrichene
Lob des Dichters Gallus wird ehedem an dieser Stelle seinen Platz ge-
habt haben; denn dessen Erwähnung war ja dadurch motiviert, dass die
Erfindung des Aristaeus angeblich besonders in Ägypten Segen stiftete
und Gallus Statthalter dieses Landes war. Nach der Streichung des Pane-
gyricus kam die Orpheusepisode hinzu; weiterhin wurden die Ratschläge
der Mutter zugeteilt.
Noch eine zweite Störung bemerken wir; v. 285 kündigt der Dichter an, er wolle
den Aristaeusmythus von seinem Ursprang an verfolgen; an diese Ankündigimg reiht sich
mittels der Partikel „nam'' die Bemerkung von der Anwendung der Erfindung in Ägypten
an. Vermutlich war bereits hier des Cornelius Gallus gedacht. Die ganze Erzählung von
Aristaeus erst der späteren Ausgabe zuzuweisen, ist unthunlich; denn nur die künstliche
Erzeugung der Bienen in Ägypten bot Vergil einen Anlass, die Rede auf Gallus zu lenken ;
jene Kunst konnte aber nicht leicht ohne die Aristaeussage berührt werden. Sonach werden
wir die Berichte von einer zweiten Ausgabe der Georgica in ihrem Kern für wahr halten
müssen. Auch andere, selbst abenteuerliche Erzählungen werden unter dieser Annahme
verständlich, wie z. B. die des Gellius 6 (7) 20, von der späteren Ersetzung des Wortes
Nola durch ora (2,225). Fortgepflanzt wurde die zweite Ausgabe.
Zeugnisse für die beiden Rezensionen: Servius Ecl. 10,1 fuit autem (GaUus)
amicus Vergilii, adeo ut quartus Georgicorum a medio uaque ad finem eius laudes teneretf
quas postea ivi>ente Augusto in Aristaei fahäatn commutamt. Georg. 4, 1 sane sciendum,
ut supra diximu8, ultimam partem huius Hbri esse mutatam, Nam laudes Galli hahuit
locus Ute, qui nunc Orphei^) continet fabulam, quae inserta est, postquam irato Augusto
GaUus occisus est.
Das Verhältnis der beiden Ausgaben in der Schlusspartie sucht Van
Wageninoen durch Konjektur also näher zu bestinunen (p. 108): in prior e recensione post
V. 286 continuabantur v. 317 sqq. usque ad v. 459, sed reliqua oratio Protei alia erat;
deerant autem v. 460 — 531 de Orpheo, quod etiam apparet e v. 530 „At non Cyrene**
eet., quam deam in nova recensione alio modo in scenam reducere poeta non potuisse videtur,
Post versum 459 pro Orphei fabula sequebantur olim, opinor, v. 532 — 547, qui postea
matri tributi sunt, quibus subiungebantur illa de Aeggpto dicta (v. 287 — 294), sed am^
pliora, ut etiam cum iis Galli, Aegypto praefecti, laudes coniungerentur, et ipsa
apium recreandarum inventio (v. 295 — 314). Andere Spuren einer doppelten Rezension
will RiBBEOK, Proleg. p. 32 nachweisen.
Aus dem Auftrag Vergils (Donat. p. 64 R.) eidem Vario ac simul Tueeae scripta sua
ȟb ea condicione legavit, ne quid ederent quod non a se editum esset zu schliessen, dass
die zweite Ausgabe nach seinem Tod erschienen ist (Ribbeck, Proleg. p. 29), erachte ich
für bedenklich; ich glaube, dass lediglich die Herausgabe der noch m'cht erschienenen
Aeneis durch diese Worte untersagt wird. Die anderen Werke waren bereits heraus-
gegeben. Dieser Gegensatz tritt auch hervor in den Worten des Servius (p. 2, 9 Th.)
Georgica — scripsit emendavitque Septem annis, — Aeneidem — scripsit annis undecim,
sed nee emendamt nee edidit,
228. Quellen der Georgica. Bei der Frage nach den Quellen der
Georgica müssen wir genau scheiden zwischen dem landwirtschaftlichen
Stoff und zwischen dem Rüstzeug der poetischen Rede.^) In letzterer Be-
') Die Lesart ist allerdings schwankend,
RiBBEOK (p. 22) gibt an: Orphei Vatic. 8317,
Aristei et Orfei Paris. 7959, Aristaei
Orphei Yossianus und Barberinus. Aristaei
et ist ersichtlich spätere Interpolation.
«) Vgl. Van Waoeningen p. 108.
Handbach der klaas. Altertumawlsseiucbaft. "SUL 2. Teil.
34 Römische LitteratorgeBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Ziehung konnten verschiedene Dichter Vergil von Nutzen sein; wir finden
in den Georgica Nachwirkungen der homerischen Gesänge, der Fundgrube
aller Poesie, wir finden Spuren der Lektüre Hesiods, wir finden endlich
auch Anklänge an die alexandrinischen Dichter, an Apollonius Rhodius,
an Theocrit, Bion, Parthenius und Gallimachus. Den landwirtschaftlichen
Stoflf konnte Vergil aus eigener Erfahrung und aus Büchern schöpfen. Auf
die erste Quelle der Erkenntnis beruft er sich an mehreren Stellen seines
Gedichts, wie 1, 193 1,318 4, 125. Dass er aber auch den Unterricht durch
Bücher nicht verschmähte, heben alte Zeugnisse mehrfach hervor. Die
landwirtschaftliche Litteratur der Römer war verhältnismässig gut bestellt,
das übersetzte Werk des Karthagers Mago, die Schriften des alten Cato
und Varros konnten hinreichende Belehrung über das landwirtschaftliche
Detail gewähren. Besonders des letzteren zur Zeit des Beginns der Georgica
erschienene Buch über die Landwirtschaft war sicher in den Händen Vergils;
im dritten Gesang zeigen sich in der That die starken Einwirkungen jenes
Werks. Am meisten aber scheint sich der Dichter an Hygin angeschlossen
zu haben, den Golumella geradezu Yergils Lehrmeister für die Georgica
nennt. Die Schriften dieses Grammatikers (über Landwirtschaft und über die
Bienen) boten dem Dichter auch Sagenhaftes und Mythologisches dar. Bei
dieser Reichhaltigkeit der Hilfsmittel brauchte Vergil nicht nach griechi-
schen Fachschriftsteilem zu greifen ; die von Servius behauptete Abhängig-
keit von Xenophons Oeconomicus bestätigt sich bei näherem Zusehen nicht;
auch ein Studium des Theophrast und des Aristoteles ist nicht anzunehmen. ^)
Anders dagegen steht es mit den griechischen Lehrgedichten über die
Landwirtschaft; solche mussten, da Vergil in der römischen Litteratur
kein Muster hatte, studiert werden. Ein sachkundiger Zeuge, Quintilian,
teilt uns mit, dass der landwirtschaftliche Dichter Nicander für Vergil
Vorbild war. Dieser hatte nicht bloss Ackerbau, Viehzucht und Baum-
kultur behandelt, sondern auch in einer eigenen Schrift,') den MeXur-
aovQY^xaj das Bienenwesen. Der Titel „Georgica* stammt wahrscheinlich
von Nicanders Gedicht her. Leider sind wir bei dem Verlust desselben
nicht im stände, den Grad der Abhängigkeit Vergils von seinem Meister
zu ermitteln. Auch das Lehrgedicht des Menekrates aus Ephesos mit dem
Titel Mgycc wurde vielleicht benutzt.^) Dagegen ist eine tiefer gehende
stoffliche Einwirkung von Hesiods ^'Eqya xal '^HfisQat trotz eines entgegen-
stehenden ^Zeugnisses nicht zuzugeben. Ausser den eigentlichen land-
wirtschaftlichen Dichtern hat Vergil auch die astronomischen zu Rat ge-
zogen. In den Lehren über die Anzeichen des Wetters folgt er sowohl
in der ganzen Anordnung als im einzelnen dem astronomischen Gedicht
Arats ; wie dieser schildert er zuerst die Vorboten des stürmischen Wetters,
dann die des heiteren; wie jener erörtert er zuerst die am Monde, dann
die an der Sonne sichtbaren Wetterphänomene; nur dadurch unterscheiden
') Auch die Angabe des Plinius n. h.
18, 321 Verffilius etiam in numeros lunae
digerenda quaedam putavit Democriti secutus
ostentationem imiss eine irrige sein, da weder
eine Beziehung auf 1, 336 noch auf 1, 276,
wie angenommen wurde, vorliegt. Vgl.
Morsch p. 87.
') Schneider in seiner Ausg. p. 122.
') Über dieses Gedicht vgl. Morsch p. 41.
VergÜB Georgica. 35
sie sich, dass der griechische Dichter mit den Wetterzeichen des Mondes
und der Sonne beginnt, der römische mit denselben schliesst. Bei der
Übertragung ging es nicht ohne einige sachliche Flüchtigkeiten ab, allein
in der Anmut der Sprache und in dem Gebrauch lieblicher Bilder übertrifft
die Kopie weit das Original. Auch die Stelle über die Zonen (1,233) ist
griechisches Out; dasselbe entstammt dem Hermes des Eratosthenes.
Aus dem Dargelegten ersehen wir, dass Vergil nicht eine Quelle
seinen Gedichten zu Grund legte, sondern mehrere ; der aus verschiedenen
Autoren geschöpfte Stoff erhielt seinen einheitlichen Charakter durch den
Geist und die Kunst des Dichters.
Die poetische Einwirkung der verschiedenen Dichter bezeugt Gellius
(9, 9, 3) Seite et considerate Verffiliu8f cum aut Homeri aut Hesiodi aut ApoUonii aut Par-
thenii aut CalHnMchi aut Theacriti aut quarundam aliorum locos ef fingeret, partim reliquit,
alia expressit. Die Nachahmnngen behandelt sorgfältig Mobsch, De Graecis in Georgicis
a Vergilio expresais, Halle 1878, hinter dem Knoche, Vergilius quae graeca exempla aecuttis
Sit in Georgicis, Leipz. 1877 weit zurücksteht.
Über die benutzten Fachschriftsteller siehe Servius Georg. 1,43 sane seien--
dum Xenophontem scripsisse unum Jibrum Oeeonomieum, cuius pars ultima agricuUuram
continet; de qua parte mtdta ad hoc opus Vergilius transtulit, sieut etiam de georgicis Ma-
gonis Afri, Catonis, Varronis, Ciceronis quoque libro tertio oeeonomicorum, qui agricuUuram
continet. Allein dass Vergil Xenophons Oeconomicus beigezogen, leugnet mit Recht Morsch
p. 85. Von den lateinischen Fachschriftstellem ist die Benützung Yarros zweifellos; es
ist Zweck der Dissertation Yak Waoeninoens (p. 184), diesen als die Hauptquelle nachzu-
weisen (satis apparet, praeeepta agrieuHurae VergUium non e Graecis fontihus hausisse, sed
contra eum ubique cum Varrone convenire). Allein im wesentlichen beschränkt sich die
Benützung Yarros auf den dritten Gesang (bis v. 413). „Cum V, per priores lihros per-
pauca a Varrone repetat summamqtte rerum longe alio consilio digerat, in tertii carminis
et dispositione et singulis praeceptis iUius auctoritatem maxime amplectitur,'^ Reitzeüstein,
de scriptorum rei rusticae libris deperditis p. 20, der dies im einzelnen nachweist, femer
nach 413 eine neue Quelle (vielleicht Mago) annimmt (p. 21). — Golum. 1, 1, 13 nee post-
remo quasi paedagogi eius (Vergili) meminisse dedignemur, Julii Hygini,
Die Zeugnisse für die Benützung der griechischen Lehrgedichte Nican-
ders sind: Quint. 10, 1, 56 Äudire videor undique congerentes nomitta plurimorum poetarum.
Quid? Herculis acta non bene Pisandros? Quid? Nicandrumfrustra secuti Macer atque
Vergilitts? (Ausführlich erklärt diese. Stelle und weist die Änderung Ungers Yalgius
statt Yergilius zurück Mobsch p. 54.) Ausdrücklich wird Nicander (ungewiss, mit welchem
Buch) als Quelle Yergils für die 3,391 berührte Erzählung von Fan angegeben (Macrob.
5, 22, 10). Da auch noch andere Stellen die Benützung der vorhandenen Gedichte Nicanders
darthun, so wird man an Nicander als einem Yorbild für Yergil festhalten müssen, zumal
da Cicero demselben das Lob spendet (de or. 1, 16, 69) : de rebus rusticis hominem ab agro
remotissimum Nicandrum CoU^honium poetica quadam faeultate, non rustiea scripsisse
praeclare. Freilich bleibt noch als offene Frage, ob nicht auch Hygin aus Nicander ge-
schöpft und daher das Meiste erst durch Hygin auf Nicander zurückgeht, vgl. Reitzeksteik,
de scriptorum rei rusticae libr. deperd, p. 23 Anm.
Zeugnisse für die astronomischen Dichter als Quellen sind: Macrob. 5, 2, 4
rulgo nota sunt quod (Vergilius) Theocritum sibi fecerit pastoralis operis auctorem, ruralis
Hesiodum et quod in ipsis Georgicis tempestatis sereniiatisque signa de Arati Phaenomenis
traxerit. Die Behauptung bezüglich des Hesiod ist unrichtig : vix duo praeeepta de ipsa
re rustiea apud Vergilium ad Hesiodum redeunt (Morsch p. 39). Prob. p. 42 K. hane uni^
rersam disputationem (1, 233) certum est Vergilium transtulisse ab Eratosthene, cuius Über
est hexametiHs versibus scriptus, qui Hermes inseribitur.
229. Kunst des Dichters. Die Georgica entstanden auf Anregung
des Maecenas (3, 41), ihm ist daher auch das Gedicht, wie die mehrfache
Anrede an denselben zeigt (1,2 2,41 4,2), gewidmet. Einen glücklicheren
Stoff konnte Vergil nicht erhalten, denn derselbe eignet sich zur poetischen
Darstellung in ganz vorzüglichem Grade. Die Landwirtschaft ist eine der
edelsten Beschäftigungen des Menschen, sie erfreut uns durch die Mannig-
36 BOmiflche LitteratargoBohiclite. II. Die Zeit der Monarohie. 1. Abteilung.
faltigkeit der Arbeiten, durch den Wechsel zwischen Schaffen und Ruhen,
durch den Verkehr mit den Haustieren; sie birgt in sich Scenen idylli-
schen Glücks, sie reizt zum Eindringen in das Walten der Natur. Mit
voller Begeisterung hat Vergil sich diesem Gegenstande hingegeben; er
sieht mitleidig herab auf die abgegriffenen mythologischen Themata (3, 4) ;
hohes Selbstgefühl schwellt seine Brust, dass er der erste Römer diesen
Stoff in das Reich der Poesie geführt und das „askräische Lied'' (2,176)
auf römischem Boden erklingen Hess. Wie einst Lucretius sich gerühmt,
dass er auf unbetretenen Pfaden der Musen einherwandele, so singt auch
unser Dichter (3,291):
sed me Parnasi deseria per ardua dulcis
raptat amor; iuvat ire iugis, qua nulla priorum
Castaliam molU devertitur arbita cUvo.
Es hiesse Yergil verkennen, wenn man seinem Gedicht den patriotischen
Zweck zuschreiben würde, zur Hebung der gesunkenen Landwirtschaft bei-
zutragen. Yergil setzt sich als oberstes Ziel, den Leser durch die Süssig-
keit der Poesie zu erfreuen. Es ist ihm demnach nicht um peinliche Voll-
ständigkeit zu thun, wie er selbst verkündet (2,42):
non ego cuncta meis ampUcti versibus opto,
MaecenaiSj pelagoque volana dare vela petenti.
Auch die trockensten Lehren in ein anmutiges Gewand zu kleiden, das
strebt der Dichter an und das versteht er meisterlich. Nehmen wir z. B.
die Vorschrift der Bewässerung (1,107):
et cum exustus ager morientibus aestutU herbis,
ecee aupercilio clivoH tramitis undam
elicU ? Ula cadens raucum per levia murmur
aaxa ciet, scaiebrisque areniia temperat arva,
SO sehen wir, dass statt eines dürren Satzes der Phantasie ein liebliches
Naturbild dargeboten wird.^) Oft genügt ein einziges Epitheton, in dem
Leser eine angenehme Nebenvorstellung zu erwecken; z. B. wenn der
Dichter ein Wetterzeichen des Mondes beschreibt. Sein Vorbild Arat sagt
trocken (803)
Vergil dagegen (1,430):
at 8i virgineum suffuderit ore ruboretn,
ventus erit; venio semper ruhet aurea Phoebe.
Jedermann wird fühlen, welche Poesie allein in dem „virgineus" einge-
schlossen liegt. Aber noch in anderer Weise sorgt der Dichter für die
Belebung seiner Darstellung; er flicht nämlich wie Perlen in eine Krone
Episoden in sein Gedicht hinein. An die Bemerkung, dass oft des Menschen
Thun durch fremde Gewalt zerstört wird, reiht er nach einem Blick auf
das goldene Zeitalter eine Schilderung, wie durch den von Juppiter ge-
schaffenen Wandel der Dinge der menschliche Geist, um der Not zu ent-
gehen, zu Erfindungen gedrängt wurde (1,121). Die Betrachtung der Er-
zeugnisse der verschiedenen Länder führt zu einem begeisterten Lob Italiens
(2, 136). In die Vorschriften vom Pflanzen klingt hinein der Preis des Früh-
lings, in dem alles keimt und sprosst wie zur Zeit, als die Welt entstand
') Mit Recht herangezogen von Bubse^ Entwickl. d. NaturgefQhls bei den Römern p. 62.
VergilB AeneiB. 37
(2,323). Liebliche Bilder des dritten Buchs sind die kämpfenden Stiere
(220), die umherziehenden Hirten Libyens (339) und das Gegenstück, die
frierenden Scythen (349). Eine hübsche ländliche Idylle ist dem vierten
Buch einverleibt in der Schilderung des Schaffens des corycischen Gärtners
in Tarent (125). Regelmässig wird am Ende eines Gesangs ein farben-
reiches Gemälde gegeben. Die Lehre von den Wetterzeichen der Sonne
erinnert den Dichter an die Unglückszeichen, welche sich an den Tod
Caesars anschlössen (1, 463); er entwirft ein in Grau gemaltes Bild jener Tage
und geht dann über zu einem ergreifenden Gebet für die Erhaltung Octa-
vians inmitten der umtosenden Gefahren. Der zweite Gesang wird gekrönt
von einer entzückenden Beschreibung des ländlichen Stillebens und einem
eingewobenen Preis der Naturerkenntnis. Den Schluss des dritten Buchs
bildet die norische Tierseuche, die Vergil mit voller Kunst zur Anschauung
bringt, den Schluss des vierten Gesangs die Erfindung der künstlichen
Erzeugung der Bienen durch Aristaeus, womit der Mythus von Orpheus
und Eurydice verbunden wird. Auch die Einleitungen zu den einzelnen
Büchern sind gut gemacht, indem die betreffenden ländlichen Gottheiten
um ihren Schutz gebeten werden; im ersten wird auch Octavian als Hort
des Landmanns angerufen (1,41):
ignarosque viae mecum miseraUus agrestis
ingredere et votis iam nunc adsuesce vocari.
Diese Kunst des Dichters bewirkt es, dass wir ihm ohne Ermüdung durch
das ganze Gedicht hindurch folgen. Ja unsere Spannung wächst fort-
während, da der Stoff mit jedem Buch .interessanter und belebter wird.
In der Sprache ist der Fortschritt, den Vergil gegenüber Lucretius gemacht
hat, ein ungeheurer. Es ist eine Zartheit in derselben, welche den Leser
gefangen nimmt. So vereinigt sich alles, um die Georgica zu einem der
anziehendsten Werke der römischen Litteratur zu machen. Jeder, dem
nicht aller Sinn für Poesie verschlossen ist, wird gerne verweilen bei den
anmutigen Bildern ländlichen Treibens.
Dass in den Episoden Vergil am meisten seinem Genius folgte, wird nicht zu be-
zweifeln sein ; doch sind auch hier Einwirkungen griechischer Muster zu konstatieren ; z. B.
in dem Preis des ländlichen Lebens weist der Gedanke von der Justitia (2, 473) auf Arat
(105) hin. Eine vollständige Entlehnung scheint bei der Aristaeusfabel eingetreten zu sein;
denn zu 4, 361 eU — amnem bemerken die Bemer Scholien (p. 975 Haoen) „hunc veraum ex
Hesiodi yvyaixtSy catalogo transtulit** (Haupt, Opusc. 3, 361). Der von Homer 11. 18, 39 ab-
weichende Nymphenkatalog lässt eine griechische Vorlage als unabweisbar erscheinen (vgl.
Morsch p. 70).
y) Die Aeneis.
230. Äussere Oeschichte der Aeneis. Noch ehe Vergil an die
Bucob'ca herantrat, trug er sich mit dem Gedanken einer epischen Dich-
tung. >) Als er die Georgica schrieb, kündigte er wiederum ein episches
Gedicht mit den Worten (3,46) an:
mox tarnen ardentis accingar dicere pugncis
Caesaris et nomen fama tot ferre per annoa,
Tithoni prima quot ahest ab arigine Caesar,
*) Wohl über die Albanerkönige (Serv. Ecl. 6,3); dann vgl. noch oben p. 26.
38 BOmisohe Lüteraturgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteiliing.
Aus diesen Versen muss man folgern, dass sich dieses beabsichtigte Gedicht
nicht mit der Aeneis deckte, sondern die Thaten Octavians zum Gegen-
stand nehmen wollte. Es war ein glücklicher Gedanke, dass Vergil von
diesem Projekt zurückkam und den Stammvater des Herrschergeschlechts,
Aeneas, sich zum Helden erkor ; denn damit gewann er einen fruchtbareren
Boden für seine Dichtung, die entlegene Zeit der Sage. Wie Servius an-
deutet, entsprang diese neue Idee dem Geiste Octavians. Auch an der
Aeneis arbeitete Vergil geraume Zeit; es werden elf Jahre angegeben und
selbst dann hatte das Gedicht noch nicht die letzte Feile empfangen. Da
Vergil im J. 19 v. Ch. starb, so muss er mit demselben im J. 29 v. Gh., also
nach der Vollendung der Georgica begonnen haben. Gegen 26 v. Ch. war
bereits in Dichterkreisen bekannt geworden, dass Vergil sich mit der Aeneis
beschäftige, denn Propertius überlässt die Seeschlacht bei Actium zu be-
singen dem Vergil (3,34,63):
qui nunc Aeneae Troiani suscUat arma
iactaque Lavinis moenia littoribus,
cedite Romani scriptores, cedite Grat;
nescio quid malus nascitur Iliade.
Wir sehen, welche hohe Erwartungen sich an das Gedicht knüpften, wir
sehen aber weiterhin aus dieser Stelle, dass man immer noch neben der
Aeneis ein zweites Epos über die Thaten Octavians erwartete.^) Es ist
natürlich, dass sich auch Augustus für die im Werk begriffene Dichtung sehr
interessierte. Als er im cantabrischen Kriege verweilte (25 v. Gh.), liess er
eindringliche Bitten an Vergil gelangen, ihm doch die Entwürfe oder eine
Probe der Aeneis zuzuschicken, allein der Dichter sah sich damals ausser
stand, dem Herrscher zu willfahren. Über die Eompositionsweise liegt uns
ein für die Beurteilung der Schöpfung nicht unwesentlicher Bericht vor.
Er skizzierte sich zuerst den Stoff in 12 Büchern in Prosa. Diese Skizze
brachte er aber nicht der Reihe nach in die poetische Form, sondern er
griff heraus, wozu ihn Zufall oder Neigung führte. Auch hielt er sich
nicht lange bei Einzelheiten auf, da es ihm vor allem darauf ankam, ein-
mal das Ganze im Rohbau aufzurichten; daher die vielen unvollständigen
Verse. Dem Augustus las er einige der fertig gewordenen Bücher vor;
sie machten grossen Eindruck. Nachdem die Dichtung im ersten Entwurf
vollendet war, beschloss er nach Griechenland und Asien zu reisen, um
dieselbe vollends abzurunden. Seine Absicht wurde durch den Tod ver-
eitelt. Was sollte nun mit dem vollendeten und wiederum doch nicht
vollendeten Gedicht geschehen? Nach der Intention des Verfassers, die
sich in verschiedenen Handlungen aussprach, sollte dasselbe entweder dem
Untergang geweiht oder (was wohl die richtige Version ist) von der Publi-
kation ausgeschlossen werden. Augustus befahl dagegen die Herausgabe.
L. Varius und Plotius Tucca unterzogen sich dieser Aufgabe in der Weise,
dass sie, abgesehen von unwesentlichen Änderungen, die Aeneis so gaben,
wie sie der Dichter hinterlassen; der sprechendste Beweis hiefür sind die
unvollendeten Verse. Auch deuten inhaltliche Widersprüche zwischen den
einzelnen Büchern auf das Fehlen der letzten Hand.
0 Auf diese Erklänmg führt das Wörtchen „nunc*^.
Vergils Aeneis. 89
Titel des Gedichts. Nach Serv. Aen. 6, 752 hiess das Gedicht später Gesta
populiRomani (in antiquis inrenimus, opus hoc appellatum esse non Aeneidetn, sed gesta
populi Romani; quod ideo mutaium est, quia nomen non a parte, sed a toto dehet dari),
SexT. I 2, 12 Th. postea ab Augiisto Aeneidem propositam scripsU annis undecim,
sed nee emendavit nee edidit: unde eam moriens praecepit incendi. Über das Verlangen
des Augustus, Teile der Aeneis kennen zu lernen, vgl. Donat p. 61 R. cui (Augusto) tarnen
muUo post perfectaque demum materia tres omnino libros recUavit, secundum, quartum,
sextum. Anders Serv. zu Aen. 4, 323 (p. 521 Th.) recitavit voce optima primum libros tertium
et quartum. Allein för die Bücher U und IV wird die Angabe Donats auch durch andere
Indicien bestätigt. So wird in jenen Bttchem Italien deutlich als Ziel der Wanderfahrten
bezeichnet (2,780 4,345); in Buch III dagegen ist Aeneas anfangs über das Ziel der Reise
im Unklaren (3, 7 3, 94, welche Stelle in direkten Widerspruch mit 4, 345 tritt). Diese
Diskrepanz erklärt sich in einfacher Weise durch die Annahme, dass Vergil, als er zu der
Erzählung der Irrfahrten schritt, sah, dass er, um Aeneas länger von Italien fernzuhalten
und noch an andere Orte gelangen zu lassen, über die letzte Bestimmung noch Ungewiss-
heit verbreiten müsse. Da sich für zwei Bücher das Zeugnis Suetons bestätigt, so ist aller
Grund vorhanden, an der Richtigkeit der Angabe auch für das 6. Buch festzuhalten, zumal
da noch ein Nebenumstand (die Erschütterung der Octavia bei der Vorlesung) berichtet
wird. Im Widerspruch stehen übrigens auch hier Verse mit solchen des dritten Buchs, vgl.
6, 115 II 3,41 f. Man sehe ausser Conbads Quaest, Verg,, Trier 1863 Ribbeck, Proleg. p. 56;
ScHVELEB, Quaest, Verg, p. 1 — 20, der das Ergebnis seiner Untersuchungen in folgende
Worte zusammenfasst (p. 20) : primi scripti sunt libri II IV FI, id quod Suetoni idonei
auctoris testimonio satis confirmatur, post scriptus est primus liber, atque ad extremum,
interim aliis opera data ut septimi, octaviy noni certe partibus, liber III et V.
Donat. p. 59 R. Aeneida prosa prius oratione formatam digestamque in XII libros
particukUim componere instituU prout liber et quidque et nihil in ordinem arripiens . ut ne
quid impetum moraretur quaedam imperfecta transmisit, alia levissimis verbis veluii fulsU,
quae per iocum pro tibicinibus interponi aiebat ad sustinendum opus, donec solidae columnae
advenirent.
Die Herausgabe der Aeneis. Vor Antritt seiner Reise hatte Vergil für den
Fall seines Todes dem Varius den Auftrag gegeben, die Aeneis zu verbrennen. In seiner
Krankheit wollte er selbst das Gedicht vernichten. Diese Nachrichten sind vermutlich
Cbertreibungen der letztwilligen Verfügung (Donat. p. 64 R., vgl. oben p. 33 im leMen
Absatz) Vergils, dass sein Gedicht nicht publiziert werde.
Den Befehl des Augustus zur Herausgabe der Aeneis bezeugt Donat p. 63 R. L. Varium
et Plotium Tuecam: qui eius Aeneida post obitum iussu Caesaris emendarunt. — Später
nennt er (p. 64 R.) nur den L. Varius als Herausgeber.
Ober die lliätigkeit des Varius (und Tucca) vgl. 1. c. p. 64 R. edidit auctore Augusto
Varius sed summatim emendata, ut qui versus etiam inperfectos sicut erant reliquerit.
Serv. 2, 12 Th. Augustus, ne tantum opus periret, Tuecam et Varium hac lege iussit emen-
dare, ut superflua demerent, nihil tarnen adderent. Als getilgte Verse werden die be-
kannten iüe ego, qui quondam des ersten Buches und die Verse 567 — 588 des zweiten
Buches angegeben. Allein die Notiz von der Streichung der Eingangsverse geht, wie aus
Donat p. 64 R. ersichtlich, auf den Grammatiker Nisus zurück, welcher sich wieder auf
Hörensagen beruft. Dieselbe ist daher ebenso unglaublich als jene, dass Varius die Ordnung
der Bücher geändert habe. Die Verse 2, 567 — 588 fehlen in der guten Überlieferung und
sind nicht gestrichen (Serv. zur St.), sondern interpoliert worden, um eine Lücke auszu-
füllen (Ribbeck, Proleg. p. 93; Schubleb p. 21).
231. Übersicht des Inhalts der Aeneis. Bereits sieben Jahre be-
fand sich Aeneas, der Sohn des Anchises und der Venus, nach der Zer-
störung Trojas auf Wanderungen, um sich eine neue Heimat zu suchen.
Das erste Buch setzt ein mit der Erzählung von der Abfahrt des Aeneas
von Sicilien. Durch einen Seesturm werden die Trojaner an die libysche
Küste verschlagen. Aeneas erscheint vor der Königin von Garthago, Dido,
welcher Venus heisse Liebe zu dem Fremdling einflösst. Auf Verlangen
der Königin erzählt Aeneas seine Schicksale, im zweiten Buch die Zer-
störung Trojas, im dritten seine Irrfahrten. Zuerst kommen Aeneas und
seine Leute mit ihrer Flotte nach Thracien ; sie gedenken sich hier nieder-
zulassen, allein von dem Schatten des Polydorus gewarnt, verlassen sie
40 Römisohe LitteratnrgeBchiohte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
das Land und segeln nach Delos. Durch ein Orakel, das sie hier empfangen,
glauben sie sich nach Kreta verwiesen. Allein Pest und Hungersnot, welche
die dort Angekommenen befallt, zeigt, dass die Auslegung des Orakels
irrig war. Aeneas steckt sich jetzt Italien als Ziel. Sie brechen auf,
werden aber auf die strophadischen Inseln geworfen. Auf der Weiter-
fahrt landen sie in Actium, wo sie zu Ehren Apollos Spiele veranstalten.
Von da gelangen sie nach Epirus und treffen den Seher Helenus, den
Sohn des Priamus als Herrscher des Landes. Dieser offenbart, dass ihnen
vom Schicksal Italien als neue Heimat beschieden sei. Sie brechen dahin
auf, verfehlen aber in der Dunkelheit den Weg und gelangen nach Sicilien.
In Drepanum verliert Aeneas seinen Vater Anchises durch den Tod. Der
erneute Versuch, Italien zu erreichen, wird wiederum durch einen Sturm
vereitelt, der sie an die libysche Küste wirft. Damit endet die Erzählung.
Der vierte Gesang schildert in eindringlicher Weise die Liebe der Dido
zu Aeneas. Sie sucht den trojanischen Helden bei sich festzuhalten, allein
Aeneas, seiner höheren Bestimmung eingedenk, trennt sich. Aus Schmerz
über die Trennung gibt sich die Königin den Tod. Mit dem fünften
Buch setzen sich die Irrfahrten der Trojaner fort. Neuerdings langt Aeneas
in Sicilien an und veranstaltet zu Ehren seines Vaters glänzende Leichen-
spiele. Der Schatten des Anchises weist ihn an das sibyllinische Orakel.
Nachdem Aeneas die Frauen und die Schwachen in Sicilien zurückgelassen,
landet er mit der übrigen Mannschaft bei Cumä in Italien. Gegenstand
des sechsten Buchs ist die Zusammenkunft mit der Sibylla und der unter
deren Führung vollzogene Gang in die Unterwelt. Die Irrfahrten des
Aeneas haben damit ihr Ende erreicht, es beginnt die Zeit der kriegerischen
Kämpfe.
maior verum mihi nascitur ordo,
maius opus moveo,
singt der Dichter (7, 44).
Es erfolgt im siebenten Buch die Ankunft der Trojaner in Latium.
Dort herrschte der König Latiäus, dem das Orakel geworden war, dass
seiner Tochter Lavinia ein Gatte aus der Fremde werde. Durch das
Wunder der „verzehrten Tische" erkennt Aeneas, dass sie endlich das
ihnen vom Schicksal bestimmte Land gefunden haben. Aeneas schickt
eine Gesandtschaft an Latinus, um einen bescheidenen Sitz für seine
heimischen Götter zu erlangen (229). Der König verspricht ihnen das
Gewünschte und erkennt zugleich, dass für die Erfüllung des Orakels be-
züglich der Lavinia jetzt die Zeit gekommen sei. Über diese für die
Trojaner günstige Wendung der Dinge erbittert, dringt Juno in eine der
Furien, Krieg anzuregen. Diese erfüllt mit Hass die Gattin des Königs
Amata, dann den Turnus, den König der Rutuler, der die Lavinia für
sich begehrte. Die Verwundung eines Hirsches durch Ascanius gibt das
Signal zum Zusammenstoss. Latinus bleibt, seines gegebenen Wortes ein-
gedenk, dem Kampf fern, der von Turnus gegen Aeneas begonnen wird.
Das Buch schliesst mit dem Katalog der dem Turnus zu Hilfe geeilten
Streitkräfte. Darunter befinden sich Mezentius, Fürst von Caere mit seinem
Sohn Lausus und die volskische Heldenjungfrau Gamilla. Das Glanzstück
Vergils Aeneis. 41
des folgenden achten Buchs ist die Beschreibung des Schildes, welchen
Yulcan für Aeneas gefertigt, und auf dem er Scenen aus der römischen
Geschichte bis auf Augustus zur Darstellung gebracht hatte. Ausserdem
wird berichtet, wie sich sowohl Turnus als Aeneas nach Bundesgenossen
umsehen. Durch ein Traumbild wird Aeneas auf den Arkader Euander,
der auf dem Palatin seinen Sitz hatte, gewiesen. Euander gewährt ihm
auch Hilfe, er stellt eine Reiterschar unter der Führung seines Sohnes
Pallas, rät aber zugleich, Hilfe bei den Etruskem in Caere zu suchen, welche
sich gegen ihren Fürsten Mezentius empört hatten, denselben, der jetzt auf
Seite des Turnus stand. Aeneas folgt seinem Rat. Die folgenden Bücher
enthalten Eampfesbilder. Das neunte Buch führt uns den Angriff auf
das trojanische Lager in Abwesenheit des Aeneas vor, dann den Kampf
und Heldentod des Nisus und Euryalus, endlich das Eindringen des Turnus
in das gegnerische Lager. Die Not war aufs höchste gestiegen, da langt
Aeneas, wie uns der Dichter im zehnten Gesang schildert, mit dreissig
Schiffen aus Etrurien an. Es entspinnt sich eine heisse Schlacht, in der
der Sohn Euanders durch Turnus hingestreckt wird. Durch ein Scheinbild des
Aeneas wird der Rutulerfürst von Juno aus dem Getümmel hinweggeführt.
Jetzt tritt Mezentius hervor; er sowohl wie sein Sohn Lausus fallen durch
die Hand des Aeneas. Im elften Buch folgt ein Waffenstillstand zum
Zweck der Beerdigung der Toten. Die Latiner fangen an, des Krieges
überdrüssig zu werden; es tritt eine Friedensströmung zu Tage, die auch
von Latinus geteilt wird. Turnus ist dagegen für Fortsetzung des Krieges.
Während dieser Verhandlungen rückt Aeneas zu dem Sitz des Latinus
gegen Laurentum vor. Ein Treffen wird geliefert, in dem die Helden-
jungfrau Gamilla den Tod findet. Aeneas lagert vor der Stadt. Das letzte
zwölfte Buch bringt den Untergang des Turnus. Er wollte den Streit
durch einen Zweikampf mit Aeneas zur Entscheidung bringen. Dieser
geht auf den Vorschlag ein; es wird ein feierlicher Vertrag geschlossen.
Allein die Rutuler brechen denselben. So wurde der Kampf aufs neue
entfacht. Mit grosser Erbitterung gehen die Gegner aufeinander los. Aeneas
wird verwundet, aber rasch durch seine Mutter geheilt. Nachdem der
Streit längere Zeit gewütet, richten die Trojaner ihre Angriffe auf die
Stadt. Der Schrecken und die Verwirrung treibt die Königin Amata in
den Tod. Jetzt findet der Zweikampf zwischen Turnus und Aeneas statt,
der Rutulerfürst wird getötet.
232. Die Aeneassage. Wie wir gesehen, liegt der Aeneis die
Aeneassage zu Grund; zum Verständnis des Epos ist daher die Geschichte
dieser Sage vor allem notwendig. Ihren Ausgangspunkt nimmt sie von
den Versen Homers (IL 20,303):
xal nal^ioy nai^BS toi xev fXBtonur&e yivtoyjM,
Hier wird dem Aeneas die Herrschaft über die Troer verheissen. Durch
die Gykliker kommt ein neues Moment hinzu, indem Aeneas nach der Zer-
störung Trojas auf den Berg Ida wandert, also noch in der Heimat bleibt. ^)
') WöRNER, Die Sage p. 3.
42 RömiBche LitteraturgoBchiclite. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Eine ungemein fruchtbare Idee für die Weiterentwicklung der Fabel
war, dass Aeneas ausser Land über das Meer zieht. Damit wurden die
Wanderungen ein Bestandteil der Sage, alle Orte, die den Aphroditekultus
angenommen hatten, wurden jetzt leicht zu Stationen auf der Wanderfahrt
des Aeneas. Der erste Zeuge für diesen bedeutsamen Fortschritt ist der
sicilische Dichter Stesichorus (640 — 555). Auf der Tabula Iliaca, welche
auf dessen Hiupersis beruht, sind einer Darstellung die Worte beigegeben:
„Aeneas mit den Seinigen, wie er nach Hesperien (d.h. Italien)
abfährt.'' 0 ^^^ Irrfahrten des Aeneas beschreiben uns Dionys von Hali-
carnass 1,46—55 und Vergil. Sie bieten wesentliche Differenzen dar; die
hervorstechendsten sind, dass Vergil den Aeneas bei der Dido in Carthago
und bei der cumäischen Sibylle verweilen lässt. In eine neue Entwick-
lungsstufe tritt die Sage, als Aeneas mit Rom verknüpft wurde und Rom
als das neue Ilion galt, mithin die Römer als Abkömmlinge der Trojaner
betrachtet wurden. Schon der Geschichtschreiber Timaeus, der zur Zeit
des Pyrrhus lebte, kennt diesen Zusammenhang von Ilion und Troia.^)
Von den römischen Schriftstellern ist Naevius der älteste, welcher von
des Aeneas Niederlassung in Latium erzählt.^) Bei Naevius wie bei Ennius
ist Romulus Sohn der Tochter des Aeneas, also sein Enkel.^) Allein diese
Auffassung des Zusammenhangs von Rom und Ilion widersti*itt der ein-
heimischen Überlieferung, nach welcher Romulus Sohn des Mars war und
Rom erst lange Zeit nach dem trojanischen Krieg gegründet wurde. Es
kam daher eine andere Version auf und dieser folgt Vergil (1, 265). Aeneas
gründet Lavinium und herrscht über dasselbe drei Jahre. Aber dreissig
Jahre nach Laviniums Erbauung verlässt sein Sohn Ascanius diese Stätte
und erbaut Alba longa; dort regierte des Aeneas Geschlecht (die Silvier)
dreihundert Jahre, bis Rhea Silvia von Mars die Zwillinge gebar, welche
Rom gründeten, ö) Im wesentlichen folgt dieser Fassung auch Cato; aus
ihm lernen wir ausführlicher den Teil der Sage kennen, welcher die
Kämpfe, die Aeneas nach seiner Landung zu bestehen hat, schildert.
Zuerst nimmt Latinus, der König der Aboriginer, Aeneas gegenüber eine
freundliche Haltung ein und gibt ihm seine Tochter Lavinia zur Frau. Es
entstehen Zerwürfnisse und es kommt zu drei Schlachten, in der ersten
fällt Latinus, und Turnus, der ihm Hilfe gebracht, wird besiegt; in der
zweiten Schlacht finden wir Turnus verbündet mit dem etruskischen König
Mezentius, Turnus wird getötet und Aeneas verschwindet;*) in der dritten
kommt Mezentius durch die Hand des Ascanius um.') Vergil schliesst
sich an Cato an, allein nicht ohne mannigfache Änderungen; die wesent-
lichsten sind, dass er die drei Kämpfe zusammengezogen,®) den Latinus
am Streit unbeteiligt sein, endlich den Aeneas über Mezentius und zuletzt
auch über Turnus Herr werden lässt.
*) Zweifel regt an Kiin>ER]iAim, De fabu^
lis etc., Loyd. 1885 p. 20.
*) SCHWEGLER 1,304.
') ScHWEOLEB 1, 305. Caubb, Die rom.
Aeneass. p. 101.
*) Serv. Aen. 1, 273.
*) Cauer p. 106.
«) Serv. Aen. 4, 620.
') Gauer p. 173. Kindermakk, De fabu-
lis ele, p. 52, wo auch die übrigen Zeugnisse
über die italische Eroberung übersichtlich zu-
sammengestellt und verglichen sind.
») Cauer p. 174.
Yergile Aeneis.
43
Lange Zeit hindurch blieb die der Aeneassage zu Grund liegende
Idee: Rom ist die Fortsetzung von Ilion. Offizielle Anwendung von
diesem Zusammenhang wird seit dem ersten punischen Krieg gemacht.^)
Um nur einen Fall anzufühi*en, in einem Schreiben an den König Seleucus
(wahrscheinlich Gallinicus) stellte der Senat ihm Bundesgenossenschaft in
Aussicht, wenn er den Iliern als den Blutsverwandten der Römer Steuer-
freiheit bewillige (Suet. Claud. 25). Auch durch Einführung neuer Kulte,
besonders solcher, welche der Venus gewidmet waren, fand jene Idee ihren
Ausdruck.^) Allein zur Zeit Sullas bekam die Aeneassage einen .neuen
Gehalt. Damals wurde es üblich, die Stammbäume der römischen Ge-
schlechter auf trojanische Helden, Genossen des Aeneas, zurückzuführen.
Dionys. 1, 85 berichtet, dass 50 Familien auf diese Weise ihrem Geschlecht
einen altertümlichen Glanz verliehen. Yarro konnte daher eine eigene
Monographie über „die trojanischen Familien*^ schreiben. Aber von allen
diesen Familientraditionen gewann nur eine einzige eine erhöhte Bedeutung
und führte die letzte Entwicklungsstufe der Aeneassage herbei: Die Juli er
leiteten ihr Geschlecht von dem Sohn des Aeneas, Ascanius, her
und legten sich dadurch den Ursprung von der Venus bei. Um
diese Verknüpfung der Julier mit Ascanius zu begründen, wurde Julus,
der Ahnherr des Geschlechts, mit Ascanius identifiziert, d. h. diesem noch
der Name Julus beigegeben; und zwar nahm er den Beinamen in dieser
Form erst nach der Zerstörung Ilions an, während er vorher Uns hiess
(Aen. 1,268). Caesar betonte mit Vorliebe diese göttliche Abkunft. 3) Da-
mit wurde die Sage in den Dienst der Verherrlichung eines bestimmten
Geschlechts gestellt. Während früher die Fortsetzung von Ilion in und
durch Rom die Idee der Sage war, tritt jetzt die Fortsetzung des einst
regierenden Geschlechts durch Augustus und damit die Legitimierung des-
selben für die Herrschaft in den Vordergrund. Diese jüngste Phase der
Sage ist das Fundament des Vergilischen Gedichts.
Litteratur: Über die älteren Werke vgl. das Referat Schweolebs, Rom. Gesch.
1, 279, der die klarste Übersiebt über die Sage gibt. Gaueb, De fabulia graecis ad
ßomam conditam peHinentihuSf Berl. 1884. Ders., Die römische Aeneassage von Naevius
bis Vergilius (Fleckeis. Jahrb. 15 Suppl. p. 97). Nissen, Fleckeis. Jahrb. 91 p. 379. WörneR;
Die Sage von den Wanderungen des Aeneas, Leipzig 1882 (vgl. auch dessen Artikel in
Roschers Mythol. Lexikon 1, 158). Pbeller- Jordan, Rom. MyÜiol. 2, 310. Zoelleb, Latium
und Rom, Leipz. 1878 p. 70. Hild, La Ugende d*Enie avant Virgile, Par. 1883.
233. Die Komposition der Aeneis. Es war keine leichte Aufgabe,
aus dieser Sage, deren Fundament ein durchaus rationalistisches ist, eine
das Herz erfreuende Dichtung herauszuarbeiten. Mittelpunkt der Handlung
musste Aeneas werden; das Schicksal erkor sich ihn zum Helden und
machte ihn zum Gründer des römischen Reichs und Ahnherrn des Regenten-
hauses. Diese seine hohe Mission wird ihm durch Wunderzeichen und
Wahrsagungen stets vor Augen gestellt. Schon bei dem Fall von Ilion
') Die Sage ist aus politischen Gründen
kultiviert worden; als Rom mit dem helle-
nistischen Völkerverein in Berührung kam,
wollte es ebenbürtig erscheinen. So war in
Bayern die Abstammung des Volks von den
Kelten zur Zeit der Napoleonischen AUianz
offiziell ; man wollte mit den Protektoren auf
einer Linie stehen.
*) Caubb p. 99.
3) App. b. civ. 2, 68 Suet. Caea. 6 Dio
43, 43 Cic. P]p. 8, 15.
44 BOmische LitteraturgeBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
deutet eine auf dem Haupte des jungen Ascanius emporlodernde Flamme
auf Grosses hin (2, 680). Der Schatten der Creusa zeigt ihm die Stätte
seiner Zukunft, die Gestade des Tiber (2, 780). Das Gleiche thut die Harpye
Celaeno, indem sie zugleich ein Erkennungszeichen für das richtige Land,
das Wunder der „verzehrten Tische* mitteilt (3,256). Vom Priamiden
Helenus erhalten sie ein neues Erkennungszeichen, das Wunder von der
weissen Sau mit den dreissig Ferkeln (3, 390). Anchises spricht in einem
Traumbild von dem niederzuwerfenden Latium (5,730). Auch die Sibylle
prophezeit heisse Kämpfe ob Lavinium (6, 83). So wird dem Helden fort-
während und immer mit neuen Zügen das Fatum, dessen Erfüllung in
seine Hände gelegt ist, vor Augen gehalten und als er Gefahr läuft, in
Carthago in die Netze der Dido verstrickt zu werden, wird er durch den
Götterboten gemahnt, seiner hohen Bestimmung, durch sein Geschlecht
dem Erdkreis Gesetze vorzuschreiben, eingedenk zu sein (4, 275 u. 231).
Dem Ziel seines Epos entsprechend, der herrschenden Dynastie ein weit-
hin leuchtendes Denkmal zu setzen, weiss der Dichter auch das Lob des
Augustus in sein Gedicht einzustreuen. Es geschieht dies dadurch, dass
entweder ein Gott oder sonstwer den Schleier der Zukunft hinwegzieht.
Gleich im ersten Buch (261 f.) verkündet Juppiter die Schicksale des Aeneas
und seines Geschlechts, die Gründung von Lavinium, von Alba longa, von
Rom; dabei weist er auf den künftigen erlauchten Sprossen des Ge-
schlechts hin, dessen Ruhm bis zu den Sternen steigen werde, und dem
es beschieden sei, ein die Welt umspannendes Reich des Friedens und der
frommen Gesittung zu begründen. In der Unterwelt lässt Anchises die
Seelen, die zu einem neuen Leben in der Oberwelt auserwählt sind, an den
Blicken des Aeneas vorüberziehen, es sind die künftigen Grössen der römi-
schen Geschichte; unter denselben ragt Augustus hervor, unter welchem in
dem bis zu den Indern sich erstreckenden römischen Reich das goldene Zeit-
alter emporblühen wird (6, 789). Auch dem so grosse Hoffnungen erregenden
M. Claudius Marcellus, dem Schwestersohn des Augustus, den er zu seinem
Nachfolger ausersehen, der aber in der Blüte der Jahre hinweggeraflft
wurde, tönt ein begeistertes Lob aus dem Munde des Anchises (6,867).
Endlich wird auf dem Schild, den Vulkan für Aeneas fertigt, der Sieg
des Augustus bei Actium in anschaulicher Weise verheiTÜcht (8, 675).
Für den Aufbau seines Werks ergab sich dem Dichter ein ungeheurer
Vorteil, er konnte an die allgemein bekannte und poetisch ausgestaltete
trojanische Sage anknüpfen; er konnte sich Homer, den Vater aller Poesie,
zum Führer erkiesen. Für die Wanderungen des Aeneas boten sich als
Musterbild dar die Irrfahrten des Odysseus, für die Kämpfe des Aeneas
in Latium der hin und her wogende Streit vor den Mauern Ilions. Der
für hohe Ziele begeisterte Sänger schreckte nicht vor dem Wagnis zurück,
Odyssee und Ilias in seinem Werk zu vereinigen, danach erfolgt der Auf-
bau, die sechs ersten Bücher sind die lateinische Odyssee, die sechs letzten
die lateinische Ilias. In der Schilderung der Wanderungen des Aeneas
benutzt er das Kunstmittel Homers, indem er einen Teil derselben erzählen
lässt und dadurch eine episodische Partie des Gedichts erlangt; vor der
Dido schildert Aeneas seine Erlebnisse von dem Fall Ilions bis zur Landung
VergiLs Aeneis. 45
in Carthago. Auch an die Abenteuer des Odysseus konnte das Gedieht
vielfach anknüpfen; es begegnen uns die bekannten Gestalten des Cyklopen,
dann Scylla, Charybdis und die Girce. Noch mehr, ganze Partien konnten
aus Homer kopiert werden. Die Fahrt des Odysseus in die Unterwelt er-
hielt ihr Gegenstück in der gleichen Fahrt des Aeneas; den Spielen, die zu
Ehren des Patroklos gefeiert wurden, traten die Spiele, die Aeneas seinem
verstorbenen Vater veranstaltete, an die Seite. Aber der fleissige römische
Dichter wollte auch die nachhomerischen poetischen Schätze seinem Werk
zu Gute kommen lassen; er flicht daher die wunderschöne Erzählung von
der Eroberung Ilions nach den kyklischen Dichtem ein; eine noch glän-
zendere Perle gab ihm die Didosage; schon Naevius hatte von der Be-
gegnung der Dido und des Aeneas berichtet; so wie die Erzählung aus
der Hand des Dichters gekommen ist, stellt sie eine kleine Tragödie dar
und erinnert uns an den tiefen Kenner des menschlichen Herzens, an
Euripides, vielleicht in dem einen und dem andern Zug noch an Apollonius
des Rhodiers Schilderung von der Liebe der Medea.
Auch in dem zweiten Teil verrät sich überall der Nachahmer und
zwar zunächst wiederum des Homer. Dem Aeneas muss ein Achill gegen-
übertreten, es ist Turnus (6, 89) ; der Helena ähnelt Lavinia, um sie streiten
sich Turnus und Aeneas; bei Latinus wird man unwillkürlich an Priamus
denken. Wie Homer seinen Schiffskatalog, so hat Vergil seine Aufzählung
der Stämme Latiums, die sich um Turnus geschart haben (7,641). Dem
Achilles wird ein kunstvoller Schild von Hephaestos geschmiedet, ebenso
dem Aeneas. Der nächtliche Schleichgang der Helden Diomedes und
Odysseus ins feindliche Lager wird kopiert in dem gleichen Abenteuer
des Nisus und des Euryalus, zugleich aber ein treues Bild aufopfernder
Freundschaft gezeichnet. Wie Achilles eine Zeitlang vom Kampfe sich
fernhält, so ist auch Aeneas anfangs dem Streit entzogen; hier wie dort
führt dieses Fernbleiben eine grosse Notlage herbei. Ein Yertragsschluss,
der den Krieg durch Zweikampf der in erster Linie Beteiligten entscheiden
will, Bruch dieses Vertrages und infolgedessen neuer, um so erbitterter
Kampf sind dem römischen wie dem griechischen Dichter eigen. Das Ent-
scheidungstreffen zwischen Turnus und Aeneas, in dem der Held der Rutuler
fallt, erweckt in der Seele des Lesers vielfache Erinnerungen an den
tragischen Zusammenstoss des Hector und des Achilles. Selbst im einzelnen
gewahren wir Abfälle vom reichen Tisch des griechischen Sängers, Gleich-
nisse, Bilder, der epische Wortschatz sind nach ihm gebildet. Auch die
lateinische Ilias greift über Homer hinaus; so wird für die Camilla Pen-
thesileia in der Aethiopis des Arktinos als Leitstern vorgeschwebt haben;
wem er in der Gestaltung der schrecklichen AUekto folgt, können wir
nicht mehr feststellen; der Selbstmord der Amata entwickelt ein tragisches
Motiv. Der Kampf gliedert sich dramatisch durch das Auftreten einzelner
Persönlichkeiten, in jedem Buch strahlt eine Perle, für die Erschütterung
des Gemüts hat der Dichter in trefflicher Weise Sorge getragen. Mit dem
Tod des Turnus ist der Zweck des Epos erfüllt ; die Hindernisse, die sich
dem Werke des Aeneas entgegenstellten, sind beseitigt; da über seine Ziele
in dem Gedicht volle Klarheit verbreitet ist, so bot sich nichts mehr dar,
46 BOmische Litter atargeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
wodurch der Leser hätte gefesselt werden können, der Dichter schloss
daher seinen Sang.
Zeugnisse über Nachahmangen. Macrob. 5, 17, 4 de Argonauticorum gtsarto,
quorum scriptar est Apollonius, Ubrum Äeneidoa auae qttartum totutn paene formavit ad
Didanem vel Aenean amcUoriam incontinentiam Medeae circa Japanern transferendo. 5, 2, 4
eversionem Troiae cum Sinone suo et equo ligneo ceterisque amnibus quae Hbrum secundum
faciunt a Pisandro ad verbum paene transcripsit. Beide Zeugnisse beruhen auf offen-
kundiger Übertreibung. Die Nachahmungen, besonders aus Ennius siehe bei Macrob. 6, 1, 8
Gell. 1, 21,7 non rerha sola, sed versus prope totes et locos quoque Lucreti plurimos secutum
esse Vergilium videmus,
234. Wflrdigung der Aeneis. Auf die Römer machte die Aeneis
einen mächtigen Eindruck; es ist dies nicht zu verwundern, war sie doch
das erste Epos, das eine Idee in kunstvollem Aufbau durchführte; die
Epen des Naevius und Ennius konnten mit ihrer annalistischen Fassung
nicht in einen Wettstreit eintreten; auch die folgende Zeit hatte nichts
Ähnliches an die Seite zu stellen. Mit Stolz blickten daher die Römer auf
ihren Dichter, den sie kühn mit Homer verglichen, ja über ihn stellten.
Es kam hinzu, dass das Gedicht den Segnungen des Prinzipats einen
schwungvollen Ausdruck gab und das römische Nationalgefühl durch leb-
haften Hinweis auf das gewaltige römische Reich und auf den hohen Be-
ruf des römischen Volk^ befriedigte. Kein Römer wird ohne Begeisterung
die Worte gelesen haben (6,851):
tu regere imperio populos, Romane, memento;
(hae tibi erunt artes) pacique inponere morem,
parcere subiectis et debeUare superbos.
Diese starke Bewunderung der Aeneis zog sich mit der Bewunderung
des Dichters, des „Yerkünders des Messias^ auch ins Mittelalter hinüber.
Die Neuzeit, die keinen andern Massstab als den ästhetischen anlegen
kann, steht dem Gedicht kühler gegenüber. Schon die Sage vermag nicht
unsere Sympathien zu erregen. Wir empfinden dieselbe sofort als ein
künstliches Produkt. Für die Fortsetzung von Dion in Rom bietet sich
eben gar kein natürlicher Anhalt dar; nicht einmal der Name kommt der
Sage zu Hilfe. Um diese Schwierigkeit zu beseitigen, nimmt der Dichter
zu einer Fiktion seine Zuflucht; Juno erbittet sich die Gunst, dass der
Name Troia verschwinde. Und Juppiter willfahrt der Bitte und verkündet
(12,834):
sermonem Ausonii patrium moresque tenebunt,
utque est, nomen erit; commixti corpore tantum
subsident Teucri, Morem ritusque sacrorum
adiciam faciamque omnis uno ore Latinos,
Damit ist Troia in Rom eigentlich beseitigt. Unsere Sympathien sind natur-
gemäss bei den Eingeborenen, welche den heimischen Boden verteidigen,
nicht bei den fremden Eindringlingen. Auch diese Disharmonie scheint der
Dichter zu fühlen und sie dadurch abzuschwächen, dass er die Trojaner
als Pioniere der Kultur bei den wilden italischen Stämmen auftreten
lässt (5, 730 9, 603). *) Noch störender wirkt auf uns die Verbindung des
Aeneas mit Romulus, weil dadurch eine wirklich nationale Überlieferung
künstlich in einen andern Rahmen eingereiht wurde. Ebensowenig wie
*) Dieses Moment hebt richtig hervor Nettleship, Lectures p. 106.
VergilB Aeneis. 47
der Sagenstoff vermag der Held des Epos eine Anziehungskraft auszuüben.
Aeneas handelt ja nicht aus inneren Beweggründen , er ist in den Händen
des Fatum und lässt sich von den Göttern wie eine Puppe hin und her
schieben. Ein einziges Mal pulsiert eigenes warmes Leben in ihm, als er
von der Liebe zur Dido ergriffen war. Als aber die Stunde der Trennung
kam, weiss er dem in Schmerzen aufgelösten Weib keinen andern Trost
entgegenzuhalten als den kühlen, dass das Fatum ihn nach Italien rufe;
doch werde er, solange er lebe, der Geliebten eingedenk sein. Für einen
solchen Helden, der in der Unterwerfung unter den höheren Willen der
Götter seine Lebensaufgabe sieht, ist das passendste Prädikat „pius*^.
Selbst wenn er in den Kampf, dem er merkwürdigerweise anfangs aus-
weicht, eingreift, werden wir der Vorstellung nicht los, dass infolge des
Fatum über den Ausgang kein Zweifel sein kann. So kommt es, dass
unsere Herzen nicht für Aeneas schlagen, sondern für den heldenmütigen
Turnus, der im heissen Ringen mit dem fremden Mann, der ihm noch
dazu die erkorene Braut entfuhren will, rühmlich unterliegt, und für die
unglückliche Dido, die ihre Liebe zu dem Mann des Fatum mit dem
Tode büssen muss. Selbst untergeordnete Personen wie Euander, Pallas,
Mezentius u. a. flössen uns Interesse ein, nur die Hauptperson, Aeneas,
lässt uns gleichgültig. Dann ist es die fortwährende Vermischung zweier
Welten, der trüben Vergangenheit und der sonnenbeschienenen Gegenwart,
welche einem reinen Genuss störend entgegentritt; aus der Vergangenheit
soll ein Licht fallen auf die Gegenwart, aus der Gegenwart werden um-
gekehrt Dinge in die Vergangenheit gerückt. Die Idee, indirekt durch
ein Epos das herrschende Geschlecht zu feiern, hat diesen Zwitterzustand
geschaffen. Auch die Götterwelt, ohne welche die Aeneis gar nicht ge-
dacht werden kann, entbehrt der Frische; das Eingreifen der höheren
Gewalten nimmt nur zu oft einen äusserlichen mechanischen Charakter
an; es sind keine naive, sondern gemachte Götter. Endlich ist es ein
unverkennbarer Mangel an Originalität, welcher die Bewunderung des
Gedichts in erheblichem Masse reduzieren muss. Es ist ganz erstaunlich,
wie der Dichter Schritt für Schritt dem Homer folgt. Allein nicht immer
gerät die Kopie; und nur zu oft wird das, was im Original an seinem
Platz war, in einen anderen Gedankenkreis versetzt, unpassend und schief.
Und auch bei Vergil nehmen wir an vielen Stellen diesen Fluch der
Nachahmung wahr. Obzwar wir nach dem Gesagten über die Aeneis als
Ganzes kein günstiges Urteil zu fallen vermögen, so steht doch unleugbar
fest, dass das Gedicht Einzelschönheiten immerhin genug bietet. Scenen
wie die Eroberung von Ilion, die Liebe der Dido, die Heldenschau in der
Unterwelt, die aufopfernde Freundschaft des Nisus und Euryalus, der Tod
des Pallas und die Klage um ihn werden stets in den Herzen fühlender
Leser ihr Echo finden.
Litteratur (knappe Auswahl): Nettleship, Suggestion« introductory io a study of
the Aeneid (Lectures and Essays)^ Oxford 1885. Plüss, Vergil und die epische Kunst,
Leipz. 1884 (phantastisch). Neebhann, Über ungeschickte Verwendung homerischer Motive
in der Aeneis, Ploen 1882. Caüeb, Zum Verständnis der nachahmenden Kunst des Vergil,
Kiel 1885.
48 BOmiflche LitteraturgeBChichte. II. Die Zeit der Monarcliie. 1. Abteilnng.
(f) Appendix Vergiliana (die sog. Jagendflchriften Vergils).
235. Bestandteile der Appendix Vergiliana. Ausser den Werken
Vergils, die wir eben kennen gelernt haben, gab es bereits im Altertum
unter seinem Namen noch eine Sammlung vermischter Gedichte, welche
seine Jugendversuche umfassen sollte. Sowohl Donat, der auf Sueton
zurückgeht, als Servius legen für diese Sammlung Zeugnis ab. Beide
zählen auf: Culex, Dirae, Aetna, Ciris, Gatalepton, Priapeia und
Epigrammata, bei Servius kommt noch Gopa hinzu. Die Zugehörigkeit
der Gopa erscheint aber als zweifelhaft, da Servius die Zahl der Schriften
schwankend auf 7 oder 8 angibt. Ein (jetzt aufgelöstes) Gorpus sog.
Virgilischer Gedichte ist auch auf uns gekommen; vergleichen wir den
Bestand desselben mit den obigen Zeugnissen, so finden wir dieselben
Stücke wie bei Servius und Donat, nur fehlen die Priapeia und die Epi-
grammata, die Überlieferung kennt statt dieser Gedichte nur ein Gata-
lepton. Allein in diesem Gatalepton stehen drei Priapeia; es fehlen also
bloss noch die Epigrammata. Nun wird aber von Quintilian (8,3,29) ein
Gedicht des Gatalepton (nr. 2 p. 163 B.) als ein „ Epigramm '^ bezeichnet,
ebenso spricht Marius Victorinus p. 137 K. von einem zweiten (nr. 12 p. 173 B.)
als einem „Epigramm**. Durch diese Zeugnisse ist erwiesen, dass das
Gatalepton auch Epigramme enthielt. Die Lösung der Schwierigkeit
ergibt sich jetzt von selbst; das Gatalepton umfasst zwei Unterabteilungen,
die Priapeia und die Epigramme; Servius und Donatus (oder vielmehr ihre
Quelle) hatten also in ihrer Sammlung ganz dieselben Stücke, wie wir
sie haben; nur irren sie darin, dass sie neben dem Gatalepton noch als
eigene Schriften die Priapeia und die Epigramme aufzählen, ein Irrtum,
der sich durch den ungewöhnlichen Ausdruck Gatalepton leicht erklären
und entschuldigen lässt.
Die in dem Gorpus vereinigten Gedichte haben sich nicht zufallig
zusammengefunden, sondern sind von einem Sammler zusammengestellt
worden, wie sich aus den zwei Schlussdistichen ergibt:
vate Syrcicosio gut duicior Heaiodoque
maior, Homereo non minor ore fuit,
illUis haec quoque sunt divini elementa poetae
et i'udis in Wirio carmine Caüiape,
Wann die Sammlung gemacht wurde, lässt sich nicht mit Bestimmtheit
ermitteln, ebensowenig wie dieselbe betitelt war. Wir besprechen die ein-
zelnen Stücke mit Ausnahme der Dirae, da dieselben bereits I § 99 berück-
sichtigt werden mussten.
Die Bestandteile der Sammlung. Donat. p. 58 R. poeticam puer adhue auspi-
catus in Balistam ludi magistrum ob infamiam latrociniorum cooperium lapidibus disti-
chon fecit:
monte sub hoc lapidum tegitur Balista sepuUits;
nocie die tuium carpe viator iter.
deinde catalecton et priapia et epigrammata et diras, item cirim (et cupam fügt Bahbeks
hinzu) et culicem, aim esset annorum XVI, cuius maieria talis est u. s. w. ... scripsit
etiam de qua ambigitur Aetnam, Mox cum res Romanas inchoasset, offensus maieria ad
bucoHca transiit, Serv. Aen. p. 1, 8 Th. primum ab hoc distichon factum est in Battistam
latrofiem (folgt dasselbe); scripsit etiam septetn sive octo libros hos: Cirin Aetnam Culicem
Priapeia Gatalepton Epigrammata Copam Diras. Das Gatalepton kommt vom griechischen
Appendix Vergiliana. Culex. 49
xata XtTtJoy^ durch welchen Ausdruck die kleineren Gedichte den grösseren gegenüber-
gestellt wurden. Dass unter den grösseren Gedichten sich auch die Copa befindet, er-
scheint auffällig, allein, wie bereits oben angedeutet, gehörte vielleicht die Copa nicht
ursprünglich zur Sammlung. Aus diesem Catalepton wurde später durch Hypostase ein
deklinationsfähiges Wort; wir finden bei Ausonius p. 139 Seh. (13,5) die quid significent
Catalepta Moronis. Andererseits wurde durch Verderbnis Catalecta (Berok, Opusc. 2, 745),
und diesen Titel führen in der Regel (nach Abtrennung der Priapea')) die Epigramme.
Der Titel der Sammlung. Mit der handschriftlichen Überlieferung setzen sich
in Widerspruch Ribbeck (Appendix Verg. p. 4) und Bahbens (PLM. 2, 36), wenn sie den
Namen „Catalepton*^ auf die ganze Sammlung beziehen. Einen Gesamttitel können wir
nicht mit Sicherheit eruieren, Diomedes p. 512 K. citiert „praeluaiones" , in manchen Hand-
schriften finden wir aeptem ioca iuvenalia Virgilii oder auch Virgilii iuvenalis
ludi libeHu8.
Die Geschichte der Überlieferung. BIhbens PLM. 2, 5 gibt folgende Grund-
züge: servatum erat ex antiquUate lacerum quoddam exemplar opuscula pseudovergiliana
eo quem in hac editione exhibemus ordine (acilicet Culicem Diras Copam Aetnam Cirin
Priapea Epigrammata tdve Caidlepta) continena, id exemplar — ineunte media aevo in duas
partes ita discissum est ut prior Culicem Diras Copam Aetnam — , altera reliqua poemata
romprehenderet ' kis duabus partibus varie consuluit fortuna; nam cum posterior nisi a con-
suetis quas tempus adspergere solet maculis non deformata ad nas pervenerit, prioris non
ita quieta fuere faia. Erst später wm'den mit der Sammlung vereinigt die Gedichte: De
Est et Non, De viro bono, De rosis nascentibus, und das Moretum. Von diesem sind die
zwei ersten (und wahrscheinlich auch das dritte) von Ausonius. Vgl. Bahrens p. 10.
Zeit der Sammlung. Zusammengestellt können die Gedichte nicht vor der Nero-
nischen Zeit sein, denn eines dieser Gedichte, der Aetna, setzt die quaestiones naturales des
Philosophen Seneca voraus (p. 52). — Sonntag, Über die Appendix Verg., Frankf. 1887.
236. Culex (Die Mücke). Das Thema des aus 414 Hexametern
bestehenden Gedichts ist so abgeschmackt als möglich. Ein Hirt geht auf
die Weide. Als die Sonne stark brennt, legt er sich zur Ruhe und fällt
in tiefen Schlummer. Da kommt eine Schlange, der sicher der Schlafende
zum Opfer gefallen wäre, wenn ihn nicht eine Mücke im rechten Augen-
blick gestochen hätte. Der Hirte erwacht plötzlich, fährt nach der Mücke
und schlägt sie tot; allein zu gleicher Zeit sieht er die Schlange; er ist
so glücklich, dieselbe vor ihrem mörderischen Beginnen unschädlich machen
zu können. Nachts erscheint ihm im Schlafe die Mücke und klagend über
ihr Schicksal gibt sie eine weitläufige Beschreibung der Unterwelt. Der
Hirte errichtet ihr einen mit den schönsten Blumen geschmückten Grabes-
hügel mit dem Elogium:
parve culex, pecudum custos tibi tale merenti
funeris officium vitae pro munere reddit.
Das Ganze würde noch leidlich motiviert sein, wenn etwa die unbestattete
Mücke nicht in das Totenreich hätte kommen können und daher um
Beerdigung gebeten hätte.*) Allein der Verfasser durfte diese Bitte
nicht stellen lassen, um Bilder der Unterwelt dem Leser vorführen zu
können. Die Gemeinplätze und die Schilderungen sind es ofiPenbar, durch
welche er seine Kunst zeigen will. So gibt er uns ein Lob des Land-
lebens (58 — 97), eine Zeichnung des schattigen Ruheplatzes (109 — 156),
eine Beschreibung der Schlange (163 — 182), endlich — und das sollte
wohl seine Glanzleistung sein — eine Ausmalung der Schattenwelt mit
ihren Bewohnern (216 — 375). Das Epyllion ist einem Octavius gewidmet;
^) Nabkb, Val. Cat. p. 228 omiserunt
Heynius et qui proximi ante Heynium, car-
mina ad Priapum spectantia tria und vorher
neque dubium mihi quidem videtur, quin re^
stituenda sint Catalectis tria exclusa ab Heg"
nio carmina,
*j Baüb p. 375.
I
BADdbuch der klaas. AltortuaiBWiBienichaft. Vm. 2. Teil.
50 Römische LüteratnrgeBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
die Widmung geht dem eigentlichen Gedicht, das mit der Anrufung des
Apollo, der Musen und der Flurgöttin Pales beginnt, voraus; dieser
Octavius wird v. 25 venerande genannt, an zwei Stellen (26 und 37)
puer;^) es wird ihm ewiger Ruhm verheissen und ein langes Leben für
ihn erfleht.
237. Der Autor des Gedichts. Es fragt sich, wer dieser Octavius
ist. Und mit dieser Frage treten wir an die Erörterung der Autorschaft
des Gedichts. Nach der feierlichen Art, mit der derselbe behandelt wird,
muss man glauben, es ist Octavian. Allein Octavian lässt sich schwer mit
Vergil als Verfasser in Einklang bringen. Denken wir an die Zeit, in der
Octavius sich bereits Octavian nannte (44), so stört die Anrede Octavius,
auch würde dann Vergil den Culex schon in reiferen Jahren verfasst haben,
das Gedicht würde ganz nahe an die Eclogen herangerückt werden müssen ;
allein diese Annahme ist unmöglich, denn die Differenzen zwischen den
Eclogae und dem Culex sind zu gross. Wollten wir aber die Abfassung
des Culex in eine Zeit zurückverlegen, in der Octavian noch Octavius
hiess und in der Vergil noch in unreifen Jahren stand, so würden wir auf
ein Alter des Octavius stossen, in dem er unmöglich die Aufmerksamkeit
des Dichters auf sich ziehen konnte. Wir können aber auch nicht an
einen andern Octavius denken, etwa an den Historiker Octavius, denn auf
diesen würden ja schon die überschwenglichen Epitheta nicht passen. Wir
sehen, bereits durch diese kurze Betrachtung ist die Autorschaft Vergils
erschüttert. Sie wird völlig unhaltbar, wenn wir die dichterische Kunst
des Produkts ins Auge fassen. Diese bietet uns einen merkwürdigen Gegen-
satz dar, auf der einen Seite die peinlichste Sorgfalt in Bezug auf die
metrische Technik z. B. in Bezug auf die Zulassung der Elisionen,*) auf
der andern Seite völlige Geschmacklosigkeit. In beiden Dingen tritt der
Autor mit Vergil in Widerstreit. Einmal hat dieser nicht jene ein-
schnürenden metrischen und prosodischen Regeln befolgt, die sich der
Culexdichter auferlegt, dann steht seine Kunst der Komposition so hoch
über der, welche im Culex ausgeprägt ist, dass keine Altersdifferenz
diesen Unterschied erklären kann. Wer den göttlichen Funken nicht in
der Jugend hat, wird ihn auch nicht im Alter haben. Das Gedicht kann
nicht von Vergil sein. Dieser Schlussfolgerung scheint aber eine grosse
Schwierigkeit entgegenzustehen. In der Litteratur begegnet uns mehrere
Male ein Vergilischer Culex; Lucan kennt einen solchen, auch Statius
und Martialis reden in deutlicher Weise von einem solchen. Es ist nicht
wahrscheinlich, dass diese Dichter einen andern Culex vor sich hatten als
den unsrigen, denn sonst müssten wir annehmen, dass der Culex dieser
Dichter verloren ging und dann erst der unsrige ans Tageslicht trat;
allein in eine spätere Zeit führt weder die Sprache noch die Metrik.
Wir werden daher zu statuieren haben, dass vor diesen Dichtern (also
') Mit verwerflicher Willkür hat zwei-
mal Bahrens dieses „puer** beseitigt, v. 26
durch pateTj v. 37 durch fero. Es ist selten
ein Text mit grosserer Schonungslosigkeit be-
handelt worden als dieser Culex von Hährens.
*) z. B. nur dreimal werden lange Vo-
kale oder Diphthonge elidiert (68. 288. 400),
bei Vergil dagegen ziemlich oft, vgl. Haupt,
Opusc. 1 p. 92." Baur p. 368. Dazu Bahskvs
p. 26.
Appendix Vergiliana. Aetna. 51
vor der Neronischen Zeit) unser Culex Vergil unterschoben wurde. Der
Fälscher benützt die echten Gedichte Vergils,*) und da er ein Jugend-
gedicht desselben geben will, fingiert er eine Anrede an den puer Octavius ;
allein es fliessen auch Züge hinein, die von dem nachmaligen Octavian
hergenommen sind.
BticHELER, Rh. Mus. 45, 324 Ovidio rix posterior quaesiiae doctrinae specimen arti-
ficiosum edidit suppositurus, nisi de Octapto sententia me faUü, Vergilio aut vati alü qui
hoc quasi hido ante sexaginta annos adulescentem delectasset principem. Ob Vergil selbst
in seiner Jugend einen Culex geschrieben, der von ihm vernichtet wurde oder verloren
ging, kann immer noch als eine offene Frage belassen werden. BXhrbns spricht die Ver-
mutung aus, dass vielleicht das oben ausgeschriebene Elogium von Vergil herrührt und der
Anlass zum Gedicht wurde, wie für die Giris die Verse der Georgica.
Die den Culex bezeugenden Stellen sind : Suetons vita Lucani p. 50 R. ut praefatione
quadam aetatem et initia sua cum Vergilio eomparans ausus sit dicere „et quantum mihi
restat ad Culicem,** Stat. Silv. praef. lib. I sed et Culicem legimus et Batrachomyomachiam
etiam agnoscimus; nee quisquam est iUustrium poetarum, qui non aliquid operihus suis
stilo remissiore praeluserit. In dem Genethliacon Lucani (Silv. 2, 7, 73) heisst es: haec
primo iuvenis canes sub aevo ante annos culicis Maroniani, Martial. 8, 56, 19 Protinus
Jtaliam concepit et arma virumque, Qui modo rix Culicem fleverat ore rudi, 14, 185
Accipe facundi Culicem^ studiose, Moronis, Ne nucibus positis arma virumque legas. Da
Lucan in der Zeit Neros lebte, so musste also damals schon der unechte Culex vorhanden
gewesen sein. Dem Donat lag sicher unser Culex vor (p. 58 R.).
Einen Vergilischen Kern des Gedichts, der aber durch weitgehende Interpolationen
ganz überschüttet worden sei, nimmt Heyios an, in seiner Ausgabe macht er diese Inter-
polationen äusserlich kenntlich. Diese Ansicht kann durch nichts begründet werden. Trotz-
dem ist sie in neuer Zeit wieder aufgefrischt worden von Hildebbamdt, Stud. auf dem
Gebiet der röm. Poesie und Metrik I. T. Vergib Culex, Leipz. 1887. — Baub, Fleckeis. J.
93,357. Ledbbeb, Ist Vergil der Vf. von Culex und Ciris, Leipz. 1890.
Zur Komposition des Gedichts gibt treffliche Bemerkungen Birt, De Halieuticis
p. 51. Über ähnliche Themata hatten schon die Griechen gedichtet. Zenob. 4, 64 Kiaaami
Ktüof ' ovTog tjy 6 noXv^giftuaro^ ' rovrto tpaaiy ^y^eXvy intfpaiyofÄ^yfjv xaz heg ro xtiX'
Xunoy rtSy ngoßättoy agnäCeiy ' xai joy Kiaaufiiy ayeXety avrtjy ' tpaivofAiytjy di avr^
xax' oyag xsXevaai xara&tiilfai avxrjy ' xoy di fjLTJ (pQoyrlCoyra nayyeyy dnoX^o^ai.
Überlieferung: Die weitaus beste Handschrift ist der Vossianus L. 0. 81 s. XV.
238. Der Aetna« Dieses Gedicht, das uns in furchtbar entstellter
Gestalt überliefert ist (646 Hex.), will die Theorie des Vulkanismus dar-
legen. Da der Vesuv damals als ausgebrannt galt und daher wenig mehr
beachtet wurde, musste der Aetna den Hintergrund für die Theorie bilden.
Diese Theorie hat drei Dinge zu erklären; die bewegende Kraft, die Ent-
stehung des Feuers und das Material für das Feuer. Die bewegende Kraft
ist die Luft, die in den leeren Räumen, von denen die Erde durchzogen
wird, vorhanden ist; zusammengedrängt entfacht sie den Brand; Nahrung
für das Feuer ist bes. das Gestein, welches lapis molaris heisst. So fasst
der Dichter seine Grundanschauung in dem Epilog zusammen (566):
haec operis forma est, sie nohilis uritur Aetna
terra foraminibus vires trahit, urget in artum
spirituSf incendi vincuntur maxima saxa.
Seine Lehre entwickelt der Dichter in durchaus sachgemässer Weise.
Hiebei unterlässt er aber nicht, in begeisterten Worten auf den hohen
Wert der Naturerkenntnis hinzuweisen (224):
non oculis solum pecudum miranda tueri
more, nee effusis in humum grave pascere corpus;
nasse fidem rerum, dubiasque exquirere causas,
ingenium sacrare caputque attoHere caelo.
*) Genauere Ausführung hei Baub p. 369.
52 Römische LitteratTirgeBohichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
Wir werden an Lucretius erinnert, nur dass im Aetna die grossartige
Weltanschauung fehlt, welche den Worten jenes Poeten ein so grosses
Gewicht verleiht. Er eifert gegen die unwürdigen Sagen, welche die Natur-
erscheinung des Aetna erklären sollen, er klagt, dass die Leute so viele
Orte ihrer Merkwürdigkeiten wegen besuchen, an dem grossartigen Schau-
spiel des Aetna teilnahmslos vorübergehen ; er sieht geringschätzig auf die
Dichter herab, welche die abgedroschenen mythologischen Themate be-
handeln. Allein auch er rauss der Phantasie seinen Tribut darbringen,
er schliesst sein Gedicht mit der schönen Erzählung der Brüder von
Catane. Diese dachten bei einem Ausbruch des Aetna an nichts anderes,
als ihre greisen Eltern zu retten; sie nahmen sie auf ihre Schultern
und während alle übrigen, welche ihr Hab und Gut zu bergen suchten,
den verheerenden Flammen zum Opfer fielen, ging ihnen das Feuer aus
dem Wege.
239. Abfassangszeit und Autor des Aetna. Die Autorschaft Vergils
trägt Donat bei diesem Gedicht zweifelnd vor;^) in der handschriftlichen
Überlieferung wird dagegen dasselbe ohne weiteres dem Vergil beigelegt.
Auf den ersten Blick sieht man, dass des Dichters Individualität eine ganz
andere ist als die Vergils. Geschrieben muss der „Aetna** vor 79 n. Ch.
sein; in diesem Jahr fand der bekannte Ausbruch des Vesuv statt; eine
solche merkwürdige Erscheinung hätte der Verfasser nicht übergehen
können. Weiterhin ist gesichert, dass derselbe die Schriften Senecas, in
erster Linie die Quaestiones naturales fleissig für sein Werk benutzt hat.
Da die genannte Schrift Senecas nicht später als 65 n. Ch. geschrieben
sein kann, so hätten wir als Grenzen für die Abfassungszeit die Jahre
65 — 79 n. Ch. anzunehmen. Ist sonach die Zeit des Gedichts ins Reine
gebracht, so stösst dagegen die Bestimmung des Autors auf unlösbare
Schwierigkeiten. Ausgangspunkt der Untersuchung ist der 79. Brief Senecas
an Lucilius. In demselben erwartet Seneca von seinem Freunde zu hören,
was die Umschiffung Siciliens Neues gebracht habe; er rät ihm auch die
Besteigung des Aetna an und erwartet, dass Lucilius in seinem Gedicht den
Berg beschreiben und den allen Dichtern geläufigen Gemeinplatz ^streifen*
werde. Dies habe Ovid und Vergil gethan; auch Cornelius Severus sei
durch diese Vorgänger nicht davon abgeschreckt worden. Aus diesen
Worten hat Scaliger auf Cornelius Severus als Verfasser geraten; allein
der ist ein Schriftsteller der augusteischen Zeit, welcher nach dem oben
Gesagten das Gedicht nicht zugewiesen werden kann. Viel ansprechender
ist die ebenfalls auf diese Stelle sich stützende Vermutung Wernsdorfs,
dass Lucilius den Aetna verfasst habe. Für den spricht nicht Weniges;
er lebte in der von uns bestimmten Epoche, er war als Freund Senecas
sicherlich mit dessen Schriften bekannt, als kaiserlicher Prokurator hatte
er reichlich Gelegenheit, sich mit dem Aetna zu beschäftigen, er war über-
dies Schriftsteller (Sen. ep. 46), jaDichter (Sen.N.Q.4,2,2 Ep.8,10 24,20),
der in einem dichterischen W^erk sogar Sicilisches 2) wie die Sage von
Arethusa (Sen. N. Q. 3, 26, 5), behandelt hatte.
M Waoleb p. 63.
«) Ein Hexameter ist Sen. N. Q. 3, 1, 1 angeführt (Bahbeks, FPR. p. 362).
Appendix Yergiliana. Girifl. 53
Allein der Hypothese stellt sich ein Hindernis entgegen ; das Zeugnis
Senecas setzt ein Oedicht voraus, in dem die Beschreibung des Aetna als
Episode gedacht wird. Ein solches Gedicht aber hat Lucilius nicht ge-
schrieben, denn an den Stellen der naturales quaestiones, an denen Seneca
des Gedichts gedenkt, ersehen wir zwar, dass Sicilien der Gegenstand des-
selben war, allein der Philosoph schweigt von demselben da, wo er seine
Theorie der Erdbeben und der feuerspeienden Berge entwickelt. Es bleibt
also nur die Annahme übrig, dass Lucilius (nach den naL quaest.) ausser
jenem Gedicht über Sicilien in späterer Zeit noch ein zweites über den
Aetna verfasst habe. Diese Vermutung ist sicherlich möglich, allein sie
lässt sich nicht beweisen. Sonach ist die Frage nach dem Autor dieses
Lehrgedichts in der Schwebe zu lassen.
Seneca Ep. 79,4 donec Aetnam describas in tuo carmine et hunc sollemnem omnibus
poetis locum atiingas; quem qtiominus Otidius tractaret, nihil obstitU quod iam Vergiliua
impleverat: ne Severum quidem Cornelium uterque deterruit, Omnibus praeterea f elidier
hie locus se dedit (Waolbr p. 61). — Gegen Bähbens, der den Aetna in die augusteische
Zeit setzt (p. 31), wendet sich mit Recht Waolbr p. 41, ebenso gegen Kbuczkiewicz, der
die Autorschaft Vergils festhalten will (Krakau 1883) p. 62.
Die Abhängigkeit des Aetna von Seneca, bes. dessen not, quaest, erörtert
nach Jacobi (p. XVII L) genau und umsichtig Waoler p. 40; besonderen Wert legt (p. 57)
er auf die Übereinstimmung von N. Q, 3, 16, 4 = Aetna 302 und 303.
Die Überlieferung. Am besten war der verschollene Codex Gyraldinus; wir
kennen aber dessen Jjesarten nur zu v. 138—287. In zweiter Linie steht der vollständige
Cantabrigiensis s. X/XI, die beste von den erhaltenen Handschriften (Waolbr p. 1—48).
Ausgaben: Von Jacob (mit Übersetzung), Leipz. 1826; von Munro (englisch),
Cambridge 1867; von M. Haupt in seiner Vergilausgabc; von Bährbns, PLM. 2, 88. Um
die Kritik dieses ungemein verdorbenen Gedichts hat sich die grössten Verdienste M. Haupt
erworben, vgl. dessen Opusc. — Waoler, De Aetna quaest. crit,, Berlin 1884.
240. Ciris. Als Verfasser der Ciris stellt sich in der Einleitung ein
schon bejahrter, durch das politische Leben hindurchgegangener Mann dar,
der, als er das. Gedicht ausarbeitete, in Athen weilte. Es soll nur ein
Intermezzo sein und ein in jungen Jahren begonnenes Werk zu Ende ge-
führt werden. Später will der mit philosophischen Studien beschäftigte
Autor ein Gedicht „über das Weltall*" schreiben. Die Ciris ist einem
Messalla gewidmet, der (36) als „gelehrter Jüngling" angeredet wird, ver-
mutlich der älteste Sohn des Redners Messalla, Messallinus (Gons. 3 v. Gh.).*)
Das Epyllion behandelt den Mythos von der Scylla, der Tochter des mega-
rischen Königs Nisus. Die Macht der Liebe, die zum Verrate am Vater
führt, ist der Kern dieser Sage. Minos belagerte Megara, Nisus ist aber
durch eine purpurne Locke geschützt, denn solange diese unversehrt bleibt,
hat er keine Gefahr zu befürchten (124). Da entbrannte die Tochter des
Nisus, Scylla, in Liebe zu Minos. Die Leidenschaft siegt über die Pflicht,
sie schneidet die Locke des Vaters ab. Megara wird von Minos genommen,
aber die Verräterin erntet nicht die Früchte ihres Verrats. Sie wird von
Minos ans Schiff angebunden und durch das Meer geschleift, bis sie in
einen Meervogel, Ciris (von xetQCiv = abschneiden), verwandelt wird. Auch
der Vater erfährt nach seinem Tode eine Metamorphose; da er wieder das
Tageslicht schauen will, wird er in einen Seeadler (haliaeetos) verwandelt,
der die Ciris mit grimmem Hass verfolgt; denn
*) Das ist die Ansicht Teuffels, Paaly Realencyclop. 6, 2657.
54 BOmische Litteratorgeachichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
quacumque illa levetn fugiens secat aethera pinms,
ecce inimicus atrox magno Stridore per auras
insequUur Nisus; qua se fert Nisus ad auras,
illa levem fugiens raptim secat aethera pinnis.
Mit diesen Worten, welche sich auch in Vergils Georg. 1, 406 finden, schliesst
das Gedicht. Der unnatürliche Mythus weist auf die alexandrinische Rich-
tung hin, in der That lesen wir, dass Parthenius diesen Stoff in seinen
Metamorphosen behandelt hat.^ Nach Art der Alexandriner sucht der
Dichter seine Belesenheit kundzugeben, er berichtet daher im Eingang (54)
die verschiedenen Sagen von Scylla; bei der Britomartis erläutert er kurz
die anderen Namen derselben (303) ; endlich bringt er seine geographischen
Kenntnisse als Schmuck des Gedichts an. In der Form verrät die häufige
Anwendung der Parenthese den Alexandriner. Um eine gleichmässig über
alle Teile des Mythus sich erstreckende Dichtung ist es dem Verfasser
nicht zu thun. Manches wird nur ganz kurz behandelt, z. B. das Ver-
hältnis des Minos zur Scylla, wie der weitere Verlauf der Sache nach dem
Verrat der Scylla. Auch greift der Dichter sogar der Entwicklung der
Handlung vor (190). Nur einige Teile werden aus dem Mythos ausge-
wählt und zwar solche, welche ein ndd^og in sich schliessen; es ist dies
einmal der erste Schritt der Scylla zur verbrecherischen That; sehr an-
mutig wird geschildert, wie Scylla nachts von ihrem Lager sich erhebt,
um zur Ausführung ihres Vorsatzes zu schreiten; wie sie von der sorg-
samen Amme Garme überrascht wird, wie sie sich zum Geständnis ihrer
Liebe herbeilässt, wie Carme ihr rät, auf dem Weg der Güte die Ver-
bindung mit Minos vom Vater zu erwirken, wie der Versuch scheitert und
wie endlich, nachdem alles missglückt, auch die Amme Mithelferin im
Verbrechen wird. Die zweite Scene, welche der Dichter zum Gegenstand
seiner Bearbeitung macht, ist die Bestrafung der Scylla. Hier fällt alles
Gewicht auf die Wehklagen, welche die vom Schiff durchs 'Meer geschleifte
Sünderin ausstösst. Es lässt sich nicht in Abrede stellen, dass diese Schil-
derungen den Leser packen und rühren und die Kunst des Dichters in
günstigem Licht erscheinen lassen. In der Form zehrt der Verfasser von
den Früchten Catulls und Vergils; man kann sein Gedicht fast einen Cetito
aus beiden nennen. Um so bewunderungswürdiger ist aber, dass auch hier
die Spuren der Nachahmung überwunden sind und die Darstellung einen
durchaus einheitlichen Charakter an sich trägt.
Die verschiedenen Phasen der Sage ordnet übersichtlich Rohde, Gr. Roman p. 93
Anm. 3. In der Bearbeitung der Sage von Ovid Metamonph. 8, 1 — 151 treten die aufkeimende
Liebe der Scylla, ihre Selbstfiberredung zur That, ihre Strafrede an den abfahrenden Minos
als Glanzseiten hervor. — ElBeunen, Proleg. in Cirin, Utrecht 1882.
Die Nachahmungen aus Vergil und CatuU stellt Bähbens zusammen PLM. 2, 186.
Überlieferung: Für die Partie von v. 454 an ist der zuverlässigste Zeuge der
Bruxellensis s. XII, für das übrige vorzugsweise der Helmstadiensis (Guelferbytanus)
332 8. XV.
241. Das Gatalepton (Poetische Eleinigkeiten). Catalepton ist,
wie p. 49 dargelegt, das hypostasierte xard ksmov, und bezeichnet nach
dem Vorgang des Dichters Aratus eine Sammlung kleiner Gedichte. In
^) Meineke, anal. Alex. p. 272 Carmen
ad Parthenii imitationem compositum esse
haud improbabüi coniectura saspicatur Hey-
nius. Ebenso Rohde, Griech. Rom. p. 93.
Appendix Vergiliana. Gatalepton.
55
demselben sind nach den Handschriften 3 Priapeia und 14 andere kleine
Gedichte, welche von einigen Autoren Epigramme genannt werden, ver-
einigt.
Die drei Priapeia haben einen Gemeinplatz gemeinsam, die Schilderung
der Gaben, die dem Priapus in den verschiedenen Jahreszeiten gespendet
werden. Man wird daher wohl auf drei Autoren schliessen müssen, welche
denselben Gedanken variiert haben, i) Dem Urheber der Sammlung war
vielleicht dieses gemeinsame Motiv Anlass, die drei Gedichte zusammen*
zustellen. Von Vergil dürfte keines herrühren.
Unter den übrigen kleinen Gedichten befinden sich aber solche, welche
mit Wahrscheinlichkeit Vergil beigelegt werden können. So wird der
Meister die ergreifenden Choliamben nr. 5 (7) geschrieben haben, in denen
er von der Rhetoren- und Grammatikerschule Abschied nimmt, um sich
der Philosophie des Epikureers Siro zuzuwenden:
ite hinc, inanes, Ue, rhetorum ampuüaet
inflata rhoso non Achaio verba
et V08, Selique Tarquitique Varroque,
scolasticarum natio madens pingui
ite hinc, inane cymhalon iuventutis;
tuque o mearum cura, Sexte, curarum,
vale, Sabine; iam miete formosii
no8 ad heatos vela mittimus portiis,
magni petentes docta dicta Sironis,
tntatnque ab omni vindicabimus cura,
ite hinc, Camenae, vos quoque ite iam aane,
dulces Camenae, (nam fatebitur verum,
dulces fuistis); et tarnen meas cartas
revisitote, sed pudenter et raro.
Auch das ebenfalls sehr zarte Gedicht nr. 8 (10), in dem der Dichter sich und
die Seinigen der Villa, die früher im Besitze Sirons war, in dem Zeiten-
sturm zur Aufnahme empfiehlt, werden wir als echt betrachten. Die Stücke
nr. 1 und nr. 7 (9) sind an Vergilische Freunde gerichtet; in dem ersten
wird Tuccas Ruhmredigkeit in Bezug auf ein Liebchen verspottet, in dem
zweiten der „dulcissimus" Varius angeredet. Für die Echtheit spricht,
dass alle diese Produkte ihren Stoff aus dem Leben Vergils schöpfen oder
sich auf seinen Freundeskreis beziehen; sie enthalten ferner nichts, was
seiner unwürdig wäre. Gewöhnlich wird noch Gedicht nr. 14 (6) als aus
dem Leben Vergils gegriffen zu den echten gezählt; der Dichter verspricht
hier in hübscher Weise der Venus reiche Opfer, falls er mit seiner Aeneis
glücklich zu Ende komme. Allein einer der feinsten Kenner dieser Poesien,
BücuELER, hält das Gedicht wegen der darin vortretenden Grundanschauung
und wegen der Nachahmung echter Virgilischer Gedichte für eine etwas
später fallende Schöpfung. =^) Ebenso bedenklich ist das geschraubte, äusserst
dunkle, auf griechischen Reminiszenzen^) beruhende Epigramm nr. 2 auf
den altertümelnden Annius Cimber, wenngleich Quint. 8, 3, 27 und Ausonius
p. 139 Seh. dasselbe als Virgilisch bezeugen. Die Epode 13 (5) weist
auf andere Lebensverhältnisse und eine andere Individualität als die des
») Bahrbns, flu. 2, 33.
') BücHELER p. 524 alius feeit Ovidio
fortasse non natu, sed arte minor.
^) BücHELBR p. 510. (Kaibel, Rh. Mus.
44, 316).
56 Römische Litteraturgeachichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilimg.
Dichters hin; da hier allem Anschein nach dieselbe Persönlichkeit ver-
spottet wird wie in nr. 6 (3) und 12 (4), so ist zu vermuten, dass sie alle
drei von einem und demselben Dichter herrühren. *) Ebensowenig kann der
Panegyricus aus Messalla (nr. 9 oder 11) Vergil angehören, ein durchaus
schülerhaftes Machwerk, aus dem man sehen kann, wie das mythologische
Beiwerk und die rhetorische Ausmalung gehandhabt wird. Es bleiben noch
die merkwürdige Parodie eines catullischen Gedichts (nr. 10 oder 8) auf
den Prätor des J. 43 Yentidius Bassus, der sich zuerst Quinctio, dann
Sabinus, endlich Bassus nannte,^) einen frühern Maultiertreiber, das Epi-
gramm auf Alexander den Grossen als einen Zeugen für die Vergänglich-
keit des Menschlichen (3 oder 12), das heitere nach einem Gedicht des
Callimachus gearbeitete') Gedicht (11 oder 14), in dem sich der Historiker
Octavius Musa gegen die Nachreden, dass sein frühes Ende durch das
viele Zechen verursacht sei, mit den Worten verteidigt:
pobiscum, si est culpa , hibi: sua quemque secutUur
fata: quid inmeriti crimen habent cyaihi?
endlich nr. 4 (13), ein inniges Freundschaftslied auf denselben Octavius
Musa.^) Bezüglich dieser Stücke ist das Urteil schwankend. Ich möchte
höchstens nr. 4 (13) als vergilisch ansehen.
Den Titel Catalepton erläutern folgende Stellen : Vita Arati p. 55 Westerm. eygatpB
dk xal äXXa noitj/nara nsgl tb 'O/iaijqov xal 'Ihadog . . . xal eis Mvqiy roy d&eX(p6y hti-
xtj&€ioy xal J^oarifAua Xfd £xv&ix6y xai xatd Xenroy äXXa. Strab. 10, 486 "Jgatog iy rotg
xard XsTtToy, Vgl. R. Ungeb, Fleckeis. J. 113,430.
Oberlieferung: Die beste Handschrift ist der Bruxellensis s. XII, von der zweiten,
jüngeren Familie sind die reinsten Vertreter der Helmstadiensis 332 s. XV und der Mona-
censis 18895 s. XV. Nach gewissen Störungen berechnet Böcheler p. 525 die Zahl der
Zeilen auf einem Blatt des Archetypus auf 42.
Litteratur: Naeke in Valerius Cato p. 228; Ribbegk, Appendix Vergüiana p. 1 — 14;
BXhrens, PLM. 2, 35. Treffliche Beiträge zur Kritik und Erklärung der Gedichte gibt
Bücheler, Rh. Mus. 38, 507—525.
242. Copa (Die Schenkwirtin). In diesem 19 Distichen umfassenden
Gedicht wird uns eine vor ihrem Lokal tanzende, Gastagnetten schlagende
syrische Wirtin vorgeführt, welche den Wandersmann einladet, ob der
Sonnenglut Rast zu machen und in ihre Kneipe einzukehren. In lebhafter
Weise schildert sie, was alles das Leben Erfreuende dort zu finden sei,
Gaben der Ceres, des Amor und des Bacchus. Das Idyll schliesst mit einer
Aufforderung, das Leben zu gemessen:
pone merum et talos. pereat qui crastina curet!
mors aurem veUens ,vivite* auf yVenio*»
Der Gewährsmann des Gharisius p. 63, 11 E. hielt das Gedicht für vergilisch: quamvis
Vergilius librum suum Cup am inscripserit. Allein der Ton spricht dagegen.
Die Abfassungszeit bestimmt Bücheler also (Rh. Mus. 45, 323): scriptam ego
Copam post Propertti librum ultimum arbiträr, sed quia pentametri clausula nondum lege
nova adstricta apparet, proxime a, 738/16.
Überlieferung: Wie beim Culex ist der Vossianus L. 0. 81 s. XV die massgebende
Handschrift.
*) Bücheler p. 519. I "•) Ribbeck, Appendix Vergüiana p. 9.
*) Bücheler p. 519.
») Haupt, Opusc. 2, 146.
Bähreks p. 34.
Andere PsendoTergiliana. 57
e) Andere Pseudovergiliana.
243. Moretum (Das ländliche Frfliistück). Ausser der Appendix
Vergiliana tragen noch zwei Produkte in der Überlieferung den Namen
Vergils, das Moretum und die Elegiae Maecenatis. In dem ersten Gedicht
wird ein ländliches Gericht geschildert, das «Moretum^ heisst. Dasselbe
wurde in der Weise zubereitet, dass verschiedene Kräuter, Knoblauch,
Eppich, Raute und Koriander in einem Mörser zerstossen, mit Salz, Käse,
Öl und Essig versetzt und dann zu einem Klosse geformt wurden. Dieser
Kräuterkloss bildete mit Brot das Frühstück des Landmanns Simylus. Der
Dichter malt mit frischen Farben, wie Simylus sich dieses Frühstück
zurecht macht. Wir sehen, wie sich der Bauer beim Hahnenruf von seinem
Lager erhebt, wie er das Feuer anbläst, wie er sich das entsprechende
Quantum Getreide aus der Vorratskammer holt und wie er dasselbe auf
der Handmühle mahlt. Wir hören, wie er die Magd, Scybale die Afrikanerin,
herbeiruft und ihr befiehlt, heisses Wasser zu machen. Der Dichter erzählt
weiter, dass Simylus das Gemahlene knetet und in den Ofen schiebt, dass
er in den Garten geht, um sich die für das Moretum notwendigen Kräuter
zusammenzusuchen. Es folgt die anmutige Ausmalung der Operationen,
welche der Kräuterkloss erfordert. Inzwischen ist auch das Brot im Ofen
fertig geworden, der Landmann kann jetzt sein Frühstück verzehren;
nachdem er dies gethan, wandert er aufs Feld hinaus.
Wir haben hier nur einige Striche des Gemäldes gegeben, die ausser-
ordentlich feine Kleinmalerei, über welche der Dichter gebietet, kann nur
aus der Lektüre des Gedichts selbst geschöpft werden. Von Vergil kann das
liebliche Idyll nicht sein; der Stil ist ein anderer; aber es liegt der Ver-
gilischen Zeit sehr nahe. Ein griechisches Muster wird dem Dichter vor-
gelegen haben. Hatte doch Parthenius von Nicaea ebenfalls ein „Mörser-
gericht** (iivTT(ot6g) geschrieben und bei der einflussreichen Stellung, welche
der Grieche in Rom in der litterarischen Gesellschaft einnahm, ist eine
Nichtberücksichtigung dieses Epyllion nicht wahrscheinlich. Schon früher
(§ 92) hatten wir daher für das Moretum des Sueius als Vorbild dieses
alexandrinische Werk vermutet. Wie sich beide Bearbeitungen von-
einander unterschieden, können wir nicht mehr feststellen. Nur aus den
zahlreichen eingeflochtenen römischen Zügen des erhaltenen Moretum lässt
sich folgern, dass dasselbe keine Übertragung, sondern eine freie Bearbei-
tung war.i)
Autorschaft. Isaac Vossius hat nach seiner Angabe in einer ambrosianischen Hand-
schrift die Notiz gefunden: Parthenius Moretum scripsit in Graeco, quem Vergilius Imitat us
ejft. Allein die Beglaubigung dieser Nachricht ist doch zu gering, um darauf Schlüsse zu
bauen. In die Appendix Vergiliana kam das Moretum erst im Mittelalter. Über den
Stil bemerkt Nabke p. 238 „stilus — elaboratwt et ronftummatus , at a Virgiliano tarnen,
qualis est in Bucolicis et Georgici», diver susJ*
M Die griech. Vorlage leugnet Bücheleb, est in sinu Hecales, contra faeiunt nonpatica
Rh. Mus. 45f 328 fru«tra quaesivi argumen- ad vitam romanam adumbrata ut semodius
tum quo conversum esse de graeco Moretum
comprobaretur ; nihil ad hanc rem valent
graeca personarum nomina aut indoles poetae
tenuis ac subtilis nutrita ut consentaneum
frumentiy Äfra fusca, quadrae panis, Vesta
pistorumf nundinae et macellum urhis, nomen
moreti a mortariis ductum.
58 Römijiche LitteraturgeBohichte. II. Die Zeit der Monarohie. 1. Abteilung.
Zeit des Gedichts. Ein Kriterium hat Scaliger in dem Verse (76)
grataque nobilium requies lactuca ciborum
erkannt. Lattich diente sonach zur Zeit des Dichters als Nachtisch. Zur Zeit des Mar-
tialis, also zur 2^it Domitians, gehörte Lattich zum Voressen (13, 14)
cludere quae cenas lacttica sohbat avorutn
die mihif cur nostras inchoat üla dapes?
Die von Martial vorgenommene Versetzung des im Moretum geschilderten Gebrauchs in
die Zeit der Grossväter führt in eine Vergil nahdiegende Epoche.') Daher Lachmaitk,
Lucrez p. 326 (Moretum) carmen Vergilianis aetate par esse existimo.
Über die Überlieferung vgl. Bahbens, PLM. 2, 178. — Reichenbach, Die Echtheit
des M., Znaim 1883.
244. Die zwei Elegien auf Maecenas. Von Henoch aus Ascoli
wurde im 15. Jahrh. ein Gedicht auf den Tod des Maecenas nach Italien
gebracht, welches dem Vergil beigelegt war. Scalioer erkannte, dass mit
dem Vers 145 ein neues Produkt anhebe und dass sonach in dem Fund
zwei Elegien stecken. Während die erste Elegie sich auf den gestorbenen
Maecenas bezieht, ist der Gegenstand der zweiten der sterbende, wäh-
rend in der ersten der Dichter spricht, vernehmen wir in der zweiten
Maecenas selbst. Beide Stücke rühren aber von einem Autor her. Das
erste will er auf Anregung des Lollius zur Verteidigung des Maecenas
geschrieben haben. In dem zweiten gedenkt Maecenas im Sterben noch-
mals in treuer Anhänglichkeit des Augustus und ruft ihm ein letztes Lebe-
wohl zu. Die beiden Gedichte sind schlechte, schülerhafte, mit Lesefrüchten
und einigem mythologischen Beiwerk versetzte Arbeiten; der metrischen
Technik nach zu schliessen, scheinen sie aber noch aus dem ersten Jahr-
hundert unserer Ära zu stammen.
Zeit der Abfassung. Im Eingang der ersten Elegie verkündet der Verfasser
dass er vor kurzem den Tod eines Jünglings dichterisch beweint habe, jetzt müsse er das
Ende eines Greisen, des Maecenas, beklagen. Wer der Jüngling war, verrät'^) er uns in
der zweiten Elegie, es ist Drusus, der im J. 9 v. Ch. starb, während Maecenas 8 v. Gh. aus
dem Leben schied. Da wir nun ^^'irklich ein Epicedium auf den Tod des Drusus haben,
so müssten wir also unsem Dichter auch für den Verfasser jener Conaoiatio halten. Und
dass wirklich zwischen den Elegien imd der Consolatio Beziehungen stattfinden, erhärtet
besonders ein kühner, beiden Schöpfungen gemeinsamer Ausdruck „Caesaris illud opus**
(Cons. 39 El. 2, 6), womit ausgedrückt werden sollte, dass Augustus den Drusus erzogen.
Allein die sofort in die Augen springende grosse Verschiedenheit der dichterischen Kunst
lässt den Gedanken an einen und denselben Verfasser der Consolatio und der Elegien im-
möglich aufkommen; denn der Autor der Consolatio ist ein ganz leidlicher Dichter, der
Verfasser der Elegien dagegen ein Stümper. Somit ist die Angabe von der Autorschaft der
Consolatio eine Fiktion; imd vielmehr zu statuieren, dass in den Elegien die Consolatio
nachgeahmt wurde. Wenn es nun richtig ist, dass die Consolatio nach Seneca fällt, so
müssen auch die Elegien später als Seneca sein und die angebliche Anregung des (aus
Horaz bekannten M.) Lollius (10) ist ebenfalls eine Fiktion. Auch dem Elegiendichter lag
Seneca vor, die Vorwürfe, die der 114. Brief gegen Maecenas schleudert, sucht er in der
ersten Elegie zu widerlegen.
Litteratur: Ausgaben von Ribbeok, Äppend, VergiL p. 193, von Barrens, PLM.
1,125. — Haupt, Opusc. 1,347. Hübker, Hermes 13,239. Schenkl, Wien. Stud. 2, 69.
ScHANTz, De incerti poetae consol. etc, p. 13. Wibdino, De aetate consol. p. 38.
245. Bückblick auf die Yergilischen Dichtungen. Nachdem wir
die unter dem Namen Vergils überlieferten Gedichte gemustert und die
echten von den unechten geschieden, erübrigt noch, eine kurze Charakte-
^) Vgl. noch Büchbleb, Rh. Mus. 45, 322.
^) Dies Moment scheint mir ganz besonders für einen Autor zu sprechen.
Bttokbliok auf die YergUischen Dichtungen. 59
ristik seiner Poesie zu versuchen. Bei der Analyse der einzelnen Werke
Vergils hat sich als ein hervorragendes äusseres Moment die lange Zeit
ergeben, die er auf jedes derselben verwenden musste. Zu den zehn
Stücken der Bucolica brauchte er drei, zu den vier Büchern der Georgica
sieben, zu den zwölf Gesangen der Aeneis elf Jahre. Es war sonach ein
sehr langsamer Arbeiter, und es wird uns ausdrücklich bezeugt, dass er
nur wenige Verse im Tage zustande brachte (Quint. 10,3,8); er feilte fort
und fort an denselben herum und verglich sich deshalb mit einer Bärin,
welche ihren plumpen Jungen durch beständiges Ablecken die gehörige
Form gebe (Donat. p. 59 R.). Vergil gehörte also nicht zu den Dichtern,
welche eine gärende Ideenwelt in ihrem Inneren bergen; er ist im wesent-
lichen auf Nachahmung angewiesen, es fehlt ihm die Originalität. Für
diesen Mangel spricht auch, dass sein poetisches Schaffen stark von fremden
Impulsen abhing, bei den Eclogen von der Einwirkung des Asinius Pollio,
bei d^n Georgica von der des Maecenas, bei der Aeneis von der des
Augustus. Allein trotzdem hat er Bewunderungswürdiges geschaffen, er
besass etwas, was auch der andauerndste Fleiss nicht ersetzen kann, die
tiefe poetische Empfindung. Und da wo diese Empfindung ungehindert
ausströmen kann, ist er am glücklichsten. Darum sind auch die Georgica
sein gelungenstes Werk. Hier, in diesen lieblichen Bildern ländlichen
Lebens entfaltet sich der Genius des Dichters am reichsten; seine Liebe
zur Natur und seine Begeisterung für Italien erklangen auf den Saiten am
hellsten. In den Bucolica und in der Aeneis dagegen ist seine dichterische
Ader mehrfach unterbunden; trotz der vielen Schönheiten, die uns entgegen-
treten, ruht ein krankhafter Zug auf jenen Gebilden. Vergil mag dies
selbst gefühlt haben; denn in einem Brief an Augustus klagt er, mitten
in dem Schaffen an der Aeneis stehend, dass er sich durch eine „Verirrung
seines Geistes'' an diese Aufgabe gewagt (Macrob. Sat. 1,24,11), und die
ängstliche Scheu, das noch nicht ausgefeilte Werk der Öffentlichkeit zu über-
geben, und seine hierauf bezüglichen Anordnungen für den Fall seines Todes
mögen in diesem Gefühl ihre Wurzel gehabt haben. Es ist, wie Niebuhr ')
sagt, dass die Natur Vergil eigentlich zum lyrischen Dichter bestimmt
hatte. Und einzelne Gedichte in dem Catalepton, die wir mit aller Wahr-
scheinlichkeit ihm zuschreiben müssen, wie z. B. das p. 54 mitgeteilte, lassen
eine Süssigkeit der Poesie erkennen, wie sie nur ein echter Lyriker uns
bieten kann.
Überlieferung der Vergilischen Gedichte. Für Vergil stehen uns sehr alte
Handschriften zur Verfügung. In Kapitalschrift sind 7 geschrieben und zwar folgende:
1) Codex Mediceus 39, 1 in Florenz (s. V). Diese Handschrift hat nach den
Bucolica eine subscriptio, aus der wir erfahren, dass Turcius Rufius Apronianus
A Sterins als Consul Ordinarius des Jahres 494 das Exemplar seines Bruders Macarius
rezensiert habe. Der auhacriptio folgen 8 Distiche über diese seine Thätigkeit, abgedruckt
in RiESBs Anthol. nr. 3; Bahrens, PLM. 5, 110. Da die Schrift der subscriptio von der des
Textes abweicht und etwa dem 6. oder 7. Jahrh. angehört, so ist klar, dass diese sub»
scriptio erst in dieser Zeit in die Handschrift kam und zwar nachdem diese mit einem von
Turcius Asterius rezensierten Exemplar des Macarius verglichen worden (Ribbeck, Proleg.
p. 228). Die Handschrift enthält notae (Ribbeck, Proleg. p. 158) und Scholien (Ihm, Rh. Mus.
45, 622). Abgedr. von Foooini, Florenz 1741. Hoffmann, Der Cod. Medic. 39, 1 d. V., Berl. 1889.
2) Codex Palatinus-Vaticanus 1631 s. IV oder V, früher in Heidelberg.
0 Vorles. über rOm. Gesch., hgg. von M. Isler 3, 132.
60 Römische LÜteraturgeschichte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
3) Codex Vaticanus 3867 s. IV oder V, eine Bilderhandschrift mit metriechen
Argumenten.
4) Schedae Vaticanae 3225, mit Bildern. Abdruck (mit den Bildern) von Bottabi,
Rom 1741.
5) Schedae Sangallenses.
6) Schedae Veronenses rescriptae. Es sind 51; dieselben haben Schollen.
7) Schedae Berolinenses et Vaticanae. In Berlin befinden sich drei Blätter
einer Vergilhandschrift, welche mit den schedae Vaticanae 3256, welche 4 Blätter umfassen,
zusam mengehören .
Facsimile von 1, 2, 3, 4, 5, 7 in den exempla cod. leU. von ZANOEMEisTEB-WATTEirBACH.
Aus keiner dieser sieben Quellen gewinnen wir einen vollständigen Text Vergils. Wegen
dieses fragmentarischen Charakters gebricht es an einem ausreichenden Fundament für unter*
suchimgen über das Stemma dieser Handschriften. Im Codex Mediceus fehlt nur Weniges.
Gegenüber diesen alten Zeugen können die jüngeren keine besondere Autorität beanspruchen
wie die von Ribbeck herangezogenen: der Gudianus 70 s. IX, der Bemensis 172 s. X, der
Bemensis 165 s. IX, der Bemensis 184 s. IX, der Minoraugiensis s. XII.
Gesamtausgaben (mit Auswahl): von Heyne- Waoneb, 4. Aufl., Leipz. 1830 — 41.
vol. I — III umfassen die Buc, Georg, und die Aen., vol. IV (carmina minora) von J. Sillig,
vol. V Virgili carmina ad pristinam orthographiam revocata. Ed. Ph. Wagneb. Von Fobbioeb,
4. Aufl., Leipz. 1872 — 75, im 3. Band auch die carmina minora. Kritische Hauptausgabe von
0. Ribbeck (Vol. I. Buc. et Georg., II— III Aen., FV Appendix Vergiliana); hiezu kommen
noch Prolegomena criiica, Leipz. 1859 — 1868 — mit ausgewähltem Apparat von Ladewio,
Berl. 1866. Thilo, Leipz. 1886. — Textausgaben von M, Haupt, 2. Aufl., Leipz. 1873,
0. Ribbeck, Leipz. 1867. — Schulausgaben von Ph. Wagneb mit lat. Kommentar, Leipz. 1861,
von Ladewio-Sotapbr (Weidmann), Kappes (Teubner), Klou6ek mit deutschen Noten.
Spezialausgaben: Vergils ländl. Gedichte (Text, Übers, und Erklär.) von J. H. Voss,
Bd. I und II Eclogae, 2. Aufl., Altena 1830; Bd. Ill und IV Georg., Altena 1800. Kolsteb,
Vergils Eclogen in ihrer strophischen Gliederung nachgewiesen mit Commentar, licipz. 1882,
Buc. erklärt von £. Glaser, Halle 1876. Georg, von dems., Halle 1872. Aen. ed. P. Hof-
han Peeblkamp, Leyd. 1843. Kommentar zum 1. imd 2. Buch der Aen. von Weidneb,
Leipz. 1869.
Erläuterungsschriften: KV19ALA, Vergilstudien, Prag 1878. Neue Beitr. zur
Erkl. der Aen., Prag 1881. Plüss, Vergil und die epische Kunst, Leipz. 1884.
C) Wirkungen der Vergilischen Poesie.
246. Aufnahme der Vergrilischen Dichtung bei den Zeitgenossen.
Die Werke Vergils riefen bei ihrem Erscheinen eine grosse Gärung hervor
und wurden, wie dies bei allem hervorragenden Neuen zu geschehen
pflegt, mit gemischten Empfindungen aufgenommen. Neben den Stimmen
hoher Bewunderung gewahren wir auch ganz entschiedene Äusserungen
grosser Feindseligkeit. Gegen seine Bucolica wurden Antibucolica ge-
richtet, man wollte durch die ätzende Schärfe der Parodie den Dichter
lächerlich machen. Allein nach den Proben, die uns zufallig zur ersten
und dritten Ecloge erhalten sind, müssen diese Antibucolica ein einfaltiges
Produkt gewesen sein. Ebenso albern ist die Parodie von Georg. 1,299;
man sieht, dass die Gegner Vergils diese schneidige Waffe nicht zu führen
vermochten. Ernstlicher waren die AngriflFe, mit denen man der Aeneis
zu Leibe ging. Mit Argusaugen durchspähte man dieselbe, um Fehler
aufzudecken; dies that z. B. Herennius und Carvilius Pictor, der seinem
Buch den pikanten Titel „Aeneidengeissel" (Aeneidomastix) gab. Eine
besonders ergiebige Fundgrube für die Bekämpfung Vergils boten dessen
zahlreiche Nachahmungen dar, welche auch dem oberflächlichsten Blicke
nicht entgehen konnten. Eine Zusammenstellung der Entlehnungen musste
ja den Mangel an Originalität auf Seiten des Dichters klar vor Augen
stellen. So hatte Q. Octavius Avitus in einem Werk von 8 Büchern die
Wirkungen der YergillBchen Poesie. 61
5,*OiUoiori/rf$" der Aeneis dargelegt. Wollte einer noch schärfer auftreten,
so sprach er statt von Entlehnungen und Nachahmungen natürlich von
Plagiaten oder Diebstählen wie Perellius Faustus. Auch grammatische
Nörgler durchstöberten die Vergilischen Gedichte und brachten dann ihre
armselige Gelehrsamkeit auf den Markt. Selbst M. Vipsanius Agrippa
mäkelte an dem Stil Yergils (Donat. p. 65 R.). AUein den Feinden traten
die Genossen der neuen Dichterschule als geschlossene Phalanx gegen-
über; nicht bloss rühmten sie gegenseitig sich und ihre Hervorbringungen
wie z.B. Horaz den Preis der Bucolica verkündet (Sat. 1, 10, 44):
molle aique facetum
Vergilio adnuerunt gaudentes rure Camenae
und Properz von der Aeneis als einem Gedicht spricht, welches die Ilias
in Schatten stellen würde (p. 38), sondern sie gingen auch gemeinschaft-
lich auf die Gegner los. Zu ilirem Schaden mussten dies die Dichter
Mevius und Bavius erfahren. Sie werden von den Genossen um die
Wette verhöhnt. Vergil setzt ihnen einige Gedenkverse in der 3. Ecloge (90) ;
Horaz spendet dem Mevius ein Geleitsgedicht für eine Reise, in dem er
ihm SchiflFbruch und jammervollen Tod wünscht (Ep. 10); endlich Domitius
Marsus fällt über die Dichterlinge in seiner „Cicuta* her, indem er eine
schmutzige Familiengeschichte, durch welche sie in Zwietracht gerieten, zum
Besten gibt. Anders trat für den Freund L. Varius Rufus ein; er schrieb
eine eigene Schrift, in der er sich allem Anschein nach das Ziel steckte,
das wahre Bild Yergils nach allen Seiten hin festzustellen ; und aus dieser
Schrift wird der ausgezeichnete Gelehrte Asconius Pedianus in seiner Bro-
schüre »Gegen die Verleumder Vergils** (contra obtrectatores Vergüi) geschöpft
haben; durch diese Darlegungen fielen die Anschuldigungen der Gegner
von selbst zusammen. Sie Hessen auch keine nachhaltigen Spuren in der
Litteratur zurück und hätte Macrobius in den Gesprächen, die sich um
die Person des Vergil gruppieren, nicht auch einem Gegner das Wort ge-
gönnt, so wären jene Angriffe fast ganz verhallt. Die vornehme, gebildete
Welt, darunter der Inhaber der Regierungsgewalt, stellte sich auf die Seite
Vergils. Aber auch das grosse Publikum brachte ihm die wärmsten Sym-
pathien entgegen; selbst sein schwächstes Produkt, die Bucolica, wurden
auf dem Theater mit Beifall durch Sänger vorgetragen (Donat. p. 60 R.);
und wenn der schüchterne Dichter sich einmal von seinem Studiensitz nach
Rom begab, erregte er einen solchen Auflauf, dass er sich nur durch Flucht
in das nächste Haus der Neugierde entziehen konnte.
Die Parodien. Numitorius. Als Urheber der zwei Parodien der Bucolica nennt
Donat. p. 65 R. numinatoris, numinatoriis, numinatorus. wofELr Ribbeck (Proleg. p. 99),
Uaoen (Fleckeis. J. Suppl. 4,687) und Wölfflin (Pbüolog. 24, 154) Numitorius gesetzt
haben. Auch £cl. 2, 24 ist durch Veränderung der Interpunktion eine Parodie entstanden. Allein
diese falsche Interpunktion hat ein Vergiliomastix aufgestochen (Ribbeck, Proleg. p. 99).
Q. Octavius Avitus* Werk. Überliefert ist .homoeutheleuton'^ (homaeo-
theleuton) octo volumina (Donat. p. 65 R.). Fdr das erste schreibt Rbifferscheid ,ho-
moeon elenchon*. Allein wenn man sich erinnert, dass in der griechischen Philolologie
'OfiotoTf^TBS als Buchtitel vorkommt (Ath. 15 p. 690 e, 4 p. 170e), so wird man mit Uagbn
I. c. p. 688 'OfioiotiJTtoy als die richtige Verbesserung erachten.
Cornificius Gallus. Eine grammatische Nörgelei bezog sich auf den Gebranch
des Plurals „ordea^ Georg; 1,210. Der Spottvers lautet:
ordea qui dixU, auperest ut tritica dicat.
62 fiOmisclie Litteraturgeacliichte. lt. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Von Servius zur Stelle wird der Vers dem Bavius und Mevius zugeteilt; allem diese
Zuteilung eines Verses an zwei Dichter ist an und für sich verdächtig. Es kommt hiezii,
dass Gledonius p. 43 K. dinselben dem Cornificius Gallus zuschreibt. Die Verschieden-
heit der Angabe ist wohl dadurch zu erklären, dass die Quelle des Servius keinen Namen
des Obtrectator vorfand und daher die bekannten Obtrectatores Mevius und Bavius durch
Konjektur substituierte. Das öfters citierte Werk de etymis deorum werden wir weder
dem Genossen Catulls Q. Cornificius (vgl. oben p. 155) noch dem Cornificius Gallus, sondern
dem Serv. Aen. 3, 332 genannten Cornificius Longus beilegen. — BXhbens, FPR. p. 341.
247. Yergils Fortleben im Altertum. Das Fortleben Vergils und
sein mit der Zeit wachsender Ruhm beruht in erster Linie auf der Schule.
In dieselbe aber wurde er eingeführt durch Q. Gaecilius Epirota, den Frei-
gelassenen des Atticus. Von da an hatte der Dichter eine feste Stellung
im Unterricht, ja er bildete den Mittelpunkt desselben. Die Eigenschaften,
die ihn für diese Stellung besonders qualifizierten, ist der reine Stil,
das reiche Gemüt, das sich in seinen Werken ausspricht, dann der natio-
nale Zug, der besonders seine Aeneis durchdringt. Schon die elementare
Stufe des Lesens lehnte sich an ihn an (Quint. 1, 8, 5); dass der Autor
aber auch in den späteren Klassen beibehalten, dass er nicht einmal,
sondern wiederholt vorgenommen wurde, wird uns ebenfalls an jener
Stelle berichtet. Die Elemente der Grammatik und Metrik wurden an
ihm erlernt und geübt. Die Art dieser Studien veranschaulicht uns ein
Produkt der späteren Zeit, Priscians Partitiones versuum XII Aeneidos.
Wir haben hier in Fragen und Antworten die Analyse der Verse nach
grammatischen und metrischen Gesichtspunkten; es sind die inii,uQia^io(,
wie sie die griechische Grammatik im Homer zu handhaben pflegte. Aber
auch für die ersten schriftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Prosa so-
wohl als der Poesie musste Vergil den Stoff leihen. Als eine prosaische
Übung diente die Erzählung nach ihm; noch zur Zeit des hl. Augustin
machten die Schüler solche Versuche (Conf. 1, 17,27), Für die Versifikation
aber boten sich viele Situationen in der Aeneis dar, welche einer weiteren
Ausführung fähig waren. Wir haben noch solche an den Meister sich an-
lehnende dichterische Exerzitien (PLM. 4, 187. 188). Selbst ausserhalb der
Schule begegnen wir derartigen Arbeiten. Rufius Festus Avienus (366)
schrieb die vergilischen Sagen in Jamben. 0 Eine sehr beliebte Schrift-
stellerei war die Abfassung der Inhaltsangaben zu den Werken Vergils und
den einzelnen Büchern; ohne Spielereien und Künsteleien ging es freilich
hier niclit ab.
Bei der engen Verbindung, in welcher der grammatische und rheto-
rische Unterricht stand, wird man sich nicht darüber verwundern, dass
Vergil auch in die Rhetorschule seinen Einzug hielt. Wurde doch ganz
ernstlich die Frage debattiert, ob er mehr als Redner oder mehr als
Dichter aufzufassen sei. Eine Untersuchimg hierüber stellte P. Annius
Florus in einer Schrift an, von der die Einleitung erhalten ist. Der Kom-
mentator Tiberius Claudius Donatus sprach geradezu den Satz aus, dass
in Vergil der grösste Redner^) stecke und dass daher derselbe am besten
von den Rhetoren interpretiert werde.*) Sein noch erhaltener Kommentar
') Serv. Aen. X 272 Avienus, gut iatnhig
acripsit Vergilii fabulas.
«) Vgl. praef. (Die Stelle unten p. 67.)
') Dasselbe widerfuhr Homer; so schrieb
Wirkungen der Vergiliachen Poesie. G3
ist daher auch durchweg rhetorisch gehalten. Nicht bloss zur Darlegung
der rhetorischen Regeln diente der römische Dichter, es wurden ihm auch
Themata zum rhetorischen Unterricht entnommen. Von Titianus und Calvus
bezeugt uns dies Servius, an einer andern Stelle erwähnt er eine aus
Vergil gezogene Deklamation, von Ennodius existiert eine mit dem Thema
„Rede der Dido beim Abzug des Aeneas'^ (p. 505 Hartel).
Es ist klar, dass bei einer solchen intensiven Behandlung in der
Schule Vergil sich ganz im Bewusstsein der gebildeten Welt festsetzen
musste. Der heilige Augustin (de civ. d. 1,3) sagt, dass derselbe so vom
jugendlichen Geiste aufgenommen wurde, dass seine Worte jederzeit zur
Verfügung standen. Dies hatte zur Folge, dass die nachfolgenden Dichter,
besonders die epischen, sich von seiner poetischen Diktion nährten. So
begegnet uns noch in der augusteischen Zeit ein Gedicht, die Giris, welches
stark auf Nachahmung Vergils aufgebaut ist.^ Aber auch den Anlass
zu einem nichtigen Spiel gab diese völlige Beherrschung des Sängers
durch das Gedächtnis. Die Leute gefielen sich darin, aus Versen und Ver-
steilen desselben Gedichte mit einem ganz verschiedenen Inhalt zusammen-
zusetzen. Es sind dies die Centonen. Die wichtigsten und bekanntesten
derselben sind der des Hosidius Geta, der so eine Tragödie Medea zu-
sammenstoppelte, und der cento nuptialis des Ausonius. Selbst zu christ-
lichen Stoffen wurden diese Flickgedichte verwendet, so arbeitete die
Dichterin Proba aus dem Heiden die heilige Geschichte zusammen.
Die Bedürfnisse der Schule wirkten auch tief auf die Wissenschaft
ein, welche, solange Litteraturwerke als das passendste Mittel zur Jugend-
bildung erachtet werden, mit ihr immer Beziehungen unterhalten muss,
die Grammatik oder Philologie. Man kann sagen, dass sich um Vergil
die grammatischen Studien gruppieren. Ein ganz äusserliches Kennzeichen
ist hiefür der schlagendste Beweis. Die Gitate aus ihm sind so zahl-
reich, dass wir, wie ein trefflicher Forscher bemerkt,*) aus denselben seine
Poesien, wenn sie verloren gegangen wären, im wesentlichen rekonstruieren
könnten. Wenn nicht alles trügt, begannen die Spezialforschungen über
Vergil mit der Erörterung einzelner Fragen kritischer oder exegetischer
Natur. Die Arbeiten, 3) die von dem berühmten Grammatiker G. Julius
Hyginus, von Modestus und dem bekannten Lehrer des Persius Annaeus
Gornutus citiert werden, scheinen sämtlich diesen Gharakter gehabt zu haben.
Den ersten zusammenhängenden Kommentar schrieb Aemilius Asper, etwa zur
Zeit Domitians;*) wie aus den ziemlich häufigen Anführungen zu vermuten,
legte er sowohl in der Kritik wie in der Exegese Besonnenheit an den Tag.
Alle diese Forschungen waren, wenn sie auch die Kritik berücksichtigten,
doch überwiegend grammatisch-exegetischer Art. Es muss längere Zeit
nach der Entstehung des Schriftwerks vergehen, bis sich solche Textesver-
schiedenheiten bemerklich machen, dass methodisches Eingreifen notwendig
erscheint. Die erste wahrhaft kritische Ausgabe Vergils ist ein Werk des
Telephus TtBQi rijg xad^ 't)fii]Qoy ^oQiKtjg
und n$gl rtoy naq 'O/AfJQta nxVf^^''^^ ^fjjogi-
xioy. Vgl. BsBOK, Gr. Literatorgesch. 1, 878.
>) Vgl. p. 54.
') CoMPABETTi^ Virgil im Mittelalter.
Deutsch von Dütschke p. 30.
*) Ribbeck, Proleg. p. 114.
*) In spätere Zeit setzt ihn Lasxxerhibt,
Camm. Jen. 4, 401.
64 ROmiBche Litteratnrgeachiohie. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilnng.
Grammatikers M. Valerius Probus aus der Zeit Neros. Er führte die
Kecensio vermittels kritischer Zeichen nach der Methode Aristarchs durch ;
ohne Zweifel eine bedeutende Leistung, deren Nachwirkungen auch heute
noch nicht erloschen sind. Von den späteren Interpreten nennen wir
Velius Longus aus der Zeit Trajans, dessen Kommentar zur Aeneis bezeugt
ist, und Q. Terentius Scaurus aus der Zeit Hadrians. Reichere Nach-
wirkungen knüpfen sich an den Kommentar des Aelius Donatus, der auch
Terenz interpretierte. Derselbe erstreckte sich auf alle drei Gedichte, das
Vorwort, die vita und die Einleitung zu den Bucolica haben sich daraus
gerettet. Donats Einfiuss auf die Yergilexegese ist nach einer Seite hin
verhängnisvoll geworden; bei ihm finden wir die Allegorie schon in einem
Masse ausgebildet, dass wir die Yerirrungen späterer Zeit begreiflicher
finden. Ein Beispiel möge unsere Behauptung begründen. In der Reihen-
folge der dichterischen Werke Bucolica, Georgica, Aeneis erblickt Donat
einen Hinweis auf die sich ablösenden drei Kulturstufen: Hirtenleben,
Ackerbau, Krieg. Gegenüber diesem phantastischen Verfahren verhält sich
der folgende Kommentator Servius, der Donat viel benützt hat, ^ im ganzen
nüchtern und schulmässig. Die allegorische Erklärung wurde bei Vergil
begünstigt durch die Bucolica, da hier bekanntlich vieles in Verkleidung
erscheint. Sie wurde aber auch begünstigt durch die wichtige Stellung,
welche er durch den Unterricht erhielt. Vergil war das Buch der Bücher;
man gewöhnte sich infolgedessen in dem Dichter, der ja, wie nicht
zu leugnen ist, bedeutende Kenntnisse durch Studien sich erworben, die
Summe alles Wissens verkörpert zu sehen. Eine solche Anschauung muss
zur künstlichen Interpretation greifen, sie ist gezwungen, fremdartige Ge-
danken dem Autor unterzuschieben, sie sucht wie einst die ivatauxoi bei
Homer überall wichtige, der Lösung harrende Probleme.*) Die Idee vom alles
wissenden Vergil tritt uns besonders klar in einem Werk des Macrobius
zu Tage; in Form von Gesprächen wird seine grosse Gelehrsamkeit nach
den verschiedensten Seiten hin dargelegt. Mit der Vorstellung von dem
weisen Vergil verbindet sich leicht der Gedanke, dass dieser auch die
Zukunft wisse. Vergilische Verse dienten daher als Orakelsprüche und als
Wahrsagungen (Sortes Vergilianae).
Das Ansehen Vergils war ein so gewaltiges, dass sich das Bedürfnis
regte, ihn auch den griechisch Sprechenden zugänglich zu machen. Es
wurden daher Übertragungen seiner Werke in das Griechische veranstaltet.
Ein Epiker Arrianos übersetzte die Georgica.*) Der unter Claudius so
mächtig gewordene Freigelassene Polybius verfasste wie eine Paraphrase
Homers in lateinischer, so eine Vergils in giiechischer Sprache.^)
Die metrischen Argumente zu Vergil sind zusammengesteHt bei Bahrens,
PLM. 4, 161. Es sind da Dekasticha über die 12 Bücher der Aeneis, welche, wie die eben-
falls 10 Verse umfassende Vorrede besagt, Ovid gemacht haben will. £s folgen p. 169
*) Thilo Servius 1, LXXV a nullo autem
anperiorum commentatorum plura Servitis
petivit quam ah Aelio Donato, quem ipse
saepius quam ceteros commemoravU aique ita
quidem plerumque, ut aententias eiua refutaret.
^) £s sind dies die Quaeationes, quae
aölrendae aunt (Comparetti p. 54 Anm. 3
und 5).
*) Suidas s. v. (p. 174 Bekkeb). Vgl.
Meineke, ÄnaL Alex, p. 370.
*) Seneca Consol. ad Polyb. 7, 26 (p. 327
FiCXJiBT).
Wirknmgen der Vergiliachen Poesie.
65
nach einer praefatio von drei Distichen die Argumente des Sulpicius (Apollinaris) von
Carihago, des Lehrers des Gellius, zu den Di Bttchem der Aeneis in je 6 Hexametern.
Diese Hexasticha enthalten zugleich die Künstelei, dass sie mit den ersten Worten des be-
treffenden Buchs beginnen. Hieran schliessen sich (p. 173) nach einer tetrastichischen Vor-
rede ein Tetrastichon zu den Bucolica, eines zu den Georgica, je eines zu jedem der
12 Bücher der Aeneis; auch hier wird in der ersten Zeile immer auf den ersten Vers des
betreffenden Buchs angespielt. Noch stärker trat die Künstelei hervor, wenn als Form des
Arguments das Monostichon gewählt wurde. Solche Monosticha sind vorhanden auf die
12 Bücher der Aeneis (p. 176) und solche (p. 177) auf die Bucolica, die 4 Bücher der
Georgica und die 12 Bücher der Aeneis (also zusammen 17). Noch schwieriger war es,
den Inhalt eines Buchs durch ein Hemistichion auszudrücken, also in ein Monostichon zwei
Bücher einzuschliessen. Auch von dieser Künstelei liegt zur Aeneis eine Probe vor (p. 178).
In den Wettkämpfen der 12 Weisen spielt auch Vergil eine Rolle; dem Basüius werden
12 Monosticha über die Aeneis beigelegt (PLM. 4, 151); auch Pentasticha zu der Aeneis
sind auf die 12 Weisen verteüt (PLM. 4, 136).
Die rhetorischen Übungen nach Vergil bezeugt Serv. Aen. 10, 18 et Titianwi et
Calrus, qui themata omnia de Vergilio elicuerunt et deformarunt ad dicendi usum, 10, 532
8a ne qui in Vergilium seripait declamationes, de hoc loco ait ex persona Aeneae u. s. w.
Vergilische Centonen sind zusammengestellt bei Bahrbns, PLM. 4, 191—240.
Es sind ausser einem am Anfang verstümmelten de alea, Narcissus, Mavortii iudicium
Paridis. Hippodamia, Hercules et Antaeus, Procne et Philomela, Europa, Alcesta, De ecclesia
(wahrscheinlich von Mavortius, vgl. v. 110), Medea des Hosidius Geta (vgl. Tertullian de
praescript, haeret. c. 39), Luxorii Epithalamium Fridi. Über den Gento der Proba vgl.
Aschbach, Sitzungsber. der Wien. Akad. 64, 369. — Borgen, De centonibus Homer et Verg.,
Kopenh. 1828. Hasenbalo, de centonibus, Putbus 1846. Delepierbe, tahleau de la littera-
ture du Centon, Lond. 1875.
248. Erhaltene Yergil-Eommentare. Von den zahlreichen Er-
läuterungsschriften zu Vergil sind einige auf die Nachwelt gekommen.
Es sind folgende:
1. Der Kommentar des Servius. Servius war ein Grammatiker
des vierten Jahrhunderts, von dem uns noch andere Schriften erhalten
sind. Seine Exegese erstreckt sich auf sämtliche Gedichte Vergils; der
Kommentar zur Aeneis wurde früher verfasst als die Kommentare zu den
Bucolica und den Georgica, da in den letzten auf den ersten Bezug ge-
nommen wird. 0 Das Werk des Servius ist uns in einer doppelten Gestalt
überliefert, in einer kürzeren und in einer ausführlicheren. Die ausführ-
lichere wurde zum erstenmal von P. Daniel im J. 1600 veröffentlicht. Für
die kürzere Fassung haben wir zahlreiche Handschriften, dagegen für die
weitere nur wenige. Die erstere trägt in der Überlieferung den Namen
des Servius, die letztere dagegen ist anonym. Das Verhältnis der beiden
Fassungen ist nicht das, dass etwa die kürzere ein Auszug der umfassen-
deren ist, auch nicht das, dass beide Fassungen einem vollständigeren
Kommentar entnommen sind, die erste mit mehr, die andere mit weniger
Auslassungen. Das Verhältnis ist vielmehr dies, dass dem kürzeren Kom-
mentar Zusätze aus verschiedenen, meist sehr guten Quellen beigegeben
wurden. In dem kürzeren Kommentar haben wir ein einheitliches Werk,
die Zusätze, obwohl sie von einem Mann gemacht wurden,^) spiegeln da-
gegen die verschiedenen Quellen. Nur der kürzere Kommentar gehört dem
») Vgl. G. 1, 488 B. 7, 26. Der Korn-
mentar zu den Bucolica ging dem zu den G.
voraus, wie die Verweisung G. 4, 101 darthut.
*) Thilo p. LXVI cum eadem per totum
commentarium ratione eisdemque artificiis
Serviana et aliena inter ae conexa sint, non
diversis temporibtts et gradatim quasi, sed
ab uno Kamine vel certe unius hominis con^
silio ea res videtur confeeta fuisse. Thilo hftlt
ihn für einen römischen Christen (p. LLVÜ).
Haodbiich der klan. Altertmnswissenschaft. vm. 2. Teil.
66 Römische LitteratnrgeBohichte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilang.
Servius^) an. Derselbe verfolgt den Zweck, den Vergil nach der damals
gebräuchlichen Schulmethode zu erklären; er berücksichtigt darum besonders
das Grammatische, den Ausdruck und die Wortbedeutung. Servius geht
mit sehr grosser Ausführlichkeit zu Werk, denn in ihm lebt ja der Ge-
danke, dass sich in Vergil das höchste Wissen verkörpert hat und dass
daher alles von der höchsten Wichtigkeit ist. Die Arbeit des Servius hat
für uns keinen hohen Wert, sie ist interessant, um die Exegese seiner Zeit
zu erkennen, allein sie bereichert nicht in erheblichem Masse unsere Kennt-
nisse. Die Zusätze dagegen sind für uns ausserordentlich wichtig. Sie
sind eine unschätzbare Fundgrube für die römischen Altertümer. Die darauf
bezüglichen Notizen wurzeln alle in der Idee, dass Yergils Schilderungen
der römischen Vorzeit durchaus auf genauer Kenntnis der alten Sitten und
Einrichtungen beruhen.*) Auch die Citate aus alten, verloren gegangenen
Schriftstellern leisten uns sehr gute Dienste.
Für den ergänzten Kommentar sind die Quellen und zwar für die Buc. und 6. der
codex Lemovicensis, jetzt Vossianus 80 in Leyden s. X, der geht von B. 4, 1 bis G. 1,278;
für die Aeneis ist die Überlieferung eine doppelte, die Bücher I und II beruhen auf dem Gas*
sellanus (ehemals Fuldensis) s. IX/X (und dem Parisinüs 1750 s. X, der jedoch nur einen Teil
eines Codex repräsentiert, indem mit demselben noch der Vossianus 79 in Leyden zu ver-
binden ist). Für die Bücher III — XII sind massgebend vor allem der Codex Floriacensis
s. IX/X, der wie der vorige in zwei Hälften zerrissen ist, in den heutigen cod. Bern. 172
(III — V) und in den Parisinus 7929 (VI — XII), dann der Turonensis, jetzt Bemensis 165.
Über die handschriftlichen Quellen des nicht ergänzten Kommentars des Servius
vgl. Thilo p. LXXVII. In seiner Ausgabe scheidet Thilo die beiden Bestandtheile durch
die Schrift, indem er die Ergänzungen mit liegenden Lettern druckt.
Für den Standpunkt auf dem Servius steht, sind die Eingangsworte des 6. Buchs
bezeichnend : tatu8 quidem Vergüius scientia plenus est, in qua hie liber possidet princi-
patum, cuius ex Homero pars maior est . et dicuntur cäiqua simpUciter, tnulta de historia,
tnuUa per altam scientiam phiJosophorum, theologorum, Äeg^ptiorum, adeo ut plerique de
his singulis huitis libri integras scripserint pragmatias.
Litteratur: Grundlegende kritische Ausgabe von Thilo [und Hagsk] (vol. I Leipz.
1881; vol. II Leipz. 1884, vol. III fasc. 1 Leipz. 1887). Kirchneb, De Servi auctoribus
grammaticis quos ipse laudamt (Fleckeis. Jahrb. Supplb. 8, 467. Dazu das Brieger Progr.
1883.) WissowA, De Macrobii fantibus, Bresl. 1880 p. 55, Linke, Quaest. de Macrobii
fontibus, Bresl. 1880 führen den Gedanken durch, dass der Kommentar des Servius nicht
von Macrobius benutzt wurde, dass aber aus Macrobius Notizen in den ergänzten Servius
geflossen sind, welch letztere Ansicht Halft ap, Quaest. Serv., Greifsw. 1882 p. 3 bestreitet.
— Thomas, Essai sur Servius, Paris 1880 (und Supplement). Labmmrbhtbt, De priscorum
scriptorum locis a Serrio allatis, Dissert. Jen. 4, 313. Nettleship, Lectures (Oxf. 1885) p. 322.
2. Der rhetorische Kommentar des Tiberius Claudius Donatus
zur Aeneis. Vergil war, wie wir oben darlegten, nicht bloss eine Fund-
grube für die Grammatiker, sondern auch für die Rhetoren. Es ist daher
nicht zu verwundern, dass gegen Ende des 4. Jahrhunderts die Aeneis von
Tiberius Claudius Donatus (der nicht mit Aelius Donatus verwechselt werden
darf ^)) rhetorisch-ästhetisch kommentiert wurde. Auf das Sachliche geht
der Erklärer nicht ein, dies verspart er sich nach der an seinen Sohn
Ti. Claudius Maximus Donatianus gerichteten Vorrede für eine spätere
*) Die Beweise hiefi&r siehe bei Thilo, | sedibus non licet; peritissime ergo Vergilius
Proleg. p. XIL und Halfpap p. 1 und p. 32.
'^) Eine Stelle möge dies zeigen, wo die
Erläuterung von auspicibus coeptarum operum
gegeben wird: auspieia oinnium rerum sunt,
auguria certarum; auspicari enim cuivis etiam
^eregre licet, augurium a^ere nisi in patriis
veteris consuetudinis meminit cum facit
Aeneam, quia peregre, id est in Thracia
agit, auspicantem, id est, auspicibus coeptO'
rum operum.
') Vgl. VAN DBB HoBVEN, ep. ad Surin-
garum de Donati comm., Leovardiae 1846.
Wirkungen der VergiliBohen Poesie. 67
Zeit. Daher kann dieser KommentÄr nur für die Geschichte des rhetori-
schen Betriebs in Betracht kommen, er ist auch seit der Basler Ausgabe
des Jahres 1613 (in Verbindung mit Vergil) nicht mehr erschienen.
Praef.: Si Moronis Carmen campetenter attenderis et eorum mentem romprehenderis,
inrenien in poeia rhetarem sunimum; atque inde intelliges VergiHum non grammaticos, sed
oratorea praeeiptwa f rädere debuistte. Der in der Vorrede angekündigte Realkommentar sollte
wohl ein Catalogus der Personen, Völker, Flüsse, Berge n. s. w. sein und den Anhang zu
den rhetorischen Interpretationes bilden (Bubckas, De T, Cl. D, in Aen, camm., Jena 1888).
3. Die Veroneser Scholien. Angelo Mai entdeckte in Verona
einen Palimpsesten der Kapitelsbibliothek nr. 38, dessen ältere Schrift
Scholien zu Vergil (Buc, G. u. Aeneis) enthielt. Es sind 51 Blätter. Diese
Scholien gab Mai im J. 1818 heraus. Obwohl uns nur Trümmer vorliegen,
so müssen wir doch dieselben sehr hoch schätzen. Wir erhalten einmal
wichtige Beiträge für die Geschichte der Vergilexegese, es sind besonders
berücksichtigt Cornutus, Asper, Yelius Longus und Haterianus. Der wert-
vollste Bestandteil dieser Scholien sind aber die Überreste aus verlorenen
älteren Schriften.
Neu verglichen und herausgegehen wurden diese Scholien von H. Keil in M, Valerii
Probt commentariuSy Halle 1848; nach Keil hat eine abermalige genaue Untersuchung der
Scholien A. HEBRMANif vorgenommen; eine vorläufige Übersicht der von ihm gewonnenen
Resultate teilte Büchelbr, Fleckeis. J. 93, 65 mit. Später hat Herrmanv über diese Scholien
in zwei Donaueschinger Programmen (1869, 1873) gehandelt. Neu ist seine Beobachtung,
dass Aen. 3, 691 eine andere Hand beginnt (Halfpaf p. 33).
4. Der Kommentar des M. Yalerius Probus zu den Bucolica
und den Georgica. Johannes Baptista Eonatius gab zuerst diesen
Kommentar aus einem codex von Bobio Venedig 1507 heraus. Das Werk
beginnt mit einem Lebensabriss Yergils, teilt dann eine dreifache Ansicht
über den Ursprung der bukolischen Poesie mit, macht weiterhin Be-
merkungen über Veramass und Stil des bukolischen Oedichts, über den
Anlass zu diesen Gedichten, über ihre Anordnung, über Vortrag und über
den verschiedenartigen poetischen Charakter. Der Kommentar ist fast
durchweg auf Sacherklärung gerichtet, er behandelt daher besonders die
Mythen, das Geographische, das Astronomische u. s. w. Die grammatisch-
kritische Seite ist dagegen so gut wie nicht berücksichtigt. Eine solche
Interpretationsmethode will nun nicht recht zu dem Bilde stimmen, das
wir aus Sueton und anderen Quellen von Probus gewinnen. Es kommen
hinzu Irrtümer und Absurditäten, die wir jenem berühmten Kritiker in
keiner Weise zuteilen können. Man hat daher, um der überlieferten Autor-
schaft des M. Valerius Probus gerecht zu werden, den Ausweg beschritten,
nur einen Kern des Kommentars auf Probus zurückzuführen. Allein ein
solcher Kern hebt sich in dem Werk nicht ab; denn er ist durchaus
einheitlich gestaltet. Man wird also höchstens das Eine zugeben können,
dass sich M. Valerius Probus unter den Quellen des Verfassers befunden.
Auf die Thatsache, dass M. Valerius Probus der Kommentar in der Über-
lieferung beigelegt ist, dürfte nicht zu viel Wert zu legen sein, da ja
auch eine zweifellose Schrift des Grammatikers Sacerdos dem Probus zu-
geteilt wurde. Dass diese Scholien einige Überreste antiker Gelehrsamkeit
haben, stellt selbst eine flüchtige Lektüre heraus; ein leuchtender Beweis
ist der merkwürdige längere Traktat über die Elemente der Welt
5*
68 Römische Litteratnrgeschichie. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilong.
(p. 10 —21 K.), welcher etwa den sechsten Teil des ganzen Kommentars
ausmacht.
Eine Übersicht der gelehrten Scholien des Kommentars gibt Ribbeck, Proleg. p. 164.
Ausser dem genannten Traktat ist noch interessant der über die Zonen p. 40. Fttr die
Mythen war vielleicht Hauptquelle Asclepiades' TQayiodovfAB^a (62,11 K. 46,27).
Die jetzt massgebende kritische Ausgabe ist von Keil (Halle 1848). Die Spuren
unserer Überlieferung führen bloss auf den genannten Codex Bobiensis, der aber jetzt ver-
loren ist. Zu seiner Herstellung dienen die editio Egnatii, der Yaticanus 2930 s. XV und
der Parisinus 8209 s. XV.
Über die irrige Zuteilung des Kommentars an M. Yalerius Probus vgl. Riese, De
commentario qui M. V, P. dicitur, Bonn 1862, Kuebler, De M. V. P. commerUariia Vergil.,
Berl. 1881, der ihn (p. 40) dem 4. Jahrb. zuweist. (Beck, De F. P., Groningen 1886.)
Mit der Ausgabe des Kommentars des Yalerius Probus verbindet Keil auch die
Quaestiones Yergilianae des Grammatikers Asper aus einem Pariser Palimpsest. Die
Fragmente sind fast nicht lesbar. Den Charakter der behandelten Gegenstände mögen
folgende Quaestiones voranschaulichen: Plurale ponit pro singulari (p. 113); Videamtis quo-
modo numeret (p. 114); nunc quemadmodum generalibus et speeialÜtus utatur ostendam ac
primum speciaiia pro generalibus posita (p. 114). Diese Quaestiones sind höchst dürftige
Auszüge aus den Schätzen des Grammatikers, für uns ohne allen Wert.
5. Die Berner Scholien zu den Bucolica und Georgica. Für
diese Scholien ist die Hauptquelle der Berner Codex 172 (s. IX/X). Der-
jenige, welcher sie zusammengestellt hat, gibt auch seine Gewährsmänner
an, aus denen er, von Unwesentlichem abgesehen, geschöpft hat; es sind
dies Titus Gallus, Gaudentius und Junius Philargyrius. Von diesen
drei Kommentatoren werden aber nur Gaudentius und Junius Philargyrius
sowohl in den Eclogen als in den Georgica citiert, Titus Gallus dagegen
bloss in dem ersten Buch der Georgica und zwar lediglich zu Anfang.*)
Wir müssen daraus schliessen, dass der Epitomator den Kommentar des
Titus Gallus bald von der Benützung ausschloss. Wann diese drei Kom-
mentatoren lebten, lässt sich nicht mit voller Bestimmtheit sagen. Aller
Wahrscheinlichkeit nach gehören sie dem 5. Jahrhundert an. Über den
Zusammensteller verbreitet einiges Licht eine irische Glosse im Scholion
zu G. 2, 115 (p. 895 H.). Nach derselben werden wir als die Heimat des-
selben Britannien zu betrachten haben.*) Die Zeit des Epitomators wird
in dem Intervallum s. VH — IX liegen.
Die subscriptio. Am Ende der Bucolica lesen wir (p. 839 H.): haec omnia de
commentariis Romanorum congregatn, id est Tlti Galli et Gaudentii et maxime Junilii
Flagrii Mediolanenses(sic), Allein Mohmsen (Rh. Mus. 16, 446) behauptet mit Recht, dass,
da Gallus in den Eclogen nicht citiert werde, die Worte an den Anfang der Georgica ge-
hören. Zerrüttet ist die Subscriptio unter dem ersten Buch der Georgica (p. 885 H.). Der
Name Junilii Flagrii ist aus Junius Philargyrius entstellt.
Die Kommentare des Junius Philargyrius. Von Junius Philargyrius haben
wir ausser diesen Auszügen der scholia Bemensia aus einem Kommentar zu den Eclogen
noch zweierlei Exzerpte, ein längeres und ein kürzeres, in den Handschriften Laur. 45, 14
s. X und im Parisinus 7960 s. X.'O Der kürzere Auszug hat den Titel explanatio Junii
FUagirii Grammatici in Bocolica Valentiniano, der ausführlichere den Titel explanatio
Junii Filargirii gramatici. Diese Scholien exzerpierte Angelus Politianus aus dem ge-
nannten Laurentianus, und nach seinem jetzt nicht mehr vorhandenen Apographon ver-
öffentlichte die Exzerpte Fulvius Ursinus im Jahre 1587. Die ganze Scholienmasse ist so-
nach noch nicht publiziert. Neben diesem Kommentar zu den Eclogen gab Ursinus auch
noch einen Kommentar des Philargyrius zu den Georgica. Diesen entnahm er dem Yati-
canus 3317 s. X/Xl, in dem diese Scholien denen des Servius fast inrnier mit den Worten
») Es sind 11 Stellen: 2, 3, 8, 13, 25,
28, 31, 40, 54, 81, 149.
^) Sein Name war vielleicht Adananus
(Thilo, Rh. Mus. 15, 132 Proleg. ad Serv. I,
p. LXVIII).
^) Beide Handschriften enthalten auch
eine Breris expositio zu G. I und H 1 — 90.
Wirknngen der Vergüiflohen Poesie. 69
•
et aliter beigefügt sind. Allein im Vaticanus ist Philargyrius nicht genannt. Die Zu-
teilung dieses Kommentars an Philargyrius beruht auf einem Irrtum des Fulvius Ursinus,
nicht des Angelus Politianus, wie früher Thilo (Rh. Mus. 15. 135) angenommen hatte. Ab-
gedruckt ist derselbe bei Liok 2, 327 und Thilo. Kr enthält wertvolle Bestandteile. ')
Als Appendix zu den scholia Bemensia gibt Haobn p. 984 Figurae Graecorunif eine Er-
läuterung der Figuren durch Vergilische Beispiele, p. 987 scholia ex codice Bernensi 165 excerpta;
endlich p. 996 medii aeri excogitamenta de Vergilii vita atque scriptis ex codice Bernensi 167.
Litte ratur: Scholia Bernensia ad Vergili Buc. atque Georgica. Ed. Hagen (Fleckeis.
J. 4. Supplementb. p. 674). I'hilo, Rh. Mus. 14,535 15, 119. Mommsen, Rh. Mus. 16,442.
249. Der Vergil des Mittelalters. Im Laufe der Zeit war, wie wir
gesehen haben, Vergil zum Repräsentanten der höchsten Weisheit geworden.
Zu ihrer Aufdeckung führte ein Weg: die allegorische Erklärung. Bis
zu welcher Entartung diese Erklärungsweise herabsinken konnte, setzt in
ein besonders helles Licht das Buch des Fabius Planciades Fulgentius,
eines Christen des 6. Jahrhunderts über den Inhalt Vergils (expositio Ver-
gilianae continentiae). Sein Ziel ist, den verborgenen Inhalt der Aeneis
mittels der allegorischen Deutung darzulegen. Er hat seinem Werk die
Einkleidung gegeben, dass er Vergil bittet, ihm seine Weisheit zu ent-
hüllen. Derselbe erfüllt die Bitte und setzt in mürrischer, finsterer Weise
auseinander, dass die Aeneis ein Bild des menschlichen Lebens sei. Es
ist ganz unglaublich, zu welchen masslosen Verirrungen diese Methode
führte. Allein das Mittelalter bewunderte diese Thorheiten. Alles, was
auf Vergil Bezug hatte, konnte damals auf Interesse rechnen. Die vierte
Ecloge, in welcher man eine Ankündigung des Erscheinens Christi er-
blickte, sicherte dem römischen Dichter allgemeine Verehrung, überdies
blieb er stets eine wichtige Grundlage für die Grammatik, und in der
Schule nahm er noch immer seinen Platz ein. Für das hohe Ansehen,
dessen er sich bei den Grammatikern erfreute, möge das Faktum als
Beleg dienen, dass sich ein obscurer Sprachmeister den Namen Virgilius
Maro beilegte. Der Wahnsinn, den dieser Mann auskramt, ist entsetzlich,
allein nach den zahlreichen Handschriften, in denen er verbreitet ist, muss
man schliessen, dass sein verrücktes Zeug eifrige Leser fand. In dieses
entsetzljjphe Dunkel fällt wie ein heller Lichtstrahl die Verklärung Vergils
durch den grössten Dichter des Mittelalters, durch Dante, der ihn sich als
Repräsentanten der menschlichen Weisheit zum Führer für seine Wande-
rung erkor. Für diese Wahl mag bestimmend gewesen sein die ungemein
hohe Begeisterung, welche Dante für die Vergilische Dichtung hegt, die
im Mittelalter allgemein herrschende Idee von der grossen Weisheit des
Römers, die mit ihm unauflöslich verbundene allegorische Interpretations-
methode, endlich die in der Aeneis zum Ausdruck gekommene römische
Weltherrschaft. Zur Zeit Dantes hat noch ein anderer Dichter Vergil
behandelt; wir denken an das Gedicht Dolopathos, das ursprünglich in
lateinischer Sprache geschi*ieben war, später in französische Verse gebracht
wurde. Dolopathos ist nach dem Dichter König von Sicilien, der seinen
Sohn Lucinian Vergil zum Unterricht übergibt. Auch hier tritt stark die
Vorstellung von Vergil als dem alles wissenden Mann hervor; er sieht
das Unglück Lucinians voraus und errettet ihn aus grosser Gefahr.
*) Thilo Servius III 1 p. XIII „pleraque — tribtienda esse piUo — primo vel alter i
post Christum saeeulo,"
70 BömiBche LitieratnrgeBchiohte. II. Die Zeit der Monorchie. 1. Abteilung.
Auch in der höfischen Poesie des Mittelalters hat Vergil seine Stelle.
Die Liebe der Dido, der Streit um die Lavinia waren Stoffe, die jener Zeit
zusagten. Aus der deutschen Litteratur ist Heinrich von Veldeckes Eneit
bekannt, die nach einem französischen Muster gedichtet wurde.
Nicht unwichtig für die Weiterbildung der Vergilischen Individualität
ist der Eintritt des Dichters in die Yolkssage. Dieselbe hat ihren Aus-
gang in Neapel. An diesem Ort, an dem Vergil gern zu Lebzeiten ver-
S^eilte und wo seine Gebeine ruhen, bildete sich die Idee von ihm als
dem guten Genius der Stadt, dem Retter aus der Not, dem Talisman in
Gefahren. Auch dieser Gedanke steht in unleugbarem Zusammenhang mit
dem ihm zugeschriebenen alles umspannenden Wissen. Dasselbe erhielt
eine lokale Färbung dadurch, dass es Neapel zu gute kam. Als die Sage
aber an andere Orte gelangte, die keine engeren Beziehungen zu Vergil
hatten, musste sich sein Bild modifizieren, aus dem Helfer in der Not
wurde jetzt ein Zauberer. Die Sage vom Zauberer Vergil gewann eine
ausserordentliche Verbreitung und nahm noch neue Bestandteile in sich auf.
Das Nachleben Vergils ist yortrefflich behandelt von Cohpabetti, Virgil im Mittel-
alter. Obers, von Dütschke, Leipz. 1875. Genthe, Vergils £cl. übers, mit Einleit-ung tLber
Vergils Leben und Fortleben als Dichter und Zauberer, Leipz. (2. Aufl.) 1855. Zappebt,
Vergil im Mittelalter (Denkschr. der Wien. Akad. philos.-hist. Kl. 2. Bd. 2. Abt. p. 17). Roth,
Der Zauberer Vergilius (Pfeiffers Germania 4, 257). Creizenach, Die Aen., die 4. Ecl. und
die Pharsalia im Mittelalter, Frankf. 1864. TumsoK, Virgil in the middle age, Cincinnati 1889.
250. Vergil in der Neuzeit. Die fast abgöttische Verehrung, zu
der Vergil im Mittelalter emporstieg, konnte der neuen Zeit gegenüber
nicht standhalten. Mit dem Schwinden der mittelalterlichen Ideen musste
sich auch sein Ansehen mindern. Nur bei den Nationen, die ihren Stamm-
baum bei den Kömern suchen, hat der Vergilkultus noch immer einen
fruchtbaren Boden. Um von den Äusserungen eines blinden Enthusiasmus
abzusehen, wollen wir das Urteil eines sonst besonnenen und gelehrten
Italieners, des Prof. Domenico Comparetti hier anführen. In seinem schönen
Buch „Vergil im Mittelalter'' lässt er sich^) zu folgender exorbitanten
Bewunderung der Aeneis hinreissen: „Das Werk Vergils ist und bleibt,
wenn man es, wie recht und billig, nach seiner Stellung und nach einem
geschichtlichen Massstabe betrachtet, ein Gedicht, das seinesgleichen
weder vorher noch nachher hat; der Zauber, den es durch Jahr-
hunderte auf die Gebildeten ausübte, hat seine volle Berechtigung.'' In
der Wertschätzung Vergils musste die tiefere Erkenntnis Homers, welche
bei den germanischen Stämmen angebahnt wurde, einen Wandel hervor-
rufen. Ein Urteil wie das bekannte Voltaires: „Homire a fait Virgüe, dit-on;
si cela est, c'est sans doufe son plus bei ouvrage,^^) beweist nur zu deutlich,
dass der berühmte Mann die Homerische Poesie nicht gekannt hatte. Als
die Engländer und die Deutschen in die tiefen Schachte des homerischen
Volksepos eingedrungen waren, musste man den grossen Abstand, der
Vergil von Homer trennt, fühlen. Wer einmal seine Seele in die Dias und
in die Odyssee versenkt, wird der Aeneis nicht mehr den Lorbeerkranz
zuerteilen; und wer die Süssigkeit der Idyllen Theocrits genossen, wird nicht
M p. 13 nach der Übersetzung von *) Vgl. Sellar, The Roman poHs p. 67.
H. DÜTSCHKE.
Q« HoratioB Flaoons.
71
mehr für die Bucolica schwärmen J) Der Anstoss zu einer unparteiischen
Würdigung Yergils ging von England aus: Mabkland war es, der zuerst
über die Aeneis eine harte, mit der herrschenden Verherrlichung stark in
Widerspruch tretende Ansicht aussprach. Es kann natürlich nicht unsere
Aufgabe sein, eine grössere Sammlung kritischer Kaisonnements ') über
Vergil zu geben. Wir greifen nur drei Urteile heraus und zwar das eines
Philosophen, das eines Philologen und das eines Historikers. Hegel zieht
in seiner Ästhetik (3, 870) einen Vergleich zwischen Homers Gesängen und
Vergils Aeneis und legt an einer Reihe von Einzelzügen die Superiorität
des ersteren dar. Boeckh bemerkt in der Encyklopädie (p. 684): „Es fehlt
(der Aeneis) die homerische Naivetät; alles ist mühsame, wenn auch fein-
gebildete Nachahmung und der Inhalt schon so romantisch, dass die Stanzen
der ScuiLLER'schen Übersetzung ihm vollkommen angemessen sind.** Be-
sonders interessant ist die längere Auseinandersetzung Niebuhrs,') aus
der wir nur einige Hauptsätze ausziehen: „ Seine Eclogen sind eine nichts
weniger als glückliche Nachahmung des Theokrit, sie wollen auf römischem
Boden etwas schaffen, was nicht da ist. — Glücklicher ist sein Lehrgedicht
über den Landbau, es hält sich auf einer mittleren Stufe, man kann nichts
anderes als Löbliches davon sagen. Die ganze Aeneis ist von Anfang bis
zu Ende ein misslungener Gedanke, das hindert aber nicht, dass sie voll
einzelner Schönheiten ist, sie zeigt eine Gelehrsamkeit, von der der Histo-
riker nie genug lernen kann. — Traurig ist, dass die Nachwelt gerade
das Misslungene so überschätzte; zu begreifen ist es allerdings, da man
ihn nicht mit Homer vergleichen konnte, den man gar nicht kannte, die
ausserordentlichen Schönheiten thaten ihre volle Wirkung."
Allein die Kritik verwundet nicht bloss, sie heilt auch. Sie hat zwar
die Aeneis und die Bucolica, die lange Zeit über Gebühr gepriesen wurden,
in den Schatten gerückt, aber dafür hat sie die Georgica auf den Thron
gesetzt. Sie hat erkannt, dass in diesem Gedicht sich die dichterische
Kunst Vergils am schönsten entfaltet hat.
2. Q. Horatius Flaccus.
251. Sein Leben. Q. Horatius Flaccus wurde am 8. Dezember 65
V. Ch. in Venusia in Apulien an der Grenze von Lucanien als der Sohn
eines Freigelassenen geboren. Obwohl der Vater nur im Besitz eines
mageren Gütchens (S. 1,6, 71) war, so setzte er doch alles daran, seinem
Sohne eine bessere Erziehung zu geben. Die von Flavius in Venusia ge-
leitete Elementarschule, welche auch die Söhne der Centurionen besuchten,
war für dieses Ziel ungenügend; der Vater entschloss sich daher, mit seiner
Familie nach Rom überzusiedeln (S. 1, 6, 76). Hier betrieb er das Geschäft
*) Interessant ist es zu sehen, wie manch-
mal der Beifall, der dem Römer gespendet
wurde, im Grunde genommen dem Griechen
filt. So bewunderte Macaulay die Stelle
Icl. 8, 37 saepibus — error als „the finest lines
in ihe Latin language** und freute sich, als
er entdeckte, dass auch Voltaire diese Stelle
als die schönste im ganzen VergU ansah.
Allein dieselbe ist nur eine Übertragung aus
Theocrit (Sellar p. 150).
^) Eine solche liefert PitJss, Vergü p. 2
Anm. 2.
') Vorträge über röm. Gesch. herausgg.
von IsLER 3, 130.
72 ROmiBohe LitteratnrgeBohiohte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteünng.
eines coactor (S. 1, 6, 86) d. h. er kassierte die bei den Auktionen erwach-
senen Einzelforderungen ein; bei der hohen Bedeutung, welche dieses In-
stitut im römischen Wirtschaftsleben einnahm, scheint das Geschäft nicht
unlukrativ gewesen zu sein. ^) In der Hauptstadt besuchte der junge Horaz
die Schule eines Lehrers, der seines Amtes besonders mit der Rute war-
tete, des plagosus Orbilius; derselbe las mit seinen Schülern die Odyssee
in der veralteten Übersetzung des Livius Andrönicus (Ep. 2, 1, 70); aber
auch die Uias wurde in seiner Schule erklärt (Ep. 2, 2, 42). Dass Orbilius
nicht der einzige Lehrer des Horaz war, ersehen wir aus S. 1, 6, 81.
Rührend wird dort beschrieben, wie der Vater bei „allen" Lehrern selbst
den beaufsichtigenden Pädagogen machte, um den Sohn von jedem Ver-
derben frei zu halten. Seine Erziehungsmaxime war in erster Linie, durch
den Hinweis auf bekannte Vorkommnisse des Lebens, auf die Folgen eines
Lasters, auf Beispiele zu wirken (S. 1, 4, 105). Als Horaz den herkömm-
lichen Schulkursus durchgemacht hatte, begab er sich zu seiner höheren
Ausbildung nach Athen (Ep. 2, 2, 43), wo er besonders der Philosophie
oblag. Aus diesem Studium wurde er in bewegter Zeit durch die An-
kunft des Brutus in Athen (44 v. Ch.) herausgerissen (Ep. 2, 2, 47). Wie
andere junge Römer schloss er sich dessen Heer an und erhielt die Stelle
eines Tribunus militum (S. 1,6, 48). Er machte die Schlacht bei Philippi
(42 V. Ch.) mit und wurde in die Flucht des geschlagenen Heeres des Brutus
hineingezogen (C. 2, 7, 9). Dieser Ausgang des Bürgerkrieges blieb auch
für Horaz nicht ohne schwere Folgen. Unter den Gebieten, welche von
den siegreichen Machthabern zur Entschädigung der Veteranen bestimmt
waren, befand sich auch die Heimat des Dichters, Venusia (App. B. C. 4, 3).
Durch diese Massregel verlor er Haus und Hof (Ep. 2, 2, 51). »An den
Schwungfedern beschnitten" kam er, als den Unterlegenen Amnestie ge-
währt war, nach Rom; doch besass er noch so viel väterlichen Guts, um
sich in die Korporation der Schreiber einzukaufen und zwar in die der
Quästoren, deren Wirkungskreis*) die Führung der öffentlichen Rechnungs-
bücher war. Dieses Amt gewährte Horaz ein genügendes Auskommen und
freie Zeit, um sich in der Poesie zu versuchen. An einer vielbesprochenen
Stelle (Ep. 2, 2, 51) sagt er von dem Entstehen seiner Dichtung:
paupertas inpülit,*) audax
ut versus facerem.
Diese Worte sind nichts anderes als eine Abbiegung des alten Satzes:
„Die Not macht erfinderisch, ' indem sie speziell das Erfinderische in dem
aggressiven Charakter seiner Satiren und Epoden, in der midacia erblicken.
Es ist nicht statthaft, aus denselben egoistische Motive, welche Horaz zur
Dichtkunst geführt hätten, abzuleiten. Richtig ist es, dass allerdings
Horazenft Gedichte auch seine äussere Lage verbessert haben; denn durch
sie wurden die Gönner der Litteratur und der kaiserliche Hof auf ihn auf-
merksam. Vergil und Varius stellten den dichterischen Genossen dem
^) Vgl. über den coactor die instruktive | et itranger 1 [1877] p. 397).
Abhandlung von Mommsen, ^Die Pompej. ') Mokksen, Rom. Staatsr. 1, 273.
Quittungstafeln " (Hermes 12, 97); dann Cail-
LEXER, „ Un Commissaire-Priseur ä Pompie*'
(NoHvelle Revue historique de droit fran^ais
^) So ist zu interpungieren, nicht aber
audax auf paupertas zu beziehen.
Q. Horatins Flaccna.
73
Maecenas vor (S. 1, 6, 54). Dies geschah im Frühjahr 38 (S. 2, 6, 40), neun
Monate später (S. 1, 6, 61 im Winter 38/37) liess Maecenas den Dichter
wieder rufen und nahm ihn unter seine Hausfreunde auf. Von da an war
er der materiellen Sorgen überhoben. Ums Jahr 33 v. Ch. erhielt er von
seinem Gönner ein Landgut in den Sabinerbergen, *) das ausser dem Guts-
hof noch fünf ,, Feuerstellen' in sich fasste (Ep. 1, 14, 2). In einem Brief
an Quinctius beschreibt er dasselbe in anmutiger Weise (Ep. 1, 16).
Jedenfalls durch Maecenas kam Horaz auch in Beziehungen zu Au-
gustus. Gern hätte derselbe ihn näher an sich herangezogen und ihn zu
seinem Sekretär gemacht, allein Horaz wollte seine Freiheit nicht preis-
geben. Auch in seinen Dichtungen hielt er sich, obwohl er mit vollem
Herzen auf Seiten der neuen Ideen stand und dem Hofe seine dichterischen
Huldigungen darbrachte, doch in einer gewissen Zurückhaltung. Sein Leben
verfioss in stiller Behaglichkeit auf seinem Landgut und in Rom. Er starb
den 27. November 8 v. Ch.
Die Hauptquelle fßr das Leben des Horaz sind seine Schriften. Ausserdem hat sich
die vifa aus dem Werk Suetons de riris iUustrihus in die Horazhandschriften hinüber-
gerett«t (Reifferschbid, rel. Suetoni p. 44). Auch Porphyrie hatte eine Biographie ver-
faast; vgl. S. 1,6,41 in narratione, quam de vita illius habtti, ostendi.
Litteratur: Masson, püa Horatii, Leyden 1708. Teuffkl, Horaz. Tübing. 1843.
Weber, Q. Hör. Fl. als Mensch und als Dichter, Jena 1844. Karsten, Q. Hör. FI., aus
dem Holland, übers, von Schwach, Leipz. 1863. Gerlach, Leben und Dichtungen des H.,
Basel 1867. L. Müller, Horaz, eine litterar-hist. Biogr., Leipz. 1880. Weissenfels, Horaz,
Berlin 1885. — Arnold, Das Leben des Hör. und sein philos., sittl. und dicht. Charakter,
Halle 1860. — EstbI^, Uaratiana prosopographia, Amsterd. 1846. Jaffe, De personun Horat.f
Halle 1885. Kiesslino, De per s. Horat. commentatio im Lektionenverzeichnis, Greifsw. 1880.
— Teuffbl, De Horatii amoribut* (Jahns Archiv 6,325 7,648). Weber ebenda 9,248.
252. Erste Satirensammlimg. Als Horaz nach der Schlacht bei
Philipp! nach Rom kam und froh sein musste, in der Korporation der
Schreiber eine Unterkunft zu finden, da war es die Poesie, durch die er
seinem gepressten Herzen Luft machte. Er versuchte sich in der Art und
Weise des Archilochus und dichtete Epoden, aber noch geeigneter fand er
für seine Studien das Feld, das Lucilius angebaut hatte, die Satire. Sic
wurde ihm das geeignete Organ für die Plaudereien, mit denen er sich
und seine Leser in angenehmer Weise unterhalten wollte. Stoff konnte
das äussere und innere Leben des Dichters in reicher Fülle darbieten. Und
in der That, der Dichter plaudert in seinen Satiren über die mannig-
fachsten Gegenstände. Er berichtet über Vorkommnisse seines Lebens, so
erzählt er uns ein Witzwort aus dem Rechtsstreit des Ritters P. Rupilius
Rex aus Praeneste und des Bankiers Persius aus Clazomenae, der vor dem
Richterstuhl des Brutus ausgef echten wurde (7); in der 5. Satire gibt er
ein Tagebuch seiner mit Maecenas unternommenen Reise nach Brundisium ;
es ist eine sehr ergötzliche Erzählung; in einer andern schildert er uns
höchst anschaulich die Pein, die ihm ein aufdringlicher Mensch verursachte,
der sich auf der Strasse an ihn herandrängte, um Zutritt zu Maecenas zu
erlangen, und trotz aller Winke sich nicht abschütteln liess (9); eine nächt-
liche, mit einem Knalleffekt abschliessende Beschwörungsgeschichte ver-
') Die Satire 2, 3 setzt den Besitz, des-
selben voraus. Horaz nimmt bauliche Ände-
rungen (308) vor, scheint also eben Eigen-
tümer geworden zu sein. Die erwähnte Satire
ist nicht vor 33 v. Ch. geschrieben (vgl. Kiess-
lino p. 148).
74 RömiBohe Litieratnrgeschiohie. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilimg.
nehmen wir aus dem Munde des Gartengottes Priapus (8). Aber auch an
soziale und ethische Probleme wagt sich der junge Dichter heran. Er malt
uns die Oefahren, denen sich die Ehebrecher aussetzen (2), er wendet sich
gegen die lieblosen Beurteiler und die Splitterrichter (3), er findet in der
Habsucht der Menschen den Grund ihrer Unzufriedenheit mit ihrem Lose
und ihres Neides (1). Auch persönliche Verhältnisse macht er zum
Gegenstand seiner Verse. Besonders war es das Verhältnis zu Maecenas,
das gegen hämische Missdeutungen geschützt werden musste. Er thut uns
daher in einer Satire kund (6), wie er mit Maecenas bekannt geworden,
wie er von seinem Vater nach festen Grundsätzen erzogen worden sei,
wie es ihm, dem Sohn eines Freigelassenen, durchaus nicht beifalle, über
seinen Stand hinauszustreben, wie er aber auch keinen Grund habe, sich
seines Ursprungs zu schämen. Zur Verteidigung seiner Satirendichtung und
zur Darlegung seines Verhältnisses zu Lucilius ergriff er zweimal das Wort,
einmal hatte er es mit zwei Klassen von Gegnern zu thun, mit solchen,
welche sich an der Form stiessen und mit solchen, welchen der aggressive
Inhalt tadelnswert erschien (4). Da er in dieser Satire Lucilius in Bezug
auf die Form stark mitgenommen hatte, so sucht er, wahrscheinlich weil
dieses Urteil Missfalleu erregt hatte, später seinen Tadel auf ein richtiges
Mass herabzusetzen (10).
Diese Dichtungen waren anfanglich nicht für die Veröffentlichung
durch den Buchhandel bestimmt (S. 1,4, 71); nur in Freundeskreisen wur-
den sie vorgelesen. Allein späterhin, ungefilhr im Jahre 35 v. Ch., stellte
er zehn Stück zu einem Buch zusammen. Die Ordnung der hier ver-
einigten Satiren ist keine zufallige, sondern eine vom Dichter gewollte.
An die Spitze tritt eine Satire, in der Maecenas angeredet wird; es sollte
dadurch das ganze Buch seinem Gönner gewidmet werden. Die Mitte (6)
nimmt eine Satire ein, in welcher wiederum die Persönlichkeit des Maecenas
in den Vordergrund tritt. Die letzte Satire kann endlich gut die Stelle
eines Epilogs vertreten.
Chronologie der ersten Satiren Sammlung. Da mehrere Satiren des ersten
Buchs (1. 3. 5. 6. 8. 9. 10) eine innigere Bekanntschaft des Dichters mit Maecenas voraus-
setzen, so kann die Herausgabe des Buchs nicht vor 37 v. Gh. angesetzt werden. Wenn
aber die zweit« Satirensammlung später entstand und später herausgegeben wurde, so
müssen wir weiter folgern, dass die Edition des ersten Buchs nicht nach 33 v. Gh., über
welches Jahr die dritte Satire des 2. Buchs nicht zurückdatiert werden darf, statthatte.
Ob man aus der Nennung des Bibulus (1,10,86) dessen Anwesenheit in Rom als Unter-
händler des Antonius und damit das Jahr 35 als Abschluss des ersten Buchs folgern darf,
ist zweifelhaft. — Brai^deb, De editione ufriusque libri satirarum Horatii, Halle 1885.
253. Die Epoden. Neben den Satiren pflegte Horaz, wie wir sahen,
die Epoden. Iin Laufe der Zeit war ihm eine Reihe von Stücken erwachsen.
Von Maecenas gedrängt (Ep. 14) entschloss er sich auch zu einer Samm-
lung dieser Produkte seiner Muse. Er vereinigte 17 Gedichte zu einem
Corpus und ordnete sie nach metrischen Rücksichten. Die ersten 10 Ge-
dichte sind in dem Mass
gedichtet d. h. es folgt auf einen jambischen Trimeter ein jambischer Di-
meter. Der kürzere Vers erscheint dem längeren gegenüber als eine dau-
Q. HoratiuB Flaccns. 75
sula und führt den Namen ino^doq. Die sieben sich »anschliessenden Ge-
dichte weisen verschiedene Masse auf. Meist wird auch hier ein längerer
Vers durch einen kürzeren abgeschlossen. Von dieser metrischen Erschei-
nung führte das ganze Buch in späterer Zeit den Namen „Epoden*'. Allein
in manchen Stücken tritt jene Erscheinung gar nicht hervor, so besteht
das letzte Gedicht aus lauter Trimetern, in Nr. 11 geht der kürzere Vers
voraus, in Nr. 13 sind beide Verse nahezu gleichlang. Horaz selbst hat
seine Sammlung „Jambi'* genannt, i) In diesen Gedichten ist Horaz Nach-
ahmer der archilochischen Jambenpoesie. Wenn er aber sich berühmt
(Ep. 1,19,23):
Parios ego pritnus iambos
Mtendi LatiOf numeros animosque secutus
Archilochij non res et agentia verba Li/camben,
80 ist das eine offenkundige Übertreibung; denn schon vor Horaz haben
Catull und seine Genossen in dieser Dichtungsgattung Ausgezeichnetes ge-
leistet. Dagegen ist es richtig, dass Horaz mit diesen Gedichten neue
Masse bei den Römern einführte, besonders das aus zwei jambischen Reihen
bestehende Epodenmass. Zeigt sich Horaz als glücklicher Nachahmer
des Archilochus in der Form, so steht er dagegen in Bezug auf den
dichterischen Gehalt weit hinter dem Griechen zurück. Bei Archilochus
ist die Dichtung ein treuer Spiegel seines Lebens; seine leidenschaftliche
Natur findet in den Jamben die Waffe, um alle ihm angethane Unbill zu
rächen; in seinem bewegten Leben hat er aber deren genug erfahren. Da-
gegen ist Horazens Leben, nachdem er die Folgen der Schlacht bei Philippi
überwunden, von aufregenden Scenen frei. Es kann daher seine Jamben
nicht die archilochische Kraft durchdringen; ja es finden sich Stücke da-
runter, die gar nichts Aggressives enthalten, wie das erste Gedicht, in
dem Horaz von Maecenas, der in den Krieg zieht, nicht zurückgelassen
sein will; ebenso ist die Aufforderung zum frohen Lebensgenuss, wie sie
Nr. 13 ausspricht, ohne allen bitteren Beigeschmack; nicht minder harm-
los ist das 14. Gedicht, in dem sich Horaz bei Maecenas entschuldigt, dass
er die Sammlung der Jamben noch nicht zu Ende geführt, ferner das Ge-
dicht 1 1 , in dem er seine Liebespein dem Pettius klagt. Manche Gedichte
sind nur teilweise aggressiv; interessant sind in dieser Hinsicht das zweite
und das sechzehnte, beide sind Idyllen, das erste schildert uns das Glück
des ländlichen Stillebens, das andere führt uns auf die Inseln der Glück-
seligen; allein im ersten Stück ist durch den Schluss, durch den die ganze
Verherrlichung des Landlebens in den Mund eines Wucherers gelegt wird,
im zweiten durch den Eingang, der ein strafendes Wort an die durch die
Bürgerkriege sich zerfleischenden Römer richtet, der jambische Charakter
einigermassen gewahrt. In der Mitte erinnert an Archilochus das Gedicht 9;
indem Horaz den Maecenas zu einer Feier des Sieges bei Actium auffordert,
werden harte Worte gegen Antonius geschleudert. Die übrigen 10 Stücke
der Sammlung dagegen sind mehr im Geiste des Archilochus geschaffen;
-etwas von loderndem Ingrimm verraten das Schmähgedicht auf einen reichen
*) Epod. 14, 7 G. 1, 16, 3 und 24 (nie | Fervor et in celeres iambo« Misit furentem).
quoqiu pectoris Temptavit in dulci iuventa , Ep. 1 19, 23.
76 RömiBohe LitteratnrgeBohiohte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
Parvenü (4), die Drohung an einen feigen Kläffer (6), das verwünschende
Propempticon für den Dichter Mevius (10), die Abwehr alter und häss-
licher Frauen (8 u. 12), die Mahiirede an die sich in einen neuen Bürger-
krieg stürzen wollenden Römer (7). Nicht ernst gemeint sind die furcht-
baren Verwünschungen eines Knoblauchgerichtes, mit dem Maecenas den
Dichter bewirtet hat (3). In gedämpftem Ton erklingt die Klage über die
Untreue der Neaera (15). Eigenen Charakter haben die zwei Gedichte auf
die Canidia; in dem ersten (5) wird sie verhöhnt, indem eine Scene vorge-
führt wird, in der sie einen Knaben mordet, um aus dessen Mark und Leber
einen Liebestrank zu brauen; das zweite, das Schlussgedicht der ganzen
Sammlung, enthält ein Zwiegespräch zwischen Horaz und Canidia. Der
Dichter bittet ironisch um Schonung, dagegen droht ihm die Giftmischerin
unerbittlich mit neuen Qualen.
Aus der gegebenen Übersicht erhellt, dass die Epoden zwei ganz
heterogene Bestandteile umfassen, das aggressive Gedicht und das Lied,
und dass beide Formen manchmal ineinander übergehen. Nachdem die
Sammlung dieser Gedichte, welche den Zeitraum von 40—31 umspannen,
geschlossen war, kam der Dichter nicht mehr auf diese Dichtungsart
zurück. Das aggressive Gedicht hatte eine höhere Stufe bereits in der
Satire erhalten, indem der Angrifif sich von dem Individuellen auf das
Allgemeine lenkte; das Lied fand späterhin so reiche Pflege, dass dasselbe
in voller Selbständigkeit erscheinen konnte.
Chronologie der Epoden. Die Zeitanspielungen führen von 40 v. Chr. bis 31
V. Ch.; in jenem Jahr ist das 16. Gedicht verfasst, dagegen weist das 9. auf den bei
Actium eben erfochtenen Sieg (2. Sept. 31); noch vorher war in demselben Jahr das 1. Stück
gedichtet. Wir werden also die Herausgabe der Sammlung ins folgende Jahr 30 v. Ch. zu
setzen haben. — Teuffel. Die Abfassnngsz. der Epoden, Zeitschr. f. Altertumsw. 1844 (508),
1845 (506). Leidloff, De epodon Hör, aetate, Holzminden 1856.
254. Zweite Satirensammlung. Das erste Buch der Satiren war
bereits geraume Zeit in den Händen des Publikums. Es kamen dem Dichter
jetzt Urteile zu, darunter ablehnende. Den einen missfiel die Schärfe des
Inhalts, den andern die schlottrige Form (S. 2, 1, 1). Da trat er mit einer
neuen Sammlung hervor, in der die Komposition andere Wege einschlug.
Während in den Satiren des ersten Buchs mit einer durch die Natur des
Gegenstandes (8) begründeten Ausnahme der Dichter selbst seine Ansichten
von Menschen und Menschenleben entwickelt, lässt er jetzt andere Per-
sonen reden. So bezeichnet er in der zweiten Satire ausdrücklich seine
Betrachtungen über die Genügsamkeit als Gedanken des Landmanns Ofellus,
der selbst durch widrige Schicksalsschläge seine Zufriedenheit nicht ein-
büsste. In der dritten Satire erhalten wir die Lehre des Stoikers Ster-
tinius über das Paradoxon, dass ausser dem Weisen alle Menschen Thoren
seien und dass jede Thorheit eine Verrücktheit sei. Diese Lehre trägt
aber Stertinius durch den Mund eines seiner Anhänger, des bankerott ge-
wordenen Damasippus, vor. Ein ähnliches Verfahren hält Horaz in der
vierten Satire ein, in der ein gastronomischer Cursus nicht durch den
Meister selbst, sondern durch einen Hörer Catius gegeben wird. Höchst'
komisch wird in der fünften Satire eine Anleitung zur Erbschleicherei
dem Seher Tiresias beigelegt, den Ulixes bei seiner Fahrt in die Unter-
Q. Horaüns Flaocns. 77
weit gefragt hatte, wie er, nachdem er alles verloren, zu Reichtum ge-
langen könne. Das stoische Paradoxon, dass nur der Weise frei ist, alle
übrigen Menschen aber Sklaven sind, erörtert der Sklave Davus, geschützt
durch die Freiheit der Saturnalien, in der siebten Satire vor seinem
Herrn, dem Dichter. Seine Philosophie hatte er von dem Thürhüter des
Stoikers Crispinus. Einen heiteren Abschluss der Satirensammlung bildet
die achte Satire, in welcher der Komiker Fundanius ein Diner bei dem
reichen Nasidienus Rufus, der durch die stetigen gastronomischen Er-
läuterungen seine Gäste belästigt und, als der über das Triklinium ge-
spannte Vorhang herabstürzte, ausser Rand und Band kam, anschaulich
schildert. Ausserdem, dass Horaz andere Personen statt seiner sprechen
lässt, strebt er auch noch dramatische Gestaltung an; er führt nämlich
in den Satiren 3, 4, 7, 8 sich, in der 5. den Ulixes als Hörer und Mit-
redenden ein.
Gegen das neue Eompositionsgesetz scheinen die erste und sechste
Satire zu Verstössen. Allein diese Ausnahmen sind durchaus gerechtfertigt;
in beiden Satiren spricht er nämlich von seinen eigenen Angelegenheiten,
in der ersten verteidigt er seine Satirenschreiberei gegen die Angriffe seiner
Gegner, in der sechsten schildert er sein zufriedenes Stilleben auf seinem
Landgut und stellt demselben das Jagen und Treiben in Rom entgegen.
Aber auch diese beiden Satiren sucht er soweit als möglich der neuen
Kompositionsform zu nähern; die erste gestaltet er dramatisch, indem er
seine Verteidigung vor dem Juristen Trebatius abhält, in der sechsten wird
aber der Gegensatz des Stadt- und Landlebens, nachdem ihn Horaz in so
überaus anmutiger Weise geschildert, zuletzt auch von dem Gutsnachbar
Cervius durch die Erzählung von der Stadt- und Landmaus anschaulich
gemacht und dadurch die neue Kompositionsform sozusagen noch nachträg-
lich durchgeführt.
Chronologie der zweiten Satirensammlung. Da Horaz in der zweiten Samm-
lung eine völlig andere Kompositionsform als in der ersten eingeschlagen, so ist es ganz
unwahrscheinlich, dass die beiden Sammlungen gleichzeitig entstanden sind. Es kommt
hinzu, dass die Zeitanspielungen, soweit wir sie erkennen können, später sind als die im
ersten Buch vorkommenden. Die Sammlung kann nicht vor 31 v. Gh. herausgegeben sein,
denn in dieses Jahr und zwar gegen £nde desselben fällt die 6. Satire (Brandes p. 8).
Also werden wir mit der Herausgabe ins Jahr 30 v. Ch. kommen (Kiesslino, Einleitung
p. XII).
255. Charakteristik der Satirendichtung. In der Satire setzte
Horaz die Richtung des Lucilius fort; allein es trennte doch beide Dichter
eine weite Kluft. Lucilius hatte sehr wenig Gewicht auf die Form gelegt;
sein schlottriger Versbau, sein Mangel an Sorgfalt in der Komposition, die
bunte Mischung von Griechisch und Lateinisch werden von Horaz wieder-
holt getadelt. Diese Formlosigkeit durfte sich der augusteische Dichter
nicht mehr erlauben, da war der Geschmack doch schon zu entwickelt und
die Verstechnik fortgeschritten. Ebensowenig konnte der Venusiner in der
Anwendung mannigfacher Versmasse dem alten Satiriker folgen, er setzte
den Hexameter als den einzig zulässigen Vers in den Satiren fest. Auch
der Gedankenwelt Horazens waren nicht viele Berührungspunkte mehr mit
der Lucilischen gemeinsam. Es war eine andere Zeit mit anderen Ten-
78 RömiBche Litteratargeflcliiohte. U. Die Zeit der Honarohie. 1. Abteilnng,
denzen angebrochen; die Republik hatte sich ausgelebt und die Monarchie
die Gemüter versöhnt, für politische Erörterungen, welche bei Lucilius so
stark hervortraten, war jetzt kein Kaum mehr. So blieben noch die Kreise
der Litteratur, des Familienlebens, eigene und fremde Verhältnisse für die
neuen Satiren übrig. Um diese Poesie in ihrem Charakter näher zu be-
stimmen, müssen wir zunächst auf den Dichter selbst zurückgreifen. Da
finden wir nun, dass er seine Satiren gar nicht als eigentliche Poesie be-
tmchtet, sie sind ihm in Verse gebrachte Prosa. Er nennt sie daher wie
seine Briefe, nachdem er mit seinen Oden das Reich der echten Poesie
betreten haben wollte (Ep. 1,4, 1 2,1,250 2,2,60) nur sermones d. h.
Plaudereien. Die Plaudereien setzen eine fingierte Person voraus, etwa den
Leser, mit dem sich der Dichter unterhält und der hier und da durch
Einwürfe sich bemerklich macht. Im zweiten Buch wird aber in der Regel
ein wirklicher Dialog eingeführt. Die Plauderei braucht sich nicht an
strenge Ordnung der Gedanken zu halten, auch braucht sie nicht den
Gegenstand nach allen Seiten hin auszuschöpfen; es genügt, wenn das Auf-
fällige, das was gerade in den Wurf kommt, besprochen wird. Aber es
ist klar, dass die Plauderei doch den Charakter der Kunst an sich tragen
soll. Sie muss daher so beschaffen sein, dass sie den Leser erheitert und
erfrischt. Wird diese Forderung erfüllt, so kann der Dichter über alles
Mögliche plaudern; seine Dichtungsgattung setzt ihm keine Schranken. Er
kann sich mit dem Leser unterhalten über eine harmlose Anekdote, wie
über den Streit zwischen Rupilius Rex und Persius, über ein Reisebild wie
in der fünften Satire des ersten Buchs, über ein einfaches Erlebnis wie in
der letzten Satire desselben Buchs. Aber seine Unterhaltung kann sich
auch einem ethischen Problem zuwenden. Hier muss sich uns die innere
Natur des Dichters erschliessen und solche Satiren werden daher die grösste
Anziehungskraft ausüben. Die ganze Liebenswürdigkeit des Dichters tritt
in denselben zu Tage. Indem er über das Verkehrte plaudert, macht er
keinen von Grimm erfüllten Strafprediger, durch die ungeschminkte Dar-
stellung löst sich die Thorheit selbst auf; mit lachendem Mund verkündet
er das Wahre (1,10,14):
ridiculum (icri
fortius et melius magnas plerumque secat res.
Die Lebensweisheit, die uns in diesen Schöpfungen dargereicht wird, ent-
lehnt der Dichter zum Teil aus den Griechen. Man gewahrt den Einfluss
des Cynikers Menippus wie z. B. in der 5. Satire des zweiten Buchs, noch
mehr scheint Horaz einem andern Schriftsteller zu verdanken, dessen Be-
nützung entschieden aus Ep. 2, 2, 60 gefolgert werden muss. Es ist dies
Bion aus Borysthenes, welcher „der Philosophie ein blumiges Gewand
anlegte. ** Dessen SiavQißai waren ganz wie manche Horazische Satiren
Plaudereien, nur prosaische über ethische Probleme. Aber man merkt
diese Benützung kaum mehr; der Römer hat die griechische Weisheit so
in sich aufgenommen, dass sie einen Teil seines Wesens bildet.
Über Bion als Quelle des Horaz vgl. Heinzb, De Horatio Bionis imitatore, Bonn
1889. (Dazu Rh. Mus. 45, 519.) Hense, Teletis reliq. p. LXVI. Die Benützung des Menippus
von Seite des Horaz leugnet Rowb, Quaeritur quo iure Horaiius in saturis Menippum
imitatus esse dicatur, Halle 1888, allein mit Unrecht.
Q. HoratiuB Flacons. 79
256. Erste Liedersammlung. Mit den Epoden hatte Horaz den
Versuch gemacht, das jambische Epodenmass des Archilochos in Rom ein-
zubürgern. In seinen reiferen Jahren steckte er sich noch ein höheres
Ziel, auch das äolische Lied des Alcaeus und der Sappho sollte auf dem
italischen Boden erklingen. Es war dies kein kleines Wagnis, denn es
trennten Jahrhunderte die Zeit des Dichters von jener zarten Blüte der
Poesie, auch bewegte sich die damalige Litteraturströmung in ganz anderem
Bette, in der älexandrinischen Dichtung, welche zeitlich wie sachlich den
Römern am nächsten lag. Wie viel Jahre Horaz dem grossen Werk ge-
widmet, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen, die in den Liedern
liegenden chronologischen Indicien führen uns nicht über das Jahr 30 v. Ch.
zurück. Nach beiläufig sieben Jahren (23 v. Ch.) hatte er so viel Lieder
beisammen, dass er drei Rollen füllen konnte. Er vereinigte zwanzig zum
zweiten Buch, dreissig zum dritten, man sieht die Einwirkung der runden
Zahl ; in das erste Buch musste er, wollte er nicht auf die Aufnahme mancher
Gedichte eines äusseren Prinzips wegen verzichten, alles einreihen, was
er für die Publikation bestimmt hatte, so kamen in dieses Buch 38 Lieder.
Um den Lesern gleich eine Vorstellung seines metrischen Könnens zu
geben, eröffnete er die Sammlung mit lauter Oden von verschiedenem
Masse. Es werden hier (mit Ausnahme der 2,18 3,12 gebrauchten) alle
Metra gewissermassen in Parade vorgeführt, welche in den drei Teilen
der Sammlung vorkommen. Nachdem der Dichter einmal diese Tafel ent-
worfen, wollte er sie auch für die Anordnung der übrigen Oden des ersten
Buchs, ja auch der Oden der folgenden zwei Bücher zu Grunde legen und
damit zugleich das Prinzip der Abwechslung soweit als möglich zur Geltung
bringen. Daneben verfolgt er noch andere Rücksichten bei der Anordnung.
Das erste Wort, das wir in der Sammlung lesen, ist Maecenas; er suchte
dadurch anzudeuten, dass sie dem Patron als Gabe dargebracht werde.
Auch die folgenden Oden des ersten Buchs verdanken ihre bevorzugte
Stellung dem Bestreben des Dichters, seinen Freunden und Gönnern ein
ehrendes Denkmal zu setzen. Das zweite Buch wird eingeleitet durch eine
Ode an Asinius Pollio; denn auch diesem einflussreichen Kritiker gebührte
ein Ehrenplatz. Einen besonders glänzenden Eingang erhielt der dritte
Teil der Sammlung. An der Spitze desselben erschien ein Cyclus von
sechs Gedichten, die sogenannten Römeroden, denen von jeher die grösste
Bewunderung gezollt wurde. Anfang und Ende der Sammlung wurde da-
durch zusammengeschlossen, dass das erste und das letzte Gedicht in dem-
selben Versmass erscheint. Die Stoffe, welche den einzelnen Liedern zu
Grund liegen, sind sehr mannigfaltig. Es ist kaum eine bemerkenswerte
Situation des Menschenlebens, welche nicht an die eine oder die andere
Ode angeknüpft werden könnte. Bald ist es die Freundschaft, bald die
Liebe, bald das Vaterland, bald die Götterwelt, bald das fröhliche Zech-
gelage, bald das stille Leben in der Natur, bald ein Ereignis des Tags,
bald die Welt der Gedanken, welche seine Leier bewegt. Für jede Stim-
mung finden sich anklingende Töne. Ernstes und Heiteres, Hohes und
Niedriges, Phantastisches und Realistisches, Leichtes und Tiefsinniges
schwirren bunt durcheinander. Als er auf sein mühevolles Schaffen zurück-
80 Römische lätteratnrgeBcliiohte. Ü. Die Zeit der Honarchie. 1. Abteilung.
blickte, überkam ihn das Gefühl einer hohen Befriedigung. Im Geiste sah
er, wie sein Lied zu allen Völkern des Erdkreises dringen werde, selbst zu
denen, welche noch von der Kultur unberührt geblieben ; er ahnte, dass er
sich ein Denkmal begründet, das der Zeiten Flucht nicht zerstören könne,
und das Herz vor Freude geschwellt, brach er in den Jubelruf aus:
Nan omnis moriar.
Die Paradeoden. Auf die Absicht des Dichters, durch die ersten Oden dem Leser
gleich die verschiedenen Formen seiner metrischen Kunst vorzuführen, machte Christ auf-
merksam (Münchn. Sitzungsber. 1868 I p. 36 Anm. 12). Wie weit sich die Paradeoden er-
strecken, ist strittig. Christ nimmt die ersten 9, Kiesslino (p. 63) die ersten 12 als
Probestücke, da das Metrum der 10. Ode, obwohl sapphisch wie die 2., doch zum Teil
andere Normen befolge, also eine Variation des sapphischen Masses zum Ausdruck bringe,
da femer die 11. Ode das noch nicht vertretene grössere Asclepiadeum anwende, da end-
lich der Dichter mit der 12. Ode wieder zum Metrum und Stoff des 2. Gedichts zurückkehre.
Die Verteilung der übrigen Gedichte nach dieser Tafel legt Elter dar (Wiener
Stud. 10, 158). Die Rücksichtnahme auf Freunde und Gönner in den ersten Oden erörtert
BücHELER {Ind. lect.y Bonn 1878/9 p. 15). Es ist eine Beobachtung Rieses (Fleckeis. Jahrb.
1866, 474), dass der Dichter, da er im dritten Buch gleich zu Anfang sechsmal im
alräischen Versmass gedichtet, erst im 17. wieder darauf zurückkam, um Übersättigung des
Lesers zu verhüten.
Chronologie der drei ersten Odenbücher. Wegweiser war hier Lachmakv
(Kl. Sehr. p. 155). Vgl. Kiesslino, in den Philol. Unters, von Kiessling und Wilamowitz
2, 48. In dem ersten Epistelbuch, welches nach dem Schlussgedicht im J. 20 v. Ch. heraus-
kam, findet sich ein Bnef (13), in dem H. nochmals den bereits abgereisten Vinnius Asina
instruiert, wie er des Dichters Rollen (volumina) dem Princeps überreichen soll. Diese
Volumina können nichts anderes gewesen sein als die drei Bücher Oden. Diese Über-
reichung eines Dedikationsexemplars seiner Gedichte musste also vor 20 v. Ch. erfolgt
sein. Augustus ging Ende 22 v. Ch. nach Sicilien und von da nach dem Osten. Da nun
der Bote nach der Beschreibung des Dichters den Landweg nimmt (v. 10), so muss Vinnius
sich seines Auftrages entledigt haben, ehe Augustus nadb Sicilien und dem Orient ging,
also vor Ende 22 v. Ch. Wir können aber noch weiter hinaufgehen; Marcellus, der Ende
23 V. Ch. starb, muss noch am Leben gewesen sein, sonst würde H. kaum in der Weise,
wie dies 1,12,45 geschehen, an ihn erinnert haben. Weiter: Horaz feiert in mehreren
Liedern den Schwager des Maecenas, L. Licinius Murena (2, 10 3, 19). Dieser Mann wurde
aber in der zweiten Hftlfte des Jahres 23 v. Ch. in eine Verschwörung verwickelt, die sein
tragisches Ende herbeiführte. Man wird kaum annehmen können, dass Horaz jene Lieder
nach diesem Ereignis noch in seine Bücher aufgenommen hätte. Es handelt sich noch um
den terminus post quem. Als das jüngste Ereignis erscheint 1, 24 der Tod des Quintilius
Varus, den Hieronymus (IT 143 Seh.) in das Jahr 23 (nur ein codex 24) setzt. Für das
Jahr 23 spricht auch die Aufiiahme des Sestius in die Paradeoden, welche erst dann recht
verständlich wird, wenn die betr. Ode (4) geschrieben wurde, nachdem Sestius Mitte 23
das Konsulat angetreten hatte. Sonach ist die Herausgabe der drei Bücher im Jahre 23
höchst wahrscheinlich. Die älteste Ode ist 1,37 nunc est bibendum, sie fällt in das Jahr
30 V. Ch. (BÜCHELER, Ind. lect., Bonn 1878/9 p. 14).
257. Die erste Epistelsammlung. Als die drei Bücher Oden im
J. 23 V. Ch. erschienen waren, drängte es den Dichter wieder zu den
„Plaudereien^, den Erstlingsfrüchten seiner Muse, zurückzukehren; er nahm
sie aber in einer neuen Form, der des Briefs, auf. Auch unter dieser
Form wusste Horaz mehrere Spielarten zu vereinigen. Bald sind es wirk-
liche Briefe wie der an Julius Florus (3), an Celsus Albinovanus (8), an
Junius (12), Produkte, welche ganz besonders reizend und anmutig aus-
fielen; bald sind es Fiktionen, wie der Brief an Vinnius Asella, der die
drei Bücher Oden an Augustus überbringen soll (13) oder der an seinen
Verwalter (14). Dem Inhalt nach sind die Briefe entweder individuell,
in welchem Fall aber der Dichter auch gern weiter ausgreift, oder sie
erörtern allgemeine Gedanken. Nichts erscheint dem Dichter wichtiger
als die Lehre vom Glück des Lebens. Die praktische Lebensphilosophie
Q. HoratiuB Flacona. 81
ist der schönste Schmuck dieser Briefe. Wir vernehmen das „fiil admirari",
d. h. die Mahnung, sich von allem leidenschaftlichem Wesen frei zu halten
und die äusseren Dinge zu nehmen, wie sie wirklich sind (6), wir begegnen
dem stoischen Grundgedanken, dass die Tugend hinreicht, ein glückliches
Leben zu schaffen (16), wir erfreuen uns an dem warmen Lob des fried-
lichen Stillebens auf dem Lande (10 und 14), wir stossen auf die bekannten
Sätze: „Lasse die Sorge fahren (3,26); lebe so als wenn der heutige Tag
der letzte sei** (4, 13), wir lesen das begeisterte Lob des Weins (5, 16),
kurz überall werden uns die Früchte einer gereiften Lebensanschauung in
goldner Schale geboten und der Sentenzen sind so viele, dass sich ein
kleines Brevier daraus herstellen lässt. Auch ganz praktische Lehren sind
von der Darstellung nicht ausgeschlossen ; und in dieser Beziehung ist be-
sonders merkwürdig das Briefpaar (17»und 18), welches über den Umgang
mit der vornehmen Welt in feiner Weise belehrt. Von seinen persön-
lichen Geschicken erzählt der Dichter nicht viel, doch hat er in einem
Brief an Maecenas (19) seine litterarischen Verhältnisse berührt und den
Nachahmern wie den Kritikern seiner Oden scharfe Dinge gesagt. Immer
mehr reift in ihm der Gedanke, die Poesie zu verabschieden und der Philo-
sophie sich zu widmen. In einem zweiten Brief an Maecenas entwirft er
dies als sein Programm und stellt daher diesen Brief an die Spitze des Buchs.
Die „Plaudereien** betrachtet er ja nicht als eigentliche Dichtung. Diese Muse
ist ihm nur eine „pedestris" (S. 2,6,17). Es war noch der Epilog zu machen.
Als solchen wählt er eine Anrede an das Büchlein, das jetzt in die Welt
hinaus will und dem er einige Verhaltungsmassregeln mit auf den Weg gibt.
Chronologie des ersten Epistelbuchs. Nach dem Epilog (27) hatte Horaz im
J. 21 V. Gh., in welchem M. LoUius und Q. Aemilius Lepidus Konsuln waren, 44 Dezember
zurückgelegt. Da Horaz am 8. Dez. 65 v. Ch. geboren wurde, so sind jene Worte des
Epilogs vor dem 8. Dez. 20 und nach dem 8. Dez. 21 geschrieben. Da aber das 12. Ge-
dicht wegen Vers 27 in den Sommer d. h. nach der Ernte (v. 28) 20 v. Ch. fällt, so muss
der später geschriebene Epilog nach Mitte 20 v. Ch. verfasst sein. Die Herausgabe des
Buchs gehört also diesem Jsübr an. Die Zeitspuren lassen sich zurückverfolgen bis zum
Jahre 23 v. Ch., in dem er (vgl. Brief 13) die drei Odenbücher an Augusts gelangen
liess (Gabbel, Stettiner Programm des J. 1888).
258. Die Litteraturbriefe (zweite Briefsammlung). Als im J. 20
V. Ch. Horaz sein erstes Epistelbuch in die Welt hinaussandte, war er,
wie wir eben sahen, des Dichtens müde geworden. Sein Geist sehnte
sich nach dem Trost der Philosophie und er war entschlossen, der Poesie
Lebewohl zu sagen. Als daher Maecenas zur Fortsetzung der lyrischen
Dichtung drängte, wies er darauf hin, dass die Jugend und der jugend-
liche Geist entschwunden (1,1,4 u. 10):
nunc itaque et versus et cetera ludiera pono;
quid verum atque decens, curo et rogo et omnis in hoc sum»
Diese Stimmung scheint längere Zeit angehalten zu haben. Auch in einem
Schreiben an Julius Florus, der sich in der Kohorte des Tiberius befand
und ebenfalls carmina d. h. Oden (2,1,25) haben wollte, will Horaz vom
Dichten nichts mehr wissen, auch hier bekennt er sich zur Philosophie
als Führerin des Lebens (141):
nimirum sapere est abiectis utile nugis
et tempestivum pueris concedere ludum,
Handbuch der klaas. AltertanuiwtaenMliaft. YIU. 2. Teil. 6
82 RömiBclie Litteratnrgesohiclite. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
ac non verba sequi fidibus modulanda Latinis,
sed verue numerosque modosque ediscere vitae.
In anmutiger Weise setzt er auseinander, dass er für die^ Liederdichtung
schon zu alt sei, denn mit den Jahren sei auch Scherz, Spiel und Liebe
dahingegangen, dass Rom mit seinem entsetzlichen Lärm ihn keinen poeti-
schen Gedanken fassen lasse, dass er der tausendfachen Rücksichten auf
die leicht erregbaren und eitlen Kollegen überdrüssig geworden, dass es
schwer sei, dem so verschiedenen Geschmack des Publikums Genüge zu
leisten, dass er durch seine Dichtungen erreicht, was Ziel seines Strebens
war; wozu also ein neues Wagnis? Dies sei aber um so weniger ange-
bracht, als das Dichten grosse Sorgfalt und mühevolle Arbeit notwendig
mache. Horaz glaubte jetzt die Zeit gekommen, in der er statt selbst
poetisch zu schaffen, lieber seine Ideen über dieses Schaffen den lern-
begierigen Anfängern kundgeben könne. An Material fehlte es ihm nicht;
er brauchte nur in den Born seiner reichen Erfahrung zu langen, er konnte
auch das eine oder das andere griechische Werk nützen wie das des
Neoptolemos aus Parion, der gegen Ende des dritten Jahrhunderts über
Poesie schrieb. In einem grossen Brief, den er an die Pisonen (Vater
und zwei Söhne) richtet, führt er sein Vorhaben durch, er verkündet
dort (306):
nü scribens ipse, docebo,
unde parentur opes, quid alat formetque poetam.
Der Brief ist uns unter dem Namen ^Ars poetica" geläufig; allein man
darf nicht eine systematische Poetik *) in demselben suchen. Es ist Horaz
nicht um Vollständigkeit, nicht um strenge Ordnung und nicht um tief-
gehende philosophische Begründung zu thun. Zwanglos wie in einem Ge-
spräch mit einem andern entwickelt er seine aus der Erfahrung geschöpften
Gedanken, wie sie ihm eben zukamen. Nachdem er zuerst von der künst-
lerischen Einheit des Dichtwerks, von der richtigen Wahl des Stoffs und
der kunstgemässen Auswahl des Ausdrucks gesprochen, geht er zu Be-
trachtungen über die dramatische Poesie und das Satyrdrama über, dann
bringt er Aphorismen über das poetische Schaffen im allgemeinen mit
genauer Berücksichtigung der römischen Verhältnisse. Eine Fülle packender,
grossenteils in geflügelte Worte verwandelter Gedanken sind hier aus-
gestreut, wie dass die Dichter nützen oder unterhalten wollen, dass der
echte Dichter, der beides zu vereinigen weiss, den Sieg davonträgt, dass
den Dichtern nicht die Mittelmässigkeit gestattet ist, dass er aus dem
Leben schöpfen muss, dass auch der gute Homer manchmal schläft, dass
das hinausgesandte Wort nicht mehr zurückkehrt und dass man daher
sein Produkt bis zum neunten Jahr zurückhalten soll, dass die Beurteilung
der Gedichte von Seiten der Freunde, die auf einen guten Tisch und andere
Vorteile rechnen, verdächtig ist u. s. w. So lose die Sätze auch aneinander
gereiht sind, so mannigfaltig ihr Inhalt ist, es durchzieht sie doch eine
Grundidee, nämlich dass die Dichtkunst nicht bloss Sache des Talents,
sondern auch des Fleisses ist und dass dem Dichter Belehrung und Unter-
weisung in hohem Grade not thut, besonders damit er Fehlerhaftes vermeide.
^) Weissskfels, Ästhetisch-kritltische Analyse der ars poStica, Görlitz 1880,
Q. HoratiuB FlaccuB. 83
Es darf angenommen werden, dass diese zwei Briefe, in denen ein
gereifter Mann aus dem Leben heraus über Litteratur sein Urteil abgibt,
in den Kreisen der Gebildeten grosses Aufsehen hervorriefen. Sie erregten
auch das Interesse des Kaisers; denn wir müssen die zwei Briefe für die-
jenigen halten, welche Augustus, wie Sueton erzählt, zu der Klage ver-
anlassten, dass der Dichter seiner gar nicht Erwähnung gethan. Eine
solche Klage konnte Horaz natürlich nicht unbeachtet lassen; er schrieb
daher einen Brief an Augustus, in dem er ebenfalls litterarische Fragen
erörterte. So beurteilte er abfällig die damals aufgekommene Richtung,
die alten Autoren auf Kosten der neuen zu bewundern, er berührt die
Dichtwut seiner Zeit, nicht ohne auch die günstige Seite dieser Krankheit
hervorzuheben, er klagt über den Verfall der dramatischen Dichtkunst,
da das Publikum nur noch Sinn für glänzende Äusserlichkeiten habe, end-
lich empfiehlt er dem Herrscher die Pflege der Buchpoesie als der besten
Verkünderin der glänzenden Thaten.
Diese drei Briefe stellte Horaz zu einem Buch zusammen; natürlich
musste der an Augustus gerichtete an die Spitze treten. Die Ars poetica,
welche den letzten Platz einnahm, löste sich später ab und verband sich
mit andern horazischen Gedichten.
Chronologie der Litteraturbriefe. Im ersten Brief entschuldigt sich der
Dichter (111), dass er sein Versprechen, der (lyrischen) Poesie Lebewohl zu sagen, nicht
gehalten und daher als grösserer Lügner denn die Parther befunden werde. Nun ist be-
kannt, dass Horaz, nachdem er im J. 23 die drei Bücher Oden veröffentlicht hatte, die
lyrische Poesie als abgeschlossen erachtete und dass erst die Aufforderung des Augustus,
das Säcularlied (17 v. Ch.) und anderes zum Preis seines Hauses zu dichten, ihn wieder
zu dieser Bichtungsart zurückführte. Es ist sonach klar, dass der erste Brief nach dem
J. 17 V. Ch„ in welchem die lyrische Poesie wieder aufgenommen wurde, geschrieben sein
muss. Da weiterhin der Brief auf. Oden des 4. Buchs anspielt, besonders auf die im
J. 15 y. Gh. entstandene 14., so kann derselbe nicht vor diesem Jahr entstanden sein.
Also wird der Brief etwa ins Jahr 14 fallen.
In dem zweiten Brief will Horaz der ganzen Poesie Lebewohl sagen und sich dem
Studium der Lebensweisheit hingeben. Von poetischen Arbeiten frei ist die Zeit von der
Herausgabe des ersten Epistelbuchs (20 v. Ch.) bis zur Abfassung des Säcularlieds (17 v. Gh.).
Da in dem Eingangsbrief des ersten Epistelbuchs an Maecenas der gleiche Grundgedanke
durchgeführt ist, fieser Brief aber aller Wahrscheinlichkeit nach zur Zeit der Publikation
des Buchs geschrieben wurde (20 v. Gh.), so werden wir auch unsere aus der gleichen
Stimmung hervorgegangene Epistel nicht lange nach demselben ansetzen, etwa 19 v. Gh.
Schwierig ist die chronologische Fixierung des dritten Litteraturbriefs, der Ars
po^Uca, Die einzige Stelle, die eine brauchbare Schlussfolgemng gestattet, scheint Sueton
in der rita Horatn darzubieten, wo es heisst (p. 46 R.): scripta quidem eins nsque adeo pro-
barit mansuraque perpetuo opinattis est, ut twn niodo saeculare carmen conponendum in-
iuftjrerit, sed et Vindelicam rictoriam Tiberii Drusique primgnorum suorum eumqae coegerit
propter hoc tribus carminum libris ex lonyo intervallo qiMrtuin addere; post sennones rero
quosdam lectos nuVam sui meniionem habitam ita sit questus „irasci me tibi scitOy
quod non in plerisque eiusmodi scriptis mecnm potissimum loquaris; an
rereris ne apud posteros infame tibi sit quod videaris familiaris nobis esse'^
expresseritque eclogam ad se cuius initium est: Cum tot sustineas. Da in dem ersten
Buch der Epistel Augustus Öfters erwfthnt ist, so müssen wir uns nach anderen „sennones**
(also mehreren) umsehen und zwar nach solchen, welche, wie eiusmodi andeutet, einer
Gattung angehören. Diese Forderung Ifisst sich aber nur erfüllen, wenn yrii die zwei
Litteraturbriefe, den Brief an Florus und den an die Pisones, als die von Augustus ge-
lesenen Produkte betrachten. Der Brief an die Pisonen würde daher wie der an Florus
vor dem Brief an Augustus (2, 1) liegen. Dafür spricht auch die Gleichartigkeit gewisser
Gedanken in beiden mit breiterer Ausführung in der Ars. Femer ist bemerkenswert, dass
Horaz in der Ars nicht als produktiv (nil scribens ipse) angesehen sein will (305). Aller*
dings ist bei dieser Annahme die Angabe Porphyrios über die Persönlichkeit der Pisonen
nicht aufrecht zu halten. Er sagt nämlich (p. 344 M.): hunc Ubrum, qui inscribitur De
6*
84 Hömisclie Litteratnrgeschiclite. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Arte PoeticOf ad Lucium Pittonem, qui poatea urbis custos fuit, elusqiie liberos mutit;
nam et ipse Biso poeta fuit et «tudiorum Uheralium antistes. Da der Vater L. Piso 48 v. Cli.
geboren war, also bei dem Tod des Horaz Anfangs der vierziger Jahre stand, konnte er nicht
wohl schon 19 v. Ch. so erwachsene Söhne haben, dass sie als iuvenes sich bezeichnen
liessen. Wir müssen daher an andere Pisonen denken; als solche stellen sich uns dar:
Gnaeus Calpumius Piso, der im J. 23 v. Ch. mit Augustos das Konsulat bekleidete und
wohl etwas älter als Horaz war, als VatlBr, dann dessen Söhne Gnaeus (Cons. 7 v. Ch.)
und Lucius (Cons. 1 v. Ch.). Beide konnten um 19 v. Ch. als iuvenes angeredet werden.
, Litteratur: Die Chronologie der zwei Litteraturbriefe wurde im wesentlichen fest-
gestellt von Vahlbn, Monatsber. der Berl. Akad. d. J. 1878 p. 688. An diese Abhandlung
schliesst sich an Mommsen, Die Literaturbriefe des Horaz, Hermes 15, 103. Vgl. Kiesslino,
Philol. Unters. 2, 58. Die frühere Abfassung des Pisonenbriefs legte dar Michaelis in den
Comment. Momms, 420. Analyse des ersten Briefs von Vahlbn, Zeitachr. f. österr. Gymn.
1871 p. 1.
Der Brief an die Pisonen, dem schon Quintilian 8, 3, 60 den Titel „de arte poetica**
gibt, bildete ursprünglich mit dem Brief an Augustus und dem Brief an Florus das zweite
Buch der Episteln; als späterhin noch im Altertum (vor Terentius Scaurus) eine Horaz-
ausgabe zusammengestellt wurde, welche die 4 Bücher der Oden (mit dem carnlen saecu-
lare), 1 Buch Epoden, 2 Bücher Satiren und 2 Bücher Episteln zählte und anordnete,
wurde der am Schluss der Sammlung stehende Pisonenbrief als eigenes Buch, als 10. ge-
rechnet. Dadurch selbständig geworden, löste sich derselbe leicht ab und verband sich
mit den Oden. Seine ursprüngliche Stelle hinter den zwei Briefen des zweiten Buchs
gaben ihm zurück H. Stephanus und Cruquius.
Die Benutzung einer griechischen Quelle bezeugt Porphyrie p. 344 M. in den all-
gemeinen Bemerkungen über die Ar»: in quem librum rongettsit praecepta Neoptoletni xov
üttQiavov de arte poetica non quidem omnia, sed eminentissima, — Michaelis, de autaribus,
quos H. in arte poetica secutus esse rideatur, Kiel 1857. Nettleship, Lectures p. 168.
259. Charakteristik der Briefe. Die Briefe haben mit den Satiren
gemein, dass sie ebenfalls keine Dichtung im strengsten Sinn des Wortes
sein wollen. Auch sie sind Plaudereien, allein diese Plaudereien wenden
sich nicht mehr an eine beliebig angenommene Persönlichkeit, sondern an
eine aus dem Freundeskreis des Dichters, Während daher die Satiren
direkt zum Publikum sprechen, sprechen die Episteln durch das Medium
des Adressaten zu demselben. Es ist leicht ersichtlich, dass schon für die
Wahl der Materie der Angeredete, an den sie zuerst gelangen soll, von
Wichtigkeit ist; nicht minder ist er es für die Durchführung. Es muss
daher dem Brief immer etwas Individuelles innewohnen; ja manche Stücke
sind, wie wir gesehen haben, sogar durchaus individuell gehalten, d. h. es
sind wirkliche Briefe. Die Gattung war schon vor Horaz angebaut worden.
Zur Zeit des dritten punischen Kriegs hatte Spurius Mummius poetische
Episteln geschrieben. Allein dies blieb doch nur ein vereinzelter Versuch
ohne nachhaltige Wirkung. Erst durch Horaz erhielt der poetische Brief
seine hohe Stellung in der Litteratur.
Seit Horaz die Satiren herausgegeben, war eine lleihe von Jahren
verflossen; der Dichter war in ein reiferes Alter getreten ; seine Auffassung
der Dinge hatte ihre Schärfe verloren und war milder geworden. Sein Geist
war jetzt ganz von philosophischen Problemen erfüllt; während er in den
Satiren den Philosophen wuchtige Hiebe versetzt, vertieft er sich jetzt selbst
in Gedanken über das Wahre und Gute; nicht ein bestimmtes System ist
es, dem er folgt, er nimmt das ihm Zusagende, wo er es findet:
nullius addictus iurare in verba magist ri,
quo me cumque rapit tempestas, deferor hospes,
bekennt er mit Freimut (Ep. 1, 1, 14). Es ist ihm ja nicht um theoretische
Spekulation zu thun, sondern um praktische Weisheit. Ausser den Fragen
Q. HoratiuB Flaccns. g5
des Lebens beschäftigen ihn in hohem Grade die Probleme der Litteratur.
Auf beiden Gebieten werden uns die köstlichsten Schätze mitgeteilt. Man
wird ausser Goethes Faust kaum ein Werk nennen können, das so viel
zu den geflügelten Worten beigetragen als Horazens Briefe. Sie sind das
reifste Denkmal seiner Poesie, sie gehören zu den edelsten Erzeugnissen
der römischen Dichtung, sie sind und werden bleiben, solange eine höhere
Kultur besteht, ein anmutiges Lebensbrevier, das jeden anziehen wird, der
die Kunst des Lebens zu würdigen weiss.
Berkino, Der Geist der Horaz. Briefe, Recklinghausen 1856. Vogel, Die Lebens-
weisheit des Hör., Meissen 1868. Kirchhoff, Die Stellung des Hör. zur Philos., Hildesh.
1873. Beck, Hör. als Kunstrichter und Philosoph, Mainz 1875.
260. Zweite Liedersammlung. Im Jahre 23 v. Ch. waren die drei
Odenbücher veröffentlicht worden; Horaz wandte sich jetzt einer neuen
Litteraturgattung zu, den Episteln, und lehnte die Aufforderung des Mae-
cenas, wiederum die lyrische Dichtung zu pflegen, ab. Doch noch einmal
griff er, als er die Mittagshöhe des Lebens bereits überschritten hatte
und den fünfziger Jahren nahe war, zur Leier, nicht aus eigener Wahl,
sondern auf Anregung von oben. Im Jahre 17 v. Ch. erhielt er nämlich
den offiziellen Auftrag, das Festlied für die Säcularfeier zu verfassen.
Noch mehr, Augustus drang damals auch in ihn, die Siege seiner Stief-
söhne Tiberius und Drusus durch seinen Sang zu feiern. Horaz willfahrte
dem Herrscher, er dichtete das Festlied, das am dritten Tag im apollini-
schen Tempel auf dem Palatin von 27 Knaben und 27 Mädchen gesungen
wurde, er dichtete auch Lobeshymnen auf die Neronen, auf Augustus
und anderes; was sich ihm so ausser dem Festhymnus ergab, stellte er
gegen 13 v. Ch. zu einem neuen Buch zusammen, dem vierten und letzten
seiner Oden. Der Dichter mochte fühlen, dass nicht ohne einige entschul-
digende Worte diese Spätlinge hinausgegeben werden konnten. Im Ein-
gangsgedicht fleht er daher zu Venus, ihn nicht neuerdings mit ihrem harten
Joch zu bedrücken; der Knabe Ligurinus soll die Liebesflamme wieder an-
gefacht haben. Allein dieser Ligurinus ist natürlich eine Schattengestalt,
wie die Phyllis (11) und die alternde Lyce (13), die in diesen Liedern er-
scheinen. Fast möchte man vermuten, dass Horaz den Ligurinus einführte
(1 und 10), um auch noch der in den vorausgegangenen drei Büchern ver-
nachlässigten Knabenliebe ein Plätzchen in seinen Oden zu gönnen. An-
ziehender sind zwei Frühlingslieder, in dem einen (7) wird der Wiederkehr
der Jahreszeiten unser Los gegenübergestellt; sind wir einmal in den Orkus
gewandert, so kehren wir niemals mehr daraus zurück, in dem zweiten
Lied (12) knüpft der Sänger an das Wiedererwachen der Natur eine Ein-
ladung an Yergil zu einem Olas Wein, allein mit der Bedingung, dass er
Nardenöl mitbringe. Des Maecenas wird nur ein einziges Mal gedacht
(11,1,9), aber in durchaus herzlicher Weise. Desto mehr beschäftigt sich
dieses Buch mit dem kaiserlichen Haus, die patriotischen Oden machen die
Glanzseite dieses Buchs aus. Da finden wir eine Ansprache an die Chöre,
die das carmen saeculare vortragen sollen (6), das Lied, das der Sehnsucht
nach der Heimkehr des Augustus zarten Ausdruck verleiht (5), das schöne
Gedicht auf Drusus, der wie ein mächtiger Aar unter die Feinde fahrt (4),
86 B^^misolie LitteratnrgeBchichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
ein zweites auf die Siege der Neronen (14), beidemal zu dem Preis auf
Augustus sich erhebend, endlich am Schluss zur Krönung des Ganzen den
Hymnus auf die segensreiche Herrschaft des Augustus. Damit hatte der
Dichter dem regierenden Geschlecht gegeben, was er geben konnte; zu
weiterem, wie z. B. zu epischem Panegyricus, fühlte er keine Neigung, an
Julus Antonius schreibt er (2), dass diesem als Epiker das würdige Lob
des Augustus vorbehalten sein müsse.
Jetzt, am Ende seiner lyrischen Laufbahn stehend, noch vor kurzem
als Festdichter ausgezeichnet, durfte er sich in vollem Selbstgefühl sagen,
dass seine Hand nicht umsonst die Harfe gerührt. Er durfte von der Macht
des Dichters sprechen, der durch sein Lied die Unsterblichkeit verleiht
(8 und 9). Glücklich konnte er sich preisen, dass auch ihm einst die Muse
in die Wiege gelächelt (3), er durfte freudigen Herzens darauf hinweisen,
dass er es seinem Sang verdanke, dass die Vorübergehenden auf ihn deuten,
dankerfüllt konnte er der Muse sagen:
Quod Spiro et placeo, si placeo, tuumst.
Über die Entstehung des carmen saecuUtre und des 4. Buchs vgl. Suet. p. 46 R.
(die Stelle ist oben p. 83 im letzten Absatz ausgeschrieben).
Über die Chronologie der Gedichte dieses Buchs vgl. die Spezialschrift von
TüsELMAHN. Quaest. chronolog. Harat., Progr. v. llfeld 1885.^) Keine Zeitandeutung enthalten
die Oden 3, 7, 8, 10, 11, 12, 13. Mehr oder weniger bestimmt lassen sich die übrigen
datieren. Die chronologischen Indicien imifassen das Intervallum von 17 v. GL, in welchem
Jahr das carmen saeculare und das Prooemium (6) gedichtet wurden, bis 13 v. Ch. Zur
Feststellung des letzten Termins dient die Rückkehr des Augustus aus Gallien nach langer
Abwesenheit (seit 16 v. t!h.) im Juli 13 v. Gh.; kurz vorher wird das 5. Gedicht geschrieben
sein. — Vahlen, Monatsber. der Berl. Akad. d. J. 1878 p. 690.
Versbau. Auch in der metrischen Gestaltung zeigen manche Abweichungen auf
veränderte Anschauungen, auf eine Entwicklung hin. So hat sich Horaz im Carmen saecu-
lare und in diesem Buch von dem Zwang befreit, im sapphischen Vers die Gäsur an der
fünften Stelle eintreten zu lassen (nur siebenmal ist diese Gäsur nicht beachtet: 1, 10, 1
6 18 1, 12, 1 1, 25, 11 1, 30, 1 2, 6, 11 vgl. KiEssLora p. 64), er gestattet sich jetzt auch die
Gäsur an der sechsten. Der Auftakt in der alcftischen Strophe ist stets lang. Ein weiterer
Fortschritt besteht darin, dass er in dieser zweiten Periode noch mehr bestrebt ist als
früher, Sinnesabschnitt und metrischen Schluss am Ende der Strophe nicht zusammenfallen
zu lassen. Endlich ist er wieder empfindlicher gegen die Verschleifungen geworden
(Lehrs in seiner Ausgabe p. III; Tüselmann p. 17).
261. Charakteristik der Oden. Um die Odendichtung des Horaz
richtig zu würdigen, muss man vor allem im Auge behalten, dass sie kein
frisch sprudelnder Quell ist und dass sie nicht aus innerem Drang hervor-
gegangen ist. Horaz war schon ein reifer Mann, als er sich in dieser
neuen Gattung versuchte. Seine Oden sind ein Produkt der Nachahmung
der äolischen und anakreontischen Lyrik. Er ist aber keineswegs blosser
Übersetzer, er bewegt sich auch in dem von jenen griechischen Lyrikern
gezogenen Rahmen selbständig, aber selbst seine freieren Schöpfungen baut
er gern auf Motiven der griechischen Originale auf. Hierbei widerfahrt
es ihm sogar, dass er den ursprünglichen Gedanken nicht festzuhalten
vermag. So nimmt die 9. Ode des ersten Buchs ihren Ausgang von der
Schilderung einer Winterlandschaft bei Alcaeus, allein indem der Dichter
zum Genuss des Daseins einladet, erscheinen plötzlich statt des Eises und
^) Über die Abfassungszeit des 2. Ge- Julus Antonius handelt Bücheler, Rh. Mus.
dichts und den in demselben vorkommenden 44, 318.
^ Q, HoratiuB FlaoooB. 87
Schnees Liebespaare, die im Freien ihr loses Spiel treiben.*) Wir haben
in den Oden ein Werk des Fleisses, und der Dichter vergleicht selbst seine
Thätigkeit mit dem rastlosen Schaffen der Bienen (4,2,27):
ego apis Matinae
more modoque,
grata carpentis thyma per lahorem
plurimum circa nemtis uvidique
Tiburis ripas aperosa parvus
carmina fingo.
Seine Lyrik ist daher v eine reflektierende und kann niemals den tief-
gehenden Eindruck erzeugen, wie die innerlich erlebte Poesie CatuUs. Auch
die Leidenschaftlichkeit des Gefühls, welche uns bei Properz so anzieht,
geht ihr gänzlich ab. Wenn aber trotzdem Jahrhunderte zu Horaz als
ihrem Liebling emporgeblickt haben, so beruht dies ausser der Klarheit
seines Denkens und der schönen, durch das Metrum wunderbar gehobenen
Diktion darauf, dass kein Dichter das allgemein Menschliche so zum reinen
Ausdruck gebracht hat, wie er. Es sind bekannte Gedanken, die vor
unseren Augen auftauchen,*) aber sie ergreifen uns doch wunderbar. Oder
wer wird nicht eine innere Rührung empfinden, wenn uns der Dichter
sagt: Geniesse das Heute, du weisst nicht, ob du das Morgen siehst
(1,11,8 1,9,13). Der Tod geht selbst nicht an dem Königspalast vorüber,
uns alle trifft das Los des Sterbens, den einen früher, den andern später
(3, 1, 15 2, 3, 26). Sind wir einmal in den Orkus hinabgestiegen, so gibt
es keine Wiederkehr wie in der Natur (4, 7, 21). Pfeilschnell eilen die
Jahre dahin (2, 14, 1) und nur zu bald ist dein Haupt gebleicht (2, 11, 7).
Alles ist vergänglich (2, 11, 9), magst du noch so viel Schätze aufeinander
häufen, du musst sie lachenden Erben hinterlassen (2, 14, 25). Was quälst
du dich also mit Plänen? (2, 16,25 2, 11, 11) Zufriedenheit macht glück-
lich (2, 16, 13), nicht das Jagen nach Geld und Gut, denn der Habsüchtige
gleicht dem Wassersüchtigen, das Leiden beider kann nicht gestillt werden
(2,2,13). Wer nach Vielem jagt, dem geht Vieles ab (3,16,42). Der
süsse Schlaf flieht oft den Palast, während er die Hütte aufsucht (3,1,21).
Die Sorge steigt mit aufs Schiff und setzt sich hinter dem Reiter aufs
Pferd (3,1,38). Wandle auf der goldenen Mittelstrasse (2,10,5) und halte
dich von allen Extremen frei, sowohl von schmutzigem Geiz als von un-
sinniger Verschwendung. In allen Lagen des Lebens bewahre dir den
Gleichmut (2,3,1). Solche Sätze stammen nicht aus einer hohen, von
Idealen getragenen Gedankenwelt, sie sagen aber, dass Dichter sein auch
heisst Mensch sein. Als bester Verkünder einfach menschlicher Gedanken
wird Horaz stets menschlich fühlende Gemüter bezaubern; durch seine
Gedichte klingt das Wort:
Homo siitn: humani nil a me alienum puto,
Arnold, Die griech. Stud. des Hor., Halle 1855, 1856. Tbüfpel, Die horaz. Lyrik
und deren Kritik, Tüb. 1876. Plüss, Horazstudien — über horazische Lyrik, Leipz. 1882.
RosENBERO, Die Lyrik des Horaz, Gotha 1883. Gebhardi, Ein ästhetischer Kommentar zu
den lyrischen Dichtungen des H., Paderborn 1885. Leuchtbnbergeb, Die Oden des Horaz
0 Kiessling, Philol. Unters. 2, 63. heitsoden 1,4 1,7 1,9 1,11 2,2 2,3 2,10
«) ScHWEiDEWiN, Die Horaz. Lebensweis- 2, 11 2, U 2, 16 2, 18 3, 1 3, 16 4, 7 4, 12
heit, Hannover 1890, der die Lebensweis- \ untersucht.
88 BömiBohe LitteraturgeBchichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
fCLr den Schulgebr. disponiert, Berlin 1889. Gebhard, Gedankengang horaz. Oden in dis-
positioneller Übers., im Festpr. des Wilhelmsgymn. München 1891, wo im Eingang über die
Litteratur referiert wird. Mommsen, Ober die sechs Oden des 3. B. (Fesir. in der Sitzung
der preuss. Akad. 24. Jan. 1889).
262. Verstechnik der Oden. Die von Horaz gebrauchten Masse
haben in der Regel ein ganz anderes Gepräge als seine griechischen Muster.
Lange Zeit hielt man die Modifikationen der ursprünglichen Metra für eine
künstlerische Neuerung des Dichters. Allein die genauere Erforschung der
antiken metrischen Tradition hat vielmehr ergeben, dass er seine Vers-
technik wesentlich aus den Lehren seiner Zeit geschöpft hat. Diese Lehren
aber beruhen auf der Vorstellung, dass die komplizierten Masse von zwei
Orundtypen, den allgemein gebräuchlichen Metra des Hexameter und des
jambischen Trimeter, abzuleiten seien. Infolge dieser Ableitung aber wurden
unwillkürlich die sekundären Metra den primären ähnlich gestaltet; daher
kommt es, dass bei einem aus dem Hexameter abgeleiteten Kolon der
Trochäus des Originalversmasses regelmässig durch einen Spondeus ersetzt
wird und ein Logaödikon wie der Pherecrateus statt
der Form - w _ o ^ - er
die Form v^ ^ _ ^
erhält. Die zweite von Horaz ebenfalls angenommene Neuerung jener
Schultheorie besteht in der möglichst scharfen Gliederung der Verse durch
die Cäsur. Auch hier mögen die Grundtypen nicht ohne Einfluss gewesen
sein, wie z. B. die häufige Cäsur des sapphischen Verses
integer vitae \ scelerisque purus
an die Penthemimeres des Hexameter erinnert.
Für die von Horaz durchgeführte Strophenbildung war eine Ent-
deckung von Meineke und Lachmann von grosser Bedeutung; beide Ge-
lehrte fanden, dass die Verszahl aller Oden (eine einzige 4, 8 ausgenommen,
in der aber die Interpolation zweifellos ist) ein Vielfaches von 4 (4x) dar-
stellen, und zogen daraus den richtigen Schluss, dass alle Gedichte in vier-
zeiligen Strophen komponiert seien. Für gewisse Strophenformen wie die
alcäische, welche auf der Vierzeiligkeit aufgebaut sind, brachte das entdeckte
Gesetz keine Neuerung. Allein daneben gibt es auch monostichische und
distichische Gedichte; diese erhielten erst durch das LACHMANN-MEiNEKE'sche
Gesetz ihren vierzeiligen Aufbau. Ein Zwang, Sinnesabschnitt und metri-
schen Abschluss am Ende der Strophen zusammenfallen zu lassen, besteht
für Horaz nicht; im Gegenteil, er ist eher bestrebt, dieses Zusammen-
fallen so viel als möglich zu vermeiden. Die gebräuchlichsten Strophen-
formen des Horaz sind die asclepiadeischen in mehreren Formen, die sap-
phische und die alcäische.
Die Erkenntnis, dass Horaz in seiner Verstechnik der zu seiner Zeit üblichen Schul -
theorie folgt, verdanken wir Chbist (Sitzungsberichte der bayer. Akad. Jahrg. 1868 Bd. 1,
1—44). — KiEssLiNO, Die metr. Kunst des H. im 1, Bd. seiner Ausg. Bock, De metr. Hör.
lyrUiSy Kiel 1880. Reichakdt, De metrorum lyric. Hör. artificiosa elocutione^ Marb. 1889.
263. Bückblick auf die horazische Dichtung. Nachdem wir das
poetische Schaffen des Horaz nach allen Seiten hin verfolgt haben, wollen
wir auf den zurückgelegten Weg zurückschauen und vor allem die Chrono-
logie seiner Dichtungen in tabellarischer Form vorführen:
Q. HoraüoB Flaooiis. 89
Erste Satirensammlung, abgeschlossen c. 35
Epodenbuch, umfasst die Jahre 40 — 81
Zweite Satirensammlung, abgeschlossen c. 30
Erste Liedersanunlung „ 23
Erste Epistelsammlung , 20
Die LitteraturbriefCf umfassen die Jahre 19 — 14
Zweite Liedersammlung, umfasst die Jahre 17—13.
Diese Übersicht lehrt uns, dass die Entwicklung der horazischen
Poesie in drei Stufen erfolgt; sie beginnt mit Nachahmungen des Archi-
lochus und des Lucilius, schreitet dann zu dem äolisch-anakreontischen
Lied und kehrt endlich mit den Episteln zu ihrem Ausgangspunkt, aber
in modifizierter Gestalt zurück. Dass nochmals ein Liederherbst unter
den letzten Dichtungen erscheint, beruht auf einem äusseren Anlass. Diese
Entwicklungsgeschichte zeigt uns, dass die der prosaischen Rede sich
nähernde , Plauderei" die Gattung ist, zu der sich Horaz durch inneren
Drang hingezogen fühlte (S. 2, 1,28). Seine Lyrik ist, wie wir gesehen,
nicht ein Produkt jugendlichen Ringens, sie ist eine Frucht des reiferen
Alters, sie ist ein künstliches Gewächs und vorwiegend reflektierender
Natur wie die Plaudereien. Horazens Poesie wurzelt nicht in einer hohen
idealen Weltanschauung, sie ist nicht der Niederschlag grosser innerer
Kämpfe wie die des Lucrez und die des Catull, sie ist Realpoesie und ver-
rät, wie ein geistreicher Forscher gelegentlich bemerkte, den Libertinen-
sohn nicht. Wie sein Leben, nachdem er den republikanischen Traum
abgeschüttelt, unter dem Schirm der Monarchie ruhig dahinfloss, so war
auch seine Dichtung ein Spiegelbild eines gefestigten und sich völlig
klaren Daseins. Ausserhalb der Kämpfe des Lebens stehend, aufs ängst-
lichste auf Wahrung seiner Unabhängigkeit und Selbständigkeit bedacht,
blickt er sicheren Auges in die Welt hinaus und sieht die Dinge an, wie
sie sind. Seinem klaren Geiste entgehen auch die Verkehrtheiten des
gesellschaftlichen Treibens, der litterarischen Strömungen nicht, allein sie
verbittern nicht seine Stimmung und trüben nicht seinen Humor. Eine
grosse Reihe von Lebensbildern von packender Realität zieht an uns vor-
über, kernige Sätze reifster Lebensweisheit werden überall eingestreut,
es gesellt sich hinzu eine durchsichtige, von allem Überspannten und Krank-
haften sich frei haltende Darstellung. Nicht der Dichter der Jugend,
welcher alles noch von Gold umwoben erscheint, ist Horaz, nein, er ist
der Dichter des Mannes. Wer die Mittagshöhe des Lebens überschritten
und mit stiller Wehmut auf die zerronnenen Ideale der Jugend zurück-
blickt, wer sein Auge nicht mehr vorwärts, sondern rückwärts schweifen
lassen muss, wird, wenn er die Summe seiner Tage zieht, sich sagen
müssen, dass vor etwa zweitausend Jahren ein Römer gelebt, der richtig
erkannt hat, dass alles vergänglich ist, und dass in der inneren Zufrieden-
heit und in der frohen Hingabe an die Gegenwart doch ein gut Teil des
menschlichen Glücks besteht.
Allgemeine Litteratur über die Abfassungszeit der horaz. Gedichte:
Grotbfend bei Ersch und Gruber, Allg. Encyclop. 2, 10 (1833). 457. Die schriftstellerische
Laufbahn des H., Hanau 1849. Fraivke, FmH Horatiani, Berl. 1839. Teuffel, Proleg.
zur horaz. Chronologie (Zeitechr. f. d. Altertumsw. 1842, 1103). Zümpt vor Wüstemanks
Ausg. der Sat. p. 20. Christ, Fast, Horat. epicrisis, Münch. 1877.
Überlieferung: Die Kritik des Horaz beruht auf dem codex antiquissimus
90 BOmiBohe LitteratnrgoBchiolite. ü. Die Zeit der Honarohie. 1. Abteilang.
Blandinius. Eine Stelle ist hier das wahre Schiboleth, nämlich Sat. 1,6, 126, wo dieser
Codex das einzig Richtige hat (nur der Gothanus B. 61 kommt noch nahe), nämlich fugio
campum lusutnque trigonem, während alle übrigen fugio rahiosi tempora signi
lesen. Es ist ganz unmöglich, die eine Losart aus der andern durch paläographische Ver-
derbnis zu erklären; dass doch ein solcher Versuch gemacht wurde, beruht auf einer be-
klagenswerten Verblendimg. Eine solche Handschrift, die an einer so merkwürdigen Stelle
allein das Richtige hat, die selbst eine über Porphyrie zurückgehende Überlieferung dar-
bietet, zu vernachlässigen, wäre unverantworlich. Allein diese Handschrift existiert heut-
zutage nicht mehr; wir kennen sie nur') aus den Mitteilungen des Cruquius. Dieser Pro-
fessor in Brügge, der mehrere Horazausgaben veranstaltete, sah sich nach verschiedenen
Horazhandschriften um. Unter anderem zog er auch 4 Codices des Benediktinerklosters
auf dem Blandinischen Berg bei Gent zu Rat, welche er sich nach Brügge kommen Hess
(1565). Diese Handschriften wurden bald nach ihrer Zurücksendung mit dem Kloster in
den Wirren der Bilderstürmer ein Raub der Flammen. Über die Zuverlässigkeit der An-
gaben des Cruquius hat sich ein Streit entsponnen. Bebok stellte nämlich die These auf
(Opusc. 1, 737), dass die Angaben des Cruquius über die von ihm benutzten Handschriften
des Horaz zum Teil auf Fälschung beruhen und dass es darum ihm immer unbegreiflich
erschienen sei, wie man darauf die Kritik des Dichters basieren kann. Mit grossem Eifer
eigneten sich diese These die beiden Horazherausgeber Holder und Keller an ; sie packten
aber die Sache noch schärfer an, sie bestritten sowohl die Glaubwürdigkeit des Cruquius
als die Vortrefflichkeit des Blandinius. Allein mit der Leugnung der Glaubwürdigkeit des
Cruquius fällt die Frage nach der Vortrefflichkeit seines codex eigentlich weg (Kellers
Epilog, p. 800 f.). Wir sind in der Lage, die Zuverlässigkeit des Cruquius jetzt noch einer
Prüfung zu unterziehen. Eine der von ihm verglichenen Handschriften ist noch vorhanden,
es ist der Codex Carrionis oder Divaei in Leyden (n. 127 A). Bäussner hat in der Schrift
„Cruquius und die Horazkritik, Bruchsal 1884" diese Prüfung vorgenommen und daraus
den Satz gewonnen (p. 54), „dass den Angaben des Cruquius jeder normative Wert für die
Horazkritik abzusprecnen sei*. Allein dass diese Schlussfolgerung eine völlig irrige ist,
hat Kukula, der dem Blandinius eine eigene Arbeit gewidmet {De Cruquii codice vetussia-
sima, Wien 1885), in einer sehr umsichtigen und besonnenen Abhandlung der österr.
Gymnasial-Zeitechrift 36, 193 dargethan und das Ergebnis gewonnen, dass bei 550 Lesarten
etwa 30 gröbere Verstösse des Cruquius zu verzeichnen sind, dass dieselben aber nicht auf
seine mangelnde fides, sondern auf seine mangelnde Kenntnis und Unerfahrenheit zurück-
zuführen sind. Es ist also nicht zu bestreiten, dass sich ein sehr annähernd richtiges Bild
des Bland, antiquissimus aus Cruquius herstellen lässt (Hoehn, De Codice Blandinio anti-
quissimo. Jena 1883 p. 24 und 25). Über den Wert des Codex kann aber ein irgendwie
zu begründender Zweifel nicht aufkommen; die Angriffe Kellers in den Epileg. p. 801
lassen sich leicht widerlegen. Mbwes (Über den Wert des cod. Bland, vetustissimus, Berl.
1882 p. 15 und p. 19), Hoehn p. 51 haben numerisch festgestellt, wie viel von den be-
kannten Lesarten des codex als richtig und welch geringer Bruchteil als falsch zu er-
achten sei.
Ausgaben: tt) Gesamtausgaben: Die epochemachende Ausgabe von Bentley,
Cambridge 1711, neu abgedruckt Berl. 1869; Orelli-Hirschfelder-Mewes, Berl. 1885
(mit lat. Kommentar); Dillenburoer, Bonn 1881 (mit lat. Kommentar) ; Ritter, Leipz. 1856
(ebenfalls mit lat. Kommentar). — Von Keller und Holder, Leipz. 1864—70 (krit. Ausg.) ;
dazu 0. Keller, Epilog., Leipz. 1879—1880; Lehrs, Leipz. 1869 (eine durch die Athetesen
verunglückte Leistung). — Deutsch kommentierte Ausgabe von Düntzer, Paderborn 1868;
Schütz, Beri. 1880—83; Kiesslino 1884—1889 (vortreffliches Werk). — Texteusgaben von
Meineke, Berl. 1854; Haupt- Vahlen, Leipz. 1881; Linker, Wien 1856; L. Müller, Leipz.
1879 (1885); Keller et Haussier, Prag 1885.
ß) Satiren von Heindorf, BresL J815, 3. Aufl. von Döderlbin 1859 (vortreff-
liches Buch); Kirchner (übersetzt und erklärt Leipz. 1854—57, der Kommentar zu B. II
von Teuffel); Hofman-Pebrlkamp, Arasterd. 1863. Lat. und deutsch von Döderlein (reich
an originellen, zum Teil paradoxen Einfällen) ; Krüger (mit Episteln), 12. Aufl. Leipz. 1889 ;
Fritzsche, Leipz. 1875. 1876; Breithaupt, Grotha 1888.
y) Oden und Epoden: Von Hofman-Peerlkakp, 2. Aufl. Amsterd. 1862. L. Müller
mit Anmerk., Giessen 1882. Schulausgaben von Kosenbero, Gotha 1883, Naück (13. Aufl.
Leipz. 1889).
cf) Episteln lat. und deutsch von Döderlein, Leipz. 1856. 1858. Fbldbaüsch, Leipz.
und Heidelb. 1863 (in Prosa), von 0. Ribbbck, Berl. 1869; Anton, Gotha 1888. — Ars
poetica von Peerlkamp, Leyden 1845.
') Denn dass der Codex auch von Petrus 1 hauptot worden (Matthias, QuaeH, Blandin.,
Nannius benützt worden, ist mit Unrecht be- 1 Halle 1882. Vgl. Hoehn p. 6, Häussner p, 5).
Q. HoratiuB FlaccQB. 91
264. Horaz im Altertum. Auch die Wertschätzung der Autoren
hat ihre Geschichte; die verschiedenen Zeiten urteilen nicht in gleicher
Weise über denselben Schriftsteller. So ist es zweifellos, dass der Lieb-
lingsdichter der Römer selbst Vergil war, während man Horaz den antiken
Lieblingsdichter der modernen Zeit nennen kann. Der Grund dieser Er-
scheinung ist nicht schwer zu finden. In dem einen hat die Idee des
Bömertums einen prägnanten Ausdruck gefunden, in dem andern ist ein
entschieden kosmopolitischer Zug wirksam. Gleichwohl muss auch auf
seine Zeitgenossen Horaz einen mächtigen Eindruck gemacht haben. Als
er nach längerer Pause die Früchte seines zweiten Liederfrühlings heraus-
gab, konnte er in dem schönen Lied an Melpomene (4, 3) sich rühmen,
dass ihn sein Volk zu seinen Dichtern zähle und die Leute auf den Strassen
auf ihn, den Sänger Roms, deuten. Und dass seine Dichtung wirklich
eine Macht geworden war, geht daraus hervor, dass Augustus ungeheuren
Wert darauf legte, von Horaz genannt zu werden und dass er den Dichter
ermunterte, die Thaten seiner Stiefsöhne zu besingen (Suet. p. 46 R.). Auch
stellte sich die Schar der Nachahmer ein. Besonders regten, wie es
scheint, die Oden als etwas ganz Neues den Schaflfenstrieb anderer Talente
an.*) Ovid nennt uns einen Rufus als Sänger der Pindarischen Lyra
(P. 4, 16, 28), ein Freund des Horaz, Titius (Ep. 1, 3, 9 Tibull. 1, 4, 73),») unter-
nahm ebenfalls das gefährliche Wagnis, Pindar dem römischen Volke zu er-
schliessen, später ist nach dem Zeugniss Quintilians (10,1,96) Bassus in der
Lyrik thätig, und der jüngere Plinius erzählt uns von einem Passennus Paulus,
der zuerst Properz, dann Horaz als seinen Meister verehrte (ep. 9, 22).
Auch der Grammatiker Remmius Palaemon wird durch seine Beschäftigung
mit Horaz dazu gekommen sein,^) sich in „verschiedenen und nicht ge-
wöhnlichen Metra" (variis nee vulgaribus metris), wie es heisst, zu versuchen.
Doch alle diese Versuche hat die Zeit hinweggefegt; auf günstigeren Boden
fiel die Satirendichtung; es ist bekannt, dass diese Gattung durch Persius
und Juvenal fortgesetzt wurde, es ist nicht minder bekannt, dass die
eifrige Lektüre des Horaz in Persius noch ersichtlich ist.*) Ja Horazens
litterarisches Ansehen war in so hohem Grade gestiegen, dass selbst
unechte Produkte unter seinem Namen ins Publikum drangen; noch zu
Suetons Zeit (p. 47 R.) waren solche Falsifikate, Elegien und ein Prosa-
brief in Umlauf. Schliesslich kam Horaz auch in die Schule, ein Schicksal,
das er sehr fürchtete (Ep. 1,20, 17), dem er aber kaum entgehen konnte.
Es war nämlich damals die Sitte aufgekommen, Autoren der jüngsten
Gegenwart dem Unterricht zu Grund zu legen. So berichtet uns Sueton
(de gr. 16), dass der Grammatiker Q. Caecilius Epirota über Vergil und
„andere neue Dichter* las. Und Horaz konnte mit Rücksicht auf diese
Einrichtung es als einen thörichten Wunsch der Schriftsteller hinstellen,
dass ihre Werke in den Elementarschulen diktiert werden (Sat. 1,10,74).
Wann unser Dichter Schulschriftsteller wurde, können wir nicht genauer
*) KiEssLiNG in der Kieler Philologen- •) Suet. de gr. 23. Vgl. Hbyneäann, De
vers. 1870 p. 30. interpoL p. 68.
'j Beide identifiziert Reifferscheid, con- ' *) Heykemann p. 63.
iect nova p. 7. ,
92 BOmiBche Litteraturgesohichte. n. Die Zeit der Honarohie. 1. Abteilung.
bestimmen. Fest steht, dass er zu Zeiten Quintilians in den Schulen
behandelt wurde, denn sonst hätte der Rhetor keine Einschränkung für
die Interpretation des Dichters verlangen können (1,8,6). Zu Juvenals
Zeiten schmückten die Büsten von Vergil und Horaz die Schulzimmer,*)
ein Beweis, dass beide Autoren Gegenstand des Unterrichts waren. Die
Einführung des Horaz in die Schule musste zu seiner methodischen Er-
läuterung führen. Wohl die erste Frucht dieser Thätigkeit sind die in
den Handschriften enthaltenen Überschriften zu den verschiedenen Ge-
dichten. Diese Überschriften sind besonders für die Oden charakteristisch ;
sie geben die Person an, an welche die Lieder gerichtet sind, bestimmen
das Metrum nach den Kola und geben kurz Inhalt und Charakter an.')
So bildete sich sogar ein kleiner Litteraturzweig „über die Personen bei
Horaz*. 8) Auch das Bedürfnis der kritischen Sichtung, der Recensio, wird
sich infolge der starken Verbreitung des Dichters bald eingestellt haben.
In der Zeit Neros erschien die erste kritische Ausgabe des venusinischen
Sängers. Sie ward besorgt von dem römischen Aristarch M. Valerius
Probus, der sie auch nach der Methode des Meisters, d. h. vermittels An-
wendung kritischer Zeichen durchführte. Der Interpreten Horazens können
der Natur der Sache nach nicht wenige gewesen, sein. Die Namen der
meisten sind für uns verschollen; doch von einigen hat sich eine Kunde
erhalten. So werden uns Modestus und Claranus genannt; da zwei
Personen dieses Namens als Grammatiker auch Martial (10, 21) erwähnt,
werden wir dieselben als identisch mit den Horazexegeten betrachten und
sie dem Sinn der Martialstelle gemäss dem domitianischen Zeitalter zu-
weisen. Man kennt zwar auch einen Modestus, der Freigelassener des
AugusteersHyginus war; allein diesen anzunehmen, ist weniger geraten, viel-
mehr wird Modestus zugleich der von Vaticanus 3317 zu Verg. Georg. 2,497
angeführte Aufidius Modestus sein, den Plutarch (quaest. symp, 2, 1,5
p. 632 A) als seinen Zeitgenossen bezeichnet. Ebensowenig wird man bei
Claranus an den denken, welchen der Philosoph Seneca als hochbetagten Mann
seiner Freundschaft gewürdigt (Ep. 66, 1). Die hadrianische Epoche brachte
das bekannte litterarhistorische Werk Suetons, aus dem die Biographie des
Dichters entnommen ist, sie brachte auch einen Kommentar des Q. Terentius
Scaurus, der hiefür eine Ausgabe des Horaz in 10 Büchern — die der jjoetica
als eigenes Buch gezählt — zu Grunde legte. Es folgte in der Antoninen-
zeit^) Helenius Acre, der ausser Horaz auch Terenz und Persius erläuterte.
Alle diese Kommentare sind verloren gegangen, doch steckt manches
davon in den vorhandenen Horazscholien, die wir im folgenden Paragraphen
besprechen werden. Ausser den gelehrten Werken zeigt sich das Fortleben
des Horaz ganz besonders in den Nachwirkungen, welche die Lektüre des
Dichters bei den Autoren zurückgelassen hat. Man hat diese Nachwirkungen
bis zum Ausgang der nationalen Litteratur verfolgt.') Und dass damals
') Friedländer, Sittengesch. 3, 378.
'^) KiEssLiNo, De Horatian. carminum
inscriptionibiiSj Greifsw. 1876. Zarncke, De
*) Schottmüller, De Flinii libris gramm,
1,32.
^) Hertz hat dies gethan in 5 Bresl.
rocab. graecanicis in inncript. carm. Horat,, Programmen unter dem Titel Analecta ad
Strassb. 1880 (Fleckeis. Jahrb. 123, 785). Carminum Iloratianorum hifftoriatnf Berlin
»; Porph. zu Sat. 1, 3, 21 und 90. i 1876—1882. Auch Haupt hatte sich die
Q. HoratiuB Flaccua. 93
noch Leute, deren Denken in dem alten Römertum wurzelte, an ihrem
Horaz festhielten, dafür legt eine uns in einer Reihe von Horazhandsehriften
überlieferte Subscriptio Zeugnis ab. Aus derselben ersehen wir, dass der
Consul Ordinarius des J. 527, Vettius Agorius Basilius Mavortius, unter-
stützt von seinem Mitarbeiter Felix, eine Rezension des Horaz gemacht.
Die Subscriptio steht hinter den Epoden. Da die gewöhnliche Reihenfolge
der Horazischen Gedichte in den Handschriften ist: Oden, Ars poetica,
Epoden, Carmen saeculare, Episteln, Satiren, so stellt sich jene Notiz von
Mavortius wie eine Subscriptio zum ersten Teil der Horazischen Poesien
dar; es ist daher zweifelhaft, ob sich die mavortische Rezension auf den
ganzen Horaz erstreckt hat.
266. Erhaltene Horazkommentare. Wir haben deren folgende:
1. Scholien des Pomponius Porphyrie. Anscheinend im 4. Jahr-
hundert hat dieser Grammatiker, der auch, wie es scheint, Lucan kom-
mentierte (schol. Luc. 1,214), diese Scholien zusammengestellt. In denselben
tritt der historisch-reale Gesichtspunkt sehr in den Hintergrund, dagegen
wiegt stark das Grammatische und Rhetorische vor. Die Überlieferung
des Kommentars ist eine feste, d. h. wir haben (abgesehen von zufölligen
Störungen) ein einheitliches Werk eines Verfassers.
Da er Sueton citiert (ep. 2, 1,1), so muss er nach Hadrian gelebt haben. Der Ter-
minus ante quem ist schwieriger zu bestimmen. Es hängt alles davon ab, ob das Citat
des Grammatikers Charisius, der etwa 360 anzusetzen ist, ut Porphyrio ex Vet^o et Feato
auf den im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrhunderts schreibenden Julius Romanns, den
jener gewöhnlich ausschreibt, zurückgeht oder ein eigener Zusatz des Charisius ist. Die
letzte Abnahme ist die wahrscheinlichere.
2. Die Pseudoacronischen Scholien. Ganz anders als bei Por-
phyrio liegt die Sache bei einer zweiten Scholienmasse, welche man früher
Acre beilegte. Allein der Name dieses Horazkommentators erscheint in
keiner älteren Handschrift; erst im 15. Jahrhundert taucht Acre in Ver-
bindung mit diesen Scholien auf, jedenfalls nach der Vermutung eines
Gelehrten. Diese Scholien variieren in den verschiedenen Handschriften
auf mannigfaltige Weise, so dass wir eigentlich eine Schar von Pseudo-
acronen haben. Trotzdem scheint ein fester Kern aus denselben heraus-
geschält werden zu können.^)
KiESSLiNO, De persan. Ilorat. p. 6, 5 „haec compilatio quam variis modi» rel hreriata
rel dilatata vel cum Parphyrionis commento denuo contaminata ita, ut primaria eiuM forma
proTMus paene obscurata sit, in lihris propagetur ahunde docent, quae Useneru« (De nrhol,
Nor.) pratulit exempla: attamen semper unius grammatici opellam quantumris transforma-
tarn agnascere posse mihi rideorJ' — Kukula, De tribus paeudoacron, schoHorum recemtioni^
hu8, Wien 188.S.
3. Der Kommentator Cruquianus. Wir verstehen unter dieser
Bezeichnung die Erklärungen, welche sich der Prof. Cruquius in Brügge
aus verschiedenen Handschriften und Ausgaben zusammengetragen. Es ist
also eine Scholienmasse, welche erst durch ihn ihre Individualität erhielt.
JoBDAK, De commentatore Hör, Cruquiano, Königsb. 1883. Matthias in den Quaeat,
Blandin, p. 29—51.
Citate aus den horaz. Gedichten von Suet. monia bei Keller-Holder.
und Quintil. bis hinab in die Zeit, wo unsere ^) Wichtig für den Kommentar ist der
Handschriften beginnen — über 1200 — ge- Parisinus 7900*.
sammelt (Opusc. 3, 47). Vgl. jetzt die testi-
1
94 HOmiBclie LitteratiirgeBchichte. Ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Ein Unstern waltete über der Herausgabe der zwei ersten Scholienmassen. Zwei
unbrauchbare Ausgaben sind hier zu verzeichnen, die von Pauly, Prag 1858 und die von
IIauthal, 2 Bde., Berl. 1864. 1866. Die erste Recensio des Porphyrie, die diesen Namen
verdient, veranstaltete W. Meyeb, Leipz. 1874 nach der Münchner Handschrift 181 s. X.
Litteratur: Useneb, De schoUis Horat,, Bern 1863. O.Keller, Scholiasten des
Horaz in den Symhola philöl. Bonnensium p. 491. Schweikert, De Porph. et Acronis
scholiiH Horat., Münster 1865. De Acrone qui fertur Hör. scholiasta, Kohl. 1871.
2fi6. Horaz in der Neuzeit. Wenn Horaz auch im Mittelalter dem
Vergil weit nachstand, so lassen sich doch auch in dieser Zeit seine Spuren
verfolgen. Alcuin und seine Schule beschäftigte sich mit der Erklärung
des Dichters, ein noch in einer Wiener Handschrift erhaltener fortlaufender
Kommentar zur Ars poetica gibt davon Zeugnis. ^ In einem Tierepos
des 10. Jahrh., Ecbasis captivi betitelt, liegt die Verwertung des Horaz
offenkundig zu Tage. Die grosse Anzahl der erhaltenen Handschriften
ist der beste Beweis dass man in den Klöstern auch gern Horaz las. Es
würde gewiss ein anschauliches Bild von dem grossen Einfluss des Kömei's
auf die mittelalterliche Litteratur ergeben, wenn man seinen Spuren dort
überall nachgehen wollte; allein dies ist bis jetzt nicht geschehen. Wir
wenden uns daher gleich zur neuen Zeit. Hier stossen wir zuerst auf die
Nachahmer, welche in lateinischen Gedichten der Muse des Horaz nach-
eiferten. Es ist dies eine ungeheuer grosse Schar, die von der Humanisten-
zeit bis in unsere Tage reicht; manche haben es auf diesem Feld sogar
zu einem vorübergehenden Ansehen gebracht, wie die Jesuiten Bälde
(1603—1668) und Sarbiewski (1596—1640). Aber auch auf die nationalen
Litteraturen hat der antike Lieblingsschriftsteller grossen Einfluss geübt.
In unbewusster Nachwirkung, in absichtlicher Nachahmung, in Übertragung
lebte der Römer weiter. In der einen oder anderen Periode ist er sogar
Mittelpunkt für die dichterische Thätigkeit geworden, wie dies z. B. in
der Zeit unserer sogenannten anakreontischen Dichter der Fall war.*)
Selbst der Kirche blieb sein Einfluss nicht verschlossen, dass unter die
geistlichen Lieder auch alcaeische Strophen wie „Nun preiset alle Gottes
Barmherzigkeit^, sapphische wie „Christe, du Beistand deiner Kreuzgemeine *"
Aufnahme gefunden haben, wem verdanken wir es in letzter Linie anders
als Horaz? 3) Das Fortleben des venusinischen Dichters in den modernen
Litteraturen zu verfolgen, ist uns wegen der Überfülle des Stoffes unmög-
lich. Dagegen müssen wir aus den philologischen Studien des Horaz die
zwei Epochen herausgreifen, welche durch die Namen Bentley und Peerl-
KAMP bezeichnet werden. Der Engländer Bentley hatte bereits, ehe er an
Iloraz herantrat, eine unsterbliche Leistung hinter sich, es war dies die
geniale Untersuchung über die sogenannten Briefe des Tyrannen Phalaris, in
der sich eminenter Scharfsinn, reiche Gelehrsamkeit, lichtvolle, erfrischende
Darstellung zu dem höheren Zweck verbanden, Echtes und Unechtes zu
scheiden. Dieser erstaunlichen Leistung folgte bald eine andere, welche
nicht minder die gelehrte Welt aufrütteln sollte als die erste; wir meinen
seine Horazausgabe, welche mitten unter heftigen persönlichen Kämpfen,
*) Schol. Vindob. ad Hör. a. p. ed. Zech- | *) Gbrvintjs, Deutsche Literatai^escb.^
MEISTER, Wien 1877 (Zeitschr. f. österr. Gymn. 4, 224.
28, 516). ») Fritzsche, Jahrb. f. Phüol. 88, 169.
Q. HoraüuB FlaconB.
95
an denen Bentleys Leben so reich ist, im J. 1711 ans Tageslicht trat.
Hatte der Engländer in seiner ersten Schrift eine glänzende Probe der
höheren Kritik gegeben, so lieferte er hier eine ebenso glänzende Probe der
Wortkritik. In seinen kritischen Operationen vernachlässigte er zwar
keineswegs die Überlieferung, wie denn z. B. sein scharfer Blick den hohen
Wert des ältesten codex Blandinius erkannte, allein der Schwerpunkt seiner
Kritik liegt nicht nach dieser Seite hin. Der liegt vielmehr darin, dass
er mit hohem Selbstgefühl, wie es nur ein Vorrecht des Genies ist, den
Satz proklamierte, dass der Gedanke höher steht als hundert Handschriften
und dass eine durch Sinn und Zusammenhang gerechtfertigte Konjektur
ebensoviel wert ist als eine durch hundert Handschriften bezeugte. *) Diesem
Grundsatz entsprechend scheut er sich daher auch nicht, seine Konjekturen
in den Text zu setzen. Die Rechtfertigung der Konjekturen von der
„ratio*' aus will daher nichts von dem „Probabile**, das sich auf diesem
Gebiet breit machte, wissen, sondern steuert mit souveräner Verachtung
des toten Buchstabens festen Schritts auf das „Certum' hin. Es ist über-
all der Massstab der Korrektheit, welcher für die Emendation bestimmend
ist. Darin liegt der ungeheure Reiz dieser Kritik, zugleich aber ihre
Schwäche. Denn nur zu leicht läuft eine solche Methode Gefahr, zu wenig
die Individualität des Schriftstellers zu berücksichtigen und statt den Ab-
schreiber diesen selbst zu korrigieren. Und dies hat Bentley unzählige-
mal gethan. Allein trotzdem ist seine Arbeit für den Dichter in hohem
Grade förderlich gewesen, weil sie uns zur tieferen Erkenntnis seines
Wesens verhalf und nicht bloss seine Licht-, sondern auch seine Schatten-
seiten kennen lehrte, denn aus der BENTLEY'schen Konjektur ersehen wir, wie
oft noch der Dichter von der Vollkommenheit des Ausdrucks entfernt ist.
Die Bewegung, welche diese Horazausgabe hervorrief, war eine gewaltige
und das Entsetzen der autoritätsgläubigen Menge nicht gering. Es er-
schienen Pamphlete, der Aristarchus Anti-Bentlejanus von R. Johnson 1717,
endlich die Ausgabe von A. Cünningham, Hagae 1721. Zehn Jahre hatte
dieser schottische Edelmann daran gesetzt, den BENTLEY'schen Horaz zu
vernichten. Allein sein Bemühen war vergeblich. Jene Gegenschriften
sind verschollen, während der BsNTLEY'sche Horaz noch heute den unver-
gänglichen Ruhmeskranz trägt. Nach Benti^ey kamen die Horazstudien
in eine Stagnation, welche über hundert Jahre andauerte. Da brachte
das Jahr 1834 eine neue tiefgehende Gärung der Geister, veranlasst durch
die Ausgabe der Oden und Epoden von Hofman Peerlkahp. In an-
mutiger Weise erzählt der Holländer, wie er von Jugend auf Horaz aufs
eifrigste studiert, wie er dann Bentley und andere Herausgeber aufs ge-
wissenhafteste zu Rate zog und wie er trotzdem, als er den Dichter
seinen Zuhörern interpretieren sollte, hiebei auf unübersteigliche Hinder-
nisse stiess. Da alle Hilfsmittel hier versagten, so erwachte in ihm der
Gedanke, dass Horaz mit Unechtem versetzt sei. Und dieser Gedanke
löste ihm, wie er glaubte, alle Schwierigkeiten. So gab er denn seinen
') Zu Carm. 3,27, 15: tiobis et ratio et
res ipsa centum c&dicihus potiores sunt; zu
1, 23, 5 : nihil profecto hoc coniectura certius
est suoque ipsa lumine aeque se probat y ac
si ex centum scriptis codicibus proferretur.
96 KOmiaolie LitteratnrgeBohiohteT Ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
Horaz heraus, in dem etwa der vierte Teil der Oden für unecht erklärt
war. Auch Peerlkamp teilt den Fehler mit Bentley, dass er nicht an
den Dichter, wie er ist, mit allen seinen Vorzügen und Schwächen heran-
trat, sondern gleich den Massstab der Vollkommenheit mitbrachte,^) dass
er sich einen Idealhoraz konstruierte und das was von demselben abwich,
für unterschoben erklärte. Da bei Peerlkamp naturgemäss subjektiv-
ästhetische Ansichten einwirken, so kann seine Argumentation bei weitem
nicht den siegesgewissen, erfrischenden Charakter erhalten wie der Bent-
LEY'sche Kommentar; man gewinnt nur zu oft den Eindruck des krank-
haften Nörgeins. Das Beispiel Peerlkamps reizte natürlich zur Nach-
ahmung; besonders seitdem G. Hermann die Partei des holländischen Ge-
lehrten ergriflfen, stellte sich eine grosse Schar von Nachtretern ein, welche,
jeder in seiner Weise, den Horaz säuberten. Den Gipfelpunkt erreichten
diese Bestrebungen in Grüppes Minos und Aeacus und in der Horazausgabe
von Lehrs. Schon das letzte Buch aber konnte keine Bewegung mehr hervor-
rufen und erweckte mehr das Gefühl des Bedauerns, dass dieser Gelehrte
seinen Ruhm durch eine so „unverständliche" Arbeit schädigen konnte. Denn
mittlerweile waren die Wogen der Interpolationsflut zurückgeworfen, man
erkannte, dass das Vorgehen Peerlkamps ein geistreicher Irrtum war, man
wurde sich bewusst, dass durch die noch sehr im Rückstand befindliche Inter-
pretation des Dichters jene Verblendung möglich war. Nur sehr wenige
Früchte sind durch diese Interpolationswut für Horaz gezeitigt worden; das
Meiste ist unbrauchbar und liegt längst hinter uns in wesenlosem Scheine.
Dem unmethodischen Verfahren Peeblkakps trat M. Haupt entgegen und legte
die Kriterien für die Annahme von Interpolationen dar (Opusc. 3, 55). Von mittelalterlicher
Interpolation kann gar keine Rede sein, denn die Überlieferung ist eine geschlossene.
Nach Haupt hat Heynemann, De interpolationifyus in cattnintbus Horatü, Bonn 1871 feste
Prinzipien für die Scheidung des Echten und Unechten aufzustellen versucht. Allein ob-
wohl er die Zahl der nach seiner Ansicht zu begründenden Interpolationen sehr reduziert
— vgl. die Obersicht p. 56. 70 — , so nimmt er deren noch immer zu viel an.
3. L. Varius Rufus.
267. Gedichte des Varius Rufus. Der Dichter ist als Freund des
Vergil und Horaz bekannt. Seine Freundschaft für letzteren bekundete
er dadurch, dass er mit Plotius Tucca die Aeneis nach des Dichters Tod
herausgab; Horaz aber führte er und Vergil — ein wichtiges Ereignis —
bei Maecenas ein (Sat. 1,6, 55). Den drei Freunden Varius, Vergil und
Tucca setzt der venusinische Sänger ein schönes Denkmal, er nennt sie
(Sat. 1,5,41):
animae, quales neque candidiores
terra tulit, neque quia tne sit devinctiar alter.
Varius war ein sehr angesehener Dichter, von ihm rühmt Horaz, dass
niemand des Heldenlieds solcher Meister sei wie er (Sat. 1, 10, 43). Vergil
klagt unter fremder Hülle, dass er bisher nichts des Varius und des
Helvius Cinna Würdiges gesungen (Ecl. 9, 35) ; auf ihn als den rechten
Mann, Agrippas Thaten zu besingen, weist Horaz C. 1,6 hin.
>) Er sagt (Od. 1, 16, 13): equidem Ho-
ratium non agnosco nisi in Ulis ingenii monu-
mentis quae tarn apia et rotunda sunt, ut
nihil demere possis, quin elegantiam minuas.
AemiliiiB Macer. 97
Zwei Epen sind von Rufus bekannt; unsere Kenntnis über das erste
verdanken wir Macrobius. In den Kapiteln, in denen er die Nachahmungen
Vergils aufzeigen will, werden uns vier Stellen, welche einem Gedicht mit
dem Titel „de morte^ nachgebildet sind, aufgezeigt. . Da eine der Nach-
ahmungen in der 8. £cl. (Macrob. 6, 2, 20 = Ecl. 8, 85) vorliegt, so muss
dasselbe vor 39 v. Gh., in welches Jahr diese Ecloge fällt, geschrieben sein.
Den Titel bezieht man auf den Tod Caesars. Unter den Fragmenten ist das
umfangreichste das, welches in schöner Weise uns einen einer Hirschkuh
nachspürenden Hund ausmalt. Ein zweites Epos war der Panegyricus
Augusti (Porph. p. 287 M.). Aus der Titulatur »Augustus* werden wir
schliessen müssen, dass dasselbe nicht vor 27 v. Ch. fällt, da in diesem
Jahr Octavian jenen Beinamen erhielt. Aus diesem Panegyrikus hat Horaz,
um den Freund zu ehren, eine Stelle seiner Ep. 1, 16 einverleibt (v. 27),
welche ein feines Lob des Augustus enthält:
tene magis salvum populus velU an poptUum tu,
servet in ambiguo, qui constUit et tat et urbi,
Juppiter,
Am meisten Ruhm brachte dem Dichter aber die Tragödie Thyestes ein.
Zufällig ist die Didaskalie des Stückes erhalten. Nach derselben wurde
das Drama im J. 29 an den Spielen zur Feier des Sieges bei Actium auf-
geführt; es trug dem Dichter eine Gratifikation von 1 Million Sestertien
ein. Die Medea Ovids und der Thyestes des Varius gelten als die tragi-
schen Meisterwerke der Kaiserzeit.
Die Didaskalie steht im Paris. 7530 (s. VIII): Lucius Varius cognomento Rufus
Thyesten tragoediam magna cura ahsolutam post actiacam victoriam Augusto ludis eius in
scaena edidit; pro qua fahula sestertium deciens accepit, Tacit. dial. 12 nee ullus Äsinii aut
Messalae über tarn illustris est quam Medea Ovidii aut Varii Higestes. Qnint. 10, 1, 98 Varii
Thyestes cuilibet graecarum comparari potest (Anspielung auf das Stück bei Hör. G. 1, 6, 8).
Varius' Schrift über Vergil. Aus Quint. 10, 3, 8 Vergilium paucissimos die
composuisse versus auctor est Varius hat Spaldino mit Recht geschlossen (vgl. auch
Gell. 17, 10, 2), dass Varius über Vergil ein Buch geschrieben „in quo praeter alia de
singulis amici operibus quo tempore facta et edita quaque ratione composUa essent edocuit
lectores'* (Ribbeck, Proleg. in Verg, p. 89).
Körte hat (Rh. Mus. 45, 172) dargelegt, dass in des Epikureers Philodemus Schrift
7Tf^< noXanünq ein Varius und ein Quintilius angeredet war. In dem Varius erkennt er
unsem Tragiker L. Varius Rufus, auf den er auch Quint. 6, 3, 78 bezieht, wo von einem
L. Vario (so zu schreiben statt des überlieferten Vareo) Epicureo, Gaesaris amico die Rede
ist, in dem Quintilius aber den Quintilius Varus aus Gremona. Wie sehr die epikureische
Philosophie den ganzen Kreis beschäftigte, wissen wir.
Litteratur: Weicbkrt, De L, Varii et Cassii pita et carminibus, Grimma 1836.
Unoer, L, Varii de morte eclogae reliquiae, Halle 1870. 1878. Die Fragmente in PLF. p. 337.
4. Aemilius Macer.
268. Die drei didaktischen Gedichte des Aemilius Macer. In
den Tristia 4, 10, 43 lesen wir die Verse:
saepe suas volucres legit mihi grandior aew),
quaeque necet serpens, quae iuvet herba Macer,
Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass in diesen Versen drei Gedichte
eines Macer ihrem Inhalt nach umschrieben werden, ein Gedicht über die
Vögel, eines über den Biss giftiger Schlangen, endlich eines über die Heil-
kräuter. Der Dichter ist beträchtlich älter als Ovid und daher verschieden
HaDdbnob der kU«. AlterlumswiMeDschaft. VUL 2. Teil. 7
98 Römische LitteratargeBchichte. TL, Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
von einem andern jüngeren Macer, der Epiker ist und mit dem Ovid
eine Reise durch Asien und Sicilien machte (P. 2, 10, 21). Der didaktische
Dichter ist Aemilius Macer, dessen Tod Hieronymus ins Jahr 16 v. Ch.
setzt (2, 143 Seh.). Von diesen drei Gedichten kennen wir die zwei ersten
auch den Titeln nach, das erste war eine Ornithogonia, das zweite war
Theriaka überschrieben; von dem ersten Gedicht wird in Fragmenten das
zweite Buch citiert, bei dem zweiten ausdrücklich angegeben, dass es aus
zwei Büchern bestand (fr. 9 B.). Das botanische Werk wird nicht mit Namen
erwähnt, wir können aber Fragmente mit der aUgemeinen Bezeichnung
Aemilius Macer demselben zuweisen (vgl. fr. 11, 12, 13 B.). Die Quellen
für die drei Gedichte waren natürlich griechische Dichter. Eine Ornitho-
gonia lief unter dem Namen des Boios um; da wir sonst keine kennen,
so wird diese Dichtung die Quelle Macers gewesen sein. Für die Theriaka
stellt sich naturgemäss als Vorbild das gleichnamige Werk Nikanders ein,
für das Lehrgedicht von den Kräutern dessen Georgica. Und als Nachahmer
Nikanders hat bereits Quintilian den Aemilius Macer erkannt (10,1,56).
Der Rhetor gibt uns auch eine Beurteilung desselben; er nennt ihn „humilis"
(10,1,87).
Im Quellenverzeichnis des Plinius erscheint Aemilius Macer in den Büchern 9. 10.
11. 17, und mit der üblichen Verschreibung .Licinio Macro** in den Büchern 19. 21 (22).
28. 29. 32. Allein noch lange nach Plinius scheinen seine Werke gelesen worden zu sein ;
der sogenannte Cato empfiehlt Macers Kräuterbuch (prol. 2):
quodsi möge nosse lahoras
herharum vires. Macer haec tibi carmina dirit.
Wohl durch diese Stelle wurde im Mittelalter der Name Macer ein , symbolischer".
So nahm das Gedicht des Odo Magdunensis den Namen „Macer* an. Vgl. Rose, Hermes 8,6«3.
Über die 'Ogyidoyoyia des Boios vgl. Enaaok, Änalecta Alexandrino-Rom. p. 1 — 12;
Bemerkungen über die Theriaka p. 11 n. 17. Die Bemer Schollen zu Lucan notieren zu
9, 701 : serpenfum nomina aut a Macro »umpsit de libria Theriacon (nam duos edidit) aut
quaesita a marsis posuit. Die Übereinstimmung Lucans mit Nikander (vgl. Knaaok p. 11, 17)
zeigt auf Nikander als Quelle Macers. UngeBj De Macro Nicandri imitatore, Friedl. 1845.
5. Cornelius Gallus.
269. Die Liebeselegie. Dem Epos folgte in der griechischen Litteratur
die Elegie. Schon die äussere Form lässt erkennen, nach welcher Seite
hin die Weiterentwicklung vor sich ging. Die Elegie knüpft zwar durch
den Hexameter an die epische Dichtung an, allein durch ein neues Element,
das aber von dem Hexameter abgezweigt wurde, durch den Pentameter
gewann sie ein epodisches Mass und damit eine kleine Strophe. Durch
diese Veränderung der metrischen Form wird der gleichmässig fortlaufende
Fluss der Rede aufgehoben ; die auf- und ab wogenden Stimmungen vermag
der Dichter auch durch ein Auf- und Abwogen der metrischen Form kund-
zugeben. So steht denn die Elegie in der Mitte zwischen dem Epos und
der Lyrik, mit der ersten hat sie die Erzählung, mit der zweiten die innere
Bewegung gemeinsam. Bald überwiegt das erste Moment, bald das zweite.
Selbst nachdem sich die reinen lyrischen Formen herausgebildet hatten,
blieb die Zwittergattung kräftig genug, um sich ihr Fortleben zu sichern.
In der alexandrinischen Zeit wurde sie, nachdem man der langen und
langweiligen Epen überdrüssig geworden war, die Königin der Poesie.
Cornelias Gallns. 99
Zwar ist sie hier nicht mehr wie ehedem in Jonien ein Spiegelbild der
Kämpfe der Gegenwart, allein sie findet reichen Ersatz in der Schilderung
der Leidenschaft, welche alle Menschenherzen am meisten ergreift, der Liebe.
Auch die erotische Elegie hält an der Mittelstellung zwischen Epos und
Lyrik fest. Für die Erzählung bot die Mythologie reichen Stoff dar, es
konnten ja ähnliche Situationen wie die waren, von denen der Dichter
bewegt wurde, dem Leser vorgeführt werden. In solchem mythologischen
Beiwerk gefielen sich die Elegiker jener Zeit ausserordentlich, und die
Römer, welche sich vor allem an die alexandrinische Elegie anlehnten,
folgten hierin mit grossem Eifer ihren griechischen Vorbildern, es war für
den elegischen Dichter fast eine Notwendigkeit, dass er dodus sei, d. h. dass
er in der Sagenwelt gehörig Bescheid wisse. So Hess sich z. B. Cornelius
Gallus von dem Griechen Parthenius ein Compendium von Liebesabenteuern
anfertigen, um dasselbe bei seinen elegischen Dichtungen verwerten zu
können. Erotische Sagen konnten aber nicht nur als Schmuck, sondern
auch für sich gegeben werden, jedoch so, dass auch hier die lyrische
Empfindung durchdringt, das Ganze „erzählte Lyrik "^ wird. Für den Aus-
druck des subjektiven Stimmungsbildes sammelte sich in der Liebeselegie
ein Schatz von Bildern, Gedanken und Wendungen; würden alle die zer-
streuten Züge gesammelt, so würde man eine Topik der Erotik erhalten.
Hier können wir natürlich nur eine flüchtige Skizze entwerfen. Beim
Aufkeimen der Leidenschaft spielt Amor die Hauptrolle, bald setzt er den
Fuss auf den Nacken seines Opfers, bald richtet er unzählige Pfeile, welche
bis ins innerste Mark dringen, auf dasselbe. Nur zu rasch erkennt der
Getroffene, dass gegen Amors Macht weder Bacchus noch eine andere
Gottheit zu helfen vermag. Was Wunder, wenn er ihm als Sieger er-
scheint, der wie nach einer gewonnenen Schlacht in einem glänzenden
Triumphzug einherzieht. Der Jüngling steht da, getroffen von der Schön-
heit der Geliebten, die Augen werden ihm zu Führern in der Liebe. Ihr
Gesicht ist so weiss wie Milch oder Schnee, sie gleicht der zarten Lilie,
noch mehr, sie überstrahlt alle Göttinnen durch ihre hehre Gestalt. Diese
braucht, so meint der Liebende, keine künstliche Nachhilfe. Auf der
andern Seite kommt ihm aber auch der Gedanke, dass diese holde Blüte
nicht ewig dauert und dass sie daher, ehe sie verwelkt, gebrochen werden
muss. Seine Empfindungen lässt der Jüngling im Liede ausströmen, er
verhüllt die Geliebte unter einem Pseudonym, aber er wählt es in der
Regel so, dass der wirkliche und der fingierte Name im Metrum überein-
stimmen. >) Das Lied ist nach des Sängers Ansicht der höchste Lohn für
die Geliebte, denn es bringt ihr ja die Unsterblichkeit. Um so entrüsteter
ist er, wenn sie diesen Dichterpreis gering achtet und lieber nach Ge-
schenken und schnödem Mammon ihre Hand ausstreckt. Da entfallen dem
Dichter leicht Klagen über die Verderbtheit der Welt. Dass die Liebe
Leid bringt, klingt auch durch die erotische Elegie hindurch. Häufig ist
die Klage, dass die Eidschwüre in der Liebe nichts gelten, sondern von
den Winden fortgetragen werden und dass das Herz der Gefeierten von
') Vgl. Bewtlby ru Hör. C. 2, 12, 13 (Stüdemtikd bei Kleemann, De L III TibulU p. 21).
100 BOmiBche Litteratnrgeschichte; ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
Eisen oder Stein ist. In seinem Kummer eilt der Arme in den Wald hinaus,
um dort sein Weh ausklingen zu lassen und ihren Namen in die Bäume
einzuritzen. . Was hat er erst zu leiden, wenn er in Sturm und Wetter vor
der Thür der Holden steht und trotz alles Flehens nicht eingelassen wird,
wie flucht er da über die grausame Thür und über die Alte, welche des
Mädchens Sinn auf einen reichen Nebenbuhler gelenkt hat. Zuletzt bleibt
dem Unglücklichen nichts anderes übrig als zu einer Zauberin seipe Zuflucht
zu nehmen, welche die Kunst besitzt, die Ungetreuen wieder zurückzuführen.
Hilft alles nichts, so wünscht sich der Dichter den Tod, aber auf dem
Grabmal soll geschrieben stehen, wer an seinem Untergange schuld ist.
Diese Gedanken werden zu einem gemeinsamen Gut, wie es bei jeder
ausgebildeten Lyrik mehr oder weniger der Fall ist.
Seit Cicero können wir die Spuren der Elegie bei den Römern ver-
folgen. Von dem Redner selbst wird eine Elegie, wahrscheinlich mit dem
Titel „Thalia tnaesta", erwähnt. Die jungrömische Dichterschule, die spöt-
tisch genannten Sänger des Euphorien haben derselben ihre Neigung zu-
gewendet, auch P. Terentius Varro, welcher die nationale Richtung mit
der alexandrinischen verband, schrieb einen erotischen Elegienkranz auf
seine Leucadia. Aber als die Hauptrepräsentanten der Elegie galten Gallus,
Tibull, Properz nnd Ovid. Daher singt Ovid, indem er von TibuU spricht
(T. 4,10,53):
successor fuit hie tibi, Oalle, Propertius ilUf
quartus ab his aerie temporis ipse fui.
Allgemeines über die Elegie. Diom. p. 484 elegia est carmen compositum
hexametro versu pentametroque — quod genus carminis praeeipue scripserunt apud Romanos
Propertius et TibuUus et Gallus, imitati Graecos CalUmachum et Euphoriona, Quint. 10, 1, 98
Elegia quoque Graecos provocamus . cuius mihi tersus atque elegans maxime tidetur auctor
TibuUuSj sunt qui Propertium malint. Ovidius utroque kiscivior, sicut durior Gallus.
Pseudonyme für die Geliebten. Apol. apol. 10 accusent C. Catullum quod Les-
biam pro Clodia nominarit, et Ticidam similiter quod quae Metella erat Perillam scripserit,
et Propertium qui Cynthiam dicat, Hostiam dissimulet et Tibullum quod ei sit Plania in
animo, Delia in versu.
Litteratnr: Gruppe, Die röm. Elegie, Leipz. 1838. Anthologie von Schulze, Berl.
1884. Hallet, Quaest. Propertianae, Gott. 1882, treffliche Dissertation, in der (nach An-
leitung DiLTHEYs) eine Topik der Erotik entworfen wird. Auch Rohdb, Griech. Rom. ent-
hält sehr nützliche Auseinandersetzungen über die Elegie.
270. Das Leben des Oallus. Der Dichter wurde in niederen Ver-
hältnissen (Suet. Aug. 66) zu Forum Julii (Frejus) 70 v. Ch. geboren. Als Mit-
schüler des Augustus erwarb er sich dessen Gunst, wodurch er später sehr in
die Höhe kam. Im Krieg gegen Antonius hatte er ein Kommando inne, nach
der Schlacht bei Actium hielt er Paraetonium gegen Antonius (Dio 51, 9).
Nachdem Ägypten römische Provinz geworden war (30), ernannte ihn
Augustus zum Präfekten des Landes. Allein der Dichter wusste sein Glück
nicht mit Mässigung zu ertragen; er führte schlimme Reden gegen den
Princeps und war masslos von sich eingenommen (Ovid. T. 2,446); seinen
Übermut bekundete er besonders dadurch, dass er sein Bildnis überall in
Ägypten aufstellen und seine Thaten auf die Pyramiden schreiben liess.
Ein früherer Freund Yalerius Largus denunzierte ihn; die Folge war, dass
ihm Augustus sein Haus und den Aufenthalt in seinen Provinzen unter-
sagte. Als diese Ungnade bekannt wurde, traten mehrere mit Anklagen
OomelioB OallQB. 101
gegen Gallus vor. Es wurde ihm der Prozess gemacht und Exil und Yer-
mögenskonfiskation gegen ihn erkannt. Diesen Schlag konnte der Dichter
nicht verwinden; er gab sich im J. 27 im Alter von 43 Jahren mit eigener
Hand den Tod (Dio 53, 23). Seine dichterische Bildung scheint er in der
Schule des Valerius Cato erlangt zu haben; es spricht dafür seine Bekannt-
schaft mit Parthenius, dessen Beziehungen zur jungrömischen Dichterschule
wir § 97 dargethan haben; auch ist ein scherzhaftes Gedicht eines der
Grenossen, des Furius Bibaculus, auf Cato wohl an unsern Gallus gerichtet.
Ferner wird uns berichtet, dass der Grammatiker Q. Caecilius Epirota in
seinem Hause lebte (Suet. de gr. 16), also wohl des Dichters litterarischer
Gehilfe war. Von den zeitgenössischen Dichteni stand Vergil dem Cornelius
Gallus am nächsten. Sicherlich hatte Gallus viel zum Emporkommen Vergils
beigetragen. Vergil erwies sich ihm auch dankbar; zweimal zeichnete er
ihn in seinen Eclogae (6. 10) aus; in den Georgica war die letzte Partie
des vierten Buchs ein Panegyricus auf Gallus; dieselbe musste jedoch nach
dem Sturz des Gallus auf Andrängen des Augustus beseitigt werden.
Hieronym. 2, 141 z. J. 27 v. Ch. Cornelius GaVus Foroitdiensis poeta a quo primum
Äegyptum rectam supra diximus, XLIII aetatis suae anno proprio se manu interfecit.
Prob. Verg. 6, 1 (VergUius) insinuatus Augusto per Cornelium GaJlum, condiacipulum suum,
271; Gkdlus' Liebeselegien (Lycoris). Der Gegenstand seiner Liebes-
elegien ist die Lycoris, daher Ovid singen kann (Am. 1, 15, 29):
Gallus et Hesperiis et Gallus notus Eois
et sua cum GaUo nota Lycoris erit,
Lycoris ist der Gewohnheit der römischen Dichter entsprechend nicht der
wirkliche, sondern nur der dichterische Name der Geliebten. Als sie mit
Gallus in Beziehungen stand, konnte sie bereits auf eine bewegte Ver-
gangenheit zurückblicken. Sie war eine Freigelassene des Volumnius Eutra-
pelus. Bei ihm traf sie Cicero im J. 46 v^. Ch. bei einem Mahle (£p. 9, 26);
er nennt sie Cytheris; aus Cic. Phil. 2, 24, 58 erhellt, dass sie Schauspielerin
und « Cytheris ** ihr Theatername war. Schon vor dieser Zeit hatte sie
ein Liebesverhältnis mit dem bekannten M. Brutus. Nachdem dieser aber
die. Tochter des Appius Claudius geheiratet, finden wir die Hetäre in den
Armen des M. Antonius. Er führte sie sogar auf seinen amtlichen Reisen
durch Italien, mit sich, ^as Cicero zu herbem Spott Anlass gibt (1. c. ad
Attic. 10,10,5 10,16,5). Bei seiner Verbindung mit der Fulvia (46) musste
er die Libertine entlassen (Cic. Phü. 2, 31, 77). Nun scheint Gallus von
ihr Besitz genommen zu haben; allein sie blieb ihm nicht treu; in der
10. Ecloge Vergils lesen wir, dass sie einem Soldaten in den Krieg folgte
(v. 23) und zwar über die Alpen an den kalten Rhein (v. 48). *) Die Ge-
dichtsammlung umfasste vier Bücher. Für dieselbe benützte er wohl das
erwähnte Büchlein von Liebesabenteuern, welches Parthenius aus Nicaea
für seinen Gebrauch zusammengestellt hatte und das uns noch erhalten ist.
Sein Muster war der dunkle, schwer verständliche Dichter Euphorien aus
Chalkis. Es scheint, dass von diesen Eigenschaften manches auch auf den
Nachahmer überging, woraus sich dann erklären würde, dass Quintilian
ihn 10, 1, 93 einen poeta „durior*^ nannte.
>) Vgl. p. 25.
102 BömiBche LitteraturgeBchichte. II. Die Zeit der
ie. L Abteilimg.
Über die Lycoris sind die Hauptstellen: Ps. Aurel. Vict. de v. iU. 82 (Brutus) Cyther-
idem mimam cum Antonio et Gallo poeta amavit, Serv. zu Ecl. 10, 1 hie GaUus amavit Cyther-
idem meretricetn, libertam Vofumnii, quat eo spreto Antonium euntem ad GaJlias est secuta
(was unrichtig ist, da Antonius zur Zeit, als die 10. EcL geschrieben wurde, nichts mehr
mit der mitna zu schaffen hatte). Schol. des cod. Medic. zu Ecl. 10, 2 Lycorin Volumniam
Cytherin loquitur quam triumviri Cornelius Gallus et Marcus Antonius amaverunt, quam
per potentiam Antonius secum duxU in GaUias ad exercitum proficiscens. (Porphyrio
p. 148 M. Vergilius in Bucolicis pro Cytherid^ Lycoridem appeUatl) Die Identität der
Lycoris und Cvtheris wird geleugnet von Yölksb 1, 27; Flach, Fleckeis. J. 119, 793;
L. MtJLLER zu Propertius p. 138, ohne stichhaltige Grfinde. — Ober die Elegiensammlung
vgl. die Stelle des Servius im folgenden §. Auf dieselbe wird zu beziehen sein Prob, zu
Ecl. 10, 50 Euphorion elegiarum scriptor Chalcidensis fuit, cuius in scribendo seaäus
colorem videtur Cornelius Gallus, Aus dieser Sammlung wird der einzige Pentameter
stammen, der von Gallus überliefert ist (FPL. ^^ß2S). 2$C>
272. Oallus' Übersetzungen aus Euphorion. Dass Gallus ausser
den nach alexandrinischem Muster gedichteten Elegien noch Übersetzungen
und zwar des Euphorion lieferte, wird uns von Servius ausdrücklich be-
zeugt. Auch in den Eclogen Vergils wird an zwei Stellen die erotische
Poesie in Gegensatz zu den Euphorionischen Übertragungen gebracht. Als
Lycoris dem Dichter untreu geworden, gelobt er (Ecl. 10,50):
ibo et Chalcidico quae sunt mihi condita vtrsu
carmina pastoris Siculi modulabor avena.
Also kein Liebeslied mehr; die bereits vorhandenen Bearbeitungen Eupho-
rions will er zur Flöte des sicilischen Hirten singen. In der sechsten
Ecloge wird uns von einer grossen Umwandlung des Dichters erzählt;
bisher »irrte** er am Ufer des Helikonflusses Permessus umher, jetzt wird
er aber von einer Muse zum Musensitz geleitet, bei seinem Eintritt erhebt
sich der ganze Chor und Linus überreicht ihm die Syrinx, welche früher
der askräische Sänger Hesiod gespielt. Unter den Gedichten Euphorions
befindet sich ein „Hesiodos**. Die Stelle wird verständlich, wenn wir
annehmen, dass Gallus, der vorher leichte, tändelnde >) Liebespoesie ge-
schrieben, jetzt ein Werk des Euphorion und zwar den Hesiod bearbeitet
hat. Noch mehr. Als Linus die Syrinx dem Gallus überreichte, forderte
er ihn auf, über den Ursprung des Apollohains (mit seinem Tempel und
Orakel) von Grynium an der Küste Äoliens zu singen. Servius berichtet
uns, dass Euphorion diese Sage behandelte und dass Gallus dieselbe aus
Euphorion übersetzte. Es wird also eine Anspielung auf die Übersetzung
dieses zweiten Euphorionischen Gedichtes, mit der Gallus damals beschäftigt
war und von der Vergil bereits Kunde erhalten hatte, vorliegen.
Serviua zu Ecl. 10, 1 Euphorionem transtulit in UUinum sermonetn et amorum suorum
de Cytheride scripsit libros quattuar. Serv. zu Ecl. 6, 72 wird die Sage vom Apollohain
in Giynium und der in demselben vorgekommene Wettstreit des Kalchas und Mopsus
erzählt und dann geschlossen: hoc autem Euphorionis continent carmina, quae GaUus
transtulit in sermonem latinum (nach Meineke stand die Sage im 5. Buch der Chiliaden,
vgl. Anal. Alex. p. 79). Für die oben vorgetragene Ansicht finde ich den ältesten Gewährs-
mann in Heyites Ausg.' p. 200: Fontaninus miro acumine plura GaUi carmina ex versihus
Vergilianis exsculpsit: ex v, quidem 70 coUigere vuU, eum latinum fecisse Hesiodum Eupho-
rionis, ex ». 73 eum vertisse latine Chiliadem. — Völckeb, De C. G. vita et scriptis 1 Bonn
1840, II Elberf. 1844.
^) Ahnlich Prop. 2, 10, 25 nondum etenim
Ascraeos norunt mea carmina fontes, sed modo
Permessi flumine lavit Amor (Mallet, Quaest.
Prop. p. 9).
C. ValgittB Bnfto. DomitioB Xarsus. 103
6. C. Valgius Rufus.
273. Die Elegien des Valgius. Horaz ermahnt in der 9. Ode des
2. Buchs den ihm befreundeten (S. 1, 10,82) C. Valgius Rufus, doch endlich
einmal von seinen Klagen über den Tod des geliebten Knaben Mystes abzu-
lassen und lieber die grossen Thaten des Augustus durch ein dichterisches
Werk zu verherrlichen. Aus diesem Gegensatz ergibt sich, dass Valgius
den verstorbenen Mystes in Elegien besungen hatte. Elegien des Valgius
werden auch von Servius (Aen. 11,457) und anderen erwähnt; unter den
drei erhaltenen Fragmenten ist das erste am interessantesten, weil in
demselben der zeitgenössische Dichter «Codrus* ^) mit Helvius Ginna auf
eine Linie gestellt wird. Über die dichterische Kunst des Valgius ge-
stattet uns die Dürftigkeit der Fragmente nicht, ein Urteil zu fallen; von
seinen Zeitgenossen wurde er bewundert; dies zeigte die oben besprochene
Ode des Horaz, dies zeigt auch der Dichter des Panegyricus auf Messala,
denn er erhebt sich zu dem überschwenglichen Lob, keiner komme Homer
so nahe wie Valgius, keiner eigne sich daher so, die Thaten Messallas zu
besingen, als Valgius (v. 179).
Auch Epigramme schrieb er; ein einziger Hendekasyllabus ist uns daraus erhalten,
vgl. FPR. p. 342 nr. 1. Ausserdem zwei Hexameter (1. c. nr. 5), welche man auf ein
bukolisches Gedicht beziehen will (Bebgk, Opusc. 1, 552).
YalgiuB' gelehrte Arbeiten. Auch .als Gelehrter war Valgius schriftstellerisch
thätig. Wir kennen folgende Schriften:
1) Die Übersetzung der Rhetorik Apollodors. Das rhetorische Lehrbuch
ApoUodors war deshalb so wichtig, weU es auf dem Prinzip aufgebaut ist, dass die Sätze
der Rhetorik unumstösslich und ausnahmslos sind. Den gegenteiligen Standpunkt ver-
traten bekanntlich die Theodoreer. Dieses Lehrbuch übersetzte Valgius, und seine Bear-
beitung wurde von Quintilian benutzt z. B. 3, 5, 17, wo er einige Definitionen rhetorischer
Termini aus derselben mitteilt.
2) De rebus per epistulam quaesitis (briefliche Untersuchungen). In
diesem Miscellaneenwerk, von dem Gellius 12,3,1 das zweite Buch citiert, waren, soweit
wir sehen können, grammatische Fragen behandelt (vgl. Charis. p. 143. 108).
3) Heilmittellehre. Das Werk war nicht zur Vollendung gekommen; es war
dem Augustus gewidmet, der in der ebenfalls nicht vollendeten Vorrede um seinen Schutz
gegen alle Leiden der Menschheit angegangen werden sollte. Allein troiz des unfertigen
Zustandes kam es in die Hände des Publikums.
Zeugnisse: Quint. 3, 5«17 (Jausam finU ApoUadorus, tU interpretatione Valgii dis-
cipuH eim tUar, ita, Plin. n. h. 25, 4 post eum (Catonem) unus iüustrium temptavit C, Val-
gius eruditione spectaius imperfecto volumine ad divum Augustum, inchoata etiam prae-
fatione religiosOf ut omnibus malis humanis üHus potutsimum principis semper mederetur
maiestas (vgl. Quellen B. 20—27).
RiTSCHL ist der Ansicht, dass die Bearbeitung der Ars Apollodors ein didaktisches
Gedicht war; er will in den von Quint. 5,3,17 mitgeteilten Definitionen Senare erkennen
(Opusc. 3, 269). Dies ist ganz unwahrscheinlich, da doch wohl der Übersetzer die Form
seines Originals beibehielt. Ebenso unwahrscheinlich ist die Annahme R. Unoers, dass
die „Heilmittellehre" ein didaktisches Gedicht war. Plinius würde dieses Moment kaum
übergangen haben. — Ungeb, De Valgii Rtifi pcfimatis, Halle 1848.
7. Domitius Marsus.
274. Cicnta (Epigrammensammlung). Öfters erwähnt Martial als
seinen Vorgänger neben Catull und Pedo Domitius Marsus z. B. 5, 5, 6. Es
ist daher zu vermuten, dass Domitius Epigramme geschrieben. In der That
') Über diesen Codrus vgl. Vergü Ecl. 5,11 7,21 7,25.
104 BOmiBQhe Litteratnrgeschiohte. IL Die Zeit der Xonaxchie. 1. Abteilimg.
haben wir ein bissiges Epigramm auf die Brüder Bavius und Mevius, die
bekannten Dichterlinge, welche volle Gütergemeinschaft hatten, bis durch
die Frau des einen dieselbe einen unheilbaren Riss erhielt. Diese Verse
citiert nur ein Kommentator zu Yergils Bucolica und gibt zugleich als
Titel des Buchs, dem die Verse entnommen sind, „Cicuta" an. Derselben
Sammlung gehört wohl auch der Hexameter an, in dem der Prügel-
pädagogik des aus Horaz bekannten Orbilius gedacht wird (p. 347 B.),
ferner der, in dem der Grammatiker Caecilius Epirota, der zuerst Vergil
und andere moderne Dichter vorlas, „Amme zärtlicher Dichter** (ieneUorum
nutricula vatum) genannt wird. Endlich werden der Epigrammensammlung
angehört haben die bekannten Verse auf den Tod TibuUs (vgl. § 278).
Philarg3rr. ad Verg. ed. 3, 90 Domitius in Cicuta refert. Berok schlägt Scutica
, Peitsche " ffi* Cicuta vor.
276. Elegisches. Als Martialis dem Liebhaber des Thestylus, dem
belesenen Dichter Voconius Victor seine Epigramme vorlesen wollte, bat
er den geliebten Knaben, die gelehrten Gedichte seines Verehrers etwas
wegzulegen und auch den seinigen sein Ohr zu leihen (Mart. 7,29, 7):
et Maecenati Maro cum cantaret Alexin,
nota tarnen Marsi fusca Melaenis erat.
Dieses Distichon lehrt uns die Geliebte des Domitius Marsus kennen; es
ist die braune Melaenis; es lehrt uns weiterhin, dass Domitius auch dem
Kreis des Maecenas angehörte, endlich dass auch die Melaenis wie Alexis
in Gedichten verherrlicht war. Es werden Elegien gewesen sein. Ihnen
werden wir die kleinen poetischen Erzählungen (fabeUae) anreihen, über
welche nur ein einziges Zeugnis, das des Grammatikers Charisius (p. 72, 4)
vorliegt. Hier wird uns ein halber Hexameter aus dem 9. Buch angeführt.
276. Amazonis (Epos über die Amazonen). In einem Epigramm
(4, 29) beklagt es Martial, dass das Seltene höher geschätzt werde als das
häufig Vorkommende; von den Beispielen, durch die er diesen Satz erhärten
will, ist eines auch aus der Litteratur genommen:
saepius in fibro numeratur Persius uno
quam levis in tota Marsus Amazonide.
Persius mit seinem einzigen Buch gilt mehr als der leichte Marsus mit
seiner ganzen buchreichen Amazonis. Damals waren die Vindelicier mit
den Amazonen in Verbindung gebracht worden, sei es dass der Ursprung
jenes Volkes von den Amazonen abgeleitet wurde (Serv. Aen. 1, 243) oder
sei es dass man ihre Bewaffnung als eine von den Amazonen, von denen sie
aus Thracien vertrieben wurden, angenommene hinstellte (Porph. p. 126 M.).
Auf diese Sagen spielt Horaz in den Oden 4, 4, 19 an und es ist eine
treffende Vermutung von J. M. Gessner, dass Horaz an jener Stelle der
Amazonis des Domitius Marsus einen Hieb versetzen wollte.
NippEBDEY ZU Tac. Ann. 6, 47 bestreitet die Identität des Dichters der Amazonis
mit dem Epigrammendichter Domitius Marsus, er denkt an Vibius Marsus, von dem aber
dichterische Produkte nicht bekannt sind. Bezüglich des „levis^ bemerkt M. Haupt (Opusc.
3,33): arbitror levem poetam et epigramma:tis darum longo et severo carmine epico displi-
cuisse proptereaque levis illud a Martiale additum esse.
De urbanitate (prosaisches Werk). Auffallend ist, dass der Dichter auch in
Prosa schrieb. Freilich war es ein Gegenstand, der mit seinen Epigrammen und FabeUae in
G. MeliBflQB. 105
Verbindung stand; er behandelte nämlicb die Lehre vom schlagenden, pikanten Ausdruck,
den er „urbanitas" nannte. Quintilian zog dieses nach seinem Urteil sorgfältig abgefasste
Werk in seinem Kapitel über das Lächerliche bei; daraua erfahren wir manches sogar im
Wortlaut aus demselben, wie z. B. die Definition der urbanitas, die Charakterisierung der
urbana dicta als heitere, ernste und indifferente, endlich die Einteilung der heiteren in
lobende, schmähende, indifferente.
Quint. 6, 3, 102 Domitius Marsus — de urbatiUate diligentissime scripsit. Seine
Definition der urbanitas lautet: urbanitaa est virtus quaedam in breve dictum coacta et
apta ad delectandos movendosque hamines in omnetn affectum, maxime idonea ad resisten-
dum vel lacessendumj prout quaeque res ac persona desiderat.
Mit Quintilian zeigt Übereinstimmung in bezug auf diese Materie Macrobius im
2. Buch; beide müssen aus derselben Quelle geschöpft haben; diese ist aber wahrschein-
lich Domitius Marsus. Es kann daher auch Macrobius zur Kenntnis des verlorenen Werks
benützt werden „in exordio libri, e quo praeter Quint. 6, 3, 102 sq. etiam Macr. 2, 1, 14
fluxisse tndetur, Marsus de urbanitatis notione atque generibtis exposuisse videtur, quam
disquisitionem excipiebat ipsa iocorum conJeetio, secundum singtdos homines, ni faJlor, dis-
posita; hoc enim probabiU fit conlato MacrobiOf qui vel ordinem in fönte repertum servare
soJet** (WissowA, Hermes 16, 502).
Ob Marsus (Quint. 3, 1, 18), an den der berühmte Rhetor Apollodor einen Brief über
die unter seinem Namen einlaufenden Artes richtete, Domitius Marsus ist, lässt sich nicht
mit Sicherheit sagen. Auch der im Quellenverzeichnis zu B. 34 des Plinius genannte .Marsus
poeta** macht Sdiwierigkeiten (Ublichs, Quellenreg. zu Plin., Würzb. 1878 p. 11).
8. C. Melissus.
277. Die fabula trabeata. Wir haben im ersten Teil (§ 53) ge-
sehen, dass sich aus der Palliata, welche sich im grossen Ganzen als die
Übersetzung eines griechischen Originals darstellte, eine nationale Form ent-
wickelte, welche zwar auf der Grundlage des attischen Intriguenstücks ruhte,
aber der Handlung römisches Gepräge verlieh. Es war dies die Togata, das
nationale Lustspiel der Römer. Wir haben aber auch weiterhin gesehen,
dass dieser volkstümlichen Gattung ein nur verhältnismässig kurzes Leben
vergönnt war, einmal erhielt sie sich nicht rein und mündete wieder in
die griechische Palliata ein, dann traten andere Spielarten auf, die Atellana
und jder Mimus, welche die alten Formen in sich aufnahmen. Da taucht
in der Zeit des Augustus jenes nationale Lustspiel in neuer Gestalt auf.
Während früher die Togata sich gern in den niederen Sphären der Gesell-
schaft bewegte, in den Stuben der Handwerker, in den Höfen der Bauern,
finden wir sie jetzt in die feinern Kreise versetzt; nicht die toga ist jetzt
ihr Symbol, sondern das Ehrenkleid des Ritterstandes, die trabea. Wenn
wir aber ihrer Ursprungsgeschichte nachgehen, so gelangen wir in den
Kreis des Maecenas. Dessen Freigelassener C. Melissus aus Spoletum, der
nach seiner Freilassung das öffentliche Amt eines Bibliothekars verwaltete,
wird als Urheber der traheata bezeichnet. Es ist daher sehr wahrscheinlich,
dass diese Wiedererweckung eines abgestorbenen Gebildes dem Maecenas
verdankt wird und in seinem bekannten Streben, das nationale Leben nach
allen Seiten hin zu kräftigen, seine Wurzel hat. Allein die Unmöglichkeit,
etwas Totes wieder lebendig zu machen, sollte auch hier sich bewahrheiten.
Ausser einer flüchtigen Anspielung Ovids (P. 4, 16, 30) schweigen die Schrift-
steller über das neue Lustspiel. Es scheint keine tiefere Einwirkung hinter-
lassen zuhaben, seine Existenz war eine ephemere; plötzlich aufgeschossen
welkte es ebenso rasch wieder dahin. Ausser diesen Komödien fertigte
Melissus in seinen alten Tagen noch eine Sammlung von drolligen Ge-
106 BOmiBche LitteratargeBchichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
schichten (Ineptiae) in 150 Büchern, welche später den Titel „Joci* er-
hielten. Auch gelehrte Arbeiten scheint er verfasst zu haben.
Suet. de gr. 2\ ut ipee tradit, sexa^esimum aetatia annum agena libeüos ineptiarum,
qui nunc locorum inscribuntur, componere instiiuUj absolpitque C et L, quibus et alios direrH
operis postea addidit . fecit et novum genus togatarum inacripsitque trabeaUcts,
In den Quellenregistem des Plinius wird ein Melissus zu den Büchern 7. 9. 10. 11,
in denen vom Menschen und von den Tieren gehandelt wird, und in dem B. 35 über die
Malerei angeführt. Femer citiert Serv. Aen. 7, 66 Melis8U9f qui de apibus scripsU (Glöckkeb,
Rh. Mus. 33, 159). Auch in Donats Vergilvita begegnet er als Zeuge (vgl. noch p. 16). An
allen diesen Stallen werden wir den Freigelassenen des Maecenas zu statuieren haben.
9. Die Dichter des Messallakreises (Albius Tibullus und andere).
278. Die Messalla'sche Sammlung. Als der Dichter Tibull im
J. 19 V. Ch. starb, konnte Ovid, der ihm ein Trauerlied widmete (Am. 3, 9),
rühmend sagen, dass die Elegienbücher Delia und Nemesis das was an Tibull
sterblich, lange überdauern werde. Die beiden Bücher waren also damals
in der gebildeten römischen Welt bekannt. Geraume Zeit später erhielten
dieselben einen Anhang; es wurden hinzugefügt sechs Gedichte, in denen
sich Lygdamus als Dichter nennt, ein Panegyricus auf Messalla von einem
unreifen unbekannten Poeten, zwei sehr merkwürdige Elegienkränze, von
denen der erste die Liebe der Sulpicia zu Cerinthus zum Gegenstand sehr
zarter Elegien macht, bald den Dichter, bald Sulpicia sprechen lassend, der
zweite, von Sulpicia selbst verfasst, die Blätter enthält, denen sie ihre
Liebe zu Cerinthus anvertraute, Erzeugnisse tiefer, echter Empfindung;
endlich kam noch hinzu eine wundervolle Elegie und ein Doppeldistichon
auf eine nicht genannte Geliebte, zwei Stücke, die wir wiederum Tibull
beilegen müssen. Auch nachdem diese Stücke angeschlossen waren, führte
das Buch den Namen „Tibull" weiter. Und unter seinem Namen ist die
Sammlung auf uns gekommen. Der Glaube an die Autorschaft Tibulls
galt als so selbstverständlich, dass man im Laufe der Zeit ausser dem
Epigramm des Domitius Marsus auf den Tod Tibulls:
te quoque Vergilio comitem non aeqtta, TibuUe,
mors iuvenem campos misit ad Elysios,
ne foretf atU elegis moflea qui fleret amores
aut caneret forti regia heUa pede,
noch eine kurze Biographie Tibulls beischrieb. In dem Archetypos unserer
Handschriften standen bereits sowohl das Epigramm als die Vita. Aber woher
stammen jene oben genannten Zuthaten und wie haben sie sich zusammen-
gefunden? Tibullus ist bekanntlich das ausgezeichnetste Mitglied des Mes-
salla'schen Dichterkreises. In das Haus Messallas führt uns der Panegyricus.
Dahin weisen auch die Lieder der Sulpicia, der Nichte Messallas; ursprüng-
lich nicht zur Herausgabe bestimmt, werden sie von der Familie aufbe-
wahrt worden sein. Der Elegienkranz Tibulls, der an das Liebesverhältnis
der Sulpicia anknüpft, kann natürlich nur da gesucht werden, wo die
Sulpicialieder sich befinden. Es bleiben noch die Lygdamuselegien und
die zwei Gedichte am Schluss der Sammlung, oder, da die Tibullische
Herkunft der letzteren ausser Zweifel sein dürfte, nur die ersteren. Allein
wer wird Lygdamus vom Messallakreise trennen wollen? Wir werden
annehmen dürfen, dass der ganze Anhang zu den zwei Büchern Tibulls
Albiu8 TibnUna. 107
aus dem Messalla'schen Nachlass stammt und es wird gestattet sein, die
ganze Sammlung die MessaUa'sche zu nennen. Wann dieser Schatz ge-
hoben wurde, lässt sich genau nicht ermitteln, jedenfalls längere Zeit nach
dem Tode Messallas (8 n. Ch.). Martial, der in einem Epigramm ein
Tibullexemplar seinem Inhalt nach bestimmt, scheint nur die zwei Bücher
Tibulls ohne den Anhang gekannt zu haben.
Die beiden Priapeia der Tibnllausgaben. Mit Tibull pflegt man noch zwei
Priapeia zu verbinden; das erste, ein Epigramm auf ein kleines Heiligtum, soll in der
Nähe Paduas gefunden worden sein; das zweite, in reinen Jamben abgefasst, behandelt in
eleganter Weise einen schmutzigen Gegenstand. Das letzte fand sich in dem fragm, Cuia-'
cianum, nicht aber das erste. Ob beide Gedichte Tibull zum Verfasser haben, lässt sich
nicht entscheiden.
Die Abfassungszeit des Nemesisbuchs und der Glyceraelegien. Ge-
wöhnlich nimmt man an, dass das zweite Buch erst nach dem Tod Tibulls herauskam;
dass dies nicht richtig und auch das zweite Buch zu Lebzeiten des Dichters ediert wurde,
hat zuerst Dissen behauptet (p. XXII), Ulbich Studio TibuUiana p. 29 scharfsinnig er-
wiesen. £s ist unzweifelhaft, dass Ovid in dem Epicedion nach dem ganzen Zusammen-
hang mit dem Vers (31):
sie Nemesis longum, sie Delia namen habebunt
auf zwei Bücher, in denen die beiden SchOnen gefeiert wurden, hindeuten wollte. Da
Ovid diese Bücher als allgemein bekannte voraussetzt, so müssen sie schon länger im
Publikum kursiert haben, also geraume Zeit vor 19 v. Ch. herausgegeben worden sein. In
den Jahren, die dem Dichter noch zu leben vergönnt waren, wird seine Produktions-
kraft nicht erloschen sein. Bei Horaz (c. 1,83) lesen wir von Elegien Tibulls auf eine
neue Geliebte, die Glycera. Wir werden dieses Liebesverhältnis auf das mit der Ner.osis
folgen lassen. Da die drei ersten Odenbücher 23 v. Ch. herausgegeben wurden, so MÜsste
also das Nemesisbuch vor diesem Jahr erschienen sein und dann die Glyceraelegien ihren
Anfang genommen haben. Es wird dies kurz vor 23 v. Ch. geschehen sein. Man darf
wohl weiter vermuten, dass Tibull die folgenden Jahre an diesen Elegien arbeitete und an
ihrer Herausgabe durch den Tod gehindert wurde. Dass die in der Mossallasammlung
hinzugekommenen zwei Tibulliana ein Überrest dieser Glyceraelegien sind, lässt sich zwar
nicht beweisen, ist aber immerhin sehr wahrscheinlich (Ulbich p. 46). Ob dieser Zeit
auch der Elegienkranz Tibulls für die Sulpicia, der aller Wahrscheinlichkeit nach ursprüng-
lich nicht für die Herausgabe bestimmt war, angehört, ist ganz ungewiss.
Zeit der Entstehung der Messallasammlung. Ein Epigramm Martials (14, 193)
charakterisiert den Inhalt eines zu einem Geschenk bestimmton Exemplars des Tibull durch
folgendes Distichon:
ussit amatorem Nemesis lascica TibuUum,
in tota iurit quem nihil esse domo.
Es leuchtet ein, dass mit dem Hexameter das Nemesisbuch gemeint ist; der Pentameter
wiederholt im wesentlichen einen Vers aus dem Deliabuch (1, 5, 30) und es ist höchst
wahrscheinlich, dass er damit dieses Buch bezeichnen wollte (Ulbich p. 67). Ist diese
Annahme richtig, so bestand zur Zeit Domitians, in der Martial schrieb, der Tibull nur
aus zwei Büchern und entbehrte noch des Anhangs.
Bucheinteilung der Messallasammlung. Im Archetypos unserer Handschriften
wird die Appendix als drittes Buch gezählt. Die Teilung desselben, so dass noch ein
viertes herauskommt, hat keine Gewähr. Es hätte sonach der Herausgeber der Messalla-
sammlung alles, was er gefunden, zu einem Buch verbunden und als drittes den schon
bekannten zwei Tibullischen angereiht. Allein es wäre auch denkbar, dass er alles mit
dem kurzen zweiten Buch vereinigte, und auf eine solche Bucheinteilung scheinen gewisse
Exzerpte zu führen, welche Stellen aus den Lygdamuselogien unter dem zweiten Buch auf-
führen. Doch kann auch ein Irrtum hier vorliegen (Bebt, Das antike Buchwesen p. 426;
Ulbich p. 70).
a) Albius Tibullus.
279. Das Deliabuch. Der hervorragendste Dichter im Kreise Mes-
salas war Albius Tibullus. Über seine Lebensverhältnisse wissen wir nicht
viel mehr als das, was uns seine Lieder bieten. Das Verhältnis zu seinem
Gönner erscheint uns hier als ein durchaus edles und von Kriecherei freies.
108 BOmiBche LitteratnrgeBchiohte. n. Die Zeit der Xonarohie. 1. Abteilung.
Er schloss sich zwar der Begleitung Messallas im aquitanischen Krieg an,
auch nach dem Orient wollte er ihm folgen und nur Krankheit hielt ihn
in Corcyra zurück; allein er machte kein Hehl daraus, dass er an dem
Krieg keine Freude habe. Auch mit Horaz stand TibuU in vertrauten
Beziehungen, in einer Ode (1, 33) tröstet der Venusier den Freund, dem
eine unglückliche Liebe zu Glycera herbes Leid gebracht, in einem Brief
(1, 4) bittet er den auf seinem Landgut bei Pedum lebenden Dichter, der
lange nichts von sich hören Hess, um ein Lebenszeichen; bei dieser Gelegen*
heit erfahren wir, dass auch litterarische Probleme zwischen beiden Dichtern
verhandelt wurden und dass Tibull über die Satiren des Horaz ein Urteil
abgegeben hatte. Die Richtung, die Tibull in der Poesie verfolgt, ist eine
andere als die des Horaz; sein Reich ist die Elegie. Im Jahr 27, wie es
scheint, trat er mit einer kleinen Sammlung vor das Publikum. Kurz zu-
vor hatte er seinem Gönner Messalla ein Geburtstagsgedicht zugeschickt (7)
und da es sich zufällig traf, dass derselbe an seinem Geburtstag die Aqui-
taner schlug, seinen Triumph (Sept. 27) und seine kriegerischen Thaten
gefeiert. Mit diesem Gedicht verband er noch neun andere in früherer Zeit
entstandene zu dem ersten Buch seiner Lieder. Gleich das älteste (10)
mit seinem Thema „Preis dem ländlichen Stilleben, Fluch dem Krieg* ist
für Tibulls Dichtungsart charakteristisch. Um dieselbe Zeit mögen die
Marathuslieder (4, 8, 9) entstanden sein, welche ein Verhältnis zu einem
Knaben behandeln. Es ist eine widerwärtige Geschichte, die uns besonders
da abstösst, wo erzählt wird, dass sich Marathus einem hässlichen und
von Podagra gequälten Alten hingegeben, doch wirkt versöhnend, dass in
dem Knaben noch die Natur siegt und er sich in die Pholoe verliebt. Die
Krone sämtlicher Elegien bilden diejenigen, welche durch den Namen der
geliebten Delia, die mit ihrem wahren Namen Plania hiess, zu einem Kranze
verbunden werden. Obwohl man von dem Dichter keine Biographie ver-
langen kann und der Phantasie hier notwendiger WeiseT ein grosser Spiel-
raum einzuräumen ist, so wird man doch einen Kern in den Schilderungen
des Liebesverhältnisses als thatsächlich erachten. Als diesen Kern wird
man anzusehen haben, dass Delia anfangs frei und ledig ist (1,3), dann
von einem reichen Liebhaber sich umgarnen lässt (5), endlich sich ver-
heiratet (2, 6). Mit diesem Entwicklungsgang haben wir auch die chrono-
logische Folge der fünf Elegien in Einklang zu bringen. Die schönsten
sind die, welche aus der ersten Zeit der Liebe stammen. Als er krank
in Corcyra lag und Todesahnungen seinen Geist umschweben, gedenkt er
der Seelenangst der Geliebten bei der Trennung und malt sich das Glück
aus, das ihn eines Tags plötzlich in die Arme der bei ihrer Arbeit sitzen-
den und auf die Erzählungen der Alten hörenden Delia zurückführt (3).
Nach Rom zurückgekehrt will er nichts mehr vom Feldlager wissen, der
kriegerische Lorbeer ist ihm gleichgültig, ihn verlangt nicht nach Reich-
tum, nur an der Seite seiner Delia findet er in friedlicher ländlicher Be-
schäftigung sein Glück (1). Die folgenden Elegien zeigen nicht mehr diese
Innigkeit. Es trat sogar eine Entfremdung zwischen den Liebenden ein.
Durch eine Kupplerin hatte ein Reicher Zugang zur Delia gefunden; der
Dichter hatte sich losgesagt, allein er ist nicht fähig, die Trennung zu
AlbinB Tibnllna. 109
ertragen; er erinnert Delia daran, wie er einst um die Kranke besorgt war,
wie er sich das Leben mit ihr ausgemalt, er schleudert Flüche auf die
elende Kupplerin (5). Von den zwei Gedichten, welche Delia als verheiratete
Frau voraussetzen, spiegelt uns das eine (2) die Situation vor, wie der
Einlass begehrende Dichter zurückgewiesen wird, das andere (6), ein kaltes
und nur zuletzt einen warmen Ton anschlagendes Produkt, schildert das
treulose Wesen der Delia ihrem Qatten und bietet sich ironisch auf Grund
seiner mit ihr gemachten Erfahrungen als Wächter an — natürlich um
sie selbst zu gemessen.
Die Vita Tibulls. Ein Kern scheint antik zu sein; denn die Vita enthält Nach-
richten, die nicht etwa aus Tibull oder Horaz erschlossen werden kOnnen. So wissen wir
aus der Vita allein, dass Tibull dem Ritterstand angehörte, dann dass er im aquitanischen
Krieg militärische Ehrengaben erhalten. Diese Nachrichten als unglaubwürdige mit Schultz
p. 7 zu verwerfen, sind wir durch nichts berechtigt.
Die Delialieder. Dass der eigentliche Name der Delia Plania sei, beruht auf
Appul. apol. 10 (iceuaent . . . THyuUum quod ei sit Plania in animo, Delia in verRU. Es
gibt iedoch keine gens Plania (vgl. Leo, Philol. Untersuch, von Kiessling und Wilamowitz
2, 22). Unsere Darstellung sucht die Mitte zu gewinnen zwischen denen, welche überall
in den Gedichten Realität suchen und denen, welchen fast alles ein Phantasieprodukt des
Dichters ist. Der letzten Ansicht gibt den weitgehendsten Ausdruck Leo (p. ^3): „Delia,
in poetischer Hinsicht ein (Geschöpf des Dichters, aus einer Wirklichkeit hervorgegangen,
die wir nicht mehr erfassen können, die zu erfassen der Dichter in seinen Liedern uns
keinen Anhalt geben wollte. Die äusserlichen Züge, die das Mädchen in einem Gedicht
erhält, sind im nächsten vergessen; die Elegien besingen ein Liebesverhältnis, aber sie
geben keine Geschichte eines solchen. '^ Gewiss dürfen nicht alle von dem Dichter ge- «
brachten Einzelheiten mosaikartig zu einer Biographie zusammengesetzt werden, allein der
dreifache Hintergrund, welchen Tibull seinen Gedichten gibt, wird auch in der Realität
seine Wurzel haben. Die Ansicht derjenigen, welche Delias Verheiratetsein in allen Liedern,
nicht bloss im 2. und 6., annehmen, wie 0. Richteb, Rh. Mus. 25,518; Bahbens, Tib. Bl.
p. 16, hält nicht vor dem klaren Wortlaut der Gedichte stand (Ribbeck, Rh. Mus. 32, 445).
In der Anordnimg der Deliaelegien wird man den oben angegebenen Entwicklungsgang
zu Grunde legen und die zwei die verheiratete Delia voraussetzenden Gedichte an den
Schluss rücken (anders Götz, Rh. Mus. 33, 145). Die 3. Elegie ist wahrscheinlich nach der
Schlacht bei Actium, als Messalla in den Orient zog, geschrieben (30 v. Gh.). Vgl. Schultz,
Quaest. in TUnUli librum I chronol, p. 29. Strittig ist, ob die dritte Elegie der ersten
vorausgeht oder nachfolgt; für die erste Anschauung vgl. Ulbich, Stud. Tib, p. 15, der
die ganze Frage einer umsichtigen Revision unterzogen. — Lachmann, Kl. Sehr. 2, 151.
DiETEBiCH, De Tibulli amoribtutf Marb. 1844.
Die Marathuselegien. Zwei Probleme knüpfen sich an diese Elegien (4. 8. 9),
das eine ist, in welcher Ordnung sie aufeinander folgen, das andere, wann sie anzusetzen
sind, beide nur durch subjektive Erwägungen lösbar. Die Reihenfolge (4. 9. 8), wie sie
Gbuppe, wenngleich nicht mit durchweg richtiger Auffassung, angenommen, ist die natür-
lichste; die überlieferte Reihenfolge will als die chronologische festgehalten wissen Scheide-
MAmrEL in den Commeni Ribbeck. p. 378. Die Abfassung der Marathuslieder vor den Delia-
liedem statuierten Passow, Verm. Schrift, p. 148; Tbuffbl, Studien p. 355; Scheidemantel
p. 375; Ulbich, Stud, Tib. p. 24; andere wie Dibsen p. XX; BIhbens, Tib. Bl. p. 23 nach
denselben, Ribbeck zwischen denselben (Rom. Dicht. 2, 192). Die erste Ansicht ist die
wahrscheinlichste.
Die Chronologie der Übrigen Gedichte bietet keine Schwierigkeiten; das
7. Gedicht ist bald nach dem Triumph vetfasst, also 27 (Schultz, Quaeat. p. 12). Da in
dem 10. Delia nicht erwähnt ist, so wird es aus der Zeit stammen, in der der Dichter mit
ihr noch nicht bekannt war, also aus der Zeit vor den Deliaelegien (Passow, Opusc. p. 297).
Herausgabe des Deliabuchs. Über das Jahr 27 v. Gh. hinaus können wir keine
Elegie verfolgen; die Herausgabe wird also wohl in diesem Jahr erfolgt sein. Nun hat
man sich aber an Ovids Worte (T. 2,463) erinnert:
nee fuU hoc Uli fraudi, legiturque TibuUas
et placet, et iam te principe notus erat,
Princeps sencUus wurde Augustus im J. 28 v. Gh. Manche haben daher angenommen, dass
einzelne Gedichte, z. B. 6. 5, bereits früher bekannt wurden (Bahbens, Tibull. Blätter p. 20 ;
Schultz, Quaest. p. 38). Ulbich, Stud. Tib. p. 21 will prinoepa xar i^oxfjy gefasst wissen
110 ttOmische LitteratorgeBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
und auf die Verleihung des Titels Augustus (Jan. 27 v. Ch.) beziehen. Allein mit te
principe ist nicht gesagt, dass schon 28 v. Ch. Tibull'sche Gedichte (d. h. das Deliabuch)
erschienen waren.
280. Das Nemesisbuch. Das zweite Buch schildert uns eine neue
Liebe des Dichters, die zur Nemesis. Allein dieses Verhältnis berührt uns
viel weniger sympathisch, da es keine Lichtblicke darbietet und in Ein-
tönigkeit verläuft. Es ist ein habsüchtiges Mädchen, dessen Gunst TibuU
mit seinen Liedern erringen will. Qleich im ersten Gedicht, in dem sie
erwähnt wird (3), hat sie ein reicher Mensch niederer Herkunft mit aufs
Land genommen; der Dichter ist untröstlich und verwünscht ihn und sein
Gut. Allein trotzdem vermag er sich nicht von dem Joch der Leidenschaft
frei zu machen, er beklagt, dass ihm seine Gedichte nichts helfen und dass
nur das Geld den Zugang zu der Schönen erschliessen kann (4). Aber ohne
sie will nun einmal kein Vers gelingen (5, 111). Zuletzt ist der Unglück-
liche entschlossen, wie er an den in das Feldlager gezogenen Macer
schreibt (6), sogar den Eriegerrock anzuziehen, freilich zaubert ihm, wäh-
rend er so droht, die Hoffnung, die Trösterin aller, doch noch den Besitz
der geliebten Nemesis vor; er beschwört sie bei dem Schatten ihrer früh-
zeitig ums Leben gekommenen Schwester, sich seiner zu erbarmen, er
sucht sich einzureden, dass die Lena an allem schuld sei. Damit schliesst
diese Liebesgeschichte, wie es scheint, unglücklich für den Dichter, denn
von einer Erhörung vernehmen wir nichts. Mit den Nemesisliedern ver-
band Tibull noch drei andere, eine liebliche Schilderung des Ambarvalien-
festes (1), ein schlichtes, treuherziges Geburtstagsgedicht für Gomutus (2)
und ein „Fest- und Ehrengedicht in Form eines Gebets, aber aus elegischer
Stimmung für den neuen Quindecimvir Messallinus, den Sohn Messallas (5).
Da Ovid in dem Gedichte auf Tibulls Tod (Am. 3, 9, 58) die Nemesis an des Dichters
Sterbebett sitzen lässt, so hat man angenommen, dass diese Liebe seine letzte war und er
sozusagen in ihr gestorben, dass demnach die vorhandenen NemesisHeder nur ein Fragment
dieser Liebe darstellen, und dass es daher wahrscheinhch sei, dass das zweite Buch erst
nach Tibulls Tod an die öffentUchkeit trat. Allein dass die Scenerie in jenem Gedicht fingiert
ist und darauf keine Schlüsse gebaut werden dürfen, hat Ulbich, Studia TibulL, Berl. 1889
p. 85 dargelegt (vgl. oben p. 107 über die PubUkation des Buchs). In einer andern Ab-
handlung (De libri II Tibull, statu integro et campoaitionef Fleckeis. Jahrb. Supplementb.
p. 382) sucht derselbe Gelehrte durch ausführliche Analyse zu beweisen, dass die Elegien
des 2. Buchs nicht, wie man vielfach angenommen, Spuren der mangelnden FeUe zeigen.
281. Charakteristik Tibulls. Tibull hat die Elegie von dem Druck
der Gelehrsamkeit befreit, er hat gezeigt, dass auch ohne mythologische
Anspielungen und Ausführungen die elegische Dichtung den Leser fesseln
könne. Er verliess daher die Pfade der Alexandriner und bewegte sich
mehr in dem Geleise der ionischen Elegie, ohne jedoch zu einem blossen
Nachahmer zu werden. Sein Lied will nichts sein als ein Stimmungsbild,
er will das, was des Dichters Inneres rührt, in einfacher Weise verkünden.
Die Welt, in der Tibulls Gedanken wurzeln, ist allerdings eine kleine, sie
hält sich fern von den vielfaltigen Interessen der Gegenwart und ergibt
sich der Träumerei. Sein Herz sehnt sich nach dem Glück der Liebe, aber
er kann ihrer nur froh werden im friedlichen Stilleben auf dem Lande.
Die Schilderungen dieses doppelten Glückes machen den Reiz seiner Dich-
tung aus. Mit vollem Behagen hören wir ihm zu, wenn er uns das Glück-
selige der ländlichen Arbeiten ausmalt, die fromme Verehrung der Götter,
AlbioB TibnUns. Hl
die wohlthuende Ruhe auf dem warmen Lager, wenn draussen das Wetter
tobt, das Schalten und Walten der Delia, wie sie das heimkehrende Vieh
zählt, den Buben des Haussklaven herzt, den zum Besuch gekommenen
Gönner in umsichtiger Weise bewirtet, endlich die Krone von allem, den
Jubel und die Wonne des ländlichen Festes. Hie und da erinnert er sich,
dass seine Träumereien durch eine tiefe Kluft von der Gegenwart getrennt
sind, er verflucht den Krieg und die mit ihm innig verbundene Habsucht,
lässt sich aber sofort von den Flügeln der Phantasie in jene goldenen
Zeiten tragen, welche nicht Krieg, nicht Schiff, nicht Grenzstein, nicht
Pflug kannten. Doch sein grösster Schmerz ist, dass die elende Habgier
auch das Reich der Liebe schändet, dass die Geliebte nicht mehr des Liedes
«
achtet, das sie der Unsterblichkeit übergibt, sondern die hohle Hand nach
dem Gelde ausstreckt. Diese Habsucht zwingt dem Dichter schrille Weisen
ab. Doch erklingen immer wieder echte Herzenstöne hindurch, und wenn
er singt (4, 1 3) :
tu mihi curarum requies, tu nocte vel atra
lumen, et in aclis tu mihi turba locis,
SO muss er dasselbe empfunden haben, wie unser Dichter, der allerdings
noch stärkere Akkorde anschlägt:
Du meine Welt, in der ich lebe,
Mein Himmel du, darein ich schwebe,
0 du mein Grab, in dcu hin<ib
Ich ewig meinen Kummer gab,
Du bist die Ruh, du bist der Frieden,
Du bist der Himmel, mir beschieden.
Die Idee der TibuUischen Elegie, Stimmungsbild zu sein, bestimmt auch
ihre Komposition. Nicht auf einem straff gezogenen logischen Fundament
erhebt sie sich, sie geht aus von der den Dichter eben ergreifenden Grund-
stimmung, von dieser aus wogen die Gedanken auf und ab, öfters verweilt
er länger bei einem von seiner Phantasie erfassten Bilde, es scheint, als
wäre er von seinem Thema abgekommen, nachdem aber das Motiv aus-
geklungen, findet er den Weg zurück zu der ersten Erregung seines Ge-
fühls. Mögen noch so viele Nebentöne die Elegie durchziehen, sie werden
doch durch einen Grundton beherrscht. Allein dieses Sichergehen in Träu-
mereien und Phantasien verleiht seiner Poesie einen reflektierenden Cha-
rakter; es fliessen in ihr Wahrheit und Dichtung zusammen. Von der
tiefen Leidenschaftlichkeit und Innerlichkeit Catulls verspüren wir nichts
in seinen Liedern. Wie er singt, so scheint in der That das friedliche
Stillleben sein Glück ausgemacht zu haben. Dem heissen Streben nach
Nachruhm hat er niemals Worte geliehen und das stolze Bewusstsein,
dass er in seinen Werken fortleben werde, scheint seine Brust nicht ge-
schwellt zu haben, aber ein anderer hat erkannt, dass diesen Dichter der
Liebe die Welt nicht vergessen wird, und ihm zugerufen (Ovid. Am. 1, 15,27):
d(mec erunt ignes arcusque Cupidinis arma,
discentur numeri, culte Tibulle, tui.
Die wenigen Sporen mythologischer Gelehrsamkeit bei TibuU erörtern Maas, Hermes
18,321 (2,5 2,1,55), 1. c. 24, 526 (4, 3) ; Robbet I.e. 22,454 (2,5).
Die Interpretation Tibulls. Das richtige Verständnis der TibuUischen Poesie
wollte sich lange Zeit nicht erschliessen. Schwer lastete auf demselben das Vorgehen
ScALioEBS mit seinen willkürlichen Umstellungen von Versen. Dissens Versuch, die
112 RömiBche Litteratnrgescliichte. U. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
Elegien in ihrem Zusammenhang nach der gegebenen Überlieferung zu interpretieren, konnte
bei seinem schematischen und in verwässernder Ästhetik sich drehenden Verfahren nicht
die richtigen Wege weisen. Ein neues Verhängnis für Tibull war es, dass zwei grosse
Philologen, Haase und Ritschl, fOr das ScALiGEB'sche Prinzip, freilich mit Vermeidung
der haltlosen Willkürlichkeiten, eintraten, der erste in seiner Analyse von 1, 1 (dispuiatio
de trihus Tihulli locis transpositione emendandi«, Berl. 1855), der andere in seiner Abhand-
lung über 1, 4 (Berichte der sächs. Gesellsch. 1866 p. 56 = Opusc. 3, 616). Ihre Behand-
lungsweise, für die Ritschl als massgebenden Grundsatz hinstellte, dass man vor allem
, logisch ** verstehen müsste, erweckte eine Schar von Nachahmern. Die von dem Meister
analysierte vierte Elegie wurde noch mit einem halben Dutzend von Umstellungsversuchen
bedacht (Hübneb, Hermes 14, 308). Aber noch in anderer Weise war das Beispiel des
grossen Gelehrten kein Segen für unseren Dichter. Seine Umstellungen hatten ihm zu-
gleich ,eine gar nicht gesuchte symmetrische Proportion im ganzen und grossen*^ als
Nebengewinn abgeworfen. Und noch früher hatte er in der berühmten Abhandlung über
Aoschylus' Sieben den Parallelismus der 7 Redenpaare aufgedeckt. Damit war auch für
Tibull die Arena für das Aufspüren der Symmetrie und Strophenbildung aufgethan.
Zahlreiche Bewerber stellten sich ziun Wettkampfe ein (eine Übersicht derselben findet
sich bei Fbitzsche, QuaesL Tib. p. 2, Halle 1875, wozu noch Riemauk, Koburg. Progr. 1878
gefügt werden kann). Es war Zeit, umzukehren. Zwar hatte lang zuvor Laohmakn in
seiner Rezension des DissEN'schen Tibull (Kl. Sehr. 2, 155) treffliche Winke für die richtige
Auffassung der Tibull'schen Dichtungsweise gegeben; allein sie hatten bei seiner knappen
Art nicht die nötige Wirkung erzielt. Auch Haupts Auftreten gegen die Umstellungen
blieb wirkungslos, da er seine Abhandlung dem Publikum vorenthielt (jetzt Opusc. 3, 30).
Endlich ward von einem Meister der Interpretation, Vahlen (Über drei Elegien des T.,
Monatsber. der Berl. Akad. d. J. 1878 p. 343), die Eigenart der TibuUischen Elegie dar-
gelegt und damit der Weg zu ihrem Verständnis erschlossen. Es sind treffliche Worte,
in denen er seine Anschauung formulierte: ,Der Poesie des Tibullus, in dessen Elegien
sich hin und wieder gleichzeilige Versgruppen ohne Schwierigkeiten absondern lassen, ist
alexandrinische Symmetrie fremd, sie bewegt sich wie ein sanfter Wellenschlag, dessen
Auf und Ab man noch empfindet, auch wenn einmal eine Welle weiter ausgreift* (p. 352).
Die Methode Vahlens liegt den Analysen Leos von 2,5 1,4 1,3 1,1 1,2 1,5 1,6 (Philol.
Unters, von Kiessling und Wilamowitz 2 p. 1 und Ulbichs Analysen der Elegien des
2. Buchs .(die 5. ausgenommen) zu Grund. (Sämtliche Gedichte [ausgenommen 2, 2] bespricht
Kaesten, Mnemos. 15,211 305 16,39.)
Überlieferung: Von den vollständigen Handschriften kommen in Betracht die
aus einer Quelle stammenden, Ambrosianus R. 26 (s. XTV), die beste vollständige Tibull-
handschrift, und der Vaticanus 3270 (s. XV); eine ältere Quelle repräsentiert das fragm.
Cuiacianum, das ungefähr mit 3, 4, 65 anfing ; dasselbe, jetzt verloren, kennen wir nur aus
einer Kollation Scalioebs, die er in eine 1569 bei Plantin erschienene, nunmehr in Leyden
befindliche Ausgabe eingetragen. — Die zweite Textesquelle liegt uns in den Exzerpten-
handschriften vor. Es sind dies die Excerpta Parisina, ein (moralische Tendenz ver-
folgendos) Florilegium, die wir durch zwei Pariser Handschriften (7647 und 17903 s. XIII)
kennen, und die wertvolleren Excerpta Frisingensia einer Münchner Handschrift 6292 (s. XI).
— Über die Tibullhandschriften handeln Rothstein, Berl. 1880, Leonhabd, Freiburg 1882,
über den Ambrosianus Illmann, Berl. 1886. Ein ausführliches Referat über die Hand-
schriftenfrage liefert Magnus, Burs. Jahresb. 51. Bd. p. 311.
Ausgaben: Erste kritische von Lachxann, Berl. 1829; von Dissen mit lat. Kom-
mentar, GöUing. 1835; von Bühbens, Leipz. 1878; von Hilleb, Leipz. 1885 (gute Handaus-
gabe). Teubner*sche Textausgabe von L. Mülleb.
ß) Lygdamus.
283. Das Neaerabuch. Ein ganz anderer Dichter als Tibull tritt
uns in den 6 ersten Elegien des dritten Buchs entgegen. 0 Er nennt sich
Lygdamus, wahrscheinlich ein Pseudonym. Auch er ist ein Dichter der
Liebe, aber die warmen Töne TibuUs erklingen in seinen Liedern nicht.
Hier spielt sich kein Liebesroman ab, dessen Schwankungen wir mit Teil-
nahme folgen, es ist eine viel prosaischere Geschichte. Lygdamus wurde
durch fremdes Eingreifen von Neaera getrennt und will sie sich wieder
^) Zuerst hat dies J. H. Voss erkannt.
LygdamnB. 113
zurückersingen. £r sendet ihr daher ein Exemplar seiner Lieder in zier-
lichem Einband und deutet am Schluss seines Widmungsgedichtes leise an,
wonach seines Herzens Sehnen geht. Welche Gedichte dieses Dedikations-
exemplar enthielt, wissen wir nicht. Die uns überlieferten sind trotz
mannigfacher Einkleidung arm an wirksamen Motiven. Zwei sprechen
die Gedanken aus: „Ohne dich kann ich nicht leben", ,,Der Reichtum ist
ohne dich für mich wertlos". In einem dritten beschreitet er einen künst-
licheren Weg, um seiner Neaera seine Gefühle zu übermitteln. Phöbus
erscheint im Traum und mahnt ihn, in seiner Liebe auszuharren, es werde
alles noch zu gutem Ende kommen. Von einer Erhörung des flehenden
Dichters aber vernehmen wir nichts; ja der ganze Liedercyklus endet mit
einer schrillen Dissonanz. Als Lygdamus beim Mahle sass und ihm der
Sinn zwischen Bacchus und Amor, zwischen der Freude des Bechers und
dem Kummer seines Herzens hin und her schwebte, raffte er sich, da
Neaera nicht kam und das Lager eines Fremden aufsuchte, zu dem Ent-
schluss auf: „So gehe sie ihrer Wege, dafür den Becher her". Es ist
unbegreiflich, wie man hinter diesem trocknen Dichter TibuU suchen konnte.
TibuU verbindet in sinniger Weise die Liebe mit dem stillen Glück des
ländlichen Lebens, seine Dichtung hat einen idyllischen Zug — von dieser
Eigenschaft findet sich bei Lygdamus keine Spur, selbst wenn er Gelegen-
heit hätte, wie in der dritten Elegie, seine Gedanken idyllisch ausklingen
zu lassen, er thut es nicht. Die Komposition Tibulls gefallt sich in dem
auf- und abwogenden Spiel der Empfindungen, Lygdamus ergeht sich da-
für in langatmigen Beschreibungen und Schilderungen. Bei TibuU eine
zarte Gefühlswelt, bei Lygdamus dagegen nüchterner Sinn. Auch in Sprache
und Metrik haben Kenner Differenzen wahrgenommen. Kein Zweifel, der
Verfasser der Neaeraelegien ist ein anderer als der Sänger der Delia und
der Nemesis. Er ist auch nicht Ovid, zwar bietet die fünfte Elegie, welche
ausserhalb des Cyklus steht, eine ganz merkwürdige Ähnlichkeit mit Ovidi-
schen Dichtungen, ja sie wiederholt sogar den bekannten Vers, durch den
Ovid sein Geburtsjahr umschreibt, allein dass bei Ovid das Original, bei
Lygdamus die verunglückte Kopie vorliegt, kann kein Einsichtiger leugnen.
Wahrscheinlich ist das Gedicht, in dem der kranke Dichter an seine Freunde
schreibt, erst in seinen reiferen Jahren verfasst worden. Eines steht fest,
Lygdamus musste dem Kreis des Messalla angehört haben, sonst könnten
wir nicht erklären, wie seine Gedichte in die Messalla'sche Sammlung
kamen.
Lygdamus und Neaera. Was wir über Lygdamus und Neaera wissen, stammt
aus dem Liederbuch. Bass hier im wesentlichen Reelles vorauszusetzen und nicht alles
Fiktion ist (Bolle, De Lygdami carminibus, Detmold 1872 p. 4), scheint festzustehen.
Lygdamus wird Pseudonym sein, allein welche Persönlichkeit dahintersteckt, ist nicht zn
ermitteln. Bezüglich des Verhältnisses, in dem Neaera zu Lygdamus stand, herrschen ver-
schiedene Ansichten ; Voss hielt sie fttr die ehemalige Creliebte, Laohmann für die ehemalige
Gattin. Die Entscheidung ist schwierig, weil die Ausdrücke vir, coniunx, nupta in ganz
freier Weise gebraucht werden; allein alles erwogen, spricht die Wahrscheinlichkeit mehr
für Lachmann.
Lygdamus und Ovid. In der 5. Elegie gibt Lygdamus sein Geburtsjahr genau mit
demselben Pentameter an, mit dem Ovid T. 4, 10, 6 dasselbe bestimmt hatte; er wäre sonach
gleichaltrig mit Ovid. Aber auch der vorausgegangene Pentameter ist fast ganz aus Ovid
(Ars 2, 6, 70), und das nachfolgende Distichon ist im wesentlichen ebendaher (Am. 2, 14, 23)
HADdbnch der klam. AltertomswiflseDflchaft. TIIL 2. Teil. 9
114 ROmiBche Litteratnrgeaohichte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
entnommen. Diese merkwürdige Übereinstimmung weist mit Nachdruck auf die Frage
nach dem Verhältnis der beiden Dichter hin. Betrachtet man die Stellen bei Ovid, so
stehen sie dort im natOrlichen Zusammenhang und ganz an ihrem Platz. Die Angabe des
Lebensalters ist in einem Schlussgedicht passend, in dem sich der Dichter dem Publikum
vorstellt und daher über seine persönlichen Verhältnisse berichten muss; bei Lygdamus ist
dagegen diese Geburteanzeige ohne allen Zweck und noch dazu mangelhaft ausgedrückt.
In dem Distichon ist in höchst sonderbarer Weise das, was Ovid von der Abtreibung der
Leibesfrucht gesagt, auf die Jugend des Lygdamus bezogen, in jeder Hinsicht auffallend.
Es steht sonach fest, dass bei Ovid das Original, bei Lygdamus die Kopie zu suchen ist,
und dass demgemäss jene Stelle nach dem 4. Buch der Tristien, also nach 11 n. Gh. ge-
schrieben ist. Man wird es aber für natürlich erachten, nicht bloss diese Stelle, sondern
die ganze Elegie in jene Zeit zu verlegen; diese Annahme wurde verworfen, weil damals
Lygdamus mindestens 54 Jahre alt war, also nicht sich mit .crescentes uvae und modo
nata poma*, wie es in jenem Distichon geschehen, vergleichen konnte (Hilleb, Hermes
18, 358). Allein auch in dem Fall, dass jene ovidischen Nachahmungen erst nach 11 n. Ch.
von dem Verfasser zu seinem Jugendgedicht hinzugefügt worden, ist die Schwierigkeit
nicht beseitigt; auch auf einen jungen Menschen passt der Vergleich nicht recht; fügte
Lygdamus als reifer Mann jene Stelle hinzu, so musste er des Widerspruchs ja enük recht
inne werden. Wenn man irgendwo, so wird man hier zu der Ansicht greifen dürfen, dass
der Schriftsteller einen Scherz beabsichtigte. Den Freunden, bei denen er wohl die Kennt-
nis der Ovidstellen voraussetzen konnte, musste die Verwendung des Distichon in einem
ganz andern Sinn als es bei Ovid gebraucht war, schon komisch genug erscheinen, um
wie viel mehr wenn es ein 54jähriger Mann von sich sagte. Dass das Gedicht einer
anderen Zeit angehört als die übrigen Stücke des Buchs, scheint auch daraus hervorzugehen,
dass der Neaera hier gar nicht gedacht wird (Bahrkns, Tib. Blätter p. 40). — Man ist
noch weiter gegangen und wollte das ganze dritte Buch Ovid beilegen, z. B. Gruppe
(Die röm. Elegie p. 133) und späterhin Kleemaitk (De libri tertii carminibus quae T, nomine
circumferuntur, Strassb. 1876). Es sollen Jugendgedichte desselben sein. In diesem Fall
wäre das, was wir im 5. Gedicht als Kopie erkannten. Original, das was uns Original war,
dagegen Kopie. Es ist dies eine Unmöglichkeit. Aber auch die ganze Art und Weise des
Lygdamus ist von der des Ovid himmelweit verschieden; aus dem Lygdamus hätte niemals
ein Ovid werden können. Ovid ist also so wenig der Verfasser des dritten Buchs als es
Tibull sein kann, obwohl auch diese Absurdität neuerdings wieder vorgebracht wurde (da-
gegen Kleemanv p. 17 f.).
y) Der Panegyrist.
283. Der Panegyricus auf Messalla. Der Verfasser dieser Lob-
schrift, welche nicht vor 31 v. Ch. fallen kann (122), ist ein Mann, der
früher in glänzenden Verhältnissen lebte, jetzt aber arm ist. Es ist also
wohl zu vermuten, dass er durch sein Gedicht die Gunst Messallas erringen
und dadurch seine äussere Lage verbessern wollte. Offen bekennt er, dass
die Aufgabe, die er sich gestellt, seine Kräfte übersteige, und weist auf
Valgius hin, der viel geeigneter sei, Messallas Preis zu verkünden. Sein
Geständnis ist leider nur zu sehr begründet. Der Panegyricus ist ein
äusserst schwaches Produkt. Der unbekannte Dichter arbeitet nach einer
Schablone.*) Nachdem er regelrecht mit einer Captatio benevolentiae be-
gonnen, schreitet er zu pedantischen Gliederungen; er sucht den Ruhm
seines Helden in zwei Gebieten, in der Redekunst und im Kriegswesen,
dort wiederum zwischen politischer und gerichtlicher Beredsamkeit, hier
zwischen Lagerdienst und Gefecht scheidend. Damit schliesst der erste
Teil, der zweite schildert, welche ruhmvolle Thaten des Helden noch die
Zukunft bringen werde. Den Schluss des Ganzen bildet die Versicherung
tiefster Ergebenheit gegen Messalla. Um den Stoff etwas zu beleben und
einige Lichter aufzustecken, macht er Digressionen, aber in sehr unglück-
^) Vgl. Cbvsius, Verhandl. der Züricher Philologenvers. p. 265.
Der Panegyrist. Die Dichterin Snlpioia. 115
licher Weise. So nimmt er, indem er Messalla als Redner mit Nestor und
Ulixes vergleicht, das zum Anlass, des letzteren Irrfahrten anzuhängen;
der Gedanke, dass kein Teil der Welt Messallas Tapferkeit widerstehen
werde, verleitet ihn zu einer Beschreibung der fünf Zonen. Selbst wenn
die Darstellung eine gehobene wird, wie da, wo er die Spannung und
die Ruhe der ganzen Welt ausmalt, so geht doch die Wirkung verloren
durch die ungeeignete Beziehung, welche jene Schilderung erhält. Von
Tibull kann der Panegyricus nicht verfasst sein ; zwischen dem Panegyristen
und ihm bestehen weitgehende Differenzen; der Lobredner ist von seiner
Nichtigkeit durchdrungen, er ist ein niederträchtiger Schmeichler, er ist
ein Bettler, alle diese Eigenschaften fehlen Tibull. Aber auch als Dichter
können wir sie nicht miteinander vergleichen. Geschmacklosigkeiten, wie
sie sich im Panegyricus finden, wird man im ganzen Tibull vergeblich
suchen.
Verfasser des Panegyricus. Vor allem ist die Ansiebt derjenigen zurückzu-
weisen, welche den Panegyricus als eine rhetorische Obung angesehen wissen wollen, denn
in diesem Fall würde sich die Aufnahme desselben in unsre Sammlung nicht erklären
lassen. Auch erinnert derselbe nur zu stark an reale Verhältnisse (vgl. 181 f.). Das Ge-
dicht wurde sicherlich Messalla übergeben. Weiterhin steht fest, dass es nicht vor 31 v. Ch.
abgefasst wurde, in welchem Jahre Messalla mit Octavian Konsul war. Es kann aber auch
nicht viel snäter geschrieben sein, da es die späteren Kriegsthaten Messallas nicht erwähnt,
z. B. nicht den Triumph Messallas im J. 27. Da in diesem Jahr Tibull die 7. Elegie des
ersten Buchs schrieb, so kennen wir die Entwicklung des Dichters in einer Epoche, welche
der Zeit der Abfassung des Panegyricus sehr nahe liegt und zwar in einer verwandten
Materie. Der innere Abstand, der beide Produkte voneinander trennt, ist so gross, dass
die Annahme ganz unmöglich ist, es hätte sich aus dem Panegyristen der Dichter der
7. Elegie entwickelt.
Litteratur: Schon sehr früh hat man erkannt, dass der Panegyrist mit Tibull
nicht identisch sein kann. Dieser Anschauung suchte Gbuppe in ausftlhrlicherer Darlegung
entgegenzutreten (Die römische Elegie 1, 147), allein ohne Erfolg. Auch der Rettungs-
versuch Hakkels (De Panegyrico in MesaaUam, Leipz. 1874), gegen den sich Härtung
(De Panegyrico ad MesseUlam, Halle 1880) wendet, ist missglückt (Ehrengruber, De car-
mine Panegyrico Messalae I Linz 1889, U 1890).
(f) Die Dichterin Sulpicia.
284. Die Elegienkränze des Tibull und der Sulpicia. Auf den
Panegyricus folgen in den TibuUhandschriften elf sehr anmutige Gedichte,
welchen die Liebe der Sulpicia zu Cerinthus zu Grunde liegt. Man be-
trachtete diese Stücke als ein zusammenhängendes Ganze und als ihren
Verfasser Tibull. Man bewunderte die Schönheiten in den einzelnen
Elegien, allein über Idee und Komposition des Gyklus konnte man keine
klare Vorstellung gewinnen. Da zerriss den Schleier eine glückliche Ent-
deckung Grüppes.^) Der erkannte, dass wir nicht einen, sondern zwei
auch räumlich geschiedene Elegienkränze vor uns haben, dass jeder von
einem anderen Dichter herrührt, dass in beiden zwar derselbe Liebesroman
der Sulpicia und des Cerinthus erscheint, allein mit dem Unterschiede,
dass er einmal als erlebter, einmal als nachempfundener zur Darstellung
kommt. Mit dieser Erkenntnis war erst das volle Verständnis dieser
reizenden Gebilde gegeben. In dem zweiten, mit 4, 7 beginnenden Cyklus
schildert Sulpicia ihre eigene Liebe. Sie, eine vornehme Römerin, vermut-
') Vgl. die röm. Elegie 1, 27 f.
116 BOmische LitteratnrgeBchichte. II. Die Zeit der Monarohie. 1. Abteilung.
lieh die Nichte des Messalla, liebte wider den Willen ihrer Mutter Cerin-
thus, der allem Anschein nach ein Grieche war. Sie preist sich glücklich,
dass die cytherische Göttin ihr heisses Flehen erhört und ihn in ihre Arme
geführt, sie beklagt, dass sie den Geburtstag des Geliebten fern von ihm
auf dem Lande bei Messalla zubringen soll und frohlockt, als sie ihm mit-
teilen kann, dass sie in der Stadt bleiben darf; nur als ihr Kunde von der
Untreue des Gerinthus ward, regt sich in ihr der Römerstolz, dass sie, die
Tochter des Servius, einer Dirne nachstehen soll. Auch aus dem folgenden
wunderschönen Billet, in dem sie, die Kranke, fragt, ob ihr Schicksal
Gerinthus rühre, dringt noch ein gedämpfter Ton. Allein alle diese Wolken
müssen sich verzogen haben, als sie das Geständnis machte, dass sie tiefe
Reue darüber empfinde, weil sie in der vorigen Nacht, um die Glut ihres
Herzens zu verbergen, Gerinthus im Stich gelassen habe. Alles ist aus
wahrer Empfindung heraus gesagt, nur der poetische Ausdruck macht der
Dichterin noch sichtlich Mühe. Diese Herzensgeschichte, soweit sie in den
fliegenden Blättchen zum Ausdruck kam,* nimmt sich ein zweiter Dichter
zum Vorwurf, um einen neuen Liederkranz zu winden. Er thut dies in
der Weise, dass in dem einen Gedicht er selbst spricht, um dann in dem
folgenden das Wort der Sulpicia zu geben. Der Dichter hat die Aufgabe
der Nachempfindung so trefHich gelöst, dass man das, was er hier ge-
schaffen, zu dem Zartesten und Innigsten der römischen Litteratur zählen
muss. Mit einer prächtigen Schilderung ihrer Schönheit führt er die
Sulpicia ein, mit einem Gebet an Juno, die Liebenden zu dauerndem Bund
zu vereinigen, schliesst der Cyklus. Die Genesung der Sulpicia erfleht das
mittlere Stück. Die beiden in der Mitte stehenden Sulpicialieder zeugen
von tiefer psychologischer Auffassung, besonders das erste, das an die
Voraussetzung anknüpft, dass Gerinthus auf die Jagd gegangen, malt die
Seelenstimmung der Liebenden aufs trefflichste. Wer ist der Dichter der
fünf Meisterstücke? Wir vermögen keinen anderen zu nennen als Tibull.
Wenigstens kann seine Autorschaft nicht als unmöglich dargethan werden.
Ja das eine oder das andere Moment dürfte zu seinem Gunsten in die
Wagschale fallen.
Personliches der Sulpicia und des Gerinthus. Bezüglich der Sulpicia be-
merkt M. Haupt, Opusc. 3, 502, dass die Sulpicia wahrscheinlich die Tochter des Ser. Sul-
picius Rufus, des Sohnes des gleichnamigen berühmten Juristen und der Yaleria, der
Schwester des M. Valerius Messalla Corvinus war. — Bei Gerinthus hängt die Fest-
stellung seiner Persönlichkeit von der Entscheidung der Frage ab, ob ein Pseudonym vor-
liegt oder nicht. Wenn man bedenkt, dass in diesen Elegien Sulpicia genannt wird, so
begreift man nicht, warum bei dem Geliebten ein anderes Verfahren eingehalten werden
soll, um so weniger als diese Gedichte ursprünglich wohl nicht zur Herausgabe bestimmt
waren. Es ist daher eine von Gruppe u. a. vorgenommene Identifizierung des Gerinthus
mit dem 2, 2 und 2, 3 genannten Gomutus — Gomutus ist die wahre Überlieferung —
abzuweisen (Bahrens, Tib. Blätter p. 41; Ulrich, De lihri II IHbuUiani statu integro et
compositione Fleckeis. Jahrb. Supplem. 17 p. 449).
Scheidung der beiden Liedercyklen. Gruppe hat 4,7 noch zu dem ersten
Gyklus gerechnet, Rossbach dagegen dem zweiten zugeteilt. Diese Ansicht ist die richtige ;
denn schon an dem Stil erkennt man, dass hier das „weibliche Latein*^ beginnt (Bährens,
Tib. Bl. p. 42). Für Gruppes Scheidung spricht nichts als die Symmetrie, dass die Sulpicia
ebenso oft spricht als der Dichter (Ulrich 1. c. p. 451). Allein dieser äussere Gesichtspunkt
kann hier nicht ausschlaggebend sein (Hiller, Hermes 18, 355).
Verfasser der beiden Gyklen. Dass Sulpicia die Verfasserin des zweiten Lieder-
)u*anze8 ist, wird jetzt allgemein angenommen. Als Verfasser des ersten Liederkranzea
Sex. PropertittB. 117
(4, 2—7) hat Gruppe Tibull hingestellt. Die Übereinstimmungen desselben mit den Elegien
TibuUs zeigen Zikgerle, Kl. philol. Abb. 2, 45; Knappe. Götting. Diss. 1880 p. 9. Dass
aber das 7. Gedicht Verschiedenheiten von Tibull aufweist, bemerken Petersen, De Uhri IV
eleg.f Glückst. 1849; R.Richter, De quarti libri TibtiUiani eleg., Dresden-Neustadt 1875 p. 1.
10. Sex. Propertius.
286. Sein Leben. Auch bei Propertius machen wir dieselbe Erfah-
rung, wie bei so vielen anderen antiken Schriftstellern. Die Zeitgenossen
schweigen von seinem Leben,') es reden davon zu uns nur seine Werke.
Zweimal macht er sein Leben zum Gegenstand seiner Dichtung; das erste-
mal, als er mit seinem ersten Liederbuch vor die Öffentlichkeit trat, spricht
er, einem römischen Dichterbrauch folgend, in einem Epilog über seine
Heimat (1,22); späterhin, am Ende seiner Dichterlaufbahn, lässt er sich
über sein Leben von einem Horoskopen weissagen, es sind natürlich Weis-
sagungen aus der Vergangenheit (5, 1, 119). Einzelheiten liefern auch noch
andere Gedichte, die nämlich, welche Erlebtes zur Darstellung bringen.
Diese verschiedenen Angaben ergeben vereint folgendes Lebensbild:
Sex. Propertius war ein Sohn Umbriens, sein Geburtsort wahrschein-
lich Asisium, wo auch Inschriften mit Propertiern gefunden wurden. Weder
der Ruhm vornehmer Ahnen noch besonders grosser Reichtum war ihm in
die Wiege gelegt worden (3, 24, 37 3, 34, 55). Weiter traf ihn das Un-
glück, dass er seinen Vater früh verlor und dass die „ Messrute '^j welche
in jenen bewegten Zeiten den Veteranen Grundbesitz anwies (41 v. Ch.),
auch an sein Erbe angelegt wurde (5, 1, 130). Doch muss noch immer-
hin ein erheblicher Besitz geblieben sein, sonst hätte ja der Dichter nicht
den Bildungsgang, der ihn zu einem der ausgezeichnetsten Dichter der
römischen Litteratur erhob, nehmen können. In Rom, wo er als Jung-
gesell auf dem Esquilin hauste (4,23,24), verzichtete er auf den Ruhm
des „unsinnigen" Forum (5,1,134); seines Lebens treibendes Element war
die Liebe und das die Liebe begleitende Lied. Gleich nach Anlegung der
Männertoga packte sie ihn, die Zofe Lycinna hatte es ihm angethan (4,15,6);
doch war diese Neigung eine flüchtige und vorübergehende; um so länger
fesselte ihn die schöne, geistreiche Cynthia. Sie war es, die ihn zu seinen
ersten glühenden Liedern begeisterte, sie war es, die fortan nicht mehr
aus seinen Dichtungen weichen wollte, so dass wahr wurde, was er gleich
im Anfang verkündete (1,12,20):
Cynthia prima fuity Cynthia finis erit;
sie war es, die ihm den Ruhmeskranz um die Schläfe wand. Als die erste
Sammlung der ihr gewidmeten Lieder in Rom erschien, muss ihre Wirkung
eine sehr grosse gewesen sein. Nach den Gynthialiedern versuchte sich
seine Kunst zwar auch an anderen Stoffen, allein immer zog es ihn wieder
zu dem alten Liebesspiel. Seine Elegien gibt uns die Überlieferung in
vier Büchern, allein Lachmanns Scharfsinn entging nicht, dass das, was
uns als zweites Buch vorliegt, die Überreste von zwei Büchern in sich
*) Am merkwürdigsten ist, dass Pro-
pertius niemals bei Horaz genannt wird;
allein wir haben ihn wohl hinter dem Elegi-
ker zn suchen, der als „Callimachus* be-
komplimentiert sein will (Ep. 2, 2, 100). Da-
nach würde der Grund des Schweigens in
einer Abneigung des Horaz gegen Properz
liegen.
118 Bömische Litteratnrgeschiolite. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
schliesst. Da über das Jahr 15 v. Gh. keine Spuren in diesen Büchern
hinausführen, so wird Propertius bald darauf gestorben sein.
Die Properzische Gedichtsammlung. Die Überlieferung kennt vier Bücher
Properzischer Gedichte. Die Erkenntnis, dass das zweite Buch zu zerlegen ist, schöpft
Lachmanv aus 3, 13,25 = 2, 13,25, wo es heisst:
sat tnea sai magna est si tres sint pompa libelli,
quo8 ego Persephonae maxima dona feram.
Diese Worte stehen nach der Oberlieferung im zweiten Buch. Wenn der Dichter von
drei Büchern spricht — drei in übertragener Bedeutung d.h. im Sinne einer kleinen Zahl
zu nehmen, ist unzulässig — , so müssen dieselben, als er jene Worte schrieb, vor-
handen gewesen sein. In diesem Fall wäre es aber eine ungeheure Ungeschicklichkeit
gewesen, das Gedicht mit jenen Worten ins zweite Buch zu stellen und also dem Leser
des zweiten Buchs zuzumuten, an das dritte zu denken. Es ergibt sich somit unabweisbar
der Schluss, dass das Gedicht, dem jene Verse angehören, in dem dritten Buch stand
und dass daher das zweite Buch aus zwei Büchern zusammengesetzt ist. Wo begann aber
das dritte Buch? Wir sagen mit LiAcmcAinc: im 10. Gedicht, das sich deutlich als Ein-
leitungs- und Widmungsgedicht an Augustus darstellte. Der Dichter verspricht, künftig
einen höheren Anlauf nehmen und die Thaten des Augustus besingen zu wollen, für jetzt
vermag er nur eine geringe Gabe d. h. seine Liebeslieder daizubringen. Diese Scheidung
Lachhanns vermögen wir noch durch ein neues Argument zu stützen. Es ist naturgemäss,
dass der Dichter das Prooemion wie den Epilog zuletzt schreibt. Können wir nun nach-
weisen, dass das erste und das letzte Gedicht des von Lachmann konstruierten Buchs in
dieselbe Zeit fallen, so ist dies das deutlichst'e Zeichen, dass der Anfang richtig gewählt
ist. Dies ist aber bei den beiden fraglichen Gedichten der Fall. Wir werden im Para-
graphen 287 Anm. zeigen, dass das erste Gedicht ums Jahr 26 v. Ch. anzusetzen ist und dass
auch das letzte Gedicht dieser Zeit angehört. Der LACHKANN^schen Hvpothese stellen sich
aber zwei Bedenken gegenüber. Einmal wird das neue zweite Buch sehr klein; allein
dieser massige Umfang scheint durch einen Ausfall verursacht worden zu sein, und es ist
sehr wahrscheinlich, dass derselbe vor dem mit sed beginnenden ersten Gedicht statt-
gefunden. Schwerer wiegt der zweite Einwand, der erhoben wurde. Nonius citiert eine
Stelle des Properz (3, 21, 44) aus dem dritten Buch, welches nach der Trennung des zweiten
das vierte sem müsste (p. 169). Aber auch diese Schwierigkeit kann mit Bibt, Buchw.
p. 422 auf eine einfache Weise beseitigt werden. Da das erste Buch unter dem eigenen
Titel ,Gynthia* erschien, so trat es in Gegensatz zu den folgenden vier Büchern; es konnten
daher diese letzten für sich citiert werden, ohne dass ein Missverständnis zu befürchten war.
Erst viel später vereinigte man die Monobiblos mit den vier Büchern und zählte fortlaufend.
Sonach dürfte die Hypothese Lachmai^ns begründet und auch die Versuche, welche durch
Versetzung des fraglicnen Gedichts in das dritte Buch helfen wollen, zurückzuweisen sein.
Litteratur: Gegen Lachmann erklärten sich Hertzbebo (1,213); Brandt, Quaest,
Prop., Berl. 1880 p. 20; Plessis, ^udes critiques, Paris 1884 p. 111; Bährens Ausg. p. XX;
Heisch, Wien. Stud. 9, 95 u. a.
286. Das Gynthiabuch. Die erste Sammlung von Gedichten, mit
der Propertius hervortrat, führte nach der Geliebten, welcher die meisten
Lieder gewidmet waren, den Titel „Cynthia" (3, 24, 1). Es war ein selb-
ständiges Büchlein, darum stellt sich der Dichter am Schluss dem Leser
vor, indem er eine Notiz über seine Heimat beifügt. Wie im ersten Lied,
so wird TuUus auch im letzten angeredet, ein Beweis, dass das Büchlein
ihm gewidmet ist. Noch zur Zeit Martials war dasselbe einzeln verkäuf-
lich. Wer ist nun jene Cynthia, deren Namen die Rolle trug? Wer ver-
birgt sich hinter dem Pseudonym, das von dem Berg Cynthos auf Delos
genommen an den Musengott Apollo erinnern und die Cynthia als Dienerin
der Musen bezeichnen sollte? Propertius schweigt, erst ein später Autor
teilt uns mit, dass Cynthia mit ihrem wahren Namen Hostia hiess. Aber
auch über diese Hostia erfahren wir nichts aus den Autoren; so bleibt uns
nur übrig, einige Züge, die uns der Dichter mitteilt, zu einem Bilde zu ver-
einigen. Sie darf sich eines berühmten Grossvaters rühmen (4, 20, 8), kann
aber trotzdem mit dem Dichter keine legitime Ehe eingehen (2, 7), sie scheint
Sax. PropertiuB. 119
auf hohem Fuss zu leben (1,11), sie ist hochgebildet, ja Dichterin (l, 2, 27),
sie fesselt durch ihi* ganzes Wesen (1,4,13) und ist so schön, dass sie
den Vergleich mit den berühmtesten Heroinen aushalten kann (1^ 4, 5). Was
Wunder, wenn sie des Dichters Herz gefangen nahm? Lange musste er
kämpfen und in anschaulicher Weise schildert die erste Elegie sein heisses,
ja verzweifeltes Mühen. Aber die folgenden Stücke beruhen auf der Voraus-
setzung, dass das Band geschlungen ist. Seinen vollen Liebesjubel lässt
er ausklingen in einem Gedicht an Tullus (14); er beneidet dessen Reich-
tum nicht, denn alle Schätze der Welt können ihm nicht das Liebesglück
ersetzen. Selbst über das Grab hinaus will er es daher festhalten (19).
Als ihn Tullus mit nach Asien nehmen wollte, lehnte er diese Einladung
ab; Amor ist sein Gott; den Vorwürfen der Cynthia will er sich nicht aus-
setzen (6). Dem Bündnis sind auch die Prüfungen nicht erspart geblieben.
Freund Bassus sucht ihn auf andere Bahnen zu ziehen (4), aber vergeblich.
Es regt sich die Eifersucht des Dichters; besonders als Cynthia in dem
verführerischen Bajae weilte, wird es ihm bange, da in seiner Herzens-
angst erkennt er den hohen Wert ihres Besitzes (11):
tu mihi sola domuSf tu, Cynthia, sola parentes,
omni tu nostrae tempore laetUiae,
Noch schlimmer, es stellen sich wirklich Rivalen ein, der lockere Gallus,
der sich rühmen konnte, so viele Mädchen hinters Licht geführt zu haben
(13,5), hat ein Auge auf Cynthia geworfen (5), ein Prätor will sie als
Begleiterin nach Illyrien führen und sie ist geneigt, ihm zu folgen, doch
sein Lied siegt über des Gegners Macht und Geld (8). Auch sonst fehlt
es nicht an Klagen auf beiden Seiten, sie muss zu einer Strafpredigt
schreiten, als sie, nach langem Warten vor Müdigkeit eingeschlafen, end-
lich durch den Schein des Mondes aufgeweckt, den halbtrunkenen Geliebten
an ihrem Lager sitzen sah (3), er beschwert sich über ihre Gleichgültigkeit
gegenüber seinen Schicksalen (15), doch als sie nicht mehr in seiner Nähe
war, da erwacht wiederum die Liebe in vollen Flammen (12). In einem
anderen wunderschönen Gedicht (18) eilt er hinaus, um dem stummen Wald,
wo allein der Zephyr haust, sein Leid zu klagen. Durch eine Reise übers
Meer will er sich von seinem Kummer befreien, ein heftiger Sturm, der
ihn dem Tod nahe brachte, lässt ihn seinen Entschluss bitter bereuen (17).
Man sieht, es ist ein bewegtes Spiel der Empfindungen. Wie viel die
Wirklichkeit, wie viel die Phantasie beigesteuert, wer wird es entscheiden?
Wir dürfen keine Chronik seiner Liebe vom Dichter verlangen, was wir
von ihm erwarten, ist wahres Empfinden und das hat er uns mit reicher
Hand gegeben.
Gegenüber den Gynthialiedern treten die anderen Dichtungen des Buchs
in den Hintergrund, doch kennzeichnen auch diese den Meister; die Klage
der Thür (16), in die wieder die Klage eines ausgeschlossenen Liebhabers
über die Thür eingeschoben ist, die Erzählung von dem Raube des Hylas,
durch die Xrallus ermahnt werden soll, auf seinen gleichnamigen Knaben
acht zu haben (20), sind anmutige Gebilde; scherzhaft ist die Elegie an Pon-
ticus, der sich früher über die Verliebtheit des Dichters lustig gemacht (7),
jetzt selbst eine Flamme für seine Magd gefasst hat (9).
120 Bömisohe Litteratnrgeschiohte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Apul. apol. 10 accusent — Propertiumy qui Cynthiam dicat, Hosiiam dissimulet. Die
Thatsache, dass das Cynthiabuch einmal selbständig gewesen, dringt auch durch die Über-
lieferung hindurch, indem sich noch in Handschriften die Bezeichnung Monobiblos findet
(vgl. jedoch Bbisch, Wien. Stud. 9, 100 Amn. 20).
Wirklichkeit und Dichtung sucht zu scheiden Mallet, Quaest. Propert, Gotting.
1882 (p. 53).
287. Neue Liebesgedichte. Durch seine Gynthia war Properz mit
einem Schlag ein berühmter Mann geworden.
Sic loqueriSf cum tu iam noto fahula libro
et tua Sit toto Cynthia lecta foro?
lässt er einen verwundernd fragen (3, 24, 1). Bald wagte er sich mit einem
neuen Buch {alter liber 2,3,4) hervor. Wie die Cynthia war auch dieses
der Liebe gewidmet. Allein es weist zugleich auf eine veränderte Lage
des Meisters hin. In der Eingangselegie tritt der Name Maecenas auf,
der im ersten Buch niemals vorkam; er wird (1,73) als
nostrae pars invidiosa iuventae,
et vitae et morti ghria iusta meae
gefeiert. Das Cynthiabuch hatte also auch Properz den Zugang zu diesem
mächtigen Patronus geöffnet. Das war für ihn von hoher sozialer Bedeu-
tung, allein auch die Schattenseite sollte nicht fehlen. Der Liebesdichter,
der Verehrer Amors, sollte nun seine Leier auf das politische Lied um-
stimmen. Er musste daher seine erotische Elegie in Schutz nehmen. Zwar
war er auch in seiner Cynthia einmal mit dem Epiker Ponticus wegen
seiner Poesie zusammengestossen, allein dies war harmloser Scherz. Jetzt
aber erörtert er gründlich in der Einleitungselegie, dass es ihm nicht an
gutem Willen fehle, der Herold von Augustus' Thaten zu werden, allein
seine Kräfte reichten nicht aus, dann lasse ihn die Liebe nicht los. Wir
bekommen also wiederum Liebeselegien ; aber nur in dreien finden wir den
Namen der Cynthia (5, 6, 7). Doch das Buch ist ja nicht unversehrt über-
liefert. Besser steht es mit dem dritten. Hier wendet sich Properz im
Eingang an Augustus und gelobt, sich zur Lösung höherer Aufgaben empor-
schwingen zu wollen, allein für jetzt vermag er nur geringe Gaben anzu-
bieten. So erhalten wir denn auch in dem neuen Buch wiederum Liebes-
gedichte; allein in einem Gedicht beschreitet er doch schon die neue Bahn,
es ist das, in dem er den eben fertig gewordenen palatinischen Apollo-
tempel beschreibt (31). Die Stoffe der erotischen Lieder sind sehr mannig-
fach. In einer reizenden Elegie wird die Frage beantwortet, warum Amor
mit luftigen Flügeln, mit Bogen, Pfeilen und Köcher abgebildet wird (12).
In einer anderen lässt er eine Schar von Amoren auftreten, die nachts
dem halbtrunkenen Dichter auflauern und ihn an das Haus der Geliebten
schleppen, wo seiner strafende Worte warten (29). Die Geliebte wird uns
in verschiedenen Situationen vorgeführt, sie ist krank — er gerät darob
in grosse Herzensangst; sie ist genesen — er bricht in hellen Jubel aus (28).
In einem Traumbild sieht er sie mit den Wogen ringen und in der Gefahr
des Ertrinkens (26); gleich darauf will er ihr folgen durch das fernste
Meer. Sie weint, von bangen Zweifeln ob der Treue des Geliebten ge-
quält — in stürmischer Weise schwört er, ihr für immerdar anzugehören (20).
Sie zieht aufs Land — er malt eine liebliche ländliche Idylle (19). Sie
Sex. Propertins. 121
förbt die Haare, damit sie eine goldgelbe Farbe erhalten — er tadelt es,
ihre Schönheit sei ja eine solche, dass sie des Trugs entbehren könne (18).
Auch die Stimme der Eifersucht dringt an unsere Ohren. Wir stossen
wieder auf den illyrischen Prätor, den wir bereits in dem ersten Buch
kennen lernten (16); dem Dichter sind ferner die fortwährenden Fahrten
der Cynthia nach Praeneste, Tusculum, Tibur verdächtig (32). Auch
an einen unter dem Namen „Lynceus" verborgenen Poeten muss er eine
Warnung ergehen lassen, weil er sich an seine Liebe gewagt. Dieser
Vorgang bringt den Dichter wieder auf das im Eingang behandelte Thema
zurück; der verliebte Lynceus erkenne jetzt, dass ihm epische Gedichte,')
Tragödien nichts helfen können, dass nur die erotische Elegie hier von
Nutzen sei; er solle sich an ihm, Properz, ein Beispiel nehmen, den sein
Lied zum Herrscher der Mädchen beim Mahle mache; der Preis der Thaten
des kaiserlichen Hauses müsse Yergil überlassen bleiben (34):
Qui nunc Äeneae Troiani suscUat arma
i€ictaque Lavinis moenia Htoribus,
Mit einem Preis des Dichterruhmes hebt das vierte Buch an; Pro-
perz fühlt sich dessen sicher, er hat ja das Lied des Callimachus und
Philetas in Rom heimisch gemacht. Auch diesem Buch fehlt es nicht an
Entschuldigungen, dass er sich von der epischen Poesie fern halte. Er
erzählt, dass Phoebus ihn in einem Traumbild gewarnt habe, sich an solche
Stoffe zu wagen (3). Und als Maecenas ihn auf die Bahn der hohen Poesie
lenken wollte, wies er darauf hin, dass ja auch sein Gönner den Glanz der
Ehren verschmähe und sich in bescheidenen Grenzen bewege (9). Allein trotz
dieser Reden fängt der Dichter an, die erotische Poesie in den Hinter-
grund treten zu lassen. Es begegnen uns Gedichte mit anderen Themata,
wie die Elegie auf den Tod des Paetus (7), der Preis der Treue der Aelia
Galla(12), das Epicedium auf Marcellus, den Schwiegersohn des Augustus
(18), die Aufforderung an den bekannten TuUus, von den Gefilden Asiens
zu den lieblichen römischen Landschaften zurückzukehren (22), der Hymnus
auf Bacchus (17), die Darlegung der unheilvollen Pläne der Cleopatra in
Gedicht 11. In den erotischen Stücken kommen nun zwar solche vor,
welche auf Erlebnissen fussen, wie z. B. die Aufforderung der Cynthia,
noch in der Mitte der Nacht zu ihr zu kommen (16), das Gedicht von der
Eifersucht der Cynthia auf Lycinna (15), das reizende von der gegenseitigen
Verstimmung, welche durch den treuen Sklaven Lygdamus gelöst wird (6),
die Gratulation zu ihrem Geburtstag (10); allein auch allgemeine Themata
werden behandelt, wie die Habsucht der Frauen (13), die weibliche Gym-
nastik in Sparta (14), die weibliche Leidenschaft (19); dann macht sich die
Gelehrsamkeit jetzt stärker geltend als früher. Man gewinnt den Eindruck,
das Feuer der Liebe ist im Erlöschen. Die Lösung des Verhältnisses macht
den Schluss des Buches. Properz wandert nach Athen, um dort das fünf
Jahre hindurch getragene Joch Amors abzuschütteln (21), in einem tief
empfundenen Gedicht sagt er Cynthia Lebewohl.
Chronologie der Properzischen Gedichte. Da mit der Trennung von Cynthia
ein Abschnitt im Leben des Dichters eingetreten, so wird hier der geeignete Ort sein, die
*) Haube, de carm, epic. p. 29.
122 BOmische LitteratargeBchichte. n. Die Zeit der Monarchie. L AbteUimg.
Abfassungszeit der einzelnen Bücher, soweit es mdglich, zu bestimmen. Feste Daten erhalten
wir für das dritte Buch (2, 10 -34). Im 31. Gedicht ist auf den eröffneten Tempel des pala-
tinischen Apollo hingewiesen; derselbe wurde 28 v. Ch. vollendet. Also wird das Gedient in
dieses Jahr fallen. Ein weiteres Datum liefert uns das Kinleitungsgedicht (3, 10), wo wir lesen :
et domus intactae te tremit Arabicie,
Arabien kann int acta nur heisscn. wenn noch keine römischen Soldaten in dasselbe ein-
gedrungen waren. Dies geschah aber Sommer 25 v. Ch. durch die Expedition des Aeiius
Gallus. Jene Worte wurden allem Anschein nach geschrieben, als die Vorbereitungen zu
der Expedition gemacht wurden, etwa Ende 27 und Anfang 26 v. Gh. Im Schlussgedicht wird
des „eben** (modo) verstorbenen Dichters Gallus gedacht. Dessen Tod wird in das Jahr 27
V. Ch. gesetzt. Da Prooemium und Epilog in der Regel zuletzt gedichtet werden, so werden
wir für den Epilog von vornherein auch das Jahr 27 oder 26 v. Ch. annehmen. Diese
Annahme findet aber eine Bestätigung durch jenes „modo". Sonach können wir für das
dritte Buch als Intervallum die Jahre 28 — 26 ansetzen. Für das vierte Buch gibt Nr. 18
auf den Tod dos M. Claudius Marcellus einen festen chronologischen Anhaltspunkt; der-
selbe fiel in das Ende von 23 v. Ch. (Über die Datierung von 4, 4 und 5 vgl. Brandt
p. 29.) Bezüglich des zweiten und ersten Buchs können wir nur sagen, dass sie nicht
nach 28 v. Ch. datiert werden können.
Chronologie der Cynthialiebe. Drei Angaben werden uns vom Dichter ge-
macht. 1) Am Schluss des vierten Buchs, als Propertius von der Cynthia Abschied nahm,
sagt er, dass er ihr fünf Jahre gedient habe (4,25 quinque tibi potui servire fideliter
annoü); 2) 4, 15, 7 sollen nahezu drei Jahre — so werden ja die nicnt ganz klaren Worte
zu vorstehen sein, während andere an etwas weniger als 2 Jahre denken — seit seiner
ersten flüchtigen Liebe zu Lycinna verflossen sein; 3) 4, 16, 9 erzählt er, dass er ein Jahr
von der Geliebten getrennt war. Es fragt sich, ob diese Daten zu dem gewonnenen Zeit-
rahmen passen. Das Ergebnis, dass das erste und zweite Buch nicht später als 28 an-
gesetzt werden können, führt darauf, dass das Liebesverhältnis etwa 29 v. Ch. begann.
Vnter der Voraussetzung, dass die Elegie 4, 15 eines der frühesten des 4. Buchs ist, also
etwa noch 26 v. Ch. abgefasst wurde, konnte der Dichter allerdings damals von drei Jahren
seit der Verabschiedung der Lycinna sprechen. Hat fernerhin das Liebesverhältnis bei-
läufig 29 V. Ch. seinen Anfang und ungefähr 23 v. Ch. sein Ende genommen, so würde
das Intervallum durch das Quinquennium und das eine Jahr des diaddium ausgefüllt
werden. Andere Wege schlägt Lachmani? ein, der das discidium in dem zuletzt geschrie-
benen ersten Gedicht des Cynthiabuchs (v. 7) angedeutet finden will und demnach das
discidium nach dem Abschluss des ersten Buchs ansetzt, weiterhin das Quinquennium in
in die Zeit nach dem discidium verlegt und die 4, 15, 7 angegebenen Jahre auf die Zeit
vor dem discidium bezieht. Allein 1, 1, 7 kann eine vorurteilsfreie Interpretation die Worte
nur auf das heisse Ringen, der Cynthia Liebe zu erlangen, beziehen, nicht auf das discidium
(Ribbeck, Rh. Mus. 40, 492 ; Reiscu, Wien. Stud. 9, 116). — Noch komplizierter würde die
Cynthiafrage, wenn Ribbeck recht hätte, dass ,das zweite (ungeteilte) Buch vorderhand
keine Fortsetzung der der Cynthia gewidmeten Monobiblos ist, sondern sich anschickt, eine
andere unsterblich zu machen'^ (Rh. Mus. 40, 498). Allein es ist dies nicht wahrschein-
lich. Phantasie und Wirklichkeit lassen sich freilich in diesen Gedichten schwer trennen.
288. Das letzte Buch. — Die römischen Elegien. Im Einleitungs-
gedicht nimmt Properz einen gewaltigen Anlauf; nachdem er mit Seiten-
blicken auf die Gegenwart eine begeisterte Schilderung des alten Rom
hingeworfen, gelobt er (1,59):
exiguo quodcumque e pectore rivi
fiuxerit, hoc patriae serviet omne meae
und bestimmt gleich näher den Charakter der neuen patriotischen Dich-
tung (69):
Sacra diesque canam et cognomina prisca locorum.
Plötzlich fährt ein Astrolog mitten in diese Begeisterung wie ein rauher
Nordwind hinein und sagt mit nackten Worten, dass Properz damit etwas
unternehme, wozu er kein Talent habe, und späterhin lässt er sogar durch
Apollo an den Dichter den Warnungsruf ergehen, den Dienst der Venus
nicht zu verlassen (1,139):
nam fihi victrices, quascumque lahore parasfi,
eludet palmas una puella tuas.
Sex. Propertiaa. 123
Der Elegiker ironisiert sich selbst; in phantastischer Weise deutet er an»
dass dem Leser auch in diesem Buch wieder Erotisches vorgesetzt würde.
Allein ganz in der alten Weise geschieht dies nicht mehr. Das Liebes-
gedicht ist in die zweite Linie eingerückt, es ist nur eine Beigabe und
nicht Begleiter eines sein Herz bewegenden Liebesverhältnisses. Der Grund-
charakter des letzten Buchs ist ein vaterländischer. In die Mitte (6)
hat der Dichter wie ein glänzendes Juwel das schöne Gedicht vom Siege
bei Actium gestellt.^) Wir sehen, wie die schützende Hand Apollos über
dem Kampfe ruht und unsägliche Schmach, die Herrschaft eines Weibes,
von Rom fern hält. Aber selbst in die altersgrauen Zeiten schwingt sich
sein hoher Gesang; hatte doch auch sein Vorbild Callimachus in seinen
AiTia den Ursprung der Feste, Spiele, Tempel in anmutigen Elegien er-
schlossen. Was hier der Meister für Griechenland war, wollte er für Rom
werden. Er gedachte endlich die Bahnen zu beschreiten, die ihm Maecenas
gezeigt. Sein Heimatland sollte mit Stolz auf den , römischen Callimachus"
als seinen Sohn hinweisen. In vier Elegien pflegt er die neue Dichtungs-
art; er erläutert uns Namen und damit Wesen des Gottes Vertumnus (2),
wobei er das alexandrinische Kunstmittel in Anwendung bringt, die „ Ur-
sache'^ der Benennung durch den Gott selbst zu offenbaren; er malt uns
in ergreifender Weise die Liebe der Tarpeia zu dem feindlichen Feldherrn,
ihr Verbrechen, ihre Strafe (4), um zuletzt daran flüchtig eine Namens-
erklärung anzuknüpfen; die Erzählung von der Tötung des Gacus durch
Hercules (9) gibt Anlass, über das Forum boarium, über die Ära maxima,
über die Ausschliessung der Frauen von des Heros Gottesdienst Kunde zu
erteilen; endlich in dem vierten Gedicht (10) handelt er über das Heilig-
tum des Jupiter Feretrius und über die von Romulus, A. Cornelius Cossus
(437 V. Ch.) und M. Marcellus (222 v. Ch.) den feindlichen Feldherrn im
Zweikampf abgenommenen Rüstungen (spolia opima), welche dort auf-
bewahrt wurden. Es liegt ein eigentümlicher Zauber in diesen Gedichten
und wir beklagen es sehr, dass er uns nicht mehrere dieser Art gespendet.
Unter den erotischen Elegien fesseln unser ganzes Interesse die beiden
Cynthialieder (7, 8). Seit sich der Dichter von der Geliebten getrennt, ist
sie von hinnen gegangen und ruht jetzt im Grabe auf ihrer Villa in Tibur.
Wie das verglimmende Abendrot leuchtet sie nochmals in sein Leben
hinein. Nicht genug, dass er ihr Erscheinen an seinem Ruhelager in er-
greifender Weise darstellt, bringt er noch ein heiteres, pikantes Abenteuer,
das er mit ihr gehabt, zu unserer Kunde. Es ist, als ob ihn die alte Liebe
nicht loslassen könnte. Hatte Properz schon durch diese Gegenüberstellung
von grausamem Tod und frisch pulsierendem Leben mit Absicht einen
Kontrast geschaffen, so wendet er noch ein neues Kunstmittel im zweiten
Gedicht an. Er knüpft jenes Liebesabenteuer an ein Fest in Lanuvium
an, so dass in dieser Elegie sich der Charakter des ganzen Buchs, Ver-
einigung des Patriotischen und Erotischen, wiederspiegelt. ^) Ausser den
Cynthialiedern spricht uns sehr an der Brief, den Arethusa an ihren im
') BücHELEB, Ind. lect. Bonn, 1878/9 in eine frühere Zeit zu verlegen, da der
p. 13. Dichter noch nicht den Plan, ätiologische
') Sonach ist es unmöglich, das Gedicht \ Elegien zu schreihen, gefasst hatte.
124 Bömiache Litteratiirgeschiclite. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilmig.
parthischen Feldlager weilenden Gatten schrieb, ein schönes Denkmal echter,
zarter Frauenliebe (3). Dagegen stösst uns eine Lena, die als gemeine
Lehrmeisterin eines Mädchens auftritt (5), in hohem Grade ab. Das Buch
schliesst mit der berühmten Elegie, welche mau etwas übertreibend die
Königin der Elegien nannte, dem Trauerlied auf die Cornelia, Gattin des
Paulus. Sie spricht selbst aus dem Grabe und bittet den Gatten, vom
Jammern abzulassen, da der Tod ja unerbittlich sei. Der beste Trost, den
sie spenden kann, ist ihr schuldloses Leben, das ihr ein Recht auf ein
gutes Los in der Unterwelt gibt. Kuhig kann sie daher ihre letzten Mah-
nungen an die Hinterbliebenen richten.
Das ist in Kürze der Inhalt des letzten Buchs, das überall die Meister-
hand des Dichters zeigt. Es ist unbegreiflich, wie man annehmen konnte,
dass dieses Buch, das im ganzen Aufbau wie im einzelnen kunstvoll ist,
nicht von dem Verfasser selbst herausgegeben sei. Die chronologischen
Indizien führen in das Jahr 16 v. Gh., in dem die Trauerelegie abgefasst
wurde (v. 66), vielleicht noch in das Jahr 15 v. Ch.*) (im 6. Gedicht).
Darüber hinaus gewahren wir keine Spuren. Ein früher Tod scheint dem
Sänger die Harfe aus den Händen genommen zu haben.
Im Carmen ad Pisonem heisst es Vers 237:
Maecenas aha Tonantis
er HÜ et populis ostendit nomina Grais,
carmina Ramanis etiam resonantia chordis.
Diese Worte bedeuten nach Bvcheler, Rh. Mus. 36, 337 : alia Tonantis nomina, id est Jovis
tutelae Augusti atque imperii Romani, antiqxia haec nomina Romana fieri iussit etiam
Romanis fidihtis resonantia carmina ostendiique Graecis qui cognoscerent et quanlumvis
suae gentis gloria inflati agnosceretit — Itaque si recte hunc locum explanavi, fama erat
Romae imperante Claudio pervolgata, Maecenatis iussu impufsuque de antiquitatibus rerum
dityinarum romanis Propertium talia carmina instituisse qualibus Callimachus graecas cele-
braverat . eamque famam cur damnemus aut contemnamus non video, inveniefnus fortasse
quod confirmet. Simglus ilJe qui Tarpeiae fabulam elegiacis versibus graecis tractavit (Plu-
tarchus Romuli 17), nescitur quis fuerit et cuius aetcUis, potuit vitae annis ac ratione
Studiorum Maecenatem proxime attingere.
Litteratur: Dass das letzte Buch nicht vom Dichter herausgegeben sei, wurde mit
Unrecht von Lachhank behauptet (Ausg. 1816 p. 329), auf dessen Seite sich u. a. Reisch,
Wien. Stud. 9, 148 gestellt. Siehe dagegen Otto, Hermes 20, 572. Eine allzu gekünstelt«
Gruppierung der Gedichte des 4. Buchs durch Bücheleb teilt uns Marx in seiner Disser-
tation De Propertii vita etc. p. 70 mit. Den ungeheuerlichen Gedanken Heimreichs (Symb.
philo!. Bonn. p. 674) und Carüttis (Ausg. p. XXXFV), dass das 5. Buch mit Ausnahme
der letzten Elegie unecht sei, fand Kirchner, De Propertii libro V, Wismar 1882 der
Widerlegung wert. Über die Quellen der ätiologischen Elegien verbreitet sich Tuerk in
seiner Diss. Halle 1885, aber ohne nennenswerte Ergebnisse zu erzielen.
289. Charakteristik des Properz. Zu Callimachus und Philetas
blickte Properz als seinen Meistern empor. Zu ihnen fleht er, ihn in das
Heiligtum ihrer Poesie einzulassen (4,1,1):
Callimachi manes et Coi sacra Phüetae,
in vestrum, quaeso, me sinite ire nemus.
Mit ihrem Lied will das seinige den Wettstreit bestehen (5,6,3):
ara Philetaeis certet Romana corymbis
et Cyrenaeas urna ministret aquas.
Ihren Ruhm zu teilen ist ihm genug (4,9,43):
inter Callimachi sat erit plcuyuisse libellos
et cecinisse modis, Coe poeta, tuis,
*) KiRCHi^ER, De Propertii libro V p. 26.
Sex. PropertivB. 125
Mit ihnen teilt er die Abneigung gegen das grosse nationale Epos, mit
ihnen will er seine Kunst auf die Liebeselegie beschränken; ihnen ent-
nimmt er die ganze Topik des Liebeslebens, das Ausmalen der Schönheiten
der Geliebten, die Versicherungen ewiger Treue, die Schilderungen von
dem Treiben Amors, von seinen Verfolgungen mit den Pfeilen, von dem
harten Joch, das er den Liebenden auferlegt, die Verwünschungen des
jetzigen der Liebe so feindseligen Zeitalters und die Sehnsucht nach dem
goldenen; ihnen entnimmt er die gelehrten Zuthaten, durch welche die
Empfindungen beleuchtet werden. Diesen zuletzt genannten Anschluss an
seine alexandrinischen Vorbilder mag man beklagen; denn diese mytho-
logischen Illustrationen, welche, in der Regel in wenige Distichen einge-
schlossen, die Sache mehr andeuten als ausführen und durch die häufige
Anwendung des Patronyinikons verhüllen, haben über den Dichter einen
Schleier geworfen, welcher ihn von der grossen Masse der Leser entfernt
hält. Mag aber der Römer den Griechen noch so viel verdanken, so ist
er doch keineswegs als blosser Nachtreter anzusehen. Für seine Selbstän-
digkeit zeugen laut die römischen Elegien, in denen ihm die Alexandriner
die Form, nicht aber den Inhalt darbieten konnten; und fast alle diese
Stücke sind Meisterwerke. Aber auch in den Liebesliedern setzt er — und
das ist das Entscheidende — überall echte, warme Empfindung und eine
mächtige Phantasie ein. Es ist erstaunlich, wie seine Poesie alle Affekte
der Seele durchläuft, und stets finden wir sein Gemüt von der jeweiligen
Situation aufs tiefste ergriffen. Diese tiefe Ergriffenheit gestattet ihm
nicht, wie TibuU in träumerischer Weise den Gedanken von einer gegebenen
Empfindung auf- und abwogen zu lassen, sie gestattet ihm noch weniger,
das Empfindungsleben in ein Tändeln und ein Spiel aufzulösen, wie dies
Ovid gethan hat. Stets ist es die volle Glut, die volle Leidenschaft seines
Innern, welche seine dichterischen Gestalten erleuchten und erwärmen.
Und der Leser wird um so stärker von diesem Pathos ergriffen, je mehr
er sich in die tiefe Gefühlswelt des Dichters versenkt. Dem flüchtigen, nach
kurzatmigem Vergnügen Haschenden bleibt dieser merkwürdige Römer ein
Buch mit verschlossenen Siegeln; dem aber, der in die tiefen Schachten
eines echt poetischen Gemüts hinabzusteigen wagt, wird Properz trotz des
Gestrüppes, das er um seine Schöpfungen gelegt, eine Quelle des erhabensten
und dauerndsten Genusses sein.
Otto, de fabulitt Propert. I, Borl. 1880, wo im ersten Teil allgemeine Gesichtspunkte
über die Properzische Dichtung gegeben werden. Der zweite Teil erschien als Programm
von Grossglogau 1886. Vortreffliche Winke über Properz und die alexandrinische Klegie
überhaupt finden sich in der von Dilthey angeregten Dissertation von Mallet, Quaest.
Prapert.f Göttingen 1882. Ein lebensfrisches Bild der Properzischen Dichtung zeichnet
BücHELER in der Deutschen Revue 8. Jahrg. 3. Bd. (1883) p. 187.
Überlieferung: Die methodische Sichtung der Handschriften begann mit Lach-
mann; er war es, der zuerst aus der Masse der Codices zwei als treue und verlässige
Zeugen heraushob, den Neapolitanus (jetzt in Wolffenbüttel Gud. 224) und den Groninganus
s. XV und dem letzteren den Vorrang einräumte. Die weiteren Untersuchungen in der
Frage knüpften an den Groninganus an. Seinen Prinzipat bestritten Keil (observ. crit,,
Bonn 1843) und Haupt (Opusc. 2, 52 2, 101). Viel weiter ging Heimreich, der ganz auf
dessen Beseitigung hinarbeitete und den Neapolitanus als alleinigen Führer anerkannt wissen
wollte (QuaesL Propert., Bonn 1863 p. 21). Zum Schutz des verurteilten Codex erhoben
ihre Stimme LÜtjohann, Comtn. Prapeft., Kiel 1869 p. 1; Hetdenreich im VII. Kapitel
seiner QuaesL Prapert,, Leipz. 1875 p. 37, während Grumme (De codicibua Propert., Aurich
126 ROmiache Litteratorgeschichte. tl. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteiliing.
1869) auf Heimbeichs Seite trat. Trotz der Verteidigungsversuche war es um das Ansehen
dieser Handschrift geschehen. Man ging nun auch daran, den Neapolitanus zu beseitigen.
Dieser Aufgabe unterzog sich Barrens, der die Properzkritik auf zwei Handschriftenfamilien
basierte, deren eine aus dem Vossianus 38 s. XIV und dem Laurentianus 36,49 s. XV; deren
andere aus dem Ottobonianus-Vaticanus 1514 s. XIV und dem Daventriensis 1792 s. XV
besteht. Allein auch diese Ansicht kam zum Fall, des Neapolitanus nahmen sich an Leo
(Rhein. Mus. 35,431), Brandt (Quaest, Prop,, Berl. 1880 p. 14) und Solbisky (De codic.
Propert., Jena 1882 = Bissert. Jen. 2, 139), der auf Grund einer sorgfältigen Prüfung zu
dem Resultat gelangte, dass die von Bährens als erste Familie konstituierten Handschriften
wertlos seien, dass als die beste Properzhandschrift der Neapolitanus betrachtet werden
müsse und dass neben ihm die Handschriften, welche die zweite Familie bei Bahreks
bilden, Bedeutung beanspruchen können.
Ausgaben von Lachkann, Leipz. 1816 (neben Lucretius die einzige Ausgabe,
welcher er einen Kommentar beigefügt; Textausgabe Berlin 1829. Hertzberg, 3 Bde.,
Halle 1843—45 (von Haupt vielfach bekämpft); Textausgabe von Keil, Leipz. 1850. Bahbens
Leipz. 1880 (wie alle Ausgaben dieses Gelehrten durch willkürliche Kritik entstellt). Femer
in den Ausgaben der römischen Elegiker von Haupt- Vahlen^ Leipz. (Hirzel) und L. Müller
(Teubner).
290. Fortleben des Properz. Eine so tiefgehende Poesie wie die des
Properz konnte nicht ohne nachhaltige Einwirkungen auf die Litteratur
bleiben. Sie wurde Ftihrerin für einen kommenden Dichter, für Ovid. Der
reizende Arethusabrief gab ihm das Modell für seine Heroides, die ätio-
logischen Elegien regten in ihm den Gedanken der Fasti an. Das
Trauerlied auf die Cornelia war eine nie auszuschöpfende Quelle für alle
späteren Epicedien. Noch zu Zeiten des jüngeren Plinius bemühte sich
Passennus Paulus im Geiste des Properz, den er zu seinen Ahnen zählte,
Elegien zu dichten und nach dem allerdings nicht sehr gewichtigen Urteil
des Plinius waren diese Nachahmungen so gelungen, dass man sie für
Properzisches Werk halten konnte (Ep. 6, 15, 1). Aber auch im römischen
Publikum scheint der Dichter sich einen festen Platz errungen zu haben.
Seine Cynthia wurde eifrigst gelesen (3, 24, 1). Unter den Versen, welche
auf die Wände in Pompei eingekritzelt wurden, befinden sich auch solche
aus seinem Liederkranz (5, 5, 47 4, 16, 13). Bei den Geschenken, für welche
Martialis Aufschriften dichtete, gewahren wir auch das Cynthiabuch, von
demselben sagt der Dichter (14,189):
Cynthia facundi Carmen iuvenale Praperti
accepit famam: non minus ipsa dedü.
Späteren gedankenarmen Zeiten stand die Properzianische Poesie zu
hoch; sie trat daher zurück und kam mehr und mehr in Vergessenheit.
Bei den öden Grammatikern wird darum Properz verhältnismässig selten
angeführt;^) in den düsteren Zeiten des Mittelalters war er verschollen.
Erst Petrarca hat, wie so viele Autoren, vermutlich auch ihn aus dem
Dunkel hervorgezogen; wir wissen, dass er im Besitz einer Properzhand-
schrift war und dass der florentinische Staatssekretär Coluccio Salutato im
Jahre 1374 sich nach dem Besitz dieses Schatzes sehnte. Den glänzendsten
Triumph erntete der Römer in der neueren Zeit. Auf den grössten deut-
schen Dichter, auf Goethe, hat dessen Poesie einen tiefen Eindruck ge-
macht, ja in seinem Innern sogar eine Erschütterung hervorgerufen; in
den römischen Elegien folgte er seinen Spuren, so dass er später seinen
Gegnern zurufen konnte:
Also das wäre Verbrechen, dass einst Properz mich begeistert?
*) Die Stellen stehen unter dem Text in der Ausgabe von Bahbeks.
P. Ovidiaa Naso. 127
Auch an der Übersetzung, die ein Genosse seines Kreises, Knebel, ver-
fasste, hatte er seinen Anteil. Allein trotz dieser hohen Wertschätzung
ist der modernen Welt der römische Dichter noch immer eine wenig ge-
kannte Grösse. Was vor allem uns not thäte, wäre eine geschmackvolle
Nachdichtung, wie sie in einzelnen Proben Bücheler gegeben. Eine Über-
setzung, wie die von 1, 18, die mit den Worten beginnt:
öd ist der Ort und hOret stamm die Klage,
dem Wehn des Wests gehört der weite Wald.
Hier darf ich ungestraft mein Leid verkünden,
verschwiegen bleibt doch wohl und treu der Fels
lässt auch bei dem Uneingeweihten das Gefühl süsser Poesie zurück.
11. P. Ovidius Naso.
291. Biographisches. Die römischen Elegiker pflegten gern am
Schluss eines Buchs sich dem Leser vorzustellen und über ihre Lebens-
verhältnisse Aufschluss zu erteilen. Dieser Sitte verdanken wir die poe-
tische Autobiographie Ovids am Ende des 4. Buchs der Tristia. Ovid gibt
uns hier alles Wesentliche über sein Leben; es lassen sich dem Bilde nur
wenige Züge hinzufügen. Ovid wurde am 20. März des Jahres 43 in Sulmo
im Pälignerland geboren. Seine Familie gehörte dem Ritterstande an.
Der Sitte der Zeit entsprechend machte er die rhetorische Bildungsschule
durch; er wurde Zuhörer des berühmten Rhetor Arellius Fuscus, auch die
Deklamationen des Porcius Latro machten auf ihn grossen Eindruck, ja
denselben wollten Kenner noch in seinen Gedichten wahrnehmen. Bei den
rhetorischen Übungen trat schon seine geistige Richtung zu Tage. Der
Erörterung eines fingierten Rechtsfalls, der controversia, ging er möglichst
aus dem Weg, es störte ihn die Beweisführung und die dadurch notwendig
gewordene strenge Ordnung der Gedanken; seine Stärke lag in der suasoria,
wo allgemeine Gesichtspunkte vorherrschend waren und der Verfasser seiner
Phantasie die Zügel schiessen lassen konnte. Noch mehr zog ihn die Dicht-
kunst an ; ihre Pflege kostete ihm keinen Schweiss ; die Verse flössen ihm
nur so zu, ja selbst wenn er in Prosa schreiben wollte, wuchsen ihm
unversehens unter der Hand Verse heraus, so dass er von sich sagen
konnte:
et quod temptabam dicere, versus erat.
Den Abschluss seiner Ausbildung gab eine Reise nach Athen; vielleicht
reihte sich daran auch die Reise nach Asien und Sicilien, die er mit Macer
machte (P. 2, 10, 21). Dem Wunsche seines Vaters folgend betrat er die
amtliche Laufbahn und zwar die richterliche, doch kam er nicht über
subalterne Stellen hinaus. Er mochte bald erkannt haben, dass ihm für
die Judikatur nicht weniger als alles fehle, und gab sie daher auf. Seine
Augen waren nach dem dichterischen Lorbeer gerichtet; in den Kreisen
der Dichter Macer, Propertius, Ponticus, Bassus und anderer bewegte er
sich lieber als an den Gerichtsstätten. Seine Arbeiten fanden den Beifall
der Genossen, die jüngeren ahnten schon in ihm das aufgehende Gestirn.
Im grösseren Publikum wurde die Aufmerksamkeit auf den Dichter durch
die Corinnalieder gelenkt. Von nun an bewegte er sich auf emporsteigender
128 Römiache Litteraturgeschichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Kuhmesbahn; seine Liebeskunst musste durch die sprudelnde Genialität des
Meisters Bewunderung erwecken; seine Metamorphosen gaben der römischen
Litteratur das schönste Werk der erzählenden Poesie. Angesichts seiner
Werke durfte sich Ovid laut sagen, dass der Dichterkranz stets sein Haupt
beschatten werde. Auch in seinem schwankenden Familienleben stellte sich
endlich noch das Glück ein; nachdem zwei Ehen zusammengebrochen waren,
scheint sich endlich eine dritte auf wahrer und dauernder Zuneigung auf-
gebaut zu haben. So war der Dichter in das 51. Lebensjahr eingetreten,
da traf ihn (8 n. Ch.) ein Schlag, von dem er sich nicht mehr erholen sollte.
Er befand sich gerade mit seinem Freunde Maximus Cotta in Elba, als
er die Nacliricht von dem drohenden Unglück erhielt (P. 2, 3, 83). Das
Ärgste geschah; Augustus sprach über ihn die Verbannung nach Tomi aus.
Zwar wurde ihm Bürgerrecht und Vermögen belassen, allein was wollte
dies bedeuten gegen Rom? Über die Ursachen seiner Strafe spricht er
sich in seinen Gedichten zwar oft aus, aber stets in dunkler, unbestimmter
Weise. Die genaue Betrachtung aller dieser Stellen begründet aber in
hohem Grade die Wahrscheinlichkeit der Vermutung, dass Ovid in das
unsittliche Treiben der Enkelin des Augustus, Julia, die in demselben Jahre
wie er verbannt wurde, mitverwickelt war. Auch in Tomi verliess die
Muse den Dichter nicht; allein seine Lieder schlagen nur einen Ton an,
den der Klage über sein trauriges Los. Seine Rückberufung oder wenig-
stens seine Versetzung an einen freundlicheren Ort zu erlangen, ist der
einzige Gedanke, der diese Trauergedichte durchzieht. Und schon schienen
sie wirklich Augustus umgestimmt zu haben, da starb (14 n. Ch.) der Kaiser
und mit ihm sanken die Hoffnungen des armen Verbannten ins Grab. In
Tiberius' kaltem Herzen fanden die aus Tomi kommenden Rufe keinen
Widerhall. Ovid sah sein geliebtes Rom nicht mehr und starb in der Ver-
bannung, wahrscheinlich im Jahre 18 n. Ch.
Das Jahr der Verbannung. Die Streitfrage ist, ob Ovid im J. 9 oder 8 n. Ch.
verbannt wurde. Zur Entscheidung dienen folgende Stellen: P. 4,6,5 heisst es:
In Scythia nohis qninquennis oli/mpMS acta est:
tarn tempus lustri transit in alterius.
Dieses Gedicht setzt (vgl. v. 17) den erst kürzlich eingetretenen (recens) Tod des Augustus
(19. Aug. 14 n. Ch.) voraus. Diese Nachricht wird kaum vor Oktober nach Tomi gelangt
sein. Wenn er also im Oktober des J. 14 n. Ch. bereits 5 Jahre in Tomi war, so rauss er
Oktober 9 n. Ch. schon dort gewesen sein. Eine zweite Zeitangabe erhalten wir aus Pont.
4, 13, 40, wo er bald nach dem Tod des Augustus schreibt me iam nirali sexia relegatum
bnima »üb axe videt. Zählen wir vom J. 14 zurück, so ist der erste Winter seines Auf-
enthaltes „suh axe nirali*^ 9/10. Es hängt nun alles davon ab, zu entscheiden, ob der
erste in Tomi zugebrachte Winter 9/10 auch der erste seit der Verbannung Ovids war
oder ob noch ein Winter auf die Reise fiel. Das letztere ist der Fall. Im Dezember des
Vorbannungsjahrs befand sich Ovid auf seiner Reise nach Tomi noch im adriatischen Meer
(T. 1,11,3). Die Seereise war eine stürmische und langwierige (T. 1, 4u. 5 1,11,13
3,1,12 3,1,42). Aber es kamen noch zwei Fussreisen hinzu, einmal über den Isthmus
von Corinth, dann die durch ganz Thracien nach Tomi. Auch muss er sich unterwegs an
manchen Orten länger aufgehalten haben, denn er empfing Nachrichten von Rom (T. 1,6, 8
1,9,39). Schon diese Momente ergeben die volle Unwahrscheinlichkeit, dass Ovid noch im
Winter 9/10 in Tomi anlangte. Er müsste — eine neue Schwierigkeit — in diesem Fall
mitten im Winter durch Thracien zu Fuss gereist sein. Vielleicht darf aber aus dem
Wunsch T. 1, 11, 44 geschlossen werden, dass schon der Frühling nahte, als er die thracische
Küste erreicht«. Der Schluss aus dem Vorstehenden ist einfach: War der Winter 9/10
nicht der erste seit der Abreise von Rom, so muss Ovid gegen Ende des J. 8 in die
Verbannung gegangen sein.
Entwicklung der Ovidisohen Dichtung. 129
Litteratur: Für den MASSON^schen Ansatz 9 n. CH. erhob sich in neuester Zeit
Bbajtdes (Fleckeis. J.. 115, 353). Schlagende Widerlegung fanden seine Ausführungen durch
Graisbeb, QuaesU Ovid. p. I p. 111 und Matthias, Fleckeis. J. 129, 202.
Die Ursachen der Verbannung Ovids. £in zweifaches Vergehen gibt Ovid
als den Anlass zu seiner Relegation an (T. 2, 207). Bas erste war ein Gedicht. Dass dies
seine Ars war, steht durch das zweite Buch der Tristia — anderer Stellen nicht zu ge-
denken — fest. Das andere Vergehen charakterisiert er öfters nach dem Grad der subjek-
tiven Schuld; bezüglich des objektiven Thatbestands lässt er sich nur zu folgenden
Äusserungen bei (T. 2, 103):
cur aliquid vidi? cur noxia lumina feci?
cur imprudenti cognüa cuJpa mihif
und T.3,5,49:
inscia quod crimen viderunt lumina plector
peccatumque ocülos est habuisse meum,
Damach hat Ovid eine strafbare Handlung wider Willen mit angesehen. Was er ge-
sehen, sagt er nirgends; nur soviel erfahren wir, dass er darüber schweigen muss, um
nicht die Wunden des Augustus wieder aufzureissen (T. 2, 208) und dass auch die Scham
rät, die Übelthat in Finsternis zu hüllen (T. 3,6,31). Auf der andern Seite gibt er negative
Andeutungen, aus denen wir schliessen müssen, dass das Vergehen nicht gegen die Person
des Kaisers gerichtet war, also keinen politischen Charakter hatte (T. 3, 5, 43). Dies alles
erwogen, werden wir zunächst an eine unsittliche Handlung, welche in der kaiserlichen
Familie vorkam, zu denken haben. Diese Bestimmung des einen crimen als eines sitt-
lichen Delikts gewinnt aber noch einen höheren Grad von Sicherheit, wenn wir das andere
crimen ins Auge fassen. Die Ars wurde circa 1 v. Gh. veröffentlicht. Die Verbannung
Ovids fiel aber in das J. 8 n. Ch. Nach so langer Zeit konnte das Gedicht doch nur dann
einen Anklagepunkt gegen Ovid bilden, wenn es in irgend einen Zusammenhang mit dem
zweiten crimen gebracht werden konnte. Auf einen Konnex der beiden crimina deuten aber
die Worte des Dichters von seiner Musa, die ihn allein gerecht zu beurteilen wisse (T. 4, 1, 25) :
scilicet hoc ipso nunc aequay quod obfuit ante,
cum mecum adiuncti criminis acta rea est.
Der Zusatz „adiuncti** besagt, dass das litterarische crimen nicht für sich dasteht, sondern
mit dem zweiten konkurriert. Da er aber von diesem Gedicht sagt (2,212):
arguor obscoeni doctor aduUerii,
so wird man das zweite crimen als ein ehebrecherisches Verhältnis aufzufassen haben, und
weiterhin statuieren müssen, dass auf die Schuldigen die Ars nachweislich Einfluss hatte.
Nur Hypothese ist es, dass der Ehebruch, den die Enkelin des Augustus, Julia, mit Silanus
begangen, das Verbrechen war, in das Ovid verwickelt wurde; allein diese Hypothese wird
se^ kräftig durch die Thatsache gestützt, dass die Julia in demselben Jahr verbannt
wurde wie Ovid (Tac. A. 4, 71). Es erübrigt noch, nachdem das crimen festgestellt, die
Schuld Ovids zu bestimmen. Er selbst nennt sie einen error (T. 2,207 4,10,89 4,1,23),
eine stuttitia (T. 3, 6, 35 1,2, 100), eine simplicitas (T. 1,5,42) und weist die Auffassung der-
selben als scelus zurück. Allein diese Allgemeinheiten führen nicht weit. Mehr hilft, dass
er durch seine Handlungsweise keinen Vorteil erzielt (T. 3, 6, 33) und nichts gethan haben
will, was durch Gesetze verboten sei (P. 2,9,71). Wir sehen, dass wie das crimen, so
auch die culpa nur durch Hypothese bestinmit werden kann. Es ist dies folgende: Ovid
wurde wider Willen Zeuge des ehebrecherischen Verhältnisses der Julia; hier war noch
keine Schuld gegeben, diese trat erst ein, als Ovid dasselbe nicht hinderte, sondern dazu
schwieg, vielleicht dasselbe sogar begünstigte. Die Furcht vor Unannehmlichkeiten mag
mitbestinmiend gewesen sein; und wirklich spricht er neben dem error, der ihn zu Falle
gebracht, auch von dem timor (P.2,2,17 T.4,3,39).
Litteratur: Die Hypothesen über den Gegenstand sind sehr zahlreich. Von den
jüngsten Bearbeitern- verständig Apfel, Quibus de causis Ov, ah Augusto relegatus sit,
Berl. 1872; völlig verfehlt Schobkanv, Phil. 41, 171 und Hubeb, Die Ursachen der Ver-
bannung des 0., Regensb. 1888. (Willkürlich Ellis, Ibis p. XXVIII Isidos sacra Ovidium
violasse existimo, ita tamen iä cum infamia id Caesarum coniunctum fuerit.)
Ovids Todesjahr. Hieronymus (2, 147 Seh.) setzt den Tod Ovids in das Jahr 17 n. Ch.
Nach der Anspielung der Fasti 1, 223—226 auf den im Oktober 17 n. Ch. geweihten Janus-
tempel muss man aber vermuten, dass Ovid noch Frühjahr 18 n. Ch. erlebte; denn vor
dieser Zeit konnte die Nachricht von jener Einweihung kaum in Tomi angelangt sein
(Mbbkel, Fasti p. CCLXVU; Matthias, Fleckeis. Jahrb. 129,213).
292. Entwicklung der Ovidischen Dichtung. Die dichterische Thä-
tigkeit Ovids beginnt etwa mit seinem zwanzigsten Lebensjahre und währte
Haudbncfa der klaw. AUcrtuoMwiiBcnflcfaaft. VIIL 2. Teil. 9
130 Komische Lüteratnrgesohichte. IL IHe Zeit der Monarchie. 1 Abteilimg.
bis zu seinem Tode, urafasste sonach einen Zeitraum von ungefähr vierzig
Jahren. Ovid fand den Weg zur Poesie von der Rhetbrschule aus, und
in der Manier der Schule schrieb er Liebeselegien, deren Mittelpunkt
Corinna war, und Liebesbriefe, welche mythische Frauen an ihre abwesen-
den Geliebten richteten. Eine höhere Stufe erklomm der Dichter, indem er
zur leichten didaktischen Behandlung der Liebe fortschritt. Nachdem so
dieses Gebiet nach allen Seiten durchfurcht war, lenkte er in Oberaus glück-
licher Weise seine Blicke auf die Sagenwelt und zwar sowohl auf die
griechische als die heimische; aus jener schöpfte er die Mythen, welche
mit Verwandlungen der handelnden Personen enden, aus dieser die Er-
zählungen von Festen und religiösen Gebräuchen, wie sie sich an den
Kalender anschliessen. Es war der Höhepunkt in seinem dichterischen
Schaffen. Die Verbannung nach Tomi brachte den Verfall; des gebrochenen
Dichters Muse geht fast ganz in dem eintönigen Klagelied auf. Es heben
sich also drei Perioden in den Ovidischen Dichtungen ab, sowohl dem Stoff
als der Zeit nach; die erste Periode umfasst die Liebespoesien, die
zweite die Sagengedichte, die dritte die Dichtungen von Tomi. Der
Glanzpunkt seiner Werke sind die „ Liebeskunst " und die , Verwandlungen";
dort bewundern wir das geniale Spiel mit dem Stoff, hier die wundervolle
Anschaulichkeit und Anmut der Erzählung.
o) Erste Periode der Ovidischen Dichtung: Die Liebespoesien.
293. Chronologie der Liebespoesien. Ovids Liebespoesien sind:
1) die erotischen Elegien (Amores); 2) die Liebesbriefe (Heroides); 3) die
Verschönerungsmittel (De medicamine faciei); 4) die Liebeskunst (Ars ama-
toria); 5) die Heilmittel der Liebe (Remedia amoris). Über die chrono-
logische Reihenfolge erhalten wir aus Ovid folgende allgemeine Aufschlüsse.
Der Ars gingen voraus die Amores und die Heroides, denn es wird in
derselben auf diese Werke als publizierte hingezeigt (3, 343). Ebenso lag
auch vor der Ars „De medicamine'' dem Publikum vor, da die Ars 3, 205
die Frauen zur Lektüre des Schriftchens auffordert. Dagegen sind nach
der Ars die Remedia geschrieben (71), wenn auch nicht unmittelbar nach
derselben, da der Dichter bereits von der Aufnahme spricht, welche die
Ars beim Publikum gefunden (361). Schwieriger ist die Frage über das
chronologische Verhältnis der Amores und Heroides zu einander. Die
Heroides werden Am. 2, 18, 21 erwähnt; eine Ausgabe derselben musste
damals bereits publiziert sein, denn sonst hätte Sabinus nicht den Versuch
machen können, Antworten auf die Briefe der Frauen zu verfassen. Sonach
müssten wir den Heroides die Priorität vor den Amores einräumen. Allein
dem widersprechen die Worte (T.4, 10, 57, vgl. Am. 3, 12, 16):
carmina cum primum poptdo iuvenilia legi,
barba resecta mihi bisve semelve fuit.
moverat ingenium totam carUata per urbem
nomine non vero dicta Chrinna mihi.
Diese Verse besagen, dass Ovid zuerst durch Corinnalieder in Rom als
Dichter bekannt wurde und dass dieser Ruhm seinen Geist zu weiteren
Versuchen anregte, mit denen er dann selbst vor das Publikum trat. Dass
Ovids Liebeapoesien. 131
aber diese Versuche das Feld weiter pflegten, auf dem er Anerkennung
fand, ist höchst wahrscheinlich. Da nun die Corinnalieder den Mittelpunkt
der Amores bilden, so müssten sie demnach das erste Werk Ovids sein.
Die beiden miteinander in Disharmonie stehenden Ergebnisse finden ihre
Ausgleichung durch die Angabe des Dichters, dass die Amores in zwei
Ausgaben erschienen, die erste in fünf, die zweite in drei Büchern. Führt
auch diese Angabe zunächst darauf, dass in der zweiten Auflage der Amores
eine grössere Anzahl von Elegien ausgeschieden worden, so schliesst sie
doch nicht aus, dass in der neuen Ausgabe das eine oder das andere Ge*
dicht hinzukam, und gerade von der Elegie 2, 18 ist dies sehr wahrschein^
lieh, da sie neben den Heroides noch die Ars nennen. Ist diese Vermutung
richtig, so können die Heroides zwischen der ersten und zweiten Ausgabe
der Amores in die Öffentlichkeit gekommen sein.
Nach dieser allgemeinen chronologischen Fixierung wenden wir uns
zu den Einzeldata. Der Anfang der Corinnalieder ist nach der obigen
Stelle etwa ins Jahr 22 v. Gh. zu setzen. Das früheste Ereignis, das wir
in den Amores eruieren können, ist der Tod TibuUs im Jahre 19 v. Gh.
(3, 9). Das jüngste Ereignis, das erwähnt wird, ist der Sieg des Augustus
über die Sigambrer im Jahre 15 v. Gh. (1,14,45). In der Ars finden sich
zwei Zeitanspielungen im ersten Buch, einmal (1, 171) gedenkt der Dichter
der Naumachie, welche eben (modo) Augustus zur Einweihung des Mars-»
tempels gegeben (Vell. 2, 100), dann des zum Feldzug gegen die Parther
abziehenden (1, 203) Gaius Caesar; das erstere geschah Ende 2 v. Gh., das
zweite 1 v. Ch.^ Da die Remedia noch nicht die Besiegung der Parther
und den im Jahre 1 nach Gh. zu stände gekonmienen Friedensschluss zur
Voraussetzung haben, so müssen die Ars und die Remedia also vor diese
Zeit fallen. Wir hätten sonach für beide Werke das Intervallum 1 v. Gh.
bis 1 n. Gh. Allein es darf hierbei nicht übersehen werden, dass dor
Dichter schon länger vorher an der Ars gearbeitet haben mochte, denn
die Partie, in der jene Zeitandeutungen vorkommen, konnte, wie schon das
lockere Gefüge zeigt, erst bei der Herausgabe des ersten Buchs hinzu-
gefügt worden sein.
Vgl. Hettwes, De tempore quo Ovidii Amores Myoides Ars am. conscripta cUque edita
sitU, Mttnster 1883, der die Frage nicht gefördert hat.
294. Liebeselegien (Amores). Es sind drei Bücher, ursprünglich
waren es nach dem vorausgeschickten Epigramm fünf. Die Sammlung
liegt also in einer zweiten Ausgabe vor. Fast alle Stücke bewegen sich
in dem Stoff, den der Titel ankündigt. Unter den wenigen, welche aus
dem Rahmen heraustreten, sind die hervorragendsten die bekannte Elegie
auf den Tod Tibulls (3, 9) und die Schilderung eines Festzuges zu Ehi'en
der Juno (3, 13), ein Vorläufer des poetischen Festkalenders. Die Liebes-
lieder gruppieren sich zu einem grossen Teil um die Geliebte „Corinna*.
Wer ist unter der Hülle dieses Namens verborgen? Wir wissen, wer die
Lesbia des Gatull, die Delia des TibuU, die Gynthia des Properz war; da-
gegen wer die Corinna gewesen, erfahren wir nirgends. Selbst zu des
») Petkr, Gesch. Roms 3, 76.
132 Römisohe LitteratargeBohichte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
Dichters Zeiten fragte man neugierig nach derselben (Ars 3, 538), man
scheint es nicht erfahren zu haben, wohl aber will der Dichter gehört
haben, dass die eine oder die andere sich falschlich für die Corinna aus-
gab (2, 17). Diese Corinna existierte nur in dem Geiste des Dichters;
er brauchte sie, um seine Phantasiestücke zu individualisieren. Es klang
doch ganz anders, wenn er sagte „Corinna ist mein" (2, 12), als wenn es
bloss hiess „Ich liebe **, und dann der Siegeszug Amors nachfolgte (1, 2).
So muss Corinna die Figur fQr eine Reihe erdichteter Situationen machen,
der Dichter lässt ein Billet doux an sie gelangen (1,11), die Antwort der-
selben lautet zu seiner grossen Betrübnis auf ein Nein (1, 12), sie spielt die
Spröde (2, 17), ihr Papagei ist gestorben (2, 6), sie tritt eine Seereise an
(2, 11), sie ist krank (2, 13). Keines dieser Lieder verrät eine tiefere
Empfindung, aus keinem leuchtet der Sonnenstrahl lebendiger Liebe, es
sind leichte Spiele der Phantasie. Noch mehr wird das Gemachte dieser
Poesien offenbar, wenn sie von der Corinna absehen und sich allgemein
halten. Hier begegnen uns förmliche an die Rhetorschule erinnernde
Übungen. Da wird das Thema „Die Liebe ist ein Kriegsdienst ** (1, 9) mit
Heiterkeit durchgeführt, ein andermal ist es die allzufrüh, besonders für
die Liebenden, erscheinende Aurora, die von dem Dichter gescholt.en wird
(1,13), ja sogar das den Hetären zu verabreichende Sündengeld wird mit
scheinbarem Ernst als eine ganz verwerfliche Einrichtung gegeisselt (1, 10).
Auch wo individuelle Situationen zu Grunde zu liegen scheinen, schaut das
Thema aus den Dekorationen hervor, wie in 3, 8 „Das Geld regiert auch
in der Liebe** oder in 2,19 „Nur die verbotene Liebe ist süss". Manche
Elegien fallen geradezu in einen lehrhaften Ton, geben z. B. Anleitungen,
wie das Mädchen vorteilhaft seine Schönheit ausnützen soll (1, 8), wie
sich die verheiratete Frau beim Mahl Mann und Buhlen gegenüber zu
verhalten hat (1, 4), oder reden eindringlich den Thürhütern und Eunuchen
zu, doch ein Einsehen zu haben und ein Auge zuzudrücken (2, 3 3, 4), be-
reiten sonach schon die „Liebeskunst** vor. Alle diese Dinge werden mit
spielender Leichtigkeit behandelt. Das Mythologische, auf das die antike
Elegie nicht verzichten will, wird sparsam eingestreut, nur zweimal, 3, 12
und 3, 6 alexandrinische Gelehrsamkeit ausgeschüttet. Abstossend auf den
modernen Leser wirkt die grosse Frivolität, welche sich in diesen Dich-
tungen unverhüllt hervorwagt. Eine Kleinigkeit ist es, dass er schildert,
wie er die Holde geschlagen, denn er braucht diese Scene, um ein Bild
der von Schreck über die Unbill Betroffenen (1,7) zu entwerfen; allein er
führt uns auch an das Bett der durch eine schimpfliche That an ihrem
Leibe darniederliegenden Corinna (2, 13), er geht noch weiter, er malt uns
eine Scene, dass wir uns mit Abscheu abwenden (1, 5), endlich bietet er
uns etwas so schmutziges, dass es der Übersetzer mit Stillschweigen über-
gehen muss (3, 7). Unser Groll löst sich aber fast in Heiterkeit auf, wenn
wir zu unserer Überraschung entdecken, dass gerade das imsauberste dieser
Gedichte, das letzte, kein Erlebnis darstellt, sondern eine Bearbeitung
eines Gedichtes des Philodemus von Gadara ist, nur dass, was der Grieche
zart andeutet, hier von aller Umhüllung frei auftritt, und die wenigen
Linien des Griechen durch grobe Pinselstriche zu einem vollen Bilde
(MdB LiebeapoeBien. 133
umgestaltet werden'.) Schon dieses eine Beispiel reicht hin, um uns vor
dem Glauben zu bewahren, dass bei Ovid ein Band zwischen Leben und
Dichtung bestünde. Es ist blosser Mutwillen, wenn er in alle verliebt sein
will; es ist das nur die Einkleidung des glänzenden Frauenspiegels, den
er entwirft (2, 4) ; es ist harmloser Scherz, den er mit seinem Freund Grae-
cinus treibt, wenn er frohlockt, dass er es fertig gebracht, zu gleicher Zeit
zwei zu lieben (2,10); es ist endlich nur ein Kunstmittel, wenn er, ein
Vorgänger Heines, absichtliche Dissonanzen schafft und die eine Empfin-
dung durch die entgegengesetzte aufhebt. Nur um des Effektes willen
ruft er erst in heissem Flehen zu Amor „ Genug *", im nächsten Moment
»Nur zu* (2,9), droht der Untreuen und schilt sie, um sofort wieder in ihre
Arme zu sinken (2, 5), leugnet in der einen Elegie seine Intimität mit der
Zofe ab, die er in der darauffolgenden zu einem süssen Stelldichein ein-
ladet (2, 7 und 8). Doch auch in diese Dämmerwelt bricht hie und da das
Licht herein und das eine oder das andere Gedicht ist von dem Gold-
schimmer der reinen Empfindung umwoben; in dem dritten Lied des ersten
Buchs klingt etwas wie von Liebesjubel und Liebesandacht durch, nur dass
die mythologische Anspielung schrill dazwischen fahrt, aus dem andern
(2, 16) hören wir die uns vertraut gewordenen Klänge „Ich will dir folgen
durch Wälder und Meer, durch Eis, durch Eisen, durch feindliches Heer*".
Allein es sind Ausnahmen. Nach der Rhetorstube Kunstgriffen und Blend-
werken schmecken diese Erzeugnisse, nicht spiegeln sie wie die unvergleich-
lichen Lieder CatuUs des Herzens auf- und abwogende Stimmungen, man
suche daher hier nicht das wahre Lebensbild, es findet sich dort nur das
Bild des Lebensbildes.
295. Die Heroides. — Die Stoffe, die von dem Dichter in diesen
Briefen behandelt werden, sind folgende:
1) Penelope an Ulixes. Troja ist längst genommen; du aber bist
noch nicht zurückgekehrt; ich bin in einer bejammernswerten Lage; mein
Vater drängt mich zu neuer Ehe; ich werde von Freiern umringt, die
schamlos unser Gut vergeuden; komme doch. Dies der Inhalt des Briefs.
2) Phyllis an Demophon. Der Sohn des Theseus Demophon war
nach langen Irrfahrten von der Königstochter Phyllis in Thracien freund-
lich aufgenommen worden und in engeren Verkehr mit ihr getreten. Bei
seiner Abreise in die Heimat hatte er versprochen bald wieder zu kommen,
allein sein Versprechen nicht gehalten. Phyllis ergeht sich in sehnsüch-
tigen Klagen und droht mit Selbstmord.
3) Briseis an Achilles. Die von Agamemnon dem Achilles ent-
rissene BriseYs beklagt sich in dem Brief, dass Achilles noch immer nicht
seinem Zorn entsage und so beweise, dass er auf ihre Wiedergewinnung,
welche durch Agamemnons Vorschläge ermöglicht werde, keinen Wert
lege, sie erwähnt des Gerüchts, dass er ohne sie in seine Heimat zurück-
kehren wolle, in feierlichem Schwur versichert sie, dass sie der Atride
nicht berührt habe.
*) Kaibbl, Philod, Gad, epigr., Greifew. 1885 p. XXI.
.134 Bömisohe litteratargesohiohte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilong.
4) Phaedra an Hippolytus. Phaedra gesteht ihrem Stiefsohn
schriftlich ihre Liebe, da ihr zu einer mündlichen Erklärung der Mut ge-
bricht. Der Brief entwickelt sehr bedenkliche Grundsätze der Moralität
z. B. Juppiter esse pium statuU, quodcumque iuvaret (133).
5) Oenone an Paris. Als Paris noch Hirte und nicht als Sohn des
Priamus erkannt war, lebte er in trautem, glücklichem Umgang mit der
Nymphe Oenone. Dieses Glück, das der Eingang des Briefs ausmalt, wird
durch das bekannte Schiedsgericht zerstört. Paris segelt ab und kehrt
mit der Helena zurück. In ihrer Verzweiflung schreibt die Nymphe an
den ehemaligen Geliebten, um ihm die Buhlerin in wahrem Lichte darzu-
stellen.
6) Hypsipyle an Jason. Hypsipyle, die Tochter des Königs Thoas
von Lemnos, hatte, als die Frauen von Lemnos sämtliche Männer ermor-
deten, ihren Vater dem Verderben entzogen und verborgen. Sie regierte
als Königin die Insel. Da landeten die Argonauten auf ihrem Zug nach
dem goldenen Vliess und traten mit den Frauen in Verkehr. Jason hatte
sich Hypsipyle erwählt. Mehrere Jahre blieben die Argonauten auf der
Insel. Geraume Zeit nach der Abfahrt vernahm Hypsipyle, welche dem
Jason während seiner Abwesenheit Zwillinge geboren, dass dieser mit Medea
nach Thessalien zurückgekehrt sei. Sie ruft ihm daher in dem Schreiben
seine Treulosigkeit ins Gedächtnis, stellt sich der Giftmischerin gegenüber
und bricht zum Schluss in heftige Verwünschungen gegen Medea aus.
7) Dido an Aeneas. Die Situation ist: Aeneas ist im Begriff,
Carthago zu verlassen. Obwohl Dido wenig Hoffnung hat, ihn zurück-
zuhalten, so will sie doch nochmals alle Gründe vorbringen, welche ihn
zum Bleiben bewegen können. Wenigstens bittet sie um Aufschub der
Abreise. Wenn auch diese Bitte kein Gehör finden sollte, so ist sie ent-
schlossen, sich mit dem troischen Schwerte zu töten.
8) Hermione an Orestes. Hermione, die Tochter des Menelaus
und der Helena war in der Abwesenheit des Vaters von ihrem Grossvater
mit Orestes vermählt worden. Menelaus hatte sie dagegen in Unkenntnis
dieses Vorgangs dem Neoptolemus versprochen. Dieser hielt sich an das
gegebene Versprechen und führte Hermione mit Gewalt hinweg. In ihrer
verzweifelten Lage wendet sich Hermione an ihren Gatten Orestes und
bittet um Befreiung.
9) Deianira an Hercules. Die Gattin des Hercules beklagt sich
über die Untreue ihres Gemahls und seine neue Liebe zur Jole. Sie malt
besonders seine schimpfliche, weibische Knechtschaft unter Omphale aus.
Doch darüber hatte sie nur durch Erzählungen Kunde' erhalten; jetzt aber
sieht sie mit eigenen Augen das schmachvolle Treiben des Gatten, Jole
erscheint ihr als Siegesbeute von Oechalia. Mitten im Schreiben kommt
ihr die Kunde, dass Hercules an dem Gewand, das sie ihm zugeschickt,
zu Grunde gehe. Sie hatte dasselbe mit dem Gift bestrichen, das ihr einst
der Kentaur Nessus als ein Mittel, die erstorbene Liebe des Gatten wieder
anzufachen, überreicht hatte. Sie erkennt jetzt zu spät, dass sie der
Kentaur getäuscht und beschliesst, in den Tod zu gehen.
OTidB Liebespoeaien. 135
10) Ariadne an Theseus. Die auf einer Insel von Theseus zurück-
gelassene Ariadne schildert ihre hilflose Lage.
11) Ganace an Macareus. Diese Kinder des Aeolus entbrannten
in unnatürlicher Liebe zu einander. Es blieben die Folgen nicht aus; da-
durch kam das Verbrechen zur Kenntnis des Vaters. Aeolus lässt das Kind
aussetzen und schickt der Ganace ein Schwert, damit sie sich selbst töte.
Ehe sie in den Tod geht, richtet sie einen Abschiedsbrief an den Bruder.
12) Medea an Jason. Medea war von Jason aus dem Hause ge-
wiesen worden; als sie dasselbe mit ihren zwei Kindern verlassen, drang
Hochzeitsgesang zu ihren Ohren. Sie musste von einem ihrer Kinder ver-
nehmen, dass dieser der Vermählung Jasons mit GrSusa gilt. In leiden-
schaftlicher Stimmung schildert sie, was sie alles um des geliebten Mannes
willen gethan und erduldet, und fleht um Erbarmen, doch sieht man am
Schluss das RachegefUhl bereits lodern.
13) Laodamia an Protesilaus. Laodamia schreibt an ihren Ge-
mahl Protesilaus, der mit dem Griechenheer gegen Troja gezogen ist, das,
wie sie vernommen, durch widrige Winde in Aulis zurückgehalten wurde.
Sie schildert den herben Schmerz des Abschieds, gibt ihren bangen Sorgen
Ausdruck und bittet ihn, sein Leben zu schonen. Am Schluss erwähnt
sie auch die Wachsfigur, die sie sich nach dem Bilde des Protesilaus ge-
macht, um mit ihr der Liebe zu pflegen.
14) Hypermnestra an Lynceus. Danaos hatte seinen Töchtern
befohlen, ihre Männer, die Söhne seines Bruders Ägjrptos, der ihn ver-
trieben, in der Brautnacht zu ermorden. Alle gehorchten dem Befehl mit
Ausnahme der Hypermnestra, welche deshalb von ihrem Vater eingekerkert
ward. In eindringlicher Weise erzählt sie in dem Briefe, wie ihr beim
Versuch, den Gatten zu töten, die Kraft gebrochen. Sie bittet den ent-
flohenen Lynceus um Hilfe oder wenigstens um eine dankbare Grabschrift.
15) Sappho an Phaon. Der geliebte Phaon hat sich, ohne Abschied
zu nehmen, nach Sicilien begeben. Sappho klagt ihm ihr Liebesleid, flicht
ihre Familienverhältnisse ein und gedenkt des ihr von einer Nymphe an-
geratenen Sprungs vom leucadischen Felsen, welcher ihre Leidenschaft in
die Brust Phaons überleiten soll.
Echtheit des Sapphobriefs. Die eigentümliche handschriftliche Überlieferung
war es, welche zuerst Zweifel an der Echtheit des Briefs erregte. Die Epistel fehlt in den
ältesten Handschriften der Heroides, in den jQngeren steht sie entweder vor den flbrigen
Briefen oder nach denselben; man findet sie auch mit andern Ovidischen Schriften oder
mit anderen Autoren vereinigt. Den Namen „Ovid* trägt sie nur in einigen Codices des
15. Jahrh. In der That eine schlechte Beglaubigung. Allein dieselbe wurde wesentlich
verbessert durch die Exzerpte der zwei Pariser Codices 17903 s. XIII \md 7647 s. XIII,
welche Auszüge aus unserm Brief geben, und zwar zwischen Auszügen aus dem 14. und
16. Brief. Die Zusammenstellung der Exzerpte wird in das 9. oder 10. Jahrh. verlegt.
Sonach steht fest, dass es eine alte Überlieferung gab, in welcher der Brief der
Sappho in dem Corpus der Heroides an 15. Stelle stand. Damit ist aber die
Annahme, der Brief könne in der Humanistenzeit verfaast sein, bereits hinfällig geworden.
Nun steht durch eigenes Zeugnis Ovids (Am. 2, 18, 26) fest, dass er einen Brief der Sappho
schrieb. Auch das scheint dem Zweifel entrückt zu sein, dass der Hinweis auf unsere
Epistel, den Ovid selbst gibt, nicht mit derselben in Widersnruch steht. Sappho will sich
vom leukadischen Felsen herabstürzen, damit sie ihrer Liebe los werde und diese in Phaon
übergehe. Sie macht für den Fall des Gelingens des Sprungs ein Gelöbnis (181):
inde chelyn Phoeho, communia munera, ponam.
186 Komische Litteratargeschiohte. II. Die Zeit der Monarohie. 1. Abteilnng.
Ein von Sabinns verfasstes Antwortsclireiben Phaons läast den Wunsch der Sappho erffiUt
sein und sie ihr Gelöbnis vollziehen (Am. 2, 18,34):
det voiam Phoebo Leshia amata lyram.
Das Partizipium amata drückt aber die Folge des Sprunges vom leukadischen Felsen aus.
Die unversehrt gebliebene Sappho ist von ihrer Liebe geheilt, Phaon dagegen verliebt.
Sie kann daher das Gelobte vollbringen.
Es könnten also nur noch innere Grfinde sein, welche uns zwingen, die Autorschaft
Ovids aufzugeben und zur Annahme zu schreiten, dass an Stelle des echten Briefs ein
unechter getreten sei. Auf einen solchen hat LACHiCAim hingewiesen; die 139 erwähnte
furialis Erichtho soll aus Lucan 6,508 entlehnt sein; demnach könne das Gedicht erst
nach der Zeit Neros entstanden sein. Allein die dort auftretende Erichtho ist eine thes-
salische Zauberin und Totenbeschwörerin, von der unsrigen, einer Furie, verschieden. Die
Erichtho war bereits vor Lucan bekannt, dies beweist die Würzburger Phineusschale, in
der eine Frau, welche als Erichtho bezeichnet wird, dem blinden Phineus zur Seite steht.
Hier haben wir wieder ein ganz anderes Wesen vor uns (Dtjhk in der Heidelb. Festschr.
1882 p. 122); Erichtho muss daher in der Sage verschiedene Entwicklungen durchgemacht
haben, sie ist aus einem Meereswesen zur bösen Frau geworden. Eine Abhängigkeit unserer
Epistel von Lucan ist damit ausgeschlossen. Es bleiben noch einige metrische Anstösse:
die Wiederholung desselben Satzes in den beiden Hälften des Pentameters Vers 40, eine
Elision Vers 96, die metrische Gestaltung von Vers 113, allein wenn man die schlechte
Überlieferung des Stücks in Rechnung zieht, wird man hier lieber Sünden der Abschreiber
annehmen als Unechtheit des ganzen Gedichts.
Geschichte der Frage: Brennend wurde die Frage durch die Abhandlung
ScHNEiDEWiNs, der Rh. Mus. 2, 138 (1843) den Brief als ein Werk der Humanistenzeit hin-
stellte, diese völlig unhaltbare Ansicht jedoch angesichts der Pariser Exzerpte selbst zurück-
zog (3, 144). Gegen denselben richtete einige Bemerkungen Welckbb, Kl. Sehr. 2, 116 (1845).
Allein das kurze Yerdammungsurteil, welches Lachxakn 1848 (El. Sehr. p. 57) über den
Brief aussprach, lag wie ein Bann auf demselben. Erst 1876 suchte Gokpabetti, suüa
epistola Ovidiana etc, (Pubblic. dell Inst, di studi superiori vol. 2 n. 1) denselben zu brechen,
ihm schlössen sich an BXhreks, Riv. di filoL 13 (1884) p. 49, der Holländer de Vries,
Epistula Sapphu8 ad Phaonem, Leyden 1885 (Berl. 1888), der mit der Untersuchung eine
Ausgabe mit reichem, aber wenig gesichtetem kritischem Apparat verband, der Rumäne
Barbu, De Sapphua Episttda, Berl. 1887. Trotz dieser Verteidigungen ist noch immer der
Glaube an die Unechtheit der herrschende, vgl. Teuffel-Sohwabe, R. L. § 248; Ribbeck,
Rom. Dicht. 2, 260; Birt, Rh. Mus. 32 (1877) p. 388, 2 p. 340, dessen Bedenken Bodenstein,
Studien zu Ov. Her., Merseburg 1882 zu widerlegen sucht (p. 13), ohne jedoch selbst von
Hin- und Herschwanken loszukommen.
16) Paris an Helena. Paris weilt als Gastfreund im Hause des
Menelaus in Sparta. Als der letztere nach Greta abgereist war, richtet
Paris einen Brief an Helena, um sie zur Entscheidung zu drängen. Er
führt aus, nicht der Zufall, sondern die Liebe zu Helena habe ihn nach
Sparta geführt, sie sei ihm ja infolge seines Schiedsgerichts von der Venus
zugesprochen worden. Er gibt eine Schilderung von seinem Schiedsrichter-
amt und reiht hieran die Erzählung von seiner Abfahrt. In der Warnung,
welche ihm hiebei Gassandra zurief, wie schon vorher in einem Traum
seiner Mutter vor seiner Geburt erkennt er nur Hinweisungen des Schick-
sals auf seine glühende Liebe. Der Anblick der Helena übertrifft alle
seine Erwartungen. Um ihre Gunst zu gewinnen, hebt er den Ruhm seines
Geschlechts und den Glanz Trojas, der sie erwarte, hervor. Die Eifersucht,
heisst es weiter, verzehre ihn, wenn er die Liebkosungen des Menelaus
mitansehen müsse, er müsse um jeden Preis in ihren Besitz gelangen ; jetzt
biete die Abwesenheit ihres Gatten, den er nebenbei verhöhnt, die günstigste
Gelegenheit, zur That zu schreiten; wegen der Folgen, sei es selbst der
Krieg, möge sie, wenn sie mit ihm ziehe, unbesorgt sein.
Echtheit der Verse 39—142. Wir hahen in unserer Analyse auch die Verse
39 — 142, welche in der Ausgabe von Merkel ganz beseitigt sind, herangezogen, überzeugt,
dass dieselben von dem Verf. des Briefs herrühren. Handschriftliche Grewähr fehlt den-
Ovida LiebeBpoeaieii. 137
Beiben; in den noch vorhandenen Handschriften, wie in der griechischen Übersetzung des
Maximus Planudes kommen sie nicht vor; sie erschienen zuerst in der editio Parmensis
1477 und in der Yincentina 1480, welche im Registrum ausdrücklich bemerken, dass jene
104 Verse aus einem andern Codex abgedruckt wurden. Allein trotz dieser geringen Be-
glaubigung müssen die Verse als echt angesehen werden; denn wenn sie weggelassen
werden, wird die Rede sowohl in der jenen Versen nachfolgenden als- in der ihnen voraus-
gehenden Partie an je einer Stelle beziehungslos. Auf die Verse (37)
ante tuos animo vidi quam lumine vuUus:
prima fuit miltus nuntia fama tui
folgen, wenn 39—142 gestrichen werden, unmittelbar
credis et hoc nohis? minor est tua gloria vero,
famaque de forma paene maligna fuit.
Mit hoc wird auf „minor est tua gloria vero** als etwas Unerwartetes, Ausserordentliches
hingedeutet. Die Konjunktion et besagt aber, dass auch schon im Vorausgehenden etwas
Ungewöhnliches vorgebracht war. Dies liegt aber nicht in den Worten prima fuit vuUus
nuntia forma tui, wohl aber in dem ausgeschiedenen Text (v, 189 f.) Im Vers 17 heisst es:
namque ego divino motu — ne nescia pecees —
advehor, et coepto non leve numen adest.
Danach wird Helena als bisher unwissend in Bezug auf den Anlass von Paris' Ankunft dar-
gestellt. Auch der Eingang ihrer Antwort bestätigt das. Allein wenn Paris diese Un-
wissenheit entfernen will, so muss er auf sein Schiedsrichteramt eingehen, die Andeutungen
in Vers 20, 35, 163 reichen keineswegs aus. Erst durch die Ergänzung wird Helena völlig
belehrt. Es kommt hinzu, dass in der Antwort der Helena, die sich an den Brief des
Paris genau anschliesst, auf manches Bezug genommen wird, was in der ausgeschiedenen
Partie steht; so spielt z. B. Helena auf den Traum der Mutter des Paris an (17,239 = 16,45),
femer auf die Unheil verkündende Weissagung der Cas^andra (wenngleich übertreibend
mit ferunt 17, 241 = 16, 121), auf das Liebesverhältnis des Paris zur Oenone (17, 198 =
16,96), auf das Versprechen der Venus beim Schiedsgericht (17, 118 und 126 = 16,85).
Weder metrisch noch sprachlich bieten sich Anstösse dar. Sonach ist es unmöglich,
diese Partie als eine Fälschnng der Humanistenzeit anzusehen. Dagegen spricht auch die
auffallende Gleichheit der Verse 100 und 101 mit dem Epigramm der Anthologie nr. 702
Reese, das nur in einer einzigen (jetzt verlorenen Handschrift) überliefert wurde; die Be-
kanntschaft eines Humanisten mit demselben wäre sehr wunderbar. Vgl. Birt p. 840. —
Noch mehr spricht dagegen, dass sowohl den unbestrittenen als den bestrittenen Teilen
nachweislich dieselbe Quelle, die Eyprien zu Grunde liegt, femer dass in beiden Teilen
auch dieselben Abweichungen von der Grundfabel zu Tage treten (Wetzbl p. XLI).
Litteratur: Nach dem Verdammungsurteil, das Über die Verse LAOHicAinf fällte,
nahmen sich derselben an Birt, Gott. Anz. 1882 p. 841. Peters, Observ, ad Heroid. p. 60.
Wetzel in 'Em^aXäfAioy, Göttingen 1890 (als Manuskript gedruckt), der in neuer Weise das
Kriterium in der Quellenfrage sieht. Sedlmayeb, der fiüher die Echtheit der Verse fest-
hielt, gab später diese Ansicht auf (Erit. Komment, p. 88). Auch Ribbeok scheint sie für
eingeschoben zu halten, da er sie in seiner Analyse des Briefs nicht berücksichtigt (p. 253).
17) Helena an Paris. Ein interessanter Brief, da er eine sehr
genaue Kenntnis des weiblichen Herzens verrät. Helena kann den schmeich-
lerischen Worten des Paris nicht widerstehen, das schöne Weib ist stolz
darauf, dass er sie den von den zwei andern Göttinnen versprochenen
Gaben vorgezogen habe; sie sieht nicht ungern seine Liebe, denn wer
kann einem Liebenden zürnen? (37), allein sie vermag Bedenken verschie-
dener Natur nicht zu unterdrücken. Und auf dem Hin- und Herwogen
von Wollen und Nichtwollen beruht der eigentümliche Reiz dieses Briefs.
Allein wenn die Schreiberin sagt, dass ihr Zweifel über die Beständigkeit
der Liebe des Paris aufstossen, so ist ein deutlicher Fingerzeig gegeben,
dass Helena unterliegen wird ; auf diesen Ausgang bereiten auch die Schluss-
worte vor, welche Fortsetzung des heimlichen Verkehrs mit Hilfe der Ge-
sellschafterinnen der Helena wünschen.
18) Leander an Hero. Ein schon sieben Tage andauernder Sturm
hatte Leander in Abydos abgehalten, nach Sestos zur geliebten Hero zu
138 Römische LitteratnrgeBohiohte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilimg.
schwimmen. Er ist daher gezwungen, durch einen Schiffer einen Brief
nach Sestos zu senden. In demselben klagt er über den Boreas und gibt
ein anmutiges Bild von seinen nächtlichen Wanderungen zum Gegenstand
seiner Sehnsucht. Dann verweilt er bei der Betrachtung, dass er von
Hero, obwohl so nahe, doch getrennt sei. Er will, wenn der Sturm noch
länger andauert, doch versuchen, hinüberzuschwimmen, wenn nur seine
Leiche zu Hero gelangt. Freilich besser ist es, wenn das Tosen des Meeres
nur die Spanne Zeit aufhört, die er braucht, um hinüberzukommen; drüben
kann er ja warten.
19. Hero an Leander. Noch viel schmerzlicher als Leander em-
pfindet die Trennung Hero, welche fast der Last der Sehnsucht unterliegt.
Sie schildert, mit welcher Ungeduld sie den Geliebten jede Nacht erwartet
habe, wie sie nach vergeblichem Hangen und Bangen in Schlaf gesunken,
um von ihm zu träumen, sie vermag den Vorwurf nicht zu unterdrücken,
dass das Herüberkommen am Ende doch möglich gewesen, sie ergeht sich
in Zweifeln an seiner Treue, um dieselben doch wieder aufzugeben, sie schmäht
auf Neptun und berichtet zuletzt noch von einem beängstigenden Traum.
20. Acontius an Cydippe. Acontius aus Ceos verliebte sich in
Delos in die ebenfalls dorthin gekommene Cydippe. Um in ihren Besitz
zu gelangen, griff er zu -einer List, er warf in dem Tempel der Diana
vor die Füsse der Cydippe einen Apfel, auf dem die Worte standen: „Bei
der Diana schwöre ich, den Acontius zum Gemahl zu nehmen." Cydippe
hebt den Apfel auf und liest laut die darauf stehenden Worte, damit hatte
sie einen feierlichen Eid geleistet und die Göttin zur Wächterin desselben
gemacht. Nun war aber Cydippe bereits mit einem anderen verlobt; so
oft sie jedoch mit demselben verbunden werden sollte, wurde sie krank.
Die Krankheit der Cydippe gab Acontius den Anlass zu einem Brief. In
demselben behauptet er sein Recht auf Cydippe, weist auf ihre Krankheit
als eine göttliche Warnung hin, beklagt sich, dass er nicht am Bette der
Geliebten weilen könne, indessen ihr Bräutigam dort wohl sein Glück aus-
nütze, rät endlich, die Mutter in das Geschehnis einzuweihen und unter-
lässt endlich nicht, einiges Empfehlende über seine Person beizufügen.
21. Cydippe an Acontius. Cydippe, welche in aller Heimlichkeit
den Brief geschrieben, schildert ihre bejammernswerte Lage, da sie zwischen
zwei Liebhabern hin und her geschleudert wird. Sie erzählt ihre Reise
nach Delos, ihre Begegnung mit Acontius, die List mit dem Apfel. Ob-
wohl sie heftig gegen die Gültigkeit des erschlichenen Eides eifert, kann
sie doch nicht ihre Furcht vor der Rache der Diana unterdrücken. Den
von Acontius ausgesprochenen Verdacht, dass der Rivale seine Anwesen-
heit am Krankenbett der Cydippe zu Liebkosungen benütze, weist sie
zurück, es entschlüpft ihr sogar das Geständnis, dass sie demselben gegen-
über kühl geworden sei, und damit ist das Eis gebrochen. Sie will sich,
auch durch das delphische Orakel gewarnt, ergeben und hat daher auch
die Muttor ins Vertrauen gezogen. Das Übrige müsse sie in die Hand
des Acontius legen.
Echtheit der Verse 13—248, Unsere Analyse stützt sich auf den vulgären Text,
welcher 248 Verse umfasst, während Mebkels und Rieses Ausgaben das Gedicht mit dem
OvidB LiebeapoeBien. 139
12. Verse schlioasen. In der massgebenden Überlieferung der Heroides wie in der s. XIII
angefertigten griechischen Übersetzung des Maximus Planudes fehlen die Verse 13—248.
Von denselben wurden zuerst 13 — 144 durch die editio princeps Rotnana von 1471, dann
die edUio Veneta von 1474 bekannt; handschriftlich findet sich diese Partie im Guelferby-
tanus 297 s. XV, Cremifanensis 329 s. XV, Vindobonensis 3198 s. XV, Parisinus 7997
s. XV/XVL Die Verse 145 — 248 traten zuerst ans Licht in der editio Parmensis von 1474.
Diese gab also den Brief vollständig. Handschriftlich ist der ganze Brief tiberliefert in
dem Laut. 36, 27, dem am Schluss ein Blatt zugefügt ist, in dem die Verse 8—248 s. XVI
nachgetragen wurden (Sbdlmateb, Wien. Stud. 3, 158). In dem Vindob. und im Cremifan.
heisst es Heroidum Ovidii ultima reeen» reperta; auch in der editio Parmensis werden die
betr. Verse als aus einem andern Codex nachgetragen bezeichnet. Aus dieser Darlegung
ergibt sich, dass die in der gewöhnlichen Übenieferung fehlende Partie erst im 15. järh.
zur Kenntnis kam. Man hat daher an eine Fälschung eines Humanisten gedacht. Allein
schon der Umstand, dass die Partie in zwei Teilen bekannt wurde, lässt diese Annahme
als unglaubwtlrdig erscheinen. Es kommt hinzu, dass die Überlieferung jener Partien
solche Schäden zeigt, welche nur auf dem Wege längerer Fortpflanzung erwachsen sein
können. Doch das Entscheidende ist, dass es ganz unmöglich für einen Humanisten jener
Zeit war, das Detail, das er gibt, aus noch vorhandenen Schriften zu schöpfen. Die Er-
zählung geht auf ein Gedicht des Gallimachus zurück, das damals nicht mehr vorhanden
war; der einzige Schriftsteller, der noch aus dieser Quelle geschöpft, ist Anstaenetus. Ab-
gesehen davon, dass dieser Schriftsteller nur in einer einzigen, ehemals in Apulien befind-
lichen Handschrift fiberliefert ist und erst 1565 veröffentlicht wurde, so würde doch die
Bekanntschaft des Fälschers mit demselben Schriftsteller ihn nicht in den Stand gesetzt
haben, das zu bieten, was sich in dem Briefe findet. Der Brief hat manches, was Aristae-
netus nicht hat, so dass man deutlich ersieht, dass beide aus einer Quelle geschöpft
haben, nämlich aus dem Gedicht des Gallimachus. In bezug auf Metrik und Prosodie kann
gar nichts Anstössiges in dem Brief aufgefunden werden, auch an der Sprache lässt sich in
begründeter Weise nicht rütteln. Es ist daher nicht daran zu zweifeln, dass wie der An-
fang so auch das Folgende demselben antiken Verfasser angehört und dass durch Ablösung
von Blättern am Schluss der Briefsammlung in der massgebenden Überlieferung jener
Defekt entstanden ist.
Litteratur: Die Frage haben nach dem Verdammungsurteil Lachmanns behandelt
DiLTHBT, de CalHmachi Cydippa, der mit Luoiak Mfh<LEB, de re metr. p. 43 für die Echt-
heit mit guten Gründen eingetreten; ihm folgten Bibt, Gott. GeL Anz. 1882 p. 839; Peters,
Ohserv. ad Ov. heroid,, Leipz. 1882 p. 52. Dagegen haben sich für nicht antiken Ursprung
ausgesprochen Riese (Bursians Jahresber. 10. Bd. [1878] p. 20), dann uiiter Aufgeben seiner
früheren Ansicht Sedlmayeb, Krii Kommentar zu Ov. Her., Wien 1881 p. 75.
296. Echtheitsfrage der Heroides. Schon sehr früh erwachten
Zweifel über die Echtheit mancher Heroides. Allein diese Zweifel stützten
sich nicht auf eine methodische Beweisführung und vermochten daher nicht
eine tiefere Wirkung zu äussern. Erst durch Lachmann wurde die Frage
mit kritischem Geiste angefasst. Von der Überlieferung der Briefe aus-
gehend verdammte er kurzweg den Sapphobrief (15) und die Ergänzungen
zu den Briefen 16 (39—142) und 21 (13-248); an die Echtheit dieser
Stücke zu glauben, erschien ihm als eine inepta superstUio. Komplizierter
war das Verfahren bezüglich der übrigen Briefe. Ausgangspunkt der Unter-
suchung war die Elegie der Am. 2, 18. In derselben klagt Ovid, dass,
während Macer einen grossen Stoff, die vor der Ilias liegende Sage, dichte-
risch gestalte, er sich in seinen Schöpfungen von Amor nicht losreissen könne:
quod licet, aut artes teneri profitemur Amoria,
ei mihi, praeceptis urgeor ipae meis,
aut quod Penelopes verbis reddatur ülixi,
»crihimus et lacrima», Phylli relicta, tuas:
quod Paria et Macareua et quod male gratua Jaao
Hippohßique parena Hippolytuaque legant^
qtwdque tenena atrictum Dido miaerabilia enaem
dicatj et Aeoliat Leabia amica lyrae.
Ein Freund Ovids, Sabinus, dichtete Antworten auf die Briefe:
140 BOmisohe LitteraturgOBohiohte. ü. Die Zeit der Honarchie. 1. Abteilung.
qiiam cito de toto rediU meus orhe Sabinus,
8cript€tque diversis rettulU ille lociaf
Candida Penelope aignum cognovU ülixis:
legit ab Hippolyto scripta noverca suo:
iam piua Aeneas miserae rescripsit Eliasae:
quodque legat Phyllis, si modo vivit, adest:
tristis ad Hypaipylen ab Jaaone littera venit,
det votam Phoeho Lesbia amata lyram.
Aus diesen Worten Ovids schloss Lachmann, dass die Briefe 1, 2, 5, 11,
6, 10, 4, 7, 15 bezeugt seien, ^) nur sei der 15. Brief nicht der ovidiscfae,
sondern ein unterschobener. Die übrigen Briefe 3, 8, 9, 12, 13, 14, 16,
17, 18, 19, 20, 21, folgert Lachmann weiter, entbehrten des ovidischen
Zeugnisses und seien von vornherein verdächtig; denn da die Ars, mit
der Ovid, als er die 18. Elegie schrieb, bereits beschäftigt war, die Heraus-
gabe der Heroides voraussetzt (3, 345), und da er in seinen späteren Ge-
dichten dieser Briefe nicht mehr gedenkt, so müssten die genannten zwölf
Stücke in der kurzen Zeit zwischen der letzten Herausgabe der Amores
und der Ars geschrieben sein, was höchst unwahrscheinlich sei. Darauf-
hin schreitet Lachmann zur Anwendung metrischer und prosodischer Kri-
terien und gestützt auf dieselben glaubt er von den verdächtigen Stücken
8, 9, 14, 16, 17, 19 als unecht erwiesen zu haben.
Wenn auch diese Untersuchung das unvergleichliche kritische Talent
ihres Verfassers zeigt, so war doch der eingeschlagene Weg nicht der
richtige. Bedenklich war einmal, dass Lachmann dem Selbstzeugnis Ovids
so grossen Wert beimass und trotz desselben den Sapphobrief verwarf.
Damit war aber der Wert des Zeugnisses auch für die übrigen dort auf-
geführten Heroides stark herabgemindert. Allein noch verhängnisvoller
für die Weiterentwicklung der Frage war Lachmanns Voraussetzung, dass
alle Heroides, welche Ovid bis dahin verfasst hatte, in der Elegie erwähnt
werden. Diese Voraussetzung ist aber eine durchaus irrige; der Zweck
des Gedichts erfordert keine vollständige Aufzählung, da es dem Dichter
nur auf eine Exemplifizierung ankommt. Dagegen hat Lachmann es unter-
lassen, einen anderen Schluss aus der Stelle zu ziehen, durch den unsere
Frage auf ein ganz anderes Fundament gestellt wird. Es ist dies der sich
unweigerlich ergebende Satz, dass er zur Zeit, als er die 18. Elegie
schrieb, noch keine Doppelbriefe verfasst hatte. Bei dieser Sach-
lage dürfen wir nicht mehr die 8 (9) erwähnten Heroides allen übrigen
gegenüberstellen, sondern wir müssen vielmehr die einfachen den Doppel-
briefen gegenübertreten lassen. Die Lage der beiden Gattungen von
Briefen ist aber, wie jeder sieht, nicht dieselbe; es konnten ausser den auf-
geführten Briefen damals auch noch andere einfache verfasst sein, da-
gegen existierten noch keine Doppelbriefe von Ovid. Diese können wir
nur dann dem Dichter beilegen, wenn es uns gelingt, ihre spätere Ab-
fassung wahrscheinlich zu machen. Nun zeigt sich wirklich, dass diese
Doppelbriefe manches mit den späteren Werken Ovids gemeinsam haben.
So z. B. halten die Doppelbriefe wie die späteren Schriften Ovids nicht
mehr an dem zweisilbigen Pentameterausgang fest, man vgl. 16, 290 pudi-
1) Die Antworten des Sabinus beziehen sieh auf die Briefe 1, 4, 7, 2, 6 und 15.
OvidB LiebespooBieii.
141
cUiae, 17, 18 supercüiis, 19, 202 deseruit. Einen solchen Ausgang kennen die
einfachen Briefe nicht; denn der Vers 14, 62, in dem generis am Ende
erscheint, fehlt in einer unserer Quellen, so dass dessen Echtheit be-
gründeten Zweifeln unterliegt. Dagegen lassen das mehr als zweisilbige
Pentameterende spätere Gedichte Ovids zuJ) Allein dessungeachtet führt
die Annahme einer späteren Abfassung der Heroides von Seiten Ovids auf
grosse Schwierigkeiten. Ais Ovid jene Elegie schrieb, musste eine Aus-
gabe der Heroides bereits ins Publikum gedrungen sein; denn Sabinus
konnte doch nur Antworten auf Briefe schreiben, welche allgemein bekannt
waren. Und wenn die „Liebeskunst'' die Mädchen zum Gesang der Epistulae
auffordert (3,845), so hat eine solche Aufforderung nur gegenüber einem
weit , verbreiteten Buch einen Sinn. Es könnte daher jene Doppelbriefe
Ovid nur einer zweiten Ausgabe der Heroides einverleibt haben. Allein
von einer solchen hören wir nichts, sie ist auch nicht wahrscheinlich, denn
sonst würde doch wohl der Brief der Byblis, der jetzt in den Metamorph.
9, 529 — 569 «teht, seine Aufnahme in die neue Sammlung gefunden haben.
Auch wandte sich der Dichter bald neuen Stoffen zu ; die Liebeskunst, die
Heilmittel der Liebe, die Metamorphosen, der Festkalender beschäftigten
ihn gewiss vollauf und werden ihm keine Zeit zu einer Fortsetzung jener
rhetorischen Versuche übrig gelassen haben. Vollends in seiner Leidens-
zeit, in der ihm alles daran lag, die Sünden seiner « Liebeskunst " hinweg-
zujammern, konnte ihm niemals der Gedanke kommen, den frivolen Brief-
wechsel zwischen Paris und Helena zu schreiben. Endlich steht mit diesen
Doppelbriefen auch der Titel „ Heroides ", den uns Prise. 1, 544, 4 über-
liefert, nicht in Einklang; durch denselben sind ja die Männerbriefe aus-
geschlossen.
Aus allen Schwierigkeiten scheint nur ein Ausweg hinauszuführen,
die Annahme, dass ein Nachahmer die Neuerung des Sabinus aufgriff, je-
doch mit der naturgemässen Modifikation, dass er die Frauenbriefe auf die
Männerbriefe folgen liess und sich in der metrischen Technik an die letzten
Schriften Ovids anschloss; mehrere Nachahmer aufzustellen, ist kein ge-
nügender Grund vorhanden.*) Diese Briefpaare wurden später der echten
Sammlung hinzugefügt, da aber jetzt der Titel „Heroides'' nicht mehr
passte, kam die Überschrift „Epistulae* auf.
Indem wir also die Doppelbriefe dem Ovid absprechen und als ein
Werk der Nachahmung erklären, müssen wir auf der anderen Seite bei
den einfachen Briefen (selbst den Sapphobrief nicht ausgenommen) solange
die ovidische Autorschaft festhalten, bis schlagende Beweise das Gegenteil
darthun; allein solche sind bis jetzt nicht geliefert.
Geschichte der Frage. Wir haben zwar bereits im Texte einige Hauptzüge ans
der Geschichte dieses Echtheitstreits gegeben, allein es dürfte doch in mehr als einer
') liACHXAlVK p. 61.
') Aufgabe der Forschung wird es sein,
die Verschiedenheiten, welche trotz des engen
Anschlusses doch immer den Nachahmer von
dem Autor trennen, darzuthun; so z. B. hat
EscHBKBVRO beobachtet, dass Ovid certe ego
stets im Anfang des Hexameters und Penta-
meters setzt, der Brief 20, 178 dagegen in
der zweiten Hälfte des Pentameters; ganz
das Gleiche gilt 17,246 von ei mihi. (Wie
hat Ovid u. s. w. p. 4 und p. 3.) Eine Menge
Verschiedenheiten will Bilgbk in dem Brief-
paar 16 und 17 gefunden haben (die Zu-
sammenstellung derselben p. 123), allein sie
entbehren der gehörigen Sichtung.
142 ftOmisohe LitieratnrgeBchichte. It. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Hinsicht nützlich sein, hier noch genauer auf den Streit einzugehen. Eine Übersicht der
älteren Ansichten über die Echtheit der Heroides gibt Sedlkayeb, Zeitschr. f. österr. Gymn.
30,816. Wir sehen daraus, dass schon in der editio Veneta des J. 1484 die Streitfrage
angeregt wurde. Sie kam aber im Laufe der Jahrhunderte auf keinen festen Boden, erst
Lachmank versuchte eine methodische Lösung in seiner Abhandlung De Ovidii epistidis,
Berl. 1848 (Kl. Sehr. p. 56). Allein der Weg, den er beschritt, war nicht der richtige.
Die ersten Bedenken erhob L. Mülles, de r. m. p. 46, wo er die Schlussfolgerungen Lach-
MANNS bemängelte und nur die Briefe 16, 17 und 19 preisgab. Auch Rh. M. 17, 192 und
18, 86 sprach er sich in diesem Sinn aus. Dagegen scMoss sich fest an Lachicann Eschen-
BUBG in seinen metr. Unters., Lübeck 1874 an. Ganz wie der Meister die acht in den
Amores aufgeführten Heroides (der Sapphobrief wird ausgeschlossen) den übrigen gegen-
überstellend, will er gefunden haben, dass die acht sicher echten Briefe in ihrer metrischen
Technik genau mit den carmina amcUoria des Ovid übereinstimmen, während sie von den
übrigen Distichen desselben und den Metamorphosen in mancher Hinsicht abweichen, und
umgekehrt, dass in den Heroides, deren Echtheit bezweifelt wird, sich eine Reihe metrischer
Licenzen findet, die Ovid in den acht echten Briefen und den Carmina amat,, wenn auch
nicht in den übrigen Distichen und den Metamorphosen, vermieden hat. Auf Grund dieser
Untersuchungen zog er die Schlussfolgemng, dass die von Ovid nicht selbst angeführten
Briefe sämtlich unecht seien. Die Richtigkeit dieses Schlusses bestritt Riese und warf den
Gedanken hin, dass die Heroiden nicht zu gleicher Zeit entstanden seinmüssten,
dass , einige* Heroides auch der späteren Zeit des Dichters angehören können, zuerst kurz
Fleckeis. J. 109, 569, mit Begründungen Burs. Jahresb. 4. Bd. p. 233. Welche Heroides er
unter diesen „einigen* versteht, darüber lässt er sich nicht klar genug aus, bald spricht
er allgemein von den letzten (p. 234), bald stellt er den acht die übrigen gegenüber (p. 235).
Diese Ausstellungen Rieses machten Eschenbubg in seiner früheren Anschauung wankend,
auf Grund einer zweiten Forschung »Wie hat Ovid einzelne Wörter und Wortklassen im
Verse verwandt", Lübeck 1886, modifiziert er die früher vorgetragene Ansicht dahin, dass
„Ovid die ims erhaltenen Heroiden zu verschiedenen Zeiten verfasst habe, in einer früheren
Periode die acht sicher echten, in einer späteren die übrigen* (p. 39). Allein die Schluss-
folgerung, die aus der „auffallenden Übereinstimmung zwischen der Technik Ovids und
der der zweifelhaften Heroiden* gezogen wird, ist eine unrichtige; denn jene Überein-
stimmung konnte auch der fleissige Nachahmer zustandegebracht haben. Diesen falschen
Weg, aus Tilmb'chkeiten der zweSelhaften Heroiden mit den echten Schriften Ovids die
Echtheit zu folgern, hatte bereits früher Wolfram Zingerle, Untersuchungen zur Echtheits-
frage der Heroiden Ov., Innsbr. 1878, beschritten; er hält alle Heroides für echt (den
Sapphobrief ausgenommen). In neuster Zeit dringt immer mehr die im Text adoptierte An-
sicnt durch; diese beruht auf der strengen Scheidung der einfachen und der
Doppelbriefe. Nur der Sapphobrief bildet noch einen Differenzpunkt, indem die meisten
denselben für unecht halten. Allein wie gefährlich es ist, das Selbstzeugnis Ovids in einem
Punkte zu verwerfen, zeigt das Vorgehen Lehrs, der auch vor anderen dort erwähnten
Briefen nicht Halt macht und die ganze Frage dem subjektiven Ermessen überliefert
(Ausgab, des Horaz, Leipz. 1869 p. CCXXII). Im übrigen stimmen die Anhänger jener
Scheidung darin Überein, dass allem Anschein nach die 14 ersten Briefe echt, die Doppel-
briefe dagegen unecht seien. Nachdem diese Ansicht Dilthet, De Callim. Cydippe p. 41
Anm. 2; Madvig, advers. 2^11 beiläufig ausgesprochen haben, wurde dieselbe ausführlicher
verteidigt von Biet, Rh. Mus. 32, 391. Zu ilu-er Stütze dienen auch die Dissertation Biloers,
De Ov. Heroidum appendice, Marb. 1888, welcher das Brie^aar 16 und 17 ds unovidisch
darzuthun bestrebt ist, und die Tolkiehns, Quaest. ad Heroides Ovid., Eönigsb. Diss. 1888,
welcher die in den Ainores nicht bezeugten Briefe 3, 8, 9, 12, 13, 14 als ovidisch nach-
zuweisen versucht und damit die sämtlichen ersten 14 Briefe Ovid zuweist.
297. Charakteristik der Heroides. Dass zwischen Liebenden Briefe
gewechselt werden, ist seit jeher üblich gewesen; Am. 2, 19, 41 fordert Ovid
den Wächter auf, acht zu haben:
quas ferat et referat sollers ancilla tabellas.
Dass aber der Liebesbrief auch die poetische Form erhält, ist bei dem
Bande, welches Liebe und Poesie umschlingt, natürlich und selbstverständ-
lich. Propertius gibt uns einen solchen Brief, Arethusa schreibt an ihren
im römischen Feldlager auf parthischem Boden weilenden Gatten (5,3).
Während wir aber hier einen Brief haben, der aus der Gegenwart und
dem Leben herausgegriffen ist, führt uns Ovid mit seinen Heroides in
Ovids LiebespooBien. 143
altersgraue Zeiten zurück; denn, einen Fall ausgenommen, sind es lediglich
Frauen der Sage, welche ihr Liebesleben in Briefen darlegen. Ovid will
diese Gattung der Heroinenbriefe erfunden haben, in seiner Liebeskunst
lässt er ein Mädchen sagen (3, 346) :
ignotum hoc aliis ille novavit opu8.
Für die römische Litteratur mag dies seine Richtigkeit haben, nicht aber
für die griechische; denn hier war dieser Zweig im Keime bereits vor-
handen. Auf den Kunstwerken aus dem Reich des Mythus sehen wir
Boten mit Liebesbriefen und die alexandrinischen Dichter schmückten gern
ihre Epyllien mit solchen eingeschobenen Episteln. Auch die Rhetorschule
legte die Idee der Hieroinenbriefe sehr nahe, dort waren Themata aus dem
Mythus und der Geschichte seit langem üblich, dort konnte man Reden
des seine Tochter opfernden Agamemnon, des vor Babylon stehenden Ale-
xander, der gegen die Perser ziehenden dreihundert Spartaner vernehmen.
Von der Rede zum Brief ist nur ein kleiner Schritt. Dem Dichter boten
übrigens diese Stoffe einen grossen Vorteil; es war in denselben eine all-
gemein bekannte Situation, an die er anknüpfen konnte, bereits gegeben,
sie musste nicht erst dem Leser vorgeführt werden. Aber auch bei der
Bearbeitung konnte der Dichter aus reichlich fliesseuden Quellen schöpfen ;
Homer, die griechischen Tragödien, besonders die euripideischen und die
alexandrinischen Epyllien, auch römische Dichter boten ihm den Stoff, den
er brauchte. Seine Aufgabe war nur, diesen der Briefform anzupassen. Allein
peinlich genau nahm es damit der Dichter nicht, er erzählt oft Dinge für
den Leser, nicht für den Adressaten. Selbst über die Unmöglichkeit eines
Briefes, wie dies bei der Ariadne der FaU ist, setzt er sich kühn hinweg.
Seine Aufgabe war, die Seelenstimmungen seiner Heldinnen rhetorisch aus-
zumalen, r^&o7touag zu liefern. Die Situationen, in welche uns diese Briefe
versetzen, sind verschieden. Am natürlichsten ist die Benützung der Brief-
form zum Zweck des Liebesgeständnisses; mit dem Verse (4,10):
dicere quae puduit, scribere ittasü amor
motiviert Phaedra ihr Schreiben. Auch die Briefpaare Paris und Helena,
Acontius und Cydippe haben es noch nicht mit der fertigen, sondern erst
mit der werdenden Liebe zu thun. Diese Episteln stehen der Suasoria sehr
nahe, sie wollen ^'a vor allem überreden. Mehr erzählenden Charakter
tragen die Schreiben, welche das Liebesleben selbst zum Gegenstand haben ;
es sind dies die Stücke Leander und Hero und Laodamia. Im Leander-
brief lesen wir die entzückende Schilderung der nächtlichen Wanderungen
Leanders zu Hero, Laodamia malt ihren Abschied von Protesilaus, ihren
Kummer und ihre bangen Sorgen. Den reichsten Stoff bot unserm Dichter
das Kapitel der unglücklichen Liebe. Hier kommen ja die Affekte vor,
welche eine ganz besonders lohnende rhetorische Behandlung zulassen.
Auch kann der Dichter da seine Kunst in den mannigfachsten Situationen
leuchten lassen. Er hat dies reichlich ausgenützt und das Unglück in der
Liebe in verschiedenen Gemälden gezeichnet. Bald will der Geliebte in
die Feme ziehen, wie Aeneas, bald ist er bereits geraume Zeit abwesend,
ohne von sich Nachricht zu geben, wie Ulixes und Demophon; oder es
klagt die Briefschreiberin über eine Nebenbuhlerin, wie Oenone über Helena,
144 BömiBche LÜteratnrgeschichte. IL Die Zeit der Konarcliie. 1. Abteilung.
Hypsipyle über Medea, Deianira über Jole, Medea über Creusa; oder es
befindet sich die Schreibende wider ihren Willen in den Händen eines
anderen, wie Briseis und Hermione; oder endlich der Brief ist ein Weh-
ruf einer durch ihre Liebe dem Tod entgegensehenden unglücklichen Frau,
wie der Canace und der Hypermnestra. Welche Empfindungen und Ge-
fühle in weiter Scala konnte hier der Dichter ertönen lassen? Wehmut
der Trennung, Sehnsucht nach dem Geliebten, süsse Erinnerung an das
früher genossene Liebesglück, aufbrausenden Stolz, demütige Hingabe, heftig
lodernden Zorn über Undankbarkeit, quälende Eifersucht, Schmerz über das
gebrochene Leben, Aufblicken zu dem Tod als dem einzigen Erlöser. Der
Dichter hat auch diese Affekte gezeichnet, wir bewundern seine Kenntnis
der weiblichen Gemütswelt, aber er vermag uns nicht zu erwärmen und
länger zu fesseln. Das ndxhog seiner Heldinnen ist rhetorisch aufgeputzt;
es ist ein Spiel mit den Empfindungen, es fehlt die einfache, noch zu jeder
Zeit gern gehörte Sprache des Herzens.
Die Briefform der Heroides. Durch die poetisch geformte Anrede „Caitts Titio
aaltäem" sind sie deutlich als Briefe gleich in den Eingangsdistichen charakterisiert und zwar
durch deutliche oder allgemeine Bezeichnung des Schreibenden und des Adressaten 1, 2, 4,
13, 14, 16, 18, durch Bezeichnung des Schreibenden oder des Adressaten 3, 15 und 19.
In den Briefen 5 und 10 stellt das zweite Distichon die Briefform her. Im 11. Brief kann
Vers 5 einen Ersatz für die epistolarische Anrede darbieten. Die übrigen Heroides ent-
behren des epistolarischen Eingangs; und ist bei manchen der Eingang sehr abrupt, wie
in Brief 7, in 12, 17 und auch 11. Vahleit, Ober die Anfänge der Heroiden, Abh. der
Berl. Ak. 1881 p. 14 kommt aus der Betrachtung dieser Eingänge zu dem Schluss, dass
diese vier Heroides ihre Eingangsdistichen verloren haben. Man wird sich seinen Schluss-
folgemngen kaum entziehen können, selbst für 11 nicht, obwohl dort später die Brief-
schreiberin deutlich bezeichnet wird. Allein wenn er weiter folgert, dass auch bei den
übrigen Heroides, wo eine solche Nötigung wie bei den eben genannten nicht vorliegt,
diese Eingänge verloren gingen, so geht diese Folgerung zu weit; es würde bei manchen
diese Briefformel sogar störend sein. Kompliziert wird die Frage dadurch, dass in jüngeren
Quellen sich solche Eingangsverse finden, allein alle dem Verdacht der Unechtheit zu ent-
ziehen, wird sich niemand entschliessen; wird aber die Unechtheit auch nur eines einzigen
Distichenpaars zugegeben, so können in der Frage nur innere Kriterien entscheiden
(Peters, ohs. p. 49).
Quellen der Heroides. Für den Brief der Penelope und der Briseis ist Homer
die Quelle (über letzteren Brief: Tolkiehn, Quctest. p. 48); für den Brief der Dido die
Aeneis, für den der Ariadne Catull. Die schöne Sage von der Pfayllis hatte nach Calli-
machus, dessen Gedicht Knaack, Analecta p. 29 restituiert, bereite Tuscus, ein Freund
Ovids bearbeitet. Auch die Geschichte von Hero und Leander und die von Acontius und
Gydippe weisen auf alexandrinische Quellen; aus ebendenselben schöpfte Musaeus für sein
Gedient de Hero et Leandro (Rohde, Griech. Rom. p. 135) und Ariataenetus für seine Er-
zählung von der Gydippe; des letzteren Quelle war das anmutige Gedicht „Gydippe* von Galli-
machus, das Dilthey meisterhaft wiederherstellte (De Callim. Cyd., Leipz. 1863). Im Sappho-
brief erinnert die Einführung der Naiade (162) an alexandrinische Kunst. Ebenso wird die
Figur der Oenone ein Werk alexandrinischer Dichtung sein, deren Hintergrund die Kyprien
sind (Wetzbl, 'Em^aXtifAioy p. LVII; Gompabetti p. 52). Der Brief der Hypsipyle wird
seine Grundlage in den Argonautica des ApoUonius, vielleicht nach der Übersetzung des
Valerius Flaccus (Mayer, De Euripidis mythopoeia p. 65) haben. Nicht wenige Stücke
schliessen sich an griechische Tragödien an, die Deianira und die Hermione an die Trachi-
nierinnen und die auch von Pacuvius übersetzte Hermione des Sophokles (über die Deianira
vgl. Biet, Rh. Mus. 32, 406), die Medea, Laodamia, Ganace, Phaedra an Medea, Protesilaos,
Aeolus, die beiden Hippolyti des Euripides (über die Medea vgl. Biet p. 401, über die
Phaedra Biet p. 403; KALKMAim, de Hippolytis Euripid, p. 24; Mayer, de Eurip, mythop,
p. 66, der die Nachahmung auf den ersten Hippel, beschränken will). Für den Briefwechsel
des Paris und der Helena konnte der Alexandros des Euripides einzelne Züge liefern
(Welokeb, Trag. p. 404). Die Hypermnestra endlich wird auf die Darstellung des auch von
Horaz G. 3, 11 behandelten Mytnos von Aeschylus zurückzuführen sein (eingehende Be-
gründung von Biet p. 405, gegen den sich mit Unrecht RsrnKENS, De Äeschyli Danaidibus^
Düsseid. 1886 p. 11 wendet).
OvidB Liebespoefiien. 145
298. De medicamine faciei (Über die Schönheitsmittel). In der
Liebeskunst 3,205 empfiehlt Ovid seinen Leserinnen ein von ihm früher
verfasstes Werkchen über Kosmetik:
est mihi, quo dixi vestrae medicamina formae,
parvus, sed eura grande, libellus, opus,
hinc quoque praesidium laesae petitote figurae.
non est pro vestHs ars mea rebus iners.
Es ist uns ein solches in 50 Distichen überliefert. Das Gedicht beginnt
mit einer frischen Schilderung der Ausdehnung der Kultur gegenüber der
Beschränktheit der alten Zeit und schliesst hieran die Forderung an die
Mädchen, auch ihrerseits die Körperschönheit zu pflegen, zumal da jetzt
sogar die Männer dies mit grossem Eifer thun; freilich, bemerkt schalk-
haft der Dichter, sei immer das erste die VortrefFlichkeit des Charakters,
denn die Schönheit vergeht, der Charakter besteht. Während uns die An-
mut und Leichtigkeit der Einleitung entzückt, stösst uns das Folgende
ungemein ab. Es kommen Rezepte zur Glättung der Haut, Vertreibung
der Flecken, Herstellung einer blassen Gesichtsfarbe mit genauen Angaben
von Mass und Gewicht. Der Dichter hat ohne Zweifel ein kosmetisches
Buch in Verse gegossen, es mag ihm diese Arbeit sauer geworden sein
und er mag nicht ohne Grund die auf das Büchlein verwandte „cura^
hervorheben, allein es fehlt der Schmuck der Poesie. Das Gedicht bricht
plötzlich ab, die Vermutung, dass sogar dem Abschreiber die Geduld aus-
gegangen, ist zwar nicht richtig, der Schaden ist vielmehr auf Blattverlust
zurückzuführen, allein dem Verlorenen weint niemand eine Thräne nach.
Wahrlich, der Dichter that einen glücklichen Schritt, dass er den klein-
lichen trockenen Gegenstand verliess und in der „Liebeskunst' einen Sto£f
aufgriff, in dem er die Belehrung in ein heiteres Spiel umsetzen konnte.
Gitiert wird das Gedicht yon Charisius p. 90, 16 E., auch Plin. 30, 33 Worte „huius
medicinae auctor est Ovidius^ werden sich auf eine verlorene Partie unserer Schrift beziehen
(KuKZ p. 88; Biet, De Halieut. p. 41). Ausser der Versttlmmelung am Schluss sind auch
im Gedicht Lücken nach y. 26 und nach v. 50, die wahrscheinlich durch Blattbeschftdigung
entstanden (Schanz, Rh. Mus. 39, 313; Ehwald, Burs. Jahresb. 43. Bd. p. 185).
Die Überlieferung des Gedichts ist von der der Übrigen carmina amatoria unab-
hängig, die älteste und beste Handschrift ist der Marcianus Florentinus 228 s. Xl/XU. Vgl.
die Ausgabe von Eunz, Wien 1881 p. 5.
299. Ars amatoria (Liebeskunst). Schon bei den Griechen hatte
sich die didaktische Dichtung des Stoffs der Liebe bemächtigt und eine
pornographische Litteratur erzeugt. Diese Gattung führte Ovid in seiner
Liebeskunst in die römische Litteratur ein. Es sind drei Bücher in elegi-
schem Masse. Gleich im Eingang wird dem Leser die Disposition der
Materie gegeben (1,35):
principio quod amare velis, reperire labora,
qui nova nunc primum miles in arma venis.
proxitnus huic lahor est plaeitam exorare puellam:
tertius, ut longo tempore duret amor,
Demgemäss lehrt der Dichter bis Vers 264, wo und wie man ein Liebchen
finden, von da an, wie man dasselbe erobern könne. Dies ist der Gegen-
stand des ersten Buchs. Im zweiten Buch wird die Kunst vorgetragen,
sich die Gunst des gewonnenen Mädchens zu erhalten (2,12):
arte mea capta est, arte tenenda mea est,
Handbuch der klan. AltcrinmswiaseDecfaaft. Vm. 2. TeiL 10
146 Bömische Littaratnrgeflohiolite. II. Die Zeit der Konurohie. 1. Abteilung.
Damit ist das oben angekündigte Thema erschöpft. Allein Ovid nimmt
nun auch die Kehrseite vor; hatte er in den zwei ersten Büchern für die
Männer geschrieben, so wendet sich jetzt im dritten Buch seine »Ars* an
die Mädchen, um auch ihnen wie den Männern Waffen in die Hand zu
geben.
Die Liebe, welche die Ars lehren will, ist die sinnliche, er kündigt
dies auch offen an mit den Worten (3,27):
nü nisi Jascivi per me discuntur amores,
und als einen praeceptor lascivi amoris redet ihn Apollo an (2,497). Das
Ziel derselben ist nicht eine dauernde Verbindung, sondern der vorüber-
gehende Genuss. Die eheliche Liebe bleibt daher ausgeschlossen (1,31
2, 599) und zum Glück auch die Enabenliebe (2, 683). Bilder des erhebenden
Liebesglücks begegnen uns nicht, wohl aber feine psychologische Zeich-
nungen. Man sieht, dass der Dichter auf diesem Feld reiche Erfahrungen
gesammelt und sorgfältige Beobachtungen gemacht hat. Was er über die
Toilettengeheimnisse und über die Kunst, körperliche Fehler zu verdecken,
vorträgt, ist dem Leben abgelauscht. Auch sonst noch muten uns Sätze
wie alte Bekannte an, z. B. die Vorschrift, das Mädchen nicht nach dem
Geburtsjahr zu fragen (2, 663), oder wenn wir von den Frauen lesen (1,99):
spectatum peniunt, veniurU spectentur ut ipsae.
Andere Sätze empfinden wir sofort als schlagende Wahrheiten wie forma
vires nededa decet (1,509) oder ut ameris, amabüis esto (2,105). Für die
Kenntnis des sozialen Lebens in Rom fallen manche interessante Züge ab,
wir lesen z. B. nicht ohne Erstaunen, welche hohe Anforderungen man an
die Bildung dieser Mädchen stellt, welche in einer ganz stattlichen Reihe
von griechischen und lateinischen Dichtern bewandert sein sollen (3,331).
So interessant auch die psychologische Kunst ist, mit welcher der
Dichter seinen Stoff behandelt, so würde doch der lehrhafte Ton, durch
das ganze Gedicht festgehalten, schliesslich den Leser ermüdet haben.
Dem begegnet der Autor dadurch, dass er mit dem Stoff ein anmutiges
Spiel zu treiben scheint. Er lässt nämlich in seine Lehren fortwährend
schlagende Analogien aus Natur und Geschichte hineinblitzen. Ganz un-
erschöpflich ist hier die Erfindungsgabe des Dichters, wie Raketen schiessen
die Gedanken hin und her. Für sich betrachtet sind diese Analogien oft
Goldkömer; manche sind in unseren Citatenschatz aufgenommen worden,
wie 3,502:
Candida pax homines, trux decet ira feraa
oder 3,63:
oder 2,437:
nee quae praeteriit, Herum revocabUur unda
nee quae praeteriit, hora redire potest
luxuriant animi rebus plerumque secundis,
nee facile est aequa commoda mente paii.
Dadurch, dass sie aber zur Erläuterung eines frivolen Stoffes dienen,
bekommen sie einen ironischen Beigeschmack. Auch Erzählungen werden
gern eingestreut, um den Stoff zu beleben. Die Mjrthen boten ja Manches
dar, was lüsternen Ohren genehm sein konnte. Wir lesen die Geschichte
der Pasiphae (1,289), die Begegnung des Bacchus und der Ariadne (1,527),
OvidB LiebeBpoenen. 147
die Liebesabenteuer des Mars und der Venus (2, 561), des Achilles und
der Deidameia (1,681), die Eifersuchtsscene der Procris (3,685); auch die
Sage vom Raube der Sabinerinnen ist nicht ohne Frivolität ausgenutzt
(1, 101). Mit den Obscönitäten hält der Dichter ziemlich zurück, nur am
Schluss des zweiten und dritten Buchs brennt er ein Feuerwerk ab, das
uns durch seinen Gestank über den Ort, wo wir uns befinden, nicht in
Zweifel lässt. Mag man die Wahl des Stoffs beklagen, Ovid hat denselben
mit solcher Genialität behandelt, dass er uns zwingt, über denselben hin-
wegzugleiten und seine Kunst zu bewundem. Mit Honigseim versüsst wird
uns das Gift gereicht.
300. Bemedia amoris (Heilmittel der Liebe). Die Liebeskunst
war nicht ohne Tadel geblieben; der Dichter setzt sich zwar über den-
selben weg und ist getröstet, wenn er nur überall gelesen wird. Seine
Verteidigung gipfelt in dem Satz, seine Muse berühre nicht die Matrone,
sondern die Libertine (385):
Thais in arte tnea; lascivia libera nostra est,
niJ mihi cum vitta: Thais in arte tnea est.
Allein er schreitet doch zu einer Art von Palinodie, welche freilich wieder-
um an dem Schmutz nicht vorbeigehen kann (401). Hatte er in der „Ars*^
Jünglingen und Mädchen den Weg zur Liebe gezeigt, so will er jetzt die-
jenigen, welchen Amor drückend erscheint, belehren, wie sie die lästigen
Fesseln abwerfen können (15): -
at si quis male feri indignae regna puellae, »
ne pereat, nostrae sentiat artts opem,
Obzwar er in erster Linie mit seinen Lehren das Männergeschlecht berück-
sichtigt, so sollen dieselben mutaiis mutandis auch für die Mädchen gelten (49).
Entschieden lehnt der Dichter Zaubermittel ab (249) ; er will nur auf natür-
liche Weise vorgehen. Für das Beste hält er, die Neigung gleich im Keime
zu ersticken, denn (91):
prineipiis ohsta . sero medicina paratur,
Ist sie aber schon fest geworden, so rät er, den Müssiggang zu fliehen
und Beschäftigungen zu suchen, die Fehler der Geliebten aufzuspüren, sich
noch mit einem Liebchen abzugeben, den Genuss bis zur Übersättigung zu
steigern, auf seine Sorgen den Sinn zu lenken, nicht mit dem Gegenstand
der Sehnsucht zusammenzukommen, den Umgang mit Liebenden zu ver-
meiden, die Liebesdichter nicht zu lesen u. s. w. Manchmal führt den
Dichter die Lust am Spiel zu weit, wie wenn uns der Schalk glauben
machen will, er habe sich von seiner Leidenschaft kuriert, indem er seine
Phantasie der Geliebten Fehler, die sie gar nicht hat, andichten Hess (315).
An Kunst der Durchführung stehen die Heilmittel der Liebe der
Liebeskunst nach; das Negative des Stoffs schwächt die Gestaltungskraft
des Dichters; doch auch so bietet das Gedicht noch immer des Reizenden
genug.
Die Überlieferung der carmina amatoria. Alle carmina amataria gehen auf
einen Archetypos zurück, nur bezüglich der Schrift de medicamine faciei ist mir dies
zweifelhaft; meine Zweifel habe ich angedeutet und begründet Rh. Mus. 39, 314; siehe aber
dagegen Ehwald, Burs. Jahresber. 43 p. 185. Den Archetypos bestimmen L. Mülleb (de
re metr. p. 45) und Birt (Gott. Qel. Aiiz. 1882 p. 841) näher dahin, dass derselbe Schrift*
10*
148 BömiBche Litteratargeschiolite« IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
kolumnen zu 26 Zeilen hatte. Daraus erklärt Bibt (p. 841) eine Reihe von Defekten in unsem
Handschriften: , Gleich (Her.) XV 39 — 142 ergeben just vier Kolumnen zu 26 Versen; es fiel
also etwa ein Blatt aus mit je zwei Kolumnen auf jeder Seite. Warum bricht ferner
der Gydippebrief gerade bei v. 12 ab? Deshalb weil hier das Ende einer Kolunme und
zugleich ein Seitenende war; denn von XV 143 bis XX 12 sind eben 1195 Verse oder
46 Kolumnen der angegebenen Grösse. Aber noch mehr. Mehrere Textesquellen geben
uns statt XX 13 — 248 nur die Verse XX 13 — 144. Diese 132 Verse waren wieder 5 Kolumnen
zu je 26; bei 144 schloss wiederum eine Kolumne; daher bricht vielfach hier die Oberlieferung
ab. Und endlich die letzten und seltensten Verse XX 145 — 248, auch sie füllen wieder
just ein Blatt mit 4 Kolumnen zu 26 Versen." Die massgebenden Codices sind zwei Parisini,
der Puteanus 8242 s. XI, der Regius 7311 s. X, weiterhin der Sangallensis 864 s. XI, der
Etonensis s. XI. (In den Heroides kommt dem Puteanus sehr nah der Guelferbytanus 260
s. Xni, weniger der Etonensis s. XI; vgl. Peters, Observ. ad Heroid. p. 15.)
ß) Zweite Periode der ovidischen Dichtung: Die Sagengedichte.
301. Die aetiologische Elegie« Unter den Sagen bilden eine ge-
schlossene Gruppe diejenigen, welche irgend eine Erscheinung, sei es ein
Fest, sei es ein Eultusgebrauch, sei es eine göttliche Eigenschaft, sei es ein
Sternbild, auf ihre Ursache {akia, causa) zurückführen. Es geschieht dies
in der Regel in der Weise, dass an irgend ein Begebnis angeknüpft und
darin die ahfa, causa der Erscheinung gefunden wird. Um es an einem
Beispiel zu zeigen, es gab in Rom eine Göttin des Schweigens, Muta oder
Tacita genannt, welche auch die Mutter der Lares cotnpitales ist. Um
Wesen und Namen der Gottheit zu erklären, wird Folgendes erzählt:
Jupiter liebte einst die Juturna, da warnte die Nymphe Lala (oder Lara)
trotz des an sie ergangenen ausdrücklichen Verbots die Juturna vor den
Nachstellungen Jupiters, ja erzählte das Liebesabenteuer sogar der Juno.
Der Göttervater benahm daher der Nymphe die Sprache und liess sie von
Mercur in die Unterwelt führen. Auf dem Weg dahin thut derselbe ihr
Gewalt an, durch die sie die Mutter der Lares compüales wird (2,583).
Die aetiologische Elegie wendet sich also sowohl an den Verstand als an
die Phantasie der Leser; sie schöpft zu gleicher Zeit aus dem Born der
Gelehrsamkeit und dem Born der Poesie ; sie musste daher ganz besonders
den „docti poäae" , den Alexandrinern eine willkommene Dichtungsart sein.
Meister derselben war Gallimachus, der eine Reihe von Legenden, die sich
auf Feste, Spiele und anderes bezogen, in einer Sammlung von vier Büchern
mit dem Titel „AiTia'^ vereinigte. Durch ein loses Band wurden sie zu-
sammengehalten; der Dichter erzählt nämlich im Eingang von einem Traum;
ihm sei es vorgekommen, als werde er von Lybiens Gestaden auf den
Helikon geführt, dort sei er in den Kreis der Musen getreten und habe
sie nach den Ursachen verschiedener Dinge gefragt, diese hätten ihm ge-
antwortet und was sie ihm enthüllt, gebe er in seinen Gedichten wieder.
Dem nüchternen römischen Verstand sagte die aetiologische Legende in
hohem Grade zu; sehr deutlich spürt man in ihren Sagenkreisen besonders
das Bestreben, Institute auf ihren Ursprung zurückzuführen. So mag schon
ein reicher Stoff vorgelegen sein, als der grosse Polyhistor Varro in einem
prosaischen Werk „Aetia^ den Ursachen des römischen Lebens nachspürte.
Auch der Grieche Butas, wahrscheinlich der Freigelassene des jüngeren
Cato (Plut. Cat. m. 70) schrieb in Distichen römische akfai. Der erste
aber, der die lateinische aetiologische Elegie pflegte, war Properz. Zu
OvidB Sagengedichte. 149
einem grossen römischen Sagenkranz rüstete er sich, allein derselbe gedieh
nicht zur Vollendung; nur einzelne Bilder sind uns im 5. Buch seiner
Elegien erhalten. Das Beispiel des Properz regte Ovid an, auch seinerseits
sich in dieser Dichtungsgattung zu versuchen und damit seine Muse in
den Dienst des Vaterlands zu stellen.
Über die fttiologische Dichtung gibt tre£fliche Bemerkungen Rohde, Gr. Roman p. 24,
p. 84; die Atua des Callimachus werden fein analysiert von Couat, La Poisie ÄÜxan'
drine p. 111.
302. Der Festkalender (Fasti). — Seine Genesis. Die Fasti Ovids
wollen den Kalender poetisch erläutern; sie berühren daher kurz die Er-
scheinungen am gestirnten Himmel, beleuchten die S^alenderzeichen, schil-
dern die Feste und Festgebräuche und decken deren Ursprung (causa) auf.
Wann Ovid mit diesem Werk begonnen, kann nicht genau bestimmt werden;
jedenfalls bald nachdem die Liebesgedichte beendet waren. Das vierte
Buch fällt in die Zeit 3 n. Ch. (4, 346). Die Natur des Werks brachte es mit
sich, dass dasselbe nicht in einem Zug konzipiert werden musste. Der
Dichter konnte bald das eine oder das andere Bild ausführen, die Zu-
sammenfügung erfolgte leicht an der Hand des Kalenders. Für die ein-
zelnen Bücher ergab sich leicht der Rahmen in den zwölf Monaten. Die
erste Kunde von dem Festkalender erhalten wir durch den Brief, welchen
Ovid im J. 9 gleich nach seiner Ankunft in Tomi an Augustus gerichtet
hatte. Hier heisst es (2,549):
sex ego Fastorutn scripai totidemque libellos
cumque suo finem tnense volumen habet;
idque tuo nuper scriptum süb nomine, Caesar,
et tibi sacratum sors mea rupit opus.
Nach diesen Worten war das Gedicht, das aus 12 Büchern bestand und
dem Augustus gewidmet war, nicht vollendet, als die Katastrophe über
den Dichter hereinbrach. Die weiteren Schicksale derselben können nur
durch Rückschlüsse aus dem Zustand des überkommenen Werks ermittelt
werden. Darnach müssen wir annehmen, dass Ovid in der Verbannung
das Gedicht lange Zeit liegen liess. Es ist dies sehr zu verwundern, denn
durch nichts hätte der Dichter die Sünden der Ars so ausgleichen können
als durch diese echt vaterländische Schöpfung. Allein seine Dichterkraft
war durch den ungewohnten Schlag so gebrochen, dass nur klagende
Weisen ihm noch gelingen wollten. Erst nach Augustus' Tod, nachdem
sich seine Hoffnungen an die Person des jugendlichen Germanicus geknüpft
hatten, trat das fast vergessene Werk wieder vor seine Seele. Da Ger-
manicus selbst Dichter war und das Lehrgedicht des Aratos bearbeitet
hatte, so erschien er als die geeignete Person, seinen Namen an die Spitze
des Festkalenders treten zu lassen. Ovid begann daher das Ganze umzu-
arbeiten, um den Preis des jungen Fürsten einzuflechten; es drängten sich
aber auch die schrillen Töne der Klage in das Gedicht. Wann die Um-
arbeitung begann, lässt sich nicht genau feststellen, in einem bald nach
Augustus' Tod geschriebenen Brief (P. 4, 8), in dem er sein poetisches Talent
dem Germanicus weihen will, ist vermutlich die Umarbeitung der Fasti zu
Ehren des Germanicus beabsichtigt, aber auf keinen Fall vollzogen. Mit
dem ersten Buch kam Ovid zu Ende, die Zeitanspielungen führen auf das
150 Bömische LitteraturgeBohichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Jahr 17, allem Anschein nach sogar in das Jahr 18, da ereilte ihn der
Tod. In seinem Nachlass fand man 6 Bücher, das erste umgearbeitet,
das zweite bis sechste in ursprünglicher Form. Die noch fehlenden sechs
Bücher waren entweder in ganz unfertigem ^Zustand oder noch gar nicht
angefangen; ohne dass eine Redaktion des jetzt unharmonisch gewordenen
Werks versucht wurde, traten die 6 Bücher, in denen die sechs ersten
Monate des Kalenderjahrs bearbeitet sind, wie sie der Dichter hinterlassen,
in die Litteratur ein und so sind sie auf uns überkommen, ein sprechendes
Zeugnis von dem wandelbaren Geschick ihres Schöpfers.
Die Umarbeitung der Fasti. Eine Betracbtong der einzelnen Bttcher der Fasti
ergibt folgende Diskrepanzen: 1) Im 1. Buch ist das Werk dem Germanicus gewidmet
(1, 3), dagegen ist in Buch 2 ^2, 15) und in Buch 3 (3, 116) durch die Anreden auf Augustus
hingewiesen. Da nun Ovid m den Tristien 2, 551 von einer Widmung seines Werks an
Augustus spricht, so haben wir diese Anrede in diesem Sinn zu fassen. Bloss eine Stelle
ausser dem 1. Buch redet den Germanicus an, 4, 81. 2) Nur im 1. Buch begegnen wir
Stellen, welche in Tomi geschrieben sind z. B. 1, 283 1, 533), nicht aber in den Übrigen
Büchern 2—6 — wiederum mit einer Ausnahme, nftmlich 4,81; dagegen weist 3,10 auf
den in Bom schreibenden Dichter. 3) Im 1. Buch wird Augustus als tot, in den übrigen
Büchern dagegen als lebend vorausgesetzt. — Diese Diskrepanzen zwingen zu folgenden
Annahmen: a) dass das Werk ursprünglich dem Augustus gewidmet war und dass die
Bücher 2 — 6 noch in dieser Fassung vorliegen; b) dass Ovid später (nach dem Tod des
Augustus) das Gedicht dem Germanicus widmen und dementsprechend umarbeiten wollte,
aber nur mit dem ersten Buch fertig wurde; c) dass den übrigen Büchern nur eine Stelle
(4,81) hinzugefügt wurde;') d) dass Ovid an der Umgestaltung der Bücher 2 — 6 durch
den Tod verhindert wurde, da die Spuren der Umarbeitung bis in diese Zeit führen. Sind
diese Folgerungen richtig, so haben wir weiter anzunehmen, dass die Fasti nicht von Ovid
selbst herausgegeben wurden.')
Diese Hypothese wurde von Mebkel in seiner Ausg. p. CCLYI begründet, dann ergftnzt
und im einzelnen berichtigt von Pbtsb in seiner Ausg. p. 9 und Fleckeis. J. 111, 499 und von
Enoegel, De retractatione Fdstorum ab Ovidio Tomia inatituta, Montabaur 1885. (Verfehlt
ist die unklare Modifikation Goldscheidebs, De retrtictatione Fastarum Ovidii 1877, vgl.
p. 2.) Ihr gegenüber verdient Rieses Hypothese, ,dass Ov. die Fasti im ganzen so wie
wir sie besitzen, noch in Rom vor seiner Verbannung schrieb und sie von Anfang an dem
Germanicus widmete und nur einzelne Stellen in verschiedenen Zeiten änderte oder hinzu-
fügte* (also an der Tristienstelle gelogen habe), keine Beachtung (Fleckeis. Jahrb. 109,568).
303. Würdigang des Werks. In den Amores hatten wir eine Reihe
selbständiger Einzelbilder, die nur durch den Namen der Corinna eine
Einheit erhielten. In den Fasti dagegen machte der Dichter den Versuch,
eine Anzahl von Einzelgemälden zu einem Ganzen zu verbinden, also einen
Elegienkranz herzustellen. Es geschieht dies in der Weise, dass die Ge-
dichte an den Tagen des Kalenders aneinandergereiht werden. Freilich
entsteht dadurch keine innere Einheit, ja der Rahmen zwingt nicht selten,
Zusammengehöriges auseinanderzuziehen und denselben Mythus an mehreren
Stellen zu behandeln. Auch wird der Stoff, da der Dichter doch auch den
Kalender in das Gedicht aufnehmen muss, ein geteilter, ein astronomischer
und ein antiquarischer, wodurch eine gewisse Disharmonie in das Ganze
kommt. Das Astronomische hat der Dichter sehr leicht genommen, leichter
als man es bei einem Verfasser von Phaenomena erwarten sollte, schwere
Fehler sind ihm unterlaufen. Das Interesse, das uns diese Partien ge-
währen, liegt lediglich in der Anschaulichkeit der Schilderungen und in
dem Wechsel des Ausdrucks, dann in den anmutigen Sternmythen, den
^) Man hat auch als einen späteren Nach- ^) Der ursprüngliche Prolog geriet hie-
trag 6f 666 ansehen wollen, mit Unrecht vgl. bei an den Aniang des zweiten Buchs.
Merkel p. CCLVIII; Knoegsl p. 17.
(MdB Sagengediohte. 151
xataariQKffioij welche angeschlossen werden. Gern verweilt das Gedicht
bei den für das römische Volk denkwürdigen Tagen, besonders bei den
Tagen, welche Marksteine für das Herrscherhaus geworden sind; hier
findet er Gelegenheit zu patriotischen Ergüssen und zur Bekundung seiner
Hingabe an das Kaisergeschlecht. Doch die Glanzseite des Werks sind
die poetischen Illustrationen zum Festkalender. Ein Stück römischen
Lebens und Denkens zieht in diesen reizenden Schöpfungen an unsern
Augen vorüber. Bald ist es ein Ereignis der Gegenwart, wie ein Festzug,
bald die mythische Vorzeit, die uns geschildert wird, bald ist es ein
düsteres, baJd ein heiteres Bild, bald sind es flüchtig hingeworfene Skizzen,
bald eine mit reichen Zügen ausgestattete Zeichnung, immer gefällig, an-
mutig und erfrischend. Die Darlegung der Ursachen (catisae) wird in ver-
schiedenster Weise eingeführt, einmal lässt er die beteiligten Götter Ent-
hüllungen machen, ein andermal ist es eine Person der Gegenwart, welche
ihm Aufschluss erteilt, auch aus seinem Wissensschatz will er geschöpft
haben (6,417). In diesen Kunstmitteln konnten ihm die alexandrinischen
Meister Fingerzeige geben ; in dem Stoff war er auf römische Quellen an-
gewiesen. Allein an weitschichtige Studien ist bei Ovid nicht zu denken.
Er wird sich nach einem Leitfaden umgesehen haben, in dem der Kalender
bereits aetiologisch erläutert war ; einen solchen Leitfaden hat aller Wahr-
scheinlichkeit nach der berühmte Grammatiker Verrius Flaccus verfasst;
war doch gerade damals ein Steinkalender von ihm in Praeneste in sein
Standbild eingegraben worden. Dass er daneben noch die eine oder die
andere Quelle ausgeschöpft, ist nicht zweifelhaft. Sonach werden wir das
Verdienst Ovids vorwiegend in der Formgebung zu suchen haben, allein
dies schmälert die Bedeutung des Werks nicht. Auf der richtigen Fassung
des Edelsteins beruht ja die Macht seines Glanzes.
Die astronomischen Fehler stellt zusammen Idblbr, Abh. der Berl. Akad. 1822/23
p. 168. — Über die Einführung von Göttern zur Darlegung der causae ygl. Pbtkb p. 15.
Quellen der Fasti. Dass Ovid einen Kalender und zwar einen, der auf der
julianischen Kalenderreform beruhte, fOr sein Gedicht benützte, ist selbstverständlich.
Merkel versuchte in den gelehrten Proleg. zu seiner Ausgabe den Nachweis, dass als
kalendarischer Leitfaden Ovid vorlag ein den Fasti Maffeiaui ähnliches Werk. Demgemäss
nahm er diese Fasti in die Tenbner'sche Ausgabe der ovidischen Dichtung auf. Diese
Fasti, die sich auf das kalendarische Fachwerk nebst einigen andern Angaben beschränkten,
musste dann Ovid ergänzen, erweitem und poetisch ausschmücken (locupletavü studioae et
%Uu8traf>U copioae). Um aber dies durchzufünren, waren dem Dichter noch andere Quellen
nOtig, ja in denselben lag sogar der Schwerpunkt der Arbeit. Dieser Anschauung, in der
sich auch Hülsens Dissertation Varronianae doctrinae — vestigia, Berl. 1880 bewegt, trat
WuvTHBB mit dem Satz entgegen, dass Ovid alles fast nur aus einer einzigen
Quelle geschöpft (De fastia Verrü FlacH ah Ovidio adhibUia, Berl. 1885). Ein Ver-
gleich der vorhandenen Steinkalender mit Ovids Fasti ergibt auffallende Übereinstimmungen
des Dichters mit den Fasti Praenestini, d. h. den Fasti, die der Grammatiker Verrius Flaccus
redigierte, und die auf sein Standbild in Praeneste eingegraben wurden. Diese Überein-
stimmungen beziehen sich nicht bloss auf das Kalendarische, sondern — was von besonderer
Wichtigkeit ist — auch auf das Ätiologisch- Antiquarische. Nach MoiofSEN ist dieser prae-
nestinische Steinkalender aber nur ein Auszug aus dem gelehrten Buchkalender des Verrius
Flaccus. WiNTHER fügt p. 42 die Bemerkung hinzu, dass dieser Buchkalender allem An-
schein nach auch in des Verrius Fhiccus eigenem Werk „de verborum aignificatu" , das uns
im Auszug des Festus vorliegt, exzerpiert wurde. Da nun Ovid ebenfalls aus einem
Buchkalender schöpfte (1, 657), so vermutet WurrHER, dass jener Buchkalender auch Ovid
vorlag. Und daran dürifte kein Zweifel gestattet sein, dass des Verrius Kalenderhandbuch
Führer Ovids war. Allein dass daneben auch noch andere Quellen beigezogen wurden,
kann ebensowenig bestritten werden; es wird daher Aufgabe der weiteren Forschung sein,
152 BömiBohe LitteratnrgeBohiohte. n. Die Zeit der Honarchie. 1. Abteilang.
die Beobachtung Wikthebs zu ergänzen , wobei zwischen dem astronomiachen, kalendarischen
und antiquarischen Teil genau zu scheiden ist.
Oberlieferung: Von den jüngeren, stark interpolierten und darum sehr unzuver>
lässigen Handschriften sondern sich ab der Vaticanus Reginae s. Petavianus 1709 s. X, der
Vaticanus s. Ursinianus 3262 s. XI, endlich der Monacensis s. Mallerstorfiensis s. XÜ/XIII
(„Reginae codex amnium testis est certissimus ac lange optimus; Monacensis et gut haud
fMÜto melior est Vaticanus dubiosis Jods nihil praestant nisi interpolationes** E^ueoeb, de
Ov, fastis recens,, Schwerin 1887 p. 20).
Litteratur: Grundlegend sind die ausführlichen Prolegomena, welche Mebkbl
seiner Ausgabe Berlin 1841 vorausgeschickt hat und welche p. III — CGXCIV umfassen.
Petes, Ober den Inhalt und die Entstehungszeit von Ovids Fasten in s. Ausg. p. 9. Riese
in seiner Ovidausgabe 3 p. VI.
304. Die Metamorphosen. Die Geschichte seiner Metamorphosen
teilt uns der Dichter in seinen Tristia 1, 7, 13 mit. Das Werk war fertig,
als ihn die Verbannung nach Tomi traf. Von Schmerz überwältigt, warf
er angeblich mit eigener Hand das Gedicht ins Feuer. Allein es waren,
wie es weiter heisst, von demselben bereits Abschriften genommen; diesen
fehlte natürlich die letzte Hand des Dichters.^) Dieser erwartet daher
von dem Leser, dass er der Schicksale des Werks stets eingedenk sein
werde, um nicht durch die Gebrechen zu einem lieblosen Urteil verleitet
zu werden. Die Welt der Sage ist es, welche den Gegenstand der fünf-
zehn in Hexametern geschriebenen Bücher bildet. Aber nur die Mythen
sind ausgewählt worden, welche auf einer Verwandlung, einer Metamor-
phose beruhen. Die Entstehung dieser Sagenform ist nicht schwer zu
ergründen.*) Der Glaube an eine Fortdauer nach dem Tod wurzelt tief im
menschlichen Gemüt; fasslich stellt sich dem natürlichen Menschen dieser
Glaube als ein Übergang in ein anderes Wesen dar. Besonders beliebt
war das Fortleben als glänzendes Gestirn am Himmel. Dieser Glaube an
den Übergang der einen Wesen in die anderen konnte sich aber auch in
der entgegengesetzten Weise äussern. Man konnte von der Natur aus
Rückschlüsse auf den Menschen machen. Man bemerkte z. B. Ähnlich-
keiten zwischen menschlichen und tierischen Eigenschaften, man sah in
Gegenständen der Natur Umrisse menschlicher Körperteile, was lag für
die naive Anschauung näher als solche Vergleichungen in Metamorphosen
umzusetzen? Die dichterische Phantasie kam hinzu und die Erzählung
war fertig. Auf diese Weise erarbeitet sich jedes Volk einen Sagenschatz.
Besonders das hochbegabte Griechenvolk erzeugte eine unerschöpfliche Fülle
solcher Mythen. Es war ein ausserordentlich glücklicher Gedanke Ovids,
diese Verwandlungssagen in einem dichterischen Kranz den Römern vorzu-
führen. An Mustern fehlte es nicht; der Grieche Nicander hatte ein hexa-
metrisches Gedicht mit dem Titel "^Exsqotov^uva geschrieben, von dem be-
kannten Griechen Parthenius gab es Metamorphosen, auch ein Römer
Aemilius Macer hatte eine Omithogonia verfasst (§ 268). Ovid beginnt
seinen Sagenkranz mit der Bildung der Welt und schliesst denselben mit
der Verwandlung Caesars in ein Gestirn. Dadurch erhält der Leser eine
scheinbare chronologische Entwicklungsreihe. ^ Ruhepunkte verschmäht der
Dichter, unablässig eilt der Strom der Erzählung bis zum Schluss, selbst
^) In den letzten Büchern deutet manches
auf einen unfertigen Znstand hin (M. Haupt
zu 13,441).
^) Vgl. die Einleitung in der Ausg. von
M. Haupt.
Ovids Sagengediohte. 153
die einzelnen Bücher werden nicht durch scharfe Einschnitte voneinander
geschieden. Nicht leicht war es, die Verbindung des einen Mythus mit
dem andern herzustellen. War ein Mythus in mehreren Versionen ver-
breitet, so wählt natürlich der Dichter diejenige, welche einen bequemen
Übergang zu der folgenden Erzählung gestattet.*) Oft genügt eine leise
Modifikation der Sage, um das überleitende Motiv zu gewinnen.^) Nicht
selten ist das Band auch ein ganz äusserliches.^) Ein nicht unbeträcht-
licher Teil der Verwandlungen wird episodisch eingewoben. Es tritt der
Sänger Orpheus auf und trägt eine ganze Reihe von Vei*wandlungssagen
vor. Die drei Töchter der Minyas unterhalten sich bei ihren Wollarbeiten
mit Erzählungen (4,40). Der Wettstreit, den Minerva und Arachne in
der Webekunst miteinander bestehen, gibt Anlass, durch Vorführung der
von den Kämpfenden gewobenen Bilder wiederum eine Reihe von Meta-
morphosen anzubringen (6, 1). Manchmal begnügt sich der Dichter mit kurzen
Andeutungen über eine ganze Schicht von Mythen. Als Medea durch das
Luftmeer die Flucht ergriff, werden die Orte, über die sie fliegt, durch
Verwandlungssagen charakterisiert (7, 350). Als eine der Töchter des
Minyas ihre Erzählung beginnen soll, schwankt sie und weiss nicht, welche
Sage sie herausgreifen soll. Allein das Schwanken ist nur ein Eunstmittel,
durch welches ermöglicht wird, eine Serie von Metamorphosen flüchtig zu
streifen (4,43). Und noch andere Wege schlägt der Dichter ein, um ein
verknüpfendes Band zu erhalten, das eine oder andere Motiv wird er
von seinen Vorgängern entlehnt haben. So erstaunlich aber auch die Ge-
schicklichkeit des Dichters in dem Aufbau des Ganzen ist, so ruht doch
nicht in ihr der Schwerpunkt seiner Kunst. Dieser ruht vielmehr in der
Darstellung. Die Anmut, Leichtigkeit, Anschaulichkeit, Mannigfaltigkeit
derselben ist bewunderungswürdig. Immer findet der geniale Erzähler
neue Mittel, um den Leser zu packen und Ermüdung abzuwehren. Die
Verwandlungen lässt er vor unsern Augen vollziehen; hiebei weiss er ge-
schickt den Übergang so auszumalen, dass derselbe uns wahrscheinlich
erscheint. Auch sein retorisches Können verwertet er in geeigneter Weise.
Er entwirft meisterhafte psychologische Zeichnungen, ja selbst ein be-
rühmtes Redeturnier hat er in dem Streit zwischen Ajax und Ulixes um
die Waffen Achills eingeflochten (13, 1). Kleine Widersprüche, Anachro-
nismen scheut der aller Pedanterie abholde Meister nicht; er rechnet darauf,
dass die Freude an dem frischen Strom der Erzählung kleinliche Mäke-
leien nicht aufkommen lassen werde. In jeder Beziehung war das Werk
ein gelungenes; mit wohlberechtigtem Stolz konnte er in dem Epilog sagen:
iamque opus exegi, quod nee Jörns ira nee ignis
nee poterit ferrum nee edax aholere vetustas.
Die Quellen. Die Frage nach den Quellen liegt bei den Metamorphosen ganz
anders als bei den Fasti. Bei dem letzten Werk war ein Kalender als Leitfaden unent-
behrlich, auch über die aitiat (causae) musste sich der Dichter aus Schriften instruieren,
da diese gelehrten Dinge ihm wohl nur zum Teil geläufig waren. In den Metamorphosen
dagegen hat er es mit einem Stoff zu thun, mit dem er von Jugend auf sich vertraut ge-
macht hatte und in dem er als Dichter sehr bewandert sein musste. Übrigens standen ihm
hier auch die reichsten Quellen zu Gebote. Eine Anzahl Dichter hatte die Verwandlungs-
»} M. Haupt zu 2, 406 (der Übergang *) M. Haupt zu 1, 438.
im Widerspruch zu 8, 99). ^) M. Haupt zu 2, 531.
154 BömiBche litteratnrgesohiohte. ü. Die Zoit der Monarchie. 1. Abteilung.
sagen bearbeitet, alexandrinische Epyllien suchten sich hier ihre Themate, die Tragödien-
dichter boten verwendbares Material; endlich wird es auch an niTthologischen Kompendien
nicht gefehlt haben. Da uns diese Quellen nur zum Teil erhalten sind, so ist das Ver-
hältnis Ovids zu denselben schwer zu beurteilen. Aus dem Altertum liegt ein Zeugnis vor:
Prob, zu Verg. Georg, p. 44 E. sagt: varia est opinio harum tfoluerum (sc, cScifanum}
originis. liaque in altera sequUur Ovidius Nicandrum, in altera Theodarum etc. Die
Nicandrische Sage haben wir 11,270, die des Theodor 7,401. Bezüglich der letzteren
Quelle fehlt uns zu weiterer Prüfung jeder Anhalt, da wir von Theodor so gut wie nichts
wissen. Besser steht es mit der ersten; durch Antoninus Liberalis sind uns mehrere Er-
zählungen erhalten, welche aus Nicanders hexametrischem Gedicht *EtBQotovfABva zusanunen-
gestellt wurden. Ein Vergleich zwischen Ovid und Nicander führt einmal zu dem Resultat,
dass die meisten Sagen Nicanders auch bei Ovid vorkommen. Eine genauere Analyse der
einzelnen Stücke deckt aber viele Abweichungen im einzelnen auf, dieselben erschienen
RoHDE, Gr. Rom. p. 127 so einschneidend, dass ihm die Benützung Nicanders von Seiten
Ovids zweifelhaft erschien. Allein bei einigen Sagen, wie der von Ascalabus (5,446 =
Ant c. 24) und der von Iphis (9, 666 = Ant. c. 17) ergeben sich doch einleuchtende Gründe
für die nicht sehr wesentlichen Diskrepanzen. Es halten daher Knaack, Analecta, Greifsw.
1880 p. 54 und Plaehn, De Nicandro, Halle 1882 p. 48 daran fest, dass Nicander zu den
Vorlagen Ovids gehörte. Wichtiger ist, dass jenes antike Zeugnis auf Mehrheit der Quellen
in den Metamorphosen deutet. Diese lässt sich nicht verkennen; wir ersehen aus seinen
Schilderungen die Benützung Homers, der griechischen Tragödien, Euphorions (Schultze,
Euphorionea, Strassb. 1888 p. 26; vgl. bes. fr. 28 mit Met. 7, 406 p. 33), Vergils u. a.
Interessant ist die Beobachtung Robebts (Bild und Lied p. 281, 5), dass Ovid die Hypo-
thesis der Medea einsah und, durch dieselbe irre geführt, der Veriüngung Aisons die Ver-
jüngung der Erzieherinnen des Bacchus (7,294) folgen liess. Auch Kontamination der
Quellen ist anzunehmen; vgl. Haupt zu 13, 705. Die Quellenforschung muss bei den Meta-
morphosen sich zur Sagenforschung gestalten; solche Untersuchungen lieferten über die
Phaetonsage Knaack in Philol. Unters, von Kiessling u. Wilamowitz 8. H. (Berl. 1886),
über die Meleagerfabel Subbeb, Zürich 1880, über den Raub der Persephone Föbsteb,
Stuttg. 1874, über Pol3rphom und Galatea Holland, Leipz. Stud. 7, 253, 272, 275 (mehrere
Quellen), Von Wichtigkeit ist die l^Vage, ob die Zusammenstellung der Mythen ganz als
eigenes Werk Ovids anzusehen sei. Es ist dies die herrschende Ansicht. Allein es lassen
sich Zweifel nicht unterdrücken. Wir kennen nämlich eine Verbindung der Phaetonsage
mit dem M3rthu8 von der deukalionischen Flut; der durch den Blitzstrahl des Jupiter ent-
fachte Weltbrand soll durch die grosse Flut gelöscht werden. Dieser Verbindung folgt
zwar Ovid nicht, er knüpft die Flut an die Verdorbenheit der Menschen, bes. des Lycaon
an, allein er kennt auch jene Verbindung, denn an zwei Stellen (1, 253 und 2, 309) wehrt
er sie ab. Es muss also schon zu Ovids Zeiten Darstellungen von Mythen gegeben haben,
welche dieselben in einen Konnex zu einander brachten (Mayeb, Hermes 20, 135). In
manchen Fällen können wir sogar nachweisen, daSs Ovid seinen Übergang nach fremdem
Muster gebildet hat, für 1,450 war ihm Vorbild Euphorion fr. 47, &r 7,294 die Hypo-
thesis zur Medea (vgl. das oben hierüber Gesagte).
Überlieferung: Die Haupthandschrift ist der Codex Marcianus 225 s. XI in Florenz.
, Überall da, wo der Marcianus versagt (und das ist leider sehr oft der Fall), ist ein festes
Prinzip in dem Verfahren der Herausgeber nicht erkennbar* (Magnus, Studien zu Ovids
Met., Berl. 1887' p. 8). Habthan, De Ovidii metamorphoseein edendis Mnemos, 18, 164.
y) Dritte Periode der Ovidischen Poesie: Die Dichtungen von Tomi.
305. Die Elegien der Klage (Tristia). Solange der SonneDglanz
in das Leben Ovids hineinleuchtete, blühte auch der Baum seiner Poesie.
Der erste Sturm, der über ihn hereinbrach, knickte nicht bloss den Dichter,
sondern legte sich auch, ein eisiger Hauch, um seine Dichtung. Es wurde
klar, dass ihm die Poesie zwar Schmuck des Lebens, aber nicht jene gött-
liche Gabe war, welche selbst über dem Leid und Weh verklärend schwebt.
Auf seiner Leier verstummten jetzt Scherz und Spiel, nur klagende Weisen
wollten auf ihr noch gelingen; denn nach des Dichters Meinung bringt ja
bloss Sonnenschein das echte Lied zur Entfaltung (T. 1,1,39):
carmina proveniunt animo dedticta sereno.
Trübe Tage trüben auch den Strom der Dichtung (T. 5, 1,5):
flebilis ut noster Status est, ita flebile carmen.
OTids Diohtaxigen von Tomi. 155
Dieses , klagende* Lied vernehmen wir fortan bis zum Tode des Dichters.
Aber selbst in dieser Leidenszeit fliesst die reiche Ader seines Geistes un-
unterbrochen, für seinen Nachruhm allzu reichlich. Schon auf der ge-
raume Zeit währenden Reise wuchs ihm eine Anzahl Gedichte unter den
Händen empor. Die trüben Erinnerungen an die Katastrophe und die
mannigfachen Erlebnisse gestalteten sich ihm zu poetischen Bildern;
auch war der Zusammenhang mit Rom noch nicht völlig unterbrochen,
er hörte auf den Zwischenstationen das eine oder andere von seiner Frau,
von Treue wie Untreue der Freunde, das seinen dichterischen Geist an-
regen konnte. Noch war die Reise nicht vollendet, und bereits waren
neun Gedichte beisammen, darunter die tief ergreifende Elegie, in der er
seinen Abschied von Rom erzählt, und die auch in GoetKe nachklang, als
er Rom verliess (1,3).^) Es waren gerade genug, um ein Buch zu füllen;
mit einem Epilog und einer Vorrede, in der er dem Büchlein väterliche
Lehren über sein Verhalten in Rom gibt, versehen, wanderte dasselbe,
noch ehe Ovid Tomi erreichte, nach Rom. Es ist das erste Buch der
Tristia. Als der Verbannte in Tomi angekommen war, empfand er erst
die volle Schwere seines Unglücks. Es war ein Kastell, eine griechische
Kolonie von Milet, in der jedoch das gotische Element die Oberhand hatte
(T. 5, 7). Es wurde daher meist gotisch gesprochen, das Griechische wurde
nur wenig gehört, das Lateinische war ganz unbekannt;
barbarus hie ego sum, quia non inteüegor üfli,
klagte der Dichter (5, 10, 37). Die Schrecken des E[lima im Winter waren
furchtbar; dazu kam, dass die Kolonie fortwährend auf der Hut vor den
umherschweifenden wilden Völkerstämmen sein musste, selbst der des
kriegerischen Handwerks ungewohnte Dichter musste zu Wehr und Waffen
greifen. Und an solchen Ort wurde plötzlich ein Mann verwiesen, der bisher
in allen Annehmlichkeiten des hauptstädtischen Lebens geschwelgt, der sich
an anregendem Umgang dichterischer Freunde gesonnt, der nur die süsse
Stimme des Beifalls vernommen hatte. Was Wunder, wenn dem ohnehin
schwachen Mann das Herz brach, wenn er Jahr für Jahr seine Jammer-
rufe nach Rom gelangen liess, um Mitleid und Erbarmen zu finden? Gleich
nach seiner Ankunft, bevor die Schrecknisse des Winters ihn bedrängt
hatten (vor dem Winter 9/10), arbeitete er eine grosse Elegie von nahezu
600 Versen an Augustus aus, sie zählt jetzt als zweites Buch in der Samm-
lung; er hoffte durch sie wenigstens das zu erreichen, dass er an einen
andern, Italien näher gelegenen Verbannuhgsort verwiesen würde. Diese
Elegie kann als seine Rechtfertigungsschrift gelten; da er über den einen
Punkt der Anklage, um nicht anzustossen, leicht hinweggehen musste, so
sucht er um so eifriger den andern, die Abfassung der Liebeskunst, ab-
zuschwächen. Freilich dürfte Augustus über manche der vorgebrachten
Entschuldigungen im Stillen gelächelt (211), ja einen oder den andern un-
schicklich gefunden haben (511). Der Brief blieb ohne Wirkung. Trotz-
dem erlahmte der Dichter nicht; noch weitere drei Bücher füllte er mit
seinen Jammerrufen, sie bilden den dritten, vierten und fünften Teil der
') It. Reise Gotta'sche Ausg. 1871 Bd. 25 p. 157.
156 BOmiflche LitteratargeBchichte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
Sammlung und gelangten nacheinander in den Frühjahren 10, 11 und 12 nach
Rom. Es ist eine furchtbar enge Welt, in welche wir eingespannt werden.
Im Grunde genommen sind es nur drei Gedankenkreise, welche trotz aller
Variationen immer und immer wiederkehren, die Entschuldigung seines
Vergehens und die Schilderung seines traurigen Loses; und diese zwei
Gedankenkreise münden schliesslich in den dritten, in den Euf nach Er-
lösung aus. Ein grosses Feld für poetische Gestaltung gewährt keine
dieser drei Sphären, in der ersten ist es die heilige Versicherung der IJn-
absichtlichkeit und Unbesonnenheit, in der zweiten die Schilderung des
harten Winters und der feindlichen Einfälle, welche den Verbannten in
dem Einzigen, was er noch hat, dem Leben, bedrohen, in der dritten die
Bitte um einen andern Verbannungsort, welche das dichterische Material
liefert. An der unaufhörlichen Wiederkehr des letzten Gedankens scheitert
die Kunst des Dichters. In der Lage, in der sich der Verbannte befand,
konnte er nur das thun, was seinerzeit Silvio PelUco gethan, er konnte
schlicht und einfach ohne vordringliche Klage sein Unglück und seine Er-
lebnisse erzählen; damit hätte er sicherlich eine nachhaltige Wirkung er-
zielt. So sind es nur einzelne Stücke, wie die an seine Frau gerichteten
Elegien, in denen er unser Herz packt; in fast allen übrigen zeigt er sich
schwach und weibisch, und ermüdet mit seinen Wehrufen den Leser.
Chronologie der Tristia. Jedes der fünf Bficher ist als eine Einheit gedacht; bei
dem aus einem Brief bestehenden (2) ist dies selbstverständlich, die übrigen werden durch
Prologe und Epiloge zu selbständigen Werken. Als später Ovid seine Briefe ex Pento schrieb,
machte er am Schlnss des dritten Buchs auf die nichtchronologische Anordnung dieser erst
später gesammelten Briefe aufmerksam und brachte sie dadurch in stillschweigenden Gegen-
satz zu den früher veröffentlichten Tristia. Und wirklich ergibt die Betrachtung der chrono-
logischen Indicien in diesen Stücken, dass die fünf Bücher nach der Zeit geordnet sind.
Das erste Buch umfasst die £[lagelieder, welche auf der Reise entstanden. Dies
sagt der Eingang des Epilogs aufs deutlichste. Dieses Gedicht wurde geschrieben, als der
Dichter im Begriff war, von Samothrake nach Thracien überzusetzen, um dort die Land-
reise nach Tomi anzutreten. Der Winter ist bereite zu Ende und der Frühling naht. Es
war der Frühling des J. 9 n. Gh., um diese Zeit wird die Sammlung ihren Abschluss ge-
funden haben und noch ehe der Dichter in Tomi anlangte, nach Rom geschickt worden
sein. Gegen die letzte Behauptung könnten die Worte 8, 39 ora sinistri Ponti etc. be-
denklich machen und zur Annahme verleiten, es sei dieses Gedicht erst in Tomi zu der
fertigen Sammlung hinzugetreten und diese dann schleunigst nach Rom gesandt worden.
Allein vor die Wahl gestellt, die klar ausgesprochenen Schlussworte des ersten Buchs für
irrig zu halten oder „haec ora** in gewissermassen vorgreifendem Sinn zu nehmen (vgL
5, 62 10, 42), wählen wir ohne Bedenken das letztere.
Im zweiten Buch, der Epistel an August, spricht er im allgemeinen von dem
schrecklichen Klima seines Yerbannungsorts, er malt aber nicht die Schrecknisse des
Winters, er fürchtet zwar feindliche Einfälle, aber er schildert sie nicht. Es ist daher zu
vermuten, dass dieses Gedicht noch vor dem Eintritt des Winters 9/10 fertig wurde.
Das dritte Buch dagegen kennt sowohl den Winter als den durch denselben
hervorgerufenen Einbruch der feindlichen Stämme, aber auch der Frühling naht bereits
und der Dichter feiert seinen Geburtstag im Monat März; das Buch kann daher nicht vor
Frühling 10 abgeschlossen worden sein.
Die Datierung des vierten Buchs stützt sich auf zwei Zeitangaben; 4,6, 19 wird
des zum zweitenmal (seit der Verbannung) erschienenen Herbstes gedacht; da Ovid erst
etwa Anfang Dez. des J. 8 in das Exil ging, so ist der zweite Herbst der des J. 10. In
der zweiten Angabe (4, 7) wird gesagt, dass die Sonne zweimal ihren Lauf begonnen und
zweimal durch den Eintritt in das Zeichen der Fische vollendet. Zum zweitenmal sieht
er seit der Verbannung die Sonne ihren Lauf vollenden Frühjahr 11. Also muss nach
dieser Zeit das Buch ediert sein.
Das 10. Gedicht des fünften Buchs ist geschrieben, seit Ovid drei Winter in
Tomi erlebt; es ist der Winter 11/12. Obwohl das Frühjahr 12 im Buch nicht angedeutet
ist, wird doch höchst wahrscheinlich die Vollendung des Buchs in dasselbe fallen.
Orids Biphtiingen von Tomi. 157
Die chronologische Reihenfolge der fünf Bücher der Tristia steht
demnach fest. Aber auch die Elegien der einzelnen Bücher sind (wenn wir von den
zuletzt geschriebenen Einleitungsgedichten absehen), soweit wir sehen können, chronologisch
angeordnet (Schulz, Quaest, Oüid,^ Greif sw. 1883 p. 12).
Überlieferung: Über dieselbe belehrt uns die sorgfältige Untersuchung Tanks,
De Tristibus Ovidii recensendis, Greifsw. 1879. Nach derselben ist das Fundament der
Rezension der alte Teil des Laurentianus-Marcianus 223 (s. XI), der 1,5,11 — 3,7,1 und
4, 1, 12 — 4, 7, 5 enthält. Sekundären Wert für diese Partie haben noch der Guelferbytanus
Gudianus 192 s. XIII und der Vaticanus 1606 s. XIII. Für die Partien, in denen uns die
alte Partie des Laur. fehlt, sind die Führer die genannten Guelferbytanus und Vaticanus
„qui 8i certam interpolationia suspicionem movetU, Politianus I et Pal, II et ei etiam hi
idem Vitium praebent, Gothanus testis adhibendus est" (p. 60).
806. Die pontischen Briefe (Epistulae ez Fonto). Die Tristien
waren für die gesamte gebildete römische Welt bestimmt; es finden sich
zwar auch Briefe in denselben, allein da der Verfasser die Namen der
Adressaten aus Furcht, ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten, nicht nennt,
so mussten sie eine allgemeine Fassung erhalten und den individuellen
Charakter ganz abstreifen. Neben diesen für das grosse Publikum be-
stimmten Dichtungen hatte der Verbannte sicherlich auch dem einen
oder andern hochmögenden Freund und Oönner sein Leid in poetischer
Rede ausgegossen. Nach der Herausgabe der Tristien im J. 12 n. Ch.
scheint er aber der Überzeugung gelebt zu haben, dass er auf diese
Weise eher zum Ziel gelange. Er fasste daher die verschiedensten Per-
sonen ins Auge, um durch Briefe ihre Fürsprache bei dem Herrscher zu
gewinnen. Diese Briefe kamen, an ihre Adresse gelangt, auch in andere
Hände, es wurden ihm Urteile über dieselbe berichtet. In diese Zeit fällt
ein Ereignis, an das Ovid die grössten Hoffnungen knüpfte, der pannonische
Triumph des Tiberius, der am 16. Jan. 13 n. Ch. gefeiert wurde. Jetzt
glaubte er die Gelegenheit gekommen, neuerdings beim Hofe anzuklopfen.
Zwar an den kalten Tiberius wagte er sich nicht direkt heran, hier blieb
er an der Grenze eines mühsam zusammengestoppelten Panegyricus auf
den Triumphator, den der Autor selbst durch den Vers
ut deaint vires, tarnen est laudanda voluntas
schützt, stehen (3, 4, 79). Dagegen erschien es weniger bedenklich, sein Glück
bei dem jungen, durch dichterische Neigungen ausgezeichneten Germanicus
zu versuchen; der Umstand, dass dieser Prinz auch einige kriegerische
Lorbeeren in Dalmatien sich erworben, bot eine schickliche Handhabe,
daran den Hinweis auf einen künftigen Triumph des jungen Helden zu
knüpfen. Allein der Erfolg blieb aus. Die fehlgeschlagenen Hoffnungen
erweckten in ihm einen Funken männlicher Kraft; in einem denkwürdigen
Gedicht (3,7) findet er endlich einmal einen Ausdruck für den Mut der
Resignation. Im J. 13 n. Ch. kam ihm der Gedanke, auch diese poetischen
Privatbriefe dem Publikum vorzulegen; natürlich bedurfte es dazu der Er-
laubnis der Adressaten. Sie wurde ihm gewährt, da jetzt Unannehmlich-
keiten nach so langer Zeit nicht mehr zu befürchten waren. Nur einer
wollte seinen Namen nicht hergeben (3,6,5).^) Die gesammelten Briefe
stellte Ovid zu drei Büchern zusammen und schickte sie zur Herausgabo
1) Auch 8, 7, an die Freunde gerichtet (v. 9), ist ohne Adresse, femer 4, 8 an einen
Ungetreuen und 4, 16 an einen Invidus.
158 BOmiBohe Litteratnrgeaohiohte. tl. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
an den Anwalt Brutus nach Rom. Die drei Bücher sollten ein Ganzes
bilden, es trat daher an ihre Spitze ein Prolog in Form einer Anrede an
Brutus, das dritte Buch wurde durch einen Epilog abgeschlossen ; im Innern
fehlt es dagegen an scheidenden Merksteinen. In dieser Sammlung stehen
aber nicht bloss die Privatbriefe aus den Jahren 12 und 13, auch solche
aus früherer Zeit wurden eingereiht. Ein chronologisches Prinzip wie in
den Tristien ist daher hier nicht wahrzunehmen, „sine ordine" wurden die
Briefe zusammengestellt, nur wo es das Verständnis absolut notwendig
machte, wurde der frühere Brief dem späteren vorausgestellt. Wie die
Tristien sind auch diese Briefe reich an Klagen;
invenies, quamvia non est miserahÜis index,
non minus hoc Vlo triste, quod ante dedi,
sagt der Dichter (1,1,15); allein sie sind doch zugleich innerlich von den
Trauerelegien verschieden. Während durch Verschweigung der Adressen
in den Tristien das Persönliche in den Hintergrund treten musste, ist
dieses in den pontischen Briefen stark herangezogen. Dadurch kommt
aber zu den unmännlichen Klagen noch die viel abstossendere Eigenschaft
der Schmeichelei und Kriecherei. Dem poetischen Werte nach stehen daher
diese drei Bücher weit unter den Tristien. Sie verraten nach allen Seiten
hin den gebrochenen Mann. Nicht lange nach dem Erscheinen der drei
Bücher starb Augustus (19. Aug. 14 n. Ch.). Die Folgen des Todes für
seine Sache verhehlte sich der Arme nicht, er wusste, dass mit Augustus
so manche Hoffnung ins Grab gesunken sei (4,6,15):
coeperat Augustus dece^tae ignoscere culpae;
spem nostram terras deseruitque simul.
Einem Ertrinkenden gleich machte er doch noch einige Versuche, den Hof
umzustimmen. Gleich nach dem Tod des Kaisers sandte er einen Pan-
egyricus auf denselben in die Hauptstadt (4, 6, 17). Selbst in getischer
Sprache, die er mittlerweile gelernt hatte, verkündete er das Lob des
Augustus und des Herrscherhauses (4, 13, 23) und machte davon dem bei
Germanicus verweilenden Garus Mitteilungen. Allein bei Tiberius wollte
nichts fruchten. Und so musste denn allmählich die Hoffnung auf Er-
lösung erblassen und eine resignieri;e Stimmung an ihre Stelle treten.
Von diesem Umschlag legt das vierte Buch der Epistulae Zeugnis ab,
das, wie es sich an fast ganz andere Personen als die vorausgegangenen
Bücher wendet, so auch in dem Ton merklich von ihnen absticht. Selbst
zu Scherz findet er wieder die Kraft, so wenn er in anmutiger Weise
klagt, dass er den Namen Tuticanus nicht ins Metrum hineinbringe (4, 12).
Die Zeitspuren dieses vierten Buchs erlöschen mit dem Jahr 16 n. Gh.
Dass nicht bloss Briefe, die nach dem Erscheinen der drei Bücher ent-
standen waren, sondern auch solche aus früherer Zeit, ja sogar aus dem
Anfang der Verbannung aufgenommen wurden, kann wahrscheinlich ge-
macht werden. Ob das Buch von Ovid selbst herausgegeben wurde, ist
zweifelhaft; das Fehlen einer Einleitung wenigstens spricht nicht dafür.
Chronologie der Briefe. Da Ovid die Briefe in den drei ersten Büchern
„sine ordine" zusammengestellt, so kann ihre Chronologie lediglich durch Betrachtung der
Zeitverhältnisse in den einzelnen Stücken ermittelt werden. Festes Datum enthalten nur
zwei Gedichte; 1, 2, 28 erwähnt die „quarta hiems**, f&llt also in den Winter 12/13 n. Ch.,
Ovids Biohtangen von Toxni. 159
1, 8, 28 gedenkt der vier in Tomi zugebrachten Herbste, ist sonach Herbst 12 n. Ch. ver-
fasst. Bei den übrigen Briefen sind wir auf Schlussfolgerungen aus Andeutungen hinge-
wiesen. Einen festen Punkt bildet der Triumph des Tiberius 16. Jan. 13 n. Gh.; um den-
selben gruppieren sich 6 Gedichte (2, 1 2, 2 3, 1 3, 3 2,5 3, 4) ; ihre Zeit ist daher im all-
gemeinen gegeben. Weiterhin lassen sich, je nachdem der Brief auf längere oder kürzere
Dauer des £xils schliessen lässt, zwei Klassen von Briefen konstituieren. In die erste Zeit
der Verbannung gehören 1,3 1,6 2, 6. Bei den Briefpaaren (1, 3 u. 3, 4 1, 6 u. 2, 6 1, 2 u. 3, 3)
kann die Priorität des einen vor dem andern festgestellt werden. Dhjbs Einleitungsgedicht
und Epilog erst als die Sammlung fertig war, gedichtet worden, ist selbstverständlich.
Aus dem für sich zu betrachtenden vierten Buch ergeben sich mehr Data. Sie
reichen von Ende 13 (4,4) bis Sommer 16 (4,9). Dazwischen liegen 4,5 (Anfang 14),
4.10 (Sommer 14), 4,6 u. 4,8 (Herbst 14), 4,13 (Winter 14/15). Bei anderen sind all-
gemeine Fixierungen möglich; vor Augustus' Tod sind zu setzen 4, 1 4, 12 u. 4, 14, nach
Augustus* Tod 4,15 u. 4,7. Aber auch hier kommen wir in frühere Zeiten. So muss 4,2,
vorausgesetzt dass der Adressat Severus derselbe ist, früher sein als 1,8; denn 4,2 ent-
schuldigt sich Ovid, dass er bisher den Severus noch nicht genannt, in 1,8 ist aber Severus
angeredet. Noch weiter zurück, bis in die ersten Zeiten des Exils, führt 4, 3. Also auch
für das vierte Buch bleibt das „sine ardine" in Kraft
Litteratur: Die Frage der Chronologie der Verbannungsgedichte kam in der jüngsten
Zeit durch die Forschung über das Jahr der Schlacht am Teutoburgerwald, welche BRAimss
1877 (Fleckeis. J. 115, 349) in Zusammenhang mit der ovidischen Chronologie brachte,
in Fluss. Diese Chronologie der Teutoburger Schlacht ist auch in den Abhandlungen von
ScHBADBB, Fleckeis. J. 115 p. 846; Meyeb, Zeitschr. f. Gymn. 1878 p. 449 und Matthias,
Fleckeis. J. 129, 193 der massgebende Gesichtspunkt Für sich behandelten dann die
Chronologie der Verbannimgsgedichte in trefflichen Abhandlungen Gbabbeb, Quaest, Ovid,
p, I, Elberf. 1881 p. IE— IX. Schulz, Quaest, Ovid., Greifsw. 1883, Wabtenbbbo, Quwsi.
Ovid., Berl. 1884.
Die Adressaten. An die Frau Ovids sind gerichtet: T. 1,6 3,3 4,3 5,2,1 — 44
5. 11 5,14 P. 1,4 3,1. Die übrigen Adressaten zerfallen im wesentlichen in zwei Klassen,
in die der hochstehenden Gönner und in die der gleichstehenden Freunde. Die verschiedene
Rangklasse der Adressaten führt auch einen wesentlich verschiedenen Briefton herbei. In
die erste Klasse gehören ausser den fürstlichen Personen die Brüder Graecinus und Flacc'us
aus dem Geschlecht der Pomponier, Fabius Maximus, die Söhne des Messala: M. Valerius
Corvinus Messala und M. Aurelius Cotta Maximjis, Sex. Pompeius, zu der anderen Macer,
Tuticanus, C. Severus, Brutus, Carus u. a. Über diese Persönlichkeiten handeln Kooh,
Prosopographiae Ovid. elementa, Breslau 1865; Gbaebsb 1. c. und Untersuchungen etc.,
Elberi. 1884; Lobbntz, de amicorum in Ovidii Trist, personis, Leipz. 1881. Nahe lag der
Gedanke, auch den verschwiegenen Adressaten in den Tristia nachzuspüren, zumal da von
vornherein zu erwarten stand, dass diese nicht selten mit denen der pontischen Briefe
identisch sind. Diese Frage, der Lobentz und Gbaebbb wie Schulz 1. c. (der letztere
nebenbei) sich zuwendeten, ist natürlich mit den grössten Schwierigkeiten verbunden.
Oberlieferung: Die Haupthandschriften sind Hamburg, s. XII, Monacensis 384
8. Xll/Xin und Monacensis 19476.
307. Das VerwttnschimgBgedicht Ibis. Bei der gelehrten Richtung
der Alexandriner konnte es nicht an Differenzen und gegenseitigen Reibe-
reien fehlen; ^ sehr heftige erregten die verschiedenen Anschauungen über
die Aufgabe der Poesie zwischen Callimachus und seinem Schüler Apollo-
nius, dem Rhodier. Sie verfolgten sich gegenseitig durch boshafte Epi-
gramme und Anspielungen, auf den Höhepunkt gelangte der Streit durch
ein Gedicht des Callimachus, in welchem er alles Unheil auf seinen Oegner
herabwünscht. Dieser Fluchgesang führte den Titel nach dem unreinen
Yogel Ibis. Selbstverständlich muss irgend ein Band zwischen Ibis und
ApoUonius bestanden haben, das Callimachus gestattete, mit jenem Vogel
seinen Gegner zu bezeichnen. Einige überkommene Notizen gewähren hier
etwas Licht. ApoUonius hatte die Gründungsgeschichten verschiedener
Städte geschrieben, darunter befand sich auch Naukratis. Da er auch „der
') Gbroks, IUl Mus. 44, 126.
160 BOmiBohe LitteratiirgeBcliichte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Naukratite'' genannt wurde, so darf man wohl vermuten, dass er das
Ehrenbürgerrecht von der Stadt erhalten. In Naukratis befand sich aber
ein Heiligtum des Theut, dem der Vogel Ibis heilig war (Plato Phaedr. 274c).
Da dieses Wahrzeichen von Naukratis zugleich unsaubere Vorstellungen
erweckte, so eignete es sich zum Schimpfnamen für den Rivalen. Von
dem Pamphlet des Callimachus ist uns nichts erhalten; aus Ovid erfahren
wir aber, dass dasselbe einen (verhältnismässig) kleinen Umfang hatte und
die Verwünschungen in einer sehr eigentümlicheji Form vorbrachte, indem
der Autor sie in „dunkle Geschichten" (caecae historiae) einhüllte und den
geraden Weg verschmähte (57). Dieser Manier schloss sich Ovid in seinem
Schmähgedicht an; als eine blosse Übersetzung dürfen wir aber das Werk
nicht betrachten, denn sonst hätte er seinen Verwünschungen nicht sum-
marisch diejenigen hinzufügen können, welche Callimachus' Ibis enthielt
(447). Auch darin folgt der Römer dem Griechen, dass er seinen Feind
vorläufig Ibis nennt, mit dem wahren Namen will er erst dann heraus-
rücken, wenn der Gegner von seinem boshaften Treiben nicht ablassen
sollte. Wer dieser Gegner war, ist bis zur Stunde unaufgehellt und wird
wohl auch unaufgehellt bleiben, denn es sind der individuellen Züge von
ihm zu wenige vorhanden. Aus Vers 219 muss man auf seine Geburt in
Afrika schliessen, nach seiner (14 und 234) hervorgehobenen Thätigkeit auf
dem Forum hat man auf einen Sachwalter oder Delator geraten, ein Wort
im Vers 19 lässt ehemalige freundliche Beziehungen zwischen ihm und
Ovid vermuten. Allein damit gewinnen wir kein Bild einer Persönlichkeit.
Etwas mehr erfahren wir Über sein Treiben; der Eingang des Gedichts
erzählt uns, dass er immer von neuem das Vergehen Ovids aufrüttelt und
dasselbe auf dem Forum breitschlägt, dass er die Frau des Verbannten
bedrängt und — dies ist das Gravierendste — das Vermögen Ovids an
sich zu bringen sucht. Auch in den Tristia erscheint ein Freund, dem
Ovid mit dem Wechsel des Glücks und der Nemesis (5,8) und mit »Ver-
ewigung" durch ein Gedicht droht (4,9); auch kehrt hier der Zug wieder,
dass der Feind immer von neuem auf das Verbrechen Ovids zurückkommt,
gegen seine Sittenlosigkeit deklamiert und ihn mit bitteren Worten verfolgt
(3,11, Vs. 19,31,63). Diese Person ist vermutlich mit dem Ibis identisch^)
und jene angedrohte dichterische „Verewigung" wäre sonach durch den
„Ibis" aiusgeführt worden. Der Stoff war Ovid nicht sympathisch, er konnte
sich rühmen, in den Fünfziger Jahren zu stehen, ohne seine Muse dem
Angriff dienstbar gemacht zu haben (1); auch die Eompositionsweise des
Callimachus mit ihrer „tiefen Nacht" mutete ihn fremdartig an (58,60).
Nachdem der Anlass zu dem Gedicht erzählt ist, schreitet der Dichter zur
Inscenierung ; es werden alle Götter herbeigerufen, der Unhold aber auf-
gefordert, an einen Altar zu stehen, indess der Dichter als Priester seines
harten Amtes walten will. Mit Vers 107 bricht das Hagelwetter los, in
staunenswerter Redefülle wird dem armen Sünder alles, was das Leben
qualvoll gestaltet, gewünscht, selbst der Tod soll keine Erlösung, sondern
neues unsägliches Elend bringen. Doch lässt sich dieser Teil noch ver-
*) Graeber (Quaest, Ovid, p, X) zieht
auch noch den impröbus bei, der die ver-
fänglichen Stellen Augustus vorlas (T. 2, 77)
und den P. 4,3 bekämpfton.
Die Dichtungen von Tomi. 161
stehen, da leitet der Gedanke „Du bist zum Unglück geboren^ zur Nacht,
zu den «dunkelen Geschichten'' über, und damit beginnt für den Leser
eine entsetzliche Marter. Alles Unheil, das je in der Sage und in der
Geschichte vorgekommen, wird, wahrscheinlich aus Kompendien, hervor-
geholt und in kurzen dunkelen Umschreibungen, wobei besonders die
Patronymika vortreffliche Dienste leisten, dem Feind entgegengeschleudert.
Es ist zum Wahnsinnigwerden, und wenn der Gegner diese Flut von
Schmähungen jährlich an seinem Geburtstag und am Neujahr über sich
ergehen lassen muss, so ist es wahrlich der Strafe genug.
Risse, Zur Beurtheilung von Ovidius' und Eallimachos' Ibis, Fleckeis. Jahrb. 109, 377.
Die Überlieferung beruht auf dem Turonensis s. XII, dem Cantabrigiensis s. XII
und dem Vindob. s. XII/XUI. (Maag, De Ibidoe Ovtdii eodicibus, Bern 1887.) Über die
SchoUen zu dem Gedicht vgl. Ehwald, De scholiasta qui est ad Ovidii Ibin commentcttiOy
Gotha 1876, der zu dem Resultat kommt (p. 11): nan duUto interpretem propter seholiorum
ipaorum naiuram septimo vel octavo, cuitis barhariam Ula spirant, adscribere aaeetüo; ac
ai testimanüs istis tenuibua, quae ex eJocutione eiua comparantur, fidere velia, eum clerieum
fuisse {n GaUia degentem conicias, «Die Ibisscholien einfach über Bord zu werfen, wäre
ebenso falsch als sie ohne Bedenken zu citieren — es ist, wenn auch nicht in allen, so
doch in vielen Fällen möglich, die Spreu vom Weizen zu sondern.* Gbffcken, Die Ealli-
machoscitate der IbisschoHen, Hermes 25, 91.
808. Das Gedicht von den Fischen (Halieutica) — ein Fragment
von 134 Hexametern, schlecht überliefert, in dem zuerst über die List der
Fische gehandelt, dann zu den Landtieren übergegangen, endlich ein Fisch-
katalog nach dem Aufenthaltsort entworfen wird. Das Gedicht lag bereits
dem älteren Plinius vor und zwar ganz in derselben fragmentarischen Ge-
stalt, in der es uns überkommen ist; derselbe Autor gibt uns auch Auf-
schluss über die Nichtvollendung des Gedichts, indem er es der letzten
Zeit des Exils des Dichters zuweist. Es wurde die Ansicht aufgestellt,
dass das Gedicht nicht von Ovid herrühre und kurz vor Plinius unter-
schoben wurde. Allein die Nichtvollendung liesse sich in diesem Fall nicht
recht erklären.
Plin. n. h. 32, 11 mihi videniur mira et quae Ovidiua prodidit piscium ingenia in eo
vdlumine qitod Halieuticon inseribitur, 32, 152 hia adiciemua ab Ovidio posita nomina
(animalia Bibt p. 46) quae apud neminem alium reperiuntur, sed fortassis in Ponto
naaeentia (naacentium Haupt)^ übt id volumen supremia suis temparibus incohavit. An-
geführt Ovid im Index zu B. 31 und 32. Für die ünechtheit spricht ausführlich Bibt,
De Hälieuticis, Berl. 1878: „innotuisse H. diximus simul atque edita sunt post nonum Flini
librum et ante trieesimum aUerum neque post Vespasiani aetatem neque ante Neroneam"
p. 159 (vgl. auch Habtbl, Zeitschr. f. österr. Gymn. 17,334); gegen Bibt: Zikoeblb, El.
philol. Abh. 2, 1 und Zeitschr. f. österr. Gymn. 17, 334.
Die Überlieferung beruht auf Vindob. s. Sannazarianus 277 s. IX und Parisinus
s. Thuanens s. IX/X.
809. Verlorene Gedichte Ovids. Aus den drei Perioden der Dich-
tungen Ovids sind Werke von ihm verloren gegangen. Am meisten
haben wir den Verlust der Tragödie Medea, die er in der ersten Zeit
seines poetischen Schaffens schrieb (Am. 2, 18, 18), zu beklagen. Ein
gewiss kompetenter Beurteiler, Tacitus, rechnet sie neben der Tragödie
Thyestes des Varius zu den vorzüglichsten Werken (D. 12); auch Quin-
tilian (10, 1, 98) hat von derselben eine sehr hohe Meinung, sie zeige, sagt
er, was Ovid hätte leisten können, wenn er es über sich vermocht hätte,
seinen Geist zu zügeln. Nur zwei Fragmente haben sich aus diesem Meister-
B«ndbiiGli der Uam. Alteriuxiuiriawnscbftft. Vm. 2. Teil. 11
162 BOmiBche LitteratnrgeBchichte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
werk erhalten. Aus dem einen i) (Senec. suas. 3,5) lernen wir, dasa er
seine Heldin wild hin- und herrasen liess. Mehr hilft uns der Brief der
Medea an Jason, da es höchst wahrscheinlich ist, dass der Dichter hier
den Gedankenkreis seiner Tragödie wieder verwertet hat. Dann wird auch
Seneca, der ebenfalls eine Medea verfasste, an dem berühmten Werk seines
Vorgängers nicht vorübergegangen sein; Ähnlichkeiten, die sich zwischen
Seneca und dem Ovidischen Briefe finden, erklären sich durch die gemein-
same Quelle, die Tragödie, am einfachsten.^)
Wir stellen hier die flbrigen verlorenen Schriften Ovids zusammen, wobei wir auch
die nicht ausschliessen, welche wir in anderem Zusammenhang erwähnt haben.
1) Phaenomena (Über die Sternbilder). Aus denselben teilt Lactantius inst,
div. 2, 5 den Schluss mit (3 elegante Hexameter), ein zweites Fragment verdanken wir
Prob, zu Verg. Georg. 1, 138.
2) Epigrammata und Ludicra. Vgl. Bahreks, FPL. p. 349.
3) Epithalamium für Fabius Maximus. P. 1,2,133.
4) Elegie auf den Tod Messallas. P. 1,7.30.
5) Carmen triumphale auf den Triumph des Tiberius am 16. Jan. 13. P. 3,4.
Vgl. oben p. 157.
6) Ein lateinisches Gedicht auf den Tod des Augustus. Gleich nach dem
Tod desselben verfasst P. 4, 6, 17. Vgl. oben p. 158.
7) Ein gotisches Lobgedicht auf die kaiserliche Familie. P. 4, 13, 21.
Vgl. oben p. 158.
8) Ein Gento in malos po6tas, aus Macers ^Tetrasticha" angefertigt Quint.
6, 3, 96 Ovidius ex tetrastichon Macri carmine librum in tnaloa poetas eompaauit.
Von diesen Gedichten ist am merkwilrdigsten das gotische Gedicht; auch nr. 8 ist
interessant, es ist der erste Cento der römischen Litteratur.
d) Pseudoovidiana.
810. Die Klage des Nussbaums (über nucis). Das Thema des
aus 91 Distichen bestehenden Gedichts ist durch die Eingangsverse be-
zeichnet:
nux ego iuncta viae, cum aim sine crimine vitae,
a populo saxis praetereunte noiar.
Ein an einem Weg stehender Nussbaum beklagt sich darüber, dass ihm
die Vorübergehenden mit Steinen die Nüsse abschlagen. Er schildert, dass
er sein hartes Geschick nicht verdient, nur seine Fruchtbarkeit sei daran
schuld. Auch sonst werde ihm Zurücksetzung zu teil. Er preist glücklich
die Bäume, welche abseits stehen und ihre Erträgnisse dem Herrn abliefern
können. Nicht einmal reif lasse man seine Früchte werden. Leider fehlten
ihm die Waffen, sich zu verteidigen. Nur im Winter bleibe er unbelästigt.
Er wundert sich, dass, da doch der Kaiser alles schütze (143), er von Ver-
folgung nicht frei sei. Verschiedene Wünsche ob dieses Unheils steigen
in ihm auf; er schliesst, alles wolle er erdulden, wenn irgend eine Schuld
ihn belaste; sei er aber von Schuld frei, so solle man ihn in Buhe lassen.
Das Thema wird breit ausgesponnen, ist aber im ganzen nicht un-
geschickt durchgeführt. Das Pathos, mit dem der Nussbaum spricht, er-
götzt den Leser. Nur die Ausführung gehört dem Dichter, das Thema
selbst lag ihm in einem Epigramm der palatinischen Anthologie (9, 3) vor.
Die Überlieferung legt das Gedicht Ovid bei, allein die Kunst des Dichters
^) Das andere steht Quint. 8, 5, 6.
*) Vgl. Leo, Ausgab, der Tragödien Senecas 1, 169.
' Psendoovidiana. 163
ist eine andere, weit geringere. Aber Sprache wie metrische Technik
weisen auf einen Dichter, der bald nach Ovid lebte.
Vers 73 — 86 sind die Spiele mit den Nüssen eingeschaltet. Anspielungen auf das
soziale Leben 15,23. Erste kritische Rezension von Wilahowitz nach dem Lauren tianus
(olim S. Marci 223) s. XI in den Comm. Momms. p. 391, dann von Bähseks, PLM. 1, 90,
der als zweiten Vertreter einen Leydener Codex (Periz. Q. 7) s. XY beizieht. Kommentiert
von LiKPEMAnif, Zittau 1844.
311. Das Trostgedicht für die Livia (Consolatio ad Liviam).
Das in 237 Distichen abgefasste Gedicht, das gewöhnlich Epicedion
Drusi genannt wird, hat zur Voraussetzung den Tod des Drusus, der im
J. 9 y. Gh. in Deutschland starb, und dessen Leiche nach Rom überführt
wurde. An die Mutter des Drusus, Livia, die Gattin des Augustus, wendet
sich der Dichter und sucht sie ob des herben Verlustes zu trösten (341).
Dabei nimmt das Gedicht folgenden Gang: Zuerst stellt er verschiedene
Stimmungen und verschiedene Situationen, welche sich an den Tod des
Drusus knüpfen, vor Augen; er malt, wie die Mutter freudig der Heim-
kehr des siegreichen Sohnes wartet, jetzt aber eine Leiche findet, er wirft
unwillig die Frage auf, was denn Livia von ihrem schuldlosen Leben
habe, er beklagt das fortgesetzt auf das Herrscherhaus hereinbrechende
Unglück, mit gelehrten Anspielungen zeichnet er die Trauer der Livia
und lässt sie ihren Kummer in einem Monolog aussprechen (121); er wendet
sich dann, nachdem er kurz die Überführung des Drusus nach Rom be-
rührt, zu dem Leichenbegängnis und schildert das allgemeine Wehklagen;
selbst der Tibergott sucht durch Austritt aus seinem Bette die Verbrennung
der Leiche zu hindern, es bedarf des Eingreifens des Mars, ihn von seinem
Beginnen abzulenken. Nach einem Ausfall auf Deutschland bricht der
Dichter in neue Klagen aus. Seine Phantasie trägt ihn zur Gattin des
Drusus, Antonia; sie erscheint in ihrem tiefen Leid und Weh. Indem
er ihr Trost zu spenden sucht, erinnert er sich plötzlich, dass sein Ge-
dicht für die Livia bestimmt ist, mit einer unvermittelten Anrede an sie
führt er nun seine Trostgründe aus.*) Zuletzt lässt er den Dahingeschie-
denen selbst (446) zur Beruhigung seiner Mutter sprechen.
In der Überlieferung wird das Gedicht Ovid beigelegt; allein schon
die Komposition spricht, abgesehen von Anderem, dagegen, denn diese
zeigt Mängel, welche Ovid nicht zuzutrauen sind. Wenn nun der Dichter
ein anderer als Ovid ist, so fragt es sich, in welcher Zeit er gelebt hat.
Aus dem Gedicht selbst erfahren wir, dass der Dichter, der sich einen
Ritter nennt, der Bestattung des Drusus beigewohnt haben will (202).
Auch ist für die Situation des Gedichtes das Jahr 9 v. Gh., in dem Drusus
starb, anzunehmen. Allein eine solche Annahme stösst auf Schwierigkeiten.
Der Dichter ist ausgesprochener Nachahmer des Ovid und Propertius.
Wenn er nun aus den Tristien, die nicht vor 9 n. Gh. entstanden sind,
einen Pentameter unverändert (120 = T. 1,3,42), einen zweiten mit nur
geringer Veränderung (362 = T. 2, 426) entnimmt, so kann die Consolatio
nicht vor 9 n. Ch. geschrieben sein. Noch weiter kommen wir herab,
wenn wir die Verse 361 — 4 mit Seneca ad Polyb. 20,2 vergleichen; denn
') Das Eintreten der consolatio wird stark markiert mit den Worten (341): haec,
optima mater, debuerant luctus attenuare tuo8,
11*
164 Bömisohe litteratnrgeBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. AbteÜnng.
auch hier müssen wir wiederum den Dichter als Nachahmer und zwar
als Nachahmer Senecas ansehen. Viel weiter werden wir aber nicht herab-
gehen können, denn der Verfasser steht mit seinem Sprachschatz, mit seiner
Verstechnik, mit seinen historischen Kenntnissen noch auf dem Boden des
ersten Jahrhunderts und nach dem Erlöschen der julischen Dynastie fehlte
der Anreiz, das Trauergedicht zu schreiben. Die Elegien auf Maecenas,
welche ebenfalls in diese Zeit gehören, scheinen bereits an unser Gedicht
anzuknüpfen^) und etwa im vierten Jahrhundert ahmt Asciepiadius in
seinem Gedicht de Fortuna eine Stelle der Conaolatio nach (v. 9, 10
[4,148B.] = Consol. 371,2).
Die Mängel in der Komposition fasst scharf Haüpt, Opusc. 1,335 zusammen:
hunc poetam, qui et apte c<meetere carminis partes nan proraus perdidicU et eadem Uerando
inopiam ingenii ostendit et suis ipse senteniiis adversaiur et arationem recte conformare
saepius nescit, nuüo pacta putahimus esse Ovidium Nasonem, Nur eine Probe: Vers 95
bedauert er Livia, weil sie nicht am Todesbett ihres Sohnes weilen konnte, Vers 393 ist
die Nichtanwesenheit unter den Trostgründen aufgeführt.
Die Nachahmungen des Dichters setzt ausführlich auseinander Hübkbb, Herrn.
13 Bd.: «Für etwa 60 Verse sind die ovidischen Vorbilder nachgewiesen worden ^. 160).
Über 100 Verse gehen in wiederum mehr oder weniger unmittelbarem Anschluss auf das
properzische Vorbild zurück, davon mehr als die Hälfte (etwa 60) auf die Comeliaelegie
(p. 176). Auch aus anderen Autoren sind Lesefrüchte nachzuweisen, z. B. Einiges aus
Yergil. Wichtig ist die Nachahmung Senecas. Hiefttr ist die entscheidende SteUe: ad
Polyb. 20, 2 mundo quidam minantur interitum et hoc Universum quod omnia divina huma-
naque complectitur, si fas putas credere, dies aliquis dissipabit et in confusianem veterem
ienehrasque demerget; eat nunc aliquis et singukts conploret animas; — eat aliquis et fata
tanium aliquando nefas ausura sibi non pepereisse conqueratur = Vers 361 — 364 ecce necem
intentam caelo terraeque fretoque casurumque triplex vaticinantur opus, i nunc et rebus
tanta impendente ruina in te solam oculos et tua damna refer*
über das Verhältnis der Maecenaselegien zur Consolatio vgl. p. 58.
Die Hypothese Haupts. Das Gedicht, dessen Überlieferung eine ganz junge ist,
wollte M. Haupt in einer scnarfsinnigen Abhandlung als ein Werk der Humanistenzeit
hinstellen. Mit Unrecht; schon die Kenntnis des in dem Gedichte verarbeiteten historischen
Materials hätte eine Belesenheit erfordert, wie sie kaum ein Humanist besessen. Und
selbst wenn dieselbe vorhanden gewesen wäre, so würde sich schwer nachweisen lassen,
woher der Humanist den Isargus (386) und den Dacius Appulus (387) genommen; auch
würde Metrik und Sprache sicher die Spuren der späteren Zeit an sich tragen. Das
bleibende Verdienst der HAUPT'schen Abhandlung ist aber, dass er eine richtigere Wert-
schätzung des Gedichts, das Valokekaeb zu den erlesensten Produkten der römischen
Poesie zfiilte (opusc. 2, 356 Leipz. 1809), angebahnt hat.
Weitere Geschichte der Frage. Der erste, der die Hypothese Haupts be-
kämpfte, war Adlbb. Allein seine Arbeit, ein Schulprogramm von Anclam (1851), blieb
lange Zeit völlig unbeachtet, Haupts Ansicht dagegen erfreute sich des allgemeinen Bei-
falls; liACHXAjm, L. MüLLEB u. a. erklärten ihre ausdrückliche Zustimmung zu derselben.
Erst E. Hübneb lenkte wiederum die Aufmerksamkeit auf die fast verschollene Abhand-
lung Adlebs, und führte des Näheren aus, dass die consolatio antiken Ursprungs sei und
etwa dem 2. Jahrb. n. Gh. angehöre (Hermes 13, 242). Noch mehr trug zur llrschütte-
rung der HAUPT'schen Lehre das kurze, aber völlig durchschlagende Urteil BÜohblbbs
bei (Philol. Krit., Bonn 1878 p. 21). Während aber Bücheleb von einer genaueren Be-
stimmung der Abfassungszeit des Produkts absieht und nur allgemein von einem späteren
Jahrhundert des Altertums spricht, trat B&hbens in seiner Ausgabe mit der Behauptung
hervor, dass das Gedicht im J. 9 v. Ch. geschrieben wurde. Allein dass dies unmöglich
ist, zeigen die Nachahmungen aus Ovid. Bähbens wurde bekämpft von K Schbnkl (Wien.
Stud. 2, 56), der das Epicedion in die Zeiten des Philosophen Seneca setzt In jüngster
Zeit wurde das Gedicht zum Gegenstand von zwei Dissertationen gemacht, von denen die
eine für das Gedicht das Intervallum 43 — 68 in Anspruch nimmt (Schaktz p. 12), die
andere dasselbe den ersten Jahren der Regierung Tibers zuweist (Wieding p. 61). Allein
bei der letzten Annahme sind wir gezwungen, den Philosophen Seneca zum Nachahmer
der consolatio zu machen, was kaum glaublich ist.
0 Vers 7 Et quisquam leges audet tibi
dicere flendi berührt sich mit Statins (silv.
5, 5, 60) qui dicere legem flentibus aut fines
audet eensere dölendi^
Bttckbliok auf Orids Dichtongen. X65
Litterator: Ausgaben von M. Haupt, Opusc. 1, 316. BXhbens, PLM. 1, 97. —
WiBOZNO, de aetate consol, ad Liviam, Kiel 1888. Schaktz, De incerti consoL ad Liv,
deque carminum consolatoriorum apud Graecos et Eomanos hUtoria, Marb. 1889.
312. Rttckblick auf Ovids Dichtungen. Ovid war kein tief an-
gelegter Mensch, und sein Leben wurde nicht von der Ideale Sonnenglanz
erleuchtet. Nicht zog es ihn hin zum öffentlichen Leben, er wandte sich
nach kurzer Thätigkeit von demselben ab, nicht beseelte ihn eine warme
religiöse Empfindung, die Götterwelt diente ihm zu Scherz und Spiel, nicht
erfüllte ihn ein heisser Drang, des Daseins Rätsel zu lösen; nicht einmal
die Leidenschaft der Liebe hat ihn gefangen genommen, es sind leblose
Schemen, denen seine Lieder gelten. Nur an des Lebens flüchtigem
Schaum und Tand hing sein Herz. Als daher die Nacht des Unglücks
über ihn hereinbrach, fand sie einen haltlosen Mann, der die Würde im
Leid nicht kannte und in weibische Klagen ausbrach. Ein Spiegel seines
äusseren Lebens ist auch seine Dichtung. Es ist keine neue gärende Ge-
dankenwelt, die sich unserem Geiste erschliesst, es strömt aus seinen Ge-
bilden keine tiefgehende seelische Empfindung in unser Inneres herüber,
es sind keine erhabenen ethischen Ideen, denen die Kunst des Dichters
goldene Fassung verleiht. Und doch ein viel bewunderter Dichter? In
der Form liegt der Zauber seiner Poesie; die ausserordentliche Leichtig-
keit, einen gegebenen Stoff zu gestalten, ist das Geheimnis seiner Kraft.
Alles bekommt unter des Meisters Händen eine berückende Gestalt. Sind
es äussere Vorgänge, die er schildert, so staunen wir über die Anschau-
lichkeit, mit der sich die Handlung vor unseren Augen abspielt; gibt er
Lehren, so werden dieselben durch treffliche Bilder erläutert, führt er uns
mitten in die Wogen des inneren Lebens hinein, so zeigt er sich als
kundiger Seelenmaler, der mit wundervoller Kraft die verschiedenen Affekte
zeichnet. Ja nicht selten führt die unerschöpfliche Lust im Bilden sogar
zum geistreichen Spiel und man erkennt den ehemaligen fleissigen Zögling
der Rhetorschule, er spitzt die Gedanken zu, er lässt einen Gegenstand
bald in dieser bald in jener Beleuchtung erscheinen, er breitet eine leise
Ironie über das Gesagte, er flicht eine gelehrte Bemerkung ein, er macht
eine kleine Digression; selbst der Vers wird diesem leichten Spiel dienst-
bar gemacht, wie wenn z. B. die beiden Pentameterhälften benutzt werden,
um Bild und Gegenbild ans Licht treten zu lassen. Überall erfrischt uns
die echte Schaffensfreude des Meisters, der rasch dahingleitende Vers, der
hin- und herschillernde farbenreiche Ausdruck, der durchsichtige Gedanke.
Es ist kein Zweifel, Ovid ist der genialste Erzähler der Römer.
Litteratur: a) Gesamtausgaben von Nie. Hedysius, Amsterdam 1661 (3 Bde.)>
von P. BuRMAim (cum notis variarum), Oxf. 1827 (5 Bde.), von Mbbkel (Teubner), neu
bearb. von Ehwald, von Ribsb (Tancbnitz), von Zinobble, Güthlivo, Sbdlhaybb (Freytag).
p) Spezialausgaben: Ovidii amatoria (ohne Herold, und De medic.) reo.
L. Müllbb, Berl. 1861. — Heroides. Kommentierende Ausg. von Loebs, Köln 1829,
Palmbb, London 1874. Kritische Ausg. von Sbdlmatbb, Wien 1886 (dazu dessen Proleg.
crit. ad Her. Ov., Wien 1878 und Krit. Kommentar zu Ovid. Her., Wien 1881). — De
medicamine faciei ed. Akt. Kukz, Wien 1881. — Fasti ed. Mbbkel, Berl. 1841 (krit
Ausg. mit sehr ausföhrl. Proleg.). Deutsch kommentierte Ausgabe von Pbteb (Teubner). —
Metamorphosen. Krit. Ausgabe von Kobn, Berl. 1880. Erklärende Ausg. von M. Haupt
166 BOmiflche LitteratnrgeBohichte. ü. Die Zeit der Monarohie. 1. Abteilung.
(Weidmann), in neuer Bearb. von H. MOlleb und Kork, von H. Magnus (Gotbana). Aus-
wahl von SiEBELis (Teubner), in neuer Bearb. von Polls u. a. — Tristia. Bec. Owen,
Oxf. 1889. — Epistulae ex Ponto. Erit. Ausg. von Kobn, Leipz. 1868. — Ibis. Ausg.
von Eiiiis, Oxf. 1881. — Halieutica. Ausg. von M. Haupt (mit Grrattius), Leipz. 1838.
Im Anhang zu Biet, De Halietäicis, Berl. 1878.
313. Fortleben Ovids. Der Zeitgenossen Beifall war Ovid in reichem
Mass zu teil geworden. Seine ^Corinna' wurde ein Gegenstand lebhafter
Neugierde; seine Amores wurden sogar im Theater gesungen; dort hatte
sie Augustus gehört (T. 2,519); und noch später, als der Dichter bereits
in der Verbannung verweilte, konnten ihm Freunde von dem Beifall, den
jene Elegien fanden, berichten (T. 5, 7, 25). Von den Metamorphosen wurden,
ehe sie veröffentlicht wurden, bereits Abschriften genommen. Da kam die
Katastrophe und es schien anfangs, als ob auch des Verbannten dichterische
Werke mit in dieselbe gezogen werden sollten; sie wurden sämtlich aus
den drei öffentlichen Bibliotheken entfernt (T. 3, 1, 60). Allein der Dichter
lebte schon zu sehr in dem Herzen seines Volkes, als dass diese Massregel
sich hätte besonders schädlich erweisen können. Selbst auf des Verbannten
Stimme hörte noch gern das römische Publikum ; Beurteilungen seiner Briefe
kamen zu seiner Kenntnis (P. 3, 9, 2). Aber auch nach seinem Tod schwand
sein Dichterruhm nicht dahin. Wie im Leben einst die jüngeren Dichter-
genossen zu ihm als ihrem Meister emporschauten, so blieb auch des Ver-
storbenen Name der Anziehungspunkt für die Diener der Musen. Er wurde
eifrig gelesen und man kann seine Spuren in einer ganzen Reihe von
Dichtungen verfolgen; es wurde in seiner Weise gedichtet und manche
Erzeugnisse der Muse traten, wie wir oben gezeigt haben, unter den
Schirm des berühmten Namens ins Publikum.*) Die Grammatiker hielten
sich dagegen ziemlich fern von dem Dichter; es finden sich zwar An-
zeichen einer kommentierenden Thätigkeit zu den Metamorphosen i) und
zu Ibis; allein zu einer eindringlichen Thätigkeit kam es sicher nicht;
manchen ovidischen Werken begegnen wir in den grammatischen Schriften
äusserst selten. Dagegen finden wir eine prosaische Bearbeitung der Meta-
morphosen; es sind dies die narrationes fabularum, welche in der besten
Quelle der Metamorphosen anonym stehen, in den Ausgaben aber willkür-
lich einem Lactantius Placidus zugeschrieben werden.')
Im Mittelalter musste Ovid hinter Vergil zurücktreten; dessen all-
gemein geglaubte Weissagung über das Erscheinen Christi hatte ihm einen
unverwelklichen Strahlenkranz um die Stirne gewunden. Allein trotzdem
blieb Ovid nicht unbeachtet. Besonders seit dem 12. Jahrb. wird er eifrig
studiert.^) Eine ganze Reihe von Produkten wagt sich unter dem strahlenden
*) £hwald p. 1 nuUi Tristium fuisse vi-
dentnr commentarii, nuUa retus interpretatio,
quali olim tnetamarphoses quidem et Ihim
instructaa fuisse ex tenuibus reliquiis con-
cludas. Enaack, Analecta p. 54 spricht von
einem Metamorphosenkommentkr, cuius vesti-
gia praeter Laciantium Placidum latent in
scholiis Vergilianis,
') Vgl. noch p. 64 Anm.
') FöRSTEB, Raub der Proserpina p. 289.
Vgl. Knaack, Fleckeis. J. 4, 141, 349.
*) Gervinüs, Gesch. der d. Lit. P, 4t57
„Es ist im höchsten Grade charakteristisch,
dass dieser lüsterne Dichter der Liebe, als
er im 12. Jahrb. anfing, den gelehrten und
ritterlichen Kreisen bekannter zu werden,
zuerst bei den freigeistigsten antipapistischen
Theologen, bei den lateinischen Dichtern der
Tiersage und den geistlichen Vaganten, dann
bei den Minnesängern in Südfrankreich and
selbst auch in Deutschland, sowie bei den
lasciven Meistern der neumodischen briti-
GratüOB..
167
Namen Ovids hervor. *) Auch erschienen Kommentare zu den Metamorphosen,
für uns wertlos, aber bezeichnend fär die armselige Geistesrichtung jener
düsteren Zeiten; auch die Ibisscholien sind in dieser Hinsicht recht be-
lehrend. Nach den Fasti wurden Kalender angefertigt. Endlich beginnt
die Ära der Übersetzungen; es ist hier nicht der Ort, dieses Kapitel
weiter auszuspinnen. Nur zwei solcher Versuche sollen erwähnt werden,
die griechische Übersetzung der Heroides und der Metamorphosen von
Maximus Planudes im 13. Jahrb., dann die Bearbeitung der Metamorphosen
durch den Scholastikus Albrecht von Halberstadt im J. 1210. Das ur-
sprüngliche Werk dieser letzten Übersetzung ist uns nur aus einigen
Trümmern bekannt, das Ganze kennen wir lediglich aus der Umgestaltung
des Jörg Wickram aus Kolmar (1545). Auch in die neuste Zeit ragt die
Wirkung der ovidischen Dichtung hinein. Die Metamorphosen wenigstens
sind noch immer ein Lieblingsbuch, an dem Kunst und Dichtung sich labt,
und sie werden es bleiben, solange die römische Litteratur gepflegt wird.
Zur Greschichte des Fortlebens ÜTids liefern Beiträge Ehwald, Äd historiam car-
minum Ovidianorum recensionemque symbolae, Gotha 1889 (Tristia) und Bartsch, ,Ovid im
Mittelalter*^ in , Albrecht von Halberstadt,* Quedlinb. und Leipz. 1861, Sbdlmayeb, Wien.
Stud. 6, 142. — Den Einfluss Ovids auf die nachkommende Dichtergeneration untersuchen
verschiedene Dissertationen z. B. Craxeb, De Manilii eloctUione, Strassb. 1882 p. 68,
Dbipseb, De P. Papinio Statio Vergüii et Ovidii imiiaiore, Strassb. 1881, Luehb, De Statio
in Silvia priorum poH, R. imitatore, KOnigsb. 1880 p. 48, Wezel, de C. Silii Italici cum
fontibua tum exemplis, Leips. 1873 p. 86. — Kommentare zu den Metamorph, im Monac.
4610 8. XI/XII (Mbisbb, Münchn. Sitzungsber. 1885 p. 47). Vgl. auch Haübbau, Acad. des
inscHptions 1888 p. 45. — Ober die griech. Übersetzung der Heroides von Planudes vgl.
Stüdbmuio), Philol. 34,370, dann Gudemak, De Heroidum Omdii codice Planudeo, Berl.
1888. Ausg. der übersetzten Metamorph, von Boissonadb, Paris 1822.
12. Grattius.
814. Des Qrattius Gedicht über die Jagd (Cynegetica). Unter
dem Namen des Grattius (Gratius) sind uns 541 Hexameter erhalten, dar-
unter freilich mehrere in verstümmeltem Zustand. Das Gedicht beschäftigt
sich mit den für die Jagd notwendigen Dingen; der Verfasser kündet selbst
an (23)
et arma dabo venanti et persequar artis
armorum.
Dementsprechend beginnt er mit den Netzen, geht dann zu den Mitteln
über, das Wild zu scheuchen, behandelt die Fallstricke und Schlingen, am
ausführlichsten ist er aber bei den Jagdhunden, diese Partie bildet den
Kern des Gedichts, denn sie reicht von 150 — 495; es ist hier die Rede
von den Eigenschaften der verschiedenen Hunderassen, von der Paarung
derselben, von der Aufzucht durch den Hundemeister, besonders ausführ-
lich von den Hundekrankheiten (344), die vom Dichter selbst beobachteten
Heilungen der kranken Tiere in einer Höhle Siciliens durch Vulkan (430)
erregen besonderes Interesse; die Jagdpferde bilden den Schluss. Diese
sehen Romane am verstandensten nnd ge-
lesensten war; so bei Chretien von Troies,
wie bei Gottfried von Strasburg und der ele-
ganten Schule, die ihm anhing, bei den
K. Flecke, TOrlin, Rudolf von Ems nnd be-
sonders bei Konrad von Würzburg/
*) Goldast, Catalecta Ovidii, Frankf.
1610 (Wattekbach, Pseudoovidische Gedichte
des Mittelalters in der Zeitschrift für das
deutsche Mittelalter Jahrg. 1890 nr. 4).
168 ROmiBohe Litteraturgeschiohte. IL Die Zeit der Monarohie. 1. Abteilnng.
Darlegung des Inhalts erweist, dass das Gedicht nicht vollendet vorliegt,
da nur die Vorbereitungen zur Jagd, nicht die Jagd selbst geschildert wird;
und in diesem Zustand scheint es bereits Ovid vor sich gehabt zu haben,
denn im Dichterkatalog (vgl. § 318) wird es durch die Worte umschrieben (34)
aptaque venanti GrcUius arma dedit.
Sonach ist die Annahme unwahrscheinlich, dass das Gedicht vollständig
war und erst durch äussere Umstände die übrigen Bücher verloren gingen.
Die Darstellung ist ungemein nüchtern; dem Verfasser ist jedes poetische
Talent mit Entschiedenheit abzusprechen; er weiss seinen Stoff nicht zu
beleben und, was noch trauriger ist, es geht ihm der feine Geschmack ab;
wenn er einmal sich aufzuschwingen sucht, macht es einen komischen
Eindruck; man lese nur wie er die Pfadfinder auf dem Gebiete der Jagd,
Dercylus (95) und den Böotier Hagnon (214), einführt; doch am sonder-
barsten ist es, dass er, da er für einfache Nahrung der jungen Hunde
das Wort ergreift, plötzlich die unheilvollen Folgen des Luxus bei ver-
schiedenen Völkern darlegt (311). Auch der Ausdruck ist hart und un-
beholfen; infolgedessen ist das Gedicht nicht leicht zu lesen. Die Nach-
ahmung eines griechischen Musters lässt sich nicht nachweisen; sie ist
auch nicht wahrscheinlich, denn es würde dann wohl etwas Besseres
zustandegekommen sein.
Über die Person des Grattius (dies die handscbrifÜiche, auch durch Inschriften
bestätigte Schreibung) wissen wir nichts weiter; aus Vers 40 noatris inbellia lina Falinds
will man schliessen, dass der Dichter aus dem Faliskerland stammt. Obwohl die Schluss-
folgerung nicht mit voller Sicherheit sich ergibt, so ist sie doch sehr wahrscheinlich, denn
um Falisci den fremdländischen Bezugsquellen gegenüberzustellen, bedarf es nicht des Zu-
satzes no Stria,
UnVollständigkeit. Nach der Ansicht Rieses, Anthol. 1 p. XXXVI führt die
handschriftliche Überlieferung auf eine Subscriptio: liber I Cynegeticorum, wodurch
auch urkundlich die NichtvoUendung des Gedichts erhärtet würde.
Die Bucolica des Grattius. Vielleicht hat Grattius ausser den Cynegetica noch
Anderes gedichtet; denn im Dichterkatalog Ovids (vgl. § 318) müssen beide Verse (33)
Tityron antiguas passerque rediret ad herhuui
aptaque venanti Gratius arma daret
auf Grattius gehen. Der Hexameter ist verdorben, denselben sucht Madvio zu verbessern,
indem er schreibt (advers. crit. 2 p. II Tityron antiquas rurstis revocaret ad herbas), Bergk
(Opusc. 1, 667), indem er vorschlägt: Jityrua apricans, ut erat, qui pasceret, herbas. Beide
Kritiker stimmen sonach darin überein, dass Grattius ausser Cynegetica noch Bucolica
geschrieben habe.
Überlieferung. Für die Cynegetica sind unsere am Schluss verstümmelten Quellen
der Vindobonensis 277 s. IX und für einen Teil (1 -159) der Parisinus 8071 s. IX/X.
Die erste kritische Ausgabe von M. Haupt (mit Halieutica u. a.), Leipz. 1838. Babbbns,
PLM. 1,29.
13. Albinovanus Pedo.
315. Des Albinovanus Pedo Epen und Epigramme. Von Albino-
vanus Pedo teilt uns der Rhetor Seneca suas. 1,15 eine lebhafte Beschreibung
einer Seefahrt mit. Es ist tiefe Nacht; die Schiffe sitzen im Schlamme
fest, die Fahi*enden halten sich für eine Beute der Seeungeheuer. Ver-
geblich sucht ihr Blick durch das Finster der Nacht zu dringen. Sie
wissen nicht, wo sie sind, und sie brechen in Klagen aus, dass sie sich
dem unbekannten Meere anvertraut:
di revoeant rerumque vetant eognoscere finem
mortales ocuJos,
Albinovaniis Pedo. Babirios,
169
Die Seefahrt wird an der Stelle Senecas mit dem Germanicus in Ver-
bindung gebracht; wir werden sonach an die Fahrt, welche Germanicus
im J. 16 n. Gh. durch die Ems in den Ozean machte, zu denken haben.
Den Sturm, der ihn traf, schildert Tacit. Annal. 2, 23 in ganz ähnlicher
Weise wie unser Dichter. Da nun damals bei dem Heere des Germanicus
sich der Beiterführer Pedo befand (Annal. 1, 60), so ist höchst wahrschein-
lich, dass dieser Offizier mit dem Dichter identisch ist, und dass er sonach
Selbsterlebtes in seinem Gedicht schilderte. Die Anschaulichkeit der ganzen
Schilderung würde sich so leicht erklären. Das Epos des Albinovanus be-
sang also wahrscheinlich die Thaten des Germanicus. Ausser demselben
behandelte er noch einen mythologischen Stoff in einer Theseis. Kunde
erhalten wir von derselben durch einen Brief Ovids an den Dichter
(P. 4, 10, 71). Auch Epigramme schrieb Pedo, und Martial weist öfters
auf ihn in ehrender Weise hin (5, 5, 5 2, 77, 5 praef. zu lib. I). Aus dem
Beiwort „sidereus*', welches Ovid dem Pedo gibt (Pont. 4, 16, 6), auf ein die
Sternerscheinungen behandelndes Gedicht zu schliessen,^) ist nicht gestattet,
denn auch Vergil heisst bei Golumella 10, 434 sidereus vatis.
Nicht auf die Expedition des Germanicns, sondern auf die seines Vaters Dmsns
(12 V. Ch.) bezieht das Fragment des Albinovanus B^bok, Monum. Äncyr. p. 97,2, da
Drusus der erste war, der in die Nordsee vordrang, und Haube, Beitrag p. 21. Allein bei
dieser Annahme muss bezfiglich des „Germanicus* statuiert werden : praeoccupavU poetarum
adsentatio Germaniei cognomen, quod mortuo demum Druso sencUtis deerevU. Auch Tacitus
begünstigt diese Annahme nicht.
Priscian 1,304 H. fDhrt von einem Albinus drei Hexameter auf einen siegreichen
Feldherm (vielleicht Pompeius) aus dem ersten Buch ,rerum Romanarum* an; dieses
«Albinus" ändert Haübb (de carminibus epicis, Breslau 1870 p. 16) ohne jedweden stich-
haltigen Grund in «Albinovanus* und glaubt danach Alhinotfanum amnia hella quae inde a
Caesare asqtie ad Tiberianam aetatem a getUe Jtdia geaia essent, uno iüo carmine esse
amplexum, (Vgl. noch Beitrag p. 23).
Als eleganten Enahler (fabulator elegantissimus) charakterisiert unseren Pedo Seneca
Ep. 122, 15, vgl. Seneca controv. 2, 10, 12, Quint. 6, 3, 61.
Das Fragment bei Bähbens fr. p. 351, kritisch bearbeitet von M. Haupt, Opusc. 3, 412.
Haube, Beitrag zur Kenntnis des Albinovanus Pedo, Fraustadt 1880.
14. Rabirius.
316. Der ägyptische Krieg Octayians. Der Dichter, den Ovid
magni oris (P. 4, 16, 5) nennt, versuchte sich an einem zeitgenössischen
Stoff, er besang den Untergang des Antonius. Seneca, dem wir die Kunde
von diesem Epos verdanken (de benef. 6, 2, 3), führt ein pikantes Wort
aus demselben an:
hoc habeo quodeumque dedi.
Ausser diesem Bruchstück sind uns noch vier Fragmente unter seinem
Namen überliefert. Allein vielleicht lässt sich die Zahl derselben noch
beträchtlich vermehren. In Herculanum wurde nämlich eine Papyrusrolle
von 8 Seiten gefunden, dieselbe umfasst 67, freilich zum Teil sehr ver-
stümmelte Hexameter. Sie handeln über den ägyptischen Krieg Octavians
und über den Untergang der Cleopatra, also über denselben Stoff, den
auch Babirius bearbeitet hatte. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass
diese Beste dem Werk des Rabirius angehören. Dieselben lassen nur
^) wie es Haube, Beitrag p. 9 thut.
Allein P. 4, 10 htttte Ovid dieses Gedicht
erw&hnen müssen, er gedenkt jedoch dort
nur der Theseis.
170 Römiflohe LitteratargeBohiohte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
einen sehr massig begabten Dichter erkennen, wie dies ja auch aus dem
Urteil Quintilians 10, 1, 90 erschlossen werden muss. Dass Yelleius 2, 36, 3
Rabirius und Yergil als die ausgezeichnetsten Dichter seiner Zeit feiert,
ist eine Kaprice des Schriftstellers.
Die Fragmente bei BIhbbks, FPL. p. 356, vgl. noch Haupt, OpuBC. 1, 158, die Beste
des Papyrus PLM. 1, 212.
15. Cornelius Severus.
317. Des Comelins Severus Gedichte. Über des Cornelius Severus
dichterische Thätigkeit liegen drei Zeugnisse vor. Allgemein spricht Ovid
(P. 4, 16, 9) von einem „königlichen Gedicht* (carmen regale); Quintilian
nennt den Cornelius Severus einen besseren Versifikator als Dichter und
berichtet weiter, dass, wenn er nach Art des ersten Buchs den «sicili-
sehen Krieg'' durchgeführt hätte, ihm der zweite Platz unter den gleich-
artigen Dichtern gebühre; endlich wird an einer Grammatikerstelle (4, 208 E.)
das erste Buch eines Epos mit dem Titel „res Botnanae" citiert. Die
Fragmente enthalten, mit Ausnahme eines einzigen, des grössten, welches
sich auf den Tod Ciceros bezieht, allgemeine, zum Teil nicht üble Schil-
derungen, aus welchen sich nichts für den Charakter des Gedichts folgern
lässt. Als festen Punkt erachten wir die Angabe Quintilians, dass Cornelius
Severus den sicilischen Krieg besungen, es ist der Krieg, der zwischen
Octavianus und S. Pompeius (38—36) geführt wurde. Ausser diesem Ge-
dicht scheint Quintilian kein anderes Epos unseres Dichters gekannt zu
haben. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass die res Bomanae mit dem
bellum Siculum identisch sind. Was unter dem „königlichen Gedicht" zu
verstehen, ist dunkel ; nur so viel besagt eine andere Stelle Ovids (P. 4, 2),
dass in demselben grosse Könige verherrlicht wurden. Man könnte an
die albanischen Könige^) denken, die vielleicht in Elegien (nach Art des
Propertius) behandelt waren.
Zur Erkenntnis des Dichters dienen vorzugsweise die 25 Hexameter
auf den Tod Ciceros, welche uns von dem Rhetor Seneca Suas. 6, 26 mit-
geteilt werden. Sie müssen im ersten Buch des Werks gestanden sein,
das sonach, ehe es zum sicilischen Krieg überging, etwas zurückgriff.
Diese Verse erwecken keine günstige Vorstellung von der dichterischen
Schöpfungskraft des Autors; es ist keine echte, tiefempfundene Poesie,
sondern rhetorische Deklamation, welche uns kalt lässt.
Quintil. 10, 1, 89 Cornelius Severtis, etiamsi sit versificatar quam poeta melior, si
tatnen [ut est dictum], ad exemplar primi UM bellum Siculum perscripsisset, vindicaret
sibi iure secundum locum.
Die Zahl der Gedichte des Cornelius Severus. Wir haben drei Ansichten
zu unterscheiden. Ribbeck (Gesch. der röm. Dichtung 2, 342) statuiert drei Gedichte des
CS.: 1. das bellum Siculum; 2. das carmen regale; 3. die res Bomanae. Wahtissberg
nimmt dagegen nur zwei Werke an, indem er das bellum Siculum mit den Res Bomanae
identifiziert (Quaest, Ovid, p. 99). Haube endlich glaubt nur an e i n Gedicht „Bes Bomanae'^,
welches, von Aeneas, den albanischen und römischen Königen anhebend, die römische Ge-
schichte bis zum Ende des sicilischen Krieges ausführte {De carmin» epic. saeculi Augusti,
Bresl. 1870 p. 13). Allein ein so beschaffenes Epos konnte Quintilian nicht „bellum Siculum"
nennen. Dagegen steht nichts im Weg, diese Bezeichnung zu wählen, wenn der Dichter
^) RiBBEOK, R. Dicht. 2, 342.
Comeliiui SeveniB. 171
im ersten Buch, wie die Verse fiber Cicero zeigen, die dem sicil. Krieg zunächst voraus-
liegende 2ieit einleitnngsweise geschildert hatte.
Der Dichter Sextilius Ena. Zu den Versen auf Cicero bemerkt Seneca Suas.
6,27, dass der Vers (11)
eonticuit Latiae tristis facundia Ungttae
eine Verbesserung sei des folgenden
deflendus Cicero est Latiaeque silentia lingtiae,
welcher dem spanischen Dichter Sextilius Ena angehört, den Seneca mit den Worten
charakterisiert: fuU hämo ingeniosus magis quam eruditiM, inaequalis poeta et plane gui-
busdam locia talia quales esse Cicero Cordubenses poetas ait, pingue quiddam sonatUis atque
peregrinum.
Auch eine Beschreibung des Aeina stand in dem Epos des Severus, Vgl. Sen. £p. 79
quem (Äetnam) quominus Ovidius tractaret, nihil obstiiit quod iam Vergilium impleverat:
ne Severum quidem Cornelium uterque deterruit.
Über strittige Fragmente Charis. p. 287, 4 vgl. Naekb, Opusc. 1,353, Mbbkel,
Ibis p. 407; Diomed. p. 375, 22 mit Priscian 1, 546, 21 H. (Cornelius Severus in VIII de
statu suo: ad quem salliti pumiliones afferebantur); Beckbb, Zeitschr. f. Altertumsw.
6 (1848) p. 595.
16. Die übrigen Dichter.
318. Der Ovidische Dichterkatalog. Als Ovid in der Verbannung
lebte, wurde auch sein dichterischer Ruhm von einem neidischen Menschen
angegriffen. Der Dichter richtet daher an diesen nicht genannten Oegner
eine Epistel (Pont. 4, 16), in dem er denselben ermahnt, von seinen An-
griffen abzulassen. Zwei Gedanken gibt er zur Erwägung, einmal dass
sein dichterischer Ruhm fest begründet sei, dann dass seine jetzige Lage
eine solche sei, dass sie nicht zu neuen Angriffen ermutigen könne. Beide
Gedanken werden aber zugleich in Gegensatz zu einander gebracht. Auf
die Zeit seines dichterischen Ruhms blickt nämlich der Dichter wie auf
eine der Vergangenheit angehörige, in seinem Exil zählt er ja zu den
Toten. Er spricht daher in der Vergangenheit, als er die grosse Schar der
zeitgenössischen Dichter aufzählt, unter denen auch er seinen Platz ein-
genommen. Wir lassen den für die Litteraturgeschichte wichtigen Brief,
soweit er notwendig ist, folgen:
Invide, quid laceras Nasonis carmina raptif
non solet ingeniis summa nocere dies,
famaque post cineres maior venit, et mihi nomen
tunc quoque, cum vitds adnumerarer, erat;
^cum foret et Marsus magnique Rabirius oris
IliaciMque Macer sidereusque Pedo;
et qui Junonem laesisset in Hercule Carus,
Junonis si iam non gener Üle foret;
quique dedit Lotio Carmen regale Severus
" et cum subtm Priscus uterque Numa;
quique vel inparibus numeris, Montane, vel aequis
sufficis et gemino carmine nomen hohes;
et qui Penelopae rescribere iussit Ulixen
errantem saevo per duo lustra muri
^^ quique suam Trisemem imperfectumque dierum
deseruit celeri morte Sabinus opus;
ingeniique sui dictus cognomine Largus,
Gallica qui Phrygium duxit in arva senem;
quique canit damito Camerinus ab Hectore Troiam;
'® quique sua nomen Phyllide Tuscus habet
velivolique maris vates, cui credere possis
carmina caertdeos conposuisse deos;
quique acies Libycas Romanaque proelia dixit;
et scripti Marius dexter in omne genus;
172 Bömisohe LitteratnrgeBohichte. IL Die Zeit der Monarchie. L Abteilnng.
S6 Trinticriusque 8uae Perseidos aueior, et auctor
Tantalidae reducis Tyndaridoaque Lupua;
et qui Maeoniain Pkaeadda vertit, et una
Pindaricae fidicen tu quoque, Rufe, lyrae;
Musaque Turrani tragicia innixa cothumia,
'^ et tua cum socco Musa, Melisse, levi;
cum Varius Gracchusque darent fera dicta tyrannis,
CdUimachi Proeulua molle teneret iter;
Tityron antiquas passerque rediret ctd herhas
aptaque venanti Gratius arma daret;
*^Naida8 a satyris caneret Fontanus anuUas,
Clauderet inparibus verba CapeUa modis;
cumque forent <üii, quorum mihi cuneta referre
nomina longa mora est, carmina vulgus habet;
essent et iuvenes, quorum quod inedita cura est,
^® adpellandorum nil mihi iuris adest,
te tarnen in turha non ausim, Cotta, silere,
Pieridum lumen praesidiumque fori,
maternos Cottas cui MessaUasque paternos
maxima nobilitas ingeminata dedit;
*^dicere si fas est, claro mea nomine Musa,
atque inter tantos quae legeretur erat.
Damit brechen wir ab. In dem Gedicht werden uns 30 Dichter genannt. >)
Darunter sind drei, welche nicht mit Namen aufgeführt werden, der Sanger
des bläulichen Meeres (v. 21), der Schilderer einer römisch-libyschen Schlacht
(v. 22), endlich der Bearbeiter einer Phäakis (v. 27). Die Namen der zwei
ersten Dichter vermögen wir nicht mehr zu eruieren, dagegen ist der an
dritter Stelle genannte Dichter Tuticanus. Höchst wahrscheinlich ist aber
noch ein vierter Dichter uns dem Namen nach unbekannt, da der Trinacrius
(v. 25) bloss die Heimat des Dichters zu bezeichnen scheint. Von den
genannten Dichtem sind sieben bereits behandelt: Domitius Marsus (§ 274),
Rabirius (§ 316), Pedo (§ 315), Severus (§ 317), Melissus (§ 277), Varius«)
(§ 267) und Grattius (§ 314). Wir haben daher noch die Dichter zu be-
sprechen, bezüglich deren wii* fast nur auf Ovid angewiesen sind.
319. Erläuterung des Katalogs. Der Katalog zerfällt durch zwei
rednerische Figuren in zwei Teile; der grössere Teil bringt das Poly-
syndeton zur Anwendung, der kleinere das Asyndeton. In der grösseren
Partie sind die Dichter, welche vorzugsweise als Epiker zu gelten haben,
zusammengestellt, in der kleineren die Dichter verschiedener Gattungen.
Allein die beiden Teile sind wiederum so ineinander verschlungen, dass
bereits im ersten die Aufzählung der zweiten Dichterklasse beginnt, jedoch
in der Weise, dass durch den Gebrauch der Anrede die neue Dichterreihe
markiert wird.
1. Macer. Das Attribut „Iliacus* besagt, dass das Gedicht Macers
den trojanischen Sagenkreis behandelte. Genauer bestimmt Ovid dieses
Gedicht Amor. 2, 18, in dem er Macer mit den Worten anredet:
Carmen ad iratum dum tu perducis AchiUen,
primaque iuratis induis arma viris.
') Hiebei gehen wir von der Erwägung
aus, dass im Distichon (33, 34) ein Dichter
Grattius,- nicht aber zwei bezeichnet sind. Die
£mendation des Verses 33 ist strittig, vgl.
oben § 314 Anm.
*) Die Handschriften (31 ) schwanken zwi-
schen Varius und Varus; wir billigen Varius.
Die flbrigen Bioliter, 173
Es war sonach das dem Zorn des Achilles Vorausgehende Gegenstand
des Epos. Gegen Ende seiner Elegie kommt Ovid nochmals auf dasselbe
und erzählt, dass in demselben vom Ehebruch des Paris und von der
Liebe der Laodamia die Rede war. Er kennt also nur ein Gedicht Macers.
Auf dieses eine Gedicht müssen wir daher auch die etwas zweideutig ge-
haltenen Worte des Briefs, in dem Ovid der mit Macer gemachten Reisen
gedenkt (P. 2, 10, 13), beziehen:
tu canis aeterno quicquid reatabat Homero,
ne careant summa Troiea hella manu,
nicht aber auf Posthomerica.
Man yennutet, dass dieser Macer identisch ist mit dem Pompeins Macer, eui ordi-
nandaa bibliathecas (Ättgustus) delegaverat (Suet Jul. 56). Über die Familie vgl. Nippbbdey
zu Tac. Ann. 6, 18. Einen Grammatiker Macer citiert Prise. 2, 13. (Vgl, § 309 nr. 8.)
2. Carus. Die Verse 7 und 8 umschreiben eine Herakleis. Die
Umschreibung geschieht in der Weise, dass der Dichter zugleich einige
mythologische Kenntnisse anbringt. Hercules war einerseits der Juno
wegen der Untreue Juppiters verhasst, andrerseits war er als Oatte der
Hebe auch wiederum ihr Schwiegersohn. Noch in einem andern Gedicht
wird auf diese Herakleis angespielt, nämlich im Briefe P. 4, 13, 11, aus dem
wir zugleich erfahren, dass Carus der Erzieher der Söhne des Germanicus
war (47).
3 — 4. Die beiden Prisci. Hier fehlen genauere Andeutungen Ovids.
Aus Tacitus wissen wir (Ann. 3, 49), dass ein Mann des Namens Clutorius
Priscus den Tod des Germanicus zum Gegenstand eines Gedichts machte.
Von diesem Gedicht gibt auch Dio 57, 20 Kunde, nur dass er den Dichter
Faioq AomtoQiog Uffaxog nennt. Ein zweites Gedicht, das er vorgreifend
bei der Krankheit des Drusus auf dessen Tod machte, führte ihn ins Ver-
derben. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieser Priscus mit einem der
ovidischen identisch ist.
5. Numa. Über diesen Dichter fehlt, abgesehen von unserer Stelle,
alle Kunde.
6. Julius Montan US war nach dem Katalog sowohl dem Hexa-
meter als dem Distichon gewachsen, also sowohl im Epos als in der Elegie
thätig. Zwei Proben seiner Poesie hat uns Seneca Ep. 122 aufbewahrt,
die Schilderung eines Sonnenaufgangs und eines Sonnenuntergangs. Beides
waren Gemeinplätze seiner Dichtungen.
7. Sabinus. Drei Werke deutet Ovid an; a) Antwortschreiben auf
die Briefe des Heroides, deren Ovid auch in den Amor. 2, 18, 29 gedenkt
(es sind die Antworten des Ulixes, Hippolytus, Aeneas, Demophon, Jason,
Phaon); b) ein Epos, dessen Titel verdorben überliefert wird; endlich
c) ein Gedicht über die „dies", das aber infolge des Ablebens des Sabinus
nicht zur Vollendung kam.
Das vollendete Epos wird trisemem genannt. Es wnrden verschiedene Verbesse-
mngsversuche fOr das verdorbene Wort vorgebracht; am wahrscheinlichsten erscheint
Hbinsius' Vermutong Troezena. Freilich welcher mit Troezen zusammenhftngende Stoff
im Gedicht behandelt war, lAsst sich nicht entscheiden. Troezen war die Heimat des
Thesens und des Hippolytus; beide Sagenkreise boten Material fOr ein Epos. Das Werk
Aber die „diea^ werden Fasti in der Art und Weise Ovids gewesen sein; nennt sich doch
Ovid in den Fasti 1, 101 3, 177 vates operoBua dierum.
174 Bömisohe LitterainrgeBoliiolite. n. Bio Zeit der Monarchie. 1« Abteilung.
8. Largus. Der Sagenstoff, den dieser Dichter sich zur Bearbeitung
erwählte, war die Niederlassung des trojanischen Helden Antenor am Po,
eine Sage, welche Livius gleich im Eingang seines Oeschichtswerks erzählt.
9. Camerinus. Während Macer, wie wir oben sahen, die Uias vom
ergänzte, setzte Camerinus die Erzählung der Dias fort.
10. Tuscus. Sein Werk war die Phyllis; es war die Sage von der
Liebe der Phyllis in Thracien zum Thesiden Demophon, welche Gallimachus
in den Aetia behandelt hatte. Diesem von Gallimachus gegebenen Muster
folgt unser Dichter, wie Ovid in dem zweiten Brief der Heroides. Nach
den Worten Ovids muss man vermuten, dass der Dichter von seinem Ge-
dicht einen Beinamen erhielt; es kann dieser nur Demophon gewesen sein.
Ist diese Annahme richtig, so wäre der Demophoon des Propertius (3, 22, 2)
vielleicht mit imserm Tuscus identisch.
Das Callimacheische Qedicht von der Phyllis sucht zu rekonstruieren Enaack,
Analecta ÄlexandrituhRomana p. 29-~48 (Über Tuscus p. 43). Die Identität des Demophon
mit Tuscus behauptete zuerst Eiesslino, eaniecturae Prqp., Greifsw. 1875.
11 — 12. Nicht bestimmen lässt sich der Sänger des bläulichen Meeres,
noch sein Gedicht. Auch der folgende Dichter, dessen Werk einen Krieg
der Römer in Afrika behandelte, ist uns unbekannt. Man dachte an einen
der punischen Kriege; allein diese Stoffe lagen jener Zeit fern, viel wahr-
scheinlicher ist die Annahme Haubes (p. 19), dass ein zeitgenössischer
Krieg, also die Kämpfe Caesars gegen Juba und die Pompejaner in dem
Epos zur Darstellung kamen.
Durch willkürliche Veränderung des vatea in nomen gewinnt Mekkel den Dichter
Ponticus als Sänger des bläulichen Meeres. Leere Vermutung Haubebs p. 20 ist es, dass
ein Seekrieg (etwa das bellum Siculum Oetavians) das Sujet war.
13. Marius. Über diesen Dichter, der in dem Katalog als viel-
seitiger charakterisiert wird, wissen wir nichts weiter.
14. Trinacrius ist der Dichter einer Perseis. Wie aber bereits
oben bemerkt, ist es sehr wahrscheinlich, dass Trinacrius nicht Eigenname,
sondern Ethnikon ist und auf einen in Sicilien gebomen Dichter hinweist.
15. Lupus schilderte die Irrfahrten des Menelaus und der Helena
bei ihrer Rückkehr.
16. Tuticanus. Mit der Umschreibung des Verses 27 ist der Dichter
Tuticanus gemeint; das erweist der Brief P. 4, 12, 27. Seine Phaeakis
besang die Schicksale des Ulixes bei den Phäaken. Nach dem Ausdruck
„vertu*' unserer Stelle muss man engen Anschluss des Oedichts an Homer
vermuten. An Tuticanus sind zwei Briefe Ovids gerichtet (P. 4, 14 und
4, 12). In dem letzten Brief beklagt sich Ovid in heiterer spielender Weise
darüber, dass Tuticanus {- ^ - ^) nicht ins Versmass passe (vgl. auch
4, 14, 1). Weiter erfahren wir, dass zwischen beiden Dichtern von Jugend
auf die innigste Freundschaft bestand und dass sie sich gegenseitig ihre
dichterischen Arbeiten durchsahen.
17. Bufus ist in seiner Dichtung Nachahmer Pindars. Da uns
gleichzeitig ein „pindarischer" Dichter Titius bei Horaz Ep. 1, 3, 9 be-
gegnet, so vermutet Beiffebscheid bei der Unwahrscheinlichkeit, dass zu
gleicher Zeit zwei Dichter sich den schwierigen Pindar zur Nachahmung
Die übrigen Dichter. 175
erkoren, dass Titius und Eufus auf dieselbe Person gehen und demnach
der volle Namen des Dichters Titius Rufus ist.
Reiffebschbid, eoniecianea nova, Breslau 1880 p. 7. (Vgl. oben p. 91.)
18. Turranius ist Tragiker, sonst ist nichts über ihn bekannt,
wenn wir von Hypothesen absehen wollen.
19. Gracchus war ebenso Tragödiendichter wie Varius(§ 267). Ja beide
haben sogar denselben Stoflf behandelt, die Thyestessage. Von dem Thyestes
des Oracchus hat uns Priscian 1, 269 H. einen Trimeter aufbewahrt.
Wohl identisch mit dem Tacil Ann. 1,53 genannten: par causa aaevUiae in Sem-
pronium Cfracchum, qui famüia nobiU, soUers ingenio et prave facundas, eandem Juliam
in matrimonio Marei Agrippae iemeraverat. Noch von zwei Tragödien desselben kennen
wir die Titel «Atalante* und ^Peliades*.
20. Proculus wird nach den Worten Ovids die alexandrinische
Elegie gepflegt haben.
21. Fontanus. In welcher Dichtxmgsgattung die von Fontanus be-
sungene Liebe der Satyrn vorkam, lässt sich schwer sagen. Wahrschein-
lich waren es bukolische Gedichte.
Ribbeck, R. Dichi 2, 173 denkt an Satyrdramen, von der Erwägung ausgehend, dass
Horatius das Satyrdrama in seiner Ära poetica hehandelt, es sonach wahrscheinlich sei, dass
damals auch in dieser Gattung gedichtet wurde.
22. Gapella war allem Anschein nach Elegiendichter.
23. M. Aurelius Gotta Maximus wird an letzter Stelle genannt;
es ist der Sohn des Redners M. Valerius Messala, der späterhin durch
Adoption in die gern Aurelia (Cottq) kam, daher seinen Namen führte,
später aber nach dem Tod seines Bruders sich das Gognomen desselben,
Messalinus, beilegte. Die Dichtimgsgattung, die er kultivierte, ist uns
nicht bekannt.
Leider sind es nur Namen, die wir dem Leser vorführen konnten,
Namen ohne Inhalt, da die Schöpfungen jener Dichter keine nachhaltigen
Spuren ihres Daseins zurückgelassen haben. Allein auch an den blossen
Namen darf die Litteraturgeschichte nicht achtungslos vorübergehen, zeigen
sie doch in diesem Falle, wie reich die poetische Betriebsamkeit der augu-
steischen Zeit war und wie wenig sich aus den Schätzen jener Epoche zu
uns herübergerettet hat. Ob das Untergegangene auch seinen Untergang
verdiente, wer will es entscheiden?
Andere verschollene Dichter. Wir reihen hier gleich noch eine Anzahl solcher
Dichter an, von denen uns nur eine dürftige Kunde überliefert ist.
1. Julius Antonius. (Ober den Namen BOcheleb, Rh. Mus. 44, 317). Acro zu
Hör. c. 4, 2, 33 heroico metro Jioufjdeiag XII Jibros scripsit egregios, praeterea et prosa
aliqua. Dem Epiker (cancinea 33 u. 41 ist richtig) Julius Antonius stellt sich der Lyriker
Horaz gegenüber C. 2, 4.
2. C. Fundanius verfasste Falliataei welche zum Vorlesen bestimmt waren (Hör.
Sat.1,10,39).
3. Serv. Sulpicius. OvidT. 2,441 nee sunt minus improba Servi earmina. Also
war er erotischer Dichter (Horai sat 1,10,86 Plin. ep. 5,3,5).
4. Die Brüder Visci. Der Schol. Cruq. zu Sat. 1,10,83 hat aus Porphyrio Fol-
gendes: Visci duo fratres fuerunt optimi poetae et iudices crüici, quorum paier Vibius
Viscus quamvis divitiis et amieitia Äugusti clarus esset in equestri tarnen ordine permansit,
cum filios suos senatores feeisset. Der eine hiess Viscus Thurinus (Hör. Sai 2, 8, 20). Vgl.
• KnmsLnyG zu Hör. Sat 1,10« 83.
5. Ponticus schrieb eine Thebais, auf dieselbe spielt Propertius, mit dem der
Dichter befreundet war, an (1,7,1 und 1,9,9); es war darin die Rede von Oadmus, von
176 BOmiBche LüteratargeBohiolite. n. Die Zeit der Monarchie. 1 Abieilimg.
Amphion und von dem Bruderzwist. Als sein Vorbild konnte er sieb die Thebais des
Antunachus erwählen.
6. Der Jambograpb Bassus. An ihn wendet sich Propertius 1,4. Über seine
Dichtungen wissen wir sonst nichts. Dass er auch der Rhetor ist, von dem Seneca Gontrov.
10 praef. 12 spricht, ist nicht wahrscheinlich. Von den beiden genannten Dichtem sagt
Ovid (T. 4,10,47):
PofUicus heroo, Basaus quoque clams iambis
dulcia convictus membra fuere mei,
7. Dorcatius. Isidor or. 18,69 führt zwei Hexameter aus einem Lehrgedicht über
das Ballspiel an. Wahrscheinlich spielt auf dieses Werk Ovid mit den Worten an (T. 2, 485) :
ecce canit formas alius iaetusque pUarum (M. Haupt, Op. 3,571 Bahbbns, FPL. p. 357).
8. ArbroniusSilo. Über denselben liegt ein Zeugnis des Seneca rhetor vor (Suas.
2,19): memini audUorem Latranis Arbraniutn Silonem patrem huiiAS SiUmis, gut pamiO"
mimis fabulas scripsU et Ingenium grande non tantum deseruU sed poUuit, reeiiare Carmen.
Es folgen zwei Hexameter, welche sich auf die troische Sage beziehen (BikHBBNS, FPL. p. 356).
9. AlfiusFlavus war nicht bloss Dichter, sondern auch ein berühmter Deklamator
(Seneca controv. 1,1,22 naturalis vis — et desidia dbruia et earminibus enervata)»
17. Die Priapeendichter.
320. Corpus Priapeornm. Zu einer überwiegend obscönen Poesie
gab der cu8tx)s hortorum, der Beschützer der Gärten vor den Dieben, An-
lass. Eine rohe Holzgestalt (44, 1) war er charakterisiert durch das rot an-
gestrichene männliche Glied (26, 9) und durch die Sichel in der Hand (30, 1).
Die an Priapus sich anlehnende Poesie finden wir bereits bei den Griechen;
der Alexandriner Euphorien aus der ägyptischen Stadt Chersonesus hatte
Priapea geschrieben; ^) auch führt der Doppelglykoneus den Namen „metrum
Priapeum'^. Bei den B<5mem war diese Poesie ursprünglich epigraphischer
Natur; den Wänden der Priapustempelchen wurden pikante Verse auf den
Gott beigeschrieben. Später hat dieselbe auch in der Litteratur ihren
Platz erhalten.^) Uns ist eine Sammlung solcher Gedichte überliefert,
80 an der Zahl,^) von denen 38 in Hendekasyllaben, 34 in Distichen und
8 in Gholiamben geschrieben sind. Die Sammlung enthält ein doppeltes
Vorwort; in dem ersten wird der Leser auf den schmutzigen Charakter
der Epigramme aufmerksam gemacht:
carminis ineompti lusus lecture procaces
conveniens Lotio pane »upercUium,
In dem zweiten führt sich ein Dichter von Priapea ein.^) Es ist sonach
wahrscheinlich, dass das erste Vorwort von einem Herausgeber herrührt,
der eine durch das zweite Vorwort eingeleitete Sammlung als Grundlage
benutzte, um noch andere Priapea damit zu vereinigen. Denn dass wirk-
lich Epigramme verschiedener Autoren hier vereinigt sind, zeigt das dritte
Gedicht, das, wie wir aus Seneca controv. 1, 2, 22 ersehen, von Ovid ist.
Wann unsere Sammlung veranstaltet wurde, lässt sich nicht mit
Sicherheit feststellen. Eines dürfte aber nicht geleugnet werden können,
dass die Priapea des Corpus der augusteischen oder einer nicht viel
späteren Zeit angehören.
^) Mbikbxb, Anal. Alex. p. 841.
') So grosse Gedichte wie nr. 68 kann
man sich schwer als epigraphische vorstellen.
') BüOHXLEB 81, er trennt nämlich mit
SoALiosB (F. Appendix Ed. Lindbnbbuoh
p. 209) die zwei letzten Verse ab und macht
daraus ein eigenes Epigramm.
*) Ausdrücklich sagt er Vers 3 scrtpai
non nimium laboriose.
T. Livins. 177
Der Stoff der Epigramme ist ein sehr beschränkter, es sind wenige
Themata, in denen sich die Arbeit dieser Dichter zu bewegen hat, vor
allem das Symbol des Priapus, dann die obscöne Bestrafung der Diebe,
selten die Opfer, die dem Priapus dargebracht werden (16, 27, 42, 53, 65).
Die dichterische Kunst besteht nun darin, demselben Gegenstand immer
neue Seiten abzugewinnen. So wird, um es an einem Beispiel zu zeigen,
Priapus mit den andern Göttern verglichen, der eine Dichter zieht die
Orte, die ihnen lieb sind (75), der andere ihre Wehr (20 und 9), der
dritte endlich charakteristische körperliche Eigenschaften derselben (36)
zum Vergleich mit Priapus herbei. Auch diese kleinen Gedichte, die
doch als ein freies Spiel gelten wollen (2), weisen hie und da auf die
Schule hin; so enthält mythologische Anspielungen Nr. 16, das Gedicht 68
zieht Homer ins Obscöne, auch die pornographische Litteratur wird hie
und da gestreift (4 und 63,17), das Gedicht 24 ist aus der griechischen
Anthologie geschöpft.
Mit dieser Sammlung yerbinden die Herausgeber noch fünf in anderen Quellen Über-
lieferte Priapea. Zwei werden dem TibuU beigelegt, drei stehen unter den kleineren Ver-
gilischen Gedichten.
Die Überlieferung beruht nur auf jungen Handschriften: Laurent. 38,81 (s. XIV),
Hehnstadiensis 338 (vom J. 1460), Laurent. 39, 34 (s. XV), Vossianus L. 0. 81 (s. XV).
Ausgaben von Bücheleb hinter dem Petronius 8. Ausg. p. 137, L. Mülles in der
Ausgabe der Elegiker 1,95, BXhbens, PLM. 1,54.
b) Die Prosa.
er) Die Historiker.
1. T. Livius.
321. Biographisches. T. Livius wurde 59 v. Ch. in Padua geboren,
einer Stadt, welcher die Sittenreinheit ihrer Bewohner einen hohen Ruf im
Altertum gab (Plin. ep. 1, 14, 6). Diese Eigenschaft seiner Heimat teilt auch
unser Historiker, denn er war ein in moralischer Beziehung durchaus hoch-
stehender Mann. Auch in der Sprache verleugnete er die Heimat nicht,
wollte doch der Kritiker Asinius PoUio noch in seinen Werken eine ge-
wisse Patavinitas, d. h. manches von der hauptstädtischen Sprache Ab-
weichende entdeckt haben. Von seinen Eltern wissen mr nichts. Seine
Ausbildung war eine so umfassende, dass er als Schriftsteller in drei Ge-
bieten auftreten konnte. Er schrieb über philosophische Probleme und
zwar in streng wissenschaftlicher und in populärer Fassung. Die Werke
letzterer Art waren Dialoge und hatten einen stark historischen Zuschnitt,
d. h. sie belegten die vorgetragenen Lehren durch geschichtliche Beispiele.
Weiterhin kennen wir ihn als rhetorischen Autor, ein hieher gehöriges Werk
hatte die Form eines Briefes an seinen Sohn; es war in demselben über
die Auswahl der Schriftsteller Anleitung gegeben, besonders warm wurden
Demosthenes und Cicero empfohlen. In demselben stand wahrscheinlich
auch die uns von Seneca (controv. 9,24,14) mitgeteilte Kritik einer Sallusti-
schen Phrase. Aber seine Hauptschriftstellerei war die historische, er fasste
den Plan eines grossen Werks, welches die römische Geschichte von der
Gründung der Stadt bis auf seine Zeit darstellen sollte, und widmete der
Ausführung dieses Gedankens fast sein ganzes Leben. Die Abfassung eines
Handbuch der klaas. Altcrlumswiweuiichaft. Vm. 2. Teil. 12
178 RömiBche Litieratnrgesohiohte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. AbteUmig.
solchen Werks konnte nur in Rom erfolgen, und es weisen auch Stellen
deutlich auf diesen Aufenthalt hin.^) In der Hauptstadt gelangte er zu
hohem Ansehen; er wurde mit Augustus befreundet und diese Freundschaft
war so stark, dass es ihr keinen Eintrag that, dass Livius über Caesar
hart urteilte und sich auf die Seite des Pompeius neigte ; Augustus pflegte
den Historiker einen Pompejaner zu nennen. Auch mit dem späteren
Kaiser Claudius unterhielt Livius engere Beziehungen und veranlasste ihn,
selbst das Feld der Geschichte zu betreten (Suet. Claud. 41). Von den
Familienverhältnissen des Schriftstellers wissen wir, dass er eine Tochter
hatte, deren Mann Rhetor war (Senec. controv. 10 praef. 2), dann dass der
oben erwähnte Sohn gleichfalls als Schriftsteller auftrat, denn er wird in
den Quellenverzeichnissen der geographischen Bücher 5 und 6 von Plinius
erwähnt. Gestorben ist Livius in seinem Geburtsort im J. 17 n. Ch. Ob
er in der letzten Zeit seines Lebens dort gelebt oder nur zufällig dort
verweilt, wird uns nicht berichtet.
Geburts- wie Todesjahr überliefert uns Hieron3rmus 2, 137 und 147 Sohoekb.
Über die Patavinitas sind die entscheidenden Stellen Quint. 8,1,8 ut sint (perba)
quam minime peregrina et externa — et in T, lAvio, mirae facundiae viro, putat inesse
Pöllio Asinius q%iandam Patavinitatem. Ähnlich 1,5,56 (wahrscheinlich ein nicht ganz
unparteiisches Urteil des Kritikers, vgl. Haupt, Opusc. 2, 69).
Seine philosophische Schriftstellerei bezeugt Sen. ep. 100,9: scripsit dialogos, quas
non magis philosophia^ adnumerare possis quam historiae, et ex professo philosophiam con-
iinentis libros; seine rhetorische Quint. 10,1,39 apud Livium in epistola ad filium sripta
legendos Demosthenem atque dceronem, tum ita tU quiaque esset Demostheni et Ciceroni
simiaimus (2,5,20 8,2,18).
Bezüglich seines Verhältnisses zu Augustus vgl. Sen. n. quaest 5,18,4: quod
de Caesare maiori volgo dictatum est et a T. lAvio positum, in incerto esse, utrum ittum
nasci magis reipublicae profuerit an non nctsci, Tacit. Ann. 4, 34 T. Livius, eloquentiae ac
fidei praeclarus in primis, Cn, Pompeium tantis laudibus tulit, ut Pompeianum eum Augustus
appellaret; neque id amicUiae eorum offecit.
322. Aufbau des Livianischen Werkes. Als Livius an das grosse
Unternehmen die Hand legte, stand er in den dreissiger Jahren; denn er
begann nicht nach 25 v. Gh., da er in dem ersten Buch (19, 3) wohl die erste
Schliessung des Janustempels (29 v. Gh.) erwähnt, aber nicht die zweite
(25 y. Gh.). Das 121. Buch wurde nach dem Tode des Augustus heraus-
gegeben, wie die Periocha desselben besagt; damals war Livius Anfangs der
siebziger Jahre. Sonach widmete Livius seiner Geschichte über Werzig Jahre
seines Lebens und schrieb durchschnittlich jedes Jahr drei bis vier Bücher.
Es ist von selbst einleuchtend, dass ein solches umfassende Werk nur
successive ans Tageslicht treten konnte; so sahen wir, dass die Bücher
1 — 120 vor dem Tod des Augustus, die übrigen nach demselben erschienen.
Von vornherein ist wahrscheinlich, dass Livius sich nach gewissen Ruhe-
punkten auf dem langen Weg, den er zu durchschreiten hatte, umsah,
dass er sonach nicht bloss Bücher, sondern auch Gruppen von Büchern
unterschied. Es ist uns noch möglich, an der Hand der Überlieferung
jene Ruhepunkte zum Teil festzustellen. Das 109. Buch wurde auch
separat als erstes Buch des Bürgerkriegs gezählt. Hier liegt sonach ein
deutlicher Einschnitt vor; es beginnt die Darstellung der eigenen Zeit des
Autors. Wir stehen an dem Wendepunkt des ganzen Werks; während
>) Weissbkborn, Einl. p. 4 (1,8,5 1,41,4 1,48,6 2,7,12).
T. Livins. 179
bisher in den vorausgegangenen 108 Büchern Annalen gegeben waren, hebt
jetzt mit dem 109. Buch die „historia*' an. Beide grosse Teile erfordern
natürlich wiederum die Gliederung in Abschnitten. In den Annalen mar-
kiert der Historiker mehrmals Ruhepunkte durch Einleitungen; eine solche
ist dem 21. Buch beigegeben, mit dem der Hannibalische Krieg erö£fnet
wird. Der Historiker macht in nachdrücklicher Weise auf die Wichtig-
keit des Krieges aufmerksam. Auch das 31. Buch hat eine Vorrede; der
Autor ist froh, dass der Hannibalische Krieg zu Ende geführt ist; er wirft
einen Blick rückwärts und gewahrt mit Schrecken, dass die Erzählung
der Ereignisse von der Gründung der Stadt bis zum Beginn der punischen
Kriege ebensoviel Bücher in Anspruch genommen habe als die Darstellung
der zwei ersten punischen Kriege. Da die zwei ersten punischen Kriege
mit dem 16. Buch beginnen und mit dem 30. schliessen, so wird die An-
nahme gerechtfertigt sein, dass mit dem 16. Buch wieder ein Ruhepunkt
gesetzt ist. Demgemäss stellen die vorausgegangenen 15 Bücher für sich
eine höhere Einheit dar. Allein auch hier bildet noch das 6. Buch eine
Grenzscheide, da die Epoche nach dem kapitolinischen Brand in Angriff
genommen wird, sonach die Epoche der urkundlichen Überlieferung. Aus
dieser Darlegung ergeben sich folgende grössere Einheiten für Livius:
1) B. 1—5, 2) 6-15, 3) 16-20, 4) 21-30 d. h. der Schriftsteller gibt
uns Bände mit fünf und Bände mit zehn Büchern, oder, wenn wir den
Band mit zehn Büchern als Einheit zu Grunde legen, er gibt uns zwei
ganze Bände und zwei Halbbände. Danach darf man wohl annehmen,
dass Livius wirklich von der Dekade bei Abfassung seines Werks aus-
gegangen ist. Diese Dekaden lassen sich sogar noch weiter verfolgen.
Da in das 40. Buch der Tod des Königs Philipp von Macedonien fällt
und damit ein Wendepunkt in dem macedonischen Krieg herbeigeführt
wird, da ferner das 31. Buch, wie wir gesehen, eine eigene Einleitung
darbietet, so werden wir auch die Bücher 31 — 40 als eine zu einem Ganzen
zusammengefasste Dekade zu betrachten haben. Das Buch 71 hebt mit
dem Bundesgenossenkrieg an, das Buch 80 schliesst mit dem Tod des
Marius; auch hier stellt sich naturgemäss die Dekade ein; und da das
Buch 90 mit dem Tod eines in die Geschicke Roms tief eingreifenden
Mannes, nämlich Sullas, einsetzt, so werden auch die Bücher 81—90 eine
Einheit ausgemacht haben. Wenn also bisher die Dekade oder die Halb-
dekade als die Einheit, zu der Livius grössere Gruppen zusammenschloss,
sich herausstellte, so ist von dem Buch 90 an bis zum Beginn des zweiten
Teils, der historia, das Dekadenprinzip nicht mehr nachzuweisen. Aber
auch in der historia d. h. von dem 109. Buch ist keine Gliederung nach
Dekaden vorhanden; werden doch die Bücher 109—116, welche die Ge-
schichte vom Beginn des Caesarischen Bürgerkriegs bis zur Ermordung
Caesars fortführen, als belli civilis libri I— VIII gezählt. Wir müssen also
folgern, dass der Historiker das Dekadenprinzip im Lauf der Zeit aufgab.
Der Aufbau des ganzen Werks wird sich durch folgende Übersicht
anschaulich machen lassen:
1—5 Von der Gründung der Stadt bis zur gallischen Eroberung (387/6 y. Ch.)
6 — 15 bis zur Unterwerfung Italiens (265 v. Ch.)
12*
180 RömiBohe litteratorgeBchichte. IL Die Zeit der Monarohie. !• Abteilnng.
16-20 die punischen Kriege bis zum Beginn des Hannibalischen Kriegs (219 v. Ch.j
21—30 der HannibaHsche Krieg (bis 201 v. Ch.)
31—40 bis zum Tod König Pbilipps von Macedonien (179 v. Ch.)
41 — 71 bis zum Ausbruch des Bundesgenossenkriegs (91 v. Ch.)
71 — 80 Vom Bundesgenossenkrieg bis zum Tod des Marius (86 y. Ch.)
81 -90 bis zum Tod SuUas (78 v. Ch.)
91 — 108 vom sertorianischen Krieg bis zum gallischen
109 — 116 vom Beginn des caesarischen Bürgerkriegs bis zum Tod Caesars (44 v. Ch.)
117 — 133 bis zur Besiegung des Antonius und der Cleopatra
134 — 142 vom Prinzipat des Augustus bis zum Tode des Drusus (9 v. Ch.)
Warum Livius gerade mit dem 142. Buch aufhörte, dafür lässt sich
kein Grund ausfindig machen; ob es ursprünglich seine Absicht war, das
Werk noch weiter zu führen, ist ebenfalls eine Frage, die nicht beant-
wortet werden kann. Der Titel des Werks war libri ab urbe condita.
Chronologische Indicien. Anspielungen auf Zeitereignisse lassen uns die Ent-
stehungszeit mancher Bücher erkennen; so muss das 9. Buch wegen einer Anspielung im
Kap. 36 vor 20 v. Ch. fallen; das 28. Buch muss nach 19 y. Ch. entstanden sein, da Kap. 12
der Feldzug Agrippas gegen Spanien (19 y. Ch.) vorausgesetzt wird. Das 59. Buch er-
wähnt das Faktum, dass Augustus die Rede des Censor Mete Uns aus dem J. 131 v. Ch.
im Senat vorlesen liess; da dies 18 v. Ch. geschah, so ist dieses Buch nach diesem Jahr
verfasst. — Nisse^, Rh. Mus. 27,539; Wölpplin, Philol. 33, 139.
323, Erhaltene Bücher. Von dem bändereichen Geschichtswerk des
Livius sind leider nur 35 Bücher auf uns gekommen, nämlich 1 — 10, welche
die Geschichte der Ereignisse bis in den dritten Samniterkrieg (293 v. Ch.)
hineinführen, dann die Bücher 21 — 45, welche vom zweiten punischen
Krieg (218 v. Ch.) bis zum macedonischen Triumph des L. Aemilius Paulus
(167 V. Ch.) reichen. Die Fortpflanzung des Werkes erfolgte nach Dekaden;
es sind also die erste, die dritte und vierte Dekade und von der fünften
die erste Hälfte gerettet worden. Die Bücher 41 — 45 sind vielfach durch
Lücken entstellt.
Die Überlieferung ist nach dem Gesagten von jeder Dekade eigens festzustellen.
a) Erste Dekade. Hier sind uns durch Subskriptionen Rezensionen bezeugt und
zwar eine des Victorianus, welcher dieselbe im Auftrage der Familie der Symmachi vor-
nahm, für alle lö Bücher; dann eine der beiden Nicomachi und zwar des Nicomachus
Flavianus für die Bücher 6, 7. 8, des Nicomachus Dexter für die Bücher 3, 4, 5. Diese beiden
Rezensionen gehören dem 4. Jahrb. n. Gh. an. Auf diese (flüchtig gemachte) victorianisch-
nicomachische Rezension gehen alle Handschriften der ersten Dekade zurück, ausgenommen
den Palimpsest der Eapitelsbibliothek zu Verona, der uns Reste zu den Büchern 3—6 er-
halten hat (herausgegeben von Mohmsen, Abh. der Berl. Akad. 1868). Unter den Hand-
schriften der victorianisch-nicomachischen sind die besten der Mediceus-Laurentianus 62, 19
s. XI und der jetzt verlorene Yonnaciensis, dessen Lesarten bis zu 6, 28 wir aus der Aus-
gabe des B. Rhenanus und Gelenius, wenn auch nicht vollständig, kennen lernen.
ß) Dritte Dekade. Lange Zeit hielt man den am Anfang und am Schluss ver-
stümmelten Parisinus-Puteanus 5730 s. V für die einzige Quelle dieser Dekade ; erst Hber-
WA6EN, comment, crit,, Nümb. 1869 zeigte, dass ausser dem Puteanus noch eine zweite
Quelle floss, welche repräsentiert wird durch einige Palimpsestblätter in Turin (s. V) und
einen jetzt bis auf ein Blatt (28,39 — 41) verloren gegangenen Codex Spirensis, von dem
Lesarten B. Rhenanus (und S. Gelenius) in der Basler Ausgabe des J. 1535 mitteilt. Zum
Ersatz des verlorenen Spirensis dienen mehrere Handschriften, welche aus derselben
Quelle wie er stammen, einer Quelle, die leider nur Teile der Dekade enthielt, nämlich
26,30,9-26,31,2; 26,41,18—26,43,9; 26,46.2— 27, 7, 17; 27, 9, 8 bis zum Schluss des
30. Buchs. Dieser Quelle steht am nächsten der Harleianus 2684 s. XV (in Teilen des 29.
und 30. Buchs). Vgl. Luchs Ausg. der Bücher 26—30 p. XXXIV; es folgen der Laurentianns
63, 21 s. XllI (m. 11) und der Harleianus 2493 s. XUl. Siehe die zusammenfassende Über-
sicht bei Luchs p. LIX.
y) Vierte Dekade. Quellen sind hier der Bambergensis s. XI, welcher die Dekade
bis 38, 46 gibt, und ein verlorener Codex Moguntinus, der 33, 17 bis Schluss der Dekade
T. LiyiiiB. 181
umfasste. Unsere Kenntnis von diesem Codex basiert auf den Angaben der editio Mognntina
1519 und der editio Basileensis 1535.
(f) Fünfte Dekade. Was wir von dieser Dekade besitzen, benibt lediglich auf
dem Codex des ehemaligen Benediktinerklosters Lorsch (Laurishamensis), jetzt Cod. Vindob.
15 s, V, — GiTLBAUER, De codice Uv, vdustissimo Vindob,, Wien 1876.
324. Ersatz der verlorenen Bücher. Auch die verlorenen Bücher
haben Spuren ihres Daseins zurückgelassen. Wir haben
1. ein handschriftliches Fragment aus dem 91. Buch, das Paul
Jakob Bruns im J. 1772 in dem Palimpsest Vaticanus-Palatinus 24 auf-
fand und 1773 publizierte. Dasselbe bezieht sich auf den sertorianischen
Krieg (Hertz 4, 227).
2. Fragmente bei Schriftstellern. Wörtlich ausgeschriebene
Stellen der verlorenen Bücher sind verhältnismässig sehr wenige erhalten.
Am bedeutendsten sind die zwei Stellen über Cicero, welche uns der
Rhetor Seneca aufbewahrt hat (Suas. 6, 17 und 22). Häufiger sind An-
führungen ohne genaue Festhaltung des Wortlauts.
3. Systematische Auszüge. Bei dem grossen Umfang des Liviani-
schen Werks musste es nahe liegen, dasselbe ganz oder für bestimmte
Zwecke zu exzerpieren. Wir haben mehrere solcher Auszüge; die wich-
tigsten sind:
a) Die Periochae. Der Verfasser exzerpiert einmal die Thatsachen,
die ihm am wichtigsten erscheinen, dabei auch Anekdotenhaftes nicht über-
gehend, dann gibt er aber auch (und zwar gewöhnlich am Schluss) Inhalts-
angaben, für die natürlich der Leser auf Livius verwiesen wird. Das
Werk ist also gemischter Natur, indem es sowohl epitome als index ist.
Erhalten sind uns die Periochae zu allen 142 Büchern mit Ausnahme der
Bücher 136 und 137. Zu dem ersten Buch sind zwei überliefert, von
denen aber nur die zweite den nachfolgenden gleicht, also die echte ist.
Der Umfang derselben ist sehr wechselnd; von zwei Zeilen (138) wachsen
sie zu ganzen Seiten an (48, 49). Ein bestimmtes Prinzip für diese Ver-
schiedenheit ist nicht erkennbar. Es scheint das bald stärkere, bald
schwächere Interesse, dann der Zufall wirksam gewesen zu sein. Gegen
den Schluss des Werks forderte auch die Ermüdung ihr Recht. Dass der
Verfasser mit seiner Arbeit noch bestimmten Zwecken dienen wollte, etwa
der Schule, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.
b) Das Wunderbuch des Julius Obsequens. Dasselbe enthält
die Prodigia von 190 — 12 v. Ch. — verloren gingen die der Jahre 249
bis 190 V. Gh. — und nimmt sein Material lediglich aus Livius.
c) Die Eonsulatstafel im Ghronicon des Gassiodorius. Für
die Zeit bis 31 n. Gh. werden ausdrücklich als Quellen Livius und Aufidius
Bassus angegeben.
Der Vergleich dieser drei Schriften untereinander und mit Livius
führt aber noch zu einer weiteren Beobachtung. Wir finden nämlich, dass
die drei entlehnenden Autoren bei aller Übereinstimmung mit Livius doch
auch gemeinsam Abweichungen von demselben zeigen und sogar die-
selben Fehler aufweisen. Da nun diese Schriftsteller von einander unab-
hängig sind, so lässt sich die hervorgehobene Erscheinung nur durch die
Annahme erklären, dass zwischen denselben und Livius noch ein Mittel-
182 Römische LitteratnrgeBchichte. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
glied liegt, d. h. dass sie nicht unmittelbar aus Livius, sondern aus
einer Epitome des Livius schöpften.
Die verlorene Epitome Liviana. Noch andere Schriftsteller benutzten diese
Epitome, so Orosius in den Abschnitten seiner Geschichte über die römische Repablik.
Dies hat Zanoemeister, Festschr., Freib. 1882 p. 89 durch eine eingehende Vergleichung
der Periochae und des Orosius mit den erhaltenen Büchern des Livius dargethan. Dass
dieselbe Epitome auch dem Julius Obsequens und Gassiodorius vorlag, zeigt wiederum
die Obereinstimmung mit Orosius, vgl. ZXngexeister p. 102. Auch für Eutropius und
Idacius kann mit Hilfe des Orosius die Benützung derselben Epitome wahrscheinlich
gemacht werden. Die Identität der Epitome bei Ca^odorius und bei den zuletzt ge-
nannten Autoren (und anderen) war bereits von Mokhsen erschlossen worden (Abb. der sächs.
Ges. d. Wiss. 8 [1861] p. 552 und p. 696). Durch die Feststellung dieses zwischen Livius
und den Periochae liegenden Zwischenglieds werden frühere Ansichten, dass die Periochae
von Livius selbst herrühren oder aus Lemmata entstanden seien, hinflQlig. Dass dieselben
übrigens das Werk eines Einzelnen sind, konnte schon die Komposition (Hbteb, Fleckeis.
Jahrb. 111,645) und die Sprache (Wölfflin, CommetU, Momms. p. 338) darthun.
Überlieferung der Periochae. Die älteste massgebende Handschrift ist der
früher dem S. Nazariuskloster in Lorsch angehdrige Nazarianus, jetzt in Heidelberg (Pala-
tinus 894) s. IX. Eine neue Kollation desselben gibt Rossbach, Rh. Mus. 44, 74, von dem-
selben ist noch eine zweite Handschrift beigezogen, Parisinus 7701, dessen Kollation gleich-
faUs mitgeteilt wird. — Ausgabe von 0. Jahn, Leipz. 1853 (dann in den Liviusansgaben).
325. Seine Quellen. Die Quellenforschung ist bei Livius mit grossen
Schwierigkeiten verknüpft, da die benutzten Autoren fast sämtlich verloren
gegangen sind. Die Untersuchungen haben daher selten einen festen Halt
und bei dieser Sachlage ist es nicht zu verwundern, wenn ein wahres Chaos
von Einfallen, von denen der eine oft geradezu den andern aufhebt, auf
diesem Gebiet erwachsen ist, und sichere Resultate bisher nur sehr wenige
ermittelt sind. Diese beziehen sich fast bloss auf die vierte und fünfte
Dekade; hier erhalten wir durch Polybios festen Boden unter den Füssen; in
ganz vortrefflicher Weise wurde von Nissen in diesem Teil die Arbeits-
methode des Historikers und die Art und Weise der Abhängigkeit von
seinen Quellen dargelegt. Das Ergebnis ist kurz gefasst dieses, dass in
jenen Dekaden zwei Schichten des Stoffs sich deutlich abheben, die erste
Schicht repräsentiert einen universalen Standpunkt^ die zweite einen spe-
zifisch römischen, die erste schildert die Beziehungen der hellenistischen
Staaten zu Rom, die andere enthält Einzelheiten zur römischen Oeschichte,
die eine Darstellung ist widerspruchslos und einheitlich, die andere lässt
Diskrepanzen an den Tag treten. Beide Parteien stehen in der Regel
unvermittelt nebeneinander, so dass sie sich leicht ablösen lassen. Diese
dargelegte Verschiedenheit der zwei Teile hat ihren Grund in der Ver-
schiedenheit der Quellen und in der Arbeitsweise des Livius. In der ersten
Partie folgt er dem Polybius, ») in der zweiten zwei römischen Annalisten,
dem Claudius Quadrigarius und dem Valerius Antias. Das Verhältnis des
Livius zu seinen Quellen ist also hier dieses, dass er dieselben je nach
dem Stoff wechseln lässt. An der Hand des Polybius können wir aber
auch prüfen, wie Livius seine Quellen verwertet hat. Diese Prüfung führt
zu dem Resultat, dass der Römer den Griechen frei bearbeitet hat. Die
Verschiedenheiten zwischen beiden erklären sich daraus, dass Livius als
Römer und als Rhetor sclireibt, und dass er seinem Volk ein anmutiges Lese-
^) Nur ganz selten (in wichtigeren Fällen)
sah Livius in diesen Partien die lateinische
Annalistik nach und konstatierte eine Ab-
weichung oder machte einen Zusatz (Nissen
p. 80).
T. LivinB.
183
buch darreichen will. Schwieriger ist das Verhältnis des Livius zu seinen
Quellen in den römischen Partien zu bestimmen, hier haben wir es mit
zwei Autoren zu thun und zwar Autoren, welche uns nicht erhalten sind.
In diesem FaU lässt sich eine dreifache Art der Benutzung denken. Ent-
weder folgte Livius einem der Gewährsmänner und zog nur hie und da
den andern bei, oder er folgte bald dem einen bald dem andern, oder
endlich er berücksichtigte gleichmässig beide, indem er, was ihm nach
Yergleichung der beiden Bücher als wahr erschien, zur Darstellung brachte.
Die letzte Methode als die schiiHerigste hat man Livius entweder geradezu
abgesprochen oder nur höchst ungern eingeräumt. Allein ich glaube nicht,
dass man dieses Verfahren unserem Historiker entziehen darf.^) Besondei*s
in der dritten Dekade, welche den Hannibalischen Krieg schildert, muss
er gleichzeitig aus mehreren Quellen geschöpft haben. Polybius ist von
ihm benützt, aber auch lateinische Historiker lagen ihm vor; dass er die
berühmte Monographie des Coelius Antipater über den punischen Krieg
erst nachträglich verwertet haben sollte, ist mir unmöglich anzunehmen.^)
Allem Anschein nach war Coelius Antipater neben Polybius seine Haupt-
quelle im zweiten punischen Krieg. In der ersten Dekade ist es natürlich
noch schwerer festen Fuss zu fassen; aber so viel ist klar, dass Livius hier
der jüngeren Annalistik, nicht der älteren sich anschliesst; dass Valerius
Antias, Claudius Quadrigarius, Licinius Macer, Aelius Tubero seine Gewährs-
männer sind, nicht Fabius Pictor, nicht Calpurnius Piso.')
Aus dieser Darlegung ersieht man, dass bei Livius nicht an ein
Quellenstudium in dem Sinne, in dem wir es heutzutage bei dem Histo-
riker voraussetzen, gedacht werden kann. Er hat nicht, ehe er an sein
Werk herantrat, erst die gesamte Quellenschriftstellerei einer Prüfung
unterzogen, um zu eruieren, wo die verhältnismässig reinste Überlieferung
vorliegt. Seine Auswahl der Quellenautoren war eine zufällige, er nahm
die zunächstliegenden, die jüngsten. So kommt es, dass ihm über die
Glaubwürdigkeit eines von ihm benützten Autors erst im Laufe der Dar-
stellung ein Licht aufging. Valerius' Lügenhaftigkeit und Aufschneiderei
z. B. hat er erst ziemlich spät erkannt.^) Auch greift er plötzlich nach
geraumer Zeit zu einem Autor, den er anfangs beiseite gelassen. So er-
scheint Cato mit seinen Origines erst in der vierten Dekade.^) Die grosse
Ausdehnung seines Werks zwang Livius, nur eine sehr beschränkte
Anzahl von Quellen heranzuziehen und nur hie und da die eine oder
andere einzusehen. Allein selbst die wenigen von ihm benützten Autoren
wurden nicht nach festen kritischen Grundsätzen untersucht; nicht selten
*) Eine Scheidung des Eigentums des
Antias und des Claudius Quadrigarius, welche
Unoeb vorgenommen, halte ich mit Nissen
für unmöglich. Auch der fortwährende Wech-
sel in der Benützung des Antias und Claudius
ist unwahrscheinlich.
*) Wie Stubm {Quae ratio inter terttam
T, lAvi decadetn et L, Coeli Äntipatri histo-
rias intercedatj Würzh. 1883) darzuthun sucht
(Nissen p. 101 f.).
') MoMXSEN, Hermes 5, 270.
*) 33, 10, 8 8i Valerio qui credat, am-
nium verum immodice numerum augentü
39, 48, 1 Valerius AntiaSy ut qui nee oraiio-
nem Catonis legisset et fahidae tantum sine
auctore editae credidisset.
') Nissen p. 38 „Cato wird an 5 Stellen
erwähnt hei Dmgen, an welchen er persön-
lich heteiligt war.* — p. 39 «Nach den An-
führungen zu schliessen, sind Catos Schriften
nur hie und da gelegentlich benutzt.*
184 Römische litteratiirgeschichie. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
deutet Livius in seinem Werk an, wo die Kritik hätte einsetzen sollen;
allein aus seinen dabei gemachten Bemerkungen erhellt zur Genüge, dass
er keinen kritischen Geist besass. Bei dem Mangel an einer festen
Grundlage muss auch die Benützung der ausgewählten Autoren eine
schwankende und zufallige werden und wir werden nicht irren, wenn wir
annehmen, dass Livius in der oben angedeuteten Weise, bald diesen bald
jenen Weg einschlug, um seine Vorlagen zu verwerten; dass er dabei von
bester Absicht erfüllt war, die Wahrheit zu sagen, wird niemand leugnen
wollen.
Über Beine Unsicherheit und seine Kriterien beim Auseinandergehen der Quellen
vgl. Weibsenbobn in s. Einleitung p. 27. Einige Proben : 8, 40 nee facile est aut rem rei
aut auctoretn auctori praeferre, 8, 18 Fla€cum PotUumque varie in annaUbus cognomen
consulis invenio: ceterum in eo parvi refert quid veri sit ' illud pervelim — nee omnes
auctores sunt — proditum falso esse, venenis absumptos quarum mors infamem annum
pestilentia fecerit; sicut proditur tarnen res, ne cui auctorum fidem abrogaverim, exponenda
est. 4, 29 victorem securi percussum tradunt ' nee Übet credere — et licet in variis opinio^
nibus. 7, 6 cura non deesset, si qua ad verum via inquirentem ferret; nunc fama rerum
standum est, ubi ceriam derogat vetustas fidem. 27, 1 Romanorum sociorUmque quot caesa
in eo proelio milia sint, quis pro certo adfirmet, cum tredecim milia alibi, alibi tum plus
quam Septem inveniam P 27, 27 tnultos circa unam rem ambitus fecerim, si quae de Mar-
celli morte variant auctores omnia exequi velim — ceterum ita fama variat, ut tarnen pleri-
que — tradant.
Litteratur: Lachmann, De fontibus historiarum T. Livii, Gott. 1821. Peteb, Zur
Kritik der älteren röm. Gesch., Halle 1879. Nitzsch, Rom. Annalistik bis auf Valerius
Antias, Berl. 1873. Kieseblovg, De rerum rom. scriptoribus quibus T. Livius usus est,
Greifsw. 1859.
Für die 4. und 5. Dekade ist das abschliessende Werk Nissen, Krit. Untersuchungen
über die Quellen der 4. und 5. Dekade des L., Berlin 1863. Ergänzend tritt hinzu Unoer,
Die römischen Quellen des L. in der 4. und 5. Dekade (Philol. 3. Supplementband Abtl. 2
p. 1 — 211), welcher die Scheidung der Bestandteile aus Claudius und Valerius Antias durch-
zuführen sucht.
In der 3. Dekade dreht sich eine zahlreiche Litteratur um die Frage, ob Polybius
auch in den Büchern 21 und 22 benutzt ist, da die spätere Benützung desselben allgemein
zugestanden wird. (Tillmanns Quo libro Livius Polybii historiis uti coeperit in Fleckeis.
Jahrb. 83, 844 nimmt die Benützung vom 23. Buch an (p. 852), Nissen vom 24. (p. 84),
allgemein von der Zeit Philipps von Macedonien an Niebuhb, Vortr. über rÖm. Gesch.
hg. von Schmitz-Zeiss p. 84). Eine Übersicht der Litteratur mit kurzen raisonnierenden
Bemerkungen gibt Föhlisch, Über die Benützung des Polybius im 21. und 22. Buche
des L., Pforzheim 1883 p. 2. Peteb, Liv. und Polybius, über die Quellen des 21. und
22. Buchs des Liv., Halle 1863. Böttcheb, Kritische Untersuchungen über die Quellen
des 21. und 22. Buchs (Fleckeis. Jahrb. 5. Supplementb. p. 353). Dazu Hibschfeli), Zeit-
sehr. f. österr. Gyinn. 28, 801. Lutebbacheb, De fontibus libi'orum XXI et XXII, Strassb.
1875. — WöLFFLiN, Antioch. und Coelius Antipater, Leipz. 1872. Michael, De ratione
qua Livius in tertia decade opere Polybiano usus sit, Bonn 1877. Yollkeb, Quaeritur
unde belli Punici secundi scriptores sua hauserint, Götting. 1872. Posneb, Quibus auctoribus
in bello Hannibalico enarrando usus sit Dio Cassius, Bonn 1874. Fbiedebsdobpp, Iav. et
Polybius Scipionis lerum scriptores, Gott 1869; das 26. Buch des Liv., Marienb. 1874.
Kelleb, Der zweite pun. Krieg und s. Quellen, Marb. 1875. Zieunski, Die letzten Jahre
des zweiten pun. Kriegs, Leipz. 1880. Hesselbabth, Eist. krit. Untersuchungen, Lippstadt 1882.
Für die 1. Dekade: Peteb, Das Verhältnis des Liv. und Dion. zu einander und
den älteren Annalisten, Anclam 1853. Yibck, Die Quellen des Liv. und Dionys. für die
älteste Gesch. der röm. Republik, Strassb. 1877. Lübbebt, De Liv. libri IV fontibus,
Giessen 1872. Klingeb, De Liv. l. X fontibus, Leipz. 1884.
326. Charakteristik des Livius. Patriotismus war es, welcher
Livius bestimmte, die Geschichte des römischen Volks zu schreiben. Sein
angesichts der grossen Verderbnis seiner Zeit gedrückter Geist sehnte sich
nach Erfrischung und er glaubte sie zu finden in der Betrachtung der er-
hebenden Epochen der römischen Geschichte. Diese Betrachtung musste
T. LiTins. 185
zugleich die Erkenntnis bringen, wie es möglich war, dass sich aus so
geringen Anfängen das gewaltige römische ß^ich entwickelte, und auf der
anderen Seite, wie es geschehen konnte, dass das starke Römervolk zu dem
damaligen Sittenverfall herabsank.^) Es %ar ein weitaussehendes Unter-
nehmen, an das sich Livius wagte; nur als Lebensberuf gefasst, konnte es
Aussicht auf Gelingen geben. Die hohe Begeisterung, von der Livius er-
fallt war, verlieh ihm die Energie, die nötig war, eine solche Riesenauf-
gabe zu lösen. Schon diese Anspannung aller Kräfte für einen grossen
Zweck gibt dem Historiker ein Anrecht auf unsere Bewunderung und
sichert ihm dauernden Nachruhm. Es ist richtig, Livius besass vieles nicht,
was man fuglich von einem Historiker verlangen kann. Sein Quellen-
studium war, wie wir gesehen haben, sehr eingeschränkt; für die Ent-
wicklung der Verfassung hatte er, der niemals ein Staatsamt bekleidet,
kein rechtes Verständnis; das Militärische war ihm ziemlich fremd, und
seine Schlachtbeschreibungen lassen in der Regel die Schablone, nach der
sie gefertigt sind, deutlich erkennen. Selbst in der Chronologie verrät er
ein bedenkliches Schwanken, und auch an eingehenden geographischen Stu-
dien liess er es fehlen. Das Lob Dantes, der von einem
Livio che non erra
spricht (Inferno 28, 12), hält also einer unbefangenen Prüfung nicht stand.
Aber dafür besitzt der Historiker eine Eigenschaft, welche uns für viele
seiner Mängel entschädigt, nämlich das Bestreben, überall die Wahrheit
sagen zu wollen. Kein ausgesprochener Parteistandpunkt trübt seine Auf-
fassung. Livius war ein Bewunderer des Pompeius, aber diese Bewun-
derung verleitete ihn nicht zu einer Opposition gegen das herrschende Ge-
schlecht. Er hasst das demokratische Treiben,') aber er findet auch das
Königsregiment für Rom unerträglich, s) Das Extreme ist es, das er be-
kämpft, mag es ihm erscheinen, wo es immer will.^) Noch ein zweites ist
es, was wir für den Autor in die Wagschale werfen können, es ist dies
die tiefe Empfindung seines Gemüts, welche über das ganze Werk wie
ein zarter Duft ausgebreitet ist. Das warme Gemüt befähigt ihn, die
Sagenwelt in liebevoll sinniger Weise zu behandeln und alles Klügelnde
hintanzuhalten, dieses ermöglicht ihm, in die ehrwürdigen religiösen Vor-
stellungen der alten Zeit sich einzuleben und sie in frommer schlichter Weise
kundzugeben, dieses treibt ihn an, in der Geschichte nicht bloss dürre
Thatsachen, sondern zugleich Musterbeispiele für unser Handeln zu suchen
und daher auch das sittliche Moment in seinem Werke hervortreten zu
lassen. Auch in die Brust des Lesers wirft diese seelische Wärme ihre
Strahlen und unwillkürlich schlingt sich ein festes Band zwischen ihm und
seinem Schriftsteller. Aber dieser warmherzige Mann ist zugleich ein
Meister des Worts, der dem, was sein Inneres bewegt, glänzende Fassung
verleihen kann. Vergleicht man seine Sprache mit der Ciceros, so erkennt
man, wie sehr er die Sprachmittel erweitert hat.^) In dem Satzbau hat
?
Vgl. die praefaiio.
42.30,1 28,27,11.
») 27, 19, 4.
^) 24,25,5 haec natura muUitudinis est:
aut aermt humiUter aut süperbe dominatur,
Hbertatem quae media est, nee struere modice
nee habere sciunt.
^) Einen belehrenden Fall analysiert
Madyio, El. Sehr. p. 356.
186 BOmisobe Liüeraturgesohiolite. ü. Die Zeit der Monarde. 1. Abteilimg.
er es verstanden, eine ganze Reihe untergeordneter Momente in parti-
zipialer Form dem Hauptgedanken anzuschliessen, und dadurch zur Aus-
bildung des historischen Stils unendlich viel beigetragen, mag es auch
manchmal nicht leicht sein, den Knäuel zu entwirren. Seine Latinität hält
den Vergleich mit den besten Mustern der klassischen Zeit aus, nur das
poetische Kolorit erinnert hie und da an die heranbrechende Epoche in der
Geschichte der lateinischen Sprache. Überall zeigt sich der ausgebildete
Geschmack des Schriftstellers, doch die Glanzseite seiner Darstellung bilden
die zahlreichen eingestreuten Reden. Fast durchweg auf freier Erfindung
beruhend, geben sie dem Geschichtschreiber Anlass, uns tiefer in den Gang
der Ereignisse einzuführen, vorzugsweise dienen sie aber zur feinen psycho-
logischen Charakteristik der sprechenden Personen. In diesen Reden be-
wundem wir Livius' reiche rhetorische Kunst; wii' sehen, dass er Demo-
sthenes und Cicero nicht umsonst studiert und dass er aus der Rhetorschule
eine reiche Ernte davongetragen hat. Aber niemals verleitet ihn sein red-
nerisches Können zur blossen Deklamation, niemals gibt er uns Steine statt
des Brotes. Nicht überall hält sich seine stilistische Kunst auf gleicher
Höhe. Es wäre dies ein wahres Wunder bei einem Werke, das sich fast
durch das ganze Leben des Verfassers hindurchzieht. Das Alter verlangt
ja auch sein Recht. 0 Und der Sto£f ist bei einem historischen Werk nicht
ohne Einfiuss auf die Komposition. Die eine Partie wird daher den Leser
stärker packen als eine andere. Das grosse erschütternde Drama der
punischen Kriege wird wohl bei den meisten die mächtigsten Eindrücke
hinterlassen. Aber völlig kalt lässt uns kein Teil dieser grossen Schöpfung.
Mit derselben hat Livius seiner Nation ein unvergängliches Gut gespendet,
aber nicht bloss die Römer, sondern alle Kulturvölker empfingen von diesem
Werk befruchtende Anregung.
Eine Charakteristik des Livius schicken Weibsbkbobn nnd Hertz ihren Ausgaben
voraus. TAnns, Essai sur TUe-Live, Paris 1888; Über die Reden vgl. Fbiedbbsdobff,
De orationihus operi Liv. insertarum origine et natura I, Tilsit 1886; über die Sprache
EÜHNAST, Die Hauptpunkte der Liv. Syntax, BerL 1872. Riemahn, müdes sur Ui langue
et la grammaire de Tite-IAve, Paris 1884.
Ausgaben (mit knapper Auswahl). Von Alschefski (zwei Ausgaben, eine die
Bücher 1—10, 21—23 umfassend, BerL 1841—1846, die andere, die Bücher 1—10 21—30,
BerL 1843—1844); von Madvio und Ussino, Kopenhagen 1880—86; von Luchs (21—25),
BerL 1888; von demselben die Bücher 26—30, BerL 1879. — Textausgaben von Weissbkbokn-
MüLLEB (Teubneriana), von Hbbtz (Tauchnitziana), von Zinoeblb (noch nicht vollendet),
(Freytag). — Mit deutschen Anmerkungen von Weissenbokn-Mülleb (Weidmann); zahl-
reiche Ausgaben einzelner Bücher z. B. von Fabbi-Heebwagek, Nümb. 1852 (21 — 22), von
Wölfflin-Lutebbacheb (21 — 23), von Fbiedebsdobff, Leipz. 1883 (28).
327. Fortleben des Livius. Dass Livius bereits bei seinen Leb-
zeiten eine gefeierte Grösse war, wissen wir durch sein eigenes Zeugnis;
in der Einleitung zu einem Buch schrieb er, dass er aufhören könnte, da
ihm des Ruhmes genug geworden sei, allein die Schaffensfreude halte ihn
an dem Werke fest (Plin. n. h. praef. 16). Sein Ruhm drang bis in die
fernsten Teile des römischen Reichs ; ein Mann reiste eigens zu dem Zweck
von Gades nach Rom, um Livius zu sehen, und als er sein Ziel erreicht,
kehrte er sofort wieder in seine Heimat zurück (Plin. ep. 2, 3, 8). Die
hervorragendsten Schriftsteller spendeten seiner Geschichte das wärmste
^) Niebühb, Vorlesungen über römische (lesch. von Isler 1, 48.
T. Li^iuB.
187
Lob; sie rühmten sein wahrhaft adliges Gemüt, 0 seine grosse Kunst der
Rede,') seine feine psychologische Zeichnung.') Der Einfluss, den der Ge-
schichtschreiber auf seine Zeit ausübte, war ein ungeheurer. Neben Yergil
scheint er der gelesenste Autor gewesen zu sein, man muss dies aus dem
Hass folgern, mit dem Galigula das Andenken dieser beiden Schriftsteller
verfolgte; denn er drohte ihre Werke aus den Bibliotheken zu verweisen
(Suet. Calig. 34). Besonders die eingestreuten Reden übten grosse An-
ziehungskraft aus; so hören wir, dass zur Zeit des Domitian Mettius
Pompusianus die Livianischen Reden der Könige und Feldherrn sich zu-
sammengestellt hatte (Suet. Domit. 10). In der Historiographie wurde Livius
eine Autorität ersten Rangs; man gewöhnte sich immer mehr dieses, den
gesamten Stoff zusammenfassende und anmutig darstellende Werk als die
einzige Fundgrube der römischen Universalgeschichte anzusehen und die
älteren Quellen in den Hintergrund treten zu lassen. Es ist die Vorrats-
kammer, aus der die historischen Schriftsteller ihren Bedarf holen. Als
die Dichter Lucanus und Silius Italiens ihre historischen Epen schrieben,
hielten sie sich vorzugsweise an Livius. Yalerius Maximus und Frontinus
zogen für ihre Beispielsammlungen den Historiker zu Rat. Um seinen
Panegyrikus auf das römische Volk zu schreiben, schöpfte Florus vorzugs-
weise aus Livius. Selbst griechische Historiker, deren Gewohnheit es sonst
nicht ist, die römische Litteratur zu berücksichtigen, konnten nicht an dem
römischen Geschichtschreiber vorübergehen. Auch in der Sprache gewahren
wir bei den folgenden Autoren seine Spuren/) Es kamen lesemüde Zeiten,
selbst diesen war Livius teuer, nur verlangte man einen bequemen Auszug,
der einen Teil der Arbeit dem Leser abnahm. Schon Martial kennt einen
solchen, wie seine Verse besagen (14, 190):
pellibus exiguis artatur Livius ingens
quem mea non tatum bibliotheca capit.
Immer mehr tritt das Originalwerk des Livius zurück, seine Stelle erobern
sich Auszüge. Ein solcher Auszug hat besonders grosses Ansehen erlangt,
da eine Reihe von Historikern denselben benutzt hat; wir haben den-
selben bereits oben kennen gelernt; es ist derjenige, welchen Julius Ob-
sequens für sein Wunderbuch, Gassiodorius für seine Eonsulartafel, Eutro-
pius und Rufius Festus für ihre Geschichtskompendien und Orosius für
seinen Abriss der christlichen Weltgeschichte zu Grund gelegt haben; auch
die vorhandenen Periochae wurden, wie bereits gezeigt, nach diesem Aus-
zug angefertigt. Allein ganz konnte diese epitomatorische Thätigkeit das
Original nicht verdrängen, noch im vierten Jahrhundert wollten, wie die
Subskriptionen der ersten Dekade zeigen, vornehme Leute einen revidierten
Text des Livius haben. Um dieselbe Zeit setzte sogar Avienus den ganzen
Livius in jambische Verse um (Serv. Aen. 10, 388). Im fünften Jahrhundert
wird zum erstenmal von dem Papst Gelasius (492—496) der Dekaden Er-
wähnung gethan und zwar wird die zweite, die uns verloren gegangen.
*) Sen. saas. ^^22 ut est natura candi-
diasimus omnium magnorum ingeniorum
aestimcUor.
«) Sen. de ira 1, 20, 6 Tacit. Agric. 10
Annal. 4, 84 Quint. 8, 1, 3.
') Quint. 10, 1, 101 affectus quidem, prae-
cipueque eos qui 8unt dulcüyres, nemo histari-
carum magis commendavit.
*) z. B. bei Curtius vgl. Mützbll, praef»
p. 36.
188 BOmiBohe Lüteratnrgeschichte. n. Die Zeit der Honarohie. 1. Abteilung.
angeführt. Priscian, ein Orammatiker des sechsten Jahrhunderts, kennt
Livius noch und citiert Stellen aus ihm. Nach dieser Zeit verschwindet
der Historiker aus dem Gesichtskreis; erst im zwölften Jahrhundert be-
gegnen wir ihm wieder bei Joannes Saresberiensis. Von da an ist das
Fortleben des alten Bömers gesichert. Dante setzte ihm in seiner unsterb-
lichen Dichtung in dem bereits citierten Verse ein unvergängliches Denk-
mal. Noch mehr zeigt das zweite Buch seines Werkes über die Monarchie,
dass er Livius las und dass ihm hier die Hoheit der römischen Welt
aufging.^) Es kam die Wiederbelebung des klassischen Altertums; für
eine Epoche, welche sich nicht bloss an den Schätzen der alten Welt er-
freuen, sondern auch die alte Welt wieder ins Leben rufen wollte, musste
Livius ein besonders wichtiger Schriftsteller werden. In der That gehört
er zu den Lieblingsautoren Colas di Rienzo. Die Begeisterung für den
Autor war so stark, dass der Dichter Beccadelli ein Landgütchen verkaufte,
um sich einen von Poggio geschriebenen Livius anzuschaffen.^) Mit grossem
Eifer suchte man jetzt nach den verlorenen Dekaden; schon Petrarca lag
dies sehr am Herzen. Auch Poggio, der glückliche Finder so vieler Autoren,
hatte darauf sein stetes Augenmerk gerichtet; sobald sich eine schwache
Spur zeigte, wurden sofort Nachforschungen eingeleitet. Papst Nikolaus V.
sandte sogar einen eigenen Agenten, den aus der Textesgeschichte des
Tacitus bekannten Enoche von Ascoli nach dem Norden, um Liviani-
sche Handschriften mit den verlorenen Teilen aufzuspüren. Vergeblich;
man musste sich mit dem Vorhandenen begnügen. Es begannen nun die
Livianischen Studien, die kein Qeringerer als Laurentius Valla einleitete. Als
die Buchdruckerkunst erfunden war, wurde natürlich auch Livius gedruckt.
Der erste Herausgeber war Andreas, der nachmalige Bischof von Aleria,
der den Livius 1469 in Rom erscheinen liess. Allein es war noch ein ver-
stümmelter Autor; er enthielt die Bücher 1—10, dann 21—32, und 34
bis 40; das 40. Buch war ebenfalls nicht vollständig. In der Mainzer
Ausgabe (1519) wurde nach einer Mainzer Handschrift die erste Ergänzung
gegeben; nämlich das Fehlende des 40. Buchs (von 37,3 an), dann das
33. Buch von c. 17 an. Eine viel umfassendere Ergänzung brachte das
Jahr 1531; in der Basler Ausgabe dieses Jahrs wurden die fünf letzten
Bücher aus der Lorscher Handschrift hinzugefügt. Endlich erfolgte die
letzte Ergänzung, den noch fehlenden ersten Teil des 33. Buchs fand der
Jesuit Horrio im J. 1615 in einer Bamberger Handschrift; in der römischen
Ausgabe des Lusignanus aus dem Jahre 1616 wurde dieses Supplement zum
erstenmal veröffentlicht.
Livius lag gedruckt vor, jetzt musste die Ausbeute beginnen. Wir
stossen gleich auf die berühmten Namen Glareanus und Sigonius, welche
neben dem Textkritischen besonders auf die historische Interpretation
ihre Sorgfalt verwandten, und auf N. Macchiavelli, der über die erste
Dekade seine berühmten Discorsi schrieb. Die methodische Textesrezension
begründete im 17. Jahrh. der grosse Philolog Johann Friedrich Gronov, der
durch die Benutzung massgebender Handschriften, durch tiefes Eingehen
*) Voigt, Die Wiederbelebung des class. *) Voigt p. 201.
Alterth. p. 10.
Pompeitts Trogns. 189
in den Gedankengang seines Autors, durch sorgfaltige Prüfung der histori-
schen Verhältnisse, durch genaue Kenntnis der lateinischen Sprache und
des Livianischen Sprachgebrauchs mit seiner Ausgabe ein unvergängliches
Meisterwerk schuf (1645). Auch das folgende Jahrhundert erzeugte eine
hervorragende Leistung für Livius, nämlich die Ausgabe Dbakenborchs
(1738), welche durch die Noten Dükers noch einen ganz besonderen Schmuck
erhielt. In unserem Jahrhundert kamen die ausgezeichneten Forschungen
in der römischen Geschichte, in denen Niebuhr bahnbrechend wirkte, auch
Livius zu gute. Aber auch die Kritik machte grosse Fortschritte; mit
Alschefski begann dies planmässige Studium der handschriftlichen Schätze,
die Texteskritik hat einen hervorragenden Meister in Madvig gefunden,
dessen Emendationes Livianae zu den Glanzwerken der Philologie gehören.
2. Pompeius Trogus.
328, Die erste lateinische Universalgeschichte. Um dieselbe
Zeit, da Livius die gesamte Stadtchronik in einem grossartigen Werk dem
Leser vorführte, tritt in der römischen Litteratur auch die erste Uni-
versalgeschichte auf. Als der römische Name fast die ganze Welt
umspannte, musste sich der Blick der Forscher auch auf die Geschichte
der Völker richten, welche ausser dem römischen das gewaltige Reich
bildeten. Es konnte daher als eine lohnende Aufgabe erscheinen, in einem
Abriss die wechselvollen Schicksale des grossen Yölkerhaufens den Lesern
zu schildern. An diese Aufgabe trat Pompeius Trogus heran. Derselbe
stammte, wie er selbst in seinem Werk gelegentlich einflocht, von den
Yocontiem in Gallia Narbonensis ab. Sein Grossvater erhielt wegen seiner
Verdienste im sertorianischen Krieg von Pompeius das Bürgerrecht; von
dessen zwei Söhnen machte der eine unter Pompejus den mithridatischen
Krieg mit, der andere, der Vater des Schriftstellers, diente unter Caesar
im gallischen Krieg (Gaes. b. g. 5, 36). Der Autor selbst ist uns nur durch
seine Schriftstellerei bekannt, er schrieb über Zoologie, und als zoologische
Quelle kennt und benutzt ihn Plinius in seiner Naturgeschichte; soweit
aber die vorhandenen Fragmente ein Urteil gestatten, zeigte er sich hier
nicht als Forscher, sondern als Kompilator, denn was er mitteilt, hat er
aus Aristoteles. Viel wichtiger war sein historisches Werk, die philip-
pischen Geschichten (historiae Philippicae) in 44 Büchern. Dasselbe ist
uns jedoch nicht in der ursprünglichen Fassung erhalten, sondern ledig-
lich in abgekürzter. Eine Epitome des Werks von Justin, dann Inhalts-
angaben zu den einzelnen Büchern (Prologi) sind auf uns gekommen. Allein
über den Aufbau des Werkes kann kein Zweifel sein. Dasselbe beginnt
mit den orientalischen Reichen, Assyrien, Medien, Persien. Die Geschichte
des Perserreichs führt auf die Scythen und auf die Griechen. Mit dem
7. Buch hebt die Darstellung der makedonischen Monarchie und der aus
ihr entstandenen Reiche an; deren Geschichte wird erzählt bis zu ihrem
Aufgehen in das römische Reich. Die Schilderung, dieser unruhigen an
Kämpfen reichen Zeit nimmt die Bücher 7—40 in Anspruch. In dem
41. Buch wendet sich die Erzählung zu den Parthern, der einzigen Macht,
welche nach Aufrichtung des römischen Weltreichs den Römern gefährlich
190 BOmuiche Liiteratargeschiohte. 11. Die Zeit der Monarcbie. 1. Abteiliing.
werden konnte. Ihre Schicksale werden bis zur Rückgabe der erbeuteten
Gefangenen und Feldzeichen durch Phraates an Augustus im J. 20 v. Cfa.
verfolgt (42, 5, 11). Nun wäre der geeignete Moment dagewesen, auch
die römische Qeschichte in einem Abriss hier einzuschalten; allein der
Geschichtschreiber begnügt sich damit, nur die Anfange derselben bis
auf König Tarquinius Priscus nach griechischen Quellen zu erzählen, be-
handelt noch Gallien und Spanien und schliesst mit dem Sieg des Augustus
über die Spanier. Aus dieser Skizze ersehen wir, dass der Mittelpunkt
der Betrachtung das von Philipp gestiftete makedonische Reich ist
und dass darin auch der nach einem Werk Theopomps gewählte Titel
„philippische Geschichten*' seine Erklärung findet. Allein die Geschichte
des makedonischen Reichs und der aus ihm erwachsenen Staaten wird
zugleich mit der römischen verflochten, insofern das Aufgehen eines
jeden dieser Reiche in das römische Reich den Endpunkt der Schilderung
darstellt. Der Aufsaugungsprozess Roms findet seinen Abschluss in dem
Prinzipat des Augustus; die Kämpfe der Gegenwart, die Kriege mit den
Parthern, die Siege über die Spanier, die der Historiker noch berührt, lassen
ahnen, dass die augustinische Weltmonarchie Roms nunmehr eine That-
sache ist. Zu diesem kunstvollen Aufbau gesellt sich eine selbst durch
den Auszug noch hindurch schimmernde rhetorisch gehobene Darstellung,
der Vergleich zwischen Philipp und Alexander (9,8), die Rede des Aga-
thokles bei der Landung in Afrika an sein Heer (22,5), der Abschied
des Agathokles von seinem Weib (23, 2), die vorwurfsvolle Ansprache des
Eumenes an sein Heer (14, 4), die Schilderung der Rückkehr des Alcibiades
(5, 4), der Bestürzung der Athener beim Eintreffen der unglücklichen Nach-
richten (5, 7), sind wirksame, von der stilistischen Kunst des Bearbeiters
zeugende Stücke. Nicht selten lässt der Autor in seiner Erzählung Streif-
lichter auf die Gegenwart fallen,^) auch mischt er Betrachtungen über
den Wandel des Glücks,^) die strafende Nemesis^) und Andeutungen über
bedeutsame Vorzeichen^) in seine Erzählungen. Die grauenvollen Zeiten,
die er zu schildern hat, erfüllen jedes Gemüt mit Schauer und regen zum
Nachdenken an. Eine grosse Erholung für den Leser sind die geographi-
schen und ethnographischen Exkurse,^) eine charakteristische Eigentümlich-
keit dieser Geschichte.
Persönliches des Aators. 42,3,11 in postremo lihro Tragus ntaiores suos a
Vacontiis originem ducere; avum suum Trogum Pampeium Sertoriano hello eivitatem a Cn.
Pampeio percepisse dicit, patruum MUhridatico hello tuitnas equitum sub eodem Pompeio
') z. 6. 15, 2, 9 tanto honestius tunc hella
gerehantur quam nunc amicitiae coluntur,
2, 10, 11 tanto moderatius tum frcUres inter se
maxima regna dividebant quam nunc exigua
pairimonia partiuntur. Sinnreich ist die Ver-
mutung GuTSOHiUDs, dass in der Erzählung
12, 7 (wegen der Anwendung nichtindischer
Namen) eine Anspielung auf Caesar, Eleo-
patra und Kaesarion vorliegt.
*) 2, 13, 10 erat res spectaculo digna et
aestimoHone sortis humanae rerum varietate
miranda, in exiguo latentem videre navigio,
quem paulo ante vix aequor omne capiehat,
carentem omni etiam servorum ministerio,
cuius exercitus propt^r multitttdinem terris
graves erant; vgl. weiter 2, 12, 10.
■) 24, 3, 10 sed nee Ptolemaeo inulta sce-
lera fuerunt; quippe dis inmortalibus tot per-
iuria et tam cruenta parricidia vindicantibus
hrevi post a Gallis spoliatus regno captusque
vitam ferro, ut meruerat, amisit.
*) 37, 2, 1 huius futuram magnitudinem
etiam eaelestia ostenta praedixerant. 40, 2, 1
quod prodigium mutationem rerum portendere
haruspices responderunt.
"*) Vgl. seine Betrachtung über die ver-
heerenden Kriege des Menschengeschlechts
und seine Verherrlichung der Scythen (2, 2).
Pompeios Trogm.
191
duxisae, patrem quoque sub Gaio Caesare miWasae episttdarumque et legationum, 8imul et
anuU curam habuisse.
Abfassungszeit des Geschichtswerks. Nach einer unbekannten antiken Quelle,
vielleicht dem Sueton, teilt uns der Mönch Matthaeus von Westminster (Anfang des 14. Jahr-
hunderts) in seinen „Flores historiarum" die Abfassungszeit des Geschichtswerks mit:
anno divinae incarnationis nano, Caesare Äugusto imperii stii Llum agente annum Trogus
Pompeius Chronica sua terminavit. Dieses clu*onologische Datum (9 n. Gh.) hält Gutscbmid
fttr richtig und weist darauf hin (Fragm. p. 261), dass die Worte fatutn Parthiae, in qua
iam quasi soUemne est reges parricidas haberi (42, 4, 16) nicht bloss den Tod des Orodes I.
durch seinen Sohn Phraates lY., sondern auch den Tod des Phraates IV. durch seinen
Sohn Phraatakes voraussetzen. Der letzte Mord ereignete sich aber nach Gutschmid höchst
wahrscheinlich 9 n. Ch.
Des Trogus naturwissenschaftliche Schriftstellerei. Charisius citiert 137, 9
Trogum de animalibus libro X. Da Trogus in den Quellenverzeichnissen der botanischen
Bücher 12 — 18 des Plinius aufgefUirt wird, so hat Gutschkid noch ein botanisches, aus
Theophrast geschöpftes Werk des Trogus annehmen wollen, zumal sich Botanisches in den
Fragmenten findet (PI. n. h. 17, 58). Allein eine solche Abhängigkeit von Theophrast ist
unerweisbar, auch ist in den zoologischen Schriften, wie Aristoteles zeigt, vielfach Gelegen-
heit vorhanden, Botanisches zu berflhren. Sonach liegt keine Nötigung vor, ausser dem
bezeugten zoologischen Werk des Trogus noch ein unbezeugtes botanisches anzusetzen
(Spbbnobl, Rh. Mus. 46, 57). Die nach Aristoteles lateinisch bearbeitete Zoologie benutzte
Plinius (BiBT, De HaJieutieis Ov. p. 136). — Gutschmid, Ober die Fragmente des P. T.,
Fleckeis. Jahrb. 2. Supplementb. p. 177.
Die römische Geschiente in dem historischen Werk. 43, 1, 1 Parthicis
orientalibusque ac totius propemodum orbis rebus explicitis ad initia Romanae urbis Trogus
veluti post longam peregrinationem domum revertitur, ingraii eivis officium existimans, si,
cum omnium gentium res gestas inlustraverit, de sola tantum patria taceat. Bretiter
igitur initia Romani imperii perstringit, ut nee modum propositi operis excedat nee utique
originem urbis, quae est caput totius orbis, silentio praetermittat.
329. Die Vorlage des Trogus. Für die Beurteilung des Trogus
Pompeius ist die Entscheidung der Frage von der grössten Wichtigkeit,
ob der künstliche Aufbau des Werks von ihm herrührt oder auf seine
Vorlage zurückzuführen ist. Wäre das erste der Fall, so müssten wir den
Mann anstaunen, der ein so kunstvolles Gebäude aus den verschiedensten
und entlegensten Quellen mit grosser Gelehrsamkeit aufzubauen verstanden.
Zu einem solchen Bild des Historikers Trogus will aber nicht recht stimmen
das Bild des Zoologen Trogus ; denn diesen fanden wir in ganz sklavischer
Abhängigkeit von Aristoteles, ihn lernten wir nicht als gelehrten Forscher,
sondern als flüchtigen Epitomator kennen. Sollte also eben dieser Mann
in dem Geschichtswerk ganz andere Seiten des litterarischen Schaffens ent-
wickeln als in seiner Zoologie? Sollte er dort zu einem ernsten Quellen-
studium sich aufgerafft haben, das er hier gänzlich ausser Acht gelassen?
Es ist dies wenig glaublich. Überdies weist die Idee des Aufbaus auf
einen Griechen hin; denn die makedonische Macht ist in den Vordergrund
gestellt, die römische erscheint nur als ihre Nachfolgerin, da, wie nicht
ohne Bitterkeit bemerkt wird, das ^römische Glück" ja über Makedonien
gesiegt hatte (30,4, 16).^) Auch sonst machen sich Spuren einer den Römern
unfreundlichen Gesinnung bemerkbar. Die römische Geschichte wird mit
Ausnahme eines nach griechischen Autoren bearbeiteten kleinen Fragments
über die Urzeit ganz beiseite gelassen, die Parther werden als eine den
Römern ebenbürtige Macht hingestellt,') endlich den gehässigen Reden der
') Charakteristisch sind aach die Worte
(39,5,3): Ulm fortuna Bomana porrigere se
ad orientalia regna, non contenta Baliae ter-
minis, coeperat.
') 41, 1, 1 Parthi, penes quos velut divi-
sione orbis cum Bomanis facta nunc orientia
Imperium est.
192 Bömiscbe Litteratnrgeschiclite. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Ätoler (28,2) und des Mithridates (38,4) kein römerfreundliches Gegen-
gewicht beigesellt. Es ist daher die Annahme kaum abzuweisen, dass
Trogus den ganzen Aufbau bereits in seiner Vorlage vorfand und dass daher
sein Verdienst vorwiegend in der lateinischen Bearbeitung eines griechischen
Werks zu suchen und dass der Historiker dem Zoologen völlig adäquat
ist. Über das Original sind natürlich nur Vermutungen gestattet. *) Aber
eine Persönlichkeit drängt sich uns doch ganz besonders auf; es ist dies
Timagenes aus Alexandria, den wir aus Horaz Ep. 1, 19, 15 kennen. Der
kam unter Pompeius nach Rom und bahnte hier nach dem Zeugnis Quin-
tilians (10, 1, 75) eine neue Epoche der griechischen Geschichtschreibung
an. Von' ihm können wir auch ein Werk aufzeigen, das sich Trogus zur
Bearbeitung hernehmen konnte, es ist sein Werk „Die Könige^, in dem
die Alexandermonarchie und die daraus entstandenen Reiche geschildert
wurden. Ihm können wir eine römerfeindliche Gesinnung zutrauen, er wird
unter den „leichtfertigen Griechen" zu verstehen sein, denen Livius vor-
wirft (9, 18), dass sie dem Ruhm der Parther im Gegensatz zu den Römern
fröhnen; auch die Eigentümlichkeiten der Komposition, das Rhetorisch-
Pikante, das durch die Epitome noch hindurch schimmert, und die Gleich-
stellung des Geographischen mit dem Historischen treffen auf Timagenes
zu, Seneca hebt seine Beredsamkeit hervor (controv. 10, 5 22), ebenso der
Epitomator; von seinen geographischen Studien legen die Fragmente Zeugnis
ab.*) Sonach werden wir das Geschichtswerk des Trogus mit grosser
Wahrscheinlichkeit im wesentlichen als eine lateinische Bearbeitung der
„Könige'' des Timagenes anzusehen haben. Näheres über sein Verhältnis
zum griechischen Original lässt sich nicht feststellen, nur eine stilistische
Eigentümlichkeit ist uns noch überliefert, eine Eigentümlichkeit, die aber
nicht zu Gunsten des Trogus spricht, nämlich seine Abneigung gegen die
direkte Rede in der Historiographie. Allein dass diese Schrulle nicht stets
zum Vorteil der Komposition ausschlägt, zeigt die vom Epitomator voll-
ständig mitgeteilte Rede des Mithridates, welche in direkter Form ungleich
wirksamer gewesen wäre.
Ist Trogus Pompeius nur der Bearbeiter einer griechischen Vorlage,
so muss natürlich die Quellenuntersuchung nicht den Trogus, sondern den
griechischen Historiker ins Auge fassen; die als Hauptquellen des Trogus
eruierten Dinon, Ephoros, Theopomp, Timaeus, Phylarch, Polybius') sind
Quellen der Vorlage.
Die Vorlage des Trogus. Die Ansicht, dass Trogus ein griechisches Greschichts-
werk und zwar eines des Timagenes lateinisch bearbeitet hat, hat zuerst aufgestellt und
näher begründet Gutschmid, Rh. Mus. 37, 548. Seine Vermutung bezüglich des Timagenes
nennt Mommsen, Hermes 16, 619 zwar keineswegs sicher, aber ansprechend. Die Hypo-
these GuTSCHMiDS will Wachsituth (Rh. Mus. 46, 477) dahin modifizieren, dass er dem
Trogus Pompeius eine grössere eigene Thätigkeit zusclureibt; einmal soll dieser neben dem
Werk des Timagenes „über die Könige* Ephoros, Theopompos, Phylarchos, Folybios,
Poseidonios für grosse Strecken selbständig benutzt, dann auch den Gesamtplan der Uni-
versalgeschichte selbst festgestellt, nicht entlehnt haben. Das Zeugnis über die Abneigung
*) Der Auszug selbst nennt natürlich
keine Quellen ; er spricht einigemal von multi
auctores 42,3,7 und 44,3,1.
') MoMusEN teilt ihm einen nsQinXovg
näatji ^aXdaafjg in fünf Büchern zu (Hermes
16,620). Vgl. dagegen Wachsmuth 466, 1.
») So GüTscHinD, Rh. Mus. 37, 552;
ScHAEFER, Grundr. 2, 98 fügt noch Poseido-
nios hinzu.
JuBÜnns. 193
des TrogUB gegen die direkten Reden lautet (38, 3, 11): quam orationem dignam duxi,
cuiiis exemplum brevUati huius operis insererem; quam obliquam Pampeius Trogus expaauU,
quoniam in Livio et Sallustio reprehendit, quod contiones direetas pro atta oratione *) operi
8U0 inserendo histariae modum excesserint.
Zeugnisse über Timagenes. Vgl. den Artikel des Suidas. Quini 10, 1, 75 longo
p08t intervaUo temporis natus (nach Clitarchos) Timagenes vel hoc est ipao probahilis, quod
iniermiseam historias aeribendi industriam nova laude reparavit. Stepb. Byz. p. 200 Westerm.
T$fiaydyrji nQtSTt^ ßactXiiay, Seneca controv. 10, 5 (34), 22 Timagene — homine acidae linguae
et qui nimis liber erat — disertus homo et dicax, a quo multa inprobe, sed veuuste dieta.
Barch seine freien Reden verscherzte er die Gunst des Augustus, der ihm domo sua inter-
dixit . postea Timagenes in contubernio PoUionis Asinii consenuit — historias postea quas
scripserat recitavit et libros acta Caesaris Augusti continentis in igne posuit (Sen. de ira 8, 23).
Bass Liv. 9, 18 periculum erat, quod levissimi ex Oraecis, qui Parthorum quoque contra
nomen Bomanum gloriae favent, dictitare eolent, ne maiestatem nominis Alexandri — eustinere
non potuerit populus Romanus auf Timagenes gemflnzt sei, hat Schwab (De Livio et Tima-
gene, Stnttg. 1831) zuerst erkannt.
Quellenfrage. G utschmid stellt einige allgemeine Grundsätze auf : « Bie Historiae
Phüippicae bekunden eine Ausbreitung der Quellenkunde, die bei den römischen Historikern
beispiellos dasteht" (p. 549). «Nicht bloss das ganze Geschichtswerk ist ein sauber aus-
geftmrtes Mosi^, Mosaik ist auch mehr oder weniger jeder einzelne Abschnitt' (1. c). Be-
züglich des Timagenes äussert er sich (p. 554): Bas Material war mit vielem Fleiss aus
den verschiedenartigsten Quellen zusammengetragen, die Bearbeitung entbehrte aber der
rechten Kritik." Sollte diese Ansicht Gütschmids sich bewähren, was ich jedoch bezweifle,
so wäre die Quellenuntersuchung bei Trogus ganz anders anzufassen, als dies bisher ge-
schehen, denn bislang war die Anschauung herrschend, dass den verschiedenen Partien
der Erzählung immer nur je ein Hauptautor zu Grunde liege, wie folgende Übersicht')
darthut:
Ober Binon als Quelle für persische Geschichte Wolffgabtbk, De Ephori et Dinonis
historiis a T. P. expressis, Bonn 1868 p. 60 (GuTSCHMn), Bie Fragm. des P. T. p. 191);
dagegen Nbühaus, Bie Quellen des T. P. in der persischen Geschichte, Hohensteiner Gym-
nasiidprogr. aus den Jahren 1882, 1884, 1886 (Ruehl, Bie Textesquellen des Justin p. 115).
Über Ephoros als Quelle der griechischen Geschichte bis zum Auftreten Philipps
WoLFFOASTEV 1. c. Enmann, Über die Quellen des P. T. für die griechische und sicilische
Geschichte, Borpat 1880 p. 1—128.
Über Theopomp besonders als Hauptquelle in den ersten sechs Büchern Hebren,
Comm, 80c., Gotting. 15 (1804) 185, auch in Frotschbrs Ausgabe. Westbbhavk, De fontibus
hist. Demosth. p. 16. Bibelj^, Welche Quellen hat P. T. in seiner Barstellung des dritten
Perserzugs benützt, Rostock 1888 (bis zur Schlacht bei Salamis Ephorus, später Theopomp
Hanptquelle, daneben einzelne Angaben aus Herodot p. 4). Vgl. EmcAVN p. 111.
Über Timaeus als Quelle für die sicilische Geschichte vgl. Enkaitn p. 129 und p. 148;
Richteb, De fontibus ad Gelonis historiam pertinentibua, Gütt. 1873 p. 35, (p. 40).
Über Phylarchus als Quelle der Biadochenzeit Brueckker, S^itschr. f. Altertumsw.
1842 p. 252; Lücht, ad PhyJarchi fragm. p. 33. Bagegen Rbuss, Hieronymus von Kardia,
Berl. 1876 (Hieron3rmus) ; Gbschwandtneb, QuUnis fontibus T. P. in rebus successorum
Alexandri M, enarrandis usus sit, Halle 1878 (Hieronymus und Buris p. 28).
Über Polybius als Hauptquelle der Bücher 30—34 Nissen, Krit. Unters, p. 305.
Über Clitarchus als eine Quelle der Alexandergeschichte vgl. Gubtius 9, 5, 21.
Raun, De Clitarcho Diodori Curtii Justini auctore, Bonn 1868. Crohn, De T, P. apud
antiquos auctoritate, Strassb. 1882 p. 25.
Über Posidonius als Quelle der Geschichte des Mithradates vgl. Gutschmid, Bie
Fragm. p. 279.
330. Die Epitome des Jostinus. Über die Geschichte des Trogus
herrscht anfangs bei den Autoren tiefes Schweigen, und es währt lange,
bis er zum erstenmal citirt wird. Allein es wäre verfehlt, wenn wir
daraus schliessen wollten, der Historiker sei nicht gelesen worden. Im
Gegenteil, eine aufmerksame Analyse vermag seine Spuren bei einer
') direetas pro sua ratione Wölfflin,
direetas pervoraa ratione Gutschmid, direeta
(vel dereeta) oratione Bährens.
Handbuch der klMS. AltertumiwinenBchaft. Vm. 2. Teil, 13
*) Vgl. Neühaus, Bie Quellen des T. P.,
Osterode 1882 p. 6.
194 BOmische Lüteratnrgesoliichte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Aliteilimg.
Reihe von Historikern, die seinen Namen nicht nennen, nachzuweisen,
Valerius Maximus, Velleius Paterculus, Curtius, Frontinus zeigen die Nach-
wirkungen der Lektüre seines Geschichtswerks. Im vierten Jahrhundert ge-
denkt seiner neben den Historikern Livius, Sallustius, Tacitus der Geschicht-
schreiber Vopiscus (Prob. 2). Auch bei den Grammatikern Servius, Junius
PhUargyrius, Priscian fanden wir ihn erwähnt. Noch bei Jordanis tritt uns
der alte Historiker entgegen, dann aber scheint das Originalwerk der Ver-
gessenheit anheimgefallen zu sein; seine Stelle vertrat nunmehr eine früher
gemachte Epitome; über dem Auszug ging aber, wie wir das so oft in
der Litteratur finden, das Original schliesslich verloren. Zwar wurde
in neuester Zeit der Glaube wach gerufen, als seien noch in den mittel-
alterlichen, besonders polnischen Chronisten Spuren des Originalwerkes
des Trogus vorhanden, allein dieser Glaube hielt ernster Prüfung gegen-
über nicht Stand. Nur Inhaltsverzeichnisse zu den einzelnen Büchern,
die sog. Prologe haben sich noch erhalten und geben zu der Epitome
nützliche Ergänzungen. Über den Epitomator, M. Junianus Justinus^)
fehlen uns fast alle Nachrichten, wir wissen nichts von ihm als das, was
er uns in der Vorrede seines Auszugs erzählt. Seine Epitome gibt er
uns als ein Werk seiner Müsse, die er gerade in der Stadt verbrachte,
es scheint also, dass Rom nicht seine Heimat war; seine Arbeit will ge-
wissermassen eine Blumenlese geben, das Wichtigste sollte exzerpiert werden,
zu oft lässt er daher Schlachtennamen und chronologische Daten weg.
Nur einmal teilt er uns einen Abschnitt des Trogus vollständig mit, es
ist dies die Rede des Mithridates an seine Soldaten (38, 4 — 8, 1).') Seine
Zeit kann mangels aller positiven Daten bloss hypothetisch bestimmt werden.
Es stehen sich zwei Ansichten gegenüber, die einen lassen ihn zur Zeit
der Antonine seine Epitome verfassen, also ungefähr damals, da Florus
seine Übersicht der römischen Geschichte hauptsächlich nach Livius schrieb,
andere wie Niebuhr^) und Lachmann ^) setzen ihn, der erstere auf Grund
des Namens, der zweite auf Grund gewisser Wortformen, in das dritte
Jahrhundert. Diese letzte Ansicht erachte ich für die richtige. Im Mittel-
alter war dieser bequeme Abriss der Universalgeschichte ein sehr beliebtes
Buch, das viel abgeschrieben wurde und daher uns in zahlreichen Hand-
schriften überliefert ist.
Fortleben des Trogus. Sorgfältig haben die Spuren des T. verfolgt Gütschhid
in der gelehrten Abhandlung, Über die Fragmente des Pompeius Trogus 2. Supplementb.
der Fleckeis. Jahrb. p. 187 und Cbohk, De T, P. aptid antiquos auetaritate, Strassb. 1882.
Die von Bielowski (T, P. fragm, Lemb. 1853) aus mittelalterlichen, besonders polnischen
Chronisten hervorgezogenen angeblichen Fragmente des T. P. hat Gutschku) in der angef.
Abh. sämtlich als illusorisch nachgewiesen; auch die polnischen Fälschungen sind dort
aufgedeckt. .
Des Epitomators Plan. Praef. 4 horum igiiur quattuor et quadraginta volumi-
num (nam totidem edidit) per otiutn, quo in urhe persabamur, cognitione quatque dignis-
sima excerpsi et otnissia his, quae nee cognoscendi voluptate iucunda nee exemplo erant
necessaria, hreve veluti florum carpusculum feci, ut haberent et qui Graece didicisaent quo
admonerentur et qui non didiciaaent, quo instruerentur, (WolfiPgarten p. 3.)
^) M, lunianium lustinutn 8olu8 nominat
codex Laur. 66, 21 ; Rühl, praef, p. XIV.
') Sonderbar, aber doch aus der Laune
des Epitomators erklärlich ist es, dass 33, 2
plötzbch eine glorreiche That des M. Cato,
des Sohnes des „orator* in aller Ausführlich«
keit erzählt wird.
s) Vortr. über alte Gesch. 1, 12.
«) El. Schriften 2, 193.
Fenestella und die übrigen Historiker. 195
Überlieferung: Dem Codex Laurentianus 66,21 s.XI (C), der die Bücher 16—26, 1, 8
30, 28 — 44^ 4, 3 enthält und allein eine grössere Lücke 24, 6, 6 ausfüllt, stehen alle übrigen
Handschriften gegenüber, welche Ruebl in drei Klassen zerlegt, in die italische (I), die
transalpine (T), die in der Regel noch die Prologe enthält, und in eine, welche er mit
n bezeichnet. Auch Orosius ist von Bedeutung. Die Prologe sind durch zwei Klassen
von Handschriften repräsentiert, eine ältere und eine jüngere, welche eine Lücke in
Buch 38 ausfüllt. — Kuehl, Über die Textesquellen des Justin, Fleckeis. Jahrb. Supple-
mentb. 6, 1 und die praefatio vor seiner Ausgabe. — Über die Codices der Prologi vgl.
GuTSCHJUD in der RuEHL'schen Ausgabe p. LU.
Ausgaben. Von Fbotscheb 3 Bde. Leipz. 1827 — 30. Von Dübner, Leipz. 1831;
von Jeep, Leipz. 1859; von Ruehl, Leipz. 1886. (Die Prologi sind in dieser Ausgabe von
GuTscHxiD rezensiert.)
3. Fenestella.
831. Fenestellas antiquarische und historische Schriften. Fene-
stella (52 V. Chr. — 19 n. Ch.) wird bei verschiedenen Schriftstellern für eine
Reihe von Angaben antiquarischer Natur als Gewährsmann angeführt.
Wir finden darunter staatsrechtliche Fragen wie z. B. über die Provo-
kation, litterarhistorische Probleme (über Terenz, Ciceronische Reden) und
interessante kulturhistorische Notizen (über Perlen, den Ölbaum, Klei-
dung u. s. w.). Diese Angaben treten, ohne dass ein bestimmtes Werk
namhaft gemacht wird, bloss unter dem Namen Fenestellas auf. Andere
Schriftstellercitate geben uns Kunde von Gedichten und zwei prosaischen
Werken Fenestellas, von Annalen, deren 22. Buch mit einem Ereignis
des Jahres 56 v. Ch. citiert wird (Non. 385, 7) und von einer Epi-
tome. Da die einzige Stelle, an der dieser Epitome gedacht wird, ein
historisches Faktum aus dem Leben Caesars berichtet (Diomed. p. 365),
werden wir diese Schrift als einen (später gemachten) Auszug aus den
Annalen zu betrachten haben. Die oben erwähnten Notizen sämtlich
in einem annalistischen Werk unterzubringen, erscheint uns unmöglich.
Wir müssen daher ausser den Annalen auch antiquarische Schriften
Fenestellas statuieren. Dafür spricht, dass Plinius den Fenestella in den
Quellenregistern zu mehreren Büchern aufführt, welche über Tiere, Bäume,
Metalle und Malereien handeln (8. 9. 14. 15. 33. 35).
Hieronym. 2, 147 Seh. 19 n. Ch. Fenestella historiarum scriptor et cartninum septuage-
narius moritur sepeliturque Cumis. Damit steht das Zeugnis des Plin. n. h. 33, 146 reposUariis
argentum addi sua memoria coeptum Fenestella tradit, qui ohüt novissimo Tiberii Caesaris
principatu im Widerspruch, — Mebcklin, De Fenestella historico et poeta, Borpat 1844.
PoBTH, De Fenestella historiarum scriptor e ei earminum, Bonn 1849.
Wir reihen hier die übrigen Historiker des Zeitraums an:
1. P. Volumnius schrieb über M. Brutus (Plut. Brut. 48. 51). Ebenso
2. L. Calnurnius Bibulus, der Stiefsohn des M. Brutus (Plut. Brut. 13. 23);
3. Q. Dellius, an den von Horaz die dritte Ode des zweiten Buchs gerichtet ist und
der wegen des fortwährenden Wechsels seiner ParteisteUung von Mossalla „desultor bellorum
citnlium** genannt wurde, publizierte Denkwürdigkeiten über den parthischen Feldzug des
M. Antonius (Strabo 11, 523 C). Über ihn Seneca Suas. 1, 7: hie est Dellius, cuius epistulae
ad Cleopatram fäscivae feruntur.
4. L. Arruntius (Konsul 22 v. Ch.) verfasste eine Geschichte der punischen Kriege,
wobei er im Stil den Sallust in lächerlicher Weise nachahmte (Scn. ep. 1 14, 17). Derselbe
wurde von Plinius benützt; vgl. die Quellenregister zu B. 3. 5. 6.
5. C. ClodiusLicinus, Cos. suff. 4 n. Ch. und Freund des Bibliothekars Hyginus
(Suet. gr. 20), gab „Rerum Romanarum lihri ''heraus. Die Citate erwähnen B. III. XII. XXI
(Liv. 29, 22 Nonius 535, 20 221, 13).
6. Julius Marathus, Freigelassener und Sekretär des Augustus, wird als Autor
einer Monographie über Augustus erwähnt (Suet. Aug. 79. 94).
13*
196 BömiBche Liüeratargeschichte. IL Die Zeit der Monarohie. 1. Abteilung.
ß) Die Qeograpben.
M. Vipsanius Agrippa.
832. Die Weltkarte des Agrippa und des Augustus. unter den
Freunden und Gehilfen des Augustus nimmt keiner eine so hervorragende
Stelle ein als M. Vipsanius Agrippa, der seit 21 v. Ch. auch sein Schwieger-
sohn war. Sowohl im Krieg als im Frieden hatte er Augustus die wich-
tigsten Dienste geleistet. Dieser Mann wollte auch durch ein litterarisches
Unternehmen den Patriotismus heben ; eine Karte des gesamten römischen
Beichs sollte in Rom an einem öffentlichen Platz ausgestellt werden, damit
das Volk mit eigenen Augen sehe, zu welcher Grösse der römische Staat
emporgestiegen sei. Die Vorarbeiten zu dem Werk waren vollendet, da
raffte der Tod den Arbeiter hinweg (12 v. Ch.). An seine Stelle trat jetzt
Augustus; er liess die Säulenhalle auf dem campus Martins, für welche
Agrippa die Karte bestimmt und deren Erbauung seine Schwester Paula
angefangen hatte, vollenden und die Tafel nach den Aufzeichnungen
Agrippas hier auftragen. ^ Zur Beurteilung des wissenschaftlichen Wertes
der Leistung ist es vor allem notwendig zu wissen, mit welchem Material
Agrippa gearbeitet hat. Längere Zeit war man der Ansicht, dass die
Karte auf einer Vermessung des römischen Reichs, die unter Caesar be-
gonnen und unter Augustus vollendet wurde, beruhe. Allein diese Nach-
richt gründet sich lediglich auf einen Zusatz zum Julius Honorius (4. oder
5. Jahrh.')). Ältere Autoren wie Strabo und Plinius wissen nichts von einer
solchen Reichsvermessung; auch den Schriftstellern über Feldmesskunde
ist sie unbekannt. Es ist aber nicht denkbar, dass ein so grandioses Er-
eignis keine ausgesprochene Wirkung in der Litteratur geäussert hätte.
Weiterhin treten bei der Rekonstruktion der Karte Angaben zu tage,
welche bei einer wirklich stattgefundenen Reichsvermessung absolut aus-
geschlossen sind. Wenn also eine solche Vermessung als Quelle für Agrippa
bei der Zeichnung seiner Karte in Wegfall zu kommen hat, so stand ihm
doch immerhin noch ein reiches geographisches Material der Archive,
besonders der Itinerarien zu Gebote. Allein die Benutzung derselben
scheint nicht besonders kritisch gewesen zu sein. Für die geographische
Litteratur hatte die Tafel eine einschneidende Bedeutung. Sie wurde ein
Typus und die späteren römischen Karten wie die Tabula Peutingerana
gehen, soweit wir sehen, auf den orbis terrarum Agrippas zurück.
Plin. n. h. 3, 17 Ägrippam quidem in tanta viri diligentia prctderque in hoc opere
cura, cum orhem terrarum urbi spectandum propasiturua esset, errasse quis eredat et cum
eo divum Äugustum? is namque complexam eum porticum ex deatinatione et
commentariis M, Agrippae a sorore eius inchoatam peregiL — Dbtlefsex,
Untersuchungen zu den geogr. Büchern des Plinius: 1. Die Weltkarte des M. Agrippa, Glückst.
1884. Philifpi, Zur Rekonstr. der Weltk. des A., Marb. 1886. Hist. Unters. Bonn 1882 p. 239.
Die Karten, von denen wir genauere Kenntnis erhalten, stimmen in «Anlage und
Ausführung* wesentlich überein und weisen daher auf dasselbe Original zurück; als dieses
müssen wir den orbis terrarum Agrippas ansehen (Müllenhoff, Hermes 9, 18i5). Solche
Karten sind:
1) Die tabula Augustodunensis, welche Eumenius pro restaur. schol. 20 er-
wähnt (297 n. Gh.): pideat in iüis porticibus iuventus et cotidie spectet omnes terras et
*) Die Form der Karte war aller Wahr-
scheinlichkeit nach die ovale (Müllenhoff,
Hermes 9, 190 Kyxbitschsk, Wien.Stnd. 7, 308).
*) MOllevhoff, 1. c. p. 183: 5. oder 6. Jahrh.
IL Tipsanins Agrippa.
197
cuncta maria — omnium cum nominibua suis locorum sUus spatia intermüa descripta
sunt etc. Die Karte war ein arbis (1. c. 21).
2) Die tabala Peutingerana. Biese Karte vnirde von Conr. Geltes entdeckt
and kam im J. 1508 an den Augsburger Katsherm Peutinger; jetzt befindet sie sich in
der Wiener Hofbibliothek. Sie bestand aus 12 Pergamentstreifen, von denen einer ver-
loren gegangen. Die Karte vnirde (wohl im 13. Jahrb.) nach einem Original gemalt,
welches seinem Hauptkem nach wahrscheinlich der Mitte des 3. Jahrb. angehörte;*) das-
selbe ruhte auf dem orbis terrarum Agrippas, hatte aber auch die Strassenzüge ein-
gezeichnet. Als Reise- und Stationskarte ernielt sie zur Bequemlichkeit statt der ovalen
Gestalt eine gestreckte (»die Band- und Streifenform *). — Ausgaben von Schetb (Wien
1753), Makkert (Leipz. 1824), Desjabdiks (Paris 1868—74), Millrb, Die Weltkarte des
Castorius, gen. die Peutingerische Tafel, in den Farben des Originals hgg. (Ravensburg
1888), der, auf die Angaben des Kosmographen von Ravenna vorsclmell vertrauend,
Castorius als Verfasser der Karte hinstellen will.
3) Die tabula des Julius Honorius. Etwa im 4. oder 5. Jahrb. machte Julius
Honorius ein Verzeichnis der Namen der Meere, Inseln, Berge, Provinzen, Städte, Flüsse
(hier geht er über die blosse Nomenklatur hinaus) und Völker nach einer Karte, welche
er in seiner Schule gebrauchte. Der Katalog wurde ohne Wissen des Lehrers von einem
seiner Schüler herausgegeben. Aus demselben kann der Orbis rekonstruiert werden. In
einer vermehrten Ausgabe des Katalogs findet sich jene Notiz von der unter Julius Caesar
von vier Griechen begonnenen, dann unter Augustus beendeten Reichsvermessung (Müllbn-
HOFF, Hermes 9, 183). — Kubitschek, Die Erdtafel des Honorius, Wien. Stud. 7, 1 und 278.
4) Die tabula des Kaisers Theodosius II. (ebenfalls ein Orbis), welche er im J.
435 revidieren und malen Hess (Risse, geogr, min, 19 und p. XVIII; Detlefsek, Weltk. p. 10).
5) Die vom Kosmographen von Ravenna benutzte tabula (5. Jahrb.).
ScHWEDEB, Über die Weltkarte des Kosmographen von Ravenna, Kiel 1888. Mit der Karte
des Ravennaten war verwandt die Karte des spanischen Benediktiners Beatus aus dem
8. Jahrb. (Schwepbb, Hermes 24, 602).
333. Agrippas Eommentarien. Wir haben oben gesehen, dass
Augustus nach den Aufzeichnungen Agrippas den orbis terrarum herstellen
liess. Nun führt Plinius in dem geographischen Teil seines Werks (3—6 B.)
öfters den Agrippa als Gewährsmann an^ und zwar enthalten diese Gitate
fast nur Zahlenangaben über Länge, Breite, Umfang von Ländern und
Meeren und über Entfernungen. Zeugnisse von demselben Gharakter finden
sich auch in zwei Schriften, der sog. Dimensuratio provinciarum und der
Divisio orbis, welche letztere im J. 825 der irische Mönch Dicuil dem ersten
Teil seiner Schrift De mensura orbis zu Grunde gelegt hat. Hiezu kommt
noch in zweiter Linie die von Orosius in sein Geschichtswerk eingeschaltete
Ghorographie (wenigstens in den europäischen Inseln). Jn allen diesen
Schriften verspürt man eine gemeinsame Quelle. Da nun Plinius den
Agrippa nennt, so wird man ihn als den gemeinsamen Gewährsmann be-
trachten müssen. Es ist nur die Frage noch übrig, ob diese gemeinsame
Quelle etwa aus der Karte des Agrippa zusammengestellt wurde oder ob
eine eigene Schrift dafür anzusetzen ist. Eine ethnographische Notiz, wie
sie in der Stelle des Plin. 3, 8 enthalten ist, lässt, da dieselbe kaum auf
der Karte stehen konnte, bloss die letzte Annahme als zulässig erscheinen.
*) Die Frage ist sehr schwierig und die
Forscher gehen in der Beantwortung aus-
einander. Als Kriterium bestimmt Pabtsch
(Deutsche Literaturztg. 1888 p. 1533) richtig:
Unzweifelhaft ist es geboten, die zwar nur un-
vollkommen verwobenen Bestandteile der
Tafel, das Strassennetz und die Menge der
locker eingefQgten übrigen Angaben zunächst
gesondert zu prtlfen. Dann dürfte sich er-
geben, dass das UrbUd der Tafel nur im
Strassennetz ein treuer Spiegel seiner Zeit
war, während seine ethnographischen, seine
physisch und politisch geographischen An-
gaben grossenteils einer wesentlich älteren
Quelle entlehnt waren. Das Strassennetz ist
an der Hand des reichen wissenschaftlichen
Materials auf sein Alter zu untersuchen. Hier
liegt die Entscheidung über das Alter der
Tafel.
198 Bömische Litteratiirgeschiohte. ü. Die Zeit der Monarchie. L Abteilang.
Auch wäre auffallend, daös Plinius an einer Stelle (6,39) die Karte aus-
drücklich citiert.
Die entscheidende Stelle lautet (Plin. 3, 8) : oram eam (sc. Baeticae) in uniteraum
originis Poenorum existimavit. (Anders Detlefsen p. 14.)
Aosser diesem Kartenwerk schrieb Agrippa auch noch seine Memoiren. Vgl.
Philargyr. zu Verg. Georg. 2, 162 Agrippa in secundo vitae suae, (Über seine Denkschrift
über die Wasserleitungen Roms vgl. Fbontin, de aquis 98 und 99).
Litteratur: Fbandsen, M. V. Agrippa, Altena 1836. Eck, Quaeat. hist. de A,,
Leyden 1842. Muellenhoff, Weltkarte und Chorographie des E. Augustus, Kiel 1856,
p. 16 f. Philippi, De tabula Peutingerana, Accedunt fragmenta Agrippae geographica^
Bonn 1876, p. 30. Riese, Geogr. min. p. 1.
y) Die Redner (Deklamatoren).
334. Die Quelle (Senecae oratomm et rhetorum sententiae
divisiones colores). Unsere Kenntnis von der Beredsamkeit der ersten
Kaiserzeit beruht auf einem merkwürdigen Buch, auf einer Blumenlesc
Senecas. Dieser, ein Spanier aus Gorduba (Martial 1,61,7), der Vater des
bekannten Philosophen Seneca, hatte in Rom rhetorischen Unterricht er-
halten und eine grosse Zahl berühmter Rhetoren aufmerksam gehört.^)
Ein Mann von strenger Gesinnung konnte er der Entwicklung, welche die
Beredsamkeit in jenen Tagen genommen, nicht immer seinen Beifall spenden,
sein rednerisches Ideal war Cicero, zu dessen Grösse er voll Bewunderung
emporblickte. In hohem Alter wurde er von seinen Söhnen, welche tiefer
in das Wesen der Rhetorik eindringen und besonders die älteren Rhetoren
kennen lernen wollten, bestimmt, aus dem reichen Schatz seiner rhetorischen
Erinnerungen ihnen Mitteilungen zu machen. Wenn irgendeiner, so war er
geeignet, diesem Verlangen nachzukommen. Die Natur hatte ihn mit
einem wunderbaren Gedächtnis ausgestattet; in seinen jüngeren Jahren
konnte er 2000 Namen in derselben Reihenfolge, in der sie gesagt waren,
und über 200 Verse in umgekehrter Ordnung wiederholen. Diese ausser-
ordentliche Kraft des Gedächtnisses ging zwar im Alter verloren, für die
Aufnahme neuer Eindrücke war es nicht mehr empfanglich, dafür hielt
es mit grosser Zähigkeit alle Erlebnisse und Erfahrungen der Jugend
fest. Gestützt auf dieses grosse Erinnerungsvermögen trat er mit Eifer
an die Ausarbeitung der Schrift heran, die er nicht bloss für seine Söhne,
sondern für das gesamte Publikum bestimmte. Sein Ziel war, das, was
er an verschiedenen Orten und bei verschiedenen Gelegenheiten von römi-
schen und griechischen Rhetoren bei der Behandlung der herkömmlichen
rhetorischen Themata vernommen, aufzuzeichnen.^) Zuerst nahm er die
schwierigeren Themata vor, die Gontroversiae, bei denen es sich
um die Entscheidung einer Rechtsfrage handelte. Nach drei Haupt-
gruppen ordnete er seine Erinnerungen; zuerst teilte er die Auffassungen
(sententiae) des Falls von seiten der Rhetoren mit, in der Regel so,
dass die zwei Seiten, das Pro und das Gontra, zu Tage treten. Es ge-
schieht dies durch hervorstechende bald kürzere bald längere Mitteilungen
aus den Deklamationen; sie geben sich den Anschein, wörtliche Repro-
') Zu verschiedenen Zeiten; auf eine
Unterbrechung und damit auf eine zeitweilige
Abwesenheit von Rom deuten wohl die Worte
Controv. 4 praef. 3 audivi illum et viridem et
postea iam senem.
^) Das im Text Gesagte beruht auf der
Praefatio zum 1. B. der Controversiae.
Per Rhetor Seneca. igg
duktionen zu sein; allein ob der Wortlaut ganz genau gewahrt werden
konnte, scheint doch trotz des treuen Gedächtnisses des Berichterstatters
zweifelhaft zu sein. In der zweiten Rubrik fQhrt Seneca aus, wie die
Rhetoren einen Rechtsfall in verschiedene Quaestiones zerlegten (divisio).
Endlich kommt die Kunst der Redner zur Darstellung, einen schwarzen
Punkt des Falls in hellem Licht erscheinen zu lassen, den Mohren weiss
zu waschen, das Unrecht zu beschönigen (colores). Hier werden wiederum
wörtliche Anführungen aus den Deklamationen eingestreut. Auf diese Weise
wurden in zehn Büchern 74 Themata durchgegangen. Obwohl Seneca mit
grosser Freude sich in die Erinnerungen seiner Jugend versenkte, über-
kam ihn schliesslich ein Ekel ob des nichtigen Treibens der Rhetoren;
er fühlte zu deutlich, dass er keiner würdigen Sache seine Kräfte widme.
Doch fügte er noch ein Buch Suasoriae hinzu, ^) es ist dies die leichtere
Gattung der rhetorischen Übungen, da es sich bei denselben nur darum
handelt, ob etwas zu thun oder zu unterlassen sei; auch hier werden die
sententiae und die divisio angegeben, die colores kommen natürlich in Weg-
fall. Im ganzen werden sieben Suasoriae behandelt. Den einzelnen Büchern
wurden Einleitungen vorausgeschickt, in denen in ungemein geistreicher und
fesselnder Weise verschiedene Deklamatoren charakterisiert werden. Während
der Schriftsteller in den übrigen Partien meist referierend erscheint, tritt
er in diesen Vorreden schöpferisch auf, und diese muss man studieren,
wenn man sich über die schriftstellerische Eigentümlichkeit Senecas ein
Urteil bilden will.
Die Anthologie Senecas wurde allem Anschein nach viel benutzt.
Nur so lässt sich erklären, dass jemand auf den Gedanken kommen
konnte, einen Auszug von den zehn Büchern der Controversiae zu ver-
fassen. Dies mag im 4. Jahrh. n. Ch. geschehen sein. Der Epitomator
nahm die Vorreden der Bücher 1, 2, 8, 4, 7, 10 unverändert herüber.
Die einzelnen Kontroversen dagegen wurden stark gekürzt, wobei nicht
selten mit grosser Willkür und grossem Unverstand verfahren wurde. Etwa
gegen Ende des 13. Jahrh. wurde dieser Auszug von dem Mönch Nicolaus
de Trevet kommentiert.') Merkwürdig ist eine andere Verwendung der
Kontroversen. Da die in denselben behandelten Fälle nicht selten an das
Romanhafte streifen, so mussten sie der unter dem Namen ,,Gesta Roma^
norum'' im Mittelalter verbreiteten Sammlung von Novellen und Anekdoten
Material liefern.^)
Die Epitome verdrängte das Original werk; während daher die Epi-
tome in zahlreichen Abschriften sich vorfindet, ist uns das Originalwerk
nur durch eine jetzt verlorene Handschrift, von der sich aber einige Kopien
erhalten haben, überkommen. In diesem Urcodex standen im Einklang
mit der Stufenfolge des rhetorischen Unterrichts die Suasoriae vor den
Controversiae. Leider war derselbe lückenhaft; es fehlte der Anfang der
Suasoriae und die Bücher 3, 4, 5, 6, 8, ferner die Vorreden ^ zu den
\) Dass die Suasoriae später sind als die
Coniroversiae, ersieht man aus Controv. 2, 4
(12), 8 Quae dixerit (Lairo) suo loco reddam,
cum (td suasorias venera.
') BuBSiAN, praef, p. VIII.
>) Fbiedlandeb, Darstellungen 3', 393
»g.p.VU.]
^) Sonach sind uns die Vorreden der
und p. 471. (MüLLEB, Ausg. p. vU.)
Bücher 1, 2, 8, 4 nur ans der ^ Epitome*
bekannt.
200 Römisohe Litteratargeschiohte. IX. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Büchern 1 und 2; einigen Ersatz bietet uns die Epitome.O Als nach dem
Wiedererwachen der Wissenschaften die Schrift Senecas aufs neue gelesen
wurde, hielt man sie für ein Werk des bekannteren Philosophen. Es
drohte das Eigentum des Vaters in das des Sohnes überzugehen; erst
den Bemühungen der Gelehrten Kaphael von Volaterra und Justus Lipsius
gelang es,^) beide schriftstellerische Individualitäten voneinander zu scheiden.
Allein diese Ausscheidung hatte für den weniger berühmten . Vater zur
Folge, dass er lange Zeit beiseite geschoben wurde. Erst in unseren
Tagen wurde die methodische Texteskonstituierung vorgenommen.
Ausser dieser rhetorischen Anthologie schrieb Seneca noch andere
Schriften, nur eine kennen wir noch ihrem Titel nach, eine Geschichte
der Bürgerkriege bis auf seine Zeit, welche bei einigen Autoren Spuren
zurückgelassen hat.
Abfassungszeit der rhetorischen Schrift Gleich in der Vorrede zum ersten
Buch weist der Autor auf sein hohes Alter hin. Zeitanspielungen setzen uns in den Stand,
genauer die Grenzen festzustellen. Die Sammlung wurde nach 34 n. Ch. gemacht, denn
sie erwähnt (Suas. 2, 22) das Erlöschen der Familie der Scaurier durch den Tod des
Scaurus Mamercus (34 n. Ch. Tacit. Ann. 6, 29); auf der anderen Seite muss sie vor 41 n. Ch.
fallen, denn das Exil seines Sohnes, des Philosophen, welches im J. 41 eintrat, erlebte der
Vater nicht mehr (Consol. ad Helv. 2, 4). Allein dieses Intervallum kann noch etwas eingeengt
werden. Das bei der Erwähnung des Todes des Scaurus über den Ankläger gefällte harte
Urteil, dann die Mitteilung aus einem unter Tiberius amtlich verbrannten Buch des Cre-
mutius Cordus (Suas. 6, 19) konnten unter der Regierung desselben nicht in einem Werke er-
folgen, das nicht bloss fttr die Söhne, sondern fQr die Öffentlichkeit (Controv. 1 praef. 10)
bestimmt war, also wohl auch gleich herausgegeben wurde. Die Abfassungszeit der Schrift
fällt daher in die ersten Regierungsjahre des Caligula.
Andere Schriften Senecas. Der Philosoph Seneca spricht noch von anderen
Schriften seines Vaters (De vita patris ed. STUDBXUin> p. XXXI): si quaeeumque composuU
paUer meus et edi voluit, tarn in tnanus populi emisissem, ad clarttcUem nominis 8ui satus
sibi ipse prospexerat ' nam nisi me decipit pietas, cuius honestus etiam error est, inter eos
haberetur, qui ingenio meruerunt, tU puris et inlustribus titulis nobiles esaent, quisquis
legisset eius historias ab initio bellorum civilium, unde primum veritatt retro abiU,
paene usque ad mortis suae diem, magno aestimasset scire, qutbus natus esset paren-
tibus ilU, qui res Romanas . . . Daraus ersehen wir, dass, als der Phüosoph die Biographie
seines Vaters schrieb, die Geschichte der Bürgerkriege noch nicht ediert war, und
dass der Vater ausser dem historischen noch andere Werke verfasst hatte. Später wurde
aber das historische Werk herausgegeben, denn mit hoher Wahrscheinlichkeit werden zwei
Fragmente auf dasselbe zurückgeführt, die von Lactantius Inst. div. 7, 15, 14 erwähnte
Gliederung der römischen Geschichte nach Lebensaltem (infantia, pueritia u. s. w.) und
die bei Suet. Tib. 73 stehende Erzählung vom Tod des Tiberius. Da auch bei Florufs
jene Vergleichung der römischen Geschichte mit den Lebensaltem vorkommt, so vermutet
0. Rossbach eine ausgedehntere Benutzung des Werks durch Florus (Bresl. Stud. 2 Bd.
3 H. p. 165).
Überlieferung. Die Kritik des Originalwerks bemht auf drei Handschriften des
X. Jahrb., dem Cod. Bruxellensis 9581 und dem Antverpiensis 411 einerseits, dann dem
Vaticanus 3872 andererseits. Eine von dem Archetypos dieser Handschriften verschiedene
Überlieferung repräsentierte die Vorlage der Epitome. In zahlreichen Codices ist der Aus-
zug erhalten; die massgebende Quelle ist hier der Montepessulanus 126 s. IX/X.
Ausgaben. Von Bubsian, Leipz. 1857; von Kiesslino, Leipz. 1872; von H. J. Müller,
Prag-Leipzig 1887.
335. Charakteristik der Schnlberedsamkeit. In der republikani-
schen Zeit war des Redners Arena das Forum; die Schule konnte nur die
Aufgabe haben, für dieses wahre Kampffeld vorzubereiten. Dieses natür-
liche Verhältnis von Schule und Leben wurde durch das Aufkommen des
^) Auch die Aussprüche der griechischen
Autoren fehlen vielfach.
') Körbeb, Üher den Rhetor Seneca p. 1.
Die Deklamatoren. 201
Prinzipats umgestürzt. Der Beredsamkeit war jetzt nur noch ein be-
schränkter Raum zur Entfaltung in der Öffentlichkeit gegeben, sie zog
sich daher in die Kreise der Schule zurück. Aus dem Orator wurde jetzt
der Deklamator. ^) Aber welche tiefe Kluft trennt den scholastischen Redner
vom forensischen! Der Redner des Forums spricht zu Leuten, welche die
Entscheidung seiner Sache in den Händen haben, der Redner der Schule
zu einem Publikum, von dem er nichts als Lob und Beifall ernten kann;
der forensische Redner will überzeugen, der scholastische gefallen, jener
den Willen bestimmen, dieser Phantasie und Verstand reizen. Der foren-
sische Redner wird von dem Bewusstsein gehoben, dass von seinen Worten
der Ausgang der Sache, welcher er sein Wort leiht, abhängt, der schola-
stische weiss, dass seine Rede ein luftiges Spiel des Oeistes ist. Bei dem
forensischen Redner ist es die tiefe innere Überzeugung, aus der er seine
siegreiche Kraft schöpft, der scholastische hat nichts als die künstliche
Aufregung, das hohle Pathos, durch das er zwar betäuben, aber nicht er-
wärmen kann. Bei dem forensischen Redner ist die Rede nur ein Mittel
zur Erreichung eines höheren Zwecks, bei dem Schulredner dagegen ist
die Rede alles; der erste vermag auch durch die schlichte, zum Herzen
gehende Sprache zu wirken, der zweite bedarf des Pikanten und Mani-
rierten. Des forensischen Redners Gebiet ist das frische pulsierende Leben,
der scholastische Redner spinnt sich ein in die trübe Welt des Scheins;
jener führt wirkliche Waflfen, dieser macht Lufthiebe. Um das Wesen
der scholastischen Beredsamkeit zu erkennen, braucht man nur die Themata
zu mustern, welche damals in den Rhetorschulen behandelt wurden. Da
berät sich Alexander der Grosse, ob er in Babylon einziehen soll, weil er
von einem Wahrsager gewarnt wurde (Suas. 4). Oder: an die Athener
tritt die Frage heran, ob sie die in den Perserkriegen errichteten Sieges-
zeichen niederreissen sollen, da Xerxes droht, falls dies nicht geschehe,
werde er wieder nach Griechenland rücken (Suas. 5). Oder: Cicero schwankte,
ob er seine Schriften verbrennen soll, als ihm Antonius unter dieser Be-
dingung das Leben schenken wollte (Suas. 7). Allein dies sind noch ein-
fache Fälle; ungleich verwickelter sind die Controversiae. Hier werden
Themata gestellt, wie sie nur eine krankhafte Phantasie ausklügeln konnte,
und deren Stoffe an Romane erinnern. Einige Beispiele mögen dies ver-
anschaulichen. Mann und Frau schwuren, wenn dem einen von ihnen
etwas zustosse, wolle auch der andere Teil in den Tod gehen. D6r Mann
reist in die Fremde und lässt an die zurückgebliebene Frau die Botschaft
seines Todes gelangen. Die Frau stürzt sich in die Tiefe, erleidet aber
nicht den Tod, sondern nur eine Verwundung, von der sie geheilt wird.
Jetzt befiehlt ihr der Vater, sich von dem Mann zu trennen und als sie
sich dessen weigert, wird sie Verstössen (Gontr. 2, 2 [10]). Ein anderer
Fall: Ein Mann, der eine wunderschöne Frau hatte, reist ins Ausland.
Der schönen Frau naht sich ein fremder Kaufmann und sucht sie zu
verführen, allein ohne Erfolg. Der Kaufmann stirbt und macht sie
in einem Testament zur Erbin seines gesamten Vermögens mit dem
') Gontrov. 1 praef. 12.
202 Bömisohe lätteraturgeBohiohte« ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
Beisatz „Ich habe sie keusch gefunden". Die Frau tritt die Erbschaft an.
Als ihr Mann zurückgekehrt war, erhob er eine Klage wegen Ehebruchs
(Contr. 2, 7 [15]). Oder: Vater und Sohn bewarben sich beide um den
Oberbefehl in einem Kriege. Der Sohn wird dem Vater vorgezogen. Er
zieht in den Krieg, wird aber von den Feinden gefangen. Nun werden
zehn Gesandte abgeschickt, um den in Feindeshand befindlichen Feldherrn
auszulösen. Auf dem Wege begegnet ihnen der Vater und erzählt, er
habe seinen Sohn durch ein Lösegeld befreien wollen, derselbe sei aber
ans Kreuz geschlagen worden. Die Gesandten trafen den Feldherrn noch
lebend an; er sagte ihnen „Hütet euch vor Verrat*. Daraufhin wird der
Vater des Verrats beschuldigt (Contr. 7, 7 [22]). Wie man sieht, sind es
verwickelte Rechtsfälle, welche diesen Kontroversen zu Grunde liegen;
allein auch das Recht ist in dieser Welt des Scheins ein willkürlich an-
genommenes; es ist weder echt griechisch noch echt römisch. Die Themata
waren zum grossen Teil Gemeingut der rhetorischen Schulen; nicht bloss
römische, sondern auch griechische Redner versuchten sich an denselben.
Es kam also alles darauf an, einem Thema immer neue Seiten abzuge-
winnen, um einen durchschlagenden Erfolg zu erzielen, durch irgend einen
Treffer zu überraschen und zu blenden; versuchten doch die Deklamatoren
sogar in Wettkämpfen ihre Kräfte. Dass ein solches Streben zur Unnatur
führen musste, liegt auf der Hand. Daher die gesuchten, spitzen Gedanken,
die Übertreibungen, das Spiel mit den Worten, das Haschen nach rhetori-
schen Figuren, besonders nach der Antithese. Die allgemeine Losung war:
geistreich und interessant um jeden Preis. Die Leute, die zu den Dekla-
mationen kamen, mochten diese in engerem Kreise oder öffentlich vor
einem grösseren Publikum stattfinden,^) wollten eine bestechende Sentenz,
eine ungewöhnliche Gliederung, ein unerwartetes Beschönigungsmittel mit
nach Hause nehmen. In den Verhandlungen, die sich an die Vorträge
anreihten, wurde das Gelungene bewundert, das Missratene unbarmherzig
verhöhnt und zum Gegenstand von Anekdoten gemacht. In dieser kleinen
und kleinlichen Welt bewegte sich die Schar der Rhetoren mit unleugbarer
Selbstzufriedenheit. Aber wehe ihnen, wenn sie aus ihren Schulräumen
herausgerissen wurden; sobald sie den blauen Himmel über sich hatten
und der Wirklichkeit ins Antlitz schauen sollten, spielten sie eine kläg-
liche Rolle und um ihre Redefertigkeit war es geschehen. Die Folgen
dieser rhetoxischen Bildung der Jugend waren tief einschneidende, für den
Charakter, da das fortwährende Spielen mit der Lüge und dem Schein
das Gefühl für die Wahrheit schwächen musste, für den Stil, da das
Pikante, das Pathetische, das Unnatürliche jetzt dessen Wesen ausmachte.
Das sogenannte silberne Latein mit seinen geistreichen Pointen wie mit
seiner zerschnittenen Darstellung hat hier seinen Ursprung; der rhetorische
Charakter der späteren römischen Poesie findet hier seine Erklärung.
KoEBBEB, Über den Rhetor Seneca und die römische Rhetorik seiner Zeit, Marb.
1864. Gbuppe, Quaest. Annaeanae, Stettin 1873 (p. 24). FbiedlIndeb, Sittengesch. 3«, 387.
336. Die einzelnen Deklamatoren. Wir beginnen mit zwei Rednern,
') poptiJo declatnare (Contr. 10 praef. 4); secreta^ exercitationea (Contr. 7 praef. 1 .
T. Labienua. CaBsias Severns. 203
welche nicht ganz mit der alten Zeit gebrochen hatten, mit T. Labienus
und Cassius Severus.
1. T. Labienus. Dieser Redner sprach nicht in öffentlicher Ver-
sammlung; er erklärte dies mit der Gensormiene, die er gern nach aussen
hin annahm, für einen Ausfiuss der Eitelkeit. Eine Persönlichkeit, die
keineswegs für sich einnahm, sondern infolge ihrer schlechten Eigenschaften
nur abstossend wirken konnte, erzwang er sich doch Anerkennung und
Bewunderung durch sein Talent. Sein Stil war altertümlich gefärbt, aber
er trug zugleich den pikanten Charakter der Neuzeit; er vereinigte die
Eigentümlichkeiten zweier Epochen in sich. Berüchtigt war seine unge-
zügelte Zunge ; die Wut, mit der er über alles herfiel, war so gross, dass
man ihm den Beinamen „Rabienus^ gab. Der politischen Neugestaltung
der Dinge stand er feindselig gegenüber; trotz des offenkundigen Ana-
chronismus wollte er Pompejaner sein. Seinen oppositionellen Standpunkt
hatte er auch in einem Geschichtswerk kundgegeben. Als er dasselbe
einst öffentlich vorlas, überging er eine grosse Partie mit den Worten:
„Was ich ausgelassen habe, wird nach meinem Tod gelesen werden*^. Seine
Feinde setzten es endlich durch, dass seine Schriften auf Senatsbeschluss
hin (Suet. Calig. 16) verbrannt wurden. Dies nahm sich der eitle Mann
so zu Herzen, dass er sich in das Grab seiner Ahnen bringen Hess und
dort freiwillig sein Leben endete.
Diese Charakteristik fusst auf Seneca Controv. 10 praef. Von den mitgeteilten
Stellen zeichnet sich durch Lebhaftigkeit (Controv. 10, 4 (33), 17) ein Angriff gegen „aaeculi
vitia egregia** aus.
2. Cassius Severus. Als die Schriften des T. Labienus verbrannt
wurden, machte der Redner Cassius Severus die Bemerkung, jetzt müsse
man auch ihn verbrennen, da er die Schriften des Labienus auswendig
wisse. Es währte nicht lange, und der Witzbold wurde auch wegen seiner
eigenen Bücher verfolgt. Seine Schmähsucht, mit der er in denselben auf
die vornehme Welt losfuhr, veranlasste Augustus zum Einschreiten.
Er wurde nach Kreta verwiesen. Als er auch dort sein Unwesen weiter
trieb, wurde unter Tiberius über ihn die Verbannung mit Vermögensver-
lust ausgesprochen (Tac. Ann. 4, 21). In grosser Armut verbrachte er seine
letzten Tage auf der Insel Seriphos. Die Anhänger der Alten erblickten
in Cassius Severus die Grenzscheide der antiken und modernen Bered-
samkeit (Tac. dial. 19). Mit den republikanischen Rednern hat er gemein,
dass er das Forum, nicht den Lehrsaal als den Kampfplatz betrachtet
und über die Welt des Scheins, in der die Deklamatoren lebten, ein bitteres
Urteil föllt (Controv. 10 praef. 8). Er liess sich daher nur selten zu Deklama-
tionen herbei. Um an einem Beispiele die ganze Nichtigkeit der Schulrednerei
darzuthun, zog er einen namhaften Rhetor, Cestius Pius vor Gericht. Das
Experiment gelang; der Deklamator zeigte sich hier so ratlos, dass er
nach einem Vertreter sich umsah. Cassius Severus war ein ausgezeich-
neter Redner, mit Begeisterung hingen die Zuhörer an seinen Lippen, nur
das Eine befürchtend, dass der Schluss der Rede komme. Ein tiefer Kenner
des menschlichen Herzens hatte er sein Auditorium vollständig in seiner
Gewalt und rief in ihm die Seelenstimmung hervor, die er brauchte. Seia
204 Bömisohe liiteratargeBohiohte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilnng.
zündendes Wort fand eine mächtige Stütze in vortreiflichen körperlichen
Eigenschaften; er besass eine grosse Statur und eine Stimme, die Kraft
und Wohlklang miteinander verband. Obwohl er sich seine Rede immer aufs
genaueste konzipiert hatte, so bewegte er sich doch beim Vortrag frei,
und war er genötigt, einmal aus dem Stegreif zu reden, so übertraf
er sich selbst. Seine Reden erzielten eine mächtigere Wirkung als seine
Schriften. In seinem Stil machten sich die Wirkungen der neuen Zeit
geltend; Reichtum an blendenden Gedanken, Lebhaftigkeit und Feuer, ge-
wählter Ausdruck waren charakteristische Eigenschaften desselben. Eine
etwas längere Probe teilt uns Seneca aus einer Kontroverse mit, in der
es sich um eine Anklage gegen einen Mann handelt, der ausgesetzte
Kinder verstümmelte und die verstümmelten zum Betteln zwang (10, 4 (33), 2).
Mit grosser Anschaulichkeit und Lebendigkeit lässt er die verschiedenen
Verstümmelungen, welche die Kinder erleiden, an unseren Augen vorüber-
ziehen; es fehlt auch nicht an pikanten Wendungen, er spricht von einer
Werkstätte menschlichen Leids, von einer Mördergrube der Kinder, von
einem Tyrannen, der ohne Gehilfen menschliches Elend verteilt. Für die
pointierte Redeweise scheint Gassius Severus ganz besonders beanlagt ge-
wesen zu sein; er fühlte sich daher auch sehr zu dem Mimendichter
PubliUus hingezogen und führte gern von ihm Verse, welche dem Ge-
danken eine spitze Wendung gaben, im Munde (Sen. Controv. 7, 3 (18), 8).
Die böse Zunge des Redners brachte sich nicht selten in grausamer Weise
zur Geltung. Als einst der Rhetor Gestius in geschmackloser Selbst-
bewunderung sagte: Wäre ich ein Gladiator, so würde ich Fusius sein,
wäre ich ein Pantomime, Bathyllus, wäre ich ein Pferd, Melissio. Da
fuhr Gassius Severus ärgerlich dazwischen ^Und wärst du eine Gloaca, so
würdest du die Gloaca maxima sein."
Wir folgen iin wesentlichen der Charakteristik, welche Seneca in der Vorrede zum
III. Buch der Controv. liefert. Beurteilt wird der Redner auch von Tac. dial. 26 und
Quint. 10, 1, 116. Über seine Verurteilung sagt Tacitus Ann. 1, 72: primus Äugusttis
cognitwnem de famosis libeUis apecie legis eiua (de maiestate) trtictavit, commoitis Cassii
Severi libidine, qua viroa feminasque inittstres procacibus acriptis diffamaverat. Allein hier
kann Cassii Severi nicht richtig sein, denn Seneca, der doch Zeitgenosse war, sagt aus-
drücklich, dass hei Labienus zum erstenmal eine Verfolgung von litterarischen Produkten
eintrat, und lässt den Cassius Severus durch sein Witzwort ganz unbeteiligt erscheinen.
Jene Verfolgung wird aber im J. 12 n. Ch. geschehen sein, unter welchem Jahr Dio 56, 27
berichtet: xai fAa&iav^ öii ßißXia atra itp' vßQet tiytSy cvyygdffoixo, Cv^rjaiy avxtuy inonj-
aaro xal ixetyä te rd fiir ir tj noXei et^ge&iyta ngos taiy dyo^ayofitoy, ja di l|ai tt^ö;
tiiSy ixtt(nttx69i ixQxoyt<oy, xatitpXs^e xal nüy üvy&iyxtov avxd ixoXaüi xiyag, Ist die Ver-
mutung richtig, so mOsste die Massregelung des Cassius Severus später als 12 n. Ch.
fallen und die Angabe des Hieronymus (2, 149 Seh.) zu 32 n. Ch. Cassius Severus — XXV
exiUi sui anno in summa inopia moriiur vix panno verenda contectus, welche auf das J. 7
n. Ch. führt, irrig sein.
3. M. Porcius Latro. Mit Seneca war aufs innigste befreundet
M. Porcius Latro. Beide waren Mitschüler, beide Zuhörer des Bhetors
MaruUus. Porcius Latro war ein sehr beliebter Lehrer; obwohl er wie
der Grieche Nicetes die Gewohnheit hatte, selbst zu deklamieren, nicht aber
die Schüler deklamieren zu lassen, wurde schon auf das Hören desselben
der grösste Wert gelegt (Sen. Controv. 9, 2 (25), 23). Ja, die Verehrung seiner
Zöglinge artete mitunter in einen kindischen Charakter aus: so nahmen
manche Waldkümmel, um die blasse Gesichtsfarbe des Lehrers zu ge-
M. Poroins Latro. C. Albnoiiui Biliis.
205
winnenO (Plin. n. h. 20, 160). Originell war er in seinem äusseren Leben;
er kannte nicht die Ökonomie der Kräfte und es fehlte seinem Thun die
ausgleichende Harmonie. Hatte er sich einmal zur Arbeit aufgerafft, so
setzte er sie, ohne Ziel und Mass einzuhalten, Tag und Nacht fort, bis die
Kräfte endlich versagten. Gab er sich dann den Freuden des Daseins hin,
so schien sein ganzes Wesen in ^ Scherz und Spiel" aufzugehen; wanderte
er hinaus in die „ Wälder und Berge", so that er es an ländlicher Arbeit
den Altgewohnten gleich; nur mit Mühe konnte er sich von diesem Leben
losreissen. Geschah es aber, so schienen seine Kräfte für das Studium
verdoppelt zu sein. Wie die Verbindung von Arbeit und Ruhe ihm fremd
war, so auch der Wechsel in der Arbeit. Nahm er rhetorische Übungen
vor, so schrieb er an einem Tag z. B. nichts als Epiphonemata, an einem
andern nichts als Gemeinplätze, welche er seinen Hausrat nannte. Seine
Arbeitskraft war erstaunlich; es war ihm ein Leichtes, nach einer im
Studieren durchwachten Nacht sofort zu einer Deklamation zu schreiten,
oder unmittelbar nach dem Mahle die Arbeit aufzunehmen. Für seine
rednerische Thätigkeit kam ihm zu statten eine gute Brust und ein starkes,
wenn gleich belegtes Organ. Auf die Stimmbildung verwendete er gar keine
Mühe, und man erkannte daher in ihm den Spanier. Ausgezeichnet war
sein Gedächtnis, die verlässige Naturgabe unterstützte er noch durch die
Kunst. So schnell er schrieb, so war doch, was er einmal geschrieben,
sein zweifelloses Eigentum und konnte von ihm jeder Zeit ohne den ge-
ringsten Fehl reproduziert werden; er pflegte zu sagen, er brauche keine
Schreibtafeln, er schreibe in seinen Kopf. Bezüglich der Darstellung er-
kannten zwar seine Gegner an, dass sie sich durch Eindringlichkeit aus-
zeichne, wollten aber logische Schärfe vermissen. Allein in lebhafter Weise
nahm ihn sein Freund Seneca gegen diesen Vorwurf in Schutz.^) Indes
trotz aller dieser ausgezeichneten Eigenschaften war er doch nur ein
Schulredner, selbst einer Deklamation zu aussergewöhnlicher Zeit oder
an einem aussergewöhnlichen Ort entzog ersieh (Senec. Gontrov. 10 praef. 15).
Völlig liess ihn seine Kunst im Stich, wenn er vor Gericht auftrat. Als
er seinen Verwandten Porcius Busticus vor Gericht zu verteidigen hatte,
kam er so in Verwirrung, dass er seine Rede mit. einem Solözismus be-
gann und seine Fassung erst wieder erhielt, als auf seine Bitten hin die
Verhandlung vom Forum in eine Basilika verlegt wurde (Sen. Gontrov. 9
praef. 3). Im Jahre 4. v. Gh. gab sich der Rhetor selbst den Tod (Hieronym.
2, 145 Seh.).
Hauptquelle: Gontrov. 1 praef. 13. Von den Proben, welche Seneca gibt, ist beachtenswert
die umfassende zur Contr. 2, 7 (15); sie bildet die einzige Mitteilung zu dieser Controversia.
4. G. Albucius Silus stammt aus Novara und brachte es in seiner
Vaterstadt zur Adilität. Als ihm einst in einem Prozess von der Gegen-
partei schwere Unbill widerfuhr, eilte er schnurstracks nach Rom. Hier
schloss er sich zum Zweck seiner rednerischen Ausbildung an L. Munatius
^) Ein Nachahmer war S p a r s u s (Gontrov.
10 praef. 12 utebatur suis verbis, Latranis
setUenttis). Auch Ovid war ein Bewunderer
von Latro und lauschte eifrig seinen Dekla-
mationen (Gontrov. 2, 2 (10), 8).
*) Auch über seinen Stil fällte Messalla
das Urteil (Gontrov. 2, 4 (12), 8): sua Hngua
disertus est . ingenium Uli (Messalla) coH'
cessit, sermonem obiecit.
206 ^mische Litter atnrgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Plancus an. Nachdem er durch rednerische Erfolge bekannt geworden
war, eröffnete er eine Rhetorschule. In öffentlicher Versammlung sprach
er sehr selten, im Jahre höchstens fünf- bis sechsmal, dagegen hielt er
rednerische Übungen für engere Kreise, welche aber auch nicht von vielen
besucht wurden. Ein anderer war der Redner vor einer grossen Ver-
sammlung, ein anderer im Kreise vor wenigen. Hier Hess er sich gehen,
er sprach sitzend und nur wenn ihn der Gegenstand wärmer machte, er-
hob er sich. Vorwiegend erging er sich in philosophischen Betrachtungen
über den Fall, diese Hessen ihn nur selten zur allseitigen Durchfülu*ung
des Themas gelangen. Was er gab, war weder eine Analyse, denn dafür
bot er zu viel, noch eine Rede, denn dafür bot er zu wenig. Trat er
aber vor einen grösseren Kreis, so spannte er alle seine Kräfte an und
hörte dann nicht auf; nicht bloss was gesagt werden musste, sondern auch
was gesagt werden konnte, brachte er vor. Seine Beweisführung war
mehr pedantisch als scharf, denn er konnte gar nicht genug beweisen und
häufte Argumente auf Argumente. Jede Frage des Falls wurde behandelt,
als wäre sie für sich bestehend, so dass unter seinen Händen jede Kontro-
verse in mehrere auseinanderfiel. Er kannte nicht die Unterordnung der
einzelnen Teile unter ein höheres Ganze. Seine Diktion war glänzend und
eindringlich; er sprach in raschem Fluss, aber ersichtiich vorbereitet. Um
den Ausdruck war er nie verlegen, nicht selten Hess er auch Wendungen
des niederen Lebens in seine Darstellung einfliessen und störte dadurch
den Eindruck seiner Rede. Was ihm fehlte, war eine scharf ausgeprägte
Individualität und ein starkes Selbstbewusstsein. Daher finden wir auch
ein fortwährendes Schwanken seines Stils; wen er gerade gehört hatte,
den suchte er nachzuahmen; so stand er eine Zeitlang unter dem Ein-
fluss des Fabianus, ein andermal beherrschte ihn wieder Hermagoras
Das Ende war, dass er es zu gar keinem einheitlichen Stil brachte und
im Alter schlechter sprach als in der Jugend. Für das Forum passte
der ängstliche Redner nicht. Ein drolliges Erlebnis bestimmte ihn, dem-
selben gänzlich zu entsagen. In einem Centumviratsprozess gebrauchte
er den Kunstgriff, dass er den Gegner zum Eid aufforderte und dabei
die Übelthaten anbrachte, die jener begangen. Schwöre, rief er, bei der
Asche deines Vaters, welche unbestattet da liegt. Und in dieser Weise
ging es weiter. Da erhob sich plötzlich von der Gegenseite L. Arruntius
mit den Worten: Gut, wir nehmen den Eid an, Albucius entgegnete,
so sei es nicht gemeint, er habe ja nur eine Figur gebraucht,' und wenn
man jede Figur ernst nehmen wolle, so würden die Figuren aus der
Welt verschwinden. Meinetwegen können sie verschwinden, entgegnete
Arruntius; wir werden auch ohne sie leben können. Der Ausgang der
Sache war, dass der Angeklagte wirklich den Eid leistete und den Prozess
gewann.
Theatralisch war das Ende des Rhetors. Als ihn ein unheilbares
Leiden befallen, kehrte er in seine Vaterstadt zurück und berief eine Volks-
versammlung, der er die Gründe auseinander setzte, warum er in den Tod
gehen müsse. Als dies geschehen war, setzte er seinem Leben durch
Enthaltung von Nahrung ein Ziel.
Q. HaieriuB. L. Jonina Gallio.
207
Die Grundlage für unsere Darstellung sind Suet. rhet. 6 und Seneca Contr. 7 praef. Um-
fassendere Bruchstücke aus den Deklamationen sind: Contr. 7, 1 (16), 1 9, 2 (25), 6. Vgl. noch
Quint. 2, 15, 86, wo eine rhet. Schrift angedeutet ist. — Lindneb, De C, Albueio Silo, Bresl. 1861.
5. Q. Haterius pflegte in öffentlicher Versammlung aus dem Steg-
reif zu deklamieren ; nicht leicht konnte ein Redner eine grössere Herrschaft
des lebendigen Wortes besitzen als er. Sein Kedefluss war so mächtig,
dass Augustus einmal sagte « Unserem Haterius muss ein Hemmschuh angelegt
werden **. Es war ihm völlig gleichgültig, welchen Stoff er zu behandeln
hatte; er konnte über denselben reden, so lang und so oft man wollte;
immer wusste er dem Gegenstand neue Seiten abzugewinnen. Diese Leichtig-
keit der Rede verleitete ihn aber, nicht Mass zu halten und nicht eine
Materie zur rechten Zeit abzubrechen; er folgte daher den Winken eines
Freigelassenen, der ihn darauf aufmerksam machte, wann er weiterschreiten
und wann er schliessen sollte. An eine bestimmte Ordnung in der Glie-
derung des Themas hielt er sich nicht, dafür war er zu sehr von dem
momentanen Eindruck abhängig. Seine Diktion beugte sich nicht dem
Rigorismus jener Schulen, welche Worte des gewöhnlichen Lebens und
solche, die zimperlichen Ohren anstössig sein konnten, peinlichst ver-
mieden. Nur vor ganz abgedroschenen und veralteten Wendungen hütete
er sich, doch schlüpfte manches Wort, das Cicero gebraucht hatte, aber
jene Generation nicht mehr für gangbar erachtete, in seinen Vortrag.
Dass die Sucht zu glänzen ihn mitunter auf Abwege führte, liegt in der
Natur der Sache. So begegnete es ihm einst, als er einen Freigelassenen,
welcher der Unzucht mit seinem Herrn bezichtigt wurde, verteidigte, dass
er sich, um eine spitze Wendung zu erhalten, zu folgender Geschmack-
losigkeit hinreissen Hess: „Die Unzucht ist bei einem Freigebornen ein
Unrecht, bei einem Sklaven eine Notwendigkeit, bei einem Freigelassenen
— ein Dienst **. Alles lachte und eine Zeitlang nannte man die Unsittlichen
die — Dienstwilligen. Doch war das Ansehen des Redners immerhin ein
sehr grosses; allein es übertrug sich nicht auf die Nachwelt; denn die
Schriften des Redners vermochten nicht in gleicher Weise zu fesseln wie
sein lebendiges Wort. Mit seinem Tod erlosch zugleich das, was ihm den
Ruhmeskranz flocht, das hellklingende, fliessende Wort.
Haterius wird von Seneca in der praef. zum 4. Buch geschildert. Auch Tacitus
giht eine kurze Charakteristik an der Stelle (Ann. 4, 61), wo er seines Todes gedenkt
(26 n. Gh.). Von den mitgeteilten Frohen stehen grössere in der Suasoria 6 Deliherat
Cicero an Antonium deprecetur und in der Suasoria 7 Deliberat Cicero an scripta sua
conburat, promittente Antonio incolumitatem, si fecisset. Beide sind in lebhaftem Ton ge-
schrieben.
6. L. Junius Gallio. Mit Seneca war sehr befreundet L. Junius
Gallio. Diese Freundschaft erhielt einen besonders wirksamen Ausdruck
durch die Adoption des ältesten Sohnes Senecas M. Annaeus Novatus von
selten des Rhetors. 0 Auch mit Ovid stand Gallio in engeren Beziehungen.
Denn der Dichter richtete an ihn einen Brief aus seinem Exil, um ihn
über den Verlust seiner Frau zu trösten (P. 4, 11). Über sein Leben sind
uns fast keine Daten überliefert. Das wichtigste berichtet uns Tacitus
^) Auch dieser Adoptivsohn, nach der
Adoption L. Annaeus Junius Gallio ge-
nannt, wurde ein hervorragender Redner.
Es ist derselbe, der in der Apostelgeschichte
18, 12 erwähnt wird.
208 ^mische Litteratnrgesohichte. II. Die 2eit der Monarchie. 1. Abteilung.
(Ann. 6, 3). Er stellte nämlich im Senat den Antrag, den Prätorianem
nach ihrer Dienstzeit das Recht zu verleihen, im Theater den Sitz bei den
Rittern einzunehmen. Darob ' wurde er von Tiberius heftig angelassen
und aus der Curie wie aus Italien verwiesen. Er lebte in Lesbos. Da
aber der Aufenthalt auf der reizenden Insel keine Strafe zu sein schien,
so wurde er wieder in die Hauptstadt zurückberufen und dort in Amts-
gebäuden untergebracht. Als Deklamator erhielt er von Seneca seinen
Platz neben Porcius Latro, Arellius Fuscus, Albucius Silus; diese sind nach
Seneca die vier grössten Redner jener Zeit (Controv. 10 praef. 13). Bei
Seneca wird er zwar in hohem Grade berücksichtigt, allein eine eingehende
Charakteristik desselben ist nicht geliefert. Wir müssen uns daher
aus den Mitteilungen Senecas selbst ein Bild konstruieren. Dieses Bild
aber passt nicht recht zu den glänzenden Lobsprüchen des Rhetors. So ver-
mögen wir nicht die Bewunderung zu teilen, welche er einem Satz,
den Gallio in einer Suasoria angebracht hatte, spendet. Das Thema war:
Xerxes verlangte von den Athenern, dass sie die gegen ihn errichteten
Siegeszeichen niederreissen, oder er werde neuerdings gegen Griechenland
ziehen. Während alle Rhetoren, welche das Thema behandelten, sich gegen
diese Forderung aussprachen, trat Gallio für das persische Ansinnen ein
und brannte das Feuerwerk ab: «Die Perser können es mit dem Unter-
gehen länger aushalten als wir mit dem Siegen''. Die grösseren Proben,
welche uns Seneca von seinen Deklamationen gibt, zeigen uns eine auf-
gedunsene, aufgeregte, unruhige Darstellung; von der Anaphora ist über-
reichlich Gebrauch gemacht, so dass wir das Urteil des Tacitus (D. 26), der
von «Wortgeklingel*' redet, als ein berechtigtes anerkennen müssen. Seine
Deklamationen wurden aber noch lange gelesen; so wird er von dem
Kirchenvater Hieronymus^) unter den rednerischen Musterschriftstellem
aufgezählt. Als Einzelschrift kursierte eine Rede, welche er für den
Günstling des Maecenas, den Pantomimen Bathyllus, gegen die Anklage
des Labienus verfasste.^) Ausserdem hatte er auch eine rhetorische Mono-
graphie geschrieben (Quint. 3, 1, 21).
Bemerkenswerte Äusserungen Senecas über Gallio sind noch folgende : Contröv. 2, 1 (9),
33 Otho lunius pater — edidit IV Uhros colorum, quos helle Qallio noster Antiphontis
Hbroa vocahat; tantum in Ulis somniarum est (vgl. 1,3, 11). Controv. 7 praef. 5 hoc (idio-
tisman) nemo praestitU umquam Galliane nostro deceniias. iam adulescentulus cum decla^
maretj apte et canvenienter et decenter hoc genere utebatur. — B. Schmidt, De L. J. G,
rhetore, Marb. 1866 (gut geschrieben). Lüidner, De L. G., Uirschb. 1868.
7. Arellius Fuscus. Dieser Redner stammt aus Asien; er be-
rücksichtigt daher auch gelegentlich seine Landsleute Hybreas und Adaeos. ^)
Er konnte sowohl in -lateinischer als in griechischer Sprache seine Vor-
träge halten, die griechische war ihm geläufiger. Von den beiden Gat-
tungen der Rede bevorzugte er entschieden die Suasoria (Suas. 4, 5).
Seine Diktion war nach dem Urteil Senecas zwar glänzend, aber mühsam
Sich habe hier im Auge: Controv. 2, 3
^ „ 7, 1 (16), 13 7, (22), 3 10, 2 (31), 1.
^) praef, comm. in Esaiam.
') Conirov. 10 praef. 8 monstrabo beRum
vobis libellum quem a Gallione vestro petatis .
recitavit rescriptum Labieno pro Bathyllo
Maecenaiis, Die Rede wurde, wie aus re-
scriptum hervorgeht, nicht gehalten.
*) Controv. 9, 1 (24) 12 und 9, 6 (29) 16.
Vgl. BuscHMAim, CharaJcteristik der griech.
Rhet., Parchim 1878 p. 11.
ArelliuB Fuscus. L. CestiuB Pins. 209
erarbeitet 0 und verwickelt, der Schmuck der Rede gesucht, der Perioden-
bau zu schlaff. Die einzelnen Teile waren sehr ungleich gehalten. Ein-
gang, Beweise, Erzählungen waren trocken, dagegen Charakteristiken,
Schilderungen im Übermass blühend stilisiert. Die von Seneca mitge-
teilten grösseren Stücke lassen eine aufgeregte, enthusiastische Darstel-
lungsweise erkennen, welche besonders von der Frageform reichliche An-
wendung macht. Man vergleiche z. B. den Passus, der sich gegen die
Wahrsagekunst richtet (Suas. 4, 1), die Rede, in der die dreihundert
Lakonen, welche, von den ihnen zu Hilfe geschickten Griechen verlassen,
doch zum Ausharren ermuntert werden (Suas. 2, 1), oder die Kontroverse,
in der ein Reicher, der seine drei Söhne Verstössen hatte, den einzigen
Sohn eines Armen adoptieren will (Controv. 2, 1 [9], 1). Unter seinen Schülern
waren die hervorragendsten der Philosoph Papirius Fabianus und der
Dichter Ovid (Controv. 2, 2 [10], 8).
Za vgl. bes. Controv. 2 praef. Öfters erhält Arellios Poschs bei Seneca den Zusatz pater;
es ist; aber nicht zulfissig, die SteUen, denen jener Zusatz fehlt, auf den Sohn zu beziehen.
Diese Beziehung musste eigens hervorgehoben werden. — Likdner, De A, F,, Breslau 1862.
8. L. Cestius Pius. Auch dieser Rhetor war ein Grieche, er stammte
aus Smyrna (Hieron. 2, 143 Seh.). Er war ein von sich sehr eingenommener
und dabei höchst boshafter Mensch, dessen Zunge man ungemein zu
fürchten hatte. Mit Vorliebe suchte er andern, wo er nur konnte, eines
anzuhängen. Als Albucius einmal in einer Kontroverse gesagt hatte:
»Warum zerbricht der Becher, wenn er fällt, der Schwamm aber nicht"?
bemerkte er höhnisch: »Morgen wird er euch vordeklamieren, warum die
Krammets Vögel fliegen, die Kürbisse aber nicht" (Controv. 7 praef. 8).
Als bei ihm Varus Quintilius, der Sohn des unglücklichen Feldherrn
Varus eine Gontroversia deklamierte, machte der Grieche eine grausame
Anspielung auf die Schlacht am Teutoburger Wald (Controv. 1,3, 10).
Seinen Zuhörern, deren Vortrag von einer Sentenz ausging und wieder
in dieselbe einmündete, pflegte er dm*ch den Ruf „Echo", durch einen Vers
oder irgend eine scharfe Bemerkung einen Denkzettel zu geben (Contr. 7,
7 [22], 19). Auch gegen die Verstorbenen richtete sich seine Schmähsucht.
So zog er stark gegen Cicero los. Allein dies sollte ihm sehr übel be-
kommen. Als der Sohn Ciceros an der Spitze der Provinz Asien stand,
wurde von ihm unter anderen Cestius zu Tisch geladen. Da sich der Gast-
geber nicht mehr des geladenen Bhetors zu erinnern wusste, zog er bei
einem seiner Sklaven Erkundigungen nach ihm ein. Der suchte dem Ge-
dächtnis seines Herrn dadurch zu Hilfe zu kommen, dass er ihm sagte
„Es ist der Mann, der von deinem Vater sagte, dass derselbe nichts ver-
stünde". Als der Sohn Ciceros dies vernahm, Hess er den Griechen sofort
durchprügeln (Suas. 7, 3). Als Redner erfreute sich Cestius eines sehr
hohen Ansehens. Die Jugend lernte seine Deklamationen statt der Cicero-
nischen Reden auswendig (Contr. 3 praef. 15). Er hatte einen Schwärm
von Anhängern und Anbetern. Einer, Argentarius, trieb es in der Nach-
ahmung des Meisters soweit, dass Cestius selbst ihn seinen , Affen" nannte
0 Darauf weist auch eine gezwungene
Nachahmung Vergils (Suas. 3, 4), wo zugleich
die Motive der Nachahmung angegeben wer-
Baodbuch der kl«n. Altertamswlmenachan. vni. 2. Teil, 14
den: solebat autem Fuaeus ex Vergilio multa
trahere, ut Maecenaii imputaret.
210 Römische LitteratiirgeBchiohie. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Ahteilnng.
(Controv. 9, 3 (26), 12). Ein anderer, Alfius Flavus,*) schien den Meister zu
übertreffen, und Cestius sprach nicht mehr gern nach ihm (Controv. 1, 1,
22). Über seine rednerische Fertigkeit bemerkt Seneca, dass ihm als ge-
borenen Griechen manchmal die Worte ausgingen, aber niemals die Ge-
danken (Gontr. 7, 1 (16), 27). Allein dass Cestius nur ein Mann der Schule
war und seine Beredsamkeit nicht dem Leben dienstbar machen konnte,
zeigt der Fall, den wir oben bei Cassius Severus (p. 203) erzählt haben.
Aus den Deklamationen teilt Seneca meist kleinere Bruchstücke mit. Grössere sind :
Suas. 7, 2 CJontrov. 2, 4 (12), 2 2, 5 (13), 2 1, 2, 7. - Liwdnbb, De L. Gestio Fio, Züllichau 1858.
Bei Seneca ist noch eine ganze Reihe von Rhetoren angefahrt, z. B. L. Passienus
Rufus (Kons. 4 v. Gh.), der Vater des C. Passienus Crispns, der mit Galigulas Schwester
Agrippina verheiratet war, (vgl. üher heide Persönlichkeiten Nipperdey, Tacit. Ann. 6, 20),
dann L. Yinicius, P. Vinicius, Triarius, Murredius, Votienus Montanus, Pom-
peius Silo und andere. Über dieselben findet sich das Nötige in den trefflichen Indices
der MüLLEB*schen und EisssLiKG'schen Ausgabe.
337. Analogie und Anomalie in der Rhetorik. Neben den prak-
tischen Übungen, die wir soeben kennen gelernt haben, ging die Ausbildung
der Theorie der Beredsamkeit einher. Gerade damals war eine mächtige
Bewegung auf diesem Gebiet eingetreten. Der Streit über Analogie und
Anomalie der Sprache, der in der Grammatik die grössten Geister wie
einen Caesar beschäftigte (§ 77), übte seine Nachwirkungen auch auf die
Rhetorik aus. Wie dort, so wurde auch hier die Frage lebhaft debattiert,
ob es möglich sei, allgemein gültige Gesetze zu formulieren oder nicht,
ob die Rhetorik eine iniaxrmri oder eine ^txvrl sei, ob ihre Vorschriften
in dem Notwendigen oder in dem Nützlichen ihr Direktiv haben, ob die
Analogie oder die Anomalie für sie das Bestimmende sei. Dieser Gegensatz
fährte zur Bildung zweier Schulen oder Sekten, der Apollodoreer und
der Theodoreer. Die Apollodoreer, welche sich an den berühmten Rhetor
ApoUodoros von Pergamon, den Lehrer des Augustus, anschlössen, be-
kannten sich zur strengen Gesetzesmässigkeit der Rhetorik, die Theodoreer
dagegen, welche in Theodoros von Gadara, dem Lehrer Tibers, ihren Führer
sahen, leugneten die Möglichkeit, allgemein bindende rhetorische Normen
aufzustellen, da alles auf den jeweiligen Fall ankomme. Wie sich der
Streit abspielte, soll durch einige Beispiele veranschaulicht werden. So
stellten die Apollodoreer als ein unumstössliches Gesetz hin, dass die Rede
vier Teile haben müsse, prooemium, narratio, argumentatio, peroratio; dies
bestritten die Theodoreer, indem sie von der Ansicht ausgingen, dass nur
die argumentatio notwendig sei, die übrigen Teile dagegen auch fehlen
könnten. Die Apollodoreer gingen aber in bezug auf die Teile der Rede
noch weiter, sie behaupteten, nicht bloss die Vierzahl, sondern auch die
angegebene Reihenfolge sei unumstösslich; auch diesem Satz traten die
Theodoreer mit dem Einwand entgegen, dass es keine unabänderliche
Reihenfolge der Redeteile gebe. Die Rede betrachteten die Apollodoreer
als ein einheitliches, in sich geschlossenes Kunstwerk und zogen daraus
die Folgerung, dass die verschiedenen Teile der Rede sich nicht wieder-
holen können, dass eine Rede mit zwei selbständigen narraiiones, mit zwei
Prooemia eine Unmöglichkeit sei. Auch von dieser strengen Regel wollten
») über Alfius Flavus als Dichter vgl. § 329, 9.
Die Apollodoreer und die Theodoreer. 211
die Theodoreer nichts wissen und beriefen sich auf die Praxis. Für die
Erzählung schrieben die Apollodoreer Kürze, Deutlichkeit, Wahrscheinlich-
keit vor. Auch an dieser Forderung mäkelten die Theodoreer, indem sie
sagten, es sei nicht immer nützlich, kurz und deutlich zu sprechen. Wir
sehen, wie auf diese Weise sich ein System der Rhetorik bilden musste.
Das positive Schaffen fällt den Apollodoreern zu. Durch die Theodoreer
wurden sie aber veranlasst, immer mehr ihre Sätze itsu vertiefen und gegen
Einwendungen zu schützen. Der Streit scheint nicht ohne tiefe Wirkung
gewesen zu sein; das rhetorische Lehrbuch des Apollodor wurde von
G. Yalgius Bufus ins Lateinische übersetzt (§ 273). Noch bei Quintilian
erkennen wir die Nachwirkungen jener Kontroverse.
Zeugnisse über die Apollodoreer und die Theodoreer. Quint. 3, 1, 17
praecipue tarnen in se converterunt studio Apollodarus Pergamenus, ^ui praeceptor Apol-
loniae Caesaris Augusti fuity et Theodorus Gadareus, qui se dici maluit Rhodium^ quem
studiose audisse, cum in eam insulam secessisset, dicitur Tiberius Caesar, Hi diversas
opiniones tradiderunt appellatique inde Apollodor ei et Theodor ei, ad morem certas in philO'
Sophia sectas sequendi. Strabo 13, 625 G. noXXd ydg inexQtttei, fiei^oya S^ tj xa&* tjfÄtoy
c/ovra Tijv x^iaiy ' tov lern xal ij 'AnoXXodtoQSios «i^eaig xal ij SeodtoQBiog. Über den Streit
belehrt uns am besten der sog. Anonymus Seguerianus (Rhet. gr. ed. Spengel 1, 427),
neuerdings unter dem Titel Cornuti artis rhetoricae epitome von Joannes Grasven, Berl.
1891, in trefflicher Bearbeitung herausgegeben. In einer Abhandlung Hermes 25, 36 habe
ich an der Hand dieser Schrift den Gegensatz der beiden Schulen dargelegt. Über Quin
tilians (theodorischen) Standpunkt in der Frage vgl. Quint. 2, 13, 2.
cf) IHe Philosophen.
338. Die Schule der Seztier. Zur Zeit des Augustus tauchte die
Philosophenschule der Sextier auf; aber sie hatte nur eine kurze Dauer;
kaum entstanden, schwand sie wieder dahin. Der Stifter der Schule war
Q. Sextius, ohne Zweifel ein Mann, der vom Ernst einer hohen Lebens-
aufgabe erfüllt war; auf äussere Ehren hatte er schon unter Cäsar verzichtet
und sich vom Staatsdienst fern gehalten, um völlig seinen Ideen zu leben
(Sen. ep. 98, 13). Aber das Merkwürdige war, dass dieser Mann mit seinen
Lehren auch sein Leben in Übereinstimmung brachte; es wird erzählt,
dass er, wie einst Demokrit, den früher erzielten Gewinn in Athen zu-
rückgestellt habe (Plin. n. h. 18, 274). Die Sprache seiner Schriften war
die griechische, aber der Gedankeninhalt echt römisch. Sie zeichneten sich
überdies durch Lebendigkeit und eine Eindringlichkeit aus, wie sie nur
eine festgewurzelte Überzeugung an die Hand geben kann. Zu diesem
Mann blickte als ihrem Meister eine kleine Gemeinde mit Andacht hinauf.
Zunächst war es der Sohn, der den Spuren seines Vaters folgte; aber
auch Femerstehende fühlten sich von dem merkwürdigen Philosophen in hohem
Grade angezogen; es kam sogar vor, dass der eine oder der andere seinem
glänzenden Beruf entsagte, nur um ungestört der neuen Lehre folgen zu
können. Ein interessantes Beispiel bietet L. Crassicius aus Tarent, der
sich nach einem bewegten Leben der sextischen Schule anschloss. Zuei*st
mit der Bühne und den Bühnenleuten eng liiert leitete er späterhin eine
Schule, welche besonders aus der vornehmen Welt stark besucht wurde, seit
ihm ein Kommentar zu dem dunklen Gedicht des Helvius Cinna, der Smyrna,
grossen Ruhm verschafft hatte. Plötzlich löste er seine Schule auf und
wurde Anhänger der Sextier (§ 251). Auch bei Papirius Fabianus
14*
212 Bömisohe LitteratnrgeBohichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilnng.
erzielte Sextius eine mächtige Wirkung. Dieser war ein Schüler des
Rhetors Arellius Fuscus und gelangte durch seine Deklamationen zu
grossem Ruhm. Er ahmte anfangs den unharmonischen, zwischen Dürre
und Überladung hin- und herschwebenden Stil seines Lehrers nach; allein
nachdem er zu den Sextiern übergetreten, sagte er sich von demselben
los. Jetzt sah er mehr auf die Eindringlichkeit der Gedanken als auf den
Redeschmuck und suchte mehr durch das Ganze als durch gekünstelte
Einzelheiten sich in die Seele des Lesers oder Hörers einzubohren. Dieser
Stil gefiel dem Freund Senecas, Lucilius, nicht, und als er ein Werk des
Fabianus durchgelesen, verhehlte er nicht dem Philosophen die Ent-
täuschung, die ihm die Lektüre bereitete. Darauf hin schrieb Seneca den
an spitzen Wendungen und Antithesen reichen Brief (100), in dem er die
Darstellungsweise des Fabianus verteidigt, dessen reiche philosophische
Schriftstellerei hervorhebt, die an Umfang fast der philosophischen Giceros
gleich komme und ihn in bezug auf die Form gleich nach Cicero, Asinius
Pollio imd Livius folgen lasse. Auch der Vater Seneca beschäftigt sich
mit dem Mann; in der Einleitung zu dem zweiten Buch der Eontroversien
spricht er über dessen stilistische Wandelung, im wesentlichen stimmt sein
Urteil mit dem seines Sohnes überein, nur dass er merkwürdigerweise
noch die Dunkelheit als charakteristisch anführt. Weiter erzählt er uns,
dass Fabianus noch nachdem er „übergetreten" war, der Rhetorik sein
Augenmerk zuwandte und bei Blandus studierte. Auch einige Proben aus
seinen Deklamationen teilt er mit, interessant ist die Stelle, in der der
Philosoph gegen den Luxus der Zeiten eifert (Gontrov. 2, 1 (9), 10). In diesen
Stücken, die wahrscheinlich aus der ersten Periode seines Stils stammen,
ist die Diktion eine rhetorisch gehobene. Späterhin pflegte er statt der
Disputationen die Deklamationen, selbst vor einem grösseren Publikum sprach
er (Sen. ep. 52, 11). Wie bei Sextius, so fällt auch bei Fabianus alles
Schwergewicht auf das Handeln; Seneca konnte daher sagen, Fabianus sei
kein Eathederphilosoph, sondern ein Philosoph von altem Schrot und Korn
(de brev. vitaelO, 1). Sextier war ferner Gornelius Gelsus, über den
wir später eigens handeln werden. Auch der Lehrer Senecas Sotion scheint
Berührungen mit dieser Schule gehabt zu haben.
Schriften der Sextier. Sen. ep. 59, 7 Sextium lego, virutn acrem, graecis
verhis, romanis maribus philosophantem. 64, 2 cum legeris Sextium, dices: vivit, viget^ liber
estf supra hominem est, dimittit me plenum ingentis fiduciae. — Der jüngere Sextius ist
wohl (vgl. Wellhann, Hermes 24,546) Sextins Niger, der über Naturwissenschaftliches
schrieb. Bei Plinius wird er als „diligeniissimus*^ medizinischer Schriftsteller benutzt. Vgl.
Ind. 12—16, 20-30, 32—34. Erotian p. 94 Kl. citiert ein Werk negl vXrjg.
Schriften des Papirius Fabianus. Seneca ep. 100, 9 Ciceronem, cuius libri ad
philosophiam pertinentes paene totidem sunt quot Fabiani, Citiert werden:
1) libri causarum naturalium, mindestens drei Bücher. (Diomedes 375,22.)
2) De animalibus. (Charis. 105, 14.)
3) libri civilium. (Sen. ep. 100, 1.)
In den Quellenverzeichnissen des Plinius erscheint er B. 2, 7, 9, 11 — 15, 17, 23,
25, 28 und 36. Danach muss er auch Botanisches geschrieben haben, vgl. 18,276.
Über seinen Stil: Sen. Controv. 2 praef. 1 und 2 exercehatur apud ÄreUium Fuscum,
cuius genus dicendi imitatus plus deinde laboris inpendit, ut similitudinem eius effugeret quam
inpenderat ut exprimeret, — ab hao (i. e. splendida oratio et magis faseiva quam laeta)
cito se Fabianus separavit et luxuriam quidem cum voluit ahiecit, obseuritatem non potuit
evadere; haec illum usque in philosophiam prosecuta est, — deerat iVi (sc. Fabiano) ora^
torium robur et ille pugnatorius mucro, splendor vero relut t>oluntarius non elaboratae
Die Beztier.
213
arcUioni aderat, Sen ep. 100 mores ille, non verha conposuU et antmis scripsit isia, nan
auribus. — Fabianus nan erat neglegens in oratione, sed securus, itaque nihil invenies
sordidum: electa verba sunt, non captata nee huius sectili tnore contra naturam suam
posita et inversa, splendida tarnen, quamvis sumantur e medio: sensus honestos et magnificos
hohes, non coactos in sententiam, sed kUius dictos. — deest Ulis oraiorius vigor stimidique
quos quaeris, et subiti ictus sententiarum, sed totum corpus videris: quamvis ineomptum,
honestum est, Höfio, De Papirii Fabiani philosophi vita scriptisqne, Bresl. 1852.
839. Die Lehre der Seztier. Wir haben keine Schriften der Sex-
tier, in denen ihre Lehre vorgetragen wird, sind doch überhaupt ausser
denen von Celsus gar keine Werke dieser Schule auf uns gekommen; wir
haben auch keine Darstellung ihrer Lehren von fremder Hand. Was wir
von den Sextiern wissen, beschränkt sich, um von Sotion abzusehen, auf
einzelne meist von Seneca mitgeteilten Sätze. Und diese Sätze erinnern
ungemein stark an die Stoa. Wir führen zwei der bekanntesten an.
Sextius pflegte zu sagen, dass der brave Mann soviel vermöge als Jup-
piter (Sen. ep. 73, 12). Fabianus forderte, dass man gegen die Leiden-
schaften nicht Distinktionen, sondern die innere Olut und Wärme, nicht
Nadelstiche, sondern die Faust einsetze (de brev. vit. 10, 1). Aber viel
wichtiger sind zwei Zeugnisse, welche uns in das Handeln der Sextier
einen Blick thun lassen. Aus dem einen ersehen wir, dass Sextius jeden
Abend eine Art Gewissenserforschung vornahm und sich die Frage vorlegte,
ob er irgend eine schlimme Eigenschaft abgelegt (Sen. De ira 3, 36, 1), aus
dem andern, dass er sich der Fleischnahrung enthielt. ^) Wie uns Seneca be-
richtet (Ep. 108, 17), begründete er diese letzte Massregel mit Humanitäts-
und Nützlichkeitsrücksichten, er erachtete es für eine Grausamkeit, Tiere zu
töten, diese Grausamkeit sei aber ganz zwecklos, da der Mensch der Fleisch-
nahrung nicht bedürfe, und der Gesundheit das Vielerlei der Nahrung gar
nicht zuträglich sei. Von der Begründung des Yegetarianismus mittels
der Theorie der Seelenwanderung, wie sie Sotion gab, war er also weit
entfernt.
Bei einer Schule, welche auf die Beobachtung äusserer Lebensvor-
schriften dringt, kann sich die Spekulation nicht besonders entwickeln.
Wir kennen daher keine neuen Wahrheiten, welche die Sextier dem Schatz
der Philosophie hinzugefügt; es fehlt die treibende Kraft, wie sie nur neue
lebensfrische Ideen erzeugen können. Wie ein Meteor taucht die Sekte
auf, um nach kurzem Glanz wieder zu verschwinden. Offenbar war es
nur die originelle Persönlichkeit des Sextius, auf welcher die Schule ruhte;
mit dem Hinscheiden derselben war es darum auch um sie geschehen;
denn mag die Persönlichkeit noch so machtvoll sein, ihre Spuren verlieren
sich nur zu bald; dem Reich des Geistes allein ist ewige Dauer beschieden.
Sen. n. quaest. 7, 32. 2 Sextiorum nova et romani roboris secta inter initia sua, cum
magno inpetu coepisset, extincta est.
Die griechische Spruchsammlung des sog. Sextus. Im 2. oder 3. Jahrh.
n. Ch. legte ein Christ sich eine SentenzensammJnng in griechischer Sprache an; er be-
nutzte zwar die Evangelien, aber er vermied es, spezifisch christliche Anschauungen zu
berühren und den Namen Christus zu gebrauchen. Aoer der Monotheismus durchdringt die
ganze Sammlung. Von den Sprüchen sind manche bemerkenswert; so enthält z. B. der
Spruch nr. 274 (p. 46) G. : grandem poenam putato, cum desideriis öbiinueris; nunquam enim
compescit desiderium possessio desideratorum eine Wahrheit, welcher Schopenhaueb eine
') Mit Recht betrachtet Zelleb, Griech.
Philos.' 3, 1 p. 681 diese zwei Dinge als das
am meisten Charakteristische der Sextier-
schule.
214- BOmisohe Litteratargesohiohte. TL, Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
grossartige Vertiefung gegeben. Diese griechische Sammlung begegnet uns saierst unter
dem Titel £e^tov yrtofiai bei Origenes c. Gels. 8, 30, sie ist jetzt verloren. Ein Auszug ist
aber in andere Sammlungen übergegangen (Boissonadb, Anecd, 1, 127); auch werden
einzelne Aussprüche sonst noch angeführt, z. B. von Porphyrios in der epistula ad Mar-
cellam. Wer war dieser Sextus? Obwohl der Verfasser nur Sextus genannt wird (nicht
Sextius), so hat man ihn doch mit einem der Sextier identifizieren wollen; so betrachtet
z. B. Ott (Charakter und Ursprung der Sprüche des Philosophen Sextius, Rottweil 1861 ;
Die syrischen auserlesenen Sprüche, ebenda 1862 und 1867) den jüngeren Sextius als Ur-
heber, der das ursprüngliche System der Sextier durch pythagoreische und jüdische Elemente
modifiziert habe. Allein von einer solchen Umbildung oder vielmehr Neubildung des
Systems durch den jüngeren Sextius wissen wir nichts. Auch ist ja stets zu beachten,
dass vor dem 3. Jahrb. sich keine Spuren der Sammlung finden. Dieselbe hat also nichts
mit den Sextiem zu thun. Aller Wahrscheinlichkeit nach hiess aber der Verfasser Sextus.
Dies hat dann wohl Anlass gegeben, einen li^toq Uv^ayogiKos tpiXoaotpos auf 1 n. Gh. an-
zusetzen, vgl. Eusebius 2, 144 Sch.
Die lateinische Spruchsammlung. Die griechische Sentenzensammlung wurde
im 4. Jahrhundert von Rufinus ins Lateinische übertragen. In einem Brief an seinen
Sohn gibt er einige Aufschlüsse über das übersetzte Werk, besonders interessant ist
es, dass er als eine verbreitete Meinung anführt, dass der Sextus identisch sei mit
Xystus, dem Bischof von Rom und Märtyrer (nämlich Sixtus II 256—258). Er fügt seiner
Üoersetzung auch selbst einige Lehren des für seine Tochter bestimmten Büchleins hinzu:
addidi praeterea et electa quaedam religiosi parentis ad filiam, sed breve totum, ut fnerito
omne opusculum vel enchiridionf si Graece, vel anulus, si Latine appelletur. Diese
Übersetzung ist, mit Ausnahme des von Rufinus hinzugefügten Teils, auf uns gekommen.
Ziu* Erklärung des Titels „Anulus*^ sind noch die vorausgehenden Worte heranzuziehen:
nunc ergo Interim hdbeatur in manibus pro anulo Jiber.
Die syrische Spruchsammlung. Auch in das Svrische wurde die griechische
Sammlung übertragen. Wir haben zwei Versionen, eine stellt eine Auswahl dar und führt
den Titel , Auserwählte Sprüche des h. Xystus, Bischofs von Rom*, eine andere gibt die
ganze Sammlung. — Hauptschrift: Sexti sententiarum recensiones latinam graecam sytHacas
coniunctas exkäuit J. Gildeheisteb, Bonn 1873.
£) Die Fachgelehrten,
a. Die Philologen.
1. M. Verrius Flaccus.
340. Biographisches. — Verlorene Schriften. Der berühmteste
Lehrer der augusteischen Zeit war M. Verrius Flaccus. Seine Methode
war eine charakteristische, sie ging auf Erregung des Ehrgeizes der Ler-
nenden hinaus, zu dem Zweck veranstaltete er Wettkämpfe mit Preis-
verteilungen unter seinen Schülern; die Sieger erhielten ein kostbares oder
seltenes Buch. Zuletzt wurde er sogar als Prinzenerzieher an den kai-
serlichen Hof berufen, wo er den Unterricht der Enkel des Augustus
Gaius (20 v. Ch. — 4 n. Ch.) und Lucius (17 v. Ch. — 2 n. Ch.) leiten sollte.
Verrius verlegte daher seine Schule in den kaiserlichen Palast; er durfte
aber fortan keine neuen Schüler mehr aufnehmen; entschädigt wurde er
jedoch durch ein hohes Honorar, 100,000 Sesterzien im Jahre. Allein Ver-
rius war nicht bloss ein ausgezeichneter Lehrer, sondern er war auch ein
hervorragender Philologe. Um Grammatik und Erforschung des antiken
Lebens hatte er sich hohe Verdienste erworben. Leider sind diese Schriften
fast alle verloren gegangen, nur eine ist handschriftlich überkommen, von
einer andern haben sich Überreste auf Steinen erhalten. Wir meinen den von
ihm zusammengestellten Kalender, den er in Marmortafeln eingraben und
auf dem Forum in Praeneste aufstellen liess (Fasti Praenestiui). Es
ist eine sehr wahrscheinliche Vermutung, dass die Erläuterungen, welche
diesem Kalender beigeschrieben sind, aus einem Handbuch, einem ge-
M. Yerrina Flacciui. 215
schriebenen Kommentar des Verrius Flaccus zu dem Kalender ausgezogen
wurden und dass dieses jetzt leider verlorene Werk auch Ovid bei Ab-
fassung seiner Fasti als Führer diente. In sinnreicher Weise hat man
späterhin, um den Gelehrten zu ehren, seine Statue bei dieser Marmortafel
aufgerichtet. Hochbetagt starb Verrius unter der Regierung des Tiberius.
Die biographischen Notizen verdanken wir Säet. gr. 17. Die Fasti Praene-
stini sind erläutert von MoMHSEy CIL. 1, 363. Den Gedanken, dass noch ein kommen-
tierter, dem Ovid vorgelegener (§ 303) Bachkalender des Verrius anzunehmen sei, macht
sehr wahrscheinlich Wintheb, De Fastis Verrii Flacci ab Ovidio adhibitis, Berl. 1885.
Verlorene Schriften. Hier ist alles Nötige von 0. MDlleb p. XIII zusammen-
gestellt worden:
a) OrammatiBohes. Verrius schrieb:
1) De obscuris Catonis. Die Schrift wird lediglich von Gellius 17,6 (und zwar
das 2. Buch) erwähnt. Dieselbe ist in den zweiten Schichten des Werks de verborum
significatu benutzt, wie dies deutlich der Vergleich der Gellianischen Stelle mit der Glosse
Recepticium servum erweist.
2) De orthographia. Gegen diese Schrift richtete der Grammatiker Scribonius
Aphrodisius, der Schüler und Sklave des Orbilius, den die Gemahlin des Augustus, Scri-
bonia, loskaufte und freiliess, eine heftige Schmähschrift (Suet gr. 19). Benutzt ist diese Mo-
nographie bei Velins Longus de orthogr. und andern Grammatikern.
3) Epistulae. Dass Verrius auch die Briefform für grammatische Untersuchungen
wählte, bezeugt Serv. Aen. 8, 423 ; aus dieser Stelle fällt ein Licht auf seinen grammatischen
Standpunkt, er beruft sich für ein praeceptum auf exetnpla, auctoritcis und ratio. Es liegt
also eine Vermischung der Analogie und Anomalie vor.
b) Sakrales. Hier ist anzuführen:
Saturnus. Nach Macrob. 1,4,7 war in diesem namentlich citierten „HbeUus** das
Fest der Satumalia besprochen.
Viel Sakrales, besonders nach der ätiologischen Seite, behandelte der Buchkom-
mentar zum Kalender.
c) HistoriBohea. Auf diesem Gebiet haben wir den Verlust von folgenden Schriften
zu beklagen:
1) Rerum memoria dignarum libri. Das erste Buch erwähnt Gellius (4,5).
Auch für Plinius war es allem Anschein nach eine ergiebige Quelle, es wird gemeint sein,
wenn Plinius den Verrius Flaccus in den Indices 3, 7, 8, 14, 15, 18, 28, 29, 33, 34, 35
aufführt. Damit stimmt, was im Text dieser Bücher unter seinem Namen vorgebracht wird.
2) Etruscarum (rerum) libri. Schol. Veron. zu Verg. p. 103 Keil.
341. Verrius Flaccus de yerboram significatu. Die einzige, wenn
auch in Trümmern uns erhaltene Schrift des Verrius Flaccus sind die
ausserordentlich wertvollen lexikalischen Bücher. Im Laufe der Zeit hatte
sich bei den Römern eine sehr reiche gelehrte Litteratur ausgebildet.
Auf Sprache, Kultus, Staatswesen, Recht hatte sich die Forschung ge-
worfen. Das Material, das in vielen Werken aufgespeichert vorlag,
war so weitschichtig geworden, dass der Gedanke nicht ausbleiben konnte,
die veralteten und nicht mehr recht verständlichen oder selten ge-
wordenen Worte aus den verschiedenen gelehrten Autoren auszuheben
und mit Erläuterungen in lexikalischer Anordnung dem Leser darzubieten.
Diesen Gedanken führte Verrius Flaccus durch in einem Werk mit dem
Titel „De verborum significatu^. Leider ist diese Fundgrube echter Gelehr-
samkeit vom Schicksal hart mitgenommen worden. Einem späteren Ge-
schlecht war das mit freigebiger Hand ausgestreute Material drückend
geworden, es sehnte sich nach Erleichterung. Pompeius Festus, ein
jüngerer Grammatiker, ein anmassender Mensch ohne besonderes Wissen,
brachte daher das umfassende Werk in einen Auszug von 20 B., er
merzte viele Glossen, die sich auf ganz veraltete Worte bezogen, aus
und kürzte die aufgenommenen. Weiter hinaus ging seine Thätigkeit
216 BOmiaohe Litteraturgeschiohte. TL, Die Zeit der Monarohie. 1. Abieilong.
nicht. Zwar wollte er anfangs seine dissentierenden Ansichten einschalten,
allein er besann sich eines Besseren und sparte dieselben für ein zweites
Buch auf, das den Titel priscorum verborum cum exemplis führen sollte.
Merkwürdigerweise widerfuhr dem Festus dasselbe Los, das er dem Ver-
rius bereitet hatte, in einer Zeit, die noch weniger Ansprüche an Gelehr-
samkeit erhob, wurde auch er zusammengezogen; es geschah dies Ende des
8. Jahrh. von Paulus. Allein damit sind die widrigen Schicksale des Yer-
rius noch nicht erschöpft. Von dem Auszug des Festus ging uns die erste
Hälfte verloren, und auch die zweite ist nicht ohne Schaden geblieben.
Wir müssen daher in den ersten Partien bei dem Epitomator Paulus Er-
satz suchen. Dies die Unglücksgeschichte des glossographischen Werks.
Aber auch noch im Innern des Werks verbirgt sich ein Stück Geschichte,
nämlich die Geschichte von der Genesis desselben. Die Glossen sind unter
die betreffenden Buchstaben des Alphabets eingereiht; innerhalb der ein-
zelnen Buchstaben heben sich aber deutlich zwei Schichten ab; in der
ersten werden die Glossen nach dem zweiten, manchmal auch noch nach
dem dritten Buchstaben zu Gruppen vereinigt, wir finden Gruppen z. B.
unter bo, ba, ge u. s. w. Aber eine streng alphabetische Anordnung, wie
wir sie heutzutag in unsern Wörterbüchern herstellen, ist nicht durch-
geführt. Auf diese Schicht, die wir die alphabetisch gruppierte nennen
wollen, folgte eine zweite, welche dieses Prinzip der Anordnung nicht
kennt. Es treten aber bestimmte Massen heraus, catonische Glossen, Er-
läuterungen von Werken der dramatischen Dichter, endlich Sakrales, für
welche letzte Partie sogar neue Quellenschriftsteller, Yeranius, Labeo
und der Augur Messalla erscheinen. Welches ist nun das Verhältnis der
ersten Schichten zu den zweiten? Von wem rühren die letzten her?
Aller Wahrscheinlichkeit nach von Verrius Flaccus selbst. Es sind die
Materialsammlungen, die er sich angelegt, die ebenfalls unter alphabeti-
sche Gruppen gebracht und dem Werk eingereiht werden sollten. Allein
diese Absicht blieb unausgeführt, vermutlich weil ihn der Tod mitten in
der Arbeit überraschte. Sonach wären die glossographischen Bücher des
Verrius ein Werk seiner letzten Lebenszeit, mit denen er nicht zu Ende
gekommen. Erst eine fremde Hand hätte die in bestimmten Massen ge-
schiedenen Materialsammlungen mit dem wenn auch nicht endgültig ab-
geschlossenen, doch relativ fertig gewordenen Bestandteil vereinigt und
so die zwei Schichten geschaffen, ein unharmonisches Werk.
Die Lebenszeit des Festus. Über die Zeit, in der Festus lebte, sind wir auf
Vermutungen angeidesen; Gharisius citiert 1,220 Porphyrio ex Verrio et Festo, Man wird
dieses Citat dahin interpretieren müssen, dass bereits Porphyrio den Verrius in der Be-
arbeitung des Festus citierte, demgemäss wäre er vor Porphyrio, der wahrscheinlich im
4. Jahrh. (§ 265, 1 Anm.) lebte, anzusetzen.
Des Festus Verfahren beleuchtet folgende Stelle (p. 218, 1): euitia (sc, Verrii)
opinionem neque in hoc neque in aliis compluribus refutare minime necesse est, cum pro-
positum habeam ex tanto librorutn eius numero intermortua iatn et sepuüa verba atque
ipso saepe confitente nullius usus aut auctoritatis praeterire et reliqua quam brevissime
redigere in libros admodum paucos ' ea autem, de quibus dissentio, et aperte et breviter,
ut sciero, scripta in iis libris meis invenientur^ <qui> inscrtbuntur priscorum verborum
cum exemplis. (Nettleship, Lectures and Essays p. 201.)
Der Epitomator Paulus. Dass der Epitomator Paulus identisch mit dem be-
kannten Paulus Diaconus ist, daran hat mit Recht gegen BsTHifAim Waitz festgehalten
(Gott. Gel. Anz. 1876 p. 1520). Vgl. jetzt des weiteren Neff, De Paulo Diacono Festi
Der Bibliothekar C. Julius Hyginus. 217
epUomatoref Leipz. Dias. 1891. Die Exzerpte ans Festns kehren auch in den übrigen Schriften
des Paulus wieder (Neff p. 35); dann zeigt die Vorrede des Auszugs die gleichen stilisti-
schen Eigentümlichkeiten wie die übrigen Schriften des Paulus (Nbff p. 37); endlich spricht
für die Identität die Widmung des Auszugs an Karl den Grossen.
Die zwei Teile des Werks. Die zwei Schichten hat zuerst 0. Müllbb erkannt
(p. XVI). Das Verhältnis derselben zu einander bestimmt er dahin, dass er in der zweiten
Schicht Zusätze des Festus erblickt, die er aber, urie man aus seinen Worten (p. XXXI)
folgern muss, nicht mit den verlorenen Büchern prisearum rerborum als identisch erachtet.
Eine wesentliche Verbesserung erhielt diese Hypothese durch Hoffkakn (De Festi de
rerborum significatione lihria qutiest.f Königsb. 1886); auch er führt die zweite Schicht auf Festus
zurück, allein er betrachtet sie lediglich als Materialsammlungen für die angekündigten libri
priscorum verborum, nur durch einen Zufall seien sie mit seiner Epitome aus den libri de
verbarum aignificatu vereinigt worden (p. 48). Durch diese Formulierung fand die un-
organische Art des ganzen Werks zwar eine Erklärung, allein weder passt diese zweite
Schicht zu den angekündigten libri priscorum verborum noch überhaupt zu dem Bild des
Festus, das sich unwillkürlich aus der vorliegenden Bearbeitung des Verrius Flaccus heraus-
gestaltet. Da nichts in diesen zweiten Teilen über die Zeit des Verrius Flaccus hinausführt,
so teilt Rbttzensteik (Verrianische Forschungen, Bresl. 1887 [1 Bd. 4 H. der Bresl. Abb.])
dieselben Verrius selbst zu, eme Ansicht, die zwar auch 0. Müllbb angedeutet, aber zu-
gleich als weniger wahrscheinlich verworfen hatte (p. XXIX). Mit Hoffmahn stimmt er
in der Annahme überein, dass erst von fremder Hand die zweiten Schichten hinzugefügt
wurden, weiterhin darin, dass er dieselben ebenfalls für Materialsammlungen hält. Reitzbn-
STEiN differiert aber von HoFFKAim insofern, als nach ihm diese Exzerpte des Verrius be-
stimmt waren, ebenso alphabetisch gruppiert und in die bereits vorhandene Sammlung ein-
verleibt zu werden, ein Plan, |der aber unausgeführt blieb.
Textesgeschichte. Das Werk des Festus erhielt sich in einem einzigen Codex,
dem Famesianus (s. XI), welcher sich jetzt in Neapel befindet. Aber von diesem Codex
waren bereits um 1477, als er in die Hände des Manilius Rhallus kam, die Quatemionen
1 — 7 verloren gegangen, so dass nur noch die Quatemionen 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16
vorhanden waren, welche von der Mitte des Buchstabon M bis etwa zur Mitte des Buch-
staben V reichen. Allein auch diesen fehlten Blätter, femer hatten die Ränder durch
Feuer und Schere Schaden genommen. Es kam ein neuer Verlust; die Quatemionen 8.
10. 16 verschwanden. Hier müssen wir auf die Abschriften (z. B. des Angelus Politianus,
des Pomponius Laetus) und die darauf basierenden Ausgaben zurückgreifen, welche damals
gemacht wurden. Von des Paulus zahlreichen Handschriften sind die wichtigsten Monac.
14734 s. X/XI, Leidensis-Vossianus 116, Trecensis 2291 s. X/XI.
Ausgabe von 0. Müllbb, Leipz. 1839; von dem Ungarn Thewkewk, Post 1889.
2. Der Bibliothekar C. Julius Hyginus.
342. Biographisches. Über die Nationalität des C. Julius Hyginus
war im Altertum eine doppelte Ansicht vorhanden; die einen hielten ihn
für einen Spanier, die andern gaben Alexandria als seine Heimat an, und
wussten noch im Besondern zu berichten, dass er von Caesar nach der
Einnahme Alexandrias mit nach Rom genommen worden sei. Vielleicht
ist diese doppelte Angabe dadurch zu erklären, dass Hyginus in Spanien
geboren, aber frühzeitig nach Alexandria kam. Die Notiz, dass er von
da durch Caesar nach Rom gelangte, klingt zu bestimmt, um als Erfindung
zu gelten. C. Julius Hyginus war ein Schüler des Polyhistors Alexander.
Freigelassener des Augustus wurde er später Vorstand der palatinischen
Bibliothek und erteilte Unterricht; einer seiner Schüler war Julius Mo-
destus. Befreundet war Hygin mit dem Dichter Ovid und mit C. Clodius
Licinus, dem Consul suffectus des J. 4 n. Ch., der mit dem Historiker (Liv.
29, 22, 10) identisch ist (§ 331, 5).
Hauptquelle: Sueton. gr. 20 C. Julius Hyginus, Augusti libertus, natione Hispanus
(nonnulli Alexandrinum putant et a Caesare puerum Romam adductum Alexandria capto)
studiose et audiit et imitatus est Comelium Alexandrum grammaticum Graecum.
343. Hygins landwirtschaftliche Schriften. Wir finden deren
zwei erwähnt, eine über den Ackerbau (de agri cultura) und eine
218 Bömische Litteratorgeschichte. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
über die Bienen (de apibus). Man hat die letztere Schrift als einen
Teil der ersteren betrachten wollen, allein in diesem Fall passt d^r Titel
„de agri cultura'' nicht mehr, man würde vielmehr dann als Titel „de re
rustica" erwarten. Hygin wird von Columella „ Meister (paedagogus)'^
Vergils in der Landwirtschaft bezeichnet. Diese Bezeichnung wird dahin
zu erklären sein, dass Vergil in seinen Georgica die Schriften Hygins als
Quelle benutzte. Ist dies richtig, so müssen die landwirtschaftlichen
Werke Hygins vor Vergils Georgica, also vor 37/36 fallen (§ 226) ; da aber
diese in Varros landwirtschaftlicher Schrift, welche im J. 37 herausgegeben
wurde, nicht erwähnt werden, so werden sie wohl um die Jahre 37/36
verfasst sein; denn das Studium derselben wird doch der Vergilischen
Dichtung vorausgegangen sein. Von der landwirtschaftlichen Schrift werden
zwei Bücher citiert (Charis. p. 142). Vermutlich waren in diesen zwei
Büchern Ackerbau und Kultur der Nutzpflanzen erörtert. Viehzucht war
dagegen, wie es scheint, nicht berücksichtigt; denn Plinius citiert Hygin,
den er sehr ausgiebig (10—22) benutzt hat, nicht als Quelle in dem
Buche, in dem er von den Haustieren handelt, auch ist auffallend, dass
Vergil in der Lehre über die Viehzucht im wesentlichen Varro folgt.
Des Autors Quellen werden meist Griechen gew^en sein; auf Nicander
deutet die von Columella 11, 3, 62 angeführte Stelle. 0 Dass er aber auch di6
Römer nicht verschmähte, beweist eine andere, ebenfalls von Columella bei-
gebrachte Stelle (3, 11, 8), aus der man ersieht, dass für Hygin auch Tremellius
Scrofa (§ 202) Fundgrube gewesen ist. Die Schrift über die Bienen*) war die
erste lateinische Monographie über diesen Gegenstand. Columella charakteri*
siert diese Schöpfung als eine fleissige Arbeit, welche das bei verschiedenen
Autoren (natürlich besonders Griechen) zerstreute Material gesammelt habe.
Weiterhin teilt uns Columella mit (9, 2, 5), dass Hygin auch Dinge be-
rührte, welche mehr für den Naturforscher als für den Landmann Interesse
haben, endlich, dass er Mythologisches stark beigezogen habe. Ausser
Vergil verwertete den Hygin Plinius in den entsprechenden Partien der
Bücher 11 und 21.
Die Schriftsteller, welche vor Hygin die Landwirtschaft behandelten,
waren Landwirte; wenn sie auch Bücher zu Hilfe nahmen, so stand ihnen
doch immer noch die Erfahrung zur Seite. Hygin besass kein Gut, denn er
war so arm, dass er auf Unterstützung befreundeter Personen angewiesen
war. Er war Buchgelehrter und als solcher schrieb er über landwirtschaft-
liche Dinge. Durch ihn ward zum erstenmal die Landwirtschaft
reine Buchgelehrsamkeit, eine für diese Disziplin verhängnis-
volle Wendung.
Columella zählt 1, 1 die landwirtschaftlichen Autoren auf; nachdem er den Vergil
genannt, fährt er fort (1, 1, 13): nee postremo quasi paedagogi eius meminisse dedignemur,
Jülii Uygini. 9, 2, 1 Hyginus veterum auctorum placita secretis dispersa monumentis in-
dustrie collegU — atque ea, quae Hyginus fahulose tradita de originibus apum non inter-
misit, poeficae mayis licentiae quam nostrae fidei concesserim. — Reitzenstein, De scrip-
torum rei rusticae libris deperditis p. 18 (die Citate der Fragmente p. 53). Unobr, Der
sog. Cornelius Nepos p. 91. Reisch über die Monographie de apibus (Comm. Gryphisw.
1887 p. 42).
0 Vgl. mit dem Fragm. des Nicander bei
Athen. 9, 369 b.
2) Colum. 9,13,8.
Der Bibliothekar C. Jnliiui Hyginas. 219
344. Hygins philologische Kommentare. Wir haben Kunde von
zwei Kommentaren erhalten; es sind dies
1. Der Kommentar zum Propempticon Pollionis von Helvius
Cinna. Als Asinius Pollio eine Studienreise nach Griechenland antrat,
schrieb Helvius Cinna ein Geleitsgedicht; in der alexandrinischen Poesie
waren ja solche Propemptica nicht ungewöhnlich. Nun war aber Helvius
Cinna durchaus poeta dodus^ und zwar in einer Weise, dass seine Gedichte
einen Kommentar notwendig machten. Wie sein Hauptwerk die Smyrna,
so wurde auch sein Propempticon kommentirt. Den Kommentar zum letz-
teren Gedicht verfasste Hygin; eine Stelle teilt Charis. p. 134 mit, an der-
selben wird die Reiseroute berichtet. (§ 107).
2. Der Kommentar zu Yergil bestand aus mindestens 5 Büchern
(Macrob. 6, 9, 7). Aus einem Auszug des Gellius (10, 16) erfahren wir,
dass in diesem Werk besonders Schwächen der Aeneis aufgespürt waren;
allein sie wurden nicht unter dem Gesichtspunkt der Feindseligkeit vor-
getragen, sondern der Grund der Unvollkommenheiten wurde in der Nicht-
vollendung der Aeneis gesucht. Wenn, was wahrscheinlich, auch in dem
Kommentar Hygins wie in dem betreffenden Kapitel des Gellius eine
Reihe von tadelnswerten Stellen zugleich behandelt war, so müsste
man annehmen, dass der Kommentar nicht ein zusammenhängender war,
sondern in verschiedenen Kapiteln verschiedene Fragen erörterte. Auch
auf Kritisches ging derselbe ein; für eine Lesart (Ge. 2, 247) berief er
sich auf eine Handschrift, welche aus dem Hange Vergils stammte (Gell. 1,
21). Diese Stelle zeigt uns zugleich, dass nicht bloss die Aeneis, sondern
auch die Georgica Objekt der Forschungen Hygins waren.
Die verschiedenen Stellen, in denen der Vergilkommeniar citiert ist, untersucht im
einzelnen Ribbeck, Proleg. Vergil.ji. 117. Leichtfertig ist der Versuch, den Boroius machte
De temporibiis etc. Halle 1875 p. 27 Anm., um den Augusteer Hygin als Vergilkommentator
zu beseitigen.
345. Hygins historische und geographische Werke. Die Citato
der Autoren führen auf folgende Schriften:
1. Über berühmte Persönlichkeiten (de vita rebusque in-
lustrium virorum). Unter diesem Titel findet sich ein Gitat bei Gellius
1, 14, 1; es wird dort das 6. Buch, in dem die Rede von C. Fabricius war,
angeführt. Allein bei Asconius p. 12 KS. kommt ein „liber prior" eines
Werks Hygins »de viris claris* vor. Es fragt sich, wie sich beide lite-
rarische Produkte zu einander verhalten. Da offenkundig die Materie in
beiden dieselbe ist, so wird man das letztere aus zwei Büchern bestehende
als einen Auszug aus dem ersteren, mindestens 6 Bücher umfassenden an-
zusehen haben. Der Vorgang Varros wird hier bestimmend eingewirkt
haben.
Die Hypothese Üngers, das unter dem Namen des Cornelius Nepos bekannte Feld-
hermbuch sei von Hygin, ist, wie wir § 124 gesehen haben, nicht haltbar; auch seine
Konstruktion des Hygin'schen Werks (I de historicis graecis; II de historicis romanis;
III de regibus graecis; lY de regibus romanis; Y de imperatoribus graecis (das Feldherrn-
buch); YI de imperatoribus Romanis; YII de Romanis in toga claris) ist nicht möglich;
ebenso ist die Ansicht, dass von Asconius nur ein besonderer Teil des ganzen Werks
(die Nr. Y und YI) citiert werde, unrichtig (der sog. Cornelius Nepos p. 222 fg).
2. Exempla. Unsere Kenntnis dieser Schrift beruht auf einer ein-
zigen Stelle, Gell. 10, 18, 7, in der von dem Wettkampf erzählt wird, den
220 Römische Litteratnrgeschichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Artemisia zu Ehren des Mausolus veranstaltete, und zu dem sich Theo-
pompus, Theodectes, Naucrates einfanden.
3. De familiis Troianis. Es ist bekannt, dass mit der Äneassage
sich auch das Bestreben vornehmer römischer Familien verband, ihre Stamm-
bäume auf trojanische Helden zurückzuführen. Die Geschichtschreibung
unterstützte vielfach dieses Streben, bereits Varro hatte über die trojani-
schen Familien geschrieben (§ 187). Nach Servius Aen. 5, 389 wurde die
Hygin'sche Monographie von Vergil zu Rat gezogen.
4. Urbes Italicae. Aus Servius und Macrobius erhalten wir Frag-
mente einer Schrift über die italischen Städte. Soweit sich nach diesen
Fragmenten ein Schluss machen lässt, war die mjrthische Seite der Be-
trachtung stark vorgekehii. An einer Stelle (Macrob. 1, 7, 19) wird als sein
Gewährsmann Protarchus von Tralles genannt. Vermutlich schöpfte er
viel aus dem verwandten Werk «Italisches^ seines Lehrers Alexander
Polyhistor.
Eine Schwierigkeit bildet, dass Plinius nicht bloss für das dritte Buch, welches die
Geographie von Italien darstellt, sondern auch für das vierte, fünfte und sechste, in denen
er andere Länder durchgeht, Hygin unter den Quellen anführt. Demnach glaubt Unoeb
(Der sog. Cornelius Nepos p. 211) im Anschluss an Bursian (Fleckeis. J. 93, 768 Anm. 14),
dass nur das zweite Buch, das Macrobius mit den Worten in libro secundo urbium er-
wähnt, sich auf die italischen Städte bezog, in den übrigen Büchern die Städte anderer
Länder behandelt waren. Allein dem widerspricht das ausdrückliche Zeugnis des Servius
Aen. 7, 678 de civitatibus totiua orbis muUi quidem ex parte scripserunt, ad pJenum tarnen
Ptolemaeus graece, latine Plinius. de Italicis etiam urhibus Uyginus plenissime scripsU
et Cato in originibus; apud omnes tarnen^ si diligenter advertas, de auctoribus conditarum
urbium dissensio invenitur, ade<^ ut ne urbis quidem Romae origo possit diligenter agnosei.
Diesem bestinmiten Zeugnis gegenüber kann jene Anführung Hjgins für andere Länder als
Italien bei Plinius nicht in die Wagschale fallen, da hier der Autor auch für Nebensäch-
liches verwertet sein konnte.
846. Antiquarische Schriften. Schon die Bücher über die troja-
nischen Familien und über die italischen Städte griffen, wie es scheint,
stark ins antiquarische Gebiet über. Bein antiquarischen Charakters sind:
1. Über die Eigenschaften der Götter (de proprietatibus
deorum). Nur aus Macrobius (3, 8, 4 und 3, 2, 13, an welcher Stelle „Hyllus"
MoMMSEN in «Hyginus'' verbessert), bekannt.
2. Über die Penaten (De dis Penatibus), ebenfalls nur durch
eine Stelle des Macrobius (3, 4, 13) zu unserer Kenntnis gekommen.
Obwohl Hygin so viele Gebiete bebaut, ist er doch in keinem bahn-
brechend gewesen; er lehnt sich stets an Muster an; so ist ihm für das
Buch »über berühmte Personen" und die „Beispiele** Cornelius Nepos voran-
gegangen; eine Monographie über die trojanischen Familien hatte auch
Varro verfasst, in seiner Geschichte der Italischen Städte konnte er sich an
seinen Lehrer anschliessen, seine sakralen Schriften hatten ihr Vorbild in
Werken Varros und des Nigidius Figulus, in den landwirtschaftlichen
Büchern scheint er besonders Griechen gefolgt zu sein.
3. Der Mythograph Hyginus.
347. Die unter dem Namen Hygins erhaltenen Schriften. Von
den Schriften, welche wir eben vorgeführt haben, ist ausser einigen Frag-
Der Mythograph Hyginna. 221
menten nichts gerettet; dagegen sind zwei Werke auf uns gekommen,
welche zwar nicht den vollen Namen, aber doch den Namen Hyginus als
Autor geben, nämlich ein astronomisches und ein mythologisches
Handbuch. Dass beide Werke wirklich von einem Verfasser herstammen,
kann erwiesen werden. In der , Astronomie* sagt der Verfasser 2, 20 bei
der Erwähnung des goldenen Vliesses, dass er darüber an einem andern
Ort sprechen werde. Dies ist in der That in der dritten Fabel der My-
thologie geschehen. Allein der Verfasser der Astronomie weist noch auf
ein bereits erschienenes Werk hin; 2, 12 sagt er, dass er „in primo libro
Genealogiarum*^ über den erwähnten Gegenstand gehandelt habe. Mit diesen
Worten erhalten wir ein drittes, wohl aus mindestens drei Büchern be-
stehendes Werk, welches den Titel „Genealogiae* führte. Aus den
Citaten ergibt sich zugleich die zeitliche Reihenfolge der drei Schriften:
Genealogien, Astronomie, Mythologie. Auch diese neugewonnene
dritte Arbeit ist nicht verloren gegangen; sie ist im Auszug vorhanden. Das
mythologische Handbuch enthält nämlich auch Bruchstücke von Genea-
logien, so z. B. gleich im Eingang. Es ist daher eine sehr wahrschein-
liche Annahme, dass Hygins Genealogien im Auszug mit der mythologi-
schen Schrift verbunden worden sind. Die Vereinigung der beiden Werke
wurde durch die Verwandtschaft des Inhalts nahe gelegt. Dieselbe war,
wie es scheint, bereits vollzogen, als im J. 207 ein Lehrer Stücke daraus
ins Griechische übersetzte; denn das für seine Übersetzungen benutzte Werk
wird, „als die allen bekannte Genealogie* bezeichnet; dasselbe enthält
aber auch Stücke von nicht genealogischem Charakter, welche wir in un-
serem Handbuch nachweisen hönnen.
Die Verweisungen in der Astronomie. Es sind drei Stellen, an denen
in der Astronomie auf ein künftiges Werk hingedeutet wird; 2, 34 aed quae post
mortem eiua Diana fecerit, in eius hiatoriia dicemus; allein hier hat Bubsian p. 766
mit Recht statuiert, dass Hyginus diese Verweisung in voller Gedankenlosigkeit
aus seiner Quelle (Istros) herübergenommen; 2, 12 Euhemerua quidem Gorgonam a Mi-
nerva dicit interfectam, de qua (die Überlieferung schwankt zwischen quo und qua) alio
tempore plura dicemus. Dieses Citat will Bubsian (p. 763, 5), indem er bei qua an Mi-
nerva denkt, gleich auf das folgende Kapitel beziehen, wozu aber alio tempore
schlecht passt. Die dritte oben angeftlhrte Stelle 2, 20 quem Hesiodua et Phereeydes
ait habuisse auream pellem, de qua alibi plura dicemus lässt dagegen eine völlig zutreffende
Deutung auf fab. 3 p. 33 B. zu. Wir müssen daher annehmen, dass Hygin damals, als
er die Astronomie schrieb, mit dem Plane eines dritten Werks umging und dieses Werk
im Auszug uns noch vorliegt. Auf dasselbe ist vielleicht auch 2, 42 zu beziehen. (Zweifel
äussert DiETZE p. 24.)
Die Genealogien scheinen noch an einer anderen Stelle citiert zu sein: 2, 17
a quibus (nntricibus nymphis) eum (Liberum) nutritum et nostri in progenie deorum ei
complures Graeci dixerunt; denn statt nostri ist mit Robebt (p. 234) wohl nos (Schbffeb:
nos ipsi) zu schreiben. Infolge dieser Korrektur setzt Robebt das Citat in Beziehung zu
dem genealogischen Fragment 182. — Vermutungen über den Inhalt der wohl über zwei anzu-
nehmenden (doch vgl. Bubsian p. 762) Bücher der Genealogien deutet Bubsian p. 773 Anm. 24 an.
Bursians Ansicht Die Anschauung, dass in der Astronomie nur auf die Genea-
logien hingezeigt werde und dass mit diesem Auszug aus den Genealogien ein nicht von
Hygin herrührender Abriss des mythologischen Stoffs aus verschiedenen Quellen verbunden
wurde, dass demnach nur zwei Werke, die Astronomie und die Genealogien, Hygin ange-
hören (vgl. Bubsian p. 773), hat mit Recht Robebt zurückgewiesen (Eratosthen. Cataste-
rism. p. 235).
Die griechischen Übertragungen aus Hygin. Die der Grammatik des
Dositheus angehängten Übertragungen aus Hygin ins Griechische finden sich zusammen-
gestellt bei M. ScHKiDT, Ausg. p. LIV. Die einleitenden Worte lauten: Ma^ifii^ xnl
"AnQi^ vnuxoig ti^o y eiitoy lentefiß^iwy 'Yyiyov yByeaXoylay näaiy yytoati^y fABxiyqa^jxt^
222 Römisohe LitieratnrgeBchichte. II, Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
T y
iv li %<soviai TiXsioysg UrroQiai ^iBQfÄrjysvfiivai iv rovrtfi na ßtßXit^ ' d'Stoy yaq xai ^Ettoty
opofjLattt iv devxiqta i^enXs^afAey x. t. X. Der Übersetzer war zugleich Abschreiber der Genea-
logie. Das obersetzte kündigt er an, es sind die Namen der Musen, ihrer Künste, ihrer Lieb-
haber und Kinder, der 12 GöUer, der Wochentage, der 12 Sternbilder und dann eine R«ihe von
Erzählungen, endlich ein Kapitel über die Erfindungen. Vorhanden sind die Namen der Musen
mit den Zusätzen, der 12 Götter, der Wochentage, der Sternbilder mit Erläuterungen, die Ge-
schichten von Prometheus, von Philyra, von Odysseus und ein Fragment von den Qualen des
Tantalus. Diese Geschichten stimmen im Inhalt mit denen bei Hygin Überein, auch lassen
sich die Titel der übrigen in Hygin aufzeigen, selbst das Kapitel über die Erfindungen
fehlt hier nicht. Das was Über die Musen gesagt ward, finden wir zwar jetzt nicht mehr
bei Hygin, allein es kann ursprünglich da gestanden haben. Die Namen der Götter,
der Wochentage und der Sternbilder scheint der Übersetzer aus anderen Quellen hinzuge-
fügt zu haben (Lange p. 7).
348. Hygins Schrift de astronomia. In den Handschriften ist das
Werk entweder ohne Überschrift überliefert oder es wird verschieden be-
titelt, de astronomia, de ratione sphaerae, de sideribus u. a.*) Von den
Herausgebern wurde es Poetica asfronornica genannt.*) In dem Archetypos,
aus dem unsere Handschriften stammen, war das letzte Blatt oder die
letzte Lage verloren gegangen. Mit der Zeitrechnung bricht die Schrift
ab. Der Verfasser beginnt mit einer langen Einleitung, in der ein M.
Pabius,^) ein in der Grammatik, Poetik und Geschichte bewanderter Mann,
angeredet wird ; hier wird in breiter Weise dargelegt, was alles dem Leser
vorgeführt werden soll. Es sind dies die Fundamentalbegrifife der Astronomie;
allein bei den Sternbildern erzählt Hygin auch die denselben zu Grund
liegenden Mythen (2. Buch), denen sich Angaben über Zahl und Lage der
Sterne, aus denen die Sternbilder zusammengesetzt sind, anschliessen
(3. Buch). In diesen Mythen folgt er vorwiegend den unter Eratosthenes
Namen gehenden xaTa<rT€Qi<rfio(; ausserdem benutzte er Parmeniskos, den
historischen Schriftsteller Asklepiades Tragilensis, Istros, Euhemeros, die
Dichter Aratos, Kallimachos, Ciceros Aratea. Die Quellen der astronomi-
schen Partien sind noch nicht genauer erforscht. Der Stil ist im ganzen
holperig; charakteristisch sind die fortwährenden Verweisungen auf früheres
und späteres.
Der Plan des Verfassers ergibt sich aus der Vorrede: praeter nostram scrip-
iionem sphaerae, quae fuerunt ab Arato obscurius dicta, persecuti planius ostenäimus, ut
penitus id quod coepimus exquisisse videremur , quod si veJ optimis usus auctoribus effeei,
ut neque brevius neque vei'ius d leeret quisquam, non inmerito fuerim laudari dignus a
robis, quae vel amplissima laus hominibus est doctis; si minus, non deprecatnur in hcui
confectione nostram sententiam ponderari . ideoque maioribus etiam niti laboribus eogiiamus,
in quibus et ipsi exerceamur et quibus volumus nos probare possimus ' etenim necessariis
nostris hominibus scientissimis maximas res scripsimus; non levibus occupati rebus populi
captamus existimationem,
Verhältnis der Astronomie Hygins zu den xaraffregifffiol des Erato>
sthenes. Robert untersuchte {Eratosth, Berl. 1878) das Verhältnis Hygins zu den sog.
xataaiBQiafjLoL des Eratosthenes, welche er als einen Auszug aus einem grösseren Werk des
Eratosthenes {KaxttXoyoC) betrachtet, wobei der Epitomator die Anordnung der Stern-
bilder nach Arat änderte (p. 33). Das Verhältnis formuliert er so (p. 2): exhibet Hyginus
ea quae hodie in Catasterismis leguntur fere omnia — ordine tarnen ita differt, ut, cum
Catasterismorum auctor Aratum accurate sequatur, hie orbis signiferi sidera more
Romano ah Ariete exorsus in media libro coniunctim enumeret atque septentrionalem
orbem antecedere, meridionalem sequi voluerit. Weiterhin ist zu beachten, dass Hygin
0 Vgl. BuRSiAN, Fleckeis. J. 93, 761.
Bunte erachtet in der Wochenschr. f. kl.
Philol. 1889 p. 62 nach den einleitenden Worten
als den ursprünglichen Titel «Sphaera".
^) Dieser Titel verleitete GOnther im
vorliegenden Handb. V 1, p. 79 zu dem Irr-
tum, das Buch als ein Gedicht anzusehen.
') Wer dieser Fabius ist, kann leider
nicht ermitt«lt werden; Quintilian ist es
nicht. Vgl. BuRBiAK 1. c. p. 767.
Der Mythograpb Byginiu.
223
„Cataaterismos ampliorea necdum in hanc hrevitaiem contractos" vor sich hatte (p. 3) —
aber nicht die xaiaXoyoi — , die Catasterismi wurden im Laufe der Zeit noch mehr ge-
kürzt. Ausser den Catasterismi hat Hygin noch andere Quellen zu Rat gezogen ; es werden
viele Namen genannt; ein Verzeichnis derselben liefert Bunte in seiner Ausgabe p. 3;
allein es ist kaum anzunehmen, dass die genannten Autoren alle selbst von Hygin ein-
gesehen wurden. Die Quellen des zweiten Buchs hat Robert einer Untersuchung unter-
worfen (p. 228 und 231); die Resultate derselben sind oben im Texte kurz angegeben.
Die beste Überlieferung bieten der Codex Reginensis-Vaticanus 1260 s. IX, der
Codex in der Bibliothek der Ecole de medecine in Montpellier 334 s. X (Bubsian, Sitzungs-
bericht der Mttnch. Akad. 1876 p. 2) und der Dresdensis 183 s. IX/X. Unbrauchbar ist die
Ausgabe von Buirrs, Leipz. 1875. Über die Überlieferung der Schrift und die Ausgaben
handelt sorgfältig Kaüffvakk, De Hygini memoria scholüs in Ciceronis Aratnm Harleianis
servata, Breslau 1888 (Bresl. Studien 3 Bd. 4 H.). Für den Text der Schrift sind auch
wichtig die Scholien des Harleianus 647 s. IX/X zu Ciceros Aratübersetzung ; denn diese
Scholien stammen alle aus der Astronomie Hygins. Über ihren Wert äussert sich Kauffhann
also (1. c. p. 2): scholia haec Hyginiana nan solum ad restituendam Hygini memoriam
tnultum canferunt, aed cum Hyginum cum Ciceronis Arato coniunctum offerant, ad utrius^
que libri astronamici per medium aevum propagaii condicionem inlustrandam videntur
apta . fluxittae ea apparet ex archetypo Hyginiano ülo deperdito, a quo noatri eodicea originem
petunt omnea, integriere.
349. Hygins mythologisches Handbuch. Es sind hier drei Teile
auseinander zuhalten: 1. die Auszüge aus den Genealogien; 2. das Sagen-
buch; endlich 3. die Indices. Die Genealogien gaben die Stammbäume der
Götter und Heroen; das Sagenbuch erzählt uns die Mythen aus den ver-
schiedenen Sagenkreisen; es ist dies der Hauptbestandteil des Buchs. In
den Indices sind Zusammenstellungen nach den verschiedensten Gesichts-
punkten gemacht, dieselben sind nicht bloss der Mythologie, 0 sondern
auch der Geschichte, Litteratur, Kunst und Geographie ^) entnommen. Die
Indices sind ein unorganischer Anhang, der nichts mit Hygin zu thun hat;
dagegen sind, wie oben dargelegt worden, die Genealogien und Sagen aus
zwei Werken Hygins zu einem Buch in der Weise zusammengestellt worden,
dass der Redakteur auf die Genealogien die Sagen folgen liess. Beide
Werke wurden aber nicht vollständig, sondern nur im Auszug mitgeteilt;
von den Genealogien ist dies von vornherein klar, da ja dieselben ursprüng-
lich aus mehreren Büchern bestanden; aber auch bei dem Sagenbuch ist
diese Annahme wahrscheinlich. 5) Wie das Werk von dem Epitomator be-
titelt wurde, können wir nicht mit Sicherheit bestimmen; dem griechischen
Bearbeiter des J. 207 n. Ch. lag es, wie es scheint, unter dem Titel »Ge-
nealogie" vor; die handschriftliche Überlieferung kennt keinen Titel; der
jetzige „Fabulae** stammt von dem ersten Herausgeber Micyllus.^)
Das mythologische Corpus war als vielbenutztes Hand- und Schulbuch
im Laufe der Zeit manchen Veränderungen^) unterworfen. Es lag nahe, in
dasselbe neue Stücke einzutragen, wie dies z. B. innerhalb der Indices ge-
schehen ist. Auch Kürzungen traten ein. So lässt sich von den Indices
' z. B. qui licentia Parcarum ab inferia
redierunt; qui lade ferino nutriti aunt; quae
impiae fuerunt.
*) Z. B. oppida qui quae condiderunt —
aeptem aapientea — aeptem opera mirabilia
— inaulae maximae.
') Lange, de nexu p. 9 Anin. 2. Schmidt,
Ausg. p. XXXVIII. Dagegen Bubsian, Fleck-
eis. J. 93, 771 , während der an der Spitze
stehende geneäogische Abschnitt ein ganz
magerer, dürrer Aaszug, gleichsam das blosse,
des Fleisches beraubte Gerippe eines grösse-
ren Werks ist, zeigt die zwar nicht kunst-
volle, aber doch, abgesehen von den Ver-
derbnissen der handschriftlichen Überliefe-
rung, überall zusammenhängende Darstellung
in den einzelnen fahulae nirgends den Cha-
rakter eines Exzerptes. **
^) Bunte, Ausg. p. 19.
^) DiBTZE p. 8 und p. 18,
224 Bömiaohe LitteratnrgOBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
zeigen, dass das Kapitel über die Erfinder Cassiodor in einer ausführlicheren
Rezension vorlag.^) Auch unsere Überlieferung weist auf mehrere Fassungen,
eine längere und eine kürzere hin. Ferner sind Verschiebungen eingetreten;
eine können wir mit Sicherheit aufzeigen; Stück 137 bricht plötzlich ab,
in Nr. 184 b wird der Faden wieder aufgenommen. Weiterhin ist durch
den häufigen Gebrauch auch die Sprache nicht intakt geblieben. Seltener
werden wir ümdichtungen des zu Grunde liegenden griechischen Originals') an-
zusetzen haben. Dass aber auch solche vorgekommen sind, dafür dient als
Beispiel die Erzählung von der Sorge (220), welcher bekanntlich Herder den Stoff
für sein Gedicht „Das Kind der Sorge*, entlehnte.*) — Das griechische Original
sprach ohne Zweifel von der ^QovTtg, welche in Gedanken verloren und spielend
aus Thon ein Gebilde schuf. Sie bat Zeus, demselben Leben einzuhauchen.
Zeus that dies, und so entstand der Mensch. Als nun aber die Frage auf-
geworfen wurde, wer das neue Wesen besitzen sollte, erhoben ausser
der ^QovTi'g auch Jupiter und die Erde Anspruch. Saturn wird als Schieds-
richter aufgerufen; er entscheidet, dass die Sorge den Menschen während
seines Lebens besitzen solle, dass aber nach dem Tode der Geist des
Menschen Zeus, die Gebeine der Erde zufallen sollten. So das griechische
Original; der römische Bearbeitersetzte den Streit um den Besitz in einen
Streit um den Namen um, sich stützend auf die verkehrte Etymologie
homo von humus. Allein durch die Aufnahme dieses fremden Elements in
die Sage wurde ihr einheitlicher Charakter zerstört. Dass durch die Über-
setzung der (pQovTig in cura das „Sinnende*' verloren ging, ist der Sprache,
nicht dem Übersetzer zur Last zu legen.
Das mythologische Handbuch hat für uns einen sehr hohen Wert;
besonders der Teil, welcher die Sagen enthält, ist für die Kenntnis der
Stoffe der griechischen Tragödie ein unentbehrliches Hilfsmittel; auch die
Indices bergen in sich gute alte Gelehrsamkeit.
Überlieferung. Unser Text beruht auf einem jetzt verlorenen FrisingenBis, von
dem einige Fragmente im J. 1870 an den Tag traten. Nach diesem Codex veranstaltete
Micyllus die erste Ausgabe im J. 1535, auf welche die Rezension jetzt angewiesen ist.
Für einige Stücke bietet der Codex Strozzianus der Germanicusscholien einen reineren
(Robert p. 215) und von Interpolationen freieren (Robert p. 216) Text. Einer kürzeren
Fassung scheinen anzugehören die von Niebuhr in der Vaticana entdeckten Palimpsest-
blätter, abgedruckt bei M. Schhidt p. XLIX (vgl. Dietze p. 9).
Ausgaben von Bunte, Leipz. 1857; M. ScHinDT, Jena 1872, der eine neue An-
ordnung der Stücke durchführt. — C. Lange, De nexu inter C, JuHi Hygini apera mytho-
logica et fahularutn — librum, Mainz 1865 (Bonner Diss.); hier werden bes. die Quellen
des griecn. Originals untersucht. Bursian rezensiert Fleckeis. J. 93, 761 diese Schrift, ^lein
die Rezension hat sich zu einer selbständigen, in alle Hjnnfragen tief eingreifenden Ab-
handlung gestaltet. Tschiassny, Studia Hyg., Wien 1888; Dietze, Quaest. Hyg., Kiel 1890.
350. Trennung des Bibliothekars Hygin und des Mythographen
Hygin. Nachdem wir einen Hygin als Verfasser einer Astronomie, eines
genealogischen und mjrthologischon Werks kennen gelernt haben, harret
noch das Problem der Lösung, ob dieser Hygin mit dem Grammatiker
Hygin aus der augusteischen Zeit identisch ist. Für die Identität liegen
keine äusseren Zeugnisse vor; der Verfasser der Astronomie und des my-
thologischen Handbuchs heisst in der Überlieferurg lediglich Hyginus, auf
0 Knaacjk, Herrn. 16, 589.
^) Werth, De Graeci sermonis vestigiis
(Schedae PhiloL, Bonn 1891 p. 113.)
>) Bebnays, Ges. Abh. 2, 316.
Der Mythograph Hyginns 225
der anderen Seite ist durch kein Zeugnis erhärtet, dass der Grammatiker
Hygin jene Schriften geschrieben. Wir sind sonach zur Entscheidung der
Frage lediglich auf innere Kriterien angewiesen. Diese aber sprechen in jeder
Hinsicht gegen die Identifizierung. Der Mythograph zeigt eine solche Urteils-
losigkeit in der Übertragung seines griechischen Originals, wie wir sie einem
Mann, der als Grammatiker non hercle ignobilis genannt wird und der philo-
logisch-kritische Arbeiten geliefert, nicht zutrauen können. Ein schlagendes
Beispiel ist, dass er Astr. 2, 1 die leichte Korruptel AITÜAQN statt
AinOAQN nicht verbessert und in dem Mythus merkwürdigerweise von
Ätolern statt von Hirten redet. Auch wenn das griechische Original heil
geblieben ist, übersetzt er missverständlich, i) wie es ein Kenner der grie-
chischen Sprache nicht thun kann. Ein schlagendes Beispiel bietet die
Erzählung nr. 186, wo es heisst Melanippen Desmontis filiam. Dieses Des-
montes ist gar kein griechischer Name; es ist durch ein Missverständnis
aus der Aufschrift negi MeXavinnrfi trjg dsaiimtidog entstanden. In der
Astronomie zeigt er eine sklavische Abhängigkeit von Eratosthenes. Wenn
es richtig ist, dass dieses unter dem Namen KaratrtsQitrfiol gehende
Werk seine jetzige auf Zusammenziehung und Änderung der Reihenfolge
basierende Gestalt nicht vor dem zweiten Jahrb. n. Chr. erlangt hat, so
kann, da diese Gestalt schon bei der Vorlage Hygins vorauszusetzen ist,
wiederum der Grammatiker Hygin der Verfasser nicht sein. Wir unter-
scheiden daher den Bibliothekar Hygin von dem Mythographen Hygin. Über
den letzteren wissen wir nichts als dass er vor 207 n. Gh. gelebt hat.
Zeit des Mythographen Hygin. Robert, Eratosth. Caiasterism, p. 35 äussert sich
folgendennassen: postea Eratosthenis opus in compendium contractum, genuinus ordo Arateo
permtUatus est. erat tarn mythologici in ArcUum commeniarioli instar; inscrihehatur Kaxa-
otSQiafÄoi, Eratosthenis tarnen praeclarum nomen retinuit, quod tarnen ne ante alterum p.
Chr. saeculum factum esse reamur, Catasterismorum dictio impedire videtur . . . i» eis
quae Hyginum legisse necesse est insunt, quae ne primo quidem p, Chr. saeculo tribuere
ausint, sermonis vitia, unde efficitur, ne Hyginum quidem Uta aetate antiquiorem esse
posse, diversum igitur esse Astrologiae et Fahularum auctorem a clarissimo Augusti Uberto
ac bibliothecario C. Julio Uygino. Auch Maass in seinen Andlecta Eratosthenica (Philol.
Unters. 6 Heft, Berl. 1883) will die Catasterismi, welche er dem Eratosthenes abspricht,
in den Ausgang des ersten oder in den Anfang des zweiten Jahrh. n. Ch. verlegen (p. 33
und p. 54). Gegen den Beweis, auf dem diese Ansicht ruht, dass nämlich die astronomischen
Angaben nicht zu der Zeit des Eratosthenes stimmen, richtet sich die Abhandlung Böhmes,
Rh. Mus. 42, 286.
Einen neuen Weg, um die Verschiedenheit der beiden Hygine zu erweisen,
schlägt Unger ein (Der sog. Cornelius Nepos p. 213). Ausgehend von der von M. Schkidt
p. XSXl behaupteten Benützung der Metamorphosen (8,386 13,891) und des Ibis (302) in dem
mythologischen Handbuch (nr. 148. 107. 123) kommt er zu der Schlussfolgerung, dass dann
Hygin jenes Werk nur im späten Lebensalter geschrieben haben könne; dies widerstreite
aber den Eingangsworten der Astronomie, nach denen jenes Werk, wie das genannte, in die
Jugendzeit des Autors falle. Diese Schlussfolgerung ist unhaltbar, weil diese Zeit-
bestimmung nur für die der Astronomie vorausgehenden Genealogien Gültigkeit hat, nicht
aber für das .nach der Astronomie geschriebene Mythenbuch, dem die von Schxidt citierten
Stücke angehören. Unoeb identifiziert unrichtig unser ganzes Handbuch mit den Genea-
logien.
Der Gromatiker Hygin. Ausser dem Bibliothekar Hygin und dem Mytho-
graphen Hygin haben wir auch noch einen unter Trajan lebenden Gromatiker Hygin.
Dass auch dieser nicht etwa der Verfasser der Astronomie (und Mythologie) sein kann,
föhrt BüRsiAN, Fleckeis. J. 93, 767 aus: , Vergleichen wir den Abschnitt von dessen (des
Gromatikers) Werke de limitibus constituendis, welcher von den astronomischen
0 Beispiele stellt Bubsian, Fleckeis. J. 93, 765 und 784 zusammen,
Handbuch der klus. Altertumswiascnschan. vm. 2. Teil, 15
226 Römische Litteratnrgesohiolite. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
Grundlagen der Feldmesskunst handelt (p. 183 ff. Lachmann), mit der Astronomie unseres
Hyginus (bes. grom. p. 184 f. mit astr. p. 568 f. und grom. p. 186 mit« astr. p. 411 f.), so
finden wir so bedeutende Abweichungen sowohl in Hinsicht auf die vorgetragenen Lehren
als auch namentlich in bezug auf die technischen Ausdrücke, dass wir notwendig die
beiden Werke als von verschiedenen Verfassern herrührend betrachten müssen.'
4. L. Crassicius.
351. Der Kommentar zu Cinnas Smyrna. Wir haben S. 153
dargelegt, dass das Mitglied der jungrömischen Dichterschule G. Helvius
Cinna ein Epyllion verfasste, in dem er in alexandrinischer Manier die
Liebe der Smyma zu ihrem Vater behandelte. Neun Jahre hatte er an
diesem Werk gearbeitet; man kann darnach vermuten, welche entlegene Ge-
lehrsamkeit hier zusammengeströmt war. Ein solches Gedicht bedarf natürlich
der Interpretation. Dieselbe lieferte L. Crassicius mit dem Beinamen Pasicles,
später Pansa genannt. Derselbe, ein Freigelassener aus Tarent, war zuerst
für die Bühne thätig, indem er den Mimographen half; alsdann dozierte er
in einer Winkelschule, da gab er seinen Kommentar zur Smyrna heraus
und mit einem Schlag war er ein berühmter Mann. Ein umlaufendes
Epigramm scherzte, dass Smyrna sich nur dem Crassicius anvertraue,
dass es vergeblich sei, sich um sie zu bewerben, sie wolle sich bloss mit
Crassicius vermählen, dem allein ihre grössten Geheimnisse bekannt seien.
Sein Unterricht wurde jetzt von den Söhnen hochangesehener Familien
aufgesucht; er konnte mit dem berühmten Verrius Flaccus in Wettstreit
treten. Da löste er plötzlich seine Schule auf und bekannte sich zur Lehre
der Sextier (Suet. gr. 18). Vgl. § 338.
5. Q. Caecilius Epirota.
852. Die Einführung der modernen Dichtungen in die Vor-
lesungen. Q. Caecilius Epirota, gebürtig in Tusculum, war ein Freigelas-
sener des Atticus, des bekannten Freundes von Cicero. Er unterrichtete
die Tochter seines Patron, welche an M. Agrippa verheiratet war. Da
Verdacht entstand, als ob er diese Vertrauensstellung missbrauche, wurde
er entlassen. Der Elegiker Cornelius Gallus nahm sich seiner an und lebte
mit ihm im vertrautesten Umgang, was dem Dichter von Augustus sehr
verübelt wurde (§ 270). Nach dem Tode des Gallus eröffnete er eine
Schule mit einer von ihm sehr beschränkten Schülerzahl. Er soll zueilst in
lateinischer Sprache aus dem Stegreif disputiert und Vergil und andere
moderne Dichter in den {[reis der Vorlesungen eingeführt haben. Für die
Entwicklung der Litteratur war dies letzte Moment nicht ohne grosse
Tragweite (Suet. gr. 16).
Andere Grammatiker und Philologen sind:
1. SinniusCapito. Von Gellius werden Briefe des S. 0. angeführt z. B. an
Clodius Tuscus (5,20,2), welche grammatische Gegenstände behandeln. Der liber de
syllabis (Pompeius 5, 110) wird auch ein solcher Brief gewesen sein. Lactantins citiert
(Inst. 6, 20, 35) einen liber spectaculorum. Aus Hieron. in Gen. 3 wird man auf ein
umfassendes Werk über Antiquitäten schüessen müssen. Bei Festus finden sich (z. B.
p. 325) viele Erklärungen sprichwörtlicher Redensarten unter dem Namen des S. C, wahr-
scheinlich ebenfalls ein eigenes Werk (vgl. zuletzt Reitzensteik, Verr. Forsch, p. 22). —
Hebtz, Sinnius Gapito, Berl. 1845.
2. CloatiusVerus. Die Citate führen auf drei Schriften: 1. libri quos inscripsU
M. Antistins Labeo und C. Ateins Capito. 227
verborum a Graecis iraciorum (Gell. 16,12,1); bei Macrobius B, 18, 4 in Uhro a
Graecia tractorum; 2. Ordinatorum Graecorum libri (Macrob. 3, 6, 2 3,18,8 3,19,2);
3. bei Festas werden Erklärungen aus dem römiscben Sakralwesen einem Cloatius bei-
gelegt z. B. p. 309, p. 193 u. 8. w.). Es ist wohl unser Cloatius Veras und ein drittes
WeÄ desselben über römische sakrale Ausdrttcke anzunehmen.
3. Clodius Tuscus. Von ihm führt Serv. Aen. 1,176 1,52 2,229 commentarii
an; derselbe verfasste auch einen astronomischen Kalender, welcher nur in der griech.
Übersetzung des Laurentius Lydus de ostentis p. 114 W. erhalten ist.
b. Die Juristen.
M. Antistius Labeo und C. Ateius Capito.
853. Analogie und Anomalie in der Jurisprudenz. Wir haben
oben (§ 77) gesehen, dass zur Zeit Cäsars sich in der Grammatik ein Streit
abspielte, in dem es sich um die Frage handelte, ob in der Sprache all-
gemein giltige Gesetze zur Anwendung kommen oder nicht, mit anderen
Worten, ob in der Sprache das Prinzip der Analogie oder Anomalie herrsche.
Auch bei der Darstellung der Rhetorik (§ 337) stiessen wir auf den gleichen
Kampf, auch dort wurde darüber debattiert, ob sich die Rhetorik auf feste
unumstössliche Gesetze zurückführen lasse oder nicht. Wie in der Gram-
matik der Gegensatz zur Bildung der zwei sich befehdenden Schulen, der
Analogisten und Anomalisten führte, so schieden sich die Bearbeiter der
Rhetorik in die zwei Lager der Apollodoreer und der Theodoreer. Es
wäre ein Wunder, wenn die Jurisprudenz von diesem Kampf unberührt
geblieben wäre, zumal da zwischen der Behandlung der Sprache und des
Rechts unleugbare Ähnlichkeiten vorhanden sind. In der That finden wir
in dieser Zeit auch zwei sich feindlich gegenüberstehende Sekten der juri-
stischen Theoretiker; das Haupt der einen ist M. Antistius Labeo, das
Haupt der andern C. Ateius Capito. Über den Gegensatz der beiden
Schulen waren wir bisher lediglich auf das Zeugnis des Pomponius in den
Digesten (1,2,2,47) angewiesen; hier wird Labeo als Neuerer, Capito da-
gegen als Konservativer auf dem Feld der juristischen Doktrin hingestellt.
Allein dieses Zeugnis vermag uns nicht völlig zu befriedigen, da es nicht
über das innere treibende Prinzip, das die beiden Richtungen trennte, Auf-
schluss gibt. Zur Erkenntnis desselben können wir auf direktem Wege
nicht gelangen, wohl aber verhilft uns dazu die Analogie. Aus Festus s.
V. Penatis ergibt sich nämlich mit unumstösslicher Sicherheit, dass Labeo
in der Sprache Analogist war, d. h. feste Regeln und Gesetze statuierte. Ist
es nun denkbar, dass dem Labeo sich in der Sprache der Gegensatz zwischen
Analogie und Anomalie aufdrängte, in der Rechtswissenschaft aber nicht?
Es ist dies eine Unmöglichkeit, denn der Jurist und der Grammatiker
wandeln auf dem gleichen Wege; der eine wie der andere sucht nach
Regeln, durch welche eine Mehrheit einzelner Erscheinungen unter einen ein-
heitlichen Gesichtspunkt gebracht werden kann; beiden stellen sich aber
Fälle entgegen, welche sich der allgemeinen Regel nicht fügen wollen, die
Ausnahmen in der Grammatik, die iura singularia in der Jurisprudenz;
beiden muss also sich der Gegensatz von Analogie und Anomalie, von Ge-
setzmässigkeit und Regellosigkeit in ganz gleicher Weise fühlbar machen;
beide müssen in dieser Streitfrage Stellung nehmen. Wird aber zugegeben,
15*
228 Bömische Litteraturgesohichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
dass Labeo in der Jurisprudenz an jenem Gegensatz, der auch zu derselben
Zeit das Gebiet der Grammatik und der Rhetorik beherrschte, nicht vorüber-
gehen konnte, so ist damit auch die Stellung gegeben, welche er zu jener
Kontroverse einnahm; der Mann, der die Grammatik vom Gesichtspunkt
der Analogie aus betrachtete, kann natürlich nicht die Rechtswissenschaft
vom entgegengesetzten Standpunkt aus behandelt haben.
War aber Labeo juristischer Analogist, so musste sein Gegner selbst-
verständlich juristischer Anomalist gewesen sein. Mit einem Schlage wäre
damit über die prinzipielle Differenz, welche beide Schulhäupter trennte,
Licht verbreitet.
Dass ein Kampf, wie der gekennzeichnete, viele Jahre hindurch währen musste, ist
klar. Seinen relativen Abschluss konnte er eigentlich nur finden, nachdem das R^chts-
system aufgestellt war. Mit der Zeit traten die Urheber des Streites zurück. Die Schulen
wurden sogar nach andern Häuptern genannt, die Schule Labeos nach Proculus die Procu-
lianer, die Schule Gapitos nach Sabinus und Cassius die Sabinianer oder Cassianer.
Zeugnisse über die beiden Schulen. Dig. 1, 2, 2, 47 : his (Labeo und Gapito) duo
pritnum veluti diversas sectds feeerunt; nam Ateius Capito in his, quae ei tradita fuerant,
perseverabat; Labeo ingenii qualitate et fiducia doctrinae, qui et ceteris operis sapientiae operam
dederat, plurima innovare instituit. Über ihre politische Richtung vgl. Tacit. Ann. 3, 75.
Labeo als grammatischer Analogist. Festus s. v. penatis p. 253 sagt: Penatis
singulariter Labeo Antistitis passe dici ptitat, quia pluraliter Penates dicantur, cum patiatur
proportio etiam Penas dici, ut optimas, primas, Antias. Wer den Nominativ Singular eines
nur im Plural vorkommenden Wortes finden will, mnss an die Analogie, d. h. an die Gesetz-
mässigkeit der Sprache glauben, er muss schliessen: wie sich optimates zu optimas, so muss
sich penates zu dem gesuchten Nominativ verhalten ; er muss nach dieser Proportion penas
sein. Er kann an der Hand der Analogie noch weiter gehen; er kann schliessen: wie sich
optimatis zu optimas verhielt, so verhielt sich penatis zu penas. Auf diese Weise gewinnt er
den Nominativ penatis.
ScHAifz, Die Analogisten und Anomalisten im röm. Recht. Philol. 42, 309; nicht durch-
schlagende Bedenken gegen unsere Auffassung äussert ElRüoeb, Geschichte der Quellen
und Litteratur des röm. Rechts, Leipz. 1888 p. 142, 9.
354. Die Schriftstellerei des Labeo und Capito. Von den beiden
Schulhäuptern entfaltete Labeo eine ungleich reichere litterarische Wirk-
samkeit als Capito. Labeo behandelte das Recht nach den verschiedensten
Seiten hin, er schrieb theoretische Untersuchungen, ferner Kommentare,
auch in der Systematik des Rechts war er thätig. Des Mannes wissen-
schaftlicher Reichtum war so gross, dass selbst aus seinem Nachlass ein
timfassendes Werk von 40 Büchern veröffentlicht werden konnte. Im
Ganzen bezifferte man den Umfang seiner litterarischen Produktion auf
400 Rollen. Dem gegenüber ist die Schriftstellerei Capitos fast ver-
schwindend. Diese Erscheinung erklärt sich aus der verschiedenartigen
geistigen Eigentümlichkeit der beiden Gelehrten. Labeo zeigte in seinen
Studien einen universellen Zug, er pflegte ausser seiner Fachwissenschaft
noch andere Disziplinen, die Grammatik, die Altertumskunde und die Dia-
lektik. Durch diese Studien wurde sein Blick beträchtlich erweitert.
Aber das Entscheidende war, dass er an feste, unumstössliche Sätze in
der Jurisprudenz glaubte, denn dieser Glaube musste ihn zum positiven
Schaffen dringen. Anders derjenige, welcher von der Anomalie des Rechts
ausgeht und daher an der Möglichkeit, zu allgemein giltigen Sätzen zu
gelangen, verzweifelt. Seine Aufgabe wird sich negativ äussern, er wird
dem Analogisten, dem positiven Schöpfer des Rechts Schwierigkeiten
machen, Einwürfe erheben und seinen Gegner dadurch zwingen, den Rechts-
VitrnviuB Pollio. 229
Satz schärfer zu formulieren oder ihn durch einen zweiten Rechtssatz
zu ergänzen; allein er wird nichts oder wenig Positives für die Rechtsent-
wicklung beibringen, und dies scheint bei Gapito der Fall gewesen zu sein.
Die Stadien Labeos. Gell. 13, 10, 1 Laheo Antistius iuris quidem civilis dis-
ciplinam principcUi studio exercuit — sed ceterarum quoque bonarum artium non expers
fuit et in grammaticam sese atque dialecticam litterasque antiquiores aUioresquc penetra^
verat laiinarumque vocum origines ratianesque perecdluerat, eaque praecipue scientia ad eno-
dandos plerosque iuris laqueos utebaiur.
a) Sohriften des Labeo werden folgende erwähnt:
1) Pithana (einleuchtende Rechtsaxiome). Dieses Werk (8 Bücher) ist in
den Digesten in einem kritisierenden Auszug von Paulus benutzt worden; es sind 34 Stellen
daraus ausgezogen.
2) De iure pontificio (mindestens 15 Bücher), wissenschaftliche Durcharbeitung
der Pontificalbücher. An sechs Stollen wird das Werk von Festus citiort (p. 249, p. 253 (bis),
p. 348, p. 351 bis). Auch Gell. 1, 12, 1 wird hieher gehören (zweifelhaft Macrobius 3, 10,4).
3) Kommentar zu den XII Tafeln. Dieses Werk wird von Gellius erwähnt
(1, 12, 18 20, 1, 13 6, 15, 1), nicht aber in den Digesten. Im Anschluss an die XII Tafeln
wurden viele rechtliche Bestimmungen gegeben.
4) Kommentar zum praetorischen Edict. Hier liegt uns das Zeugnis des
Gellius vor (13, 10,3): praeterea in libris, quos ad praetoris edictum scripsit, muUa posuit
partim lepide atque argute reperta, sicuti hoc est, quod in quarto ad edictum lihro scriptum
legimus. Die meisten Citate Labeos gehen auf dieses Werk zurück. Demnach ergibt sich
als Bild des Kommentars: „Fassung und Bedeutung des Ediktes werden kritisiert, seine
Worte werden erklärt, deren Sinn festgestellt, durch historische Exkurse über die Veran-
lassung des Gesetzes und Beispiele aus der Praxis erläutert, das Ediktsrecht durch extensive
Interpretation weiter entwickelt" (Pernice, Labeo 1, 55). Nun citiert aber ülpian in den
Dig. 50, 16, 19: Labeo libro I praetoris urbani und 4, 3, 9, 4 Labeo Hbro XXX praetoris pere-
grini. Wahrscheinlich ist aber dasselbe Werk gemeint, das in zwei Abteilungen zerfiel,
den Kommentar zum Edikt des Praetor urbanus, und den Kommentar zum Edikt des
Praetor neregrinus (im Anhang). Es konnte nun der Buchzahl, welche durch das ganze Werk
lief, auch der Name der Abteilung hinzugefügt werden (Pemice Labeo 1, 59).
5)Libri epistularum werden lediglich von Poroponius in den Dig. 41, 3, 30, 1
citiert, es sind wissenschaftliche Korrespondenzen über Rechtsmaterien.
6) Liber responsorum; eine Sammlung von Rechtsgutachten, mindestens aus
15 Büchern bestehend (Collat. 12, 7, 3).
7) Libri posteriores. Gell. 13, 10,2 sunt libri post mortem eius editi, qui Poste-
riores inscribuntur, quorum librorum tres continui, XXXVIII et XXXIX et XL, pleni
sunt id genus rerum ad enarrandam et inlustrandam linguam tatinam conducentium, d. h.
die drei letzten Bücher enthielten sprachliche und grammatische Erörterungen zur Er-
läuterung juristischer Definitionen, die vorausgegaugenen Bücher gaben Untersuchungen
über civile Rechtsinstitute. Die Citate gehen in den Digesten nicht über das 37. Buch
hinaus, sie stammen aus zwei Auszügen Javolens, von denen der eine durch Labeo libro
— Posteriorum a Javoleno epitomatorum, der andere durch Javolenus libro — ex posterio-
ribus Labeonis eingeführt wird (PEsiacE, Labeo 1, 69).
Nicht sicher ist, ob Labeo einen Kommentar zum ädilicischen Edict (wegen Dig.
21, 1, 1) und eine Erläuterung zur lex Papia Poppaea geschrieben (wegen 24, 3, 64, 9). Vgl.
PERincE, Labeo 1,66.
b) Sohriften des Capito sind zu unserer Kenntnis folgende gekommen:
1) Coniectanea (aus mindestens 8 Büchern bestehend). Das 8. Buch hatte den
Spezialtitel „de iudiciis publicis", (Gell. 4, 14, 1.)
2) De pontificio iure in mindestens 7 Büchern. (Gell. 4,6,10 Fest. p. 154.)
3) De iure sacrificiorum (Macrob. 3, 10, 3).
4) De officio senatorio. (Gell. 4, 10, 7). Aber vielleicht bildete dieser Tractat das
9. Buch der Coniectanea; denn dass in demselben über den Senat die Rede war, beweist
Gell. 14, 7, 12 14, 8, 2.
5) Epistulae (Gell. 13,12,1).
c. Die Techniker.
Der Baumeister Vitruvius Pollio.
355. VitruYS Werk über die Architektur. Eine interessante Er-
scheinung in der fachwissenschaftlichen Litteratur ist das Werk Vitruvs
230 Bömisohe latteratorgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
über die Architektur, von grosser Wichtigkeit schon deshalb, weil es die
einzige römische Schrift dieser Art ist, welche uns überkommen ist. Vor
Vitruv hatten zwar einige Schriftsteller auch auf diesem Gebiet ihre Kräfte
versucht, zuerst Fuficius, dann Yarro in seiner Encyklopädie, endlich Publius
Septimius (p. 160, 8). Allein diese Schriften sind vermutlich vielfach lücken-
haft gewesen. Das Fach der Architektur in vollem Umfang scheint unter
den Römern allein Vitruv dargestellt zu haben. Wenigstens unterlässt er
nicht, mehrfach hervorzuheben, dass er die „umherirrenden'' Teile der
Baukunde zu einem Ganzen vereinigt habe (p. 2, 15 p. 83, 15). Vitruv schrieb
als Fachmann, denn er erbaute eine Basilika in der Colonia Fanestris
(p. 106, 12) und unter Augustus hatte er mit zwei andern Baumeistern die Kon-
struktion der Wurfmaschinen und Wurfgeschosse zu leiten und bezog für
seine Thätigkeit eine Besoldung, welche ihm auch, wie man nach seinen
Worten schliessen muss, als Pension weitergewährt wurde. Wies dies
schon auf engere Beziehungen zum Hofe hin, so sprechen auch andere
Anzeichen für dieselben. Der Baumeister war bereits mit Caesar bekannt
(p. 59, 16 p. 203, 11), dann konnte er sich auch der Empfehlungen von Seite der
Schwester des Augustus, der Octavia, rühmen (p. 2, 7). Da Augustus dem
Bauwesen eine besondere Sorgfalt angedeihen Hess, so fasste Vitruv den
Plan, seiner Dankbarkeit dadurch Ausdruck zu geben, dass er dem Kaiser
sein Werk widmete. Als er dasselbe schrieb, war er schon hochbetagt,
denn er klagt, dass das Alter seine verheerende Wirkung an seiner Person
ausübe und seine Gesundheit geschwächt sei (p. 32, 23). Die Abfassung er-
folgte nach der Erbauung des Quirinustempels, 16 v. Ch. (70, 4) und vor
der Errichtung eines zweiten Steintheaters, 13 v. Ch. (p. 71, 3). Sein Werk
schliesst weit mehr in sich als wir heutzutage unter der Architektur verstehen ;
nicht bloss Hoch- und Tiefbau werden abgehandelt, sondern auch die ge-
samte Maschinentechnik. Die Gliederung ist folgende: In den ersten sieben
Büchern ist von den Bauten im engeren Sinn die Rede, im achten von
der Beschaffung des Wassers, im neunten von der Konstruktion der Uhren,
endlich im zehnten von dem Maschinenwesen. In dem Hauptteil über die
Architektur erörtert das erste Buch die Grundlagen der Baukunst und der
Städteanlagen, das zweite die Baumaterialien, das dritte und vierte die
Tempelbauten, das fünfte den Bau der profanen Gebäude, der Theater,
Bäder, das sechste die Privatgebäude, das siebente den Verputz. Auf
seine Gliederung des Stoffs legt der Autor hohen Wert und er wird nicht
müde, zu Anfang und zu Ende der einzelnen Bücher Rekapitulationen an-
zubringen. Charakteristisch sind auch die Einleitungen zu den einzelnen
Büchern, da sie besonders das Wissen verherrlichen. In Bezug auf die Dar-
stellung will Vitruv Kürze und Gedrungenheit anstreben (p. 103, 22 p. 104, 18),
für den Ausdruck nimmt er, da er als Architekt, nicht als Rhetor, nicht
als Grammatiker, nicht als Philosoph schreibe (p. 11, 3), die Nachsicht des
Lesers in Anspruch. Allein von einzelnen Wendungen abgesehen bietet
die Diktion keine sehr erheblichen Anstösse dar und der Fluss der Rede
geht ruhig dahin. Seinen Stoff schöpft er aus eigener Erfahrung (p. 204, 5
p. 269, 10) und dem genossenen Unterricht (p. 91, 12 p. 269, 11), zum grössten
Teil aber aus den griechischen Fachschriftstellern. Öfters nennt er diese aus-
VitrnyiaB Pollio.
231
diücklich als seine Quellen, in der Einleitung zu dem siebenten Buch (p. 158, 13)
teilt er einen grossen Katalog von solchen griechischen Schiiftstellern mit,
der uns mit Erstaunen über die Fruchtbarkeit der Griechen auch auf
diesem Gebiet erfüllt. Allein es ist nicht wahrscheinlich, dass Yitruv alle
diese Schriften gelesen, wenn er sich auch so ausdrückt; er wird jene
Zusammenstellung bereits in einer seiner Quellen vorgefunden haben. Auf
der anderen Seite ist es aber auch unwahrscheinlich, dass Yitruv sich auf
das Ausschreiben eines Werkes wie z. B. des Varro beschränkte; da er in
jener Vorrede heftig gegen die Plagiatoren loszieht, so würde er sich ja
ganz unnötiger Weise selbst das Urteil gesprochen haben. Die verßchiedenen
von ihm behandelten Zweige seiner Disziplin machten ohnehin eine Mehrheit
der Quellen notwendig. Über das Materielle der Leistung vermag nur der
Sachkenner ein massgebendes urteil zu fallen, es wird öfters über die Un-
klarheit der technischen Vorschriften Klage geführt 0 und in dieser Hin-
sicht ist es besonders zu bedauern, dass die Zeichnungen, die er zur Er-
läuterung seinem Werk beigegeben (p. 80, 5 p. 214, 4 p. 215, 8), sich nicht er-
halten haben. Trotz alledem müssen wir dem Autor dankbar sein, dass er uns
eine ganz neue Welt mit einer Fülle von Problemen erschlossen hat. Selbst
der Laie empfängt eine Reihe von interessanten hochwichtigen Anregungen
aus dem Buch und liest nicht ungern die eingestreuten Erzählungen.
Auch für die Person des Autors erwärmt uns die Lektüre. Es freut uns
zu sehen, welche hohe Anforderungen er an seinen Beruf stellt (p. 3, 12), wir
gewahren nicht ohne Rührung, dass auch dieser schlichte Baumeister von
dem, was die edelsten Geister des Altertums gefangen hielt, von der Liebe
zum Nachruhm tief ergriffen ist. Die äusseren Güter achtet er weniger,
ihn hebt die Hoffnung, dass er durch sein Werk seinen Namen der Nach-
welt überliefern werde (p. 133, 6 u. 9); diese Hoffnung hat ihn nicht be-
trogen.
Namen des Autors. Die Handschriften des Werkes nennen ihn Vitruvius, die
Epitome Vitmvius Pollio.
Gliederung, p. 15, 5 partes ipsius architecturae sunt tres, aedificatio, gnomonice,
machinatio. Mit dieser Gliederung steht die Einteilung des Werkes, welches der Be-
schaffung des Wassers ein eigenes Buch widmet, nicht im Einklang.
Quellen, p. 160, 4 folgen auf den Katalog die Worte: quamtn ex commentariis quae
utilia esse his rebus animadverti, coUecta in unum coegi corpus^ et ideo nuucime quod ani-
madverti in ea re ah Graecis volumina plura edita, ab nostris oppido quam pauca. Fu-
ficius enim mirum de his rebus ni primus instUuit edere Volumen^ item Terentius Varro
de navem disciplinis unum de architectura, Puhlius Septimius duo. ampHus vero in id
. genus scripiurae adhue nemo incubuisse videtur, cum fuissent et antiqui cives magni archi-
tecti, qui potuissent non minus eleganter scripta comparare — p. 8, 3 : ideoque de veteribus
architectis Pytheos, qui Prienae aedem Minervae nobiliter est architectatus, ait in suis commen-
tariis (cf. p. 90, 23) — p. 110, 20 (üher die Harmonie) ut potero quam apertissime ex Aristoxeni
scripturis interpretabor et eius diagramma subscribam finitianesque sonituum designabo, uti
qui dUigentius attenderit facilius percipere possit - - p. 204, 5 ex his autem rebus sunt non-
nuUa quae ego per me perspexi, cetera in libris graecis scripta inveni, quorum scriptorum
hi sunt auctores Theophrastos Timaeus Posidonios Hegesias Herodotus Aristides Metro-
dorus, qui magna vigilantia et infinito studio locorum proprietates, aquarum virtutes, ab
inclinatione caeli regionum qualitcUes ita esse distributas scriptis dedicaverunt, quorum
') Er selbst sagt p. 268, 3 : quantum potui
niti iU obseura res per scripturam dilucide
pronuntiaretur contendi, sed haec non est
facüis ratio neque omnibus expedita ad in-
teUegendum praeter eos qui in his generibus
habent exercitationem . quod si qui parum
intellexerit ex scriptis^ cum ipsam rem cog-
noscetf profecto inveniet curiose et subtiliter
omnia ordinata.
232 Bömisohe Litteratorgesohichte. II. Die Zeit der Monarolue. 1. Abteilnng.
secutus ingresstis in hoc libro perscripsi quae saiis esse putavi de aqucte varietatibtis. Über
Archimedes vgl. p. 206, 9, p. 5, 27, über Berosus p. 224, 22, über Aristarcb yon Samos
p. 225, 19 — p. 260, 18, nacodem er von verschiedenen Apparaten des Ktesibios gesprochen,
fährt er fort: e quibus quae maxime täilia et necessaria iudicavi selegi, et in priore volu"
tnine de horologiis, in hoc de expressianibus aquae dicendum putavi. reUqua quae non sunt
ad necessitatetn sed ad deliciarum voJuptatem qui cupidiores erunt eius subtilitatis ex ipsius
Ctesibii commentariis pot erunt invenire, — p. 275, 18 quae sunt ab Diode de maehinijt
scripta quibus sint comparationibus exposui . nunc quemadmodum a praeceptortbus aecepi
et utilia mihi ridentur exponam.
Die Überlieferung basiert Rose auf die zwei Handschriften, den Harleianus 2767
s. IX und den Gudianus 69 s. XI. Hauptausgabe von Rose und Mülleb-Stbübiivo, Leipzig
1867. Index Vitruvianus von Nohl, Leipzig 1876. Übersetzt und erläutert von Rkbeb,
Stuttg. 1864. TERguEM, La science rom, a V^poque d* Auguste, J^tude historique d*aprks Vitrure,
Paris 1885.
Auszug des M. Cetius Faventinus. Das Werk desVitruv wurde auch in einen
Auszug gebracht; in mehreren Handschriften führt derselbe den Titel: De diversis fabrici»
architectonicae ohne Nennung eines Autors; dagegen ist in einer Wiener und in einer Schlett-
stadter Handschrift die Epitome überschrieben: M. Ceti Faventini artis architectonicae pri-
vatis usibus adhreviatus Über. Es ist sonach nicht zweifelhaft, dass M. Cetius Faventinus
der Verfasser der Epitome ist. Das Ziel derselben ist, das für Privatbauten Notwendigste
zusammenzustellen; p. 311, 25 quantum ad privatum usum spectat ^ necessaria huic libelio ordi-
navimus; civitatum sane et ceterarum rerum institutiones praestanti sapientiae memorandas
reliquimus. Sein Gewährsmann ist Vitruv; nur in dem 29. Kapitel fliesst eine andere Quelle.
(Der am Schluss über die maltha beigefügte Traktat ist jüngeren Ursprungs und hat mit
Faventinus nichts zu thun.) Er befolgt aber nicht die Anordnung Vitruvs, sondern geht
hierin seine eigenen Wege. Über die Zeit des Epitomators gibt sein Verhältnis zu Palladius
einigen Aufschluss. Auch Palladius macht nämlich in einer Anzahl von Kapiteln Auszüge
aus Vitruv. Allein diese Kapitel zeigen eine auffallende Übereinstimmung mit Faventinus,
80 dass entweder der eine von dem andern abhängt oder beide aus einem und demselben
Auszug aus Vitruv stammen. Die letzte Annahme ist ausgeschlossen durch die Eingangs-
worte des Epitomators: De artis architectonicae peritia multa oratione Vitruvius Polio aliique
auctores scientissime scripsere . verum ne longa eorum disertaque facundia humVioribus in-
geniis alienum faceret Studium, pauca ex his mediocri licet sermone privatis usibus ornare
fuit consilium. Diese Worte deuten nicht auf eine Epitome einer Epitome, sondern
auf die Konstituierung einer solchen hin. Bezüglich der ersten Annahme aber ist zu be-
merken, dass Faventinus einige Kapitel mehr hat, so dass er also nicht allein aus Palladius
hätte schöpfen können, sondern neben Palladius auch noch Vitruv direkt hätte benützen
müssen; eine solche Annahme ist von vornherein unwahrscheinlich und wird auch nicht
durch die Eingangsworte gestützt. Da umgekehrt Palladius alles aus Faventin entnehmen
konnte, so wird die offen vorhandene Übereinstimmung beider dadurch zu erklären sein,
dass dem Palladius die Epitome des Faventin für sein landwirtschaftliches Werk vorlag.
— Nohl, Comment. Momms. p. 65.*)
Hier möge auch angeschlossen werden:
Der Arzt Antonius Musa. Bekannt ist, dass Antonius Musa den an schwerer
Krankheit damiederliegenden Augustus durch Anwendung des kalten Wassers kurierto
(Suet. 81 Dio 57,30). Infolge dieser glücklichen Heilung win*de die Kaltwassermethodc
Modesache (Plin. 25,77); auf diese Kur spielt Horaz in der 15. Ep. des 1. Buchs an. Den
Namen des berühmten Arztes tragen mit Unrecht einige Schriften:
1) De herba betonica, an M. Agrippa gerichtet;
2) De tuenda valitudine ad Maecenatem, ein Fragment.
Mit der ersten Schrift sind in einigen Handschriften zwei in Senaren abgefasste Gc
dichte verbunden:
1) Precatio terrae. In diesen nicht üblen Versen wird die Erde als die Allmutter
verherrlicht und zuletzt angerufen, den von dem Dichter angewendeten Kräutern die erhoffte
Wirkung zu gewähren.
2) Precatio omnium herbarum. In diesem Gedichte werden die Kräuter selbst
gebeten, allen, denen sie verordnet werden, die Gesundheit zu verleihen.
') Wenn hie und da Palladius einen Aus-
druck im Gegensatz zu Faventin mit Vitruv
gemeinsam hat, z. B. 1, 9, wo er das Verbum
torquere mit Vitruv 7, 1 (p. 163) gebraucht,
während Fav. 19 (p. 301) arcuare hat, und
gleich darauf in pavimento hinzufügt, wäh-
rend Faventin dies weglässt, so darf man viel-
leicht annehmen, dass er die eine oder die
andere Stelle im Vitruv selbst nachgeschlagen.
Rückblick. 233
Auch diese Gedichte können wir nicht mit Fug dem Antonius Mnsa beilegen. —
Herausgegeben sind diese Senare von Riese, Anthol. nr. 5 n. 6, Bahrens, PLM. 1, 138, M.
Schmidt, Jenaer Index lectionum des J. 1874.
356. Bückblick auf die augusteische Zeit« Die von uns zurück-
gelegte Epoche Bchliesst in sich die Blüte der römischen Poesie. Nicht
bloss war die dichterische Produktion eine so grosse, dass Ovid einen
völligen Dichterkatalog seinen Lesern vorführen konnte; auch intensiv ge-
wann die Poesie ungeheuer. Die poetische Technik erhielt ihre feinste
Ausbildung und gelangte in die festen Bahnen, wie sie nur ein fortge-
setzter Schulbetrieb schaffen kann. Der poetische Sprachschatz wurde
ausserordentlich erweitert; durch die vereinten Bemühungen der vielen
Poeten bildete sich ein konventionelles Sprachgut, das die Arbeit des
Dichtens ungemein erleichterte. Die Metrik wurde sehr verfeinert und an
strenge Normen gebunden. Ein Vergleich der Dichtungen aus der Zeit der
Republik und der Monarchie lässt einen ungeheueren Fortschritt in sprach-
licher und metrischer Hinsicht erkennen. Die poetische Schaffenslust treibt
an allen Zweigen ihre Blüten, nur an dem Baum der dramatischen Poesie
will es nicht recht keimen und sprossen. Zwar werden auch zwei Schö-
pfungen dieser Zeit, die Medea Ovids und der Thyestes des Varius als
Meisterwerke bewundert, ferner taucht der merkwürdige Versuch auf, das
feinere römische Nationallustspiel durch das Ritterstück, die fabula trabeata,
neu zu beleben. Allein trotzdem ist der Verfall des Dramas unverkenn-
bar. Dieser zeigt sich einmal darin, dass sich der Schwerpunkt der sce-
nischen Aufführungen nach der Seite der gemeinen Possen, der Atellana
und namentlich des Mimus zu verschiebt, dann darin, dass selbst, wenn
Tragödien der alten Meister gegeben werden, auf die äussere Pracht der
Darstellung ein ungebührliches Gewicht gelegt wird. *) Doch den schwersten
Schlag brachte der scenischen Dichtung der Pantomimus^) bei, dessen
Entstehen in unseren Zeitraum fällt. Auf der Trennung des Gesangs und
der Aktion, dieser merkwürdigen Erscheinung des römischen Dramas
baut sich diese neue Spielart auf. Eine Handlung wird in eine Reihe
von packenden Situationen aufgelöst; dieselben werden in der Regel sämt-
lich von einem einzigen maskierten Schauspieler durch Aktion, besonders
der Hände und des Kopfes, dann durch Tanz dargestellt, während ein
Chor einen für jegliche Situation passenden Text sang. Die Pantomimen
Pylades aus Cilicien und Bathyllos aus Gilicien sind die Schöpfer dieses
Spiels. Ihre Produkte unterscheiden sich aber dadurch von einander, dass
Pylades seine Stoffe der Tragödie anpasste, Bathyllos dagegen das komi-
sche Genre pflegte. Allein der tragische Pantomimus, der mit Vorliebe
aus der Mythologie schöpfte, scheint den komischen bald verdrängt zu
haben. Bei diesen scenischen Aufführungen war das dichterische Wort
sehr untergeordnet; es ist daher nicht zu verwundern, dass der Panto-
mimus, obwohl Dichter wie Lucan und Statins Texte für denselben lieferten,
doch der Litteratur ferne blieb. Durch den Pantomimus wurde die Schau-
0 Vgl. die Klage des Horaz £p. 2, 1, 187. | *) Vgl. FBiEnairDEB, Sittengesch. 2«, 447 fg.
234 Bömische LitteratorgeBchichie. II. Die Zeit der Monarchie« 1. Abteilung.
lust namentlich der Gebildeten befriedigt; für das Vergnügen der grossen
Menge sorgten ausser der Posse noch die Wagenrennen, die Gladiatoren-
spiele^ die Naumachien. Alles dies wirkte zusammen, um, wie gesagt,
eine reiche Pflege der dramatischen Poesie zu verhindern. Um so mehr
wurden die übrigen Felder der Poesie bebaut. Besonders war es das
Epos, dem sich eine ganze Schar von Dichtern zuwendete, seit Vergil
durch seine Aeneis das römische Eunstepos geschaffen und damit allen
späteren Epikern ein unerreichbares Muster hingestellt hatte. *) Historische
und vornehmlich mythologische Stoffe wurden um die Wette bearbeitet;
unter den historischen Themen nehmen die Panegyrici auf hervorragende
Zeitgenossen, besonders auf die Glieder des Herrschergeschlechts eine be-
sondere Stelle ein. An die Seite des Epos trat die poetische Erzäh-
lung. Diese Form wurde durch Ovid in seinen Metamorphosen auf
die höchste Stufe gebracht, indem sich Anschaulichkeit mit gefälliger,
leichter Darstellung in wunderbarer Harmonie verband. Auch das Lehr-
gedicht erhielt in unserer Periode sein Meisterwerk, nämlich Vergils
Georgica, in denen ein uns sympathisch berührender Stoff mit ungemeiner
Zartheit dem Leser vorgeführt wird. Diesem ausgezeichneten Gedicht
dürfen sich Ovids Liebeskunst und sein Festkalender an die Seite stellen.
Ist dort auch ein frivoler Stoff Gegenstand dichterischer Behandlung, so
nimmt doch jeden die spielende Leichtigkeit der Darstellung völlig ge-
fangen; dem Festkalender hat aber die bewunderungswürdige Erzählungs-
kunst des Dichters den schönsten Schmuck verliehen. Gegenüber diesen
leuchtenden Produktionen konnten stoffliche Lehrgedichte wie die des
Aemilius Macer, seine Theriaka, Ornithogonia, Botanik nicht durchdringen ;
sie gingen daher unter. Selbst des Grattius Gynegetica würden wir keine
Thräne nachweinen, wenn sie ebenfalls in den Orcus hinabgesunken wären.
Die poetische Plauderei, die Satura wurde durch Horaz neu kon-
stituiert. Er bestimmte für sie den Hexameter als das gesetzliche Mass,
dann beschränkte er sie mit Ausschluss der Politik auf Probleme des so-
zialen und litterarischen Lebens. Neben der Satura erkor sich der Dichter
noch den Brief zum Organ seiner Plauderei. Während sich die Satire
an das grosse Publikum wendet, ist der Brief an eine einzelne Person ge-
richtet, dadurch ergibt sich aber in der Regel eine Verschiedenheit der
Darstellung. Ganz dasselbe Verhältnis herrscht zwischen den Tristia und
den pontischen Briefen Ovids. In den Heroides desselben Dichters ist die
Briefform nur gewählt, um die Schilderung von Affekten bequem an einen
allgemein bekannten Vorgang anzuknüpfen. Zur reichsten Entfaltung ge-
langte in der augusteischen Zeit die Elegie. Hier treten uns die Meister
Cornelius Gallus, Tibull, Properz, Ovid entgegen. Des Gallus Liebeselegien
sind uns leider nicht erhalten; die drei andern Dichter erschliessen uns
die Möglichkeit, ganz verschiedene Seiten derselben Gattung kennen zu
lernen. Tibull entzückt uns durch liebevolle Bilder des ländlichen Still-
lebens und des Liebesglücks, Properz durch die tiefe, allerdings oft durch
gelehrtes Beiwerk verschleierte Glut der Empfindung, Ovid durch die
^) Vgl. Haube, De carminibus epicis saeculi Auguati, Breslau 1870.
BückbUck. 235
rhetorisch wirksame Zeichnung der Affekte. Die römische Elegie ruht
mehr oder weniger auf dem Fundament der alexandrinischen, welcher das
mythologische Beiwerk unentbehrlich ist. In viel entlegenere Zeiten des
Hellenentums führen uns dagegen die lyrischen Versuche des Horaz. Nach-
dem er in seiner Jambenpoesie (den Epoden) sich an Archilochus ange-
lehnt hatte, hier übrigens Muster auch unter den früheren römischen Dichtern
vor sich sah, machte er in seinen Oden den kühnen Versuch, das alte les-
bisch-anakreontische Lied in die römische Litteratur einzubürgern. Weniger
glücklich waren die Römer auf dem Gebiet der Idylle; auch unsere Epoche
hat hier keine Leistungen ersten Ranges aufzuweisen, denn die Eklogen
Vergils mit ihren allegorischen Anspielungen vermögen als ein krank-
haftes Produkt uns nicht zu erwärmen; ein schönes Kabinetsstück der
Kleinmalerei ist dagegen das Moretum. Sehr eifrig gepflegt wurde das
Epigramm; als kleines Gebilde eignete es sich vortrefflich zur Ausfüllung
müssiger Stunden. Es wurden daher ausserordentlich viele Epigramme
verfasst, auf Priapus waren soviele von verschiedenen Verfassern vor-
handen, dass dieselben sogar zu Sammlungen vereinigt werden konnten. Mit
einem eigenen Epigrammenwerk erschien Domitius Marsus vor dem Publikum.
Gegenüber dieser reichen poetischen Produktion steht die prosaische
Schriftstellerei sehr im Hintergrund, doch gelangt auch die Prosa an
einen Wendepunkt ihres Daseins. Durch die veränderten rhetorischen
Studien wird der Sinn auf das Pikante gerichtet, der prosaische Stil wird
dadurch ein manierierter. Von den einzelnen Fächern hat die Geschichte
die glänzendsten Leistungen aufzuweisen. Das Werk des Livius, das die
gesamte römische Geschichte in anmutiger Weise erzählte, hat tief in die
Entwickelung der römischen Historiographie eingegriffen. Neben derselben
ist das Unternehmen des Trogus Pompeius, die erste Universalgeschichte
in lateinischer Sprache, rühmend hervorzuheben. In der Geographie hat
die öffentlich ausgestellte Karte des M. Agrippa eine Epoche begründet.
Ein entschiedenes Zurückgehen ist in der Beredsamkeit zu verzeichnen,
da sich dieselbe infolge der politischen Umgestaltung vom Forum in die
Schulstube flüchtet und die Stelle des Redners jetzt der Deklamator einninmit.
Die Philosophie lässt in der Schule der Sextier die Spekulation zurück-
treten und weist einen entschiedenen Zug für das Praktische, für die Ge-
staltung des Lebens auf. Unter den Fachwissenschaften hat die
Philologie tüchtige und fleissige Arbeiter in Verrius Flaccus und in
C. Julius Hyginus, die Jurisprudenz leuchtende Gestirne in M. Anti-
stius Labeo und in G. Ateius Capito, die Baukunde endlich eiuen wackern
Vertreter in Vitruvius PoUio. Allein nicht bloss dem Stofflichen sind
die Studien zugewendet, wir gewahren auch tiefere Spekulation über den
Aufbau der einzelnen Disziplinen. In drei Wissenszweigen, der Gram-
matik, der Rhetorik und der Jurisprudenz wurde die Frage erörtert, ob
sich allgemein giltige Gesetze aufstellen lassen oder nicht, ob Regel-
mässigkeit oder Regellosigkeit anzunehmen ist. An den Streit, der sich
in jener Frage erhob, knüpft sich der wissenschaftliche Fortschritt jener
Disziplinen.
B. Vom Tode des Augustus bis zur Regierung Hadrians
(14 n. Ch. bis 117 n. Gh.).
Die Stellung der Regenten zur Litteratur.
367. Tiberius (14—37). Der Kaiser Tiberius war sowohl in der griechi-
schen wie in der römischen Litteratur sehr bewandert. In der Rhetorik hatte
er zum Lehrer den berühmten Gegner ApoUodors Theodorus von Gadara;
im lateinischen Stil schloss er sich an Messalla Gorvinus als Vorbild an.
Allein sein ungerades Wesen führte ihn auch hier auf Abwege. Er schrieb
affektiert und gesucht — daher wob er gern in seine Darstellung alter-
tümliche Ausdrücke ein, auch sein strenger Purismus wird hier seine
Wurzel baben — und haschte absichtlich nach Dunkelheit und Zweideutig-
keit der Bede. Von den Griechen gefielen ihm, was auch charakteristisch
für seine Geschmacksrichtung ist, besonders die gelehrten Alexandriner
Euphorien, Bhianus und Parthenius; die Buchgelehrsamkeit dieser Dichter,
besonders die Mythologie zog ihn in hohem Grade an, und es ist be-
kannt, wie gern er durch verfängliche Fragen aus diesem Gebiete den
Grammatikern Fallstricke legte (Suet. 70). Auch versuchte er sich selbst
in griechischen Gedichten, worin er jenen Meistern nacheiferte. Ausser-
dem schrieb er ein lyrisches Gedicht auf den Tod des L. Caesar in latei-
nischer Sprache. Endlich gab es von ihm ein Memoirenwerk über sein
Leben, ein Lieblingsbuch Domitians, in dem er der Wahrheit frech ins
Gesicht schlug (Suet. 61).
Trotz dieser litterarischen Neigungen Tibers hatte doch die Litteratur
unter seiner Regierung eine sehr gedrückte Stellung. Seinem misstrauischen
Charakter konnte leicht jedes Wort zum Stein des Anstosses werden und
seiner Rachsucht ward es schwer, über einen Angriff hinwegzusehen.
Zahlreich sind daher die litterarischen Verfolgungen, die von ihm aus-
gingen. Den Dichter Aelius Saturninus Hess er vom Kapitel herabstürzen,
weil er einige Verse gegen ihn gemacht hatte (Dio 57, 22). Auf Grund
der gleichen Anschuldigung wurde der Dichter Sextius Paconianus im
Kerker erdrosselt (Tac. Ann. 6, 39). Der als Deklamator hochangesehene
Mamercus Scaurus hatte eine Tragödie Atreus geschrieben; es wurden
TiberiuB. C. Caesar Calignla.
237
darin Verse aufgespürt, welche eine Deutung auf Tiberius zuliessen; sofort
wurde gegen den Verfasser vorgegangen (Suet. 61 Tac. Ann. 6, 29). Gremu-
tius Gordus hatte das Verbrechen begangen, in seinen Annalen den M. Bru-
tus zu loben und dessen Ausspruch, Gassius sei der letzte der Römer, bei-
fällig anzuführen. Dies genügte, dem Historiker den Prozess zu machen.
Treffende Worte sind es, die der Angeschuldigte zu seiner Verteidigung
und für die Freiheit des schriftstellerischen Schaffens vorbrachte. Golden ist
der Satz: Spreta exolescunt: si irascare, adgnita videntur. Er endete sein
Leben durch Enthaltung von Speise und Trank, seine Schriften wurden
von den Ädilen verbrannt; allein sie waren doch dem Untergang ent-
ronnen (Tac. Ann. 4, 34). Ausser den Schriftstellern waren es die Schau-
spieler, gegen welche sich der Groll des Herrschers kehrte; sie mochten
ja manches freie Wort von der Bühne herab gegen ihn geschleudert haben;
besonders in der Atellana (wie im Mimus) war für solche Improvisationen
reichlich Gelegenheit gegeben. Die Strafe der Ausweisung aus Italien
schloss ihnen den Mund (Tac. Ann. 4, 14). Nicht genug, auch der Gehilfe
des Tiberius Seianus nahm an diesen Verfolgungen Teil; jedermann weiss
aus den Fabeln des Phaedrus, wie sehr der Dichter unter diesen Ghikanen
zu leiden hatte. Bei einer solchen systematischen Verfolgung aller Ge-
danken — die eine oder die andere Ausnahme, wie die Begnadigung des
Pasquillanten G. Gominius (Tac. Ann. 4, 31) oder die Honorirung des Asellius
Sabinus^) für einen Wettstreit zwischen dem Ghampignon, der Feigen-
drossel, der Auster und dem Erammetsvogel (Suet. 42) ändern daran nichts
— musste entweder die Schriftstellerei verstummen oder sich Gebieten zu-
wenden, die der Gegenwart fern lagen.
358. G. Caesar Galigula (37— <41). Tiberius' Nachfolger war in
seinem Wahnsinn unberechenbar, auch in seinem Verhältnis zur Litteratur.*)
So Hess er Exemplare der Werke des Titus Labienus, Gremutius Gordus,
Gassius Severus, deren Vernichtung Senatsbeschlüsse angeordnet hatten,
aufsuchen und der uneingeschränkten Benutzung übergeben, er habe ein
Interesse daran, meinte er, dass die Kenntnis der Geschichte den nach-
kommenden Generationen erhalten bleibe (Suet. 16). Auf der andern Seite
wollte er die Gedichte Homers vernichten; wenn Plato ihn aus seinem
Idealstaat hinweggewiesen habe, warum sollte nicht auch er dies thun
dürfen? Ebenso war er nahe daran, Werke und Büsten des Vergil und
des Livius aus den öffentlichen Bibliotheken zu entfernen, der Dichter sei
ein geistloser und ungelehrter Mensch, der Historiker aber wortreich und
nachlässig. Auch der Jurisprudenz drohte er den Garaus zu machen, er
wolle es noch dahin bringen, dass niemand ohne ihn respondiere (Suet. 34).
Seinen Wahnsinn zeigt das Verfahren, das er bei den von ihm veranstalteten
Wettkämpfen in der griechischen und römischen Beredsamkeit einhielt;
die Besiegten mussten die Preise für die Sieger selbst stellen und Pane-
gyriken auf sie verfertigen; diejenigen, welche im Wettstreit mit ihren
Produkten am wenigsten Anklang gefunden hatten, zwang er, ihre Manu-
') KiEssLivo, Fleckeis. J. 103, 646 iden-
tifiziert ihn mit Sabinus Asilius bei Sen.
Buas. 2, 12 und Asillius bei Suet. Calig. 8.
*) Muwx-Seyffbbt, Gescb. d. röm. Litte-
ratur 2, 185.
238 fiömische Litteraturgesotiichte. It. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
Scripte mit Schwamm oder Zunge auszuwischen, wenn sie es nicht vor-
zogen, durchgeprügelt zu werden oder in dem nächsten FIuss unterzu-
tauchen (Suet. 20). Von diesen närrischen Streichen abgesehen, scheint er
jedoch systematische Verfolgungen der Schriftsteller nicht in Scene gesetzt
zu haben. Die Quellen berichten uns nur einige Massregelungen und diese
betrafen untergeordnete Persönlichkeiten. Der Rhetor Carina Secundus
wurde wegen einer Deklamation über das altherkömmliche, abgedroschene
Thema »Gegen die Tyrannen" dem Feuertod überliefert (Dio 59,20); einen
Atellanendichter Hess er wegen eines zweideutigen Scherzes mitten auf der
Bühne verbrennen (Suet. 27). Merkwürdig ist, dass auch dieser schreckliche
Mensch der Litteratur seinen Tribut darbringen musste. Er schrieb zwar
keine Schriften, allein er geizte nach dem Ruhme des Redners; und hier
konnte er ausserordentlich eifersüchtig werden. Eine schöne Rede, die
einmal Seneca im Senat und vor dem Kaiser gehalten hatte, hätte dem
Philosophen fast das Leben gekostet (Dio 59, 19). Übrigens hatte er es
wirklich als Redner zu einiger Vollkommenheit gebracht; besonders in der
Erregung flössen ihm die Worte leicht, auch seine Stimme gewann Modu-
lation und Kraft unter der Herrschaft des Affektes. Zierlichkeit des Stils
war dieser rohen Natur durchaus verhasst, er verachtete darum den Mode-
schriftsteller jener Tage, Seneca; der schreibe, sagte er, blosse Schaustücke
zusammen und sei Sand ohne Kalk (Suet. 53).
359. Claudius (41—54). Claudius war fünfzig Jahre alt, als er zur
Regierung kam. Bis dahin hatte er verlassen und zurückgezogen mit
wissenschaftlichen Beschäftigungen seine Zeit hingebracht. Vornehmlich
war es die Geschichte, welche er unter Beihilfe des Sulpicius Flavus kul-
tivierte; Livius hatte ihm hiezu die erste Anregung gegeben, vermutlich
aus Mitleid mit dem armen Menschßn. Seine ersten Versuche in der Ge-
schichtschreibung recitierte er; allein auch hier spielte ihm seine Unge-
schicklichkeit einen schlimmen Streich. Ein komischer Vorfall, der zu
Beginn der Vorlesung eintrat, nötigte ihm Lachen ab und er konnte das-
selbe auch im weiteren Verlauf der Vorlesung nicht mehr unterdrücken.
Zuerst wollte er die Zeit vom Tode Cäsars an darstellen; allein er kam
nicht über das zweite Buch hinaus, da er es weder seiner Mutter noch
seiner Grossmutter recht machen konnte. Er nahm sich daher eine spätere
Periode zum Vorwurf, er behandelte die Zeit vom bürgerlichen Frieden in
41 Büchern. Es ist eine bestechende Vermutung,^) dass das Werk von
Octavians Ernennung zum Augustus bis zu dessen Tode reichte und, da
dieser Zeitraum 41 Jahre umfasste, in jedem Buch die Ereignisse eines
Jahres schilderte. Ausser diesem grossen Werke publizierte er noch seine
Autobiographie {de vUa sua) in 8 Büchern. Sie war nach dem Urteil
Suetons zwar nicht ohne Eleganz, aber doch im ganzen geschmacklos.
Diese Schriften waren in lateinischer Sprache abgefasst; der fleissige Ge-
lehrte schrieb aber auch Historisches in griechischer Sprache, eine tyr-
rhenische Geschichte in 20 und eine karthagische in 8 Büchern. Diesen
beiden Schöpfungen hatte er sein ganzes Herz zugewendet und er war
^) BOcHELER, Kommentar zu Senecas Apocolocynt. p. 48.
Clandins.
239
aufs ängstlichste bestrebt, ihr Andenken zu erhalten. Er errichtete daher
neben dem alten Museum in Alexandrien ein neues und verordnete, dass
in dem einen Museum die tyrrhenische Geschichte, in dem andern die
karthagische an bestimmten Tagen vorgelesen werden sollte. Der Verlust
der beiden Werke ist sehr zu beklagen, wir würden sicher vieles daraus
lernen, ist ja auch „was in der auf der Lyoner Tafel fragmentarisch
erhaltenen Rede des Claudius über die Etrusker vorkommt, fast noch
wichtiger als was wir bei Livius darüber lesen''.*) Doch ist damit seine
Schriftstellerei noch nicht abgeschlossen. Als Asinius Gallus, der Sohn
des Asinius PoUio in einer Schrift einen Vergleich zwischen Cicero und
seinem Vater anstellte und letzteren auf Kosten des ersteren in die Höhe
hob, schrieb Claudius eine gelehrte Entgegnung. Auch philologische Pro-
bleme interessierten den vereinsamten Prinzen in hohem Grade. Seneca
spielt auf diese Studien in seiner giftigen Satire an, er lässt den ver-
storbenen Claudius grosse Freude darüber empfinden, dass es im Himmel
auch Philologen gebe; Herkules hatte ihn nämlich mit einem homerischen
Verse examiniert (5). Besonders war es die Verbesserung des lateinischen
Alphabets, welche seinen Geist beschäftigte. In einer Untersuchung über
dasselbe schlug er drei neue Zeichen vor; eines für das konsonantische
V, welches in der Schrift nicht von dem vokalischen unterschieden wurde;
er nahm das umgekehrte Digamma (d); ein zweites für die Lautverbindungen
bs, ps; dieselben sollten durch das Antisigma (d) ausgedrückt werden,
endlich ein drittes für den zwischen u und i in der Mitte liegenden Laut,
den das griechische Y bezeichnet; er wählte die ursprüngliche Form des
griechischen Spiritus asper (h). Diese Reformen blieben natürlich ganz
unbeachtet, insolange Claudius Privatmann war. Als er den Thron be-
stieg, tauchen die neuen Zeichen, wenigstens das erste und das dritte^) —
in Inschriften auf, um bald darauf wieder zu verschwinden. Da Claudius
dem Würfelspiel leidenschaftlich ergeben war, widmete er auch diesem
Gegenstande eine Monographie; vermutlich hatte dieselbe einen antiqua-
risch-gelehrten Charakter (Suet. 33). Seine Schriften wurden eine Zeitlang
benutzt, die historischen namentlich von Sueton und Plinius — dann fielen
sie sämtlich der Verschollenheit anheim. Dagegen hat sich eine Rede auf
der bereits erwähnten Lyoner Erztafel, welche im Jahre 1524 aufgefunden
wurde, erhalten. Diese Rede wurde im Jahre 48 n. Ch. im Senat vorgetragen.
Der gallische Adel hatte sich um das ius honorum beworben. Es erhoben
sich Stimmen dafür und dagegen. Claudius sprach sich für Gewährung
der Bitte aus, indem er ausführt, dass stets Neuerungen in dem römischen
Staatswesen üblich gewesen seien, dann (hier ist ein Stück der Tafel ver-
loren) die Ausdehnung des römischen Bürgerrechts, sowie die fortwährende
Ergänzung des Senats durch Heranziehung neuer Kreise urgiert. Aus
dem Schriftstück können wir uns eine Vorstellung von der Darstellungs-
weise des Kaisers machen. Wü* finden Gelehrsamkeit in geschmackloser
Weise aufgestapelt; im Ausdruck ist die Absurdität bemerkenswert, dass
>) So Ranke, Weltgesch. 8, 1, 98.
*) FQr das zweite, das Antisigma fehlt
es an einem beglaubigten Beispiel. Weiterhin
finden wir jetzt die Schreibung AJ statt AE.
(CJL, 6, 353 51 n. Ch.).
240 BOmische Lüieratargesohichie. II. Die Zeit der Monarchie. 1« Abteilung.
der Kaiser sich selbst anredet. Noch in einer andern Beziehung erregt
das Aktenstück unser Interesse; dasselbe wurde von Tacitus in seinen
Annalen benutzt (11,24); wir haben hier ein Beispiel, wie die antiken
Historiker, vor allem auf die Einheit des Stils bedacht, solche Originale
ihrer Darstellung anpassen. In neuester Zeit ist noch ein Aktenstück
hinzugekommen; im Jahre 1869 wurde nämlich bei Trient eine Erztafel
gefunden, welche ein Edikt des Princeps aus dem Jahr 46 enthält. Es
handelte sich um das Eigentum von gewissen Landstrecken, welche in
jenen Gegenden am Südabhang der rätischen Alpen nach Anzeige der
römischen Regierung gehörten, aber derselben widerrechtlich entzogen
wurden; die Untersuchung darüber war jetzt zum Abschluss gekommen;
bei dieser Gelegenheit ordnete der Kaiser auch die persönlichen Rechts-
verhältnisse der Bewohner (Anauni, Tulliasses, Sinduni) in jenen Gebieten;
obwohl dieselben das römische Bürgerrecht, von dem sie Gebrauch gemacht
hatten, nicht erweisen konnten, verlieh ihnen Claudius jetzt dasselbe ausdrück-
lich und zwar mit rückwirkender Kraft. Auch dieses Dokument liefert uns
einen Beitrag zur Kenntnis des Glaudianischeu Stils; der Anfang mit seinem
Gewirr von Sätzen und seinem unerträglichen Anakoluth zeigt die „nur
bei einem allerhöchsten Konzipienten denkbare souveräne Verachtung der
Stilgesetze und des gesunden Menschenverstandes".
Unter einem solchen Herrscher konnte die Schriftstellerei von den
schweren Verfolgungen, die sie unter Tiberius erlitten, sich wieder er-
holen. Die steigende Bedeutung der Litteratur am Hof führte zur Ein-
führung eines eigenen Amtes „a studiis". Wir finden dasselbe unter
Claudius' Regierung fest organisiert, der mächtige Freigelassene Polybius
bekleidete dasselbe.
Zeugnisse über die Schriftstellerei des Claudias. Die Hauptstelle ist
Suet. 41 und 42. Die Fragmente der historischen Schrift siehe bei Peter (1883) p. 295. Die bei
Tacit. Ann. 13,47 erwähnten Commentarii des Claudius sind Notizen, Aufzeichnungen und
Akten und dgl., die Claudius fOr seinen Handgebrauch, aber nicht für die Herausgabe be-
stimmt hatte. Über die neuen Buchstaben vgl. noch Tac. Ann. 11, 13 und 14, Quint 1, 7, 26
Priscian 1, 15 H (Buecheleb, De Ti. Claudio Caesare grammcUico, Elberf. 1856). Wir
fügen noch hinzu: Suet. 11 ad frcUria memoriam comoediam quoque Graecam NeapolUano
certamine docuit ae de sentetUia iudicum coronavit.
Die Lyon er Erztafel ist abgedruckt und kommentiert in der Ausgabe der Taci-
teischen Annalen von Nippebdey (2, 313), die zweite Tafel ist abgedruckt CJL. 5,5050,
kommentiert von Mommsek Hermes 4, 97 ; sie steht auch bei Bruns fontes p. 224.
860. Nero (54— 68).^) Auch der Nachfolger des Claudius Nero
nahm der Litteratur gegenüber eine freundliche Haltung ein. Als Knabe
wurde er fast in alle Disziplinen, welche der Ausbildung des Geistes
dienen können, eingeführt. Freilich bekämpften sich wie im späteren
Leben, so auch schon hier entgegengesetzte Bestrebungen; die Mutter
Neros wollte nichts von Philosophie wissen, sein Lehrer Seneca dagegen
nichts von dem Studium der alten Redner. Seine rhetorische Ausbildung
scheint in der That unvollkommen gewesen zu sein; ausdrücklich wird
berichtet, dass er der erste Princeps war, der bei seinen Reden fremde
Konzepte zu Grunde legte (Tac. Ann. 13, 3). Unbestritten blieb ihm das
Feld der Dichtkunst; Nero machte gern Verse; noch zur Zeit Suetons
') Münk-Seyffekt, Gesch. d. röm. Litt 2, 196.
Kero. 241
konnte man die Schreibtafeln sehen, welche Konzepte seiner Dichtungen
von seiner Hand mit vielen Korrekturen enthielten. Es trat zwar die
Meinung auf, seine Werke seien unter fremder Beihilfe zu Stande ge-
kommen und man merke dies seinen Gedichten noch an, da sie weder Schwung
und Begeisterung atmeten, noch aus einem Gusse seien (Tac. Ann. 14,
1 6). Allein wenn dies auch hie und da sicherlich der Fall war, ist es doch
sehr unwahrscheinlich, dass auf diese Weise alle Gedichte Neros ent-
standen. Dass bei seinen Versifikationen viel Spielerei mitunterlief, ist
nicht zweifelhaft.*) Doch wollte er auch durch grössere Werke sich dich-
terischen Ruhm erwerben; eines kam wirklich zu Stand, die »Troica*.
Ferner gedachte er ein Epos über die gesamte römische Geschichte zu
schreiben; ehe er damit anfing, ging er mit sich und anderen über die
Zahl der Bücher zu Rat. Als manche den Umfang eines solchen Werkes
auf vierhundert Bücher berechneten, meinte der Stoiker Annaeus Cornutus
mit Recht, soviel Bücher würde wohl niemand lesen, und als man ihm
entgegen hielt, dass ja sein Meister Ghrysippus noch mehrere geschrieben,
erwiderte er, dessen Schriften seien aber für das menschliche Leben heil-
sam. Diese freimütige Äusserung musste der Philosoph mit der Ver-
bannung büssen (Dio 62, 29). Die Hauptanziehung, welche die Poesie für
Nero hatte, lag darin, dass sie ihm Gelegenheit gab, als Recitator oder
Sänger sich dem Publikum zu zeigen. Hier Lorbeeren zu ernten, war das
höchste Ziel seines Ehrgeizes. So trug er seine Troica an dem Feste der
QuinquennaUa (65) vor (Dio 62, 29) ; dieses Fest hatte er selbst im Jahr 60
gegründet, an demselben sollten musische, gymnische und Rennkämpfe
abgehalten werden (Tac. Ann. 14, 20). Dann sang und agierte er einzelne
tragische Scenen, er stellte z. B. die Ganace in Geburtswehen, den Mutter-
mörder Orestes, den blinden Oedipus dar (Suet. 21). Die für diese Ge-
sangsvorträge notwendigen Texte wird sich Nero grösstenteils selbst gemacht
haben; es waren auch solche Neronische Produkte im Gebrauch (Philostr.
Apoll. 4, 39). Wenn man nach dieser Vorliebe Neros für die Poesie meinen
sollte, dass ihm die Dichtkunst eine besondere Förderung verdankte, so
wäre diese Meinung eine irrige; er beneidete vielmehr die dichterischen
Talente, weil er glaubte, dass sie seinen Ruhm gefährdeten; Lucan war
deshalb seinen Ghikanen ausgesetzt (Tac. Ann. 15, 49). Gegen persön-
liche Angriffe war er dagegen weniger empfindlich. Den Autoren der
vielen gegen ihn kursierenden Verse spürte er nicht nach, und als manche
dem Senat angezeigt wurden, untersagte er eine schärfere Ahndung der-
selben. Ebenso bestrafte er nur mit der Verbannung die Schmähungen, welche
ihm der cjmische Philosoph Isidor auf offener Strasse entgegenschleuderte, und
die boshafte Anspielung eines Atellanenschauspielers auf den Tod des Claudius
und der Agrippina (Suet. 39). Zurückhaltend war er auch bei der Anklage
gegen den Dichter Antistius (Tac. Ann. 18, 48). Nach der Entdeckung der
Pisonischen Verschwörung aber traf seine Grausamkeit auch die Schriftsteller;
der Lehrer des Persius Verginius Flavus und der berühmte Stoiker C. Mu-
sonius Ruf US wurden damals in die Verbannung getrieben (Tac. Ann. 15, 71)«
') Z. B. Gedichte lasciven und spötti-
schen Inhalts (Hart. 9, 26, 9 Plin. ep. 5, 3, 6.
Plin. n. h. 37, 50 Tac. Ann. 15, 49 Suet. Ner<>
24). Vgl. 0. Jahn zu Persius p. LXXVI,
Handbach der klias. Altertnnwwlmenachftft. VUI. 2. Teil, 16
242 Römische LitterattirgeBohiohte. II. Die Zeit der Monarolüe. 1. Abteilung.
Über die Scbriftstellerei Neros ist alles Nötige beigebracht von 0. Jahn in
seiner Ausgabe des Persius p. LXXV. Hauptstelle: Suet. 52. Die Bruchstücke seiner Ge-
dichte (wir verdanken dieselben besonders der ersten Satire des Persius) finden sich bei
Bahrens fragm. p. 368. Dio 62, 18 Suet 38 berichten, dass Nero die ftXto^it *lXlov beim
Brande Roms (64 n. Ch.) zur Kithara vortrug. (Dies ist wohl eine Mythe, vgl. Ranks, Welt-
gesch. 3, 1 p. 168). Dagegen ergibt sich aus dem ersten Einsiedler Bucolicon, dass er über
das Ende Trojas bei einem Agon sang und deswegen bekränzt wurde. Das Verhältnis der
akfüifie zu den Troica kann nur das gewesen sein wie das der ^'Exro^og XvtQa zu der
Ilias, d. h. wie das des Teils zum Ganzen" (Bügheleb, Rh. Mus. 26, 238).
361. Die Flavier (69—96). Der dumpfe Schrecken, welchen die Grau-
samkeit Neros in seinen letzten ßegierungsjahren über alle Schichten der Be-
völkerung verbreitet hatte, hörte auf, als die Flavier zur höchsten Macht ge-
langten. Vespasian (69—79) und sein Sohn Titus (79—81) regierten mit
Milde. Obwohl beide zunächst tapfere Soldaten waren, so erscheinen sie doch
nicht von höherer Bildung entblöst. Vespasian konnte sich ganz geläufig
griechisch ausdrücken (Tac. bist. 2, 80); an Titus rühmt der ältere Plinius
in dem ungemein interessanten Widmungsbrief seine Beredsamkeit und
sein poetisches Talent. Vespasian hinterliess Denkwürdigkeiten,^) Titus
verfasste im Jahre 76 ein Gedicht über einen Kometen (Plin. 2, 89). Bei
beiden überwogen jedoch die praktischen Interessen in der Weise, dass
eine tiefgehende Neigung für die Litteratur bei ihnen nicht anzunehmen
ist. Aber in äusseren Dingen zeigte sich das Wohlwollen des neuen Re-
giments. Vespasian war freigebig gegen Dichter und Künstler (Suet. 18);
er liess die beim Brand des Kapitels untergegangenen 3000 Erztafeln nach
Kopien, die überall aufgesucht wurden, wieder herstellen (Suet. 8); er
widmete den scenischen Aufführungen seine Aufmerksamkeit (Suet. 19), er
führte endlich die Staatsbesoldung der lateinischen und griechischen Bhetoren
ein und schuf damit das öffentliche Lehramt (Suet. 18). Wenn wir nun
von einer Verfolgung der Philosophen (und Astrologen Dio 66, 13 und 9),
die unter Vespasian statt hatte, lesen, so kann das auf den ersten Blick
befremdlich erscheinen. Allein bei dieser Massregel wirkten nicht litterari-
sche, sondern politische Rücksichten ein. Die Philosophen gefielen sich unter
dem Deckmantel ihrer Wissenschaft in einer oppositionellen politischen
Haltung. Eine solche konnte nicht geduldet werden; Vespasian musste
daher gegen den Stoiker Helvidius Priscus strafend vorgehen. Mucianus
drängte aber auf eine radikale Remedur und setzte es durch, dass die
Philosophen sämtlich mit Ausnahme des C. Musonius Rufus verbannt
wurden, doch verriet auch hier Vespasian seine Gutmütigkeit. Als der
Cyniker Demetrius in seiner Feindseligkeit hartnäckig verharrte, liess
ihm der Kaiser sagen, Demetrius thue zwar alles, um seinen Untergang
herbeizuführen, allein einen bellenden Hund wolle er nicht töten.
Von dem milden Regiment der beiden ersten Flavier sticht ungeheuer
ab die Regierung des dritten, des Domitian (81—96). Als Prinz hatte
er eine Neigung zur Dichtkunst zur Schau getragen. Die zeitgenössischen
schmeichelnden Schriftsteller machen grosses Aufheben von diesen poeti-
schen Fähigkeiten Domitians. Quintilian meint (10, 1, 91), den Göttern
wäre es nicht genug gewesen, dass Domitian der grösste Dichter sei, sie
hätten ihm daher auch noch die Sorge für den Erdkreis übertragen. Va-
») Jo8ephi vUa 65 p. 340, 18 Bbkkbk, p. 340, 18.
Die Flayier: Kenra und Tn^an. 243
lerius Flaccus weist auf ihn als den berufenen Sänger der Thaten des
Titus hin (1,10); Silius Italiens stellt ihn über Orpheus (3,620); Martial
preist ihn als den Herrn der neun Musen (5, 6, 19). Der zuletzt genannte
Dichter nennt uns auch ein domitianisches Gedicht, die Erzählung von
dem im Dezember 69 stattgefundenen Kampf ums Kapitel (5, 5, 7). Zum
Thron gelangt liess er alle litterarische Beschäftigung beiseite, er las
weder historische Werke noch Gedichte; das einzige Buch, das er in die
Hand nahm, waren die Memoiren des Kaisers Tiberius.O Auch die Aus-
bildung seines Stils vernachlässigte er vollständig und bediente sich für
seine Briefe und Erlasse fremder Kräfte (Suet. 20). Diese Gleichgiltigkeit
ist um so merkwürdiger, als er einige Einrichtungen im Interesse der
Litteratur schuf. Er stellte die durch Brand zerstörten Bibliotheken wieder
her; überall liess er Exemplare aufsuchen, ja er schickte sogar Leute nach
Alezandrien, damit sie dort Bücher abschrieben und emendierten (Suet. 20).
Wie Nero, so stiftete auch Domitian einen Wettkampf, den berühmten
Agon Gapitolinus (86); derselbe bestand aus drei Abteilungen, einer musi-
schen, einer equestrischen und einer gymnischen. Zu diesem Agon, der alle
vier Jahre abgehalten wurde, drängten sich aus weitester Entfernung Be-
werber. Daneben feierte er jährlich das Fest der Quinquatren der Minerva
auf seiner albanischen Villa; damit wurden scenische Aufführungen verbunden
und Wettkämpfe von Dichtern und Rednern; es ist dies der Agon Albanus.
Allein diese glänzenden Schaustellungen wurden in Schatten gestellt durch
die grausamen Verfolgungen, welchen die Schriftsteller ausgesetzt waren.
Zweimal wurden die Astrologen und Philosophen durch Edikt aus der
Stadt vertrieben (89 und 93 n. Ch.) Doch kann man hier wie bei Vespasian
zur Entschuldigung sagen, dass Rücksichten der Politik dabei im Spiele
waren ; allein die Autoren berichten uns auch Fälle, in denen der nichtigste
Vorwand genügte, um einen Schriftsteller dem Tode zu überliefern (Suet. 10)
und seine Schriften zu vernichten. Tacitus schildert mit Flammenschrift
im Eingang des Agricola jene unselige Zeit.
Noch eine Schrift rief die Eahlköpfigkeit Domitians hervor (Suet. 18 libellus, quem
de ciira capiUorum ad amieum edidit).
362. Nerra (96—98) und Trojan (98—117). Die Regierung dieser
beiden trefflichen Kaiser liess das freie Wort, das solange geknechtet war,
wieder an das freie Tageslicht. Alles atmete auf und freute sich der
glücklichen Gegenwart. Die Schriftsteller nahmen wieder den Griffel in
die Hand; das erste, was sich vor ihre Seele drängte, war die Erinnerung an
das vergangene Leid. Auch Nerva und Trajan waren in ihrer Art ge-
bildete Männer; der Schmeichler Martial nennt Nerva den Tibull seiner
Zeit (8, 70, 7). Trajans noch vorhandene Antworten auf die Anfragen des
Plinius zeigen den Kaiser als einen Meister des bündigen und klaren Ge-
schäftsstils. Er hatte auch den dacischen Krieg beschrieben (Prise. 205, 6);
der Verlust dieses Werkes ist ein ungeheurer; doch lagen seiner nüchternen
Natur die Angelegenheiten der Litteratur ferne. Hier nahm er gern die
Beihilfe des einsichtigen Licinius Sura an. In seinem Panegyricus rühmt
^) Wahrscheinlich ist daher die Angahe bis terque rerohere Caesar" (6, 64, 15) nichts
Martials, dass seine Gedichte „tum dedignatur als eine Lobhudelei.
16*
244 BönÜBche LüteratnrgeBchichte. !!• Die Zeit der Honarohie, 1. Abteilang.
der jüngere Plinius des Kaisers Fürsorge für die Bildung der Jugend und
seine Aufmerksamkeit gegen die Lehrer der Rhetorik (47). Besonders
zeichnet er den liebenswürdigen griechischen Redner Dio Chrysostomus
aus. Auch die Gründung der Bibliotheca Ulpia ist sein Werk. Allein
das Hauptverdienst, das er sich um die Litteratur erwarb, liegt darin,
dass er sie einfach gewähren liess; denn auch die höchste fürstliche Gunst
hat in der Litteratur ihre Schattenseiten.^)
a) Die Poesie.
1. M. Manilius.
363. Astronomicon L Y des Manilius. Was der Dichter in seinem
Werk darstellen will, kündigt er gleich im Eingang deutlich an:
earmine divinas artis et conseia fati
Mera, diversos haminum variantia casus,
(caelestis rationis opus) deducere mundo
aggredior.
Den Einfluss der Gestirne auf die Menschen beabsichtigt er darzu-
legen, d.h. das Lehrgebäude der. Astrologie dem Leser in poetischem
Schmuck vorzuführen. Nicht ohne Stolz rühmt er sich, dass er zuerst
dieses Gebiet der Poesie erschlossen. Im Prooemium des zweiten Buches
wirft er einen Blick auf die Dichter und ihre Stoffe, er lässt Homer,
Hesiod und andere Sänger an unseren Augen vorüberziehen, um zu zeigen,
dass alle Pfade, die zum Helikon führen, ausgetreten seien. Nur er kann
von sich sagen (2,57):
nostra loquar; nulli txUum dehehimus ora,
nee furtum, sed opus veniet, soloque volamus
in caelum curru, propria rette pelUmus undas.
Auch in der Einleitung zum dritten Buch rühmt er sein kühnes
Beginnen, das Reich der Musen auszudehnen und sieht mitleidig auf die
mythologischen und historischen Themate herab, welchen die Dichter bis-
her ihre Kräfte gewidmet haben. Sein Selbstgefühl steigert sich, wenn er
der Schwierigkeiten gedenkt, die er zu überwinden hat. Sein Stoff ist
ein spröder (3, 39):
ornari res ipsa negat, contenta doceri
und es ist strenge stufonmässige Anordnung nötig, um dem Leser das
Verständnis des Ganzen zu erschliessen ; in reizenden Bildern von den
Kindern, welche das Lesen lernen, und von den Kolonisten, welche eine
neue Stadt aufführen, legt er dieses allmählich fortschreitende Verfahren
dar. Auch die Terminologie ist nicht leicht zu gewinnen; ohne Ent-
lehnungen aus dem Griechischen will es nicht gelingen (2, 694 5, 646).
Allein die Erhabenheit des Stoffs, die Schilderung der in der Sternenwelt
lebenden und webenden Gottheit verleiht dem Dichter Mut für sein schweres
Vorhaben. Seine Lehre trägt er in fünf Büchern vor. Das erste gibt die
0 Schon hier muss ein Fehler dieses
allgemeinen Teiles berichtigt werden. Im
Manuskript hiess es: ,Der Rhetor Garina Se-
cundus wurde — verbannt/ Statt des rich-
tigen , verbannt* las der Setzer , verbrannt",
was bei der Korrektur, die ohne Manuskript
vorgenommen wurde, eine stilistische Ände-
rung nach sich zog (dem Feuertod fiber-
liefert). Weiter ist die Form ,,Carina', die
I. Bekkbr in seinem Index zu Dio Cassias
p. 464 hat, zu ersetzen durch «Garrinas*^,
wie die Inschriften bieten, vgl. die neuer-
dings Deltion 1891 p. 62 publizierte (Nipper-
DKY, Tacit. Ann. 13, 10).
245
astronomische Grundlage. Der Himmel ist das Operationsfeld des Astro-
logen, seine Kenntnis ist daher demselben unentbehrlich. Dieses Buch
nimmt daher eine Sonderstellung ein und tritt in Gegensatz zu den vier
folgenden, in welchen die eigentliche Astrologie behandelt ist. Von den-
selben schildert das zweite den astrologischen Himmel, das dritte und
vierte führen in die praktische Anwendung der Astrologie ein. Die Theorie
stützt sich auf die Sternbilder des Tierkreises. Damit hätte der Dichter,
wie er selbst sagt, schliessen können; allein er wendet sich jetzt auch zu
den übrigen Gestirnen. Als Manilius an die Ausarbeitung seines Gedichts
schritt, wünschte er sich ein hohes und friedliches Alter (1,115), um das
Ziel, das er sich gesteckt, zu erreichen. Aber so, wie das Gedicht uns jetzt
vorliegt, ist dasselbe nicht vollendet. Einige Ankündigungen des Dichters
sind nicht erfüllt, das fünfte Buch lässt einen ganzen Teil vermissen; im
Eingang verspricht der Dichter die Wirkungen der Gestirne beim Auf-
gang und beim Untergang zu schildern (27), allein von den untergehenden
Gestirnen ist keine Rede. Dann hatte der Dichter noch die Absicht ge-
habt, von den Planeten zu reden (2, 965 3, 581), auch diese Absicht blieb
unausgeführt. 0 Sonach ist das Wahrscheinlichste, dass er durch den Tod
an der Vollendung des Ganzen verhindert wurde. Allein trotzdem wir
einen Torso in dem Gedichte haben, übt derselbe doch eine grosse An-
ziehungskraft auf uns aus. Was uns für die Schöpfung des Dichters in
hohem Grade einnimmt, ist die hohe Begeisterung, die ihn für seine Welt-
anschauung erfüllt Der Stützpunkt dieser Weltanschauung ist der Ge-
danke von der Einheit der Welt und die Überzeugung, dass alles im Uni-
versum an eine feste Ordnung gekettet ist. Es ist der göttliche Geist,
der das All belebend durchdringt; derselbe hat auch die Schicksale des
Menschen geordnet, indem er sie von den Sternen abhängig macht (3, 58):
fata qtwqne et titaa hominum auspendit ab astria.
Dort ist ja der Sitz der Gottheit. Der Himmel ist sonach unser
Vater, mit ihm sind wir durch ein unlösbares Band verknüpft. Es ist
eine Doppelwelt, die himmlische hat ihr Abbild in der irdischen. Alles
ist daher unabänderlichen Gesetzen unterworfen (4,14):
fata regunt orbem, certa stant omnia lege.
Dieser Fatalismus schliesst alle Freiheit des Menschen aus. Derselbe
kann nichts anders thun, als die Sterne über sein Geschick befragen.
Durch diese Erkenntnis wird er gottähnlich und erhebt sich hoch über
die Tiere.
Es lässt sich nicht leugnen, dass diese Anschauung poetisch verwert-
bare Elemente in sich schliesst, und dass Manilius es verstanden hat, die-
selben zur Geltung zu bringen. Auf Goethe haben die Worte des Dich-
ters (2,115):
0 Vgl. Bechebt, p. 18 neque illa pars,
quae ad occidentia spectat sidera, quam in
sexto libro a poeta esse ahsolutam a proba-
bilitate non videtur abhorrere, neque haec pla-
netarum doctrina usquam legitur, quamqtutm
omnia illa olim in Manilianis codicüms scripta
fuisse eo evincitur, quod Firmicus Maternus,
quem extremes Manilii libros, quamqunm
fönte nusquam indicato, sedulo exscripsisse
constat, etiam iUos, cum septimum et octavum
maiheseos libros scriberet, ante oculos habuit.
Allein diese von Scaliger herrührende An-
sicht ist nicht wahrscheinlich. (Woltjeb
p. 48.)
24.6 BOmieche Litteratargeoohicbte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
quis caelum possU nisi caeli munere nosse
et reperire deum, nisi qui pars ipse deorum est f
den tiefsten Eindruck gemacht.') Nicht selten erinnert uns die grosse Ein-
dringlichkeit, mit der er seine Sätze vorträgt, an seinen berühmten Vorgänger
Lucretius. Auch für die Belebung seines Stoffes sorgt der Dichter; durch
glänzende Prooemien und durch herrliche Schilderungen von den verschiedenen
Charakteren und Bestrebungen der Menschen^) fesselt er den Leser; eine
Hauptzierde des Werkes ist die ins fünfte Buch (538) eingestreute Er-
zählung von Andromeda und Perseus, welche mit aller Kunst durchge-
führt ist. Freilich die abstrusen Lehren der Astrologie leisten der poeti-
schen Fassung Widerstand. Es kommt hinzu, dass der Schriftsteller in
der Grundlage seiner Disziplin, der Astronomie, keine tieferen Kenntnisse
besitzt und sich daher nicht selten Blossen gibt. Auch die astrologischen
Lehren treten mitunter in verschwommener Gestalt vor unsere Augen.
Endlich ringt der Dichter noch sichtlich mit dem Ausdruck,') wenn auch
mit dem Fortschreiten der Dichtung seine Kräfte wachsen.'^) Durch diese
Dinge wird ein harmonischer, befriedigender Eindruck der ganzen Arbeit
vereitelt.
Über die Persönlichkeit des Dichters sind wir völlig ununterrichtet,
nicht einmal der Name desselben ist Zweifeln entrückt. Nur die Zeit, in
der sein Gedicht zu stände kam, vermögen wir aus vereinzelten Andeu-
tungen zu erschliessen, wir gelangen unter die Regierung des Tiberius. Dass
er dem Prinzipate seine Huldigung darbrachte, ist bei seiner fatalistischen
Gesinnung nicht zu verwundern.
Der Name und die Heimat des Dichters ist sehr unsicher. Leider ist in der
besten Handschrift, dem Gemblacensis die Überschrift ausradiert und erst von einer Hand
des 16. Jahrhunderts Mälius poeta hinzugefügt. Im Lipsiensis 1465 und im Leidensis 18
lautet die Überschrift: Ärati philosophi Astronomicon liher primus. Auch hier
schrieb eine ganz junge Hand darüber: Marci Manilii. Im Leidensis 3 lesen wir die
Worte: M. Mallii Equom. astronomicon divo oct, quirino aug,prooemium liher
pritn., im Vossianus III : Marci Mallii Antiochi Poeni astronomicon divo Octavio
Quirino Augusto. Der Laur. 30, 15 hat Marci Manlii poetae clarissimi astro-
nomicon lihri V ad Caesarem Augustum, der Vaticanus 3099 M. Mallii poetae Illu-
stris ad Octavianum Augustum Astronomicon l. /, der Urbinas 668 M, Manilii
Boeci astronomici liher primus, der Cassinensis C. Manilii poetae illustris
Astronomicon, (Vgl. Bechert p. 4 — 15). In einem Madrider Codex heisst es M, Ma-
nilii Astronomicon liher primus explicit^ später M. Manilii Boetii Astrono-
micon liher II explicit (im Leidensis 3 M, Mallii hoeni astronomicon liher II
explicit). Gebbert citiert „M. Manlius de astrologia* (Ep. p. 117 Havet). — Ellis
(Noctes Manilianae p. 218) „On the name of 3/.*'. Freieb p. 3 {de carminis inscrip-
tione). Aus der Sprache und andern Indicien hat man geschlossen, dass Manilius ein Pro-
vinziale war, indem man bald dieses bald jenes Land als seine Heimat bezeichnete. Allein
die Gründe für diese Vermutung sind ganz unzureichend. Nichts nötigt uns Manilius für
einen Nichtrömer zu halten. (I^iaemeb, De Manilii Astronomicis, Marburg 1890, p. 67).
Zeit des Gedichts. Ein unbestreitbares Indicium bietet die Erwähnung der Schlacht
am Teutoburger Wald (1,898):
') Ellis, Noctes Manilianae p. VIH. excipiat longas nova per compendia voces.
^) Vgl. z. B. über den Pantomimen 5, 479 ^) Vgl. die häufige Wiederholung des-
und über den Stenographen (4, 197): selben Wortes (Bechert p. 47).
hinc et scriptor erit velox, cui litera verhum est, *) Cbaker, De Manilii qui dicitttr do-
quique notis linguam super et cursimque lo- cutione p. 42.
quentis
M. Manüius. 247
• ut foedere rupto
cum fera ductorem rapuit Germania Varum
infecUque trium legionum sanguine campos
arserunt toto passim volitantia mundo
lumina
Sonach muss das I. Buch nach 9 n. Chr. geschrieben sein. Aber wie lange nach diesem
Jahr? Die Antwort soll nach der Ansicht einiger Gelehrten (Jacob) 4,764 geben:
est Rhodos, hospitium recturi principis orbem
tumque domus vere soUs, cui tota sacrata est,
quum caperet lumen magni sub Caesare mundi.
Aus diesen Worten, welche auf das Exil Tibers in Rhodus anspielen, wollte man schliessen,
dass Tiberius damals erst zur Regierung bestimmt war, sonach Augustus noch auf dem
Thron sass. Es wären daher die 4 ersten Bücher des Gedichts unter Augustus ent-
standen. Der Schluss wäre richtig, wenn jene Worte zur Zeit des Exils des Tiberius, das
von 6 y. Gh. bis 2 n. Ch. dauerte, geschrieben wären. Allein eine solche Annahme macht
die erste Stelle unmöglich. Reciurus bezieht sich nur auf die Zeit des Exils wie hospi-
tium, nicht auf die Gegenwart. Dagegen gibt eine andere Stelle die Entscheidung (1,798):
Venerisque ab origine proles
Julia descendit eaelo, eaelumque repJevit;
quod regit Augustus socio per signa Tonante,
cernit et in coetu ditmm magnumque Quirinum,
altius aetherei quam candet circulus orbis.
Diese Verse können ungezwungen nur auf den vergötterten, d. h. verstorbenen Augustus
gehen. Damit kommen wir mit dem ganzen Gedicht in die Zeit des Tiberius. Auf diesen
lassen sich auch die übrigen Stellen, welche Zeitanspielungen enthalten, beziehen (4, 934) :
iam facit ipse deos, mittitque ad sidera numen,
maius et Äugusto crescit sub principe caelum
Was Lachmann richtig erklärt (p. 43): scilicet Augustum Tiberius deum fecit, (vgl. Vell.
Paterc. 2, 126) eoque in caelo imperante crescit deorum numerus, Tiberio caeterisque posteris
olim caelitum coetui accessuris.
cetera {sidera) non cedunt; uno vincuntur in astro,
Augustum sidus nostro quod contigit orbi,
Caesar nunc terris^ post caelo maximus auctor. (1, 384)
Der Dichter will sagen, dass die südlichen Gestirne den nördlichen nicht nachstehen, ja
durch ein Gestirn den Vorrang erhalten. Die den Versen zu Grunde liegende Anschauung
ist, dass alle Julier nach ihrem Tode in das julische Gestirn übergehen. Jetzt heisst es
Augustum, nach Tiberius Tode wird es dessen Namen erhalten.
hinc Pompeia manent veteris monumenta triumphi
non exstincta acie, semperque recentia flammis
et Mithridateos vultus induta tropaea. (5, 313)
Tiberius hatte im Jahre 22 n. Ch. das abgebrannte {igne foriuito haustum) Pompeianischc
Theater wieder hergestellt (Suet. Tib. 47).
Auch die dehnbareren Stellen lassen die Beziehung auf Tiberius zu wie (1,7):
hunc mihi tu, Caesar, patriae princepsque paterque,
qui regis augustis parentem legibus orbem
concessumque patri mundum deus ipse mereris,
das animum mresque facis ad tanta canenda.
Hier ist zu bemerken, dass, wenn sich auch Tiberius den Titel „pater patriae" verbat, er
doch so vom Volk genannt wurde (Tac. Ann. 1, 72).
LACHMAiofs Scharfsinn (El. Seh. p. 42) hat also das Richtige gesehen, dass alle
Bücher des Manilius in die Zeit des Tiberius fallen. Vgl. Freieb, De M. Mnnilii quae ferunfur
ctstronomicon aetate, Gott. 1880, der die Lachmann*sche Ansicht verficht. Mit Unrecht
wurde dieselbe bekämpft von Ebaexer, De Manilii qui fertur astronomiciSy Marburg 1890,
der das Werk der Augusteischen Regierungszeit zuweist, jedoch mit der Eonzession: fieri
potest, ut in quinto libro facienda occupatus huius {Augusti) mortem superaverit (p. 63).
Überlieferung. Der beste Zeuge ist der Gekblacknsis in Brüssel 10012 s. X/XI.
— Bechert, De Manilii emendandi ratione, Leipz. Stud. 1, 1.
Ausgaben. Übersicht bei Eraeher p. 5. Von grosser Bedeutung waren die drei
ScALiOER'schen Ausgaben (Paris 1579. 1590 Leyden 1600). Bei^tlet's Ausgabe publizierte
sein Neffe, London 1739. Jüngste Ausgabe von Jacob, Berlin 1846. Eine neue Kecension
des Dichters ist dringendes Bedürfnis. — Ellis, Noctes Manilianae, Oxford 1891 (kritische
Behandlung des ganzen Werks). Im allgemeinen Höbleb, Astrologie im Altertum, Zwickau
248 Römische LitteratargoBohichie« II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilang.
1879, der aber leider nicht auf das aairologischo System des Manilius genauer eingeht.
WoLTJBB, De Manilio pacta j Groningen 1881,
2. Germanicus.
364. Die Aratea des Germanicus. Bei den Alten war die Kenntnis
des gestirnten Himmels ungleich verbreiteter als bei uns, sie war ein Be-
standteil der allgemeinen Bildung. Gern flochten die Dichter Schilderungen
der Sternbilder in ihre Darstellungen ein, gern berührten sie die mit den-
selben verknüpften Sagen. Aber auch astronomische Lehrgedichte konnten
auf Beifall rechnen. Bei den Griechen fanden die Phaenomena des Aratos, *)
eines Zeitgenossen des Königs Antigenes Gonatas, an dessen Hof er lebte,
und eines Freundes des Theokrit grosse Verbreitung. Auch die Römer
lasen dieses Gedicht sehr eifrig. Von seiner Popularität legen die drei
lateinischen Bearbeitungen desselben Zeugnis ab.^) Eine dieser Über-
setzungen haben wir bereits kennen gelernt, es war ein Versuch Giceros
(§ 176). unser Zeitraum lehrt uns eine zweite kennen. Sie trägt in der
massgebenden Überlieferung den Namen des Claudius Caesar; der Dichter
ist also ein Angehöriger der Claudischen Familie und zwar ist es Ger-
manicus, der Sohn des Drusus, und Germanicus wird er auch in der
geringeren Überlieferung genannt. Derselbe (geb. 15 v. Ch., gest. 19 n.
Ch.) war durch hohe Bildung ausgezeichnet, er war ein vortreflflicher
Redner, er war auch Dichter, unter ander m hinterliess er Komödien in
griechischer Sprache.^) Seinen rednerischen und dichterischen Ruhm ver-
herrlichte nicht ohne Absicht der Verbannte in Tomi. Die Bearbeitung
der Phaenomena ist im Ganzen ein gelungenes Werk; sie steht entschieden
über der Ciceronischen; der Dichter ist Sachkenner und nimmt die Ände-
rungen vor, welche der Stand der Astronomie zu seiner Zeit notwendig
machte;*) er bewegt sich überhaupt dem Original gegenüber mit Freiheit,
er setzt zu und streicht, bei Mythen deutet er manchmal durch einen Zu-
satz seine ablehnende Haltung an.^) Gleich der Eingang zeigt eine
charakteristische Selbständigkeit. Aratos hatte sein Gedicht mit einem Lob
des Zeus begonnen; dieses Lob lehnt aber Germanicus ab und huldigt dem
Kaiser, seinem „Erzeuger" (genitor); dem Friedensfürsten, der den Schiffen
das Meer und dem Landmann seinen Boden zurückgegeben, sollen die
Erstlinge seiner gelehrten Arbeit gewidmet sein. Dieser Kaiser kann nur
Tiberius sein, denn Germanicus hatte seine Aratea nach dem Tode des
Augustus geschrieben (558). Dass Germanicus den Tiberius, der ihn im
Jahre 4 n. Ch. adoptierte, Erzeuger (genitor) nannte, ist zwar eine Unge-
nauigkeit des Ausdrucks, allein dieselbe ist nicht unerhört. Zu den Phae-
nomena fügte Germanicus auch noch Prognostica, von welchen sich nur
') Über dieses Gedicht vgl. die ein-
gehende Würdigung bei Couat, La Pcüsie
Alexandrine, Paris 1882 p. 447. Die Ent-
stehungszeit der Phaenomena setzt er zwischen
260 und 250.
^) Berücksichtigt hatte dasselbe auch
Vabbo Atachtus in seiner Ephemeris (§ 109).
^) Suet. Calig. 3 Claud. 11. Auch Ge-
legenheitsgedichte gab es von ihm (Plin. n-
h. 8, 155).
*) Er schöpfte aus einem gelehrten Kom-
mentar, in dem vorzugsweise der Astronom
Hipparchos berücksichtigt war (Matbaum
p. 48).
*) Z. B. durch vere 264, 166, durch ve-
teri si yratia famae 31.
QennanioaB. PhaedruB. 249
einige Fragmente erhalten haben; dieselben sind von Aratos JiOffr^fAeTai^)
unabhängig.
Besonders wegen des „genitor" wollte man als Verfasser der Aratea Domitian, der
den Beinamen Germanicus führte» hinstellen; diese von Rutoers (var. lect. IT| 9 p. 122)
vertretene Ansicht hat sich zuletzt Schekkl, Sitzungsher. der Wien. Akad. 68 (1871)i 274
angeeignet. Allein schon die Üherlieferung, die deutlich den Dichter als Claudier bezeichnet,
spricht dagegen, dann der Umstand, dass Domitian erst als Kaiser (83) den Beinamen
Germanicus führte, endlich das Schweigen der vielen Schmeichler Domitians von diesem
Gedicht (Ihhof, Domitian p. 29).
Dass die Partie, in welcher der Tod des Augustus erwähnt wird, nämlich die Schil-
derung des Tierkreises mit Unrecht angefochten wird, legt dar Matbauk, De Cicerone et
Germanico Ärati interpr., Rostock 1889 p. 19.
Überlieferung. Wir unterscheiden zwei Klassen von Handschriften, die Grund-
lage der Recension ist die erste und von den Handschriften derselben ist die normgebende
die Baseler (A. N. IV 18) s. VIH oder IX. (Maybaum p. 30 u. p. 35.)
Ausgaben. Epochemachend ist die von Hugo Grotiüs, Leyden 1600. Cum scholüs
ed. A. Breysig Berl. 1867, von Bährens PLM 1, 148.
Die Scholien zu Germanicus. Von der Beliebtheit des Gedichts zeugen die
Scholien, welche sich um dasselbe gruppiert haben. Die sichtende Betrachtung ergibt
zwei Scholienmassen :
1) die scholia Basileensia, überliefert durch den genannten Basler Codex und
den Parisinus nr. 7886. Quellen waren die Catasterismen des Eratosthenes in ausführ-
licherer Fassung und Nigidius (Robebt, Eratosth. p. 20). Dieselben benutzte bereits
Lactantius Firmianus, er scheint sie in demselben Band, in dem auch der Germanicus
stand, vor sich gehabt zu haben (Robebt, Eratosth. p. 9);
2) die andere Scholienmasse sind die acholia Sanger manensia, so genannt
nach der Hauptquelle, dem cod. Sangermanensis 778 s. IX. Auch hier sind die Kata-
sterismen des Eratosthenes benutzt, daneben noch andere Autoren wie Fulgentius, PUnius,
Hygin u. s. f.
3) Aus beiden Scholienmassen wurde eine neue kombiniert (Robert p. 205); hinzugefügt
wurden Stücke aus Plinius, Marianus Capella, Hyginus (die aus dem letzten ausgeschriebenen
Fabeln zeigen eine bessere und von Interpolationen freiere Gestalt vgl. Robebt p. 220,
dagegen Gbuppe, Philol. 47, 335) und andere. Diese Scholien heissen die scholia Stroz-
ziana, ihre Quellen sind ein Strozzianus in der Laurentiana s. XIV und der Urbinas 1358 s. XV.
Die Scholien finden sich in der Ausgabe des Germanicus von'BBSTSia und in der
Ausgabe des Martianus Capella von Eyssenhabdt.
Die Catasterismi des Calpurnius Piso. Hier mag noch das Gedicht des Cal-
pumius Piso erwähnt sein, von dem der jüngere Plinius sagt (ep. 5, 17): recitabat xarn-
arBQUtfÄfoy erudiiam sane luciUentamque materiam. Scripta degis erat flueniibus et teneris
et enodibus, »ubJimibus etiam, ut poposcit locus.
3. Phaedrus.
366. Leben und Schriftstellerei des Phaedrus. Was wir über
das Leben des Phaedrus wissen, ist nicht viel und lediglich aus seiner
Fabelsammlung zu schöpfen. Von seiner Heimat spricht er im Prolog
zum 3. Buch (17):
ego, quem Pierio mater enixa est iugo.
Schon im 17. Jahrhundert^) hat man die Worte bildlich verstehen wollen,
als wenn Phaedrus damit sage, er sei ein Zögling der Musen; auch neuer-
dings') ist diese Meinung wieder aufgetaucht, allein dass sie unrichtig
ist, beweisen die folgenden Verse, in denen er sich darum zu dem Phrygior
Äsop und zu dem Scythen Anacharsis in Gegensatz stellt, weil er „dem
') Diese bilden einen Anhang zu den
Phaenomena.
') Z. B. in der Ausgabe Pagbnstechebs,
Duisburg 1662 (Hervieux 1, 8).
>) Vgl. WöLPPLiN, Rhein. Mus. 39, 157;
HABTfiL,Wien.Stud.7,i51. Dagegen Schwabe,
Rhein. Mus. 39, 476. (Anders UABflCAN, De
Phaedri fabulis, p. 3).
250 RömiBche Litteratargeschichte. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
gelehrten Griechenland näher sei''. Seine Heimat ist also Pierien und da
die älteren Bewohner Pieriens Thraker waren, so konnte er Orpheus und
Linus zu seinen Landsleuten zählen. Phaedrus kam frühzeitig in lateinisch
redende Gegenden, da er uns als eine Reminiszenz aus seinem Schul-
unterricht einen Vers^ des Ennius mitteilt (3 epil. 34). Die Überschrift
der Fabelsammlung bezeichnet ihn als einen Freigelassenen des Augustus.
Ein brennender Ehrgeiz, von dem seine Gedichte noch Zeugnis ablegen,
trieb ihn zur Dichtkunst; er brachte äsopische Fabeln in lateinische Senare.
Als er Stoff für zwei Bücher beisammen hatte, trat er damit vor die
Öffentlichkeit; im Eingang zum ersten Buch will er nur Bearbeiter Äsops
sein, dagegen im Eingang zum zweiten Buch erklärt er, obwohl er der
Weise Äsops treu bleiben werde, gedenke er doch hie und da zur Abwechs-
lung etwas Neues einschieben. Und wirklich bietet das zweite Buch eine
Erzählung aus dem Leben des Tiberius (5). In einem Epilog zum zweiten
Buch spricht er von der Aufnahme, die sein Werk beim Publikum wohl
finden würde, schon hier schlägt er einen selbstbewussten Ton an (8):
quod si labori faverit Latium meo,
plures hahebit, qiws opponat Graeciae.
Als er das dritte Buch folgen Hess, war in dem äussern Leben des Dichters
eine grosse Veränderung eingetreten; er war in eine sehr schlimme Lage
geraten und zwar auf eine Anklage des Seianus hin ; er wendet sich daher
in einem Prolog an einen Eutychus und bittet ihn (Epil. 25) um einen ge-
rechten Bescheid, dies müsse aber baldigst geschehen, wenn nicht vorher der
Tod ihn von seinen Leiden befreien solle. Dieser Eutychus kann kein anderer
sein als der in den letzten Kegierungsjahren Caligulas mächtig gewordene
Wagenlenker Eutychus. Welches die üble Lage des Phaedrus war, in die er
gekommen, wissen wir nicht. Dass dieselbe durch seine Gedichte verursacht
wurde, deutet er Prol. III, 40 an.*) Sonach muss das dritte Buch etwa
40 erschienen sein, die zwei ersten Bücher vor dem Sturz des Seianus, also
vor 31 n. Ch. Mit dem dritten Buch wollte der Dichter von der Muse
Abschied nehmen, es sollte auch anderen etwas zur Bearbeitung übrig
bleiben. Allein er besann sich doch eines Besseren und schrieb ein viertes
Buch, das er einem Particulo, den er (Epil. 5) „vir satictissmus" nennt,
widmet. Als Phaedrus alt geworden, veröffentlichte er noch ein fünftes;
in der letzten Fabel redet er einen Philetes an.
Das ist das Korpus der Phaedrischen Fabeln, wie es uns durch die
Handschriften überliefert ist. Allein wenn wir die Verszahl und die An-
zahl der Fabeln in den einzelnen Büchern betrachten, ergeben sich grosse
Verschiedenheiten, wie aus folgender Zusammenstellung erhellt:^)
I 31 Fabeln mit 361 Versen
U 8
*) Wahrscheinlich aus einem Florile-
gium.
*) Die Worte lauten „in calamitatem
dcligens quciedam meam^, deren Sinn ist:
,Zu meinem Unglück manche Stoffe aus-
wählencP. Man betrachtet als diese Gedichte
gewöhnlich 1,2 1,6. Andere Gelehrte, be-
173
sonders Hartman, De Phaedri fab., p. 4 und
5 wollen die Worte so verstehen «manche
Stoffe, die auf mein Unglflck passen, aus-
wählend". Nur die erste Erklärung ist die
richtige. Vgl. L. Müller, Berliner Philol.
Wochenschrift 1890 nr. 41 p. 1302.
*) BiRT, Buchwesen p. 385.
Phaedrns.
251
III 19 Fabeln mit 403 Versen
IV 25 . , 423 „
V 10 , „ 174 ,
Das zweite und fünfte Buch stehen an Umfang so sehr hinter den
übrigen zurück, dass sie sofort den Verdacht der Lückenhaftigkeit erregen.
Es kommt hinzu, dass im Eingang (6) Phaedrus ankündet, dass nicht
bloss die Tiere, sondern auch die Bäume sprechen werden; allein diese
Ankündigung erfüllt sich nicht; im Eingang zum 5. Buch erläutert er,
warum er den Namen Asop gebrauchen werde, allein auch dies geschieht
im Verlauf des fünften Buchs nirgends. Sonach müssen wir schliessen,
dass die überlieferte Fabelsammlung des Phaedrus nur den Auszug aus
einer grösseren darstellt. Zum Glück können wir aus andern Quellen
die unvollständige Sammlung ergänzen, wie dies die Geschichte der Fabel-
sammlung darthun wird.
366. Schicksale der Phaedrischen Fabelsammlung. Als Phaedrus
seine Fabeln schrieb, war er fest überzeugt, dass er sich damit die Un-
sterblichkeit errungen. Allein es fehlte nicht viel, und sein Namen wäre
der Vergessenheit anheim gefallen. Als der verbannte Philosoph Seneca
seine Trostrede an Polybius richtete, sprach er von der Fabeldichtung
als einer den Römern noch ganz unbekannten Gattung ^) (8, 27), er wusste
also nichts von Phaedrus. Auch Quintilian schweigt da, wo er von den
äsopischen Fabeln in Versen spricht (1, 9, 2), von unserem Dichter. Erst
bei Martial taucht zum erstenmal sein Name auf (3, 20, 5) ; es ist bei ihm
von den improbi*) loci Phaedri die Bede. Dann herrscht wiederum tiefes
Schweigen, bis im 4. oder 5. Jahrhundert der elegische Fabeldichter Avi-
anus in seiner Widmung an Theodosius die fünf Bücher des Phaedrus erwähnt.
Eigentümlich sind die Schicksale des Dichters im Mittelalter. Hier wurden
seine Verse in Prosa umgesetzt und diese prosaischen Bearbeitungen
drängten das Original ganz in den Hintergrund, ja brachten den Namen
des Autors fast in Vergessenheit. Wir kennen drei solcher Sammlungen,
welche direkt aus dem Phaedrus abgeleitet sind und zwar einem voll-
ständigem, eine, die sich in einer Leydener Handschrift des XUI. Jahr-
hunderts befindet und nach dem ersten Herausgeber (1709) Ano-
nymus Nilanti genannt wird; eine andere, die Weissenburger Samm-
lung, welche in einer ehemaligen Weissenburger, jetzt in Wolflfenbüttel
befindlichen Handschrift des X. Jahrhunderts aufbewahrt wird, endlich
eine dritte, welche den merkwürdigen Namen »Romulus" trägt. Die
letzten beiden Sammlungen sind unter sich näher verwandt. Die
grösste Verbreitung erlangte der Romulus, er bildete wieder die Grund-
lage für andere mittelalterliche Fabelsammlungen, von denen eine in
elegischen Versen lange unter der Bezeichnung Anonymus Neveleti
umlief, bis Hervieux*) aus einer in der Würzburger Universitäts-
bibliothek vorhandenen Ausgabe als ihren Verfasser Walther von
England erkannte. Wie diese lateinischen Sammlungen auf die Fabel-
*) Die verschiedenen Erklärungen dieser
Stelle siehe bei Hebvieux 1, 151.
*) Zur Erklärung dieses „improbi** eine
(unwahrscheinliche) Vermutung bei Birt,
Buchw. p. 385. 3. Fbiedlaitdeb z. St. läugnet
mit Unrecht die Beziehung auf den Fabel-
dichter Phaedrus.
») 1, 447.
252 BOmifiche LitteratargeBchichte. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
dichtungen der verschiedenen Nationen wirkten, kann hier nicht des
Näheren dargelegt werden. So lebte Phaedrus in der Überarbeitung
fort, aber sein Name blieb verschollen bis zur Mitte des 15. Jahr-
hunderts. Damals bekam der späterhin durch sein Cornucopiae be-
kannt gewordene Nicolaus Perottus eine Handschrift des Avianus und
eine solche des Phaedrus unter die Hände; er schrieb sich daraus Fabeln
ab ; ^) auch eigene Gedichte mischte er darunter. Allein dieser Aus-
zug blieb, wie es schien, völlig unbekannt. Phaedrus sank wieder in
sein Dunkel zurück. Da brachte ihm das Jahr 1596 die Befreiung.
In diesem Jahre wurde • der Dichter in seiner ursprünglichen Gestalt
in Frankreich von P. Pithou nach einem Manuskript, das er von seinem
Bruder Franciscus erhalten, herausgegeben. Von nun an war die Auf-
merksamkeit der Gelehrten für den Autor rege geworden; man begann
in den Bibliotheken Nachforschungen zu halten. Dem Jesuiten Sirmond
glückte es im Jahre 1608, in der Abtei von Saint Remi eine zweite, dem
codex Pithoeanus sehr ähnliche Handschrift aufzufinden. Leider ging diese
Handschrift im Jahre 1774 bei einem Brand zu Grund. Unsere Kenntnis
des Kodex beruht daher nur auf einer von Berger mitgeteilten Kol-
lation, welche Vincent gemacht hatte und welche der Pariser Biblio-
thek angehört hatte, jetzt aber nicht mehr aufgefunden werden kann.^)
Um dieselbe Zeit war noch ein Fragment des Phaedrus, 8 Fabeln ent-
haltend, in den Besitz des berühmten Peter Daniel gelangt; Rigault be-
nützte es für seine Ausgabe des Jahres 1599, dann entschwand auch diese
Charta Danielis den Augen der Gelehrten. Sie wurde für die Königin
Christine von Schweden angekauft, kam in die Vaticana, ruhte hier, bis
sie 1831 von Mai veröffentlicht wurde. Aber als wenn es das Schicksal
besonders auf den armen Phaedrus abgesehen hätte, nachdem derselbe
ans Licht gezogen war, wurde seine Echtheit in Zweifel gezogen; als
Stütze diente namentlich die Senecastelle. Heute lächeln wir über diesen
ganzen Streit, der mit grosser Heftigkeit geführt wurde. Nochmals wogte
derselbe auf, als die Perottische Epitome zu Anfang dieses Jahrhunderts
von Cassitto und Janelli nach dem codex Napolitanus (und später [1831^
von Mai nach einem lesbareren codex Vaticanus) publiziert wurde unc
daraus 30 (oder 31) neue Fabeln ans Licht traten. Hier war der Stand-
punkt der Verteidiger ein ungleich schwieriger. Allein auch diese neuen
Fabeln, die gewöhnlich als „Appendix** den Ausgaben beigefügt werden,
haben die Prüfung bestanden; 3) sie können nicht von Nie. Perottus her-
stammen, sie weisen entschieden auf dieselbe Zeit, in der Phaedrus lebte,
sowohl durch die Sprache, wie Komposition und Metrik als durch eine
ganz spezielle Erzählung von Pompeius (nr. 8). Aber an einen Nachahmer
des Phaedrus zu denken, ist bei dem offenbar geringen Anklang, den
Phaedrus gefunden, nicht wahrscheinlich. Sonach lag dem N. Perottus
eine vollständigere Fabelsammlung des Phaedrus vor als die uns zu Ge-
*) Hkbvibux 1, 129.
') Ergänzend tritt hinzu der in der Pariser
Universitätsbibliothek vorhandene Auszug
aus dem Remensis (Revue de philol. 11, 81).
') Vgl. Müller, De Phaedri et Aviani
fabulis, Leipz. 1875, p. 11, Birt, Buchw.
p. 385, 3.
Phaedma.
253
böte stehende, äusserst lückenhafte. Inzwischen ward auch der Kodex,
aus dem Pithou die Fabeln zum erstenmal veröffentlicht hatte, wieder
aufgefunden und den Gelehrten zugänglich gemacht. Er war im 17. Jahr-
hundert in die Hände der Familie de Peletier gekommen, welche denselben
noch im Besitz hat. Im Jahre 1830 publizierte Berger de Xivrey in Paris
das berühmte Manuskript.
Dies sind die Schicksale der Überlieferung des Phaedrus; man möchte
hier die Worte des Dichters anwenden (2 epil. 18):
fatale vUium carde durcUo feram, «
donec fortunam criminis pudeat sui.
Aus dieser Geschichte ersehen wir, dass seine Fabelsammlung uns zer-
rissen vorliegt, und dass es demnach unsere Aufgabe ist, die zersprengten
Teile, soweit sie noch vorhanden sind, wieder zu verbinden. In erster
Linie dienen uns dazu die französischen Handschriften, in zweiter die
Sammlung des N. Perottus, in dritter prosaische Fabelsammlungen, aus der
wir etwa 20 neue herausschälen können. Freilich kann bei den letzten
die metrische Form mit Sicherheit nicht mehr hergestellt werden. ^
Die Geschichte der Überlieferung des Phaedrus behandelt in weitschweifiger Weise
Hebyietjx, Les fabuJistes latins, zwei Bände, Paris 1884. — L. Mülleb, De Phaedri et
Aviani ftümlis, Leipz. 1875.
367. Charakteristik des Phaedras. Einzelne Fabeln waren
schon vor Phaedrus als Schmuck in littorarischen Erzeugnissen verwertet
worden; so hatten Ennius, Lucilius, Horaz, Livius Fabeln in ihre Werke
eingestreut; ^) die Fabel aber zu einem für sich bestehenden, selbständigen
Zweig der römischen Dichtung erhoben zu haben, dieses Verdienst kann
Phaedrus für sich in Anspruch nehmen. Phädrus ist auf seine Schöpfung
ungemein stolz, er zweifelt nicht einen Augenblick, dass sich an derselben
die kommenden Geschlechter ergötzen werden (3 pr. 32), und verkündet
in stolzem Selbstgefühl dem Particulo, dem er das vierte Buch gewidmet
hatte, dass dessen Namen leben werde, solange die römische Litteratur in
Ehren stehe (4 epil. 6); die Anerkennung des Publikums scheint ihm aber
nicht in dem erwarteten Masse zu Teil geworden zu sein, denn er klagt
über Neid (3 pr. 60), welcher ihm die gebührende Stellung im Dichterkreis
versage (3 pr. 23); mit Verachtung sieht er auf die Leute herab, die ihn
nicht würdigen, und vergleicht sie mit dem Hahne, der in einem Kehricht
eine Perle gefunden, mit der er nichts anzufangen weiss (3,12); an einer
Stelle (4, 7) höhnt er die „Catonen*, welche man weder durch Fabeln noch
durch tragische Stoffe zufrieden stellen könne. Doch um des ungebildeten
Pöbels Beifall geizt er nicht (4 pr. 20). Der dichterische Ruhm ist ihm
alles, das Streben nach äusseren Oütern hat in seinem Herzen keine Stätte
(3 pr. 21).
Phaedrus ist in erster Linie Bearbeiter des Äsop und bei der An-
*) Eine Phaedrisclie Fabel entdeckte
BOcHELEB bei Gregor, Bist, Franc, 4, 9
p. 146A(Rb. Mus. 41,3).
') Bei £nnias stand die Fabel von der
Haubenlerche, Gell. 2, 29 (nr. 481 Bährens),
bei Lucilius im 30. B. (80 M.) die Fabel vom
kranken Löwen, Horaz hat (sat. 2, 6, 79)
die Fabel von der Stadt- und Landmaus,
Livius (2, 32) die von der Verschwörung des
renter gegen die membra.
254 BömlBohe LitteratnrgoBchiohte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
kündigung seiner Dichtung wollte er auch nichts anderes sein; denn
er sagt:
Aesopus auctor quam materiam repperit,
hanc ego polivi versihus senariis.
Allein im weiteren Verlauf der Dichtung dünkte ihm die Rolle des
Bearbeiters zu gering, er wollte auch selbständig erscheinen. Schon im
zweiten Buch erklärte er daher, auch neues sei zur Abwechslung einge-
streut, doch wolle er, fügte er entschuldigend bei, im übrigen der Weise
des „Alten" treu bleiben (2 pr. 8) und begnüge sich, der zweite zu sein,
nachdem Asop nun einmal den ersten Platz eingenommen (2 epil. 6). Viel
selbstbewusster wird die Sprache im dritten Buch; hier rühmt er sich,
dass er den engen Pfad Äsops erweitert und mehr eigenes gegeben als
jener hinterlassen (3 pr. 38). Ähnlich ist die Sprache im vierten Buch;
dort bezeichnet er seine Fabeln als äsopische, nicht aber als Fabeln Äsops,
da er neuen Stoflf nur in der Weise Äsops und zwar reichlicheren als
dieser darbiete (4 pr. 11); den Tadlern, welche das Gelungene auf Rech-
nung Äsops, das Misslungene auf seine Rechnung setzen, ruft er zu:
„Jener erfand die Fabel, aber unsere Hand führte sie zur Vollendung"
(4, 21). Im letzten Buch endlich will er den Namen Asop nur als Aus-
hängschild gebrauchen (5 pr. 3).^) Sonach findet in der Dichtung des
Phaedrus ein Entwicklungsgang statt, indem er von der Übertragung zur
selbständigen Produktion fortschreitet. Dieselbe bethätigte er, indem er
einmal Begebnisse seiner Zeit in dichterischer Form erzählt; von diesen
Erzählungen ist die anmutigste die vom Flötenspieler Princeps (5, 7); der lag
lange Zeit krank darnieder; als er wieder im Theater erschien, bezog er
einen Chorgesang, der zum Preis des Princeps vorgetragen wurde, auf
seine Person; als sein Irrtum erkannt wurde, warf das Publikum den
armen Flötenspieler zum Theater hinaus. Aber nicht bloss als selbstän-
digen Erzähler, sondern auch als selbständigen Fabulisten sollten ihn die
Leser kennen lernen. Freilich ist eine Fabel, die er ausdrücklich als sein
Eigentum ausgibt, sehr missglückt (4, 11).^)
Als den Hauptvorzug seiner Fabeln rühmt er die Kürze, und er
wird nicht müde, uns diesen Vorzug wiederholt vorzurücken (2 pr. 12
3, 10, 60 3 epil. 8 4 epil. 8). Er hat Grund darauf stolz zu sein, denn
„die Kürze ist die Seele der Fabel ''.^) Im Zusammenhang damit steht,
dass er alles Rhetorische und Aufgedunsene von seinen Fabeln fern hält;
auch hier leitet ihn das richtige Gefühl, „dass der Fabel vornehmster
Schmuck sei, ganz und gar keinen Schmuck zu haben'. ^) Er spricht eine
klare, einfache und reine Sprache; nur der häufige Gebrauch von Ab-
strakta erinnert an die sinkende Latinität.'^) Auch in dem Bau seines
Senars befolgt er eine strenge Gesetzmässigkeit. Aber damit dürften die
Lobsprüche, die man ihm erteilen kann, erschöpft sein. In der Bearbeitung
^) Der Dichlor hat sich zu Übertreibungen
hinreissen lassen, „c'est seulement ä partir
de la deuxikme partie de son livre IV, qu*il
commenee ä itre original. — t7 reste si peu
de cho8e, sait de la deuxihne partie du
livre IV, soit du livre V, quHl est impos-
sible de savoir ai J^ope Wen avait pas encore
fait en partie lea frais,*' (Hebvisux 1,29).
*) Vgl. Lessino, Ges. W. (Göschen Leipz.
1858) 3, 253.
^) Lessino 1. c. p. 299.
*) Lessikg 1. c. p. 299.
^) Rasohio zu f. XII; L. MClleb, De
Phaedri et Aviani fab., p. 5.
Der Dichter Seneca.
255
der Fabeln verlässt ihn oft der gute Geschmack. So empfinden wir es
als störend, dass er die Lehren, die sich aus den Fabeln ableiten lassen,
dem Leser aufdringt und zwar nicht bloss in Form von Epimythien,
sondern auch, was noch mehr verletzt, in Form von Promythien. Aber
diese Lehren entsprechen manchmal gar nicht dem Inhalt der Fabeln;
woraus man erkennt, dass er oft nicht den Geist seiner Fabeln erfasst
hat.-O Auch im einzelnen zeigt er mitunter keine glückliche Hand; und
Lessings Vorwurf ist nicht unbegründet, dass Phaedrus, so oft er sich von
der Einfalt der griechischen Fabeln auch nur einen Schritt entfernt, einen
plumpen Fehler begeht.*) Phaedrus ist kein Genie, er verrät wenig dich-
terische Anlagen, er ist nichts als ein treuer Arbeiter; er ist auch kein
hochstehender Charakter, die Eitelkeit beherrscht sein Denken und Sein
und lässt ihn selbst dem gegenüber ungerecht erscheinen, dem er doch seinen
Ruhm verdankt, dem Meister Äsop.
Beurteilungen des Phaedrus bei Nisabd, jätudea sur les poütes laiina 1*, 3—53;
Heryieuz, Les fahtdistes latins 1, 27. Hartman, De Phaedri fabuHs, Leyden-Leipz. 1890
p. 17. Über seine Metrik Langen, Rh. Mus. 13, 197; Ausg. von Mülleb p. IX.
Litteratur: Ausgabe von Bentley hinter dem Terenz 1726; von L. Müller mit
krit. Apparat, Leipz. 1877; von Riese, Textausgabe mit Eicdeitung über Phaedrus, Leipz.
1885. Schulausgaben von Siebelis-Eckstein (Teubner), Raschio-Richter (Weidmann).
4. Der Dichter Seneca.
a) Seneca als Tragiker.
368. Die neun Tragödien Senecas. Bisher hatten wir in der ge-
samten tragischen Poesie der Römer nur Fragmente zu verzeichnen; nicht
ein einziges der vielen und zum Teil sehr bewunderten Tragödien hat die
Zeit überdauert, unsere litterarhistorische Betrachtung hatte daher mit
nicht wenigen Schwierigkeiten zu kämpfen; sie war fast immer auf Ver-
mutungen und Wahrscheinlichkeiten angewiesen. Da wird uns, nachdem
wir bereits den Höhepunkt der Litteratur überschritten, eine ganze Samm-
lung von Tragödien von einem gütigen Geschick in die Hand gegeben.
Es sind neun Stücke, welche eine ganz freie und vielfach mit römischem
Geist durchtränkte Darstellung griechischer Sagenstoffe enthalten. In der
massgebenden Überlieferung der Florentiner Handschrift sind sie also ange-
ordnet: Hercules (furens), Troades,*) Phoenissae,*) Medea, Phae-
dra,^) Oedipus, Agamemnon, Thyestes, Hercules (Oetaeus), sie
») Man vgl. 1,20 1,4 1,10 5,6 1,8 8,18.
Selbst einander widersprechende Lebren za
derselben Fabel finden sich z. B. 1, 9 1, 26
1,21. Scharfsinnig sind diese Grebrechen er-
örtert in der Ausgabe von Raschig (Zusam-
menstellung p. 3). Freilich ist die Frage,
ob alle diese Promythien und Epimythien
von Phaedrus herrtthren. Besonders fällt in
die Wagschale, dass in den Fabeln, welche die
Anthologia Perotina mit den Codices des
Phaedrus gemeinsam hat, in der Regel metri-
sche Epimythien und Promythien fehlen und
dafür prosaische Promythien stehen. Vgl. über
diese Frage L. Mülleb Ausg. p. XXV;
Hartmak, De Phaedri fabtdis, p. 53—79;
L. Mülleb, Berl. Philol. Wochenschr. 1890
Nr. 41 p. 1300.
''') Lessino 1. c. p. 307. Der geniale Kri
tiker wfthlt, um seinen Vorwurf zu begrün-
den, folgende Fabeln: 1,4 1,5 1,11 4,9.
") Wegen der eigentümlichen Stellung,
welche die Dichtungen Senecas in der Litte-
ratur einnehmen, haben wir dieselben ge-
trennt von seinen übrigen Schriften behan-
delt.
*) Hecuba bei Pseudoprobus genannt.
^) In der geringeren Überlieferung The-
bais genannt.
^) In der geringeren Oberlieferung Hip-
polytus.
256 BAmiBche litieratnrgeBchiohie. U. Die Zeit der Monarchie, 1. Abteilang.
werden ferner einem Annaeus Seneca ') zugeteilt. Diese Überlieferung des
Autors dürfen wir nicht willkürlich beiseite schieben, wir können dies um so
weniger thun, als auch Medea, Hercules (furens), Troades, Phaedra, Agamem-
non, Thyestes durch andere Zeugnisse unter dem Namen Senecas angeführt
werden. Halten wir Umschau unter den Annaei Senecae, so finden wir keinen
andern, den wir mit diesen Tragödien in Verbindung bringen können, als
den L. Annaeus Seneca, den bekannten Philosophen .und Lehrer Neros.
Denn einmal wird uns ausdrücklich bezeugt, dass Seneca in seiner viel-
seitigen Thätigkeit auch das Gebiet der Poesie nicht unberührt gelassen,
und dass Dichterisches von ihm sich im Umlauf befand. Noch mehr, es
wird eines Streites gedacht, der sich zwischen dem Tragiker Pomponius
und Seneca über die Zulässigkeit eines Ausdrucks in der tragischen Elede-
weise erhob, und der in „Vorreden" ausgefochten wurde. Die Stelle be-
weist also, dass Seneca dem tragischen Stil seine Aufmerksamkeit zuge-
wendet, sie legt sogar die Vermutung nahe, dass Pomponius und Seneca
diese Vorreden ihren Tragödien vorausschickten. Entscheidend ist aber,
dass wir in unsern Tragödien und in den philosophischen Schriften Senecas
dieselbe Individualität vor uns haben. Hier wie dort begegnet uns der
gleiche philosophische Standpunkt der Stoa, eine in die Augen springende
Ähnlichkeit gewisser Gedanken, dieselbe Vorliebe für scharf zugespitzte
Sentenzen. Man sieht, es sind Produktionen eines poetisch angeregten
Philosophen.*) Gegenüber dieser inneren Verwandtschaft kann das Zeugnis
eines wenig kenntnisreichen Autors, des Apoll. Sidonius carm. 9, 229, der
den Philosophen von dem Tragiker trennt, nicht ausschlaggebend wirken.
Würde ein solcher Dichter neben dem Philosophen existiert haben, so
würde gewiss bei Quintilian eine darauf bezügliche Bemerkung gemacht
worden sein.
Wenn es aber sonach sehr wahrscheinlich ist, dass der Philosoph
Seneca Tragödien gedichtet, so bleibt doch noch die Frage zu beantworten,
ob er auch sämtliche Tragödien unseres Korpus bearbeitet hat. Es wäre
ja möglich, dass sich um Seneca als den Hauptrepräsentanten der Gattung
nachahmende Talente anschlössen, und dass dann deren Produkte unter-
schiedslos mit denen des Meisters zusammenflössen.') Auch in dieser Be-
ziehung hielt man lange Zeit an der Ansicht fest, dass nur ein Teil der
Tragödien Seneca angehören. Allein nach dem gegenwärtigen Stand der
Frage wird von den meisten Gelehrten die Authentizität aller Tragö-
dien statuiert, ausgenommen den am Schluss der Sammlung stehenden
Hercules Oetaeus; aber selbst bei diesem Stück ist eine umsichtige For-
schung dahin gekommen, wenigstens den ersten Teil für Seneca in An-
spruch zu nehmen. Wir wenden uns zur Besprechung der einzelnen Tra-
gödien.
Die Autorschaft Senecas. Die Stellen, an denen bei andern Schriftstellem
Tragödien unseres Korpus unter dem Namen Seneca citiert werden, sind zusammengestellt
von Richter, De Seneca iragoediarum auctore p. 8; Zusammenfassung (p. 11): Medeam a
') In der Florentiner Handschrift wird
er mit zwei Vornamen Marcus Lucius An-
naeus Seneca genannt.
>) Rakke, Ahh. p. 69.
») So Bernhabdy, R. L. 1857 p. 397.
Seneca als Dichter. 257
Quintiliano et Diomede, Herculem (für,) a Terentiano Mauro, Troades a Probo et TertuU
UanOf Phaedram et Agamemnonem a Prisciano, Thyestem denique a Lactantio (scholiasta).
Über die Dichtungen Senecas vgl. Qnint. 10, 1, 129 {Seneca) tractamt etiam omnem
fere studiorum materiam. Nam et araiianes eius et poemaia et epistolae et dialogi feruntur,
Tac. Ann. 14, 52 öbiciebant — et carmina crehrius factitare, postquam Neroni amor eorum
renisset. Quint. 8, 3, 31 memini iuvenis admodum inter Poinponium ac Senecam etiam prae-
fationibus esse tractatum an gradus eliminat in tragoedia dici oportuisset.
Über die Übereinstimmungen der Tragödien and philosophischen Schriften
vgl. NisARD, Etudes 1, 66. Auch Rakke, Abh. p. 27 hat auf solche kongruente Stellen auf-
merksam gemacht.
Athetierte Tragödien. Von neueren Gelehrten erachtet Richteb, De Seneca etc. den
Hercules Oetaeus, Oedipus, Agamemnon (p. 29), Pais (t7 Teatro di Seneca) die Phoenissen,
Oedipus, Agamemnon, Hercules Oetaeus (p. 20) für unecbt. Der verdiente Herausgeber Leo
dagegen hält auf Qrund einer eingehenden Untersuchung an der Echtheit aller Tragödien
fest mit Ausnahme des letzten Teils des Hercules Oetaeus. (Vgl. noch p. 266). — Elotzsch,
De Seneca uno tragoediarum amnium auctore, Wittenb. 1802.
Üeberlieferung der Tragödien Senecas. Die Grundlage für die Rezension
der neun Tragödien ist der von I. Fb. Gronoy im Jahre 1640 gefundene und nEtruscus** be-
nannte codex Laurentiantis 37, 13 s. XI/XH wozu noch einige Fragmente kommen, die
Blätter des Ambrosianischen Palimpsestes, welche einige Verse der Medea und des Oedipus
enthalten (vgl. das apographum Studemundi bei Leo 2, XX) und die Exzerpte im Miscellan-
kodex des Thuanus, jetzt Parisinus 8071 s. IX 'X, welche sich auf die Troades, Medea und
Oedipus beziehen (vgl. das neueste Apographon Leos 2, IX). Die übrigen nicht vor s. XIV
geschriebenen Handschriften gehen auf eine Rezension zurück, die einen willkürlich zurecht
gemachten und daher trotz der Glätte sehr trügerischen Text darbietet. Diese Quelle darf
daher nur mit grosser Vorsicht benutzt werden. Äussere Kriterien für die beiden Hand-
schriftenfamilien sind 1) die verschiedene Reihenfolge der Stücke; 2) das Hinzukommen
eines neuen Stücks, der Octavia in der interpolierten Familie. Da an vielen Stellen die
ursprünglichen Lesarten des Etruscus ausradiert oder unleserlich geworden sind, so ist es
für die Kritik von der grössten Wichtigkeit, einen Zeugen aufzusuchen, welcher von diesem
Schaden frei geblieben. Einen solchen erhalten wir in der Quelle der beiden Handschriften,
des Ambrosianus D 276 inf. s. XIV und des Vaticanus 1769 s. XIV., welche mit Ausnahme
der Phoenissen und des ersten Teils der Medea einen nach den interpolierten Handschriften
korrigierten Text der ersten Familie (nach Leos Ansicht des Etruscus selbst auf Grund
von Troad. 635) liefert. — Leo, De recensendis tragoediis im I. Band seiner Ausgabe. Ein
Referat gibt Taghau, Phil. 48, 341.
Ausgaben. Epochemachende, auf den Etruscus gegründete Edition von I. Fb. Gbokov,
Leyden 1661; zweite Auflage, Amsterdam 1682. Die Ausgabe von Peipeb und Richteb,
Leipz. 1867 ruht auf der unrichtigen Idee, dass Seneca alle Teile seiner Tragödien, Cantica
wie Dialog, strophisch gegliedert habe. Diese irrige Idee hat zu ganz willkürlichen kriti-
schen Operationen geführt. Die Arbeit ist eine pathologische Erscheinung auf dem Gebiete
der Philologie. Vortrefflich ist die neueste Ausgabe von Leo 2 Bde. Berl. 1878. 1879; der
erste Band enthält die sorgfältigen de Senecae tragoediis observationes criticae. (B. Schmidt,
De emendandarum Senecae tragoediarum rationibui prosodicis et metricis, Berl. 1860.)
Erläuternde Schriften. Lachxann, Ges. Werke 4; Sakdstbök, De L. A. Senecae
tragoediis, Upsala 1872 (unbedeutend); Wblckeb, Die Rom. Tragödien in dem Werke ,Die
griech. Tragödien* p. 1446 (vortrefflich); Ranke, Die Tragödien Senecas in „Abhandlungen
und Versuchen**, Leipz. 1888 p. 21 (stellt Seneca ziemlich hoch). Pais, U Teatro di L. Anneo
Seneca, Torino 1890. (Authentizität, Quellen, ästhetische Würdigung der Stücke.)
369. Hercules (furens). Die Andeutungen von dem Schrecklichen,
das wir in dem Stück zu erwarten haben, erhalten wir durch Juno, die
erbittertste Feindin des Hercules. Dann erscheinen der Vater des Her-
cules Amphitryon und die Gattin des Helden Megara; sie beklagen die
Abwesenheit des Hercules, der gegenwärtig in der Unterwelt verweilt;
denn Lycus hatte sich der Gewalt bemächtigt. Der Tyrann tritt jetzt
selbst auf und verlangt Megara zur Gemahlin; und als sie sich dessen
weigerte, droht er Megara, ihren Kindern und Amphitryon den Tod. Ge-
rade noch zur rechten Zeit langt Hercules mit Theseus aus der Unterwelt
an. Von Amphitryon über die Sachlage unterrichtet, entfernt sich der
HauUbach der kUss. AltertomswiBeenscbaft. VUL 2. TeiU 17
258 BOmische Litteratnrgesohichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Heros, um sofort Lycus zu züchtigen. Unterdessen erzählt Theseus von
ihrem Gange in die Unterwelt. Hercules kehrt zurück, Lycus ist getötet;
es folgt der grausigste Moment des Dramas, der Wahnsinn des Aleiden,
in dem er seine Kinder und seine Gattin hinmordet. Dann sinkt er
in tiefen Schlummer. Als er daraus erwachte und des Unheils, das
er angestiftet, gewahr wurde, wollte er sich selbst den Tod geben; es
bedurfte der eindringlichsten Ermahnungen seines Vaters, um ihn von
diesem Entschluss abzubringen. Theseus fordert ihn auf, ihm nach Athen
zu folgen, dort werde er der Reinigung von seiner Blutschuld teilhaftig
werden.
Das Original. Seneca legt die Sache in der Gestalt, welche sie bei Enrimdes
empfangen hatte, zu Grund; es finden sich daher auch bei ihm des griechischen Dichters
Neuerungen, die Verlegung des Eindermordes ans Lebensende des Hercules, die Einführung
des Lycus und die Heranziehung des Theseus (Wilakowitz, Euripid. Herakles 1, 357). Doch
weicht die römische Bearbeitung von der griechischen in folgenden wesentlichen Stücken
ab: 1) Bei Euripides wird der zweite Teil der Handlung durch eine Art von neuem Prolog
eingeleitet, indem Iris die Lyssa einführt, welche bei Hercules ihres Amtes walten soU; bei
Seneca setzt gleich im Anfang Juno die Furien in Bewegung, so dass wir auf ^ eine traurige
Wendung vollständig gefasst sind. 2) Auch mit Lycus nahm Seneca eine Änderung vor.
Während bei dem Griechen der Eindermord damit motiviert wird, dass Lyons sich nicht
Rächer aufziehen will (168), droht bei dem Römer der Tyrann Megara und dem ganzen
Geschlecht des Hercules den Tod, weil Megara nicht seine Gattin werden will, wie er zur
Sichemng seiner Herrschaft sich gewünscht hatte. 3) Bei Euripides tritt Theseus erst am
Schluss auf und greift dann in die Handlung ein ; bei Seneca kommt er mit Hercules aus der
Unterwelt. Diese Neuerung wurde vorgenommen, um Theseus, während Hercules zur Be-
strafung des Lycus sich entfernte, die Fa]hrt in den Hades erzählen zu lassen. Diese vorzeitige
Einführung des Theseus bedingt auch eine Modifikation am Schluss. 4) Der Grieche läast
den Mord erzählen, der Römer zieht ihn in die Darstellung herein. — Leo 1, 160; Webner,
De Seneca Hercule Troadibus Phoenissis quaest., Leipz. 1880 p. 5. (Lessing 4, 225 Lachm.)
370. Die Troerinnen (Troades). Mit Klagen der Hecuba und des
Chors über das Schicksal Trojas wird das Stück eingeleitet. Talthybius
führt uns in den Gegenstand des Dramas ein, indem er verkündet, dass Achilles
aus seinem Grabe emporgestiegen sei und verlangt habe, dass die Tochter
des Priamus Polyxena seiner Asche zum Opfer dargebracht werde. Über
diese Forderung entspinnt sich ein Streit zwischen Pyrrhus, der seinem
Vater diese Sühne nicht entzogen wissen will, und Agamemnon, der das
verlangte Menschenopfer verabscheut und den Standpunkt der Gnade ver-
tritt. Calchas wird zur Entscheidung angerufen. Der Seher bekräftigt
nicht nur die Notwendigkeit der Opferung Polyxenas, sondern erklärt
weiter, dass, wenn die Flotte günstigen Wind für die Heimkehr erhalten
wolle, Hectors Sohn Astyanax von der Veste Trojas gestürzt werden müsse.
Aber Andromache war bereits gewarnt worden; ihr war Hector im Traum er-
schienen und hatte sie gebeten, den kleinen Astyanax zu verbergen. Sie
wählt als Versteck das Grabmahl des Gatten. Kaum ist Astyanax dort
untergebracht, als XJlixes erscheint, um im Namen des griechischen Heeres
die Auslieferung des Astyanax zu verlangen. Andromache gibt vor, ihr
Sohn sei umgekommen; allein dem scharfen Blick des schlauen Mannes
entging nicht die Unruhe in dem Gebahren der Andromache. Die An-
kündigung, dass zur Sühne jetzt die Asche Hectors zerstreut werden müsse,
ruft einen Zwiespalt in den Gefühlen der Mutter und der Gattin hervor.
Als Ulixes Hand an das Grab anlegt und der Sohn in Lebensgefahr ge-
rät, gesteht sie ihren Betrug ein und sucht durch flehentliche Bitten Ulixes
Senecft als Dichter. 259
zu erweichen. Vergeblich. Astyanax wird fortgeführt. Die Handlung
wendet sich zum zweiten Opfer. Helena hatte den Auftrag erhalten, Po-
lyxena durch List in die Hände der Griechen zu bringen; sie soll sagen,
die Königstochter sei als Braut für Pyrrhus bestimmt. Allein die an-
wesende Androroache glaubt den Worten der Helena nicht; und Helena
offenbart schliesslich selbst die Wahrheit, welche über Hecuba neue Er-
schütterung bringt. Das Geschick eilt rasch vorwärts. Ein Bote ver-
kündet, dass Astyanax von den Mauern gestürzt worden, und dass Polyxena
am Grabe des Achilles, vom Stahl des Pyrrhus getroffen, hinsank. Beide
waren unerschrocken in den Tod gegangen. Die Flotte rüstet sich jetzt
zur Abfahrt.
Die Originale. Wie uns die Inhaltsübersicht gezeigt, beruht der Aufbau des
Stücks darauf, dass zwei Motive, die Opferung der Poljrxena und der Tod des Astyanax
miteinander verbunden sind. Beide Motive sind von den Tragikern bearbeitet worden, in
der Hecuba hat Euripides die Opferung der Polyxena neben der Bestrafung des Polymestor,
in den Troades neben andern Scenen die Tötung des Astyanax behandelt. Aber auch
Sophokles versuchte an beiden Stoffen seine Schaffenskraft. Seine „Gefangenen" stellten
den Tod des Astyanax dar (Welcker, Die griech. Trag. 1839 p. 171), seine , Polyxena* die
Opferung der Tochter des Priamus. Da uns die genannten Sophokleischen Tragödien ver-
loren gegangen, so ist es unmöglich, genauer festzustellen, wie weit der Nachdichter seine
Vorbilder ausgenutzt. Ziehen wir die erhaltenen Euripideischen Stücke zum Vergleich heran,
so ist eine Benutzung der Hecuba ersichtlich, in viel geringerem Grad vermögen wir die
Einwirkung der Troades (z. 6. 814 Eurip. 188) nachzuweisen. Aber wir kommen nicht mit diesen
Tragödien aus, wir müssen noch VerwerUmg des einen oder der beiden Sophokleischen
Stücke ansetzen. — Leo 1, 170, Habbücker p. 37, Webner p. 20, Paib p. 60.
371. Die PhOnissen. Unter diesem Titel sind zwei Fragmente ver-
einigt, welche sich auf zwei ganz verschiedene Situationen beziehen. In
dem ersten Stück (1 — 362) hat der blinde Ödipus und Antigene Theben
verlassen. Ödipus will seine Schritte nach dem Githäron lenken. Sein
Entschluss ist, seine Schuld durch freiwilligen Tod zu sühnen. Diesem
Gedanken stellt sich Antigone entgegen, es entspinnt sich eine Erörterung
des Themas vom Selbstmord, Ödipus betrachtet diesen als ein Recht des
Menschen, denn „das Leben kann man uns nehmen, nicht aber den Tod'
(152). Antigone spricht sich dagegen für das Ausharren im Leiden aus.
Da tritt plötzlich eine Veränderung der Scene ein, Ödipus und Antigone
weilen jetzt allem Anschein nach auf dem Githäron. Wir vernehmen, wie
Antigone den Vater bittet, dem unheilvollen Streit des Eteocles und Poly-
nices ein Ziel zu setzen. Diese Bitte versetzt Ödipus in grosse Er-
regung, er ergeht sich in argen Verwünschungen und weigert sich, seine
Stätte im Gebirg zu verlassen.
Das zweite Fragment führt uns nach Theben, hier sehen wir Jocaste
und Antigene.^) Ein Diener tritt auf und meldet, dass die Heere bereits
vor Theben gegeneinander rücken. Der Diener und Antigone vereinigen
ihre Bitten, um Jocaste zur Schlichtung des Streites zu bewegen. Scenen-
wechsel; die ergraute Mutter wirft sich zwischen die streitenden Söhne.
Polynices ist es, an den sie ihre eindringlichen Worte richtet und dessen
Einwürfe sie widerlegt. Zuletzt spricht auch Eteocles einige Worte über
*) Auch die Anwesenheit des ödipns
denkt sich Leo als voransgesetzt (1, y5).
Allein die Stellen, aus denen er dies er-
schliesst (550. 622), können auch ohne diese
Voraussetzung ihre Erklärung finden (Birt,
Rh. Mus. 34, 524;.
17*
260 Bömische LitteratnrgeBchichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
die Herrschaft, sie sei unauflöslich mit dem Hass verbunden, wer diesen
fürchte, müsse auf das Regieren verzichten.
Die Fragmente hält Bibt fElr Exzerpte aus einer ehemals vollständigen Tragödie.
Zweck des Epitomators sei gewesen, ,die durch die Handlung wirksamsten und mehr noch
die rhetorisch wirksamsten Partien herauszuheben" Rh. Mus. 34, 523). Diese Tragödie suchte
Birt auch zu rekonstruieren, wobei er allerdings gezwungen ist, dreimaligen Ortswechsel zu
statuieren (p. 528). Diese Ansicht ist nicht wahrscheinlich. Wir werden vielmehr diese
Fragmente als Studien oder Entwürfe des Dichters zu betrachten haben. (Richter, De
Seneca p. 21; Habruckeb, Quaest. Ann, Eönigsb. 1873 p. 22; Braun, Rhein. Mus. 20,271;
Webneb, De Senecae — Phoenissis quaest, Leipz. 1888 p. 44). Interessant ist das zweite
Fragment wegen der darin niedergelegten politischen Maximen (Ranke, Abb. p. 30).
372. Medea« Gleich bei Beginn der Handlung tritt uns Medea
leidenschaftlich erregt und rachedürstend entgegen. Die Klänge des Hy-
menaeus, der dem Brautpaar Jason und Creusa gilt, dringen ja bereits an
ihr Ohr. Vergeblich rät die Amme zur Mässigung und zur Flucht. Von
Creon, dem König von Korinth, des Landes verwiesen bittet sie um Auf-
schub. Ein Tag wird ihr gewährt, hinreichend für die Ausführung ihrer
Pläne. In dem Gespräch mit Jason macht sie einen letzten Versuch, ihn
zu erweichen, indem sie mit lebhaften Farben schildert, was sie alles um
des geliebten Mannes willen gethan. Jason lässt sich nicht umstimmen,
er dringt in sie, Korinth zu verlassen. Sie will es thun, aber nicht ohne
die Kinder mitzunehmen. Als sie hört, dass Jason ohne dieselben nicht
leben kann, durchzuckt sie der Gedanke, dass sie jetzt wisse, wo mit der
Rache einzusetzen sei (550):
hene est, tenetur, vulneri patuU locus.
Nach dem Abgang Jasons enthüllt sie den Plan, dass ein ver-
giftetes Kleid und ein vergifteter Schmuck durch die Kinder der Braut
überreicht werden sollen. Die Zuschauer werden in grausigen Scenen mit
den Vorbereitungen zur That bekannt gemacht; zuerst erzählt die Amme
von dem Schaffen der Herrin, dann hören wir die Medea selbst, wie sie
ihre Beschwörungen vollzieht und zur dreigestaltigen Hekate fleht. Nach-
dem alles fertig ist, werden die Kinder gerufen, um die unheilbringenden
Geschenke der Braut zu überbringen. Nach einem Chorlied kommt ein
Bote mit der Nachricht, dass die Geschenke den ganzen Königspalast in
Brand gesteckt haben und dass Creon und Creusa umgekommen sind.
Neuerdings rät die Amme zur Flucht, allein der Medea Rachsucht ist noch
nicht gestillt. Der Hauptschlag muss noch erfolgen, die Ermordung ihrer
beiden Söhne. Ein Monolog leitet die grausame Handlung ein, der eine Knabe
ward ermordet, dann besteigt sie mit dem zweiten und der Leiche des ersten
die Zinne des Hauses. Jason eilt mit Bewaffneten herbei, um die Misse-
thäterin gefangen zu nehmen. Sie zeigt ihm den ermordeten Knaben,
dann legt sie vor Jasons Augen Hand an den zweiten an. Die flehent-
lichsten Bitten Jasons prallen an ihrem verhärteten Gemüte ab. Als
auch das zweite Kind hingeschlachtet war, fährt sie in einem Drachen-
wagen durch die Lüfte.
Das Original. Das Musterstück ist die Eoripideische Medea. Ein Vergleich der
römischen und griechischen Tragödie zeigt sofort^ dass die Ägeusscene vom Römer weg-
gelassen, dass aber dafür eine Scene, in der Medeas Giftmischerei ausführlich beschrieben
wird, hinzugefügt ist. In Bezug auf die Konstruktion der Handlung ergibt sich eine we-
sentliche Verschiedenheit durch das Verhältnis der handelnden Personen zu den Kindern;
bei Kuripides bittet Medea Jason, er möge, besonders durch die Fürsprache bei seiner
Seneca ala Dichter. 261
Braut, erwirken, dass die Kinder in Eorinth bleiben dürfen; es geschieht dies, um die
Rache gegen die Nebenbuhlerin mit den vergifteten Geschenken erfolgreich einleiten zu
können; bei Seneca will Medea die Kinder als Genossen ihres Exils behalten, Jason dagegen
sie nicht ziehen lassen. Dieser Wunsch regt die Medea, nachdem sie gesehen, dass sie
Jason nicht zurückgewinnen kann, ganz besonders zur Tötung der Kinder an, um die Rache
gegen ihn auf die höchste Spitze zu treiben. Infolge dieser Änderung fiel die Sceno
weg, in der Medea dem Jason gegenüber Ergebung in ihr Schicksal heuchelt (es genügten
einige Worte vgl. 554) und ihn um Verwendung wegen der beiden Söhne ersucht. Die
Tötung der Kinder läast Seneca öffentlich und zum Teil vor Jason vollziehen. Ob diese
Neuerungen von Seneca herrühren, ist zweifelhaft, denn vor ihm hatte auch Ovid eine
Medea geschrieben, und es ist ganz undenkbar, dass Seneca von dieser berühmten Tra-
gödie keine Kenntnis und keine Einwirkung erfahren.
373. Phaedra« Die zweite Gattin des Theseus, Phaedra, verzehrte
eine brennende Leidenschaft zu ihrem Stiefsohn Hippolytus. Der aber
hasste das Frauengenschlecht, sein Lebenselement war der Dienst der
Artemis, die Jagd. An seinem keuschen Sinn musste daher die unreine
Liebe der Phaedra abprallen und zu einer Katastrophe führen, welche der
Dichter uns in diesem Stücke enthüllt. Wir sehen am frühen Morgen in
Athen, wie sich Hippolytus zur Jagd rüstet. Nachdem er ausgezogen,
tritt Phaedra auf und lässt uns einen Blick in ihr liebeskrankes Herz
thun. Vergeblich mahnt die Amme von der unseligen Leidenschaft abzu-
lassen, vergeblich sucht sie alle Gründe zusammen, ihre Herrin vermag
der tobenden Leidenschaft nicht mehr Herr zu werden; als einziger Aus-
weg aus dem Wirrsal winkt ihr der Tod. Darob erschreckt ändert die
Amme ihren Sinn, sie will selbst Hippolytus prüfen, ob er für eine Re-
gung der Liebe noch empfänglich ist; diese Prüfung stellt aber das Gegen-
teil heraus; Hippolytus entwirft ein idyllisches Bild des Jägerlebens. Da
naht Phaedra; sie sinkt zu Boden, Hippolytus fasst sie in seine Arme auf.
Er nennt sie Mutter, das Wort erschreckt sie, sie bittet ihn, Schwester
oder noch lieber Magd zu sagen, sie will ihm folgen, wohin er nur immer
geht, sie kann nicht anders, sie bekennt dem Stiefsohn ihre Liebe. Ent-
setzt fahrt Hippolytus zurück; als die Stiefmutter noch seine Umarmung
sucht, zieht er das Schwert gegen sie; da Phädra aber den Tod von seiner
Hand als überglücklich preist, lässt er sie los und wirft das Schwert weg.
Der Wendepunkt der Handlung ist eingetreten; wie ein Blitz fährt der
Gedanke „scelere velandum est scelus*^ der Amme durch den Kopf; sie
schreit, ihrer Herrin sei von Hippolytus Gewalt angethan worden, der sei
entflohen und habe in der Eile sein Schwert zurückgelassen. In diese Auf-
regung fallt das Erscheinen des Theseus, der von seiner Fahrt in die
Unterwelt zurückkehrt. Ihm klagt Phaedra die ihr widerfahrene Schmach,
da fleht Theseus zu seinem Vater Neptun, der ihm die Gewährung dreier
Wünsche zugesichert hatte, über Hippolytus noch heute den Tod zu ver-
hängen. Nur zu schnell wird diese Bitte erfüllt. Ein Bote meldet,
Hippolytus hätte zu Wagen das Land verlassen wollen, als er an das
Meer gekommen, sei plötzlich ein Ungeheuer aufgetaucht, die Pferde
seien scheu geworden, hätten Hippolytus herausgeworfen und elendiglich
zerrissen. Als Phädra die zerfleischte Leiche sieht, lodert nochmals die
Flamme der Leidenschaft auf; sie will mit dem Geliebten wenigstens im
Hades vereint sein. Sie gesteht ihre Verleumdung ein, dann gibt sie sich
den Tod.
262 ItOmische Litter atnrgesohiohte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Das Original. Vergleichen wir die Phaedra Senecas mit dem erhaltenen 'InnoXvrog
aiBfpaprjtjpoQos des Enripides, so erkennen wir sofort, dass das römische StQck auf einer
ganz anderen Grundlage ruht. Während bei Euripides die Liebe der Phaedra zum Hippo-
lytus durch die Amme kundgegeben wird, gesteht bei Seneca Phaedra ihre Liebe dem
Stiefsohn selbst, und während dort Theseus die Phaedra mit einem Briefe, in dem sie Hip-
polytus fälschlich anschuldigt, erhängt vorfindet, bringt sie hier ihre Anklage persönlich
vor. Bei Seneca entdeckt Phaedra die Unschuld des Hippolytns, bei Euripides Artemis.
Die Phaedra in dem römischen Stück ist daher wesentlich anders geartet als die in
dem griechischen. Nun ist bekannt, dass vor dem 'InnoXvtos atetpayijfpoQos Euripides einen
'InnoXvTo^ xaXvnxofiBvog geschrieben, dass dieser aber sich dadurch von dem andern Stack
unterschied, dass Phaedra ihre Liebe offen dem Stiefsohn bekannte und infolgedessen ihr
Charakter frecher gestaltet werden musste, (vgl. fr. 433 und 436 mit den Schlussworten des
Arguments). Es i^ klar, dass Seneca dieser Auffassung der Phädra folgt; er wird daher
an den 'InnoXvtog xaXvnrofxeyog sich angeschlossen haben, wie Ovid in der 4. Heroide (vgl. Leo
1, 173; Kalkxakk, De Hippolytia Huripideis p. 24), nicht aber an die Sophokleische Phaedra.
374. Oedipus. Mit einer Klage des Oedipus über die Pest beginnt
die Handlung. Jocaste spricht einige Worte der Ermutigung. Auch das
Chorlied bewegt sich in der Schilderung des schweren Unglücks. Da
kommt Creon von Delphi und bringt den Orakelspruch, der befiehlt, dass
der Mörder des Laios aus Theben vertrieben werde. Oedipus spricht seinen
Fluch über diesen aus und schwört, dass er der verdienten Strafe nicht
entgehen solle. Der Seher Tiresias naht mit seiner Tochter Manto. So-
gleich fordert ihn Oedipus auf, den Thäter zu bezeichnen. Unter des Tire-
sias Leitung trifft Manto die Anstalten zum Opfer, allein dessen Anzeichen
fallen äusserst ungünstig aus. Tiresias erkennt, dass ein anderer Weg
zur Erforschung der Wahrheit einzuschlagen ist, dass man die Unterwelt be-
fragen müsse. Creon, der den Tiresias zu diesem Werk begleitet hatte, kehrt
zurück und erzählt die grausige Beschwörungsscene. Laios war ihnen er-
schienen und hatte Oedipus als seinen Mörder und als Teilhaber des müt-
terlichen Ehebetts erklärt. Als Oedipus diese Worte vernahm, zweifelte
er nicht einen Augenblick daran, dass ein Komplott von Tiresias und
Creon geschmiedet worden sei, um ihn von der Herrschaft zu verdrängen
und Creon zum König zumachen; er liess daher diesen festnehmen. Allein
die Angst und Unruhe wollte seitdem nicht mehr von seiner Seele weichen,
er grübelt und erinnert sich, dass er an einem Dreiweg in Phokis einen
Mann erschlagen, er forscht Jocaste aus. Die näheren Umstände stimmen
auffällig. Da naht ein Greis aus Korinth und meldet, dass König Polybus
gestorben und dass Oedipus zu seinem Nachfolger bestimmt sei. Als er
Bedenken äusserte wegen eines Orakelspruchs, nach dem er das mütter-
liche Ehebett beflecken werde, eröffnet ihm der Korinther, dass Merope
gar nicht seine Mutter, Oedipus vielmehr unterschoben sei. Auf weitere
Fragen hin erzählt der Greis, dass ihm vor Jahren Oedipus als Kind
von einem königlichen Hirten auf dem Cithäron übergeben worden
sei. Jetzt ist das Entsetzliche nur noch durch einen dünnen Schleier ver-
hüllt. Es bleibt bloss übrig, jenen Hirten beizurufen. Der alte Phorbas,
der einst über die königlichen Herden gebot, erscheint, und damit kommt
die volle Wahrheit an den Tag, dass Oedipus der Mörder seines Vaters
und der Gemahl seiner Mutter ist. Ein Bote erzählt, dass Oedipus sich
die Augen ausgestochen. Jocaste stösst angesichts des geblendeten Oedipus
das Schwert in ihren unseligen Leib.
Das Original ist der König Oedipus des Sophokles. „Oedipum ita contraxit ut in
Seneoa als Dichter. 263
1060 versibus cantica 330 versus complectaniur, sacrificium et necromantia 230, ut ipsi
fabulae 500 versus relinquantur" (Leo 1, 163). Die Hauptabweichung vom Original knQpft sich
an die Person des Sehers Tiresias. Bei Sophokles wird er herbeigerufen, um mit seiner Seher-
kunst den Mörder des Laios ausfindig zu machen, bei Seneca dagegen kommt er von selbst
und zwar mit seiner Tochter Manto. Bei Sophokles verkündet der Seher sofort nach einem
Wortwechsel, dass Oedipus der Mörder des Laios ist, bei Seneca ist erst eine längere Pro-
zedur nötig, ein Opfer und dann die Beschwörung der Unterwelt. Diese Abweichung hat
natürlich darin ihren Grund, dass der Dichter zwei grausige Scenen erhalten will. Auch
am Schluss hat das Streben nach stai'ken Effekten den Nachdichter verleitet, noch eine
letzte Zusammenkunft des Geblendeten und der Jocaste stattfinden, und die Jocaste vor
unsem Augen sterben zu lassen. Beide Neuerungen sind eine Verschlechterung des Ori-
ginals; überhaupt steht die Kopie weit zurück, da sie die psychologische Entwicklung, die
wir bei Sophokles so sehr bewundem, in den Hintergrund stellt.
KöHLBB, Senecite tragoedia quae Oedipus inscrihitur cum Sophoclis Oedipo rege com-
parata, Neuss 1%65 ; Braun, Rh. Mus. 22, 245. Eine Analyse der beiden Dramen stellt
gegenüber Nisabd, Etudes T, 142— 198.
375. Agamemnon. Das Stück, das in Mycenae spielt, hat einen
ähnlichen Eingang wie der Thyestes, es tritt zuerst ein Schatten auf und
zwar der des Thyestes. Er gedenkt seiner Greuelthaten und verkündet
das Unheil, das über Agamemnon hereinbricht. Nach einem Chorlied über
das Glück der goldnen Mittelstrasse erscheint Clytaemnestra. Sie ist zum
Verbrechen, zur Rache an Agamemnon entschlossen, die Amme wehrt in
eindringlicher Weise ab. Als daher Ägisthus eingreift, zeigt Clytaem-
nestra sich schwankend, schliesslich aber erklärt sie doch, mit Ägisthus
im Stillen die Sache überlegen zu wollen. Ein Krieger aus dem Heere
des Agamemnon meldet in jubelnder Erregung die Ankunft des Köm'gs;
er erzählt der Freude heuchelnden Clytaemnestra, welche grosse Gefahren
sie auf dem Meere überstanden haben; jetzt erscheint der Chor der ge-
fangenen Troerinnen, darunter Cassandra, welche als Beute Agamemnon
anheimfiel. Sie gerät in Verzückung und erhält eine Vision, in der ihr
Sehermund verkündet, dass noch heute derselbe Kahn den Sieger und die
Besiegten in Hades' Reich geleiten werde (753). Da naht der König
selbst. Nach einem neuen Gesang der Troerinnen überkommt Cassandra
wiederum eine Vision, ihr Geist weilt in den Gemächern des Königs-
palastes und sie sieht, wie Agamemnon hingeschlachtet wird. Da stürzt
Electra in höchster Angst mit Orestes heraus. Sie erblickt den Phoker
Strophius, der gekommen war, Agamemnon zu begrüssen, und bittet ihn,
Orestes zu verbergen. Strophius eilt mit Orestes und Pylades von dannen.
Die jetzt auftretende Clytaemnestra und Ägisthus bestürmen Electra, den
Aufenthaltsort des Orestes anzugeben. Diese verweigert standhaft die
Antwort, Ägisthus droht ihr die schrecklichsten Strafen an, an einem von
Mycenae entfernten Ort soll sie in ein finsteres Gemach eingeschlossen
werden, sie wird durch Schergen abgeführt. Nun ist es Zeit, auch der
Cassandra den Todesstoss zu versetzen. Mit dem Befehl der Clytaemnestra
hiezu endigt das Stück.
Die Echtheitsfrage. Auch Agamemnon wurde bezüglich seiner Echtheit in Zweifel
gezogen; man hat auf sprachliche, metrische Verschiedenheiten und auf den doppelten
Chor hingewiesen. Eine genaue Untersuchung der ganzen Frage hat Leo angestellt, Ausg.
1,89 — 184. Es kommt durch eine eingehende Prüfung der vier Gesänge Agam. 589—686
808—866 Oedip. 403—508 709—763 zu dem Ergebnis, dass dieselben von einem und dem-
selben Dichter herrühren müssen, dass man sonach, wenn man den Oedipus für echt hält,
auch den Agamemnon für echt halten müsse. Zur Erklärung der Verschiedenheiten stellt
er aber folgenden Satz auf (p. 188): iia sentio Agamemnonem inter Senecae tragoedias eam
esse, quam primam scripsit, Oedipum secundam; quo factum est etiam ut Uta Ujtxiorem
264 Römisohe Litteraturgeecliichte. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
ocfAuc referat anapaestorum condendorum artem. Oedipum autem scimus saUem ante
Phoenissßs scriptum esse.
Das Original. Von dem Äschyleischen Agamemnon weicht Seneca ungemein ab,
besonders ist der Anfang und das Ende ganz anders angelegt. Während bei Äschylus die
Handlung mit dem Wächter beginnt, der endlich nach zehn Jahren das die Eroberung
Trojas verkündende Feuerzeichen gesehen, lässt Seneca den Schatten des Thyestes und
Ägisthus, der die Clytaemnestra zur That antreibt, auftreten. Am Schluss besteht die
einschneidende Änderung darin, dass Electra mit dem jungen Orestes aus dem Palast
stürzt und ihn dem eben angekommenen Strophius aus rhocis zum Verbergen übergibt:
bei Äschylus erzählt Cljrtaemnestra, dass Orestes bei Strophius verweilt, und vom Auf-
treten der Electra ist keine Spur vorhanden (880 D.). Im griechischen Drama wird femer Cas-
sandra mit Agamemnon ermordet, Clytaemnestra erzählt es selbst (1404 D.) ; bei Seneca be-
fiehlt Clytaemnestra, die anwesende Cassandra zum Tod zu schleppen. Bei Äschylus ist der
Charakter der Cassandra als Seherin festgehalten, bei Seneca wird sie zuletzt auf die Stel-
lung eines i^ayyeXog herabgedrückt, indem sie mit Seherblick verkündet, was im Palast
vorgeht; es fehlt daher auch der letzte Aufschrei Agamemnons. Es fragt sich, ob diese
Neuerungen von Seneca ausgegangen sind. Ein Blick auf die Fragmente des Ägisthus von
Livius Andronicus zwingt uns die Frage zu verneinen; auch dort finden sich dieselben im
wesentlichen; Ribbeck (Rom. Trag. p. 30) hat aus einer Übereinstimmung (fr. 2 Agam.
449 D.) den Schluss gezogen, «dass Seneca oder wer der VerfaBser dieser Deklamation
gewesen ist, in dieser Partie den Text des alten Dichters vor Augen gehabt". Allein die
Konkordanz wird vielmehr durch ein gemeinsames griechisches Original eines jüngeren
Dichters zu erklären sein, welches neben dem Agamemnon des Äschylus Seneca noch zu
Rat gezogen hat (Stbaüss, De ratiane inter Senecam et antiquas fabulas Bamanas inter-
cedente, Rostock 1887 p. 46).
376. Thyestes. Das Drama führt uns zuerst den Schatten des Tan-
talus und der Furia vor. Furia dringt in Tantalus, das Pelopidenhaus in
neues Wirrsal zu stürzen. Auch fallt hier schon eine Andeutung über die
entsetzlichen Dinge, die sich vorbereiten. Mit erschreckender Klarheit
stehen sie vor unsern Augen, nachdem der jetzt auftretende Atreus seinen
Racheplan entwickelt. Zwar suchte ihn sein Begleiter, der Satelles ge-
nannt wird, in einem an politischen Wendungen reichen Gespräch von
demselben abzubringen, allein ohne Erfolg. Mit Atreus hat sich der Ge-
danke, an seinem Bruder, der ihm die Gattin verführt und das Unter-
pfand der Herrschaft entzogen (225), eine unerhörte Bache zu nehmen,
unlösbar verbunden, sein fester Entschluss ist, die Kinder des Thyestes
zu ermorden und sie dann als Speise dem Bruder vorzusetzen. Was folgt,
ist die Durchführung des Rachegedankens. Thyestes war auf die Ein-
ladung des Atreus (296) in die Heimat zurückgekehrt, Furcht vor Atreus
und bange Ahnungen machen ihn unschlüssig, ob er bleiben soll. Sein
Sohn Tantalus beruhigt ihn, Atreus sei völlig ausgesühnt, ja er wolle
sogar die Herrschaft mit dem Bruder teilen. Mit schwerem Herzen stimmt
Thyestes zu. Da kommt Atreus und heuchelt grosse Freude über die An-
kunft des Thyestes, auch macht er den Vorschlag der gemeinsamen Re-
gierung. Der Chor greift mit einem Liede ein, indem er seine Freude
über die Versöhnung ausspricht, aber doch zuletzt an die Wandelbarkeit
aller Dinge erinnert. Mittlerweile ist das Furchtbare geschehen, ein Bote
tritt auf und erzählt, dass Atreus die Kinder des Thyestes hingemordet,
von ihrem Leichnam dem Vater ein Mahl bereitet und dieser es verzehrt
habe. Selbst die Sonne habe angesichts dieser Greuel ihren Lauf zurück-
gelenkt. Der letzte Akt der Rache vollzieht sich vor unsern Augen.
Atreus überreicht dem Bruder einen Becher Wein, in den das Blut der
ermordeten Kinder gemischt war. Als Thyestes denselben an die Lippen
Seneoft als Dichter. 265
bringen wollte, versagen die Hände ihren Dienst, in entsetzKcher Auf-
regung verlangt er nach seinen Söhnen. Da zeigt ihm Atreus die abge-
schlagenen Häupter und Hände (764, 1005, 1039). Beim Anblick derselben
bricht Thyestes in die berühmten Worte aus „da erkenne ich den Bruder*".
Doch hat er das Gräulichste noch nicht vernommen. Als Thyestes die
Leiber der Ermordeten zur Beerdigung verlangt, wird ihm die erschütternde
Kunde zu teil, dass er sie verzehrt.
Das Original. Über die Quelle der lateinischen Tragödie ist nicht ins reine zu
kommen, da uns kein zweites Stuck, welches diesen Stoff behandelt, aus dem Altertum
überliefert ist. An griechischen Mustern fehlte es nicht. Sophokles hatte wahrscheinlich zwei
Dramen des Namens „Thyestes" geschrieben (Nauck, tragic. Graec, fragm. p. 146 nr. 227)
doch waren hier andere Teile der Sago behandelt (Welcker, Gr. Trag. p. 366), femer hatte
er einen Atreus oder die Mykenerinnen (Nauck p. 127 nr. 137) verfasst; Euripides hatte
ebenfalls einen Thyestes gedichtet; (Nauck p. 382 nr. 395; Wilamowitz, Anal. Eurip. p. 153).
Aber auch noch von anderen griechischen Dichtem finden wir Stücke des Namens «Thy-
estes** erwähnt. Bei den Römern hatten drei Dichter dos Thema bearbeitet, Ennius in
seinem „Thyestes* (Ribbeck, Rom. Trag. p. 199), Accius in seinem „Atreus*, aus dem die
berühmten Worte oderint dum metuant stammen (Ribbbck, p. 449), endlich L. Varius Rufus
in seinem viel bewunderten Thyestes (§ 207). Dass die letzte Tragödie von Seneca positiv
oder negativ berücksichtigt werden musste, ist nicht zu bezweifeln (Strauss, De ratioM
p. 58—77).
Die politischen Maximen des Stückes verfolgt genauer Ranke, Abhandl. und
Versuche p. 38 „Man wird daran erinnert, dass in diesen Zeiten in Rom sich die Frage
erhob, ob es zwei Oberhäupter der höchsten Gewalt geben könne — Cajus und Gemellus,
Nero und Britanniens". (Analyse des Stücks bei Lessino 4, 269 Lachm.)
377. Hercules (Oetaeus). Die Handlung geht in Trachin vor sich,
nur für den Prolog und das erste Chorlied muss als Ort Oichalia ange-
setzt werden. Im Prolog rühmt Hercules seine Thaten und gibt seinem
Begleiter Lichas den Befehl, die Besiegung des Eurytus nach Hause zu
melden. Es tritt dann die gefangene Jole auf, die Tochter des Eurytus,
welche in einem Lied ihr Schicksal beklagt. Sie wird der Anlass zu der
Katastrophe, welche uns das Stück schildert. Die Anwesenheit der schönen
Gefangenen erregt in der Gattin des Hercules Deianira die höchste Eifer-
sucht; in einem Gespräche zwischen ihr und der Amme malt uns der
Dichter bis zur Ermüdung die Wirkungen der Leidenschaft. Deianira sinnt
aus Rache auf den Tod des Gatten, schliesslich fällt ihr ein, dass sie
im Besitz eines Zaubermittels sei, das ihr die verlorene Liebe des Helden
zurückgeben könne. Sie hat ja das vergiftete Blut des Centauren Nessus
und braucht mit demselben nur ein für Hercules bestimmtes Gewand zu
bestreichen und Hercules muss sie — so hatte ihr einst der Centaur
geweissagt — wieder lieben. Sofort wird ein Kleid nach dieser Anweisung
hergerichtet und dem Hercules durch Lichas übersandt. Kaum war dies
geschehen, so durchzogen bange Ahnungen die Seele der Deianira, es kommt
ihr der Gedanke, dass ein Racheplan des von Hercules getöteten Nessus im
Spiel sein könne. Eine Probe zeigte, dass die Wolle, die mit dem Gift be-
strichen war, in der Sonne hinschwand. Ihre Ahnungen erhalten nur zu
bald ihre Bestätigung. Hyllus, der Sohn der Deianira, erscheint und be-
richtet, dass das Gewand über Hercules verheerende Schmerzen verbreitet,
und dass er in seiner Wut den Überbringer Lichas dahingestreckt hat.
Deianira gibt ihren Entschluss zu sterben kund. Als sie sich entfernt,
naht Hercules selbst. Den von furchtbaren Schmerzen gepeinigten Sohn
sucht die bekümmerte Mutter Alcmene zu trösten. Da meldet Hyllus,
266 Bömische Litteratorgeschichte. II, Die Zeit der Honarcliie. 1. Abteilnng.
dass Deianira in den Tod gegangen und klärt zugleich den Vater auf,
dass kein Verbrechen der Mutter^ sondern eine Rache des Nessus vorliege.
Hercules erkennt, dass sich jetzt ein dunkler Orakelspruch erfüllt habe
(1476), und befiehlt, einen Scheiterhaufen auf dem Öta zu errichten, auf
dem er sterben will, dem Hyllus trägt er auf, die Jole zur Frau zu
nehmen. Der Wunsch des Aleiden wird erfüllt, er wird fortgebracht, ein
Bote erzählt, wie Hercules auf dem Scheiterhaufen geendet. Alcmene
wehklagt über den Tod des Helden, Hyllus spricht ihr beruhigende Worte
zu, aber den reichsten Trost spendet ihr der heimgegangene Sohn selbst,
er verkündet, dass er in der Sternenwelt verweilt.
Echtheitsfrage. Schon äusserlich hebt sich der Hercules (Oetaeus) durch seine
ungebührliche Länge von allen übrigen Stücken ab. Auch der Wechsel der Scenen und
des Chors erregt unser Befremden. Es kommen hiezu Nachahmungen, Geschmacklosig-
keiten, lästige Wiederholungen, einige metrische Diskrepanzen, sprachliche Verschieden-
heiten. Mit Entschiedenheit hat bereits D. Heiksius das Stück dem Seneca abgesprochen.
In unsem Tagen trat der Frage Richteb, De Seneca tragoediarum auctorej Bonn 1862
näher und hielt ebenfalls das Stück für unecht (p. 31), „quoniam tot tantaque itUer hatte
fabulam et ceteras in re metrica et prosodiaca, in dicendi genere, in arte dramcUica inter-
cedere vidimus discrimina*' . Andere Gelehrte vertreten den Standpunkt der teilweisen Un-
echtheit; so hat Habbuckeb, Q wiest. Ann, p. 47 vermutet, dass der Anfang (1—232) und
das Ende von Vers 1691 an von fremder Hand hinzugefügt sei. Ganz entgegengesetzt
urteilt Leo; er nimmt als Werk des Seneca nur den Anfang bis Vers 705 an, von der
Auffassung ausgehend (p. 74), dass „integram de Hereulis morte tragoediam scribere S. in
mente non habuit; singulas seaenas scripsit, alteram de virginibus ex Oeekalia abduetis,
alteram de Deianirae zelotypia". Die Unechtheit des ganzen Stücks hält aufrecht Bibt
(Rhein. Mus. 34, 509), die Echtheit Melzeb, De Hercule Oet,, Chenmitz 1890 und Steüt-
BEBOBB in der Christ'schen Festschr. (1891) p. 188,
Das Original. In der Bearbeitung der Sage richtet sich Seneca nach den Tra-
chinerinnen des Sophokles, aber doch mit einschneidenden Abweichungen. Die wichtigste
ist, dass die Handlung über den Rahmen des Sophokleischen Stückes hinaus geführt und
auch die Apotheose des Hercules noch der Handlung einverleibt wird. In dem letzten
Teil führt der Dichter auch eine neue, aber unglückliche Figur ein, die Mutter des Her-
cules Alcmene, deren Aufgabe ist, zu trösten und zu jammern. Die zweite wesentliche
Änderung im Aufbau zeigt sich im Eingang des Stückes. Während bei Sophokles Deia-
nira die Handlung eröffnet und das Schwergewicht auf die allmähliche Entwickelung der
Eifersucht fällt, ist der Eingang der römischen Tragödie ein ganz unorganisches Gebilde.
Zuerst spricht Hercules prahlerisch von seinen Thaten, es muss daher hier ein anderer Ort
der Handlung angesetzt werden als später; dann ist auch Jole redend eingeführt, endlich
ist Deianira von Anfang an das von Eifersucht gepeinigte, auf Rache sinnende Weib.
378. Charakteristik der Tragödien. Die römische Tragödie war
lange nichts anders als eine freie Bearbeitung griechischer Stücke. Zwar
tauchte auch hier wie in der Komödie der Versuch auf, zur Selbständig-
keit vorzudringen, er führte bekanntlich zur Prätexta; allein tiefere
Wurzeln scheint diese Spielart nicht geschlagen zu haben, der Sinn der
R<5mer war für das Tragische weit weniger empfanglich als für das Ko-
roische. Im wesentlichen blieb es daher in der ganzen republikanischen
Zeit bei der Übertragung griechischer Originale. Der Tragödiendichter
wollte in der Regel nichts anders sein als der Dolmetsch des griechischen,
er betrachtete als seine Aufgabe, das fremde Original seinen Landsleuten
zugänglich zu machen; nahm er auch hie und da Änderungen vor, sein
Werk sollte trotzdem Kopie, nicht Original sein. Die Stellung des
Dichters zu den tragischen Stoffen der Griechen wurde eine völlig ver-
schiedene, als in der Kaiserzeit die Rhetorik sich auch der tragischen
Dichtung bemächtigte. Dieses Eindringen der Rhetorik in die Tragödie
lag nahe genug. Die Stoffe für die Deklamationen wurden ja vielfach aus
Seneoft «Is Dichter. 267
der griechischen Sage entnommen, und die Heroide war oft nur die pa-
thetische Schilderung einer bestimmten Situation aus einer Tragödie in
Briefform. Ein kleiner Schritt, und man kam zur Bearbeitung einzelner
Scenen, besonders solcher, welche zur Entfaltung des Pathos Gelegenheit
darzubieten schienen. In den Phoenissen Senecas haben wir, wie wir
sahen, eine solche rhetorische Gomposition einiger Scenen. Endlich wurden
auch ganze Stücke in der neuen Manier gestaltet. Wir werden nicht
irren, wenn wir die am meisten bewunderten Tragödien der ersten Kaiser-
zeit, die Medea Ovids und den Thyestes des Varius, als glänzende Muster
der rhetorischen Poesie betrachten. Mit den alten Tragödien haben die neuen
gemein, dass sie an Stoffe herantreten, welche bereits griechische Dichter
behandelt haben; allein sie unterscheiden sich von jenen, dass sie keine
Kopie mehr sein wollen, sondern eine Neuschöpfung. Es ist richtig, dass
der Sagenstoff, wenn er durch einen griechischen Dichter allgemeine Gel-
tung erhalten, in den wesentlichen Zügen beibehalten werden musste, dass
sonach nicht in der Erfindung eines neuen Stoffes der Schwerpunkt der
neuen Richtung liegen konnte; allein immerhin blieb noch ein grosses
Feld übrig, auf dem sich die Originalität des Dichters bethätigen konnte,
wie dies ja auch moderne Meister in vielbewunderten, antike Stoffe darstel-
lenden Werken gezeigt haben. Solche Originale sind auch die Tragödien
Senecas; und es ist anziehend, näher zu verfolgen, worin und wie sich
diese Originalität äussert. Vor allem prägt der Dichter seine Individua-
lität aus; das, was sein Inneres bewegt, klingt auch durch diese Stücke
hindurch. Besonders der Ghor gibt ihm Anlass, sich über die allgemeinen
Fragen des Seins, meist in stoischem Sinn, auszusprechen; doch legt er
auch seinen Personen nicht selten philosophische Sätze in den Mund. Da
werden Probleme erörtert oder gestreift wie das Fatum (Oedip. 980), der
Weltuntergang (Thyest. 827), der Tod (Tro. 392), der Selbstmord (Phoeniss.
151 fg.), das Glück des leidenschaftslosen, von Ehrgeiz freien Mannes
(Thyest. 342). Auch politische Diskussionen werden geführt, so wird die
Frage aufgeworfen, ob man die Herrschaft auf Liebe oder auf Furcht
gründen soll, wir hören den Satz (Tro. 258):
violenta nemo imperia cotUinuit diUf
moderata durant.
An einer andern Stelle (Phoen. 654) heisst es dagegen:
regnare non vuU esse qui invisi4s timet:
simul isla mundi eonditar posuit deus,
odium atque regnum.
In Thyestes spricht Atreus die Grundsätze seiner Regierung aus;
er vertritt einen schroffen Standpunkt, er verlangt, dass das Volk unter
allen Umständen den Handlungen seines Herrn Beifall spende, ja er
geht sogar soweit, zu behaupten, dass es unmöglich sei, durchweg mit
ehrlichen Mitteln zu regieren (214). Ihm gegenüber nimmt der Satelles
den Standpunkt der Mässigung ein. Oft ergeben sich, wie bereits erwähnt,
zu den in den Tragödien entwickelten Sätzen schlagende Parallelen aus
den philosophischen Schriften, ein Beweis, dass der Philosoph Seneca und
der Tragiker Seneca dieselbe Person sind. Auch in der Form, in der die
philosophischen Axiome vorgebracht werden, zeigt sich die Verwandtschaft,
268 Römische Litteratorgesohichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
hier wie dort finden wir die epigrammatisch zugespitzten Sentenzen in
reicher Fülle. Noch mehr enthüllt sich das eigene Wesen des Autors
in der dichterischen Komposition. Der griechische Dichter wurde nur
geleitet durch die Rücksichten auf das Schöne, das sich in stiller Grösse
durch sein Werk entfalten sollte; der Römer wollte einen Effekt erzielen
und zwar mit den Mitteln, welche ihm der rhetorische Unterricht an die Hand
gegeben. Dort hatte er gelernt, farbenreiche Beschreibungen hinzuwerfen,
die verschiedenen Affekte kunstvoll zu zeichnen, die für die jeweiligen
Stimmungen passende Situation in schlagender Weise vorzuführen; nicht aber
hatte er dort gelernt die Versenkung in einen werdenden Charakter, die
zarte Motivierung der verschiedenen Handlungen, die stufenmässige Ent-
wickelung eines tragischen Stoffes. Mehr als Rhetor denn als Dichter
tritt er an die alten Meisterwerke heran. Er braucht vor allem Reden,
die dramatische Bewegung steht ihm daher erst in zweiter Linie; er
braucht spannende Scenen, sein Blick ist daher weniger auf die Verbindung
von den Teilen zu einem abgerundeten Ganzen gerichtet; er muss starke Töne
anschlagen, wenn er die abgestumpften Nerven seines Publikums erregen
will, das Geheimnis der Harmonie, das mit so wohlthuender Wärme aus
den griechischen Schöpfungen herausleuchtet, ist ihm versagt. Der am
meisten in die Augen springende Grundzug dieser Stücke ist daher das
Masslose, das Forcierte, das Pathetische. Beispiele für das Gesagte finden
sich allenthalben in diesen Tragödien, und wir haben auf verschiedenes
hieher Gehöriges bereits in den Analysen aufmerksam gemacht. Um eine
schauerliche Beschreibung der Unterwelt anbringen zu können, tritt Theseus
mit Hercules zugleich auf, und während dieser zur Züchtigung des Lycus
schreitet, finden die Anwesenden die Geduld, der Erzählung aufmerksam
zuzuhören. Die Totenbeschwörung des Tiresias und die Giftmischereien
der Medea werden zu ganzen Scenen ausgestaltet, da hier der Dichter die
erwünschte Gelegenheit fand, durch Darstellung des Grässlichen zu be-
täuben. Auch sonst scheut er sich nicht, Dinge, vor welchen der zart«
Sinn der Griechen zurückgescheut, offen darzulegen. Er lässt die Jokaste
nochmals mit dem geblendeten Oedipus zusammentreffen, er lässt die
Phaedra selbst dem Theseus ihre Schuld gestehen, er lässt die Medea die
Kinder vor unsern Augen hinschlachten, er lässt Hercules* wahnsinnige Thaten
öffentlich vor sich gehen; alles dies zu dem Zwecke, um pikante, grause
Scenen zu erhalten. Die Charaktere werden durch das Pathos, durch
die stete Steigerung der Affekte stark vergröbert. Seine Deianira ge-
bärdet sich infolge ihrer Eifersucht wie wahnsinnig, auch bei Medea ver-
steigt sich die Leidenschaft ins ungemessene und wilde, die uns aus der
griechischen Tragödie so sympathisch gewordene Antigene tritt bei ihm
als eine redegewandte Sophistin auf, Phaedras Schuld wird losge-
löst von der göttlichen Einwirkung der Venus und dadurch verstärkt.
Was aber am meisten diese Tragödien von den griechischen trennt, ist die
überall sich breit machende Rhetorik; deklamiert wird bei dem Römer
ausserordentlich viel, und die Deklamationen zeigen ganz die Vorzüge,
aber auch die Gebrechen der Beredsamkeit jener Tage. Sie sind lebhaft,
geistreich, scharfsinnig, blühend, aber auch affektiert, überladen, spitz-
Seneoa als Dichter.
269
findig und unnatürlich. Von dieser Behandlung der Diktion hebt sich
der Versbau merklich ab; derselbe ist sorgfältig und streng und richtet
sich nach den besten Mustern; freilich Geniales darf man auch hier nicht
suchen. »)
Es ist eine alte Streitfrage, ob die Tragödien Senecas zur Aufführung
bestimmt waren. Untersucht man dieselben vorurteilsfrei, so wird man
in denselben nichts finden, was eine Aufführung derselben . unmöglich
erscheinen Hesse. Ja, es finden sich sogar Bühnenregeln beobachtet,
so beschränkt er sich auf drei Sprecher in den einzelnen Scenen,*) er hält
die fünf Akte^) ein, er macht die auftretenden Personen und den Ort kennt-
lich.*) Ferner ist zweifellos, dass die rhetorische Kunst dieser Produkte
erst durch wirklichen Vortrag, nicht durch blosse Lektüre lebendig wird.
Für die ungebildete Masse mochten diese Dichtungen allerdings wenig An-
ziehungskraft haben, für die Gebildeten dagegen, welche sämtlich die
rednerische Bildung durchgemacht hatten, musste das Anhören dieser
Stücke den gleichen, ja vielleicht einen noch höheren Genuss bereiten
als das Anhören von Deklamationen über abstruse Themata. Und wenn
die Tragödien des Pomponius Secundus, denen wir auf Grund des Zeug-
nisses von Quintilian (10,1,98) auch den rhetorischen Charakter beilegen
müssen, wirklich aufgeführt wurden (Tac. Ann. 11, 13), so ist es ungereimt
von vornherein als eine Unmöglichkeit zu betrachten, dass Seneca für die
Bühne gedichtet. Eine andere Frage ist, ob die Stücke wirklich zur Auf-
führung gelangten. Bei dem Niedergang der dramatischen Poesie, welcher
durch das Überwuchern des Pantomimus erzeugt wurde, ist es sehr leicht mög-
lich, dass sie nur in der Recitation und in der Lektüre fortlebten. Unter
allen Umständen übten sie keine tiefgehende Wirkung auf die römische
Litteratur aus,^) wenn sich auch von ihrer Benutzung Spuren bei Späteren
erhalten haben. ^) Dagegen hatte Seneca einen nachhaltigen Einfluss auf
die moderne Litteratur. ^) In Italien lässt sich das Studium und die Nach-
ahmung der Tragödien Senecas durch Jahrhunderte hindurch verfolgen.
Auch in der Entwickelungsgeschichte der französischen Tragödie nimmt
unser Autor eine ganz hervorragende Stellung ein; Corneille und Racine
haben aus ihm geschöpft und sich an ihm gebildet. Schon aus dieser
Einwirkung ergibt sich, dass diese Tragödien nicht bedeutungslos sein
können und ein ernsteres Studium verdienen. Freilich mit dem Aufleben
des Hellenismus war die Rolle dieser Produkte ausgespielt. Jetzt bilden
sie ein interessantes Seitenstück zu den Erzeugnissen des griechischen
Geistes, das uns belehrt, dass das hellenische Ideal des Schönen unüber-
troffen dasteht und ein Abweichen von demselben sich jederzeit rächt.
Über die Zeit der Abfassung der einzelnen Tragödien ist schwer ins reine zu
kommen, da die Anspielungen grösstenteils zu unbestimmt sind. Was Peipeb, Praef, ttuppl,
p. 11. p. 32 vorbringt, sind „somnia nugaeque merae". Auch Jonas, De ardine librorum
Senecae, tritt der Frage näher und sucht zum Teil im Anschluss an Peiper, zum Teil den-
selben rektifizierend, die Abfassungszeit von Medea und Troades (bald nach der Rückkehr
J) Vgl. L. MüLLBB, Philol. 89, 419, der eine
sachkundige Kritik der metrischen Kompo-
sition in kurzen Zügen entwirft.
*) Weil, Jieme archfologique 1865
p. 21.
») Weil p. 32.
*) Leo, Ausg. 1,76.
») L. Müller p. 421.
«) Peipeb, Rhein. Mus. 32, 532.
') Ranke, Abh. p. 72.
270 RömiBche Litteratargeschiclite. II. Die Zoit der Monarchie. 1. Abteilung.
aus dem Exil p. 38), von Oedipns (nach dem Partherkrieg des Jahres 58 p. 46, im Wider-
spruch mit Leo vgl. § 875), von Phaedra (nach dem Tod des Britanniens p. 47), von Her-
cules f. (nach 57 vgl. Vs. 839 p. 47), von Thjestes (nach dem seeesstis Senecas p. 48) zu be-
stimmen. Die gewöhnliche Anschauung lässt die Tragödien in der Einsamkeit des Exils von
Corsica entstehen (Rakke, Abh. p. 26).
ß) Seneca als Satiriker und Epigrammatiker.
379. Divi Glaudii ^AnoxoXoxvvt(aaiq (Glaudins' Yerkürbsang). Ein
hochinteressantes Schriftstück ist diese Schmähschrift gegen den ver-
storbenen Kaiser Claudius. Es ist eine Menippeische Satire, denn sie
bietet die dieser Gattung eigentümliche Mischung von Prosa und Poesie.
Wir führen kurz die Grundzüge derselben vor: Claudius liegt im Todes-
kampf, Mercur bittet eine der Parcen, demselben doch ein Ende zu machen.
Clotho reisst daher das Lebensgespinnst des Claudius ab; zugleich spinnen
die Parcen den Faden, an dem das Leben Neros hängt, immer weiter
und weiter; Apollo begleitet sie mit seinem Gesang; er feiert in über-
schwenglicher Weise den neuen Kaiser. Claudius kommt im Himmel an;
die Götter staunen über den sonderbaren Menschen; da sie aus seinem
Kauderwelsch nicht herausbringen können, wessen Landes Kind er sei,
wird der auf der ganzen Welt herumgereiste Hercules herbeigeholt, um
sich den Menschen anzusehen und Aufschluss zu erteilen. Auch Hercules
wird es bei dem Anblick des Fremdlings nicht geheuer; mit dem be-
kannten homerischen Vers riq no&sv stellt er ein Examen an; Claudius
antwortete ebenfalls mit einem homerischen Hexameter, durch denselben
seine Abstammung von Uion kundgebend. Ihm fällt aber die Göttin
Febris, die den Claudius allein von den Göttern Roms begleitet hatte, in
die Rede und deckt boshaft seinen Ursprung aus Lyon auf. Hercules
fordert ihn in tragischen Versen auf, die Wahrheit zu sagen, zugleich auf
seine Keule hindeutend; Claudius sucht Hercules zu begütigen. Leider
ist hier in der Überlieferung (wahrscheinlich durch den Ausfall eines
Blattes) eine Lücke eingetreten, der Zusammenhang erfordert die Dar-
legung, dass es Claudius gelang, Hercules' Gunst dafür zu gewinnen, dass er
ihn in den olympischen Senat einführe. Mit den Verhandlungen, ob der Kaiser
unter die Götter aufgenommen werden soll, fährt das Erhaltene fort. Die
heftige Schlussrede des vergötterten Augustus über die Schandthaten des
Claudius führte zu einem verneinenden Votum der Himmlischen. Der
Götterbote Mercurius packt ihn, um ihn in die Unterwelt zu führen. Als
sie auf dem heiligen Weg in dieselbe ziehen, werden sie des Leichenbegäng-
nisses des Claudius gewahr und hören die dabei gesungene Totenklage;
der Dichter teilt dieselbe mit. Im Fortgang ihrer Reise stossen sie auf
den ehemaligen Freigelassenen des Claudius, Narcissus, auch er war auf
dem Weg zur Unterwelt begriflfen; er wird vorausgeschickt, die Ankunft
des Claudius zu melden. Als Claudius bei den Unterirdischen angekommen
war, schleppt ihn Pedo Pompeius sofort vor den Richterstuhl des Aeacus
und macht ihm den Prozess. Claudius wird schuldig gesprochen. Schwierig-
keit macht die Bestimmung der Strafe; man beschliesst eine ganz neue
über ihn zu verhängen, der leidenschaftliche Würfelspieler wird verurteilt,
mit einem Würfelbecher zu spielen, dessen Boden den Würfel vor dem
Wurf durchgleiten lässt. In gebundener Rede wird seine Strafe geschildert.
Seneca als fiichier.
271
Man sollte nun meinen, das Draipa sei aus, allein es kommt ein Anhang,
nämlich ein neuer Prozess. C. Caesar reklamiert den Claudius als seinen
Sklaven, derselbe wird ihm auch zugesprochen; Caesar schenkt aber den
Claudius dem Aeacus; dieser übergibt ihn wiederum seinem Freigelassenen
Menander,') damit er diesem in den Untersuchungssachen als Knecht
diene. Diesen Anhang finden wir sehr störend, gegenüber dem ersten
Prozess fällt dieser zweite in seiner Wirkung bedeutend ab. Das Miss-
behagen würde aber verschwinden,, wenn noch eine Strafe den Claudius
treffen würde, welche die bisher verhängte überbietet und so einen glän-
zenden Schlusseffect herbeiführt. Mit anderen Worten, es scheint ein
Ausfall am Schluss der Satire eingetreten zu sein. Diese Annahme
findet auch von einer andern Seite her Unterstützung. Der Titel unserer
Schrift ist in der massgebenden Überlieferung Divi Qaudii apotheosis per
saturam. Allein bei Dio Cassius lesen wir, dass Seneca eine Schmäh-
schrift gegen Claudius schrieb, welcher er den Titel anoxoXoxvvtwaig ,als
eine Art ano&avaTiaig'^ vorsetzte. Es fragt sich, ob diese Schrift mit der
unsrigen identisch ist. Die Frage muss bejaht werden, denn in beiden
Schriften ist ja derselbe Gegenstand bearbeitet, die anoO^avatiaig des
Claudius, nur wird sie dort anoxokoxvvrfamg, hier anoO^bduaig genannt.
Allein wenn wir erwägen, dass der erste Titel schwer verständlich ist,
ferner dass im zweiten ein Pleonasmus vorliegt (»Vergötterung des ver-
götterten Claudius**), so werden wir anoxoXoxvvTtaaig als die ursprüngliche
Aufschrift der Schrift festhalten, an deren Stelle späterhin das geläufige
ccTioO^ewaig trat. Sind diese Erwägungen richtig, so bekommen wir den
glänzenden Schlusseffekt, den wir in unserem jetzigen Text vermissen, es
muss in der Satire noch die Metamorphose des Claudius in einen Kürbiss
zur Darstellung gekommen sein, denn mit einem so ungewöhnlichen Wort
konnte der Schriftsteller nicht bloss im Titel spotten.
Die Satire nimmt zum Ausgang ihres Hohnes die Vergötterung des
Claudius, sie muss unmittelbar nach diesem Ereignis verfasst sein, denn
nur in diesem Fall konnte der Autor eine volle Wirkung von seiner
Schmähschrift erwarten. Die Satire ist unedel, weil sie einen toten Mann
trifiFt, zu gleicher Zeit aber der neuen Macht huldigt, denn sie schont die
Agrippina und verherrlicht Nero. Die Satire ist aber geistreich; in feinem
Spiel werden Eeulenschläge gegen Claudius geführt. Zu der Bitterkeit
stimmt die kurze schneidige Sprache, welche den philosophischen Seneca,
wie wir ihn aus den anderen Schriften kennen, nicht verleugnet.
Dio Cassius 60, 35 'AyQhnniya de xal 6 NiQ(oy nev&Btv ngocenoiovt^o oy anexro-
vecay, eg ts toy ov^ayoy ayijyayoy oy ix rov avfjntwflov (pogndrjy Üsyrjyoxeffay . o&eyne^
Aovxiog 'Jovyioq raXXltay o rot» Ssyixa adeXtpoe aareioTttToy ri dnetp&iy^aro * (cvye&tjxe
fihy ya^ xal 6 Sevixaq cvyyQafifA« änoxoXoxvytüiaiy avro wansQ tiyit ano&ayätuny oyo-
fÄCtaag ' ix€iyog &^ iy ßQu^t^rarta noXXd einuiy dnofjiytj/Äoyevetai,) ineidtj ydg rovs iy t^
dea/ÄtaTvjQito 9aytaov/Ä^yovs dyxiaiQoiq tujI /ÄsydXoig ol dij/nioi I; re xrjy dyoQuy dyetXxoy
xaytBV&ey is roy notu/Äoy ecvgoyy eg>rj joy KXavdtoy dyxlaxQM ig roy ovgayoy dyp.yBX^^fiyM,
Die Ansicht Birts (De Senecae apocolocyntosi et apotheoai lueubratio, Marb. 1888
p. yn), dass Seneca zwei Schmähschriften geschrieben, eine politische, die uns erhaltene
^) Es ist der Komiker Menander ge-
meint, dessen Vorliebe fOr Darstellung von
ßechtshändeln bekannt ist.
*) Dass die Satire mit einem vollstftn-
digen Satz schliesst, ist Zufall.
272 Bömiscbe Litteratorgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
ftnod^etoaig und eine verloren gegangene philosophische, die anoxoXoTevyrfoaig, ist in jeder
Beziehung unhaltbar (Wachsmuth, Leipz. Stud. 11,340).
Die Aufschrift ist in der massgebenden Überlieferung Dim Claudii AHOSHOCIC
Annei Senece per safiratn. Die Worte per aatiram sind wohl Grammatikerzusatz (Bü-
CHELEB p. 38). Gegenüber dieser Überlieferung sind Zweifel an der Autorschaft Senecas
völlig unberechtigt.
Den Gedanken, dass der Satire der Schluss, die Verwandlung in einen Kürbiss, fehlt,
hat zuerst Heiitbich ausgesprochen; genaue Begründung gibt Wachbicuth p. 338; bekämpft
wird dieser Gedanke von BOcheleb (p. 37) und Biet, Rh. Mus. 46, 152.
Überlieferung: Die St. Gallener Handschrift nr. 569 (s. X/XI) ist so sehr die ge-
treueste Repräsentantin der Überlieferung, dass nur sie dem Text zu Grund gelegt werden
darf, ja die anderen ihr gegenüber weiter nichts nützen, als die Entstehungsgeschichte der
zahllosen Fehler in den jüngsten Handschriften zu illustrieren.
Ausgaben: von Bücheleb in den Symhola phihL, Bonn p. 31 mit Einleitung und
meisterhaftem Kommentar, Textausgabe in Bücheleb's Petronius^ (1882) p. 225.
Die Seneca'schen Epigramme und die Anthologie des Vossianus Q. 86.
Unter dem Titel L. Annaei Senecae epigrammata super exilio sind in der Ausgabe von
Haase 1, 261 neun Epigramme vereinigt. Aber nur bei dreien beruht die Zuteilung an
Seneca auf handschriftlicher Überlieferung, nämlich bei nr. I und 11, welche das schreckliche
Gorsica schildern, dann bei nr. VlI (de qualUate temporis), welches die Vergänglichkeit aller
Dinge, sogar des Weltalls darthut. Bei den übrigen ist die Autorschaft Senecas auf
Grund innerer Kriterien angenommen worden. Man ist noch weiter gegangen und hat
eine ganze Sammlung des Vossianus Q. 86 Seneca zugeteilt. Und es ist sicher, dass bei
manchen die angedeuteten Lebensumstände sehr gut auf Seneca passen, allein bei weiterem
Vorgehen verlieren wir den festen Boden unter den Füssen. Richtig ist aber, dass fast
alle Epigramme dieser Sammlung aus der ersten Kaiserzeit stammen; denn es sind Pro-
bleme behandelt, welche in späterer Zeit kein nachhaltiges Interesse mehr hervorrufen
können. So klingen noch republikanische Ideen nach, Cato und Pompeius mit seinen
Söhnen werden in einer Reihe von Epigrammen verherrlicht. Auch Monarchisches tönt
dazwischen, wie die Epigramme, welche sich auf die britanische Expedition des Claudius
beziehen. Der Grundcharakter der Sammlung ist der rhetorische, es sind viele The-
mata behandelt, wie sie auch in Rhetorenschulen hätten behandelt werden können z. B.
der Tod macht alle gleich (437 R. 4, 47 B.), das Glück eines ruhigen Lebens, in dem mehrere
Adynata aneinandergereiht werden, um zu zeigen, dass alles eher eintreten könne als ein
Aufgeben des ruhigen Lebens (440 R. 4, 50 B.), das lange Gedicht über die Hoffnung (415 R.
4, 25 B.) u. a.
y) Pseudoseneca.
380. Octavia. Noch ein merkwürdiges Produkt trägt in den Hand-
schriften den Namen Seneca, die Octavia. Es ist dies die einzige uns er-
haltene römische Tragödie, welche einen historischen Stoff behandelt und so-
nach uns einigermassen den Charakter der Praetexta erkennen lässt. Der
völlige Untergang des claudischen Hauses ist es, was der Dichter in stark rhe-
torischer, aber doch ergreifender Weise zur Darstellung bringt. Den Mittel-
punkt der Handlung bildet Octavia, die Tochter des Claudius, die Stief-
schwester Neros und seine spätere Gemahlin, ein bedauernswertes Geschöpf,
in dessen Leben die Sonne des Glücks nicht hineingeschienen. Die Tage
ihrer Kindheit wurden verdüstert durch das Verhängnis, das über ihre
Mutter, Messalina, hereinbrach; auf Betreiben Agrippinas, der Mutter
Neros, wurde sie mit ihrem Stiefbruder vermählt, nachdem ihr Verlobter
Silanus hingemordet war; bald darauf ward ihr Vater von Agrippina dem Tod
überliefert; zuletzt musste sie noch mit eigenen Augen und doch ruhigen
Bluts mit ansehen, wie ihre letzte Hoffnung, ihr Bruder Britanniens, an
einem von Nero gereichten Gifttrank beim Mahle zusammenbrach. Jetzt
harrte auch ihrer das Verderben. Nero hatte seine Gunst der Poppaea
Sabina zugewandt und war entschlossen, seine Gattin zu Verstössen und
PsendoBeneca. 273
seine ßeliebte auf den kaiserlichen Thron zu setzen. Hätte der Dichter
nur diese Verstossung Octavias uns vorgeführt, so hätten wir bloss eine
Familientragödie; allein er hat sich ein weiteres Ziel gesetzt; auch ein
politisches Moment greift in die Handlung ein; das Volk erhebt sich gegen
die neue Verbindung und tritt für Octavia ein. Aber — und hierin liegt
das eigentlich Tragische des Stücks — gerade diese Erhebung schlägt zum
Unheil der Octavia aus, denn sie ward für den Tyrannen der Anlass, ihren
Tod anzuordnen.
Dies ist der Kern der Tragödie; im einzelnen entwickelt sich die
Handlung also: Im ersten Akt werden wir durch Octavia und ihre Amme,
dann durch den auftretenden Chor mit der Situation bekannt gemacht;
wir erfahren die ßräuelthaten im kaiserlichen Hause und den Plan Neros,
sich von Octavia zu trennen und eine neue Verbindung einzugehen; wir
hören, wie sich das Ehrgefühl der gekränkten Gattin in hellauflodernden
Hass umsetzt, wir folgen mit Interesse den teilnehmenden Reden der zur
Ergebung ratenden Amme. Im zweiten Akt treten Nero und Seneca auf,
jetzt wird die Handlung auf das politische ßebiet hinübergespielt, das Ge-
spräch geht über die Familienangelegenheit hinaus zur Betrachtung der
Regierungsgrundsätze über; Seneca vertritt den Standpunkt der Mässigung
und Besonnenheit, Nero den der Härte und des autokratischen Willens.
Der Dialog schliesst mit dem Vorsatz des Kaisers, in den nächsten Tagen die
Verbindung zu vollziehen. Die folgenden Akte setzen die Vermählung
voraus. Zuerst schildert uns der Dichter den Eindruck, den das Ereignis
macht. Es erscheint der Schatten seiner Mutter Agrippina, die Unglücks-
fackel schwingend und die Scheusslichkeiten des Sohnes enthüllend. Auch
Octavia tritt auf; sie ist nunmehr in gefasster Stimmung; sie freut sich,
bloss noch Schwester des Kaisers zu sein; endlich kommt ein Chor und
erhebt ein Klagelied über den traurigen Bund. Die Strömungen der
gegnerischen Seite bringt der Dichter ebenfalls in dreifacher Weise, durch
die Amme der Poppaea, durch die Poppaea selbst und endlich durch einen
der neuen Gattin ergebenen Chor zum Ausdruck. Die erste malt das
Glück der Herrin und ist darum erstaunt, dieselbe bestürzt zu sehen,
Poppaea erzählt ein schreckliches Traumbild, von dem sie in der Braut-
nacht verfolgt wurde, der Chor feiert Poppaeas Schönheit, welche selbst
des Begehrens Jupiters würdig sei. Da eilt ein Bote mit einem mili-
tärischen Befehle herbei; das Volk hatte sich gegen Poppaea erhoben
und die Zurückführung der Octavia gefordert. Der herrscherfreund-
liche Chor stellt ein strenges Strafgericht in Aussicht. Wie recht er
hatte, verkündet uns Nero selbst. Aufgebracht über die Milde der
Soldaten spricht er den Gedanken aus, dass lediglich durch die Furcht
die Menge niedergehalten werden müsse, und gibt dem Präfekten den Be-
fehl, Octavia auf eine entfernte Insel zu bringen und dort zu ermorden.
Während Octavia fortgeführt wird, erhebt sich ihr Chor zu dem Wunsche,
die Arme möchte wie einst Jphigenie durch einen Windhauch ins Land
der Taurer getragen werden, das Fremdlinge opfert und nicht wie in Rom
die eigenen Kinder.
Dieses Stück ist, wie gesagt, unter dem Namen Senecas überliefert;
HAttdhnch dftr klMB. Altertnmuwiiwenichaft. Txn. 2. Teil« 18
274 BOmisehe Litteratargeseliichte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilimg.
allein die Autorschaft desselben stösst auf Schwierigkeiten. Es ist klar,
dass unter Nero die Tragödie sich nicht ans Licht wagen konnte; wir
finden überdies Anspielungen in den Visionen, welche die Bekanntschaft
mit der Art und Weise des Todes Neros voraussetzen. Sonach muss die
Dichtung nach Nero entstanden sein. Allein sie kann nicht viel später
angesetzt werden, da nur ein Zeitgenosse, der jene Katastrophe miterlebt
hat, sie so zu schildern vermochte.^)
Die Zeit der Praetezta. Die Anspielungen finden sich in der Rede der Agrip-
pina. Vers 620 wird dem Tyrannen turpis fuga, dann der Tod in hilf loser, verlassener
Lage prophezeit (630) ; auch das jugulutn, in das sich Nero unter Beihilfe seines Freige-
lassenen den Stahl gestossen, ist auffälligerweise erwähnt. Man vgl. damit die Schilderung
bei Sueton 48 n. 49. Rankes, der übrigens selbst jene Stellen (Abb. u. Vers. p. 65) anfahrt,
Ansicht, dass Seneca der Verfasser sei, ist daher unrichtig. Ganz unbegreiflich sind die
Versuche der Gelehrten, welche die Octavia in das 4. Ja]brhundert (Peipbb und Richteb
p. XIII; Bist, Rh. Mus. 34,559) oder gar in das Mittelalter (Bbaun, Octavia und die Zeit
ihrer Entstehung, Kiel 1863) versetzen wollen. Die Behauptung, dass der Verfasser der
Praetexta seinen Stoff aus Tacitus geschöpft habe, ist, wie Nordmeteb {Schedae philo-
logae zu £hren Useners, Bonn 1891 p. 94) gezeigt, eine irrige. Einen bestimmten Autor nach-
zuweisen, wie Curiatius Matemus {Octavia praetexta . Curiatio Matemo fdndicatam recogn.,
Fb. Ritteb, Bonn 1843) ist unmöglich. (L^ek, De Octavia, Dissert. Vindob. 3, 1.)
5. P. Pomponius Secundus.
381. Leben des Pomponius. — Seine Tragödien. Der ältere Pli-
niu8 hatte eine Biographie des Pomponius Secundus geschrieben (Plin.
ep. 3, 5). Leider ist dieses Werk verloren gegangen; wir sind daher jetzt
lediglich auf die Nachrichten des Tacitus angewiesen. Der Geschicht-
schreiber stellt den Pomponius sehr hoch, er nennt ihn einen geistreichen Mann
von feinen Sitten (Ann. 5, 8) und behält ihn in seinen Annalen fortwährend
im Auge. Wir stellen die von ihm berichteten Züge zusammen. Unter
Tiberius wurde er beschuldigt, er habe nach dem Sturz des Seianus dem
Aelius Gallus, der wahrscheinlich der Sohn Seians war, einen Unterschlupf
in seinen Gärten gewährt. Er entging seinem Verderben nur dadurch,
dass ihn sein Bruder bis zu der Entscheidung des Kaisers, die er aQge-
rufen, in Gewahrsam hielt. Da Tiberius den Fall unerledigt Hess, blieb
der Angeschuldigte in Gefangenschaft bis zum Regierungsantritt Galigulas
(Ann. 5, 8). Diese unfreiwillige Müsse wird Pomponius benutzt haben, um
Tragödien zu schreiben. Unter Claudius wurden solche von ihm aufge-
führt. Bei einer solchen Aufführung stiess das Theaterpublikum Schmähungen
gegen den Dichter aus. Dieser Vorgang erregte um so mehr den Ver-
druss des Kaisers, als derselbe einen „vir consularis" betraf. Da auch Frauen
angesehener Häuser im Theater von den Zuschauern beschimpft wurden,
so trat Claudius im Jahre 47 mit einem strengen Edikt dem Unfug ent-
gegen (Ann. 11, 13). Auch als Feldherr that sich Pomponius hervor, er
führte einen glücklichen Schlag gegen die räuberischen Chatten aus, so
dass ihm der honor triumphalis zuerkannt wurde (Ann. 12, 28). Diese Aus-
zeichnung schlägt der Historiker gering an im Verhältnis zu dem dichte-
rischen Ruhme des Feldherm, dieser werde seinen Namen auf die Nach-
welt bringen. Mit dieser hohen Wertschätzung steht Tacitus nicht allein,
0 Dafür spricht auch der ganz specielle
Zug, der berichtet wird, dass die entlassene
Geliebte Neros Acte sich ein Grabmahl er
richten Hess (176).
P. Pompoxdiui Seonndiui. 275
auch Quintilian nennt den Pomponius den vorzüglichsten Tragödiendichter,
den er gesehen (10, 1, 98). Selbst der Tadel wagte sich nicht ohne gleichzeitiges
Lob hervor. Nach demselben Gewährsmann vermisste die ältere Generation
an Pomponius die tragische Kraft, gab aber zu, dass sich seine Tragödien
durch Bildung und Glanz der Darstellung auszeichnend) Merkwürdig ist,
dass der Dichter den sprachlichen Problemen grosse Aufmerksamkeit zu-
wandte. Schon bei Seneca haben wir gesehen (p. 257), dass die beiden Dichter
in den Vorreden zu ihren Tragödien über die Zulässigkeit eines Ausdrucks
debattierten; auch in Briefen an Paetus Thrasea war von Sprachformen
die Rede. DieseStudien wurden aber nicht im pedantischen Geiste gepflegt;
denn der Dichter betrachtete als die Richtschnur in solchen Fragen das allge-
meine Sprachbewusstsein. Tadelten Freunde einen Ausdruck und drangen
auf Entfernung desselben, so pflegte er seine abweichende Anschauung
mit den Worten zu verkünden „Ich lege Berufung an das Volk ein** (Plin.
ep. 7, 17, 11). Leider haben sich nicht viele Spuren seiner dichterischen
Thätigkeit erhalten. Sicher bezeugt ist der Titel eines Stücks „Aeneas*^,
das also wohl eine Praetexta war (Charis. 1,132). Bei den Titeln Atreus
(Non. 144, 20) und Armorum iudicium (Lactant. zu Stat. Theb. 10, 841) wird
die Autorschaft des Pomponius bezweifelt. Auch der Fragmente sind nicht
viele überkommen.
B. Schmidt, Rh. Mus. 16, 586; Welckeb, Rh. Mus., Suppl. 2, 3 (1841) p. 1440.
6. A. Persius Flaccus.
382. Biographisches. A. Persius Flaccus wurde zu Volaterrae in
Etrurien den 4. Dezember 34 n. Ch. aus einer ritterlichen Familie geboren
und starb in ganz jungen Jahren, den 24. November 62 n. Chr. Den ersten
Unterricht erhielt er in seiner Vaterstadt; nach dem zwölften Lebensjahr
kam er nach Rom, wo er der Schule des Grammatikers Remmius Palaemon
und der des Rhetors Verginius Flavus, dessen rhetorisches Lehrbuch
Quintilian späterhin zu Rate zog, übergeben wurde. Im Alter von sech-
zehn Jahren schloss er sich aufs engste an den stoischen Philosophen
Annaeus Cornutus an. Dadurch wurde er mit der Lehre der Stoa be-
kannt und ein warmer Anhänger derselben. Auch mit anderen hervor-
ragenden Männern jener Zeit unterhielt er engere Beziehungen, mit dem
Dichter Caesius Bassus, mit Calpurnius Statura, mit Servilius Nonianus,
mit dem Epiker Lucan, endlich auch mit dem Philosophen Seneca, von
dessen Wesen er aber nicht sonderlich angezogen wurde, mit den
Griechen Claudius Agathemerus aus Lacedaemon und Petronius Aristo-
crates aus Magnesia. Besonders vertrauten Umgang pflog er mit dem
hochangesehenen Paetus Thrasea, dessen Gattin Arria mit ihm verwandt
war. Auch diese Beziehungen werden die Begeisterung des Dichters
für die Stoa genährt haben. Als Persius starb, hinterliess er ein
grosses Vermögen, das er seiner Mutter und seiner Schwester ver-
machte, jedoch war ein Legat und die Bibliothek seinem Lehrer und
*) quem (Pomp.) aenes quidem parum tragicum putabant, eruditione ac nüari prae^
Stare eonfitebantur, (Schkidt p. 592.)
18*
276 BOmiBche LÜteratargeschichte. IL Die Zeit der Monarchie. L Abteilimg.
Freund Cornutus zugewiesen. Dieser nahm jedoch nur die Bibliothek
an, auf das Legat leistete er Verzicht zu Gunsten seiner Schwestern.
Die Ordnung des schriftlichen Nachlasses des Dichters vertrauten die
Hinterbliebenen demselben Cornutus an; dieser schied zuerst die Übungen
der Schulzeit aus, sie wurden auf seinen Rat vernichtet; nur das kleine Corpus
der Satiren wurde der Herausgabe würdig erachtet. Zu diesem Zweck
war eine geringe Nachhilfe notwendig; es mussten am Schluss einige
Verse, jedenfalls der Anfang einer neuen Satire 0 getilgt werden, da sonst
das Buch am Ende fragmentarisch erschienen wäre; auch war eine noch-
malige Durchsicht geboten, die aber zu keinen bedeutenden Änderungen
führte.^) Beider Aufgaben unterzog sich Cornutus, dann übergab er das
Corpus dem Caesius Bassus auf dessen Bitten hin zur Edition. Ge-
rühmt wird von dem alten Biographen der Charakter des Persius, sein
sanftes Wesen, seine fast jungfräuliche Schamhaftigkeit, seine Liebe zu
seinen Angehörigen, seine Massigkeit; diese inneren Vorzüge wurden noch
gehoben durch äussere Schönheit.
Quelle. Diese Biographie folgt der pita „de commentario Probt Valerii aublaia*',
d. h. der vita, welche aus einer Einleitung zu der Persiusausgabe des berühmten Kritikers
Valerius Probus stammt. Die vita steht bei Reiffebscheid Suet. rel. p. 72, in der Ausgabe
von Jahn-Büchbleb p. 54.
Unterdrückte Schriften. Das Zeugnis der vita lautet (p. 74R.): scripserat in
pueritia Flaceus etiam praeteoctam vescio f ^ odoinoQixtay librum unum et paucas in aoerum
Thraaeae in Arriam matretn versus, quae se ante virum occiderat . omnia ea auctor fuit
Cornutus matri eius ut aholeret.
Caesius Bassus. Da wir Caesius Bassus als Herausgeber des Persius kennen ge-
lernt haben, wird es am Platz sein, seine übrige wissenschaftliche Thätigkeit ins Auge zu
fassen. Persius selbst führt uns noch den Caesius Bassus als lyrischen Dichter vor; er
sagt in der letzten Satire:
admovit iam hruma foco te, Basse, Sahino?
iamne lyra et tetrico vivunt tibi pectine chordae,
ntire opifex numeris veterum primordia vocum
atque marem strepitum fidis intendisse latinae,
mox iuvenes agitare iocos et poUice honesto
egregius lusisse senex?^)
Also verschiedene Weisen vermag Bassus der Leier zu entlocken, selbst jugendliche der
alte Mann. Aber er war auch Gelehrter und beschäftigte sich mit der Theorie seiner
Kunst, und zwar mit der Metrik. Über diese Disziplin schrieb er ein Werk, das dem
Nero gewidmet war (GL. 6, 555) Bassius (irrig statt Bassus) ad Neronem de iambico sie
dicit. Von diesem Werke haben sich wichtige Reste, vermischt mit der Metrik des Atiliua
Fortunatianus erhalten. Dagegen trägt das Fragment Ars Caesi Bassi de metris mit Un-
recht seinen Namen. (Über das metrische System des C. B. vgl. Leo, Hermes 24, 280.)
883. Persius' Satiren. Wie wir gesehen, hatte Persius schon
während der Schulzeit dichterische Arbeiten gemacht. Nachdem er die
Schule verlassen, machte die Lektüre des zehnten Buches des Lucilius,
welches von den litterarischen Zuständen zur Zeit des Satirikers handelte,
') Jahit, Proleg. XLV.
*) ib. p. XLVI.
') An die Verteidigung dieser Überlie-
ferung knüpft BücHELEB, Rh. Mus. 41, 458
folgenden Lebensabriss des Caesius Bassus:
Er war jetzt im Spätjahr 61 etwa doppelt
so alt wie Persius, dem er und Cornutus
seit 50 in Freundschaft verbunden waren,
schrieb seine Ljrica vor 61, wohl später die
Metrik an Nero, edierte den Persius wohl
63 vor Lucans und Petrons Tod, sicher bei
Lebzeiten Neros vor 68 und stand, wenn er
beim Ausbruch des Vesuv starb, wie ein
Scholiast als fama meldet (vgl. schoL zur
obigen Stelle), damals in den Siebzigen. Da-
gegen kämpft BiEOEB, De Persii codice C
p. 4.
Persins. 277
einen so gewaltigen Eindruck auf ihn, dass ihm der Gedanke kam, Satiren
zu schreiben und dem Lucilius nachzueifern. Der alte Biograph fährt fort,
dass Persius dies in der Weise ausgeführt habe, dass er zuerst gering-
schätzig über sich selbst sprach, dann auf die Redner und Dichter seiner
Zeit loszog. Das ei'ste geschah in einem in Hinkiamben geschriebenen
Prolog,*) in dem Persius es ablehnt, den Dichternamen und Dichterruhm
für sich in Anspruch zu nehmen, die zweite in der ersten Satire. In
derselben entwirft er ein düsteres Bild von den damaligen litterarischen
Zuständen, er schildert, wie alle Schriftsteller lediglich auf den Beifall
hinsteuerten, mochte derselbe auch von den Ungebildetsten gespendet oder
mochte er durch äussere Mittel erschlichen werden. Diesem nichtigen Beifalls-
streben gegenüber will sich Persius in seiner Schriftstellerei in erster
Linie von dem Rechten leiten lassen; er spottet über die geglätteten Verse
und über die Wut, alles in hochtrabender epischer Weise zu behandeln,
über die Sucht anderer, die verschollenen Dichter auszubeuten, mit Indi-
gnation hebt er hervor, dass selbst in den ernstesten Lagen die redneri-
schen Figuren mehr wiegen als die schlichte Darstellung der Wahrheit.
Er bringt Beispiele aus der zeitgenössischen Dichtung und klagt, dass
diesem Zeug die männliche Kraft abgehe. Der Warnung, dass ihm seine
Satirendichtung die Gunst der vornehmen Welt entziehen werde, hält er
das Beispiel des Lucilius und des Horaz entgegen und beharrt auf seinem
Entschluss, Satiren zu schreiben. Als seine Leser denkt er sich Leute,
welche die alten Komiker wie Eupolis und Cratinus verehren, auf rohe
Menschen, auf Verächter der Wissenschaft rechnet er dagegen nicht.
Diese Satire greift, wie man sieht, ins frische Leben hinein und
schildert eine Seite desselben, die litterarischen Strömungen der Neroni-
schen Zeit, welche in ihrer Verkehrtheit des Dichters Unwillen erregen.
Hier steht er wirklich auf den Schultern seiner Vorgänger, des Lucilius
und des Horaz. In den fünf folgenden Stücken dagegen betritt er andere
Bahnen; den Stoff liefert ihm hier nicht das Leben, sondern die Schule,
wir erhalten Erörterungen über stoische Sätze. So ist das Thema der
zweiten Satire, welche dem Macrinus zu seinem Geburtstag gewidmet ist,
das Gebet. Zu allen Zeiten gab dasselbe Gelegenheit, die thörichte Ge-
sinnung der Menschen zu offenbaren; denn sie erbitten sich Dinge von
den Göttern, um welche sie niemals die Menschen anflehen würden;
weiter verlangen sie in ihren Gebeten Güter, wie z. B. Gesundheit, welche
sie auf der andern Seite mutwillig zerstören; sie dichten ihre Leiden-
schaften, wie die Habsucht, den Göttern an und glauben daher ihre Gunst
durch reiche Opferspenden zu gewinnen; allein den Göttern ist nichts so
willkommen als ein reiner und frommer Sinn. Ausgehend von dem Bild
eines in Trägheit dahinlebenden Jünglings will der Dichter in der dritten
Satire den W^iderspruch zwischen unserm Handeln und unserem besseren
Wissen aufdecken. Es gibt allerdings Leute, die mit dem Laster so ver-
wachsen sind, dass in ihnen die Unterscheidung des Guten und Bösen
nicht mehr lebendig ist. Aber wenn einer die Tugend erkennt und ihr
') In der Ausgabe von Jahk-Büchelbr steht das Gedicht als Epilog.
278 ROmisohe Litteratorgesohiobte» II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
doch den Rücken kehrt, ist seine Lage eine unselige, denn er wird von
den grössten Gewissensqualen gefoltert. Kindern verzeiht man, wenn sie
Unnützes treiben, nicht aber dem, der aus der Weisheit Quell getrunken.
Zur Philosophie muss der Unglückliche seine Zuflucht nehmen, mögen auch
rohe Leute wie die Centurionen dessen spotten. Den Kranken, der dem
Arzte nicht folgt, ereilt der Tod. Auch der mit Leidenschaften Behaftete
ist krank. Die vierte Satire erörtert den Satz „Erkenne dich selbst'.
Wiederum geht der Satiriker von einem Beispiel aus; Alcibiädes, der in
der athenischen Volksversammlung das Wort führt, wird von Sokrates in
eine scharfe Prüfung genommen. Die Leute, zeigt der Dichter weiter,
unterlassen die Selbstprüfung, schreiten aber umsolieber zur hämischen
Wertschätzung anderer. Nicht das Urteil des Nebenmenschen ist mass-
gebend, sondern die Erkenntnis des eigenen Selbst, die jeder sich verschafifen
muss. In der fünften Satire setzt Persius zunächst seinem Lehrer ein
rühmliches Denkmal der Dankbarkeit, er schildert schön, wie Cornutus
seine „zarten Jahre'' geleitet und durch welche innige Freundschaft er
an ihn gekettet ist; er wirft dann einen Blick auf die verschiedenen ver-
kehrten Bestrebungen der Menschen und stellt ihnen das Bild des Meisters
gegenüber, der den Blick fest auf das Studium der Philosophie gerichtet
hält und den Zöglingen die Früchte Cleanthischer Weisheit einträufelt;
daran schliesst der Dichter eine Betrachtung der wahren Freiheit, welche
uns das Rechte thun lehrt und den Menschen von der Sklaverei der Leiden-
schaften erlöste Die sechste Satire endlich wendet sich an den befreundeten
Dichter Caesius Bassus. Persius hatte sich nach Luna zurückgezogen und
führt hier ein zufriedenes, glückliches Dasein. Dies leitet ihn auf Be-
trachtungen über den richtigen Gebrauch der äusseren Güter, welche die
Mitte zwischen Verschwendung und Geiz einzunehmen hat. Durch die
Einführung einer Scene, in welcher der Besitzer mit dem Erben ver-
handelt, erzielt der Dichter eine grosse Anschaulichkeit.
Unsere Betrachtung ging von der VorauBseizung aus, dass die erste Satire auch der Zeit
nach die erste ist; dies folgt, wie mir scheint, aus den Worten der Biographie (p. 75 R): sed
mox ut a scholis et magistris divertit (Rxiffebscheid klammert die Worte aed — divertit
ein) lecto Lucilii lihro decinw vehementer scUiras catnpanere instituU, cuius libri prin-
cipium imUatus est, sibi primo, mox omnibua detractuma cum tanta recentium poStarum
et oratarum insectatione, ut etiam Neronem — eulpaverit; denn das, was hier angeführt
wird, finden wir im Prolog und in der ersten Satire. Dass die fOnf lehrhaften Stflcke
auch Satiren sein soUten, ist doch wohl nicht zu bezweifeln. (Teuffel, Studien p. 398).
Anders 0. Jahit (p. LXXXII) : prima aatira quin ultima ab eo scripta ait,non dubito. (Inhalts-
übersicht und holländische Übersetzung bei Waoeninoen, Peraiana Gron, 1891 p. 4 u. p. 28).
884. Charakteristik des Persius. Die Satiren des Persius fanden
sofort bei ihrem Erscheinen lebhaften Anklang; man riss sich förmlich
um die Exemplare. Lucan brach bei einer Vorlesung der Schöpfungen des
Persius in den Freudenruf aus, das sei wahre Poesie. Quintilian meint,
dass der Dichter durch dieses einzige Buch sich grossen und echten Ruhm
erworben habe (10, 1, 94), und Martial verkündet mit einem Seitenblick auf
die Amazonis des Domitius Marsus das Lob des Satirikers (4, 29, 7). Die
hohe Wertschätzung des Autors pflanzte sich ins Mittelalter hinüber, ^) die
verwertbaren ethischen Gedanken wurden ihm hoch angerechnet, er wurde
») Mauitius Philol. 47, 711.
Persiiis. 279
daher viel gelesen und auch kommentiert. Und die Neuzeit? Sie ver-
urteilt nahezu einstimmig den römischen Dichter, und mit Recht. Nur
die Poesie kann uns wahrhaft erfreuen, welche uns entweder eine neue
Ideenwelt in packender Weise erschliesst oder welche wenigstens Gegebenem
goldene Fassung verleiht. Beides fehlt dem Persius; weder Inhalt noch
Form vermag uns anzuziehen. Der Autor ist ein junger Mann, der kaum
der Schule entwachsen ist und jetzt den Sittenprediger macht. Allein nur
gereiften Jahren steht ein solches Amt gut an. Persius hat noch keinen
Blick in das verschlungene Leben gethan, das Geschick hat ihn nicht ge-
schüttelt und gerüttelt, es hat ihm im Gegenteil die behaglichste Lage
geschaffen. Was kann uns ein solcher Mann bieten? Nichts als das was
er in der Schule gelernt hat; er weiss seine stoischen Sätze, und solche ver-
arbeitet er in fünf Stücken. Quellen sind ihm natürlich seine philosophischen
Bücher, nicht Rom mit seinem Treiben und Jagen. Mann lasse sich nicht
durch die eingestreuten Beispiele täuschen, auch diese sind nicht der
eigenen Zeit des Schriftstellers abgelauscht, es sind Fälle, welche überall
und zu jeder Zeit vorkommen, solche Fälle konnte er zu Dutzenden in
seinen stoischen Handbüchern finden, auch die von ihm zu Rat gezogenen
Mimen Sophrons waren eine ergiebige Fundstätte. Selbst die hier vor-
kommenden Namen bleiben Namen. Nur eine Seite des Lebens wurde
ihm durch die Schule bekannt, die litterarische, welche die erste Satire
uns ausmalt. Aber auch hier ist er nicht originell; das Beispiel des
Lucilius, der den zeitgenössischen litterarischen Zuständen ein scharfes
Auge zuwandte, reizte ihn zur Nachahmung. Doch würde dieser Mangel
an Originalität zu ertragen sein, wenn uns der erborgte Inhalt in kost-
barer Schale kredenzt würde. Allein der Schriftsteller hat alles aufge-
boten, um uns die Lektüre zu einer wahrhaften Höllenpein zu machen.
Der Richtung der Zeit gemäss ist Ziel seines Strebens ein interessanter
und pikanter Stil. Um dieses Ziel zu erreichen, vermeidet er, wo er
nur kann, den natürlichen Ausdruck; das Einfache muss dem Gesuchten
und Verschrobenen weichen. Er hatte fleissig seinen Horaz gelesen und
dessen Wortschatz vollständig eingesogen; allein er weiss das Gute nicht
zu nützen; er ruht nicht, bis er es verrenkt und verunstaltet hat. Diese
krankhafte Ausdrucksweise legt uns Schritt für Schritt Fesseln an, es ist
ein Meer von Dunkelheit, 0 durch das wir hindurchsteuern müssen. Als
ob damit nicht genug wäre, hat Persius auch noch durch die Gomposition
uns Nebel vor die Augen gezogen. Die Gedanken werden aneinander ge-
reiht ohne die notwendigen logischen Verbindungsglieder; ferner geht die Dar-
stellung oft in den Dialog über, ohne dass derselbe scharf abgegrenzt wird,
so dass wir bisweilen nicht wissen, wem die Worte angehören. Niemals
fallt in die mühsam zusammengestoppelte Rede^) der Sonnenschein der
Heiterkeit. Mit Freuden legen wir den Dichter aus den Händen.
Die Schollen zu Persius. Aus den verschiedenen Scholienmassen heht sich als
eine bestimmte Individualität diejenige hervor, welche den Namen Cornuti comtnentum*)
') SoBN, Die Sprache des Persius, Lai-
bach 1890 p. 31.
') et raro et tarde scripsit, sagt die
Biographie.
') In einigen wenigen Handschriften
Annei Cornuti, (Lisst. p. 43); das Anne* hielt
280 Romische LitteratnrgeBchichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilimg.
führt. Dieser Kommentar hat das eine oder das andere antike Korn, allein im ganzen ist
er ohne besonderen Wert. Jahns Ansicht ist, dass dieser Cornutus eine wirkliche Per-
sönlichkeit sei (nicht etwa blosser Buchtitel, hergenommen von dem Lehrer des Persius),
welche identisch sei mit dem Verfasser der jüngeren Schollen zu Juvenal (Proleg. p. CXXXI,
p. GXXXV) und nicht lange nach Karl dem Kahlen den Kommentar unter Benutzung von
älteren Randnoten (p. CXXXll) zusammengesetzt habe. Dieser Ansicht stellt Liebl (Die
Disticha CorntUi, Straubing 1888 p. 42) die grosse innere Verschiedenheit des Com-
mentum Carnuti zu Persius (doch vgl. Jahn p. CXXXI) und jener jüngeren Juvenalscholien
gegenüber; er will demgemäss eine ältere im wesentlichen in einer Rezension vorliegende
Scholienmasse, welche etwa in der Karolingerzeit als Cammentum Carnuti bezeichnet worden
sei, von einer Scholienmasse, welche im 13. Jahrhundert ein Magister Cornutus, der Ver-
fasser der Disticha und derselbe, welcher die jüngeren Scholien zu Juvenal verfasst, ange-
fertigt habe (p. 47), unterscheiden. (Über einen Kommentar des Bemigius vgl. Losbl p. 39).
— Kurz, Die Persiusscholien nach den Bemei Hdschr. Burgdorf 1875. 1888. 1889; Zikoeble,
Wien. Sitzungsb. 97, 731.
Überlieferung. Eine Rezension des Persius durch den Aristarch der Römer Va-
lerius Probus bezeugt uns Hieronymus (apol. adv. Rufin. 1, 16). Im Jahre 402 n. Ch.
machte eine neue Rezension Sabinus, auf diese Rezension gehen, wie die Subscriptio zeigt,
zurück ein Montepessulanus nr. 212 s. X (A) und ein codex tahularii hasiliccLe Vaticanae
36 H, wohl s. IX (B). Dem Archetypus dieser Handschriften (a), welcher sonach auf der Sabi-
nusrezension beruht, steht als zweite Quelle gegenüber der Montepessulanus 125 s. IX (C),
die bekannte Juvenalhandschrift. „Wo die beiden Rezensionen auseinander gehen, da
jedesmal die rechte Entscheidung zu treffen, ist die grösste, nicht völlig lösbare Schwierig-
keit im Persius; durch den Besitz der beiden aber scheint da, wo sie zusammenstimmen,
die Erhaltung des Ächten uns besonders verbürgt* (Bücheleb, Rh. Mus. 41, 454). Nach
BiEQEB {De Auli Persii codice Pithoeano C Berl. 1890) bildet der Montepessulanus C wie
im Juvenal, so auch im Persius die Grundlage der Kritik. — Den genannten Quellen gegen-
über bedeuten die übrigen Handschriften fast nichts (Bibgbb p. 5).
Litteratur. Ausgaben von Gasaubonxjs (Paris 1615) mit meisterhaftem Kommentar;
von 0. Jahk, cum acholiia antiquis, Leipz. 1843 (vortreffliches Werk) ; der kritische Apparat
ist methodisch vereinfacht in dessen kleiner Ausgabe des Persius, Juvenalis, Sulpicia
(Weidmaitn), neue Bearbeitung von F. Buechbleb 1886 (mit einer Auswahl von Scholien
unter dem Text); von Heiivbich Leipz. 1844; von CoinyoTON (zweite Ausgabe von NetÜes-
hip Oxf. 1874), Kommentar und Übersetzung in englischer Sprache; — Beurteilungen des
Persius: Jahn, Proleg.; Nisabd, ^tudes 1, 201 (geistreiche Causerie); Teuffel, Stud. p. 396;
Mabtha, Un palUe stoicien (Revue des deux mondes 1863 p. 291).
7. T. Calpurnius Siculus und der sog. Einsiedler Dichter.
385. Die Zeit des Calpurnius. Lange las man unter dem Namen
des Calpurnius eine Sammlung von elf bukolischen Gedichten; man las
sie aber nur sehr oberflächlich, denn sonst hätte man merken müssen,
dass in dem Korpus die Arbeiten zweier verschiedener Dichter vereinigt
sind. Solange aber diese beiden Dichter nicht voneinander getrennt
waren, konnte ein klares Bild ihrer Individualität nicht gewonnen werden.
Nur die sieben ersten Stücke gehören dem Calpurnius, die vier letzten
dagegen einem andern Dichter, des Namens Nemesianus. Dass diese
Scheidung, sich aus inneren Kriterien ergibt, wies M. Haupt in einer
ausgezeichneten Abhandlung nach. So ist die Verstechnik der sieben
ersten Gedichte eine ganz andere als die der vier letzten, z. B. der Ge-
brauch der Elision ist bei jenen ungleich eingeschränkter als bei diesen.
Auch ist die erste Partie in der zweiten entschieden nachgeahmt; man
vergleiche Vers 27 flf. des neunten (zweiten) Gedichts mit Vers 51 fif. des
dritten. Allein es bedurfte gar keiner weitläufigen Untersuchung; man
brauchte nur die Spuren der Überlieferung zu beachten imd es war das
3 ABS für einen Irrtum (p. CXXXV). Die ältesten | Handschriften haben die Scholien anonym.
T. Calpamius SicnluB.
281
Eigentum der beiden Dichter so geschieden, wie es oben geschehen. Ein
jetzt verlorener Kodex, den Th. Ugoletus gegen Ende des 15. Jahrhunderts
aus Deutschland nach Italien gebracht hatte, und von dem wir eine Kol-
lation von der Hand des N. Angelius in einem Riccardianus besitzen, liess
auf die siebente Ekloge des Calpurnius vier Eklogen des Nemesianus folgen;
auf diesen Einschnitt deuten auch noch andere Handschriften wie der
Oaddianus und durch die Subscriptio der Neapolitanus hin.
Nachdem man das Korpus gesichtet hatte, war die nächste Aufgabe,
die Individualität der beiden Autoren festzustellen. Bezüglich des Nemesianus
lag die Sache einfach, wir kennen einen Nemesianus, der unter der Re-
gierung des Carinus und Numerianus (284) lebte und ein Gedicht über die
Jagd schrieb. Da nun dieses Gedicht und die vier Eklogen gewisse Eigen-
tümlichkeiten gemeinsam haben, >) so wird an der Identität kein berech-
tigter Zweifel möglich sein. Schwieriger ist die Persönlichkeit des Cal-
purnius zu fixieren, denn unsere einzige Quelle sind die von ihm verfassten
Bucolica. Allein dieselben bieten soviel Material, dass über seine Zeit
völlige Klarheit erzielt werden kann. Sie erwähnen einen Kaiser und
rühmen an demselben Jugendlichkeit (1, 44 4, 137), Schönheit (7, 84), Be-
redsamkeit (1, 45), dichterische Begabung (4, 87). Diese Eigenschaften
passen auf keinen Kaiser so wie auf Nero. Die Bucolia gedenken« ferner
eines Kometen (1, 76), der den Anbruch einer glücklichen Zeit verkündet;
im Herbst des Jahres 54 kurz vor dem Tode des Claudius wurde ein
solcher in der That gesehen (Suet. Claud. 46); sie gedenken glänzender
Schaustellungen in einem hölzernen Amphitheater (7); ein solches errichtete
Nero im Jahre 57; sie gedenken einer neuen Organisation der Regierung
(1, 70), in der That begann nach Tacitus (13, 4) Nero mit einer solchen,
sie träumen von einem goldenen Zeitalter des Friedens (1, 54), es ist be-
kannt, welche grosse Hoffnungen man an die Thronbesteigung Neros
knüpfte. Alle diese Indizien weisen also mit genügender Notwendigkeit
auf die Zeit Neros und zwar auf den Anfang seiner Herrschaft hin; da-
mit steht auch die Sprache der Eklogen im Einklang. Sonach kann kein
Zweifel sein, dass Calpurnius ein Zeitgenosse Neros ist. Ob der
Name „Siculus" auf seine Heimat geht oder ob er damit als „Hirten-
dichter'' ^) charakterisiert werden soll, muss unentschieden bleiben.
Dass Calpurnius* höfische Gedichte sich auf den Anfang der Regierung Neros be-
ziehen, sah zuerst Sabpe, Qu€ie8t. Philol., Rostock 1879, allein dort ist Wahres und
Falsches durcheinander gemischt; mit grosser Besonnenheit wurde die Frage von M. Haupt
in der Überaus lehrreichen Abhandlung De cartninibtis bucolicis Calpurnii et Nemeaiani
Optuc. 1,358 revidiert. Schon eine Stelle ist entscheidend; 1,45 wird von dem Kaiser
gesagt: tnaternis causam qui vicit JtUis (so die Überlieferung, nicht ulnis). Dieser Vers
bezient sich auf die Rede, welche Nero für die Hier, von denen die Julier ihr Geschlecht
ableiteten, gehalten hat. Suet. Nero 7 pro Rhodiis atque Iliensibus Graece verba fecit. Ein
solcher spezieller Zug wird sich sonst nirgends nachweisen lassen als bei Nero. (Ver-
kehrter Ansatz [unter Gordian III] von Garnett Journal of Phil. 16, 216.)
386. Die sieben Eklogen des Calpurnius. Die Eklogen des Calpur-
nius sind teils wirkliche Hirtengedichte (2, 3, 5, 6), teils nehmen sie nur
das Hirtenkleid, um in dieser Hülle den regierenden Fürsten enthusiastisch
') Dieselben sind erörtert von Haupt
p. 369.
») So Glaeser vgl. Haupt p. 377.
282 BOmiBche LitteratiirgeBchiohte. ü« Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
zu preisen, diese Stücke (1, 4, 7) können wir die höfischen Gedichte nennen*
Ihrer Form nach geben die Eklogen entweder einen Wechselgesang oder
nicht; aus dieser Verschiedenheit ist das Prinzip der Anordnung abzuleiten,
indem die Stücke der ersten Axt (2, 4, 6) zwischen die der zweiten Axt
(1, 3, 5, 7) eingeschoben sind. Von den Bucolica ist das fünfte Gedicht
eine Art Hirtenbrevier, der alte Micon will sich zur Ruhe setzen, er über-
gibt daher dem jungen Canthus die Herden; er thut dies, nicht ohne väter-
liche Lehren über Warte und Pflege der Tiere beizufügen. In der dritten
Ekloge kommt der Hirte Jollas zu Lycidas, um nach einer jungen Kuh,
die sich verlaufen, zu fragen. Allein Lycidsis hatte kein Auge für das,
was um ihn vorging, er dachte nur an seine Phyllis, die ihn verlassen
und sich dem Mopsus ergeben hatte. In seinem Kummer war ihm der
Gedanke gekommen, durch ein Lied die ungetreue Geliebte zurückzuer-
obern. Dieses Lied trägt er dem Jollas vor, welcher es der Geliebten über-
mitteln will. Er schildert, wie er ohne Phyllis dahinsieche und wie
ohne sie alles für ihn wertlos sei, er erinnert sie an die glückliche Zeit
der Liebe, stellt einen Vergleich zwischen sich und Mopsus an, der sowohl
in Bezug auf Schönheit als Reichtum natürlich zu seinen Gunsten ausfällt,
und erklärt, er sei bereit, alles über sich ergehen zu lassen, wenn er nur
wieder, in Gnaden aufgenommen werde; finde er keine Erhörung, so droht
er sich aufzuhängen, auf den Baum aber eine sein Schicksal darlegende
Inschrift einzugraben. Das zweite Stück enthält den Wettgesang eines
Hirten und eines Gärtners, beide malen uns die lieblichen Seiten ihres
Berufs und gehen dann auf den Preis der Crocale über, zu der sie beide
in Liebe entbrannt sind. Auch in der sechsten Ekloge sollte, nachdem
sich zwei Hirten eine Zeitlang in Sticheleien ergangen, ein Wettgesang
zur Ausführung kommen, es sind bereits die Pfänder eingesetzt, auch ist
der Ort ausgewählt und der Schiedsrichter da, allein da der eine Hirte
wieder sein Sticheln anhebt, entsteht ein Streit, und der Wettkampf unter-
bleibt. Von den höfischen Gedichten verherrlicht das erste das neue
Regiment unter Nero in Form einer Weissagung. Zwei Hirten finden auf
einer Buche Verse eingeritzt, als deren Verfasser sich Faunus nennt. Er
verkündet, dass das goldene Zeitalter nahe, dass die Themis ihren Thron
wiederum auf der Erde aufschlagen werde und dass Bellona gebunden und
entwaffnet nur noch gegen sich selbst wüten müsse, dass holder Frieden
nach innen und nach aussen herrschen werde; das heilige Lied fordert
daher alle Völker zur Freude auf und weist auf einen glänzenden Kometen
als den Verkünder der heranbrechenden glücklichen Zeit hin; ein Gott
werde ohne alle Erschütterung das römische Reich in seine starken Arme
nehmen. Diesen göttlichen Gesang, hofft der eine der Hirten, werde Meli-
boeus zu den Ohren des Herrschers gelangen lassen. Diese Hoffnung ist
erfüllt in der vierten Ekloge; in dieser spendet der Dichter seinem Gönner
das wärmste Lob; er sei es gewesen, der ihn der Armut entrissen und
ihm zu einer festen Stätte verhelfen; ohne seinen Schutz wäre er ans
Ende der Welt gewandert, von wo sein Wort nicht mehr das Ohr des
Herrschers erreicht hätte. Vor Meliboeus, dem ja Apollo auch die Gabe
des Sangs verliehen, soll jetzt ein hohes Lied zum Preise dessen, der die
Panegyridui in Pisonem.
283
Völker regiert, angestimmt werden. Gorydon und Amyntas teilen sich in
die Arbeit; sie suchen sich in Schmeicheleien gegen den Gott zu über-
bieten und leisten hierin Unglaubliches. Meliboeus, der des Glaubens war,
dass den Hirten nur Lieder niedern Stils gelingen können und daher an-
fangs von dem Wagnis, den „Gott" zu feiern, sogar abgemahnt hatte, ge-
steht jetzt freudig seine Überraschung ein. Da meint Gorydon naiv, wie
würden ihm erst die Verse herunterlaufen, wenn er einmal ein eigenes
Heim hätte. Vorläufig wird Meliboeus, dem es ja vergönnt ist, bis zum
innersten Heiligtum des palatinischen Apollos, d. h. Neros, vorzudringen,
gebeten, auch den gehörten Wechselgesang dem „Gotte' zu überbringen.
In der letzten Ekloge erzählt Gorydon von seinem Besuch Roms; er war
dort in dem von Nero errichteten Amphitheater gewesen und beschreibt
voll Entzücken die Pracht der Schaustellungen, denen er beigewohnt; aber
noch grösseres Glück ist ihm widerfahren, er hat den Herrn der Welt
selbst gesehen; der Eindruck war
in uno
et Martis vultas et ApoUinis esse putatur.
Der dichterische Wert der Eklogen des Galpurnius ist kein besonders
hoher; die höfischen Gedichte leiden an unerträglicher Schmeichelei, die
bukolischen enthüllen uns keine originellen, den Geist des Dichters ver-
ratenden Gedanken; sie bleiben weit hinter ihrem Vorbild Vergil zurück;
hie und da lässt sich der Nachahmer zu argen Übertreibungen verleiten;
in seiner achten Ekloge hatte Vergil Tiere und Flüsse auf den Gesang
des Dämon und Alphesiboeus aufmerken lassen; diese Übertreibung wird
in einigen Versen abgemacht und dadurch erträglich, bei Galpurnius wird
dieses Motiv (2, 10) langatmig ausgesponnen und streift dadurch ans
Lächerliche. Was dem Dichter an Geist fehlt, sucht er durch peinliche
Sorgfalt im Versbau zu ersetzen.
Die Persönlichkeit des Meliboeus. Wer Meliboeus, der Gönner des armen
Dichters war, ist strittig; manche denken an Seneca wie Sabpe, Qwust, philoK, Rostock
1819 (M. Haupt p. 382) ; allein viel wahrscheinlicher ist die Vermutung Haupts, dass es
Galpurnius Piso war; vgl. darüber den folgenden Paragraphen.
Über das Fortleben des Galpurnius im Mittelalter vgl. Düxmlbb, poet. med,
aev. 1, 382; Bähbews, Rh. Mus. 30, 628; Haupt, Opusc, 1,378.
Überlieferung. Von den vorhandenen Handschriften nimmt die erste Stelle ein
der Neapolitanus 380 s. XIV/XV, mit dem eng verwandt ist der etwas geringere Gaddianus
(in Florenz) 90, 12 inf. s. XV (wie der verlorene codex Ugoleti). Dieser Familie steht gegen-
über der Parisinus 8049 s. XII, der aber die Eklogen nur bis 4, 12 enthält — Ausgabe
mit kritischem Apparat von H. Schenkl, Prag 1885. (Auch bei Bähbeivs, PLM. 3, 65).
387. Panegryricus in Pisonem. Von einem jugendHchen (261) und
armen (255) Dichter besitzen wir ein nicht übles 0 Lobgedicht von 261
Hexametern auf einen Piso. In demselben wird ein Piso im Gegensatz zu
seinen kriegerischen Vorfahren als ein Mann des Friedens gerühmt (25):
nos quoque pacata Pisonem laude nitentem
exaequamus avis.
Der Dichter weiss an seinem Helden -zu rühmen seine Beredsamkeit vor
Oericht, im Senat und bei den Übungen; sein liebenswürdiges Wesen,
das sein Haus zum Mittelpunkt einer gewählten Gesellschaft macht; seine
') Haupt, opusc, 1, 406 „minime ma-
lum^. Geringer denkt von dem Gedicht Bö-
CHBiiER „ab aduUscente mediocris ingenii
composUum*' (Rh. Mus. 36, 333).
284 Komische Litteraturgesohiobte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
dichterische und musikalische Fertigkeit; endlich seine Gewandtheit in
den verschiedenen Spielen, besonders in dem unserm Schachspiel ähnlichen
Indus latrunculorum.^) Des Dichters Zweck ist, durch sein Gedicht Piso
als Patron, als Maecenas für sich zu gewinnen. Unter Piso haben wir
uns aber keinen andern zu denken als den C. Calpurnius Piso, der eine
Verschwörung gegen Nero anstiftete und sich im Jahre 65 den Tod gab;
denn die Eigenschaften, welche Tacitus an Piso zu rühmen weiss (Ann.
15, 48), werden auch in dem Lehrgedicht gefeiert, nur dass der Dichter
noch auf spezielleres, wie z. B. auf das Brettspiel, zu sprechen kommt.
Wenn nicht alles trügt, berücksichtigte bereits der Gewährsmann des von
Valla herausgegebenen Scholiasten zu Juvenal 5, 109, Probus, unseren
Panegyricus. Auch er erblickt in dem gefeierten Helden den Verschwörer.
Dass das Gedicht vor 65 n. Ch. fallen muss, ist klar. Würden wir das
Jahr wissen, in dem Piso Consul suffectus war (Vers 70 erwähnt das
Konsulat), so würden wir damit ein zweites Datum erhalten, nach welchem
der Panegyricus verfasst sein muss. Allein wir kennen das Jahr nicht.
Wer der Verfasser des Gedichts ist, lässt sich nicht mit Sicherheit be-
stimmen. Eine ansprechende Vermutung Haupts ist es, dass der bukoli-
sche Dichter Calpurnius und unser Dichter identisch seien, indem der-
selbe, vielleicht durch Adoption, in die Gens der Calpurnii aufgenommen
worden.
Das Zeugnis des Juvenalscholiasten. Piso Calpurnius, ut Probus inquit,
antiqua famitia, scaenico habitu tragoedias actitarit, in latrunculorum lusu tarn perfectus
et calliduSf ut ad eum ludentem concurreretur . ob haec insinuatus C, Caesari repente etiam
reUgatua est, quia consuetudinem pristinae uxoris abductae stbi ab ipso, deinde remissae
repetiisse existimabatur . mox sub Claudio restüutus et post consulatum matema hereditate
ditatus magnificentissime vixit meritos sublevare inopes ex utroque ordine soHtus, de plebe
vero certos quotquot annis ad equestrem censum dignitatemque provehere.
Die Identität des Verfassers des Panegyricus mit dem Eklogendichter
Calpurnius. Diese Hypothese stellt Haupt auf und begründet sie also (opusc. 1,391):
Lehrsius in qaaestionibus epicis p. 305 — ineptam opinionem qua quidam Statio hane Pi-
sonis laudationem adscripserat rectissime confutavit . sed eum mirabilis esse videretur ver-
suum arte plane singülari f<ictorum in bucölicis Calpurnii et in laudatione Pisonis simili-
tudo, orationis etiam quaedam in dissimilibus carminum generibus adpareret contenientia,
poetam autem iuvenem et pauperem bucolica non minus quam laudatio Pisonis ostenderent,
et praeterea mirum esset poetam bucolicum vocari Ccdpurnium, Pisonem qui altero i/lo
carmine laudatur esse C. Calpurnium Pisonem, et mihi et prius, quantum memini, Carolo
Lachmanno — nata est suspicio Calpurnium, bucolicorum scriptorem, scripsisse etiam illam
laudationem — putabamus igitur fieri potuisse ut poeta iUe a Pisone — non sublevaretur
tantum solita libertate, verum etiam adoptaretur, (Die Adoption verwirft H. Schenkl, Calp.
et Nem. p. IX.)
Zeit des Panegyricus. Teuffei zieht daraus, dass ,bei der ausführlichen Recht-
fertigung (oder Entschuldigung) von Pisos Musizieren (V. 157) Neros Vorgang nicht mit-
angeführt wird, die Folgerung, dass dieser noch nicht vorlag", dass sonach der Panegyricus
vor den Regierungsantritt Neros fallt. Es würde sonach auf den Panegyricus die erste
Ekloge, welche zu Anfang der Regierung Neros geschrieben ist, folgen, auf diese nach
einiger Zeit die vierte (Scheiocl p. XI).
Überlieferung. Zum erstenmal wurde der Panegyricus aus einer Handschrift
des Klosters Lorsch von Sichard in seiner Ovidausgabe des Jahres 1527 publiziert. Die
Lorscher Handschrift ist verloren gegangen. Wir müssen uns daher an die Ausgabe
halten. Ausserdem haben wir das Gedicht fast ganz in einer Florilegiensammlnng, für
welche die massgebenden Handschriften sind: der Parisini 7647 s. XU/XHI und 17903
s. XIU.
>) Vgl. den Exkurs XI von Webnsdobf PLM. 4, 404; Beokeb, Gallus 2, 229.
Die Einsiedler Gedichte. M. Annaens Lncanns. 285
Ausgaben: von Fb. Weber, Marburg 1859 {adttotationea, Marburg 18G0/1), Bahbevs,
PLM. 1,225.
888. Die zwei Einsiedler bucolischen Oedichte. Aus einer
Einsiedler Handschrift (266 s. X) gab Hagen zwei Bucolica heraus.
Peiper erkannte, dass dieselben der Neronischen Zeit angehören. Das
erste Stück, das einen Wettkampf zwischen Thamyras und Ladas
unter dem Schiedsrichter Midas darstellt, feiert Nero als Kitharoden, dem
zweiten liegt der Gedanke zu Grund, dass das goldene Zeitalter unter
Nero wiedergekehrt sei. Obwohl das zweite Gedicht gelungener ist
als das erste, so wird man doch nur einen Verfasser anzunehmen
haben.') Die zweite Nummer bietet noch zwei Besonderheiten dar.
Sie beginnt mit den Worten: quid tacitus Mystes? Dieser Anfang
gleicht aber merkwürdig dem Anfang der vierten Ekloge des Gal-
purnius: quid tacitus, Corydon? Der Schluss wiederholt einen Vers
der vierten Vergilischen Ekloge: casta fave Lucina; tuus iam regnat
Apollo. Ist hier der Verfasser Nachahmer, so scheint er im ersten Fall
der Nachgeahmte zu sein. »Der arme Poet (Calpurnius) erwies dem vor-
nehmeren (vgl. 1,17, wo er seine chelys laudata^) nennt), eine Aufmerksam-
keit, indem er dessen quid tacitus seinem Meliboeus in den Mund legte,
den Anfang des Gedichts im Anfang seiner Variation über dasselbe Thema
wiederholte, um das Vorbild zu ehren und soviel an ihm war zu ver-
ewigen.^)
Litteratur: Die Gedichte sind zuerst veröffentlicht Philol. 28, 338 ; sie stehen in
der Anthol. Riese unter nr. 725 u. 726, bei BXhbens PLM. 3, 60. Zur Erklärung: Peipeb,
praef, in Sen. trag, suppl., Breslau 1870 (p. 70); Bücheleb, Rh. Mus. 26, 235 (Ribbeck ebenda
p. 406 p. 491); Hagen, Fleckeis. Jahrb. 103, 139. Bähbems ebenda 105, 355.
8. M. Annaeus Lucanus.
889. Biographisches. M. Annaeus Lucanus, geboren zu Gorduba
39 n. Gh., war der Sohn des M. Annaeus Mela, des Bruders des Philo-
sophen Seneca und der Acilia. Schon frühzeitig (40 n. Gh.) kam er nach
Rom und genoss dort eine sehr sorgfältige Erziehung. Unter seinen
Lehrern wird der stoische Philosoph Gornutus genannt, unter seinen Freunden
der Dichter Persius, dessen Poesie er enthusiastisch bewunderte. Bei dem
UnteiTicht fiel nach der ganzen Richtung der Zeit das Hauptgewicht auf
die Rhetorik, Lucan wird als ausgezeichneter Deklamator in beiden Sprachen
gerühmt. Zum Abschluss seiner Bildung nahm er noch einen Aufenthalt
in Athen. Von da rief ihn Nero zurück, um ihn in seinen Freundeskreis
einzureihen. Auch andere Auszeichnungen wurden ihm zu teil; er er-
langte die Quästur noch vor dem gesetzlichen Alter von 25 Jahren, welches
damals für die Erlangung dieser Würde vorgeschrieben war;^) auch den
Augurat erhielt er. Sein erstes öffentliches Auftreten als Dichter fand an
den ersten Neronia statt, welche bekanntlich 60 n. Gh. eingeführt wurden.
Hier trug er einen Panegyricus auf Nero vor. Diesem Werk folgten
andere, er schrieb einen Orpheus und legte Hand an sein Hauptwerk,
die Pharsalia, d. h. die Geschichte des Bürgerkriegs zwischen Pompeius
0 BücHELBB p. 236. ') Bücheleb p. 240.
») Bücheleb p. 289. *) Nippebdey zn Tac. Ann. 3, 29.
286 Römische LitteratnrgeBoliiohte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
und Cäsar. Als drei Bücher fertig waren, übergab er sie der Öffentlich-
keit. So stand alles sehr günstig für den Dichter, als eine Spannung
zwischen ihm und Nero eintrat. Wodurch dieselbe hervorgerufen wurde,
wissen wir nicht; der eine Biograph führt sie auf die Gleichgiltigkeit und
Kälte zurück, welche Nero bei einer Vorlesung Lucans an den Tag ge-
legt; der andere auf den Neid, welchen Lucans dichterische Erfolge bei
dem Kaiser erregten, i) Von beiden Seiten werden feindselige Handlungen
berichtet; der zweite Biograph erzählt das Unglaubliche, dass Nero dem
Lucan die Ausübung der Dichtkunst und Anwaltschaft untersagt habe,
der erste Biograph, dass Lucan ein Schmähgedicht auf den E^iser ver-
fasst habe. Die Feindschaft führte schliesslich den Dichter auch auf ge-
fahrvolle Wege, er beteiligte sich, und zwar in hervorragender Weise, an
der Pisonischen Verschwörung. Diese Beteiligung endete mit einer Kata-
strophe für ihn, da die Verschwörung entdeckt wurde. Lucan zeigte dem
Unglück gegenüber eine grosse Schwäche des Charakters. In der Hoff-
nung sein Leben zu erhalten, Hess er sich zu Geständnissen herbei und
schonte dabei nicht einmal seiner eigenen und, wie es heisst, sogar un-
schuldigen Mutter (Tac. Ann. 15, 56). Allein dieses schändliche Vorgehen
nutzte ihm nichts; der Kaiser verfügte seinen Tod, d. h. befahl ihm die
Selbstentleibung; er liess sich ein reichliches Mahl vorsetzen und öffnete
sich dann die Adern. Als das Leben aus den Extremitäten zu schwinden
begann, erinnerte er sich noch der Beschreibung einer ähnlichen Todesart
eines Soldaten, die er in seiner Pharsalia gegeben hatte. ^) Er recitierte
jene Verse, es waren seine letzten Worte. So bewies er doch noch in
seiner letzten Stunde, dass die Lehren der Stoa nicht spurlos an ihm vor-
übergegangen waren (65 n. Ch.).
Biographien Lucans sind uns zwei überliefert, eine allem Anscheine ans des
Suetonius Werk, De viris illustribus herrührende, dann eine zweite, welche einem späten
Kommentator des Dichters, Vacca, beigelegt wird. Die erste ist im Eingang lückenhaft,
kurz ^efasst und dem Lucan nicht woU gesinnt, die zweite viel umfassender und gegen
den Dichter freundlich gestimmt. (Kritische Ausgabe der rüae bei Reiffebscheid, Suetoni
reliqu. p. 50 und p. 76.) — Genthe, De M. Annaei Lucani vUa et scriptis, Berl. 1859.
Verlorene Schriften Lucans. Unsere Hauptquelle ist die VUa Vaceae; in
zweiter Lmie steht das GenetMiacan Lucani von Statins (Süvae 2, 7). Wir folgen in der
Aufzählung Vacca, der zuerst die Gedichte vorführt:
1. Iliacon. Dieses Gedicht hat Statius im Sinn (54): ac primum teneria adhite
in annis \ Indes Hectora Thessaloaque eurrus \ et supplex Priami potentis aurum,
2. Saturnalia d. h. Epigramme, welche den (beschenken, die man an den Satnr-
nalien zu verteilen pfle^, beigegeben waren.
8. Catachthonion, umschrieben von Statius durch den Vers (57): et sedes reaerabis
inferarum.
4. Silvarnm X, zehn Bücher rasch hingeworfener Gedichte von mannichfachem
Inhalt.
5. Tragoedia Medea, die aber unvollendet blieb.
6. Salticae fabulae XIV, Tanzstücke „in usutn pantomimorum scriptae*' (Jahn,
Proleg. in Persium p. XXXIV).
7. Epigrammata. Die Überlieferung bietet et appämata und et ippamata {et
alia poemata s. poematia Cabtault, Revue de philoh 11, 14).
^) Tac. Ann. 15, 49 Lueanutn propriae
eausae accendebant, quod famam carminum
eius premebat Nero prohibueratque ostentare,
vanus aemulatione. Auch gegen Gurtius Mon-
tanus war Nero wegen seines dichterischen
Talentes, wie Tacitus Ann. 16, 29 andeutet,
von Neid erfüllt (Hist. 4, 40 und 42).
') Tac. Ann. 15, 70; gemeint ist wahr-
scheinlich die Stelle 3, 630.
M. Annaeiui LnoanaB. 287
8. Landes Neronis. Dieses Gedicht wurde beim pentaeterischen Wettkampf im
Theater des Pompeios vom Dichter (60 n. Ch.) vorgetragen.
9. Orphons. Die Werke 8 und 9 werden durch die Verse des Statins 58. 59 um-
schrieben.
10. Ein Seh mäh gedieht auf Nero. Von diesem Gredicht schweigt Vacca, es ist
lediglich in der Sueton'schen vita bezeugt (p. 51 » 11).
Als Prosaschriften führt Vacca an:
11. Eine Rede für und gegen Octavius Sagitta, also offenbar Übungsreden.
Der Fall wird uns von Tacitus berichtet (Ann. 13,44). Octavius Sagitta hatte eine tiefe
Leidenschaft für eine Frau Namens Pontia gefasst. Er setzte die Trennung von ihrem
Manne durch, allein als Pontia frei geworden, setzte sie der Ehe mit Octavius Sagitta
Schwierigkeiten entgegen. Da erbat sich Sagitta noch eine Zusammenkunft mit der Ge-
liebten. Als sie gewährt war, begab er sich mit einem Freigelassenen zu ihr und tötete
sie. In edler Opferwilligkeit nimmt der Freigelassene die Schuld seines Herrn auf sich.
Allein durch eine Magd kam der wahre Sachverhalt an den Tag. Sagitta wird angeklagt
und verurteilt
12. De incendio urhis. Auch diese Schrift berührt Statins mit den Versen 60. 61.
13. Epistolae ex Campania.
Hiezu kommt noch
14. aUocutio PoUae Argentariae, der Gattin Lucans. Dieses Produkt kennen
wir lediglich aus Statins Silv. U 7, 62 : tu castae titttlum decusque Pollae | iueunda dabis ad-
loeutione. Ob dasselbe in Prosa oder in Poesie abgefasst war, wissen wur nicht. — Genthb
p. 36; ÜKGBB, De Lucani carminum reliquiia^ Friedland 1860.
890. Skizze der Pharsalia. Als der Dichter aus dem Leben ge-
schieden war, fanden sich in seinem Nachlass noch sieben Bücher seines
Epos, das sonach im ganzen zehn Bücher umfasste. Das Werk kam in
verhältnismässig kurzer Zeit zustande, nach dem Jahr 60 begann Lucan
damit (vgl. § 389), im Jahre 65 ereilte ihn bereits der Tod. Wir lassen
nun eine möglichst gedrängte Übersicht des Inhalts der Pharsalia folgen.
Das erste Buch legt nach der Ankündigung die Ursachen des Bürger-
kriegs zwischen Caesar und Pompeius dar und schliesst eine Charakteri-
stik der beiden Gegner an. Cäsar steht am Kubico — damit beginnt die
Handlung des Gedichts -— die Tribunen flüchten aus Rom ins Lager Cäsars.
Von Curio und Cäsar werden Beden gehalten. In Rom herrscht grosse
Bestürzung, alles flieht, auch Pompeius verlässt die Hauptstadt. Die Seher
weissagen Unglück, eine Matrone hat eine schreckliche Vision. Das zweite
Buch bringt den Besuch des Brutus bei Cato, ihre Entscheidung für die
Sache des Pompeius, die Wiedervermählung Catos mit seiner ehemaligen
Gattin Marcia, der Witwe des Hortensius. Der Pompejaner Domitius, der
in Corfinium stand, fiel durch Meuterei in die Hände Cäsars, der ihm die
Freiheit schenkt. Pompeius organisiert in Capua den Widerstand und
hält eine Anrede an sein Heer, allein dessen Mutlosigkeit verrät sich
deutlich durch das Schweigen; er zieht nach Brundisium, wohin ihm Cäsar
folgt und ihn belagert, Pompeius jedoch entkommt nach Griechenland. Das
dritte Buch stellt Cäsar in den Vordergrund; es erzählt von seinem
Schalten in Rom, alsdann von seinem Übergang über die Alpen und von
dem heftigen Widerstand, den er in Massilia findet. Die Stadt musste
l[)elagert werden; allein Cäsar leitet nicht selbst die Belagerung, sondern
marschiert nach Spanien. Die Schilderung der Kämpfe vor Massilia nimmt
einen breiten Raum des Gesangs ein. Im vierten Buch werden wir mit
den Ereignissen vor Ilerda in Spanien bekannt gemacht, Afranius und
Petreius leisten hartnäckigen Widerstand, allein der Sieg fällt schliesslich
Cäsar zu. Doch auch der Sieger wird von Unglücksschlägen getroffen.
288 Bömisohe Litteratorgesohichte. II. Die 2eit der Monarchie. 1. Abteilung.
C. Antonius wird bei Salona eingeschlossen, den eifrigsten Parteigänger
Gäsars, Curio, ereilt nach glücklichem Anfang durch die Verräterei des Königs
Juba in Africa eine Katastrophe, sein Heer wird vernichtet, er zieht den Tod
der Schande vor. Zierstücke des Buchs sind die Heldenthat des Tribunen
Yulteius vor Salona und die Episode von Hercules' Kampf mit Antaeus.
Der fünfte Gesang führt auf den Kriegsschauplatz nach Griechenland. Auch
Cäsar war dort gelandet. Alles drängt zur Entscheidung. Da M. Anto-
nius nicht rasch genug herbeieilt, versucht Cäsar allein in der Nacht nach
Italien überzusetzen, und persönlich einzugreifen, wird aber von einem Sturm
zurückgetrieben. Endlich landet Antonius, Pompeius bringt seine Gemahlin
in Lesbos in Sicherheit. Im sechsten Buch kommt die Schlacht bei
Dyrrhachium zur Darstellung. Als Schaustück figuriert der glorreiche
Widerstand des Centurionen Scaeva. Cäsar rückt nach Thessalien; auch
Pompeius führt sein Heer dahin. Sextus Pompeius lässt sich von der
thessalischen Zauberin Erichtho weissagen, er erhält einen traurigen Be-
scheid. Mit dem siebenten Buch endlich gelangen wir zum Höhepunkt
des Epos, zur Entscheidungsschlacht bei Pharsalus. Cäsar wirft zuerst
die Hilfsvölker des Gegners und schlägt dann das Hauptheer. Das
Thema des achten Buchs ist der Tod des Pompeius; derselbe hatte sich
auf seiner Flucht nach Lesbos gewandt, wo er mit seiner Gattin Cornelia
zusammentrifft. Doch ist seines Bleibens nicht auf der Insel, er setzt
seine Flucht fort und begibt sich auf den Rat des Konsul Lentulus nach
Ägypten. Hier bestimmt der Eunuch Pothinus den König, Pompeius um-
zubringen. Ein Römer, Namens Septimius, gibt sich zu dem traurigen
Werke her. Das neunte Buch dient der Verherrlichung Catos, indem es
seine Thaten in Afrika, besonders seinen Marsch durch die Wüste schildert.
Cäsar landet in Ägypten, der König übersendet ihm das Haupt des Pom-
peius. Das zehnte Buch endlich lehrt uns den Aufstand der Ägypter
gegen Cäsar kennen, seine Einschliessung, seine Flucht auf die Insel Pharos,
wo er die Bestrafung des Pothinus, der Seele der gegen ihn gerichteten
Feindseligkeiten, vollzieht. Mit dem Auftreten der Arsinoe und des Eu-
nuchen Ganymedes gegen Cäsar und der Darlegung seiner gefahrvollen
Lage bricht das Gedicht ab.
Metrische Argumente haben wir zwei zehnzeilige in den Commenta Bernensia,
zu 1. II und 1. V (Ü8ENER, comm. Bern. p. 47 und p. 151). Über ihre Zeit (nicht später als
das 6. Jahrh.) Opitz, Leipz. Stud. 6, 307. Dann gab Barth metrische Inhaltsangaben heraus;
abgedruckt bei Riese, AL. 930, bei Bährens, PLM. 5, 413. Dieselben sind nicht nur in
den beiden Oudendorp*schen (Opitz p. 309), sondern auch in zwei spanischen Handschriften,
einem Escorialensis und einem Toletanus (Goetz-Fleckeisen, Jahrb. 143, 512) nachgewiesen;
an eine Fälschung Barths ist daher nicht zu denken. Gleichwohl ist der antike Ursprung
derselben zweifelhaft. (Opitz p. 309: antiquae aetati haec argumenta vindieari nequeunt.
Atque idem statuendum est de argumeniis iUis decastichis et monostichis, quae Cortius in
ediiione Lipsiensi a, 1726 {e codice Guelferhytano) publici iuris fecit).
391. Beurteilung der Pharsalia. Wie sich aus der Inhaltsangabe
des zehnten Buchs ergibt, ist das Epos nicht zur Vollendung gekommen.
Schon die geringe Verszahl, die dieses Buch den übrigen Büchern gegen-
über einnimmt, zeigt, dass ein unfertiges Werk vorliegt. Wahrscheinlich
sollte « der Tod Cäsars die Krone des Ganzen sein. Der Cäsar feindselig
gesinnte Dichter musste noch diese Katastrophe berühren, um eine Sühne
M. AnnaeuB Lncanns.
289
des ^Frevels'' zu erhalten. Vergleicht man diese nachgelassenen Bücher
mit den bereits publizierten drei ersten, so gewahrt man eine Differenz.
Der Ton gegen Cäsar ist schärfer geworden, und man wird nicht irren,
wenn man in dem mittlerweile veränderten Verhältnisse Lucans zu Nero
den Grund für diese gesteigerte Abneigung erblickt. Im ersten Buch
wird noch der Kaiser mit einer grossen Schmeichelei überschüttet, selbst
die Greuel der Bürgerkriege werden entschuldigt, da sie das Emporkommen
des julischen Hauses und damit auch die Regierung Neros ermöglichten;
daran schliesst sich ein enthusiastischer Hinweis auf die künftige Ver-
götterung Neros (33). Anders in dem zweiten Teil. Hier wird (7, 455)
als eine Folge der Bürgerkriege die Gleichstellung der Menschen mit den Göt-
tern angesehen und in dieser Gleichstellung eine Strafe für die Gleich-
gültigkeit, mit der die Götter damals den Ereignissen zusahen, erkannt.
Auch streift Lucan hier (9, 982) den Neid Neros auf seine dichterischen
Erfolge.
Die Herausgabe des Gedichts musste nach dem Gesagten von fremder
Hand erfolgen. Vielleicht rührt die Verschiedenheit des Titels davon her.
Während wir aus 9, 985 schliessen, dass Lucan sein Gedicht Pharsalia ge-
nannt wissen wollte, führt die handschriftliche Überlieferung und das Gegen-
stück Petrons auf die Überschrift „De hello civüi**.
Der dichterische Wert dieses Epos ist ausserordentlich gering. Schon
die Wahl des Stoffs ist eine unglückliche. Historische Ereignisse, welche
der Gegenwart so nahe liegen, vertragen nur schwer eine poetische Be-
handlung, entweder hält sich die Darstellung an die Geschichte, dann
kommt nicht viel mehr als eine versifizierte Chronik heraus; oder sie be-
schreitet das Reich der Phantasie, dann gerät sie in Widerspruch mit
dem historischen Bewusstsein der Zeit. Nur wenn der Dichter in die
dämmernde Welt der Sage sich versenkt, ist sein Geist für poetisches
Schaffen frei. Lucan bewegt sich auf dem historischen Boden, gibt also
eine in Versen gebrachte Geschichte, er verschmäht sogar den herkömmlichen
mythologischen Apparat; das Fatum ist das Lenkende und Bestimmende.^)
Die Beischaffung des Materials war mit keiner Mühe verbunden; er durfte nur
seinen Livius aufschlagen und er hatte eine Erzählung über den Gang der
Ereignisse, wie er sie brauchen konnte. Freilich von einem tieferen Ein-
dringen in die Ursachen des grossen Kampfes ist keine Rede, auch strenge
Objektivität darf man von ihm nicht erwarten, er betrachtet alles vom
pompeianischen Gesichtspunkt aus, an Übertreibungen, Verschweigungen,
Entstellungen fehlt es daher nicht. Auch verleitet ihn das Verlangen, eine
poetische Zierat anzubringen, hie und da zur Verletzung der Wahrheit.
Das merkwürdigste Beispiel ist die unhistorische Einführung Ciceros,^) den
er vor der Schlacht bei Pharsalus eine Rede halten lässt, um den zau-
dernden Feldherrn zum Losschlagen zu bestimmen (7, 62).
War sonach der Dichter unglücklich in der Auswahl des Stoffes, so
war er es nicht minder in der Komposition. Der Held des Epos ist Pom-
*) MiLLABD, Lucani aententia de deis et
fat, Utrecht 1891 p. 43 (Oettl, Lucans philos.
Weltanschauang, Brixea 1888).
2) Cic. ep. 9, 18, 2; Plutarch Cic. 39 (vgl.
die Einführung des Figulus 1,639).
Hftndlraoh der klns. AltertamswiBMuBcliaft. vm. 2. Teil^
19
290 BömiBche LitteratlirgeBchiohte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
peius; allein niemand war fUr eine solche Rolle weniger geeignet als er,
da er uns kein wärmeres Interesse einflössen kann. In ihm gährt keine
Welt neuer Ideen, er ist nicht einmal der Herr seiner Entschlüsse, da
hinter ihm eine abgehauste Partei engherziger Aristokraten steht, drängend
und schiebend, nirgends wirft er eine frische Thatkraft in den Entschei-
dungskampf ein, von vornherein hat man das Gefühl, dass seine Sache
eine verlorene ist und eine verlorene sein muss. Wie ganz anders Cäsar?
Er allein ist der Held in dem grossen Drama; er allein bezaubert uns
durch die Genialität seiner Gedanken, durch die Sicherheit und Kühnheit
seines Auftretens, durch die wahrhaft edle Milde seines Gemüts; mit Be-
wunderung sehen wir zu dem grossen Feldherm hinauf, wie er weiten Blicks
allen Gefahren trotzt und mit mächtiger Hand die Gegner niederwirft;
tieferschüttert folgen wir dem letzten Akt, in dem eine Rotte elender
Bösewichte dem grossen Mann, nachdem er aller Schwierigkeiten Herr
geworden, ihre Dolche in die Brust stiess. Dieses Bild sucht freilich
der Dichter zu trüben, wo und wie er kann; Gäsars Vorgehen muss ein
«Frevel' sein, und er für alles Unheil, das über Rom gekommen, mitverant-
wortlich gemacht werden. Umgekehrt sieht er bei Pompeius überall nur
Treffliches und Grosses. Der Pompeius des Dichters ist daher sowenig
der Pompeius der Geschichte, wie es Cäsar ist; es sind verzeichnete Ge-
stalten.
Für die Mängel der Konzeption entschädigt uns auch nicht die Kunst
der Darstellung. Es ist als ob Lucan zeigen wollte, was er in seiner
Rhetorschule gelernt. In den Reden und den Beschreibungen liegt der
Schwerpunkt des Epos. Die Reden sind ausserordentlich häufig zur An-
wendung gekommen, sie sind von grösstem itdO^og durchzogen und schlagen
manchmal so starke Töne an, dass sie fast komisch wirken. In den Be-
schreibungen wird mit Vorliebe das Nervenerschütternde und Grauenhafte
hervorgesucht, man vergleiche die Schilderung der Todesarten bei den
Kämpfen vor' Massilia oder das Treiben der Zauberin Erichtho vor Sex.
Pompeius oder den Zug Catos durch die Wüste. Auch Proben seiner Ge-
lehrsamkeit streut mitunter der Epiker ein; aber in der Art und Weise
der Einführung zeigt er wenig Geschick. So schildert er, um sein Stu-
dium der Quaesiiones naturales Senecas zu verwerten, Cäsar, wie er sich in
seiner keineswegs beneidenswerten Lage in Ägypten von Achoreus über das
Wunder des Nils belehren lässt (10, 194). Die Antaeussage wird dadurch in
das Gedicht eingeflochten, dass Curio in Afrika sich dieselbe von einem
Landmann erzählen lässt (4, 593). Um die im Epos notwendige Zurück-
haltung des Dichters kümmert sich Lucan wenig, nicht selten unterbricht er
den Gang der Erzählung, um einer meist leidenschaftlich erregten Stim-
mung Ausdruck zu geben; so schliesst er sein siebentes Buch, welches die
Schlacht von Pharsalus zur Darstellung gebracht hatte, mit einer Anrede
an das Unglücksland Thessalien; angesichts des Todes des Pompeius (im
achten Buch) kann er sich nicht enthalten, über Ägypten seine Verwün-
schungen auszugiessen. Auch der Tod Curios zwingt ihm einen pathetischen
Nachruf am Ende des vierten Buchs ab. Als bei Pharsalus die Gegner
aufeinander loszogen, stellt der Dichter Betrachtungen über die unseligen
M. AnnaeiiB Lnoaniui. 291
Folgen dieser Schlacht an.^) Überall ist es das Wort und die Phrase, die
sich breit machen; echte poetische Empfindung fehlt diesem masslosen
Werk.
Sehr eingehend beschäftigt sich Nisard in seinen iltudes 8ur Jes po^tes Jatins mit
Lucan; p. (73—894), ferner Heitland in der Einleitung zur Haskins'schen Ausgabe. Girard,
Un poke ripublicain 9ou9 Neron {Revue des deux mondes 1875 p. 423).
Der Angriff Petrons auf Lucan. c. 118 eece belli civilis ingens opus quisquis
attigerUf nisi plenus litieris, sub onere labetur . non enim res gestae versibus comprehen-
dendae sunt, quod lange melius historici faeiunt, sed per ambages dearumque ministeria et
fabulosum sententiarum tormentum praecipitandus est liber Spiritus, ut potius furentis
animi vaticinatio appareat quam religiosae orationis sub testibus fides. Mössler hat .zuerst
dargelegt {De Petronii poemate de bello civili, Bresl. 1842 und Quaest. Petran, speeimina, Hirsch-
berg 1857, 1865, 1870), dass das eingestreute Gedicht de bello civili gegen Lucan gerichtet
ist. Es fragt sich, ob die Einlage eine Parodie (Travestie) vgl. Westerbubo, Rh. Mus. 38, 92
oder ein Musterbeispiel für die vorgetragene Lehre ist. (Klbbs, Philolog. 47, 630). Man
wird sich fOr die letzte Alternative entscheiden müssen; da ja in der Einlage gegenüber
Lucan, der allen mythologischen Apparat verschmäht, das Eingreifen göttlicher Mächte
durchgeführt ist. Wir mögen dies Urteil des geistreichen Mannes auffällig finden (anders
ZiEHBB p. 53 SouBiAU, De deorum ministeriis, Paris 1885 p. 79), denn dass Lucan den
mythologischen Apparat aufgegeben, darob ist er nicht zu taoeln ; sein Fehler lag vielmehr
darin, das er einen Stoff gewählt, der einer poetischen Gestaltung kaum fähig war.
Über das Verhältnis des Dichters zu Livius vgl. Baibr, De LAvio Lucani in
carmine de bello civili auctorCy Diss. Berl. 1874 (Livius in ea carminis parte, quae ad
historiam spectat, Lucani fons fuisse unicus videtur p. 46); Sikgels, De Lucani fontibus
et fide, Leyden 1884, der am Schluss seiner eingehenden Analyse sagt (p. 151): non nimium
audax coniectura videbitur — Lucanum per totum poema Livio auctore usum esse, licet fieri
possit, — ut etiam hie atque iUic Caesaris commentarios inspexerit — sed verisimiUimum
puto has quoque partes ex Livio haustas esse, qui in historiis componendis Caesaris com-
mentariis sine dubio usus est Lucan kann daher, natürlich mit Vorsicht, zur Erkenntnis
der verlorenen Teile des Livius verwertet werden (Zieheb, Berichte des Hochstifts 1890
H. 1 p. 57). (Mehrere Quellen statuiert Giavi, La Farsaglia, Turin 1888).
392. Fortleben Lucans. Als Lucan sein Gedieht schrieb, war er
überzeugt, dass er damit etwas liefere, was der Zeit siegreich wider-
stehen werde. In gehobenem Dichtergefühl prophezeite er seiner Schöpfung
die Unsterblichkeit (9, 985):
PharscUia nostra
vivet et a nullo tenebris damnabitur aevo,
und wirklich hat sich diese Prophezeiung erfüllt; die Pharsalia ist noch
heutzutage in unsern Händen. Es ist eine ganz merkwürdige, fast unbe-
greifliche Thatsache, dass dieses Epos Jahrhunderte hindurch Leser fand,
zumal da schon einsichtigen Leuten im Altertum der Mangel jeder Poesie
in dem Werk nicht verborgen bleiben konnte. Der feine Satiriker Pe-
tronius hat, wie wir gesehen, richtig bemerkt, dass Aufgabe eines Epos
unmöglich sein könne, die Geschichte in Verse zu bringen. Der Rhetor
Quintilian sprach aus, dass Lucan mehr den Rednern als den Dichtern bei-
zuzählen sei (10, 1, 90). Selbst der abgeschmackte Fronte kam über
die Verse des Eingangs nicht ohne Unbehagen wegen der lästigen Wieder-
holung desselben Gedankens hinweg (p. 157 Naber). Allein das grosse
Publikum war offenbar anderer Ansicht; der Verleger fand mit der Pharsalia
reissenden Absatz. Einem Exemplar konnte daher Martialis die Geleit-
verse mitgeben (14,194):
*) Auch Anspielungen auf Zeitereignisse leuchten hie und da durch das Gedicht (vgl.
6, 54 ZiBHBR p. 69).
19*
292 EOmische LitteratorgeBohichie. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
sunt quidam, qui tne dicunt non esse poetam: '
sed qui me vendit bibliopola, pwtat.
Die Pharsalia wurde Gegenstand der Recitationes (Suet. p. 52, 3 R); der Dialog
des Taeitus stellt den Dichter an die Seite des Horaz und Yergil (20);
Statins ist ein Bewunderer Lucans und ahmt die Pharsalia nach, der Hi-
storiker Florus benutzt sie sogar für sein Geschichtswerk. >) Auch in den
Schulen scheint das Gedicht Eingang gefunden zu haben; wir müssen dies
aus den Kommentaren folgern, welche sich an dasselbe angeschlossen haben.
Bereits Hieronymus zählt Lucan unter den kommentierten Dichtern auf
(contr. Rufin. II p. 47 V); es treten uns auch Namen von Kommentatoren
entgegen, wie Polemon, Porphyrion, Cornutus, Vacca.*) Zahlreiche Citate
aus dem Gedicht finden sich bei den Grammatikern.') Von den Scholien
sind uns zwei Massen tiberliefert, die Commenta {Bernensia), welche voll-
ständig allein in einer Berner Handschrift (nr. 370) stehen, dann die Ad-
notationes, für welche mehrere Quellen fliessen. Der Handschriften des
Gedichts sind sehr viele, ein Beweis, wie eifrig dasselbe auch im Mittel-
alter gelesen wurde.*)
Überliefe rang. Abgesehen von Palimpsestblättem in Wien, Neapel und Rom,
welche ursprünglich einer und derselben (ältesten) Handschrift angehörten, scheidet sich
die Masse der Handschriften in zwei Klassen, in solche, welche die Subscriptio haben
Paulus Constantinopolitanus emendavi manu mea solus, die sog. Recensio Pau-
lina (Yossianus 63, Montepessulanus H 113, Colbertinus und Cassellanus) und in solche,
welche dieser Subscriptio ermangeln. Innerlich unterscheiden sich die beiden Klassen da-
durch voneinander, dass die subskriptionslose (fast nur in den letzten 7 Bttchem) eine
Reihe von Versen mehr bietet, welche ursprünglich in der ersten Klasse fehlten (STBnmABT,
Symb, philol., Bonn p. 291. Fbancken, Mnemos.' 18,5, der zu dem Resultat gelangt: ac-
cessiones, quae in praestantissimo V {V = Vossianus primus) sunt, apparet partem ex hono
fönte esse ncUas, ut equidem opinor ex ipso poetae exemplari, primum non saiis diligenter
lecto p. 21. Vgl. femer Francken, Selecta de Montepessulano et Ashburnhamensi Lucani
(Mnemos.' 19, 5). — Kindleb, De Lue, vers. qui in Montep, et Voss, II desunt, Münster 1862.
Ausgaben von Gobte, Leipz. 1726; OuDEia>oBP, Leyden 1728; P. Bubkank, Leyden
1740; Webeb (8 Bde., der dritte enthält die Scholien [adnotationes]), Leipz. 1821 — 31;
Haskins, tciih an introduction hy Heitland, London 1887 — üsexeb, Luc. eommenta Bernensia,
Leipzig 1869; Genthb, Scholia veter a in Lue, e codice Montepessulano, Berl. 1868.
9. Petronius Arbiter.
393. Petronii Satirae. Ansätze für die Romandichtung waren schon
in der republikanischen Litteratur vorhanden. Sisenna hatte die schlüpf-
rigen Märchen des Aristides übersetzt und das Obscöne durch eingestreute
Spässe verstärkt (§ 113). Aber hier waren doch nur Einzelbilder dem Leser
geboten; es waren Novellen. Viel näher kam dem Roman die Reisebe-
schreibung. Diese gab die Möglichkeit an die Hand, verschiedene Situa-
tionen bequem miteinander zu vereinigen und ein grösseres Ganzes zu
schaffen. Als solche Reiseerzählungen lernten wir früher kennen die Werke
des Statins Sebosus und des L. Manlius (§ 204); in denselben war, wie
es scheint, besonderer Nachdruck auf Kuriositäten und Wunderbarkeiten
*) Westebbübg, Rh. Mns. 37, 35. Sogar
ftir Appian wird dies behauptet von Pebbin,
Lucan as a historiccU source for Appian
{Americ, journ, of. philol, 9, 325.)
*) Lyd, de magistr, 3,46. Genthe, Hermes
6,221.
•) „monuit Kiesslingius videri Lucanum
et Juvenalem a quarto demum saeculo haberi
a grammaticis in numero auctorum idoneo-
rum, quam observaiionem verissimam non
possum quin paucis enarrem** Halfpap,
Quaest, Serv., Greifsw. 1882 p. 2.
«) Rossbebo, Rh. Mns. 38, 152.
Petronins.
293
gelegt. Auf dem Fundament der Erzählung von Erlebnissen eines Helden
an verschiedenen Orten, also auf dem Fundament des Reiseromans ruht
auch das merkwürdige Buch des Petronius Arbiter. Der jugendliche Encol-
pios berichtet uns die Schicksale, die ihm und seinen Genossen an ver-
schiedenen Orten und bei verschiedenen Gelegenheiten widerfahren sind.
Aber alle diese Abenteuer werden vom Dichter zu einer inneren Einheit
zusammengeschlossen, indem sie Folgen eines Vergehens sind, das sich
der Held an einem Heiligtum des Priapus zu Schulden kommen liess.
Wie Odysseus durch Poseidon, so wird Encolpios durch Priapus hin und
her getrieben. Der Träger der Erzählung sagt selbst (139):
me quoque per terras, per cani Nereos aequar
Hellespontiaci sequitur gravis ira Priapi,
Allein unser Autor will nicht bloss abenteuerliche Dinge erzählen, er will
auch Typen der Gesellschaft zeichnen und in Lebensbildern die tiefen
sozialen Gebrechen der Zeit darlegen. Für diese Aufgabe lieferten ihm
vortreffliche Muster die Cyniker mit ihren Satirae Menippeae. In bunter
Mischung von Scherz und Ernst, von Prosa und Poesie Hessen diese
reizenden Gebilde, welche Yarro in die römische Litteratur einbürgerte,
die zahllosen Thorheiten der Menschen an unseren Augen vorüberziehen.
Solche Gemälde liefert auch Petronius und nannte daher sein Werk « Sa-
tirae'^ ; 0 selbst in der Form schloss er sich an die Menippeischen Schö-
pfungen an, indem er Prosa und Poesie vermengte, d. h. dem prosaischen
Grundtexte hie und da einen poetischen Schmuck hinzufügte. Von diesem
unvergleichlichen Meisterwerk sind uns leider nur Fragmente aus dem
15. und 16. Buch erhalten.^) Der Roman wurde nämlich ausgezogen, was
bei der nicht straffen Einheit keine Schwierigkeiten darbot. Die Hand-
schriften, welche uns die Exzerpte,') und zwar nicht ohne Abweichung
überliefern, sind aus einer Quelle abgeleitet, die wir bis ins 9. Jahrhundert
zurückverlegen müssen.^) Die Hauptscene, das bekannte Gastmahl des
Trimalchio, wurde erst um 1650 in dem dalmatinischen Städtchen Trau von
Marinus Statilius aufgefunden. Die erhaltenen handschriftlichen Überreste
drehen sich um den bereits genannten Encolpios, die Hauptperson, und
den Erzähler der Erlebnisse, als Nebenfiguren erscheinen Ascyltos und
Giton, und späterhin der abgeschmackte Dichter Eumolpus. Von Ka-
pitel 116 an ist der Schauplatz der Handlungen Croton; den Ort, wo sich
die vorausgegangenen Ereignisse abspielen, deuten die Fragmente nur all-
gemein an, sie nennen uns eine griechische Stadt (81), welche am Meer
liegt (77. 81), nicht fern von Baiae (53) und Capua (62). Als diesen Ort
sieht man Cumae an, wenngleich dieser Annahme eine Schwierigkeit gegen-
übersteht. Aus den Fragmenten erhellt weiter, dass allem Anscheine nach
zuvor der Roman auch in Massilia spielte (fr. I und IV). Die Zeit der
Handlung wird der Anfang der Regierungszeit Neros sein.
*) BOcHELSB, Gr. Ausg. p. VI.
') In einem alten Kodex des Fulgontius
wurde das 20. Kapitel dem 14. Buch zuge-
schrieben.
*) BücHBLES p. XI iam sub Theodosii
aetatem excerptcuf esse satiras Peiranianas
facile credOf exploratissimum atäem mihi est
inde a septimo saeculo pleniorem quam nos
Petronium in manibus habuisse neminem,
*) BücHBLEB, Gr. Ausg. p. XU.
294 RömiBohe Litteratnrgescilichte. U. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Die Komposition des Romans. In einem Gebet an Priapus sagt Encolpios (133):
non sanguine iristi
perfusus venio, non templis impius hostis
admopi dextram, sed inaps et rebus egenia
attritua facinus non toto corpore feci.
Er gesteht also hier einen dem Priapus zugefügten Frevel ein, er sucht denselben aber ab-
zuschwäch«)n, indem er denselben in Gegensatz zu einer Tempelplünderung stellt Welches
der Frevel war und wo er geschah, darüber sind nur Vermutungen gestattet. Den ihm
zugefügten Frevel rächt Priapus, und die Fragmente zeigen die Feindseligkeit des Gottes
gegen den Helden z. B. c. 104. Wir gelangen zu der AnntJime, dass dieser Zorn des Priapus
das Leitmotiv des Romans war. Durch dasselbe wurde das Ganze in eine komische Sphäre
gerückt, zugleich aber als ein Spiel der Phantasie in das Reich der Kunst (Klebs, Philo).
47, 622).
Die Orte der Handlung. Massiliaund Kroton stehen als Orte der Handlung fest.
Nur durch Schlussfolgerung ist der Ort zu bestimmen, an dem Trimalchio sein Gastmahl
hielt. MoMMSEN (Hermes 13, 109) hat als solchen Cumae hingestellt. Es bleibt aber die
Schwierigkeit, dass Trimalchio sagt (c. 48) : Sibyllam quidem Cumis ego ipse oadis tneis
vidi in ampulla. Diese Schwierigkeit kann aber leicht durch Streichung von Cumis ge-
hoben werden (Fbiedländeb Ausg. p. 6).
Die Zeit der Handlung verlegt Mokxsek (Hermes 13,111) unter die Regierung
des Augustus (Haley, Quaest. Petron, in Harvard Studies 2, 1), Bücheleb (Grosse Ausg.
§. YIl) in die letzten Jahre der Regierung Tibers, FbiedlIndeb (Ausg. p. 7) in das Ende
er Regierung des Claudius oder in den Anfang der Regierung Neros. Unter anderem
führt Friedländer für seine Ansicht an, dass der Gesangsvirtuos Apelles (c. 64) und der
Komponist Menecrates (73) als allgemein bekannte Persönlichkeiten angeführt werden.
Apelles glänzte aber unter Caligula und Menecrates unter Nero.
394. Skizze des Romans. Die Fragmente beginnen mit einer Dar-
legung des Verfalls der Beredsamkeit. In scharfer Weise schildert En-
colpios das unnatürliche Pathos, das Phrasengeklingel, das unpraktische
und schiebt die Schuld an diesen Gebrechen auf die Lehrer; dagegen findet
der Mitunterredner den Sitz des Übels bei den Zuhörern, deren Neigungen
die Lehrer entgegenkommen müssen, wenn sie nicht vor leeren Blinken
docieren wollen. Während dieses Gesprächs hatte sich der Genosse des
Encolpios, Ascyltos, entfernt. Encolpios gedenkt in sein Quartier zurück-
zukehren. Als er dasselbe nicht aufzufinden vermochte, befragte er eine
Alte; die aber führt ihn in ein unsittliches Haus, wo zu seiner Über-
raschung auch Ascyltos auftaucht. Sie begeben sich zusammen in ihre
Wohnung, dort geraten sie wegen des Burschen Giton, den sich Encolpios
zum Liebling erkoren hatte, in Streitigkeiten. Es reiht sich in der Er-
zählung ein ergötzliches Abenteuer auf dem Markte an, dann fallen sie
der Quartilla, welche sie einst bei einer Priapusfeier gestört hatten, in
die Hände und werden von ihr verschiedenen Quälereien ausgesetzt. Mit
Agamemnon folgen die drei Taugenichtse einer Einladung zum Mahl bei
Trimalchio. Dieser, ein ehemaliger Sklave, war zu ungeheurem Reichtum
gelangt und spielt jetzt die Rolle eines ungebildeten Emporkömmlings.
Alles Einfache ist ihm daher verhasst, alles muss bei ihm einen aussergewöhn-
lichen Charakter erhalten. Bei allen Gängen, welche aufgetragen werden,
war es auf eine Überraschung der Gäste abgesehen. Da wurde ein Speise-
brett hereingetragen, auf demselben lag eine hölzerne Henne, die Flügel
ausbreitend, als wenn sie brüte. Die Aufwärter nahmen Pfaueneier aus dem
Neste. Als dieselben geöffnet wurden, fanden sich in denselben fette Feigen-
schnepfen mit gepfeffertem Eidotter. Dann kam eine Schüssel, welche die
zwölf Zeichen des Tierkreises durch entsprechende Speisen versinnbildlichte;
als der obere Teil, abgehoben wurde, sahen die Gäste Geflügel, Saueuter und
PetroniuB. 295
einen Hasen. Noch mehr wurden die Gäste in Staunen versetzt, als ein grosser
Eber tranchiert wurde und aus der Schnittfläche gar Erammetsvögel heraus-
flogen, welche bereitstehende Sklaven mit Leimruten auffingen. £in anderes
Stückchen; es wurden drei lebende Schweine hereingeführt, Trimalchio
befahl dem Koch, das älteste sofort zuzubereiten. Kaum waren einige
Minuten vergangen, als das Schwein fertig auf dem Tisch lag. Trimalchio
meinte, der Koch habe vergessen, es auszuweiden. Es wird die Probe ge-
macht, da fallen aus der angeschnittenen Seite Würste heraus. Plötzlich
fangt das Getäfel an der obern Decke zu krachen an. Alles richtet seine
Blicke dahin, ein ungeheurer Keif senkt sich herab, an dem Dinge hängen,
die zum Mitnehmen bestimmt waren. Köstlich sind die Plaudereien, welche
eingeladene Leute vom Schlage Trimalchios miteinander führen, sie strotzen
von gemeiner Gesinnung, pöbelhafter Sprache und kleinlichem Stadtklatsch.
Hohes Interesse erregt die von einem Gast erzählte Geschichte von einem
in einen Wolf verwandelten Soldaten (61). Auch Trimalchio nimmt gern
das Wort, um seine Weisheit leuchten zu lassen, er erzählt uns, was der
verschmitzte Hannibal bei der Eroberung Trojas gethan, dann dass die
Trojaner mit den «Parentinern'' im Krieg lagen, dass Agamemnon in diesem
Krieg siegte und seine Tochter Iphigenia dem Achilles zur Frau gab,
worüber Ajax rasend geworden sei. Als das Mahl schon weit vorgerückt
war, taucht eine neue Figur in dem Steinhauer Habinnas auf, der halb-
trunken von einem Gelage kommend mit seiner Gemahlin Scintilla heran-
tritt. Auf dringendes Verlangen des neuen Gastes wird die Gattin Tri-
malchios Fortunata herbeigerufen. Die Albernheiten und Roheiten erreichen
jetzt einen hohen Grad. Zuletzt las Trimalchio den versammelten Sklaven
sein Testament vor, und lässt sich schliesslich als einen Toten bejammern.
Der furchtbare Lärm, der dadurch entsteht, rief die Wächter herbei, die
einen Brand vermuteten. Das Durcheinander gab den drei Gesellen En-
colpios, Ascyltos, Giton erwünschte Gelegenheit, sich aus dem Staub zu
machen. Wir haben nur einige Züge herausgehoben, den Reichtum des
Originals zur Anschauung zu bringen ist uns unmöglich. Wir fahren in
der Skizzierung der Abenteuer fort. Wiederum ist es Giton, der zwischen
Encolpios und Ascyltos eine Trennung erzeugt. Ascyltos entführte näm-
lich den Knaben. Vor Schmerz ausser sich sann Encolpios auf Rache
und bewaffnete sich; als er auf die Strasse trat, begegnete ihm ein Soldat,
der ihn zur Rede stellte und ihm das Schwert hin wegnahm. Statt
Ascyltos wird nun eine neue Person in die Handlung eingeführt, Eumolpus.
Als nämlich Encolpios in einer Pinakothek die Bilder betrachtete, gesellte
sich zu ihm ein Greis, der sich als Dichter vorstellte und eine schmutzige
Geschichte aus seinem Leben zum besten gab. Als Encolpios sich in die
Betrachtung einer „Eroberung Trojas** versenkte, erläuterte der Poet flugs
das Gemälde durch ein entsprechendes Gedicht von 65 Versen. Mit Stein-
würfen verjagen die Anwesenden den lästigen Dichter. In einem Bade
findet Encolpios seinen Knaben und führt ihn in seine Wohnung zurück.
Auch Eumolpus stellt sich ein, derselbe ward aber, da er auch ein Auge
für den Knaben hatte, dem Encolpios bald so lästig wie Ascyltos. Ein
Streit, den Eumolpus mit einer fremden Persönlichkeit bekam, gibt En-
296 Bömische Litteratorgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
colpios Anlass, den Dichter hinauszusperren; derselbe wird draussen ge-
prügelt. Da tritt auch Ascyltos auf, um Giton aufzusuchen, der aber
weiss sich den Nachforschungen zu entziehen. Als Eumolpus drohte,
das Versteck desselben zu verraten, versöhnen sich Encolpios und Giton
mit ihm. Nun bestieg die Gesellschaft ein Schiff, zu ihrem Schrecken ent-
deckten sie auf demselben den Tarentiner Lichas und Tryphaena, gegen
welche sie früher schlimme Streiche verübt hatten. Sie hielten mit Eu-
molpus Rat, wie sie sich unkenntlich machen sollen. Nach längerer Er-
wägung verfallen sie auf den Gedanken, sich das Haupthaar scheren
zu lassen, um als Sklaven des Eumolpus zu erscheinen. Allein die
Sache wurde entdeckt, und es entspann sich eine grosse Prügelei.
Schliesslich wurde dieselbe beigelegt und ein Versöhnungsmahl gefeiert;
bei demselben erzählt Eumolpus die bekannte Geschichte von der Witwe
in Ephesos. Ein Sturm bricht los. Lichas ertrinkt, die Übrigen kommen
mit dem Leben davon. Als sich unsere drei Abenteurer nach der Ge-
gend, an die sie verschlagen wurden, erkundigten, erfuhren sie, dass sie
in der Gegend von Groton seien, und dass in dieser Stadt besonders das
Handwerk der Erbschleicher in grossem Flor stehe. Sofort schmieden
sie ein Komplott, Eumolpus soll sich für einen reichen kinderlosen Mann
aus Afrika ausgeben und durch Hüsteln an sein baldiges Ende erinnern,
während die beiden andern seine Diener machen wollen. Unterwegs de-
klamiert Eumolpus ein Gedicht vom Bürgerkrieg in 295 Versen. In
Groton hatte Encolpios unsaubere Abenteuer mit Circo; auch der alte
Eumolpus führt einen nichtsnutzigen Streich aus. Die Erbschaftsschleicher
schienen schliesslich misstrauisch geworden zu sein, da das in Aussicht
gestellte Schiff mit seinen Schätzen und der Familie des Eumolpus nicht ein-
traf. Die Fragmente schliessen mit der Verlesung eines Testaments des
Eumolpus, in dem die Erbschaft an die Bedingung geknüpft wird, dass
die Erbenden von dem Leichnam des Testators essen.
BücHELER, Conspecttis aaturarum, El. Ausg.' p. 119.
395. Zeit und Persönlichkeit des Autors. Wenn wir vorläufig
von dem Verfasser des Romans ganz absehen und uns lediglich an den
Inhalt der Erzählung halten, so können wir uns das Werk nur in der
Neronischen Zeit entstanden denken. Sprache, Metrik, der soziale Hinter-
grund weisen gebieterisch in diese Epoche. *) Der Angriff auf die Pharsalia
des nicht genannten Lucanus erfüllt seinen Zweck nur dann vollkommen,
wenn er in die Lebzeiten dieses Dichters fallt, ebenso wird die Einlage der
„Troiae Halosis** nur dann recht verständlich, wenn sie von einem Zeit-
genossen Neros, der ja ebenfalls ein solches Gedicht gemacht hatte, her-
rührt. Unter den Einsichtigen herrscht daher heutzutage über die Zeit
des Romans kein Zweifel. Steht aber einmal dieselbe fest, so ist auch
die Eruierung der Persönlichkeit des Autors erleichtert. Es ist klar, dass
wir nur einen Petronius brauchen können, der in der Neronischen Zeit
lebte. Einen solchen lernen wir aber aus Tacitus Ann. 16, 18 kennen.
Der von dem Historiker geschilderte Petronius') war ein Mann, der den
0 BücHELEB, Gr. Ausg. p. V. I ') Wahrscheinlich mit dem Praenomen
PetroniuB«
297
Tag mit Schlafen zubrachte, die Nacht aber seinen Geschäften und seinem
Vergnügen widmete. Wie andere durch ihre Arbeit, so kam er durch
seine ünthätigkeit zu Ansehen; er galt nicht als Schlemmer und Ver-
schwender, aber als ein Meister des raffinierten Luxus. Je ungebundener
seine Reden und Handlungen waren, je mehr sie den Charakter des Sich-
gehenlassens an sich trugen, desto mehr wurden sie unter dem Gesichts-
punkt der Naivetät aufgefasst. Als Prokonsul von Bithynien und als
Konsul erwies er sich jedoch als thatkräftig und seinen amtlichen Obliegen-
heiten gewachsen. Dann sank er wieder in sein Lotterleben zurück; von
Nero in seinen engern Kreis aufgenommen spielte er am Hofe den , Schieds-
richter des Geschmacks^ {elegantiae arbüer), dessen urteil sich der Kaiser
willig unterwarf, wenn es sich um das Anmutige und das Üppige handelte.
Dieser mächtige Einfluss erregte den Neid des Tigellinus. Um des Pe-
tronius Verderben herbeizuführen, legte er ihm ein freundschaftliches Ver-
hältnis zu Scaevinus, der sich an der Pisonischen Verschwörung beteiligt
hatte, zur Last. Da der Angeschuldigte sich kein Hehl über das, was ihm
von der Grausamkeit Neros bevorstand, machen konnte, beschloss er frei-
willig in den Tod zu gehen. Zuvor legte er aber Hand an ein Dokument,
in dem er die Schandthaten Neros unter namentlicher Angabe der Buhl-
knaben und Dirnen und der einzelnen Akte aufzeichnete; versiegelt über-
schickte er das Schriftstück dem Kaiser. Aus dieser Schilderung ergibt
sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, dass der hier gezeichnete Lebe-
mann Petronius mit unserm Romanschriftsteller identisch ist; ja vielleicht
ist das Cognomen, das die handschriftliche Überlieferung demselben gibt,
aus jenem „elegantiae arbiter** entstanden.^) Der Glaube an die Identität
der beiden Personen darf aber nicht dazu verleiten, auch die Identität des
von Tacitus genannten Schriftstücks und unseres Romans zu statuieren.
Jenes „ Sündenregister *" war durchaus persönlich gehalten und lediglich für
Nero bestimmt; es passt nicht in den Rahmen eines Romans.
Die Abfassungszeit unter Nero hat in eingehender Abhandlung Studbb er-
wiesen, Rhein. Mus. 2, 50 und 202» er erblickt auch in unserem Petronius den bei Tacitus
genannten, nimmt aber zugleich irrig eine Identität der beiden Schriftwerke an. Diesen
Irrtum hat die Abhandlung Ritter^s (Rh. Mus. 2, 561) gründlich beseitigt. Teuffsl dagegen
(Gharakt. p. 395) lässt nicht bloss die Identität der Schrift, sondern auch die der Person
fallen und hält nur die Identität der Zeit fest. (Unbrauchbar Kbaffebt, Beitr., Verden
1888 p. 9.)
Die Epigramme des Petronius. In der Anthologie werden Petronius mehrere
Epigranune zugeteilt bald auf handschriftliche Überlieferung, bald auf das Zeugnis des
I<\ilgentius, bald auf subjektive Erwägungen hin. Das Zeugnis des cod. Voss. F. 111 haben
für sich nr. 650 und 651 R. (PLM. 4, 120, 121); die nr. 464—479 (PLM. 74-89) sind im Voss.
Q. 86 namenlos, aber 466, 1 (76) und 476, 6—9 (86) werden unter dem Namen des Petronius
von Fulgentius citiert; die ganze Reihe teilt dem Petronius Scaliger zu. Die dritte Reihe
bilden die nr. 690—692, 218, 693—699 (PLM. 4, 90—100). Diese entnahm einem verlorenen
cod, Bellovace^isis Binet und publizierte sie ebenfaUs unter dem Namen des Petronius in
seiner Ausgabe des Petronius 1579. Das erste StUck nr. 690 (90) wird auch von Fulgentius
angeführt. Ob Binet die übrigen nach handschriftlicher Überlieferung oder nach subjektiven
Erwägungen hin mit dem Namen des Petronius versehen, wissen wir nicht. — Krohn,
Quaest. ad antholog, lat. »pectanUs, Halle 1887.
T. Vgl. Nipperdet zu Tacit. Ann. 16, 17,
der auf Plin. n. h. 37, 20 und Plutarch. de
discr, am, et aduL p. 60 e hinweist.
'} So MoMMSEN, Hermes 13, 107, Anm.
Umgekehrt Büchblsr, N. Schweiz. Mus. 3, 18
„man taufte ihn elegantiae arbiter mit An-
spielung auf seinen Beinamen Arbiter*.
298 BönÜBche Litteratargeschichte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Die sogenannten Glossen des Petronius. Mit den Exzerpten aus Petron
waren in dem Archetypos der Petronhandschriften noch kleinere Gedichte und Glossen (aus
Gellius, Isidorus, Hieronymus) verbunden und nahmen irrtümlich ebenfalls den Namen Petro-
nius an (BüCHELEB, Gr. Ausg. p. XII).
396. Charakteristik. Der Roman des Petronius ist die merkwür-
digste Erscheinung in der gesamten Litteratur der Kaiserzeit. Kein Werk
führt uns so tief in die Erkenntnis des sozialen Lebens ein als dieses.
Mit wunderbarer Kunst greift der Dichter die hervorragendsten Typen der
damaligen Gesellschaft heraus, um ein drastisches Bild derselben zu geben.
Sein Urteil lässt er nur selten hervortreten, er wirkt allein dadurch, dass
er seine Personen ihr ganzes Wesen selbst zur Entfaltung bringen lässt.
In Trimalchio wird die damals so stark ausgebreitete Klasse der Empor-
kömmlinge mit Meisterhand gezeichnet. Wir sehen, wie diese Leute von
ihrem Reichtum den unsinnigsten Gebrauch machen, wie sie in vordring-
licher Weise mit ihren Schätzen prahlen, wie sie sich den Anstrich der
Bildung zu geben versuchen, wie sie hiebei aber ganz besonders ihre
Pöbelhaftigkeit verraten. Encolpios und Genossen stellen uns glänzende
Repräsentanten der Libertinage und des Abenteurertums dar. Mit Eu-
molpus wird uns der aufdringliche Dichterling jener Tage, vor dessen De-
klamationen das Publikum sich nur durch Steinwürfe schützen kann, vor
Augen geführt. Auch die Nebenpersonen sind lebensfrische kräftige Ge-
stalten. Die verschiedenen Seiten des Lebens, die geistige wie die ma-
terielle hat der Dichter mit scharfem Auge verfolgt. Über den Verfall
der Beredsamkeit hat ausser Tacitus niemand so packend und wahr ge-
urteilt; auch was er gegen Lucans historisches Epos vorbringt, ist fein
durchdacht, wenngleich er nicht zu der völligen Verwerfung dieser Poesie
vorgedrungen ist.^) In das kleinstädtische Treiben hat er einen tiefen
Blick gethan und von krähwinkliger Denkungsart wie Sprache eine köst-
liche Abkonterfeiung gegeben. Die schweren sozialen Gebrechen jener
Tage, die unerhörte Schlemmerei, die grauenhafte XJnsittlichkeit, die häss-
liche Erbschleicherei fanden in ihm einen Maler ersten Rangs. Über die
Mittel der Darstellung gebietet Petronius völlig souverän; gebundene wie
ungebundene Rede handhabt er mit gleicher Virtuosität; in jeder Stilform
ist er sattelfest. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass er die ge-
samte Bildung seiner Zeit in sich aufgenommen hat. Nur eins fehlt ihm,
die sittliche Grösse, welche den Hintergrund des Romans hätte bilden
sollen. Aber der Dichter lehnt alle sittlichen Tendenzen ab. Dadurch,
dass er die Erlebnisse seines Helden als eine Folge der Rache des Priapus
darstellt, kennzeichnet er deutlich sein Werk als ein Spiel der Phantasie,
das den Leser erheitern, nicht aber erheben will.
Grundlegende Ausgaben von Bücheleb, die grössere Berl. 1862, die kleinere in
3. Aufl., Berl. 1882. TreflPliche Ausgabe der cena Trimalchionis mit deutscher Übersetzung
und erklärenden Anmerkungen von Fbiedlandeb, Leipz. 1891.
Der kritische Apparat seist sich aus drei Bestandteilen zusammen, der Quelle
der vollständigeren Excerpte L (Leidensis Q. 61 und die Ausgabe des Tomaesius, Leyd.
0 Elbbs, Philolog. 47. 681 ; Mössleb
in den p. 291 erwähnten Abhandlungen.
Es sind die drei ersten Gesänge Lucans,
welche noch zu Lebzeiten des Dichters
ediert wurden, berücksichtigt. Eine Be-
rücksichtigung des 7. Buchs nach einer
Recitation, wie Wbstebbubo, Rh. Mus. 38, 94
annimmt, ist eine Unmöglichkeit.
YaleriuB Flaocns. 299
1575 und des P. Pithoens, Paris 1587), der Quelle der verkürzten 0 (Repräsentant der Ber-
nensis 367 s. X) und der Quelle für die cena Trimalchionis, dem Traguriensis 8ive Parisinu8
7989 8. XV.
10. C. Valerius Flaccus Setinus Baibus.
897. Biographisches. Von des Dichters Leben ist nur eine äusserst
geringe Kunde zu uns gedrungen. Wir kennen nicht einmal seine Hei-
mat, denn die Identifizierung desselben mit einem von Martial genannten
Flaccus aus Patavium (l, 76) ist unmöglich; nach dem erwähnten Epigramm
war der Flaccus des Martial ein armer Dichter, unser Flaccus muss als
Mitglied des Kollegiums der Quindecimviri sich in guten äussern Ver-
hältnissen befunden haben; denn auf diese Stelle weisen die Eingangs-
verse seines Gedichts, der Argonautica hin (5). Auch über die Zeit der
Entstehung erteilt uns das Epos Aufschluss. Es ist dem Vespasian
gewidmet, der ja auch in das weite Meer nach Britannien hinaussegelte.
In der Widmung entschuldigt er sich, dass er einen antiken Stoff be-
handele, während doch gerade der Sohn Yespasians Titus die Brandfackel
in Jerusalem hineinwerfe; allein dessen Thaten werde der andere Spross
des Kaisers, Domitian in würdiger Weise besingen. Nach diesen Worten
muss man annehmen, dass der Eingang des Gedichts wohl bald nach der
Einnahme Jerusalems durch Titus (70 n. Gh.) verfasst wurde. Da einige
Verse auf den Ausbruch des Vesuv hinweisen (3, 209 4, 507 4, 656), also
nach dem Jahr 79 n. Ch. geschrieben sein müssen, so scheint Valerius
lange an seinem Werk gearbeitet zu haben. Uns liegt dasselbe unvoll-
endet vor; im achten Buch bricht es mitten in der Erzählung ab. Es ist
eine alte Streitfrage, ob Nichtvollendung oder Verlust vorliegt. Für beide
Annahmen lassen sich Gründe beibringen, eine feste Entscheidung ist nicht
möglich. Als Quintilian um 90 n. Ch. das 10. Buch seines Lehrgangs der
Rhetorik schrieb, beklagte er den nicht lange vorher eingetretenen Tod
des Dichters (10, 1, 90).
398. Skizze der Argonautica« Mit den Weissagungen, welche den
Pelias vor den Nachkommen seines Bruders Aeson warnen, hebt die Er-
zählung an. Um der Gefahr zu begegnen, stellt er an Aesons Sohn, Jason,
das Ansuchen, er solle das goldne Vliess von Kolchis holen. Von der Be-
gierde nach Ruhm getrieben entschliesst sich Jason zu dem schweren Werk;
er rechnet auf den Beistand der Juno und Minerva. Es wird die Argo
gebaut; von allen Seiten eilen die Helden Griechenlands herbei, darunter
auch Hercules mit Hylas und der Sänger Orpheus. Selbst Acastus, der
Sohn des Pelias, wird von Jason veranlasst, ohne Wissen und wider
Willen seines Vaters an der Fahrt teilzunehmen. Dies führte, nachdem
die Argo abgefahren war, zu einer schweren Katastrophe; Pelias sinnt auf
Rache, er sendet Häscher zu den Eltern Jasons, diese kommen durch einen
freiwilligen Tod den grausamen Anschlägen zuvor; nur an dem noch un-
mündigen Bruder Jasons können sie ihr Werk vollbringen (1). Unter dem
kundigen Steuermann Tiphys ziehen die Argonauten ihres Weges weiter;
sie kommen nach Lemnos, wo sie von den Frauen, die ihre Männer er-
mordet hatten, freundlich aufgenommen wurden; ausführlich schildert der
Dichter den Gattenmord. Die Helden pflegen der Liebe, Jason tritt in
300 EOmiBche Litteratorgeschichte. 11. Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilang.
vertrauten Verkehr zur Königin Hypsipyle. Da wird Hercules, der mit
einigen andern auf dem Schiff zurückgeblieben war, ungeduldig und drängt
zur Abfahrt. Als sie an der Küste von Sigeon längere Rast genommen,
vernahmen Hercules und Telamon bei einem Spaziergang eine klagende
Stimme; sie gehen derselben nach und entdecken Hesione, die Tochter des
trojanischen Königs Laomedon, welche an einen Felsen angebunden war,
um einem Meerungeheuer zum Frasse preisgegeben zu werden. Her-
cules erlegt das Untier und befreit die Gefangene. Die Fahrt geht
weiter durch den Hellespont, sie gelangen nach Gycicus, wo sie, vom
gleichnamigen König freundlichst empfangen, einige Tage verweilen (2).
Die Argonauten setzen ihre Reise fort, da fallt der Steuermann Tiphys in
tiefen Schlaf; das Schiff, sich selbst überlassen, wird wieder nach Gycicus
zurückgetrieben. Es ist Nacht, die Einwohner von Gycicus glauben, ein
feindliches Heer sei angekommen, auch die Argonauten erkennen nicht
den Ort, es entsteht ein furchtbarer Kampf, in dem der König Gycicus
seinen Tod findet. Als der Morgen heranbrach und man des Irrtums ge-
wahr wurde, entstand ein grosses Wehklagen. Nachdem Sühnopfer dar-
gebracht waren, stechen sie wiederum in die See. In Mysien, wo sie ge-
landet, begibt sich Hercules mit Hylas in den Wald, um sich ein neues
Ruder zu suchen. Da verliert er den Hylas, der von einer Nymphe ge-
raubt wurde. Hercules sucht seinen Liebling überall ; als er nach längerer
Zeit nicht zurückkam, beschliessen die Argonauten nach eingehender Be-
ratung die Weiterfahrt ohne Hercules (3). Sie gelangen zu den wilden
Bebrykern mit ihrem gefürchteten König Amycus; derselbe fordert die An-
kömmlinge zum Faustkampf auf; PoUux tritt ihm entgegen und streckt
ihn nach heissem Ringen nieder. Sie passieren den Bosporus; am thyni-
schen Gestade stossen sie auf den blinden Seher Phineus, der von den
Harpyien arg gequält wird. Die Boreaden Galais und Zetes vertreiben
die Quälerinnen und verschaffen dadurch dem Phineus Ruhe. Zum Dank
dafür enthüllt ihnen der Seher die Zukunft der Reise. Es naht nun die
schwerste Gefahr der Reise, die cyanischen Felsen, die über den Schiffen
zusammenschlagen; mit Hilfe der Juno und der Minerva gelangen sie
glücklich hindurch. Sie machen Halt bei den Maryandinern (4). Hier
verlieren sie durch den Tod den Seher Idmon und den Steuermann Ti-
phys. Unter dem neuen Steuermann Erginus erreichen sie ihr Ziel, den
Phasis. Dort war bereits wegen des Yliesses zwischen dem König Aeetes
und seinem Bruder Perses ein heftiger Zwist entstanden ; Perses war ent-
flohen und mit einem Heer zurückgekehrt, um seinen Bruder zu bekriegen.
So standen die Dinge, als die Argonauten anlangten. Jason verlangt von
Aeetes das goldene Vliess; der König verbirgt seinen Zorn über dieses
Verlangen und fordert ver allem Hilfe gegen den anwesenden Feind (5).
Die Argonauten stellen sich auf Seite des Königs. Der Dicht-er schildert
uns die herbeigeeilten Völker, die sich am Krieg beteiligen und führt eine
Reihe von Kampfesbildern vor unsere Augen, besonders ragt Jason her-
vor, er ist siegreich gegen Perses, Juno rettet aber den Bedrängten, in-
dem sie ihn aus dem Getümmel entführt. Inzwischen hatte Juno, den
Gang der Ereignisse voraussehend, mit Hilfe der Venus der Medea heftige
ValeriuB Flaccns.
301
Liebe zu Jason eingefiösst (6); denn als Jason die Früchte seines Bei-
standes ernten wollte, zeigte sich Aeetes wortbrüchig und verlangte, dass
Jason das Feld des Mars mit den feuerschnaubenden Stieren bepflüge
und die Drachenzähne in dasselbe säe. Jetzt wird Medea die Hauptträgerin
der Handlung. Sie hatte einen langen Kampf gekämpft zwischen der
Liebe zu dem Fremdling und der Liebe zu Vater und Vaterland; sie
hatte sich — so war es der Wille der Göttinen, die mächtig eingegriffen
hatten — für Jason entschieden und war entschlossen, ihn vom Untergang
zu erretten. Mit ihren Zaubermitteln vollzieht Jason, ohne Schaden zu
nehmen, die aufgetragene Arbeit; die Zauberei der Medea bringt die
aus der Saat emporgewachsene Drachenbrut schliesslich dahin, dass sie
sich gegenseitig hinmordet (7). Jetzt galt es, sich in den Besitz des
goldenen Vliesses zu setzen, Medea schläfert den dasselbe bewachenden
Drachen ein. Jason bemächtigt sich des Vliesses, und Styrus flieht mit
Medea und seinen Genossen, Der Bruder der Medea, Absyrtus, und ihr
Verlobter ziehen zur Verfolgung aus. Sie holen die Argonauten an der
Donaumündung ein, als die Hochzeit zwischen Medea und Jason gefeiert
wird. Um einen Kampf hintanzuhalten, erregt Juno einen heftigen Sturm;
Styrus, der trotzdem den Kampf eröffnen will, versinkt im Meere, Absyrtus
belagert die Griechen in ihrer Bucht. Die Argonauten drängen Jason, die
Medea auszuliefern, Medea stürmt mit Gegenvorstellungen auf ihn ein. —
Damit bricht das Epos ab.
399. Charakteristik der Argonautica. Als Valerius Flaccus den
Plan fasste, die Argonautensage dichterisch zu gestalten und ,das glän-
zende Verdienst des VcRpasianus um die Sicherung der römischen Herr-
schaft in Britannien und die Eröffnung der oceanischen Schiffahrt in dem
mythischen Spiegelbilde des durch die Argo eröffneten Pontes zu verherr-
lichen'', 0 konnte er sich nicht verhehlen, dass er kein jungfräuliches Ge-
biet vor sich habe. Die ganze Sage hatte bereits durch ApoUonius Rho-
dius ihre poetische Fassung erhalten; überdies war dieses griechische Werk
von Varro Atacinus in lateinischer Sprache bearbeitet worden und zwar
wie man nach den Fragmenten und der gleichen Zahl der Bücher
schliessen muss, in engem Anschluss an das Original (§ 109). Es war
also keine leichte Aufgabe hier noch Lorbeeren zu erringen. In der Dar-
stellung der Sage musste sich Valerius natürlich im wesentlichen an den
griechischen Meister halten; allein im einzelnen konnte er doch Aende-
rungen genug anbringen, um seiner Schöpfung den Reiz der Neuheit zu
verleihen.^) Diese Abweichungen von ApoUonius Rhodius, wie sie in den
Argonautica zu Tage treten, genauer zu verfolgen, ist ausserordentlich an-
ziehend, da wir damit einen Blick in die Werkstätte des Dichters erhalten
und erkennen, dass er nicht selten seine Vorlage wirklich verbessert hat.
Besonders glücklich sind jene Neuerungen, welche zum Zweck haben, die
^) Berhats, Ges. Abb. 2, 163 nnd Anm.,
der nocb bemerkt, dass anch die Argonautica
des Varro Atacinus vielleicbt durch die
gleichzeitigen britannischen Unternehmungen
Julius Caesars angeregt wurden. E5stlin
stellt die Ansicht auf (Philol. 48, 650), dass
die Widmung an Yespasian, wie sie jetzt
vorliegt, auf einer Umbildung bei einer
zweiten Ausgabe beruht.
') Auch liess der Dichter manch Römi-
sches in sein Gedicht einfliessen (Köstlik,
Philol. 48, 648).
302 BömiBche LitteratorgeschiGhte. H. Die Zeit der Monarclde. 1. Abteilang.
Figur des Haupthelden zu heben und denselben mit reicherer Thatkraft
auszustatten. £ine solche Neuerung ist der ganze Krieg zwischen Aeetes
und seinem Bruder Perses; hier konnte der Dichter die glänzende Tapferkeit
Jasons mit lebhaften Farben schildern ; auch bot dieser Kampf noch einen
Vorteil für die Komposition. Jason war für seine Hilfe von Aeetes das
goldene Vliess versprochen worden, allein der hatte sein Versprechen nicht
gehalten; diese Treulosigkeit gab dem Jason gewissermassen das Recht,
zu den Zaubereien der Medea seine Zuflucht zu nehmen. Auch die Be-
seitigung der Kinder des Phrixus, denen ApoUonius eine nicht unbedeutende
vermittelnde Thätigkeit zugewiesen, dient dem angegebenen Zweck. Andere
Partien wurden hinzugefügt, weil sie für die Entfaltung der dichterischen
Kunst besonders geeignet waren, wie die Erzählung vom Tode der Eltern
Jasons im ersten Buch. Nicht selten wurde das Original gekürzt und
was ApoUonius reich ausgeführt hatte, entweder ganz weggelassen oder
nur mit einigen Strichen angedeutet; auch der umgekehrte Weg wurde
eingeschlagen und Sagen der Vorlage reicher ausgeführt wie z. B. die auf
Lemnos bezüglichen. Kurz überall sehen wir den Dichter, wie er mit
Freiheit über den Stoff schaltet, wie er stets bestrebt ist, nicht als blosser
Nachtreter zu erscheinen. Dass er ausser ApoUonius noch andere Quellen
eingesehen, ist nicht zweifelhaft, so hat er Manches mit Diodor ^) gemein-
sam; allein eine Benützung des Historikers ist wegen gewisser Diskre-
panzen ausgeschlossen, es gab Kompendien der Mythologie genug, ') welche
bequem den Stoff darboten, den man brauchte.
In der formellen Behandlung musste der Dichter seine Blicke auf
VergiP) richten; durch ihn hatte ja die epische Technik einen hohen Grad
der Ausbildung erhalten; in den Argonautica stossen wir daher fortwährend
auf die Spuren des Meisters. Aber auch die Rhetorschule ist in dem Ge-
dicht sehr bemerkbar, und der Dichter benutzt gern die Gelegenheit, seine
Helden als Redner zu zeigen. Als es sich darum handelte, ob man ohne
Hercules absegeln solle, fand ein förmlicher Redekampf statt, und Styrus
hält selbst dem Untergang nahe, noch eine Rede (8, 337). Auch in der
Zeichnung affektvoller Scenen, wie im Abschied des Jason, konnten rhe-
torische Züge verwertet werden.
Alles zusammengefasst, kann man dem Römer den Preis in der
Komposition zuerkennen; allein in der Darstellung gebührt der Vorzug
dem Griechen; der Stoff ist in der Nachahmung zu gestreckt, und der
hochtrabende Ton und das fortwährende schablonenhafte Heranziehen der
Götter verkümmert mehrfach den Genuss. Trotzdem hat das Gedicht viele
Schönheiten und sein Verfasser steht weit über Lucan und Silius Italiens.
Anklang scheint der Dichter bei seinem Volk wenig gefunden zu haben,
1) Vgl. Thilo, Ausg. p. VIII z. B. die
Befreiung der Hesione durch Hercules.
') Ich erinnere an das Kompendium, das
von Diodor, Apollodor, Hygin und anderen
benutzt wurde und dessen Entstehung zwi-
schen 100 und 50 y. Ch. fällt. (Bethe,
Quaest, mythogr. 94 und p. 96) ; Wilamowitz
{Eurip. Herakles 1, 166) nimmt mit Schwartz,
De Dionysio Scytobrachione p. 36 an, dass
„Valerius Flaccus die mythologische Gelehr-
samkeit benutzt, die noch heute in unserer
Handschrift des ApoUonius steht*.
') Vgl.beiBXHRENs(p. 174) ein Verzeich-
nis der nachgeahmten Stellen. Schbnkl, Wiener
Sitzungsber. 68, 271; Manitiüs, Philolog.
48, 248.
CariatiuB Maternns. 303
er wird nur citiert von Quintilian, Spuren der Lektüre weist der eine oder
der andere Epiker i) auf.
Ob er lieferung. Massgebend f&r die Texteskonstitnierung ist lediglich der Vati-
canus 3277.
Ausgaben von Thilo, Halle 1863 (Hauptausgabe); von Schenkl (Weidmann);
Bahbens (Teubner).
Erläuterungsschriften: Schekkl, Studien zu den Argonautica des V. F. (Sitzungs-
her. der Wien. Akad. 68 B. 271); Ew. Meier, Quaest. ArgonatUicae, Leipziger Diss. 1882
(sorgfältig); KEmrERKKECHT, Zur Argonautensage, Bamb. 1887; Peters, De C. V. F, vUa et
carmine, Königsb. 1890.
11. Curiatius Maternus und andere Tragödiendichter.
400. Die Tragödien des Maternus. Eine der schönsten Figuren
im Dialog des Tacitus ist Curiatius Maternus, den der Sachwalterberuf
nicht befriedigt und dessen Herz bei der Dichtkunst ist; Tacitus lässt
ihn daher bei der Debatte, ob der Dichtkunst oder der Beredsamkeit der
Vorzug einzuräumen ist, für die Dichtkunst Partei ergreifen. Schon unter
Nero hatte er eine Tragödie verfasst, in der er dem schamlosen Treiben
des Vatinius, des Günstlings des Kaisers, entgegentrat (Dial. 11); wir
kennen nicht den Titel des Stücks, wahrscheinlich war es dasjenige, in
dem Agamemnon auftrat (Dial. 9). Ausserdem hatte er eine Medea und
einen Thyestes verfasst. Allein wichtiger ist, dass er auch nationale
Stoffe, und zwar aus der unmittelbar vorhergehenden, tiefbewegten Zeit
dichterisch verarbeitete, also wieder an die alte Prätexta anknüpfte. Es
gab von ihm einen Cato und einen Domitius (Dial. 3). Über das Sujet
des ersten Stücks ist kein Zweifel möglich, es ist der jüngere Gate. Da-
gegen ist die zweite Figur nur hypothetisch näher zu bestimmen. Man
dachte an Cäsars Gegner L. Domitius Ahenobarbus; derselbe hatte bekannt-
lich bei Ausbruch des Bürgerkriegs Corfinium besetzt, allein seine Soldaten
meuterten und lieferten ihn an Cäsar £ftis; dieser begnadigte ihn und liess
ihn frei, allein Domitius benützte die Freiheit, um sich wieder auf die
Seite der Feinde Cäsars zu schlagen; er kämpfte bei Massilia und bei
Pharsalus, wo er auf der Flucht umkam. Neuerdings hat man vielmehr
auf seinen Sohn Cn. Domitius Ahenobarbus als eine viel geeignetere tragische
Hauptperson hingewiesen. Derselbe spielt in der Geschichte des zweiten
Triumvirats eine hervorragende Rolle. Er stand auf Seite des Brutus
und Cassius, nach der Schlacht bei Philippi blieb er zwei Jahre lang im
Besitz einer grossen Flotte, der Gewalthaber musste mit seiner Macht
rechnen. Er erlangte, als er sich an Antonius anschloss, eine einfluss-
reiche Stellung. Sein Römerstolz empörte sich aber gegen die Buhlerin
des Antonius, die Eleopatra, und er verhehlte nicht seine tiefe Abneigung
gegen dieselbe. Als Antonius immer mehr an Achtung verlor, tauchte
der Gedanke auf, Domitius statt seiner emporzuheben; allein dieser war
damals krank und daher eines Wagnisses nicht mehr fähig; nur zu
einem neuen Verrat konnte er sich aufraffen, kurz vor der Schlacht bei
Actium trat er zu Octavian über. Wenige Tage nach seinem Übertritt
ereilte ihn aber der Tod.') Dass sich dieser Mann, den auch Shakespeare
') Vgl. die erwähnte Abhandlung von K. *) Vgl. Dbümakn, Geschichte Roms 3, 24.
ScHENKL, ferner Manitius, Philolog. 48, 251.
304 ^misohe Litteratorgesohichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
in „Antonius und Cleopatra '^ zu einer schönen Gestalt umgeschaffen, besser
für eine Tragödie eignet als der wenig thatenreiche Vater, dürfte keinem
Zweifel unterworfen sein.
Die Persönlichkeit des Domitius. Die Beziehung des StQckes auf Gn. Do-
mitius AhenobarbuB hat R. Scholl bei Gelegenheit einer umsichtigen Interpretation von
Dial. 13 {Comentat, Woelfflinianae p. 893) wahrscheinlich gemacht. Unmöglich ist Bibts
Hypothese (Rh. Mus. 34, 351), dass Domitius und Gato nur das eine StQck Cato bezeichneten,
in denen die Belagerung Corfiniums und die Belagerung Uticas, die Ghuraktere des Do-
mitius und des Gato einander als Personifikationen zweier konträrer Prinzipien entgegen-
gestellt worden seien.
Andere Tragödiendichter. Wir reihen hier noch andere Tragödiendichter an,
von denen wir nicht mehr wissen als ihre Namen:
1. Scaeva^) Memor, der Bruder des Satirendichters Turnus (Martial. 11, 10). Zeug-
nisse Über ihn und Turnus bei Bücheleb an dem in der Fussnote citierten Ort, in dem capito-
linischen Agon hatte er einen Sieg erfochten. — Hebtz, De Seaevo Memore, Bresl. lo69.
2. Paccius schrieb nach dem Zeugnis Juvenals 7,12 eine Ale ithoe. Der Stoff ist
aus der Dionysossage, Alcithoe und ihre Schwestern hatten dem Dionysos die Ehren ver-
sagt und erhielten di^r ihre Strafe.
3. Faustus verfasste nach derselben Juvenalstelle eine Thebais und einen Tereus.
4. Rubrenus Lappa lieferte einen Atreus (Juv. 7, 72).
Von den meisten Tragödien dieser Zeit werden die Worte gelten können, die Martial
einem wohl fingierten Bassus entgegenschleudert (5, 53) :
Colchida quid scribis, quid scribis, amice Thyesten?
quo tibi vel Nioben, Basse, vel Andromachen?
materia est, mihi crede, tuis aptissima chartis
Deucalion vel si non placet hie, Phaethon.
12. Ti. Catius Silius Italiens.
401 . Sein Leben. Ein Brief des jüngeren Plinius (3, 7) ist unsere
Hauptquelle über das Leben des Silius Italiens. Es ist der Brief, in dem
er einem Freunde den Tod des Silius Italiens mitteilt. Der hatte, nach-
dem er bereits im 76sten Lebensjahr stand, durch den Hungertod sein
Dasein geendet (101 n. Gh.); ein unheilbares Gewächs hatte ihn zu diesem
Entschluss geführt. Die Standhaftigkeit, mit der er denselben durchführte,
lässt sofort den Stoiker erkennen; und wirklich erfahren wir aus einer
andern Quelle, dass er mit dem stoischen Philosophen Epiktet Umgang
hatte. 2) Der merkwürdige Todesfall wird für Plinius Anlass, auf des
Dichters abgeschlossenes Leben einen Blick zu werfen und einige senti-
mentale Betrachtungen anzureihen. Silius bekleidete das Konsulat im
letzten Regierungsjahr Neros (68 n. Gh.); er stand damals in keinem guten
Ruf; man hielt ihn für einen gehässigen Ankläger. Auch in den nach-
folgenden Thronstreitigkeiten spielte er eine aktive gepriesene Rolle; er
nahm, wie uns des Näheren Tacitus angibt (Hist. 3, 65), an einer Konferenz,
welche der Bruder Vespasians Flavius Sabinus mit Yitellius hatte, als
Beistand des Yitellius Teil. Dann verwaltete er rühmlich als Prokonsul
Asien. Hierauf zog er sich von dem öffentlichen Leben zurück und brachte
seine Zeit grösstenteils in seinem Studierzimmer zu, wo er sich mit
Schriftstellerei beschäftigte oder mit Freunden gelehrte Gespräche führte.
Nur hie und da trat er zu einer Recitation in die Öffentlichkeit. Als die
zunehmenden Jahre das Bedürfnis der Ruhe noch steigerten, verliess er
^) So BücHELBR^ Ausgabe des Persius
und Juvenal p. 227.
') Epictet. diss. 3, 8, 7. (Bücbbleb, Rh.
Mus. 35, 390).
Süins ItaUona. 305
die Stadt und zog sich nach Gampanien zurück. Er lebte in den behag-
lichsten Verhältnissen und war sehr für den äusseren Schmuck des Da-
seins eingenommen. Ja es war hier sogar ein krankhafter Zug an ihm
wahrzunehmen, der ihn drängte, immer neue Erwerbungen zu machen. So
kaufte er Villen um Villen, über den neuen vernachlässigte er die alten.
Auch viel Bücher, Statuen, Gemälde hatte er zusammengebracht. Besonders
teuer waren ihm die Bildnisse Vergils, dessen Geburtstag er mit grösserer
Feierlichkeit als den seinigen beging. Von den zwei Söhnen, welche er
hatte, starb der eine, Severus, vor seinem Vater, der andere brachte es
zum Konsulat.
Das ist im wesentlichen der Bericht des Plinius von dem Leben
des Dichters; ausser Plinius hat der arme Dichter Martialis ein aufmerk-
sames Auge auf den vornehmen Römer und feiert ihn adulatorisch
als rednerische und dichterische Zierde (7, 63). Durch ihn erfahren wir
noch einige Lebensumstände, wie dass unter den Villen des Dichters
sich eine der ciceronischen befand, ferner dass er das Grab Vergils be-
sass (11, 48), endlich dass er mit seinem Epos nach seinem Konsulat be-
gann (7,63).
Den vollständigen Namen Ti. Gatius Silios Italiens erfahren wir aus den fasti der
sodales Augustales (CIL. VI 1984, 9). Daraas, dass Martialis Silius niemals seinen Lands-
mann nennt, ist mit Sicherheit zu folgern, dass der Beiname „Italiens* nicht von „Italica"
in Spanien hergenommen ist. — Seine Verehrung Vergils findet ihre Erklärung in dem
Gedicht des Silius, das ganz auf Nachahmung jenes grossen Meisters heruht. Dem schwärme-
rischen Bewunderer Vergils widmete Comutus seinen Vergilkommentar (Gharis. p. 125).
' 402. Kurze Inhaltsangabe der Pnnica. Die Erzählung hebt mit
den Ereignissen in Spanien an, mit dem Auftreten Hannibals vor Sagunt
und endet im ersten Buch mit der Anrufung der römischen Hilfe durch
die Saguntiner. Die Einmischung Roms führt zum Krieg gegen Karthago.
Nach heldenmütiger Verteidigung fällt Sagunt (zweites Buch). Im
dritten Buch bricht Hannibal auf, überschreitet die Pyrenäen und die
Alpen und lagert mit seinem Heere in Italien. Das vierte Buch
schildert die Kämpfe gegen die Konsuln Scipio und Tib. Sempronius
Longus. Hannibal zieht über die Apenninen und verliert bei diesem Zug
ein Auge. Die Schlacht am trasimenischen See ist Gegenstand des
fünften Buchs. Der sechste Gesang enthält eine grosse Episode, die
Erzählung von den Thaten des Regulus im ersten punischen Krieg, und
berichtet dann die Wahl des Q. Fabius Maximus zum Feldherrn und den
Zug Hannibals nach Gampanien. Im siebenten Buch werden wir mit
der zaudernden und vorsichtigen Strategie des römischen Diktators und
mit dem fast verhängnisvoll ausschlagenden Versuch des Minucius, diese
Strategie zu durchkreuzen, bekannt gemacht. Das achte Buch bringt
die Vorbereitungen zur Schlacht bei Gannae, das neunte und zehnte be-
schreiben die Schlacht selbst. Im elften Buch sehen wir Hannibal in
Gapua. Mit dem zwölften Buch beginnt Hannibals Stern niederzugehen;
Marcellus schlägt ihn bei Nola. Doch weiss Hannibal nochmals das Glück
an seine Fahnen zu heften, ja, er erscheint sogar vor Rom. Das drei-
zehnte Buch führt Belagerung und Fall Gapuas vor, streift dann kurz
den Tod der beiden Scipionen Publius und Gneius in Spanien und er-
Eandbncb der Uum, AltertnmawUMeDMbftft. Vm. 2. Teil. 20
306 Bömische Lüteraturgeschichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
zählt dann die Totenschau, die Scipio, dem späteren Africanus, in Cumae zu
Teil wurde. Im vierzehnten Buch ist der Schauplatz des Gedichts
Sicilien, Marcellus erobert Syrakus, das sich durch die genialen Apparate
des Archimedes lange gehalten. In Spanien — fährt das fünfzehnte
Buch fort — beschreitet P. Scipio seine Ruhmeslaufbahn und erobert Neu-
karthago. Hasdrubal wendet sich nach Italien, um sich mit seinem Bruder
zu vereinigen. Allein der Konsul Claudius Nero marschiert, ohne dass
es Hannibal merkt, zu seinem Kollegen Livius Salinator, beide schlagen
Hasdrubal am Metaurus. Das sechzehnte Buch ist fast ganz Scipios
Thaten im spanischen Krieg gewidmet; eine Episode sind die zu Ehren
der gefallenen Scipionen veranstalteten Leichenspiele. Das siebzehnte
Buch führt die Entscheidung, die Schlacht bei Zama, herbei.
AbfasBungszeit des Gedichts. Aas Martial 7,63 müssen wir scbliessen, dass
damals, als dieses Epigramm geschrieben wurde, Teile der Punica bereits vorlagen, denn
der Dichter spricht von legis. Das Buch 7 der Epigramme des Martial fällt aber Ende
92. Weiter ist zu beachten, dass Punica 3, 607, welche Stelle sich auf Domitian bezieht,
nicht vor 92 geschrieben sein kann. Allein das Buch 14 weist am Schluss auf die Ke-
gierungszeit Nervas. Da aber nicht anzunehmen ist, dass die folgenden Bücher in zwei
Jahren abgefasst wurden, so wird der Schluss des ganzen Werkes in die Zeit Trajans
fallen (Schikkel p. 2; Buchwald, Quaest, SiL^ Breslau Dissert 1886, der auch die Be-
ziehungen des Statins zu Silius untersucht; Gartault, Bevue de philoL p. 11, 14).
403. Beurteilung des Oedichts. Lucanus griff in die jüngstver-
gangene Zeit, als er sich den Stoff für sein Epos suchte; 0 glücklicher ver-
fuhr Silius, indem er in die altersgraue Vergangenheit hinaufstieg und
eine Glanzepoche der römischen Geschichte, den zweiten punischen Krieg
zum Thema seines Gedichts erkor. Dieser bedeutsame Ringkampf zweier
Völker um die Weltherrschaft gehörte sicherlich zum römischen Sagen-
schatz; ein dichterisches Talent konnte wirklich hier Gold aus dem Schacht
emporheben. Allein dies war nur möglich, wenn in einer von dichterischer
Phantasie umwobenen Episode, wie z. B. in der Geschichte der Sophonisbe
ein Spiegel der ganzen Zeit mit ihren auf- und abwogenden Kämpfen vor-
gehalten wurde. Allein für eine solche Aufgabe war Silius nicht geeignet;
die schöpferische Dichterkraft war ihm völlig versagt; es blieb ihm daher
nichts anders übrig als dem Laufe der Geschichte geradlinig zu folgen«
Ausgedehnte Quellenstudien waren bei einem solchen Stoffe nicht erforder-
lich, Livius hatte eine meisterhafte Darstellung dieser Epoche gegeben,
die wohl Gemeingut geworden war. Diesen konnte er sich zum Führer
nehmen; da er aber Dichter, nicht Historiker sein wollte, so durfte er
sich auch die eine oder die andere Änderung an der Überlieferung er-
lauben. Aber die Hauptaufgabe des Dichters blieb, dem Ganzen ein poeti-
sches Kolorit zu geben, dazu diente die durch Vergil traditionell gewordene
epische Maschinerie. Die Götterwelt') musste in den Krieg hereingezogen
werden. Juno steht auf Seite Hannibals, Venus auf Seite der Römer.
Diese Göttinnen greifen in die Handlungen ein, besonders thätig ist Juno;
sie entflammt Hannibals Hass gegen Rom und ruft dadurch den zweiten
punischen Ejieg hervor (1, 55), sie bleibt von der Stunde der Entscheidung
*) Ober die Motive zur Wahl dieses
Themas vgl. die Vermutungen ScmivKEi's
{Quaettt. Sil., Leipz. 1883 p. 9).
') ScHiNKEL p. 23 (de deorum ministeriis
Punicorum carmini insertis).
Bilins Italiens. 307
an sein treuer Schutzgeist, sie feuert ihn zu neuen Thaten an, indem sie
die Gestalt des Seegottes Trasimenus annimmt (4, 727), sie sendet die
Nymphe Anna Perenna, seinen Mut aufzurichten (8, 28), sie warnt ihn
durch Somnus nach der Schlacht bei Cannae vor dem verwegenen Plan,
nach Rom aufzubrechen (10, 349), späterhin, als er vor der Hauptstadt
stand, bestimmt sie ihn auf Juppiters Ersuchen, vom Sturm abzulassen
und abzuziehen (12,691); bei Zama in der Entscheidungsschlacht entzieht
sie ihren Schützling dem Scipio, indem sie ihm Gaukelbilder gegenüber-
stellt (17, 523); bei Cannae entführt sie den Karthager in einer Wolke (9,
484); auch im zehnten Buch nimmt sie eine Entführung in der Schlacht vor
(10, 83). Nicht so sehr tritt Venus hervor, allein auch sie ist nicht unthätig.
Als Hannibal die Alpen überschritt, fleht sie Juppiter um Erbarmen für
die Römer an (3, 557); sie erwirkt von Vulkan, dass er die aus ihren
Ufern heraustretende Trebia vertrocknet (4, 669), sie wirkt mächtig auf
die Entscheidung des Krieges insofern ein, als sie Hannibal durch die
Lockungen der Freude in Capua festhält und auf diese Weise einen ver-
weichlichenden Zug ins karthagische Heer bringt (11, 387). Auch der
Göttervater begleitet fortwährend das kriegerische Drama mit seinen Rat-
schlüssen und macht sich zum Vollstrecker des ewigen Schicksals. An
der denkwürdigen Schlacht bei Cannae beteiligen sich auch die Götter in
gegenseitigem Kampf, Mars hilft Scipio, Minerva dem Punier (9, 439).
Allein diese Götterwelt lässt uns kalt, blutlose Schemen werden uns vor-
geführt. Auch die übrige epische Maschinerie vermag uns nicht in das
lichte Reich der Poesie zu tragen, sie ist überdies eine Anleihe, die zu-
nächst bei dem Meister Vergil, >.) hie und da direkt auch bei dem Vater der
Poesie, Homer selbst, gemacht wurde. Wie Vergil hat er seine Leichen-
spiele (16, 289), seine XJnterweltscene (13, 395), seine Schildbeschreibung
(2, 395), seine Völkerkataloge (3, 222 u. 8, 358), seine Heldenjungfrau (2, 56) ;
wie Vergil durch die Erzählung des Aeneas bei der Dido eine Episode
gewinnt, so Silius durch die Schilderung der Thaten des Regulus (6 B.);
wie Vergil, so sucht auch der Nachahmer die VergsTngenheit und die
Gegenwart miteinander zu verbinden. Juppiter enthüllt der Venus die
Zukunft Roms (3, 570) ; dadurch findet der Dichter die erwünschte Ge-
legenheit, auch dem herrschenden Geschlecht seine servile Huldigung vor
die Füsse zu legen.
Also weder in Stoff noch in der Komposition leuchtet uns der dich-
terische Funken entgegen; Silius ist kein produktiver Geist; er ist ledig-
lich ein fleissiger Arbeiter. Die Rhetorschule hatte ihn die Kunst der
Beschreibung und die Kunst der Rede gelehrt; für beide Gattungen bot
ihm sein Stoff reichen Anlass, die Schlachtbeschreibungen nehmen einen
breiten Raum im Gedicht ein, aber auch Reden werden hie und da einge-
streut. Freilich die Gebrechen der Zeit, die Übertreibung, das Hervor-
suchen des Wunderbaren und das Verlieren in Einzelheiten, das Pathos
findet man auch bei Silius. Der Dichter hatte ferner in der Philosophie
sich umgesehen und zu der Stoa feste Stellung genommen;^) er konnte
0 Qbobsst, Qi4aienu8 S. J. a Vergilio ^) BOcheleb, Rh. Mus. 35, 390.
pendere Hdentur, Halle 1887. 1
20*
308 Römische LitteratargOBchichte. tl. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
daher auch die Früchte seiner Gelehrsamkeit seinem Werke zu gute
kommen lassen ; und er hat dies gethan ; er lässt seinen Scipio am Scheide-
weg wie einst Hercules stehen; die Voluptas und die Yirtus streiten sich um
den Helden, der natürlich sich der Virtus in die Arme wirft (15, 20). Manch-
mal wirkt das Hereinziehen dieser gelehrten Reminiszenzen störend. Als
Hannibal die Sehenswürdigkeiten des Herculestempels in Gades betrachtet
hatte, wendet er seine Aufmerksamkeit der Naturerscheinung der Ebbe
und Flut zu (3, 46). Als die Kriegsoperationen nach dem Abmarsch Han-
nibals aus Capua sich in die Länge zogen, findet er Zeit, sich über ver-
schiedene Merkwürdigkeiten der Gegend über den Lucrinersee, über den
See Avernus, über den Vesuv zu unterrichten (12, 110). Endlich konnte
der Dichter noch seinem Patriotismus, seiner Bewunderung der alten Zeiten,
die ihm einmal den spitzen Ausruf entlockte (10, 658)
haec tum Borna fuit; post te cui vertere mores
9% atabat fatis, potius, Karthago, maneres,
den richtigen Ausdruck leihen. Aber eines konnte er nicht, weil er es
nicht hatte, er konnte nicht dem Leser den Zauber süsser Poesie ge-
währen.
Über seine Quellen und sein Verhältnis zu den Originalen handeln Cosack,
Quaest, Sil,, Halle 1844; Wezel, De Sil. Jt, cum fontibus tum exemplis, Leipz. 1873. Dass
Livius benutzt werden muaste, ist von vornherein klar. Der Versuch Hbthachebs (Die
Quellen des S. I., Hfeld 1874 und im Ilfeider Programm des J. 1878), nicht Livius, sondern
einen alten Annalisten wie Fabius Pictor als Quelle festzustellen, haben mit Recht zurück-
gewiesen Schlichteisen, De fide hist. Silii, Konigsb. 1881; Kerer, Über die Abh&ngigkeit
des S. I. von Livius, Bozen 1880/1; van Veen, Quaest. Sil,, Leyd. 1884; Bauer, Acta semin..
Erlang. 3, 103. Der eine oder der andere Autor mag von S. noch eingesehen worden sein,
die grösste Zahl der Abweichungen hat in der poetischen Freiheit ihre Wurzel.
Zur Beurteilung des Dichters ist sehr dienlich eine Reihe von Aufsätzen des
Italieners Occioni, die jetzt bequem vereinigt sind in dessen Scritti di letteratura latina
1891 p. 29—175 (siehe besonders Pregi et defetti p. 86, Varte in S. L p. 141). Derselbe
Gelehrte hat auch eine, soweit ich beurteilen kann, geschmackvolle Übertragung der Punica
ins Italienische geliefert.
Überlieferung. Silius Italiens wurde nicht viel gelesen. Im Mittelalter kam er
ganz in Vergessenheit. Das Konzil von Konstanz wurde wie für andere Schriftsteller, so
auch für Silius heilbringend. Im Jahre 1416 oder 1417 fand Poggio oder sein Begleiter
Barthol. di Montepulciano in St. Gallen eine Handschrift des Dichters. Von diesem Kodex
wurde eine Abschrift mit nach Italien genommen, die, wie das Original, verloren ging; aus ihr
stammen alle unsere vorhandenen Handschriften und die älteren Ausgaben. Da trat gegen
Ende des 16. Jahrhunderts eine neue alte Handschrift des S. in Köln zu Tage. Leider
ging auch diese Handschrift verloren ; doch haben sich die wichtigsten Lesarten durch An-
gaben des L. Carrion und F. Modius und anderer erhalten. Die Recensio des Silius hat
daher zunächst zwei Aufgaben zu lösen 1) Rekonstruktion des Coloniensis aus den mitge-
teilten Lesarten; 2) Rekonstruktion des Sangallensis aus den von ihm stammenden Apo-
grapha (Laur. 37, 16 u. a.). Zur Feststellung des Archetypus ist dann die Wertschätzimg
der beiden Quellen vorzunehmen, der Coloniensis scheint treuer zu sein als der Sangal-
lensis. Die Geschichte der Überlieferung hat mit rühmenswertem Eifer verfolgt Blass,
Die Textesquellen des S. L, Fleckeis. Jahrb. Supplem. 8, 159.
Ausgaben. Von den älteren kommen noch in Betracht die von Drakekborch
Utrecht 1717 und die von Ruperti Gott. 1795. 1798 2 Bde. Eine kritische Textesausgabe
auf Grund des von Blass gesammelten Materials hat Bauer veranstaltet I vol. (I—X)
Leipz. 1890.
401. Die lateinische Ilias. Seit Livius Andronicus die Odyssee in
lateinische Saturnier übertragen und diese Übertragung zum Schulbuch
gemacht hatte (§ 23), musste sich auch das Bedürfnis nach einer lateinischen
Bearbeitung der Dias regen. Zumal durch die damals offiziell gewordene
Äencassage werden sich mehr und mehr die Blicke auf jenes Epos gelenkt
Die lateinische Ilias.
309
haben. Die zu lösende Aufgabe war keine leichte; es ist daher kein
Wunder, dass sie von verschiedenen Seiten in Angriff genommen wurde.
Zwei solcher Versuche sind uns bereits bekannt geworden, der des Matius
und der des Ninnius Crassus (§ 90). Allein dieselben scheinen keinen be-
sonderen Erfolg gehabt zu haben. Auch in der Kaiserzeit wurde das
Problem zu lösen versucht; Attius Labeo übersetzt nicht bloss die
Ilias, sondern auch die Odyssee, aber Wort für Wort, ohne sich um den
Sinn viel zu kümmern. Er musste daher den Spott des Perßius in der
ersten Satire über sich ergehen lassen. Anderer Art scheint die Arbeit
des Polybius, des Freigelassenen des Claudius, gewesen zu sein. Seneca
preist ihn nämlich, dass er Vergil und Homer einem grösseren Publikum
erschlossen habe. Diese Gleichstellung Vergils und Homers in der Leistung
lässt eher auf eine prosaische Bearbeitung schliessen. Alle die^e Versuche
hat die Zeit hinweggerafft. Dagegen hat eine lateinische Ilias sich sieg-
reich hindurch gerettet. Dieselbe besteht aus 1070 Hexametern; davon
fallen 251 Verse auf die zwei ersten Bücher der Ilias, über die Hälfte
der Verse (537) kommt auf die fünf ersten Bücher. Dem 17. Gesang des
Originals sind drei, dem 13. sieben Verse gewidmet, dem 22. dagegen
sechzig. Schon aus diesen wenigen Angaben erhellt, dass die Bearbeitung
den Stoff des Originals in sehr ungleicher Weise heranzieht. Anfangs schliesst
der Autor sich enger an dasselbe an, im Laufe der Dichtung aber nimmt
er starke Kürzungen vor. Dadurch entstehen manche Unklarheiten (z. B.
789. 790). Aber auch Abweichungen von seiner Vorlage gestattet sich
derselbe mehrfach. 0 Endlich nimmt er, besonders in Reden und Schlacht-
beschreibungen *) auch die Gelegenheit zu Erweiterungen wahr. Wir
haben sonach eine freie Bearbeitung der Ilias vor uns, keine Über-
Setzung. Dass dieselbe die Schönheiten des Originals fast gar nicht
zur Erscheinung bringen kann und nicht selten ein dürres Gerippe werden
muss, ist klar. Aber das Ganze ist doch ein lesbares, nicht gerade ge-
ring zu schätzendes Produkt; der Versbau regelt sich nach strenger Ge-
setzmässigkeit, der Wortschatz verrät die eifrige Lektüre Vergils und
Ovids.
Attius Labeo. Schol. zu Fers. 1,4 Labeo transtulU Iliada et Odysseam, rerhum
ex verhOy ridicide satis, quod verba patius quam settsum secuttis sit. Vgl. schol. zu Ys. 49
(Accio Labeoni) und Ys. 51 ; vgl. Büchelbr, der mit Recht annimmt [Rh. Mus. 39, 289], dass
der von Persius einmal Labeo, dann Attius Genannte dieselbe Person ist.
Polybius. Seneca Conaol. ad Polyb, 8, 2 Homerus et Vergilius tarn bene de humano
genere meriti, quam tu et de omnibus et de Ulis meruisti, quos pluribus notos esse voluisti
quam scripaerant. 11,5 utriua Übet auctoris carmina, quae tu ita resolviati, ut quamvia
atructura illorum receaaerit, permaneat tarnen gratia etc.
Die Yergleichung der Ilias Latina mit Homer ist durchgeführt von Döring,
Über den Homerua latinua, Strassb. 1884.
405. Zeit und Autor der Ilias. Das Gedicht wurde wahrscheinlich
schon im Altertum als Schulbuch benutzt; 3) auch im späteren Mittelalter
wurde es in den Schulen viel gelesen und zwar unter dem Namen „Ho-
merus". Da wird zuerst, soweit wir sehen können, im Jahre 1087 plötz-
M Döring, Über den Hom. lat. p. 13.
Vergl. die Zusammenstellung von Plbssis
p. XXXI.
») Döring 1. c. p. 19 (Vs, 474).
») Bährbns, PLM. 3, 3.
310 Römische Litteratnrgeschiolite. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnsg.
lieh die Wahl zwischen Homer und Pindar als Autor des Gedichts ge-
lassen.^) Nun schleicht sich der Name Pindarus auch in jüngere Hand-
schriften ein.') Von den Handschriften kam der Pindarus (oder Pindarus
Thebanus) in die Ausgaben. Noch niemand hat zu erklären vermocht,
wie Pindar zu der Autorschaft dieser lateinischen Ilias kommen konnte;
über die Unsinnigkeit derselben ist kein Zweifel. Als man in neuerer
Zeit das Werkchen wieder in die Hand nahm, wurde auch die Frage der
Abfassungszeit erwogen. Mit Recht hat man als Grundlage für diese
Frage die Stelle 899 fg. erkannt:»)
Quem {Aeneam) nisi servasset magnarum rectar ctquarum,
ut profugus laetis Troiam repararet in arvis
augustumque genua clarift aubmitteret astris,
non carae gentis nobis mansisset origo.
Diese Verse konnten nicht nach dem Tode Neros geschrieben sein. Auch
Sprache und Versbau wies auf die erste Kaiserzeit hin. Der Untersuchung
kam ein glücklicher Zufall zu Hilfe. SeyflFert^) entdeckte, dass das Ge-
dicht mit einem Akrostichon begann, das trotz einer Verderbnis den Namen
Italiens an die Hand gab. Man zweifelte eine Zeitlang, ob unter diesem
Namen der A^erfasser oder eine angeredete Person sich verberge.*) Diesem
Schwanken machte die Entdeckung Büchelers^) ein Ende, der am Schluss
des Gedichts das Akrostichon „scripsU" aus der ebenfalls verdorbenen Über-
lieferung eruierte. Wer ist dieser Italiens? Kennen wir einen Schrift-
steller, der um jene Zeit diese lateinische Ilias schreibei;! konnte? Ja, Silius
Italiens, der im letzten Regierungsjahr Neros Konsul war. Man hat
zwar aus Martial (7, 63) sehliessen wollen,'') dass Silius Italicus erst nach
seinem Konsulat sich der Dichtkunst widmete, allein wie aus dem Eingang
des Epigramms erhellt, bezieht sich dies nur auf die Punica. Man hat
weiter die Differenzen des Versbaus zwischen der Ilias latina und der
Punica eingewendet; allein es ist nicht unnatürlich, dass Silius in der
Ilias, einem Jugendwerk, sich strenger an die Vorschriften der Schule hielt
als in dem Werk seiner reifen Mannesjahre. Unter allen Umständen wäre
es doch sehr auffällig, dass so ziemlich zu derselben Zeit ein zweiter
Dichter mit dem Namen Italicus lebte, von dem sonst niemand etwas
weiss.
«
Die beiden Akrosticha. Nach der handschriftlichen Überlieferung ergibt das
Anfangsakrostichon Italices, das Schiassakrostichon Scqipsit. Obwohl sonach in den
beiden Akrostichen Remedur eintreten muss, so kann doch gar kein Zweifel an der Rich-
tigkeit der Entdeckung aufkommen, denn die Verse, aus denen die Akrostichen gebildet
wurden, sind zu festen Gruppen zusammengeschlossen. £in Zufall ist hier absolut ausge-
schlossen.
Die Punica und die Ilias latina. Die Zweifel, ob der Italiens unser Silius
Italicus ist, scheinen nicht begründet zu sein ; der Vergleich mit den Punica muss natOrlich
viele Differenzen ergeben, da sie in eine ganz andere Entwickelungsperiode des Dichters
0 Monum. Germ. 13, 599.
*) Plessis Ausg. p. XLVIII.
") Man vgl. noch v. 236 u. 483. Lach-
mann verdanken wir die Erkenntnis dieser
Grundlage ; nur schliesst er irrig auf die Zeit
vor Tiberius (KI. Sehr. p. 161); vgl. dagegen
L. Müller, Philol. 15, 479.
*) Müwk-Sbyffbbt, Gesch. d. röm, Lit.
2, 242 (1877). Dieses Anfangsakrostichon hatte
früher auch Prof. Caesar in Marburg er-
kannt (Altenburg p. 2).
^) Hebtz, Zeitschr. f. d. Gvmnasialw.
31, 572; FriedlILkdeb, Sittengesch. 1, p. XX.
«) Rh. Mus. 35, 391 (1880).
') Bähbens 1. c. p. 3.
Pi^iniiia Staüns.
311
fallen. — Mit dieser Frage beschäftigt sich Döring, Über den Homerus laiinus, Strassb.
1884, noch ausführlicher De Silii Italici epitomes de metrica et genere dicendi, Strassb.
1886 (für Identität, aber methodisch oft anfechtbar); gegen ihn Vebres, De S, L Punicia
et Italici Iliade lat., Münster 1888; Eskuche, Rh. Mus. 45, 254; Altbnbubo,') Obs. in Italici
Iliad. lat. et Silii Italici Punic., Marb. 1890.
Die handschriftliche Überlieferung erörtert Bährevs vor der Ausgabe PLM.
3, 5, der 8 Handschriften herangezogen vgl. Plessis XLI. Die hervorragendsten sind ein
Erfurtenais Ampl&n. nr. 20 s. XII und ein Leidenaia Voss. L.O. 89 s. XII. — Ausgaben: von
L. Müller, Berl. 1857; von Plessis, Paris 1885.
13. P. Papinius Statius und andere Epiker.
406. Biographisches. Statius' Heimat ist Neapel, wo sein Vater,
der aus Yelia (S. 5, 3, 126) stammte, als Lehrer und Dichter thätig war.
Seine Schule, in der die griechischen Dichter in erstaunlicher Anzahl be-
handelt wurden (S. 5, 3, 148), war stark besucht, selbst Knaben aus luca-
nischen und apulischen Städten eilten herbei. Als Dichter hatte er in
vielen Wettkämpfen, selbst in Griechenland, den Siegespreis davongetragen
(S. 5, 3, 141). Der Brand des Kapitels im Bürgerkrieg des Jahres 69 war
von ihm dichterisch gestaltet worden, auch hatte er noch ein Gedicht über
den bekannten Ausbruch des Vesuv (79 n. Ch.) geplant, allein der Tod
liess ihn nicht zur Ausführung desselben kommen (S. 5, 3, 205). Unter
den Augen des Vaters betrieb auch der Sohn die Dichtkunst, für sein
Hauptwerk, die Thebais, wurde ihm von dessen Seite fördernde Anregung
zu Teil (S. 5, 3, 233). Der Vater hatte die Freude, noch den Sieg des
Sohnes bei dem Wettkampf an den Augustalien') in Neapel zu erleben
(S. 5, 3, 225). Nach dessen Tod errang dieser noch einen Sieg bei dem von Do-
mitian eingerichteten albanischen 3) Wettkampf und zwar durch Gedichte auf
die germanischen und dacischon Feldzüge Domitians (S. 3, 5, 28; 4, 5, 22; 4,2,
G5).^) Dagegen glückte es dem Dichter nicht, bei dem kapitolinischen Agon ^)
den Siegespreis zu gewinnen. Diese Niederlage schmerzte ihn tief, und
wir werden die Vermutung wagen dürfen, dass ihm infolgedessen der
Aufenthalt in Rom verleidet war. Da wir den Dichter im Jahre 95 in
Neapel finden, so wird er bei dem Wettkampf von 94 unterlegen sein.
Vermählt war Statius mit einer Witwe, einer Römerin Claudia, die eine
Tochter mit in die Ehe brachte; Statius selbst war kinderlos (S. 5,5,79).
Seine äusserlichen Verhältnisse scheinen nicht dürftig gewesen zu sein;
wenigstens besass er ein Gut bei Alba (S. 3, 1, 61).
Statius war epischer Dichter. Sein Hauptwerk war die Thebais, der
Kampf der Brüder Eteokles und Polynikes. Ausser diesem schrieb er
noch eine Achilleis, die aber nicht zur Vollendung kam, dann Gelegen-
heitsgedichte, die er unter dem Namen „sUvae^ zu einzelnen Büchern ver-
') Altbnbubo geht vom Wortschatz aus,
allein was er beihringt, entbehrt oft der
flberzeugenden Kraft. Was soll es für einen
Unterschied ausmachen, wenn die Ilias in-
spicere gebraucht, Silius aber inspectare (vgl.
p. 20), oder wenn die Epitome interimere,
exarnare, exquirere, Silius dagegen perimere,
adornare (p. 22 u. p. 24), inquirere (p. 27)
setzt?
^) Fbieblandeb, Sittengesch. 3", 425.
*) Fbiedlaitdbb, Sittengesch. S'^, 428.
^) Dass nicht an drei Siege zu denken
und statt ter 8,5,28 mit Politian ^tu'' zu
lesen, ist mit unumstösslichen Beweisen von
Kerckhoff p. 28 dargethan worden.
^) FriedlIndeb, Sittengesch. 3^, 42G, der
erste Sieger in diesem Agon war Collinus
(Martial. 4, 54).
312 Bömisclie Litteratnrgesollichte, II, Die Zeit der Monarchie. 1. Abteüimg.
einigte; den ersten vier gehen prosaische Widmungen voraus, in denen er
die in dem betreffenden Buch vereinigten Stücke aufzählt. Andere Werke
gingen verloren.
Die verlorenen Gedichte des Statins sind:
1) Der Pantomimus Agave, den er für den Tänzer Paris schrieb und fOr welchen
er ein gutes Honorar erhielt. Da Paris 84 von Domitian hingerichtet wurde, so wird das
Produkt in die erste Regierungszeit Domitians fallen (Juv. 7, 87).
2) Das Epos über den germanischen Krieg Domitians. In den Scfaolien des
G. Valla zu Juv. 4, 94 werden vier Hexameter als aus dem Papinii Statu carmen de hello
Domitiano quod Domitianus egit entnommen angeführt. In jenen Versen handelt es sich
aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Beratung, zu der Grispus, Yeiento und Acilius bei-
gezogen waren. Seine Absicht, die Thaten Domitians zu besingen, deutet der Dichter mehr-
fach an; so Thebais 1, 17; bestimmter stellt er das Epos in Aussicht Ach. 1, 18 te longo
nee dum fidente parata molimur, magnusque tibi praeludit Achilles; ebenso Silv. 4, 4, 93
nunc — mihi temptatur Achilles, sed vocat arcUenens alio pater armaque monstrat Ausonii
maiora ducis . trahit impetus illo iam pridem retrahitque timor (Bücheleb, Rhein. Mus.
39, 283). Die Abfassung des Gedichts muss in die letzte ^it der Regierung Domitians fallen.
Litteratur: Nohl, Quaest, Stat., Berlin 1871 (tüchtige Dissertation); Kerckhoff,
Dtiae quaest, Papinianae, Berlin 1884; (I de vita operumquae Stat,temp. II de St€Uii fa-
cultate extemporali); Fbiedläitder, Sittengesch. 3« 472 u. 479; LEHAjeorEUR, De Statu vita
et operihuSf La Rochelle 1878 (unkritische Kompilation).
407. Skizze der Thebais. Nach der mit einer Schmeichelei gegen
Domitian verbundenen Einleitung, nach der Darlegung des Bruderzwistes
und des Ratschlusses des Juppiter werden wir an den Hof des Adrastus
geführt. Dort in der Vorhalle der Königsburg hatten der in der Ver-
bannung lebende Polynikes und Tydeus, der Sohn des Oeneus von Kalydon,
der wegen einer Mordthat flüchtig gegangen war, in einer stürmischen
Nacht Zuflucht gesucht und waren wegen des Lagers in Streit geraten.
Auf ihr Geschrei eilte Adrastus herbei und versöhnte die Streitenden, so
dass beide die treuesten Freunde wurden; zugleich erkannte er in den
beiden Fremdlingen die ihm vom Orakel bestimmten Schwiegersöhne. Beim
Mahle erzählt er die Sage von der Liebe Apollos zu der Tochter des
Königs Crotopus.') Dies der Inhalt des ersten Buchs. Das zweite be-
ginnt mit dem Gang Mercurs in die Unterwelt; er hat den Auftrag, den
Laius heraufzuholen und nach Theben zu bringen, damit er den Eteokles
gegen seinen Bruder aufstachele. In Argos wird der eheliche Bund der
Töchter des Adrastus mit Tydeus und Polynikes geschlossen, zugleich ver-
spricht der König seinen Schwiegersöhnen, sie in die Heimat auf den
Thron zurückzuführen. Zunächst wird Tydeus nach Theben geschickt, um
den Eteokles zu bestimmen, dem Abkommen gemäss die Herrschaft seinem
Bruder für ein Jahr abzutreten und während dieser Zeit selbst in der
Verbannung zu leben. Allein Eteokles weigert sich dessen und begeht
sogar den Frevel, dem nach Argos zurückkehrenden Tydeus einen Hinter-
halt zu legen, welcher böswillige Anschlag aber durch die Tapferkeit des
Helden vereitelt wurde. In dem folgenden, dritten Gesang erfahren wir
die Grösse des Blutbads, das Tydeus angerichtet, und den tiefen Eindruck,
den die Vereitelung der Nachstellung in Theben gemacht. Nach dieser
Schandthat ist der Krieg nicht mehr zu vermeiden. Durch die Erzählung
des heimgekehrten Tydeus wurden die Gemüter furchtbar erbittert. Be-
*) Pbbllbb, Griech. Myih. 1, 379.
Papisiiia BtaüiiB« 313
sonders Kapaneus, der Götterverächter, drängt zum Aufbruch und obwohl der
Seher Amphiaraus grauenvolle Anzeichen wahrgenommen hatte, reisst jener
alles durch seine Rede mit sich fort. Auch Adrastus, von der Gemahlin
des Polynikes aufgestachelt, vermag der allgemeinen Bewegung nicht
Widerstand zu leisten. Mit dem vierten Buch treten wir in die Eriegs-
rüstungen ein; der Dichter macht uns mit den sieben gegen Theben ziehenden
Helden und ihren Streitkräften bekannt. Auch in den böotischen Oi*ten
regt sich die Kriegslust. In Theben selbst ist dagegen die Stimmung eine
gedrückte. Eteokles wendet sich daher an den Seher Tiresias. Dieser
nimmt eine Beschwörung der Unterwelt vor, welche Scene mit aller Aus-
führlichkeit beschrieben wird. Dieselbe findet ihren Gipfelpunkt in der
Erscheinung des Laius, den Merkur längst wieder in die Unterwelt zurück-
gebracht hatte. Dieser verheisst zwar Theben den Sieg, deutet aber zu-
gleich in geheimnisvoller Weise auf einen Doppelmord (604). Inzwischen
waren die argivischen Helden nach Nemea gekommen, damit (652) be-
ginnt die grosse, sich durch mehrere Bücher hindurchziehende Episode von
der Hypsipyle. Um sein geliebtes Theben zu schützen, hatte Bakchus mit
Hilfe der Wassernymphen eine furchtbare Wassernot über das argivische
Heer verhängt. Beim Suchen nach Quellen stossen die Helden auf Hy-
psipyle mit ihrem Pflegekind, dem Sohn des Lycurgus, Opheltes, der
späterhin in bezeichnender Weise Archemorus genannt wurde, und flehen
sie um einen Trunk an. Diese legt das Kind in das Gras und führt sie
zu der Langia. Das folgende fünfte Buch spinnt die Episode weiter.
Hypsipyle erzählt dem Adrastus ihre früheren Schicksale, wie die Lem-
nerinnen die Männer hingemordet, wie sie durch List ihren Vater gerettet
habe, wie sie die Herrschaft übernommen, wie die Frauen später mit den
gelandeten Argonauten in Verkehr traten, wie sie selbst dem Jason Zwil-
linge geboren, wie die Rettung des Vaters bekannt geworden sei und
dieses Vorkommnis sie zur Flucht gedrängt habe, wie sie endlich auf
ihrer Fahrt von Seeräubern aufgegriffen und an ihren jetzigen Aufenthalts-
ort gebracht worden sei. Gewiss eine spannende Erzählung, allein während
derselben vergass sie des ihr anvertrauten Kindes; und das Unglück wollte,
dass dasselbe von einer Schlange getötet wurde. Wutentbrannt wollte
der Vater Lycurgus über die Hypsipyle herfallen, allein er wurde vom
argivischen Heere daran gehindert. Mitten in der Verwirrung werden
auch die beiden Söhne der Hypsipyle entdeckt, welche auf der Suche nach
ihrer Mutter waren. Der Seher Amphiaraus verkündet, dass das Andenken
des Archemorus durch die nemeischen Spiele für alle Zeiten aufrecht er-
halten werde. Diese Spiele, wie die ihnen vorausgegangene Leichenfeier
schildert des sechste Buch. Das folgende, siebente bringt den Krieg,
der über den Festlichkeiten ganz in den Hintergrund getreten war, wieder
in Fortgang. Juppiter hatte nämlich dem Mars den Befehl zukommen
lassen, seines Amtes zu walten. Infolgedessen erwacht wiederum der
kriegerische Eifer unter den argivischen Helden. Gerüchte von dem Anzug
des feindlichen Heeres gelangen zu den Ohren des Eteokles. Derselbe be-
sichtigt seine Streitkräfte und hält eine Ansprache an dieselben. Auf der
Mauer zeigt Phorbas der Antigene die böotischen Heerführer und ihre
314 Römische Litteratnrgesoliiohte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Leute. Unterdessen war auch Adrastus vor den Thoren Thebens er-
schienen. Jokaste macht noch einen Versuch zur Versöhnung, allein der-
selbe wird durch das Eingreifen des Tydeus zum Scheitern gebracht. Plötz-
lich prallen Thebaner und Argiver aneinander. Nach einigen Schlacht-
bildern schliesst das Buch mit der Versenkung des Amphiaraus in die
Unterwelt. Über diesen Einbruch eines Lebenden in die Unterwelt — so
fährt das achte Buch fort — ist der Heri'scher der Schatten empört; er ver-
kündet, dass Tisiphone durch den gegenseitigen Brudermord und anderes diese
Frevelthat sühnen werde. Aber auch das argivische Heer gerät über das
Verschwinden des Sehers in grosse Bestürzung. Nachdem der zum Nach-
folger des Amphiaraus erkorene Thiodamas ein feierliches Opfer veran-
staltet hatte, wogt aufs neue der Kampf. Unter den Opfern der Thebaner
befand sich Atys, der Verlobte der Ismene; sterbend wird derselbe zu
seiner Braut gebracht, welche ihm die Augen schliesst; doch der herbste
Verlust trifft das fremde Heer in dem Tod des Tydeus, der nach ge-
waltigen Heldenthaten von Melanippus hingestreckt wurde. Sein heissester
Wunsch ist, noch vor seinem Ende den Kopf seines Gegners vor sich zu
sehen. Diesen Wunsch erfüllt ihm Kapaneus, der den Melanippus herbei-
schleppt. Tydeus lässt ihm den Kopf abschlagen und nicht genug, dass
der Sterbende sich an dem Anblick desselben labt, schändet er seine
Heldenruhm dadurch, dass er ins feindliche Haupt biss und dessen Blut trank.
Das neunte Buch schildert die ungeheure Erbitterung, welche die The-
baner ob dieser Greuelthat erfasste. Auf der andern Seite ist Polynikes
über den Tod seines treuen Freundes Tydeus aufs äusserste erschüttert
und mutlos; er konnte nur durch das Dazwischentreten des Adrastus vom
Selbstmord abgehalten werden. Hippomedon schützt die Leiche des Tydeus,
allein Tisiphone zog ihn durch die falsche Angabe, dass Adrastus in
grosser Gefahr, von demselben ab; dadurch kam sie in die Hände des
Feindes. Gleichwohl wendet sich Hippomedon aufs neue gegen die Thebaner;
es entbrennt ein heftiger Kampf am Fluss Ismenos, in welchem auch der
Sohn der Nymphe Ismenis, Krenaeus, den Tod findet. Jetzt braust auch
der Flussgott Ismenos auf. Hippomedon wird endlich am Ufer durch einen
Hagel von Geschossen niedergestreckt. Hypseus nimmt dem gefallenen
Helden die Waffen ab, wird aber von Kapaneus getötet. Dann erscheint
auf dem Kampfplatz der jugendliche Parthenopaeus, dessen Fall vom
Dichter zu einem schönen Bild ausgestattet wird. Vier Heerhaufen der
Argiver waren jetzt ihrer Führer beraubt; die Lage des Adrastus war
sonach eine verzweifelte. Da half, wie uns das zehnte Buch erzählt,
Juno auf die heissen Bitten der argivischen Frauen, sie beauftragte
den j^Schlaf, Idas thebanische Heer in tiefen Schlummer zu versenken.
Dies geschah. Zu gleicher Zeit fordert der von einer Verzückung be-
fallene Seher Thiodamas die Argiver zur Rache auf. Eine kleine Schar
macht sich unter seiner Führung ans Werk und richtet ein fürchterliches
Blutbad an. Hopleus und Dymas suchen hiebei die Leichen ihrer Herren,
des Tydeus und^des Parthenopaeus zu bergen, allein sie werden von
Amphion ertappt, den Hopleus rafft ein tödlicher Wurf dahin, Dymas
stürzt sich in sein Schwert. Am Tage eröffnen die Argiver einen Sturm
Papinins StatiuB. 315
auf die Mauern von Theben. Infolgedessen entsteht in der Stadt eine be-
denkliche Gährung. Der Seher Tiresias fordert den Sohn Kreons Menoekeus
als unumgänglich notwendiges Opfer. Unbekümmert um die eindring-
lichen Vorstellungen seines Vaters opfert sich der wackere Jüngling für
sein Vaterland. Jetzt erfüllt sich auch das Geschick des Eapaneus; er be-
steigt einen Turm der Mauer; seinen Worten macht wie seinem Leben
ein Blitzstrahl des Juppiter ein Ende. Das elfte Buch führt endlich
zur Spitze des ganzen Gedichts, zum gegenseitigen Mord der Brüder
Eteokles und Polynikes. Zu dem Zweck werden die zwei Furien, die Ti-
siphone und die Megaera, in Bewegung gesetzt. Sie walten ihres Amtes,
Tisiphone beim König, Megaera bei Polynikes. Dem König wird bei einem
Opfer gemeldet, dass ihn sein Bruder zum Zweikampf auffordere. Kreon,
der den Verlust seines geliebten Menoekeus nicht verschmerzen konnte,
drängt unter heftigen Worten zu demselben; auf der andern Seite sucht
Jokaste den Eteokles und Antigene den Polynikes von dem unseligen
Schritte abzuhalten. Doch da stürmte schon Eteokles aus dem Thore und
damit ist der Kampf eröffnet, ein letzter Versuch des Adrastus, die Gegner
zu trennen, misslingt. Polynikes stösst dem Bruder das Schwert in den
Leib; dieser getroffen greift zur letzten Tücke; absichtlich fiel er zu Boden,
um den Glauben zu erwecken, dass er völlig tot sei. Als Polynikes sich
über ihn bückte, um ihm die Rüstung abzuziehen, stiess Eteokles ihm den
Stahl in die Brust. Über die Leichen wirft sich Oedipus, wehklagend,
dass sein Fluch so rasch sich erfüllt habe. Jokaste tötete sich. Nun be-
steigt Kreon den Thron und beginnt von Herrscherübermut ergriffen, sein
Regiment mit tyrannischen Massregeln, er untersagt die Bestattung der
gefallenen Argiver und verweist den Oedipus des Landes. Auf der Anti-
gene Vorstellungen mildert er die Strafe dahin, dass er Oedipus den Ki-
thaeron als Aufenthaltsort anwies. Das argivische Heer ergreift in der
Nacht die Flucht. Das zwölfte Buch enthält die Strafe Kreons für sein
unbarmherziges Vorgehen. Die Thebaner verbrennen die Leichen ihrer
gefallenen Landsleute; die Argiver bleiben unbestattet liegen, darunter
auch Polynikes. Vom Schmerz getrieben wollen sich die argivischen Frauen
nach Theben begeben; unterwegs begegnet ihnen aber Ornytus und teilt
ihnen mit, dass Kreon die Leichen der Argiver nicht bestatten lassen
werde; er verweist sie zugleich auf Theseus als den Mann, der Kreon zur
Menschlichkeit zu zwingen vermöchte. Die Meinungen der Frauen schwanken,
da macht die Gemahlin des Polynikes Argia den Vorschlag, sie wolle
allein nach Theben wandern, indess die übrigen Frauen ihr Anliegen dem
Theseus vortragen sollten. Dieser Vorschlag wird angenommen. Auf dem
Schlachtfelde trifft Argia mit der Antigene bei der Leiche des Polynikes
zusammen. Sie waschen zusammen den gefallenen Helden und verbrennen
ihn. Wächter erscheinen, ergreifen die zwei Schuldigen, die sich gegen das
Gebot des Königs vergangen hatten, und führen sie zu Kreon. Im folgenden
führt uns der Dichter zuerst nach Athen. Dort war Theseus von Skythien
siegreich zurückgekehrt; er erblickt die Frauen am Altar der Schutz-
flehenden und fragt nach ihrem Begehr. Als er von der Unmenschlich-
keit Kreons Kunde erhielt, entbrannte er in Zorn, sammelte ein Heer und
316 Römisohe LitteratargeBchiohte. n. Die Zeit der Monarohie. 1. Abteilang.
führte es gegen Theben. In dem Kampf fällt Kreon. Der Bestattung der
Leichen steht jetzt nichts mehr entgegen; sie wird in Gegenwart der
argivischen Frauen vollzogen.
408. Würdigung der Thebais. Statins schliesst sein Epos mit den
Worten :
durabisne procul dominoqm legere superstes,
0 mihi bissenos muUum vigilctta per annos
Thehal? iam certe praesens tibi Fama benignum
stravit iter coepitque novam manstrare futuris,
iam te magnanimus dignatur noscere Caesar,
Itala iam studio discit memoratque iuventus,
vive, precor; nee tu divinam Aeneida tempta,
sed longe sequere et vestigia semper adora.
moXy tibi si quis adhuc praetendit nubUa livor,
occidet, et meritf post me referentur honores.
Aus diesen Worten ersehen wir, dass schon bei Lebzeiten des Dich-
ters die Thebais Aufsehen erregte. Die nacheinander veröffentlichten
einzelnen Gesänge wurden von der Schuljugend auswendig gelernt, und
Juvenal berichtet, dass Statins, wenn er seine Thebais recitierte, allge-
meinen Zulauf fand (7, 82). Aber der Epiker wird von der Hoffnung ge-
tragen, dass ihm auch die Zukunft angehören werde. Zum Teil wenigstens
ist er in dieser Hoffnung nicht betrogen worden. Im Mittelalter wurde
das Gedicht aufs eifrigste gelesen, davon zeugen die vielen Handschriften,
in denen uns dasselbe überliefert ist, und die Scholien, welche sich zu
denselben erhalten haben. Das hohe Ansehen, dessen sich der Dichter in
jenen Zeiten erfreute, erhellt ganz besonders aus der Rolle, *) welche Dante
ihm in der göttlichen Komödie einräumte. Es ist eine schöne Stelle, in der
Statins mit Vergil zusammentrifft und ihm in begeisterten Worten kundgibt
(Purg. 22, 64), dass dessen Schöpfungen das Feuer der Poesie in ihm ent-
fachten und dass Vergil ihn zu den Höhen des Parnass geleitet. Allein
die moderne Zeit teilt diese Bewunderung für den Neapolitaner nicht mehr.
Seit uns der Zauber des Hellenentums gepackt, kann uns die rhetorische
Poesie nicht mehr erwärmen. Und so ist auch die Thebais jetzt fast ein
totes Produkt, das nicht viele Leser mehr an sich zieht. Eine kurze
Würdigung des Gedichts wird den Beweis erbringen, dass dessen Verfasser
mit Recht die Ungunst der Gegenwart getroffen. Sein Epos schöpft den
Stoff aus einem Mythenkreis, der mit den Römern in keiner Weise in
Verbindung gebracht werden konnte. Diese Sage war überdies dichterisch
in der mannigfaltigsten Weise ausgestattet worden. In der Heroenzeit
hatten mehrere Epen, die Oedipodie, des Amphiaraus Ausfahrt, die The-
bais mit der Fortsetzung ,»die Epigonen *", die Alkmeonis den Grund ge-
legt.^) Auf denselben bauten sich die späteren Epen auf, vor allem das
stoffreiche Gedicht des Antimachos von Kolophon, der durch den Beifall
Piatos für den Mangel an Anerkennung von anderer Seite sich reichlich
entschädigt erachtete. 3) Auch die Tragödie schöpfte aus dem reichen Born,
^) Vgl. über denselben, um auf das zu-
nächstliegende Buch zu verweisen, Goxpa-
RETTi, Vergil im Mittelalter, übers, von
DÜTSCHKE p. 199.
') Den Versuch, diese Epen zu kon-
struieren, macht Bethe in seiner lehrreichen
Schrift „Thebanische Heldenlieder", Leipzig
1891 (p. 35).
') Spätere Bearbeiter der thebanischen
Sage sind Antagoras von Rhodos und Mene-
PkpiDiiu SUtinB. B17
wir erinnern nur an die thebanischen Stücke des Sophokles, an die Sieben
von Äeachylua, an die Phoenissen und die Schutzäehenden von Euripides.
Selbst die Römer streckten die Hände nach der reichen Tafel aus; Pon-
ticus schrieb, wie wir aus Proporz wissen, ein thebanisches Heldenlied,
das, wie es scheint, von Kadmus bis zum Epigonenzug reichte; '} auch der
unter dem Namen .Lynceus' sich bergende Dichter scheint eine Thebais
geschrieben zu haben; ■) der Tragiker Seneca endlich behandelte den Sagen-
kreis in seinen Phoenissen. So zahlreich waren die Vorgänger des Statius.
Der Muhe, den Stoff erst auficufinden und zu einem Ganzen zu verbinden,
war also der Dichter Qberhoben. Es konnte sich nur um kleine Modi-
fikationen und kleine Verschiebungen handeln. Der Aufbau machte ihm
keine Schwierigkeiten, da er dem Gang der Erzählung folgte und den
Mythus von Anfang an zur Darstellung brachte. Statius wollte es dem
Vergil gleichthuD, denn dieser war sein dichterisches Ideal; er schloss sich
daher schon beim Aufriss des Ganzen an den grossen Vorgänger an. Die
Aeneis umfasste zwölf Bflcher; auch unser Epiker gliedert seinen Stoff in
zwölf Gesänge. Noch mehr. In der Aeneide hebt das siebente Buch,
also die zweite Hälfte mit der Darstellung der Kämpfe an, auch Statius
lässt ersb mit dem siebenten Buch die Kämpfe vor Theben beginnen.
Freilich ist durch diese Gliederung ein MissverhäUnis der zwei Teile heraus-
gekommen, die ersten sechs Gesänge müssen dem Plane gemäss die Vorbe-
reitungen zum Kampfe schildern, allein, da es unmöglich war, damit die
Bücher zu füllen, so schob der Dichter die grosse, mehrere Bücher sich
hindurchziehende Episode von Hypsipyle und Archemorus ein. Der Aufbau
der zweiten Hälfte bot keine Schwierigkeiten dar; hier musste eine Reibe
von Kampf esbil der n, in denen die einzelnen argivischen Helden (Adrastus
ausgenommen) auftreten und den Untergang finden, vorgeführt werden;
die grauenhafte Scene, der gegenseitige Mord der Brüder musste als die
bedeutsamste Situation am Schluss erscheinen. Allein zum Schaden des
ästhetischen Eindruckes führt das Gedicht die Erzählung noch über dies
Ereignis hinaus und zieht auch Kreon herbei. Schon aus dieser kurzen
Darlegung erhellt, dass in der Konzeption des Ganzen das Werk an sehr
erheblichen Mängeln leidet. Allein dem Dichter ist auch gar nicht
darum zu thun, in diesem Aufbau den Schwerpunkt seiner Kunst zu
suchen — er hätte ja in diesem Fall nicht den geradlinigen Wtg ein-
geschlagen, sondern einen Ausschnitt gegeben — ihm liegt vor allini
daran, eine Reihe von rhetorisch wirksamen Scenen aneinander zu fugten.
Diese Scenen erfordern natürlich die epische Technik; Statius findet sie
bei seinem Meister Vergil, den einen oder den andern Zug konnte er auch
direkt aus Homer holen, allein dies geschieht verhältnismässig seltener.
Sein vornehmstes Kunstmittel ist die Göttermaschinerie; durch Jupplter
wird die Handlung in Bewegung gesetzt, heim Stocken derselben erfolgt
ein Ruck von oben, um die Sache wieder in Gang zu bringen; thUtig sind
die Furien, wenn es gilt, Krieg und Leidenschaft zu entfalten; Schatten
laoB von Aegae; Tgl. Aber dieselben Wblckbr, 1 corm. «pfc. p. 29.
Kl. Sehr. 1,395. ') Haitbb p. 32.
■) Vgl. p. 175 am Endej Haubb, De \
Slg ftömisohe LitteratargeBohiohte. TL, Die Zeit der Monarobie. 1 Abteiliing.
werden aus der Unterwelt heraufgeholt, um in die Handlung einzu-
greifen. In allen diesen Gestalten ist kein Funken wahren Lebens, sie
lassen uns daher kalt und langweilen uns. Der Dichter geht noch weiter,
selbst abstrakte Begriffe müssen sich in das Oöttergewand hüllen, die
Yirtus, die Pietas, die Oblivio und wie sie heissen mögen, tummeln sich
schattenhaft auf der Bühne. Man sieht, wie die Personifizierung der
Fama bei Vergil auf den Nachahmer gewirkt. Bei der Betrachtung der
einzelnen Scenen stossen uns fortwährend Erinnerungen an die Aeneis
auf. Der Dichter sieht es ja als sein höchstes Ziel an, es Vergil gleich-
zuthun und einmal reisst ihn das Bewusstsein, einen Treffer gemacht zu
haben, sogar zu einem Ausbruch der Freude mitten in dem Gedicht hin.
Als er seine Erzählung von Dymas und Hopleus, welche er nach dem
Vorbild der Vergilschen Episode von Nisus und Euryalus entworfen, zu
Ende geführt, apostrophiert er in grosser Erregung seine Helden also
(10, 445):
V08 quoque sacratij quamvis mea carmina surgant
inferiore lyra, memores auperahitis annos,
forsiian et comites non aspernabitur umhras
Euryalus Phrygiique admittet gloria Nisi, ^
Bei der starken Anlehnung an Vergil, welche sich durch das ganze Ge-
dicht hindurchzieht, wird sich die herkömmliche Ansicht, dass Statius
seiner Thebais das Gedicht des Antimachos von Kolophon zu Grunde ge-
legt habe, nicht halten lassen. Selbst den Stoff braucht er dort nicht zu
holen, den konnten ihm die mythologischen Kompendien viel leichter dar-
bieten. Was die Darstellung anlangt, so ist der Grundcharakter derselben
die Übertreibung und die Masslosigkeit. Die Helden werden ins Groteske
gezeichnet; dass Grässliche wird mit Vorliebe aufgesucht, an grauenhaften
Bildern, ich erinnere beispielsweise an die Schilderung des Oedipus und
des in den Kopf seines Gegners beissenden Tydeus, ist kein Mangel. Be-
sonders starke Farben werden aufgetragen, wenn der Dichter auf den
Brudermord zu sprechen kommt; selbst die Göttermaschinerie wird hier,
um das Schaudervolle zu steigern, in Bewegung gesetzt. Langatmige
Beschreibungen nehmen einen breiten Raum ein. Die Gleichnisse häufen
sich in einer Weise, dass sie den Leser fast erdrücken. Der sprach-
liche Ausdruck ist nicht harmonisch, bald ist er weitschweifig, bald bis zur
Dunkelheit zusammengedrängt.^) Nach dieser Darlegung wird man be-
greifen, dass wahre Poesie in diesem Epos nicht zu finden ist; nicht der
Dichter, sondern der Rhetor führt den Griffel.
Die Abfassungszeit der Thebais. Das Epos wurde kurz vor der Herausgabe des
ersten Buchs der Silven publiziert; denn er sagt in der Vorrede: adhuc pro Tkebaide mea,
quamvis me reliquerit, timeo, also etwa 92, da wir dieses Jahr (oder Ende 91) für die Herausgabe
des ersten Buchs der silvae in Anspruch nahmen. Wenn nun der Dichter nicht einen
längeren Zeitraum zwischen der Herausgabe und der Fertigstellung des Werks verstreichen
Hess, 80 muss er, da er zwölf Jahre an dem Gedicht gearbeitet haben will, etwa 80 damit
begonnen haben. Damit stimmt, dass im Jahre 95 Statius von der günstigen Aufnahme
des Epos sprechen konnte (4, 4, 87 vgl. Fbiedlandeb, Sittengesch. 3^ 450, Anm.).
Die Scholien. Zu der Thebais ist ein Kommentar vorhanden (abgedruckt z. 6. in
der Ausgabe des Fr. Tiliobbooa, Paris 1600), der in manchen Handschriften für sich
allein dasteht, in andern mit dem Text der Thebais verbunden ist. Der Name des Autors
^) Vgl. das Urteil M. Haupts opusc, 3, 128.
Papinins SiatiuB. 319
schwankt zwisclien XactaDÜus» Lactantius Placidus und Caelius Firmianus Placidus Lactan-
tius. Wahrscheinlicli liiess er Lactantius Placidus und werden die übrigen Namen durch
Vermischung des Kommentators mit dem Kirchenvater hinzugekommen sein. Eine Aus-
gabe, die durchaus ffir die richtige Beurteilung des Kommentars notwendig ist, bereitet
Kohlmann (handschriftliche Mitteilungen Philolog. 33, 128) vor; eine vorläufige Probe des
selben (zu III 1—323) gibt das Emdener Programm vom Jahre 1886/7. — Schottky, De
pretio Laetaniiani cammentarü, Breslau 1846 (unbedeutend); ünoeb, Electa e Lactantii in
Statu Thebaidem, Friedland 1864. — Über die metrischen Argumente vgl. Opitz, Leipz.
Stud. 6, 306.
Überlieferung. Wie in der Achilleis ist der Vertreter der guten Handschriften-
familie der Puteanus oder Parisinus 8051 s. X. Das vierte Buch hat die subacriptio codex
Juliani v. c,
409. Die Achilleis. Seinen Helden nach allen Seiten hin zu schil-
dern, ist sein Ziel,
quamquam acta Hri mtiUum inclita cantu
Maeanio, sed plura tacatU: noa ire per omnem
(sie amor est) heroa velis Scyraque latentem
Dulichia proferre tuba nee in Hectore tracto
sistere, 8ed tota iuvenem dediicere Troia,
verkündet er im Eingang seines Gedichts. Die Erzählung beginnt mit der
Abfahrt des Paris und der Helena von der spartanischen Küste. Als die
Mutter des Achill Thetis des Schiffs gewahr wurde, stellten sich ihrem
Geiste die Gräuel des Krieges dar, welche die Folge dieser Fahrt sein
werden. Sie ist fest entschlossen, diesen ihren geliebten Achill zu ent-
ziehen. Als sie daher bei Neptun mit ihrem Gesuch, das verhängnisvolle
Schiff dem Untergang zu weihen, kein Gehör fand, kam ihr der Gedanke,
den Sohn auf andere Weise zu schützen. Sie begibt sich daher zu dem
Erzfeher Achills Chiron, um den Sohn abzuholen; sie will ihn verbergen.
Als ein sicherer Versteck erschien ihr der Hof des Königs Lykomedes auf
der Insel Skyros. Und zwar sollte dort Achilles als Mädchen verkleidet im
Kreise der Töchter des Lykomedes verweilen. Auf dem Wege dahin nimmt sie
die Metamorphose vor; als Mädchen tritt sonach Achilles ins Haus des Lyko-
medes ein. Nachdem Achilles auf diese Weise geborgen ist, wendet der Dichter
unsere Blicke auf die furchtbaren Zurüstungen zu dem Feldzug gegen
Troia. Alles war aus Griechenland herbeigeströmt, nur Achilles fehlte. Nie-
mand wollte aber denselben missen. Protesilaus fordert daher Kalchas
auf, den Aufenthaltsort Achills zu offenbaren. Der Seher weist auf Ly-
komedes und auf die weibliche Hülle des Äakiden hin. Diomedes und
Ulixes machen sich auf den Weg, um den Yermissten herbeizuholen.
Mittlerweile hat sich auch in Skyros ein Ereignis zugetragen. Eine der
Töchter des Lykomedes Deidamia hatte die Liebe des Achilles erregt;
es entspinnt sich zwischen beiden ein Verhältnis, das nicht ohne Folgen
blieb. Die Frucht ihrer Liebe ist Pyrrhus. Jetzt sehen wir die beiden
griechischen Helden in Skyros landen. Sie begeben sich zu Lykomedes;
aus verschiedenen Anzeichen glaubt Ulixes in der Mädchenschar den Achilles
zu erkennen. Um ihn aber völlig zu entlarven, greift er zu einer List.
Er lässt durch Diomedes verschiedene Geschenke für die Mädchen herbei-
schaffen; darunter befanden sich auch Wehr und Waffen. Während nun
die Königstöchter die dem weiblichen Wesen entsprechenden Geschenke
sich aussuchen, wird Achill in auffallender Weise durch die Waffen ge-
fesselt. Da naht sich Ulixes und eröffnet ihm, dass der junge Held er-
320 Bömische Litteraturgeschichte. II. Die 2eit der Monarchie. 1. Abteilung.
kannt sei. In seine Worte fallt der von ihm angeordnete Schlachtruf
mit der Trompete. Da konnte sich Achill nicht mehr zurückhalten; während
die Mädchen bestürzt fliehen, greift er zu den Waffen, der Eampfesheld
steht vor unsern Augen, die Jungfrau ist verschwunden. Entschlossen
mit in den Krieg gegen Troia zu ziehen, gesteht Achilles dem Lykomedes
seine Beziehungen zu Deidamia und erhält Verzeihung. Es kommt die
Stunde der Trennung, schwer für die junge Frau, welche die in die Ferne
Ziehenden mit ihren Blicken verfolgt. Ulixes tröstet Achill und erzählt
ihm die Veranlassung des Kriegs. Dann erkundigt sich Diomedes nach
dem bisherigen Leben und Treiben Achills. Mit einer Schilderung der-
selben durch den jungen Helden schliesst das Epos, wie man sieht unvoll-
endet. Das Epyllion ist zwar breit angelegt, aber doch im ganzen an-
mutig.
Zeit der Abfassung. Die Achilleis wurde begonnen im Jahre 95; er erwähnt sie
4, 7, 28 primis tneus ecee metis haeret Achilles; 4, 4, 88 wird von dem Erfolg seiner The-
bais gesprochen und dann fortgefahren (93):
nunc vacuos crines alio suhit infula nexu;
Troia quidem magnusque mihi iemptatur Achilles.
Dieses Stttck fällt unbestritten ins Jahr 95. (Ohne Bedeutung 5, 2, 163). Die NichtvoU-
endung erklärt sich durch den wohl bald nach dem Beginn des Epos eingetretenen Tod
des Statins.
Überlieferung. Die gute Handschriftenklasse wird vertreten, wie in derThebais,
in erster Linie durch den Puteanus s. Parisinus 8051 s. X. In diesem Kodex endigt das
erste Buch erst mit Vs. 960, während die gewöhnlichen Ausgaben, auf geringere Hand-
schriften gestützt, den Schluss des ersten Buchs schon nach Vs. 674 ansetzen. Diese Buch-
einteilung lag auch Priscian VII 65 p. 842 H. und Eutyches II 6 p. 475, 13 K. vor. Auch
unbedeutende Scholien sind zur Achilleis vorhanden. Den grössten Teil derselben publizierte
EoHLMANK im Emdener Programm des Jahres 1877.
410. Die Stoffe der Silven. Das erste Buch ist dem Arruntius
Stella^) aus Patavium gewidmet, an den auch Martial verschiedene Ge-
dichte gerichtet. Derselbe war ebenfalls Dichter und hatte seine Oeliebte,
die schöne und reiche Yiolentilla unter dem Namen „Asteris'' besungen.
Auf die Vermählung des Stella und der Yiolentilla dichtete Statins das
Epithalamium; in demselben erscheint die Venus auf Betreiben Amors bei
der Violentilla, um sie für Stella zu erwärmen. Dieses Qedicht erscheint
an der zweiten Stelle; die erste gebührt dem Kaiser, denn a Jove prin-
cipium, wie der Dichter selbst sagt; das Eingangsgedicht beschreibt die
Reiterstatue Domitians. Auch der Schluss geht wieder auf den Juppiter
auf Erden. Domitian hatte an einem 1. Dezember dem Volke ein Fest
gegeben, zur Vorfeier der Saturnalien. Es wird geschildert, wie Geschenke
verteilt werden, wie ein Mahl ausgerichtet wird, an dem der Kaiser selbst
teilnimmt, wie endlich abends ein glänzendes Feuerwerk stattfindet, das
die Nacht zum Tage macht. Von den übrigen Gedichten enthalten zwei
Schilderungen glänzender Bauwerke, das eine (3.) die Beschreibung der
zwei Paläste, welche sich Manilius Vopiscus bei Tibur am Anio erbaut
hatte, dann die Beschreibung des Bades, das sich Claudius Etruscus ange-
legt hatte (5.); das dritte (4) endlich ist ein Dankesgedicht auf die Genesung
des erkrankten Stadtpräfekten Rutilius Galliens. Auch hier wird derselbe
>) FriedlXndeb zu Martial 1 p. 66.
Papinins Siaiins. 321
Kunstgriff wie im Epithalamium, die Heranziehung der göttlichen Macht,
in Anwendung gebracht.
Das zweite Buch hat Statins dem durch seine elegante Lebens-
führung berühmten Atedius Melior zugeeignet; derselbe bildet auch den
Mittelpunkt des Buchs; denn drei Stücke beziehen sich auf ihn; er er-
hielt ein Trostgedicht auf den Tod seines Lieblings, des dreizehnjährigen
Olaucias (1), dann ein Klagelied auf seinen verstorbenen sprechenden Pa-
pagei (4), endlich ein Gedicht auf einen Baum, der den See seines Land-
gutes beschattete (3) in Form einer ätiologischen Sage. Ausserdem ent-
hält diese zweite Sammlung noch ein Trostgedicht für Flavius Ursus beim
Verlust seines Lieblings Philetos (6), die Beschreibung der Villa des reichen
Puteolaners PoUius Felix bei Sorrent (2), endlich die Feier des Geburts-
tages des Dichters Lucan für dessen Witwe (7). Mit dem Hof hat nur
ein Stück Berührung. Als der gezähmte Löwe des Domitian durch ein
anderes entflohenes wildes Tier zerrissen wurde, sprach auch Statins sein
dichterisches Beileid aus (5).
Demselben PoUius Felix, dessen Villa im zweiten Buch beschrieben
wurde, gehört die dritte Silvensammlung. Das erste Gedicht knüpft na-
turgemäss an Pollius Felix an und beschreibt den glänzenden Tempel des
Hercules, den der reiche Mann bei Sorrento errichtet hatte. Das zweite
Stück ist ein Geleitspoem für den ins Feldlager nach Syrien ziehenden
MaeciusO Geler. Es folgt eine Gonsolatio für den uns aus dem ersten
Buch bekannten Claudius Etruscus bei dem Tode seines Vaters, der in
Smyma gebürtig, sich von der niedrigsten Lebenslage bis zum Vorsteher
des Rechnungsamtes emporgeschwungen hatte. Das vierte Stück führt
den Titel „die Haare des Flavius Earinus*". Dieser Eunuche war Mund-
schenk Domitians, sein erstes abgeschnittenes Haar hatte er mit einem
Spiegel dem Tempel des Aesculap zu Pergamon geweiht; auf seine Bitte
hin feiert der Dichter dieses Ereignis in dichterischer Form. Im Schluss-
gedicht der Sammlung wendet sich der Dichter an seine Gemahlin und
sucht sie zu bestimmen, Rom zu verlassen und mit ihm nach Neapel zu
ziehen.
Das vierte Buch ist für Vitorius Marcellus^) bestimmt und wurde
nach seiner Übersiedelung nach Neapel herausgegeben; es ist derselbe,
dem Quintilian seine rhetorische Unterweisung gewidmet hatte, ein be-
rühmter Sachwalter. Allein die Sammlung wird nicht mit dem Ge-
dicht an ihn eröffnet, in dem Statins den Freund auffordert, sich Ruhe
zu gönnen, denn
virea instigat aJitque
tempestiva gutes, maiar post otia pirtus.
Dieses nimmt erst die vierte Stelle ein. Den Vortritt hat hier wie-
derum der Kaiser, den die drei ersten Stücke verherrlichen; im ersten
erhalten wir einen Panegyricus zum 17. Konsulat Domitians, im zweiten
eine Danksagung an den Kaiser für eine ihm gewordene Einladung zum
Mahle, im dritten endlich die Beschreibung der via Domitiana, welche
*) So zu schreiben FbiediJ^br 8,484.
^) Dies ist die richtige Schreibung (Nohl, Hermes 12, 517).
Bandbuch der klam. Altertumswimeiinrhuft. VIII. 2. Teil. 21
322 Bömisohe LitteratnrgeBehiolite. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Cumae mit Rom verband. Auch zwei Oden hat uns der Dichter in dem Buch
gespendet, die eine (5) enthält das Lob des Septimius Severus, der sowohl
als Redner wie als Dichter thätig war, die zweite (7) fragt an, wann der in
Dalmatien eine militärische Stellung bekleidende Vibius Maximus zurückkehre,
da ohne ihn des Dichters Muse erlahme ; zugleich gedenkt er dankbar der
Anregung, die er für seine Thebais von Vibius Maximus empfangen. Zum
Schluss gratuliert er dem Freunde zur Geburt eines Sohnes und weiss hiebei
auch des Adressaten historisches Werk anzubringen. Es sind noch drei Ge-
dichte übrig, eines (6) schildert ein Kunstwerk, den Hercules des Lysippos,
den Statins bei Novius Vindex gesehen, das zweite (8) ist eine an Julius
Menecrates, den Schwiegersohn des Pollius Felix gerichtete Gratulation
zur Geburt eines dritten Kindes, das letzte (9) ein Scherz. Der Dichter
hatte an den Saturnalien an Plotius Grypus ein fein gebundenes Büchlein
geschickt und als Gegengeschenk ein von Motten zerfressenes Buch, die
„oscüationes Bruti senis^ enthaltend, empfangen. Darüber ist der Dichter
erzürnt und fragt an, ob denn Grypus gar nichts auftreiben konnte, was
sich als Geschenk eignete.
Das fünfte Buch beginnt mit einem des Schlusses ermangelnden
Brief an den kaiserlichen Sekretär Abascantus, der die Überreichung eines
Epicedion auf die vor zwei Jahren gestorbene Gemahlin des mächtigen
Mannes motiviert. Von einer Widmung des Buchs ist dagegen keine Rede.
Es ist daher eine sehr wahrscheinliche Vermutung, dass das Buch nicht
von dem Dichter herausgegeben, sondern erst aus seinem Nachlass zu-
sammengestellt wurde. Dafür spricht auch, dass das letzte Gedicht un-
vollendet vorliegt. >) Ausser dem Epicedion auf die Gemahlin des Aba-
scantus enthält das Buch noch ein solches auf seinen Vater (3) und eines
auf seinen Pflegesohn (5). Das an zweiter Stelle stehende Gedicht wendet
sich an Vettius Crispinus, der im Alter von 16 Jahren das Legations-
tribunat erhalten und auch die Salierwürde bekleidete; er war bei den
Recitationen des Dichters eine tüchtige Beihilfe. Endlich ist in das
Buch noch aufgenommen ein schönes Gedicht des erkrankten Statins an
den Schlaf (4).
Die Chronologie der Silven hat zwei Fragen zu lösen 1) wann die einzelnen
Silvae gedichtet wurden; 2) wann die einzelnen Bücher herausgegeben wurden. Ffir uns
genügt eSf wenn hier lediglich die Anfangs- und Endpunkte festgestellt werden. Das
älteste Gedicht der Sammlung steht im letzten Buch (3), es ist das Epicedion auf Statins'
Vater; es wurde drei Monate nach dessen Tod gedichtet, der hald nach 79 eintrat (5, 3,
205), und auf dieses Epicedion spielt er (3, 3, 39) an. Aber das Gedicht erfuhr später
eine Umarbeitung, denn die Verse 225 fg. setzen den Sieg des Dichters im albanischen
Agon und seine Niederlage im capitolinischen voraus; da das letzte Ereignis mit grosser
Wahrscheinlichkeit ins Jahr 94 zu setzen ist, so muss die Umarbeitung nach dieser Zeit
erfolgt sein. Allein dieses Gedicht ist erst aus dem Nachlass veröffentlicht. Die übrigen
Stücke fallen nicht, soweit wir sehen können, vor 88. Keines der Stücke führt uns in
die Zeit nach Domitians Tod; sie reichen etwa bis 95. Sonach haben wir anzunehmen,
dass alle Silven (abgesehen von dem Epicedion auf seinen Vater) der Zeit von 88 bis 96
angehören, Statins war schon ein reiferer Mann, als er sie schrieb, denn er sagt (4, 4, 69): nos
vergimur in Senium vgl. 5,2, 158. — Was die Herausgabe der sütxu anlangt, so kann das
erste Buch nicht vor Ende 91 oder 92 ediert sein, da es den Tod des Rutilius Galliens
voraussetzt. Allein es kann auch nicht viel später herausgegeben sein, da für das 3. Buch
^) Allerdings wäre auch möglich, dass 1 Laufe der Zeit die Verstümmelung erlitten,
das Gedicht vollständig war und erst im
Papinias SiatinB. 323
das Jahr 94 (Friedlandeb, Sittongesch. 3^ 478), fOr das 4. Bach 95 sich ergibt. Wenn
wir fttr jede Silvensammlung den Zeitraum eines Jahres ansetzen, wird das eiste Buch 92
erschienen sein. Die letzte Sammlang wurde, wie wir annahmen, nicht durch den Dichter
selbst publiziert, sie wird in dem Jahre 96 erschienen sein. Also erblickten die fQnf Bücher
der silvae wahrscheinlich in der Zeit von 92—96 das Licht der Öffentlichkeit.
411. Charakteristik der Silven. Durch zwei Eigenschaften wird
der Charakter der Silvae des Statins bestimmt, es sind Gelegenheitsge-
dichte und diese Gelegenheitsgedichte sind fQr vornehme Leute bestimmt,
deren Gunst und Freundschaft der Dichter erlangen oder sich bewahren
will. Seine Muse ist also eine dienende, ja sie arbeitet sogar auf Be-
stellung. Es ist selbstverständlich, dass ein Wink des Kaisers genügte,
um die Dichterader zu erschliessen. Aber selbst irgend einer Hofkreatur
konnte man nicht leicht ein Gedicht versagen. Allerdings war für den
Dichter die Erfüllung mancher Bitte keine leichte Sache, und als der Lust-
knabe Earinus sein abgeschnittenes Haar besungen wissen wollte, mochte
sich Statins das Gefühl unwürdigen Thuns aufdrängen, allein schliesslich
gab er doch nach, sich mit dem Satz tröstend, dass, wer die Götter ver-
ehrt, auch ihre Diener verehren muss. Gelegenheiten, den vornehmen
Herren ein Gedicht zu präsentieren, boten sich viele dar. Hochzeit, Ge-
burt, Tod haben zu allen Zeiten den Dienst der Poesie in Anspruch ge-
nommen. Aber auch der häusliche Glanz forderte den Dichter, da dieser der
geeignete Verkünder desselben ist. Man lud ihn daher gern ein, man
zeigte ihm die glänzende Villa, das luxuriöse Bad, auf der Tafel prangte
ein kostbares Kunstwerk, ein geschickter Papagei trieb sein drolliges
Wesen, im Garten stand ein merkwürdig gewachsener Baum. Man rechnete
darauf, dass ein Gedicht diese Herrlichkeiten und Merkwürdigkeiten dem
Publikum bekannt gebe und so den Ruhm der Besitzer verbreite. Nicht
bloss Statins, sondern auch Martial war in dieser Weise thätig.^ Die
Silvenpoesie musste sonach einen panegyrischen Zug erhalten; dieser
tritt in den meisten Gedichten nicht störend hervor, allein wenn die
Rede auf den Kaiser kommt, artet das Lob in arge Schweifwedelei
und Servilität aus; doch fehlt das uns bei Martial so sehr abstossende
Betteln um ein Douceur. Das Gelegenheitsgedicht bringt es mit sich, dass
dasselbe in aller Eile fertig gestellt werden muss. Diese Momentpoesie
verträgt keinen langen Aufschub. Leichtflüssigkeit des Schaffens ist das
erste Erfordernis für den Gelegenheitsdichter. Dieser Eigenschaft konnte
sich Statins mit Recht rühmen; als er seine erste Silvensammlung in die
Welt hinausschickte, setzte er in der Vorrede weitläufig auseinander, dass
ihm kein Stück über zwei Tage gekostet habe, und unter den in jener
Sammlung vereinigten Gedichten befindet sich eines mit 277 Hexametern.
Durch diese Erklärung glaubte er sich gegen Tadel gesichert, allein dass
dieser doch nicht ausblieb, zeigt die Vorrede zu der vierten Sammlung.
In der That können dem aufmerksamen Auge des Lesers die Spuren der
eiligen Arbeit nicht entgehen. Vor allem ist es die Schablone, welche
deutlich wahrnehmbar ist. So tummelt sich der Dichter in den Epicedien
') Die Parallelgedichte sind nach der
ZoBaminenstellimg FiaxDLlin>EB8,Sittengesch.
3«, 475: M. 6, 21 = St. 1, 2 M. 6, 42 = St. 1, 5
M. 6, 28 = St. 2, 1 M. 7, 21-23 = St. 2, 7
M. 7, 40 = St. 3, 3 M. 9, 11—13 (16. 17, 36)
= St. 3,4 M. 9, 43 = St. 4, 6.
21*
324 BOmiflche Litteratnrgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilimg.
auf den drei Gemeinplätzen, der Wehklage um den Verstorbenen, dem Lob
des Verstorbenen, der glänzenden Leichenfeier. Dann muss die poetische
Mache herhalten; die Anrufungen der Götter nehmen einen grossen Raum
ein, auch das persönliche Eingreifen der Götter ist zur Anwendung gekommen,
durch den Aufenthalt göttlicher Wesen wird selbst die Schönheit einer
Gegend charakterisiert. Auch Beden und Beschreibungen tragen zur leichten
Ausfüllung des Rahmens eines Gedichtes bei. Selbst der Wortschatz ist
von Eintönigkeit nicht frei. Mit einem Worte, die Silvae quillen nicht
aus einer tiefen, poetischen Empfindung, sie zeigen uns den gewandten
Versemacher und Schilderer, ^) aber sie zeigen uns nicht den unser Herz
packenden Dichter. Das Interesse, das uns diese Schöpfungen erregen, beruht
wesentlich darauf, dass sie uns Bilder der römischen Gesellschaft geben.
Dieses hohe stoffliche Interesse hat offenbar Niebuhr zu seinem über-
schwänglichen Preis verleitet: „Statins ist gross, sind seine Worte, in
seinen kleinen Gedichten, sie gehören zu den ächten Gedichten, welche die
rechte Farbe des Landes an sich tragen, man liest sie besonders gern,
wenn man sie in Italien liest*. Doch aus einem Gedicht strahlt uns der
Duft wahrer poetischer Empfindung entgegen. Als den kranken Dichter
sieben Nächte der Schlaf gemieden, schilt er den Gott (5,4,1):
crimine quo merui, iuvenis placidissime divum,
quove errore miser, donis ut aolus egerem^
somne, tuis? tcicet oinne pecits volucreague fertuque
et aimulant fesaos curvata caeumina aamnos,
nee trt*eibus fluviia idem sonus; occidU Horror
ctequoris, et terris maria aeclinata quiescunt
und spricht den Verdacht aus, dass ein Mädchen denselben in seinen Armen ge-
fesselt halte; er wagt nicht die Bitte, dass Somnus sich mit seinen Fit-
tigen über seine Augen senke, er ist schon zufrieden, wenn er ihn nur
mit der Spitze seines Stabes berührt oder leicht über ihn hinweggleitet.
Das Wort silva. Quint 10,3,17 diversum est — earum vitiumf qui primo de*
currere per materiam stiJo quam velocisHmo volunt et aequentea ealorem atque impetum ex
tempore scributU; hanc ailvam voeant.
Die Überlieferung der silvae basiert aaf dem Kodex von St. GaUen, welchen
Poggio aufgefunden und nach Italien gebracht hatte. Denselben verglich Angelua
Politianus mit der editio princeps des Jahres 1472. Dieses koUationierte Exemplar ist
noch in der bibliotheea Corsiniana zu Rom vorhanden. Da der codex SangaUenais ver-
loren ist, so sind wir jetzt in erster Linie auf diese Kollation angewiesen. Allein dieselbe
ist schwer zu entziffern und gewährt nicht das volle Bild des koUationierten Kodex. In
zweiter Linie stehen die Handschriften welche durch ein Mittelglied auf den Sangal-
ienais zurtlckgehen, es sind dies besonders der Matritenaia, der Rhedigeranus und der in
Wien befindliche Budenaia. Nur in dem Genethliacon Lucani (2, 7) fliesst eine von dem
Sangallenaia unabhängige Quelle in dem Laur. 82, 9.
412, Bflckblick. Sehen wir auf die Werke des Statins zurück, so
ist der Zeit nach das früheste die Thebais, die wahrscheinlich in den
^) Diese Eigenschaft war es, die beson-
ders Goethe imponierte; denn als er durch
HAin> auf den ihm bis dahin unbekannten
Statins aufmerksam gemacht denselben durch-
gelesen: Statiua, inquit^ poeta eat magnopere
laudandua aaaiduoque atudio noatro dignus:
non me offendunt ea, quae luxuria quadam
ingenii effudit, aed admiror in eo artem,
qua res conspicuaa mente comprehendere et
exacte describere Optimum quemque poetam
decet. Vide quam accurate depingat tüum
equum Domitiani, quam fideliter reddat ima-
ginem HereuliSf quam aubtiliter deacribat
viUarum regionea, balnei ornamenta. Omnea
rea, quaa verbia deaignat, ante oculoa nobis
versari videntur: tanta est ei ara rerum
imaginea percipiendi et repraeaentandi (Hahd,
Statu Hercules Epitrapezios Jena 1849 p. 7).
M. ValeriuB Martialis.
325
Jahren 80 — 92 entstand; nach derselben, im Jahre 95 wurde die Achilleis
in Angriff genommen, dieselbe kam durch den Tod des Dichters nicht zur
Vollendung. Die Gelegenheitsgedichte begleiten beide Werke; von dem
Epicedion auf seinen Vater abgesehen, beginnen sie etwa mit dem Jahre 88.
Die Herausgabe derselben erfolgte nach dem Erscheinen der Thebais, wahr-
scheinlich mit dem Jahr 92 ; noch drei Sammlungen Hess der Dichter folgen,
die letzte im Jahre 95. Aus seinem Nachlass wurde von fremder Hand
ediert die Achilleis und noch eine Silvensammlung, welche jetzt als 5. Buch
zählt.
Wie bei andern Schriftstellern des Altertums hat auch bei Statins
die Beurteilung eine tiefgehende Änderung erfahren. Im Mittelalter waren
die Thebais und die Achilleis viel gelesene Oedichte, dagegen waren die
Silvae nahezu verschollen. Heutzutage lebt Statins nur noch in seinen
Silvae fort.")
Ausgaben sämtlicher Werke des St. von Duebnbr, Paris 1835 (1 Bd.)* 1836 (2 Bd.);
von QüECK (2 Bde.) Leipz. 1854; von BIrbens (Silvae) und EomjcANN (Achilleis, Thebais)
Leipz. 1876 und 1879. — Thebais (die ersten sechs Bücher) von Otto Müller, Leipz. 1870.
— Silvae von MARKJ.Ain>, London 1728 (schwer zu lesender Abdruck Dresden 1827), eine
durch reiche Konjekturen ausgezeichnete Ausgabe; von Hakd (enthält nur 1, 1 — 3, weit-
schweifiger Kommentar). — Bearbeitungen einzelner Silvae (knappe Auswahl): 1,2 Herzog,
I^ipz. 1882; 1,4 Friedlandeb, Sittengesch. 8' 479; 1,6 Wachsmuth, Rh. Mus. 43,21; 3,5
Imhof (Halle 1863) ; 4, 6 Hahd (Jena 1849). Stange, Statu carminum quae ad Domitianum
spectant interpretatio, Dresden 1887.
Andere Epiker sind:
1) Saleius Bassus. Quintil. 10, 1,90 sagt, als er von den Epikern handelte: tehe-
mens et poeticum ingenium Salei Bassi fuit, nee ipaum seneetute nuUuruU, Vgl. Tacit.
dial. 5 und 9; Juv. 7,80. — Held, De Saleio Basso, Bresl. 1834.
2) Cord US. Von ihm erw&hnt eine Theseis Juv. 1,2.
3) Julius Cerialis hatte ausser einer Gigantenschlacht auch ländliche Gedichte
nach dem Muster Vergils verfasst (Martial 11,52,17).
4) Caninius Rufus bellum daeicum scribere parat, wie Plin. ep. 8,'4, 1 berichtet.
14. M. Valerius Martialis.
413. Biographisches. M. Valerius Martialis ist ein Spanier; Bil-
bilis, eine in der Tarraconensischen Provinz am Salo gelegene kleine Stadt,
nennt er seine Heimat. Seine Eltern Valerius Fronte und Flaccilla (5, 34)
Hessen ihn die grammatische und die rhetorische Schule durchmachen (9,
73, 7). Als er im Anfang der zwanziger Jahre stand, wandte er sich (im
Jahre 64) nach der Hauptstadt, um dort sein Glück zu versuchen. Ein
doppelter Weg stand ihm offen, er konnte den mühevollen, aber reichlich
lohnenden Beruf eines Sachwalters ergreifen ; auf der anderen Seite konnte
er sich auch als Klient ein zwar unterwürfiges, aber im ganzen viele freie
Zeit gewährendes Dasein verschaffen. Reiche vornehme spanische Familien
gab es in Rom genug, da war das Geschlecht des Rhetor Seneca, da
war der berühmte Rhetor Quintilian und andere. Hier war es ihm ein
leichtes, in das Verhältnis der Klientel zu kommen, hier waren sicher-
lich auch Empfehlungen für andere angesehene Häuser zu haben. In
seinen Gedichten sehen wir Martialis lediglich auf der zweiten Laufbahn,
*) Auch die Übersetzung der Thebais von
Imhof (Ilmenau 1885 und 1889) wird nach
dem Eindruck, den sie auf mich gemacht,
wenige zur LektQre bestimmen.
326 BömiBche Litteratargeschiohte, II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
und wir wissen nicht, ob er jemals einen Versuch in der Sachwalterkarriere
gemacht. Im Interesse der Litteratur können wir uns nur freuen, dass er
dem Elientendienst sich widmete; derselbe bot ihm reichlich Gelegenheit,
sich mit allen Schichten des damaligen Roms vertraut zu machen; ein
feiner Beobachter, der für alles ein offenes Auge hatte, sammelte er sich
jetzt die Schätze, die er später in das lautere öold seiner Poesie umsetzte.
Freilich hatte auch seine Stellung als Klient manche Schattenseiten, und
er Hess es an Klagen nicht fehlen; es war hart, besonders im Winter,
sich in aller Frühe vom Lager erheben, die Toga umwerfen und den Patronen
seine Aufwartung machen zu müssen; auch waren der Demütigungen
manche in den Kauf zu nehmen; bei den Mahlzeiten Hess sich der Herr
oft bessere Gerichte vorsetzen als seinem Klienten. Allein die sportula
ernährte, wenn auch knapp, ihren Mann; und für Martial fielen noch be-
sondere Geschenke ab; wenigstens finden wir ihn ziemlich früh im Besitz
eines kleinen Gütchens bei Nomentum (13,42 und 119). Das dichterische
Talent musste ja Martial einen Vorsprung gegenüber vielen andern KUenten
geben, doch ist uns von Gedichten Martials aus dieser Zeit nichts erhalten.
Die erste Spur des dichterischen Schaffens tritt uns von Seiten Martials
erst aus der Zeit entgegen, da er die Mittagshöhe des Lebens überschritten
und im Anfang der vierziger Jahre stand. Als Titus das Flavische Amphi-
theater einweihte, gab er (im Jahre 80) dem Volk eine Reihe von Spielen,
welche durch ihre Pracht und ihre Kuriosität aUes in Erstaunen setzten.
Auf diese merkwürdigen Darstellungen warf Martial eiligst eine Anzahl
Epigramme hin und überreichte sie dem Kaiser. Seine Eilfertigkeit ent-
schuldigt er mit den Worten: „Nimm das rasch Hingeworfene gnädig auf:
kein Missfallen verdient, Cäsar, derjenige, der sich beeilt dir zu gefallen*^ (32).
Mit diesem Werk war der erste Schritt zum Dichterruhm gethan. Be-
lohnungen blieben nicht aus, so das Jus irium liberorum. Schon Titus
muss ihm dasselbe zugedacht haben, denn er spricht an mehreren Stellen
von zwei Kaisern, welche nur Titus und Domitian sein können, als den
Spendern dieser Auszeichnung (3, 95, 5 9, 97, 5). Da er aber auf der
anderen Seite Domitian um Verleihung des Rechte in einem noch vor-
handenen Epigramm bittet und dann in einem zweiten für die Gewährung
seiner Bitte dankt (2, 91 und 92), so scheint die Gnadenbezeigung des
Kaisers Titus erst durch Domitian ihre Rechtswirksamkeit erlangt zu
haben. Auch durch den Titel eines Militärtribunen, womit die Erhebung
in den Ritterstand verbunden war, wurde er ausgezeichnet (3, 95). Allein eine
materielle Verbesserung seiner Lage scheint ihm von Seiten des Hofs nicht
zu Teil geworden zu sein. Etwa vier Jahre nach Veröffentlichung jener
Erstlingsepigramme erschien eine neue und zwar diesmal umfassendere
Sammlung, welche ihren Anlass in den Saturnalien hatte. Es war Sitte,
an diesem Fest sich gegenseitig Geschenke zuzuschicken oder bei der Tafel
zu verlosen; die ersteren hiessen Xenia (Gastgeschenke), die zweiten
Apophoreta (Mitzunehmendes). Den Gaben fügte man poetische Eti-
quetten bei. Für beide Arten von Geschenken verfasste Martial eine Reihe
von Epigrammen und vereinigte sie zu zwei Büchern, die nach der ver-
schiedenen Bestimmung der Geschenke Xenia oder Apophoreta hieesen.
M. Valerias Mariialis« 327
Allein alle diese Versuche zeigen noch nicht den Meister; erst als er sich
von dieser einseitigen Dichtung emanzipiert und dem freieren Schaffen zuge-
wendet hatte, leuchtete sein reicher Geist im hellsten Glänze. Bis zum
Jahr 96 waren elf Bücher in den Händen des Publikums, sie ver-
breiteten den Ruhm des Verfassers in alle Weltgegenden, nur in seiner
äussern Lage trat kein Umschwung ein; zwar finden wir ihn gegen
Ende dieser Periode im Besitz eines eigenen Hauses (9, 18 9, 97) und
eines Maultiergespannes (8, 61, 7), allein des Betteins und der Klagen über
den Klientendienst ist kein Ende; einmal gegen 88 hatte sogar der Un-
wille über seine Verhältnisse ihn bestimmt, Rom zu verlassen und sich
nach Forum Cornelii in Gallia togata zu begeben; das dritte Buch der
Epigramme ist dort erschienen (3, 4). Doch kehrte er bald wieder in
die Hauptstadt zurück. Nach dem Tode Domitians entschloss er sich
endlich definitiv Rom Lebewohl zu sagen. Gewiss war der politische Um-
schwung hiebei mitbestimmend. Für Domitians Anhänger war die Stunde
herangekommen, in der sie ihre Rolle ausgespielt hatten. Was sollte der
Dichter thun, der dem toten Kaiser im Leben fast in cy nischer Weise
geschmeichelt hatte? Das elfte Buch mit seinem über alle Massen ob-
scönen Inhalt, das jetzt fertig geworden war, eignete sich nicht zur direkten
Überreichung an den neuen Kaiser; er stellte daher eine Anthologie aus
dem zehnten und elften Buch zusammen, um sie Nerva vorzulegen. Die
Anthologie ist verloren, das Begleitgedicht aber erhalten (12, 5). Wahr-
scheinlich stand dort auch das durch den Juvenalscholiasten erhaltene
Distichon:
Flavia gens, quantum tibi tertius absttUit heres/
paene fuU tanti, non habuisse dtos.
Hier wird allerdings ein ganz anderes Urteil über Domitian gefällt als
früher; er hat, sagt der Dichter, soviel Schande auf das Geschlecht der
Flavier gehäuft, dass man selbst auf die beiden ersten guten Flavier ver-
zichtet haben würde, wenn man damit die Regierung des dritten abge-
wendet hätte. Allein auf die neuen Herrscher konnten solche Beschimpfungen
unmöglich einen günstigen Eindruck machen. Auch Schmeicheleien fanden
kein geneigtes Ohr mehr. Der Dichter verweist daher die Blanditiae zu
den Parthern (10, 72, 4):
iam non est locus hoc in urbe vobis;
ad Parthos procul ite piUeaios
und meint, dass durch den jetzigen Kaiser aus dem stygischen Haus zurück-
geführt worden sei (10, 72, 11):
siccis rustica Veritas capiUis,
hoc sub principe, si sapis, catfeto,
terbiSf Roma, prioribus loquaHs.
Nach einem Aufenthalt von 34 Jahren sagte er im Jahre 98 Rom Lebe-
wohl und wählte die Vaterstadt Bilbilis zum Sitz seines Alters. Eine
Freundin, die hochgebildete Marcella, hatte ihm ein herrliches Land-
gut geschenkt; jetzt völlig Herr seiner Zeit konnte er seine Tage
in süssem Nichtsthun verbringen (12, 31). Aber auch in Bilbilis ruhte
nicht seine Muse; noch ein Buch Epigramme wurde von dort nach Um-
lauf von etwa vier Jahren in die Welt hinausgeschickt, es ist das zwölfte.
328 Römische Litteratargeschiolite. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
Allein die Zeit des poetischen Schaffens war vorbei; der Dichter war
mittlerweile alt geworden, dann — und dies ist das Entscheidende —
fehlte der Boden, aus dem die Poesie Martials ihre Nahrung zog, Rom
mit seinem grossstädtischen Treiben und Jagen. Bald nach der Heraus-
gabe der letzten Epigrammensammlung starb der Dichter; um das Jahr
104 spricht der jüngere Plinius von seinem Tode (3, 21).
Die Hauptabhandlung über das Leben und die Schriftstellerei Martials bietet die Ein-
leitung zu Friedländers Ausgabe. Bbandt, De Martialis vita, Berlin 1853; ya» Stockum,
De M. rita et scriptis, Haag 1884 (ohne Werth); Hübkeb, Martial (Deutsche Randschau
15. Jahrg. Heft 7, April 1889 p. 85).
414. Das Korpus der Epigramme. Das erhaltene Korpus stellt
eine äusserliche Vereinigung von drei Teilen dar, dem für sich da-
stehenden Buch auf die Spiele {liber spedaculorum von Oruter genannt),
der von Martial zu einer Einheit zusammengeschlossenen Epigrammen*
Sammlung in zwölf Büchern, endlich den zwei £tikettenbüchei*n, den Xenia
und den Apophoreta. Weder das Buch auf die Spiele noch die Xenia und
die Apophoreta tragen eine Buchnummer, ein deutlicher Beweis, dass sie
ausserhalb der Epigrammensammlung stehen; die beiden Etikettenbücher
werden in den Ausgaben regelmässig als 1. XIII und 1. XIV gezählt, allein
in der echten Überlieferung hat diese Numerierung keine Gewähr. Es ist
wahrscheinlich, dass, da die drei Teile nicht zu einer engeren Verbindung
gelangten, die Zusammenstellung derselben ei*st nach dem Tode des
Dichters gemacht wurde. Wir wenden uns zur Besprechung der drei
Teile:
1. Der liber spectaculorum liegt uns in einem Auszug vor; es
fehlen wichtige Schaustücke, deren Übergehung man dem Dichter kaum
zutrauen kann, wie z. B. die Seeschlacht zwischen den Athenern und Syra-
kusern, welche Dio 66, 25 erwähnt. Das Buch in seiner jetzigen Ge-
stalt umfasst 32 Epigramme, welche in der Überlieferung vielfach ver-
sprengt sind. Die drei ersten Nummern führen uns den Schauplatz des
Buchs, Ort und Publikum vor, es folgt die Ausstellung der Delatoren (4),
5 — 23 nebst 27 schildern die Produktionen mit wilden und gezähmten
Tieren, 24—26 mit 28 die Künste und Kämpfe auf der unter Wasser ge-
setzten Arena; 29 bezieht sich auf den Kampf zweier Gladiatoren, 30 auf
die Verfolgung einer Antilope durch Hunde, 31 ist Schluss eines Gedichts
auf einen Gladiatorenkampf, endlich 32 ein Distichon aus dem Widmungs-
gedicht an den Kaiser.
Der Bestand des epigrammaton liber wechselt in den Martialhandschriften ;
aus ihnen erhält man die Nr. 1—30. Die zwei letzten Nr. sind aus Exzerptensammlungen
und Florilegien hinzugekommen, zum erstenmal in der Ausgabe des Junius. Nicht hieher
gehört das in manchen Ausgaben als Nr. 33 aufgeführte Gedicht Flatna gen« (p. 327). Dass
in dem Buch auch Epigramme anderer Dichter stecken, ist eine unbegründete HypoÜiese
Rutgers und Scrivers.
Die Abfassungszeit ist das Jahr 80, in dem die Spiele zur Einweihung des Fla-
yischen Amphitheaters gegeben wurden, Friedländer statuiert die Möglichkeit, dass bei
einer neuen Ausgabe noch einige Epigramme auf Schauspiele Domitians hinzugekommen
seien (9. 22. 25 b. 18. 20). Allein die Gründe sind völlig unzureichend. Noch weniger
wahrscheinlich ist die Ansicht Daus, dass das Buch ursprünglich nur aus Epigrammen auf
die Schauspiele bei dem dacischen Triumph Domitians bestand und auch für diesen Kaiser
bestimmt war und dass erst später (vielleicht nach dem Tode Martials, p. 32) die auf Titus
sich beziehenden Epigramme hinzugefügt worden seien. (Vgl. dagegen Gilbert, Wochenschr.
f. klass. Philol. 5, 1069.)
M. Valerins Martialis. 329
2. Die grosse Epigrammensammlung bildet insofern eine Ein-
heit, als einzelne Bücher vom Dichter mit Nummern versehen wurden. Dies
geschah, soweit wir sehen können, erst vom fünften Buch an. Dieses
Buch wird ausdrücklich als das fünfte bezeichnet (5, 2, 6 5, 15, 1), ebenso ist
das sechste (6, 1)) und das achte (praef.) numeriert. Auch vom zehnten
und elften Buch ist die R^de (12, 5, 1). Von vornherein ist wenig wahr-
scheinlich, dass Martial mit einem „ersten* Buch vor die Öffentlichkeit
trat. Der Dichter würde ja in diesem Fall kundgegeben haben, dass er
des Erfolges seiner Publikation ganz sicher ist. Als er das jetzige dritte Buch
herausgab, sprach er von einem „über prior*^ (3, 1, 3). Es waren also damals
noch keine zwei Bücher vorausgegangen; diese lagen aber vor, als er das
fünfte edierte (5, 2, 5). Sonach muss das zweite Buch später herausge-
kommen sein. Als der Dichter dasselbe und zwar mit der Nummer dem
Regulus überreichte, wunderte sich dieser und fragte nach dem ersten Buch
(2, 93, 1). Diese Verwunderung erklärt sich am leichtesten, wenn wir an-
nehmen, dass damals Martial noch keine numerierten Bücher gegeben
hatte. Auch konnte die Einschaltung des neuen Buchs dann an einer be-
liebigen Stelle erfolgen. Wir werden uns die Sache so zu denken haben:
Als die Epigramme Martials grossen Anklang fanden, entschloss er sich
auch die Epigramme noch zu veröffentlichen, welche er bisher zurückge-
stellt hatte. Also die Idee eines Korpus von Epigrammen hat sich erst
allmählich im Qeiste des Dichters festgesetzt; wir können auch nachweisen,
dass er mehrere Bücher zu Einheiten zusammenschloss. So überreichte er
dem Rufus das dritte und vierte Buch in einer Qesamtausgabe (4, 82).
Noch durchgreifender war aber die Konstituierung des Korpus der ersten
sieben Bücher. Manche Leser hatten über fehlerhafte Abschriften dem
Dichter gegenüber geklagt (7,11); Martial unterzog daher diese Bücher
einer Revision und überschickte sie dem Julius Martialis (7,17). Hiebei
wird die Numerierung aller Bücher durchgeführt worden sein. Aber auch
das eine und das andere Epigramm mag hinzugekommen sein; so ist
höchst wahrscheinlich, dass die erste Nummer, in der Martial von seinem
Weltruf spricht, erst bei dieser zweiten Ausgabe der sieben Bücher hinzu-
trat. Es ist nicht wohl möglich, dass der Dichter gleich bei seinem
ersten Auftreten mit solchem Selbstgefühl von sich sprach, selbst wenn
einzelne Epigramme schon vorher eine weite Verbreitung und Anerkennung
gefunden hatten. Es ist aber um so weniger anzunehmen, als das erste
Buch noch ein zweites Epigramm enthält, welches einen Ton anschlägt,
aus dem man sofort erkennt, dass ein zum erstenmal auftretender Schriftsteller
spricht (1, 3). Ein ähnliches Verhältnis besteht zwischen den prosaischen
Vorreden zum ersten und zweiten Buch; die Vorrede zum zweiten Buch
enthält eine Rechtfertigung, dass den Epigrammen eine epistida voraus-
geht, sonach müssen wir schliessen, dass zum erstenmal bei der Heraus-
gabe des zweiten Buchs ein solcher prosaischer Brief an die Spitze trat;
der Brief zum ersten Buch wird also bei der Edition der sieben Bücher
hinzugekommen sein und Martial kann daher dort von „libeüi*' sprechen. Auch
1,2 und 1,4 mögen erst später hier ihre Stelle gefunden haben. Weit-
greifendere Umgestaltungen sind aber, soweit wir sehen können, nicht
330 RönÜBche LitteratnrgeBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
eingetreten. Dagegen hat das zehnte Buch nach dem Erscheinen des
elften eine starke Umwandelung durchgemacht; dasselbe war noch vor
Domitians Tod herausgegeben; als die umarbeitende Hand an dasselbe
herantrat, sass Trajan auf dem Thron; die starke Vermehrung, welche
in der neuen Ausgabe eintrat, mag die Ursache gewesen sein, dass die
frühere Ausgabe des zehnten Buchs unterging. Auch das zwölfte in Spa-
nien an den Tag getretene Buch scheint nicht in seiner ursprünglichen
Form, sondern in einer vermehrten Ausgabe vorzuliegen. Als nämlich
der Oönner Martials Terentius Priscus von Rom nach Spanien zurück-
kehrte (Dezember 101), verfasste er in wenigen Tagen (praef. 20) einen
brevis libellus (1, 3). Da aber das uns vorliegende Buch 98 Epigramme
enthält, so wird der Dichter später eine vermehrte Auflage dieses brevis
libellus veranstaltet haben.
Dies ist der Bestand der Sammlung. Die Zeit des Erscheinens der
einzelnen Bücher anlangend, so liegen die in Rom geschriebenen Bücher
(1 — 11) zwischen 85/6—96, hiezu kommt noch die Umarbeitung des zehnten
Buchs vom Jahre 98. Unter Domitian sind entstanden eins bis neun, das
elfte wurde unter Nerva, das umgearbeitete zehnte unter Trajan ver-
öffentlicht. Das letzte (zwölfte) Buch erblickte in der kürzeren Fassung
in Bilbilis das Licht und zwar Ende 101 oder Anfang 102 unter der Re-
gierung Trajans. Wann das erweiterte Buch ediert wurde, wissen wir nicht.
Ober die zwei ersten Bücher hat eine ungemein gekünstelte und verwickelte Hypo-
these Dau aufgestellt p. 78. Friedländer gibt zuletzt (Sittengeschichte 3^ 472) folgende
Chronologie:
I u. II ediert 85/86
III , 87/88
IV , Dezember 88
V , Herbst 89
VI , Sommer oder Herbst 90
VII , Dezember 92
VIII , Mitte 93
IX , Mitto oder Ende 94
X^ n Dezember 95
XI . .96
X u. XI (Anthologie) ediert 97
X* ediert Mitte 98 (Abreise Martials aus Rom)
XII , Anfang 102.
Derselbe lässt nur die Möglichkeit einer zweiten Ausgabe der sieben ersten Bücher zu.
3. Xenia und Apophoreta. Diese zwei Bücher heben sich schon
dadurch von den übrigen ab, dass jedes Epigramm eine vom Dichter her-
rührende Überschrift hat. Die für Xenia bestimmten Gaben sind mit Aus-
nahme von 4, 15, 126, 127 lauter Speisen und Qetränke. Die Apophoreta
haben die Eigentümlichkeit, dass sie Paare von Geschenken und zwar je
ein Geschenk eines Armen und eines Reichen, d. h. ein kostbares und ein
wohlfeiles vorführen. Die Ordnung der Paare ist aber gestört teils durch
Verschiebungen, teils durch Lücken. >) Die beiden Bücher wurden nach dem
Chattenkrieg (84) und vor dem dacischen (86—89) herausgegeben (vgl.
14,34.13,4 14,170).
Die Behauptung Daus (p. 35—56, bes. p. 54), dass die Epigramme der Bücher 13
^) Vgl. Friedlander Ausg. 2,295, der die zusammengehörigen Paare herzustellen
versucht.
M. Valerina Mürtialis. 331
und 14 allmählich in den Jahren 84—92 entstanden seien, weist Fbibdlakdeb zurftck,
Berl. Philol. Wochenschrift 1889 nr. 88 p. 1203
Litteratur tlber die Chronologie der Epigramme. Stobbb, Philol. 26,44;
MoMMSEK, Hermes 8, 120— 126 (Bttcher 10—12); Stobbe, Martials 10. und 12. Buch, Philol.
27,630; HiBscHyELD, Gott. Gel. Anzeig. 1869 p. 1505 (B. 3, 4 u. 9); FbibdlXkdeb, Ausg. 1,
50 Sittengesch. 3*, 472 ; Dau, De M, V. M, libellarum ratione temporibusque P., Rostock
1887 (scharfsinnige, aber grösstenteils unhaltbare Aufstellungen).
415. Wflrdigung Martials. Als Martial die sieben ersten Epigrammen-
bücher zum zweiten Male in die Welt hinausgehen Hess, konnte er von
sich sagen (1, 1):
hie est quem legis iüe, quem requiris,
tüto notus in orbe Martialis
argtUia epigrammaton ItbeüiSf
cui, Jector studiose, quod dedisti
viventi decus atque sentienti,
rari post cineres habent poetae.
Nicht bloss in Rom wurden seine Gedichte aufs eifrigste gelesen, selbst
in die entferntesten Teile des römischen Reichs drangen seine Schöpfungen,
der Centurio hatte in seinem Zelt im getischen Land den Dichter und in
Britannien gingen die Epigramme von Mund zu Mund (11,3). Sogar der
lesescheue Domitian nahm, wenn wir dem Dichter >) glauben dürfen, wieder-
holt die Werke des Epigrammatikers vor (6, 64). In den Buchhandlungen
war Martial ein sehr gangbarer Artikel; in verschiedenen Ausgaben war
derselbe vorrätig. Secundus verkaufte die Epigramme in Pergamentaus-
stattung, welche wegen ihres geringen Umfangs sich besonders zum Ge-
brauch auf Reisen eignete (1,2); bei Atrectus war eine Ausgabe in ele-
ganter RoUenfoim zu haben (1, 117). Auch der Verleger Quintilians Trypho
führte den Dichter in seinem Verlag (4, 72 13, 3). Der buchhändlerische
Erfolg war ein so durchschlagender, dass sogar die vergessenen Jugend-
gedichte Martials von Q. Pollius Valerianus neu aufgelegt wurden (1, 113).
Selbst der Plagiator stellt sich ein ; man veröffentlichte Martials Epigramme
unter eigenem Namen oder man gab seinen Produkten den glänzenden
Aushängeschild des berühmten Dichtemamens; allein im letzten Fall ver-
riet sich regelmässig der Übelthäter, da die Individualität Martials eine
so stark ausgeprägte und originelle war, dass die Nachahmung durch den
weiten Abstand leicht kenntlich war (1, 53). Schlimmer war es, wenn
giftige Produkte sich den Namen des Dichters beilegten (7, 12). Aus
allem geht hervor, dass die Bewegung, welche das geistige Schaffeti Mar-
tials hervorrief, eine ungemein intensive war. Er war einer der berühm-
testen Männer seiner Zeit; man wies auf ihn, wenn er sich zeigte, mit
den Fingern (5,13); seine Büste stellte Stertinius Avitus in seiner Biblio-
thek auf (praef. 1. 9). Es ist nicht zu verwundem, dass den sonst sehr be-
scheidenen Epigrammatiker hie und da ein Hochgefühl ergriff, dass ihm
zu Lebzeiten zu teil geworden, was andere erst nach ihrem Tode erreichen,
glänzender Ruhm; er durfte einem reichen Freigelassenen die Worte ent-
gegenschleudem: Was ich bin, kannst du nicht werden; was du bist,
kann jeder erreichen (5, 13). Er kannte die Macht, welche sein Genius ihm
in die Hand gelegt; er wusste, dass manche zitterten und bebten vor
diesen ausgelassenen Kindern des Witzes (6,61); einem Kläffer konnte er
») Vgl p. 243, 1.
332 Römische Litteratargeschichie. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
zurufen, er werde ihm nicht die Ehre anthun, seinen Namen zu nennen,
namenlos müsse er zu Grunde gehen (5,60). Dieser Ruhm des Dichters
war kein ephemerer; noch heute, obwohl uns Jahrhunderte von seiner Zeit
trennen, blicken wir mit Bewunderung auf seine sprühenden Geistesfunken.
Es ist nicht schwer, das eine oder das andere gelungene Epigramm zu
produzieren; allein nahezu 1200 zu schreiben und nicht zu erlahmen, ist
lediglich der reichsten Genialität vergönnt. In dem über spectaculorum^
den Xenia und den Apophoreta, in welchen das eigentliche Epigramm zu
Tage tritt, war Martial noch nicht in seinem Elemente; aber als er dichtend
das weitverzweigte Leben der Gesellschaft erfasste, förderte er goldene
Poesie zu Tage. Nicht leicht hat jemand so tiefe Blicke in das Treiben
der Menschen gethan als er, er ist einer der grössten Sittenmaler aller
Zeiten, mit sicherer Hand zeichnet er die verschiedensten Typen des da-
maligen Roms und die Thalia hatte recht, wenn sie sagt (8, 3, 19):
at tu Romano lepidos aale finge UbeUos,
adgnoscat mores vita legatque suos.
Eine reiche Gallerie menschlicher Schwächen zieht an unseren Augen vor-
über. Da ist Tongilius, der sich krank stellt, um Sendungen von gutem
Wein und guten Bissen zu erhalten (2,40), da ist Glytus, der mehrmals
im Jahre seinen Geburtstag feiert, um wiederholt die Geburtstagsgeschenke
einzuheimsen (8,64), da ist Tongilianus, dem sein Haus abgebrannt ist
und der durch die Kollekten reicher geworden ist als zuvor (3,52), da
sehen wir Selius die ganze Stadt atemlos durcheilen, in der Hoffnung,
doch noch einem Freund zu begegnen, bei dem er sich zum Essen ein-
laden kann (2, 14), da stossen wir auf einen Scaevola, der sich einen be-
stimmten Reichtum wünscht, um behaglich leben zu können und, nachdem
er ihn erreicht, noch schmutziger ist als zuvor (1, 103), da tritt uns Ge-
mellus entgegen, der wütend um die Maroniila freit, nicht etwa weil sie
schön ist, sondern weil sie hustet (1, 10), da sind Leute, die nicht gern
Bücher kaufen und daher die Epigramme vom Dichter leihen wollen, wahr-
scheinlich um sie nicht mehr zurückzugeben (1,117 4,72), da erscheint
ein Ligurinus, der seine Gäste mit dem Vorlesen seiner Gedichte zu Tode
quält (3,50), da ist ein Coracinus, der sich fortwährend parfümiert, und
dadurch dem Verdacht Raum gibt, dass ein anderer Geruch verdeckt
werden soll (6, 55); da ist ein Ginna, der allen alles, auch das Unschuldigste
ins Ohr flüstert (1, 89), da ist der verliebte Rufus, der seine Naevia nicht
aus dem Mund wegbringt (1,68). Wir brechen ab, denn die Gallerie ist
unerschöpflich; keine Seite der römischen Gesellschaft ist unberührt ge-
blieben. Aber was weiss nicht der Dichter aus seinen Beobachtungen zu
machen! Seine Epigramme sind fein geschliffene Edelsteine; sie erfüllen
alle Anforderungen, welche der strengste Kunstrichter an sie zu stellen
berechtigt ist, indem sie die Aufmerksamkeit eines Lesers auf einen Gegen-
stand zu lenken, seine Erwartung zu spannen und durch einen unerwarteten
Aufschluss zu befriedigen wissen. *) Es wird eine heisse Torte aufgetragen ;
') VgL Lessino, Zerstreute Anmerkungen
über das Epigramm u. s. w. (Ges. V^erke
Göschen Leipz. 1858 6, 213). Über Martial
6, 268 „Nur wenige haben soviel Sinngedichte
gemacht als er und niemand unter so vielen
so viel gute und so viel ganz vortreffliche*.
IL Valerins XartiaHs. 333
ein Mensch bläst, um sie zu kühlen, mit vollen Backen hinein und macht
sie dadurch — zu Mist (3, 17). Aelia hatte noch vier Zähne, sie hustet
und verliert zwei, sie hustet nochmals und verliert wiederum zwei. Jetzt
kannst du, tröstet der Dichter, doch den ganzen Tag forthusten, denn der
Husten kann dir nichts mehr nehmen (1, 19). Der Arzt Diaulus war
Leichenträger geworden. Was ist daran verwunderlich, meint Martial,
er setzt eben sein Metier in anderer Form fort (1,47). Als unser Epi-
grammatiker einen reichen Freund um ein verhältnismässig kleines Dar-
lehen bat und dieser ihm sagte: »Du könntest grossen Reichtum erlangen,
wenn du einen Advokaten machtest*, entgegnete der Dichter: „Um Geld
habe ich dich gebeten, nicht um einen Rat* (2, 30). Der berühmte Arzt
Symmachus begab sich mit einer Schar seiner Schüler zu einem Patienten,
alle betasten ihn mit ihren kalten Händen und bringen es richtig fertig,
dass der Patient, welcher vorher kein Fieber hatte, jetzt Fieber hat f5, 9).
So könnte man Buch um Buch durchgehen, um auf immer neue Über-
raschungen zu stossen. Die Komposition der Epigramme ist so präcis
und abgerundet, dass keine Übersetzung im Stande ist, die Kraft des Ori-
ginals zu erreichen. Alles Rhetorische und Aufgedunsene ist fern gehalten
und mit vollem Recht sagt er (4,49,7):
a nostris procul est omnia vesiea Itbellis,
Musa nee insano symuUe nostra turnet.
Wahrlich ein grosses Verdienst in einer Zeit, in der die Poesie nur in
rhetorischem Gewand erschien. Auch das war etwas Grosses, dass er
die Poesie wieder zu einer lebendigen Macht gestaltete und von den ab-
gelebten mythologischen Stoffen nichts wissen wollte. Selbst die Bewun-
derung, die diese Werke erfuhren, erschütterte ihn nicht in seiner Ansicht.
Es ist wahr, erwiderte er, diese Epen werden bewundert, aber meine Epi-
gramme werden gelesen (4, 49, 10). Ein Mann mit dieser Anschauung konnte
keine engeren Beziehungen zu dem Dichter der Thebais und Achilleis Statins
unterhalten; dessen Name wird daher in den Epigrammen niemals ausdrück-
lich genannt, wohl aber finden sich Stellen, welche einen indirekten An-
griff gegen ihn und seine Dichtungsweise enthalten. Der Leser fühlt sich
wie erlöst, dass ihm bei unserm Dichter nichts Gemachtes, nichts Scha-
blonenhaftes, nichts Pedantisches entgegentritt. Die Darstellung bestimmt
sich lediglich durch den Stoff, überall weiss er den richtigen Ton anzu-
schlagen, und die hie und da eingestreuten idyllischen Dichtungen zeigen,
dass er uns auch dui*ch Zartheit und Innigkeit fesseln kann. Alles ist
wie spielend hingeworfen und tfägt den Charakter des Unmittelbaren und
Improvisierten und lässt uns leicht über kleine Nachlässigkeiten der Sprache
hinwegsehen. Überall gewahren wir den Zauber der Originalität, die sich
bei ihm in einem Grad findet wie bei wenigen römischen Dichtem. Zwar
hat er eifrig die poetischen Schätze seines Volkes studiert; er nennt dank-
bar seine Vorgänger Gatull, Domitius Marsus, Albinovanus Pedo und den
unter Galigula getöteten Cn. Cornelius Lentulus Gaetulicus >) (praef. 1. 1).
^) Derselbe wird auch als Liebesdichter 1 mit der Einfübrung „cum ait de Britannts*
in der bekannten Stelle Plin. ep. 5, 3, 5 er-
wähnt. Probns zu Qeorg. 1,227 citiert drei
Hexameter von ihm (Barrens FPL. p. 361)
wahrscheinlich aus einem Gedicht Qber eine
Expedition gegen die Germanen und Britannen
(Jahn zu Peknius p. CXLII).
334 KOmiBche Litteratnrgeschiolite. Ü. Die Zeit der Xonarchie. 1. Abteilang.
Wir können auch noch die Spuren seiner Studien aufweisen. Von den
drei Metren, die er fast ausschliesslich anwendet, dem Choliambus, dem
Hendecasyllabns und dem elegischen Distichon gestaltet er die beiden
ersten nach dem Muster Catulls, fär das dritte ist ihm Vorbild der Meister
Ovid. Die poetische Phraseologie ist ihm durch die fleissige Lektüre so
vertraut geworden, dass man sie nicht mehr als ein fremdes Gut empfindet.
Auch die griechische Litteratur liess er nicht unbenutzt; schon längst ist
bemerkt, dass die Epigramme eines unter Nero^ lebenden griechischen
Dichters Lucillius unserem Epigrammatiker vorlagen. Allein ein Vergleich
der Originale und der Kopien erweist den Vorzug der Kopien; auch den
Nachahmungen hat er den Stempel seines mächtigen Geistes aufgedrückt.
So ist denn bei Martial eine Reihe von Eigenschaften vereinigt,
welche einen grossen Dichter ausmachen. Und seine Meisterschaft wird
nicht leicht jemand läugnen wollen, dagegen werden seinem Charakter
zwei Gebrechen zur Last gelegt, seine Obscönität und seine servile Ge-
sinnung. Es ist wahr, dass viel Schmutz in den Epigrammen aufgehäuft
ist, allein immerhin bilden die obscönen Stücke doch nur einen verhältnis-
mässig geringen Bruchteil, von der grossen Sammlung werden es nicht zwei-
hundert sein.') Ganz aber konnte kein Dichter, der die römische Gesellschaft
schildern wollte, an dieser Nachtseite des menschlichen Lebens vorübergehen.
Schon Martial war sich bewusst, dass er nach dieser Seite hin Anstoss erregen
werde, und lässt es an Entschuldigungen nicht fehlen, er hebt hervor, dass
er nicht für Kinder schreibe (3, 69), sondern für leichtlebige Jünglinge und
Mädchen und für Leute, welche die Floralien besuchen (praef. 1. 1), er ent-
schuldigt die Nuditäten des elften Buchs mit der Freiheit der Satumalien
(11, 2), er sagt, dass man aus seinen Gedichten keinen Schluss auf sein
Leben machen dürfe, denn (1,4,8):
Uiaciva est nohis ^agina, vüa proba.
Und wirklich empfängt der Leser auch bei diesen widerwärtigen Pro-
dukten den Eindruck, dass sie nicht darauf ausgehen, die Sinneslust an-
zuregen, sondern eher abzuschrecken; es fehlt das Lüsterne, das die ero-
tischen Dichtungen Ovids so gefahrlich macht. Schwerer wiegt der Vor-
wurf der Servilität. Die Schmeicheleien gegen Domitian, das fortwährende
Betteln, die Unterwürfigkeit gegen die vornehmen Herren, die sogar soweit
geht, dass er sich Themate für Epigramme geben lässt (11,42), beleidigen
uns oft. Allein hier wird eine gerechte Erwägung zu einem weniger ver-
dammenden Urteil sich entschliessen müssen. Die Buchhändler zahlten dem
Dichter kein Honorar; er war also auf fremder Leute Gunst angewiesen.
Als er nach vierunddreissigjährigem Aufenthalt Rom verliess, trug er, der
grösste Epigrammatiker aller Zeiten, ein von dem jüngeren Plinius ge-
spendetes Reisegeld in der Tasche. Bei der Not, die ihn fortwährend
bedrückte, konnte er die Unabhängigkeit seiner Gesinnung kauni aufrecht
erhalten. Dass er dem Hofe gegenüber eine kriechende Haltung annahm,
wird durch die traurige Zeitlage genugsam entschuldigt. Verächtlich
wird sie erst von dem Moment an, als er vor dem neuen Herrn sich
^) Vgl. Fbiedlakder Ausg. 1, 19.
*) In der Ausgabe in twim Delphini
von CoLLBSso sind nur 150 als anstössig
ausgeschieden (Fbisdi<andbb Ausg. 1, 15).
Die Diohterin Snlpicia und andere lyrische Dichter. 335
duckend den alten beschimpfte (vgl. p. 327). Völlig reinwaschen lässt sich
der Dichter in diesem Punkt nicht. Doch hat er wiederum Eigenschaften,
die uns fOr ihn einnehmen; er ist frei von Überhebung, er ist empfanglich
für wahre Freundschaft, er hat eine tiefe Liebe zur Natur, er zeigt keine
Spur von Neid, sein Witz ist von allem giftigen Wesen frei; für seine
Typen gebraucht er fingierte Namen (praef . I). ^) Als der jüngere Plinius
die Kunde von seinem Tode erhielt, konnte er nicht bloss seinen Witz
und seinen Scharfsinn, er durfte auch seinen „candor animi" rühmen (ep. 3, 21).
Die Überlieferung. Da Martial ein viel^elesener SchriffcsteUer war, so sind viele
Handschriften von ihm erhalten. Sie zerfallen in drei Familien. Die erste Familie
wird gebildet aus dem Yossianus 86 s. IX (mit 272 Epigr.), dem Thuaneus der Pariser
Bibliothek 8071 s. IX (mit 846 Epigr.), dem Vindobonensis 277 s. X (mit 14 Epigr.); aus
derselben Quelle stammte auch eine von Bokgabs verglichene Handschrift, deren Varianten
er am Rand eines Exemplars des Colinaeus (1539 in der Hemer Bibliothek) notiert hat
(FbibdlIndbb Ausg. 1,76). Die zweite Familie beruht auf der Becension des Torquatus
Gennadins (401 n. Ch.) vgl. Fbibolandib Ausg. 1,69. Ihre Glieder sind der verschollene
Kodex Gruters, der Palatinus Vaticanus 1696 s. XV, aus einer alten Vorlage genau abge-
schrieben, der ArondeUianus 136 im brit. Mus. s. XV. Die dritte Familie wird am
besten repriLsentiert durch den Edinburgensis s. X, den Puteanus s. X, den mit ihm
aufs innigste zusammenhängenden Eporediensis und durch den Vossianus 56 s. XI/XII.
Ausgaben. Um die Kritik Martials machten sich die drei Niederländer Hadrianus
Junius, Janus Gmterus und Petrus Scriverius sehr verdient. Die Ausgaben des Scriverius
(besonders die von 1621) sind für unsem Dichter epochemachend. Die neuere Zeit hat
die Ausgaben von Sghvbidbwin (eine mit kritischem Apparat Grimma 1842, dann eine Text-
ausgabe Leipz. 1853), die mit deutschem Kommentar versehene Fbibdlakdbbs in zwei
Bänden Leipz. 1886) und die von Gilbebt, Leipz. 1886 hervorgebracht.
Andere Epigrammendichter. Dass noch mancher Römer seine Musestunden
mit dem Dichten des einen oder des andern Epigramms ausfüllte, ist bekannt; so teilt
uns Plinius ep. 9, 19, 1 das Epigramm mit, das sich L. Verginius Rufus auf sein Grab-
mal setzen liess. Von Cn. Octavins Titinius Capito sagt derselbe Plinius ep. 1, 17,3
clarissimi ctiinsque vitam egregiis carminibua exomat, (Über Brutianus vgl. Martial
4, 23,4 und über Cerrinius Martial 8, 18, 1.)
15. Die Dichterin Sulpicia und andere lyrische Dichter.
416. Das unterschobene Oedicht der Sulpicia. Martial spricht in
zwei Gedichten (10, 35 und 10, 38) in enthusiastischer Weise von einer
Sulpicia, der Gattin des Galenus; in dem ersten feiert er sie als Dichterin :
omnes Sulpiciam legant pueÜae,
uni quae eupiunt viro placere;
omnes Sulpiciam legant mariti,
uni qui eupiunt placere nuptae.
non haec Colehidoa asserit furorem,
diri prandia nee refert Thyestae;
Seyllam, Byblida nee fuisae credit:
sed eastos docet et probos amores,
lu9U8, delicias facetiasque,
cuius earmina qui bene aestimarit,
nuüam dixerit esse nequiarem,
nullam dixerit esse sanctiorem.
Am Schluss deutet der Dichter auf ihr eheliches Glück mit Galenus. Dies
ist auch der Gegenstand des zweiten Gedichts, das an Galenus gerichtet
ist und ihm zu seiner fünfzehnjährigen Verbindung mit der Sulpicia in
warmen Worten gratuliert. Die zwei der Sulpicia beigelegten Trimeter
sind obscöner Natur. Ausserdem tragen noch 70 Hexameter den Namen
') Das Genauere über dieselben bei Fbibdländsb Ausg. 1,22.
336 Bömische LitteratargeBchiehte. IL Die Zeit der Monarolue. 1 Abteilung.
der Dichterin; in denselben entschuldigt sie sich der Muse gegenüber zu-
erst, dass sie jetzt eine andere Dichtungsart mit einem andern Versmass
pflege; dann richtet sie die Frage an Calliope, was denn der Göttervater
vorhabe, ob Rom wieder in Unkultur zurücksinken solle. Durch kriege-
rische Tüchtigkeit sei Rom emporgekommen und habe sich die Welt unter-
jocht, dann aber habe es sich dem Studium der Weisheit hingegeben und
sei bei den Griechen in die Schule gegangen; jetzt aber würden die Phi-
losophen aus Rom hinweggejagt. Die Muse tröstet die Klagende, die zu-
letzt noch bittet, ihren Galenus in Schutz zunehmen, indem sie des Tjrrannen
Untergang weissagt. Das Gedicht ist abgeschmackt und kann schon
wegen gewisser auf spätere Zeiten 0 hindeutenden sprachlichen Eigen-
tümlichkeiten nicht von der Sulpicia sein; es gehört einer sehr späten
Zeit an.
Ober die Zeit der Abfassung des Gedichtes, das der Herausgeber gegen die
Überlieferung aatira nannte, gehen die Ansichten auseinander. Bahrbhs sagt, De Sul-
piciae qwte vocatur 8aiira p. 42 : ego sie statuo, poemaHum nostrum non muUo post Ausonn
tempus compositum esse a tirone quodamy qui lectis Sulpiciae opusaUis — summum eius in
maritum amorem depingere et ipse cupiens egregiam in Domitiani de phüosophis abigendis
edicto ansam nactus aibi videretur. Boot, De Sulpiciae quae fertur satira^ Amsterd. 1888
(aus den Abhandlungen der Niederl. Akad.) dagegen hielt das Gedicht für ein Er
Zeugnis des 15. Jahrhunderts. Allein dem widerspricht, dass das Gedicht 1493 nach dem
Zeugnis des Raphael Volaterranus im Kloster Bobio in einem Kodex aufgefunden wurde;
BücHELSB (in der von ihm besorgten zweiten Auflage p. XV), der wie Boot das Gedicht
dem Altertum abspricht {verbis examinatis sententiisque ac nominibus mihi persuasi [Sul-
piciae quae fertur saturam] compositam esse ab aliquo Caecio incondite balbeque iocato),
meint daher, dass das Gedicht, welches in dem codex Bobiensis gefunden wurde, nicht mit
dem unsrigen identisch sei. Der codex Bobiensis ist nämlich verschollen und unsere
Quellen für das Gedicht sind die editio Veneta des Jahres 1498, wo es im Inhaltsverzeichnis
lieisst: SulpUiae carmina LXX (es sind 70 Verse) quae fuit Domitiani temporibus, nuper
iper) Georgii Mendae opera in lucem edita und die editio Parmensis des Th. Ugoletus des
Jahres 1499. Alles erwogen erscheint die Ansicht Boots und Büchelers nicht haltbar und
werden wir das Gedicht noch dem spätem Altertum zuschreiben müssen.
Ausgaben: von Wernbdobf PLM. 3, 83; von Bährbns in der oben citierten Abhand-
lung p. 37 — 40, in den PLM. 5, 93, von Jahn-Büchblsr in der Ausgabe des Persius, Jnvenal
(1886) p. 223.
Andere lyrische Dichter:
1) Vestricius Spurinna Plin. ep. 3, 1,7 scribit — et quidem utraque lingua Igrica
doctissima,
2) PassennuB Paulus Plin. ep. 6, 15 scribit elegos (9, 22). Über ihn als Nachahmer
des Properz vgl. p. 126.
3) Sentius Augurinus Plin. ep. 4,27 {Hendecasyllaben) vgl. Behrens FPL. p. 371.
4) Voconius Victor schrieb Liebesgedichte {doctos Hbellos) auf seinen Thestylos
(Martial. 7, 29).
5) Varro als Tragiker und Lvriker von Martial gefeiert (5, 30).
6) Manilius Vopiscus, nicht bloss Lyriker, sondern auch Epiker und Satiriker
(d. h. dilettantische Spielereien). Stat. silv. 1, 3, 99.
16. Die Eomödiendichter Gatullus, M. Pomponius und Vergilius
Romanus.
417. Verschiedene Versuche auf dem Oebiet der EomOdie. Auch
an vereinzelten Bestrebungen auf dem Feld der Komödie fehlt es nicht in
unserm Zeitraum. Zur Zeit Galigulas schrieb ein Gatullus Mimen, einen
Laureolus (Suet. Calig. 57) und ein Phasma') (Juv. 8, 186 mit SchoL). In
') So wird Vs. 52 „captivus*' gehraucht,
wozu BücHBLER bemerkt: ut nunc Itali lo-
cuntur, cattiva, ut OaUi, chitive,
^) Friedlandbb zu Martial 5,30.
D. Janias Juvenalia.
337
einer Inschrift aus Aeclanum stellt sich uns ein Eomödiendichter des
Namens M. Pomponius Bassulus mit folgenden Senaren vor (CIL. 9,
1164):
ne more pecoris otio transfungerer,
Menandri paucas vorii acitas fabulqs
et ipsus etiam sedtüo finxi novas,
id quäle quälest chartis mandatum diu.
Pomponius ist also in doppelter Weise thätig, er übersetzt Menan-
drische Stücke, verfasst aber auch eigene Komödien. Allem Anschein nach
lebte der Dichter in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts. Einen
zweiten Komödiendichter lehrt uns der jüngere Plinius kennen, den Ver-
gilius Romanus. Wie Pomponius schrieb er Stücke nach Art Menanders
und anderer Dichter der neuen Komödie, später versuchte er sich in einer
alten Komödie mit satirischer Tendenz, auch Mimiamben verfasste er. Wie
viel an dem Lobe des Plinius wahr ist, lässt sich nicht entscheiden (ep.
6, 21, 2).
17. D. Junius Juvenalis.
418. Biographisches. Das Leben Juvenals bietet der Forschung
nicht geringe Schwierigkeiten dar. In seinen Gedichten spricht der Dichter
selten von sich; es geht uns daher das lauterste Zeugnis ab. Die zahl-
reichen Vitae aber, die uns von Juvenal überliefert sind, variieren in einer
Weise, dass es schwer ist, den trotzdem anzunehmenden festen Kern heraus-
zuschälen. Um so erfreulicher ist es, dass eine von dem Dichter her-
rührende Steinurkunde, die leider jetzt wieder verloren ging, uns für
einige Daten einen festen Halt gibt. Es ist eine bei Aquinum gefundene
Weihinschrift, welche Juvenal für den Tempel der Ceres Helvia, die er in
seiner Satire 3, 320 erwähnt, bestimmt hatte. Aus dieser Inschrift er-
fahren wir, dass Decimus Junius Juvenalis Tribun der ersten dalmatischen
Kohorte, dann Duumvir quinquennalis, endlich Flamen des göttlichen Ves-
pasian war. Sonach bekleidete Juvenal ein Staatsamt, dann zwei Ge-
meindeämter in seiner Vaterstadt. Der Militärtribunat war ohne Zweifel
die höchste militärische Würde, welche er erreicht hatte, als er die In-
schrift setzen liess. Die Kohorte, welche er kommandierte, stand nach
inschriftlichen Zeugnissen 105 und 124 in Britannien.*) Wir dürfen an-
nehmen, dass sie auch dort stand, als Juvenal das Kommando inne hatte.
Dass der Satiriker in seiner Militärzeit viele Länder und Orte gesehen,
ist an und für sich wahrscheinlich, es legen aber auch seine Satiren davon
Zeugnis ab.^) In seiner Heimat gelangte Juvenal zur höchsten Stufe, zum
duoviratus quinquennalis, d. h. er bekleidete die Konsulwürde verbunden
mit der Zensur. ') Auch das Priestertum des vergötterten Vespasian war
ein hochangesehener Ehrenposten. Diese Gemeindeämter haben zur Vor-
^) Hübner, Hermes 16, 566 Rhein. Mus.
11,30 16,566 CIL. 7,85.
'^) Vgl. HüBKEB, Wochenschr. f. klass.
Philol. 1889 nr. 49 Sp. 1344,
') „Die munizipale Censur oder die sog.
Quinquennalität ist, obwohl unzweifelhaft
nach dem Muster der stadröm. in der Zeit ent-
wickelt, wo es in Rom bereits besondere
Handbuch der klass. Altertamswissenscbaft. yUL 2. Teil.
Censoren gab, dennoch stets mit dem Ober-
amt vereinigt geblieben, so dass die diese.s
Geschäft verwaltenden Oberbeamten zu ihrem
gewöhnlichem Titel den Beisatz censoria po-
teMate oder quinquennalis hinzunehmen*.
MomtsEK, Rom. Staatsr. 2, 1^ p. 324. Mar-
QUABDT, Rom. Staatsverw. 1*, 160.
22
338 BömiBche LitieratnrgeBchichte. 11. Die Zeit der Xonarchie. 1. Abteilung.
aussetzung, dass Juvenal seinen Wohnsitz in Aquinum hatte, ferner dass
er dort begütert war. Über die Zeit, in der sich diese doppelte Laufbahn
Juvenals abspielte, fehlt es an positiven Daten; wir sind auf Hypothesen
beschränkt. Allein es kann kaum einem Zweifel unterliegen, dass der
Militärdienst in die erste Zeit seines Lebens fiel, und dass die munizipale
Laufbahn den Militärdienst nicht unterbrach, sondern demselben nach-
folgte.*) Wir wenden uns nun zu den rüae; aus denselben erhalten wir
die Nachricht, dass Juvenal bis zum mittleren Lebensalter deklamierte
und dann erst sich der Dichtung zuwandte,^) also erst im reiferen Alter
Satiren schrieb. Diese Notiz findet eine Bestätigung darin, dass er in
der elften Satire auf die , schrumpfende Häuf* (203), also auf ein hohes
Alter hinweist. Da die Satiren, wie wir sehen werden, ohne längere
Unterbrechung nacheinander gedichtet wurden, so musste Juvenal in der
That, als er mit der Satirenschriftstellerei begann, schon die Mittagshöhe
des Lebens überschritten haben. Über die Zeit, in der Juvenal Dekla-
mator war, belehrt uns Martial, der mehrere Epigramme an Juvenal
richtet (7,24 7,95 12,18). Diese Epigramme, welche in die letzten Jahre
der Regierung Domitians und in den Anfang der Regierung Traians fallen,^)
kennen noch keinen Satiriker Juvenal, sondern nur einen beredten {facundus)
Mann, d. h. einen Deklamator; auch setzen dieselben Juvenals Aufenthalt
in Rom voraus. Nun entsteht die Frage, ist diese Periode der deklama-
torischen Thätigkeit vor oder nach der munizipalen Carriere anzusetzen?
Die Frage kann nur durch Hypothese gelöst werden. Wenn wir bei
Martial noch lesen (12, 18, 4), dass Juvenal sich um die Gunst der vor-
nehmen Leute ernstlich bemüht, so werden wir geneigt sein, anzunehmen,
dass Juvenal zuerst in Ron! mit Hilfe der Rhetorik vorwärts zu kommen
suchte, und erst als dies misslang, seine Heimat aufsuchte, um dort zu
einem bescheideneren Ziel des Ehrgeizes zu gelangen.^) Die Satiren aber
werden grösstenteils in Rom geschrieben sein, die dritte Satire wenigstens
lässt unsern Dichter in Rom verweilen. Also muss Juvenal doch nicht
für immer seinen Aufenthalt in Aquinum genommen haben, später zog es
ihn, wie es scheint, wieder nach der Hauptstadt.
Aus dem Gesagten ergeben sich folgende wahrscheinliche Epochen
im Leben Juvenals: 1) Militärdienst in verschiedenen Ländern; 2) rheto-
^) i^Dass sowohl dor Müitärdienst als die
Bekleidung von Munizipalämtem und des
2) Vita II d (Barber. 9, 3) Dübr p. 24 hie ämo
tetnpoi'e videns luxuriam »cribentium nimiam^
Flaminats in Juvenals frühere Lebenszeit fällt, | licet iisque ad dimidiam aeiatem suac taniittftft
kann mit Sicherheit angenommen werden". 1 ritae, tarnen satira« describere statuit. Vit«
(Friedlakdeb, Sittengesch. 3^, 494.) «Dass er
die munizipalen Ämter vor den höchsten
militärischen bekleidet haben sollte, wider-
spräche aller Wahrscheinlichkeit". »Viel-
mehr wird nach der Analogie zahlreicher
ähnlicher Ämtercarrieren, die aus Inschriften
bekannt sind, anzunehmen sein, dass er erst
nach völligem Abschluss der militärischen
die munizipale Laufbahn, vielleicht mit Uber-
springung der gewöhnlichen Vorstufen be-
gann*. ^HÜBKEB 1. c. Sp. 1373).
Illa (Dürr p. 24) prima aetcUe siluit, ad mediam
fere aetaiem deelamamt.
') Frirdländbr setzt sie in die Jahre
92 und Anf. 102.
"•) Hübneb 1. c. Sp. 1370; Dürr p. 17 lässt
die deklamatorische Thätigkeit nach dem Ab-
schluss seiner militärischen und politischen
Laufbahn erfolgen, weiterhin schiebt er die
politische Carriere in die militärische ein
(p. 16).
D. JaniiuB Juvenalis. 339
rische Thätigkeit im reiferen Alter in Rom ; 3) Amtslaufbahn in Aquinum ;
4) Satirensehriftstellerei in Rom.
Gestorben ist er einem Zeugnis einer Vüa zufolge erst unter Anto-
ninus Pius, an welchem Orte, darüber fehlt es an einer Nachricht.
Allgemeine Litteratur über das Leben Jnvenals. Borghesi Intorno all V/r)
di Giovenale {oeuvres 5,49); SvirnfiBBERG, De temporibus vitae carminumque D. Junii Ju-
renaiis rite constUuendis, Helsingfors 1866; Friedländer, De Juv, vitae iemporibus, Eönigsb.
1875; Sittengesch. 3*, 486: Nagüiewski, De Jia\ rita, Riga 1883; Nbttleship, Life and
poems of. J. (Journal of phU. 16,41); Seehacs, De Juv, vita, Halle 1887; Dürr, Das Leben
Juvenals, Ulm 1888; Hübner, Juvenal der römische Satiriker (Deutsche Rundschau 17. Jahrg.
Heft 9 Juni 1891 p. 391-406).
Die Inschrift lautet nach dem CIL. 10,5382 also: (Cere)ri aacrum (D. Ju)niug
Juvenalis, (trib.) coh{artis I) Delmatarum, II (vir) quinq(uennali8), flamen divi Vestpasiani,
vovit dedicav{itq)ue sua peciunia). Über den Stein: atetisae videtur ad ipaam aedem Cereris
Helnnae vel Elvinae patius dedicatam prope Rocraaeccam ab Elvio quodam Elpiave, cuius
gentis non desuni in his partibus lapides (nr. 5585). Der dedicierte Gegenstand wird ein
Altar gewesen sein.
Die Vitae. Dieselben sind zuletzt zusammengestellt und nach Typen gruppiert von
Dürr p. 21. Auch macht derselbe einen Versuch, die Urvita zu konstruieren (p. 26).
Allein die Diskrepanzen sind zu gross, um einen solchen Versuch als ausführbar erscheinen
zu lassen. Bei der Benützung der vita ist an dem Grundsatz festzuhalten, dass von dem
Berichteten nur das, was nicht aus dem Schriftsteller selbst erschlossen werden kann, An-
spruch auf den Glauben an eine ältere Tradition hat. Weiterhin ist auch zu beachten,
dass, wenn die vitae über einen Gegenstand sehr differieren, eine ältere Quelle fehlt und
nur Kombinationen vorliegen.
Das Geburtsjahr. In einer von Dürr p. 28 publizierten vita des Cod. Barberinus
VIII, 18, welche als Elaborat eines Humanisten anzusehen ist, findet sich die merkwürdige
Stelle „Juniua Jurenalis Äquinas Junio Juvenale patre, matre vero Sepfumuleia ex Aqui-
nati tnunicipio Claudio Nerone et L, Antistio consuUbus natus est. Sororem habuit Septu-
muleiam, quae Fuscino nupsit. Es scheint, dass uns hier Nachrichten gegeben werden, die
aus einer wirklichen Tradition stammen. Das Geburtsjahr des Dichters wäre darnach
55 V. Ch. Der Versuch Friedlanders (vgl. zuletzt Sittengesch. 3^, 487) die Verse 13, 16:
stupet haeCy qui iam post terga reliquit
sexaginta annoa, Fonteio consüle natus
auf Juvenal zu beziehen und demnach das Geburtsjahr 67 n. Ch. für denselben anzusetzen,
ist entschieden missglückt. Jene Worte können dem Zusammenhang nach nur auf den
Angeredeten, nicht auf Juvenal gehen. Vgl. die treffliche Erörterung Schwabes, Rhein.
Mus. 40, 25.
Die angebliche Verbannung Juvenals. Wir haben im Texte derselben gar
keine Erwähnung gethan, weil wir sie nirgends rationell unterbringen konnten und weil
sie. selbst ihre Reell ität vorausgesetzt, keine Spur im dichterischen Schaffen Juvenals zurück-
gelassen hat. Allein mit dieser Reellität ist es sehr schlecht bestellt. Der Bericht, der
aus den vitae herausgeschält werden kann, lautet etwa: Juvenal machte unter Domi-
tian auf dessen Pantomimen Paris mehrere Verse; als er späterhin die siebente Satire
schrieb, fügte er jene Verse in dieselbe. Nun traf es sich aber, dass unter einem
späteren Kaiser (Hadrian, wie man gewöhnlich annimmt) ein Schauspieler ebenfalls grossen
Einfluss gewonnen hatte. Man betrachtete daher diese spätere Einschiebung jener Verse
als einen Spott auf die Gegenwart. Die Folge war, dass Juvenal durch Übertragung eines
militärischen Kommandos in einen entfernten Teil des Reiches verbannt wurde. Allein
schon dieser Bericht von der Veranlassung des Exils ist unglaubwürdig; jene Verse, die
später eingeschoben sein sollen, verraten diesen späteren Einschub in keiner Weise, sondern
stehen ganz an ihrem Platz (Vablen, Sitzungsber. der Berl. Akad. 1883, 1175), sind also
nicht zur Zeit Domitians gedichtet, sondern in der Zeit, in welcher die siebente Satire ent-
stand. Aber auch über die Zeit und den Ort der Verbannung differieren die Angaben der
vitae in einer Weise, dass man sieht, dass sie nicht aus einer unabhängigen antiken Quelle
schöpfen. Es bleibt also nichts als die nackte Tliatsache des Exils. Aber wir vermögen
dasselbe nirgends mit Probabilität in das Leben Juvenals einzureihen. Setzen wir die Ver-
bannung unter Domitian*) an, zu dessen Grausamkeit sie passen würde, so stehen wir
dann vor der unerklärlichen Thatsache, dass die nach Domitian erschienenen Satiren der-
selben keine Erwähnung thun. Nehmen wir aber an, dass Juvenal nach Abschluss der
') Wie es Friedlander thut, Sittengesch. 3^, 493.
22*
340 Römiache Litteratargeschichte. Ü. Die Zeit der Xonarchie. 1. Abteilung.
Satiren (von Hadrian) verbannt wurde, so fehlt es an einem haltbaren Anlass zu der
Verbannung; auch ist dann die Notiz, dass Juvenal mit einem militärischen Kommando
betraut wurde, bei dessen hohen Alter eine pure Unmöglichkeit. Obwohl das Exil auch
von Malalas Chronogr. 10, 262 Bind, und Sidonius Apollinaris 9, 269 bezeugt ist, so können
wir nach dem Gesagten demselben keine Stelle im Leben Juvenals einräumen und mOssen
dieselbe als eine Dichtung ansehen. — Strack, De Juvenalis exilio, Laubach 1880; Ritt-
WEOEB, Die Verbannung Juvenals, Bochum 1886; Fribdländer, Sittengesch. 3«, 492;
Hübner, Wochenschr. für klass. Philol, 1889 nr. 50 Sp. 1374.
419. Der Inhalt der einzelnen Satiren. In dem ersten Stück
rechtfertigt der Dichter seinen Vorsatz, Satiren zu schreiben. Angesichts
der grossen Verderbnisse der Zeit könnte man eher sagen: difficile est
satiram non scribere. Er findet es daher unbegreiflich, wie manche mit
langweiligen mythischen Epen sich und ihre Leser abmühen mögen. Eine
Reihe knapper Bilder von den damals grassierenden Lastern, welche er an
unsern Augen vorüberziehen lässt, zeigt den überreichen Stoff. Sein Pro-
gramm ist (85):
quidquid aguni homines, t>otum, HmoTf ira, roluptas,
gaudia, distcursus, nostri farrago libelli est.
Das erste Thema, die zweite Satire, gilt der Männerwelt; seinen Unwillen
erregen besonders diejenigen, welche nach aussenhin die Tugendhelden
spielen, im stillen aber unnatürlichen Lastern ergeben sind, denn (24)
quis iulerit Gracchos de seditione querentes?
Dann schildert er die Verweichlichung der Männer und ihre frevelhaften
geschlechtlichen Verbindungen. Die „Gefahren der Grossstadt" ist der Stoff
der dritten Satire. Umbricius wandert von Bom aus und erörtert die
Gründe, die ihn dazu bestimmten. In Rom sei es einem ehrlichen Mann
unmöglich anzukommen, hier dominieren die Griechlein, ohne Reichtum
sei man in einer bejammernswerten Lage, auch riskiere man durch den
Einsturz der Häuser, Peuersbrunst, den sich drängenden engen Verkehr in
den Strassen, durch rohe Angriffe in der Nacht von Seiten der Trunkenbolde
und Strassenräuber Gefahr an Leib und Leben. Die vierte Satire*) führt
uns an den Hof des Domitian. Nach einer gegen den Emporkömmling
Crispinus gerichteten Invektive erzählt er eine Geschichte, die sich dort
zugetrugen.2) Ein Fischer hatte bei Ancona eine übergrosse Steinbutte
gefangen. Er macht dieselbe dem Kaiser zum Geschenk und bringt bei
der Übergabe die charakteristische Schmeichelei an, dass der' Fisch selbst ge-
fangen sein wollte, um zum Kaiser zu gelangen. Für die Zubereitung
des Fisches fehlt es an einer entsprechenden Schüssel. Es wird daher
ein Kronrat berufen, als wenn es sich um eine wichtige Staatsangelegen-
heit handele. Der Dichter charakterisiert vortreflflich die herbeieilenden
Grossen des Reichs. Der Beschluss, der gefasst wird, geht dahin, dass
für den Fisch sofort eine eigene Schüssel angefertigt werden soll. Der
unwürdigen Behandlung der Klienten von seiten der Patrone ist die fünfte
Betrachtung gewidmet; drastisch wird die Zurücksetzung derselben beim
Mahle geschildert, wo der Herr die besten Speisen und Getränke für sich
') Wahrscheinlich ahmte in derselben
Juvenal das Gedicht des Statins, De hello Ger-
manico nach. (Böchsleb, Rh. Mus. 39, 283).
«) Dass diese Einleitung (1—27) mit
dem nachfolgenden Teil der Satire in keinem
Zusammenhang steht, scheint mir festzustehen ;
um sie anzubringen, wurden die Verse 28—36
eingeschaltet (Friedlandbb, Sittengesch. 3^,
493; Gyllino I p. 40).
D. JaniaB JnvenaliB. 341
reserviert und den armen Klienten nur Gewöhnliches und Schlechtes vor-
setzen lässt. Die sechste Satire, die umfangreichste von allen, malt uns
mit düsteren Farben die Untugenden des weiblichen Geschlechts. Anlass
gibt ihm hiezu die bevorstehende Vermählung des Postumus. Die un-
würdige Stellung und die karge Entlohnung der gelehrten Berufsarten
wird in der siebenten Satire entwickelt; Dichter, Geschichtschreiber, Ad-
vokaten, Rhetoren, Grammatiker werden uns von dem Autor vorgeführt. Aber
der neue Kaiser, so heisst es gleich im Eingang, erweckt die Hoffnung,
dass auch für die Poesie bessere Zeiten heranbrechen werden. Das Thema
der achten Satire, die sich an Ponticus wendet, ist der Satz, dass vornehme
Geburt ohne innere Tüchtigkeit wertlos sei. Hier lesen wir die schönen
Verse (83):
summtitn crede nefaa, animam praeferre pudori
et propter vitam vivendi perdere causcts.
Die neunte Satire hat die Form eines Gesprächs zwischen dem Dichter
\ und Naevolus. Der letztere, der aus der Unzucht ein Gewerbe machte,
sah betrübt darein; als ihn Juvenal nach dem Grund fragte, erhielt er
den Bescheid, dass sein Metier ihm nicht mehr viel eintrage, die alten
Kerle seien schmähliche Geizhälse, doch empfindet Naevolus sofort Reue
ob seiner offenen Worte, denn er fürchtet die Rache seiner Herren,
so dass es einiger beruhigender Worte des Dichters bedarf. Wiederum
ein philosophisches Thema finden wir in der zehnten Satire erörtert «die
Kurzsichtigkeit der menschlichen Wünsche". Welche Gefahren oft Reich-
tum, mächtige politische Stellung, rednerische Tüchtigkeit, Kriegsruhm, hohes
Alter, Schönheit mit sich bringt, wird in fesselnder Weise dargelegt. Am
besten ist es, schliesst der Dichter, den Göttern zu überlassen, was sie
uns bescheren wollen, da diese die Zukunft kennen. Will man aber
durchaus nicht auf die Wünsche verzichten, so soll der vornehmste sein
(356):
ut Sit mens sana in corpore sano»
Der elften Satire liegt eine Einladung zu einem am Megalesienfest ge-
gebenen Mahle an Persicus zu Grund. Mit einer kurzen Betrachtung
über die Folgen der Schwelgerei hebt das Gedicht an, es folgt die Ein-
ladung mit einer lieblichen Schilderung der Einfachheit der alten Zeit.
Ein an jene Zeit erinnerndes Mahl soll auch der Gast Juvenals erhalten,
dasselbe wird im Gegensatz zu der damaligen Schwelgerei anmutig skiz-
ziert. Die zwölfte Satire wendet sich an Gorvinus und erzählt ihm, dass
ein Freund Juvenals, CatuUus, aus einem heftigen Seesturm glücklich ent-
kam; für dessen Errettung wolle er das gelobte Opfer darbringen, erb-
schleicherische Nebenabsichten hege er aber dabei nicht, denn Catull sei
mit drei Kindern gesegnet. Ein Vorfall des gewöhnlichen Lebens gibt
den Stoff für die dreizehnte Satire ab. Calvinus war um eine Summe
Geldes geprellt worden. Juvenal sucht ihn darob zu trösten, der Verlust
sei ja nicht so erheblich, in der schlimmen Zeit könne so etwas leicht
passieren, übrigens trage der Betrüger die ärgste Strafe in sich, indem
er von dem Bewusstsein der Schuld gefoltert würde. Die vierzehnte an
Fuscinus gerichtete Satire behandelt ein pädagogisches Thema, sie unt^r-
342 Bömische LitteratnrgeBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
sucht die Schädlichkeit des bösen Beispiels, das die Eltern ihren Kindern
geben, während doch als Leitstern der Erziehung der Satz vorschweben
sollte (47):
mojcima dehetur puero reverentta.
Besonders das schlimme Laster der Habsucht werde durch die Eltern gross
gezogen. In der fünfzehnten Satire, in der Yolusius Bithynicus ange-
redet wird, ist der Schauplatz Ägypten. Nachdem sich der Dichter zuerst
tadelnd über den schändlichen Kultus der Ägypter ausgelassen, erzählt er
einen schrecklichen Fall von Barbarei. Zwei ägyptische Stämme, welche
der religiöse Fanatismus in bittere Feindschaft getrieben, hatten einen Zu-
sammenstoss. Als der eine Stamm in die Flucht geschlagen war, geriet
einer der Kämpfenden in die Hand der Sieger. Da geschah das Uner-
hörte. Die erbitterten Gegner schnitten den Unglücklichen in Stücke und
frassen ihn auf. An die grauenhafte That werden einige allgemeine Be-
trachtungen geknüpft. Die sechzehnte Satire ist ein Fragment, der
letzte Teil ist in dem Archetypos durch Blattverlust uns entzogen. In
dem Vorhandenen schildert der Dichter, Gallius anredend, die Über-
legenheit des Militärstandes in Bezug auf das Rechtsleben. Der Bürger-
liche ist von vornherein, wenn er eine Klage über eine Militärperson er-
hebt, in einer nachteiligen Lage, denn er muss sich an ein Militärgericht
wenden und hat selbst im Fall des Obsiegens noch mit dem Korps-
geist abzurechnen. Klagt dagegen ein Soldat, so findet er die prompteste
Justiz. Weiter ist der Militärperson das Becht, noch zu Lebzeiten des
Vaters zu testieren, eingeräumt, so dass der Vater sogar bei seinem eigenen
Sohn Erbschleicherei treiben kann.
Die 16 Satiren sind unter der Regierung Traians und Hadrians ge-
schrieben. Sie sind chronologisch angeordnet und in 5 liücher eingeteilt
und zwar in der Weise, dass sat. 1 — 5 = LI, sat. 6 = 1. II, sat. 7 — 9
= 1. III, sat. 10—12 = 1. IV, sat. 13—16 = 1. 5 sind. Ihre Veröffent-
lichung erfolgte successiv.
Gylling, De argumenti dispositione in saiiris I— VIII Juv, Lund 1886; de argum.
dispos, in satiris IX~XVI Juv. Lund 1889.
Die UnVollständigkeit der letzten Satire wurde lange Zeit in der Weise er-
klärt, dass man annahm, Juvenal habe dieselbe nicht vollendet. Dass diese Annahme un-
richtig ist, sucht BücHELEB dadurch darzuthun (Rh. Mus. 29, 636), dass er zeigt, dass im
Archetypos mit dem Verse 60 ein Blatt geschlossen habe. Aber, wie Beer ausfährt, bedarf
es hier des Archetypos gar nicht, sondern genügt für die Erklärung der Montepessulanus.
Hier schliesst mit jenem Verse die letzte Zeile des letzten Quaternio (vgl. SpiciUg. Ju-
venaL, Leipz. 1885 p. 47, zustimmend Uosius de Juv, cod. recens. Interpol, p. 11). Diese Er-
klärung schliesst aber die weitere Annahme in sich, dass unsere Handschriften, welche
sämtlich mit jenem Verse abbrechen, aus dem Montepessulanus abzuleiten sind. Ist die
letzte Satire nur durch einen äussern Zufall unvollendet, so fallen damit die Kombinationen
weg, dass Juvenal durch den Tod an der Vollendung der Satire gehindert, und dass
demnach das Korpus von fremder Hand ediert wurde.
Chronologie der fünf Bücher. In der ersten Satire ist der Verurteilung des
Marius Priscus, die 99/100 n. Ch. erfolgte, gedacht (49). Also ist die Satire nach diesem Jahre
geschrieben. Noch weiter herab führt die Anspielung auf den gefährlichen Delator M. Aquilius
Regulus (83), die höchstwahrscheinlich erst nach dessen Tod, der zwischen (105 — 107) an-
gesetzt wird, gemacht wurde (Dübr, Das Leben Juvenals p. 18 Anm. 75). Wir kommen
also in die Zeit Traians. Da die erste Satire als Einleitung allem Anschein nach zuletzt
geschrieben wurde, so wären auch die übrigen Satiren des ersten Buchs noch ins Auge
zu fassen. Dieselben müssen nach Domitian geschrieben sein. Die vierte Satire spricht
ausdrücklich vom Tode Domitians (153). Die zweite Satire enthält einen heftigen Angriff auf
D. Jonins JuTenalia.
343
Domitian (29), die dritte einen Angriff auf einen GUnstling Domitians, auf den Delator
Veiento (185). Von vornherein ist nicht wahrscheinlich, dass zu Lebzeiten Domitians und
Veientos Juvenal jene Angriffe sich gestattet«; übrigens sagt der Dichter in seinem Pro-
gramm selbst, dass seine Satire Verstorbene treffen soll (170). Da Veiento noch unter
Nerva lebte (Borghesi oeuvres 5,511), so werden wir auch mit der dritten Satire in die
Trajanische Zeit herabgehen mtlssen. Die fünfte Satire enthält keine chronologischen
Indicion. Sonach werden wir den Satz aussprechen dürfen, dass Juvenal erst nach
Domitian seine Satiren schrieb.*) Die Worte des Programms „nostri farrago lihelli
est** (86) weisen auf einen für sich bestehenden libellus hin. Dass dieser Jibellus nicht
alle 16 Satiren umfasste, lehrt die Betrachtung der Zeitverhältnisse. Die Satiren des
ersten Buchs, das Programm inbegriffen, umschliessen einen bestimmten Zeitraum. Wir
werden daher als Inhalt des libellus die Satiren des ersten Buchs zu betrachten haben.
Daran wird sich weiter die Vermutung anknüpfen lassen, dass auch die übrigen vier
Bücher vom Dichter gewollte Einheiten sind ; dass dieselben zugleich successiv ans Tages-
licht traten, lehren wiederum die in ihnen liegenden Zeitindicien. Jedes Buch ist, soweit
wir sehen könen, später als das vorausgehende. Die sechste Satire, welche das zweite
Buch ausmacht, fällt in die letzten Regierungsjahre Traians, denn es ist hier 398 von einer
Neuigkeitskrämerin die Rede, welche von einem Kometen, von einem Erdbeben u. a. er-
zählt. Ein Komet wurde im November 115 gesehen, ein Erdbeben fand am 13. Dezember
115 in Antiochia statt. Von dem letzteren konnte vor 116 in Rom nicht gesprochen werden.
Also wird die Satire in dieses Jahr fallen. Die siebente Satire, welche den Anfang des
dritten Buchs bildet, erwähnt als Hoflhung der Dichter einen Kaiser; da das zweite Buch
in das Ende der Regierungszeit Traians fiel und Hadrian ein ungleich grösseres Interesse
der Litteratur entgegenbrachte als Traian, so ist kaum zweifelhaft, dass mit dem Kaiser
Hadrian gemeint ist. Sonach fällt die Herausgabe des dritten Buchs in die Regierungszeit
Hadrians und zwar in den Anfang (etwa 120).^') Wir wenden uns zu dem fünften Buch,
für welches auch zwei Daten ermittelt sind. 13, 17 wird von einem Mann gesprochen, qui
tarn post terga reliquit sexaginta annos Fonteio consule natus. Das Konsulat des Fonteius,
das lediglich hier in Betracht kommen kann, fällt in das Jahr 67 ; da der Dichter 60 Jahre
seit diesem Konsulat vergehen lässt, setzt die dreizehnte Satire das Jahr 127 voraus. 15, 27
ist die Rede von dem „nuper consul Juncus**. Dessen Konsulat gehört dem Jahr 127 an,
also kann die Satire nicht vor 128 verfasst sein. Die Zeit des vierten Buchs bestimmt
sich durch das Intervallum, das zwischen dem dritten und dem fünften Buch liegt. —
Borghesi, Oeuvres 5,49 und 509; Fbisolandeb, De JuvemUis vitae temparibtts, Königsberg
1875, Sittengesch. 3«, 486.
Keine doppelte Redaktion der Satiren. Teuffel (Stud. und Charakterist.
p. 424) glaubt, dass manche Stellen zur Annahme einer doppelten Redaktion der Satiren
hindrängen wie 1,73—76 = 77—80, 3,113—118 (nachträgliche Einschaltung), 5,92—98
= 99—102, 6,178-183 = 166 fg., 6,582—84 = 589—91, 9,118-119 r^ 120-123,
8, 147 (Diskrepanz der Lesarten). Allein diese Ansicht hält näherer Prüfung nicht Stand
(vgl. ScHöNAicH, Quaest. Juv., Halle 1883 p. 12; Mosbnoel, Vindiciae Jut),, Erlanger Diss.
(Leipzig) 1887 p. 7. Die Worte der vita IV (V Dürr) „in exilio ampliavit satiras et plera-
que mtUavit*' sind an und für sich unglaubwürdig. Mit Recht nennt Vahlen diese Hypo-
these {Ind. lect. aestiv. Beröl. 1884, p. 30) ein „nebulosum commentum".
420. Charakteristik Juvenals. Bei keinem Schriftsteller ist es so
notwendig, zur richtigen Wertschätzung desselben die äusseren Umstände,
unter denen seine Werke zu Stande kamen, ins Auge zu fassen als bei
Juvenal. In der Darlegung der Lebensverhältnisse des Dichters haben
wir gesehen, dass er erst im reiferen Alter sich von der Rhetorik der
Satire zuwandte, ferner dass er erst unter dem milden Regiment Trajans
seine Satirensehriftstellerei begann. Diese Zeit aber, die nach der Tyrannei
Domitians als das Morgenrot einer glücklichen Zukunft aufleuchtete, reizte
gewiss nicht zum Angriff und zum Spott, mochten auch in der damaligen
Gesellschaft noch soviel Schäden verborgen sein. Was thut nun der
') Die Annahme, dass Satiren zwar unter
Domitian geschriehen, aher erst nach seinem
Tod herausgegeben wurden (SnorEBBERO, De
temporibus vitae etc., p. 60), hat nichts für
sich.
') Die Einleitung scheint erst nachträg-
lich beim Thronwechsel hinzugefQgt worden
zu sein, da zwischen derselben und dem
eigentlichen Gedicht kein Zusammenhang be-
steht (Fbiedlander, Sittengesch. 3*, 491).
344 Itömische LitteraiargeBchichte. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Dichter? Darüber belehrt er uns in seinem Programm. Nachdem er dort
die Yerderbtheit seiner Zeit in drastischen Zügen gekennzeichnet und mit
dem bekannten Verse (79)
si natura negat, facU indignatio reraum
die Spitze en^eicht hatte, müssen wir uns nicht wenig wundern, wenn er
am Schluss seiner zornigen Rede den Entschluss kundgibt:
experiar, quid concedatur in illos,
quomm Flaminia tegitur cinis atque Latina,
Also nur gegen Verstorbene will er mit seinen Angriffen vorgehen; und
soweit wir sehen können, ist Juvenal diesem Vorsatz treu geblieben, ausser
Verstorbene nennt er höchstens Leute, die ihm nicht mehr schaden
können, wie Verurteilte und Personen niederen Standes.^) Seine Satire
hat also ihre Wurzeln in der Vergangenheit, sie lebt und webt in der Er-
innerung. Seine Entrüstung kann daher nur eine künstlich angefachte sein,
da sie nicht unmittelbar aus dem Leben ihre Nahrung empfängt. Sie ver-
fallt leicht in eine unnatürliche Steigerung und wird zum Pathos, und
hiebei kommt dem Dichter der Rhetor zu Hilfe. Seine Satire wird des-
halb unwillkürlich zur Deklamation; durch vorwurfsvolle Fragen, durch
staunende Ausrufe, durch spitze Sentenzen, durch Übertreibung und Häu-
fung, durch unvermittelte Aneinanderreihung der Gedanken will sie auf
den Hörer oder Leser Eindruck machen ; die Redeweise ist oft geschraubt
und nicht selten dunkel. In der Darstellung verschieben sich mitunter
die Grenzen der Vergangenheit und der Gegenwart.*) Das Verständnis des
Dichters ist daher nicht leicht.
Der deklamierende Dichter ist aber zugleich ein Mann, der die Mit-
tagshöhe des Lebens überschritten hat und allen Vermutungen nach auf
eine an Enttäuschungen reiche Vergangenheit zurückblickt; ein solcher
Mann ist nur zu leicht geneigt, alles von der trüben Seite anzusehen.
Und wirklich bieten Juvenals Satiren zu viel Schatten und zu wenig
Licht. Was weiss z. B. der Dichter in seiner Anklage gegen das weib-
liche Geschlecht nicht alles vorzubringen? Er wühlt mit zu grossem
Eifer in dem Schmutze, er gewährt uns zu wenig Ruhepausen, er ge-
sellt zu selten zu der Bitterkeit das ausgleichende Element des Humors,
statt des Polterns wünschten wir oft eine harmlose Plauderei. Freilich
vermag sich diese unnatürlich gesteigerte Erbitterung des Dichters nicht
durch alle Satiren hindurch zu erhalten; mit dem Alter wird seine
Haltung ruhiger und an Stelle des Pathos tritt sogar die kühle theoretische
Betrachtung; wir finden allgemeine Themata wie die Eitelkeit der mensch-
lichen Wünsche, die Schädlichkeit des bösen Beispiels, die günstige Lage
des Militärstandes. Man hat daran die Vermutung geknüpft, dass diese
späteren Satiren nicht von Juvenal seien. Allein diese Anschauung ruht
*) Vgl. Stbaüch, De personia Juvena-
lianis, Göttingen 1869 p. 62; Fbiedlandeb,
Über die Personennamen bei Juvenal in
dessen Sittengesch. 3*, 495.
*) l&ADYiQf opusc, acad,, Eopenh. 1887,
p. 548: Quid est tnagis perspicuunt, quam
saepe Juvenalem sie in vitia invehi, ut ea,
quibus ipae recitaverit, tempara a superioribus,
ex quibus vifiorum exempla aumiit, non dili-
genter distinguat, ac saepe se in hae^: trans-
ferat scribendi figura, quoniam universa foe-
ditas, in uno exemplo ennnewf, ad omnem
iUam aetatem pertineat?
D. JnniaB Jnvenalia.
845
auf der Yerkennung des deklamatorischen Charakters der Juvenalischen
Poesie und auf der Nichtbeachtung des Satzes, dass dem Strohfeuer keine
dauernde Kraft innewohnt.
Juvenal wurde viel gelesen, die starkgewürzte Kost übte jederzeit
ihren Reiz aus, auch fesselten die reichen Schilderungen des römischen
Lebens und Treibens. Ammianus Marcellinuus berichtet uns (28, 4, 14), dass
selbst solche, welche den Studien aus dem Wege gingen, Juvenal aufs
eifrigste lasen. Auch dem Mittelalter gefiel der an den Predigei*ton er-
innernde Satiriker; er wurde als „Ethicus" viel studiert. Von der inten-
siven Beschäftigung mit Juvenal zeugen die Schollen, welche den Dichter
begleiten von dem vierten Jahrhundert bis in die spätesten Zeiten des
Mittelalters.
Die Ribbeck'sche Scheidung eines echten und unechten Juvenal. Einen
ganz andern Juvenal als den uns gewohnten gibt Ribbeck in seiner Ausgabe, Leipz. 18t59.
Hier werden nur die Satiren 1-9 und die 11. unserm Dichter, die übrigen Sttlcke (10.
12—16) einem Deklamator zugewiesen. Dieser Deklamator soll aber auch noch die echten
Satiren mit seinen Zusätzen ausgestattet haben. Zwischen dem echten Juvenal und diesem
Nachdichter statuiert der scharfsinnige Gelehrte enorme Unterschiede. ,Der Deklamator
ist ein seichter Schwätzer, der seine innere Hohlheit mit breitem Wortschwall aus-
staffiert, ein Philister, der unter der Maske des Satirikers alle Augenblicke sein eigenes
fades, seelenloses Stubengesicht hervorkehrt, der denkt wie ein Seifensieder und römische
Phrasen drechselt u. s. w.* Seinem Juvenal spendet er dagegen uneingeschränktes, fast enthu-
siastisches Lob (der echte und der unechte Juvenal, Berlin 1865 p. 30). Seine Hypothese
sucht Ribbeck auch durch äusserliche Indicien zu stützen; einmal zieht er die Scholien-
werte zur 16. Satire heran j,ista a plerisque exploditur et dicitur non esse Juvenalis*', eine
Bemerkung, die zur Prüfung des Juvenalschen Nachlasses dringend auffordern soll. Dann
weist er auf die Worte der Vita lY (Dürb V) hin „in exilio atnpliavit scUiras et pJeraque
mutacit*'. In diesen thörichten Worten sei das unschätzbare Zeugnis enthalten, dass es in
Rom nach dem Tode Juvenals zwei in Umfang und Redaktion bedeutend verschiedene
Textausgaben') seiner Werke gab, eine küizere, wie sie der Dichter selbst noch in Rom
veröffentlicht hatte, und eine beträchtlich erweiterte, die angeblich in seinem ägyptischen
Nachlass gefunden war, (Der echte und der unechte Juvenal p. 73). Darnach erachtet er
es für wahrscheinlich, „dass ein spekulativer Buchhändler und ein hungriger Poet niedrigen
Ranges sich zu dem lukrativen Geschäft zusammenthaten, eine solche postume Aus-
gabe zu veranstalten*. Die Bekämpfung dieser geistreich durchgeführten Hypothese Rib-
becks musste lange Zeit den Stoff für philologische Dissertationen abgeben; die Vindiciae
Juvenalianae wurden Modesache. Allein viel wurde damit nicht erreicht. Die Entscheidung
der Frage hängt meines Erachtens von der unbefangenen Wertschätzung Juvenals ab.
Wir haben den Dichter auch mit seinen Fehlem hinzunehmen.
Die Scholien zu Juvenal. Zwei Klassen von Juvenalscholien sind uns über-
liefert, die erste Klasse (scholia Pithoeana) geht zurück auf einen Kommentar, der im
4. Jahrhundert verfasst wurde, diese Scholien enthalten noch antike Tradition. Wir lernen
dieselben kennen aus dem Montepessulanus 125, aus dem Sangallensis nr. 870 s. IX,
der uns die Scholien (ohne den Text gibt), aus den Aarauer Fragmenten, endlich aus dem
sog. Commentum Probi, welches nach einer jetzt verlorengegangenen Handschrift Laureniius
Yalla für seine Ausgabe Venedig 1486 konstituierte. Die letzteren reichten nur bis 8, 198. Allein
da Yalla seine Quelle mit grosser Willkür benutzte, so bleiben für uns die beiden zuerst
genannten Handschriften die Uauptzeugen, von denen keiner von dem andern abgeleitet
ist. (Stephan p. 25 ; Schönaich p. 5). In neuester Zeit sind noch die erwähnten Fragmente aus
Aarau hinzugekommen (Wirz, Hermes 15,437). Die zweite Klasse geht auf einen Kom-
mentar des Mittelalters zurück, der im Laur. 52,4, Bernensis 223 einem Comutus bei-
gelegt wird (Cornuti expositio super toto libro); derselbe ist wortreich, aber inhaltslee)*.
(Jahn, Persius p. CXIX). — Dazu kommen noch andere spätmittelalterliche Scholien.
Matthias, De schol. Jur., Hallo 1875; Stephan, De Pithoeanis in Juvenalem schoUis,
Bonn 1882; Beer, De nova schoiiorum in Juvenalem recensione instituenda (Wien. Stud.
Bd. 6 u. 7); Zacheb, Zu den Juvenalscholien (Rhein. Mus. 45,524); Schulz, Hermes 24,482.
0 Über eine zweite Ausgabe der siebenten
Satire (wegen der angeblich die Yerbaimung
hervorrufenden Yerse 88), vgl. Ribbeck, Der
echte und der unechte Juvenal p. 70.
346 Römische LitteraturgoBchichte. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
Die Überlieferung. Die älteste Fassung ist vollständig erhalten in dem Kodex
Montepessulanus 125 s. IX, auch Pithoeanus genannt (F.), fragmentarisch in den Frag-
menten von Aar au („quae cum prosint ad legendum et excutiendum P, proprie dote nuUa
commendaninr^ Bügheleb), dann in dem prosodischen Florilegium des Sangallensia
nr. 870 (Stephan, Rh. Mus. 40, 263). — In der zweiten, interpolierten Familie kennen wir zwei
Rezensionen, die eine trägt die Unterschrift Legi ego Niceus Romae apud Servium magi-
strum et emendavi {Laurentianas 34, 42 Leidensis 82), die andere inoipit \,lll legenteAepi-
carpio scrinbentis Exuperantio «t^rfto (Parisin. 9345). Da alle Handschriften wie der
Montepessulanus (vgl. p. 342) mit 16, 60 schliessen, so ist zu vermuten, dass in ein ans
dem Montepessulanus abgeleitetes Exemplar die Lesarten der zweiten Familie eingetragen
wurden. (Hosnrs, De Juvenalis codicum recensione interpolata, Bonn 1888 p. 12.) Über eine
Schwierigkeit dieser Annahme vgl. Hosius p. 13. Der inteipolierten Rezension gehören
auch die fragmenta Vaticana (s. V) an.
Ausgaben von Weber (Weim. 1825); von Heinbich (Bonn 1839); kritische Haupt-
ausgabe (mit den Scholien) von 0. Jahn, Berlin 1851, Textausgabe von Jahn-Bücheleb
mit kurzem Apparat und einer Auswahl der Scholien, Berlin 1886; Thirteen satires of
Juvenal tvith a commentary hy Mayob I® 1886 II* 1881. Von Weidneb, Leipz. ' 1889. —
Texte von C. F. Hebicann (Teubner), von Ribbeck (Tauchnitz). Für die Methode der Er-
klärung wurden sehr wichtig die Abhandlungen Madvios in den opusc. academ., Kopen-
hagen 1887.
b) Die Prosa.
a) Die Historiker.
1. C. Velleius Paterculus.
421. Historiae Bomanae L ü. Der Verfasser dieses Abrisses,
C. Velleius Paterculus 0> war Militär ; er diente unter Caius Caesar in Asien
und sah als Tribun einer Begegnung zu, welche der römische Feldherr
mit dem König der Parther hatte (2, 101). Nach dem Tode des Caius
Caesar (3 n. Chr.) nahm er Dienste bei Tiberius, unter dem er in den höheren
Stellen eines Reiterobersten und Legaten (2, 104, 3) die langwierigen Feldzüge
in Germanien und Pannonien mitmachte. Er erfreute sich der hohen Gunst
des Imperator und hatte die Ehre, zu seinem Triumphe (12 n. Chr.) bei-
gezogen zu werden. Auch erlangte er (2, 124, 4) durch ihn die Prätur
(15 n. Ch.). Damit scheint seine amtliche Laufbahn ihren Abschluss ge-
funden zu haben. Seine Müsse benutzte er zur Abfassung eines geschicht-
lichen Abrisses. Derselbe war eine Gelegenheitsschrift. Als nämlich
Vinicius im Jahre 29 zum Konsul designiert wurde, kam dem Autor der
Gedanke, dem vornehmen Mann zum Antritt seines Konsulats ein Werk-
chen zu überreichen. Da es wahrscheinlich ist, dass ihm erst die De-
signation des Vinicius zum Konsul den Gedanken der Widmung eingab,
so war ihm zur Ausarbeitung nur die kleine Frist von mehreren Monaten
gegeben. Er musste daher sehr eilig zu Werke gehen und sich auf das
Notwendigste beschränken. Beide Momente hebt der Schriftsteller selbst
an vielen Stellen hervor. Doch trägt er sich mit dem Plane, später ein
reicheres Werk über die Zeit des Tiberius und die zunächst vorausgehende
Epoche (wahrscheinlich von den Bürgerkriegen an) erscheinen zu lassen.
Der Abriss zerfällt in zwei Bücher; das erste ist leider am Anfang, in
der Mitte (zwischen c. 8 und 9) und am Schlüsse verstümmelt; durch den
Verlust am Anfang ist die Vorrede mit der Widmung verloren gegangen ;
die mittlere Lücke ist sehr beträchtlich. Auch im zweiten Buch finden
sich kleinere Lücken. Der Stoff ist in der Weise verteilt, dass der erste
^) Der Vorname ergibt sich aus CIL. 8, 10, 311.
C. VelleittB Patercnlas.
347
Teil bis zur Zerstörung von Karthago und Korinth, der zweite bis zum
Konsulat des Vinicius (30 n. Chr.) reicht.
Fatnilien-YerhältiiiBse des Autors. Über seine Familie streut Velleius manche
Notizen in sein Werk ein, über seinen Grossvater 2, 76, 1, Über seinen Vater 2, 104, l^,
über seinen Bruder 2,121,3; 2,124,4, über seinen Onkel 2,69,5, über seine mütter-
liche Herkunft 2,16,2.
Über M. Vinicius vgl. Tacitus Ann. 6, 15 mit der Aimierkung Nippbrdeys.
Seine Eile hebt Velleius hervor 1, 16, 1 (in hoc tarn praecipUi festinatione, quae
me rotae pronive gurgitis oc verticis nwdo nusquam patitur consistere) 2,41,1; 2,108,2;
2, 124. 1, die Kürze 2, 29, 2; 2, 52, 3; 2, 86, 1.
Über das beabsichtigte grössere Werk sprechen folgende Stellen 2, 48, 5 ;
2,96,3; 2,99,3; 2,103,3; 2,114,5; 2,119,1. Von diesen bezieht sich die erste auf den
Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius, die übrigen aber auf die Zeit des Tiberius. Mit
Unrecht hat man danach zwei Werke annehmen wollen, eines über den Bürgerkrieg zwischen
Cäsar und Pompeius, ein anderes über Tiberius. Allein nur die Annahme ist gerechtfertigt,
dass Velleius die Zeit von Cäsar bis auf Tiberius herab schildern wollte. Der Plan wurde
aber allem Anschein nach nicht ausgeführt, wenigstens ist nicht die geringste Spur von
dem Werk auf uns gekommen.
422. Charakteristik. Dem Leser des Abrisses fallen sofort einige
Eigentümlichkeiten in die Augen. Einmal ist charakteristisch, dass der
Autor auch die Literatur und Kulturhistorisches berücksichtigt (1,7,1;
1, 16, 3; 2, 9, 2; 2, 36, 2; 2, 10, 1; 2, 33, 4), dann dass das erste Buch auch
Griechen und Orientalen in den Kreis seiner Betrachtung zieht. Weiter
bemerken wir, dass jedes Buch einen Exkurs enthält, das erste über die
römischen Kolonien*) (1,14), das zweite über die römischen Provinzen
(2,38). Dass er die Ereignisse seiner Zeit ausführlicher und sachkundiger
behandelt als die der Vergangenheit, ist eine Eigentümlichkeit, die er mit
der gesamten römischen Historiographie teilt. ^) Die Ehrung des Vinicius,
dem das Werkchen gewidmet ist, tritt dadurch hervor, dass dieser mehr-
fach angeredet wird (1, 13, 5; 2, 101, 3; 2, 113, 1 ; 2, 130, 4) und nach seinem
Konsulat die Ereignisse gestellt werden (1,8,1; 1,12,6; 2,7,3; 2,49,1;
2,65,2). Die Komposition wird durch das Prinzip bestimmt, dass die
Persönlichkeiten hervortreten sollen. Daraus ergibt sich für ihn die
Notwendigkeit, die Charakteristik in den Vordergrund zu stellen. Es lässt
sich nicht leugnen, dass der Autor hier Vortreffliches geleistet hat. Frei-
lich lag auch die Gefahr nahe, das Persönliche mehr als der Qang der
Geschichte erfordert zu betonen. Und dieser Gefahr ist er nicht entgangen ;
er unterbricht nicht selten die Ereignisse, um Anekdotenhaftes beizubringen
und ergreift z. B. gern die Gelegenheit, seine Personalien und die der
übrigen Familienglieder einzuflechten. Intensiveres Studium der Quellen ge-
stattet die Eile, mit der er seine Arbeit zum Abschluss bringen musste,
nicht; vielleicht dürfen wir aber annehmen, dass er manche Materialien
für das beabsichtigte grössere Werk gesammelt hatte, die jetzt auch für
das kleinere Verwendung finden konnten.*) Spuren der Flüchtigkeit finden
sich allenthalben, Unrichtigkeiten, Nachträge, Nachlässigkeiten*) im Aus-
druck. Der merkwürdigste Fall ist aber, dass er die beiden Ären, die
Catonische und die Varronische durcheinander bringt. ") Die Darstellung des
^) Wahrscheinlich aus Catos orlgines
(Kkitz p. XLLIX).
') Pernicb p. 29 legt demselben keinen
hohen Wort bei.
') Pernice p. 11 .
*) 2, 59; 2, 69 (Kbitz p. XXXVI).
*) Kbitz p. LXVII.
®) Kbitz p.XLI; PEBNiC£p.l5; Kaiser p.20.
348 Bömiflche LitteraturgeBchichte. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
Yelleius ist lebhaft und packend und verrät den geistreichen Mann;
allein es fehlt ihr die Ruhe, die Harmonie und der Sinn für das Ein-
fache. Überladung, Überschwänglichkeit, Haschen nach Spitzfindigkeiten
und Geziertem lassen kein Wohlbehagen aufkommen. Auch der unorgani-
sche Aufbau der Perioden trübt nicht selten die Durchsichtigkeit der Rede.
Am unerfreulichsten ist aber die Stickluft des Hofes, die uns aus dem Schrift-
chen entgegenweht. Die Schmeichelei gegen Tiberius hat grosse Dimensionen
angenommen. Selbst wenn man in Erwägung zieht, dass Yelleius als Militär
für seinen ehemaligen Kriegsherrn begeistert war, ferner dass er ihm für
Gunstbezeugungen zu Dank verpflichtet war, kann man über seine Haltung
kein mildes Urteil gewinnen.
Quellen. Erwähnt sind nur zwei Autoren, Gate und Hortensius. 1,7,3 Sed M.
Cato quantum differt, qui dicat etc, — ego pace diligeniiae Catonis direrim etc. 2, 16, 2
cuius de virttäibus cum alii tum maxime dilucide Q. Hortensius in annalibus suis retuUt,
Sonst spricht er von mehreren Autoren (1,7,2; 1,8,5; 1,15,3). Die Benützung beider ist
daher nicht zweifelhaft. Allein auch noch andere Hilfsmittel müssen ihm zu Gebote ge-
standen sein; besonders brauchte er für das Genealogische einen Führer, wir werden den-
selben in den Zeittafeln des Atticus (§ 116) und in dessen genealogischen Monographien
zu suchen haben (Pemice p. 13). Livius scheint er nur selten benützt zu haben. Ansätze
zur Kritik finden sich hie und da: 1,7,3; 2,4,7; 2,23,4; 2,32,5. — Eaise», De fontibus
Velleij Berlin 1884 (bes. das Chronologische ist berücksichtigt).
Seine Glaubwürdigkeit. Die Beurteilung derselben hängt besonders von der
Frage ab, ob wir ihn als blossen Schmeichler zu betrachten haben, auch spielt die Frage
über die fides des Tacitus herein; diejenigen, welche die Taciteische Charakterzeichnung
des Tiberius als eine tendenziöse ansehen, recurrieren gern auf Yelleius, wie SiEVERä
Studien p. 97 und noch viel stärker Frettao, Tib. und Tacit. p. 321 , Yelleius enthält (nach
Abstreifung des rhetorischen Schmucks) nichts über Tiberius, was nicht durch die Ge-
schichte seine Bestätigung fände '. Die Gegner übertreiben nach der anderen Seite hin; z.
B. Haase, Einleit. zu Tacitus p. XLIY Anm. 265. Auch hier ist der Mittelweg richtig: nicht
einfache Yerwerfung, sondern vorsichtige Prüfung des Mitgeteilten. Eine
solche umsichtige Prüfung hat Pebnice, De V. Paterculi fide historica, Leipz. 1862, p. 15
(die Epoche des Tiberius p. 44) vorgenommen. Ygl. noch Stakgeb, De M, V, P. fide, München
1863; Rakke, Weltgesch. 2,3,268 bemerkt «Selbst für die Erforschung der Thatsachen
hat er hie und da einen nicht zu unterschätzenden Wert*.
Die Überlieferung. Nur einer einzigen Handschrift verdanken wir unsere Kunde
von Yelleius, nämlich einem im Jahre 1515 in der elsässischen Abtei Murbach von B. Rhe-
NANUS entdeckten Kodex. Diese Handschrift ist jetzt verloren, Ziel der Rezension muss
also zunächst sein, diesen Murbacensis aus den apogr. wieder zu gewinnen. Diese sind
1) die editio princeps des B. Rhenanus, Basel 1520, die nach einer auch verloren gegangenen
Abschrift gemacht wurde; eine nochmalige Yorgleichung des Drucks wurde von Rhenanus'
Schüler Burer vorgenommen und die varietas scripturae in einem Anhang beigegeben.
2) eine noch vorhandene Kopie des apographum von B. Aherbach (Halm, Rhein. Mus.
30, 534).
Littteratur. Ausgaben von Kritz, Leipz. 1840 und 1848; Haase^ Leipz. 1858;
Halm, Leipzig 1876. — Sauppe, Schweiz. Mus. f. bist. Wiss., Frauenfeld 1837, 1, 137
(Hauptschrift).
Aemilius Sura. 1, 6 hat sich folgende Glosse in den Text des Yelleius ge-
schlichen: Aemilius Sura de annis populi Romani: Assyrii principes omnium gen-
tium rerum potiti sunt, deinde Medi, postea Persae, deinde Macedones; exinde duobus regi-
bus Philippe et Antiocho, qin a Macedonibus ariundi erant, haud mtUto post Carthaginem
subactam devictis, summa imperii ad popidum Romanum pervenit. Inter hoc tempus et
initium regis Nini Assyriorum, qui princeps rerum potitus, intersunt anni MDCCCCXCV.
Danach muss man annehmen, dass ein Abriss der Weltgeschichte vorlag, der nacheinander
das assyrische, modische, persische, makedonische Weltreich und als letztes das römische
(hieher gehören die anni populi Romani) behandelte und berechnete. (Momxsen, Rh. Mus.
16, 283). Die Zeit dieses Historikers ist gänzlich unbekannt.
Valerins
340
2. Valorius Maximus.
423. Factorum ac dictorum memorabilium L IX. Der Verfasser
dieser Sammlung von denkwürdigen Handlungen und Äusserungen, Valerius
Maximus, ist uns nur soweit bekannt, als er selbst über sich Nachrichten
gibt; nach diesen Mitteilungen war er arm (4,4,11), allein er war so
glücklich, einen hochgestellten Gönner in Sex. Pompeius, der Konsul im
J. 14 n. Chr. war und auch in freundschaftlichen Beziehungen zu Ovid
stand, zu finden. Als dieser die Verwaltung der Provinz Asien übernahm
(etwa 27 n. Chr.), hatte er in seiner Begleitung auch den Valerius Maximus
(2, 6, 8). Das Verhältnis, das ihn an seinen Gönner knüpfte, vergleicht er
mit dem Freundschaftsbund, wie er zwischen Alexander dem Grossen und
Hephaestion bestand (4, 7 ext. 2). Mit Wärme feiert er ihn als den Mann,
bei dem er in allen Lagen des Lebens auf Teilnahme rechnen konnte, der
seine Studien gefördert und ihn gegen die Wechselfälle des Lebens ge-
schützt hatte. Da dies Lob erst nach dem Tod des Pompeius veröffentlicht
wurde, so ist der Gedanke an eine Schmeichelei ausgeschlossen. Wie es
scheint, gleich nach seiner Rückkehr machte sich Valerius Maximus an sein
Werk; an zwei Stellen erhalten wir bestimmtere zeitliche Indicien; 6,1
prooem. setzt die Livia, deren Tod ins J. 29 n. Chr. fallt, als lebend
voraus, 9, 11, ext. 4 ist nach Seians Tod (31) geschrieben. Das Werk,
das an den Kaiser Tiberius gerichtet ist, bringt den gesammelten Stoff
in 9 Büchern unter 95 Rubriken. Jede Rubrik begreift in der Regel
zwei Abteilungen in sich, eine für die römische Geschichte, eine zweite
für die fremde; doch ist die erste Abteilung bei weitem stärker heran-
gezogen.
Das Buch des Valerius Maximus fand viele Leser und ist uns daher
in vielen Handschriften überliefert. Von der Beliebtheit des Werkes legen
auch zwei uns erhaltene Auszüge Zeugnis ab. Die Epitome des Julius
Paris, welche dem vierten oder dem Anfang des fünften Jahrh. angehört,
schliesst sich im ganzen ziemlich genau an das Original an; die Kürzung
erreicht er besonders durch Weglassung des rhetorischen Beiwerks des
Originals, hie und da berichtigte er seinen Autor aus anderen Quellen,^)
neue Beispiele aber fügte er nicht hinzu. Die zweite vor dem Ende des
6. Jahrh. verfasste^) Epitome, die des Januarius Nepotianus reicht in
21 Kapiteln bis Valerius Maximus 3, 2, 7, hiezu kommen noch einige Er-
gänzungen aus der Historia miscella^). Allein diese Epitome ist viel weniger
treu und setzt auch andere Beispiele hinzu. Der Wert dieser Auszüge
ruht vor allem darin, dass sie uns eine ziemlich umfangreiche Lücke,
welche 1, 1, ext. 4—1,4 ext. 1 verschlang, einigermassen ersetzen. Auch
leistet uns der Auszug des Paris die besten Dienste bei der Textes-
konstituierung des Valerius.
Die Zahl der Bücher. Üherliefert sind neun Bücher. Allein der Epitomaior
Jolios Paris hatte zehn Bücher vor sich, denn er sagt in der Vorrede: decem Valerii
Maximi Hbros dictorum et factorum memorabilium ad unum volumen epUomae coegi. Auch
wird in der Handschrift des Paris ein Traktat „de praenominibus** als lib. X eingeführt.
Allein da der Epitomator ausdrücklich nur e i n Buch geben wül, so kann diese Bezeichnung
M Kbmpf ' p. 52.
') MoMMSEN, Zeitschr. f. Rechtsgesch.
10, 47.
*) Drotsen, Hermes 13, 128.
350 Römische Litteraturgeschichte. Q. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
,lib. X" unmöglich von ihm herrühren. Aber aach der Inhalt spricht nicht dafür, dass in
dem Traktat ein verlorenes Buch des Valerius Maximus, das Paris excerpiert hätte, stecke ;
denn es ist wesentlich anderer Art. Doch alle Zweifel werden beseitigt durch die sub--
scriptiOf welche von einer £pitome des C. Titius Probus spricht. Wenn also der Traktat
nichts mit Valerius Maximns und nichts mit Paris zu thun hat, so wäre noch zu fragen
1) wie Paris dazu kam, zehn Bücher statt neun anzugeben; 2) wie die Bezeichnung des
Traktats als b'b. X entstand. Da Paris nach Ausscheidung der Abhandlung über die Namen,
wie sein Auszug zeigt, im wesentlichen denselben Valerius Maximus vor sich hatte, wie
wir ihn haben, so bleibt nur die Annahme übrig, dass er einen Valerius epitomierte, der
statt in neun Bücher in zehn abgeteilt war. Ein solches Exemplar scheint auch Gellius gehabt
zu haben, denn unser achtes Buch ist ihm das neunte (12, 7, 8). Was die Bezeichnung des
lib. X anlangt, so ist diese wahrscheinlich so zu erklären. Auch dem Mittelalter konnte
der Widerspruch zwischen der Angabe des Paris und der Überlieferung des Valerius Ma-
ximus, welche nur neun Bücher kannte, nicht entgehen. Um diesen Widerspruch auszu-
gleichen, nahm man jenes Stück de praenominihus, das sich zufiLllig in einer Valerius-
handschrift fand, willkürlich als ein zehntes Buch des Valerius an; vgl. über die ganze
Frage Traube, Sitzungsber. der bayr. Akademie, 1891 p. 387.
Die Epitome dos C. Titius Probus. Die Subscriptio, welche dem Abriss de
praenominibus beigegeben ist, lautet: C. Titi Probi finü epitoma historiarum diversarum
exemplorumque romanorum. Das epitomierte Werk führte also den Titel : historiae dwersae
exemplaque Romana; es war eine Anekdotensammlung, eine Zusammenstellung von Kurio-
sitäten, Merkwürdigkeiten. Hievon hätte also ein Abschnitt über die Namen gehandelt.
Dass der Traktat nicht vollständig ist, leuchtet sofort ein; darum ist es auch wahrschein-
lich, dass die demselben vorausgeschickte Inhaltsangabe De pr<ietwminibus, De nominibus,
De cognominibus, De offnominibuSf De appell^ianibus, De verbia auf eine ältere Tradition
zurückgeht. Die Ansicht Traubes (p. B93), dass dieser Index aus unserem Fragment heraus-
gelesen wurde, ist nicht stichhaltig, da ja für De verbia aus dem Fragment nicht der ge-
ringste Anhaltspunkt sich ergibt. Der Traktat geht auf gut« Quellen zurück, besonders
scheint Varro benutzt zu sein. Wer der Verfasser des epitomierten Werkes ist, lässt sich
natürlich nicht feststellen. Die Citate aus den Konsulartasten führen herab bis auf 11 v.
Gh., da der Konsul dieses Jahres Paulus Fabius Maximus unter den Beispielen aufgezählt
wird. Darnach spricht Traube (p. 397) die Vermutung aus, dass das epitomierte Werk
die Exempla Hygins seien. Allein wenn in dem ursprünglichen Werk auch von agnomen
gehandelt war, so konnte dasselbe nicht vor dem vierten christlichen Jahrhimdert ange-
setzt werden. Denn erst in diesem Jahrhundert kam die Lehre von agnomen bei den römi-
schen Grammatikern auf (Kempf, Proleg. p. 64). Dass aber auch das agnomen behandelt
war, müssen wir aus den Worten, quod ad ultimum adicUur agnomen est {est fehlt in der
Überlieferung) schliessen, da die Annahme eine Interpolation, wie sie Traube*) (p. 404) sta-
tuiert, [quod ad ultimum a] dicitur [agnomen], wenig Wahrscheinlichkeit hat. Für die An-
nahme Hygins als Quelle ergibt sich aber die Schwierigkeit, dass das einzige exemplum, das
uns von ihm überliefert ist (§ 345, 2), ein nichtrömisches ist. Das Werk war sonach in jedem
Fall von der des Auszugs verschieden. Für die Bestimmung der Lebenszeit des Epitoma -
tors fehlt es an jedem festen Anhaltspunkt. Nur soviel wissen wir, dass er von dem Ru-
sticius Helpidius Domnulus, welcher der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts angehOrt,
lebte; denn dieser machte eine kritische Revision der Epitome. Weiterhin ergäbe sich ein
termimis post quem, wenn die Stelle über das agnomen nicht interpoliert ist; des Epito-
mators Zeit läge dann zwischen dem vierten und sechsten Jahrhundert. Nur vermutungsweise,
ohne Begründung, setzt ihn Traube (p. 398) in die Zeit der Antonine.
424. Charakteristik des Valerius. Als Valerius Maximus seine
Auswahl berühmter Thaten und Äusserungen schrieb, wollte er denen,
welche Belege (Dokumente) brauchten, ein Hilfsbuch in die Hand geben,
d. h. er wollte den Bedürfnissen der Rhetoron und Rhetorenschulen ent-
gegenkommen. Seine Thätigkeit war zunächst eine doppelte, sie bestand
einmal in der Auswahl der Stellen, dann in der Einreihung unter bestimmte
Rubriken. Seine Arbeitsweise werden wir uns so zu denken haben, dass
er sich zuerst das, was ihm bei der Lektüre der verschiedenen Autoren
bemerkenswert erschien, in ein Kollektaneenheft eintrug (eligere), dann als
0 Mit Kempf, Proleg.* p. 64 t>erba
quod ad ultimum dicitur agnomen ab
epitomatore ex ingenlo addita esse probo'
bile est»
Valerins ICaximns. 351
er genug Material gesammelt hatte, zur Einreihung der verschiedenen Fälle
unter bestimmte Rubriken schritt (digerere) ^). Diese Rubriken sind nicht
nach einem strengen logischen System aufgestellt, sondern haben den
Charakter der Zufälligkeit; es scheint, dass sie erst bei der Anordnung
der Beispiele aufgestellt wurden.*) Allein der Autor ging noch Über
diese zweifache Thätigkeit hinaus, fiir Rhetoren sammelnd wollte er selbst
als Rhetor erscheinen. Er stilisiert das ausgehobene Beispiel nach seiner
Art und Weise und gibt zugleich den subjektiven Empfindungen, welche
das Mitgeteilte in seiner Seele erregt, reichen Spielraum. Weiterhin leitet
er gern von einem Excerpt zu dem folgenden über; endlich pflegt er die
einzelnen Bücher und Fächer entsprechend einzuleiten. Der Stil des Samm-
lers ist von dem Bestreben beherrscht, durch Abweichung von dem Ge-
wöhnlichen Effekt zu erzielen, dadurch lässt er sich zu geschraubten, un-
natürlichen Wendungen verleiten, oder er fallt in Ekstase, die sich besonders
gern der Apostrophe bedient, und hascht nach Pointen. 3) Durch dieses
unnatürliche Streben wird seine Redeweise ungeniessbar und dunkel; be-
sonders in den Einleitungen, in denen sich der Autor keine Zügel anzu-
legen braucht, tritt seine Manieriertheit stark hervor. Unerträglich ge-
schmacklos wird er, wenn er auf Tiberius zu sprechen kommt, ein leuchtendes
Denkmal seiner Adulation ist die Anrede an den Kaiser in der Einleitung
des Werks.*) In besserem Lichte zeigt sich uns der Schriftsteller, wenn
er seinem römischen Nationalbewusstsein Ausdruck gibt. Hiezu gaben die
rühmlichen Thaten der Vorfahren leicht Anlass. Verkehrt ist es, wegen
solcher Äusserungen entgegen den ausdrücklichen Worten der Einleitung
dem Werk eine patriotische Tendenz unterzuschieben. Valerius Maximus
will lediglich Rhetor sein und rhetorischen Zwecken dienen; es steht ihm
daher auch historische Akribie erst in zweiter Linie, und an Verstössen
gegen die Geschichte fehlt es nicht.*) Doch benutzt er gute Quellen;
Cicero, Livius sind seine Hauptautoren, aber auch Varro und andere
mussten ihm Material liefern. Selbst Sammlungen konnte er, wie es
scheint, zu Rate ziehen; wenigstens erwähnt er die Kollektaneen eines
nicht näher bekannten Pomponius Rufus (4, 4 prooem.).
Über das Ziel der Sammlung sagt die Einleitung: urbis Bomae exterarumque
gentium facta simul ac dicta memoratu digna, quae apud alios latius diffusa sunt quam
ut breviter cognosci possint, ab inlustribus electa auctoribus digerere constitui, tit documenta
sumere voleniibus longae inquisitianis labor absit. Diesen zuletzt angedeuteten Zweck er-
kennt auch der Epitomator Julius Paris an, indem er sagt: exemplorum conquisifionem
cum scirem esse non minus dispuiantibus quam declamantibus necessariamf decem Valerii
Majrimi libros dictorum et factorum tnemorabilium ad unum rolumen epitomae völgi. Gegen-
über diesem klar ausgesprochenen Zweck der Sammlung darf man nicht andere Ziele dem
Verfasser unterschieben, wie das z. B. Dirksen [Hinterl. Sehr. 1, 109 fg.] gethan.
Die Quellen. Eine Zusammenstellung der citierten Schriftsteller siehe bei Elscbner
p. 32. Dass Livius (citiert 1,8 ext. 19) und Cicero (8, 10,3; 8, 13 ext. 1) in erster Linie
benutzt sind, darüber sind die Quellenforscher einig; vgl. Kempf, Proleg.' p. 15 und p. 13.
ZscHECH, De Cicerone et Lirio Valerii Maximi fontibus (Cicero p. 15, Livius p. 23); Krieger,
Quibus fontibus V, M. usus sit in eis exemplis enarrandis, quae ad priora rerum Roma-
narum tempora periinent, Berl. 1888 (Livius p. 11, Cicero p. 24). Weniger klar treten die
Übrigen Quellen hervor; über Varro (3, 2, 24) vgl. Krieger p. 27, wo p. 28 auch die übrige
0 Kranz p. 1.
•) ZSCHBCH p. 5.
») Kbmpp, Proleg. ^ p. 34.
*) Vgl noch 2, 9, 6; 5, 5, 3; 9, 11 ext. 4.
"") Kempp, Proleg. ' p. 26.
352 Hömiaclie Litteratnrgeachichte. U. Die Zeit der Monarcliie. 1. Abteilimg.
hier einschlägige Litteratur angegeben ist; über Valerius Antias vgl. Ebanz, Beitr. zur
Quellenkritik des V. M., Posen 1876 p. 20; dagegen Kbieoeb p. 66; Ober Hygin Krikoeb.
p. 69; über Pompeius Trogus, dessen Benu^ung Kbieoeb p. 75 bestreitet.
Die Überlieferung des Valerius Maximus erfolgt auf einem doppelten Weg,
auf einem direkten und einem indirekten. Die direkte Überlieferung beruht auf zwei
Handschriften des 9. Jahrhunderts, dem Bemensis 366 und dem Florentiner 1899, dem ehe
roaligen Ashbumhamensis (Stanol, Philol. 45,225), der aus dem Benediktinerkloster Sta-
velot herrührt Beide Handschriften stammen aus derselben Quelle (Eempf- p. XXIU, p. XXVi).
Gegenüber diesen beiden Quellen kommen die jüngeren Handschriften so gut wie nicht in
Betracht. Die indirekte Überlieferung beruht auf der Epitome des Julius Paris, d. h. dem
Vaticanus 4929 s. X. Schon im Bemensis liegt eine Vergleichung der direkten mit der
indirekten des Paris vor. (Vgl. Tbaube p. 390.) Die Epitome des Jannarius Nepotianns
ist uns durch den Vaticanus 1321 s. XIV überliefert.
Ausgaben von Kehpf mit ausführlichen Proleg. (Berl. 1854), von Halm (Teubner
1865), von Kehpf (Teubner 1888), welche die Kollation des Ashburnhamensis enthält.
3. Q. Gurtius Bufus.
426. Die Alexandergeschichte. Zeit und' Autor. Der wunderbare
Zug Alexander des OroRsen hat auf die hellenische Welt den tiefsten
Eindruck gemacht. Eine reiche Litteratur schloss an dieses gewaltige
Unternehmen an; der Historiker fand hier ein ergiebiges Feld vor, aber
auch der auf die Unterhaltung der Leser bedachte Erzähler bekam wün-
schenswertes Material, um der Phantasie Nahrung zuzuführen. Auch der
Kunst flössen mannichfache Anregungen aus Alexanders Thaten zu. Von
Griechenland verbreitete sich der Alexanderkultus nach Rom, besonders
in Kunstwerken trat die jugendliche Figur des Königs den Römern an
vielen Orten entgegen« Es war daher ein glücklicher Gedanke, dass ein
Schriftsteller, des Namens Q. Gurtius Rufus, es unternahm, den orienta-
lischen Zug Alexanders in unterhaltender Form den Lesern darzubieten. Das
Werk bestand aus zehn Büchern, uns sind aber nur die letzten acht (3 — 10)
erhalten. In Folge dieses Verlustes der zwei ersten Bücher beginnt die
Erzählung erst mit dem Jahre 333 v. Gh. Auch das Erhaltene ist nicht
unversehrt geblieben; es findet sich eine grössere Lücke zwischen dem
fünften und sechsten Buch, ferner hat das zehnte mehrere Einbussen er-
litten (zwischen Kap. 1 und 2, zwischen 3 und 4 und zwischen 4 und 5).
Das Werk stellt uns ein Problem, die Ermittelung der Zeit und Persön-
lichkeit des Autors. Zur Lösung des Problems wurden die verschiedensten
Versuche gemacht und die verschiedensten Ansichten aufgestellt. Heut-
zutage kann man das Problem als gelöst betrachten. Der Historiker
gab sein Werk unter der Regierung des Kaisers Glaudius heraus.
Der Weg, der zu diesem Resultate führte, ist in kurzem folgender: Man
beobachtete, dass bereits der Philosoph Seneca unsern Schriftsteller kannte
und las. Was er in seinen Briefen 6, 7 (59), 12 von Alexanders mutiger
Ertragung einer Wunde berichtet, berührt sich so eng mit Gurtius 8, 10,
27, dass die Verwandtschaft beider Berichte als feststehend betrachtet
werden kann, zumal da uns an beiden Stellen Einzelheiten vorgeführt
werden, welche bei andern Schriftstellern nicht erscheinen. 0 Noch eine
zweite Übereinstimmung der beiden Autoren (Gurtius 7, 1, 4 = Seneca ep. 6,
4 (56), 9) ist entdeckt worden und hier zeigt sich sogar eine Konkordanz
») WiBDKMAira, Philol. 30, 248.
Q. Cartius Rnfas. 353
des Ausdrucks, wie sie nicht leicht der Zufall an die Hand geben kann.
Dieser Konsens kann weder durch eine gemeinsame Quelle, noch durch
die Abhängigkeit des Curtius von Seneca eine befriedigende Erklärung
finden ; es bleibt sonach nur die Annahme übrig, dass Seneca den Curtius
gelesen und für seine Briefe benutzt hat. Damit erhalten wir den Ter-
minus ante quem, er muss vor dem Tode Senecas (65) fallen. Den
Terminus postquem gibt uns eine scharfsinnige Beobachtung des grossen
Philologen Lipsius an die Hand ; er sah, dass bei Tacitus (Annal. 6, 8) die
Rede des M. Terentius, dem die Freundschaft Seians vorgeworfen wurde,
eine auffallende Ähnlichkeit der Gedanken mit der aufwies, welche Amyn-
tas bei Curtius (7, 1, 26) hielt. Die Schlussfolgerung aber, die Lipsius
aus seiner Beobachtung zieht, dass Tacitus aus Curtius geschöpft hat, stellt
sich bei einer genaueren Betrachtung als unmöglich heraus. Wir werden
vielmehr anzunehmen haben, 0 dass beide einer gemeinsamen Quelle folgen,
die auch Dio Cassius 58, 19, 1 vorlag. Wenn diese Deutung richtig ist,
muss diese gemeinsame Quelle die Regierung des Tiberius behandelt haben ;
der Terminus post quem wäre also das Jahr 37. Nach dieser Darle-
gung können wir also die Zeit des Curtius durch das Intervallum 37 — 65
bestimmen, der Autor müsste sonach entweder unter Caligula, oder unter
Claudius, oder unter Nero geschrieben haben. Diese dreifache Möglichkeit
wird auf eine reduziert durch die berühmte Stelle am Schluss des Werks
(10,9,3), welche die Grundlage für die verschiedensten Hypothesen abgab.
Die gefahrvolle Situation, in welche das macedonische Reich durch den
Tod Alexanders geriet, erinnerte den Geschichtschreiber unwillkürlich an
ein von ihm erlebtes Ereignis in Rom. Auch dort war in einer Nacht
durch den Tod des Herrschers eine gefahrvolle Situation entstanden; die
ihres Oberhauptes beraubten Glieder waren in Zwietracht und in banger
Furcht befangen. Allein das Erscheinen des neuen Herrschers brachte alles
in Ordnung; dankerfüllt wünscht er daher dem Hause dieses Regenten
lange Dauer. Die Interpretation der Stelle wird ungemein durch die me-
taphorische Ausdrucksweise erschwert. Zum Glück enthält aber ein Bild
eine Anspielung, welche uns auf den rechten Weg führt. Durch den Aus-
druck „caligans mundus" werden wir (trotz der verschiedenen Quantität)
sofort an Caligula erinnert und gewinnen die Möglichkeit, den von Cur-
tius geschilderten Vorgang mit Leichtigkeit zu deuten. Die Historiker
erzählen uns wirklich von einer Nacht und zwar der unmittelbar der Er-
mordung Caligulas folgenden (25. Jan. 41), in der sich das römische Reich
in einer Krise befand. Der Senat war in sich gespalten, manche dachten
sogar an die Zurückf ührung der Republik ; es drohte also der Bürgerkrieg.
Mit der Erhebung des Claudius auf den Thron durch das Heer wurden
die aufgeregten Gemüter endlich beruhigt und auch der Senat fügte sich.
Da Claudius noch regierte, als Curtius zum Schluss seiner Geschichte ge-
kommen war, so ist kein Zweifel, dass dieselbe unter Claudius an das Licht
der Öffentlichkeit trat.
Hat sich sonach das Problem, soweit es die Zeit des Autors betrifft.
^) DossoN, j&ude p. 35.
Handbuch der Uum. Altertninswiaseiuchaft. VUI. 2. Teil. 23
354 Römische Litteratnrgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
%
völlig befriedigend gelöst, so ist das gleiche nicht der Fall bei der Frage
nach der Persönlichkeit desselben. Aus der Zeit, in der das Geschichtswerk
entstand, treten uns zwei Gurtii Rufi entgegen, über den einen Curtius Rufus
berichtet Tacitus (Annal. 11, 20 fg.) ausführlich; er brachte es bis zur Statt-
halterschaft in Afrika. Da Tacitus am angeführten Ort nichts von der
Abfassung der Alexandergeschichte berichtet, so ist die Wahrscheinlich-
keit sehr gering, dass dieser der gesuchte Autor ist. Mehr hat für sich
der zweite Curtius, der auch noch dasselbe Praenomen wie der Historiker
führt. Dieser ist uns lediglich aus dem Index bekannt, den Sueton seinem
Traktat über die Grammatiker und Rhetoren vorausgeschickt hatte; aus
der Stelle, die ihm dort in der chronologischen Reihenfolge eingeräumt ist,
folgt, dass er unserer Zeit angehört. Der rhetorische Charakter des Werks
würde zu diesem Autor sehr gut stimmen.
Die Beziehungen zwischen Seneca und Curtius legte Wiedemajtn, Phüol.
30, 241 und 441 ; 31, 342, 551, 756 dar. Bezüglich des gemeinsamen Ausdruckes vgl. Curt. 7,
1, 4 satis prvden8 otii vitia negotio discuti = Sen. ep. 6, 4 (56), 9 ntAi7 tarn certum est quam
otii vitia fiegotio discuti. Auch die erste Stelle des Seneca (6, 7 (59), 12) enthält eine sprach-
liche Parallele, indem genies ne finitimis quidem satis natas entspricht Curt 7, 3, 5 rex nationem
tie finitimis quidem satis notam — intravit.
Die Anspielung auf Claudius' Thronhesteigung: quod imperium sub uno stare
potuisset, dum a pluribus sustinetur, ruit. Proinde iure meritoque populus Bomanus salutem
fte principi suo dehere profitetur, qui noctis, quam paene supremam habuimus, norum sidus
illuxit. Uuius herculCf non solis ortus lucem- caliganti reddidit mundo, cum sine suo
capite discordia membra trepidareni. Quot ille tum extinxit faces! quot condidit gladios!
quantam tempestatem subita serenitate discussit! Non ergo revirescit solum, sed etiam floret
imperium. Absit modo inridia, excipiet huius saecuH tempora eiusdem domus^iUinam per-
petuoy certe diuturna posteiHtas, Auf Caligula und Claudius hat die Stelle Lipsius zu Tacit.
Annal. 11. 21 (p. 174 Ausg. von 1627) hezogen. Die Hinweisung auf Caligula mit caliganti
mundo erkannte zuerst Schultess, De Senecae quaest. nat., Bonn 1872 p. 52 (vgl. auch Hibsoh-
FELD, Hermes 8 [1874] p. 472). Eine ausführliche Interpretation der Stelle giht Mützsll in
seiner Ausg. 1» p. L und Dosson, Aude p. 22.
Zur Geschichte der Frage. Da mir die Herausgabe des Geschichtswerkes zur Zeit
des Claudius völlig begründet zu sein scheint, ist es zwecklos, die anderen Datierungen
zu kritisieren; dieselben finden sich zusammengestellt bei Dosson, 6tude p. 18. Sie be-
wegen sich in dem Intervallum von Augustus bis Theodosius. Um die Ansichten einiger her-
vorragenden Männer zu berichten, so setzte ihn Gibbon (Kap. 7, n. 46) in die Zeit des Gor
dianus III. (238), Niebühb, (Kl, Sehr. 1, 305) und Ranke (Weltgesch. 3, 2, 83) unter Septi-
mius Severus (193—211), Hibt (Das Leben des C.Berlin 1820) unter Augustus, Buttieann
(Das Leben des C. Berlin 1820) unter Vespasian.
426. Charakteristik. Jeder, welcher die Alexandergeschichte in
die Hand nimmt, wird sofort den Eindruck empfangen, dass er eine fes»
selnde Lektüre vor sich hat und wird gern dem Autor bis zum Sehluss
des Werkes folgen. Diese Anziehungskraft ruht, wenngleich auch der
StoflF schon an und für sich ein Interesse gewährt, doch vornehmlich in
der Kunst der Darstellung. Die Sprache hat klassisches Gepräge, aber
zugleich den Reiz der Neuheit. Sie zeigt bereit« die Spuren der silbernen
Latinität, aber in einem Masse, dass wir dieselbe nicht als drückend em-
pfinden. Das Gewöhnliche, Einfache genügte auch unserm Historiker nicht
mehr. Der Wortschatz musste umgestaltet werden. Dies geschieht da-
durch, dass statt der Eonkreta die Abstrakta stark auftreten, dass gern
poetische Worte hervorgesucht werden , und dass der metaphorische Aus-
druck eine grosse Ausdehnung erhalten hat. Auch im Satzbau bemerken
wir den Einfluss der neuen Zeit, verwickelte Periodologie ist nicht zur
Q. Cnrtins Rafas. 355
Anwendung gekommen, die kürzeren Sätze dominieren, aber sie vermeiden
die Klippe des zerhackten Stils, der uns bei der Lektüre Senecas den Oenuss
vielfach stört. Die Komposition steckt sich dasselbe Ziel wie die Phraseologie,
sie will Eindruck machen. Vor allem geht der Autor Dingen, welche den
Leser ermüden könnten, aus dem Weg; t-echnische Schilderungen der
Schlachten, genaues Eingehen auf militärische und politische Organisa-
tionen, sorgfältige chronologische Fixierungen darf man nicht bei ihm
suchen. Selbst der eigentliche historische Stoff ist nicht gleichmässig
herangezogen, manche Partien werden trotz ihrer Wichtigkeit nur ge-
streift, dagegen andere, besonders solche, welche packende Scenen und
Persönliches aus dem Leben des Helden enthalten, ausführlich behandelt.
Auf anschauliche Schilderungen von Land und Leuten und von interes-
santen Dingen fallt ein Hauptnachdruck. In der Anordnung der Ereig-
nisse scheut der Geschichtschreiber die Unterbrechung;*) auch macht er
hier von dem Kunstmittel Gebrauch, dass er kontrastierende Ereignisse
zusammenrückt.^) Zur Belebung des Stils dienen die zahlreichen einge-
streuten Reden. 3) Anlage und Durchführung derselben zeigen, dass der
Verfasser in der Rhetorschule etwas Tüchtiges gelernt hat, allein sie zei-
gen auch, dass er nicht den Weg von der Schule zum Leben gefunden.
Sämtliche Reden bewegen sich in Allgemeinheiten, sie sind zu wenig aus
der Situation und aus der Stimmung der Personen, welche sie halten,
hemusge wachsen. Sie werden daher fast stets als ein störendes Beiwerk
empfunden. Auf den Effekt sind auch die zugespitzten Raisonnements
und die eingestreuten glitzernden Sentenzen berechnet. Hier findet sich
viel Triviales,*) doch begegnen uns auch fein geschliffene Beobachtungen.
Wenden wir uns von der Darstellung zum inneren Wert des Dar-
gestellten, so ändert sich bedeutend das Bild des Autors. Derselbe
gibt uns eine Geschichte, ist aber kein Geschichtschreiber, sondern nur
ein Rhetor. Seine eigenen Äusserungen lassen darüber keinen Zweifel
aufkommen ; denn er verzichtet auf jede Kritik. Ein Mann, der sagt, dass
er mehr abschreibe als er selbst glaube, kann nicht auf das Prädikat eines
Historikers Anspruch machen. Von einem solchen Schriftsteller werden wir
auch kaum erwarten, dass er sich erst mühsam seine Darstellung aus den
Quellen zusammengearbeitet hat; wir werden vielmehr anzunehmen haben,
dass er im wesentlichen nur einer griechischen Vorlage folgt, und dass daher
sein Verdienst vorwiegend in der lateinischen Stilisierung zu suchen ist.
So wie jetzt die Darstellung bei Curtius vorliegt, ist sie das Produkt
eines Verschmelzungsprozesses. Der Grundstock der Erzählung beruht auf
der Version, welche auch bei Diodor vorliegt und die auf Clitarch zurück-
geführt werden muss. Allein dieser Grundstock enthält Bestandteile der
mehr im alexandrischen Sinn gehaltenen Fassung, welche sich bei Arrian
findet und deren Urheber Ptolemaeus und Aristobulus sind. Allein von
dem Materiellen abgesehen macht sich in dem Werk des Curtius noch ein Zug
') Vgl. 5, 1, 1.
«) z. B. 4, 10, 16 fg.; 9. 10, 24 fg.
(Fleischvahn, Q. Curtius R. als Schnllektttre
p. 33, n. 24).
') Manche standen schon in der Quelle,
wie die Rede des Scythen (7, 8, 11). Vgl. auch
6, 11, 12 rex Cratero aceersito et sermone
habitOj cuius summa non edita est,
*) Eine Sammlung bei Dosson p. 234.
23
•?♦
356 Römieche Litteratargeechiclite. 11. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
bemerkbar, der auf das Olück Alexanders grossen Nachdruck legt und ihn
oft hart beurteilt. Aber alle diese Bestandteile sind so verschmolzen, dass
sich keine Störung mehr fühlbar macht. Welches die Vorlage des Curtius
war, ob Timagenes (vgl. p. 193), kann mit Sicherheit nicht bestimmt
werden. Denn er selbst lässt uns über seine Quellen sehr im Ungewissen;
er zitiert an einer Stelle Clitarch, an einer anderen Clitarch und Tima-
genes, deren Angabe er mit Hinweis auf Ptolemaeus für unrichtig erklärt.
Die Verbreitung, welche Curtius fand, war verhältnismässig keine
grosse. Im Altertum sind nur wenige Spuren seiner Benutzung vorhan-
den. Im Mittelalter wurde er zwar gelesen, wie die ziemlich grosse Zahl
der Handschriften beweist, allein mit den romanhafteren Darstellungen der
Alexandersage konnte er die Konkurrenz nicht bestehen.')
Zeugnisse ttbcr die Quellen. 9,5,21 Ptolemaeumj qui postea regnavit, huic
pugnae adfuisse auctor est Clüarchus et Timagenes. Sed ipse scilicet gloriae suae tum re-
fragatus afuisse se missutn in expeditumem memoriae tradidit. 9, 8, 15 octoginta milia
Indorum in ea regione caesa Clitarchus est auctor muUosque captivos sub Corona venisse.
t^ber sein Verhältnis zu den Quellen belehren folgende Stellen: 9,1,34 equidem
plura transcriho quam credo: nam nee adfirmare sustineo, de quibus dubito, nee subducere,
quae accepi, 7,8, 11 sie quae locutos esse {Scythas) apud regem memoriae prodUum est, ab-
horrent forsUan moribus hominibusque nostris et tempora et ingenia cultiora sortitis; sed ut
possit oratio eorum sperni, tamen fides nostra non dehet; quare, utcumque sunt tradita, incor^
rupta perferemus, 7, 4, 13 quae inserui, ut, qualiscumque inter barharos potuit esse, prudentia
traderetur, 5, 6, 9 ceterum aut de aliis quoque dubiiabimus aut credemus. 8, 1, 17 fabulam,
quae obiectum leoni a rege Lysimaehum temere rulgavU, ab eo casu, quem supra diximus,
oriam esse crediderim, 10, 10, 5 sed famam eius rei, quamquam ab auctoribus tradUa est,
ranam fuisse comperimus.
Zur Geschichte der Quellenfrage. Wir geben eine Übersicht der hieher ge-
hörigen wichtigeren Erscheinungen (vgl. FrXnkel, Die Quellen der Alexanderhistoriker
p. 2). Sehr alt ist die Anschauung, dass Clitarch die massgebende Quelle für Curtius war,
sie vertritt schon P. Daihel. In neuester Zeit suchte Kaük (De Clitarcho Diodori Curtii
Justini auctore, Bonn 1868) Clitarch als die Quelle nicht bloss des Curtius^ sondern auch
des Diodor und des Justin darzuthun.') Für eine Mehrheit der Quellen spricht sich Petbrs-
DORFF aus (Diodorus, Curtius, Arrianus quibus ex fontibus expeditiones ab Alexandra in
Asia usque ad mortem factas hauserint, Danzig-Königsberg 1870). Nach ihm soll Curtius
ausser Clitarch noch den Ptolemaeus, vereinzelt den Callisthenes und den Timagenes be-
nutzt haben. In einer späteren Schrift (Eine neue Hauptquelle des Q. C. R. Hannover 1884)
ändert PetersdorfT insofern seine Ansicht, als er den Trogus Pompeius unter den Quellen
in den Vordergrund stellt. Einen neuen Gedanken regte Schoene {De rerum Alexandri
scriptorum imprimis Arriani et Plutarchi fontibus, Leipz. 1870) an, indem er für Arrian
und Plutarch nicht die Originale, sondern ein Sammelwerk, in dem aus den Autoren die
wichtigsten Berichte zusammengestellt waren, als Quelle annahm und für Curtius die direkte
Benützung Clitarchs bezweifelt. Es folgte die Dissertation Laudirns (Über die Quellen
zur Gesch. Alexanders in Diodor, Curtius und Plutarch, Leipz. 1874). Hier sind die Gedanken
durchgeführt, dass Diodor, Curtius, Plutarch auf Callisthenes und Onesikritus zurück-
gehen, aber nicht auf die Originale, und dass in der Quelle des Curtius auch Clitarch be-
rücksichtigt war, femer dass Curtius selbständig Aristobul heranzog. Gegen diese An-
sichten wendet sich Kaerst (Beiträge zur Quellenkritik des Q. C. R., Gotha 1878). Die
Hauptquelle des curtianischen Werkes ist nach ihm Clitarch, daneben ist noch ein Sanmiel-
werk von Strabo benutzt, auch Timagenes und Artemidor (letzterer für 8, 9) eingesehen
worden. Wieder anders gestaltet sich die Quellenfrage bei Köhler (Eine Quellenkritik
zur Geschichte Alexanders in Diodor, Curtius und Justin, Leipz. 1879). Dieser behauptet
(p. 46), dass Curtius auf eine wiederholte Bearbeitung Clitarchs zurückgehe. In umfassender
Weise wird die Frage von Fränkel in dem Werk „Die Quellen der Alexanderhistoriker,
Berl. 1883* erörtert. Das von ihm gewonnene, hieher gehörige Resultat lautet (p. 460):
„Die Quelle Diodors war eine nur wenig durch Zusätze oder Missverständnisse veränderte
Bearbeitung des Clitarch. Diese Bearbeitung wurde dann von einem andern Autor einer
*) Eussner, Philol. 82, 5G6. Dossok gibt | ^) Andere Vertreter dieser Anschauung
p. 357 fg. eine ausführliche Geschichte des | siehe bei Dossoif p. 103 und p. 104.
Fortlebcns des Curtius.
Cornelias Taoitns.
357
weiteren Modifikation unterworfen und diese so modifizierte Clitarchbearbeitung wurde
dann sowohl von dem Verfasser der Quelle des Curtius wie von dem Verfasser der Quelle
des Trogus als Grundlage benutzt, auf der jeder seine Kompilation aufbaute. — Der Ver-
fasser der curtianischen Quelle veränderte dieselbe ihm vorliegende Clitarchbearbeitung
teils dadurch, dass er eine Reihe von Zahlenangaben durch andere ersetzte, teils in der
Weise, dass er hin und wieder in der Darstellung bald kleinere, bald grössere Verände-
rungen voniahm, besonders aber dadurch, dass er aus andern guten Quellen (vorzüglich
aus dem Aristobul) eine grosse Anzahl Zusätze machte. Curtius hat neben dieser Kompi-
lation noch den Timagenes, aber anscheinend sehr spärlich benutzt*. Zu einer ganz un-
haltbaren Ansicht in der Quellenfrage gelangt der Biograph des Curtius Dobson Etüde
p. 160: Zjes travaux de ClUarque, de CkiUisth^ne, d* AHstchtde, dt Ptoldm^e, de Trogue Pom-
peey de Vauteur anonyme farment, dans des proportions indgales, le fond de la narration
de Quinte Curce, Les relations des autres histariens ou des g^ographes ont fourni des rf/-
tails accessoires ou rectificatifs. Neuerding,s ist nochmals Kaerst auf den Kampfplatz ge-
treten und seine Schrift (Forschungen zur Geschichte Alex. d. Gross., Stuttg. 1887) verdient
umsonlehr Beachtung, weil sie die Anschauungen Gutschmids wiederspiegelt. Dieser aus-
gezeichnete Historiker legte besonderes Gewicht auf den politischen Standpunkt, welchen
die Alexanderhistoriker einnehmen, er trennt scharf die uns bei Arrian und teilweise bei
Plutarch erhaltene Überlieferung des Ptolemaeus und Aristobul als eine mehr offizielle
Darstellung von einer zweiten, mehr das makedonische Interesse als das des Königs ins
Auge fassenden. „Am reinsten ist diese Überlieferung durch den magern Auszug Diodors
aus Clitarch erhalten, ergiebiger fliesst eine Quelle, die von Curtius und Justin gemeinsam
ausgeschrieben worden ist; freilich auch trüber; denn in dieser Quelle ist Clitarchisches
mit Elementen, die der ersten Klasse angehören, und Auszügen aus einem im Gegensatz
zu der sonstigen Überlieferung dem Alexander abholden Geschichtswerke gemischt*. Im
Anschluss weist Kaerst nach, dass in Curtius die zwei Versionen ineinander gearbeitet sind,
dass sich sonach der Historiker sowohl mit Diodor als mit Arrian berührt, dass aber die
durch Diodor vertretene Version den Hauptstock bildet (p. 64). Als den Urheber der Dio-
dorischen Version sieht er Clitarch an, welcher sonach auch der Erzählung des Curtius
zum grössten Teil zu Grund liegt (p. 71 und p. 75), als die Urheber der Arrianischen Er-
zählung Ptolemaeus und Aristobulos. Die bei Curtius und Justin öfters hervortretende
feindselige Stimmung gegen Alexander führt Kaerst auf Timagenes zurück (p. 102). Den
historischen Wert der Curtiuserzählung schätzt Kaerst sehr gering: ,es finden sich nicht
oder nur in verschwindendem Grade Nachrichten von selbständigem Werte, welche über
die andern Überlieferungen hinausgehen' (p. 65).
Die handschriftliche Überlieferung. Die Handschriften des Curtius sind
zahlreich, ein Verzeichnis derselben gibt Dosson p. 315. Die gemeinsamen Lücken weisen
auf einen Archetypos hin. Die Sichtung derselben ergibt zwei Familien, die erste ist ver-
treten durch zwei Sippen, den Parisinus 5716 s. IX/X, wozu noch Fragmente von Zürich
(Rheinau), Darmstadt, Wien und Würzburg kommen, daim durch den Vaticanus-Reginensis
971 s. XH; Laur. 64,35; Bern. 451; Leid. 137 ; Voss. Q. 20. Die zweite Familie umfasst
die jüngeren und stark interpolierten Handschriften (Eussner, Philol. 32, 165).
Ausgaben von Mützell (mit kritischen und exegetischen Anmerkungen) 2 Bde.,
Berl. 1841; Zumpt, Braunschweig 1849; Hedickb (Textausgabe mit knappem krit. Apparat)
Berl. 1867; von Vogel mit deutschen Noten (Teubner), Textausgabe Leipz. 1881. Schmidt
(Freytag). — Dosson, ^tude sur Quinte Curce sa vie et son oeuvre, Paris 1887.
4. Cornelius Tacitus.
427. Sein Leben. Merkwürdigerweise fliessen über den grössten
römischen Historiker die Nachrichten spärlich. Wir kennen nicht sein
Geburtsjahr, nicht seinen Geburtsort, nicht sein Todesjahr; ja nicht einmal
über seinen Namen sind alle Zweifel zerstreut. Der Cod. Mediceus I.
nennt ihn Publius,*) dagegen Sidonius Apollinaris (ep. 4, 14 und 22) Gaius;
mit ihm stimmen überein jüngere Tacitus-Handschriften, denen aber eine
Autorität nicht beizumessen ist. Allein die Überlieferung des Mediceus
dürfte stärker wiegen als das Zeugnis eines wenig kenntnisreichen späten
') Ausdrücklich bezeugt Studemund, dass
die mit roter Tinte am Schluss des ersten
Buchs stehende Subscriptio, welche \\ auf-
weist, ^Yon gleicher oder doch ganz gleich-
zeitiger Hand wie die Textesworte herrühren*
(Herm. 8, 233, vgl. mit Eos 2, 225).
358 Bömische Litteratargeschichte. II. Die Zeit der Monarcliie. 1. Abieilimg.
Autors. Auch über die Familie des Historikers ist nur eine, jedoch sehr
wahrscheinliche, Vermutung gestattet. Plinius (n. h. 7, 76) lernte einen
römischen Ritter, Cornelius Tacitus kennen, welcher procurator Belgicae
Gallicae war, dieser konnte der Zeit nach sehr wohl der Vater unseres Tacitus
sein. Von seinem Bildungsgang ist uns lediglich das eine bekannt, dass er der
Sitte der Zeit entsprechend eifrig rhetorische Studien betrieb. Er schloss
sich, wie er uns selbst berichtet, an M. Aper und Julius Secundus, welche
damals der Glanz des Forums waren, an; ob er auch den Unterricht
Quintilians, des hervorragendsten Lehrers der Rhetorik in seiner Zeit, ge-
nossen hat, ist zweifelhaft. 1) Von seinen Familienverhältnissen ist uns die
einzige Thatsache überliefert, dass er die Tochter des als Statthalter Bri-
tanniens bekannten Agricola heimführte. Dies geschah im Jahre 78.')
Über seine politische Laufbahn spricht sich der Oeschichtschreiber im Ein-
gang der Historien aus, leider in so allgemeiner Weise, dass auch hier
nur Hypothesen die Lücken auszufüllen vermögen. An jener Stelle hebt
er nämlich hervor, dass die drei Flavier ihm Würden verliehen haben,
und dass er die erste Stufe in seiner amtlichen Garriere Vespasian ver-
dankt, weitere Rangerhöhungen dagegen dem Titus und Domitian. Welches
aber die erste Würde war, ist nicht gesagt; man vermutet, dass er tri-
bunus militum laticlavius und daneben vigintivir wurde.^) Die Standes-
erhöhung unter Titus wird mit Recht auf die Verleihung der Quästur be-
zogen, womit der Übergang aus dem Ritterstand in den Senatorenstand
verbunden war.*) Unter Domitian wurde Tacitus Quindecimvir sacris fa--
ciundis und Praetor, in dieser doppelten Eigenschaft nahm er, wie er an
einer anderen Stelle (Annal. 11,11) berichtet, an den Säcularspielen des
Jahres 88 teil. Allein zwischen der Quästur und der Prätur muss noch ein
durch Domitian erlangtes Amt liegen, es war dies das Volkstribunat oder
die Adilität. Bald nach seiner Prätur hatte Tacitus Rom verlassen; als
sein Schwiegervater Agricola im Jahre 93 starb, war er mit seiner Frau
abwesend. Diese Abwesenheit ist offenbar durch ein auswärtiges Amt ver-
anlasst worden. Welches dies war, dafür fehlt jeder feste Anhaltspunkt.
Nur eine Vermutung ist es, dass er Proprätor der Provinz Belgica war.*^)
Noch in demselben Jahr, in dem Agricola starb, kehrte er nach Rom zu-
rück ; den Greuelthaten Domitians gegenüber machte er einen stillen, sich
vorsichtig zurückhaltenden Beobachter. Das Konsulat blieb ihm unter Do-
mitian versagt; diese höchste Stufe des Ehrgeizes erlangte er erst unter
Nerva im Jahre 97. In seinem Konsulat hielt er die Leichenrede auf
Verginius Rufus, der den Vindex besiegt und der, von den germanischen
Legionen zum Kaiser ausgerufen, die Kaiserwürde abgelehnt hatte. Nach
dem Konsulat tritt uns nur noch einmal eine öffentliche Thätigkeit von
Tacitus entgegen; im Jahre 100 vertrat er mit dem ihm innigst befreun-
deten jüngeren Plinius die Sache der Provinz Afrika in ihrem Prozess
0 Angenommen wird dies von Ublichs
p. 5, bestritten von Wutk, Dialogum etc. Span-
dauer Progr. 1887 p. IX.
^) Nach Nipperde Y noch im Jahre 77.
Wir folgen dem Ansatz Borghesis.
^) So Urlichs mit Borghesi (p. 2).
*) Dignitas aucta ist nach Borghesi
der technische Ausdruck von der Qu&stur.
^) So Borghesi (Urlichs p. 7). Berok
dachte an ein Kommando über eine nieder-
rheinische Legion (Zur Geschichte und To-
pographie der Rheinlande p. 40, Anm. 2).
Comelins Tacitofi. 359
gegen Marius Priscus wegen Erpressung ; durch ihre vereinten Bemühungen
erreichten sie auch seine Verurteilung. Von da an aber verlieren sich
völlig die Spuren einer politischen Wirksamkeit von Seiten des Historikers.
Der Orund davon ist leicht ersichtlich. Tacitus hatte sich von der Öffent-
lichkeit zurückgezogen, um alle seine Kräfte der Schriftstellerei zu widmen.
Unter Domitian war das geschriebene Wort eine höchst gefahrliche Sache,
Tacitus musste schweigen. Allein er konnte während dieser Zeit sammeln,
denn auf die Geschichte waren jetzt seine Blicke gerichtet. Nach dem Tode
Nervas (98) trat er mit zwei Monographien hervor, zuerst mit einer Bio-
graphie seines Schwiegervaters Agricola, dann mit einer Schilderung von
Land und Leuten Germaniens. In die Zeit nach Domitians Tod wird auch
trotz der Stilverschiedenheit das Schriftchen über den Verfall der Bered-
samkeit, der Dialogus de oratoribus zu setzen sein. Doch dies waren nur Vor-
läufer; es folgten zwei grosse historische Werke, eines, die Historiae,
welches die Zeit von Galba bis Domitian, also besonders die Epoche der
Flavier schilderte, ein anderes, gewöhnlich Annales genannt, welches die
Zeit vom Tode des Augustus bis zum Sturze Neros, also die julisch-clau-
dische Dynastie zur Darstellung brachte. Auch das letzte Werk erschien
noch unter Traian, so dass also die gesamte historische Schriftstellerei
des Tacitus sich unter diesem Regenten abspielte. Bald nach der Heraus-
gabe des Werkes muss der grosse Historiker gestorben sein.
Privatverhältnisse des Tacitus. Plin. n. h. 7, 76 ipsi nonpridem vidimus eadem
ferme omnia — in filio Corneli T(wUi equUis romani^ Belgicae GaUiae rationea procurantia.
Dial. 2. M. Aper et Julius Secundus — quoa ego in iudiciia non uiroaque modo atndioae
audiebanif sed domi quoque et in publica asaectabar, tnira studiorum cupiditate etc. —
Agric. 9 conaul (77) egregiae tum apei filiam iuveni mihi despondit cu; poat constdeUum
(78) coüocavit et atatim Britanniae praepositua est.
Seine politische Laufbahn. Bist. 1, 1 dignitatem noatram a Veapaaiano
(69 — 79) incohatam^ a Tito (79—81) auctamf a Domitiano (81 — 96) longiua provectam non
abnuerim Ann. 11, 11 (Domitiantis) edidit ludos aaecularea (88) — iiaque inteniiua adfui
aacerdotio quindecimvirali praeditua ac tunc praetor» Von einer längeren Abwesenheit,
als der Tod Agricolas eintrat, spricht er Agric. 45. Aus dieser Stelle ergibt sich auch,
dass er 93 nach Rom zurückkehrte. Über sein Consulat sind wir auf einen Bericht des
Plin. ep. 2, 1 angewiesen, wo der Tod des Virginius Rufus erzählt wird mit dem Schluss-
satz: laudatua est a consule Cornelia Tacito; nam hie aupremus felicitati eiua cumülus
accessity laudator eloquentissimus. Gegen die Argumentation Asbaghs (Anal, hist, et epigr.
Bonn 1878 p. 16), dass Tacitus 98 Consul war, nicht 97, richtet sich mit Recht Elebs (Rh.
Mus. 44, 273). Über die Verteidigung der Afrikaner Plin. ep. 2, 11 ega et Cornelius Tacitus
adeaae provincialibus iuaai.
Litteratur: Urlichs, De rita et honoribua Taciti Würzburg 1879; Asbach, Corne-
lius Tacitus (Hist. Taschenbuch 1886 p. 57, 1887 p. 139), die Einleitungen zu den Aus-
gaben, besonders der von Nippebdey und Haasb.
428. Der Dialog über die Redner. Fabius Justus hatte öfters an
Tacitus Fragen nach den Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit gerichtet.
Statt eine eigene Antwort zu geben, erzählt der Historiker ein Gespräch,
dem er als ein sehr junger Mann (iuvenis admodum) beigewohnt haben
will. Dasselbe fand im Hause des Curiatius Maternus statt, der, früher
Sachwalter, sich jetzt ganz der Dichtkunst hingegeben hatte. Mitunter-
redner waren die damaligen Koryphäen der Eloquenz M. Aper und Julius
Secundus. Zuerst drehte sich die Unterhaltung um das Problem, ob der
Beredsamkeit oder der Dichtkunst der Preis gebühre. Aper dringt näm-
lich in Maternus, doch wieder seine rednerische Thätigkeit aufzunehmen.
360 Bömische Litteratargeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. L Abteilnog.
und schildert in lebhafter Weise die Vorzüge dieses Berufs, der eine Quelle
der höchsten Macht und der reichsten Ehren sei. Darauf entgegnet Ma-
ternus mit einem warmen Lob des stillen Glücks, das ein Dichterleben in
sich schliesst. Als Maternus geendet hatte, trat Yipstanus Messalla, ein
enthusiastischer Anhänger der republikanischen. Eloquenz, ins Zimmer.
Jetzt nahm die Unterredung eine andere Wendung; sie behandelt das
Thema, woher der tiefe Verfall der Beredsamkeit] komme. Wiederum
ergreift Aper das Wort und setzt auseinander, dass der Begriff .alt'' ein
relativer sei, dass selbst im Altertum die Reden verschiedene Stile auf-
weisen, dass mit den Zeiten sich auch die Redekunst ändere und dass
der moderne Redner ganz andere Aufgaben zu erfüllen habe, um dem Ge-
schmack des verwöhnten, stets nach Pikantem verlangenden Publikum
Genüge zu leisten; hierbei stimmt der Sprecher ein warmes Loblied auf
die moderne Beredsamkeit an. Nach dem Schluss des Vortrags bittet
Maternus den Vertreter der entgegenstehenden Anschauung, Messalla, nicht
dem Aper mit einem Lob der antiken Eloquenz zu entgegnen, sondern
das eigentliche Thema „die Ursachen des Verfalls der Redekunst'' zu be-
handeln; und als Messalla doch Apers Ausführungen berührt, erinnert er
von neuem daran. Messalla geht also genauer auf die Sache ein. Die
Gründe für den Verfall der Beredsamkeit erblickt er einmal in der verän-
derten Erziehung, welche die Bahnen der alten Zucht verlassen habe, dann
in dem veränderten rhetorischen Unterricht. Einen neuen Grund, die ver-
änderte praktische Ausbildung, erörtert er noch auf Ansuchen des Mater-
nus. Allein seine Erörterung wird plötzlich durch eine grössere, in der
Überlieferung ausdrücklich bezeichnete Lücke unterbrochen. Was auf die
Lücke folgt, bringt einen ganz anderen Gesichtspunkt für den Verfall der Be-
redsamkeit bei, die veränderte politische Lage. Die Darlegung gipfelt
in dem Gedanken, dass nur in der Republik der Boden vorhanden ist, auf
dem der Redner gedeiht, nicht aber in der Monarchie und schliesst daher
mit den Worten: »Nütze das Gute, das dir deine Zeit gewährt und ver-
kenne nicht das Gute, das eine andere Zeit hatte.'' Diese Worte bildeten
den Schluss der Rede des Maternus.
Die Lücke. Eine nicht unwichtige Frage für die Komposition ist die Bestimmung
der durch die Lücke zwischen Kap. 35 und 36 verschlungenen Partie. Nach der Über-
lieferung gingen sechs Seiten verloren. (Auf V? des Ganzen berechnet den Verlust, aber
mit unzureichenden Gründen Habbb, De dialogi locis duobtis Uicunoais Celle 1888 p. 10).
Damit steht eine zweite Frage im Zusammenhang, ob nämlich ausser dieser Lücke noch
andere, in der Überlieferung nicht bezeichnete anzunehmen sind. Aus der Ankündigung
dos Maternus (c. 16) ergibt sich, dass nicht bloss Maternus, sondern auch Secundus ge*
sprochen. Auch würde wohl, wenn Secundus geschwiegen hätte, dies am Schluss erwähnt
worden sein. Aus c. 42 finierat Maternus ist weiter zu folgern, dass das, was unmittelbar
vorangeht, dem Maternus angehört. Da nun vor der Lücke auch Messalla das Wort hatte,
80 ist der Schluss gerechtfertigt, dass durch die Lücke 1) der Schluss der Rede Messallas,
2) die ganze Rede dos Secundus, 3) der Anfang der Rede des Maternus verloren gingen.
Dieser einfachen Auffassung gegenüber sind die anderen Ansichten verwickelt und un-
wahrscheinlich, da Lücken noch da zu statuieren sind, wo uns die handschriftliche Über-
lieferung im Stiche lässt. So meint Steiner (Über den Dialogus Kreuznach 1863), dass
durch die Lücke der Schluss der Rede des Messalla, der Anfang der Rede des Secundus,
endlich vor Kap. 42 die ganze Rede des Maternus ausgefallen sind. Eine andere Meinung,
deren Urheber Heuxamn ist, geht dahin, dass noch Kap. 40 vor non de otioaa eine Lücke
(nach derselben Maternus) anzusetzen sei. Diese Meinung adoptierten Becker (Seebode,
Archiv f. Philol. 1825 p. 72 (Messala, 36—40, Secundus, dann Maternus), Andresen (Ausgabe
Cornelias Taoitns. 361
p. 5) und Habbe (p. 15); die c. 36—40 teilt letzterer dem Secundos zu (p. 18), während
Andresen zwischen Messala und Secundus schwankt.
Die Zeit des Gesprächs wird vom Verfasser desselben einmal dadurch be-
stimmt, dass er vom Todestag Ciceros bis zum Tag des Gesprächs 120 Jahre verflossen
sein lässt (c. 17). Die Zahl 120 wird dadurch geschützt, dass sie noch einmal c. 24 erscheint.
Dann gibt er auch an, welches Jahr der Regierung Vespasians bereits angebrochen ist,
als das Gespräch gehalten wurde. Es ist das sechste, wir verbessern mit BIhbens das
fiberlieferte ac sextatn iam felicis huius principatus stationem in sextum iam
felicis huius [principatus] stcUionis. Da nun Vespasian Juli 69 zur Regierung kam, so be-
ginnt das 6. Jahr Juli 74 und endet Juli 75. In diese Zeit muss also nach der Intention
des Verfassers das Gespräch fallen. Da aber das iam anzudeuten scheint, dass das 5. Regie-
rungsjahr noch nicht lange vollendet ist, so wird fttr das Gespräch das Jahr 74 anzusetzen
sein. Allein mit diesem Ansatz stimmt nicht die Summe 120, denn rechnen wir vom Tode
Ciceros die 120 Jahre, so kommen wir auf das Jalu- 77. Es muss also ein irriges Plus
von drei Jahren in einem Posten stecken. Dieses Plus steckt in der Regierungszeit des
Augustus, welche auf 59 Jahre angegeben wird, während sie thatsächlich nur 56 Jahre
beträgt. Es liegt also ein Irrtum des Autors vor. Die Versuche, unter Heranziehung der
richtigen Zahl 56 doch die Summe 120 zu gewinnen, mussten natürlich zur Änderung des
Regierungsjahres des Vespasian führen. Saüppb setzt (Philol. 19, 258) novem, iam und ge-
winnt dadurch als Zeit des Gesprächs das Jahr 78. Ublichs schreibt septimam felicis eto.
(Festgruss, Würzburg 1868 p. 4) und kommt so auf das Jahr 76. Allein alles in allem
erwogen, scheint es gerathen zu sein, bei der Überlieferung zu bleiben. (Bahbens Ausg.
p. 72, ScHWBNKENBECHEB , Sprottauor Progr. vom Jahre 1886 p. 6). Auch das Hilfsmittel
der runden Z^l scheint hier nicht angebracht zu sein. Dass die Zeit des Gesprächs vor
77 fallen muss, kann noch auf anderem Weg gezeigt werden. Es wird nämlich c. 37
Mucianus als lebend erwähnt ; als aber Plinius seine historia naturalis im Jahre 77 heraus-
gab, war er tot (32, 62) vgl. Ublichs Festgruss p. 1.
Überlieferung. Der Dialog, die Germania und das Sueton'sche Fragment de
grammaiicis et rhetoribus haben eine gemeinsame Überlieferung. Alle Handschriften
gehen auf ein Exemplar zurück, das wahrscheinlich (Zweifel bei Voigt, Wiederbelebung
des klass. Altert, l^ 256) Henoch aus Äscoli zur Zeit des Nicolaus V. nach Italien gebracht
hatte. Aus diesem Exemplar, wahrscheinlich einer Abschrift Henochs, stammen zwei jetzt
verlorene Codices; der erste wird repräsentiert durch den Vaticanus 1862 (s. XV) und den
Leidensis XVIH s. Perizonianus Q. 21 (s. XV), der zweite durch mehrere Handschriften
(Vaticanus 1518, Farnesianus, Vaticanus 4498, Ottobonianus 1455, Vindobonensis 711,
alle s. XV. Gegen die Überschätzung der zweiten Familie richtet sich Bindb, De T, diaL
quaest. crit. Berliner Dias. 1884. Revision der ganzen Frage durch Schbübb, De Tacitei
de oratoribus dial. codicum nexu et fide Breslau 1891 (Breslauer Philol. Abb. 6. Bd.).
Ausgaben von Michaelis (gute kritische Ausgabe) Leipzig 1868, von Andbesen
(erklärende Schulausgabe) Leipzig * 1879; von Peteb (desgl.) Jena 1877; von Bähbens,
(eine durch wilde Konjekturerei entstellte Leistung) Leipzig 1881.
429. Charakteristik des Dialog. Die kleine Schrift ist unstreitig
eines der schönsten Denkmäler der römischen Litteratur; und mit Recht
hat man sie ein goldenes Büchlein genannt. Ein höchst interessantes
Problem wird in höchst interessanter Weise behandelt. Dass die Bered-
samkeit, die der schönste Schmuck der Republik gewesen, in der Kaiser-
zeit gebrochen war, konnte keinem schärferen Auge entgehen. Öieser Ver-
fall der Redekunst griff aber auch tief ins soziale Leben ein, weil durch
denselben zugleich auch die Erziehung und der Unterricht gezwungen
wurde, andere Bahnen einzuschlagen. Sonach lag ein Problem vor, das
seine grosse Wichtigkeit dadurch erhielt, dass es in politische, litterarische
und soziale Verhältnisse eingriff. Liegt also schon in dem Stoff eine grosse
Anziehungskraft für jeden Denkenden, so hat der Schriftsteller auch noch
diesen Stoff in sehr anmutiger Form dargeboten. Er gibt uns ein Ge-
spräch, dadurch wird über das Ganze dramatisches Leben ausgegossen
und wir erhalten in den sprechenden Personen Charaktere : Aper ist durch-
weg Realist, Maternus dagegen eine von idealen Anschauungen erfüllte
liebevolle Persönlichkeit, Messalla ein Anhänger des Alten und laudator
862 BömiBche Litteratnrgesohiohte. II. Die Zeit der Monarohie. 1. Abteilnxig.
actitemporis; Aper preist die Güter der Welt, Einflues, Macht, Ehre; Ma^
ternus dagegen freut sich des stillen Dichterglücks und schildert dasselbe
in einer Weise, dass jeder Leser aufs tiefste jgerührt wird. Bei der Dar-
legung von den Ursachen des Verfalles packt uns der Autor durch äusserst
zarte und liebevolle Bilder des alten römischen Familienlebens und durch
eine lebhaft durchgeführte Gegenüberstellung der alten und der modernen
rhetorischen Bildung. Der Kern des Dialogs ruht darin, dass gezeigt wird,
dass unter der Monarchie kein Boden mehr für die echte Beredsamkeit
vorhanden ist. Damit stellt sich von selbst die Erkenntnis ein, dass es
unnötig ist, Zeit und Mühe auf dieselbe zu verwenden, und dass es daher
geraten ist, andere Zweige des Wissens zu pflegen. Durch diese sich von
selbst ergebende Schlussfolgerung ist auch die Entscheidung über die zu-
erst angeregte Frage, ob die Dichtkunst der Beredsamkeit vorzuziehen sei,
vollzogen. Noch mehr, auch für den Autor wird das Endresultat des Dia-
logs von Bedeutung sein ; wii* gewinnen den Eindruck, als wollte der Ver-
fasser des Dialogs einem Gegenstand alter Liebe das letzte Lebewohl zu-
rufen und sich einem neuen Berufe zuwenden. Die Darstellung des Schrift-
chens entzückt uns durch die Lebhaftigkeit und Anmut; die Fülle des
Ausdrucks ist manchmal übergross, allein der Eindruck des Ganzen wird
dadurch nicht getrübt. Es ist ein Sonnenglanz über die Diktion ausge-
breitet; der Stil ist eine feine und edle Regeneration des Giceronischen ohne
Einseitigkeit.
Die Autorschaft des Schriftchens ist ein vielumstrittenes Problem.
Die Überlieferung gibt den Dialog als ein Werk des Tacitus; auch eine
Stelle des Plinius weist ziemlich deutlich auf denselben und damit auf die
Autorschaft des grossen Historikers hin. Was viele zu einer entgegen-
gesetzten Annahme führte, ist die grosse Stilverschiedenheit, welche diese
Schrift von den historischen trennt. Um diese Schwierigkeit zu über-
brücken, hat man die Abfassung des Werkchens in die Jugendzeit des
Tacitus verlegt. Allein damit wurden neue Schwierigkeiten geschafifen.
Das Wahrscheinlichste ist, das Tacitus erst nach Domitians Tod, sonach
als reifer Mann die Abhandlung geschrieben hat; er gebraucht hier noch
den ihm von Jugend auf geläufigen, auch in seinen Reden zur Anwendung
gekommenen Stil; in den historischen Schriften dagegen trat er mit einem
selbstgeschaffenen durchaus künstlichen Stil hervor.
Die Autorschaft des Tacitus. Die Zweifel an der Autorschaft des Tacitus he-
ginnen gleich mit der ersten Herausgahe der Schrift. Besonders wirksam erwies sich das
Verdammuugsurteil des Justus Lipsius, welcher die Schrift dem Quintilian zuteilen wollte.
Später Hess er die Autorschaft Quintilians fallen, allein dieselbe ward um so eifriger von
anderen Gelehrten aufgenommen. Heumaitk versuchte in seiner Ausgabe Gröttingen 1719
einen eingehenden Beweis für diese Ansicht. Aber ein ausgezeichneter Kenner Quintilians,
Spalding, entzog diesem Beweis den Boden. Neben der Autorschaft Quintilians kam auch
die des jüngeren Plinius auf; sie wurde aufgestellt von Nast in seiner Obersetzung des
Dialogs Halle 1787. Einen wichtigen Einschnitt in der Frage büdete die Abhandlung von
Lange, Dialogus de oratoribiis Tacito vindicatxis, zuerst erschienen 1811 in Becks Acta
aem, Lips. 1, 77, jetzt in Lai?ob's Vermischte Schriften und Reden p. 3. Hier wird zum
erstenmal ein äusseres Zeugnis, eine Stelle des Plinius verwertet. Er behauptete nämlich,
dass Plinius in dem all Tacitus gerichteten Brief mit 9, 10 itaque poemata qtUescunt, quae tu
inttr nemora et lucos commodissime perfici ptiias einen Hinweis auf Dial. c. 9 adice quod
poetisj si modo dignum aliquid elaborare et efficere velint, relinquenda conversatio amicorum
et iucunditas urbis, deserenda cetera officia, täque ipsi dicunt in nemora et lucos, id est in
Cornelins Tacitns, 863
solitudinem secedendum est] c. 12 nemora vero et luci et secretum ipsum qxiod Aper incre-
pahat tantam mihi afferunt voluptatem eto. gibt. Sehr gründlich ging auf die Sireitfrage
Eckstein {Protegomena Halle 1835) ein; allein das Endresultat war doch wieder ein non liquet.
Im Laufe der Zeit jedoch neigten sich immer mehr die Ansichten auf Seite des Tacitus. Be-
sonders erfolgreich wirkten die Untersuchungen Weinkauffs (seit 1857), welche erweitert in
Buchform (Unters. Ober den Dialog desTac.) Köln 1880 erschienen sind. Diese Aufs&tze laufen
darauf hinaus, nachzuweisen, dass trotz der Verschiedenheit des Stils doch auch im Dialog die
Taciteische Individualität durchblicke. Ein Gedanke Steikeb's ist es {De dialogo Kreuz-
nach 1 802),- die Verschiedenheit des Stils in den Taciteischen Werken als eine Folge der
Entwicklung zu erklären. Tn neuester Zeit wurde nochmals die ganze Frage einer um-
sichtigen Revision unterzogen von Jansen, De Tacito diaiogi auetore Groningen 1878 und
die Autorschaft des Taci^ festgehalten, wie ich glaube mit Recht; denn 1) ist die
Bezeichnung der Pliniusstelle auf den Dialog doch unverkennbar; 2) ist der Dialog unter
dem Namen des Tacitus überliefert; 3) ist die Taciteische Persönlichkeit, trotzdem der
Dialog eine ganz andere Sprache redet als die übrigen Schriften, doch noch in vielen Spuren
zu erkennen.
Abfassungszeit der Schrift. Für diese Frage ist das wichtigste Moment, dass
der Verfasser als iurenis admodum dem im Jahre 74 gehaltenen Gespräch beiwohnte,
da^ er sonach als reifer Mann das gehörte Gespräch herausgab. Es wird also natur-
gemäss sein, wenn wir zwischen der Zeit des Gesprächs und der Zeit der Abfassung un-
gefähr 20 Jahre verstrichen sein lassen; wir kämen damit beiläufig mit der Abfassungszeit ins
Jahr 94. Damit steht ein anderes Moment in Einklang. Die Delatoren Eprius Marcellus
und Vibius Grispus konnten nicht im Dialog so besprochen werden, wenn sie noch am
Leben waren; nun aber lebte Grispus noch hochbetagt unter Domitian. Weiter ist zu er-
wägen, dass manche freimütige Äusserungen des Dialogs unter Domitian sich nicht
hervorwagen durften. Wir kämen sonach in die 2^it nach 96. Damit ist aber die Frage
noch nicht ihrer Lösung entgegengeführt; da wir von der Autorschaft des Tacitus ausgingen,
so muss noch erörtert werden, ob die gewonnenen Zeitbestimmungen auch auf ihn passen.
Was die Zeit des Gesprächs anlangt, so konnte allerdings Tacitus von sich sagen, dass er
einem im Jahre 74 gehaltenen Gespräch iuvenia admodum beigewohnt habe; denn da
für seine Geburtszeit das Jahr 55 oder 56 durch begründete Vermutung angenommen wird,
so stand Tacitus damals im jugendlichen Alter von 19 oder 20 Jahren. Auch die Abfassungs-
zeit würde mit den aus Tacitus bekannten Daten vereinbar sein, denn nach dem Prooemium
des Agricola will er unter Domitian nichts geschrieben haben. Weiterhin ist zu bemerken^
dass Plinius seinen bekannten Brief (1, 20) an Tacitus über rhetorische Dinge nicht so abgefasst
hätte, wenn damals der Dialog schon vorgelegen wäre. Jener Brief Allt nach 97, wahr-
scheinlich in das Jahr 98 (Wutk, Dialogum a Tacito Traiani temvoribus scriptum esse
Spandau 1887 p. IX). Endlich setzt der Dialog eine solche praktiscne Erfahrung und Le-
bensweisheit voraus, wie sie bloss einem reiferen Alt«r zustehen kann. Nur eine Schwierig-
keit erhebt sich, der Dialog steht bei unserer Annahme auf derselben Zeitstufe, auf der
sich der Agricola und die Germania befinden, und trägt doch ein vollständig anderes sti-
listisches Gepräge. Allein diese Erscheinung nötigt uns lediglich zu dem Schluss, dass wir
die Stilverschiedenheit nicht als das Produkt einer Entwicklung anzusehen haben, sondern
als eine mit Bewusstsein vollzogene künstlerische That. Der Stil des Dialogs ist offenbar
der, welchen er als Redner in Anwendung brachte, also der, welcher ihm zur Natur geworden
war;*) dagegen der Stil der historischen Schriften ist ein künstlich gemachter, wie ihn
niemals ein Römer sprach. Das Problem besteht also nicht darin, die Stilverschiedenheit
des Dialogs zu erklären, sondern die der historischen Schriften. Beispiele einer solchen
Stiländerung bietet die alte und die moderne Zeit genug. Um ein naheliegendes Beispiel
anzuführen, schreibt doch der Freund des Tacitus Plinius in seinem Panegyricus ganz an-
ders als in seinen Briefen. Freilich muss auch in solchen Schriften mit verschiedenem Stil
doch noch immer derselbe Autor zu erkennen sein; und das ist hier der Fall.
430. Agricola. Unter Domitians gewaltthätigem Regiment hatte die
Schriftstellerei einen bösen Stand; Tacitus zog es daher vor, zu schweigen.
Erlösung brachten die milden Regierungen Nervas und Traians. Jetzt
konnte sich das freie Wort des Schriftstellers wiederum hervorwagen, jetzt
konnte auch Tacitus an die Durchführung seiner historischen Pläne denken.
Er stellte eine Geschichte der domitianischun Herrschaft und eine Geschichte
*) Ich vermag Nipperdey nicht zuzu- Nipperdey aus Plin. ep. 2, 11, 17 respondit
geben, dass Tacitus auch seine Reden im Cornelius Taritus eloquentissinte et, quod
Stil seiner historischen Werke schrieb, was eximium orationi eins inest, ae^uytug schliesst.
364 Bömische LitteraturgeBchichte. TL, Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilang.
der gegenwärtigen glücklichen Zeit in Aussicht. Vorläufig spendet er —
es war im Jahre 98 n. Chr. — eine Biographie seines Schwiegervaters,
des Gn. Julius Agricola dem Publikum. Er bittet in der Einleitung um
schonende Aufnahme seiner Produktion, da ja die Gegenwart biographi-
schen Darstellungen nicht mehr das rege Interesse entgegenbringe, wie
die Vergangenheit, die Tüchtigkeit erfahre nur in den Zeiten die grösste
Wertschätzung, in denen sie am besten gedeihe. Er nimmt für seine Ar-
beit keinen litterarischen Charakter in Anspruch, er will sie lediglich als
ein Werk der Pietät betrachtet wissen. Anders, wenn er mit der Schil-
derung der erlebten blutdürstigen Zeiten hervortreten würde. Hier brauchte
er nicht um Nachsicht zu bitten ; denn die hier allein zulässige litterarische
Beurteilung müsse unbedingt eine milde sein, da Domitians Regierung
fünfzehn Jahre lang alles geistige Leben niedergehalten hätte, und die Fol-
gen der Unterdrückung sich nicht so leicht ausgleichen Hessen. Aus dieser
Einleitung ergeben sich zwei für den Charakter der Schrift wichtige Mo-
mente; einmal setzt Tacitus die Biographie in unleugbare Beziehung zu
seiner historischen Schriftstellerei, die Monographie soll der Vorläufer
grösserer geschichtlicher Werke sein; dann stellt er seine Monographie
ausdrücklich als ein Werk der Pietät bin, es ist selbstverständlich,
dass sie damit eine Lobschrift wird, welche die rühmenswerten Eigen-
schaften seines Helden hell beleuchtet und die Schattenseiten verschweigt
oder entschuldigt. Wir können also, wenn wir die Tendenz der Biographie
kurz bezeichnen wollen, sagen: Tacitus schreibt das Elogium seines
Schwiegervaters und verleugnet dabei nicht seinen Charakter
als Historiker. Nur wenn wir uns diese Tendenz der Schrift stets ge-
genwärtig halten, gewinnen wir das richtige Verständnis von der Kompo-
sition. Der Gang der Biographie ist folgender: Zuerst schildert er Agri-
colas Abstammung, dann legt er seine Ausbildung dar, welche nach der
litterarischen Seite hin in Massilia, nach der militärischen in Britannien
unter Suetonius Paulinus erfolgte. Kurz wird seine Vermählung mit Do-
mitia Decidiana und der Anfang seiner amtlichen Laufbahn, seine Quästur,
sein Tribunat, seine Prätur abgemacht; ausführlicher und wärmer wird der
Historiker, als er den Anschluss Agricolas an Vespasian, sein Legionskom-
mando in Britannien, seine Statthalterschaft in Aquitanien und sein Kon-
sulat erzählt ; hier werden schon einzelne Charakterzüge Agricolas geschickt
eingewoben. Doch den Höhepunkt erreicht die Biographie erst mit dem
Wirken Agricolas in Britannien, wohin er nach seinem Konsulat als Statt-
halter beordert wurde. Der wichtige Einschnitt wird dadurch markiert,
dass eine Abhandlung über Land und Leute, weiter ein Abriss der britan-
nischen Expeditionen vorausgeschickt wird (c. 10 — 17). Dann erst hebt
die Erzählung selbst an. Agricola begann seine Thäligkeit mit einem
glücklichen Unternehmen gegen die Ordoviker und mit der Besetzung der
Insel Mona. Hatte dies schon sein Ansehen sehr gehoben, so kam noch
weiter hinzu eine sehr umsichtige und gewissenhafte Verwaltung. Auch
die folgenden Jahre seiner Statthalterschaft zeigen überall den siegi^eichen
Feldherrn, den trefflichen Verwaltungsbeamt^n, den klugen Menschenkenner,
den edlen Mann. Ein merkwürdiges Abenteuer einer Cohorte der
Cornelias Tacitns. 365
Usipier, welche desertierte, endet die Schilderungen und gewährt ge-
wissermassen dem Leser einen Ruhepunkt. Es folgt die Erzählung
der ruhmvollsten That Agricolas, der siegreichen Schlacht am Graupius-
berge. Diese Partie der Schrift wird besonders durch die eingestreuten
Reden der beiden Führer, des Galgacus und des Agricola glänzend ge-
staltet. Mit diesem Ereignis schliesst die Statthalterschaft ab. Der Bio-
graph wendet sich nun zum letzten Abschnitt im Leben seines Helden,
das dieser in stiller Zurückgezogenheit in Rom verbrachte (84—93). Der
Schwerpunkt dieser Schilderung liegt in dem Verhalten, das Agricola dem
grausamen Herrscher gegenüber beobachtete. Es war das der vorsichtigen
Zurückhaltung. Offenbar erfuhr dieselbe späterhin Tadel; der Historiker
unterlässt es daher nicht, eine politische Maxime einzustreuen. Er sagt,
dass auch unter schlechten Fürsten die Existenz grosser Männer möglich
sei, und dass Loyalität und Zurückhaltung, mit kräftiger Thätigkeit ver-
eint, Anrecht auf denselben Ruhm geben, den viele geerntet haben, welche
in trotziger Verblendung ohne jedweden Nutzen für das Vaterland den
Tod gesucht, nur um ihrem Ehrgeize zu fröhnen (c. 42). Es kommt der
ergreifende Bericht von dem Ende Agricolas, der sich zuletzt zu einer
warmen, feierlichen Apostrophe an den Verstorbenen erhebt.
Der Titel der Schrift ist nach der handschriftlichen Überlieferang De tnta ei mo-
ribu8 Julii Agricolae, (Nepos Cato 3 de vita ei maribus).
Ahfassnngszeit. Zwei Stellen kommen in Betracht: c. 3 quamquam primo atatim
heatissimi saeeuli artu Nervo Caesar res oUm dissociabileSf principatum ac libertatem miscuerit
augeafque quotidie felicitatem temporum Nerva Traianus. e, 44 non licuU (ei) durare in hanc
heatismmi aaecuU lucem ac principem Traianum pidere. So lange Nerva lebte, wäre es un-
geschickt gewesen, von Traian zu schreiben, wie es im letzten Satz geschehen. Auch konnte
Traian vor dem Tode Nervas (27. Jan. 98) nicht princeps genannt werden. (Nissen, Tacit.
Agric. p. 14, Wex p. 146) ; MoMifSEN, Hermes 3, 106 Anm. Dass Nerva an der ersten Stelle
nicht diru8 genannt wird, ist von keinem Belang. Dass der Agricola vor die Germania
fällt, ergibt sich aus dem Prooemium.
Dis Überlieferung beruht auf zwei ganz jungen Codices^ dem Vaticanus 3429, der
im 1&. Jahrh. von der Hand des Pomponius Laetus geschrieben wurde, und dem Vaticanus
4498 s. XV. Die erste Handschrift ist die vorzüglichere Quelle.
Litteratur: Ausgaben von Wex mit ausführlichen Proleg. und ausführlichem
Kommentar, Braunschweig 1852, Hofman-Peerlkamp, Leyden* 1864, Kritz, Berlin^ 1874,
Urlichs, Würzburg 1875 (Facsimile von A und Varianten von B auf der einen Seite, die
scripiura emendata auf der anderen), Cornblissek, Leyden 1881, Peter, Jena 1876 u. a.
431. Charakteristik. Jede Betrachtung der Schrift hat davon aus-
zugehen, dass sie eine Lobschrift sein soll. Damit ist uns auch der
Massstab für die Würdigung der Arbeit gegeben. Dem Schriftsteller lag
keine leichte Aufgabe vor; Agricola gehörte nicht zu den durch eine un-
gewöhnliche Qeistesgrösse emporragenden Männern seiner Zeit, auch durch
Charakterstärke leuchtete er nicht hervor, im Gegenteil er wusste sich
ganz gut zu den verschiedenen Regierungen zu stellen, selbst den Grau-
samkeiten Domitians entging er durch seine Klugheit. Ist es schon an und für
sich schwierig, einen solchen Helden zu feiern, so war dies für Tacitus
noch mehr erschwert, weil zur Zeit, als er mit seiner Monographie her-
vortrat, eine sehr feindselige Stimmung gegen Domitian und alle, welche
unter ihm wirkten, herrschte. Wollte der Autor daher seiner Schrift eine
günstige Aufnahme bei dem Publikum sichern, so konnte er keinen
Kampf mit der öffentlichen Meinung in dieser Beziehung aufnehmen. Seine
366 Hömische Litteratargeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang,
Lobschrift durfte nicht die Form einer offenen Rechtfertigungsschrift er-
halten, höchstens eine leise Andeutung konnte er sich gestatten, wie dies
in der That in der berühmten Stelle (c. 42) geschehen ist. Im Gegen-
teil, er musste sogar dieser Stimmung des Publikums entgegenkommen
und auch den Agricola als einen Mann darzustellen versuchen, welcher
von Domitian manche Unbill zu ertragen hatte und nur durch seine weise
Zurückhaltung grösseren Gefahren entging. Besonders die thatenlose Zeit
Agricolas nach der britannischen Verwaltung eignete sich, diesen Gesichts-
punkt hervorzukehren. Die Schwierigkeit, welche die lobende Partie machte,
umging Tacitus dadurch, dass er rasch über die Zeiten, in denen von
seinem Helden wenig oder nichts zu berichten war, hinwegging und alles
auf einen Wurf setzte, auf die Schilderung der Statthalterschaft in Bri-
tannien ; hier lag ja die einzige Lichtseite im Leben Agricolas. um das
Interesse der Leser für diesen Abschnitt und damit für das ganze Werk
besonders zu wecken, verliess er den Rahmen der Biographie und leitete
die Erzählung ins Historische über ; es treten uns daher auch Einwirkungen
der Sallustischen Monographien entgegen. *) Er schickte der Erzählung von
den Thaten des Agricola eine Geographie und Ethnographie Britanniens, wie
einen Abriss der römischen Expeditionen in jenes Land voraus. Weiter
liess er vor der Entscheidungsschlacht die sich gegenüberstehenden Feld-
herren Reden halten, durch welche die folgende Darstellung einen bedeuten-
den Hintergrund erhielt. Auf diese Weise empfangen wir den Eindruck,
als ob sich ein wichtiges Stück der Zeitgeschichte vor unseren Augen ab-
spielte. Zugleich tritt der Träger der Handlung, Agricola, dadurch in ein
helles Licht. Aber des Autors Mittel sind noch nicht erschöpft; er weiss
die Spannung des Lesers aufrecht zu erhalten, ja noch zu steigern; er
bewirkt dies durch die ergreifende Apostrophe an Agricola. Unsere Blicke
werden auf die andere Welt gelenkt. Nicht Klagen verlangt der Ver-
storbene, sondern Nacheiferung in seinen Tugenden; nicht 'seine körper-
liche Hülle, sondern seinen Geist sollen sich die Überlebenden stets ver-
gegenwärtigen; denn jene ist hinfallig, dieser ist ewig. Alles, was an
Agricola bewunderns- und liebenswert war, wird in den Herzen der Men-
schen ewig fortleben und während viele Vorfahren schon der Vergessen-
heit anheimgefallen sind, werden von Agricola noch die spätest/en Zeiten
reden. Der Biograph redet in so eindringlicher Weise, dass wir in tiefer
Rührung von ihm scheiden.
Die Komposition und die Tendenz des Agricola ist in der neueren Zeit
Gegenstand vieler Abhandlungen geworden. Vier Grundansclianungen sind dabei hervor-
ge^eten :
a) Der Agricola vertritt die Stelle einer laudatio funebris, er ist eine in
buchmässiger Form publizierte latidatio funebris. Diese Ansicht hat Hübneb, Hermes 1, 438
aufgestellt, vor ihm hatte den Gedanken schon angeregt Mohb, Zu und über T. A., Meinin-
gen 1828 p. IV. Freilich muss H. zugeben, dass manches, wie die Beschreibung von Britan-
nien und die Erzählung von den früheren Expeditionen dahin, die eingelegten Reden des
Calgacus und des Agricola, ja selbst der Bericht über Agricola« britannische Verwaltung
dem Charakter der Rede geradezu widerstreiten oder über die derselben gesteckten Grenzen
hinausgehen; diese Schwierigkeiten sucht der Urheber der Hypothese durch den Satz zu
heben (p. 442): «Das rhetorische Kunstwerk wird durch diese Erweiterung über seine
0 Vgl. Ublichs, De vUa Taciti p. 22.
Der Einfluss wird vielfach Überschätzt. Viele
von den angeblichen Nachahmungen (Ur-
lichs, De viia Agric. p. 4) sind zu streichen.
CorneliuB Tacitna. 367
Spli&re hinaus und in die des historischen Kunstwerks gehoben." Mit diesem Satz ist
aber der Hypothese ihr Todesurteil gesprochen; denn ein Schriftstück, das in eine andere
Sphäre gehoben wird, gehört eben dann anch dieser andern Sphäre an. (Vgl. dagegen
HoFFMANV, Zeitschr. f. österr. Gyinn. 21, 250);
b) Der Agricola hat keinen einheitlichen Charakter, er ist Biographie
und Geschichte zugleich (Hirzel, Die Tendenz des Agricola, Tübingen 1871). Von
diesem Satz ausgehend stellt Andresek (Festschr. des grauen Klosters, Berlin 1874 p. 302)
die Hypothese auf, dass die Kapitel 10—38 einer von Tacitus verfassten Geschichte der
Unterwerfung Britanniens angehören, dass diese Geschichte aber sich nach dem Tode
Agricolas durch Hinzufügung der Kapitel 1 — 9 und 39—46 in das uns vorliegende Buch
verwandelte, das von nun an zum Teil einen biographisch-nekrologischen Charakter trug.*)
Diese Ansicht lässt die Schriftstellerei des Tacitus in einem Licht erscheinen, wie sie nie-
mals zu dem Bilde stimmt, das wir von Tacitus gewonnen haben, und rückt die Schrift
aus dem Rahmen eines Kunstwerkes. (Vgl. dagegen Eussner, Fleckeis. Jahrb. 111,350);
c) Die Schrift ist in der Form der Biographie wesentlich eine Apologie
des Agricola, eine Ehrenrettung desselben. Sie sucht Agricola gegen aen Vor-
wurf der Servilitftt in der 2ieit Domitians zu verteidigen, mittelbar verteidigt der Biograph
sich selbst, da er ja auch unter Domitian ausgezeichnet wurde, und sucht Traians Gunst
zu gewinnen (Hoffmann, Zeitschr. f. österr. Gymn. 21, 252).*) Diese Ansicht übersieht den
Charakter der Schrift als einer Lobschrift und macht einen Nebenumstand zur Haupt-
sache. (Dagegen Hirzel, Über die Tendenz des A. Tüb. 1871). Noch stärker wird diese
politische Tendenz von Boissier, Gantrelle (Flbckeis. Jahrb. 115, 787) und Asbach
(Raumer, Hist. Taschenb. 6 F. 5. Jahrg. p. 69) betont;
d) Die Schrift ist eine historische Lobschrift') (ürlichs, De vita et hono-
rihus Taciti p. 20 und p. 24). Diese Ansicht ist offenbar die richtige. Ziel der Monogra-
phie ist die Verherrlichung Agricolas; dieses Ziel schliesst in sich das Verschweigen der
Fehler und ihre Bemäntelung, also auch die politische Rechtfertigung. Dieser Grundcha-
rakter der Schrift wird aber modifiziert durch den Studienkreis des Autors. Anders hätte
ein Rhetor dieses Elogium geschrieben, anders ein Antiquar, anders ein Philosoph; wiederum
anders hat es der Historiker abgefasst.
Eine meist nur referierende Zusammenstellung der über den Agricola vorgebrachten
Ansichten findet sich bei Ulbrich, Der litterarische Streit über Tacitus' Agricola, Melker
Programm vom Jahre 1884.
432. Die Germania. Bald nach dem Agricola, in demselben Jahre 98
schrieb Tacitus eine ethnographische Monographie, die Qermania. In einem all-
gemeinen Teil spricht er zuerst über die Grenzen des Landes, über die Ab-
stammung des Volks, über das Klima, über die Produkte; dann wendet sich
der Historiker zu den Bewohnern und beschreibt zuerst das öffentliche Leben,
es sind interessante und für die Geschichte unserer Nation sehr wichtige
Bilder, welche uns vorgelegt werden ; da wird uns geschildert das Kriegs-
wesen, die religiösen Gebräuche, die Staats- und Gerichtsverfassung, die
Wehrhaftmachung und die Gefolgschaft. Es folgt die fesselnde Darstel-
lung des Privatlebens der Germanen, wir werden unterrichtet über Woh-
nung, Kleidung, über das Familienleben, wie über Ehe, Kindererziehung,
Erbrecht und Blutrache, Gastfreundschaft, Nahrung und Vergnügungen, dann
über die sozialen Verhältnisse, über den Stand der Sklaven und Freige-
lassenen, über Volkswirtschaftliches wie Geld und Ackerbau. Den Schluss
bildet die Leichenbestattung und der Totenkultus. Nachdem in dieser Weise
Land und Leute besprochen sind, handelt der Schriftsteller in dem spe-
ziellen Teil über die einzelnen Völkerschaften. Auch hier ist sein Augen-
merk auf hervorstechende Eigentümlichkeiten der einzelnen Stämme im
') Verwandt damit ist die Ansicht Nib-
BüHBS, der Kl. Sehr. 1, 831 eine doppelte Bear-
beitung des Agricola statuiert.
*) Mit HoFPKANN berührt sich vielfach
A. Stahb, Geschichte der Reg. des Tiberius
p. 11-12.
') Verwandte Bezeichnungen: „ Biogra-
phische Lobschrift* von Artzt in seiner Ober-
setzung, Meissen 1800, eloge hiatorique oder
historische Lobschrift von Gantrelle.
368 BömiBche Litteratnrgeschichte. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilimg.
Leben und in Sitten gerichtet. Zuerst nimmt er die Orenzvölker sowohl
germanischen als nichtgermanischen Ursprungs vor, dann kommen die
germanischen Völkerschaften im Westen Germaniens, weiterhin im Nord-
westen an die Reihe. Damit ist die erste Völkertafel geschlossen, der
Einschnitt wird durch eine allgemeine Betrachtung über die Kämpfe der
Germanen mit den Römern in wirkungsvoller Weise markiert. Es folgen
die Suebenvölker, zuerst die Stämme im Innern Germaniens bis zur Elbe-
mündung und zur cimbrischen Halbinsel hinauf, dann die an der Donau hau-
senden, endlich die im Osten und an der See. Den Schluss der Mo-
nographie bilden die östlichen Grenzvölker und die märchenhaften Tier-
menschen.
Der Titel der Schrift. Im Vaticanus 1862 (und 1518) lautet der Titel De
origine et situ Germanorumf im Leidensis De origine, situ, moribus ac populis
Germanorum. Als echten Titel sieht Reifferscheid an, vom Vaticanus ausgehend: De
situ Germaniae (Reifferscheid, Sgmh, philoL, Bonn p. 625), Wölfflin, den codex Lei-
densis zu Grunde legend: De situ ac populis Germaniae (Hermes 11,126). Dagegen
Reiffebscheid, Ind, lect.y Berlin 1877/8 p. 9. Ohne Grund vermutet Berge (zur Geschichte
und Topographie der Rheinlande p. 40), dass der ursprüngliche Titel mit einem an eine
bestimmte Persönlichkeit gerichteten Vorwort, in dem er sich über das Ziel seiner Abhand-
lung ausgesprochen, verloren ging.
Die Zeit der Abfassung, um zu berechnen, wie viel Jahre seit dem ersten
Cimberoeinfall verflossen sind, nimmt er (c. 37) das zweite Konsulat Traians als Ausgangs-
punkt für die Gegenwart. Dieses fällt ins Jahr 98. (Frühjahr 98 nach Asbach p. 79).
Die Überlieferung ruht, wie wir oben gesehen haben, auf derselben Grund-
lage wie der Dialog. Allein die Frage ist hier verwickelter, da mehr apographa vor-
handen sind. In neuerer Zeit hat man besonders dem cod, Hummelianus Wert beilegen
wollen (vgl. die Ausgabe von Holder), einer Handschrift, welche Nipperdey als bedeu-
tungslos erachtete (opusc. p. 387). — Schefczik, De C, T. Germ, appar. crit., Troppau 1886.
Litteratur. Ausgaben (in knapper Auswahl): von M. Haupt, Berl. 1855; Müllen-
hoff Berl. 1873; Eritz Berl. 1878 (4. Aufl.); Holtzmakn-Holder, Leipz. 1873; Batthstabk,
Leipz. 1875 — 80; Holder, Leipz. 1878 u. a. Die Erläuterungsschr. sind sehr zahlreich. Eine
Übersicht findet sich bei Baumstark, Urdeutsche Staatsaltertümer, Berl. 1873 p. VlII — XL
433. Die Quellen der Germania. Zur Beurteilung der Schrift ist
vor allem notwendig zu wissen, woraus der Geschichtschreiber geschöpft.
Die lebensfrischen Schilderungen des Werkchens haben vielfach den Glau-
ben hervorgerufen, dass dieselben zum grossen Teil auf Autopsie beruhen.
Allein in der Schrift findet sich keine Stelle, welche mit Notwendigkeit
die Anwesenheit des Historikei*s zur unbedingten Voraussetzung hätte.
Andrerseits sollte man erwarten, dass, wenn Tacitus sich in Deutschland
aufgehalten hätte, er es nicht unterlassen haben würde, dieses wichtige
Moment hervorzuheben; besonders am Schluss des ersten Teils, wo er sagt:
haec in commune de omnium Germanorum origine ac moribus accepimus
musste sich der Hinweis auf die Autopsie gebieterisch geltend machen.
So, wie die Worte dastehen, können wir sie nur auf die Mitteilungen an-
. derer, seien es schriftliche oder mündliche, als Quelle beziehen.*) Solche
lagen aber in reicher Fülle vor. Eine stattliche Reihe von Schriftstellern
hatte sich mit den germanischen Verhältnissen beschäftigt, den Reigen
eröffnet Cäsar mit seinem bellum GaUi^um, auch in Sallusts Historien war,
nach zwei Fragmenten zu urteilen, eine Schilderung der Sitten der Ger-
manen geliefert-), recht ausführlich hatte auch Livius die germanisch-rö-
*) Die Autopsie nehmen an Berok, Ur-
lichs {De vita Tac, p. 7). Vgl. dagegen
Asbach p. 82.
') Biese Stellen sind fr. 18 Dietsch (hist.
3, 57 Kritz) und fr. 19 Dietsch (3, 58 Kr.).
GornelioB Taoitns. 369
mischen Kriege behandelt, im 104. Buch war sogar eine geographische
und ethnographische Schilderung gegeben (situs Germaniae moresque),
Reichen Stoff bot ferner Aufidius Bassus, der die germanischen Kriege
ausführlich erzählt hatte. Weiter hatte Velleius Paterculus in seinem Abriss
Germanisches berührt und zwar konnte er als Augenzeuge berichten; der
Geograph Pomponius Mola widmete der Germania einen Abschnitt seiner
Schrift, desgleichen Strabo. Aber eine Hauptfundgrube für Germanisches
scheinen die zwanzig Bücher des älteren Plinius über alle von den Römern
mit den Deutschen geführten Kriege gewesen zu sein, auch Plinius stand
wie Velleius als Soldat in Germania und war daher gleichfalls in der Lage,
Schilderungen zu liefern, welche auf Autopsie beruhten. Doch waren da-
mit die Hilfsmittel für die Erkenntnis unseres Vaterlands noch nicht er-
schöpft ; neben der schriftlichen Überlieferung ging noch eine reiche mündliche
einher. Der Handel hatte viele Römer mit den Germanen in Beziehungen
gebracht, auch durch die Kriege kamen viele Römer nach Deutschland,
darunter hochgebildete Offiziere, welche befähigt waren, geographische und
ethnographische Beobachtungen zu machen, endlich sah man auch Deutsche
in Rom, wie z. B. vornehme Kriegsgefangene, von denen man manches
über Land und Leute erfahren konnte. Es muss also, ehe Tacitus mit
seiner Monographie hervortrat, bereits eine ziemlich umfassende Kenntnis
der germanischen Zustände unter den Römern verbreitet gewesen sein.
Welche von diesen Quellen Tacitus benutzt hat, lässt sich, da die Haupt-
schriften uns nicht erhalten sind, nicht mehr im einzelnen feststellen. Un-
wahrscheinlich ist es, dass er sich nur an eine angelehnt hat. Um ein
anschauliches Bild entwerfen zu können, war eine gewisse Fülle des Stoffes
notwendig.
Litteratur Aber die Quellen. Er nennt nur den Cäsar (c. 28). Der Nach-
weis der verlorenen Quellen kann nattlrlich nicht gelingen. So hat man ohne Erfolg
Sallust in seinen Historien als Hauptquelle der Germania erweisen wollen. Derselbe soll,
als er der Bastamen, einer germanischen Völkerschaft, in der Geschichte der von Mithri-
dates geführten Kriege gedachte, eine Charakteristik der Germanen eingefügt haben, welche
für Tacitus ,die leitende Quelle* wurde. (So Wiedbmann, sich an Köpke anschliessend,
Forsch, z. deutsch. Gesch. 4, 173 und 183). Dagegen Breuker, Quo iure SaUuatius Ta-
cito in descrihendia Germanorum moribus auetor fuisse putetur, Köln 1870; Bauhstark,
Urdeutsche Staatsaltert. p. 100. — Schleüssner, Quae ratio int er Taciti Germaniam ar
ceteros primi saeculi libros, in quibus Gertnani tanguntur, intercedere videatur, Barmen 1880;
Schuhkacher, De Taciio Germaniae geoffrapho, Berl. 1886.
434. Die Tendenz der Germania. Viel hat man darüber gestritten,
was der Autor mit seiner Schrift bezweckte. Sicherlich wollte er zunächst
nichts anderes als eine Geographie und Ethnographie Germaniens liefern.
Auf diesen Gegenstand musste der Historiker durch seinen Plan, die Ge-
schichte seiner Zeit zu schreiben, geführt werden; denn ein grosser Teil
der Ereignisse hat seinen Schauplatz in Germanien. Er hätte, wie er es
bei andern Völkern that, ehe er zur Darstellung der germanischen Kriege
schritt, in einem Exkurs seines Geschichtswerks Land und Leute schildern
können. Dass er dies nicht that, sondern die Form der Monographie
wählte, mochte wohl in der Wichtigkeit des Gegenstands und der dadurch
bedingten grösseren Ausführlichkeit seinen Grund haben. Den einsichts-
vollen Leuten konnte es damals gewiss nicht entgehen, welche Gefahr dem
römischen Reich von jenem nordischen Land drohe ; und es werden daher
Handbuch der klan. AltertumswiMeuscbaft. Vm. 2. Teil. 24
370 BömiBche Litteratorgeschiolite. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilong.
viele Augen dahin gerichtet gewesen sein. Besonders in dem Jahre,
in dem die Monographie erschien, stand Germanien im Vordergrund des
öffentlichen Interesses. Traian befand sich in Köln, als Nerva starb; ob-
wohl er mit Ungeduld in Rom erwartet wurde, verschob er doch seine
Rückkehr bis zum Jahr 99, er wollte erst die germanischen Verhältnisse
konsolidieren *) , so wichtig dünkte ihm Germanien. Während der Ab-
wesenheit Traians in Deutschland erschien also die Broschüre des Tacitus.
Dass aber der Historiker keine politische Tagesschrift schreiben wollte,
ergibt die Monographie aufs unzweideutigste; denn dann hätte der politische
Gedanke, den er zur Geltung bringen wollte, hervortreten und den Mittel-
punkt der Schrift bilden müssen. Allein dies ist nicht der Fall, nur ein-
mal tönt, wie es scheint, auch die Stimme des Historikers in den Lärm
des Tages hinein. Als er auf die Gimbern zu sprechen kommt (c. 37),
wirft er einen Rückblick auf die Geschichte der Kriege Roms mit den
Deutschen; dieser Rückblick zeigt klar, welche gefährliche Gegner die
Römer an den Deutschen hatten. Von selbst ergibt sich aus dieser That-
sache die Schlussfolgerung, dass die Defensiv- und Friedenspolitik, welche
Traian eingeschlagen, die beste ist. Sonst vermeidet es die Monographie,
die Politik zu berühren. Dagegen stellen sich dem Autor unwillkürlich
bei Betrachtung der germanischen Zustände Gegenbilder aus der römi-
schen Welt dar, und er unterlässt es in der Regel nicht, diese Gegensätze
zu markieren. Dadurch verleiht er seinen Schilderungen einen ungemeinen
' Reiz, denn es klingt durch dieselben etwas von Sehnsucht nach dem ein-
fachen Naturzustand, wie wir sie bei allen Völkern mit überfeinerter Kultur
finden. Auch sonst hat Tacitus dafür gesorgt, dass der Leser gepackt
wird; er veifügt frei über die verschiedenen Mittel, welche geeignet
sind, eine pathetische Rede zu erzeugen; Antithesen, prägnante Kürze,
welche an passenden Stellen auch eine gewisse Fülle des Ausdrucks nicht
ausschliesst, poetischer Schimmer, Kühnheit der Phraseologie geben die
Farben zu dem Gemälde. Es ist nicht zu leugnen, dass mancher Pinsel-
strich aus dem Streben, Effekt zu erzielen, hervorgegangen ist. Auch
war nicht ganz zu vermeiden, dass sich halb wahre, schiefe und un-
richtige Angaben einschlichen ; um eine nach allen Seiten hin stichhaltige
Darstellung zu liefern, dafür waren die Verhältnisse des ausgedehnten un-
wirtlichen Landes noch zu wenig erforscht. Allein im grossen Ganzen
ist doch eine nchtige Zeichnung und dazu eine von grosser Anschaulich-
keit gegeben worden. Wir Deutsche müssen es als ein grosses Glück be-
trachten, dass zur Zeit, wo unser Volk noch in seinen Anfangen stand,
ein hochgebildeter Römer diesem fast kulturlosen Volk eine geistreiche Schrift
widmet, und wir verzeihen es dem kalten Mann, der kein Herz für das
allgemein Menschliche hatte, dass er in den Wunsch ausbrach (c. 33)
„Mögen die Deutschen stets fortfahren sich zu hassen, denn wenn das
Verhängnis unseres Reiches herannaht, kann uns das Geschick nichts Bes-
seres gewähren als die Zwietracht unserer Feinde/
*) ,Er hob die militärische Zucht, schloss und begann den Ausbau desselben in seiner
Friedensbündnisse mit den freien Germanen, ganzen Ausdehnung* (Abb ach p. 78).
legte Heerstrassen an, verstärkte den Limes ,
Comelins Tacitas. 371
Der Zweck der Schrift. Die verschiedenen Ansichten Über die Idee der
Schrift lassen sich auf drei zurückbringen (vgl. die nützliche Zusammenstellung von Wein-
BEBOER. Die Frage nach Entstehung und Tendenz der Taciteischen Germania, Olmütz 1890
und 1891):
a) Die Germania ist ein Sittenspiegel für die Römer. Allein dem wider-
sprichty dass Tacitus auch die Fehler der Germanen in drastischer Weise schildert. Auch
würde einem solchen Zweck die Völkertafel wenig entsprechen, und viel anderes Material,
das gegeben wird, wäre nutzlos.
b) Die Germania ist eine politische Broschüre. Diese Ansicht hat zuerst
Dierauer (Bündinger's Untersuchungen zur röm. Kaisergesch. 1, 84 Anm. 3) aufgestellt. Nach
ihm ist die Broschüre veröffentlicht ,mit der deutlich zu erkennenden Absicht, die Römer
über die Notwendigkeit einer dauernden Konsolidierung der gegenseitigen Beziehungen in
den rhenanischen Grenzgebieten aufzuklftren* und das lange Verweilen des Kaisers in
Germanien zu rechtfertigen. Schon vor Dierauer soll Müllenhoff diese Hypothese, wie
Scherer mitteilt, vertreten haben. Derselben pflichtet auch 0. Hirschfeld bei (Zeitschr. f.
österr. Gymn. 28, 815). In eingehender Weise wird dieselbe von Asbach in verschiedenen
Abhandlungen begründet (Bonner Jahrb. 69, 1 ; Westdeutsche Zeitschr. 3, 11 ; Histor. Taschen-
buch 6. Folge 5. Jahrg. p. 74). Nach ihm ist die Germania , durch bestimmt nachweisbare
Vorgänge am Niederrhein hervorgerufen* (p. 76). «Sie billigt rückhaltslos die Politik Traians,
welche die umfassende Grenzregulierung, die die Flavier begonnen hatten, vollendete und
durch Beförderung der inneren Fehden unter den Germanen das römische Interesse wahrte**
(p. 81). Allein eine vereinzelte Bemerkung im 87. Kapitel kann doch unmöglich den
Grundgedanken der ganzen Schrift bestimmen. Und wenn es richtig wäre, wie Hirsch-
felder glaubt, dass dieses Kapitel erst später eingeschoben wurde, so würde dann gefolgert
werden müssen, dass alles Übrige durch einen andern Plan bestimmt ist. Wäre das Ziel
der Schrift gewesen, die Politik Traians. zu billigen, so müsste sich ergeben, dass jener
Gedanke die ganze Schrift durchzieht. Allein ein solcher Nachweis kann nicht geliefert
werden.
c) Die Germania ist ein ethnographisch-geographisches Werk. Diesen
Eindruck von dem Charakter der Germania wird jeder empfangen, der dieselbe vorurteils-
frei durchliest. Mit Recht sagt Momxben (Sitzungsber. der Berl. Ak. Jahrg. 1886, 1 Bd.
p. 44) „Die ganze Schrift macht den Eindruck einer rein geographischen Abhandlung".
Auf Grund dieser Anschauung hat Riese (Eos. 2, 193) der Germania eine bestimmte Stelle
in der historischen Schriftstellerei angewiesen, indem er sie als einen von den Historien
losgelösten Teil betrachtet.
436. Die Genesis der Taciteischen Geschichtschreibnng. Schon
als Tacitus seinen Agricola schrieb, trug er sich mit dem Plane, die Re-
gierung Domitians und die Regierung Nervas und Traians zu schildern. In
der Ausführung erlitt der Plan eine Umgestaltung. Nicht bloss die Re-
gierung Domitians, sondern auch die der zwei andern Flavier, ja auch noch
die vorausgegangene Zeit vom 1. Januar 69 an zog er in den Kreis seiner
Untersuchung. Dagegen lässt er den Plan einer Geschichte Nervas und
Traians in den Hintergrund treten ; im Eingang der Historien verspart er
sich diese Arbeit für sein Alter. Sie kam nicht zur Ausführung ; der Ge-
schichtschreiber richtete vielmehr seine Blicke auf die rückwärts gelegene
Zeit; die Epoche des sich herausbildenden Prinzipats und die Schicksale
der julisch-claudischen Dynastie schienen ihm ein wichtigeres Objekt für die
Forschung zu sein als die traianische Zeit. Die Vergangenheit erschliesst
sich ja leichter der historischen Erkenntnis als die unmittelbare Gegenwart,
in welcher der Historiker webt und lebt. Allein auch dieser Zeitraum
schien zunächst eine Teilung notwendig zu machen. Die Zeit des Augustus
hatte bereits treffliche Bearbeiter gefunden; Tacitus konnte daher von
dieser Periode vorläufig absehen ; wichtiger musste ihm sein, vor allem die
Erzählung des zweiten Werks soweit zu führen, dass sich das Ende an
den Anfang des andern anschloss und dadurch ein Ganzes entstand, welche-
von Tiberius bis auf Domitian reichte. Und dem Schriftsteller ist ep
2i*
372 Bömische Litteratnrgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilnng.
lungen, dieses grossartige Projekt zur Durchführung zu bringen. Dagegen
kam er nicht mehr dazu, auch die beiden andern Gedanken auszugestalten ;
weder eine Geschichte des Augustus noch eine der traianischen Zeit hat
er geliefert.
Agric. 3 non tarnen pigebit vel incondita ac rudi voce memoriam prioris servituiis ac
tesiimonium praesentium honarum eomposuisse Hist. 1, 1 quodH f>Ua auppeditet , principa-
tum divi Nervae et imperium Traianif uberiorem securioremqtie materiam, aenectuti seposui
Ann. 1, 1 8ed veteris populi Romani prospera vel adversa claris scriptoribus memorata sunt;
temparihusque Äugusti dicendis non defuere decora ingenia, donec gliscente adulatione de-
terrerentur, Tiherii Gaique et Claudti ac Neronis res, florentibus ipsis ob metum falsaef post-
quam occiderantf recentibus odiis compositae sunt. Inde consilium mihi pauca de Augusto
et extrema tradere, mox Tiberii principatum et cetera^ sine ira et studio^ qtwntm causam
proeul habeo Ann. 3, 24 sed aliorum exitus aimul cetera illius aetatis (der Augusteischen
Zeit) memorabOf 8i effectis, in quae tetendi, plures ad curas ritam produxero.
436. Die Historien. In dem ersten der beiden Werke führt der
Historiker die selbsterlebte 'Zeit von 69 bis zum Tode Domitians dem
Leser vor, er gibt daher demselben den Titel „Historiae^^ Die Zahl
der Bücher lässt sich nur hypothetisch bestimmen , sie hängt ab von
der Anzahl der Bücher der Annalen; je nachdem diese auf 16 oder auf 18
festgestellt werden, erhalten wir für die Historien 14 oder 12. Doch ist,
alles erwogen, die Buchzahl 14 die wahrscheinlichere. Allein von diesen
vierzehn Büchern, aus denen ursprünglich das Werk bestand, sind nur die
vier ersten und vom fünften etwa die Hälfte erhalten. Diese Bücher be-
handeln den Zeitraum von nicht ganz zwei Jahren, von 69 — 70; allein
eine Fülle von Ereignissen ist in diesen engen Rahmen eingeschlossen.
Im ersten Buch lässt der Geschichtschreiber die Regierung Galbas, seine
Adoption Pisos, das Auftauchen Othos, die Revolution, den Sturz Galbas
und Pisos, den Sieg Othos, die Vitellische Bewegung und Empörung in Germa-
nien, das Vordringen der Heere unter Valens und Gaecina, die Unruhen in
Rom, Othos Auszug zum Krieg in farbenreichen Bildern an unseren Augen
vorüberziehen. Im zweiten Buch wirft der Historiker zuerst einen Blick
auf die Ereignisse im Orient, wo zwei Personen erscheinen, denen die Zu-
kunft gehört, Vespasian und sein Sohn Titus; dann schildert er die Ent-
scheidungsschlacht zwischen Otho und Vitellius bei Bedriacum. Die Waflfen
waren für die Sache des Vitellius ; Otho tötet sich mit eigener Hand. Vi-
tellius ist jetzt im Besitz der Gewalt ; allein er sollte sich derselben nicht
lange erfreuen. Vespasian wird im Orient zum Kaiser ausgerufen und
damit beginnt die Erhebung gegen Vitellius. Caecina wird zum Verräter, er
beugt sich vor dem neu aufgehenden Gestirn des Vespasian. Im dritten
Buch folgen die erbitterten Kämpfe zwischen den Vitellianern und Flavia-
nern, welche sogar das Kapitol in Asche legten. Vitellius zieht den Kürzeren
und wird ermordet. Im vierten Buch nimmt der Freiheitskampf der
Bataver unter Civilis unser volles Interesse in Anspruch, wie im fünften
die Expedition des Titus gegen Jerusalem. Aber auch der batavische Auf-
stand reicht noch in dieses Buch hinein. Mit den persönlichen Verhandlungen
zwischen dem siegreichen i'ömischen Feldherrn Petilius Cerialis und Civi-
lis, der seine Unterwerfung verkündet, schliesst der erhaltene Teil des
Werks. Über die Zeit der Abfassung dieser Bücher und ihr Erscheinen
geben uns die Briefe dos jüngeren Plinius einige Anhaltspunkte.
Cornelias Tacitns. 373
AbfassuDgszeit und Pablizierung. Dass die Historien den Annalen voraus-
gingen, folgt aus Ann. 11,11, wo mit den Worten (rationes) satis narratas Hbris quibus
res imperatoris Domitiani composui deutlich auf den letzten Teil der Historien hingewiesen
wird. Das Werk ist allem Anschein nach successive erschienen. Wahrscheinlich wurden
zugleich die beiden ersten Bücher publiziert, daher am Schluss des 2. Buches eine Art Epilog,
in dem er ein Urteil über die flavische Geschichtschreibnng fällt (Nissen, Rh. Mus. 26, 535).
Die Publikation wird zwischen 104 und 109 liegen (Asbach in Raumeb*s bist. Taschenb.
6 F., 6. Jahrg. p. 145). Vgl. die Briefe des Plinius 6, 16 6, 20 7, 20 7, 33 8, 7.
Die Zahl der Bücher der Historien und Annalen Beide Werke umfassten
zusammen 30 Bücher. Hieronymus comm. zum Zacharias 3, 14 : Cornelius TacUua, qui post
Augtuitum usque ad mortem Domitiani vitaa Caesarum iriginta voluminihua exaravit. Nur
wenn die Buchzahl eines der beiden Werke ermittelt werden kann, ist damit auch die
Buchzahl des zweiten gegeben. Von den Annalen ist das letzte erhaltene Buch das 16 te,
von demselben ist aber die zweite Hälfte verloren gegangen. Es fragt sich nun, ob in
dieser verlorenen Hälfte der Zeitraum geschildert werden konnte, welcher von dem Hest
des Jahres 66 bis zum 1. Jan. 69 reicht oder allgemeiner gefasst, ob in dem 16. Buch
die Ereignisse von 65 (zum Teil) bis 1. Jan. 69 untergebracht werden konnten. Wenn man
die § 437 gegebene Tabelle vergleicht, so erkennt man, dass Tacitus noch grössere Zeiträume
als 3'/^ Jalire in einem Buch dargestellt hat. Auf der anderen Seite hätte, wenn man
neue Bücher ansetzen würde, eine Ausführlichkeit in dieser verlorenen Partie stattgehabt,
wie sie Tacitus früher niemals angewendet. Es kommt hinzu, dass in der Überlieferung
ein Anschluss der Historien an das 1 6. Buch der Annalen vorliegt, indem das erste Buch
der Historien als das 17. bezeichnet wird. Es ist daher kein stichhaltiger Grund gegeben,
den Gelehrten (Ritter, Hirschfeld, Zeitschr. f. österr. Gymn. 1877, S. 811, Wölfflin,
Hermes 21, 157) beizupflichten, welche für die Annalen 18 Bücher (und folglich für die
Historien 12) annehmen, um damit die hexadische Kompositionsweise für die beiden Werke
zu gewinnen; wir halten vielmehr an der herkömmlichen Ansicht fest, dass die Annalen
aus 16, die Historien aus 30 — 16, d. h. 14 Büchern bestanden.
Die Überlieferung der Geschichtswerke. Der zweit« Teil der Annalen (1. XI
— XVI) und die Historiae sind uns nur durch eine Handschrift, den Mediceus II s. XI, der
sich in der Laurentiana unter 68,2 befindet, erhalten. Die von ihm genommenen Ab-
schriften haben nur den Nutzen, zwei, erst nachdem jene apographa angefertigt waren, ein-
getretene Lücken (1,69— 75 u. 1,86—2,2) auszufüllen. Für die erste Hälfte der Annalen
ist nur die eine Handschrift vorhanden, der Mediceus I s. IX, der sich ebenfalls in der
Laurentiana unter 68, 1 befindet Zu diesem Kodex, der mit Quaternio 18 beginnt, gehörten
ursprünglich noch die Briefe des Plinius, welche die Quaternionen 1 — 17 umfassten (=
Laur. 47, 36). Der Mediceus II stammt höchst wahrscheinlich aus Monte Gassino, der Me-
diceus I gehörte dem Kloster Corvey in Westfalen an.
437. Die Annalen. Dieses reifste Werk des Tacitus behandelte in
16 Büchern die Zeit von dem Tod des Augustus (14) bis zum 1. Januar
69; es brachte sonach die Regierungen des Tiberius, Caligula, Claudius
und Nero zur Darstellung. Auch war noch die Zeit vom Tode Neros
(9. Juni 68) bis zum 1. Januar 69, wo die Historien einsetzen, geschildert.
Von diesem Werke sind uns aber nur erhalten die Bücher 1—4, der An-
fang von 5, ferner 6 mit Ausnahme des Anfangs, dann die Bücher 11 — 16,
wobei aber zu bemerken ist, dass sowohl am Anfang als am Schluss dieser
Partie eine Lücke vorhanden ist. Die ersten sechs Bücher umfassen die
Regierung des Tiberius; die Bücher 11 und 12 behandeln den Schluss der
Regierung des Claudius (47 — 54), die noch übrigen Bücher (13 — 16) haben
den Prinzipat Neros bis zum Jahr 66 zum Gegenstand. Sonach fehlt von
dem geschilderten Zeitraum eine Partie von Tiberius und zwar die Schluss-
Ereignisse des J. 29, das ganze J. 30 und die meisten Ereignisse des J. 31,
die ganze Regierung Caligulas, von der Regierung des Claudius der An-
fang bis 47, endlich von der Zeit Neros der Schluss des J. 66 und die
beiden folgenden Jahre. Schon der Historiker hat sein Werk in Bücher
eingeteilt. Gern lässt er ein Buch mit einem bedeutungsvollen Ereignis
ausklingen, das zweite Buch mit dem Tod des Arminius, das fünfte wahr-
11
47-
-48
12
48-
-54
13
54-
-58
14
59-
-62
15
62-
-65
16
65-
-66
374 RömiBche LitteratorgeBchiohte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
scheinlich mit dem Tod Seians; das elfte Buch mit der Him*ichtung der
Messalina, das zwölfte mit dem Ende des Claudius, das vierzehnte mit dem
letzten Schicksal der unglücklichen Clauderin Octavia, das fünfzehnte Buch
mit der Niederwerfung der pisonischen Verschwörung. Als urkundlicher
Titel des Werks stellt sich ab excessu divi Augusti heraus ; derselbe wurde
nach dem Muster der Livianischen ab urbe condita gebildet.
Der Zeitraum der einzelnen Bücher:
1 umfasst die Jahre 14—15
2 , , , 16-19
, 3 , , . 20-22
4 . , . 23-28
5 , , . 29
6 . ,, 31-37
Teilung des 5. Buchs. Die Überlieferung kennt kein sechstes Buch der Annalen.
Zuerst hat Lipsius bemerkt, dass in dem, was die Handschrift ab fünftes Buch gibt, die
Reste von zwei Büchern, dem fünften und sechsten , stecken (zu VI 1 magnitudinem resque
gesias aestimanti ita mdebatur). Allein er machte den Einschnitt an einer unrichtigen
Stelle, indem er das sechste Buch mit dem Konsulat des Cn. Domitius und Camillus
(32 n. Gh.) begann (c. 7). Haase hat richtig erkannt, dass das fünfte Buch mit dem Tod
des Seianus (31) schloss, und dass sonach die Lücke, durch welche der Schluss des fünften
imd der Anfang des sechsten verloren ging, zwischen die Kapitel 5 und 6 zu legen ist
(Phüol. 3, 152).
Die Abfassungszeit bestimmt man nach 2,61 exin pentum Elephantinen ac
Syenen, claustra oUm Romani itnperii, quod nunc rtibrum ad mare patescü. Die Aus-
dehnung des römischen Reichs bis zum persischen Meerbusen (dies bedeutet hier rubrum
mare) erfolgte durch Traian ums Jahr 115. Die Abfassung des Werks musste also nach
dieser Zeit erfolgen. Da aber Hadrian diese Eroberungen Traians gleich nach dem Antritt
seiner Regierung (117) wieder aufgab, so kann jene Stelle nicht zur Zeit Hadrians ge-
schrieben sein. Einen früheren Terminus setzt Asbach (Raum. bist. Taschenb. 6 F. 6. Jahrg.
p. 147), indem er sich darauf stützt, dass schon im Jahr 108 der Strich Arabiens von Da-
mascus bis zum roten Meere durch A. Cornelius Palma dem Reiche als Provinz einverleibt
worden war. Demgemäss setzt er die Publikation des ersten Teils der Annalen um das
Jahr 110 an.
438. Die Quellen des Tacitus. Die Quellenfrage ist bei Tacitus
mit unlösbaren Schwierigkeiten verknüpft. Er führt uns selten seine Ge-
währsmänner an, in den Historien nennt er bloss den Vipstanus MessaUa
und den älteren Plinius, in den ersten sechs Büchern der Annalen den-
selben Plinius, die Kommentarien der Agrippina, die Reden des Tiberius
und die acta diurna, in der letzten Hälfte der Annalen, in denen Quellen-
angaben etwas häufiger werden, Cluvius Rufus, Fabius Rusticus, Plinius,
Domitius Gorbulo, Senatsprotokolle. Viel häufiger begnügt er sich mit all-
gemeinen Angaben, indem er von vielen Autoren und verschiedenen Be-
richten spricht. Auch auf mündliche Mitteilungen beruft er sich. Dazu
kommt, dass uns die von Tacitus angeführten Schriften und auch andere
historische Werke, welche denselben Zeitraum behandeln, verloren gingen,
so dass wir keinen festen Boden unter den Füssen erhalten. Bestimmtere
Schlussfolgerungen für die Quellenfrage schien die Betrachtung des Ver-
hältnisses zwischen Tacitus und Plutarch (für Oalba und Otho) zu gewäh-
ren, und mit Vorliebe hat die Forschung an diesen Punkt angeknüpft.
Für die auffallende, sich sogar aufs Phraseologische erstreckende Überein-
stimmung wurde die Erklärung aufgestellt, dass beide aus einer gemein-
samen Quelle schöpften. Damit glaubte man auch einen Einblick in die
Arbeitsmethode des Historikers gewonnen zu haben ; dieselbe war nun eine
sehr einfache; sie beschränkte sich darauf, den Stoff aus einem Autor zu
ComeliaB TacitnB.
375
nehmen und denselben, freilich auch hier in Anlehnung an die Quelle,
stilistisch zu gestalten. Diese Anschauung vom historischen Schaffen wird
jetzt vielfach auf das ganze Altertum übertragen. Allein mag sie auch
für Livius, der durch die gi*osse Ausdehnung seines Werks sich auf wenige
leitende Quellen beschränken musste, ihre Richtigkeit haben, für Tacitus
kann sie keine Geltung beanspruchen. Derselben widersprechen die vielen
Stellen, in denen sich der Autor auf eine Mehrheit von Quellen beruft,
derselben widerspricht, dass mehrere Historiker ausdrücklich als benutzte
Quellen genannt werden, derselben widerspricht endlich die nicht selten
vorkommende Angabe divergierender Meinungen. Auch die innere ün-
wahrscheinlichkeit streitet dagegen. Eine solche sklavische Abhängigkeit
passt nicht zu der bedeutenden geistigen Individualität des Historikers.
Auch würde ein derartiges Ausschreiben allgemein bekannter Schriften
den Ruhm des Tacitus ganz unerklärt lassen. Warum sollte er nicht auch
für den verhältnismässig kleinen Zeitraum, den er zur Darstellung brachte,
die vorhandenen Quellenschriftsteller einsehen, da er doch sogar den jünge-
ren Plinius um Material für vereinzelte Fakta ersuchte (ep. 6, 1 6 und 20
7, 33) und selbst mündliche Belehrung nicht verschmähte ? Eine vorurteils-
freie Erwägung wird daher dem Tacitus auch ein eifriges Quellenstudium
nicht versagen. Freilich dürfen wir an ein solches nicht den Massstab
der Jetztzeit anlegen. Archivalische Studien sind der antiken Historio-
graphie wenig geläufig ; und Tacitus hat den acta diurna und den Senats-
protokollen nur geringe Beachtung geschenkt.') Auch hat die Ermittelung
des Stofflichen bei den antiken Historikern nicht die Wichtigkeit, wie bei
den modernen, bei denen sich nicht selten ein mikrologischer Zug geltend
macht. Der Historiograph will ein Werk liefern, das gelesen wird, er
muss daher auf die Darstellung den höchsten Wert legen. Welche Quellen
Tacitus im einzelnen zu Grunde legte, ist natürlich nur hypothetisch zu
bestimmen. Für den ersten Teil der Annalen konnten ihm ausser Plinius
und den Kommentarien der Agrippina noch mehrere Werke den Stoff lie-
fern, so der ältere Seneca (§ 334 p. 200), Aufidius Bassus (§ 440, 3), Sue-
tonius Paulinus (§ 442, 3), Cluvius Rufus (§ 440, 6), Fabius Rusticus (§ 440, 7),
ferner die Memoiren des Tiberius (§ 357 p. 236) und Claudius ^) (§ 359
p. 238). Für den zweiten Teil der Annalen sind die leitenden Autoren
die schon genannten Fabius Rusticus, Cluvius und Plinius. 8) Für die Hi-
storien hat er ausser Plinius und Vipstanus Messala wohl noch benutzt
Cluvius, die Memoiren Yespasians (§ 361 p. 242) und M. Antonius Julianus
(§441,2)*).
Die namentlich angeführten Quellen ergeben sich aus folgender Stellensamm-
lung (bei Lange, De Tacito Plutarchi auctore p. 50):
Ann. 1,69 tradit C. Plinius, Germanicorum beüorum scriptof,
j, 1,81 m quicquam firmare ausim, adeo diveraa non niodo apud auctoreSy sed in ip-
8iu8 (Tiber ii) orationibus reperiuntur.
„ 3,3 non apud auctares verum, non diurna actorum seriptura reperio,
j, 4, 53 id ego, a scriptortbus annalium non traditum, repperi in commentariis
Ägrippinae filiae.
*) NiPPBBDEY, Einl. • p. XXI r.
») NipPERDBY, Einl. • p. XXIV.
') NiPPBBDEY, Einl. ** p. XXVI. Beson-
ders ist wichtig die Stelle 13, 20, wo A o r u m
von NipPERDEY eingeschoben wird.
0 NiPPBBDEY, Einl. « p. XXVII.
376 RömiBche Litteratiirge8chiohte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilmig.
Aim. l%y 20 Fabiua Ru8ticu8 auctar est scriptos esse — PHnius et Cluvius — re-
ferunt.
, 14,2 tradit Cluvius — Fabius Rusticus — memorat.
„ 15,16 contraque prodiderU Corhulo.
, 15,53 quod C, PHnius memorat.
„ 15,61 tradit Fabius Rusticus.
, 15,74 reperio in commentariis senatus.
Hist. 3,25 rem nominaque auctore Vipstano Messalla tradam.
, 3,28 Uormine id ingenium, ut Messala tradity an potior auctor sit C. PHnius,
— hand facile discreverim,
„ (3, 51 u^ Sisenna memorat).
Die unbestimmten allgemeinen Angaben sind viel häufiger, vgl. die Zu-
sammenstellungen bei Lange p. 51 (ftlr die beiden Werke), bei Horstmakk p. 37 für die
ersten sechs Bücher der Annalen, bei Nissen (Rh. Mus. 26, 525) für die Historien.
Bas Verhältnis zwischen Plutarch und Tacitus. Da diese Frage den Aus-
gangspunkt der Quellenuntersuchungen für Tacitus bildet, so sei hier dieselbe kurz berührt.
Schon längst hatte man die auffallende Übereinstimmung des Plutarch in seinen Biogra-
phien Galba und Otho mit Tacitus' Hist. (B. 1 u. 2, 1—50) erkannt. Zur Erklärung dieser
Erscheinung bot sich ein doppelter Weg dar, entweder schöpften beide aus derselben Quelle
oder es schöpfte Plutarch, der hier ja auf lateinische Autoren angewiesen war, aus Tacitus
(der umgekehrte Fall, dass Tacitus aus Plutarch geschöpft hätte, ist von vornherein als
unzulässig anzusehen). Als man anfing, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, neigten sich
die Ansichten entschieden nach der ersten Seite hin; und nur ob der angenommenen ge-
meinsamen Quelle erhoben sich Differenzen. Als solche statuierte Hibzel (Comparatio
eorum quae de imperaioribus Galba et Othone relata legimus apud Tacitum, Plutarchum
et Suetonium etc. (Stuttgart 1851) die Acta publica ^ Wibdemann (De TacUo Suetonio
Plutarcho, Cassio Dione Berl. 1857) den älteren Plinius, Peteb (Die Quellen Plutarchs,
Halle 1865) Cluvius Rufus. Brennend wurde die Frage, als Momxsen mit einer Abhand-
lung in dieselbe eingriff (Hermes 4,295). Er betont ganz besonders, dass die Überein-
stimmung nur durch die Gemeinsamkeit der Quelle zu erklären sei; als den gemeinsamen
Autor betrachtete er den Cluvius Rufus. Dieser Ansicht trat in einem ausführlichen Aufsatz
Nissen entgegen (Rh. Mus. 26,497), er griff wieder auf Plinius als Quelle zurück. Kurz
zuvor hatte Clason (Plutarch und Tacitus, Berl. 1870, Tacitus und Sueton, Bresl. 1870)
jene Übereinstimmung des Plutarch und Tacitus auf einem andern Weg zu erklären ver-
sucht, indem er annahm, dass Plutarch aus Tacitus geschöpft habe. Diese Ansicht
wurde von Nissen (p. 502 Anm.) skeptisch behandelt, allein sie gewinnt immer mehr An-
hänger. Für dieselbe ist Nipperdey mit dem ganzen Gewicht seines Namens eingetreten
(Einl. ^ p. XXVri) ; eine Reihe von Monographien hat sich ihm angeschlossen , wie Lange
De Tacito Plutarchi auctore, Halle 1880; Kbauss, De vitarum Othonis fide, Zweibrücken
1880; Gersteneckee, Der Krieg des Otho und Vitellius in Italien im Jahr 69, München
1882 (p. 48); Lezius, De Plutarchi in GaJba et Othone fontibus, Dorpat 1884. Für eine
gemeinsame Quelle sprechen sich dagegen aus Sickel, De fontibus a Cassio Dione ad-
hibitis, Göttingen 1876; Beckurts, Zur Quellenkritik des Tacitus etc., Braunschw. 1880;
KuNTZE, (Beiträge zur Geschichte des Otho- Vitellius -Krieges, Karlsruhe 1885, vgl. p. 9
Anm. p. 16. Auch Ranke steht auf diesem Standpunkt (Weltgesch. 3, 2 p. 285). Die Froge
wäre entschieden, wenn wir wüssten, ob die Historien oder die Biographien früher ge-
schrieben sind; allein für die Entscheidung dieser Alternative fehlen uns beweiskräftige
Anhaltspunkte. Wir sind daher nur auf innere Erwägungen angewiesen. Hier ist nun
meines Erachtens das Entscheidende, dass, wenn wir für Tacitus und Plutarch eine gemein-
same Quelle statuieren, Tacitus nicht bloss im Stoff, sondern auch in der Form sich von
dieser gemeinsamen Quelle in Abhängigkeit gesetzt haben müsste. Ein Beispiel Plut. 0. 3
(foßovfASvoq vnhg rtov «v^Qiav avxog tjv (poße^g ixelyoig = Tacit. 1, 81 cum timeret Otho, time-
batur. Jeder, der Tacitus kennt, wird die spitze Wendung als echt taciteisch betrachten.
Dass ein Grieche durch Übersetzung sich dieselbe aneignet, ist nicht auffällig. Aber
dass Tacitus einem bekannten Werke auch die Phrasen entlehnte, ist nicht glaublich.
Unsere Meinung von Tacitus' Kunst müsste sehr erheblich reduziert werden, wenn jene
Ansicht richtig wäre. So wie jetzt die Dinge stehen, ist die Annahme, dass Plutarch für
seine Biographien Galba und Otho neben anderen Quellen auch Tacitus verwertete,
gerechtfertigt.
Litteratur. Karsten, De T. fide in Ann. I — VI, Utr. 1868; Wbidbmann, Quellen
von Tac. Ann. I— VI (3 Abb.), Cleve 1868—1873 ; Horstmann, Die Quellen des T. in Ann.
I— VI, Marburg 1877; Binder, Tac. und Tib. in Ann. I— VI, Wien 1880; Froitzheim, De
Tac. fönt, in libro I ann., Bonn 1873, Rh. Mus. 32,340; Fleckeisen, Jahrb. 109,201; Lauf-
FENBERG, Quacst. chronol. de rebus Parthicis Armeniisque a Tac. ann. XI— XVI enarratis,
Comelina Taoitas.
377
Bonn 1875. Hiezu kommen noch die Untersuchungen, welche sich zugleich über andere
Schriftsteller verbreiten : Reichaü, De fontium deUctu quem in Tib, — Vell. Tac. Suet. Dio
habuerunt, Eönigsb. 1865; Thakk, De fontibus ad Tib, historiam pertinentibus, Halle 1876;
Andribssen, De fide et auetoritate scriptorum ex quibus rita Tiberii cognoscitur, Hag, 1883,
Christbnsbn, De fönt, a Diane in vita Neronia adhibitis, Berl. 1871. Vgl. noch die oben
erwähnte Dissertation von Sickel.
439. CharakteriBtik der Geschichtschreibung des Tacitus. Als
Tacitus den Plan fasste, die Geschichte des Prinzipats vom Tode des
Augustus bis zu Domitian zur Darstellung zu bringen, war er sich bewusst
(Ann. 4, 32 u. 33), dass seine Aufgabe und seine Stellung eine andere sei
als die des Historikers zur Zeit der Republik. Diesem lagen grosse Stofife
vor, gewaltige Kriege, berühmte Eroberungen, Gefangennahme von Königen,
heftige innere Kämpfe, in denen es sich um die wichtigsten politischen
und sozialen Probleme handelte. Sein Wort war ungebunden und frei
von allen Schranken. Dieser hohe Standpunkt war dem Qeschichtschreiber
der Kaiserzeit, Tacitus, nicht vergönnt. Durch den Prinzipat war nicht
nur die Freiheit des Wortes von vielfachen Rücksichten umgeben, auch
der Thatenkreis war jetzt sehr eingeengt. Dem einzelnen stand in politi-
schen Dingen nur noch ein sehr kleiner Spielraum offen; die Zeit für
republikanische Träume war vorbei. Der Prinzipat war eine Notwendig-
keit geworden ; im Interesse des Friedens lag es, sagt der Historiker, dass
alle Macht in der Hand eines einzigen konzentriert wurde (Hist. 1, 1). Auch
ist er überzeugt, dass sich der Prinzipat bei Mässigung der Leidenschaften
mit der Freiheit vereinigen lasse. *) Die resignierte Haltung ist hier durch-
aus geboten. Eine Auflehnung gegen die neue Ordnung der Dinge erscheint
daher in seinen Augen als eine Thorheit , und jene Idealisten , welche
sich nutzlos für Utopien opfern, ernten bei ihm keine Anerkennung^)
(Agric. 42). Auch für seine Geschichtschreibung zieht er die notwendigen
Konsequenzen aus der veränderten politischen Lage; da die Politik dem
Historiker kein genügendes Feld mehr darbietet, so legt er den Schwer-
punkt seines Schaffens in das menschliche Herz. Seine Geschichtschreibung
wird dadurch eine psychologische; nicht die Ereignisse als solche er-
regen sein Interesse, sondern insofern die Träger derselben Mehschen sind. *)
Überall ist daher sein Bestreben darauf gerichtet, die Gedanken der Han-
delnden zu erraten und uns einen Blick in ihre Seele thun zu lassen. Den
guten oder bösen Triebfedern nachzuspüren, erachtet er als die vornehmste
Aufgabe des Geschichtschreibers, welcher den Preis der Tugend und den
Schimpf des Lasters zu verkünden habe, damit jene gepflegt, dieses ge-
mieden werde (Ann. 3, 65). Wie er hiebei zu Werke ging, möge an einem
Beispiel, der Thronbesteigung Vespasians, gezeigt werden. Der gewöhn-
liche Historiker hätte sich begnügt, die einzelnen Thatsachen in ihrer Auf-
einanderfolge gewissenhaft zu verzeichnen. Tacitus geht weiter ; er weiss,
*) Agric. 3 Nerva Caesar rc8 olim dis-
sociabüea miscuit, principatum ac Ubertatem,
2) ÜBLiCHS, De vita TacHi p. 18. Vgl.
besonders das Urteil über Thraaea Paetua
Ann. 14, 12.
') DuBois - GüCHAN , TacUe 2,396 „il
tkrit pour le genre humain, quflque nom qu*il
parte, Ce vaate eaprit a^adreaae ä Vhamme,
qWelle que aoU aa naiion; et il n'eat pltvt
^inemment hiatorien que moraliate. p. 402
Tacite a introduit Vhomme dans Vhiaf-oire;
&eat Vhamme, c*eat Vhumanit^ quHl raconte
en racontant Rome et ha Romaina,"
378 Römische LitteraiurgeBcliichie. TL, Die Zeit der Monarchie. 1. AbteiliiDg.
dass solche schwerwiegende Ereignisse ihre Bühne nicht bloss in der Welt,
sondern auch in der Seele der Handelnden haben und also den äusseren
Kämpfen grosse innerliche Kämpfe vorausgehen. Einen solchen Seelenkampf
enthüllt er uns in den Historien (2, 74 u. 75). Aber auch die Stimmungen
der Umgebung Yespasians lässt er uns in einer Rede des Mucianus er-
kennen (76). Auf diese Weise werden die Dinge in einen Innern Zusammen-
hang gerückt und erhält die Goschichtschreibung einen pragmatischen Zug.
Und dieses Ziel setzt sich Tacitus nach seiner ausdrücklichen Erklärung
(H. 1,4). Freilich der tiefste Blick in den Gang der Weltgeschichte war
ihm versagt, da er nicht zur vollen Klarheit durchgedrungen, ob der Zu-
fall oder eine Vorsehung alles lenke (Ann. 6, 28 [22]). Auch bei der Anführung
der Wunderzeichen ist das Schwanken über diese Grundfrage bemerkbar
(H. 2, 50). Was aber der Darstellung des Historikers einen ganz beson-
deren Reiz verleiht, ist, dass er nicht bloss erzählt, sondern auch seine
Empfindungen durch die Erzählung durchschimmern lässt. Dadurch tritt
die Person des Autors dem Leser näher, es schlingt sich um beide ein
engeres Band. Der Schriftsteller erscheint uns als kalter, vornehmer, alles
in düsterer Beleuchtung sehender Römer. Wir fühlen, dass er tiefe Blicke
in die Abgründe des menschlichen Herzens gethan, und dass er nur zu sehr
geneigt ist, von seinen handelnden Personen Böses zu denken. Durch die
ganze Darstellung zieht sich der gedämpfte Ton der Schwermut. Dieses
subjektive Element ist für die Beurteilung der Taciteischen Geschichts-
werke von der grössten Bedeutung. Es steht fest, dass er uns die That-
sachen vorführt, wie sie ihm erscheinen, nicht wie sie sind. Wir
brauchen hier nicht sofort an Parteilichkeit zu denken ; wir können seiner
Versicherung der Unparteilichkeit (H. 1,1) und seinem Gelöbnis, sine ira
et studio zu schreiben (Ann. l, 1), Glauben schenken, allein auf der andern
Seite ist auch zu beachten, dass nichts von dem, was ein Mensch in seine
Hand genommen, sich seiner Einwirkung entziehen kann. Selbst der
trockenste Chronist zeigt wenigstens durch die Auswahl die Richtung
seines Geistes; je bedeutender aber die Individualität ist, um so mehr
wird sie den Schilderungen ihren Stempel aufdrücken. Eine solche bedeu-
tende Individualität war aber Tacitus. Niemand wird daher den Satz ver-
treten können, dass die Bilder des Tacitus der Wirklichkeit voll ent-
sprechen. Sein Tiberius ist zu dunkel, sein Germanicus zu hell gezeichnet.
Die Objektivität der Schilderung wird noch durch ein anderes Moment
gestört. Tacitus vergisst niemals, dass er ein Kunstwerk, das den Leser
fesseln soll, liefern will. Die Ermittelung des Wahren ist ihm daher
nicht letzter Zweck ; das Wahre erhielt für ihn erst dadurch seine Bedeu-
tung, dass es zur Darstellung kommt. Schon die Auswahl des Stofifes ist
wesentlich durch das Streben, Wirkung zu erzielen, bedingt. Erschütternde
Ereignisse werden mit Vorliebe hervorgesucht. Auch in der Gruppierung
der Fakta macht sich jenes Streben bemerkbar. Zwar hält er sich an das
herkömmliche annalistische Schema (Ann. 4, 71), allein hie und da gestattet
er sich doch Ausnahmen. So erfordert oft bei auswärtigen Ereignissen
die Deutlichkeit die Zusammenziehung mehrerer Jahre. Aber bisweilen
dient die Sprengung des annalistischen Schemas auch feineren Zwecken
ComeliiiB TaoitiiB.
379
der Komposition. 1) Mit wirkungsvollen Bildern schliesst er, wie wir oben
sahen, gern die einzelnen Bücher, um eine tiefe Bewegung in der Seele des
Lesers länger nachzittern zu lassen. Endlich ist auch die Dai*stellung der
einzelnen Fakta stark durch die Rücksichten auf das Pathos beeinflusst,
indem sie in die Beleuchtung gerückt werden, welche die beste Wirkung
verspricht. Nicht selten wählt der Geschichtschreiber das Halbdunkel, um
einen Stachel bei seinen Lesern zurückzulassen. Sein Verfahren erhellt
z. B. deutlich aus den Schlachtbeschreibungen. Sie genügen so wenig
militärischen Anforderungen, dass man Tacitus den „ unmilitärischesten*'
Schriftsteller *) nannte. Allein um Feststellung der taktischen und strate-
gischen Evolutionen ist es ihm gar nicht zu thun, damit würde er die
meisten Leser langweilen; seine Schlachtenschilderung will nichts als ein
farbenreiches, spannendes Gemälde sein. Stets müssen wir daher im Auge
behalten, dass Tacitus nicht bloss Historiker, sondern auch zugleich Rhetor
ist, freilich nicht ein Rhetor gewöhnlichen Schlages. Dies beweist auch
der Stil seiner Werke. Der rhetorische Charakter derselben zeigt sich darin,
dass zu starken künstlichen Mitteln gegriffen wird, um eine drastische
Erzählung zu erhalten. Aber der Historiker arbeitet nicht nach der
Schablone, er hat einen ganz originellen Stil, wie ihn kein Römer ge-
sprochen oder geschrieben, sich geschaffen. Vor allem ist es die Gedan-
kenschwere, welche seine Diktion auszeichnet. In einen Satz sind soviel
Momente als möglich zusammengedrängt, die Participia leisten hiefür vor-
treffliche Dienste. Der Phantasie des Lesers bleibt es überlassen, die dem
Gemälde noch fehlenden Striche zu ergänzen, was einen eigentümlichen
Reiz ausübt. Auch die Feststellung des Gedankenverhältnisses zwischen
den einzelnen Sätzen hat der Leser selbst vorzunehmen ; der Schriftsteller
hat die Andeutung derselben unterlassen und Partikeln fast ganz vermieden.
Die Wahl der einzelnen Wörter ist eine genau berechnete. Hier gilt die
Vorschrift: Vermeidung des Gewöhnlichen und Alltäglichen, aber
mit Ausschluss des Fremdartigen. Die letzte Rücksicht verbietet
ihm den Gebrauch archaistischer Ausdrücke und Wendungen, und den Ge-
brauch der Fremdworte. Sein Wortschatz erhält sein eigentümliches Ge-
präge dadurch, dass vielfach poetische Ausdrücke und Wendungen eingeführt,
dann dass überhaupt die abgegriffenen Worte in fortwährendem Wechsel
durch andere signifikantere ersetzt werden. Die ciceronische Periodologio
ist Tacitus wie dem ganzen Zeitalter fremd. Unser Geschichtschreiber
geht aber noch weiter, er hebt mit Bewusstsein die symmetrische Gestal-
tung auf, er schafft absichtlich Dissonanzen. Diese zerschnittene Redeweise
passt vortrefflich zu seinen grauenhaften Schilderungen. Und nicht selten
glauben wir die Sprache eines gebrochenen Herzens zu hören.
Durch alle diese Mittel sind die Geschichtswerke des Tacitus eine
unversiegbare Quelle hohen geistigen Genusses geworden. Aber zum vollen
*) So folgt am Schluss des 2. Buchs auf
den Tod des Germanicus (19 n. Ch.) der Tod
des Arminius (21 n. Gh.); die Komposition
zielt hier nach der Antithese. Vgl. Hirsch-
FELD (zur annalistischen Anlage des Tacito-
ischen Geschichtswerkes Hermes 25, 363j,
der mit Recht als ein taciteisches Problem
hmstellt (p. 377), , inwieweit der Historiker die
genaue Zeitfolge der Thatsachen der künst-
lerischen Komposition untergeordnet hat."
^) MomfSBN, Rom. Gesch. 5, 165.
380 Römische Litteratnrgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Verständnis gehört die Reife des Lebens. Nur der, welcher Blicke in das
rätselhafte Menschenherz gethan, vermag den meisterhaften Schilderer, den
grossen Römer, zu würdigen. Der Jugend bleibt daher der Autor zu
einem grossen Teile unverstanden, und es ist mir stets als ein Unrecht
erschienen, sie in diese düstere Welt einzuführen, während ihr doch der
erfrischende Dialog über die Redner dargeboten werden kann.
Der Charakter des Tiberius bei TacituB. Die Darstellung der Geschichte des
TiberiuB hat am meisten Anlass gegeben, Tacitus der Pai*teilichkeit anzuklagen. Zuerst
hat Sievers (Tac. u. Tib. Hamb. 1850. 1851, jetzt Studien zur Gesch der röm. Kais. 1 — 107)
die Richtigkeit der Zeichnung des Kaisers von Seite des Tacitus in Zweifel gezogen. Ihm
folgten Ad. Stahb in Tiberius, Berl.» 1873, und L. Frbytao, Tib. u. Tac. Berl. 1870). VgL auch
DüRB, Die Kriminalprozesse unter Tiberius, Heilbr. 1881. Diese Schriften leiden an Übertrei-
bung. Den richtigen Standpunkt deuten die Worte Rankes an (Weltgesch. 3, 2 p. 293) : »Der
grossen schriftstellerischen Leistung, die wir vor uns haben, gegenQber sind wir in der Not-
wendigkeit, die darin berichteten Thatsachen von dem Urteil des Verfassers möglichst zu
scheiden. Bewunderung schliesst doch die Kritik nicht aus** und p. 300 : ,In Tiberius hat
Tacitus das Ideal des heuchlerischen Despotismus mit starken Farben dargestellt, mit un-
vergleichlichem Talent, aber es ist eben ein Gedankenbild des Historiograpfaen ; volle
Realität kommt ihm nicht zu.*
Das Fortleben des Tacitus bis zum Widererwachen der Wissenschaften behan-
delt Cornelius {Quomodo Tacitus in hominum memoria rersaiiis ttit usque ad renascenfes
literas saeculia XIV et XV, Marb. 1888). Besonders bei den Historikern lassen sich seine
Spuren verfolgen. Allein mit der Wirkung, die Livius ausübte, lässt sich die des Tacitus
nicht vergleichen. Dafür war der Autor zu schwierig. Ja es scheint, dass wir nur dem Ein-
greifen des Kaisers Tacitus im 3. Jahrh. die Erhaltung des Historikers verdanken. Flav.
Vopisc. Tac. 10 Cornelium Tacitum , scriptorem historiae Atigustae, quod parentetn suum
eundem diceret, in omnibus bibliothecis conlocari iussit et ne lectorum incuria deperiret, fi-
brum per annos singulos decies scribi public itiis in cunctis archiis iussit et in bybliothecifi
poni. Die äusserst geringe handschriftliche Verbreitung zeigt, dass Tacitus auch im Mittel-
alter wenig gelesen wurde. Um so grösser ist die Wirkung, die Tacitus auf die Neuzeit
ausgeübt hat. Doch dies kann hier nicht weiter verfolgt werden.')
Litter atur: Süvbrn, Über den Kunstcharakter des Tac, Berl. Akad. 1822/3 p. 74;
Hoffxeister, Weltanschauung des Tac., Essen 1831 ; M orlais, ^udes morales sur les grandjr
^crivains latins, Lyon 1889 (p. 289— 353); verständige Bemerkungen bei Wallichs, Die
Geschichtschreibung des Tacitus, Rendsburg 1888; Dübois-öüchan, Tacite et son si^cle, Paris
1861 (2 Bde.); sehr umsichtig sind die Einleitungen von Nippbroey u. Haase. — Gantrelle,
Grammaire et style de T,, Paris 1874; Drager, Syntax und Stil des T., Ixjipz.» 1882.
Ausgaben sämtlicher Werke von Lipsius u. J. F. Gronov, von Ritter, Cambridge
1848 (4 Bde.), Leipz. 1864, Doederlein, Halle 1841—47 (2 Bde.), Orelli, Zürich 1846, in
neuer Bearbeitung von mehreren Gelehrten, Berl. 1886, Haase (Tauchnitz), Halm (Teubner),
Nipperdet (Weidmann). Müller (Freytag); Spezialausgaben der Annalen von Nippe rdey
(vortreffliches Werk), in neuer Bearbeitung von Andresen (Weidmann), von Drager, steht
weit hinter Nipperdby zurück (Teubner), Tücking (Paderborn), Pfitzner (Gotha); der
Historien von Heraeus (Teubner), von Wolpf (Weidmann). — Gerber und Greef, Lexicon
Taciteum (Leipz. von 1881 an).
5. Die übrigen Historiker.
440. Darstellungen der römischen Geschichte haben wir aus un-
serem Zeitraum folgende zu verzeichnen:
^) Charakteristisch ist der Hass, den
Napoleon I. gegen Tacitus hegte. Er urteilte
über ihn (Napoleon I. und seine Beziehungen
zum klass. Altert, von Fröhlich, Zürich
1882) also : „Ich wüsste keinen anderen Histo-
riker, der die Menschheit so verleumdet und
verkleinert hat wie er. In den einfachsten
Handlungen sucht er immer nach verbreche-
rischen Motiven. Aus allen Kaisem macht
er vollendete Schurken und schildert sie so,
dass wir den Geist des Bösen, von welchem
sie durchdrungen sind, und sonst nichts be-
wundem müssen. Man hat mit Recht ge-
sagt, dass seine Annalen nicht eine Geschichte
des Kaisen-eichs sind, sondern eine Geschichte
der römischen Kiiminalgerichte. Nichts wie
Anklagen und Angeklagte, Verfolgungen und
Verfolgte, und Leute, die sich im Bade die
Adern öffnen. Er spricht beständig von De-
nunziationen und ist selber der grösste De-
nunziant." Auch sein Stil missfällt dem
Korsen sehr.
Die übrigen Historiker. 381
1. A. Cremutius Cordus. Wir haben oben p. 137 gesehen, dass
Cremutius Cordus angeklagt wurde, weil er in seinem Geschichtswerk M.
Brutus gelobt und C. Gassius den letzten der Römer genannt hatte. Dieser
Prozess, der die Verbrennung seiner Schriften durch die Ädilen und seinen
Selbstmord zur Folge hatte, fiel in das Jahr 25 n. Ch. In diesem ver-
brannten Werk, von dem sich aber doch durch die Bemühungen seiner
Tochter Exemplare gerettet hatten , waren die Bürgerkriege (Sen. consol.
ad Marc. 26, 1) und noch die Zeit des Augustus (Cassius Dio 57, 24) be-
handelt. Der ältere Seneca führt Suas. 6, 19 6, 23 Stellen über Ciceros Tod
aus diesem Werke an.
Eine von den anstössigen Stellen gereinigte Ausgabe deutet QuintU. 10, 104 an :
habet amatores nee inmerito, Cremuti lihertas, quamquam circumcisis quae dixisse ei tto-
ciierat: sed elatum abunde spiritum ei audaces senteniUis deprehendcts etiam in his, quae
manent. Den Cremutius Cordus nennt als Quelle Plinius in den Indices zu den BQcheni
7, 10, 16. Die zwei Stellen, an denen er ihn erwfthnt (10,74 16,108) bezieben sich auf
Kuriositäten. Es scheint sonach, dass hier auf ein zweites Werk hingewiesen wird.
Abhandlungen von Held, Schweidnitz 1841, und Rathlef, Dorpat 1860.
2. Bruttedius Niger und Tuscus. Beide waren Deklamatoren,
versuchten sich aber auch zugleich auf historischem Gebiet ; von dem ersten
teilt uns Seneca Stellen aus der Erzählung von Ciceros Tod mit (Suas. 6, 20
6, 21). Tuscus gehörte zu den Anklägern des Scaurus (Sen. Suas. 2, 22).
Tacitus nennt Ann. 6, 30 die Ankläger Servilius und Cornelius ; einer von diesen
muss den Beinamen Tuscus gehabt haben.
3. Aufidius Bassus. Der Philosoph Seneca kannte noch den Hi-
storiker, als derselbe, vom Alter schwer gebeugt, dem Tode nahe war;
denn er spricht von ihm in einem Briefe, der gegen Ende der Regierung Neros
(ep. 30, 1) geschrieben war. Seine historische Schriftstellerei ist nicht leicht
zu bestimmen, Quintilian (10, 103) charakterisiert uns ein Werk über die
germanischen Kriege. Weiter wird uns berichtet, dass der ältere
Plinius sein Geschichtswerk „a fine Aufidii Ba^si** begonnen habe, d. h.
da angesetzt habe, wo Aufidius Bassus aufgehört hatte (n. h. praef. 20).
Auch mit diesem Zeugnis wird auf ein Geschichtswerk und zwar auf ein
solches allgemeiner Natur hingewiesen. Es fragt sich, ob jene Mono-
graphie über die germanischen Kriege nur ein Teil des zweiten allgemeinen
Werkes war oder nicht. Ich entscheide mich mit Nippebdey für ein eige-
nes Werk. Die zweite Frage ist die nach dem Umfang des grösseren
Werkes. Hier sind nur Vermutungen möglich. Soviel ist sicher, dass in
demselben über den Tod Ciceros die Rede war.
Das Ende des Werkes bestimmt sich einigennassen dadarcb, dass sein Fortsotzor
Plinius sicher die spätere Zeit Neros bebandelte; Nipperdey vermutet (Opusc p. 436, Einl.**
p. XXIII), dass es mit dem Tode Cäsars begann und mit dem Tod der Messalina oder des
Claudius schloss (Nissen, Rh. Mus. 26, 498 u. 499).
4. M. Servilius Nonianus war'EonsuI im Jahr 35 und starb 59
n. Ch. Zu ihm sah mit grosser Verehrung wie zu einem Vater Persius
hinauf. Aus seinem Qeschichtswerk rezitierte er unter Claudius, wie der
jüngere Plinius uns erzählt (ep. 1, 13, 3). Aus den Urteilen des Tacitus
(Ann. 14, 19) und Quintilians (10, 102) geht hervor, dass er ein bedeutender
Mann war. Über die Ausdehnung seiner Geschichte fehlt es uns an allen
Indicien.
5. Cornelius Bocchus. Mit Recht wird dieser Bocchus mit dem
382 ItOmiBche LitteratnrgeBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
L. Cornelius C. F. Bocchus einer Inschrift identifiziert, welche in dem
lusitanischen Municipium Salacia gefunden wurde. Die Inschrift gehört
in die augustische ZeitJ) Plinius zitiert diesen Bocchus unter seinen
Quellenschriftstellern für die Bücher 16, 33, 34, 37 und führt ihn für
spanische Merkwürdigkeiten an. Auch Solinus benutzte ihn für chrono-
logische Angaben, z. B. 1, 97 2, 18, so dass man demnach eine Weltchronik
des Cornelius Bocchus voraussetzen muss. Ob die spanischen Merkwürdig-
keiten in demselben oder in einem anderen Werke standen, lässt sich nicht
ausmachen.
MomfSBN, Einleit. zu Solinus p. XVI ; Petes, hißt. fr. p. 297 ; Schafes, Abriss p. 100.
6. Cluvius Rufus war ein vornehmer Mann, der an wichtigen
Staatsaktionen seinen Anteil hatte, er war Konsul vor 41 und wie es
scheint, an der Ermordung des Caligula beteiligt; Nero begleitete er auf
seinen Zügen durch Griechenland. Von Qalba wurde er im Sommer 68
zum Statthalter der Provinz Hispania Tarraconensis auserwählt. Nach dem
Tode Galbas schloss er sich den Vitellianern an und schützte Spanien
gegen die Othonianer. Bei der Abschliessung des Vertrages zwischen Vi-
tellius und dem Bruder Vespasians war er mit dem Dichter Silius Italiens
als Beistand zugegen. Dass dieser Mann, der sich mit verschiedenen
Herrschern gut zu stellen wusste, vieles aus seinem Leben berichten konnte,
ist klar. Der Verlust seiner Historiae*) ist daher sehr zu beklagen,
zumal da nicht einmal direkte Fragmente desselben erhalten sind. Nur
einige Berufungen der Autoren auf ihn geben uns Kunde von dem Werk.
Tacitus erwähnt ihn zweimal (13, 20 14, 2) für Ereignisse aus der Nero-
nischen Zeit, Plutarch (Otho 3) für Otho, endlich der jüngere Plinius (ep.
9, 19) für Verginius Rufus. Nach diesen Zitaten wären es also selbst-
erlebte Dinge, welche er in seinem Geschichtswerk erzählte. Daraus dass
Plutarch (quaest. Rom 107) ihn als Gewährsmann für eine Ableitung des
Wortes histrio anführt, ist nur zu schliessen , dass dieser Gegenstand ge-
legentlich erwähnt war.
Über Cluvius Rufus ist alles Nötige von Moxmsen beigebracht, Hermes 4, 318
(Petes, bist. fr. p. 311). Die Behauptung Mohmseks, dass Cluvius f&r Plutarch in den
13iographien Galba und Otho und fUr die entsprechenden Abschnitte in des Tacitus Histo-
rien die Hauptquelle gewesen sei, lässt sich nicht stichhaltig begründen (vgl. p. 376).
7. Fabius Rusticus wird von Tacitus der beredteste Historiker der
modernen Zeit genannt (Agric. 10). Da er ihn bei der Beschreibung Bri-
tanniens als Gewährsmann nennt, so wird man vermuten dürfen, dass Fabius
sein Geschichtswerk mit der Regierung des Claudius begann, da sich hier
die passendste Gelegenheit darbot, die Geographie Britanniens einzuschal-
ten. Doch könnte dieselbe auch bei einer Darstellung der Regierungszeit
Neros einen Platz gefunden haben (61 n. Ch.) Dass aber Nero von ihm
behandelt war, ergibt sich mit Sicherheit aus Annal. 13, 20, wo ihm Par-
teilichkeit für Seneca vorgeworfen wird, dann aus 14,2 und 15,61.
Allem Anschein nach ist er der im Testament des Dasumius Z. 23 (GJL. VI 2, 10229)
erwähnte Rusticus, auch wird man auf ihn den Brief des Plin. 9, 29 beziehen dürfen ; end-
lich vermutet man, dass Quintil. 10, 1, 104 superest adhuc et exornat aetatis nostrae gloriam
vir saeculorum memoria dignus, qui olim nominabitur, nunc inteUegUur ihn im Auge hat
») Hübner, Hermes 1, 397 (CJC. 2, 35).
*) Plin. ep, 9, 19, 5.
Die übrigen Historiker. 383
An andern Orten sind behandelt worden :
1. Der ältere Seneca (Geschichte der Bflrgerkriege) p. 200.
2. Der Kaiser Claudius. (Geschichte wahrscheinlich von Octavians Ernennung
zum Augustus bis zu dessen Tod und ein unvollendetes Werk vom Tode Cäsars an) p. 288.
3. Der ältere Plinius. (a fine Aufidii Basal 31 Bücher).
Nicht näher bestimmbar ist das Geschichtswerk des Pompeius Saturninus zur
Zeit des jüngeren Plinius (ep. 1, 16). In der Geschichte des Sardus war von dem jüngeren
Plinius die Rede (ep. 9, 31). Über C. Vibius Maximus' historisches Werk vgl. p. 322.
441. Historische Spezialschriften. Unser Zeitraum hat auch eine
Reihe geschichtlicher Monographien hervorgebracht:
1. P. Thrasea Paetus, der von Nero im Jahr 66 zum Tode ver-
urteilt wurde (16,33), schrieb im Anschluss an Munatius (Plut. Cato 36)
ein Leben des Cato Uticensis, welches Plutarch zur Grundlage seiner
Biographie machte.
2. Antonius Julianus, der mit Recht mit dem Prokurator von
Judaea M. Antonius Julianus identifiziert wird, verfasste eine Monographie
über die Juden. Es ist eine Vermutung von Bernays, dass Tacitus aus
ihm (bist. 5, 1) geschöpft. Julianus stimmte als Mitglied des Kriegsrates
für die Zerstörung von Jerusalem.
Bernats , Ges. Abb. 2, 173. Das bistoriscbe Werk wird bloss von Minucius Felix
Octav. 33, 4 erwäbni
3. Junius Rusticus Arulenus, Prätor 69. Von ihm gab es Lob-
schriften auf Paetus Thrasea (Tacit. Agric. 2) und Helvidius Priscus. Diese
Schriftstellerei brachte ihm unter Domitian den Tod (Suet. Dom. 10). Über
Helvidius Priscus schrieb auch HerenniusSenecio aus Hispania Baetica,
auch er fand deswegen den Tod durch Domitian (Plin. ep. 7, 19, 5).
4. C. Fannius, der mit dem jüngeren Plinius (ep. 5, 5) befreundet
war, verfasste eine Monographie über das Ende der von Nero Getöteten
und Verbannten. Bereits waren 3 Bücher fertig und im Publikum ver-
breitet, als er starb.
Ein ähnliches Werk hatte der ebenfalls mit dem jüngeren Plinius befreundete Cn.
Octavius Titin'ius Capito geschrieben {exittis inlustrium virorum). Vgl. tlber ihn
als Dichter p. 335.
5. Claudius Pollio. Nach dem Zeugnis des Plin. ep. 7,31 publi-
zierte er eine Biographie des Annius Bassus.
6. Pompeius Planta ist der Geschicbtschr eiber des Krieges vom
Jahr 69 (Schol. Juv. 2, 99, Plin. ep. 9, 1).
An anderen Orten sind erwähnt
1. Claudius (tyrrhenische Geschichte in 20, karthagische Geschichte in 8 B., beides
in griechischer Sprache p. 238).
3. L. Annaeus Seneca (De vitapatris). Vgl. p. 200 u. bei dem Philosophen Seneca.
3. Q. Asconius Pedianus {De vita Sallusti). Vgl. bei Asconius.
4. Der ältere Plinius {De vita Pomponi Secundi, BeUorum Germaniae 1. XX, vgl.
unten bei Plinius).
5. Der jttngere Plinius (Lobende Biographie des Vestricius Cottius vgl. unter
Plinius.
442. Die Memoirenlitteratur. Dass bewegte Zeiten dem Memoire
ausserordentlich günstig sind, ist bekannt. Auch unsere Epoche, welche
ein so tief erschütterndes Ereignis wie den Sturz des iulisch-claudischen
Hauses aufweist, ist reich an Denkwürdigkeiten. Schon oben, als wir die
Stellung der Regenten zur Litteratur darlegten, sahen wir, dass Tiberius
über sein Leben schrieb, ein Lieblingsbuch Domitians (p. 236), ebenso
384 ItOmiBche LitteraturgeBcliichte. Ü. Die 2eit der Monarchie. 1. Abteilmig.
Claudius (p. 238), dass Vespasian^ Denkwürdigkeiten hinterliess (p. 264)
und dass Traian den von ihm geführten dacischen Krieg beschrieben (p.
243). Auch die Mutter Neros, Agrippina, schrieb ihre Denkwürdigkeiten
(Tacit. Ann. 4, 53). Andere Memoirenschriftsteller unserer Epoche sind
folgende :
1. Domitius Corbulo (f 67 n. Gh.). Es ist jedem Leser des Tacitus
bekannt, wie sehr dieser Feldherr in den armenisch-parthischen Feldzügen
bei Tacitus hervortritt und wie sehr er denselben verherrlicht.*) Über
seine Feldzüge in Armenien (55 — 63) schrieb er Memoiren, welche von
dem älteren Plinius (2, 180 5, 83 6, 23) und von Tacitus selbst benutzt
wurden (Ann. 15, 16).
Peter, fr. bist. p. 303; Held, De Cn. Dom. Corb., Schweidnitz 1862; Wolfforajoi, Co.
Dom. Corb., Prenzlau 1874 (Philol. 44, 371).
2. L. Antistius Vetus war Befehlshaber in Germanien 58; er wird
von Plinius n. h. zu den Büchern 3—6 als Quelle (neben Pomponius Mela
und Domitius Corbulo) erwähnt. Allem Anschein nach hatte er ein Me-
moirenwerk über seine Thätigkeit in Germanien geschrieben.
WöLFFLiN in Bursians Jabresber. 1874/5 1, 772.
3. Suetonius Paulinus, ein grosser Feldherr, der 41 n. Ch. als
prätorischer Legat bei der Unterwerfung Mauretaniens hervortrat und im
Kriege Othos gegen Yitellius kämpfte. Aus dem Zitate des Plinius (n.
h. 5, 14) erhellt, dass er seine Expedition nach dem Atlas beschrieb.
Nipperdey zu Tacit. Ann. 14, 29 Einl. • p. XXIV.
4. Yipstanus Messalla, einer der Mitunterredner im Dialoge des
Tacitus, wird von dem Historiker in den Historien (3, 25 u. 3, 28) als Ge-
währsmann angeführt. Da er den Feldzug des Herbstes 69 mitmachte, so
wird er ihn auch in seinen Denkwürdigkeiten beschrieben haben. ^)
„Die Annahme ist gerecbtfertigt, dass er die Zeitereignisse nnr bebandelte, insoweit
er persönlicben Anteil an ibnen batte, also entweder in seinen Memoiren oder, was bei
der Jugend des Verfassers angemessener erscbeint, in einer bistoriscb-politiscben Broschüre.*
Nissen, Rb. Mos. 26,529.
ß) Die Geographen.
Pomponius Mela.
443. Die älteste lateinische Geographie. Das erste uns erhaltene
geographische Werk der römischen Litteratur ist die Chorographie des
Pomponius Mela aus Tingentera in Spanien (2, 96). Sie besteht aus drei
Büchern. Nach einer Übersicht über die Erde und die Weltteile nimmt der
Autor (1, 4, 24) das innere Meer zum Ausgangspunkt und behandelt zunächst
die rechte Seite, Afrika, geht dann zu Asien über, im zweiten Buch wendet
er sich zu Europa, mit den Skythen beginnend und mit der inneren Küste
Galliens und Spaniens schliessend; in einem Anhang spricht er über die
') Einmal spricht Joseph c. Apion. 1, 10
von rots Tcjy avtoxgatoQüiy vnoftyijuttiny.
*) ^Die Gescbicbte der armeniscn-partbi-
scben Feldztlge nach Tacitus wird nacb ihrer
gescbicbtiicben und geographischen Seite
durcbaus von dem Qesicbtspunkte einer ver-
berrlicbenden Lebensbescbreibung des Cor-
bulo belierrscbt." Eoli in Büdingers Un-
ters. 1,333.
') Von seinem Mitunterredner Julius
Secundus sagt Otbo c. 9 : tovto fxky dirjysho
SjExovySog o ^^ttoQ. Das wird auf müncUicbe
Äusserungen zu bezieben sein. (Nissen, Rb.
Mus. 26, 507.) Die von ibm gescbriebene Bio-
grapbie des Julius Africanus (so Nippebbby,
Opusc. p. 285 statt des überlieferten Julius
Asiaticus) scbildert einen bedeutenden
Redner der damaligen Zeit.
Pomponina Mola. 385
Inseln des mittelländischen Meeres. Mit dem dritten Buch wird das äussere
Meer der Stützpunkt der Darstellung, das äussere Spanien und Gallien,
Germanien, Sarmatien, Skythien werden geschildert, am Schluss folgen
wiederum die Inseln. 3, 59 begibt er sich zum östlichen Meer und kehrt
von da an den atlantischen Ozean zurück. Aus dieser Skizze ersieht man,
dass Pomponius Mela das Meer als Prinzip für die Anordnung des Stoffes
erwählte. Dadurch tritt das Küstenland stark in den Vordergrund, das
Ganze nimmt vorwiegend die Gestalt des Periplus an.
Pomponius Mela will nur einen Abriss geben, wie er ausdrücklich in
der Einleitung hervorhebt. Eine ausführliche Behandlung behält er sich
für eine spätere Zeit vor (1, 2). Daher fehlt bei ihm die mathematische
Geographie, es fehlen Distanzangaben und andere Einzelheiten. Nicht als
Forscher trat Mela an seine Aufgabe heran, der Rhetor ist es, der den
Griffel in die Hand nimmt. In charakteristischer Weise spricht er gleich
anfangs sein Bedauern aus, dass sein Stoff der rhetorischen Behandlung
Schwierigkeiten entgegenstelle, allein er thut doch alles, was er kann,
um den Leser für die trockenen Partien zu entschädigen; Beschrei-
bungen und die Sittenzüge lassen die Rhetorik zu. Der Stil') ist oft ge-
ziert und manchmal nicht durchsichtig genug. Das Material hat Mela
natürlich aus Büchern geschöpft. Zitiert werden bei ihm Hipparchus')
(3, 70) und Cornelius Nepos (3, 45 3, 90). An der einen Stelle (3, 90) ist
zugleich Hanno und Eudoxus erwähnt. Allein die direkte Benutzung des
Cornelius Nepos wird von angesehenen Forschern bestritten. Über die
Zeit der Schrift gibt 3, 49 Aufschluss , wo er von einem Kaiser spricht,
der eben durch einen siegreichen Krieg Britannien erschlossen hat und im
Begriffe steht, seine That durch einen Triumph zu feiern. Diese Momente
passen auf Claudius, der im Jahr 43 nach Britannien eine Expedition
gemacht hatte und im Jahr 44 triumphierte.
Die Quellen frage. Hier ist das wichtigste Moment, dass die beiden Neposcitate
aach bei Plin. n. fa. 2, 170 u. 2, 169 erscheinen; auch bei dem letzten kommen (2, 169) wie
bei Mela (3, 90) als Autoritäten der Karthager Hanno und der Grieche Eudoxus vor. Wie
Eudoxus in dem Zitat auf Cornelius Nepos zurückgeführt wird, so ist auch Hanno keine
direkte Quelle (vgl. Hansek, Fleckeis. Jahrb. 117,502). Aber selbst Cornelius Nepos wurde
nicht unmittelbar benuizt (Wagener in den Comment. Wölflflin p. 3), er lag in der Quelle
vor, welche Plinius und Mela zugleich zu Rate zogen. Über die Quellen frage vgl. noch
ScHWEDEB, Die Konkordanz der Chorographien des Mela u. Plin., Kiel 1879; Beiträge zur
Kritik der Chorographie des Augustus, 3. Teil, Kiel 1883, p. 35; Philol. 46,276 47,636;
Oehmichen, Plin. Stud. p. 47.
Die Zeit der Abfassung. 3,49 tarn diu clausam {Britanniam) aperit ecce princi-
pum nMximus, nee indomitarum modo ante se, verum ignotarum quoque gentium victor pro-
priarum rerum fidem ut hello affeetavit, ita triumpho declaraturus portal, Oehmichen (p. 32)
will die Stelle auf Caesar beziehen und setzt demgemäss die Schrift nicht lange nach dem
Jahr 25 v. Ch. Allein die Beziehung auf Caesar wird schon durch die Worte „triumpho
declaraturus" unmöglich gemacht. Die Stelle muss auf einen Kaiser, der Britannien er-
schloss und über Britannien triumphierte, bezogen werden. Man hat für diesen Kaiser
Caligula gehalten und an die Jahre 41/42 gedacht. Fbick (Philol. 33, 742) führt zur Er-
härtung dieses Ansatzes an, dass die Nordküste A&ikas noch nicht die Einteilung kennt
(1,25), welche Claudius im Jahr 42 (Dio Cassius 50, 9) getroffen. Allein dem Mela, der kein
eigentlicher Geograph ist, sondern nach Büchern schreibt, ist ein solcher Verstoss wohl
zuzutrauen. Am besten passt die Stelle auf Claudius (43/44), dessen britannische Ex-
pedition wirklich die Bedeutung der Erschliessung des Landes hatte.
') Eine Eigentümlichkeit desselben ist
das häufige ut — ita.
') Diesen Autor will mit Unrecht besei-
tigen Hansen, Fleckeis. Jahrb. 117,499.
Handbuch der \Um. Altertamnriaeiuchaft. Vm. 2. Teil. 25
386 Römische Litteraturgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilmig.
Die Oberlieferung beruht auf einer Handschrift, dem Vaticanos 4929 8. X, welcher
die Quelle der übrigen Handschriften geworden ist (Bübslan, Fleckeis. Jahrb. 99,631).
Ausgaben von Tschucke, Leipz. 1807 (7 Bde.), Pabthbt, Berlin 1867, und Fbick,
Leipz. 1880.
y. Die Redner.
G. Plinius Caecilius Secundus.
444. Biographisches. Die Nachrichten über das Leben des jungem
Plinius fliessen reichlich, teils liefern uns Inschriften authentische No-
tizen, teils liegt in dem erhaltenen Briefwechsel ein umfangreiches Material
vor. Ursprünglich führte er die Namen P. Caecilius L. F. Ouf. Secundus, nach
der Adoption durch den Bruder seiner Mutter, den bekannten Verfasser der
Naturgeschichte C. Plinius Secundus legte er sich die Namen C. Plinius L. P.
Ouf. Caecilius Secundus bei ; er änderte sonach den Vornamen und verwies
seinen Geschlechtsnamen unter die Cognomina. ^) Das Geburtsjahr bestimmt
sich durch seine Angabe, dass er beim Ausbruch des Vesuv im achtzehnten
Lebensjahr stand (ep. 6, 20, 5). Da dieses Ereignis ins Jahr 79 fiel, so wird
er im Jahr 61 oder 62 geboren sein. Seine Heimat ist Comum. Darauf
deutet auch die Tribus Oufentinaj der er angehörte. Seine Anhänglichkeit an
seine Vaterstadt dokumentierte er durch verschiedene Zuwendungen; er
schenkte ihr eine Bibliothek und gewährte zugleich ein Kapital zur Unter-
haltung derselben (ep. 1, 8). Ferner machte er eine Stiftung zur Alimentation
freigeborener Kinder (ep. 7. 18). Auch in seinem Testament war die Vater-
stadt bedacht, sie erhielt ein Kapital zur Errichtung und Instandhaltung
von Thermen, dann war eine beträchtliche Summe zur Versorgung von hun-
dert Freigelassenen des Testators ausgesetzt ; diese Summe sollte nach dem
Erlöschen des Stiftungszweckes für ein jährlich zu gebendes Mahl für das
Volk von Comum verwendet werden. Seine Ausbildung erlangte er in
Rom, er nennt als seine Lehrer Quintilian und Nicetes Sacerdos (ep. 2, 14, 9
6,6,3). Über seine öffentliche Laufbahn sind folgende Daten ermittelt:
Sehr frühzeitig war er als Sachwalter thätig (ep. 5, 8, 8). Dann bekleidete er
das Decemvirat litibus iudicandis, das Militärtribunat ^) in Syrien und den
Sevirat in der römischen Ritterschaft.') Bezüglich der folgenden Ämter
hat umsichtige Forschung dahin geführt, dass seine Quästur*) vom 1. Juni
89 bis 31. Mai 90, sein Tribunat vom 10. Dez. 91 bis 9. Dez. 92, seine Prätur
ins Jahr 93 zu setzen ist.*^) Nach der Prätur führte er (entweder 94—96
oder 95 — 97) die praefectura aerarii militaris, dann die praefedura aerarii
Saturni (Jan. 98 bis Jan. 100)^). Konsul war er mit Cornutus Tertullus
in der zweiten Hälfte des Jahres 100^), in welchem Traian das Konsulat
zum drittenmal bekleidete. In das Kollegium der Auguren wurde er
103 oder 104 aufgenommen,^) die cura alvei Tiberis et riparum et cloaca-
rum urbis war wahrscheinlich von 105 — 107 in seinen Händen.^) Als
*) MomfsEK D. 70.
') Während desselben verkehrte er mit
den Philosophen Euphrates und Artemidorus
(ep. 1,20,2 8, 11,5).
") MOMMSEN p. 78.
*) Er war quaestor imperatoris, also war
ihm Domitian damals zugeneigt. MoMM8EN,p.87.
^) MOKMSSN p. 86.
•) SoBBE, PhUol. 27, 641.
') Entweder vom 1. Sept bis 31. Okt.
oder vom 1. Juli bis 80. Sept. Moiqisbn p. 91.
*) MOMMSEN p. 44.
^) MoMMSEN p. 95.
Der Jüngere! Plinins,
387
kaiserlicher Legat stand er der Provinz Bithynien in den Jahren 111 und
112 oder in den Jahren 112 und 113 vor.») Sein Tod erfolgte wahrschein-
lich noch in der Provinz oder bald nach seiner Heimkehr vor dem Jahr 114.
Seine Schriftstellerei begann Plinius mit der Herausgabe von Reden,
die er, nachdem sie gehalten worden waren, einer sorgfaltigen Umarbei-
tung unterzog. Es schloss sich hieran die Publikation seiner Briefe, die
vorwiegend vom stilistischen Gesichtspunkt aus betrachtet werden müssen.
Nebenher läuft die Publikation von neuen Reden und etwas späterhin so-
gar von Gedichten.
445. Plinius als Redner. Der Panegyricus auf Traian. Seit
seinem neunzehnten Jahre (ep. 5, 8, 8) war Plinius als Gerichtsredner thätig.
Besonders in Centumviratsachen lieh er den Parteien seinen Beistand (ep.
6, 12, 2). Aber auch in Kriminalprozessen ^) plädierte er ; nach dem Tode
Domitians erachtete er es sogar als Pflicht, gegen diejenigen, welche unter
dessen Regierung Frevel begangen hatten, aufzutreten (ep. 9, 13,2). Aus
seinem Briefwechsel vernehmen wir, dass ihm seine Plaidoyers viel Ruhm
brachten. Allein dieser genügte dem ehrgeizigen Redner nicht. So gi*oss
auch der Kreis der Zuhörer bei den Verhandlungen war, so wünschte
er sich doch noch ein 'grösseres Publikum für seine rednerischen Er-
zeugnisse. Hier konnte die Recitation helfend eingreifen; und wirk-
lich that Plinius den kühnen Schritt, gehaltene Reden später zum Gegen-
stand von Vorlesungen zu machen. Das Verfahren blieb nicht ohne Tadel,
und er war gezwungen, sich gegen diese Angriffe zu verteidigen (ep.
7,17)« Aber selbst die Recitation führte noch nicht den Redner an das
Ziel seiner Wünsche. Diese gingen vielmehr auf die Unsterblichkeit seines
Namens (ep. 5, 8, 6) ; er wollte seine Reden auf die Nachwelt bringen ; dazu
war die Buchform derselben notwendig ; und diese bildete den Schlussstein
des rührigen Schaffens, welches auf seine Plaidoyers folgte. Zuerst wurde
die Rede schriftlich genau fixiert , dann einigen Bekannten vorgelesen, um
zu sehen, welchen Eindruck das Produkt hervorbringe ; war dies geschehen,
so wurde sie Freunden zur Beurteilung überschickt und falls es sich als
notwendig erwies, wurden die Aussetzungen gemeinsam beraten; endlich
wurde sie in einer Recitation einem grösseren Publikum vorgeführt; auch
für diesen Zweck wurden nochmals ängstlich Verbesserungen vorgenommen.
Jetzt nach dieser vielfachen Sichtung konnte das Werk auch in Buchform
in die Hände des Publikums gegeben werden (ep. 7, 17, 7). Selbstverständlich
musste sich infolge dieser wiederholten Überarbeitung und Umarbeitung
die geschriebene Rede wesentlich von der gehaltenen unterscheiden; es
war ja ein anderes Publikum, an das sich das neue Produkt wandte, und
manches, was für die Verhandlung von Interesse war, war es nach länge-
rer Zeit nicht mehr (ep. 1, 8). Allein trotzdem war es nicht die Kürzung,
welche Plinius für die Buchreden eintreten Hess, sondern vielmehr die Er-
weiterung. War dem Autor die Fülle eine notwendige Eigenschaft der
gesprochenen Rede^), so war sie es ihm noch mehr bei der geschrie-
0 MOMMSEN p. 96.
') MOHMSBK p. 41.
') ep. 1, 20; 19 nan amputata oratio et ab'
seisa, sed lata et magnifiea et excelsa tonat,
fulgurat, omnia denique perturhat ac miscet.
25*
388 RömiBcbe LitteratnrgeBchichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
benen^; denn dieser fehlte ja manches, was der ersteren zu statten kam.
Er streute daher Beschreibungen und Erzählungen ein und nahm noch
sonst Erweiterungen ^) vor, um das Interesse der Leser wachzurufen. Al-
lein trotz der Mühe, welche sich der Verfasser gab, um diese Reden den
kommenden Geschlechtern zu fiberliefern, hat sich doch nur eine einzige
erhalten, der Panegyricus auf Traian. Durch ein Senatskonsult war
die Bestimmung getroffen, dass die Konsuln bei Antritt ihres Amtes dem
Kaiser ihren Dank aussprachen, was in der damaligen Zeit keine andere
Bedeutung hatte, als dass sie dem Kaiser eine Lobrede hielten (c. 4). Dies
that auch Plinius und zwar zugleich im Namen seines Kollegen Comutus
TertuUus (c. 90), als er mit ihm in der zweiten Hälfte des Jahrs 100
das Konsulat antrat. Auch diese Rede liegt uns in umgearbeiteter Gestalt
vor ; die Umarbeitung führte zu einer ganz ausserordentlichen Erweiterung,
so dass sie dem ursprünglichen Zwecke ganz entfremdet wurde.. Auch das
Gepräge des Stils musste jetzt vielfach ein ganz anderes werden und das
Überschwengliche und Überladene noch stärker hervortreten. Zuerst las
er das Werk seinen Freunden vor, es waren drei Sitzungen notwendig,
um die Recitation desselben zu Ende zu bringen. Die Rede schildert nach
der Einleitung zuerst das Wirken Traians bis zum Einzug in Rom (c. 5—24),
dann seinen Einzug und seine verschiedenen politischen Massregeln, wie
z. B. Versorgung armer Kinder, seine Spenden an das Volk, sein Verfah-
ren gegen die Delatoren, Ordnung finanzieller Fragen, Abschaffung der
Anklagen auf Majestätsverbrechen, Sicheruug der Testamente, Beseitigung
der Pantomimen, seine Bauten. Dazwischen werden die persönlichen Eigen-
schaften berührt und ihnen die Domitians in gehässiger Weise gegenüber-
gestellt. Dann kommt er auf Traians zweites und drittes Konsulat zu
sprechen und schildert weiterhin seine Fürsorge für die Provinzen und sein
richterliches Wirken, woran sich wiederum Züge aus seinem Privat- und
Familienleben anreihen. Den Schluss des Schriftstücks bildet der Dank
des Redners für das ihm und seinem Kollegen verliehene Konsulat.
Wie man schon aus dieser flüchtigen Skizze sieht, ist eine ganz
strenge Disposition nicht durchgeführt. Genauere Analyse zeigt manche
Unterbrechung des Zusammenhangs und sonstige Störungen. Zur Erklä-
rung dieser Erscheinungen wird man den Gedanken aussprechen müssen,
dass die Überführung der Rede in die Buchform, wodurch ein Zwitterding
zwischen Rede und Biographie entstand, diese Inkonsequenzen herbeiführte.
Den Versuch, aus dem vorliegenden Panegyricus die ursprünglich gehal-
tene Rede herauszuschälen, ist aussichtslos.
Die Rede ist ein höchst unerfreuliches Produkt und es kostet keine
geringe Anstrengung, sie von Anfang bis zu Ende durchzulesen; der auf-
gedunsene, überladene Stil ermüdet uns, die grossen Schmeicheleien, die
') Bezeichnend ist die Äusserung ep.
1, 20, 5 voluminibus ipsis auctoritaiem quan-
dam et pulchritudinem adicit magnitudo.
*) ep. 2, 5, 2 inde et Über cremt, dum or-
nare patriam et amplificare gaudemtiSf pariter
et defenüioni eins servimus et gloriae. — (5)
sunt quaedam adtdescentium auribus danda,
praeserttm si materia non refragetur: nam
descriptiones locorum, quae in hoc Ubro
frequentiores erunt, non historice tantum,
sed prope poi^tice prosequi fas est, 9, 28, 5
est uberior (oratio): muUa enim postea in-
seria.
Der jüngere Plinins. 3gg
Traian gespendet werden, widern uns an, der unedle Hass gegen Domitian
erbittert uns, doch dUrfen wir nicht übersehen, dass wir fast ledig-
lich aus dem Panegyricus die Regierungszeit Traians bis zum Jahre 101
kennen lernen. Die Überlieferung des Panegyricus ist von der der Briefe
unabhängig. Seine Erhaltung beruht darauf, dass dem Plinius als dem
Begründer der Lobrede auf deq Kaiser dea Ehrenplatz in einem Corpus
der Panegyriker eingeräumt wurde.
Verlorene Reden, welche in Buchform vorhanden waren:*)
1. Die Rede bei der Stiftung der Bibliothek in Comum {sermo quem apud
municipes meos {apud decuriones in curia ep. 1, 8, 16) hetbui bibliothecam dedicaturtM 1, 8,2;
er überschickte sie dem Pompeius Saturninus zur Prüfung vor der Herausgabe).
2. Die Rede zum Preis der Vaterstadt; einen grossen Teil derselben erhielt
Lupercus zur Revision (ep. 2, 5).
3. Die Rede für Julius Bassus, welcher wegen Erpressungen in dei* Provinz
Bithynien angeklagt wurde (ep. 4,9). Die Rede wurde von Plinius einer Umarbeitung
unterzogen (4, 9, 23).
4. Die Rede für Rufus Varenus. Auch dieser Mann wurde von den Bithynern
verklagt (ep. 5, 20).
5. Die Rede für Attia Viriola, welche wegen Enterbung einen Prozess führte
(ep. 6, 33, 1).
6. Die Rede für Clarius (ep. 9, 28, 5).
7. Die Rede gegen Publicius Certus in der Angelegenheit des Helvidius (Suet.
Dom. 10). Dieser hatte unter Domitian ein Nachspiel , Paris und Oenone' verfasst, in dem
der Kaiser eine Anspielung auf seine Ehescheidung erblickte. Er wurde deshalb hingerichtet.
Für seinen Tod wurde in irgendwelcher Weise Publicius Certus verantwortlich gemacht.
Gegen ihn hielt Plinius im Senat eine Rede, welche er später erweitert in Buchform her-
ausgab (ep. 9, 13).
Wir reihen hier noch an die rhetorische Biographie des Vestricius Cot-
tius (ep. 3, 10).
446. Die Dichtungen des jüngeren Plinius. Im vierten Brief des
siebenten Buchs gibt uns Plinius eine ausführlichere Geschichte seiner
poetischen Bestrebungen. Schon im vierzehnten Lebensjahr schrieb er eine
griechische Tragödie. Als er aus Syrien zurückkehrte, wurde er auf der
Insel Ikaria durch widrige Winde aufgehalten; er benutzte seinen unfrei-
willigen Aufenthalt zur Abfassung einer Elegie auf das Meer und auf die
Insel. Dann versuchte er sich im heroischen Masse. Allein dies sind
verschollene Jugendversuche, welche keine Spuren zurückliessen. Ernst-
licher beschäftigte er sich mit der Dichtkunst erst in reiferem Alter, ums
Jahr 105; er erzählt uns auch die Veranlassung. Er las auf seinem Lau-
rentinum das Buch des Asinius Gallus, in dem ein Vergleich zwischen
dessen Vater, dem Asinius Pollio und Cicero durchgeführt war ; bei dieser
Lektüre stiess er auf ein Epigramm Ciceros auf seinen Freigelassenen Tiro.
Bei der Siesta kam ihm der Gedanke, es dem grossen Redner hierin gleich
zu thun; und wirklich gelangen ihm sofort 1«S Hexameter, in denen er
den Vorfall erzählt. Freilich uns will der Versuch recht hölzern erscheinen.
Doch damit war der Bann gebrochen. Er wagte sich jetzt an Elegien
heran; auch diese gingen ihm von der Hand. Nach Rom zurückgekehrt
las er seine Produkte den Freunden vor; diese spendeten Beifall. Nun
glaubte er noch einen Schritt weiter gehen und mit seinen Gedichten vor
dem grossen Publikum erscheinen zu dürfen. Er veranstaltete eine Sammlung,
welche den Titel „Hendecasyllabi'' führte. Es waren Kleinigkeiten, die
0 Öfters nennt Plinius nicht die herausgegebenen Reden, sondern spricht allgemein
z. B. 8, 3, .2 9, 10, 3 9, 15, 2 1, 2, 1.
390 RömiBcbe Litteratargeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
bei verschiedenen Gelegenheiten, im Wagen, beim Bade, während des
Mahles rasch hingeworfen wurden. Die Stoffe waren die mannigfaltigsten,
auch das Obscöne spielte seine Rolle. Der Dichter will mit seiner Arbeit
reüssiert haben. Die Gedichte wurden gelesen, abgeschrieben, gesungen
und sogar von Griechen, welche, um die Süssigkeiten der Plinianischen
Poesie kennen zu lernen, die Mühe nicht scheuten, Latein zu lernen,
zur Zither und zur Lyra vorgetragen. Ein junger Dichter, Sentius Augurinus,
feiert das wichtige Ereignis, dass Plinius auch nach Catulls Weise dichtet,
in einigen Versen (ep. 4, 27). Die verständigeren Männer schüttelten dagegen
die Köpfe (ep. 5, 3, 1). Allein der neue Dichter war entschlossen, auf der
Ruhmesbahn fortzuschreiten ; er machte sich daher an eine zweite Sammlung
und diesmal wollte er seine Fertigkeit in verschiedenen Massen erproben.
Als er eine Anzahl Gedichte fertig hatte, las er sie wiederum seinen
Freunden vor. Ob auch diese Sammlung erschienen ist, wissen wir nicht.
Neben diesen eigenen Produktionen liefen auch Exercitien einher; er über-
trug die griechischen Epigramme des Arrius Antoninus ; die Arbeit scheint
ihm recht sauer geworden zu sein. Den Verlust aller dieser Poesien er-
tragen wir ruhig, die zwei zufällig zu unserer Kenntnis gelangten Proben
erwecken keine Sehnsucht nach Weiterem.
1. Übersetzungen der griechischen Epigramme des Arrias Antoninus.
Darüber spricht er ep. 4, 18; er erklärt die Arbeit für eine sehr schwierige ; dann 5, 15. Ein
anscheinend aus dem Griechischen übersetztes Epigramm überliefert unter dem Namen C.
Caecili Plinii Secundi die Anthologie (Riese, nr. 710, BXhkens, PLM. 4, 103).
2. Die Sammlung .Hendecasyllabi" ep. 4, 14, 2 accipiescumhac episiula hende-
casyVabos nostros, quihus nos in vehiculOj in hcUineo, inter cenam oblectamus oHum tempo-
ris, (8) unum illud praedicendum videtur, cogitare me has nugaa inscribere hendecasyUahoSj
qui titulus sola metri lege constringitur (5, 3).
3. Sammlung kleiner Gedichte in verschiedenen Massen, ep. 8,21,4 sagt
von einer Vorlesung : liber fuit et apusculis varius et metris. — Recitavi biduo. 7, 9, 10
teilt er 4 hölzerne Disticha mit. 9, 10, 2 poemata crescunt (so Mohmsen p. 106 statt
quie^cuni), 9, 16, 2 (novos versiculos),
447. Die allgemeine Briefsammlung. Neben der Rede gab auch
der Brief Gelegenheit, sein stilistisches Können zu zeigen. Natürlich lohnte
es sich nicht, wegen des Adressaten allein die Mühe der Ausarbeitung und
Feile auf sich zu nehmen ; man bedurfte eines grösseren Leserkreises. Zu
diesem Zweck wurde der Brief gleich so konzipiert, dass er in die Öffent-
lichkeit treten konnte. Dadurch wurde aber der Brief in seinem Charakter
wesentlich geändert. Aus solchen Briefen hat Plinius ein Corpus von 9
Büchern zusammengestellt und sie seinem Freunde Septicius, der ihn zur
Herausgabe der Briefe ermuntert hatte, dediziert. In dem Dedikations-
schreiben spricht er sich zugleich über das Prinzip der Anordnung der
Briefe aus, er will sie so zusammengestellt haben, wie sie ihm in die
Hand kamen. Da er nicht Historiker sei, so habe er keine Rücksichten
auf die Chronologie zu nehmen. Wir können dem Schriftsteller die letzt©
Angabe leicht glauben, allein dass er bei der Zusammenstellung sich ganz
vom Zufall leiten liess, ist schlechterdings unwahrscheinlich. Weiterhin
stellt er, falls die Sammlung Beifall findet, auch noch die Publikation der
zurückgehaltenen, und die Publikation der später entstehenden Briefe in
Aussicht. Sollten die letzteren, auf die Zukunft verweisenden Worte an-
dere Briefe als die unseres Corpus im Auge haben, so müssten wir das von
Der jttngere PliniaB.
391
dem Autor ausgesprochene Prinzip der nichtchronologischen Anordnung für
das ganze Corpus gelten lassen und wir könnten höchstens den einen oder
den anderen Brief chronologisch zu fixieren versuchen.^) Anders wenn
sich jene Worte auf Briefe beziehen, welche später unserem Corpus ein-
verleibt wurden; in diesem Fall würden wir nämlich eine succesive Her-
ausgabe des Corpus anzunehmen haben und es müsste sich ein chronolo-
gischer Faden durch das Werk hindurchziehen. Dieses successive
Erscheinen der Sammlung ist von vorn herein sehr natürlich, es kann
aber auch durch Beweise gestützt werden. Plinius berichtet ep. 9, 19 von
einer Mitteilung des Adressaten, wonach dieser in einem Plinianischen
Brief das Distichon gelesen, das Verginius Rufus auf sein Grabmal gesetzt
wissen wollte. Das geschah aber im Brief 6, 10, der an einen anderen
Adressaten gerichtet war. Was ist hier wahrscheinlicher als die Annahme,
dass das sechste Buch vor dem neunten dem Publikum vorlag? Ein anderer
Fall ist folgender : In dem Brief 7, 28 rechtfertigt sich Plinius dem Sep-
ticius gegenüber, welcher ihm eröffnet hatte, dass Stimmen des Tadels
darüber laut wurden, dass Plinius seine Freunde bei jedem Anlass über
alles Mass lobe. Auch dieser Tadel ist doch wohl nur möglich, wenn die
Briefe, welche jenes Freundeslob enthielten, publiziert waren. Sonach
können wir es als eine Thatsache betrachten, dass der Briefwechsel nicht
auf einmal erschien, und dass die einzelnen Bücher oder vielleicht auch
mehrere zusammen sofort der Öffentlichkeit übergeben wurden. Es werden
daher jene Worte von der nichtchronologischen Aneinanderreihung der
Briefe sich nur auf das erste Buch oder auf die erste Sammlung beziehen.
In die folgenden Bücher konnten einmal solche Briefe aufgenommen wer-
den, welche bisher zurückgestellt waren, dann solche, welche nach dem
Erscheinen des vorauslicgenden Buchs oder der vorausliegenden Gruppe
von Büchern neu verfasst wurden. Es ist nun klar , dass wir in der
letzten Partie den chronologischen Faden erhalten, welcher sich durch
die einzelnen Bücher des Corpus hindurchziehen muss. Und in der
That reichen die chronologischen Indicien der neun aufeinander
folgenden Bücher vom Jahr 97 bis zum Jahr 109. Von dieser
Partie der neu hinzugekommenen Briefe hebt jedesmal sich die Partie
der älteren aus dem vorhandenen Vorrat stammenden ab, welche in die
verschiedensten Zeiten fallen können. Trotzdem müssen sie stets älter
sein. Stünde dagegen in einem früheren Buch ein Brief, der jünger ist
als einer in einem späteren Buch , so könnte dies nur dadurch seine
Erklärung finden, dass die betreffenden Bücher zusammen ediert wurden.^)
Eine chronologische Anordnung der Briefe innerhalb der einzelnen Bücher
ist, wie sie für den Anfang der Sammlung durch die eigenen Worte des
Schriftstellers ausgeschlossen ist, so auch für die späteren Teile nicht
wahrscheinlich. Dass die ganze Sammlung, sowie sie vorliegt, von Plinius
selbst herausgegeben wurde, kann in stichhaltiger Weise nicht bestritten
werden.
*) Dies ist die Ansicht Massoks in seiner
Plinü Vita, Amsterd. 1709.
*) Bei der Richtigkeit der AsBAcnVhen
Ansätze müsste für die drei ersten Bücher
die gleichzeitige Herausgabe angenommen
werden.
392 RömiBche Litteratnrgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
Chronologie der Briefe. Die grundlegoDde Abhandlnng ist von Momxsek (Herrn.
3,31). Nachdem er zuerst dargethan, dass schon für den ersten Eindruck sich im alige-
meinen die chronologische Anordnung der Briefe ergibt und ausserdem die suocessive Her-
ausgabe des Werks wahrscheinlich ist, sucht er Ar die einzelnen Bficher die Zeit der
Herausgabe festzustellen. Er gewinnt folgende Daten:
I. Buch, vielleicht zum Teil Ende 96 geschrieben und 97 herausgegeben.
II. Buch, enthält Briefe aus den Jahren 97—100 und scheint im Anfang des
Jahres 100 herausgegeben.
III. Buch, gehört in das Jahr 101, vielleicht zum Teil in 102.
IV. Buch, muss zu Anfang des Jahres 105 herausgegeben sein,
y. Buch, scheint 106 ediert zu sein.
VI. Buch, f&llt ins Jahr 107.
VII. Buch, gehört vielleicht dem Jahr 107 an.
Vfll. Buch \ nicht vor dem Jahr 108 oder 109 und wahrscheinlich um diese Zeit
IX. Buch I herausgegeben.
Gegen die MoMMSEN'sche Abhandlung richtet sich Petes (Philol. 82, 698), indem er
Fälle vorföhrt, welche den MoMMSEN'schen Annahmen widersprechen, ohne jedoch der Hy-
pothese MoHMSENS eine andere positive gegenüberzustellen. Eine solche tritt in der Ab-
handlung Stobbes (Philol. 30, 347), der sich ebenfalls gegen einzelne Ansätze Momxseks
wendet, hervor; er nimmt eine chronologische Reihenfolge der einzelnen Bficher an;
„innerhalb der einzelnen Bücher aber sei die chronologische Anordnung soweit festgehalten,
als sämtliche seit Publikation der nächst vorhergehenden Sammlung geschriebenen Briefe,
soweit sie für die neue Sammlung bestimmt waren, der 2ieitfolge ihrer Abfassung nach in
dieselbe eingereiht sind, während eine Anzahl älterer, teils um die Sammlung zu erweitem,
teils um sie herauszuputzen, eingeschoben oder angehängt wurde. Zu diesen Füllstücken
gehöre ganz gewiss die nicht imbeträchtliche Zahl der adressierten Ghrien und Anekdoten"
(p. 372). Keine prinzipielle Förderung der Frage führt Gemoll, De temparum ratiane in
Plinii epistularum IX Hbris observata. Halle 1872, herbei. Dagegen ist einschneidender die
Untersuchung Asbachs (Rh. Mus. 36, 38). Seine Schlussfolgerungen sind (p. 49) : 1) Die Bücher
sind in Gruppen herausgegeben; so ist durchaus wahrscheinlich, dass die 3 ersten Bficher
zusammen erschienen sind ; . 2) Die Aufeinanderfolge der Briefe ist in allen Bfichem nicht
chronologisch ; 3) Für die einzelnen Bücher ergeben sich folgende Daten ; a) die drei ersten
Bücher enthalten Briefe der Jahre 97-104; b) die Briefe des vierten Buchs stammen,
einige älteren Datums ausgenommen, aus den Jahren 103 — 106; c) Das fünfte Buch ist
nicht vor dem Jahr 109 herausgegeben. Die datierbaren Stücke dieses und der folgenden
Bücher verteilen sich auf die Jahre 106 — 109; einige sind älter.
448. Der Briefwechsel des Plinius und des Kaisers Traian.
Ganz anderer Art als die Briefe der neun Bücher sind diejenigen, welche
Plinius und Traian austauschten. Dies sind wirkliche Briefe, welche
nicht für die Öffentlichkeit gemünzt waren. Diese Korrespondenz hatte
eigentümliche Schicksale. Sie blieb lange verborgen und wurde erst im
16. Jahrhundert bekannt. Im Jahr 1502 gab Hieronymus Avantius von
Verona zum erstenmal die Briefe 41 — 121 heraus; er benutzte dabei eine
Abschrift, welche Petrus Leander nach einem französischen Kodex gemacht
hatte. Die Briefe 1— 40 kamen im Jahre 1508 in der Aldina hinzu.
Der venetianische Gesandte Mocenigo hatte eine Handschrift aus Paris
mitgebracht, aus der die Ergänzung genommen werden konnte. Allem
Anschein nach ist es dieselbe Handschrift, welche auch Petrus Leander
vor sich hatte, als er, wir wissen nicht warum, nur die Briefe 41 — 121
abschrieb. Aber schon ehe Mocenigo den Kodex nach Italien brachte,
hatte Jucundus aus Verona, ein berühmter Architekt, die Handschrift ge-
sehen und die notwendigen Kopieen für Aldus daraus angefertigt. Auch
Budaeus kannte die Handschrift, denn er erwähnt sie in seinen Anmer-
kungen zu den Pandekten (1506), auch gedenkt er hiebei des Jucundus.
Dieser Kodex, der sämtliche Briefe des Plinius enthielt, ist seitdem ver-
schollen. Die Kritik war daher lediglich auf die Ausgaben des Avantius
und des Aldus angewiesen. In neuerer Zeit ist durch einen glücklichen
Der jüngere Plinius.
393
Fund des Engländers Hardy die Aufgabe der Recensio etwas erleichtert
worden. Er entdeckte nämlich in der Bodleiana einen Sammelband, der
die Ausgabe der Pliniusbriefe von Beroaldus (1498), die Ausgabe der
Briefe 41 — 121 des Avantius (1502), und handschriftlich die Briefe
aus der Korrespondenz mit Traian (1— 40)^) und die bis dahin fehlenden
Briefe des 8. Buchs enthielt. Weiterhin sind Varianten (hauptsächlich zu
den gedruckten Teilen) am Rande beigefügt. Auf der letzten Seite der
Ausgabe des Avantius wird bemerkt, dass Ergänzungen und Verbesse-
rungen aus dem Parisinus stammen und dem Architekten Jucundus ver-
dankt werden. Es ist daher die Vermutung Hardys nicht unwahrscheinlich,
das uns hier das Exemplar des Aldus vorliegt, wie es für den Druck zu-
rechtgemacht wurde.
Nach der Überlieferung sind die Briefe im grossen Ganzen chrono-
logisch geordnet. H. Stephanus änderte (1581) willkürlich diese Reihen-
folge, indem er zuerst die Briefe setzte, welchen keine Antwort Traians
beigegeben ist, dann die folgen Hess, welche von Traian beantwortet
wurden. Keil stellte mit Recht die ursprüngliche Reihenfolge wieder her.
Von dem 15. Stück an beziehen sie sich auf die bithynische Statthalter-
schaft, allein sie reichen nicht bis zum Ende derselben. Es ist daher sehr
wahrscheinlich, dass diese Briefe erst aus seinem Nachlass veröffentlicht
wurden. Sie haben eine von der Sammlung der neun Bücher gesonderte
Existenz; die Bezeichnung dieser offiziellen Korrespondenz als 10. Buch
durch Aldus dürfte ohne handschriftliche Gewähr sein.^)
Die Korrespondenz ist in hohem Grade interessant. Sie lehrt uns
zwei ganz verschiedene Charaktere kennen, auf der einen Seite den Statt-
halter, einen ängstlichen, pedantischen Mann, der den besten Willen zeigt,
in dem aber kein Funken eines Verwaltungstalents vorhanden ist ; auf der
andern Seite den Kaiser, der mit klarem Blick jeden vorgelegten Fall be-
urteilt und mit wenigen Worten den Kern desselben darlegt. Es ruht
eine wahrhaft grossartige Hoheit in diesen kaiserlichen Handschreiben;
die Feinheit, mit der Traian seinen Statthalter hie und da zurechtweist, ist
bewunderungswürdig. Aber auch für die Erkenntnis der Provinzialverwal-
tung ist der Briefwechsel sehr belehrend. Die verschiedensten Seiten der-
selben treten uns entgegen. Bald sind es Bauangelegenheiten, bald
Militärverhältnisse, bald Rechtssachen, bald polizeiliche Angelegenheiten,
über welche der Statthalter die Ansicht oder die Entscheidung des Kaisers
einholt. Am merkwürdigsten sind die zwei Briefe, welche sich auf die
Christenfrage beziehen. Neben den amtlichen Gegenständen behandeln die
Briefe auch Privatangelegenheiten, besonders Empfehlungen.
In frivoler Weise wird die Korrespondenz in Bezug auf die Echtheit
verdächtigt, indem entweder sämtliche Briefe oder die Antworten Traians
oder die auf die Christen sich beziehenden Stücke für unterschoben er-
klärt wurden.
*) UrsprQnglich , ein Blatt mit den drei
ersten Briefen ging verloren.
'*) Sidonius Apollinaris ep. 9, 1 spricht
von 9 Büchern der Briefe des Plinius. Doch
vgl. MoMiisEN p. 32 Anm. 1.
394 BömiBche Litteratargeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
Über den Fund in der Bodleiana vgl. Hardy, Journal of Philol. 17,95 and in
den Proleg. seiner englischen Separatausgabe der Briefe (London 1889) p. 65.
Zweifel an der Echtheit der Korrespondenz. Wir haben die Geschichte
ihres Bekanntwerdens ansfQhrlicher dargestellt, weil die Sammlung in Bezug auf die Echt-
heit angezweifelt wurde. Zuerst erklärte in oberflftchlicher Weise der Theologe Sexleb
(Neue Versuche 1788) die sog. Christenbriefe fOr unterschoben. Weiter ging Held (Proleg.
Schweidnitz 1835), indem er die ganze Sammlung verwarf. Diese Abhandlung machte keinen
Eindruck; erst im Jahr 1860 wurde sie von Ussiko (Om de Keiaer Traian tiUagie Brere
tu Plinius) aufgegriffen und dahin modifiziert, dass nur die Traianischen Briefe bestritten
werden. Allein auch Ussivos Abhandlung blieb ohne Wirkung. Eine Trtlbung des ursprüng-
lichen Briefwechsels statuiert in vager Weise L. Sch aedel, Plin. der jüngere und Casaiodo-
rius, Darmstadt 1887. Eine ausführliche Darlegung dieser nichtigen Unechtshjpothesen
mit Widerlegung derselben gibt Wilde, De PI. et imperaioris Traiani epistulis mutuis,
Leyden 1889. Ernstlicher waren die Angriffe, welche in neuester Zeit von französischen
Gelehrten gegen die Ghristenbriefe gerichtet wurden. {Aub4 hist. des persdeiäions de V^lise,
Paris 1875, p. 207, De^'ardins Revue des deux mondes, T. VI (1874), p. 656, Dupuy An-
nales de Bordeaux, T. II (1880), p. 182.) Vgl. dagegen Wilde, p. 67, der bei einer ein-
gehenden Analyse der beiden Briefe die Einwürfe der Gegner vorführt. Schon Tertullian
kannte die zwei Briefe (Apol. c. 2).
Die Chronologie der Briefe. Die beiden ersten Briefe gehören unbestritten
dem Jahr 98 an. Bezüglich der Briefe 3—11 statuiert Mommsen (p. 54), dass sie in die 2^it
fallen, wo Plinius praefectua aerarii Saturni war, (nach Momhsen (p. 89) 98—101), übrigens
in sich nicht nach der Zeitfolge geordnet sind. Den 13. Brief sebst Mommsek ins Jahr lOS
oder 104, den 14. ins Jahr 106 oder 107. Vom 15. an beziehen sich die Briefe auf die
bithynische Statthalterschaft. Bezüglich dieser Briefe weist MoMMSEir nach, dass sie chro-
nologisch geordnet sind und vom September des Jahres (etwa) 111 bis über den Januar
113 hinaus sich erstrecken; jedem Brief des Stetthalters sei gleich die dazu gehörige Ant-
wort des Kaisers angehängt worden. Die nachfolgenden Forschungen beziehen sich auf die
nichtbithynischen Briefe. Stobbe nimmt auch für die Briefe 3— 11 (wie für die übrigen)
streng chronologische Anordnung an, sie fallen nach seiner Meinung (p. 364) sämtlich bis
auf den letzten in die Zeit zwischen der Anklage des Priscus (ep. 3) und der Rückkehr
Traians nach Rom (ep. 10), nämlich ins Jahr 99 (Über ep. 11 vgl. p. 365). Asbach p. 39.
449. Charakteristik. Plinius' Schriftstellerei, die nach den für die
Öffentlichkeit bestimmten Produkten, dem Panegyricus und der grossen
Briefsammlung beurteilt werden muss, lässt sich nur aus einem Gesichts-
punkt heraus verstehen, dass dieselbe dem Kultus der Form ergeben ist.
Seine stilistische Fertigkeit zu zeigen, ist das Ziel des Autors. Daher
kann er sich auch nur solchen Gebieten zuwenden, wo die Form ganz be-
sonders in den Vordergrund tritt. Als er aufgefordert wurde, sich der
Geschichtschreibung zu widmen (ep. 5, 8), so verhält er sich dieser Auffor-
derung gegenüber kühl; er mochte fühlen, dass hiezu seine Kriifte nicht
ausreichen. Dagegen konnte er in der Rede und in dem Brief das leisten,
was er wollte. Aber selbst hier wird die Form mehr als billig kultiviert ;
es zeigt sich dies in der völligen Loslösung des Schriftstückes von
der Veranlassung. Wenn eine vor Gericht gehaltene Rede, lange nach-
dem sie vorgetragen, umgearbeitet und erweitert einem ganz neuen Publi-
kum recitiert wird, so muss sie den Stempel des Gemachten und Gekün-
stelten tragen, und das Interesse kann sich nur auf die Form konzentrieren.
Ebenso verliert der Brief seinen wahren Charakter, wenn er eigentlich
nicht für den Adressaten, sondern für das grosse Publikum bestimmt ist,
wenn er nicht aus der jeweiligen Stimmung hervorquillt, sondern gekün-
stelt und gefeilt ist. Dass aber Plinius den Briefcharakter nicht gewahrt,
zeigt sich einmal darin, dass er fast in jedem Stück der grossen Samm-
lung immer nur einen Gegenstand behandelte ^), ferner dass sehr oft der
*) MomcsEN p. 32,3.
Der jüngere Plimos. 395
Inhalt seiner Briefe keinen anderen Berührungspunkt mit der Person, an
die sie gerichtet sind, hat als den der Adresse. Dass aber die Briefe des
Corpus für die Veröfifentlichung bestimmt waren, geht daraus hervor, dass
(mit einer Ausnahme) ^) nur solche Personen getadelt werden, welche ent-
weder gestorben oder verbannt sind. Wir haben also gekünstelte Reden
und gemacht«, gefeilte Briefe. Der Stil der erhaltenen Rede und der Stil
der Briefe ist aber ein durchaus verschiedener; dort reiche, blühende, ja
überladene, hier gedrungene, einfache, klare und anmutige Darstellung.
Die Stilverschiedenheit ist natürlich auf bewusste Wahl, auf Kunst zu-
rückzuführen. Der Wert der Briefe ist sehr gross, sie sind ein Spiegel-
bild der Zeit, in welcher der Autor lebt. Wie uns der ciceronische Brief-
wechsel ein treues Gemälde des Übergangs der Republik in die Monarchie
gibt, so erhalten wir durch die Briefe des Plinius einen tiefen Einblick
in das Leben der Kaiserzeit. Aber die Lektüre der Plinianischen Briefe
ist viel leichter, weil sie nicht so viele Voraussetzungen machen wie die
ciceronischen, sie sind ja nicht Erzeugnisse des Moments, sondern wohl
überdacht. Abgesehen davon ist es auch die Persönlichkeit des Autors,
welche diesen Briefen einen eigentümlichen Reiz verleiht. Es ist zwar keine
grosse Individualität, sondern eine Mittelmässigkeit, die in diesen Pro-
dukten erscheint, wir lernen einen etwas pedantischen, ängstlichen und
leise auftretenden Mann kennen, allein trotzdem gewinnt diese Persönlich-
keit unsere Sympathien durch die unendliche Herzensgüte, durch die Milde
des Urteils, durch seine Begeisterung für alles Schöne und Gute und durch
sein heisses Streben nach Unsterblichkeit seines Namens. Nicht ohne
Rührung lesen wir die Worte (ep. 5, 8) : Nichts packt mich so sehr als die
Sehnsucht nach der Fortdauer ; dieser Wunsch ist gewiss ein des Menschen
würdiger, besonders wenn ihm nicht das Bewusstsein einer Schuld Furcht
vor der Nachwelt einflösst. Daher sinne ich Tag und Nacht, wie ich mich
vom Boden erheben könnte. Damit sind meine Wünsche erfüllt; „im
Triumphe die Lippen der Menschen zu durchfliegen* geht über dieselben
hinaus.
Die Überlieferung des Plinins. a) der Briefe. Wir haben nur von einer
Handschrift Kunde erhalten, welche nicht bloss die neun Bftcher der Briefe, sondern auch
die Korrespondenz des Plinius mit Traian enthielt. Diese Handschrift ist aber jetzt ver-
schollen ; aoch besitzen wir Mitteilungen aus derselben (vgl. § 448). Die Übrigen Codices
der Pliniusbriefe enthalten den letzteren Briefwechsel nicht. Sie lassen sich auf drei
Quellen zurflckf&hren.
Zuerst erschien ein Exemplar mit 100 Briefen. Dies wurde in der Weise ge-
bildet, dass die ersten vier BQcher (mit Weglassung des Briefs 4, 27) und die sechs ersten
Briefe des fOnften Buchs vereinigt wurden. Reprftsentanten dieses Exemplars, welche noch
vorhanden, sind 1) der Florentinus 284 in der Laurentiana, früher ein Marcianus, s. X/XI;
2) der Riccardianus 488 s. IX/X, der frflher mit dem Riccardianus der Naturgeschichte
des Plinius verbunden war. Derselbe war längere Zeit verschollen, erst in neuester Zeit
wurde er in der bibliotheca Ashbumhamensis gefanden, jetzt ist er wieder in Florenz
(Stahol Phüol. 45, 220).
Nach dem Exemplar der 100 Briefe wird ein Exemplar von 8 Büchern be-
kannt. Dasselbe kam in der Weise zustande, dass das 8. Buch weggelassen und das 9.
Buch als 8. gez&hlt wurde. Eine weitere Eigentümlichkeit dieses Exemplars ist, dass die
Ordnung der Briefe in dem 5. und in dem letzten Buch gestört ist. Repräsentant dieses
Exemplars ist der codex archivii Caainatis s. XV. Andere Codices dieses Exemplars
von 8 Büchern sind aus Handschriften des Exemplars mit 100 Briefen interpoliert; so
z. B. der Dreadensis 166.
') MoMMSBN p. 32. Die Ausnahme bezieht sich auf Regulus.
396 RömiBche Litteratargesohiehte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteiliing.
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts taucht auch ein Exemplar der neun Bficher
auf; es ist der Laurentianus s. Medicous 47,36 s. IX/X, der bis 9, 26,8 reicht; die
Handschrift gewinnt fOr uns dadurch besonderes Interesse, dass sie von derselben Hand
wie der die ersten sechs BQcher des Tacitus enthaltende Medic. I geschrieben ist und
mit diesem einst zusammengebunden war. Gegen eine Überschätzung dieses Kodex durch
Keil wendet sich eine Abhandlung Ottos (Hermes 21, 287), der zeigen will, dass der Codex
von einem Gelehrten korrigiert und interpoliert wurde (vgl. StbÖbel, Jahresber. 63, 210).
ß) Die Überlieferung des Panegyricus kann erst bei den Panegyrikem er-
örtert werden.
Bender, Der jüngere PL nach s. Briefen, Tüb. 1873; Schoentao, PI. der Jüngere, ein
Charakterbild, Hof 1876; Giesen, Der jüngere PI., Bonn 1885. (Über das Leben des PI.
ist die massgebende Abhandlung von Momhsen, Hermes 3, 31.)
Gesamtausgaben. Die massgebende ist die kritische von H. Keil, Leipz. 1870,
der ein index nominum cum rerum enarratione von Momxsen beigegeben ist. Textausgabe
von H. Keil, Leipz. 1853.
2. Die übrigen Redner.
450. Verlorene Beden, unsere Aufgabe kann nicht sein, alle die
Persönlichkeiten aufzuzählen, welche als Redner von den Schriftstellern
erwähnt werden. Wir werden vielmehr nur diejenigen hier einzureihen
haben, deren Reden herausgegeben waren, also der Litteratur angehörten,
uns aber nicht mehr erhalten sind.
1. Mamercus Scaurus tritt uns öfters bei Tacitus entgegen (Ann.
1, 13 3, 23 3, 31 3, 66), Unter Tiberius wurde er in Klage wegen Majestäts-
beleidigung verwickelt (Ann. 6, 9). Der Kaiser verschob die Entscheidung.
Allein bald darauf wurde er neuerdings in den Anklagezustand versetzt,
indem er des Ehebruchs mit Livia und der Zauberei beschuldigt wurde.
Der wahre Anlass für seine Verfolgung war aber eine Tragödie Atreus,
in der Verse auf Tiberius bezogen wurden. Auf Betreiben seiner Frau
Sextia gab er sich selbst den Tod, aber auch die mutige Frau teilte sein
Schicksal (6, 29). Bei dieser Gelegenheit charakterisiert ihn Tacitus als
einen ausgezeichneten Redner (vgl. 3, 31), aber als einen anrüchigen Men-
schen (vgl. 3, 66). Auch der ältere Seneca zeigt für Scaurus grosses
Interesse und gibt in der Vorrede zum 10. Buch seiner Controversia eine
lichtvolle Beurteilung seiner Redekunst. Scaurus hatte ohne Zweifel ein
bedeutendes rhetorisches Talent, allein er pflegte dasselbe nicht; trotzdem
war er seines Erfolgs sicher, sein ganzes Auftreten Hess über die Mängel
hinwegsehen. Er gab 7 Reden heraus, die nach Senatsbeschluss verbrannt
wurden; doch bezieht sich Seneca auf erhaltene Reden, welche aber die
Mängel des Scaurus noch schärfer hervortreten Hessen als die gehaltenen.
Sen. controv. X praef, 3 orationes Septem edidit, quae deinde senatus consuUo cam-
bustae 8unL Bene cum illo ignis egerat, sed extant libefli qui cum fama eiu8 pugnani,
niuUo quidem solutiores ipsis actionibus; illas enim cum destUueret cura, calor adiuvabat ;
hi coloris minus habent, neglegentiae non minus.
2. P. Vitellius, Oheim des nachmaligen Kaisers. Als Begleiter des
Germanicus nahm er an der Klage gegen Cn. Piso als Mörder desselben
teil (Tac. Ann. 3, 13). Die gegen ihn gehaltene Rede lag noch dem älteren
Plinius vor.
Plin. n. h. 11, 187 extat oratio Vitelli qua reum Pisonem Aus sceleris (des Giftmords)
coarguit, hoc usus argumento palamque testatus non potuisse ob venenum cor Germanici
Caesaris cremari; contra genere morbi defensus est Piso.
3. Domitius Afer aus Nemausum im narbon. Gallien bekleidete
verschiedene Stellungen im Staate. So war er Prätor (Tacit. Ann. 4, 52),
Cons. suff. 39, curator aquarum von 49—59. Unmittelbar nach seiner
Die Übrigen Bedner.
397
Prätur (26) klagte er die Claudia Pulchra wegen Ehebruchs mit Furnius
und wegen Giftmii^cherei und Zauberei gegen den Kaiser an und setzte
ihre Verurteilung durch (Tac. Ann. 4, 52). Der Lohn, den er hiebei erntete,
spornte ihn an, es auch mit einer Anklage des Sohnes der Claudia Pulchra,
des Quintilius Varus, dessen Vater der bekannte unglückliche Feldherr
war (Tac. Ann. 4, 66), zu versuchen. Doch lieh er auch sein Talent der
Verteidigung (Tac. Ann. 4, 52). Seine Reden wurden noch später eifrig
studiert, Quintilian las eine solche für Volusenus Catulus 0 (10, 1, 24), für die
Domitilla (8, 5, 16 9, 2, 20 9, 3, 66 9, 4, 31), für die Laelia (9, 4, 31), gegen
einen Freigelassenen des Claudius Caesar (6, 3, 81), gegen Longus Sulpi-
cius (6, 3,32), gegen Mallius Sura (6, 3,54 11, 3, 126). Der Grammatiker
Charisius (p. 145,27 K.) kannte eine Rede für die Einwohner von Augusta
Taurinorum. QuintiUan stellt den Domitius Afer als Redner ungemein
hoch (10, 1,118 12, 11,3). Im Alter liess jedoch seine Kraft bedeutend
nach. Er starb unter Nero 59 n. Ch.
Ausser den Reden schrieb er eine Schrift De testibus (Qiiint. 5.7,7 Hbri duo a
Domitio Afro in hanc rem [de testibus] compositi), dann eine Sammlung urhane dicto-
rum (Quint. 6, 3, 42).
4. Julius Africanus. Neben Domitius Afer erachtet diesen Quintilian
als ein bedeutsames rhetorisches Talent. Sein Vater, ein Gallier, ist an-
scheinend der Julius Africanus, von dessen Verurteilung im Jahr 32 n. Ch.
Tacitus berichtet (Ann. 0, 7).
Quint. charakterisiert ihn (10, 1, 118) : hie conciicUior, sed in cura verborum nimius et
compositione nonnunquam longior et translatianibus parum modicus: Eine Stelle aus seiner
Rede an Nero beim Tode seiner Mutter teilt Quint 8, 5, 15 mit.
5. Vibius Crispus. Als zwei mächtige Redner schildert uns der
Dialog des Tacitus den Vibius Crispus aus Vercelli (gest. etwa 90) und
Eprius Marcellus aus Capua (Kons. 61 u. 74). Von den Reden des Crispus
war sicher die jpro Spatale publiziert; es war eine Erbschaftsklage ; ein Ehe-
mann, der im Alter von 18 Jahren starb, hatte seiner Buhlerin Spatale
den vierten Teil seines Vermögens, seiner Frau dagegen nur den zehnten
vermacht.
Quint. 8,5,17 ut pro Spatale Crispus, quam qui heredem amaior instiiuerat,
decessit, cum haberet annos duodeviginti. Vgl. noch Tac. Dial. 8 Quint. 10, 1, 119 12, 10, 11
Juv. Sat. 4, 8, 1 Tac. Ann. 14, 28 Bist. 2, 10 4, 41.
6. Galerius Trachalus (Kons. 68 mit dem Dichter Silius). In der
erwähnten Streitsache war er der Gegner des Crispus und vertrat die
Sache der Gattin. Auch seine Rede war veröflfentlicht.
Quint. 8, 5, 19 führt unter dem Citat Trachalus contra Spatdien eine Stelle daraus
an. Seine Redeweise kennzeichnet der Rhetor also (10,1,119): Trachalus plerumque
sublimis et satis apertus fuit et quem velle optima crederes, at4ditus tarnen maior ; nam et
vocis quatitam in nullo cognovi felicitas et pronuntiatio vel scenis suffectura et decor^ omnia
denique ei quae sunt extra superfuerunt (vgl. noch 12, 5,5 und 12, 10, 11).
7. Pompeius Saturninus, Zeitgenosse des jüngeren Plinius, ist
diesem ähnlich, indem er zugleich dilettantisch sich mit mehreren Lit-
teraturzweigen abgibt; er machte Verse nach Art des CatuUus und
0 Wie aus der Stelle Quintilians er-
sichtlich, gah es auch von andern Rednern
Reden pro Voluseno Catulo, denn es heisst :
nobis pueris insignes pro Voluseno Catulo
Domitii Afri, Crispi Passieni, Decimi Laelii
orationes ferebantur. Über den zuletzt ge-
nannten Laelius Baibus vgl. Tacit. Ann.
6, 47 und 48.
398 BOmische LitteraiargOBChichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Galvus, er schrieb Briefe , Historisches (vgl. p. 38), auch Reden waren
von ihm im Umlauf.
Plin. ep. 1, 16 audii causas agentem acriter et ardenUr nee minus polite ei omate,
sive meditata sive subita proferret. Adsunt acutae crebraeque sententiae, gravis et decara con-
structio, sonatUia verba et antigua. Omnia haec mire plcment, cum impetu quodam et flu-
mine pervehuntur; plaeent, si retractentur. SentieSj quod ego, cum orationes eins in manus
sumseris, quas facile cuilibet veterum, quorum est aemulus, camparabis.
Wir reihen hier auch noch die Broschürenschreiber an:
1. A. Fabricius Veiento, der uns als Schmeichler Domitians aus
Juvenal bekannt ist (vgl. p. 343), hatte unter Nero fingierte » Testamente **
(codicilli) geschrieben, in denen er viele Schmähungen gegen den Senat
und die Priesterkollegien vorbrachte. Tullius Geminus erhob eine Anklage
gegen ihn, Nero verbannte ihn aus Italien und Hess das anrüchige Werk
verbrennen. Allein er erreichte damit nicht seinen^ Zweck; gerade der
Akt der Verbrennung reizte die Neugierde. Die Schrift wurde eifrigst
aufgespürt und gelesen, solange die Verfolgung dauerte ; als diese vorüber
war, kam das Produkt in Vergessenheit (Tac. Ann. 14, 50).
2. M. Aquilius Regulus (vgl. p. 342) verfasste eine Schmähschrift
auf den verstorbenen Rusticus Arulenus. Als er seinen Sohn durch den
Tod verlor, las er eine Biographie desselben vor einem grossen Auditorium
vor; dann liess er dieselbe in tausend Exemplaren vervielfältigen und
in ganz Italien und in den Provinzen verbreiten. Der jüngere Plinius, der
uns die meisten Mitteilungen von dem Manne machte, fällt über die Bro-
schüre ein sehr ungünstiges Urteil (4, 7, 7).
Über üin vgl. Plin. ep. 1, 5, 1 (Hauptstelle) 2, 11,22 4, 2, 1 6, 2, 1. Auch Martial sUnd
mit ihm in Beziehungen (1, 111, 4 2, 74, 2 4, 16, 6 5, 28, 6 6, 38 6, 64, 11.
(f) Die Philosophen.
451. Allgemeines. Wir haben oben gesehen, dass in der Auguste-
ischen Zeit die philosophische Schule der Sextier auftaucht. Sie legte
alles Gewicht auf das Handeln, so dass sie fast den Charakter einer ge-
schlossenen Gemeinde annahm. Allein die Sekte hatte keinen Bestand.
Auf die originelle Persönlichkeit ihres Stifters gestellt, schwand sie bald
nach seinem Tode dahin. In unserer Epoche treten daher wieder die
älteren Systeme auf; der zahlreichsten Anhängerschaft erfreute sich die
Stoa und die Lehre des Epicur. Besonders die Stoa sagte dem ernsten
Sinn der Römer in hervorragender Weise zu. Auch in unserm Zeitraum
fand das spekulative Moment der Philosophie fast gar keine Pflege. Man
betrieb die Philosophie, nicht um dem Verlangen des Geistes, die Wahr-
heit zu erkennen, Genüge zu thun, sondern um Regeln für das Handeln
zu erhalten. Die Glückseligkeit war es, die man von der Philosophie ver-
langte, und zwar die Glückseligkeit dieses Lebens; denn über das Jenseits
lag ein undurchdringliches Dunkel ausgebreitet. Bei einer solchen Auf-
fassung der Philosophie war die strengwissenschaftliche Form der mora-
lischen Vorschriften von untergeordneter Bedeutung. Die Hauptsache war,
dass die Lehren innere Zufriedenheit spendeten. Auch war es gleich-
gültig, ob die eine oder die andere dieser Lehren einem fremden System
entlehnt war. Der Eklektizismus ist daher eine Eigentümlichkeit des
römischen Philosophierens geworden. Noch mehr, man konnte auf die
Die Philosophen. 399
schriftliche Darlegung der Moral ganz verzichten, wenn man Rat und
Beispiel eines Philosophen auszunutzen Gelegenheit hatte. Und in der That
finden wir berühmte Männer unter der persönlichen Leitung von Philo-
sophen. Als Rubellius Plautus vor dem Wendepunkt seines Lebens stand
(62 n. Gh.), liess er sich von den Philosophen Coeranus und dem C. Mu-
sonius Rufus beraten (Tac. Ann. 14, 59). Als Kanus Julius auf Befehl des
Caligula zum Tod geführt wurde, begleitete ihn sein Philosoph; Kanus ver-
sprach nach dem Hingang Kunde von dem Wesen der Seele (Sen., De
tranq. 14, 4) zu geben. Thrasea Paetus unterhielt sich nach seiner Ver-
urteilung mit dem Cyniker Demetrius über die Trennung der Seele vom
Leibe (Tac. Ann. 16, 34). Auch Barea Soranus hatte seinen Philosophen,
den P. Egnatius Celer. Leider machte dieser einen Angeber gegen seinen
Gönner (Tac. Ann. 16, 32). Schon aus dem Gesagten dürfte hervorgehen,
dass für ein £mporblühen der philosophischen Schriftstellerei kein
rechter Boden bei den Römern vorhanden war. Überhaupt hatte die
Philosophie mit manchen Vorurteilen bei der grossen Masse zu kämpfen.
Wenn man liest, wie kühl Tacitus von dem philosophischen Studium
spricht, so kann man sich einen Schluss auf das Urteil der Ungebildeten
in dieser Hinsicht bilden. Manche Philosophen verzichteten daher sogar
auf die Muttersprache als Organ ihrer Mitteilungen und wählten das Grie-
chische für ihre Schriften und ihre Vorträge. So schrieb Cornutus seine
philosophischen Werke in griechischer Sprache und G. Musonius Rufus
hielt sogar in diesem Idiom Vorträge. Es kam hinzu, dass die Philo-
sophie auch mit den Regierungskreisen nicht selten in Konflikt kam. Die
Lehren der Philosophie führten in ihrer praktischen Anwendung vielfach
zu idealistischer Ablehnung des Hergebrachten und Bestehenden. Die Ver-
folgungen der Anhänger der Philosophie nehmen daher in unserer Epoche
keinen geringen Platz ein. Unter Tiberius wurde der Ritter Attalus aus
Rom weggewiesen (Sen. suas. 2, 12), Seneca wurde von Claudius verbannt.
Viel stärker waren die Feindseligkeiten Neros gegen die stoisch gesinnten
Männer. Thrasea Paetus und Barea Soranus wurden im Jahre 66 ange-
klagt und zum Tod verurteilt (Tac. Ann. 16, 21 u. 30). Schon vorher war
Rubellius Plautus (62) und Seneca (65) in den Tod getrieben worden. Die
Verbannung wurde verhängt über Cornutus (68) und Musonius (65 vgl. Tac.
Ann. 15, 71), ferner über Helvidius Priscus, den Schwiegersohn des Thrasea
Paetus (66 Tac. bist. 4, 5). Auch bei Vespasian finden wir feindselige
Massregeln gegen die Philosophen; er schritt gegen den zuletzt genannten
Helvidius Priscus ein, ja er liess sich sogar zu einer generellen Massregel
bestimmen, im Jahre 71 wurden die Philosophen mit Ausnahme des Mu-
sonius verbannt, ja zwei, Demetrius und Hostilius, mit Deportation be-
straft (Dio. 66, 13). Auch sein Sohn Domitian schritt auf diesem Wege
weiter, durch zwei Edikte (89 und 93) wurde den Philosophen und Astro-
logen der Aufenthalt in der Stadt untersagt. Wenn man bei diesen Ver-
folgungen auch in Anschlag zu bringen hat, dass Persönliches mit im Spiele
war, so wird man doch auf der anderen Seite nicht leugnen dürfen , dass
dieselben auf die philosophische Schriftstellerei nicht günstig wirkten.
Alle diese Momente Hessen eine Blüte der philosophischen Litte-
400 Römiache Litteratargeachichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung«
ratur nicht aufkommen; unser Abschnitt kann nur einen einzigen nam-
haften Schriftsteller vorführen, Seneca.
Die Schriften des L. Annaeus Gornutus. 1) Von seinen griechischen Schriften
ist erhalten Ttegt t^g twv S-etÜy (jfntaeoig (Ausg. von Lang, Leipz. 1881). Auch Rhetorisches
schrieb er sowohl in griechischer als in lateinischer Sprache. In der letztem Sprache ver-
fasste er:
2) Die lihri de figuris sententiarum. Gell. (9, 10,5) citiert eine Stelle aus dem
2. Buch.
Aber auch Grammatisches wird von ihm angefahrt und zwar:
3) Ein Kommentar zur Aeneis des Vergil. Derselbe war dem Dichter Silios
Italiens gewidmet, vgl. Charis. p. 125, 16 Annaeus Comutus ad Italicum de Vergilio lihro
X. (BücHBLBs, Rh. Mus. 35, 390).
4) De enuntiatione vel orihographia, Auszüge aus dieser Schrift bietet uns
Cassiodor (GL. 7, 147).
5) Schwierigkeiten macht das Citat Charis. p. 201, 12: Ann€ieu8 Comutus Hb. tab.
castar. patris sui. Büoheler, Rh. Mus. 34, 347 verbessert castr. und löst demnach
auf: libro tahularum castrensium patris sui. Unter tabulae castrenses versteht er ein testa-
mentum factum in castris.
In der vita des Persius (p. 55 Jahk-Buechsles) lesen wir: eognovit per Cornutum etiam
Annaeum Lucanum aequaevum auditorem Cornuti. nam Cornutus iüo tempore tragicus fuU
seciae poeticae , gut ld>ros philosopkiae reliquit. Hier erscheint Comutus als tragischer
Dichter; allein die Worte nam — reliquit sind, wie jeder sieht, ein späterer Zusatz, daher
von zweifelhaftem Gewicht.
Über einen jüngeren Rhetor Comutus vgl. Cornuti Artis rhetoricae epitome ed.
Graeven p. XXVIII; über Comutus in den Scholien zu Persius siehe p. 279, in den Scho-
lien zu Juvenal p. 345.
L. Annaeus Seneca.
462. Biographisches« Der Rhetor Seneca, über den wir § 334 han-
delten, hatte drei Söhne, welche sämtlich unser Interesse erregen. Der
älteste war M. Annaeus, Novatus, der von dem Freund seines Vaters, dem
Rhetor Junius Gallio (p. 207) adoptiert, alsdann den Namen L. Junius
Gallio (Dio 60, 35) führte. Als solcher erscheint er in der Apostelge-
schichte (18, 12). Der zweite Sohn erreichte die höchste Stufe des Ruhms,
es ist der berühmte Philosoph L. Annaeus Seneca. Der dritte, M. Annaeus
Mela, ist endlich durch seinen Sohn, den Dichter Lucan, bekannt geworden.
Geboren wurde unser Seneca (einige Jahre vor unserer Aera) in Gorduba;
allein seine Ausbildung erhielt er ganz in Rom. Seine Lehrer waren
Sotion, auf dessen Anregung hin er ein Jahr lang Vegetarianer war (ep.
108, 22), der Stoiker Attalus (ep, 108, 3) und der Sextier Papirius Fabianus
(ep. 100, 12; vgl. oben § 338). Dass er auch rhetorischen Unterricht er-
hielt, ist selbstverständlich. Allein sein Geist konnte in der Deklamation
unmöglich dauernde Befriedigung finden; ihn interessierten mehr die Pro-
bleme des menschlichen Handelns und der Natur. Ein längerer Aufent-
halt in Ägypten bei seiner Tante, deren Gatte, Vitrasius Pollio, an der
Spitze des Landes stand, war für seine geistige Entwickelung nicht ohne
Bedeutung. Nach, seiner Rückkehr (32) war er als Sachwalter thätig
(ep. 49, 2) und beschritt mit der Quaestur die Beamtenlaufbahn (ad. Helv.
19,2). Unter Caligula (Dio 59, 19) war sein Leben bedroht, nur der Ein-
wand, Seneca werde ohnehin bald an der Schwindsucht sterben, liess ein
Todesurteil als unnötig erscheinen. Dagegen traf ihn unter Claudius ein
schwerer Schicksalsschlag, auf Veranlassung der Messalina wurde er (41)
nach Corsica verbannt, indem er der Buhlschaft mit der Schwester des
Caligula Julia Livilla beschuldigt wurde. Acht Jahre musste er in dem
Der Philosoph Seneca. 401
Exil zubringen, im Jahre 49 setzte Agrippina seine Riickberufung durch
(Tac. Ann. 12, 8), er erhielt zugleich die Prätur und wurde mit der Er-
ziehung Neros betraut (Suet. Nero 7). Damit war Seneca vom tiefsten
Fall plötzlich auf eine hohe Stufe des Olücks gestellt. Sein Einfluss wuchs,
als Nero den Thron bestieg, er erlangte das Konsulat; in seinen und des
Burrus Händen ruhten die Geschicke des Reichs. Allein mit dem Tode
des Burrus war auch Senecas Macht gebrochen; schon längst war dem
jungen Kaiser der ehemalige Lehrer unbequem geworden. Seneca erkannte
die Situation und zog sich vom Hofe, soweit es ging, zurück (62 n. Ch. Tac.
Ann. 14, 52). Allein auch dadurch entging er nicht der Grausamkeit Neros.
Die Pisonische Verschwörung bot leichten Anlass dar, auch ihn in den
Tod zu treiben. Ruhig und gefasst schied er durch eigene Hand aus dem
Leben (65 n. Ch. Tac. Ann, 15, 62).
Von seinen sonstigen persönlichen Verhältnissen wissen wir noch,
dass er stets kränklich war. Verheiratet war er zweimal. Seine erste
Frau scheint noch vor seinem Exil gestorben zu sein.^) Von ihr hatte er
zwei Söhne, von denen der eine ebenfalls noch kurz vor dem Abgang des
Vaters nach Gorsica (ad Helv. 2, 5; 18,4) starb. Die zweite Frau hiess
Pompeia Paullina; sie war entschlossen mit ihrem Gatten gemeinsam in
den Tod zu gehen und hatte auch die notwendigen Vorbereitungen dazu
getrofifen, allein sie wurde auf Befehl Neros daran gehindert.
Die Schriftstellerei Senecas war eine ausserordentlich umfangreiche;
sie bewegte sich sowohl auf dem Gebiet der Poesie als auf dem der Prosa.
Da wir bereits seine dichterischen Werke besprochen haben (p. 255), sind
hier nur noch die Prosaschriften zu behandeln, von denen wir zuerst
die erhaltenen, dann die verlorenen vornehmen. Die erhaltenen zerfallen der
Überlieferung nach in zwei Gruppen, indem ein Teil zu einem Corpus zu-
sanunengefasst ist, ein Teil eine gesonderte Überlieferung in mehreren
Quellen hat. Daran schliessen wir das Apokryphe und die Exzerpte aus
Senecas Werken.
Über das Leben Senecas vgl. Gelpkb, De Sen, vUa et moribu», Bern 1848;
Mabtens, De Senecae vita etc., Altena 1871; Diepenbsock, Sen.phiIo8, viia, Amsterd. 1888;
Jonas, De ardine librorum, Berl. 1870 (p. 1 — 21); Zellbb, Die Philosophie der Griechen
3, 1=» p. 693 Anm. 5.
Über die Schriftstellerei Senecas vgl. Qnint. 10,1,128 tractavU omnem fere
Miuliorum materiam ; nam et arationes eins et poemaia et epistufae et dialogi feruntur; in
philosophia parum diligens, egregius tarnen mtiarum insectator fuU; müUae in eo claraeque
sententiae, tnulta etiam marum gratia legenda, sed in eloquendo corrupta pleraque atque
eo perniciosissima, quod abundant duleibiM vitiis,
a) Die in einem Corpus erhaltenen Schriften.
453. Die zwölf Bücher der Dialoge. In der berühmten Mailänder
Senecahandschrift sind zwölf Bücher unter dem Namen „dialogi^ zu einem
Corpus vereinigt.^) Es sind folgende Schriften: 1) ad LucilUim Quare
aliqua incomtnoda bonis viris accidant, cum Providentia sit {de
Providentia); 2) ad Serenum Nee iniuriam nee eontumeliam ae-
eipere sapiefitem (de constantia sapientis); 3—5) ad Novatum de
ira libri tres; 6) ad Mareiam de eonsolatione; 7) ad Gallionem
') Jonas p. 16.
^) In der Mailänder Handschrift werden
in einem Index diese Schriften aufgezählt
(vgl. Gertz Ausg. p. VI).
HADdbQcb der Ums. AltertumswinenacbiA. Vm. 2. Teil. 26
402 RömiBche Litteratnrgeschichte. II. Die 2eit der Monarohie. 1. Abteilung.
de vita beata; 8) ad Serenum de otio; 9) ad Serenutn de trän-
quillitate animi; 10) ad Paulinum de brevitate vitae; 11) ad
Polybium de consolatione; 12) ae^ Helviam matrem de consolatione.
Die Bezeichnung dieser Schriften als Dialoge ist auffällig; denn nur die
Schrift* „c^^ tranquillitate animi" kann diesen Titel für sich in Anspruch
nehmen, da sie in der Weise componiert ist, dass zuerst Serenus seinen
Seelenzustand dem Philosophen darlegt und dann Seneca mit seiner Dar-
legung nachfolgt. Die übrigen Stücke der Sammlung erinnern nur durch
mehr oder minder häufige Einwände eines gedachten Gegners, welche in
der Regel durch inquis, inquit, dicet aliquis eingeführt werden, an den Dia-
log. Allein da auch andere Schriften Senecas wie de beneficiis, de dementia,
die de naturales quaestiones diese Eigentümlichkeit aufweisen, so ist die
Zusammenfassung der zehn Schriften zu einem Corpus von Dialogen will-
kürlich; und wir werden kaum irren, wenn wir die Zusammenstellung nicht
dem Seneca, sondern einem späteren Abschreiber beilegen. Dass die kleinen
Schriften zu einem Ganzen zusammengefasst wurden, lag ja sehr nahe;
Schwierigkeiten macht aber wiederum, dass auch die drei Bücher de ira
in die Sammlung aufgenommen wurden.
Die Hypothese Rossbachs. Von Quini 10, 120 (vgl. § 452 Anm.) ausgehend,
stataiertO. Rossbach (Hermes 17, 366 fif.), dass das Corpus dialogorum noch andere Schriften,
wie die Bücher de heneficiis^ die de dementia, die naturales quaestiones, femer Traktate wie
de superstitione (vgl. Diomedes p. 316 K.), de remediis fortuitorum de amiciiia und andere
(vgl. p. 370) enthalten habe. Um die volle Konsequenz aus der Stelle Quintilians zu ziehen,
mOssten wir eigentlich alle Schriften ausser den Reden und den Briefen für Dialoge halten.
Allein der gleichartige Charakter einer Gruppe von Schriften ermächtigt uns noch keines-
wegs, dieselben auch zu einem Corpus zusammenzuschliessen. Hier können lediglich äussere
Zeugnisse, vor allem die handschriftliche Überlieferung massgebend sein; diese spricht aber
nur fflr das Corpus der zwölf Bücher dialogi.
Die Überlieferung des Corpus. Die massgebende Quelle ist der Ambrosianus
C. 90 inf. s. X/Xl. Daneben floss aber noch eine Quelle, aus der die stark interpolierten
Handschriften stammten und die nicht ganz ausser acht gelassen werden darf. Der gemein-
same Archetypos war schon durch Lücken entstellt, so fehlt das Ende der Schrift de beata
Tita und der Anfang de otio, femer das Ende der letzten Schrift. Auch der Ambrosianus
hat Verluste erlitten, welche aber durch die Handschriften der zweiten Familie ausge-
glichen werden können; so liess der Schreiber zu Anfang der Schrift de ira, da er die
Lücke erkannte , ein leere Seite (12 r.), welche eine Hand des XIV. oder XV. Jahr-
hunderts ergänzte. Von der consolatio ad PoUjhinm hat der Ambrosianus nur den Schluas,
von den Worten magna discrimina (c. 17) an; alles Vorausgehende ging durch den Aus-
fall einiger Blätter verloren, wir sind daher für diese Consolatio auf die schlechte Familie
angewiesen; denn das, was der Ambrosianus hat, versuchte man auszuradieren; daher ist
es sehr schwer zu entziffern. — Über den Ambrosianus vgl. die erschöpfende Darlegung
in den Prolegomena der Ausgabe von Gertz; über die kritische Grundlage handelt Ross-
BACH, Bresl. Stud. 2. Bd. 3. Heft p. 6.
454. Ad Lucilium quare aliqua incommoda bonis viris accidant,
cum Providentia sit (De Providentia). Die Abhandlung beginnt mit
dem Gedanken, dass das ganze Universum einer einsichtigen Leitung unter-
stellt ist. Wenn daher den Guten Ungemach widerfahrt, so geschieht
auch dies nicht ohne den Willen der Götter. Die Leiden sind eine Übungs-
und Prüfungsschule für die Guten, marcet sine adversario virtus. Nach
dieser Einleitung schreitet der Philosoph zur Disposition; er will zeigen,
dass das Leid zum Heil der davon Betroffenen, dann zum Heil der Ge-
samtheit ausschlägt. Freiwillig, soll weiter dargelegt werden, unter-
werfen sich daher die Guten; das Geschick ist es, das im voraus die
Der Philosoph 8en6c&. 403
Prüfungen zumisst, mit den guten Menschen sind dieselben unzertrennlich
verbunden. Endlich will er Lucilius davon überzeugen, dass der wackere
Mann niemals des Mitleids bedarf, da er nicht unglücklich sein kann.
Diese sechs Punkte werden sehr ungleich behandelt. Am ausführlichsten
wird der Satz, dass das Leid dem nutzt, Über den es verhängt wird, er-
läutert ; die übrigen Sätze dagegen sind kürzer abgemacht. Der Philosoph
lässt sogar im Verlauf der Untersuchung jene Disposition immer mehr in
den Hintergrund treten ; der zweite Satz wird noch regelrecht angekündigt,
der dritte und vierte werden dagegen nur durch ein Stichwort markiert, der
fünfte und sechste dagegen bleiben unbezeichnet. Manche haben sich da-
her zu dem Irrtum verleiten lassen, dass die sechste These nicht behandelt
und darum die Schrift unvollständig sei. Allein das letzte Kapitel, be-
sonders der Eingang, knüpft ersichtlich an jene These an, wenn dies auch
nicht in der Form geschieht, die bei der Gliederung gewählt ist. Der
Hinweis auf den Selbstmord am Schluss der Abhandlung kann doch nur
den Zweck haben, den Glauben, dass der Mensch unglücklich sei, zu zer-
stören, da ja jeder es stets in der Hand hat, dem Unglück zu entfliehen.
Die Schrift als Vorläufer eines grösseren Werkes. Der Text beginnt mit
den Worten : quaeaisH a tne, Lucili, quid ita, si Providentia mundus regeretur, muUa bonis
viris mala accidenL Hoc commodius in contextu operis redderetur, cum praeesse universis pro-
videntiam probaremus et interesse nobis deum ; sed quoniam a toto particulam rerelli placef
et unam contradictionem manente Ute integra solvere, faeiam rem non difficilem, causam
deorum agam. Hier wird die Schrift als der Vorläufer eines grösseren Werkes, in dem
über die göttliche Vorsehung gehandelt werden sollte, vorgeführt. Wahrscheinlich
war dieses in Aussicht genommene Werk identisch mit den später herausgegebenen mo-
ralia philosophiae libri. — Gbbtz, Studio critica, Eopenh. 1874, p. 58; Rossbach,
Hermes 17, 372 Anm.
Abfassungszeit. Ist die obige Vermutung richtig, dass die Schrift ein Vorläufer
der MoralphUosophie ist, so wird sie vor den Briefen geschrieben sein, denn hier ist Se-
neca bereits mit der Ausarbeitung jenes grösseren Werkes beschäftigt (ep. 106, 2 u. 108, 1).
Allem Anschein nach gehört die Schrift in die letzte Epoche der Schriffcstellerei Senecas.
455. Ad Serenum nee iniuriam nee contumeliam accipere sa-
plentern (De constantia sapientis). Die Abhandlung, welche sich an
Serenus wendet, sucht das stoische Paradoxon zu erweisen, dass der Weise
weder Kränkung noch Verachtung erleide. Gemäss der Trennung der
iniuria von der contumelia, welch' letztere als das geringere Übel ange-
sehen wird, führt er seine These in zwei Teilen durch. Für die Behaup-
tung, dass die iniuria den Weisen nicht treffe, wird eine Reihe von spitz-
findigen Beweisen aufgebracht, deren wir einige hier anführen wollen. Die
Kränkung, heisst es, hat zum Zweck einem andern Böses zuzufügen; aber
für das Böse ist bei dem Weisen kein Platz, denn die Tugend, in deren
Besitz er ist, lässt Böses, sonach auch Kränkung nicht zu. Oder: die
Kränkung geht auf eine Schädigung eines Outes des Nebenmenschen aus.
Der Weise kann nichts verlieren, denn das einzige Out, auf das er Wert
legt, ist die Tugend, diese lässt aber weder Vermehrung noch Verminde-
rung zu. Oder: Das, was schädigt, muss stärker sein als das, was ge-
schädigt wird, die Schlechtigkeit ist aber schwächer als die Tugend, also
ist eine Schädigung des Weisen nicht denkbar. Im zweiten Teil, in dem
nachgewiesen werden soll, dass den Weisen auch keine contumelia treffen
könne, will er mehr in gemeinverständlicher Weise vorgehen. Hier wird
besonderer Nachdruck auf das Argument gelegt, dass wir uns Kinder,
26 •
404 RömiBche Litteratargeachichte. &. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
Fieberkranke nicht beleidigen können, so auch den Weisen die tief unter
ihm stehenden bösen Menschen nicht. Beispiele sind mehrere in die Schrift
eingestreut; selbstverständlich figuriert der jüngere Cato als Muster der
Weisheit, ein Ausspruch des Philosophen Stilbon wird ausgenutzt, auch
Epicurs Lehre zur Illustration der These verwertet, am Schluss Caligula
als abschreckendes Beispiel vorgeführt.
Unterschied zwischen iniuria und contumelia, b prior iUa (iniuria)
natura gratHor est, haec (contumelia) levior et iantum delicatis gravis^ qua non laeduntur
homines , sed offendunter 16, 3 utraque exempla hortantur, contemnere iniurias et quas
iniuriarum umbras ae auspiciones dixerim, contumelias, ad quaa despiciendas non sapiente
opus est viro, sed tantum consipiente, qui aihi possit dicere: ^utrum merito mihi ista
a^cidunt an inmerito? si merito^ non est contumelia^ iudicium est; si inmerUo, illi, qui iniusta
facit, erubescendum est,*^ Bezüglich der Gliederung vgl. 10,1 quoniam priorem partem
percucurrimus, ad alteram transeamus, qua quibusdam propriis, plerisque vero eommunibus
contumeliam refutahimus,
Abfassungszeit. Der angeredete Serenus ist Annaeus Serenus, der unter Nero
an Gift starb (wohl bald nach 62, Fbiedlandeb zu Martial. 7, 45, 2), vgl. Plin. n. h. 22, 96.
Die Schrift wird in den Anfang der Neronischen Regierung fallen (Jonas p. 43).
456. Ad Novatum de ira 1. in. Die auf Verlangen seines Bruders
Novatus, des späteren Gallio, abgefasste Schrift über den Zorn besteht
aus drei Büchern. Der Autor beginnt mit einer lebendigen Schilderung
des äusseren Zustands eines Zornigen und den unheilvollen Folgen des
Zorns. Leider folgt jetzt eine Lücke, in welcher die verschiedenen Defi-
nitionen des Zorns kritisiert waren. Manches Ausgefallene hat uns die
gleichnamige Schrift des Lactantius (c. 17) aufbewahrt. Die Untersuchung
führt dann den Satz aus, dass der Zorn nur den Menschen, nicht den
Tieren eigentümlich sei, und berührt kurz die verschiedenen Spielarten
des Zorns. Damit ist die Betrachtung des Wesens des Zorns erschöpft %
es fragt sich nun, ob derselbe der Natur gemäss und ob er nützlich und
teilweise aufrecht zu erhalten sei. Diese Fragen werden verneint und
denselben gegenüber betont, dass die ratio, nicht die ira den Menschen
beherrschen müsse.
Nachdem im ersten Buch allgemeine Fragen berührt waren, nimmt
das zweite speziellere (exiliora) in Angriff. So wird zuerst gezeigt, dass
der Zorn, wenn auch die erste Kegung unwillkürlich erfolgt, nicht ohne
Teilnahme des Geistes sein Wesen entfaltet ^), dann wird der Unterschied
des Zorns und der Grausamkeit dargelegt. Im sechsten Kapitel taucht
die auch im ersten Buch (1, 14) gestreifte Frage auf, ob die Tugend durch
schlechte Dinge sich in Zorn bringen lassen soll; hier wird sie eingehen-
der besprochen. Auch die unmittelbar sich anschliessende Partie greift
wieder Probleme des ersten Buchs auf, das Problem der Nützlichkeit oder
Schädlichkeit, der Notwendigkeit oder Nicht notwendigkeit des Zorns (c. 7
c. 11). Mit dem 18. Kapitel schreitet der Autor zu dem praktischen Teil,
bei dem es sich darum handelt, dass wir nicht in Zorn fallen, dann dass
wir unsern Zorn zu bezähmen wissen. Es muss daher dargelegt werden,
was den Zorn hervorruft, um die Heilmittel gegen denselben angeben zu
können, die Erziehung kann hier das Meiste thun. Allein auch im reiferen
Lebensalter können wir durch Beobachtung einer Reihe von Vorschriften
*) Vgl. den c. 5 markierten Kinschnitt.
*^ 2, 3; 4 neque enim fieri pofesf , ut de
uliione et poena agaiur animo nescienie.
Nach c. 4 ist wieder eine grossere Lücke.
Der Philosoph Seneca. 405
den Zorn verhüten. Gegen den Schluss des Buchs fallt er wieder in theo-
retische Betrachtungen über das Wesen des Zorns zurück, indem er selbst-
gemachte Einwürfe zurückweist. Man sollte nun meinen, dass im dritten
Buch der zweite Teil der Ankündigung durchgeführt und gelehrt worden
wäre, wie wir den Zorn bezähmen können; denn die im letzten Kapitel
hingeworfene Vorschrift, dass der Zornige gut daran thue, sich im Spiegel
zu schauen, kann doch nicht als eine genügende Lösung dieser Frage betrach-
tet werden. Allein das dritte Buch tritt nach einer allgemeinen Betrachtung
über den Zorn an den praktischen Teil von neuem heran und gliedert ihn
jetzt abweichend von dem zweiten Buch dreiteilig, indem als weiterer Ge-
sichtspunkt erscheint, wie wir den fremden Zorn heilen können. Es ist
sonach klar, dass das vorliegende Werk von Seneca nicht zu einer völ-
ligen Einheitlichkeit ausgestaltet wurde; das dritte Buch steht nur in
einem losen Zusammenhang zu den zwei vorausgegangenen. Ja das dritte
Buch bietet selbst wiederum einen Anstoss dar, da auch hier die vorgelegte
Disposition nicht strenge eingehalten wird ; denn der zweite Teil ist nirgends
markiert, der letzte Teil wird kurz am Schluss durchgeführt, wenn nicht
mit Lipsius eine Lücke vor dem 41. Kapitel anzunehmen ist.O Die Bei-
spiele treten in dem letzten Buch stark hervor.
Über den Charakter des dritten Buchs handelt eingehend Pfennig, De
Jibrorum quos scripsU Seneca de ira compositione et originet Greifswald 1887. Das Buch
wiederholt, abgesehen davon, dass es eine neue Disposition aufstellt, auch viele Gedanken
aus den zwei vorausgegangenen Büchern. Vgl. die Zusammenstellung p. 32. Zur Erklä-
rung dieser eigent&mlichen Erscheinungen stellt Pfennig die Hypothese auf. dass das dritte
Buch ursprünglich selbständig war (p. 84), diese Selbständigkeit sei vielleicht dadurch ent-
standen, dass Seneca das Werk für R«citationen abgefasst habe und zwar fttr zwei Reci:
tationen, für eine längere, für welche die zwei ersten Bücher, für eine kürzere, für welche
das dritte Buch bestimmt war, bei der Herausgabe habe- Seneca die beiden Fassungen mit-
einander verbunden. Diese Hvpothose ist nicht wahrscheinlich, zumal sie ohne Annahme
einer wenn auch kleinen Redaktion nicht auskommt, denn 3, 3, 1 ut in prioribus libris dixi
und 3, 4, 1 quem in priorihus libris descripsimus müssten dann spätere Zusätze sein.
Über die Quellen Allers, De C. A. Senecae Jibrorum de ira foniibus. Götting.
1891. An griechischen Werken über die Affekte (nsQi na&ay) und an solchen spe-
ziell Über den Zorn {rtegl ogy^s) fehlte es nicht. So hatte der Lehrer Senecas, Sotion,
TtsQL oQyrji geschrieben. Auch von Philodemus gab es eine Abhandlung Über den gleichen
Gegenstand, welche aus den Trümmern von Herculanum hervorgezogen wurde (Ausgabe
von GoKPERZ, Leipz. 1864). Mehrheit der Quellen statuiert Allers, nimmt aber besondere
Benutzung des Chrysippus an , wie aus Cic. (Tusc. disp. 4, 41) und Galen (V. p. 388) er-
helle (p. 43).
Zeit der Abfassung. Nach Lipsius sind die Bücher de ira unter der Regierung
Caligulas, nach Lehmann unter Claudius im Jahr 49 (Claudius und Nero p. 11, anders früher
Philol, 8, 316) abgefasst. Sicher ist, dass das Werk nach Caligulas Tod fällt, wie 1, 20, 9
zeigt. (Die Präsentia 3, 19, 3 werden keine Gregeninstanz bilden.) Da vom Exil keine Rede
ist (und Novatus noch nicht adoptiert ist), wird die Schrift bald nach Caligulas Tod ent-
standen sein (Jonas p. 29).
467. Ad Marciam de consolatione. Es ist eine berühmte Frau,
der diese Trostschrift gewidmet ist, Marcia, die Tochter des Geschicht-
schreibers A. Cremutius Cordus. Derselbe hatte ein Qeschichtswerk ge-
schrieben, in dem Brutus und Cassius lobend erwähnt waren. Unter Ti-
berius wurde ihm daher der Prozess gemacht, er setzte infolgedessen seinem
Leben selbst ein Ziel, und seine Schriften wurden von den Ädilen ver-
brannt (p. 237). Allein durch die Bemühungen seiner Tochter entgingen
0 pFKNino p. 30.
406 Bömische LitteratorgoBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
sie doch dem Untergang (1,3), und Galigula erlaubte am Anfang seiner
Regierung die Publikation (Suet. Galig. 16). Dieser Marcia war ein Sohn,
Metilius, in jungen Jahren durch den Tod entrissen worden, nachdem er
es bis zur Priesterwürde gebracht hatte (24,3). Schon vorher hatte sie
den Oatten verloren. Drei Jahre nach dem Hingang des Sohnes erhielt
sie von dem Philosophen die Trostschrift. Den Eingang nimmt der Schrift-
steller davon her, dass er Marcia an ihre Seelenstärke, die sie bei dem
widrigen Geschick ihres Vaters gezeigt, erinnert, das verschiedene Ver-
halten bei Todesfällen durch zwei Beispiele aus dem Eaiserhause illustriert
und eine Anrede des Philosophen Areus an die Livia einschaltet. Dann
geht er zu seinen eigenen Trostgründen über. Das Trauern hilft nichts,
einen massigen Schmerz kann man sich für eine Zeit lang gefallen lassen,
ein fortdauernder, unmässiger ist gegen die Natur. Wir denken zu wenig
daran, dass das Leid, das wir täglich vor unsern Augen sehen, auch uns
nicht erspart bleiben kann. Die äusseren Güter besitzen wir nur leih-
weise. Alle Menschen werden geboren, um zu sterben. Hat das uns
entrissene Kind uns noch keine Freuden gemacht, so vermissen wir es
weniger; haben wir aber Freude von ihm geerntet, so sollen wir für das
Empfangene dankbar sein. Dem Einwurf, dass die Freude länger hätte
sein sollen, wird damit begegnet, dass die kurzwährende doch noch immer
besser sei als gar keine. Das Unglück, das Marcia betroffen, ist auch an-
deren hochstehenden Leuten, Männern wie Frauen, widerfahren. Sie möge
bedenken, dass ihr das Geschick noch immer genug übrig gelassen habe,
zwei Töchter und Enkelkinder, darunter zwei Töchter des Verstorbenen.
Marcia musste wissen, dass sie einen Sterblichen geboren. Der, welcher
ins Leben eintritt, verpflichtet sich sowohl dessen Freuden als dessen
Leiden hinzunehmen, dies müssen sich die Eltern bezüglich der Kinder
fortwährend vor Augen halten. Auch das ist zu bedenken, dass der Tod
das Ende aller Widerwärtigkeiten herbeiführt; und manchem grossen Mann
wäre ein früher Tod ein Segen gewesen. Auch bei dem Frühverstorbenen
muss man annehmen, dass er sein Lebensgeschick erfüllt hat, und man
muss erwägen, aus wie vielen Gefahren des Lebens oft ein früher Hingang
befreit. Der Vater der Marcia ist ja ein leuchtendes Beispiel, welches
Unheil auf das menschliche Dasein einstürmen könne. Das Ausgereifte,
auch wenn es in jungen Jahren erscheint, verlangt das Ende; Metilius hat,
wenn man seine Tugenden betrachtet, lang genug gelebt. Sein Leib zer-
fällt. Sein Geist aber gehört jetzt dem Kreise an, in dem die Scipionen
und die Catonen und ihr Vater verweilen. Mit einer beruhigenden An-
rede, welche der Philosoph Cremutius Cordus an Marcia halten lässt,
schliesst die Trostschrift, welche eindringlich und lebhaft geschrieben ist,
in Bezug auf logische Gliederung und Reichhaltigkeit der Trostgründe
aber manches zu wünschen übrig lässt.
Die Mängel der Schrift sind genau dargelegt von Schutnebbb (Über Senecas
Schrift an Marcia, Hof 1889 p. 14).
Die Abfassungszeit lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Lipsiüs ist der
Meinung, dass die Schrift nach dem Exil geschrieben sei (ebenso Michaelis in seiner
Ausgabe, Harlem 1840), Schinnereb sucht wahrscheinlich zu machen, dass sie aus der Zeit
vor der Verbannung (Ende der Regierung des Caligula) stammt (p. 11), ebenso Lehmann
(Claudius p. 9 [41 n. Chr.]}; Heidbreede (De Senecae consolatione ad Marciam, Bielef. 1839)
Der Philosoph Seneca. 407
meint (p.. 11), sie könne auch während des Exils geschrieben sein; Jonas bestreitet nur
die Abfassung in der Zeit des Exils, abgesehen davon lässt er unentschieden, ob sie kurz
vor dem Exil oder kurz nach demselben abgefasst sei (p. 37). Am wahrscheinlichsten ist
die Entstehung vor dem Exil (Bubesch 40 oder Anfang 41, Leipz. Stud. 9,113).
Über die Quellen der Seneca'schen (?on9o?a/ton0« im allgemeinen vgl. Allers,
De S. librorum de ira fönt. p. 5.
468. Ad Oallionem de vita beata. Auch diese Abhandlung ist wie
die Bücher de ira für den Bruder Senecas Novatus geschrieben, doch führt
derselbe hier den Namen Oallio, so dass also die Schrift nach der Adoption
desselben anzusetzen ist. Das Ende der Schrift ging verloren, um die
vorliegende Frage nach dem glücklichen Leben zu lösen, musste der Phi-
losoph auf zwei Dinge sein Augenmerk richten, auf das, was das Leben
glücklich macht, und auf die Mittel und Wege, welche uns zu dem glücklichen
Leben führen. Das glückliche Leben bestimmt sich nicht nach dem Urteil
der Menge, sondern nach dem Urteil der Weisen. Im allgemeinen kann
dasselbe definiert werden als ein Leben, welches der Natur entspricht.
Allein es sind noch andere Definitionen möglich, welche dieselbe Sache uns
stets in einer neuen Beleuchtung erscheinen lassen. Das Wesentliche ist,
dass das Olück des Lebens in der Ausübung der Tugend besteht. Dieser
Gesichtspunkt führt auf eine Polemik gegen die voluptas in der Form, dass
verschiedene Einwürfe eines fingierten Gegners zurückgewiesen werden.
Nachdem der Begriff des glücklichen Lebens festgestellt und gegen ab-
weichende Ansichten geschützt ist, erwartet man, dass dargelegt wird, wie
man zu dem glücklichen Leben gelange. Es wird auch in der That (c. 16)
die Frage aufgeworfen, was die virtiis von uns wolle. Allein die Frage
wird mit einer sehr vagen Antwort abgethan; die Untersuchung richtet
sich jetzt vielmehr auf die Anfeindung der Philosophie, welche sich darauf
gründet, dass Worte und Thaten der Philosophen nicht im Einklang stehen ;
besonders der Gesichtspunkt ist stark hervorgekehrt, dass der Philosoph
die Verachtung des Reichtums predigt und dabei im Besitz von Reich-
tümern ist. Man gewinnt den Eindruck, dass sich Seneca selbst gegen
Angriffe seiner Gegner verteidigt.
Die Abfassungszeit kann durch die zuletzt erwähnte Eigentümlichkeit der Schrift
im allgemeinen bestimmt werden. Man wird die Zeit anzunehmen haben, in der Seneca
durch die Schenkungen Neros zu grossem Reichtum gelangt war. Femer kann ein Indicium aus
17, 1 gewonnen werden. Dort berührt Seneca den offenbar ihm gemachten Vorwurf „lacrimatt
audita coniugis aut amici morte demittis**. Halten wir damit zusammen die Worte Ep. 63, 14
haec tibi scribo is, qui Annaeum Serenunt, carissimum mihi, tarn inniodice flevi, ut quod
niinime velim, inter exempla sim eorum quoa dolor vicit, so besteht die Wahrscheinlichkeit,
dass imscre Schrift nach dem Tod des Serenus, der unter Nero (wohl bald nach 62 vgl.
§ 455) starb, mithin nach den Scliriften , welche dem Serenus gewidmet sind , abgefasst
wurde (Jonas p. 43). Diese Ansicht bekämpft Schultbss (De Annaei Senecae quaest, natuf\
et epist. p. 47), „scriptus est cum Seneca imperatoris gratia etiam tum vcUeret, ante secessum
illum a, 62.''
459. Ad Serenum de otio. Der Eingang wie der Schluss der
Schrift ist verloren. Aber die Disposition hat sich erhalten, so dass wir
über die Grundideen nicht im Unklaren sein können. Zwei Thesen sollen
erwiesen werden: 1) dass es gestattet ist, sich von Anfang an ganz der
Spekulation zu widmen; 2) dass man dies auch erst im Alter thun könne,
nachdem man sich längere Zeit im geschäftlichen Leben bewegt habe.
Die erste Behauptung wird durch den Satz erwiesen, dass das höchste
408 BömiBche Litteratargesohichie. II. Die Zeit der Monarchie. 1, Abteilung.
Gut ist, der Natur gemäss zu leben. Nun aber ist klar, dass die Natur
uns nicht bloss für das Handeln, sondern auch für die Spekulation be-
stimmt hat; denn der Forschungstrieb ist allen Menschen eingepflanzt;
schon durch den Bau unseres Körpers werden wir auf die Erkenntnis des
Universums hingewiesen. Indem wir aber der Natur folgen und uns in
die Betrachtung des Seienden versenken, handeln wir zugleich; denn mit
der Spekulation ist auch Aktion verbunden; den Forscher wird es drängen,
das Erforschte ins Leben einzuführen. Allein auch wenn der Weise ganz
in sein Studium aufgeht, so nützt er oft mehr durch dasselbe als andere
durch die glorreichsten Handlungen, auch das Auffinden neuer Wahrheiten
ist ein Handeln. Übrigens sind die politischen Verhältnisse in der Regel
derart, dass man dem Philosophen nicht verübeln kann, wenn er sich in
sein otiu7n zurückzieht.
UnVollständigkeit der Schrift. In der handschriftlichen Üherlieferung ist die
Monographie de otio mit der vorausgehenden de vita he ata zusammengeflossen. Muretus
erkannte dies zuerst und Lipsius nahm dementsprechend die Scheidung der zwei Abhand-
lungen vor. Diese wird bestätigt durch den Index des Ambrosianua, der auf die Schrift
de vita beata den Traktat ad Serenum (diese Worte sind ausradiert) de otio folgen
lässt. Durch den Ausfall der zwei äusseren Blätter eines Quatemio ging das Ende des
Traktates de vita beata und der Anfang des Traktates de otio und das Ende dieser Schrift
verloren (Geetz Ausg. p. 263).
Abfassungszeit. Die Monographie passt am besten in die Zeit, in der sich Se-
neca vom Hofe und von den Staatsgeschäften zurückgezogen hatte, sie wird also nach 62
geschrieben sein. Man kann sie „als eine Rechtfertigung Senecas gegen den Vorwurf,
dass er durch das Aufgeben seiner staatsmännischen Laufbahn den Lehren der Stoa unge-
treu werde* (Lehmann, Claudius p. 15) betrachten.
460. Ad Serenum de tranquillitate animi. Die Abhandlung steht
durch die Art der Einkleidung singuIär da; es wird nämlich im Anfang Se-
renus redend eingeführt, indem er seine Seelenverfassung darlegt. Ihm ant-
wortet Seneca. Zuerst wird der Zustand, welcher der Seelenruhe entgegen-
gesetzt ist, geschildert, derselbe gipfelt in der Unzufriedenheit mit sich
selbst, in dem sibi displicere. Dann setzt er auseinander, in welcher Weise
man zu dem inneren Gleichgewicht, zum Frieden der Seele gelangen kann.
Der Philosoph empfiehlt gewissenhafte Prüfung der eigenen Kräfte und der
Aufgaben, an deren Lösung man herantreten will, endlich Vorsicht in der
Wahl unseres näheren Umgangs. Da das Streben nach materiellem Be-
sitz viel Unruhe in unserm Innern erzeugt, so predigt er Genügsamkeit.
Weiterhin mahnt er Jeden, sich mit seiner Lebenslage ruhig abzufinden
und stets auf alles, was das Schicksal bringt, gefasst zu sein, alles Über-
flüssige und das geschäftige Nichtsthun zu vermeiden, die richtige Mitte
zwischen Eigensinn und Leichtfertigkeit einzuhalten, sich durch die Thor-
heit der Menschen und durch das traurige Ende berühmter Männer nicht
ausser Fassung bringen zu lassen, nicht allzu ängstlich sich zu geben und
zwischen Arbeit und Erholung abzuwechseln.
Dies sind die Hauptgedanken der Schrift. Die Gedanken sind in an-
mutiger, gemeinverständlicher Form gegeben.
Gegenstand der Schrift. 2, 3 quod desideratt magnum et aummnm est deoque
viciniim, non concuti. Hanc stabilem animi sedem Graeci euthymian rocant, de qua
Democriti volumen egregium est, ego tranquillitatem voco. Aus dieser Stelle schliesst
HiRZEL, Hermes 14, 354, dass der Titel der Schrift nicht de tranquillitate animi, wie
die Überlieferung darbietet, sondern bloss de tranquillitate war (vgl. noch 17, 12).
2, 4 quaerimus, quomodo animtis semper aequali secundoque cursu eat propitiusque sibi sit
Der Philosoph Seneoa.
409
et sua laetus aspiciat et hoc gaudium non interrumpat, sed plaeido statu manecU nee ad^
tollens 8e unquam nee deprimens: id tranquilUtas erit,
Quellen. Ausser der Schrift des Democritus wird noch angeführt Athenodorus
(3, 1 ; 7y 2). Die Hauptquelle scheint jedoch die Schrift Democrits nsQi ev^v/Äitjg gewesen
zu sein. Vgl. Hibzel, Hermes 14, 354.
Üher die Zeit der Abfassung. Da die Schrift dem Serenoa gewidmet ist, so
muss sie vor dessen Tod fallen (vgl. § 455).
461 . Ad Paulinium de brevitate vitae. Der herkömmlichen Klage,
dass unser Leben kurz sei, stellt der Philosoph den Satz gegenüber, dass
wir selbst uns das Leben abkürzen. Das Leben ist lang, wenn man es
richtig zu benutzen weiss. Wir leben aber nicht für uns, sondern für
andere, wir leben so, als wenn der Tod uns niemals ereile, wir leben
unsern Leidenschaften, wir leben, als wenn die Zeit keinen Wert habe,
wir leben in der Zukunft, wir leben in geschäftigem Nichtsthun. Das
wahre Leben ist dasjenige, welches dem Studium der Weisheit gewidmet
ist, denn dieses beschäftigt sich mit den Gütern, die unvergänglich sind,
die Weisen rauben uns keine Zeit, sie zeigen uns den Weg zur Unsterb-
lichkeit, sie legen uns alle Zeit zu Füssen.
Die Abhandlung ist an Paulinus gerichtet, der die Verwaltung des
Getreidewesens in Rom unter sich hatte; sie ermahnt ihn, endlich sich
dem wahren otium zu ergeben und stellt seine bisherige Amtsthätigkeit
in Gegensatz zum Studium der Weisheit.
An pikanten Sentenzen ist die Schrift reich : z . 6. 1 , 3 non exiguum temporis
habemus, sed multum perdimus 7, 4 vivere tota vUa discendum est et, qiwd magis fortasse
miraberiSf tota vita discettdum est tnori 14, 1 soH omnium otiosi sunt qui sapientiae va-
eant, soll vivunt. Sehr interessant ist die Schilderung ^qv oceupatiy besonders eines Stutzers
im Barbierladen (12, 3), dann eines gelehrten Kleinigkeitskrämers (13, 2).
Die Abfassungszeit. Aus 13, 8 (über das pomerium) ergibt sich der terminus
ante quem, d. h. die Schrift ist vor dem Tag geschrieben, an dem Claudius das Pomerium
hinausschob, vor 49/50. Die Schrift wurde bald nach seiner Rückkehr aus der Verbannung
ediert. (Für 49 sprechen sich LsHMAinr, (Dlaudius p. 12, Hirschfeldeb (Philol. 19, 95) und
Jonas (p. 34) aus.
463. Ad Polybium de consolatione. Diese an den mächtigen Frei-
gelassenen des Kaisers Claudius gerichtete Schrift sucht denselben über
den Tod seines Bruders zu trösten. Am Anfang verstümmelt setzt sie
mit den Gedanken ein, nichts ist ewig und nur weniges von längerer
Dauer. Selbst dem Weltgebäude droht der Untergang; also ist der Tod
etwas Naturnotwendiges. Der Kummer bringt weder dem Verstorbenen
noch dem Überlebenden einen Vorteil. Wenn auch zugegeben werden
muss, dass Polybius durch den Tod seines Bruders ein herbes Schicksal
erfahren, so ist doch auch andrerseits zu bedenken, dass dasselbe nun
einmal unabänderlich ist, und dass Jammern dawider nichts hilft. Selbst
der Verstorbene, falls es eine Fortdauer der Seele gibt, kann nicht an
dem Schmerz des geliebten Bruders Gefallen haben. Weiter erinnert der
Philosoph daran, dass Polybius seinen übrigen Brüdern an Mut vor-
leuchten und auch auf seine Stellung und den Kaiser Rücksicht nehmen
müsse. Für die Einsamkeit empfiehlt der Trostspender als das beste
Mittel, seinen Kummer zu bannen, das Studium. ^ Die Betrachtung wendet
*) Über die Schriftsiellerei des Polybius
vgl. p. 64. Detlefsem hält auch den Frei-
gelassenen für identisch mit dem bei Flinius
Autoren verz. zu Bd. 31 genannten und 3, 131
auch citierten lateinischen Schriftsteller über
Medicin (Glückst. Programm des J. 1881 p. 4).
410 Römische Litteraturgeschiohte, II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilong.
sich wiederum zu dem Toten und zeigt, dass derselbe unter allen Um-
ständen, mag es eine Fortdauer geben oder nicht, kein bejammernswertes
Los hat. Als neuer Trostgrund erscheint, dass Polyblus seinen Bruder
doch längere Zelt um sich gehabt. Den Einwurf, dass der Verlust wider
Erwarten eingetreten, weist die Trostschrift mit dem Satz zurück, dass
mit dem Tag der Geburt sich der Tod als Begleiter einstellt. Alsdann
wird der Trauernde aufgefordert, sich von dem, was sein Herz bedrückt,
zu dem Erfreulichen, was ihm noch verblieben ist, zu wenden, besonders
seine Augen auf den Kaiser zu richten; der Schriftsteller lässt sich hier-
bei die Gelegenheit nicht entgehen, starke Schmeicheleien dem Herrscher
darzubringen, um seine Begnadigung zu erreichen. Zuletzt legt er dem
Kaiser selbst eine Trostrede an Polybius in den Mund; Beispiele von ähn-
lichen Schicksalsschlägen werden vorgeführt. Mit eindringlichen Mahnungen
an Polybius, sich in seine Studien zu versenken, das Andenken des Ver-
storbenen durch eine Schrift zu verherrlichen, das Masslose des Schmerzes
zu verbannen, sich einer liebevollen Erinnerung an seinen Bruder hinzu-
geben, schliesst die Schrift.
Zeit der Abfassung. Die Schrift ist unter dem Kaiser geschrieben, der über ihn
die Verbannung ausgesprochen, also unter Claudius nach 41 (13,2); sie ist aber vor 44
geschrieben, denn der Kaiser hatte noch nicht triumphiert (13,2); einige Zeit hatte Seneca
schon in der Verbannung zugebracht, denn er spricht von seinem longo iam situ obsoletus
et habetatua animtis (18, 9) Vgl. Jonas jp. 31 {„missa est ad Polybium consolatio paulo ante
triumphum Britannicum anno 43J44'' Öücheler, Rh. Mus. 37, 327).
Echtheit der consolatio. Man wollte das Produkt dem Seneca aberkennen.
Schon Diderot hatte dies in seinem bekannten Essai gethan. Obwohl gegen ihn eine Ab-
handlung Volkmanns sich gerichtet hatte, so wurden doch neuerdings auch von Bubescii
wieder Zweifel an der Echtheit erhoben (Leipz, Stud. 9, 114 — 120), allein ohne über-
zeugende Kraft.
463. Ad Helviam matrem de consolatione. Die Trostschrift, die
Seneca an seine Mutter richtete, ist einige Zeit nach der Katastrophe der
Verbannung geschrieben. Die Abhandlung ist auf einer durchsichtigen
Disposition aufgebaut. Sie versucht zuerst den Nachweis, dass die Ver-
bannung kein Unglück ist. Der Weise legt überhaupt auf die äusseren,
zufälligen Dinge keinen Wert, sondern sucht stets den Schwerpunkt seines
Daseins in sich selbst. Deshalb sind die Urteile der Menge nicht für ihn
massgebend, sonach auch nicht das herkömmliche Urteil über das Exil.
Dieses ist nichts anders als eine Ortsveränderung. Wie viele verlassen
aber nicht ihr Vaterland freiwillig! Wie viele Fremde birgt Rom! Selbst
ganze Völker verliessen ihre Heimat und suchten sich andere Wohnstätten
auf. Der Mensch mag sein, wo er will, er hat stets seine eigene Tugend
und die gemeinsame Natur. Auch wenn der Ort der Verbannung traurig
ist, begründet dies noch kein Übel, der Weise vermag stets die wahren
Güter von den eingebildeten zu trennen. Die Armut, die der Verbannte
zu tragen hat, ertrügt der Weise leicht, da er sehr wenige Bedürfnisse
zu befriedigen hat. Dieser Bedürfnislosigkeit des Weisen stehen die un-
geheuren Ansprüche der gewöhnlichen Menschen in Bezug auf Nahrung')
und Kleidung gegenüber; diese Ansprüche aber geben niemals Buhe, wäh-
rend derjenige, der sich auf das natürliche Mass beschränkt, stets zufrieden
') Vgl. die berOhmten Worte 10, 3: vomunt ut edant, edunt %U wmant.
Der Philosoph Seneca, 411
ist und von Armut nichts merkt. Übrigens gibt es viele Lagen des Lebens,
in denen auch die Reichen auf ihren Luxus verzichten müssen. Ist aber
des Weisen Sinn gegen die Armut gefestigt, so ist er es auch gegen zwei
andere mit der Verbannung in Verbindung gebrachten Nachteile, gegen die
Schmach und gegen die Verachtung. Der zweite Teil der Trostschrift
nimmt seinen Ausgangspunkt von der Mutter und führt aus, dass diese
ebensowenig wie der Sohn Grund hat, sich abzuhärmen. Vorteile, welche
sie aus der Anwesenheit des Sohns ziehen konnte, sind für sie völlig
irrelevant, da sie stets ihr Interesse dem der Ihrigen nachstellte. Dieser
Punkt kann daher kurz abgemacht werden. Länger verweilt der Schrift-
steller bei dem zweiten Punkt, dass die Mutter den Umgang des geliebten
Sohnes entbehren muss. Aber auch hiefür stehen Trostgründe bereit. So
natürlich jener Schmerz für das weibliche Gemüt ist, so muss doch auch
auf der andern Seite der Mutter entgegengehalten werden, dass sie solche
vortreffliche Eigenschaften des Geistes und Gemütes besitzt, dass man an
sie höhere Anforderungen in Bezug auf die Ertragung des Leids als an
gewöhnliche Frauen stellen, und dass man sie auf das Beispiel berühmter
Mütter wie die der Gracchen verweisen darf. Der Philosoph empfiehlt ihr
die Beschäftigung mit ernsteren Studien und erinnert sie daran, dass ihr
noch genug des häuslichen Glücks übrig geblieben sei.
Quellen. Dass auch für diese consolatio der Philosoph in der Litteratur sich
umgesehen» bezeugen folgende Stellen: 1,2 cum omnia claristtifnarum ingeniorum moni-
menta ad compescendoa moderandosque luctus composita et>olverem, non inveniebam exem-
plum eiiat, qui consölatua suos easetf cum ipae ab Ulis comploraretur. 8, 1 adversus ipsam
commutationem locorum — aatis hoc remedii putat Varro — quodj quocumque venimuSf
eadem rerum natura utendum est; M. Brutus satis hoc putat, quod licet in exilium euntibus
rirtutes suas secum ferre. 9, 4 Brutus in eo libro quem de virtute composuit, ait se Mar-
cellum vidisse Mytilenis exulantem et, quantum modo natura hominis pateretur, heatissime
riventem neque unquam cupidiorem bonarum artium quam illo tempore; itaque adicit visum
sibi se magis in exilium ire, qui sine illo rediturus esset, quam illum in exilio relinqui.
Die Abfassungszeit lässt sich nicht genau bestimmen; Lipsius vermutet, dass
sie gegen Ende des ersten Jahres des Exils oder zu Anfang des zweiten abgefasst wurde.
ß) Die ausserhalb des Corpus stehenden erhaltenen Schriften.
464. Ad Neronem Caesarem de dementia. Bald nachdem Nero
den Thron bestiegen, im Jahre 55 oder 56 überreichte Seneca dem Herr-
scher ein Werk über die Milde oder die Gnade. Es waren ursprüng-
lich drei Bücher, allein uns sind nur das erste und der Anfang des
zweiten erhalten. Das erste Buch verbreitet sich im allgemeinen über die
Milde und zeigt besonders deren Notwendigkeit und Nützlichkeit für den
Herrscher. Das zweite Buch sollte die Begriffsbestimmung entwickeln
und die Kriterien an die Hand geben, welche die Milde von den ver-
wandten Fehlern unterscheiden. Wir erhalten auch die Definition der Milde
(3, 1), dann eine Erörterung über die Strenge und Grausamkeit und über
den Unterschied der misericordia und der venia von der dementia. Allein
damit bricht das Buch unvollendet ab. Dem fehlenden dritten Teil war
die Aufgabe gestellt, auszuführen, wie man sich die Tugend der Milde
aneigne, erhalte und befestige.
An Schmeicheleien an Nero fehlt es nicht. So nimmt das zweite
Buch geschickt seinen Ausgangspunkt von einem Wort desselben, welches
412 Römische Litteraturgeschiohto. U. Die Zeit der Monarchie. 1. Ahtoilnng.
ganz besonders sein weiches Gemüt zu bekunden schien. Als er nämlich
zur Bestätigung eines Todesurteils gedrängt wurde, rief er aus «Oh könnte
ich doch nicht schreiben*'. Auch im Eingang des ersten Buchs wird in
einem Monolog die hohe Stellung und die grosse Macht Neros geschildert.
Aber man darf nicht vergessen, dass ja die ersten Regierungsjahre des
jungen Kaisers zu den grössten Hoffnungen berechtigten.
Dio Disposition der Schrift, welche uns ermögUcht, das, was fehlt, im allge-
meinen zu bestimmen, lautet (1, 3, 1): in tres partes omnem hanc materiam ditidam . Prima
erit -\- manumisaionia (leider noch nicht geheilt); secunda ea, quae naturam clementiae
habitumque demonstret: nam cum sint vitia quaedam virtufes imitantia, non possunt secernij
nisi iis signa, quU>u8 dinoacantur, inpreaseris; tertio loco quaeremus, quomodo ad hanc
rirtutem perducatur animus, quomodo confirmet eam et usu suam faciat.
Über das Bruchstück des Hildebertus Cenomanensis vgl. Rossbach, Z>m-
quis. de Sen,, Rostock 1882 p. 33, Berl. Stud. 2. Bd. 3. H. p. 112; Thomas, Fleckeis. Jahrb.
1884 p. 592.
Die Zeit der Abfassung ergibt sich aus 1,9,1. Nero hatte das 18. Lebensjahr
zurückgelegt, als die Schrift geschrieben wurde, also l^llt sie zwischen Dezember 55 und
Dezember 56 (Jonas p. 41).
465. De beneficÜB 1. Vll. Diese Bücher sind dem Aebutius Liberalis
gewidmet. In dem ersten Buch beginnt er mit der Betrachtung, dass
keine Untugend so häufig sei als die Undankbarkeit. An derselben sind
aber oft die Geber selbst schuld, weil sie bei der Spendung von Wohl-
thaten nicht die richtigen Wege einschlagen. Allein die Undankbarkeit
darf nicht vom Wohlthun abhalten. Dann schreitet er zur Definition der
Wohlthat; das Wesen derselben ruht in der Gesinnung des Gebers, nicht
in der Spende. Aber es ist von Wichtigkeit zu wissen, was für Wohl-
thaten man spenden soll und in welcher Weise. Nur der erste Punkt
wird, noch in diesem Buch erörtert. Mit dem zweiten Punkt, wie Wohl-
thaten zu spenden seien, hebt das zweite Buch an; es werden über
diesen Punkt recht praktische Lehren gegeben. Daran schliessen sich Be-
lehrungen über die Art und Weise, wie man Wohlthaten annehmen soll.
Auch das Gegenbild, die undankbare Gesinnung muss hier gestreift werden.
Die Ursachen derselben werden angeführt und kurz erläutert.*) Im dritten
Buch wird die Betrachtung der Undankbarkeit fortgesetzt; es sind zwei
Streitfragen, welche eine ausführliche Erörterung gefunden haben, einmal
die Frage, ob die Undankbarkeit sich zur gerichtlichen Verfolgung eigne;
der Autor antwortet mit Nein. Das zweite Problem ist, ob der Sklave
seinem Herrn eine Wohlthat erweisen könne. Hier ist das Ergebnis ein
Ja; rührende Beispiele von Treue der Sklaven gegen ihre Herren werden
eingeschaltet. Ein neues Problem, das behandelt wird, ist, ob die Kinder
ihren Eltern grössere Wohlthaten erweisen können als sie empfangen
haben. Die Untersuchung wird mit einem fingierten Gegner geführt, der
jene Frage verneint hatte; derselbe wird widerlegt. Das vierte Buch
erhärtet zuerst den Satz, dass Wohlthun und Dankbarkeit zu den Dingen
gehören, die an und für sich zu erstreben sind; dann wird der Fall ge-
prüft, ob man auch Undankbaren Wohlthaten erweisen soll. Im fünften
Buch werden verschiedene quaestiones besprochen und entschieden, ob es
eine Schande, im Wohlthun besiegt zu werden und ob jemand sich selbst
^) Über die Disposition der zwei ersten Bücher vgl. Haebeklin, Rh. Mos. 45, 45.
Der Philosoph Beneca. 413
Wohlthaten spenden könne. Dann wendet er sich zu den stoischen Paradoxa
«Niemand kann undankbar sein**. „Alle sind undankbar." Weiterhin
wird der Fall berührt, ob für Wohlthaten, die z. B. der Vater empfangen,
auch der Sohn dankbar sein müsse. Endlich wird untersucht, ob auch
von einer Wohlthat gesprochen werden könne, wenn der Empfänger die-
selbe nicht als solche empfindet und ob man Ersatz für eine erwiesene
Wohlthat fordern dürfe. Casuistisch ist auch das sechste Buch. Da
tauchen die Probleme auf, ob das beneficium entrissen werden könne; ob
man Dank dem schulde, der uns wider Willen oder ohne es zu wissen,
genützt hat ; ob eine Verpflichtung für uns erwächst, wenn einer in seinem
Interesse uns einen Dienst erwiesen, ob man einem Unglück wünschen
dürfe, um ihm Hilfe leisten zu können. Ein solcher Wunsch ist verwerf-
lich, wir bedürfen nicht des Unglücks, um wohlzuthun, auch das äussere
Glück bietet dazu Gelegenheit. Die Hochstehenden bedürfen .oft des Rates,
der Stimme der Wahrheit und der Belehrung. Das siebente Buch bewegt
sich nicht minder in Casuistik; der Philosoph bemerkt im Eingang, dass
vieles in der Philosophie nur zur geistigen Gymnastik betrieben werde, die
Hauptsache bleibe immer, die Grundsätze für unser Handeln fest inne zu
haben, um das echte Leben des Weisen führen zu können. Daran schliesst
er das Problem, ob man dem Weisen etwas schenken könne, da derselbe
ja alles besitze. Weitere Fragen sind, ob der, welcher alles aufgeboten,
um einen Dienst zu vergelten, seiner Verpflichtung quitt sei, ob man die
Wohlthat, die man von einem Weisen empfangen, vergelten müsse, wenn
dieser Weise inzwischen ein böser Mensch geworden ist. Dann wird der
Satz „Der Spender soll die Wohlthat vergessen" erklärt und endlich das
Verfahren, das man gegen Undankbare beobachten soll, dargelegt.
Dies ist der Inhalt des Werks. Wie man sieht, verliert sich das-
selbe zuletzt in unfruchtbare Spitzfindigkeiten. Auch an streng geschlos-
sener Gliederung fehlt es; doch finden sich in demselben auch feine, aus
dem Leben gesshöpfte und für das Leben bestimmte Regeln und Beob-
achtungen. Eingestreute Beispiele gewähren dem ermüdeten Leser Ruhe-
punkte.
Die Zeit der Abfassung. Mit Sicherheit lässt sich behaupten, dass das Werk
nach Claudius abgefasst wurde; denn die den Kaiser gering schätzende Äusserung des
Crispus Passienus (1,15,5) „malo divi Augusti iudicium, malo Claudii beneficium*^ konnte
nicht zu Lebzeiten des Claudius ver5fifentlicht werden. Als Seneca seinen Brief 81 schrieb,
verweist er (3) auf das Werk de beneficiis. Allein da diese Briefe in die letzte Lebens-
zeit Senecas fallen, gewinnen wir aus diesem Citat nichts für die Abfassungszeit.
Die Überlieferung der Schriften de dementia und de beneficiis beruht auf dem
Codex Nazarianus s. Vaticano-Palatinus 1547 s. VITI/IX. Die übrigen libri „atU ex ipso Naza-
riano aut ex codice plane gemino desrripti" (Gertz, Ausg. p. Vlj sind so gut wie wertlos.
466. Ad Lncilinm naturalium qnaestionum libri VII. Der Phi-
losoph beginnt in diesem Werk, das dem uns schon bekannten Lucilius
gewidmet ist, mit einem enthusiastischen Lob auf die hohe Stellung der
Naturerkenntnis. Nach ihm unterscheidet sich die Naturphilosophie von
der Moralphilosophie, wie sich Oott von dem Menschen unterscheidet; die
eine zeigt, was im Himmel vorgeht, die andere, was auf Erden zu ge-
schehen hat. Die Naturerkenntnis macht uns mit den erhabensten Gegen-
ständen bekannt, sie ist der Gipfelpunkt des menschlichen Wissens. Wer
414 Hömische LitteratnrgeBciiiclite. U. Die 2eit der Monarchie. 1. Abteilung.
die himmlischen Dinge betrachtet, überschreitet die Grenzen der Sterblich-
keit. Plötzlich bricht er ab und erklärt, er wolle von den feurigen
Lichterscheinungen sprechen. Dies geschieht auch; den Mittelpunkt
des Buchs bildet die Erklärung des Regenbogens. Das zweite Buch wird
mit einer Gliederung der Naturerkenntnis eröffnet; er unterscheidet drei
Gebiete, die Region des Himmels {caelestia), die zwischen Erde und Himmel
befindliche Region {sublimia), endlich die Erde (terrena). Selbstverständlich
muss für jedes der drei Gebiete eine spezielle Wissenschaft bestehen, für
das erste die Astronomie, für das zweite die Meteorologie, für das dritte
die Geographie.') Gegenstand dieses Buchs ist das Gewitter (Wetter-
leuchten, Blitz, Donner). Im dritten Buch beklagt er sich, dass er in so
hohem Alter sich an einen so unermesslichen Stoff gewagt, er ist ent-
schlossen, seine Zeit soviel als möglich auszunützen, um die Aufgabe
zu lösen. Die Erhabenheit des Gegenstandes ermutigt ja zum Ausharren ;
er beklagt die Schriftsteller, welche sich mit der Geschichte Philipps, Ale-
xanders, Hannibals abmühen, statt die Menschen über die Grundsätze des
rechten Lebens zu unterrichten; dann handelt er vom Wasser, von der
Entstehung desselben, Eigenschaften u. s. w. und schliesst mit einer phan-
tasiereichen Ausmalung der allgemeinen Überschwemmung und des Unter-
gangs der Menschheit. Der Eingang des vierten Buchs ist persönlicher
Natur, er warnt Lucilius, der Sizilien zu verwalten hat, vor den Schmeich-
lern. Was die Materie der Betrachtungen anlangt, so werden die Ur-
sachen der Anschwellung des Nils aufgespürt, plötzlich stehen wir vor
einer Lücke, nach derselben kommen Hagel und Schnee zur Besprechung.
Das fünfte Buch entbehrt jeder Einleitung, es beginnt sofort mit einer
Definition des Windes und erörtert dann die verschiedenen Fragen, die
sich an dieses Phänomen knüpfen. Im sechsten Buch tritt der Philosoph
an das Erdbeben heran; in der Einleitung gedenkt er der Erderschüttc-
rung, welche im Jahr 63 über Pompeii hereinbrach und verfallt wieder in
moralische Betrachtungen, um uns den Schrecken vor dieser Naturerschei-
nung zu benehmen. Das letzte, siebente Buch, untersucht die Natur der
Kometen.
Aus dieser Inhaltsübersicht ersehen wir, dass die drei Teile, in welche
er die Naturerkenntnis zerlegt , sehr ungleichmässig berücksichtigt sind ;
der Astronomie sind nur 2 Bücher gewidmet (I und VH), ebensoviele der
Erdkunde (IH und IV»), der Metereologie dagegen 4 (II IV»» V VI) ^). Wir
haben sonach in dem Werk kein vollständiges Lehrbuch der Naturerkennt-
nis, bloss gewisse Partien sind herausgegriffen, jede macht den Gegen-
stand einer Monographie aus, die wohl für sich dem Lucilius überschickt
wurde. Die Behandlung des Stoffes anlangend, so liefert, uns der Autor
kein Werk, das auf reichen Beobachtungen aufgebaut ist und in dem sich
ein intensives Studium der Natur ausprägt. Er schöpft aus Büchern, er
sieht nach, was die verschiedenen Autoren über ein Naturphänomen aus-
gesonnen haben und übt an den Hypothesen seinen Scharfsinn. Der Dia-
lektiker ist es, der das Wort führt, nicht der Naturforscher. Dieser Dia-
*) Die Namen der Disziplinen fehlen an der Stelle.
^) Über die Stellung dieses Buchs vgl. 2, 1, 3.
Der Philosoph Seneca.
415
lektiker ist aber eigentlich Moralphilosoph und es wird ihm daher schwer,
diesen seinen Charakter zurückzudrängen. Mit Vorliebe werden daher
moralische Reflexionen eingestreut.
Das Werk erfreute sich des höchstens Ansehens im Mittelalter; die
moderne Naturforschung hat natürlich dasselbe bei Seite gelegt.
Die Lficke im 4. Buch. Das Vorhandensein einer grösseren Lücke im 4. Buch
kann von niemand ernstlich bestritten werden. Denn ehe die Untersuchung über den Nil
zu Ende gelangt ist, kommt ebenso unvermittelt der Hagel zur Betrachtung. Weiterhin ist
aber anzunehmen, dass, da so verschiedenartige Gegenstände nicht in einem Buch vorgetragen
werden konnten, durch die Lficke das Ende eines Buchs und der Anfang eines zweiten
verschlungen wurden, dass sonach das Werk aus acht Büchern bestand. Weitere Verluste
einzelner Bücher nimmt ohne Wahrscheinlichkeit Guitdbrmank (im Zusammenhang mit seiner
Hypothese von der Anordnung der Bücher) an (p. 351 fg.).
Die Reihenfolge der Bücher ist ein in der letzten Zeit viel behandeltes Pro-
blem. Oegen die herkömmliche, durch gute QueUen gestützte Reihenfolge hat man einge-
wendet, dass in der Überlieferung auch eine andere vorliege ; nicht bloss die Aufeinander-
folge der Bücher in den Handschriften, sondern auch die Subskriptionen (besonders wertvoll
die des Paris. 8624) wiesen auf eine andere Ordnung hin (Müllbr p. 14, Gundermann
p. 359). Femer hat man aus Verweisungen des Schriftstellers auf andere Teile des Werkes
ein Kriterium gegen die traditionelle Reihenfolge abgeleitet (wichtig ist besonders 2, 1, 3,
vgl. Müller p. 19, Gundermann p. 351 und p. 352, verständige Einwürfe dagegen bei
ScHULTBSS, Stud. p. 13 ; dann 1, 15, 4 vgl. Schultsss, De S, quaest, not. p. 8, Müller p. 18,
Gundermann p. 353). Endlich hat man als Prinzip für die Anordnung der Bücher die
Gliederung der scientia naturalis (Anfang des 2. Buchs) angenommen. Allein keines dieser
drei Kriterien gibt eine feste, einwandfreie Grundlage. Die Ergebnisse, welche man er-
zielte, waren daher sehr verschieden, wie folgende Tabelle zeigt:
vulgo 1 (Feuer) II (Gewitter) III (Wasser) IV» (Nil) IV^ (Hagel) V (Wind) VI (Erd-
beben) VII (Kometen),
Haasb IV»> (Hagel) V (Wind) VI (Erdbeben) VII (Kometen) 1 (Feuer) II (Gewitter)
III (Wasser) IV* (Nil),
ScHULTEss ») II (Gewitter) HI (Wasser) IV» (Nil) IV^ (Hagel) V (Wind) VI (Erd-
beben) VII (Kometen) I (Feuer),
Müller III (Wasser) IV« (Nil) IV»> (Hagel) V (Wind) VI (Erdbeben) II (Gewitter)
I (Feuer) VII (Kometen),
Gundermann VII (Kometen) I (Feuer) IV^ (Hagel) V (Wind) VI (Erdbeben) II (Ge-
witter) III (Wasser) IV« (Nil).
Keine dieser Anordnungen ist vöUig befriedigend, die zuletzt vorgebrachte leidet z.
6. an dem Übelstand, dass die Gliederung des Werks erst gegen das Ende erscheint. Bei
dem Problem ist zu beachten, dass der Schriftsteller nicht den ganzen Stoff erschöpfen will
und dass er seine einzelnen Bücher als Monographien gibt, femer, dass er überhaupt
strengem logischen Aufbau abhold ist.
Litteratur: Haasb, im Index lectionum von Breslau 1859; Larisch, De Sen.
quaest, nat. codice Leid, Voss, et locis iUarum libr, a Vincentio Belhvacensi excerptis,
Bresl. 1865; Jonas, De ordine p. 55; Schultess, De L. A. S. quaestionibus naturalihus et
epistulis, Bonn 1872; Georg Müller, De L, A, S, quaest, not., Bonn 1886; Schultess,
Annaeana Studia^ Hamburg 1888, p. 5; Gundermann, Die Buchfolge inSenecas^a^ Quaest.
(Fleckeis. Jahrb. 1890, p. 351).
Abfassungszeit der naturales quaestiones. Ein deutliches Indicium der
Zeit enthält 6, 1 ; das Kapitel weist unter Anführung der Consuln auf das Jahr 63 (Non.
Febr.) hin, in welchem ein Erdbeben in Pompeii stattgefunden hat (Von einem Erdbeben
des vorausgegangenen Jahres in Achaia und Macedonien spricht 6, 1, 13). Mit Unrecht wird
das Jahr 63 von Jonas (p. 53) bestritten und der Ansatz des Tacitus (62) festgehalten.
Da das dritte Buch deutlich auf den secessus (62) hinweist, so werden wir die Abfassung
der Bücher um die Jahre 62/63 ansetzen (Schultess, Do L, Annaei Sen. quaest, natural, et
epistulis, Bonn 1872 p. 22).
Die Überlieferung. Massgebend sind besonders folgende Handschriften: Beroli-
nensis s. XIII (E), der Leidensis Voss. 69 (L) und der zu derselben Sippe gehörende Es-
corialensis s. XIII/XIV, der Bambergensis s. XI ü (B), und der mit ihm im Zusammenhang
*) Diesem Buch lAsst aber Schultess
den Prolog des ersten Buchs vorausgehen.
Die Worte ^^sed haec deinde, nunc ad prO'
])ositum opus veniamf* seien interpoliert (De
S. quaest. nat, p. 14).
416 ItOmisohe Litteratnrgeschichte. n. Die 2eit der Monarcliie. 1. Abteilong.
stehende Pragensis s. XII/XIU (P). „Senecae quaestianes naturales non tarn simpliei via
ad no8 pervenerutUf ut in uno alterove codice omnis salus posUa sit. Imtno saepisHme E,
saepissime ELy saepe LB, haud raro B, ifUerdum L genuinam lectionem tradiderunt,^
MüLLEB, De S, quaest, not. p. 27.
467. Ad Lucilinm epistalamm moraliuxn L XX. Dieses Corpus
besteht aus 124 Briefen, welche in 20 Bücher eingeteilt sind. Da aber
Gellius 12,2,3 das 22. Buch der Briefe citiert, so scheint der Schluss des
Werks, das sonach mindestens 22 Bücher umfasst haben musste, verloren
gegangen zu sein. Gerichtet sind die Briefe an den ihm befreundeten
Lucilius. Der Gegenstand der Briefe ist die praktische Ethik, sie wollen
Anleitung zur Erlangung der Glückseligkeit geben. Sie stellen uns einen
Kursus der Moral in zwangloser Weise dar. Der Verfasser hebt damit
an, dass er im ersten Buch verschiedene Lebensregeln gibt, dann im zwei-
ten den Gedanken hervortreten lässt, dass die Philosophie uns allein zum
glücklichen Leben führen kann, und daran die Meinung reiht, sich nicht
durch nichtige Dinge vom Studium der Philosophie abbringen zu lassen,
endlich im dritten darlegt, dass wir leicht diese Hindernisse beseitigen
können. Diese drei Bücher sind durch deutliche Kennzeichen von Seneca
zu einer Einheit zusammengeschlossen. Der letzte Brief wird ausdrücklich
als Schlussbrief markiert (29, 10), ferner werden die späteren Briefe im
Gegensatz zu den früheren der drei ersten Bücher gestellt (33, 1). Endlich
haben alle Briefe der drei Bücher (abgesehen von dem ersten Brief) die
Eigentümlichkeit, dass jedem der Satz eines Weisen als Schmuck beigegeben
wird. Dass die Sammlung zur Publizierung bestimmt war, geht daraus
hervor, dass Seneca dem Lucilius durch diesen Briefwechsel die Fortdauer
seines Namens in Aussicht stellt (21,5). Der Annahme aber, dass auch
das Corpus von Seneca selbst ediert wurde, steht nichts im Wege. Damit
kämen wir auf eine geteilte Publikation des Corpus, und es ist wahrschein-
lich, dass auch die übrigen Bücher nicht auf einmal, sondern successive
ans Licht traten. Man hat die Ansicht ausgesprochen, dass auch diese
später erschienenen Bücher zu Einheiten zusammengefasst waren; allein
dieser Meinung steht die schwerwiegende Thatsache gegenüber, dass der
Schriftsteller nirgends durch äussere Marksteine solche Einheiten klar und
deutlich hervortreten Hess. Wenn aber solche Marksteine fehlen, so können
wir, selbst wenn sich inhaltlich bestimmte Gruppen abheben, noch nicht vom
Schriftsteller gewollte Einheiten annehmen. Die ganze Sammlung ist ent-
standen, nachdem sich Seneca vom öffentlichen Leben zurückgezogen, also
nach 62; er besagt dies in deutlicher Weise.*) Sie wird nicht lange vor
seinem Tod ihren Abschluss gefunden haben. Ob alle Briefe an Lucilius
gelangten, ist sehr fraglich. Es scheint vielmehr, dasö bei der Zusammen-
stellung der Briefe zu einem Corpus auch Abhandlungen eingereiht wurden,
welche nur ganz äusserlich die Form des Briefs annahmen.
Die Briefsammlung ist die bedeutendste Leistung Senecas. Gross ist
die Fülle der Gedanken, denn immer neue Seiten weiss der Schriftsteller
seinem Gegenstand abzugewinnen. Die reiche Lebenserfahrung, die der
^} 8, 2 secessi non tantutn ab hominibtiSj
sed a rebus, et inprimis a rebus meis; poste-
rorum negotium ago. Ulis aliqua, qttae pos-
sint prodesse, conscribo. Auf sein Alter
weist 12. 1 19, 1 26, 1 34, 1 48, 5 61, 1 67, 2
77, 3 (Jonas p. 61).
Der Philosoph Seneca. 417
Autor hinter sich hat, findet vielseitigen Ausdruck. An erhabenen, ins
Tiefe gehenden Gedanken enthalten die Briefe eine grosse Fülle. Doch
wirkt das fortwährende Moralisieren zuletzt ermüdend auf den Leser.
Die Entstellung des Corpus. Lipsms erkannte zwar an, dass sich wirkliche
Briefe in dem Corpus hefinden, allein in dem grössten Teil derselben erblickte er mora-
lische Abhandlungen, als Zeit der Abfassung statuierte er die Jahre 63 und 64. Der Heraus-
geber Senecas Haase stellt die Meinung auf, dass die Briefe für die Publikation bestimmt
waren (ep. 21, 5), dass sie aber erst nach dem Tod Senecas von einem seiner Freunde in
der Ordnung der Abfassungszeit (mit Ausnahme von 75) ediert wurden (vol. III praef. p. III),
sie seien aber nicht völlig f&r die Herausgabe zugerichtet gewesen, wie aus den von Seneca
später gemachten und nicht hineingearbeiteten Zusätzen zu ersehen (p. V). Nach Haasb
wendete sich der Blick der Gelehrten besonders auf die Feststellung der Zeit, in welche
die Briefe fallen. So setzte Lbhmaxtn, Claudius und Nero p. 16 als Intervallum für die
Briefe die Zeit 62 (sfcessua) bis zu seinem Tod 65 (ep. o, 2) an, die Herausgabe der
Briefe nach dem Tod Senecas nimmt er mit Haase an. Einen Rückschritt macht Peiper,
Praef. in S. trag, suppl., indem er p. 14 fg. (nach ep. 91) die Abfassung der Briefe in den
Zeitraum 57—58 zurückverlegt. Jokas, De ordine libr, erachtet als sicher, dass die Briefe
nach dem secessus geschrieben sind (p. 61), dass dieselben fmit Ausnahme des 75.
Briefs) in der chronologischen Ordnung stehen (p. 64 mit Haase), endlich dass die drei
ersten Bücher von Seneca herausgegeben wurden (p. 70), und dass daher eine Herausgabe
des ganzen Corpus nach dem Tode des Schreibers unmöglich sei. Mabteks, De Senecae
vita, Alton. 1871 p. 61, setzt den 50. Brief ins Jahr 49, die übrigen Briefe in die Jahre
60 — 65; dieses grössere Intervallum sei notwendig, um die lange Korrespondenz der zwei
entfernten Freunde zu ermöglichen. Schitltess, De Senecae quaest. nat. et epist.j Bonn 1872,
(p. 31) bestimmt den Anfangspunkt des Briefwechsels durch den Winter des Jahres 62/3,
den Endpunkt (p. 41) durch das Jahr 64. Bezüglich der Anordnung der Briefe ist er der An-
sicht, dass das Corpus im grossen Granzen der Zeitfolge nach geordnet ist und dass nur
dadurch Störungen der chronologischen Reihenfolge entstanden, dass Briefe gleichen Inhalts
zusammengerückt wurden (z. B. 48, 68, 69, 70, 49). £inen neuen Weg schlug Hiloenfeld,
L. A. Senecae episttdae tnoralesy Fleckeis. Jahrb. 17 Suppl. p. 601, ein. Er statuiert, dass
die ganze Sammlung in mehrere Corpora zerfalle, welche von Seneca nacheinander heraus-
gegeben worden seien; die Briefe seien teils wirkliche, teils fingierte:
I. Corpus 1. 1— III (ep. 1—29), abgefasst Anfangs 62 ;
IL Corpus 1. IV. V (ep. 30—52), abgefasst Ende 62 ;
III. Corpus Frühjahr oder Sommer 64;
Abt. 1 1. VI- VIII (ep. 53-71),
2 1. IX— X (ep. 72-79),
3 1. XI— Xni (ep. 80-88),
IV. Corpus 1. XIV— XX (ep. 89—124) abgefasst Ende 64 ;
V. Corpus 1. XXI— X (ep. 125— x) abgefasst 65?
Diese Corpora seien auch durch ihren Inhalt zu Einheiten zusammengeschlossen und
zwar in folgender Weise:
I. Adhortatio ad phüosophiae Studium; II. de philosophiae studio recte instituendo;
III. de summo bono; IV. moralis philosophiae conimentarii; V. de deorum cultu.
Die Überlieferung. Die Briefe wurden viel gelesen und abgeschrieben. Bei dem
grossen Umfang, den dieselben einnahmen, trat bald die Spaltung in zwei Bände ein;
erst später im 12. Jahrhundert wurden sie wieder vereinigt. Aus dieser späteren Zeit
stammen der Abrincensis 239 s. XII, der Montepesstdanus H 445 s. XIII, der Cantabrigiensis
1768 s. Xm.
Der erste Band der Briefe umfasst die Briefe 1—88 oder die Bücher 1—13.
Die Überlieferung desselben beruht in erster Linie auf dem Parisinus 8540 s. X,
dem Parisinus 8658a s. X und dem Laurentianus 76,40 s. IX/X. (In den Briefen
16, 17, 10, 47, 43, 42, 5, 12, 15, 34 kommt hinzu der Guelferhytanus-Gudianus 335 s. X.)
Über die übrigen Handschriften vgl. die eingehende Darlegung von Rossbach, Bresl. Philol.
Abh. II. Bd. 3. H. p. 41.
Der zweite Band der Briefe umfaaste die Briefe 89—124 oder die Bücher 14—20.
Dieser Band wurde weniger oft abgeschrieben; die massgebende Überlieferung beruht auf
dem Argentoratensis s. IX/X, der aber im Jahre 1870 bei der Belagerung von Strass-
bürg verbrannt wurde, so dass wir jetzt auf die Collation BOchelebs angewiesen sind ; dann
auf dem Bambergensis V 14 s. IX/X. Beide Codices stammen aus demselben Arche-
typus. (Senecae epistulae aliquot ex cod. Argentor, et Bamberg, ed. F. Bücheleb, Bonn 1879;
Bossbach 1. c, p. 71.)
Handlrach der klui. Alteriumswlaaenscluift. vm. 2. Teil, 27
418 Römische Litteratnrgeschichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
y) Die verlorenen Schriften.
468. Aufzählung der verlorenen Schriften. Eine nicht unbedeu-
tende Zahl von Schriften Senecas ging verloren. Wir schliessen uns in
der Aufzählung derjenigen, von denen uns Kunde geworden, an Haase an.
1. De motu terrarum. not. quaesL 6, 4, 2 quamvis aliquando de motu
t er rar um volumen ediderim iuvenis, also wahrscheinlich unter Tiberius oder
Caligula geschrieben (Jonas p. 23).
2. De lapidum natura wird erschlossen aus Plin. n. h. Index zu
B. 36.
3. De piscium natura (Plin. n. h. Index zu B, 9 vgl. 9, 167).
Jonas (p. 60) deutet die Möglichkeit an, dass nr. 2 und 3 aus Senecas Naturales
quaest, und zwar ex amissis tertiae partis lihris genommen seien.
4. De situ Indiae (Servius Verg. Aen. 9, 31 Seneca in situ Indiae,
Plin. n. h. 6, 60 und Index zu 1. 6).
5. De situ et sacris Aegyptiorum wird abgeleitet aus Serv. Aen.
6, 154 Seneca scripsU de situ et sacris Aegyptiorum.
Die Schriften nr. 4 und 5 sind als Frucht seines Aufenthalts in Ägypten zu be-
trachten.
6. De forma mundi. Den Titel lernen wir aus Cassiodor kennen.
SoHüLTESs, De A, S. quaest, nat, et epistulis (p. 24) hält diese Schrift fOr einen ver-
lorenen Teil der naturales quaestiones; vgl. auch Rossbach, Hermes 17, 370, 4.
7. Exhortationes, eine von Lactantius in seinen Instüutiones divinae
viel benutzte Schrift (vgl. 1, 7, 13).
8. De officiis. Der Titel beruht auf einem Citat des Grammatikers
Diomedes.
9. De immatura morte. Auch diese Schrift wurde von Lactantius
in seinen Institutiones divinae benutzt.
10. De superstitione. Aus Diomedes p. 316 K. er-sehen wir, dass
es ein Dialog war. Derselbe ist ausgebeutet von Augustin de civ. dei
(6, 10).
11. De matrimonio. Aus dieser interessanten Schrift haben wir
reiche Auszüge bei Hieronymus adv. Jovinian, Charakteristisch ist eine
Stelle aus der Schrift des Theophrastus über den gleichen Gegenstand.
Die Exzerpte führen viele Beispiele an.
12. Quomodo amicitia continenda sit. Dies ist der urkundliche
Titel; vgl. Studemünd, Bresl. Philol. Abh. 11. Bd. 3. H. p. V. Die drei
Palimpsestfragmente siehe nach neuer Lesung 1. c. p. XXVI.
13. De vita patris. Auch von dieser Biographie haben wir ein
Palimpsestfragment, welches ebenfalls von Studemünd nach neuer Lesung
herausgegeben wurde (p. XXIII), dazu Rossbach Bresl. Stud. 1. c. p. 161;
vgl. oben p. 200.
Die Aufschrift lautet: incipit eiusdem Ännaei Senecae de vUa patris felicUer scri-
bente me Niciano die et loco supra scriptis,
14. Orationes; er verfasste solche für Nero vgl. Tacit. Ann. 13, 3
13, 11, (Schreiben an den Senat 1. c. 14, 10, Quint. 8, 5, 18). Auch hatte er
eine Lobschrift auf die Messalina geschrieben, welche er später ver-
nichtete (Dio Cass. 61, 10).
15. Epistulae. Das zehnte Buch eines Briefwechsels an Novatus
Der Philosoph Seneca. 419
citiert Priscian, De ponderibus c. 3 (GL 2, 41 0). Ferner gedenkt Martial
7, 45, 3 der Briefe an Caesonius Maximus.
16. Moralis philosophiae libri, herangezogen von Lactantius in
seinen Institutiones divinae (z. B. 1, 16, 10). Seneca selbst weist auf dieses
Werk hin ep. 106, 2 108, 1 109, 17.
HiLOENFELD (Fleckeis. Jahrb. 17. Suppl. p. 673) stellt die Behauptung auf, dass diese
moralis philosophiae libri noch vorhanden seien und zwar in den Büchern XIV — XX der
episttilae morales. Allein diese Ansicht ist nicht richtig; dagegen spricht schon, dass
Lactantius durchweg (1, 16, 10; 2,2,14; 6, 17.28) libri moralis philosophiae citiert,
nicht epistulae. Wenn weiterhin Hilgenfeld die von Lactantius citierten Stellen, welche
sich nicht in unsem epistulae morales finden, den verlorenen Büchern der Briefe zuweisen
will, 80 wäre dies ein merkwürdiger Zufall; aber doch immerhin zu erklären, wenn sich
alle Stellen auf eine Materie erstrecken würden. Allein die Stelle 6, 17, 28 mit dem aus-
drücklichen Citat libri moralis philosophiae hat einen anderen Charakter als die übrigen
Fragmente und kann nicht in dem Abschnitt gestanden sein, in dem diese sich befanden.
cf) Apokryphes und Exzerpte.
469. Der sog. Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus. Das
geistreiche Wesen, das den Schriften Senecas eigen ist, musste eine grosse
Anziehungskraft ausüben. ^ In der That wurden dieselben viel gelesen,
wenngleich, wie bei allem Hervorragenden, es auch nicht an gegnerischen
Stimmen fehlte. Besonders war es der zerschnittene Stil, welcher auf
vielfachen Tadel stiess. Schon Caligula bezeichnete die Schreibweise Se-
necas fein als „Sand ohne Ea^k'' (Suet. Cal. 53). Auch Quintilian erblickte in
Seneca ein Hindernis für seine Bestrebungen, den lateinischen Stil durch
Zurückgehen auf Cicero zu regenerieren. Allein schon die Opposition, die
er dem Philosophen in seinem Lehrbuch macht, ist ein schlagender Beweis,
dass derselbe reichen Anklang fand, und Quintilian selbst bezeugt uns, dass
Seneca sich damals fast allein in den Händen der Jugend befand (10, 1, 126).
War Quintilian als Verehrer Ciceros der Gegner Senecas, so war es Fronte mit
seinem Anhang als Archaist (p. 155 N.). Auch aus Gellius (12, 2, 1) er-
sehen wir, wie damals die Parteien in Bezug auf die Wertschätzung des
Schriftstellers einander gegenüberstanden. Allein trotz dieser Angriffe war
Seneca die Zukunft gesichert; das Christentum nahm ihn unter seine Fit-
tiche; bei den mannigfachsten Anklängen an die christliche Weltanschauung
in seinen Werken musste er sich einer grossen Popularität bei den Kirchen-
vätern erfreuen. Ja man hielt ihn sogar für einen Christen. Auf dem
Fundament dieses Glaubens ruht der unterschobene Briefwechsel
zwischen Seneca und dem Apostel Paulus. Schon Hieronymus kannte
diese Briefe und war von ihrer Echtheit überzeugt. Es sind vierzehn
Stücke, ohne allen Wert und ungeschickt gemacht. An der Unechtheit dieser
Produkte ist kein Zweifel möglich.
Abgedruckt bei Haase 3,476 und bei Westerburo, Der Ursprung der Sage, dass
Seneca ein Christ gewesen, Berl. 1881 p. 41.
470. Die Florilegien aus Seneca. Eine bleibende Anziehungskraft
übten die Schriften Senecas durch die scharfen spitzen Sentenzen aus,
welche überall mit reicher Hand ausgestreut sind. Der Schriftsteller wurde
dadurch das Objekt für Florilegien. Wir besprechen zuerst dasjenige,
*) Der Einfiuss, den die Tragödien Sene- wurde bereits p. 269 kurz angedeutet; bierhan-
cas auf die folgenden Zeiten ausgeübt haben, delt es sich nur um die prosaischen Werke.
27
«
420 Römische Litteratnrgeschichte. 11. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
welches Wölfflin „Monita" nannte. Der Grundstock desselben stammt
aus Seneca, allein derselbe wurde bald mit Sentenzen aus andern Schrift-
stellern versetzt. und nahm verschiedene Fassungen an, so dass die Schei-
dung des Eigentums schwierig, wenn nicht unmöglich ist.
Die Wölfflin'schen Monita. Wölfflin hob aus zwei Pariser Handschriften, ') dein
Parisinus 4841 s. IX und dem bekannten Salmasianus der lateinischen Anthologie eine Sen-
tenzensammlung heraus, für welche er aus dem Saimasianus den Titel ,, Monita" gewann (^-
^fcae Monita f £rlang. 1878 p. 14); er hält diese Sentenzensammlung für eine eigene Schrift
Senecas, welche er bei Dio 62,25 wiederfinden will: ov fiivioi nQoxsQov iavioC ijilftcTo
TJQiy to TB ßißXloy o avyeyQttq)ey inavoQ&tiSaai xai taXXa, idsdiei ydg fiij xal i^ rov Xegtaya
iX&oyra ffS-a^ji, na^axara^ic^at riciy. Allein diese Ansicht ist sicherlich unrichtig (Haas,
De S. Monitis, Würzb. Diss. 1878 p. 5); es sind vielmehr zu einem grossen Teil Auszüge
aus den Schriften Senecas selbst.
DieBo^, sententiae Ruft. Die letzten sententiae des eben erwfthnten Parisinus 484 1
tragen die Überschrift sententiae Ruft. Allein auf die Sentenzen folgt ein Epilog, in dem
ein Rufus angeredet wird. Dass Rufus sowohl als Verfasser der sententiae wie als Angeredeter
im Epilog erscheint, erregt Verwunderung und zwingt zu der Annahme, dass statt sen-
tentiae Rufi es vielmehr heissen soU sententiae ad Ruf um missae, Wölfflin ist
der Ansicht, dass diese sententiae die letzten Worte Senecas darstellen, von denen Tacit.
spricht (Ann. 15, 63} et noHssimo quoque momento suppedüante eloquentia advocatis seriptoribus
pleraque tradidit, quae in vulgus edita eins verbis invertere supersedeo. Allein
auch diese Hypothese ist durchaus unwahrscheinlich.
Liber de moribus. Auch diese Sentenzensammlung trägt den. Nam^n Seneca in
den Handschriften. Vergleicht man diesen liber de moribus mit den Monita, so sieht
man, dass ein grosser Teil der Sprüche beiden Sammlungen gemeinsam ist. Es entsprechen
nämlich die nr. 45 — 141 des liber de moribus (vgl. die Ausgabe des Pttblilius Syrus von
Wölfflik p. 136) den nr. 1—198 (abgesehen von Auslassungen und Znsätzen) vgl. Ross-
BACH p. 85. Man muss den liber de moribus als einen Auszug aus den monita betrachten
und zwar wird dieser Auszug gemacht worden sein, als die Sammlung am Anfang noch
vollständig war; daher die nr. 1—44 im liber.
Senecae proverbia s. sententiae. Eine Redaktion der Sprüche des Publilius
hatte dieselbe nur von den Buchstaben A— N, um Ersatz für die zweite verlorene Hälfte
zu schaffen, wurden 149 prosaische, zum grOssten Teil aus dem liber de moribus stammende,
hinzugefügt (§ 89). Die so entstandene Sammlung erhielt den Namen Proverbia s. senten-
tiae Senecae (Meyer, Ausg. p. 6). Am schicklichsten werden hier auch besprochen :
Die Notae Senecae. Suet. p. 136 R. berichtet in der bekannten Stelle über die notae:
Seneca contracto omnium digestoque et aucto numero opus effecit in quinque milia. Und
wirklich sind unter seinem Namen und dem Tiros (notae Tironis et Senecae) Sammlungen
von stenographischen Abkürzungen erhalten. Allein Seneca hat sich sicherlich nicht mit
solchen Dingen abgegeben; sagt er doch ep. 90, 25 quid verborum notas, quibus quamvis
citata excipitur oratio et celeritatem linguae nianus sequitur? vilissimorum mancipiorum
ista commenta sunt. Gleichwohl ist anzunehmen, dass wie bei den sententiae, so auch
bei den notae der berühmte Name als Sammelpunkt diente.
Eine zweite Florilegiensammlung ist insofern eigens geartet,
als die Exzerpte aus einer Schrift genommen sind und auf einen Gegen-
stand Bezug haben. Es sind dies die Sätze de paupertate, welche aus
dem ersten Band der epistulae morales ausgehoben sind,
471. Die Ezcerpta ans Seneca. Lesemüde Zeiten, welchen dio
Werke Senecas für die Lektüre zu viel waren, brachten die Auszüge
ganzer Werke. Zum Teil haben diese Auszüge den Verlust der Original-
werke herbeigeführt. Wir haben drei Auszüge aufzuführen:
1) Die Exzerpte aus den libri de beneficiis sind sehr umfangreich;
allein da die Handschriften derselben nicht über das }^U. Jahrhundert zu-
rückgehen und unserer massgebenden Überlieferung gegenüber keine neuen
Quellen repräsentieren, sind die Auszüge ohne besondere Bedeutung für
uns (Rossbach p. 86).
^) Andere handschriftliche Quellen macht Rossbach Bresl. Stud. 1. c. p. 85 namhaft
Der Philosoph Seneca. 421
2) Ad Gallionem de remediis fortuitorum. Dieser Auszug aus
der gleichnamigen Schrift Senecas, welche TertuUian (Apol. c. 50) noch
vor sich hatte, führt uns die verschiedenen Übel des Lebens, wie Tod,
Armut, Exil, Vermögenseinbusse vor und zeigt durch prägnante Sätze,
dass sie keine Übel sind.
Eine Texteskonstituiening auf neuer Grundlage (vgl. Bosbbach p. 95), besonders nach
dem oben genannten Salmasianus gibt Rossbach p. 99.
3) De formula honestae vitae. Der Erzbischof Martin aus Bra-
cara (f 580) richtete einen Traktat an den König Miro, welchen die Vor-
rede „formula vitae honestae*' betitelt und als einen Auszug bezeichnet.
Dass eine Schrift Senecas excerpiert wurde, ist sehr wahrscheinlich.»)
Welche Schrift aber, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Als die
geeignetsten bieten sich de officiis und die exhortationes dar. Es
werden die vier Tugenden, welche zum rechten Leben führen, die pru-
dentia, die magnanimitas, die continentia, die iustitia abgehandelt. Es ist
ein Lebensbrevier, das ausserordentlich viel gelesen wurde.
In der Vorrede heisst es: lihellum hunc nuUa sophismatum ostentatione polUumf sed
planitie purae simplicitaiis excerptum capacihus fidenter auribus obiuli recitandum. Für
den Über de officiis als exzerpiertes Buch vgl. Weidker in seiner Ausgabe Magdeb.
Progr. 1872 p. 1, fllr die exhortationes Rossbach p. 87. Die beste Form der Überlieferung
bietet der Monacensis 144 (neues Material gibt Rossbach p. 88). Die Schrift erscheint
auch unter dem Titel De quatiuor virtutibug cardinalibus. Über den Titel De
verborum copia vgl. Haase Ausg. 3 p. XXI (Ps. Seneca ad Paul. 9); (Schbpss, Sechs May-
hinger Handschr., Dinkelsbühl 1879).
Zum Glück verdrängten die Exzerpte, wie wir sahen, nur wenige
vollständige Werke Senecas, ein grosser Teil wurde durch Abschriften ver-
vielfältigt. Es wird uns in einer Chronik des Klosters Monte Cassino^)
berichtet, dass der Langobardenkönig Desiderius befahl, Seneca abzu-
schreiben. Die Senecahandschriften reichen (abgesehen von den Palimpsest-
fragmenten) vom achten oder neunten Jahrhundert,') dem der codex Nazari-
onus angehört, bis zum Wiedererwachen der Wissenschaften; sie sind in
grosser Zahl vorhanden, fast jede bedeutendere Bibliothek zählt solche. Auch
bei den mittelalterlichen Schriftstellern können wir die Früchte der Seneca-
lektüre aufweisen. Die quaestiones naturales waren das hauptsächlichste
Lehrbuch der Physik im Mittelalter.
Auch nach dem Wiederaufleben der Wissenschaften behauptete Seneca
noch seinen Platz; ausgezeichnete Philologen wie Lipsius, ferner J. F. Gronov
widmeten ihm ihre Kraft. Besonders in Frankreich erfreute sich der Philo-
soph der grössten Popularität, da er etwas dem französischen Esprit Ver-
wandtes zeigt. Die hervorragendsten Schriftsteller dieses Landes beschäf-
tigten sich mit ihm; so schrieb Diderot einen Essai über sein Leben und
seine Schriften. In Deutschland dagegen konnte der Philosoph es niemals
zu einer echten Popularität bringen. Erst in neuerer Zeit hat man auch
bei uns angefangen, ihm Aufmerksamkeit zuzuwenden.
472. Rückblick auf die proBaische Schriftstellerei Senecas. —
Beurteilung. Nachdem wir die verschiedenen prosaischen Werke Se-
*) Kein £xzerpt aus Seneca nimmt Ebebt, ^) Mon. Germ. Script, 7, 746.
Allg. Gesch. der Lit. des Mittelalt. 1*, 581, an. ") Für s. YIII Rossbach p. 14.
422 Römische Litteratnrgeschichte. U. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
necas charakterisiert haben, wird es nützlich sein, eine Übersicht der zeit-
lich bestimmbaren^) zu geben. Die Einschnitte sind das Exil und der
secessus. Sonach erhalten wir folgende Gruppen:
A. Vor dem Exil (vor 41):
Die Monographie Ober die Erdbeben.
Die Schriften über Ägypten und Indien.
Die conaolaiio ad Marciam.
De ira.
B. Im Exil (41—49):
Cansolatio ad Helviam.
Consolatio ad Polyhium,
C. Nach dem Exil (nach 49):
a) Vor dem secessus (vor 62):
De brevitate vUae.
De dementia.
De tranquiUitate animi.
De constantia aapientis.
De beneficiis (vielleicht).
ß) Nach dem secessus (nach 62):
De Otto.
De vita beata (vielleicht).
De Providentia,
Naturales quaeationes.
Epistulae morales.
Wenn wir auf die prosaischen Schriften Senecas, die erhaltenen wie
die verlorenen, zurückblicken, so sehen wir, dass sich dieselben fast aus-
schliesslich der Philosophie zugewendet haben. Aber auch die Philosophie
wird nicht in ihrem ganzen Umfang behandelt, mit ganz entschiedener
Vorliebe bewegt sich Seneca auf dem Oebiet der Ethik. Selbst in die
naturwissenschaftlichen Bücher ist Moralisches oft genug eingewoben
worden. Diese Hervorkehrung der praktischen Seite der Philosophie ist,
wie wir in der Einleitung gezeigt haben, durch die ganze Richtung der
Zeit bestimmt, welche für das Handeln Direktiven haben wollte. Diese
Tendenz der Zeit teilt Seneca vollständig, und hält mit der Verurteilung
der wissenschaftlichen Bestrebungen, aus denen sich kein Gewinn für unser
praktisches Leben ergibt, nicht zurück ; er lächelt über die Antiquare und
Kuriositätenjäger, die Zeit und Mühe an unnütze Studien verschwenden
{debreviLvit.lZ)^ er tadelt selbst die ernsthaften Geschichtschreiber, welche
sich mit dem, was geschehen ist, statt mit dem, was geschehen soll, ab-
geben {Nat quaest, 3 praef.), er will nichts wissen von den Silbensteche-
reien und syllogistischen Spitzfindigkeiten der Philosophen (ep. 88, 42).
Auch die philosophische Arbeit , welche ihren Schwerpunkt in dem Auf-
bau des Ganzen hat, ist unserem Autor gleichgültig. Mit dieser Gering-
schätzung des Systematischen steht der Eclecticismus in Zusammenhang,
dem er entschieden huldigt. Die Lehren, die er vertritt, sind die der Stoa.
Allein die Schroffheit und die Schärfe dieses Systems sind wesentlich ge-
0 Die nichterhaltenen haben wir weniger
berücksichtigt, die poetischen hier ausgeschlos-
sen. Die Zeit der Tragödien (p. 269) ist sehr
schwer mit Sicherheit zu bestimmen. Soviel
lässt sich aber sagen, dass auch diese Pro-
dukte sich nicht auf einen bestimmten Le-
bensabschnitt Senecas beschränken. Die
Äpocolocyntosis ist unmittelbar nach dem Tod
des Claudius (54) verfasst. Die Epigramme,
welche das schreckliche Corsika schildern
(p. 272), stammen natürlich aus dem Exil.
Der Philosoph Beneca. 423
mildert. Man gewinnt aus seinen Darlegungen den Eindruck, dass er sich
mit der menschlichen Schwachheit abfinden will. >) Der stoische Weise ist
ein Idealbild, glücklich derjenige, welcher von sich sagen kann, dass er
diesem Idealbild näher kommt, dass er von Tag zu Tag besser wird. Der
eklektische Zug ist auch in der Stellung, welche er zu den beiden Haupt-
problemen der Philosophie nimmt, deutlich erkennbar. Wir meinen die Frage
nach dem Verhältnis der Seele zu dem Körper, und die Frage nach dem Ver-
hältnis der Welt zu Gott. Dort lag als Problem vor die Körperlichkeit der
Seele und doch wieder ihre Gegensätzlichkeit zum Leibe '), hier die Identität
Gottes mit der Welt und doch wieder die Ausserweltlichkeit desselben in
seinem Wirken als Vorsehung.^) In diesen beiden Kardinalfragen gewinnt
bei ihm der Dualismus das Übergewicht. In Anlehnung an platonische
Anschauungen stellt er den Leib in starken Gegensatz zur Seele, indem
er in dem Leibe ein Hemmnis für das Walten der Seele erblickt. Selbst
in die Seele überträgt er seine dualistischen Anschauungen, da er einen
vernünftigen und einen unvernünftigen Teil derselben unterscheidet. In-
dem er ferner die Gottheit gern als die allwaltende Vorsehung sich
denkt, nähert er sich dualistischen christlichen Anschauungen. Ein solches
Schwanken in den Hauptproblemen beweist, dass ihm die Theorie nicht in
erster Linie stand. Sein einziges Ziel ist die Beantwortung der Frage, wie der
Mensch sein Leben glücklich gestalten könne. Er findet, dass nur derjenige
dies erreichen wird, der von den äusseren Wechselfallen des Lebens sich
unabhängig erhält und den Schwerpunkt in sich selbst hat. Diese innere
Festigkeit, die Tugend muss natürlich erworben werden, sie wird nicht
ohne steten Kampf mit unsern Neigungen und Affekten gewonnen. Die
Philosophie gibt uns die hiezu notwendige Anleitung, sie lehrt uns, unser
besseres Selbst zu pflegen.
Gemäss dieser Stellung Senecas zur Philosophie musste sich auch seine
Schriftstellerei gestalten; sie brauchte keinen grossen Wert auf strenge
Deduktion der Gedanken zu legen, sie konnte in freier zwangloser Weise
die Lehren entwickeln, die Hauptsache war, auf den Willen des Lesers zu
wirken und denselben zu einem bestimmten Handeln anzuregen. Dazu
bedurfte es der eindringlichen Rede. Die rhetorischen Mittel sind stark
ausgenutzt worden, manche Partien, wie die Schilderung des. Weltunter-
gangs {naL quaesL)f können geradezu als rhetorische Schaustücke angesehen
werden. Auch für die Lebendigkeit der Darstellung sorgt der Schrift-
steller, indem er gern den Fortgang der Untersuchung an die Einwürfe
eines fingirten Gegners knüpft und so seiner Betrachtung einen dialogischen
Charakter verleiht. Durch Einstreuung von Beispielen und durch farben-
reiche Bilder aus dem Leben der Gegenwart steuert er der Ermüdung.
Freilich ganz kann dieselbe nicht beseitigt werden. Die fortwährenden
Ermahnungen und moralischen Predigten verlieren zuletzt ihren Reiz, zu-
mal manches aus dem Leben des Autors nicht recht mit seinen Lehren
harmonieren will. Auch folgen wir mitunter nur schwer dem Autor, da
er die streng logische Gliederung sehr in den Hintergrund treten lässt und
0 Zeller, Die Philos. d. Griech. 3, 1> ') Zelleb p. 707.
p. 717. ») Zelleb p. 702.
424 Römische Litteratargeschichte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
daher ein leitender Faden oft nur schwer sich auffinden lässt. *) Trotzdem
zieht uns manches zu dem Philosophen hin. Er ist ein geistreicher Kopf, der
überallhin seine Geistesblitze leuchten lässt. Auch ist ihm Hoheit der
Gesinnung und aufgeklärte Denkungsart eigentümlich. Wenn er das
Walten Gottes und die Gleichheit der Menschen erörtert, glauben wir mit-
unter die Stimme eines Christen zu vernehmen. Originell ist auch sein
Stil. Derselbe ist so stark ausgeprägt, dass es leicht ist, sofort ein Schrift-
stück Senecas zu erkennen. Seine Darstellungsweise stellt sich in scharfen
Gegensatz zu dem Ciceronischen, indem sie die Periodologie absichtlich bei
Seite setzt. Sie liebt die Sätze ohne Verbindung aneinander zu reihen;
man hat mit Recht von einem zerschnittenen Stil gesprochen. Fast jeder
Satz ist zugespitzt und erhält durch Antithese, einen gesuchten Aus-
druck oder eine eigentümliche Verbindung etwas Manieriertes. Oft ist es
ein Spiel mit den Gedanken, in dem sich der Philosoph ergeht. Es ist eine
stark gewürzte Kost, welche uns vorgesetzt wird, die Sehnsucht nach ein-
facher, gesunder Nahrung überkömmt uns daher nicht selten bei der Lektüre
seiner Schriften.
Über ^ie Philosophie Senecas: Zeller, Phüos. der Griech. 3, V, 693: Holz-
herr, Der Philosoph Seneca, Gvmnasialprogr. von Rastatt 1858 u. 1869; W. Ribbeck, L. A.
S. der Philosoph und sein Verhältnis zu Epikur, Plato und dem Christentum, Hann. 1887.
Ausgaben der prosaischen Schriften von J. Lipsius, Antwerpen 1605; von
Ruhkopp (5 Bde.), Leipz. 1797—1811; von Fickebt (3 Bde.), Leipz. 1842—1845 (unmetho-
dische Arbeit); von Haase (3 Bde.), Teuhneriana (treflFliche Textesausgabe). — Einzel-
ausgaben: Dialogorum Uhri XII rec, Gertz, Kopenhagen 1886; De henef. et de dem, ed.
Gertz, Berl. 1876 (beides rühmenswerte Leistungen); Epistolae ed, ^CB^isiQnkv^isR^ Strassb.
1809; Not. Quaest. ed, Köleb, Gott. 1819.
6) Die Fachgelehrten.
1) Die Encjklopädisten.
A. Cornelius Celsus.
473. Die Encyklopädie des Gelsus. Die Vorliebe der Römer für
encyklopädische Gelehrsamkeit ist bekannt. Ihrem praktischen Sinne sagte
die mehrere Wissenszweige zusammenfassende und sich demgemäss aufs
Notwendige beschränkende Schriftstellerei in hohem Grade zu. Schon im
Beginn der römischen Litteratur stossen wir auf ein solches Werk des alten
Cato (§ 66). Dann hatte Varro die Encyklopädie der at-tes liberales begrün-
det (§ 188). Die ßegierungszeit des Tiberius spendet uns endlich die
Encyklopädie des Celsus. Das Werk führt in der handschriftlichen Über-
lieferung den Titel „Artes^; von demselben hat sich aber nur die Partie
erhalten, in welcher die Medizin abgehandelt wird. Das erste Buch der Medi-
zin ist zugleich das sechste der Artes ; sonach gingen fünf Bücher voraus ;
diese erörterten die Landwirtschaft, denn er citiert sie in der Medizin
(5, 28, 16) und knüpft deutlich in den Eingangsworten die Medizin an
die Agrikultur an.^) Auch ist uns anderweitig bezeugt, dass wirklich die
landwirtschaftliche Schrift des Celsus aus fünf Büchern bestand. Ausser
der Landwirtschaft wurde auch das Kriegswesen, die Beredsamkeit und die
*) Es war daher ein sehr glücklicher
Gedanke Haasens, die Lektüre dadurch zu
erleichtem, dass er die den Fortschritt der
Untersuchung begründenden Stellen mit ge-
sperrter Schrift drucken liess.
'^) ut alimenta sanis corporibus agricul-
Iura, sie aanitatetn aegris medicina promittit.
A. Comelina Celans. 425
Philosophie durchgenommon. Schlussfolgerungen aus Quintilian endlich
führen auch noch auf eine Behandlung des bürgerlichen Rechts. Sonach
bestand die Encyklopädie aus sechs Teilen, die wahrscheinlich also an-
geordnet waren; 1) Landwirtschaft, 2) Medizin, 3) Kriegswesen,
4) Rhetorik, 5) Philosophie, 6) Jurisprudenz. Diese einzelnen Teile
werden successive erschienen sein, allein wie das Vorhandene erkennen
lässt, wurden sie schon von dem Autor zu einer Einheit verknüpft.
Aus der Inhaltsangabe erhellt, dass die Disziplinen zu einem Ganzen ver-
einigt waren, welche für den gebildeten Römer unbedingt notwendig waren.
Eine Ausnahme macht nur die Medizin; ihre Aufnahme in den Kreis der ency-
klopädisch behandelten Disziplinen befremdet sehr, denn die Ausübung der
Heilkunde lag fast ganz in den Händen von Oriechen und zwar grössten-
teils von Freigelassenen. Zur Erklärung dieser auffallenden Erscheinung
kann einmal das Beispiel Catos angeführt werden, welcher ebenfalls die
Medizin in seine allgemeine Unterweisung aufgenommen hatte, allein dort
wurden praktische Oesundheitsregeln gegeben, hier aber haben wir eine
wissenschaftliche Darstellung der Medizin. Ich vermag nur eine Erklä-
rung zu geben, dass nämlich Celsus die Medizin deshalb auch behandelt
hat, weil es eine Disziplin war, die er erlernt hatte. Ein Laie kann
ja kaum auf den Gedanken verfallen, ein medizinisches Lehrbuch zu
schreiben. Selbst wenn sich der Autor an Autoritäten anlehnen will, sind
Fachkenntnisse nicht zu entbehren. Die Darstellung der übrigen Diszi-
plinen lag dagegen jedem gebildeten Römer nahe, Rhetorik und deren Hilfs-
disziplinen Philosophie und Jurisprudenz waren Gegenstände des Unter-
richts ; auf Ackerbau und Kriegskunde führte die Praxis. Für die Rhetorik,
Philosophie, die Jurisprudenz und den Ackerbau fehlte es übrigens auch nicht
an reichen heimischen Hilfsmitteln. Auf diese musste der Encyklopädist in
erster Linie rekurrieren. Und für Celsus können wir den Nachweis liefern,
dass er in der landwirtschaftlichen Abteilung Cato, die Sasernae, Mago,
Julius Atticus, Hyginus benutzte. In der Medizin war er auf Griechen ange-
wiesen, wie auf Hippokrates, Asklepiades und andere. Bei den andern Fächern
reicht das Material nicht aus, um die Quellen zu erkennen ; nur bezüglich des
philosphischen Standpunkts des Celsus ist uns die Kunde geworden, dass er
sich der Lehre der Sextier (Quint. 10, 1, 126) angeschlossen hatte. Die Spuren
der Benutzung der Encyklopädie ziehen sich ziemlich weit hinab ; der Mili-
tärschriftsteller Vegetius und der Rhetor Fortunatianus eitleren Teile aus
derselben. Früher wurde die landwirtschaftliche Partie von Columella und
Plinius fleissig herangezogen, und selbst Quintilian konnte an der Rhetorik
nicht vorübergehen, wenngleich sie nicht seinem Geschmacke entsprach.
Celsus' Stellung zur Medizin. Dass Celsus Fachmann war, ergibt sich aus den
iStellen, wo er gegenüber dissentierenden Anschauungen eine eigene Meinung vorbringt,
z. B. 3, 24 ego ubique^ si natis virium est, vtüidiora, si parum, imbecilliora auxilia praefero.
3, 4 ego autem medicament&rum dari pofiones, et ahum duci non nisi raro dehere eoncedo.
3, 11 ego tum hoc puto tentandum, cum parum cibus, semel et post febrem datus, prodeat,
S, 4 sed muUo melius est ante emplastra experiri, quae calrariae causa romponuntur, 7, 7, 6
ego sie restituium esse neminem memini. Ob Celsus die Medizin berufsmässig oder dilet-
tantisch betrieb, ist für die litterarhistorische Betrachtung eine sekundäre Frage.')
*) Die für die familia rustica bestimmten Yaletudinarien geben für die dilettantische
Praxis reiche Gelegenheit (Haseb, Gesch. der Medizin 1,278).
426 ROmiflohe LitteratargeBchichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1 Abteilnng.
Die einzelnen Teile der Encyklopädie. Quint. 12,11,24. Quid plura? cum
ei Ulm Cornelius CeUus, mediocri vir ingenio, non solum de his omnibus conscripserit ar-
Obus, sed amplius rei militaris et rusticae et medicinae praecepta reliquerit, dignus
vel ipso proposito, ut eum scisse omnia illa credamus.
a) Die libri rei militari« werden auch von Vegetius bezeugt (r. mi/»/. 1,8): haec
necessitas compulit evdutis auctoribus ea me — fidelissime dicere, quae Cato iUe Censorius
de disciplina militari scripsU, quae Cornelius CelsuSy quae Frontinus persfrin-
genda duxerunt.
ß) Die libri rei rusticae, Columella 1,1,14 Cornelius (Celsus) totum corpus dis-
ciplinae (nämlich rei rusticae) quinque libris complexus est; Reitzenstbin (p. 34) bestinunt ver-
mutungsweise den Inhalt der fOnf Bücher also: I de agrorum cuUu; n. de pitibus et arbo-
ribus (?); III de re pecuaria; IV de pillatica paetione; V de apibus und gibt eine darnach
geordnete Fragmentensammlung in Citaten (De scriptorum rei rusticae libris deperdüis p. 55).
y) Die erhaltenen libri medicinae werden im folgenden Paragraphen be-
sprochen.
d) Libri rhetorici. Quint. 3, 1, 21 scripsit de eadem materia .... nonnihil pater
Gallio, accuraiius vero priores [Gallione] Celsus et Laenas et aetatis nostrae Verginiwt,
PliniuSj Tutilius, Citiert wird die Rhetorik auch von Fortunatian. 3, 2. Ob Schol. zu Juv.
6,245 „Septem libros institutionum reliquit^ auf unsem Celsus bezogen werden kann, ist
nicht sicher.
b) Der philosophische Teil der Encyklopädie ist nicht leicht zu bestimmen.
Wir haben zu scheiden:
a)Dieopinionesphilosophorum. August. de haeres.proh schreibt: opiniones omnium
pkilosophorum qui sectas varias condiderunt usque ad tempora sua [neque enim plus poterat)
sex non parpis voluminibus quidam Celsus absolvit; nee redarg uit cdiquem, sed tantum quid
sentirent aperuit ea brevitate sermonis, ut tantum adhiberet eloquii, quantum rei nee lau-
dandae nee rituperandae nee affinnandae aut defendendae , sed aperiendae indicandaeque
sufficeretj cum ferme centum philosophos nominasset: quorum non omnes institueruni hae-
reses proprias, quoniam nee illos tacendos putavit qui suos m<igistros sine ulla dissensione
secuti sunt,
b) Philosophisches im Sinne der Sextier. Quint. 10,1,124 scripsit nonparum
multa (de philosophia) Cornelius Celsus Sexiios secutus non sine cultu ae nitore.
Die gewöhnliche Ansicht ist nun die, dass die opiniones pkilosophorum einen Teil
der Encyklopädie bildeten, während die Sextischen Abhandlungen ausserhalb derselben
stünden. Allerdings muss man als ausgeschlossen betrachten, dass Quintilian sich auf jene
6 Bücher bezieht. Dies ist aber doch sehr auffallend ; Quintilian hatte einen Teil der En-
cyklopädie, die Rheterik, berücksichtigt, er kannte also das Werk, warum sollte er einen
andern Teil der Encyklopädie, und dazu noch einen sehr umfangreichen, bei seinem Urteil
über die philosophische Schriftstellerei gänzlich unberücksichtigt lassen und zu diesem
Zweck Schriften heranziehen, die ausserhalb des Corpus stenden? Der Gedanke, dass
jene ojnniones nicht den wahren philosophischen Stil des Celsus zeigten, ist doch nicht zu-
lässig. Weiterhin müsste dann die philosophische Partie der Schrift einen ganz andern
Charakter gehabt haben als die der Medizin und der Rlieterik. Dort würde er nur
eine Geschichte der Disziplin gegeben haben, hier aber diese Zweige selbst. Meine Bo-
denken, ob bei Augustin unser Celsus gemeint sei, sind daher auch durch die Opposition
Schwabens noch nicht beseitigt. Richtig ist, dass ein zweiter Celsus nicht bekannt ist
Allein wir kennen einen Celsinus, der ein Werk geschrieben, wie das war, welches
Augustin in den Händen gehabt, vgl. Süidas s. v. KeXaTyog EvduiQov KaaraßaXevg tpiX6üo<pog
iyQoipe avyayioyrjy doyfdaztay ndarjg algiaetag (ptXoaötpov. Vielleicht ist daher Celsinus
statt Celsus bei Augustin zu lesen.
C) Die juristischen Bücher werden lediglich aus Quint. (12,11.24) gefolgert.
Der Titel der Encyklopädie. In der handschriftlichen Überlieferung wird dsts
erste Buch der Medizin als 1. VI Artium citiert; es führte sonach die Encyklopädie den
Titel „Artes". Dem gegenüber hat Berkats, gestützt auf ein von Ritschl, praef. Bacch,
ed. II p. VF, mitgeteiltes Scholion Celsus libros suos a varietate rerum cestos vocavit den
Titel „Cestus^ für die Encyklopädie in Anspruch genommen (Ges. Abb. 1,35). Allein der
Titel ist, abgesehen von der trüben Quelle, der er entnommen ist, schon darum ver-
dächtig, weil Celsus griechische Bezeichnungen soviel als möglich vermeidet.
Die Zeit des Werks. Die Medicin muss früher sein als des Scribonius Rezept-
buch; denn Celsus teilt 4,7 ein Rezept mit, das sich nach seiner Versicherung in keinem
medizinischen Werk findet, das aber mit dem entscheidenden Bestandteil bei Scribonius
vorkommt (c. 70). Celsus muss also sein medizinisches Buch vor Scribonius, d. h. vor 47. S
geschrieben haben. Auch die landwirtschaftliche Schrift liefert uns einen terminus ante
quem, Plin. h. n. 14, 33 sagt: Graecinus, qui alioqui Celsum transscripsit. Julius Graecinus.
A. ComtiliiM Celans.
427
der Vater des Agricolai schrieb ein Werk devineiSf in dem er sich also an Celsus an-
schloss. Sein Tod fällt in das Jahr 38 n. Ch. Folglich muas der landwirtschaftliche Teil
der Encyklopädie und da diese den Anfang bildet, diese selbst vor 38 geschrieben sein.
Damit wären wir in die Tiberische 2ieit gelangt. Da aber die medizinischen Bücher nach
23 V. Ch. fallen, (vgl. meine Abh. p. 363) und Colnmella 1, 1, 14 Gelsns und Julius Atticus
als noatrarum temporum viri dem Yergil und Hjgin gegenüberstellt, so werden wir die
schriftstellerische Thfttigkeit des Celsus von der 2ieit Tibers nicht weiter zurücklegen dürfen.
Litter atur: Eissbl, Celsus, eine bist. Monographie T, Giessen 1844; O.Jahn (Über
römische Encyklopädien) in den Berichten der sächs. GeseUsch. der Wissensch. II. Bd. (1850
p. 263) ; M. Schanz, Über die Schriften des Cornelius Celsus, Rhein. Mus. 36, 362 (dazu
Schwabe, Hermes 19,385).
474. Die Medizin des Gelsns. Mit einer interessanten Einleitung
beginnt das Werk; zuerst wird die Entstehung der Heilkunde erörtert,
dann wird die Gliederung derselben vorgeführt; sie zerfällt in drei Teile,
in denjenigen, welcher durch Regelung der Lebensweise (Diätetik), den-
jenigen, welcher durch Medikamente (Pharmakeutik), endlich den, welcher
durch manuelles Eingreifen heilt (Chirurgik). Daran schliesst sich eine
ausführliche Darlegung des Gegensatzes der beiden medizinischen Schulen,
der rationellen Richtung, welche alles Schwergewicht auf die Erkenntnis
der Ursachen legt, und der empirischen, welche sich auf den Erfolg der
Heilmittel stützt. Celsus nimmt eine vermittelnde Stellung ein, doch neigt
er sich mehr auf die Seite der Theoretiker*), er verurteilt zwar das Ex-
periment an lebenden Körpern, hält dagegen das an toten für notwendig.
Nach dieser Einleitung schreitet er zu seiner Aufgabe. Das erste Buch
handelt über die Lebensweise im allgemeinen unter Berücksichtigung der
verschiedenen Individualitäten und krankhaften Dispositionen. Das zweite
Buch enthält die allgemeine Pathologie, und erörtert das Verhältnis der
Jahreszeiten, der verschiedenen Alter zu den Krankheiten, die An-
zeichen eines krankhaften Zustandes im allgemeinen, die Symptome der
einzelnen Krankheitszustände und die prognostischen Momente; der all-
gemeinen Pathologie folgt die allgemeine Therapie. Die zwei folgenden
Bücher wenden sich zu den einzelnen Krankheiten, das dritte bespricht
die Krankheiten, die dem ganzen Körper zugeschrieben werden müssen,
wie z.B. Fieber, Wahnsinn; das vierte diejenigen, die ihren Sitz in den
einzelnen Körperteilen haben. Dies macht zuerst eine anatomische Über-
sicht notwendig. Die Darstellung fängt mit dem Kopfe an. In beiden
Büchern hatte die Therapie mehr einen allgemeinen Charakter, alle Momente,
die zur Heilung führen können, waren berücksichtigt, nicht bloss die Me-
dikamente; in den beiden folgenden (5 und 6) Büchern wird die Lehre
von den Arzneimitteln systematisch durchgeführt und eine grosse Anzahl
von composifiones mitgeteilt. Mit dem siebenten Buch wird die Chirurgie
in Angriff genommen; lesenswert ist die Aufzählung der für einen guten
Chirurgen notwendigen Eigenschaften.^) Die Knochenerkrankungen sind
einem eigenen Buch, dem achten, reserviert.
Es steht uns natürlich nicht zu, über den sachlichen Wert des Buchs
^)prooem. (p. 8 Dakkmb.) ista naturae
rerum contemplatio, quamris non faciat me-
dicum, apti&rent tarnen medicinae reddii.
2) Z. ß. 7 praef (p. 263 Daremb.) mu^e-
ricors sie, ut mnari relit eunty quem accepit,
non tä clamore eitis motwi vel magis quam res
desiderat proper et vel minus quam necesse est
seceif sed perinde faciat omnia ac si nullus
ex ragitibus aUerius affedus oriatur.
428 Komische Litteraturgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
ein Urteil abzugeben. Nur soviel darf gesagt werden, dass die Abhängig-
keit des Celsus von den Griechen oflFen vorliegt. Dadurch ist er eine Haupt-
quelle für die Geschichte der Medizin seit Hippokrates geworden; wir
lernen durch ihn 72 verlorene medizinische Autoren *) kennen. Sein Ver-
dienst muss also in der Form gesucht werden. Hier muss ihm aber volles
Lob zu teil werden. Des Autors Sprache ist rein und einfach und hält sich
von allem rhetorischen Schwulste frei ; von den Rezepten abgesehen, ermüdet
uns die Lektüre durchaus nicht, öfters tritt uns auch die Persönlichkeit
des Schriftstellers näher, wie wenn er sagt, dass nur unbedeutende Geister
nicht gern einen Irrtum eingestehen, dass aber die genialen Menschen
eine irrtümliche Ansicht leicht über Bord werfen können, da ihnen selbst
dann noch genug des Eigenen bleibt (8, 4).
Die Überlieferung. Alle Handschriften stammen aus einem und demäelben
Exemplar, da sie dieselbe grosse Lücke im vierten Buch (c. 27) haben. Die ältesten Hand-
schriften sind der Vaticanus 5951 s. X, der Laur. 73, 1 s. XFI und der Parisinus 7028 s. XI.
Ausgaben ex rec. Targae mit .einem lexicon Cehianum 1810; von Ritter und
Albebs, Köln 1835, Dabemberg Leipz. 1859.
Die Monographie über den Partherkrieg. Jo. Lydus de magistrcUthus 1, 47
(p. 208 Fuss) nniotaro Kiavaxttyrivoq — ^17 eivni ^{fdioy aXXwg xatanoXefuj&rjyat. Jlegaag
fdij eSaTiiyrjg avioig inixsofisytjg i(p6dov • Kai ovyyQttfprjy nsQt tovtov fioyijgrj KiXaog, 6 'Ptth-
fittlos tttxzixog, anoXeXoiTjef aagxog dyadiddaxtoy, uis ovx dXXtas JliQant 'Putf^aloig TtaQaarij-
aoyrui, ei fitj ai(pyidltog Big irjy ixelytoy j^toqrty 'Piouaioi yyofpov dixfjy iyaxtjiffovaiy. — ly
yctQ dvaj^wQitt niqüaig InnrjXnTOvav dvaifißaiog ' of^ey «tpogrjzog avxoTg 6 KovQßoXiay ini
lov Negatyog iq>dytj. Die Schrift bezieht sich auf Corbulos Feldzug und fällt etwa 63 n.
Ch. Ich habe leise Zweifel angedeutet, ob diese Monographie von unserm Celsus her-
rührt, wenn es auch wahrscheinlich ist, dass Lydiis den Verfasser der Monographie dafür
hält (vgl. noch 1, 17). Das Gleiche that, ohne, wie es scheint, von meiner Abhandlung
Kenntnis gehabt zu haben, Reitzenstein p. 31 Anm. 50.
2) Die Grammatiker.
1. Q. Remmius Palaemon.
475. Die verlorene Ars des Palaemon. Der Grammatiker war der Sohn
einer Sklavin in Vicenza. Er erlernte das Weberhandwerk, als er aber den
Auftrag erhielt, den Sohn des Herrn in die Schule zu begleiten, benutzte er die
Gelegenheit, sich eine höhere Bildung anzueignen. Später freigelassen er-
öffnete er eine grammatische Schule und verstand es, sich zu hohem An-
sehen emporzuringen, obwohl sein sittliches Leben anstössig war und sogar
die Kaiser Tiberius und Claudius vor seiner Schule öffentlich warnten;
die grosse Anziehungskraft, die er ausübte, lag in seinem stets paraten
Wissen und in seiner völligen Herrschaft über das lebendige Wort. Sein
Selbstgefühl war sehr stark entwickelt, er prahlte, dass mit ihm die Wis-
senschaft zur Welt gekommen sei und mit ihm auch wieder ins Grab sinke;
er versicherte, dass der in den Bucolica Vergils zum Schiedsrichter erwählte
Palaemon eine prophetische Hinweisung auf ihn als künftigen Kritiker der
Dichter enthalte, er erzählte, dass Räuber, denen er einmal in die Hände
fiel, ihn unbehelligt Hessen , als sie seinen Namen hörten. Gross waren
seine Luxusbedürfnisse; obgleich ihm seine Schule reiche Honorare ein-
trug und er auch noch durch andere Unternehmungen, besonders durch
*) Haseb, Gescb. der Medizin l',280.
Q. RemmiuB Palaemon. — Q. Asconius Pedianus.
429
rationellen Betrieb der Landwirtschaft grosse Einnahmen erzielte, so reichte
doch dies alles für seine Bedürfnisse nicht aus (Suet. gr. 23).
Palaemons Bedeutung für die Litteratur liegt in seinem Lehrgebäude
der lateinischen Grammatik, in seiner Ars. Zwar war er auch Improvi-
sator von Gedichten und um seine Kunst zu zeigen, versuchte er sich in
den schwierigsten Metra. Allein diese Spielereien scheinen nur eine
ephemere Wirkung gehabt zu haben. Dagegen erstreckte sich der Eiufluss
seiner Ars bis auf die spätesten Zeiten. Leider ist uns dieselbe nicht er-
halten; doch können wir dieselbe einigermassen restituieren. Am dien-
lichsten ist uns für diesen Zweck Gharisius, der ganze Partien aus dem
Werk herübergenommen hat. Gewisse Kriterien, die man gefunden hat,
erleichtern die Aufgabe.
Schottmüllers Hypothese. Schottmüllbb (p. 31) spricht die Ansicht aus, der von
Gharisius benutzte Palaemon sei ein (gallischer) Grammatiker des vierten Jahrhunderts,
den Apollinaris Sidonius ep. 5, 10 erwähne. Allein seine Gründe sind sehr unzureichend.
Vgl. Keil 5, 334; Ghbist, Philo]. 18, 125; Mobawski p. 352; Mabschall p. 8— 20. Dass
ein Buch, welches aller Wahrscheinlichkeit nach als Unterrichtsmittel diente, vielen Inter-
polationen und Verschlechterungen ausgesetzt ist, liegt auf der Hand. Auch durch die
indirekte Überlieferung hat das Werk Schaden genommen.
Apokryph ist eine den Namen des Palaemon tragende Ars, welche bei Ebil 5,
533 steht.
Die Versuche zur Restitution des Palaemon. SchottmOlleb, De C. Plini
Secundi libris grammaticut, Bonner Diss. 1858 tritt in eine Untersuchung der Bestandteile
des Gharisius ein (p. 24) und wird dadurch auch zu einer Ausscheidung des Palaemon ver-
anlasst. Es folgt Mobawski , Quaest. Charts, (Hermes 11, 339), der ebenfalls Kriterien
für die Palaemonischen Bestandteile gewinnt. Wiederum einen Schritt weiter that Mab-
SCHALL, De Q, Remmii Falaemanw libris grammaticis, Leipz. 1887, welcher nicht bloss den
Gharisius, sondern auch den Dositheus, die Exzerpte Bobiensia zur Restituierung der Ars
herbeizog. Der Versuch, den Julius Romanus aus Gharisius zu gewinnen, hat neuerdings
auch Fböhdb (De C. Julio Romano Charisii auctore in Fleckeis. Jahrb. Supplementb. 18,
567) auf die Palaemonische Frage geführt Trotz der Verdienstlichkeit dieser- Versuche
fehlt uns noch immer die rekonstruierte Ars. Nur eine möglichst umfassende Analvse
der gesamten vorhandenen grammatischen Litteratur der Römer ') (nach MüLLEMHOFF^scher
Methode) verspricht abschliessende Resultate. Mit Stückwerk ist hier nichts gethan.
2. Q. Asconius Pedianus.
476. Des Asconius historischer Kommentar zu den Beden Ci-
ceros und seine verlorenen Schriften. Die litterarisch-historische Seite
der Philologie wird in ausgezeichneter Weise durch Q. Asconius Pedianus,
wahrscheinlich aus Padua stammend ^), vertreten. Einem Funde Poggios in
St. Gallen verdanken wir einen Kommentar desselben zu folgenden Reden:
1) contra L. Pisonem (55 v. Ch.)
2) pro M. Scauro (54 v. Ch.)
3) pro Milane (52 v. Ch.)
4) pro Comelio de maiestaie (65 v. Ch.)
5) in toga Candida contra C, Äntonium et L. Catilinam competitores (64 v. Ch.).
Ursprünglich scheint derselbe noch ausgedehnter gewesen zu sein,
ein Fragment zu der zweiten Rede pro Comelio am Schluss des Kommen-
tars zur ersten lässt auf einen Ausfall mehrerer Blätter schliessen. Der
erhaltene Teil wurde in Rom zwischen 54 und 57, also zu Anfang
der Regierung Neros geschrieben. Allein der ursprüngliche Kommentar
') est profecto fere nemo grammaticus
posterioris aetatis latinus, quin Palaemonis
librum adierit (Mabschall p. 81).
^) 68, 17 sagt er Livius noster. Auch
weisen Inschriften Asconii in Padua nach.
430 Komische Litteraturgeschichte. n. Die 2eit der Monarchie. 1. Abteilung.
umfasste noch viel mehr Reden, denn aus Gellius 15, 28, 4 folgt, dass Asconius
auch einen Kommentar zur Rede für Sex. Rosciu aus Ameria geschrieben ;
auf Kommentare zu anderen Reden führen Verweisungen in dem vor-
handenen Kommentar. Diese kommentierten Reden waren, wie sich aus
den Eingängen des Kommentars zur Scauriana und zur Rede in toga Can-
dida, besonders aber zur Comeliana ergibt, nach der Zeit geordnet; es ist
daher die obige überlieferte Reihenfolge nicht die richtige.
Sein Werk bestimmte Asconius für seine Söhne (38,20). Da diese
öfters angeredet werden, so erhält dasselbe einen familiären, gemütlichen
Ton. Der Charakter des Kommentars ist ein rein historischer;
die grammatisch-rhetorische Seite bleibt völlig unberücksichtigt. Seine
Aufgabe hat Asconius meisterhaft gelöst. Mit der grössten Sorgfalt zieht
er alles heran, was sich aus den übrigen Schriften seines Autors für die
Erkenntnis des Sachverhalts ermitteln lässt, dann sieht er sich aber auch
nach andern Quellen um, die acta populi Romani, verwandte Reden, histo-
rische Schriften u. a. werden durchforscht. Nicht zufrieden damit gibt der
gewissenhafte Autor auch öfters noch an, was er ermitteln konnte und
was nicht. Sein Urteil ist überall ein umsichtiges. Die Form, in die er
seinen Kommentar kleidet, ist die, dass er zuerst jeder Rede eine Ein-
leitung vorausschickt, dann einzelne Stellen mit Rücksicht auf die Be-
dürfnisse seiner Söhne erläutert. Sein Stil ist klar und rein.
Die Neuzeit schätzt den Asconius ungemein; alle, die sich mit ihm
beschäftigt haben, sind des Lobes voll über ihn. Aber auch das Altertum
scheint seinen Wert erkannt zu haben; das Lob, das Silius Italiens in
seinem punischen Krieg einem aus Padua stammenden Jüngling Pedianus
zollt (12, 212), werden wir als eine Ehrung des Asconius zu betrachten
haben.
Die Zeit des Kommentars bestimmt sich aus den Worten p. 23,25: possidet tarn
(domum) nunc Largus Caecina, qui consul fuU cum Claudio. Caecina starb vor Oktober
57. Das Konsulat des Caecina und des Claudius fällt ins Jahr 42. Da Asconius aber die
Worte qui consul fuit cum Claudio nicht wohl unter der Regierungszeit des Claudius
schreiben konnte, so würde sich das Intervallum auf 54—57 einengen (Madvig [1828] p. 4).
Die Überlieferung. Der Kommentar ist uns (mit einem fälschlich dem Asconius
beigelegten Kommentar zu einem Teil der Verrinen vgl. § 146, 3) durch eine jetzt verlorene Hand-
schrift von St. Gallen überliefert. Dieselbe wurde im J^u*e 1416 von Poggio und seinen
Freunden Bartholomaeus von Montepulciano und Sozomenos von Pistoja aufgefunden, welche
alle drei von ihrem Fund Kopien nahmen. Von diesen Kopien ist uns die des Bartholo-
maeus von Montepulciano (Laur. 54, 5) und die des Sozomenos (in Pistoia nr. 37) erhalten,
die des Poggio ist (wenn sie sich nicht in Madrid befindet) verloren, dieselbe wurde aber
für ungemein viele Handschriften die Quelle, da Poggio sein Exemplar lesbar gemacht
hatte. Unter diesen apographa stechen hervor der Leidensis 222 und der Laurentianus
50, 4. Ziel der Recension muss sein Wiederherstellung des Sangallensis; diesem Ziele dient
in erster Linie das apogr. Sozomenif in zweiter das apogr. Bartholomaei, endlich in dritter
das wiederum erst aus den apographa zu gewinnende apographum Poggianum.
Litteratur. Massgebende Ausgabe von Kiebslino und R. Schoell, Berl. 1875.
Grundlegende Schrift: Madvio, De Q. Aac. Ped, et aliorum veterum interpretum in Cic, oraU
commentariis, Kopenh. 1828. Dazu appendix critica ebenda 1829.
Seine Quellenforschung. Ober die Quellen handelt Licbtenpeldt, De Q. As-
conti Pediani fontibus ac fide, Bresl. 1888 (Breslauer Philolog. Abhandl. U, Bd. 4. H.). Nur
wenige Proben von seiner Gewissenhaftigkeit: p. 9,24 socrus Pisonis qttae fuerit, inrenire
non potui, videUret quod auetores rerum non perinde in domibus ac famHiis' feminarum,
nisi illustriumf ac virorum nomina tradiderunt p. 32, 27 ha£c, eisi nuUam de his criminibus
nientionem fecit Cicero, tament quia ita compereram, ptUavi exponenda p. 39, 3 ego, uf cu-
riositaii restrae satisfaciam, Acta etiam totius illius temporis persecufus »um (vgl. p. 27, 12)
M. Talerins Probna.
431
p. 43, 7 de oppugnaia domo nttsquam adhur legi p. 82, 17 nwnina harum müHerum nondum
inveni p. 42, 17 quo die periculum hoc adieritf ut Clodius eum ad Regiam paene confecerit,
nusquam inveni; non tarnen adducor ut putem Ciceronem mentitumy praesertim cum adiciat
ut scitis p. 68, 6 inducor magis librariarutn hoc loco esse mendam quam ut Ciceronem
parum proprio verbo usum esse credam.
Die verlorenen Schriften des Asconias.
1) liber contra obtrectatores Vergilii, bezeugt in der Donati vita Vergilii
p. 66, 2 Rbiffersgh. Er wird die Schrift des L. Varius Rufus benutzt haben (vgl. oben p. 61),
allein die hauptsächlichste Quelle, aus der er schöpfte, scheinen die mündlichen Erkundi-
gungen gewesen zu sein, die er einzog (vgl. Donat p. 57, 4 Rbiffebsgh., Servius ad eclog,
4, 11). Auch in dieser Schrift erkennen wir aus den wenigen erhaltenen Fragmenten die-
selbe Gewissenhaftigkeit wie in dem Commentar.
2) eine vita SaVustii, Diese Schrift beruht aber nur auf dem Zeugnis der pseudo-
acronischen Scholien zu Horat. Sat. 1, 2, 41.
3) ein Symposion. Dasselbe ist aus Suidas s. v. 'Jnixiog Mdgxog zu erschliessen.
Dort wird von einem Gastmahl bei Apicius erzählt, an dem ausser Asconius der Konsul
Q. Junius Blaesus (28 n. Gh.), der Gymnastiker Isidoros und andere teilnahmen. Das Ge-
spräch drehte sich um die Ringkunst. Besonders scheint die Bedeutung derselben fQr die
Erreichung eines hohen Alters erörtert worden zu sein. Dieses Gastmahl werden wir nicht
als ein wirklich stattgefnndenes, sondern als ein fingiertes betrachten und demselben auch
das Fragment zuweisen, welches über das hohe Alter der Sammula (Plin. n. h. 7, 159)
handelt und das zur Ansetzung einer Schrift des Asconius über „ Langlebende * Anlass gab.
Vgl. Suidas 1. c. y^Qovteg di akXoi re eXByoy hti rä/yp naXataxQixj xai fiiytoi xai *Iovyiog
BXauTos. (HntzBL, Rh. Mus. 43, 314).
3. M. Valerius Probus.
477. Die Probus- Ausgaben. Sobald eine Litteratur auf eine höhere
Entwicklungsstufe gekommen ist und in Folge dessen eine intensivere
Lektüre der Autoren stattfindet, stellt sich auch das Bedürfnis nach ge-
reinigten Texten ein. Der erste, der nach der von Aristarch ausgebildeten
Methode lateinische Texte kritisch behandelte, war M. Valerius Probus aus
Berytos, dessen Blütezeit in die Regierung Neros fällt.') Lange hatte er
sich um eine Centurionenstelle ^) beworben; als seine Bemühungen von
keinem Erfolg gekrönt waren, wandte er sich den Studien zu. In der
Provinz stiess er auf ältere Bücher, die dort noch gelesen wurden, während
sie in Rom bereits verschollen waren. Die Lektüre reizte ihn, es boten
sich ja sprachliche Probleme dar; nachdem einmal sein Interesse erwacht
war, suchte er noch weiter nach solchen alten Büchern; es glückte ihm,
eine grosse Anzahl zusammenzubringen. Er machte sich nun an die
kritische Bearbeitung derselben. Zum Unterschied von anderen Philo-
logen beschränkte er seine Thätigkeit fast nur auf diese Seite der Philo-
logie, und mit Recht hat man ihn daher den römischen Immanuel Bekker
genannt. Auch hatte er keine eigene Schule, allein im privaten Umgang,
den er einzelnen Personen gewährte, sprach er sich doch hie und da in
zwangloser Weise über seine Probleme aus (Suet. gr. 24).
Die Operationen, in welchen sich die Thätigkeit des Herausgebers
ausprägte, waren nach Sueton das emendare, das distinguere, das adnoiare.
Das emendare setzt sich als Ziel, die durch die Abschreiber in den Text
gedrungenen Fehler zu beseitigen. Um dieses Ziel zu erreichen, war zu-
0 Hieronymus setzt dieselbe ums Jahr
56 an (2, 155 Schöne). Zur Zeit des Martial
scheint er nach 3, 2, 12 noch gelebt zu haben.
') Stbüp will (p. 3) statt centuriatum
geschrieben wissen rigintiviratum.
432 Römische Litteratargeschiohte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
nächst notwendig, ältere korrektere Exemplare sich zu verschaffen. War
dies geschehen und damit eine Grundlage geschaffen, dann erst konnte die
Verbesserung der Fehler durch Vermutung erfolgen. Weiterhin galt es,
den gereinigten Text dem Verständnis des Lesers zu erschliessen, dazu
diente das distinguere, die Interpunktion, welche den vollständigen oder re-
lativen Gedankenabschluss durch Zeichen andeutet. Doch das wichtigste
Geschäft des Herausgebers war die adnotatio, d. h. die Erläuterungen zu
dem edierten Text. Diese Erläuterungen konnten einmal durch kurze
Randbemerkungen erfolgen. Allein daneben war auch ein adnotare durch
ein System von Zeichen (notae) üblich. Die Römer folgten hierin dem
Vorgang der alexandrinischen Grammatiker. Diese Zeichen dienten in
erster Linie dazu, die Textesverderbnisse zu bezeichnen, es gab aber auch
nofae, welche überhaupt auf eine Stelle aufmerksam machten oder auf
irgend eine Besonderheit der Diktion hinwiesen oder Teile des Textes (wie
z. B. Strophe und Antistrophe) markierten. Uns ist ein solches Ver-
zeichnis von Noten erhalten und bei mehreren wird ausdrücklich angegeben,
dass sie von Valerius oder von den Römern gebraucht wurden. Nach dieser
Methode bearbeitete Probus eine Reihe von lateinischen Autoren, Vergil,
Horaz, Lucrez, Terenz und Persius. Seinen Ausgaben wurden Biographien
der betreffenden Autoren vorausgeschickt.
Zeagnisse über die Probus -Ausgaben. Anecdoton Parisinum (aus dem cori.
Parisinus 7530) Keiffersch. Suet. rel. p. 138 heisst es nach Aufzählung der Noten: his solia
in adnotationihus Ennii, Lmcüü et historicarum usi sunt Vargunteius Ennius Aeliusque et
postremo ProhiASy qui illas in Virgilio et Horatio et Liicretio apposuit ut Homero Aristo r-
chus. Wir erhalten sonach folgende Ausgaben des Probus:
a) Die Vergilausgabe vgl. oben p. 63 fg. Spuren dieser Ausgaben liegen uns bei
Gellius und Servius vor. Für seine Methode ist charakteristisch die Äusserung (Gell. 13,
21, 4): in primo georgicon quem ego librum manu ipsius correctum legi, urbis (für urbes)
per i literam scripsU, Sonach war er für seine Vergilausgabe auf das Urexemplar des
Dichters zurückgegangen.
Der den Namen des M. Valerius Probus tragende Kommentar zu den Bucolica
und Georgica hat kaum etwas mit dem berühmten Grammatiker zu thun (vgl. §248,4,
p. 67). Besser dagegen steht es mit der dem Kommentar vorausgehenden vUa (§ 218, 1).
b) Die Horazausgabe. Sichtbare Spuren sind von ihr nicht vorhanden, niemals
erscheint der Name Probus in den Scholien.
c) Die Lucrezausgabe. Auch von dieser Ausgabe können wir die Nachwirkungen
nicht klarlegen.
Allein noch andere Auteren als die in der Stelle genannten scheint er kritisch ediert
zu haben. So lässt sich
d) eine Terenzausgabe nachweisen. Sie ergibt sich aus Donat. zu Ad. III, 2, 25
(323). Quid festinas mi Geta] Probus assignat hoc Sostratae; zu Eun. 1, 1, 1 non eam, ne nunc
quidem] non eam Probus distinguit, iungunt qui secundum Menandri exemplum legunt.
Andere Stellen wie zu Phorm. I, 3, 3 (155) V, 8 (9), 16 (1005) II, 3, 25 (372) Andr. V, 3, 4
(875) Hecyr. prol. 1, 2 (2) Phorm. I, 1, 15 (49) betreffen sprachliche, nicht kritische Be-
merkungen (Steup p. 94 und 97).
e)Dio Persiusausgabe. Hieronym, apol. c. Rufin. 1,16 puto quod puer legeris
Aspri in Vergilfkfn et ScUlustium commentarios, Vuleacii in orationes Ciceronis, Victorini
in diahgos eius et in Terentii comoedias praeceptoris mei Donati aeque in Vergilium et
aliorum in alios, Plaut um ridelicet, Lucretium, Flaccum, Persium atque Lucanum, Hier
wird also ein Kommentar des Persius bezeugt. Es ist keine Frage, dass der Verfasser des Kom-
menters ermittelt werden kann. An Comutus als Verfasser dieses Kommentars darf
nicht gedacht werden (vgl. p. 280). Hieronymus kann nur den M. Valerius Probus gemeint
haben, denn dass dieser auch den Persius kritisch kommentierte, beweist die uns erhaltene
vita, welche in der Überlieferung als „de commentario M, Valerii Probi sublata" eingeführt
M, Valerins Probns.
433
wird.*) Dass diese mta in ihrem Kern dem Valerius Probns angehört, kann nicht be-
stritten werden.
Probus-Ausgaben des Plautus und Sallust, welche Strup seinem jüngeren
Probus vindizieren will (p. 132, p. 130), können nicht sicher erwiesen werden.
478. Die grammatischen Schriften des Probus. Obwohl Probus
den Schwerpunkt seiner Thätigkeit in die Herausgabe von Autoren legte,
so konnte er doch auch an den Problemen der Grammatik nicht vorüber-
gehen. Im Gegenteil, die Handhabung der Kritik erforderte genaues Ein-
gehen auf die Eigentümlichkeiten der Sprache und ihr Leben. Und wirk-
lich hinterliess er einen reichen Schatz von Beobachtungen über das alte
Latein; seine Anhänger scheinen nach seinem Tod manches daraus publi-
ziert zu haben. Er selbst edierte dagegen nur weniges über ganz spezielle
Probleme. Aber aus seinen mündlichen Erörterungen drang auch manches
in die Öffentlichkeit.^) Gellius lagen ohne Zweifel grammatische Abband-
lungeii unter dem Namen des Probus vor. Uns ist nur ein einziges Pro-
dukt erhalten, es ist ein Verzeichnis von Abkürzungen, welche auf Setzung
der Anfangsbuchstaben der betreffenden Wörter beruhen. Dieser kurze
Traktat zerfallt in vier Abteilungen, zuerst werden die Abkürzungen auf-
gelöst, welche in den amtlichen und in den historischen Schriften zur An-
wendung kamen, es sind dies besonders die Eigennamen. In den übrigen
drei Abteilungen handelt es sich um juristische literae singulares, es sind
die Abkürzungen in den Volksbeschlüssen, in den Legisactionen, endlich in
den Edikten. Der Schluss der in den Edikten vorkommenden Abkürzungen
fehlt in den Handschriften des Traktats, das Fehlende kann jedoch aus
einer Einsiedler Sammlung (nr. 336) zum Teil ergänzt werden. Das Ganze
scheint nur der Auszug aus einem grösseren Werk zu sein, das vielleicht
noch andre notae behandelte. Der Überlieferung, welche die Abhandlung
dem Valerius Probus zuteilt, zu misstrauen, haben wir durchaus keinen
Grund; denn die Zeitindizien reichen gerade bis zu unserem berühmten
Grammatiker und nicht darüber hinaus. Dann legt gerade die adnotatio
der Autoren es ihm sehr nahe, sich mit den notae wissenschaftlich zu be-
schäftigen. Endlich werden wir durch ein Zeugnis belehrt, dass es wirk-
lich eine Abhandlung von Probus über das - betreffende Gebiet gab; er
hatte nämlich die Chiffreschrift Caesars behandelt.
Die Schriftstellerei des Probns im allgemeinen. Suet. gr. 24 p. 118 R. nimia
pauca et exigua de quibusdam tninutis quaesHunctUis edidit; reliquit autem non mediocrem silvam
ohservationum sermonia antiqui. — Gell. 15, 30, 5 ego cum Prohi mttitos admodum commen-
tationum libros adquiaierim.
Einzelne verloren gegangene commentationes, 1) Gell. 4, 7,1 wird fQr die Aus-
sprache von Hannibälem und UasdruhäJem auf Probus verwiesen und zwar auf eine epi-
stula ad Marcellum scripta 2) Gell. 17,9,5 est adeo Prohi grammatici commentarius
satis curiose factus de occulta Htterarum significatione in epistularum C. Cae-
saris scriptura 3) Char. p. 212, 7 Probus de inaequalitate sermonis quaerit. Teile
dieser Schrift werden wohl sein «) de dubiis generibus (Priscian. 1, 171, 14); ß) de dubio
perfecto (Priscian. 1, 541, 19). Vgl. Stbüp p. 193. m
Die Schrift über die Abkürzungen. Allem Anschein nach ist auch die im vor-
^) Oben p. 280 sind leider die Klammem
„(durch den Aristarch der Römer Valerius
Probus) " weggeblieben, was zu der Annahme
führen könnte, als sei an der Stelle des
HieronymuB M. Valerius Probus genannt.
Eine Mehrheit von Erklärem mit Teuffel
zu statuieren, dazu gibt die Stelle keinen
entscheidenden Anlass.
2) Gell. 9, 9, 12; 1, 15, 18; 3, 1, 5; 6, 7, 3.
Handbuch der klaas. AltertamswiBseiuschaft. YIO. 2. Teil.
28
434 Römische Litteraturgeschichte. ü. Die Zeft der Monarchie. 1. Abteilimg.
ausgehenden Absatz (nr. 2) angeführte Schrift mit dem erhaltenen Traktat in Zusammenhang zu
bringen, und demnach ein umfassenderes Werk anzunehmen. Die Überschrift des Traktats
„De iuris notarum oder iuris notarum" passt nicht, ist sonach ein späterer Zusatz. Auch
dieses deutet darauf hin, dass wir nur einen Teil einer grösseren Sammlung vor uns haben.
Die beste Überlieferung des Verzeichnisses bietet der Ambrosianus J. 115.
Massgebende Ausgaben von Mohmsen Leipz. Sitzungsber. 1853, 119 und in Keils
gr. 4, 271.
479. Die nnterschobenen Probusschriften. Von den apokryphen
Schriften des Probus sind vor allem diejenigen auszuscheiden, deren Zu-
teilung an Probus nicht auf einem handschriftlichen Zeugnis, sondern nur
auf einer gelehrten Vermutung beruht. So hat der erste Herausgeber des
Schriftchens „De ultimis syllabis ad Caelestinum" Parrhasius dieses
dem Probus zugeteilt. Allein seiner Vermutung geht alle Begründung ab.
Ebenso willkürlich setzte Laurentius Valla einer Scholienmasse Juvenals den
I Namen des berühmten Grammatikers vor (vgl. p. 345). Im Gegensatz zu
I diesen Produkten hat der Name des Probus die Gewähr der handschriftlichen
Überlieferung für sich bei folgenden vier grammatischen Arbeiten, die wir
zwei jetzt in Wien befindlichen, ehemals nach Bobio gehörigen Hand-
schriften, Vindob. 16 s. Vll/Vm und Vindob. 17 s. VHI/IX, und einem Va-
ticanus s. VI/VII verdanken.
1) Catholica ProbU) Die Schrift, welche mit dem liber de ultimis
syllabis der Vindobonensis 16 erhalten hat, handelt über die Deklination
der Nomina, dann über die Konjugation der Verba, endlich über die rhyth-
mischen Satzausgänge (GL. 4, 3).
2) Die Inst It Ufa artium, über die acht Redeteile, stehen im Vati-
canus, daher auch Ars Vaticana genannt, und im Vindob. 17 (GL. 4, 47).
3) Die Appendix Probi. Dieser Traktat besteht aus verschiedenen
Verzeichnissen; das erste bezieht sich auf das Nomen (z. B. Zusammen-
stellung von Beispielen des Ablativausgangs, von Pluralia tanfum u. a.),
das zweite gibt Beispiele über den Gebrauch der Casus u. a., das dritte
gibt eine Gegenüberstellung der richtigen und der falschen Schreibung
einer Anzahl von Worten; für die Lehre von der Aussprache ist dieses
Verzeichnis von der grössten Wichtigkeit. Am Schluss erscheint eine
Tabelle von differe^ttiae. Ein Teil dieser Tabelle (p. 199, 18—201, 10) ist
auch in dem Montepessulanus 306 überliefert und trägt hier die Über-
schrift „Differentiae Probi Valerii", während in dem Vindob. 17 die Ap-
pendix anonym überliefert ist. Diese Ajipendix setzt eine Benutzung der
Instituta artium voraus 2) (GL. 4, 193).
4) De yiomine excerpta wird in dem Vindob. 16 als ein Werk des
Valerius Probus bezeichnet. Diese Abhandlung ist aber aus verschie-
denen Grammatikern zusammengestellt^) (GL. 4, 207).
Das sind die Produkte, in welchen die Überlieferung ganz oder wie
bei Nr. 3 teilweise für Probus eintritt. Allein- wie wenig Wert dieser
Überlieferung beizumessen ist, zeigen die CatJwlica. Schon längst hatte
man erkannt, dass zwischen dieser Schrift und den Instituta solche Diffe-
*) Eingeführt mit den Worten: quoniam
instituta artium sufflciettter tractavimuSj nunc
üe cathoUcis nominum verborumque
rationibus doceamus,
«) Stbup p. 170 fg.
*) Steup p. 175.
H. Talerins Probns. 435
renzen bestehen, dass unmöglich an eine und dieselbe schriftstellerische
Individualität gedacht werden kann. In den Catholica ist die Schreibweise
kurz und gedrungen, in den InstUuta dagegen ungemein weitschweifig;
dort finden sich noch Überreste antiker Oelehrsamkeit, hier aber Sonder-
barkeiten und Absurditäten. Auch weichen die in beiden Schriften vor-
getragenen Lehren so voneinander ab, dass nicht einmal die Annahme
zulässig erscheint, dass die gleichen Quellen benutzt sind. Diese Be-
obachtungen erhalten eine entscheidende Bestätigung durch die Yer-
gleichung der Catholica mit der Grammatik des Sacerdos; es zeigt sich
eine merkwürdige Übereinstimmung der Catholica mit dem zweiten Buch
der Grammatik des Sacerdos J) Für diese Übereinstimmung ist bloss- die
Erklärung zulässig, dass die Catholica das Eigentum des Sacerdos sind
und nur irrtümlich den Namen des Probus tragen; denn dass nicht etwa
Sacerdos die Catholica als zweites Buch herübergenommen, geht daraus
hervor, dass dieses zweite Buch ganz dieselben Eigentümlichkeiten wie
die zwei übrigen Bücher aufweist, welche doch niemand dem Sacerdos ab-
sprechen kann. 2) Auch wird in den Catholica auf ein vorausgegangenes
Buch hingedeutet. Die Catholica haben also nichts mit Probus zu thun.
Merkwürdig ist aber, dass schon von Grammatikern die Catholica unter
dem Namen des Probus citiert werden. Aber nicht bloss bei den Catholica^
auch bei der Appendix und bei den Excerpta de nomine müssen wir den
Namen des Probus fallen lassen. Die Excerpta sind ja aus verschiedenen
grammatischen Autoren zusammengestellt.^) Die Appendix aber anlangend,
so ist von Wichtigkeit, dass nur ein Stück dem Probus und zwar lediglich
in einer Handschrift zugeteilt wird. Allein dass dieses Stück nichts mit dem
berühmten Grammatiker zu thun haben kann, erkennt man sofort, wenn
man die differentiae näher ins Auge fasst, denn da zeigen sich Spracher-
scheinungen, welche dem Valerius Probus noch gar nicht vorgelegen sein
können. Aber auch an eine Identität des Verfassers mit dem der In-
stituta können wir nicht denken, da in der Appendix eine unverkennbare
Benutzung der Instituta zu Tage tritt. Sonach bleibt uns nur der Probus
der Instituta. Allein dass derselbe nicht mit dem Grammatiker der nero-
nischen Zeit identisch sein kann, haben wir eben angedeutet; dagegen
spricht der ganze Inhalt des Werks, auch ein positives Zeugnis steht uns
zur Verfügung; p. 119, 26 werden die Diocletianischen Thermen erwähnt;
somit kommen wir ins vierte Jahi'hundert.*) Wenn also die Überlieferung
recht hat, so müssen wir neben dem berühmten Berytier noch einen be-
trächtlich jüngeren Probus, den Verfasser der histituta, annehmen. Man hat
nun einen solchen auch anderweitig nachzuweisen versucht; wir kennen
aus dem vierten Jahrhundert einen Probus, der mit Lactantius Firmianus
in Beziehungen stand. Allein es kann nicht dargethan werden, dass dieser
Probus ein Grammatiker war.'^) Die Existenz dieses jüngeren Probus ist
^) Über das bandscliriffcliche Verhältnis
äussert sich Keil GL. 6,422 also: antiqutor
et pleniar oUtn Über fuit, ex quo tamquam
cammuni fönte et hie Über, quem nunc Claudii
Sacerdotis nomine inscriptum habemus, et
I Probt catholica quae ferunfur ita dticta sunt, ut
alia apud hunc, alia apud iüum servarentur,
') AusfQhrlich zusammengestellt beiSTEUP
p. 162.
») Stbup p. 175.
*) Steüp p. 167.
*) Steup p. 167 fg.
28*
436 Hömische LitteratnrgeBchichte. 11. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
daher sehr problematisch. Wenn man sieht, wie sehr der Name Probus
im Laufe der Zeit eine typische Bedeutung erhielt, und wie leicht sein
Name grammatischen Traktaten vorgesetzt wurde, so wird es geratener
sein, diesen jüngeren Probus aus der Litteraturgeschichte zu streichen und
einen uns unbekannten Verfasser für die Instüuta anzunehmen.
Die Hypothese Steups von den drei Probi. Steüp nnterscheidet drei Gram-
matiker des Namens Probus 1) den Probus, von dem uns Sueton berichtet und der zur
Zeit Neros gelebt; 2) einen etwas jüngeren Probus, den Sohn oder Neffen des Berytiers,
der bei Martial und Gellius erscheine, den Verfasser des Kommentars zu Vergils Bucolica
und Georgica und der vita des Persius und des fragmentum de Werts singuhribus u. s. w. ; 3) end-
lich einen Probus aus dem Anfang des vierten Jahrhunderts, den Verfasser der Ars Va-
ticana. Der zweite Probus ist nichts als ein Phantasiegebilde Steups. Schon der einzige
Umstand, dass Gellius niemals einen jüngeren Probus von dem älteren unterscheidet, ge-
nügt, die Existenz dieses zweiten in das Reich der Fabel zu verweisen. Auch dass Steup
gezwungen ist, die beiden Probi in dieselbe Zeit zu versetzen, weist auf ihre Identität hin.
Auch die Schriftstellerei der beiden ersten Probi gestattet keine Scheidung.
Litteratur: Steup, De Probis grammaticiSf Jena 1871, wo auch die übrigen ein-
schlägigen Schriften verzeichnet sind. (Beck, De V. P. quaestiones novae, Groning. 1886.)
Andere Grammatiker des Zeitraums sind:
1. Julius Modestus war der Freigelassene und Schüler Hygins. Seine Blüte fällt
in die Zeit des Tiberius.') Von ihm werden zitiert a) Quaestiones confusae (1. II Gell.
3, 9, 1). In diesen Miscellanea waren viele orthographische und etymologische fVagen be-
handelt (Froehde, De C. JuHo Romano, p. 608). b) De feriis (Macrob. 1, 4, 7).
2. M. Pomponius Marcellus machte Jagd auf Solöcismen bis zur Hartnäckigkeit.
Als er einst den Tiberius wegen eines Ausdruckes tadelte und ihm Ateius Capito mit
der Behauptung entgegentrat, der getadelte Ausdruck sei auch lateinisch und wenn er es
nicht wäre, sei er es von nun an, da brach er in die Worte aus: Du, Kaiser, kannst
Menschen das Bürgerrecht erteilen, aber nicht Worten (Suet. gr. 22 p. 116 R.).
Die Grammatiker, die auf der Grenze stehen oder deren Zeit strittig ist, werden im
nächsten Teil behandelt.
3. Die Rhetoren.
1. P. Rutilius Lupus und andere Rhetoren.
480. Die Figarenlehre des Butilins Lupus. Der Rhetor Oorgias,
ein Zeitgenosse Ciceros — er unterrichtete dessen Sohn *) — schrieb vier
Bücher über die Figuren in vielfach eigenartiger Auffassung*). Dieses
Werk bearbeitete lateinisch und zwar in einem Buch Rutilius Lupus.
Diese lateinische Bearbeitung lag bereits Celsus vor, auch Quintilian
benutzte sie. Das Verhältnis der lateinischen Fassung zu dem ver-
lorenen griechischen Original ist, wie sich das schon aus der Verminde-
rung der Zahl der Bücher ergibt ^ das der Verkürzung. Für diese
Verkürzung legt übrigens Lupus noch ein ausdrückliches Zeugnis ab. An
das Schriftchen knüpfen sich einige Probleme ; dasselbe enthält nur Wort-
figuren, keine Sinnfiguren, während Quintilian die Behandlung der Sinn-
figuren durch Rutilius Lupus ausdrücklich bezeugt und auch der hand-
schriftliche Titel „Schemata dianoeas" deutlich auf diese hinweist. Diese
Schwierigkeit wird sich am leichtesten durch die Annahme lösen, dass der
Teil, welcher die Sinnfiguren enthielt, verloren ging. Der ursprüngliche
Titel wird daher „Schemata dianoeas et lexeos** gewesen sein. Weiterhin
ist das Schriftchen ohne jeden sichtbaren Einteilungsgrund in zwei Bücher
zerlegt, während doch Quintilian. ausdrücklich von einem Buch spricht.
Diese Einteilung ist also ein Werk späterer Willkür. Der literarische
Wert des Buchs ruht in den Beispielen, sie sind fast sämtlich griechischen
') Über Aufidius Modestus vgl. p. 92.
«) Cic. ep. 16,21,6.
') DziiLLAS, quaest. Rutil, 1860 p. 15 fg.
P. BntUins Lupus und andere Bhetoren. 4:37
Reden entnommen, welche uns verloren gingen. Diese Beispiele, zu denen
sich nur wenige römische gesellen, sind ganz vortrefflich übersetzt und
stechen merkwürdig ab von den Erklärungen und Definitionen, welche
sowohl sprachlich als sachlich mangelhaft sind. Um diesen Widerspruch
zu beseitigen, hat Casaubonus die Ansicht aufgestellt, Rutilius Lupus habe
die Beispiele aus vorhandenen Übersetzungen entlehnt (Quint. 10, 5, 2).
Allein vielleicht kann jene Discrepanz auch daraus erklärt werden, dass
Rutilius alles Gewicht auf die Stilisierung der Beispiele legte.
Verhältnis des Rutilius Lupus zu Gorgias. Quint. 9,2,102 praeter Uta vero,
quae Cicero inter lumina posuit setUentiarum, muUa alia et (idem) Rutilius Qorgian secu-
tiiSf nan illum Leontinunif sed alium sui temporiSy cuius quattuor libroa in unum suum
transtulitf et Celsus, videlicet Rutilio accedens, posuerunt Schemata, Die Verkürzung erhellt
aus Lupus' Worten 2, 12 quid intersit , . . cognoscere poteris . . . multo diligentius ex graeeo
Gorgiae libro, ubi plurihus uniuscuiusque ratio redditur.
UnVollständigkeit der Schrift. Sinnfiguren führt Quintilian aus Lupus an
9, 2, 103 und 106. Die UnvoUständigkeit schränkt sehr ein Dbaheim , Schedae Rutilianae,
Berl. 1874 (p. 3 p. 9), der annimmt, dass etwa in einem verlorenen Prooemiom die Schemata
dianoeas kurz behandelt waren. Dzialas dagegen meint, dass uns Rutilius Lupus nur in
einem Auszug vorliege (p. 36). Beides ist unwahrscheinlich.
Ausgaben: vouRuhnken, Leyd. 1768, von Jacob, Lüb. 1837, von Halm, Rh, min, p. 3.
Andere rhetorische Schrifsteller*).
Eine Hauptstelle ist die, an der Quintilian die rhetorischen Schriftsteller der Römer
anführt , hier heisst es (3, 1, 21) : scripsit de eadem materia (d. h. über die Rhetorik) non-
nihil pater Gallio, accuratius rero priores (Gallione) Celsus et haenas et aetatis nostrae
Verginiusy Plinius , Tutilius, Von diesen werden Celsus und Plinius ausführlicher an an-
deren Orten besprochen. Es bleiben sonach:
1. Popilius Laenas. Quint. 10,7,31 üUid quod Laenas praecipit dispUcet mihi,
in his quae scripserimus velut summas in commentarium et capita conferre, 11,3,183 (Lae-
nas Popilius).
2. Verginius Flavus war der Lehrer des Persius; er hatte grossen Zulauf von
der studierenden Jugend; der Ruhm seines Namens sollte ihm verhängnisvoll werden, er
wurde von Nero (65) ins Exil getrieben (Tac. Ann. 15, 71). Quint. 7, 4, 40 hoc tarnen ad-
miror, Flapum, cuius apud me summa est auctoritaSf cum artem scholae componeret, tarn
anguste materiam qualitatis terminasse. Seine Rhetorik ist öfters von Quintüian berück-
sichtigt (3, 6, 46 ; 7, 4, 24; 11, 3, 126).
3. Tutilius. Auch Martial erwähnt diesen Rhetor, als er dem Lupus auf seine
Frage, wem er seinen Sohn zur Ausbildung anvertrauen solle, Aufschluss erteilt (Mart.
5, 56, 6 famae Tutilium suae relinquas). Wir reihen die an andern Stellen angeführten
rhetores an:
4. Visellius schrieb de figuris. Quint. 9,3,89; 9,2,101; 9,2,106.
5. Sex. Julius Gabinianus, ein Gallier. Hieronym. (2, 159 Sghoene) setzt seine
Blüte um 76 n. Chr. Er war ein sehr berühmter Mann, wie aus folgenden Stellen ersicht-
lich : Hieron. zu Esai. 8 praef. qui si flumen eloquentiae et concinnas declamationes desiderant,
legant TuHium, QuintUianum, Gallionem, Gahinianum. Tac. dial. 26 quotus quisque scho-
lasticorum non hoc sua persuasione fruitur, ut se ante Ciceronem numeret, sed plane post
Gahinianum ?
6. Septimius. Quint. 4, 1, 19 fuerunt etiam quidam suarum rerum iudices. nam
et in libris observationum a Septimio editis adfuisse Ciceronem tali causae in-
renio. Ob diese observationes eine rhetorischf Schrift waren, lässt sich nicht sicher ent-
scheiden. Auch die Identifizierung dieses Septimius mit dem Septimius Severus, an den
Statins 4, 5 gerichtet, ist unsicher (Teüffbl, § 315, 5).
7. Valerius Licinianus. Über das bewegte Leben dieses Rhetors verbreitet sich
der anmutige Brief des Plinius 4,11. Hier heisst es nun: ipse in praefatione dixit do-
Unter et graviter „quos tibi, Fortuna, ludos facis ? facis enim ex senatoribus professores, ex
professoribus senatores," Daraus schliesst man auf eine Schrift. Dieser Licinianus wird
mit dem Licinianus des Martial (vgl. Friedläitdbb zu Mart. 1,49) identifiziert.
') Man vgl. auch noch das dem Sueton- vorausgeschickte Verzeichnis der rhetores
sehen Traktat de grammaticis et rhetorihus (p. 99 Reiffbbsch.).
438 Bömische Litteraturgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilnng.
8. C. Asinius Gallus (Konsul 8 v. Gh.)« der Sohn des Asinius PoUio, schrieb
eine Schrift, in der er seinen Vater als Stilist höher stellte als Cicero. Plin. ep. 7, 4, 8
libri Asini Galli de comparatione patris et Ciceronis. Dieselbe machte, wie os
scheint, grosses Aufsehen, sie rief eine Gegenschrift des Kaisers Claudius hervor (vgl. p. 239).
9. Largius Licinus ging ebenfalls gegen Cicero vor. Seine Broschüre ftlhrte den
Titel „Ciceromastix* (Gell. 17, 1, 1). VieUeicht ist er identisch mit dem Largius Licinus bei
Plin. ep. 2, 14, 9; 3, 5, 17).
2. M. Fabius Quintilianus.
481. Biographisches. Quintilians Heimat ist Calagurris in Spanien.
Seine Ausbildung erhielt er aber in Rom, wo sein Vater ebenfalls als
Rhetor wirkte (9, 3, 73). Seine vorzüglichsten Lehrer waren der Gramma-
tiker Remmius Palaemon *) und der Rhetor Domitius Afer (10, 1, 86). Doch
waren auch die berühmten Redner der damaligen Zeit sicherlich nicht ohne
Bedeutung für seine rhetorische Entwicklung. Nachdem er seine Studien
vollendet hatte, kehrte er nach Spanien zurück. Allein im Jahr 68 nahm
ihn der damalige Statthalter des tarraconensischen Spaniens, Galba, nach-
dem er Kaiser geworden war, wiederum mit nach Rom; er erhielt eine
Schule der Rhetorik und aus dem Fiskus eine Besoldung. Daneben war
er auch als Oerichtsredner thätig, hier lag seine Stärke in der Elarlegung
des Falls, und gern übertrug man ihm daher, wenn mehrere Redner plä-
dierten, diese Aufgabe (4, 2, 86). Doch veröffentlichte er selbst nur eine
Rede und auch diese Veröffentlichung bedauerte er; die Reden, die noch
unter seinem Namen kursierten, erkannte er, da sie von fremder Hand
nach stenographischer Niederschrift publiziert waren, nicht an. Sein Ruhm
wurde durch seine Lehrthätigkeit begründet; sein Ansehen aber war ein
gewaltiges, erhielt er doch sogar die konsularischen Ehrenauszeichnungen
(Ausonius p. 23 Seh.). Martial (2, 90, 1), der freilich in seinem Lob oft
stark aufträgt, nennt ihn den Ruhm der römischen Toga. Unter seinen
Schülern befand sich der jüngere Plinius (ep. 2, 14, 10). Nachdem er 20
Jahre seinem Lehrberuf obgelegen, zog er sich zurück und legte die
Früchte seiner reichen Erfahrung in einem grossen Werke, der Institutio
oratoria, nieder. Zuvor hatte er in einer kleineren Schrift, die aber leider
verloren ist, die Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit behandelt. Doch
wurde er nochmals zur Lehrthätigkeit zurückgeführt; er wurde Prinzen-
erzieher ; Domitian übertrug ihm die Ausbildung der Enkel seiner Schwester
Domitilla, der Söhne des Flavius Clemens, welche zur Thronfolge bestimmt
waren (4 prooem 2). Diesen äusseren glänzenden Verhältnissen entsprachen
nicht ganz die häuslichen ; hier wurde Quintilian von schweren Schicksals-
schlägen heimgesucht ; er verlor durch den Tod seine junge Frau und auch
die beiden Söhne, die er von ihr hatte (6 prooem.). Sein Todesjahr kennen
wir nicht, es wird etwa um 96 fallen. Die Briefe des jüngeren Plinius
setzen allem Anschein nach den Tod des Rhetors voraus (2, 14, 10; 6, 6, 3).
Hieron. 68 n. Chr. (p. 2, 157 Schoene). M. Fahius Quintilianus Romam a Gnlba per-
ducitur; 88 n. Chr. (2, 161) Quintilianus exHispania CalagurritanusiquifngiYoLLXXRt Rh. Mus.
46, 348 hinzu) primus Rotnae publicam scholam et salarium e fisco accepit {et tilgt Voll-
hek) claruit. Die Eröffnung der Schule fällt sicherlich mit dem Jahr 68 zusammen.
Litteratur. Dodwell, Annales Quintilianeiy Oxon. 1698 (auch abgedruckt in Bun-
KAMNS Ausg.), Hummel, Quint, pita, Gott. 1843, Driesen, De Q. vita, Cleve 1845.
') Schol. zu Juv. 6, 452.
M. Fabios QnintilianuB. 439
482. Die verlorene Schrift de causis corruptae eloquentiae. Über
den tiefen Verfall der Beredsamkeit seit der Kaiserzeit konnte sich kein
sehendes Auge mehr täuschen, denn die Hohlheit der Rhetorschulen mit
ihren unnatürlichen Übungen lag zu offenkundig vor. Verständige Männer
hielten auch nicht mit ihrer Meinung zurück. Petronius fügte in seinen
Roman eine scharfe Charakteristik der Deklamatoren ein, Tacitus schrieb
seinen wundervollen Dialog. Vor Tacitus hatte auch Quintilian über die
Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit eine Schrift geschrieben.
£s war ihm gerade damals ein fünfjähriger Sohn gestorben (6 prooem. 3 u. 6) ;
um seinen Kummer zu vergessen, versenkte er sich in dieses Thema, das
ihm ja Herzenssache war. Leider ist das Werkchen verloren gegangen,
doch teilt er uns einiges daraus in seinem Lehrgang mit, so dass wir über
den Gang der Untersuchung im allgemeinen orientiert sind. Der Sitz des
Übels war leicht zu erkennen, es war die Khetorschule mit ihren Dekla-
mationen. Quintilian verfolgte den Ursprung der Themata mit fingierten
Fällen und fand, dass schon zur Zeit des Demetrius Phalereus solche im
Gebrauch waren. Allein diese Themata wurden im Laufe der Zeit in un-
natürliche, phantastische Bahnen geleitet, so dass sie den Zusammenhang
mit dem Leben gänzlich verloren. Solche Übungen bekämpfte die Schrift
aufs entschiedenste; sie entbehren nach seiner Meinung der männlichen
Kraft, sie geben uns den Schein statt des Wesens, sie sehen nur auf den
blendenden Glanz. Der Verfall zeigt sich aber am auffallendsten im
Stil, der Wortschatz ist gesucht und überladen und von einem lächerlichen
Haschen nach gleichen oder schillernden Worten erfüllt und der Aufbau
unklar und schlotterig. Quintilian scheint im einzelnen die verschie-
denen Gebrechen des Stils durchgegangen zu haben, so hatte er z. B. das
Masslose und Fehlerhafte bei der Anwendung der Hyperbole gerügt. Das
Schriftchen wird also vorwiegend die Darstellung ins Auge gefasst
haben. Dieser drohte allerdings noch von einer nichtrhetorischen Seite
grosse Gefahr. Der Philosoph Seneca hatte mit seinem pikanten Stil un-
gemeinen Anklang bei der Jugend gefunden, und doch musste dieser Stil
mit seinen „ süssen Gebrechen'' Quintilian sehr missfallen. Ohne ihn zu
nennen, griff er Seneca scharf an, aber doch so deutlich', dass die Leser
auf eine Feindseligkeit des Rhetors gegen den Philosophen schliessen
konnten (10, 1, 125).
Soviel lässt sich über den Inhalt feststellen. Ziehen wir zum
Vergleich den Tacitus heran, so erkennen wir, dass beide das gleiche
Thema von einem verschiedenen Standpunkt aus behandelt haben. Quin-
tilian schrieb als Rhetor, Tacitus als Historiker; Quintilians Blick reichte
nicht über die Schule hinaus, Tacitus' Geist rückte die ganze Frage in
den Rahmen der Kultur. Quintilians Darstellung fand ihren Mittelpunkt
in der Betrachtung des degenerierten Stils und in der Aufdeckung und
Heilung der Fehler desselben, Tacitus sah den Verfall der Beredsam-
keit als eine unabänderliche Thatsache an, welche in der geschichtlichen
Entwicklung begründet sei; der eine will die gegeni^ärtige Rhetorik re-
formieren, der andere will die Blicke von der Rhetorik auf andere Fächer
hinlenken. Nur wenn der Dialog des Tacitus der Schrift des Quintilian
440 Komische Litteraturgeschiohte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilnng.
nachfolgte, gewinnen wir das richtige Verhältnis ; den Ausführungen Quin-
tilians, der immer noch den Glauben an die Zukunft seiner Kunst be-
wahrte, konnte Tacitus gut den Satz gegenüberstellen und erweisen, dass
die Blüte der Beredsamkeit für immer dahin sei. Wäre des Tacitus Dialog
aber vorausgegangen, so musste Quintilian seiner Schrift eine ganz andere
Tendenz geben, er musste zeigen, dass auch in der Gegenwart noch Raum
für das lebendige Wort ist.
Zeugnisse über die Schrift de causis corruptac eloquentiae. Den Titel
gibt an die Hand 6 prooem. 3 eum lihrutn, quem de causis corruptae eloquentiae
emisi. Ober den Inhalt geben folgende Stellen Aufschluss: 5, 12, 17 — 23, wo er sich
gegen die marklosen Deklamationen wendet (20), eloquentiam, licet hanc (ut sentio enim, dicam)
libidinosam resupina voluptateauditoriaprobent, nullamesseexistimabo, quaeneminimum quidem
in se indicium masculi et incorrupti, ne dicam gravis et sancti tnri ostentet — (23) sed haee et in
alio nohis tractata sunt opere et in hoc saepe repeienda, 2,4,41 fieia^ ad imitationcm
fori consiliorumque mHterias apud Graecos dicere circa Demetriutn Phalereum institutum
fere constat; an ab ipso id genus exercitationis sit inventum, ut alio quoque libro sum
confessuSf parum comperi. 8,3,57 (über das xaxoCij^oy) est autem totum in elocutione
— corrupta oratio in verbis maxitne impropriis, redundantibus, comprehensione obscura,
compositione fracta, vocum similium aut ambiguarum puerili captatione consistit — (58) sed de
hoc parte et in alio nobis opere plenius dictum est, 8,6,76 (über die Fehler bei der
Hyperbole) sed de hoc satis, quia eundem locum plenius in eo libro quo causas corruptae
ehquentiae reddebamus tractavimus.
Die Zeit der Abfassung wird aus der praef. zum 6. Buch bestimmt. Die Be-
Stimmung hängt von den Zeitverhältoissen der Institutio ab. Reuter (p. 51) setzt unsere Schrift
zwischen 87 und 89, Volkkann (Rh. Mus. 46, 348) ins Jahr 92. Das Jahr ist ziemlich gleich-
gültig, von Wichtigkeit ist aber, dass dieselbe vor der Institutio gescbrieben ist, da sie
bereits im 2. Buch erwähnt wird, und dass sie somit die Vorgängerin des Dialogs (p. 363) ward.
Litteratur. Reuter, De Quintiliani libro qui fuit de causis corruptae eloquentiae,
Gott. Diss. 1887 ; Gruenwald, quae ratio intercedere pideatur inter Quintiliani instUutionetn
et Taciti dialogum, Berl. 1883.
Andere verlorene Schriften Quintilians.
1. Die Rede pro Naevio Ärpiniano, Quint. 7,2,24 teilt uns die Rechtsfrage
mit : id est in causa Naevi Arpiniani solum quaesitum, praecipitata esset ab eo uxor an se
ipsa sua sponte iecissef. Diese Rede war die einzige, die er veröffentlichte : cuius actumetn
et quidem solam in hoc tempus emiseram, quod ipsum me fecisse ductum iuveniU cupidi-
tate gloriae fateor.
2. Reden, die von Stenographen wider Willen Quintilians veröffent-
licht wurden. £r föhrt nämlich an der obigen Stelle fort: nam ceterae, quae sub no-
mine meo feruntur, neglegentia excipientium in quaestum notariorum corruptae minimam
partem mei habent. Welches diese Reden waren , wissen wir nicht ; er nennt uns noch
zwei, die er gehalten; die Rede für die Königin Berenice. Diese war die schöne
(Tac. bist. 2, 81) Tochter des älteren Agrippa, des Judenfürsten und stand in Beziehungen
zu Titus (Suet. Tit. 7); worin der Rechtshandel bestand, ist nicht bekannt. Die zweite wurde
in einer Erbschaftsangelegenheit gehalten (Quint. 9, 2, 73).
3. Auch zwei rhetorische Lehrschriften wurden wider Willen des Verfassers
nach stenographischer Niederschrift zweier Vorträge, eines zweitägigen und eines mehr-
tägigen, von Zuhörern veröffentlicht. Quint. 1 prooem. 7 duo iam sub nomine meo libri
ferebantur artis rhetoricae neque editi a me neque in hoc comparati,
«) namque alterum sermonem per biduum habitum pueri, quibus id profMa-
batur, exceperant,
ß) alterum pluribus sane diebus, quantum notando consequi potuerant, inter-
ceptum boni iuvenes, sed nimium amantes mei temerario editionis honore mtlgaverant
(vgl. 3, 6, 68).
483. Institutionis oratoriae libri Xu. Als Quintilian nach zwanzig-
jähriger Thätigkeit sich von seinem Lehramt zurückgezogen hatte, forderten
ihn seine Freunde Auf, ein Lehrbuch der Rhetorik zu schreiben. Lange
sträubte er sich gegen diese Wünsche, schliesslich gab er nach. Nachdem
er einmal den Entschluss gefasst hatte, einen solchen Lehrgang abzufassen,
H. FabioB QaintiliannB. 441
steckte er demselben ein höheres Ziel. Die gewöhnlichen Lehrschriften
hatten nur den speziellen rednerischen Unterricht im Auge, Quintilians
Anleitung übernimmt dagegen den Zögling von der ersten Kindheit und
geleitet ihn bis zur höchsten Stufe. Dadurch wird der rhetorische Kursus
vielfach zu einem Kursus der Erziehung überhaupt. Die Gliederung des
Werks ist folgende. Im ersten Buch behandelt er die elementare Ausbildung,
im zweiten Buch die rhetorischen Anfangsgründe und das Wesen der Rhe-
torik, die Bücher drei bis sieben führen den Hauptteil der Redekunst
durch, die Lehre von der Erfindung und von der Anordnung, die Bücher
acht bis elf die Lehre vom Ausdruck, Memorieren und Vortrag, das zwölfte
Buch stellt uns endlich, nachdem die Theorie (ars) in den vorausgehenden
Büchern erledigt ist, den Redner und die Rede selbst vor Augen. Von den
zwölf Büchern hat das zehnte ein weitergreifendes Interesse dadurch erhalten,
dass es die Lektüre der griechischen und römischen Schriftsteller für den
Zögling der Redekunst und dadurch einen Ausschnitt aus der Litteratur-
geschichte vorführt. Gewidmet ist das Werk dem Vitorius Marcellus.
Die Widmung wird dadurch motiviert, dass der Redner bei der Abfassung
der InstUutio besonders den hoffnungsvollen Sohn des Freundes Geta im
Auge gehabt haben will. Etwas über zwei Jahre nahm die Sammlung des
Materials und die Niederschrift in Anspruch. Die einzelnen Bücher wurden,
sobald sie fertig waren, dem Vitorius Marcellus zugeschickt; Quintilian hatte
dadurch Gelegenheit, in den Vorreden von dem, was gerade sein Herz bewegte,
dem Freunde Mitteilungen zu machen. So konnte er bei Übersendung
des vierten Buchs von der ehrenvollen Berufung zum Prinzenerzieher
Kenntnis geben; als ihn bei der Abfassung des sechsten Buchs der schwere
Schicksalsschlag traf, dass er seinen einzigen hoffnungsvollen Sohn durch
den Tod verlor, schüttete er wiederum in ergreifender Weise sein Herz
aus. Als alle Bücher fertig waren, wollte er sie eine geraume Zeit liegen
lassen, um sie später nochmals einer völlig unbefangenen Revision zu unter-
ziehen. Allein sein Verleger Trypho drängte zur Herausgabe; so wurden
sie denn mit einer Vorrede dem Publikum übergeben.
Der Plan des Werks wird in dem Prooemium zum ersten Buch dargelegt (21):
Über primtis ea, quae sunt ante officium rhetoris, continehit;
secundo prima apud rhetorem elementa et qitae de ipsa rhetorices substantia quae-
runtur, tractabimus;
quinque deinceps (III. IV. V. VI. VII) inventioni {nam huic et dispoaitio sitb'
iungitur);
quattuor elocutioni (VIII. IX. X. XI), in cuius partem memoria ac pronuntiatio ve-
niunt, dabuntur;
unu8 (XII) accedet, in quo nöbis orator ipae informandus est, ubi qui mores eius,
quae in suscipiendis, discendis, agendis causis ratio, quod eloquentiae genus, quis agendi
debeat esse finis, quae post finem studia — disseremus.
Die Abfassungszeit und Herausgabe des Werks. Es kommen folgende
Momente in Betracht: 1) Quintilian schrieb sein Werk, nachdem er sein Lehramt, das er
zwanzig Jahre bekleidet hatte, niedergelegt hatte; da wir den Antritt desselben ins Jahr
68 gesetzt haben, so muss die Institutio nach 88 fallen; 2) er that dies auf Verlangen
seiner Freunde, nachdem er sich lange gesträubt (1 prooem. 1); 3) als er das zweite
Buch schrieb, war er schon längst von seinem Lehramt zurückgetreten (2, 12, 12). Es
werden also ein oder zwei Jahre nach 88 verflossen sein, als er sich an das Werk machte ;
4) da er nun zwei Jahre brauchte, um dasselbe zu vollenden (vgl. die Vorrede an Trypho),
80 kann das Werk wohl nicht vor 92 fertig geworden sein; 5) da er aber nach Fertigstellung
desselben noch einige Zeit zuwartote, wird die Herausgabe nicht vor 93 erfolgt sein (Reuter
p. 45). Ein bestimmteres Datum glaubt Vollmer (Rh. Mus. 46, 343) eruiert zu haben, in-
442 Römische Litteraturgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilong.
dem er von dem Gedanken ausging, dass Statins in dem Widmungsbrief des vierten Buchs
den Tadel zurückweise, den Quintilian 10,3,17 gegen seine «t/pae ausgesprochen habe; der
Widmungsbrief sei an denselben Vitorius Marcellus gerichtet, für dessen Sohn Quintilian
seine Anleitung schrieb; von dem abfälligen Urteil des Rhetors habe Statins durch den ge-
meinsamen Freund Kenntnis erhalten. Da jener Widmungsbrief im Sommer des Jahres 95
geschrieben sei und das abfällige Urteil Quintilians in einem der letzten Bücher st«he, so
sei die Vollendung der Institutio etwa Herbst 95 anzusetzen, sonach der Beginn im Jahr 93.
Die Herausgabe konnte wegen der starken Schmeicheleien Domitian gegenüber im Prooemium
des vierten Buchs nicht nach dessen Tod erfolgt sein, wird also ins Jahr 96 fallen. Allein die
Annahme, dass Quintilian an jener Stelle den Statins im Auge habe, ist durchaus zweifelhaft ;
es kann daher die Kombination auf Sicherheit keinen Anspruch machen. Die genaue Bestim-
mung des Jahres der Fertigstellung und der Herausgabe der Institutio hat übrigens kein
tieferes Interesse für die Litteraturgeschichte.
Die Herausgabe der zwölf Bücher geschah auf einmal, wie aus der an Trypho
gerichteten Vorrede erhellt; doch zeigen die an Vitorius Marcellus sich wendenden Vorreden
dass die einzelnen Teile des Werks zuvor dem Vitorius Marcellus und vielleicht andern
Freunden mitgeteilt wurden (Reütek, De Ubro etc. p. 52).
DieÜberlieferung wird durch zwei Handschriftenfamilien vermittelt, durch eine stark
defekte und durch eine vollständige. Die defekte ist die ältere. Die Repräsentanten der-
selben sind der Bernensis 351 s. X und der Parisinus 18527 s. X. Weitaus der beste Ver-
treter der jüngeren Klasse ist der Ambrosianus £ 153 sup. s. XI, derselbe ist von mehreren
Händen geschrieben und zwar in den letzten Teilen nachlässiger als in den ersten. Leider
fehlt in demselben 9, 4, 135—12, 11, 22. Hier tritt der Bambergensis M. 4, 14 s. X ein, der
aus dem defekten Bernensis 351 abgeschrieben ist, die fehlenden Partien aber von einer
jüngeren Hand aus einer dem Ambrosianus ähnlichen Handschrift ergänzt hat. Die übrigen
Glieder der jüngeren Familie sind stark interpoliert.
Ausgaben: von Spalding Leipz. 1798 — 1816, 4 Bde., wozu ein 5. Bd. {supplemen-
tum annotationis) von Zumpt und ein 6. Bd. (treffliches Lexicon Quint, von Bonnell), von
BoNNELL 2 Bde. Leipz. 1854, von Halm (grundlegende kritische Ausg.) 2 Bde., Leipz. 1808,
von Meister 2 Bde. Prag 1886 — 7. Separatausgabe des 10. B. von Bonwell-Mbister Berl.
(Weidmann), von Krüger (Teubner), von Meister (Freitag), des 1. B. von Fierville, Par. 1890.
484. Die zwei Sammlungen der Quintilianischen Deklamationen.
Von dem Studium der Rhetorik ist die Übung unzertrennlich, Dass Quin-
tilian als Lehrer der Rhetorik auch Übungen in fingierten Reden vornahm,
kann gar keinem Zweifel unterliegen. Es kursieren nun unter seinem
Namen zwei getrennt voneinander überlieferte Sammlungen von De-
klamationen; die eine enthält 19 Stücke, die andere umfasste ursprünglich
388 Stücke^ erhalten sind aber nur 145, da die Kollektion mit Nr. 244
beginnt. Die 19 Stücke geben uns vollständige, durch alle Teile hindurch-
geführte Schulreden (daher die grösseren Quintilianischen Deklamationen
genannt), die 145 Stücke dagegen nur Skizzen (daher die kleineren Quin-
tilianischen Deklamationen genannt). Das zweite Corpus zeigt ferner noch
die Eigentümlichkeit, dass es neben den rednerischen Skizzen auch in der
Regel noch Anweisungen {sennones) über die Behandlung des Thema und
über einzelne Punkte gibt. Diese Erläuterungen führen uns zum Ursprung
der Sammlung, sie weisen deutlich auf die Schule hin, wir vernehmen
einen Lehrer, der sich an einen bestimmten Kreis von Zuhörern wendet.
So wie sich uns jetzt dieses zweite Corpus darstellt, war es keineswegs
von Haus aus für die Herausgabe bestimmt, es fehlt eine planmässige
Anordnung der Themata, auch die sermones lassen die Rücksicht auf buch-
massige Veröffentlichung vermissen, sie tragen einen zwanglosen Charakter
an sich. Wir werden daher anzunehmen haben, dass diese Sammlung von
einem Zuhörer nach Schul vortragen herausgegeben wurde. Damit erhalten
wir auch den Schlüssel zum richtigen Verständnis des Werks. Die schrift-
liche Fixierung von Vorträgen und Unterweisungen kann sich, da sie nur
IL Fabins QuintiliannB.
443
den Zweck hat, das Gehörte zu befestigen, Lücken, aphoristische Bemer-
kungen, Stichworte 0 gestatten. Die in beiden Sammlungen behandelten
Themata sind ganz von derselben Art wie diejenigen, welche wir aus
Seneca kennen. Sie haben nichts mit dem wirklichen Leben zu thun,
es sind Phantasmata, welche den Scharfsinn zwar anregen können, die
aber zugleich die Natürlichkeit des Denkens und der Sprache zerstören.
Die Ansicht, dass uns in den kleineren Deklamationen Excerpte eines vollständigeren
Werks vorliegen, sprechen aus Ritter p. 247, mit näherer Begründung Trabakdt p. 32.
Allein bei der Entstehungsweise der Sammlung erscheint diese Annahme nicht geboten zu sein.
Die handschriftliche Überlieferung der grösseren Deklamationen ist
eine reiche. Merkwürdig sind die Subskriptionen. Im Bamhergensis s. X lautet sie: de-
aeripsi et emendavi Domitius Dracontius de codice fratris Hieri mihi et usibus meis et diu
(vielleicht discipulis mit Haase oder doctis mit Rohde bei Ritter p. 207) omnibus^ im Parisinus
16230 8. XV heisst es (p. 72 a): legi et emendavi ego Dracontius cum fratre Jerio (? vgl. Rittek
p. 205) incomparabüi arrico (? Ritter p. 205) urbis Romae in scola fori Traiani feliciter.
Der genannte frater Hierius ist wohl identisch mit dem Hierius. dem Augustin seine Schrift
De pu/chro et apto ums Jahr 379 gewidmet hat (Rohdb bei Ritter p. 207). — Andere Hand-
schriften bei Ritter p. 204, über die verschiedene Reihenfolge der Stücke p. 266, über
Handschriften, welche nicht alle Stücke enthalten p. 175, über Excerpte aus den 19 De-
klamationen p. 204, p. 175 (WiLAJfowiTZ, Hermes 11, 118).
Die handschriftliche Überlieferung der kleineren Deklamationen. Wir
kennen drei Handschriften, den Montepessulanus n. 126 s. X, den Monacensis 309 s. XV und
den Chigianus fol. H. VIII, 262 s. XV. Alle 145 Deklamationen hat nur der Montepessu-
lanus; der Monacensis und Chigianus beginnen erst in der Mitte der Deklamation 252 (nicht
mit 244). Noch von einem verschollenen Kodex haben wir Kunde, von dem Kodex des Campanus
(t 1477). Auch dieser gehörte der verstümmelten Klasse an. Alle diese Handschriften
führen auf einen Archetypos, der sich als eine Sammlung von Deklamationen darstellt und
zwar 1) der kleineren Deklamationen (ohne Bezeichnung des Autors), 2) der Excerpte aus
Senecas Deklamationen (vgl. oben p. 200), 3) der Auszüge aus 10 rhetores minores^), begin-
nend mit Calpumius Flaccus. (Nach der Handschrift des Campanus folgten dann Antonius
Julianus und extemporaneae Quintiliani.) Vgl. Fleiter p. 16 (gegen Ritter).
Ausgaben. Gesamtausgaben aller Deklamationen von J. F. Gronov; von P. Bitr-
MAKN, hinter dem Quintilian, Leyden 1720. - Ausgabe der kleineren Deklamationen von
Ritter (Teubner). — Von demselben .Die Quintili^. Deklamationen **, Freib. u. Tüb. 1881.
485. Die ünechtheit der beiden Sammlungen. Bei der Frage
nach der Echtheit der Quintilianischen Deklamationen ist zuerst von der
Überlieferung auszugehen; zwar ist durch die Zuteilung einer Sammlung
an Quintilian die Sache noch keineswegs entschieden, allein auf der anderen
Seite kann es doch auch nicht gleichgültig sein, wenn eine Sammlung
nicht einmal in der handschriftlichen Überlieferung den Namen Quintilians
trägt. Dieser Fall liegt aber teilweise bei den Quintilianischen Dekla-
mationen vor. Das Corpus der grossen Deklamationen führen die Hand-
schriften auf Quintilian zurück, nur im Vornamen ergeben sich Differenzen.')
Dagegen weisen die erhaltenen Codices der kleineren Deklamationen den
Namen Quintilian nicht auf, auch der verlorenen Handschrift des Antonius
Campanus scheint er fremd gewesen zu sein.^) Ähnlich steht es mit der
») Vgl. nr. 315.
'^) In der Überschrift Incipit ex Calpur-
nio Flacco Excerptae, Excerpta X rhetorum
minorum hat sich die allgemeine Überschrift
hinter die erste Abteilung verirrt.
^) Ritter p. 104.
*) Denn er sagt einerseits „declamationes
Quintiliani ense arbitror". Hätte die Hand-
schrift den Namen Quintilians gehabt, so
wäre das ganze Raisonnement überflüssig
gewesen. Die Worte „quoniam Quintiliano
attribuuntur" werden sich daher nicht auf die
Handschrift beziehen. Höchst auffallend ist,
wie wenig Ritter auf diesen Punkt eingeht,
vgl. p. 252 und seine Ausgabe p. V. Dass in
den vorhandenen Handschriften die kleineren
Deklamationen nicht dem Quintilian beigelegt
sind, muss ja wohl aus dem Mangel einer sol-
chen Angabe darüber erschlossen werden.
(Vgl. auch Teuffel-Schwabe 325, 11.)
444 RömiBche Litteraturgeschichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
Beglaubigung durch Schriftstellercitate. Für die grossen Deklamationen
stehen ausdrückliche Zeugnisse zur Verfügung, für die kleineren Dekla-
mationen könnten wir höchstens die Zeugnisse verwerten, welche sich auf
nicht mehr vorhandene Stücke beziehen. Diese bezögen sich möglicherweise
auf den verlorenen Teil der Sammlung. Allein es wäre denkbar, dass auch
die grosse Sammlung nicht vollständig erhalten wäre, und dass jene Gitate
zu ihr gehörten. Aus dieser Darlegung ist ersichtlich, dass die Über-
lieferung fast keinen Anlass gibt, die zweite Sammlung Quintilian zuzu-
schreiben. Um so verwunderlicher ist es, dass gerade in neuester Zeit
ein Versuch auftauchte, welcher die kleinere Sammlung ohne weiteres
für Quintilian in Anspruch nahm und sie sogar unter dessen Namen
edierte. Allein weder die unbezeugte Sammlung der kleinen noch die be-
zeugte der grossen hat etwas mit Quintilian zu thun. Der ganze Charakter
der zweiten Sammlung zeigt, dass sie nicht von Quintilian selbst ediert sein
kann. Es bleibt also nur die Annahme, dass sie eine Schülernachschrift
darstellt. Wäre eine solche \or der Institutio veröffentlicht worden, so er-
warteten wir eine Erwähnung derselben. Allein nirgends, so oft sich auch
ein Anlass dazu bot, und das ist nicht selten, gedenkt er dieser Kontro-
versen. Man hat gemeint, der grössere, mehrere Tage währende und
wider seinen Willen von Schülern veröffentlichte Lehrvortrag sei unsere
Sammlung der kleineren Deklamationen. Allein unmöglich kann Quinti-
lian eine solche Sammlung „liber artis rhetoricae" nennen. Dagegen spricht
auch, dass das, was er an einer Stelle (3, 6, 68) aus jenen Lehrvorträgen mitteilt,
sich nicht in unserer, freilich nicht vollständigen Sammlung nachweisen
lässt. Ferner ist es nicht denkbar, dass die 388 Stücke, welche ein vo-
luminöses Werk ausmachen, in wenigen Tagen vorgetragen und nachge-
schrieben wurden. Aber auch der Annahme einer Publizierung nach der
Institutio stellt sich die Schwierigkeit entgegen, dass die sermones nirgends
ausdrücklich an die Institutio anknüpfen, und der Herausgeber unbe-
greiflicherweise unterlassen hat, auf den berühmten Lehrer aufmerksam
zu machen. Man wollte Übereinstimmungen zwischen den in den sermones
und in der Institutio vorgetragenen Ansichten gefunden haben, allein dies
ist nicht bewiesen, da in der Rhetorik ein grosses Gemeingut vorhanden
sein muss und vorhanden ist.O Übrigens wäre es nicht auffallend, wenn
eine spätere Zeit auch von den Schätzen der Institutio gezehrt hätte.
Auch innere Kriterien verbieten uns, eine der beiden Sammlungen Quin-
tilian beizulegen. Beide Produkte sind des grossen Meisters unwürdig.
Wir können nicht glauben, dass er seinen Unterricht mit solchen ge-
schmacklosen Themata ausgefüllt hat. Energisch betont er, dass auch
die Übungen sich nicht allzusehr von der Wirklichkeit entfernen und dass
die romanhaften Stoffe nicht die Regel bilden sollen. Beide Sammlungen
aber bieten des Absurden genug, dessen Quintilian unfähig ist. Über die
Zeit, in der die Deklamationen entstanden sind, lässt sich eine bestimmte
Angabe schwer machen. Der Sprache nach zu urteilen, scheinen wenigstens
die kleineren Deklamationen der nächsten Zeit nach Quintilian anzu-
gehören.
•) Tbabandt p. 20.
H. FabiuB Qtiintilianas. 445
Quintilians Ansicht über die Schuldeklamationen. 2f 10, 4 sint efgo et
ipsae materiae, quae fingentur, quam aimilUmae verituti, et deelamatio, in quantum maxime
potest, imüetur eas actiones, in quarum exercitationem reperta est, nam magos et pestilen-
tiam et reaponsa et scieviorea tragicis novercas ') aliaque magis adhuc fctbulosa frustra inter
sponsianes et interdicta quaeremua. Quid ergo? nunquam haec supra fidem et poetica, ut
vere dixerim, themata iuvenibus tractare permittamus, ut exspatientur et gaudeant materia
et quasi in corpus eant? erit Optimum, sed certe sint grandia et tumida, non stnlta etiam
et acrioribus ovulis intuenti ridicula — (§ 7) totum autem deelamandi opus qui diversum
omni modo a forensibus causis existimant, ii profecto ne rationepn quidem, qua ista exer-
citatio inpenta sit, pervident. Vgl. noch 10, 5, 14. Besonders wichtig ist der scharfe An-
gnff 5, 2, 17 (Trabandt p. 12).
Zur Qeschichte der Frage. Treb. Pollio schreibt im Leben der dreissig Tyrannen
von Postnmus Junior 4, 2 (2, 98 P.) fuit autem ita in declamationibus disertus ut eius controversiae
Quintiliano dicantur insertae, quem declamatorem Eomani generis acutissimum vel unius
capitis lectio prima statim fronte demonstrat. Diese in die Zeit um 800 fallende Erwäh-
nung der Quintilianischen Deklamationen ist die älteste; diese Stelle ist aber zugleich ein
Beweis daftr, dass fremde Produkte irrtQmlich den Namen Quintilians annahmen. Vgl.
noch Auson. p. 56 Seh. seu libecU fietas ludorum evoUere lites, ancipitem palmam Quintilianus
habet ; Hieronym, in Esaiam 8 praef. p. 328. Voll, qui si flumen eloquentiae et concinnas de-
clamationes desiderant, legant TuUium, Quintilianumf Gaüionem etc. Diesen allgemeinen
Zeugnissen über das Vorhandensein Quintilianischer Deklamationen stehen Citate ein-
zelner Stücke gegenüber; sie gehören der Sammlung der 19 Stücke an; Hieronymus,
De cereo paschali 11, 2 p. 210 B. ValL; Quaest, Hebr. in Gen. 3, 1 p. 302 Voll, citiert nr. X[ll;
Ennodius p. 483, 14 H. bezieht sich auf die Decl. V ; die Comm. Bern, ad Luran. 4, 478 führen
eine Stelle aus Decl. IV an ; Servius Aen. 3, 661 aus Deciam. I. Vielleicht auf Decl. XI ist be-
züglich Pompeius GL. 5, 186 K. Es finden sich auch Citate, welche sich auf nicht mehr
nachweisbare Quintilianische Deklamationen beziehen, z. B. Hieron, Quaest. Hebr, in Genes.
3, 1 p. 353 Voll., Lactantius Div, inst, 1, 21 5, 7 6, 23. Er wäre möglich, wie bereits be-
merkt, dass sich diese Stellen auf die verlorenen kleinem Quintil. Deklamationen beziehen, es
wäre aber auch möglich, dass sie zu verloren gegangenen grösseren Deklamationen gehören,
dass sonach auch die erste Sammlung nicht vollständig ist. Die Frage nach der Autor-
schaft dieser Produkte kam erst neuerdings durch die Schrift Rittebs, Die Quintil.
Deklamationen Freib. und Tübingen 1881, in Fluss. So umfassend und scheinbar gründ-
lich der Verfasser die Frage behandelt hat, so sind doch die Resultate seines Buchs ver-
fehlt. Bezüglich der grösseren Deklamationen will er gewisse Gruppen herausgefunden
haben, von einer die Dekl. 3. 6. 9. 12. 13 umfassenden behauptet er (p. 203), dass diese in
entschiedenem Zusammenhang mit Quintilian stehe, imd ein innerlicher Grund gegen
Quintilians Autorschaft für diese Stücke nicht vorliege. Auch nach Durchforschung der
äusseren Zeugnisse heisst es (p. 218), dass jene fünf Stücke wirklich von Quintilian sind.
Der Schluss des Buchs bringt aber eine Retraktatio; p. 265 schreibt Ritter «Wir werden
in dem Verfasser einen Schüler Quintilians zu sehen haben*. Damit ist die Untersuchung
über die grösseren Deklamationen in den Sand verlaufen. Es bleiben also noch die klei-
neren Deklamationen, von denselben wird mit einem früheren Herausgeber derselben, Aero-
dius (t 1601), der Quintilianische Ursprung behauptet. Allein die Beweisführung ist, wie
auf den ersten Blick ersichtlich, durchaus unnatürlich und unhaltbar. In völlig ausreichender
Weise hat dies Tbabandt, De minoribus quae sub nomine Quintiliani feruntur declamatio-
nibus, Greifsw. 1883, dargelegt. Es erscheint unbegreiflich, wie Ritter nach dem Er-
scheinen dieser Dissertation noch (1884) die kleineren Deklamationen unter Quintilians
Namen erscheinen lassen und die Ausführungen seines Gegners völlig ignorieren konnte,
welche doch z. B. auch die Billigung eines so umsichtigen Mannes wie Schwabe gefunden
haben. Für Unechtheit spricht sich auch Fleiter, De minoribus quae sub nomine Quin-
tiliani feruntur declamationibus, Münster 1890, aus, ohne jedoch etwas Erhebliches zu
bieten, er mäkelt in unfruchtbarer Weise an Trabandts Ergebnissen.
486. Charakteristik. Wenn je ein Mensch mit tiefer Begeisterung
und warmer Liebe sein Fach umfasste, so war es Quintilian. Die Rede-
kunst ist für ihn die Krone des menschlichen Daseins; sie schliesst in
sich die moralische Vollkommenheit ; denn er hält fest an der catonischen
Definition des Redners, welche auch die sittliche Tüchtigkeit von diesem
verlangt. Diese ist aber einmal notwendig, weil mit der Beredsamkeit
*) Solche Themata sind aber in dem 1 delt: 326. 329. 384 (pestilentia et responsa),
Corpus der kleineren Deklamationen behau- | 246. 350. 381 [novercae).
446 Bömische Litteraturgeschichte. U. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilimg.
der grösste Missbrauch getrieben werden kann, dann aber auch, weil ein
schlechter Mensch es gar nicht zu einem vorzüglichen Redner bringen
kann. Ohne Zweifel liegt in der letzten Behauptung eine Übertreibung,
und aus der Mühe, welche sich Quintilian gibt, um seinen Gedanken plau-
sibel zu machen, geht klar die Unhaltbarkeit desselben hervor. Auch
harmonieren durchaus nicht alle Lehren, z. B. die von den Beschönigungs-
mitteln, mit dieser Anschauung; Konzessionen sind unvermeidlich. Bei
der ungeheuren Bedeutung, die er seiner Kunst beimisst, ist es selbstver-
ständlich, dass er ihre Erlernung als eine eminent wichtige Sache hin-
stellt und daher derselben einen viel grösseren Rahmen gibt als die ge-
wöhnlichen Rhetoren; die Aneignung der Rhetorik muss sich ihm prinzi-
piell zu einer den ganzen Menschen erfassenden Ausbildung gestalten. Die
pädagogischen Winke, die er für die erste Erziehung gibt, sind höchst
beachtenswert. Das System der eigentlichen Rhetorik, das er in seinem
Lehrgang entwickelt, beruht auf eifrigem Studium der vorhandenen rhe-
torischen Lehrschriften und auf einer zwanzigjährigen Erfahrung. Der
Standpunkt, den er in der Frage nach der Bedeutung der rhetorischen
Gesetze einnimmt, ist der Theodorische; er leugnet demgemäss die All-
gemeingültigkeit der Vorschriften und ist der Ansicht, dass dieselben nach
den verschiedenen Lagen des Falls modifiziert oder auch vernachlässigt
werden können. Sonst aber ist er kein Freund der starren Schultheorie
und schwört nicht auf ein Schulhaupt. Er zieht vielmehr verschiedene
Rhetoren zu Rat und wahrt sich seine Selbständigkeit. Bei diesem eklek-
tischen Verfahren musste die strenge Folgerichtigkeit des Systems oft zu
Schaden kommen. Und in der That liegt die Stärke des Schriftstellers
durchaus nicht in dem Ausbau nach der Seite der Theorie; der alte, erprobte
Lehrer lässt niemals die praktischen Gesichtspunkte ausser Acht, für ihn
haben die Anweisungen nur insofern Wert, als sie zur Erreichung des
vorgesteckten Zieles führen. Gern erläutert er seine Vorschriften durch
Beispiele aus den Reden der klassischen Zeit. Kein Redner steht ihm
aber höher als Cicero ; ihn führt er daher am liebsten als Zeugen an. Be-
sonders ist es sein Stil, der seine Bewunderung erregt und ihn zu dem
Ausspruch veranlasst, dass der an seine Fortschritte glauben könne, der an
Cicero Geschmack gefunden hätte (10,1,112). In Anlehnung an diesen
unsterblichen Redner verfolgt er durch sein Werk noch das Ziel, dem
verdorbenen Modestil mit seinen zerhackten und zugespitzten Sätzen ent-
gegenzutreten. Und seine eigene Darstellung liefert den vollgültigen Beweis,
dass es möglich war, diesen durch Zurückgehen auf Cicero zu regenerieren,
ohne in sklavische Nachahmung zu verfallen. Quintilian schreibt ein ruhig
dahinfliessendes und durch mannigfache Bilder aus den verschiedenen
Sphären des Lebens gehobenes Latein, das uns nach einer Senecalektüre mit
wahrem Behagen erfüllt. Aber was uns die Beschäftigung mit ihm noch be-
sonders anziehend macht, ist, dass wir in dem Autor auch den Menschen lieben
können. Wir fühlen uns von seinem edlen, gemütvollen Wesen angezogen
und freuen uns der liebevollen Unterweisung des alten Lehrers. Jeder-
mann wird dem Urteil des grossen Meisters der römischen Geschicht-
schreibung beistimmen, der den Rhetor die Perle der spanisch-lateinischen
Die Juristen. 447
Schriftstellerei nennt und seine Arbeit also charakterisiert: „Sein Lehr-
buch der Rhetorik und bis zu einem Grade der römischen Litteraturge-
schichte ist eine der vorzüglichsten Schriften, die wir aus dem römischen
Altertum besitzen, von feinem Geschmack und sicherem Urteil getragen,
einfach in der Empfindung wie in der Darstellung, lehrhaft ohne Lang-
weiligkeit, anmutig ohne Bemühung, in scharfem und bewusstem Gegensatz
zu der phrasenr.eichen und gedankenleeren Modelitteratur. Nicht am wenig-
sten ist es sein Werk, dass die Richtung sich wenn nicht besserte, so doch
änderte. An inniger Liebe zu der eigenen Litteratur und an feinem Ver-
ständnis derselben hat nie ein Italiener es dem calagurritanischen Sprach-
lehrer zuvorgethan.*'^)
Quintilians rhetorischer Standpunkt. 2,13,2 erat rhetorice res prorsus
facilis ac parva, si uno et brevi praescripto cotUineretur : sed mutantur pleraque causiSf
temporibus, occasione, necessitafe, Atque ideo res in tyratore praecipua consilium est, quia
varie et ad rerum momenta convertitur. — (b) prooemium necessarium an super-
racuum, hreve an longius, ad iudicem omni sermone derecto an aliquando aperso per
aliquant figuram dicendum sit, constricta an latius fusa narratio, continua an divisa, recta
I an ardine permutato, causae docebunt, itemque de quaestionum ordine, cum in eadem con-
' troversia aliud alii parti prius quaeri frequenter expediat, neque enim rogationibus
plebisve scitis sancta ista praecepta, sed hoc, quidquid est, utilitas
excogitavit. Vgl. § 337.
Sein Eklektizismus. 3,1,22 non tarnen post tot ac tantos auctores pigebit nteam
quibusdam locis posuisse sententiam. neque enim me cuiusquam sectae velut quadam super-
stitione imbutus addixi et electuris quae potent facienda copia fuit, sicut ipse plurium in
unum confero inventa, ubicunque ingenio non erit locus, eurae testimonium meruisse con-
tentus. 3, 4, 12 nobis et tutissimum est auctores plurimos sequi et ita videtur ratio dictare.
Die ethische Grundlage 12,1,1 sit nobis orator, quem constituimus, is qui a M.
Catone finitur, pir bonus dicendi peritus, verum id quod et ille posuit prius et ipsa
natura potius ac maius est, utique vir bonus. (3) neque tantum id dico, eum qui sit orator,
virum bonum esse oportere, sed ne futurum quidem oratorem nisi virum bonum.
Die Quellen Quintilians können nur durch eine Aufrollung der gesamten rheto-
rischen Litteratur festgestellt werden. Untersuchungen, die in einem engeren Rahmen ge-
führt werden, führen selten zu ergiebigen Resultaten. Claussen, Fleckeis. Jahrb. Suppl.
6,339; MoRAWSKi, Quaest, Quint., Berl. 1874; Teichert, De fontibus Quintiliani rhetoricis,
I Königsb. Diss. 1884.
4. Die Juristen.
487. Die Bechtsschulen der Proculianer und Sabinianer. Oben
(§ 353) haben wir gesehen, dass in der Augusteischen Zeit zwei Juristen
M. Antistius Labeo und C. Ateius Capito als Vertreter zweier Richtungen
sich gegenüberstanden. Pomponius lässt in seinem Abriss die Schulgegen-
sätze auch nach dem Tode jener hervorragenden Juristen fortdauern, er
gibt ihnen Nachfolger bis zui* Zeit Hadrians. Merkwürdigerweise erhielten
die beiden Schulen ihre Namen erst von späteren Häuptern derselben,
die Schule Labeos nannte sich nach Proculus die Proculianer, die Schule
Capitos nach Sabinus und Cassius die Sabinianer oder Gassianer. Es ist
höchst wahrscheinlich, dass diese Schulen auf einer korporativen Ver-
fassung ruhten und also schon rechtlich einen Vorstand nötig machten.
Das Beispiel der griechischen Philosophenschulen mag hier vorbildlich ge-
wesen sein. Allein auch der Gegensatz der Bechtsanschauung, den Labeo
und Capito begründet hatten, muss in den Nachfolgern noch fortge-
wirkt haben. Freilich für die Länge der Zeit war die ursprüngliche Schärfe,
') MoMMSEK, R. Gesch. 5, 70.
448 Bömische Litteratnrgeschiohte. II. Die Zeit der Honarohie. 1. Abteilung.
mit der sich die beiden Richtungen gegenüberstanden, nicht haltbar. Die
Vertreter der Analogie im Recht waren gezwungen, die Einwände der
Vertreter der Anomalie in ihren Aufstellungen zu berücksichtigen, durch
diese Berücksichtigung ihrer Anschauungen waren aber auch die Anoma-
listen befriedigt. Die Parteien erkannten immer mehr die Notwendigkeit
der gegenseitigen Konzessionen. Der Streit, von dessen Verlauf und
Ende die Quellen kein deutliches Bild geben, führte schliesslich zu dem-
selben Ergebnis, zu dem er in der Grammatik geführt hatte; weder die
Analogie noch die Anomalie konnte ausschliesslich das Terrain behaupten,
sie mussten einander die Hand zur Versöhnung reichen.
Über die Häupter der beiden Schulen lautet der Bericht des Pomponius im Ein-
gang der Digesten also:
Et üa Ateio Capitoni Masaurius Sabinus siircessit, Labeoni Nerva, qui adhue ean
dissensiones auxerunt — huic (Sabino) auccessU Caius Caasius Langinus — Nervae succesait
Proculus. Fuit eodem tempore et Nerva filius, Fuit et alius Longinus ex equestri quidem
ordine, qui postea ad praeturam usque pervenit. Sed ProcuU auctoritas maior fuit, nain
etiam plurimum potuit, appellatique sunt partim Cassiani, partim Proculiani, quae origo a
Capitane et Labeone coeperat. Cassio Caelius Sabinus auccessit, qui plurimum temporibua
Veapaaiani potuit; Proculo Pegasus, qui temporibus Vespasiani praefectus urbi fuit; Caelio
Sabino Priscus Javolenus; Pegaso Celsus; patri Celso Celsus filius et Priscus Neratius, qui
utrique consules fuerunt, Celsus quidem et iterum; Jaroleno Prisco Aburnius Valens et
Tuscianus, item Sälvius Julianus.
488. Die Proculianische Schule. Als Schulhäupter werden uns
von Pomponius genannt:
1. M. Cocceius Nerva, der Grossvater des Kaisers Nerva; er war
ein Vertrauter des Tiberius (Tac. Ann. 4, 58); allein im Jahre 33 n. Ch.
fasste der angesehene Mann den Entschluss, in den Tod zu gehen, da ihm
die Lage des Vaterlandes hoffnungslos erschien. Und trotz der Bitten des
Tiberius führte er seinen Entschluss durch (Tac. Ann. 6, 26; Dio 58, 21).
Er wird von hervorragenden Juristen oft angeführt, ohne dass aber dabei
eine Schrift von ihm namhaft gemacht wird.
Auch sein Sohn, der Vater des Kaisers, war Jurist; von ihm wird ein Werk de usu-
rapionibus angefahrt (Big. 41,2, 47). Der neben ihm genannte Longinus ist sonst unbekannt.
2. Proculus. Da die Schule von ihm ihren Namen erhielt, so muss
er sich eines grossen Ansehens erfreut haben. Wir kennen aus den An-
führungen in den Digesten seine Epistulae, die mindestens elf Bucher
umfassten und Responsa und Quaestiones enthielten (Dig. 19, 5, 12; 23, 4, 17).
Auch Noten zu Labeos libri posteriores verfasste er (Dig. 33,6, IC; 3, 5, 10, 1).
3. Pegasus, Praefectus urbi unter Vespasian. Wir kennen diesen
Rechtsgelehrten aus der vierten Satire Juvenals. Er wird oft von den
juristischen Schriftstellern citiert, aber ohne Bezeichnung von Werken.
Schol. zu Juv. 4, 77 Pegasus filius trierarchi, ex cuius liburnae para^emo nomen
accepit, iuris studio gloriam memoriae meruit, ut liber ruigo, non homo diceretur. hie
functus omni honore cum provinciis plurimis praefuisset, urbis curam administrarit, hinc
est Pegasianum SC, (Inst. 2, 23, 5; Gai. 1,31; Sohm Inst.^ p. 445).
4. Juventius Celsus der Vater und P. Juventius Celsus der
Sohn. Der berühmtere von beiden ist der Sohn, der auch wegen seiner
Teilnahme an einer Verschwörung gegen Domitian in der Geschichte be-
kannt ist (Dio 67, 13). Seine Wirksamkeit erstreckte sich noch in die
Hadrianische Zeit (Spart. Hadr. 18). Dieser jüngere Celsus steht als Jurist
ausserordentlich hoch. Die Schärfe und Präzision seiner Gedanken ist be-
Die Joristen. 449
wunderungswürdig. In den Pandekten ist nur ein Werk ausgezogen,
seine Digestorum libri XXXIX und zwar sind es 142 Stellen.
Angeführt werden aber in den Digesta noch folgende Schriften:
1. commentarii von mindestens 7 B. (Dig. 34,2,19,6};
2. epiatulae von mindestens 11 B. (Dig. 4,4, 3, 1);
3. quaestiones (über die Zahl der Bücher vgl. EbOoeb p. 166, 13).
5. Neratius Priscus, ebenfalls ein sehr angesehener Mann; Traian
schätzte ihn so hoch, dass er ihn gern als seinen Nachfolger sich dachte
und dies auch durch Äusserungen kund gab (Spart. Hadr. 4, 8). Exzerpiert
sind in den Pandekten von ihm die Responsorum libri III, die Membra-
narum libri VII und die Regularum libri XV.
Angeführt werden in den Digesta noch folgende Werke:
1. Epistulae von mindestens 4 B. (Dig. 33, 7, 12, 35 u. 43);
2. libri ex Plautio (Dig. 8, 3, 5, 1);
3. Über de nuptiia (Gell. 4, 4, 4).
Über eine auf Neratius Priscos bezügliche Inschrift (CIL. 9, 2454) vgl. Bobohest,
Oeuvres 5, 350; Asbach, Rh. Mus. 36, 46, 1.
489. Die Sabinianische Schule. Die Häupter dieser Schule sind
folgende Juristen:
1. Masurius Sabinus. Für die Entwickelung der Rechtswissen-
schaft war von grossem Einfluss das Institut der Responsa, die Recht-
weisung. Seit Augustus wurden die responsa mit kaiserlicher Autorität
{ex auctoritate principis) gegeben. Die in der vorgeschriebenen Form er-
teilten responsa der Juristen, denen das ius respondendi verliehen war,
hatten für den Instruktionsbeamten wie für den Richter verbindliche Kraft ;
es musste darnach erkannt werden, wenn nicht ein entgegenstehendes Out-
achten eines andern privilegierten Juristen vorgelegt wurde. Wenn es
nun heisst, dass Masurius Sabinus zuerst dieses Recht von Tiberius er-
hielt (Pomp. dig. 1, 2, 2, 50), so wird das dahin zu verstehen sein, dass er
der erste aus dem Ritterstande war, der respondierte; denn das Recht
hatte ja bereits Augustus erteilt.*) Trotz dieser Auszeichnung waren
seine äusseren Verhältnisse dürftig; er war auf die Unterstützung seiner
Zuhörer angewiesen. Sein Hauptwerk waren die libri III iuris civilis.
Das Werk wurde von dem Juristen Pomponius in wenigstens 36, von Ulpian
in wenigstens 51, von Paulus in wenigstens 17 Büchern kommentiert.
Diese Kommentare führen in den Digesten, für die sie grosse Wichtigkeit
erlangten, die Bezeichnung ex Sabino oder ad Sabinum, Noten schrieb zu
dem Werk der mit dem jüngeren Plinius (ep. 1, 22, 1; 5, 3; 8, 14) vertraute
Titius Aristo (Dig. 7, 8, 6).
Über den Aufbau des Werks, das sich an Labeo anlehnte, vgl. Voigt, Abh. d. s&chs.
Gesellsch. d. Wissensch. 7,351; Krügbh, Geschichte der Quellen etc., Leipz. 1888 p. 151;
Leist, Versuch einer Geschichte der r5m. Rechtssysteme 1850 p. 44.
Andere Werke des Sabinus sind:
1) Über de furtis GeU. 11, 18, 11;
2) libri ad Vitellium (Dig. 32,45; 33,7,8 pr.; 33,7,12,27; 33,9,3 pr.). Auch
zu diesem Werk schrieb Aristo Noten.
3) libri ad edictum praetoris urbani in mindestens 5 BQchem (Dig. 38, 1, 18);
4) Responsa mindestens 2 Bücher (Dig. 14,2,4 pr.);
5) Assessorium (Dig. 47,10,5,8), wahrscheinlich über die amtliche Thätigkeit
der assessares;
6) libri memorialiumj mindestens 11 Bflcher (Gell. 5, 6, 13);
') Kröobb p. 150, 4 (nach Mommsen).
Handbuch der Uub. AltcrlttnuwlflMnscbaft. Vm. 2. Teil. 29
450 Bömiflche Litteraturgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilimg.
7) Fastif in mindestens 2 Büchern (Macrob. 1|4, 6);
8) eomtnentarii de indigenis (Gell. 4, 9, 8).
Die Fragmente der drei letzten Schriften fanden sich bei Huschke, iurispr, anteiusf.^
p. 123. — HouquES-FoüBCADE, Mct88. Sab,, sa pie, son oeupre, Bordeaux 1889.
2. C. Cassius Longinus (Konsul 30 n. Gh.). Dieser Jurist griff
auch tief in das öffentliche Leben ein, er verwaltete in den Jahren 40
und 41 die Provinz Asien und im Jahre 49 Syrien. Tacitus gedenkt
seiner mit der höchsten Achtung (Ann. 12, 12). Dem Kaiser Nero wurde
der wackere Mann verhasst; als Vor wand, ihn zu beseitigen, musste die
Anschuldigung herhalten, dass er unter seinen Aimenbildern auch das des
Mörders Cäsars aufbewahre. Über den erblindeten Greis (Suet. Nero 37)
wurde die Verbannung verhängt, als Aufenthaltsort wurde ihm Sardinien
angewiesen (Tac. Ann. 16, 9). Nach dem Tod des Tyrannen unter Vespa-
sian wurde er zurückberufen (Dig. 1, 2, 2, 51). Sein Hauptwerk waren
die libri iuris civilis (Dig. 7, 1, 7, 3). Der berühmte Jurist Javo-
lenus machte aus demselben einen Auszug von 15 Büchern, der in den
Digesten benutzt ist. Ein anderer Jurist, der schon genannte Aristo, erläuterte
dasselbe dm*ch Noten. Ausser diesem Hauptwerk hat Cassius Anmerkungen
zu Vitellius geschrieben (Dig. 33, 7, 12, 27).
Von diesem C. Cassius Longinus ist zu trennen der von Pomponius neben Nerva
dem Sohn genannte Proculianer Longinus.
3. Cn. Arulenus Caelius Sabinus (Konsul 69). Seine Blüte fallt
in die Zeit Vespasians. Sein Hauptwerk war eine Beai*beitung des ädili-
cischen Edikts (Gell. 4, 2, 3).
4. Javolenus Priscus war wie Cassius Longinus sehr ins öffent-
liche Leben verflochten. Er verwaltete die Provinzen Britannien, Ger-
mania superior, Syrien und zuletzt Afrika. Eine Probe seiner Zerstreut-
heit berichtet uns der jüngere Plinius (ep. 6, 15). Von seiner juristischen
Thätigkeit liegen die Niederschläge in den Digesten vor; an mehr als
zweihundert Stellen ist er exzerpiert.
Über seine amtliche Laufbahn vgl. CIL. 3,2864; Äddenda p. 1062; Ephem. epigr. 5,
652. Seine Schriften sind:
\) epistularum l. XIV. Dieselben enthielten Responsa imd Quaestiones (Dig. ^.
4, 5; 28, 5, 65 u. a.). Die übrigen Schriften sind Bearbeitungen fremder juristischer
Werke, nämlich
2) libri XV ex Cassio (Lenel Palingetiesia p. 277); vgl. Absatz 2;
3) libri V ex Plautio {Lenel p. 297);
4) Zwei Auszüge aus den libri posteriores Labeos (vgl. p. 229), der erste
wird citiert Labeo — libro Posteriorum a Javoleno epifomatorum, der zweite Javolenus Ubro
— ex posterioribus Labeonis, ,In dem ersteren spricht Labeo, Javolenus hat nur Noiae
hinzugesetzt; in dem anderen referiert Javolen aus Labeo, das in erster Person Ausge-
sprochene geht auf Javolen. Ein sachlicher Gegensatz beider Auszüge tritt nicht hervor;
auch in der Bucheinteilung gehen beide parallel, der erstere Auszug bricht aber in den Ju-
stinianischen Digesten mit dem sechsten Buch ab, von dem anderen sind zehn Bücher be-
nutzt* (Krüoeh p. 163).
Die Übrigen noch von Pomponius genannten Häupter der Sabinianer
Aburnius Valens, Tuscianus, Salvius Julianus gehören bereit« der folgenden
Epoche an, daher wir von weiterem hier absehen.
5) Die Schriftsteller der realen Disziphnen.
1. Der Encyklopädist C. Plinius Secundus.
490. Biographisches« G. Plinius Secundus wurde zu Novum Comum
23 n. Ch. geboren. Er kam frühzeitig nach Rom; hier schloss er sich bc-
Der ältere Plinins. 451
sonders an Pomponius Secundus an, dessen Leben er in dankbarer Ge-
sinnung später erzählte (§ 381). Dieser bedeutende, als Feldherr und Dichter
gleich ausgezeichnete Mann war ohne Zweifel von tiefgehendem Einfluss
auf die Entwickelung des jungen Plinius. Wie bei Pomponius, so finden
wir auch bei ihm die Verbindung der amtlichen Thätigkeit mit dem Stu-
dium und dem unermüdlichen litterarischen Schaffen.') So schrieb er als
junger Offizier {praefeefus cdae) über Kavalleriemanöver und im reiferen
Alter begab er sich noch vor Tagesanbruch zum Kaiser Vespasian, um
mit ihm zu konferieren und alsdann des ihm übertragenen Amtes zu
walten. War der Pflicht Oenüge gethan, kehrte er nach Hause zurück
und widmete die übrige Zeit dem Studium. Seine Amtskarriere ist uns
nur in allgemeinen Umrissen bekannt. Wir wissen, dass er bei der Rei-
terei diente, und dass ihn sein Miltärdienst nach Deutschland geführt
hatte; wir wissen femer, dass er in sehr engen Beziehungen zu den Fla-
viern stand und mit Vespasian, wie eben gesagt, täglich amtliche Geschäfte
zu erledigen hatte. Die Biographie teilt uns mit, dass er angesehene
Prokurationen mit der grössten Gewissenhaftigkeit verwaltet; eine in
Spanien bekleidete bezeugt uns ausdrücklich sein Neffe. Das Ende seiner
Laufbahn bildete das Kommando über die bei Misenum zusammengezogene
Flotte. Hier ereilte ihn beim Ausbruch des Vesuv im Jahre 79 der Tod.
Der jüngere Plinius schildert uns in einem Briefe an Tacitus (6, 16) in
sehr anschaulicher Weise die Katastrophe. Eine Ergänzung hiezu bildet
der Brief 6, 20, der die Erlebnisse des jüngeren Plinius bei dem Er-
eignis berichtet. Die wissenschaftliche Neugierde und das Verlangen, in
der allgemeinen Verwirrung helfend einzugreifen, führten ihn in den Tod.
Eine Biographie des Plinius fand sich in dem Werk Suetons De viris illustrihus und
zwar in der Abteilung der Historiker. Aus derselben ist uns aber nur ein dürftiges Frag-
ment unter der Bezeichnung „VUa Flinii ex catalogo pirorum illustrium Tranquilli*' er-
halten (Suet. reliq. p. 92 Rbiffebsch.).
Zeugnisse über sein Leben. Das Geburtsjahr ergibt sich aus Plin. ep. 3,5,7
((lecessit) anno sexto et quinquagenHmo, Über seine amtliche Karriere: Plin. ep. 3,5,4
cum in Germania militaret 3, 5, 3 cum praefectus alae militaret Suet. p. 92 Reiffe>isch.
equestrihtis militiis industrie functus procurationes quoque splendidissimas et continuas
ttumma integritate administravit 3, 5, 17 cum procuraret in Hispania 3, 5, 9 ante liicem
ibat ad Vespasianum imperatorem, inde ad delegatum ttibi officium 6, 16, 4 erat Miseni
classemque imperio praesens regebat. Auf unsem Plinius bezient Mohiisev eine in Arados
gefundene griechische Inschrift (Hermes 19, 644). ' Nach derselben wäre Plinius unter anderm
Untergeneralstabschef im jQdischen Kriege des Jahres 70 gewesen ; dadurch finde das ca-
strense contuhernium mit Titus, welches in der Dedikation der N. H. erwähnt sei, seine Er-
klärung; weiterhin sei er Prokurator in Syrien gewesen. Sein Aufenthalt in verschie-
denen Ländern: 16,2 sunt et in septentrione visae nobis (gentes) Chaucorum 2, 149 ego
ipse vidi in Vocontiorum agro 7,37 ipse in Afrira vidi. Über seinen Tod gibt die Vita
noch ein Gerücht: vi pulreris ac faviUae oppressus est vel, ut quidam existimant, a servo
suo occisus, quem aestu deficiens, ut necem sibi maturaret, oraverit. Dies Gerücht verdient
keinen Glauben.
491. Die naturalis historia. Plinius war einer der grössten Leser
des Altertums. Zugleich war er auch einer der fieissigsten Epitomatoren.
Kein Buch las er, das er nicht exzerpiert hätte; denn er hielt an der An-
sicht fest, dass kein Buch so schlecht sei, dass es nicht irgend einen Er-
') Plin. ep. 6, 16, 3 (an Tacitus) equidem
beatos puto quibus deorum munere datum est
aut facere scribenda aut scribere legenda,
beatissimos rero quibus utrumque, Horum
in numero arunctdus meus et suis libris et
tuis erit.
29*
452 ROmiBche Litteratnrgeschichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteüung.
trag abwerfe. Nach der interessanten Schilderung, welche sein Neffe von
seinem Onkel entwirft (3, 5), verfloss dessen Leben fast ganz über an-
haltendem Lesen. Während des Essens und beim Bade wurde vorgelesen,
auf seinen Reisen führt er seine Bücher mit sich und zugleich einen Steno-
graphen, der seine Notata sofort fixiren konnte. Das Gleiche geschah in
Rom, wenn er sich in einer Sänfte spazieren tragen liess. Bei einer
solchen peinlichen Ausnützung der Zeit gewann er allmählich eine grosse
Menge von Auszügen. Als er Procurator in Spanien war, hatte er bereits
eine so beträchtliche KoUektaneensammlung, dass ihm Largius Licinius
die Summe von 400,000 Sesterzien für dieselbe bot. Allein er konnte sich
nicht von seinem Schatze trennen, er erweiterte ihn vielmehr* durch neue
Exzerpte. Nach seinem Tod fand der jüngere Plinius in dem Nachlass
ein Konvolut von 160 auf beiden Seiten eng beschriebenen Buchrollen.
Ohne Zweifel bildeten diese „Electa" die Grundlage für die naturalis hi-
storia, die sich allein von seinen Schriften erhalten hat. Dieses Werk
steckt sich das Ziel, eine gesamte Encyklopädie der Naturwissenschaften
zu geben und zwar in der Weise, dass auch die Zweige behandelt werden,
welche die Naturwissenschaften zur Voraussetzung haben, wie die Erd-
kunde und die Medizin, oder mit denselben in irgendwelcher Beziehung
stehen wie die Kunst. Selbstverständlich musste zuvor ein genauer Plan
des Ganzen festgestellt werden, nach welchem dann die Exzerpte verar-
beitet wurden. Im Jahre 77 war er mit dem Werk zu einem relativen
Abschluss gekommen, der Stoflf war in 36 Büchern abgehandelt; mit einer
charakteristischen Vorrede überreichte er sie dem Titus. Der Vorrede
hatte er zugleich die Inhaltsangaben der einzelnen Bücher beigegeben,
damit Titus sich die ihm zusagenden Materien zur Lektüre heraussuchen
konnte. Ein Verzeichnis der Quellenschriftsteller war jedem einzelnen
Buch beigefügt. Bald darauf wurde Plinius zum Befehlshaber der bei
Misenum stationierten Flotte ernannt. Auch in dieser Stellung behielt der
Autor sein Werk im Auge; er las natürlich weiter und liess demselben
auch die neuen Früchte seiner Lektüre zu gute kommen. Dadurch kam
es zu Umarbeitungen und zu Nachträgen.^) Mitten in der Arbeit w^urde
er durch den Tod abberufen (79). Das vielfach erweiterte Werk musste
jetzt von fremder Hand dem Publikum dargeboten werden; es hatte also
dasselbe Schicksal, wie das Geschichtswerk A fine Aufidii BassL Als
Herausgeber stellt sich uns von selbst der jüngere Plinius dar, welcher
im Besitz des littertoischen Nachlasses seines Onkels war. Dieser griflf
aber sicherlich nicht tief in das Vorhandene ein, nach den Spuren der Un-
fertigkeit, welche noch allenthalben sichtbar sind, muss er sich mit einer
oberflächlichen Redaktion begnügt haben. Nur in dem Aufbau wurde eine
Änderung vorgenommen, welche jedoch auch mehr äusserlich war. Die
Quellen Verzeichnisse wurden mit den Inhaltsangaben vereinigt; die Aus-
^) Bbukn p. 2 qua in re (in der Um-
arbeitung) ita versatus est Plinius, ut non
solum emendaret aut immutaret nonnuJla,
sed etiam tota capita transponeret vel adeo
prorsus novo modo libros divideret (cf. V, VI,
XIV, XV). Proeierea vero ex auctoribus antea
negUctis etiam nova muUa addidit, quae in
excerpendOf commodius intexendi tempus ex-
spectans, saepe ad marginem adnotasse vide-
tur, unde interdum post ipsius mortem ab
imperita manu falso loco in continuitafem
rerborum inserta sunt.
w ■
I
Der ältere PlininB. 453
gäbe enthielt sonach ein Einleitungsbuch, dann 36 Bücher mit dem Stoff.
Diese Bücher haben folgenden Inhalt:^)
1. Buch Inhalts- und Quellen Verzeichnisse;
2. Buch mathematisch-physikalische Beschreibung des Universums;
3. — 6. Buch Geographie und Ethnographie;
7. Buch Anthropologie und Physiologie des Menschen;
8. — 11. Buch Zoologie
8. Säugetiere, 9. Fische, 10. Vögel, 11. Insekten und noch einiges aus der ver-
gleichenden Anatomie;
12.-27. Buch Botanik
12. und 13. ausländische Bäume und Sträucher, 14. und 15. Obstbäume, 16. wilde
Bäume und eine allgemeine Botanik, 17. Baumzucht,
18. und 19. Getreide, Kohlarten, Feld- und Gartenbau,
20. — 27. Heilmittel aus dem Pflanzenreich;
28.-32. Buch Heilmittel aus dem Tierreich;
33.-37. Buch Mineralogie, Metallurgie und Lithurgie
33. Gold und Silber, 34. Erz, 35. Farben und Malerei, 36. Steine und ihre Be-
arbeitung, 37. Edelsteine und ihre Verwertung.
Der Aufbau des Werks ist im ganzen sachgemäss. Die einzige Stö-
rung dürfte sein, dass die Heilmittel des Tierreichs nach den Heilmitteln
der Botanik abgehandelt werden. Der Autor selbst glaubt dies entschuldigen
zu müssen.^)
Ursprüngliche Anordnung des Werks, praef. 21 in his tJoluminUms auctorum
nomina praetexui 32 quia occupeUionihus tuis publica bono parcendum erat, quid singulis
contineretur libris, huic epistulae subiunxi summaque cura ne legendos eo8 höheres operam
dedi. 17 inclusimus triginta sex voluminibus. Eine andere Erklärung des scheinbaren
Widerspruches der letzten Angabe des Plinius mit der Überlieferung, welche 37 Bücher
zählt, versucht Oehxichen, Plin. Stud. p. 80 (,Das 37 Buch ist von Plinius ursprünglich
nicht beabsichtigt gewesen und erst nachträglich von ihm gefertigt worden**). Vgl. 37, 13
und 37,62.
Widmung, praef. 1 libros Naturalis Historiae — natos apud me praxima fetura
Hcentiore episiula narrare constitui tibi, iucundissime imperatar — (3) triumphalis et censorius
tu sexiesque consul (11 n. Ch.) ac tribuniciae potestatis particeps et^ quod his nobilius fe-
cisti, dum iUud patri pariier et equestri ordini praestas, praefectus praetorii eius.
Die Überlieferung. Die Handschriften sind sehr zahlreich, es sind gegen 200.
Sie zerfallen in zwei Gruppen vetustiores und recentiores; die erste ist viel weniger zahl-
reich und leider nur sehr fragmentarisch erhalten; keine einzige enthält den ganzen Plinius.
Das Hauptkriterium für die recentiores ist, dass sie sämtlich auf einen Archetypos zurück-
gehen, in dem 2,187—4,67 nach 4,67—5,34 gestellt war.l
a) Für die vetustiores sind Quellen: a) die Codices: Der Leidensis f. 4 s. IX,
die beste Quelle für 2, 196 —6, 51 (jedoch mit grösseren Lücken, welche durch Blattaus-
fall entstanden sind); der Bambergensis s. X enthält B. 32 — 37; ß) die in Uncialen ge-
schriebenen Fragmente: codex Moneus, Palimpeestfragmente s. V/YI des Klosters St. Paul
im Lavanter Thal in Kärnten, von Mone aufgefunden zu B. 11 — 14,77; codex Sessorianus
rt. V, 14 Palimpsestblätter zu B. 23 u. 25 (Hauleb in Comment. Wölflfl. p. 307); der Parisinus
9378, s. V/VI enthält B. 18,78-99; Finrfofe. 233 s. VI, Fragmente von sieben Blättern zu
33 und 34. Alle diese Stücke stammen aus vier verschiedenen ehemals vollständigen Hand.-
schriften; y) die Exzerpte: der Parisinus b. Salmasianus 10318 s. VII/ VIII, der Codex der
Anthologie gibt Auszüge aus B. 19,3—20,73 und 20,218 — 253* missverständlich wurden
früher diese Auszüge Apuleius de remediis salutaribus genannt; der Parisinus 4860 s. X
enthält umfangreiche Auszüge aus B. 2 und kurze Stücke aus B. 3. 4. 6 ; d) die in den recen-
tiores beigeschriebenen, verlorene Quellen repräsentierenden Korrekturen und Zusätze.
b) Die recentiores. Der hauptsächlichste Vertreter ist ein in drei Stücke zer-
rissener Codex, so dass zu verbinden sind der Vaticanus 3861 s. XI, ein Teil des Parisinus
6796 s. X'Xl, der ausserdem noch zwei verschiedenen Zeiten angehörige Bestandteile enthält,
und der Leidensis fol. 61s. XI. Ausser der Zerreissung in drei Teile hat der Codex noch Verluste
*) Vgl. Urlichs, Chrest. p. XIX.
*-') N. H. 28, 3 illud admonuisse per-
inventa — nunc quae in ipsis auxilientur
indicari neque illic in totum omissa, haec
quam necessarium est, dictas iam a nobis itaque esse quidem alia, Ulis tarnen conexa.
naturas animalium et quae cuiusque essent
/
454 Bömische Litteratnrgesohichte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abieilnng.
von Blättern und Blattlagen erlitten. Nach Detlefsen (Proleg. 4. Bd. p. Y) ist der Leidensi«
Lipsii 7 s. XI eine Abschrift dieser drei Teile und identisch mit dem Chiffletianus (vgl.
Einwendungen von Welzhofeb, Ein Beitrag zur Handschriftenkunde des PL, München 187>^.
mit den Gegenbemerkungen von Ublichs, Bursian Jahresber. (1878) 2, 268). Der Riccardianus,
um 1100 geschrieben, sehr verstümmelt, mit Ergänzungen von einer zweiten Hand; der
Parisinus 6795 s. X/XI, die Quelle vieler anderen Handschriften, ist ein Hauptrepräsentant
einer zweiten Gruppe der recentioresy welche die Umstellung der verschobenen Teile vor-
nehmen wollte, aber dadurch die Verwirrung noch grösser machte. — Hauptabhandlung von
Detlefsen, Philol. 28,284, wozu noch Aufsätze des Rh. Mus. (15, 265, 367; 18,227,327}
und die Vorreden seiner Ausgabe kommen. Hier findet sich auch die übrige Litteratur.
Ausgaben von Habdouin, Paris 1685 und 1723; von Sillio, Gotha 1853—55, 8 Bde.
(7. und 8. Indices) ; von L. von Jan, Leipz. 1854 — 65, 6 Bde., in neuer Bearbeitung von May-
hoff; von Detlefsen, Berl. 1866—73. — Chrestomathia Pliniana von Urlichs, Berl. 1857.
492. Die Quellen der naturalis historia. Während bei den Alten
das Verschweigen der benutzten Quellen ungemein häufig ist, hat Plinius
in der Vorrede offen ausgesprochen (21), dass es die Dankbarkeit und der
Anstand erfordere, die Quellen namhaft zu machen und diejenigen scharf
getadelt, welche stillschweigend ihre Vorgänger ausplündern. Er hat daher
zu jedem Buch ein Verzeichnis der benutzten Autoren, der lateinischen wie
der griechischen, geliefert. Auch in dem Text sind die Gewährsmänner
häufig genannt. Eine Vergleichung der Autorenverzeichnisse und dieser
Citate ergibt nun, dass die Verzeichnisse die Autoren in der Reihenfolge
aufzählen, in der sie verwendet sind. Freilich gilt dies Gesetz nur im grossen
Ganzen, denn der Störungen, welche die Reihenfolge unterbrechen, sind
nicht wenige. Eine hauptsächliche Störung wurde dadurch hervorgerufen,
dass Plinius, nachdem das Werk dem Titus übergeben war, noch weitere
Auszüge machte und die Namen der neu exzerpierten Autoren vorläufig
am Schluss der Verzeichnisse hinzufügte. Die Zahl der in den Quellen-
registern aufgeführten Schriftsteller beträgt ^ etwa 146 römische und 327
fremde, also im ganzen weit über 400. Nun aber sagt er in der Vorrede,
dass er aus 100 erlesenen (exquisUi) Autoren seine Notizen sich gesammelt.
Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit die Schlussfolgerung, dass die Autoren
der Indices in Bezug auf ihre Benutzung durch Plinius in zwei Klassen
zerfallen, in Hauptquellen und Nebenquellen, in primäre und sekundäre
Autoren. Von Wichtigkeit für die Quellenfrage ist das Kriterium für die
Scheidung der beiden Klassen. Als das einfachste bietet sich dar, dass
die primären Autoren die sind, welche ganz oder doch in ihren Haupt-
teilen ausgezogen wurden, die sekundären dagegen diejenigen, welche nur
vereinzelte Notizen für die Ergänzung der Hauptmassen der Exzerpte
darboten. Allein wir müssen die Grenze für die sekundären Autoren noch
weiter ziehen ; nicht bloss die hie und da eingesehenen Schriftsteller, son-
dern auch Schriftsteller, die Plinius niemals in Händen gehabt, sondern
in seinen Quellen vorgefunden hat — es sind dies besonders griechische
— rechnet er zu der zweiten Klasse seiner Quellen. Dass damit das oben
erwähnte Gesetz von der Quellenbenutzung wiederum eine Trübung er-
fährt, ist klar. Es fragt sich noch, wie Plinius seine Quellen zu einer
bald geringeren, bald grösseren Einheit verbindet. Es stehen sich zwei
Ansichten gegenüber, die einen meinen, dass Plinius Exzerpte an Exzerpte
reihte, die andern, dass er den Grundstock seiner Darstellung in den ein-
') Dbtlbfsbn, Philol. 28, 702.
Der ältere Plinias. 455
zelnen Materien jedesmal aus wenigen Autoren gewann und zu diesem
Grundstock dann Zusätze machte. Vor allem ist klar, dass gewisse Partien
des Werks, welche einen Organismus zur Voraussetzung haben, und des-
halb eine zusammenhängende Darstellung erfordern, auf der Grundlage einer
oder mehrerer Hauptquellen aufgebaut werden müssen. Andere Partien,
welche mehr den Charakter von Registern tragen, lassen die Möglichkeit
einer Entstehung aus aneinandergereihten Exzerpten zu ; allein ein Faden,
an dem die Excerpte aneinandergereiht werden, ist auch hier notwendig,
es wäre denkbar, dass der Autor diesen leitenden Faden aus einem Hand-
buch entnahm, ohne daraus etwas Stoffliches zu entlehnen. Allein sehr
wahrscheinlich ist das nicht. Wir werden daher für das ganze Werk
zu statuieren haben, dass die Hauptmassen aus wenigen Autoren ge-
wonnen sind-O
Quellenstudium des Plinius. praef. 17 viginti miiia rerum dignarum cura —
lectione voluminum circiter duum miUum, qtiorum pauca admodum studiosi attingunt propter
secretum materiae, ex exquisitis auctorUnis centum inclusimus triginta sex voluminibu«, ad-
iectia rebus plurimis quas aut ignoraterant priores aut pastea invenerat rita.
Das Brunn'sche Gesetz von der Quellenbenutzung des Plinius. (De auc-
torum indicibus Plinianis disputatio isagogica p. 1) PI in tum eodem ordine, quo in
componendis lihris usus est, auctores etiam in indices rettulisse contendo,
Quod simplicissimum inventum tarnen non tarn simplex est, quin ampliore demonstratione
egeat, Variis enim modis aut obseuratus est ordo aut perturhatus, ut interdum vix aut
tarn otnnino nan agnascatur.
Die Arbeitsweise des Plinius behandeln eingehender FurtwXnoleb, Fleckeis.
Jahrb. 9 Supplementb. p. 4 ; Oehmichen, Plin. Stud. p. 72 (die Ezzerpiermethode des PI.).
Allgemeine Untersuchungen über die Quellen des Plinius. Detlefsen,
Vitruv als Quelle des Plinius (Philo!. 31, 385), gegen diese Abhandlung Oehmichen 1. c.
p. 211. Kuize Notizen über einige Queilenschriftsteller des Plinius, Glückstadt 1881; Dirk-
sen, Die Quellen, insbesondere die römisch-rechtlichen der N. H. des PL (Hinterl. Schriften
1, 133); Oehmicheh, Plinianische Studien zur geogr. und kunsthist. Litteratur, Erlangen 18H0.
Die Quellen der geographischen Bücher. Detlefsek, Varro, Agrippa und
Augustus als Quellen für die Geographie Spaniens (Comm. Monuns. p. 23); die Weltkarte
des Agrippa, ölückst. 1883; Untersuchungen zu den geographischen Büchern des PI. (die
Quellen des PI. in der Beschreibung des Pontus, Philol. 46,691); Cuntz, De Augusto Plinii
geographicorum auctare, Bonn 1888; Agrippa und Augustus als Quellenschriftsteller des
PL (Fleckeis. Jahrb. 17 Supplementb. p. 475 «Das Buch, welchem Plinius die statistischen
Nachrichten entlehnt hat, sind die von Augustus vollendeten Commentare des Agrippa").
ScHWRDBB, Beitr. zur Kritik der Chorographie des Augustus, II. T. Kiel 1878 (die Chorogr.
des Aug. ab Quelle der Darstellungen des Mela, Plinius, Strabo); III. T. Kiel 1883 (über
die «Ghorographia*, die römische Quelle dos Strabo, und über die Provinzialstatistik in der
Geographie des Plinius) ; Die Konkordanz der Ghorographien des Mela und des Plin., Kiel 1879 ;
Über die gemeinsame Quelle der geographischen Darstellungen des Mela und des Plinius
(PhiloL46,276; 47,636).
Die Quellen der zoologischen Bücher. Montigny, Quaest. in Plinii N. H. de
animaUhus lihros, Bonn 1844 (untersucht besonders das Verhältnis des Plinius zu Aristo-
teles). Aly, Zur Quellenkritik des filteren Plinius, Magdeburger Progr. 1885. Biet, De
HalUuticis p. 132. Heigl, Die Quellen des PL im 11. B. Marb. in Österr. 1885. 1886.
Die Quellen der botanischen Bücher. Sprengel, De ratiane quae in historia
plantarum inter Plinium et Theophrastum interceditj Marb. 1890 (Theophrast nicht benutzt);
Die Quellen des älteren PL im 12. und 13. B (Rh. Mus. 46, 54) : „Die wesentliche Quellen-
grundlage des 12. und 13. B. besteht in den beiden geographischen Werken des Juba**
(p. 70); Stadler, Die Quellen des PL im 19. B., Münchner Diss. 1891.
Die Quellen der kunsthistorischen Bücher. Jahn, Ber. der sächs. Ges. der
Wissensch, 1850 p. 114; Bkieoer, De fontibus librorum 33, 34, 35, 36 Naturalis Historiae
Plinianae, quatenus ad artem plasiicam periinent, Greifa'w. 1857; Schreiber, Quaestionum de
artificum aetatibus in Plini N, H. libris relatis, Lcipz. 1872 (Varro); Brunn, Cornelius Nepos
und die Kunsturteile bei Plinius, Münchner Sitzungsber. 1875 p. 311 (Varro, Cornelius Nepos,
*) Vgl. Sprengel, Rh. Mus. 46,70, wo ein Bild der Quellenbeuutzung gegeben wird.
456 Bömische Litieraturgeschichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
Pasiteles): FübtwXngler, Plinius und seine Quellen über die bildenden Künste (Fleckeis.
Jahrb. 9 Supplementb. p. 1); Ublichs, Die Quellenregister zu Plinius* letzten Büchern,
Wzbg. 1878; Oehhichen, Plin. Studien, Erlangen 1880 (das 37. Buch und seine Quellen
p. 79, die Indices der Bücher B3 — 36 p. 108); Dalsteik, Quibus fontibus Plinius in arti-
ficum historia usus sU, Würzburger Dissert. 1885; Voigt, De fontibus earum quae ad arte»
pertinent partium Nat. Hist. P/i»., Halle 1887 (bes. B. 34); Holwerda, De pictorum historia
apud PUnium (Mnemos. 17, 326, bes. p. 344).
493. Charakteristik. Das Unternehmen, an das sich Plinius wagte,
war gewiss ein grosses ; in diesem Umfang hatte niemand bei den Griechen
und niemand bei den Römern die Aufgabe in Angriff genommen. Mit vollem
Recht durfte er daher, als er mit dem Werk zu Ende gekommen war, aus-
rufen: „Sei gegrüsst, Natur, du Mutter aller Dinge, und sei mir gnädig, da
ich dich allein von den Quiriten nach allen Seiten hin verherrlicht habe." Nur
eiserner Pleiss konnte ein solch grandioses Werk schaffen. Das umfas-
sendste Bücherstudium war die Voraussetzung. Wir haben gesehen, dass
Plinius für sein Buch ausserordentlich viele Autoren gelesen und exzerpiert
hatte; allein bedauerlicher Weise ist mit diesem Lesen und Exzerpieren
seine Hauptthätigkeit erschöpft. Einem Mann, der nur Zeit für das Lesen
hat, bleibt, wie ein neuerer Philosoph sagt, keine Zeit zum Denken; wir
fügen noch hinzu, er hat auch keine Zeit für das Beobachten. Dem Autor
fehlt daher die tiefere Kenntnis der Natur und infolgedessen auch die
Kritik; er ist nicht im Stande, den Wert und die Glaubwürdigkeit seiner
Quellen festzustellen, er ist nicht im Stande, die einzelnen Nachrichten zu
beurteilen und zu sichten, er ist auch nicht im Stande, Wesentliches und
Unwesentliches in den Berichten auseinanderzuhalten und sich vor Miss-
verständnissen zu bewahren. Es ist daher kein Wunder, dass uns die
sonderbarsten Fabeln, deren Nichtigkeit auf der Hand liegt, dargeboten
werden. Sein Werk kann nur als eine Kompilation betrachtet werden, und
mit Recht wird es daher ein „Studierlampenbuch" genannt. Des Schrift-
stellers Welt sind die toten Bücher, nicht die lebendige Natur. Kein Natur-
forscher, sondern ein wissbegieriger Dilettant führt den Griffel.
Durch das compilatorische Verfahren wird natürlich die Einheit der
Komposition gehindert. Bloss tiefe Sachkenntnis konnte das zerstreute Material
in einem Brennpunkt vereinigen, konnte aus einer Notizensammlung einen
lebendigen Organismus erzeugen. Bei der völligen Abhängigkeit von den
Quellen hatte er keinen Anlass, oft mit seinen eigenen Ansichten her-
vorzutreten. Doch finden sich Züge^) seiner Weltanschauung; sie ist die
stoische, welche jedoch durch Sätze aus anderen Systemen modifiziert
wurde. Auch über seine politische Stellung lässt er uns nicht im un-
klaren ; er ist zwar überzeugter Anhänger des Prinzipats, allein er spricht
auch mit Wärme von den grossen Zeiten der Republik. Die Laster der
Gegenwart finden auch in ihm einen Tadler. Die Darstellung ist dem
ganzen Charakter des Werks entsprechend ungleich, bald haben wir eine
gehobene rhetorische Darstellung, bald dürre Register. Sein Stil, den man
am besten in seinen Auswüchsen aus der praefatio kennen lernt, ist ein
hervorragender Typus der sogenannten silbernen Latinität ; er hascht nach
dem Effekt; Antithesen, Exklamationen, Metaphern, Vernachlässigung des
*) Ublichs, ehrest, p. XVI fg.
Der ältere Plinias. 457
Periodenbaus, gekünstelte Wortstellung sind die Mittel, durch welche dieser
Effekt erzielt wird. Allein trotz aller dieser Mängel des Inhalts und der
Form hat das Werk einen ungemein hohen Wert für uns, weil es uns
Seiten der antiken Kultur enthüllt, welche bei anderen Autoren weniger
Beachtung gefunden haben. Sein Abriss der Geschichte der bildenden
Kunst ist ein Hauptpfeiler unseres Wissens auf diesem Gebiete. Der Ein-
fluss, den die Encyklopädie des Plinius auf die späteren Zeiten ausübte,
war ein sehr grosser. Plinius wurde viel abgeschrieben, die Zahl der
Handschriften ist daher eine ansehnliche. Auch die Epitomierung ist ihm zu
teil geworden. Besonders zwei Auszüge haben die Kenntnis des Plinius
vermittelt, eine Chorographie, welche die Grundlage für die Collectanea re-
rum memorabilium des G. Julius Solinus wurde, und eine Medizin, welche
wiederum den Grundstock für Erweiterungen bildete.
Charakteristik desWerks durch den Autor, praef. 12 levioris operae hos
tibi dedicam lihellos. Nam nee ingenii sunt capaces^ quod alioqui nobis perquam mediocre
eratj neque admittunt excesstis aut oratione» sermonesve atU casus mirabiles vel eventus varios,
ii4cunda dictu aut legetUibus blanda. Sterilis materia, verum natura^ hoc est vita, narratur,
et haev sordidissima sui parte, ut plurimarum rerum aut rusticis vocabulis aut externis,
immo barbaris, etiam cum honoris praefatione ponendis. Praeterea iter est non trita auc-
toribus via nee qua peregrinari animus expetat. Nemo apud nos, qui idem temptaverit,
nemo apud Graecos, qui unus omnia ea tractaverit — iam omnia attingenda quae Graeei
Ttjg iyxvxXoTtcadeiag voeant, et tarnen ignota aut ineerta ingeniis facta, alia vero ita multis
2>rodita, ut in fastidium sint adducta. Res ardua vetustis noritatem dare, novis auctori-
tatem, obsoletis nitorem, obscuris lucem, fastiditis gratiam, dubiis fidem, omnibus vero na-
turam et naturae »uae omnia; nobis utique etiam non assecutis voluisse abunde pulchrum
atque magnificum est. Equidem ita sentio peculiarem in studiis causam eorum esse, qui dif-
ficultatibus victis utiHtatem iuvandi praetulerunt gratiae placendi, idque iam et in aliis
operibus ipse feci.
Das Fortleben der Naturalis Historia. Über Solinus und die Medicina Plinii
wird im III. Teil ausführlich gehandelt werden. Sillig, Über das Ansehen der Naturge-
schichte des PI. im Mittelalter (Allgem. Schulzeit. 1833 nr. 52 u. 53); Rück, Auszüge aus der
Naturgeschichte des PI. in einem astronomisch-komputistischen Sammelwerk des VIII. Jahrh.
München 1888; Manitius Philol. 49, 380 ; Wblzhofer, Bedas Citate aus der N H. des Plin.
(Abh. für Christ, Münch. 1891, p. 25) «Ein Codex optimae noiae war im Besitz Bedas* (p. 41).
Litteratur. Vobhauser, Die religiös-sittliche Weltanschauung des älteren Plinius,
Innsbr. 1860; Rummler, C. Plinii See. philosophumena, Greifsw. Diss. 1862; Friese, Die Kosmo-
logie des Plin. I, Bresl. 1862; Brosio, Die Botanik des älteren Plin., Graudenz 1883 (günstige
Beurteilung des PI. vgl. P. 29); Nies, Zur Mineralogie des Plin., Mainz 1884 («den Plinius
interessierte kein Mineral als solches, sondern nur insofern es praktische Verwertung fand*,
p. 27, vgl. Meyer, Gesch. der Botanik 2, 127); Köbbrt, Das Kunstverständnis des Plin
(Abb. für Christ, Münch. 1891 p. 134 .absolut kein Kunstveretändnis* p. 146).
494. Verlorene Schriften des Plinius. Aus einem Briefe des
jüngeren Plinius (3,5) erhalten wir genaue Kunde von den Schriften,
welche Plinius verfasst hat. Die verlorenen sind folgende:
1) De iaculatione equestru Diese Monographie über den
Reiterdienst ist unmittelbar aus der Praxis hervorgegangen, denn er schrieb
sie als praefectus alae mit Geist und Sorgfalt. *
N. H. 8, 162 forma equorum qualis maxime legi oporteat pulcherrime qtiidem Vergilio
rate absoluta est; sed et nos diximus in libro de iaculatione equestri eondito.
2) De vita Pomponi Secundi l. II, eine Biographie des Pom-
ponius Secundus, der als Feldherr und als Tragödiendichter hoch ange-
sehen war (§ 381).
3) Bellorum Germaniae L XK, eine Geschichte der Kriege, welche
die Römer mit den Germanen führten. Er begann damit, als er in Deutsch-
458 BöuÜBohe Litieratargesohichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilmig.
ff
land diente. Tacitus führt dieses Werk Ann. 1, 69 an und teilt eine Notiz
daraus mit.
4) Studiosus, der Studierende der Beredsamkeit, in drei Büchern,
von denen jedes in zwei Abteilungen zerlegt war. Dieses Werk war eine
Anleitung zum Studium der Beredsamkeit und begann mit dem Kindes-
alter. Quintilian kannte dasselbe (3, 1, 21); er teilt zwei Vorschriften dar-
aus (11, 3, 143 und 148) mit, die sich auf Äusserlichkeiten des Redners be-
ziehen; bei dieser Gelegenheit fällt er auch ein Urteil über den Verfasser;
er findet, dass er in dieser Schrift fast pedantisch ist {nimium curiosus).
Auch Gellius hatte diese Bücher gelesen (9,16,1); er berichtet uns, dass
Plinius auch Sätze aus gut stilisierten Kontroversien aushob.
5) Dubii s er mortis l. VIII. Diese grammatischen Untersuchungen
entstanden in den letzten Jahren der Neronischen Regierung, als das lit-
terarische Schaffen mit Gefahr verbunden war. Noch genauer kann man
ihre Herausgabe nach einer Stelle in der Praefatio der Naturgeschichte (28)
ins Jahr 67 setzen. Die Schrift hat den Zweck, den Schwankungen in
den Sprachformen ein Ende zu machen. Dies liess sich dadurch erreichen,
dass die Prinzipien der Analogie, der strengen Gesetzmässigkeit durchge-
führt wurden. Die Bücher des Plinius haben sonach in der bekannten
grammatischen Streitfrage der Analogie und Anomalie ihre Wurzel. Pli-
nius nahm in seinem Werke eine vermittelnde Stellung an, er erkannte
neben der ratio, der Analogie, auch die vetus dignitaSf die consuetudo, als
massgebend an. Dass aber damit die Analogie in die Anomalie umschlägt,
sieht jedermann. Wir können das Werk in seinen Grundzügen rekon-
struieren; für die Geschichte der Grammatik ist dasselbe von unleugbarer
Wichtigkeit.!)
Über den Charakter der libri dubii sermonis handelt Schutts, De PL studiis
grammaticis, Nordhausen 1883 (bes. p. 12); Nettleship, Journal of Phüol. 15, 201. — Für
die Herausschälong der Fragmente waren thätig Lersch, Die Sprachphilos. der Alten 1, 179
2, 158 Anm.; Schottmüelleb, De PL libris grammaticis, Bonner Diss. 1858; Neümawn,
De PL dubii sermonis Hbris Charisii et Prisciani fontibus, Kiel 1881; Froehde, De C. Julio
Romano p. 617 (Detlefsen, Zur Flexionslehre des älteren Plinius, Symb. philolog. Bonnens.
p. 697).
6) Das Geschichtswerk, Ä fine Aufidii BassiL XXXI, begann da,
wo Aufidius Bassus geendet hatte. Leider vermögen wir nicht mit Sicher-
heit zu bestimmen, wo Aufidius Bassus aufgehört hatte (§ 440, 3). Das
älteste Fragment des Werks bezieht sich auf das Jahr 55 (Tac. Ann.
13, 20). Dass die Regierungszeit des Vespasian noch behandelt war,
ergibt sich aus der im Jahr 77 geschriebenen Vorrede zur Naturge-
schichte (20). Nur eine Vermutung ist es, dass die 31 Bücher 31 Jahre
umfassten und den Zeitraum 41 — 71 in sich schlössen.*) Das Werk hatte
der Verfasser nicht selbst publiziert ; erst nach seinem Tode sollte es das
Licht der Öffentlichkeit erblicken ; es geschah dies, um volle Unparteilich-
keit walten lassen zu können; er überliess es daher seinem Erben, d. h.
seinem Neffen zur Herausgabe. Obwohl das Werk sich nach dessen Ver-
sicherung durch grosse Gewissenhaftigheit auszeichnete (ep. 5, 8, 5), so
*) Detlefsen, Symb. p. 714.
«) So Detlefsen, Philol. 34, 48.
G« lioiniiiB Mncianas. 459
wurde es doch durch die meisterhaften Leistungen des Tacitus zuerst in
den Hintergrund geschoben und geriet dann in Vergessenheit.
Die Ansicht Nissenb, dass das Geschichtsbuch des Plinius die Grundlage für die
Historiae des Tacitus bildete (Rh. Mus. 26, 534), ist nicht beweisbar. (Vgl. oben p. 376.)
Aus diesem Verzeichnis erkennt man, dass von Plinius ausser der
umfangreichen Naturgeschichte noch eine sehr ausgedehnte Schriftstellerei
auf anderen Gebieten vorlag. Sie umfasste die Grammatik, die Rhetorik,
die Geschichte und die Kriegswissenschaft. Es ist unmöglich, dass ein
Autor in so verschiedenen Fächern Selbständiges leisten kann. Es wird
daher auch in manchen der verlorenen Schriften der compilatorische Cha-
rakter vorgewaltet haben. Nur die historischen Werke werden anders
geartet gewesen sein; denn in denselben konnte Plinius eigene Er-
fahrungen und Erlebnisse mitteilen, und der Verlust dieser Werke ist daher
am meisten zu beklagen.
2. C. Licinius Mucianus.
496. Die Schriften des C. Licinius Mucianus. Jedem Leser der
Historien des Tacitus ist G. Licinius Mucianus bekannt; war er es doch,
der in die Wirren nach dem Tod Neros mit starker Hand eingriflf und an
der Erhebung Vespasians auf den Thron den grössten Anteil hatte. Der
damals so mächtig gewordene Mann konnte auf ein bewegtes Leben zu-
rücksehen. Unter Claudius war er ein abgehauster Mann, in einem Winkel
Asiens wurde er brach gelegt. Allein bald darnach sehen wir ihn in ein-
flussreichen Stellungen; er nahm an dem Feldzuge Corbulos in Armenien
teil, er stand an der Spitze von Lykien (um 57), und später von Syrien
(67). Das Konsulat bekleidete er dreimal (zuletzt 70 u. 72). Sein Wesen
bewegte sich in Extremen. Im Feld konnte er eine grosse Thatkraft
entfalten; hatte er nichts zu thun, so ging er in Genusssucht auf. Im Um-
gang war er bald herablassend, bald anmassend; aber stets machte seine
Persönlichkeit auf seine Umgebung den tiefsten Eindruck. Sein öffent-
liches Leben war des Ruhmes voll; anders urteilte man über den Privat-
mann. Einen Thron zu vergeben erschien er geeigneter als denselben ein-
zunehmen. Auch die Schriftstellerei pflegte dieser merkwürdige Mann.
Während seines Aufenthalts in verschiedenen Ländern des Ostens hatte
er Gelegenheit, so manches Interessante und Merkwürdige aus der Natur
und dem Menschenleben kennen zu lernen. Diese Erlebnisse stellte er in
einem Buch, das dem Plinius vorlag, zusammen. Um Feststellung der
Wahrheit war es ihm hiebei nicht zu thun, er brachte die unglaublichsten
Dinge vor, die Unterhaltung des Lesers scheint sein vornehmstes Ziel ge-
wesen zu sein. Im höheren Alter, wahrscheinlich nachdem er sich von der
öffentlichen Thätigkeit zurückgezogen hatte, legte er eine Sammlung von Reden
und Briefen hervorragender Männer an. Als das von Tacitus erzählte
Gespräch über die Redner gehalten wurde (74), war er gerade mit dem
Werk beschäftigt; als aber Plinius das 32. Buch seiner Naturgeschichte
schrieb (also gegen 77), war er tot.O
0 ÜRLicHs (Festgruss, Würzb. 1868 p. 1).
460 BömiBche LitteratnrgeBchichte. n. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilang.
Das Reisebuch des Mucianus. Plinius führt anter seinen Quellenschriftstellem
öfters den Mucianus an; auch bringt er Angaben unter seinem Namen. Gehen wir yon
den letzteren aus, so sehen wir, dass sich dieselben auf die verschiedensten Dinge beziehen,
C4 eographisches. Historisches, Artistisches, Naturwissenschaftliches kommt in denselben vor.
Da oft in diesen Bruchstücken die Autopsie hervorgehoben ist (Plin. 7, 36 8, 6 ; vgl. die Zu-
sammenstellung bei Bbunn p. 19), so ist die Vermutung berechtigt, dass Mucianus in dem
Werk die Merkwürdigkeiten zusammenstellte, auf die er bei seinem Aufenthalt in fremden
Ländern stiess, und zwar beziehen sich dieselben auf Östliche Länder, in welche ihn mehr-
fach, wie wir sahen, seine Berufsthäügkeit geführt hatte. In seinem Werk scheint er es
besonders auf Kuriositäten abgesehen zu haben; darunter befindet sich manches, was dem
Urteilsvermögen der Verfassers kein günstiges Zeugnis ausstellt. — L. Bbükn, Dt C. Licinio
Miiciano, Leipz. 1870.
Das Sammelwerk des Mucianus. {Acta und Epistulae,) Tacit. dial. 37 ne9cio
an venerint in manus vestras haec vetera, quae et ^) in antiquorum bybliothecis adhuc ma-
nent et cum maxitne a Muciano contrahuntur ac iam undecim, ut opinor, Actorum librü<
et tribus Epistularum composita et edita sunt, ex his intellegi potest, Cn, Pompeium et
M. Crassum non viribus modo et armis, sed ingenio quoque et oratione valuisse, Lentuio^
et MetcUos et Lucullos et Curiones et ceteram procerum manum multum in his sfudiiif
operae curaeque posuissey nee qiiemquam Ulis temporibus magnam potentiam sine aliqua
eloquentia consecutum. Damach ist zu vermuten, dass in den Acta Reden und in den
Epistulae Briefe aus der Zeit der Republik zusammengestellt waren.
3. L. JuniuB Moderatus Columella und die übrigen Landwirte.
496. Golumellas landwirtschaftliches Werk. Columella ist ein Spanier,
seine Heimat ist Gades (10, 185). Eine Inschrift (CIL. 9, 235) belehrt uns,
dass er tribunus milUum der sechsten Legio ferrata war. Diese hatte ihren
Standort in Syrien, und dass er in Syrien (wie in Cilicien) sich aufgehal-
ten, sagt er uns selbst in seinem Werk (2, 10, 18). Allein weder der Mi-
litärdienst noch die Laufbahn des Sachwalters (1 praef. 9) zog ihn an.
Sein Interesse war vielmehr der Landwirtschaft zugewendet. Vielleicht war
sein Onkel, den er als einen ganz ausgezeichneten Landwirt der Provinz
Baetica feiert (5, 5, 15), nicht ohne Einfluss auf seine Neigung. Columella
bewirtschaftete selbst mehrere Güter; so zitiert er seinen ager ArdecUinus
(3, 9, 2) und andere. Seine landwirtschaftliche Schi*iftstellerei hat in erster
Linie italische Verhältnisse ^) zur Voraussetzung; Italien ist ihm das dank-
barste Land für die Landwirtschaft (3, 8, 5). - Dieselbe liegt uns in einer
doppelten Fassung vor. Einmal haben wir eine den ganzen Stoff umfas-
sende, abgeschlossene Darstellung in 12 Büchern, dann ein einzelnes Buch
über die Baumzucht. Allein dieses Buch ist nicht etwa als eine Mono-
graphie anzusehen, denn sie weist gleich im Eingang auf ein erstes Buch
hin, in dem der Ackerbau behandelt war. Sonach ist dieses Buch der zu-
fällig erhaltene Teil eines umfassenden Werkes, das, wie das Wort primus
zeigt, mindestens drei, wahrscheinlich vier Bücher zählte. Dieses Werk
stellte eine kürzere Bearbeitung der Landwirtschaft als das vollständig
erhaltene dar, dem Einzelbuch entsprechen die Bücher 3 — 5 der aus 12
^) Die handschriftliche Überlieferung cor- I Africa); 3,13,1 {cum Italici generis futuris
rigiert Bährens in „haec monumenta anti- agricolis tum etiam provinciaJibus); 4,1,5
quorum, quae in bybliothecis** ^ Andresen in j (rix etiam proptncialibus agricolis approbari
„haec vetera volumina, quae et in bybliothe- I possunt); 4, 33, 6 {haec de vineis Italicis vinea-
eis**. I rumque instrumentis, quantum reor, non in-
'^) Das schliesst natürlich nicht aus, dass titiliter et abunde disserui, mox agricolarum
er in zweiter Linie auch die Verhältnisse
anderer Länder berücksichtigt, z. B. 2, 11, 12
{Hispania Baetica); 2,12,3 {Aegyptus et {sicut in Cilieia et Pamphyliä); vgl, nwih QO.
provincialium vineaticos nee minus nostratis
et GaUici arbusti cultus traditurus) ; 11, 2, 56
Colamella und die ttbrigen Landwirte. 461
Büchern bestehenden Darstellung. Das Verhältnis zwischen den beiden
Schriftwerken wird allgemein so aufgefasst, dass das kürzere vorausging, das
ausführlichere nachfolgte. Die 12 Bücher würden sonach uns eine erwei-
terte zweite Auflage darstellen. Dieselben sind dem P. Silvinus gewidmet;
durch die Vorreden erhalten wir Aufschlüsse über die Genesis der schrift-
stellerischen Leistung. Dieselbe wurde successive publiziert, denn in eini-
gen Vorreden wird auf Äusserungen und Urteile über das Werk Bezug
genommen. Bei dieser successiven Entstehung und Veröffentlichung ist es
begreiflich, das der ursprüngliche Plan Modifikationen und Erweiterungen
erfahren konnte. So wollte er auch den Schlussstein des Werks, den
Gartenbau, wie die vorausgehenden Bücher prosaisch bearbeiten; allein
auf Wunsch der Freunde gab er demselben poetische Fassung; es
sollte dadurch zugleich eine Ergänzung zu Vergils Georgica gegeben
werden, welcher den Gartenbau in seinem Lehrgedicht nicht behandelt,
sondern den Späteren zur Bearbeitung überlassen hatte. Damit war das
Werk eigentlich zum Abschluss gelangt, das Gedicht war die Krone des
Ganzen. Allein wiederum waren es Freunde, welche in die Komposition
eingriffen; sie veranlassten den Autor zu einer Zugabe; in einem 11. Buch
erörterte er den Gartenbau in Prosa, schickte aber einen Teil voraus, der
sich auf die Obliegenheiten des Meiers {villiais) bezieht. Das 12. Buch
endlich geht den Geschäftskreis der Meierin durch {villica). Sonach er-
halten wir folgenden Aufbau des Werks: Das 1. Buch enthält die allge-
meinen Lehren für den Landwirt (über Anlage und Einrichtung des Gutes
und über das Wirtschaftspersonal), das 2. Buch behandelt den Ackerbau
(Bodenkunde, Umpflügen, Düngen, Säen u. a.), die Bücher 3—5 den Wein-
bau und die Baumzucht, die Bücher 6—9 die Thierproduktion, Gross- (6)
jmd Kleinvieh (7), Geflügel und Fische (8), Waldtiere und besonders Bienen
(9), das 10. stellt den Gartenbau in einem Gedicht dar, das 11. spricht
von den Obliegenheiten des Meiers und nochmals in Prosa von der Garten-
kultur, endlich das 12. ist dem Wirkungskreis der Meierin gewidmet.
Das Werk schrieb Columella in spätem Alter nicht lange vor dem
Tod des Philosophen Seneca. Seinen Zweck scheint aber der Autor nicht
erreicht zu haben, denn er wird nicht viel zitiert; in der späteren Zeit
trat Palladius an seine Stelle.
Das singulare Buch beginnt mit den Worten: quoniam de eultu agrorum dbunde
primo volumine praecepisse videmur, non intempestitHt erit arbomm virguUorumque rura,
quae vel tnaxima pars habetur rei rusticae. In einem Index heisst es: Praeter hott XII
libros singularis est liber ad Eprium Marcellum de cultura mnearum et arborum.
(Schneider 2, 2 p. 673). , Unsere Handschriften geben es durchweg an 3. Stelle, ohne an den
Worten des von ihnen als Itb. XI bezeichneten X. Buchs „superioribus novem Ubris" Anstoss
zu nehmen, ebenso die ältesten Ausgaben. Erst die edit. Aldina 1514 traf die jetzt übliche
Ordnung* (Haussnbb p. 7). Über die Quellen des Buchs und das Verhältnis des Plin. zu
demselben vgl. Stadler, Die Quellen des PI. p. 15 und p. 11.
Das grosse Werk. 1. IX praef. 2. Quare quoniam tituli, quem praescripsimus
huic diaputationi. ratio reddita est, ea nunc quae proposuimua singula persequamur. Da-
nach haben die Bücher Separattitel gehabt. Und wirklich haben in einem Mediceus die
Bücher 3—5 die Überschrift Surcularis I II III. (2, 11, 1 de qua dicemus in iis Ubris quos
de generibus surculorum conscripsimus, 12, 18, 1 priore libro, qui inseribitur ViUicus). Auch
Inhaltsangaben fügte er hinzu 11,3, 65 omnium librorum meorum argumenta subieci, ut cum
res exegisset, facile reperiri possit, quid in quoque quaerendum et qualiter quidque facien-
dum Sit. Über das X. Buch vgl. 9, 16, 2 quae reliqua nobis rustiearum rerum pars super^
462 ttOmische Litteraturgeschichte. U. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilnng.
est, de cultu hortorum, P. Silvine, deinceps Ua, ut et tibi et Gallioni nosiro compJacuerat,
in Carmen conferemus 10 praef. 3 cultus hortorum — diligentiua nobis quam tradiderunt
maiores praecipiendus est: isque, sicut institueramy prosa oratione priorihus suhnecteretur
exordiis, nisi proposUum expugnasset frequens postulatio tua quae pervicU, ut podieis nu-
meris explerem georgici canninis omissas partes, quas tarnen et ipse Vergilius significaterai
(georg. 4, 148) posteris post se memorandas relinquere 11, 1, 1 Claudius Augustalis — exiu-
dit mihi, cultus hortorum prosa ut oratione componerem; — (2) numerum, quem iam quasi eon--
summaveram, voluminum excessi et hoc undecimum praeeeptum rustieationis memoriae tradidi,
Abfassungszeit. 3,3,3 am certe temporibus Nomentana regio celeberrima fama
est illustris et praecipue quam possidet Seneca, vir exceVentis ingenii atque doctrinae,
cuius in praediis vinearum iugera singula culleos oetonos reddidisse plerumque compertum
est. Daraus folgt, dass das dritte Buch zu Lebzeiten Senecas, also vor 65 geschrieben ist.
Von diesem Gut schreibt Plinius H. N. 14, 49, dass dasselbe vor 20 Jahren (also etwa 57
vgl. oben p. 452) Remmius Palaemon gekauft und, nachdem er es etwa 10 Jahre hindurch
bewirtschaftet, an Seneca verkauft hatte. Wir kämen also in das Jahr 67, in welchem
Jalire aber Seneca nicht mehr lebte. Die Zahlen 20 und 10 sind sonach als rund zu be-
trachten ; jedenfalls müssen wir die Abfassungszeit des Werks sehr nahe an das Todesjahr
Senecas heranrücken.
Die Überlieferung des Columella behandelt erschöpfend Haussker, Die hdschr.
Überlieferung des Columella nebst einer krit. Ausg. des 10. B., Karlsruhe 1889. Der mass-
gebende Kodex ist der Sangermanensis s. IX/X, welcher einst dem Kloster Corbie in der
Picardie angehörte, jetzt sich in Petersburg (nr. 207) befindet. Mit ihm stammt (Häussnbr
p. 20) aus dem gleichen Archetypos der Ambrosianus (L. 85 sup. s. IX/X), den Häüssher
als identisch mit Politians ältestem Kodex betrachtet. Diesen beiden ältesten Handschriften
stehen der Mosquensis s. XIV und die übrigen, sämtlich dem 15. Jahrhundert angehörenden
Handschriften gegenüber, welche von keiner besonderen Bedeutung sind.
Litter atur: Gesamtausgabe in dem Corpus der scriptores rei rusticae von Schitei-
DBR. Kritische Separatausgabe des X. Buchs von Haüssker, vgl. den vorigen Passus.
BücHELER, Rh. Mus. 37, 335 (über die philos. Anklänge und den Pythagoreer Moderatus).
497. Charakteristik Golumellas. Nur der Fachschriftsteller kann
in der Litteratur eine Bedeutung beanspruchen, der Sachkenntnis besitzt.
Diese können wir aber dem Columella nicht absprechen. Er war wirklich
ein praktischer Landwirt und kann sich daher auf eigene Beobachtungen
und Erfahrungen stützen. Allein er hatte daneben auch die vorhandene
lateinische Litteratur über sein Fach aufs eifrigste studiert, in den Schrif-
ten Catos, Varros, der Sasernae, des Tremellius Scrofa, des Hyginus, des
Julius Atticus, des A. Cornelius Celsus und des Julius Graecinus, des Mago
war er durchaus bewandert. Da er in seinem Werk diese landwirtschaft-
lichen Schriftsteller stark ausbeutet, so ist dasselbe die Fundgrube für
einen grösstenteils verloren gegangenen Litteraturzweig und schon darum
von grosser Wichtigkeit. Aber der Autor gewinnt uns auch durch die
warme Begeisterung, welche er für seinen Beruf zeigt. Er stellt das land-
wirtschaftliche Wissen ausserordentlich hoch und findet es unbegreiflich,
dass alles Gegenstand des Unterrichts sei, Rhetorik, Geometrie, Musik,
und dass es nur in der Landwirtschaft weder Lehrer noch Schüler gebe.
Dies sei aber um so verwunderlicher, als doch feststehe, dass ohne die
Kenntnis des Ackerbaus die Menschheit nicht bestehen könne, wohl aber
ohne jene Künste. Allein diese Vernachlässigung der Landwirtschaft räche
sich bitter; sie zeige sich in der Erschöpfung des Bodens, einer Folge
unserer Trägheit und Sorglosigkeit. Aber noch mehr, auch das Leben,
führt Columella weiter aus, ist seit dem Rückgang der Bodenkultur ein
anderes geworden ; die Besitzer weilen nicht mehr auf ihren Gütern, son-
dern in der Stadt ; an Stelle der einfachen Sitten und Gebräuche ist Luxus
und Unsittlichkeit getreten. Als Ideal schwebt dem Schriftsteller die Zeit
Colomella und die übrigen Landwirte. 463
vor, in der man die Staatsmänner vom Pflug wegholte, und alle gleich
tüchtig waren, den heimatlichen Boden zu bebauen wie vor dem Feind zu
schützen. Mit Wehmut gewahrt er, dass das Gut elenden Sklaven zur
Bewirtschaftung überlassen wird, und dass alle Welt den in jeder Beziehung
untadelhaften Gewinn, den wir aus dem Boden ziehen, verschmäht, um
schlimme und gefahrvolle Wege zur raschen Bereicherung einzuschlagen.
Sonach verfolgt Golumella zugleich eine patriotische Tendenz. Seine Schrift
soll die Liebe zur Landwirtschaft und damit auch die Liebe zum einfachen
Leben erwecken. Um dieses Ziel zu erreichen, musste er vor allem dar-
nach trachten, seinen Stoff in eine schöne Form zu kleiden ; dem Leser sollte
die Lektüre der Schrift eine Freude sein. Man muss gestehen, dass das
Ziel mit Ausnahme weniger Partien, welche eine gefallige Darstellung
ausschlössen, erreicht ist. Golumella schreibt einen leichten, anmutigen Stil
und die Kapitel von allgemeinerem Charakter, wie sie sich im ersten Buch
finden, werden auch vom Nichtfachmann gern gelesen. Weiterhin musste
er, um sich einen grösseren Leserkreis zu sichern, seiner ganzen Darstel-
lung eine populäre Haltung geben; er durfte nicht zu sehr ins technische
Detail sich einlassen, sondern musste sich auf die Hauptpunkte beschränken.
Auf der andern Seite musste er aber auch möglichst encyklopädisch ver-
fahren, das Wissenswerte von dem ganzen Fach vorbringen. Auch der prak-
tische Gesichtspunkt durfte niemals ausser acht gelassen werden. Golumella
war philosophisch gebildet wie ein anderes Mitglied seines Geschlechts,
nämlich der pythagoreische Philosoph Junius Moderatus; er benutzte auch
die Gelegenheit, Philosophisches zu streifen, allein er entging der Ver-
suchung, sich in die Spekulation über Naturphänomene zu vertiefen; der
Gharakter seines Werks verbiete ihm, sagt er, den Geheimnissen der Natur
nachzuspüren (9,2,5). In allen diesen Dingen geht der Autor stets ziel-
bewusst vor. Dagegen war er weniger glücklich in dem Aufbau des Ganzen.
Das successive Erscheinen des Werks führte im Laufe der Zeit zu einer
Änderung des Plans; es wurden Teile angeschoben und frühere Partien
wiederholt vorgenommen. So wurde z. B. der Inhalt des poetischen zehnten
Buchs nochmals prosaisch entwickelt. Auch das war kein glücklicher
Gedanke, dass Golumella dem von ihm so hoch verehrten Meister Vergil
nachzueifern suchte ') und ein Buch in gebundener Rede abfasste. So sorg-
fältig er in der Form ist, es fehlt ihm der dichterische Geist. Endlich
erfolgt der Abschluss einer Lehre und der Übergang zu einer neuen durch
das ganze Werk hindurch in formelhafter, eintöniger Weise. In der Kom-
position liegt also nicht der Schwerpunkt der Kunst Golumellas, er liegt
in der Einzeldarstellung.
Zur Charakteristik des Werks. Auf die Praxis wird Öfters hingewiesen: 2,8,5
idque etiam saepiiis nos experti verum adhtic e»8e non camperimua 2, 9, 1 quamvis de men-
sura minu8 auctoribus conrenit, hanc tarnen videri commodissimam docuit noater usus
2,10,11 sed et illtid, quod deincepn dicturi sumus, experti praecipimus 8,9,2 id cum sit
reriaimile, tum etiam verum esse nos docuit experimentum 3, 10, 8 nos primum rationem
secutif nunc etiam longi temporis experimentum non aliud semen eligimus 4, 3, 5 experto
mihi erede. Dass seine Darlegung nur eine Anleitung gehen will, sagt er: 1, 1, 17 nostra prae-
cepta non consummare scientiam, sed adiuvare promittunt, nee statim quisquam eompos agricO"
lationis erit his perlectis rationibus, nisi et obire eas voluerit et per factiftates poterit. Ideoque
') ScHBÖTER, De Columella VergUii imitatore, Jena 1892.
464 Römisclie Litteraturgeschichie. 11. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
haec velut adminictda studioais promittimus, non profutura per se sola, aed cum alits. 5, 1, 1
asseveraveram, quae vastüas eius scientiae contineret, non cuncta me dicturum, ned plurima.
nam illud in unius hominis prudentiam cadere non potercU, Am Schluss des Werks heisst
es : nihil dubUasse me p<une infinita esse quae potuerinf huic inseri materiaey verum ea qutie
maxime mdebantur necessafHa, memoriae tradenda censuisse (vgl. 5, 1, 2).
Seine Quellen macht er oft namhaft, so dass wir ein deutliches Bild von seiner
Arbeitsweise erhalten. Sein Quellenstudium war umfassend, die damals vorhandene Litto-
ratur der Römer über sein Fach war ihm bekannt (vgl. 1,1,12). Vereinzelt: 7,3,6 Epi-
charmus Syraeusanus, qui pecudum medieinas diligentissime consci'ipsit 7, 5, 17 Äegyptiae
gentis auctor memorabilis Bolus Mende»ius, cuius commenta, qu(ie appeüantur Cfraece /et-
QoxfjLfjtay sub nomine Democriti falso produntur, censet. 11,3,53 nos leviore opera istud
fieri apud Äegyptiae gentis Bolum Mendesium legimus. Doch wahrt er sich den Quellen
gegenüber seine Selbständigkeit; 3, 10, 1 non ut veteres auctor es tradiderunt 3, 18, 2 rl-
tiosa est, ut mea fert qpinio, Jtilii Attici satio. Vgl. noch 2, 10, 6.
Andere Schriften Golumellas:
1. eine Schrift gegen die Astrologen. 11,1,31 in iis lihris, quos adver sus
astrologos composueram, Sed Ulis disputationibus exigebatur id, quod improbissime Chol-
daei poUiceniur, ut certis quasi terminis, ita diebus statis aeris mutationes respondeant.
2. eine Schrift über lustrationes caeteraque sacrificia quae pro frugi-
b US sunt. Ob dieselbe vollendet wurde, wissen wir nicht, denn er sagt 2, 21,6 differo in
eum librum, quem componere in animo est, cum agricolationis totam disciplinam perscripsero.
Andere landwirtschaftliche Autoren.
1. Julius Atticus verfasste eine Monographie über den Weinbau. Colum. 1, 1, 14
hie (Atticus) de una specie cuUurae pertinentis ad vites singularem librum edidit. Weiter-
hin nennt ihn Columella an dieser Stelle einen zeitgenössischen Schriftsteller. Eine Stellen -
Sammlung der Fragmente siehe bei Reitzenstein p. 54.
2. Julius Graecinus setzte die Thätigkeit des Julius Atticus fort; denn Columella
sagt (1,1,14): cuitis (Attici) velut discipulus dup volumina similium praeceptorum
de vineis Julius Graecinus, composita facetius et enuiitius posteritati tradenda curarii.
Dieser Graecinus war der Vater des Agricola; er stammte aus Forum Julii und wurde im
Jahr 38 n. Chr. hingerichtet. In seinem Buch schloss er sich vielfach an Celsus an (Plin.
N. H. 14, 33 Graecinus, qui alioqui Cornelium Celsum transcripsit. Stellensammlung der
Fragmente bei Reitzensteik p. 56.
4. Gaelius.
498. Apici Gaeli de re coquinaria libri X. Tacitus erzählt uns
(Ann. 4, 1) von einem Apicius, dessen Liebling Seian gewesen sein soll.
Dieser Apicius hiess aber eigentlich M. Gavius. Als raffinierter Schwelger
erhielt er aber den Beinamen Apicius von einem Vorläufer, welcher ein
Zeitgenosse des P. Rutilius (Konsul 105) war (Athen. 4 p. 168d). Durch
ihn ward aber der Name „Apicius* noch mehr zur Bezeichnung des un-
sinnigen Verschwenders und Schlemmers gestempelt. Er war eine solche
Berühmtheit in dieser Beziehung, dass Apion ein Buch über seinen Luxus
schreiben konnte (Athen. 7 p. 294f). Zahllose Anekdoten waren über ihn
im Umlaufs); Seneca erzählt von ihm {ad Helv. 10,9), dass er, nachdem
er unsinnige Summen verprasst hatte, einen Überschlag seines Vermögens-
restes machte; er fand, dass ihm noch zehn Millionen Sestertien (etwa
gleich zwei Millionen Mark) verblieben waren; im Besitz dieser Summe
dünkte er sich ein armer Mann und setzte seinem Leben durch Gift ein
Ziel. Athenaeus berichtet uns einen andern Zug (1 p. 7 c). Apicius hatte
in Minturnae vernommen, dass es in Afrika ungewöhnlich grosse Krebse
gebe; sofort unternahm er die beschwerliche Reise dahin; als sich aber
das Gegenteil herausstellte, kehrte er, ohne längeren Aufenthalt zu nehmen,
sofort wieder zurück. Dieser Schlemmer machte sich auch in der Litte-
') Friedlander, Sittengesch. 3®, 18.
ScriboniuB Largns. 465
ratur bemerklich; er schriftstellerte über die Kochkunst; und manche
seiner Rezepte waren so angesehen, dass sie seinen Namen tragen, z. B.
apicische Kuchen (Athen. 1, p. 7a). Sein Buch bildete eine Lieblingslektüre
des Helius (Ael. Spart. Hei. 5, 9). Es ist uns nun ein Kochbüchlein er-
halten, das in der Überlieferung einem Apicius Caelius beigelegt wird.
Die Küchenrezepte sind systematisch in zehn Bücher gebracht, jedes Buch
hat eine griechische, auf den Inhalt hinweisende Überschrift, z. B. Sar-
copteSj der Wurstler für Buch 2, Thalassa für Buch 9. So wie uns die
Sammlung vorliegt, kann sie nicht von Apicius herrühren; denn sie ent-
hält Rezepte mit seinem Namen, z. B. 134 patina Apiciana, 173 minutal
Apicianum, Auch stimmen die uns von Plinius (n. h. 8, 209 9,66 10,133
19, 137) nach Apicius gemachten Mitteilungen nicht mit denen des Koch-
buchs. Endlich führen einige Rezepte ausdrücklich in eine spätere Zeit,
so z. B. ist Nr. 205 nach dem Kaiser Commodus genannt. Nimmt man noch
hinzu, dass der Autor des Büchleins Caelius Apicius genannt wird, so er-
gibt sich als einziger Ausweg aus allen Schwierigkeiten die Annahme, dass
ein Caelius die Kochrezeptensammlung zusammengestellt hatte unter dem
Namen Apicius, und dass sonach der ursprüngliche Titel des Werkchens
war Caelii Apicius de re coquinaria, nach dem Muster von Ciceronis Cato
de sefiedute.
Das Büchlein wimmelt von griechischen Termini, ein Beweis, dass
die Kochkunst in Griechenland zur höchsten Ausbildung gelangte.
Das Kochbuch des M. Gavius Apicius. Seneca ad Helv. 10,8 Apicius nostra
memoria vixit — acientiam popinae professus discipHna sua seculum infecit Schal, Jur.
4, 23 Apicius aucior praecipiendarum cenarum, qui scripsit de iuscellis, fuit nam exem-
plum gulae.
Die Überlieferung ist noch nicht methodisch geprüft; die letzte Ausgabe fnsst be-
sonders auf Yaticanus 1146 s. X, Paris. 6167, Laur. 73, 20. Über die „Apici excerpta a
Vinidario** vgl. M. Haupt opusc, 3, 150.
Neueste Ausgabe (mit unglaublich geschmackloser Vorrede) von Schuch, Heidel-
berg 1867.
5. Scribonius Largus.
499. Das Bezeptbuch des Scribonius Largus. Von den sicher-
lich zahlreichen Ärzten der ersten Kaiserzeit kennen wir näher den Scri-
bonius Largus. Derselbe war ein Schüler des berühmten Yettius Valens,
der wegen seines ehebrecherischen Verhältnisses zu Messalina im Jahr 48
hingerichtet wurde (Tac. Ann. 11, 35), des Apuleius Celsus, den auch Valens
gehört hatte (94), endlich des Trypho und zwar des Sohnes *) (175). Seine
Praxis war nach seiner eigenen Versicherung eine sehr erfolgreiche (praef.
p. 1, 17 H.); im Gegensatz zu anderen Ärzten, welche ihre Heilmethode auf die
Diät begründeten, legt er den Schwerpunkt in die Medikamente. Seine
glücklichen Resultate scheinen ihn auch dem Hofe nahe gebracht zu haben.
Da er Claudius auf seinem Zug nach Britannien begleitete, war er ver-
mutlich Leibarzt desselben. Auch auf seine Schriftstellerei gewann der Kaiser
Einfluss. Der dem Arzt gewogene Freigelassene G. Julius Callistus, der
unter Claudius das Amt a libellis führte, legte die medizinischen Schriften
dem Herrscher vor und erlangte, dass sie mit dem kaiserlichen Namen
') BCCHELBR p. 822.
.; Handbuch der klaaa. Altertnnuwlasenschaft. Vm. 2. Teil. 30
466 Römische Litteratargeschkbte. IL Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
herausgegeben wurden (praef. p. 5, 21 H.). Auf den Wunsch dieses Callistus
stellte er auch die uns erhaltene Kezeptsammlung (compositiones) zu-
sammen. Zwar hatte der Freigelassene nur bestimmte Rezepte verlangt,
allein Scribonius glaubte darüber hinausgehen und eine ganze Sammlung
von Heilmitteln geben zu sollen. Freilich auch die vorliegende war ihm
noch nicht vollständig genug; er entschuldigt sich damit, dass er das
Werkchen auf einer Reise, bei der er nur wenige litterarische Hilfsmittel
mit sich führen konnte, abgefasst habe. Doch stellt er für die Zukunft
die Ausfüllung der Lücken in Aussicht.
Die Sammlung enthielt 271 Rezepte, durch Blattverlust gingen indes
(vgl. 167 fg.) einige verloren. In der Anordnung legt er die Körperteile
zu Grund, mit dem Kopf beginnend, mit den Füssen schliessend. Es folgen
(163) die Mittel gegen Schlangenbiss und die Antidota, dann wegen der
innigen Verbindung, in der die interne Medizin und die Chirurgie zu
einander stehen, auch die chirurgischen Medikamente (200), endlich
werden der Vollständigkeit halber auch die Malagmata und die Acopa an-
geschlossen (255). Die Rezepte sind zum grossen Teil von ihm selbst
zusammengestellt oder in irgend einer Weise von ihm modifiziert % andere
hatte er von Freunden erhalten, die für die entsprechende Wirkung mit
ihrem Eide eintraten. Wieder andere, besonders chirurgische, sind unter
dem Namen der Erfinder mitgeteilt. Aber auch sonst Hess er sich keine
Mühe verdriessen, um irgend ein gutes, erprobtes Mittel zu erhalten.
Selbst von Nichtärzten verschaffte er sich Rezepte, so kaufte er von einem
afrikanischen Weib ein Mittel gegen Kolik, mit dem dasselbe viele Hei-
lungen in Rom erzielt hatte (122). Manchmal gelangte er nur schwer
zum Ziele, so war ein berühmtes Medikament des Arztes Paccius Anti-
ochus bei seinen Lebzeiten nicht zu erlangen, erst nach seinem Tode kam
es zur Kenntnis des Scribonius, da die über dasselbe an den Kaiser ge-
richtete Schrift den öffentlichen Bibliotheken zugewiesen wurde (97). Die
Wirkung der mitgeteilten Rezepte wird stark gepriesen*), namentlich die-
jenigen werden sehr hoch gestellt, welche auch für die Zukunft eine
Sicherung vor dem Leiden geben (162, 122). Der Arzt unterlässt nicht
auf die günstigen Heilerfolge, die mit denselben erzielt wurden, hinzu-
weisen (16. 39. 102. 118. 162). Auch führt er gern zur Empfehlung seiner
Kompositionen deren Gebrauch in der kaiserlichen Familie an (31. 70. 268.
271 u. s. w.).
Über den medizinischen Wert der Rezepte steht uns kein Urteil zu;
dagegen darf darauf hingedeutet werden, dass auch der Aberglaube in den-
selben eine Rolle spielt. So fügt Scribonius einem Mittel die Bemerkung bei,
dass das zu gebrauchende Messer ein solches sein soll, mit dem ein Gladiator
umgebracht wurde (13). Während der Autor dies an der Stelle ohne
tadelnde Bemerkung mitteilt, regt sich bei einer' anderen abergläubischen
Vorschrift doch das Standesgefühl in ihm, indem er von der superstUio eines
Arztes spricht (152 vgl. 17). Aber auch seine Mittel enthalten Sonderbares
(127. 70). Erklärungen für die Wirkung der Arzneien finden sich nicht;
') Vgl. Epilog. I *) Sehr oft durch mirifire facit, prodest.
Sex. Julias FrontinoB. 467
der Autor steht durchaus auf empirischem Standpunkt. Seine Kompositionen
sind ja durch die Erfahrung erprobt. Freilich weiss er sich für den Fall,
dass eines der gepriesenen Rezepte versagen sollte, eine Hinterthür offen zu
halten; er erinnert daran, dass die Verschiedenheit des Leibes, des Alters,
der Zeit, des Ortes auch eine verschiedene Wirkung der Heilmittel her-
vorrufe.
Das Arzneibuch scheint am Hofe grossen Anklang gefunden zu haben.
Wenigstens hören wir, dass Claudius in seiner Censur 47/48 bekannt ge-
macht habe, dass für den Schlangenbiss nichts so heilsam sei als der Saft
des Taxusbaums (Suet. Claud. 16). Auch Scribonius hatte ein Gegengift
für diesen Fall mitgeteilt (168). Leider ist dasselbe verloren gegangen;
wir werden aber nicht irren, wenn wir vermuten, dass das von Claudius
empfohlene Mittel dem Buch des Scribonius entnommen war, das gerade
damals erschien.
Abfassungszeit der Schrift. Der tenninus post quem ergibt sich aus der Teil-
nahme des Scribonius an der britannischen Expedition des Claudius (163); der terminun
ante quem aus der Erwähnung der Messalina als lebend (60). Das Intervallum ist so-
nach 43 — 48. Da es wahrscheinlich ist, dass Callistus, dem die compositiones gewidmet
sind, das Amt a lihellis nach Polybius* Tod (47) bekleidete und die Widmung sicher durch
das Amt des Freigelassenen hervorgerufen wuixle, so wird sich das Intervallum noch auf
47—48 einengen (Bücheler, Rh. Mus. 37, 327).
Überlieferung. Zuerst gab Ruellius den Scribonius im Jahre 1528 (Paris) heraus;
allein seine Handschrift ist verloren: wenigstens konnte sie bis jetzt nicht aufgefunden
werden. Unser Text beruht daher bis jetzt auf seiner Ausgabe; eine sekundäre Quelle ist
Marcellus, der in sein Arzneibuch den grössten Teil des Scribonius, ohne seinen Gewährs-
mann zu nennen (Helhbeich, Bayr. Gymnasialbl. 18, 385), aufnahm.
Ausgaben. Ausser der editio princeps ist die von Rhodius wegen des Kommen-
tars von Wichtigkeit (Padua 1655). Neueste kritische Revision von Helmbbich, Leipz. 1887.
6. Sex. Julius Frontinus.
500. Die Schriften Frontins. Wir kennen Frontin aus Tacitus;
er erwähnt seine Prätur des Jahres 70 (Hist. 4, 39), er erwähnt ferner
seine ausgezeichnete militärische Wirksamkeit in Britannien als Nachfolger
des Petilius Cerealis (Agr. 17). Konsul^) war Frontinus mehrmals (Mart. 10, 48,
20), dann Curator aquarum im Jahr 97. Gestorben scheint er um 103 zu
sein, da damals der jüngere Plinius sein Nachfolger im Augurat wurde.
Eine charakteristische Äusserung von ihm teilt derselbe Plinius mit. Fron-
tinus verbot nämlich, ihm ein Denkmal nach seinem Tode zu setzen, mit
den Worten: Der Aufwand für ein Monument ist ganz überflüssig, unser
Andenken wird ohne dieses sich erhalten, wenn wir es durch das Leben
verdient haben (ep. 9, 19, 1 und 6). Von ihm sind folgende Werke zu ver-
zeichnen :
1) Eine gromatischo Schrift. Dieselbe wurde unter Domitian
vcrfasst (54, 11 L.). Wir haben nur Auszüge aus derselben, sie umfasste
zwei Bücher. Die Exzerpte bekunden einen „tüchtigen und sachver-
ständigen* Schriftsteller.
Dass die Schrift ursprünglich aus zwei Büchern bestand, geht hervor aus 1, 64 Lach-
MANN UHO libro instüuimus artificem, nlio de arte disputiwimus. Die Exzerpte handeln de
agrorum qualUate, de controversiis, de limitibtis, de controcersiis agrorum. Diese Exzerpte
*) NiPPBBDET, OpUSC. p. 520.
30'
468 BömiBobe Litieratargesohichte. II. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
hat zusammengesucht und zum Teil aus dem Kommentare des Agennius Urbicus (p. 34)
herausgeschält Lachmank (Feldm. 2, 112 und 109); Zarncke, Conmi. Studemimd. p. 194.
2) Die Strategemata. In seinem Büchlein über die Wasserlei-
tungen stellt er diese Denkschrift in Gegensatz zu seinen übrigen tech-
nischen Schriften, welche er erst nachdem er in den betreflfenden Fächern
praktisch thätig war, niedergeschrieben hatte. Zu diesen technischen
Schriften gehören ausser den gromatischen Untersuchungen zwei militär-
wissenschaftliche Werke; das eine hatte einen theoretischen Charakter,
leider ist uns dasselbe verloren gegangen. Dagegen ist uns das zweite,
welches Beispiele von Kriegslisten {strategemata) zusammenstellt, erhalten.
Die Beispiele sind naturgemäss in der Weise angeordnet, dass im ersten
Buch die Kriegslisten vor der Schlacht, im zweiten die in und nach der
Schlacht, im dritten die bei der Belagerung aufgeführt werden. Innerhalb
der einzelnen Bücher deuten die Kapitelüberschriften die verschiedenen
Arten der Strategemata an. Die Fälle sammelt er aus Autoren, beson-
ders aus den Geschichtschreibern. Die römische Kriegsgeschichte ist mit
Vorliebe herangezogen. Die Beispielsammlung Frontins reizte zur Nach-
ahmung; vermutlich nicht lange nach dem Erscheinen derselben ent-
stand eine neue Sammlung. Diese legte aber mehr moralische Gesichts-
punkte zu Grund, sie ordnete die Beispiele nach den Rubriken: De disci-
plina, de effectu disciplinae, de continentia, de iustitia, de constantia, de
affectu et moderatione, de variis consiliis; man erkennt sofort, dass hier
ein ganz anderer Plan vorliegt als in dem Werk Frontins. Dieser gibt
uns Strategemata, Kriegslisten, der Verfasser der zweiten Sammlung will
uns Strategica, d. h. Äusserungen und Handlungen des tüchtigen Feldherrn
darbieten. Merkwürdigerweise wurde diese zweite Sammlung mit den drei
Büchern des Frontin verbunden und als viertes Buch gezählt. Ja noch mehr,
die Verbindung war keine zufällige, sondern eine absichtliche, das vierte
Buch sollte als ein Werk Frontins erscheinen. Zu diesem Zweck wurde
eine Vorrede geschrieben und der Vorrede der Frontinschen Sammlung ein
Passus beigefügt, um auf das neue Werk einstweilen hinzuweisen. Allein
es kann keinem Zweifel unterliegen, dass dieses Buch nicht von Frontin
herrührt; ja in demselben ist Frontin bereits benutzt.
Die theoretische Schrift üher das Militärwesen. StrctUg, praef. heisst es:
cum ad inntruendam rei militaris scientiam unus ex numero studiosorum eius accesserim eique
desiinato quantum nostra cura valuit, satisfecisse visus sim, deheri adhuc institutae arbiträr
operae ut sollertia ducum facta . . . expeditis ampUctar commentariis Vcget. 1, 8 cotnpufit
evolutis auctorUms ea me in hoc opusculo . . . dicere, quae Cato Censorius de disciplina
militari scripsit, quae Cornelius Celsus, quae Frontinus peratringenda duxerunt
vgl. noch 2, 8. Diese Stellen können sich nicht auf die strategemata beziehen. Auch bei
den Griechen fand die Schrift Beachtung, vgl. Aelian. tact. praef. und Aelian, de ordin.
inst. 1 (wo statt ^Q6yr(oy^ sni lesen ist ^Qotiyta).
Die Unechtheit des vierten Buchs haben Wachsmuth (Rh. Mus. 15,574) und
besonders Wölfflüt (Hermes 9, 72) mit unwiderleglichen Beweisen dargethan. Der Versnch
t'RiTZES, De Juli Frontini strategematon libro IV, das vierte Buch wieder für Frontin in
Anspruch zu nehmen, kann nicht als gelungen erachtet werden.
Über die Abfassungszeit des vierten Buchs herrscht noch wenig Überein-
stimmung. Wachsmtjth nahm als diese Zeit das 4. oder 5. Jahrhundert an und erfreute
sich für seine Behauptung der Beistimmung Wölfflins. Diese Ansicht kann unmöglich richtig
sein ; schon die Sprache legt ein Veto ein. Viel weiter zurück geht GüKDBRiiAim in seinen
Quaest. de Juli Frontini strategematon lihris (Fleckeis. Jahrb. 16. Supplementb. p. 326), er
meint: in eam incJino sententiamy ut scriptum esse quartum librum existimem ab homine
haud ita erudito - a studioso, si viSf rhetoricae — aetate a Frontino non multum
Die Agrimensoren. 469
distante, initio fortaaae aaeculi alteriua p. Gh. Ich habe (Philol. 48» 647) ebenfalls
in den Streit eingegriffen und folgende Hypothese der Prüfung der Gelehrten unterstellt:
„Der Verfasser des IV. Buchs ist der Offizier, dem sich die Lingonen im Jahr 70 unter-
warfen (4, 3, 14) ; er ist sonach Zeitgenosse Frontins. Für seine Schrift benutzte er wie
andere Quellen so auch die Kriegslisten Frontins. Erst eine dritte Person hat diese Schrift
mit Frontin verbunden, zu diesem Zweck eine Vorrede geschrieben und einen Passus der
Vorrede des ächten Frontin hinzugefügt.*
Über die Quellen der beiden Sammlungen Blüdaü, De fontihus Frontinij
Kdnigsb. 1883 (ohne Bedeutung); 6uin>BB]LANN p. 361; Fritze p. 32.
Die handschriftliche Überlieferung beruht auf zwei Klassen. Die erste ist
am reinsten vertreten durch den Harleianus 2666 s. IX/X ; hiezu kommen Auszüge im Goth.
1 101 s. IX und Cusan. C. 14 s. XII; der beste Vertreter der zweiten geringeren Klasse ist
Parisinus 7240 s. X/XI ; (Gundbbmakn, Comm. Jen. 1, 86).
Kritische Ausgabe von Gündebxann, Leipz. 1888.
3) De aquis urbis Romae L 11. Als Frontin von Nerva mit
der Aufsicht über die römischen Wasserleitungen betraut wurde (97),
so fühlte er das Bedürfnis, sich über sein Ressort genau zu informieren;
denn nichts widerstand seiner Gewissenhaftigkeit so sehr, als sich in dem
ihm übertragenen Amt von fremdem Urteil abhängig zu machen. Zunächst
also zu seiner eigenen Belehrung und zu seinem eigenen Gebrauch schrieb
er dieses Promemoria nieder, allein da er sich der Hoffnung hingab, dass
es auch für seine Nachfolger von Nutzen sein könnte, so publizierte er
das Werkchen nach dem Tode Nervas unter Traian. Er macht uns be-
kannt mit den Namen der römischen Wasserleitungen, mit der Zeit ihrer
Errichtung, mit ihrem Lauf und ihrer Konstruktion, mit der Verteilung
des Wassers, endlich mit den rechtlichen Verhältnissen. Die Darlegung
ist einfach und sachlich gehalten ; es ist ein vortreffliches und für die Er-
kenntnis einer höchst wichtigen Einrichtung nützliches Schriftchen, das
auch durch einige eingelegte Aktenstücke (z. B. 104, 106, 108) bedeutungs-
voll wird.
Abfassungszeit. Da der Autor (2) sagt, dass er das Schriftchen hinter initia
ad minist rationU* geschrieben, so fällt die Abfassung ins Jahr 97. Allein die Herausgabo
und Schlussredigiening muss nach dem Tod Nervas, da 118 Nerva divus heisst, unter der
Regierung Traians erfolgt sein; vgl. 93 novum auctorem impercUorem Caesarem Nerram
Traianum Augustum praescribente titulo.
Die Oberlieferung beruht auf einer einzigen Handschrift in Monte Gassino 361,
von der alle übrigen abstammen. (Neue Kollation derselben von Petscubnio, Wien. Stud.
6,249). Kritische Ausgabe von Bücheleb, Leipz. 1858.
Auf eine landwirtschaftliche Schrift führt ein Citat bei Gargilius Martialis
Mai auct, clasif, 1, 410.
7. Die Agrimensoren.
501. Die agrimensorischen Schriften. Die Römer wurden durch
verschiedene Umstände auf die Feldmesskunst hingewiesen, das Lager-
schlagen, die Agrargesetzgebung, die Militärkolonien erforderten die Beihilfe
des Qeometers. Es bildete sich daher im Lauf der Zeit ein Stand der
Feldmesser [Agrimensores], von dem Visirinstrument groma auch Gromatici
genannt, es bildeten sich Schulen, es bildete sich eine Litteratur, die wir
vom ersten bis zum sechsten Jahrhundert verfolgen können.') Diese Litte-
ratur streifte neben dem Mathematischen auch das Juristische. Wir lernen
durch dieselbe eine neue Seite des Altertums kennen. Freilich wenn wir
diese gromatischen Schriften auf die Wissenschaft hin untersuchen, so
1) MoJucsEN, Feldm. 2, 174.
470 Bömiflche Litter atnrgeschichte. U. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
gewinnen wir kein günstiges Urteil. Ein Sachkenner äussert sich also:
„Die Römer selbst mögen in der Feldmesskunst, worin sie seit Alters
Übung hatten, manche praktische Neuerungen eingeführt haben; in der
Feldmess Wissenschaft haben sie nur abgeschrieben, zuerst den Heron von
Alexandrien, später wahrscheinlich eine älteste lateinische Bearbeitung
dieses Schriftstellers, an welcher jeder neue Abschreiber nur kleine sti-
listische Veränderungen vornahm. Das wissenschaftliche Verständnis hat
dabei eher abgenommen als zugenommen." (Cantor p. 139.)
Ausser Frontin haben wir in unserm Zeitraum noch folgende Agri-
mensoren zu verzeichnen;
1) Hyginus ist von dem gleichnamigen Qrammatiker der Auguste-
ischen Zeit und dem Mythographen (§ 350 p. 225) wohl zu scheiden. Der
Gromatiker lebte zur Zeit Traians, wie aus seinem Werk hervorgeht (vgl.
p. 121, 7 L.). Dieses Werk handelte in drei Abteilungen 1) de limUlbus,
2) de condicionibus affrorum, 3) de generibus controversiarum (108 — 134
L.). Strittig ist, ob noch eine zweite Schrift De Ihnitibus constituendis von
unserem Hygin oder einem spätem herrührt. Es ist wohl das letzte an-
zunehmen.
Eine Schrift über die sich auf die Metation beziehenden Verordnnngon
und Gesetze erwähnt er p. 133. 14 L. cuiiM {DomUiani) edicti verha itemque constUutioms
qiiasdam aHorum princtpum itemqiie divi Nervae, in uno libello contulimus.
Der Verfasser der Schrift de limitibus constituendis (^.IßQL.) ist
nach Lachmann ein jüngerer Hyginus (Rom. Feldm. 2, 136) ; diese Ansicht wird verworfen
von Lange zu Hyginus de munit. castr. p. 44 und Gott Gel.-Anz. 1853, 526 ; für Lachmanx
spricht sich dagegen mit Recht Geholl aus (Hermes 11, 174).
De munitionihus castrorum hat man auch Hygin beigelegt, allein ohne
Grund, da diese Schrift keinen handschriftlich beglaubigten Titel und Verfasser aufzu-
weisen hat und sprachliche Gründe gegen die Identifizierung mit einer der unter dem Namen
Hygirs überlieferten Schriften streiten (Geholl, Hermes 11, 174). Die Zeit des Schriftchens
fallt wahrscheinlich in das dritte Jahrhundert. — Ausgaben von Lange, Göttingen 1848;
Gemoll, Leipzig 1879; Dohaszewski, Leipzig 1887; vgl. noch Dboysen, Rh. Mus. 30, 469 ;
Förster, Rh. Mus. 34,237; Ursin, De castris Hygini qui fertur quaest., Helsingfors 1881.
Juno, Wien. Stud. 11, 153.
2) Bai b US ist ein Zeitgenosse des Hygin, auch er schrieb unter
Traian; er hatte den Kaiser auf seinem dacischen Feldzug begleitet; nach
seine]: Rückkehr vollendete er eine Schrift Expositio et ratio omnium for-
marum und widmete sie einem Celsus, welcher eine Neuerung an einem
gromatischen Instrument gemacht hatte und deshalb in der Feldmesskunst
als eine Autorität angesehen wurde. Seine Schrift „Darstellung und
Theorie der Figuren* ist eine Geometrie für Feldmesser, aber nicht voll-
ständig erhalten (Cantor p. 99).
Das Schriftchen de asse minutisque eins portiunculis, das früher eben-
falls dem Baibus beigelegt wurde, fällt viel später, es kann nicht vor 222 abgefasst sein
(Christ, Münchner Sitzungsber. 1863, 105; Hultscu, metrol. Script. 2, 14).
3) Siculus Flaccus schrieb de condicionibus agrorum (und zwar der-
jenigen in Italien) in breiter Darstellung*) nach Domitian.
4) M. Juni US Nipsus. In der Überlieferung (p. 285 L.) wird ein
agrimensorischer Schriftsteller eingeführt mit ^incipit Marci Juni Nipai
L II feliciter^. Von ihm sind folgende Probleme behandelt: 1. Die Über-
0 Geholl, Hermes 11, 171. Über die Zeit des Autors vgl. die Zusammenstellung von
Lange, Gott. Gel. Anz. 1853, p, 530.
Rückblick. 471
messung eines Flusses {fluminis varatio) p. 285 L. vgl. Stoeber p. 126;
2. Die Wiederherstellung einer Limitationsgrenze {limitis repositio) p. 286 L.,
vgl. Stoeber p. 128; 3. Podismus (Ausmessung nach Füssen) p. 295 L.,
vgl. Cantor p. 96 und dessen eingehende Betrachtung p. 103. Die Zuge-
hörigkeit des Teils 297, 1—301, 14 bezweifelt Mommsen (Feldm. 2, 149).
Die Zeit dieses Feldmessers wird nicht unter das zweite Jahrhundert n. Gh.
herabgesetzt werden dürfen (Cantor p. 103).
Über die demonstratio artis geometricae werden wir im dritten Band handeln.
Der liher eoloniarum, Moidisbn unterscheidet zwei Redaktionen, eine durch den
Arcerianus vertretene (= 1. 1 eoloniarum Lachmanns) und eine jüngere besonders durch
den Gudianus erhaltene (= l. II eoloniarum Lachmaitns). Im Pidatino-Vaticanus 1564
stehen beide Recensionen nebeneinander, im Erfurtensis sind sie ineinander gearbeitet, vgl.
Mommsen, Feldm. 2, 157. Die erste Fassung ist ein im fünften Jahrhundert gemachter Aus-
zug einer noch guten Zeiten angehörigen Schrift. Im Arcerianus lautet die Subscriptio (p. 239 L.)
huic addendas mensuras limitum et terminorum ex libris Augusti et Neronts Caesarum, sed et
Balhi mensoris, qui temporibus Augusti omnium provineiarum et formas eivitcUium et mensuras
compertas in eommentariis eontulit et legem agrariam per diversiiates provinciarum di-
atinxit ae deelaravit. Hier ist also von einem Baibus als einer Quelle des Hb. eoL die Rede und
zwar von einem Baibus aus der Zeit des Augustus. Allein dies ist eine Unmöglichkeit. Selbst
der Baibus der tnganischen Zeit macht Schwierigkeiten, da die Zeitangaben weiter hinab-
reichen, nämlich bis in die Zeit von M. Aurelius und Gommodus (Mommsen, Feldm. 2, 178).
Was den Wert der Verzeichnisse anlangt, so ist dieser ein sehr problematischer, besonders die
jüngere Fassung ist „bis zur völligen Unbrauchbarkeit entstellt*^ (Mommsen, Feldm. 2, 181).
Überlieferung. Die wichtigste Handschrift der Agrimensores ist der Arcerianus
in Wolfenbüttel s. VI, VII. Den Namen erhielt er von dem früheren Besitzer Johann Theo-
doretus Arcerius, der zu Utrecht im Jahre 1604 starb. Die Handschrift besteht aus zwei
Hälften (A und B), ,die erste ist in einer Kolumne, die zweite in zwei Kolumnen geschrieben,
die erste zählt 28, die zweite 26 Zeilen auf jeder Seite ; die erste enthält Zeichnungen und
Bilder, die zweite nicht. Auch die SchriftzUge sind verschieden: die der ersten Hälfte
sind altertümlicher, am Ende der Zeilen oft eine Art Kursiv- und in Oherschriften oft
Kapitalschrift, die der zweiten dagegen durchaus in Uncialschrift*. Mehrere Stücke stehen
in jeder der beiden Hälften. Das (original ist in manchen Stücken nicht dasselbe (Blitme,
Feldm. 2, 6).
Ausser dieser Handschrift befindet sich noch eine zweite agrimensorische in Wolfon-
' büttel, der Codex Gudianus 105 s. IX X, welcher der zweiten Handschriftenfamilie ange-
hört, wie der Palatino- Vaticanus 1564 s. IX.X. Repräsentant einer dritten Familie ist der
Erfurtensis-Amplonianus 362. In die vierte Klasse gehören die Excerpta Rostochiensia.
Vgl. Blume im Feldm. 2, 1—96, die Übersicht der einzelnen Teile der Handschriften von
Lachmann, Feldm. 1 p. VIII
Litteratur. Über die Gromatik belehren in mustergiltiger Weise die groma ti-
schen Institutionen von Rüdorff, Feldm. 2, 229—464. In neuerer Zeit sind zwei
Schriften hinzugekommen: Cantob, Die röm. Agrimensoren und ihre Stellung in der Ge-
schichte der Feldmesskunst, Leipzig 1875; Stöbbr, Die röm. Grundvermessungon, Münch.
1877. Beide Arbeiten ergänzen sich. Bei Cantor fällt alles Schwergewicht auf die Dar-
legung der griechischen Quelle, aus der die römischen Agrimensoren ihre mathematischen
Sätze haben; bei Stöber, der im allgemeinen Teil ganz von Rudorff abhängig ist, ruht
der Hauptnachdruck auf der technische Ausführung.
502. Rückblick. Die einzelnen Erscheinungen, wie sie in der Litte-
ratur von Tiberius bis Hadrian sich abgespielt haben, sind jetzt zu
Ende geführt; es liegt uns noch ob, das in den verschiedenen Fächern
Geleistete zusammenzufassen. Wir beginnen mit der Poesie und zunächst
mit dem Epos. Hier erkennen wir aufs deutlichste die Nachwirkungen
Vergils. Seine Aeneis war für die epische Technik und die epische Sprache
vorbildlich geworden, und die Epiker unseres Zeitraums sind mehr oder
weniger davon abhängig. Ihre Stoffe entnahmen sie teils aus der grie-
chischen Sagenwelt, wie Valerius Flaccus in seinen Argonautica und Sta-
472 ftömisclie LitteratnrgeBchichte. tt. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilung.
tius in seiner Achilleis und in seiner Thebais, oder aus der vaterländischen
Geschichte wie Lucanus in seiner Pharsalia und Silius kalicus in seinen
Punica. Das nationale Epos lässt aber zwei Strömungen erkennen. Silius
Italiens behält den mythologischen Apparat» die traditionelle Maschinerie
bei, Lucanus will von dieser völlig erstorbenen, schablonenhaften Welt
nichts wissen und wirft sie daher über Bord; ihm ist das Fatum das Be-
stimmende. Ein in Petrons Satirae eingeschobenes Epos über den Bürger-
krieg ist durch die Absicht des Verfassers, in diesem Kunststreit Stellung
zu nehmen, hervorgerufen worden. Höfische Beziehungen leuchten mehr
oder weniger aus jedem Epos hervor; man sieht, die Poesie richtet be-
sonders gern ihre Augen zum Herrscher empor. Aber das Hauptübel, an
dem das Epos unserer Zeit krankt, ist der Einfluss, den die Rhetorschule
auf dasselbe gewinnt; dadurch tritt die Handlung zurück, die Rede und
die Beschreibung vor. Jeder, der die genannten Epen mit vorurteilsfreiem
Blick würdigt, muss zu der Erkenntnis gelangen, dass die Zeit der epischen
Dichtung vorbei ist. Allein der Tod ist der Anfang eines neuen Lebens ; für
das Epos stellt sich der Roman ein, der in unserer Epoche einen ganz vor-
züglichen Bearbeiter in Petronius Arbiter gefunden hat. Zwar nimmt diese
neue Gattung die Form der Prosa an und verwendet die Poesie nur zum
Schmuck und zur Einlage, allein trotzdem beruht sie auf dichterischer
Konzeption. Das Werk des Petronius ist ein Kulturgemälde ersten Rangs
und zweifellos eines der besten Produkte der römischen Poesie überhaupt.
Das didaktische Gedicht, das in der vorigen Periode zu einer so grossen
Blüte gelangt war, hat sich dieselbe in unserem Zeitabschnitt nicht er-
halten; doch hat es noch zwei ansehnliche Vertreter gefunden, und zwar
auf dem Gebiet der Sternenwelt, welche von jeher auf die Alten die grösste
Anziehung ausübte. Ein Mitglied des regierenden Hauses Germanicus be-
arbeitet mit Sachkenntnis die Sternbilder nach der Vorlage des griechischen
Dichters Aratus, den früher schon Cicero übersetzt hatte; ein uns unbe-
kannter Mann Manilius wagt sich an die Dunkelheiten der Astrologie; trotz
des abstrusen Gegenstandes weiss er uns durch die Eindringlichkeit, mit
der er seinen Satz vertritt, dass alles im Universum zu einer Einheit
verbunden sei und dass unser Geschick von der Sternenwelt abhänge, in
nicht geringem Grade zu fesseln. Von keiner poetischen Bedeutung ist das
zehnte Buch des landwirtschaftlichen Werks Columellas über den Gartenbau,
es ist versifizierte Prosa. Interessant ist das Gedicht nur deswegen für uns,
weil auch hier der tiefe Einfluss Vergils zu Tage tritt; denn der Verfasser
knüpft an die Georgica an und schreibt dieses Buch in Versen, während
sonst sein Werk in Prosa abgefasst ist, weil er das, was bei Vergil keine
Darstellung gefunden, ausführen will; die Arbeit stellt sich sonach als eine
Ergänzung der Georgica dar. Ebenso zeigt das Gedicht über den Vulkanis-
mus, Aetna betitelt, das ebenfalls unserer Zeit angehört, zwar die Begei-
sterung des Verfassers für die Naturerkenntnis, aber doch keinen gött-
lichen poetischen Funken. An das Lehrgedicht mag sich die Fabel
anschliessen, welche zur Zeit Tibers durch Phädrus, einen nicht besonders
begabten Dichter, als selbständige Gattung in die römische Litteratur ein-
geführt wurde. Wir wenden uns zu der Satira. Diese hat jetzt eine ganz
Bückblick. 473
andere Verfassung angenommen, die harmlose Plauderei der horazischen
Satiren muss dem erbitterten Schelten Platz machen. Was aber noch
mehr zimi Niedergang der Gattung beiträgt, ist, dass sie nicht mehr aus
dem frisch pulsirenden Leben herausquillt, sondern ein Werk kränkelnder
Abstraktion wird. Persius hat nicht auf das Treiben der Menschen seinen
Blick geworfen, sondern in seine stoischen Schulbücher; Juvenal gestaltet
seine Satiren zu Deklamationen; aber nicht ist es die Gegenwart, die ihn
zu seinen Ausbrüchen des Zorns hinreisst, sondern die hinter ihm liegende
tote Vergangenheit. Beiden Dichtern fehlt die Harmlosigkeit und Heiter-
keit; ihre Produkte haben zu viel Schatten und zu wenig Licht. Auch
die andere Form der Satire, die sogenannte Menippeische, lernten wir in
einem Produkt kennen, in dem Spottgedicht Senecas auf Claudius, welches
den sonderbaren Titel Apocolocyntosis führt. Es ist ein geistreiches Werk,
aber von unedler Gesinnung und gewährt daher k^nen völlig reinen Ge-
nuss. Um so erfreulicher steht es mit der „abgekürzten Satire*', dem
Epigramm, das in Martial einen wahrhaft genialen Vertreter gefunden.
Martial ist nicht bloss der grösste Epigrammatiker der Römer geworden,
er ist einer der grössten Epigrammatiker aller Zeiten; er ist aber auch
einer der grössten Meister der römischen Poesie überhaupt, denn er ist
frei von dem Fluch der römischen Dichtung, von der Rhetorik. Das Idyll
bewegt sich in den von den Vergilischen Eklogen gezogenen Bahnen; es
erscheint wie bei ihm in der Form des Hirtengedichts und nutzt ebenfalls
die Allegorie: diese Allegorie schielt nach dem Hofe und gestaltet das
Idyll zum höfischen Gedicht; den Charakter desselben können wir an den
Eklogen des Calpurnius und den sogen, zwei Einsiedler Gedichten, welche
sämtlich der Neronischen Zeit angehören, studieren. Auch das Gelegen-
heitsgedicht, das zur Zeit Domitians in den Silvae des Statins zur Er-
scheinung kommt, stellt sich vorwiegend in den Dienst des Hofes und
anderer vornehmer Persönlichkeiten, doch hat der Dichter es verstanden,
uns durch anmutige Schilderungen zu gewinnen. Von den eigentlichen lyri-
schen Dichtern hat sich keiner erhalten ; es dürfte kaum einer davon eine
tiefere Bedeutung gehabt haben, viel Dilettantisches lief allem Anschein
nach mitunter, das Obscöne war ein stehendes Element dieser Spielereien,
und selbst eine Dichterin, Sulpicia, scheute nicht davor zurück. Es bleibt
noch das Drama. Die Ursachen, die in dem vorigen Zeitraum der vollen
Entwicklung der dramatischen Poesie bei den Römern entgegenstanden,
wirken auch in unserer Epoche noch fort. Doch verdanken wir der-
selben das, was wir von der römischen Tragödie (von Fragmenten ab-
gesehen) überhiCupt besitzen. Neun Stücke von Seneca sind uns erhalten;
es sind freie 'Bearbeitungen griechischer Sagenstoffe, das Werk eines
geistreichen, philosophisch gebildeten Mannes, verhältnismässig arm an
Handlung, dagegen überreich an Deklamationen. Trotzdem haben diese
Produkte auf die Entwicklung des modernen Dramas den grössten Einfluss
ausgeübt. Auch ein Versuch einer nationalen Tragödie ist uns überkommen,
der nur irrtümlich den Namen des Philosophen angenommen hat. Das
Stück hat auf unser volles Interesse Anspruch, weil es uns das Wesen
der Praetexta kennen lehrt und uns durch den tief tragischen Inhalt
=r
474 Bömische Litteratnrgeschlchte. II. Die Zeit der Monarchie. 1; Abieilnng.
ergreift. Ausser Seneca war noch der berühmte Feldherr Pomponius Se-
cundus, der Oönner des älteren Plinius, und Maternus in der Tragödie
thätig. Die Zeitgenossen stellen den ersteren sehr hoch. Selbst in der
Komödie fehlt es nicht an merkwürdigen, jedoch vermutlich vereinzelten
Bestrebungen. Ein CatuUus schrieb Mimen; ein Pomponius Bassulus über-
setzte Menandrische Stücke und lieferte auch Komödien mit eigener Er-
findung, ja ein Zeitgenosse des jüngeren Plinius, Vergilius Romanus, ging
noch weiter, er wagte sich an Mimiamben und an die alte griechische
Komödie. Alle diese Versuche sind von der Zeit hinweggeschwemmt
worden.
Soweit von den Leistungen in der Poesie. Für die Prosa bedarf
es, *da wir diese schon nach den Gattungen dargestellt haben, nur noch
einer kurzen Rekapitulation. In der Geschichte hatten wir den Verlust
zahlreicher Schriften zu konstatieren ; es blieben uns noch vier Historiker,
Velleius Paterculus, Valerius Maximus, Curtius Rufus und Tacitus, welche
ihrem inneren Werte nach sehr voneinander verschieden sind. Das Büch-
lein des Velleius Paterculus ist eine flüchtig hingewoifene Gelegenheits-
schrift ohne grössere Quellenstudien, doch enthält der Abriss, der das
Persönliche stark betont, feine Charakteristiken und zugleich eine aner-
kennenswerte Berücksichtigung der Kultur und Litteratur. Valerius Maxi-
mus ist nicht Historiker, sondern bloss Sammler historischer Thatsachen
für den Gebrauch der Rhetorschulen , sein Verdienst liegt daher nur in
dem Auf bau der Sammlung und in der Stilisierung; und selbst dieses Ver-
dienst ist ein recht zweifelhaftes. Auch Curtius Rufus kann nicht den
Ehrennamen eines Historikers beanspruchen, da er auf jede Ki-itik Ver-
zicht leistet ; sein Verdienst kann ebenfalls nur in der Darstellung gesucht
werden, welcher ein gewisses Lob nicht versagt werden kann. Dagegen
der vierte Historiker, Tacitus, ist die grösste Zierde der römischen Historio-
graphie und kann den hervorragendsten Geschichtschreibern aller Völker bei-
gesellt werden. Seine Erzählung ergreift, da sie im Menschen ihren Aus-
gangspunkt und im Psychologischen ihr Schwergewicht hat, das Herz
des Lesers aufs tiefste. Originell ist auch der Stil, den sich der Histori-
ker geschaffen, und der im vollen Einklang mit dem dargelegten Stoffe
steht. Die Geographie ist, wie einige Exkurse bei Tacitus zeigen, gern
Dienerin und Begleiterin der Geschichte, doch treten uns auch geogra-
phische Arbeiten isoliert entgegen, wie die meisterhafte Germania des Ta-
citus und das bescheidene Büchlein des Pomponius Mela, die älteste latei-
nische Geographie, die uns überkommen ist. In der Beredsamkeit
können wir keine hervorragenden Leistungen erwarten, da für die Blüte
der rednerischen Kunst die wesentlichen Voraussetzungen fehlen. Die Rede
hat als dedamatio ihren Sitz in der Schule. Der rhetorische Unterricht
that aber sein Mögliches, um die Beziehung zum Leben zu lockern und
sich in eine unnatürliche Welt des Scheins zurückzuziehen. Für die Bil-
dung der lateinischen Welt war das Treiben der Rhetorschulen mit ihren
sonderbaren phantastischen Themata von unheilvollem Einfiuss. Das ge-
künstelte Pathos, das Haschen nach blendenden Stellen, das Manirierte des
Ausdrucks hat dort seine Quelle. Aufmerksamen Beobachtern entging der
Rttckblick. 475
Sitz des Übels nicht. Quintilian deckte in einer eigenen Schrift denselben
auf und hoffte auf eine Besserung durch Regenerierung des Ciceroni-
schen Stils. Allein schärfer sah das Auge des Tacitus. Der erkannte,
dass die Schäden tiefer liegen und in der Monarchie überhaupt eine Blüte
der Beredsamkeit unmöglich sei, und dass derjenige, welcher den Pulsschlag
der Zeit richtig fühle, seinen Blick auf andere Gebiete des litterarischen
Schaffens lenken werde. Wir lernen die rhetorische Kunst aus einem sehr
traurigen Produkt kennen, aus dem Panegyricüs des Plinius, der uns die
vielen verlorenen Reden anderer Redner leichter verschmerzen lässt. An
die Stelle der Rede trat in unserem Zeitraum eine andere Form des sti-
listischen Könnens, der Brief. Derselbe löste das Band zwischen dem
Briefschreiber und dem Adressaten und war gleich von vornherein für die
Öffentlichkeit bestimmt. Den Brief von dieser Seite können wir aus der
grossen Sammlung desselben Plinius beurteilen, während der wirkliche Brief
in der zwischen ihm Und dem Kaiser Traian geführten Korrespondenz
vorliegt. Auch die Philosophie brauchte, da sie, auf praktischer Grund-
lage, nicht auf theoretischer Spekulation ruhend, auf den Willen des Men-
schen wirken wollte, die populäre Fassung und die Kunst der eindring-
lichen Rede. Diese Richtung tritt uns in den zahlreichen Abhandlungen
Senecas entgegen. Der Fachgelehrsamkeit haben nicht wenige Bearbeiter
ihre Kräfte gewidmet. An der Spitze stehen die encyklopädischen
Darstellungen, das Werk des Celsus, welches die Landwirtschaft, die
Medizin, das Kriegswesen, die Rhetorik, die Philosophie und die Jurispru-
denz zusammenfassend behandelte, und das Werk des älteren Plinius,
welches die Natur und ihre Beziehungen zum Leben darlegte; von der
ersten Encyklopädie ist uns nur die Medizin erhalten, ein anmutig ge-
schriebenes Buch, das uns den Verlust der übrigen Teile lebhaft be-
dauern lässt, die zweite Encyklopädie liegt vollständig vor, sie birgt in
sich einen ungeheuren, höchst wertvollen Stoff, allein derselbe ist nicht
durch eigene Sachkenntnis gehoben, sondern ohne Kritik aus Büchern zu-
sammengetragen. Von den einzelnen Fachwissenschaften erfreute sich der
eifrigsten Pflege die Philologie, hier leuchten drei glänzende Gestirne,
Remmius Palaemon, Asconius und Valerius Probus, in verschiedener Weise
thätig, aber jeder in meisterhafter Weise. Valerius Probus hat sich als
Feld für seine Studien die Rezension und Emendation lateinischer
Autoren erkoren und es darin zu einem hohen Ansehen gebracht, mit
Recht hat man ihn den Aristarch der Römer genannt. Das Arbeitsfeld
des Asconius ist die historische Exegese und dieselbe ist von ihm mit
solcher Meisterschaft gehandhabt worden, dass sie noch heutzutage die
Bewunderung aller Sachkenner erregt. Von Palaemon wurde eine Gram-
matik der lateinischen Sprache geschrieben, welche leider verloren ist,
deren grossen Einfiuss auf die späteren Grammatiker wir aber noch heute
gewahren. Unter den Lehrern der Rhetorik ist Fabius Quintilianus un-
leugbar der hervorragendste. Seine Lehrschrift ist bewunderungswürdig
durch die Fülle des dargebotenen Stoffs, durch die ruhige edle Darstellung
und durch den ethischen Hintergrund. In der Jurisprudenz wirkt der
von Labeo und Capito begründete Schulgegensatz fort, er führt auch zu
476 Römiache Litteratnrgeachichte. ü. Die Zeit der Monarchie. 1. Abteilanf^.
einer äusserlichen Schulorganisation; die Anhänger Labeos hiessen nach
einem späteren Leiter der Schule Proculianer, die Anhänger Capitos da-
gegen Sabinianer oder Cassianer. Beide Schulen können ungemein scharf-
sinnige Kapazitäten aufweisen, welche zum Ausbau der Jurisprudenz unend-
lich viel beigetragen haben. Auf Seite der Proculianer ist eine Leuchte der
jüngere P. Juventius Celsus, auf Seite der Sabinianer hat Masurius Sa-
binus die Entwicklung der Rechtswissenschaft mächtig gefördert. Selbstver-
ständlich mussten die Gegensätze, welche zwischen beiden Richtungen bestan-
den, sich immer mehr ausgleichen, um schliesslich in eine höhere Einheit
aufzugehen. Unter den Bearbeitern der realen Disziplinen ist unstreitig
der bedeutendste Frontinus. Derselbe war in verschiedenen Zweigen des
praktischen Lebens und zwar in ganz hervorragenden Stellen thätig; als
ein Geschäftsmann, der mit vollem Interesse seinen Obliegenheiten nach-
kam, hatte er auch das Bedürfnis, seine verschiedenen Sparten theoretisch
zu durchdringen. So schrieb er technische Militärschriften, ein vortreff-
liches Promemoria über die Wasserleitungen, in der Feldmesskunst war
er wie allem Anschein nach praktisch, so auch theoretisch thätig. In
der Feldmesskunst stellten sich noch andere Arbeiter ein; sie gewinnt
jetzt ihre feste Stellung in der Litteratur. Theoretisch gewährt diese Dis-
ziplin keine nennenswerte Ausbeute, die mathematische Grundlage ist von
Griechen entlehnt, im besonderen von Heron aus Alexandrien. Allein der
praktische Betrieb, der auch in das Gebiet der Jurisprudenz hinübergreift,
ist von hohem Interesse ; wir dürfen daher auch diese Litteratur, die frei-
lich zerrüttet und entstellt vorliegt, nicht geringschätzig übersehen. Von
den übrigen Vertretern der realen Disziplinen verdient unsere Beachtung
noch in hohem Grade der landwirtschaftliche Schriftsteller Columerä,
der die ethische Bedeutung der Agricultur für das Staatswesen voll erkannt
und dem Fach zum erstenmal auch den Schmuck der Darstellung ver-
liehen hat. Ihm gegenüber treten Personen , wie der Rezeptensammler
Scribonius Largus und Caelius, der Verfasser eines Kochbuchs, in den
Hintergrund.
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