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Full text of "Geschichte der römischen Litteratur bis zum Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian"

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C^p.\ 


HANDBUCH 

DER 

KLASSISCHEN 


AETEKTÜMS-WISSENSCHAFT 

in  systematischer  Darstellnng* 

mit  besonderer  Rücksicht  auf  Geschichte  und  Methodik  der  einzelnen 

Disziplinen. 


In  Verbindung  mit  Gymn.-Rektor  Dr.  Autenrieth  (Nürnberg),  Prof.  Dr.  Ad. 
Bauer  (Graz),  Prof.  Dr.  Blass  (Kiel),  Prof.  Dr.  Brugmann  (Leipzig),  Prof. 
Dr.  Busolt  (Kiel),  Prof.  Dr.  v.  Christ  (München),  Prof.  Dr.  Flasch  (Erlangen), 
Prof.  Dr.  Gleditsch  (Berlin),  Prof.  Dr.  Günther  (München),  Prof.  Dr.  Heer- 
degen (Erlangen),  Oberl.  Dr.  Hinriehs  f  (Berlin),  Prof.  Dr.  Hommel  (Mün- 
chen), Prof.  Dr.  Hübner  (Berlin),  Prof.  Dr.  Jul.  Jung  (Prag),  Dr.  Knaack 
(Stettin),  Priv.-Doz.  Dr.  Krumbacher  (München),  Dr.  Larfeld  (Remscheid),  Dr. 
Lolling  (Athen),  Prof.  Dr.  Niese  (Marburg),  Geh.  Regierungsrat  Prof.  Dr.  Nissen 
(Bonn),  Priv.-Doz.  Dr.  Öhmichen  (München),  Prof.  Dr.  Pöhlmann  (Erlangen), 
Prof.  Dr.  0.  Richter  (Berlin),  Prof.  Dr.  Schanz  (Würzburg),  Geh.  Oberschulrat 
Prof.  Dr.  Schiller  (Giessen),  Gymn.-Dir.  Schmalz  (Tauberbischofsheim),  Ober- 
lehrer Dr.  F.  Stengel  (Berlin),  Professor  Dr.  Stolz  (Innsbruck),  Prof.  Dr. 
Unger  (Würzburg),  Geheimrat  Dr.  v.  Urlichs  t  (Würzburg),  Prof.  Dr.  Moritz 
Voigt  (Leipzig),  Gymn.-Dir.  Dr.  Volkmann  (Jaüer),  Dr.  Weil  (Berlin),  Prof. 
Dr.  Windelband  (Strassburg),  Prof.  Dr.  Wissowa  (Marburg) 

herausgegeben  von 

Dr.  Iwan  von  Müller, 

ord.  Prof.  der  klassischen  Philologie  in  Erlangen. 


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Achter  Band. 

Geschichte  der  römischen  Litteratur 

bis  zum  Gesetzgebungswerk  des  Kaisers  Justinian. 


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HONOHEN. 

C.  fl.  BBCK'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG  (OSKAR  BECK). 

-     1890. 


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GESCHICHTE 


DER 


ROMISCHEN  LITTERATÜR 


ii 


Von 

Martin  Schanz, 

ord.  Professor  an  der  UniTeraitit  Würzburg. 


Erster  Teil: 


Die  römische  Litteratnr  in  der  Zeit  der  Republik. 


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KÜNCHEN. 
C.  H.  BECK'SCHE  VERLAGSBÜCHHANDLÜNÖ  (OSKAR  BECK). 

1890. 


HANDBUCH 

DER 

KLASSISCHEN 


AETEETÜMS-WISSENSCHAPT 

in  systematischer  Darstellung- 

mit  besonderer  Rücksicht  auf  Geschichte  und  Methodik  der  einzelnen 

Disziplinen. 


In  Verbindung  mit  Gymn.-Rektor  Dr.  Autenrieth  (Nürnberg),  Prof.  Dr.  Ad. 
Bauer  (Graz),  Prof.  Dr.  Blass  (Kiel),  Prof.  Dr.  Brugmann  (Leipzig),  Prof. 
Dr.  Busolt  (Kiel),  Prof.  Dr.  v.  Christ  (München),  Prof.  Dr.  Flasch  (Erlangen), 
Prof.  Dr.  Gleditsch  (Berlin),  Prof.  Dr.  Günther  (München),  Prof.  Dr.  Heer- 
degen (Erlangen),  Oberl.  Dr.  Hinriehs  f  (Berlin),  Prof.  Dr.  Hommel  (Mün- 
chen), Prof.  Dr.  Hübner  (Berlin),  Prof.  Dr.  Jul.  Jung  (Prag),  Dr.  Knaaek 
(Stettin),  Priv.-Doz.  Dr.  Krumbacher  (München),  Dr.  Larfeld  (Remscheid),  Dr. 
Lolling  (Athen),  Prof.  Dr.  Niese  (Marburg),  Geh.  Regierungsrat  Prof.  Dr.  Nissen 
(Bonn),  Priv.-Doz.  Dr.  Öhmichen  (München),  Prof.  Dr.  Pöhlmann  (Erlangen), 
Prof.  Dr.  0.  Richter  (Berlin),  Prof.  Dr.  Schanz  (Würzburg),  Geh.  Oberschulrat 
Prof.  Dr.  Schiller  (Giessen),  Gymn.-Dir.  Schmalz  (Tauberbischofsheim),  Ober- 
lehrer Dr.  F.  Stengel  (Berlin),  Professor  Dr.  Stolz  (Innsbruck),  Prof.  Dr. 
Unger  (Würzburg),  Geheimrat  Dr.  v.  UrUchs  f  (Würzburg),  Prof.  Dr.  Moritz 
Voigt  (Leipzig),  Gymn.-Dir.  Dr.  Volkmann  (Jaüer),  Dr.  Weil  (Berlin),  Prof. 
Dr.  Windelband  (Strassburg),  Prof.  Dr.  Wissowa  (Marburg) 

herausgegeben  von 

Dr.  Iwan  von  Müller, 

ord.  Prof.  der  klassischen  Philologie  in  Erlangen. 


Achter  Band. 

Geschichte  der  römischen  Litteratur 

bis  zum  Gesetzgebungswerk  des  Kaisers  Justinian. 


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HONOHEN. 

C.  fl.  BBCK'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG  (OSKAR  BECK). 

'     1890. 


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GESCHICHTE 


DER 


RÖMISCHEN  LITTERATÜR 


Von 


Martin  Schanz, 

ord.  Professor  an  der  Universität  Wfirzbarg. 


Erster  Teil: 


Die  römische  Litteratur  in  der  Zeit  der  Republik. 


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y 


KÜNCHEN. 
C.  H.  BECK'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG  (OSKAR  BECK). 

1890. 


AUo  Bechte  Torbehidteii. 


//<^L 


C.  B.  Beok'ache  Bacfadruckeret  lu  Nördllngeo. 


Vorrede. 


Wie  die  Einleitung  besagt,  soll  die  Geschichte  der  römischen 
Litteratur  bis  zum  grossen  Gesetzgebungswerk  des  Kaisers  Justinian  vor- 
geführt werden.  Wir  geben,  hiemit  dei^  ersten  Teil,  der  den  Anfang 
der  Litteratur  und  ihre  EntwicklTO^  in  der  republikanischen  Zeit  um- 
fnsst  und  zwar,  da  eine  in  sich  geschlossene  Periode  zur  Darstellung 
kommt,  als  einen  für  sich  bestehenden  und  selbständigen.  Die  Fort- 
setzung des  Werks  wird  in  kurzer  Zeit  erfolgen. 

Es  wird  dem  freundlichen  Leser  nicht  unerwünscht  sein,  wenn 
ich  mich  hier  über  die  Art  und  Weise  der  Behandlung  mit  einigen 
Worten  ausspreche. 

Vor  allem  war  mein  Bestreben  darauf  gerichtet,  dem  Stoff  eine 
möglichst  übersichtliche  Form  zu  geben;  zu  dem  Zweck  habe 
ich  innerhalb  bestimmter  chronologischer  Abschnitte  den  generischen 
Gesichtspunkt  durchgeführt  und  alles  sachlich  Zusammengehörige  ver- 
einigt; weiterhin  habe  ich  durch  Inhaltsangaben,  welche  an  die 
Spitze  der  einzelnen  Paragraphen  treten,  den  Gang  der  Betrachtung 
aufs  schärfste  markiert;  endlich  wurde  durch  Einführung  des  grossen 
und  des  kleinen  Drucks  ein  Mittel  gewonnen,  gewisse  Partien  vor- 
zuschieben und  andere  dagegen  in  den  Hintergrund  zu  rücken. 
Die  Knappheit,  die  schon  durch  die  Einreihung  meiner  Arbeit 
in  ein  grösseres  Ganze  geboten  war,  bildete  den  zweiten  Gegen- 
stand meiner  Sorge.  Ich  glaubte  dieselbe  vornehmlich  zu  erreichen 
durch  Einschränkung  der  Litteraturangaben.  Alle  Abhandlungen  kriti- 
scher und  sprachlicher  Natur,  welche  unsere  Wissenschaft  in  fast  un- 


VI  Vorrede, 

absehbarer  Weise  erzeugt,  konnten,  da  sie  mit  der  Litteraturgescliichte 
wenig  oder  nichts  zu  thun  haben,  übergangen  werden.  Für  die  Kenntnis 
solcher  Schriften  haben  wir  so  vortreffliche  bibliographische  Hilfsmittel, 
dass  sich  die  Litteraturgeschichte  mit  einem  ein  für  allemal  ausge- 
sprochenen Hinweis  begnügen  darf.  Sie  darf  dies  um  so  eher  thun, 
als  auch  die  weitgehendsten  Angaben  in  dieser  Beziehung  dennoch 
nicht  die  Benützung  bibliographischer  Hilfsmittel  für  den,  der  sich 
eingehender  mit  einem  Schriftsteller  beschäftigen  will,  entbehrlich 
machen.  Auch  eine  Geschichte  der  Ausgaben  lag  nicht  in  unserm 
Plan ;  wir  führten  in  der  Re^el  nur  die  neusten  Ausgaben,  besonders 
diejenigen  an,  welche  die  kritische  Grundlage  eines  Schriftstellers  fest- 
setzen. Wer  mehr  erfahren  will,  hat  sich  an  Engelmann-Preuss' 
hibUotheca  scriptorum  classicorum  und  an  die  Vorreden  grösserer  Aus- 
gaben zu  wenden.  Da  in  den  kritischen  Editionen  auch  über  die 
handschriftlichen  Quellen  mehr  oder  weniger  ausführlich  Rechenschaft 
abgelegt  wird,  so  durften  wir  uns  hier  ebenfalls  auf  die  allerwesent- 
lichsten  Angaben  beschränken.  Schriften  dagegen,  welche  sich  auf 
litterarische  Fragen  beziehen,  mussten,  wenn  nicht  veraltet  oder  un- 
brauchbar, dem  Leser  zur  Kenntnis  gebracht  werden;  doch  geschah 
dies  manchmal  in  der  Weise,  dass  nur  auf  ein  Hauptwerk,  in  dem 
sich  die  ganze  vorausgehende  Litteratur  angegeben  findet,  aufmerksam 
gemacht  wurde.  Durch  die  Weglassung  oder  Beschränkung  der  Lit- 
teraturangaben,  welche  sich  bei  genauerem  Zusehen  als  drückender 
Ballast  der  Litteraturgeschichte  darstellen,  haben  wir  mehr  Kaum  für 
die  schriftstellerischen  Produkte  selbst  gewonnen.  Über  dieselben  den 
Leser  nach  verschiedenen  Seiten  hin  zu  instruieren,  war  unser  vor- 
nehmstes Ziel.  Vor  allem  haben  wir  über  die  Lebensumstände  des 
Autors,  soweit  es  notwendig,  Aufschlüsse  erteilt,  dann  durch  knappe 
Inhaltsangaben  eine  bestimmte  Vorstellung  von  den  Werken  zu  er- 
wecken versucht,  weiter  kurze  Charakteristiken  angeschlossen,  endlich 
auch  bei  den  wichtigem  Schriftstellern  die  Wirkung  ihrer  Produkte 
auf  die  Zeitgenossen  und  die  späteren  Epochen  mit  einigen  Strichen 
gezeichnet.  Mit  Vorliebe  flochten  wir  in  unserer  Darstellung  Stellen 
aus  den  Schriftwerken  oder  den  Fragmenten  ein;  solche  sind  ja  oft 
mehr  geeignet  als  die  längste  Auseinandersetzung,  zu  erreichen,  was 
jeder  Litterarhistoriker  erreichen  will,  dass  nämlich  der  Name  aufhört, 
blosser  Name  zu  sein   und   zu   einem  lebensvollen  Bilde  wird.     Was 


Vorrede.  VII 

die  Beweismittel  und  Belege  anlangt,  so  mussten  alle,  welche  zur  Er- 
kenntnis des  litterarisclien  Thatbestands  notwendig  sind,  zur  Vorlage 
kommen.  Dem  Leser  soll  in  unserm  Buch  kein  Stückwerk  geboten 
werden,  es  muss  ihm  die  Möglichkeit  gewahrt  bleiben,  alle  Behaup- 
tungen an  der  Hand  der  Belege  zu  kontrollieren ;  er  hat  ein  Anrecht 
auf  eine,  wenn  auch  kurz  gefasste,  doch  für  die  erste  Orientierung 
völlig  ausreichende  Litteraturgeschichte.  In  Bezug  auf  die  Mitteilung 
der  Beweise  und  Belege  haben  wir  einen  doppelten  Weg  eingeschlagen, 
die  minder  wichtigen  teilten  wir  in  einfachen  Zahlencitaten  meist 
j^leich  im  Text  mit,  die  wichtigeren  dagegen  ausgeschrieben  in  den 
klein  gedruckten  Partien. 

Dies  wäre  es,  was  ich  über  die  äussere  Einrichtung  des  Buchs 
zu  sagen  hätte.  So  sehr  ich  nun  überzeugt  bin,  dass  der  äussere 
Rahmen  für  die  Erreichung  des  gesteckten  Ziels  nicht  belanglos  ist, 
so  hängt  doch  der  Erfolg  der  Arbeit  wesentlich  von  dem  dargebotenen 
Inhalt  ab.  Darüber  muss  nun  die  Entscheidung  kompetenter  Beur- 
teiler abgewartet  werden.  Eines  darf  ich  aber  vielleicht  hervorheben, 
dass  ich  es  an  Sorgfalt  nicht  fehlen  liess.  Die  Zeugnisse  wurden 
aufs  gewissenhafteste  geprüft,  die  sekundäre  Litteratur,  soweit  sie  mir 
zugänglich  war,  durchgearbeitet,  auch  den  litterar-historischen  Werken 
die  gebührende  Beachtung  geschenkt;  doch  der  Hauptnachdruck  wurde, 
um  ein  klares,  frisches  Bild  zu  erhalten,  auf  die  fort  und  fort 
wiederholte  Lektüre  der  Schriften  und  Fragmente  der  Autoren  gelegt. 

So  möge  denn  nach  diesen  Worten  das  Buch  in  die  Welt  hinaus- 
treten und  freundliche  Aufnahme  finden!  Gerade  der  Litterarhistoriker, 
der  des  Beizes,  den  die  Einzelforschung  gewährt,  fast  ganz  entbehren 
muss,  der  sein  Hauptaugenmerk  stets  auf  die  Abwehr  des  Verfehlten 
und  Verkehrten  zu  richten  hat,  der  den  Druck  der  ungeheuer  an- 
schwellenden sekundären  Litteratur  auszuhalten  hat,  bedarf  zu  seiner 
Aufmunterung  der  gütigen  Nachsicht  und  der  freundlichen  Belehrung 
von  Seiten  der  Fachgenossen. 

Würzburg  im  Monat  Mai  1890. 

Prof.  Dr.  Martin  Schanz. 


i 


A. 

InhaltsYerzeiclmis  zum  Ersten  Teil. 


BlnleltUllg.  Seite 

1.  Ziel 1 

2.  Umfang  und  Gliederung 1 

3.  Methode 2 

4.  Entwicklung  der  römischen  Litteraturgeschichte 3 

Erste  Periode: 
Blemeiile  der  nationalen  Lllterainr. 

1.  Volk  und  Sprache. 

5.  Verhältnis  des  römischen  Volks  zur  Litteratur            9 

6.  Die  Stellung  der  lateinischen  Sprache;  ihre  Entwicklung                    .  10 

2.  Poesie. 

7.  Das  nationale  Versmass 11 

8.  Die  heiligen  Lieder 12 

9.  Die  Fescenninen            13 

10.  Die  Totenklagen  und  die  Ahnenlieder 14 

11.  Weissagungen  und  Sprüche 15 

3.  Prosaaufzeichnungen. 

12.  Die  Schrift            16 

13.  Die  Amtsbücher            17 

14.  Die  amtliche  Chronik            18 

15.  Die  Xn  Tafeb 20 

16.  Jus  Papirianum 21 

17.  Jus  Flavianum ■     .  22 

18.  Verträge  und  Gesetze 22 

19.  Die  Leichenrede  und  das  Elogium 23 

20.  Der  erste  römische  Schriftsteller 24 

21.  RückbHck 25 

Zweite  Periode: 

Die  römische  Knnsllltterainr. 

A.  Die  Litteratnr  Tom  zweiten  punischen  Krieg  bis  xain  Aasgang  des 

Bandesgenossenkriegs  (240--88). 

22.  Der  Hellenismus  in  der  römischen  Litteratur 28 

a)  Die  Poesie. 

1.  L.  Livius  Andronicus. 

23.  Die  lateinische  Odyssee 28 

24.  Das  griechische  Drama  in  Rom            28 

25.  Die  römische  Dicht«rzunft            '   .        .  29 


InhaltsTerzeiohnis  Emn  Enten  Teil.  IX 

2.  Cn.  Naevius.  Seite 

26.  Naevius*  Komödien  und  Satiren 30 

27.  Das  historische  Schauspiel 32 

28.  Das  historische  Epos 32 

29.  Naevius'  Ende 33 

3.  T.  Maccius  Plautus. 

30.  Leben  des  Plautus 33 

31.  Sichtung  des  plautinischen  Corpus  durch  Varro 34 

32.  Die  Sto£fe  in  den  plautinischen  Komödien 35 

Amphltnio  8.  86;  Aaiiutfi»  8.  85;  Aulalari»  8.  96:  Gaptivi  8.  36;  CurouUo  8.  37;  GMina 
8.  87 ;  GisteUsHa  8. 87 ;  SpicUcoa  R.  88 ;  BMCbides  8. 88 ;  MostellarU  8. 39;  Menaeohml  8. 89; 
Miles  &,  40;  Mercator  8.  41;  Fieudolns  8. 41;  Poentilns  8.  42;  Pena  8.  48:  Rndens  8.  43; 
Stictans  8.  44;  Trioommtis  8.  44;  Truoulentns  8.  45;  VidaUria  8.  46. 

33.  Die  plautinischen  Prologe 46 

34.  Charakteristik  des  Plautus 47 

35.  Fortleben  des  Plautus 50 

4.  Q.  Ennins. 

36.  Das  Leben  des  Ennius 53 

37.  Ennius'  dramatische  Dichtungen 54 

38.  Das  Ennianische  Epos  «die  Jahrbücher*            55 

39.  Ennius'  übrige  Gedichte 57 

5.  M.  Pacuvius  und  Statins  Caecilius. 

40.  Die  Schule  des  Ennius 59 

6.  P.  Terentius  und  andere  Palliatendichter. 

41.  Leben  des  P.  Terentius  Afer 61 

42.  Die  Chronologie  der  Terenzianischen  Komödien 62 

43.  Die  Stoffe  der  Terenzianischen  Komödien 63 

Andria  B,  68;  Heeyra  &  64;  Heantontimoromeiios  8. 65;  Eanuobns  8.  66;  Phormlo  8.  67; 
Addpboe  8.  68. 

44.  Charakteristik  des  Terentius 69 

45.  Fortleben  des  Terentius 70 

46.  Die  übrigen  Palliatendichter 72 

47.  Rückblick.    Charakteristik  ,der  PalliaU 73 

7.  L.  Accius. 

48.  Der  Höhepunkt  der  Tragödie 76 

49.  Accius'  Parerga 77 

50.  Accius'  Schriftreformen 78 

8.  C.  Titius  und  C.  Julius  Caesar  Strabo. 

51.  Symptome  des  Niedergangs  der  Tragödie          .......  79 

52.  Rückblick.    Charakteristik  der  röm.  Tragödie           80 

9.  Titinius,  T.  Quinctiu«  Atta,  L.  Afranius. 

53.  Das  lateinische  Originallustspiel  (fabula  togaia) 82 

54.  Das  Theaterwesen                                      85 

10.  C.  Lucilius. 

55.  Die  Buchsatura 88 

56.  Das  Leben  des  C.  Lucilius 90 

57.  Das  Corpus  der  Satiren  des  Lucilius 91 

58.  Inhalt  einzelner  Bücher  der  Satiren 91 

59.  Charakteristik  des  Lucilius         .        .        , 92 

11.  Die  übrigen  Dichter. 

60.  Dramatisches 94 

61.  Episches  (Hostius,  A.  Purins) 95 

62.  Didaktisches 96 

63.  Die  epigrammatische  Dichtung           97 


X  InhaltsverseioliniB  snm  Ersten  Teil. 

b)  Die  Prosa. 

a)  Die  Historiker. 
1.  Q.  Fabius  Pictor  and  andere  Annalisten.  ^^^ 

64.  Römische  Annalistik  in  griech.  Sprache 98 

Q.  FabiuB  Piotor  8. 96;  L.  Oinclus  Alimentns  8. 99;  P.  Coroelins  Scipio  8. 99;  A.  PoBtumiaa 
Albinm  8.  99;  C.  AciUaa  8.  100. 

2.  M.  Porcius  Gato. 

65.  Reaktion  gegen  den  fortschreitenden  Hellenismus 100 

66.  Catos  Unterweisungen  —  die  erste  lateinische  Encyklopädie  .        .        .  102 

67.  Catos  fachwissenschaftliche  Spezialschriften 103 

68.  Catos  Ur-  und  Zeitgeschichten  104 

69.  Catos  Reden  und  Briefe 105 

70.  Fortleben  Catos • 106 

3.  Die  lateinischen  Annalisten. 

71.  Die  allgemeinen  Stadtchroniken 106 

L.  OmbIob  HemiD»  8.  106;  L.  GUpnrnius  Plso  8.  107;   0  8emproiila8  TudiUnus  8.  107; 
Cn.  GelHus  a  107;  Yennonius  8.  107;  0.  Fanniu«  Stnbo  8.  107. 

4.  L.  Coelius  Antipater. 
71*.  Die  historische  Monographie 108 

5.  Sempronius  Asellio. 

72.  Die  Zeitgeschichte  ...  109 

6.  M.  Aemilius  Scaurus,  Q.  Lutatius  Catulus,  P.  Rutilius  Rufus. 

73.  Die  Autobiographien  und  die  Denkschriften 110 

ß)  Die  Redner. 

74.  Die  Beredsamkeit  bis  C.  Gracchus 111 

75.  Die  Beredsamkeit  von  C.  Gracchus  bis  M.  Antonius  und  L.  Crassus  .        114 

y)  Die  Fachgelehrten. 
1.  Die  Philologen  (L.  Aelius  Stilo  Praeconinus) 

76.  Die  Entstehung  der  römischen  Philologie 118 

77.  Die  grammatische  Streitfrage:  Analogie  oder  Anomalie 119 

2.  Die  Juristen. 

78.  Die  erste  umfassende  Bearbeitung  des  Rechts 120 

79.  Regularjurisprudenz 121 

80.  Systematisches  Recht 122 

3.  Die  landwirtschaftlichen  und  naturwissenschaftlichen 

Schriftsteller. 

81.  Das  Werk  des  Karthagers  Mago 122 

82.  Die  einheimischen  Schriftsteller 123 

83.  Rückblick  123 

B.  Tom  Ausgang  des  Bandcsgenossenkriegs  bis  «um  Ende  der  Republik 

(87—80  T.  Chr.). 

84.  Die  Latinisierung  Italiens  126 

a)  Die  Poesie. 

1.   L.  Pomponius  und  Novius. 

85.  Die  Atellana  (die  oskische  Posse) 127 

2.  Decimus  Laberius  und  Publilius  Syrus. 

86.  Der  Mimus  oder  das  Lebensbild 129 

87.  Charakteristik  des  Mimus 130 

88.  Decimus  Laberius 131 

89.  Die  Sprüche  des  Publilius  Syrus 132 

3.  Cn.  Matius,  Laevius,  Sueius. 

90.  Mimiamben 134 


Inhaltsverseichnis  sam  Ersten  TeiL  XI 

Seite 

91.  Erotopaegnien  (Liebesscherze) ,        .        134 

92.  Das  erste  römische  Idyll  135 

4.  T.  Lucretius  Carus. 

93.  Biographisches 135 

94.  Lucretius*  Gedicht  über  das  Wesen  alles  Seins  (de  verum  natura)  137 

95.  Würdigung  des  Gedichts  139 

5.  Die  jungrömische  Dichterschule. 

96.  Charakter  der  neuen  Richtung  141 

a)  Valerius  Gato  und  G.  Licinius  Macer  Galvus. 

97.  Die  Führer  der  neuen  Richtung 142 

98.  Valerius  Gates  Dichtungen 143 

99.  Die  Dirae  und  die  L^dia  ...  143 

100.  G.  Licinius  Galvus'  Dichtungen 145 

/9)  M.  Furios  Bibaculus. 

101.  Des  Furius  Spottpoesie 146 

y)  Valerius  Gatullus. 

102.  Gatulls  Leben     .        .        - 146 

103.  Die  Sammlung  der  catnUischen  Gedichte 148 

104.  Gatulls  grössere  Gedichte 149 

105.  Gatulls  kleine  Gedichte 151 

106.  Fortleben  GatuUs 152 

(f)  G.  Helvius  Ginna  und  die  übrigen  Dichter  der  Schule. 

107.  Ginnas  Smyma  und  Propempticon 153 

108.  Die  übrigen  Dichter  des  Kreises 154 

0  Menmüiu  a  154;  Ticidat  8.  154;  Q.  CorDiflciiu  S.  154;  Cornelius  Ncpoe  8.  155. 

6.  P.  Terentius  Varro. 

109.  Verbindung  der  nationalen  und  alezandrinischen  Richtung        .  .  155 

7.  Die  übrigen  Dichter. 

110.  Annalen  und  Lehrgedichte 156 

111.  Satiren 156 

b)  Die  Prosa. 

«)  Die  Historiker, 

.  1.    Q.  Glaudius  Quadrigarius,  Valerius  Antias,  Licinius  Macer, 

Q.  Aelius  Tubero  und  andere. 

112.  Die  allgemeinen  Stadtchroniken 157 

Q.   OUudftu  QuadrigariuB  8.   157.    Valerius  Antias  8.  158.     C.  Lioliiins  Hacer  8.   159. 
Q.  Aelius  Tubero  8.  159.    Soribonius  Libo.    FrocUins  8.  100. 

2.    Gornelius  Sisenna  und  andere. 
311.  Die  Zeitgeschichte 160 

3.  L.  Gornelius  Sulla. 

114.  Die  Autobiographien  162 

4.  Voltacilius  Pitholaus. 

115.  Die  Biographie  162 

5.  T.  Pomponius  Atticus. 

116.  Die  Zeittafel  (annalis)  des  Atticus 162 

6.  G.  Julius  Gaesar. 

117.  Biographisches  164 

118.  Gaesars  Memoiren  (commentarii) 165 

119.  Gharakteristik  der  Memoiren 166 

120.  Nicht  erhaltene  Schriften  Gaesars 167 

7.  Hirtiüs  und  andere  Fortsetzer  Gaesars. 

121.  Die  Supplemente  zu  Gaesars  Gommentarii 169 

122.  Die  Autorschaft  der  Supplemente  170 


Xn  Inhaltsverseichnis  zum  Ersten  Teil. 

8.  Cornelias  Nepos.  Seite 

123.  Sein  Leben 174 

124.  Die  Feldherrnbiographien            175 

125.  Die  Struktur  des  biographischen  Werks  des  Nepos 176 

126.  Die  verlorenen  Schriften 177 

127.  Charakteristik  des  Cornelius 178 

9.  C.  Sallustius  Crispus. 

128.  Sein  Leben  . 179 

129.  Die  Monographie  über  die  catilinarische  Verschwörung  (beUum  CcUüinae)  180 

130.  Der  jugurÜiinische  Krieg  (de  hello  Jugurthino) 182 

131.  Sallusts  Historiae 182 

132.  Charakteristik  des  Sallust 184 

133.  Fortleben  des  Sallust 185 

134.  Pseudosallustiana 187 

135.  Die  römische  Stadtzeitung 188 

ß)  Die  Redner. 
1.  Q.  Hortensius  Hortulus. 

136.  Der  asianische  Barockstil 189 

137.  Der  asianische  Barockstil  in  B^m 190 

2.  Die  Attiker. 

138.  Reaktion.    Die  rhodische  und  die  attische  Beredsamkeit  191 

139.  AnhAnger  der  attischen  Richtung 192 

M.  Calldina  8.  192;  G.  Lidnius  Calvus  8.  192;  M.  Junio«  Bratna  8.  198;  Q.  Ctorniflolos 
8.  193;  0.  SoriboniuA  Ourio  nnd  M.  OmUhs  RnfOs  8.  194. 

3.  M.  Tullius  Cicero. 

140.  Biographisches 194 

a)  Ciceros  Reden. 

141.  Die  erste  Periode  der  ciceronischen  Beredsamkeit  (81 — 66)  .        196 

p.  Qolnotlo  8.  196;  p.  Boaclo  Am.  8.  197;  p.  Boedo  oomoedo  8.  198;  p.  Talllo  8.  199. 
Die  Im  Procen  g.  Yerres  gehaltenen  7  Beden  8. 200;  p.  Fonteio  8. 202;  p.  Ohedna  8.  202. 

142.  Die  zweite  Periode  der  ciceronischen  Beredsamkeit  (66 — 59)  .  .        203 

Do  imperio  Cn.  Pompei  8.  203;  p.  Glaentio  8.  204;  Aber  das  Ackergeeetc  8.  205;  p.  Ba- 
blrio  perduelUonls  reo  8.  206;   Catilln.  Beden  8.  207;  p.  Horena  8.  209;  p.  Solla  8.  210; 
p.  Aichia  a  211;  p.  Flaooo  8.  211. 

143.  Dritte  Periode  der  ciceronischen  Beredsamkeit  (57 — 52)  .        .        .        .        212 

Die  Beden :  poet  reditnm  Im  Senat  8. 212,  Tor  dem  Volk  8. 218,  de  domo  8.  218,  de  barn- 
■ptonm  zeaponso  8. 218,  p.  Seetlo  8.  214,  in  YaUnlum  8.  215,  p.  Caelio  a  215,  de  proTincüe 
coneolaribna  8.  216,  p.  Balbo  8.  217,  in  Pfaonem  8. 217,  p.  Planclo  8. 218,  p.  Scauro  8. 218. 
p.  C.  Babirio  Poetmno  8.  219«  p.  Milone  8.  220. 

144.  Die  vierte  Periode  der  ciceronischen  Beredsamkeit  (46 — 43)  .        .        .        221 

p.  Marcello  8.  221;  p.  Ligarlo  a  222;  p.  Delotaro  8.  228;  die  14  pbllfpp.  Beden  8.  223. 

145.  Verlorene  Reden  226 

146.  Kommentare  zu  den  ciceronischen  Reden 228 

147.  Charakteristik  der  ciceronischen  Beredsamkeit 229 

/9)  Ciceros  rhetorische  Schriften. 

148.  Rhetorica  231 

149.  De  oratore 232 

150.  Brutus  de  claris  oratoribus 233 

151.  Orator  ad  M.  Brutum 234 

152.  De  optimo  genere  oratorum 235 

153.  De  partitione  oratoria  (PartUiones  oratariae)  236 

154.  Ad  C.  Trebatium  Topica 236 

y)  Ciceros  Briefe. 

155.  Die  erhaltenen  Briefsammlungen 238 

156.  Entstehung  der  Briefsammlungen 240 

157.  Charakteristik 241 

Ocflchichte  der  Oberliefening  der  Briefe  8.  242. 

6)  Ciceros  philosophische  Schriften. 

158.  De  republica  1.  VI 243 

159.  De  legibus  1.  UI 245 

160.  Paradoxa  Stoicorum  ad  M.  Brutum  246 

161.  De  finibus  bonorum  et  malorum  1.  V 247 


InhaltsverseicliiiiB  snai  Eroten  Teil.  XIII 

Seite 

162.  Academica 248 

163.  Tnscnlanarum  disputationum  1.  V 250 

164.  De  deomm  natura  I.  III              251 

165.  Cato  maior  de  senectute 253 

166.  De  divinatione             255 

167.  De  fato 256 

168.  Timaeus 257 

169.  LaeliuB  de  amicitia 258 

170.  De  officiis  1.  III 259 

171.  Verlorene  phüosophische  Schriften 260 

ConaolaUo  8.  260;  Hortendna  S.  261;  de  glorto  8.  262 ;  de  TirtaUbiu  8.  262;  de  auguriUi 
8.  262;  de  iure  dvlU  8.  262;  die  Übenetzungen  des  Xenophonttachen  Oeoonomicns  und 
des  plAt.  ProtagorM  8.  26.^. 

172.  Charakteristik  der  philosophischen  Schriftstellerei  Giceros         ....  263 

e)  Die  historischen  und  geographischen  Schriften  Giceros. 

173.  Die  Memoiren  Giceros 265 

174.  Geographisches           266 

b)  Giceros  Gedichte. 

175.  Giceros  politische  Gedichte 266 

176.  Giceros  übrige  Gedichte  und  Obersetzungen 267 

177.  Rückblick  auf  die  ciceronische  Schriftstellerei 268 

178.  Fortleben  Giceros 269 

M.  TolUns  Uro;  TironiMbe  Noten  8.  272. 

4.  Quintus  Tullius  Cicero. 

179.  Das  Cammentariolum  petUionis 273 

180.  Die  verlorenen  Schriften  des  Q.  Cicero 274 

y)  Die  Fachgelehrten. 

1.   Die  Polyhistoren. 

a)  P.  Nigidins  Figulus. 

181.  Abstruse  Gelehrsamkeit 274 

ß)  M.  Terentius  Yarro. 

182.  Das  Leben  Yairos 276 

183.  Der  Katalog  der  varronischen  Schriften 276 

184.  Varros  Saturae  Menippeae  (1.  GL.) 277 

185.  Philosophisch-historische  Abhandlungen  (Logistoricon  /.  LXXVI)  279 

186.  Vereinigung  von  Wort  und  Bild  (Imagines) 280 

187.  Römische  Altertumskunde  (antiquitatum  rerum  hum,  et  divin.  L  XLI)   .  281 

188.  Die  erste  Encyclopftdie  der  artes  liberales  (DiscipUnarum  L  IX)     .  283 

189.  Varros  juristisches  Werk  (de  iure  civüi  l  XV) 283 

190.  Miscellanea  (Epiatclieae  quaeetiones) 284 

191.  Varros  Geographie  (de  ora  maritima) 284 

192.  Die  erhaltenen  Bücher  Varros  de  lingua  latina 285 

193.  Die  erhaltene  Schrift  Varros  über  die  LandwirUichaft  (rerum  rusticarum  L  III)  287 

2.  Die  Philologen. 

194.  Trennung  des  grammatischen  und  rhetorischen  Unterrichts       ....  288 

195.  Lehrer  der  Grammatik  und  Rhetorik 289 

AnreUne  Opiliiu  8.  289;  Antonius  Gnlphoa  289;  M.  PompUlus  Audrouicua  8.  289;  L.  Or- 
biUas  PupiUus  8.  289;  li.  Ateim  PnetexUtns  8.  290;  SUberlus  Eros  8.  290;  Oartius  NicU 
8.  290;  Epldins  8.  290;  Sextos  Clodlus  8.  291. 

196.  Andere  Philologen 291 

8«ntrm  8.  291 ;  Q.  Cosoonius  8.  291 ;  Ser.  Olodios  8.  892. 

197.  Auetor  ad  Herennium  (das  voReüglichste  Lehrbuch  der  römischen  Rhetorik)    .  292 

3.  Die  Juristen. 

198.  Die  Schule  des  Servius  Sulpicius  Rufus 296 

199.  RechtsdenkmAler 297 

4.  Die  Schriftsteller  des  geistlichen  Rechts. 

200.  Die  disciplina  auguralis 298 

201.  Die  disciplina  Etrusca 299 

Ttoqoltius  PriscoB  8.  399;  A.  Osedna  8.  SOO. 


XIV  ZeittofeL 

5.  Die  Schriftsteller  der  realen  Disziplinen.  ScUg 

202.  Landwirtschaft 301 

203.  Hauswirtschaft 301 

204.  Naturkunde 302 

SUttufl  Sebonii  8.  302;  L.  Maaliiifl  8.  303 ;  L.  TaruUuii  FlrmanTis  8.  808. 

205.  Rückblick 303 


B. 

Zeittafel. 


508  erster  Handelsvertrag  der  Römer  und  Karthager  (nach  Polybius). 

498  Bundesvertrag  des  Sp.  Cassius  mit  den  Latinem. 

456  Lex  Icilia  de  Äventino  puhlicando, 

451—450  Gesetzgebung  der  XII  Tafehi. 

444  Bundesvertrag  mit  Ardea. 

428  Weihung  des  linnenen  Panzers  des  Yejenterkönigs  Tolumnius. 

887/6  Brand  des  Kapitel. 

864  etrurische  Schauspieler  treten  an  den  ludi  Bomani  auf. 

848  erster  Handelsvertrag  der  Römer  und  Karthager  (nach  Diodor). 
c.  804  Veröffentlichung  des  ganzen  Kalenders,  einschliesslich  der  Gerichtstage,  der  Prozeas- 
formulare  durch  Flavius. 

296  Appius  Claudius  Caecus  Ifisst  im  Tempel  der  Bellona  seine  Ahnenbilder  mit  In- 
schriften aufstellen. 

280  Rede  des  Appius  Claudius  Caecus  gegen  den  Frieden  mit  Pyrrhus.    Der  erste  Rechts- 
lehrer Ti.  Coruncanius  Cons. 

272  Andronicus  kommt  nach  Rom. 

264 — 241  der  erste  punische  Krieg,  den  der  Dichter  Naevius  mitmacht  und  später  besingt, 
c.  251  Plautus'  Geburt. 

249  Seit  diesem  Jahr  werden  die  Prodigien  in  der  amtlichen  Chronik  ausführlicher  ver- 
zeichnet. 

240  An  den  ludi  Bomani  fuhrt  Livins  Andronicus  eine  griechische  Tragödie  und  Komödie 
in  Übersetzung  auf. 

239—169  Q.  Ennius. 

235  Naevius  beginnt  seine  dramatische  Thätigkeit. 

234—149  M.  Porcius  Cato. 

221  Die  Leichenrede  des  Q.  Caecilius  Metellus  auf  seinen  Vater. 

220  Geburt  des  M.  Pacuviua,  Zeitgenossen   des  Statins  Caecilius.    Wahrscheinliche  Ein- 
führung der  ludi  plehei, 

216  Der  Historiker  Q.  Fabius  Pictor  wird  nach  Delphi  geschickt. 

218  Die  einlaufenden  Weissagungen  werden  nach  Senatsbeschluss  gesammelt.    Der  vates 
Marcius, 

212  Errichtung  der  ludi  ApoUinares, 

210  Der  Historiker  L.  Cincius  Alimentus  Pr&tor. 

207  Bittgesang  des  Livius  Andronicus.  Dankeslied.   Gründung  der  römischen  Dichterzunft. 

204  Ennius  kommt  durch  M.  Porcius  Cato  nach  Rom. 

198  Sex.  Aelius  Paetus  Catus,  der  Verfasser  der  Tripertita  Cons. 

189  Ennius  begleitet  den  M.  Fulvius  Nobilior  auf  semem  Zug  nach  Ätolien. 

184  Tod  des  Piautus.    M.  Porcius  Cato  Censor. 

180—103  C.  Lucilius. 

174  Die  Errichtung  einer  steinernen  Bühne. 

173  Die  Epikureer  Alkaeos  und  Philiskos  werden  aus  Rom  ausgewiesen. 

170  Geburt  des  Dichters  L.  Accius. 

168  C.  Sulpicius  Gallus  sagt  die  Mondfinsternis  vom  21.  Juni  voraus. 

167  Rede  des  L.  Aemilius  Paulus  Macedonicus  über  seine  Kriegsl^aten. 

167 — 150  die  achftischen  Geiseln  in  Rom,  darunter  Polybius. 

166  Terentius'  erstes  Stück,  die  Andria  aufgeführt. 


Zeittafel.  XV 

c.  165  Der  pergamenische  Grammatiker  Krates  kommt  nach  Rom.  Entstehung  der  römi- 
schen Philologie. 

164  Rede  des  Ti.  Sempronius  Gracchus  in  griechischer  Sprache  in  Rhodos  gehalten. 

161  Ausweisung  der  griechischen  Rhetoren  und  Philosophen.  Rede  des  Dichters  C.  Titius 
für  das  Luxusgesetz. 

[59  Tod  des  Terentius. 

[55  Die  athenischen  Gesandten  Critolaus,  CameadeSi  Diogenes  in  Rom. 

[54 — 121  C.  Gracchus,  der  grösste  Redner  Roms  (G.  Papirius  Carho). 

[52  Tod  des  Urhebers  der  regula  Cataniana,  M.  Porcius  Cato,  Sohnes  des  Gato  Gensorius. 

151  Der  Historiker  A.  Postnmius  Albinus  Gons. 

[50  Trebius  Niger  begleitet  den  Prokonsul  L.  Lucullus  nach  Baetica. 

[49  Die  erste  quaestio  perpetna  auf  Grund  der  lex  Calpumia  des  Historikers  L.  Gal- 
pumins  Piso.  Der  Jurist  M'.  Manilius  Gons.,  sein  Zeitgenosse  der  Jurist  M.  Junius 
Brutus. 

145  Mummius  lässt  ausser  der  Bfihne  fttr  die  Schauspiele  einen  Zuschauerraum  mit 
Sitzplätzen  errichten  (Holzbau). 

[44  Der  Redner  Ser.  Sulpicius  Galba  Gons. 

[43 — 87  Der  Redner  M.  Antonius. 

142  G.  Acilius  schreibt  eine  römische  Geschichte  in  griechischer  Sprache. 

[40 — 91  Der  Redner  L.  Licinius  Grassus. 

[38 — 78  L.  Gomelius  Sulla  (Eriminalgesetzgebung,  Memoiren).  Sein  litterarischer  Ge- 
hilfe Epicadus.    Auetor  ad  Herennium. 

[37  Der  Redner  M.  Aemilius  Lepidus  Porcina  Gons. 

[34  Der  Historiker  Semoronius  Asellio  Milit&rtribun. 

[33  Rede  des  jüngeren  Scipio  Africanus  gegen  die  lex  iudiciaria  des  Ti.  Gracchus.  Der 
Jurist  P.  Mucius  Scaevola  Gons. 

Kreis  dM  Sclplo  nnd  LaellDs.    Q.  Valerlufi  SnraniiP,  Poreius  Liclnim.  L.  Afranin«. 

[31  berQhmte  Rede  des  Q.  Gaecihus  Metellus  Macedonicus  über  die  Volksvermehrnng. 
[29  Der  Historiker  G.  Sempronius  Tuditanus  Gons.    Um  diese  Zeit  besingt  Hostius  den 

istrischen  Krieg. 
[22  Der  Historiker  G.  Fannius  Strabo  Gons. 

15  Die  Monographie  des  L.  Goelius  Antipater  Über  den  zweiten  punischen  Krieg. 
[21  Der  Redner  G.  Scribonius  Gurio  Prfttor. 
16 — 27  M.  Terentius  Yarro.    Zeitgenosse  der  Dichter  Laevius,  jüngerer  Zeitgenosse  der 

Gelehrte  Santra. 
15  Gensorische  Massregel  gegen  die  ars  ludicra.  Der  MemoirenschrifUrteller  M.  Aemilius 

Scaurus  Gons. 
14 — 50  Q.  Hortensius  Hortalus. 

[09 — 32  T.  Pomponius  Atticus.    Zeitgenosse  Gomelius  Nepos. 
[06 — 43  M.  Tullius  Gicero.    Gleichzeitig  die  Grammatiker  Gurtius  Nicia,  Ser.  Clodius,  der 

Astrolog  L.  Tarutius  Firmanus. 
[05  die  Gladiatorenspiele  werden  zur  staatlichen  Feier  erhoben.    Der  Memoirenschrift- 
steller P.  Rutilius  Rufns  Gons. 
[05 — 43  der  Mimendichter  D.  Laberius. 

[05 — 43  der  Jurist  Ser.  Sulpicius  Rufus.    Seine  Schüler  A.  Gfilius  und  P.  Alfenus  Varus. 
103  Tod  des  Palliatendichters  Turpilius. 
102—43  Q.  Tullius  Gicero. 

[00  L.  Aelius  Stilo  begleitet  den  Q.  Metellus  Nnmidicus  ins  Exil. 

100—44  G.  Julius  Gaesar.    Sein  Lehrer  M.  Antonius  Gnipho.    In  Beziehungen  zu    ihm 
standen  der  Jurist  G.  Trebatius  Testa  der  Schriftsteller  über  Hauswirtschaft   und  G 
Matius. 
99  die  künstlerische  Dekoration  im  Theater  durch  Glaudius  Pulcher  eingeführt. 
97—53  T.  Lucretius  Garus. 
95  der  Jurist  Q.  Mucius  Scaevola  Gons. 

92  Massregelung  der  lateinischen  Rhetoren  durch  L.  Licinius  Grassus. 
c.  91  Einführung  der  Masken. 

c.  89  Blüte  des  Atellanendichters  L.  Pomponius  (Novius). 

c.  88  die  erste  lateinische  Rhetorschule  des  L.  Plotius  Gallus  (Sevius  Nicanor  Gründer 
der  ersten  lat.  grammatische  Schule). 
88  Gassins  Dionysius  widmet  seine  griechische  Obersetzung  des  Garthagers  Mago  dem 

Prfttor  Sextiuus. 
87  Tod  des  Tragödiendichters  und  Redners  G.  Julius  Gaesar  Strabo. 
c.  86 — 34  G.  Sallustius  Grispus. 
c.  84—54  G,  Yalerius  GatulXus. 
83—30  Triumvir  M.  Antonius  (die  Rhetoren  Epidius,  Sextus  Glodius). 


XVI  Zeittafel.  -  -  Beriohtigimgen. 

83  Brand  des  Gapitol.    Untergang  der  sibyllinischen  Bücher. 

82  Geburt  des  P.  Terentios  Yarro  Atacinus. 

82 — 47  der  Redner  und  Dichter  C.  Licinius  Calvus.  Zeitgenosse  des  Grammatikers  an 

Dichters  Valerius  Cato  und  des  Dichters  M.  Furius  Bibaculus. 
81  L.  Voltacüius  Pitholaus  eröffiiet  in  Rom  eine  lateinische  Rhetorschule. 
78  der  Historiker  L.  Cornelius  Sisenna  Pr&tor. 
77  Tod  des  Toeatendiohters  T.  Quinctius  Atta. 
74  Sueius  (IdyUendichter)  Ädil. 
73  der  Historiker  C.  Licinius  Macer  Volkstribun. 
72  der  griechische  Dichter  Parthenius  kommt  nach  Rom. 
67  Tod  des  Historikers  L.  Cornelius  Sisenna,  des  Zeitgenossen  der  Historiker  Q.  Clai 

dius  Quadrigarius  und  Valerius  Antias. 
63  der  Lehrer  L.  Orbilius  Pupillus  konmit  nach  Rom. 
59  der  landwirtschaftliche  Schriftsteller  Cn.  Tremellius   Scrofa  Vigintivir  mit  Varr< 

Organisation  der  römischen  Stadtaseitung  durch  Caesar.    Au&eichnung  und  Publ 

kation  der  Senatsverhandlungen. 
-     57 — 56  der  Prfttor  C.  Menmiius,  Qatijll,  C.  Helvius  Cinna  in  Bith3mien. 
55  Pompeius  errichtet  ein  steinernes  Tlieater. 
54  der  Auguralschrifteteller  Appius  Claudius  Pulcher,  Gönner  des  Philologen  L.  Ateiv 

Praeteztatus  Cons.    M.  Turnus  Tiro  von  Cicero  freigelassen. 
52  der  Redner  M.  Caelius  Rufus  Volkstribun. 

48  der  Jurist  und  Historiker  Q.  Aelius  Tubero  kämpft  in  der  Schlacht  von  Pharsalu) 
47  Tod  des  Redners  M.  Calidius. 
46  A.  Caecinas  Querelae. 
45  Wettstreit  der  beiden  Mimendichter  D.  Laberius  und  Publilius  Syrus.    Tod  des  N 

gidius  Figulus. 
44  Rede  des  M.  Brutus  auf  dem  Eapitol.    (Sein  Lehrer  Staberius  Eros.) 
43  Tod  des  A.  Hirtius,  Fortseizeers  Caesars. 
41  Tod  des  Dichters  Q.  Comificius. 


Berichtisrungen. 


p.    79  Anm.  Col.  2  Z.  3  von  unten  lies  , Antonius"  für  «Antouins*. 

p.  104  Z.  14  von  unten  lies  ,Tode  (149)*  für  „Tode*. 

p.  108  Anm.  besteht  Inkonsequenz  bezüglich  der  Schreibung  des  Kompendiums  F. 

p.  108  ist  durch  ein  Versehen  des  Setzers  §  71  nochmals  gesetzt  worden;  ich  bezeichnet 

daher  diesen  zweiten  §  71  im  Inhaltsverzeichnis  mit  §  71*. 
p.  109  Anm.  lies  „Untersuchung.*  für  „Untersuchung*. 

p.  111  Z.  10  von  oben  lies  „P.  Rutilius  Rufus  (Cons.  105)*  statt  „P.  Rutilius  Rufus*. 
p.  115  Text  Z.  11  von  unten  lies  „p.  107*  statt  „p.  117*. 
p.  118  Text  Z.  5  von  unten  sind  d^e  Worte  „nach  Smyma*  zu  streichen.    Es  werden  vei 

schiedene  Orte  des  Exils  angegeben,  aber  nicht  Smyma. 
p.  192  Abs.  2  Z.  5  von  oben  lies  㤠 100*  statt  㤠 101*. 
p.  269  „§178  Fortleben  Ciceros*.    Hier  hatten  noch  die  Verse  des  Cornelius  Severus  au 

den  Tod  Ciceros  {rhetar  Seneca  p.  37  Bu.)  erwähnt  werden  sollen, 
p.  289  ist  bei  Sevius  Nicanor  nach  dem  Wort  „erhalten*  hinzuzufügen  „vgl.  §  111*. 
p.  290  Abs.  7  Anm.  Z.  5  von  oben  ist  statt  „Ober  Lenaens  war  §  133  die  Rede*  zu  lese 

„Über  Lenaeus  war  §  111  und  §  133  die  Rede*. 

Da  der  Druck  bereits  im  vorigen  Jahr  begonnen  wurde,  so  fehlen  manche  der  neuere 
Litteraturerscheinungen. 


Einleitung. 

1.  Ziel.  Die  römische  Litteraturgeschichte  hat  die  Aufgabe,  das 
Geistesleben  des  römischen  Volkes,  soweit  es  durch  Sprache  und  Schrift 
zur  Erscheinung  kommt,  darzustellen.  Ihr  erstes  Geschäft  ist  daher,  das 
gesamte  Schrifttum,  das  die  Römer  hervorgebracht  haben,  zu  verzeichnen. 
Allein  bei  diesem  äusserlichen  Registrieren  darf  sie  nicht  stehen  bleiben, 
sie  muss  auch  darnach  trachten,  das  aufgespeicherte  Material  nach  einer 
Idee  zu  verarbeiten.  Diese  Idee  kann  nur  die  Idee  der  Kunst  sein;  es 
muss  untersucht  werden,  wie  sich  Stoff  und  Form  durchdringen,  es  muss, 
mit  anderen  Worten,  die  Komposition  eines  Schriftwerks  Prüfung  und 
Würdigung  erfahren.  Es  gibt  Schriften,  für  welche  die  äussere  Form 
nebensächlich  ist,  da  alles  Schwergewicht  auf  den  Inhalt  fällt.  Hieher 
gehört  zum  grossen  Teil  die  philosophische  und  die  sich  aus  ihr  ab- 
zweigende fachwissenschaftliche  Litteratur.  Solche  Werke  treten  in  der 
Litteraturgeschichte  zurück,  ihre  volle  Geltung  erhalten  sie  in  der  Ge- 
schichte der  Wissenschaften.  Allein  eine  scharfe  Grenze  kann  nicht 
gezogen  werden,  denn  es  können  auch  Schriften  dieser  Art  Meisterstücke 
der  Komposition  sein,  wie  dies  z.  B.  Plato  im  Gegensatz  zu  Aristoteles  er- 
weist. Bei  anderen  Zweigen  des  litterarischen  Schaffens  dagegen  ist,  da 
sie  die  Phantasie  der  Leser  oder  Hörer  in  Anspruch  nehmen,  die  künst- 
lerische Form  wesentlich,  so  bei  den  verschiedenen  Grattungen  der  Poesie, 
dann  bei  der  historischen  und  der  rhetorischen  Prosa.  Diesen  Zweigen 
wendet  daher  die  Litteraturgeschichte  mit  Recht  die  grösste  Aufmerk- 
samkeit zu. 

Da  wir  der  Litteratorgeschichte  die  RegiBtriemng  des  gesamten  Schrifttums  zuweisen, 
so  gehören  zu  ihr  theoretisch  betrachtet  auch  die  Inschriften;  denn  das  Schreibmaterial 
kann  keinen  wesentlichen  Unterschied  begründen;  auch  sind  thatsächlich  die  verschieden- 
artigsten litterarischen  Formen  auf  Inschriften  zu  Tage  getreten  wie  Gedichte,  Reden  u.  A. 
Allein  da  dieselben  überwiegend  rein  praktische,  keine  künstlerische  Zwecke  verfolgen, 
80  hat  die  Litteraturgeschichte  nur  selten  Gelegenheit,  sie  heranzuziehen,  zumal  eine  eigene 
Disziplin,  die  Epigraphik  für  sie  besteht.  —  Ribbbck,  Aufgaben  und  Ziele  einer  antiken 
Litteraturgeschichte  Leipz.  1887. 

2.  umfang  und  Gliedenmg.  Unsere  Aufgabe  ist  die  Darstellung 
der  Litteratur  des  römischen  Volks.  Da  dieses  im  Jahre  476  vom  Schau- 
platz der  Geschichte  abtrat,  so  könnten  wir  hier  die  Grenze  unserer  Auf- 
gabe setzen.  Allein  der  Verlust  der  politischen  Selbständigkeit  eines 
Volkes  bedingt  nicht  notwendiger  Weise   auch  den  Untergang  seiner  Lit- 

Bandlnich  der  klaM.  Altcrtarngwiflseiucluift.  VIIL  1 


2  BOmiflche  Litteratnrgesohichte. 

teratur.  Wir  können  daher  über  dieses  Jahr  hinausgehen  und  müssen  es 
thun,  wenn  sich  uns  in  der  nachfolgenden  Zeit  ein  Ereignis  darbietet,  das 
sich  besser  zur  Grenzmarke  eignet.  Wir  meinen,  ein  solches  Ereignis  ist 
das  grosse  Gesetzgebungswerk  des  Kaisers  Justinian  (527 — 565).  In  dem- 
selben ist  das  Grdsste,  was  der  römische  Geist  geschaffen,  zusammen- 
gefasst  worden;  keine  Schöpfung  der  römischen  Litteratur  hat  auf  alle 
modernen  Kulturvölker  so  tief  eingewirkt  als  diese.  Wir  gedenken  daher, 
unsere  Litteraturgeschichte  von  den  Anfängen  bis  zu  dieser  Epoche  aus- 
zudehnen. Der  grosse  Zeitraum,  den  wir  hiemit  abgesteckt  haben,  fordert 
eine  Gliederung.  Wir  gewinnen  dieselbe,  wenn  wir  die  Litteratur  der 
Bepublik  trennen  von  der  Litteratur  der  Kaiserzeit.  Durch  die  Änderung 
der  Regierungsform  ist  die  Stellung  der  Litteratur  in  Rom  eine  wesentlich 
andere  geworden;  denn  der  Schriftsteller  richtet  jetzt  nicht  mehr  seine 
Blicke  auf  die  Nation,  sondern  auf  den  Herrscher.  Innerhalb  des  ersten 
Teils  werden  wir  wiederum  folgende  Abteilungen  machen.  Wir  behandeln 
zuerst  die  Elemente  der  nationalen  Litteratur.  Darauf  folgt  die  mit  dem 
zweiten  punischen  Krieg  beginnende,  unter  hellenischem  Einfluss  stehende 
Kunstlitteratur.  In  dieser  zweiten  Abteilung  macht  einen  starken  Ein- 
schnitt das  Ende  des  Bundesgenossenkriegs,  durch  welchen  die  Latini- 
sierung Italiens  angebahnt  wurde.  Auf  diese  Weise  stellt  sich  folgende 
Gliederung  heraus: 

I.  Elemente  der  nationalen  Litteratur. 

n.  Die  unter  dem  Einfluss  des  Hellenismus  stehende  Kunstlitteratur. 

A)  Vom  zweiten  punischen  Krieg  bis  zum  Ende  des  Bundesgenosaen- 
kriegs. 

B)  Vom  Ende   des  Bundesgenossenkriegs   bis   zum  Untergang    der 
Republik. 

Über  die  Gliederung  des  zweiten  Teils  werden  wir  in  der  Einleitung 
zu  demselben  handeln. 

3.  Methode.  Nach  zwei  Methoden  kann  die  Litteraturgeschichte 
behandelt  werden;  entweder  man  legt  die  einzelnen  Fächer  der  Litteratur 
zu  Grunde  und  verzeichnet  chronologisch  Alles,  was  in  denselben  geleistet 
worden  (eidographische  Methode),  oder  man  geht  von  einzelnen  Schrift- 
stellern aus  und  führt  sie  mit  ihren  Schriften  der  Zeitfolge  nach  vor 
(synchronistische  Methode).  Beide  Methoden  haben  ihre  Vorzüge  und  ihre 
Nachteile.  Bei  dem  eidographischen  Verfahren  erhalten  wir  eine  genaue 
Einsicht  in  die  Entwicklung  der  einzelnen  Grattungen  der  Litteratur,  aber 
wir  erfahren  nichts  von  den  Zeitströmungen,  unter  denen  der  Schriftsteller 
arbeitete,  auch  tritt  uns  das  Bild  der  schriftstellerischen  Individualitäten 
nur  unvollkommen  entgegen,  besonders  wenn  sich  dieselben  in  mehreren 
Litteraturzweigen  versucht  haben.  Die  zweite  Methode  zeigt  uns  das 
Werden  der  Gesamtlitteratur,  das  Werden  der  schriftstellerischen  Persön- 
lichkeiten, nicht  aber  das  Werden  der  Gattungen.  Es  ist  sonach  klar, 
dass  beide  Methoden  miteinander  verbunden  werden  müssen.  Diese  Ver- 
bindung darf  aber  nicht  in  der  Weise  bewerkstelligt  werden,  dass  man 
zwei  Teile  unterscheidet  und  in  dem  einen  Teil  diese,  in  dem  andern  Teil 
jene  Betrachtungsweise  zu  Grunde  legt.    Wir  werden  beide  Methoden  mit- 


Eiiileitung«  3 

einander  zu  verschmelzen  suchen.  Zu  dem  Zweck  setzen  wir  nicht  allzu- 
grosse  Zeitabschnitte  fest;  innerhalb  derselben  scheiden  wir  aber  die  Schrift- 
steller, soweit  dies  nur  angeht,  nach  Gattungen;  jedoch  werden  wir  die 
Schriftstellerei,  falls  sie  sich  auf  mehrere  Zweige  verteilt,  nicht  zerreissen. 
Dafür  hoffen  wir  noch  durch  Übersichten  und  Rückblicke  dem  systema- 
tischen Moment  vollends  gerecht  zu  werden.  Was  die  Behandlung  der 
einzelnen  Schriftsteller  anlangt,  so  haben  wir  eine  vierfache  Aufgabe  zu 
lösen.  Die  erste  ist  die  Feststellung  der  Zeit-  und  Lebensumstände  des 
Autors.  Hiebei  handelt  es  sich  aber  nicht  um  eine  vollständige  Biographie, 
sondern  um  Hervorhebung  der  Momente,  welche  zum  Verständnis  der 
Wirksamkeit  des  Schriftstellers  notwendig  sind.  Die  zweite  Aufgabe  ist, 
die  litterarischen  Schöpfungen  des  Autors  zu  verzeichnen.  Nicht  selten 
ist  derselbe  unbekannt  und  muss  erst  durch  Kombination  ermittelt  werden; 
oder  es  laufen  unechte  Werke  unter  seinem  Namen  um,  es  muss  daher 
Echtes  und  Unechtes  geschieden  werden.  Sind  diese  beiden  Aufgaben 
gelöst,  so  ist  damit  die  Grundlage  zur  Beurteilung  des  litterarischen  Er- 
zeugnisses gegeben.  Wir  haben  dann  zu  untersuchen,  in  welchem  Zustand 
der  Verfasser  das  Werk  hinterlassen  hat,  wie  weit  es  Original  oder  Kopie 
ist,  welche  Stellung  es  in  der  Litteratur  einnimmt.  Endlich  haben  wir 
noch  das  Schicksal  des  Werkes  ins  Auge  zu  fassen,  seine  Überlieferung 
und  seine  Wirkung  auf  spätere  Zeiten.  Es  ist  klar,  dass  der  Schwerpunkt 
in  den  drei  t^rsten  Aufgaben  liegt.  Der  Litterarhistoriker  hat,  wenn  er 
ein  richtiges  BUd  der  Litteratur  gewinnen  will,  sowohl  die  verlorenen  als 
die  erhaltenen  Schriften  zu  berücksichtigen;  selbstverständlich  wird  er 
länger  bei  den  erhaltenen  verweilen. 

4.  Entwicklung  der  römischen  Litieratnrgescliichte.  Bei  einer 
naturgemässen  Entwicklung  der  Litteratur  tritt  die  wissenschaftliche  Be- 
handlung derselben  erst  verhältnismässig  spät  hervor.  >)  Da  aber  in  der 
römischen  Litteratur  durch  den  Zusammenstoss  derselben  mit  der  hoch« 
entwickelten  griechischen  der  organische  Verlauf  unterbrochen  ist,  so 
finden  wir  sehr  früh  litterarhistorische  Studien.  Die  griechisch-perga- 
menische  Philologie  gehörte  ja  zu  den  ersten  Fächern,  welche  nach  Rom 
verpflanzt  wurden.  Die  erste  litterarhistorische  Thätigkeit,  auf  die  wir 
bei  den  Römern  stossen,  besteht  in  der  Anlegung  von  Verzeichnissen  der 
litterarischen  Schöpfungen  {indices);  solche  waren  besonders  dann  not- 
wendig, wenn  es  sich  um  Scheidung  echten  und  unechten  Gutes  handelte. 
Plautus  bot  hie^u  reichliche  Gelegenheit.  Gleichzeitig  finden  wir  auch  das 
litterarhistorische  Gtedicht,  für  das  die  Römer  eine  grosse  Vorliebe  hatten. 
Dasselbe  fand  Pflege  durch  Accius,  Porcius  Licinus,  Volcacius  Sedigitus 
und  Andere.  Eine  grosse  Ausdehnung  gewann  die  litterarhistorische 
Forschung  bei  Varro.  In  einer  Reihe  von  Schriften  handelte  er  über  die 
verschiedenartigsten  Stoffe,  über  Dichter,  im  besonderen  über  Plautus, 
über   die  Stileigentümlichkeit  der  Autoren,  über  das  Theaterwesen,  über 


')  Bier  handelt  es  sich  nur  um  einen 
gaoE  allgemein  gehaltenen  Üherhh'ck;  denn 
der  nnten  folgenden  Daratellung  durften  wir 
nicht  vorgreifen.     Auch  Schriften,    -welche 


zwar  litterarhistoriaches  Material  enthalten, 
aher  andere  Zwecke  verfolgen  (Velleius, 
Quintilian  u.  A.)  ntflssen  übergangen  werden. 


4  BOmisohe  Litteratnrgesohichte. 

Bibliotheken  u.  a.  Auch  schuf  er  ein  epochemachendes  Werk,  Portraits 
berühmter  Persönlichkeiten  mit  Epigrammen  und  einem  erläuternden  Text. 
In  demselben  waren  natürlich  auch  die  hervorragenden  Schriftsteller  be- 
rücksichtigt. Ebenso  hatte  Cornelius  Nepos  in  seinen  Biographien  die 
Grössen  der  Litteratur  geschildert,  mit  ihm  werden  Santra  und  Hyginus 
erwähnt.  Aus  den  iitterarhistorischen  Schriften  der  republikanischen  Zeit  ist 
nur  eine  einzige  ganz  erhalten,  nämlich  Ciceros  Brutus,  der  einen  Abriss  der 
Geschichte  der  Beredsamkeit  bis  zum  Ende  der  Republik  giebt.  In  der 
Eaiserzeit  war  das  wichtigste  litterarhistorische  Werk  Suetons  De  viris 
(in  üteris)  iüi^stribas.  Würde  uns  dasselbe  erhalten  sein,  so  würde  es  für 
die  römische  Litteratur  grundlegend  sein.  Allein  von  demselben  ist  nur 
ein  Fragment  auf  uns  gekommen,  nämlich  der  letzte  Abschnitt  über 
die  Grammatiker  und  Rhetoren  und  selbst  dieser  ist  am  Schluss  ver- 
stümmelt. Hiezu  gesellen  sich  Ergänzungen  aus  Hieronymus'  Bearbeitung 
der  Eusebianischen  Chronik  und  noch  einige  anderweitig  gerettete  Bestand- 
teile. Vorbild  ward  Sueton  für  den  Kirchenvater  Hieronymus,  der  die 
kirchlichen  Schriftsteller  von  Christus  bis  392  behandelte,  und  für  seinen 
Fortsetzer  Gennadius. 

Im  Mittelalter  richtete  die  Litteraturgeschichte,  soweit  von  einer 
solchen  die  Rede  sein  kann,  ihre  Blicke  fast  ausschliesslich  auf  die  scrip- 
tares  ecclesuistici,  nur  ausnahmsweise  auf  die  scriptores  profaniA)  Auch 
nach  dem  Wiederaufleben  der  Wissenschaften  dauerte  es  noch  sehr 
lange,  bis  sich  die  Litteraturgeschichte  zu  einer  fest  geschlossenen  Disziplin 
entwickelte.  Von  Werken,  welche  litterargeschichtlicher  Natur  waren,  nenne 
ich  Gyraldus  (1479  — 1552)  De  historia  poetarum  tarn  graecorum  quam 
latinorum  diahgi  (1545).  Eine  bedeutende  und  auch  noch  heutzutage  nicht 
entbehrlich  gewordene  Leistung  ist  G.  J.  Vossius'  Werk:  De  historicis  h' 
tinis  1.  ni  1627.  Da  der  Verfasser  auch  de  historicis  graecis  geschrieben, 
so  ist  sein  Blick  für  diese  Litteraturgattung  besonders  geschärft  worden. 
Es  folgt  das  Repertorium  des  J.  A.  Fabricius,  die  Bibliotheca  latina,  welche 
über  die  Äusserlichkeiten  nicht  hinauskam.  Einen  höheren  Standpunkt 
gewinnt  die  gruppierende  Darstellung  des  J.  Nie.  Funccius  (Giessen  1720), 
der  die  Namen  für  die  Gruppen  den  Lebensaltern  entnommen.  Falsters 
Quaestiones  Romanae  s.  idea  histori(ie  Uterarum  Romanarum,  Leipzig  1718, 
gehen  tiefer  auf  die  inneren  Kräfte  der  Litteratur  ein.  Ziel  und  Aufbau 
der  ganzen  Disziplin  zeigt  F.  A.  Wolf  in  seiner  Geschichte  der  römischen 
Litteratur,  ein  Leitfaden  für  akademische  Vorlesungen,  Halle  1787,  wozu 
als  Ergänzung  kommt:  Vorlesung  über  die  Geschichte  der  römischen  Lit- 
teratur, herausgegeben  von  Gürtler,  Leipzig  1839.  Auf  dem  Fundament, 
das  F.  A.  Wolf  gelegt,  ruhen  die  neueren  wissenschaftlichen  Darstellungen 
der  römischen  Litteratur.  Unter  denselben  ragen  drei  hervor,  die  vollständigen 
Litteraturgeschichten  von  Bernhardy  und  Teuffei  und  die  Geschichte  der 
römischen  Dichtung  von  0.  Ribbeck.  Die  Werke  von  Bernhardy  und  Teuffei 
haben  miteinander  gemein,  dass  sie  den  Stoff  in  einem  allgemeinen  und  in 


^)  Einen  derartigen  Versuch  des  Govbad 
TOH  HiBBOHAU  (c.  1070—1150)  ;Dialogu8 
super  auctores  sive  diäascalon'^  hat  der  in 


der  mittelalterlichen  Litteratur  sehr  bewan- 
derte G.  Schepps,  Wflrzb.  1889  herausgege- 
ben und  sachkundig  erläutert. 


Einleiiimg.  5 

einem  besonderen  Teil  darlegen,  jedoch  mit  dem  Unterschied,  dass  Bern- 
hardy  in  dem  aUgemeinen  Teil  die  litterarische  Bewegung  schildert  (innere 
Litteraturgeschichte),  in  dem  besonderen  dagegen  die  einzelnen  Fächer  des 
litterarischen  Schaffens  behandelt  (äussere  Litteraturgeschichte),  Teuffei  um- 
gekehrt zuerst  das  in  den  verschiedenen  Sparten  von  den  Römern  Ge- 
leistete in  einem  siunmarischen  ümriss  dem  Leser  vorführt  (sachlicher  Teil) 
xmd  dann  in  dem  Hauptteil  (besonderer  und  persönlicher  Teil)  die  Schrift- 
steller chronologisch  aufzählt  und  würdigt.  Wir  sehen,  der  eine  schreitet 
von  der  chronologischen  Behandlungsweise  zur  systematischen,  der  andere 
von  der  systematischen  zur  chronologischen.  Wir  haben  uns  bereits  oben 
gegen  diese  Teilung  ausgesprochen,  will  man  sie  aber  einmal  vornehmen, 
so  scheint  mir  der  Weg,  den  Bemhardy  eingeschlagen,  der  bessere  zu  sein. 
Jeder  der  beiden  Autoren  hat  seine  Vorzüge  und  seine  Mängel.  Bemhardy 
ragt  hervor  durch  die  Tiefe  der  Auffassung  und  den  Reichtum  der  Betrach- 
tungen, Teuffei  durch  klare,  mit  den  Quellenstellen  belegte,  kritisch  gesich- 
tete Darlegung  des  Stoffs.  Bei  Bernhardy  liegt  der  Schwerpunkt  in  der 
zusammenhängenden  Darstellung  des  Textes,  bei  Teuffei  in  den  Noten.  Als 
Hand-  und  Nachschlagebuch  ist  daher  Teuffei  mehr  zu  empfehlen,  Bem- 
hardy dagegen  für  die  Lektüre  und  das  Studium  geeigneter.  In  der  Be- 
urteilung der  litterarischen  Produkte  ist  Bernhardy  weit  origineller  und 
ausführlicher  als  Teuffei.  Die  Darstellungsweise  Teuffels  ist  durchsichtig 
und  leicht  verständlich,  der  Stil  Bernhardys  dagegen  leidet  an  Schwer- 
fälligkeit und  an  Vorliebe  für  philosophische  Abstraktionen,  wenn  gleich 
diese  Schattenseite  in  der  römischen  Litteraturgeschichte  weniger  hervor- 
tritt als  in  der  griechischen.  Beide  Werke  wenden  sich  an  das  gelehrte 
Publikum,  für  alle  gebildeten  Kreise  ist  dagegen  Ribbecks  Geschichte  der 
römischen  Dichtung  bestimmt.  Ist  es  an  und  für  sich  erfreulich,  wenn  die 
Resultate  der  gelehrten  Forschung  allgemein  zugänglich  gemacht  werden, 
so  ist  es  doppelt  erfreulich,  wenn  ein  Meister  des  Fachs  sich  einer  solchen 
Aufgabe  unterzieht.  Eine  seltene  Vereinigung  einer  Reihe  von  Eigenschaf- 
ten hat  Ribbeck  in  den  Stand  gesetzt,  ein  vortreffliches  Werk  zu  liefern. 
Er  beherrscht  das  Gebiet,  das  er  behandelt,  nach  allen  Seiten  hin,  er  be- 
sitzt ein  scharfes  Urteil  und  einen  feinen  Geschmack,  er  verfügt  über  die 
OtBbe  der  lichtvollen,  vom  Druck  der  Gelehrsamkeit  völlig  freien  Darstellung. 
Der  Leser  spürt  den  Hauch  klassischen  Denkens  und  Fühlens  in  diesem 
schönen  Buch. 

Litte  rata  r.  Wir  geben  eine  Auswahl.  8ohobll,  Histoire  de  lalütirature  ramaine, 
Paris  1815.  4  Bde.  Bahb,  Geschichte  der  römischen  Literatur,  Karlsruhe  1828.  4.  Ausg. 
in  2  Bd.  1868 — 70.  Hiezu  kommen  drei  Sopplementbftnde:  L  Die  christlichen  Dichter  und 
Geschichtschreiber  1836  (2.  Aufl.  1872),  IL  Die  christlich-römische  Theologie  1837,  IIL  Ge- 
schichte der  römischen  Literatur  im  Earolingischen  Zeitalter  1840.  Klotz,  Handbuch  der 
lat.  Litteraturgeschichte  L  Teil,  Leipz.  1846  (nicht  vollendet).  Bbbnhabdt,  Grundrias  der 
römischen  Litteratur,  5.  Aufl.  Halle  1872.  Tbuffkl,  Geschichte  der  römischen  Litteratur 
4.  Aufl.  bearbeitet  von  L.  Schwabs,  Leipz.  1882.  Mukk,  Geschichte  der  röm.  Litteratur. 
2.  Aufl.  von  0.  Sbtffsbt,  I.  Bd.  Berl.  1875,  II.  Bd.  Berl.  1877,  (enthält  viele  abersetzte 
Stellen).  Sellab,  The  roman  poets  of  the  Eepuhlic,  Oxford  1881.  Patin,  iltudes  8ur 
la  poesie  latine,  Paris  1883.  0.  Ribbeck,  Geschichte  der  römischen  Dichtung,  I.  Dichtung 
der  Republik,  Stuttg.  1887.  Ebebt,  Geschichte  der  christlich-lat.  Literatur  bis  zum  Zeitalter 
Karls  des  Grossen.  Leipz.  1874.  —Kompendien:  Hobbxakn,  Leitfaden  zur  Geschichte  der 
röm.  Litteratur,  Magdeburg  1851.  Kopf,  Geschichte  der  röm.  Litteratur  5.  Aufl.,  Berl.  1885. 
Bevdbb,  Gmndriss  der  römisch.  Litteraturgeschichte,  Leipz.  1876.    Fflr  griech.  und  röm. 


6  Römische  LitteratiirgeBcliiclite. 

Litteratur:  Passow,  GnindzQge  der  griech.  und  rnm.  Litteraturgeschichte.  2.  Aufl.  Berlii 
1829.  l^EODSR,  Handbuch  der  griech.  und  röm.  Litteraturgeschichte  nach  dem  Dfinischei 
von  HoFFA,  Marb.  1847.  Mably,  Geschichte  der  antiken  Litteratur  2  Bde.,  Leipz.  188€ 
Hilfsmittel:  Hübnbb,  Grundriss,  zu  Vorlesungen  Ober  die  röm.  Litteraturgeschichte  4.  Aufl. 
Berl.  1878  (enthält  Titel  und  Litteraturangaben).  Bei  dem  furchtbaren  Anschwellen  de 
philologischen  Litt-eratur,  das  besonders  durch  die  Programme  und  Dissertationen  hervor 
gerufen  wird,  ist  es  für  den  Litterarhistoriker  ganz  unmöglich,  die  auf  einen  Schriftstelle 
bezügliche  Litteratur  vollständig  zu  geben.  Wir  haben  uns  auf  eine  sehr  knappe  Auswah 
beschränkt,  indem  wir  vorzüglich  die  Schriften,  welche  Litterarhistorisches  bieten,  namhaf 
machen,  dagegen  die  Abhandlungen,  welche  Kritisches,  Grammatisches,  Metrisches  behan 
dein,  mit  Stillschweigen  Übergehen.  Wir  glaubten  um  so  mehr  unsere  Litteratnrgeschicht< 
von  diesem  Ballaste  befreien  zu  dürfen,  als  es  jetzt  vortreffliche  bibliographische  Hand 
bücher  gibt,  aus  denen  man  die  gesamte  Litteratur,  die  man  braucht,  kennen  lernen  kann 
Solche  sind:  Enoelmank,  Bibliotheca  scriptorum  classicorum*  8.  Aufl.  bearbeitet  von  E 
Pbevss,  Leipz.  1882  (gibt  die  Litteratur  von  1700  —  1878).  Calvary's  bibliotheca  philolo 
gica  elassica,  welche  jährlich  in  vier  Heften  erscheint.    Bibliotheca  phüologica.  Geordnete 

Übers,  aller  auf  dem  Gebiete  der  klass.  Altertumswissensch ,  wie  der  älteren  und  neuerer 
Sprachwissenschaft  —  erschienenen  Bücher.  Göttingon  jährl.  in  2  Heften  (dem  Herme« 
beigegeben).  Hiezu  kommen  die  Referate  in  Bursiahs  Jahresber.  der  Fortschritte  dei 
klass.  Altertumswiss.  herausgegeb.  von  I.  Müller  und  im  Philologus.  —  Clinton,  Fasti  Ro- 
mani  2  Bde.  Oxford  1845.  Fischer,  Röm.  Zeittafeln  von  Roms  Gründung  bis  auf  Augustu« 
Tod  1846.    Peter,  Zeittafeln  der  römischen  Geschichte  6.  Aufl.  Halle  1882. 


Erster  Teil. 


Die  römische  Litteratur 


in  der  Zeit  der  Republik. 


J 


Erste  Periode: 


Elemente  der  nationalen  Litteratur 


i.  Volk  und  Sprache. 

5.  Verhältnis  des  römischen  Volks  zur  Litteratur.  Die  natür- 
lichen Lebensbedingungen  sind  es,  welche  zumeist  die  geistige  Eigentüm- 
lichkeit eines  Volkes  bestimmen.  Dem  römischen  Volk  war  von  der  Natur 
eine  Wohnstätte  angewiesen,  welche  dasselbe  zwang,  fortwährend  auf  der 
Hut  zu  sein  und  stete  Kämpfe  mit  den  Nachbarn  zu  führen.  Ein  Volk 
mit  solchem  Wohnsitz  konnte  sich  daher  nicht  eines  freien,  ungebundenen 
Daseins  erfreuen;  um  seine  Existenz  zu  wahren,  musste  es  sich  in  um- 
friedete Orte  zusammenschliessen  und  sich  eine  Organisation  schaffen, 
welche  die  Unterordnung  des  individuellen  Willens  unter  den  Gesamtwillen 
zur  Voraussetzung  hatte.  Dies  führt  zur  Bildung  der  politischen  Gemeinde 
und  zur  Heeresorganisation,  aber  vernichtet  jene  Freiheit  des  Geistes, 
welche  für  das  litterarische  Schaffen  unerlässlich  ist.  Nach  den  natür- 
lichen Existenzbedingungen  kann  also  die  Grösse  des  römischen  Volkes 
nicht  in  der  Litteratur  liegen.  Sie  liegt  auch  nicht  in  der  Durchbildung 
religiöser  Ideen  und  in  der  Schöpfung  religiöser  Eunstgebilde;  denn  auch 
die  Religion  nahm  den  Charakter  der  Gebundenheit  an,  d.  h.  das  religiöse 
Leben  stellte  sich  als  strenge,  durch  Furcht  diktierte  Beobachtung  gewisser 
Vorschriften  dar.  Wie  im  politischen  und  im  religiösen  Leben  Alles  zur 
festen  Norm  drängte,  so  auch  im  Privatleben.  Hier  muss  die  starre  Ord- 
nung, welche  das  Römertum  ausmacht,  feste  Sitte,  festes  Recht  herbei- 
führen. Damit  haben  wir  die  Wurzeln  der  römischen  Grösse  aufgedeckt; 
es  ist  dies  einmal  die  militärisch-politische  Organisation,  welche  zum  Welt- 
reich führte,  dann  die  feste  Ordnung  der  privaten  Lebensverhältnisse, 
welche  der  Welt  das  vollkommenste  Privatrecht  liefert.  Wenn  Heine  die 
Römer  »eine  casuistische  Soldateska"  nennt,  so  hat  er  witzig  das  wahre 
Wesen  des  römischen  Volkes  dargelegt.  Sonach  dürfen  wir  nicht  mit 
allzuhoch  gespannten  Erwartungen  an  die  römische  Litteratur  herantreten; 
sie  hat  keine  originellen  Schöpfungen  ersten  Rangs  aufzuweisen,  ihre  Be- 
deutung ruht  vielmehr  darin,  dass  die  Ideen,  welche  der  griechische  Geist 


10       Bömische  Litteratnrgeachichie.    I.  Die  Zeit  der  Bepublik.    1.  Periode. 

ausgeprägt  hat,  durch  sie  eine  universelle  Verbreitung  erhalten.  Die 
römische  Litteratur  bildet  die  Brücke,  die  den  Hellenismus  zur  modernen 
Welt  überleitet. 

Über  die  Lage  Roms  handelt  einsichtig  POhlmakk,  „Die  Anfänge  Roms,  Erl.  1881. 
Vgl.  p.  24.  „Es  war  gewiss  von  grosser  Bedeutung,  dass  Höben  wie  der  Palatin  und  das 
Kapitel,  die  isoliert  und  rings  von  Senkungen  umgeben,  für  die  ältesten  Befestigungs- 
anlagen vorzüglich  geeignet  waren,  gerade  am  Strome  lagen,  der  die  natürliche  Grenzwehr 
Latiums  gegen  die  nördlichen  Nachbarn  war,  und  zwar  gerade  an  der  Stelle,  wo  die  ein- 
zige Insel  im  Unterlauf  des  Stromes  das  Überschreiten  dieser  Schutzwehr  erleichterte.  Der 
Besitz  dieser  Position  muss  für  die  ganze  Ebene  von  Anfang  an  eine  Lebensfrage  gewesen 
sein  und  die  Sage  ISsst  es  noch  deutlich  erkennen,  wie  viel  umstritten  dieser  inmitten 
dreier  Volkergebiete  an  der  Landesmark  gelegene  Punkt  seit  uralten  Zeiten  gewesen  ist. 
Diese  Lage  hatte  aber  auch  noch  eine  weitere  Bedeutung.  Sie  hat  ohne  Zweifel  mächtig 
dazu  mitgewirkt,  dass  die  ursprünglich  isolierten  Niederlassungen  auf  den  Tiberhdhen  sich 
zu  einem  einheitlichen  politischen  und  ökonomischen  Organismus  zusammenschlössen,  d.  h. 
dass  aus  einem  Aggregat  von  selbständigen  Ortschaften  die  Stadt  Rom  entstand."  Ähnlich 
WiBTBRSHBiM,  Völkerwanderung  1,  374.  —  Zur  SteUe  Heines  (Ges.  W.  8,  171)  bemerkt 
Bebkats,  Ges.  Abh.  2,  255  vortrefflich:  „Das  Ineinander  von  Gericht  und  Gefecht,  die 
Doppelschneide  der  juristischen  Logik  und  des  Kriegsschwertes  ist  ein  wesentlicher  Zug 
des  Römertnms ;  ja  man  darf  sagen,  dass  er  im  Verein  mit  der  nicht  minder  wesentlichen 
und  ebenfalls  junstisch  gefärbten  Götterangst  das  römische  Wesen  erschöpft*  Sehr  be- 
lehrend sind  rar  Erkenntnis  des  römischen  Volkscharakters  Jhbriko,  Geist  des  römischen 
Rechts,  Leipz.  2.  Aufl.  1866—71.  Nissen,  Ital  Landeskunde,  Berl.  1883.  Zbllbb,  Religion 
und  Philosophie  bei  den  Griechen  in  den  Abh.  2,  93. 

6.  Die  Stellung  der  lateinischen  Sprache;  ihre  Entwicklung.  Die 

lateinische  Sprache  gehört  zu  der  Gruppe  indogermanischer  Sprachen,  welche 
man  die  „mittelitalische''  nennt  und  deren  vorzüglichste  Glieder  ausser  dem 
Lateinischen  das  Oskische  und  das  Umbrische  sind.  Das  politische  Über- 
gewicht des  römischen  Volkes  hinderte  die  Entwicklung  jener  verwandten 
Idiome,  sie  wurden  keine  Litteratursprachen  und  gingen  schliesslich  zu 
Grund.  Uns  sind  sie  nur  durch  Inschriften  bekannt  geworden,  das  Oskische 
besouders  durch  die  tabula  JBantina,  ein  Verfassungsgesetz  der  Stadt  Bantia 
in  Apulien,  durch  den  Cippus  Ahellanus,  einen  Bundesvertrag'zwischen  Nola 
und  Abella  wegen  eines  gemeinsamen  Tempels,  durch  die  Weihinschrift 
von  Agnone,  endlich  durch  eine  Execrationstafel  von  Capua,  das  Umbrische 
durch  die  rituelle  Normen  enthaltenden  7  Tafeln  von  Iguvium.  Was  nun 
die  Geschicke  der  lateinischen  Sprache  anlangt,  so  dringt  sie  in  dem  Masse 
vor,  in  dem  sich  die  Herrschaft  der  Römer  ausbreitet.  Sie  besiegt  nicht 
nur  die  mittelitaUschen  Idiome,  sondern  auch  die  übrigen  Sprachen  Italiens, 
ja  auch  Sprachen  der  ausseritab'schen  Länder  werden  dmxh  sie  dem  Unter- 
gang geweiht.  Ihre  Entwicklung  zur  Schriftsprache  spielt  sich  aber  in 
Rom  ab ;  denn  fast  die  gesamte  römische  Litteratur  ist  in  Rom  entstanden 
und  Rom  ist  noch  weit  mehr  das  Zentrum  für  die  lateinische  Litteratur 
geworden  als  heutzutage  Paris  das  Zentrum  der  französischen  Litteratur 
ist.  Wie  die  Verfassung  des  römischen  Reichs  im  Wesen  ein  Stadtregiment 
bleibt,  so  ist  die  lateinische  Litteratur  fast  nur  Stadtlitteratur  d.  h.  Litteratur 
Roms  geblieben.  Mit  Recht  spricht  man  daher  von  einer  römischen,  nicht 
von  einer  lateinischen  Litteraturgeschichte.  Erst  in  den  spätesten  Zeiten 
bildeten  sich  andere  Zentren  für  die  lateinische  Litteratur,  z.  B.  in  Gallien  und 
in  Afrika.  Die  Ausbildung  des  Lateinischen  zur  Litteratursprache  erfolgte  in 
erster  Linie  durch  Fremde,  deren  Ziel  vor  allem  sein  musste,  Orthographie 
und  Flexion  fest  zu  regeln.    Es  folgten  dann  die  Versuche  der  Periodi- 


Poesie.    Der  satamiflohe  Vora. 


11 


Biening;  sie  führten  zu  bewunderungswürdigen  Resultaten  und  fanden  ihren 
Höhepunkt  in  Cicero.  Die  kommende  Periode  strebt  das  Pikante  des  Stils 
an;  es  verschieben  sich  oft  die  Grenzen  der  Poesie  und  Prosa;  die  Periodo- 
logie  kommt  in  Verfall.  Endlich  drang  die  Volkssprache  in  die  Litteratur 
ein;  damit  ward  das  Ende  der  lateinischen  Sprache  vorbereitet.  Die  all- 
mählich zu  Litteratursprachen  sich  ausbildenden  Volksidiome  schmälern  das 
Gebiet  der  lateinischen  Sprache  und  belassen  sie  nur  als  Verständigungs- 
mittel der  gelehrten  Welt.  Aber  auch  in  dieser  zurückgedrängten  Position 
hört  sie  nicht  auf,  sich  weiter  zu  entwickeln  und  die  Bedürfnisse  der  Spre- 
chenden zu  decken,  bis  sie  durch  den  Humanismus,  der  die  ungeheuere 
£[luft  zwischen  Vergangenheit  und  Gegenwart  gewahrend  auf  die  alten 
Muster  verwies  und  die  Nachahmung  als  das  leitende  Prinzip  für  die 
Lateinschreibenden  hinstellte,  zu  einer  wirklich  toten  Sprache  wurde.  Nach 
der  Ausbildung,  welche  die  lateinische  Sprache  erfahren,  ist  sie  wegen  des 
ihr  innewohnenden  Numerus  sehr  geeignet  für  die  rhetorische  Darstellung, 
die  sich  leider  nur  zu  oft  auch  der  Poesie  mitteilte.  Dagegen  ist  sie  viel 
weniger  passend  für  die  philosophische  Rede;  denn  sie  ist  verhältnissmässig 
arm  an  Substantiven,  besonders  an  Abstractis,  auch  in  Zusammensetzungen 
ist  sie  beschränkt.  0 

Eine  brauchbare  Übersicht  Ober  Charakter  der  mittelitalischen  Sprachen  und  der 
darauf  bezflglichen  Litteratur  giebt  Deecxb  in  GbGber's  Grundriss  der  roman.  Philol.  1, 
835—350.  BuDiKSKY,  Die  Ausbreitung  der  lat.  Sprache  über  Italien  und  die  Provinzen 
des  r5m.  Reichs,  Berl.  1881.  Nettlbship,  The  kistorical  Development  of  CktssiccU  Latin 
Prose,  The  Journal  of  Philology  15,  35.  Wie  durch  den  Humanisnius,  bes.  durch  des 
Lanrentius  Valla  Buch  Elegantiae  laiini  sermonis  die  lateinische  Sprache  eine  tote  wurde, 
zeigt  sehr  schön  Vablen  in  Lorenzo  Valla.    Ein  Vortrag,  Almanach  der  Wiener  Ak.  1864. 

2.  Poesie. 

7.  Das  nationale  Versmass.  Die  gebundene  Rede  stellt  sich  zu- 
nächst dar  in  dem  Verse.  Die  Römer  hatten  hiefür  den  Ausdruck  Carmen, 
Allein  es  gibt  noch  eine  zweite  Form  der  gebundenen  Rede,  die  Formel, 
der  Spruch,  die  zwar  nicht  dem  Metrum  unterworfen  sind,  aber  doch  eine 
feste  unabänderliche  Gestalt  erhalten  und  sich  dadurch  der  individuellen 
Willkür  entziehen.  Auch  von  dieser  Form  der  Rede  wurde  Carmen  ge- 
braucht. So  bezeichnet  Livius  1,  24  die  Formel  für  ein  Bündnis  als 
Carmen^  ebenso  die  Formel  der  Kriegserklärung  (1,  32),  Gesetzesworte 
(1,  26;  3,  64),  die  Schwurformel  (10,  38).  Beide  Formen  der  gebundenen 
Rede  können  durch  Alliteration  gestützt  werden.  Für  die  altlateinischo 
nationale  Poesie  war  das  regelmässige  Organ  der  saturnische  Vers. 
Mit  dem  Namen  „satumisch"  wollte  man  (wie  mit  dem  in  Anlehnung  an 
Ennius  fr.  155  B.  gebrauchten  „ faunisch ")  auf  das  hohe  Alter  des  Verses 
hinweisen.  Der  satumische  Vers  ist  aber  nicht  bloss  den  Römern,  sondern 
auch  andern  Völkern  des  mittelitalischen  Sprachstammes  eigentümlich. 
Das  Wesen  des  Saturniers  beruht  auf  der  Quantität,  jedoch  so,  dass  nur 
die  Hebungen  als  massgebend  erscheinen,  während  die  Senkungen  für  den 


^)  Vielleicht  darf  anch  hier  ein  witziger 
Auaspmch  Hbikss  angefahrt  werden  (Ges.  W. 
5,  144):  .Die  Sprache  der  ROmer  kann  nie 
ihren  Ursprung  yerlengnen.  Sie  ist  eine  Kom- 


mandosprache für  Feldherm,  eine  Dekretal- 
sprache  für  Administratoren,  eine  Justiz- 
Sprache  für  Wucherer,  eine  Lapidarsprache 
für  das  steinharte  KOmervolk." 


12       Römische  Litteraturgesohichte.    L  Die  Zeit  der  Republik,    1.  Periode. 

Bau  des  Verses  ziemlich  indifferent  sind.  Das  Indifferente  der  Senkungen 
zeigt  sich  darin,  dass  sie  einmal  lang  oder  kurz .  sein  dürfen,  dann  (natür- 
lich mit  gewissen  Beschränkungen)  durch  zwei  kurze  Silben  ausgedrückt 
werden  können,  endlich  dass  dieselben  (in  der  Begel  nur  die  sechste, 
ausnahmsweise  auch  die  dritte)  unterdrückt  werden  können.  Eine  andere 
hervorstechende  Eigentümlichkeit  des  Verses  ist,  dass  derselbe  in  zwei 
Hälften  zerfällt  und  demnach  als  zusammengesetzter  Vers  erscheint.  Das 
ursprüngliche  Element  des  Verses  bilden  drei  Hebungen  und  vier  Senkungen 


eno8  Loses  imate. 

Dieses  Element  wird,  um  den  Saturnier  zu  bilden,  in  der  Weise  verdoppelt, 
dass  entweder  in  dem  zuerst  gesetzten  die  letzte  Senkung,  oder  in  dem 
an  zweiter  Stelle  stehenden  die  erste  Senkung  in  Wegfall  kommt.  Daraus 
ergeben  sich  folgende  zwei  Formen  des  Saturniers: 

... I  — .-. 

hone  omo  ploirume  cosentumt  Bomai 
mälum  diibimt  MeteUi  Naevio  poetae. 

Die  zweite  Form  ist  die  Normalform  geworden. 

Zwei  Streitfragen  spielen  hier  herein;  die  eine  bezieht  sich  darauf,  ob  das  Carmen 
stets  metrische  Form  haben  müsse.  Ich  glaube,  dass  diese  Frage  zu  verneinen  ist  Zeigt 
uns  doch  die  Geschichte  anderer  Völker,  dass  auch  diese  nicht  metrische  Sprüche 
und  nicht  metrische  Rechtsformeln  haben;  auch  in  der  Etymologie  des  Wortes  findet  jene 
Anschauung  keine  genügende  Stütze,  vgl.  BIhrens,  Fleckeis.  J.  185,  65.  Ober  diese  Streit- 
frage handeln  Ritschl,  Opusc.  4,  298;  DOktzer,  Zeitschr.  f.  d.  Gymnasialw.  11,  2;  Petes 
in  eomm.  philol.  in  honorem  Beiffersckeidii  p.  65;  Jordan,  Krit.  Beitr.  p.  178.  Die  zweite 
Streitfrage  ist  die,  ob  das  quantitierende  oder  das  accentuierende  Prinzip  dem  Saturnier 
zu  Grunde  lag.  Für  das  accentuierende  Prinzip  hat  sich  in  neuester  Zeit  besonders  nach 
dem  Vorgange  Westphals  0.  Keller  ausgesprochen.  Nach  seiner  Ansicht  sei  das  quanti- 
tierende Prinzip  für  die  römische  Litteratur  erst  durch  Ennius  eingeführt  worden.  Allein 
das  völlige  Verschwinden  der  accentuierenden  Poesie  —  sie  tritt  ja  erst  weit  später  auf  — 
lässt  sich  bei  jener  Annahme  nur  schwer  erkl&ren.  Vgl.  W.  Meter,  Anfang  und  Ursprung 
der  lat.  und  griech.  rythmischen  Dichtung  in  den  Abb.  der  bayr.  Akademie  17  Bd.  2  Abth. 
p.  267. 

Litteratur  mit  Auswahl:  Ritsohl,  Opusc.  4,  82.  Bt^oHSLSR,  Fleckeis.  J.  87, 
328.  A.  Spevoel,  Philol.  23,  80.  Havbt,  De  Satumio  Latinorum  versu,  Paris  1880. 
L.  Müller,  Der  Satumische  Vers,  Leipz.  1885.  Bahrbns,  Fragmenta  poetarum  Born., 
Leipzig  1886  p.  6.  BOoheler,  Änthotogiae  epigr,  lat,  spec,  lil,  Bonn  1876  (Bearbei- 
tung der  inschriftlichen  Saturnier).  0.  Keller,  Der  Satumische  Vers  als  rhythmisch 
erwiesen,  Prag  1883.  Der  Satumische  Vers,  zweite  Abhandlung,  Prag  1886.  Thurnetsen, 
Der  Saturnier  und  sein  Verhältnis  zum  späteren  römischen  Volksverse,  Halle  1885. 
ÜSEKSB,  Altgriech.  Versbau,  Bonn  1887  p.  76.  Über  den  Saturnier  als  italischen  Vers 
„quem  {sc.  Satwmium)  nostri  existimavernnt  proprium  esse  Italicae  regionis*'  vgl.  Cae- 
8IU8  Bassüs,  Gr.  L.  6,  265,  vgl.  BOoheler,  Rhein.  Mus.  80,  441 ;  33,  274. 

a)  Anfänge  der  lyrisohen  Poesie. 

8.  Die  heiligen  Lieder.  Als  die  älteste  Form  der  Poesie  werden 
wir  diejenige  zu  betrachten  haben,  in  der  zugleich  gesungen  und  getanzt 
wird.  Diese  Verbindung  von  Tanz  und  Gesang  kam  nach  ausdrücklichem 
Zeugniss  in  den  heiligen  Liedern  vor.  Wir  kennen  genauer  zwei  Arten 
derselben,  die  Lieder  der  Salier  (Springer)  und  die  Lieder  der  Fratres 
arvales  (Flurbrüder).  Die  Salier,  die  in  zwei  Kollegien  von  je  zwölf 
Mann  geteilt  waren,  in  die  Salii  Palatini  mit  dem  Heiligtum  auf  dem 
Palatium  und  in  die  Salii  Agonales  oder  Collini  mit  dem  Heiligtum  auf 


Poesie.    Die  heiligen  Lieder.    Die  FescennineiL  13 

dem  Quirinal,  fOhrten  im  Monat  März  zu  Ehren  des  Mars  gradivus  und 
später  auch  des  Quirinus  mehrere  Tage  hintereinander  einen  Festzug  auf. 
Hiebei  tanzten  sie,  an  die  heiligen  Schilder,  die  sie  trugen,  schlagend,  einen 
Waffentanz  und  sangen  Lieder  (Dionys.  2,  70).  Über  diese  Lieder  liegt  uns 
bei  Festus  ein  wertvolles  Zeugnis  vor.  Darnach  zerfielen  sie  in  zwei  Teile, 
in  Anrufungen  der  einzelnen  Gottheiten,  wie  des  Lichtgottes  Leucesius,  des 
Sonnengottes  Ozeul  und  anderer,  dann  in  eine  Gesamtanrufung,  der  dann 
die  blossen  Namen  der  Angerufenen  folgten.  Dieser  letzte  Teil  führte  den 
Namen  axamenta  und  nahm  in  der  späteren  Zeit  auch  fürstliche  Persön- 
lichkeiten wie  Augustus,  Qermanicus  u.  a.  auf.  Diese  Lieder  waren  später 
den  Saliern  selbst  nicht  mehr  verständlich  (Quint.  1,  6,  40,  Hör.  ep.  2, 
1,  86).  Sie  wurden  daher  konmientiert  z.  B.  von  L.  Aelius  Stilo  (Yarro 
de  1. 1.  7,  2).  Ausser  einer  Anzahl  Glossen  sind  uns  drei  schwer  verdor- 
bene Bruchstücke  überliefert,  deren  Herstellung  auf  verschiedene  Weise 
versucht  wurde.  Wichtiger  als  diese  Fragmente  ist  das  alte  Lied  der  Flur- 
brüder (Varro  de  1. 1. 5, 85),  deren  Cult  ihren  Mittelpunkt  in  einer  sonst  nicht 
näher  bekannten  ländlichen  Gottheit,  der  Dea  dia,  findet.  Li  deren  Hain 
führten  die  Flurbrüder  im  Monat  Mai  einen  Tanz  mit  Gesang  auf,  um 
Segen  für  die  Fluren  zu  erflehen.  Das  dabei  gesungene  Lied  ist  uns  durch 
ein  Steinprotokoll  des  Jahres  218  nach  Chr.,  in  dem  die  zur  Feier  vorge- 
nonunenen  Handlungen  verzeichnet  waren,  erhalten.  Auch  dieses  Lied 
bietet  der  Rekonstruierung  und  Erklärung  grosse  Schwierigkeiten.  Soviel 
ist  aber  klar,  dass  das  Gebet  zuerst  von  den  Lases  Hilfe  erfleht,  dann  den 
Mars  um  Schonung  angeht,  endlich  zum  Schluss  nochmals  an  diesen  Gott 
sich  wendet. 

Für  die  Lieder  der  Salier  liegt  die  wichtige  Stelle  bei  Feetua  im  Auszag  des  Paulas 
vor  p.  3  0.  Müller:  axamenta  dicebantur  carmina  Saliaria,  quae  a  Saliia  sacerdotibus 
canehantur,  in  universos  liomines  camposita,  nam  in  deos  singtUos  versus  facti  a  nami- 
nibus  eorum  appeüabantur,  tU  Januli,  Jimonii,  Minervii.  Dass  homines  verdorben  ist, 
erscbeiDt  uiusweifelhaft  Härtung  setzt  dafür  semones,  eine  Konjektur,  welche  Nifpbbdbt 
zu  Tac.  Ann.  2,  83  annimmt,  während  sie  Jobdan,  Kr.  Beitr.  p.  204  verwirft,  indem  er  in  den 
auch  im  Arvallied  erscheinenden  semones  Saatgottheiten  erkennt  Allein  an  unserer  Stelle 
erfordert  der  Gegensatz  untüersos  deos  und  setno  kann,  wenn  es  mit  Mommsen  gleich  se  hemo 
gefasst  wird,  deus  bedeuten.  Die  Zweiteilung  des  Carmen  Saliare  steht  unter  allen  Um- 
BtAnden  fest.  Carminis  Saliaris  reliquiae.  £d.  Zavdbb,  Lund  1888;  BlHBSirs,  Fragm.  nr. 
1 — 19.    Erlftuterungen  bei  Bbbok,  Op.  1,  477;  Jobdak,  Krit  Beitr.  p.  211. 

Ffir  die  Denkmäler  der  Arvafbrflder  ist  jetzt  die  Hauptschrift  Hbnzbk,  Acta  Ar- 
vaiium,  Berl.  1874,  vgl.  p.  CCIV.  Weisweilbb,  Zur  Erklärung  der  Arvalact.  Fleckeis.  J.  139,37. 
Über  die  ursprüngliche  Bedeutung  der  Arvalbrüder  vgl.  Hoffmavh,  Verh.  der  27.  Philologen- 
▼eia.  in  Breslau  p.  67—97.  Babbbks,  Äcca  Laurentia,  Fleckeis.  Jahrb.  131,  787.  Die 
reiche  Litteratnr  zur  Erklärung  des  Lieds  findet  sich  verzeichnet  in  Scbkeu>bb's  didUcUirum 
Itaiioarum  exempla  selecta,  Lei^z.  1886  1, 103.  Vgl.  Mommsen,  R.  Gesch.  1^  222. 

Hier  erwäme  ich  auch  die  Zaubergebete  z.  B.  Vabbo  de  r.  r.  1,  2,  21,  terra  pestim 
ienüo,  salus  hie  manHo;  vgl.  Plin.  n.  h.  28,  29. 

b)  Anfänge  der  dramativohen  Poesie. 
9.  Die  Fescenninen.  Die  Anfänge  der  dramatischen  Poesie  knüpfen 
sich,  ^*ie  bei  andern  Völkeiii,  so  auch  in  Rom  an  die  Festesfreude.  Bereits 
Yarro  hatte  in  seinem  Werke  über  den  Ursprung  der  dramatischen  Poesie 
in  den  verschiedenen  Festen,  z.  B.  den  Compitalien,  Luperealien  Ansätze 
zum  Drama  gefunden.  Bekannt  ist  die  Schilderung  des  Erntefestes  bei 
Horaz  Ep.  2;  1, 139;  hier  erhalten  wir  für  ein  dramatisches  Element  einen 


14      Bömiflche  Litteratnrgeachiohte.    !•  Die  Zeit  der  Bepnblik.     1.  Periode. 

bestimmten  Namen;  es  ist  dies  die  Fescmnina  licentia.  Sie  stellt  sich  dar 
in  Versen,  welche  Scherz  und  Spott  zum  Inhalt,  den  Dialog  zur  Form  haben. 
Der  Name  Fescennintis  wird  von  Fescennium  in  Etrurien  abgeleitet;  man 
müsste  darnach  annehmen,  es  seien  jene  Spottverse  besonders  dort  gepflegt 
worden;  allein  viel  wahrscheinlicher  ist  ein  Zusammenhang  des  Wortes  mit 
fascinum,  einem  Symbol  der  Zeugungskraft.  Ausser  dem  Erntefest  finden 
diese  dialogischen  Scherz-  und  Spottlieder  auch  bei  Hochzeiten  Verwendung. 
Auch  hier  heissen  sie  Fescennini,  Dass  diese  „fescenninische  Ausgelassen- 
heit* uns  den  Anfang  des  italischen  Drama  darstellt,  kann  nicht  bezweifelt 
werden;  auch  die  gelehrte  Forschung  des  Altertums  verkannte  das  nicht, 
wie  ein  ätiologischer  Bericht  bei  Livius  7,  2  zeigt.  Hier  wird  nämlich 
ausdrücklich  eine  Weiterentwicklung  der  Fescenninen  mit  der  Bühne  in  Ver- 
bindung gebracht.  Der  Bericht  überliefert  folgendes:  Im  Jahre  364  v.  Ch. 
wurden  an  den  ludi  Romani  zu  den  Girkusspielen,  die  im  Wettfahren  und 
Pferderennen  bestanden,  Bühnenspiele  hinzugefügt,  indem  Schauspieler, 
die  aus  Etrurien  herbeigeholt  wurden,  Tänze  zur  Flötenbegleitung  auffühi*- 
ten.  Dieses  Beispiel  wirkte  auf  die  Jugend;  es  führte  zu  einer  Reform  der 
Fescennini^  diese  wurden  jetzt  mit  Gesang  und  Tanz  zur  Flötenbegleitung 
verbunden.  Dieses  Gebilde  hiess  nach  dem  Bericht  satura.  Allein  dieser 
Bericht  fordert  Zweifel  heraus.  Es  ist  unmöglich,  dass  Gesang  und  Tanz 
erst  später  hinzukamen;  denn,  wie  wir  bei  den  heiligen  Liedern  sahen,  ist 
die  Verbindung  von  Tanz  und  Gesang  der  naturgemässe,  daher  ursprüng- 
liche Ausdruck  der  gehobenen  Stimmung.  Der  Fortschritt  beruhte  wohl  in 
dem  Heraustreten  aus  der  Improvisation,  in  einem  aufgezeichneten  Text. 
Schwierig  ist  die  Etymologie  des  Wortes  satura.  Am  wahrscheinlichsten 
ist  die  Deutung  als  Spiel  der  saiyri.  So  konnten  die  lustigen,  in  Bocks- 
felle gehüllten  Landleute,  die  das  Fest  feierten,  genannt  werden.  Der  erste, 
dem  Satura^  zugeschrieben  werden,  ist  Naevius.  Bei  ihm  werden  wir  wohl 
noch  an  die  Form  zu  denken  haben,  die  nicht  für  die  Lektüre,  sondern  für 
die  Darstellung  berechnet  war. 

Fesius  p.  85.  Fescennini  versus,  gut  canebantur  in  nuptiis,  ex  urhe  Fescennkia  di- 
cuntur  aüati,  sive  ideo  dicti  quia  fascinum  putdbantur  arcere,  Dbeckb,  Die  Falisker 
p.  46  u.  113.  Das  Hochzeitslied  wurde  auch  ein  Zweig  der  Kunstdichtung.  Vgl.  Catull 
61  u.  62.  Ober  den  Livianischen  Bericht  handelt  ausfUhrlich  Lbo»  Hermes  24,  75.  Die 
Eauptstelle  ist  7,  2,  7 :  non,  sicut  ante,  Fescennino  versu  simüem  incomposüum  temere  ac 
rudern  ältemis  iaciebant,  sed  inpletas  modis  saturas  descripto  tarn  ad  tAicinem  cantu  mo- 
tuqtie  congrtienH  peragebant.  Über  saiura  vgl.  Mommsek,  R.  Gesch.  P  28;  0.  Eellrb, 
Phüol.  45,  389;  Ribbeck,   Gesch.  d.  r.  Dichtung  1,  9. 

Ausser  den  Fesceninn&fi  bieten  uns  noch  die  carmina  triumphcdia  der  Soldaten  Scherz 
und  Spott,  sowie  auch  den  Dialog  Liv.  4, 53, 11  altemis  inconditi  versvts  militari  licentia  iactati. 

0)  Anfänge  der  epischen  Poesie. 

10.  Die  Totenklagen  und  die  Almenlieder.  Als  zweite  Form  der 
Poesie  betrachten  wir  die  Gedichte,  in  denen  sich  der  Tanz  abgelöst  hat 
und  nur  noch  der  Gesang  vorhanden  ist.  Es  sind  dies  die  Totenklage  und 
das  Ahnenlied.  Die  Totenklage  kennen  wir  nur  in  der  späteren  Form. 
Eine  Frau  (praefica)  wird  gedungen,  um  vor  dem  Hause  des  Verstorbenen 
Zeichen  der  Trauer  zu  geben  und  das  Trauerlied  anzustimmen,  in  das  dann 
die  anderen  miteinstimmten.  Dieses  Lied,  welches  den  Namen  nenia  führte, 
Hef  auf  eine  Verherrlichung  des  Verstorbenen  hinaus.    Das  Lied  erstarrte 


PooBie«    Die  Totenklagen  und  die  Ahnenlieder.    Weieeagungen  und  Sprüche.  15 

später  und  kam  dann  in  Verruf  und  Yerachtung.  Über  das  Ahnenlied 
liegen  uns  zwei  Zeugnisse  vor,  eines,  das  auf  den  alten  Cato  zurückgeht, 
ein  anderes,  das  von  dem  Antiquar  Yarro  herrührt.  Beide  Zeugen  berich- 
ten übereinstimmend,  dass  beim  Gastmahl  das  Lob  berühmter  Männer  ge- 
sungen wurde.  Sie  weichen  aber  insofern  von  einander  ab,  dass  nach  Yarro 
Knaben  diese  Gesänge  aufführten,  während  nach  Cato  die  Teilnehmer  am 
Gastmahl  der  Reihe  nach  jene  Lieder  sangen,  weiterhin  dass  Yarro  die 
Lieder  mit  und  ohne  Flötenbegleitung  recitieren  lässt,  während  Cato  Tisch- 
lieder ohne  Flötenbegleitung  nicht  erwähnt.  Was  diese  Differenzen  anlangt, 
80  ist  die  letztere  einfach  dadurch  zu  lösen,  dass  man  die  Flötenbegleitung 
zwar  nicht  als  obligat,  aber  doch  als  regelmässig  ansieht,  die  erste  dadurch, 
dass  man  in  dem  Enabengesang  und  in  dem  Rundgesang  zeitlich  ge- 
trennte Formen  erblickt  und  zwar  den  Enabengesang  für  die  ursprüngliche, 
den  Rundgesang  für  die  spätere  von  den  Griechen  rezipierte  Form  hält. 
Diese  Sitte  der  Tischlieder  war  bereits  zur  Zeit  Gates  seit  längerem  ausser 
Gebrauch  gekommen.  Über  den  Inhalt  der  Lieder  sind  uns  keine  genaueren 
Mitteilungen  überliefert.  Allein  die  römische  Geschichte  bietet  uns  eine 
Reihe  der  schönsten  Sagen  dar.  Diese  Sagen  müssen  doch  einmal  von 
Dichtem  geschaffen  worden  sein.  Wir  werden  nicht  irren,  wenn  wir  an- 
nehmen, dass  dieselben  in  den  Tischliedem  ihre  Wurzeln  haben.  Soweit 
ist  die  Hypothese  Niebuhrs  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich,  dagegen  an 
den  Zusammenschluss  der  Lieder  zu  einem  die  ganze  ältere  Geschichte  um- 
fassenden Ganzen  braucht  man  nicht  zu  denken. 

Festua  p.  163.  natnia  est  Carmen,  quod  in  funer e  laudandi  groHa  eantaiur  ad  iibtam 
(,ad  tibifu  et  fides'^  Yabro  bei  NoDins  I,  210  MOllsb).  Festus  p.  223  praeficae  dicun^ 
tur  mulierea  ad  lamentandum  mortuum  conductae  quae  dant  ceterts  modum  plangendi  etc, 
Vabbo  de  ].  I.  If  70  praefica  dicta,  ut  Äureliua  scrtbit,  mutier,  ad  lu,ctum  quae  conduceretur, 
quae  ante  domum  mortui  laudes  eiua  caneret.  Wehr,  De  Rom.  nenia  im  Propempticon 
f.  £.  CüBTirs,  Gott.  1868,  p.  11.  Mit  der  nenia  ist  die  metrische  Grabaufschrift  {elogium) 
verwandt  Am  wichtigsten  sind  die  elogia  Scipionum,  von  denen  vier  im  satumischen 
Maas  abgefasst  sind,  vgl.  Scbnbidbb,  Dieilect,  Itodic.  exempla  1  nr.  88 — 91. 

Cic.  Tose.  4,  2,  8  m  Origin^us  dixit  Cato,  morem  apud  maiores  hunc  epuiarum 
fuisse,  ut  deincepa  qui  accubarent  canerent  ad  tibiam  elarorum  virorum  laudes  atque  vtr- 
iutes;  ibid.  1,  2»  3;  Brat.  19,  75;  Yabro  bei  Nonius  1,  105  Müller:  in  conviviia  pueri  mo^ 
desH  ut  caniarent  carmina  antiqua,  in  quibus  laudis  erant  maiorwm,  et  assa  voce  et  cum 
teibidne.    Auf  diese  Sitte  spielt  Hör.  cann.  4,  15,  25  an.     Schwegler,  R  Gesch.  1,  58. 

d)  Anfänge  der  didaktiachen  Poeaie. 

IL  Weissagungen  nnd  Sprüche.  Während  die  von  uns  bisher  be- 
trachteten Formen  der  Poesie  mit  Gesang  und  Tanz  oder  mit  Gesang  allein 
verbunden  waren,  erhalten  wir  in  der  Spruchdichtung  im  weitesten  Sinne 
gefasst  eine  Form  der  Poesie,  welche  lediglich  durch  das  Wort  zu  wir- 
ken bestimmt  ist.  Vor  allem  gehören  hieher  die  Weissagungen.  Ausser 
/den  sibyllinischen  Büchern,  die  als  offizielles  Wahrsagebuch  galten,  waren 
auch  viele  Privatweissagungen  seit  den  ältesten  Zeiten  in  Umlauf.  Beson- 
ders berühmt  waren  die  Sprüche  des  Sehers  Marcius.  Livius  erzählt  25,  12, 
dass  213  V.  Gh.  ein  Senatsbeschluss  die  Sammlung  der  umlaufenden  Weis- 
sagungen anordnete.  Hiebei  kamen  auch  zwei  vaticinia  des  Sehers  Marcius 
zum  Vorschein;  in  dem  ersten  war  die  Schlacht  von  Cannä  vorausgesagt; 
in  dem  zweiten  war  als  Mittel  zur  Vertreibung  der  Feinde  die  Einsetzung 
von  Spielen  zu  Ehren  des  Apollo  vorgeschrieben.    Dieselben  (ludi  Äpolli^ 


16       BömiBohe  Litteratnrgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    1  Periode. 

nares)  wurden  in  der  That  212  eingerichtet.  Das  Factum  wird  nicht  an- 
gezweifelt werden  können,  dass  im  J.  213  solche  Weissagungen  unter  dem 
Namen  des  Marcius  in  Umlauf  waren.  Dass  dieselben  seitdem  aufbewahrt 
wurden,  berichten  nur  spätere  Quellen.  Wenn  dies  aber  auch  geschah,  so 
werden  sie  wohl  im  J.  83  mit  den  sibyllinischen  Büchern  bei  dem  Brand 
des  Gapitol  untergegangen  sein.  Da  die  Citate  bei  Livius  an  Hexameter 
anklingen,  so  ist  wahrscheinlich,  dass  dieselben  erst  in  viel  späterer  Zeit 
gemacht  wurden.  Auch  weltliche  Sprüche  gab  es  von  Marcius;  es  sind 
uns  drei  Fragmente  überliefert;  das  eine  lautet:  sprich  zuletzt,  schweig 
zuerst.  Wie  Marcius,  so  werden  noch  andere  ihre  Erfahrungen  in  Regeln 
niedergelegt  haben.  Eine  landwirtschaftliche  Vorschrift  ist  uns  aus  einem 
alten  Gedicht  eines  .Vaters  an  seinen  Sohn  überliefert.  Zur  religiösen  Spruch- 
dichtung gehörten  auch  die  Lose  (sortes),  es  waren  dies  Sprüche,  die  auf 
Stäbchen  geschrieben  waren,  die  von  den  nach  der  Zukunft  Forschenden 
gezogen  wurden.  Den  Charakter  dieser  sortes  können  wir  aus  späteren 
Proben  kennen  lernen. 

Cicero  spricht  von  zwei  Brfldem  Marcii  de  div,  1,  40, 89;  Livius  dagegen  kennt  nur 
einen.  Wahrscheinlich  hahen  die  zwei  Weissagungen  zu  zwei  BrQdem  geführt.  Die  Auf- 
bewahrung der  vaticinia  Mardana  hericfaten  Serv.  zur  Aen.  6,  70,  Symmachus,  ep.  4,  34. 
Vgl.  Madvio,  Verfassung  des  rOm.  Staats  2,  646)  Erörterungen  bei  ÖXhbevs,  fragm.  p.  22 
vgl.  p.d6.  —  Die  erwähnte  Bauernregel  Festus  p.  93  lautet:  hibemo  pulvere,  t>emo  luto  grandia 
farra,  camiUe,  metea.  Die  Sortes  im  CLL.  1,  267,  bei  Sobnbideb,  Dialect.  Italic,  exempla  99. 

3.  Prosaaufzeichnungen. 

12.  Die  Schrift.  Das  Lied  bedarf  der  schriftlichen  Fixierung  nicht, 
durch  das  Metrum  gestützt  vermag  es  sich  im  Gedächtnis  fortzupflanzen. 
Auch  der  gebundene  Satz,  das  Sprichwort  und  die  Formel  (carmenj  ist 
nicht  auf  die  schriftliche  Fixierung  angewiesen.  Allein  zur  Ausbildung  der 
Prosa  ist  die  Schrift  unbedingt  notwendig.  Die  Italer  haben  die  Schrift- 
zeichen von  den  öriechen  erhalten;  von  dem  chalkidischen  Alphabet,  das 
bei  den  campanischen  Griechen  üblich  war,  stammen  zwei  Gruppen  von 
Alphabeten,  einmal  die  etruskisch-umbrisch-oskische  Gruppe,  andrerseits  die 
lateinisch-faliskische  Gruppe.  Beide  Gruppen  haben  sich  unabhängig  von- 
einander aus  jenem  Mutteralphabet  entwickelt.  Das  lateinisch-faliskische 
Alphabet  hat  die  Eigentümlichkeit,  dass  es  für  den  Laut  F  das  Digamma 
nimmt,  wodurch  die  Fähigkeit  verloren  geht,  U  und  V  in  der  Sphrift  zu 
differenzieren  und  die  Notwendigkeit  entsteht,  das  Vokalzeichen  auch  für 
das  Eonsonantenzeichen  zu  setzen,  während  die  andere  Gruppe  für  den  Laut 
F  ein  eigenes  Zeichen  geschaffen.  Die  Zahl  der  überkommenen  Lautzeichen 
blieb  nicht  intakt.  Einmal  fielen  die  Aspiraten  weg.  Dann  als  die  Aussprache 
nicht  mehr  scharf  zwischen  der  gutturalen  Media  und  Tenuis  unterschied,  wurde 
ein  Zeichen  (E)  überflüssig,  man  behielt  conform  der  Aussprache  das  Zeichen 
für  die  Media  bei.  Ebenso  fiel,  weil  Z  in  der  Aussprache  mit  S  nahezu  zusam- 
menfiel, das  Zeichen  Z  weg.  Diese  ausgeschiedenen  Buchstaben  wrurden  zwar 
später  wieder  eingeführt,  allein  man  griff  hiebei  nicht  ganz  zu  dem  Ursprüng- 
lichen zurück.  Das  Zeichen  der  gutturalen  Media  (C)  wurde  nämlich  für  die 
Tenuis  willkürlich  festgesetzt  und  für  die  gutturale  Media  ein  neues  Zeichen 
aus  Abzweigung  von  C  (G)  eingeführt.  Dieser  neue  Buchstabe  trat  an  den  Platz 


Prosa.    Die  Schrift,    öffentliche  Denkm&ler.  17 

des  verdrängten  Z.  Als  daher  in  späterer  Zeit  auch  dieses  Zeichen  besonders 
wegen  der  griechischen  Worte  wieder  hervorgesucht  wurde,  konnte  es  seinen 
ursprünglichen  Platz,  der  besetzt  war,  nicht  mehr  erhalten,  sondern  musste 
an  den  Schluss  des  Alphabets  gestellt  werden.  Zu  gleicher  Zeit  wurde,  da 
das  ü  im  Laufe  der  Zeit  im  Griechischen  zu  Ü  geworden  war,  wegen  der 
Schreibung  griechischer  Wörter  die  Form  Y  im  Lautwert  von  Ü  aus  dem 
Oriechischen  herübergenommen  und  vor  Z  gestellt.  Beide  Lautzeichen,  Y 
und  Z,  wurden  aber  immer  als  fremde  empfunden.  Damit  war  das  latei- 
nische Alphabet  im  wesentlichen  zum  Abschluss  gekommen. 

Die  weiteren  Versuche  zur  Verbesserung  des  Alphabets  bezogen 
sich  auf  die  Bezeichnung  der  aspirierten  Laute  durch  die  betreffenden 
Tenues  in  Verbindung  mit  H,  dann  auf  die  Einführung  der  Doppelzeichen, 
endlich  auf  den  Ausdruck  der  Vokallänge  durch  die  Schrift.  Der  Gram- 
matiker Verrius  Flaccus  und  der  Kaiser  Claudius  machten  noch  einmal 
den  Versuch,  das  Alphabet  durch  neue  Zeichen  zu  bereichern,  allein  ohne 
Erfolg.  Dass  auch  die  Schriftzeichen  ihren  Entwicklungsgang  durchgemacht 
haben,  zeigen  die  Inschriften  und  Ritschl  hat  an  Hand  derselben  diesen 
Entwicklungsgang  in  einer  trefflichen  Abhandlung  aufgedeckt. 

Wie  alt  die  Schreibkunst  bei  den  Römern  ist,  kann  nur  vermutungs- 
weise bestimmt  werden.  Schon  die  Eönigszeit  kennt  Schriftdenkmäler, 
allein  Mommsen  nimmt  mit  Recht  an,  dass  wir  noch  bedeutend  weiter  zu- 
rückgehen müssen.  An  eines  soll  aber  hierbei  erinnert  werden,  dass  das 
Schriftdenkmal  noch  kein  Litteraturdenkmal  ist.  Letzteres  kann  erst  auf- 
treten, nachdem  die  Schreibkunst  lange  Zeit  geübt  ist  und  die  Schreib- 
materialien sich  vervollkommnet  haben. 

KiBCBHOFT,  Studien  zum  griech.  Alphabet*  p.  116  und  121;  Mommsek,  Rom.  Gesch. 
1*  216;  BrrscBL,  zur  Geschichte  des  lat  Alphabets  op.  4,  691;  Corssbn,  Aussprache  1*  p.  1. 

a.  Öffentliche  Denkmäler. 

13.  Die  Amtsbücher.  Am  meisten  sind  auf  die  Schreibkunst  die 
Behörden  angewiesen;  denn  hier  reicht  mündliche  Tradition  am  wenigsten 
aus.  Das  Amt  erfordert  die  schriftliche  Anleitung,  es  erfordert  auch  der 
Zukunft  wegen  die  schriftliche  Fixierung  der  Amtshandlungen.  Die  Amts- 
bücher gehören  daher  sicherlich  zu  den  ältesten  Denkmälern  des  Schrift- 
tums. Wir  können  vier  Gattungen  derselben  unterscheiden:  1)  Agenda^ 
d.  h.  Schriften,  welche  die  Normen  für  die  Ausübung  des  Dienstes  ent- 
hielten ;  2)  die  Entscheidungen  strittiger  Fälle  und  die  Verfügungen ;  3)  Pro- 
tokolle {acta\  welche  die  Amtshandlungen  verzeichneten;  endlich  4)  die 
Mitgliederverzeichnisse  der  Kollegien  {album,  fasti).  Die  beiden  ersten 
Gattungen  glaubte  man  bisher  durch  die  festen  Bezeichnungen  libri  und 
commentarii  unterschieden ;  in  der  That  werden  oft  Ubri  pontificales  und 
cammentarii  pantificumy  libri  augurales  und  daneben  commentarii  augurum^ 
commentarii  consulum  u.  s.  w.  erwähnt;  allein  wenn  auch  zugegeben  werden 
muBS,  dass  in  unsern  Quellen  sehr  oft  dieser  Unterschied  gemacht  ist,  so 
finden  sich  doch  auch  wiederum  Stellen,  wo  derselbe  nicht  beachtet  worden 
ist.  Dagegen  tritt  uns  eine  entschieden  spezifische  Bezeichnung  von  ge- 
wissen Amtsschriften  der  ersten  Art  in  den  „Jndigitamenta^*  des  Pontifikal- 

IlMMlIvaflb  der  klMB.  AltertonuiwtaeiuebAlt  VIII.  2 


18      BOmiflche  Litteraturgeachiohte.    L  Die  Zeit  der  Repablik.    1.  Periode. 

archivs  entgegen;  es  sind  dies  .öebetsformulare",  welche  die  Anweisung 
enthielten,  welche  Götter  in  bestimmten  Lagen  des  Lebens  und  zu  be- 
stimmten Zwecken  anzurufen  seien  und  in  welcher  Weise.  Bei  der  grossen 
Zahl  der  Götter,  welche  durch  Personifizierung  der  Begriffe  gewonnen 
wurden,  bei  dem  abergläubischen  Sinn  der  Römer,  welcher  auf  die  Form 
den  höchsten  Wert  legte,  kam  diesen  Gebetsformularen  sicherlich  eine  grosse 
Bedeutung  zu.  Auch  bei  den  weltlichen  Behörden  stossen  wir  auf  einige 
Amtsschriften  mit  speziellem  Namen.  Es  sind  dies  die  fdbulae  censoriae, 
Instruktionspapiere  für  die  Vornahme  des  Gensus.  Ausserdem  werden  noch 
Ubri  Untei  erwähnt,  es  sollen  dies  Magistratsverzeichnisse  sein,  welche,  auf 
Leinwand  geschrieben,  im  Tempel  der  Juno  Moneta  auf  dem  Kapitel  auf- 
bewahrt waren.  Auf  sie  berufen  sich  die  Historiker  Licinius  Macer  und 
Q.  Aelius  Tubero.  Allein  die  Echtheit  derselben  ist  nicht  glaubhaft.  Dass 
auch  die  Amtsbücher  durch  die  gallische  Katastrophe  hart  mitgenommen 
wurden,  ist  von  vornherein  wahrscheinlich,  von  dem  Pontifikalarchiv  bezeugt 
dies  Livius  ausdrücklich  (6,  1,  2).  An  die  Amtsbücher  knüpft  sich  ein 
Litteraturzweig ,  den  wir  den  isagogischen  nennen  können.  Dionysius 
1,  74  berichtet  uns  von  censorischen  Leitfäden  {ufirjrixd  vnoiivi^iiaxa),  die 
sich  vom  Vater  auf  den  Sohn  vererbten.  Es  ist  sehr  glaublich,  dass  ähn- 
liche „Leitfäden*^  noch  mehrere  vorhanden  waren. 

Den  Unterschied  zwischen  libri  und  commeniarü,  den  präzis  H&bnbb,  Flbokeis.  J 
79,  408  formnliert  hat,  leugnet  Reiffebsohbid;  vgl.  Reobll,  De  augurum  libris  p.  41.  Chei 
den  Inhalt  der  tabultie  censoriae  sieh  Mommsbv,  Rom.  Staatsr.  2,  1,  p.  380  Anm.  2.  Auszüge 
daraus  hei  Varro  de  1.  1.  6,  86.  Überreste  von  Verzeichnissen  der  Mitglieder  von  Priester 
koUegien  sind  gesammelt  CIL.  6,  1976.  Die  libri  Untei  werden  bei  Livius  erwähnt  4|  7, 12 
4, 18,  7;  4,  20,  8;  4,  28,  3. 

Litte ratur:  Axbbosoh,  Über  die  ReligionsbQcher  der  Römer,  Bonn  1843;  Pbbtbisch 
guaest  de  libris  pontificüa,  Berl.  1874,  fragmenta  librorum  pontificiorum,  Tilsit  1878 
Rbqbll,  de  augurum  publiearum  libris^  part.I,  Berl.  1878;  Fragmenta  augur,,  Hirschberg  1882 

14.  Die  amtliche  Chronik.  Wie  im  Mittelalter  aus  der  Ostertafe 
die  Chronik  entstanden  ist,  so  bei  den  Römern  aus  dem  Kalender.  Ei 
war  Sache  der  Pontifices,  die  Zeitrechnung  festzustellen  und  zu  diesen 
Zweck  die  Schaltung  vorzunehmen.  Mit  dem  Kalender  mussten  aber  zu 
gleich  aus  religiösen  Rücksichten  die  Tage  festgestellt  werden,  an  dene] 
es  gestattet  war,  Recht  zu  sprechen  (fari)  und  mit  dem  Volk  zu  verhandeh 
{dies  fasH  im  ursprünglichen  Sinn),  und  die  Tage,  an  denen  beides  nich 
gestattet  war  {dies  nefinsti).  Da  der  dies  fasti  bedeutend  mehr  waren  al 
der  dies  nefasti,  so  erhielt  der  Kalender  den  Namen  fasH,  Den  Kaiende 
machten  die  Pontifices  in  Abschnitten  bekannt;  Cn.  Flavius  veröffentlicht 
den  ganzen  Kalender  für  ein  Jahr  (c.  304).  Seitdem  musste  der  ganz 
Kalender  jährlich  bekannt  gemacht  werden.  Jedoch  ist  uns  über  die  Ai 
der  Bekanntmachung  nichts  überliefert.  Damit  eine  Jahreszählung  durch 
geführt  werden  konnte,  wurde  dem  Kalender  wohl  zugleich  ein  Verzeichni 
der  eponymen  Magistrate  beigegeben.  Nur  aus  dieser  Verbindung  erkläi 
sich,  dass  auch  diese  Eponymenliste  den  Namen  fasti  erhalten  konnte 
Auch  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  dem  Magistratsverzeichnisse  historisch 
Notizen  beigeschrieben  wurden.  Diese  drei  Teile  des  Kalenders,  die  wi 
auf  diese  Weise  bekommen,  die  Tages-  oder  Monatstafel,  die  Jahres 
oder  Magistratstafel,  die  Chronik  mussten  mit  der  Zeit  durch  die  FüU 


Prosa.    Öffentliche  Denkmäler.  19 

des  Stoffes  ihre  Vereinigung  lösen.  Bei  der  Chronik  scheint  dies  sehr  bald 
eingetreten  zu  sein.  Nach  den  beiden  uns  vorliegenden  Zeugnissen  hatte 
dieselbe,  selbständig  geworden,  folgende  Gestalt:  Der  Pontifex  maximus 
Hess  vor  seinem  Amtslokal  eine  weisse  Tafel  aufstellen,  auf  der  oben  die 
Konsuln  und  die  anderen  Magistrate  verzeichnet  waren.  Trat  nun  ein 
wichtiges  Ereignis  ein,  so  wurde  dasselbe  mit  dem  Tagesdatum  auf  die 
Tafel  geschrieben ;  die  zweite  Version  der  Überlieferung,  es  seien  die  That- 
sachen  erst  am  Ende  des  Jahres  auf  einmal  auf  die  Tafel  geschrieben 
worden,  ist  wenig  wahrscheinlich.  Die  auf  der  Tafel  stehenden  Notizen 
waren  kurz  und  dürftig  (Gell.  5,  18,  8);  es  waren  nicht  bloss  politische 
Ereignisse  notiert,  sondern  auch  Teuerung,  Sonnen-  und  Mondsfinstemisse 
(Gell.  2,  28,  6);  der  Prodigien  war  seit  249  v.  Chr.  ausführlicher  Erwähnung 
gethan.  Selbstverständlich,  dass  diese  Chronik,  als  von  den  Pontifices  aus- 
gehend, offiziellen  Charakter  trug.  Diese  Tafeln  wurden  im  Amtslokal  der 
Pontifices  aufbewahrt,  sie  konnten  also  dort  eingesehen  und  abgeschrieben 
werden.  Auf  diese  Weise  mussten  sich  Chroniken  in  Buchform  bilden, 
welche  natürlich  durch  Weglassungen  oder  auch  durch  Zusätze  verschiedene 
Fassung  erhielten.  Diese  Annalen,  welche  sich  Privatpersonen  auf  diese 
Weise  anlegten,  traten  aber  in  den  Hintergrund,  als  mit  dem  Abkom- 
men der  amtlichen  Annalentafel  eine  Redaktion  der  Annalen  in  Buch- 
form und  zwar  in  80  Büchern  eintrat.  Da  diese  Annalen  jetzt  die  voll- 
ständigsten und  wegen  des  offiziellen  Charakters  zugleich  die  wichtigsten 
waren,  erhielten  sie  den  Namen  annales  maximi  und  traten  dadurch  in 
Gegensatz  zu  jenen  weniger  umfangreichen  Privatannalen.  Das  Abkommen 
der  öffentlichen  Annalen  wird  mit  dem  Pontifikat  des  P.  Mucius  Scaevola 
(um  123)  in  Verbindung  gebracht.  Die  Geschichtschreibung  war  damals 
so  entwickelt,  dass  jene  rudimentäre  Form  nicht  mehr  genügen  konnte. 
Wahrscheinlich  ist  aber  auch  die  litterarische  Bearbeitung  der  Annalen 
auf  diesen  P.  Mucius  Scaevola  zurückzuführen.  Die  Tafeln  gingen  beim 
gallischen  Brand  zu  Grunde,  es  sind  also  die  vor  diesem  Ereignis  voraus- 
liegenden rekonstruiert  worden.  Am  besten  lernen  wir  die  Annalen  aus 
Diodor  kennen. 

Die  Steinkalender  sind  gesammelt  und  erlftutert  von  Mommsen,  CIL.  1,  293;  die 
Bacfakalender  werden  wir  später  besprechen.  Eine  Magistratstafel  (zugleich  mit  einer 
Triumphtafel)  sind  die  fasti  CapitoUni,  sogenannt,  weil  sie  sich  jetzt  auf  dem  Gapitol  befinden. 
UrsprOnglich  bedeckten  sie  die  Amtswohnung  des  Pontifex  nuiximus,  die  Regia,  wo  sie 
und  zwar  die  Magistratstafeln  früher  als  die  Triumph  tafeln  zur  Zeit  des  Augustus  aufge- 
steUt  und  einige  Zeit  fortgesetzt  wurden.  Vgl.  Hibschfbld,  Die  Capitolinischen  Pasten 
Hermes  9,  94  u.  11,  154;  Mommsbn,  Rom.  Forsch.  2,  58—85;  Hülsen,  Die  Abfassungszeit 
der  Capitolinischen  Fasten  Hermes  24,  185.  Sie  stehen  CIL.  1,  414.  In  einer  scharfsin- 
nigen Abhandlung  de  fasHs  consularibus  antiquissimis  Leipz.  Stud.  IX  sucht  Gichorius  sie 
auf  eine  in  AtHcus*  Annalis  vorgenommene  Redaktion  (vgl.  p.  258)  zurückzuführen. 

Die  zwei  Stellen  Über  die  annalea  mcucimi  sind:  Servius  in  Verg.  Aen.  1,  873 
üa  auUm  annales  conficiebantur :  inbtdam  dealbatam  quoiannia  pontifex  maximua  habuit, 
in  qua  praescriptis  consuium  nominibus  et  aliorum  magisiratuum  digna  memoratu  noiare 
consueverat  domi  müüiaeque  terra  marique  gesta  per  singtdoa  dies,  cuius  düigentiae 
annuo8  commentarios  in  octoginta  libroe  veieres  rctulerunt  eoaque  a  pontificibus  maximis, 
a  qmbfU  fiebant,  annales  maximos  appellarunt,  Cic  de  or.  2,  12,  52  ab  inüio  rerum 
Bomanarum  usque  ad  P.  Mucium  pontificem  maximum  res  omnes  singulorum  annorum 
nuMndabat  Utteris  pontifex  maximus  referebatque  in  album  et  proponebat  tabulam  domi, 
potestas  tU  esset  populo  eognoscendi.  Soltau,  R^m.  Chronologie  p.  445  will  nach  diesen 
beiden  Zeugnissen  eine  Pontifikaltafel«  durch  welche  dem  Volke  gesicherte  Kunde  der 

2* 


20      BOmiflche  Litteraturgeflohichte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    1.  Periode. 

wichtigeren  Ereignisse  za  teil  werden  sollte''  (Bulletins)  und  eine  Jahreschronik  unter- 
scheiden. 

Litteratur:  Sohwegler,  ROm.  Gesch.  1,  7;  Hübneb,  Die  annales  nuuntni  der  Römer 
Flbckbis.  J.  79,  401—423.  Petes,  Historicorum  Eomanorum  reliquiae  1,  IX.  Nitzsch, 
Die  röm.  AnnaJistik.  BerL  1873.  Nissen,  Ent  Untersuchungen  ttber  die  Quellen  des 
livius  p.  86. 

15.  Die  Xn  Tafeln.  Als  das  grösste  Werk,  das  in  Prosa  in  dieser 
Zeit  abgefasst  wurde,  sind  die  Gesetze  der  auf  dem  Forum  aufgestellten 
xn  Erztafeln  zu  betrachten,  von  denen  zehn  im  J.  451,  zwei  im  J.  450 
abge&sst  wurden.  Über  das  Wesen  dieser  Gesetzgebung  besteht  keine 
Divergenz  der  Meinung;  im  grossen  Gkinzen  haben  wir  in  den  XU  Tafeln 
das  nationale  Gewohnheitsrecht  der  Römer  kodifiziert,  und  zwar  ist  Kriminal-, 
Givilrecht,  Cüvilprozess  noch  nicht  geschieden,  ja  auch  einzelne  staatsrecht- 
liche Bestimmungen  waren  darin  aufgenommen.  Die  politische  Bedeutung 
dieser  Gesetzgebung  besteht  darin^  dass  der  Willkür  im  Rechtsprechen  ein 
starker  Damm  entgegengestellt  wird.  Denn  einmal  gewinnt  der  Rechtssatz 
erst  durch  schriftliche  Fixierung  einen  klaren  und  bestimmten  Inhalt,  als- 
dann kann  die  Rechtsprechung  jederzeit  der  öffentlichen  Kontrolle  unter- 
worfen werden.  Neben  der  politischen  Bedeutung  haben  die  Tafeln  noch 
eine  sehr  hoch  anzuschlagende  litterarische,  Sie  enthalten  den  ersten 
Versuch,  die  lateinische  Sprache  für  die  Schriftprosa  gefügig  zu  machen^ 
d.  h.  den  ersten  Versuch  der  Periodologie,  durch  die  ja  die  geschriebene 
Rede  von  der  gesprochenen  sich  besondei*s  abhebt.  Der  harte  Perioden- 
bau der  Fragmente,  der  auf  den  Subjektswechsel  gar  keine  Rücksicht 
nimmt,  zeigt,  wie  schwierig  dieser  Versuch  war.  Aber  noch  in  anderer 
Hinsicht  tritt  die  litterarische  Bedeutung  der  XII  Tafeln  hervor.  Sie 
wurden  das  Lese-  und  Memorierbuch  der  römischen  Jugend;  dadurch 
wirkten  sie  nicht  bloss  auf  die  Charakterbildung  mächtig  ein,  sondern  die 
Jugend  lernte  die  Schriftprosa  zuerst  aus  den  Xu  Tafeln.  Wie  bei  uns 
Luthers  Bibelübersetzung  unsern  Sprachschatz  wesentlich  beeinflusst,  so 
muss  auch  die  Sprache  der  XII  Tafeln  den  römischen  Stil  durchtränkt 
haben.  So  finden  sich  denn  in  der  That  in  den  Autoren  genug  Stellen, 
die  nur  durch  die  Beziehung  auf  ein  XII  Tafelgesetz  ihr  volles  Licht  er- 
halten. Weiterhin  werden  die  XII  Tafeln  das  Objekt,  an  dem  die  römische 
Phüologie  ihre  Kräfte  versuchte,  indem  sie  ausser  Kurs  gekommene  Wörter 
erklärte.  Doch  die  nachhaltigste  Wirkung  übten  die  Tafeln  auf  die  Ent- 
wicklung des  Rechts  und  der  Rechtswissenschaft  aus.  Die  Interpretation 
suchte  das  XII  Tafelgesetz  zu  erläutern  und  fortwährend  in  Einklang  mit 
den  Bedürfnissen  des  Lebens  zu  erhalten.  Darauf  beruhte  die  stetige 
Weiterentwicklung  des  Rechts. 

Von  den  XII  Tafeln  ist  uns  keine  erhalten;  sie  gingen  bei  der  Gallischen  Eroberung 
(887/6)  zu  Grund;  ob  sie  wieder  hergestellt  wurden  oder  ein  anderweitiger  Ersatz  gesucht 
wurde,  ist  nicht  sicher.  Vgl.  Kablowa,  Rechtsgesch.  1,  108.  Wir  sind  daher  auf  die  An- 
gaben bei  den  Schriftstellern  angewiesen,  welche  aus  rechtlichen  oder  sprachlichen  Rück- 
sichten entweder  ganze  Gesetze  oder  Teile  zitieren.  Die  Restauration  des  Gesetzgebungs- 
werkes ist  daher  ein  sehr  schwieriges  Problem  und  kann  nur  in  unvollkommener  Weise 
gelöst  werden;  einmal  erscheint  der  Wortlaut  der  Gesetze  vielfach  modernisiert,  indem 
sie  sich  der  Sprache  der  jeweiligen  Generation  anpassen.  Alte  Formen,  die  in  den 
XII  Tafeln  vorhanden  sein  mussten,  sind  nicht  selten  spurlos  verschwunden.  Es  ist  daher 
sehr  fraglich,  ob  es  Überhaupt  möglich  ist,  die  Urform  der  Gesetze  herzustellen  und  ob  wir 
ans  nicht  zufrieden  geben  müssen,  wenn  es  ims  gelingt^  die  Gesetze  in  der  Fassung, 


Prosa,    öffentliohe  Denkmäler.  21 

in  der  eie  bei  den  Schriftsiellem  einer  bestimmten  Epoche  eischeinen,  zn  geben.  Noch 
weniger  ala  die  Form  der  Gesetze  können  wir  die  Reihenfolge  der  Tafeln  und  der  Oesetze 
ermitteln.  Ein  nm  die  Geschichte  des  römischen  Rechts  hochverdienter  Gelehrter  Duuc- 
snr  z.  B.  hat  einen  derartigen  Versuch  gemacht,  allein  derselbe  hftlt  genauerer  Prüfung 
nicht  Stand. 

Litteratnr:  DiBKSBf,  Kritik  und  Herstellung  des  Textes  der  XII  Tafelfragmente. 
Leipz.  1864  M.  Voigt,  Geschichte  und  allgemeine  juristische  Lehrbegriffe  der  XII  Tafeln. 
2  Bde.    Leipz.  1883.    Legis  XII  tahülarum  reliqutae.    Ed.  R.  Schokll.    Leipz.  1866. 

16.  Jos  Papirianuni.  Ausser  den  Xu  Tafeln  begegnet  uns  noch 
eine  Kodifikation,  nämlich  die  Kodifikation  der  Königsgesetze  {leges  regiae) 
im  sog.  ius  Papirianum.  Dieselbe  ist  aber  eine  litterarische,  d.  h.  in  Buch- 
form gebrachte.  Nach  dem  Zeugnis  des  Pomponius  (Dig.  1,  2,  2,  2)  ist 
es  eine  Sammlung  der  Gesetze,  welche  die  Könige  gegeben  haben,  ver- 
anstaltet von  einem  Sex.  Papirius  zur  Zeit  des  Tarquinius  Superbus.  Dio- 
nysius  berichtet  3,  36  noch  ausführlicher,  dass  ein  Oberpontifex  G.  Papirius 
nach  der  Vertreibung  der  Könige  eine  Sammlung  sakraler  Bestimmungen 
wieder  zur  öffentlichen  Kenntnis  gebracht  habe,  nachdem  eine  solche  Pu- 
blikation des  Ancus  Marcius  im  Lauf  der  Zeit  zu  Grund  gegangen  sei. 
Allein  es  ist  schwer,  sich  jene  Gesetze  des  »u8  Papirianum  als  von  den 
Königen  erlassene  Gesetze  zu  denken^  es  ist  unmöglich,  in  jenem  Papirius, 
dessen  Vorname  schwankend  angegeben  wird,  den  Redaktor  der  Gesetzes- 
sammlung zu  erblicken.  Die  erste  schriftliche  Gesetzgebung  erhalten  wir 
mit  den  XII  Tafeln;  deren  Notwendigkeit  zeigt,  dass  zuvor  eine  kodifizierte 
Gesetzgebung  nicht  existierte.  Sonach  haben  wir  die  Zeit  der  Redaktion 
und  die  Person  des  Redaktors  als  apokryph  anzusehen.  Wie  steht  es  nun 
mit  dem  Inhalt?  Soweit  die  Fragmente  es  erkennen  lassen,  sind  die  Königs- 
gesetze Bestimmungen  ritueller  und  sacralrechtlicher  Natur,  welche  für 
das  Publikum  allgemeines  Interesse  haben,  und  zwar  solche,  die  in  den 
Amtsbereich  der  Pontifices  fielen.  Sonach  werden  die  Königsgesetze  auf 
einem  Auszug  aus  den  Pontifikalbüchern  beruhen.  Dieser  Sammlung,  welche 
auf  privatem  Weg  erfolgte,  wurde  der  Name  jenes  Oberpontifex  Papirius 
vorgesetzt,  um  ihr  mehr  Gewicht  zu  verleihen.  Kommentiert  wurde  das 
Buch  von  Granius  Flaccus,  einem  Zeitgenossen  Gäsars  (Dig.  50,  16,  144). 
Also  muss  die  Sammlung  schon  damals  bestanden  haben.  Ob  sie  noch 
weiter  zurückgeht,  hängt  davon  ab,  ob  anzunehmen  ist,  dass  Gassius  Hemina 
(um  146),  der  von  Numa  zwei  Gesetze  anführt  (fr.  12  und  13  p.  99  Peter), 
dieselben  aus  dem  papirischen  Rechtsbuch  entnommen.  Ist  die  Verteilung 
der  Gesetze  unter  die  einzelnen  Könige  ein  Werk  des  Redaktors,  so  ist 
die  Frage  entschieden.  Waren  aber  schon  von  den  Pontifices  die  Gesetze 
mit  den  Königen  verknüpft,  so  ist  das  Zeugnis  für  die  Zeit  der  Redaktion 
irrelevant. 

Neben  den  leges  regiae  finden  wir  auch  zitiert  commerUarü  regii.  Beide  sind  ver- 
schieden. «Die  Kommentarien  sind  die  pontificale  Sacralordnnng  Oberhaupt,  die  leges  re* 
giae  eine  daraus  fQr  das  Publikum  ausgezogene  Anweisung,  hauptsächlich  zur  Vermeidung 
des  piaculum^  MoufSBV,  Staatsr.  2,  1  p.  42,  2.  Nach  Sohm,  Instit.'  29,  Anm.  1  führen  die 
leges  regiae  ihren  Namen  wahrscheinlich  lediglich  daher,  dass  diese  Ordnungen  dem  un- 
mittelbaren Schutz  der  Könige  unterstellt  waren,  geradeso  wie  altattische  Kultusordnungen 
den  Namen  «königliche  Gesetze"  lediglich  deshalb  f&hrten,  weit  ihre  Handhabung  dem 
Archon-KOnig.  oblag. 

Litteratnr:  Das  gesamte  Material  gibt  M.  Voigt,  Über  die  leges  regiae.  Abb.  der 
süchs.  Oesellsch.  der  Wissensch.  7/  557,  seine  Darlegung  kommt  aber  zu  unhaltbaren  Re- 
sultaten. 


22      BömiBche  Litteraturgeachichie.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    1.  Periode. 

17.  Jus  Flavianum.  Das  Landrecht  war  kodifiziert,  man  wusstc, 
was  Rechtens  ist,  allein  es  fehlte  noch  die  allgemeine  Kenntnis  der  Mittel 
und  Wege,  sein  Recht  geltend  zu  machen.  Zu  diesem  Zwecke  war  es 
notwendig,  einmal  zu  wissen,  welches  die  Tage  waren,  an  denen  Recht 
gesprochen  werden  durfte,  dann  welches  die  Prozessformen  waren,  um 
einen  Rechtsstreit  giltig  einzuleiten.  Dieses  Wissen  war  aber  ein  Privi- 
legium der  Pontifices.  Sonach  war  noch  immer  das  Recht  gebunden  und 
unfrei.  Diese  Gebundenheit  wurde  beseitigt  durch  eine  kühne  That,  welche 
Appius  Claudius  Caecus  hervorgerufen  hatte.  Sein  Schreiber  Cn.  Flavius 
stellte  (vgl.  §  14)  ein  Verzeichnis  der  Gerichts-  und  der  anderen  Tage  aui 
dem  Forum  auf  (Liv.  9,  46),  femer  veröffentlichte  er  Prozessformulare  (legis 
actiones  Dig.  1,  2,  2,  7)  in  Buchform.  Dieses  Buch  hiess  jus  Flavianum 
Mit  dieser  Publikation  hörte  alles  Geheimnis  des  Rechtes  auf.  Wir  stosser 
daher  auch  bald  auf  den  ersten  Rechtslehrer,  Ti.  Goruncanius  (Cons.  280),  wel- 
cher der  erste  plebejische  Pontifex  maximus  war.  Er  erteilte  nämlich  seine 
Rechtsbescheide  öffentlich,  so  dass  zuhören  konnte,  wer  wollte,  nicht  blosi 
der  einen  Rechtsbescheid  Suchende,  und  knüpfte  Erörterungen  daran.  Dami 
that  wiederum  die  Rechtskunde  einen  weiteren  Schritt  in  die  Öffentlichkeit 
Die  Kunst,  das  Recht  anzuwenden,  ward  jetzt  verallgemeinert,  sie  tra 
aus  dem  Kreis  der  Pontifices  heraus.  Schriften  hinterliess  Goruncaniui 
nicht,  allein  es  hatten  sich  von  ihm  mehrere  Rechtsbescheide  und  merk 
würdige  Äusserungen  oder  Handlungen  {memorabilia)  durch  Tradition  er 
halten. 

Hauptaiellen  Aber  Ti.  CorancanioB  Dig.  1,  2,  2,  85  und  38.  Vgl.  Jobs,  Römiscb 
RecbtswiBsenscbaft  zur  Zeit  der  Republik  1,  73. 

Die  Fragmente  der  vorjustinianiscben  Jurisien  sind  gesammelt  von  Huschke  iurii 
prudeniiae  Anteiuatinianae  quae  supe^sunt.  Ed.  IV  Leipz.  1879.  Eine  Sammlung  di 
Fragmente  der  Juristen  aus  der  Zeit  der  Republik  nebst  Kommentar  stellt  Jobs  in  Aussich 

18.  Verträge  und  Gesetze.  Ihre  Zahl  ist  klein;  denn  durch  de 
Brand,  der  bei  der  gallischen  Eroberung  (387/6)  Rom  mit  Ausnahme  de 
Eapitol  einäscherte,  sind  die  meisten  zu  Grund  gegangen.  Durch  Auger 
zeugen  haben  wir  nur  von  folgenden  Schriftdenkmälern  aus  der  Zeit  vc 
dem  gallischen  Brande  Kunde  erhalten.  1)  Dionysius  sah  noch  (4,  2( 
den  Bündnisvertrag,  der  zwischen  Rom  und  den  Latinern  unter  Servil 
Tullius  abgeschlossen  wurde.  Derselbe  war  auf  eine  eherne  Tafel  m 
altgriechischen  Buchstaben  eingegraben;  die  Tafel  war  in  dem  Bundestemp« 
der  Diana  auf  dem  Aventin  aufgestellt.  2)  In  gleicher  Weise  schildei 
nach  Autopsie  Dionysius  4,  58  den  Vertrag  eines  Tarquinius  mit  Oabii ;  < 
stand  auf  einem  mit  einer  Rindshaut  überzogenen  Schild  im  Tempel  d< 
Sancus  auf  dem  Quirinal,  welcher  Tempel  wahrscheinlich  auch  der  gallische 
Katastrophe  entgangen  war.  Auf  diesen  Vertrag  spielt  Horaz  Ep.  2, 1, 25  a 
3)  Polybius  setzt  (3, 22)  den  ersten  Handelsvertrag  der  Römer  mit  den  Karthj 
gern,  dessen  Inhalt  er  angibt,  ins  Jahr  508;  er  fügt  bei,  dass  derselbe  in  ein< 
Sprache  abgefasst  war,  welche  den  Gelehrten  seiner  Zeit  Schwierigkeit^ 
machte.  Allein  es  ist  strittig,  ob  dieser  Vertrag  hieher  gehört,  da  Diod< 
16,  69  den  ersten  dieser  mit  Karthago  geschlossenen  Handelsverträge  ii 
Jahr  348  setzt.  4)  Cicero  erinnerte  sich  noch,  in  seiner  Jugendzeit  d< 
Bundesvertrag  gesehen  zu  haben,  den  Sp.  Cassius  493  v.  Gh.  mit  den  L 


Prosa.    Familiendenkmäler.  23 

tinem  schloss;  er  stand  auf  einer  ehernen  Säule,  die  auf  dem  Forum  auf- 
gestellt war  (Cic.  p.  Balbo  23,  53).  5)  Livius  gedenkt  7,  3  des  Gesetzes 
{lex  priscis  litteris  verbisque  scripta)  vom  Einschlagen  des  Jahresnagels; 
dasselbe  war  im  kapitolinischen  Tempel  angeheftet.  6)  Zur  Zeit  des  Dio- 
nysius  (10,  32)  befand  sich  noch  im  Aventintempel  die  eherne  Säule,  auf 
der  das  Gesetz  des  L.  Icilius  Ruga  (456)  betreffend  die  Verteilung  des  auf 
dem  Aventiu  befindlichen  ager  püblicus  an  die  armen  Plebejer  für  Bauplätze 
geschrieben  stand.  7)  Der  Bundesvertrag  mit  Ardea  (444)  scheint  noch 
dem  Licinius  Macer  aus  der  Zeit  des  Sulla  zugänglich  gewesen  zu  sein 
(Liv.  4,  7).  8)  Endlich  —  um  auch  dies  gleich  hier  zu  erwähnen  —  las 
die  Inschrift  auf  dem  linnenen  Panzer  des  Vejenter  Königs  Tolumnius  den 
der  Konsul  A.  Cornelius  Cossus  im  Fidenatenkrig  besiegt  und  dessen  Panzer 
er  im  Tempel  des  Juppiter  Feretrius  geweiht  hatte  (wahrscheinlich  428), 
noch  Augustus  (Liv.  4,  20). 

Das  sind  die  ältesten  Schriftdenkmäler,  von  denen  uns  noch  die 
späteste  Zeit  auf  Autopsie  hin  Kunde  gibt.  Alles  sonstige  der  galli- 
schen Katastrophe  vorausliegende  Schrifttum,  das  wir  erwähnt  finden,  ist 
zweifelhafter  Natur.  Man  begreift  darnach,  wie  unsicher  die  Überlieferung 
der  ältesten  römischen  Geschichte  sein  musste,  und  versteht  die  Klage 
des  Livius  (6,  1). 

Varro  erwähnt  nach  Macrobins  1,  13,  21  antiquissimam  legem  incisam  in  columna 
aerea  a  L,  Pinario  et  Fwrio  consulxbtM  (472). 

Litteratur:  Sohweoleb,  Rom.  Geschichte  1,  18—21.  Moxmsen,  R.  Gesch.  1',  216. 
Forsch.  2,  159.  238.  Rom.  Chrono!.'  p.  93.  Die  reiche  Litteratur  flher  die  karthagischen 
Vertrfige  siehe  bei  Meltzbb,  Geschichte  der  Karthager  1,  487  and  bei  Soltau,  Philolog.  48, 
131.  Besonders  wichtig  sind  Mommsen,  Rom.  Chronologie*  p.  320,  welcher  den  ersten 
Yerkag  ins  Jahr  348  v.  Ch.  setzt,  und  Nissen,  Fleckeis.  J.  97,  321,  welcher  Polybius  folgt. 

b.  Familiendenkmäler. 

19.  Die  Leichenrede  und  das  Eloginm.  Von  Privataufzeichnungen 
sind  für  die  ältesten  Zeiten  nur  wenige  Spuren  vorhanden.  Die  wichtigste 
ist  die  Leichenrede  {laudatio  funebris).  Es  war  Sitte,  dass  auf  den 
vornehmen  Verstorbenen  von  einem  Angehörigen,  der  dem  Toten  am 
nächsten  stand  und  zugleich  befähigt  war,  oder  wenn  es  sich  um  ein  öffent- 
liches Leichenbegängnis  handelte,  von  einem  hiezu  bestellten  Beamten  auf 
dem  Forum  eine  Leichenrede  gehalten  wurde.  Diese  Sitte,  welche  auf 
Polybius  grossen  Eindruck  machte  und  ihn  zu  einer  sehr  interessanten,  den 
Leser  ungemein  fesselnden  Schilderung  veranlasste  (6,  53),  geht  sehr  weit 
zurück,  wie  man  aus  Dionysius  5,  17  zu  schliessen  berechtigt  ist.  Solche 
Reden  wurden  wohl  anfangs  nicht  aufgeschrieben;  schriftlich  fixiert  fan- 
den sie  ihre  .passende  Stätte  im  Familienarchiv;  von  da  aus  nahmen  sie, 
besonders  wenn  es  sich  um  berühmte  Persönlichkeiten  handelte,  nicht  selten 
auch  den  Weg  in  die  Öffentlichkeit.  Die  Schriftsteller  geben  uns  Kunde 
von  solchen  umlaufenden  Reden;  so  bezeugt  Plutarch  ausdrücklich,  dass 
zu  seiner  Zeit  noch  die  Leichenrede  vorhanden  gewesen  sei,  die  Fabius 
Maximus  Gunctator  auf  seinen  Sohn  hielt  (Fab.  1,  30);  Plinius  (n.  h.  7,  139) 
führt  aus  der  Leichenrede  des  Q.  Gaecilius  Metellus  auf  seinen  Vater 
(221  V.  Gh.)  Gedanken  an.    Auf  den  jüngeren  Scipio  gab  es  eine  Leichenrede, 


24      BOmisohe  litteraturgeschichie.    L  Die  Zeit  der  Republik.    1.  Periode. 

die  Laelius  für  Q.  Fabius  Maximus  schrieb.  Die  schoUa  Bobiensia  haben 
uns  p.  283  Or.  aus  dieser  Rede  ein  Kolon  erhalten.  Nach  Cicero  scheinen 
diese  Reden  von  künstlerischer  Form  weit  entfernt  gewesen  zu  sein  (de  or.  2, 
84,  341).  Verwandt  mit  der  Leichenrede  ist  das  elogium^  die  Aufschrift 
unter  dem  Ahnenbild  (auch  index,  titulus).  Dasselbe  kann  als  eine  abge- 
kürzte Leichenrede  angesehen  werden.  Es  war  nämlich  Sitte,  die  Ahnen- 
bilder und  die  Stammbäume  im  Atrium  aufzubewahren  und  bei  jedem  Ahnen- 
bild die  Thaten  und  Ehren  des  Dargestellten  kurz  zu  verzeichnen.  Auch 
diese  Sitte  muss  sehr  weit  zurückgehen;  dies  erhellt  daraus,  dass  Appius 
Claudius  in  dem  von  ihm  296  v.  Ch*  gestifteten  Tempel  der  Bellona  seine 
Ahnenbilder  mit  den  Aufschriften  aufstellen  konnte  (Plin.  n.  h.  35,  12).  Auf 
diese  Weise  war  eine  Familienchronik  in  Rudimenten  vorhanden;  später, 
wohl  gegen  Ende  der  Republik,  wurden,  wie  es  scheint,  aus  diesen  elogia 
Familienchroniken  gemacht;  so  erwähnt  Gellius  13,  20,  17  eine  Denkschrift 
über  die  Porcische  Familie.  Die  Autoren  klagen,  dass  durch  diese  Leichen- 
reden und  Elegien  die  Geschichte  verfälscht  wurde  (Cic.  Brut.  16,  62,  Liv.  8, 
40)  4).  Man  wird  diese  Klage  berechtigt  finden,  man  braucht  sich  nur 
daran  zu  erinnern,  wie  nach  Aufkommen  der  Aeneassage  es  üblich  wurde, 
den  Stammbaum  auf  trojanische  Helden  hinaufzuführen. 

Litteratur:  Schweolkb,  Rom.  Geech.  1,  14.  Gbaff,  De  Bomanorum  laudaHonibus, 
Dorpat  1862.  Hübher,  Hermes  1,  440.  Mommben,  CIL.  1,  277.  Peteb,  Historicorum  roma- 
norum  reliquiae  1,  XXVÜL 

o.  Appins  GlandiuB  Caecns. 

20.  Der  erste  römische  Schriftsteller.  Die  bisherige  Betrachtung 
hat  uns  Schriftdenkmäler  kennen  gelehrt,  welche  durch  äussere  Bedürfnisse 
hervorgerufen  wurden;  sie  hat  uns  aber  auch  freie  Schöpfungen  des  Geistes 
und  zwar  in  mannigfacher  Gestalt  vorgeführt.  Allein  an  bestimmte  Namen 
konnten  wir  diese  Produkte  nicht  anknüpfen.  Wir  hatten  Schriftwerke, 
aber  keine  Schriftsteller.  Mit  Appius  Claudius  Caecus  (Cons.  307  und  296), 
dessen  grossartigen  Einfluss  auf  die  Verfassungsverhältnisse,  Rechtsentwick- 
lung (vgl.  §  17)  die  politische  Geschichte  darzulegen  hat,  dessen  grossartige 
Bauten  seinen  Namen  unsterblich  gemacht  haben,  erhalten  wir  auch  den 
ersten  römischen  Schriftsteller.  Es  sind  zwei  Werke,  welche  die  Litteratur 
von  ihm  lange  Zeit  bewahrt  hat,  ein  Werk  der  Prosa  und  ein  Werk  der 
Poesie.  Als  der  König  Pyrrhus  im  J.  280  durch  einen  Abgesandten,  den 
Thessaler  Kineais,  mit  dem  Senat  wegen  eines  Friedens  unterhandeln  liess, 
trat  Appius  Claudius,  schon  hochbetagt  damals,  auf  und  sprach  in  so  ein- 
dringlicher Weise  dagegen,  dass  die  Friedensanträge  zurückgewiesen  wurden. 
Diese  berühmte  Rede  des  Appius  Claudius  wurde  aufgezeichnet  und  publi- 
ziert; sie  war  noch  zu  Ciceros  Zeit  vorhanden  (Cato  m.  16).  Noch  wichtiger 
ist  das  zweite  Werk,  eine  Spruchsammlung  {sententtae),  in  Satumiem. 
Drei  Sprüche  sind  uns  aus  derselben  erhalten,  darunter  der  jetzt  in  aller 
Mund  lebende  „Jeder  ist  seines  Glückes  Schmied.*  Cicero  nennt  diese 
Spruchsammlung  pythagoreisch,  er  denkt  wohl  an  die  goldenen  Sprüche 
des  Pythagoras  (Tusc.  4,  2,  4).  Möglich,  ja  wahrscheinlich  ist  es,  dass  die 
griechische  Spruchdichtung  auf  Appius  Claudius  eingewirkt  hat. 


Appins  Clandins  Caeons.  25 

Die  ersten  Schriftsteller  sind  zugleich  die  ersten  Sprachmeister.  Auch 
bei  Claudius  tri£Et  dies  zu.  Es  werden  einige  Neuerungen  in  der  Schrift 
ihm  zugeschrieben.  Er  führte  die  Schreibung  von  r  statt  s  in  gewissen 
Wörtern  durch;  es  scheinen  dies  besonders  Eigennamen  gewesen  zu  sein, 
die  noch  die. alte  Schreibung  bewahrten,  nachdem  längst  der  Lautwandel 
von  s  zu  r  sich  vollzogen  (Dig.  1,  2,  2,  36);  er  verdrängte  das  z  aus  dem 
lateinischen  Alphabet;  später  wieder  aufgenommen,  konnte  es  seine  frühere 
Stelle  im  Alphabet  nicht  mehr  erhalten,  sondern  blieb  ans  Ende  desselben 
gebannt  (Mart.  Cap.  3,  261  p.  64  Eyssenh.  vgl.  §  12). 

Aach  im  Altertum  bestand  die  Tradition,  dass  Appios  Claudios  der  erste  Sohriflsteller 
sei.  Ungeschickt  Isidor.  orig.  1,  87,  2:  apud  Bomanos  —  Äppius  CaectM  adverstu  Pyrrhum 
solutam   ortUionem  primus  exercuiL 

In  den  Big.  1,  2,  2,  86  wird  dem  Appius  Claudius  auch  eine  Schrift  de  iMur- 
pationibua  beigelegt,  jedoch  mit  dem  Beisatz  qui  liber  non  exstat.  Was  mit  uswr- 
pationea  hier  gemeint  sei,  ist  strittig.  Die  einen  verstehen  darunter  Fälle  der  Anwen- 
dung der  XII  Tafeln  und  halten  das  Werk  IQr  eine  Responsensammlung,  andere  fassen 
usurpationes  als  Unterbrechungen  des  usus  und  erblicken  in  dem  Werk  eine  Sammlung 
von  Formularien  fftr  Usurpationen.  Die  Autorschaft  des  Appius  Claudius  ist  mir  sehr 
zweifelhaft;  vielleicht  wurde  einer  Usurpationen-Sammlung  der  Name  Appius  Claudius  bei- 
gefügt, wie  der  des  Papirius  der  Sammlung  der  leges  regiae.  Vgl.  Jobs,  Köm.  Rechts- 
wissensch.  1^  86. 

Die  Einf&hning  des  r  statt  s  durch  Appius  Claudius  bezweifelt  Jobdan,  Erit. 
Beitr.  p.  155,  Cichorius  de  fastis  p.  175,  vgl.  dagegen  6.  Mbteb,  Zeitschr.  f.  österr. 
Gymn.  81,  121.  Wenn  Jordan  p.  154  dem  Appius  Claudius  statt  dem  Spurius  Canrilius 
die  Erfindung  des  neuen  Zeichens  fOr  die  gutturale  Media  beilegen  will,  so  ist  richtig,  dass 
zwischen  der  Ausscheidung  des  z  und  der  Einführung  des  g  insofern  ein  Zusammenhang 
gegeben  ist,  als  das  neu  eingeführte  g  im  Alphabet  die  Stelle  des  ausgeschiedenen  z  ein- 
nimmt Allein  dies  kann  auch  durch  die  Annahme  erklärt  werden,  dass  zwischen  Appius 
Claudius  und  Spurius  Canrilius  persönliche  oder  zum  mindesten  geistige  Beziehungen  be- 
standen haben.    Vgl.  Hayst,  Bevue  de  pkü,  2,  15-18. 


21.  Bfickblick.  Wenn  wir  auf  die  erste  Periode  der  römischen  Lit- 
teratur  zurückblicken,  so  erkennen  wir,  dass  von  einer  Litteratur  im  strengen 
Sinne  des  Wortes  noch  nicht  die  Rede  sein  kann,  dass  uns  hier  nur  Keime 
und  Ansätze  zur  Litteratur  vorliegen.  Allein  es  wäre  unrecht,  dieselben 
gering  zu  schätzen  oder  gar  beiseite  zu  lassen.  Diese  Keime  und  Ansätze 
haben  ja  ihre  Wurzeln  noch  in  nationalem  Boden.  Nicht  als  ob  es  in 
dieser  Periode  an  Anregungen  von  aussen,  besonders  von  Griechenland 
völlig  gefehlt  hätte;  allein  von  solchen  Anregungen  ist  noch  ein  weiter 
Weg  bis  zur  förmlichen  Übernahme  einer  fremden  Kultur  und  Litteratur. 
Die  Litteraturanfänge  des  römischen  Volks  tragen  deutlich  an  der  Stirne, 
wess  Gteistes  Kind  sie  sind.  Nehmen  wir  die  gebundene  Rede,  so  fehlt  der 
aus  dem  Herzen  frisch  hervorsprudelnde  Liederquell,  der  uns  des  Sängers 
Leid  und  Freud  erschliesst,  dafür  sprosst  empor  das  Kultuslied,  das  den 
Segen  der  Himmlischen  erfleht,  das  Ahnenlied,  das  die  Thaten  der  Vor- 
fahren preist,  der  Spruch,  durch  den  der  Vater  den  Sohn  unterweist.  Nur 
als  Begleitierin  des  Festes  stellt  sich  die  Dichtkunst  in  den  Dienst  der 
individuellen  Ungebundenheit  und  Freiheit.  Nehmen  wir  die  Prosa,  so 
knüpfen  die  Formen,  die  über  das  Bedürfnis  des  praktischen  Lebens  hinaus- 
gehen, wie  das  Ahnenlied  an  das  Gemeinwesen  an.  Es  sind  dies  die 
schlichten*  historischen  Aufzeichnungen,  welche  aber  alle  Keime  der  £nt- 


26       ROmiaohe  LiüeratnrgeBchichie.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    1.  Periode. 

Wicklung  in  sich  tragen,  und  die  Leichenrede,  die  zum  Preise  berühmter 
Toten  gesprochen  wurde.  Dass  aus  diesen  Elementen  eine  Litteratur  heraus- 
wachsen konnte,  wer  wollte  das  leugnen?  Wer  wollte  z.B.  in  Abrede  stellen, 
dass  sich  aus  dem  Festlied  und  Festspiel  eine  dramatische  Form  heraus- 
bilden konnte?  Allein  andrerseits  dürfen  wir  nicht  vergessen,  dass  zu 
einer  vollen  Blüte  einer  Litteratur  vor  allen  Dingen  die  Freiheit,  Unge- 
bundenheit  des  individuellen  Lebens  gehört  —  auf  diese  Güter  musste  aber 
das  römische  Volk  verzichten,  wenn  es  die  ihm  von  dem  Geschick  über- 
wiesene Rolle  durchführen  wollte. 


Zweite  Periode: 

Die  römische  Kunstlitteratur. 


A.  Die  Litteratur  Yom  zweiten  punischen  Krieg  bis  zum 
Ausgang  des  Bundesgenossenkriegs  (240-88). 

22.  Der  Hellenismns  in  der  römiscfaen  Litteratur.  An  mannig- 
fachen Beziehungen  zwischen  Rom  und  Griechenland  hat  es  seit  den  ältesten 
Zeiten  nicht  gefehlt.  Das  Alphabet  erhielten  die  Römer  von  den  Griechen; 
griechische  Religionsvorstellungen  ergossen  sich  nach  Rom;  ein  interessanter 
Beleg  hiefür  sind  die  in  griechischer  Sprache  abgefassten  sibyllinischen 
Orakel,  welche  in  schwierigen  Lagen  befragt  wurden.  Bezeugt  ist  der 
griechische  Einfluss  auf  die  Zwölftafelgesetzgebung;  auch  in  den  staatlichen 
Einrichtungen  der  Römer  lassen  sich  unschwer  griechische  Elemente  er- 
kennen. Ferner  bestanden  ausgedehnte  Handelsbeziehungen  zwischen  Rom 
und  Griechenland,  welche  die  Kenntnis  der  griechischen  Sprache  von  Seiten 
der  Römer  zur  Notwendigkeit  machten.  So  war  denn  der  römische  Boden 
für  die  griechische  Litteratur  sehr  empfänglich  gemacht.  Diese  musste 
sich  in  vollen  Strömen  nach  Rom  ergiessen,  als  die  politischen  Verhältnisse 
die  Römer  und  Griechen  in  noch  engere  und  häufigere  Beziehungen  zu 
einander  brachten.  Dies  geschah  durch  den  Krieg  mit  Tarent  (282 — 272), 
der  die  unteritalischen  Griechen,  dann  durch  den  ersten  punischen  Krieg 
(264 — 241),  der  die  sicilischen  Griechen  den  Römern  näher  rückte.  Durch 
diese  Kriege  kam  eine  Masse  Hellenen  nach  Rom.  Diese  aber  brachten 
mit  nach  Rom  ihre  heimische  Litteratur.  Diese  Litteratur  aber  hatte  be- 
reits alle  Stufen  der  Entwicklung  durchgemacht;  sie  lag  da  als  ein  voll- 
endetes Ganze  von  unvergänglicher  Schönheit,  die  römische  Litteratur  da- 
gegen stak  noch  in  den  allerersten  Anfangen.  Von  einem  Kampf  der 
römischen  Litteratur  mit  der  griechischen  konnte  sonach  keine  Rede  sein;  da 
das  Schwache  dem  Starken  zu  weichen  hat,  war  der  nationalen  Litteratur 
die  weitere  organische  Entwicklung  versagt.  Es  tritt  jetzt  die  Überführung 
der  griechischen  Litteratur  nach  Rom  ein.  Durch  Übersetzungen  der  grie- 
chischen Schriftwerke  suchte  man  zunächst  die  Bedürfnisse  der  gebildeten 
Gesellschaft,  besonders  der  Schule  zu  befriedigen.    Man  verfuhr  hiebei  sehr 


28      Römische  Litteratargeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

willkürlich,  je  nach  Laune,  je  nach  Zufall  griff  man  bald  zu  diesem,  bald 
zu  jenem  Werk.  Damit  ist  der  fragmentarische  Charakter  der  römischen 
Litteratur  für  alle  Zeiten  festgestellt.  Diese  Litteraturübertragung  ging 
in  der  Zeit  des  zweiten  punischen  Kriegs  vor  sich;  von  dieser  Zeit  an 
datiert  die  römische  Eunstlitteratur.  Mit  Recht  singt  daher  der  Dichter 
Porcius  Licinus  (Gell.  17,  21): 

Poenico  beüo  secundo  Musa  pinncUo  gradu 
InMit  86  hdlicosam  in  Bomuli  gentem  feram, 

a)  Die  Poesie. 

1.  L.  Livius  Andronicus. 

23.  Die  lateinische  Odyssee.  Ein  zufalliges  Ereignis  sollte  eine 
grosse  Wendung  im  römischen  Geistesleben  herbeiführen.  Durch  den  Ta- 
rentinischen  Krieg  kam  der  Grieche  Andronicus  (272)  mit  anderen  Ge- 
fangenen nach  Rom;  er  muss  damals  sehr  jung  gewesen  sein,  da  wir  ihn 
noch  207  thätig  finden.  Sein  Herr  wurde  der  berühmte  M.  Livius  Salinator, 
dessen  Kinder  er  später  unterrichtete.  Freigelassen  führte  er  den  Namen 
L.  Livius  Andronicus.  Er  blieb  Schulmeister,  sein  Unterricht  erstreckte 
sich  auf  beide  Sprachen  (Suet.  de  gramm.  1).  Für  seinen  griechischen 
Unterricht  hatte  er  Lehrmittel  in  Fülle;  dagegen  fehlte  es  für  den  lateini- 
schen an  Litteraturwerken ,  an  denen  sich  der  jugendliche  Geist  bilden 
konnte.  Wohl  um  diesen  Notstand  zu  beseitigen,  übersetzte  Livius  die 
Odyssee;  wir  finden  noch  zur  Zeit  des  Horaz  diese  Übersetzung  als  Schul- 
buch, mit  dem  Orbilius  seine  Schüler  quälte.  Als  Versmass  wählte  Li- 
vius das  nationale  Mass,  den  Saturnier.  Seine  Übersetzung  begann  mit 
den  Worten 

virüm  mihi,  Camina,  insed  versutum. 

Schon  aus  diesem  Verse  erkennt  man,  dass  der  Ton  dieser  Übersetzung 
ein  ganz  anderer  war  als  der  des  Originals.  Sie  muss  einen  steifen,  mit- 
unter komischen  Eindruck  gemacht  haben.  Schon  die  konsequente  Wieder- 
gabe der  griechischen  Qöttemamen  durch  römische  (wie  z.  B.  Moria  statt 
MoTqa  fr.  12  B.)  mutet  uns  eigentümlich  an.  Seine  Kenntnis  der  homeri- 
schen Sprache  muss  nicht  besonders  tiefgegangen  sein;  wenigstens  wäre 
das  sonderbare  Missverständnis  im  31.  Fragment  sonst  nicht  möglich  ge- 
gewesen.  Die  spätere  Zeit  konnte  kein  Gefallen  mehr  an  diesem  Werke 
finden;  Cicero  vergleicht  es  Brut.  18,  71  mit  den  rohen  Versuchen  des 
Dädalus  auf  dem  Gebiete  der  Kunst. 

Die  Bedenken  wegen  des  Vornamens  L.  beseitigt  Moxhbbn,  R.  Gesch.  1*  881.  Die 
Herkunft  aus  Tarent  und  die  Gefangennahme  des  Livius  gebt  hervor  aus  Gic.  Brut  18,  71. 
Hieronym.  ad.  a.  1830  (2,  125  Seh.)  ob  ingenü  meritum  a  Livio  ScUinatore,  cui'u^  liberos 
erudiebat,  libertate  donattts  est. 

Die  Fragmente  sind  gesammelt  bei  L.  MüIler,  Der  satum.  Vers  p.  124,  bei  BIh- 
BENS,  fragmenta  p,  r.  p.  37. 

24.  Das  griechische  Drama  in  Rom.  Dramatische  Elemente  waren 
in  Rom  vorhanden,  sie  versprachen  auch  eine  erfreuliche  Blüte;  allein  ihre 
Entwicklung  wurde  gestört  durch  ein  Ereignis  des  Jahres  240.  In  diesem 
Jahre  wurde  nämlich  an  den  ludi  Romani  von  Andronicus  eine  Tragödie  und 
eine  Komödie  in  lateinischer  Bearbeitung  auf  die  Bühne  gebracht.  Schon 
in  formeller  Beziehung  war  dies  eine  ganz  bedeutende  That.     Das  alte 


L.  livins  Andronicns.  29 

satuiiiische  Mass,  dies  war  klar,  konnte  hier  nicht  zur  Anwendung  gelangen; 
auch  war  eine  grössere  Mannigfaltigkeit  von  Massen  geboten.  Andronicus  stand 
also  vor  dem  Problem,  wie  die  griechischen  Metra  auf  die  römische  Sprache 
zu  fibertragen  seien.  Dies  erforderte  vor  allem  genaueres  Eingehen  auf 
die  Quantität  der  Silben.  Aber  auch  für  das  metrische  Schema  mussten 
bestimmte  Normen  aufgestellt  werden.  Diese  Normen  sind  grundlegend 
für  die  römische  Verskunst  geworden.  Bezüglich  der  Aufführung  seiner 
Stücke  erhalten  wir  einen  merkwürdigen  Bericht  von  Livius  (7,2).  Andronicus 
habe  selbst  die  Hauptrolle  übernommen;  da  er  die  Gesänge  {Monodien) 
infolge  des  Dacaporuf ens  öfters  habe  wiederholen  müssen,  hätte  seine 
Stimme  versagt;  um  sich  zu  schonen,  habe  er  die  Erlaubnis  erbeten  und 
erhalten,  durch  einen  Knaben  die  Arie  singen  zu  lassen,  während  er  nur 
die  entsprechenden  Gesten  dazu  machte.  Wir  haben  Grund,  diese  Er- 
zählung anzuzweifeln;  der  ganze  Bericht  des  Livius  trägt  einen  unverkenn- 
bar ätiologischen  Charakter  an  sich;  die  Erzählung  wird  daher  nur  ein 
Versuch  sein,  die  Thatsache,  dass  später  die  Schauspieler  die  Monodien 
öfters  nicht  mehr  selbst  sangen,  aus  dem  Ursprung  des  römischen  Dra- 
mas heraus  zu  erklären.  Von  den  Dramen,  die  Andronicus  übersetzte,  sind 
nur  wenige  Fragmente  erhalten;  von  den  Komödien  haben  wir  nicht  viel 
mehr  als  einige  Titel.  Die  von  Andronicus  bearbeiteten  Tragödien  sind,  soweit 
wir  sie  kennen,  folgende:  Achilles,  Aiax  mastigophoros,  Equos  Troianos, 
Aegisthus,  Hermiona,  Andromeda,  Danae  (welches  Stück  L.  Müller  dem 
Naevius  zuteilt),  Ino,  Tereus.  Auch  über  diese  Stücke  fällte  die  spätere 
gebildete  Zeit  ein  hartes  Urteil;  Cicero  meint  (Brut.  18,  71),  sie  verdienten 
nicht  zum  zweitenmal  gelesen  zu  werden.  Allein  trotzdem  haben  diese 
Versuche  eine  grosse  Bedeutung;  sie  haben  der  römischen  Welt  ein  hoch- 
bedeutsames Stück  der  griechischen  Litteratur  zugänglich  gemacht. 

FQr  die  Festste! lang  dieses  wichtigen  Ereignisses  sind  massgebend  Cio.  Brot.  18,  72, 
lAvius  primtu  fahulam  C.  Claudio  Caeci  filio  et  M,  Tudüano  cansidibus  docuit,  anno  ipso 
ante  quam  natus  est  Ennius,  post  Bomam  conditam  autem  quarto  decumo  et  quingentesumo, 
ut  hie  ait,  quem  nos  seqmmur.  Est  enim  inter  scriptores  de  numero  annorum  controversia 
in  Bezog  aof  das  Jahr,  Cassiod.  Chron.  zom  J.  239  in  Bezog  aof  das  Festspiel  (ludis  Romanü 
primum  tragoedia  et  comoedia  —  ad  scenam  data).  Über  den  ätiologischen  Charakter  der 
Livianiachen  Erzählong  vgl.  Lbo  «Vabbo  ond   die  Satire*  Hermes  24,  75. 

Die  Fragmente  der  Tragiker  ond  Komiker  sind  gesammelt  von  0.  Ribbbck,  vol.  I 
fragm.  tragie,,  Leipz.  1871  vol.  II  fragm,  comtc,  Leipz.  1873,  aof  die  ein  ffir  allemal  hiermit 
▼erwiesen  wird.  Ergänzend  tritt  hinzo  Ribbeck,  Die  röm.  Tragödie,  Leipz.  1875.  Livi  Andro- 
nid  et  Cn,  Naevi  fobularum  reliquiae.    Ed.  L.  Müller,  Berlin  1885. 

25.  Die  römische  Dichterznnft.  Im  Jahre  207  stellten  sich  sehr 
tramige  Vorzeichen  ein;  zur  Abwehr  derselben  beschlossen  die  Pontifices, 
dass  dreimal  neun  Jungfrauen  durch  die  Stadt  ziehen  und  ein  Lied  singen 
sollten.  Das  Lied  wurde  von  Andronicus  verfasst.  Als  die  Jungfrauen  im 
Tempel  des  Juppiter  Stator  es  einübten,  schlug  der  Blitz  in  den  Tempel  der 
Juno  Regina  auf  dem  Aventin  ein.  Dieses  Prodigium  deuteten  die  Haru- 
spices  auf  die  Matronen  und  verlangten  für  die  Göttin  eine  Sühne.  Zu 
einem  Geschenk,  das  der  Juno  dargebracht  wurde,  kam  noch  die  mit 
ganz  besonderer  Feierlichkeit  ausgestattete  Prozession,  die  uns  Livius 
27,  37  beschrieben  hat.  Bei  derselben  wurde  das  von  Andronicus  ge- 
dichtete Lied  von  den  27  Jungfrauen  gesungen.  Auch  Tanzbewegungen 
waren    mit  dem   Gesang   verbunden.     Livius  fällt   über   das  Lied   kein 


30      BOmische  Litteratnrgeschichte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

günstiges  Urteil;  für  die  damalige  Zeit,  die  noch  keine  Kultur  entwickelt 
hatte,  sei  es  vielleicht  annehmbar  gewesen,  jetzt  müsse  es  dem  Leser  ab- 
stossend  und  holpericht  erscheinen.  Aus  Festus  erhalten  wir  ebenfalls 
Kunde  von  einem  Jungfrauenlied.  Dasselbe  kann  nicht  mit  dem  vori- 
gen identisch  sein,  während  das  vorige  Lied  ein  Bittgesang  war, 
haben  wir  in  dem  von  Festus  erwähnten  ein  Danklied;  denn  Festus 
bezeichnet  ja  als  Entstehungsursache  ausdrücklich  die  günstigere  Wendung, 
die  im  zweiten  punischen  Krieg  in  der  politischen  Lage  eingetreten  sei; 
diese  günstigere  Wendung  wurde  aber  bekanntlich  durch  die  Schlacht  bei 
Sena  (2Ö7)  herbeigeführt.  Was  liegt  also  näher  als  die  Annahme,  dass 
Livius  dieses  Lied  zum  Preise  seines  Patrons  geschrieben,  des  M.  Livius 
Salinator,  der  in  jener  entscheidenden  Schlacht  mit  Claudius  Nero  den 
^  Hasdrubal  geschlagen  hatte?  An  dieses  Lied  knüpft  sich  ein  für  die  Lit- 
teratur  nicht  unwichtiges  Ereignis.  Zur  Belohnung  des  Dichters  wurde 
den  Dichtem  und  Schauspielern  (scribis  histrionibusque)  der  Tempel  der 
Minerva  auf  dem  Aventin  angewiesen,  in  dem  sie  zu  gemeinsamem  Gottes- 
dienst und  zur  gemeinsamen  Beratung  „zusammentreten**  {consistere)  konnten. 
Damit  hatte  der  Stand  der  Dichter  offizielle  Anerkennung  gefunden. 

Festus  p.  333  cum  Livius  Andronicus  hello  Punico  secundo  scripsisset  Carmen  quod 
a  virginibus  est  cantatum,  quia  prosperius  resp,  popüli  romani  geri  coepta  est,  publice 
adtributa  est  ei  in  Aventino  aedis  Minervae,  in  qua  liceret  scribis  histrionibusque  consistere 
(über  diesen  technischen  Ausdrack  Mommsen,  Hermes  1,  309)  ac  dona  ponere,  in  honorem 
Um,  quia  is  et  scribebat  fdbulas  et  agebat. 

In  die  Zeit  des  Livius  fällt  das  Carmen  Priami  in  Satumiem  und  das  Carmen  Nelei 
in  Senaren;  vgl.  Bahbbns  fragm.  p.  52. 

Blicken  wir  auf  die  Thätigkeit  des  Livius  zurück,  so  sehen  wir,  dass 
er  in  drei  Gebieten  sich  versuchte,  im  epischen  durch  seine  Odyssee,  im 
dramatischen  durch  seine  Tragödien  und  Komödien,  endlich  im  lyrischen 
durch  seine  Jungfrauenchöre  {Parthenien).  Zu  allen  drei  Gattungen  wurde 
er  durch  praktische  Bedürfnisse  geführt,  zur  Odyssee  durch  den  Mangel 
an  lateinischen  Lehrmitteln,  zu  den  Dramata  und  den  Jungfrauenchören 
durch  das  Streben,  die  öflfentliche  Feier  durch  das  Festspiel  und  das  Fest- 
gedicht zu  erhöhen.  Als  Schulmeister  und  als  Maitre  de  plaisir,  um  mit 
Mommsen  zu  reden,  hat  Livius  die  römische  Eunstlitteratur  begründet. 

2.  Cn.  Naevius. 

26.  Naevins'  Komödien  und  Satiren.  Als  zweite  Persönlichkeit  er- 
scheint in  der  römischen  Litteratur  Cn.  Naevius.  Wenn  wir  zwischen  ihm 
und  seinem  Vorgänger  einen  Vergleich  ziehen,  so  ergeben  sich  gleich  in  den 
äusseren  Verhältnissen  bedeutende  Differenzen.  Livius  ist  ein  aus  der 
Fremde  stammender  Sklave,  Naevius  ist  freier  Lateiner  aus  Gampanien; 
der  erstere  ist  Schulmeister,  Naevius  Soldat  im  punischen  Krieg;  Livius 
wird  durch  Bedürfnis  und  Gelegenheit  zum  Dichter,  den  Naevius  dagegen 
führt  sein  Genius  auf  den  Parnass ;  der  Tarentinische  Freigelassene  schreibt 
ein  Gedicht  zum  Lobe  eines  vornehmen  Römers,  der  Gampaner,  eine  starke, 
selbstbewusste,  ja  trotzige  Natur,  greift  in  seinen  Gedichten  die  vornehme 
römische  Welt  an.  Wie  Livius,  so  versucht  sich  auch  Naevius  zugleich 
in  mehreren  Gebieten  der  Dichtkunst,  im  Drama  und  im  Epos.    Im  Drama 


Cn.  NaoTias.  31 

zog  ihn  die  Komödie  bei  weitem  mehr  an  als  die  Tragödie.  Man  sieht 
dies  daraus,  dass  Eomödientitel  beträchtlich  mehr  überliefert  sind  als 
Tragödientitel.  Seine  Komödien  haben  die  Eigentümlichkeit  gehabt,  dass 
sie  die  Gegenwart  hereinzogen  und  sich  Ausfälle  gegen  vornehme  Staats- 
männer der  damaligen  Zeit  gestatteten.  Gellius  berichtet  uns  (3,  3,  15), 
dass  Naevius  wegen  seiner  Schmähungen  ins  Gefängnis  geworfen  wurde, 
auf  welches  Ereignis  Plautus  Mil.  glor.  211  anspielt,  und  seine  Befreiung 
erst  dann  erwirken  konnte,  als  er  in  neuen  Komödien  sein  Unrecht  den 
angegriffenen  Personen  gegenüber  gut  gemacht  hatte.  In  den  vorhandenen 
Fragmenten  der  Komödien  finden  wir,  soweit  bestimmte  Stücke  in  Frage 
kommen,  zwar  Sätze,  die  eine  persönliche  Spitze  haben  können  wie  fr.  9 
und  72  Ribb.,  allein  eine  Verhöhnung  mit  Namen  können  wir  nur  bei  dem 
Maler  Theodotus  (fr.  99  Ribb.)  aufzeigen.  Aber  jene  Verse,  in  denen  der 
Dichter  von  dem  Sieger  von  Zama  erzählt,  dass  ihn  seinerzeit  der  Vater 
vom  Liebchen  heimtreiben  musste  (Gell.  7,  8),  werden  einer  Komödie  ent- 
nommen sein.  Die  Zuteilung  anderer  Fragmente  ist  zweifelhaft,  da  Naevius 
noch  eine  Gattung  gepflegt  hat,  in  der  er  zu  Angriffen  genug  Gelegenheit 
fand,  die  satura.  Und  zwar  scheint  dieselbe  die  Form  der  Fescenninen 
gehabt  zu  haben,  d.  h.  Rede  und  Gegenrede.  Wenigstens  weist  das  einzige 
Fragment,  das  ausdrücklich  einer  Satire  beigelegt  wird  (Festus  p.  257), 
auf  einen  Dialog  hin.  >)  Sonach  wird  allem  Anschein  nach  auch  der  Streit 
mit  den  Metellern  Gegenstand  einer  Satire  gewesen  sein.  Diese  Pflege 
der  alten  nationalen  dramatischen  Form  entspricht  ganz  dem  Wesen  des 
Naevius.  Mit  der  Berücksichtigung  der  Gegenwart  in  den  Komödien 
setzt  er  aber  gewissermassen  die  Richtung  der  satura  fort.  Naevius 
nimmt  also  seinem  Original  gegenüber  nicht  bloss  die  Stelle  eines  Über- 
setzers oder  Bearbeiters  ein,  sondern  behält  sich  eigenes  Schaffen  vor. 
Diese  Freiheit  prägt  sich  auch  noch  in  einer  andern  Erscheinung  aus,  in  der 
Kontamination  (Prol.Ter.Andr.18).  Man  versteht  darunter  die  Verschmel- 
zung zweier  Stücke  zu  einem.  Wenn  der  Inhalt  der  beiden  Stücke  nicht 
sehr  ähnlich  war,  konnte  es  sich  natürlich  nur  um  einzelne  Szenen  bei  der 
Herübemahm%  handeln.  Aus  den  Fragmenten  können  wir  fast  nur  „das 
Mädchen  von  Tarenf"  (Tarentilla)  in  einigen  Hauptzügen  feststellen;  diesem 
Stücke  gehören  die  reizenden  Verse  an,  in  denen  das  schelmische  Mädchen 
geschildert  wird,  das  für  alle  irgend  eine  Gunst  bereit  hat*)  (75  Ribb.). 

Über  die  PersonalnoÜzen  des  Naevius  vgl.  Moxxsem,  R.  Gesch.  1",  899.  Seine  dra- 
matische Thätigkeit  scheint  der  Dichter  nach  Varro  bei  Gellins  17,  21,  45  285  v.  Chr. 
begonnen  za  haben.  Es  heisst:  eodemque  anno  (519  u,  c.)  Cn,  Naevius  poeta  fahulas 
apud  populum  dedU,  quem  M,  Varro  in  libro  de  poetis  primo  stipeyxdia  fecisse  ait  hello 
Poenico  primo  idque  ipeum  Naevium  dicere  in  eo  carmine  quod  de  eodem  hello  scripsit. 
Die  zwei  berQhniten  Satamier,  die  den  Streit  zwischen  Naevius  und  den  Metellern  dar- 
legen, sind :  Faio  MeUlU  Mömai  cönsulia  fiunt  und  malüm  dabünt  Metilli  Ndeviö  poitae. 
Über  die  Folgen  dieses  Streits  ist  die  Hauptstelle  Gellius  8,  8,  15:   De  Naemo  —  accepi* 


*)  Was  sonst  noch  BIhbens  den  Sati- 
ren znteilt  (vgl.  Fleckeis.  J.  188,  404), 
beruht  lediglich  auf  Vermutung.  Besonders 
bedenklich  ist  seine  Behandlung  der  Stelle 
Ciceros  Gato  m.  7, 20,  wo  er  durch  Verbindung* 
der  geteilten  Überlieferung  in  Naevii  poe- 
tae  ludo  und  m  Naem  posteriore  libro,  zu 


m  Naevii  poetae  ludorum  posteriore  libro 
zwei  Bflcber  „Scherze"  d.  h.  Satiren  des 
Naevius  gewinnt.  Vgl.  dagegen  Ribbbck, 
Tragic.  fragm.*  p.  278. 

')  Wir   werden  nicht  irren,  wenn  wir 
den  Naevius  als  den  Vorläufer  der  Togaten- 
I  dichter  betrachten. 


32      Römisch«  Litteratargeschichte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

mu8  fabuUiS  ewn  m  carcere  duas  icripsisse,  Hariolum  et  Leontem,  cum  oh  assiduam  nutle- 
dicentiam  et  prohra  in  principes  civitatis  de  Graeeorum  poetarum  more  dicta,  in  vincula 
Bomae  a  triumviris  coniecttis  esset,  ünde  post  a  U-ibunis  plebis  exemptus  est,  cum  in  his 
quM  supra  dixi  fahulis  delicta  stMi  et  pettäantias  dictorum  quibus  multos  antea  laeserat 
diluisset.  Da  Q.  Gaecilios  Metellns  Gonsal  206  war,  so  wird  die  Einkerkerung  des  Kaevius 
in  dieses  Jahr  fallen.  Ausführlich  behandelt  diese  Sache  West  American  J.  of  Philology  8, 17. 

27.  Das  historische  Schauspiel.  Der  Tragödie  schenkt  Naevius,  wie 
gesagt,  weniger  Aufmerks^unkeit;  es  werden  nur  7  Tragödientitel  mit  Frag- 
menten überliefert,  darunter  zwei,  »Das  Trojanische  Pferd"  und  „Danae*',  die 
auchLivius  bearbeitet  hatte.  Ausser  diesen  beiden  kennen  wir  noch:  der  aus- 
ziehende Hektor,  Aesiona,  Andromacha,  Iphigenia,  Lykurgos.  Allein  trotz- 
dem ist  hier  das  Wirken  des  Dichters  noch  einschneidender;  er  schuf  mit 
Anlehnung  an  die  Form  der  Tragödie  das  historische  Schauspiel.  Mit 
genialem  Blick  erkannte  der  Dichter,  dass  die  eigenen  Thaten  des  römi- 
schen Volks  das  Feld  für  das  ernste  Schauspiel  der  Römer  seien,  nicht 
eine  fremde  Götter-  oder  Heroenwelt.  Da  also  in  dieser  Gattung  statt  der 
griechischen  Helden  römische  Könige  und  Feldherren  auftraten,  und  diese 
die  toga  praetexta  trugen,  so  erhielt  das  historische  Schauspiel  den  Namen 
fabula  praetexta  oder  praetextaia.  Zwei  Stücke  sind  uns  von  Naevius  be- 
kannt. Den  Stoff  entnahm  er  einmal  aus  der  Romulussage,  er  schrieb 
einen  Romulus,  dann  auch  aus  der  Geschichte  der  Gegenwart,  es  geschah 
dies  in  dem  Stück,  in  dem  er  den  Sieg  des  Marcellus  über  den  Galater- 
häuptling  Virdumarus  bei  Clastidium  (222)  feierte. 

Bezüglich  der  Praetextae  besieht  eine  Schwierigkeit  wegen  des  Romiilus,  Varro 
zitiert  nämlich  diesen  (de  1.  1.  7,  54;  7,  107),  Festus  p.  270  einen  Lupus,  Donat  zu  Ter. 
Ad.  4,  1,  21  eine  cUimonia  Betni  et  Bomuli,  Dass  der  erste  und  der  driÜe  Titel  auf  das- 
selbe  Stack  hinweisen,  ist  wohl  nicht  zweifelhaft.  Vgl.  M.  Haupt,  opusc.  1,  190.  Aber 
auch  der  Romulus  und  der  Lupus  werden  identisch  sein,  da  im  Lupus  nach  fr.  5  der  König 
Amulius  auftritt.  Die  Identität  leugnete  einst  Ribbbck,  Die  röm.  Trag.  p.  63.  Mit  Clastidium 
ist  vielleicht  identisch  die  bei  Diom.  490  K.  genannte  Prätexta  eines  ungenannten  Dichters. 
V^.  Ribbbck,  Trag,  fragm.'  p.  365.  Müllbb  nimmt  sie  für  Ennius  in  Ansprach  (Q.  £nn. 
p.  102).  —  Lün  Ändronici  et  Un,  Naevi  fabidarum  reliquiae,    Em.  L.  Müllbr,  Berlin  1885. 

28.  Das  historische  Epos.  Auch  im  Epos  ging  Naevius  weit  über 
Livius  hinaus,  nicht  eine  Übersetzung  lieferte  er,  sondern  ein  selbständiges 
Werk,  dessen  StoflF  der  Geschichte  entnommen  war.  Als  alter  Mann  (Cic. 
Cato  m.  14,  50)  schrieb  er  ein  Gedicht  über  den  ersten  punischen  Krieg  im 
saturnischen  Masse.  Er  hatte  diesen  Krieg  selbst  mitgemacht  und  sich 
auch  dessen  in  seinem  Epos  gerühmt.  Das  Gedicht  war  nicht  abgeteilt; 
erst  der  Grammatiker  Octavius  Lampadio  zerlegte  dasselbe  in  sieben  Bücher; 
allein  diese  Buchausgabe  scheint  erst  später  allgemein  geworden  zu  sein. 
Der  Fragmente  sind  uns  nur  wenige  erhalten,  doch  von  jedem  Buch,  mit 
Ausnahme  des  fünften,  dem  wir  mit  Sicherheit  kein  Fragment  zuteilen 
können.  Die  Beschreibung  des  Kriegs  begann  erst  mit  dem  dritten  Buch; 
in  den  zwei  vorausgehenden  Büchern  behandelte  der  Dichter  die  dem  Kriege 
vorausliegende  Geschichte,  er  griff  zurück  bis  auf  Aeneas.  unter  den  Frag- 
menten ist  keines,  das  sich  durch  poetische  Schönheit  auszeichnet.  Das 
Gedicht  scheint  versifizierte  Prosa  gewesen  zu  sein,  also  ein  nüchternes 
und  steifes  Werk;  aber  die  geschilderten  grossen  Thaten  der  Römer  sprachen 
um  so  beredter.  Damit  steht  im  Einklang  das  Urteil  Ciceros  (Brut.  75), 
der  es  einem  Werke  Myrons,  d.  h.  einem  nicht  durchgeistigten  plastischen 
Werke  vergleicht  und  als  Vorzug  desselben  nur  die  Klarheit  hervorzuheben 


T.  Mftcoins  PlantiiB.  33 

weiss.    Ein  Bild  von  dem  Tone  mag  das  mehrfach  angeführte  Fragment 
(37  B  41  M)  geben: 

iransii  Melüdm  Romänua,  tnsulam  integram,  oram 
urü  populdtur  västat;  rem  hosttüm  concinncU, 

Commentatoren  des  Epos  erwähnt  Varbo,  de  1.  1.  1,  39.  Über  die  Bocheinteilung 
baDdelt  BOcbblsb,  Rh.  Mus.  40,  148.  Die  Fragmente  siehe  bei  MOllsb,  Ausg.  des  Ennius 
p.  157  und  der  Sat  Vers  p.  134,  Bahbevb,  fragin.  p.  43.  Über  den  Ton  können  ausser  37 
noch  belehren  fr.  3,  4,  24  u.  48  B. 

29.  NaeviuB'  Ende.  Traurig  sind  die  letzten  Schicksale  des  Naevius. 
Nach  einem  Bericht  des  Hieronymus  starb  der  Dichter  in  der  Verbannung 
in  ütica,  wohin  er  durch  seine  Feinde,  die  Meteller,  getrieben  wurde.  Es 
kann  sein  Tod  nicht  vor  dem  Ende  des  II.  punischen  Kriegs  stattgefunden 
haben,  denn  sein  Angriff  auf  Scipio  setzt  dessen  Sieg  bei  Zama  voraus. 
Allein  trotz  dieser  Verfolgungen  hatte  sich  Naevius  doch  einen  Platz  im 
Herzen  des  römischen  Volkes  erobert.  Noch  späterhin  fühlte  es,  welchen 
Genius  es  in  diesem  Dichter  besessen.  Eine  zu  seinen  Ehren  verfasste 
Grabschrift  (Gell.  1,  24,  1)  klagt,  dass  die  Römer  ihr  Latein  vergessen 
hätten,  seit  Naevius  ins  unterirdische  Haus  hinabgestiegen.  Und  noch 
Horaz  muss  bekennen,  dass  der  alte  Dichter  in  den  Händen  seiner  Zeit- 
genossen sich  befand  (Ep.  2,  1,  53). 

Cic.  Brut  15,  60:  his  consulibus,  ut  m  veteribus  commentariis  scriptum  est  (204  v.  Chr.) 
Naevius  est  morttMs;  quamquam  Varro  noster  —  putat  in  hoc  erratum  vitamque  Naevi 
produeit  langius.  Hieronymus  zu  J.  1816  =  201  y.  Chr.  (2,  125  Seh.):  Naevius  comicus 
Utieae  morüur,  puls%M  Roma  f actione  nohüium  ac  praecipue  Meteüi, 

Litteratur:  Klussmakk,  On.  Naevü  —  vitam  descripsit,  carminum  reliquicts  coU 
legit  . . .  .lena  1843.    Bibchbm,  De  Cn,  Naevii  poetae  vita  et  scriptis,  MQnster  1861. 

3.   T.  Maccius  Plautus. 

30.  Leben  des  Piautas.  T.  Maccius  Plautus  stammt  aus  dem  um- 
brischen  Sarsina.  Über  sein  Leben  ist  die  klassische  Stelle  Gellius  3,  3,  14. 
Es  treten  drei  Abschnitte  in  demselben  hervor.  Plautus  war  zuerst  in 
Rom  Bedienter  von  Schauspielern;  in  dieser  Stellung  verdiente  er  sich  so 
viel,  dass  er  in  die  Fremde  ziehen  und  einen  Handel  anfangen  konnte; 
nachdem  er  alle  seine  früher  gemachten  Ersparnisse  eingebüsst,  kehrte  er 
nach  Rom  zui*ück  und  nahm  bei  einem  Müller  Dienste.  Hier  schrieb  er 
seine  drei  ersten  Stücke,  den  Saturio,  den  Addictus  und  ein  drittes,  dessen 
Titel  wir  nicht  kennen.  Sonst  ist  uns  aus  seinem  Leben  nichts  bekannt 
als  sein  Todesjahr,  welches  184  anzusetzen  ist  (Cic.  Brut.  15,  60).  Welches 
Alter  er  erreicht,  d.  h.  wann  er  geboren  wurde,  kann  annähernd  etwa  durch 
folgende  Kombination  ermittelt  werden.  Wenn  Cicero  in  seinem  Dialog 
Cato  m.  14,  50  den  Pseudolus,  der  191  aufgeführt  wurde,  als  ein  Werk  be- 
zeichnet, dem  das  Alter  des  Dichters  gewidmet  wurde,  so  werden  wir  wohl 
annehmen  können,  dass  Plautus  damals  etwa  60  Jahr  alt  war.  Dies  würde 
ungefähr  auf  251  als  Geburtsjahr  führen.  Wenn  weiterhin  aus  dem  wechsel- 
vollen Leben  des  Plautus  der  Schluss  gezogen  werden  darf,  dass  er  wohl 
kaum  vor  dem  dreissigsten  Lebensjahr  anfing,  Komödien  zu  schreiben,  so 
bekämen  wir  als  Zeitraum,  in  dem  sich  die  dichterische  Thätigkeit  des 
Plautus  entfaltete,  etwa  221 — 184,  d.  h.  sie  würde  den  zweiten  punischen 
Krieg  und  noch  anderthalb  Dezennien  darüber  hinaus  umfasst  haben. 

Frflher  hiess  man  den  Dichter  M.  Accius  Plautus.   Den  wirklichen  Namen  T.  Maccius 
Huidbiich  der  kliM.  Altertnmiwlaaenacban.  Vm.  3 


34      ROmisohe  Liüeratargeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Eepablik.    2.  Periode. 

Plautus  ernierte  Ritschi  aus  dem  Ambrosianischen  Palimpsest,  er  liegt  auch  zu  Grund  im 
Prolog  des  Mercator  6  und  im  Index  des  Accius  bei  Gell.  3,  3,  9  (Parerga  p.  13).  Gegen 
diese  Entdeckung  erhob  sich  mehrfach  Opposition,  die  wiederum  von  Herte  wirksam  be- 
kämpft wurde,  zuletzt  solche  von  CoccMa  Riv,  di  filologia  1884  p.  20.  Einige  Schwierigkeit 
macht  Asin.  Prol.  11 

Demophüus  scripsU,  Macctia  vortit  harbare 

die  bestbezeugte  Form  Maccus.  Diesen  Wechsel  von  Maccius  und  Maccus  erklärt  BOohbleb, 
Rh.  Mus.  41,  12  so:  Sarsinas  poeta  dum  Romae  scaenam  tenet  ludosque  facit  populo, 
simpliciter  maccus  rocäbatur,  ioculator  yeXtotonoios  etc.  Fosiea  Umher  civüatem  Ro- 
manam  adepius  cum  tria  nomina  sumeret  ritu  civium,  tra^o  gentüicio  ab  artis  opera  et 
appellatione  qua  inclaruerat,  ex  Ploto  macco  (actus  est  T.  Maccius  Piautus.  ConsimiU 
ratione  persaepe  accidit,  qui  publicus  erat  servus,  ut  in  libertatem  vindicatus  T,  Publicius 
existeret.  Die  Stelle  des  Gellius  3,  3,  14  lautet:  Saturionem  et  Addictum  et  ieriiam 
quandam,  cuius  nunc  mihi  nomen  non  subpetit,  in  pistrino  eum  scripsisse,  Varro  et  ple- 
rique  alii  memoriae  tradiderunt,  cum  pecunia  omni,  quam  in  operis  artißcum  scenicorum 
pepererat,  in  mercatibus  perdita  inops  Romam  redisset  et  ob  quaerendum  victum  ad  circum- 
agendas  molas,  quae  trusatiles  vocantur,  operam  pistori  locasset, 

31.  Sichtung  des  plantinischen  Corpus  durch  Varro.  Unter  Plautus' 
Namen  waren  nach  Gellius  Zeugnis  3,  3,  11  ungefähr  130  Komödien  in 
Umlauf.  Von  vornherein  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass  alle  diese  Stücke 
plautinisches  Erzeugnis  waren.  Da  Plautus  in  der  Palliata  tonangebend 
war,  so  wird  sich,  wie  dies  bei  allen  hervorragenden  Litteraturerscheinungen 
der  Fall  ist,  an  den  Meister  ein  Kreis  von  Nachahmern  und  Nachtretern 
angeschlossen  haben.  Die  auf  diese  Weise  entstandenen  Nachahmungen 
konnten  aber  um  so  leichter  den  Namen  des  Plautus  annehmen,  als  es  an 
einer  durchgreifenden  Kontrolle  von  selten  des  Publikums  fehlte.  Die  Stücke 
kamen  ja  zumeist  nur  durch  die  Aufführung  zur  allgemeinen  Kenntnis. 
Wenn  das  Stück  gefiel,  war  der  Name  des  Autor  von  sehr  untergeordneter 
Bedeutung.  Auch  die  Theaterdirektoren,  welche  die  Stücke  für  die  Auf- 
führung sammelten,  hatten  kein  Interesse,  sorgfaltige  Untersuchungen  über 
die  Autorschaft  der  einzelnen  Komödien  anzustellen.  Daher  ist  es  nicht 
zu  verwundem,  wenn  bei  dieser  Sorglosigkeit  die  Sonderung  des  Eigentums 
zurücktrat  und  der  berühmte  Name  des  Plautus  für  eine  ganze  Reihe  von 
Produkten  herhalten  musste.  Es  war  daher  keine  geringe  Aufgabe  für 
römische  Philologie,  in  diesem  Chaos  Ordnung  zu  schaflFen.  An  dieser 
Arbeit  beteiligten  sich  Aelius  Stilo,  Aurelius  Opilius,  Volcacius  Sedigitus, 
L.  Accius,  Serv.  Clodius,  Manilius  (Gell.  3,  3,  1).  Sie  entwarfen  Verzeich- 
nisse der  echten  plantinischen  Stücke.  Einen  entscheidenden  Abschluss 
erhielten  diese  Studien  durch  Varro.  Er  unterschied  drei  Klassen  der 
plantinischen  Stücke.  In  die  erste  KJasse  setzte  er  die  Stücke,  welche 
von  allen  Forschern  als  plautinisch  bezeugt  waren.  Der  zweiten  Klasse 
wies  er  diejenigen  zu,  für  welche  als  plautinische  die  Mehrzahl  der  Zeu- 
gen sprachen  und  ausserdem  historische  Erwägungen  und  Stilbeobach- 
tungen. Es  blieb  dann  noch  eine  kleine  Klasse  übrig,  die  in  den  Ver- 
zeichnissen der  Gelehrten  entweder  fehlten  oder  auch  ausdrücklich  als 
nichtplautinische  aufgeführt  waren;  hier  konnten  nur  Gründe,  aus  dem  Stil 
und  der  Darstellung  hergenommen,  den  plantinischen  Ursprung  darthun. 
Für  die  erste  Klasse  erhielt  er  21  Stücke.  Nun  sind  uns  auch  gerade 
21  Stücke  überliefert,  eines,  die  Vidularia,  das  im  Mittelalter  verloren 
ging,  stand  noch  im  Ambrosianischen  Palimpsest.  Hier  an  einen  Zufall 
zu  denken,  ist  unmöglich;  wir  werden  vielmehr  zu  dem  Schluss  gezwungen, 


T.  Maooins  Plaatus.  35 

dass  unsere  21  Stücke  diejenigen  sind,  welche  Yarro  in  die  erste  Klasse 
gestellt  hat.  Es  sind  dies  die  sogenannten  fabulae  Yarronianae.  Wir 
liaben  sonach  nur  Komödien  von  Plautus,  welche  den  Gelehrten  des  Alter- 
ums bezüglich  der  Echtheit  gar  keinen  Zweifel  darboten;  es  ist  unbe- 
strittenes Gut. 

Meisterhaft  ist  diese  Sache  untersucht  von  Ritschl,  Parerga  p.  72  und  besonders 
p.  121.  Gell.  8,  3,  3:  praeter  üIm  unam  ei  viginti,  qucLe  ^Varronianae*  vocantur,  quas 
idcirco  a  ceieris  aegregnvit,  quaniam  dubiosae  non  erant,  sed  consensu  omnium  Plauti  esse 
eens^>ani%irf  quasdam  item  alias  prohavü  adductus  filo  atque  facetia  sennanis  Plauto  con- 
gruentis  easque  tarn  nominibus  aliorum  occupattis  Plauto  vindicavit, 

32.  Die  Stoffe  in  den  plautinischen  Komödien.  Wir  zählen  die 
Komödien  auf  in  der  Reihenfolge,  in  der  sie  uns  die  zweite  Quelle  der 
Überlieferung  erhalten  hat. 

1.  Amphitruo.  Der  Inhalt  dieser  Komödie  beruht  auf  Yerwechs- 
lungen  und  zwar  werden  diese  Yerwechslungen  durch  göttliche  Personen 
bewirkt.  Juppiter  gibt  sich  nämlich  für  den  thebanischen  Feldherrn  Am- 
phitruo aus  und  nähert  sich  unter  dieser  Yerhüllung  dessen  Gattin  Alkmene, 
Mercur  aber  nimmt  die  Gestalt  des  Dieners  des  Amphitruo,  des  Sosia,  an. 
Die  Situationen,  die  sich  daraus  entwickeln,  sind  ungemein  amüsant.  Der 
Prolog  nennt  v.  59  das  Stück  eine  Tragicomoedia.  In  der  That  ist  es  eine 
Parodie  des  Mythos  von  Juppiter  und  Alkmene,  indem  das  Göttliche  in 
niedrige  Situationen  gebracht  ist.  Das  Original  rührt  wahrscheinlich  von 
einem  Dichter  der  mittleren  Komödie  her.') 

Durch  den  Verlust  einer  Blätterlage  sind  im  4.  Akt  nahezu  300  Verse  verloren  ge- 
gangen, welche  den  Schluss  der  2.  Scene,  2  ganze  Scenen  und  den  Anfang  der  3.  ent- 
hielten. Wir  sind  hier  nur  auf  die  von  Grammatikern  zitierten  Verse  angewiesen.  Den 
Inhalt  und  den  Aufbau  des  Verlorenen  suchen  zu  bestimmen  ausser  Ussing  (p.  330)  und  Gobtz- 
T/OBWB(p.  114),  E.  HoFFXAVV,  De  Plautinae  Ämphitruonis  exemplari  et  fragmentis,  Breslau 
1S48;  ScBHOEOBH,  De  fragmentis  Ämphitruonis,  Strassburg  1879;  Bbakdt,  Rh.  Mus.  34,  575. 

Den  Stoff  des  Amphitruo  behandelt  in  elegischem  Masse  die  mittelalterliche  Dich- 
tung des  Vitalis.  Moderne  Bearbeiter  des  Amphitruo  sind  MoLiiütB  (1668)  und  H.  von 
Klbist  (1807). 

2.  Xsinaria  (Eselskomödie).  Das  Stück,  das  nach  dem  ^Ovayog  des 
Demophilus  bearbeitet  ist,  hat  seinen  Namen  von  der  für  verkaufte  Esel 
an  den  Hausverwalter  abzuliefernden  Geldsumme,  welche  von  einem  Sklaven 
unterschlagen  wird,  um  dem  jungen  Herrn  sein  Liebchen  zu  sichern.  Da 
auch  der  Vater  an  diesem  Liebchen  seinen  Anteil  haben  möchte,  hilft  er 
zur  Erschwindelung  der  Summe  getreulich  mit.  Doch  die  Strafe  folgt,  er 
wird  von  seiner  Frau  über  seiner  Nichtswürdigkeit  ertappt.  Das  Stück 
hat  viel  Possenhaftes. 

Prolog.  13  inest  lepos  ludusque  in  hac  comoedia.  Ridicula  res  est.  Ribbeck  ur- 
teilt über  dieses  Stück  (Rh.  Mus.  37,  54):  „Der  Verfasser  scheint  sich  im  Grossen  und 
Ganzen  an  sein  griechisches  Original  gehalten  zu  haben,  einer  etwas  ausgelassenen,  bis- 
weilen (III  2)  ins  Kindische  fibergehenden  Posse  mit  anmutig  sentimentalen  Intermezzi, 
aber  widerwärtig  senilem  Hautgout.  Von  Kontamination  keine  Spur.  Aber  besonders  die 
beiden  Sklavenrollen  sind  betrftchtlich  romanisiert.*  Weiterhin  erkennt  Ribbeck  Spuren  der 
Überarbeitung  für  eine  wiederholte  Aufführung  und  statuiert  nach  dem  Vorgang  A.  opbnoels, 
Die  Akteneinteilung  bei  Plautus  p.  47  wegen  Vs.  580—584  eine  grösHcre  LQcke  nach  Vs.  495 ; 
femer  eine  solche  nach  Vs.  809  zur  Ausfüllung  der  dort  vorhandenen  Pause,  die  Verse  829, 
SSO  seien  die  Reste  der  ausgefallenen  Scene.  Gegen  die  Annahme  einer  doppelten  Recen- 
sion  des  Ausgangs  I  1  von  Gobtz-Lobwb,  praef,  p.  XXII  vgl.  Rautsrbkro,  qnnest.  Plautin, 
Wilhelmshaven  1883  p.  2.  Weitgehende  Hypothese  über  Lückenhaftigkeit  bei  H.  Schenkel, 
Zeitschr.  f.  österr.  Gymn.  33,  42. 

')  BsROK,  Griech.  Literaturgesch.  4,  123  Anm.  8. 

3* 


36      BOmische  LitieratnrgeBohichte.    1.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

3.  Aulularia  (Die  Topfkomödie).  Diese  Komödie  ist  ein  Charakter- 
stück von  grosser  Schönheit,  sie  schildert  uns  einen  Geizhals,  von  dessen 
Goldtopf  sie  den  Namen  hat.  Die  Verwicklungen  knüpfen  sich  einmal  an 
den  Goldtopf,  welchen  der  Geizhals  in  grösster  Angst  hütet  und  versteckt 
und  trotzdem  nicht  vor  Entdeckung  und  Diebstahl  schützen  kann,  dann 
an  des  Geizhalsen  Tochter,  welcher  der  junge  Lyconides  Gewalt  angethan 
hatte,  und  die  dessen  Onkel  Megadorus  in  Unkenntnis  der  Sachlage  zur 
Frau  nehmen  will.  Der  Schluss  des  Stückes  ist  verloren  gegangen,  allein 
über  den  Ausgang  der  Handlung  kann  kein  Zweifel  aufkommen.  Lyconides 
erhält  des  Geizhalsen  Tochter  zur  Frau,  der  Geizhals  dagegen  wieder  seinen 
Goldtopf,  den  der  Sklave  des  Lyconides  gestohlen  hatte;  allein  da  in  einem 
Fragment  der  Geizhals  sagt,  dass  er  jetzt  ruhig  schlafe,  während  ihn  früher 
die  Unruhe  verzehrte,  so  wird  er  den  Groldtopf  seinem  Schwiegersohn  als 
Mitgift  überlassen  haben.  Die  Schilderungen  sind  ausserordentlich  spannend, 
da  der  Geizige  überall  Verrat  wittert;  besonders  ergötzlich  ist  die  Szene, 
wo  er,  als  er  seinen  Schatz  verbergen  will,  einen  Sklaven  entdeckt. 

Welcher  Dichter  das  Original  geliefert,  Iftsst  sich  nicht  sicher  nachweisen.  Am 
wahrscheinlichsten  ist  noch  Menander,  vgl.  Fbanckek,  Verslagen  en  Mededeelingen  Deel.  XI 
Amsterdam  1882.  Ein  Problem,  das  die  Auifassung  der  Komposition  beeinflusst,  ist  die 
Erscheinung,  {dass  der  Sklave  Strobilos  zugleich  Sklave  des  Lyconides  und  seines  Onkels 
Megadorus  ist.  Gobtz,  Yorr.  zur  Ausg.  p.  VIII  erkl&rt  dieselbe  durch  die  Annahme  einer 
Überarbeitung.  Der  Sklave  des  Megadorus  habe  bei  Plautus  den  Namen  Pythodicus  geführt 
und  dieser  Name  habe  sich  11  7  durch  Zufall  in  die  Überarbeitung  hinübergerettet.  Einen 
andern  Weg  der  L(ysung  schli&gt  Dziatzko,  Rh.  Mus.  87,  266  ein.  Er  glaubt,  Plautus  habe 
bei  seiner  Bearbeitung  des  griechischen  Stücks  den  Hausstand  des  Megadorus  und  seiner 
Schwester  Eunomia  bzw.  des  Lyconides  miteinander  verbunden,  so  dass  er  letztere  im  Hause 
des  ersteren,  bzw.  in  einer  Abteilung  wohnen  liess,  habe  aber  diese  Änderung  des  Originals 
nicht  konsequent  überall  beachtet  und  sei  in  Widersprüche  gefallen.  Der  Sklaven  seien 
aber  bei  Plautus  zwei  gewesen,  und  zwar  habe  der  des  Megadorus  wahrscheinlich  im  Ori- 
ginal wie  bei  Plautus  Pythodicus  geheissen,  der  des  Lyconides  Strobilus.  Erst  eine  spätere 
Überarbeitung  habe,  Plautus  in  verwirrender  Weise  überbietend,  den  Sklaven  Strobilus  zum 
gemeinschaftlichen  gemacht. 

Auf  freier  Nachahmung  der  Aulularia  beruht  der  Querolus,  etwa  aus  dem  LV./V.  Jahrh. 
Bekannt  ist,  dass  die  Aulularia  auch  für  Molibbb*s  TAvare  (1668)  Vorbild  war. 

4.  Captivi  (Die  Gefangenen).  Dieses  Stück,  das  nicht  durch 
strenge  Einheit  der  Zeit  zusammengehalten  wird,  steht  unter  den  plautini- 
schen  Stücken  einzig  da;  es  enthält  keine  Frauenrolle,  keinen  Kuppler, 
keine  Liebesintrigue.  Nur  der  Rollentausch  und  die  Figur  des  Parasiten 
erinnern  an  die  Komödie.  Es  ist  ein  Rührstück.  Ein  Ätoler  hatte  zwei 
Söhne  verloren,  der  eine  war  im  Alter  von  vier  Jahren  von  einem  Sklaven 
verkauft  worden,  der  andere  war  in  Kriegsgefangenschaft  nach  Elis  ge- 
kommen. Um  den  kriegsgefangenen  Sohn  auslösen  zu  können,  hatte  der 
Vater  elische  Gefangene  angekauft.  Zwei  derselben,  Herr  (Philocrates) 
und  Sklave  (Tyndarus)  werden  nun  der  Mittelpunkt  der  Handlung.  Es 
findet  ein  Rollentausch  statt,  der  Herr  gibt  sich  für  den  Sklaven,  der 
Sklave  für  den  Herrn  aus.  Der  vermeintliche  Sklave  wird  von  dem  Ätoler 
nach  Elis  geschickt,  um  die  Auslösung  des  Sohnes  zu  bewirken.  Nach  der 
Abreise  wird  der  Rollentausch  entdeckt  und  der  treue,  aufopfernde  Tyn- 
darus hart  bestraft.  Da  kommt  Philocrates  mit  dem  gefangenen  Sohn  des 
Ätolers  aus  Elis  —  und  weiter  ergibt  sich,  dass  Tyndarus  der  zweite  im 
vierten  Lebensjahr  geraubte  Sohn  des  Ätolers  ist. 


T.  Maccins  Plaatns.  37 

Bekannt  ist  das  günstige  Urteil  Lessings  Über  dieses  Stück:  „Die  Gefangenen  sind 
das  schönste  Stück,  das  jemals  auf  die  Bühne  gekommen  ist  und  zwar  aus  keiner  anderen 
Ursache  als  weil  es  der  Absicht  der  Lustspiele  am  nächsten  kommt  und  auch  mit  den 
übrigen  zufälligen  Schönheiten  reichlich  versehen  ist."  £inige  Widersprüche  hebt  Langen, 
Flaut  Stnd.  116  hervor. 

5.  Curculio.  So  heisst  der  Parasit,  in  dessen  Händen  die  Intriguo 
des  Stückes  ruht.  Durch  dieselbe  (vermittelst  eines  Ringes)  gelingt  es, 
das  für  ein  Mädchen  von  einem  Soldaten  hinterlegte  Geld  zu  erhalten  und 
damit  vom  Leno  das  Mädchen.  Das  Erscheinen  des  Soldaten  bringt  die 
Verwicklung.  Sie  löst  sich  dadurch,  dass  das  Mädchen  als  Schwester  des 
Soldaten  erkannt  und  seinem  Liebhaber  verlobt  wird.  Wir  haben  ein 
schwaches  Intriguenstück  mit  Erkenntnisszene;  doch  finden  sich  hübsche 
Einzelheiten.  Merkwürdig  ist  eine  Art  Parabase  im  Anfang  des  IV.  Aktes, 
wo  der  Garderobenmeister  darlegt,  wo  die  verschiedenen  Menschenklassen 
in  Rom  aufzufinden;  dieselbe  enthält  aber  sicher  unplautinische  Bestandteile. 

Ober  die  Zeit  des  Originals  (nach  303)  vgl.  Wilamowitz,  Philol.  Unters.  9,  37.  Das 
Original  hat  wahrscheinlich  Kürzungen  erfahren.  Vgl.  Ribbeck,  Ber.  über  die  Verb,  der 
Sachs.  Ges.  der  Wissensch.  31  (1879)  p.  80—103. 

6.  Gasina.  Das  Stück  hat  seinen  Namen  von  der  Casina,  um  die 
sich  die  Handlung  des  Stückes  dreht.  Nach  ihr  ist  Vater  und  Sohn  lüstern. 
Beide  schieben  aber  ihre  Diener  vor,  für  die  Gasina  als  Frau  erkoren 
werden  soll,  der  Vater  seinen  Hausverwalter,  der  Sohn  seinen  WaflFenträger. 
Da  keiner  der  beiden  Diener  von  Gasina  ablassen  will,  wird  das  Los  ge- 
worfen. Davon  führt  das  griechische  Original,  die  KXifjqovfieroi  des  Diphilos, 
seinen  Namen;  auch  für  die  lateinische  Bearbeitung  findet  sich  der  Titel 
«Sortientes".  Das  Los  entscheidet  für  den  Hausverwalter  und  damit  für 
den  Vater.  Beide 'ISnden  aber  als  Braut  den  verkleideten  Waffenträger, 
der  ihnen  übel  mitspielt.  In  einem  kurzen  Epilog  wird  auf  die  weitere 
Entwicklung  der  Handlung  als  im  Hause  vor  sich  gehend  hingewiesen  ; 
Casina  wird  nämlich  als  Tochter  des  Nachbars  erkannt,  sie  wird  jetzt  die 
Frau  des  jungen  Herrn. 

TsüFFBL  vermutet,  dass  bei  einer  späteren  Aufführung  des  Stücks  der  Schluss  des 
Originals  weggelassen  wurde,  während  der  Prologschreiber  das  vollständige  Stück  noch 
kannte  und  zur  Erläuterung  des  abgekürzten  benützte  (Stud.  u.  Charakt.  p.  259).  Machia- 
VEiJj's  Clizia  hat  zur  Quelle  die  Casina. 

7.  Gistellaria  (Die  Eästchenkomödie).  Alcesimarchus  liebt 
leidenschaftlich  die  Selenium;  allein  sein  Vater  hatte  für  ihn  die  Tochter 
Demiphos  bestimmt.  Ein  Kästchen  mit  Erkennungszeichen  (crepundia) 
bringt  die  Entdeckung,  dass  Selenium  auch  eine  Tochter  Demiphos  von 
seiner  jetzigen  zweiten  Frau  ist,  der  er  in  seiner  Jugend  Gewalt  angethan 
hatte.  Der  naturgemässe  Ausgang,  dass  Alcesimarchus  nun  doch  der 
Schwiegersohn  Demiphos  wird,  kommt  nicht  mehr  zur  Darstellung,  es  wird 
in  dem  Schlusswort  nur  gesagt,  dass  das  Weitere  im  Innern  des  Hauses 
sich  abspielen  werde.  Das  Stück  ist  im  Grunde  genommen  keine  Komödie, 
sondern  ein  Rührstück.  Da  eine  Stelle  (87)  eine  Übersetzung  eines  Frag- 
ments Menanders  ist  (558  Kock),  so  werden  wir  als  Original  ein  Stück 
Menanders  anzusehen  haben. 

.  Das  Stück  hat  in  der  einen  Quelle  der  Überlieferung  nach  Vs.  215  einen  grossen 
Ausfall  erlitten;  derselbe  kann  wegen  Schwierigkeit  der  Lesung  nur  sehr  unvollkommen 
durch  den  Ambrosianischen  Palimpsest  ersetzt  werden.    Hiezu  kommen  einzelne  Zitate, 


38      Römische  Litteratargesohichie.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

vgl.  Studemcnd,  Ind,  schoh  Gryphisw.  1871/72  p.  8.  Fbstüs  zitiert  p.  301,  p.  352  den  Vs.  384 
uoter  dem  Namen  Syrus.  Man  hat  angenommen,  dass  der  Sklave  Syrus  in  der  ausgefallenen 
Partie  eine  Rolle  gespielt  und  dass  nach  ihm  auch  das  6tück  (von  Gelehrten)  benannt 
wurde  (Ritschl,  Parerga  p.  164).  Andere  nehmen  dagegen  ein  eigenes  Stück  Syrus  an, 
in  dem  der  Vers  der  Cistellaria  wiederholt  wurde  (Winteb,  Plaut  fragm.  p.  6). 

8.  Epidicus.  Für  Stratippocies,  der  in  den  Krieg  gegen  die  The- 
baner  gezogen  war,  hatte  der  Sklave  Epidicus  eine  Saitenspielerin  vom 
Kuppler  gekauft.  Um  das  hiezu  nötige  Geld  zu  erhalten,  hatte  er  dem 
Vater  des  Stratippocies  Periphanes  vorgeschwindelt,  die  Saitenspielerin  sei 
dessen  natürliche  Tochter.  Mittlerweile  war  Stratippocies  heimgekehrt ;  er 
hatte  sich  eine  Gefangene  aus  der  thebanischen  Beute  gekauft.  Auch  für 
dieses  zweite  Liebchen  sollte  von  Epidicus  das  Kaufgeld  beschafft  werden. 
Zufällig  erfuhr  der  Sklave,  dass  Periphanes  von  dem  Liebesverhältnis  seines 
Sohnes  zur  Saitenspielerin  Kunde  erhalten  und  darüber  betrübt  sei.  Dies 
benutzend  redet  Epidicus  dem  alten  Herrn  ein,  man  müsse  diese  Saiten- 
spielerin schnell  selbst  kaufen,  um  sie  dann  beiseite  zu  schaffen  und  dem 
Sohne  zu  entziehen.  Auch  diese  List  glückt,  eine  bereits  seit  längerer 
Zeit  frei  gewordene  Saitenspielerin  wird  gemietet  und  ins  Haus  des  Peri- 
phanes gebracht;  der  Sklave  hat  wiederum  das  nötige  Geld.  Allein  nun 
kommen  die  schlimmen  Streiche  an  den  Tag.  Es  stellt  sich  heraus,  dass 
die  zweite  Saitenspielerin  nicht  die  Geliebte  des  Stratippocies  und  die  erste 
nicht  die  natürliche  Tochter  des  Periphanes  ist.  Ein  Zufall  hilft  Epidicus 
aus  der  Klemme.  Das  aus  der  Beute  angekaufte  Mädchen  war  die  wirk- 
liche natürliche  Tochter  des  Periphanes.  Stratippocies  hatte  also  statt 
einer  Geliebten  eine  Stiefschwester  erhalten.  Die  Intrigue  des  Stücks  ist, 
wie  man  sieht,  ziemlich  verwickelt. 

So  spannend  und  lebhaft  die  Handlung  durchgeführt  ist,  so  finden  sich  doch  im  ein- 
zelnen vielfach  Widerspräche,  auf  die  hingewiesen  haben  Sgaliger,  vgl.  die  Ausgabe  des 
p]pidieus  von  G5tz  p.  aXI  Anm.,  Ladbwig,  Z.  f.  A.  1841  p.  1086,  Langbbhb,  Miscell.  philol., 
Göttingen  1876  p.  12,  Fbanckbn,  Mnemos.  1879  p.  185,  Rbinhabdt,  Fleckeis.  J.  111,  194, 
Götz,  Ausg.  p.  XXI.  Man  hat  daher  Umarbeitung  (retractatio)  oder  Kontamination  des  Stücks 
angenommen.  Dagegen  sucht  Schbbdinger,  obs,  in  PL  Epidicum^  Mttnnerst.  Progr.  1884, 
nach  dem  Vorgang  R.  MOllrb's,  De  Plauti  Epidico,  Bonn  1855  (p.  13),  zu  zeigen,  dass 
iveder  contaminatio  (p.  20)  noch  retractatio  (p.  49)  stattgefunden  habe,  wogegen  Lakobehr 
in  seinen  Plautina  (Programm  von  Friedland  1886)  seine  Ansicht  über  Kontamination  des 
Stücks  im  wesentlichen  aufrecht  hält  (p.  17).  Über  das  Stück  und  einen  schlechten  Schaa- 
spieler  in  demselben  spricht  Plautus  Bacch.  214. 

9.  Bacchides.  Zwei  Hetären,  Schwestern  des  Namens  Bacchis, 
geben  dem  Stück  den  Namen,  dessen  Anfang  verloren  gegangen  ist.  Das 
Original  war  wohl  das  Stück  Menanders  mit  dem  Titel  Jlg  i^anatwv.  Den 
zwei  Hetären  stellt  der  Dichter  zwei  junge  mit  einander  befreundete  Leute 
als  Liebhaber  gegenüber.  Das  eine  Verhältnis  entwickelt  sich  vor  unseren 
Augen,  wir  sehen,  wie  ein  braver  Jüngling  ins  Garn  der  Liebe  gezogen 
wird.  Dies  gibt  dem  Dichter  zugleich  Gelegenheit,  eine  köstliche  Neben- 
figur einzuführen,  den  über  den  Fall  seines  Zöglings  janmiernden  Päda- 
gogen. Das  andere  Verhältnis  dauert  schon  geraume  Zeit;  die  Bacchis, 
die  der  junge  Mnesilochus  liebt,  befindet  sich  in  den  Händen  eines  Soldaten. 
Um  sie  zu  befreien,  bedarf  es  einer  beträchtlichen  Geldsumme.  Diese  wird 
von  der  Hauptperson  des  Stücks,  dem  Sklaven  Chrysalus,  erschwindelt. 
Allein  durch  ein  Missverständniss  gibt  Mnesilochus  das  Errungene  wieder 
preis.    Es  muss  daher  zum  zweitenmale  und  zwar  unter  weit  schwieri- 


T.  MaccinB  Plaatus.  39 

geren  Verhältnissen  der  Betrug  durchgeführt  werden.  Chrysalus  ist  aber 
seiner  Sache  so  sicher,  dass  er  den  Alten  sogar  durch  einen  Brief  vor 
seinen  Schlichen  warnen  lässt.  Wiederum  ist  Chrysalus  siegreich,  ja  er 
schlägt  eine  noch  grössere  Summe  heraus  als  das  erste  Mal.  Endlich 
kommen  die  Gaunereien  heraus;  die  Väter  der  beiden  jungen  Freunde 
wollen  ihre  Söhne  von  den  Hetären  holen  —  und  sie  werden  selbst 
das  Opfer  derselben.  Ein  heiteres,  anmutiges  Stück,  in  dem  vorzüg- 
lich die  Siegesgewissheit  des  Chi'ysalus  unser  volles  Interesse  in  An- 
spruch nimmt. 

Über  den  verlorenen  Eingang  hat  mit  Benützung  der  von  Grammatikera  mitgeteilten 
Stellen  in  einer  bahnbrechenden  Abhandlung  Ritschl  gehandelt  (Opusc.  2,  292),  die  in  einem 
wesentlichen  Punkt  Ussino  (Ausgabe  p.  372)  berichtigt  hat.  Vgl.  auch  Leo  zum  Eingang 
des  Stocks.  Einen  neuen  Versuch,  den  Inhalt  der  verlorenen  Szenen  zu  bestimmeD,  machen 
Tabtaba,  De  Plauti  Bacchidibus,  Pisa  1885  (vgl.  Bubsians,  Jahresber.  47.  Bd.  II.  Abtlg. 
p.  79),  Ribbeck,  Rh.  Mus.  42,  111.  Eine  kurze  Disposition  gibt  Götz  in  seiner  Ausgabe  p.  8. 
Auch  bei  diesem  Stück  wurde  Umarbeitung  in  einem  Umfang  angenommen,  der  ganz  un- 
zulSssÜch  erscheint,  von  BRACHif  ann,  De  Bacchidum  Plautinae  retractatione  scenica  capita  V 
in  den  Leipz.  Stud.  3,  59  und  von  Anbpaoh,  De  Bacchidum  retractatione  scenica,  Bonn  1882. 
Gegen  dieselbe  richtet  sich  Weise,  De  Bacchidum  Plautinae  retractatione  quae  fertur, 
Berlin  1883. 

10.  Mostellaria  (Gespensterkomödie).  In  dieser  Komödie  handelt 
es  sich  zuerst  darum,  einem  Alten,  der  von  der  Fremde  heimkehrt,  den 
Zutritt  zum  Hause,  in  dem  sich  gerade  der  Sohn  mit  einem  bereits  be- 
trunkenen Freunde  beim  Gelage  befindet,  zu  verwehren.  Der  listige  Sklave 
bewirkt  dies  durch  die  Lüge,  das  Haus  sei  verlassen  worden,  da  sich  in 
demselben  ein  Gespenst  gezeigt  habe.  Die  Ankunft  eines  Wechslers,  der 
sein  Geld  haben  will,  bringt  eine  neue  Verwicklung.  Der  Sklave  lügt 
dem  Alten  vor,  der  Sohn  hätte  für  das  geliehene  Geld  das  Nachbarhaus 
gekauft.  Der  Vater  will  das  Haus  besichtigen.  Auch  dieser  Schwierigkeit 
wird  der  Sklave  Herr.  Endlich  reisst  das  Lügengewebe.  Der  Sklave 
schützt  sich  durch  die  Flucht  auf  einen  Altar.  Der  Vater  wird  versöhnt, 
nachdem  der  Freund  seines  Sohnes  für  ihn  gesprochen  und,  was  am  wirk- 
samsten war,  die  Bezahlung  der  Schulden  in  Aussicht  gestellt.  Wie  in 
den  Bacchides  der  Sklave  Chrysalus,  so  ist  hier  der  Sklave  Tranio  die 
Glanzfigur  des  Stückes. 

Als  Original  des  Stücks  wird  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  das  ^aafxa  des  Fhilemon 
hingestellt.  Ja  nach  der  sinnreichen  Verbessernng  Lbo*8  (Hermes  18,  560),  hat  Pliilemon 
sich  sogar  scherzweise  selbst  genannt  1135:  si  amicus  Deiphilo  aut  Philemoni  es,  dicito 
eis  quo  pacto  tuos  te  servos  ludificaverit  vgl.  Ritschl,  Parerga  p.  159.  Utlsere  Komödie  wird 
daher  auch  ^«a/itt  zitiert  Festus,  p.  162  und  p.  305.  Die  Mostellaria  liegt  der  ausgezeich- 
neten Komödie  des  dänischen  Dichters  Holbero:  «Das  Uausgespenst  oder  Abracadabra*  zu 
grund,  vgl.  Lorenz,  Ausg.  p.  56.  Die  Namen  der  zwei  Sklaven  Tranio  und  Grumio  sind  be- 
kanntlich in  Shakebpeabb's  :  «Der  Widerspenstigen  2^hmung*  übergegangen. 

11.  Menaechmi.  Die  Zwillingsbrüder  Menaechmus  und  Sosikles 
werden  durch  ein  widriges  Schicksal  von  einander  getrennt,  der  eine  lebt 
in  Epidamnus,  der  andere,  Sosicles,  in  Syrakus.  Um  seinen  Bruder  zu 
suchen,  durchzieht  der  Syrakusaner  die  ganze  Welt.  Er  kam  auch  nach 
Epidamnus.  Da  der  S3rrakusaner  dem  Epidamnier  in  allem  Äusserlichen 
vollständig  gleich  ist  und  seit  dem  Verschwinden  seines  Bruders  auch  noch 
den  Namen  Menaechmus  führt,  so  entsteht  eine  Reihe  der  ergötzlichsten 
Verwicklungen. 

Über  das  Original  ist  eine  sichere  Angabe  nicht  möglich,  da  der  Stoff  in  der  grie- 


40      Bömiaohe  Litteraturgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    8.  Periode. 

chischen  Komödie  unter  dem  Namen  Jidv/ioi  oder  Jl^vfjua  vielfach  behandelt  wurde.  Sehr 
ausgedehnte  Oberarbeitung  des  Stücks  behauptet  mit  Büchblkb,  Rh.  Mus.  35,  481  Sonnen- 
BUBO,  De  Menaechmis  Plautma  retractata,  Bonn  1882  (p.  44)  „misere  ab  retractatoribus  tur- 
hatam  et  laceratam  noa  habere  fabulam**,  besonders  gelte  dies  von  IV  2.  Gegen  eine  solche 
erklären  sich  mit  Recht  Vahlbn,  Ausg.  p.  IV  und  Ribbbck  (Rh.  Mus.  37,  531),  der  aber  zugibt, 
dass  auch  dieses  Stück  mit  nachplautinischen  Zuthaten  versetzt  ist  Eine  solche  Vs.  1099—1110 
umfassend,  wies  nach  Götz,  Kh.  Mus.  35,  481.  In  der  modernen  Litteratur  wirkt  unser 
Stück  nach  z.  B.  in  der  Komödie  der  Irrungen  von  Shakespbabbj  der  aber  durch  Einfüh- 
rung eines  zweiten  Zwillingspaares  (nach  Amphitruo)  die  Verwirrung  noch   gesteigert  hat. 

12.  Miles  gloriosus  (Der  bramarbasierende  Soldat).  Die 
Haupthandlung  des  Stücks  ist,  einem  prahlerischen  und  lüsternen  Soldaten 
sein  Liebchen,  die  Philocomasium,  zu  entreissen,  welche  der  junge  Pleu- 
sicles  liebt.  Dies  bewirkt  der  intriguierende  Sklave  dadurch,  dass  dem 
Soldaten  der  Glaube  beigebracht  wird,  der  alte  Nachbar  habe  eine  junge 
schöne  Frau,  welche  sterblich  in  ihn  verliebt  sei.  Der  Soldat  lässt  sich 
auf  die  Sache  ein.  Ja  um  mit  dieser  Nachbarsfrau  ungestört  zusammen- 
leben  zu  können,  gibt  er  der  Philocomasium  den  Laufpass.  Diese  zieht 
mit  Pleusicles  von  dannen.  Dem  Soldaten  wird  aber  übel  mitgespielt; 
kaum  hatte  er  sich  ins  Nachbarhaus  begeben,  um  seiner  neuen  Liebe  froh 
zu  werden,  da  fallt  man  über  ihn  als  Ehebrecher  her  und  droht  ihm  mit 
dem  Schb'mmsten,  was  dem  Mann  widerfahren  kann.  Dieser  Handlung 
geht  eine  ganz  anders  geartete  voraus.  Um  Pleusicles,  der  im  Nachbar- 
hause seinen  Wohnsitz  aufgeschlagen,  Gelegenheit  zu  geben,  mit  der  Philo- 
comasium ungestört  zusammen  zu  kommen,  wird  die  Wand  zwischen  der 
Wohnung  des  Soldaten  und  dem  Nachbarhaus  durchbrochen.  Als  nun  der 
Wächter  des  Mädchens  dasselbe  einmal  in  den  Armen  eines  anderen  im 
Nachbarhause  entdeckt  hatte,  wurde  diesem  Wächter  ein  reizendes  Doppel- 
spiel vorgeführt,  indem  Philocomasium  bald  in  dem  einen,  bald  in  dem 
dem  andern  Hause  erscheint.  Seine  Ungläubigkeit  wird  durch  die  Finte 
beschwichtigt,  es  sei  die  ganz  gleich  aussehende  Schwester  der  Philoco- 
masium angekommen  und  im  Nachbarhause  eingekehrt. 

Das  Stück,  das  keine  eigentlichen  Cantica  hat,  ist  überaus  anmutig 
und  unterhaltend.  Bei  dem  frischen  Zug,  der  durch  das  Ganze  weht,  lassen 
wir  uns  über  manche  Schwäche  der  Komposition  gern  hinwegtäuschen. 

Als  Original  des  Stücks  wird  im  Prolog  vs.  86  ein  UXaCviy  genannt;  des  Dichters 
Name  wird  verschwiegen.  Aus  unserer  Inhaltsangabe  geht  hervor,  dass  wir  eine  Komödie 
in  der  Komödie  haben;  denn  die  Geschichte  von  der  durchbrochenen  Wand  und  das  sich 
daran  knüpfende  Qpppebpiel  steht  für  sich  da;  der  Dichter  benutzt  das  Motiv  nicht  weiter, 
sondern  bringt  eine  ganz  anders  aufgebaute  Entführungsgeschichte.  Es  scheint  also,  dass 
zwei  Argumente  in  unserer  Komödie  miteinander  verwoben  wurden.  Die  Frage  entsteht, 
ob  diese  Zusammenarbeitung  dem  griechischen  oder  dem  lateinischen  Dichter  zuzuschreiben 
ist.  Bei  der  zweiten  Annahme  hätte  man  sich  zwei  Originale  folgenden  Inhalts  zu  denken. 
Das  eine,  der  UkaCoiy,  gab  eine  Entführungsgeschichte,  einem  prahlerischen  Soldaten  wird 
sein  Mädchen  entrissen.  Aber  auch  das  andere  Original  lief  auf  eine  Entführungsgeschichte 
hinaus,  nur  dass  hier  die  Entführung  vermittels  der  durchbrochenen  Wand  durchgeführt 
war.  Dies  beweisen  Erzählungen,  die  wirklich  diesen  Sehluss  enthalten.  Vgl.  Zarncke, 
Parallelen  zur  Entführungsgeschichte  im  Mües  gloriosus,  Rh.  Mus.  39,  22.  Plautus  würde 
also,  um  seinen  Stoff  so  mannigfaltig  als  möglich  zu  gestalten,  die  Entführungsgeschichte 
des  ersten  Originals  durch  eine  anders  geartete  eines  zweiten  Originals  ersetzt  haben.  Die 
grosse  Länge  des  Stücks,  manche  Anstösse  und  Widersprüche  in  der  Komposition  würden 
sich  daraus  erklären.  Viel  schwieriger  gestaltet  sich  die  Sache,  wenn  wir  schon  dem 
Alazondichter  die  Entwicklung  der  Handlung,  wie  sie  bei  Plautus  gestaltet  ist,  zuweisen. 
Wir  müssten  uns  dann  die  Sache  nach  Zabncke  p.  25  etwa  so  denken:  Dem  Alazondichter 
lag  eine  griechische  Novelle  vor,  in  der  eine  Entführungsgeschichte  auf  der  durchbrochenen 
Wand  basierte.   Dieses  Motiv  der  durchbrochenen  Wand  benützte  der  griechische  Komödien- 


T.  Maoointf  PlautuB.  41 

dichter,  führte  aber  noch  den  Prahlhans,  ein;  am  nicht  zu  ermüden,  sah  er  im  weiteren 
Verlauf  des  Stücks  von  jenem  Motiv  ab,  nur  am  Schluss  verwertete  er  jene  Novelle  wiederum 
für  seine  EntfOhmngsszene.  Mir  erscheint  die  zuerst  vorgetragene  Ansicht  als  die  natür- 
lichere. Vgl.  Lorenz  in  seiner  Ausgabe  p.  34,  der  für  die  episodische  Charakterschilderung 
695—764  ein  drittes  Original  annimmt.  Ribbbck,  Älcuson  mit  Obersetzung  des  Mües  glo- 
riosus  p.  55—75  spricht  sich  ebenfalls  dahin  aus  (p.  72),  dass  mehrere  getrennte  Originale 
in  eins  verschmolzen  sein  mögen  oder  vielmehr  Teile  derselben.  Überarbeitung  und  Kon- 
tamination sucht  weitläufig  nachzuweisen  J.  Schmidt,  Fleckeis.  J.  IX.  Supplementb.  p.  323 
vgl.  besonders  p.  390  und  p.  401.  Bezüglich  der  Abfassungszeit  erhalten  wir  einen  Wink 
durch  Vs.  21 1 :  nam  os  columnaium  poet<ie  esse  indatidivi  barharo,  quoi  bini  custodes  semper 
totis  horis  occubant,  wo  auf  die  Gefangenschaft  des  Dichters  Naevius  deutlich  angespielt 
ist.  Diese  Anspielung  führt  auf  die  erste  Zeit  des  dichterischen  Schaffens  unseres  Dichters, 
auf  das  Jahr  206  oder  nicht  lange  darnach.  Vgl.  West  American  J.  of  Philology  8,  17, 
der  aber  mit  unrecht  in  der  militärisch  gehaltenen  Aufforderung  218  fg.  eine  Zeitanspielung 
aus  dem  J.  205  sieht.  Über  die  Figuren  des  Miles  gloriostts  und  seines  Parasiten  bei 
älteren  und  neueren  Dichtem  vgl.  Lorenz,  Miles'  p.  230—247. 

13.  Mercator  (Der  Kaufmann).  Auch  in  diesem  Stück,  dessen 
Original  nach  Angabe  des  Prologs  der  "EfXTtoQog  des  Philemon  ist,  spielt 
das  hässliche  Motiv,  dass  sich  Vater  und  Sohn  um  ein  Liebchen  streiten. 
Der  junge  Charinus  hatte  von  seiner  Handelsreise  nach  Rhodos  eine  schöne 
Hetäre  mitgebracht.  Als  der  Vater  das  Schiff  des  Sohnes  besichtigte  und 
des  schönen  Mädchens  ansichtig  wurde,  entbrannte  er  in  Liebe  für  dasselbe. 
£s  war  sein  fester  Entschluss,  dasselbe  in  seinen  Besitz  zu  bringen.  Er 
schlägt  daher  dem  Sohne,  der  die  Hetäre  als  Dienstmädchen  für  die  Mutter 
gekauft  zu  haben  vorgibt,  vor,  man  müsse,  da  eine  solche  Person  für  die 
Mutter  nicht  geeignet  sei,  dieselbe  wiederum  verkaufen.  Nach  einem  er- 
götzlichen Gegenkampf  des  Charinus  setzt  der  Vater  seinen  Willen  unter 
Beihilfe  seines  Freundes,  des  Lysimachus,  durch ;  dieser  kauft  das  Mädchen 
und  bringt  es  in  sein  Haus.  Eben  war  man  daran,  ein  lustiges  Mahl  zu 
bereiten,  als  die  Frau  des  Lysimachus  unvermutet  vom  Land  kommt  und 
die  Hetäre  im  Hause  findet.  Es  entsteht  eine  peinliche  Situation,  welche 
der  gedungene  Koch  noch  verschärft.  Zum  Glück  erscheint  Eutychus,  der 
Sohn  des  Lysimachus.  Nachdem  er  lange  vergeblich  die  verkaufte  Hetäre 
seines  Freundes,  der  aus  Kummer  über  sein  Liebesunglück  in  die  Fremde 
ziehen  will,  gesucht,  findet  er  sie  im  eigenen  Haus.  Er  vermag  daher  seine 
Mutter  vollständig  zu  beruhigen.  Dem  Vater  des  Charinus  wird  sein  Un- 
recht vorgehalten;  er  tritt  einen  heuchlerischen  Rückzug  an.  Das  Stück 
ist  im  ganzen  nur  mittelmässig,  sowohl  in  der  Erfindung  als  in  der  Durch- 
führung. 

Spuren  einer  Umarbeitung  findet  an  drei  Stellen  Ritsohl,  vgl.  p.  VI  seiner  Ausgabe, 
p.  X  G(>TZ,  welchen  Qedanken  Kibbbck  aufgreift  und  weiter  verfolgt»  Etnendationum  Mer- 
catoris  PlauHnae  spicüegium,  Leipz.  1883,  p.  4— 14.  Derselbe  führt  auch  aus,  dass  eine 
wesentliche  Abweichung  vom  Original  nicht  anzunehmen  ist  (p.  2 — 4). 

14.  Pseudolus.  Um  diesen  Sklaven,  die  Hauptperson  des  Stücks, 
konzentriert  sich  alles  Interesse.  Der  Hauptreiz  besteht  darin,  dass  der 
Schalk  ausdrücklich  vor  seinen  Schlichen  warnt  und  die  Gewarnten  trotz- 
dem übertölpelt.  Das  Argument  ist  die  alte  Liebesgeschichte.  Calidorus 
liebt  Phoenicium;  aber  der  grausame  Leno  Ballio  hatte  dieselbe  treuloser- 
weise um  zwanzig  Minen  an  einen  Soldaten  verkauft;  fünfzehn  Minen  waren 
bereits  'bezahlt.  Werden  auch  noch  die  schuldigen  fünf  Minen  entrichtet, 
80  ist  Phoenicium  für  Calidorus  verloren.  Der  sicherste  Weg  scheint  daher 
zu  sein,  die  ganze  Kaufsumme  zusammenzubringen  und  dem  Soldaten  zuvor- 


42      Römisohe  LitteraturgeBchiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    8.  Periode. 

zukommen.  Der  Zufall  kommt  Pseudolus  zu  Hilfe.  Der  Soldat  schickt 
einen  Boten  mit  den  fünf  Minen  und  mit  Brief  und  Siegel.  Diesen  trifft 
glücklicherweise  Pseudolus;  das  Geld  vermag  er  dem  Boten  nicht  zu 
entlocken,  wohl  aber  Brief  und  Siegel  —  damit  ist  er  Herr  der  Situation 
geworden.  Es  wird  rasch  ein  Kerl  als  Bote  des  Soldaten  ausstaffiert,  mit 
Geld,  Brief  und  Siegel  versehen  und  zum  Leno  geschickt;  er  erhielt  die  Phoe- 
nicium.  Schon  frohlockt  der  gewarnte  Ballio  darüber,  dass  er  nun  jeder 
Gefahr  seitens  des  Pseudolus  überhoben  sei,  als  der  echte  Bote  erscheint. 
Sein  Unglück  ist  jetzt  da;  er  verliert  die  Phoenicium,  muss  die  erhaltenen 
zwanzig  Minen  zurückzahlen,  ja  noch  dieselbe  Kaufsumme  an  den  Vater  des 
Calidorus  Simo  infolge  der  Wette,  dass  Pseudolus  ihm  nicht  die  Phoenicium 
entlocken  werde,  entrichten.  Aber  diese  Summe  geht  dem  Simo  wieder 
verloren;  denn  auch  er  hatte  eine  Wette  von  zwanzig  Minen  mit  Pseudolus 
eingegangen,  dass  diesem  die  Entführung  der  Phoenicium  nicht  glücken 
werde.  Die  Zeichnung  des  Pseudolus  ist  eine  ganz  vortreffliche.  Wir 
staunen  über  sein  unerschütterliches  Selbstvertrauen  und  über  seine  Genia- 
lität, mit  der  er  alles  wie  spielend  abwickelt.  Auch  Ballio  ist,  wenngleich 
mit  etwas  starken  Farben,  gut  charakterisiert.  Über  das  ganze  Stück  ist 
Frische  und  Heiterkeit  ausgegossen. 

Zwei  Episoden  bilden  III,  1  (767)  u.  Ifl,  2  (790),  über  welche  Sauppe  bemerkt  {quaesf. 
Plautin.  p,  8):  et  mnilis  huixis  puer  et  coquits  in  alia  fahüla,  an  dicam  in  pluribus,  xylebe- 
ctdae  ita  placuerant,  ut  poeta  personas  spectatoribiM  gratissimas  etiam  huic  fabiUae  risus 
captandi  causa  praeter  necessitatetn  adderet.  Über  eine  vom  römischen  Dichter  herrüh- 
rende Zeitanspielnng  (296—298)  vgl.  Kiessling,  Rh.  Mos.  28,  416.  Von  den  neueren  hat 
das  Stück  direkt  nachgeahmt  Holbebo  in  seinem  «Diderich  Menschenschreck*.  Vgl.  Lobekz, 
Ausg.  p.  80. 

15.  Poonulus  (Der  Punier).  Von  zwei  in  den  Händen  eines  Huren- 
wirts zu  Kalydon  in  Ätolien  befindlichen  karthagischen  Mädchen  liebt  eines 
ein  Jüngling,  der  ebenfalls  aus  Karthago  stammte,  später  als  Freigelassener 
in  sehr  guten  Verhältnissen  lebte.  Da  der  Hurenwirt  nicht  willfahrig  ist, 
wird  von  dem  Sklaven  des  Jünglings  ein  Schabernack  inszeniert,  der  den 
Hurenwirt  vor  Gericht  und  in  grosse  Verlegenheit  bringen  soll.  Allein 
die  gerichtliche  Verhandlung  wird  unterlassen,  der  junge  Mann  kommt  auf 
diesem  Weg  nicht  zum  Besitz  seiner  Geliebten.  Hiezu  verhilft  ihm  eine 
Erkennungsgeschichte.  Es  kommt  der  Karthager  Hanno,  der  seine  ihm 
einst  geraubten  Töchter  sucht;  er  trifft  den  Jüngling  und  entdeckt,  dass 
er  sein  Verwandter  ist;  in  den  zwei  karthagischen  Mädchen  erkennt  er 
seine  Töchter.  Den  Schaden  im  Stück  trägt  der  Hurenwirt;  der  Jüngling, 
der  Karthager,  ja  endlich  noch  eine  Nebenfigur,  ein  Soldat,  stürmen  auf 
ihn  ein.  Der  Poenulus  ist  zwar  reich  an  schönen  komischen  Einzelnheiten, 
allein  die  Komposition  ist  sehr  mangelhaft.  Es  scheint,  dass  zwei  argii- 
menta  verschmolzen  wurden.  Auch  Spuren  einer  zweiten  Rezension  trägt 
das  Stück  an  sich,  so  hat  es  einen  doppelten  Schluss.  Berühmt  ist  in 
dem  Stück  das  eingestreute  Punische.  Als  Original  lag  ein  KaQxrj^ovwg 
vor.  Der  römische  Dichter  nannte  sein  Stück  Poenulus,  bei  einer  späteren 
Aufführung  kam  wahrscheinlich   der  Titel  Patruus  pultiphagonides  >)  auf. 

Die  Zusammenarheitung  aus  zwei  Stücken  begründet  eingehend  Fbanckbn,  De  Poenidi 


^)  oder  vielleicht  Patruus  allein.    Fbanckbn,  Mnem.^  4,  164. 


T.  MaocioB  Plaatos.  43 

compoaüione ,  Mneiii.'  4,  168,  dem  mit  einigen  Modifikationen  Lahobeur,  De  Plauti 
^Poenulo,  Friedl.  1883  p.  20  folgt.  Vgl.  auch  Reinhabdt  in  Studbxukd*s  Stud.  1,  97.  Da- 
gegen sucht  GCViz,  De  composüiane  Poenidh  1883/84  p.  8,  durch  Veraetzung  der  Szenen 
IV  1  und  2  vor  Sz.  II  die  Schwierigkeiten  zu  beseitigen,  gibt  aber  die  Möglichkeit  der  Kon- 
tamination zu.  Die  Umstellung  billigt  Seyffebt,  Burs.  Jahresber.  47  Bd.  II  p.  115.  Über 
den  doppelten  Ausgang  handelt  Haspbr,  De  Poenuli  duplici  exitu,  Fleckbis.  J.,  Suppl.  3, 
279—305;  die  übrige  Litteratur  darflber  ist  zusammengestellt  in  der  Ausgabe  von  Götz  und 
Löwe  p.  170.  Über  retrnctatio  und  interpolcUio  Schubtb,  De  Poentüo  Plautina  quaest. 
crit ,  Bonn  1883. 

16.  Persa  (Der  Perser).  Der  Liebende  ist  diesmal  ein  Sklave;  er 
will  sein  Liebchen  von  einem  Leno  loskaufen,  hat  aber  nicht  das  nötige 
Geld  dazu.  Dies  verschafft  ihm  ein  anderer  Sklave  durch  Unterschlagung 
einer  für  den  Einkauf  von  Ochsen  bestimmten  Summe.  Nun  soll  aber 
dem  Leno  diese  Loskaufsumme  wieder  entrissen  werden.  Dies  geschieht 
dadurch,  dass  jener  Kollege  zum  zweitenmale  hilft;  er  verkleidet  sich  als 
Perser  —  daher  der  Name  des  Stücks  —  und  verkauft  die  verkleidete 
Tochter  des  Parasiten  als  eine  angeblich  aus  Arabien  entführte  Freie  an 
den  Leno.  Da  der  Parasit  gleich  nach  der  Auszahlung  der  Kaufsumme 
seine  Tochter  als  Freigeborne  reklamiert,  verliert  der  Leno  Geld  und  Mäd- 
chen und  wird  noch  schrecklich  verhöhnt.  Ein  niedriges  Stück  mit  dürrer 
Handlung  und  niedriger  Komik,  angemessen  der  niedrigen  Gesellschaft, 
aus  der  sich  die  handelnden  Personen  zusammensetzen.  Das  Stück  ist  für 
ein  rohes  Publikum  bestimmt. 

Kontamination  nimmt  an  und  begründet  in  ganz  unzureichender  Weise  Jjsbnoijk,  De 
T.  Jdacci  Plauti  Persa,  Utrecht  1884  p.  47—92,  bes.  p.  88.  Verkürzung  der  Szene  IV  9 
erscheint  Ritscbl  wahrscheinlich,  Ausg.  p.  IX.    Vgl.  Götz,  Acta  soc,  Lips.  6,  300. 

17.  Rudens  (Das  Seil).  Die  Voraussetzung  des  Stücks  ist  ein  See- 
sturm. Durch  denselben  werden  zwei  Mädchen,  welche  ein  Kuppler  nach 
Sizilien  führen  wollte,  an  die  Küste  von  Cyrene  verschlagen.  Diese  Reise 
des  Kupplers  schloss  aber  einen  Vertragsbruch  gegen  Plesidippus  in  sich, 
welcher  eines  dieser  Mädchen  (Palaestra)  liebte  und  um  eine  bestimmte 
Summe  aus  den  Händen  des  Kupplers  befreien  wollte.  Am  Landungsort 
befand  sich  ein  Tempel  der  Venus  und  die  Wohnung  des  alten  Daemones. 
Nach  einiger  Zeit  kommt  der  ebenfalls  ans  Land  verschlagene  Kuppler 
und  will  die  Mädchen,  die  sich  ins  Heiligtum  der  Venus  geflüchtet  hatten, 
mit  Gewalt  fortreissen.  Dem  widersetzt  sich  Daemones.  Plesidippus  wii*d 
geholt,  der  Kuppler  kommt  vor  Gericht.  Inzwischen  wird  von  einem 
Sklaven  des  Daemones,  Gripus,  ein  Koffer  aus  dem  Meer  ans  Land  gezogen. 
Derselbe  enthält  crepundia,  aus  denen  sich  ergibt,  dass  die  Geliebte  des 
Plesidippus  die  Tochter  des  Daemones  ist.  Der  ävayvoiQUTig  folgt  die  Ver- 
lobung mit  Plesidippus.  Den  Schaden  hat  wiederum  der  Kuppler.  Das 
Stück,  dessen  Original  eine  Komödie  des  Diphilos  war,  lässt  die  heitere 
Komik  vermissen,  es  ist  mehr  ein  Schauspiel,  das  aber  schon  durch  die 
reiche  Szenerie  den  Hörer  einnehmen  musste.  Eine  Merkwürdigkeit  ist  zu 
Anfang  des  zweiten  Aktes  der  Chor,  in  dem  die  Fischer  ihr  ärmliches 
Dasein  schüdem. 

Den  Titel  des  Originals  überliefert  der  Prolog  (vs.  32)  nicht.  F.  Scholl  vermutet 
als  solchen  JJiJQa  (Rh.  Mus.  43,  298).  Der  lateinische  Name  rfihrt  von  dem  Seile  her,  an 
dem  Trachalio  den  Koffer  festhält,  so  dass  ihn  Gripus  nicht  fortschaffen  kann  (Vs.  1015, 1031). 
Es  stellt  dies  eine  komische  Scene  dar.  Den  sonderbaren  Titel  wählte  der  Dichter  wohl 
deshalb,  weil  er  bereits  eine  Vidularia  —  dies  wäre  die  passendste  Bezeichnung  gewesen  ••- 


44      BOmiaohe  LitteratiirgeBohiohte.    I.  Die  Zeit  der  Bepublik.    2.  Periode. 


geschrieben  faaiie.  Bezüglich  der  Komposition  bemerkt  Fbanoxen,  Mnemos.^  3,  35:  scma 
iUa,  in  qua  de  possessione  thesauri  inventi  aUercantur  TrachcUio  et  Chripus,  nimis  protracla 
est;  coÜoquium  Scepamionis  et  Ampelisccie  (414—484)  plane  poterat  abesse.  Tum  melius 
fortasse  exspectationi  speclcUorum  canstduisset  poeta,  si  vidulo  primum  invento  apparuissel 
Palaestram  esse  Äthenis  natam  (741),  Die  Schwächen  des  Stücks  erörtert  auch  Lakobehb, 
Plautina,  Fried!.  1888,  wobei  er  p.  8  zu  dem  Ergebnis  kommt:  uniPlawto  nimis  festinanti 
et  dummodo  specUUarum  delectoHoni  servuxtf  argumentum  levius  persequenti  eius  modi 
offensiones  adscribamtM  necesse  est. 

18.  Stichus.  Zwei  Schwestern  harren  bereits  seit  drei  Jahren  ihrer 
Gatten,  zweier  Brüder,  die  in  die  Fremde  gezogen  waren,  um  ihre  durch 
Leichtsinn  zerrütteten  Vermögensverhältnisse  wiederherzustellen,  aber  bisher 
keine  Nachricht  von  sich  gegeben  hatten.  Der  Vater  redet  seinen  Töchtern 
zu,  die  Gatten  fahren  zu  lassen.  Allein  die  Töchter  bewahren  fest  die 
eheliche  Treue  und  sie  werden  für  ihre  Treue  belohnt.  Eben  kommen  die 
beiden  Gatten  mit  Schätzen  reich  beladen  zurück.  Der  Schwiegervater  ist 
jetzt  auch  versöhnt.  Es  wird  auf  ein  Mahl  der  Familienglieder  hingewiesen, 
zur  Darstellung  aber  kommt  es  im  Stücke  nicht.  Dafür  aber  finden  wir 
in  der  letzten  Szene  ein  Gelage  der  Sklaven  der  beiden  Familien,  des 
Stichus,  nach  dem  das  Stück  benannt  ist,  des  Sagarinus  und  der  gemein- 
schaftlichen Geliebten  Stephanium.  Aus  der  Inhaltsangabe  ersieht  man, 
dass  keine  Verwicklung  vorliegt,  und  dass  die  letzte  Szene  in  einem  sehr 
losen  Zusammenhang  mit  dem  Vorausgehenden  steht.  Die  Komik  des 
Stücks  liefert  ein  Parasit,  ein  elender  Hungerleider.  Einige  Einzelheiten 
sind  reizend,  z.  B.  die  Schilderung  des  Botens,  der  die  Nachricht  von  der 
Ankunft  der  Herren  überbringt;  allerliebst  ist  ferner,  und  für  den  Schau- 
spieler äusserst  dankbar,  der  apologus  des  Schwiegervaters  (538);  auch  die 
Schlusszene  hat  viel  Drolliges.  Allein  von  einer  künstlerischen  Komposition 
unseres  Stücks  kann  keine  Rede  sein. 

Als  Original  des  Stücks  waren  in  der  Didaskalie  die  Adolphen  Menanders  ge- 
nannt. Da  diese  Komödie,  soweit  sie  uns  aus  Terenz*  Nachahmung  bekannt  ist,  nicht  mit 
dem  im  Stichus  behandelten  Argument  übereinstimmt,  so  hat  man  eine  Verderbnis  der  Di- 
daskalie gefolgert.  Vgl.  Ritschl,  Parerga  p.  270;  Stüdbhund,  De  actae  Stichi  tempore 
in  Comment.  Momxsen  p.  801  (nee  ctmstai^  utrum  fahulae  an  poetae  an  adeo  utriusque 
nomen  falso  in  didctsciuiam  irrepserü).  Diese  bedenkliche  Folgerung  beseitigt  F.  Scholl, 
der  gestützt  auf  ein  Scholion  zu  Plato  p.  276  Herm.  eine  zweite  Komödie  Menanders,  des 
Titels  AdelpJhoe  gewinnt  (Flbckbis.  J.  1879  p.  44).    Vgl.  Dziatzko  zu  Terenz  Ädelphoe  6,  1. 

Um  die  merkwürdige  Beschaffenheit  des  Stichus  zu  erklären,  hat  man  zwei  Wege 
eingeschlagen;  man  nimmt  Kontamination  an,  wie  solche  Wintbu,  Plauti  fragm.  p.  82 — 8(3 
ausführlicher  begründet  hat.  Nach  ihm  ist  der  jetzige  Stichus  sehr  bald  aus  zwei  plauti- 
nischen  Komödien  zusammengesetzt  worden,  aus  einer  Nerrolaria  am  Anfang  und  aus 
einem  Stichus  am  Ende.  Als  Stütze  für  diese  Hypothese  dient  Festus,  bei  dem  zwei  in 
unserm  Stichus  stehenden  Verse  (352  u.  91)  der  Nervolaria  zugeschrieben  werden.  Andere 
Gelehrte  statuieren  dagegen  mit  Recht  Verkürzung  eines  Originals  und  zwar  werden  wir 
diese  abbreviierende  Thätigkeit  gleich  dem  Dichter  selbst,  dem  es  nur  um  Aneinanderrei- 
hung einiger  wirksamen  Scenen  zu  thun  war,  nicht  erst  einem  Diaskeuasten  beUegen.  Vgl. 
Götz,  Acta  soc.   Lips.  6,  302. 

19.  Trinummus  ist  dem  Schatz  Philemons  nachgebildet.  Das  plau- 
tinische  Stück  hat  seinen  Namen  von  dem  Dreier,  den  der  Sykophant  für 
seine  Dienste  erhielt.  0  Sin  junger  Mann  mit  Namen  Lesbonicus  war  in 
der  Abwesenheit  seines  Vaters  Charmides  sehr  verschwenderisch  gewesen, 
so  dass  er  zuletzt  gezwungen  war,  sein  Haus  zu  verkaufen.    In  diesem 


')  Vs.  841   huic  ego  die  nomen  Tri- 
nummo  facio :  nam  ego  operam  meawi  \  tri- 


bus  nummis  hodie   locavi  ad  artis  nuga- 
torias. 


T.  Maccins  Plantua.  4 


K 


Haus  aber  war  ein  Schatz  verborgen.  Dies  wusste  Callicles,  dem  Cliar- 
mides  für  die  Dauer  seiner  Abwesenheit  den  Lesbonicus  anvertraut  hatte. 
Um  diesen  Schatz  zu  retten,  hatte  Callicles  das  Haus  selbst  gekauft.  Nun 
tri£ft  es  sich,  dass  um  Lesbonicus'  Schwester  ein  trefflich  gearteter  Jüngling 
aus  guter  Familie  wirbt.  Um  die  nötige  Mitgift  zu  beschaffen,  zugleich 
aber  Lesbonicus  in  Unkenntnis  des  Schatzes  zu  erhalten,  wird  von  Callicles 
ein  Sykophant  gedungen,  der  angeblich  die  Mitgift  von  dem  in  der  Fremde 
weilenden  Vater  überbringt.  Allein  der  Sykophant  trifft  mit  dem  inzwischen 
zurückgekehrten  Charmides  zusammen.  Dies  führt  zu  einer  heiteren  Szene. 
Der  Schluss  ist,  dass  der  junge  Taugenichts  unter  der  Bedingung  Ver- 
zeihung erhält,  dass  er  die  Tochter  des  Callicles  zur  Frau  nimmt.  Das 
an  moralischen  Ergüssen  reiche  Stück  verläuft  im  ganzen  sehr  ruhig  und 
ist  mehr  ein  Familiendrama  als  eine  Komödie.  Bemerkenswert  ist,  dass 
keine  weibliche  Rolle  in  demselben  erscheint. 

FOr  die  Abfaasungszeit  gewinnt  Ritschl  iu  der  Erwähnung  der  neuen  ÄdUen  Vs.  990 
einen  Anhaltspunkt  (Parerga,  p.  339).  Vom  Amtsantritt  der  Magistrate  im  März  ausgehend 
schliesst  er,  von  neuen  Ädilen  könne  nur  bei  den  im  Apnl  stattfindenden  Megalesia 
gesprochen  werden,  sonach  müsse  das  Stück  nach  194  fallen,  da  erst  in  diesem  Jahr  diese 
Spiele  szenisch  wurden.  Das  LBSSiKo'sche  Stück  ,der  Schaiz*  (1750)  ist  eine  vortreffliche 
Bearbeitung  der  plautinischen  Komödie;  vgl.  Sbldkbb,  Lessings  Verhältnis  zu  altr.  Korn. 
Mannh.  1881  p.  28.  Über  andere  moderne  Bearbeitungen  vgl.  Lessing,  Hamb.  Dramaturgie 
9.  Stück  (7,  56  Göschen). 

20.  Truculentus  (Der  Polterer).  Eine  Hetäre  hat  drei  Liebhaber 
und  beutet  alle  drei  in  schändlicher  Habsucht  aus.  Die  einzige  schwache 
Verwicklung  des  Stücks  besteht  darin,  dass  die  Hetäre,  um  einen  der  drei 
Liebhaber,  einen  Soldaten,  gehörig  auszunützen,  vorgibt,  sie  habe  ihm  einen 
Sohn  geboren.  Zu  diesem  Zweck  wurde  ein  fremdes  Kind  unterschoben. 
Es  stellte  sich  aber  bald  heraus,  dass  dieses  Kind  einer  Freigeborenen  zum 
Vater  den  zweiten  der  drei  Liebhaber  hat.  Damit  ist  dieser  für  die  Hetäre 
verloren,  denn  er  muss  das  verführte  Mädchen  heiraten.  In  dem  Stück 
kommt  ein  Sklave  vor,  der  sehr  grob,  truculentus,  und  dem  Hetärenvolk 
feindselig  ist;  dieser  Sklave  gibt  dem  Stück  seinen  Namen.  Merkwürdig 
ist  aber,  dass  dieser  Sklave  plötzlich  ^  ein  ganz  anderer  wird.  Von  allen 
plautinischen  Stücken  ist  nach  meiner  Ansicht  der  Truculentus  das  un- 
erfreulichste; denn  der  Stoff  ist  ein  sehr  abstossender  und  gemeiner,  und 
wir  werden  nicht  durch  wahrhaft  heitere  Szenen  entschädigt. 

Diesem  traurigen  Eindruck  gegenüber,  den  das  Stück  macht,  muss  man  sich  wun- 
dem, wenn  uns  Cicero  erzählt,  dass  Plautus  am  Truculentus  als  einem  Werk  seines  Alters 
besondere  Freude  gehabt  habe.  Cato  m.  14,  50  qiMm  gaudebat  hello  suo  Punico  Naevius ! 
quam  Truculenio  PlauttM!  quam  Fseudolo!  Obwohl  die  Überlieferung  des  Stückes  die 
denkbar  schlechteste  ist,  so  lassen  sich  doch  die  Gebrechen  derselben  unmöglich  aus  ihr 
erklären,  es  irrt  daher  Spekgbl,  wenn  er  in  seiner  Ausgabe  p.  V  schreibt :  iertii  actus  qui 
integer  non  est  sunt  scaenae  III 1,  et  III 2^  quartus  totus  intercidit  (nisi  quod  III 1  et 
III 2  etiam  quarti  actus  et  tertius  totus  intercidisse  potest).  Es  liegt  allem  Anschein 
nach  eine  Verkürzung  des  Originals  vor.  Ribbbok  bemerkt  hier  passend  (Rh.  Mus.  37,  422) : 
«schon  der  Titel  Truculentus  lässt  vermuten,  dass  dieser  Rolle  in  dem  unverkürzten  Stück 
ein  weiterer  Spielraum  als  in  den  zwei  einzigen  uns  erhaltenen  Scenen  eingeräumt  gewesen 
sein  muss.  namentlich  kann  in  der  zweiten  (III  2)  die  Umwandlang  des  Charakters  kaum 
so  unmotiviert  eingetreten  sein,  wie  sie  Donat  bereits  vorfand."  Welches  Original  vorlag, 
wissen  wir  nicht;  denn  Schills  Ansicht,  dass  dieses  der  Sikyonios  des  Menander  sei,  hat 
Ribbeck,  Alazon  p.  79  widerlegt. 


^)  Er  motiviert  es  damit  v.  672  postquam  in  vrbem  crebro  commeo. 


46      Bömiache  LÜteratnrgOBohichte.    t.  Die  Zeit  der  Aepnblik.    2.  ^eriode. 


21.  Vidularia  (Das  Kofferstück).  Von  diesem  Stück  haben  wir 
ausser  den  örammatikerzitaten  noch  grössere  Bruchstücke  im  ambrosiani- 
schen  Palimpsest.  Die  Handlung  ist  der  im  Rudens  dargestellten  ausser- 
ordentlich ähnlich.  Der  junge  Nicodemus  hatte  sich  aus  einem  Schiffbruch 
gerettet,  aber  dabei  seinen  Koffer  {vidultis)  verloren,  der  den  Ring,  welcher 
das  Erkennungszeichen  seiner  Abkunft  war,  enthielt.  Später  findet  ein 
Fischer  —  die  Handlung  spielt  am  Meere  —  den  Koffer  des  Nicodemus. 
Der  Ring  verhilft  dem  Nicodemus  zu  seinem  Vater,  bei  dem  er,  ohne  es 
zu  wissen,  nach  dem  Schiffbruch  Dienste  genommen  hatte. 

Aus  dem  Prolog  hat  Stüdemxtkd  mit  grossem  Scharfsinn  Züge  ermittelt,  aus  denen 
sich  das  Wort  Schedia  (das  für  vorübergehenden  Gebrauch  rasch  hergestellte  Schiff)  ergibt. 
Ohne  Zweifel  war  damit  das  Original  bezeichnet.  Da  wir  nun  von  keinem  andern  Dichter 
als  von  Diphilos  eine  l'jifecfta  kennen  (Kook  fragm.  2,  567),  so  war  damit  der  Verfasser 
des  Originals  festgestellt.  Nun  ist  das  Original  für  den  Rudens  ebenfalls  eine  Komödie 
des  Diphilos.  Wir  hätten  sonach  zwei  , Parallelkomödien'  desselben  Autors.  Vgl.  Studemund, 
Über  zwei  Parallelkomödien  des  Diphilos  nebst  dem  Anhang  ,die  Fragmente  der  Plautini- 
schen  Vidularia  auf  Grund  einer  erneuten  Vergleichung  des  Ambrosianischen  Palimpsestes* 
in  den  Verh.  der  36.  Philologenvers,  zu  Karlsruhe  1882  p.  33.  (Ein  Abdruck  der  Fragmente 
findet  sich  auch  bei  Winter,  Plauti  fragm.  p.  49). 

Dies  sind  die  sog.  fdbulae  Varronianae  des  Plautus.  Überschauen 
wir  die  Namen,  so  finden  wir  Sachnamen  und  zwar  doppelter  Art, 
einmal  in  adjektivischer  Gestalt  mit  Ergänzung  von  fabula  z.  B.  Mostel- 
laria, dann  als  Substantive  z.  B.  Rudens,  ferner  Personennamen  und  zwar 
sowohl  Eigennamen  als  Gattungsnamen  (Stichus  —  Der  Kaufmann). 

Über  die  Zeit  der  einzelnen  Stücke  wären  wir  genau  unterrichtet, 
wenn  uns  die  Didaskalien  erhalten  wären.  Wir  haben  aber  deren  nur 
zwei  in  Trümmern  im  Ambrosianus  erhalten,  eine  zum  Stichus  und  eine 
zum  Pseudolus.  Die  Didaskalie  zum  Stichus  belehrt  uns,  dass  derselbe 
200  V.  Chr.  an  den  plebeischen  Spielen,^)  die  zum  Pseudolus,  dass  derselbe 
bei  den  megalesischen  Spielen  d.  J.  191  aufgeführt  wurde.  Die  relative 
Zeitbestimmung  der  übrigen  Stücke  beruht  auf  anderen  Indicien.  Wir 
haben  auf  solche  beim  Truculentus,  beim  Miles  gloriosus,  beim  Epidicus, 
beim  Rudens,  beim  Trinummus  aufmerksam  gemacht. 

Verlorene  Stücke  des  Plautus.  Ausser  den  21  fdbulae  Varronianae  haben 
wir  noch  Kenntnis  und  grösstenteils  auch  Fragmente  von  folgenden  StQcken:  Acharistio, 
Addictus,  Agroecus,  Anus,  Artemo,  Astraba,  Bac^ria,  Bis  compressa,  Caecus  vel  Praedones, 
Galceolus.  Carbonaria,  Cesistio  (Cacistio,  Ritschl  Parerga  p.  151,  Cocistrio,  Löwe  Prodr.  p.  291), 
Colax  (dieses  Stück  hält  Ritschl  Parerg.  p.  104  nach  dem  Prolog,  des  Terenz  zu  £un.  25 
für  eine  Neubearbeitung  des  Menandreischen  Colax  des  Naevius),  Gommorientes,  Condalium, 
Comicula,  Dyscolus,  Faeneratrix,  Fretum,  Frivolaria,  Fugitivi,  Gemini  lenones,  Hortulus, 
Lipargus  (?),  Nervolaria,  Pagon,  Parasitus  medicus,  Parasitus  piger,  Saturio,  Sitellitergus, 
Syrus,  Trigemini.  Vgl.  RitschLi  opusc.  3,  178.  Fr.  Wintbb,  Flauti  fahularum  depe^-dita- 
mm  fragmenta.    Bonn  1885. 

33.  Die  plautinischen  Prologe.  Eine  eigene  Erörterung  erfordern 
die  plautinischen  Prologe.  Es  ist  nämlich  eine  Eigentümlichkeit  der  neueren 
Komödie,  durch  einen  Prolog  die  Zuschauer  üher  die  Voraussetzung,  und 
den  Gang  der  Handlung  im  allgemeinen  zu  unterrichten,  auch  Namen  und 


^)  Dass  die  Didaskalie  ivirklich  zum 
Stichus  gehörtOi  setzt  Studemund  De  actae 
Sticht  Plautinae  tempore,  nachdem  Ritschl 
mit  der  scharfsinnigen  Abhandlung  „die 
Plautinischen  Didaskalien*    Parerga   p.  249 


den  Weg  gezeigt,  in  den  Comm.  Mommsen. 
p.  7^2  bes.  802  dadurch  ausser  Zweifel,  dass 
er  beweist,  dass  Worte  des  auf  demselben  Blatte 
stehenden  Arguments,  welche  er  entzifferte, 
zweifellos  auf  den  Stichus  sich  beziehen. 


T.  Maccina  Planioa. 


47 


Verfasser  des  Originals  und  der  Bearbeitung  mitzuteilen.  Das  letzte  war 
aber  nicht  unbedingt  notwendig,  weil  vor  der  Aufführung  eine  feierliche 
Vorstellung  des  Theaterpersonals  ^)  und  die  pronuntiatio  tituU  statthatte. 
Vielleicht  konnte  auch  der  ganze  Prolog  fehlen.  Das  Institut  des  Prologs 
der  neueren  Komödie  ist  eine  Fortsetzung  des  euripideischen  Prologs.  Zu 
Plautus  sind  uns  15  Prologe  erhalten,  zu  6  Stücken  liegen  keine  vor, 
nämlich  zu  Bacchides,  Epidicus,  Mostellaria,  Persa,  Stichus,  Curculio.  *)  Von 
den  15  uns  erhaltenen  Prologen  werden  4  von  allegorischen  Personen  ge- 
sprochen, der  zum  Trinummus  von  der  Luxuria  (und  Inopia),  der  zur  Au- 
lularia  vom  Lar  familiaris,  der  zum  Rudens  vom  Arcturus,  der  zur  Cistel- 
laria  vom  Auxilium;  in  3  Stücken  spricht  eine  handelnde  Person  des  Stückes 
selbst  den  Prolog,  im  Mercator,  Miles  gloriosus,  Amphitruo,  dagegen  in  den 
übrigen  Stücken,  in  den  Captivi,  den  Menaechmi,  im  Tiiiculentus,  in  der 
Asinaria,  im  Pseudolus,')  im  Poenulus,  in  der  Casina,  in  der  Vidularia*)  ein 
jüngerer  Schauspieler  im  eigenen  Kostüme,  der  selbst  den  Namen  Prologus 
führte.^)  Die  Prologe  des  Miles  gloriosus  und  der  Cistellaria  werden  nicht 
vor  der  Eröffnung  des  Stückes  gesprochen,  sondern  nach  dem  ersten  Akt. 
Die  Prüfung  der  Prologe  ergibt  den  Satz,  dass  kein  einziger  völlig 
als  plautinisch  betrachtet  werden  kann.  Von  dem  zur  Casina  steht  fest, 
dass  er  für  eine  zweite  Aufführung  bestimmt  war  (v.  11 — 13).  Bei  anderen 
stehen  bald  äussere,  bald  innere  Gründe,  bald  beide  zugleich  der  vollen 
Autorschaft  Plautus'  entgegen.  Äussere  Gründe,  wenn  feste  Sitzplätze 
erwähnt  werden,  die  es  zur  Zeit  des  Plautus  nicht  gab;  innere  Gründe, 
wenn  fade  Spassmacherei  und  unerträgliclies  Geschwätz  sich  breit  macht. 
Wieder  andere  können  einen  plautinischen  Kern  haben,  aber  Überarbeitungen 
und  Zusätze  haben  die  ursprüngliche  Gestalt  bis  zur  Unkenntlichkeit  ge- 
trübt.®) Es  bleibt  endlich  eine  ganz  kleine  Anzahl  von  Prologen,  in  denen 
trotz  der  Thätigkeit  einer  zweiten  Hand  das  plautinische  Eigentum  er- 
kennbar ist.   Dies  dürfte  beim  Trinummus  und  beim  Rudens  der  Fall  sein. 

Die  Wfirdignng  der  plautinischen  Prologe  hat  scharfsinnig  Ritschl  angebahnt  (Pa- 
rerga  p.  180).  —  Libbio,  De  prologta  Terent.  et  Plaut.  Görlitz  1859.  Dziatzko,  De  pro- 
logig  Plaut,  et  Ter.  Bonn  1864.  tlber  die  plant.  Prolog.  Luzem  1867.  Lobenss  zum 
Miles  p.  38.  —  Über  den  Rudensprolog  Dziatzko,  Rh.  Mus.  24,  576 ;  Akspach,  Fleckeis.  .7. 
139,  109.  Über  den  Truculentusprolog  Dziatzko,  Rh.  Mus.  29,  51.  Über  den  Mercatorprolog 
1.  c.  26,  421;  29,  63.  Akspaoh,  Fleckeis.  J.  139,  171.  Über  den  Poenulusprolog  Schubth. 
De  Poenulo  quaest.    Bonn  1883  cap.  I. 

34.  Charakteristik  des  Plautus.  Da  Plautus  in  seinen  Komödii.i 
keine  Originale,  sondern  Übersetzungen  lieferte,  so  bestand  die  erste  Thätig- 
keit desselben  in  der  Auswahl  der  zu  bearbeitenden  Komödien.  Zu  den 
vorhandenen  21  Stücken  können  wir  vier  Dichter  als  Schöpfer  von  Origi- 


*)  Vgl.  RoHDB,  Rh.  Mos.  38,  264. 

')  Dieses  Stflck  bat  aber  eine  Art  Para- 
base  IV,  1. 

')  Von  dem  Prolog  zu  diesem  Stück 
haben  wir  nur  zwei  Verse. 

*)  Reste  des  zu  diesem  StOck  gehörigen 
Prologs  hat  aus  dem  Ambrosianus  Stude- 
JIUHD  entziffert.  Vgl.  Verh.  der  Karlsr.  Phi- 
lologenvers. 1882  p.  43. 

*)  Hec.  prol.  II,  1  orator  advenio  or- 
tMtu  prologi.  Studbmukd  unterscheidet  1.  c. 


p.  41  drei  Arten  dieser  Prologgattung;  a) 
ausser  der  Erzählung  des  argumentum  wird 
auch  das  nomen  d.h.  Namen  und  Verfasser 
des  griech.  Orginals  und  des  lat.  Stückes 
angeführt;  b)  bloss  das  argumentum  wird 
erzählt,  das  nomen  nicht  erwähnt;  c)  bloss 
das  nomen  wird  erwähnt,  das  argumetUum 
zu  erzählen  abgelehnt. 

^)  Vgl.  die  Bemerkung   Ribbbcks  zum 
Miles  Vs.  79. 


48      fiOmiache  Litteratiirgeschichte.    t.  Die  Zeit  der  fiepublik.    2.  Periode. 

nalen  sicher  nachweisen,  Menander,  Philemon,   Diphilos  und  Demophilos.  0 
Da  der  letzte  Dichter  uns  nicht  weiter  bekannt  ist,  so  ist  zu  folgern,  dass 
Plautus  auch  zu  ganz  entlegenen  Quellen  griff,  falls  ihm  ein  Stück  zusagte. 
Die  ausgewählten  Stücke  repräsentieren  uns  ganz  verschiedene  Seiten  der 
Komödie.    Es  findet  sich  unter  denselben  eine  Charakterkomödie  (Au- 
lularia),  vielleicht  war  auch  das  Original  des  Truculentus  eine  solche,  eine 
mythologische  Travestie  (Amphitruo),  Rühr-  und  Familienstücke 
wie  die  Captivi,  der  Trinummus,  der  Stichus  in  seinem  Hauptteil  und  die 
drei  unter  sich  verwandten  Stücke  Cistellaria,  Rudens,  Yidularia.   Bei  den 
meisten  Stücken  ruht  aber  das  Hauptgewicht  auf  der  Intrigue.  Die  Muster 
dieser  Gattung  sind  Pseudolus  und  Bacchides,  in  denen  die  Unerschöpflich- 
keit der  intriguierenden  Hauptperson  in  der  Auffindung  neuer  Mittel  und 
Wege  dargelegt  wird.    Auf  eine  Erkennungsszene  laufen  hinaus  Curculio, 
Epidicus,  Poenulus.     Rivalität  in  der  Liebe  zwischen  Vater  und  Sohn  spielt 
sich  ab  in  der  Casina  und  im  Mercator.    Durch  ein  ganz  neues  Motiv, 
durch  ein  angebliches  Gespenst  wird  die  Intrigue  in  der  Mostellaria  ge- 
tragen.    Auch  die  Verwechslungskomödie  ist  vertreten,  eine  solche 
sind  die  Menaechmi,  in  der  Nebenhandlung  der  Miles.    Auch  im  Amphitruo 
war  dieses  Motiv  verarbeitet.    Manche  Stücke  lassen  die  niedrige  Komik 
so  stark  hervortreten,   dass  wir  sie  als  Possen  bezeichnen  können,  wie 
die  Asinaria  und  der  Persa.    Die  gelungensten  Stücke  dürften  sein:  Au- 
lularia,  Captivi,  Epidicus,  Bacchides,  Mostellaria,  Menaechmi,  Miles,  Pseu- 
dolus, Trinummus.  Wir  sehen  also,  dass  Plautus  sich  in  den  verschiedensten 
Gattungen  versucht  hat  und  daher  als  die  vorzüglichste  Quelle  für  die 
Erkenntnis  der  neueren  Komödie  betrachtet  werden  kann.    Es  entsteht 
nun  die  Frage,  wie  sich  Plautus'  Bearbeitung  zu  den  Originalen  verhält. 
Das  erste,  was  hier  berücksichtigt  werden  muss,  ist  die  Kontamination. 
Dass  auch  Plautus  von  diesem  Kunstmittel  Gebrauch  gemacht  hat,  bezeugt 
der  Prolog  zur  Andria  vs.  15;   denn  hier  beruft  sich  Terenz  zur  Abwehr 
der  Angriffe  auf  seine  kontaminierende  Thätigkeit  auf  den  Vorgang  des 
Naevius,  Ennius,  Plautus.    Allein  der  Nachweis  der  Kontamination  in  den 
einzelnen  Stücken  ist  deswegen  erschwert,  weil  uns  hier  äussere  Zeugnisse 
abgehen  und  wir  lediglich  auf  die  Betrachtung  der  Komposition  angewiesen 
sind.     Mit  ziemlich   grosser  Wahrscheinlichkeit  kann   die  Kontamination 
für  den  Poenulus  und   den  Miles  angenommen  werden.     Ausser  der  Kon- 
tamination scheint  der  Dichter  auch  Verkürzung  des  Originals  vorge- 
nommen zu  haben.     Solche  liegt  höchst  wahrscheinlich   vor  im  Curculio, 
Stichus,   Truculentus;   wir  haben  keinen   stichhaltigen  Grund,   diese   ver- 
kürzende Thätigkeit  erst  späteren  Bearbeitern  der  Stücke  beizulegen.   Dass 
beide  Operationen  der  Komposition  nicht  zum  Vorteil  gereichen  konnten, 
ist  klar.    Es  fehlt  nicht  an  Anzeichen,  dass  auch  sonst  der  Dichter  nicht 
ängstlich  auf  der  strengen  Durchführung  des  Arguments  verharrte.     Wir 
stossen  vielfach  auf  Widersprüche,  Vergesslichkeiten,  Sprünge  und  andere 
Mängel  der  Komposition.     Die  Plautusforscher   suchen   meistens   spätere 
Bearbeitungen  verantwortlich  zu  machen,  die  „retractatio"  ist  zu  einer  Art 

')  Poseidippos,  der  ftir  die  Menaechmi  (vgl.  Schobll  p.  XVI)  und  Curculio  die  Ori- 
ginale geliefert  haben  soll,  wagten  wir  nicht  aufzunehmen. 


T.  Kacoins  Planta«. 


49 


Panacee  geworden.  Allein  wenn  man  sich  die  rasche  Produktion  des 
Dichters  vergegenwärtigt,  wenn  man  bedenkt,  dass  die  Stücke  zunächst 
zu  einer  einmaligen  Aufführung,  nicht  zur  peinlichen  Lektüre  bestimmt 
waren,  wird  man  der  Ansicht  nicht  beipflichten  können,  welche  den  Dichter 
von  allen  derartigen  Verstössen  zu  befreien  trachtet.  ^  Hat  doch  der 
Dichter  auch  die  Dissonanz  der  Darstellung  nicht  vermieden.  Wir  finden 
bei  ihm  eine  Menge  Dinge,  welche  für  die  griechischen  Zuschauer,  nicht 
aber  für  die  römischen  berechnet  waren.  So  sind  z.  B.  die  Lokalitäten, 
die  Anspielungen  auf  die  tragischen  Mythenkreise,  sehr  viele  sakrale  Dinge 
und  historische  Persönlichkeiten,  Geldverhältnisse  unverändert  aus  dem 
Original  herübergenommen.  Daneben  aber  sucht  Plautus  mit  Vorliebe 
römische  Lokaltöne  einzumischen;  er  ersetzt,  wo  er  nur  kann,  in  seiner 
Schilderung  griechische  Verhältnisse  durch  analoge  römische.  Dadurch  ist 
ein  vom  Standpunkt  der  Kunst  durchaus  zu  verwerfendes  Durcheinander 
entstanden;  die  Einheitlichkeit  des  Hintergrunds  ist  zerstört.  Wenn  man 
aus  diesen  römischen  Bestandteilen  geschlossen  hat,  dass  sich  Plautus 
seinem  Original  gegenüber  aufs  freieste  bewegt  hat,  so  ist  dies  unrichtig. 
Hätte  Plautus  sich  nur  ganz  allgemein  an  sein  Original  gehalten,  so  würde 
er  die  griechischen  Unverständlichkeiten  doch  wohl  zuerst  beseitigt  haben. 
Es  ist  keine  Frage,  nicht  die  Komposition,  sondern  die  reiche  metrische 
und  sprachliche  Gestaltung  ist  es,  in  der  die  Meisterschaft  des  Dichters 
zu  suchen  ist.  In  der  Metrik  musste  Plautus  vielfach  selbständig  und 
produktiv  vorgehen.  Der  römische  Komödiendichter  hatte  eine  Reihe  von 
Metra  in  Anwendung  zu  bringen,  für  die  in  seinen  Originalen  gar  keine 
Muster  vorhanden  waren,  weil  die  Griechen  diese  nicht  gebrauchten.  Aber 
auch  sonst  war  der  Dichter  durchaus  nicht  an  das  Metrum  seiner  Vorlage 
gebunden,  er  konnte  nach  freier  Wahl  einen  Wechsel  eintreten  lassen. 
Die  grösste  metrische  Selbständigkeit  entfalte  aber  Plautus  ohne  Zweifel 
in  den  Cantica.  Als  Metriker  ist  Plautus  bewunderungswürdig  durch  die 
Mannigfaltigkeit,  die  er  in  seinen  Gebilden  zeigt.  In  dieser  Beziehung 
steht  er  weit  über  Terenz.  Auch  die  strenge  Gesetzesmässigkeit  des  Vers- 
baus hat  man  immer  mehr  anerkennen  müssen,  seit  die  Geschichte  der 
lateinischen  Sprache  erforscht  wurde;  durch  dieselbe  sind  viele  anscheinende 
Unregelmässigkeiten  und  Härten  in  ein  anderes  Licht  getreten.  Wohl  noch 
höher  ist  die  sprachliche  Kunst  des  Dichters  zu  stellen.  Freilich  ist  es 
die  Sprache  der  Gasse,  die  er  im  Gegensatz  zu  Terenz  kultiviert.    Aber 


')  Auch  in  modernen  Dichtem  weist 
solche  Widersprflche  und  Vergesslichkeiten 
nAch  6.  Sauppb,  Wanderangen  auf  dem  Ge- 
biete der  Sprache  u.  Literatur  1868  p.  222. 
Vgl.  Geppbrt,  Plant.  Stud.  1,  61.  Auf  eine 
interessante  Inoonseqnenz  in  Wielahds  ^Lady 
Jobanna  Gray*,  das  nach  dem  englischen 
Original  des  Nicholas  Rowb  bearbeitet  ist. 
macht  Lbssdio  in  seinen  Briefen  die  neueste 
Utteiator  betreffend  nr.  64  (5, 147  Gdschen) 
aoftnerksam.  WnLANO  hat  die  rührende 
Episode  des  Pembrocks  herausgerissen,  trotz- 
dem ISsst  er  den  Guilford  zur  Johanna  sa- 
gen:   .Fembrok,  ach  mein  Freund,   Mein 

Haadbaoh  der  Uim.  AltcrtumflwlBaeittcbmn.    Xlll. 


Pembrock  selbst,  vom  Gardiner  betrogen. 
Fiel  zu  Marien  ab.*  Man  weiss  gar  nicht, 
fährt  Lbssino  fort,  was  das  für  ein  Pem- 
brock hier  ist  und  wie  Guilford  auf  einmal 
eines  Freundes  namentlich  gedenkt,  der  in 
dem  Stücke  ganz  und  gar  nicht  vorkommt? 
Aber  nun  werden  Sie  dieses  RAtsel  auflösen 
können.  Es  ist  eben  der  Pembrock  des 
RowB,  dem  er  in  seinem  Stücke  keinen  Platz 
gönnen  wollen,  und  der  ihm  dafür  den  Possen 
thut,  sich,  gleichsam  wider  seinen  Willen, 
einmal  einzuschleichen.  Vgl.  Götz,  Acta  soc. 
Lips.  4,  812. 


50      BOmiache  litteratnrgeBcliiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

hier  verfügt  er  über  alle  Mittel,  die  Rede  komisch  zu  gestalten;  AUittera- 
tionen,  Assonanzen,  etymologische  Figuren,  Wortspiele,  komische  Neubil- 
dungen fesseln  den  Leser.  Sein  Wortschatz  ist,  da  er  aus  dem  Born 
der  Volkssprache  schöpft,  ein  ungeheuer  reicher;  besonders  an  Schimpf- 
Aorten  besitzt  er  den  denkbar  grössten  Vorrat.  Dieser  plebejische  Zug, 
der  ohne  Zweifel  das  Original  vergröberte,  erregte  bei  den  fein  gebildeten 
Schriftstellern  der  augusteischen  Zeit  Anstoss,  wie  wir  aus  Horaz'  Poetik 
270  ersehen.  Aber  derselbe  Horaz  hat  auch  an  einem  anderen  Ort  auf  das 
hingewiesen,  was  jederzeit  den  Leser  des  Dichters  erfrischt,  auf  die  leben- 
dige, rasch  dahin  eilende  Rede,  einen  Vorzug,  den  auch  Varro  an  Plautus 
erkannt  hat.  Und  in  dieser  Lebendigkeit  und  Frische  der  Diktion  hat 
kein  späterer  römischer  Schriftsteller  den  Dichter  erreicht,  geschweige  denn 
übertroffen.  Wir  finden  es  daher  entschuldbar,  wenn  Aelius  Stilo  in  starker 
Übertreibung  sagte,  die  Musen  würden,  wenn  sie  lateinisch  sprächen,  sich 
des  plautinischen  Idioms  bedienen,  und  wir  streiten  nicht  dagegen,  wenn 
des  Dichters  Epitaphium  klagt,  dass  seit  seinem  Tode  die  Komödie  trauert, 
die  Bühne  verlassen  dasteht,  Scherz,  Spiel,  Lust  und  zahllose  Weisen  ver- 
stummt sind. 

Beiträge  zur  Charakteristik  des  Piautas  liefert  der  bekannte  Aufsatz  im  2.  Band  der 
opusc.  Ritsouls  p.  732,  Klein  im  2.  Band  seiner  Geschichte  des  Dramas  p.  480.  So  geist- 
reich der  Verfasser  unleugbar  ist,  so  ungeniessbar  ist  seine  Darstellung;  es  ist  gährender 
Most,  kein  reiner,  klarer  Wein.  Weise,  Die  Komödien  des  Plautus  —  beleuchtet.  Qued- 
linb.  1866.  Sehr  nützliche  Winke  geben  Lahobn*s  Plaut.  Studien.  Berl.  1886.  In  diesem 
Buch  werden  die  Mftngel  der  plautinischen  Dichtung  durch  alle  Stücke  hindurch  behandelt 
um  ein  Fundament  dafür  zu  gewinnen,  wie  weit  die  retractatio  an  diesen  Mängeln  schuld 
ist.  Mit  Recht  spricht  sich  Langen  gegen  die  allzu  ausgedehnte  Anwendung  dieses  Heil 
mittels  aus;  ebenso  Ribbbck,  Rh.  Mus.  87,  581.  Die  Ansicht,  dass  Plautus  sich  enger  an 
seine  Vorlage  angeschlossen  als  man  bisher  glaubte,  hat  Kiessling  in  seinen  ÄncUecta 
Plautina  (1878.  1883)  ausgesprochen  und  begründet.  Seinen  Gedanken  führen  weiter  aus 
seine  Schüler  Schuster,  Quomodo  Plautus  AtHca  exemplaria  transtulerit.  Greifsw.  1884, 
wo  die  religiösen  Dinge  behandelt  sind  und  Osterkatbb,  De  historia  fabulari  in  eomoe- 
diia  Flautinis.  Greifsw.  1884,  wo  die  mythischen  Anspielungen  untersucht  sind.  Dass 
Plautus  auch  Dinge  aus  dem  Original  herübernahm,  die  römische  Zuhörer  unmöglich  ver- 
stehen konnten  und  die  Plautus  wohl  selbst  nicht  verstand,  beweist  schön  Aulul.  394,  wo 
sich  eine  Anspielung  auf  den  Angriff  der  Gallier  auf  das  delphische  Heiligtum  im  J.  279 
findet.  Vgl.  Kiessling,  Rh.  Mus.  23,  214.  Einige  feine  Beobacntungen  über  das.  Verhältnis 
des  Dichters  zum  Original  bei  Leo,  Herm.  18,  559. 

Über  Prosodie  und  Metrik  handeln  (Auswahl):  Müller,  Plautinische  Prosodie,  Berlin 
1869.  Nachtr.  Berl.  1871.  Studemund,  De  cantids  FL,  Halle  1863.  Cbain,  Die  Composition 
der  nl.  Cantica,  Berl.  1865.  Cbbist,  Metr.  Bemerk,  zu  den  cantica  des  PI.  Sitzungsber. 
der  Münchener  Ak.  1871,  41.  Winteb,  Die  metr.  Reconstruction  der  plant.  Cantica.  Mün- 
chen 1879.  A.  Spenoel,  Reformvorschlftge  zur  Metrik  der  lyr.  Versarten  bei  PI.  und  den 
übr.  Scenikem.  Berl.  1882.  W.  Meter,  Ober  die  Beobachtung  des  Wortaccentes  in  der 
altl.  Poesie.    Abb.  der  Münch.  Akad.    17.  Bd.  1.  Abth.    Leo,   Rh.  Mus.  40,  162. 

Die  Eigentümlichkeiten  der  pl.  Sprache  sind  gut  gekennzeichnet  von  Lorenz  zu  Pseudol. 
p.  37.  Viele  Beobachtungen  über  den  Sprachgebrauch  bietet  Langen,  bes.  in  der  Schrift  Bei- 
träge zur  Kritik  u.  Erklärung  des  PI.  Leipz.  1880.  Hör.  ep.  2,  1,  58  Plautus  ad  exemplar 
Siculi  properare  Epicharmi  (dicitur).  Varro  in  der  satvra  Menippea  Parmeno  nr.  309 
Buech,  in  argumentis  Caecüius  poscit  palmam,  in  ethesin  Terentius,  in  sermanibus  Plautus. 
Quint.  10,  1,  99  in  comoedia  maxiine  daudicamus^  licet  Varro  Musas  Aelii  Stilanis  sen- 
tentia  Plautino  dicat  semione  locuturas  fuisse,  si  latine  loqui  veUent.  Gell,  1, 24  Epigramma 
Plauti,  quod  dubitassemus  an  Plauti  foret,  nisi  a  M.  Varrone  positum  esset  in  libro  de 
poetis  primo:  Postquam  est  mortem  aptus  Plautus,  Comoedia  luget  |  Scacna  est  deserta, 
dein  Bisus,  Ludus  Joeusque  \  Et  Numeri  innumeri  simul  omnes  conlacrimarunt. 

35.  Fortleben  des  Plautus.  Auch  nach  dem  Tode  des  Dichters 
lebten  seine  Werke  fort.    Als  nach  dem  frühen  Hinscheiden  des  Terenz 


T.  MacciiiB  Plantas.  51 

die  dichterische  Produktion  auf  dem  Gebiet  der  fabula  palliata  nachgelassen, 
wurden  die  alten  Stücke  des  Plautus  wieder  vorgesucht  und  da  sie  dem 
Bewusstsein  der  damaligen  Generation  fast  ganz  entrückt  waren,  gleichsam 
als  fabulae  novae  wieder  auf  die  Bühne  gebracht.  Eine  interessante  Stelle 
über  diesen  Vorgang  enthält  der  Casinaprolog,   wo  es  im  Eingang  heisst: 

Antiqua  Opera  et  verba  quom  vohis  placent, 
Aequam  est  plaeere  ante  dlias  veteres  fabtäas; 
Nam  nunc  novae  quae  prodeunt  comoediae, 
MuUo  sunt  nequiores  quam  nummi  navi. 
No8  postquam  popuii  rumorem  inteUeximus 
Studioae  expetere  voa  Plautinas  fabuka, 
Aniiquam  eius  edidimua  eomoediam, 
Quam  V08  probastis^  qui  estis  in  senioribus ; 
Nam  ittniorum  qui  sunt^  non  norunt,  scio. 

Diese  Wiederaufführung  der  plautinischen  Stücke  wurde  aber  insofern  für 
den  Dichter  verhängnisvol],  als  dieselbe  zu  Überarbeitungen  und  Inter- 
polationen führte,  wodurch  der  ursprüngliche  Text  der  Komödien  vielfach 
getrübt  wurde.  Auch  das  gelehrte  Studium  warf  sich  sehr  früh  auf  die 
Werke  des  Dichters.  Dasselbe  äusserte  sich  einmal  in  Anlegung  von  Ver- 
zeichnissen der  echten  Stücke  des  Plautus  (pinakographische  Thätigkeit), 
dann  in  Erklärung  seltener  Wörter  (Glossographie),  endlich  in  Kommen- 
tierung ganzer  Komödien.  Die  Pinakographen  sind  bereits  oben  von  uns 
aufgeführt  worden.  Als  Glossographen,  welche  neben  anderen  Schrift- 
steilem  auch  Plautus  benützt  haben,  lernen  wir  kennen  z.  B.  Am*elius 
Opilius,  .Servius  Clodius.  Kommentatoren  ^  des  Plautus  sind  Sisenna  und 
Terentius  Scaurus.  Zu  den  Konmientaren  können  wir  auch  die  metrischen 
Inhaltsangaben  {argumenta)  rechnen.  Sie  zerfallen  in  zwei  Klassen,  in 
akrostichische,  welche  durch  die  Anfangsbuchstaben  der  Verse  den 
Namen  des  Stückes  darstellen.  Diese  sind  uns  lediglich  durch  die  zweite 
Klasse  der  Überlieferung,  die  Palatini,  erhalten,  nicht  durch  den  Ambro- 
sianus. Die  zweite  Klasse  umfasst  die  nichtakrostichischen  Argumenta. 
Akrostichische  sind  uns  zu  allen  Stücken  überliefert,  die  Bacchides  und 
die  Vidularia  ausgenommen,  also  im  ganzen  19  Stück.  Von  den  nicht- 
akrostichischen überliefert  uns  die  palatinische  Rezension  vier  (Amphitruo, 
Aulularia,  Mercator,  Miles),  der  Ambrosianus  ein  vollständiges  zum  Pseu- 
dolus,  zwei  unvollständige  zum  Persa  und  zum  Stichus.  Den  Inhalt  können 
die  nichtakrostichischen  Argumente  besser  darlegen  als  die  akrostichischen. 
Im  Mittelalter  fand  Plautus  wenig  oder  gar  keine  Beachtung.  Beim  Wieder- 
aufleben der  Wissenschaften  waren  in  Italien  nur  die  acht  ersten  Stücke 
bekannt;  gelegentlich  des  Basler  Konzils  wurde  von  Nikolaus  von  Trier 
eine  Handschrift  gefunden,  welche  ausser  den  drei  ersten  und  Captivi  bis 
Vs.  503  auch  die  12  letzten  Stücke  enthielt.  Damit  war  Plautus  der  mo- 
dernen Kultur  zugänglich  gemacht. 

Über  die  WiederftuffQhroDg  der  plautiniscben  EomOdien,  die  Kommentatoren,  Glosso- 
graphen  handelt  grundlegend  Ritscbl,  Parerg  p.  199  p.  B57.  —  Zar  plautinischen  Glosso- 
graphie  (Placidus)  vgl.  dessen  opusc.  3,  55 ;  Lobwe,  Prodromus  254.  —  Zur  retractaUo  sieh 
Rbikhasdt  in  SruosinnfDs  Stud.  1,  79;   GOtz,  Acta,  Lips.  6,  235.   —  Die  argumenta  hat 


>)  Textesrecensionen  oder  doch  wenig- 
stens Textesstudien  nimmt  mit  Unrecht  von 
Seiten  des  Ser.  Clodius  (und  vielleicht  Si- 


senna)  Bbrqk,   Beitr.   zur  lat   Gramm.    1, 
124  an. 


52      Römische  Litteratorgesohiohte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

zaletzt  geprüft  Opitz,  De  argumentorum  metricorum  latinorum  arte  et  origine,  Leipz.  Staid. 
6,  195,  wobei  er  zu  folgendem  Ergebnis  gekommen  ist:  Die  nichtakrostichischen  stammen 
aus  derselben  Zeit  wie  die  von  Sulpicius  Apollinaris  verfassten  Periochae  zu  Terenz  (p.  227), 
sie  rfihren  zwar  nicht  von  Sulpicius  Apollinaris  her,  sind  aber  derselben  Schule  zuzuweisen 
(p.  229).  Die  akrostichischen  Argumenta  fallen  in  die  Zeit  der  Antoninen  (p.  275) ;  der 
Verfasser  der  Akrosticha  ahmt  die  Non-acrosticba  nach  (p.  261).  Endlich  wird  noch  fol- 
gende allgemeine  Betrachtung  über  die  Argumente  der  Komödien  angeschlossen  (p.  279) : 
Plautina  orta  esse  post  Terentiana,  quia  ad  T^orum  exemplar  videntur  esse  conseripta,  tU 
liceat  iam  cum  aliqua  prohabüüate  hanc  proponere  seriein,  qua  periochis  StUpicii  succe- 
dunt  non-acrosticha,  Ms  acrosticha.  Bezüglich  der  Akrosticha  bestreitet  dies  Ergebnis 
0.  Seyffert,  von  dem  Satz  ausgehend,  dass  bei  dem  Verfasser  eine  solche  genaue  Kenntnis 
der  plautinischen  Prosodie  vorliege,  wie  sie  zur  Zeit  der  Antoninen  nicht  möglich  war,  die 
Akrosticha  seien  daher  schwerlich  später  als  100  Jahre  nach  dem  Tod  des  Dichters  anzu- 
setzen (Philo!.  16,  448 ;  Bubsiak,  Jahiesber.  47  (1886)  p.  22). 

Überlieferung.  Die  handschriftliche  Überlieferung  des  Plautus  führt  auf  zwei 
Quellen,  den  ambrosianischen  Palimpsest  in  Mailand  (A.  s.  V)  und  die  Rezension  der  Pf&lzer 
Handschriften  (Palatini),  Der  ambrosianische  Palimpsest,  ursprünglich  dem  Kloster  Bobio 
angehörig,  wurde  im  8.  Jahrhundert  auseinandergenssen  und  ein  Teil  nach  Austilgung  der 
ursprünglichen  Schrift  benützt,  um  die  Bücher  der  Könige  des  alten  Testaments  darauf  zu 
schreiben.  Es  sind  236  Pergamentblfttter  in  Grossquart.  Ritscbl,  opus.  2,  168  gibt  folgendes 
Bild:  , Abgesehen  von  7  Komödien,  von  denen  gar  nichts  oder  wenig  mehr  als  nichts  Übrig 
ist,  lässt  sich  das,  was  von  den  14  übrigen  erhalten  ist,  genau  auf  die  Hftlfbe  derselben 
berechnen,  so  jedoch,  dass  es  sich  —  keineswegs  zu  unserm  Schaden  —  sehr  ungleich  auf 
sie  verteilt,  indem  an  2  Stücken  nur  sehr  wenig  fehlt,  2  mit  mehr  als  der  Hälfte,  3  unge- 
fähr zur  Hälfte,  7  mit  weniger  als  der  Hälfte  erhalten  sind.  Von  dieser  Gesamtzahl  muss 
freilich  noch  die  nicht  ganz  kleine  Zahl  von  Blättern  in  Abzu^  kommen,  deren  Inhalt  zwar 
im  allgemeinen  bestimmbar,  auf  denen  aber  im  einzelnen  wenig  oder  so  gut  wie  gar  nichts 
zu  lesen  ist.^  Genauere  Au&ählung  des  Erhaltenen  bei  Geppbbt,  Über  d.  Cod.  Ambroe.  p.  26. 
Den  C^dex  hat  Mai  entdeckt  und  zu  entziffern  versucht.  (Plawti  fragm,  medita,  Mailand 
1815).  Weiter  haben  sich  mit  demselben  beschäftigt  Sohwabzkann  1885,  Ritschl  1837, 
Geppebt  1845  u.  1846,  Studbmuvd  (von  1867  an),  endlich  Löwe.  Die  dieser  Handschrift  zu 
Grunde  liegende  Recension  fällt  in  die  Zeit  nach  dem  Metriker  Heliodor  und  vor  dem 
Grammatiker  Charisius.  (Studexund,  Festgruss,  Würzb.  1868  p.  40).  Dieser  Recension  steht 
die  der  Palatini  gegenüber.  Diese  Handschriften  waren  ursprünglich  im  Besitz  des  Game- 
rarius  und  kamen  dann  in  die  Heidelberger  Bibliothek.  Die  eine  derselben,  der  sog.  vetus 
(B.  s.  XI.)  befindet  sich  jetzt  in  Rom,  er  enthält  20  Komödien,  von  der  Vidularia  nur  den 
Titel;  die  andere,  der  sog.  Decurtatus  (C.  s.  XI),  der  in  Heidelberg  aufbewahrt  wird, 
enthält  nur  die  12  letzten  Stücke  (Bacchides— Truculentus).  Zu  dieser  Recension  gehört 
auch  Vaticanus  3870  oder  (nach  seinem  ehemaligen  Besitzer,  dem  Kardinal  Orsini)  Ursinia- 
nus D.  s.  XI,  sehr  ähnlich  dem  C;  in  den  12  Stücken,  die  er  mit  C  gemeinsam  hat,  stammt 
er  aus  derselben  Quelle;  diesen  Stücken  gehen  aber  voraus  Amphitr.,  Asinar.,  Aulul., 
Gaptivi  zum  Teü;  hier  zeigt  er  grosse  Übereinstimmung  mit  B.  Es  ist  die  Handschrift, 
durch  welche  die  12  letzten  Stücke  in  Italien  bekannt  wurden.  Für  die  acht  ersten  Stücke 
gehören  noch  hieher  ein  Ambrosianus  (E.  s.  XIII)  und  ein  Britanniens  (I.  s.  XI).  Über  einen 
jetzt  verschollenen  Codex  des  Tumebus,  einen  vorzüglichen  Vertreter  der  Palatinischen 
Kecension  handelt  Götz-Löwe  praef.  zum  Poenul.  p.  VII.  über  das  Verhältnis  der  beiden 
Recensionen  zu  einander  vgl.  Bbbgk,  Beitr.  zur  lat.  Gramm.  1,  122:  ,Die  verhältnismässig 

J'ungen  Pfälzer  Handschriften  repräsentieren  die  ältere  Recension.  während  der  weit  höher 
linaufreichende  Mailänder  Palimpsest  eine  spätere  Recension  darbietet, **  und  weiterhin: 
«Die  Recension  der  Palatini  entfernt  sich  weniger  oft  von  der  echten  Form  des  Originals 
als  der  Ambrosianus.*  Vgl.  Niekbteb,  De  Plauti  fabularum  recensiane  duplici,  Berl.  1877. 
Baieb,  De  Plauti  fabularum  recensionibus  Ämbrosiana  et  Palatina,  Berl.  1884.  Richtig 
abwägend  Ribbeck  zu  Emendat.  Mercat.  p.  21. 

Ausgaben.  Die  erste  vollständige  Ausgabe  des  Plautus,  besorgt  von  G.  Morula, 
erschien  1472  zu  Venedig.  Die  nächste  epochemachende  Leistung  war  die  Ausgabe  des 
Pjlades  Buccardus,  Brescia  1506.  Durch  die  Aldina  (1522)  wurde  dieser  Text  die  Vulgata 
bis  auf  CAXEBABnrs,  der  durch  die  Benützung  der  Palatini  Plautus  eine  ganz  neue  Ge- 
stalt gab  (Basel  1552).  Die  Erklärung  wurde  durch  D.  Laxbin  gefördert.  Von  den 
späteren  Ausgaben  gewann  grossen  Einfluss  die  von  J.  Fb.  Gbonov  (Leyden  1664),  ihr  Text 
wurde  Vulgata  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein.  Die  Auffindung  des  Ambrosianus  gab  den 
plautinischen  Studien  einen  neuen  Aufschwung,  derselbe  ist  unzertrennlich  mit  dem  Namen 
Fb.  Ritsohl  verbunden.  Seine  Ausgabe  begann  zu  erscheinen  1848,  der  erste  Band  enthält 
die  berühmten  Prolegomena.  Diese  Ausgabe  wurde  nicht  vollendet.  Dafür  wurde  1871 
^eubnbb)  eine  ganz  neue  Ausgabe  begonnen  und  von  Götz,  Löwe,  Scholl  fortgesetzt.    Die- 


Q.  EnniaB. 


53 


selbe  ist  zur  Zeit  nicht  beendigt.  Yollständig  liegt  dagegen  üssing's  Ausgabe  vor  in  fünf 
Bänden  (Kopenh.  1875 — 1886).  Femer  wurde  eine  Ausgabe  begonnen  von  Leo  (Wsid- 
xavh).  Nicht  vollendete  Textausgabe  von  Fleckeisen  (Teübnbb).  Ausgaben  einzelner  StQcke 
(Auswahl):  Truculentus,  En.  A.  Spengel,  Götting.  1868;  Aulularia  with  notes  by  W.  Waoker, 
Cambridge  1876,  von  Laeoen,  Paderb.  1889;  Trinummus  von  Waokee,  Cambr.  1875;  Me- 
naechmi,  ed.  J.  Yahlen,  Berl.  1882;  Miles  Gloriosus,  ed.  0.  Ribbegk,  Leipz.  1881;  Ober- 
setzung dazu  im  Alazon,  Leipz.  1882;  Mostellaria  with  notes  by  Sonnemscheik,  Cambridge 
1884.  Ausgaben  mit  deutschem  Kommentar  von  Lorenz:  Pseudolus,  Mostellaria,  Miles 
rWBiDHANN);  von  Bbix:  Trinummus,  Captivi,  Menaechmi,  Miles  (Teubner). 

Über  das  Fortleben  des  Plautus  in  der  modernen  Bühnendichtung  handeln  unter  an- 
deren Steinhoff,  das  Fortleben  des  Plautus  auf  der  Bühne,  Blankenburg  1881 ;  Günther, 
PlautusemeueruDgen  in  der  deutschen  Litteratur  des  XV. — XVII.  Jahrb.,  Leipz.  1886;  Rein- 
HARD8T(yTTNER,  Die  plsut.  Lustspiolo  in  spät.  Bearb.,  Leipz.  1880. 

4.  Q.  Ennius. 

36.  Da43  Leben  des  Ennius.  Ennius  ist  in  Rudiae,  dem  heutigen 
Rugge')  239  geboren.  Zwei  Sprachgebiete  drängten  sich  ihm  auf,  das 
griechische  und  das  oskische.  Beide  Sprachen  musste  er  daher  kennen 
lernen.  Als  er  nun  auch  Latein  dazu  erlernt  hatte,  konnte  er  von 
sich  rühmen,  dass  er  drei  Zungen  {tria  corda)  habe  (Gell.  17,  17,  1).  Er 
that  Kriegsdienste  in  Sardinien.  Und  von  da  nahm  ihn  —  ein  für  die 
Entwicklung  der  römischen  Litteratur  wichtiges  Ereignis  —  M.  Porcius 
Gate  im  J.  204  mit  nach  Rom  (Nep.  Cato  1,  4).  Hier  gab  er  Unterricht 
im  Lateinischen  und  im  Griechischen  (Suet.  gramm.  1).  Seine  Dichtungen 
verschafften  ihm  die  Gunst  der  vornehmen  römischen  Welt.  Er  war  mit 
dem  älteren  Scipio  Africanus  vertraut;  auch  Scipio  Nasica  zählte  er  zu 
seinen  Bekannten  und  Cicero  erzählt  de  or,  2,  276  eine  gar  ergötzliche 
Anekdote.  Der  Historiker  oder  Graecomane  A.  Postumius  Albinus  widmete 
sein  historisches  Werk  dem  Ennius.  Dass  die  Dichtkunst  bereits  eine 
Macht  war,  beweist  die  Thatsache,  dass  M.  Fulvius  Nobilior  den  Dichter 
auf  seinem  Zug  nach  Ätolien  (189)  mitnahm,  nicht  dass  er  dort  mitkämpfe, 
sondern  dass  er  der  Verkünder  seines  Ruhmes  werde  (Cic.  Tusc.  1,  3). 
Dieser  vornehmen  Familie  verdankt  Ennius  auch  das  römische  Bürgerrecht. 
Der  Sohn  des  M.  Fulvius  Nobilior  Quintus  geleitete  im  J.  184  eine  Bürger- 
kolonie  nach  Potentia  und  Pisaurum  und  hatte  das  Recht,  ^)  auch  Fremde 
unter  die  Zahl  der  Kolonisten  aufzunehmen,  wodurch  sie  römische  Bür- 
ger wurden  (Cic.  Brut.  20,  79).  Von  diesem  Rechte  machte  er  dem 
Ennius  gegenüber  Gebrauch,  so  dass  dieser  dann  später  von  sich  singen 
konnte: 

«Römer  sind  wir  jetzund,  die  vordem  Rudiner  nur  waren.* 

Von  seinem  Privatleben  erfahren  wir,  dass  er  auf  dem  Aventin  wohnte 
und  zwar  in  sehr  bescheidenen  Verhältnissen,  nur  von  einer  Magd  bedient. 
Sein  Hausgenosse  war  der  Dichter  Statins  Caecilius.  Sein  Charakterbild 
können  wir  aus  dem  Dichter  selbst  entwerfen;  in  seinen  Jahrbüchern  wird 
von  ihm  der  Vertraute  eines  vornehmen  Römers  geschildert;  es  ist  ein 
Mann,  dem  der  hohe  Herr,  wenn  er  nach  des  Tages  Mühen  heimkehrt, 
sein  Herz  ausschütten  kann;  denn   der  Hausfreund  ist  verschwiegen  und 


')  Die  Lage  desselben  auf  der  Strasse 
zwischen  Brindisi  und  Tarent  weist  nach 
£.  CoccmA,  Riviata  dt  füologia  1*3,  31.  So- 


nach  war    das    Griechische    seine  Mutter- 
sprache. 

>)  Vgl.  MoMifSBN,  Rom.  Gesch.  1«,  798. 


54      BOmische  LitteratnrgeBohiohte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

ohne  Arg,  er  ist  wohl  unterrichtet,  treu,  lieb,  beredt,  genügsam,  zufrieden, 
geschickt,  mit  seinem  Worte  zur  rechten  Zeit  bereit,  umgänglich,  des  Wort- 
schwalles Feind,  der  Vorzeit  trefflicher  Kenner.  Der  erste  römische  Philo- 
log  L.  Aelius  Stilo  bezeugt,  dass  mit  diesen  Worten  der  Dichter  sich  selbst 
schildere  (Gell.  12,  4,  1).  Nur  ein  Zug  ist  vergessen,  den  uns  Horaz  auf- 
bewahrt hat,  dass  nämlich  Ennius  den  Becher  liebte  und  denselben  gern 
leerte,  ehe  er  zur  Arbeit  schritt  (Ep.  1, 19,  7).  Ennius  starb  im  Jahre  169 
am  Podagra. 

Das  Geburtsjahr  wissen  wir  darch  Varro  bei  Gell.  17,  21,  43  consules  secuntur  Q,  Va- 
leriuB  et  C.  Mamilius,  quibtis  natum  esse  Q.  Ennium  poetam  M.  Varro  in  primo  de  poelü 
libro  scripsit.    Ober  des  Dichters  häusliche  Verhältnisse  vgl.  Hieronym.  2,  123  Seh. 

37.  Ennius'  dramaidsche  Dichtungen.  Höchst  wahrscheinlich  be- 
gann Ennius  seine  dichterische  Thätigkeit  mit  Tragödien;  er  entfaltete 
hier  eine  grosse  Fruchtbarkeit  und  pflegte  diese  Gattung,  die  er  zu  grosser 
Blüte  brachte,  bis  an  sein  Lebensende;  noch  in  seinem  Todesjahr  wurde 
eine  Tragödie,  der  Thyestes,  von  ihm  aufgeführt  (Cic.  Brut.  20,  78).  Es 
sind  uns  22  Titel  mit  Fragmenten  überliefert.  Bei  der  Auswahl  der  Ori- 
ginale bevorzugte  Ennius  den  trojanischen  Sagenkreis,  von  den  Dichtern 
wiederum  den  Euripides,  zu  dem  ihn  schon  dessen  skeptische,  aufgeklärte 
Gesinnung  hinziehen  musste.  Zu  den  Originalen  nahm  er  eine  vielfach 
freie  Stellung  ein;  belehrend  ist  hier  besonders  eine  Vergleichung  der  Frag- 
mente seiner  Medea  exul  mit  der  euripideischen.  Gleich  der  Eingang  zeigt 
dem  Original  gegenüber  sowohl  Kürzung  als  Erweiterung.  Dass  der  Dichter 
die  Metra  seine  Vorlage  hie  und  da  änderte,  können  wir  öfters  nachweisen, 
ein  Beispiel  möge  genügen;  in  der  Hecuba  gab  er  die  Rede  der  Hecuba, 
die  bei  Euripides  in  Trimetern  abgefasst  ist,  in  trochäischen  Septenaren  vgl. 
fr.  189  M.  mit  Eur.  293.  Interessant  ist  seine  Behandlung  von  Aeschyl. 
Eum.  902,  wo  ein  sprachliches  Kunststück  angebracht  wird  (fr.  229  M). 
Aber  auch  in  den  Organismus  der  griechischen  Vorlage  griff  der  römische 
Dichter  ein;  um  hier  nur  ein  Beispiel  zu  erwähnen,  in  seiner  Iphigenie 
hat  er  den  euripideischen  Jungfrauenchor  durch  einen  Soldatenchor  ersetzt 
(fr.  54  M).  Auf  der  andern  Seite  freilich  behielt  er  wieder  Züge  seines 
Originals  bei,  die  für  die  Römer  nicht  verständlich  waren;  z.  B.  brachte 
er  Etymologien,  die  den  griechischen  Namen  erläutern  wie  die  der  Namen 
Alexander  und  Andromache  (Varro  de  1. 1.  7,  82).  Dieselbe  Wahrnehmung 
eines  Schwankens  zwischen  freier  und  sklavischer  Übertragung  des  Ori- 
ginals konnten  wir  ja  auch  bei  Plautus  machen.  Die  Tragödien  des  Ennius 
waren,  wie  wir  aus  Cicero  ersehen  können,  selbst  in  späterer  Zeit  noch 
sehr  beliebt.  Auch  eine  Prätexta  können  wir  mit  Sicherheit  Ennius  bei- 
legen, nämlich  den  Raub  der  Sab  ine  rinnen;  denn  das  einzige  daraus 
von  Julius  Victor  (rhet.  lat.  min.  402  H)  erhaltene  Fragment  führt  auf  ein 
Drama.  Dies  kann  aber  in  dem  gegebenen  Fall  nur  eine  Praetexta  sein; 
für  eine  solche  eignete  sich  der  gewählte  Stoflf  ganz  vortrefflich.  Einen  auf 
einen  Dialog  hinweisenden  Vers  enthält  auch  die  Ambracia  (p.  77  v.  35  M); 
wir  werden  daher  mit  Wahrscheinlichkeit  diese  Schöpfung  ebenfalls  als 
eine  Praetexta  betrachten  dürfen,  in  welcher  der  Dichter  die  Eroberung 
Ambracias  im  ätolischen  Feldzug  durch  seinen  Gönner  M.  Fulvius  Nobilior 


Q.  Enniiifl.  5 


K 


verherrlicht  hat.  Für  die  Komödie  scheint  Ennius  wenig  Neigung  gezeigt 
zu  haben.  Zwei  Eomödientitel  lassen  sich  feststellen.  Bemerkenswert  ist, 
dass  er  von  Terenz  im  Prolog  zur  Andria  18  zu  denen  gezählt  wird,  welche 
die  Kontamination  in  Anwendung  brachten. 

FOr  eine  Praetexta  hält  die  Ambracia  Ribbbck,  Rom.  Trag.  p.  207,  fQr  eine  den 
Satiren  zuzuteilende  epische  Dichtung  L.  Mülleb,  Ennius  p.  108;  Babbens  (fr.  495)  fQr  einen 
ausserhalb  der  Satiren  stehenden  Panegyricus,  indem  er  sich  hiebei  auf  de  vir.  ill.  52  stützt: 
qtuim  »ictoriam  (M,  Fulvi  de  Ämömcia)  —  Q.  ü^nnius  atnicus  eius  insigni  laude  ceh' 
bracü,  eine  Stelle,  die  ebensogut  auf  eine  Praetexta  bezogen  werden  kann. 

38.  Das  Ennianische  Epos  »,die  Jahrbücher'^  Naevius'  punischer 
Krieg  regte  Ennius  zur  Nachahmung  an;  auch  er  wollte  die  Thaten  des 
römischen  Volkes  besingen.  Sein  Umgang  mit  der  vornehmen  römischen 
Welt,  der  ihn  den  grossen  historischen  Ereignissen  näher  brachte,  mag  die 
Anregung  zu  diesem  Gedanken  gegeben  haben.  Sein  Epos,  das  er  „Jahr- 
bücher*' (Annales)  betitelte,  behandelte  die  Geschichte  Roms  von  der  Ein- 
wanderung des  Aeneas  bis  auf  seine  Zeit  herab.  Die  grosse  Masse  des  Stoffes 
zwang  den  Dichter  sofort  zu  einer  Gliederung  desselben  und  führte  zur 
Bucheinteilung,  während  Naevius  sein  Gedicht  ohne  jede  Abteilung  erschei- 
nen lassen  konnte.  Es  wird  uns  von  18  Büchern  berichtet  (Diom.  p.  484  K). 
Wie  schon  der  Titel  des  Gedichts  zeigt,  besang  der  Dichter  in  grossem 
Ganzen  die  Ereignisse  nach  der  chronologischen  Reihenfolge;  die  Gliede- 
rung kann  sich  also  nur  darin  zeigen,  dass  er  Wendepunkte  der  Geschichte 
aufsucht  und  markiert.  Eine  höhere  Einheit  und  Abgeschlossenheit  findet 
bei  einem  solchen  Werke  nicht  statt;  es  können  daher  auch  Fortsetzungen 
gegeben  werden.  Von  einer  solchen  Fortsetzung  berichtet  Plinius.  Die 
Heldenthaten  eines  Bruderpaares  im  istrischen  Kriege  (178/7)  war  die  Ver- 
anlassung, dass  Ennius  das  16.  Buch  hinzufügte.  Wir  müssen  also  hier 
einen  Einschnitt  annehmen.  Allein  damit  war  die  Thätigkeit  des  Ennius 
noch  nicht  abgeschlossen,  denn  es  kam  noch  ein  17.  und  18.  Buch  hinzu. 
Noch  im  Jahr  172,  also  drei  Jahre  vor  seinem  Tod,  arbeitete  Ennius  an 
seinen  Jahrbüchern.  Auch  in  den  vorausgegangenen  15  Büchern  gewahren 
wir  deutlich  einen  Einschnitt;  diesen  bildet  das  7.  Buch,  mit  dem  die  Dar- 
stellung der  punischen  Kriege  anhebt;  der  Dichter  sprach  hier  von  seinem 
Unternehmen  im  Gegensatz  zu  seinem  Vorgänger  und  scheint  in  einem 
Fragment  (224  M)  auf  Einwürfe  seiner  Gegner  geantwortet  zu  haben.  Es 
müssten  sonach  die  ersten  6  Bücher  bereits  bekannt  gewesen  sein.  Von 
dem  ganzen  Epos  sind  uns  etwa  600  Verse  oder  Versteile  erhalten,  also 
sicherlich  nur  ein  geringer  Bruchteil  des  Ganzen.  Der  Aufbau  ist  daher 
ein  schwieriger.  Soweit  wir  isehen  können,  schloss  der  Dichter  öfters  drei 
Bücher  zu  einem  grösseren  Ganzen  zusammen.  So  schilderten  die  Bücher 
1 — 3  die  Ankunft  des  Aeneas  und  die  Königszeit,  die  Bücher  7 — 9,  wie 
es  scheint,  die  punischen,  10 --12  den  macedonischen  Krieg.  Weiter  lässt 
sich  zeigen,  dass  im  6.  Buch  der  Krieg  mit  Pyrrhus,  im  13.  und  14.  der 
Krieg  mit  Antiochus,  im  16.,  wie  bereits  erwähnt,  der  istrische  Feldzug 
behandelt  war.  Wie  weit  der  Stoff  geführt  war,  können  wir  nicht  genau 
angeben,  da  die  Fragmente  des  17.  und  18.  Buchs  zu  unbestimmt  sind. 
Die  Behandlung  des  Stoffs  war  eine  ungleiche;  über  die  ältere  Zeit  ging 
der  Dichter  rascher  weg;  dagegen  verweilte  er  länger  bei  der  Geschichte 


56      BOmiBohe  LitteratnrgeBohichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


seiner  Zeit,  und  der  erste  punische  Krieg  wurde,  weil  bereits  von  Naevius 
besungen,  kürzer  abgemacht  (Cic.  Brut.  19,  76).  In  der  Art  der  Behandlung 
unterscheidet  sich  Ennius  wesentlich  von  Naevius.  Während  Naevius  in 
schlichter  Weise  und  im  nationalen  Versmass  die  Heldenthaten  der  Römer 
im  I.  punischen  Krieg  erzählte,  lehnt  Ennius  sein  Epos  an  Homer  an  und 
will  eine  Kunstdichtung  liefern.  Seine  Abhängigkeit  von  Homer  deutet 
der  Dichter  gleich  im  Eingang  seiner  Jahrbücher  an;  er  führt  sie  mit 
einem  Traum  ein,  es  sei  ihm,  erzählt  er,  auf  dem  Parnass  Homers  Schatten 
erschienen  und  habe  ihm  unter  Thränen  die  Geheimnisse  des  Weltalls  er- 
schlossen; auch  das  Leben  nach  dem  Tode  habe  er  berührt  und  dabei 
mitgeteilt,  dass  seine  Seele,  die  auch  einmal  ein  Pfau  beherbergt,  später 
in  Ennius  übergegangen  sei.  Man  sieht,  wie  der  Dichter  mit  der  schönen 
Vision  sich  als  zweiten  Homer  bei  den  Römern  einführt.  Und  in  der  That, 
wollte  Ennius  dem  vielfach  dürren  StoflF  der  Chroniken  Leben  einhauchen, 
so  blieb  ihm  nichts  anderes  übrig,  als  die  poetischen  Züge  und  die  poetische 
Technik  dem  Homer  zu  entlehnen.  So  konnten  die  Gleichnisse  verwendet 
werden,  in  den  Fragmenten  finden  wir  das  Bild  vom  Pferde,  das  seine 
Fesseln  sprengt  und  durch  die  Ebene  rast  (II.  6,  506  fr.  458  M).  Aber  der 
Nachahmer  scheut  sich  auch  nicht,  ganze  Schilderungen  Homera  auf  ähn- 
liche Situationen  zu  übertragen;*)  so  wird  das,  was  Homer  vom  Kampf 
des  Aias  singt,  auf  den  Kampf  eines  Römers  übertragen  (IL  16,  102  vgl. 
mit  450  M).  Auch  in  dem  Versmass  schliesst  sich  Ennius  an  Homer  an, 
indem  er  den  Satumier  aufgibt  und  den  Hexameter  für  seine  Dichtung 
wählt.  Selbstverständlich  mussten  die  Gesetze  des  homerischen  Hexameters 
vielfach  modifiziert  werden;  z.  B.  gleich  in  der  Gäsur  wich  Ennius  von 
Homer  ab;  während  bei  Homer  die  männliche  und  weibliche  Cäsur  des 
HI.  Fusses  gleich  häufig  sind,  setzte  er  hier  die  männliche  Gäsur  als  die 
Normalform  fest.  So  wurde  der  Ennius  der  Ordner  des  lateinischen 
Hexameters.  Da  aber  der  Hexameter  der  Normal vers  wurde,  nach  dem 
sich  auch  andere  Metra  richteten,  so  reicht  der  Einfluss  des  Ennius  in  der 
lateinischen  Metrik  noch  weiter.  Aber  noch  in  einer  anderen  Beziehung 
wirkte  Ennius  bahnbrechend,  nämlich  in  der  Prosodie.  Für  den  sceni- 
schen  Dichter  war  es  in  den  meisten  Fällen  gleichgültig,  ob  in  der  Senkung 
eine  lange  oder  kurze  Silbe  stand;  er  kam  daher  hier  viel  seltner  in  die 
Lage,  die  Natur  einer  Silbe  auf  ihre  Quantität  hin  zu  prüfen.  Der  dak- 
tylische Dichter  kennt  nur  kurze  oder  lange  Silben,  er  ist  daher  auf  Schritt 
und  Tritt  auf  Untersuchungen  über  die  Länge  und  Kürze  der  Silben  an- 
gewiesen. Diese  Aufgabe  war  aber  um  so  schwieriger,  als  die  Schrift 
Ennius  nicht  so  zu  Hilfe  kam  wie  bei  den  Griechen.  Ennius  musste  sich 
daher  grösstenteils  auf  sein  Ohr  verlassen.  Aber  auch  die  Positionslänge 
erforderte  eine  genaue  Regelung.  Sie  erfolgte  im  Anschluss  an  die  Griechen 
und  Ennius  unterschied  hier  genau  zwischen  daktylischer  und  scenischer 


*)  Diese  Nachahmung  Homere  benutzt 
£.  Zarncke,  um  bei  den  Historikern  die  Spa- 
ren der  Ennianinchen  Annalen  nachzuweisen. 
«Wo  wir  in  DareteUungen  der  Geschichte 
jener  Zeit,  die  auch  £nniu8  in  seinen  An- 
nalen  schilderte,    den  Homer   nachgeahmt 


finden,  da  haben  wir  auch  —  mit  gewissen 
Ausnahmen,  aber  doch  in  überwiegender 
Mehrzahl  der  Fälle  —  den  Ennius.'  {Com- 
ment.  philol.  in  honoren  Ribheckii  p.  274). 
Belehrend  Liv.  2,  20,  1  und  II.  8,  15. 


Q.  EnniuB.  57 

Poesie.  Auch  auf  orthographische  Probleme  ward  er  dadurch  geführt ;  die 
Konsonantenverdopplung  in  der  Schrift  wird  auf  ihn  zurückgeführt  (Festus 
p.  293).  Aus  dem  Gesagten  wird  man  abnehmen  können,  wie  weit  Ennius 
den  Naevius  hinter  sich  liess.  Sein  Gedicht  blieb  das  Hauptepos  der  Re- 
publik. Als  die  sich  auf  die  Alexandriner  stützende  Eunstpoesie  aufkam, 
wollte  man  Ennius  beiseite  schieben.  Allein  dass  auch  damals  Ennius 
noch  ein  gern  gelesener  Autor  war,  ersieht  man  aus  Hör.  ep.  2,  1,  50,  Die 
Kaiserzeit  prägte  sogar  für  das  Gedicht  einen  neuen  und  zwar  viel  ent- 
sprechenderen Titel  Romais  aus  (Diom.  p.  484  K).  Unter  den  Fragmen- 
ten befinden  sich  manche,  die  uns  ein  Bild  von  der  Kunst  des  Dichters 
gewähren  können.  Vielleicht  genügen,  um  einen  ersten  Eindruck  zu  er- 
halten, die  zwei  längeren  Bruchstücke,  die  Cicero  seinem  Werk  über  die 
Wahrsagung  einverleibt  hat,  die  eindringliche  Erzählung,  die  Ilia  ihrer 
Schwester  über  ein  ihr  gewordenes,  für  die  Zukunft  bedeutungsvolles  Traum- 
bild gibt  (1,  20,  40),  dann  die  anschauliche  Schilderung  der  Vogelschau  des 
Brüderpaares  Romulus  und  Remus  (1,  48,  107). 

Über  die  Gliederung  der  ÄDnalen  handelt  zuletzt  Varlbk,  Abh.  der  Berl.  Akad.  1886 
p.  1 — 88,  der  nachzuweisen  versucht  (p.  35),  «dass  Ennius*  18  Bücher  der  Annalen  in  drei 
Hezaden  zerfielen,  deren  jede  für  sich  abgeschlossen  und  möglicherweise  fUr  sich  heraus- 
gegeben war,  und  femer  dass  an  das  Ende  der  zweiten  Hexas  d.  h.  an  den  Schluss  des 
XU,  Buchs  ein  Epilog  gefügt  war,  der  mit  einem  Rückblick  auf  die  grossen  Männer  Roms 
Äusserungen  über  des  Dichters  eigenes  Leben  verband.*  Ausgangspunkt  für  diese  Betrach- 
tung ist  Gell.  17,  21,  43,  wo  aus  Yarros  Schrift  de  poetis  über  Ennms  mitgeteilt  wird,  cum 
septimum  et  sexageeimum  annum  haberet^  diwdecimutn  annalem  scripgisse  idque  ipsum 
£nnium  in  eodem  libro  dicere.  Nach  dieser  Stelle  hätte  also  Ennius  172  d.  h.  3  Jahre  vor 
seinem  Tode  das  12.  Buch  geschrieben.  Abgesehen  davon,  dass  dann  Ennius  die  6  folgen- 
den Bücher  in  drei  Jahren  hätte  abfassen  müssen,  tritt  jener  Annahme  hindernd  in  den 
Weg,  dafls  das  16.  Buch  nicht  lange  nach  177  anzusetzen  ist.  Durch  Bergk's  Entdeckung 
des  istrischen  Königs  Epulo  in  diesem  Buch  steht  nämlich,  wie  mir  scheint,  fest,  dass  der 
istrische  Krieg  der  Jahre  178/7  darin  behandelt  war.  Da  nun,  wie  aus  Plinius  n.  h.  7, 101 
Q,  Ennius  T,  Caecüium  Teucrum  fratremqiie  eins  praecipue  tnircUus  propter  eos  eextum 
dedmum  annum  adieeü  annalem  hervorgeht,  die  Ueldenthaten  zweier  Brüder  den  Anlass 
zu  diesem  Buche  gaben,  so  ist  zu  vermuten,  dass  dieses  nicht  lange  nach  jenen  Heldenthaten 
abgefasst  ist.  Und,  wie  L.  Müller  fein  beobachtet  hat  (Q.  E.  p.  178),  weist  das  Fragment  430  M. 
selbst  darauf  hin.  Wir  müssen  also  die  Buchzahl  bei  Gel  lins  för  verdorben  erachten;  statt 
XII  ist  wahrscheinlich  XVIII  zu  setzen.  Ist  dies  richtig,  d.  h.  schrieb  der  Dichter  am 
letzten  Buch  im  J.  172,  so  konnten  die  Ereignisse  kaum  über  173  hinaus  behandelt  sein. 
Tgl.  F.  ScBöLL,  Rhein.  Mus.  43,  158.  Für  nicht  vollendet  hält  L.  MüUer  das  Werk,  von 
dem  er  vier  Ausgaben  statuiert,  die  erste  B.  I— VI,  die  zweite  B.  I— XV,  die  dritte 
B.  I-'XVI,  die  vierte  B.  I— XVIII.  An  der  Vollendung  —  es  sollten  20  Bücher  werden  — 
sei  Ennius  durch  den  Tod  verhindert  worden  (Q.  Ennius  p.  128). 

Für  die  Beliebtheit  der  Annalen  zeugt  die  Thätigkeit,  die  sich  an  dieselben  anschloss. 
Das  Epos  wurde  bald  nach  seinem  Entstehen  in  öffentlichen  Versammlungen  vorgelesen,  so 
TOD  Q.  Vargunteius  (Suet.  gr.  2).  Ja  noch  zu  Gellins'  Zeit  trat  ein  solcher  Vorleser,  En- 
nianista,  auf  (Gell.  18,  5,  2).  Auch  Grammatiker  machten  Ennius  zum  Gegenstand  ihrer 
Biodien.  So  emendierte  nicht  lange  nach  Ennius'  Tod  Octavius  Lampadio  die  Annalen 
(Gell.  18,5,  11),  M.  Pompilius  Andronicus  (zur  Zeit  Sullas)  schrieb  annalium  elenchi,  welche 
dann  später  Orbilius  herausgab.  Auch  der  um  dieselbe  Zeit  lebende  Antonius  Gnipho  com- 
mentierte  das  Epos  (BOchbleb,  Rhein.  Mus.  36,  334). 

39.  Ennius'  übrige  Qedichte.  Ausser  den  Tragödien  bearbeitete 
Ennius  auch  andere  griechische  Produkte.  In  seinem  Epicharmus  setzt 
Ennius  in  troch.  Tetrametern  naturphilosophische  Lelu*en  auseinander.  Als 
die  vier  Elemente  erscheinen  Wasser,  Erde,  Luft,  Sonne.  Der  Leib  ist 
Erde,  die  Seele  Feuer.  Juppiter  ist  die  Luft.  Die  Einkleidung  war  ein 
Traum;  Ennius  glaubte  sich  in  die  Unterwelt  versetzt.  Da  nun  nach 
einigen  Zitaten  (Yarro  1. 1.  5,  59,  5,  68)  Epicharmus  in  dem  Gedichte  selbst 


58      BOmiache  Litteraturgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


spricht,  so  wird  anzunehmen  sein,  dass  Ennius  seine  Lehre  als  eine  Offen- 
barung des  Epicharmus,  die  ihm  in  der  Unterwelt  geworden,  dargestellt 
hat.  Diese  Einkleidung  wird  aber  nur  den  Sinn  haben,  dass  dem  Ennia- 
nischen  Gedicht  ein  griechisches  und  vielleicht  ein  unterschobenes  0  Werk 
des  Epicharmus  zu  Grunde  lag.  Dem  Epicharmos  wohnte  die  Tendenz  der 
Aufklärung  inne.  Diese  Tendenz  zeigt  noch  in  verstärktem  Masse  der 
Euhemerus  oder  die  heilige  Geschichte.  Euhemerus,  Freund  des  Kas- 
sander, schrieb  ein  Buch,  betitelt  „heilige  Urkunde"  {leQa  avayqcKprj).  Er 
gab  nämlich  vor,  auf  einer  fernen  Insel  in  einem  Zeustempel  auf  einer 
Säule  eine  Inschrift  über  die  Urgeschichte  der  Welt  gefunden  zu  haben, 
darnach  seien  die  Götter  nichts  als  durch  Klugheit  hervorragende  Menschen 
gewesen,  die  man  vergötterte.  Aus  der  Ennianischen  Bearbeitung  gibt 
uns  Lactantius  die  meisten  Auszüge;  dieselben  sind  in  Prosa  abgefasst 
und  zwar  in  einer  Prosa,  die  gar  nichts  Alteitümliches  enthält.  Wenn 
also  der  Euhemerus  des  Ennius  im  Gegensatz  zu  seinem  Original  in  ge- 
bundener Rede  abgefasst  war  —  es  fehlt  hiefür  aber  an  einem  stichhaltigen 
Argument^)  — ,  so  müsste  man  annehmen,  dass  das  Gedicht  später  in  Prosa 
umgesetzt  wurde.  Unter  dem  Titel  „Feinschmeckerisches"  (Hedu- 
phagetica  vgl.  Apul.  Apol.  39)  schrieb  Ennius  ein  gastronomisches  Gedicht, 
aus  dem  sich  ein  der  Form  nach  sehr  hartes  Fragment  über  die  verschie- 
denen Fundorte  der  Fische  erhalten  hat.  Es  war,  wie  die  Vergleichung^) 
zeigt,  eine  Bearbeitung  der  gastronomischen  „Rundreise''  des  Archestratos 
von  Gela  mit  dem  Titel  '^HdvnaS-Ha.  Sehr  wenig  Fragmente  sind  uns 
auch  von  Sota  erhalten.  Sota  ist  die  Koseform  von  Sotades.  Dieser  zur 
Zeit  des  Ptolemaeus  Philadelphus  lebende  Dichter  ist  der  Hauptvertreter 
einer  meist  schlüpfrigen  Unterhaltungsgattung  im  jonischen  Mass.  Diese 
führte  der  Sota  des  Ennius  in  die  römische  Litteratui-  ein  und  mit  ihr 
zugleich  das  metrum  Sotadeum.  Aus  den  Praecepta,  mit  denen  wohl  der 
anderweitig  zitierte  Protrepticus  identisch  ist,  haben  wir  nichts  als  eine 
Sentenz  in  troch.  Tetrametern  und  ein  Wort.  Auch  Epigramme  schrieb 
Ennius;  es  sind  uns  drei  erhalten;  zwei  beziehen  sich  auf  Scipio,  in  dem 
dritten  verbittet  sich  der  Dichter  die  Thränen  nach  seinem  Tod,  denn  er 
lebe  fort  im  Andenken  der  Menschen.  In  diesen  Epigrammen  kam  zum 
erstenmal  das  elegische  Distichon  in  der  römischen  Litteratur 
zur  Anwendung.  Das  letzte,  was  wir  von  Ennius  zu  verzeichnen  haben, 
sind  Satirae.  Es  werden  6  Bücher  zitiert.  Dass  die  dialogische  Form 
darin  vorkam,  beweist  das  Gespräch  zwischen  Tod  und  Leben,  das  den 
Satiren  beigeschrieben  wird  (Quintil.  9,  2,  36).  Dieselbe  zeigt  sich  noch 
einigemal  in  den  Fragmenten.  In  die  Satiren  war  auch  die  Äsopische  Fabel 
von  der  Haubenlerche  aufgenommen,  am  Schluss  war  ausdrücklich  die 
Lehre  beigefügt,  dass  man  in  dem,  was  man  selbst  thun  könne,  sich  nicht 


*)  Vgl.  Bbrok,  Gr.  Literaturgesch.  4,  33. 

^)  MtJLLEB  bemerkt  Edüius  p.  113  .dass 
die  Übertragung  des  Eunias  poetisch  war, 
ist  schon  an  sich  wahrscheinlich,  da  von 
prosaischen  Schriften  desselben  nichts  be- 
|[annt  ist.     Auch   meint  Vahlen  mit  Grund, 


dass  bei  Golumella  9,  2   die  Worte   EuJie- 
merus  poeta  auf  Ennius  gehen." 

«)  fr.  LVI  p.  156  bei  Brandt,  Parod, 
epic.  Graecorum  et  Ärchestrati  reliquiae. 
Über  den  Einfluss  des  Gedichts  auf  Lucilius 
vgl.  Marx,  Stud.  Lucil.  p.  78. 


M.  PacuTioB.    Btaüns  Caoilins.  59 

auf  die  Freunde  verlasse.    Der  Metra  können  wir  in  den  Satiren  verschie- 
dene nachweisen. 

Als  drittes  Bach  der  Satiren  oder  wenigstens  als  Bestandteil  desselben  wird  in  der 
Regel  der  Scipio  betrachtet,  ohne  dass  hiefÜr  ein  Zeugnis  vorliegt.  Von  dem  Scipio  sind 
ans  mit  namentlicher  Quellenangabe  drei  Fragmente  überliefert;  in  den  zwei  ersten  (Gell. 
4,  7,  Macrob.  6,  2,  26)  erscheinen  trochäische  Tetrameter,  in  dem  dritten  (Macrob.  6,  4,  6) 
der  berüchtigte  Hexameter:  sparsis  hastis  longus  campus  aplendet  et  hortet.  Gerade  diese 
Verschiedenheit  des  Metrums  hat  die  Annahme  eines  Cyclus  von  Scipioliedem  und  die  Zu- 
teilung dieses  Cvclus  zu  den  Satiren  veranlasst.  Allein  da  Ennius  in  diesem  Gedicht  sagte, 
nur  ein  Homer  könne  Scipio  wQrdig  besingen,  so  wird  man  nicht  sowohl  an  eine  Satire, 
als  an  ein  Epos  denken  mQssen.  Vielleicht  ist  ein  Irrtum  bei  dem  Zitat  des  Hexameters 
anzunehmen.  VgK  Huo  bei  Vahlbn  p.  LXXXV.  Anders  löst  die  Schwierigkeit  Ribbeck,  Comic, 
fragm,,  p.  GXVII.  Aus  dem  Scipio  stammen  die  wunderschönen  Verse,  in  denen  der  Dichter 
schildert,  wie  sich  Stille  über  das  ganze  Weltall  senkt,  wie  Neptun  den  Wogen  Einhalt 
gebietet,  der  Sonnengott  der  Rosse  Lauf  hemmt  und  das  Laub  in  den  Bäumen  sich  nicht 
mehr  regt  Ausser  dem  Scipio  werden  von  manchen  Gelehrten  auch  die  oben  genannten 
nach  griechischen  Autoren  oearbeiteten  Stücke  den  Satiren  eingereiht.  Auch  diese  Zu- 
teilung beruht  lediglich  auf  Vermutung  und  auf  der  Vorstellung,  die  man  sich  von  der 
Satire  macht  Die  Zahl  von  6  B.  beruht  auf  Donat  Phorm.  2, 2,  ?5;  Porphyr,  p.  2il  M.  hat  4  B. 

Ennius'  litterarische  Bedeutung  ruht  vorzugsweise  in  seinen  Tra- 
gödien und  in  seinen  Annalen.  Weder  seine  Komödien  noch  seine  Satiren 
scheinen  tieferen  Eindruck  gemacht  zu  haben.  Er  ist  der  Schöpfer  der 
römischen  Eunstdichtung  nach  griechischem  Muster.  Er  hat,  wie  Lucretius 
singty  den  unverwelklichen  Ki*anz  von  Helikons  Höhen  in  Italiens  Gefilde 
gebracht.  Er  hat,  wie  die  Muse  ihm  sagte,  den  Römern  das  feurige  Lied 
aus  dem  Herzen  heraus  kredenzt,  aber  er  hat  ihnen  auch  den  Giftbecher 
gereicht,  der  für  die  heimischen  Sitten  tötlich  werden  sollte. 

Litteratnr:  Enniancte  poesis  reliquiae,  Rec.  J.  Vaqlek,  Leipz.  1854.  Bbbgk,  En- 
Diana  in  seinen  El.  philol.  Sehr.  1  p.  211  —  316.  Q.  Enni  carminum  reliquiae.  Accedunt 
I^aevii  belli  Poenici  qtuie  super  sunt.  Em,  et  adnot.  L.  Mülleb,  Petersb.  1884.  L.  Mülles, 
Q.  EnnioB.  Eine  Einleitung  in  das  Studium  der  r5m.  Poesie.  Petersb.  1884.  BIhbbns,  Ennius 
nnd  seine  Vorgftnger,  Fleckbis.  J.  133,  401. 

Hier  muss  noch  eines  jüngeren  Ennias  gedacht  werden,  über  den  wir  Kunde  erhalten 
aus  Snet.  gr.  1:  quod  nonnulli  tradunt  duos  libros  de  litteris  syllabisque,  item 
de  metris  ab  eodem  Ennio  (d.  h.  dem  Verfasser  der  Annalen)  editos,  iure  arguit  L,  Cotta 
non  paetae  sed  posterioris  Ennü  esse,  cuius  etiam  de  augurandi  disciplinn  Volumina 
feruntur.  Wohl  diesem  lungeren  Ennius  ist  auch  zuzuschreiben,  was  Isidob  von  stenogra- 
phischen Zeichen  (notaej  berichtet  (orig.  1,22  p.  98  M.):  vulgares  notas  Ennius  primus 
tnüle  et  centum  invenit, 

5.  M.  Pacuvius  und  Statins  Gaecilius. 

40.  Dio  Schule  des  Ennius.  Als  Schüler  und  Anhänger  des  Ennius 
erscheinen  sein  Schwestersohn  M.  Pacuvius,  der  220  v.  Chr.  in  Brundisium 
geboren  wurde  und  später  nach  Rom  wanderte,  in  hohem  Alter  sich  nach 
Tarent  begab  und  dort  starb,  und  Statius  Gaecilius.  Beide  unterscheiden 
sich  dadurch  von  Ennius,  dass  sie  nur  eine  dramatische  Gattung  kultivieren, 
Pacuvius  die  Tragödie  und  das  mit  ihr  in  Zusammenhang  stehende  histo* 
rische  Schauspiel,  Gaecilius  dagegen  nur  die  Komödie.  Ausserdem  ver- 
suchte sich  Pacuvius  auch  in  Satiren  (Diom.  p.  485  K.);  allein  von  dieser  Thä- 
tigkeit  des  Pacuvius  sind  alle  Spuren  erloschen.  Die  Zahl  seiner  Tragödien 
ist  nicht  sehr  gross,  wir  zählen  deren  etwas  über  ein  Dutzend.  Allein 
wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass  Pacuvius  auch  Maler  war  und  sich  daher 
nicht  ausschliesslich  der  Dichtkunst  widmen  konnte.  Überschaut  man  die 
Stoffe,  so  erkennt  man,  dass  der  Dichter  einsame  Pfade  wandelt  und  ent- 


60      Bömisohe  Litteratnrgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

legene  Sagenkreise  aufsucht.  Sehr  berühmt  sind  geworden  Teucer  (Cic.  de 
or.  1,  58,  246),  in  der  die  viel  bewunderte  Anrede  Telamons  an  Teucer 
vorkam  (1.  c.  2,  46,  193),  Iliona,  aus  der  Cic.  Tusc.  1, 44, 106  die  ergreifende 
Scene  mitteilt,  in  welcher  der  Schatten  des  ermordeten  Deiphilos  seiner 
Mutter  erscheint  und  um  ein  Begräbnis  bittet;  die  Antiopa,  welche  eine 
Hauptrolle  für  den  Schauspieler  Rupilius  bildete  (Cic.  de  off.  1,  31, 114), 
die  Niptra,  aus  denen  wiederum  eine  packende  Scene  Cicero  mitteilt  (Tusc. 
2,  21,  48),  Chryses,  der  den  edlen  Wettstreit  des  Orestes  und  Pylades  ent- 
hielt (Cic.  de  amic.  7,  24).  Unter  den  Fragmenten  hat  von  jeher  die  präch- 
tige Schilderung  eines  Sturms  die  Bewunderung  erregt;  vgl.  Cic.  de  div.  1, 
14,  24,  de  or.  3,  39,  157.  Auch  die  Stimme  der  Aufklärung  hören  wir 
einigemal,  wie  wenn  der  Dichter  vor  den  Zeichendeutem  warnt  (Cic.  de 
div.  1,  57,  131)  oder  wenn  er  das  schöne  Fragment  des  Euripides  (fr.  836  N.) 
von  dem  Äther  als  Vater,  der  Erde  als  Mutter  aller  Dinge  in  vergröberter 
Übersetzung  dem  Leser  bietet  (fr.  86).  Wie  Ennius,  so  hat  auch  Pacuvius 
das  historische  Schauspiel  nicht  unangebaut  gelassen.  Es  ist  dies  sein 
Paulus,  der  allem  Anscheine  nach  den  Sieg  des  L.  Aemilius  Paulus  über 
den  König  Perseus  bei  Pydna  (168)  feierte.  Über  Pacuvius  liegen  uns 
mehrere  Urteile  aus  dem  Altertume  vor.  Cicero  nennt  ihn  (de  opt.  g.  1,  2) 
den  grössten  Tragiker,  er  thut  dies  wahrscheinlich  wegen  des  nachhaltigen 
Eindrucks,  den  die  Stücke  auf  die  Zuschauer  machten.  Horaz  charakterisiert 
ihn  (ep.  2,  1,  56)  als  poeta  doctus,  und  dieses  Prädikat  verdient  Pacuvius 
schon  wegen  seiner  Kenntnis  auch  der  entlegensten  Sagenkreise,  dann 
wegen  der  künstlerischen  Behandlung  der  Stoffe.  Seinem  Stil  teilt  Varro 
bei  Gellius  6  (7),  14,  6  die  Eigenschaft  der  „Fülle"  zu,  Cicero  dagegen  (Brut. 
74,  258)  will  Unlateinisches  in  seiner  Darstellung  wie  in  der  des  Caecilius 
finden;  und  in  der  That  zeigen  die  Fragmente  manches  Auffallige  in  der 
Diktion. 

Über  Beine  Lebensverhältnisse  vgl.  Cic.  Brut  64,  229.  —  Plin.  n.  h.  85,  19  celebrata 
est  in  foro  boario  aedes  Herculis  Pacuvii  poetae  pictura;  Enni  sorore  genitus  hie  fuit 
clariaremque  artem  eam  Romae  fecU  glaria  scenae,  —  Über  seinen  Abgang  nach  Taren t 
▼gl.  Gell.  13,  2,  2.  —  Die  Sonderbarkeiten  in  der  Diction  des  P.  behandelt  eingehend  Kubik, 
De  Ciceronis  poetarum  studiis  p.  50.    L.  Müller,  De  Pacuvii  fcLbuUs,  Berlin  1889. 

Statins  Caecilius  ist  ein  Insuhrer  und  gehört  sonach  dem  kelti- 
schen Stamme  an;  ursprünglich  Sklave  mit  dem  Namen  Statins,  nahm  er 
später  den  Gentilnamen  seines  Herrn  Caecilius  an  (Qell.  4,  20,  13).  Er 
war  Hausgenosse  des  Ennius.  Er  schrieb  nur  Komödien,  meist  nach  Me- 
nander;  es  sind  über  40  Titel  überliefert,  in  der  Regel  griechische.  Die  Frag- 
mente sind  nur  in  ganz  wenigen  Fällen  ausreichend,  um  einige  Grundzüge 
der  Handlung  zu  erkennen.  Selten  zieht  ein  Fragment  unsere  Aufmerk- 
samkeit in  höherem  Grade  auf  sich,  wie  z.  B.  das  über  die  Macht  des 
Liebesgottes  (fr.  259)  oder  die  Klage  des  Jünglings  über  die  Nachsicht  seines 
Vaters  (fr.  199  bei  Cic.  de  nat.  d.  3,  29,  72).  Gellius  stellt  2,  23  aus  dem 
Halsband  (Plocium)  mehrere  Stellen  der  Übersetzung  und  des  Originals 
zusammen,  um  zu  zeigen,  wie  stark  die  Kapie  vom  Original  abstach  und 
wie  willkürlich  auch  noch  der  Dichter  verfuhr.  Eine  Roheit,  von  der  im 
Original  keine  Spur  vorhanden,  ist  besonders  charakteristisch;  einer  Frau 
wird  unterschoben,  dass  sie  vom  heimkehrenden  Gatten  geküsst  sein  will, 


P.  TerenüuB.  61 

damit  er  ausspeie,  was  er  auswärts  getrunken.  Schon  die  grosse  Anzahl 
der  Stücke  gestattet  den  Schluss,  dass  Gaecilius,  wenn  auch  nach  manchem 
verfehlten  Versuch  (Prolog.  Hecyr.  2,  14),  lebhaften  Anklang  fand.  Ja,  als 
Terenz  seine  Andria  zur  Aufführung  bringen  wollte,  erhielt  er  von  den 
Adilen  den  Befehl,  sie  erst  von  Caecilius  prüfen  zu  lassen.  Von  den  spätem 
Kunstrichtern  rühmt  Yarro  sein  nddvg,  Horaz  seine  gravUas. 

ChAris.  p.  241  K.  itaStj  vero  Trabea  et  Caecilius  et  Atilius  facüe  fnoverunt.  Hör.  ep. 
2,  1,  59  dicitur  vincere  CaecUius  gravüate,  Terentius  arte.  Skeptisch  zu  betrachten  sind 
die  Worte  Ciceros  ad  Attic.  7,  3,  10  C,  malua  latinitatis  auctor  est.  Das  andere  Lob 
Vahbo's  (Non.  1,  610  M.)  in  argumentis  poscit  palmam  gebührt  nicht  CftciJius,  sondern  seinen 
Originalen.  An  das  Faktum  der  Vorlesung  knüpft  sich  eine  Streitfrage.  Die  Andria  wurde 
106  V.  Chr.  aufgeführt  Nun  berichtet  aber  Hieronymus  zu  1838  =  179  v.  Chr.  (2,  125  Seh.): 
S,  C.  dartat  habetur,  natione  Itisuber  GaUua  et  Jannii  primum  contubemdlis,  Quidam  Me^ 
diolanensem  ferunt,  Mortuus  est  anno  post  mortem  Ennii.  Das  Todesjahr  wftre  sonach 
168  ▼.  Chr.  Man  hat  dieses  Jahr  bezweifelt,  weil  man  die  Prüfung  und  die  AufflÜimng  des 
Stocks  nicht  zeitlich  trennen  wollte.  Allein  die  Annahme,  dass  trotz  des  Lobes»  das  Cae- 
cilius der  Andria  spendete,  dieselbe  doch  einige  Jahre  später  zur  Aufführung  kam,  kann 
nicht  als  eine  unmögliche  bezeichnet  werden. 

6.  P.  Terentius  und  andere  Palliadendichter. 

41.  Leben  des  P.  Terentius  Afer.  Durch  den  Kommentar  des 
Donat  besitzen  wir  eine  Biographie  des  Terenz,  welche  Sueton  verfasst 
hat.  Dieselbe  stellt  sich  als  ein  Extrakt  der  verschiedenen  Untersuchungen 
dar,  welche  die  Gelehrten  des  Altertums  über  Terenz  anstellten.  Wie 
sehr  in  den  Nachrichten  über  das  Leben  der  Schriftsteller  sich  die  Phan- 
tasie der  Berichterstatter  wirksam  erwies,  wie  wenig  Sicheres  hier  man 
eigentlich  wusste,  vermag  das  Suetonische  Schriftstück  aufs  beste  zur 
Anschauung  zu  bringen.  Aus  der  Summe  der  Notizen  über  Suetons  Leben 
wird  sich  folgender  fester  Kern  herausschälen  lassen.  Das  Leben  und 
Wirken  des  Dichters  Terenz  fällt  in  die  Zeit  vom  Ende  des  zweiten  puni- 
sehen  Krieges  bis  zum  Anfang  des  dritten.  Er  war  geboren  zu  Karthago, 
der  Beiname  Afer  weist  aber  darauf  hin,  dass  er  kein  Punier  war,  son- 
dern einem  afrischen  (libyschen)  Stamme  angehörte.^)  Durch  Kauf  oder 
durch  Geschenk  kam  er  in  die  Hände  des  römischen  Senators  Terentius 
Lacanus,  der  ihn  wegen  seiner  hohen  geistigen  Anlagen  und  seiner  kör- 
perlichen Vorzüge  unterrichten  Hess  und  später  freigab.  Als  Freigelassener 
fand  er  Zugang  zu  den  vornehmen  Häusern  des  Scipio  Africanus  minor 
und  des  Laelius,  was  für  seine  Ausbildung  höchst  erfolgreich  wurde,  denn 
in  jenem  Kreise  war  edle  griechische  Bildung  und  feine  Umgangssprache 
heimisch;  auch  verkehrten  dort  die  hervorragendsten  Schriftsteller  der  da- 
maligen Zeit.  Das  erste  Stück,  mit  dem  Terenz  auftrat  (166),  war  das 
Mädchen  von  Andres.  Der  noch  unbekannte  Dichter  musste  aber  diese 
Komödie  erst  dem  berühmten  Caecilius  zur  Prüfung  vorlegen.  Nach  dem 
Mädchen  von  Andres  schrieb  Terenz  noch  fünf  Komödien.  Nachdem  alle 
seine  Schöpfungen  aufgeführt  waren  —  die  letzten  Aufiführuiigen  fallen  in 
das  Jahr  160  — ,  machte  er  eine  Reise  nach  Oriechenland,  von  der  er 
nicht  mehr  zurückkehrte;  er  starb  bereits  159.  Dieses  Jahr  ist  als  ein 
fester  Punkt  im  Leben  des  Terenz  zu  betrachten,  d.  h.  auf  eine  wahre 
Überlieferung  zurückzuführen.  Dagegen  scheint  das  Geburtsjahr  auf  Kom- 

')  BlHBEKS,  FUECKSIS.  123,  401. 


62      Römische  Litteratnrgeschiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    8.  Periode. 

bination  zu  beruhen.  Die  Biographie  berichtet,  dass  Terenz,  ehe  er  noch 
das  fünfundzwanzigste  Lebensjahr  überschritten,  die  eben  erwähnte  Reise 
nach  Oriechenland  im  Jahre  160  unternahm.  Sonach  müsste  er  nahezu 
185  geboren  sein.  Allein  dann  würde  Terenz  bereits  im  Alter  von  19 
Jahren  sein  Mädchen  von  Andros  (166)  aufgeführt  haben,  was  ungewöhn- 
lich früh  sein  würde,  da  ein  solches  Werk  doch  auch  längere  Studien  und 
Übungen  voraussetzt.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  das  Jahr  185  des- 
wegen als  Geburtsjahr  des  Terenz  angesetzt  wurde,  weil  es  auch  das  Ge- 
burtsjahr des  jüngeren  Scipio  war,  dessen  Beziehungen  zu  Terenz  allge- 
mein bekannt  waren.  Wir  müssen  das  Geburtsjahr  des  Terenz  ohne 
Zweifel  weiter  hinauf  rücken. 

Die  Biographie  des  Terenz  stand  in  Suetons  Werk  De  rtm  %llu9tribuA  und  zwar  in 
dem  Abschnitt  de  poetis.  Dieselbe  ist  vortrefflich  von  Ritschl  bearbeitet  in  Rkiffer* 
BCHEiDS  C,  Suetonü  reiiquiae  und  opusc.  3,  204.  Zu  dieser  Biographie  kommt  noch  der 
Zusatz  des  Donat,  das  sog.  auctarium  Donati.  Die  Differenzpunkte  der  alten  Litteratur 
historiker  beziehen  sich  1)  auf  die  Art  und  Weise,  wie  T.  nach  Rom  kam;  2)  auf  das 
Verhältnis  des  T.  zu  Scipio  und  Laeliua  in  freundBchaftlicher  und  litterarischer  Beziehung ; 
8)  endlich  auf  seinen  Tod.  —  über  die  Unrichtigkeit  des  Geburtsjahrs  185  handelt  vor- 
trefflich Sauppe,  Nachr.  d.  Gott.  Ges.  1870  p.  111. 

42.  Die  Chronologie  der  Terenzianisclien  Komödien.  Terenz  schrieb 
sechs  Komödien,  welche  sämtlich  aufgeführt  wurden.  Die  äussere  Geschichte 
derselben  lernen  wir  aus  den  didaskalischen  Notizen  kennen,  welche  den 
einzelnen  Stücken  (mit  Ausnahmen  der  Andria)  in  den  Handschriften  vor- 
ausgeschickt werden  und  welche  sich  in  den  dem  Donat  zugeschriebenen 
praefationes  (mit  Ausnahme  des  Heautontimorumenos)  vorfinden.  Auf 
wen  diese  Notizen  zurückgehen,  lässt  sich  nicht  bestimmt  sagen,  viel- 
leicht war  die  Quelle  eine  einschlägige  Schrift  Varros.  In  diesen  didas- 
kalischen Notizen  waren,  wenn  sie  vollständig  waren,  folgende  Punkte 
berücksichtigt:  1)  Namen  des  Stücks  und  des  lateinischen  Dichters;  2) 
Festspiel  der  Aufführung ;  3)  die  Leiter  des  Festspiels ;  4)  Hauptschauspie- 
ler und  Direktor  der  Truppe;  5)  Komponist;  6)  die  Gattung  der  Flöten- 
musik; 7)  Dichter  und  Titel  des  griechischen  Originals;  8)  die  Nummer 
des  Stücks  in  der  Reihenfolge  der  Werke  des  Dichters;  9)  die  Konsuln 
des  Jahrs,  in  dem  die  Aufführung  des  Stücks  statt  fand.  Mit  Hilfe 
dieser  Angaben  können  wir  Zeit  der  Aufführung  und  das  Festspiel  be- 
stimmen: 

166  Andria  an  den  ludi  Magalenses, 

163  Heautontimorumenos  an  den  ludi  Megalenses, 

161  Eunuchus  an  den  ludi  Magalenses, 

161  Phormio  an  den  ludi  Romani, 

160  Adelphoe  an  den  ludi  funerales  des  Aemilius  Paulus, 

160  Hecyra  an  den  ludi  Romani. 
Bezüglich  der  Hecyra  ist  jedoch  zu  bemerken,  dass  bereits  165  an 
den  ludi  Megalenses  eine  Aufführung  des  Stücks  versucht  wurde,  dieselbe 
aber  nicht  zu  Stande  kam,  ferner  dass  160  an  den  ludi  funerales  des 
Aemilius  Paulus  die  Aufführung  begonnen,  aber  nicht  beendigt  wurde. 
Als  Darsteller  für  alle  Stücke  wird  L.  Ambivius  Turpio  genannt;  wir  wer- 
den ihn  als  den  Hauptschauspieler  und  Direktor  der  Truppe  anzusehen 
haben.  Schwieriger  ist  es,  die  Aufgabe  der  in  der  Regel  noch  vorkommen- 


P.  Terentins.  63 

den  zweiten  Persönlichkeit,  des  L.  Hatilius  aus  Praeneste  zu  deuten.  Ent- 
weder ist  an  ein  Kompagniegeschäft  mit  einem  zweiten  Schauspieldirektor 
zu  denken  oder  die  neben  Ambivius  Turpio  genannte  Persönlichkeit  war 
bei  einer  zweiten  Aufführung  thätig.  Der  Komponist  der  Flötenmusik, 
welche  von  einem  einzigen  Bläser  ausgeführt  wurde,  ist  in  allen  Stücken 
Flaccus,  der  Sklave  des  Claudius. 

43.  Die  Stoffe  der  Terenzianisclieh  Komödien.  Wir  legen  in  der 
Aufzählung  der  Stücke  die  Zeit  der  Abfassung  zu  Grunde. 

1.  Andria(DasMädchen  von  Andres).  Pamphilus  liebte  ein  verlasse- 
nes Mädchen  aus  Andres.  Sein  Vater  Simo  hatte  ihm  aber  die  Tochter  des 
Chremes  bestimmt.  Und  eine  solche  Verbindung  war  auch  ganz  nach  dem 
Sinn  und  Wunsch  des  Chremes.  Allein  als  Chremes  von  dem  Liebesver- 
hältnis des  Pamphilus  Kunde  erhielt,  zog  er  seine  Einwilligung  zurück. 
Um  nun  eine  feste  Handhabe  zu  erhalten,  gegen  seinen  Sohn  ernstlich 
vorzugehen,  fingiert  Simo  Vorbereitungen  zur  Hochzeit.  Der  listige  Sklave 
Davus  rät  seinem  Herrn  Pamphilus,  scheinbar  auf  die  Heirat«  einzugehen, 
dadurch  komme  Simos'  Plan  in  Verwirrung  u.  s.  w.  Allein  bald  darauf 
gelingt  es  Simo,  Chremes  umzustimmen,  sodass  dieser  zum  zweiten  Mal 
seine  Einwilligung  zur  Hochzeit  gibt.  Für  Pamphilus  wird  die  Situation 
um  so  peinlicher,  als  das  Mädchen  von  Andres  inzwischen  eines  Knaben 
von  Pamphilus  genesen  ist.  Doch  Davus  ist  nicht  verlegen,  er  weiss  das 
neugeborene  Kind  dem  Chremes  vor  Augen  zu  bringen.  Jetzt  weigert  sich 
Chremes  entschieden,  dem  Pamphilus  seine  Tochter  zu  geben.  Da  kommt 
zui*  rechten  Zeit  ein  Fremder,  durch  den  sich  herausstellt,  dass  das  Mäd- 
chen von  Andres  eine  Tochter  des  Chremes  ist.  Mit  dieser  Entdeckung 
steht  der  Verbindung  des  Pamphilus  und  des  Mädchens  aus  Andres  kein 
Hindernis  mehr  im  Wege.  Was  wird  aber  jetzt  aus  der  ersten  von  Pam- 
philus verschmähten  Tochter  des*  Chremes?  Ihre  Geschicke  werden  durch 
eine  Nebenhandlung  entschieden,  deren  Träger  Charinus  und  sein  Sklave 
Byrria  sind.  Charinus  liebt  die  dem  Pamphilus  zugedachte  Tochter  des 
Chremes,  dadurch  berühren  ihn  die  Verwicklungen  des  Stückes  in  hohem 
Grad.  Die  erwähnte  Entdeckung  bringt  auch  ihn  zum  erwünschten  Ziel. 
Allein  die  Verlobung  des  Charinus  kommt  nicht  mehr  im  Stück  zur  Dar- 
stellung, auf  dieselbe  wird  als  im  Innern  des  Hauses  vor  sich  gehend  hin- 
gewiesen. 

Das  Original  ist  die  Andria  des  Menander,  allein  er  benutzte  auch 
die  Perinthia  desselben  Dichters.  Das  Stück  ist  spannend  geschrieben;  die 
auftretenden  Personen  sind  gut  charakterisiert.  Die  Exposition  der  ersten 
Scene,  in  der  ein  sogenanntes  nqoaonnov  TtQotatixov  verwendet  ist,  muss 
als  ganz  vortrefflich  bezeichnet  werden. 

Die  Uvi^la  und  die  neoiy&ia  hatten  das  gleiche  Argument,  das  sie  aber  nicht  in 
gleicher  Weise  darchfQhrten.  Dies  besagen  die  Worte  dea  Prologs:  non  üa  dianmüi  sunt 
arguwiento,  ei  tarnen  diseimüt  oratione  sunt  faetae  ae  stilo.  Die  erste  Scene  der  beiden 
Stücke  haUe  aber  auch  fast  gleichen  Wortlaut;  Donat  zu  proi.  10  prima  seena  Perinthiae 
paene  üsdem  verbia  quibus  Ändiia  {Menandri)  scripta  est,  cetera  dissimilia  sunt  exceptis 
duolnts  lociSj  altero  ad  versus  XI,  alter o  ad  versus  XX  qui  in  utraque  fabula  positi 
mmt;  nur  bestand  ein  Unterschied  der  Komposition,  indem  in  der  Andria  die  Scene  einen 
Monolog  des  Alten,  in  der  Perinthia  einen  Dialog  zwischen  ihm  und  seiner  Frau  enthielt  (Donat 
pro].  13).    Den  Dialog  der  ersten  Scene  hat  Terenz  sonach  aus  der  Perinthia  genommen, 


64      BOmiaohe  Litteratnrgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    8.  Periode. 

i'edoch  mit  der  Modifikation,  dass  er  statt  der  Frau  den  Freigelassenen  einführte.  Die 
Nebenhandlung  hat  der  Dichter  selbst  erfunden;  zu  dieser  Annahme  wird  man  durch  die 
klaren  Worte  Donats  zu  2,  1,  1  gezwungen :  /utö  persontu  Tereniius  addidü  fahulcLe,  nam 
non  sunt  apud  Menandrum.  Vgl.  Gbauebt,  Analekten  p.  193.  Die  Behauptung  Ihnes 
quaest,  Terentianae,  Bonn  1843  p.  8,  dem  Teüffbl,  Stud.  p.  280  und  Ribbkck,  Gesch.  der 
röm.  Dichtung  1,  133  beistimmen,  dass  die  beiden  Personen  aus  der  Perinthia  entlehnt 
seien,  ist  eine  irrige.  * 

Mit  weisem  Bedacht  hat  der  Dichter  auf  die  Verlobung  des  Charinus  nur  hinge- 
wiesen ;  in  jOngeren  Handschriften  findet  sich  ein  zweiter  Schluss,  in  dem  diese  Verlobung 
noch  dargestellt  wird.  Dass  dieser  Scbluss  nicht  von  Terenz  sein  kann,  steht  fest.  Ober  die 
Zeit  der  Abfassung  desselben  gehen  die  Ansichten  sehr  auseinander.  Nach  Ritsghl,  Parerga 
p.  62  wurde  derselbe  bald  nach  Terenz  von  einem  Dichter  für  eine  zweite  Aufführung  ge- 
macht, dagegen  teilt  ihn  einem  Schauspieler  der  auf  Terenz  folgenden  Zeit  Obeifbld,  De 
Andricie  gemino  eontu,  Berl.  1886  p.  41  zu,  einem  Gelehrten  des  IL  Jahrh.  n.  Ch.  Dziatzko 
(Flbokbis.  J.  1876  p.  235),  Bbaun,  Quaest.  Ter.  p.  21  einem  solchen  des  IV.  Jahrh.  n.  Ch. 
Einen  dritten  Schluss,  in  dem  auch  Simo  auftntt,  hat  Zuckbb  in  einem  Erlanger  Codex 
entdeckt,   vgl.  Schmidt,   Ober  die  Zahl  der  Schauspieler  bei  PI.  und  Ter.  p.  39. 

2.  Hecyra  (Die  Schwiegermutter).    Pamphilus,  der  eine  Hetäre 
liebte,   wird  von  seinem  Vater  zur  Ehe  mit  Philumena  gezwungen.    Er 
lässt  sie  daher  unberührt,  aber  von  Tag  zu  Tag  ziehen  ihn  die  trefflichen 
Eigenschaften  der  Frau  mehr  an.    Eine  angefallene  Erbschaft  führt  ihn 
in  die  Fremde.    Während  seiner  Abwesenheit  zieht  sich  Philumena   von 
der  Schwiegermutter  zurück  und  kehrt  schliesslich  ins  väterliche  Haus  zu- 
rück.   Daraus  erwachsen  der  armen  Schwiegermutter,   von  der  das  Stück 
den  Namen  hat,  Vorwürfe   von  seiten  ihres  Gatten;   die  Schuld  an  dem 
Zerwürfnis  wird  auf  sie  abgeladen.   Da  kommt  Pamphilus  von  seiner  Reise 
zurück  und  erfahrt   zu  seinem  Schrecken,   dass  seine  Frau  schon  vor  der 
Hochzeit  infolge   einer   nächtlichen    Vergewaltigung   schwanger   war  und 
eben   einen  Knaben   geboren  hatte.      Da   er  der  Mutter   der  Philumena 
Schweigen  gelobt  und  auch  sein  Schwiegervater  den  wahren  Sachverhalt 
nicht  erfährt,  kommt   er  mit  seiner  Weigerung,  seine  Frau  ins  Haus  zu- 
rückzuführen in   eine  peinliche  Situation.     Aus  derselben  befreit  ihn  die 
von  ihm  früher  geliebte  Hetäre.    Man  hatte  sie  kommen  lassen,  weil  man 
noch    an   fortdauernde  Beziehungen   derselben  zu  Pamphilus  glaubte.     Sie 
trägt  den  Ring,  den  Pamphilus  einst  Nachts  einem  Mädchen  abgezogen 
und  ihr  zum  Geschenk  gemacht  hatte.    Es  war  der  Ring,   den  bei  jenem 
nächtlichen  Abenteuer  Philumena  verloren  hatte.     Somit  war   der  Vater 
des  geborenen  Knaben  entdeckt,  es  war  Pamphilus  selbst.   Das  Stück  hat 
keine  komischen  Scenen,  es  ist  ein  Familienstück  mit  einer  einfachen  Ver- 
wicklung.   Da  der  Hecyra  alle  heiteren  Momente  fehlen,  so  begreift  man, 
wie  das  römische  Publikum  nur  schwer  für  dieselbe  zu  erwärmen  war. 

In  Bezug  auf  das  Original  bestehen  abweichende  Angaben.  Donat  fflhrt  in  seinem 
Kommentar  5  Stellen  aus  Apollodor  an  und  vergleicht  damit  den  lateinischen  Wortlaut. 
Der  Codex  Bembinus  nennt  dagegen  in  der  Didaskalie  als  Original  ein  Stttck  Menanders 
(Graeca  Menandru).  Es  kann  keinen  Augenblick  zweifelhaft  sein,  dass  die  letzte  Angabe 
gegenüber  der  ersten,  welche  uns  Originedstellen  mitteilt,  nicht  beachtet  werden  darf,  und 
dass  wir  demnach  eine  'ExvQa  des  Apollodor  als  Vorlage  für  Terenz  anzusehen  haben. 
Wenn  Donat  in  der  praef.  zur  Hecyra  sagt:  haec  fabtäa  Apollodori  dicUur  esse  Graeca 
(ähnlich  im  Auctarium  zur  vita),  so  werden  wir  nicht  daraus  schliessen,  dass  Donat  an  der 
Autorschaft  Apollodors  gezweifelt  hat,  sondern  dass  er  die  Originale  nicht  selbst  eingesehen, 
sondern  Gewährsmännern  folgt.  Wenn  endlich  Apoll.  Sidon.  £p.  4,  12  Ähnlichkeit  zwi- 
schen der  Hec3rra  und  den  "iRniTginoyxeg  Menanders  finden  will,  so  besagen  diese  Worte 
nichts  über  das  Original  der  Hecyra.  Nur  soviel  lassen  sie  erkennen,  dass  die  *Eni,rQenot^eg 
dies  nicht  waren.  Hildebrandt,  De  Hecyrae  Terentianae  origine,  Halle  1884  will  eine 
spätere  misslungene  Überarbeitung  des  Stücks  durch  den  Dichter  nachweisen  (p.  51). 


X.  Terentina.     '  65 

3.  Heautontimorumenos  (Der  Selbstpeiniger).  Menederous  hatte 
seinen  Sohn  Clinia,  der  die  Antiphila  liebt,  durch  seine  fortwährenden 
Vorwürfe  in  fremden  Kriegsdienst  getrieben.  Aus  Reue  darüber  legt  sich 
Menedemus  die  grössten  Entbehrungen  auf  und  quält  sich  Tag  und  Nacht 
für  seinen  Sohn.  Diesen  seinen  Kummer  legt  er  seinem  Nachbar  Chremes 
dar,  dessen  Sohn  Clitipho  ein  heimliches  Liel^verhältnis  mit  der  ver- 
schwenderischen Bacchis  unterhält.  Glinia  kam  bald  von  der  Fremde  zu- 
rück, aus  Furcht  vor  seinem  Vater  steigt  er  heimlich  bei  seinem  Freunde 
Clitipho  ab.  Das  Erste  ist,  dass  er  Erkundigungen  über  die  Antiphila  ein- 
ziehen lässt.  Der  Sklave  Syrus  bringt  sie  selbst,  aber  mit  ihr  auch  die 
Bacchis  ins  Haus  des  Chremes,  dem  vorgespiegelt  wird,  die  Bacchis  sei 
die  Geliebte  Clinias;  zu  ihrem  Gefolge  gehört  Antiphila.  Chremes  teilt 
dem  Menedemus  die  Ankunft  Clinias  mit,  zugleich  schildert  er  die  Ver- 
schwendungssucht der  Bacchis.  Als  Menedemus  trotzdem  in  seiner  Freude 
über  die  Ankunft  des  Sohnes  zu  allen  Opfern  bereit  ist,  so  rät  Chremes 
ihm,  wenigstens  sich  dieselben  ablocken  zu  lassen,  damit  auf  seine  Güte 
nicht  allzusehr  gesündigt  werde.  Ja  er  muntert  sogar  den  Syrus  zu 
einem  Anschlage  gegen  Menedemus  auf.  Da  wird  durch  einen  Ring  die 
Entdeckung  gemacht,  dass  Antiphila  die  Tochter  des  Chremes  sei.  Die  Ent- 
deckung bringt  aber  den  Trug,  dass  Bacchis  die  Geliebte  Clinias  sei,  in 
grosse  Gefahr,  das  Liebesverhältnis  des  Clinia  und  der  Antiphila  braucht 
ja  jetzt  nicht  mehr  die  Öffentlichkeit  zu  scheuen.  Syrus  fordert  daher  den 
Clinia  auf,  wenn  er  ins  väterliche  Haus  zurückkehre,  auch  die  Bacchis 
mitzunehmen,  seinem  Vater  aber  den  Sachverhalt  darzulegen.  Eine  neue 
Schwierigkeit  stellt  sich  ein,  die  Bacchis  verlangt  die  ihr  versprochenen 
zehn  Minen.  Syrus  entlockt  mit  Leichtigkeit  dieselben  dem  Chremes.  Allein 
die  Täuschung  bezüglich  der  Bacchis  naht  ihrem  Ende.  Zwar  stellt  sich 
Chremes,  als  ihm  Menedemus  die  Wahrheit  mitteilte,  noch  immer  ungläu- 
big und  vermutet  eine  dem  Menedemus  gestellte  Falle  —  Syrus  hatte  ja 
ebenfalls  die  Wahrheit  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  mitgeteilt  —  allein 
nur  zu  bald  muss  er  erkennen,  dass  er  der  Übertölpelte  ist.  In  Zorn  ent- 
brannt will  er  Clitipho  enterben,  allein  der  gütliche  Zuspruch  der  Mutter 
und  die  Bereitwilligkeit  Clitiphos,  die  Bacchis  fahren  lassen  und  eine  or- 
dentliche Ehe  eingehen  zu  wollen,  versöhnt  ihn;  auch  Syrus  erhält  Ver- 
zeihung. 

Das  Stück  ist  sehr  mittelmässig.  Die  Intrigue  ist  schwach,  es  ist 
kein  rechter  Zug  in  derselben,  dem  Syrus  fehlt  ein  fester  Plan,  wir  wer- 
den hin  und  her  geworfen.  Die  einzige  Komik  des  Stückes  besteht  darin, 
dass  Chremes,  der  so  klug  zu  sein  glaubt  und  die  väterliche  Strenge  durch- 
aus gewahrt  wissen  will,  selbst  ein  Opfer  der  Täuschung  wird.  Der  Charakter 
des  Selbstquälers  verliert  sich  sofort  nach  dem  ersten  Akt,  aus  demselben 
wird  fast  ein  Schwächling.    Charakterfigur  des  Stückes  ist  bloss  Chremes. 

AuBdrücklich  sagt  der  Prolog,  dass  der  Dichter  hier  keine  Kontamination  vorgenom- 
men. Den  Charakter  des  Stückes  bestimmt  der  Prolog,  indem  er  es  eine  fctbula  stataria 
neoani,  d.  h.  ein  Stück  mit  ruhiger,  gemessener  Handlung.  Über  die  Komposition  siehe 
Ybtkdiqxb,  Flscksis.  J.  109,  129,  der  nachzuweisen  versucht,  dass  Terenz  die  sich  auf 
Clitipho  mid  Bacchis  beziehenden  Scenen  aus  eigener  Erfindung  hinzugefügt  habe;  allein 
dam  widerstreitet  ProL  v.  4.  Vgl.  Kampe,  Die  Lustspiele  des  Terenz  und  ihre  griech. 
Originale,  Halberst.  1884  p.  15. 

^wdbQoh  der  Ubm.  AlfteitamawineiiachAfL  Vin.  5 


66      BOmlache  litteratargeBchichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2,  Periode. 

4.  Eunuchus  (Der  Verschnittene).  Mit  der  Hetäre  Thais  war 
ein  schönes  Mädchen  aufgezogen  worden,  das  die  Mutter  als  Geschenk  von 
einem  Kaufmann  erhalten;  es  war  ein  geraubtes  Kind.  Nach  dem  Tod 
der  Mutter  hatte  der  habgierige  Bruder  der  Thais  das  Mädchen  zum  Ver- 
kauf ausgeboten.  Zum  guten  Glück  kam  gerade  der  Geliebte  der  Thais, 
der  Soldat  Thraso  dazu,  er  kauft,  ohne  den  Sachverhalt  zu  kennen,  das 
Mädchen,  Pamphila  mit  Namen,  als  Geschenk  für  seine  Freundin.  Die 
Übergabe  verzögert  sich  aber,  "vveil  Thais  auch  dem  Phaedria  ihre  Gunst 
zugewendet  hatte.  Um  den  Soldaten  zu  beruhigen,  bestimmt  Thais  den 
Phaedria,  sich  auf  zwei  Tage  von  ihr  zurückzuziehen;  denn  auf  den  Be- 
sitz der  Pamphila  legt  sie  den  höchsten  Wert,  da  sie  deren  Bruder  auf 
der  Spur  zu  sein  glaubt.  Phaedria  fügt  sich  in  das  Unvermeidliche;  ehe 
er  sich  zurückzieht,  gibt  er  seinem  Sklaven  Parmeno  den  Befehl,  die  für 
Thais  gekauften  Geschenke,  eine  äthiopische  Magd  und  einen  Eunuchen, 
an  Ort  und  Stelle  zu  bringen.  Auch  der  Soldat  lässt  jetzt  die  Pamphila 
von  seinem  Parasiten  Gnatho  ins  Haus  der  Thais  bringen.  Der  Zufall 
wollte,  dass  Phaedrias  Bruder  Chaerea  der  Pamphila  ansichtig  wird ;  er  ent- 
brennt in  Liebe  zu  ihr  und  wünscht  in  ihre  Nähe  zu  kommen.  Scherzend 
riet  ihm  Parmeno,  das  Kleid  des  Eunuchen  anzuziehen  und  sich  in  dieser 
Verkleidung  ins  Haus  der  Thais  führen  zu  lassen.  Chaerea  greift  mit  Leiden- 
schaft diesen  Plan  auf,  er  kommt  als  verkleideter  Eunuche  in  die  Nähe 
der  geliebten  Pamphila.  Das  Unheil,  das  er  hier  angerichtet,  erfahren  wir 
aus  der  Unterredung,  die  er  mit  einem  ihm  begegnenden  Freunde  pflegt. 
Im  Hause  der  Hetäre  entsteht  eine  grosse  Verwirrung.  Die  Mägde  mel- 
den die  Gewaltthat  und  Flucht  des  Eunuchen  dem  Phaedria.  Dieser  holt 
den  wirklichen  Eunuchen  aus  dem  Hause  —  es  stellt  sich  heraus,  dass 
der  Übelthäter  ein  ganz  anderer,  —  der  Bruder  Phaedrias  ist.  Die 
weitere  Entwicklung  der  Handlung  knüpft  sich  an  Pamphila.  Durch  das 
Erscheinen  ihres  Bruders  Chremes  entsteht  eine  eifersüchtige  Scene  zwi- 
schen dem  Soldaten  und  der  Thais;  der  Soldat  will  sein  Geschenk,  die 
Pamphila  wieder  haben,  er  schreitet  in  komischer  Weise  mit  seinen  Tra- 
banten zu  einem  militärischen  Angriff;  da  proklamiert  Chremes  die  Pam- 
phila als  seine  freigeborene  Schwester.  Durch  diese  Erklärung  erhält  jetzt 
Chaerea  auch  die  Möglichkeit,  sein  Unrecht  zu  sühnen,  er  erbittet  sich  die 
Pamphila  zur  Frau.  Phaedria  kann  wieder  in  den  Besitz  seiner  geliebten 
Thais  treten,  jedoch  räumt  er  auch  dem  Soldaten  einen  Anteil  ein,  damit 
er  die  Kosten  der  Liebe  auf  dessen  Schultern  abladen  kann.  Parmeno 
büsst  durch  die  namenlose  Angst,  in  die  ihn  die  Erzählung  einer  listigen 
Magd  von  dem  seinem  Herrn  drohenden  Unheil  versetzt  hatte,  für  seinen 
Ratschlag. 

Aus  dieser  Darlegung  dürfte  erhellen,  wie  spannend  diese  Komödie 
geschrieben  ist.  Sie  erregt  unser  Interesse  durch  den  von  der  Heeres- 
strasse abliegenden  Stoff,  den  sie  behandelt.  Die  einzelnen  Phasen  der 
Handlung  sind  enge  verbunden.  Die  Personen  sind  vortrefflich  gezeich- 
net; besonders  gelungen  ist  Chaerea  und  unter  den  Nebenpersonen  die 
Magd  Pythias.  Das  Original  ist  der  Eunuch  des  Menander;  aber  den 
Soldaten   und   den  Parasiten   entlehnte   er   dem    „Schmeichler"    desselben 


P.  Terentina.  67 

Dichters J)  Es  sind  dies  zwei  köstliche  Figuren.  Wir  begreifen,  dass 
das  Stück  so  sehr  dem  Publikum  gefiel,  dass  es  sofort  wiederholt  werden 
musste,  und  dem  Dichter  ein  grosses  Honorar  eintrug. 

Die  Komposition  beleuchten  vorzugsweise  folgende  Zeugnisse:  Schol.  zu  Pers.  Sat. 
5,  161  hunc  locum  de  Menandri  Eunucho  trcuHt,  in  quo  Darum  servum  Chaerestratus  adO' 
lescens  adloquiiur,  tanquam  amore  Chrysidis  meretricis  derelictus,  idemque  tarnen  ab  ea 
rtvocatu9  ad  illam  redit.  apud  Tereniium  peraonae  inmutatae  sunt.  Donat  zu  3,  4,  1  bene 
inventa  persona  est,  eui  narret  Cha^rea,  ne  unus  diu  loquatur,  ut  apud  Menandrum,  Pro- 
log. 30  Colax  Menandrist:  in  east  parasitus  colax  et  miles  gloriosus:  eas  se  non  negat 
personas  transtulisse  in  Eunuchum  suam  ex  Graeca,  Warum  Terenz  Personennamen  ge- 
ändert hat  —  beim  Menandrischen  Eunuchus  (wie  beim  Eolax  in  der  eingeschobenen  Partie) 
—  daf&r  vermögen  wir  keinen  Grund  aDzugeben.  Was  den  zweiten  Punkt,  die  EinfUhrung 
des  Antipho  (539)  betrifft,  so  sehe  ich  keinen  Grimd,  der  Notiz  des  Donat  mit  Ihne, 
Quaest.  Ter.  p.  15  und  Teupfel,  Stud.  p.  282  zu  misstrauen ;  denn  die  Möglichkeit  wird  nicht 
geläugnet  werden  können,  dass  Ghaerea  auch  in  einem  Monolog  seine  Schandthat  bekannt 
geben  konnte.  Freilich  ist  der  Dialog  hier  passender.  Die  richtige  Auffassung  der  letzten 
Stelle  hängt  von  der  Vorstellung  ab,  die  man  sich  vom  Eunuchen  Menanders  macht.  Fast 
zweifellos  erscheint,  dass  auch  dieses  Stttck  einen  Rivalen  dem  Liebhaber  gegenüber- 
stellt«. Das  Zerwürfnis  mit  der  Geliebten,  auf  das  auch  Fragmente  hinweisen,  die  Tren- 
nung für  einige  Tage  und  anderes  erklären  sich  so  auf  einfache  Weise.  Dass  aber  gerade 
ein  Soldat  der  Rivale  war,  lässt  sich  natürlich  nicht  behaupten,  ja  es  ist  nicht  einmal 
nach  der  obigen  Stelle  wahrscheinlich.  Die  Kontamination  wird  darin  bestanden  haben, 
dass  Terenz  den  einfachen  Rivalen  durch  zwei  Gharakterfiguren,  den  Soldaten  und  den 
Parasiten  des  Eolax  ersetzt  hat.  Vgl.  Gbauebt,  Anal.  p.  168.  Interessant  ist  es,  was  der 
Prolog  weiter  berichtet,  dass  der  Eolax  schon  früher  lateinisch  bearbeitet  war. 

Über  die  ganze  Frage  der  Komposition  handelt  Bbaün,  Quaest.  Terent.  p.  23 — 40, 
der  aber  den  Rivalen  im  Eunuchen  Menanders  läugnet.  Über  die  Benützung  des  Eunuchus 
durch  Holbero  vgl.  Lobeitz,  Miles'^  p.  243. 

5.  Phormio.  Dieses  Stück  ist  nach  dem  ^Entdixa^ofievog  des  Apol- 
lodor  bearbeitet;  Terenz  nahm  aber  statt  der  für  die  Römer  weniger  ver- 
ständlichen Appellativbezeichnung  das  Nomen  proprium.  Phormio  ist  der 
Parasit,  der  die  Intriguen  durchführt.  Die  zwei  Brüder  Ghremes  und  De- 
mipho  waren  verreist.  Während  ihrer  Abwesenheit  übertrugen  sie  die 
Aidfsicht  über  ihre  Söhne  dem  Sklaven  Geta.  Allein  dieser  hielt  mehr  zu 
den  Söhnen  als  zu  den  Vätern.  So  konnte  es  geschehen,  dass  die  beiden 
jungen  Herrn  in  Liebeshändel  verflochten  wurden.  Antipho,  Demiphos  Sohn, 
hatte  eine  Ehe  mit  einer  armen  Waise  Phanium  aus  Lemnos  eingegangen, 
nach  einer  von  Phormio  eingefädelten  Intrigue  scheinbar  als  nächster  Ver- 
wandter durch  das  Gesetz  dazu  gezwungen,  wobei  Phormio  den  Kläger 
machte  {imiixa^oiisvoq).  Phaedria,  der  Sohn  des  Chremes  aber  hatte  sich 
in  eine  Zitherspielerin  verliebt.  Im  Verlaufe  der  Komödie  wird  Phaedria 
von  dem  Missgeschick  betroffen,  dass  der  Kuppler  die  Zitherspielerin  ver- 
kauft hat  und  nur  auf  vieles  Zm*eden  hin  sich  bestimmen  lässt,  wenn  Phaedria 
des  andern  Tags  die  Kaufsumme  (von  30  Minen)  früher  erlege,  die  Zither- 
spielerin ihm  überlassen  zu  wollen.  Den  heimgekehrten  Vätern  gegenüber 
gilt  es  nun  einmal,  die  Ehe  Antiphos  aufrecht  zu  erhalten,  dann  das  Löse- 
geld für  die  Geliebte  Phaedrias  aufzutreiben.  Beide  Aufgaben  löst  Phor- 
mio; er  setzt  zuerst  beim  Zweiten  an.  Dem  über  die  Ehe  Antiphos  be- 
stürzten Vater  erklärt  er,  er  wolle  Phanium  selbst  heiraten,  wenn  ihm  30 
Minen  gegeben  würden.  Seine  List  glückt  ihm.  Aber  was  wird  nun  aus 
Antipho  ? 


0  Dies  zeigt  tre£flich  Gbauebt,  Anal.  p.  153.     Über  Thraso  vgl.  Ribbsok,  Alazon 
p.  39,  LoBBirz,  Mües>  p.  236. 


5* 


68      BOmiBclie  Litteratnrgesohichte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

Hier  wäre  nun  eine  neue  Intrigue  des  Parasiten  notwendig  gewesen, 
um  zunächst  einen  Aufschub  seiner  Heirat  mit  Phanium  zu  bewirken.  Allein 
die  Lösung  führt  die  Tyche  herbei,  Phanium  wird  als  die  Tochter  des 
Chremes  aus  einer  Verbindung,  die  er  in  Lemnos  hatte,  erkannt.  Sie  war 
Antipho  ohnehin  zugedacht,  er  ist  also  ihres  Besitzes  sicher.  Phormio 
aber  zieht  sich  und  Phaedria  dadurch  aus  der  Schlinge,  dass  er  die  Liebe 
des  Chremes  dessen  Frau  denunziert. 

Die  einfache  Intrigue  ist  gut  und  frisch  durchgeführt  und  die  beiden 
Alten  und  die  beiden  Jungen  sind  trefflich  gezeichnet. 

MoLiiRs's  Les  faurberiea  de  Scapin  stehen  unter  dem  Einfluss  des  Terenzianischen 
Phormio. 

6.  Adelphoe    (Die  Brüder).     Das  Stück  führt  uns  zwei  Brüder, 
Micio  und  Demea  vor;  der  erste  ist  ein  feiner  Junggesell,  der  andere  ein 
strenger,  engherziger  Bauer.  Neben  diesen  beiden  Alten  lernen  wir  die  beiden 
Söhne  Demeas  kennen,  den  Aeschinus,  der  von  Micio,  und  den  Ctesipho, 
der  von  Demea  erzogen  wird.     Die  Erziehung  leitet  natürlich  Jeder  nach 
seiner  Weise.     Micio  vertritt  milde   und  liberale  Grundsätze,    Aeschinus 
strenge  und  altvaterische.    Das  Resultat  ist  aber  bei  beiden  das  gleiche, 
Aeschinus  hat  hinter  dem  Rücken  seines  Onkels  Pamphila,   die  Tochter 
einer  armen  Witwe  Sostrata  verführt,  Ctesipho  heimlich  ein  Liebesverhält- 
nis mit  einer  Zitherspielerin  angefangen.    Die  Verwicklung,    welche  das 
Stück  darbietet,  besteht  darin,  dass  Aeschinus  die  Zitherspielerin  (Ys.  451) 
dem  Kuppler,  der.  sie  verkaufen  will,  entreisst  und  dadurch  einen  öffent- 
lichen Skandal  hervorruft.  Diese  Gewaltthat  kommt  zur  Kenntnis  der  So- 
strata; die  vermeintliche  Untreue  des  Aeschinus  ruft  dort  die  grösste  Be- 
stürzung  hervor.  Auch  Demea  hatte  Kunde  von  Aeschinus'  Gewaltthat  er- 
halten;  sein  Unwille  gegen  Micios  Erziehungsweise  tritt  stark  hervor;  er 
freut  sich,  dass  wenigstens   der  von  ihm  erzogene  Sohn  andere  Bahnen 
einschlägt.     Der  Sklave  Syrus  bestärkt  ihn  boshaft  in  seinem  Glauben. 
Da  muss  er  die  Entdeckung  machen,  dass  Ctesipho  so  schlimme  Wege 
wandelt  wie   sein  Bruder.    Nachdem  Demea  zur  Erkenntnis  gelangt  ist, 
dass  er  mit  seiner  Erziehung  Schiffbruch  gelitten,   geht  er  zu  dem  entge- 
gengesetzten System  über;   er  will  jetzt  Micio  an  Liberalität  überbieten 
und  führt  dies  gleich  praktisch  durch,  jedoch  so,  dass  Micio  fast  allein  die 
Kosten  trägt.    Aus   lauter  Liberalität  muss  Micio  sogar  die  alte  Sostrata 
zur  Frau  nehmen.    Was  will  der  Dichter  mit  diesem  sonderbaren,  ja  un- 
vernünftigen Vorgehen  Demeas?    Bisher  hatte  Demea   den  Spott  tragen 
müssen;  auch  waren  die  Sympathien  der  Zuschauer  sicher  mehr  auf  sel- 
ten des  frischen   und  selbständigen  Aeschinus  als  auf  selten  des  ängst- 
lichen,   auf  fremde   Hilfe   angewiesenen   Ctesipho.     Allein   auch    die   Er- 
ziehungsmethode Micios   hatte    ihre    grossen   Schattenseiten,    sie    ging   in 
der   Nachsicht  und   Milde  zu  weit,  sie   artete   in   Schwäche    aus.      Wie 
leicht   aber    auf  diesem   Wege   Beifall    erlangt   werden    kann,    legt    der 
Dichter    durch    eine    starke   Übertreibung    am   Schlüsse   dar.      Das   rich- 
tige   Erziehungsprinzip    beruht    auf    Strenge    und    Milde    zugleich;    und 
dieses    spricht    Demea    deutlich    aus,    wenn    er    Willfahrigkeit    nur    am 
rechten   Platz  gestatten    und    in    das    ungebundene  Treiben   der  Söhne, 


P.  Terentins. 


69 


wenn    es    Not    thut,    mit    einem    Tadel    oder    einer    Korrektur    eingrei- 
fen will. 

Das  Stück  verdient  schon  darum  die  grösste  Beachtung,  weil  dasselbe 
ein  praktisch-ethisches  Problem  behandelt.  Die  psychologische  Durchfüh- 
rung dieses  Problems  erhält  unser  Interesse  bis  zum  Schluss,  in  dem  uns 
die  erzwungene  Heirat  Micios  abstösst.  Das  Original  war  eine  gleich- 
namige Komödie  Menanders,  hinein  verwoben  wurde  noch  eine  Scene  der 
»Miteinandersterbenden"  des  Diphilus. 

Von  Menander  gab  es  zwei  Stücke  des  Namens  ^J^eXtpoL  Das  eine  liegt  dem  plan- 
tiniscben  Stichus  zu  Gnmde,  das  zweite  bearbeitete  Terenz  für  die  vorliegende  Komödie. 
Allein  die  lateinische  Bearbeitung  nahm  .Änderungen  am  Original  vor,  deren  wir  einige 
vorführen  wollen.  Bei  Menander  geht  Micio  bereitwillig  auf  die  ihm  angesonnene  Ehe 
ein,  bei  Terenz  sträubt  er  sich  dagegen  (Donat  zu  Vs.  938).  Durch  dieses  Sträuben  wird 
aber  für  uns  die  Sache  noch  peinlicher,  denn  jetzt  erscheint  die  Ehe  als  Strafe.  Andern- 
falls wirft  die  sofortige  Bereitwilligkeit,  Sostrata  zur  Frau  zu  nehmen,  ein  Licht  auf  den 
leichtsinnigen  Charakter  Micios.  Eine  zweite,  minder  wichtige  Abweichung,  die  Donat  zu 
Vs.  351  anmerkt,  besteht  darin,  dass  bei  Menander  für  die  Sostrata  ihr  Bruder  eintritt, 
bei  Terenz  dagegen  ein  Verwandter  ihres  verstorbenen  Mannes.  Diese  .Änderung  steigert 
die  Hilflosigkeit  und  Verlassenheit  der  armen  Familie  (Grauebt,  Anal.  p.  146). 

Ausser  den  Änderungen,  die  am  Original  vorgenommen  wurden,  verschmolz  Terenz 
auch  noch  eine  Scene  der  Zvyano&y^axoyre^  des  Diphilus  mit  seiner  Bearbeitung.  Es  ist 
dies  die  erste  Scene  des  zweiten  Aktes,  in  der  die  2Utherspielerin  dem  Leno  gewaltsam 
entrissen  wird  (Prolog.  Vs.  9).  Allein  der  fremde  Ursprung  dieser  eingeschobenen  Partie 
ist  noch  ersichtlich,  das  entrissene  Mädchen  ist  hier  eine  Freie  (vgl.  Vs.  194),  in  den  Adel- 
phoe  dagegen  ist  die  SUtherspielenn  eine  Sklavin.  Ob  die  Entlehnung  noch  weiter  geht, 
ist  strittig  und  verschieden  beantwortet  worden.  Siehe  Grauebt,  Anal.  p.  134 ;  Ihke,  Quaesi 
Ter.  p.  26 ;  Textffel,  Stud.  p.  284 ;  Spenoel,  Ausg.  p.  XIII ;  Dziatzko,  Ausg.  p.  9.  Vgl.  noch 
über  die  Komposition  Fielitz,  Fleckeis.  J.  97,  675  mit  den  Entgegnungen  von  Elasen, 
Quam  rationem  Terentius  in  corUaminatis  fabulis  componendis  aecutus  esse  videatur  P,  I  giKie 
Adelphos  eompUctitur.    Rheine  1884.    p.  16. 

44.  Charakteristik  des  Terentius.  Ans  unseren  Darlegungen  über 
die  Stoffe  der  Terenzianischen  Komödien  hat  sich  ergeben,  dass  nur  zwei 
griechische  Dichter  die  Originale  geliefert  haben,  Menander  und  ApoUodo- 
ms.  Terenz  griff  bloss  nach  den  Dichtern,  welche  ihm  ruhig  gehaltene 
Komödien  darboten.  Es  fragt  sich,  wie  der  Dichter  sich  zu  seinen  Ori- 
ginalen verhält.  Eines  ergibt  sofort  die  Lektüre  der  sechs  Komödien,  dass 
nirgends  der  griechische  Charakter  verwischt  wurde.  Es  findet  sich  in 
sämtlichen  Stücken  so  gut  wie  keine  Anspielung  auf  römische  Verhältnisse.  ^) 
Nicht  einmal  die  Titel  mag  der  Dichter  latinisieren,  auch  die  „redenden 
Namen"  der  auftretenden  Personen,  selbst  wenn  sie  Terenz  erfunden  hat, 
sind  durchweg  griechische.  Wollen  wir  nun  weiter  feststellen,  in  wel- 
chem Grade  Terenz  seine  Originale  erreicht  hat,  so  sind  wir  bei  dem 
Fehlen  derselben  auf  Zeugnisse  angewiesen.  Zum  Olück  rühren  diese 
von  bedeutenden  Sachkennern,  von  Cäsar  und  Cicero  her.  Cäsar  nennt 
den  Terentius  einen  „halbierten  Menander",  da  er  zwar  die  Feinheit  und 
Zierlichkeit  seines  Vorbilds  erreiche,  nicht  aber  seine  Kraft.  Ganz  ähn- 
lich lautet  das  Urteil  Ciceros:  Terenz  habe  uns  den  Menander  mit  ge- 
dämpften Affekten  {sedatis  motibus)  gegeben.    Diese  Urteile  werden  durch 


')  Ich  weiss,  dass  man  auch  hei  Terenz 
Anspielungen  auf  römische  Verhältnisse  und 
.ajsderungen  zu  Gunsten  des  römischen  Puh- 
likimis  hat  finden  wollen  (vgl.  Regel,  Terenz 
im  YerhAltnis  zu  seinen  griech.  Originalen, 


Wetzl.  1884  p.  12:  «Ben  auf  griechischem 
Grunde  gehaltenen  Komödien  ist  eine  ge- 
wisse römische  Färhung  gegehen*),  allein  die- 
selben sind  sehr  zweifelhafter  Natur  und 
scheinbar. 


70       BOxnische  Litteratnrgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2,  Periode. 

die  erhaltenen  Komödien  bestätigt.     Alles  Sehwergewicht   fallt   auf  das 
fj&ogy  nicht   auf  das  na&og.     Alle   derbere  Komik,  alles  Zotenhafte  und 
Burleske  ist  vermieden.  Auch  das  lyrische  Element  tritt  sehr  in  den  Hin- 
tergrund und  infolge  dessen  sind  die  metrischen  Oebilde  bei  ihm  einfacher 
und  dürftiger  als  bei  Plautus.    Im  übrigen  scheint  er  sich  treu  an  seine 
Vorlage  gehalten  zu  haben,   nur  von  einem  Kunstmittel  hat  er  reicheren 
Gebrauch  als  seine  Vorgänger  gemacht,   von  der  sogenannten  Kontamina- 
tion, die  wir  in  der  Hälfte  der  Stücke  mit  Sicherheit  nachweisen  konnten. 
Aber  gerade  dieses  Hineinarbeiten  von  Partien  aus  fremden  Stücken  lässt 
sehliessen,  dass  es  dem  Dichter  an  eigener  Erfindungsgabe  mangelte.    Mit 
der  Kompositionsweise  des  Terenz  steht  auch  seine  Sprache  in  Einklang. 
Wenn  Plautus  die  Sprache  der  Gasse  spricht,  so  spricht  Terenz  die  Sprache 
des  Salon.    Den  komischen  Verdrehungen,  den  Neubildungen,  den  griechi- 
schen Brocken  des  Plautus  geht  er  aus  dem  Weg.    Wie  Cäsar  urteilt,  ist 
Terenz  Freund  des  reinen  Stils,  nach  Cicero  ist  seine  Sprache  zierlich  und 
anmutig.    Die  Verschiedenheiten,  welche  Terenz  von  Plautus  trennen,  er- 
klären sich,  wenn  man  das  Publikum  ins  Auge  fasst,   an  das  sich  Terenz 
wendet.    Es  ist  die  vornehme,   von  hellenistischen  Ideen  erfüllte  Gesell- 
schaft Roms,  die  für  ihn  bei  der  Komposition  und  der  Darstellung  mass- 
gebend war.     Wenn  seine  Gegner,  unter  denen  sich  besonders  Luscius 
Lanuvinus  hervorthat,  die  Meinung  verbreiteten,  dass  vornehme  Leute  ihm 
bei  der  Bearbeitung  der  Komödien  an  die  Hand  gingen  —  es  wurden  be- 
sonders Scipio  und  Laelius  genannt  — ,   so  werden  wir  aus  dieser  Nach- 
rede den  Schluss  ziehen  dürfen,  dass  Terenz'  Dichtungen  in  jenen  Kreisen 
reichen  Beifall  fanden. 

Über  sein  litterarisches  Schaffen  und  seine  litterarischen  Kämpfe  geben  die  Prologe 
interessante  Aufschlüsse.    Bei  Terenz  dient  nämlich  der  Prolog  wesentUch  dazu,  die  An- 
gelegenheiten des  Dichters  oder  Direktors  dem  Publikum  vorzutragen.    Die  Darlegung  des 
Arguments,  die  früher  dem  Prolog  zugewiesen  war,  konnte  dadurch  erspart  werden,    dass 
in   dem  Stück   selbst   eine   klare  Exposition   gegeben  wurde.     Hiezu  dienen   (in  Andria, 
Phormio,   Hecyra)  itQocfana  nQoratixa  d.  h.  Personen,  welche  im  Eingang  auftreten,   um 
die  Zuschauer  in  die  Handlung  des  Stücks  einzuführen,   dann  aber  vom  Schauplatz  ver- 
schwinden.   Zu  allen  Stücken  sind  Prologe  erhalten,  zur  Hecyra  sogar  zwei,  nämlich  Reste 
eines  zur  zweiten  versuchten  Aufführung,  ein  vollständiger  zur  dritten.    Ob  sich  von  den 
übrigen  Prologen  auch  manche  auf  eine  spätere  Auffülming  beziehen,  ist  strittig.    In  der 
Andria  hängt  die  Entscheidung   ab  von   der  Auffassung  des  Plurals  im  Verse  5  nam  in 
prologis  scribundüt  operam  abutitur,  ob  prologis  im  eigentlichen  Sinn  zu  verstehen  ist  oder 
nicht.   Gesprochen  wurden  der  Prolog  zum  Heautontimorumenos  und  der  zweite  zur  Hecyra 
vom  Schauspieldirektor  L.  Ambivius,  die  übrigen  von  einem  jüngeren  Schauspieler  in  einem 
besonderen  Kostüme. 

Drei  Vorwürfe  sind  es,  welche  die  Gegner  gegen  Terenz  erheben  und  welche  er  zu 
widerlegen  sucht,  1)  die  Kontamination  (Andria  16);  2)  Beihilfe  von  Seiten  seiner  vorneh- 
men Freunde  (Adelphoe  15);  endlich  3)  tenuis  oratio  et  seriptura  levis  (Phorm.  5).  — 
DziATZKo,  De  prologis  Plaut,  et  Terent.  qiiaest,  sei.  Bonn  1863;  Schindler,  Ohserv.  crit. 
et  hist.  in  Ter.  Halle  1881 ;  Havet,  Retnde  de  philol.  10,  16.  Roebicht,  Quaest.  scenicae 
ex  prologis  Terentianis  petitae,  Strassb.  1885;  Boissier,  Les pi'ologues  de  T4rence  (M^lan^es 
Graux  p.  79). 

45.  Fortleben  des  Terentius.  Auch  nach  dem  Tode  des  Terenz 
wurden  seine  Stücke  noch  aufgeführt.  Man  griff  gern  zu  den  Meistern 
zurück,  da  es  bald  an  Palliatendichtern  fehlte.  Für  diese  zweiten  Auf- 
führungen geben  uns  die  didaskalischen  Notizen  Anhaltspunkte.  Aus  den- 
selben hat  DziATZKO^)  eine  zweite  Aufführung  der  Andria  in  der  Zeit  von 

0   Über  die  Terenz.  Didaskalien  Rh.  Mos.  20,  570;  21,  64. 


P.  Terentius. 


71 


143 — 134,  des  Eunuchus  im  Jahre  146,  des  Heautontimorumenos  ^  im  Jahre 
146,  des  Phormio^)  im  Jahre  141  erschlossen.  Aber  nicht  bloss  im  Re- 
pertoire erhielt  sich  Terenz  längere  Zeit,  auch  in  den  Kreis  der  gelehrten 
Forschung  trat  er  ein.  Es  beschäftigten  sich  mit  ihm  die  Litteraturhisto- 
riker,  Biographen,  Altertumsforscher;  aus  der  von  Sueton  verfassten  vita 
lernen  wir  eine  ganze  Reihe  von  solchen  Gelehrten  kennen:  Fenestella, 
C5ornelius  Nepos,  Porcius  Licinus,  Volcacius  Sedigitus,  Varro,  Santra,  Q. 
Cosconius,  Cicero,  Caesar.  Aus  dem  Auctarium  Donati  kommt  noch  hinzu 
der  Kritiker  Maecius  (Tarpa)  und  der  Dichter  Vagellius  oder  wie  er  hiess.  Auf 
scenische  mit  Terenz  zusammenhängende  Studien  weisen  unsere  Didaska- 
lien  hin.  Sie  fanden  wohl  ihren  Abschluss  in  der  ausgedehnten  Thätigkeit 
M.  Varros.  Als  Terenz  dem  Sprachbewusstsein  ferner  trat,  war  kommen- 
tierende Thätigkeit  geboten.  Solche  bezeugt  von  Probus,  Aemilius  Asper 
der  Kommentar  des  Donat,  von  Helenius  Acre  (zum  Eunuchus  und  den 
Adelphi)  und  vielleicht  von  Arruntius  Celsus  (zum  Phormio)  lateinische 
Grammatiker.  Erhalten  ist  uns  einmal  ein  Kommentar  unter  dem  Namen 
des  Aelius  Donatus  s.  IV  zu  allen  Stücken  mit  Ausnahme  des  Heautonti- 
morumenos.  Allein  dieser  Kommentar  ist  kein  einheitliches  Werk.  Es 
sind  zwei  Hauptmassen  zusammengeflossen,  ein  Kommentar  des  Donat  und 
ein  solcher  des  Euanthius,  eines  älteren  Zeitgenossen  Donats.'*)  In  dem 
Kommentar  stecken  Notizen,  die  für  uns  sehr  wertvoll  sind.  Besonders 
interessieren  uns  die  Vergleichungen  der  griechischen  Originale.  Einen 
weit  geringeren  Nutzen  hat  für  uns  der  Kommentar  des  Eugraphius;  der 
Zweck  dieses  Kommentars  ist,  den  Schülern  die  rhetorischen  Regeln  an 
der  Hand  des  Terenz  darzulegen.  Dies  setzt  aber  das  Verständnis  des 
Autors  voraus.  Es  werden  daher  auch  erklärende  Bemerkungen  gegeben. 
Hier  waren  ihm  Quellen  ein  Virgilkommentar  und  die  Terenzkommentare 
des  Donatus  und  Euanthius  und  zwar  wahrscheinlich  in  ihrem  unverbun- 
denen  Zustand.^)  Die  rhetorischen  Bemerkungen  haben  nur  für  die  Ge- 
schichte der  Rhetorik  und  des  Unterrichts  einige  Bedeutung.^)  Ohne  Wert 


')  GsppEBT  dagegen  über  die  Terenz. 
Didaskalien,  Jahrb.  Suppl.  18  (1852)  p.  560 
nimmt  das  J.  138  an. 

*)  RrrscHL  erachtet  auch  das  Jahr  140 
f&r  möglich  (Parerga  p.  251  Anm.),  Leo,  Rh. 
Mus.  38,  342,  dagegen  hält  mit  Wilmanns 
das  COS.  für  falsch  und  glaubt,  dass  die 
Caepiones  vielmehr  in  gleichem  Jahr  iidUen 
waren,  d.  h.  etwa  149 — 147.  Von  der  He- 
cyra  sehe  ich  ab,  da  hier  die  8chlussfolge- 
rung  auf  dem  zweiten  Schauspieler  L.  Sergius 
beruht.  Von  den  Adelphoe  wollte  Dziatzko 
früher  mit  andern  die  Aufführung  des  Jahres 
160  als  die  zweite  ansehen ;  neuerdings 
(Ausg.  des  Phormio  p.  12)  stellt  er  die  Sacne 
als  zweifelhaft  hin. 

')  So  ist  z.  B.  in  dem  unserem  Kommentar 
vorausgehenden  commentum  de  comoedia  (her- 
assgegeben  von  Reifferscheid,  Bresl.  Ind. 
lect  1874/5)  der  erste  TeU  bis  8,  4  von 
Euanthius,  der  folgende  von  Donat.  Die 
den    einzelnen    Stücken    vorausgeschickten 


praefationes  legt  man  gewöhnlich  dem  Donat 
bei,  während  Scheidemaktel ,  Quaestiones 
EuanthianWf  Leipz.  1883  sie  dem  Euanthius 
beigelegt  wissen  will  (p.  25 — 46).  Zur  Schei- 
dung des  Eigentums  der  beiden  hat  Usener 
ein  Kriterium  Rh.  Mus.  23,  495  aufgestellt. 
Auch  ScHEiDEKAivTEL  p.  47  uud  Leo,  Rh. 
Mus.  38,  330  beschäftigen  sich  mit  dieser 
Frage.  Ehe  eine  kritische  Ausgabe  Donats 
vorliegt,  ruhen  solche  Untersuchungen  auf 
keinem  festen  Boden. 

*•)  Gebstenbero,  De  Eugraphio,  Jena 
1886,  p.  55  fg. 

^)  Die  Zeit  des  Eugraphius  kann  nur 
durch  Kombination  ermittelt  werden.  Ger- 
stekberg  kommt  p.  117  durch  Betrachtung 
des  Verhältnisses  des  Eugraphius  zu  Cassio- 
dorius  und  Isidor  zu  dem  Satz :  Eugraphium 
rhetorem  Cassiadorn  aequalem  natu  minorem 
fuisse  et  medio  aaeculo  sexto  vel  paulo  post 
medium  commentarios  Terentianos  scripsisse 
contendimus. 


72      Komische  Litteratnrgeschiolite.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

sind  die  Scholien  des  codex  Bemhinua,  Zu  den  Kommentaren  gehören  in 
gewissem  Sinne  auch  die  metrischen  Inhaltsangaben  zu  den  einzelnen 
Stücken.  Sie  rühren  von  G.  Sulpicius  Apollinaris  her  und  umfassen  je 
12  Senare. 

Die  handschriftliche  Überlieferang  des  Terenz  stellt  sich  uns  in  zwei  Quellen  dar; 
die  eine  ist  der  cod.  Bembinus  s.  IV/V  (von  seinem  früheren  Besitzer,  dem  Kardinal  Pietro 
Bembo  so  genannt);  ihm  stehen  gegenüber  alle  übrigen  Handschriften  (mit  Donat),  welche 
in  der  subscriptio  auf  die  Rezension  eines  Calliopius  (wahrsch.  s.  Uiy  hinweisen.  Diese 
calliopischen  Handschriften  zerfallen  in  zwei  Gruppen,  die  eine  ist,  um  wenigstens  ein 
Kriterium  anzugeben,  durch  Bilder  illustriert  (Parisinus,  Vaticanus,  Ambrosianus  u.  a.), 
die  zweite  dagegen  ist  bilderlos  (Victorianus,  Decurtatus).  Welche  von  beiden  Gruppen 
massgebend  sei,  ist  strittig.  Während  Leo,  Rh.  Mus.  38,  317  in  der  Sippe  des  Victorianus 
die  beste  Überlieferung  der  calliopischen  Recension  erkennt,  nimmt  Dziatzko  (mit  Schind- 
leb) an,  dass  der  Text  dieser  Sippe  ursprünglich  mit  dem  Bembinus  dieselbe  Grundlage 
gehabt  habe,  dass  er  aber  dann  allmählich  der  calliopischen  Rezension  nahegebracht  wurde 
und  auch  die  subscriptio  mit  aufnahm.  Die  Entscheidung  der  Frage  ist  von  geringem  Be- 
lang, da  feststeht,  dass  für  die  Texteskritik  des  Terenz  der  Bexnbinus  Führer  sein  muss; 
denn  die  calliopische  Rezension  gibt  eben  einen  mit  Absicht  zugerichteten  Text.  Vgl.  Stdow, 
De  fide  librorum  Terentianorum  ex  CaUiopii  recensione  ductorum.  Berlin  1878.  Entspre- 
chend der  doppelten  Überlieferung  des  Terenz  stellen  sich  auch  die  didaskalischen  Notizen 
in  doppelter  Fassung  dar,  in  der  des  codex  Bembinus  und  in  der  der  calliopischen  Hand- 
schriften, welcher  sich  die  prctefationes  Donats  anschliessen.  Auch  in  den  Didaskalien 
spiegelt  sich  wiederum  der  Charakter  der  beiden  Quellen  der  Überlieferung.  Der  Bembinus 
gibt  eine  „zufällige  und  kritiklose,  aber  im  einzelnen  zuverlässige',  die  calliopische  Rezen- 
sion eine  «überlegte*  Fassung.  Grundlegend  für  die  Didaskalien  ist  die  Abhandlung  Dziatz- 
K08  Rh.  Mus.  20,  570;  21,  64  bes.  88. 

Ausgaben.  Terentii  Comoediae.  Ed.  Bevtley.  Cambridge  1726.  Epochemachend 
bes.  wegen  der  metrischen  Behandlung.  Berühmt  das  vorausgeschickte  de  metris  Teren- 
tianis  schediasma.  Hauptausgabe  P.  Terentii  Comoediae.  Ed.  Fr.  Umpfenbach  (mit  vollstän- 
digem Apparat).  Die  Scholien  des  Bembinus  publizierte  Umpfenbach,  Hermes  2,  387 ;  Er- 
gänzungen und  Berichtigungen  hiezu  von  Studemund,  Fleckeis.  J.  97,  546.  Textausgaben 
von  Flegkeisen  (Teubner)  und  Dziatzko  (B.  Tauchnitz),  letztere  mit  Prolegomena  über  das 
Leben  des  Dichters  u.  s.  w.  Kommentierte  Ausgaben  von  W.  Waoner  (mit  englischen 
Noten),  Cambridge  1869,  A.  Spenoel  (Andria,  Adelphoe  bei  Weidmann),  von  Dziatzko  (Phor- 
mio,  Adelphoe  bei  Teubner),  von  C.  Meissneb  (Andria,  Bemburg  1876). 

Die  Scholien  des  Donat  und  Eugraphius  sind  bequem  vereinigt  in  der  Terenzausgabe 
von  Klotz.    2  Bde.    Leipz.  1838  und  1840. 

Erläuterungsscnriften:  Conbadt,  Deventuum  Terentianorum structura,  Berl.  1870 

iHerm.  10,  101),  Die  metrische  Composition  der  Komödien   des  T.,  Berl.  1876;  Meissneb, 
)ie  Cantica  des  T.,  Leipz.  1882. 

46.  Die  übrigen  Palliatendichter.  In  die  Zeit  des  Gaecilius  und 
Terenz  gehören  noch  einige  Palliatendichter,  über  die  uns  meist  nur  sehr 
dürftige  Notizen  überliefert  sind.  Trabea  wii'd  von  Varro  neben  Atilius 
und  Gaecilius  als  ein  Dichter  genannt,  der  in  Erregung  der  Affekte  aus- 
gezeichnet gewesen  sei  (Charis.  p.  241 E.).  In  den  Tusculanen  teilt  uns  Cicero 
4,31,67  ein  Fragment  mit,  in  dem  mit  lebhaften  Farben  die  Erwartung  eines 
Liebenden,  die  Geliebte  zu  sehen,  geschildert  wird.  Ein  Aquilius  erscheint 
als  Dichter  der  Boeotia,  während  sie  Varro  des  Stils  wegen  dem  Plautus 
beilegen  wollte  (Gell.  3,  3,  3).  Von  Licinius  Imbrex  (vielleicht  identisch 
mit  P.  Licinius  Tegula,  dem  Verfasser  eines  heiligen  im  Jahre  200  ge- 
sungenen Gedichts,  Liv.  31,  12)  wird  eine  Neaera  zitiert  (Gell,  13,  23,  16). 
Den  Luscius  Lanuvinus  kennen  wir  als  vetus  poeta  aus  den  Prologen  des 
Terenz.  Er  verfocht  mit  Leidenschaft  das  Prinzip,  die  griechischen  Pal- 
liatae  wortgetreu  zu  übertragen.  Ein  Phasma  (Gespenst)  und  einen  The- 
saurus hat  er  nach  Prolog.  Eun.  9  geschrieben,  die  Argumente  der  beiden 
Stücke  erzählt  Donat  in  seinem  Kommentar  zu  der  Stelle.  Palliatendichter 
waren  femer  Juventius  (Gell.  18, 12,2)  und  Vatronius,  von  dem  ein  Burra 


TarpilioB  und  andere  Palliatendichter. 


73 


betiteltes  Stück  ermittelt  ist.  Endlich  ist  Turpilius  (f  103  in  Sinuessa; 
vgl.  Hieron.  Seh.  2, 133)  zu  nennen.  Es  sind  nur  13  Komödientitel  über- 
liefert. Sie  sind  alle  griechisch.  Die  Fragmente,  die  an  seltenen  Wort- 
bildungen reich  sind,  haben  nichts  besonders  Anziehendes.  Abgegriffene 
Sätze  enthalten  das  Fragment  9,  dass  es  nicht  leicht  sei  dahin  zu  gelangen, 
wo  die  Weisheit  thront,  es  sei  ein  langsamer  Gang,  und  das  Fragment 
142  „Mit  je  weniger  Jemand  zufrieden  ist,  desto  glücklicher  ist  er,  wie 
jene  Philosophen  sagen,  denen  alles  genügt ;  eine .  lebhafte  Aufforderung, 
eine  Hetäre  zu  verlassen,  gibt  Fragment  160. 

Die  Ermittlung  des  Dichters  Vatronius  aus  der  Placidus-Glosse  Deuerl.  p.  13  Burrae 
Vatroniae,  fatuae  ac  atupidae,  a  fabula  quadam  Vatroni  auctoris  quam  Burra  inscripsit 
vel  a  meretrice  Burra  verdaiiJcen  wir  Bücheler,  Rh.  Mus.  33,  310.  Er  weist  den  Namen 
Vatronius  in  Pränestinischen  Inschriften  nach.  ,,Praenestino8  Plauti  et  Lucili  temporihus 
qui  latine  loquebantur  propter  sermanis  viiia  fere  despiciebant.  agnoscendua  igitur  VatrO' 
nius  est  poeta  praeteritus  quidem  a  Volcacio  in  iudicio  comieorum,  aed  quem  fabulam  fecisse 
ßurramque  inscripsisse  fortasse  meretricis  nomine  auctor  fide  dignus  tradiderit.  Burra 
latine  est  quae  Graecis  HvQ^ay  idque  Diphilus  nomen  indiderat  fahuJae  cuius  unus  super  est 
cersiculus  pronuntiatus  a  miPiere,"  —  Die  13  Titel  der  Turpilianischen  Komödien  sind :  Boe- 
thuntes,  Canephorus,  Demetrius,  Demiurgus,  Epiclerus,  Hetaera,  Lemniae,  Leucadia,  Lindia, 
Paedium,  Paraterusa,  Philopator,  Thrasyleon.  Üher  die  Leucadia  vgl.  Ribbegk  Flsckeis. 
J.  69,  34.  —  Grautopf,  Turpü,  comoediarum  reliquiae,    Bonn  1853. 


47.  Rückblick.  Charakteristik  der  Palliata.  Die  Palliata  ist  im 
Wesentlichen  an  drei  Namen  geknüpft,  an  Plautus,  Gaecilius  Statins  und 
Terenz.  Ihre  Entwicklung  verläuft  in  der  Weise,  dass  bei  Plautus  Grie- 
chisches und  Römisches  bunt  durcheinanderlaufen,  seine  Nachfolger  dagegen 
mehr  und  mehr  die  Reinheit  der  Gattung  anstreben.  Die  Dichter  erringen 
damit  den  Beifall  der  Gebildeten,  allein  sie  verlieren  den  Boden  bei  der 
grossen  Masse  der  Zuschauer.^)  Die  Rolle  der  Palliata  war  ausgespielt,  es 
traten  andere  Formen,  die  Togata,  die  Atellana,  der  Mimus  an  ihre  Stelle.  >) 
Ehe  wir  von  derselben  scheiden,  wollen  wir  noch  einige  Worte  zur  Cha- 
rakterisierung derselben  beifügen.  In  der  fabula  pailiata  haben  wir  das 
vielfaiCh  getrübte  Abbild  einer  ausländischen  Litteraturgattung,  der  neueren 
griechischen  Komödie;  wir  müssen  uns  das  stets  gegenwärtig  halten;  wir 
nennen  oft  Plautus  und  Terenz,  wo  nur  der  griechische  Dichter  gemeint 
sein  kann.  Der  Römer  ist  zunächst  Bearbeiter  eines  griechischen  Ori- 
ginals, das  Argument  ist  nicht  sein  Werk.^)  Allein  trotzdem  bleibt  ihm 
noch  genug  Spielraum  zur  Bethätigung  eigener  Kraft.  Die  wörtliche  Über- 
setzung kennt  das  Altertum  nicht ;  der  Übersetzer  ist  also  hier  Nachdichter. 
Er  kann  sein  Original  kürzen,  erweitern,  er  kann  es  metrisch  verschieden 


')  BoissiEB,  Milanges  Graux  p.  85: 
Ceti  une  difficulti  qu*on  a  Mt^e  chez  nous 
en  ouvrant  des  thMtres  diffirents  pour  les 
direrses  classes  de  la  sociiti:  chacun  va  oü 
san  ^ducation  VappeUe  et  oü  il  est  sür  de 
trourer  fe  plaisir,  Mais  U  n'y  avait  alors 
qu*un  seul  th^atre;  les  jeux  sciniques  itant 
des  fetes  religieuses  destin^es  au  peuple  en- 
tirr,  il  fallait  qWil  y  füt  rSuni,  et  des  gens 
d'intelligence  et  d^Mucation  diffSrentes  Haient 
condamnees  ä  eniendre  les  memes  pi^ces,  Si 
le  poHe  pHaisaU  aux  uns,   il  risquait  de  di- 


plaire  aux  autres,  et  quand  ü  voulait  tenir 
le  milieu,  ü  y  avait  de  grandes  chances  qu'Ü 
les  m^contentdt  tous  ä  la  fois. 

*)  Inwieweit  die  censorische  Massregel 
des  J.  H5  artem  ludicram  ex  urbe  remove- 
runt,  wobei  der  latinus  tibicen  cum  cantore 
und  der  Itidus  tdlarius  (Cassiodor  p.  620  M. 
vgl.  Hebtz,  Ind.  Yratislav.  1873)  ausgenommen 
wurden,  auf  die  Entwicklung  der  Komödie 
einwirkte,  wissen  wir  nicht. 

')  argumentum  graecissat  heisst  es  im 
Prolog  zu  den  Menaechmi  Vs.  11. 


74      BöxnlBche  Litteratnrgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


gestalten ;  er  kann  Scenen  aus  einem  zweiten  Stück  in  das  seinige  hinein- 
arbeiten, er  kann  endlich  Nebenfiguren  aus  eigener  Erfindung  hinzufügen. 
Immer  bleibt  aber  die  Bearbeitung  ein  fremdes  Gewächs,  das  seinen  Ursprung 
nicht  verleugnet.  Dass  ein  solches  fremdes  Produkt  von  den  Römern  herüber- 
genommen werden  konnte,  beruht  auf  dem  kosmopolitischen  Charakter  dessel- 
ben. Während  die  alte  griechische  Komödie  durch  und  durch  national  gehalten 
ist,   gibt  die  neuere  Komödie  ein  Oesellschaftsbild  und  zwar  in  so  allge- 
meinen Zügen,  dass  es  mit  entsprechenden  Modificationen  bei  allen  Völkern 
vorkommen  kann.     Die  Zeit  brachte  diese  Veränderung  der  Komödie  mit 
sich ;  seit  dem  Untergang  der  griechischen  Freiheit  war  die  politische  Sa- 
tire gebrochen,  es  blieb  die  Familie  übrig,  auf  diese  zog  sich  die  Komödie 
zurück.     Die   Figuren,    die   uns  jetzt   entgegentreten,   sind:   leichtsinnige 
Jünglinge,   verschlagene,   spitzbübische  Sklaven,  habsüchtige  und  wortbrü- 
chige Kuppler  und  Kupplerinnen,  Hetären  in  verschiedenen  Abstufungen, 
geldgÜBrige,  liebenswürdige,  kokette,   ferner  betrogene  Väter,  hungrige  und 
spassmachende  Parasiten,  grosssprecherische  Soldaten.^)    Es  ist  eben  die 
Gesellschaft,   wie   sie  ein  im  Niedergang  befindliches  Volk   hervorbringt. 
Für  den  Dichter  bestand  nun  die  Aufgabe  darin,   diese  Figuren  plastisch 
darzustellen  und  in  eine  Intrigue  zu  verflechten.   Diese  Intrigue  ist  in  der 
Kegel  sehr  einfach  und  wiederholt  sich  bis  zum  Überdruss.    Ein  junger 
Herr  hat  eine  Liebe,  dieser  Liebe  stellt  sich  ein  Hinderniss  entgegen,  ge- 
wöhnlich fehlt  es  an  Geld,   ein  verschlagener  Sklave  wird  zu  Hilfe  geru- 
fen, die  Intrigue  beghint,  ein  Vater  oder  ein  Kuppler  wird  weidlich  ge- 
prellt.    Oft  tritt  noch  durch  eine  ävayvdqimg  eine  glückliche  Lösung  ein, 
es  wird  nämlich  eine  Geliebte  als  ein  freigeborenes  Mädchen  erkannt.     Ein 
solches  Gesellschaftsbild  lässt   sich  mit   entsprechenden  Änderungen    auf 
alle  Völker  übertragen ;  und  wirklich  haben  durch  Vermittlung  der  Römer 
fast  alle  modernen  Kultlirnationen  aus  diesem  Quell  geschöpft.  Freilich  ist 
es   ein   sehr   bedenkliches  Gut,   das    die  Römer   aus  Griechenland   geholt 
haben;  es  kann  auch  nicht  dem  mindesten  Zweifel  unterliegen,  dass  diese 
Hetärenwelt  demoralisierend  auf  die  Zuschauer  einwirken  musste.*) 

Der  Bau  der  neueren  Komödie  war  sehr  einfach ;  charakteristisch  für 
sie  ist,  dass  ihr  der  Chor  fehlt,  was  aber  nicht  ein  Zusammenauftreten 
mehrerer  Personen  ausschliesst.  In  den  Stücken  unterscheiden  wir  den  Prolog 
und  den  Epilog.  Im  Prolog  führt  der  Dichter  die  Zuschauer  in  die  Handlung 
ein,  indem  er  einen  Umriss  derselben  gibt ;  einen  andern  Charakter  gibt,  wie 
wir  gesehen  haben,  dem  Prolog  Terenz.  Denn  diesem  Dichter  dient  der- 
selbe dazu,  sich  gegen  die  Angriffe  seiner  Gegner  zu  verteidigen.  Im 
Epilog  wird  der  Zuschauer  aufgefordert,  Beifall  zu  klatschen.  Wenn  der 
Hörer  nicht  ermüden  und  die  richtige  Wirkung  des  Stücks  erfahren  sollte, 
so  waren  Pausen  notwendig.  Dass  solche  Pausen  bestanden,  bezeugt  aufs 
bestimmteste  eine  Stelle  im  Pseudolus  (Vs.  551),  wo  der  Flötenspieler 
eingeladen  wird,  einstweilen  das  Publikum  zu  unterhalten.  Der  Dichter 
wird  daher  sein  Stück  in  eine  Anzahl  Akte  zerlegt  haben.    Da  die  mass- 


*)  Einige  dieser  TyP®^  greift  der  Pro- 
log zu  den  Captivi  heraus  Vs.  57 :  hie  neque 
periurua  lenost  nee  meretrix  mala  neque  mi- 


les  gloriostis. 

')  Neuiiann,  Geschichte  Roms  1,  50. 


Charakteristik  der  Palliata. 


75 


gebende  handschriftliche  Überlieferung  des  Plautus  und  Terenz  eine  Akten- 
einteilung nicht  kennt,  so  können  wir  nur  auf  innere  Gründe  hin  be- 
stimmen, in  wie  viel  Akte  ein  Dichter  ein  Stück  zerlegt  hat.  Die  An- 
zahl von  fünf  Akten,  welche  später  die  Gelehrten,  vielleicht  unter  dem 
Einfluss  Varros,  als  Regel  festgesetzt  haben  und  die  auch  Horaz  (ad.  Pis. 
189)  von  dem  Dichter  fordert,  scheint  keineswegs  absolut  notwendig  zu 
sein ;  dagegen  ^ird  die  Anzahl  von  drei  Akten  die  normale  sein,  denn  der 
Aufbau  einer  Komödie  setzt  Exposition,  Verwicklung,  Lösung  voraus.  Von 
untergeordneter  Bedeutung  für  die  Komposition  des  Stückes  ist  die  Sce- 
nenabteilung.  Diese  hat  sich  in  unsrer  Überlieferung  mehr  oder  weni- 
ger erhalten.  Sie  wird  durch  ein  vorausgeschicktes  Verzeichnis  der  in 
einer  Scene  auftretenden  Personen  markiert.  Ursprünglich  waren  nur  die 
Rollen  aufgezählt,^)  zu  denen  die  griechischen  Buchstaben,  durch  welche 
die  Personen  im  Text  unterschieden  wurden,  hinzutraten,  erst  später  wurden 
zur  grösseren  Deutlichkeit  die  wirklichen  Personennamen  hinzugefügt. 

Da  das  Drama  fast  im  gesamten  Altertum  für  die  Aufführung,  nicht 
für  die  Lektüre  bestimmt  ist,  so  ist  zur  Würdigung  eines  Stückes  durchaus 
notwendig,  von  dem  Vortrag  sich  eine  bestimmte  Vorstellung  zu  machen. 
Es  werden  in  den  Komödien  gesprochene  und  gesungene  Partien  un- 
terschieden. Die  Termini,  die  hiefür  ausgeprägt  wurden,  sind  diverbia 
(deverbia^)  und  cantica,  welche  in  den  Codices  Palatini  des  Plautus  in  der 
Form  der  Noten  DV  und  C  erscheinen.  Aus  diesen  den  einzelnen  Scenen 
vorausgeschickten  Noten  haben  Ritschi  und  Bergk  interessante  Aufschlüsse 
über  die  Vortragsweise  der  Komödien  gewonnen.  Als  rein  gesprochene 
Partien  erscheinen  bloss  die  in  jambischen  Senaren  abgefassten  Partien. 
Alle  übrigen  Versarten  dagegen  hatten  Musikbegleitung  und  erhalten  in- 
folge dessen  die  Note  C,  d.  h.  es  sind  cantica.  Allein  bei  denselben  kann 
nicht  eine  Art  des  Vortrags  stattgehabt  haben;  die  trochäischen  Septe- 
nare  (mit  den  jambischen  Septenaren  und  den  jambischen  Oktonaren)  wur- 
den unter  Musikbegleitung  gesprochen,  die  übrigen  lyrischen  Metra  da- 
gegen unter  Musikbegleitung  gesungen.  So  lösen  sich  in  der  Komödie  De- 
klamation, Melodrama  und  Rezitativ  in  bunter  Reihenfolge  ab. 

Die  neuere  Komödie  ist  ausführlich  charakterisiert  in  der  Gr.  Literaturgeschichte 
Bebgks  4,  170;  trefflich  auch  hei  0.  Mülleb  2,  251.  Üher  die  Charakterfiguren  derselben 
handelt  meisterhaft  Ribbeck  in  seinen  ethologischen  Studien,  Alazon,  Leipz.  1882;  Colax 
IX.  Bd.  der  Abh.  Sachs.  Ges.  der  Wiss.  (1883);  Agroikos  ebenda  X.  Bd.  (1888)  p.  1,  dann 
in  der  (veschichte  der  römischen  Dichtung  1,  63. 

Cber  die  Aktencinteilung  vgl.  Donat,  Praef.  zum  Eunuch.  10,  6  R.  Actus  sane  in- 
piicaiiores  sunt  in  ea,  ut  qui  non  facile  a  parum  doctis  distingui  possint,  ideo  quia  tenettdi 
»pectcUoris  causa  vült  poeta  noster  omnes  quinque  actus  velut  unum  fitri,  ne  respiret  quo- 
dammodo  atque  distincta  alicubi  cantinuaiione  succedentium  verum  ante  aula^a  sublata  fa- 
stidiosius  spectator  exurgai;  zu  den  Adelphoe  7,  1  R.  hoc  etiam  ut  cetera  huiusmodi  poe- 
maia  quinque  actus  habeat  necesse  est  choris  divisas  a  Graecis  poetis:  quos  etsi  retinendi 
causa  [iam]  inconditi  spectatoris  minime  distinguuHt  Latini  camici  metuentes  scilicet,  ne 
quis  fastidiosus  finito  actu  velut  admonitus  aheundi  reliquae  comoediae  fiat  contemptor  et 
stirgat,  tarnen  a  doctis  veteribus  discreti  atque  disiuncti  sunt,  Euanthius,  De  comoedia  6, 
4  B.  quod  Latini  fecerunt  comici,  unde  apud  iUos  dirimere  actus  quinquepartitos  difficile 
est.    Speuoel,  Die  Akteneinteilung  der  Komödien   des  Plautus.    München   1877   stellt  fol- 


* )  Se  YFFBRT,  Burs.  Jahresb.  47  (1886),  p.  1 1 . 

'-')   Diese  Form  hält  Dziatzko   für  die 

allein  richtige.    Vgl.  Rhein.  Mos.  26,  101; 


Fleckeis.  J.  103,  819.  Dagegen  vgl.  Bü- 
CHELER,  Fleckeis.  J.  103,  273 ;  Ritschl,  Opusc. 
3,  25. 


76       BOmiBche  litteratorgeBohichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

genden  Satz  p.  57  auf:  «Die  Akteinieilung  steht  mit  der  metrisclien  und  musikalischen 
Komposition  im  engsten  Zusammenhang,  das  musikalische  Element  bildet  einen  integrieren- 
den Bestandteil  eines  jeden  Aktes;  nur  der  erste,  der  die  Exposition  enthält,  kann  dessen 
entbehren.  Keine  Komödie  hat  sechs  oder  mehr  Akte,  auch  aie  Dreiteilung  muss  als  mit 
der  metrischen  Komposition  unvereinbar  aufgegeben  werden ;  ebensowenig  finden  sich  f&r 
die  Vierteilung  stichhaltige  Beispiele.  Jede  Komödie  hat  vielmehr  fünf  Akte  und  die  An- 
gaben des  Donatus  (und  Euanthius)  müssen  wieder  zu  Ehren  konunen/  Vgl.  dagegen 
Lorenz  zur  Mostell.  16,  20;  Ribbeck,  Gesch.  der  röm.  Dichtung  1,  109.  Auch  für  die 
Scenenabteilung  betont  Spenoel  „Scenentitel  und  Scenenabteilungen  in  der  lat.  Komödie" 
Sitzungsber.  der  Münchener  Akad.  1883  p.  257  sehr  die  musikalische  Begleitung  als  ein 
massgebendes  Element.  Die  Litteratur  über  die  Bezeichnung  der  Rollen  durch  griechische 
Buchstaben  siehe  bei  Scholl  zur  III.  Ausg.  des  Trinummus  p.  LIY.  —  Die  Abhandlung 
RiTSCHLS  über  die  Cantica  und  die  Diverbia  findet  sich  Opusc.  3,  1 — 54,  die  Beboks  Opusc. 

1,  192 — 207.  Auch  für  Terenz  sind  Noten  der  Vortragsweise  bezeugt  durch  Donat,  Praef. 
Adelphoe  7,  11  R.  modukUa  est  (fabula)  tibiis  dextris  —  saepe  tarnen  mutatia  per  scaenam 
modis  cantcUa,  quod  significat  tituli4s  acaenae  Habens  subiectas  personis  lUteras  M.  M.  C. 
item  diverbia  d  histrionibus  erebro  pronuntiata  sunt,  quae  significantur  D  et  V  litteris 
secundum  personarum  nomina  praescriptis  in  eo  loeo  ubi  incipit  scaena.  Statt  der  Note  C 
der  plautinischen  Palatini  tritt  hier  M.  M.  G  auf,  bezüglich  DV  herrscht  Übereinstimmung 
zwischen  Donat  und  den  Palatini.  Ritschl  hält  den  Bericht  Donats  für  unvollständig. 
.Er  geht  mit  einem  Sprunge  von  den  „cantica  saepe  mutatis  modis"  =  M.  M.  C.  zu  den 
Diverbia  =  DV  über  und  lässt  die  dazwischen  liegende  Stufe,  die  cantica  non  mutatis  oder 
wenigstens  non  saepe  mutatis  modis  =  C  ganz  aus*  (p.  41). 

7.  L.  Accius. 

48.  Der  Höhepunkt  der  Tragödie.  L.  Accius  (Attius)  war  170  vor 
Chr.  geboren.  Sein  Vater,  Freigelassener  eines  Accius,  nahm  an  der  184 
nach  Pisaurum  in  Umbrien  deduzierten  Kolonie  Teil.  Des  Dichters  Todes- 
jahr kennen  wir  nicht,  aber  er  lebte  so  lange,  dass  Cicero  als  junger  Mensch 
sich  mit  ihm  unterhalten  konnte  (Brut.  28,  107).  Er  stand  in  näheren 
Beziehungen  zum  Dichter  Pacuvius,  dem  er  seinen  Atreus  vorlas  (GeU.  13, 

2,  2).     Mit  ihm  erreicht  die  römische  Tragödie  ihren  Höhepunkt.     Dies 

erkannten  schon  die  Alten,  bei  Velleius  ist  es  klar  ausgesprochen.    Kein 
Dichter  hat  eine  so  grosse  Anzahl  Tragödien  hinterlassen,  es  werden  nahe- 
zu 50  Titel  erwähnt,  keiner  hat  in  so  umfassendem  Masse  die  verschie- 
denen^Sagenkreise  seinen  Landsleuten  vorgeführt  und  keiner  soviel  Dichter 
ausgeschöpft  wie  er.    Aus  den  überlieferten  Titeln  heben  wir  die  hervor, 
welche  bei  Cicero  berücksichtigt  werden:*)  Aegisthus,  Armor um  Judicium, 
Athamas,  Atreus,  Clytemestra,  Epigoni,  Epinausimache,  Eurysaces,  Medea, 
Melanippus,  Meleager,  Myrmidones,  Nyctegresia,  Philocteta,  Prometheus, 
Telephus,  Troades.    Mehrere  Stücke  erhielten  sich  längere  Zeit  auf  dem 
Repertoire;  Eurysaces  wurde  z.  B.  57  aufgeführt,  Clytemestra  56,  Tereus 
104  und  44.  Wie  bei  den  andern  Dichtem,  so  haben  wir  auch  bei  Accius 
in  seinen  Tragödien  im  allgemeinen  freie  Übersetzungen  vor  uns.  Dies  er- 
kennen wir  deutlich,  wenn  wir  das  Fragment,  das  den  Anfang  der  Phoe- 
nissen  (fr.  581)  enthält,  mit  dem  Original  vergleichen.    Allein  auch  selb- 
ständiges Schaffen  des  Accius  '  vermögen  wir  nachzuweisen.    Stellen,    wie 
die  in  den  Myrmidonen  (fr.  4),  wo  scharf  zwischen  pertinacia  und  pervica- 
cia  geschieden  wu-d,  müssen  dem  Original  fremd  gewesen  sein.    Aber  er 
ging  noch  weiter;  auch  in  dem  Aufbau  des  Stücks  nahm  er  Änderungen 
vor.    In   seiner  Antigene  hielt  er  sich  nicht   strikte  an  Sophokles,    sein 


*)  KuBiK,  De  Ciceronis  po9tarum  Latinorum  studiis,  p.  73. 


L.  Accins.  77 

Philoktet  weist  auf  Benützung  mehrerer  Originale  hin.  Seine  stilistische 
Kunst  müssen  wir  hoch  anschlagen;  es  blickt  Schwung  und  Kraft  nicht 
selten  aus  den  Fragmenten.  Am  besten  wird  der  Leser  sich  einen  be- 
stimmten Eindruck  von  der  Darstellungsweise  des  Accius  machen  können, 
wenn  er  von  dem  berühmten  Fragmente  Kenntnis  nimmt,  in  dem  ein  Hirte, 
der  noch  niemals  ein  Schuf  gesehen  hatte,  das  Herankommen  der  Argo 
schüdert  (Cic.  De  nat.  d.  2,  35,  89;  fr.  391).: 

tanta  moles  labitur 
Fremibunda  ex  alio  ingenti  aonitu  et  apiritu, 
Prae  se  undas  volvit,  vortices  vi  auscitat; 
Ruü  prolapsa,  pelagus  respargit  reflat. 
Jta  dum  interruptum  credas  nimbutn  volvier, 
Dum  quod  sublime  ventis  expulsum  rapi 
Saxum  aut  procellis,  vel  globosos  turbinea 
Existere  ictos  undis  concursantibua: 
Nisi  quas  terreatris  pontua  atragea  canciet, 
Aut  forte  Triton  fuacina  evertena  apecua 
Supter  radicea  penitua  undante  in  freto 
Molem  ex  profundo  aaxeam  tid  eaelum  erigit. 

Ausser  den  Tragödien  schrieb  Accius  auch  zwei  Praetextae,  den  Bru- 
tus und  die  Aeneadae  oder  den  Decius.  Die  erste  Praetexta  behandelt 
den  Sturz  der  Tarquinier  durch  Brutus  infolge  der  Schandthat,  welche  der 
Königssohn  an  der  Lucretia  verübt  hatte.  Es  ist  eine  ansprechende  Ver- 
mutung, dass  diese  Prätexta  zu  Ehren  des  D.  Junius  Brutus  (Cons.  138), 
mit  dem  der  Dichter  aufs  innigste  befreundet  war  (Cic.  p.  Arch.  11,  27), 
gedichtet  wurde.  Durch  Cicero  (de  div.  1,  22,  44)  sind  uns  zwei  grössere 
Fragmente  erhalten.  Das  erste  schildert  einen  Traum,  den  König  Tar- 
quinius  gehabt,  in  einfacher  und  schlichter  Weise;  in  dem  zweiten  wird 
der  Traum  von  den  Traumdeutern  erklärt  und  der  Königssturz  vorausge- 
sagt. In  den  Aeneadae  (P.  Decius  Mus)  wird  der  Opfertod  des  einen  Kon- 
suls, des  P.  Decius  Mus  in  der  Schlacht  bei  Sentinum  295  verherrlicht. 
Der  Titel  Aeneadae  zwingt  uns  zur  Annahme,  dass  die  Familie  der  Decier 
mit  Aeneas  in  Zusammenhang  gebracht  war. 

Hieronym.  2, 129  Seh.  —  Acciua  natua  Maneino  et  Serrano  coaa.  (170  vgl.  Cic.  Brut. 
64,  229)  parentUma  ?ibertinia  —  aeni  iam  Pacuvio  Tarenti  aua  acripta  recitavit,  a  quo  et 
fundua  Aeeianua  iuxta  Piaaurum  dicitur,  qiUa  üluc  inter  colonoa  fuerat  ex  urbe  dedudua. 
Die  letaEte  Bemerkung  kann  nur  auf  den  Vater  bezogen  werden,  da  die  Kolonie  184  dedu- 
ziert wurde.  Persönliche  Vorkommnisse  berichten  aus  seinem  Leben  Comific.  1,  24;  2,  19; 
Plin.  n.  k  34,  19;  Quint.  5,  13,  43;  Valer.  Max.  3,  7,  11  —  Vell.  1,  17,  1  in  Aecio  circaque 
eum  Romana  tragoedia  eat. 

49.  Accins'  Parerga.  Ausser  den  Tragödien  und  Prätexten  dichtete 
Accius  auch  noch  anderes.  Es  wird  erwähnt  Praxidika,  d.  h.  ein  Ge- 
dicht, welches  der  segenspendenden  Göttin,  der  Tochter  der  Demeter 
gewidmet  war.  £s  war  in  jambischen  Senaren  abgefasst  und  behandelte 
Landwirtschaftliches,  Weiter  haben  wir  Kunde  und  Fragmente  von  Di- 
dascalicon  libri.  Dieselben  hatten,  wie  Lachmann  nachgewiesen,  Sota- 
deen  zum  Versmass  und  bestanden  mindestens  aus  9  Büchern.  Diese  Lit- 
teraturgattung  wurde  von  Aristoteles  begründet,  der  auf  Grund  inschrift- 
lichen Materials  ein  Werk  dtdaaxah'ai  schrieb,  in  dem  alle  amtlichen  No- 
tizen, welche  sich  auf  die  Aufführung  der  Dramen  bezogen,  zusammenge- 
stellt waren.    Dieses  Werk  also  reizte  Accius  zur  Nachahmung.     Nach 


78      RömiBche  Litteratargesciiiclite.    I.  Die  Zeit  der  ißepnblik.    2.  Periode. 


den  wenigen  Fragmenten,  die  uns  erhalten  sind,  besprach  Accius  nicht 
bloss  Römer,  sondern  auch  Griechen,  dann  scheint  er  ausser  der  dramati- 
schen noch  andere  Dichtungsgattungen  behandelt  zu  haben.  Ein  verwandtes 
Werk  waren  die  Pragmaticon  libri.  Von  denselben  sind  drei  Frag- 
mente übrig,  welche  aus  trochäischen  Septenaren  bestehen.  Auch  ein 
annalistisches  Gedicht  des  Accius  ist  durch  eine  Reihe  von  Hexametern, 
welche  aus  demselben  sich  erhalten  haben,  festgestellt.  Ferner  zählt  Pli- 
nius  Ep.  5,  3,  6  den  Accius  unter  denjenigen  auf,  welche  Liebesgedichte 
geschrieben  haben.  Endlich  lesen  wir  bei  Cicero  in  der  Rede  für  Archias 
11,  27,  dass  Accius  saturnische  (schol.  Bob.  p.  359  Or.)  Epigramme  ver- 
fasste,  mit  denen  D.  Junius  Brutus  den  von  ihm  errichteten  Tempel  des 
Mars  schmückte.  Alle  diese  Gedichte  waren  vielleicht  in  einer  Sammlung 
unter  dem  Titel  Parerga  vereinigt. 

Der  zuletzt  ausgesprochene  Satz  wurde  von  0.  Ribbeck,  Rh.  Mus.  41,  631  aufge- 
stellt. Seine  Beweisf&hrung  ist  folgende :  Plinius  gedenkt  18,  200  (vgl.  noch  Ind.  zu  B.  18) 
eines  Werkes  des  Accius  mit  dem  unverständlichen  Titel  Prazidicum.  Das  Citat  enthält 
eine  Vorschrift  üher  das  Säen.  Mit  Rücksicht  darauf  hahen  wir  als  den  richtigen  Titel 
Praxidica,  d.  h.  Persephone,  die  aus  der  Erde  den  Fruchtsegen  emporsendet,  anzusehen. 
Bei  Nonius  1,  82  MüUer  werden  zwei  Senare  dem  Accius  heigelegt,  welche  das  Pflügen 
behandeln.  Es  ist  kaum  zweifelhaft,  dass  diese  Senare  der  Praxidica  des  Accius  entnom- 
men sind.  Da  aber  Nonius  seinem  Zitat  die  Worte  Parergon  lib.  I  beifügt,  so  spricht  Rib- 
beck die  bestechende  Vermutung  aus,  dass  die  Praxidica  das  erste  Buch  der  Parerga  bil- 
deten. Da  von  den  Annalen  die  auffallende  Buchzahl  XXVII  angegeben  wird,  so  vermutet 
er  weiter,  dass  dieses  XXVII  Buch  nicht  auf  die  Annalen,  sondern  auf  die  Parerga  sich 
bezog.  So  werden  auch  die  Didascalica,  Pragmatica  und  die  übrigen  poetischen  Kleinig- 
keiten in  dieser  Sammlung  sich  befunden  haben. 

50.  Accius'  Schriftreformen*  Wie  wir  aus  Lucilius  ersehen  kön- 
nen, war  die  Reform  der  Schrift  lange  Zeit  ein  sehr  beliebtes  Thema  bei 
den  Römern.  Auch  Accius  beteiligte  sich  an  derselben  in  ziemlich  inten- 
siver Weise.  Vor  allem  beschäftigte  ihn  das  Problem,  wie  die  Vokallänge 
durch  die  Schrift  zu  bezeichnen  sei ;  er  wählte  für  a,  e,  u  nach  dem  Vor- 
gang der  Osker  das  Mittel  der  Verdoppelung  der  Vokale,  für  langes  i  da- 
gegen die  Schreibung  durch  den  Diphthongen  ei-O  Gegen  die  Verdopp- 
lungen erklärte  sich  im  IX.  Buch  Lucilius,  auch  mit  der  Schreibung  ei 
war  er  nicht  einverstanden,  hier  wollte  er  Scheidung  zwischen  offenem  i 
(ei)  und  dem  geschlossenen  i  (i),  welche  Laute  damals  schon  anfingen 
zusammenzufliessen.^)  Zu  Lebzeiten  des  Dichters  fand  die  Reform  Anklang, 
wir  treffen  sie  in  Lischriften,  später  verschwand  sie.  Ferner  wollte  er 
ggf  gc  statt  ng,  nc  geschrieben  wissen,  also  aggulus,  agcora. 

Aus  den  Zitaten  ergibt  sich  nicht,  ob  diese  Neuerungen  von  Accius 
nach  Art  des  Lucilius  theoretisch  in  einer  eigenen  Schrift  behandelt,  oder 
ob  dieselben  nur  praktisch  in  seinen  Gedichten  durchgeführt  waren.  Ist 
das  erstere  der  Fall,  so  wird  diese  Schrift  ebenfalls  in  den  Parerga  ihren 
Platz  gehabt  haben. ') 


^)  Dass  er,  wie  es  scheint,  oo  vermied, 
erklärt  Ritschl  Opusc.  4,  157  daraus,  dass 
in  dem  Vorhild  des  Dichters,  im  Oskischen 
sich  kein  oo  fand,  da  hier  überhaupt  der 
Vokal  o  aufgegeben  ist.  Auch  i  wurde  hier 
nicht  verdoppelt.      Dass    auch   bei    andern 


Stämmen  diese  Gemination  Üblich  war,  zeigt 
JoRDAK,  Krit.  Beitr.  p.  125. 

')  L.  Müller,  Leben  des  Lucil.  p.  39. 
Thxtrketsen,  Ztschr.  f.  vergl.  Sprachf .  30, 
498. 

^)   L.  Müller,   Lucil.   p.  318   quotqtiot 


C.  Titinfl.    C  Jnlins  Caesar  Strabo.  79 

Schwieriger  ist  die  Notiz  zu  beurteilen,  dass  Accius  in  seiner  Schrift  von  y  und  z 
keinen  Gebrauch  machte,  da  zugleich  auf  das  gegenteilige  Verfahren  eines  Livius  und 
Naevius  hingewiesen  wird:  Mar.  Vict.  p.  8  K.  idem  (Accius)  nee  z  liferam  nee  y  in  Hbros 
suos  retttUU  quiaquae  ante  fecerant  Naevius  et  Livius;  Ritschl  (Opusc.  4,  150)  schreibt 
retiulU,  quamquam  ülud  ante  fecerant  Naevius  et  LAvius,  Mülleb  dagegen  dem  Gedanken 
nach  richtig:  qui<is  duplicata  et  u  apte  videhantur  exprimi;  nam  neque  ante  fecerant  Nae- 
vius et  Livius,  Bährens  rettulit,  quod  aeque  ante  fecerant  N.  ei  L,  vgl.  Priscian  1,  30  H. 
—  Über  die  Gemination  Mar.  Vict.  p.  8  E.  cum  longa-  syllaha  scribenda  esset,  duas  vocales 
ponehat,  praeterquam  quae  in  „i^  literam  incideret;  hanc  enim  per  e  et  i  scribebat  vgl. 
V^el.  Long.  p.  55  K.  —  Über  die  Schreibung  gg,  gc  Mar.  Vict.  p.  8  K.  Accius  cum  scriberet 
angueis,  aggueis  ponebat  (nach  Ritschl-Müller)  Priscian,  1,  30  H.  —  Über  griechische 
Formen  in  seinen  Tragödien  vgl.  Varro  de  1.  1.  10,  70. 

Litteratur:  Die  Fragmente  der  Parerga  stehen  in  Müllers  Lucilius  p.  303—311, 
bei  Bahbens  Fragm.  p.  266 — 272.  —  G.  Hermann,  De  L.  Attii  libris  didasealicon  (Opusc. 
8,  390).  liAcmcANN,  De  versibus  Sotadeis  et  Attii  didascalicis  (El.  Schriften  2,  67).  Mad- 
viG,  De  L.  Attii  Didascalicis  commentatio  (Opusc.  acad.,  Eopenh.  1887  p.  70).  Ritschl,  De 
rocalibus  geminatis  deque  L.  Acdo  grammatico  (Opusc.  4,  142). 

8.  C.  Titius  und  C.  Julius  Caesar  Strabo. 

51.  Symptome  des  Niedergangs  der  Tragödie.  Reinerhaltung  der 
Gattung  gilt  als  ein  oberstes  Gesetz  im  litterarischen  Schaffen  des  Alter- 
tums. Dieses  Gesetz  verletzte  C.  Titius,  der  zugleich  Redner  und  Dichter 
war.  Von  seinen  Reden  ist  diejenige  bekannt,  welche  er  als  junger  Mensch 
im  Jahre  161  für  das  Luxusgesetz  hielt.  Daraus  ist  uns  die  berühmte 
Stelle')  erhalten,  welche  einen  Richter  schildert,  der  noch  halbtrunken  von 
einem  Gelage  zur  Sitzung  sich  begibt,  dort  mit  Widerwillen  die  Zeugen 
und  Advokaten  anhört  und  sich  bei  seinen  Genossen  beklagt,  dass  ihn  die 
langweilige  Geschichte  vom  Trunk  und  Mahl  abhalte.  Das  Fragment  zeigt 
einen  Meister  in  der  Kunst  zu  charakterisieren.  Seine  dichterische  Thä- 
tigkeit  kann  nur  nach  den  Äusserungen  Giceros  beurteilt  werden.  Denn 
lediglich  einen  Tragödientitel  Protesilaus  können  wir  durch  Konjektur  ihm 
beilegen  (Ribbeck,  Tragic.  fr.  p.  116).  Von  seinem  Stil  sagt  aber  Cicero, 
dass  er  den  tragischen  Charakter  verleugnete;  denn  das  Zugespitzte,  Wi- 
tzige in  seinen  Reden  übertrug  er  auch  in  seine  Tragödien.  Es  ist  daher 
nicht  zu  verwundern,  wenn  ihn  der  Togatendichter  Afranius  sich  zum 
Muster  nahm.  Den  tragischen  Ton  wusste  auch  C.Julius  Caesar  Strabo 
(t  87)  nicht  recht  anzuschlagen.  Er  war  zu  gleicher  Zeit  mit  Accius  thä- 
tigy  aber  es  scheint  eine  gewisse  Spannung  zwischen  beiden  Dichtern  be- 
standen zu  haben,  wenigstens  wird  erzählt,  dass  Accius  vor  dem  vorneh- 
men Mann  nicht  aufstand,  wenn  derselbe  in  der  Dichterzunft  erschien 
(Valer.  Max.  3,  7,  11).  Wie  Titius,  so  war  auch  Julius  Caesar  Redner  und 
Dichter  zugleich.  Als  Redner  gehörte  er  zu  den  berühmtesten  Sachwal- 
tern, auch  dem  Tragödiendichter  spendet  Asconius  (p.  22  K.  S.)  Lob.  Sechs 
Reden  können  wir  von  ihm  nachweisen,  darunter  die  Rede  gegen  T.  Al- 
bucius  wegen  Erpressung  (103),  die  gegen  den  Volkstribunen  C.  Scribonius 


€XtaiU  auctorum  veterum  testimonia  de  L, 
Acdo  grammatico,  ad  autographa  scriptorum 
tius  et  quidem  potissimum  tragoediarum  (nam 
rrliqua  mufto  minus  percr^uere)  videntur 
spectare.  Auch  Ritschl  äussert  sich  bezüg- 
lich eines  eigenen  Werks  sehr  skeptisch 
(Opusc.  4,  153). 

^)    Bei  Macrobius  3,  16,  14.     Übersetzt 


von  MoMxsEN,  R.  G.  2*,  403.  L.  Mülleb, 
Q.  Ennius  p.  96  stellt  die  Identität  des  Ver- 
fassers dieses  Fragments  mit  dem  Tragö- 
diendichter in  Abrede,  Macrobius  habe  sich 
im  Namen  geirrt.  Auf  das  Ciceronische 
(Brut.  45,  lßl)eiusdem  aetatis  (wie  M.  Antonius 
und  Crassus)  ist  meines  Erachtens  kein  ent- 
scheidendes Gewicht  zu  legen. 


80       EOmisohe  Lüteratni'geschiohte.    L  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 

(90)  und  die  gegen  den  Volkstribunen  P.  Sulpicius  Rufus  (88).  Tragödien  von 
ihm  kennen  wir  drei,  Adrastus,  Teuthras,  Tecmesa ;  an  Fragmenten  (p.  227 
R.)  haben  wir  im  Ganzen  drei,  von  denen  zwei  dem  Adrastus  angehören, 
eines  dem  Teuthras.  Sein  Stil  prägte  sich  nach  dem  Urteil  Ciceros  in  glei- 
cher Weise  in  seinen  Tragödien  wie  in  seinen  Reden  aus,  es  war  «Anmut 
ohne  Kraft"  (lenitas  sine  nervis).  Diese  Anmut  arbeitete  aber  auf  Aus- 
gleichung der  Gegensätze  hin,  so  dass  er  das  Tragische  fast  komisch,  das 
Traurige  milde,  das  Ernste  heiter  behandelte,  kurz  Ernst  und  Scherz  mit- 
einander verband.    Diese  Art  der  Darstellung  war  eine  ganz  neue. 

Gic.  Brat.  45,  167:  Huius  (TUii)  orationes  tantum  arguiiarum,  tantum  exemptorum^ 
tantum  urhanüatis  habent,  ut  paene  Attieo  atih  scriptae  eaae  videantur,  Easdem  argtäias 
in  tragoedicu  satia  guidem  iUe  acute,  sed  parum  tragice  transtulit.  Quem  sttulebat  imitari 
L.  Afraniua  po9ta,  hämo  perarguius,  in  fabulis  quidem  etiam,  ut  sciiis,  diaertus.  Diese 
Nachahmung  des  Afranius  beschränkt  Mommbbn  wohl  unrichtig  auf  die  Reden  des  Titius 
(R.  G.  2*,  455).  Bei  dem  Atellanendichter  Novius  (Vs.  67)  wird  nee  unquam  \  vidit  rostrum 
in  iragoedia  tantum  TUi[theatrum]  auf  untom  Titius  bezogen.  Vgl.  Büoheleb,  Ind,  lect. 
Oryphisw,  1868/69  p.  4.  Über  den  Sinn  der  Verse  siehe  Ribbeck,  R.  TragÖd.  p.  613.  — 
Gic.  Brut.  48,  177  sunt  eiua  (C.  Julii  Caesaris)  aliquot  orationes,  ex  quibtts,  sicut  ex  eius- 
dem  tragoediis,  lenitas  eiua  sine  nervis  perspici  potest;  de  or.  3,  8,  30  quid?  noster  hie 
Caesar  nonne  novam  quandam  raiionem  attulit  orationis  et  dicendi  genus  induxit  propt 
singulare?  quis  unquam  res  praeter  hune  tragice^  paene  eomice,  tristis  remisse,  severas 
hilare,  forensis  scenica  prope  venustate  tractavit,  ut  neque  iocus  magnitudine  rerum  exclu" 
deretur  nee  gravitas  facetiis  minuereturf 


62.  Rflckblick.    Charakteristik  der  römischen  Tragödie.    Wenn 
wir  auf  die  Entwicklung  der  Tragödie  zurückblicken,   so  sehen  wir  sie  in 
fortwährendem  Aufsteigen  bis  auf  Accius.    Livius  führte  die  übersetzte 
Tragödie  ein,  ihm  werden  wir  die  Einführung  der  metrischen  Gesetze  im 
wesentlichen  zuzuschreiben  haben.    Naevius  machte  den  kühnen  Versuch, 
statt  der  übersetzten  Tragödie  eine  originale  zu  schaffen ;  dies  führte  zum 
historischen  Schauspiele.      Stil  und  Komposition  fanden  ihre  Vollendung 
durch  Ennius,  Pacuvius  und  Accius.     Besonders   mit  Accius  war  der  Kul- 
minationspunkt der  Tragödie  erreicht.    Aber  bereits  zu  seiner  Zeit  zeigten 
sich  Symptome  des  Niedergangs  derselben,  und  bald  erlosch  fast  gänzlich 
die  tragische  Produktion.  Dass  sich  die  Stoffe  der  alten  griechischen  Sage 
erschöpfen  mussten,  ist  nicht  verwunderlich.     Aber  merkwürdig  ist,    dass 
die  nationale  Form  der  Tragödie,  das  historische  Schauspiel  nicht  zur  vol- 
len Entfaltung  gelangte.  Da  hier  die  Stoffe  der  römischen  Qeschichte  ent- 
nommen wiirden,  so  hätte  man  bei  dem  Nationalstolz  der  Römer  erwartet, 
dass  die  Praetexta  völlig  an  Stelle  der  übersetzten  Tragödie  trete.     Dass 
dies  nicht  eintrat,  kann  seinen  Grund  nur  darin  haben,   dass  im  grossen 
Ganzen  den  Römern  jene  feinere  und  edlere  Bildung,   welche  zum  Genuss 
der  tragischen  Schönheit  befähigt,  abging.    Das  Theater  war  den  Meisten 
viel  mehr  eine  Quelle  der  Erholung  als  eine  Quelle  der  Erhebung.    Inter- 
essant ist,  was  wir  im  Prolog  des  Amphitruo  lesen  (Vs.  51).  Als  der  Pro- 
logsprecher das  Wort  »Tragödie"  in  den  Mund  nahm,  runzelten  die  Zu- 
schauer die  Stirn.     Die  komische  Produktion  überragt  daher  die  tragische 
um  ein  Beträchtliches.    Im  Jahre  105  trat  überdies  ein  Ereignis  ein,  wel- 
ches der  gesamten  dramatischen  Dichtung  recht  schädlich  werden  sollte. 
In  diesem  Jahre  ward  nämlich  unter  den  Konsuln  P.  Rutilius  Rufus    und 


Charakteristik  der  Tragödie. 


81 


C.  Manlius  die  Gladiatorenspiele  zu  einer  staatlichen  Feier  erhoben.  Durch 
den  häufigen  Anblick  solcher  Metzeleien  musste  das  Oefühl  der  Zuschauer 
ungemein  verwildern  und  für  Aufnahme  edlerer  Dichtungen  unempfäng- 
lich gemacht  werden,  i) 

Es  wird  hier  der  geeignete  Ort  sein,  von  der  römischen  Tragödie 
ein  allgemeines  Bild  zu  entwerfen.  Wie  die  Komödien,  so  waren  auch 
die  Tragödien,  wenn  man  von  den  wenigen  Prätextatae  absieht,  Übersetzun- 
gen. Bei  diesen  Übersetzungen  war  es  aber  niemals  auf  genaue,  wörtliche 
Übereinstimmung  abgesehen.  Da  die  Tragödie  sich  in  einer  gehobenen, 
der  Alltäglichkeit  abgewandten  Sphäre  bewegt,  so  muss  dem  entsprechend 
die  Sprache  einen  gewissen  Schwung  erhalten.  Die  Nachlässigkeiten  der 
Volkssprache,  die  sich  der  Komödiendichter  gestatten  kann,  sind  hier  aus- 
geschlossen. Für  Anwendung  rhetorischer  Figuren  bietet  sich  dem  tragi- 
schen Dichter  vielfach  Gelegenheit.  Oft  begnügte  sich  aber  der  Dichter 
nicht  mit  der  blossen  Thätigkeit  des  freien  Übersetzens,  sondern  nahm 
selbständige  Änderungen  am  Originale  vor.  Wir  haben  dafür  das  Zeugnis 
Ciceros  (Tusc.  2,  21,  49),  der  uns  berichtet,  dass  Pacuvius  die  Scene  der 
Niptra,  in  der  Sophokles  den  verwundeten  Odysseus  furchtbar  jammern 
lässt,  änderte.  Die  Klagen  des  Odysseus  erschienen  dem  Kömer  unmänn- 
lich. Ziemlich  weitgehend  waren  die  Änderungen  in  den  Massen,  so  wur- 
den z.  B.  oft  die  Trimeterpartien  in  trochäische  Tetrameter  umgesetzt;  dann 
wendeten  die  Römer  auch  Metra  an,  welche  den  Griechen  ganz  unbekannt 
waren.  Auch  Spuren  der  Kontamination  sind  vorhanden.  Am  durchgrei- 
fendsten war  die  Diskrepanz  zwischen  der  Bearbeitung  und  dem  Original 
in  den  Chorgesängen.  Dass  solche  sowohl  in  der  Tragödie  als  in  der  Prä- 
textata  vorhanden  waren,  kann  nicht  bezweifelt  werden.  Schon  die  Titel 
der  Stücke,  als  auch  erhaltene  Fragmente  erweisen  dies.  Freilich  war  die 
Stellung  des  Chors  in  der  römischen  Tragödie  eine  andere  als  in  der  grie- 
chischen. Schon  äusserlich  macht  sich  ein  bemerkenswerter  Unterschied 
geltend;  der  griechische  Chor  hat  in  der  Orchestra  seinen  regelmässigen 
Standort, .  der  römische  Chor  weilt  mit  den  Schauspielern  auf  der  Bühne. 
Damit  ist  aber  eine  wesentliche  Einschränkung  der  Tanzbewegungen  und 
Evolutionen  desselben  gegeben.  Auch  wird  der  auf  der  Bühne  erschei- 
nende Chor  viel  mehr  in  die  Handlung  hineingezogen  als  der  in  der  Or- 
chestra. Dass  viele  Chorgesänge  nicht  mehr  für  die  jetzige  Stellung  des 
Chors  auf  der  Bühne  passten,  ist  einleuchtend.  Aber  auch  das  dürfte  klar 
sein,  dass  ein  ständiger  Aufenthalt  des  Chors  auf  der  Bühne  vielfach  hin- 
derlich sein  musste;  es  wird  daher  der  römische  Bearbeiter  sich  in  der 
Regel  darauf  beschränkt  haben,  den  Chor  nur  zeitweilig  auftreten  zu  las- 
sen, wobei  er  auch  den  Chor  wechseln  konnte.    Donat  endlich  deutet  im 


')  BücHELEB  hat  dieses  Faktum  aus  £n- 
nodioB  p.  284  Hartel  gewonnen  (Rh.  Mus.  38, 
478).  Er  bemerkt  noch :  «Zehn  Jahre  vorher 
war  aüe  ars  ludicra  nicht  einheimischen  Ur- 
Hpnmgs  aus  Rom  ausgewiesen  worden  (Cas- 
siodor  chron.  J/6B9/115);  es  offenbart  sich  in 
dieser  ganzen  Periode  so  mannigfach,  besonders 

Haadlrach  der  klsH.  AltertnmawlaensohAft  Vm. 


auch  in  ihren  Schauspielen  ein  Antagonis- 
mus gegen  die  mit  dem  Griechentum  ver- 
wachsene feinere  und  edlere  Art,  ein  ge- 
wisser Rückfall  in  die  Rohheit  des  italischen 
Naturmenschen ;  auch  die  staatliche  Aufnahme 
jener  Metzeleien  kann  ein  S3rmptom  davon 
scheinen.** 

6 


82       Römiache  LitteratnrgeBchichte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    3.  Periode. 


Argument  zur  Andria^  an,  dass  der  Chor  auch  in  den  Zwischenakten  ge- 
sungen habe ;  hier  konnten  Embolia,  frei  eingelegte  Lieder  verwendet  wer- 
den. Sonach  war  in  den  Ghorpartien  eine  gewisse  Selbständigkeit  des  Be- 
arbeiters durchaus  notwendig ;  wir  können  solche  auch  nachweisen ;  so  z.  B. 
hat  Ennius  in  der  Iphigenie  den  Jungfrauenchor  durch  einen  Soldatenchor 
ersetzt.  Aber  wie  auch  der  römische  Dichter  verfahren  mochte,  die  Idea- 
lität des  griechischen  Chors  war  dahin,  nur  ein  zertrümmertes  Bild  des 
Ghorlieds  bot  die  römische  Tragödie. 

Wie  die  Komödie,  so  zerfiel  auch  die  Tragödie  in  zwei  Partien,  Di- 
verbia  (Deverbia)  und  Cantica.  Wenn  wir  das,  was  über  die  Vortrags- 
weise der  beiden  Partien  in  der  Komödie  ermittelt  ist,  auf  die  Tragödie 
übertragen^)  dürfen,  so  ist  der  Umfang  der  Cantica  grösser  als  man  bis- 
her angenommen  hat,  indem  nicht  bloss  die  gesungenen  Partien,  sondern 
auch  die  zur  Musikbegleitung  gesprochenen  dazu  gehörten.  Für  reine  De- 
klamation waren  nur  die  jambischen  Senare  bestimmt,  die  anderen  trochä- 
ischen und  jambischen  Verse  (Septenare,  jambische  Oktonare)  dagegen 
wurden  unter  Flötenbegleitung  gesprochen.  Was  den  Vortrag  der  in  freien 
lyrischen  Massen  abgefassten  Cantica  anlangt,  so  wird  uns  berichtet,  dass 
solche  von  einem  eigenen  Sänger  zur  Flötenbegleitung  gesungen  wurden, 
während  der  Schauspieler  sich  auf  die  Gestikulation  beschränkte.  Allein 
dies  kann  sich  nur  auf  die  Monodien  bezogen  haben,  und  wird  selbst  da 
nicht  stete  Regel  gewesen  sein. 

Ribbeck,  Die  röm.  Tragödie  (Leipzig  1875)  p.  632.  L.  Müllbb,  Q.  Ennius,  p.  75. 
Bebgk,  Opusc.  1,  225  handelt  über  das  Verhältnis  der  latein.  Bearbeitungen  zu  den  Originalen. 
—  Gbysar,  Das  Canticum  und  der  Chor  in  der  röm.  Tragödie  in  den  Sitzungsber.  d.  Wien. 
Ak.  15,  365.  0.  Jahn,  Hermes  2,  227  «Über  den  Chor  der  röm.  Tragödie*.  Jahk  ver- 
mutet (p.  229),  dass  für  die  Gestaltung  des  röm.  Chors  der  Nebenchor  der  griech.  Tragödien 
von  grossem  Einfluss  war;  «in  ihm  waren  die  Elemente  gegeben,  welche  weiter  zu  ent- 
wickeln waren,  indem  man  die  brauchbaren  Bestandteile  des  Hauptchors  in  denselben  hin- 
überleitete.* 

9.   Titinius,  T.  Quinctius  .Atta,  L.  Afranius. 

53.  Das  lateinische  Originallustspiel  (Fabula  togata).  Wir  ru- 
fen uns  die  Worte  des  Horaz  (ad  Pis.  285)  ins  Gedächtnis: 

Nil  intemptatum  nostri  liqtiere  poeiae, 
nee  minimum  meruere  decus  vestigia  Graeca 
misi  deserere  et  celehrare  domestica  facta 
rel  qui  praetextaa  vel  qui  docuere  togatas. 

Wie  in  der  Tragödie  neben  den  Übersetzungen  aus  dem  Griechischen 
eine  Originalform  in  der  Prätexta  sich  herausbildete,  so  erscheint  auch  in 
der  Komödie  neben  den  übersetzten  Stücken  (fabulae  palliatae)  das  Origi- 
nallustspiel, die  fabula  togata,  in  der  die  Darstellenden  nicht  das  griechi- 
sche Pallium,  sondern  die  römische  Toga  trugen.  Das  nationale  Schauspiel 
verdanken  wir  dem  Naevius ;  vielleicht  verdanken  wir  ihm  auch  das  latei- 
nische Originallustspiel.  So  kann  z.  6.  die  Tunicularia  sehr  gut  ein  sol- 
ches gewesen  sein.    Allein  die  nächste  Zeit  nach  Naeviüs  hatte  noch  ge- 


*)  Est  igitur  attente  animadrerten- 
dum,  iäfi  et  quando  acena  vacua  sU  Omni- 
bus personiSf  ut  in  ea  charus  vel  tibicen  au- 
diri  po8sit,  quod  cum   riderimus,   ibi  actum 


esse  finitum  debemus  agnoscere. 

*)   Bergk   Überträgt   es   auch    auf    die 
griechische  Tragödie  (Opusc.  1,  199,  7). 


TitimuB.    T.  Qninotins  Atta.    L.  Afranias. 


83 


nug  mit  den  griechischen  Übersetzungen  zu  thun;  erst  nachdem  hier  eine 
Ermattung  eingetreten,  versuchte  man  sich  in  selbständigen  Schöpfungen. 
An  drei  Dichter  knüpft  sich  diese  neue  Entwicklungsstufe  der  römischen 
Komödie,  an  Titinius,  T.  Quinctius  Atta  und  L.  Afranius.  Über  die 
Zeit  dieser  Dichter  sind  wir  nur  sehr  mangelhaft  unterrichtet.  Der  Tod  des 
Atta  wird  von  Hieronymus  (2,  135  Seh.)  in  das  Jahr  77  verlegt,  Afranius 
wird  von  Velleius  Paterculus  (2,  9,  2)  als  ein  Zeitgenosse  des  Scipio  und 
des  Laelius  aufgeführt;  über  Titinius  gebricht  es  durchaus  an  chronologi- 
schen Angaben,  nur  aus  der  Varronischen  Aufzählung  Titinius,  Terentius, 
Atta  kann  man  schliessen,  dass  Titinius  älter  als  Terentius  war.  Das 
Wirken  dieser  Dichter  muss  in  die  Zeit  nach  Terenz  fallen,  denn  seine 
an  litterarischen  Anspielungen  reichen  Prologe  berichten  noch  nichts  über 
das  Originallustspiel,  obwohl  sich  Anlass  zur  Erwähnung  genugsam  dar- 
geboten. Allem  Anschein  nach  liegt  das  Wirken  der  drei  Dichter  zeitlich 
nicht  weit  auseinander.  Das  neue  Produkt  charakterisiert  sich  dadurch, 
dass  es  nicht  mehr  Übersetzung,  sondern  Nachdichtung  ist.  Allein 
auch  diese  Neuschöpfung  bewegt  sich  durchaus  in  dem  Rahmen  des  grie- 
chischen Intriguenstückes ;  der  Schauplatz  der  frei  erfundenen  Handlung 
ist  aber  nicht  mehr  Griechenland,  sondern  Italien  0^  die  Familie  nicht  mehr 
die  griechische,  sondern  die  lateinische.  Die  Latinisierung  der  Familie  ist 
dadurch  gekennzeichnet,  dass  der  listige  Sklave,  der  seinen  Herrn  über- 
tölpelt, als  dem  römischen  Gefühl  widerstreitend  ausgemerzt  wird,  und  dass 
das  weibliche  Element  der  Familie  stärker  hervortritt.  Es  ist  selbstver- 
ständlich, dass  die  Titel  heimisches  Gepräge  tragen  und  dass  auch  die 
griechischen  Brocken,  die  aus  dem  Original  die  Übersetzer  der  palliata 
beibehalten,  hier  keinen  Platz  mehr  hatten.  Im  Selbstgefühl  des  Lateiners 
spricht  Titinius  (148,  104)  verächtlich  sogar  von  den  Leuten,  welche  os- 
kisch  und  volskisch  sprechen,  da  sie  das  Latein  nicht  kennen.  Wir  be- 
klagen es  sehr,  dass  von  diesen  lateinisches  Leben  darstellenden  Stücken 
keines  auf  die  Nachwelt  gekommen  ist.  Wir  können  daher  nur  aus  den 
Titeln  und  wenigen  unzusammenhängenden  Fragmenten  ein  dürftiges  Bild 
gewinnen.  Von  Titinius  sind  Titel  von  fünfzehn  Stücken  überliefert,  neun  da- 
von tragen  Frauennamen.  Mehrere  dieser  Titel  führen  uns  in  lateinische 
Landstädte  wie  die  Zitherspielerin  oder  die  Ferentinatin,  die  Setinerin,  die 
Veliternerin.  Von  Atta  haben  wir  sehr  wenige  Fragmente  aus  zwölf 
Stücken').  In  der  Charakterzeichnung  war  er  von  Varro  neben  Titinius 
und  Terentius  als  Meister  hingestellt.  Fronte  p.  62  rühmt  seine  Kunst, 
die  weibliche  Rede  darzustellen.  Seine  Stücke  scheinen  noch  in  der  Augu- 


')  MoioisEK  stellt  die  Ansicht  auf,  dass 
der  Schauplatz  der  fahula  togata  stets  eine 
Stadt  lateinischen  Rechts  war.  Die  Stadt 
und  die  Bfirgerschaft  Roms  auf  die  Bühne 
zu  bringen  sei  überhaupt  dem  Lustspieldich- 
ter untersagt  gewesen.  ,  Durch  die  Erstre- 
ckong  des  Bürgerrechts  auf  ganz  Italien  ging 
den  Lustspieldichtem  diese  lateinische  In- 
scenienmg  verloren,  da  das  cisalpinische  Gal- 
lien, das  rechtlich  an  die  Stelle  der  lateini- 
nischen   Gemeinden   gesetzt  ward,   fOr  den 


hauptstädtischen  Bühnendichter  zu  fem  lag, 
und  es  scheint  damit  auch  die  fahula  togata 
in  der  That  verschwunden  zu  sein.  Indess 
traten  die  rechtlich  untergegangenen  Ge- 
meinden Italiens,  wie  Capua  und  Atella,  in 
diese  Lücke  ein  und  insofern  ist  die  fabula 
Atellana  gewissermassen  die  Fortsetzung  der 
togata,''    (R.  Gesch.  1»,  904). 

')  Darunter  eines  mit  dem  Titel  Satura, 
welches  daher  BXhbens  in  seine  Sammlung 
p.  274  aufgenommen  hat. 

6* 


84      BOmisohe  LitteratnrgeBchiohie.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 

steischen  Zeit  zum  Repertoire  gehört  zu  haben   (Hör.  ep.  2,  1,  79).    Die 
reichste  Thätigkeit  aber  auf  dem  Gebiet  der  Togata  entfaltete  L.  Afranius. 
Die  Titel   von  über  40  Stücken  sind  überliefert.     Sie  beziehen  sich  auf 
einzelne  Stände  wie  der  Haarkräusler  (cinerarius),   der  Augur,   der  Ober- 
schaflfner,   auf   Charaktere  wie  der  Verschwender  (Prodigus),  der  Heuch- 
ler (Simulans),  der  Wagehals  (Temerarius),  auf  verwandtschaftliche  Ver- 
hältnisse wie  die  Schwestern,  die  Gatten,  die  Tanten,  auf  Handlungen  und 
Vorgänge  wie  das  Verbrechen,  die  Scheidung,  der  Brand,  der  Aufgefangene 
(exceptus),  auf  Gegenstände  wie  der  Brief,  auf  Feste  wie  die  Compitalien 
u.  s.  f.   Gewiss  eine  reiche  Mannigfaltigkeit  der  Stoffe.  In  der  Ausführung 
hat  sich  Afranius  von  seinen  Vorgängern   entfernt;  wie  es  scheint,   tritt 
bei  ihm  die  Schilderung  des  lateinischen  Lebens  zurück  .und  das  allgemeine 
Gesellschaftsbild  wiederum  vor.   Wenigstens  liegen  uns  ausdrückliche  Zeug- 
nisse vor,  dass  er  sich  an  Menander  angeschlossen  hat.    Bekannt  ist  der 
Ausspruch  des  Horaz  (Ep.  2,  1,  57),  dass  Afranius'  Toga  auch  dem  Menan- 
der wohl   angestanden  (convenisse)  haben  würde.     Ferner  weist  Cicero  de 
finibus  1,  3,  7  auf  die  Entlehnungen  des  Afranius  aus  Menander  hin.  End- 
lich liegt  uns  noch  das  Zeugnis  des  Dichters  selbst  vor.     In   dem  Prolog 
zu  den  Compitalien  (168,  25)  gesteht  er  auf  die  Vorwürfe,  die  ihm  wegen 
dieser  Entlehnungen  gemacht  wurden,   offen  ein,   dass  er  dem  Menander 
manches   entnommen,   allein  dies  sei  nicht  bloss   bei  Menander,   sondern 
auch  bei  andern  Dichtern  geschehen,   er  nehme  eben  das  Gute  da,  wo  es 
zu  finden  sei.   Und  in  der  That  wird  einmal  in  den  Fragmenten  das  Dik- 
tum  des  Pacuvius  angeführt  (165,  7),  dass  sich  nicht  leicht  eine  treffliche 
Frau  finde.   Ein  anderer  Vers  des  erwähnten  Prologs  zu  den  Compitalien 
drückt  seine  Bewunderung  für  Terenz  aus,  indem  er  zweifelnd  fragt,   ob 
man  einen  nennen  könne,   der  sich  mit  diesem  Dichter  vergleichen  lasse') 
(169,  29).     Es  scheint  aber,  dass  Afranius  nicht  bloss  Einzelheiten  —  da- 
runter wieder  griechische  Brocken  —  andern  Dichtern  entlehnt  hat,  son- 
dern auch  ganze  Argumente.     So  wird  seine  Thais  nach  der  Menandri- 
schen  gearbeitet   sein.     Leider  führte   der  Dichter   auch   ein   griechisches 
Laster,  die  Knabenliebe  in  seine  Stücke  ein  (Quint.  10,  1,  100).     Von  sei- 
nen Stücken  wurde  der  Simulans  noch   im  Jahre  58   aufgeführt  (Cic.  pro 
Sestio  55,  118),  sein  Incendium  noch  unter  Nero  (Suet.  Ner.  11).    Aus  den 
Fragmenten  der  drei  Togatendichter  wollen  wir  wenigstens  einige  heraus- 
heben.    Wie   bei  den  andern  Komikern,   so   waren  auch  hier  allgemeine 
Sentenzen  dem  Scherz  und  Spiel  beigemischt.    «Den  Kindern  ist  das  Leben 
der  Eltern  wenig  wert,   die  lieber  von  den  Ihrigen  gefürchtet  als  verehrt 
sein  wollen*  (170,  34).    „Warum  streben  wir  nach  Allzuviel?    Das  Allzu- 
viel frommt  niemandem"  (175,  78).    In  einem  Fragment  (202,  298)  stellt 
sich    uns   die  Weisheit  als  eine  Tochter  des  Usus  und  der  Memoria  dar. 
Unter  den  übrigen  Fragmenten  ragen  stark  diejenigen  hervor,  welche  sich 
auf  das  Familienleben  beziehen.   Eine  Frau  beklagt  sich  über  ihren  Mann, 
welcher  ihre  Mitgift  verprasst  (135,  15).    An  einer  andern  Stelle  machen 


*)  Dass   dieser  Vers   einer  Randbemer- 
kung seine   Entstehung   verdanke,   ist  eine 


ganz  unwahrscheinliche  Annahme  Nipperdeya 

(Opusc.  p.  588). 


Das  Theaterwesen.  g5 

die  Männer  wegen  der  Mitgift  den  gehorsamen  Diener  der  Frauen 
(144,  70).  «Wie  glücklich,  ruft  wohl  eine  Frau  aus  (177,  100),  sind  die 
Gattinnen  auf  der  Bühne,  die  ihren  Mann  plötzlich  durch  Streit  und  auch 
durch  Wohlwollen  ins  Gedränge  bringen  (urgent)!  Was  geschehen  soll, 
wenn  einer  mit  seiner  Hure  aufs  Land  entweichen  will,  wird  uns  139,  43 
verraten.  „Wer  bist  du,  der  hier  in  Sandalen,  blossen  Hauptes  bei  später 
Nacht  dem  Zug  ausgesetzt  unter  freiem  Himmel  weilt,  während  der  Frost 
Kieselsteine  spaltet?*  wird  Einer,  der  sicherlich  eine  Liebesaffaire  hatte, 
angerufen  (178,  104).  Entrüstet  fährt  jemand  darein  (184,  161)  „Einen 
Müller  soll  sie  heiraten?  Warum  nicht  lieber  einen  Konditor,  damit  sie 
dem  Sohn  des  Bruders  Torten  schicken  kann."  Auch  in  das  Treiben  der 
Handwerkerwelt  führen  manche  Reste.  Die  Walker,  deren  Geschäft  ein 
interessantes  Fragment  des  Titinius  (137,  28)  schildert,  klagen,  dass  sie 
Tag  und  Nacht  keine  Ruhe  haben  (137,  27).  Die  Weberinnen  werfen  den 
Walkern  vor  „Wenn  wir  nichts  weben,  habt  ihr  Walker  Feierabend*  (136, 
26).  Ein  Schuster  will  mit  seinem  Leisten  seinem  Gegner  die  Zähne  ein- 
schlagen (218,  419).  In  anmutiger  Weise  preisen  öfters  unsere  Dichter 
Jugend  und  Schönheit.  „Schön  ist  die  Jungfrau,  die  halbe  Mitgift  nenneii 
dies  die,  welchen  die  Frage  der  Mitgift  keine  Sorge  macht*  (184,  156). 
In  frischer  Weise  hebt  ein  Mädchen  seine  Eigenschaften  hervor,  es  befin- 
den sich  darunter  Jugend  und  Schönheit^  die  ihm,  wenn  es  will,  die  Gunst 
der  Männer  einbringen  (173,  61).  Eine  arme  Frau  bildet  sich  ein,  sie 
könne  durch  inneren  Wert  ersetzen,  was  ihr  äusserlich  fehlt  (142,  58). 
Allein  die  wahren  Zaubermittel  der  Frau  sind  ausser  der  Willfährigkeit 
Jugend  und  ein  schönes  Gesicht  (213,  378): 

Si  possent  homines  deUnimentis  capiy 
Omnes  haherent  nunc  amatores  onus. 
Aetas  et  corpus  tenerum  et  morigeratio, 
Haee  sunt  venena  farmosarum  mulierum; 
Mala  a^tcts  nuUa  delenimenta  invenit. 

Wegen  der  vielfachen  Daxstellung  des  Handwerkerlebens  hiessen  diese  Komödien 
auch  tabemariae  (Diomedes  p.  489  K).  Über  das  Zurücktreten  des  Sklavenelements  vgl.  Donat 
zu  Ter.  Eun.  12:  Concessum  est  in  palliata  poetis  comicis  servos  dominis  sapienti^yres  fingere, 
quod  item  in  togata  fere  non  licet.  Die  Varronische  Charakteristik  lautet:  Charis.  p.  241  K: 
^9fj  nullis  aliis  servare  convenit  quam  Titinio,  Terentio,  Attae.  Einen  Kommentator  des 
A£nanius  mit  Namen  Paulus  erwähnt  Charis.  p.  241  K.  Neukibch,  De  fahuJa  togata  Roma- 
norum,  accedunt  fabulnrum  togatarum  reliquiae,  Leipzig  1833.  Die  Fragmente  sind  jetzt 
in  der  RiBBEGK*schen  Sammlung  nachzusehen  2',  133 — 222. 


54.  Das  Theaterwesen.  Zum  Verständnis  der  dramatischen  Dich- 
tung gehöi*t,  dass  man  ein  klares  Bild  von  der  Aufführung  derselben  ge- 
winnt; das  dramatische  Produkt  tritt  ja  eigentlich  nur  durch  die  Darstel- 
lung in  das  Leben  ein.  Wie  bei  den  Griechen,  so  war  auch  bei  den 
Römern  die  dramatische  Aufführung  Festspiel.  In  der  republikanischen 
Zeit  sind  es  vornehmlich  vier  Feste,  an  denen  regelmässig  scenische  Dar- 
stellungen stattfanden.  Zuerst  sah  das  uralte  zu  Ehren  der  kapitolinischen 
Gottheiten  gefeierte  Fest  der  ludi  Romani  (magni)  eine  dramatische  Auf- 
fQhrung,  als  Livius  Andronicus  im  Jahre  240  eine  Tragödie  und  eine  Ko- 
mödie auf  die  Bühne  brachte.  Die  Festfeier  fiel  in  den  September,  Leiter 
derselben  waren  die  curulischen  Ädilen.    Seit  214  dauerten  die  Bühnen- 


86      BömiBche  Litteratnrgeschiohte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 


aufführungen  vier  Tage  (Liv.  24, 43).  Wahrscheinlich  i.  J.  220  kamen  die  ludi 
plebei  hinzu, ')  deren  Feier  in  den  November  fällt.  Die  Festleitung  hatten  die 
plebejischen  Ädilen.  Aus  der  Didaskalie  zum  plautinischen  Stichus  erfahren 
wir,  dass  derselbe  im  J.  200  an  diesem  Fest  aufgeführt  wurde.  Damit 
ist  der  scenische  Charakter  dargethan.  Ein  neues  Fest  brachte  das  Jahr  212, 
nämlich  die  ludi  Apollinares,  die  im  Juli  vom  Praetor  urbanus  ausgerichtet 
wurden.  Hier  waren  scenische  Spiele  gleich  von  Anfang  an  eingeführt.*) 
Das  vierte  Fest,  die  ludi  Megalenses,  wurde  zum  erstenmal  im  April  204 
zu  Ehren  der  Magna  mater  gefeiert.  Die  erste  scenische  Aufführung 
leiteten  die  curulischen  Adilen  des  Jahres  194  (Liv.  34, 54).  Nur  Darstel- 
lung von  Mimen,  wie  es  scheint,  war  an  einem  fünften  Feste  gestattet, 
den  tloralia,  welche  seit  173  regelmässig  April — Mai  von  den  curulischen 
Ädilen  ^)  abgehalten  wurden.  Nach  der  Berechnung  Mommsei^s  ergeben  sich 
etwa  48  Tage  im  Jahr  für  Theateraufführungen.  ^)  Allein  diese  Zahl  steigert 
sich  beträchtlich  durch  die  Vorstellungen,  welche  bei  ausserordentlichen 
Festlichkeiten  gegeben  wurden.  Es  wird  uns  berichtet  von  scenischen  ludi 
funebres,  ludi  votivi,  Dedikationsspielen  und  Triumphalspielen.  Die  Fest- 
leiter erhielten  vom  Staate  eine  bestimmte  Summe,  die  im  Laufe  der  Jahre 
beträchtlich  stieg,  allein  dieselbe  reichte  nicht  aus,  besonders  seit  es  Sitte 
wurde,  durch  glänzende  Ausstattung  der  Spiele  sich  beim  Volke  für  künf- 
tige Wahlen  zu  empfehlen.  Was  hier  verschwenderisch  verausgabt  wurde, 
musste  aus  den  Provinzen  wieder  erpresst  werden. 

Sehr  langsam  entwickelte  sich  der  Theaterbau.  Anfangs  wurde  so- 
wohl die  Bühne  als  ein  Stehplatz  für  die  Zuschauer  (caveä)  provisorisch  bei 
der  Festfeier  hergestellt.  Aus  diesen  provisorischen  Einrichtungen  stabile 
zu  schaffen,  musste  die  Aufgabe  der  nächsten  Zukunft  sein.  Einen  solchen 
Versuch  machte  zunächst  der  Gehsor  M.  Aemilius  Lepidus  179  für  die  ludi 
Apollinares  (Liv.  40, 51);  allein  der  Bau  scheint  bald  wieder  weggerissen 
worden  zu  sein.  Im  Jahre  174  wurde  die  Errichtung  einer  steinernen 
Bühne  von  den  Censoren  für  die  vier  grossen  Bühnenfeste  in  Pacht  ge- 
geben; es  war  dann  nur  mehr  der  Platz  für  die  Zuschauer  herzustellen 
(Liv.  41,27).  Dem  Vorhaben  des  Gensor  Gassius  Longinus,  ein  stehendes 
steinernes  Theater  zu  errichten  (154),  trat  Scipio  Nasica  entgegen;  der 
Bau  wurde  eingestellt  (Vell.  1, 15, 3).  Endlich  brachte  das  Jahr  145  eine 
entscheidende  Verbesserung.  Mummius,  der  Eroberer  Korinths,  Hess  für 
seine  Triumphalspiele  ausser  der  Scene  einen  Zuschauerraum  mit  Sitz- 
stufen  errichten.  Damit  war  das  erste  vollständige  Theater  nach  grie- 
chischem Muster  gegeben.  Allein  auch  dieser  Bau  war,  weil  von  Holz, 
nur  provisorisch  (Tac.  Ann.  14, 20).  Ein  stehendes  Theater  mit  steinernem 
Zuschauerraum  kam  in  unserer  Periode  nicht  mehr  zu  stände;  dies  war 
der  folgenden  vorbehalten.  Erst  Pompqus  errichtete  55  ein  solches.  Auch 
die  Dekoration  hielt  sich  längere  Zeit  auf  einer  sehr  primitiven  Stufe. 
Erst  im  J.  99  scheint  eine  künstlerische  durch  Glaudius  Pulcher  eingeführt 
worden  zu  sein  (Val.  Max.  2, 4, 6).     Der  Dekorationswechsel  beschränkte 


>)  MoMMSEN,  R.G.  1«  808.  Staatsr.  2, 1 ,  p.489. 
*)  Marquardt,  Rom.  Staatsverw.  3,  480. 
Anders  Ribbeck,  Rom.  Trag.  p.  649. 


')  Man  sollte  plebejische  Ädilen  erwar- 
ten.   Vgl.  MomsEN,  R.  Staatsr.  II,  1,  p.  490. 
*)  MoMMSBK,  CIL  1,  p.  377. 


Das  TheaterweBen.  87 

sich  vorläufig  auf  die  Hinterwand  (scena  dudilis),  bis  später  die  Periakten 
(scena  versilis)  hinzukamen  (Yal.  Max.  2, 4,  6). 

Die  Hauptsorge  der  Fest  leite  r  war,  ein  durchschlagendes  Stück  für 
die  Spiele  zu  erhalten.  Zu  diesem  Zwecke  mussten  sie  sich  mit  einem 
Dichter  in  Beziehung  setzen  und  ihm  ein  Stück  abkaufen  (Ter.  Eun. 
prol.  20).  In  der  Regel  aber  werden  die  Festleiter  sich  einer  Mittelsperson, 
des  Schauspieldirektors  (dominus  gregis)  bedient  haben,  dem  sie  gegen  eine 
Pauschalsumme  Ankauf  des  Stücks,  Ausstattung  u.  s.  w.  übertragen  haben 
werden  (Ter.  Hec.  Prol.  l\  47).  0»  D^r  Schauspieldirektor  besass  dann  ein 
solches  von  ihm  gekauftes  Stück  als  Eigentum  und  konnte  es  bei  späteren 
Aufführungen  wiederum  verwerten. 

Die  Zahl  der  Schauspieler  war  im  römischen  Drama  an  keine  Be- 
schränkung gebunden.  Ausser  dem  Honorar,  das  sie  vom  Direktor  aus 
dem  Staatsschatz  erhielten,  wurden  sie  von  dem  Festgeber  noch  bei  erfolg- 
reichem Spiel  mit  freiwilligen  Geschenken  bedacht.  Unter  den  Direktoren 
der  verschiedenen  Gesellschaften,  welche  zugleich  die  Hauptrolle  übernahmen, 
fand,  wie  aus  Anspielungen  ersichtlich  ist,^)  ein  Wettkampf  statt.  Dem 
Sieger  ward  eine  Palme  zu  teil.  Im  Gegensatz  zu  den  Griechen  spielten 
anfanglich  die  römischen  Schauspieler  nicht  mit  Masken.  Perrücken  ge- 
nügten, um  die  verschiedenen  Typen  der  darzustellenden  Personen  zu  er- 
halten. Allein  gegen  das  Ende  unserer  Epoche  kam  der  Gebrauch  der 
Masken  auf.  Donat  berichtet  de  com.  p.  10, 1  R.,  dass  mit  Masken  in  der 
Komödie  zuerst  Gincius  Faliscus,  in  der  Tragödie  Minucius  Prothymus  auf- 
getreten sei.  Der  Grammatiker  Diomedes  dagegen  hat  aus  einer  guten 
Quelle  die  Notiz  (p.  489  K.),  dass  zuerst  der  Schauspieler  Roscius  wegen  seiner 
scheelen  Augen  die  Masken  benützt  habe.  Vielleicht  lassen  sich  die  beiden 
Nachrichten  miteinander  vereinigen,  wenn  wir  mit  Ribbeck  annehmen, 
dass  Roscius  unter  jenen  Direktoren  mit  der  Neuerung  auftrat.  Im  J.  91 
war  sie  bereits  vor  nicht  gar  langer  Zeit  eingeführt  worden;  denn  Gic.  de 
or.  3, 59, 221  heisst  es,  dass  die  älteren  Leute  mit  den  Masken  noch  nicht 
zufrieden  waren.    Also  hatten  diese  noch  maskenlose  Schauspieler  gesehen. 

Die  Musik  in  dem  Drama  war  entweder  selbständig  wie  in  den 
Zwischenakten  oder  begleitend.  Sie  bestand  in  Flötenmusik,  die  von  einem 
Bläser  ausgeführt  wurde.  Das  Instrument,  das  hiebei  in  Anwendung  kam, 
war  stets  die  Doppelflöte,  d.  h.  es  waren  zwei  I(phre  durch  ein  Mundstück 
miteinander  verbunden.  In  den  erhaltenen  Didaskalien  wird  dieses  Flöten- 
paar entweder  bezeichnet  durch  tibiis  'paribus,  tibiis  duabus  dextris,  tibiis 
imparibus,  tibiis  Sarranis. 

Diese  Bezeichnungen  machen  der  Interpretation  Schwierigkeiten.  Die  Doppelflöte 
konnte  so  zusammengesetzt  sein,  dass  das  rechte  Rohr  entweder  dieselbe  Länge  und  die- 
selbe Konstraktion  hatte,  wie  das  linke,  oder  auch  nicht.  Im  ersten  Fall  hatte  man  tünae 
pares,  im  zweiten  tHHae  impares.    Nun  sollte  man  meinen,   dass  die  tibiae  pares  entweder 


*)  Anders  erklärt  Donat  (fahulas)  pretio 
meo  emtas»  Danach  „hätte  der  Schauspiel- 
direktor  eine  Abschätzung  des  zu  erwer- 
benden Stttckes  den  Festleitem  gemacht,  da- 
mit aber  zugleich  eine  Garantie  übernom- 
men für  das  Bühnenglück  des  Stücks,  so 
dass  er  den  Kaufpreis  dem  Käufer  zurück- 


erstatten musste,  wenn  das  Stück  durchfiel.' 
Diese  Ansicht  billigt  und  führt  durch  Ritschl, 
Parerga  p.  328. 

')  Bie  Stellen  finden  sich  zusammenge- 
stellt bei  Ribbeck,  Rom.  Trag.  p.  670  Anm. 
125  (Trinumm.  705 ;  Phormio  prol.  16  u.  s.  w.). 


88       Römische  Litieratnrgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 


dttae  dextrae  oder  duae  sinistrae  sein  konnten.  Bei  dieser  Annahme  aber  würde  die  Be- 
zeichnung tibiis  parihua  unvollkommen  sein,  femer  würde  man  auch  duahus  sinistrut  er- 
warten. Um  dieser  Schwierigkeit  zu  entgehen,  ist  man  gezwungen,  entweder  tibiis  paribm 
mit  tibiis  duabtis  dextris  zu  identifizieren  und  die  tibiis  Sarranis  dann  für  eine  zweite 
Gattung  der  tibiae  pares  anzusehen  oder  die  tibiae  pares  als  eine  überhaupt  von  dem  dtme 
dextrae  und  Sarranae  verschiedene  Gattung  aufzufassen.  Vgl.  Dziatzko,  Rh.  Mus.  20,  594. 
Litteratur:  Das  Theaterwesen  der  Republik  ist  in  meisterhaften  Abhandlungen  von 
RiTSCHL  aufgehellt  worden;  dieselben  finden  sich  in  seinen  Parerga.  L.  FriedlInder  im 
111.  Bd.  des  Handb.  der  röm.  Altert,  von  Marquardt  u.  Mommsen  p.  462  u.  p.  508.  Ribbeck, 
Rom.  Trag.  p.  647  («Theater  und  Schauspieler").  Arnold,  Bas  altrömische  Theatergebäude. 
Würzb.  1873.  Populär:  Opitz,  Schauspiel  und  Theaterwesen  der  Griechen  und  Römer. 
Leipzig  1889. 

10.   C.  Lucilius. 

55.  Die  Buchsatura.  Schon  mehrmals  war  in  unserer  Darstellung 
von  der  satura  die  Rede.  Zuerst  lernten  wir  sie  kennen  als  ein  dramati- 
sches Gebilde,  als  eine  Vereinigung  von  Dialog,  Tanz  und  Gesang.  Dann 
trafen  wir  sie  wiederum  bei  Naevius;  allein  das  einzige  uns  erhaltene 
Fragment  konnte  uns  keinen  andern  Aufschluss  erteilen,  als  dass  dasselbe 
auf  einen  Dialog  hinwies.  Bei  dem  nächsten  Satirenschriftsteller,  bei  Ennius, 
sind  wir  besser  daran;  hier  liegt  eine  kleine  Anzahl  von  Fragmenten  vor; 
dagegen  sind  bei  seinem  Nachahmer,  Pacuvius  wiederum  alle  Spuren 
erloschen.  Für  Ennius  und  Pacuvius  erhalten  wir  aber  eine  Begriffsbestim- 
mung der  von  ihnen  gepflegten  Satire;  sie  wird  als  „ein  aus  verschiedenen 
Dichtungen  zusammengesetztes  Gedicht^  definiert.  Allein  in  dieser  Gestalt 
kann  die  Definition  unmöglich  richtig  sein,  ein  Gedicht,  das  aus  mehreren 
Dichtungen  besteht,  ist  kein  Gedicht  mehr,  sondern  eine  Sammlung  von 
Gedichten.  1)  Und  als  eine  Sammlung  vermischter  Gedichte  werden 
die  Satiren  des  Ennius  allgemein  angesehen.  Mit  dieser  Begriffsbestimmung 
wird  auch  der  Name  satura  in  Einklang  gebracht.  Wie  satura  im  reli- 
giösen Leben  die  mit  verschiedenen  Opfergaben  besetzte  Schüssel  heisst, 
wie  eine  aus  verschiedenen  Ingredienzien  bestehende  Pastete  den  Namen 
satura  führt,  wie  in  der  Gesetzessprache  satura  mit  Ergänzung  von  lex 
das  Gesetz  genannt  wird,  welches  verschiedene  Materien  zusammenfasst, 
so  soll  satura  (mit  ünterverstehung  von  poesu)  die  vermischte  Dichtung, 
die  Miscellanpoesie  bedeuten.  Dass  auch  der  Plural  saturae  in  Anwendung 
kam,  wird  durch  den  ganz  analogen  Gebrauch  von  silvae  und  prata  statt 
Silva  und  pratum  gerechtfertigt.  Dieser  Erklärung  steht  aber  eine  grosse 
Schwierigkeit  entgegen.  Es  fehlt  die  Brücke,  die  von  der  Buchsatura  zur 
dramatischen  führt;  denn  selbstve):*ständlich  kann  ja  dort  nicht  von  einer 
Sammlung  von  Gedichten  die  Rede  sein;  es  müsste  also  dort  das  „Ver- 
mischte" auf  die  einzelne  satura  bezogen  werden;  allein  eine  solche  Be- 
ziehung erlaubt  nicht  der  Inhalt,  denn  auch  das  dramatische  Gebilde  muss 
einheitlich  sein;  aber  auch  nicht  von  der  Mischung  der  Formen,  Dialog, 
Tanz  und  Gesang,  wie  man  annahm,  kann  der  Name  satura  herrühren, 
denn  auch  andern  Dichtungsgattungen  sind  solche  Mischungen  eigentümlich, 
wie  z.  B.  den  heiligen  Liedern  die  Mischung  von  Gesang  und  Tanz.  Um 
diesen  Schwierigkeiten  zu  entgehen,  haben  Kiessling  und  Leo  *)  die  Ansicht 


*)  Luc.  Müller,  Q.  Ennius  p.  106. 

'*)  Kiessling,  Einl.  zu  den  Satiren  p.  VII; 


Leo,   Hermes  24,  77    „Jedenfalls  muss   die 
vorhistorische  satura  aus  der  Geschichte  der 


Die  Bnohsatnra. 


89 


ausgesprochen,  dass  die  Bezeichnung  satura  für  die  alten  Improvisationen 
der  römischen  Bühne  bloss  in  den  Köpfen  derjenigen  Litteraturhistoriker 
existiert  hat,  „welche  bei  der  Vergleichung  der  römischen  Bühnendichtung 
mit  ihren  attischen  Mustern,  neben  der  Tragödie  und  Komödie  eine  der 
Gattung  der  Sotvqoi  entsprechende  primitive  Form  römischer  scenischer 
Dichtung  vermissten.**  Allein  diese  Ansicht  kann  nicht  richtig  sein,  wir 
finden  zweimal  satura  als  Titel  von  Komödien  und  zwar,  was  wichtig  ist, 
von  nationalen  Komödien.  Atta  betitelte  so  eine  Togata,  Pomponius  so 
eine  Atellana.  Ein  solcher  Titel  lässt  sich  nur  durch  Anlehnung  an  die 
alte  satura  erklären.  Hiess  aber  die  alte  dramatische  Form  wirklich  satura, 
so  muss  die  Buchsatura  des  Ennius  sich  an  dieselbe  angeschlossen  haben ; 
es  ist  nicht  denkbar,  dass  satura  hier  etwas  anderes  und  wiederum  dort 
etwas  anderes  bedeutete.  Wir  müssen  also  zeigen,  welches  Band  zwischen 
der  dramatischen  satura  und  der  Buchsatura  besteht. 

Wir  haben  die  dramatische  satura  als  Spiel  der  Satyri,  der  Böcke 
d.  h.  der  in  Bocksfelle  gehüllten  Landsleute  betrachtet.  Der  Charakter 
dieses  Spiels  war  Scherz  und  Heiterkeit,  die  Form  Dialog,  Gesang,  Tanz. 
Eine  schwache  Vorstellung  desselben  kann  die  Einlage  vom  Kampfe  des 
Sarmentus  und  des  Messius  in  Hör.  sat.  1,  5,  51  und  die  Erzählung  vom 
Rechtshandel  des  Rupilius  Rex  und  des  Persius  (Hör.  sat.  1,  7)  uns  ge- 
währen. Wird  die  satura  nun  Lesern,  nicht  Zuschauem  vorgeführt,  so 
bleibt  als  Gemeinsames  der  heitere  Charakter  und  die  dialogische 
Form.  Und  ich  denke,  diese  beiden  Dinge  machten  ursprünglich  das 
Wesen  der  Buchsatura  aus.  Der  Inhalt  konnte  natürlich  verschieden  sein, 
nur  auf  das  Ethos  und  die  dialogische  Einkleidung  kam  es  an.  Und  diese 
können  wir  bei  Ennius  mehrfach  nachweisen.  So  stellte  er  einen  Streit 
zwischen  Tod  und  Leben  dar;  im  dritten  Buch  verteidigte  sich,  wie  es 
scheint,  *)  der  Dichter  in  einer  Unterredung  gegen  AngriflFe  auf  seine  Werke, 
auch  dem  Fragment  des  sechsten  Buchs  liegt  ein  Dialog  zu  Grund.  Es 
ist  nicht  notwendig,  dass  jede  satura  einen  förmlichen  Dialog  enthält ;  der 
dialogische  Charakter  ist  gewahrt,  wenn  der  Dichter  hie  und  da  einen 
Anderen  sprechen  lässt  und  das  Ganze  als  eine  Plauderei  mit  dem  Leser 
erscheint.  Mit  der  Zeit  konnte  auch  der  Dialog  zurücktreten,  allein  noch 
bei  Horaz  weisen  nahezu  alle  Satiren  das  dialogische  Element  auf.^)  Einen 
eigenen  Charakter  gab  der  Satura  Lucilius,  indem  er  das  Moment  der 
Kritik  und  der  Belehrung  in  sie  aufnimmt  und  das  ysXoTov  zum  cr/roi;- 
doyälwov  wendet.  Besonders  sind  es  die  öffentlichen  Zustände,  die  Gegen- 
stand seiner  Plaudereien  werden.  Dadurch  tritt  die  satura  an  Stelle  der 
alten  attischen  Komödie.  3)    Dass  auf  die  Buchsatura  auch  griechische  Vor- 


römiflchen  Poesie  in  ihre  Quellenkunde  ver- 
setEt  werden. **  Und  vorher:  „Der  Litterar- 
historiker  hat  augenscheinlich  nur  nach  einem 
Ausdruck  gesucht,  der  eine  noch  in  freier 
Form  sich  bewegende  Dichtungsart  schick- 
lich bezeichnen  konnte;  er  fand  den  von 
£nnin8  aus  der  Sprache  des  Lebens  (per 
saturam)  eingeführten  Titel  bezeichnend.  Mög- 
lich auch,  dass  er  der  Etymologie  satura 
—  tfarv^M   folgend   den  Namen  nach  dem 


aristotelischen  did  t6  ix  aarvgixov  fjietaßa- 
Xeiy  oip^  «jiBCBfAvvv^  (Poet.  1149  a  20)  bil- 
dete ;  sicher,  dass  er  —  diese  satura  in  Ana- 
logie zum  Satyrspiel  setzt.  ** 

*)  Ribbeck,  Gesch.  der  r.  Dicht.  1,  49. 

^)  VgL  Oebtneb,  Horazens  Bemerkungen 
Aber  sich  selbst  in  den  Satiren.  Gr.Strelitz 
1880  p.  6. 

•)  Marx,  Interpretationum  HexaSf  Ro- 
stock 1888/89  p.  12. 


90       Römisohe  Litteratnrgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


bilder  einwirkten,  kann  nicht  bezweifelt  werden.  Es  gab  von  Timon  unter 
dem  Titel  aarvqoi  Gedichte,  denen  dieselben  Eigenschaften  zugeschrieben 
werden,  die  wir  der  Buchsatura  zugeschrieben  haben.')  Horaz  nennt  die 
Plaudereien  des  Bion  (Ep.  2,  2,  60).  Auch  Erates  und  besonders  Menippus 
aus  Gadara  lieferten  dem  römischen  Dichter  Muster.  Der  Ausspruch  Quin- 
tilians  10, 1,  93  satira  tota  nostra  est  läast  sich  nicht  aufrecht  halten. 

Über  die  satura  ist  die  Hauptstelle  bei  Diomedes  p.  485  K  Satira  dieitur  cartnen 
apud  Romanos  nunc  quidem  maledicum  et  ad  carpenda  hominum  vitia  archaeae  comoediae 
Charaktere  compositum,  quäle  seripserunt  Lucilius  et  Horatiua  et  Persius  (vielleicht  bloss 
quäle  scripsit  Lucilius,  vgl.  Leo,  Hermes  24,  69) ;  et  (sed  REiFFEBSOHEiDy)  clim  carmen  quod 
ex  variis  poematibus  constabat  satira  vocabatur,  quäle  scripserunt  Pacuvius  et  Ennius.  Sa- 
tira autem  dicta  sive  a  Satyris,  quod  simüiter  in  hoc  earmine  ridiculae  res  pudendaeque 
dicuntur,  quae  velut  a  Satyris  proferuntur  et  fluni;  sive  satura  a  lanee,  quae  referta  variis 
multisque  primitiis  in  sacro  apud  priscos  dis  inferebatur  et  a  copia  ac  saturitate  rei  satura 
vocabatur  —  sive  a  quodam  genere  farciminis,  quod  muUis  rebus  refertum  saturam  dicU 
Varro  vocitatum.  est  autem  hoc  positum  in  secundo  libro  Plautinarum  quaestionum  „satura 
est  uva  passa  et  polenta  et  nuclei  pini  ex  mulso  consparsi  ad  haee  afii  addunf 
et  de  malo  punico  grana  ,  alii  autem  dictam  putant  a  lege  satura,  quae  uno  rogatu  multa 
sim\U  conprehtndat,  quod  scilieet  et  satura  earmine  mufta  simul  poemata  conprehenduntur, 
cuius  saturae  legis  Lucilius  meminit  in  primo  per  saturam  aedilem  factum  qui  legi- 
bus solvat  et  Sattustius  in  lugurtha  „deinde  quasi  per  saturam  sententiis  exqui- 
suis  in  deditionem  accipitur" 

Mit  MoHMSEN,  R.  Gesch.  1',  28  und  Ribbeok,  Gesch.  der  r.  Dicht.  1,  9  halten  wir 
an  dem  Zusammenhang  der  satura  mit  aatvQoi  fest;  freilich  bleibt  eine  Schwierigkeit,  näm- 
lich die  Entstehung  der  Form  «o/tira.  0.  Eelleb  erklärt  Philol.  45,  391 :  .Der  Titel  (satura) 
wurde  statt  saturi  vorgezogen,  weil  den  Römern  ein  substantiviertes  satura  schon  geläuüg 
war,  während  ihnen  die  hellenischen  Halbgötter  aatvQoi  fremd  waren.* 

Litteratur:  Casaubonus  de  satyrica  Gra^corum  poesi  et  Romanorum  satira  (1605); 
hier  wird  der  Unterschied  zwischen  dem  Satyrdrama  und  der  römischen  Satire  dargelegt; 
allein  dass  zwischen  beiden  doch  ein  Zusammenhang  besteht,  dürfte  aus  dem  Obigen  her- 
vorgehen. Vgl.  Ghbist,  Gr.  Litteraturgesch.  p.  144.  Von  den  vielen  Abhandlungen,  welche 
sich  mit  der  Satire  beschäftigen,  nenne  ich  folgende:  Roth,  Kl.  Schriften  2,  384  u.  411. 
Haase,  Die  römische  Satire  in  Prutz'  Deutsch.  Mus.  1851  p.  858.  Biet,  Zwei  politische 
Satiren  des  alten  Rom,  Marb.  1888.    Heinze,  De  Horatio  Bionis  imitatore,  Bonn  1889. 

56.  Das  Leben  des  G.  Lucilius.  Suessa  Aurunca  in  Gampanien  ist 
die  Heimat  des  Dichters  Lucilius.  Daher  nennt  ihn  Juvenal  1, 20  magnus 
Auruncae  alumnus.  Hier  wurde  er  180  aus  einem  vornehmen  Geschlechte 
geboren.  Von  seinen  Familienverhältnissen  wissen  wir  noch,  dass  sein 
Bruder  Senator  war  und  eine  Tochter  hatte,  welche  nachmals  die  Mutter 
des  Pompeius  Magnus  geworden  ist.  Unter  Scipio  diente  er  im  numan- 
tinischen  Krieg  (134).  Sein  Leben  brachte  er,  wie  es  scheint,  grösstenteils*) 
in  Rom  zu;  die  Satiren  wenigstens  können  nur  dort  abgefasst  sein.  Er 
besass  ein  eigenes  Haus  (Asconius  p.l2  K.  Seh.).  Seinem  vertrauten  Umgang 
mit  Scipio  und  Laelius  hat  Horaz  ein  schönes  Denkmal  Sat.  2, 1,  71  gesetzt. 
Auch  mit  .dem  Philosophen  Glitomachus  muss  er  sehr  befreundet  gewesen 
sein,  da  ihm  dieser  ein  Buch  widmete  (Cic.  acad.  2, 32, 102).  Gestorben 
ist  Lucilius  im  J.  103;  verheiratet  war  er,  wie  es  scheint,  nicht. 

Hieronymus  gibt  als  Geburtsjahr  1870  a.  Abrah.  =  147  y.  Chr.  (2,  129  Seh.)  an,  als 
Sterbjahr  1914  a.  Abrah.  =  103  v.  Chr.  (2,  133  Seh.):  C.  Lueüius  satirarum  scriptor 
Neapoli  moritur  ac  publica  funere  effertur  anno  aetatis  XLVL  Allein  das  Geburtsjahr  ist 
unrichtig  bestimmt,  denn  es  würde  dann  Lucilius  in  einem  kaum  glaublich  jungen  Alter 
Kriegsdienste  gethan  haben ;  auch  fordert  das  vertrauliche  Verhältnis  zu  Scipio  ein  höheres 
Alter;  endlich  würde  Hör.  Sat.  2, 1, 34  senex  von  Lucilius  auffallend  gesagt  sein,  wenn  er  mit 


■*)  Wachsmuth,  Sillographi'  p.  25,  de- 
finiert die  adti^^oi  als  carmina  axatnuxd 
colloquentium  personarum   vicihus  distineta. 


')  Eine  längere  Abwesenheit  (von  etwa 
126—119)  sucht  Mabx,  Stud.  Luc.  p.  93  zu 
erweisen. 


G.  Lnciliiis. 


91 


dem  46.  Lebensjahre  gestorben  wäre.  Es  ist  eine  sinnreiche  Vermutung  M.  Haupt's,  dass  eine 
Verwechslung  der  Konsuln  A.  Postumius  Albinus  und  C.  Calpumius  Piso  des  Jahres  180 
mit  Sp.  Postumius  Albinus  und  L.  Calpumius  Piso  des  Jahres  147  stattgefunden.  Damit 
werden  alle  Schwierigkeiten  beseitigt.  För  die  Lebensverhältnisse  des  Lucilius  sind  noch 
folgende  Stellen  zu  berücksichtigen:  Vell.  Pat.  2,  9,  3  qui  (Luc,)  8ub  P.  Äfricano  Nu- 
matUino  hello  eques  militaverat.  2,  29,  2  Cn.  (Pompeius)  genitus  matre  Lucilia,  stirpis  sena- 
toriae.  Acro  ad  Hör.  sat,  2,  1,  75  fertur  Lucilius  maior  avuncuius  fuisse  Pompei  Magni. 
(Falsch  bei  Porphyrie  zur  Stelle:  etenim  avia  Pompei  LucUii  soror  fuerat.  Diese  Worte 
sind  Interpolation.    Vgl.  Marx,  Stnd.  Lucil.  p.  92,  1.) 

57.  Das  Corpus  der  Satiren  des  Lucilius.  Die  Satiren^)  des  Lu- 
cilius waren  in  30  Bücher  eingeteilt.  Diese  30  Bücher  wurden  aber  nicht 
auf  einmal,  sondern  successiv  veröffentlicht.  Auf  diese  successive  Ver- 
öffentlichung führen  folgende  Spuren:  Varro  citiert  de  1. 1.  5,  17  eine  Aus- 
gabe der  ersten  21  Bücher;  Nonius'  Citaten  liegen  zwei  Ausgaben  zu  Grund, 
darunter  eine,  welche  die  letzten  fünf  Bücher  nicht  kennt.  Dies  führt 
allem  Anschein  nach  auf  3  Teile,  von  denen  der  erste  die  Bücher  1 — 21, 
der  zweite  22—25,  der  dritte  26 — 30  umfasste.  Diese  drei  Teile  charak- 
terisieren sich  aber  als  Einheiten  durch  das  verschiedene  Mass,  in  dem 
sie  gedichtet  sind;  die  Bücher  1 — 21  weisen  nur  den  Hexameter  auf,  von 
den  Büchern  22 — 25  sind  so  wenig  Fragmente  überliefert,  dass  hier  über 
das  Metrum  keine  sichere  Entscheidung  getroffen  werden  kann;  soviel  ist 
aber  gewiss,  dass  das  Distichon  in  dem  22.  Buch,  das  hier  fast  allein  in 
Betracht  kommt,  angewendet  wurde.  In  dem  dritten  Teil  endlich  erschienen 
verschiedene  Metra,  am  häufigsten  trochäische  Septenare  und  jambische 
Senare.^)  Eine  Sonderstellung  nimmt  hier  wieder  das  30.  Buch  ein,  das 
aus  lauter  Hexametern  bestand  und  vielleicht  für  sich  herausgegeben  wurde. 
Diese  di*ei  Bände  sind  nicht  chronologisch  zu  einer  Gesamtausgabe  ver- 
bunden. Der  dritte  Teil  ist  der  früheste.  Man  kann  dies  schon  daraus 
ersehen,  dass  der  Dichter  im  Eingang  des  26.  Buchs  sein  Satirenschreiben 
rechtfertigt,  sozusagen  sein  Programm  entwirft.  Es  sind  aber  auch  chro- 
nologische Judicien  dafür  vorhanden.  Diese  weisen  im  26.  Buch  auf  c.  131 
(26,57),  im  1.  auf  c.  126  d.h.  auf  die  Zeit  unmittelbar  nach  dem  Tode 
des  Lupus.  Die  Anordnung  der  drei  Teile  erfolgte  augenscheinlich  nach 
metrischen  Rücksichten,  man  begann  mit  dem  geläufigsten  Masse,  dem 
Hexameter,  an  das  sich  natürlich  die  Partie  in  Distichen  am*eihte;  die 
gemischten  Metra  des  dritten  Teils  bildeten  den  Schluss. 

Über  das  Corpus  vgl.  Laohmann,  El.  Schriften  2,  62,  Müller's  Ausgabe  p.  IX — Xu 
zu  Nonios  2,  371.  Unsere  Darstellung  schliesst  sich  an  die  scharfsinnige  Untersuchung  der 
Studio  LußUiana  von  Marx,  Bonn  1882,  p.  86 — 91  an.  Die  Abfassung  des  zweiten  Buchs 
setzt  Mabx  p.  91  c.  119,  das  elfte  c.  110  an. 

58.  Inhalt  einzelner  Bücher  der  Satiren.  Fragmente  sind  uns 
von  allen  Büchern  erhalten  mit  Ausnahme  der  Bücher  21,  24  und  25, 3) 
zu  denen  Müller  noch  Buch  23  hinzufügt.  Die  Bestimmung  des  Inhalts 
einzelner  Bücher  ist  deshalb  schwierig,  weil  in  einem  Buche  mehrere  Sa- 


^)  Die  er  vielleicht  schon  sermones 
nannte  vgl.  30,  34  M.  und  dazu  Mabx,  Stud. 
LuciL  p.  44. 

')  Nach  Laghxann  bestand  das  B.  26 
und  27  aus  trochXischen  Septenaren,  28  aus 
jambischen  Senaren,  29  aus  beiden  Yers- 
arten,  M&llbr  weicht  ab  in  Bezug  auf  B.  28 


und  29,  f&r  die  er  neben  den  trochäischen 
Septenaren  auch  jambische  Trimeter  und 
dactylische  Hexameter  annimmt  (Leben  des 
Lucil.  P- 27,  Ausg.  ]p.  XI). 

^)  £in  kurzes  Citat  des  25.  Buches  wird 
von  MüLLXB  dem  26.  (Vs.  99)  zugewiesen. 


92      RömiBohe  Litteratiirgeschiohte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


tiren  vereinigt  sein  konnten  und  höchst  wahrscheinlich,  worauf  die  Frag- 
mente führen,  auch  vereinigt  waren.  Doch  sind  immerhin  einige  Andeu- 
tungen möglich.  Im  1.  Buch  wird  in  zwei  öötterversammlungen  über  den 
princeps  senatus  L.  Cornelius  Lentulus  Lupus  beraten  und  sein  Untergang 
beschlossen  (Serv.  Aen.  10,  104).  Eine  Satire  des  2.  Buchs  behandelte  den 
Prozess  des  Q.  Mucius  Scaevola  und  T.  Albucius;  der  letztere  hatte  den 
ersteren  wegen  Erpressung  in  Asien  belangt.  Im  3.  Buch  war  eine  Reise 
von  Rom  bis  zur  siciliachen  Meerenge  geschildert.  Diese  Reisebeschreibung 
wurde  bekanntlich  von  Horaz  Sat.  1, 5  nachgeahmt.  Von  dem  4.  Buch 
wird  berichtet,  dass  Persius  seine  dritte  Satire  nach  der  lucilischen  ge- 
staltete, in  der  gegen  die  Üppigkeit  zu  Feld  gezogen  wurde.  Das  9.  Buch 
bezog  sich  auf  grammatische  und  litterarische  Probleme,  besonders  auf  die 
damals  schwebenden  orthographischen  Fragen.  Das  10.  Buch  begeisterte 
Persius  zur  Abfassung  von  Satiren  und  zur  Nachahmung  des  Eingangs. 
Im  13.  Buch  weisen  mehrere  Fragmente  auf  ein  Thema  hin,  wie  es  bei 
Horaz  Sat.  2,  4  behandelt  ist.  Das  14.  Buch  führt  den  jüngeren  Scipio 
redend  ein;  er  erzählt  seine  grosse  Reise.  Das  16.  Buch  überschrieben 
die  Grammatiker  „CoUyra**,  weil  Lucilius  in  demselben  viel  von  dieser 
seiner  Geliebten  sprach.  Aus  den  Fragmenten  des  26.  Buchs  können  drei 
Satiren  herausgeschält  werden,  eine,  in  der  er  sein  litterarisches  Unter- 
nehmen rechtfertigt,  eine  zweite,  welche  Scipios  numantinischen  Krieg  pries, 
endlich  eine  dritte,  welche  erotische  Dinge  behandelte.  Auch  im  30.  Buch 
war  von  seiner  satirischen  Dichtung  die  Rede. 

Porph.  zu  Hör.  sat.  1,  5,  1  Lucilio  hoc  satira  a^mulatur  Horatius  Her  suiim  a  Borna 
Brundesium  usque  describens,  quod  et  ille  in  tertio  lihro  fecit;  primo  a  Roma  Capuam  usque 
et  inde  fretum  Siciliense.  Schol.  Fers.  3,  1  hanc  satyram  poeta  ex  Lucili  libro  quatio 
transtulit  castigantis  luxuriam  et  vitia  divitum.  Vita  Pereii  p,  238  ed,  Jahn  lecto  libro 
Ldicilii  decimo  vehementer  satiras  comjyonere  instituity  cuius  libri  initium  imitatus  est,  sibi 
primOf  mox  omnihus  dctracturus  etc.  Porphyr.  Hör.  Carm.  1,  22,  10  liber  Lucüii  sextwt 
decimiM  Collyra  inscribitur,  eo  quod  de  Collyra  amica  scriptus  sit,  Reconstructionsver- 
suche  stellten  ausser  den  Herausgebern  an  in  neuerer  Zeit  Marx,  Stud.  Lucil.  für  das  1.  B. 
p.  54,  für  das  2.  p.  68,  für  das  13.  p.  77,  für  das  14.  p.  81,  für  das  30.  p.  42;  Bücheler, 
für  das  10.  B.  Rh.  Mus.  39,  287;  0.  Keller,  für  das  3.  Philol.  45,  553;  Birt,  Zwei  polit. 
Sat.  für  das  26.  B.  p.  74,  p.  89,  p.  112. 

59.  Charakteristik  des  Lucilius.  Die  Beurteilung  des  Lucilius  muss 
sich  zunächst  auf  die  Fragmente  des  Dichters  stützen;  ergänzend  treten 
drei  Horazische  Satiren  (1,  4;  1, 10;  2, 1),  in  denen  Lucilius'  dichterisches 
Schaffen  beurteilt  wird,  hinzu.  Bei  der  Durchmusterung  der  Fragmente 
erkennt  man,  dass  Lucilius  das  Leben  in  allen  seinen  Erscheinungen  seiner 
Kritik  unterworfen  hat.  Im  Vordergrund  stand  aber  die  Politik;  bekannt 
ist  der  Horazische  Vers  (Sat.  2,1,69): 

Primorea  populi  arripuit  populumque  trUnUim. 

Besonders  im  ersten  Buch  waren  die  Gebrechen  des  staatlichen  Lebens 
schonungslos  aufgedeckt;  es  beraten  dort  die  Götter  über  die  schleichende 
Krankheit*)  (16  M.)  und  über  die  Mittel  und  Wege,  wie  dem  römischen 
Gemeinwesen  aufgeholfen  werden  könne  (14).    Gern  vergleicht  der  Dichter 


')  Wir  eitleren  durchweg  nach  Müllers 
Ausgabe,  da  die  willkürliche  Behandlung, 
welche  die  Fragmente  in  der  neuen  Ausgabe 


von  Bahreks  erfahren  haben,  die  Benützung 
derselben  erschwert. 


C.  LncilioB.  93 

die  grosse  Zeit,  in  der  das  römische  Volk  zwar  in  Schlachten,  aber  nie- 
mals im  Krieg  besiegt  worden  sei  (26,  53)  und  in  der  es  den  alten,  schlauen 
Wolf,  den  Hannibal,  aus  Italien  verjagt  (29,  2 — 5),  mit  der  Jetztzeit,  in 
der  es  einem  Viriathus  unterlegen  sei  (26,55).  Den  politischen  Grössen 
seiner  Zeit,  einem  Lupus,  einem  Metellus,  einem  Asellus,  geht  er  scharf 
zu  Leibe.  Noch  sind  uns  in  den  Fragmenten  einige  Bilder  dieser  Art 
erhalten  (11, 14  fg.).  Aber  auch  die  Gebrechen  der  Gesellschaft  entgingen 
dem  scharfen  Blick  des  Dichters  nicht;  bekannt  ist  jenes  schöne  Fragment, 
in  dem  er  mit  lebhaften  Farben  schildert,  wie  alles  in  Rom  vom  Tages- 
grauen bis  in  die  Nacht  hinein  sich  abmüht,  andere  zu  täuschen  und  zu 
prellen,  selbst  aber  in  der  Rolle  des  Biedermanns  aufzutreten  (p.  133, 15). 
Die  zu  seiner  Zeit  stark  hervortretende  Gräkomanie  verhöhnt  er  in  der 
Person  des  Albucius,  der  griechisch  begrüsst  sein  wollte  (p.  135,  26).  Gegen 
den  um  sich  greifenden  Luxus  werden  scharfe  Worte  geschleudert.  Der 
Prasser  Gallonius,  der  den  Stör  auf  die  Tafel  brachte,  wird  als  ein  un- 
glücklicher Mann  geschildert,  der  niemals  gut  gegessen,  da  er  alles  auf 
diesen  seinen  Lieblingsfisch  verschwendet  (4,  4).  Selbst  auf  die  religiösen 
Anschauungen  richtet  er  sein  wachsames  Auge,  er  tadelt  in  merkwürdigen 
Versen  die  abergläubische  Verehrung  der  Bildwerke,  als  seien  sie  Personen 
(15, 5).  Sehr  beschäftigen  den  Dichter  wie  den  scipionischen  Kreis  dio 
grammatischen  Fragen  und  die  Litteratur.  Die  Orthographie  war  damals  ein 
viel  behandeltes  Problem  geworden,  auch  unser  Dichter  beteiligt  sich  durch 
positive  Vorschläge  an  demselben  (9, 12  fg.).  In  der  Litteratur  erregt  der 
Schwulst  und  der  unnatürliche  Ausdruck  der  tragischen  Dichter  seinen 
Spott  (29, 81).  Aber  auch  die  kleinen  Ereignisse  seines  Lebens,  wie  z.  B. 
seine  Reise  bis  zur  sicilischen  Meerenge  weiss  er  in  anmutiger  Weise  zu 
erzählen.  Kurz  was  auf  den  Dichter  in  der  langen  Zeit  seines  Lebens 
Eindruck  gemacht,  das  legt  er  in  seinen  Plaudereien  dem  Leser  vor,  so 
dass  Horaz  mit  Recht  sagen  kann,  Lucilius'  Leben  liege  in  seinen  Satiren 
wie  auf  einer  Votivtafel  offen  vor  den  Augen  des  Lesers  da.  Der  Form 
hat  der  Satiriker  weniger  Sorgfalt  zugewendet;  spottet  er  doch  des  ge- 
drechselten Stils  und  vergleicht  ihn  einer  Mosaik  (p.  135, 33);  er  ist  weit- 
schweifig (Hör.  sat.  1,4,11),  er  mischt  lateinische  und  griechische  Worte, 
wie  sie  ihm  gerade  in  den  Wurf  kommen  (Hör.  sat.  1, 10,  20).  Kein  Wunder, 
dass  der  augusteische  Kunstdichter  an  seiner  Schlottrigkeit  Anstoss  nimmt 
und  spöttisch  bemerkt,  dass  Lucilius  oft  in  einer  Stunde  200  Verse  herab- 
leiere. Lucilius  verschmähte  eben  alles  Gemachte  und  Gekünstelte;  wie 
sich  ihm  ein  Gedanken  aufdrängte,  wurde  er  ohne  grosse  Ängstlichkeit 
hingeworfen.  Aber  diese  unmittelbare  Darlegung  der  Empfindung  muss 
einen  Hauptreiz  dieser  Dichtungen  ausgemacht  haben;  es  kommt  hinzu, 
dass  an  die  Beurteilung  der  Dinge  eine  scharf  ausgeprägte,  in  ihrem  Kern 
vortreffliche  Individualität  herantritt,  der  nicht  der  Spott  das  alleinige 
Ziel  ist.  Nicht  ohne  Rührung  lesen  wir  jene  schöne  Stelle,  in  der  er  be- 
kennt, dass  er  durch  seine  Verse  mit  allem  Eifer  des  Volkes  Wohl  zu 
fordern  suche,  und  gleich  darauf  finden  wir  ein  Gebet  um  reichen  Segen 
für  das  Vaterland  (27, 1).  In  einem  anmutigen  Fragment,  in  dem  er  die 
altrömische  virtus  schildert,   führt  er  unter  anderem  aus,   Tugend  sei  e^, 


04      fiOmiBche  Litteratargeschiohte.    L  Die  2eit  der  Bepublik.    2.  Periode. 

der  bösen  Menschen  und  der  bösen  Sitten  Feind  zu  sein^  dagegen  der  guten 
Menschen  und  der  guten  Sitten  Freund,  das  Wohl  des  Vaterlandes  in  die 
erste  Linie  zu  stellen,  das  Wohl  der  Eltern  in  die  zweite,  das  eigene  in 
die  letzte  (p.  133,  9).  Bei  der  hohen  Meinung,  die  er  von  seinem  Dichter- 
beruf hat,  darf  man  sich  nicht  wundern,  wenn  er  o£fen  ausspricht,  dass 
ein  Lucilius  kein  Steuerpächter  werden  kann  (26, 16),  und  sich  rühmt,  dass 
seine  Gedichte  von  vielen  allein  noch  gelesen  werden  (30, 4).  Lucilius' 
Bedeutung  für  die  römische  Litteratur  ist  eine  grosse;  er  hat  den  von 
Naevius  ausgestreuten  Samen  weiter  entwickelt,  durch  ihn  ist  der  satura 
Kritik  der  Gegenwart  vorwiegend  als  Aufgabe  zugefallen;  seine  Satiren 
gaben  den  Römern  Ersatz  für  die  alte  griechische  Komödie. 

Luciliua  wurde  bald  kommentiert,  so  von  Laelius  Archelans  und  Vettius  Philocomus, 
bei  dem  letztem  hörte  die  Erklärung  der  Grammatiker  und  Dichter  Valeriua  Cato,  der 
später  selbst  die  Verbesserung  der  Lucilianischen  Satiren  unternahm  (Suet.  gr.  2;  Hör. 
sat  1,  10  in  den  vorausgeschickten  unechten  Versen,  Aber  welche  zu  vgl.  Marx,  Rh.  Mus. 
41,  553).  In  der  Ciceronischen  Zeit  schrieb  Curtius  Nicia  über  Lucilius  (Suet.  gr.  14).  In 
der  Augusteischen  Zeit  wurde  er  viel  gelesen,  wie  dies  aus  der  Opposition  des  Horaz  er- 
hellt. Der  Kritiker  Valerius  Probus  zur  Zeit  Neros  besorgte  eine  kritische  Ausgabe,  vgl. 
Anecd.  Parisin.  p.  137  Rei£fersch.:  Probus,  qui  UIcls  (sc,  notas)  in  Vergüio  et  Horatio  et 
Lueüio  (überliefert  Lucretio,  das  Richtige  stellte  her  Bernhardt)  apposuU  ut  Homero  ÄrU 
starchus.  Zur  Zeit  Hadrians,  da  man  die  alten  Schriftsteller  sehr  kultivierte,  wurden  auch 
die  Satiren  des  Lucilius  fleissig  behandelt  ^ 

Litteratur:  Die  erste  vortreffliche  Ausgabe  stammt  von  Franz  Doitsa,  Leyden 
1597,  dem  sein  Vater  Janvs  Doüsa  und  Scalioer  Beiträge  spendeten.  In  neuester  Zeit  hat 
die  erste  grundlegende  Ausgabe  L.  Müller,  Leipzig  1872  publiziert.  Als  Ergänzung  hiezu 
erschien  desselben  Verfassers  Schrift,  Leben  und  Werke  des  G.  Lucilius,  Leipzig  1876.  Aus 
dem  Nachlass  C.  Lachmann*s  veröffentlichte  J.  Vahlen,  C.  Lueilii  saturamm,  Berlin  1876, 
wozu  als  Ergänzung  kommt  Härder,  index,  LuciL,  BerL  1878.  In  den  Frcigmenta  poeta- 
rum  Romanorum  von  BIhrens  findet  sich  Lucilius  p.  139 — 266.  Da  die  meisten  Fragmente 
von  Nonius  überliefert  sind,  so  hängt  die  Kritik  des  Lucilius  mit  der  Kritik  des  Nonius 
zusammen.  Um  die  Erklärung  und  Kritik  der  Fragmente  haben  sich  ausser  den  Heraus- 
gebern Franckbn,  Büchbler,  Marx,  Stowasser  bemüht 


Hier  ist  vielleicht  der  passende  Ort,  des  lustigen  Kneipgesetzes  (lex  convivalis)  zu 
gedenken,  welches  Valerius  aus  Vibo  Valentina  verfasst  hatte.  Da  als  Antragsteller  Tappo 
eingeführt  wurde,  so  hiess  die  lex  auch  lex  Tappula,  Und  unter  diesem  Namen  wird  sie 
auch  bei  Lucilius  erwähnt  (p.  158,  vs.  177).  Vgl.  Fest  p.  363  M.  Tappulam  legem  con- 
tiralem  ficto  nomine  conscripsit  iocoso  carmine  Valerius  VcUentinus,  cuius  meminit  Lucilius 
hoc  modo:  Tappulam  rident  legem  congerrae  Opimi.  Von  dieser  lex  Tappula  ist  die  Ein- 
leitung in  einer  bronzenen  Kopie  in  neuerer  Zeit  in  Vercellae  aufgefanden  worden.  Vgl. 
Philol.  Wochenschr.  1882  n,  25  p.  795 — 796.  Wohl  derselbe  Valerius  machte  auch  ein  Gedicht, 
in  quo  puerum  praetextatum  et  ingenuam  virginem  a  se  corruptam  poetico  ioco  significarerat 
(Vaier.  Max.  8,  1,  8).  Als  er  daher  den  G.  Cosconius  wegen  Erpressungen  anklagte,  liess 
der  Verteidiger  das  schändliche  Gedicht  vorlesen  und  erreichte,  dass  G.  Gosconius  trotz 
seiner  offenkundigen  Schuld  freigesprochen  wurde. 

11.  Die  übrigen  Dichter. 

60.  Dramatisches.  Als  Palliatendiehter  wird  ein  Atilius  in  dem 
Kanon  des  Volcacius  Sedigitus  an  fünfter  Stelle  genannt.  Wir  kennen 
nur  eine  Palliata  unter  dem  Namen  des  Atilius;  es  ist  ein  „Weiberfeind" 
{misogynos),  den  Cic.  Tusc.  4, 11, 25  erwähnt.  Aus  einer  unbekannten  Palliata 
desselben  citiert  Cicero  an  einer  andern  Stelle  einen  Vers ;  zugleich  nennt 
er  ihn  hier  in  Bezug  auf  den  Stil  einen  poeta  durissimus  (ad  Attic.  14, 20,  3). 
Cicero  kannte  aber  von  einem  Atilius  auch  eine  Tragödie,  nämlich  eine 
Übersetzung  der  Sophokleischen  Elektra,  er  nennt  sie  eine  schlechte  Über- 


Die  übrigen  Dichter.  95 

Setzung  (de  fin.  1, 2,  5).  Seinem  Urteil  fügt  er  das  Ui*teil  des  Licinius  bei, 
der  Atilius  einen  ferreus  scriptor  nennt.  Im  Stil  gleichen  sich  also  beide 
Dichter,  der  Komiker  und  der  Tragiker,  wir  werden  sie  daher  identifizieren 
dürfen.  Ganz  anders  lautet  das  Urteil  in  Bezug  auf  die  dramatische  Wir- 
kung. Varro  zählt  den  Atilius  neben  Trabea  und  Caecilius  zu  denjenigen, 
welche  die  ndOiri  besonders  zu  erregen  verstanden  (Charis.  p.  241  K).  Und 
dieses  Lob  wird  bestätigt  durch  die  Nachricht  Suetons  (Gaes.  84),  dass 
beim  Leichenbegängnis  Caesars  ein  Canticum  aus  der  Elektra  des  Atilius 
aufgeführt  wurde.  Ist  die  Identifizierung  des  Komikers  und  des  Tragikers 
richtig,  so  wird  Atilius  bald  nach  Ennius  anzusetzen  sein;  und  vor  Caeci- 
lius nennt  ihn  auch  Varro  an  der  angeführten  Stelle. 

RiTSCHL  wollte  unseni  Dichter  mit  dem  Schauspieler  L.  Hatilios  aus  Praeneste  iden- 
tifizieren, vgl.  Parerga  p.  11  Anm.  p.  196;  allein  dies  ist  ganz  unsicher.  Siehe  Bziatzko, 
Rh.  Mus.  21,  72,  Anm.  18. 

61.  Episches.    Wir  haben  zwei  Dichter  zu  verzeichnen: 

1)  Hostius.  Ennius  hatte  den  istrischen  Erleg  der  Jahre  178  und 
177  in  seinem  Epos  besungen.  Dieses  Beispiel  reizte  Hostius,  einen  spä- 
teren Krieg  mit  den  Istrern,  nämlich  den  des  Jahres  129  zum  Gegenstand 
eines  Epos  zu  machen.  Die  Annahme  scheint  aber  unabweislich  zu  sein, 
dass  ein  Mann  nur  dann  auf  den  Gedanken  kommen  kann,  diesen  unbe- 
deutenden Krieg  zu  besingen,  wenn  er  zu  gleicher  Zeit  lebte  und  wenn  er 
einen  Zeitgenossen  verherrlichen  wollte.  Von  dem  Epos,  das  mindestens 
drei  Bücher  hatte,  sind  nur  c.  7  Fragmente  erhalten. 

Die  Beziehung  auf  den  Krieg  des  J.  129  hat  zuerst  Bebok  behauptet.  Vgl.  Fleckeis.  J. 
83,  322  (Opusc.  1,  2M).  Über  diesen  Krieg  berichtet  Mommsek  2^,  169.  ,129  demütigte  der 
Konsul  Tnditanus  in  Verbindung  mit  dem  tüchtigen  Decimus  Brutus,  dem  Bezwinger  der 
spanischen  Gallaeker,  die  Japyden  und  trug,  nachdem  er  anfönglich  eine  Niederlage  erlitten, 
schliesslich  die  römischen  Waffen  tief  nach  Dalmatien  hinein  bis  an  den  Kerkafiuss,  25 
deutsche  Meilen  abwärts  von  Aauileia.*  Dieser  Sempronius  Tuditanus  war  auch  Geschicht- 
Bchreiber;  vielleicht  wurde  durcn  ihn  das  Epos  veranlasst. 

2)  A.  Furius  von  Antium.  Gellius  teilt  uns  18,11  von  Furius 
(ex  poenicUis  Furianis)  sechs  Hexameter  mit,  um  dessen  Vorliebe  für  In- 
choativa  darzuthun.  Die  Bruchstücke  sind  allgemeiner  Natur,  weisen  aber 
doch  auf  Kampf  (fr.  1  u.  3  B.  p.  276)  und  damit  auf  ein  historisches  Gedicht 
hin.  Da  in  der  Kapitelüberschrift  ausdrücklich  Furius  Antias  genannt 
wird,  so  kann  hier  über  den  Autor  kein  Zweifel  obwalten.  Nicht  ohne 
Schwierigkeit  ist  die  Zuteilung  anderer  Fragmente.  Macrobius  gibt  im 
6.  Buch  ebenfalls  mehrere  Hexameter  eines  Furius  und  zwar  aus  einem 
Gedicht,  das  er  mit  „annalis^  bezeichnet.  Er  citiert  von  diesem  Gedicht 
das  11.  Buch.  Zeitanspielungen  finden  sich  auch  hier  nicht.  Endlich  tritt 
bei  Horaz  ein  Furius  auf;  es  wird  dort  (Sat.  2,  5,  40)  der  Vers  desselben 

JuppUer  hihern<is  cana  nipe  conspuit  Alpes 

verspottet.  Acre  teilt  zur  Stelle  mit,  dass  der  Vers  aus  des  Furius  Biba- 
culus  „Pragmatia  belli  Oallici"  stamme.  Allein  hier  muss  ein  Irrtum  des 
Berichterstatters  vorliegen.  Niemand  berichtet  etwas  von  einem  histori- 
schen Epos  dieses  Furius;  ein  solches  widerstreitet  auch  ganz  der  Richtung 
der  Schule,  zu  der  er  gehörte.  Endlich  können  wir  ihm,  den  wir  aus  den 
echten  Fragmenten  als  einen  ganz  vorzüglichen  Dichter  kennen  lernen,  die 
von  Horaz  gerügte  Geschmacklosigkeit  nicht  zutrauen.     Horaz  muss  also 


96      BdmiBohe  LitteratnrgeBchiohie.    L  Die  Zeit  der  Aepnblik.    2.  Periode. 

einen  andern  Furius  im  Sinne  haben;  welchen  er  im  Sinne  hat,  ersehen 
wir  aus  Sat.  1,10, 36,  wo  allem  Anschein  nach  wiederum  unser  Furius 
auftritt;  denn  an  beiden  Stellen  haben  wir  einen  „schwülstigen''  Dichter; 
auch  scheint  die  zweite  Stelle  jenes  Gedicht  über  den  gallischen  Krieg  zu 
streifen.  Ist  diese  Identifizierung  richtig,  so  müssen  wir  den  Furius  nach 
der  zweiten  Stelle  Alpinus  nennen  und  ihm  noch  ein  Gedicht,  eine  Aethiopis, 
beilegen.  £s  wären  also  noch  die  von  Macrobius  mitgeteilten  Fragmente 
zu  beurteilen;  hier  sehe  ich  nun  keinen  stichhaltigen  Grund,  dieselben  dem 
Furius  Antias  abzusprechen.  Das  annalistische  Gedicht  des  Furius  scheint 
bis  auf  die  Gegenwart  herabgegangen  zu  sein;  denn  wenn  der  Sieger  im 
Cimbernkrieg,  Q.  Lutatius  Gatulus,  eine  Denkschrift  in  Form  eines  Briefs 
über  sein  Konsulat  und  seine  Thaten  an  Furius  schickte,  so  wird  der  Zweck 
der  Zusendung  gewesen  sein,  dass  er  in  den  Annalen  des  Furius  berück- 
sichtigt sein  wollte  (Cic.  Brut.  35, 132). 

Zu  Hör.  Sat.  2,  b,  40  teilt  Acro  den  oben  stehenden  Vers  mit  und  bemerkt:  Furiun 
Vivaculus  in  pragmcttia  belli  GalHci,  vgl.  Quint.  8,  6,  17;  zu  1,  10,  36  heisst  es  bei  Acro: 
Bibaculum  quendam  poetam  gcUlum  tangit,  bei  Porphyrio  Cornelius  Alpinus  (Memnona)  hexa- 
tnefris  versihus  nimirum  describit,  wobei  aber  zu  bemerken,  dass  die  Worte  Cornelius 
Alpinus  in  der  besten  Handschrift  fehlen.  Ein  anderes  Verfahren  als  das  im  Texte  einge- 
haltene schlagen  Bähbens  und  Ribbeck  ein;  Bahrens  belässt  nur  die  von  Grellius  mitge- 
teilten Verse  dem  Furius  Antias,  in  dem  von  Macrobius  und  Horaz  erwähnten  Dichter  er- 
kennt er  den  Furius  Bibaculus,  vgl.  fragm.  p.  318  und  Comment.  Catull.  p.  21.  Ribbeck 
dagegen  Gesch.  d.  röm.  Dicht.  1,  295  sieht  bei  Gellius,  Macrobius,  Horaz  (von  Sat.  1,  10,  44 
ist  nicht  die  Rede)  denselben  Dichter  und  zwar  Furius  Antias,  dessen  Annalen  den  galli- 
schen d.  h.  cimbrischen  Krieg  behandelt  hätten.  Dass  an  den  zwei  Stellen  des  Horaz  der 
Dichter  Furius  Alpinus  gemeint  ist,  hat  Nippebdbt  Opusc.  p.  499  dargethan. 

62.  Didaktisches.  Lehrhaftes  dichtete  Q.  Yalerius  aus  Sora,  den 
Cic.  de  or.  3, 11, 43  den  literatissimus  omnium  togatorum  nennt.  Er  gehörte, 
wie  es  nach  fr.  1  B.  p.  272  scheint,  dem  Kreise  des  jüngeren  Scipio 
an.  Unter  den  wenigen  Fragmenten,  welche  wir  Varro  und  Plinius  ver- 
danken, tadelt  eines  eine  prosodische  Eigentümlichkeit  des  Dichters  Accius, 
zwei  Hexameter  besingen  Juppiter  im  stoischen  Sinne.  Ferner  erwähnt 
Plinius  praef.  33  ein  Werk  desselben  mit  dem  Titel  inomidsg.  Hier  war 
wohl  über  den  geheimen  Namen  Roms  gehandelt  (Plin.  n.  h.  3, 65).  Ein 
litterarhistorisches  Lehrgedicht,  dessen  Titel  wir  nicht  kennen,  schrieb 
Porcius  Licinus.i)  Er  gehört  allem  Anschein  nach  der  Zeit  des  Scipio 
und  Laelius  an;  er  wird  von  Gellius  19,9  vor  Q.  Lutatius  (Cons.  102)  ge- 
stellt. Aus  diesem  Werk  stammt  das  Dutzend  trochäischer  Tetrameter 
über  Terentius,  welche  uns  eine  Vorstellung  von  dem  Werke  liefern;  es  war 
der  litterarische  lüatsch  darin  niedergelegt.  Auch  Angaben  über  Ennius 
und  über  Atilius  enthalten  die  Fragmente.  Diesem  litterarhistorischen  Ge- 
dichte entstammen  jene  vielcitierten  Verse,  welche  den  Einzug  der  Muse 
in  das  kriegerische  Rom  besingen  (Gell.  17, 21,45).  Ungefähr  in  dieselbe 
Zeit  gehört  das  Gedicht  „über  die  Dichter*  des  Volcacius^)  Sedigitus. 
Da  er  die  Togata  und  den  Mimus  nicht  berücksichtigt,  scheint  er  die  Blüte- 
zeit dieser  Gattungen  nicht  erlebt  zu  haben.  Aus  diesem  Buch  stammt 
der  Kanon  der  zehn  Palliatendichter,   den  er  nach  dem  Muster  des  wohl 


V)  Madvio,  Opusc.  85. 

^)  Dies  die  richtige  Sclireibung,  nicht  Volcatius.   Vgl.  Bücheleb,  Rh.  Mus.  33, 492. 


Die  übrigen  Dichter.  97 

in  Pergamon  entstandenen  Kanon ')  der  zehn  Redner  entworfen  hatte.  Es 
folgen  sich  die  Dichter  in  dieser  Reihenfolge,  für  welche  ein  Prinzip  bis 
jetzt  nicht  sicher  nachgewiesen  werden  konnte:  Gaecilius,  Plautus,  Naevius, 
Licinius,  Atilius,  Terentius,  Turpilius,  Trabea,  Luscius,  Ennius  (Oell.  15, 24). 

Aus  einem  litterarischen  Gedicht,  in  welchem  dem  Terenz  vorgeworfen  wird,  dass 
seine  St&cke  von  Scipio  herrOhrten,  werden  von  Donat  in  seinem  Zusatz  zum  Leben  des 
Terenz  35  drei  Senare  aufgef&hrt  und  einem  Vallegius  in  actione  beigelegt.  Statt  Vallegius 
haben  Bücheleb  und  Ribbeck  Vagdlius  geschrieben,  was  Ritschl  aufgenommen.  Neuer- 
dings vermutet  Bücheleb,  Rh.  Mus.  33,  492  den  bekannten  Dichter  Volcctciua,  Leo,  Rh.  Mus. 
38,  321  greift  diese  Vermutung  auf  und  schreibt  weiter  statt  in  actione  —  in  enumeratione, 
damit  auf  denselben  Abschnitt  der  Schrift  des  Volcacius  de  po^is  hingewiesen  werde,  aus 
dem  Sueton  in  der  Vita  des  Terenz  einen  Senar  über  die  Hecyra  mitteilt.  Aliein  ich  be- 
zweifle die  Richtigkeit  dieser  Vermutungen.  Die  Anrede  Terenti  passt  nicht  gut  in  ein 
litterarhistorisches  Werk,  wohl  aber  in  eine  „Verhandlung"^,  welcher  der  Dichter  unterworfen 
wird.    Vagellius  wird  der  nächsten  Zeit  nach  Terenz  angehören. 

Litteratur:  Über  Porcius  Licinus  vgl.  Vahlen,  Monatsber.  der  Berl.  Akad.  1876 
p.  789.  Labewio,  Über  den  Kanon  des  Volcacius  Sedigitus,  Neustrelitz  1842  betrachtet  als 
Kriterium  des  Kanons  den  grösseren  oder  geringeren  Grad  von  Originahtät,  Ibbb,  De  Vol- 
codi  SedigUi  canone,  Münster  1865  das  grössere  oder  geringere  Mass  des  nd&og  (p.  4). 

63.  Die  epigrammatische  Dichtung.  Das  Epigramm  im  eigent- 
lichen Sinn  des  Wortes  findet  die  häufigste  Anwendung  auf  dem  Grab- 
denkmal. Die  ursprünglich  einfache  Form  desselben  mag  die  Grabschrift 
auf  Pacuvius  zur  Anschauung  bringen^)  (Gell.  1,24,4): 

Adulescens,  tarn  etsi  properas,  te  hoc  aaxum  rogat, 
Üt  sese  aspicias,  deinde  quod  scriptum  est  legas: 
Hie  sunt  poetae  Pacuvi  Marci  sita 
Ossa  .  hoc  voleham  nescius  ne  esses  .  vcde. 

Auch  inschriftlich  sind  uns  mehrere  Grabepigramme  erhalten,  welche  durch 
die  Natürlichkeit  des  Tons  den  Leser  fesseln;  man  vergl.  in  den  Exempla 
von  Schneider  die  Nr.  324,  325  und  326.  Ganz  anderer  Art  ist  das  künst- 
liche, nach  alexandrinischer  Manier  gedichtete  Epigramm.  Hier  kommt 
alles  auf  einen  scharf  zugespitzten  Gedanken  an.  So  werden  in  einem 
Epigramm  des  uns  bereits  bekannten  Porcius  Licinus  die  Feuer  suchenden 
Hirten  auf  eine  alles  in  Brand  steckende  Persönlichkeit  aufmerksam  ge- 
macht (Gell.  19,9,13).  In  sehr  künstlicher  und  gesuchter  Weise  malt  ein 
Epigranmi  des  Valerius  Aedituus  die  Angst  und  Scheu  des  Liebhabers, 
der  Geliebten  sein  Verlangen  kundzugeben;  3)  ein  anderes  Epigramm  des- 
selben Dichters  enthält  die  Gedankenspitze,  dass  das  Feuer  der  Liebe  nur 
durch  die  Liebe  gelöscht  werden  könne  (Gell.  19,  9,  11  u.  12).  <)  Der  aus 
dem  Cimbernkrieg  bekannte  Q.  Lutatius  Catulus  dichtet  nach  Callima- 
chus  ein  Epigramm,  in  dem  er  sein  verlornes  Herz  bei  dem  geliebten 
Theotimus  suchen  will  (Gell.  19,  9,  14).  In  einem  andern  feiert  er  den 
Schauspieler  Roscius  in  folgender  schwärmerischer  Weise  (Gic.  de  n.  d.  1, 
28,  79) 

Constiteram  exorientem  Auroram  forte  salutans, 

cum  subito  a  laeva  Roscius  exoritur. 
Pace  mihi  liceat,  caelesteSf  dicere  vestra, 

mortalis  visust  pulcrior  esse  deo. 


')  Brzoska,  De  canone  decem  oratorum 
Atticorum,  p.  79. 

')  BücHBLEB,  Rh.  Mus.  87,  521  vergleicht 
in  einer  interessanten  Darlegung  ein  ganz 
ähnliches,  das  er  auf  den  aus  Lucilius  he- 
kannten  praeco  Granius  bezieht. 


')  ScHüLZB,  Fleckeis.  J.  131,  631  macht 
auf  die  Nachahmung  der  berühmten  sapphi* 
sehen  Ode  (pttiyetai  uoi  aufmerksam. 

*)  Ein  diesem  ännliches  pompejanisches 
Epigramm  der  sullanisch-ciceronischen  Pe- 
riode behandelt  Büchbleb,  Rh.  Mus.  38, 474. 


Bandbnob  der  Uom.  AltortnnuwiHenadutft.    vm  7 


98       BOmiBohe  Litteratiirgeschiohte.    L  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 

Yabbo  führt  in  einer  satura  Menippea  Non.  1,  122  M.  einen  Pompilios  vor,  der  sich 
einen  Schüler  des  Pacnvius  nennt.  Biesen  Pompilius  stellt  man  dorcn  Gonjector  (statt 
Papinius)  Vabro  1.  1.  7,  28  her  and  legt  ihm  das  dort  stehende  scherzhafte  Epigramm  bei. 
—  Zar  Kritik  und  Erklftrnng  der  epigrammatischen  Dichtung  vgl.  Usekeb,  Rhein.  Mus.  19, 
150;  20,  147;  Maixneb,  Ztschr.  f.  Osten*.  G.  36,  583;  38,  17. 


b)  Die  Prosa. 

a)  Die  Historiker. 
1.  Q.  Fabius  Pictor  und  andere  Annalisten. 

64.  Bömische  Annalistik  in  griechischer  Sprache.  Wir  finden 
bei  den  Römern  dieselbe  Erscheinung,  die  wir  auch  bei  andern  Völkern 
in  der  Zeit  der  beginnenden  Litteratur  finden.  Der  Dichter  bedient  sich 
zur  Darstellung  der  Geschichte  des  heimischen  Idioms,  der  Prosaiker  eines 
fremden.  Die  Entwicklung  der  Poesie  geht  ja  der  Entwicklung  der  Prosa 
voraus.  Es  bedarf  längerer  Zeit,  bis  die  Prosa  fähig  wird,  das  Organ  für 
eine  längere  zusammenhängende  Rede  zu  werden.  >)  Die  Verschiedenheit 
des  Idioms  beim  Dichter  und  beim  Prosaiker  schliesst  aber  auch  eine  Ver- 
schiedenheit des  Lesepublikums  in  sich;  der  lateinische  Dichter  wendet 
sich  an  die  gesamte  römische  Welt,  der  griechisch  schreibende  römische 
Historiker  richtet  seine  Worte  nur  an  die  Gebildeten  seiner  Nation,  zu 
gleicher  Zeit  aber  auch  an  das  Ausland.  Die  Schriftsteller,  welche  in 
griechischer  Sprache  römische  Annalen  schrieben,  sind  folgende: 

1.  Q.  Fabius  Pictor.  Dieser  vornehme  Mann  wurde  nach  der 
Schlacht  bei  Gannä  zum  delphischen  Orakel  geschickt,  um  dasselbe  wegen 
der  gefahrvollen  Lage  zu  befragen  (Liv.  22,  57).  Seine  Geschichte  (Graeci 
annales  Gic.  de  div.  1,  21,  43)  ging  von  Äneas  bis  auf  seine  Zeit.  Über 
die  Art  und  Weise,  wie  Fabius  den  Stoff  behandelte,  spricht  sich  Dionys. 
1,  6  allgemein  so  aus:  er  und  Gincius  Alimentus  hätten  das  Selbsterlebte 
ausführlich  behandelt,  die  Zeit  nach  der  Gründung  Roms  dagegen  kurz, 
Danach  muss  man  vermuten,  dass  auch  die  Gründungsgeschichte  ausführ- 
lich behandelt  war.  Dass  Fabius  für  den  zweiten  punischen  Krieg  eine 
sehr  wichtige  Quelle  werden  musste  (Liv.  22,  7),  kann  man  bei  seiner  her- 
vorragenden Lebensstellung  von  vorn  herein  abnehmen ;  es  geht  dies  selbst 
aus  den  tadelnden  Bemerkungen  des  Polybius  hervor  (3,  9;  1,  14).  Aber 
auch  für  die  vorausgehende  Zeit  verdanken  wir  ihm  höchst  wichtige  Nach- 
richten. So  stammt  nach  Niese  (Hermes  13,  410)  die  wertvolle  polybia- 
nische  (2,  18)  Darstellung  der  gallischen  Kriege  bis  zum  Jahre  222  aus 
Fabius,  ebenso  die  wichtige  Übersicht  der  römischen  Geschichte  von  dem 
Gallierbrand  an  (1,  6).  Auch  das  Verzeichnis  der  italischen  Wehrfähigen 
aus  225  V.  Gh.  bei  Polyb.  2,  24  geht  nach  ausdrücklichem  Zeugnis  (Eutrop. 
3,  5;  Oros.  4,  13)  auf  Fabius  zurück.  Vgl.  Mommsbn,  R.  Forsch.  2,  382; 
Beloch,  Der  ital.  Bund,  p.  93. 

Neben  den  griechischen  Annalen  werden  auch  lateinische  Annalen  eines  Fabius  Pictor 
erwähnt  z.  B.  von  Quint.  1,  6,  12.  Femer  wird  von  Nonius  2,  171  M  nach  dem  Zitat 
Fabius  Pictor  verum  Ramanarum  lib.  I  fortgefahren:  idem  iuris  pontificii  lib.  III  (vgl. 
Grell.  1,  12,  14;  10,  15).  Alle  diese  drei  Werke  teilten  unserem  Q.  Fabius  Pictor  zu  Nippbr- 
DEY,  Opusc.  p.  399,  Hertz,  Fleckeis.  J.  1862  p.  47 — 49.    Allein  diese  Annahme  verträgt  sich 


^)  Zarnckb,  Der  Einfluss  der  griechi- 
achen   Literatur   auf   die   Entwicklung    der 


rdm.  Prosa  in  Gomm.  philol.  zu  Ehren  Rib- 
becks p.  270. 


Oriechisch  schreibende  Annalisten.  99 

nicht  mit  der  oben  dargelegten  Ansicht  von  der  Unzulftnglichkeit  der  lateinischen  Sprache 
fOr  ein  Prosawerk  in  der  damaligen  Zeit.  Auch  bestehen  Discrepanzen  zwischen  den  grie- 
chischen und  lateinischen  Annalen,  vgl.  Soltau,  Fleckeis.  J.  1886  p.  479.  Es  müssen  da- 
her das  Werk  de  iure  pantificio  und  die  lateinischen  Annalen,  die  vielleicht  eine  Über- 
arbeitung der  griechischen  Annalen  waren,  Fabiem  einer  späteren  Zeit  zugewiesen  werden. 
Manche  wie  Du  Risu  nehmen  als  Autor  der  lateinischen  Annalen  und  des  ins  pantificium 
den  bei  Cicero  Brut.  21,  81  genannten  Ser.  Fabius  Pictor  in  Anspruch,  vgl.  Petbb,  fr. 
p.  LXXVnil,  p.  CLXXX ;  allein  Cicero  erwähnt  an  der  Stelle  keine  Schriften  des  Ser.  Fabius 
Pictor,  er  sagt  bloss  et  iuris  et  litterarum  et  antiquUatis  bene  peritus  und  in  den  Zitaten 
findet  sich  daftir  kein  Anhalt.  Dagegen  liegen  bestimmte  Zeugnisse  von  einem  andern 
Fabier,  dem  Q.  Fabius  Maximus  Servilianus  (Cons.  142)  vor;  Macrobius  teilt  1,  16,  25  ein 
Fragment  unter  seinem  Namen  aus  einem  XII.  Buch  einer  pontifikalen  Schrift  mit;  die 
Schol.  Veron.  zu  Georg.  3,  7  p.  79  E.  sprechen  von  einem  Servilianus  histariarum  scriptor. 
Vgl.  Dionys.  1,  7,  der  den  Fabius  Maximus  mit  Cato  und  Valerius  Antias  zusammenstellt 
(Peter  f.  CLXXXÜ). 

Hablbss,  De  Fahiis  et  Aufidiis  rerum  ramanarum  scriptaribus,  Bonn  1853.  Du 
RiEU,  Disputatio  de  gente  Fabian  Lejden  1856.  Hetdbnbbich,  Fabius  Pictor  und  Livius, 
Freib.  1868. 

2.  L.  Cincius  Alimentus.  Mit  Fabius  Pictor  wird  von  Dionys.  1,6 
zusammengenannt  L.  Cincius  Alimentus.  Er  war  Praetor  210  und  im  han- 
nibalischen  Kriege  thätig.  In  seinen  Annalen  erzählt  er,  dass  er  in  Ilan- 
nibals  Gefangenschaft  geriet  (Liv.  21,  38).  Seine  Annalen  waren,  wie  wir 
oben  gesehen  haben,  ganz  so  angelegt  wie  die  fabischen.  Das  Werk  wird 
nicht  viel  angeführt,  dagegen  werden  von  Cincius  noch  erwähnt  antiqua- 
rische und  staatsrechtliche  Schriften  wie  de  fastis  (Macrob.  1,  12,  12),  de 
comüiis,  de  consulnm  potestate  (Festus  p.  241),  de  officio  iuris  consulti  (Fe- 
stus  p.  173),  mystagogicon  libri  (Festus  p.  363),  de  re  militari  (Qell.  16, 4, 1), 
de  terbis  priscis  (Festus  p.  330).  Es  ist  unmöglich,  mit  Niebuhb,  Rom. 
Gesch.  1^,  281  den  Altertimisforscher  und  den  Geschichtschreiber  für  eine 
und  dieselbe  Person  zu  halten.  Eine  Schrift  de  verbis  priscis  ist  zu  einer 
Zeit,  wo  es  noch  fast  keine  Litteratur  gab,  nicht  denkbar. 

Die  Zeit  des  jüngeren  Cincius  fällt  gegen  den  Anfang  unserer  Ära ;  Verrius  Flaccus, 
ans  dem  Festus  schöpft,  lagen  bereits  die  Schriften  desselben  vor.  Bezüglich  des  griechi- 
schen (jeschichtswerks  spricht  Mommsbn,  Rom.  Gesch.  1*,  921  die  Vermutung  aus,  dass  das- 
selbe wahrscheinlich  unterschoben  und  ein  Machwerk  aus  augusteischer  Zeit  sei  (vgl.  dazu 
MomcscN,  Rom.  Chronol.  268).  Plüss,  De  Cineiis  rerum  Ramanarum  scriptoribus,  Bonn 
1865  nimmt  p.  84  an,  der  Antiquar  Cincius  habe  auch  lateinische  Annalen  geschrieben,  die 
mit  den  griechischen  des  filteren  Cincius  ttfters  verwechselt  worden  seien.  M.  Hbbtz,  De 
Luciis  anciis,  Berlin  1842.    Plüss,  N.  Schw.  Mus.  1866,  p.  36. 

3.  P.  Cornelius  Scipio,  der  Sohn  des  Africanus  verfasste  eine  Ge- 
schichte in  griechischer  Sprache,  welche  nach  dem  Urteil  Ciceros  (Brut. 
19,  77)  ausserordentlich  anmutig  geschrieben  war.  Da  kein  Fragment  von 
dieser  Schrift  erhalten  ist,  kann  der  Inhalt  nicht  näher  bestimmt  werden. 

4.  A.  Postumius  Albinus  (Cons.  151)  schrieb  ein  griechisches 
Gedicht  und  eine  griechische  von  den  ältesten  Zeiten  anhebende  Geschichte, 
welche  Polyb.  39,  12  (40,  6)  eine  pragmatische  nennt.  In  diesem  Werke 
hatte  der  Verfasser  im  Eingang  für  etwaige  sprachliche  Fehler  sich  die 
Nachsicht  des  Lesers  erbeten,  da  er  ja  gebomer  Römer  sei.  Darüber 
spottete  der  alte  Cato,  es  sei  ja  nicht  notwendig  gewesen,  griechisch  zu 
schreiben  ^ell.  11,  8,  2).  Aus  einem  neuerdings  entdeckten  Bruchstück 
eines  Historikers  erfahren  wir,  dass  die  Geschichte  dem  Dichter  En- 
nius,  dem  Hauptvertreter  des  Hellenismus  in  der  damaligen  Zeit  gewidmet 
war ;  sie  musste  also  vor  169  v.  Ch.,  dem  Todesjahr  des  Ennius  abgefasst 

r 


100    BOmiBche  Litteratnrgesohichte.    I.  Qie  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

sein  und  war  demnach  wohl  ein  Jugendwerk,  in  dem  sich  jene  Entschul- 
digung weniger  sonderbar  ausnimmt.  Weiter  hören  wir,  dass  im  Prooe- 
mium  von  den  zwei  sich  befehdenden  Richtungen,  der  hellenisierenden  und 
der  nationalen  die  Rede  war.  Dass  Albinus  Graecomane  war,  besagt  nicht 
bloss  der  Anonymus,  sondern  auch  andere  Schriftsteller  wie  Polybius  a.  a.  0. 
und  Cicero,  der  eine  sich  auf  die  bekannte  griechische  Gesandtschaft  be- 
ziehende Anekdote  erzählt  (Acad.  pr.  2,  45,  137). 

Das  Bruchstück  des  Anonymus  wurde  von  Giac.  Cortese  gefunden  und  publiziert 
Rivista  di  filogia  12,  396 ;  publiziert  und  besprochen  ist  es  auch  von  Bücheler,  Rhein.  Mus. 
39,  623.  Da  Macrobius  einen  lateinischen  Satz  aus  dem  ersten  Buch  des  Geschichtswerks  des 
Albinus  citiert  (3,  20,  5),  so  wird  man  auf  eine  lateinische  Übersetzung  des  Geschichtswerks 
schliessen  dürfen.  Servius  citiert  zu  Aen.  9,  710  Po«tumius  de  adventu  Aeneae;  es  wird 
hier  ein  Irrtum  des  Servius  vorliegen.  Gedicht  und  Geschichtswerk  identifiziert  Ribbeck 
Gesch.  d.  röm.  Dicht.  1,  51. 

5.  C.  Acilius.  Es  wird  uns  berichtet,  dass  der  Senator  C.  Acilius 
155  V.  Gh.  die  Reden  der  athenischen  Gesandten  im  Senat  verdolmetschte 
(Gell.  6,  14,  9).  Cicero  erwähnt  einen  Acilius,  der  in  griechischer  Sprache 
eine  Geschichte  schrieb,  in  der  die  Schlacht  bei  Cannä  vorkam  (de  off.  3, 
32,  115).  Von  vornherein  ist  die  Annahme  wahrscheinlich,  dass  beide  Per- 
sonen identisch  sind.  Unser  Historiker  ist  ohne  Zweifel  auch  in  der  Li- 
vianischen  Periocha  53  anzunehmen,  nach  der  ein  Senator  G.  Julius  im 
Jahre  142  eine  griechische  Geschichte  schreibt.  Einen  Historiker  C.  Julius 
kennen  wir  nicht,  wohl  aber  den  gerade  damals  lebenden  Senator  G.  Aci- 
lius, den  Hertz  auch  an  der  erwähnten  Stelle  hergestellt  hat.  Das  Ge- 
schichtswerk begann  mit  der  Urzeit  (Plut.  Rom.  21)  und  ging  bis  auf  seine 
Zeit  herab  (Dionys.  3,  67). 

Liyius  25,  39,  12  ist  von  einem  Claudius  die  Rede,  qui  annahs  Acilianos  ex  Of'oeco 
in  Latinum  sermonem  veriit;  35,  14,  5  heisst  es  Claudius  secMtua  Graecoa  Acilianos  lihroa  — 
tradit.    Üher  das  Verhältnis  des  Claudius  zu  Acilius  werden  wir  bei  Claudius  handeln. 

Litteratur:  Vossius,  De  historicis  latinis  libri  IIL  Ed.  II.  Leyden  1651.  Die 
Fragmente  der  älteren  lateinischen  Historiker  findet  man  jetzt  am  besten  gesammelt  in 
Histaricorum  Romanorum  reliquiae.  Ed.  H.  Peteb,  toI.  I,  Leipz.  1870  (dazu  Ausgabe  von 
1883);  auf  dieses  Werk  sei  ein  für  allemal  hingewiesen.  In  den  Prolegomena  findet  man 
auch  die  Litteratur  zu  den  einzelnen  Historikern.  Recht  brauchbar  ist  der  Abriss  der  grie- 
chischen und  römischen  Geschichte  von  A.  Schaefeb,  2.  Abt.  Römische  Greschichte  bis 
auf  Justinian.  2.  Aufl.  bes.  von  H.  Nissek,  Leipz.  1885,  weil  hier  die  entscheidenden  Stel- 
len abgedruckt  sind.  Nitzsch,  Die  römische  Analistik  bis  auf  Valerius  Antias,  Berl.  1873. 
Nissen,  Krit.  Unters,  über  die  Quellen  der  IV.  und  V.  Dekade  des  Livius,  Berl.  1863  (eine 
'musterhafte,  reiche  Belehrung  gewährende  Leistung). 

2.  M.  Porcius  Cato. 

65.  Beaction  gegen  den  fortschreitenden  Hellenismus.  Nach 
dem  zweiten  punischen  Krieg  gewahren  wir  ein  bedeutendes  Fortschreiten 
.  der  hellenistischen  Richtung.  Die  persönUchen  Berührungen  mit  den  Grie- 
chen mehrten  sich.  Im  Jahre  167  wurden  tausend  Geiseln  aus  vornehmen 
achäischen  Familien  nach  Italien  gebracht  und  hier  siebzehn  Jahre  lang 
(167—150)  zurückgehalten.  Es  ist  klar,  dass  eine  solche  Masse  hochste- 
hender und  feingebildeter  Griechen  die  italische  Gesellschaft  mit  ihrer  Bil- 
dung beeinflussen  musste.  Am  deutlichsten  zeigt  sich  dies  im  Hause  des 
AemiUus  Paulus,  des  Siegers  von  Pydna.  Unter  seiner  Beute  befand  sich 
die  griechische  Büchersammlung  des  Königs  Perseus;  er  schenkte  sie  sei- 
.|ien  Söhnen  (Plut.  Paul.  28) ;  es  war, die  erste  griechische  Bibliothek,   die 


X.  PorohiB  Cato.  101 

nach  Rom  kam  (Isidor.  orig.  6,  5).  Um  seinen  Sohn  Scipio  Africanus 
minor  und  dessen  Freund  Laelius  sammelten  sich  hervorragende  Griechen 
und  Freunde  der  griechischen  Bildung,  wir  finden  hier  einen  der  tausend 
Geiseln,  den  Megalopolitaner  Polybius,  dem  der  Gedanke  einer  Vereinigung 
der  Welt  unter  römischer  Herrschaft  auf  Grundlage  der  griechischen  Bil- 
dung klar  vorschwebt,  und  den  Stoiker  Panaetius.  Auch  Terentius  und 
Lucüius  gehörten  diesem  Kreise  an.  Im  Jahre  155  kamen  drei  Philoso- 
phen als  athenische  Gesandte  nach  Rom,  es  waren  dies  der  Peripatetiker 
Critolaus,  der  Akademiker  Cameades  und  der  Stoiker  Diogenes  (Gell.  6  (7), 
14,  8).  Mit  Begeisterung  lauschten  die  Jünglinge  Roms  den  Vorträgen 
dieser  Philosophen  und  bewunderten  besonders  die  überlegene  Dialektik 
des  Cameades  (Plut.  Cato  22).  Nicht  weniger  erfolgreich  war  zehn  Jahre 
zuvor  die  Gesandtschaft  des  berühmten  pergamenischen  Grammatikers  und 
Rivalen  Aristarchs  Crates  von  Mallos  gewesen  (Suet.  gramm.  2).  Durch 
ihn  wurden  die  Römer  mit  der  griechischen  Grammatik  und  der  griechi- 
schen Philologie  bekannt,  die  sie  auf  die  heimische  Sprache  und  Litteratur 
übertrugen.  Auch  die  griechische  Rhetorik  mit  ihren  Spitzfindigkeiten 
bürgerte  sich  in  Rom  ein.  An  Reaktionsmassregeln  gegen  diese  helleni- 
sierenden  Bestrebungen  fehlte  es  nicht.  Bereits  173  wurden  zwei  Epiku- 
reer Alkaeos  und  Philiskos  aus  Rom  ausgewiesen  (Athen.  12  p.  547);  im 
Jahre  161  wurde  ein  Senatsbeschluss  gefasst,  der  die  Behörden  ermächtigte, 
den  (griechischen)  Philosophen  und  Rhetoren  den  Aufenthalt  in  Rom  zu 
untersagen  (Sueton  rhet.  1;  Gell.  15,  11,  1).  Der  entschiedenste  Geg- 
ner des  Hellenismus  war  M.  Porcius  Cato.  Gebürtig  in  Tusculum  234 
machte  er  als  junger  Mann  mehrere  Feldzüge  mit,  war  Quästor  des  P. 
Scipio  in  Sicilien  und  Afrika,  verwaltete  als  Prätor  (198)  Sardinien  und 
kommandierte  als  Konsul  in  Spanien  (195).  Seine  Censur  (184)  war  so 
berühmt  geworden,  dass  ihm  die  spätere  Zeit  den  Beinamen  Censorius 
erteilte.  Diesen  Römer  von  echtem  Schrot  und  Korn  kränkte  der  Helle- 
nismus mit  seinen  kosmopolitischen  Tendenzen.  Er  bekämpfte  ihn  daher, 
wo  sich  nur  eine  Gelegenheit  dazu  darbot.  Als  die  athenischen  Philosophen 
durch  ihre  Vorträge  auf  die  römische  Jugend  einen  grossen  Eindruck 
machten,  drängte  Cato  zur  schleunigen  Erledigung  ihrer  Angelegenheit, 
damit  die  Jugend  wieder  ihre  gewohnten  Beschäftigungen  aufnehme.  Auch 
die  zahlreichen  griechischen  Ärzte  in  Rom  waren  ihm  ein  Dorn  im  Auge. 
Sie  haben  sich  verschworen,  polterte  er,  alle  „Barbaren*  durch  ihre  Arz- 
nei zu  töten  und  lassen  sich  noch  dafür  bezahlen.  Sein  Hass  gegen  die 
Griechen  bekundet  sich  in  dem  Schmäh  wort  „es  ist  ein  nichtsnutziges  Ge- 
schlecht*. Von  dem  Umsichgreifen  der  griechischen  Litteratur  befürchtet 
er  schwere  Nachteile.  Wenn  jenes  Volk,  klagt  er,  uns  seine  Litteratur 
aufdrängt,  wird  es  alles  zu  Grunde  richten.  Er  wollte,  dass  man  ihre 
Schriften  sich  ansehe,  aber  nicht  sich  aneigne  (Plin.  n.  h.  29,  7,  14).  Um 
die  griechische  Litteratur  wirksam  bekämpfen  zu  können,  machte  er  sich 
selbst  im  Alter  mit  ihr  bekannt.  Ersatz  für  sie  suchend  griff  er  ..  ^^st 
zum  Griffel.  Als  ein  Mann,  der  nicht  einmal  dem  otium  die  Ungebunden- 
heit  gönnte  (Cic.  Plane.  66),  richtete  er  hier  seine  Blicke  zunächst  auf  das, 
was  den  Römern  notwendig  und  nützlich  ist.     Allein  damit  konnte  er  die 


102    BönÜBohe  litteratnrgesohichte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 

wachgewordenea  Geister  nicht  bannen.  Auch  in  dem  Reich  des  Geistes 
gilt  das  Recht  des  Stärkeren.  Die  griechische  Litteratur  war  eine  Macht. 
Sich  derselben  weise  zu  unterwerfen,  das  Gute  aus  ihr  für  die  Nation  nutz- 
bar zu  machen,  das  Schlechte  zu  verdrängen,  dies  wäre  die  richtige  Auf- 
gabe gewesen.  Allein  dazu  war  der  Blick  des  alten  Cato  zu  wenig  um- 
fassend gewesen.  Die  Reaktion  gegen  den  Hellenismus  missglückte.  Ja 
an  Cato  vollzog  sich  die  Nemesis;  indem  er  den  Dichter  Ennius  aus  Sar- 
dinien nach  Rom  brachte,  gab  er  Rom  einen  der  hervorragendsten  Reprä- 
sentanten des  Hellenismus.  So  musste  sich  denn  erfüllen,  was  später  der 
Dichter  sagt,  dass  der  Besiegte  dem  Sieger  seine  Bildung  aufzwang. 

Über  Cato  haben  wir  zwei  Biographien,  die  des  Comelins  Nepoa  und  die  des  Plutarch. 
Druxann,  Geschichte  Roms  5,  97. 

66.  Catos  ünterweisiingen  —  die  erste  lateinische  Encyklopä- 
die.  Wir  leiten  unsere  Besprechung  der  Gatonischen  Schriftstellerei  mit 
dem  Werke  ein,  durch  das  er  einen  Ersatz  für  die  griechische  Wissen- 
schaft geben  wollte.  Citate  bringen  Unterweisungen  Gates  über  Ackerbau, 
Beredsamkeit,  Medizin.  Da  diese  Unterweisungen  öfters  an  den  Sohn  ge- 
richtet erscheinen,  so  werden  wir  vermuten  dürfen,  dass  sie  der  Verfasser 
zu  einander  in  Verbindung  gesetzt  wissen  wollte.  Wenn  es  aber,  wie  man 
annehmen  muss,  Catos  Absicht  war,  seinem  Sohn  Regeln  für  alles,  was 
not  thut,  zu  geben,  so  wird  er  auch  noch  andere  Disziplinen  behandelt 
haben.  So  ist  es  kaum  denkbar,  dass  er  die  Jurisprudenz  weggelassen, 
zumal  Cicero  auf  eine  solche  Schriftstellerei  hinweist  (de  or.  3,  33,  135), 
und  die  Rhetorik  stark  zur  Behandlung  der  Jurisprudenz  drängte.  Auch 
dem  Kriegswesen  wird  er  seine  Aufmerksamkeit  zugewendet  haben.  Allein 
wir  können  dies  alles  nicht  nachweisen.-  Ebensowenig  können  wir  dar- 
thun,  dass  das  carmen  de  moribus  „der  Spruch  über  die  Sitten^  an 
seinen  Sohn  gerichtet  und  somit  ein  Teil  jener  Encyklopädie  war.  Aus 
den . überkommenen  sicheren  Fragmenten,  besonders  aus  dem  über  die 
griechischen  Mediziner,  gewinnen  wir  eine  Vorstellung  von  der  Behand- 
lungsweise.  Die  Sätze,  die  Cato  in  den  einzelnen  Sphären  erprobt  hatte, 
wurden  apodiktisch,  im  Befehlston  vorgetragen.  Es  fand  keine  Erörterung 
statt,  wie  ein  Seher  wollte  er  nach  seinen  Worten  seine  Sätze  verkünden. 
Dass  viele  der  vorgebrachten  Sätze  engherzig  waren,  lässt  sich  schon  aus 
der  Stelle  über  die  Mediziner  entnehmen;  manche  aber  sind  wahre  Gold- 
körner, wie  das  wundervolle:  rem  tene,  verba  sequeniur,  halte  die  Sache 
fest,  die  Worte  werden  schon  folgen. 

Wie  das  Werk  betitelt  war,  können  wir  nicht  mit  Sicherheit  sagen.  Nonius  1, 206  M. 
citiert  in  praeceptis  ad  filium;  Servius  ad  Verg.  Georg.  2,  95  in  libris  quoa  scripsü  ad  filium 
2,  412  in  libris  ad  filiitm  de  agricuUura,  Plinius  n.  h.  7,  51,  171  CcUo  ad  filium.  Vielleicht 
war  der  Titel  nur  ad  filium,  F.  Scholl,  Rhein.  Mus.  38,  481  nimmt  nach  Plinius  7,  51, 
171 ;  29,  1,  27,  Seneca  controv.  p.  49  Bu.,  Columella  11,  1,  26  den  Titel  „oraculum^  für  das 
Werk  in  Anspruch.  Allein  jene  Citate  sind  so  zu  erklären,  dass  öfters  Cato  seine  Lehren 
als  Seher-  und  Orakelsprfiche  hinstellte.  Belehrend  ist  hier  das  Fragment  über  die  Medi- 
ziner, wo  es  heisst  ,et  hoc  puta  vatem  dixisse",  mit  Rücksicht  darauf  sagt  dann  Plin.  n.  h. 
29,  1,  27  lues  morum  vatem  prorsus  coUidie  facit  Calonem  et  oraclum. 

Aus  dem  carmen  de  moribus  werden  von  Gellius  11,  2  drei  Stellen  citiert  (darnach 
Nonius  2,  69  M.) ;  die  erste  handelt  von  der  avaritia,  die  zweite  von  der  guten  alten  Zeit, 
in  der  die  Dichtkunst  noch  nichts  galt  und  der  Dichter  ein  Bummler  hiess,  die  dritte  ver- 
gleicht das  Menschenleben  mit  dem  Eisen,  das,  wenn  es  nicht  gebraucht  wird,  vom  Rost 
zerfressen  wird.    Sowie  die  Sätze  bei  Gellius  vorliegen,  sind  sie  Prosa.    Ob  sie  früher  in 


X.  Poroins  Cato.  103 

gebundener  Fonn  abgefasst  waren  (in  diesem  Fall  wohl  in  Satomiem),  wissen  wir  nicht; 
eannen  nötigt  nicht  zu  einer  solchen  Annahme.  Anders  Ritschl,  Opusc.  4,  300 ;  L.  Mülleb, 
Der  sat.  Vers  p.  95. 

0.  Jahn,  Über  röm.  Encyclopäd.  in  Ber.  der  sftchs.  Ges.  der  Wissensch.  I  (1849) 
p.  263. 

67.  Catos  fachwissenschaftliche  Spezialschriften.  Ausser  den  Unter- 
weisungen verfasste  Gate  auch  noch  Spezialschriften  über  einzelne  Fächer. 
So  finden  wir  in  unsern  Quellen  öfters  eine  Schrift  Gates  über  das  Kriegs- 
wesen erwähnt  (Plin.  n.  h.  praef.  30;  Festus  p.  214,  p.  306;  Qellius  6  (7),  4, 
5).  Die  daraus  erhaltenen  Fragmente  weisen  keine  Beziehung  zu  dem 
Sohne  Gates  auf.  Das  Buch  scheint  sich  an  das  Volk  zu  wenden,  es  wer- 
den die  Missbräuche  im  MUitärwesen  besonders  scharf  behandelt  worden 
sein.  In  einem  Fragment  heisst  es:  Das  Volk  soll  arbeiten,  damit  nicht 
die  Bekränzung  wegen  des  Verkaufs  in  die  Sklaverei,  sondern  wegen  des 
Sieges  erfolge  (Festus  p.  306).  Ferner  schrieb  Gate  neben  den  Unterweisungen 
über  die  Landwirtschaft  einen  Wirtschaftsratgeber  (de  agricuUurq),  die 
einzige  Schrift,  die  uns  von  Gate  erhalten  ist,  und  die  älteste 
der  uns  erhaltenen  lateinischen  Prosaschriften.  Das  Gharakteri- 
stische  dieser  Schrift  ist,  dass  Landwirtschaft  und  Hauswirtschaft  noch 
nicht  geschieden  sind.  Wir  finden  nämlich  neben  landwirtschaftlichen  Vor- 
schriften Heilmittel,  Kochrezepte,  Formularien,  Religiöses  u.  s.  w.  Die  An- 
ordnung der  Vorschriften  erfolgt  in  der  Weise,  dass  sich  die  verwandten 
zu  Gruppen  zusammenschliessen  wie  c.  1—22  die  über  die  Outseinrichtung. 
Allein  sehr  oft  findet  sich  die  grösste  Regellosigkeit.  Es  fragt  sich,  wie 
dieselbe  entstanden  ist.  Der  erste  Gedanke  dürfte  sein,  die  Störung  der 
Überlieferung  zuzuschreiben.  In  der  That  hat  dieselbe  nachteilig  auf  das 
Werk  eingewirkt;  denn  einmal  erkennen  wir,  dass  die  alten  Schreibweisen 
und  viele  Formen  systematisch  ausgemerzt  und  dafür  solche  aus  der  Zeit 
des  Augustus  eingeführt  wurden.  Ferner  finden  wir  öfters  dieselbe  Regel 
in  einer  doppelten  Form,  in  einer  älteren  und  einer  jüngeren  z.  B.  51.  52 
II  133;  5  II  142. 143;  91  jj  129.  Da  sich  beide  Formen  bei  PUnius  nach- 
weisen lassen  z.  B.  51.  52  ||  Plin.  15,  44;  133  ||  Plin.  15,  127,  so  muss  die 
jüngere  Rezension  vor  Plinius  fallen.  So  werden  auch  Störungen  in  der 
Anordnung  dem  willkürlichen  Eingreifen  späterer  Hände  aufzubürden  sein ; 
allein  eine  vollständige  Erklärung  für  die  jetzige  Beschaffenheit  unserer 
Schrift  wird  dadurch  nicht  ermöglicht  werden.  Wir  werden  daher  kaum 
der  Annahme  entgehen  können,  dass  das  Werk  nicht  völlig  geordnet  und 
fertig  aus  der  Hand  Gates  hervorgegangen  ist. 

NiTzscH  hat  Z.  f.  Alterthumsw.  1845  p.  493  den  Nachweis  zu  liefern  versucht,  dass 
Cato  bei  Abfassung  seiner  Schrift  einen  bestimmten  Güterkomplez  des  L.  Manlius  bei  Ca- 
sinum  und  Yenafrcun  im  Auge  gehabt  habe,  der  auf  Öl-  und  Weinbau  eingerichtet  war, 
wfthrend  das  Getreideland  in  Händen  von^Pftchtem  lag;  daher  sei  vom  Getreidebau  wenig 
die  Rede.  Diese  Ansicht  ist  unhaltbar.  —  Die  Annahme  Vahlens,  Z.  f.  5sterr.  Gymn.  X 
(1859)  p.  170,  dass  der  commerUarins  ^t4o  medeatur  filio,  servis,  familiaribtis  (Plin.  29.  8,  15) 
verschieden  von  den  an  den  Sohn  gerichteten  Mahnungen  und  Vorschriften  über  ärztlichen 
Gebrauch  sei,  ist  nicht  wahrscheinlich. 

Überlieferung:  Die  landwirtschaftliche  Schrift  Catos  beruht  (wie  die  Yarros)  auf 
einer  verloren  gegangenen  Handschrift  der  Markusbibliothek  in  Florenz,  welche  nach  Keil 
die  Quelle  aller  übrigen  Codices  der  beiden  Werke  wurde.  Zur  Restituierung  des  Marcia- 
nus  dienen  apographa  und  bes.  eine  in  Paris  befindliche  Kollation  der  Marcianus,  welche 
Politianns  in  die  edUio  princeps  eingetragen  hatte. 


104    BOmische  Litieratargeschichie.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

Litteratur.  M.  CkUonia  de  agrictUtura  liber  M,  Tereniii  Varranis  rerum  rustkO' 
rum  libri  IIL  Rec.  H.  Keil,  Lips.  1884.  R.  Klotz,  Über  Gatos  Schrift  de  re  rustica, 
N.  Jahrb.  f.  Philol.  X  (1844)  1 — 73.  Schoendobffer,  De  genuina  Catonis  de  (igricuUura 
libri  forma  Pari.  I  de  sgntaxi  Catonis,  KOnigsb.  1885.  P.  Weiss,  Qtiaestionum  Catoniana- 
rum  capita  V  1886  (trefifliche  Dissertation).  Ergänzend  nnd  berichtigend  hiezu  vgl.  Rli- 
TZEN8TEIN,  Wochonschr.  f.  kl.  Philol.  1888  Nr.  19  p.  587. 

68.  Catos  ür-  und  Zeitgeschichten.  Die  erste  römische  Geschichte 
in  lateinischer  Prosa  sind  Catos  Ursprungsgeschichten  (origines).  Über 
dieselben  belehrt  uns  des  Näheren  die  klassische  Stelle  des  Cornelius  Nepos 
im  Cato  3;  wir  müssen  um  so  mehr  Bedeutung  dieser  Stelle  zuerkennen, 
da  Nepos  sich  mit  Cato  eingehend  beschäftigt  hat.  Das  Werk  bestand 
aus  sieben  Büchern;  im  ersten  war  die  römische  Königszeit  behandelt, 
im  zweiten  und  dritten  der  Ursprung  der  italischen  Gemeinden,  das 
vierte  Buch  schilderte  den  ersten  punischen  Krieg,  das  fünfte  den 
zweiten,  die  folgenden  Kriege  waren  bis  zur  Prätur  des  Servius  Oalba 
(151,  allein  die  Erzählung  ging  noch  etwas  weiter,  bis  149)  Gegen- 
stand des  sechsten  und  siebenten  Buchs.  In  dieser  Inhaltsübersicht  treten 
uns  sofort  zwei  Schwierigkeiten  entgegen,  einmal  passt  der  Titel  nur  auf 
einen  Teil  des  Werks,  nämlich  auf  die  drei  ersten  Bücher  —  auch  Cor- 
nelius Nepos  ist  dies  nicht  entgangen  —  dann  bemerken  wir  in  der  In- 
haltsangabe eine  grosse  Kluft,  es  fehlt  nämlich  die  Zeit  von  der  Vertrei- 
bung der  Könige  bis  auf  den  ersten  punischen  Krieg.  Zwar  haben  manche 
Forscher  hier  eine  mangelhafte  Berichterstattung  des  C.  Nepos  angenom- 
men und  behauptet,  jene  Zeit  sei  entweder  im  zweiten  und  dritten  Buch 
oder  in  der  Einleitung  des  vierten  behandelt  worden.  Allein  die  erste  An- 
nahme bestätigt  kein  Fragment  des  zweiten  und  dritten  Buchs;  gegen  die 
zweite  Annahme  spricht  schon  der  Gegensatz,  in  dem  sich  Cato  nach  einem 
uns  überkommenen  Fragment  des  vierten  Buchs  (fr.  77  P.)  zu  der  dürren 
annalistischen  Behandlung,  welche  hier  hätte  in  Anwendung  kommen  müssen, 
stellt.  Beide  Schwierigkeiten  lösen  sich  sofort,  wenn  wir  es  nicht  mit 
einem  Werk  zu  thun  haben,  sondern  mit  zwei  Werken,  von  denen  das 
erste  die  Vorgeschichte  Italiens,  das  andere  im  wesentlichen  die  Zeitge- 
schichte des  Verfassers  gibt.  Für  diese  Ansicht  spricht  der  Umstand,  dass 
nach  Cicero  Brut.  23,  89  Cato  noch  wenige  Tage  oder  Monate  vor  seinem 
Tode  mit  dem  siebenten  Buch  beschäftigt  war.  Es  darf  also  als  wahr- 
scheinlich angenommen  werden,  dass  Cato  die  vier  letzten  Bücher  gar 
nicht  selbst  herausgab.  Die  drei  ersten  Bücher  aber  waren,  scheint  es, 
bereits  längere  Zeit  publiziert;  denn  im  zweiten  Buch  wird  ein  Ereignis 
vom  Perseuskrieg,  also  doch  wohl  von  der  Gegenwart  aus  und  für  die 
Gegenwart  datiert  (fr.  49  P.).  Wurde  die  Zeitgeschichte  erst  später  mit 
der  Ursprungsgeschichte  vereinigt,  so  erklärt  sich  leicht,  wie  der  Titel 
„origines"  auf  das  Ganze  übertragen  werden  konnte.  Cato  hat  also  mit 
richtigem  Blick  für  seine  Geschichtschreibung  zwei  Gebiete  ausersehen, 
die  reichen  Stoff  bargen,  das  Gebiet  der  Sage  und  das  Gebiet  der  Zeit- 
geschichte. In  den  „  Origines '^  war  nicht  bloss  die  Gründung  Roms  und 
dessen  Geschichte  erzählt,  sondern  auch  die  übrigen  Volksstämme,  die  mit 
Rom  in  Berührung  kamen,  behandelt,  ihre  Herkunft,  die  Gründung  ihrer  Ge- 
meinden. Manche  treffliche  Bemerkungen  waren  hier  eingestreut  wie  »Gal- 


X.  Porcina  Cato.  105 

lien  wirft  allen  seinen  Eifer  auf  zwei  Dinge,  aufs  Kriegswesen  und  auf 
die  geistreiche  Rede*  (fr.  34P.).  Seine  Zeitgeschichte  war  hauptsächlich 
eine  Geschichte  der  Kriege.  Aber  auch  hier  schlug  Cato  einen  neuen  Weg 
ein,  er  führte  die  Ereignisse  nicht  nach  den  Jahren  auf,  wie  es  die  An- 
nalisten thaten,  sondern  verband  das  Zusammengehörige  zu  einem  „Ab- 
schnitt**. Weiterhin  war  es  eine  Eigentümlichkeit  dieser  Bücher,  dass  die 
Feldherrn  nicht  mit  Namen,  sondern  lediglich  nach  ihrem  Amt  bezeich- 
net waren,  wie  es  auch  in  den  alten  Annalen  üblich  war.^)  Ein  Bild  von 
der  Dai*stellung  gewinnen  wir  durch  die  berühmte  Erzählung  von  der  That 
des  Tribunen  Q.  Caedicius,  welche  er  mit  der  des  Leonidas  vergleicht  (fr. 
83  P,).  Es  ist  eine  höchst  anschauliche  und  eindringliche  Schilderung.  Diese 
Anschaulichkeit  wird  auch  durch  Einlage  der  Reden,  welche  Cato  hielt, 
gefördert.  Als  charakteristische  Eigenschaft  des  ganzen  Werkes  gibt  Nepos 
noch  an,  dass  besonders  auch  Merkwürdigkeiten  in  geographischer  und 
ethnographischer  Hinsicht  berücksichtigt  waren,  dann  dass  demselben  der 
gelehrte  Anstrich,  wie  er  sich  in  Reflexionen  und  allgemeinen  Betrach- 
tungen kundgibt,  fehlte,  dagegen  überall  Sorgfalt  und  Fleiss  sichtbar  war. 
Der  Verlust  dieses  Werks  ist  unersetzlich.  Mit  Recht  sagt  Niebuhr*): 
Wäre  es  möglich,  ein  verloren  gegangenes  Werk  durch  Beschwörung  der 
Geister  wieder  zu  erlangen,  so  würde  das  erste  alte  Werk,  das  wir  zu  ver- 
langen hätten,  die  Origines  des  Cato  sein. 

69.  Catos  Beden  und  Briefe.  Die  grosse  staatsmännische  Thätig- 
keit  Catos  hatte  eine  ausgedehnte  rednerische  Thätigkeit  im  Gefolge.  In 
seinem  Alter  redigierte  er  eine  Sammlung  der  berühmtesten  Reden  (Cic. 
Cato  38).  Cicero  kannte  deren  mehr  als  150  (Brut.  17,  65).')  Uns  sind 
besonders  durch  Grammatiker  Fragmente  aus  etwa  80  erhalten,  von  denen 
keine  über  sein  Eonsulatsjahr  (195)  zurückgeht.  Ein  grösseres  Bruchstück, 
welches  uns  ein  Bild  von  der  catonischen  Beredsamkeit  geben  kann,  ist 
das  aus  der  Rede  für  die  Rhodier,  welche  während  des  Kriegs  mit  Per- 
seus  eine  bedenkliche  Hinneigung  für  den  König  an  den  Tag  gelegt  hat- 
ten. Diese  Rede  war  in  das  Geschichtswerk  Catos  aufgenommen  worden 
(p.  21  Jordan).  Mit  Recht  sagt  Gellius  6  (7),  3,  53,  dem  wir  die  Erhaltung 
dieses  Bruchstückes  verdanken,  dass  all  dieses  geordneter  und  wohlklin- 
gender, aber  nicht  eindringlicher  und  lebendiger  gesagt  werden  konnte. 
Von  dieser  wundervollen  Eindringlichkeit  zeugt  auch  ein  Fragment,  wel- 
ches der  Rede  „über  seinen  Aufwand^  entnommen  ist  (p.  37  J.),  und  die 
Fragmente,  welche  aus  den'  Reden  gegen  Q.  Minucius  Thermus  stammen 
und  dessen  grausame  Auspeitschung  einer  Senatskonmiission  wegen  schlech- 
ter Proviantlieferung  zum  Gegenstand  haben  (p.  39,  p.  41  J.),  endlich  die 
Bruchstücke,  in  denen  ein  komisches  Bild  eines  Volkstribunen  entworfen 
wird  (p.  57  J.).  Wie  jetzt  noch  unsere  Fragmentsammlung  zeigt,  müssen 
die  Reden   einen  Schatz   von  kernigen  Sätzen  und  Wahrheiten  enthalten 


*)  NiJSSE,  De  annalibus  Ramanis  obser- 
vationes,  Marb.  1886. 

')  Körn.  Geschichte  nach  NiebnhrB  Vor- 
trftgen«    Von  ScmaTz  (Zeiss)  1,  56. 

•)  Auch  sein  Enkel  M.  Cato  (Cons.  118) 
hinterliess    fntdt€is   orationes    ad    exem^lum 


am  scripta«  (Gell.  13,  20  (19),  19).  Auffallend 
ist  aber,  dass  Cicero  ihn  im  Brutus  nicht 
erwähnt.  Vielleicht  floss  sein  Eigentum  mit 
dem  seines  Grossvaters  zusammen  (Teuffel, 
R.  Literaturg.  §  141,  1). 


106    Römische  Litteraturgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik«    2.  Periode. 

haben,   vgl.  V,  1  p.  38 ;  LXV,  1  p.  67*;  LXX,  1  p.  69  (über  die  ungleiche 
Behandlung  der  grossen  und  der  kleinen  Diebe). 

Auch  eine  Sammlung  der  Gatonischen  Briefe  gab  es.  Cicero  wenig- 
stens citiert  de  off.  1,  11,  37  einen  Brief  Gates  an  seinen  Sohn. 

Wie  diese  beiden  Gattungen  durch  Cato  in  die  Litteratur  eingeführt  wurden,  so  auch 
eine  dritte  „die  Blumenlese*,  das  Florilegium;  er  sanunelte  nämlich  witzige  kernige 
Aussprüche  anderer  {dnoq>&fyfiata  xal  yytofi^oylai);  vgl.  Cic.  de  off.  1,  29,  104;  Plutarch 
Cato  m.  2. 

70.  Fortleben  Catos.  Die  Schriften  Gates  hielten  lange  Zeit  das 
Interesse  der  Leser  wach.  Besonders  gefielen  die  treffenden  Lebenswahr- 
heiten und  Aussprüche.  Es  wurden  daher  dieselben  in  einer  Sammlung 
vereinigt.  Schon  Cicero  scheint  ein  solches  Gorpus  vor  sich  gehabt  zu 
haben;  noch  deutlicher  liegt  dasselbe  in  der  Plutarchischen  Biographie 
Catos  vor.  Weiterhin  regte  die  Sprache  Catos  zu  Forschungen  an;  Ver- 
rius  schrieb  eine  Schrift  de  obscuris  Catonis  (Gell.  17,  6,  2),  d.  h.  erläuterte 
die  nicht  mehr  gebräuchlichen  Worte.  Femer  erregte  die  scharfe  Unter- 
scheidung der  Begriffe  bei  Cato  die  Aufmerksamkeit  der  Grammatiker  und 
führte  zu  Sammlungen  von  Synonyma.  In  der  archaisierenden  Periode 
wurde  Cato  mit  Vorliebe  behandelt,  Cornelius  Fronto  und  besonders  A. 
Gellius  sind  Bewunderer  desselben. 

Isidor.  differerUiarum  aive  de  proprietate  sermonum  l.  II  praef.  5,  10  Migne  consue- 
tudo  obtinuU  pleraque  ab  auctaribus  indifferenter  accipi,  quae  quidem  quamvis  similia  vide- 
antur,  quadam  tarnen  prapria  inier  se  origine  distinguuntur.  De  kis  apud  Latinos  Cato 
primtis  scripsit,  ad  cuius  exemplum  ipse  paucissimas  partim  edidi,  partim  ex  auctorum 
libris  deprompsi;  dass  Cato  seihst  eine  solche  Sammlung  angelegt,  ist  natürlich  unrichtig. 
In  späterer  Zeit  erhält  Cato  sogar  typische  Bedeutung,  es  sammeln  sich  um  seinen  Namen 
als  den  eines  weisen  Mannes  (Cato  philosophits)  Spruchsanmilungen.  So  werden  74  fast 
nur  einzeilige  Sprüche  (in  Hexametern),  welche  Riese  in  der  Antiiol.  1.  unter  Nr.  716  ver- 
öffentlicht hat,  auch  als  proverbia  Catonis  philasophi  handschriftlich  bezeichnet.  Wölfflin 
hat  13  sententiae,  die  den  Namen  Catos  tragen,  aus  Gnomensammlungen  herausgeschält 
(Senecae  monita  p.  26).  Doch  am  wichtigsten  wurde  eine  Sammlung,  die  mit  einem  Briefe 
beginnt,  56  (57)  kurze  prosaische  Sprüche  folgen  lässt,  dann  in  4  Büchern  zweizeilige  aus  Hexa- 
metern bestehende  Lebensregeln  darbietet.  Diese  Sammlung  muss  bereits  im  4.  Jahrhun- 
dert vorhanden  gewesen  sein,  vorausgesetzt,  dass  der  Brief  des  comes  archiatrorum  Vin- 
dicianus  an  Valentinian  (f  375),  in  dem  II,  22  erwähnt  ist,  echt  ist.  „Kein  Werk  hat  wäh- 
rend des  Mittelalters  eine  entfernt  so  weite  Verbreitung  gefunden,  wie  die  unter  dem  Namen 
des  Cato  bekannten  lateinischen  Distichen.  Sie  waren  das  Faktotum  beim  Unterricht  der 
Jugend,  die  aus  ihnen  die  Anfangsgründe  der  Grammatik,  Poesie,  Moral  kennen  lernte,  sie 
blieben  meistens  ein  Lieblingsbuch  auch  noch  der  Erwachsenen*  (Zarnoke,  Der  deutsche 
Cato,  Leipz.  1852  p.  1).  Fast  alle  europäischen  Litteraturen  enthalten  Bearbeitungen  Catonis 
phihsophi  libri.    Ed.  F.  Hauthal,  Beriin  1869.    Anthol.  lat.    Ed.  Bähbens,  vol.  HI,  205. 

Allgemeine  Litteratur  über  Cato:  M.  Catonis  praeter  librum  de  re  rustica 
quae  extant,  Rec.  H.  Jobdan,  Lips.  1860.  0.  Ribbeck,  M.  Porcius  Cato  als  Schriftsteller, 
Schweiz.  Mus.  1,  7 — 33.    Vollebtsen,   Qwustionum   Catonianarum  capita  duo,  Kiel  1880. 

3.  Die  lateinischen  Annalisten. 

71.  Die  allgemeinen  Stadtchroniken.  Den  Erfolg  hatte  die  histo- 
rische Schriftstellerei  Catos,  dass  jetzt  die  lateinische  Sprache  die  fast  all- 
gemein regelmässige  für  die  öeschichtschreibung  wurde.  Dagegen  drang 
nicht  die  Opposition  Catos  gegen  die  Chroniken  durch ;  denn  es  treten  uns 
auch  nach  Cato  noch  Darstellungen  entgegen,  welche  im  Anschluss  an  die 
offizielle  Chronik  die  Ereignisse  von  der  Gründung  der  Stadt  bis  auf  die 
Gegenwart  fühi'ten.    Solche  Darstellungen  Ueferten: 

1.  L.  Cassius  Hemina.  Von  seiner  Geschichte  werden  vier  Bücher 


Die  lateinischen  Annalisten.  107 

citiert;  das  erste  behandelte  die  Urzeit,  das  zweite  die  Zeit  von  Romulus 
bis  wenigstens  auf  den  gallischen  Krieg,  das  vierte,  das  den  Separattitel 
„bellufn  Punicum  posterior*'  führte  (Prise.  7  p.  347  H.))  den  hannibalischen 
Krieg.  Da  die  Geschichte  noch  ein  Ereignis  des  Jahres  146  v.  Ch.  er- 
wähnte (Gensorinus  17,  11),  so  ist  wahrscheinlich,  dass  sie  mehr  als  vier 
Bücher  umfasste.    Die  Herausgabe  erfolgte  wohl  successive. 

Wegen  des  Citats  bei  Nonius  s.  r.  moliri  1,  560  M.  1. 11  de  censaribus:  et  in  area 
lin]  CapUoli  aigna  quae  erant  demoliunt  mit  Hertz,  De  hüttoricorum  Roman,  reliquiis 
quaegtümum  capUa  quinque  Index  lect,  aestiv.,  1871  p.  2  eine  eigene  Schrift  HsiONAa  über 
die  Cen8<»«n  anzunelunen,  iat  keine  unbedingte  Notwendigkeit  vorhanden. 

2.  L.  Galpurnius  Piso  Frugi,  Gegner  der  öracchen,  auf  dessen 
Gesetzesvorschlag  hin  149  v.  Ch.  die  erste  ständige  kriminale  Kommission 
und  zwar  über  das  Verbrechen  der  Erpressung  eingesetzt  wurde,  verfasste 
Annalen  in  sieben  Büchern  von  Äneas  bis  auf  seine  Zeit.  Zwei  Züge 
treten,  wie  es  scheint,  in  seiner  Geschichte  scharf  hervor,  einmal  das  Be- 
streben, der  eingerissenen  Sittenverderbnis  zu  steuern  (fr.  33;  40),  dann 
ein  die  Sage  auflösendes  Grübeln  (fr.  6).  Die  Darstellung  war  nach  Cicero 
eine  dürre  und  trockne  (Brut.  27,  106).  Dieses  Urteil  bestätigen  die  Frag- 
mente, man  vergl.  die  Erzählung  von  Romulus  (fr.  8)  und  die  von  dem 
Schreiber  Cn.  Flavius  (fr.  27). 

Man  hat  wegen  gewisser  Fragmente  (z.  B.  4  nnd  44)  noch  einen  Antiquar  Piso  (0.  Jahv) 
oder  wenigstens  ein  zweites  antiquarisches  Werk  unsres  Piso  (Hebtz)  angenommen;  allein 
mit  Unredbt,  vgl.  Pbteb  CLXXXXIU.  Dagegen  haben  wir  noch  einen  jüngeren  sonst  nicht 
näher  bekannten  Historiker  C.  Piso  bei  Plut.  Mar.  45,  5,  mit  einem  Fragment  über  den 
Tod  des  Marins. 

3.  C.  Sempronius  Tuditanus  (Cons.  129).  Seine  allgemeine  Stadt- 
chronik reichte  bis  zum  Triumph  des  T.  Quinctius  Flaminius  (fr.  6).  Auch 
libri  magistratuum  verfasste  er,  es  wird  das  13.  Buch  bei  Gellius  13,  15,  4 
citiert. 

4.  Cn.  Gellius,  derselbe,  gegen  den  M.  Cato  eine  Rede  filrL.  Turins 
hielt  (Gell.  14,  2,  21),  begann  ebenfalls  mit  den  ältesten  Zeiten ;  er  muss 
sehr  ausführlich  gewesen  sein,  denn  es  wird  das  97.  Buch  angeführt  (Cha- 
risios  p.  54  E. ;  fr.  29) ;  im  3.  Buch  war  erst  der  Raub  der  Sabinerinnen  er- 
zählt (fr.  15);  im  1.  Buch  war  viel  von  Erfindungen  die  Rede.  Bei  Livius 
ist  sein  Werk  nicht  berücksichtigt. 

Man  hat  wegen  eines  Gitates  bei  Nonius  s.  v.  bubo  1,  285  M.  unter  dem  Namen  A. 
Gellius,  femer  wegen  des  Plurals  Gellii  bei  Cic.  de  div.  1,  26,  55  —  Cic.  de  leg.  1,  2,  6  ist 
nur  durch  Konjektur  Gellii  hergestellt  worden  —  einen  zweiten  Historiker  A.  Gellius  sta- 
tuiert; allein  bei  Nonius  liegt  entweder  eine  Verwechslung  des  Cn.  Gellius  mit  dem  be- 
kannten A.  Gellius  vor  oder  esistAsellio  mit  Antonius  Augustinus  zu  schreiben;  der  Plural 
bei  Cicero  beweist  nichts.  Vgl.  Nippebdey,  Opusc.  399;  Meltzbb,  Fleckeis.  J.  1872  p.  429. 

5.  In  dieselbe  Zeit  wird  gehören  der  Historiker  Vennonius.  Nur 
an  drei  Stellen  wird  derselbe  erwähnt:  Cic.  de  leg.  1,  2,  6;  ad  Attic.  12,  3, 
1 ;  Dionys.  4,  15. 

6.  C.  Fannius  Strabo.  Der  Schwiegersohn  des  Laelius  und  Schüler 
des  Panaetius,  stand  zuerst  auf  Seite  des  C.  Gracchus,  durch  dessen  Ein- 
flnss  er  122  v.  Gh.  das  Konsulat  erhielt,  wandte  sich  aber  in  seinem  Kon- 
sulat von  demselben  ab  und  bekämpfte  ihn  in  einer  Rede.  Von  seiner 
Oeschichte  wird  das  erste  und  das  achte  Buch  citiert.  Das  einzige 
Fragment  des  ersten  Buches  enthält  einen  allgemeinen  Gedanken;  im  ach- 


108    Römische  Litteratorgenchichte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 


ten  Buch  war  mehrmals  von  Drepanum  die  Rede  (fr.  3);  es  wird  also  in 
demselben  der  erste  punische  Krieg  behandelt  worden  sein.  Für  die  grac5- 
chische  Zeit  war  Fannius  eine  Hauptquelle,  Plutarch  scheint  ihm  in  seinen 
Biographien  der  Gracchen  gefolgt  zu  sein.  Von  dem  Ansehen,  dessen 
sich  sein  Werk  erfreute,  zeugt  auch  die  Thatsache,  dass  M.  Brutus  sich 
aus  demselben  einen  Auszug  machte  (Gic.  ad  Attic.  12,  5,  3). 

Die  von  Cic.  Brut.  26,  99 — 102  durchgefObrte  Unterscheidung  von  zwei  Schriftstellern 
des  Namens  Fannius  (der  eine  C.  F.,  der  andere  fi.  F.)  betrachtet  als  eine  irrige  Momxsev, 
C.  J.  L.  1,  158;  nach  ihm  ist  der  C.  Fannius  C.  f.  zu  streichen.  Zweifel  gegen  Mommsen 
erhebt  Hirschfeld,  Die  Annalen  des  C.  Fannius,  Wien.  Stud.  7,  127:  „Ob  der  Geschicht- 
schreiber Fannius  mit  dem  Schwiegersohn  des  Laelius  (an  der  Identität  mit  dem  Konsul 
d.  J.  122  V.  Ch.  C.  Fannius  M.  f.  ist  allerdings  wohl  nicht  zu  zweifeln)  identisch  sei,  ist 
mir  sehr  fraglich.  Atticus  ist  der  Ansicht  nicht  gewesen  (ad  Attic.  12,  5,  3).**  Über  Fannius 
als  Redner  werden  wir  unten  p.  115  handeln. 

4.   L.  Coelius  Antipater. 

71.  Die  historische  Monographie.  Gegenüber  der  Geschichtschrei- 
bung, welche  mit  der  Gründung  von  Rom  begann,  muss  das  Aufkommen 
der  historischen  Monographie  als  ein  grosser  Fortschritt  angesehen  wer- 
den ;  denn  das  Herausgreifen  eines  wichtigen  Zeitabschnitts  leitet  über  zur 
tieferen  Auffassung  und  zur  kunstmässigen  Darstellung  des  Stoffs.  An 
den  Namen  des  Coelius  Antipater  knüpft  sich  dieser  Fortschritt  in  der 
Geschichtschreibung.  Er  wählte  sich  eine  Zeitepoche  aus,  welche  einmal 
wegen  ihrer  hohen  Bedeutung  für  eine  Sonderdarstellung  geeignet  war 
und  dann  als  eine  der  nächsten  Vergangenheit  angehörige  der  Forschung 
keine  übergrossen  Schwierigkeiten  entgegenstellte.  Es  ist  dies  der  zweite 
punische  Krieg. 

Das  Werk,  das  unter  verschiedenen  Namen  citiert  wird,  bestand  aus 
sieben  Büchern,  im  ersten  Buch  waren  die  Kriege  der  Punier  in  Spanien 
und  die  ersten  Feldzüge  Hännibals  in  Italien  erzählt,  in  dem  zweiten  stand 
die  Schlacht  bei  Cannä,  das  dritte  begann  mit  dem  Jahre  214,  ins  sechste 
fiel  die  Landung  Scipios  in  Afrika  (fr.  41),  das  siebente  erzählte  die  Ge- 
fangennahme des  Königs  Syphax  (fr.  44)  und  die  übrigen  Ereignisse  bis 
zum  Schluss  des  Kriegs.  Antipater  benutzte  für  sein  Werk  sowohl  ein- 
heimische Quellen  als  auch,  was  sehr  wichtig  ist,  fremde  aus  dem  gegne- 
rischen Lager ;  unter  den  letzten  wird  Silen,  der  sich  bei  Hannibal  befand, 
ausdrücklich  genannt  (fr.  11);  von  den  einheimischen  zog  er  zu  Rat  Fabius 
Pictor,  Cato  (fr.  25),  die  Leichenrede  auf  Marcellus  (fr.  29).  Diese  letzte 
Stelle  zeigt,  dass  er  zwischen  verschiedenen  Berichten  kritisch  zu  scheiden 
versuchte.  Andrerseits  erkennen  wir  aus  den  Fragmenten,  dass  er  zum 
Aberglauben  geneigt  war  und  auf  Träume  und  Vorzeichen  grosses  Gewicht 
legte  (fr.  19;  20;  34).  Auch  Ausschmückungen  finden  sich,  so  war  die  Über- 
fahrt Scipios  nach  Afrika  in  wunderlicher  Weise  erzählt.  Zur  Charakte- 
risierung seiner  Darstellung  heben  wir  hervor,  dass  er  häufig  von  der 
Form  der  Rede  Gebrauch  machte,')  dass  er  mit  Vorliebe  das  Praesens 
historwum  setzte,   endlich  dass  er  in   der  Wortstellung  sich  dichterische 


*)  GiLBEBT  p.  464  ,Es  sind  nicht  weni- 
ger als  16  Fragmente  uns  erhalten,  welche 
Reden   entlehnt  sind,   und  wir  können  we- 


nigstens 6  verschiedene  Beden  erkennen,  die 
in  dem  Werk  des  Coelius  Platz  gehabt  ha- 
ben." 


L.  Ooelins  Antipater.    Sempronins  Aaellio.  109 

Freiheiten  gestattete.  Ausdrücklich  wird  berichtet,  dass  er  stilistisch  En- 
nius  nacheiferte  (Fronte  p.  62  N.).  Antipater  muss  sonach  der  Darstellung 
grosse  Aufmerksamkeit  gewidmet  und  dahin  gestrebt  haben,  den  Leser  zu 
fesseln.  Und  wenn  Cicero  von  dem  modernen  Geschmack  aus  vieles  an 
Antipater  vermisst,  so  geht  doch  soviel  aus  seinen  Urteilen  (de  or.  2,  12, 
54;  Brut.  26,  102)  hervor,  dass  Antipater  in  Bezug  auf  die  Darstellung 
seine  Vorgänger  überholte.  Ein  Werk  wie  das  Antipaters  musste  sich 
eines  hohen  Ansehens  erfreuen ;  es  bildet  die  Hauptquelle  für  den  zweiten 
punischen  £[rieg.  M.  Brutus  machte  von  demselben  einen  Auszug  (Cic.  ad 
Attic.  13,  8). 

Ausser  diesem  Werk  hat  man  noch  ein  zweites  Antipater  beigelegt  z.  B.  Sieolin, 
der  die  Fragmente  1.  c.  p.  88—92  ausgeschieden,  und  zwar  weil  sich '  gewisse  Fragmente 
schwer  in  den  Rahmen  des  punischen  Kriegs  einreihen  lassen,  dann  aber  ganz  besonders 
weil  fr.  50  den  Tod  des  C.  Gracchus  voraussetzt,  w&hrend  der  punische  Krieg  dem  um  128 
V.  Ch.  gestorbenen  Laelius,  dem  Freunde  Scipios  gewidmet  war.  Vgl.  Cic.  or.  69,  229,  wo 
die  Wamimg  erlassen  wird,  ne  aut  verha  traiciamus  aperte.  —  quod  ae  L.  Caelius  Anti- 
pater in  prooetnio  belli  Punici  ni»i  neceasario  facturum  negai.  Et  hie  quidem,  qui  hanc  a 
Laelio,  ad  quem  scripsit,  rui  se  purgat,  veniam  petit  et  uiitur  ea  traiectione  verborum  et 
nihilo  tarnen  aptius  expUt  cancluditque  aententiaa.  Allein  an  dieser  Stelle  ist  L.  Aelio  statt 
Laelio  zu  lesen.  Dies  zeigt  Comificius  4,  8  ^  W  verborum  traiectionem  vitabimua,  niai 
quae  erit  eoncinna,  qua  de  re  poateriua  Joquetnur,  quo  in  vitio  eat  Coelitta  (dies  ist  die 
massgebende  handschriftliche  Überlieferung,  nicht  Lucilius)  ut  haec  eat :  In  priore  (so  inter- 
pungiert  Mabx)  libro  haa  rea  ad  te  acriptaa  Lud  misimua  Aeli,  Wie  bei  Cicero,  so  wird 
also  auch  bei  Comificius  die  traiectio  terborum  als  Eigentümlickeit  des  Coelius  hingestellt. 
Dieser  L.  Aelius  ist  der  bekannte  Grammatiker  L.  Aelius  Stilo,  der  Lehrer  Ciceros,  der 
noch  Ober  100  v.  Ch.  hinauslebte.  Vgl.  die  scharfsinnige  Deduktion  bei  Mabx,  Stud.  Lucil. 
Bonn  1882  p.  96—98.  Damit  fällt  das  gewichtigste  Argument,  das  für  ein  zweites  Werk 
Antipaters  geltend  gemacht  werden  kann.  Schon  der  Umstand,  dass  auch  von  dem  sup- 
ponierten  zweiten  Werk  wie  von  dem  ersten  ebenfalls  7  Bücher  bekannt  sind,  ferner  dass 
Citate  ohne  jede  Bezeichnung  des  Werks  einfach  die  Buchzahl  anführen  z.  B.  fr.  32,  hätte 
misstrauisch  machen  sollen.  Die  Fragmente,  die  einer  Einreihung  in  den  punischen  Krieg 
Schwierigkeiten  bereiten,  sind  teils  andern  Autoren  zuzuweisen  —  L.  Coelius  wird  oft  mit 
ähnlichen  Namen  verwechselt  —  teils  bildeten  sie  einen  Bestandteil  von  Excursen.^)  Für 
die  Zeit  der  Abfassung  bildet  das  Jahr  122  v.  Ch.,  das  Todesjahr  des  C.  Gracchus  eine  Grenze, 
über  die  wir  nicht  zurückgehen  dürfen.  Weiter  hinab  führt  eine  von  Neümann,  Phil.  45, 
385  veranstaltete  Betrachtung  des  fr.  56,  wo  als  Afrikaumsegier,  den  C.  A.  gesehen  haben 
wül,  Eudoxos  von  Kyzikos  vermutet  wird.  Diese  Reise  fällt  aber  einige  Jahre  nach  117 
v.  Ch.  —  Gegen  den  Anfang  des  8.  Buchs  mit  214  (nach  Gell.  10, 1, 3  fr.  59)  streitet 
Gilbert  1.  c.  p.  374. 

Festns  p.  158  M.  citiert  Alfius  libro  I  belli  Carthaginiensis.  Da  wir  keinen  Alfius 
kennen,  vermutet  Nipperdey,  Opusc.  p.  402  Caelius  für  Alfius,  wogegen  Einwände  erhebt 
Peter  1,  CCXXXVI. 

Litteratur:  Meltzeb,  De  L.  Caelio  Antipatro,  Leipz.  1867.  E.  Wölfplin,  Antio- 
chus  von  Syrakus  und  Caelius  Antipater,  Winterthur  1872.  Hesselbabth,  Hist.  kritische 
Untersuchungen  zur  dritten  Dekade  des  Livius,  Halle  1889.  Gilbert,  Die  Fragmente  des 
L.  Coelius  Antipater,  Fleckeis.  J.  Suppl.  10,  365.  Sibqlin,  Die  Fragmente  des  L.  Caelius 
Antipater.    Ebenda  11,  3. 

5.  Sempronius  Asellio. 

72.  Die  Zeitgeschichte.  In  der  öeschichtsclireibung  macht  es  einen 
wesentlichen  Unterschied,  ob  der  Historiker  Selbsterlebtes  oder  von  anderen 
Berichtetes  zu  erzählen  weiss.  Im  zweiten  Fall  kann  der  Stoff  nicht  ver- 
mehrt werden,  der  Darstellende  kann  ihn  prüfen  und  sichten,  er  kann  ihn 
künstlerisch  gestalten,  allein  immer  bleibt  die  Abhängigkeit  von  seiner 
Quelle  bestehen.  Dagegen  bei  dem  Selbsterlebten  gibt  der  Historiker  neuen 

')  Hesselbarth,  Hist.  krit.  Untersucbung  p.  659. 


110    BOmische  Litteratnrgeschichte.    1.  Die  Zeit  der  fiepnblik.    2,  Periode. 

Stoff,  wenn  gleich  nur  nach  seiner  eigenen  subjektiven  Auffassung.  Auch 
den  Alten  war  diese  Unterscheidung  nicht  entgangen,  sie  wählten  den 
Ausdruck  „historia**  für  die  Darstellung  des  Selbsterlebten.  Praktisch  be- 
thätigten  sie  diesen  Gegensatz,  indem  sie  in  ihren  Geschichtswerken  die 
alte  Zeit  summarisch,  die  eigene  dagegen  ausführlich  behandelten.  Beson- 
ders einschneidend  war  hier  der  Vorgang  Gates,  der  nur  Sage  und  Zeit- 
geschichte darstellte.  Durch  diese  Behandlungsweise  war  aber  die  Ein- 
heitlichkeit des  Werkes  gestört.  Es  war  daher  ein  grosser  Schritt,  dass 
Sempronius  Asellio,  der  Militärtribun  im  numantinischen  Krieg  (134) 
war,  sich  entschloss,  mit  dieser  Gewohnheit  zu  brechen,  in  seinem  Ge- 
schichtswerk die  alte  Zeit  ganz  wegzulassen  und  sich  auf  Darstellung  des 
Selbsterlebten  zu  beschränken  (Gell.  2,  13).  Sempronius  ist  sich  seiner 
Neuerung  wohl  bewusst,  denn  er  setzt  seine  Geschichtschreibung  in  den 
schärfsten  Gegensatz  zu  dem  Verfahren  der  Annalisten,  welche  sich  mit 
der  bekannten  Aufzählung  der  äusseren  Ereignisse  begnügen ;  er  will  auch 
den  inneren  Verhältnissen  seine  Aufmerksamkeit  zuwenden ;  er  will  ferner 
den  inneren  Beweggründen  der  Handlungen  nachgehen,  d.  h.  pragmatische 
Geschichte  schreiben  und  endlich  auch  patriotisch-ethische  Wirkung  erzie- 
len (Gell.  5,  18,  7).  Über  den  Umfang  des  Werkes,  das  den  Titel  histo- 
riae  oder  verum  gestarum  libri  führte,  sind  bei  der  geringen  Anzahl  der 
Fragmente  nur  Vermutungen  gestattet.  Das  letzte  Ereignis  scheint  die 
Ermordung  des  M.  Livius  Drusus  (91)  gewesen  zu  sein;  denn  fr.  13  ist  zu 
unbestimmt,  um  daraus  Schlüsse  zu  ziehen.  Begonnen  hat  das  Werk  wahr- 
scheinlich mit  dem  numantinischen  Krieg.  Auch  die  Buchzahl  lässt  sich 
nicht  sicher  bestimmen. 

Stelkens,  Der  röm.  Geschichtschreiber  Sempronius  Asellio,  Grefeld  1867.  Hertz, 
Opusc.  Gelliana  p.  211  (Fleckeis.  J.  101,  303). 

6.  M.  Aemilius  Scaurus,  Q.  Lutatius  Catulus,  P.  Rutilius  Kufus. 

73.  Die  Autobiographien  und  die  Denkschriften.  Zur  Zeitge- 
schichte gehört  auch  die  Autobiographie  und  die  Denkschrift  oder 
die  politische  Brochüre.  Als  Vorläufer  dieser  Gattung  können  wir 
betrachten  den  griechischen  Brief ,  den  der  ältere  P.  Coi*nelius  Scipio 
Africanus  an  den  König  Philipp  von  Makedonien  über  sein  Verfahren 
im  spanischen  Kriege  richtete  (Polyb.  10,  9),  und  einen  zweiten  grie- 
chischen Brief,  den  P.  Cornelius  Scipio  Nasica  (Cons.  162)  an  irgend 
einen  König  über  den  letzten  Feldzug  gegen  Perseus,  an  dem  er  sich 
beteiligt  hatte  (Plut.  P.  Aemil.  15),  geschrieben.  Die  Gattung  selbst  be- 
gründete C.  Gracchus;  er  hatte  eine  Schrift  zum  Schutz  der  gracchischen 
Politik  geschrieben,  die  dem  M.  Pomponius  gewidmet  war,  er  erzählte  da- 
rin von  einem  im  Hause  seines  Vaters  erschienenen  Schlangenpaar  und 
dessen  merkwürdiger  Deutung  durch  die  haruspices  (Cic.  de  div.  1,  18,  36; 
2,  29,  62),  wahrscheinlich  handelte  er  darin  auch  von  sich  selbst,  i)  Zur 
vollen  Entfaltung  gelangte  aber  diese  Litteraturgattung  erst  gegen  das 
Ende  unserer  Periode  durch  die  Bürgerkriege.  In  dieser  Zeit  der  wilden 
Parteikämpfe  hatten  die  Handelnden  nur  zu  oft  Anlass  zu  Rechtfertigungs- 

*)  NiPPKBDEY   Opusc.   p.  99. 


Verfasser  von  Antobiograpliien  und  Denkschriften. 


111 


Schriften.  Es  treten  uns  drei  Personen  mit  solchen  Schriften  entgegen, 
M.  Aemilius  Scaorus  (Cons.  115,  gest.  um  88  v.  Gh.),  der  aus  dem  Cimbern- 
krieg  bekannte  Q.  Lutatius  Catulus  und  endlich  P.  Rutilius  Kufus.  Der 
schlaue  M.  Aemilius  Scaurus  schrieb  über  sein  Leben  drei  Bücher^),  die 
dem  L.  Fufidius  gewidmet  waren  (Gic.  Brut.  29,  112),  sie  wurden  später 
nicht  mehr  beachtet.  Q.  Lutatius  €atulus  (gest.  87)  verfasste  über  sein 
Konsulat  eine  Denkschrift,  welche  die  Form  eines  Sendschreibens  an  den 
Dichter  A.  Furius  von  Antium  hatte  (Gic.  Brut.  35,  132);  sie  sollte  ihm 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  Material  für  dessen  historisches  Gedicht  zum 
Preis  des  Gatulus  liefern.  P.  Rutilius  Kufus,  von  dem  wir  wissen, 
dass  er  durch  eine  ungerechte  Anklage  in  die  Verbannung  (zuerst  in  Mity- 
lene,  dann  in  Smyrna)  getrieben  wurde,  schrieb  eine  Autobiographie  von 
wenigstens  fünf  Büchern  in  lateinischer  Sprache  (Gharis.  p.  139  K.).  Daneben 
wird  auch  ein  Qeschichtswerk  in  griechischer  Sprache  erwähnt  (Athen.  4, 
168  d).  Über  das  Verhältnis  der  beiden  Werke  lassen  sich  bloss  Vermu- 
tungen aufstellen.  Nissen  glaubt,  dass  die  in  griechischer  Sprache  abge- 
fasste  Geschichte  nur  eine  Bearbeitung  der  Autobiographie  ist,  Peter  da- 
gegen nimmt  ein  selbständiges  Werk  an.  Die  letztere  Ansicht  halte  ich 
für  die  richtige. 

Über  die  Brieffonn  der  Denkschrift  des  Q.  Lutatius  Catulus  bandelt  nach  Fronte 
p.  126  N.  eingebend  Jordan,  Hermes  6,  75.  Es  werden  aucb  cammunes  historiae  (oder 
communis  higtoria)  unter  dem  Namen  Lutatius  bis  zum  4.  Buch  (Peter  fr.  7  p.  193)  citiert; 
dass  unter  diesem  Lutatius  nicbt  der  Konsul,  sondern  sein  gelehrter,  frflber  im  Besitz 
des  TragOdiendicbters  Accius  gewesene  Sklave  Dapbnis,  den  er,  nacbdem  er  ibn  um  eine 
bobe  Summe  gekauft  hatte  (Suet.  gr.  3 ;  Plin.  n.  b.  7,  128),  bald  darauf  freiliess,  zu  verstehen 
sei,  macht  Peter,  Fleckeis.  J.  115,  751  wahrscheinlich.  Den  communes  historiae  werden 
aucb  die  Fragmente  einzureiben  sein,  in  denen  Lutatius  ohne  Angabe  des  Werks  angefahrt 
wird,  nicht  aber  einem  andern  antiquarischen  Werke,  da  eine  Kunde  von  einem  solchen 
febltl  Die  Fragmente  weisen  auf  Etymologisches  und  Antiquarisches.  Der  Titel  wurde 
wohl  deshalb  gewftblt,  weil  in  dem  Buch  „complurium  populär  um  res  continehantur^ , 
Eine  ungelöste  Schwierigkeit  bietet  die  Stelle  in  Usenebs  Commenta  Bern,  zu  Lucan  1,  544 
(p.  35),  wo  es  beisst  sed  hoc  fabulasum  esse  inveni  in  libro  CatuUij  vgl.  Pbteb  1.  c. 

Über  P.  Rutilius  Rufus  vgl.  Nissen,  Krit.  Unters,  p.  43;  Peteb,  Fragm.  1,  CICLXV. 
Er  muss  nach  den  Citaten  in  den  Digesten  zu  scbliessen  (z.  B.  7,  8,  10,  3)  auch  Juristisches 
geschrieben  haben. 

Litteratur:  Wiese,  Comment.  de  vitarum  scriptoribus  RomaniSf  Berlin  1840;  Su- 
RiKOAB,  De  Romanis  atUcibiographis,  Leyden  1846. 


p)  Die  Bedner. 

74.  Die  Beredsamkeit  bis  C.  Oracchus.  In  der  Beredsamkeit 
waren  bei  den  Römern  alle  Vorbedingungen  für  ein  gedeihliches  Wachs- 
tum gegeben.  Die  Senats-  und  Volksversammlungen,  die  Gerichtsverhand- 
lungen machten  das  lebendige  Wort  unentbehrlich.  Es  kam  hiezu  die  Sitte, 
berühmte  Verstorbene  durch  Leichenreden  zu  feiern.  Von  den  bei  diesem 
Anlass  gehaltenen  Reden  sind  manche  in  Buchform  gebracht  verbreitet 
worden,  wir  haben  solche  §  19  namhaft  gemacht.  Als  die  erste  publizierte 
Rede  galt  die  Rede,  die  Appius  Claudius  Caecus  im  Senat  gegen  die  Frie- 
densvorschläge des  Königs  Pyrrhus  hielt.  Ihm  folgten  viele  Redner;  wir 
behandeln  hier  nur  diejenigen,   von   denen  Reden  kursierten;   denn  erst 


>)  Auch  Reden  kursierten  von  ihm.  Als 
Eigenschaft  derselhen  gibt  Cicero  29,   111 


an:  gravitas  summa  et  naturalis  quaedam 
auctoriias. 


112    Bömische  Litteratnrgeschichte.    1.  Die  2eit  der  Republik.    2.  Periode. 


dann  tritt  der  Redner  in  die  Litteratur  ein,  wenn  sein  Wort  schriftlich 
fixiert  wird.    Von  den  Reden  Catos  sehen  wir  als  bereits  behandelt  hier 
ab.    Von  dem  älteren  Scipio  lief  eine  Rede  um,  die  er  in  dem  bekann- 
ten Prozess   gegen    den  Volkstribunen  M.  Naevius  gehalten   haben   soll. 
Gell.  4,  18   und   mit  Ausschmückungen  Liv.  38,  50  führen  eine  wirksame 
Stelle  daraus  an ;  in  derselben  weist  -der  Redner  darauf  hin,  dass  er  am 
heutigen  Tage  Hannibal  besiegt  habe  und  dass  es  sich  daher  gezieme, 
statt  auf  die  Anklage  zu  hören,   lieber  den  unsterblichen   Göttern  Dank 
darzubringen.    Allein  diese  Rede  war  apokryph,  bereits  Livius  38,  56  und 
Gellius  4,  18  deuten  ihren  Zweifel  genugsam  an;  es   kommt  hinzu,   dass 
Cicero    (de    officiis  3,  1,  4)    ausdrücklich   das  Vorhandensein    litterarischer 
Denkmäler  des  älteren  Africanus  in  Abrede  stellt.    Ebenso  unterschoben 
ist  die  Rede,  welche  der  Vater  der  Gracchen  Tiberius  Sempronius  Gracchus 
in  dieser  Angelegenheit  zur  Rechtfertigung  seiner  Interzession  für  die  Sci- 
pionen  gehalten  haben  soll,  denn  auch  hier  deutet  Liv.  38,  56  seinen  Zweifel 
an,  und  dieser  ist  vollständig  berechtigt,  wenn  man  den  von  Livius  skiz- 
zierten Inhalt  der  Rede  ins  Auge  fasst.*)    Dagegen  ist  eine  Rede^  welche 
Ti.  Sempronius  Gracchus  etwa  164  in  griechischer  Sprache  in  Rhodus 
gehalten,   und  die  noch  zu  Ciceros  Zeit  vorhanden  war  (Brut.  20,  79),  von 
dem  Verdacht  der  ünechtheit  frei.    In  dieselbe  Zeit  fiel  die  von  Cicero 
(Brut.  46,  170)  als  noch  vorhanden  erwähnte  Rede  des  L.  Papirius  aus 
Fregellä  für  seine  Landsleute  und  die  lateinischen  Kolonien.   Sehr  berühmt 
war  auch  die  Rede,  die  der  Sieger  über  Perseus  L.AemiliusPAulusMace- 
donicus  kurz  nach  seinem  Triumphe  (167)  über  seine  Kriegsthaten  sprach. 
Dem  Redner  waren  kurz  vorher  zwei  Söhne  durch  den  Tod  entrissen  wor- 
den.    Anknüpfend  hieran  sagte  er  in  ergreifender  Weise,   er  habe  immer 
gebetet,  falls  eine  Bitterkeit  dem  Vaterland  bestimmt  sei,  mögen  die  Göt- 
ter dieselbe  lieber  auf  sein  Haus  abladen.     Das  sei  jetzt  von  den  Göttern 
erfüllt  worden,  es  sei  besser,  dass  das  Volk  über  des  Aemilius  Paulus  Lage 
wehklage  als  umgekehrt.^) 

Die  Redekunst  war  inzwischen  eine  Macht  geworden;  kein  Wunder, 
wenn  die  Griechen  massenhaft  nach  Rom  strömten,  um  hier  giiechische 
Rhetorik  vorzutragen.  Zwar  regte  sich,  wie  wir  bereits  S.  101  gesehen, 
die  nationale  Opposition,  es  kam  im  Jahre  161  ein  Senatsbeschluss  zu 
Stande,  der  dem  Prätor  die  Vollmacht  erteilte,  die  griechischen  Rhetoren 
und  Philosophen^)  aus  der  Stadt  auszuweisen.    Allein  die  Massregel  blieb 


^)  MoMMSEN,  Rom.  Forsch.  2,  506  hält 
die  Rede  des  Gracchen  für  eine  Parteischrift 
aus  dem  Bürgerkrieg,  die  unter  dieser  f&r 
die  Zeitgenossen  durchsichtigen  Maske  Cae- 
sar angnff.  „Fast  alle  jene  Dinge,  die  auf 
Scipio  Africanus  bezogen  wahre  Ungeheuer- 
lichkeiten sind,  lassen  für  Caesar  sich  nach- 
weisen" (504).  Für  Abfassung  in  der  Zeit 
des  Augustus  Niese.  De  annalibu^  Romanis 
observ.  II,  Marb.  1888  p.  XIH.  Für  diese 
Unterschiebung  von  Reden  sei  hier  noch 
ein  Beispiel  angeführt.  P.  Sulpicius  Rufus 
(Yolkstrib.  88)  hatte  keine  Reden  herausge- 
geben  und   doch  waren   von   ihm  solche  in 


Umlauf.  Wer  sie  unterschoben,  berichtet 
Cicero  Brut.  56,  205 :  Sulpici  oratianes  quae 
feruniur,  eas  post  mortem  eius  scripsisse  P. 
CantUiu8  (ein  Zeitgenosse  Ciceros)  putatur. 

^)  Ein  Dekret  des  Aemilius  Paulus  aus 
dem  Jahre  189,  im  spanischen  Feldlager  er- 
lassen, wurde  1866  gefunden.  Vgl.  E.  Hüb- 
neb, Hermes  3,  243;  £.  Schkeideb,  Dial, 
it,  exempl,  1,  12. 

')  Das  Dekret  lautet:  Suet.  rhet.  1  C, 
Fannio  Strabone,  M.  Valerio  MessaJa  cons. 
M,  Pomponius  praetor  senatum  consuluit, 
Quod  verba  facta  sunt  de  philosophis  et  rhe- 
toribus,  de  ea  re  Ha  censuerunt,  ut  M,  Pom- 


Die  Redner. 


113 


ohne  Erfolg.  Der  griechische  Unterricht  konnte  nicht  mehr  zurückgedrängt 
werden;  er  bildete  einen  wesentlichen  Teil  in  der  Ausbildung  der  römi- 
schen Jugend. 

Nach  Aemilius  Paulus  erscheinen  als  hervorragende  Redner  P.  Cor- 
nelius Scipio  Africanus  minor  und  sein  Freund  Laelius.  Von  Scipio 
existierten  mehrere  Reden;  aus  denselben  sind  uns  einige  ausführlichere 
SteUen  erhalten,  welche  gegen  die  eingerissene  Sittenverderbnis  eifern. 
In  der  Rede  gegen  die  lex  iudiciaria  des  Ti.  Gracchus  (133)  beklagt  er 
aufs  bitterste  (Macrob.  2,  10),  dass  die  römische  Jugend  in  verächtlichen 
Künsten,  im  Singen,  Tanzen  unterrichtet  und  dabei  die  Unzucht  gefördert 
werde;  in  der  Rede  gegen  P.  Sulpicius  Gallus  (142)  schildert  er  mit  einigen 
kräftigen  Strichen  die  Verweichlichung  im  Äussern  und  das  unanständige 
Verhalten  beim  Mahle  (Gell.  6  (7),  12).  Aus  der  Rede  gegen  den  Volkstribu- 
nen Ti.  Claudius  Asellus  teilen  interessante  Stellen  mit  Gell.  6(7),  11;  2,20; 
Cic.  de  or.  2,  66,  268;  in  einer  (6  [7],  11)  bricht  der  Redner  in  den  wirkungs- 
vollen Vorwurf  aus:  „Du  hast  auf  ein  Freudenmädchen  eine  höhere  Summe 
verwendet  als  die  Schätzung  des  gesamten  Inventars  deines  sabinischen 
Landguts  beträgt.^  Auch  sein  Freund  Laelius  war  ein  geschätzter  Red- 
ner; am  berühmtesten  war  seine  Rede,  die  sich  gegen  den  Vorschlag  des 
Volkstribunen  G.  Licinius  Crassus  richtete,  bei  den  Priesterkollegien  statt  der 
Kooptation  die  Wahl  durch  das  Volk  eintreten  zu  lassen.  Cicero  findet 
an  seinem  Stile  im  Unterschied  von  Scipio  etwas  Altertümliches  und 
Schmuckloses  (Cic.  Brut.  21,  83).  Interessant  ist  auch,  dass  er  Leichenreden 
für  andere  schrieb,  z.  B.  die  auf  seinen  Freund  Scipio  für  Q.  AeHus  Tubero  ^) 
(Cic.  de  or.  2,  84,  341)  und  für  Q.  Fabius  Maximus;  aus  der  letztern  teilen 
die  Ciceronischen  Schollen  von  Bobio  p.  283  0.  Stellen  mit.  Neben  Scipio 
und  Laelius  war  ein  hervorragender  Redner  Ser.  Sulpicius  Galba^)  (Cons. 
144),  der  durch  seinen  schändlichen  Verrat  gegen  die  Lusitaner  in  der 
Geschichte  bekannt  ist.  Cicero  berichtet  von  ihm,  dass  er  zuerst  von  den 
römischen  Rednern  rhetorische  Kunstmittel  in  Anwendung  brachte,  d.  h. 
mit  klarem  Bewusstsein  und  in  reicherem  Masse,  so  z.  B.  die  Abschwei- 
fung, die  Übertreibung,  den  Gemeinplatz.  Allein  trotzdem  findet  Cicero, 
dass  seine  Reden  dürrer  und  altertümlicher  sind  als  die  des  Scipio  und 
des  Laelius  und  sogar  des  Cato  und  dass  sie  daher  nahezu  verschollen 
seien  (Brut.  21,  82).  Unter  seinen  Reden  zogen  die  grösste  Aufmerksamkeit 
auf  sich  diejenigen,  in  denen  er  sich  wegen  seines  an  den  Lusitanem  be- 


ponius  praetor  animtulverteret  curaretque,  ut 
si  ei  e  re  p.  fideque  sua  videreturf  uti  Romae 
ne  essent.  Unrichtig  ist  der  Zusatz  latinis 
nach  rheiaribus  in  der  Einleitung  bei  Gell.  15, 
11,  1.  Wie  hei  phüasophis  nur  an  gnechi- 
8che  gedacht  weitien  kann,  so  auch  bei  rhe- 
toribwi. 

*)  Schüler  des  Panaetius.  Über  ihn  als 
Redner  siehe  Cic.  Brut.  31, 117  fuit  conatans 
civi9  et  foriia  et  inprimis  C.  Graceho  mote' 
stuBf  quod  indicat  Gracehi  in  eum  oratio. 
Sunt  etiam  in  Gracehum  Tuberonis,  Is  fuit 
medioeri»  in  dicendo,  doetis8imu8  in  dispu- 

Biadbach  der  kUas.  AltertumiwiMAiiflchaft.  YDI. 


tando.  Von  seiner  juristischen  Kenntnis 
sprach  Cicero  in  seinem  Buch  de  iure  civili 
in  artem  redigundo  rühmend :  nee  vero  scientia 
iuris  maioribus  8uis  Q,  Aelius  Tubero  defuii, 
doctrina  etiam  auperfuit  (Gell.  1,  22,7).  Vgl. 
NiPPERDBY,  Opusc.  p.  408. 

*)  Auch  sein  Sohn  C.  Galba  (Quftst.  120) 
war  ein  angesehener  Redner,  vgl.  Cic.  Bnit. 
33,  127  rogatione  Mamilia,  Jugurtkinae  eon- 
iurationis  invidia,  eum  pro  sese  ipse  dixiaset, 
oppressua  est,  Exstat  eins  peroratio,  qui 
epihgus  dicitur;  qui  tanto  in  honore  pueris 
nobis  erat,  ut  eum  etiam  ediseeremus. 


114    Römiflohe  LitterainrgaBohiohta.    I.  Die  Zeit  der  Republik,    d.  Periode. 


gangenen  Treubruchs  gegen  den  Volkstribunen  L.  Scribonius  Libo  ver- 
teidigte (Liv.  per.  49).  Auch  Cato  hatte  mit  einer  gewaltigen  Rede  hier 
eingegriffen.  An  M.  Aemilius  Lepidus  Porcina  (Cons.  137)  will  Cicero 
unter  den  lateinischen  Rednern  (Brut.  25,  95)  zuerst  Glätte  des  Perioden- 
baus, rednerischen  Rhythmus  und  kunstvolle  Darstellung  beobachtet  haben. 
Q.  Caecilius  Metellus  Macedonicus,  der  Besieger  des  Andriskus  hielt  in 
seiner  Censur  (131)  eine  berühmte  Rede  über  die  Volksvermehrung,  welche 
durch  Einschränkung  der  Ehelosigkeit  angebahnt  werden  sollte.  >)  Dieser 
Rede  gehört  das  Bruchstück  an,  welches  Gellius  1, 6, 1  irrtümlich  dem  Metel- 
lus Numidicus  beilegt.  In  demselben  kommt  der  Gedanke  vor,  dass  man 
die  Frau  als  ein  notwendiges  Übel  ansehen  muss.  Diese  Rede  gefiel  Augu- 
stus  so  gut,  dass  er,  als  er  mit  der  Eheordnung  (de  ordinibus  marüandis) 
sich  beschäftigte,  sie  im  Senat  vorlesen  liess  (Liv.  per.  59).  Auch  von 
Lucius  Mummius,  dem  Zerstörer  Eorinths  und  seinem  auch  dichterisch 
thätigen  (Cic.  Att.  13,  6,  4)  Bruder  Spurius  Mummius  waren  Reden  in 
Umlauf  (Cic.  Brut.  24,  94).  Den  grössten  Einfluss  auf  die  Entwicklung  der 
römischen  Beredsamkeit  hatte  die  wild  gärende  Zeit  der  Gracchen.  War 
schon  Tiberius  Gracchus*)  ein  ausgezeichneter  Redner  (Cic. Brut. 27, 104), 
so  wurde  er  noch  weit  übertroffen  von  seinem  Bruder,  mit  dem  eine  neue 
Epoche  der  römischen  Beredsamkeit  anhebt. 

Hier  mögen  auch  die  zwei  Fragmente  aus  einem  Brief  der  Cornelia  an  ihren  jün- 
geren Sohn  G.  Grracchus  Erwähnung  finden.  Dieselben  sind  uus  überliefert  durch  die  Hand- 
schriften des  Cornelius  Nepos,  angeblich  entnommen  aus  dem  Abschnitt  seines  Werks  über 
die  lateinischen  Historiker.  Allein  da  der  Brief  nur  in  dem  Ijoben  des  C.  Gracchus  gestanden 
sein  kann,  dieser  aber  lediglich  als  Redner  seinen  Ruhm  erlangt  hat,  so  ist  anzunehmen, 
dass  die  Exzerpte  aus  dem  Abschnitt  des  Werks  über  die  lateinischen  Redner  herrühren. 
Die  Fragmente,  aus  denen  das  Ziel  der  Briefschreiberin  hervorleuchtet,  den  C.  Gracchus 
von  der  politischen  Laufbahn  zurückzuhalten,  imd  die  deshalb  ins  Jahr  124  fallen  müssen, 
sind  mit  Unrecht  verdächtigt  worden.  Dieselben  sind  ein  schönes  Denkmal  echt  weiblicher 
Seelengrösse.  Man  vgl.  das  herrliche  Fragment :  Dices  ptUchrum  esse  inimicos  tücisci .  id  neque 
maius  neque  pulchrius  cuiquam  atque  mihi  esse  videtur,  sed  si  liceai  re  publica  salva  ea 
persequi  .  sed  quatenus  id  fieri  non  potest,  multo  tempore  multisque  partibus  inimici  nostri 
non  perihunt  atque,  uti  nunc  sunt,  erunt  potius  quam  res  publica  profiigetur  atque  perea4. 
(Nach  Halh's  Ausgabe  des  Nepos  p.  123).  Über  diese  Fragmente  handelt  meisterhaft  Nip- 
PERDEY,  Opusc.  p.  95—120.    Ergänzend  dazu  Jordan,  Hermes  15,  530. 

75.  Die  Beredsamkeit  von  C.  Gracchus  bis  M.  Antonius  und 
L.  Crassus.  Die  glänzendste  Erscheinung  in  der  Geschichte  der  römischen 
Beredsamkeit  ist  der  jüngere  Gracchus.  Ihm  gegenüber  waren  die  übrigen 
Redner  wie  stammelnde  Kinder  (Plut.  C.  Gr.  1),  auch  Cicero  hielt  ihn  für 
den  grössten  römischen  Redner  (p.  Font.  39,  Brut.  33, 125).  Das  Geheimnis 
seiner  Redekunst  beruhte  auf  der  Fülle  und  Eindringlichkeit  der  Gedanken 
(Cic.  Brut.  33, 125),  dann  auf  der  Glut  und  Innigkeit  seines  Vortrags  (Tacit. 
dial.  26).  Als  er  die  Worte  sprach  „Wohin  soll  ich  Unglücklicher  mich 
wenden?  wohin  mich  flüchten?  Aufs  Kapitel?  Das  trieft  vom  Blute  meines 
Bruders  --In  mein  Haus?  damit  ich  die  unglückliche  Mutter  in  Jammer  und 
Elend  sehe"  (Cic.  de  or.  3,  56, 214),  geschah  dies  mit  solcher  Lebhaftigkeit 
der  Aktion,  dass  selbst  die  Gegner  ihre  Thränen  nicht  zurückhalten  konnten. 


^)  Vielleicht  hatte  Lucilios  dieselbe  in 
seinen  Satiren  berQcksichtigt.  Vgl.  Marx,  Stad. 
Lucil.  p.  90 ;  BiRT,  Zwei  polit.  Satiren  p.  120. 

')  Unter  den  Gegnern  des  Tiberius  Grac- 


chus führe  ich  an  T.  Annkis  Luscus  (Cons. 
153) ;  bei  Festus  p.  314  wird  zur  Erlftuterung 
des  Wortes  satura  eine  Stelle  aus  einer  ge- 
gen T.  Gracchus  gehaltenen  Rede  mitgeteilt. 


Die  Redner.  115 

Die  wenigen  Fragmente,  die  uns  erhalten  sind,  lassen  uns  ahnen, 
welcher  Schatz  mit  den  Gracchischen  Reden  uns  verloren  gegangen  ist. 
Sie  werden  mit  Recht  als  Perlen  der  Beredsamkeit  betrachtet.  Oft  wird 
hingewiesen  auf  die  elegischen  Worte,  die  einer  Rede  an  das  Volk  ent- 
nommen sind:  „Wollte  ich  vor  euch  sprechen  und  das  Verlangen  an  euch 
richten,  ihr  möchtet,  da  ich  edlem  Stamme  entsprossen  bin  und  euretwegen 
meinen  Bruder  verloren  habe  und  von  dem  Heldenstamm  des  P.  Africanus 
und  Ti.  Ghracchus  niemand  mehr  übrig  ist  als  ich  und  ein  Knabe,  zur  Zeit 
mich  feiern  lassen,  damit  nicht  mit  der  Wurzel  unser  Stamm  ausgerottet 
werde  und  damit  noch  ein  Sprosse  unseres  Geschlechts  übrig  bleibe,  so 
hege  ich  keinen  Zweifel,  dass  ihr  mir  diese  Bitte  bereitwillig  erfüllen 
werdet*  (Schol.  Bob.  p.  365  0.).  Ebenso  ergreifend  ist  der  Bericht,  den  er 
nach  der  Rückkehr  aus  Sardinien  über  seine  dortige  Verwaltung  erstattet. 
Es  kamen  hier  die  Worte  vor:  „Ich  habe,  als  ich  von  Rom  in  die  Provinz 
ging,  Beutel  voll  Geld  mitgenommen;  leer  habe  ich  sie  zuiückgebracht  — 
andere  dagegen  haben  Amphoren  voll  Wein,  die  sie  in  die  Provinz  mit- 
führten, mit  Geld  gefüllt  in  die  Heimat  zurückgeleitet  (Gell.  15, 12).  Zwei 
Erzählungen  von  dem  Übermut  römischer  Beamten  wie  die  Geschichte  eines 
Konsuls  in  Teanum  Sidicinum  und  die  eines  Legaten  ergreifen  durch  den 
schlichten  Ton  (Gell.  10, 3,3  u.  5).  Das  umfangreichste  Fragment  bietet 
uns  Gellius  11,10;  es  handelt  von  dem  Egoismus  und  der  Bestechlichkeit 
der  Redner  gewöhnlichen  Schlages  in  sehr  anschaulicher  Weise. 

Dass  die  an  Leidenschaften  so  reiche  Zeit  der  Gracchen  noch  andere 
Redner  hervorbringen  musste,  ist  klar.  Wir  wollen  uns  mit  der  Charakteri- 
sierung von  dreien  begnügen,  von  C.  Papirius  Garbo,  G.  Fannius  und 
G.  Scribonius  Curio.  Der  erstere  schloss  sich  in  der  Beredsamkeit  an 
M.  Aemilius  Lepidus  an  (Cic.  Brut.  25, 96).  Seine  Reden  waren  nicht  sowohl 
durch  glänzende  Diktion  als  durch  die  Schärfe  der  Gedanken  hervorstechend. 
Er  liess  sich  die  rednerischen  Übungen  sehr  angelegen  sein  und  war  ein 
gesuchter  Anwalt  (Brut.  25, 104),  wenngleich  Cicero  tiefere  Rechtskenntnis 
an  ihm  vermisst  (de  or.  1,10,40).  Sein  Charakter  war  sehr  zweifelhaft; 
obwohl  früher  Anhänger  des  C.  Gracchus,  verteidigte  er  doch  L.  Opimius,  der 
die  Ermordung  des  C.  Gracchus  veranlasst  hatte  (Cic.  de  or.  2, 25, 106).  Ein 
Gegner  des  jüngeren  Gracchus  war  der  Historiker  (vgl.  p.  117)  C.  Fannius 
M.  f.,  als  Konsul  hielt  er  im  J.  122  eine  Rede  (de  sociis  et  nomine  latino  Cic. 
Brut.  26,  99)  gegen  den  Antrag  des  C.  Gracchus,  den  Italikern  das  Bürgerrecht 
zu  verleihen.  0  An  diese  Rede  knüpft  sich  ein  Gerücht,  als  sei  sie  nicht 
volles  Eigentum  des  Redners,  wie  ja  Ahnliches  auch  dem  C.  Gracchus  vor- 
geworfen wurde.  Von  C.  Scribonius  Curio  (Prätor  121)  war  die  Rede  für 
Servius  Fulvius  wegen  Incest  sehr  berühmt.  Uns,  sagt  Cicero  Brut.  32, 122, 
schien  in  unserer  Jugend  diese  Rede  von  allen  die  beste  zu  sein. 

Unter  den  nächstfolgenden  Rednern  sind  die  bedeutendsten  M.  Anto- 
nius (143 — 87)  und  L.  Licinius  Crassus  (140—91).  M.  Antonius  gab  keine 
seiner  Reden  heraus,  angeblich  damit  er  nicht  des  Widerspruchs  in  seinen 


')  Einen  Satz  aus  dieser  Rede  überlie- 
fert Jolins  Victor  Ars  p.  224  Or.  Si  Latinis 
ciritatem  dederitis,   credo,    existimatis,    vos 


ita  ut  nunc  consuestis  in  contione  hahituros 
locum  atU  ludia  et  festia  diebus  interfuturos. 
Nonne  iUoa  omnia  occupcUuros  ptUatis  ? 

8* 


116     Bömiache  Litteratnrgeachichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

verschiedenen  Reden  überfuhrt  werden  könne  (Cic.  p.  Cluentio  50),  in  der 
That  aber,  weil  bei  ihm  das  geschriebene  Wort  merkwürdig  von  dem  ge- 
sprochenen abstach.  Sie  scheinen  aber  von  fremder  Hand  aufgezeichnet 
worden  zu  sein.^)  Auch  ein  kleines,  noch  dazu  unvollendetes  Büchlein 
(Quint.  3, 1, 19)  über  die  Theorie  der  Beredsamkeit  war  wider  seinen  Willen 
in  die  Öffentlichkeit  gedrungen.  In  demselben  stand  sein  Ausspruch,  er 
habe  viele  Beredte,  aber  keinen  Redner  kennen  gelernt  (Cic.  or.  5,  18). 
Von  seinen  Reden  kennen  wir  zwei  durch  Referate  und  Erwähnungen  ge- 
nauer, die  für  M'.  Aquillius  und  die  für  C.  Norbanus.  Die  erste  wurde 
im  J.  98  gehalten.  M'.  Aquillius,  ein  tapferer  Soldat  und  tüchtiger  Feld- 
herr, hatte  durch  Niederwerfung  des  zweiten  Sklavenaufstandes  in  Sizilien 
(99)  sich  die  grössten  Verdienste  erworben,  allein  zu  gleicher  Zeit  hatte 
ihn  seine  Habsucht  zu  Erpressungen  verleitet,  wegen  deren  er  von 
L.  Fufius  angeklagt  wurde.  Antonius  verteidigte  ihn  und  erlangte,  trotz- 
dem an  der  Schuld  des  Angeklagten  nicht  zu  zweifeln  war,  seine  Frei- 
sprechung. Besonders  wirksam  war  der  Coup,  dass  der  Redner  die  Toga 
des  Angeschuldigten  auseinanderriss  und  den  Richtern  die  Wunden  zeigte, 
welche  sich  derselbe  in  den  Kämpfen  für  das  Vaterland  zugezogen  (Liv. 
per.  70).  Auch  in  der  Rede  für  C.  Norbanus  war  der  Redner  siegreich. 
Hier  lag  folgende  Anklage  vor.  Der  Volkstribun  C.  Norbanus  hatte  den 
Q.  Servilius  Caepio,  der  im  Cimbemkrieg  eine  schmähliche  Niederlage  er- 
litten hatte,  wegen  dieser  Schmach  und  einer  begangenen  Unterschlagung 
in  Anklagezustand  versetzt  und  seine  Verurteilung  herbeigeführt.  Es  war 
aber  dabei  die  Gesetzeswidrigkeit  vorgekommen,  dass  Norbanus  die  für 
Caepio  intercedierenden  Tribunen  mit  Gewalt  verjagte.  Er  wurde  deshalb 
von  P.  Sulpicius  Rufus  (94)  belangt.  Auch  hier  siegte  der  Redner  nach  dem 
Referat,  das  ihm  Cic.  de  or.  2,48, 199  in  den  Mund  legt,  dadurch,  dass  er 
auf  die  Schuldfrage  so  wenig  als  möglich  einging,  dagegen  den  gegen 
Caepio  bestehenden  Hass  möglichst  ausnützte.  Wenn  man  unbefangen  das 
allgemeine  Urteil  Ciceros  über  die  Beredsamkeit  des  Antonius  betrachtet 
(Brut.  37, 139),  so  lag  der  Schwerpunkt  seiner  Kunst  in  dem  Vortrag  und 
in  der  Aktion.  In  Bezug  auf  die  Darstellung  legte  er  das  Ebiuptgewicht 
auf  wirksame  Gruppierung  des  Materials  und  auf  Ausschmückung  der  Ge- 
danken. 

Der  zweite  hervorragende  Vertreter  der  Beredsamkeit  ist  L.  Licinius 
Crassus,  der  Schüler  des  L.  Coelius  Antipater.  Seine  Reden  waren  nur 
zum  Teil  ganz  veröffentlicht,  manche  lagen  bloss  in  Skizzen  vor  (Cic.  Brut. 
43, 160;  44, 164).  Eine  seiner  Reden  behandelte  eine  cause  celibre.  Ein 
römischer  Bürger  hatte  die  testamentarische  Bestimmung  getroffen,  dass, 
falls  seine  Frau  einen  Sohn  gebären  und  dieser  vor  erlangter  Volljährigkeit 
sterben  sollte,  M'.  Curius  der  Erbe  seines  Vermögens  werde  (Boethius  in 
Cic.  Topica  p.  341).  Nun  wurde  aber  gar  kein  Sohn  geboren,  da  die 
Voraussetzung,  dass  die  Frau  schwanger  sei,  eine  irrige  war.  Infolgedessen 
trat  ein  Verwandter  des  Erblassers  mit  einer  Klage  auf,  welche  Q.  Mucius 


')  „Antonius  ipse  nüUas  orationes  edi- 
dis/te  traditur,  aed  nihif&tninus  et  a  Cicerone 


laudantur:   lihrarii  enitn  eas  aut  integras 
aut  ex  parte  memoriae  tradiderant'*  (Meter, 


tt  ah  aliis  veltU  exempla  eloquentiae  saepe  \   Fragm.  or.  Rom.  p.  281). 


Die  Bedner. 


117 


Scaevola  vertrat,  und  verlangte  Intestaterbfolge;  ihm  trat  M*.  Curius  ent- 
gegen und  beanspruchte  für  sich  die  Erbschaft.  Sein  Anwalt  war  L.Crassus; 
er  gewann  den  Prozess.  Im  Jahre  106  verteidigte  L.  Crassus  das  Gerichts- 
verfassungsgesetz des  Q.  Servilius  Caepio,  durch  welches  die  Gerichte  den 
Senatoren  übertragen  werden  sollten.  Aus  dieser  Rede  lesen  wir  bei  Cic. 
de  or.  1, 52, 225  ^)  eine  wirksame  Stelle.  Crassus  war  nach  der  Darlegung 
Cieeros  dem  Antonius  überlegen ;  sein  Stil  war  durchaus  korrekt  und  elegant, 
seine  Darstellung  ganz  besonders  durch  die  Kunst,  alles  klar  zu  machen, 
ausgezeichnet,  es  kamen  ihm  hiebei  seine  ausgezeichneten  juristischen 
Kenntnisse  zu  statten.  Unübertrefflich  war  sein  Geschick,  die  Rede  plötz- 
lich in  den  Dialog  umzusetzen  (Cic.  Brut.  43, 159).  Auch  verfügte  er  über 
die  Gabe  des  Witzes  (38, 143),  dagegen  war  sein  Vortrag  und  seine  Aktion 
weniger  lebhaft  als  dies  bei  Antonius  der  Fall  war.  So  ausgebildet  uns 
die  Rhetorik  bei  diesen  Rednern  entgegentritt,  auch  die  Kehrseite  fehlt 
nicht,  nämlich  durch  die  Rede  die  schlechte  Sache  zur  guten  zu  machen. 
Merkwürdig  ist,  dass  unter  L.  Licinius  Crassus  als  Censor  (92)  eine  Mass- 
regelung der  lateinischen  Rhetoren  eintritt.  Es  wurde  ein  Dekret  erlassen 
des  Inhalts:  Es  wurde  uns  gemeldet,  dass  es  Leute  gebe,  welche  eine  neue 
Methode  des  Unterrichts  einführten;  zu  ihnen  käme  die  Jugend  in  die 
Schule;  diese  Leute  hätten  sich  den  Namen  „lateinische  Rhetoren"  beige- 
legt, bei  ihnen  sässen  die  Jünglinge  ganze  Tage.  Unsere  Ahnen  haben 
bestimmt,  was  ihre  Kinder  lernen  und  welche  Schulen  sie  besuchen  sollten. 
Die  vorliegende  Neuerung,  die  gegen  Sitte  und  Gewohnheit  der  Vorfahren 
verstösst,  gefällt  uns  nicht  und  scheint  nicht  recht  zu  sein.  Daher 
erscheint  es  angezeigt,  sowohl  denjenigen,  welche  solche  Schulen  halten, 
als  denjenigen,  welche  sie  zu  besuchen  pflegen,  unsere  Anschauung  dahin 
kundzugeben,  dass  uns  diese  Dinge  nicht  gefallen  (Suet.  rhet.  1).  Damit 
war  die  Schliessung  der  lateinischen  Rhetorenschulen  ausgesprochen.  Cicero 
lässt  de  or.  3, 24, 93  den  Crassus  diese  Massregel  verteidigen;  er  hebt  hervor, 
dass  die  lateinischen  Rhetoren  nichts  als  Dreistigkeiten  lehrten,  während 
die  griechischen  doch  noch  Wissensstoff  mitteilten.  Und  in  der  That,  wenn 
man  die  Schulthemata  ins  Auge  fasst  mit  ihrer  Ungeheuerlichkeiten  und 
UnWahrscheinlichkeiten,  wenn  man  erwägt,  dass  es  bei  diesen  Übungen 
nur  darauf  ankam,  auch  der  unwahrscheinlichsten  Sache  zum  Siege  zu 
verhelfen,  so  wird  man  jene  Lehrinstitute  als  verderblich  ansehen  müssen. 
Allein  mit  dem  negativen  Mittel  der  Schliessung  der  Schulen  war  keine 
entschiedene  Heilung  des  Übels  gegeben;  diese  konnten  nur  positive  Vor- 
schläge für  den  Unterricht  herbeiführen. 

Hanptquelle  ist  Cieeros  Bratos,  welcher  die  Entwicklung  der  römischen  Beredsam- 
keit bis  auf  seine  Zeit  gibt.  Oratvrum  Romanorum  fragmenta  coli,  atque  illustr,  Hekr. 
MsTEB.  Ed.  n.  Zürich  1842.  Westerkaiw,  Geschichte  der  rOmischen  Beredsamkeit.  Leipz. 
1835  (ein  dürres,  ungeniessbares  Buch).  Ellenbt,  Historia  eloquentiae  Romanae  usqtie  ad 
Caemres  in  seiner  Ausgabe  von  Cieeros  Brutus,  Eönigsb.  1825.  Bebobr,  Histaire  de  Vilo- 
quence  latine  depuis  Vorigine  de  Rome  juaqu'ä  Cic^ron  hsg.  von  Y.  Cucheval.  2  Bde.  Paris 
1872  (1881);  auch  andere  Zweige  der  litteratnr  sind  hier  beigezogen.  Enderleik,  De  M. 
AnUmio  oratore,  Leipz.  1882. 


*)  Eripite  noe  ex  miseriis,  eripite  ex 
faucibus  eorum,  quarum  crudelitas  nostro 
sanguine  non  polest   expJeri;   ndite  sinere 


no8   cuiquam   eervire,    nisi   i>obi8   univeraiSf 
quibtts  et  poseumus  et  debemus. 


11g     Bömiflohe  LitieratnrgeBohiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik,    2.  Periode. 


y)  Die  Fachgelehrten. 
1.  Die  Philologen  (L.  Aelius  Stilo  Praeconinus). 

76.  Die  Entstehung  der  römischen  Philologie.  Bei  einer  werdenden 
Litteratur  stellt  sich  als  erste  philologische  Beschäftigung  ein:  Regelung 
der  Schrift  und  der  Orthographie.  Dies  war  auch  in  der  römischen  Lit- 
teratur der  Fall.  Wir  haben  oben  gesehen,  wie  die  ersten  römischen 
Schriftsteller  mit  orthographischen  Problemen  beschäftigt  waren.  Das 
eigentliche  philologische  Studium  kam  von  aussen  nach  Rom;  es  war  ein 
zufälliges  Ereignis,  welches  hier  mächtig  einwirkte.  Der  berühmte  Gegner 
Aristarchs,  Grates  von  Mallos,  kam  als  Gesandter  des  pergamenischen  Hofs 
ungefähr  zur  Zeit  des  Ablebens  des  Dichters  Ennius  nach  Rom.  Er  fiel 
in  eine  Kloake  und  brach  ein  Bein.  Da  die  Heilung  längere  Zeit  in  An- 
spruch nahm,  hielt  er  zu  seiner  Zerstreuung  fleissig  Vorlesungen  und  Dis- 
putationen über  Philologie  (Suet.  gramm.  2).  Dadurch  wurden  die  Römer 
mit  der  Philologie  vertraut  gemacht,  wie  sie  sich  damals  durch  die  Studien 
und  Kämpfe  der  Alexandriner  und  Pergamener  herausgebildet  hatte,  und 
zwar  kam  durch  Grates  die  römische  Philologie  stark  unter  pergamenischen 
Einfluss.  0  Zwei  Seiten  sind  es,  welche  die  damalige  Philologie  der  Griechen 
zeigt;  einmal  die  litterarische,  dann  die  grammatische.  Die  litterarische 
Philologie  urofasst  die  Aufzählung  der  Schriftwerke  mit  litterarhistorischen 
Notizen  in  Katalogen,  die  Lesbarmachung,  Verbesseining,  Erklärung,  Wert- 
schätzung der  Autoren.  Die  grammatische  Philologie  konzentriert  sich 
auf  den  Streit  zwischen  Analogie  und  Anomalie.  Wir  haben  jetzt  darzu- 
legen, welche  Früchte  jene  Vorlesungen  des  pergamenischen  Philologen 
zeitigten.  Vor  allem  wurden  die  römischen  Autoren  einer  philologischen 
Behandlung  unterworfen.  Dieselben  wurden  in  grösseren  Kreisen  vorge- 
lesen, kommentiert  und  wohl  auch  kritisch  revidiert  (Suet.  gramm.  2).  So 
beschäftigte  sich  G.  Octavius  Lampadio  mit  dem  pimischen  Krieg  des  Naevius 
und  teilte  ihn  in  sieben  Bücher.  Laelius  Archelaus  und  Vettius  Philo- 
comus  lasen  die  Satiren  des  Lucilius  vor,  Q.  Vargunteius  recitierte  unter 
grossem  Zulauf  die  Annalen  des  Ennius.  Auch  das  litterarhistorische  Ge- 
dicht, wie  es  Accius  (vgl.  §  49)  und  andere  (vgl.  §  62)  pflegten,  wird  auf 
die  pergamenische  Anregung  zurückgehen.  Doch  als  den  ersten  Philologen 
im  eigentlichen  Sinn  des  Wortes  haben  wir  L.  Aelius  Stilo  Praeconinus 
aus  Lanuvium  anzusehen.  Aus  seinem  Leben  wissen  wir,  dass  er  ein 
eifriger  Anhänger  der  Optimaten  war;  dies  bewies  er  dadurch,  dass  er 
Reden  für  sie  abfasste  (Gic.  Brut.  56, 206)  und  Q.  Metellus  Numidicus  ins 
Exil  nach  Smyrna  begleitete.  Die  Früchte  seiner  Studien  legte  er  in 
Schriften  dar,  dann  in  freier  Lehrthätigkeit.  Zu  seinen  Schülern  zählen 
Varro  und  Gicero  (Gell.  16, 8, 2,  Gic.  Brut.  56, 207).  Der  Historiker  Gaelius 
Antipater  hatte  ihm  sein  Geschichtswerk  gewidmet  (vgl.  §  71  Anm.).  Seine 
Schriftstellerei   anlangend,   so   haben   wir  zuerst  seine   interpretatorische 


^)  Reiffebscbeid,  Rede,  Breslau  1881/2. 
^Erst  ro&ter  hat  Alexandria  Einfluss  auf  Rom 
ausgeübt,  aber  Pergamon  hatte  ihm  den  Vor- 
sprung abgewonnen  imd  wurde  niemals  völlig 


durch  die  (xegnerin  aus  seinem  Besitze  ver- 
drängt, wenn  es  auch  einen  Teil  an  sie  ab 
treten  musste/ 


Die  PhUologea.  119 

Thätigkeit  zu  verzeichnen.  Er  kommentierte  die  Lieder  der  Salier  (Festus 
141  M.,  Varro  de  1. 1.  7, 2).  Auch  mit  der  Erklärung  der  zwölf  Tafeln  be- 
schäftigte er  sich,  wenigstens  wird  er  für  zwei  Worte  angeführt  (Cic.  de 
leg.  2, 23,  59,  Festus  290  M.).  Ob  dies  in  einer  eigenen  Schrift  geschehen, 
ist  nicht  sicher.  Neben  der  kommentierenden  Thätigkeit  gewahren  wir 
auch  die  recensierende  (Fronto  p.  20N.,  Suet.  Reiflfersch.  p.  138).  Aber  auch 
auf  litterarhistorische  Probleme  wurde  Aelius  Stilo  geführt;  er  untersuchte 
die  Echtheit  der  unter  dem  Namen  des  Plautus  verbreiteten  Komödien 
und  stellte  25  Stücke  als  echte  auf  (Gell.  3, 3, 1  u.  12).  Seine  genaue  Kennt- 
nis des  Altertums  nach  seiner  äusseren  und  inneren  Seite  bezeugt  Cicero 
Brut.  56,205;  allein  Schriften  scheint  er  hier  nicht  hinterlassen  zu  haben 
(Cic.  Acad.  post.  1^2,8).  Für  seine  sprachlichen  Studien  zeugen  einmal  die 
wahrscheinlich  in  einem  eigenen  Werk')  niedergelegten  zahlreichen  Ety- 
mologien, die  von  ihm  angeführt  werden,  dann  eine  ausdrücklich  (Gell.  16, 
8,  2)  erwähnte  Schrift  de  proloquiis  (=  nsQi  a^KofxdroDv);  wir  werden  die- 
selbe als  eine  Lehre  der  Satzformen  im  stoischen  Sinn  zu  betrachten  haben.  <) 
Aber  auch  dem  berühmten  Streit  zwischen  Analogie  und  Anomalie  kann 
er  nicht  aus  dem  Weg  gegangen  sein,  zumal  da  Sueton  bezeugt,  dass 
Aelius  Stilo  und  sein  Schwiegersohn  Ser.  Clodius  die  Grammatik  nach 
allen  Seiten  hin  gepflegt  haben  (gramm.  2). 

NiFPEBDET,  Opusc.  315  wiU  Tacit.  dial.  23  qui  rhetorum  nostrarum  comment^irios 
fastidiunt  oderurU,  Calvi  mirantur  statt  Calvi  schreiben  L,  Äeli.  Allein  solche  Kommentare 
werden  nirgends  erwähnt.  Heitsdis,  DUquisitio  de  L,  Aelio  Stilone,  ütr.  1839.  Mentz,  De 
L,  Aelio  Stihne,  Leipz.  1888  (Jenaer  Dissertation) ;  p.  28 — 35  siad  die  Fragmente  behandelt. 


Die  Altertumswissenschaft  verdankt  ihr  Entstehen  nicht  der  griechischen  Ein- 
wirkimg, sie  hat  ihre  Wurzel  im  Pontifikalarchiv,  femer  in  den  Aufzeichnungen  der  Be- 
amten (vgl.  §  13).  Wir  finden  daher  dieselbe  ziemlich  früh  in  der  Litteratur.  M.  Fulvius 
Nobilior,  der  Bezwinger  Ätoliens  (189)  verfasste  Fasti.  Vgl.  Macrob.  1, 12, 16  Ftävius  Nobi- 
lior  in  fastis  quos  in  aede  Herculis  Musarum  poauit.  C.  Sempronius  Tuditanus  (Cons. 
129)  schrieb,  wie  wir  §  71,  3  sahen,  lihri  magistratuum.  Der  Freund  des  C.  Gracchus  Junius 
GracchanuB,  mit  dem  Beckeb,  Zeitschr.  f.  Altertumsw.  1854  Nr.  16  den  als  homo  curiosus 
et  diligens  eruendae  vetusUUis  charakterisierten  Tschol.  Bob.  p.  264  Or.)  imd  von  Lucilius  (26, 2  M.) 
genannten  Junius  Congus  identifizieren  will,  hinterliess  ein  dem  Vater  des  Atticus  ge- 
widmetes Werk  De  potestatibue  (Cic.  de  leg.  3,  20,  48),  von  dem  das  7.  Buch  citiert  wird 
(Big.  1,  13,  1  pr.).  In  unsere  Zeit  gehörte  wohl  auch  der  bei  Macrob.  3,  9,  6  genannte  vetustis- 
Hmus  liber  Furii,  aus  dem  Serenus  Sammonicus  in  1.  V.  rerum  reconditarum  den  Spruch 
mitteilt,  quo  di  evoeantur,  cum  opptignatione  eivUas  cingitur,  und  den,  durch  welchen  urhes 
exerritusque  dovotentur  tarn  numinihua  evocaiis.  M.  Hebtz  denkt  an  L.  Furius  Philus  (Cons. 
136) ;  vgl.  Flbokbis.  J.  85,  54.  L.  Mebckldt,  De  Junio  Crracchano,  2  Teile,  Dorpat  1840, 
1841.    M.  Hbbtz,  De  Cinciis  p.  88. 

77.  Die  grammatische  Streitfrage:  Analogie  oder  Anomalie.  Den 
ersten  Forschern  trat  die  Sprache  als  Chaos  entgegen.  Bald  bemerkte 
man  aber  die  Wiederkehr  bestimmter  Erscheinungen,  d.  h.  auf  gleiche  Weise 
gebildete  Formen.  Es  musste  sich  daher  der  Gedanke  aufdrängen,  in  der 
Sprache  herrsche  Regelrechtigkeit,  Analogie,  und  Aufgabe  der  Forschung 
sei  es,  die  Analogie  aufzudecken.  Diese  Analogie  fand  man  in  der  Flexion. 
Allein  bald  zeigten  sich  Schwierigkeiten.  Glaubte  man  nämlich,  ein  Flexions- 
schema gefunden  zu  haben,  so  stiess  man  wiederum  auf  Fälle,  welche 


0  MSKTZ  1.  c.  p.  21. 

')  Vgl.  Stshtthal,  Geschichte  der  Sprach wissensch.  p.  310. 


120    Römische  Litteratargeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

diesem  Flexionsschema  widersprachen.  War  z.  B.  die  Akkussativendung  em 
der  dritten  Deklination  festgestellt,  so  widerstritten  der  Regel  die  Akkus- 
sative  auf  im  u.  s.  w.  Diese  Ausnahmen  machten  andere  in  dem  Glauben 
an  die  Analogie  der  Sprache  bedenklich  und  verführten  zu  der  Annahme, 
in  der  Sprache  herrsche  nicht  Analogie,  Regelrechtigkeit,  sondern  Anomalie, 
Regellosigkeit.  Dieser  ihrer  Ansicht  von  der  Sprache  zum  Siege  zu  ver- 
helfen, mussten  sie  daher  darauf  bedacht  sein,  den  Regeln  d.  h.  den  Sche- 
mata, welche  die  Analogisten  aufstellten,  die  Ausnahmen  gegenüberzustellen. 
Das  Resultat  dieses  S[ampfes  musste  so  lange  dauern,  bis  alle  Regeln  und 
Ausnahmen  festgesetzt  waren,  bis  die  gesamte  Flexion  des  Nomons  und 
Yerbums  dargelegt  und  damit  der  Aufbau  der  formalen  Grammatik  voll- 
endet war.  Es  ist  nicht  denkbar,  dass  jemand,  der  sich  mit  der  Gram- 
matik in  der  damaligen  Zeit  beschäftigte,  nicht  Stellung  zu  dieser  Frage 
nahm.  Auch  Aelius  Stilo  musste  daher  dieser  Kontroverse  nahe  treten. 
Allem  Anschein  nach  war  er  Analogist  (vgl.  Charis.  129  K.).  Wie  sehr 
diese  Frage  die  Geister  aufregte,  ersehen  wir  daraus,  dass  selbst  ein  Cäsar 
in  diese  Frage  mit  einer  Schrift  eingriff. 

2.  Die  Juristen. 

78.  Die  erste  umfassende  Bearbeitung  des  Bechts.  Nachdem 
das  Landrecht  in  den  XII  Tafeln  kodifiziert  war,  ergab  sich  als  erste  Auf- 
gabe, das  Verständnis  des  Textes  zu  vermitteln.  Wir  sehen,  dass  sich 
die  Philologie  dieser  Aufgabe  zuwandte.  Allein  auch  die  Juristen  konnten 
sich  derselben  nicht  entziehen.  So  lesen  wir  denn  auch,  dass  z.  B.  dem 
L.  Acilius,  der  wegen  seiner  Rechtskenntnis  der  „Weise*'  genannt  wurde 
(Cic.  Lael.  6),  Zeitgenossen  des  M.  Cato  eine  Worterklärung  zu  den  XII  Tafeln 
zugeschrieben  wird  (Cic.  de  leg.  2, 23,  59).  Eine  zweite,  noch  wichtigere 
Aufgabe  fUr  die  Jurisprudenz  war,  das  neue  Recht  mit  dem  geschriebenen 
durch  Interpretatio  im  Einklang  zu  erhalten,  für  den  neuen  Rechtsstoif 
das  Fundament  im  alten  Gesetz  nachzuweisen.  Durch  diese  Thätigkeit 
wurde  das  jeweils  gültige  Recht  festgestellt ;  es  geschah  dies  in  der  Regel 
durch  die  Form  des  Rechtsbescheids,  des  responsum.  Endlich  musste  der 
Jurist  im  Einklang  mit  dem  Gesetz  Formularien  für  die  Rechtsgeschäfte 
entwerfen  und  die  Klageformen  zusammenstellen.  Das  grosse  Verdienst, 
diese  dreifache  Thätigkeit  zugleich  in  einem  Werke  in  Anwendung  gebracht 
und  damit  die  erste  umfassende  Bearbeitung  des  Rechts  geliefert  zu  haben, 
gebührt  dem  Sex.  Aelius  PaetusCatus  (Cons.  198).  Dieses  Werk  betitelte 
er  Tripertita  (sc,  commentaria) ;  es  enthielt  in  allem  Anschein  nach  äusser- 
lich  voneinander  getrennten  Teilen  1)  den  Text  der  XII  Tafeln  mit  den 
nötigen  Worterklärungen;  2)  die  juristische  interpretatio,  d.  h.  die  Darlegung 
des  geltenden  Rechts;  endlich  3)  die  Klagforraen.  Das  Werk  bildet  einen 
Abschnitt  in  der  Geschichte  des  Rechts. 

Pomponius  berichtet  in  den  Dig.  1,  2,  2,  7  im  Anschluss  an  das  ius  Flavianum:  Sex, 
AeUu8  alias  actiones  compoauit  et  librum  populo  dedit,  qui  appellatur  ius  Aelianum.  Da- 
gegen spricht  er  §  38  von  einem  Buch  qui  inscribitur  Tripertita,  qui  Über  veluti  cunahula 
iuris  eontinet.  Die  gewöhnliche  Ansicht  ist,  dass  beide  Werke  identisch  sind.  Diese  Iden- 
tität leugnet  Husohkb,  Zeitschr.  f.  g.  Rechtsw.  15,  177  und  Jobs  stimmt  ihm  Rom.  Rechtsw. 
1,  103,  1  bei.    Allein  da  sicherlich  das,   was  als  Inhalt  des  ersten  Buchs  bezeichnet  wird. 


Die  Juristen.  121 

auch  in  den  Tripertita  stand,  so  wird  die  gewöhnliche  Ansicht  aufrechtzuerhalten  sein. 
YieUeicht  wurde  aus  den  Tripertita  die  Formelsammlung  noch  eigens  herausgehoben.  Weiter 
werden  §  38  noch  drei  Bücher  erwähnt,  welche  seinen  Namen  trugen,  allein  ihre  Echtheit 
war  strittig. 

Litteratur:  M.  Voiot,  Über  das  Aelius-  und  Sabinussystem,  Abb.  der  s&chs.  Gesellsch. 
d.  W.  VII,  319  (Verunglückter  Versuch  ein  , System"  des  Aelius  zu  konstruieren). 

79.  Begnlariurisprudenz.  Nach  der  umfassenden  Bearbeitung  des 
Rechts  in  den  Tripertita  warf  sich  die  Jurisprudenz  mit  gesteigerter  Kraft 
auf  Einzelheiten  des  Rechts.  Diese  Arbeit  spiegelt  sich  ab  in  der  juristi- 
schen Kontroverse  und  hat  zum  Ziel  die  Rechtsregel.  Gelegenheit 
boten  dazu  die  Disputationen  bei  Erteilung  der  Rechtsbescheide  und  beim 
Rechtsunterrichte.  Im  Gebiete  dieser  Thätigkeit  tritt  uns  der  Sohn  des 
Cato  censorius  mit  einem  Werke  entgegen,  das  mindestens  aus  15  Büchern 
bestand  (Dig.  45, 1, 4, 1).  Gellius  rühmt  13,  20  (19),  19  sehr  diese  Leistung; 
ob  „d€  iuris  disciplina*' ,  womit  er  Catos  Werk  bezeichnete,  auch  der  Titel 
desselben  war,  ist  nicht  sicher.  Aus  dieser  Schrift  wird  wohl  die  regula 
Catoniana  (Dig.  34,  7,  1  pr.)  stammen,  die  wir  mit  Arndt,  Pandekten  p.  550 
also  formulieren:  ^Ein  Legat,  welches  unwirksam  wäre,  wenn  der  Testator 
sofort  nach  Testamentsvollstreckung  stürbe,  bleibt  ungeachtet  der  bis  dahin 
eingetretenen  Veränderung  der  Umstände  unwirksam,  wenn  auch  der  Tod 
erst  später  erfolgt.*  Es  ist  klar,  dass  solche  Regeln  für  die  theoretische 
Ausbildung  des  Rechts  von  der  grössten  Bedeutung  sein  mussten.  An  die 
Catonen  reiht  Pomponius  Dig.  1, 2, 2, 39  die  drei  Juristen  P.  Mucius,  Brutus 
und  Manilius;  er  spricht  von  ihnen  als  Begründern  des  Rechts.  Wir  werden 
nicht  irren,  wenn  wir  auch  diesen  Männern  die  erfolgreiche  Behandlung 
juristischer  Kontroversen  und  Auffindung  juristischer  Regeln  zuschreiben. 
Ausdrücklich  wird  von  Cicero  de  fin.  1,4, 12  eine  zwischen  diesen  drei  Ju- 
risten schwebende  Kontroverse,  ob  der  parfus  ancillae  zu  den  Früchten  ge- 
höre, berichtet.  Eine  andere  erwähnt  Gellius  17,  7, 3.  Im  einzelnen  ist  über 
ihre  Schriftstellerei  noch  folgendes  zu  bemerken:  P.  Mucius  Scaevola 
(Gons.  133),  derselbe,  dem  wir  wahrscheinlich  die  Redaktion  der  Annalen  in 
Buchform  verdanken,  schrieb  10  Bücher  juristischen  Inhalts.  M.  Junius 
Brutus  legt  Cicero  de  or.  2,  55,  224  drei  Bücher  über  das  Civilrecht  bei, 
während  die  Pandekten  von  sieben  Büchern  berichten.  Dass  aber  nur 
drei  Bücher  echt  seien,  bemerkt  Cicero  ausdrücklich  mit  Berufung  auf  das 
Zeugnis  des  M.  Scaevola.  Diese  Schrift  hat  noch  eine  ganz  besondere 
litterarische  Bedeutung;  sie  ist  die  erste  dialogische  Darstellung  des  Rechts 
und,  soweit  wir  sehen  können,  die  erste  dialogische  Darstellung  der 
römischen  Litteratur  überhaupt.  Aus  den  Mitteilungen  Ciceros  pro 
Cluentio  51, 141  und  de  or.  2,  55, 224  erkennen  wir,  dass  jedes  der  drei 
Bücher  einen  verschiedenen  Schauplatz  hatte,  das  erste  Privernum,  das 
zweite  Albanum,  das  dritte  Tibur.  Diese  dialogische  Gestaltung  erkennt  auch 
Qnintilian  6,  3, 44  an.  Von  M'.  Manilius  (Cons.  149)  führen  die  Digesten 
drei  Bücher  an;  daneben  sprechen  sie  von  monumenta  desselben.  Es  sind 
das  Geschäftsformulare;  Cic.  de  or.  1, 58, 246  erwähnt  die  Formulare  für  den 
Verkauf;  auch  Varro  kennt  solche  Formulare,  er  nennt  sie  Manilii  actiones. 

Festns  citiert  p.  157  0.  Mülleb  von  Cato  commtntarii  cipiles;  die  Forscher  sind 
nicht  einig,  oh  dieselben  dem  älteren  oder  jüngeren  Cato  angehören.  Ehenso  zweifelt  man, 
ob  Cic.  de  or.  2,  88,  142  video  in  Caionis  et  in  Bruti  Hhris  nominatim  fere  referri,  quid 


122    Bömische  Litteratorgesohiohte.    I.  Die  Zeit  der  BepabUk.    2.  Periode. 

alicui  de  iure  viro  atU  mtUieri  responderit  der  ältere  oder  der  jüngere  Cato  gemeint  ist. 
Ich  glaube,  dass  es  rätlicher  erscheint,  in  beiden  Fällen  an  den  jüngeren  Cato  zu  denken. 
—  Die  Pandektenstelle  über  die  drei  folgenden  Juristen  lautet:  Post  hos  (CkUones)  fuerunt 
Publius  Mucius  et  Brutus  et  Manilius,  qui  fundaverunt  ius  civil e.  Ex  his  Publius 
Mueius  etiam  decem  libellos  reliquit,  Brutus  Septem,  ManiUus  tres;  et  extant  volumina  scripta, 
Manüii  monumenta, 

80.  Systematisches  Recht.  Einen  grossen  Einschnitt  in  der  Ent- 
wicklung der  Jurisprudenz  bildet  das  litterarische  Schaffen  des  Q.  Mucius 
Scaevola  (Cons.  95,  f  82),  des  Sohnes  des  obengenannten  Mucius  Scaevola. 
Wir  kennen  denselben  bereits  als  Redner  aus  dem  Prozess  des  M'.  Curius, 
in  dem  er  sich  sehr  an  den  Buchstaben  des  Gesetzes  anklammert.  Noch 
in  einer  andern  sehr  berühmt  gewordenen  Rede  trat  er  auf,  er  verteidigte 
nämlich  den  P.  Rutilius  Rufus,  den  er  in  seiner  Provinz  Asia  als  Legat 
bei  sich  hatte,  d.  h.  er  verteidigte  seine  eigene  durch  ihre  Unbestechlich- 
keit ausgezeichnete  Verwaltung.  Scaevola  fasste  den  Gedanken,  den  bis 
dahin  in  den  Formelsammlungen,  Rechtsbescheiden,  Kontroversen,  Regeln 
zerstreut  vorliegenden  Rechtsstoff  in  ein  System  zu  bringen  und  führte 
diesen  Gedanken  in  einem  18  Bücher  umfassenden  Werke  durch.  Um  an 
eine  solche  Aufgabe  heranzutreten,  ist  eine  tiefer  gehende  philosophische 
Bildung  unerlässlich.  Dass  Scaevola  eine  solche  besass,  darauf  weist  eine 
zweite  Schrift  schon  durch  ihren  griechischen  Titel  oqoi  d.  h.  Definitionen 
hin.  In  dieser  Monographie  waren  Rechtsbegriffe  aufgestellt.  Die  hohe 
Bedeutung  des  Mucius  erhellt  daraus,  dass  sich  an  das  Hauptwerk  eine 
reiche  Litteratur  anschloss,  und  dass  das  Kompendium  {oQOi)  Muster  für 
die  späteren  Rechtsbücher  geworden  ist. 

Pompon.  Diog.  1,  2,  2,  41  ius  civile  primus  eonstituit,  generatim  in  libros  XVIIl  redi- 
gendo,  £ine  Übersicht  des  Systems  gibt  RudobfFi  Rom.  R^chtsgesch.  1,  161 ;  Eshabch, 
Rechtegesch.'  p.  196.  Die  oqoi  werden  mehrmals  in  den  Dig.  citiert  z.  B.  41,  1,  64.  Auch 
Hörer  des  Macius  werden  erwähnt,  z.  B.  C.  Aquilius  Gallus,  der  mit  Cicero  66  Prätor  war 
imd  der  durch  seine  formula  de  dolo  malo  u.  a.  in  der  Geschichte  des  Rechts  fortlebt. 

3.  Die  landwirtschaftlichen  und  naturwissenschaftlichen 

Schriftsteller. 

81.  Das  Werk  des  Karthagers  Mago.  Nach  Cato  griff  ein  fremdes 
Werk  tief  in  die  Entwicklung  der  italischen  Landwirtschaft  und  der  land- 
wirtschaftlichen Litteratur  ein,  das  Werk  des  Karthagers  Mago.  Der 
römische  Senat  liess  es  durch  eine  Kommission,  an  deren  Spitze  D.  Silanus 
stand,  ins  Lateinische  übertragen.  Es  ist  dies  das  einzige  Beispiel,  dass 
von  Seiten  der  Regierung  in  Rom  ein  litterarisches  Unternehmen  eingeleitet 
wurde.  In  diesem  28  Bücher  umfassenden  Werk  waren  wahrscheinlich 
die  Grundsätze  der  Plantagenwirtschaft  entwickelt;')  nach  Cic.  de  or.  1,  58, 
249  und  Columella  1,1,6  muss  jene  Übersetzung  unter  den  römischen  Land- 
wirten eine  grosse  Verbreitung  gefunden  haben.  Auch  bei  den  Griechen 
wurde  der  Karthager  durch  Übersetzungen  eingebürgert,  so  dass  dieses 
landwirtschaftliche  Buch  einen  völlig  internationalen  Charakter  erhalten 
hat.  Zuerst  übersetzte  es  Gassius  Dionysius  von  Utica  in  20  Büchern;  die 
Übersetzung,  zu  der  auch  manches  aus  griechischen  Schriftstellern  hinzu- 


0  MoMMSBN,  R.  Gesch.  2«,  680. 


Dia  laadwirtBchaftUchen  Sohriftsieller.  123 

kam,  war  dem  Prätor  Sextilius  gewidmet  (88  v.  Gh.).  Diese  zwanzig  Bücher 
brachte  in  einen  Auszug  von  6  Büchern  Diophanes  und  widmete  denselben 
dem  König  Deiotarus.  Zuletzt  machte  wiederum  eine  Epitome  aus  Dio- 
phanes in  zwei  Büchern  Pollio  von  Tralles. 

Plin.  n.  h.  IS»  22  Poenus  etiam  Mago,  cui  quidem  tantum  honorem  senatus  noster 
habuü  Carthagine  capta,  ut,  cum  regulis  Africae  hihliothecas  donaret,  unius  eius  XXVIII 
vofumina  eenaeret  in  laiinam  linguam  transferenda,  cum  iam  M,  Cato  praecepta  eondidtsaet, 
peritisque  Punieae  linguae  dandum  negotium,  in  quo  praecessU  omnie  vir  clari88im€te  fami- 
liae  D.  Silanus,  Varro  de  r.  r.  1,  1,  10  hoa  nobüitate  Mago  Carthaginiensis  praeteriit,  poe- 
niea  lingua  qui  res  disperetu  eonprendit  libria  XXVIII,  quoa  Ckissiua  Dionyaiua  üticensia 
ifertii  lAris  XX  ae  graeea  lingua  Sextilio  praetori  misit :  in  quae  volumina  de  graecis  libria 
eorum  quaa  dixi  adiecit  non  pauca  et  de  M<tgonia  dempait  instar  librorum  VUL  hoaee  ipaoa 
utiliier  ad  VI  libros  redegit  Diophanes  in  BUhynia  et  misit  Deiotaro  regi.  Siiid.  8.  v. 
nmUmy  0o<piarevaag  iv  nafitj  inl  Jlofintjiov  tov  fiayäXov  —  fyga^sy  —  hiitofA^v  ttuy 
Jiotpäyovs  ystaffyinuov  iv  ß^ßXioif  f, 

83.  Die  einheimischen  Schriftsteller.  In  der  landwirtschaftlichen 
Schriftstellerei  folgten  auf  Gate  die  Sasernae,  Vater  und  Sohn.  Ihre  Lehren, 
die  in  einem  aus  mehreren  Büchern  bestehenden  Werk  de  agricuUura  (Varro 
de  r.  r.  1, 2, 22  1, 2,  26)  niedergelegt  waren,  hatten  sie  aus  der  Praxis  ge- 
zogen; es  war  hier  ein  Gut  im  diesseitigen  Gallien  ins  Auge  gefasst 
worden  (Varro  de  r.  r.  1, 18, 6).  Wie  Gato  berührten  dieselben  auch  Dinge, 
die  mit  der  Landwirtschaft  im  entfernten  Zusammenhang  standen  (Varro 
de  r.  r.  1,2,24).  In  diese  Zeit  fallen  auch  die  ersten  Schriftsteller  über 
astronomische,  geographische  und  naturhistorische  Dinge.  Als  erster  römi- 
scher Astronom  erscheint  G.  Sulpicius  Gallus,  der  die  Mondfinsternis 
vom  21.  Juni  168  voraussagte  (Liv.  44, 37).  Dass  er  auch  darüber  schrieb, 
besagt  Plinius  n.  h.  2, 53.  Auch  wird  er  unter  den  Quellen  des  zweiten 
(astronomischen)  Buchs  aufgeführt;  eine  astronomische  Ansicht  von  ihm 
lernen  wir  aus  Plin.  2, 83  kennen.  Plinius  citiert  im  Quellenverzeichnis 
des  m.  Buchs,  das  Geographisches  behandelt,  TuranniusGracilis,  ebenso 
im  BUch  IX,  in  dem  die  Wassertiere  behandelt  werden.  Auch  Landwirt- 
schaftliches berührte  er,  da  ihn  das  XVIII.  Buch  im  Quellenverzeichnis 
aufführt.  Er  war,  wie  aus  Plin.  3, 3  erhellt,  ein  Spanier.  Ein  naturhisto- 
rischer SchriftBteller  war  auch  der  Begleiter  des  Prokonsul  von  Baetica 
L.  Lucullus  (150),  Trebius  Niger.  Ihn  erwähnen  die  Quellenverzeichnisse 
des  Plinius  für  das  IX.  Buch  (Wassertiere)  und  das  XXXII.  (Heilmittel 
von  Wassertieren).  Über  Vögel  muss  er  nach  Plin.  1 0, 40  geschrieben  haben. 

Über  Ma^o  und  die  Sasemae  handelt  Reitzeksteik,  De  aeriptorum  rei  ruatieae  —  libria 
deperditis,  Berhn  1884  p.  47,  p.  3.  Auch  sind  hier  die  Stellen,  wo  beide  Schriftsteller  .citiert 
sind,  gesammelt  p.  57,  p.  52. 

83.  Rflckblick.  Eine  bedeutsame  Zeit  des  litterarischen  Ringens 
und  Strebens  liegt  hinter  uns ;  es  dürfte  sich  daher  verlohnen,  die  erzielten 
Resultate  hier  kurz  zusammenzufassen.  Fremdlinge  waren  es,  welche  den 
Ghund  zur  römischen  Eunstlitteratur  gelegt  haben,  indem  sie  lateinische 
Übersetzungen  griechischer  Poesien  dem  römischen  Volk  darboten.  Sie 
wurden  durch  praktische  Bedürfnisse  dazu  veranlasst,  durch  Rücksichten 
anf  den  Schulunterricht,  dem  sie  ein  Lehrmittel  zuführen,  und  durch  Rück- 
sichten auf  das  Fest,  dem  sie  das  Festspiel  spenden  wollten.  Von  der 
Obersetzung  führte  der  Weg  zur  selbständigen  Schöpfung. 


124     Bömiflohe  LitteraturgeBohlohie.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

Überblicken  wir  zuerst  die  poetischen  Leistungen  unseres  Zeitraums, 
so  finden  wir,  dass  das  Epos  und  das  Drama  im  Vordergrund  stehen. 
Zwar  fand  auch  das  didaktische,  besonders  das  litterarhistorische  Gedicht 
Pflege,  allein  zu  einer  hervorragenden  Schöpfung,  zu  einem  didaktischen 
Gedicht  in  grossem  Stil  brachte  es  unsere  Periode  nicht.  Die  Lyrik  trieb 
aber  so  gut  wie  keine  Blüten.  Die  epische  Poesie  begann  mit  der  Über- 
setzung der  Odyssee  durch  Livius;  den  Weg  des  freien  Schaffens  betrat 
hier  zuerst  Naevius;  er  zeigte  zugleich  den  Römern,  woher  sie  den  Stoff 
für  ihre  Epen  nehmen  müssten,  nämlich  aus  ihrer  glorreichen  Geschichte. 
Ennius  setzte  diese  nationale  Richtung  fort;  aber  während  Naevius  in  Bezug 
auf  die  Kunst  der  Komposition  auch  bescheidenen  Ansprüchen  nicht  ge- 
nügte, bildete  Ennius  im  Anschluss  an  Homer  die  epische  Technik  aus. 
Seine  Annalen  blieben  das  Hauptepos  der  Republik;  als  Nachahmer  von 
ihm  sind  Hostius  und  Furius  anzusehen.  Auch  in  der  dramatischen 
Poesie  gewahren  wir  den  Übergang  von  der  übersetzenden  zur  freien  Thätig- 
keit.  Lange  Zeit  begnügte  man  sich  in  der  Komödie  mit  Bearbeitungen 
von  Stücken  Menanders  und  anderer  Dichter  derselben  Gattung;  endlich 
nach  längerer  Übung  versuchte  man  sich  in  gleichartigen,  freien  Gebilden; 
es  wurde  die  fabula  palliata  abgelöst  durch  die  fabul<i  togata.  In  der  Tra- 
gödie vollzog  sich  derselbe  Prozess ;  an  die  Stelle  der  übersetzten  griechi- 
schen Stücke  traten  die  fabulae  praetextae,  welche  ihren  Stoff  aus  dem  Leben 
der  römischen  Könige  und  Feldherrn  nahmen.  Allein  diese  Spielart  gedieh 
nicht  zur  vollen  Blüte.  Die  römische  Natur  zeigte  sich  für  die  tragische 
Schönheit  viel  weniger  empfänglich  als  für  die  komische;  daher  kommt 
es,  dass  die  tragische  Dichtung,  welche  in  unserer  Epoche  ihren  Höhepunkt 
erreicht  hat,  bald  herabsinkt  und  erlischt,  während  noch  später  neue 
Sprossen  an  dem  Zweig  der  Komödie  hervorkeimen.  Eine  eigentümliche 
Gattung  der  Poesie  lernten  wir  in  der  Buchsatura  kennen.  Wie  es  scheint, 
in  Anlehnung  an  die  alte  dramatische  Satura  entstand  durch  Naevius  und 
Ennius  eine  Buchpoesie,  deren  ursprüngliche  Form  der  Dialog  oder  die 
Plauderei  mit  dem  Leser,  deren  Ethos  das  der  Heiterkeit  war.  Der  Inhalt 
dieser  Buchsatura  war  völlig  frei;  Lucilius  gab  ihr  aber  das  Element  der 
Kritik  der  Gegenwart. 

Später  als  die  Poesie  gestaltete  sich  die  Kunstprosa;  es  ist  dies  ja 
eine  allgemeine  Erscheinung  in  der  werdenden  Litteratur.  Für  die  Prosa 
bedurfte  es  nicht  der  Fremden;  in  dem  Pontifikalarchiv  waren  die  Elemente 
für  eine  lateinische  Schriftprosa  vorhanden.  Nehmen  wir  den  wichtigsten 
Zweig  der  Kunstprosa,  die  Geschichte,  so  war  in  der  offiziellen  Chronik 
ein  Rudiment  gegeben,  das  der  Ausbildung  fähig  war.  Freilich  kostete 
es  der  Mühen  genug,  bis  eine  historische  Kunstprosa,  die  diesen  Namen 
verdient,  sich  herausarbeitete.  Die  ersten  römischen  Historiker  bedienten 
sich  der  griechischen  Sprache;  durch  Cato  wurde  die  lateinische  Sprache 
in  die  Annalistik  eingeführt.  Die  Form  der  Geschichtschreibung  war  an- 
fänglich die  Erzählung  der  Ereignisse  von  Gründung  der  Stadt  an.  Zwar 
hatte  Cato  auch  hier  reformierend  eingegriffen  und  die  Scheidung  zwischen 
der  Sagenzeit  und  der  selbsterlebten  Zeit  nahegelegt;  allein  es  währte 
doch  ziemlich  lange,  bis  an  Stelle  der  allgemeinen  Stadtchronik  die  histo- 


Rückblick.  125 

rische  Monographie,  die  Zeitgeschichte,  die  Autobiographie,  die  Denkschrift 
traten,  durch  welche  Formen  die  Geschichtschreibung  auf  eine  höhere  Stufe 
der  Vollendung  gebracht  werden  konnte.  Hand  in  Hand  damit  ging  die 
Ausbildung  der  Darstellung,  welche  immer  mehr  auf  Fesselung  und  Unter- 
haltung des  Lesers  hinarbeitete.  Neben  der  Geschichte  entfaltete  sich  die 
Beredsamkeit.  Für  diese  Disziplin  lagen  die  Verhältnisse  in  Rom  ausser- 
ordentlich günstig,  da  das  öffentliche  Leben  die  Kunst  der  Rede  gebiete- 
risch verlangte.  Der  litterarische  Fortschritt  musste  sich  hier  darin  zeigen, 
dass  von  der  natürlichen  Beredsamkeit  immer  mehr  zur  künstlichen  über- 
gegangen wird.  Die  rhetorische  Ausbildung  war  eine  wesentliche  Auf- 
gabe des  Schulunterrichts  und  durch  denselben  konnte  auch  das  Griechen- 
tum eingreifen.  Dieses  starke  Betonen  der  Rhetorik  in  der  Schule  hat 
entschieden  dazu  beigetragen,  der  römischen  Litteratur  einen  rhetorischen 
Charakter  aufzudrücken.  Auch  für  die  Fachwissenschaften  war  die 
Amtsthätigkeit  der  Pontifices  von  einschneidender  Bedeutung;  die  Jurispru- 
denz erhielt  durch  sie  ihre  erste  Pflege;  die  enge  Verbindung  der  Praxis 
und  der  Theorie  erhob  diesen  Zweig  zur  glänzendsten  Fachdisziplin  der 
römischen  Litteratur.  Durch  einen  Zufall  wurden  die  Römer  auch  mit  den 
philologischen  Studien,  wie  sie  damals  bei  den  Griechen  gepflegt  wurden, 
bekannt;  sofort  gewannen  diese  Studien  eine  feste  Stätte  in  Rom  und 
leisteten  der  Jurisprudenz  bei  der  Auslegung  der  XH  Tafeln  wertvolle 
Dienste.  Die  landwirtschaftliche  Schriftstellerei,  welche  die  gesamte  Haus- 
wirtschaft umfasste,  wurde  besonders  durch  ein  punisches  Werk  angeregt. 
Dies  sind  in  kurzen  Zügen  die  Resultate  des  litterarischen  Schaffens 
unseres  Abschnitts.  Der  Hellenismus  ist  das  befruchtende  Element,  die 
von  Cato  ausgehende  Reaktion  gegen  denselben  scheiterte.  Erhalten  sind 
uns  aus  der  ganzen  Epoche  nur  Werke  von  drei  Schriftstellern,  von  Plautus, 
Terenz  und  von  Cato.    Sonst  liegen  uns  lediglich  zersprengte  Reste  vor. 


B.  Vom  Ausgang  des  Bundesgenossenkriegs  bis  zum 
Ende  der  Republik  (87-30  v.  Gh.). 

84.  Die  Latinisiemng  Italiens.  Wir  beginnen  einen  neuen  Ab- 
schnitt der  römischen  Litteraturgeschichte  mit  dem  Ende  des  Bundes- 
genossenkriegs. Wir  glauben  hiezu  berechtigt  zu  sein,  weil  mit  dem 
Kriege  nicht  bloss  politische,  sondern  auch  litterarische  Interessen  ent- 
schieden wurden.  Unternommen  wurde  der  Krieg  von  den  Italikern  in 
der  Absicht,  sich  die  Gleichberechtigung  mit  den  Römern  zu  verschaffen; 
allein  bald  spitzte  sich  der  Kampf  dahin  zu,  dass  nicht  um  die  Gleich- 
berechtigung, sondern  um  die  Herrschaft  gefochten  wurde.  In  diesen 
Kampf  war  aber  zugleich  das  Organ  der  Litteratur,  die  Sprache,  hinein- 
verflochten. Zwar  waren  mehrere  Schwestersprachen  des  Lateinischen  wie 
die  sabellischen  Idiome  und  das  Umbrische^  gebrochen;  allein  das  Oskische 
war  noch  die  herrschende  Sprache  von  Samnium  und  ein  lebenskräftiges 
Organ.  Ein  Sieg  der  Italiker  würde  daher  zugleich  einen  Sieg  der  oski- 
schen  Sprache  bedeutet  haben.  Hatte  man  doch,  als  man  den  neuen 
Bundesstaat  Italia  errichtete,  bereits  neben  lateinischen  Münzen  auch  solche 
mit  oskischer  Umschrift  geprägt.  Der  Sieg  entschied  für  die  Römer;  damit 
war  die  lateinische  Sprache  von  einer  Katastrophe  gerettet,  ihr  Gebiet 
erweitert,  für  die  römische  Litteratur  erschlossen  sich  neue  Kräfte.  Natur- 
gemäss  reicht  unser  Abschnitt  bis  zum  Beginn  der  Alleinherrschaft  des 
Octavian  (30  v.  Gh.);  denn  mit  der  Änderung  der  Regierungsform  musste 
auch  die  Litteratur  neue  Bahnen  einschlagen. 

Über  die  Latinisienuig  Italiens  ftussert  sich  treffend  Jordan,  Krit.  Beitr.  p.  130 : 
Die  zwangsweise  erfolgte  Einftkhmng  erst  der  lateinischen  Sprache,  dann  —  wie  es  scheint 
durch  Augustus  —  des  römischen  Masses  und  Gewichtes  und,  nach  dem  spurlosen  Ver- 
schwinden von  Exemplaren  italischer  Kalender  zu  schliessen,  wohl  auch  des  römischen 
Kalenders,  hatte  im  entgegengesetzten  Sinne,  wie  es  die  Erhebung  der  Italiker  beabsichtigte, 
die  Einheit  Italiens  herbeigeföhrt.  Zwar  das  Leben  der  Mimdorten  konnte  so  wenig  wie 
die  Sitten  der  Stänmie  durch  Gresetze  imd  Verordnungen  mit  einem  Schlage  vernichtet 
werden.  Aber  es  vollzog  sich  in  einem  Menschenalter  jener  natttrliche  Prozess,  den  wir 
noch  heutzutage  bei  aussterbenden,  von  einem  anziehungskräftigeren  oder  siegreichen  Staate 
aufgesogenen  Nationalitäten  beobachten  können :  Die  Jugend,  deren  Väter  noch  ihre  Mund- 
art gesprochen  hatte,  wandte  sich  nicht  bloss  in  Rom,  sondern  auch  in  der  Heimat  fast 
mit  Schamgefühl  von  derselben  ab;  auf  dem  Markt  und  an  der  Landstrasse  verschwanden 
die  urkundlichen  Zeugnisse   der  alten  StammeseigentOmlichkeit,  und  wenn  in  den  engen 


^)  BuDiNSZKY,  Die  Ausbreitung  der  lat.  Sprache  p.  22,  p.  26. 


L.  Pomponiiis  und  Novins.  127 

Kreisen  dee  Kultes  und  des  Hauses  noch  dieses  und  jenes  sicli  erhielt  und  noch  eine,  ja 
mehrere  Generationen  hindurch  die  Mundarten  ein  stilles  Dasein  fortgeführt  haben  mögen 
—  schwerlich  darf  man  die  Abfassung  der  jüngsten  der  iguvinischen  Tafeln  bis  in  oder 
gar  über  die  Zeit  des  Augustus  hinabrflcken  —  so  drang  doch  kein  Ton  derselben 
mehr  wie  früher  herüber  in  die  Hauptstadt  oder  er  verhallte  dort,  von  den  Gebildeten  un- 
beachtet, unter  der  dienenden  Klasse.  Das  stolze  Wort  Quintilians  war  lange  vor  ihm  zur 
Wahrheit  geworden :  licet  omnia  Italica  pro  Romanis  habeam. 

a)  Die  Poesie. 

1.   L.  Pomponius  und  Novius. 

86.  Die  Atellana  (die  oskiBche  Posse).  Die  dramatische  Poesie 
ist  in  unserer  Periode  in  entschiedenem  Verfall ;  die  Tragödie  treibt  keine 
Blüten  mehr,  in  der  Komödie  aber  beherrscht  jetzt  die  Posse  das  Feld 
und  zwar  in  zwei  Formen,  die  sich  ablösen,  in  der  fabula  Atellana  und  im 
Mimus.  Die  Atellana  hat  ihren  Namen  von  der  oskischen  Stadt  Atella 
in  Gampanien;  sie  hiess  auch  allgemein  das  oskische  Spiel  {oscus  ludus 
Cic.  ep.  7, 1,3;  oscum  ludicrum  Tac.  A.  4,  14).  Dieses  Spiel  gelangte,  wohl 
nach  Verlust  der  campanischen  Selbständigkeit  (211),  nach  Rom  und  wurde 
hier  von  der  Jugend  als  Dilettantenposse  aufgefühii.  Die  Spieler  trugen 
Masken  und  ihr  Spiel  brachte  ihnen  keinerlei  bürgerlichen  Makel.  Die 
hervorstechendste  Eigentümlichkeit  dieser  Posse  waren  feststehende  Rollen, 
die  sogenannten  personae  oscae.  Es  waren  dies  Pappus,  Maccus,  Bucco 
und  Dossennus.  Pappus  ist  der  Alte,  Maccus  der  Dümmling,  Bucco  der 
Schwätzer  und  Aufschneider,  Dossennus  der  Pfiffikus,  der  zugleich  Schma- 
rotzer •)  ist.  Unwillkürlich  erinnert  man  sich  an  die  Figuren  der  italieni- 
schen Komödie,  den  Pantalon,  den  PulcineU,  den  Dottore.  Aber  auch  einen 
feststehenden  Schauplatz  für  die  Handlung  scheint  diese  Posse  gehabt  zu 
haben,  nämlich  Atella;  denn  die  Narrheiten  brauchen  ein  Narrenheim,  eine 
Schildburg,  ein  Seldwyla.  So  mag  die  Posse  lange  Zeit  die  römische  Jugend 
unterhalten  haben;  an  einen  geschriebenen  Text  wird  man  in  den  seltensten 
Fällen  zu  denken  haben;  meistens  wird  das  Spiel  das  Werk  der  Improvi- 
sation gewesen  sein.  Diese  Dilettantenposse  musste  zur  Eunstposse 
werden,  seit  sie  aus  den  Privatkreisen  heraustrat  und  als  Nachspiel  zu 
den  Tragödien  auf  die  Bühne  kam.  Jetzt  lag  ihre  Darstellung  in  den 
Händen  von  Schauspielern.  Weiterhin  brauchte  man  jetzt  einen  schriftlich 
ausgearbeiteten  Text  und  damit  tritt  die  Atellana  in  die  Litteratur  ein. 
An  zwei  Namen  knüpft  sich  diese  Entwicklung,  an  L.  Pomponius  aus 
Bononia  und  an  Novius.  Über  die  Zeit  dieser  Dichter  sind  wir  nur  mangel- 
haft unterrichtet.  Die  Blüte  des  Pomponius  wird  von  Hieronymus  (2, 133  Seh.) 
ums  Jahr  89  gesetzt.  Und  in  der  That,  wenn  wir  die  Entwicklung  des 
Dramas  in  Rom  ins  Auge  fassen,  werden  wir  die  Blüte  der  Atellana  in 
die  sullanische  Zeit  setzen,  welcher  dann  in  der  Zeit  Cäsars  der  Mimus 
folgte.  Von  den  Stücken  des  Pomponius  und  Novius  sind  uns  nur  Titel 
und  einzelne  Fragmente  erhalten;  wir  können  von  keinem  einzigen  Stück 
den  Gang  der  Handlung  feststellen.  Die  Charaktermasken  erscheinen  öfters 
schon  in  den  Titeln,   wir  finden  den  Pappus  als  Landmann  (P.  agricola), 

*)  Varro  de  1.  1.  7,  95  dictum  mandier  a  mandendo,  unde  manducari,  a  quo  in  ÄteU 
lanis  Dossennum  vocant  Manducum, 


128     ROmiBcbe  LitteratnrgeBchiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

ihn  bei  einer  Wahl  durchgefallen  (P.  praeterüus);  ein  Stück  führt  den 
Titel  Braut  des  Pappus  (sponsa  Pappt),  ein  andres  heisst  Bruch  des  Pappus 
(hirnea  Pappi),  der  Maccus  ist  "in  den  Titeln  verbannt  (M.  exul),  Wirt 
(M.  copo),  Soldat  (M.  miles),  Jungfrau  (M.  virgo),  Mittelsperson  (M.  Seque- 
ster), auch  ohne  Beisatz  erscheint  er;  ein  Titel  führt  uns  zwei  Macci  und 
zwar  als  Zwillinge  vor  (Macci  gemini).  Der  Bucco  kommt  zweimal  vor, 
einmal  als  adoptiert  (B.  adoptatus),  das  andere  Mal  ist  er  auctoratus,  d.  h. 
er  hat  sich  als  Fechter  verdungen.  Die  vierte  Charakterfigur  gibt  der 
Titel  „Duo  Dossenni^.  In  den  Fragmenten  lässt  sich  Dossennus  nachweisen 
fr.  109  P.  in  der  „Phüosophia^ ;  hier  wird  er  aufgefordert,  zu  sagen,  wer 
das  Geld  gestohlen,  worauf  er  erwidert,  dass  er  seine  Vermutungen  nicht 
umsonst  zum  besten  gebe;  ferner  in  den  „Campa^ii"  (fr.  27  P.);  hier  soll  von 
Staats  wegen  dem  Dossennus  und  den  Walkern  Speisung  zu  teil  werden; 
bei  einer  schmutzigen  Handlung  wird  er  im  Maccus  virgo  des  Pomponius 
(fr.  75)  gesehen.  Den  Pappus  treflfen  wir  in  den  „Pictores*^  (fr.  111  P.); 
hier  wird  auf  seine  Wohnung  hingezeigt.  In  dem  Aruspex  (fr.  10  P.)  wird 
Bucco  angeredet;  jemand  sagt  zu  ihm,  bucco,  puriter  fac  ut  rem  tracfes, 
worauf  er  dsLS  puriter  absichtlich  missverstehend  antwortet:  lavi  iandudum 
manus.  Die  Titel  der  Stücke  zeigen  uns  die  mannigfaltigsten  Stoffe,  es 
sind  behandelt  Handwerker,  wie  die  Walker  (FuUones),  die  Maler  (Pictores), 
die  Fischer  (Piscatores),  der  Küster  (Aeditumus),  der  Augur,  der  Arzt 
(Medicus);  grosse  Aufmerksamkeit  ist  dem  ländlichen  Leben  gewidmet,  wie 
die  Titel  Landmann  (Agricola),  die  Winzer  (Vindemiatores),  der  Feigen- 
gärtner (Ficitor),  das  kranke  Schwein  (Verres  aegrotus),  das  gesunde  Schwein 
(Verres  salvos),  das  Borgschwein  (Maialis),  das  Mutterschwein  (Porcetra), 
die  Eselin  (Asina),  die  Ziege  (Capeila)  bekunden;  auf  Charakterbilder 
deuten  hin  die  Boshaften  (Malivoli),  der  Sparsame  (Parcus),  der  Taube 
(Surdus);  dass  auch  Volkstypen  Gegenstand  unserer  Posse  waren,  besagen 
die  Titel  die  Campaner,  die  Galli  transalpini,  die  mUites  Pometinenses ;  auf 
die  Darstellung  von  Festen  weisen  Titel  wie  Kalendae  Martiae,  Quinquafrus, 
Nupfiae,  Merkwürdig  sind  die  Titel  Mortis  et  vitae  iudicium  des  Novius, 
da  auch  Ennius  diesen  Stoff  in  einer  Satire  behandelt  hatte,  und  Satura 
des  Pomponius.  Durch  beide  Titel  werden  wir  an  die  alte  dramatische 
Satura  erinnert.  Eine  eigene  Klasse  der  Titel  bilden  die  mythologischen, 
wie  der  unterschobene  Agamemnon  (Agamemno  supposüus),  Marsya,  Her- 
cules coactor,  Hercules  petitor,  Phoenissae,  Pytho  Gorgonius,  Mania  medica; 
Stoffe,  welche  mit  der  Hilarotragoedia  des  Rhinthon  aus  Tarent  vielleicht 
in  Verbindung  standen.  ^  Was  die  Form  der  Titel  anlangt,  so  sind  die 
meisten  lateinisch;  bemerkenswert  ist,  dass  auch  die  aus  der  Palliata  be- 
kannte adjektivische  Gestaltung  der  Titel  mit  Ergänzung  von  fabula  be- 
gegnet, so  z.  B.  Gallinaria,  Lignarixi,  Sarcularia,  Tabellaria,  Togularia. 

Werfen  wir  noch  einen  Blick  auf  die  Fragmente.  In  manchen  er- 
kennen wir  unseren  Maccus,  auch  wenn  er  nicht  genannt  ist;  so  in  der 
tiefsinnigen  Äusserung  (fr.  19  P.)  „wenn  du  nicht  schwanger  bist,  wirst 
du  niemals  gebären*';  in  der  Drohung  (fr.  79  N.)  „greif  zur  Waffe,  mit  der 


»)  Ribbeck,  Rom.  Dicht.  1,  213. 


Die  Himendiohter.  129 

Binsenkeule  schlage  ich  dich  tot' ;  in  der  Anrede  an  die  obere  Thürschwelle, 
die  dem  Anredenden  den  Kopf  zerschlagen,  während  die  untere  die  Finger 
gebrochen  hat  (fr.  49  N.).  Dramatisches  Leben  leuchtet  noch  aus  manchen 
Trümmern  hervor.  Im  fr.  67  P.  macht  einer  die  für  ihn  peinliche  Entdeckung, 
dass  ein  vermeintliches  Mädchen  ein  Mann  ist;  in  fr.  57  P.  wird  einer  auf  der 
Bühne  instruiert,  die  weibliche  Stimme  nachzuahmen;  fr.  71  P.  will  der  Spre- 
cher, wahrscheinlich  der  Soldat  Maccus,  für  zwei  Mann  essen.  An  Obscöni- 
taten  müssen  die  Atellanen  reich  gewesen  sein,  denn  in  den  Fragmenten  findet 
sich  noch  ein  ziemlicher  Vorrat.')  Auch  die  Roheit  ist  stark  ausgeprägt; 
von  den  natürlichen  Bedürfnissen  wird  ungeniert  gesprochen  (z.  B.  fr.  130  P.). 
Derbe,  ungeschlachte  Äusserungen  stossen  uns  öfters  auf;  fr.  33  P.  will 
ein  Flegel  seine  Frau  zur  Thür  hinauswerfen;  fr.  31  P.  wird  es  als  ein 
mos  hingestellt,  dass  jeder  Mann  den  Tod  seiner  Frau  herbeisehnt,  endlich 
fr.  142  P.  erzählt  ein  Unhold  von  einem  Sohn,  dass  er  seinen  Vater  eigens 
vor  die  Thür  geführt  habe,  um  ihm  ohne  Zeugen  mit  Behagen  Maulschellen 
verabreichen  zu  können.  Das  volkstümliche  Leben  war  jedenfalls  in  diesen 
Stücken,  deren  Verlust  wir  sehr  zu  beklagen  haben,  in  drastischer  Weise 
zum  Ausdruck  gekommen.^) 

Diom.  p.  489  K.  tertia  apeciea  est  fabularum  latinarum,  quae  a  civitaie  Oacorum 
AteUa,  in  qua  pritnum  coeptae,  appelkUae  sunt  AteUanae,  argumentis  dictiaque  iorularibwt 
similes  saiyricia  fabulia  graeeis.  l2y.  7,  2,  12  quod  genus  ludorum  (ae.  ÄteU.)  ah  Oscis  ac- 
reptum  tenuit  iüventus  nee  ab  histrionibua  poüui  pasaa  est.  eo  ingtittttum  manet,  ut  aHores 
Atettanarum  nee  tribu  maveantur  et  stipendia  tamquatn  expertea  artis  fudicrae  faciant.  Festus 
p.  217  per  Atellanos  qui  proprie  voeantur  personati,  quia  ius  est  iis  non  cogi  in  scena  po- 
nere  personam,  quod  ceteris  histrionibus  pati  neeesse  est. 

Wenn  Mommsen,  R.  Gesch.  2^,  438  behauptet  ,die  wirkliche  Heimat  dieser  Stücke  ist 
Ijatium,  ihr  poetischer  Schauplatz  die  latinisierte  Oskerlandschaft ;  mit  der  oskischen  Nation 
haben  sie  nichts  zu  thun",  so  dürfte  dieser  Ansicht  widerstreiten,  dass  das  Spiel  ausdrück- 
lich als  oskisches  bezeichnet  und  auch  die  personae  ausdrücklich  oseae  genannt  werden. 
Diese  Bezeichnungen  weisen  auf  die  oskische  Heimat  des  Spiels ;  den  poetischen  Schauplatz 
.Atella*  hatten  ihm  bereite  die  Osker  gegeben. 

MuivK,  De  fabufis  Ateüanis,  Leipz.  1840.  Die  Bruchstücke  sind  jetzt  nachzusehen  in 
RiBBBCKS  Fragm.  comie.  p.  225. 

Von  einem  Aprissius  citiert  Varro  de  1. 1.  6,  68  einen  Vers,  der  durch  den  Anfang 
Jo  Bucco  auf  eine  Atellana  zeigt,  vgl.  Ribbeok  1.  c.  p.  278. 

2.  Decimus  Laberius  und  Publilius  Syrus. 

86.  Der  Himus  oder  das  Lebensbild.  Das  Wesen  des  Mimus  be- 
ruht auf  scurriler  Nachahmung  von  Personen  und  Situationen.  Der  Schwer- 
punkt liegt  also  hier  in  dem  Mienen-  und  Gebärdenspiel.  Solche  lustige 
Abkonterfeiungen  sind  natürlich  mehr  oder  weniger  bei  jedem  Volk  vor- 
handen. Bei  verschiedenen  Anlässen,  besonders  aber  bei  Mahlzeiten,  finden 
wir  sie  als  eine  Quelle  der  Unterhaltung.  Von  diesen  Mimen  der  Privat- 
kreise ist  hier  nicht  die  Rede ;  uns  beschäftigt  nur  der  Theatermimus.  Als 
Vorläufer  oder  als  Spielart  desselben  haben  wir  den  in  der  Orchestra,  nicht 
auf  der  Bühne  dargestellten  lasciven  Tanz  zu  betrachten.  Er  dient  als 
Intermezzo  (emboHum)  bei  Theateraufführungen.     Als  dramatische  Posse 


^)  Quint.  6,  B|  47  iUa  obseena,  quae  Atel- 
lanae  more  eaptant, 

')  Ein  spezifischer  Ausdruck  f&r  die 
Posse,  auf  welche  di|  Atellana  aufgebaut  [ist,  |  tricaturas  f 

nuMlbaoh  der  kla«.  AltortanwwiMenaclMlt.  VIII,  9 


scheint  trieae  gewesen  zu  sein;  Varro  fragt 
Sat.  Menipp.  Nr.  198  p.  182  Büchbusr  putas 
eos  non  eitius  trieas  Atellanos  quam  id  fx- 


130     BOmisohe  Litieratnrgesoliichte.    I.  Die  Zeit  der  Repnblik.    2«  Periode« 

in  Vereinigung  von  Gesang,  Tanz  und  Dialog  erscheint  der  Mimus  auf  der 
Bühne  und  zwar  entweder  selbständig  wie  bei  den  Floralia  oder  als  Nach- 
spiel (Exodium),  Als  solches  verdrängte  er  die  Atellana ;  im  Jahre  46  war 
dieser  Wandel,  wie  wir  aus  einem  Brief  Ciceros  wissen,  vollzogen.  Die 
Anfänge  dieser  dramatischen  Posse  liegen  natürlich  weiter  zurück;  bereits 
zur  Zeit  des  Accius  war  sie  vorhanden,  wie  uns  ein  Vorfall  aus  seinem 
Leben  beweist.  Er  wurde  nämlich  von  einem  Schauspieler  in  einem  Mimus 
mit  Namen  angegriffen;  er  strengte  deshalb  eine  Injurienklage  gegen  den 
Schauspieler  an,  die  für  ihn  einen  siegreichen  Ausgang  nahm.  Nicht  so 
glücklich  war  Lucilius,  der  ebenfalls  von  einem  Schauspieler  und  zwar 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ebenfalls  in  einem  Mimus  angegriffen  worden 
war,  denn  er  verlor  seinen  Prozess  (Cornif.  1, 14,  24  2, 13, 19).  Der  Dichter 
Atta  bezieht  sich  in  einem  Fragment  (fr.  1)  auf  einen  Mimus.  Zur  Zeit 
Sullas  begegnet  uns  auch  schon  ein  Chef  von  Schauspielern  des  Mimus, 
der  Archimimus  Sorix  (Plut.  Süll.  36).  Zur  vollen  Blüte  gelangte  aber  der 
Mimus  erst  in  der  Zeit  Gäsars  durch  die  beiden  Dichter  Decimus  Labe- 
rius  und  Publilius  Syrus. 

Den  Mimus  als  Intermezzo  bezeugt  Festus  p.  826 :  solebant  — prodire  mimt  in  orchestra, 
dum  in  scena  actus  fubulae  componerentur,  cum  gestibus  obsccienis.  Gleich  darauf  ist  die 
Rede  von  einem  211  auftretenden  Mimen  qui  ad  tibicinem  saUaret,  Bezüglich  des  Aus- 
drucks embolinm  vgl.  Cic.  pro  Sestio  116  mit  der  Anmerkung  Halms;  die  Darsteller  eines 
solchen  embolium  heissen  emholiarii  und  emboliariae  (Fl.  n.  h.  7,  158).  Für  di^se  Intermezzi 
diente  ein  eigener  Vorhang,  sipaHum  genannt  (Donat.  de  com.  p.  12  R.  Siparium  est  mimi- 
cum  velum,  quod  papulo  obsistit,  dum  fabularum  actus  commutantur  (Cic.  de  prov.  cons.  6,  14). 

Bezüglich  der  Aufführung  des  Mimus  an  den  Floralien  vgl.  Lactant.  Inst.  1, 20, 10, 
Ovid.  F.  4, 945. 

Der  Mimus  als  Exodium,  Nachspiel  liegt  vor  bei  Cicero  Ep.  9,  16,  7  (d.  J.  46) 
secundum  Oenomaum  Accii  non,  ut  olim  solebat,  Atellanam,  sed  ut  nunc  fit,  mimum  intro- 
duxisti. 

Nicht  bloss  das  Stück,  sondern  auch  der  Schauspieler  desselben  führt  den  Namen 
mimus  (Suei  Calig.  57);  der  Mimendichter  heisst  mimi  scriptor  oder  mimographus.  Vgl. 
WöLPPLi»,  Publil.  p.  5. 

Hebtz,  Fleckeis.  J.  93,  581—583 ;  Mommsen,  R.  Gesch.  3^,  590 ;  Ribbeck,  Gesch.  der 
r.  Dicht.  1, 217 ;  Grtsar,  Der  röm.  Mimus,  Sitzungsber.  der  Wiener  Ak.  Philos.  bist.  El.  12, 237 

S7.  Charakteristik  des  Mimus.  Im  Wesen  ist  der  Mimus  eine 
neue  Gattung  der  Posse  und  berührt  sich  daher  mit  der  Atellana.  Charak- 
teristische äussere  Eigenschaften  desselben  sind,  dass  der  Schauspieler  hier 
keine  Maske  trägt  —  das  starke  Hervortreten  des  Mienenspiels  machte 
dies  notwendig  —  und  keine  Theaterschuhe  —  daher  planipes  genannt  — 
und  dass  die  Frauenrollen  auch  von  Frauen  gegeben  wurden.  Sowohl 
durch  diese  Äusserlichkeiten  als  durch  das  Fehlen  der  personae  oscae  unter- 
schied er  sich  von  der  fabula  Atellana,  Zweck  des  Mimendichters  war, 
durch  Vorführung  komischer  Scenen  Lachen  zu  erregen  (Hör.  Sat.  1, 10,  7); 
der  Komposition  wurde  daher  nur  eine  geringe  Sorgfalt  zugewendet  und 
wir  brauchen  uns  nicht  zu  wundern,  wenn  plötzlich  der  Reiche  zum  Bettler 
wird  oder  wenn  die  Lösung  einer  Verwicklung  sich  dadurch  vollzieht,  dasa 
eine  Person  die  Flucht  ergreift  und  damit  den  Schluss  des  Stücks  herbei- 
führt. Die  Stoffe,  in  denen  sich  der  Mimus  bewegte,  sind  mit  Vorliebe 
obscöne,  besonders  sind  es  komische  Ehebruchsscenen,  die  den  Zuschauern 
dargeboten  wurden ;  es  konnte  daher  Ovid  zu  seiner  Entschuldigung  fragen 
und  ausrufen  (Trist.  2,497): 


Decimns  Laberiiui.  131 

Quid,  si  scripsissem  mimos  ohscena  iocantes, 

Qui  aemper  ficH  crimen  amoris  hahent? 
In  quihu8  asaidue  ctUtus  procedit  aduUer, 

Verhaque  dat  stulto  callida  nupta  viro. 

Bei  der  nur  lose  geschürzten  Handlung  des  Mimus  musste  alles  Schwer- 
gewicht auf  die  äussere  Darstellung  fallen,  die  aus  Dialog,  Gesang  und 
Tanz  sich  zusammensetzte  (Gell.  1,11,12).  An  grobem  Sinnenkitzel  Hessen 
es  die  Schauspieler  nicht  fehlen,  bei  den  Floralien  kam  es  vor,  dass  sich 
die  Schauspielerinnen  dem  Publikum  nackt  zeigen  mussten  (Val.  M.  2, 10^  8). 
Die  ganze  Handlung  konnte  sich  wegen  der  geringen  Verwicklung  in  einem 
Hauptschäuspieler  konzentrieren,  von  dem  daher  „mimum  egit^  gesagt 
wurde  (Juv.  8, 187).  Ihm  standen  zur  Seite  Nebenfiguren  wie  der  auch  in 
der  Atellana  vorkommende  Sannio  (Gic.  de.or.  2, 61, 251),  der  Grimassen- 
schneider, der  Clown,  der  Spassmacher  und  der  Stupidus,  der  als  hinter- 
gangener  Ehegatte  kahlköpfig  auftritt  (Non.  1, 9  M.).  Als  charakteristisches 
Kostüm  des  Mimus  erscheint  die  Harlekinsjacke,  der  centunculus  (Apul. 
apol.  13)  und  der  viereckige  Frauenmantel,  das  ricinium. 

Die  laxe  Komposition  beleuchten  Cic.  Phil.  2,  27,  65  in  eius  viri  copias  cum  ae  subito 
ingwffitasaet,  exultabat  persona  de  mimo  „modo  egens,  repente  dives" ;  pro  Gael.  27 ,  65  mimi 
est  iam  exitus,  non  fahtUae:  in  quo  cum  clausula  non  invenitur,  fugit  aliquis  e  manibus, 
deinde  scabifla  conerepant,  aulaeum  tollitur. 

Festus  statuiert  p.  326  als  eine  fast  ständige  Nebenperson  (serundarum  partium)  den 
Parasiten,  er  denkt  wohl  irrig  an  die  Palliata.  Über  die  Aufgabe  der  secundae  partes 
siehe  Hör.  ep.  1,  18,  14  (sai  1,  9,  46)  und  ein  drastisches  Beispiel  bei  Suet.  Calig.  57. 

Über  das  ricinium,  nach  dem  auch  die  Stücke  genannt  wurden,  vgl.  Non.  2, 210  M.  rici- 
nium —  pallioHum  femineum  breve.  Festus  p.  274  recinium  —  esse  dixerunt  vir(ilis)  toga(e 
simile  vestimentum  quo)  mulieres  utebantur,  praetextum  clavo  purpureo,  unde  reciniati  mimi 
planipedes  vgl.  Tbuffel,  R.  L.  8,  10.  Nach  planipes  nennt  Donat  de  com.  p.  9  R.  den 
mimus  planipedia. 

88.  DecimuB  Laberins.  Der  Mimendichter  D.  Laberius  (geb.  105, 
gest.  zu  Puteoli  43)  gehörte  dem  Ritterstand  an  und  konnte  daher,  ohne 
seine  bürgerliche  Stellung  zu  schädigen,  nicht  die  Bühne  betreten.  Erst 
im  hohen  Alter,  im  J.  45  (Suet.  Caes.  39),  wurde  er  von  Cäsar  gezwungen, 
sich  mit  einem  improvisierten  Mimus  in  einen  Wettstreit  mit  Publilius 
Syrus  einzulassen.  Bei  dieser  Gelegenheit  hielt  er  den  wunderschönen 
Prolog,  der  uns  noch  erhalten  ist.  Seine  litterarische  Wirksamkeit  können 
wir  jetzt  nur  ermitteln  aus  de^  Titeln  der  Stücke  (c.  40),  den  Fragmenten 
und  endlich  aus  dem  erwähnten  Prolog.  Die  Titel  zeigen  uns,  dass  der 
Stoff  für  das  Lebensbild  den  verschiedensten  Sphären  entnommen  ist.  Es 
wird  uns  vorgeführt  das  Ständebild  wie  der  Walker  (fullo),  der  Färber 
(colorator),  der  Fischer  (piscator),  der  Seiler  (restio),  die  Hetäre,  das  Völker- 
bild (die  Kreter,  die  Gallier,  die  Etruskerin,  die  Gätuler),  das  Charakter- 
bild wie  der  Vergessliche  (Cacomnemon) ,  der  Schmeichler  (Colax),  das 
Familienbild  wie  die  Zwillinge  (Gemelli),  die  Schwestern,  die  Jungfrau, 
das  Festbild  wie  die  Hochzeit,  die  Compitalien,  die  Saturnalien.  Selbst 
mythologische  Stoffe  werden  nicht  verschmäht,  wie  dies  der  Titel  Anna 
Perenna  zeigt.  Die  Titel  stimmen  nicht  selten  mit  solchen  der  Togata, 
der  Atellana  und  sogar  der  Palliata  überein,  ein  Beweis,  dass  alle  diese 
Spielarten  der  Komödie  auf  derselben  Grundlage  ruhten.  Die  Fragmente 
lehren  uns  vor  allem,  dass  Laberius  ein  kühner  Sprachmeister  war.    Sie 

9* 


132    RömiBche  Litteratnrgeachichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

zeigen  uns  Obscönitäten  z.  B.  fr.  23,  £r.  139,  daneben  aber  auch  feine  An- 
spielungen wie  im  anmutigen  Fragment  des  Seilers  (fr.  72)  die  eines  Geiz- 
halses auf  die  Selbstblendung  des  Democritus,  der  nicht  mehr  das  Glück 
der  Schlechten  sehen  wollte,  und  fr.  154  die  auf  die  Lehre  des  Pythagoras. 
Auch  an  politischen  Seitenhieben  fehlt  es  nicht.  In  dem  „Totenorakel'' 
(Necyomaniia)  wird  fr.  63  ein  angeblicher  Plan  Cäsars,  die  Bigamie  einzu- 
führen wie  die  von  ihm  wirklich  durchgesetzte  Vermehrung  der  vier  Ädilen 
auf  sechs  ^)  berührt.  Noch  deutlicher  sprachen  die  Verse  in  dem  Wett- 
kampf (fr.  125  u.  126): 

ParrOf  QuirÜes!   Hbertatem  perdimus. 
Necesse  est  multos  titneat  quem  muUi  timerU, 

Eine  hohe  Vorstellung  von  der  Begabung  des  Dichters  gewinnen 
wir  aus  dem  mehrfach  erwähnten  Prolog,  der  zu  den  schönsten  Denkmälern 
der  lateinischen  Poesie  gehört.  Der  Dichter  beklagt  sein  Schicksal,  das 
ihn  zwinge,  auf  der  Bühne  aufzutreten,  mit  Wehmut  denkt  er  daran,  dass 
er  als  Ritter  vom  Hause  fortgegangen  und  als  Mime  heimkehre,  er  ver- 
weist auf  sein  Alter,  das  ihn  verzehre  wie  der  sich  herumschlingende  Epheu 
des  Baumes  Kraft. 

Ut  hedera  serpens  vires  arhoreas  nectU, 
Ita  me  vetustas  atnplexu  annarum  eneeat; 
Septdcri  similis  nil  nisi  nomen  retineo. 

Laberius  wurde  in  dem  Wettkampf  besiegt  und  bei  der  nächsten 
Vorstellung  verkündete  er  selbst  in  hochherziger  Rede  das  Schwinden  seines 
Ruhms  und  seine  Niederlage  (fr.  127).  Das  äussere  Ungemach,  das  ihm 
widerfahren,  suchte  zwar  der  Diktator  wieder  auszugleichen,  indem  er  ihm 
ausser  einem  Honorar  von  500,000  Sestertien  den  goldenen  Ring  verlieh 
und  ihn  dadurch  wieder  in  den  vorigen  Stand  einsetzte.  Allein  ganz  konnte 
die  Makel  nicht  abgewischt  werden;  als  er  im  Theater  unter  den  Rittern 
seinen  Platz  nehmen  wollte  und  keinen  finden  konnte,  bemerkte  Cicero 
spöttisch,  ich  würde  dir  Platz  machen,  wenn  ich  nicht  selbst  so  eng  sässe, 
was  Laberius  parierte,  indem  er  verwundert  fragte,  wie  das  möglich  sei, 
da  doch  Cicero  so  gern  sich  auf  zwei  Stühle  setze  (Macrob.  2, 3, 10). 

Das  Greburtsjahr  ergibt  sich  aus  dem  im  Prolog  erwähnten  Alter  von  60  Jahren  (jfr.  109). 
Das  Todesjahr  berichtet  Hieron.  2, 139  Seh.  —  Über  den  Wettstreit  belehrt  uns  Macrob.  2,  7, 2. 
Dazu  £.  HoFFMANN,  Rh.  Mus.  89,  474.  —  Über  die  Sprache  des  Laberius  vgl.  Grell.  16,  7, 
wo  eine  Zusammenstellung  von  neugebildeten  und  seltenen  Worten  sich  findet. 

Cicero  schreibt  im  J.  53  an  den  Juristen  Trebatius  (ep.  7, 11,  2)  si  cito  te  rettideris,  sermo 
nullus  erit;  si  diutius  frustra  abfueriSf  non  modo  Liaberium,  sed  etiam  sodalem  nostrum 
Valerium  pertimesco.  Mira  enim  persona  induci  potest  Brittanici  iureconsuUi,  Danach 
ist  sehr  wahrscheinlich,  dass,  wie  Laberius,  auch  der  Jurist  Valerius,  an  den  Cicero  ep.  1, 10 
richtet  und  den  er  3, 1,  3  dem  Appius  Claudius  empfiehlt,  Mimen  geschrieben.  Von  Priscian 
G.  L.  2, 200  wird  ein  Phormio  eines  Valerius  citiert.  Ribbeck  hält  diesen  Valerius  mit  dem 
Juristen  für  identisch  (Comic.  Jfr.  p.  LXXXVIUj  und  betrachtet  demnach  den  Phormio  als 
einen  Mimus,  was  wenig  wahrscheinlich  ist. 

89.  Die  Sprüche  des  Publilius  Syrus.  Neben  Decimus  Laberius 
wird  als  Repräsentant  des  Mimus  Publilius  Syrus  genannt.  Derselbe  stammte 
aus  Antioehia,  kam  als  Sklave  nach  Rom  und  wurde  wegen  seiner  hohen 
geistigen  Gaben  freigelassen.  Von  dem  Wettkampf,  in  dem  er  vor  den 
Augen  Cäsars  Laberius  besiegte,  ist  bereits  die  Rede  gewesen.    Angesichts 

0  Bebok,  Op.  1, 409.    MoMMSEK,  B.  G.  3«  591. 


PublilioB  Sjmui. 


133 


dieser  Thatsache  ist  es  merkwürdig,  dass  in  der  Litteratur  beide  Männer 
eine  ganz  verschiedene  Stellung  einnahmen.  Von  Laberius  konnten  wir 
eine  Reihe  von  Mimentiteln  mit  Fragmenten  nachweisen,  dagegen  sind  uns 
von  Publilius  nur  zwei  Titel  mit  je  einem  Fragment  überliefert,  dann  steht 
bei  Petronius  ein  längeres  Stück  „über  den  Luxus',  welches  für  eine  blosse 
Nachahmung  zu  halten  uns  nichts  berechtigt,  endlich  überliefert  uns  noch 
Isidor  orig.  19, 28  ein  Fragment.  Wir  müssen  uns  über  diese  geringe  Be- 
rücksichtigung des  Publilius  um  so  mehr  wundem,  weil  aus  Seneca  ep. 
mor.  108  hervorzugehen  scheint,  dass  seine  Mimen  damals  noch  im  Theater 
aufgeführt  wurden,  man  also  doch  vollständig  ausgearbeitete  Exemplare 
vorauszusetzen  hat.  Publilius  würde  für  den  Litterarhistoriker  eine  schatten- 
hafte Gestalt  sein,  wenn  nicht  die  kernigen  Sätze  und  treffenden  Lebens- 
wahrheiten, welche  in  seine  Mimen  eingestreut  waren,  die  Aufmerksamkeit 
auf  sich  gezogen  hätten.  Diese  wurden  gesammelt  ^  und  dadurch  kam 
Publilius  in  die  Litteratur.  Also  nur  die  Lichtstrahlen  kennen  wir  aus 
seinen  Werken,  die  Werke  selbst  und  ihre  Komposition  sind  uns  für  immer 
verschlossen.  Die  Sammlung  der  Sprüche  unter  dem  Titel  „Publilü  Syri 
mimi  sententiae"  war  alphabetisch  angelegt  und  umfasste  etwa  tausend 
Verse,  entweder  jambische  Senare  oder  trochäische  Tetrameter.  Allein 
dieselbe  ist  verloren  gegangen,  wir  sind  daher  auf  die  verschiedenen  Aus- 
züge aus  derselben  angewiesen.  Die  Sprüche  sind  nicht  auf  dem  Boden 
eines  philosophischen  Systems  erwachsen,  sie  beruhen  auf  der  Erfahrung 
und  bieten  deshalb  einen  reichen  Schatz  gereifter  Lebensweisheit.  Manche 
bekunden  eine  tiefe  psychologische  Einsicht  wie 

Aut  amat  aut  odit  mtUier,  nihil  est  tertium. 

Über  den  richtigen  Namen  Publüins  (statt  Publius)  vgl.  Wölfflin,  Philol.  22,  4'^9, 
Ausg.  p.  3.  Seine  Heimat  u.  a.  bezeugen  Plin.  n.  h.  35, 199,  Macrob;  2,  7,  6.  Die  Testimonia 
de  P.  S.  sind  zusammengestellt  in  IiLbybbs  Ausg.  p.  1 — 4. 

Eine  Sammlung  von  Sprüchen  des  P.  S.  kennt  Gell.  17,  14.  Zur  Herstellung  der 
ursprOnglichen  Sammlung  ist  oesonders  wichtig  die  Veroneser  Sammlung  (0)  in  der 
Veroneser  Handschrift  nr.  168  (155),  weil  hier  die  Sprflche  mit  dem  Namen  Publius  oder 
Publius  Svrus  oder  Publius  mimus  eingeführt  werden;  denn  bisher  fehlte  es  an  einer  hand- 
schriftlichen Beglaubigung  der  Sprflche.  Weiterhin  müssen  wir  benützen  die  Pfftlzer 
Sammlung  (il),  die  uns  im  Vatic.  239  vorliegt,  die  Zürcher  Sammlung  (Z),  für  die 
wir  die  Codices  Monac.  6369  und  Turic.  C.  78  haben,  endlich  die  in  vielen  Handschriften 
überlieferte  Senecasammlung  (2)  d.  h.  die  Sammlung,  welche  nur  die  Reihen  des  Publi- 
lius von  A — N  umfasste,  dagegen  zum  Ersatz  in  den  Reihen  von  N — Z  prosaische  Sprüche, 
zugestutzt  und  gekürzt,  grösstenteils  aus  dem  sog.  Über  de  moribus  des  rseudoseneca  hinzu- 
fügte und  daher  die  Aufschrift  Senecae  sententicie  oder  Seneeae  Praverbia  trftgt.  In«  der 
Freisinger  Sammlung  (^,  für  die  der  Hauptkodex  Monac.  6292  ist,  sind  die  Pfälzer 
und  die  Senecasammlung  vereinigt.  Einige  Sprüche  sind  endlich  in  eine  Sammlung  über- 
gegangen, welche  aus  dem  Griechischen  übersetzt  ijst  und  die  Wölfflin  mit  Unrecht  dem 
CaeciliUB  Baibus  zugeschrieben  (Reiffbbsgheid,  Rh.  Mus.  16, 12).  Aufgabe  der  Kritik  ist, 
diese  verschiedenen  Sammlungen  zu  einem  Ganzen  zu  vereinigen;  wie  diese  Aufgabe  Meyeb 
gelöst,  darüber  gibt  er  in  seiner  Ausg.  p.  13  Aufschluss. 

Die  ausser  den  sententiae  von  Kibbbck  p.  303 — 305  dem  Syrus  zugeschriebenen  Verse 
zweifelt  Mstsr  Ausg.  p  4  an.  Bezüglich  der  Verse  bei  Petronius  bemerkt  er  „differunt  a 
$implici  et  puro  gener e  dicendi,  qmd  in  sententiis  est,**    Doch  siehe  Wölfflin  Ausg.  p.  13. 

Litteratur:  Geschichte  der  Ausgaben  der  sententiae  bei  Meyeb  Ausg.  p.  14.  Ed.  Wölff- 
Liv,  Leipz.  1869;  A.  Spekqel,  Berl.  1874;  Ribbeck  in  fragm.  comic.  1873  p.  309;  W.  Mbteb, 
Leipz.  1880;  Fbiedbich,  Berl.  1880;  Mbteb,  Die  Spruchverse  des  Publilius  Byrus,  Leipz.  1877. 


*)  Ribbeck  glaubt,  dass  es  höchst  wahr- 
scheinlich ist,  dass  sich  um  den  Namen  Publi- 
lius auch  Sprflche  anderer  gruppierten.  Doch 


vgl.  Meyer,  Abb.  der  Mflnchner  Akad.  17, 1 
p.  21  Anm. 


134    Bömisohe  litteratargesohiolite.    L  Die  Zeit  der  Repnblik.    2.  Periode. 


3.  Cn.  Matius,  Laevius,  Sueius« 

90.  Mimiamben.  Das  Organ  der  herben  Spottpoesie  des  Hipponax 
und  Ananius  war  der  Gholiambus,  d.  h.  der  durch  den  Spondeus  im  sechsten 
Fuss  in  seinem  Lauf  gehemmte  jambische  Trimeter.  Dieses  choliambische 
Mass  wurde  auch  im  alexandrinischen  Zeitalter  gebraucht.  Herodas  ^)  ver- 
wendete dasselbe  zu  einer  neuen  Litteraturgattung,  den  Mimiamben,  heiteren 
Bildern  aus  dem  Leben,  die  wohl  nicht  selten  auf  eine  praktische  Lehre 
hinausliefen.^)  Diese  Litteraturgattung  ahmte  Cn.  Matius,  den  wir  wohl 
in  unsere  Epoche  setzen  müssen,  nach  und  führte  sie  bei  den  Römern  ein. 
Nur  wenige  Verse  sind  aus  denselben  erhalten,  wir  setzen  einige,  um  ein 
Bild  von  der  Poesie  des  Dichters  zu  geben,  hieher: 

Jam  tarn  albieascit  Phoehus  et  recentatur, 
Commune  homintbus  lumen  et  voluptatie. 
Quaprapter  edtUcare  convenit  vitam 
Cur<isqt4e  aeerhae  aensibus  gubernare. 

Auch  die  Ilias  übersetzte  Matius,  wie  es  scheint,  sehr  frei.  Etwa 
acht  Fragmente  sind  uns  aus  dieser  Übersetzung  überliefert. 

Eifrig  las  unsem  Dichter  Gellius,  dem  wir  deshalb  die  meisten  Fragmente  verdanken ; 
auch  Varro  hatte  ihn  berücksichtigt  (de  1. 1.  7,  95  u.  96).  Terentianus  Mauros  v.  2416  ver- 
gleicht ihn  mit  Hipponax.  Hoc  mimiambos  Mattius  dedit  metro;  \  nam  vatem  eundem  Ute 
Attico  thymo  tinctum  \  pari  lepore  est  consecutus  et  metro.  Die  Fragmente  bei  L.  Müller, 
Catoll  p.  91 ;  Bähreks  p.  281.  Den  Übersetzer  der  Ilias  und  den  Dichter  der  Mimiamben 
hält  L.  Müller  mit  nicht  durchschlagenden  Gründen  für  verschiedene  Personen.  ,,Die 
zahlreichen  Archaismen  (der  Übersetzung)  weisen  darauf,  dass  Matius  nicht  sp&ter  gelebt 
hat  als  ums  Jahr  100  und  nicht  identisch  ist  mit  dem  Verfasser  von  Mimiamben  zu  Ciceros 
Zeit.  Dazu  kommt,  dass  er  von  Varro  citiert  wird,  der  sehr  selten  gleichzeitige  Dichter 
erwähnt"  (Q.  Ennius  p.  279). 

Eine  andere  Übersetzung  eines  Ninnius  Crassus  der  Ilias  citiert  Priscian  1,  478  H. 
Ninniua  Crassus  in  XXIV  Iliados,  femer  Nonius  2,  88  M.,  Crassus  lib,  XVI  Iliados,  Danach 
wird  wohl  auch  Prise.  1, 502  H.  statt  nemus  in  Iliadis  secundo  zu  lesen  sein:  Ninnius  etc. 
Vielleicht  darf  man  aber  noch  weiter  gehen  und  auch  Chans,  p.  145  K.  statt  nevius  Cypriae 
Iliadis  lihro  I  mit  Scriverius  lesen  Ninnius  etc.  Es  hätte  dann  Ninnius  Crassus  noch  ein 
zweites  Gedicht,  eine  Cypria  Ilias  geschrieben.  Bahreks  weist  alle  Fragmente  diesem 
Gedicht  zu,  allein  die  Bücherzahl  ,24*^  des  ersten  Citats  weist  auf  eine  Übersetzimg  der 
homerischen  Ilias  hin.  Wann  dieser  Dichter  gelebt,  wissen  wir  nicht.  Vgl.  L.  Müller, 
Q.  Ennius  p.  279. 

91.  Erotopaegnien  (Liebesscherze).  Der  Dichter  Laevius  ist  von 
seinen  Zeitgenossen  wahrscheinlich  aus  Verachtung  mit  Stillschweigen  über- 
gangen worden;  seine  Zeit  kann  daher  nur  durch  Kombination  bestimmt 
werden.  Wahrscheinlich  ist  er  identisch  mit  dem  von  Sueton  gramm.  3 
genannten  Laevius  Melissus,  der  Lutatius  Daphnis,  den  Freigelassenen  des 
Q.  Lutatius  Catulus,  Jlavog  aydnriiia  nannte.  Diese  Verspottung  setzt 
BücHELEB,  Bh.  Mus.  41,12  ungefähr  in  die  Zeit  von  Sullas  Tod.  Auch 
dürfte  kaum  zweifelhaft  sein,  dass  das  Fragment  3  „meminens  Varro  corde 
volutai^  sich  auf  den  Polyhistor  Varro  bezieht.  Laevius  ist  daher  Zeit- 
genosse Varros.  Er  schrieb  Erotopaegnia;  es  ist  dies  eine  besondere  Art 
der  nalyna,  Gedichte  in  leichter,  tändelnder  Manier,  welche  nach  dem 
Vorgang  des  Gnesippus  die  Dichter  Philetas,  Monimus,  Krates  und  andere 


^)  Die  Zeit  dieses  Schriftstellers  ist  strit- 
tig, manche  halten  ihn  für  einen  Zeitgenossen 
Xenophons,  andere,  wohl  richtiger,  für  einen 


Zeitgenossen  des  Callimachus.    Vgl.  Bebok, 
poet.  lyr.  2\  509. 

*)  Bebgk,  Opusc.  2,551. 


Cn.  Matiaa.    Laevins.    Sneins.  135 

behandelt  hatten.  ■)  Von  diesen  Erotopaegnia  werden  sechs  Bücher  citiert 
(Char.  p.  204  K.).  Daneben  finden  wir  aber  auch  noch  Gitate  mit  anderen 
Titeln  wie  Adonis,  Alcestis,  Gentauri,  Helena,  Ino,  ProtesUaudamia,  Sireno- 
circa,  Phoenix.  £s  ist  höchst  wahrscheinlich,  dass  auch  diese  Gedichte  in 
den  Paegnia  standen  und  dass  sonach  jedes  Buch  derselben  Abteilungen 
mit  eigenen  Überschriften  hatte.  Priscian  spricht  auch  von  Polymetra  des 
Laevius.  Wahrscheinlich  gehörten  auch  diese  Gedichte  zu  den  Erotopaegnien 
und  bildeten  ebenfalls  dort  eine  eigene  Abteilung.  In  denselben  wurde, 
wie  es  scheint,  das  metrische  Kunststück  durchgeführt,  aus  einer  bestimmten 
Anzahl  von  Silben  Verse  zu  bilden.  Dass  sich  Laevius  mit  solchen  Spiele- 
reien abgab,  zeigt  der  Schluss  der  Sammlung;  dort  tritt  als  Bote  der  Venus 
der  Vogel  Phoenix  auf,  aus  seinen  Versen  wird  ein  Flügel  gebildet.  Leider 
sind  die  Fragmente  zu  wenig  zahlreich,  um  den  Gang  eines  Stücks  zu  er- 
kennen. Die  Eigentümlichkeiten  der  Laevianischen  Dichtung  aber  zeigen 
sie  deutlich,  zahlreiche  Metra  (mit  Künsteleien),  zahlreiche  Wortschöpfungen 
(Gell.  19,  7),  einen  frivolen  Zug. 

Bemerkenswerte  Fragmente  sind  besonders  18  und  27;  fr.  23  wird  die  lex  Licinia 
sumptuaria  des  J.  108  erwähnt;  fr.  28  erscheint  eine  Geliebte  des  Laevius,  Vatiena.  Das 
Citat,  das  Prise.  1,  258  H.  aus  den  Polymetris  beibringt,  lautet:  amnes  sunt  denis  syllabis 
rersi,  ebenfalls  10  Silben  umfassend.  BIhrbnb  und  Haebbrlik  p.  93  halten  die  Polymetra 
für  eine  andere  Bezeichnung  der  Erotcpaegnia.  Fragmente  bei  Müllsr  in  der  CatuUausg.  p.  76 ; 
BlHBSNS  p.  287;  Bügheler,  Fleckeis.  J.  111,  306,  Rh.  Mus.  41,  553;  Haebeblin,  Philol.  47,  85. 

92.  Das  erste  römische  Idyll.  Bekannt  ist  das  im  Corpus  der 
Yergirschen  Gedichte  befindliche  Idyll  Moretum,  bekannt  ist  auch,  dass 
Vorbild  für  dasselbe  das  Mörsergericht  (fivTTwvog)  des  Parthenius,  der  im 
J.  72  als  S[riegsgefangener  nach  Rom  kam,  gewesen  ist.  Allein  es  begegnet 
uns  in  der  römischen  Litteratur  noch  ein  zweites  Moretum,  das  Macrobius 
3,18,11  einem  Dichter  Sueius  beilegt.  Höchst  wahrscheinlich  ist  dieser 
Sueius  identisch  mit  dem  bei  Varro  de  1. 1.  7, 104  citierten  Dichter  Sueius 
und  mit  dem  M.  Sueius,  den  uns  Varro  de  r.  r.  3,  2, 7  als  eifrigen  Züchter 
von  Geflügel,  Bienen,  Fischen  u.  s.  w.  vorführt.  Es  wäre  dann  Sueius  der 
Ädilis  curulis  des  Jahres  74  (Plin.  n.  h.  15,2).  Zu  der  von  Varro  geschil- 
dei'ten  landwirtschaftlichen  Thätigkeit  des  Sueius  würde  sehr  gut  ein  zweites 
Idyll  passen,  mit  dem  Titel  Pulli,  aus  dem  uns  Nonius  (freilich  mit  ent- 
stelltem Namen  des  Autors)  mehrere  Fragmente  mitteilt.  Auf  ein  annali- 
stisches Werk  und  zwar  auf  ein  fünftes  Buch  desselben  führen  zwei  Stellen 
bei  Macrobius  6, 1,  37;  6,  5, 15. 

£iii  drittes  Idyll  Nidus  will  Bühbenb  durch  Konjektur  aus  Charisius  103  K.  gewinnen. 
Die  Fragmente  bei  Bähreks  p.  285,  bei  Luciak  Müller  im  Lucilius  p.  311.  Ribbfck,  Gresch. 
der  r.  Dicht.  1,  306.  Der  Name  unterlag  fast  regehnässig  der  Verderbung;  ihn  stellte  her 
L.  MüLLBB,  Rh.  Mus.  24,  553. 

4.  T.  Lucretius  Carus. 

93.  Biographisches.  Über  das  Leben  des  Lucretius  sind  uns  nur 
wenig  Nachrichten  überliefert  und  selbst  diese  bedürfen  der  Nachprüfung. 
Als  Geburtsjahr  des  Dichters  ergibt  eine  sorgfältige  Betrachtung  aller 
Zeugnisse  das  Jahr  97,  als  Todesjahr  53;  er  starb  sonach  im  kräftigsten 


*)  BsRiTHARDY,  Griech.  Litteraturgesch.  3.  Aufl.  IIa  p.  566. 


136    BOmiaclie  Litteratargeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 

Mannesalter,  44  Jahre  alt.  Hieronymus  berichtet  uns,  dass  Lucretius  durch 
einen  Liebestrank  in  Irrsinn  verfiel,  dass  er  einige  Bücher  seines  Gedichts 
in  den  lichten  Pausen  schrieb,  dass  er  durch  eigene  Hand  ums  Leben  kam, 
endlich  dass  Cicero  sein  Werk  verbesserte.  Für  den  Wahnsinn  spricht 
unzweideutig  der  Selbstmord  des  Dichters;  es  steht  daher  auch  der  Angabe 
nichts  im  Wege,  dass  ein  Teil  seines  Schaffens  in  die  Periode  seines  Wahn- 
sinns fiel;  ist  ja  die  Grenze,  durch  welche  das  Genie  vom  Wahnsinn  ge- 
schieden wird,  ohnehin  nur  eine  geringe.  Dagegen  kann  die  Geschichte 
vom  Liebestrank  nur  eine  Dichtung  sein,  vielleicht  dadurch  hervorgerufen, 
dass  der  Dichter  so  sehr  gegen  die  Liebe  geeifert  hatte.  Die  Thätigkeit 
Giceros  hat  zur  Voraussetzung,  dass  der  Dichter  verhindert  war,  seiner 
Schöpfung  die  letzte  Feile  angedeihen  zu  lassen,  dass  er  sonach  vor  der 
Veröffentlichung  starb.  Der  Zustand  des  Gedichts  und  zwar  in  seinem 
ganzen  Umfang  beweist  die  Richtigkeit  dieser  Annahme.  Wir  finden  näm- 
lich eine* Anzahl  von  Stellen,  welche  sicherlich  vom  Dichter  herrühren,  die 
aber  nicht  in  den  Zusammenhang  passen.  Es  waren  ohne  Zweifel  neue 
Entwürfe  des  Dichters,  die  der  Herausgeber  da  einreihte,  wo  es  ihm  passend 
erschien.  Lucretius  hinterliess  also  sein  Gedicht  in  unfertigem  Zustande; 
ein  harmonisches  Ganze  aus  den  einzelnen  Teilen  herzustellen  versagte 
ihm  der  Tod;  der  Herausgeber  änderte  zum  Glück  nicht  den  ursprünglichen 
Charakter  des  Werks.  So  wie  uns  das  Gedicht  jetzt  vorliegt,  besteht  es 
aus  sechs  Büchern. 

Hieron.  zum  J.  94  (nach  A  und  F  95)  2,  133  Seh.  TUus  Lucretius  poeta  naacUur  . 
postea  amatorio  poctdo  in  furorem  versus  cum  aliquot  libros  per  intervatta  insanicte  con- 
scripsisset  quos  postea  Cicero  etnendatHt,  proprio  se  manu  interfecit  anno  aetaiis  XLIIIL 
Donat.  vit.  Verg.  bei  Reiffersch.,  Suetoni  rel.  p.  55  initia  aetaiis  Cremonae  egit  (Vergüius) 
usque  ad  virilem  togam,  quam  XVII  anno  natali  suo  accepit  isdem  iUis  consulibus  iterum 
duobus  quibus  erat  natus  evenitque  ut  eo  ipso  die  Lucretius  poeta  decederet.  Cod.  Monac. 
14429  8.  X  Titus  Lucretius  poeta  nascitur  —  anno  XXVII  ante  VirgÜium,  Diese  drei 
Zeugnisse  würdigt  Woltjeb,  Fleckeis.  J.  p.  129,  1.34 — 138  also:  Nach  der  Münchner  Glosse 
wurde  Lucrez  27  Jahre  vor  Vergil  geboren,  dies  ergibt,  da  Vergils  Greburtsjahr  70  ist,  70 
-|.  27  =  97  als  Geburtsjahr  des  Lucrez.  Nach  Donat  wäre  Lucrez  gestorben,  als  VergU 
im  17.  Lebensjahr  die  toga  virilis  erhielt.  Dies  führt  auf  70  —  17  =  53,  also  auf  53  als 
Todesjahr.  Damit  stimmt  aber  nicht  die  zweite  Angabe,  dass  Vergil,  als  dieselben  Konsuln, 
unter  welchen  er  geboren  war,  zum  zweitenmal  das  Konsulat  inne  hatten,  die  toga  virilis 
erhalten,  denn  dies  führt  auf  das  Jahr  55.  Da  aber  auch  Hieronymus  2, 137  Seh.  das 
Jahr  53  für  die  Annahme  der  toga  virilis  von  Seiten  Vergils  bezeugt,  so  werden  die  Worte 
isdem  Ulis  consulibus  —  erat  natus  eine  Interpolation  sein.  Das  Jahr  53  als  Todes*  und 
97  als  Geburtsjahr  bestätigt  die  Angabe  des  Hieronymus,  dass  Lucretius  ein  Alter  von 
44  Jahren  erreicht  habe.  Sein  Ansa^  des  Geburtsjahres  des  Dichters  ist  dagegen  irrig. 
Ohne  auf  Woltjeb  Rücksicht  zu  nehmen,  versucht  Mabx,  Rh.  Mus.  43, 136  eine  andere 
Lösung  der  Schwierigkeiten,  die  aber  viel  komplizierter  ist  und  gegenüber  welcher  Woltjebs 
Verfahren  entschieden  den  Vorzug  verdient. 

Wer  unt«r  dem  von  Hieron.  genannten  Cicero  zu  verstehen  sei,  ist  eine  Streitfrage. 
Lachmaitk  hält  ihn  Commentar  p.  63  für  Quintus  Cicero,  Berge  dagegen  (Opusc.  1,  426; 
2,  726)  für  Marcus  Cicero.  Soviel  ist  klar,  dass  wir,  wenn  wir,  wie  bei  Hieronymus,  Cicero 
lesen,  zuerst  an  den  berühmten  M.  Cicero  zu  denken  haben.  Die  Stelle,  in  der  Cicero  in 
einem  Briefe  des  Jahres  54  an  seinen  Bruder  Quintus  2,  9(11),  3  des  Lucretius  gedenkt, 
gibt  keine  Entscheidung;  sie  lautet  nach  der  Überlieferung :  Lucretii  poemata  ut  scribis  ita 
sunt  multis  luminibus  ingenii,  multae  tamen  artis,  sed  cum  veneris,  virum  te  putabo,  si 
Scdlustii  Empedoclea  legeris,  hominem  non  putabo.  Hier  weist  tamen  auf  einen  Fehler  hin, 
ich  schliesse  mich  Berge  (Opusc.  1,428)  an,  welcher  non  vor  multae  einsetzt;  durch  die 
Einschiebung  des  non  vor  multis,  welche  Lachmaitn  und  Vahlen  gebilligt,  entsteht  ein  ver- 
kehrtes Urteil  über  die  Lucretianische  Dichtung,  dessen  wir  Cicero  nicht  für  fähig  halten 
können.  Die  folgenden  Worte  dürfte  Vahlen  gegen  Konjekturen  (Berge  z.  B.  liest  cum 
ad  umbilicum  veneris,  vergl.  neuerdings  Mnemos.  17,  128  und  387)  geschützt  haben,  sie 


T.  LnoretiuB  Carns. 


137 


haben  nichts  mehr  mit  LacretioB  zu  thnn»  sondern  beziehen  sich  bloss  auf  Sallost  (Ind.  leci. 
Berolin.  1881/2  p.  8).  Wenn  man  aus  den  Worten  geschlossen  hat,  dass  sie  den  Tod  des 
Lucretius  zur  Voraussetzung  haben,  so  ist  dieser  Schluss  unrichtig.  Die  Kenntnis  des 
Lucretianischen  Gredichtes  (oder  Teile  desselben)  konnte  noch  bei  Lebzeiten  des  Dichters 
erfolgen.    Die  ThAtigkeit  Ciceros  als  Herausgeber  war  sicherlich  eine  ganz  untergeordnete. 

94.  LncretiuB'  Oedicht  ttber  das  Wesen  alles  Seins  (de  remm 
natura).  Das  Oedicht  de  rerum  natura  ^)  in  Hexametern  ist  einem  Memmius 
gewidmet;  wenn  es  auch  nicht  völlig  bewiesen  werden  kann,  so  werden 
wir  es  doch  als  sehr  wahrscheinlich  ansehen,  dass  dieser  Memmius  derselbe 
ist,  der  uns  auch  im  Leben  Gatulls  begegnet,  der  Prätor  Bithyniens.  Selbst- 
verständlich ist  es  aber  der  gebildete  Römer,  an  den  sich  Lucretius  eigent- 
lich mit  seinem  Gedichte  wendet.  Die  Rücksicht  auf  Memmius  hat  daher 
nur  geringen  Einfluss  auf  die  Komposition  des  Werks  gehabt;  das  wunder- 
volle Gebet  zur  Venus  im  Eingang  des  Gedichts  dürfte  zum  Teil  wenigstens 
dem  Adressaten  verdankt  werden,  denn  wie  Medaillen  bezeugen,  war  Venus 
die  Hausgöttin  der  Familie  der  Memmier.  In  seinem  Gedicht  ist  Lucretius 
der  Interpret  der  Lehre  Epikurs.  Aber  nicht  ein  theoretisches  Interesse 
ist  es  in  erster  Linie,  welches  ihn  für  diese  Lehre  begeistert,  sondern  ein 
praktisches.  Das  Epikureische  System  bringt  Erlösung  von  den  Leiden, 
welche  das  menschliche  Geschlecht  unglücklich  machen,  es  sind  dies  der 
Glaube  an  das  Eingreifen  der  Götter  in  die  Schicksale  der  Welt  und  die 
Furcht  vor  dem  Tode.  Der  Götterglaube  bannt  den  Menschen  in  ewige 
Angst;  er  weiss  ja  nicht,  was  die  Gottheit  im  nächsten  Moment  über  ihn 
verhängt.  Die  Todesfurcht  aber,  diese  stete  Begleiterin  des  menschlichen 
Lebens,  überragt  noch  die  Angst  vor  dem  Eingreifen  der  Götter;  denn 
auch  das  jammervollste  Leben  erscheint  noch  immer  besser  als  das  Un- 
gewisse, das  uns  der  Tod  bringt.  Von  diesen  Leiden  befreit  uns  Epikur 
durch  seine  Betrachtung  und  Erkenntnis  der  Natur.  Diese  führt  uns  darauf, 
dass  ein  unzerstörbares  Etwas  vorliegt,  denn  es  kann  nicht  etwas  aus  nichts 
werden  und  nicht  etwas  in  nichts  zurückfallen;  sie  führt  uns  aber  auch 
darauf,  dass  ein  Raum  vorhanden  sein  muss,  in  dem  sich  der  Stoff  bewegen 
kann.  Die  unzerstörbaren,  nicht  mehr  teilbaren,  kleinsten  Körperindi- 
viduen, die  Atome  (primordia  rerum)  und  das  Leere,  der  Raum  (inane), 
welche  einander  ausschliessen,  welche  miteinander  von  Ewigkeit  existieren 
und  unendlich  sind,  erklären  alle  Erscheinungen  der  Welt.  Die  ruhelosen 
Atome  bewegen  sich  vermöge  ihrer  Schwere  nach  unten  hin,  aber  durch 
eine  Abweichung  von  der  senkrechten  Richtung  entstehen  Verwicklungen 
und  indem  sich  die  passenden  Atome  zusammenschliessen,  die  Gebilde  der 
Welt.  Also  nicht  bedarf  es  eines  Eingreifens  einer  höheren  Macht,  von  selbst 
bilden  sich  alle  Dinge  des  Universums.  Auf  dieser  Grundlage,  welche  im 
ersten  und  im  zweiten  Buch  entwickelt  wird,  ruht  die  Lehre  von  dem 
Geist  und  der  Seele  im  dritten  Buch.  Der  Geist  (anitnus),  mit  dem  die 
Seele  (anima)  unzertrennlich  verbunden  ist  (136),  ist  körperlich,  er  besteht 
aus  kleinen,  feinen  und  runden  Atomen,  welche,  sobald  der  Geist  aus  dem 
Körper  entwichen,  zerfallen  (437).    Nur  mit  dem  Körper  hat  also  der  Geist 


')  Unsere  Aufgabe  kann  es  nicht  sein, 
das  philosophische  System  Epikurs  in  allen 
seinen  Einzelheiten  darzulegen;  f&r  unsere 


litterarhistorischen  Zwecke  genügen  die  Grund- 
ztlge. 


138    RömiBche  Litteratnrgeachichte.    I.  Die  Zeit  der  Bepublik.    2.  Periode. 

Bestand,  wie  umgekehrt  der  Körper  nicht  ohne  den  Geist  bestehen  kann; 
mit  dem  Körper  wächst,  schwindet  und  stirbt  der  Geist.  Ist  aber  der 
Geist  sterblich,  so  ergibt  sich  die  wichtige  praktische  Folgerung  (828): 

Nil  igitur  mors  est  ad  noa  neqm  pertinet  hüum. 

Die  Todesfurcht  ist  dann  eitel.  Im  vierten  Buch  wird  die  Anthro- 
pologie dargelegt;  besonders  sind  es  die  Sinneswahmehmungen,  die  aus- 
führlich erklärt  werden.  Hier  stossen  wir  auch  auf  die  wichtige  Deduktion 
von  der  Untrtiglichkeit  der  Sinne  (467 — 519);  der  Dichter  sagt: 

non  modo  enim  ratio  ruat  omnis,  vita  quoque  ipsa 
Concidat  eoetemplo,  nisi  credere  sensibus  ausis. 

Das  fünfte  Buch  ist  der  Kosmologie  gewidmet  und  legt  dar,  wie 
Erde,  Himmel,  Meer,  Gestirne  und  die  Lebewesen  entstanden  sind  (65). 
Eine  Glanzpartie  dieses  Buchs  ist  der  Abschnitt  von  der  allmählichen  Ent- 
wicklung des  Menschengeschlechts  und  der  menschlichen  Kultur  (922),  reich 
an  scharfsinnigen  Beobachtungen  und  grossartigen  Gedanken.  Endlich  im 
letzten  Buch  werden  die  meteorischen  Erscheinungen  erklärt,  Donner,  Blitz, 
Wolken,  Regen,  Erdbeben,  der  Feuerausbruch  des  Ätna,  das  Anschwellen 
des  Nils,  die  aus  gewissen  Stellen  des  Bodens  entstehenden  Dünste  (loca 
Averna),  merkwürdige  Eigenschaften  von  Quellen,  z.  B.  der  Temperatur- 
weehsel  der  Quelle  des  Ammonstempels,  der  Magnet,  die  Krankheiten. 
Eine  Schilderung  der  athenischen  Pest  schliesst  das  Gedicht;  wie  uns  der 
Anfang  des  Gedichts  ein  glänzendes  Bild  des  Lebens  entrollte,  so  wird 
am  Schluss  ein  furchtbares  Bild  des  Todes  uns  dargeboten. 

Des  Dichters  Aufgabe  ist  nun  gelöst,  er  hat  gezeigt,  dass  von  einem 
Eingreifen  der  Götter  in  die  Welt  keine  Rede  sein  kann.  Zu  diesem  Zweck 
hat  er  die  Naturerscheinungen,  die  ja  besonders  den  Menschen  mit  Staunen 
und  Angst  erfüllen,  so  eingehend  erörtert  und  gezeigt,  dass  dieselben  auf 
natürlichen  Ursachen  beruhen;  er  hat  aber  auch  gezeigt,  dass  die  Seele 
sterblich  ist  und  wir  daher  den  Tod  nicht  zu  fürchten  brauchen. 

Das  Verhältnis  des  Lucrez  zum  Memmius  in  dem  Gedichte  ist  Gegenstand  verschie- 
dener  Hypothesen  geworden.  Nachdem  BocKEifÜLLBB  in  einer  sehr  verwickelten  Entstehungs- 
geschichte des  Gedichts  von  dem  Satz  ausgegangen  war,  dass  Memmius  erst  später  zum 
Adressaten  gemacht  wurde  (vgl.  Brieger,  Burs.  Jahresb.  4  ü  p.  162),  suchte  Kankenoiesser, 
Fleckeis.  J.  125,  833,  131,  59  nachzuweisen,  „dass  der  Name  Memmius  oder  eine  direkte 
Beziehung  auf  ihn  nirgends  in  einem  Hauptstttck  des  Werkes  vorkommt,  dass  vielmehr 
aUe  Partien,  in  denen  entweder  der  Name  des  Memmius  oder  eine  ganz  direkte  Bezie- 
hung auf  ihn  sich  findet,  entweder  dem  carmen  continuum  sich  überhaupt  nicht  einreihen 
oder  sich  leicht  loslösen  und  als  spätere  Zusätze  erkennen  lassen.'  Dass  dieser  Beweis 
nicht  gelungen  ist,  zeigt  Brakdt,  Fleckeis.  J.  131,  601.  Bruns  führt  dagegen  in  seinen 
Lucrezstudien  die  Ansicht  durch,  dass  Lucretius  ursprünglich  sein  Gedicht  für  Memmius 
bestimmt  hatte,  im  Laufe  des  Gedichts  aber  statt  des  einzigen  Adressaten  das  Publikum 
substituierte  und,  da  der  Zweck  ein  anderer  geworden  war,  Memmius  nur  gelegentlich  noch 
erwähnte.  Ich  glaube,  dass  von  vornherein  das  gebildete  Publikum  als  der  wirkliche 
Adressat  zu  denken  ist. 

Das  zweite  Problem,  welches  uns  das  Gedicht  des  Lucrez  stellt,  ist  das  Verhältnis 
des  Dichters  zu  Epikur.  Da  Lucrez  mit  seinem  Gedicht  in  erster  Linie  praktische  Zwecke, 
nicht  rein  theoretische,  verfolgt,  so  ist  es  für  ihn  nicht  notwendig,  das  epikureische  System 
in  allen  seinen  Teilen  darzulegen.  So  ist  z.  B.  die  Ethik  nicht  im  Zusammenhang  behsmdelt, 
nur  zerstreut  finden  sich  über  dieselbe  Bemerkungen.  Vgl.  Martha,  Le  po9me  de  Lucrkce 
p.  173  und  p.  184.  Auch  die  Lehre  von  der  Erkenntnis,  die  Eanonik,  ist  nicht  zur  Dar- 
stellung gekommen,  nur  der  Fundamentalsatz,  dass  die  Sinne  nicht  trügen,  ist  wiederholt 
beigezogen  worden;  so  z.  B.  ausser  der  oben  angegebenen  Stelle  1,  422  und  1,  699: 


T.  LnoretiaB  Cams.  139 

corpus  enim  per  se  communis  dedicat  esse 
sensus;  cui  nisi  prima  fides  fundata  wüebit, 
haut  erit  oecuUis  de  rebus  quo  referentes 
confirmare  animi  quiequam  ratione  queamus, 

quid  nobis  certius  ipsis 
sensibus  esse  potest,  qui  vera  ac  falsa  natemus? 

Unwahrscheinliclie  Ansichten  ttber  die  Komposition  und  das  Verhältnis  des  Dichters 
zu  seinen  Quellen  stellt,  besonders  von  der  Kanonik  ausgehend,  Bruhs,  Lucrez-Studien, 
Freib.  1884  auf. 

Litteratur  über  des  Systems  Quellen  und  Bearbeitung  (mit  Auswahl):  Braun, 
Lueretii  de  atomis  doctrina,  Münster  1857.  Hildebbakdt,  Lucretii  de  primordiis  doctrina, 
Magdeb.  1864.  Mabson,  T%e  atomic  theory  of  Lucretius  contrasted  wüh  modern  doctrines 
of  atoms  and  evolution,  London  1884.  Höfeb,  Zur  Lehre  von  der  Sinneswahmehmnng  im 
4.  B.  des  L.,  Progr.  von  Seehausen  1872  (Die  Lehre  vom  Sehen).  Schütte,  Theorie  der  Sinnes- 
enipfindungen  bei  Lncrez,  Danzig  1888.  Bi]n>SBiL,  de  omnis  infinitate  apud  Lucr.,  Eschwege 
1870.  HoKBSGHELiujfN,  obs.  Lucretianae  alterae,  Leips.  1877.  —  Reisackbb,  quaest,  Lueretianaef 
Bonn  1847.  Epicuri  de  animorum  natura  doctrina  a  Lueretio  tractata,  Köln  1855.  Der 
Todesgedanke  bei  den  Griechen.  Eine  bist.  Entwicklung  mit  bes.  Rücksicht  auf  Epikur 
und  Lucrez,  Trier  1862.  Uallibb,  L.  carmina  e  fragmentis  Empedoclis  adumbrata,  Jena  1875. 
Bastlezk,  Quid  L.  debuerit  EmpedocH,  Schleusing.  1875.  Woltjeb,  Lticretii  phVosophia 
cum  fontihus  comparata,  Groningen  1877  (wichtige  Schrift).  Dazu  vgl.  Lohmann,  Quaest. 
Lucret.,  Braunschweig  1882  (im  zweiten  Kapitel  qucte  ratio  intereedat  inter  Lucretium  et 
EpicurumJ.  Rtjsch,  De  Posidonio  Lucreti  auctore,  Greifsw.  1882.  Eichnbr,  Annotationes 
ad  Lucretii  Epicuri  interpretis  de  animae  natura  doctrinam,  Berl.  1884. 

96.  Würdigung  des  Oedichts.  Aus  dem  spröden  Stoff,  den  die  Lehre 
Epikurs  darbot,  hat  der  Dichter  ein  Gedicht  von  hoher  Vollendung  und 
nachhaltigster  Wirkung  geschaffen.  Dies  war  nur  dadurch  möglich,  dass 
ihn  die  glühendste  Begeisterung  für  die  Lehre  Epikurs  erfüllte;  ihm  ver- 
dankt nach  seiner  Überzeugung  das  Menschengeschlecht  die  Aufklärung 
über  die  letzten  Gründe  alles  Seins.  Der  Dichter  wird  daher  nicht  müde, 
Epikur  zu  preisen  und  zu  verherrlichen,  er  ragte,  sagte  er,  unter  allen 
Sterblichen  hervor,  wie  die  Sonne  in  der  Sternenwelt  (8,  1041),  er  geleitete 
unser  Leben  aus  der  tosenden  Flut  zur  Ruhe,  aus  der  Finsternis  zum  Lichte, 
ein  Gott  war  er,  ja  sein  Wirken  stand  höher  als  das  der  Geres,  des  Bacchus, 
des  Hercules,  denn  er  hat  uns  den  Trost  des  Lebens  gespendet  und  unsere 
Brust  von  Furcht  und  Leidenschaft  befreit  (5,  9) ;  als  der  Mensch  von  der 
Wucht  des  Aberglaubens  niedergestreckt  da  lag,  wagte  er  es,  diesem  Wahn 
mit  festem  Blick  entgegenzutreten,  unbekümmert  um  Donner  und  Blitz, 
siegreich  durchzog  er  mit  seinem  Geiste  das  unermessliche  All  (1,  62). 
Seine  Worte  sind  daher  golden  und  ein  unvergänglicher  Schatz,  und  wie 
die  Bienen  auf  den  blumigen  Gefilden  den  Honig  einsammeln,  so  müssen 
wir  diese  väterlichen  Lehren  in  uns  aufnehmen  (3,  9).  Man  sieht,  was 
Epikur  dem  Dichter  war.  Dass  er  sich  so  sehr  für  den  griechischen  Weisen 
begeistern  konnte,  begreift  man,  wenn  man  sich  die  von  entsetzlichen 
Leidenschaften  und  Gräueln  bewegte  Zeit,  in  die  das  Leben  des  Dichters 
fiel,  ins  Gedächtnis  zurückruft.  In  solchen  schweren  Zeiten  sehnt  sich  das 
Menschenherz  nach  Ruhe  und  Frieden  und  weiss  diese  Güter  höher  zu 
schätzen  als  in  den  Tagen  des  Glücks.  Die  Begeisterung,  welche  den 
Dichter  beseelt,  weiss  er  auch  auf  den  Leser  zu  übertragen;  dies  erreicht 
er  durch  die  Eindringlichkeit,  mit  der  er  fort  und  fort  auf  die  Hauptsätze 
zurückkommt,  durch  die  Klarheit  und  Anschaulichkeit,  die  er  überall  er- 
strebt, endlich  durch  die  prachtvollen  Gleichnisse,  Bilder  und  Schilderungen, 
die  wie  Perlen  dem  Gedichte  eingefügt  sind  und  die  uns  die  Dichtergrösse 


140    BOmiflclie  Lüteratnrgeachiclite.    I.  Die  Zeit  der  Bepablik.    2.  Periode. 

des  Lucretius  zeigen.  Wenn  der  Dichter  uns  malt  die  ihr  Junges  suchende 
Kuh  (2,  355), 

(U  mater  viridis  sciltus  arbata  peragrans 
noscit  humi  pedibus  veatigia  pressa  bistUcis, 
omnia  canvisens  oculis  loea,  si  queat  usquam 
conspieere  amiasum  fetum,  completque  quereUis 
frandiferum  nemus  adsiduis,  et  erehra  revisit 
ad  atabiäum,  deaiderio  perfixa  iuvenci, 
nee  tenerae  aalices  atque  herhae  rore  vigentes 
fluminaque  üla  queunt  summis  labentia  ripis 
dbUctare  animum  dubiamque  averiere  curam 
nee  vittUorum  aliae  speeies  per  pahtUa  laeta 
derivare  queunt  animum  curaque  levare. 

den  alles  befruchtenden  Regen  (1,  250),  das  Walten  der  Mutter  Erde 
(2,  991),  den  verheerenden  Wind  (1,  271),  die  phrygische  Göttermutter 
(2,  600)  und  die  athenische  Pest  (6,  1136)^  so  werden  wir  von  der  Süs- 
sigkeit  dieser  Poesie  mit  fortgerissen  und  vergessen  die  öden  Stellen 
der  Epikureischen  Philosophie.  Mit  Recht  kann  sich  daher  der  Dichter 
rühmen,  dass  er  seine  Lehren  durch  die  Poesie  versüsst,  wie  man  den 
kranken  Kindern  die  bittere  Arznei  durch  Zusatz  von  Honig  versüsst 
(1,  936).  Allein  die  poetische  Gestaltung  eines  nicht  besonders  dankbaren 
Stoffs  ist  nicht  das  einzige  Verdienst  des  Dichters;  er  hat  sicher  auch  zur 
Erläuterung  des  Systems  manches  beigetragen.  Nicht  bloss  Epikur,  sondern 
auch  andere  Quellen,  wie  Empedokles,  Thukydides,  vielleicht  auch  Posi- 
donius,  wurden  von  ihm  gelegentlich  zu  Rate  gezogen.  Nicht  gering  ist 
das  Verdienst,  das  sich  Lucretius  um  die  Ausbildung  der  Sprache  erworben 
hat.  Ein  Versuch,  Epikur  der  römischen  Welt  zugänglich  zu  machen, 
wurde  bisher  nicht  gemacht;  der  Dichter  schreitet  daher,  wie  er  sich  dessen 
rühmen  durfte,  auf  Stätten  der  Musen  einher,  die  noch  keines  Sterbh'chen 
Fuss  betreten.  Er  musste  daher  die  Sprache  erst  für  seine  Bedürfnisse 
zurecht  machen,  öfters  entfallen  ihm  Klagen  über  die  Armut  des  vater- 
ländischen Idioms  (1,  136,  832  3,  260).  Vorbild  für  Sprache  und  Versbau 
ist  ihm  Ennius,  der  zuerst  den  nie  welkenden  Lorbeerkranz  vom  Helicon 
herabgenommen,  der  weithin  seinen  Ruhm  unter  Italiens  Völkern  verkün- 
dete (1,  117).  Aber  er  hat  den  Meister  weit  übertroffen.  Sein  Stil  bekommt 
durch  die  Archaismen  einen  feierlichen  Charakter,  auch  sein  Versbau  steht 
durch  den  Mangel  an  «Anmut  und  Mannigfaltigkeit"  0  ^^^  ^^^  harten  Stoff 
in  Einklang. 

Kein  Zweifel,  Lucretius  und  GatuUus  sind  die  grössten  Dichter  der 
Römer.  Beide  haben  miteinander  gemein,  dass  ihre  Dichtung  uns  den 
Wellenschlag  ihres  Lebens  spiegelt.  Der  eine  Dichter  lässt  uns  in  ein  von 
Liebe  und  Hass  zerrissenes  Herz  blicken,  das  andere  Gedicht  führt  uns 
ein  Menschenleben  vor,  das,  sicherlich  nach  manchem  Sturm,  im  heissen 
Ringen  die  Wahrheit  gefunden  zu  haben  glaubt  und  damit  die  Erlösung 
von  den  beiden  feindlichen  Mächten  des  Lebens,  von  dem  Götterglauben 
und  der  Todesfurcht.  Wer  nur  einmal  im  Leben  nach  dem  Licht  der  Auf- 
klärung gerungen,  wird  sich  zu  der  Hoheit  des  Lucrez  unwillkürlich  hin- 
gezogen fühlen  und  sich  gern  die  Worte  Virgils  ins  Gedächtnis  zurück- 
rufen.    (Georg.  2,  490): 

1)  L.  MüLLEB,  Q.  Ennius  p.  291. 


Die  juigrOmische  Dlohteraohole.  141 

Felix,  gut  patuU  verum  eagnoseere  eausas 
Ätque  metus  omnis  et  inexorabile  fatutn 
SubiecU  pedibus  strepitumque  Ächerontis  avari. 

Viel  gelesen  im  Altertum  erstreckte  Lucretius  auch  auf  die  moderne 
Zeit  seine  Wirkung;  vom  Wiederaufleben  der  Wissenschaften  an  bis  zui* 
Blüte  der  Naturwissenschaften  rankt  sich  das  freie  Denken  gern  an  dem 
römischen  Dichter  empor. 

Die  Spuren  des  Lucretius  bei  seinen  Nachfolgern  sind  vielfach  nachgewiesen  worden: 
Jessen,  Über  L.  und  sein  Verhälinis  zu  Catull  und  Späteren,  Kiel  1872.  Reisacksb,  Hora- 
tins  i|i  seinem  Verhältnis  zu  Lucr.,  Bresl.  1878.  Wbinoabtmbb,  de  Horatio  Lucretii  imi" 
tatae,  HaUe  1874.  Wöhleb,  Über  den  Einfluss  des  Lucr.  auf  die  Dichter  der  augusi  Zeit, 
L  rVergil),  Greifsw.  1876,  vgl.  GeU.  1, 21,  7.    Zinqeblb,  Ges.  Abh.  2.  Heft  1870. 

Die  Überlieferung  des  Lucretius  beruht  im  wesentlichen  auf  zwei  in  Leyden  befind- 
b'chen  Handschriften,  dem  Vassianus  oblonffus  8,  IX  und  dem  Vossianus  quadratus  8,  X, 
mit  dem  einige  Brnchstttcke  (schedae  Havnienses,  Vindobanenses)  zu  verbinden  sind.  Vgl. 
Lachxahv,  Conmient.  p.  9:  omnis  vetu8tae  leetionis  memoria  e  Vossianis  codicibus  repetenda 
est;  nisi  quod  obiUmgo  fidem  interdum  Itafiei  abrogant,  quadrati  aueioritatem  aliquando  im- 
minuunt  schedae  (Woltjeb,  De  archeiypo  quodam  codice  Lticretiano  in  Fleckeis.  J.  123,  769. 
Dagegen  Brisger,  Ein  vermeintlicher  Archetypus  des  L.  in  Fleckeis.  J.  127,  553). 

Die  erste  kritische  Ausgabe  von  Lachkann  ;  der  zweite  Band  enthält  einen  kritischen 
nnd  sprachlichen  Kommentar,  Berl.  1850.  Einen  indea:  zum  Kommentar  fertigte  Härder, 
Berl.  1882.  Diese  Ausgabe  ist  eine  der  glänzendsten  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der 
klassischen  Philologie.  —  Ausgabe  von  Munro  in  englischer  Sprache  (Text,  erklärender 
Kommentar,  Übersetzung),  4.  Ausg,  Cambridge  1886.  Teubner^sche  Textai:Aig.  von  Berkays. 
Ausgabe  mit  deutschem  Kommentar  von  Bockbicüller,  Stade  1873. 

Zur  allgemeinen  Würdigung  des  Dichters  gibt  vortreffliche  Winke  das  geistreiche 
Buch  Martha's,  Le  pdhne  de  iMcrhce,  2.  Edit.,  Paris  1873.  Dann  MXhlt,  Der  römische 
Dichter  Lucretius  im  Neuen  Schweiz.  Mus.  5,  167.  Briboer,  Ein  Kind  der  Welt  in  der 
Zeitschr.  Gegenwart  8,  169.  Interessant  ist  auch  das  Kapitel  tlber  den  Dichter  bei  Lange, 
Geschichte  des  Materialismus  p.  36 — 59. 

Bekannt  ist,  dass  sich  der  Goetheische  Kreis  sehr  für  Lucrez  interessierte.  Dieses 
Interesse  weckte  besonders  die  KNEBEL'sche  Übersetzung  (erste  Ausgabe  1821,  zweite  1831). 
Unter  den  deutschen  Übersetzungen  erachte  ich  als  die  gelungenste  die  des  Prof.  des 
Staatsrechts  in  München,  Max  Sbydel  (Max  Schlierbach),  München  und  Leipz.  1881. 

5.  Die  jungrömische  Dichterschule. 

96.  Charakter  der  neuen  Bichtung.  An  mehreren  Stellen  pole- 
misiert Cicero  gegen  eine  Dichterklasse  seiner  Zeit»  welche  er  poeiae  novi 
oder  auch  veaittQoi  nennt.  An  einer  dieser  Stellen  setzt  er  diese  Dichter 
in  Gegensatz  zu  Ennius  und  bezeichnet  sie  spöttisch  als  Sänger  des  Euphorien 
(cantores  Euphorionia).  Die  Giceronischen  Stellen  lehren  uns  zunächst  ein 
Doppeltes,  einmal  dass  jene  Dichter  metrisch  und  prosodisch  von  den  bis- 
herigen Normen  abwichen ;  dann  dass  sie  sich  in  den  Bahnen  des  Euphorien 
aus  Chalkisy  d.  h.  des  Alexandrinismus  mit  ihrer  Dichtung  bewegten. 
Welche  Dichter  waren  dies?  Es  gab  zur  Zeit  Ciceros  einen  Kreis  von 
Leuten,  die  durch  die  Bande  der  Freundschaft  und  zum  grossen  Teil  auch 
durch  landsmannschaftliche  Bande  —  viele  waren  Transpadaner  —  zu- 
sammengehalten wurden.  Von  diesen  Leuten  ging  eine  starke  Opposition 
aus  gegen  die  bisher  übliche  Form  des  dichterischen  Schaffens,  gegen  den 
damals  herrschenden  rednerischen  Stil,  gegen  die  damaligen  Machthaber 
Roms.  In  der  Poesie  zeigt  sich  ihre  Opposition  darin,  dass  sie  das  natio- 
nale Epos,  das  Lehrgedicht,  das  Drama  perhorrescieren  und  das  kleine 
Kunstgedicht  der  Alexandriner  zum  Gegenstand  der  Nachahmung  erwählen. 
Es  umfasst  dies  das  mythologische  Epyllion,  das  Schmähgedicht,  das  Epi- 


142    fiömiflche  litteratnrgescliiolite.    I.  Die  2eit  der  ftepnblik.    2,  Periode. 

gramm,  das  Liebesgedicht,  die  Elegie.  Als  eine  wesentliche  Eigenschaft 
des  Dichters  betrachteten  sie  die  Belesenheit  in  den  griechischen  poetischen 
Werken  und  genaue  Kenntniss  der  griechischen  Mythen,  d.  h.  der  Dichter 
musste  doctus  sein.  Auch  in  der  Form  schlössen  sie  sich  an  die  Alexan- 
driner an;  es  kam  darauf  an,  feine  und  saubere  Technik  zu  zeigen,  es 
wurden  neue  metrische  Formen  aus  Alexandria  entlehnt  und  strenge  Regeln 
und  Eigentümlichkeiten  im  Bau  der  Verse  beobachtet.  In  der  Rhetorik 
verwarfen  sie  die  asiatischen  Stilmuster,  welche  zu  einem  überladenen  oder 
zerschnittenen,  schlotterigen  Stil  führten,  und  proklamierten  Attiker,  vor 
allem  Lysias,  als  Vorbilder,  d.  h.  wie  in  der  Poesie,  so  verlangten  sie  auch 
in  der  Rede  feine,  saubere  und  straff  angezogene  Darstellung.  In  der 
Politik  endlich  kehrte  sich  ihre  Opposition  gegen  Pompeius  und  Cäsar, 
welche  sie  mit  giftigen  Pfeilen  verfolgten. 

Der  Einfiuss  der  jungrömischen  Dichterschule  auf  das  geistige  Leben 
Roms  kann  nicht  hoch  genug  angeschlagen  werden.  Sie  haben  eine  römische 
Lyrik  geschaffen,  und  welche  mächtige  Bewegung  sie  in  der  Beredsamkeit 
hervorgerufen  haben,  dessen  ist  Cicero  Zeuge,  der  in  seinen  alten  Tagen 
seinen  rednerischen  Ruhm  gefährdet  sah  und  gegen  sie  als  die  „Attiker" 
zu  Felde  zo& 

Cic.  Tusc.  3,  19,  45  o  poetam  egregium!  (er  redet  von  Ennius)  quamquam  ah  his 
cantoribus  Euphorionis  contemnitur;  ad.  Att.  7,  2,  1  Ua  belle  nobis  „flavit  ab  Epiro  lenissi- 
mu8  OnchesmiteB** ,  Hunc  cnoy&eta^oyttt  ai  cui  voles  tdSy  yeoiteQüiy  pro  tuo  vendito.  Or.  48, 
161  quin  etiam,  quod  iam  aubrusticum  videtur,  olim  autem  politius,  eorum  f>erbarum,  quarum 
eaedem  erant  postremae  duae  litterae,  quae  sunt  in  „optumua^,  postremam  litteram  detra- 
hebant,  nisi  vocalis  insequebatur.  Ita  non  erat  ea  offenaio  in  versibuSf  quam  nunc  fugiunt 
poetae  notd. 

Über  die  neue  Beredsamkeit  äussert  sich  von  seinem  Standpunkt  aus  Cic.  Tusc.  2, 1, 3 
reperiebantur  nonnulU,  qui  nihil  laudarent,  nisi  quod  se  imitari  posse  confiderent  quemque 
sperandi  sibi,  eundem  bene  dicendi  finem  proponerent  et  cum  obruerentur  copia  sententiarum 
atque  verborum,  ieiunitatem  et  famem  se  malle  quam  ubertatem  et  copiam  dicerent;  unde 
erat  exortum  genus  Atticorum,  Wir  werden  später  genauer  über  diesen  Streit  handeln.  — 
KiESSLiNO,  de  Helvio  Cinna  poSta  in  den  Oomment.  Momms.  p.  351.  Bährens,  Proleg.  zu 
Catull.  p.  1—22. 

a)  Valerius  Cato  und  C.  Licinius  Macer  Calvus. 

97.  Die  Ftthrer  der  neuen  Bichtimg.  Aus  dem  Kreise  treten  uns 
zwei  Persönlichkeiten  entgegen,  welche  wir  als  Führer  der  Opposition  zu  be- 
trachten haben.  Es  ist  dies  Valerius  Cato  und  C.  Licinius  Calvus,  jenem 
müssen  wir  die  Führung  in  der  Poesie,  diesem  die  Führung  in  der  Bered- 
samkeit zuweisen.  Cato  war  es,  der  den  jungen  Leuten,  welche  nach  dem 
dichterischen  Lorbeer  strebten,  die  Wege  zeigte.  Wie  gross  hier  sein  Ein- 
fiuss war,  bezeugen  die  Verse  des  Furius  Bibaculus: 

Cato  grammaticus,  Latina  Siren, 
Qui  8olus  legit  ac  facit  po9tas. 

Des  C.  Licinius  Calvus  Führerschaft  auf  dem  Gebiete  der  Beredsamkeit 
bezeugen  die  Briefe,  die  Calvus  (und  Brutus)  mit  Cicero  über  den  redneri- 
schen Stil  führte,  ferner  die  Angriffe,  die  Cicero  in  seinen  rhetorischen 
Schriften  gegen  ihn  richtete,  endlich  das  hohe  Ansehen,  dessen  sich  Calvus 
als  Redner  erfreute.  Ausser  diesen  beiden  Männern  zieht  noch  ein  Grieche, 
den  wir  mit  dem  Kreis  in  Verbindung  bringen  müssen,  unsere  Aufmerk- 
samkeit auf  sich,  nämlich  der  Dichter  Parthenius.    Dieser  kam  im  Mith- 


Valerins  Caio.  143 

ridatischen  Krieg,  als  seine  Heimat  Nicäa  von  den  Römern  genommen  war 
(72  V.  Gh.),  nach  Rom.  Er  gelangte  in  die  Hände  eines  Ginna;  wahrschein- 
lich war  aber  dieser  Ginna  der  Vater  eines  Dichters  unserer  Gruppe,  näm- 
lich des  Helvius  Ginna.  Wir  werden  uns  um  so  leichter  zu  dieser  Annahme 
entschliessen,  da  wir  später  sehen  werden,  dass  sich  die  Dichtungen  des 
jungen  Helvius  Ginna  mit  denen  des  Parthenius  berühren.  Ist  schon  hieraus 
ein  Einfluss  des  Parthenius  auf  unsern  Dichterkreis  sehr  wahrscheinlich, 
so  kommt  noch  hinzu,  dass  wir  auch  anderweitig  des  Parthenius'  Einwir- 
kung auf  die  römische  Poesie  nachweisen  können,  wir  haben  bereits  oben 
gesehen,  dass  sein  Moretum  von  römischen  Dichtem  nachgeahmt  wurde, 
wir  wissen,  dass  er  dem  Gomelius  Gallus  eine  noch  vorhandene  Sammlung 
von  Geschichten  unglücklicher  Liebe  zusammenstellte,  wir  kennen  Beziehungen 
zwischen  ihm  und  Vergil  (Gell.  9, 9  und  13, 27).  Ist  es  wahrscheinlich,  dass 
ein  solcher  Dichter  einem  Kreise  fremd  bleibt,  der  gerade  die  alexandri- 
nische  Dichtung  auf  seine  Fahnen  geschrieben? 

Tac.  dial.  18  Ugistis  utique  et  Calvi  et  Bruti  ad  Ciceronem  missaa  epistulas,  ex  quibus 
faciU  est  deprehendere  Calpum  quidetn  Ciceroni  visum  exanguem  et  aridutn,  Brutum  autem 
otiasum  atque  diiunctum  rursusque  Ciceronem  a  Calvo  quidetn  male  audiase  ianquam  solutum 
et  enervem,  a  Bruto  autem  —  tanquam  factum  atque  elumhem,  Sen.  controv.  7, 19,  6  p.  210  Bu. 
Calvus,  qui  diu  cum  Cicerone  iniquissimam  litem  de  principatu  eloquentiae  habuit,  Quint. 
10,  1,  115  inveni  qui  Calvum  praeferrent  omnilms.  Genaueres  geben  wir  im  Kapitel  über 
die  Redner.  —  Ober  Parthenius  ist  die  Hauptstelle  bei  Suidas  s.  v.  Vgl.  Meikeke,  Anal. 
Alex.  p.  255. 

98.  ValeriuB  Gates  Dichtungen.  Die  Nachrichten  über  sein  Leben 
verdanken  wir  Sueton.  Er  stammte  aus  Gallia  und  zwar  ohne  Zweifel  aus 
Oallia  cisalpina.  Während  seiner  Minderjährigkeit  verlor  er  in  der  Zeit 
der  Sullanischen  Wirren  Hab  und  Gut.  Seine  äusseren  Verhältnisse  waren 
auch  später  dürftig;  eine  Villa,  die  er  vielleicht  zum  Geschenk  erhalten, 
musste  er  seinen  Gläubigern  abtreten.  Cato  war  nicht  bloss  Lehrer,  er 
war  auch  Schriftsteller;  er  verfasste  über  grammatische  Dinge  mehrere 
Schriften;  auch  legte  er  die  bessernde  Hand  an  die  Satiren  des  Lucilius, 
wie  wir  aus  Hör.  Sat.  1,  10  erfahren;  ob  diese  kritische  Arbeit  zur  Voll- 
endung gedieh,  können  wir  nicht  sagen.  Als  Dichter  fand  Cato  den  meisten 
Anklang  mit  einer  Diana  und  einer  Lydia.  Beide  Gedichte  wurden  von 
den  Genossen  gepriesen;  der  Diana  wünscht  Cinna  Dauer  durch  Jahrhun- 
derte, die  Lydia  wird  von  Ticidas  als  ein  von  den  Gebildeten  eifrig  stu- 
diertes Werk  hingestellt.  Ausserdem  erwähnt  Sueton  noch  eine  Schrift 
unter  dem  Titel  „Indignatio"",  ohne  beizufügen,  ob  sie  ein  poetisches  oder 
ein  prosaisches  Werk  sei.  In  derselben  verteidigte  sich  Cato  gegen  die 
üblen  Nachreden,  welche  über  seine  Abstammung  verbreitet  wurden.  Am 
wahrscheinlichsten  ist  es,  dass  die  „Indignatio'*  eine  Satire  war,  ebenso 
hatte  Sevius  Nicanor  in  einer  Satire  über  seine  Herkunft  gehandelt. 

Sueton  de  gramm.  11  scripait  praeter  grammaticos  libellos  etiam  poemata,  ex  quihus 
praecipue  probantur  Lydia  et  Diana.  Über  Hör.  Sat.  1, 10  vgl.  Nippebdey,  Opusc.  p.  490. 
Mabx,  Rh.  MuB.  41, 553. 

99.  Die  Dirae  und  die  Lydia.  Unter  dem  Namen  Vergils  ist  uns 
ein  Gedicht  mit  dem  Titel  „Dirae*  überliefert.  Dass  dieses  Gedicht  niclit 
von  Vergil  herrühren  könne,  erkannte  man  bald;  weder  Stil  noch  die 
Lebensverhältnisse  passen  auf  ihn.    Da  nun  der  Autor  in  dem  Gedichte 


144    BOmische  Litteratnrgescldchte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    d.  Periode. 

den  Verlust  seines  Gutes  und  eine  von  ihm  geliebte  Lydia  erwähnte,  da 
aber  auch,  wie  wir  soeben  sahen,  Valerius  Cato  sein  Gut  verloren  und  eine 
„Lydia*'  geschrieben,  so  schloss  Scaliger,  dass  der  Verfasser  dieses  von 
Sueton  nicht  erwähnten  Gedichts  Valerius  Cato  sei.  Später  (1792)  ent- 
deckte Jacobs,  dass  in  den  Dirae  zwei  Gedichte  zusammengeflossen  seien, 
von  denen  das  erste  den  Namen  „Dirae''  richtig  führe,  das  zweite  dagegen 
den  Titel  „  Lydia '^  erhalten  müsse.  Gegen  diese  Trennung  lässt  sich  kein 
vernünftiger  Einwand  erheben ;  denn  es  sind  in  der  That  ganz  verschiedene 
Situationen  in  den  beiden  Gedichten  ausgeprägt.  In  den  Dirae  schleudert 
der  Dichter  auf  das  Gut,  aus  dem  er  durch  einen  Veteranen  Lycurgus  ver- 
trieben wurde  und  auf  dem  er  seine  Geliebte  Lydia  zurücklassen  musste, 
allen  Fluch.  Misswachs,  Pestilenzhauch,  Verheerung  durch  Feuer  und 
Überschwemmung  soll  über  dasselbe  kommen.  Zuletzt  aber  wird  der 
Dichter  weich,  er  ruft  ein  Lebewohl  dem  Gute  und  seiner  Lydia  zu.  Merk- 
würdig ist  die  Komposition  des  Gedichtes.  Der  Dichter  wiederholt  nur 
die  Verwünschungen,  welche  er  einst  gegen  sein  Gut  ausgesprochen.  Be- 
gleitet wird  er  hiebei  zur  Rohrflöte  von  Battarus.  Durch  Schaltverse  sind 
die  Verwünschungen  gegliedert.  In  der  Lydia  dagegen  beneidet  der  Dichter 
die  ländliche  Stätte,  auf  die  sich  die  Geliebte  begeben,  er  beklagt  sein 
trauriges  Los  der  Vereinsamung,  weist  darauf  hin,  dass  doch  den  Tieren 
die  Natur  das  Beisammensein  gestatte,  dass  die  Götter  sich  ihrer  Liebe 
erfreuen,  dass  im  goldenen  Zeitalter  auch  die  Sterblichen  in  ihrer  Liebe 
glücklich  waren,  und  fragt  zum  Schluss  entrüstet,  warum  dem  gegenwär- 
tigen Zeitalter  ein  so  hartes  Los  in  der  Liebe  auferlegt  sei.  Man  erkennt 
aus  dieser  Inhaltsangabe,  dass  beide  Gedichte  unvereinbar  sind.  Im  ersten 
Gedicht  ist  die  Lydia  zurückgeblieben  und  der  Dichter  in  der  Ferne,  im 
zweiten  ist  der  Dichter  zurückgeblieben  und  die  Lydia  fort  aufs  Land  ge- 
gangen ;  zuerst  ist  dem  Dichter  eine  Gegend  Gegenstand  der  Verwünschung, 
dann  der  heissesten  Sehnsucht.  Der  vorgenommenen  Teilung  gemäss  hat 
weiter  Jacobs  angenommen,  dass  das  erste  Gedicht  sonach  als  ein  von 
Sueton  nicht  erwähntes  Gedicht  „Dirae''  anzusehen  sei,  das  zweite  dagegen 
als  ein  Teil  der  von  Sueton  angeführten  Lydia.  Vergleicht  man  aber  nun 
die  Lebensumstände  des  Valerius  Cato,  wie  sie  uns  Sueton  schildert,  mit 
den  in  den  Dirae  vorliegenden,  so  ergeben  sich  Discrepanzen.  Cato  verlor 
sein  Patrimonium  als  l^nderjähriger,  der  Dichter  der  Dirae  war  dagegen, 
als  er  aus  seinem  Gute  vertrieben  wurde,  im  Besitz  einer  Geliebten,  also 
ein  junger  Mann;  bei  Cato  erfolgte  die  Beraubung  allem  Anschein  nach 
durch  Prozesschikanen,  >)  bei  dem  Dichter  der  Dirae  durch  eine  Ackerver- 
teilung an  Veteranen.  Der  minderjährige  Cato  hatte  Hab  und  Gut  in 
Gallia  cisalpina,  der  Boden,  den  die  Dirae  verwünschen,  lag  in  Sicilien. 
Sonach  müssten  wir  Valerius  Cato  als  Verfasser  dieser  Gedichte  aufgeben. 
Und  zu  diesem  Resultat  sind  Merkel,*)  K.  F.  Hermann,  Haupt ^)  und  andere 
gekommen.  Trotzdem  glaube  ich,  dass  Ribbeck  recht  thut,  wenn  er  die 
Autorschaft  des  Valerius  Cato  nicht  aufgeben  will.    Einen  Dichter,  dem 


M  Nabke,  Carmina  Valerii  Catonis p,262, 
'')  Ovid.  Ibis  p.  364. 


«)  Opusc.  1, 119. 


G.  liciniiui  CalviiB.  .  .     145 

fQr  sein  Gedicht  offenbar  die  alexandrinischen  Ghittungen  der  Verwünschungen 
(aQai)  und  der  Bucolica  vorschweben,  der  also  Nachahmer  ist,  einen  Dichter, 
der  seine  Poesie  dadurch  deutlich  als  Reflexionspoesie  kennzeichnet,  dass 
er  nur  eine  Wiederholung,  eine  Wiederauffrischung  seiner  früheren 
Verwünschungen  geben  will,  einen  solchen  Dichter  darf  man  nicht  für  bio- 
graphisches Detail  verantwortlich  machen.  Ich  sehe  daher  ganz  von  der 
Vertreibung  durch  den  Veteranen  hier  ab,  ich  benütze  lediglich  die  That- 
sache,  dass  in  beiden  Gedichten  eine  Lydia  erscheint,  dass  sonach  beide 
Gedichte  auf  einen  Autor  hinweisen;  denn  sie  zu  trennen  und  an  zwei  ver- 
schiedene Autoren  zu  verteilen,  dafür  liegt  kein  durchschlagender  Grund 
vor.  Der  Verfasser  dieser  zwei  Gedichte  behandelt  aber  in  dem  einen  allem 
Anschein  nach  die  Ackerverteilung  des  Jahres  41.  Um  diese  Zeit  lebt 
aber  auch  Gate  und  von  ihm  ist  bezeugt,  dass  er  eine  Lydia  geschrieben. 
Gewiss  ein  eigentümliches  Zusammentreffen,  das  uns  doch  dringend  ermahnen 
dürfte,   die  Scaliger'sche  Entdeckung  nicht  voreilig  über  Bord  zu  werfen. 

Die  Scaliger'sche  Hypothese  hat  einen  scharfen  Angriff  durch  Rothstbin  (Hermes 
28,  508)  erfahren.  Rothstsik  geht  mit  K.  F.  Herkank  davon  aus,  dass  beide  Gedichte 
verschiedenen  Verfassern  angehören;  die  Ackerverteilung  der  Dirae  sei  auf -die  Zeit  zu 
beziehen,  in  der  S.  Pompeius  auf  Sicilien  hauste;  etwas  jünger  8*)i  die  Lydia,  denn  hier 
sei  in  Vers  9  o  fortunati  nimium  muUumqiie  beati  Virgil  Q«org.  2. 458  o  fortunaios  nimium, 
9aa  8%  bond^norint,  agrieoUis  nachgeahmt.  Allein  es  müsste  doch  als  ein  wahres  Wunder 
erscheinen,  wenn  so  ziemlich  zu  gleicher  Zeit  drei  Dichter  eine  Lydia  besingen. 

Hauptausgabe:  Carmina  Valerii  Catonis  mit  breitem  Kommentar  und  Exkursen  von 
Nabkb,  Bonn  1847.  Femer  in  Ribbecks  Appendix  Vergiliana,  Leipz.  1868  p.  167,  in 
M.  Haupts  Vergil,  Leipz.  1878  p.  576;  Bähbknb,  Po^tcte  lat,  min,  2,  73.  —  Zur  Streitfrage 
Jakobs  Yerm.  Sehr.  5, 639.  K.  F.  Hermaito,  Ges.  Abb.  p.  114.  Ribbbok,  Gesch.  d.  röm. 
Dicht  1,  809. 

100.  C.  LiciniuB  Calyns'  Dichtungen.  Nicht  selten  werden  bei  den 
Alten  Catullus  und  der  Sohn  des  Historikers  Licinius  Macer,  G.  Licinius 
Calvus  (82 — 47),  zusammengenannt.  Für  diese  Verbindung  dürfte  einmal 
massgebend  gewesen  sein  die  aus  den  Gedichten  Gatulls  sich  ergebende 
Freundschaft  beider  Männer,  dann  aber  noch  mehr  die  Gleichheit  der  poeti- 
schen Richtung.  Wie  Catull  pflegte  er  das  Liebeslied  (Ov.  Trist.  2,  431), 
das  Epithalamium  (Prise.  1, 170  H.),  das  mythologische  Epyllion  in  der  Jo 
(Serv.  Vergil.  ecl.  6,  47.  8,  4),  die  Elegie  in  einem  Gedicht  auf  den  Tod  der 
Quintilia,  wahrscheinlich  seiner  Frau  (Prep.  3,  33,  89,  Catull.  96, 5),  endlich 
das  Epigramm  (Suet.  Gaes.  73).  Einige  Gitate  deuten  auf  eine  Sammlung 
seiner  Gedichte,  wie  Gharis.  p.  147  K.  in  poemate,  p.  101  K.  in  carminibus. 
Unter  den  angegriffenen  Personen  erscheint  der  aus  Horaz  bekannte  Ge- 
sangsvirtuose Tigellius  aus  Sardinien,  der  in  einem  Gholiambus  verkauft 
wird  (320,  3  Bähreks);  dann  war  Gäsar  Gegenstand  heftiger  Befehdung; 
gegen  Pompejus  richtete  er  das  beissende  Epigramm  (p.  322  B.): 

MagnuSy  quem  metuunt  omnes,  digito  captU  uno 
Scalpit:  quid  credcta  hunc  8ibi  veUe?  tirum. 

Sein  Geburtsjahr  erhellt  aus  Plin.  n.  h.  7, 165.  Als  Cicero  den  Brief  fep.  15,  21,  4) 
schrieb  (47  v.  Gh.),  war  Calvus  tot.  Seine  kleine  Figur  verspottet  Catull  5o,  5,  dass  er 
einen,  der  ein  glänzendes  Plaidoyer  des  Calvus  gegen  Yatinius  angehört  hatte,  ausrufen 
lAsst  „Di  niagniy  salaptUium  disertumJ*  Martial  14,  196  lesen  wir  ein  £pigranun  mit  der 
Aufschrift  „Calri  de  aquae  frigidae  usu^.  Wenn  die  Worte,  die  Charis.  p.  81,24  K.  dem 
Calvus  zuteilt,  quorum  praeduleem  eihum  stamachus  ferre  non  patest,  aus  dieser  Schrift 
entnommen  waren,  so  war  es  eine  prosaische.    Vgl.  BXhrens,  Kommentar  zum  Catull  p.  614. 

Bandbneh  der  Ush.  AltertnmtwtoeiuohAfL  Vm.  IQ 


146    Bömische  LitteratnrgeBchichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


Dagegen  hat  man  mit  Unrecht  prosaische  Briefe  des  Calvus  an  seine  Frau  angenommen; 
denn  die  Stelle  Diom.  p.  376, 1  X.  ist  nicht  heil,  vgl.  die  Anmerkung  Keils. 

ß)  M.  Furius  Bibaculus. 

101.  Des  Purins  SpottpoSsie.  M.  Furius  Bibaculus  wurde  zu  Gre- 
mona  geboren.  Das  Geburtsjahr  103  oder  102,  welches  Hieronymus  an- 
gibt (2,  133  Seh.),  ist  irrig,  er  muss  später  geboren  sein,  da  dies  sein  Ver- 
hältnis zu  Cato  und  Orbilius  bedingt.  Die  Schriftsteller  finden  seine  Stärke 
in  der  iambischen  Spottpoesie  und  vergleichen  ihn  in  dieser  Einsicht  mit 
CatuU  und  Horaz.  Die  drei  grösseren  Bruchstücke,  die  von  seinen  Ge- 
dichten uns  erhalten  sind,  beziehen  sich  alle  auf  den  Meister  der  Schule, 
Cato.  Das  erste,  in  dem  Cato  als  der,  welcher  Dichter  „macht",  gefeiert 
wird,  haben  wir  bereits  oben  kennen  gelernt.  Das  zweite  nimmt  den  not- 
gedrungenen Verkauf  der  Villa  desselben  zum  Vorwurf  eines  harmlosen, 
heiteren  Gedichtchens;  alle  Fragen,  scherzt  der  Dichter,  vermag  Cato  zu 
lösen,  nur  mit  dem  Namen  im  Schuldbuch  kann  er  nicht  fertig  werden. 
In  dem  dritten  wird  das  genügsame  Leben  Catos  in  so  anmutiger  Weise 
vorgeführt,  dass  wir  das  Gedichtchen  zu  den  Blüten  der  römischen  Dicht- 
kunst zählen  müssen.    Wir  lassen  es  hier  folgen  (p.  317  B.): 

si  quis  forte  mei  domum  Ckitanis, 
depieiaa  minio  aeatdas,  et  illos 
custodis  videt  hortüloa  Priapi, 
miratuTf  quibua  ille  disciplinis 
tantam  sit  patientiam  asaectUus, 
quem  tres  cauliculi,  selihra  farris, 
racemi  duo  tegula  aub  una 
ad  aumtnam  prope  nutriant  senectam. 

Aus  diesen  wenigen  Proben  ersehen  wir,  dass  Furius  Bibaculus  auch  andere 
Saiten  als  die  des  Spottes  anzuschlagen  weiss.  Dagegen  lehrt  uns  ein 
viertes  nur  aus  einem  Verse  bestehendes  Fragment  Furius  als  Spötter 
kennen;  er  verhöhnt  hier  den  alten  Orbilius  wegen  seiner  Vergesslichkeit  ^) 
(p.  318  B.). 

Eine  prosaische  Schrift  des  Furius  erwähnt  Plinius  praef.  24  unter 
dem  scherzhaften  Titel  „Nachtarbeiten  (lucubrationes)*" .^) 

Tac.  A.  4,  84  carmina  BibacuU  et  Catulli  referta  contumeliis  Caesarum  leguntur;  aed 
ipae  divua  Juliua.  ipae  divua  Auguatua  et  tider e  iata  et  reliquere.  Quint.  10,  1,  96.  Man 
hat  dem  Furius  Bibaculus  auch  ein  Epos  „über  den  gallischen  Krieg"  beilegen  wollen,  vgl. 
Bährsks  fr.  p.  818  Comment.  zum  Catull  p.  21,  mit  Unrecht,  wie  wir  oben  p.  96  dargelegt 
haben  (Nifperdby,  Opusc.  p.  500). 

y)   C.  Valerius  Catullus. 

102.  Catnlls  Leben.  C.  Valerius  Catullus  wurde  um  84  v.  Ch.  in 
Verona  aus  begüterter  und  mit  Cäsar  befreundeter  Familie  geboren.  Seine 
dichterische  Entwicklung  vollzieht  sich  in  Rom,  besonders  im  Ei^eise  gleich- 
strebender Genossen.  Den  in  ihm  schlummernden  göttlichen  Funken  brachte 
zur  reichsten  Entfaltung  seine  Liebe  zur  Lesbia.  Dass  der  Name  ein  er- 
dichteter ist,  darf  von  vornherein  als  wahrscheinlich  angenommen  werden. 


^)  Der  Vers  lautet:  Orhiliua  ubinam 
eat,  lUterarum  öblivio?  So  kann  nicht  ein, 
wenn  Hieronymus  recht  hätte,  fast  gleich- 


altriger Mann  fragen. 

»)  BlHBSxs,  Comment.  zum  Catull  p.  13. 


C.  ValeriuB  Gatullas.  147 

68  wird  überdies  ausdrücklich  von  Ovid.  Trist.  2,  428  bezeugt.  Den  wirk- 
lichen Namen  Glodia  hat  uns  Apuleius  Apol.  10  überliefert.  Es  darf  jetzt 
als  ausgemacht  gelten,  dass  diese  Clodia  die  Schwester  des  bekannten 
Volkstribunen  Clodius  Pulcher  ist.  Wir  kennen  keine  Glodia  jener  Zeit, 
welche  der  von  dem  Dichter  geschilderten  Glodia-Lesbia  so  gleicht  wie 
diese.  Um  nur  die  Hauptähnlichkeiten  hervorzuheben,  die  Geliebte  Catulls 
war  anfangs  verheiratet,  auch  Clodia  war  mit  Q.  Caecilius  Metellus  Geler 
(Gons.  60)  verheiratet,  seit  59  war  sie  Witwe;  um  59 — 58  bekämpft  Gatull 
einen  Rivalen  in  seiner  Liebe  zur  Lesbia,  Namens  Rufus,  um  diese  Zeit 
liebte  aber  Glodia  den  Redner  Gaelius  Rufus;  Gatull  berührt  im  79.  Ge- 
dichte unsittliche  Beziehungen  der  Lesbia  zu  einem  Lesbius;  wenn  die 
Lesbia  Glodia  ist,  so  muss  ohne  Zweifel  Lesbius  Glodius  sein;  von  einem 
Sex.  Glodius  wissen  wir  aber  (Gic.  de  dom.  10, 25),  dass  ihm  gerade  jene 
dort  geschilderte  Unsittlichkeit  mit  Lesbia  vorgeworfen  wurde ;  aus  GatuUs 
Gedichten  erhellt,  dass  Lesbia  einen,  sittenlosen  Wandel  führte,  die  Rede 
Giceros  für  Gaelius  belehrt  uns,  dass  dasselbe  von  der  Glodia  galt  und  dass 
ihr  Gaelius  deshalb  den  Namen  „quadrantaria"  (Quint.  8, 6,  53)  gab.  Die 
Geliebte  Gatulls  war  von  bestechender  Schönheit,  Gicero  erwähnt  öfters 
die  funkelnden  Augen  der  Glodia  (p.  Gael.  20, 49)  und  nennt  sie ''H^a  ßoämg 
(ad  Att.  2,(9, 1).  Das  Liebesverhältnis  zur  Glodia  währte  etwa  vier  Jahre, 
von  61 — 58.  Nachdem  dasselbe  gelöst  war,  schloss  sich  Gatull  im  Früh- 
ling des  Jahres  57  mit  Helvius  Ginna  dem  Gefolg  des  Propraetors  G.  Mem- 
mius  an,  der  die  Verwaltung  der  Provinz  Bithynien  übernahm;  hier  ver- 
weilte der  Dichter  bis  zum  Frühjahr  56.  Auf  der  Heimreise  besuchte  er 
das  Grab  seines  Bruders  in  Troas.  Seine  Hoffnung,  dort  seinen  Finanzen 
aufzuhelfen,  war  nicht  in  Erfüllung  gegangen.  Nach  seiner  Rückkehr 
knüpfte  Gatull  noch  das  eine  oder  das  andere  Liebesverhältnis  an,  allein 
jene  Innigkeit,  wie  sie  in  der  Liebe  zur  Lesbia  hervorbricht,  gewahren 
wir  nicht  mehr.  Mehr  regte  den  Dichter  die  Politik  auf,  er  führte  einen 
Kampf  gegen  Gäsar,  besonders  aber  gegen  dessen  Günstling  Mamurra. 
Allein  später  trat  eine  Versöhnung  Gatulls  und  Gäsars  ein.  Ums  Jahr  54 
erlöschen  die  Zeitanspielungen  in  den  Gedichten;  wir  schliessen  daraus, 
dass  der  Dichter  nicht  lange  mehr  nach  diesem  Jahre  lebte. 

Hieronymos  lässt  Catnll  87  geboren  (Sohobnb  2, 133),  57  (58)  im  dreiBsigsten  Lebens- 
jahr gestorben  sein  (Sohobve  2,  137).  Dass  das  Todesjahr  unrichtig  ist,  ergibt  sich  aus 
den  oben  erwähnten  Zeitanspielungen;  ist  die  Angabe,  dass  Catull  im  Alter  von  dreissig 
Jahren  gestorben,  nicht  durch  Berechnung  entstanden,  sondern  aus  Überlieferung  geschöpft, 
80  muss  Catull  etwa  ums  Jahr  84  geboren  sein;  die  meisten  Gelehrten  nehmen  aber  das 
Jahr  87  als  richtiges  Geburtsjahr  an  und  verwerfen  das  Lebensalter  von  30  Jahren  und 
das  Sterbejahr  57  (vgl.  B.  Scshidt  Ausg.  p.  LIX).  Dass  Catull  im  jugendlichen  Alter  ge- 
storben, steht  durch  Ovid.  Am.  3,  9, 61  fest. 

Gegen  die  Identität  der  Lesbia-Clodia  mit  der  Schwester  des  Volkstribunen  Clodius 
Pulcher,  welche  bereits  von  Victorius  aufgestellt  wurde,  äusserten  Zweifel  Voblaenobb,  De 
CatuUi  ad  Lesbiam  carminibuSf  Bonn  1864.  Ebook,  qtuiest,  CcU.,  Leyden  1864.  Riese, 
Fleckeis.  J.  105,  747.  Hebkes,  Beitr.  zu  Catull,  Frankf.  a.  0. 1889.  Die  Frage  wurde  zum  ersten- 
mal methodisch  behandelt  und  im  Sinn  der  Identität  entschieden  von  BIhbees  in  den  Analecta 
Catull.,  Jena  1876  p.  1—21,  später  in  den  Proleg.  zur  Ausg.  p.  31—35.  Auf  dessen  Seite 
traten  Schulze,  Zeitschr.  f.  d.  Gymnaaialw.  28,  699.  Ellis  im  Kommentar  zum  Catull  p.  LV. 
Magnus,  Fleckeis.  J.  113,  402.  Fb.  Sohoell  121,  482.  B.  Schkidt,  Proleg.  zur  Ausg.  p.  XVI. 
her  des  Dichters  Beziehungen  zu  Cäsar  berichtet  Suet.  Jul.  73:  VoUerium  CatuUum, 
a  quo  Hbi  versictäis  de  Mamurra  perpetua  Stigmata  impoaita  non  diasimulaveratf  aatiafaciet^ 
tem  eadem  die  adhibuit  eenae  hospitioque  patris  eiua,  sicut  conauerat,  uti  perseveravit. 

10* 


148     Römische  LitteratnrgeBohichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

103.  Die  Sammlung  der  catullischen  Gedichte.  Die  Oedichtsamm- 
lung  Gatulls  stellt  sich  uns  dar  als  eine  Vereinigung  von  drei  Teilen.  Im 
Anfang  stehen  die  kleinen  Gedichte  in  verschiedenen  lyrischen  Massen,  in 
der  Mitte  die  grossen  und  gelehrten  Gedichte»  am  Schluss  die  Epigramme. 
Das  Hochzeitsgedicht  in  lyrischem  Masse  (61)  leitet  zu  dem  Hochzeits- 
gedicht in  Hexameter  und  damit  zum  zweiten  Teil  über;  die  Elegien  des 
zweiten  Teüs  führen  hinüber  zu  den  distichischen  Epigrammen.  Die  Samm- 
lung ist  nicht  vollständig,  denn  wir  haben  Kunde  von  Gedichten  CatuUs, 
welche  in  dieser  Sammlung  sich  nicht  finden.  Das  erste  Gedicht  enthält 
eine  Widmung  an  Cornelius  Nepos.  Dieselbe  passt  aber  nicht  auf  die 
vorliegende  Sanmilung.  In  derselben  redet  der  Dichter  von  einem  „lepidus 
libellus";  das  Corpus  umfasst  aber  beiläufig  2300  Verse,  also  eine  Summe 
von  Versen,  welche  für  ein  einzelnes  Buch  von  Gedichten  viel  zu  hoch  ist. 
Weiterhin  bezeichnet  Catull  hier  seine  Gedichte  als  „nugae",  als  Kleinig- 
keiten. Eine  solche  Bezeichnung  ist  aber  für  die  grossen  und  gelehrten 
Gedichte  durchaus  nicht  passend.  Wir  müssen  demnach  schliessen,  dass 
sich  diese  Vorrede  nur  auf  einen  Teil  unserer  Sammlung  bezog  und  zwar 
eine  solche  mit  kleinen  Gedichten,  ferner  dass  dieser  Teil  vom  Dichter 
selbst  herausgegeben  wurde.  Martialis  führt  eine  Sammlung  von  Gedichten 
Gatulls  mit  „Passer*  (4, 14;  11,  6)  an.  In  unserer  Sammlung  folgt  aber 
auf  die  Widmung  das  berühmte  Sperlingslied.  Wenn  man  sich  nun  erinnert, 
dass  die  Alten  oft  Schriftwerke  so  citieren,  dass  sie  nur  das  erste  Stück  nam- 
haft machen,  so  wird  man  zu  der  Annahme  gedrängt,  dass  jene  Sammlung 
V  Passer '^  wenigstens  im  Anfang  mit  der  unsrigen  identisch  war,  dass  sie 
aber  nicht  die  grossen  Gedichte  enthielt.  Mit  dem  vom  Dichter  selbst 
herausgegebenen  „Passer*  wurden  noch  andere  Gedichte  Catulls  verbunden. 
Diese  Verbindung  nahm  aber  nicht  der  Dichter  selbst  vor,  denn  unser 
Corpus  nimmt  so  wenig  Rücksicht  auf  den  Leser  und  erschwert  durch 
Trennung  des  Zusammengehörigen  und  durch  die  Störung  der  Zeitfolge  so 
das  Verständnis,  dass  man  den  Dichter  unmöglich  als  Urheber  dieser  Ver- 
wirrung betrachten  kann.  Auch  nicht  durch  handschriftliche  Störung  er- 
klärt sich  dieselbe.  Also  hat  ein  anderer  die  Gedichte  zusammengestellt. 
Woher  nahm  er  dieselben?  Die  Annahme,  dass  Catull  bloss  den  „Passer* 
herausgegeben  und  die  übrigen  Gedichte  aus  seinem  Nachlass  hinzukamen, 
ist  unwahrscheinlich.  Catull  wird  noch  andere  Ausgaben  seiner'  Gedichte 
veranstaltet  haben.  Hätte  der  Redaktor  diese  einfach  zusammengestellt, 
so  würden  wir  in  der  Chronologie  der  Gedichte  nicht  mit  den  grossen 
Schwierigkeiten  zu  kämpfen  haben,  die  uns  jetzt  bedrücken.  Allein  da- 
durch, dass  der  Redaktor  nach  einem  neuen  Prinzip  die  Gedichte  anordnete, 
musste  er  die  vorhandenen  Sammlungen  zerreissen;  dadurch  ist  aber  das, 
was  der  Dichter  zusammengestellt  hatte,  selten  beisammengeblieben. 

Bezüglich  des  Passer  bestellt  eine  BifPerenz;  manche  meinen,  derselbe  hätte  nicht 
mit  einem  Widmungsgedicht  an  Nepos  beginnen  können,  das  Sperlingslied  müsse  den  An- 
fang machen;  sie  nehmen  daher  eine  zweite  Sanmilong  mit  dem  Widmungsgedicht  an  der 
Spitze  an  (Schxu>t  Proleg.  XCIV).  Allein  dass  das  Widmungsgedicht  eine  Sonderstellung 
emninmit,  erhellt  aus  Mart.  praef.  zu  1.  IX. 

Litte ratur:  Westphal,  Catulls  Gedichte  in  ihrem  geschichtl.  Zusammenhange,  Bresl. 
1867.  Süss,  Gatulliana  in  den  Acta  seminar.  Erlang.  1,  p.  1 — 48,  bes.  p.  27.  Richtbr,  Catul- 
liana,  Leipz.  1881.    Bruk^b,  De  ordine  et  tempor^ma  carminum  V,  C.  in  Acta  sog.  scient. 


C.  ValerioB  GatalluB. 


149 


Fennicae  7,  599  (bahnbrechend).  Schulze,  Catollforschungen  (in  der  FestBchriffc  des  Friedr. 
Werderschen  Gymn.  zu  Berlin),  Berl.  1881  und  Fleckeis.  J.  1885  p.  857.  Bist,  Das  antike 
Buchwesen,  Berl.  1882  p.  401. 

104.  Catnlls  grössere  Oedichte.  In  der  Beurteilung  des  Dichters 
wird  es  nötig  sein,  die  grösseren  Gedichte  von  den  kleineren,  seinen  „nugas"^ 
zu  trennen;  denn  in  jenen  ist  er  der  Dichter  der  Schule,  hier  der  Dichter 
des  Lebens;  dort  gilt  es,  seine  Belesenheit  in  der  Mythologie  zu  zeigen 
und  einen  gegebenen  Faden  kunstvoll  weiterzuspinnen,  hier  das,  was  das 
Herz  bewegt,  auszusprechen.  Den  Reigen  der  grossen  Gedichte  eröffnen 
zwei  Hochzeitslieder  (Epithalamien)  Nr.  61  und  Nr.  62.  Das  erste  ist  für 
die  Hochzeit  des  Manlius  Torquatus  und  der  Vinia  Aurunculeia  bestimmt;^) 
es  ist  in  lyrischem  Masse  abgefasst  und  auf  2  Chöre  verteilt,  in  der  ersten 
Hälfte  hören  wir  den  Chor  der  Jungfrauen,  dann  den  Chor  der  Jünglinge. 
Mit  einer  Anrufung  des  Hymenäus  beginnt  das  Lied,  dann  wird  die  zag- 
hafte Braut  aufgefordert,  zu  erscheinen  und  sich  ins  Haus  des  Bräutigams 
führen  zu  lassen.  Auf  dem  Wege  dahin  ertönt  nach  alter  Sitte  Scherz 
und  Spott  auf  den  Bräutigam.  Als  der  Zug  vor  dem  Hause  des  Torquatus 
angekommen  war,  mahnt  der  Chor  die  Braut,  ins  Gemach  zu  treten,  wo 
ihrer  der  liebestrunkene  Bräutigam  harret.  Liebliche  Bilder  ehelichen 
Glückes  malt  der  Chor.    Man  lese  die  zarten  Verse  (216): 

TorqtuUua  volo  parvulus 

matria  e  gremio  suae 

porrigens  teneras  tnanua 
dülce  rideat  ad  patrem 

semhianie  lahello. 

Die  Aufforderung,  das  Gemach  zu  schliessen,  schliesst  auch  das  Gedicht. 
Dies  ist  der  äussere  Rahmen  einer  ungemein  zarten  und  innigen  Schöpfung. 
Anderer  Art  ist  das  Hochzeitsgedicht  62;  es  stellt  uns  einen  Wettgesang 
zweier  Chöre,  eines  Jünglingchors  und  eines  Jungfrauenchors,  dar.  Ln 
Wesen  eines  solchen  Wechselgesangs  liegt  es,  dass  Bild  und  Gegenbild 
einander  ablösen.  So  vergleichen  die  Jungfrauen  das  von  dem  Manne 
berührte  Mädchen  mit  dem  geknickten  Blümlein  des  Gartens,  die  Jünglinge 
dagegen  die  dem  Mann  sich  ergebende  Jungfrau  mit  der  Weinrebe,  die 
sich  an  der  Ulme  emporrankt.  Sehr  interessant  sowohl  wegen  des  Stoffs 
als  wegen  des  Versmasses  ist  das  Gedicht  63.  Attis  ist  mit  seinen  Ge- 
nossen übers  Meer  nach  Phrygien  gekommen;  dort  entmannte  er  sich,  von 
religiösem  Wahn  ergriffen;  ihm  folgen  die  Genossen,  Attis  greift  nun  zum 
Tympanon  und  fordert  seine  Begleiter  auf,  mit  ihm  zum  Hain  der  Göttermutter 
zu  wandern,  deren  Kult  er  mit  frischen  Farben  schildert.  In  wildem  Rasen 
bewegt  sich  der  Zug  dahin.  Angelangt  überkommt  die  Schar  Müdigkeit; 
sie  sinkt  in  tiefen  Schlaf.  Als  Attis  erwachte,  standen  vor  seinen  Augen 
die  Folgen  seiner  That,  ihn  ergreift  Sehnsucht  nach  dem  Vaterland,  nach 
dem  Elternhaus,  nach  der  Palästra;  er  vergleicht,  was  er  war  und  was  er 
jetzt  ist;  ihn  überkommt  tiefe  Reue.  Dies  hört  die  Göttermutter,  sie  löst 
einen  ihrer  Löwen  und  stachelt  ihn  auf  zu  wildem  Rasen.  Attis  flieht  in 
den  Hain  zurück,   er  bleibt  fürs  Leben  der  Gottheit  Diener.    Die  Kunst 


*)  ,In  der  Litterator  aller  Völker  gibt 
es  nichts,  was  so  sehr  gesunde  Sinnlichkeit, 
reines  Familienleben  und  harmlose  Festfreude 


atmet  als  dieses  Lied"  (ETSSBNHABnr  in  seiner 
Biogr.  B.  G.  Niebuhrs  p.  280). 


150     BOmische  LitteratnrgeBcbichie.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 

dieses  einem  alexandrinischen  Muster  nachgebildeten  Gedichts  ruht  nicht 
in  der  Schilderung  des  Vorgangs  —  hier  sind  sogar  Lücken  wahrnehmbar 
—  sondern  in  der  meisterhaften  psychologischen  Charakteristik.  Auch  die 
metrische  Technik  des  Dichters  ist  bewunderungswürdig,  es  war  ein  schwie- 
riges Mass,  der  versus  Galliambicus,  hier  zu  bewältigen.  Das  ausgedehnteste 
Gedicht  ist  das  64.,  die  Hochzeit  des  Peleus  und  der  Thetis,  ein  ganz  in 
alexandrinischer  Manier  gearbeitetes  Epyllion.  Der  anmutige  Dichter 
schildert,  wann  Peleus  in  Liebe  zur  Thetis  entbrannte,  und  führt  uns  dann 
zum  glänzenden  Hochzeitshaus,  wir  sehen  das  Brautbett  mit  einem  Teppich, 
in  den  die  Geschichte  des  Theseus  und  der  Ariadne  eingewoben  war.  Dies 
benützt  der  Dichter  zu  einer  Episode,  welche  die  Hälfte  des  Gedichts  ein- 
nimmt; aber  selbst  diese  Episode  schreitet  nicht  geradlinig  fort.  Erst  mit 
y.  265  wird  der  Faden  wieder  aufgenommen,  es  kommt  das  Hochzeitsmahl 
und  hier  singen  die  Parzen  das  Hochzeitslied,  in  dem  der  künftige  Sprosse 
verherrlicht  wird.  Mit  dem  Hinweis  auf  die  glückliche  Zeit,  in  der  die 
Götter  noch  mit  den  Menschen  verkehrten,  klingt  das  Gedicht  aus.  Trotz 
der  nicht  straffen  Komposition  ist  das  Epyllion  wundervoll  und  entzückt 
durch  eine  Reihe  kunstvoll  gearbeiteter  Einzelgemälde  von  verschiedener 
Farbe.  Während  wir  dieses  Epyllion  als  eine  selbständige  Dichtung,  wenn- 
gleich nach  alexandrinischem  Vorbild  zu  betrachten  haben,  liegt  uns  in 
Gedicht  66  die  Übersetzung  eines  Callimacheischen  Gedichtes  vor,  welche 
er,  um  seinen  Schmerz  über  den  Tod  seines  Bruders  zu  lindem,  auf  An- 
regung des  Redners  Hortensius  Ortalus  gemacht  und  ihm  in  dem  schönen 
Gedicht  65  zugesandt  hatte.  Dieses  Callimacheische  Gedicht  ist  die  Locke 
der  Berenike  {nXoxafiog  BeQsvUtfi),  die  erzählt,  wie  sie  Sternbild  geworden 
sei.  Die  Königin  Berenike  hatte  nämlich  für  den  Fall  der  glücklichen 
Rückkehr  ihres  Gemahls  aus  dem  Kriege  ihr  Haar  den  Göttern  gelobt. 
Als  dies  eingetreten  war,  wird  die  Locke  in  einem  Tempel  niedergelegt, 
dort  verschwindet  sie,  der  Astronom  Conen  entdeckt  sie  aber  als  Sternbild 
am  Himmel.  Trotz  der  ihr  widerfahrenen  Auszeichnung  sehnt  sich  doch 
die  Locke  nach  dem  Haupte  ihrer  Herrin  zurück.  Es  folgt  im  67.  Gedicht 
ein  Gespräch  mit  einer  Thür,  welche  von  schmutzigen  Geschichten  zu  be- 
richten weiss.  Das  letzte  der  von  uns  zu  behandelnden  Gedichte  (68)  ist 
eine  Elegie,  welche  der  Dichter  in  Verona  schrieb,  als  er  noch  sehr  von 
Kummer  über  den  Tod  seines  in  Troas  verstorbenen  Bruders  niedergedrückt 
war.  Sie  ist  an  M'.  Allius  gerichtet,  den  eben  auch  Unglück  in  der  Liebe 
getroffen  und  der  den  Dichter  bittet,  ihm  zum  Trost  Liebesgedichte  ^)  zu 
übersenden.  In  seiner  jetzigen  Stimmung  kann  der  Dichter  nur  ein  Loblied 
auf  M'.  Allius  geben,  indem  er  schildert,  wie  ihm  Allius  in  seiner  Liebe 
behilflich  gewesen.  Dies  gibt  ihm  Anlass,  in  anschaulichen  Bildern  seine 
Liebe  auszumalen  und  die  Geliebte  mit  der  Laodamia  zu  vergleichen.  Das 
Geschick,  das  dem  Gatten  derselben,  Protesilaus,  widerfahren,  bringt  ihn 
auf  Troja  und  damit  wiederum  auf  den  Tod  seines  Bruders;  er  kehrt  zu 
Laodamia  zurück  und  schildert  ihre  Liebe  durch  packende  Vergleiche. 
Dann  erinnert  er  sich  wieder  der  mit  Laodamia  verglichenen  Geliebten. 
Zum  Schluss  wendet  sich  der  Dichter  an  Allius  und  wünscht  ihm  alles 

*)  Ich  folge  in  der  Erklärung  M.  Haupt. 


C.  Valerins  CatuUas.  151 

Gute.  In  diesem  Gedicht  ist  besonders  die  zur  reichen  Anwendung  ge- 
kommene Kunst  der  alexandrinischen  Digressionen  beachtenswert.  Es  ist 
anmutig,  zu  sehen,  wie  den  Dichter  die  Welle  der  Grundstimmung  von 
einem  Gedanken  zu  andern  hinübergeleitet. 

Litteratnr:  Wbidbmbach,  de  Catuüo  Caüimachi  imitatore,  Leipz.  1873.  Bovnr, 
Untere,  über  das  62.  Ged.,  Bromb.  1885.  Fükst,  de  CattMi  carmine  62,  Melk  1887.  Ober 
das  68. 6ed.  handelt  Wilamowitz,  Die  Galliamben  des  Kallimachos  und  Catollus  (Hermes  14, 194 
bis  201).  Das  66.  Gedicht  besprechen  Couat,  La  Poisie  Alexandrine,  Paris  1882  p.  118; 
Vahlsn,  Über  ein  alex.  Gedicht  des  GatuUos  (Sitzanj|sber.  der  Berliner  Akademie  20.  Dez. 
1888  p.  1361  mit  einem  Nachtr.  31.  Jan.  1889  p.  47).  über  das  67.  Ged.  spricht  B.  Sgexidt  in 
seiner  Ausg.  p.  ^YII;  Dbachmank,  De  CatuUi  carmine  67  (Wochenschr.  f.  klaas.  Fhilol. 
5,  538).  Auf  die  Erklärung  des  68.  Gedichts  und  die  Frage,  ob  dasselbe  als  einheitliches 
zu  beti'achten  sei,  beziehen  sich  folgende  Abhandlungen:  Kiessliko,  Analecta  CataUianap 
Greifsw.  1877;  F.  Scholl,  Fleckeis.  J.  1880  p.  471;  M.  Schmidt  ebenda  p.  780.  Bahbbns, 
Die  Laodamiasage  und  Catullus'  68.  Ged.  (Fleckeis.  J.  115,  409);  Habitecksb,  Das  68.  Ge- 
dicht des  C,  Friedeberg  1881  (Beboeb  , Moritz  Haupt*^  p.  247  gibt  die  Haupt'sche  Erklftmng). 

105.  Catnlls  kleine  Gedichte.  Nugae  nennt  Gatull  seine  kleinen 
Gtedichte,  allein  durch  diese  nugae  ist  er  der  grösste  Ijrrische  Dichter  der 
Römer  geworden,  eine  eigenartige  Erscheinung  in  der  gesamten  römischen 
Litteratur.  Das  was  der  römischen  Lyrik  anhaftet,  das  Beflektierte  und 
Rhetorische  fehlt  diesen  kleinen  Gedichten  vollständig.  Sie  haben  nichts 
Gemachtes,  nichts  Erkünsteltes;  in  ihnen  gibt  uns  der  Dichter,  was  sein 
Herz  ergriffen  hat,  er  redet  darum  auch  zu  uns  in  der  einfachen  Sprache 
des  Herzens.  Überall  voll  der  tiefsten  Empfindung  weiss  er  auch  dem 
Leser  seine  Stimmung  mitzuteilen  und  ihn  mit  sich  fortzureissen.  Am 
meisten  ziehen  uns  die  Lesbialieder  an,  in  denen  uns  der  Dichter  sein 
Liebesglück  und  sein  Liebesleid  schildert.  Wenn  es  uns  jetzt  auch  nicht 
mehr  gelingen  will,  die  chronologische  Reihenfolge  jener  Perlen  der  Poesie 
herzustellen,  so  gewahren  wir  doch  deutlich  die  Entwicklungsphasen  dieser 
Herzensgeschichte.  Die  aufkeimende  Liebe  spricht  sich  in  dem  hohen 
Liede  51  aus,  das  einer  Ode  der  Sappho  nachgebildet  ist,  und  in  dem  Ge- 
dicht auf  den  Sperling  der  Geliebten  (3).  Der  volle  Jubel  des  Liebesglücks 
klingt  durch  die  Lieder  5  und  7,  in  denen  der  Dichter  der  Küsse  nicht 
satt  werden  kann.  Doch  ist  der  Seligkeit  keine  lange  Dauer;  dem  „ Himmel- 
hochjauchzend'^  folgt  nur  zu  bald  das  „Biszumtodebetrübt^ !  Dem  Dichter 
kommen  Zweifel  ob  der  Treue  der  Geliebten  an;  er  rafft  sich  zur  Entsagung 
auf,  in  dem  schönen  Gedicht  8  ruft  er  sich  zu,  was  verloren,  als  verloren 
anzusehen  und  festen  Sinnes  auszuhalten.  Allein  wer  wird  dem  Dichter 
Standhaftigkeit  genug  zutrauen?  Es  fand  eine  Versöhnung  zwischen  den 
Liebenden  statt,  Lesbia  bot  zuerst  die  Hand.  Der  Dichter  segnet  den  Tag 
und  ist  der  glücklichste  der  Sterblichen  (107).  Allein  auch  diesmal  sollte 
CatuU  nicht  lange  seiner  Liebe  froh  werden.  Es  wurde  ihm  zur  bitteren 
Wahrheit,  dass  Lesbia  seiner  Liebe  unwert  sei.  Lesbia,  ruft  er,  die  Lesbia, 
lyelche  CatuU  einst  so  heiss  geliebt,  ist  zur  Strassendime  geworden  (58). 
In  einem  wunderschönen  Gebet  fleht  er  zu  den  Göttern,  ihn  von  der  Krank- 
heit, die  ihn  bis  ins  innerste  Mark  getroffen,  zu  erlösen  (76).  und  sie 
erlösen  ihn;  voll  Resignation  erzählt  er  später,  dass  seine  Liebe  durch  ihre 
Schuld  dahinsank  wie  ein  Blümlein  am  Wiesensaum,  nachdem  es  die  Pflug- 
schar berührt. 

Ausser  den  Lesbialiedern  fesseln  sehr  durch  die  Innigkeit  des  Tones 


152    Römiflohe  LitteratnrgeBchiohte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 

die  Gedichte  auf  den  Tod  seines  Bruders.  Aber  auch  reizende  Freundes- 
lieder bietet  uns  das  Liederbuch,  wie  jenes,  welches  die  Liebe  des  Septi- 
mius  zur  Akme  so  traulich  schildert  (45),  und  das  an  Galvus  gerichtete  (50), 
aus  welchem  die  Liebe  zum  Freunde  so  hell  hervorleuchtet,  femer  liebliche 
Landschaftsbilder  wie  das  entzückende  Lied  auf  die  Halbinsel  Sirmio  (31), 
dann  Schilderungen  von  heiteren  Erlebnissen  wie  die  ergötzliche  Erzählung, 
wie  ihn  das  lose  Liebchen  des  Varus  aufsitzen  liess  (10),  und  die  lustige 
Anekdote  vom  kleinen  Galvus  (53).  Die  Kehrseite  zu  diesen  zarten  Ge- 
dichten bilden  die  Invektiven,  die  CatuU  gegen  seine  Feinde  und  Gegner 
richtet.  Da  ist  vor  allem  der  Machthaber  Cäsar  und  sein  Günstling  Ma- 
murra,  die  mit  unbändigem  Hass  verfolgt  werden,  da  ist  der  Bruder  des 
Asinius  PoUio,  Asinius  Marrucinus,  der  ihm  eine  Serviette  gestohlen,  da 
ist  der  Hungerleider  Aurelius  und  sein  Kamerad  Furius,  die  ihm  in  einer 
Liebesaffaire  mit  dem  schönen  Juventius  im  Weg  stehen.  Da  ist  Gellius, 
der  die  Lesbia  Uebt,  ihn  auch  in  Epigrammen  angegriffen,  und  noch  viele 
andere,  gegen  die  Catull  seine  giftigen  Pfeile  sendet.  Wir  staunen:  dort 
ein  Dichter,  der  die  süssesten  Töne  anzuschlagen  weiss,  hier  ein  Dichter, 
glühend  von  wildem  Hass,  dort  die  Leidenschaft  der  Liebe,  hier  die  Leiden- 
schaft des  Hasses.  Und  in  dieser  Leidenschaftlichkeit  zerreibt  sich  der 
Dichter,  wie  er  selbst  bekennt  (85): 

Odi  et  amo,     Quare  id  faciam,  fortaase  requiris  . 
nescio,  sed  fieri  serUio  et  excrucior. 

„In  einem  Distichon  ein  ganzes  Menschenleben,^  bemerkt  M.  Haupt. 

Litte  rat  ur  zu  den  kleinen  Gedichten :  Über  die  Lesbialieder  vgl.  zu  §  102.  Rettio, 
de  epigrammatis  in  Gellium  scriptis,  Bern  1881.  Habkegker,  Des  Gatullus  Juventiuslieder 
(Fleckeis.  J.  133,  278).  Über  das  an  Cicero  gerichtete  Gedicht  4.9  vgl.  Harnbckeb,  Cicero 
und  CatuUus  (Philol.  41,465),  wo  die  übrige  Litteratur  verzeichnet  ist.  Ablt,  Catulls  86.  Ged., 
Wohlan  1888.  Habnbckeb,  Zum  36.  Ged.  (Bayr.  Gymnasialbl.  21,  556).  Textbeb,  Fleckeis.  J. 
187,  777. 

Allgemeine  Litteratur  zur  Würdigung  Catulls:  Ribbeck,  C.  Yalerius  Catullus, 
eine  litterarhistorische  Skizze,  Kiel  1868.  Couat,  Aude  sur  CatüUuSf  Paris  1875.  Nett- 
IiBship,  Catullus  in  Fortnightly  Review,  Mai  1878  und  in  dessen  Lectures  and  Essays, 
Oxf.  1885. 

106.  Fortleben  Catulls.  Das  Fortleben  Catulls  zeigt  sich  am  ein- 
dringlichsten in  den  Spuren,  welche  er  bei  den  späteren  Dichtern  zurück- 
gelassen hat.  Vergil,  Properz,  Ovid  zeigen  vielfach  Anklänge  an  Catull, 
so  dass  man  sieht,  dass  er  ein  viel  gelesener  Autor  war.  Unter  den  nach- 
folgenden Dichtern  fühlt  sich  besonders  Martialis  zu  Catull  hingezogen. 
Aus  den  Briefen  des  jüngeren  Plinius  erkennen  wir,  dass  der  Dichter  auch 
damals  in  den  Herzen  der  Gebildeten  lebte.  Die  Gelehrten  in  der  Zeit 
der  Antoninen  lasen  ebenfalls  eifrig  den  Dichter,  wie  dies  aus  Gellius  er- 
hellt. Von  da  an  werden  die  Spuren  Catulls  seltner;  im  Mittelalter  Ver- 
lieren sie  sich.  Eine  genauere  Kunde  des  Dichters  bringt  uns  das  Jahr 
965.  Damals  las  der  Bischof  Rather  von  Verona  den  Catull,  offenbar 
nach  einer  eben  in  Verona  aufgefundenen  Handschrift.  Dann  aber  ver- 
schwand wiederum  Catull,  bis  er  im  Anfang  des  XIV.  Jahrh.  (vor  1330) 
zum  zweitenmal  in  Verona  zum  Vorschein  kam.  Dieses  Wiederauferstehen 
des  Dichters  von  den  Toten  wird  in  einem  dunklen  Epigramm  des  Ben- 
venuto  de  Campesanis  aus  Vicenza  gefeiert.    Wir  dürfen  vermuten,   dass 


C.  HelTioB  Ciima  und  andere  Dichter,  153 

dieser  aufgefundene  Kodex  derselbe  war,  den  Rather  in  Händen  gehabt 
hatte.  Jetzt  werden  Abschriften  von  dem  Kodex  genommen,  Gatull  war 
damit  der  gebildeten  Welt  erhalten.  Ausser  diesem  Veroneser  Kodex, 
dessen  Spuren  wir  zum  letztenmal  1456  verfolgen  können,  haben  wir  noch 
eine  zweite  Quelle  der  Überlieferung,  aber  dieselbe  fliesst  nur  für  ein 
einziges  Gedicht,  nämlich  62.  Es  ist  dies  eine  Anthologie  lateinischer 
Gedichte,  welche  etwa  im  YIII.  Jahrh.  gemacht  wurde. 

Für  das  Fortleben  des  Dichters  vgl.  den  Index  der  Stellen,  wo  Catall  oder  Verse 
von  ihm  erwähnt  sind,  in  Schwabbs  Ausg.,  Berl.  1886.  Daittsz,  De  seriptorum  rom.  stud, 
CatuU,,  Breslau  1876.  Pauckstadt,  De  MartiaU  Catuüi  imitatore,  Halle  1876  (womit  zu 
vergl.  die  Martiiüausgabe  Fbiedlähbbbs).  Süss  in  den  Gatulliana  (Nachklänge  Catollischer 
Poesie)  in  den  Acta  seminarii  philol.  Erlangensis  1  (1878)  p.  6.  Zikobbls,  Ovid  nnd  sein 
Verhältnis  zu  den  Vorgängern  und  gleichzeitigen  rOm.  Dichtem  1.  Heft  (1869)  Ovid,  GatuU, 
Tibull,  Properz.  Vgl.  die  zusammenfassende  Übersicht  der  Nachahmer  von  Magkus  in 
Bun.  Jahresb.  E.  Abt.  51  Bd.  (1887)  p.  289. 

Überlieferung.  Da  alle  GatuUhandschriften  direkt  oder  indirekt  auf  den  Veronensis 
zurückgehen,  so  ist  die  Aufgabe  der  Becensio  klar  vorgezeichnet:  , Wiederherstellung 
des  verlorenen  Codex  Veronensis.*  Führer  sind  hiebei  der  Codex  Sangermanensis 
in  Paris  (G),  1375  in  Verona  geschrieben  und  der  gleichalte  oder  nicht  viel  jüngere  Oxo- 
niensis  (0).  Ein  drittes  apographan  aus  der  Schar  der  übrigen  aus  dem  15.  Ji^hundert 
stammenden  Handschriften  zu  konstruieren,  ist  wegen  der  Interpolationen,  welche  dieselben 
erfahren,  mit  fast  unübersteiglichen  Schwierigkeiten  verknüpft;  wir  können  daher  diese 
Quelle  nur  mit  der  grüssten  Vorsicht  benützen.  Für  das  Gedicht  62  ist  dagegen  noch  eine 
von  dem  Veronensis  unabhängige,  aber  mit  ihm  auf  denselben  Ursprung  zurückgehende 
Handschrift,  der  Thuaneus  (T)  in  Paris  aus  dem  Ende  des  IX.  Jahrh.  vorhanden.  Stdow, 
de  recensendis  CkstuUi  carminibus,  Berl.  1881. 

Ausgaben:  Erste  epochemachende  Ausg.  von  Laohxakit,  Berl.  1829.  Catnll.  Tibull. 
Propert.  rec.  M.  Haupt,  Leipz.  1853  (1861,  1868,  die  Ausg.  1879  und  1885  sind  von  Vahueh 
besorgt).  Wertvoll  die  Abhandlungen  Haupts  über  Catull  Opusc.  I.  Rossbagh  1854  (1860). 
L.  Mülles  (mit  Tibull  u.  Propert.  u.  a.),  Leipz.  1870  (1874).  Schwabe,  Giessen  1866  (mit 
ausführlichen  Prolegomena).  Ellis,  Oxf.  1867  (1878).  A  CommetUary  an  C^uZ/tw.  Oxf.  1876. 
BIhbeks,  Leipz.  1876  (mit  grundlegendem  Apparat,  aber  durch  willkürliche  Konjekturen 
sehr  entstellt;  hiezu  ein  latein.  Kommentar,  Leipz.  1885).  Schwabs,  Berl.  1886.  B.  Schhidt, 
Leipz.  1887  (auf  Grundlage  der  Haupt'schen  Ausgabe  d.  J.  1868).  Riese,  Leipz.  1884  (mit 
deutschem  Kommentar).  Th.  Hstsb  1855  (Text  und  gelungene  deutsche  Nachbildung  im 
Originalversmass). 

(f)  C.  Helvius  Cinna  und  die  übrigen  Dichter  der  Schule. 

107.  Gixmas  Smyma  und  Propempticon.  Auch  G.  Helvius  Ginna 
stammte,  wie  es  scheint,  aus  Oberitalien;  denn  er  erwähnt  dortige  Gegenden 
in  seinen  Gedichten  (fr.  1  und  13  B.).  Mit  Catull  war  er  in  Bithynien 
(Cat.  10, 29);i)  er  brachte  von  dort  ein  Exemplar  des  Aratos  mit,  das  er 
einem  Freunde  mit  zwei  Distichen  übersandte  (fr.  11).  Das  Hauptwerk 
des  Cinna  ist  die  Smyrna,  ein  Gedicht,  an  dem  er,  obwohl  es  massigen 
Umfangs  war,  neun  Jahre  arbeitete  (CatuU.  95).  Der  Stoff  ist  alexandri- 
nisch.  Das  Gedicht  behandelt  nämlich  die  unnatürliche  Liebe  der  Smjrma 
zu  ihrem  Vater  und  die  Frucht  dieser  Liebe,  den  Adonis.  Die  neunjährige 
Arbeit  bei  einem  verhältnismässig  kleinen  Gedicht  ist  nur  erklärlich,  wenn 
auf  die  Technik  und  die  Feile  nach  alexandrinischer  Manier  ein  übergrosses 
Gewicht  gelegt  wurde.  Als  sein  zweites  Werk  wird  genannt  ein  Geleits- 
gedicht (Propempticon)  für  Asinius  Pollio,  als  dieser  eine  Reise  nach 
Griechenland  antrat.  Beide  Gedichte  waren  so  dunkel,  dass  sie  kommentiert 
werden  mussten.  Zur  Smyrna  schrieb  in  der  Zeit  des  Augustus  L.  Crassicius 
aus  Tarent  einen  Eommentaf,  über  den  ein  spöttisches  Epigramm  in  Um- 

')  Haupt,  Op.  1,72. 


154    Römische  Littoratargesohichte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


lauf  war  (Suet.  gr.  18);  das  Propempticon  kommentierte  Hyginus  (Charis. 
p.  134  K.)  Wie  es  scheint,  war  der  Meister,  dem  Cinna  in  diesen  beiden 
Gedichten  nacheiferte,  Parthenius  von  Nicaea.  Auch  dieser  hatte  ein  Pro- 
pempticon^) gedichtet,  ferner  über  den  Mythos  der  Smyma  gehandelt.') 
Ja  noch  mehr;  auch  persönliche  Beziehungen  bestanden  allem  Anschein 
nach  zwischen  beiden  Dichtem.  Wie  wir  bereits  §  97  bemerkten,  ist  es 
wahrscheinlich,  dass  der  Cinna,  in  dessen  Hände  Parthenius  nach  Eroberung 
von  Nicaea  kam,  der  Vater  unseres  Dichters  ist.  Ausser  diesen  beiden 
Hauptgedichten  schrieb  er  noch  erotische  Gedichte  {illepida  bei  Gell.  19, 9, 7), 
Choliamben  (fr.  2)  und  Epigramme  (fr.  11),  deren  wir  eines  eben  kurz  be- 
zeichneten. 

Vergil  klagt  Ecl.  9, 35  neque  adhuc  Vario  videor  nee  dicere  Cinna  digna;  es  scheint 
daher,  dass  wie  Yarias  so  Cinna  damals  (40  v.  Ch.)  noch  am  Leben  war.  Ist  dies  richtig, 
so  kann  die  Notiz  Plutarchs  Brut.  20,  dass  der  „noiijunog  dvrJQ*'  Cinna  bei  Cäaars  Leichen- 
feier umkam,  nicht  richtig  sein.  Eiessluto,  de  Helvio  Cinna  poHa  in  den  Commentationes 
Momms.  p.  351 — 355. 

106.  Die  Übrigen  Dichter  des  Kreises.  Zu  der  jungrömischen 
Dichterschule  müssen  wir  noch  folgende  Poeten  zählen: 

1.  G.  Memmius,  den  bekannten  Statthalter  von  Bithynien  57  v.  Ch. 
Schon  der  Umstand,  dass  der  Prätor  die  jungen  Dichter  Helvius  Cinna  und 
CatuU  seiner  Kohorte  einreihte,  zeigt,  dass  ihm  die  Richtung  der  neuen 
Schule  sympathisch  war.  Cicero  schildert  ihn  als  enthusiastischen  Verehrer 
der  griechischen  Litteratur  (Brut.  70,247);  aber  er  war  auch  Dichter;  nach 
Ovid.  Trist.  2, 433  schrieb  er  erotische  Gedichte,  von  denen  uns  ein  Vers 
erhalten  ist  (p.  326  B.). 

2.  Ticida s.  Ein  Lob  auf  die  Lydia  des  Valerius  Cato  zeigt  uns 
die  Schule,  der  er  angehört.  Er  war  Erotiker;  seine  Geliebte  war  Metella, 
die  er  unter  dem  Namen  PeiiUa  feierte  (Apul.  apol.  10).  Ausser  dem 
lobenden  Pentameter  auf  die  Lydia  haben  wir  noch  ein  glykoneisches 
Fragment  aus  einem  Hymenaeus  (p.  325  B.). 

3.  Q.  Cornificius.  An  Cornificius  ist  das  Gedicht  38  CatuUs  ge- 
richtet, in  dem  derselbe  um  etwas  Trost  (maestius  lacrimis  Simonid^is) 
gebeten  wird.  Ist  schon  daraus  auf  einen  Dichter  zu  schliessen,  so  wird 
dies  noch  durch  andere  Zeugnisse  bestätigt.  Ovid  führt  ihn  an  der  be- 
kannten Stelle  Trist.  2, 436  unter  den  Erotikern  auf.  Auch  Hieronymus 
nennt  ihn  einen  Dichter,  wie  seine  Schwester  Cornificia,  von  der  es  aus- 
gezeichnete Epigramme  gab.  Dieses  Zeugnis  berichtet  ferner,  dass  Corni- 
ficius, von  seinen  Soldaten,  die  er  „behelmte  Hasen''  nannte,  verlassen,  im 
J.  41  fiel.  Dies  kann  nur  in  Afrika  gewesen  sein,  welche  Provinz  er  vom 
Senat  nach  Cäsars  Tod  erhielt  und  welche  er  nach  Errichtung  des  Trium- 
virats nicht  an  Octavian  abtreten  wollte.  8)  Nur  zwei  Fragmente  sind  von 
seinen  Gedichten  erhalten,  eines  aus  einem  Epyllion  Glaukos  und  ein 
Hendekasyllabus  (325  B.).  Als  Redner  werden  wir  später  Cornificius  kennen 
lernen;  wie  als  Dichter,  so  ist  er  auch  als  Redner  Anhänger  der  jung- 
attischen Richtung. 


^)  MEnfEKE,  Anal.  Alex.  p.  272. 
>)  MsiKEXB  1.  c.  p.  279. 


')  Dbumann,  Gr«8ch.  Roms  2, 619. 


P.  TerentiuB  Varro.  155 

Hieronym.  zum  J.  41  (2,  139  Seh.)  Cornificius  poeta  a  milUibus  dtaertus  interik,  quaa 
saepe  fugientes  qaleatos  lepores  appeUarat.  Huius  aoror  Carnificia,  cuius  inaignia  extant 
tpigrammata.  Von  einem  Cornificius  wird  noch  ein  etymologisches  Werk  über  die  Götter- 
namen (de  etymis  deorum  Prise.  1, 257  H.;  das  dritte  Buch  citiert  Macrob.  1,  9, 11)  angeführt; 
in  demselben  war  Cioeros  de  natura  deorum  (44  vollendet)  berücksichtigt.  Es  ist  nicht 
wahrscheinlich,  dass  dieses  Werk  von  unserem  Dichter  stammt.  Für  solche  Dinge  hatte 
wohl  Cornificius  damals  am  wenigsten  Müsse.  Bebgk,  De  Cornificio  poeta  Opusc.  1, 545 
teilt  auch  diese  Schrift  dem  Dichter  Cornificius  zu  und  erblickt  in  demselben  auch  den 
obirectator  Vergiln  (darüber  werden  wir  genauer  unter  Vergil  handeln). 

4.  Cornelius  Nepos.  Erotische  Gedichte  von  ihm  erwähnt  Plin. 
ep.  5, 3,  6.  Das  schöne  Widmungsgedicht,  nach  dem  er  den  „nugae**  GatuUs 
hohen  Wert  beimass,  wird  uns  den  Schluss  gestatten,  dass  er  auch  in 
seinen  Kleinigkeiten  dem  von  ihm  bewunderten  Gatull  nacheiferte. 

Einen  Dichter  des  Kreises,  Caecilius  aus  Novum  Comum,  nennt  Catull  im  Gedicht  35; 
derselbe  hatte  ein  Epyllion  auf  Cybele  angefangen,  ob  dasselbe  vollendet  wurde,  wissen  wir 
nicht.  Vielleicht  dürfen  wir  auch,  obwohl  hier  ein  äusseres  Zeugnis  fehlt,  Q.  MuciusScae- 
vola  hieher  stellen,  den  Freund  Q.  Ciceros,  mit  dem  er  59  in  Asien  war.  £s  ist  uns  ein 
Enigramm  auf  Ciceros  Gedicht  »Marius*^  erhalten,  femer  ein  griechisches  Epigramm  in  der 
Pfftlzer  Anthologie  9, 217  «auf  ein  Kunstwerk,  das  eine  Bildsame  des  Fan  zwisdien  mutwillig 
kämpfenden  Ziegen  abbildete  **.  Epigramme  auf  Schüpfnngen  der^Kunst  und  litteratnr  waren 
nänuich  bei  den  Alexandrinern  beliebt.    Vgl.  Haupt  Op.  1,211. 

Gar  nicht  näher  bekannt  ist  L.  Julius  Calidus,  quempost  Lucretü  CatuUique  mortem 
multo  elegantisaimum  poetam  nostram  tuliese  aetatem  vere  tideor  poeae  contendere  neque 
minus  vtrum  honum  optimisque  artibus  eruditum.  Ihm  leistete  Atücus  einen  grossen  Dienst, 
indem  er  ihn  post  proscripiionem  equitum  propter  magnas  eius  Africanas  poseeseionea  in 
proecriptorum  numerum  a  P.  Volumnio,  praefecto  fabrum  Antonii,  absentem  relatum  expe- 
divU  (Com.  Nep.  25, 12, 4). 

6.  P.  Terentius  Varro. 

109.  Yerbindnng  der  nationalen  nnd  alezandrinischen  Bichtang. 

P.  Terentius  Varro,  geb.  82,  stammt  aus  Atax  im  narbonensischen  Gallien. 
In  diesem  Dichter  finden  wir  die  nationale  und  alexandrinische  Richtung 
vereinigt.  Die  nationale  Richtung  fand  ihren  Ausdruck  in  einem  Epos  über 
den  Eoieg  Gäsars  gegen  die  Sequaner,  in  dem  bellum  Sequankum,  aus  dem 
uns  Priscian  1,  497  H.  einen  einzigen  Hexameter  mitgeteilt  hat,  dann  in 
Satiren,  die  wir  nur  aus  Horaz  kennen,  der  in  den  Satiren  1,  10,  46  über 
sie  ein  ungünstiges  Urteil  fällt.  Alexandrinische  Studien,  wenngleich  andere 
als  die  von  Catull  und  Genossen  gepflegten,  dagegen  bekunden  die  Argo- 
nauten, eine  Bearbeitung  des  gleichnamigen  Gedichts  des  ApoUonios,  mit 
dem  Beinamen  des  Rhodiers,  welches  das  begeisterte  Lob  Ovids  (Am.  1,15, 28) 
eintet,  dann  ein  geographisches  Gedicht,  eine  Chorographie,  wahrschein- 
lich nach  Alexander  von  Ephesos,  endlich  eine  Witterungskunde  (Ephemeris) 
nach  Aratos.  Diese  drei  Gedichte  waren  in  Hexametern  abgefasst.  End- 
lich schrieb  er  auch  Elegien,  von  denen  uns  lediglich  Propertius  3,  34,  85 
und  Ovid  Trist.  2,  439  berichten,  der  erste  Autor  nennt  auch  die  Geliebte 
Varros,  Leucadia.  Es  fragt  sich,  ob  Varro  diesen  beiden  Richtungen  zu 
gleicher  Zeit  folgte  oder  ob  sich  dieselben  zeitlich  ablösten.  Da  Hieronymus 
erzählt,  dass  Varro  im  Alter  von  35  Jahren  sich  mit  dem  grössten  Eifer 
auf  die  griechische  Litteratur  geworfen,  da  femer  Propertius  an  der  ange- 
gebenen Stelle  die  Mitteilung  macht,  dass  Varro  nach  Vollendung  der 
Argonautica  Elegien  geschrieben,  so  sind  wir  gezwungen,  die  alexandrini- 
schen  Dichtungen  in  die  spätere  Lebenszeit  des  Dichters  zu  rücken.    Nach 


156    BOmische  Litteratargeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

den  erhaltenen  Fragmenten  müssen  wir  die  Darstellungskunst  Varros  hoch 
stellen;  vergleicht  man  z.  B.  das  bekannte  Fragment  der  Argonauten,  das 
die  Ruhe  der  Nacht  schildert,  mit  dem  Original  des  Apoll.  3,  749: 

ov  dk  xvytay  vXaxrj  st    ayd  nroXiv,  ov  ^goog  rjev 

iJXV^^^  '  ^^yV  ^^  f^eXaivofjiiyfjy  B^fy  oQq^yrjy 

desieratU  latrare  canes  urbesque  süehant: 

omnia  noctis  erant,  placida  composta  quiete,  | 

SO  wird  man  der  Nachbildung  den  Vorzug  einräumen  müssen.  ! 

Hieronym.  2,  133  Seh.  zu  82  v.  Ch.  P.  Terentiua  Varro  vico  Ätace  in  provincia 
Narbanensi  nascitur  .  qui  postea  XXXV .  annum  agens  graecas  litteras  cum  summo  studio 
didiciU  Prop.  3, 34,  85  haec  quoque  perfecto  ludebat  Jasons  Varro,  Varro  Leucadias  maxima 
flamma  suae.  Vgl.  Ovid.  Trist.  2,  439.  —  Wüllnbb,  De  P.  21  V,  pita  et  scriptis,  Münster 
1829.    Die  Fragmente  bei  Riebe,  Varr,  sat.  Menipp.  p.  261;  bei  BIhbenb  p.  332. 

7.   Die  übrigen  Dichter. 

110.  Annalen  nnd  Lehrgedichte.  Ausser  den  epischen  Oedichten 
der  Ciceronischen  Brüder,  die  wir  geeigneten  Orts  besprechen  wollen,  sind 
noch  die  Annalen  des  Yolusius  zu  verzeichnen.  Dieser  Dichter  ist  uns  nur 
durch  Catull  bekannt,  der  seiner  in  zwei  Gedichten  in  nicht  erfreulicher 
Weise  gedenkt;  im  Gedicht  36  werden  die  „Annales  Volusi,  caeata  charta** 
dem  Feuer  geweiht  als  scripta  pessimi  poetae;  im  Gedicht  95  heisst  es: 

At  Volusi  annales  Paduam  morientur  ad  ipsam 
et  Jaxas  scombris  saepe  dabunt  tunicas. 

Aus  diesen  Versen  wird  man  auf  Padua  als  Heimat  des  Dichters  schliessen 
müssen.^) 

Lehrgedichte  treten  uns  zwei  entgegen,  eine  Darstellung  der  Lehre 
des  Empedokles,  das  einem  Sallust  beigelegt  wird.  Wer  dieser  Sallust 
war,  ob  der  Historiker  oder  Cn.  Sallust,  der  in  Ciceronischen  Briefen  vor- 
kommt, lässt  sich  nicht  entscheiden.  Über  dieses  Gedicht  fällt  Cicero  in 
der  bekannten  Stelle,  in  der  von  Lucretius  gesprochen  wird  (ad.  Q.  fr.  2,  9) 
ein  höchst  ungünstiges  Urteil;  es  seien  starke  Manneskräfte,  heisst  es, 
nötig,  um  es  durchlesen  zu  können.  Das  andere  Lehrgedicht  mit  dem  Titel 
de  verum  natura  wird  einem  Egnatius  von  Macrobius  6,  5,  2  zugeschrieben. 
Zwei  Fragmente  sind  uns  daraus  überliefert,  von  denen  das  zweite  den 
hereinbrechenden  Morgen  nicht  übel  schildert  (1.  c.  6,  5,  12) : 

roscida  noctivagis  astris  labentibus  Fhoebe 
puJsa  loco  cessit  concedens  lucibus  fratris. 

Vielleicht  ist  dieser  Egnatius,  wie  zuerst  B£rgk  Opusc.  1,  430  veimutet 
hat,  mit  dem  Kelten  Egnatius  identisch,  den  uns  Catull  39  als  einen  ewig 
lachenden  und  seine  weissen  Zähne  zeigenden  Menschen  schildert.  Da 
Lucretius  sich  rühmt,  zuerst  die  Bahn  auf  diesem  Gebiet  gebrochen  zu 
haben,  so  werden  wir  dieses  Gedicht  als  eine  Nachahmung  des  Lucretiani- 
schen  Werks  zu  betrachten  haben. 

Über  die  versuchte  Identifizierung  des  Yolusius  mit  Tanusius  Geminus  werden  wir 
bei  letzterem  handeln.  —  A.  Schöne,  Die  Empedoklea  des  Sallustius  in  Fleckeis.  J.  93,751. 
—  Über  Egnatius  vgl.  Bähsens,  Analect.-Cakill.  p.  45,  Kommentar  zu  Catull  p.  219. 

111.  Satiren.  Von  dichterischer  Thätigkeit  auf  dem  Gebiet  der  Satire 
ist  in  unserer  Periode  mehrfach  die  Rede.    Wir  hören,   dass  der  Gram- 

^)  Vgl.  B.  Schmidt,  Gr.  Ausg.  p.  XLIII.    Anders  BXhbeks  Kommentar  p.  579. 


Q.  Claudius  Qnadrigarins. 


157 


matiker  SeviusNicanor  eine  Satire  schrieb,  in  der  er  über  seine  Lebens- 
verhältnisse berichtete  (Suet .  gr.  5) .  Der  Freigelassene  des  Pompeius  L  e  n  a  e  u  s 
richtete  eine  Satire  gegen  Sallust  wegen  der  auf  seinen  Herrn  gemachten 
Angriffe  (Snet.  gr.  15).  Die  Indignatio  des  Valerius  Cato  kann  ebenfalls 
eine  Satire  gewesen  sein.  Auch  von  Varro  aus  Atax  haben  wir  Satiren 
kennen  gelernt.  Es  erübrigt  noch,  auf  L.  Abuccius  hinzuweisen,  dessen 
libelli  Lucilianischer  Charakter  beigelegt  wird.  Doch  scheinen  alle  diese 
Arbeiten  keinen  dauernden  Eindruck  hinterlassen  zu  haben.  Dagegen  war, 
wie  es  scheint,  von  tiefeinschneidender  Wirkung  eine  neue  Gattung  von 
Satiren,  die  Menippeische  Satura  des  Re atiners  Varro.  Über  diese  werden 
wir,  wenn  wir  zu  Varro  kommen,  eingehend  handeln. 

Über  L.  Abuccius  liegt  das  Zeugnis  Varros  vor  (de  r.  r.  3, 2, 17):  L,  Abitccius,  homo 
adprime  doetus,  cuiua  Lueiliano  charaetere  sunt  libeUi,  vgl.  noch  3,  6,  6.  Zweifelhaft  ist, 
ob  Fronto  p.  113  N.  g[uis  ignarat  ut  graeÜia  sit  Lueilius,  Albuciu8  aridus,  stiblimis  Lucretius, 
mediocris  Pacuvius,  inaequalis  Aecitts,  Ennius  multiformia?  zu  lesen  sei  Abuccius  oder  ob 
T.  AlbuciuB,  der  in  den  Satiren  des  Lucilius  vorkam  und  den  als  Graecomanen  Cicero 
Brut.  35, 131  auch  in  seinen  Reden  erkennt,  gemeint  ist,  ygl.  Hebtz,  Fleckeis.  J.  107,  338. 


Im  Anhang  seien  noch  zwei  Dichter  aufgeführt:  1)  Quintipor  Claudius.  Von  ihm 
sagt  Varro  sat.  Menipp.  nr.  59  Buech.  „cum  Quintipor  Clodiua  tot  comoedias  sine  ulla  fecerit 
muaa,  ego  unum  libeUum  non  edolem.  ut  alt  Enniua.  Vgl.  Nonius  1,  165  Müller.  2)  Vo- 
lum nius.  BücHELSB  weist  einen  Bfendekasyllabus  eines  Volumnius  bei  Keil  gr.  5,  574,  1 
nach  und  denkt  bei  diesem  Volumnius  an  V.  Eutrapelus  (Cic.  ad.  fam.  7, 32  7, 33).  Bahbbns 
rechnet  ihn  p.  326  zu  der  jungrömischen  Schule. 


b)  Die  Prosa. 

a)   Die  'Historiker. 

1.    Q.  Claudius  Quadrigarius,  Valerius  Antias,   Licinius  Macer, 

Q.  Aelius  Tubero  und  andere. 

112.  Die  allgemeinen  Stadtclironiken«  Die  Historiographie  schleppt 
auch  in  dieser  Zeit  noch  die  Stadtchronik  mit  fort,  d.  h.  sie  beginnt  mit 
den  ältesten  Zeiten,  in  der  Regel  mit  Erbauung  der  Stadt.  Aber  man 
suchte  jetzt,  da  das  Geschichtswerk  zugleich  eine  unterhaltende  Lektüre 
sein  sollte,  die  überlieferten  dürren  Notizen  rhetorisch  auszuschmücken. 
Das  Material  lieferten  zumeist  griechische  Schriftsteller.^) 

1.  Q.  Claudius  Quadrigarius.  Einen  Zeitgenossen  Sisennas  nennt 
ihn  Velleius;  sonst  ist  über  seine  Person  nichts  bekannt.  Von  seinen 
Annalen  werden  23  Bücher  citiert.  Eine  bemerkenswerte  Eigentümlichkeit 
zeigt  dieses  Werk,  es  beginnt  erst  mit  der  gallischen  Katastrophe; 
im  5.  Buch  kam  die  Schlacht  bei  Cannä  vor  (53),  im  13.  Buch  berichtete 
Claudius  über  Q.  Metellus  Numidicus  (76),  im  19.  Buch  war  von  dem  Kampf 
Sullas  gegen  Archelaus  und  von  dem  siebenten  Konsulat  des  Marius  die 
Rede  (81.  82).  Höchst  wahrscheinlich  waren  die  Ereignisse  bis  zum  Tode 
Sullas  geführt.  Die  Fragmente  hat  uns  grösstenteils  Gellius  erhalten.  Zum 
Olück  teilt  er  auch  längere  Auszüge  mit,  so  dass  wir  über  des  Claudius 
Stil  uns  eine  bestimmte  Vorstellung  machen  können.    Wir  können  den* 


1)  Vgl.  E.  Zarrcke,  Der  Einfluss  der 
griechischen  Litteratur  auf  die  Entwicklung 


der  römischen  Prosa  in  den  Comm.  Rihheck. 
p.  269. 


158    BOmische  tiitteratnrgeBchielite.    t.  IM«  2eit  der  ftepublik.    2.  Periode. 


selben  den  zerschnittenen  nennen,  da  die  Darstellung  auf  kunstvolle  Perio- 
disierung  verzichtend  sich  in  meist  unverbundenen  Sätzen  rasch  vorwärts 
bewegt.  Interessant  ist  ein  in  das  Werk  eingelegter  Brief  der  Konsuln 
an  den  König  Pyrrhus  (41).  Da  sich  in  demselben  ganz  der  claudianische 
Stil  zeigt,  so  haben  wir  ihn  als  ein  Kunstmittel  der  Geschichtschreibung 
zu  betrachten,  welches  für  die  alte  Historiographie  charakteristisch  ist. 

Velleitts  2, 9, 4  vetustior  Sisenna  fuit  C<ieliu8,  aequalia  Sisenncie  Rittiliua  Claudiusque 
Quadrigariua  et  VaUrius  AtUias.  Livius  benutzt  den  Claudius  vom  6.  Buch  an;  er  citiert 
ihn  an  10  SteUen  6, 42  8,19  9,5  10,37  33,10;  30;  36  38,23;  41  44, 15  (wozu  noch  einige 
Stellen  aus  Orosius  kommen);  ausserdem  spricht  Livius  an  2  Stellen  25,  89,  35, 6  (vgl.  §  64,  5) 
von  Claudius  als  Übersetzer  und  Benutzer  der  Acilianischen  Annalen.  Man  hat  hier  einen 
andern  Claudius  finden  wollen  als  den  an  den  10  Stellen  genannten,  z.  B.  Sigonius,  andere 
wie  GiESEBBECHT,  MoMMSEN  haben  —  und  dies  ist  das  Richtige  —  sich  fOr  denselben 
Claudius  an  allen  Stellen  ausgesprochen.  Dass  aber  dann  dieser  Claudius  identisch  mit 
dem  von  andern  Schriftstellern  genannten  Claudius  Quadrigarius  ist,  hat  mit  Unrecht 
Nissen,  Erit.  Unters,  p.  40  geleugnet.  Vgl.  MoiatSEK,  R.  Forsch.  2, 426, 27.  Es  fragt  sich 
nun  weiter,  wie  das  an  den  10  Stellen  aufgeführte  und  das  an  den  2  Stellen  mit  Acilius 
in  Verbindung  gebrachte  Werk  sich  zu  einander  verhalten.  Zwei  Schriften  des  Q.  Claudius 
Quadrigarius  mit  Ukgbb,  Phil.  Suppl.  8, 3  anzunehmen,  ein  selbständiges  Werk  und  eine 
Übersetzung  des  Acilius  ist  bedenklich;  vgl.  Mommsen,  R.  Forsch.  2,427  Anm.  Ebenso  be- 
denklich ist  es,  was  neuerdings  Peteb  gethan  Fleckeis.  J.  1882  p.  103,  im  Anschluss  an 
Thoubet,  Fleckeis.  J.  Suppl.  11, 156  die  Behauptung  aufzustellen,  dass  nur  ein  selbständiges 
Werk,  keine  Übersetzung  des  Acilius  dem  Claudius  beizulegen  ist,  dass  in  diesem  Werk  die 
Annalen  des  Acilius  als  Quelle  benützt  und  an  jenen  zwei  Stellen  namentlich  erwähnt 
waren.  Die  wahrscheinlichste  Lösung  der  Schwierigkeit  besteht  nach  Moxmsen  in  der  An- 
nahme, dass  Claudius  die  alten  Zeiten  im  Anschluss  an  Acilius  bearbeitete,  wobei  er  aber 
die  Partie  bis  zur  gallischen  Katastrophe  wegliess,  und  dann  denselben  weiterführte. 

Noch  eine  Schwierigkeit  ist  mit  Claudius  verknüpft.  Plntarch  spricht  Num.  1  von 
einem  gewissen  Clodius,  der  in  einem  eXeyx^  /^öi^oii^  behauptet  habe,  dass  die  alten  Stamm- 
bäume in  der  gallischen  Katastrophe  zu  Qrund  gegangen  seien.  Niebuhb  hält  diese  Schrift 
für  identisch  mit  den  Annalen  (R.  G.  2, 3),  Unoeb  erklärt  sie  für  ein  drittes  Werk  des 
Claudius  Quadrigarius.  Richtig  bezieht  sie  Peteb  auf  einen  von  Appian  I  p.  46  Mendels, 
oitierten  Paulus  Claudius.  —  Giesebbecht,  Q.  Claudius  Quadrigarius,  Prenzlan  1831. 

2.  Valerius  Antias.  Ein  sehr  umfangreiches  Werk  war  die  Ge- 
schichte des  Valerius  Antias,  der  ebenfalls  ein  Zeitgenosse  Sisennas  war; 
es  wird  das  75.  Buch  citiert.  Sie  begann  mit  den  ältesten  Zeiten  und 
reichte  mindestens  (64)  bis  zum  Jahr  91.  Wie  ausführlich  die  alte  Zeit 
behandelt  war,  ersieht  man  daraus,  dass  erst  im  2.  Buch  Numa  behandelt 
war  (5  und  6),  Valerius  wurde  benutzt  von  Dionysius,  von  Plutarch,  wohl 
am  meisten  aber  von  Livius;  denn  von  allen  Autoren  citiert  ihn  Livius 
am  häufigsten,  nämlich  an  35  Stellen.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass 
das  Werk  des  Valerius  Antias  von  Livius  hauptsächlich  benutzt  wurde;*) 
da  dieser  aber  noch  andere  Quellen  zum  Vergleiche  heranzog,  so  ergaben 
sich  oft  Discrepanzen,  so  dass  er  gegen  Antias  Stellung  nehmen  musste. 
Besonders  rügte  er  den  Zahlenschwindel,  den  Antias  getrieben  und  der 
sich  in  einer  doppelten  Weise  manifestiert,  einmal  Zahlen  anzugeben,  wo 
solche  unmöglich  beglaubigt  sein  konnten,  z.  B.  über  ein  Ereignis  des 
Jahres  464  (3,  5),  ferner  bei  Zahlenangaben  zu  offenbaren  Übertreibungen 
zu  greifen,  dies  zeigt  sich  besonders  bei  Berichten  über  die  Zahl  der  ge- 


0  Gegen  die  Annahme  einer  zu  grossen 
Abhängigkeit  des  Livius  von  V.  A.  wendet 
sich  Niese  1.  c.  p.  XVI  non  rede  eos  existimare, 
qui  a  Livio  aaepe  Valerium  AtUuUem  ita  ex- 
pressum  esse  putant,   ut  nihil  iile  sit  nisi 


Antias  pauUo  ornatior  et  urbaniar.  Quodsi 
verum  esset,  profecto  non  fugisset  opinar, 
homines  paullo  doctiores  nee  tantam  laudem 
adeptus  esset  Livius, 


Valexiiu  Antias.    C.  lieiniiiB  Maoer.    Q.  AeUns  Tnbero. 


159 


fallenen  Feinde  (30,  19  33,  10  34,  15).  Aber  nicht  bloss  Übertreibungen, 
sondern  auch  Erdichtungen  und  Ausschmückungen  müssen  wir  diesem 
Historiker  zur  Last  legen.    Ein  Beispiel  bietet  der  Scipionenprozess. 

LiBBSALDT,  de  Valerie  Antiate,  Naumb.  1840.  Nissen,  Krit.  Untersuchungen  p.  43. 
NiTZSCH,  Rom.  AnnaUstik  p.  349.  Mommsbn,  Rom.  Forsch.  2,  493.  Friedrich,  Biogr.  des 
Barkiden  Mago,  ein  Beitr.  zur  Kritik  des  Valerius  Antias,  Wien  1880.  Niese,  de  annal. 
Rom.  obs.  II,  Marb.  1888  (Aber  die  SteUung  des  V.  A.  zu  den  Scipionenprozessen). 

3.  C.  Licinius  Macer.  Der  Vater  des  Dichters  und  Redners  C. 
Licinius  Calvus  ist  in  der  Geschichte  wegen  seines  Tribunats  vom  J.  73 
V.  Chr.  bekannt.  Eine  auf  die  Wiederherstellung  der  Rechte  des  Volks  be- 
zügliche Rede  gibt  Sallust  in  seinen  Historiae.  Von  dem  Prätor  Cicero 
wegen  Erpressungen  angeklagt  und  verurteilt  verübte  er  Selbstmord  (Plut. 
Cic.  9).  Seine  Annalen  begannen  mit  der  Gründung  Roms;  citiert  wird 
noch  das  21.  Buch.  Ein  besonderes  Charakteristikum  dieses  Geschichts- 
werks war  das  Zurückgehen  auf  Urkunden.  Livius  berichtet  an 
mehreren  Stellen  (4,  7  4,  20  4,  23),  dass  Licinius  die  libri  lintei  d.  h.  die 
Magistratsverzeichnisse  benützte.  Niebuhr  bewundert  ihn  daher.  Allein 
MoMMSEN  erachtet  jene  Angaben  als  Fälschungen.  Da  in  einem  Fall  eine 
solche  Fälschung  (Liv.  4,  7)  offen  vorliegt,  so  bleibt  nur  der  Ausweg  noch 
übrig,  anzunehmen,  in  der  Vorlage  des  Licinius  seien  bereits  jene  Fäl- 
schungen aus  den  libri  lintei  enthalten  gewesen.  Auch  Vorliebe  für  die 
Licinier  (Liv.  7,  9)  und  demokratischer  Parteigeist  wird  ihm  zur  Last  ge- 
legt. Für  die  Charakterisierung  seines  Stils  muss,  da  der  wörtlichen  Frag- 
mente nur  sehr  wenige  sind,  das  Urteil  Ciceros  (de  leg.  1,  2,  7)  beigezogen 
werden,  allein  dasselbe  kann  auch  nur  mit  Vorsicht  benützt  werden,  da 
Cicero  ein  Gegner  des  Licinius  ist;  überdies  sind  die  Worte  nicht  unver- 
sehrt überliefert.  Die  Stelle  enthält  einen  Tadel;  indem  sie  zwischen  der 
Erzählung  und  den  eingestreuten  Reden  scheidet,  findet  sie  dort  Klügeleien 
und  Redseligkeit,  hier  (nach  der  wahrscheinlichen  Verbesserung)  Überhebung 
und  Unverschämtheit. 

LiBBALDT,  G.  Licinins  Macer,  Naumb.  1848.  Nitzsch,  Annalistik  p.  351 — 355.  Nis- 
BUHB,  R.  G.  8, 175  Anm.  276  (,L.  M.  der  einzige,  welcher  Urkunden  unterBuchte").  Moioisbn, 
Rdm.  Chronol.  p.  88,  Forsch.  1, 315.  Die  Stelle  aus  Cic.  de  leg.  1, 2,  7  lautet:  ifacrtim,  euius 
loquacita»  habet  aliquid  argutiarum,  nee  id  tarnen  ex  illa  erudita  Graecorum  copia,  sed 
ex  librariolis  Latinis,  in  orationilms  autem  multa,  sed  inepta  elatio,  summa  impudentia  (die 
Überlieferung  muUas  ineptias,  elatio  summam  impudentiam).  Die  übrigen  Verbesserungs- 
Tersnohe  zählt  Peter  CCCXXXXIII  auf. 

4.  Q.  Aelius  Tubero  kämpfte  in  der  Schlacht  bei  Pharsalus  an  Seite 
des  Pompeius  (Cic.  p.  Lig.  127).  Wir  wissen  ferner,  dass  er  mit  einer  An- 
klage gegen  Ligarius  (Quint.  10,  1,  23)  hervortrat.  Er  wandte  sich  dann 
der  Jurisprudenz  zu  und  schrieb  mehrere  sehr  angesehene  Schriften.  Auch 
historiae  gab  es  von  ihm.  Sie  reichten  von  den  ältesten  Zeiten  wenigstens 
bis  zum  Beginn  des  Bürgerkriegs  zwischen  Cäsar  und  Pompeius  >)  (11). 
Citiert  wird  noch  das  14.  Buch.  Sein  Stil  war  wie  in  den  juristischen 
Schriften  (Dig.  1,  2,  2,  46),  so  auch  im  Geschichtswerk  altertümelnd. 


')  Suet.  Caes.  56  Feruntur  et  a  puero 
(Caesare)  et  ah  adufescentulo  quaedam  scripta. 
Ba  statt  „et  a  puero  et"  der  Codex  Mem- 
mianus  ,ef  ait  vero*  hat,  so  schlJlgt  Rbiffeb- 
8omm>,  Ind.  lect.,  Vratisl.  1870/71  p.  5  un- 


zweifelhaft richtig  vor  ,ut  ait  Tubero*.  Man 
wird  wohl  annehmen  müssen,  dass  er  in  seinem 
Geschichtswerk  noch  den  Tod  Cäsars  he- 
handelte  und  daran  eine  Charakteristik  Cäsars 
anschloBs. 


160    Bömiaohe  LitieratiirgeBchichte.    t  Die  2eit  der  fiepablik.    2.  Periode. 

Der  genannte  Q.  Aelius  Tubero  ist  der  Sohn  des  L.  Aelius  Tubero,  der  auch  an 
einem  Geschichtswerk  arbeitete  (Cic.  lEtd  Q.  fr.  1, 1,  3, 10),  dasselbe  aber  allem  Anschein  nach 
nicht  vollendete.  Q.  Aelius  Tubero  dagegen,  dem  Dionysius  die  Schrift  negl  tov  Govxvdldov 
XaQamiJQOf  widmete,  ist  der  Sohn  unseres  Historikers  und  Juristen.  Nippbbdet,  Opusc. 
p.  406-408. 

5.  Scribonius  Libo.  Procilius.  Von  einem  Libo,  wahrscheinlich 
L.  Scribonius  Libo,  dem  Schwiegervater  des  Sex.  Pompeius  citiert  Cicero 
(45  y.  Chr.)  Annalen  und  zwar  das  14.  Buch,  wo  die  Konsuln  des  J.  132 
P.  Popillius  und  P.  Rupilius  erwähnt  werden  (ad.  Attic.  13,  30,  3  32,  3 
44,  3).  Varro  führt  de  1. 1.  2,  148  eine  Geschichte  des  Procilius  an,  auch 
Cicero  sagt  (ad  Attic.  2,  2, 2)  gelegentlich  einer  Erwähnung  des  Dicaearchus, 
dass  man  von  diesem  mehr  lernen  könne  als  von  Procilius.  Bei  Plinius 
n.  h.  8,  4  wird  er  für  ein  Ereignis  aus  dem  J.  81  angeführt.  Nach  der 
erwähnten  Varronischen  Stelle  behandelte  er  den  Opfertod  des  M.  Curtius 
(362  y.  Gh.).  Beide  Schriftsteller  sind  also  auf  die  älteren  Zeiten  einge- 
gangen; ihre  Werke  gehören  daher  zu  den  allgemeinen  Stadtchroniken. 

Über  Libo  vgl.  die  sorgfältige  Untersuchung  von  M.  Hebtz,  De  Liv.  fragm..  comm. 
part.  n  Index'  lectionum,  Breslau  1864/5  p.  14. 

Ein  Historiker,  der  über  Hannibal  schrieb,  Sulpicius  Blitho,  wird 
lediglich  von  Com.  Nepos  13  für  das  Todesjahr  Hannibals  citiert;  das  ist 
die  einzige  Stelle  in  der  römischen  Litteratur,  die  seiner  gedenkt. 

Mit  Voss,  de  bist.  p.  29  Amsterd.  1697  hält  Unoeb,  Der  sog.  Com.  Nep.  p.  154  den 
Sulpicius  Blitho  fOr  Sulpicius  Galba,  Grossvater  des  Kaisers,  den  Verfasser  einer  historia 
multiplex  nee  incuriosa  (Suet.  Galba  3).  Allein  diese  Ansicht  ist  nur  denkbar,  wenn  Nepos 
nicht  der  Verfasser  des  Feldhermbuchs  ist.  HOchst  wahrscheinlich  benützte  ihn  Com.  Nep. 
gar  nicht  direkt,  sondem  fand  ihn  im  liber  annalia  des  Atticus,  den  er  allein  an  jener 
Stelle  eingesehen  hatte.    Vgl.  Rosevhaueb,  Phil.  Anz.  13,  746. 

2.   Cornelius  Sisenna  und  andere. 

113.  Die  Zeitgeschichte«  In  unserer  Epoche  sind  unstreitig  das 
bedeutendste  Werk  über  die  Zeitgeschichte  die  historiae  des  L.  Cornelius 
Sisenna,  der  Prätor  im  J.  78  war,  im  Prozess  gegen  Verres  zu  dessen 
Verteidigern  gehörte  und  im  J.  67  als  Legat  des  Pompeius  im  Seeräuber- 
krieg starb.  Das  Werk,  das  Sisenna  in  reiferem  Alter  schrieb  (Vell.  2,  9, 
5),  umfasste  mindestens  23  Bücher;  die  meisten  Fragmente  daraus  sind 
uns  durch  Nonius  erhalten;  sie  sind  vorzugsweise  den  ersten  Büchern  ent- 
nommen. Im  ersten  Buch  behandeln  Fragmente  (1  u.  2)  die  mythische  Zeit, 
ein  anderes  (6)  desselben  Buchs  bezieht  sich  auf  den  beginnenden  marsi- 
schen Krieg.  Diese  Erscheinung  findet  durch  die  Annahme  ihre  Erklärung, 
dass  Sisenna  in  einer  Einleitung  einen  Blick  auf  die  alte  römische  Ge- 
schichte geworfen.  Die  Fragmente  reichen  allem  Anschein  nach  bis  zum 
Jahre  82  (vgl.  132);  allein  wahrscheinlich  endete  das  Werk  mit  dem 
Tod  Sullas  und  stellte  sonach  die  Geschichte  des  Bundesgenossenkriegs  und 
Sullanischen  Bürgerkriegs  dar.  Wenn  unsere  Annahme,  dass  Sempronius 
Asellio  mit  dem  Tod  des  Livius  Drusus  (91  v.  Chr.)  geschlossen,  richtig  ist,  so 
würde  sich  ergeben,  dass  Sisenna  sein  Werk  an  jenes  angeschlossen  wissen 
wollte.  Damit  hätten  wir  eine  neue  Form  der  Geschichtschreibung,  die 
losgelöste  selbständig  gewordene  Fortsetzung.  Das  Werk  Sisennas 
war  die  Hauptquelle  für  die  Sullanische  Zeit,  ausdrücklich  bemerkt  Sallust 


ComeliaB  Bisenna  und  andere.  161 

lug.  95,  dass  Sisenna  diese  Zeit  am  besten  behandelt,  wenn  gleich  nicht 
völlig  freimütig,  was  sich  aus  seiner  Zugehörigkeit  zur  gern  Cornelia  leicht 
erklärt.  Den  Stil  anlangend,  so  zeigen  uns  die  Überreste  viele  altertüm- 
liche, der  Schriftsprache  fremde  Formen,  ein  Verlassen  der  chronologischen 
Aneinanderreihung  zu  Gunsten  der  künstlerischen,  viele  Züge  der  klein- 
lichen Ausmalung.  Es  scheint  sonach,  dass  Sisenna  bestrebt  war,  sein 
Geschichtsbuch  zu  einer  fesselnden  Lektüre  zu  gestalten;  darauf  wird  zu 
beziehen  sein,  wenn  Cic.  de  leg.  1, 2,  7  als  Vorbild  für  Sisenna  Clitarchus 
hinstellt,  der  in  romanhafter  Weise  den  Zug  Alexanders  beschrieb. 

Auf  den  schongeistigen  Zug  Sisennas  deutet  seine  Beschäftigung  mit  den  milesischen 
Erzählungen  des  Aristides,  welche  er  übersetzte.  Seiner  Übersetzung  dieser  schlüpfrigen 
Geschichten  fügte  er  noch  obscöne  Spässe  hinzu  (Ovid.  Trist.  2, 443).  Die  Fragmente  sind 
gesammelt  in  Büchelers  Petronius'  p.  237.  Der  Erklärer  des  Plautns  Siseima  ist  mit 
unserem  Historiker  nicht  identisch,  derselbe  lebte  nach  Yergil  (Charis.  p.  221  E.). 

Die  stürmische  Zeit,  die  Sisenna  beschrieb,  regte  noch  andere  zu 
schriftstellerischen  Versuchen  an.  Bei  Cicero  Ep.  5, 12, 2  lesen  wir,  dass 
L.  Lucceius  im  J.  56  eine  Geschichte  des  Bundesgenossen-  und  des  Bürger- 
kriegs beinahe  vollendet  hatte.  L.  Licinius  LuculTus,  dem  Sulla  seine 
Memoiren  widmete,  schrieb  ebenfalls  eine  Geschichte  des  Bundesgenossen- 
kriegs in  griechischer  Sprache  (Plut.  Luc.  1,  Cic.  ad  Att.  1,19,10).  Oben 
S.  107  lernten  wir  einen  C.  Piso  kennen,  der  in  einem  Geschichtswerk  über 
den  Tod  des  Marius  handelte. 

Auch  TanusiusGeminus  wird  hier  einzureihen  sein.  Von  ihm  citiert 
Suet.  Caes.  9  aus  einer  „historia"  ein  Ereignis  des  Jahres  66  aus  dem  Leben 
Cäsars.  Ohne  das  Werk  namhaft  zu  machen,  führt  Plutarch  Caes.  22  ein 
Ereignis  des  Jahres  55  aus  dem  Leben  Cäsars,  Strabo  17, 829  einen  Vor- 
fall aus  dem  Leben  des  Sertorius  an.  Es  ist  kaum  zu  bezweifeln,  dass 
auch  die  zwei  letzten  Stellen  jener  historia  entnommen  sind.  Es  scheint 
also  eine  Geschichte  der  jüngsten  Zeit  der  Republik  gewesen  zu  sein. 
Diese  Geschichte  wurde  nach  dem  Tod  Cäsars  geschrieben,  die  feindselige 
Tendenz,  die  den  zwei  Mitteilungen  über  Cäsar  innewohnt,  nötigt  zu  dieser 
Annahme.  Sie  fällt  aber  vor  Strabo,  der  sie  ja  bereits  benützte.  Also  gibt 
der  Verfasser  die  Geschichte  seiner  Zeit.*) 

An  das  Geschichtswerk  des  Tanusius  knüpfen  sich  einige  Streitfragen.  Seneca  Ep. 
93, 9  et  paucorum  verstuum  Hher  est  et  quidem  laudandus  atque  utilis:  annaies  Tanusii  8cis 
quam  panderosi  sint  et  quid  vocentur,  hoc  est  vita  quorundam  longa  et  quod  Tanusii  sequiiur 
annales.  Identifiziert  man  den  hier  genannten  Tanusius  mit  dem  obengenannten  und  die 
annales  mit  der  historia,  so  ergibt  sich,  dass  jene  Geschichte  weitschichtig  war  und  zur 
Zeit  Senecas  mit  einem  verächtlichen  Ausdruck  bezeichnet  wurde.  Allein  sowohl  die 
Identitftt  der  beiden  Werke  (vgl.  M.  Haupt,  Op.  1,  72)  als  sogar  die  Identität  der  beiden 
Personen  (Tgl.  Bahrens  zu  Catull  p.  207)  wurde  geleugnet,  wie  ich  glaube,  mit  Unrecht. 
Man  ist  noch  weiter  gegangen.  Catull  spricht  im  36.  Gedicht  von  den  poetischen  Annalen 
eines  Volusius  und  nennt  sie  „cacata  charfa".  Muhet  sprach  zweifelnd  die  Ansicht  aus, 
dass  unter  dem  Namen  Volusius  hier  Tanusius  verspottet  werde  und  dass  sich  auf  diese 
Verspottung  (eaeata  charta)  Seneca  beziehe.  Diese  Hypothese  Mubets  fQhrt  aber  unbedingt 
zu  der  Annahme,  dass  zwei  historische  Werke  dem  Tanusius  Geminus  beizulegen  sind,  ein 

Soetisches  {annales),  zur  2ieit  Catulls  erschienenes,   dem  allein   der  Spott  Catulls  gilt, 
ann  ein  prosaisches,  erst  nach  dem  Tod  Cäsars  veröffentlichtes.  Vgl.  Schwabe,  Fleckeis^ 
J.  1884  p.  380.     Allein  ist  diese  Annahme   schon  nicht  ohne  Bedenken,  so   wachsen  die« 
Schwierigkeiten,  wenn  man  erwägt,  dass  es  ganz  unerklärbar  ist,  warum  Catull  überhaupt, 
ein  Pseudonym  gewählt  hat  und  dann  noch  dazu  den  Namen  eines  vornehmen  Geschleohtsk 

0  Eine  römische  Geschichte  in  griechi-      Cic.  Tusc.  5, 38, 112 ;   von   derselben  wissen^ 
scher  Sprache  von  Cn.  Aufidius  erwähnt  noch      vor  aber  gar  nichts. 

HADdbnch  der  kluB.  AltortumawinenflchAlt.    VDL  11 


162    Bömiedhe  litteratargeschichte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

Mit  Recht  leugnet  daher  Sovkenbijbo,  dass  Volusius  =  Tanusius  sei  (histor.  Untersach.  zu 
Ehren  Schäfers,  Bonn  1882  p.  158—165). 

Litteratur:  Roth,  L.  Carnelii  Sisennae  vUa,  Basel  1834.  Riese,  Über  das  Ge- 
schichtswerk des  C.  S.,  Heidelb.  Festschr.  1865.  Schkeideb,  De  Sisennae  historiarum  reli- 
quiis,  Jena  1882.  Nuse,  Über  Tanusius,  Rhein.  Mus.  38,  600.  Hier  wird  die  bei  Strabo  17, 829 
überlieferte  Lesart  Tayvaiog  (für  Faßiyios)  in  ihre  Rechte  eingesetzt. 

3.  L.  Cornelius  Sulla. 

114.  Die  Autobiographien.  Das  bedeutendste  Werk  dieser  Litteratur- 
gattung  in  unserer  Epoche  sind  die  Denkwürdigkeiten  (rerum  gestarum 
libfi),  die  L.  Cornelius  Sulla  (138 — 78),  nachdem  er  sich  von  dem  öffent- 
lichen Leben  zurückgezogen  hatte,  kurz  vor  seinem  Ende  verfasste  und 
dem  L.  Lucullus  widmete.  Er  stand  im  22.  Buch,  als  ihn  der  Tod  über- 
raschte. Sein  Freigelassener,  Cornelius  Epicadus,  ergänzte  das  Werk, 
d.  h.  er  wird  das  Ende  Sullas  hinzugefügt  haben.  Die  Haupttendenz  dieser 
Denkschrift,  welche  Plutarch  für  die  Biographien  des  Marius  und  Sulla 
stark  benützte,  war,  alle  seine  Handlungen  als  ein  Werk  der  Vorsehung 
hinzustellen  (Plut.  Sulla  6). 

Den  Titel  rerum  gestarum  libri  hat  Gellius  1, 12, 16;  Priscian  1, 476  H.  citiert  in 
vicesimo  primo  rerum  suarum,  Suet.  gr.  12  Cornelius  EpicaduSf  L,  Cornelii  Syllae  die- 
tatoria  lä)ertu8  —  librum  auiem.  quem  Sylla  novissimum  de  rebus  suis  imperfectum  reli- 
querat,  ipse  supplerit.  Plut.  Sulla  37  rd  eixoctoy  xai  devTSQoy  ttSy  vnofiytj/^ataty  tt^o  dveiy 
fjfieQtoy  fj  iteXevitt  yQd<p<oy  inavcaro. 

4.  Voltacilius  Pitholaus. 

116.  Die  Biographie.  Von  der  Autobiographie  führt  sehr  leicht  der 
Weg  zur  Biographie,  wenn  eine  Persönlichkeit  durch  einen  Befreundeten 
ihre  Thaten  erzählen  und  rechtfertigen  lässt.  Dazu  eignet  sich  aber  vor- 
züglich der  gelehrte  Freigelassene,  der  auf  die  Gunst  der  vornehmen  Welt 
angewiesen  ist.  Das  erste  Beispiel  einer  solchen  Biographie  liefert  uns 
L.  Voltacilius  Pitholaus,  überhaupt  der  erste  Freigelassene,  der 
über  römische  Geschichte  schrieb.  Er  eröffnete  im  J.  81  v.  Ch.  eine 
lateinische  Rhetorenschule  und  war  der  Lehrer  des  Cn.  Pompeius  Magnus  in 
der  Rhetorik.  Er  scheint  dadurch  in  vertrauliche  Beziehungen  zu  der 
Familie  gekommen  zu  sein;  er  schrieb  die  Biographie  des  Cn.  Pompeius 
und  die  dessen  Vaters  Cn.  Pompeius  Strabo  in  mehreren  Büchern  (Suet. 
rhet.  3). 

Den  Namen  Pitholaus  hat  zuerst  festgestellt  Hertz,  Rhein.  Mus.  43, 312.  Bei  Macro- 
bius  2, 2, 13  wird  ein  M.  Voltacilius  (überliefert  Yotacilius)  Pitholaus  erwähnt,  welcher 
derselben  Zeit  angehört.  Dieser  ist  wahrscheinlich  zu  verstehen  Suet.  Caes.  75  Pitholai 
carminibus  maledicentissimis  lacercUam  existimationem  suam  civili  animo  tulit  und  unter 
dem  Namen  Pitholeon  Horat.  sat.  1,  10, 22. 

5.  T.  Pomponius  Atticus. 

116.  Die  Zeittafel  (annalis)  des  Atticus.  T.  Pomponius  Atticus, 
nach  seiner  Adoption  Q.  Caecilius  Q.  f.  Pomponianus  Atticus  (109 — 32), 
dessen  etwas  überschwengliche  Biographie  Cornelius  Nepos  verfasst  hat, 
war  durch  sein  grosses  Vermögen  und  seine  feine  Bildung  eine  der  ein- 
flussreichsten Personen  seiner  Zeit.  Von  der  Staatslaufbahn  hatte  er  sich 
femgehalten,   da  ihm  als  geborenem  Geschäftsmann  sein  Privatinteresse 


T.  PomponiuB  Atüciu.  163 

höher  stand.  Sein  nüchternes,  leidenschaftsloses  Wesen  hatte  ihn  befähigt, 
nach  allen  Seiten  hin  zu  wirken.  ,,Ohne  Liebe  und  ohne  Eass,  ohne  Farbe 
und  Gepräge  vermochte  er  allen  alles  zu  sein." ')  Er  stand  mit  den  ver- 
schiedensten Persönlichkeiten  in  regem  Verkehr,  mit  Hortensius,  Cicero, 
dessen  Briefwechsel  mit  ihm  erhalten  ist,  Cornelius  Nepos,  M.  Terentius 
Van^o  und  anderen.  In  der  Litteratur  nimmt  er  eine  Doppelstellung  ein, 
er  ist  einmal  Buchhändler,  der  durch  seine  Sklaven  Bücher  abschreiben 
Hess,')  dann  ist  er  selbst  Schriftsteller.  Unter  seinen  Schriften  war  die 
wichtigste  seine  Zeittafel,  sein  Über  annalis.  Dieser  chronologische  Abriss 
umfasste  von  Gründung  der  Stadt  Rom  (753)  in  runder  Zahl  700  Jahre; 
es  waren  darin  die  Konsuln  und  andre  Magistrate  chronologisch  verzeichnet, 
wobei  zugleich  durch  Angabe  der  Vornamen  der  Vorfahren  das  genealo- 
gische Moment  berücksichtigt  war;  dann  waren  auch  wichtige  historische 
Ereignisse  erwähnt.  Die  römische  Geschichte  bildete  zwar  die  Grundlage, 
allein  auch  die  Geschichte  anderer  Nationen  war  nebenbei  berührt.  Die 
Herausgabe  der  Zeittafel  ist  zwischen  51  und  46  anzusetzen;  denn  die 
Anregung  zu  der  Schrift  führt  Atticus  auf  Giceros  Schrift  über  den  Staat, 
welche  51  herausgegeben  wurde,  zurück;  im  Brutus,  der  ins  Jahr  46  fällt, 
wird  aber  des  liber  annalis  bereits  gedacht.  Wahrscheinlich  endete  der- 
selbe mit  dem  Anfang  des  Bürgerkriegs,  mit  dem  Jahr  49.^)  Es  ist  eine 
richtige  Beobachtung,  dass  zunächst  auf  dieser  Zeittafel  die  kapitolinischen 
Fasten  und  der  Chronograph  des  Jahres  354  beruhen.  Eine  Ergänzung 
zu  der  Zeittafel  bildeten  die  genealogischen  Monographien  über  verschiedene 
Geschlechter,  die  Junier,  die  Marceller  u.  s.  w. ;  dieselben  kamen  der  gegen 
Ende  der  Republik  aufgekommenen  Richtung,  den  Stammbaum  in  die 
ältesten  Zeiten  zurückzuführen,  entgegen.  Die  historische  Richtung  verfolgt 
auch  seine  Dichtkunst;  er  verfasste  nämlich  Verse,  die  er  den  Bildnissen 
berühmter  Persönlichkeiten  beifügte;  es  waren  darin  kurz  die  bekleideten 
Ämter  und  die  ruhmvollen  Thaten  der  betreffenden  Personen  geschildert. 
Ausserdem  schrieb  Atticus  noch  eine  Lobschrift  über  das  Konsulat  Ciceros 
in  griechischer  Sprache;  im  Jahre  60  las  dieselbe  bereits  Cicero  (ad  Att. 
2, 1, 1;  Com.  Nep.  Attic.  18,  6). 

Zeugnisse  über  die  Zeittafel:  Corn.  Nep.  Attic.  18  (antiquUaiem)  adeo  dUU 
genier  habuU  cognUam,  ut  eam  totam  in  eo  volumine  expoeuerü,  quo  magietratus  ordinavU. 
Nitüa  enim  lex  neque  pax  neque  bellum  neque  res  iUustris  est  pcpuli  Ramani,  quae  non  in 
eo  suo  tempore  sit  notata,  et  quod  difflcillimum  fuit,  sie  familiarum  originem  subtexuit, 
ut  ex  eo  clarorum  virorum  propagines  possimus  cognoseere,  Cic.  orat.  34,  120  eognoseat 
(oraior)  etiam  rerum  gestarum  et  memoriae  veteris  ordinem,  maxime  scilicet  nostrae  civitatis, 
sed  etiam  imperiosorum  populorum  et  regum  illustrium.  Quem  laborem  nobis 
Attici  nostri  levavit  labor,  qui  conservatis  notatisque  temporibus,  nihil  cum  illustre  praeter- 
mitteret,  annorum  septingentorum  memoriam  uno  libro  colligavit;  vgl.  noch  Cic.  Brut.  3, 14. 
Cic.  Brut.  3, 19  läset  Cicero  den  Atticus  sagen:  ut  illos  de  republica  libros  edidisti,  nihil  a 
te  sane  postea  accepimus:  eisque  nosmet  ipsi  ad  veterum  rerum  nostrarum  memoriam  eom- 
prehendendam  impulsi  atque  incensi  sum%is,  —  Die  Ansicht,   dass  die  Fasti  capitclini  zum 


^)  Dbumahv,  Gesch.  Roms  5,  70. 

')  Ob  die  Atticusausgaben,  die  sogen. 
'jirtixiaya  mit  unserem  Atticus  zusammen- 
hängen, ist  zweifelhaft.  Vgl.  Christ,  Die 
Atticusauflgabe  des  Demosthenes,  Abb.  der 
bayr.  Akad.  I.  Kl.  16, 20.  ^Vielleicht  erhielt 
sich  die  Bücherfabrik  des  Atticus  auch  noch 


über  den  Tod  ihres  Begründers  hinaus  unter 
ihrem  ursprünglichen  Namen,  so  dass  auch 
Werke,  die  unter  dem  Nachfolger  des  be- 
rühmten Atticus  in  jener  Fabrik  ediert  wur- 
den, unter  dem  Namen  'Atrutiaya  in  Umlauf 
gesetzt  wurden. '^ 

*)  CioHOBiüs  p.  257. 

11* 


164    Bömiaohe  litteratargeBchichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

Fundameut  den  Über  annalis  des  Atticus  haben,  sprach  zuerst  Stephan  Pighins  und  dann 
Vossius  de  bist.  lat.  CXI  p.  16,  Amsterd.  1799  aus.  Allein  diese  Wahrheit  blieb  unbeachtet, 
bis  in  neuester  2ieit  Matzat,  Rom.  Chronol.  1,  353  Anm.  2  und  Cichobius,  de  fastia  conau- 
laribus,  Leipz.  Stnd.  9,  249  dieselbe  wieder  aufgriffen.  Letzterer  hat  überdies  eine  bündige 
und  überzeugende  Begründung  gegeben. 

Zeugnis  über  die  genealogischen  Monographien:  Com.  Nep.  Attic.  18, 3  Fecit 
hoc  idem  (wie  im  Annalis)  eeparatim  in  aliis  libria,  ut  M,  Bruti  rogatu  luniam  famüiam  a 
stirpe  ad  hanc  aetaUm  ordine  enumeraverit,  natans,  qui  a  quoque  ortus  quos  honores  quibus- 
que  temporibua  cepisset,  pari  modo  MareeUi  Clawdii  de  Marcellarum,  Scipicnis  Carnelii  et 
Fabii  Maximi  Fabiarum  et  Aemiliarum. 

Wenn  es  bei  Plin.  n.  h.  35,  11  heisst:  imaginum  amarem  flagrasse  quondam  festes 
sunt  Atticus  ille  Ciceronis  edito  de  iis  volumine  et  M.  Varro,  so  wird  die  Stelle  kaum 
anders  zu  deuten  sein,  als  dass  Atticus  eine  Porträtsammlung  veröffentlichte,  nicht  aber 
mit  Leo,  dass  Atticus  eine  Schrift  vielleicht  technischer  Art  verfasst  habe;  nach  Gellius 
(3, 10, 1)  war  ja  auch  das  Varronische  Werk  de  imaginibus  betitelt. 

Über  die  Verse  unter  den  imagines  Com.  Nep.  Attic.  18, 5  attigit  poeticen  quoque  — 
nam  de  viris,  qui  honore  rerumque  gestarum  amplitudine  ceteros  Bomani  populi  prae- 
stiterunt,  exposuit  ita  ut  sub  singulorum  imaginibus  facta  magistratusque  eorum  non  amplius 
quatemis  quinisve  versibus  descripserit.  Aus  diesen  Worten  geht  nicht  mit  Bestimmtheit 
hervor,  dass  Varro,  wie  Leo,  Rh.  M.  38, 346  will,  der  Porträtsammlung  die  erläuternden  Verse 
beigegeben  hat,  er  kann  die  Verse  auch  unter  die  Bilder  seiner  Villa  in  Epirus  gesetzt 
haben  (Dbumanic,  Gesch.  Roms  5, 87) 

Litteratur:  Hullema]v17,  diatribe  in  T.  P.  Atticum,  Utr.  1838.  Schnbidbb,  de  T. 
P.  A,  anncUi,  Zeitschr.  f.  Altw.  6,  nr.  5. 

6.   C.  Julius  Caesar. 

117.  Biographisches.  Es  kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  ein  so 
reiches  Leben  wie  das  Caesars  zu  schildern;  ein  solche  Aufgabe  ist  der 
Geschichte  zuzuweisen.  An  diesem  Ort  können  nur  einige  Hauptdata  zur 
allgemeinen  Orientierung  vorgeführt  werden.  C.  Julius  Caesar  wurde  ge- 
boren den  13.  Juli  100.  Seine  Mutter  war  die  geistreiche  Aurelia.  Seine 
erste  Ausbildung  erhielt  er  durch  den  Gallier  M.  Antonius  Gnipho  (Suet. 
gramm.  7).  Seine  verwandtschaftlichen  Beziehungen  wiesen  auf  Marius  und 
damit  auf  die  demokratische  Partei.  Seine  Vermählung  mit  Cornelia,  der 
Tochter  Cinnas,  brachte  ihn  in  Konflikt  mit  Sulla.  Schon  hier  zeigte  sich 
die  Energie  seines  Willens.  Den  Kriegsdienst  begann  er  unter  dem  Pro- 
prätor M.  Minucius  Thermus  in  Asien.  Zurückgekehrt  nach  Rom  (78),  lenkte 
er  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  durch  eine  Klage  gegen  Cn.  Dolabella  wegen 
Erpressung  in  der  von  diesem  im  J.  80  verwalteten  Provinz  Macedonien. 
Dann  suchte  er  seine  rednerische  Ausbildung  durch  einen  Kursus  bei  dem 
Redner  Molo  in  Rhodus  zum  Abschluss  zu  bringen.  Die  Beamtenlaufbahn 
durchschritt  er  in  folgender  Weise:  Er  war  Quästor  67,  Ädil  65,  Pontifex 
maxiraus  63,  Prätor  62.  Auf  die  Prätur  folgte  61  die  Verwaltung  der 
Provinz  Hispania  ulterior,  wo  er  sich  bereits  durch  kriegerische  Thaten 
auszeichnete.  Es  kam  das  erste  Triumvirat  (60),  das,  auf  Anregung  Caesars 
begründet,  die  Macht  in  die  Hände  des  Pompeius,  Caesar  und  Crassus  legte 
und  ein  Gegengewicht  gegen  den  Senat  bildete.  Das  Konsulat  bekleidete 
Caesar  mit  Bibülus  im  J.  59.  Durch  die  Statthalterschaft  in  Gallien  erhielt 
Caesar  eine  geeignete  Stätte  für  seinen  grossartigen  Geist,  hier  konnte  er 
zeigen,  was  das  römische  Volk  von  ihm  erwarten  durfte;  hier  konnte  sich 
sowohl  sein  militärisches  als  sein  staatsmännisches  Talent  in  reichstem 
Masse  entfalten.    Der  Bruch  mit  Pompeius  und  mit  der  Partei  des  Senats 


G.  JnlinB  Caesar.  165 

führte  zum  Bürgerkrieg.  Die  Schlachten  bei  Pharsalus  (48),  bei  Thapsus 
(46),  bei  Munda  (45)  entschieden  den  Sieg  Caesars.  Alleiniger  Machthaber 
im  Staat,  endete  er  sein  Leben  unter  Mörderhand  am  15.  März  44.  — 
Caesar  ist  die  grossartigste  Erscheinung  der  römischen  Geschichte.  In  ihm 
vereinigten  sich  alle  Eigenschaften,  welche  für  den  Staatsmann  notwendig 
sind,  wundervolle  Klarheit  des  Geistes,  realistischer,  allem  Abenteuerlichen 
abgeneigter  Sinn,  eiserne  Energie  des  Willens,  ausdauernde  Eörperkraft, 
imponierende  Erscheinung. 

Eine  meisterhafte,  glänzende  Charakteristik  Caesars  gibt  Moiocsen,  Rom.  Gesch.  3, 
461—469.  Wir  entnehmen  aus  ihr  folgende  Schilderung  (p.  463):  Caesar  war  durchaus  Realist 
und  Verstandesmensch;  und  was  er  angriff  und  that,  war  von  der  genialen  Nüchternheit 
durchdrungen  und  getragen,  die  seine  innerste  Eigentümlichkeit  bezeichnet.  Ihr  verdankte  er 
das  Vermögen,  unbeirrt  durch  Erinnern  und  Erwarten  energisch  im  Augenblick  zu  leben; 
ihr  die  Fähigkeit,  in  jedem  Augenblick  mit  gesammelter  Kraft  zu  handeln  und  auch  dem 
kleinsten  und  beiläufigsten  Beginnen  seine  volle  Genialität  zuzuwenden;  ihr  die  Vielseitig- 
keit, mit  der  er  erfasste  und  beherrschte,  was  der  Verstand  begreifen  und  der  Wille  zwingen 
kann ;  ihr  die  sichere  Leichtigkeit,  mit  der  er  seine  Perioden  fQgte  wie  seine  Feldzugspläne 
entwarf;  ihr  die  «wunderbare  Heiterkeit',  die  in  guten  und  bOsen  Tagen  ihm  treu  blieb; 
ihr  die  vollendete  Selbständigkeit,  die  keinem  Liebling  und  keiner  Maitresse,  ja  nicht  einmal 
dem  Freunde  Gewalt  über  sich  gestattete. 

Biographien  Caesars  aus  dem  Altertum  sind  von  Plutarch  und  von  Sueton  erhalten. 
Von  neueren  DarsteUungen  ist  Dbttmann  im  3.  Bande  seiner  Geschichte  Roms  grundlegend. 
NAPOLiov  in.,  Histoire  de  Jules  Cdsar,  Paris  1865/66  (besonders  wegen  der  Terrainstudien 
und  der  Karten  von  Wichtigkeit). 

118.  Caesars  Memoiren  (commentarii).  Die  Denkschriften  Caesars 
behandeln  in  zwei  für  sich  dastehenden  Werken  den  gallischen  und  den 
Bürgerkrieg,  den  ersten  in  sieben,  den  letzten  in  drei  Büchern.  Die  Statt- 
halterschaft der  beiden  Gallien  und  lUyricums  und  damit  einen  Schauplatz 
für  grosse  Thaten  erhielt  Caesar  im  J.  59  zunächst  für  die  Zeit  von  fünf 
Jahren  (58—54);  auf  Antrag  der  Konsuln  Pompeius  und  Crassus  wurde 
im  J.  55  die  Statthalterschaft  Cäsars  auf  fünf  weitere  Jahre  verlängert 
und  hätte  sich  demnach  auch  auf  die  Zeit  von  53 — 49  erstrecken  sollen. 
Allein  der  Ausbruch  des  Bürgerkriegs  gestattete  ihm  nicht,  das  zehnte 
Jahr  in  der  Provinz  zu  bleiben;  seine  Statthalterschaft  währte  daher  nur 
von  58 — 50.  Seine  Memoiren  behandeln  aber  nur  sieben  Jahre,  nämlich 
die  Zeit  von  58 — 52.  Es  sind  also  die  zwei  letzten  Jahre  von  Caesar 
übergangen  worden.  Der  Stoff  ist  in  naturgemässer  Weise  so  gegliedert, 
dass  für  die  Ereignisse  eines  Jahres  ein  Buch  bestimmt  wird;  wir  erhalten 
also  sieben  Bücher.  Die  Memoiren  sind  aber  nicht  successive  veröffentlicht 
worden,  sondern  auf  einmal,  denn  bereits  1,  28  erscheinen  die  Boier  den 
Häduem  gleichgestellt,  7,  10  waren  sie  aber  in  der  hier  geschilderten 
Phase  des  Kriegs  noch  zinspfiichtige  Unterthanen  derselben.  Da  die  Boier 
die  Oleichberechtigung  mit  den  Häduem  erst  nach  dem  Krieg  mit  Vercin- 
getorix,  welchen  das  siebente  Buch  behandelt,  erlangt  haben  werden,  so 
begann  Caesar  seine  Memoiren  nach  dieser  Zeit,  d.  h.  offenbar  nach  dem 
Krieg  mit  Yercingetorix,  nach  52.  Es  lässt  sich  die  Zeit  noch  genauer 
bestimmen.  Caesar  macht  7,  6  eine  Anspielung  auf  die  infolge  der  milo- 
nischen  Händel  von  Pompeius  getroffenen  Massregeln  und  zwar  in  lobendem 
Sinn;  es  war  also  damals  noch  kein  offenkundiger  Bruch  eingetreten.  Da 
dieser  Bruch  spätestens  29.  September  51  eintrat,  so  ist  die  Abfassung  der 
Memoiren  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  in  das  Jahr  51   zu  setzen.    Bei 


166    Römiflohe  Litteratargescliichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    8.  Periode. 

dieser  Annahme  erklärt  sich  auf  einfache  Weise,  dass  Caesar  die  Ereignisse 
der  Jahre  51/50  nicht  mehr  berücksichtigt  hat.  Die  Memoiren  wurden 
rasch  abgefasst;  es  bezeugt  dies  ausdrüddich  EQrtius.  Die  Quellen  für 
seine  Darstellung  werden  die  Akten  der  Operationskanzlei  gewesen  sein. 
Spezielle  Tagbücher  Caesars  anzunehmen,  dafür  liegt  keine  Nötigung  vor. 
Die  Tagbücher,  welche  die  Schriftsteller  erwähnen,  sind  nur  ein  anderer 
Name  für  unsere  Memoiren.^) 

Die  Memoiren  über  den  Bürgerkrieg  beginnen  mit  dem  1 .  Januar  49 ; 
da  hier  die  vorausgehenden  Ereignisse  als  bekannt  vorausgesetzt  werden, 
so  ist  anzunehmen,  dass  Caesar  auch  die  zwischen  51 — 49  liegende  Zeit 
damals  behandeln  wollte.  In  diesem  Werk  weicht  Cäsar  von  der  im  galli- 
schen Krieg  beobachteten  Manier,  jedem  Jahr  ein  Buch  zuzuweisen,  ab; 
denn  die  ersten  zwei  Bücher  erzählen  uns  die  Ereignisse  des  J.  49,  das 
dritte  die  des  J.  48.  Am  Schluss  ist  noch  der  alexandrinische  Krieg  er- 
wähnt; man  sieht,  dass  auch  diesen  Cäsar  schildern  wollte.  Yerfasst  sind 
diese  Memoiren  nach  dem  Bürgerkrieg,  es  erhellt  dies  aus  Stellen  wie 
3,57,5;  3,18,5;  3,60,4.  Da  die  Fortsetzung  unterblieb,  so  wird  die  An- 
nahme nicht  abzuweisen  sein,  dass  er  an  der  Ausführung  durch  den  Tod 
gehindert  wurde. 

Über  die  Zeit  der  Abfassung  und  Herausgabe  der  Gommentarien  des  b.  g.  vgl.  Schiteideb 
in  Wachlers  PhilomaÜiie  1, 184,  &öchlt-Rüstow,  Einleit.  zu  dem  gall.  Krieg  p.  51,  Momxben, 
R.  Gesch.  3*1  616  .Wer  die  Geschichte  der  2ieit  aufoierksam  verfolgt,  wird  in  der  Äusserung 
Aber  die  milonische  Krise  7, 6  den  Beweis  finden,  dass  die  Schrift  vor  dem  Ausbruch  des 
Bürgerkriegs  publiziert  ward;  nicht  weil  Pompeius  hier  gelobt  wird,  sondern  weil  Caesar 
daselbst  die  Ausnahmegesetze  vom  J.  52  billigt.  Dies  konnte  und  musste  er  thun,  solange 
er  ein  friedliches  Abkommen  mit  Pompeius  herbeizufOhren  suchte,  nicht  aber  nach  dem  Bruch, 
wo  er  die  auf  Grund  jener  fttr  ihn  verletzenden  Gesetze  erfolgten  Verurteilungen  umstiess. 
Darum  ist  die  Veröffentlichung  dieser  Schrift  mit  vollem  Recht  in  das  Jahr  51  gesetzt 
worden." 

119.  Charakteristik  der  Hemoiren.  Das  Ziel,  welches  sich  Caesar 
mit  seinen  Memoiren  steckt,  ist  nicht  ausdrücklich  ausgesprochen,  aber  es 
lässt  sich  aus  den  Zeitumständen,  unter  denen  jene  beiden  Werke  ent- 
standen sind,  abstrahieren.  Die  Memoiren  über  den  Bürgerkrieg  können 
nur  den  Zweck  gehabt  haben,  den  Nachweis  zu  liefern,  dass  er  alles  ge- 
than,  was  in  seinen  Kräften  stand,  um  den  Bürgerkrieg  zu  vermeiden. 
Schwieriger  ist  das  Ziel  der  anderen  Schrift  zu  bestimmen.  Selbstverständ- 
lich kann  nicht  der  Endzweck  derselben  gewesen  sein,  eine  Materialsamm- 
lung zu  liefern.  Auch  wird  die  Tendenz  der  Schrift  zu  niedrig  gesteckt, 
wenn  man  glaubt,  Caesar  habe  sein  Vorgehen  gegen  die  gallischen  und 
germanischen  Völker  als  unvermeidlich  rechtfertigen  und  damit  die  Angriffe 
seiner  Gegner  entwaffnen  wollen.  Allerdings  sucht  er  überall  sein  Ver- 
fahren als  ein  notgedrungenes  erscheinen  zu  lassen,  allein  der  Mehrzahl 
der  Römer  gegenüber  bedurfte  es  sicher  keiner  Rechtfertigung  der  Er- 
oberungen. Das  letzte  Ziel  der  Schrift  kann  nur  gewesen  sein,  kurz  vor 
Ausbruch  des  Bürgerkriegs  dem  Volk  zu  zeigen,  was  er  für  die  Grösse 
des  römischen  Volks  gethan,  welche  schwierige  Aufgaben  er  gelöst  und 
welche  noch  zu  lösen  er  befähigt  ist.    Caesar  schreibt  nicht  als  Historiker, 


*)   NiPFBBDBT,   OpUSC.  p.  5. 


C.  Julius  Caesar.  167 

sondern  als  Statthalter.  Aber  als  seine  Leser  betrachtet  er  nicht  Militärs, 
sondern  das  gebildete  Publikum  überhaupt.  In  den  Memoiren  fesselt  uns 
die  Klarheit,  Gedrungenheit  und  Einfachheit  der  Darstellung,  ferner  der 
objektive  Ton,  in  dem  Caesar  wie  ein  fremder  Zuschauer  von  den  Ereig- 
nissen spricht.  Niemals  ermüdet  der  Leser,  sondern  stets  folgt  er  mit 
Spannung  der  Erzählung.  Nur  eine  in  sich  fest  geschlossene,  durchweg 
bestimmte,  allem  Verschwommenen  abgeneigte  Persönlichkeit  konnte  eine 
solche  Herrschaft  über  den  Stoff  entfalten  und  ein  Meisterwerk  schaffen, 
wie  es  in  den  Memoiren  über  den  gallischen  Krieg  vorliegt.  Die  Sprache 
ist  durchweg  rein,  vermeidet  alle  ungewohnten  Ausdrücke  wie  archaische 
und  vulgäre,  verzichtet  auf  den  Schmuck  der  Rede  und  hält  sich  durchweg 
knapp  und  einfach.  Selbst  dem  in  ganz  anderen  Bahnen  sich  bewegenden 
Cicero  hat  dieser  Stil  Caesars  ein  hohes  Gefühl  der  Bewunderung  abge- 
rungen. Für  die  Frage  nach  der  Glaubwürdigkeit  muss  man  sich  stets 
vor  Augen  halten,  dass  Caesar  mit  seinen  Memoiren  nicht  litterarische, 
sondern  politische  Ziele  verfolgt;  er  muss  daher  manches-  verschweigen 
und  manches  beschönigen,  allein  trotzdem  ist  die  Objektivität  des  Schrift- 
stellers bewunderungswürdig.  Besonders  in  den  Memoiren  über  den  galli- 
schen Krieg  gibt  uns  der  Schriftsteller  im  grossen  Ganzen  ein  zuverlässiges 
Bild;  etwas  getrübter  ist  die  Denkschrift  über  den  bürgerlichen  Krieg, 
da  es  hier  für  den  Autor  schwieriger  war,  sich  die  Unbefangenheit  des 
Urteils  zu  wahren. 

Cic.  Brot.  75,  262  nudi  (cammentarii)  sunt,  recti  et  venusti,  omni  ornatu  orationis 
tamquam  veste  detracta,  Sed  dum  roluit  (Caesar)  alioa  habere  parata,  unde  sumerent  qui 
veTlent  scribere  historiam,  ineptis  gratum  fortasse  fecU,  qui  volent  üla  calamistris  inurere: 
sanos  quidem  homines  a  scribendo  deterruit;  nihiJ  est  enim  in  historia  pura  et  iüustri 
brevitate  dulcius,  Hirtius  bell.  Gall.  VIII  praef.  constat  inter  omnea  nihil  tarn  operoae  ab 
aliia  eaae  perfectum,  quod  non  herum  elegantia  commentariorum  auperetur.  Qui  aunt  editi, 
ne  acientia  tantarum  verum  acriptoribua  deeaaet,  adeoque  probantur  omnium  iudirio,  ut 
praerepta,  non  praebita  facultas  acriptoribua  videatur.  Momhsen,  R.  Gesch.  3^,  616  «Die 
Tendenz  der  Scnrift  (Über  den  gallischen  Krieg)  erkennt  man  am  deutlichsten  in  der  be- 
ständigen, oft,  am  entschiedensten  wohl  bei  der  aquitanischen  Expedition  8,11,  nicht  glflck- 
lichen  Motivierung  jedes  einzelnen  Eriegsakts  als  einer  nach  Lage  der  Dinge  unvermeid- 
lichen Defensivmaasregel.  Dass  die  Gegner  Caesars  Angriffe  auf  die  Kelten  und  Deutschen 
vor  allem  als  unprovociert  tadelten,  ist  bekannt  (Suet.  Caes.  24)." 

Ein  hartes  Urteil  über  die  Glaubwürdigkeit  f&Ut  Asinius  PoUio  bei  Suet.  Caes.  56 
Foilio  Aainiua  parum  diligenter  parumque  integra  veritate  compoaitoa  putat,  cum  Caeaar 
pleraque  et  quae  per  alioa  erant  geata,  temere  crediderit,  et  quae  per  ae,  vel  conaulto  vel 
eiiam  memoria  lapaua  perperam  ediderit;  exiatimatque  reacripturum  et  correcturum  fuiaae. 
Wahrscheinlich  bezieht  sich  dasselbe  doch  vorzugsweise  auf  die  Memoiren  über  den  Bürger- 
krieg. —  Putsch,  Die  bist.  Glaubwürdigkeit  der  Comm.  v.  gall.  Krieg,  Glückst.  1885 — 1886. 

120.  Nicht  erhaltene  Schriften  Caesars«  Als  schriftstellerische 
Jugendversuche  werden  erwähnt  ein  »Lob  des  Herkules*',  eine  Tragödie 
Oedipus;  auch  hatte  er  «sich  eine  Sammlung  geistreicher  Aussprüche  {dicta 
coUectanea,  dnotp&hyfAaTa)  angelegt  und  sie,  wie  man  aus  Cic.  ep.  9, 16, 4 
schliessen  muss,  noch  später  fortgesetzt.  Die  Publikation  dieser  Schriften 
verbot  Augustus.  Sie  kommen  also  für  uns  nicht  weiter  in  Betracht. 
Ausser  diesen  Schriften  und  den  Commentarien  gibt  Suet.  56  noch  folgende 
litterarische  Schöpfungen  an:  1)  De  Analogia  1.  II;  2)  Anticatones  eben- 
falls in  zwei  Büchern;  3)  ein  Gedicht  mit  dem  Titel  „Die  Reise*  (üer). 
Mit  der  ersten,  Cicero  gewidmeten  Schrift  griff  Caesar  in  den  bekannten 
Streit  über  Analogie  und  Anomalie  der  Sprache  ein,  den  wir  oben  §  77  kurz 


168    Röndache  litteratargeBohiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    S.  Periode. 

gekennzeichnet  haben.  Es  handelte  sich  im  wesentlichen  darum,  ob  die 
Flexion  der  Worte  auf  bestimmte  Regeln  zurückgeführt  werden  könne. 
Cäsar  entschied  sich  im  grossen  Ganzen  für  die  Analogie  d.  h.  die  Begel- 
rechtigkeit  der  Sprache  und  drang  darauf,  dass  die  subjektive  Willkür  in 
der  Handhabung  der  Sprache  soviel  als  möglich  beseitigt  werde.  Charak- 
teristisch für  ihn  ist  der  in  dieser  Schrift  (Gell.  1, 10, 4)  ausgesprochene 
Grundsatz,  ein  ungebräuchliches  Wort  müsse  man  wie  eine  Klippe  fliehen. 
Nicht  minder  charakteristisch  ist  für  den  umfassenden  Geist  Caesars,  dass 
er  diese  Schrift  schreiben  konnte,  als  er  aus  dem  diesseitigen  Gallien  über 
die  Alpen  zu  dem  Heere  zurückkehrte.  Es  war  dies  wahrscheinlich  ^)  der 
Winter  53/2.  Das  zweite  Werk  „Anticatones*  kam  ebenfalls  in  ungewöhn- 
licher Weise  zu  stände;  es  wurde  im  Feldlager  von  Munda  (45)  geschrieben. 
Nach  dem  freiwilligen  Tode  Catos  in  Afrika  hatte  nämlich  Cicero  einen 
Panegyrikus  auf  Cato  geschrieben  und  darin  die  republikanische  Idee  ver- 
herrlicht. Derselbe  machte  grosses  Aufsehen  und  regte  auch  den  Brutus  und 
den  M.  Fadius  Gallus  (Cic.  ep.  7,24,2)  zu  solchen  Lobschriften  an.<)  Nach- 
dem Caesar  zuerst  Hirtius  veranlasst  hatte,  von  Spanien  aus  eine  Gegen- 
schrift zu  schreiben  und  dieselbe  an  Cicero  zu  richten  (Cic.  ad  Att.  12, 40, 1), 
machte  er  sich  selbst  daran,  die  Lobschrift  Ciceros  zu  entkräften.  Zwar 
trat  er  gegen  Cicero  fein  auf,  allein  um  so  schärfer  ging  er  gegen  Cato 
vor,')  wie  aus  dessen  Biographie  von  Plutarch  zu  ersehen  ist  (36).  End- 
lich das  dritte  der  von  Sueton  erwähnten  Werke,  „Die  Reise",  beschrieb 
in  poetischer  Form  die  Reise,  die  Caesar  im  Jahre  46  von  Rom  nach 
Spanien  zur  Bekämpfung  der  Söhne  des  Pompeius  unternahm.  Auch  Samm- 
lungen von  Reden  Caesars  gab  es.  Sueton  erwähnt  eine  solche,  die  bereits 
unechte  Produkte  aufwies,  wie  die  Rede  vor  den  Soldaten  in  Spanien. 
Seiner  Beredsamkeit  erteilen  Sachkenner  das  höchste  Lob.  Ferner  waren 
von  seinen  Briefen  Sammlungen  veranstaltet;  Sueton  führt  deren  mehrere 
an,  Briefe  an  den  Senat,  an  Cicero,  an  Freunde.  Li  den  Berichten  an  den 
Senat  führte  er  eine  Neuerung  ein,  indem  er  das  Papier  nach  Art  einer 
Schreibtafel  in  mehrere  Blätter  faltete.  Manche  Briefe  über  vertrauliche 
Gegenstände  waren  in  Chiffiren  geschrieben. 

Über  die  Schriften  Caesars  handelt  Sueton  in  der  Biographie  Caesars  in  den  Kap.  55 
und  56.  Macrobius  erwähnt  ein  astronomisches  Werk  Caesars  (1,16,39):  Julius  Caesar 
siderum  motus,  de  quibus  non  indoctos  libros  reliquit,  ab  aegyptiis  disdplinis  hausit.  Ebenso 
citiert  ihn  Plinins  im  Quellenverzeichnis  zum  18.  Buch  und  im  Texte  dieses  Buchs,  femer 
Ptolemaeus  und  Lydus.  Höchst  wahrscheinlich  war  dieses  Werk  nicht  von  Caesar  selbst 
verfasst,  sondern  nur  von  ihm  angeregt;  daher  das  Schweigen  Suetons  über  dasselbe. 
Femer  teilt  uns  Sueton  in  der  Biographie  des  Terenz  sechs  Hexameter  mit,  welche  über 
die  Dichtungsweise  des  Terenz  handeln.  Ob  daraus  auf  eine  litterarhistorische  Schrift 
Caesars  zu  schliessen  ist  oder  ob  wir  hier  nur  ein  Epigramm  vor  uns  haben,  ist  zweifelhaft; 
ich  glaube  eher  das  letztere ;  wird  er  doch  auch  von  Plin.  ep.  5, 3,  5  unter  den  Dichtem 
von  Erotischem  aufgezählt.    Vgl.  Tac.  dial  21. 

Andere  Zeugnisse  über  die  von  Sueton  angeführten  Schriften  sind:  Fronte  p.  221  N. 
cogUes  G.  Caesarem  atrocissimo  hello  GaUico  (Übertreibung)  cum  alia  muüa  militaria  tum 
etiam  duoa  de  Analogia  libros  scrupiäosissimos  scripsisae;  inter  tela  volantia  (!)  de  nominibus 
declinandis,  de  verborum  aspirationibus  et  rationibus  inter  classica  et  tubas,  Cic.  Brut.  72, 
253  qui  (Caesar)  etiam  in  maximis  oceupationibus  ad  te  ipsum,  inquit  in  me  (Cic,)  in- 
tuens,  de  ratione  loquendi  accuratissime  scripaerit  primoque  in  libro  dixerit,  verborum 

')  KöcHLY-RüsTOW,  Einl.  91, 59.  schrift  auf  Cato  (Plut.  Cat.  min.  37). 

')  Auch  von  Munatius  gab  es  eine  Lob-  ')  Göttling,  Opusc.  p.  160. 


Hirüns  und  andere  Fortsetzer  Caesars.  169 

deledum  oriffinem  esse  eloguentiae,  —  Flut.  Gaes.  54  fy^mpe  K^xigtay  iyxaSfiioy  Kätmyos  — 
xal  noXXoig  6  Xoyog  ^y  ovd  anov&ijs,  tog  sUog,  vno  tov  deiyottttov  tiSy  ^rjroQioy  eig  xijy 
xaXXiffTfjy  nenoirjuiyog  vno^eaiy,  Tovto  ijyia  Kaiaaga  xatijyoglay  avjov  yofilCoyta  xoy 
xov  xed^ytjxotog  oi  avtoy  htaiyoy:  '^ga^Bv  ovy  noXXdg  tiyag  xccrtc  tov  Kdtiayog  ahiag 
cvyayaytSy,  x6  di  ßißXloy  *j4ynxdx(oy  iniyäyQonxai,  —  Gell.  17,  9,  1  Jibri  sunt  epistidarum 
C  Qiesaris  ad  C.  Oppium  et  Balbum  Cornelium,  Als  Einlagen  finden  sich  Briefe 
Caesars  in  der  Atticussammlung:  9,  6,  A.;  9,  7  C;  9,  13  A;  9,  16;  10,  8  B. 

Litteratar:  Die  Fragmente  der  untergegangenen  Schriften  sind  zusammengestellt 
in  NiPFEBDEYS  grosser  Ausg.  p.  747,  in  Binters  Ausg.  Bd.  3.  Schlitte,  De  C.  Julie  Caesare 
grammatico,  Halle  1865.  Göttlivg,  De  Cic.  laudatione  Catonis  et  de  Caesaris  Auticatonibus, 
opnsc.  p.  153. 

7.  Hirtius  und  andere  Fortsetzer  Caesars. 

121.  Die  Supplemente  zu  Caesars  Commentarii*  Die  von  Caesar 
hint erlassenen  Schriften  waren  in  zweifacher  Hinsicht  unvollständig;  es 
fehlten  die  zwei  letzten  Jahre  des  gallischen  Kriegs;  somit  war  eine  Lücke 
zwischen  dem  gallischen  Krieg  und  dem  Bürgerkrieg  vorhanden.  Weiter- 
hin fehlte  eine  Darstellung  des  alexandrinischen,  afrikanischen  und  spani- 
schen Kriegs.  Diese  Lücken  wurden  durch  vier  Supplementbücher  aus- 
gefüllt.   Es  sind  folgende: 

1.  Das  achte  Buch  des  Bellum  Gallicum.  Der  Verfasser  beginnt 
mit  einem  an  Baibus  gerichteten  Brief,  in  dem  er  sich  über  seinen  Plan, 
Caesars  Werke  zu  ergänzen  und  fortzusetzen,  des  Näheren  ausspricht.  Das 
vorliegende  Buch  bespricht  die  Ereignisse  der  Jahre  51  und  50;  ausdrück- 
lich wird  (48,  10)  motiviert,  warum  abweichend  von  der  Methode  Caesars 
die  Geschehnisse  zweier  Jahre  in  einem  Buch  vereinigt  sind.  Die  Ereignisse, 
die  uns  vorgeführt  werden,  sind  nicht  von  besonderer  Wichtigkeit.  Die 
letzten  Kapitel  leiten  zu  dem  Bürgerkrieg  über.  Am  Schluss  ist  eine  kleine 
Lücke.  Zu  beachten  ist,  dass  die  Geschichte  des  Commius,  die  eigentlich 
im  7.  B.  c.  75  u.  76  hätte  behandelt  werden  sollen,  hier  nachgetragen  wird 
(c.  23, 3,  c.  47  u.  c.  48, 1 — 9.).  Die  Darstellung  ist  im  ganzen  etwas  leblos 
und  monoton. 

c.  48,  10  scio  Caesar em  singuhrum  annorum  singulos  (dies  gilt  jedoch  nur  für  den 
gallischen  Krieg)  eommentarias  coufecisse;  quod  ego  non  existimavi  mihi  esse  f<tciendum, 
propterea  quod  insequens  annttSf  L,  Paulo,  C.  Marcello  eonstdibus  nullas  habet  tnagnopere 
GaUiae  res  gestas.  Über  den  Stil  äussert  sich  Nipperdey  Ausg.  p.  13  also:  desideramus 
et  elegantem  illam  facüitatem  et  vigorem  atque  alacritatem,  —  Lentitudinem  enim  quandam 
et  mediocritatem  agnoscimus  sine  motu  et,  quod  maxime  reprehendas,  sine  varietate.  Nam 
immodice  ea  compositione  usus  est  Hirtius,  ut  protasin  per  ,eum*  particulam  ineipientem  apo- 
dosi  praemitteret,  coniungeret  autem  sententias  per  pronomen  relativum,  quarum  rerum  illa 
longa  fere  enuntiata  effieit,  utraque  tardam  et  motu  carentem  orationem.  Atque  ut  forma 
complerionum  varietate  caret,  ita  ordo  quoque  verborum  nimium  saepe  idem  recurrit, 

2.  Das  Bellum  Alexandrinum.  Dieses  Buch  behandelte  zuerst 
den  alexandrinischen  Krieg  (1 — 33),  dann  den  Feldzug  des  Domitius  gegen 
Phamaces  (34 — 41),  weiter  den  illyrischen  Krieg  (42 — 47),  ferner  die  Un- 
ruhen in  Spanien  (48—64),  endlich  die  Besiegung  des  Phamaces  durch 
Caesar  (65  bis  zum  Schluss).  Aus  dieser  Inhaltsangabe  sieht  man,  dass 
der  Titel  nur  einen  Teil  des  Inhalts  deckt.  Unter  den  Supplementbüchem 
ist  dieses  das  bedeutendste. 

3.  Das  Bellum  Africanum.  Aus  dem  vielen  minutiösen  Detail, 
das  uns  der  Verfasser  bietet,  ersieht  man,  dass  derselbe  den  Krieg  mit- 
gemacht   hat.     Eine   künstlerische   Gestaltung   des  Stoffes    fehlt    in  der 


170    BömiBohe  Litteratnrgesohichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

Schrift.  Der  Verfasser  legt  die  zeitliche  Anordnung  zu  Grund,  daduixh 
wird  aber  Zusammengehöriges  öfters  getrennt  und  sind  fortwährend  Rück- 
verweisungen geboten.  Seine  Unfähigkeit,  den  Stoff  zu  formen,  kann  sta- 
tistisch nachgewiesen  werden,  68mal  gebraucht  er  interim,  um  die  Rede 
fortzusetzen.  Auch  die  öftere  Wiederholung  derselben  Phrase  wie  non 
intermiUere  und  anderes  lassen  eine  noch  ungeübte  Hand  erkennen.  Der 
politische  Standpunkt  des  Verfassers  ist  der  caesarianische. 

WöLPFLW,  Sitzungsbericht  d.  Münchner  Akad.,  Jahrg.  1889  1,  328  „Oberst  Stoffel, 
der  im  Auftrage  Napoleons  Afrika  bereiste,  um  die  Spuren  Caesars  zu  verfolgen,  bekennt, 
dass  der  Verfasser  des  bellum  Afr.  die  Lokalitäten  und  Terrainverhältnisse  vorzüglich 
schildere,  dass  er  daher  notwendig  müsse  Augenzeuge  gewesen  sein."  Über  die  sprachlichen 
Eigentümlichkeiten  und  das  Historische  der  Schrift  vgl.  Fröhlich,  das  beUum  Äfricanumy 
Brugg  1872.  Kohles,  de  auctarum  belli  afr.  et  hisp,  latinUate  Acta  Erlang,  1,  377.  Laxd- 
GRAF  1.  c.  p.  37. 

4.  Das  Bellum  Hispaniense.  Auch  bei  dieser  Schrift,  die  uns  in 
einem  sehr  verdorbenen  Zustand  überliefert  ist,  steht  fest,  dass  ihr  Ver- 
fasser den  Krieg  mitgemacht  hatte.  Wir  haben  es  mit  einem  ungebildeten 
Mann  zu  thun;  mechanisch  folgt  er  in  der  Darlegung  der  Ereignisse  der 
Zeit,  ein  künstlerischer  Aufbau  ist  ihm  gänzlich  unbekannt.   Auch  die  Be-  ^ 

deutung  der  historischen  Thatsachen  vermag  der  Autor  nicht  abzuschätzen; 
Wichtiges  und  Unwichtiges  wird  in  gleicher  Weise  behandelt.  Die  Dar- 
stellung schreitet  in  abgerissenen  Sätzen  vorwärts;  die  Sprache  ist  überladen 
und  niedrig;  sucht  sie  einmal  sich  zu  erheben,  so  fällt  sie  ins  Lächerliche. 
Seinem  politischen  Standpunkt  nach  ist  der  Verfasser  Caesarianer. 

Über  Sprache  uud  historischen  Wert  der  Schrift  handelt  sehr  sorgfältig  Deoeithabt, 
De  auctoris  belli  Hispaniensis  elocutione  et  fide  histarica,  Würzb.  1877. 

Von  seiner  Geschmacklosigkeit  legen  Gitate  aus  Ennius  in  c.  23  und  c.  31  oder  Ver- 
gleiche wie  c.  25  ut  fertur  Achillis  Memnonisque  congressus  oder  Übertreibungen  wie  c.  42 
legiones,  quae  non  solum  vobis  obsiatere,  sed  etiam  caelum  diruere  possent  Zeugnis  ab. 

122.  Die  Autorschaft  der  Supplemente.  Das  einzige  Zeugnis,  das 
uns  das  Altertum  über  die  Autoren  der  Supplementbücher  überliefert  hat, 
rührt  von  Sueton  her,  der  uns  56  berichtet,  dass  über  den  Verfasser  des 
alexandrinischen,  afrikanischen  und  spanischen  Kriegs  Ungewissheit  bestehe, 
indem  die  einen  die  Autorschaft  des  Oppius,  die  andern  die  des  Hirtius  an- 
nehmen. Sicher  ist  aber  für  Sueton,  dass  der  Verfasser  des  achten  Buchs 
des  gallischen  Kriegs  Hirtius  ist;  und  unter  dessen  Namen  wird  daher 
auch  eine  Stelle  aus  der  Vorrede  zu  dem  Buch  angeführt.  Mit  dieser  An- 
gabe Suetons  stimmt  auch  die  handschriftliche  Überlieferung;  denn  in 
Handschriften  verschiedenen  Ursprungs  findet  sich  der  Name  A.  Hirtii  am 
Schluss  des  achten  Buchs.  In  der  dem  Supplementbuch  vorausgeschickten, 
an  Baibus  gerichteten  Vorrede  gibt  Hirtius  von  seinem  Vorhaben,  die  Kom- 
mentare Cäsars  zu  ergänzen  und  fortzusetzen,  Aufschluss.  Er  will  einmal 
das  Band  zwischen  den  Kommentaren  über  den  gallischen  Krieg  und  den 
Kommentaren  über  den  Bürgerkrieg  hergestellt,  dann  aber  auch  eine  Fort- 
setzung der  Bürgerkriege  von  den  alexandrinischen  Unruhen  bis  auf  den 
Tod  Caesars  gegeben  haben.  Er  spricht  von  seiner  Absicht  als  einer  bereits 
durchgeführten  und  gebraucht  zu  dem  Zweck  Perfecta.  Sonach  müssten 
wir  sämtliche  Fortsetzungen,  wie  das  eingeschobene  achte  Buch,  als  ein 
Werk  des  A.  Hirtius   ansehen.    Allein  diese  Annahme  ist  unmöglich,  es 


Hirtiufl  nnd  andere  Foriaetzer  Caesars. 


171 


ist  klar,  dass  die  verschiedenen  Supplemente  gar  nicht  von  einem  Ver- 
fasser herrühren  können,  es  ist  zweifellos,  dass  z.  B.  das  bellum  Hispaniense 
nicht  von  dem  Autor  des  achten  Buchs  geschrieben  sein  kann.  Um  sonach 
den  Widerspruch,  in  dem  die  Worte  der  Vorrede  mit  den  Thatsachen  stehen, 
zu  lösen,  müssen  wir  annehmen,  dass  Hirtius  den  Brief  an  Baibus  vor  der 
Durchführung  seiner  Absicht  geschrieben,  an  der  Vollendung  aber  durch 
den  Tod  in  der  Schlacht  bei  Mutina  (43)  gehindert  wurde.  ^)  Wir  haben 
daher  nur  die  Autorschaft  des  achten  Buchs  als  gelöst  zu  erachten;  für  das 
bellum  Alexandrinum,  Africanum,  Hispaniense  gilt  es  noch,  die  Verfasser  zu 
ermitteln.  Wir  können  hierbei  von  stilistischen  Kriterien  ausgehen.  Solche 
können  wir  für  Hirtius,  den  die  antike  Tradition  neben  Oppius  als  Verfasser 
der  drei  beüa  bezeichnet,  in  Anwendung  bringen,  da  wir  in  dem  achten 
Buch  eine  Probe  seiner  Schriftstellerei  haben.  Dagegen  sind  sie  nicht  an- 
wendbar für  C.  Oppius.  Wir  wissen  zwar,  dass  derselbe  ein  Leben  Caesars 
geschrieben  (Suet.  Caes.  53.  Plut.  Pomp.  18),  allein  es  sind  uns  daraus  nicht 
solche  Bruchteile  erhalten,  welche  über  den  Stil  des  Oppius  Aufschluss 
erteilen  könnten.  Hier  kommen  uns  aber  äussere  Kriterien  zu  Hilfe. 
Sowohl  der  Verfasser  des  afrikanischen  Kriegs  als  der  Verfasser  des  spa- 
nischen müssen  diese  Kriege  mitgemacht  haben.  Ist  dies  richtig,  so  kommt 
Oppius  für  keinen  dieser  Kriege  in  Frage,  denn  wie  Nipperdey  festgestellt 
hat,  war  Oppius  bei  beiden  Kriegen  nicht  beteiligt.')  Für  den  afrikanischen 
Krieg  kommt  auch  Hirtius  in  Wegfall,  denn  nach  eigenem  Geständnis  war 
er  diesem  Krieg  ferngeblieben.  Legen  wir  nun  den  stilistischen  Gesichts- 
punkt zu  Grund,  so  ersehen  wir  sofort,  dass  das  bellum  Africanum  nicht 
von  dem  Verfasser  des  achten  Buchs  herrühren  kann,^)  noch  weniger  das 
bellum  Hispaniense.  Dagegen  stellen  sich  unleugbare  Ähnlichkeiten  zwischen 
dem  achten  Buch  und  dem  bellum  Alexandrinum  heraus.  Auf  diese  Ähn- 
lichkeiten gestützt  hat  Nipperdey  den  Satz  ausgesprochen,  dass  das  bellum 
Alexandrinum,  wenn  es  auch  an  Lebhaftigkeit  der  Darstellung  das  achte 
Buch  übertreffe,^)  doch  denselben  Verfasser,  nämlich  A.  Hirtius,  habe.  Im 
Anschluss  hieran  ergab  sich  der  weitere  Satz,  dass  das  bellum  Africanum 
und  das  bellum  Hispaniense  nichts  mit  Hirtius  zu  thun  haben,  und  dass 
beide  Supplemente  verschiedenen  Verfassern  angehören.  Diese  Nipperdey- 
schen  Sätze  wurden  zum  Gemeingut  der  Wissenschaft.  Allein  in  neuester 
Zeit  erhob  sich  gegen  dieselben  von  verschiedenen  Seiten  Opposition.  Viel- 
haber, E.  Fischer,  Fröhlich^)  glaubten  solche  sprachliche  Verschieden- 


')  Die  Tmiy  in  der  Hirtius  seine  Absicht 
aosf&hren  konnte,  währte  sonach  vom  Tod 
Caesars  (15.  Mftn  44)  bis  27.  April  43. 

^)  Ausg.  p.  10  Alexandriae  sane  ne  Op- 
pius quidem  fuit  cum  Caesare,  aed  eo  tem- 
pore Bomae  sive  in  Italia  eommorabatur  (Cic. 
ep.  ad  Att.  XI  7,  5;  8,  1;  14,  2;  17,  2;  18) 
neqtie  in  Africam  Caesarem  camitatus  est 
(eiusd.  ep.  ad  Farn.  IX  6, 1).  Itaque  Oppius 
leff€ttus,  gni  b,  Afr.  €8  commemoratur,  nan 
fuit  hie  Gaius  Oppius,  notus  Caesar is  fami- 
liaris,  Sed  ne  in  Hispaniam  quidem  contra 
Pompeii  liberos  Oppius  cum  Caesare  profec- 
tus  est:  nam  Romas  cum  remansisse  Cic.  (epp. 


ad  Att.Xn  29,2;  44,4;  Xin  19,2;  50)  de- 
monstratur, 

')  Phraseolog.  Verschiedenheiten  stellt 
znsanunen  Wölfflin  1.  c.  p.  328. 

*)  Ausg.  p.  14  inter  hos  commentarios 
differentiam  quandam  iniercedere  confUendum 
est,  sed  ea  in  sola  compositione  ifersatur. 
Neque  vero  genus  scribendi  diversum  est,  sed 
cum  tUerque  liber  narrationem  rerum  gesteh 
rum  nudam  habeat  atque  simplicem,  posterior 
(b.  Afric.)  venustior  est  magisque  perpolUus. 
Eae  autem  res  nequaquam  obstant,  quominus 
ab  eodem  scniptus  sit. 

^)  Realiatisches  und  Stilistisches  p.  30. 


172    BOmische  Litteraturgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


heiten  zwischen  beiden  Werken  gefunden  zu  haben,  dass  zum  mindesten 
die  Identität  der  Verfasser  zweifelhaft  erscheine.  Auf  einen  neuen  Gesichts- 
punkt in  der  Frage  machten  Petersdorff  und  besonders  H.  Schiller  auf- 
merksam, nämlich  dass  die  sprachlichen  Verschiedenheiten  auch  durch  die 
verschiedenen  Quellen  in  den  verschiedenen  Teilen  der  Erzählung  ihre  Er- 
klärung finden  können.  Soweit  war  die  Frage  gefördert,  als  Landgraf 
mit  einer  kühnen  These  in  dieselbe  eingriff.  Der  wesentliche  Inhalt 
dieser  These  ist,  dass  Asinius  Pollio  Redakteur  und  Herausgeber 
des  Gaesar-Hirtianischen  Nachlasses  und  dass  er  Verfasser  des 
bellum  Africanum  ist.  Der  Beweis  für  die  Behauptung  ist  lediglich  ein 
sprachlich-stilistischer,  als  Fundament  dienen  die  in  der  Ciceronischen  Brief- 
sammlung erhaltenen  drei  Briefe  des  Asinius  Pollio.  (Ep.  10,  31,  32,  33). 
Obwohl  nun  einige  sprachliche  Übereinstimmungen  vorhanden  sind,  so  ist 
doch  der  Eindruck,  den  die  Briefe  machen,  ein  ganz  anderer  als  der,  den 
das  bellum  Africanum  hervorruft.  Dort  haben  wir  es  mit  einem  der  Dar- 
stellung völlig  mächtigen  Mann  zu  thun,  hier  mit  einem,  der  ein  grosses 
stilistisches  Unvermögen  an  den  Tag  legt.  Ein  Mann,  der  68mal  interim 
gebraucht,  um  die  Rede  fortzuleiten,  ist  ein  stilistischer  Stümper,  als  einen 
solchen  können  wir  uns  den  berühmten  Kritiker,  Redner  und  Historiker 
Asinius  Pollio  nicht  denken  und  in  dieser  Oestalt  erscheint  er  auch  nicht 
in  den  Briefen.  Noch  von  einer  anderen  Seite  steht  der  These  eine  Schwie- 
rigkeit entgegen.  Bekanntlich  schrieb  Asinius  Pollio  eine  Geschichte  der 
Bürgerkriege  vom  ersten  Triumvirat  an  bis  wohl  zur  Schlacht  bei  Philippi. 
In  diesem  Werk  musste  also  der  afrikanische  Krieg  erzählt  werden  wie 
der  spanische  erzählt  war;  und  dass  der  letztere  ausführlich  behandelt  war, 
zeigt  Suet.  Caes.  55.  Es  müsste  also  zwischen  beiden  Werken  in  einer 
wichtigen  Partie  völlige  Übereinstimmung  des  Inhalts  vorhanden  sein. 
Selbst  wenn  der  Verfasser  von  seinem  früheren  Werk,  dem  bellum  Afri- 
canum geschwiegen  hätte,  was  aber  wenig  wahrscheinlich  ist,  so  hätte  der 
Mitwelt  und  auch  der  folgenden  Zeit  diese  Übereinstimmung  nicht  entgehen 
können,  zumal  die  historiae  des  Asinius  Pollio  „bis  in  das  zweite  Jahr- 
hundert nach  Chr.  in  hohem  Ansehen  gestanden". ^  Der  Urheber  der  These 
bemerkt  am  Schluss  seiner  Betrachtung:  „Wäre  uns  dieses  Werk  (über 
die  Bürgerkriege)  überliefert  worden,  so  wäre  gewiss  schon  längst  seine 
(des  Asinius  Pollio)  Mitwirkung  auch  an  jenen  Eommentarien  entdeckt 
worden.  **  Ich  denke,  dass  diese  Entdeckung  auch  jene  römischen  Kritiker 
machen  konnten,  welche  die  Frage  der  Autorschaft  der  Supplemente  unter- 
suchten. 2) 

Sonach  können  wir  die  LANDORAF'sche  Hypothese  nicht  billigen  und 
müssen  bei  den  NippERDEY'schen  Aufstellungen  stehen  bleiben;  nur  in  einem 
Punkte  können  und  müssen  dieselben  modifiziert  werden,  nämlich  dass  in 
dem  bellum  Alexandrinum,  das  eine  Reihe  von  kriegerischen  Operationen 
auf  ganz  verschiedenen  Schauplätzen  darlegt,  die  Darstellung  des  Hirtius 
je  nach  den  Vorlagen,   die  von  ihm  benützt  wurden,   eine  verschiedene 


')  WöLPFLIK  1.  c.  p.  325. 
')  Anders  liegt  die  Sache  bei  der  Bio- 
graphie Caesars  von  Oppius;  hier  konnten  die 


Kriege  sehr  kurz  behandelt  werden,  so  dass 
die  Kritiker  für  ihr  urteil  keinen  festen 
Boden  hatten. 


HirtiuB  imd  andere  Fortsetzer  Caeears. 


173 


Färbung  erhielt.    Diese  stilistischen  Discrepanzen  haben  auch  das  Urteil 
über  die  Autorschaft  lange  Zeit  erschwert.  Ö 

Es  bleibt  noch  die  Frage  übrig,  wie  sich  die  verschiedenen  Supple- 
mente zusammengefunden  haben.  Es  ist  möglich,  dass  die  Supplemente 
sich  im  Nachlass  des  Hirtius  befanden  oder  auch  dass  solche  erst  später 
hinzukamen.  Für  das  bellum  Africanum  möchte  ich  das  erstere  annehmen, 
für  das  bellum  Hispaniense  das  letztere. 

Suefc.  Caes.  56  Alexandrini  Africique  et  Hispaniensis  incertus  auetor  est;  aJii  Oppium 
putant,  alii  Hirtiutn,  qui  etiam  Galliei  belli  noinsaimum  imperfectumque  librum  suppleverit. 
Weiter  führt  Sueton  unter  dem  Namen  Hirtius  die  Worte  ciäeo  probantur  —  acimus  aus 
der  Vorrede  an.  Hirtius  sagt  in  der  Vorrede  zu  B.  VIII:  Caesaris  nostri  commentarios 
rerum  gestarum  Galliae  non  eohaerentibiis  superioribus  atque  insequentibits  eius  scriptis 
contexuij  navissimumque  imperfectum  ab  rebus  gestis  Alexandriae  canfeci  usque  ad  exitum 
non  quidem  civilis  dissensionis,  euius  finem  nullum  videmus,  sed  vitae  Caesaris.  Die  Dis- 
krepanz, die  zwischen  beiden  Stellen  besteht,  indem  Sueton  als  den  novissimtis  imperfectus- 
que  Über  „das  von  Caesar  wohl  begonnene,  aber  sicher  nicht  weit  geführte  achte  Buch  des 
gallischen  Krieges  bezeichnet,  in  dem  Brief  des  Hirtius  unter  denselben  Worten  das  letzte 
Buch  des  Bürgerkriegs  gemeint  ist,**  beseitigt  Hirsohfeld,  Hermes  24, 103  durch  die  An- 
nahme einer  Lücke,  die  nach  imperfectum  etwa  so  auszufüllen  sei  imperfectum  [supplevi; 
tres  (?)  aliosj. 

Die  Abhandlungen,  welche  sich  mit  der  Frage  nach  der  Autorschaft  der  Supplemente 
beschäftigen,  sind  folgende:  Fröhlich,  Das  Bellum  Africanum  sprachlich  und  historisch 
behandelt,  Brugg  1872  (Bdbus,  Vf.  des  b,  Alexandr.  p.  9).  Realistisches  und  Stilistisches  zu 
Caesar  und  dessen  Foitsetzem,  Festschr.  d.  philolog.  Kränzchens  in  Zürich  1887.  Viel 
HABSB,  Zeitschr.  f.  Osten*.  Gymn.  20, 547.  Ed.  Fischer,  Das  achte  Buch  vom  gall.  Kriege 
und  das  bell,  Alex,.  Passau  1880.  Pbtebsdobff,  Zeitschr.  f.  d.  Gymnasialw.  34, 215.  Schilleb, 
Bayr.  Gymnasialbl.  16, 251.  Landgbaf,  Untersuchungen  zu  Caesar  und  seinen  Fortsetzen!, 
München  1888. 

Seine  Hypothese  führt  Lakdoraf  im  einzelnen  so  durch:  Von  Asinius  Pollio  rührt 
her  das  bellum  Africanum,  welches  sein  Tag  buch  über  diesen  von  ihm  mitgemachten 
Krieg  enthält.  Auch  die  Erzählung  über  die  spanischen  Unruhen,  die  Kap.  48 — 64  des  b.  Alex. 
bilden,  gehen  auf  einen  Bericht  Pollios  zurück,  der  nur  von  Hirtius  redigiert  wurde  und 
an  dem  «nur  relativ  unbedeutende  Änderungen **  vorgenommen  werden  (vgl.  p.  63).  In  dem 
achten  Buch  sind  ausser  kleineren  Zusätzen  von  A.  P.  eingelegt  die  Kap.  23;  47;  48, 1 — 9 
und  die  Schlusskapitel  58;  54;  55,  die  zum  bellum  civile  überleiten.  Die  im  3.  Buch  des 
b.  civ.  von  Kap.  107  an  vorhandene  lückenhafte  Darstellung  Caesars  vervollständigte  A.  P. 
in  den  Schlusskapiteln  108—112;  auch  sonst  sind  noch  Spuren  der  Pollionischen  Thätigkeit 
im  bellum  civile  wahrnehmbar  (vgl.  p.  78).  Dem  eigentlichen  bellum  Alexandrinum  (1 — 33) 
liegen  Aufzeichnungen  Caesars  zu  Grund,  welche  von  Hirtius  und  PoUio  ergänzt  und  er- 
weitert wurden.  Für  die  erste  Abteilung  des  bellum  Ponticum  (84—41)  hatte  Hirtius  sehr 
wenig  ausgearbeitet,  hier  musste  Pollio  mit  Ergänzungen  stark  eingreifen;  weniges  blieb 
für  Pollio  zu  thun  übrig  in  den  Abschnitten  Über  den  illyrischen  Krieg  (42—47)  und  die 
zweite  Abteilung  des  pontischen  Kriegs  (65 — 76). 

Hiezu  nur  noch  einige  Bemerkungen.  Dass  es  ganz  unmöglich  ist,  auf  Grund  des 
geringen  sprachlichen  Materials,  das  zur  Verfügung  steht,  solche  ins  Einzelne  gehende  Schei- 
dungen des  liiterarischen  Guts  vorzunehmen,  dürfte  kaum  bestritten  werden.  Eine  Zusammen- 
stellung der  Ähnlichkeiten,  welche  besonders  beweisend  sein  sollen,  findet  sich  p.  37.  Es 
sind:  pro  eontione  dicere^  nuUum  vestigium  diseedere;  quonam  modOf  in  agris  et  in  villis,  die 
Form  nactus  in  der  gleichen  Verbindung  mit  occasio,  utrobique,  die  Deklination  des  Nom. 
propr,  Bogud  in  der  Verbindung  regnum  Bogudis,  in  potestate  sua  tenere,  die  Nachstellung 
des  Vornamens,  der  Gebrauch  des  Singulars  legio  bei  Angabe  mehrerer  Legionen,  der  Ge- 
brauch der  Distributiva  für  die  Cardinalia.  cupidissime  =  libentissime,  Umschreibung  mit 
facere,  se  ducere  und  subducere,  depugnarCy  pclHcitatio.  Dagegen  wendet  R.  Schnei deb  ein 
und  zeigt  durch  Beispiele  (Berl.  philolog.  Wochenschr.  9  [1889]  nr.  2  p.  55),  „dass  sämtliche 
Wörter  und  Wendungen,  die  Landobaf  als  specifisch  poUionisch  betrachtet,  auch  bei 
an[dern  Schriftstellern  sich  finden."  Bei  dem  bellum  Africanum  kann  der  Urheber  der 
Hypothese  die  grossen  Mängel  der  Komposition  nicht  abstreiten ;  er  sucht  dieselben  dadurch 
zu  erklären,  dass  er  die  Schrift  für  ein  „ Tagebuch*  erklärt,  lülein  dass  ein  solches  nicht 


^)  Eine  Ahnung  hatte  der  vortreffliche 
NiPPKRDKT  auch  hieven;  denn  er  sagt  p.  15 
in  priore  Hbri  parte,  quae  est  de  rebus  Ale- 


xandriae gestis,   etiam   Caesaris  narrationi 
nonnihil  videtur  tribuendum. 


174    fiOmiflohe  LüteratnrgeBchichte.    1.  Die  2eit  der  fiepublik.    2.  Periode. 

vorliegt,  erkennt  man  aus  den  eingestreuten  Reden  (c.  22,  85,  44,  54)  und  daraus,  dass  ja 
der  Verfasser  von  seiner  Person  ganz  absieht,  vgl.  WGlfflin  1.  c.  p.  842.  Auch  die  anonyme 
Herausgabe,  das  vOUige  Schweigen  des  Autors  Über  seine  Person  ist  nicht  probabel  gemacht 
worden.    Gegen  die  Hypothese  erkllirt  sich  neuerdings  Köhler,  Bayr.  Gymnasialbl.  25, 516. 

Überlieferung  des  Corpus  Caesarianum.  Die  Überlieferung  der  im  Corpus 
Caesarianum  vereinigten  Schriften  ist  eine  doppelte ;  die  acht  Bücher  des  gallischen  Kriegs 
sind  durch  eine  ältere,  reinere,  aber  vielfach  lückenhafte  Quelle  überliefert;  daneben  geht 
einher  eine  jüngere,  schlechtere  und  interpolierte  Überlieferung,  welche  alle  Denkschriften 
(Caesars  wie  der  Fortsetzer)  enthält.  Vgl.  Nipperdby  p.  87.  Während  die  Konmientare 
über  den  gallischen  Krieg  zu  den  bestüberlieferten  (eine  Einschränkung  macht  Bebgk,  Zur 
Geschichte  und  Topographie  der  Rheinlande  p.  34,  der  für  dieselben  eine  durchgreifende 
Redaktion  statuiert)  Schriften  des  Altertums  gehören  (Nippbbdet  p.  49),  sind  die  übrigen 
Kommentare  ungemein  verdorben  (Maovio,  Opusc.  1887  p.  579).  Zur  ersten  Klasse  gehören 
der  Amstelodamensis  oder  Bongarsianus  s.  lA  oder  K  (A)  und  der  Parisinus  5763  s.  X  (B), 
zur  zweiten  der  Thuaneus  oder  Parisinus  5764  s.  XII  (T)  und  der  Ursinianus  oder  Vaticanus 
3324  s.  XII  (ü).  Eine  Übersicht  der  Stemmata,  wie  sie  von  Nipperdey,  Heller  (Philol. 
17,  508),  Dbtlefsen  (Philol.  17,  653),  Fbiqell,  Dittenbebobb  (Gott.  Gel.  Anz.  1870  p.  14), 
DiKTEB,  Dübkeb,  Holdeb  aufgestellt  werden,  stellt  übersichtlich  Eusskeb  in  Bursians 
Jahresber.  27,  lat.  Abt.  p.  222  f.  zusammen. 

Ausgaben  (mit  knapper  Auswahl):  Epochemachende  Ausgabe  von  Nippebdey  mit 
vorausgeschickten  meisterhanen  Quaestiones  Caeaariaftae,  Leipz.  1847  (Textausgabe  Leipz. 
1847;  2.  Ausg.,  1857).  Dübnbb,  Paris  1867.  Em.  Hopfmaiin,  Wien  1856,  2.  Aufl.  1890. 
Fb.  Kbanbb,  Leipz.  1861  (B.  Tauchnitz).  B.  Divtbb,  Leipz.  1864—76  (Teubner).  —  Ausgaben 
des  bellum  OaUicum  (mit  dem  8.  Buch)  von  Fbioell,  Upsala  1861,  von  Holdeb,  Freib. 
1882,  von  Whitte,  Hanniae  1887  (unter  dem  Einfluss  Madvigs  stehend).  Zahllose  Schul- 
ausgaben z.  B.  von  Held,  Kbakeb,  Dobebeez,  Waltheb  u.  a.  C,  Asinii  Pollionis  de  belle 
Africo  cammentarius.  Rec.  Wölffliv  et  Miodonski,  Leipz.  1889.  Landobaf,  Der  Bericht 
des  C.  Asinius  Pollio  über  die  span.  Unruhen  des  J.  48  v.  Gh.  (Bell.  Alex.  48 — 64),  Erlang, 
und  Leipz.  1890. 

Hilfsmittel:  Die  hervorragendsten  Hilfsmittel  sind  die  Lexika  von  Mebotjet  zu 
Caesar  und  seinen  Fortsetzen!  (Jena  1884),  von  Pbbuss  zu  den  pseudocaesarischen  Schriften 
(Erlangen  1884),  von  Menge  und  Pbeuss  {lexieon  Caesarianum,  Leipz.  1885),  von  Meusel 
{lexicon  Caesarianum,  Berl.  1884),  dann  der  Index  von  Holdeb  in  seiner  Ausgabe.  Die 
Litteratur  zu  Caesar  ist  nahezu  unabsehbar.  Ein  brauchbarer  Führer  ist  JJLhns,  Caesars 
Konmientarien  und  ihre  litterarische  und  kriegswissenschaftliche  Folgewirkung,  Beiheft  zum 
Militärwochenblatt  1883. 

8.  Cornelius  Nepos. 

123.  Sein  Leben.  Cornelius  Nepos  wird  von  dem  älteren  Plinius 
(n.  h.  3,127)  als  Anwohner  des  Po  bezeichnet;  nach  dem  jüngeren  Plinius 
4,28  war  er  ein  Angehöriger  des  Municipiums,  dem  auch  der  „Insubrer'' 
Titus  Catius  entstammte.  0  IBr  ist  daher  den  Transpadanern  beizuzählen, 
welche  damals  in  der  römischen  Litteratur  eine  hervorragende  Stellung 
einnahmen.  Als  solcher  war  er  befreundet  mit  Catull,  der  ihm  durch  die 
Widmung  seiner  Gedichte  ein  unvergängliches  Denkmal  setzte.  Auch  mit 
Atticus,  mit  dem  er  ungefähr  gleichen  Alters  war  (Corn.  Nep.  25, 19, 1), 
unterhielt  er  sehr  enge  Beziehungen.  Dass  er  auch  dem  Cicero  nahe  stand, 
davon  legte  ein  eigens  publizierter  Briefwechsel  desselben  mit  ihm  Zeugnis 
ab  (Macrob.  2, 1, 14).^)  Vom  politischen  Leben  scheint  er  sich  wie  Atticus 
gänzlich  zurückgezogen  zu  haben;  wenigstens  war  er  nicht  Senator  (Plin. 
ep.  5, 3, 6).  Aus  einer  Stelle  Frontos  müssen  wir  schliessen,  dass  er  wiederum 
wie  sein  Freund  Atticus  sich  mit  Buchhandel  abgab.  Cornelius  Nepos  er- 
reichte ein  hohes  Aller. 

über  das  Leben  des  Cornelius  Nepos  handelt  vortrefflich  Nippebdey  in  der  Einleitung 

»)  Vgl.  MoMMSEN,  Herrn.  3,  62. 

')  In  den  vorhandenen  Briefen  wird  G.  N.  von  Cic.  erwähnt  ad  Att.  16, 14, 4;  16,  5,  5. 


ComeliiM  Hepoa. 


175 


ZU  seiner  Ausgabe.  Vgl.  ftitch  Unoeh,  Der  sog.  Comel.  Nep.  p.  8 — 12.  Die  lückenhafte 
Stelle  Frontos  Nab.  20, 7  lautet:  quorum  libri  pretiosiores  habentur  et  aummam  gJoriam 
retinent,  8i  sunt  a  Lampadione  aut  Staherio  atU  , .  ,  td  aut  [Tirone]  aut  Aelio  .  .  .  atU 
Attico  aut  Nepote. 

124.  Die  Feldhermbiographien.   In  Handschriften  sind  uns  23  Bio- 
graphien nichtrömischer  Feldherm  (darunter  nr.  21   eine  Skizze  über  die 
Feldherrn,  welche  zugleich  Könige  waren)  unter  dem  Namen  des  Aemilius 
Probus  überliefert.    Hieran  schliessen  sich  zwei  Biographien  Atticus  und 
Cato  an,  ^)  welche  als  einem  Buch  des  Cornelius  Nepos  über  lateinische  Histo- 
riker entnommen  sich  darstellen.    Auf  dasselbe  Buch  des  Cornelius  Nepos 
werden  zwei  Fragmente  aus  einem  Brief  der  Cornelia,   der  Mutter  der 
Graechen  zurückgeführt.^)    Über  den  Aemilius  Probus  gibt  uns  lediglich 
Aufschluss  ein  Epigramm  von  sechs  metrisch  mehrfach  fehlerhaften  Disti- 
chen, in  dem  ein  Probus  einem  Kaiser  Theodosius  ein  Buch  (corpus)  sendet, 
an  dem  er,  sein  Vater  und  sein  Orossvater  geschrieben.    Da  aber  aus- 
drücklich als  Inhalt  des  Buches  „Gedichte"  (carmina)  angegeben  werden, 
so  folgt,  dass  das  dem  Theodosius  übersendete  Buch  gar  nichts  mit  unsern 
Feldherrnbiographien  zu  thun  hat  und  dass  Probus  weder  der  Schreiber 
noch  der  Verfasser  derselben  sein  kann.    Und  selbst  ein  flüchtiger  Blick 
genügt,  um  zur  Überzeugung  zu  gelangen,   dass  unser  Buch  nicht  in  die 
Zeit  eines  Theodosius,  mag  es  der  erste  (379—395)  oder  der  zweite  (408 — 450) 
sein,  fallen  kann.    Der  Name  Probus  ist  also  nur  durch  einen  Irrtum  mit 
den  Feldhermbiographien  verknüpft  worden.  Der  Hergang  dürfte  folgender 
gewesen  sein:  Zur  Füllung  eines  leeren  Raums  der  mit  der  23.  Biographie 
schliessenden  Seite  wurde  jenes  Epigramm  verwendet;  es  muss  ursprüng- 
lich die  jetzt  verloren  gegangene  Überschrift  Aemilius  Probus  gehabt  haben, 
denn  diese  (nicht  bloss  Probus)  finden  wir  an  der  Spitze  und  am  Schluss 
des  Feldherrnbuchs.     Ein   flüchtiger  Leser    des  Epigramms   machte   den 
unrichtigen  Schluss,   dass  dieser  Aemilius  Probus  der  Verfasser  des  Feld- 
hemibuchs  sei,  und  setzte  an  Stelle  des  richtigen  Autors  den  falschen; 
vielleicht  war  aber  auch  der  Name  des  Autors  verloren  gegangen.   Sonach 
steht  uns  für  die  Autorschaft  des  Feldherrnbuchs  kein  brauchbares  hand- 
schriftliches Zeugnis  zur  Verfügung;  wir  müssen  daher  den  Verfasser  durch 
Kombination  ermitteln.    Mehrere  Stellen  führen  deutlich  auf  die  Zeit  des 
Übergangs  von  der  Republik  zur  Monarchie  (17, 4, 2;  18, 8,  2;  1,  6, 2),  ja 
genauer  betrachtet  scheinen  sich  die  zwei  letzten  auf  das  Ende  des  J.  36 
v.  Ch.  zu  beziehen.  3)    In  dieser  Zeit  lebte  T.  Pomponius  Atticus  und  einem 
Atticus  ist  das  Feldherrnbuch  gewidmet;  in  dieser  Zeit  lebte  aber  auch 
Cornelius  Nepos,  der  mit  Atticus  sehr  befreundet  war  und  ein  Buch  über 
berühmte  Männer  (mit  verschiedenen  Abteilungen)  geschrieben  hatte.  Muss 
uns  schon  dieses  Zusammentreffen  die  Annahme,  dass  Cornelius  Nepos  der 
Autor  der  Feldherrnbiographien  sei,  nahelegen,  so  wird  diese  Annahme 
zur  Gewissheit,  wenn  wir  sehen,  dass  zwischen  den  von  der  Überlieferung 
dem  Cornelius  Nepos  zugeteilten  Biographien  des  Cato  und  des  Atticus 
und  dem  Feldherrnbuch  in  Stil,  Komposition  und  Gedanken  Übereinstim- 

')  über  diese  handschriftliche  Reihen- 
folge Roth,  Aem.  Prob.  p.  149. 

')  Wir  haben  über  dieselben  §  74  ge- 


handelt. 

>)  Vgl.  RosENHAUBB  p.  738  und  p.  751. 


176    IftOmiBche  Lüteratnrgeschiolite.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periede. 

mung  besteht.  Eine  solche  tritt  uns  aber  so  eindringlich  entgegen,  dass 
die  Identität  des  Verfassers  nicht  geleugnet  werden  kann.  Oifanius  hatte 
daher  1566,  als  er  die  Feldherrnbiographien  unserm  Cornelius  Nepos  zu- 
erkannte, das  Richtige  gesehen. 

Die  anderen  Wege,  die  eingeschlagen  wurden,  den  Verfasser  des  Feldhermbachs  zu 
bestimmen,  sind  verfehlt.  An  Aemilius  Probus  als  Verfasser  hält  Rinck  fest;  in  sehr  aus- 
führlichen, Roths  Ausgabe  vorausgeschickten  Prolegomena  sucht  er  die  These  zu  erweisen 
(p.  XXXV):  Äemilium  Prdbum  aevo  Theodosiano  sine  fratide  nomine  C&rn,  Nepotis  libf*um 
de  exeeUentibus  dticibus  scripsisae,  mutilumque  opus  Carnelianum  de  viris  illustribtis  supple- 
visse,  sictdi  Hirtius  commentarios  Itäii  Caesaris  et  Freinshemius  Curtii  historiam  de  Ale- 
xandra supplevU.  Allein  von  aUem  andern,  wie  Stil,  Zeitanspielungen,  abgesehen,  widerlegt 
diese  Ansicht  schon  die  kurze  Bemerkung  Lachmakks,  Kl.  Sehr.  2, 188,  dass  nach  dem 
Epigranmi  Frobus  nicht  vitas,  sondern  carmina  an  seinen  Kaiser  schickt.  In  der  neuesten 
Zeit  ist  eine  andere  Hypothese  an  den  Tag  getreten;  ünobb  will  nämlich  in  einer  gelehrten 
Abhandlung  „Der  sogenannte  Cornelius  Nepos  (Abb.  der  Münchner  Akad.  16.  Bd.  I.Abt 
1881)"  den  Nachweis  liefern,  dass  nicht  Cornelius  Nepos,  sondern  Hygin  der  Autor  des 
Feldhermbuchs  ist.  Allein  dass  diese  H3rpothese  sowohl  in  ihrem  negativen  als  in  ihrem 
positiven  Teil  irrig  ist,  hat  ebenso  bündig  wie  schlagend  Rossnhaueb,  Fhilol.  Anzeiger  13, 
733 — 759  nachgewiesen.  Man  vgl.  nur  z.  B.  die  Tafel,  in  der  die  sprachlichen  Überein- 
stimmungen des  Feldherm-  und  des  Historikerbuchs  zusammengestellt  sind,  und  man  wird 
RosBNHAUER  beistimmen,  „dass  sich  nicht  leicht  unter  zwei  verschiedenen  Schriften  irgend 
eines  andern  Autors  eine  solche  Fülle  sprachlicher  Übereinstimmung  findet,  wie  sie  uns 
hier  vorliegt"  (p.  758).  Vgl.  Liebebkühn,  Vindicuie,  Leipz.  1844  p.  106.  Lupus,  Fleckeis. 
J.  1882  n.  379  (Der  Sprachgebr.  des  C.  N.,  Berl.  1876).  Die  Ansicht,  dass  wir  im  Feld- 
hermbuch  (wie  im  Cato)  Exzerpte  aus  dem  biographischen  Werke  des  Cornelius  Nepos 
haben  (vgl.  H.  Haupt,  de  auctoris  de  viris  iUttstribus  libro  p.  39  u.  a.),  ist  niemals  ein- 
gehend begründet  worden.  Noch  ist  eine  Vermutung  Bebgks,  Opusc.  2,  729  nr.  33  zu  er- 
wähnen. Da  das  Epigramm  nur  einen  Probus,  Überschrift  und  Unterschrift  des  Feldherm- 
buchs aber  den  Namen  Aemilius  Probus  aufweist,  so  glaubt  Bbbok,  dass  Aemilius  aus 
einem  missverstandenen  Em(endavi)  Probus  entstanden  sei.  Da  aber  neben  dem  Epigramm 
sich  eine  solche  subseripiio  schwer  annehmen  lässt,  so  ziehe  ich  die  Deutung  Lachmanns 
(1.  c),  dass  das  Epigramm  ursprünglich  eine  jetzt  verlorene  Überschrift  (Aemilius  Probus) 
gehabt  habe,  vor. 

125.    Die  Struktur  des  biographischen  Werks  des  Nepos.    Das 

Werk  über  die  berühmten  Männer  (de  viris  illustribus)  umfasste  mindestens 
16  Bücher,  denn  dieses  Buch  wird  noch  von  Gharisius  citiert  (1,220).  Es 
handelt  sich  nun  darum,  den  Aufbau  des  Werkes  festzustellen.  Da  Nepos 
am  Schluss  des  Feldherrnbuchs  (23,13,4),  in  dem  griechische  und  andere 
ausländische  Feldherrn  geschildert  werden,  zu  den  römischen  Feldherrn 
überzugehen  verspricht,  da  wir  ferner  ein  Buch  über  lateinische  Historiker 
kennen,  in  dem  die  Biographien  des  Cato  und  des  Atticus  standen,  und 
10,3,2  auf  ein  solches  über  griechische  Historiker  verwiesen  wird,  so 
müssen  wir  folgern,  einmal  dass  die  berühmten  Männer  nach  Kategorien 
behandelt  waren,  dann  dass  in  jeder  Kategorie  zuerst  die  Ausländer 
(Griechen)  geschildert  wurden,  dann  die  Römer  in  einem  zweiten.  Es 
erübrigt  noch  festzustellen,  welche  Kategorien  ausser  den  Feldherrn  und 
den  Historikern  aufgestellt  waren.  Aus  dem  Feldhermbuch  erfahren  wir 
(21, 1),  dass  eine  eigene  Kategorie  die  „Könige**  bildeten  und  vor  den 
Feldherm  standen  (10,9,5).  Die  Fragmente*)  weisen  „Dichter"  (23)  und 
„Grammatiker**  auf  (30).  Wir  erhalten  also  5  Kategorien:  Könige,  Feld- 
herm, Historiker,  Dichter,  Grammatiker  mit  10  Büchern  insgesamt.  Da 
aber  das  Werk  aus  mindestens  16  Büchern  bestand,  so  fehlen  uns  noch 
drei  Kategorien.   Wahrscheinlich  wurden  diese  von  Staatsmännern,  Rednern 


*)  Wir  eitleren  dieselben  nach  Halx. 


Comelins  NepoB.  177 

und  Philosophen  gebildet.  Die  Reihenfolge  der  Kategorien  kann  nicht  mit 
Sicherheit  eruiert  werden.  Doch  ist  der  Aufbau,  wie  ihn  Nipperdey  ent- 
worfen hat,  sehr  wahrscheinlich:  1)  Könige,  2)  Feldherm,  3)  Staatsmänner 
(Nxppebdey:  Juristen),*)  4)  Redner,  5)  Dichter,  6)  Philosophen,  7)  Geschicht- 
schreiber, 8)  Grammatiker.  Jedes  dieser  Fächer  umfasste  zwei  Bücher. 
Da  die  Ausländer  den  Inländern  vorausgingen,  so  fallen  die  Bücher  mit 
ungeraden  Nummern  auf  die  ausländischen,  die  mit  geraden  auf  die  römi- 
schen Berühmtheiten.  Dass  noch  andere  Klassen  von  Beiiihmtheiten  be- 
handelt waren,  lässt  sich  nicht  erweisen. 

Dieser  Anordnung  steUen  sich  einige  Schwierigkeiten  entgegen.  GeUius  citiert  n&m- 
lieh  11,  8,  5  das  Buch  über  die  lateinischen  Historiker  als  XIII.;  femer  wird  im  Feldherm- 
bnch  10,  3, 2  auf  den  liber  über  die  griechischen  Historiker  in  der  Vergangenheit  hinge- 
wiesen (expasita  sunt).  Die  zweite  Schwierigkeit  l5st  sich  durch  die  Anmjune,  dass  Nepos 
nach  einem  fertig  vorliegenden  Plane  schrieb  und  dass  das  Werk  nicht  successiv  erschien ; 
die  erste  dagegen  durch  die  Schreibung  XUII  statt  XIU.  Eine  neue  Kategorie  .Eflnstler*' 
wollte  H.  Bruvk  hinzufügen,  Sitzungsb.  der  Mflnch.  Akad.  1875  p.  311.  Mit  Unrecht  vgl. 
ÜBLiCBS,  Burs.  Jahresb.  1876  H  p.  18. 

Das  Werk  erschien  in  zwei  Ausgaben,  wie  aus  folgendem  ersichtlich:  Das  Feld- 
hermbuch wendet  sich  in  der  Vorrede  an  Atticus,  setzt  also  denselben  als  lebend  voraus; 
im  Leben  des  Hannibal  dagegen  findet  sich  c.  13  eine  Äusserung  {Atticus  —  in  annali  suo 
scriptum  reliauit),  nach  welcher  Atticus  gestorben  sein  muss,  vgl.  Asbach,  Analeeta,  Bonn 
1878  p.  34.  Ebenso  ist  die  Biographie  des  Atticus  im  Historikerbuch  bis  zum  18.  Kap.  bei 
Lebzeiten  desselben  herausgegeben  worden,  das  übrige  nach  seinem  Tode,  der  im  J.  32 
eiatrat.  Wir  haben  also  zwei  Ausgaben,  die  erste  erschien  vor  dem  J.  32,  die  andere 
nach  diesem  Jahre.  Und  zwar  erschien  die  erste  Ausgabe  nicht  lange  vor  32,  etwa  35 
oder  34,  vgl.  Nippebdby  p.  XVn,  Rosenhaübb  p.  739. 

Die  zweite  Auflage  erschien  zwischen  31 — 27,  denn  Octavian  hatte  bereits  den  Titel 
Imperator,  aber  nicht  den  Titel  Augustus  (25,19,2).  Die  Verftndemngen  der  zweiten  Auf- 
lage gibt  Cornelius  Nepos  fttr  das  Historikerbuch  selbst  an;  er  fügte  die  Kapitel  19,  20, 
21, 22  im  Leben  des  Atticus  hinzu.  Wahrscheinlich  ist  auch,  dass  in  dem  Vorausgehenden 
die  Stellen,  in  denen  er  von  den  Gewohnheiten  des  Atticus  in  der  Vergangenheit  s^cht, 
jetzt  erst  diese  Zeit  erhielten.  Die  erste  Auflage  des  Feldhermbuchs  schloss  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  mit  der  Skizze  über  die  KOnige,  denn  diese  bilden  gewissermassen  einen 
Anhang  zu  den  Feldherrenbiographien.  Da  nun  dieser  Skizze  die  Biographien  Hamilcars  und 
Hannibak  nachfolgen,  so  scheinen  dieselben  mit  der  Stelle  21, 3, 5  erst  in  der  zweiten 
Ausgabe  hinzugekommen  zu  sein.    Auf  dieselben  wurde  aber  bereits  13, 4, 5  hingewiesen. 

126.  Die  verlorenen  Schriften.  Auch  die  übrige  Schriftstellerei 
des  Nepos  —  von  seinen  erotischen  Gedichten,  deren  Plin.  ep.  5,  3,  6  ge- 
denkt, haben  wir  p.  155  gesprochen  —  bewegt  sich  auf  dem  Gebiete  der 
antiquarisch-historischen  und  der  verwandten  geographischen  Forschung. 
Das  älteste  Werk  war  eine  Chronik  in  drei  Büchern;  dieselbe  erwähnt 
Catull  in  dem  Widmungsgedicht;  sonach  war  sie  nicht  nach  spätestens 
52  V.  Chr.  geschrieben.  Nach  den  wenigen  erhaltenen  Fragmenten  zu 
schliessen,  gab  hier  Cornelius  nicht  bloss  die  wichtigen  Daten  aus  der 
römischen,  sondern  auch  aus  der  ausländischen  Geschichte  (fr.  8).  Auch 
die  mythischen  Zeiten  waren  behandelt  und  zwar,  wie  fr.  3  zeigt,  mit 
rationalistischer  Tendenz.  Eine  litteraturgeschichtliche  Angabe  (über  Ar- 
chilochus)  enthält  fr.  6.  Muster  dürfte  die  in  Versen  abgefasste  Chronik 
des  ApoUodor  gewesen  sein;  ihre  Benützung  wenigstens  zeigt  fr.  5.  Weiter- 
hin schrieb  Nepos  „Beispiele*^  (exempla)  in  mindestens  5  Büchern  (Gell. 
6,  18,  11).  Dieselben  fallen  nach  43  v.  Chr.,  wenn  das,  was  Sueton  Aug.  77 
erzählt,   in  diesem  Werke   stand.     Die  erhaltenen   Fragmente   berühren 


')  Vgl.  RoSBKHAinER,  p.  740. 
BMklbnch  der  kUw.  AltertumawiMcnachaft.  VUI.  12 


178    BOmiBohe  Litteraturgefichiclite.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

grösstenteils  Kulturhistorisches;  z.  B.  nr.  17  über  das  Aufkommen  der  ver- 
schiedenen Purpurarten,  nr.  14  über  die  Verwendung  des  Marmors,  nr.  12 
über  die  Zeit,  wann  die  Schindelbedachung  abgekommen  u.  a.  Von  Pom- 
ponius  Mela  und  dem  älteren  Plinius  wird  öfters  Cornelius  Nepos  für  geo- 
graphische Angaben  angeführt;  wir  müssen  daher  auch  ein  geographisches 
Werk  des  Cornelius  annehmen.  Dasselbe  war  aber  unkritisch,  wie  aus 
dem  Tadel  des  Plinius  n.  h.  5,  1,  4  hervoigeht.  Endlich  verfasste  er  eine 
Monographie  über  den  alten  Cato  (Corn.  Nep.  24,  3,  5)  und  eine  Bio- 
graphie Ciceros  (Gell.  15,  28). 

127.  Charakteristik  des  Cornelius.  Die  hervorstechenden  Eigen- 
tümlichkeiten der  Schriftstellerei  des  Cornelius  Nepos  sind,  dass  sie  über 
das  Römische  hinausgreift  und  auch  das  Ausländische  beizieht,  dann  dass 
sie  vorwiegend  das  biographische  und  kulturgeschichtliche  Moment  pflegt. 
Sein  schriftstellerisches  Talent  können  wir  nur  aus  den  Überresten  seines 
biographischen  Werks  beurteilen.  Das  erste,  was  der  Würdigung  unter- 
stellt werden  muss,  ist  der  Aufbau  desselben  nach  Fachwerken.  Zu  diesem 
Zweck  war  es  notwendig,  einmal  die  Fachwerke  richtig  auszuwählen  und 
dieselben  passend  zu  ordnen,  dann  für  jedes  Fachwerk  die  hervorragendsten 
Persönlichkeiten  auszusuchen  und  die  ausgesuchten  in  eine  natürliche  Reihen- 
folge zu  bringen.  Wie  hat  Nepos  diese  doppelte  Aufgabe  gelöst?  Die 
erste  anlangend  können  wir  nur  ein  bedingtes  Urteil  abgeben,  da  hier  die 
Überlieferung  uns  zu  wenig  Daten  an  die  Hand  gibt.  Wenn  aber  Nipper- 
dey's  Aufstellung  das  Richtige  getroffen  hat,  so  dürfte  unser  Autor  keinem 
erheblichen  Tadel  begegnen.  Nur  einmal  zeigt  es  sich,  dass  ihm  sein  Fach- 
werk Schwierigkeiten  bereitet.  Der  Aufbau  desselben  beruht  nämlich 
darauf,  dass  den  Königen  die  Nichtkönige  gegenübergestellt  werden,  nach 
den  Fächern  des  Wissens  und  Könnens  geschieden.  Allein  trotzdem  kommt 
er  in  dem  Feldhermbuch  auf  die  Könige  zu  sprechen,  welche  zugleich 
Feldherrn  waren.  Nur  mangelhaft  hat  Nepos  die  zweite  Aufgabe  gelöst, 
weder  ist  die  Auswahl  der  Berühmtheiten  in  den  einzelnen  Fächern  durch- 
weg eine  glückliche  zu  nennen,  es  fehlen  auf  der  einen  Seite  hervorragende 
Personen,  andererseits  sind  minderbedeutende  aufgenommen;  noch  ist  die 
Reihenfolge  der  Biographien  eine  naturgemässe,  der  Autor  scheidet  nicht 
scharf  die  zwei  Klassen  der  ausländischen  Feldherrn,  Griechen  und  Nicht- 
griechen;  ja  er  spricht  einmal  sogar  unkorrekt  von  Griechen,  obwohl  er 
auch  Nichtgriechen  unter  den  ausländischen  Feldherrn  behandelt  hatte  (21, 1). 
Nachdem  einmal  der  Autor  beschlossen  hatte,  seine  Biographien  nach  Fach- 
werken anzuordnen,  so  musste  bei  der  Ausführung  seine  erste  Aufgabe  sein, 
in  jeder  Biographie  die  Seite  in  den  Vordergrund  zu  stellen,  welche  auf 
das  betreffende  Fach  hinweist.  Auch  dies  ist  nicht  beachtet  worden.  Man 
sieht,  das  Fachwerk  ist  nur  ein  äusserer  Rahmen,  dasselbe  hat  nicht  be- 
stimmend auf  die  Komposition  eingewirkt.  Aber  auch  abgesehen  davon 
sind  die  Biographien  keine  Meisterwerke.  C.  Nepos  ist  nicht  im  stände, 
ein  adäquates  Lebensbild  zu  zeichnen;  er  verfahrt  nicht  psychologisch, 
sondern  äusserlich-schematisch.  Das  Anekdotenhafte  tritt  stark  hervor. 
Es  fehlt  ihm  der  weite  Gesichtskreis  und  der  höhere  Massstab;  nur  zu 
leicht  lässt  er  sich  gerade  von  der  Persönlichkeit,   die  er  behandelt,   zu 


C.  SallaBiilis  CriBpuB.  179 

einer  Überschätzung  der  Bedeutung  derselben  hinreissen;  im  Zusammen- 
hang damit  steht,  dass  er  lieber  das  Rühmliche  als  das  Tadelnswerte  an 
seinen  Helden  hervorhebt,  was  für  ein  liebevolles  Gemüt,  aber  nicht  für 
einen  scharfen  Geist  spricht.  In  den  historischen  und  geographischen  Daten  *) 
ist  er  ungemein  nachlässig,  Verwechslungen,  Auslassungen,  Widersprüche, 
Unrichtigkeiten  finden  sich  das  ganze  Buch  hindurch.  Quellen  werden 
mehrere  namentlich  aufgezählt;  allein  es  ist  sehr  fraglich,  ob  sie  alle  wirk- 
lich benützt  wurden;  wenigstens  ist  7,  11,  1,  wo  er  drei  Quellen  nennt, 
nachzuweisen,  dass  er  nur  eine  herangezogen  hat.^)  Der  Stil  ist  der 
schlichte,  der  sich  frei  hält  von  grosser  Periodologie  und  sich  in  einem  sehr 
beschränkten  Wortschatz  bewegt.  Derselbe  ist  aber  durch  das  Rhetorisch- 
zugespitzte imd  Zierliche  gehoben.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ist  es 
der  Stil  der  Jungattiker. 

Vorzüglich  handelt  über  Nepos  die  Einleitung  Nippbbdets  zu  seiner  Ausgabe;  von 
ihr  hat  jede  Betrachtung  des  Autors  auszugehen.  Zu  der  Quellenfrage  vergleiche  Wichebs, 
disquisitio  eritica  de  fontibus  et  auctoritate  C.  N,,  Groning.  1828.  Ekkeb,  de  fontibus  et 
auetaritate  C.  N,  in  Nova  Acta  soc.  Rheno-Traiect.  lü  (1828)  p.  193.  Fbeui>skbbbo,  Quaest. 
higt,  in  C.  N,  vUas,  EOln  1889,  Bonn  1842.  Göthe,  Die  Quellen  des  N.  zur  grieoh.  Ge- 
schichte, Glogau  1878.  Habhkel,  Die  Quellen  des  C.  N.  im  Leben  Hannibals,  Jenaer  Diss. 
1888.  Hiezu  kommen  die  Abhandlungen,  welche  die  Quellenfrage  des  C.  N.  in  Verbindung 
mit  andern  Autoren  darlegen,  z.  B.  Lippelt,  Qwiest,  biographicaej  Bonn  1889. 

Überlieferung:  Die  Überlieferung  beruht  auf  zwei  Familien;  der  beste  Codex,  der 
Cod.  Gifanii  oder  Danielis  ist  verloren;  unser  Repräsentant  der  besseren  Familie  ist  jetzt  der 
Cod.  Parcensis  in  LOwen  (s.  XV).  Zalilreich  sind  die  Handschriften  der  zweiten,  geringeren 
Familie;  bestes  Exemplar  der  Gudianus  166  in  Wolfenbüttel  (s.  Xn/UI).  Über  die  Hand- 
schriften Roth  Ausg.  p.  207,  Rh.  Mus.  8, 626.    Gemss,  philol  Wochenschr.  IX  p.  801—804. 

Ausgaben:  Aus  der  ungeheuren  Zahl  hebe  ich  folgende  heraus:  Lambin,  Par.  1569 
Aemilius  Prabus  et  Cornelii  Nepotis  quae  supersunt,  £.  J.  Roth  (mit  den  Proleg.  von 
Rikck),  Bas.  1841.  Ausgabe  von  Halk  mit  hnt.  Apparat,  Leipz.  1871  (Flbos:eisen  1884). 
NiPPBBDBY  (Textausgabe  mit  Apparat),  Berl.  1867.  Cobst  1881.  Akdbbsbk,  Leipz.  1884. 
A.  Weidker,  Leipz.  1887.  Obtxakv,  Leipz.  1886  u.  a.  Von  den  erklärenden  Ausgaben 
ist  unstreitig  die  beste  die  von  Nipperoet,  Leipz.  1849.  Sie  kontrolliert  fortwährend  die 
historischen  Angaben  des  C.  Nep.  und  enthält  eine  Fülle  treffender  sachlicher  und  sprach- 
licher Bemerkungen.  Ergänzend  treten  hinzu  die  spicilegia  eritica  (jetzt  gesammelt  in  den 
Opusc.,  Berl.  1877),  welche  Nippebdbt  als  feinen  Beobachter  des  Sprachgebrauchs  und  ganz 
hervorragenden  Kritiker  darthun,  so  dass  Halk  mit  Recht  sagen  konnte :  nemo  post  Lam- 
binum  melius  de  Nepote  emendando  meruit. 

9.   C.  Sallustius  Crispus. 

128.  Sein  Leben.  C.  Sallustius  Crispus  stammt  aus  der  sabinischen 
Stadt  Amiternum.  Als  sein  Geburtsjahr  werden  wir  das  Jahr  86  v.  Ch. 
anzunehmen  haben.  Seine  politische  Laufbahn  begann  er  mit  der  Quästur. 
Volkstribun  wurde  er  im  Jahre  52,  als  solcher  sprach  er  sehr  heftig  gegen 
Milo  in  den  bekannten  Händeln.  Im  Jahr  50  wurde  er  von  dem  Censor 
Appius  Claudius  Pulcher  aus  dem  Senat  ausgestossen  (Dio  40, 63).  Der 
Grund  war  sein  anstössiger  Lebenswandel.  Ein  Faktum  ist  uns  überliefert. 
Varro  erzählte  in  einem  Logistoricus  „Pius  de  pace*',  dass  Sallust  von 
Milo  im  Ehebruch  mit  dessen  Frau  (Fausta)  ertappt,  mit  Ruthenstreichen 
gezüchtigt  und  gegen  eine  Geldentschädigung  frei  gegeben  worden  sei 
{Gell.  17, 18).  Von  Caesar  wurde  er  durch  Verleihung  der  Quästur  wieder 
in  den  Senat  aufgenommen.    Er  übernahm  dann  mehrere  militärische  Kom- 

»)  Vgl.  ÜN6BB  p.  20  und  p.  28. 

')  G6THE,  Die  Quellen  des  C.  N.  p.  19. 

12* 


180     Bömiache  LitteratnrgeBohiclite.    I.  Die  Zeit  der  Republik,    2.  Periode. 


mandos;  wir  finden  ihn  in  Illyrien,  wo  er  mit  Basilus  gegen  Octavius  und 
Libo  kämpfte,  aber  besiegt  wurde.  Dann  wurde  er  zur  Unterdrückung 
einer  Meuterei  der  Soldaten  nach  Campanien  geschickt  (47),  wo  er  fast 
ums  Leben  gekommen  wäre.  Im  afrikanischen  Krieg  ist  er  als  Prätor  bei 
Operationen  zur  See  verwendet  (b.  Afric.  8  und  34);  er  blieb  dann  als  pro 
consule  cum  imperio  in  dem  vormaligen  Königreich  Jubas,  in  Africa  nova. 
Hier  hatte  er  durch  grosse  Erpressungen  sich  so  bereichert,  dass  er  die 
Tiburtinische  Villa  Caesars  kaufen^)  und  die  nach  ihm  benannten  Gärten 
(Tac.  A.  13, 47 ;  Vitruv.  3, 2)  auf  dem  Quirinal  anlegen  konnte.  Dem  politi- 
schen Leben  blieb  er  von  da  an  fern  und  beschloss  sein  noch  übriges  Leben 
der  Oeschichtschreibung  zu  widmen.  Bezüglich  des  Todesjahrs  ist  die 
glaubwürdigste  Angabe  die,  nach  welcher  dasselbe  das  Jahr  34  (oder  35)  ist. 
Sein  Adoptivsohn  und  Grossne£fe,  ein  vertrauter  Freund  des  Augustus, 
wird  uns  von  Tacitus  A.  3,  30  charakterisiert  und  ist  bekanntlich  der  in  der 
Ode  2,  2  des  Horaz  Angeredete. 

Hieronymus  2,  133  Sghokne  fügt  zu  dem  Jahr  87  das  Geburtsjahr  des  Sallust;  und 
der  codex  Freherianus  zu  dem  J.  86.  Das  Chronic.  Paschale  1,  347  gibt  als  Greburtsjahr 
des  Sallust  unter  Angabe  der  Konsuln  ebenfalls  86  an.  Über  das  Sterbjahr  differieren  die 
Quellen.  Hieron.  stellt  p.  139  zu  dem  J.  36  die  Notiz :  SaUustius  diem  obiit  quadriennio  ante 
Actiacum  bellum.  Das  Chronicon  Paschale  dagegen  verlegt  den  Tod  (wiederum  unter  An- 
gabe der  Konsuln)  ins  Jahr  39.  Ascon.  p,  33  K.  Seh.  Inter  primos  et  Q.  Pampeiua  et  C. 
Sallustius  et  T.  Munatius  Plancua  tribuni  plebis  inimicissimas  eontiones  de  Miione  habe- 
bant,  invidiosas  etiam  de  Cicerone,  quod  Milonem  tanto  studio  defenderet,  Invect.  in  Sali. 
6,  17  Saüu8tiu8,  qui  in  pace  ne  Senator  quidem  manserat,  posteaquam  res  publica  armis 
oppressa  est,  idem  a  Victore,  qui  exsules  reduxU,  in  senatum  per  quaesturam  reductus  est. 
Vgl.  MoMMSEN,  R.  Staatsr.  2, 1,  396  Anm.  Oros.  6»  15, 8  Basilus  et  SaUustius  cum  singulis 
legionibus,  gutbus  praeerant,  —  adversus  Octavium  et  Libonem  profecti  et  victi  sunt.  Dio 
Cass.  42,  52  rd  di  drj  argaioneda  ov/  ijavxß  avtov  haqa^sv  —  itf  KafJinaviif  dk  ol  nXeiovg 
avrtjy  cJs*  xal  ig  rtjy  ^JtpQixrjv  nQonXevcovuByot  rjcav  '  ovxoi,  ovr  rov  xb  £aXovanoy  nag* 
oXlyov  dnixxBivav  —  xai  insidij  xai  ixiiyog  diaq>vyaiy  avxovs  ig  xrjv  'Poiuijy  ngog  xov 
Kttiaaga  üigfÄtjae,  xd  yiyvofjtevd  ol  drjXioatoy,  ifpitmovxo  XB  avx^  av^vol  fXfjoByog  <fBMfAB~ 
voi,  xai  a)iXovg  xB  xtay  ivxvxovxmy  atpiai  xal  ßovXßvxdg  dvo  Batpa^ay.  Vgl.  App.  b.  civ.  2, 
92.  Bell.  Afric.  97  ex  regnoque  (Jubae)  protdncia  facta  atque  ibi  SaJlustio  pro  consule 
cum  impeiHo  relicto  ipse  (Caesar)  Zama  egressus  Uticam  se  recepit, 

129.  Die  Monographie  über  die  catilinarische  VerschwOning 
(Bellum  Catilinae).  Nicht  die  gesamte  römische  Geschichte  nahm  sich 
Sallust  nach  seinem  Abgang  aus  dem  politischen  Leben  zum  Ziel,  sondern 
nur  einzelne  Partien.  Zu  diesem  Zweck  hatte  er  sich  von  dem  be- 
rühmten Philologen  L.  Ateius  einen  Abriss  der  römischen  Geschichte  ver- 
fertigen lassen.  Zuerst  lenkte  er  seine  Blicke  auf  ein  durch  die  Neuheit 
der  Ruchlosigkeit  und  des  Wagnisses  bemerkenswertes  Ereignis  (c.  4),  auf 
die  Catilinarische  Verschwörung.  Als  er  dieselbe  schrieb,  war  Caesar 
bereits  tot;  denn  den  Tod  Caesars  setzt  die  schöne  Schilderung  voraus, 
die  er  von  ihm  entwirft  (54,1 — 4).  Als  Quellen  konnte  er  benützen  die 
Senatsakten,  die  Ciceronischen  Reden,  die  Schriften  Ciceros  undAtticus'  über 
des  ersteren  Konsulat,  die  an  Pompeius  gerichtete  Denkschrift  Ciceros  über 
den  gleichen  Gegenstand,  die  Litteratur  über  den  jüngeren  Cato*)  u.  a. 
Auch  aus  eigenen  Erinnerungen  und  aus  Mitteilungen  von  Zeitgenossen 


*)  Invect.  in  Sali.  1,  19.  Jordak  hfilt 
Hermes  11, 325  ohne  Grand  Tiburti  für  ein 
Glossem  und  den  Erwerb  einer  Villa  des  Cäsar 
und  j,der  Übrigen  Besitzungen**  für  erfunden. 


^)  DüBi,  Die  jüngeren  Quellen  der  ca- 
tilinarischen  Verschwörung  in  Fleckeis.  J. 
113,  851.    {De  S.  fontibus  ac  fide,  Bern  1872.) 


C.  SallnstinB  Grispiui.  131 

konnte  er  reiches  Material  schöpfen.  Allein  eine  gewissenhafte  Benützung 
dieser  Quellen  unterliess  Sallust.  Ihm  war  es  mehr  darum  zu  thun,  ein 
lebensvolles  Gemälde,  das  den  Leser  packt,  zu  entwerfen,  glänzende  Cha- 
rakterschilderungen zu  geben  als  die  Ereignisse  mit  Sorgfalt  im  einzelnen 
festzustellen.  Wir  finden  grosse  chronologische  Verstösse.  So  ist  längst 
bemerkt  worden,  dass  er  die  Verschworenenversammlung  bei  dem  Senator 
M.  Porcius  Laeca  und  das  Attentat  auf  Cicero  vor  dem  senatus  consuUum 
i///mum  geschehen  sein  lässt  (27,3 — 28,3),  während  diese  Ereignisse  nach 
demselben  fallen.  ^  Aber  auch  die  ganze  Grundlage  der  Erzählung  ist 
durch  einen  chronologischen  Irrtum  Sallusts  eine  schwankende  geworden. 
Der  Historiker  verlegt  nämlich  den  Anfang  der  Verschwörung  ins  Jahr  64, 
also  vor  die  Konsularkomitien  filrs  Jahr  63,  bei  denen  Catilina  als  Be- 
werber auftrat.  Allein  diese  Datierung  ist  unrichtig,  erst  die  Niederlage 
Catilinas  bei  den  Konsularkomitien  für  62  war  die  Veranlassung  der  cati- 
linarischen  Verschwörung;  ihre  Entstehung  fällt  also  nicht  in  das  Jahr  64 
(17, 1),  sondern  63.  Die  Folge  ist,  dass  ein  Ereignis,  das  sich  in  wenigen 
Monaten  abspielt,  sich  jetzt  durch  einen  Zeitraum  von  über  ein  Jahr  hin- 
durchzieht.^) Eine  ganze  Reihe  von  unrichtigen  und  schiefen  Auffassungen 
ist  dadurch  bedingt.  Es  kann  also,  wie  bereits  oben  angedeutet,  die  Be- 
deutung der  Monographie  nicht  in  der  Treue  der  historischen  Erzählung, 
sondern  in  der  Kunst  der  Darstellung  gesucht  werden.  Die  Charakteristik 
der  Sempronia,  die  des  Catilina,  die  Reden  Caesars  und  Catos,  das  Pro- 
oemium  und  die  Exkurse  werden  auf  jeden  Leser  einen  grossen  Eindruck 
machen.  Den  politischen  Standpunkt  des  Autors  kennzeichnen  seine  Aus- 
fälle gegen  die  Optimatenpartei;  auch  seine  Vorliebe  für  Caesar  ist  be- 
sonders aus  dem  Schweigen  über  gewisse  Vorgänge  ersichtlich;  allein  die 
Monographie  mit  Mommsen  »als  politische  Tendenzschrift  anzusehen,  welche 
sich  bemüht,  die  demoki*atische  Partei,  auf  welcher  ja  die  römische  Monarchie 
beruht,  zu  Ehren  zu  bringen  und  Caesars  Andenken  von  dem  schwärzesten 
Fleck,  der  darauf  haftete,  zu  reinigen,  nebenher  auch  den  Oheim  des  Triumvir 
Marcus  Antonius  möglichst  weiss  zu  waschen'',  dürfte  nicht  zulässig  sein. 
Die  Abfassung  der  Schrift  nach  dem  Tode  Caesars  lässt  eine  solche  Haupt- 
tendenz nicht  völlig  erklärlich  erscheinen. 

4,2  staiui  res  gestas  poptUi  Romani  carptim,  ut  quaeque  memoria  digna  videban^ 
tur,  ptrscribere,  Suet.  gr.  10  X.  Ateiua  phüologus  —  coluit  postea  famüiarissime  C.  Saf- 
lustium  et  eo  defuncto  Asinium  Pollionem,  quos  historiam  companere  aggressos  alterum 
hreviario  rerum  omnium  Romanarum,  ex  quitius  quas  vellet  eligerei,  instruxit,  alterum  prae- 
ceptis  de  ratione  scrihendi. 

Über  die  Chronologie  der  Sallust'schen  Erzählung  handelt  sehr  mnsichtig  John,  Die 
Entstehungsgeschichte  der  catilin.  Verschwörung  in  Fleckeis.  J.  8.  Suppl.  p.  703,  wo  die 
fibrige  Litteratur  in  den  Anmerk.  angegeben  ist.  Hier  ist  bes.  der  Satz  mit  Nachdruck  auf> 
gestellt  und  im  Gegensaiz  zu  Sallust  erwiesen  (p.  755):  Die  Niederlage  Catilinas  bei 
der  Bewerbung  um  das  Konsulat  für  62  war  die  Veranlassung  der  catilinari- 
schen  Verschwörung.  Johk  urteilt  daher  ungünstig  über  den  historischen  Wert  der 
Monographie  (p.  811):  Über  die  Geschichte  der  Verschwörung  vom  Ausbruch  des  Bürger- 
kriegs an  ist  seine  Erzählung  eine  brauchbare  und  besonders  durch  die  Briefe  wertvolle 
Quelle,  seine  Schilderung  der  vorangehenden  Periode  aber  hat  fOr  den  Geschichtsforscher 


0  Durch  Umstellung  der  betreffenden 
Partie,  wie  sie  Likksr  in  seiner  Ausgabe 
Wien  1855  vorgenommen,  zu  helfen,  und 
sonach  eine  Blattverschiebung  vorzunehmen, 


ist  unzulässig.    Vgl.  Johk  1.  c.  p.  704,  9,  wo 
die  Gegenschriften  verzeichnet  sind. 
«)  John  1.  c.  p.  803. 


182    ROmisolie  Litteratargesohiolite.    I.  Die  Zeit  der  Bepublik.    2.  Periode. 

nicht  mehr  Wert  als  ein  historischer  Roman  und  wirft  geringere  Ausbeute  ab  als  selbst  die 
kurzen  Berichte  der  sekundären  Quellen  Plutarchus  und  namentlich  Cassius  Dio. 

Über  Sallust.  Angriffe  auf  die  Optimatenpartei  vgl.  11,  4  Sed  postquam  L,  Stäla 
armis  recepta  re  publica  bonis  initiis  malos  eventiM  habuit,  rapere  omnea,  trahere,  domum 
aliuSf  aiiu8  agros  cupere,  neque  modum  neque  modestiam  vietores  habere,  foeda  crudeliaque 
in  civis  facinora  facere.  20,  7  postquam  res  publica  in  pauearum  potentium  iue  atque 
didonem  cancessit,  eemper  Ulis  reges,  tetrarchae  vectigaJes  esse,  populi,  nationee  stipendia 
pendere,  ceteri  omnea,  sirenui,  boni,  nobilea  atque  ignobÜes,  vcHgus  fuimus  sine  gratia,  sine 
auctoritaU,  eis  obnoxii,  quibus,  si  res  publica  vdieret,  farmidini  essemus.  Vgl.  23,  6; 
30,  4;  17,  6. 

130.  Der  jugurihiiiische  Krieg  (De  bello  Jugurthino).  Im  Ein- 
gang der  Schrift  gibt  der  Schriftsteller  an,  was  ihn  zur  Wahl  dieses  Stoffs 
veranlasst  hat;  einmal  die  Gefährlichkeit  und  die  grosse  Bedeutung  des 
mit  wechselndem  Erfolg  geführten  Kriegs  (111 — 105),  dann  der  Umstand, 
dass  damals  zum  erstenmal  der  Nobilität  entgegengetreten  wurde.  In  dieser 
Monographie  konnte  Sallust  die  Kenntnis  des  Landes,  die  er  sich  bei  seinem 
Aufenthalt  als  Proconsul  cum  imperio  in  der  Provinz  Neuafrika  erworben, 
verwerten.  Im  übrigen  war  er  auf  seine  Quellen  und  Zeugnisse  anderer 
angewiesen;  es  wird  dies  öfters  durch  comperio  angedeutet  (45,1  67,3 
108,3  113,1).  An  Hilfsmitteln  fehlte  es  nicht,  es  konnten  benutzt  werden 
die  Memoiren  Sullas,  des  M.  Aemilius  Scaurus  wie  die  des  P.  Rutilius  Rufus 
(vgl.  §  114  und  §  73).  Dass  auch  punische  Schriften  zu  Rate  gezogen  wurden, 
wird  17,  7  angedeutet.  In  dieser  Monographie  ist  das  Bestreben  des 
Schriftstellers,  ein  abgerundetes  Bild  zu  geben,  aufs  bestimmteste  ausge- 
prägt. Er  lässt  daher  die  Chronologie  sehr  stark  zurücktreten,  indem  er 
sich  mit  allgemeinen  Angaben  begnügt  wie  interim  28, 4  36, 1  40, 1  82, 2, 
interea  12,2,  paucos  post  annos  9,4  u.  s.  w.  oder  solche  auch  ganz  beiseite 
lässt.  Selbst  zu  Verschiebungen  führt  ihn  hie  und  da  die  Komposition. 
Der  Historiker,  der  auf  die  Reihenfolge  der  Ereignisse  schaut,  wird  also 
nicht  selten  unbefriedigt  gelassen.  Wie  der  Gatilina,  so  beginnt  auch 
unsere  Monographie  mit  allgemeinen  Reflexionen  über  die  Herrschaft  des 
Geistes.  Exkurse  bietet  sie  drei  dar,  einen  geographischen  über  Afrika 
(17.18.19),  einen  über  das  Parteileben  in  Rom  (41.42),  endlich  die  schöne 
Sage  über  den  Wettlauf  der  philänischen  Brüder  (79).  Reden  sind  mehrere 
eingestreut,  am  interessantesten  sind  die  Reden  des  Memmius  (31)  und 
des  Marius  (85).  Das  Treiben  der  Nobilität  wird  oft  berührt  (8,1  13,5 
15,3  27,2  28,5  31,2  41,6  64,2  85,10  85,37).  Die  Monographie  ist  eine 
der  schönsten  Denkmäler  der  lateinischen  Historiographie. 

c.  5  bellum  scripturus  sum,  quod  populus  Romanus  cum  Jugurtha  rege  Numidarum 
gessit,  primum  quia  magnum  et  atrox  variaque  victoHa  fuit,  dehinc  quia  tunc  primum  super- 
biae  nobüitatis  obviam  itum  est. 

Über  die  Vernachlässigung  der  Chronologie  vgl.  Mokksen,  Rom.  Gesch.  2',  146  Anm. ; 
Hermes  1,  427 ;  Haits  Wibz,  Die  stoffliche  und  zeitiiche  Gliederung  des  bellum  Jug.  des  S. 
in  der  Festschrift  der  Eantonsschule  in  Zürich  1887. 

131.  Sallusts  Historiae.  Das  reifste  Werk  Sallusts,  das  er  bereits 
bei  der  Abfassung  des  Jugurtha  ins  Auge  gefasst  hatte,  waren  die  Historiae 
in  5  Büchern.  Dieselben  umfassten  einen  Zeitraum  von  12  Jahren.  Da 
das  Jahr  78,  das  Konsulat  des  M.  Lepidus  und  Q.  Gatulus  als  Anfang  des 
Werks  durch  ein  Fragment  feststeht,  so  muss  das  Ende  in  das  Jahr  67 
fallen;  und  in  der  That  führt  kein  Fragment  über  dieses  Jahr  hinaus. 


C.  SallnstiiiB  CrispiiB.  Ig3 

Das  Werk  reihte  sich  an  das  Sisennas  an,  der  mit  dem  Tod  Sullas  ge- 
schlossen hatte.  Es  war  also  in  dem  Werk  der  Krieg  gegen  Sertorius 
(80—72),  der  Fechter-  und  Sklavenkrieg  (73—71),  der  Krieg  gegen  die 
Seeräuber  (78 --67),  endlich  auch  noch  der  Krieg  gegen  Mithridates  zum 
Teil  behandelt.  Mit  dem  Hervortreten  des  Pompeius  in  diesem  Kriege 
musste  das  Werk  geendet  haben.  Das  Werk  ist  leider  verloren  gegangen. 
Doch  sind  uns  Teile  daraus  erhalten  und  zwar 

a)  sämtliche  Reden  und  Briefe  des  Werks  durch  eine  Samm- 
lung aller  Reden  und  Briefe  aus  den  historischen  Schriften  Sallusts.  Es 
sind  folgende  vier  Reden  und  folgende  zwei  Briefe: 

1.  Die  Rede  des  Konsuls  M.  Aemilius  Lepidus,  des  Vaters  des  Triumvir, 
an  das  römische  Volk  aus  dem  J.  78,  um  dasselbe  gegen  die  Sullanischen 
Einrichtungen  aufzustacheln  und  sich  als  Führer  zur  Wiedererlangung  der 
Freiheit  anzubieten. 

2.  Die  Rede  des  M.  Philippus  im  Senat  gegen  Lepidus,  der  in  seinem 
revolutionären  Treiben  bis  zum  äussersten  geschritten  war;  er  stellte  den 
Antrag,  Lepidus  für  einen  Feind  des  Vaterlands  zu  erklären  und  die  nötigen 
Massregeln  gegen  ihn  zu  ergreifen  (77). 

3.  Die  Rede  des  Konsuls  G.  Aurelius  Cotta  an  das  römische  Volk 
aus  dem  J.  75,  um  eine  infolge  der  drückenden  Lage  ausgebrochene  Gärung 
zu  beseitigen. 

4.  Die  Rede  des  Volkstribunen  C.  Licinius  Macer,  des  Vaters  des 
Dichters  C.  Licinius  Calvus  an  das  Volk  (73),  um  dasselbe  zur  Wieder- 
gewinnung seiner  Rechte  aufzustacheln. 

5.  Der  Brief  des  Gn.  Pompeius  aus  Spanien  an  den  Senat,  die  Auf- 
forderung enthaltend,  seinem  Heer  Unterstützung  zu  teil  werden  zu  lassen. 
Der  Brief  ist  75  abgesendet,  aber  erst  74  angekommen.')  Es  ist  ein  von 
masslosen  Lügen  und  Übertreibungen  strotzendes  Dokument. 

6.  Das  Schreiben  des  Königs  Mithridates  an  den  Partherkönig  Arsaces 
aus  dem  J.  69  (oder  Anfang  68),  um  ihn  zur  Teilnahme  an  dem  Krieg  gegen 
die  Römer  zu  bewegen. 

b)  Auch  verschiedene  handschriftliche  Überreste  sind  uns  von 
dem  Werk  erhalten;  es  sind  folgende,  aus  einem  Godex  stammende: 

1.  Das  Berliner  Fragment.  Das  Blatt  wurde  im  Jahre  1847  von 
Heine  in  Toledo  gefunden  und  Pertz  übergeben.  Pertz  entzifferte  das- 
selbe und  glaubte,  dass  es  zum  98.  Buch  des  Livius  gehöre.  Bergk  (Zeitschr. 
f.  Altertumsw.  1 848  S.  880)  und  Roth  (Rh.  Mus.  8, 433)  erkannten  als  Ver- 
fasser Sallust. 

2.  Die  vatikanischen  Fragmente.  Es  sind  zwei  Blätter,  jede  Seite 
mit  zwei  Kolumnen,  im  ganzen  also  8  Kolumnen;  sie  beziehen  sich  auf 
den  Krieg  mit  Spartacus  (73  v.  Gh.).  Die  Aufmerksamkeit  auf  diese  Frag- 
mente wurde  durch  Niebühr  wieder  wach  gerufen,  als  er  sie  im  J.  1817 
in  der  Vaticana  aufgefunden  hatte  (Hauler,  Wiener  Stud.  9, 140). 

3.  In  neuester  Zeit  kamen  die  Orläaner  Fragmente  hinzu.  Es  sind 
dies  zwei  Palimpsestfragmente,  welche  E.  Hauler  in  dem  Orleaner  Godex 


^)  Hauieb,  Wien.  Stud.  9,  46;  Sitzungsber.  der  Wiener  Ak.  113,  661. 


184    BömiBohe  Litteratorgescliiolite.    I.  Die  Zeit  der  Bepublik.    2.  Periode. 

169  aufgefunden.  Das  kleinere  Bruchstück  (fol.  20)  bildete  zwei  Blätter 
einer  Sallusthandschrift.  Das  erste  Blatt  schliesst  sich  in  der  Kolumne  I 
und  rV  an  die  fragmenta  Berolinensia  Kol.  I  und  IV  an  und  ergänzt  die- 
selben. Von  dem  folgenden  Blatt  sind  nur  Züge  von  zwei  Kolumnen  I 
und  IV  übrig.  Die  vereinigten  Berliner  und  Orleaner  Fragmente  beziehen 
sich  auf  das  Konsulatsjahr  des  L.  Octavius  imd  C.  Aurelius  Cotta  (75  v.  Gh.). 
Das  zweite  Bruchstück  (fol.  15 — 18)  enthält  acht  vollständige  und  vier  seit- 
lich verstümmelte  Kolunmen.  Davon  behandeln  vier  Kolumnen  auf  fol.  15 
und  fol.  18  die  Angriffe  der  Piraten  auf  das  Lager  des  P.  Servilius  und  die 
Übergabe  vonisaura  nova  (wahrscheinlich  aus  dem  Jahr  75).  Zwei  Kolumnen 
auf  fol.  16  beziehen  sich  auf  den  zwischen  Sertorius  und  Pompeius  in 
Spanien  geführten  Krieg.  Drei  Kolumnen  auf  fol.  16  und  17  enthalten  einen 
grossen  Teil  des  schon  bekannten  Briefs  des  Pompeius  an  den  Senat,  eine 
Kolumne  handelt  über  die  Verlesung  des  Schreibens  im  Senat  und  die 
Folgen.  Die  zwei  letzten  (fol.  15)  Kolumnen  handeln  über  des  M.  Antonius 
Creticus  kriegerische  Unternehmungen. 

c)  Es  kommen  noch  hinzu  zahlreiche  Gitate  aus  dem  Werk  bei 
Schriftetellem. 

d)  Es  kann  endlich  noch  benützt  werden  die  Erzählung  des  ersten 
Bürgerkriegs  von  Julius  Exuperantius  (s.  IV/V),  welche  aus  Sallust 
ausgezogen  ist  (Bubsian,  Juli  Exuperanti  Opusc.  p.  VI). 

Im  Jugmiha  95, 2  lesen  wir  qtumiam  n&s  tanti  tnri  (SuUae)  res  ctdmonuit,  idoneum 
Visum  est  de  natura  cultuque  eius  paucis  dicere;  neque  enim  alio  loco  de  SulUu  rebus 
dicturi  sumus  et  L.  Sisenna  optume  et  diligentissume  omnium,  qui  etts  res  dixere,  per- 
secuius  parum  mihi  libero  ore  locutus  videtur.  Es  war  also  in  den  Historiae  von  SuUa  nicht 
mehr  die  Rede. 

Der  Anfang  des  Werkes  ist  uns  erhalten:  res  populi  Romani  M,  Lepido  Q.  Catulo 
coHSulibus  ac  deinde  milUiae  et  dami  gestas  composui  (fr.  I).  Die  Darlegung  eines  Zeit- 
raums von  12  Jahren  folgt  aus  Auson.  13,2,61  p.  38  Sghbnkl: 

ab  Lepido  et  Catulo  iam  res  et  tempora  Romae 
orsus  bis  senos  seriem  conecto  per  annos. 

Litteratur:  Jobdan,  Die  Überlieferung  der  Beden  und  Briefe  aus  Sallusts  Historien 
(Rh.  Mus.  18,  584) ;  De  Vatieanis  SaUusti  historiarum  l,  III  reliquiis  (Hermes  5,  396).  Über 
die  Orleaner  Fragmente  handelt  Hauler,  Wiener  Stud.  8, 315  9, 25 ;  über  das  kleinere  Bruch- 
stück, Revue  dephilologie  10, 113  und  über  das  grössere  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.  113, 615. 

132.  Charakteristik  des  Sallust.  Die  politische  Richtung,  welche 
Sallust  verfolgt,  ist  die  demokratische.  Diese  Richtung  tritt  in  allen  drei 
Schriften  hervor,  im  Catilina  durch  die  schonende  und  rechtfertigende  Be- 
handlung Cäsars,  im  Jugurthinischen  Krieg  durch  die  Verherrlichung  des 
Marius,  in  den  Historien  durch  seine  Angriffe  auf  Pompeius  (Suet.  gr.  15). 
Angriffe  auf  die  Nobilität  bietet  sowohl  Catilina  als  der  Jugurthinische 
Krieg.  In  der  letzten  Monographie  ist  besonders  die  Geldgier  und  die  Be- 
stechlichkeit der  Nobilität  mit  grellen  Farben  geschildert.  Wenn  auch 
der  demokratische  Standpunkt  des  Verfassers  der  Wahrheit  hie  und  da 
Eintrag  gethan,  so  hat  er  sich  doch  nicht  in  der  Weise  geltend  gemacht, 
dass  dadurch  die  Schriften  Sallusts  zu  Parteischriften  herabsinken.  >)  Auf 
die  Komposition  legte  Sallust  den  grössten  Wert.  Bei  der  Lektüre  treten 
uns  sofort  als  charakteristisch  entgegen  die  langen  Einleitungen  und  die 
eingestreuten  Reden  und  Briefe.  Die  Einleitungen  sind  voll  von  Reflexionen, 

*)  MoxxsBir,  R.  Gesch.  3^,  195  Anm. 


C.  SallaBÜnB  Crispns.  185 

die  zu  Catilina  und  zum  Jugurthinischen  Krieg  haben  viele  Gedanken- 
reihen, die  miteinander  korrespondieren.  ^)  Die  Briefe  und  Reden  sind,  ab- 
gesehen von  zwei  Fällen,  dem  Briefe  des  Catilina  an  Q.  Gatulus  (c.  35)  und 
dem  des  Lentulus  an  Catilina  (c.  44)  von  SaUust  erfunden,  um  Personen 
imd  Zustände  zu  charakterisieren.  In  den  beiden  Eigentümlichkeiten  be- 
gegnet er  sich  mit  seinem  Vorbild,  dem  Thukydides.  Das  Chronologische 
tritt  in  den  beiden  Monographien  zurück  und  kommt  nicht  selten  zu  Schaden, 
Sallust  verlässt  das  annalistische  Schema,  ihm  ist  es  darum  zu  thun,  die 
zerstreuten  und  zeitlich  getrennten  Einzelheiten  zu  einem  Bilde  zu  vereini- 
gen. Das  psychologische  Moment  hat  er  in  der  römischen  Historiographie 
zuerst  gepflegt.  Der  Stil  Sallusts  ist  ein  künstlich  gemachter,  der  Schrift- 
steller will  den  Leser  reizen  und  bewegen,  es  muss  daher  alles  markig 
und  pikant  gesagt  werden.  Das  Pathetische  seines  Stils  erreicht  der  Schrift- 
steller durch  archaische  Wendungen,  für  welche  ihm  besonders  Cato  Quelle 
war,  durch  Gedrungenheit  und  Kürze,  endlich  durch  Streben  nach  Wechsel 
und  Aufsuchen  von  Dissonanzen.  Wie  durch  den  Inhalt,  so  wird  der  Leser 
auch  durch  die  Form  gepackt  und  mit  fortgerissen.  Die  beiden  Monogra- 
phien sind  Perlen  der  römischen  Geschichtschreibung. 

«Über  die  Reden  mid  Briefe  bei  Sallnst"  handelt  Schnobb  yok  Cabolsfeld,  Leipzig 
1888.  Znsanunenfassend  sagt  er  p.  77.  «Die  Analysen  der  einzelnen  Reden  haben  gezeigt, 
dass  hinsichtlich  der  Charakterisierung  die  verschiedenen  Schriften  Sallusts  auf  einer  wesent- 
lich verschiedenen  Stufe  stehen,  dass  er  aber  bestrebt  war,  in  dieser  sich  selbst  immer 
mehr  zu  veryoUkommnen  und  weiterzubilden.  Charakterisierung  ist  im  Catilina  eigentlich 
nur  bei  Cäsar  und  Cato  versucht,  die  Sallust  oft  genug  gehört  haben  mag:  die  Situation 
ist  manchmal  bedenklich  ausser  acht  gelassen.  Die  Reden  Catilinas  sind  von  geringem 
Werte,  weder  den  historischen  Verhftltnissen  noch  dem  Wesen  des  Redners  angepasst.  Das 
bellum  Jugurth.  weist  nach  diesen  schwachen  Anfängen  immerhin  bemerkenswerte  Fort- 
schritte auf:  das  von  Marius  entworfene  Bild  ist  ein  höchst  lebendiges.  Freilich  würde 
sich  Thucydides  ein  Hereinziehen  seiner  Persönlichkeit,  wie  es  Sallust  in  der  Rede  des 
Memmius  that,  niemals  gestattet  haben.  Bedeutend  höher  als  die  beiden  ersten  Schriften 
stehen  die  Historien,  hier  ist  es  dem  Historiker  gelungen  scharf  gezeichnete  und  deutlich 
umrissene  Persönlichkeiten  ohne  Verstösse  gegen  die  historischen  Verhältnisse  vor  Augen 
zu  fuhren ;  die  Art  wie  die  einzelnen  Redner  sprechen,  ist  eine  durchaus  individuelle,  Form 
und  Inhalt  ihren  EigentOmlichkeiten  angepasst.  Als  ein  Meisterstück  darf  die  Rede  Phi- 
lipps gelten,  in  der  Sallust  die  ihm  eigene  Sprechweise  vollkommen  aufgegeben  und  sich 
der  seines  Redners  assimiliert  hat. 

Über  die  historische  Kunst  des  S.  sei  noch  das  urteil  Madvios,  Opusc.  acad.  Haimiae 
1887  p.  679  angeführt:  SaUustn  laus  toHua  verum  imaginis  expUcandae  arte,  iudicii  sub- 
tilUate,  sentetUiarum  pondere,  oratianis  gravitaie  censetur  {quamquam  his  omnibtis  affectatio 
admixta  est);  ülam  singularum  rerum  summam  düigentiam  Homo  praetarius,  eloquentiae  et 
prudentis  gravitatis  gloriam  petens,  non  primo  loco  habuit. 

Über  Sallusts  Sprache  vgl.  Jobdan,  Erit.  Beitr.  p.  851.  Über  die  Nachahmung  Catos 
haben  wir  das  Zeugnis  des  Augustus  (Suet.  86)  verbis  quae  Cr,  SalL  excerpsit  ex  Origini- 
bu8  Catonis;  Frontos  p.  62  N.  M,  Porcius  eiusque  frequens  aectator  Cr,  Sallustiua.  —  Bbuennebt, 
De  Sallustio  imitatore  Catonis  Sisennae  aliarumque  veterum  historicorum  rom.,  Jena  1873. 

133.  Fortleben  des  Sallust.  Die  Oeschichtswerke  Sallusts  machten 
auf  die  Mit-  und  Nachwelt  einen  tiefen  Eindruck.  Am  meisten  frappierte 
der  ungewöhnliche  Stil  und  die  Darstellung.  Der  erste  Kritiker  der  da- 
maligen Zeit,  Asinius  PoUio  schrieb  eine  Schrift,  in  der  er  den  altertü- 
melnden  Wortschatz  tadelte  (Suet.  gr.  10).  Man  erkannte  hier  eine  Nach- 
ahmung des  alten  Cato  (Suet.  Aug.  86),  ja  man  sprach  sogar  von  Dieb- 
stahl.   Quintilian  8,  3,  29  teilt  uns  folgendes  umlaufende  Epigramm  mit: 

0  Eussnbb,  Festgrass  Würzburg  1868  p.  179. 


186    RömiBohe  Litteratnrgescliiclite.    I.  Die  Zeit  der  Repablik.    2.  Periode. 

Et  verba  antiqui  muUum  furate  CkUonitty 
Crispe,  Jugurthinae  condUor  historiae, 

Pompeius  Trogus  tadelte  die  vielen  eingeschobenen  direkten  Reden 
(Jußt.  38,  3),  von  Livius  wird  ein  die  Darstellung  betreffender  Tadel  mit- 
geteilt (Senec.  controv.  9,  24, 14).  Auch  in  sachlicher  Beziehung  erfuhren  die 
Werke  Angriffe.  So  veranlasste  der  antipompeianische  Standpunkt  des 
Historikers  Lenaeus,  einen  Freigelassenen  des  Pompeius,  zu  einer  Satire, 
in  der  er  die  grössten  Schmähungen  gegen  Sallust  vorbrachte  (Suet.  gr. 
15).  Aber  der  Bewunderer  waren  doch  beträchtlich  mehr.  L.  Arruntius, 
erzählt  uns  Seneca  ep.  114,  17,  schrieb  eine  Geschichte  des  punischen 
Kriegs  in  der  Manier  Sallusts.  Ventidius  feierte  seinen  über  die  Parther 
im  J.  38  errungenen  Sieg  durch  eine  aus  Sallust  entlehnte  Rede  (Fronte 
p.  123  N.).  Velloius  Paterculus  (2,  36)  nennt  Sallust  einen  Nebenbuhler  des 
Thukydides  und  Quintilian  (10, 1, 101)  scheut  sich  nicht,  Sallust  dem  Thu- 
kydides  geradezu  an  die  Seite  zu  stellen.  Martialis  feiert  den  Historiker  in  | 

einem  Epigramm  (14,  191): 

Hie  erit,  ut  perhibent  doctorum  eorda  virorum, 

Primus  Romana  Crispus  in  historia.  | 

Sehr  begeistert  für  Sallust  ist  Tacitus,  er  nennt  ihn  (A.  3,  30)  der  I 

römischen  Geschichte  „florentissimus  audor".  Dass  für  die  Bildung  seines 
Stils  Sallust  ein  wesentliches  Moment  bildet,  ist  durch  genaue  Analysen 
dargethan.  Ungefähr  in  diese  Zeit  wird  auch  der  Kommentar  des  Gram- 
matikers Aemilius  Asper  zu  Sallust  zu  setzen  sein  (Charis.  p.  216,  28  K). 
Zur  Zeit  Hadrians  übersetzte  Zenobios  den  Sallust  ins  Griechische  (Suidas 
s.  V.  Zen.).  Auch  für  den  rhetorischen  Unterricht  wurde  Sallust  nutzbar 
gemacht.  Nach  Granius  Licinius  (p.  43  Bonn.)  sollte  Sallust  nicht  als 
Historiker,  sondern  als  Redner  gelesen  werden.  Ein  Rhetor  veranstaltete 
eine  Sammlung  aller  Reden  und  Briefe  aus  den  Werken  Sallusts.  Erzeug- 
nisse der  Rhetorenschulen  sind  auch  einige  fälschlich  den  Namen  Sallusts 
tragende  Produkte,  welche  wir  im  folgenden  Paragraphen  besprechen  wer- 
den. Zur  Zeit  der  Frontonianer  wurde  Sallust  wegen  seines  eigentüm- 
lichen Wortschatzes  aufs  eifrigste  gelesen ;  der  Briefwechsel  Frontos  gedenkt 
unseres  Autors  p.  131  Naber.  Nach  längerem  Stillstand  finden  wir  wieder 
Nachwirkungen  unseres  Historikers  seit  dem  4.  Jahrh. ;  er  ist  z.  B.  benützt 
in  der  Geschichte  des  trojanischen  Kriegs  des  sog.  Diktys,  in  der  latei- 
nischen Bearbeitung  des  Flavianischen  jüdischen  Kriegs  des  sog.  Hegesippus. 
Auch  in  der  Chronik  des  Sulpicius  Severus  gewahren  wir  auf  Schritt  und 
Tritt  Spuren  des  Sallustischen  Studiums.  Julius  Exupemntius'  Erzählung 
des  ersten  Bürgerkriegs  ist  ganz  nach  Sallust  gearbeitet.  Auch  im  Mittel- 
alter hat  Sallust  auf  die  Historiker  noch  seine  Wirkung  ausgeübt. 

Testimonia  veterum  seleria  sieh  in  der  Teubner*schen  S.-Ausgabe  von  Eussker  p.  XII. 
YooEL,  'OfÄotojtjreg  Sallust,  im  1.  Bd.  der  Acta  sem.  Erlang,  p.  316.  In  einer  zweiten  Ab- 
handlung Quaestianum  SaUustianarum  pars  altera  (Acta  sem.  Erlang.  2,  405)  sucht  Vogel 
die  Spuren  Sallusts  zu  verfolgen  für  die  Zeit  „inter  Ammianum  MarcelUnum  et  Isidorum, 
itemque  ab  Isidoro  usque  ad  Ekkehardum  IV  p.  406.  (Bes.  die  Nachahm.  des  Hegesippus 
wird  1,348  des  Genaueren  dargethan.)  Pratje,  Quaest.  Sallust.  Götting.  1874  legt  durch 
Tabellen  ausführlich  die  Nachahmung  Sallusts  von  Seiten  des  Lucius  Septimius  (Dictys 
Cretensis)  und  des  Sulpicius  Severus  dar  (p.  9 — 40).  Hertz,  De  Ammiani  MarceUini  studiis 
SallustianiSy  Bresl.  Index  lect.  1874  (p.  16  „Catilinam  Sallustii,  cuius  et  Jugufihn  et  histo- 
riis  usus  est,  non  legisse  vel  cerie  non  excetysisse  videtur  Ammianus**), 


G.  SallosüiiB  CrispaB.  187 

134.  Psendosallnstiana.  Unter  dem  Namen  des  Sallust  sind  uns 
dm*ch  den  Vaticanus  3864  zwei  Suasorien  an  Caesar  überliefert,  in  denen 
Vorschläge  über  die  Neuordnung  des  Staatswesens  gemacht  werden.  Die 
zweite  hat  die  Form  des  Briefs^),  die  Form  der  ersteren  ist  unentschie- 
den, sie  kann  als  Rede  betrachtet  werden.  Weiterhin  ist  uns  (aber  in 
der  Regel  in  Verbindung  mit  echt-sallustischen  Schriften)  unter  dem 
Namen  des  Sallust  eine  Schmährede  (invectiva  oder  richtiger  controversia) 
auf  Cicero  erhalten,  der  zugleich  die  Schmähantwort  Ciceros  beigegeben 
ist.  Die  Autorschaft  Sallusts  ist  bei  den  vier  Produkten  nicht  anzu- 
nehmen. 

Die  Invectiva  gegen  Cicero  legt  zwar  bereits  Quintilian  dem  Sallust 
bei,  allein  die  Autorschaft  wird  schon  durch  den  einen  Umstand  erschüt- 
tert, dass  die  Schmähantwort  Ciceros  allem  Anschein  nach  von  demselben 
Verfasser  herrührt,*)  von  dem  auch  die  Invectiva  auf  Cicero  verfasst  ist; 
zwischen  beiden  Produkten  herrscht  Gleichheit  des  Stils.*)  Sonach  werden 
wir  annehmen,  dass  in  einer  Rhetorenschule  das  Thema  „Feindschaft  zwi- 
schen SaUust  und  Cicero''  von  einem  der  Schüler  in  Bild  und  Gegenbild 
behandelt  wurde. 

Was  die  Suasorien  anlangt,  so  ist  vor  allem  zu  beachten,  dass  2, 
9, 2  und  die  Invectiva  gegen  Cicero  3,  5  eine  Stelle  fast  wörtlich  wieder- 
holen. Aus  Gemeinsamkeit  der  Quelle  diese  Erscheinung  zu  erklären  ist 
nicht  zulässig ;  es  besteht  vielmehr  das  Verhältnis  von  Original  und  Kopie. 
Die  Worte  stellen  sich  uns  vollständiger  in  der  Invectiva  dar,  auch  sind 
sie  hier  ganz  am  Platz,  während  sie  in  der  Suasoria  nicht  recht  passen 
und  zugestutzt  sind.  Danach  wäre  die  Invectiva  das  Original,  die  Suaso- 
ria die  Kopie.  Der  übermässig  häufige  Gebrauch  alter  Formen  führt  bei 
den  Suasoriae  auf  die  Zeit  der  Frontonianer.  Sallust  als  Verfasser  ist 
übrigens  schon  durch  die  innere  Unwahrscheinlichkeit  ausgeschlossen.  Ob 
die  Suasorien  von  einem  Verfasser  abgefasst  sind,  ist  zweifelhaft.  Zwar 
haben  sie  in  Sprache  und  Gedanken  manches  gemeinsam,  allein  es  würde 
sich  bei  einem  Verfasser  kein  rechter  Zweck  der  zweimaligen  Behand- 
lung des  Thema  absehen  lassen,  viel  leichter  erklärt  sich  die  Sache,  wenn 
wir  zwei  Verfasser  annehmen,  von  denen  der  eine  Nachahmer  des  anderen 
ist.  Vielleicht  entstammen  die  beiden  Produkte  einer  und  derselben  Rhe- 
torenschule. Ist  die  Zusammengehörigkeit  der  Suasorien  feststehend  wie 
die  der  Invectivae,  so  müssen  wir  auf  Grund  der  obigen  Beobachtung  über 
das  Verhältnis  der  einen  Invectiva  zur  einen  Suasorie  verallgemeinernd 
sagen,  dass  die  Invectivae  früher  abgefasst  wurden  als  die  Suasoriae. 


')  2,  2  neque  eo  quae  visa  sunt  de  re- 
publica  tibi  acripsi  12,  1  forsUan,  im» 
perator,  perlectis  litteris  desideres. 

*)  JosDAK  praef.  zu  Sallust.  2.  Ausg. 
p.  XII :  Has  sive  invectivas  sire  ccntroversias 
dixeris  uiramque  ab  eodem  rhetore  composi- 
tas  esse  evincunt  sententiarum  ineptiae  in 
utraque  eonsimUes,  eodem  in  detorquendis 
Tußianis  verbis  perveraitas,  aequabilis  ser- 
monis  impuri  Habitus,  in  rebus  tractamdis 
sire  potius  pervertendis    malitia    utrobique 


ridicula  eademque  praeter  paucissima  quae- 
dam  summa  exilitas  atque  adeo  errares  non- 
nuUi  pueriles.  Vgl.  Vogel,  Act.  Erlang.  1, 327. 
»)  VooBL,  Acta  Erlang.  1,  326  in  utra- 
que  oratiuncula  idem  dicendi  genus  cognosci- 
tur ,  ita  ut  facile  demanstrare  possis  unum 
eundemque  seriptarem  uiramque  camposuisse. 
Quod  optime  intellegUur  ex  simüUudine  cum 
omnis  verborum  ropiae  tum  locutionum  atque 
floscuhrum.  Vgl.  eine  Zusammenstellung  auf 
S.  327. 


188     BömiBohe  litteratnrgesohichte.    I.  Die  Zeit  der  Bepublik.    2.  Periode. 

Quintilian  ciidert  folgende  Stellen  der  Invectwa  Sallustii  in  Ciceronem:  4,  1,  68 
Quid?  non  SaUustiua  directo  ad  Ciceronem,  in  quem  ipsum  dicebat^  usus  est  prindpio  et 
quidem  protinus,  „Graviter  et  iniquo  animo  maledicta  tua  paterer,  Marce 
Tuinr"  (=  1,  1);  9,  3,  89  apud  Sallustium  in  Ciceronem  0  Ramule  Arpinas  (=  4,  7). 
Vgl.  auch  Quint  11,  1»  24  mit  der  Invectiva  in  Gic.  3,  5 — 4,  7;  Servius  zur  Aen.  6,  623 
mit  2,  2.  Die  zweite  Invectiva  citiert  Diomedes  p.  387  K.  sed  Didius  ait  de  Saüustio  ^co- 
mesto  patrimonio*.  Das  weist  auf  Invect.  in  Sali.  7,  20  patrimonio  non  comesto.  Statt 
Didius  ist  mit  Jordan  Herrn.  11,  312  zu  lesen  Tullius  (Linkbb  „Epidius"), 

Die  gemeinsame  Stelle  in  der  zweiten  Suas.  und  der  ersten  Invectiva  lautet:  Invect. 
in  TuU.  3, 5  (von  Cicero)  „euius  nüUa  pars  corporis  a  turpitudine  f?acat,  Hngua  vana,  manus 
rapacissimae,  gula  immensa,  pedes  fugaces:  quae  honeste  nominari  non  possunt,  inkonestis- 
sima  =  Suas.  2,9,2  an  L.  Domiti  magna  vis  est  F  quoius  nuflum  membrum  a  fiagitio  aut 
facinore  vacat,  Hngua  vana  manus  cruentae  pedes  fugaces;  quae  honeste  nominari  nequeunt 
inhonestissima,  Dass  auf  den  als  grausam  bekannten  Domitius  die  Worte  nicht  recht  passen 
und  erst  zugestutzt  werden  mussten,  zeigt  Jordan,  Hermes  11, 312  (Vooel,  Acta  Erlang.  1, 344). 

Die  Überlieferung  der  StMsoriae  beruht  lediglich  auf  Vaticanus  3864  s.  X,  fttr  die  In- 
vectivae  sind  massgebend  ein  Codex  Gudianus  in  Wolifenbüttel  335  s.  X,  drei  Harleiani  in 
London  nr.  2716  (s.  IX  oder  X),  2682  s.  XI,  3859  s.  XH;  es  kommen  noch  hinzu  zwei 
Monacenses  19472  (s.  XI),  4611  (s.  XII). 

Litter atur:  Jobdan,  de  stuisoriis,  Berl.  1868.  Spandau,  Eine  Salluststudie,  Bayreuth 
1869.  Härtung,  de  Sallusti  epistulis  ad  Caes.,  Halle  1874.  Hellwio,  de  genuina  SdUusti 
ad  Caes.  epistula  etc.,  Leipz.  1873. 

Überlieferung  der  Sallustischen  Bella.  Grundlage  der  Kritik  der  bella  bildet 
die  gute,  besonders  durch  die  Lücke  Jug.  103,2  necessariorum  —  112,3  pacem  vellet  ge- 
kennzeichnete Handschriftenklasse.  Für  die  Rekonstruktion  des  Archetypus  muss  besonders 
verwertet  werden  ein  Parisinus  der  Sorbonne  500  s.  X  und  ein  zweiter  Parisinus  1576  s.  X, 
welche  sich  sehr  ähnlich  sind,  femer  die  aus  einer  Quelle  stammenden  Vaticanus  3325  s.  XI 
und  Leidensis  s.  Yossianus  75  s.  XL  Die  Herbeiziehung  der  zweiten  Familie  ist  schon  zum 
Zweck  der  AusfüUung  der  Lücke  notwendig;  ein  Haup&epräsentant  derselben  ist  ein  Mona- 
censis  14477  s.  XI.  Die  Reden  sind  uns  ausserdem  vollständig  im  Vaticanus  3864  erhalten. 
Jedoch  steht  diese  Überlieferung  der  guten  der  heüa  nach. 

Sallustausgaben:  Corte  1724.  Havercamp,  Amsterd.  1742.  Kritz  3  Bde.,  Leipz. 
1828 — 53.  DiETSCH  2  Bde.  Leipz.  1859  („liher  levitate  et  negligentia  insignis^  Nipperdby, 
Odusc.  p.  540).  H.  Jordan  3.  Ausg.  1887.  Textausg.  von  Eussner  (Teubner);  von  Schbindler 
(^eytag).    Schulausgaben  von  Fabri,  Jacobs-Wirz,  Schmalz  u.  a. 


135.  Die  römische  Stadtzeitung.  Für  die  vornehmen  Römer,  welche 
von  Rom  abwesend  waren,  musste  sich  das  Bedürfnis  ergeben,  von  den 
Vorgängen  in  Rom  auf  dem  Laufenden  erhalten  zu  werden.  Dieses  Be- 
dürfnis konnte  zunächst  durch  Briefe  von  Freunden  befriedigt  werden ;  in 
welcher  Weise  dies  geschah,  lernen  wir  aus  dem  Corpus  der  Ciceronischen 
Briefe  kennen.  Allein  mit  der  Zeit  nahm  das  Verlangen,  die  politischen 
Neuigkeiten  zu  erfahren,  eine  solche  Ausdehnung  an,  dass  die  Privatindu- 
strie eingreifen  konnte.  Zu  diesem  Zwecke  stellte  ein  Unternehmer  die 
Nachrichten  zusammen,  Hess  sie  kopieren  und  dann  an  seine  Besteller  ver- 
senden. Caesar  traf  nun  während  seines  Konsulats  des  J.  59  die  Einrich- 
tung, dass  er  durch  einen  amtlich  bestellten  Redakteur  eine  Zusammen- 
stellung der  wichtigsten  politischen  Verhandlungen  und  Ereignisse  machen 
liess,  mit  der  sich  dann  auch  Mitteilungen  privater  Natur  wie  Geburtsan- 
zeigen, Todesfälle  u.  dgl.  verbanden.  Diese  acta  diurna  oder  populi  (auch 
acta  urbana,  acta  publica  u.  a.)  wurden  jetzt  wiederum  von  Unternehmern 
kopiert  oder  ausgezogen  und  an  die  Interessenten  verschickt.  Aufbewahrt 
wurden  die  acta  im  Staatsarchiv.  Auf  die  Litteratur  gewann  die  Stadt- 
zeitung, soweit  wir  sehen  können,  keinen  Einfluss. 

Auch  Aufzeichnung  und  Herausgabe  der  Senatsverhandlungen  ordnete  Caesar  an ; 
allein  Augustus  hob   die  Veröffentlichung  derselben  auf.    Suet.  Caes.  20  inito  honore  (d.  h. 


Q.  Hortensins  Hortalns.  189 

das  Konsulat  59)  primus  omnium  instituU,  %U  tarn  aetuUus  quam  populi  diurna  acta  con- 
fierent  et  publicarentur.  Snet.  Aug.  36  ne  acta  aenatua  publiearentur.  —  Hübneb,  De  aenatun 
populique  Romani  €tctia,  Leipz.  1859  im  3.  Supplementband  von  Jahns  Jahrb. 

ß)  Die  Redner. 

1.  Q.  Hortensius  Hortalus. 

136.  Der  asianische  Barockstil.  Eine  veränderte  Form  gewann 
die  griechische  Beredsamkeit  in  Eleinasien.  Das  Einfache,  Natürliche  und 
MassvoUe  machte  auf  das  dortige  Publikum  keinen  Eindruck  mehr,  es 
waren  stärkere  Reizmittel  notwendig,  welche  zur  Verletzung  des  guten 
Geschmacks  führten.  Man  knüpft  das  Aufkommen  dieser  asianischen  Be- 
redsamkeit vorzugsweise  an  den  Namen  Hegesias  von  Magnesia.  Sein 
B^izmittel  war  der  sogenannte  zerschnittene  Stil,  d.  h.  er  geht  aller  Perio- 
disierung  aus  dem  Weg  und  fügt  lauter  kurze  Sätze  schlottrig  aneinander. 
Auch  in  seinen  Gedanken  muss  er  recht  geschmacklos  gewesen  sein,  denn 
Cicero  sagt,  wer  den  Hegesias  kenne,  wisse,  was  er  unter  einem  geschmack- 
losen Menschen  zu  verstehen  habe.  Den  asianischen  Stil  seiner  Zeit  cha- 
rakterisiert Cicero  durch  zwei  Richtungen;  die  eine,  deren  Hauptvertreter 
die  von  ihm  gehörten  Brüder  Hierocies  und  Menecles  aus  Alabanda  waren, 
legt  das  Hauptgewicht  auf  gesuchte  und  abgezirkelte,  auf  eintönige  Caden- 
zen  hinauslaufende  Ziererei  und  Worte  ohne  entsprechende  Gedanken,  die 
andere,  etwas  später  zu  Geltung  gekommene  bewegt  sich  in  einer  schwül- 
stigen, aufgeregten,  bilderreichen,  künstlichen  Darstellung.  Als  Hauptver- 
treter dieser  Richtung  stellt  Cicero  den  Aeschylus  aus  Gnidus  und  den 
Aeschines  aus  Milet  hin. 

Über  Hegesias  vgl.  Strabo  14  p.  648  oV  ^^|c  (AttXuna  tov  Uffiavov  Xeyofidyov  ^^Xov 
nagaff^eigag  to  xa^earijxog  i9og  to  JttMoy.  Cic.  Brut  83, 286  iaque  ae  Ua  putat  Atticum, 
ut  veroa  üloa  prae  ae  paene  agreatia  putet.  Ät  quid  eat  tarn  fractum,  tarn  minutum,  tarn 
in  ipaa,  quam  tarnen  conaequitur,  concinnUate puerile?  Orat.  67,226  numeroaa  comprehenaio ; 
quam  perverae  fugiena  Hegeaiaa,  dum  tue  quoque  imitari  Lyaiam  nuU,  alterum  paene  Demo- 
athenem,  aaltat  incidena  particulaa.  Et  ia  quidem  nun  minua  aententiia  peceat  quam  verhiM, 
ul  non  quaerai,  quem  appeüet  ineptum,  qui  illum  cognaverU. 

Ober  die  beiden  Richtungen  des  asianischen  Stils  seiner  Zeit  sagt  Cic.  Brut.  95, 325 : 
genera  Aaiaticae  dictionia  duo  aunt^  unum  aententioaum  et  argutum,  aententiia  non  tarn  gra- 
vibua  et  aeveria  quam  concinnia  et  venuatia;  qtuilia  in  hiatoria  Timaeua,  in  dicendo  autetn 
pueria  nobia  Hieroclea  Alabandeua,  magia  etiam  Meneclea  f rater  eiua  fuit,  quorum  utriuaque 
arationea  aunt  in  primia,  ut  Aaiatico  in  genere,  laudabilea.  Aliud  autem  genua  eat  non  tarn 
aententiia  frequentatum  quam  verhia  volucre  atque  incitatum,  quali  eat  nunc  Aaia  tota,  nee 
flumine  aolum  orationia,  aed  etiam  exornato  et  facto  genere  verhorum;  in  quo  fuit  Aeachylua 
Gnidiua  et  meua  aequalia  Mileaiua  Aeachinea,  In  eia  erat  admirabiJia  orationia  curaua, 
ornata  aententiarum  concinnitaa  non  erat,  Orat.  69,  230  apud  alioa  autem  et  Aaiaticoa 
maxime  numero  aervientea  inculcata  reperiaa  inania  quaedam  verba  quaai  complementa  nunte- 
rorum.  Sunt  etiam  qui  ülo  vitio,  quod  ab  Hegeaia  maxime  ftuxit,  infringendia  conciden- 
diaque  numeria  in  quoddam  genua  cänectum  inddant  veraiculorum  aimiUimum,  Tertium  eat, 
in  quo  fuerunt  fratrea  iUi  Aaiaticorum  rhetorum  principea  Hieroclea  et  Meneclea,  minime 
mea  aententia  contemnendi.  Etai  enim  a  forma  veritatia  et  ab  Atticorum  regula  cUtaunt, 
tarnen  hoc  Vitium  compenaant  vel  facuUate  vel  copia;  aed  apud  eoa  varietaa  non  erat,  quod 
omnia  fere  concludebantur  uno  modo. 

Ober  den  asianischen  Stil  im  allgemeinen  urteilt  Dionys  von  Halicamass  (de  orat. 
ant.  1):  iv  yaQ  &rj  xois  ngo  ijfitSy  /^oyots  17  f*^y  a^/ata  xac  ipiXocoipof  ^rjtoQixtj  tiqo- 
nfßiKa^ofAiytj  xai  detydg  vßqaig  vnofAiyowsa  »axaXv^ro,  aQ^afiiytj  (jikv  dno  r^g  'AXe^dyd^ov 
tov  Maxedoyog  reXetn^s  ixnyBiy  »al  fiagalyBC^ai  »at  oXiyoy,  inl  di  rijs  xad^  ^f*ds  ijXixlag 
fAM^ov  dBfjcaa«  etg  jäXog  i^tpayic^ai  .  Mq«  da  tk  M  xtjy  ixeivijg  noQeX&ovaa  rd^iy, 
defoQiitog  dyeudaiff  ^sat^ucj  xal  dydytayoq  xai  ovta  tpiXoaotpog  ovr'  aXXov  naidcvfAatog 
ovdayog  fiaTaiXrjqjvTti  iXev&ef^iov,  Xa&ovaa  xal  naQOX^ovcafjidrri  rijy  rvSy  o^Xa^y  äyyouty  ov 


190     Römische  LiUeratnrgeBohiolite.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


fÄOVoy  iy  Bvnoglff  »at  tQVipß  »al  fiOQ(pj  nXelovi  xijf  ktiqa^  difjyiv,  aXXn  xal  tag  xifÄag  »al 
rag  nQoaraffias  riSy  noXeiayy  ä(  edei  trjy  tptXoaotpoy  ly^ty,  ^k  iatftijy  dt^^tijaatOj  xal  ^y 
tpoQti»^  ris  ndyv  xai  ox^ti^d,  tal  JsXevtiSca  naQtmXrjciay  inoirjce  ysyia^M  tijy  *EXkAdu  rmg 
rtoy  dcioxioy  xal  xaxodMfioytay  oixlais, 

137.  Der  asianische  Barockstil  in  Born.  Der  asianische  Stil  ver- 
pflanzte sich  auch  nach  Rom  und  fand  besonders  in  Q.  Hortensius  Hör- 
talus  (114 — 50)  einen  hervorragenden  Vertreter.  Nach  Cicero  vereinigte 
er  die  beiden  zulezt  charakterisierten  Richtungen  der  aManischen  Bered- 
samkeit, d.  h.  sowohl  gesuchte  Zierlichkeit  als  RedefQUe.  Seine  Manier 
stiess  zuerst  auf  den  Widerstand  der  älteren  Generation,  dagegen  die  junge 
Welt  und  der  gewöhnliche  Haufe  hatte  an  derselben  grosses  Gefallen.  Sein 
Gedächtnis  war  ganz  bewunderungswürdig  und  kam  ihm  bei  seinem  Vor- 
trag sehr  zu  statten.  In  seinen  Reden  traten  die  sorgfältigen  Einteilungen 
und  Rekapitulationen  des  von  den  Gegnern  und  ihm  Vorgebrachten  in 
starker  Weise  hervor.  Seine  Rede  wirkte  aber  nur  gesprochen,  die  ge- 
schriebene machte  einen  bedeutend  geringeren  Eindruck.  Zum  erstenmal 
trat  er  auf  im  Alter  von  19  Jahren  (95)  in  einer  Rede  für  die  Provinz 
Afrika  (Cic.  de  orat.  3,  61,  229).  Von  den  später  gehaltenen  Reden  heben 
wir  hervor  seine  Verteidigung  des  C.  Verres,  in  der  er  zum  Ankläger  und 
Gegner  bekanntlich  Cicero  hatte.  Quintilian  (10,  l,  23)  hatte  die  bei  die- 
ser Gelegenheit  gehaltene  Rede  noch  vor  sich.')  Gegen  l^ompeius  trat  er 
auf,  indem  er  gegen  die  lex  Gabinia  (67)  und  die  lex  Manilia  (66)  sprach. 
Oft  führte  er  mit  Cicero  Verteidigungen,  so  für  C.  Rabirius  (63),  für  Mu- 
rena  (63),  für  Cornelius  Sulla  (62),  für  Valerius  Flaccus  (59),  für  P.  Sestius 
(56),  für  M.  Aemilius  Scam*us  (54).  Wir  haben  keine  Satzfragmente  aus 
diesen  Reden.  Ausser  den  Reden  verfasste  Hortensius  auch  eine  rheto- 
rische Schrift  Communes  hei,  welche  über  allgemeine  rhetorische  Fragen 
handelte. 

Cic.  Brat.  95,  326  Hortensius  utroque  genere  florens  clamores  faciebat  adulescens. 
Habebat  enim  et  Meneclium  iUud  Studium  crebrarum  venustarumque  sententiarum,  in  quibu», 
ut  in  illo  Graeco,  sie  in  hoc,  erant  quaedam  magis  venustae  dtdcesque  sententiae  quam  aut 
necessariae  aut  interdum  utües;  et  erat  oratio  cum  ineitata  et  vibrans  tum  etiam  accurata 
et  polita.  Non  probabantur  haee  senibus  —  sed  mirabantur  adulescentes,  muUitudo  more- 
batur.  Erat  exceUens  iudicio  wdgi  et  faeVe  primas  tenebat  adulescens,  ibid.  88, 301  (Hor- 
tensius) memoria  tanta,  quantam  in  nuüo  cognovisse  me  arbitror,  ut,  quae  secum  eommenttUuM 
esset,  ea  sine  seripto  verbis  eisdem  redderet,  quibus  cogitavisset.  ibid.  88, 302  attuLeratque 
minime  vulgare  genus  dicendi;  duas  quidem  res,  quas  nemo  alius:  partitiones,  quibus  de 
rebus  dicturus  esset,  et  collectiones  eorum  quae  essent  dicta  contra  quaeque  ipse  dixisset, 
Cic.  orat.  38, 132  dicebat  melius  quam  scripsit  Hortensius. 

Über  die  rhetorische  Schrift  vgl.  Quint.  2, 1, 11  (communes  loci)  quibus  quaestiones 
generaliter  tractantur,  quales  sunt  editi  a  Q.  quoque  Hortensio,  ut  Sitne  parvis  argumentis 
credendum  P 

Auch  ein  annalistisches  Werk  schrieb  Hortensias.  Vgl.  Vell.  2, 16, 3;  femer 
poetische  Kleinigkeiten.  Grell.  19,  9,  7  Laevius  implicata  et  Hortensius  invenusta  et  Cinna 
inlepida  et  Memmius  dura  ac  deinceps  omnes  rudia  fecerunt  atque  absona.  Zu  den  Erotikem 
zählt  ihn  Plin.  ep.  5,  3,  5  und  Ovid  Trist.  2, 441. 

Die  Tochter  des  Hortensius,  Hortensia,  war  durch  eine  Rede,  die  sie  vor  den  Trium- 
vim  43  hielt,  als  die  Frauen  durch  eine  schwere  Steuer  gedrückt  wurden,  sehr  berühmt 
geworden,  da  sie  mit  ihrer  Rede  Erfolg  hatte.  Valer.  Max.  8, 3, 3  Hortensia  —  cum  ordo 
matronarum  gravi  tributo  a  triumviris  esset  oneratus,  nee  quisquam  virorum  patrocinum 
eis  accommodare  auderet,  catisam  feminarum  apud  triumviros  et  constanter  et  feliciter  egit. 


')  Wenn  Cicero  Orai  37, 129  sagt  nMs 
pro  familiari  reo  summus  orator  non  respon- 
dit  Hortensius,  so   wird  das  so  aufzufassen 


sein,  dass  Hortensius  auf  die  später  geschrie- 
benen Reden  Ciceros  gegen  Verres  nicht 
antwortete. 


Die  Atüker.  191 

Repraeatntata  enim  patria  facundia  impetravit,  ut  maior  pars  imper'atae  pecuniae  iis  remit- 
ier etur  vgl.  Quint.  1, 1,  6. 

Anhänger  des  asianiscliexi  Barockstils  war  auch  der  Triumvir  M.  Antonius.  Vgl. 
Plut.  Ant.  2  iXQ^^o  di  tt^  xuXovfA^yta  fihy  'Aaiav^  ^fjXt^  ttSv  Xoyiav  ay&ovyri  fidXiaxa  xat 
ixsTyoy  toy  xf^oyoy,  i^^'^^  ^^  TtoXXtjy  ouoiotrjta  nf^og  roy  ßioy  avJov  xo/intodf^  xal  tpQvay- 
fAtnlay  oyta  xal  xeyov  yavQidfiato^  xal  g^iXorifdiag  dywfÄoXov  fjtemoy  vgl.  Suet.  Octav.  86. 
—  ScHKLLE,  De  Antonii  epist,  I,  Frankenh.  1883, 

2.  Die  Attiker. 

138.   Beaction.    Die  rhodische  nnd  die  attische  Beredsamkeit. 

Hortensius  schritt  in  seinem  Alter  nicht  mehr  fort,  sondern  wurde  lässig. 
Ihm  erstand  bald  ein  Gegner,  der  seinen  Ruhm  verdunkeln  sollte,  es  war 
dies  M.  Cicero.  Anfangs  hatte  sich  Cicero  der  asianischen  Beredsamkeit 
zugewendet  und  dem  Pathos  und  dem  Schwulst  der  Rede  gehuldigt.  Allein 
schon  körperliche  Schwäche  riet  zur  Schonung  der  Stimme  und  zur  Ver- 
meidung jeder  grösseren  Anstrengung.  Cicero  reiste  im  J.  79  nach  Grie- 
chenland und  Asien  und  kam  hier  mit  den  bedeutendsten  Rednern  in  Be- 
rührung. Doch  erst  sein  Aufenthalt  in  Rhodos,  wo  er  den  berühmten 
Lehrer  der  Beredsamkeit  Molo  hörte,  bewirkte,  dass  er  einen  massvolleren 
und  ruhigeren  Stil  sich  aneignete,  was  gegenüber  der  Hortensianischen 
Manier  einen  grossen  Fortschritt  bedeutete.  Als  er  nach  Verlauf  von  zwei 
Jahren  zurückkehrte  (77),  konnte  er  von  sich  sagen,  dass  er  „ganz  umge- 
staltet" sei.  Allein  im  Grunde  genommen  war  das  künstliche  Pathos  und 
die  Wortfülle  in  den  Ciceronischen  Reden  noch  immer  eine  zu  grosse.  Es 
ist  daher  kein  Wunder,  wenn  sich  auch  gegen  Cicero  eine  Opposition  er- 
hob, welche  in  dem  Einfachen  und  Schlichten  die  wahre  Beredsamkeit  er- 
blickte und  daher  die  Attiker,  besonders  aber  Lysias  als  Muster  erkor. 
Diese  Opposition  ging  von  den  sogenannten  Attikem  aus.  Sie  war  noch 
nicht  erstarkt,  als  Cicero  im  J.  55  seine  Schrift  über  den  Redner  schrieb ; 
denn  hier  geschieht  dieser  jungattischen  Bestrebungen  keine  Erwähnung; 
dass  das  Gespräch  ins  Jahr  91  verlegt  wird,  rechtfertigt  dieses  Schweigen 
nicht,  da  in  den  Prooemien  leicht  sich  eine  Gelegenheit  dargeboten  hätte, 
jene  Frage  zu  streifen.  Dagegen  haben  der  Brutus  und  der  Orator,  welche 
in  das  Jahr  46  fallen,  jenen  Gegensatz  vorzugsweise  zum  Gegenstande. 

Cic.  Brut.  93, 320  is  (Hortensius)  post  consttlatum  —  summum  iUud  suum  Studium 
remisity  quo  a  puero  fuerat  incensus,  atque  in  omnium  rerum  abundantia  voluit  beatius, 
ut  ipse  putabat,  remissius  certe  vivere. 

Den  Einfluss  Molos  auf  seine  rednerische  Entwicklung  schildert  Cicero  Brut.  91, 316 
Is  (Molo)  dedit  operam,  si  modo  id  consequi  potuit,  ut  nimis  redundantis  nos  et  superfluentis 
iuvenili  quadam  dicendi  impunUate  et  Ucentia  reprimeret  et  qucisi  extra  rip<is  diffiuentis 
coerceret,  Ita  reeepi  me  hiennio  post  non  modo  exercitatior,  sed  prope  mutatus.  Nam  et 
contentio  nimia  vocis  resederat  et  quasi  deferverat  oratio,  lateribusque  vires  et  corpori  me- 
dioeris  habitus  accesserat. 

Über  den  Gregensatz  der  asianischen  und  attischen  Diktion  äussert  sich  Quint.  12, 10, 12 
parteiisch:  (M.  TuUium)  —  suorum  homines  temporum  incessere  audebant  ut  tumidiorem  et 
Asianum  et  redundantem  et  in  repetitionibus  nimium  et  in  salibus  frigidum  et  in  compo- 
»itione  fraetum,  exultantem  ae  paene,  quod  procul  absit,  viro  moUiorem,  —  Praecipue  vero 
presserunt  eum  qui  videri  Atticorum  imitatores  concupierant,  Haec  manus,  quasi  quibusdam 
sacris  initiata,  ut  alienigenam  et  parum  studiosum  devinctumque  Ulis  legibus  insequebatur, 
unde  nunc  quogue  aridi  et  exsucci  et  exsangues.  Hi  sunt  enim  qui  suae  imbecillitati  sani- 
tatis  appeüationem,  quae  est  maxime  contraria,  obtendunt;  qui,  quia  clariorem  vim  eloquentiae 
relut  solem  ferre  non  possunt,  umbra  magni  nominis  delitescunt,  12,  10,  16  Et  antiqua 
quidem  Wa  dimsio  inter  Atticos  atque  Asianos  fuit,  cum  hi  pressi  et  integri,  contra  inflati 
ffli  et  inanes  haberentur,  in  his  nihil  superflueret,  Ulis  iudicium  maxime  ac  modus  decesset. 


192     BömiBche  LitteratnrgeBohiohte.    I.  Die  2eit  der  Republik.    2.  Periode. 

Litteratur:  0.  Habnecker,  Cicero  und  die  Attiker,  Fleckeis.  Jahrb.  125, 601.  Rohdb, 
Die  asianische  Rhetorik  und  die  zweite  Sophistik,  Rh.  Mus.  41,  170. 

139.  Anhänger  der  attischen  Richtung.  Es  ist  ein  kleiner  Kreis, 
welcher  die  neue  Bahn  in  der  Beredsamkeit  einschlägt.  Es  sind  folgende: 

1)  M.  Galidius,  Schüler  des  ApoUodoros  von  Pergamon,  Prätor  57, 
ein  Caesarianer,  der  *GaUia  cisalpina  verwaltete  und  im  J.  47  starb,  war 
der  älteste  Atticist,  denn  es  wird  von  ihm  eine  Bede  aus  dem  J.  64  er- 
wähnt, in  der  er  den  Q.  Gallius  wegen  Amtserschleichung  anklagte.  Dass 
sein  Stil  der  attische  war,  ergibt  sich  aus  der  interessanten  Schilderung, 
welche  Cicero  im  Brutus  von  79,  274  an  von  ihm  entwirft. 

Cic.  Brut.  80, 276  cum  a  nohis  patdo  ante  dictum  »it,  tria  videri  esse,  quae  araior 
efficere  deberet,  ut  doceret,  ut  delectaret,  ut  moveret:  duo  summe  tenuit,  ut  et  rem  Ulustraret 
disserendo  et  animos  eorum,  qui  audirent,  detfineWet  voluptate.  Aberat  tertia  üla  laus,  qua 
permoveret  atque  incitaret  animos,  quam  plurimum  poliere  diximus,  nee  erat  idla  vis  atque 
contentio,  sive  cansilio,  quod  eos,  quorum  altior  oratio  actioque  esset  ardentior,  furere  et 
hacchari  arbitraretur,  sive  quod  natura  non  esset  ita  factus,  sive  quod  non  consuesset  sire 
quod  non  posset, 

2)  G.  Licinius  Galvus.  M.  Galidius  hatte  der  asianischen  Redeweise 
die  seinige  gegenübergestellt,  welche  die  Überschwenglichkeiten  des  asia- 
nischen Stils  vermied;  zu  einem  offenen  Kampf  war  es  hiebei  nicht  ge- 
kommen ;  ein  solcher  wurde  von  G.  Licinius  Galvus  eröffnet.  Wir  haben 
§101  gesehen,  1)  dass  Galvus  in  der  Dichtkunst  sich  der  neueren  Richtung 
angeschlossen  hatte.  Wie  in  der  Dichtkunst  das  Feine,  Knappe  ange- 
strebt wurde,  so  auch  in  der  Rhetorik;  und  hier  übernahm  Galvus  die 
Führerrolle.  Sowohl  theoretisch  als  praktisch  wurde  der  Streit  durchge- 
fochten ;  theoretisch  durch  einen  Briefwechsel,  den  Galvus  und  Brutus  mit 
Gicero  führten;  praktisch  durch  Reden  auf  der  Gerichtsstätte.  Herausge- 
geben waren  21  Reden  (Tac.  dial.  21).  Die  berühmtesten  waren  die  Reden 
gegen  Vatinius;  sie  wurden  noch  zu  Tacitus'  Zeiten  mit  Bewunderung  ge- 
lesen (dial.  21).  Auf  eine  dieser  Yatinischen  Reden  bezieht  sich  der 
Scherz  Gatulls  im  53sten  Gedichte.  Unser  Urteil  über  die  Redekunst  des 
G.  Licinius  Galvus  hängt  wesentlich  von  den  Mitteilungen  Giceros,  also 
eines  Gegners  ab.  Das  Lob  aus  diesem  Mund  muss  daher  stärker  wiegen 
als  der  Tadel.  Wir  vernehmen,  dass  seine  Reden  mit  der  grössten  Sorg- 
falt und  in  der  grössten  Reinheit  abgefasst  waren,  dass  sie  daher  von 
Kennern  sehr  bewundert  wurden,  während  sie  dem  Geschmack  des  grossen 
Haufens  weniger  entgegenkamen.  Dass  Gicero  Kraft  m  seiner  Darstellung 
vermisste,  ist  bei  dem  Gegensatze,  der  ihn  von  Galvus  trennte,  nicht  zu 
verwundern.     Seinen  lebhaften  Vortrag  schildert  Seneca  Gontrov.  7, 4,  6. 

Über  den  theoretischen  Streit  vgl.  Tacit.  dial.  18  legistis  utique  et  CkUvi  et  Bruti  ad 
Ciceronem  missas  epistolas,  ex  quibus  faeüe  est  deprehendere,  Calvum  quidem  Ciceroni  visum 
exsanguem  et  aitritum,  Brutum  autem  otiosum  <ttque  diiunctum;  rursusque  Ciceronem  a  Calro 
quidem  male  audisse  tanquam  solutum  et  enervem,  a  Bruto  autem,  ut  ipsius  verbis  utar, 
tamquam  fractum  atque  elumbem.    Diesen  Briefwechsel  erwähnt  Cic.  Ep.  15, 21. 

Das  Urteü  Giceros  Über  Galvus'  Beredsamkeit  lautet:  Gic.  Brut.  82, 283  qui  orator 
(Calvus)  fuit  cum  litteris  eruditior  quam  Curio,  tum  etiam  accuratius  quoddam  dicendi  et 
exquisitius  afferebat  genus;  quod  quamquam  scienter  eleganterque  tractabat,  nimium  tarnen 
inquirens  in  se  atque  ipse  sese  observans  metuensque  ne  vitiosum  coUigeret,  etiam  verum 
sanguinem  deperdehat,   Itaque  eius  oratio  nimia  religione  attenuata  doctis  et  attente  audien- 

*)  Einigemal  mussten  wir  von  unserer  Regel,  die  Schriftsteller  nicht  an  verschiedenen 
Orten  zu  behandeln  (§  3),  abweichen. 


Die  Attiker.  193 

tiims  erat  iUuatris,  a  muUitudine  autem  et  a  foro,  cui  nata  eloquetUia  est,  dev&rabatur.  — 
Atticiim  ae  Calvua  noster  dici  oratorem  volebat:  inde  erat  ister  exiiitas,  quam  iüe  de  in- 
dustria  consequebdtur.  Gegenfiber  dem  Tadel  Ciceros  vgl.  Quint.  10,  1,  115:  inveni  qui 
Calin*fn  praeferrent  amnibus,  inveni  qui  Cieeroni  crederent,  eum  nimia  contra  ae  caJumnia 
rerum  sanguinem  perdidiase;  aed  est  et  aancta  et  gravia  oratio  et  cuatodita  et  frequentia 
vehemens  quoque. 

Über  die  verschiedenen  Reden  gegen  Vatiniua  handeln  Nippebdby,  Opusc.  p.  330. 
Matthibs,  de  Cdlvi  in  Vatinium  accuaationüma  in  den  Comment  philol.  Leipz.  1874  p.  99. 
Tac.  dial.  23  qui  rhetorum  nostrorum  commentarios  fastidiunt  et  oderunt,  Oalvi  mirantur. 
Diese  Kommentare  werden  nur  an  unserer  Stelle  erwfthnt.  Es  wurden  daher  Änderungen 
vorgeschlagen,  L.  Aelii  von  Nippebdby,  Opusc.  p.  318  (vgl.  §  76),  Valgi  von  Bahbeks  in 
seiner  Ausgabe  des  Dialogs.  Vielleicht  ist  aber  unter  diesen  commentarii  jener  die  Frage 
des  rednerischen  Stils  behandelnde  Briefwechsel  des  Calvus  mit  Cicero  zu  verstehen. 

3)  M.  Junius  Brutus.  Dass  dieser  in  die  Verschwörung  gegen 
Caesar  verwickelte  Mann  in  Bezug  auf  den  rednerischen  Stil  im  Gegensatz 
zu  Cicero  auf  Seite  der  Attiker  sich  befand,  geht  daraus  hervor,  dass  er 
in  Gemeinschaft  mit  Calvus  in  einen  rhetorischen  Streit  mit  Cicero  ein- 
trat (Tac.  dial.  18).  Auch  lassen  die  rhetorischen  Schriften  Orator  und 
Brutus  vielfach  durchblicken,  dass  Brutus  zur  Ansicht  Ciceros  über  den 
Stil  der  Rede  bekehrt  werden  soll.  Dieses  Ziel  erreichte  aber  Cicero  nicht ; 
denn  in  einem  Brief  an  Atticus  (14,  20,  3)  berichtet  er,  dass  Aas  was 
er  „d^  optimo  genere  dicendi*'  auf  Veranlassung  des  Brutus  geschrieben, 
dessen  BeifaU  nicht  gefunden  habe.  Von  Brutus  Reden  erwähnt  Cicero 
(ad  Attic.  15,  P,  2)  die  auf  dem  Kapitel  am  17.  März  44  gehaltene.  Brutus 
hatte  ihm  dieselbe  zugeschickt,  damit  er  sie  vor  der  Herausgabe  einer 
Revision  unterziehe.  Das  Urteil  Ciceros  über  dieselbe  lautet,  dass  er  sie 
feuriger  gestaltet  hätte.  Aus  Quintilian  erfahren  wir,  dass  Brutus  eine 
Rede  über  die  Diktatur  des  Pompeius  publizierte  (9,3,95),  dann  dass  er 
zur  Übung  eine  Verteidigung  Milos  herausgab  (3, 6, 93  10, 1, 23).  Ferner 
werden  angeführt  Reden  für  Appius  Claudius  (Cic.  Brut.  94, 324),  für  den 
König  Deiotarus  (Cic.  Brut.  5,  21).  Hiezu  kommen  noch  laudationes,  die  auf 
M.  Porcius  Cato  (Cic.  ad  Attic.  13,46  12,21)  und  die  auf  den  gen.  Appius 
Claudius  (Diom.  p.  376  K.).  Philosophisches  schrieb  Brutus  folgendes:  1)  de 
virtute  (Cic.  Tusc.  5, 1;  de  fin.  1,3,8),  Cicero  gewidmet;  2)  nsfl  xa&fjxfntog 
(Sen.  ep.  95, 45) ;  3)  de  patientia  (Diom.  p.  383  K.). 

Cic.  ad  Attic.  14,  20  quin  etiam,  cum  ipsius  (Bruti)  precibus  paene  adductus  acrip^ 
aiaaem  ad  eum  „de  optimo  genere  dicendi",  non  modo  mihi,  aed  etiam  tibi  acripait  sibi  iUud, 
quod  mihi  pfaceret,  non  probari.  ad  Attic.  15, 1^,  2  Brutus  noster  misit  ad  me  orationem 
auam  habitam  in  concione  Capitolina  petivitque  a  me,  ut  eam  ne  ambitiöse  corrigerem, 
antequam  ederet.  Est  autem  oratio  scripta  elegantissime  aententiis,  verbis,  ut  nihil  poasit 
ultra;  eao  tarnen,  ai  illam  cauaam  habuissem,  scripsisaem  ardentius. 

über  Brutus'  phüosophischen  Standpunkt  vgl.  Cic.  Brut  40, 149  veatra,  Brüte,  vetus 
academia  dixit,  Quint.  10, 1, 123  egregius  vero  muUoque  quam  in  orationibus praestantior  Brti- 
tus,  suffecit  ponderi  rerum:  scias  eum  aentire  quae  dicit.  Sehr  gClnstig  auch  Cic.  Ac.  post.  3, 12. 

AuB  den  Geschichtswerken  Fanniua'  und  Antipaters  machte  Brutus  sich  Auszüge. 
Vgl.  p.  108,  p.  109,  ebenso  aus  Polybios  (Flui  Brut.  4  Bygatpi  avyxdtxtoy  imtofÄijy  noXvßiov). 
Auch  eine  Briefsammlung  von  ihm  gab  es  (Quint.  9, 4, 75). 

4.  Q.  Cornificius.  Als  Dichter  lernten  wir  Q.  Cornificius  §  108 
kennen;  wir  fanden  ihn  dort  als  einen  Genossen  der  jungrömischen  Dichter- 
schule. Cicero  schickt  ihm  seinen  Orator  und  deutet  bei  dieser  Gelegenheit 
klar  an,  dass  Cornificius  einen  ihm  entgegengesetzten  Standpunkt  in  der 
Rhetorik  einnehme,  d.  h.  Attiker  sei. 

Cic.  ep.  12,  17,  2  proxime  acripai  de  optimo  genere  dicendi,  in  quo  aaepe  auapicatus 
Budboch  der  klMi.  AlteiiunwwinenflcbAfi  vm.  13 


194    ROmiBohe  Litteratargesohiohie.    I.  Die  Seit  der  Republik.    S.  Periode. 

»um  ie  a  iudicio  nostro,  «ic  »cilicet,  ut  doctum  hominem  ab  nan  indocto,  patdlum  dissidere: 
huic  tu  libro  maxime  relim  ex  animo,  si  mimis,  gratiae  causa  auffragere. 

5.  Vielleicht  dürfen  wir  hieher  stellen  auch  C.  Scribonius  Curio 
und  M.  Gaelius  Rufus.  Die  Redekunst  beider  wird  als  sehr  gleich  an- 
gegeben; in  M.  Gaelius  Reden  wurde  aber  von  Quint.  10,2,25  eine  gewisse 
asperitas  gefunden,  von  Tacit.  dial.  c.  21  „antiquüas^,  an  einer  andern  Stelle 
des  Dialogs  (c.  25)  spricht  Tacitus  von  einem  „amarior  Caelius^, 

Vell.  2,  68  M,  Caelius,  vir  eloquio  animoque  aimilUmus,  sed  in  tUroque  perfectiot-f 
nee  minus  ingeniöse  nequatn.  Von  M.  Caelins  Rufas  sind  ans  17  Briefe  erhalten,  welche 
er  an  Cicero,  als  dieser  Cilicien  51  verwaltete,  richtete;  sie  bilden  das  8.  Buch  der  sog. 
ep,  fam.  (8, 16  ist  auch  ad  Attic.  10,  9  eingelegt.)  —  Weoehaupt,  Das  Leben  des  M.  Caelius 
Rufus,  Bresl.  1878.    Wixschhölteb,  Das  Leben  des  C.  R.,  Leipz.  1886. 

Dass  auch  der  Stil  Caesars  und  Cornelius  Nepos'  mit  dem  attischen 
verwandt  war,  kann  füglich  nicht  bezweifelt  werden. 

Die  Thätigkeit  der  Attiker  währte  nur  kurze  Zeit,  meist  wurden  sie 
von  einem  frühen  Tod  dahingerafft.  Als  Cicero  seine  Tusculanen  schrieb 
(44  V.  Ch.),  konnte  er  triumphierend  ausrufen,  dass  die  Neuattiker,  vom 
Forum  selbst  verlacht,  verstummt  sind. 

3.  M.  Tullius  Cicero. 

140.  Biographisches.  Was  wir  bei  Caesar  sagten,  dass  es  nicht 
möglich  ist,  in  einer  Litteraturgeschichte  ein  auch  nur  annähernd  voll- 
ständiges Bild  desselben  zu  entwerfen,  das  gilt  auch  hier  von  Cicero.  Wir 
können  nur  einige  Hauptdata  aus  dem  Leben  desselben  vorführen;  doch 
wird  im  Verlauf,  besonders  bei  den  Reden  noch  sich  Gelegenheit  ergeben, 
auf  das  eine  oder  das  andere  biographische  Ereigniss  aufmerksam  zu  machen. 

Cicero  ist  geboren  den  3.  Januar  106  in  Arpinum.  Dieser  Ort  ist 
auch  die  Heimat  des  Marius.  Dass  durch  dessen  weithin  leuchtenden  Ruhm 
der  Ehrgeiz  des  Jünglings  geweckt  wurde,  ist  zweifellos.  Seinen  Unter- 
richt erhielt  Cicero  in  Rom,  Er  lief  vorwiegend  auf  die  Bildung  zum 
Redner  hinaus.  Sehr  fördernd  war  für  ihn  der  Umgang  mit  den  berühm- 
ten Rednern  M.  Antonius  und  L.  Crassus.  Auch  mit  dem  hochbejahrten 
Dichter  M.  Accius  (Brut.  28,  107)  und  mit  dem  griechischen  Poeten  Archias 
trat  er  in  Verkehr  (pro  Archia  1,1).  Da  dem  Redner  juristische  Kennt- 
nisse unbedingt  nötig  waren,  so  suchte  Cicero  solche  im  Anschluss  an  den 
berühmten  Rechtslehrer,  den  Augur  Q.  Mucius  Scaevola  und  den  uns  aus 
§  80  bekannten  pontifex  Q.  Mucius  Scaevola  (Cons.  95)  zu  gewinnen.  Auch 
der  Philosophie  blieb  Cicero  nicht  fremd ;  aber  er  pflegte  sie  doch  nur,  um 
die  rednerische  Fertigkeit  dadurch  zu  steigern.  Er  fand  daher  an  der 
epikureischen  Lehre  seines  ersten  Lehrers  der  Philosophie,  Phaedrus,  wenig 
Gefallen;  er  fühlte  sich  zu  der  dem  Redner  sehr  entgegenkommenden  Aka- 
demie hingezogen;  diese  wurde  ihm  zuerst  vermittelt  durch  Philo,  den 
Schüler  des  Clitomachus.  Ausserdem  war  der  Stoiker  Diodotus  in  die 
Ciceronische  Familie  gezogen  worden.  Es  begannen  nun  die  schriftstel- 
lerischen Versuche  Ciceros;  auch  trat  er  als  Redner  in  mehreren  Prozessen 
auf.  Doch  hielt  er  seine  Bildung  noch  nicht  für  abgeschlossen;  er  suchte 
dieselbe  durch  eine  Reise  nach  Griechenland  abzurunden.  Hier  verweilte 
er  von  79  bis  77.    In  Athen  hörte  er  den  Akademiker  Antiochus,  dann 


M.  TaUiiu  Cicero.  195 

die  Epikureer  Zeno  und  den  ihm  bereits  von  Itom  her  bekannten  Phaedrus; 
allein  auch  diesmal  konnte  er  sich  für  den  Epikureismus  nicht  erwärmen; 
femer  den  Lehrer  der  Beredsamkeit  Demetrius.  Von  Athen  wandte  er 
sich  nach  Asien  und  Rhodus.  In  Asien  wurde  er  mit  dem  sog.  asianischen 
Barockstil  bekannt,  in  Rhodus  gewann  der  Redner  Molo  auf  ihn  den  gröss- 
ten  Einfiuss.  Von  diesem  Unterricht  datiert  Cicero  einen  völligen  Um- 
schwung seiner  Beredsamkeit.  Nach  seiner  Rückkehr  setzte  er  seine  red- 
nerische Thätigkeit  fort;  im  Jahre  75  betrat  er  als  Quästor  von  Sicilien 
die  Beamtenlaufbahn;  69  wurde  er  curulischer  Adil,  66  Praetor  urbanus, 
endlich  63  Konsul.  In  sein  Konsulat  fiel  die  catilinarische  Verschwörung, 
durch  deren  Unterdrückung  er  sich  unleugbare  Verdienste  um  den  römi- 
schen Staat  erworben.  Allein  diese  Verdienste  wurden  getrübt  durch  die 
masslose  Eitelkeit  und  Überhebung,  mit  der  er  bei  jeder  Gelegenheit  selbst 
seinen  Ruhm  verkündete.  Übrigens  führte  die  catilinarische  Verschwörung 
verhängnisvolle  Folgen  für  Cicero  herbei.  Wider  Gesetz  und  Verfassung 
wurde  vom  Senat  die  Todesstrafe  gegen  die  Verschwörer  beschlossen  und 
von  Cicero  als  Konsul  vollzogen.  Da  Cicero  den  Triumvirn  unbequem 
geworden  war,  benützten  sie  jenen  Verstoss  gegen  das  Gesetz,  um  ihren 
Gegner  zu  beseitigen.  Ihr  Werkzeug,  der  Volkstribun  Clodius  Pulcher 
brachte  den  Gesetzesvorschlag  ein,  ut  qui  civem  Romanum  indemnatum  in- 
teremisset,  ei  aqua  et  igni  interdiceretur.  Gegen  wen  diese  Worte  gerichtet 
waren,  wusste  alle  Welt.  Cicero  beschloss  in  den  Kampf  nicht  einzutreten 
und  die  Stadt  zu  verlassen.  Jetzt  kam  das  Verbannungsgesetz  gegen  ihn 
zu  stände.  Seine  Verbannung  währte  von  April  58  bis  August  57.  Ein 
Beschluss  der  Centuriatkomitien  genehmigte  seine  Rückkehr.  Dieselbe  er- 
folgte unter  grossen  Ehrungen.  Von  51 — 50  war  Cicero  Prokonsul  von 
Cilicien.  Nach  seiner  Rückkehr  fand  er  tiefgehende  Differenzen  zwischen 
Caesar  und  Pompeius,  die  bereits  zu  offenem  Kampf  geführt  hatten.  Die 
Notwendigkeit,  Partei  zu  ergreifen,  fiel  Cicero  ausserordentlich  schwer. 
Nach  längerem  Zögern  entschied  er  sich  für  Pompeius ;  er  folgte  ihm  nach 
Dyrrhachium.  Als  der  Kampf  entschieden  war,  harrte  Cicero  in  Brundi- 
sium  der  konmienden  Dinge  (48 — 47).  Auch  die  folgenden  Jahre  zwangen 
ihn,  zurückgezogen  vom  öffentlichen  Leben  dahinzubringen,  er  versenkte 
sich  ganz  in  die  litterarische  Thätigkeit.  Erst  mit  dem  Tod  Caesars 
(15.  März  44)  ward  die  Bahn  für  Cicero  wieder  frei.  Allein  dieses  erneute 
Hervortreten  sollte  ihn  dem  Untergang  weihen.  Er  trat  in  einen  Kampf 
mit  M.  Antonius  ein,  der  seine  Proscription  und  infolgedessen  seinen  Tod 
(7.  Dezember  43)  herbeiführte. 

Die  reiche  Schriftstellerei  Ciceros  werden  wir  nach  folgenden  sechs 
Rubriken  behandeln:  er)  Die  Reden;  ß)  Die  rhetorischen  Schriften;  /)  Die 
Briefe;  d)  Die  philosophischen  Schriften;  s)  Die  historischen  und  geogra* 
phischen  Arbeiten;  f)  Die  Gedichte.  Besondere  Ausführlichkeit  werden  wir 
in  der  ersten  Rubrik  walten  lassen,  da  auf  den  Reden  grösstenteils  die 
litterarische  Bedeutung  Ciceros  beruht. 

Von  Plutarch  haben  wir  eine  Biographie  Ciceros.  Verloren  ist  Atdcus'  Lobschrift 
anf  GiceroB  Konsalat  in  griechischer  Sprache,  vgl.  §  116,  femer  die  von  Comelins  Nepos 
verfasste  Biographie,  vgl.  §  126,  endlich  das  Leben  Ciceros  von  Tiro. 

Ober  das  Jahr  und  den  Tag  seiner  Geburt  vgl.  Gell.  15, 28,  %  a  Q.  Caepione  et  Q,  Ser- 

13* 


196    BOmische  Litteratnrgesohichte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

rano,  guibus  cansulibus  ante  diem  teriium  Nonas  Januarii  m.  M,  Cicero  ncUus  est.  Seinen 
Gebiirtstag  gibt  Cicero  selbst  an  ad  Att.  7,  5, 3. 

Wir  geben  nur  die  Hauptbelegstellen  über  den  Bildungsgang  Ciceros.  Andere  Daten 
werden  bei  den  Reden  ihre  Beglaubigung  finden. 

Ober  seinen  Anschluss  an  die  beiden  Scaevola  vgl.  Cic.  Lael.  1, 1  Ego  a  patre  tta 
eram  deductua  ad  Seaevolam  (augurem)  aumpta  virUi  toga,  tU,  quoad  possem  et  liceret,  a 
aenis  latere  nunqiMm  diacederem.  Itaque  —  fieri  atudeham  eius  pntdentia  doctior.  Quo 
martuo  me  ad  pantificem  Scaevolam  cotUtdi. 

Seinen  ersten  philosophischen  Unterricht  beleuchten  folgende  Stellen:  Ep.  13,  1, 2 
a  Phaedro,  qui  nobia,  cum  pueri  eaaemua,  antequam  Philonem  cognovimua,  vaide  ut  philo- 
aophua,  poatea  tarnen  ut  inr  bonua  et  auavia  et  officioaua  probabatur.  Brut.  89, 306  cum  prin- 
cepa  Academiae  cum  Athenienaium  optumatibua  Mithridatico  beUo  domo  profugiaaet  Romam- 
que  veniaaet,  totum  ei  me  tradidi  admirabiU  quodam  ad  philoaophiam  atudio  concitatus. 
90, 309  Eram  cum  atoico  Diodoto,  qui  cum  habitariaaet  apud  me  mecumque  vixiaaet,  nuper 
eat  domi  meae  mortuua.  A  quo  cum  in  aliia  rebua  tum  atudioaiaaime  in  dialectica  exercebar. 

Auch  Aber  seine  griechische  Reise  wird  im  Brutus  ausführlich  berichtet.  91,  315 
Cum  veniaaem  Athenaa,  aex  menaea  cum  Antiocho,  veteria  academiae  nobüiaaimo  et  prüden- 
tiaaimo  philoaopho  fui  atudiumque  philoaophiae  nunquam  intermiaaum  a  primaque  adofe- 
acentia  cuUum  et  aemper  auctum  hoc  rtiraua  aummo  auciore  et  doctore  renovavi.  De  deorum 
nat.  1, 21,  57  Zenonem,  quem  Philo  noater  coryphaeum  appeUare  Epicureorum  aolebat,  cum 
Athenia  eaaem,  audiebam  frequenter,  et  quidem  ipso  auctore  Philone.  Dass  er  mit  Atticus 
auch  den  Phaednis  in  Athen  hörte,  geht  hervor  aus  Cic.  de  fin.  1, 5, 16. 

Die  rhetorischen  Studien,  die  er  auf  der  Reise  gemacht,  schildert  Brut.  91,  315  Eodem 
tempore  Athenia  apud  Demetrium  Sgrum,  veterem  et  non  ignobüem  dicendi  magiatratum, 
atudioae  exerceri  aolebam,  Poat  a  me  Aaia  tota  peragrata  est  —  die  von  ihm  gehörten  Redner 
waren  Menippus  aus  Stratonicea  in  Earien,  dann  Dionjsins  aus  Magnesia,  Aeschylus  aus 
Gnidus,  Xenocles  aus  Adramytteum.  Qutbua  non  contentua  Rhodum  veni  meque  ad  eundem, 
quem  Romae  audiveramy  Molonem  applicavi,  cum  actorem  in  veria  cauaia  acriptoremque  prae- 
atantem  tum  in  notandia  animadvertendiaque  vitiia  et  inatituendo  docendoqueprudcntiaaimum. 

Litteratur:  Die  beste  Darstellung  Aber  Cicero  findet  sich  bei  DRüXAinr,  Geschichte 
Roms;  sie  steht  im  V.  und  VI.  Band.  Auch  Middlbton,  history  of  the  life  of  Cicero^  Lond. 
1741  ist  ein  gutes  Werk.  Nicht  vollendet  BbOckneb,  Leben  des  Cicero  I.  Teil,  Gott.  1852. 
SuBiNOAB,  commentarii  rerum  auarum  a.  de  vita  aua,  London  1854.  Populär  Boissier, 
Cic^ron  et  aea  amia,  Paris  1865  (deutsch  von  Döhler,  Leipz.  1869). 

a)  Ciceros  Reden. 

141.  Die  erste  Periode  der  ciceroniBchen  Beredsamkeit  (81—66). 
Bei  den  Beden  sehen  wir  uns  nach  gewissen  natürlichen  Einschnitten  um. 
Ich  meine,  als  solche  ergehen  sich  ungesucht  das  erste  rednerische  Eingreifen 
Ciceros  in  eine  Staatsangelegenheit,  die  Rückkehr  von  der  Verbannung, 
die  Zeit  nach  der  Rückkehr  von  Cilicien.  So  erhalten  wir  vier  Perioden 
der  ciceronischen  Beredsamkeit.    Der  ersten  gehören  folgende  Beden  an: 

1.  pro  P.  Quinctio.  Diese  Rede,  welche  die  älteste  der  erhaltenen 
ciceronischen  Beden  ist,  fällt  in  das  Jahr  81  und  betrifft  eine  Privatrechts- 
streitigkeit. Cicero  verteidigt  die  Sache  des  P.  Quinctius  gegen  Sex.  Nae- 
vius  vor  dem  Vorsitzenden  C.  Aquilius.  Gegnerischer  Anwalt  war  Q.  Hor- 
tensius  (1,  8).  Der  Bechtsfall  war  folgender:  C.  Quinctius,  ein  römischer 
Bitter,  der  in  Gallia  Narbonensis  eine  ausgedehnte  Ökonomie  betrieb,  ging 
mit  Sex.  Naevius  ein  Eompaniegeschäft  ein.  Als  C.  Quinctius  im  J.  85 
starb,  war  sein  Bruder  P.  Quinctius,  der  Beklagte  sein  Erbe.  P.  Quinctius 
suchte  das  von  seinem  Bruder  mit  Sex.  Naevius  eingegangene  Societäts- 
verhältnis  zu  lösen.  Allein  durch  die  Intriguen  des  Sex.  Naevius  wollte 
die  Lösung  sich  nicht  in  gütlicher  Weise  bewerkstelligen  lassen.  Ver- 
hängnisvoll für  die  Sache  des  P.  Quinctius  war,  dass  Naevius  klagte,  es 
sei  ihm  ein  von  Quinctius  zugesichertes  Vadimonium  nicht  eingehalten 
worden  und  auf  Grund  dieses  Vadimonium  desertum  und  einer  nachgewie- 


Cioeros  Beden.  197 

senen  Schuldfordening,  die  er  an  P.  Quinctius  habe,  vom  Prätor  Burrienus 
Einweisung  in  die  Güter  des  Beklagten  (missio  in  bona  P,  Qiiinctii  rei  ser- 
vandae  causa)  verlangte  (6,  25).  Der  Prätor  gewährte  diese  Forderung. 
Es  erhob  dagegen  Einspruch  der  Vertreter  des  P.  Quinctius,  Sex.  Alf  onus. 
Allein  da  dieser  eine  gesetzliche  Förmlichkeit  nicht  beobachten  wollte,  so 
trat  wiederum  eine  Verschleppung  der  Angelegenheit  ein.  Sex.  Naevius 
regte  nun  eine  neue  Streitfrage  an;  er  behauptete,  er  sei  im  Besitz  der 
Güter  des  Beklagten  nach  prätorischem  Edikt  seit  dreissig  Tagen.  P. 
Quinctius  sei  daher  als  infamis,  als  unzuverlässig,  anzusehen  und  müsse 
für  den  Rechtsstreit  Bürgschaft  (satisdatio  iudicatum  sohi)  leisten.  Der 
Prätor  Gn.  Dolabella  dekretierte,  dass  P.  Quinctius  entweder  satisdatio  leiste 
oder  den  Nachweis  liefere,  dass  Sex.  Naevius  nicht  seine  (des  P.  Quinc- 
tius) Güter  seit  dreissig  Tagen  nach  dem  prätorischen  Edikte  besitze.  Da 
P.  Quinctius,  um  seinen  Ruf  nicht  zu  gefährden,  die  satisdatio  verweigerte, 
so  war  nach  der  Entscheidung  des  Prätors  ein  eigenes  Gerichtsverfahren 
notwendig,  um  die  zweite  Alternative  zu  entscheiden.  Die  anbefohlene 
Form  war  die  sponsio  praeiudidalis.  Und  auf  diesen  Sponsionsprozess  be- 
zieht sich  unsere  Rede.  Die  Beweislast  wurde  dem  Quinctius  auferlegt; 
er  wurde  dadurch  in  die  Rolle  eines  Klägers  gedrängt  (9, 35) ;  er  hatte  den 
Nachweis  zu  liefern,  dass  die  Behauptung  des  Sex.  Naevius,  er  sei  dreissig 
Tage  im  ediktmässigen  Besitz  der  Güter  des  P.  Quinctius,   unrichtig  sei. 

Der  springende  Punkt  der  Klage  erhellt  aus  8,  30  a  Cn.  Dolabella  denique  praetore 
pastulai,  ut  sibi  Quinctius  iudicatum  solvi  satis  det,  ex  farmula:  QUOD  AB  EO  PETAT, 
QUOIUS  EX  EDICTO  PRAETORIS  BONA  DIES  XXX  POSSESSA  SINT  —  Jubel 
(Dolabella)  P,  Quinctium  sponsionem  cum  Sex.  Naevio  faeere:  SI  BONA  SÜA  EX  EDICTO 
P.  BÜRRIENI  PRAETORIS  DIES  XXX  POSSESSA  NON  ESSENT,  Recusabant  qui 
aderant  tum  Quinctio,  demonstrabant  de  re  iudicium  fleri  oportere,  ut  aut  uterque  inter  ae 
aut  neuter  acUis  daret;  non  necesse  esse  famam  alterius  in  iudicium  venire,  Clamabat  porro 
ipse  Quinctius  sese  idcirco  noUe  satis  dare,  ne  videretur  iudicasse  bona  sua  ex  edicto  pos- 
»essa  esse;  sponsionem  porro  si  istius  modi  faceret,  se,  id  quod  nunc  evenit,  de  capite  suo 
priore  loco  causam  esse  dicturum.  DolabeUa  —  iniuriam  faeere  fortissime  perseverat;  aut 
satis  dare  aut  sponsionem  iubet  faeere,  et  interea  recusantes  nostros  advocatos  acerrime  stib^ 
moteri,  Conturbatus  sane  discedit  Quinctius;  neque  mirum,  cui  haec  Optio  tarn  misera  tamque 
iniqua  daretur,  ut  aut  ipse  se  capitis  damnarety  si  satis  dedisset,  aut  causam  capitis,  si 
sponsionem  fecisset,  priore  loco  diceret.  Cum  in  altera  re  causae  nihil  esset,  quin  secus  iudi- 
caret  ipse  de  se,  quod  iudicium  gratissimum  est,  in  altera  spes  esset  ad  talem  tamen  virum 
iudicem  veniendi,  unde  eo  plus  opis  auferret,  quo  minus  atttUisset  gratiae,  sponsionem  faeere 
mcUuit;  fecit;  te  iudicem,  C.  AquUi,  sumpsit;  ex  sponso  egit.  In  hoc  summa  iudicii  causaque 
tota  eonsistit. 

Ober  die  Gliederung  der  Rede  vgl.  10,  36  negamus  te  bona  P.  Quinctii,  Sex.  Naevi, 
possedisse  ex  edicto  praetoris.  In  eo  sponsio  facta  est.  Ostendam  primum  causam  non  fuisse, 
cur  a  praetore  postulares,  ut  bona  P.  Quinctii  possideres,  deinde  ex  edicto  te  possidere  non 
potuisse;  postremo  non  possedisse.  Der  erste  Teil  ist  im  Grunde  genommen  für  die  Rechts- 
frage irrelevant.  Im  zweiten  Teil  19,  60 — 27,  85  steckt  der  Hauptbeweis.  Der  dritte  Teil 
ist  verloren  gegangen.  (Nach  Mommsen  1.  c.  p.  1099  „scheint  Cicero  yielmehr  absichtlich 
diesen  minder  interessanten  Teil  bei  der  Herausgabe  weggelassen  zu  haben  wie  pro  Fonteio  5, 
pro  Mur.27*.) 

Die  Oberlieferung  der  Rede  beruht  nur  auf  jüngeren  Handschriften.  Einige  Para- 
graphen enthält  der  Palimpsestus  Taurinensis  (vgl.  Baitbr  in  der  Notarum  explicatio). 

Litteratur:  Das  Juristische  erörtern  Eelleb  in  den  Semestr.  ad  M.  T.  Cic.  libri  sex 
p.  1 — 198.  (MoxKSEN,  Ztschr.  f.  Altertumsw.  1845  p.  1084.)  Habtmanh,  R.  Kontumazialverf. 
p.  10.  Fbei,  Der  Rechtsstreit  zwischen  P.  Q.  und  S.  N.,  Zürich  1852.  Bekfby,  Philol.  10, 126. 
BBTHKAim-HoUiWEO,  R.  Civilproz.  2,  784.    Oetliiyo,  Ober  Ciceros  Quinctiana,  Oldenb.  1882. 

2.  pro  Sex.  Roscio  Amerino.  Es  ist  dies  die  erste  Kriminal- 
klage,  in  der  Cicero  auftrat  (80  v.  Chr.).     Sex.   Boscius  aus  Ameria  in 


198    Bömiflohe  LitieratargeBchiohte.    I«  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

Umbrien,  ein  sehr  reicher  Mann,  wurde,  als  er  abends  vom  Mahle  heim- 
kehrte, in  der  Nähe  der  pallacinischen  Bäder  in  Rom  ermordet  (7,  18). 
Obwohl  das  Aufhören  der  Proscriptionen  schon  angeordnet  war  (44,  128), 
wurde  doch  der  Name  des  ermordeten  Sex.  Roscius  auf  die  Proscriptions- 
listen  gesetzt  (8,  21);  von  seinen  Landgütern  erhielt  drei  ein  Verwandter, 
Titus  Roscius  Capito,  elhen  Teil  kaufte  der  Günstling  Sullas  Chrysogonus, 
auch  ein  zweiter  Verwandter,  Titus  Roscius  Magnus,  wusste  sich  seinen 
Vorteil  zu  sichern.  Auf  Anstiften  dieser  drei  Gesellen,  welche  für  ihren 
Raub  fürchteten,  wurde  Erucius  veranlasst,  gegen  Sex.  Roscius,  den  Sohn 
des  Getöteten,  eine  Klage  wegen  Vatermordes  einzubringen.  Die  Verhand- 
lung leitete  der  Prätor  M.  Fannius.  Die  Verteidigung  Ciceros  war  wegen 
des  Interesses,  das  der  mächtige  Chrysogonus  an  der  Verurteilung  des 
Sex.  Roscius  hatte,  sehr  erschwert;  doch  gelang  es  seiner  Beredsamkeit, 
die  Freisprechung  seines  Klienten  zu  erreichen.  Wenn  auch  Cicero  sicht- 
lich bestrebt  ist,  Sulla  zu  schonen,  so  ist  doch  der  Freimut,  welchen  die 
Rede  zeigt,  anerkennenswert. 

Schol.  GronoY.  p.  424  Orelli.  Sex.  Roscius  adclescens  parricidii  cuicuscUus  est  —  et 
absolutus.  Über  die  Schwierigkeit  der  Verteidigung  vgl.  13,35:  tres  sunt  res,  quantum  ego 
existimare  possum,  guae  obstent  hoc  tempore  Sex.  Roscio,  crimen  adversariorum  et  audacia 
et  potentia.  Criminis  confictionem  aecusator  Erucius  suscepit,  audaeiae  partes  Roscii  sibi 
poposcerunt,  Chrysogonus  ttutem,  is  qui  plurimum  potest,  potentia  pugnat. 

Überlieferung:  Poggio  war  es,  der  unsere  Rede  nach  Italien  brachte.  Auf  dieses 
Exemplar  gehen  alle  unsere  (jfingem)  Codices  zurück.  Unter  denselben  ist  ein  Wolfen- 
buttelanus  nr.  205  beachtenswert.  Schon  das  Original  hatte  eine  grössere  Lficke  45, 132, 
in  welcher  der  Beweis  geliefert  war,  dass  die  Güter  des  Sex.  Roscius  nicht  zum  wirklichen 
Verkauf  gelangten.  Für  1, 1 — 2, 5  possem  kommt  auch  der  Vatikanische  Palimpsest  in  Betracht 

3.  pro  Q.  Roscio  comoedo.  In  dieser  Rede  handelt  es  sich  um 
folgenden  verwickelten  Privatrechtsfall.  C.  Fannius  Ghaerea  hatte  einen 
Sklaven  Panurgus.  Da  er  in  demselben  ein  schauspielerisches  Talent  er- 
kannte, so  übergab  er  ihn  dem  Schauspieler  Roscius  zur  Ausbildung  und 
schloss  zugleich  mit  ihm  einen  Societätevertrag,  nach*  dem  die  Einkünfte 
welche  Panurgus'  Kunst  abwerfe,  zwischen  ihm  und  Roscius  geteilt  werden 
sollten.  Die  Ausbildung  des  Panurgus  nahm  guten  Fortgang;  er  konnte 
schon  um  eine  hohe  Summe  vermietet  werden  (10,  28).  Da  wurde  er 
von  Q.  Flavius  aus  Tarquinii  getötet.  Die  beiden  Societäre  stellten  nun 
Klage  auf  Schadenersatz;  und  zwar  fungierte  Fannius  in  der  Klage  als 
cognitor  (Stellvertreter)  des  Roscius.  Allein  Roscius  verglich  sich  auf  pri- 
vatem Weg  mit  Flavius,  indem  er  ein  Landgut,  welches  von  Fannius  auf 
600,000  Sesterzien  ^)  geschätzt  wurde,  von  Flavius  annahm.  Damit  war  ein 
Streitobjekt  gegeben.  Fannius  behauptete,  jener  Vergleich  mit  Flavius  sei 
für  die  Societät  geschlossen  und  verlangte  Entschädigung.  Nun  hören  wir 
von  einem  merkwürdigen  Vergleich,  den  C.  Piso  vermittelte;  er  stellte  an 
Roscius  das  Ansuchen,  dem  Fannius  100,000  Sesterzien  auszuzahlen,  aber 
zugleich  Fannius  zu  verpflichten,  von  allem,  was  er  von  Flavius  erhalte, 
dem  Roscius  die  Hälfte  zuzusichern.  Auf  diesen  Vergleich  ging  Fannius 
freudig  ein;  Roscius  zahlte  die  erste  Hälfte,  50,000  Sesterzien;  die  zweite 
Hälfte  von  50,000  Sesterzien  weigerte  er  sich  zu  zahlen,  er  hatte  nämlich 
in  Erfahrung  gebracht,   dass  Fannius  von  Flavius  100,000  Sesterzien  be- 

0  MomcsEV;  Hermes  20, 317. 


Gioaros  Beden.  199 

kommen  hatte.  Um  diese  zweite  Rate  dreht  sich  der  Prozess,  der  wiederum 
vor  Piso  geführt  wird  und  in  dem  als  Vertreter  des  Fannius  P.  Saturius 
auftritt.    Die  Rede  ist  am  Anfang  und  am  Ende  verstümmelt. 

U,  32  Panurgum  inquit  (Fannius),  hunc  servum  communemf  Q,  Flavius  TarqmniensU 
quidam  inierfecU.  In  hanc  retn,  inquit,  me  eognitorem  dedisti.  tAte  contestata,  iudicio  damni 
iniuria  constUuto  tu  sine  me  cum  Flavio  decidisti.  —  ,118  CCCIOOD  (unrichtig  vgl.  MomcsEi« 
1.  c.)  tu  abstuListi,*  12,  38  sed  hanc  decisionem  Rosci  oratione  et  opinione  augere  licet; 
re  et  teritate  mediocrem  et  tenuem  esse  invenietis.  Accepit  enim  agrum  temporibus  iis,  cum 
iacerent  pretia  praedi&rum  —  qui  nunc  muUo  pluris  est  quam  tunc  fuit.  12, 34  Hue  universa 
rmtsa  deducitur,  utrum  Roscius  cum  Flavio  de  sua  parte  an  de  tota  societate  fecerit  pac- 
tionem,     13,37  criminaiio  tua  quae  est?   Roscium  cum  Flavio  pro  societcUe  deddisse. 

Über  den  Vergleich  des  Piso  lautet  der  Bericht  13,38:  Tu  (Piso)  Q,  Roscium  pro 
opera  ac  labore,  quod  cognitor  fuisset,  quod  vadimonia  obisset,  rogasti,  ut  Fannio  daret  HS 
CCCIOOD  hac  condicione,  ut,  si  quid  ille  exegisset  a  Flavio,  partem  eius  dimidiam  Roscio 
dissolveret.  Die  Summe  100,000  Sestertien  hat  man  für  verdorben  erachtet  und  durch  eine 
andere  ersetzt,  mit  Unrecht  vgl.  Babon  1.  c.  p.  126.  —  17,  51  falsum  subornavU  testem  Roscius 
Cluvium!  (Einwand)  Cur,  cum  altera pensio  solvenda  esset,  non  tum,  cum  prima?  nam  iam 
antea  HS  lOOO  dissolverat,  —  13, 89  Quid  si  tandem  planum  faeio,  post  decisionem  veterem 
Rosci,  post  repromissionem  recentem  hanc  Fanni  HS  CCCIOOO  Fannium  a  Q.  Flavio 
Fanurgi  nomine  abstutisse? 

Corradus  setzt  die  Rede  ins  J.  70,  Manutius  ins  J.  68,  Ferratius  ins  J.  77,  Landgraf, 
De  Cic.  elocut,,  Wflrzb.  1878  p.  47  ins  J.  77  oder  76;  am  wahrscheinlichsten  ist  das  Jahr  68. 
Vgl.  Dbumavn  5, 348. 

Über  die  Überlieferung  vgl.  Baiteb-Halx  2,  p.  111.  Die  Rede  stand  in  der  von 
Poggio  aufgefundenen  Handschrift.  Sie  folgte  auf  die  Rede  pro  Rabirio  perdueüionis  reo. 
Durch  den  Ausfall  einiger  Blätter  ist  der  Schluss  der  Rede  pro  Rabirio  und  der  Anfang  der 
Rede  pro  Roscio  verloren  gegangen.  Aber  auch  am  Schluss  der  Rosciana  fehlen  Blätter. 
AVir  sind  auf  jüngere  apographa  angewiesen. 

Litteratur:  Pucbta,  Über  den  der  Rede  p.  R.  C.  zu  Grunde  liegenden  Rechtsstreit 
in  Civil.  Schriften  p.  272.  Schmidt,  Cic.  or.  pro  Q,  R.,  Leipz.  1839.  Bbthmann-Hollwbo, 
R.  Civilproz.  2, 804.  Babok,  Der  Prozess  gegen  den  Schauspieler  Roscius  in  der  Zeitschr.  für 
Rechtsgesch.  Rom.  Abt.  1, 117.    Ruhstbat  ebenda  3,34. 

4.  pro  M.  Tullio.  Von  dieser  Rede  sind  uns  nur  Bruchstücke  durch 
einen  Palimpsest  in  Turin  und  einen  Palimpsest  in  Mailand  überliefert.  Die 
Rede,  welche  die  zweite  in  der  Angelegenheit  ist  (2,  4;  2,  5),  hat  eine 
Schadenersatzklage  zum  Gegenstand,  welche  vor  recuperatores  verhandelt 
wurde.  Kläger  ist  M.  Tullius,  von  Cicero  vertreten;  Beklagter  ist  P.  Fa- 
bius,  den  L.  Quinctius  verteidigt.  Der  Fall  ist  kurz  gefasst  folgender: 
Fabius  hatte  in  der  Gegend  von  Thurii  in  Lucanieii  ein  Landgut,  welches 
an  die  Besitzung  des  M.  Tullius  angrenzte,  gekauft.  Zwischen  beiden 
Nachbarn  kam  es  zu  einem  Besitzstreit;  Fabius  beanspruchte  nämlich  für 
sich  die  populische  Feldmark  (centuria  Populiana),  die  M.  Tullius  als  aus 
seinem  väterlichen  Besitz  stanmiend,  sonach  als  sein  Eigentum  bezeichnete. 
Fabius  begab  sich  zum  Tullius  und  verlangte,  er  solle  auf  herkömmliche 
Weise  das  Eigentumsrecht  absprechen  oder  sich  absprechen  lassen.  Tullius 
sagte  das  zu  und  versprach  sein  Erscheinen  vor  Gericht  in  Rom.  Allein 
in  der  folgenden  Nacht  drangen  Sklaven  des  Fabius  in  das  auf  der  popu- 
lischen  Feldmark  liegende  Gebäude  ein,  richteten  dort  grosse  Verheerungen 
an  und  töteten  die  dort  befindlichen  Sklaven  des  M.  Tullius  mit  Ausnahme 
eines  einzigen.  Wegen  dieses  Vergehens  stellte  M.  Tullius  Klage  wegen 
Schadenersatzes. 

Die  Klage  formuliert  Cicero  also  3,  7  iudicium  vestrum  est,  recuperatores,  QUANTAE 
PECUNIAE  PARET  DOLO  MALO  FAMILIAE  P.  FABI  VI  HOMINIBÜS  ARMATIS 
COACTISVE  DAMNUM  DATUM  ESSE  M,  TULLIO,    Eius  rei  taxationem  nos  fecimus; 


200    ROmisohe  Litteratnrgescbiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

aestimatio  vestra  est;  iudicium  datutn  est  in  quadruplum.  In  der  Rede  handelt  es  sich  be- 
sonders um  die  Interpretation  des  dolo  malo. 

Die  Zeitbestimmung  hängt  davon  ab,  wann  der  in  der  Rede  (17,  39)  erwähnte  Metellus 
Prätor  war.  ,  Unter  den  Cäciliem  war  Q.  Metellus  Creticus  69  Konsul  und  sein  Bruder 
Lucius  68;  in  demselben  Zeitverhältnisse  übernahmen  sie  die  Prätur  72  und  71,  deshalb 
und  weil  in  der  Rede  der  Vorname  fehlt,  ist  es  nicht  zu  verbürgen,  dass  die  angeJFührte 
Stelle  sich  auf  den  jüngeren  bezieht,  und  also  die  Rede  in  das  Jahr  71  und  nicht  schon 
in  das  vorhergehende  gehört/     (Drumakn  5, 258.) 

Litteratur:  Saviony,  Verm.  Schriften  3, 228.  Ph.  E  Husghke  in  J.  G.  Huschke*s 
analecta  litteraria,  Leipz.  1826  p.  77.    Keller,  Semestr,  ad  Ciceronem  p.  539. 

5.  Die  im  Prozess  gegen  Verres  gehaltenen  7  Reden.  C.Ver- 
res  erhielt  im  J.  73  als  Proprätor  die  Provinz  Sicilien,  welche  er  erst  im 
J.  70  nach  Eintreffen  seines  Nachfolgers  L.  Caecilius  Metellus  verliess. 
In  seiner  Verwaltung  liess  sich  Verres  schamlose  Erpressungen  zu  Schul- 
den kommen;  als  er  die  Provinz  verlassen,  erhoben  die  sicilischen  Gemeinden 
(70)  mit  Ausnahme  der  Syracusaner  und  Mamertiner  Klage  und  erwählten 
sich  den  ihnen  von  seiner  sicilischen  Quästur  her  bekannten  Cicero  als 
ihren  Vertreter.  Hauptverteidiger  des  Verres  war  Q.  Hortensius.  Als  die 
Klage  bei  dem  Prätor  M'.  Acilius  Glabrio  angemeldet  war,  suchte  Q.  Cae- 
cilius Niger,  der  Quästor  des  Verres  war,  um  Gewährung  der  Klage  nach. 
Es  musste  also  ein  Vorverfahren  eintreten  zur  Entscheidung,  wem  von 
beiden  die  Klage  zu  übertragen  sei.  Dieses  Vorverfahren  vor  unbeeidigten 
Richtern  hiess  divinaiio.  Die  Thätigkeit  der  Richter  bestand  hier  nicht 
in  einem  iudicarej  da  ja  Beweismittel  fehlten,  sondern  in  einem  divinare, 
im  Ahnen  und  Vermuten,  wer  sich  am  besten  zur  Durchführung  der  Klage 
eigne.  Durch  seine  Rede,  die  sog.  divinatio  in  Caecilium  setzte  es  Cicero 
durch,  dass  er  die  Klage  stellen  durfte.  Nun  erbat  sich  Cicero  eine  Zeit 
von  110  Tagen,  um  sich  in  Sicilien  die  nötigen  Beweisbehelfe  zu  ver- 
schaffen. Da  meldete  sich  auf  Anstiften  der  Gegenpartei  ein  unbekannter 
Mann,  der  Verres  wegen  Erpressungen  in  Achaja  belangen  wollte  und  sich 
zu  diesem  Zweck  eine  Frist  von  108  Tagen  erbat  (Actio  pr.  2,  6).  Dieses 
Vorgehen  sollte  bewirken,  dass  zuerst  dieser  Prozess  behandelt  und  Ciceros 
Klage  verschoben  würde.  Allein  Cicero  beendete  trotz  aller  Schwierig- 
keiten, die  ihm  gemacht  wurden,  seine  Nachforschungen  viel  früher,  als 
in  110  Tagen,  nämlich'  in  50  Tagen.  Der  unbekannte  Kläger  erschien 
nicht  an  dem  festgesetzten  Termin.  Dagegen  drohte  jetzt  eine  andere 
Gefahr.  Für  das  Jahr  69  war  zum  Prätor  M.  Metellus  gewählt  worden. 
Das  Los  überwies  ihm  auch  den  Vorsitz  gerade  in  dem  Gerichtshof,  der 
über  Erpressungen  zu  urteilen  hatte  (Actio  pr.  8,  21).  Dieser  Metellus  war 
dem  Verres  günstig  gestimmt.  Da  für  den  Prozess  eine  zweite  Verhand- 
lung (comperendinatio)  vorgeschrieben  war,  so  suchte  die  Partei  des  Verres 
diese  zweite  Verhandlung,  welcher  das  richterliche  Urteil  zu  folgen  hatte, 
in  das  folgende  Jahr,  in  dem  Metellus  zu  amtieren  hatte,  hinüberzuspielen.  ^ 
Diese  Intrigue  vereitelte  Cicero  dadurch,  dass  er  bei  der  ersten  Verhand- 
lung zur  Abkürzung  des  Verfahrens  auf  eine  zusammenhängende  Rede 
verzichtete  und  nur  eine  kurze  Einleitung  vorausschickte  und  dann  an  der 
Hand  der  Zeugen  und  auf  Grund  der  Beweismittel  gleich  die  einzelnen 
Klagepunkte  vorführte.     Die  von  Cicero  formulierte  Klage  lautete  dahin, 

^)  In  welcher  Weise  dies  möglich  war,  zeigt  Cicero  Actio  pr.  10, 30  f. 


CioeroB  Beden.  201 

dass  Verres  widerrechtlich  in  Sicilien  eine  Summe  von  40  Millionen  Se- 
sterzien  erpresst  habe.  Das  Material,  das  Cicero  vorführte,  war  so  er- 
drückend, dass  Yerres  während  der  Verhandlung  sich  freiwillig  in  die 
Verbannung  begab.  Es  kam  also  gar  nicht  zu  einer  zweiten  Verhandlung; 
lediglich  eine  Verhandlung  zur  Feststellung  des  Schadenersatzes  war  not- 
wendig. Nachdem  die  Verhandlung  vorüber  war,  verarbeitete  Cicero  seinen 
reichen  Stoff  in  5  Büchern,  behielt  aber  die  Fiction  bei,  als  seien  diese 
Reden  bei  einer  zweiten  Verhandlung  gehalten  worden,  während 
doch  eine  solche  gar  nicht  statt  hatte.  Von  diesen  5  Büchern  behandelt 
das  erste  besonders  die  städtische  Prätur  des  Verres  vom  Jahre  74  (de 
praetura  urbana),  gehört  also  eigentlich  nicht  zum  Elaggegenstande.  Die 
übrigen  vier  Bücher  beziehen  sich  alle  auf  Verres'  Verwaltung  von  Sicilien. 
Das  zweite  Buch  erörtert  hauptsächlich  seine  Jurisdiction  in  Kriminal-  und 
Privatsachen  (de  praetura  Siciliensi),  das  dritte  schildert  seine  Verwaltung 
des  Getreidewesens  (Oratio  frumentaria),  das  vierte  erzählt  seine  Eunst- 
räubereien  (de  »ignis),  endlich  das  fünfte  über  das,  was  Verres  für  die 
Sicherheit  der  Provinz  gethan.  Da  hier  besonders  Gewicht  darauf  gelegt 
wird,  dass  Verres  über  römische  Bürger  die  schwersten  Leibesstrafen  ohne 
Grund  verhängt,  gaben  die  Grammatiker  diesem  Buch  den  Titel  de  suppli- 
ciis.  Die  Einleitung  zu  der  Verhandlung,  die  wirklich  gehalten  wurde,  ist 
die  Actio  prima,  während  die  fünf  Bücher  die  fingierte  actio  secunda  dar- 
stellen. Diese  fünf  Bücher  gehören  zu  den  wichtigsten  Quellen  des  römi- 
schen Altertums;  für  die  Verwaltung  der  römischen  Provinzen,  für  die 
Geschichte  Siciliens,  für  die  antike  Kunst  geben  sie  uns  die  wertvollsten 
Zeugnisse  an  die  Hand.  Der  rhetorische  Wert  derselben  ist  dagegen  viel 
geringer  anzuschlagen,  da  schon  die  Fiction,  auf  der  diese  Beden  beruhen, 
einen  reinen  Genuss  nicht  aufkommen  lässt. 

Ül)er  die  divinatio  Gellius  2, 4  cum  de  constituendo  acciisrUore  quaeritur  Uidicium- 
que  super  ea  re  redditur,  cuinam  potissimum  ex  duobus  plurihusve  accusatio  »ubseripiiove 
in  reum  permittatur,  ea  res  atque  iudicum  cognitio  divinatio  appellatur,  —  Gavius  Bassus  in 
tertio  fibrarum,  quas  de  origine  vocabulorum  compasuU,  divinatio,  inquit,  iudicium  appel- 
latur, quoniam  divinet  quodam  modo  iudex  oportet,  quam  sententiam  sese  ferre  par  sit, 
was  dann  Gellius  weiter  ausffthri. 

Ober  sein  Verfahren  bei  der  ersten  Verhandlung  11,33  fructum  istum  laudis,  qui 
ex  perpetua  oratione  percipi  potuit,  in  alia  tempora  reservemus;  nunc  hominem  tabxdis, 
testibus,  privatis  publieisque  litteris  auctoritafibusque  accusemus,  17, 55  faciam  hoc  non 
norum,  sed  ab  iis,  qui  nunc  principes  nostrae  civitatis  sunt,  ante  factum,  ut  testibus  utar 
staiim;  illud  a  me  novum,  iudices,  cognoscetis,  quod  ita  testes  constituam,  ut  crimen  totum 
explicem,  ubi  id  argumentis  atque  oratione  firmavero,  tum\  testes  ad  crimen  accommodem, 
ut  nihil  inter  iüam  usitatam  accusationem  atque  hanc  novam  intersit,  nisi  quod  in  iUa  tum, 
cum  omnia  dicta  sunt,  testes  dantur,  hie  in  singulas  res  dabuntur,  ut  Ulis  quoque  eadem 
interrogandi  facultas,  argumentandi  dicendique  sit,  Si  quis  erit,  qui  perpetuam  orationem 
accusationemque  desideret,  altera  actione  audiet.    Vgl.  noch  Actio  sec.  1«  10, 29. 

Das  lOagobjekt  lautet  (17, 56)  Dieimus  C.  Verrem,  cum  muUa  libidinose,  multa  cru- 
deliter  in  eives  Romanos  atque  socios,  multa  in  deos  hominesque  nefarie  fecerit,  tum  praeter  ea 
quadringentiens  sestertium  ex  Sicilia  contra  leges  abstulisse. 

In  der  ersten  Rede  der  Actio  secunda  sagt  Cicero  12, 34  quaestor  Cn,  Papirio  con- 
sule  fuisti  abhinc  annos  quattuordecim.  Ex  ea  die  ad  hanc  diem  quae  fecisti,  in  iudicium 
voco;  hora  nulla  vaoM  a  furto,  scelere,  crudelUate,  flagitio  reperietur,  Hi  sunt  anni  consumpti 
in  quaestura  et  legatione  Äsiatica  et  praetura  urbana  et  praetura  Siciliensi.  Quare  haec 
eadem  erit  quadripertita  distributio  totius  aceusationis  meae.  Die  drei  ersten  Punkte  sind 
in  der  ersten  Rede  behandelt,  der  vierte  dagegen  in  der  zweiten  Rede. 

In  der  dritten  Rede  disponiert  der  Redner  also :  5, 1 1  m  causa  tripertita,  iudices, 
erit  in  accusatione,  primum  de  decumano,  deinde  de  empto  dicemus  frumento^  postremo  de 


202    Bömiache  Lüteratnrgeschiohte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik«    2.  Periode. 

aesHmato  (d.  h.  über  den  Fruchtzehnt  vom  ager  publicuSf  über  die  Gretreidelieferungen  zur 
Verteilung  in  Rom,  für  die  eine  bestimmte  Taxe  gezahlt  wm*de;  endlich  von  dem  Getreide, 
das  für  den  Haushalt  (in  cellam)  des  Prätors  bestimmt  war  und  das  entweder  in  natura 
entrichtet  oder  nach  einem  Normalpreis  bezahlt  werden  konnte). 

In  der  Rede  de  signis  zeigt  der  Redner  zuerst,  welche  Kunstschätze  Verres  Privat- 
personen, dann  welche  er  Städten  und  Tempeln  geraubt  (vgl.  32,  72). 

In  der  fünften  Rede  weist  der  Redner  nach,  dass  mit  Unrecht  Verres  den  Ruhm  in 
Anspruch  nimmt,  Sicilien  von  flüchtigen  Sklaven  und  Kriegsgefahren  gerettet  zu  haben 
(provinciam  Siciliam  virtute  istitis  et  mgilantia  aingxdari  dtibiis  farmidoJosisque  iemparihus^ 
a  fugitivis  atque  a  belli  periculis  tutam  esse  servatam  1, 1);  er  schliesst  seine  Beweisführung 
mit  den  Worten  nihil  ex  fugitivorum  hello  aut  suspitione  beUi  Jaudis  adeptus  est,  quod 
neque  bellum  eius  tnodi  neque  belli  periculum  fuit  in  Sicilia  neque  ab  isto  provisum  est,  ne 
quod  esset  (17,42).  Er  zeigt  nun  im  zweiten  Teil,  dass  Verres  die  Flotte  sträflich  vernach- 
lässigte und  eine  schmähliche  Niederlage  durch  die  Seeräuber  verschuldete  (17, 42 — 52, 136). 
Im  letzten  Teil  endlich  wird  ausgeführt,  dass  Verres  ohne  Grund  die  schwersten  Leibes- 
strafen  über  römische  Bürger  verhängt  hat  (causa  ^  quae  non  ad  sociorum  salutem,  sed  ad 
cimum  Romanorumj  hoc  est  ad  unius  cuiusque  nostrum,  vitam  et  sanguinem  pertinei  [53, 139]). 

Überlieferung:  Für  die  Divinatio  in  Caecilium,  actio  prima  und  das  Buch  1  der 
actio  secunda  sind  die  verlässigsten  Quellen  zwei  Guelferbytani,  dann  ein  vetus  codex 
Stephani  und  ein  vetus  codex  Lambini.  —  Für  die  Bücher  2  und  3  ist  der  beste  Zeuge 
der  Lagomarsinianus  nr.  42.  —  Für  die  Bücher  4  und  5  ist  die  reinste  Überlieferung  in  dem 
Parisinus  Regius  7774  A  s.  IX.    (Msusel,  Berl.  Progr.  1876.    Nohl,  Hermes  20, 56.) 

Litteratur:  Brauneisen,  Bemerk,  über  die  verr.  Reden,  Hadersl.  1840.  Deoknkolb, 
Die  lex  Uieronica  und  das  Pfändungsrecht  der  Steuerpächter,  Beitr.  zur  Erklärung  der 
Verrinen,  Berl.  1861.  König,  De  Cic,  in  Verr,  artis  operum  aestimatore,  Jever  1863,  uoeh- 
LiNo,  De  Cicerone  artis  aestimatore,  Halle  1877. 

6.  pro  M.  Fonteio,  höchst  wahrscheinlich  aus  dem  J.  69.  Die  Rede 
ist  uns  nur  in  Bruchstücken  erhalten  durch  einen  Vaticanus  (im  Tabularixtm 
Basükae  Vatkanae),  Hierzu  kommen  noch  Teile  aus  einem  PalimpsestuH 
PalatinuB' Vaticanus  und  einer  Handschrift  des  Nicolaus  von  Cues  (bei  Trier). 
In  der  Rede  wird  M.  Fonteius  wegen  der  Erpressungen,  die  er  sich  während 
seiner  Statthalterschaft  in  Gallia  Narbonensis  zu  Schulden  kommen  Hess, 
belangt.  Die  Anklage  erfolgte  besonders  auf  Betreiben  des  Indutiomarus,  des 
Häuptlings  der  AUobroger  (21, 46).  Als  Ankläger  lernen  wir  M.  Plaetorius 
kennen,  als  Subscriptor  M.  Fabius  (15,  36).  Unsere  Rede  bezieht  sich 
auf  die  zweite  Verhandlung  (16,  37;  17,  40).  Aus  den  Bruchstücken  er- 
kennt man,  dass  Cicero  die  Anklagen  nicht  entkräften  konnte,  er  verlegt 
sich  daher  auf  Gemeinplätze,  den  gallischen  Zeugen  könne  man  nicht 
glauben  u.  dgl. 

Die  Vorwürfe,  die  dem  M.  Fonteius  wegen  seiner  Verwaltung  Galliens  gemacht 
werden,  sind  besonders  drei:  5, 11  hoc  praetore  oppressam  esse  aere  alieno  Gaüiam,  8, 17 
obiectum  est  etiam  quaestum  M.  Fonteium  ex  viarum  munitione  fecisse,  ut  aut  ne  cogeret 
muntre  aut  id,  quod  munitum  esset,  ne  improbaret,  9, 19  cognoscite  nunc  de  crimine  vinario, 
quod  Uli  invidiosissimum  et  maximum  esse  voluerunt.  Vgl.  9,  20  Video,  iudices,  esse  crimen 
et  gener e  ipso  magnum  (vectigcU  enim  esse  inpositum  fructibus  nostris  dicitur  et  pecuniam 
permagnam  ratione  ista  cogi  potuisse  confiteor)  et  intddia  vel  maximum. 

Die  Rede  fällt  nach  der  Aurelischen  Rogation,  welche  in  einem  der  letzten  Monat« 
des  J.  70  bestätigt  wurde.  —  Der  Zeitbestimmung  69  „fehlt  der  strenge  Beweis,  aber  steht 
auch  ihr  nichts  entgegen.*^   (Dbumaiw  5,  330).    Für  69  entscheidet  sich  auch  Schneideb  p.  28. 

Litteratur:   Schneide»,  Quaest,  in  Cic.  pro  Fonteio,  Grimma  1876  (Dispos.  p.  48). 

7.  pro  A.  Caecina,  wahrscheinlich  aus  dem  J.  69.  Es  handelte 
sich  um  eine  Besitzstörung  durch  bewaffnete  Gewalt.  Auf  den  Besitz 
eines  Grundstücks  erhob  sowohl  Sextus  Aebutius  als  A.  Caecina  Anspruch. 
Sextus  Aebutius  hatte  das  fragliche  Grundstück  gekauft,  nach  seiner  Be- 
hauptung für  sich,  nach  der  Behauptung  Gaecinas  für  Caesennia,  welche 
später  die  Gattin  Caecinas  wurde.    Man  kam  nun  überein,  dass  dem  Gae- 


Gioero0  Beden. 


203 


cina  nach  herkömmlicher  Weise  das  Eigentumsrecht  abgestritten  werde, 
um  dann  das  Prozessverfahren  einleiten  zu  können.  Es  wurde  ein  Tag 
bestimmt,  allein  als  Caecina  in  die  Nähe  des  Grundstücks  kam,  da  erfuhr 
er,  dass  Aebutius  bewaffnete  Mannschaft  aufgeboten  habe,  mit  der  er  die 
Zugange  zu  dem  fraglichen  Grundstück  und  zur  Umgebung  besetzte.  Als 
Caecina  den  Versuch  machte,  an  das  Grundstück  heranzukommen,  liess 
Aebutius  ihm  durch  einen  Sklaven  verkünden,  wer  das  Grundstück  betrete, 
werde  getötet.  Caecina  musste  vor  der  bewaffneten  Macht  fliehen.  Auf 
erhobene  Beschwerde  Caecinas  erlässt  der  Prätor  Dolabella  ein  Interdict 
wegen  Anwendung  von  Gewalt  durch  Bewaffnete,  es  soU  der  von  dem  Ort 
Vertriebene  wieder  in  denselben  eingesetzt  werden.  Da  Aebutius  sich 
dessen  weigerte,  so  kam  die  Sache  vor  die  Recuperatoren;  es  musste  jetzt 
darüber  entschieden  werden,  ob  die  Voraussetzung,  auf  der  das  Interdict 
des  Prätors  beruht,  wirklich  vorhanden  sei.  Die  Form  der  Klage  war  die 
sponsio.  Aebutius  wurde  von  C.  Piso  verteidigt,  die  Sache  des  Caecina 
vertrat  M.  Cicero. 

Nachdem  die  narratio  vollendet,  bestimmt  Cicero  die  Klage  8, 23 :  hia  rebus  Ua  gestia 
P.  Dolabella  praetor  interäixU,  ut  est  consuetudo,  DE  VI  HO  MINIBUS  AHM  ATIS  sine 
Ulla  exeeptiane,  tantutn  ut,  unde  deiecisset,  restUtteret,  Bestituisse  *)  se  dixit.  Spansio  facta 
est.  Hae  de  sponsione  vobis  iudicandum  est.  Das  Interdiktnm  de  ei  hominilms  coactis  arma-' 
tisre  war  eine  Verschärfimg  des  einfachen  interdictum  de  vi.  Die  Verteidigung  Pisos  be- 
ruhte besonders  auf  dem  Satz  11, 81  non  deieei,  sed  obstiti,  vgl.  12, 35  ita  dicis  et  Ua  con- 
stUuis  (C.  Piso),  si  Caecina,  cum  in  fundo  esset,  inde  deiectus  esset,  tum  per  hoc  interdictum 
cum  restitui  oportuisse;  nunc  vero  deiectum  nullo  modo  esse  inde,  ubi  non  fuerit;  hoc  inter- 
dicto  nihil  nos  adsecutos  esse.  Es  spielen  noch  andere  Fragen  in  die  Streitsache  herein: 
6, 17  Caesennia  fundum  possedit  locavitque;  neque  ita  müUopost  Ä.  Caecinae  nupsit,  üt  in 
pauca  conferam,  testamento  facto  mulier  moritur;  facit  heredem  ex  deunce  et  semuncia 
Caecinam,  ex  dudbus  sextulis  M.  Fulcinium,  libertum  superioris  viri  (des  M.  Fulcinius), 
Aebutio  sextulam  aspergit  —  Iste  autem  hac  sextula  se  ansam  retinere  omnium  controversiarum 
putat.  lam  principio  ausus  est  dicere  non  posse  heredem  esse  Caesenniae  Caecinam,  quod 
is  deteriore  iure  esset  quam  ceteri  eives  propter  incommodum  Volaterranorum  calamitatem- 
que  civilem.  Die  Frage  des  Besitzes  kommt  nach  Cicero  bei  dem  Interdikt  nicht  in  Be- 
tracht: 36, 104  «ff  iudieium  non  venire,  utrum  A.  Caecina  possederit  necne,  tamen  doceri 
possedisse;  muUo  etiam  minus  quaeri,  A.  Caecinae  fundus  sit  necne,  me  tamen  id  ipsum 
docuisse,  fundum  esse  Caecinae. 

Über  die  Zeit  der  Rede  (69  oder  68)  vgl.  Dbumann  5, 387. 

Der  Erfolg  der  Rede  scheint  günstig  gewesen  zu  sein,  weil  Cicero  Orator  29, 102  sagt: 
Tota  mihi  causa  pro  Caecina  de  verbis  interdicti  fuit .  res  involutas  definiendo  explicavimus, 
ius  civile  laudavimus,  verba  atkbigua  distinximus.  Die  letzte  Bemerkung  bezieht  sich  be- 
sonders auf  die  ErklAmng  von  unde  (sowohl  =  ex  quo  loco  als  =  a  quo  loco  vgl.  30, 87). 

Überlieferung:  Die  besten  Handschriften  sind  die  Tegemseensis  s.  Monacensis  s.  XI 
18787,  der  Erfurtensis  s.  Berolinensis  s.  XII.    (Fragmente  im  Palimpsestus  Taurinensis.) 

Litteratur:  Die  Jurist.  Fragen  erOrtem  ausführlich  Kxlleb,  Semestr.  1,275 — 431 
JoKDAK  in  seiner  Ausgabe,  Zxyss,  Zeitschr.  für  Altertumsw.  1848  p.  865,  Bethmanv-Hollweg, 
R.  Civilproz.  2, 827.    Auch  Fbaxcksn  berührt  einiges  Mnemos.  9  (1881)  p.  245. 

142.  Die  zweite  Periode  der  ciceronischen  Beredsamkeit  (66—59). 
1.  De  imperio  Cnei  Pompei,  von  Cicero  im  J.  66  gehalten.  Es  war 
seine  erste  Staatsrede.  Der  Volkstribun  G.  Manilius  stellte  den  Antrag, 
dem  Pompeius  den  Oberbefehl  in  dem  Ej-iege  gegen  Mithradates  und  Tig- 
ranes  zu  übertragen.  Zugleich  sollte  er,  der  bereits  über  die  Meere  und 
Küsten  gebot,  noch  die  Verwaltung  der  Provinzen  Bithynien  und  Kilikien 


^)  Über  das  restituisse  der  Antwort 
bemerkt  Frakcksv  p.  254  voUbat,  opinor,  hoc 
(AebutiusJ:  se  neque  vi  deiecisse  neque  resti- 


tuere  posse;   ideoque  perinde  nunc  rem  se 
habere  ac  si  restituisset. 


204    Römisohe  Litteraturgeschiohte.    I.  Die  Zeifc  der  Republik.    2.  Periode. 

erhalten;  auch  war  ihm  für  seine  Eriegsführung  volles  Recht,  Frieden  und 
Bündnisse  zu  schliessen,  eingeräumt  worden.  Es  ist  klar,  dass  die  Über- 
tragung einer  solchen  Macht  an  eine  Person  für  den  Bestand  der  Republik 
gefahrlich  war.  Cicero  hätte  daher  vor  allem  als  seine  Aufgabe  ansehen 
müssen,  diese  Bedenken,  welche  Q.  Hortensius  und  Q.  Gatulus  anregten, 
zu  beseitigen.  Allein  diesen  Kardinalpunkt  übergeht  die  Rede  Giceros;  in 
schönen  Worten  sucht  sie  nachzuweisen,  dass  der  Krieg  gegen  Mithradates 
notwendig,  dass  derselbe  schwierig  sei  und  dass  für  die  Führung  desselben 
Pompeius  vor  allem  geeignet  sei.  Die  Übertreibungen,  die  sich  der  Redner 
in  Bezug  auf  Pompeius  erlaubt,  vernichten  sich  selbst.  Das  Gesetz  wurde 
mit  grosser  Majorität  angenommen. 

Über  das  Manilische  Gesetz  sind  Hauptstellen:  Plutarch  Pomp.  30  ygafpei  vouov  tU 
rtay  dijfAaQXtoy  MäXXiog,  ontjg  jleixoXXog  «QX^^  X*'^Q^^  "'^  dvräfjtstag  no^nijtov  naoaXaßoyta 
naaay,  nQoaXaßoyrtt  di  xai  Bi>&vyiay,  fjy  l/et  rXaßQlfoyy  noXefieiy  Mi&QiiaTp  xai  Tiygayn 
toig  ßaaiXsvüiyy  e^oyta  xai  xrjy  ravuxtjy  dvyafuy  xai  to  xQarog  t^g  &ttXna(fr^g  e<p'  olg  eXaßey 
i^  «QXV^'  l^io  Cass.  86,42  p.  121  Bekkeb  toy  tov  Tiyqavov  xai  xov  rov  Mid-gidtitov  no- 
Xefjioyj  tijy  re  Bi&vylay  xai  rijy  KiXixlay  afia  «QXV^  avtip  TtQocäxa^ey  {MaXXioa).  Appian. 
Mi&Q.  97  (1,  537  Mendels.)  sVXot^o  tov  ngog  Mi&Qirdtttfjy  noXifiov  cxqattiyoy  inl  xrjg  ofioias 
i^ovaiag,  avxoxQtixoQa  ovxa,  onjn  9iXoi,  avtrri&eir&al  xe  xai  TtoXefieTy,  xai  <piXovg  ^  noXs- 
filovg  'Pwfialoig  ovg  doxifidaeie  noiBui&ttt  *  axQaxwg  x$  nfiffr^g,  öarj  nioay  icxl  x^g  'IxaXiag, 
KQX^^^  B^ioxay  '  aneg  ovdeyi  n<o  nayxänafft  nQo  xovde  ofjiov  narxa  iao&rj. 

Die  Rede  zerfftUt  in  drei  Hauptteile,  der  dritte  HauptteU  wiederum  in  vier  Teile. 
Diese  Disposition  ist  gut  zusammengefasst  in  den  Worten:  16,49  cum  et  bellum  sit  ita 
necessarium,  ut  neglegi  non  possit,  ita  magnum,  ut  accuratissime  sU  administrandum,  et 
cum  ei  imperatorem  praeficere  possitis,  in  quo  sU  eximia  belli  scientia,  singularis  virtus, 
clarissima  auctoritas,  egregia  fortuna. 

Scharf,  aber  richtig  urteilt  Neumamv,  Gesch.  Roms  2,  147  über  die  Rede:  «Wie  hohe 
Erwartungen  Cicero  auch  durch  die  Einleitung  erweckt,  so  liefert  doch  die  Rede  den  über- 
zeugenden Beweis,  dass  in  ihm  keine  staatsmännische  Ader  vorhanden  war.  Es  findet  sich 
in  ihr  kein  einziger  politischer  Gedanke,  ja  die  Rede  berührt  nicht  einmal  den  Kern  der 
Frage,  sondern  gibt  nur  das  politische  Geschwätz  der  Spiessbürger  in  veredelter  Ausdrucks- 
weise wieder,  sie  ist  ja  nur  ein  volltonendes  Echo  der  herrschenden  TagesmeLnung." 

Überlieferung:  Dieselbe  beruht  in  erster  Linie  auf  dem  Erfurtensis  s.  Berolinensis 
und  dem  Vaticanus  1525,  dann  auf  dem  Tegemseensis  s.  Monacensis  18787.  In  dem  Tegems. 
ist  aber  nur  der  letzte  Teil  erhalten.  Als  Ersatz  für  denselben  tritt  die  Kopie,  der  voll- 
ständige Hildesheimensis  ein.    Vgl.  Nohl,  Hermes  21, 193. 

Litteratur:  Nikl,  levUatem  et  faHaciam  argumentationis  in  Cic.  or.  , ,  .  astendit, 
Kempten  1842.  Reinhard,  De  aliquot  locorum  in  Cic.  .  .  .  fide  histarica,  Freib.  1852. 
Bauebmeisteb,  Cic.  Rede  de  i,  Cn,  P.  nach  ihrem  rhetor.  Wert  erläutert,  Luckau  1831. 

2.  pro  A.  Cluentio  Habito  (66  v.  Chr.).  In  der  Rede  für  Cluentius 
Habitus  enthüllt  sich  uns  ein  verbrecherisches  Treiben,  das  uns  mit  Ent- 
setzen erfüllt.  Wir  unterlassen  hier  eine  Schilderung  aller  Verbrechen  und 
beschränken  uns  auf  kurze  Darlegung  des  Prozessfalls.  Die  Mutter  des 
A.  Cluentius  Habitus,  Sassia,  hatte  Statins  Albius  Oppianicus  zum  Manne 
genommen.  Im  Jahre  74  belangte  A.  Cluentius  Habitus  seinen  Stiefvater 
vor  C.  Junius,  als  Vorsitzendem  des  Gerichtshofes,  gegen  ihn  einen  Gift- 
mord versucht  zu  haben.  Oppianicus  wurde  auch  verurteilt;  allein  das 
Urteil  wurde  wegen  der  in  dem  Prozess  vorgekommenen  Bestechung  der 
Richter  sehr  verdächtigt.  Besonders  der  Verteidiger  des  Oppianicus,  der 
Volkstribun  L.  Quinctius  schlug  grossen  Lärm.  Es  fanden  auch  gericht- 
liche Verurteilungen  statt,  wie  die  des  Vorsitzenden  C.  Junius  und  cen- 
sorische  Rügen.  Oppianicus  starb  plötzlich  im  Exil.  Da  veranlasste  Sassia 
im  J.  66  ihren  Stiefsohn,  eine  Klage  gegen  A.  Cluentius  wegen  Giftmordes, 
den  er  an  seinem  Stiefvater  Statins  Albius  Oppianicus  begangen,  nach  dem 


CioeroB  Beden.  205 

cornelischen  Gesetz  einzureichen.  Oppianicus  wurde  vertreten  von  Titus 
Actius  aus  Pisaurum,  Gluentius  dagegen  von  Cicero.  Iudex  quaestionis  war 
Q.  Voconius  Naso.  Allein  noch  viel  mehr  beschäftigt  sich  die  Rede  mit 
der  Widerlegung,  A.  Gluentius  Habitus  habe  durch  Bestechung  der  Richter 
in  dem  Prozess  des  J.  74  die  Verurteilung  des  Statins  Albius  Oppianicus 
herbeigeführt. 

1,  1  animadverti,  iudices,  omnem  accusatoris  orationem  in  duas  dieisam  esae  pariis, 
quarum  altera  mihi  niti  et  nmgno  opere  canfidere  videbatur  inmdia  iam  inveterata  iudieii 
Juniani,  altera  tantum  modo  fonsuetudinis  causa  timide  et  diffidtnter  atiingere  rationem 
veneficii  criminum,  qua  de  re  lege  est  haec  quaestio  constituta.  Itaque  mihi  certum  est  hanc 
eandem  distribtäionem  invidiae  et  criminum  sie  in  defensione  servare,  ut  omnes  intellegant 
nihil  me  nee  subterfugei'e  voluisse  reticendo  nee  obscurare  dieendo,  Sed  cum  considero,  quo 
modo  mihi  in  utraque  re  sit  elaborandum,  altera  pars  et  ea  quae  proprio  est  iudieii  vestri 
et  legitimae  veneficii  quaestionis,  per  mihi  hrevis  et  non  magnae  in  dieendo  eontentionis  fore 
ridetur,  altera  autem,  quae  proeul  ab  iudicio  remota  est,  quae  contionibus  seditiose  concitatis 
accommodatior  est  quam  tranquillis  moderatisque  iudiciis,  perspicio,  quantum  in  agendo 
diffieuitatis  et  quantum  laboris  sit  habitura. 

Was  nun  den  ersten  Punkt  anlangt  (4, 9)  „Corrupisse  dieitur  Ä.  Cluentius  iudieium 
peeunia,  quo  inimieum  suum  innocentem,  StcUium  Albium,  condemnaret,**  so  kündigt  Cicero 
an:  Ostendam,  iudices,  primum,  quoniam  caput  illius  atrocitatis  atque  invidiae  fuit  inno- 
centem peeunia  eireumventum,  neminem  unquam  maioribus  criminibus  gravioribus  testibus 
esse  in  iudieium  vocaium;  deinde  ea  de  eo  praeiudieia  esse  facta  ab  ipsis  iudieibtut,  a  qttibus 
eondemnatus  est,  ut  non  modo  ab  isdem,  sed  ne  ab  aliis  quidem  uUis  absolvi  uUo  modo 
passet.  Cum  haee  doeuero,  tum  ülud  ostendam,  quod  maxime  requiri  intellego,  iudieium 
Ulud  peeunia  esse  temptatum  non  a  Cluentio,  sed  contra  Cluentium.  Die  Widerlegung  der 
Bestechung  reicht  bis  58, 160.  Die  Anschuldigung,  daas  Gluentius  seinen  Stiefvater  ver- 
giftete, sucht  Cicero  zu  widerlegen  61, 169  bis  zum  Epilog. 

Streitfrage  ist,  ob  Cluentius  lediglich  des  Giftmordes  oder  des  Giftmordes  und  der 
Richterbestechung,  durch  welche  die  Verurteilung  des  Oppianicus  herbeigeführt  wurde,  an- 
geklagt war.  Die  Entscheidung  hängt  davon  ab,  ob  durch  die  lex  Cornelia  nicht  bloss 
Amtspersonen,  sondern  auch  Privatpersonen  getroffen  wurden,  welche  die  Ursache  waren, 
dass  jemand  widerrechtlich  zu  einer  Eapitals^afe  verurteilt  wurde.  Babdt  sucht  den  Nach- 
weis zu  liefern,  dass  Cluentius  nur  wegen  Giftmords  angeklagt  war.  Der  Nachweis  dürfte 
nicht  gelungen  sein.  Die  Eruierung  des  wahren  Sachverhalts  wird  sehr  erschwert  durch 
die  Entstellungen,  die  der  Redner  sich  zu  schulden  konmien  lässt.  Vgl.  Quint.  2, 17, 21 
se  tenebras  offudisse  iudieibus  in  causa  Cluenti  gloriatus  est. 

Oberlieferung:  Die  besten  Handschriften  sind  der  Salisburgensis  34  s.  Mona- 
censis  15784  und  der  Laurentianns  48, 12.  Hiezu  kommen  einzelne  Teile  im  Palimpsestus 
Taurinensis. 

Litteratur:  Nismsteb,  Über  den  Prozess  gegen  A.  Cl„  Kiel  1871.  Babdt,  Zu 
Ciceros  Cluentiana,  Neuwied  1878.    (Nbttlbship,  Lectures  and  Essays,  London  1885  p.  67.) 

3.  Es  folgen  nun  die  konsularischen  Reden.  Die  frühesten  sind  die 
über  das  Ackergesetz,  das  der  Volkstribun  P.  Servilius  RuUus  Ende 
64  y.  Chr.  beantragt  hatte.  Dessen  Zweck  war,  Kolonien  in  Italien  zu 
gründen.  Es  sollte  daher  für  fünf  Jahre  eine  Kommission  von  10  Männern  wie 
die  pontifices  von  17  erlosten  Tribus  erwählt  werden;  wählbar  waren  nur 
diejenigen,  die  sich  persönlich  gemeldet  hatten  —  diese  Bestimmung  war 
gegen  den  abwesenden  Pompeius  gerichtet.  Für  die  Kommission  hatte  ein 
Prätor  die  lex  cur  lata  zu  beantragen;  allein  ein  Nichtzustandekommen  der- 
selben soUte  die  Wirksamkeit  der  Kommission  nicht  hemmen.  Auch  mit 
richterlicher  Gewalt  war  die  Kommission  bekleidet.  Die  derselben  gestellte 
Aufgabe  bestand  darin,  italisches  und  besonders  ausseritalisches  Staats- 
gebiet zu  verkaufen,  auch  Steuerquellen,  Beutegelder  flüssig  zu  machen 
und  mit  dem  gewonnenen  Oeld  Ländereien  in  Italien  zu  kaufen,  um  darauf 
Kolonien  zu  gründen.  Expropriation  war  hiebei  ausgeschlossen.  Diese 
letzte  Bestimmung  machte   die  Durchführung  der  lex  volkswirtschaftlich 


206    Römisohe  Lüteraturgescliichte.    1<  IHe  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

unmöglich.  Gegen  diese  Anträge  sprach  Cicero  in  vier  Reden;  uns  sind 
nur  drei  erhalten;  die  erste,  deren  Anfang  verloren  gegangen,  hielt  Cicero 
im  Senat  beim  Antritt  seines  Konsulats  (1.  Jan.  63).  Die  zweite  ist  an 
das  Volk  gerichtet,  sie  ist  f(ir  uns  die  Hauptrede.  Eine  Ergänzung  hiezu 
ist  die  dritte  kurze  Rede,  die  gleichfalls  an  das  Volk  gehalten  wurde;  in 
derselben  wird  die  Anschuldigung  des  Rullus  zurückgewiesen,  als  habe 
Cicero  aus  Rücksicht  für  die  Besitzer  sullanischer  Landanweisungen  dem 
Gesetz  Widerstand  entgegengestellt.  Cicero  zeigt,  dass  die  Sache  sich  ganz 
anders  verhält.  Ebenfalls  kurz  war  die  verloren  gegangene  vierte  Rede, 
über  deren  Inhalt  Näheres  wir  nicht  wissen. 

Das  ganze  Gesetz  war  ein  Versuch  Caesars  und  der  demokratischen 
Partei,  dem  Pompeius  eine  Macht  gegenüberzustellen.  Dieser  Versuch  war 
aber  keineswegs  geschickt  eingeleitet;  es  war  daher  ein  Leichtes  für  Cicero, 
das  Gesetz  ad  absurdum  zu  führen.  An  grossen  Übertreibungen  und  Prah- 
lereien fehlt  es  auch  in  diesen  Reden  nicht;  aber  geschickt  weiss  Cicero 
das,  was  geeignet  war,  auf  die  grosse  Masse  Eindruck  zu  machen,  hervor- 
zuheben. Das  Gesetz  wurde  noch  vor  der  Abstimmung  zurückgezogen 
(Plut.  Cic.  12). 

Die  besten  Handsclirifteii  sind  der  Erfürtensis  s.  Berolinensis  und  der  Erlangensis  38. 
Hiezu  kommen  noch  die  Lesarten,  die  Pithoeus  aus  einer  Handschrift  der  edit.  Lamb.  1581 
beigeschrieben.  Über  den  Lagom.  9,  auf  den  Züicpt  seine  Ausgabe  basiert  hat,  vgl.  Richter, 
Fleckeis.  J.  87, 251  und  Sohwabz  1.  c.  p.  4;  demselben  wohnt  kein  Wert  für  die  Kritik  inne. 

Litteratur:  Dbumaitk  3, 148.  Mommsen,  R.  Gesch.  3^  181.  Züicpt  in  seiner  Ausg. 
1861.  Laitob,  Rom.  Altert.  3, 233.  Haenioke,  Zu  Ciceros  Reden  de  lege  agraria,  Stettin 
1883;  nach  einer  Darlegung  des  Inhalts  wird  besonders  p.  12  f.  das  letzte  Ziel  des  Gesetzes 
ins  Auge  gefasst  Über  einzelne  Fragen  handelt  Sghwabz,  Mise.  Philolog.,  Tfib.  1878  p.  5—12. 

4.  pro  C.  Rabirio  perduellionis  reo.  Auf  Anregung  Caesars  wurde 
der  Yolkstribun  T.  Labienus  veranlasst,  eine  Klage  gegen  den  Senator  C. 
Babirius  anzustellen,  weil  er  im  J.  100  bei  der  aufständischen  Bewegung 
den  Tribunen  L.  Appuleius  Satuminus  ersehlagen  habe.  Der  Zweck  dieser 
Klage  konnte  nicht  sein,  eine  vor  vielen  Jahren  geschehene  Blutthat  zu 
sühnen,  sondern  er  war  ein  politischer,  es  sollte  dem  Senat  die  Gefahr, 
die  mit  einem  Eingreifen  gegen  revolutionäre  Bewegungen  verbunden  sei, 
vor  Augen  gestellt  werden;  zugleich  sollte  die  Yolkssuveränität  eclatanten 
Ausdruck  finden.  Der  Kläger  drang  daher  auf  Anwendung  des  uralten 
Perduellionsprozesses,  es  wurde  auch  das  duumvirialische  Hochverratsver- 
fahren durch  ein  plebiscitum  beschlossen,  allein  auf  Ciceros  Betreiben  in 
wesentlich  gemilderter  Form.  Rabirius  wurde  von  den  Duumviri  C.  und 
Lucius  Caesar  verurteilt.  Gegen  dieses  Urteil  ergriff  C.  Rabirius  die  Pro- 
vokation an  das  Volk,  allein  die  Verhandlung  wurde  gestört  und  kam  nicht 
zum  Abschluss.  T.  Labienus  leitete  nun  das  Multverfahren  gegen  C.  Ra- 
birius ein.  Die  Rede,  die  uns  nur  unvollständig  erhalten  ist  —  es  ist 
in  der  Mitte  ein  Blatt  ausgefallen,  auch  ist  der  Schluss  lückenhaft  — 
bezieht  sich  auf  diesen  Multprozess,    nicht  auf  das  Perduellionsverfahren. 

Über  den  Prozess  sind  die  Hauptstellen  Dio  Cass.  87, 27  (p.  141  Bekk.)  anovdai  re 
oty  raQu^fodsi^  xai  (piXoyeixiai  dtp  ixariQtoy  tibqI  tb  tov  dixaartjQiov,  rtSr  fikv  ontag  fdn 
cvvttx^fi,  ttÜy  di  Vya  xaOt^au  dixaiovifToty,  xal  inetdrj  xovto  M  re  rot'  Kaiaaga  xal  6t 
äXXovg  riyag  iyixtjae,  neffl  ys  r^g  XQiceiog  av&ig  trvvdStjaay  .  xal  ^y  ydq  avrog  ixetyog  u$rd 
rov  KaiaaQog  rov  Aovxlov  dixdCtoy  (ov  ydg  dnhSg^  aXXd  ro  drj  Xeyofieyoy  nsQ^oveXkuoyog 
0  'PttßiQiog  ixQl^),  xare%l}tjq>laayro  avrov,  xairoi  fitj  nqog  rov  dijfiov  xttrd  rd  ndr^a,  dXkd 


CiceroB  Reden.  207 

7t q6^  aviov  Tov  ctgarrjyov  ovx  i^ov  nlQ^^ivtBg  .  xttl  i(p^xe  ^hv  6  'Paßigio^.  mcyrto^  cf'  ley 
xai  naQit  r^  ^f*^  iä'Ata,  ei  (jltj  6  MitMog  6  KbXsq  oitoytarije  re  toy  xtti  argarTjyiöy  eVe- 
nodurey  *  ineidfj  ydq  ovte  aXXiog  insi&oyro  oi,  ov&*  ort  nagu  td  vByogjLiafiiya  17  x^lcig  iye^ 
yoysi  iye&vfÄOvyro,  dyi&Qafiey  ig  x6  ^laylxovXoy,  ngiy  xai  onovy  atpäg  xfft](piaaü&ai,  xai  t6 
fffjfdeToy  ro  ctgauiouxoy  xatdanaaey,  diäte  firjdiy  et  avtotg  i^eiyta  diayytoyai  —  ovtto  fiiy 
&1J  tote  ^  re  ixxXrjala  xa&aige&et^og  tov  atifieiov  dieXvSij  xai  6  'Paßigiog  iaoß&t^  *  i^ijy  fiiy 
ydg  t(p  Aaßiijyfa  xai  av9tg  ducdaaü&ai,  ov  fieytoi  xai  inoirjaey  avtö.  Suet.  Jul.  12  sab' 
ornavit  etiam  (Caesar)  qui  Gaio  Rabirio  perduelUania  dient  diceret,  quo  praeciptio  adiutore 
aliquot  ante  annos  Lud  Saturnini  seditiosum  tribunatum  senattis  coereuerat,  ac  sorte  iudex 
in  reum  ductus  tarn  cupide  condemnavit,  ut  ad  populum  provocanti  nihil  aeque  ac  iudicis 
acerhitas  profuerU. 

Wie  oie  Klage  verlaufen,  ist  vielfach  strittig.  Besonders  schwierig  ist  die  Fest- 
stellung des  Sinns  der  Worte  3,10  de  perduellionia  iudicio,  quod  a  me  sublatum  esse 
criminari  soles,  meum  crimen  est,  non  Rabiri,  Dass  unsere  Rede  sich  auf  einen  Mult- 
prozess  hezieht,  legte  zuerst  Nibbuhb  M.  T.  Ciceronis  araiionum  pro  M,  Fonteio  et  pro 
C.  Rabirio  fragmenta  —  edita  a  Niebuhrio,  Rom  1820  p.  69  dar.  Die  Stelle,  auf  die  er 
sich  stutzte,  ist  3,8  nam  quid  ego  ad  id  longam  arationem  comparem,  quod  est  in  eadem 
multae  irrogatione  praescriptum,  hunc  nee  suae  nee  dlienae  pudicitiae  pepercisse ?  Üher 
den  Prozess  vgl.  MoimsEK,  R.  Gesch.  3",  169.  Madvig,  R.  Verfassung  2, 304.  Die  ührige 
reiche  Litteratur  ist  zusammengestellt  bei  Putsche,  Über  das  gen%is  iudicii  der  Rede  Ciceros 
pro  C.  R.,  Jena  1881  p.  3.  (Lallibb,  Revue  historique  12,  257:  Wibz,  Fleckeis.  J.  119, 177; 
ScHKEiDRB,  Der  Prozess  des  C.  R.,  Zürich  1889.) 

Überlieferung:  Die  Textkritik  ruht  mit  Ausnahme  von  Fragmenten  des  Schlusses, 
die  wir  zwei  vatikanischen  Palimpsesten  verdanken,  auf  jüngeren  Handschriften,  z.  B.  dem 
Salisbui^ensis  34  s.  Monacensis  15734.  Die  Worte  f^rdueüionis  reo**  in  der  Überschrift 
müssen,  wenn  die  Rede  eine  Multklage  betraf,  spftterer  Zusatz  sein. 

5.  Gatilinarische  Reden.  Die  catilinarische  Verschwörung  gab 
Cicero  Anlass  zu  vier  Reden.  Die  erste  hielt  er  am  8.  November  63  im 
Senat.  Das  merkwürdige  Ziel,  das  Cicero  mit  dieser  Rede  verfolgte,  ist, 
den  Catilina  zu  bestimmen,  aus  der  Stadt  hinauszugehen  und  seine  An- 
hänger mitzunehmen.  Das  erste  that  Catilina  und  würde  es  wahrschein- 
lich auch  ohne  die  Rede  Ciceros  gethan  haben,  allein  das  Zweite  geschah 
nicht.  Dem  naheliegenden  Einwand,  dass  es  doch  viel  einfacher  gewesen 
wäre,  Catilina  unschädlich  zu  machen,  begegnet  Cicero  mit  der  Ausrede, 
er  wolle  zusehen,  bis  auch  der  grösste  Bösewicht  die  Schuld  Catilinas  niclit 
mehr  bezweifeln  könne.  Catilina  verliess  in  der  Nacht  vom  8./9.  November 
die  Stadt  und  begab  sich  zur  Revolutionsarmee  nach  Etrurien.  Am  9.  No- 
vember zeigt  dies  Cicero  in  der  zweiten  Rede  dem  Volke  an.  Jetzt,  führt 
er  aus,  sei  Catilina  aus  seinem  Hinterhalt  zu  offenem  Vorgehen  gedrängt 
worden  (1,  1).  Allein  —  nun  kam  die  Hiobspost  —  die  Anhänger  Cati- 
linas seien  in  der  Stadt  zurückgeblieben.  An  diese  erlässt  nun  Cicero 
seinen  Warnungsruf  ergehen,  der  natürlich  in  diesem  Fall,  wo  nur  Thaten 
der  Entschlossenheit  am  Platz  waren,  nichts  nützen  konnte.  Es  trat  nun 
ein  anderes  Ereignis  ein,  welches  einen  handgreiflichen  Beweis  der  Ver- 
schwörung Cicero  in  die  Hände  spielte.  Die  Verschworenen  hatten  näm- 
lich mit  den  Gesandten  der  AUobroger,  welche  nach  Rom  gekommen  waren, 
um  sich  über  die  Bedrückungen  ihres  Landes  durch  die  Wucherer  zu  be- 
schweren, Verbindungen  angeknüpft;  sie  hofften  sich  die  Hilfsquellen  dieses 
Volkes  zu  sichern.  Die  AUobroger  waren  anfangs  schwankend,  allein 
längere  Überlegung  hielt  sie  doch  ab,  sich  in  das  gefahrvolle  Unternehmen 
einzulassen.  Sie  teilten  die  Sache  ihrem  Patron  mit,  der  schleunigst 
Cicero  Nachricht  gab.  Um  Beweismittel  zu  erhalten,  bestimmte  Cicero 
die  Gesandten,  sich  von  den  Verschworenen  Schriftstücke  geben  zu  lassen, 
die  sie  ihrem  Volke  vorlegen  konnten.    Die  Gesandten  thaten  dies.    Es 


208    ROmiBohe  LitteratnrgeBohiohte.    t.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

wurde  nun  verabredet,  dass  die  Allobroger  auf  der  Heimreise  von  Regie- 
rungstruppen angehalten  und  ihnen  bei  dieser  Gelegenheit  die  Briefschaften 
abgenommen  werden  sollten.  Auch  dies  geschah.  Cicero  berief  sofort  am 
3.  Dezember  den  Senat,  es  wurden  die  Verschworenen  vorgerufen.  Auf 
Grund  der  aufgefangenen  Briefschaften  wurden  sie  überführt  und  Senatoren 
zur  Verwahrung  übergeben.  Für  die  glückliche  Errettung  aus  der  Gefahr 
wurde  ein  Dankfest  beschlossen.  Die  Senatssitzung  hatte  bis  zum  Abend 
gedauert;  sofort  teilte  Cicero  den  Verlauf  der  Verhandlungen  in  der  drit- 
ten Rede  dem  Volke  mit.  Am  5.  Dezember  wurde  über  das  Schicksal 
der  überführten  Verschworenen  verhandelt.  Es  machten  sich  zwei  An- 
sichten geltend,  die  eine  drang  auf  Todesstrafe,  die  andere  von  Caesar 
vertretene  führte  aus,  dass  dies  verfassungswidrig  sei,  und  drang  auf 
lebenslängliche  Internierung  der  Schuldigen  in  den  Munizipien  und  Ein- 
ziehung ihres  Vermögens.  Die  Rede  Caesars  machte  gewaltigen  Eindruck, 
die  Senatoren  wurden  schwankend.  Da  ergriff  Cicero  das  Wort  —  es  ist 
dies  die  vierte  Rede  —  und  obwohl  er  den  referierenden  Standpunkt 
einnahm,  liess  er  doch  deutlich  merken,  dass  er  für  die  Todesstrafe  sei; 
er  führt  daher  den  Gedanken  aus,  es  sei  die  Macht  vorhanden,  den  Be- 
schluss  des  Senats  durchzuführen.  Man  sieht  deutlich  die  Angst  des  Kon- 
suls, irgend  eine  Verantwortung  in  der  Sache  zu  übernehmen.  Dass  solche 
Worte  keinen  Eindruck  machen  konnten,  ist  zweifellos.  Erst  die  leiden- 
schaftliche Rede  Catos  hat  über  das  Geschick  der  Verschworenen  ent- 
schieden; die  Hinrichtung  ward  beschlossen  und  von  Cicero  vollzogen. 

Die  vier  Reden  wurden  aus  dem  Stegreif  gehalten.  Die  Aufeeichnung  konnte  also 
erst  später  erfolgt  sein.  Im  Jahre  60  hatte  sie  Atticus,  wie  aus  der  p.  209  angefahrten 
Stelle  hervorgeht  (ad  Att.  2, 1,  3)  noch  nicht  gelesen;  damals  wurde  das  Corpus  der  konsu- 
larischen Reden  zusammengestellt.  Wenn  nun  auch  Cicero  noch  manches  von  den  extem- 
porierten Reden  im  Gedächtnis  hatte,  so  mussten  doch  die  später  geschriebenen  Reden  vielfach 
anders  werden  als  die  von  der  Macht  des  Augenblicks  getragenen.  Manches  wurde  jetzt 
gesagt,  das  nicht  mehr  völlig  in  die  damalige  Situation  passte.  Auch  die  rhetorischen  Aus- 
schmückungen werden  erst  jetzt  hinzugekommen  sein.  Am  deutlichsten  sieht  man  dies 
aus  der  vierten  Rede,  die  mr  ein  Referat  viel  zu  lang  ist.  Vgl.  Madvio,  optisc.  acad.. 
Kopenh.  1887  p.  680.    Bjjm,  Einl.  zu  den  cat.  Reden  p.  26  Anm.  94.    (John  p.  653.) 

Bezüglich  des  Tags  der  ersten  Rede  wurden  Zweifel  angeregt,  indem  sich  mehrere 
Gelehrte  für  den  7.  Nov.  aussprachen.  Allein  John  stellt  ausser  Zweifel,  dass  die  erst« 
Rede  am  8.  Nov.  (wie  die  zweite  am  9.)  gehalten  wurde.  Vgl.  Philol.  46, 650,  wo  p.  650 
die  übrige  Litteratur  verzeichnet  ist. 

Merkwürdig  sind  die  Verdächtigungen,  denen  diese  Reden  längere  Zeit  ausgesetzt 
waren.  Den  Anstoss  gab  F.  A.  Wolf,  indem  er  bald  die  dritte,  bald  unbestimmt  aUeram 
ex  mediis  duabus  für  verdächtig  erklärte.  Es  entstand  nun  ein  wahrer  Wettkampf,  df'e 
catilinarischen  Reden  eine  nach  der  andern  für  unecht  zu  erklären.  Zuerst  wurde  die 
zweite  von  Cludius  verdächtigt  (1826).  Dann  kam  die  vierte  an  die  Reihe,  gegen  welche 
ZiMKEBicANi^  (1829)  und  Ahbens  (1832)  zu  Felde  zogen.  Der  letztere  hatte  im  Vorbeigehen 
auch  die  dritte  mit  einem  Verdammungsurteil  gestreift.  Alle  drei  auf  einmal  athetierte 
Orelli  (1836).  Es  war  noch  die  erste  Rede  übrig;  diese  erfuhr  ihre  Verdammung  durch 
MoRSTADT  (1842),  dann  durch  die  Holländer  Bake  und  Rinkes  (1856).  Heutzutage  bezweifelt 
niemand  mehr  die  Echtheit  jener  Reden.    (Madvig,  Opusc,  Kopenh.  1887  p.  671.) 

Überlieferung:  Aus  den  zahlreichen  Handschriften  ragt  hervor  Mediceus  45,  2 
s.  XIV  „paene  nuUa  in  eo  inveniuntur  Itcentiae  corrigentis  vestigia  et  vitia  nee  numero  nee 
genere  cum  ceteris  sunt  comparandaJ'  Müller,  Ausg.  p.  LXFV.   (Lehmann,  Hermes  14, 625  ) 

Litteratur:  Clüdius,  De  authentia  II  or.  CkitiHnariae,  Gumbinnen  1826,  dann  in 
Sebbodes  Archiv  2, 47.  Ahrens,  ober  die  vierte  Catilinaria,  Programme,  Eoburg  1832 — 1837. 
Orelli,  Orot,  selectae  p.  176.  Morstadt,  Über  Ciceros  catilinarische  Reden,  Progr., 
Schaffhausen  1842  und  1844.  Rinkes,  Disputatiö  de  oratione  I  in  Catilin.  a  Cicerone  ah- 
iudicanda,  Leyden  1856.  —  Schutzschriften:   Schnitzer,   Quaest,  Ciceronianae,  Progr., 


CiceroB  Beden.  209 

Aarau  1836,  Heilbronn  1837.  Kolstbr,  Diane t^t,  qua  or.  IV  in  Cot.  non  esse  a  Cic.  abtudi- 
candam  demonstratur,  Meldorf  1839.  Orai.  I  in  Catilinam,  Rec,  et  a  M.  Cicerone  male 
ahiudicari  demanstravU  Boot,  Amsterd.  1857.  Epkema,  Epistola  eritica  de  oratione  I  in 
Catilinam  frustra  a  Cicerone  abiudicata^  Amsterd.  1857.  Frauke,  Joh.  Bahium  orationem  I 
in  Catilin.  a  Cicerone  male  dbiudicasse  demonstrat,  Sagan  1863. 

6)  pro  L.  Muren a.  Für  das  Jahr  62  waren  als  Bewerber  um  das 
Konsulat  aufgetreten  L.  Sergius  Gatilina,  D.  Junius  Silanus  und  Ser.  Sul- 
picius  Rufus.  Gewählt  wurden  D.  Silanus  und  L.  Murena.  Erbittert  über 
diese  Niederlage  suchte  Sulpicius  Rufus,  der  berühmte  Jurist,  die  Wahl 
Murenas  zu  annullieren,  indem  er  im  November  63  gegen  Murena  eine 
Klage  wegen  Amtserschleichung  (ambitus)  einbrachte.  Seine  Klage  unter- 
stützten M.  Porcius  Gato,  ferner  Postumus  und  ein  jüngerer  Ser.  Sulpicius 
(26, 54).  Verteidigt  wurde  Murena  von  Q.  Hortensius,  M.  Grassus  und  Gicero 
(4, 10).  Wie  gewöhnlich,  wenn  mehrere  Redner  zusanmienwirkten,  sprach 
Cicero  an  letzter  Stelle.  Seine  Rede  gliedert  er  in  drei  Teile  (5, 11);  zuerst 
sucht  er  die  Unbescholtenheit  des  Wandels  seines  Klienten  darzuthun  (5, 11 
bis  7,15);  dann  bespricht  er  die  Würdigkeit  Murenas,  indem  er  besonders 
die  Wirksamkeit  Murenas  und  Sulpicius'  miteinander  vergleicht  und  zu 
dem  Ergebnis  kommt,  dass  die  militärische  Tüchtigkeit  höher  stehe  als 
die  juristische  (7, 15—26, 54);  im  letzten  Teil  kommt  er  auf  den  eigentlichen 
Gegenstand  der  Klage,  den  ambitus.  Hier  bestand  aber  für  Gicero  eine 
Klippe  insofern,  als  die  Klage  auf  Grund  einer  lex,  welche  Giceros  Namen 
trug  (Lex  Tulliana  de  amiitu),  erfolgte.  Er  beantwortete  zuerst  die  An- 
klagen des  Postumus  und  des  jungen  Ser.  Sulpicius;  allein  diese  Partie 
liegt  in  der  vorliegenden  Rede  nicht  ausgearbeitet  vor;  sie  war  lediglich 
Gegenstand  der  mündlichen  Ausführung,  wir  lesen  (27, 57)  bloss  die  Worte 
De  Postumi  criminibus.  De  Servil  adulescentis.  Der  Schluss  beschäftigt  sich 
mit  den  Anschuldigungen  Gates.  Hier  wird  besonders  ein  Gedanke  ge- 
schickt durchgeführt,  dass  es  in  einer  so  gefahrvollen  Zeit  —  Gatilina  hatte 
sich  bereits  nach  Etrurien  begeben  —  unverantwortlich  sei,  den  einen 
militärisch  erprobten  Konsul  zu  beseitigen  und  die  Aufregungen  eines  neuen 
Wahlkanipfs  heraufzubeschwören  (39,  85).  —  Die  Rede  gehört  zu  den  besten 
Reden  Giceros,  sie  leidet  nicht  an  besonderen  Übertreibungen,  sie  zeigt 
das  rednerische  Geschick  ihres  Verfassers  und  stimmt  den  Leser  heiter 
durch  die  Witzeleien,  die  gegen  die  Jurisprudenz  mit  Rücksicht  auf  den 
Ankläger  vorgebracht  werden;  interessant  sind  auch  die  Ausführungen 
gegen  den  Stoicismus  Gates.    Murena  wurde  freigesprochen. 

Die  DiBposition  der  Rede  (Gbuxmb,  or,  pro  Mur,  dispositio,  Gera  1887)  gibt  5,  1 1 : 
inteüego  tris  totius  aceusationis  partis  fuisse  et  earum  unam  in  reprehensione  vitae,  alieram 
in  contentione  dignitatia,  tertiam  in  criminibus  ambitus  esse  versatam.  Über  den  Ausgang 
vgl.  Qnint.  6, 1, 34  sie  habenda  est  auctoritatis  ratio,  ne  sit  invisa  securitas.  Fuit  quondam 
inter  haec  omnia  potentissimum,  quo  L.  Murenam  Cicero  accusantibus  clarissimis  piris 
eripuisse  praecipue  videtur  persuasitque  nihil  esse  ad  praesentem  rerum  statum  utilius 
quam  pridie  Kalendas  Januarias  esse  in  re  p.  duas  consules. 

Die  Überlieferung  der  Rede  ist  eine  sehr  schlechte,  alle  Handschriften  gehen 
auf  das  Exemplar  zurflck,  welches  Poggio  zu  Anfang  des  15.  Jahrh.  nach  Italien  brachte. 
Eine  verhfiltnismAssig  gute  Kopie  ist  eine  Wolfenbüttler  Handschrift  nr.  205  s.  XY.  Halm, 
Die  Himdschriften  zu  Giceros  Rede  pro  M.,  Sitzungsber.  der  Münchner  Akad.  1861  1,  487. 
0.  Frahckbn,  Ifnemos.  5  (1877)  p.  295. 

Das  Corpus  der  konsularischen  Reden.  Im  Jahre  60  schreibt  Cicero  an 
Atticns  (2, 1, 8)  fuit  mihi  commodum  —  curare,  ut  meae  quoque  essent  orationes,  quat  con" 

Uandbnöh  der  klMs.  AltertiunflWiMeiMcbalt  Tin.  1^ 


210    Bömisohe  Litieratnrgeschiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

siUares  nominarentur.  Quorum  una  est  in  senatu  Kai,  Jan,;  altera  ad  popuium  de  lege 
agraria;  tertia  de  Othone;  quarta  pro  Rabirio;  quinta  de  proseriptorum  fiiiis;  sexta,  cum 
provinciam  in  condone  deposui;  aeptima,  cum  Catüinam  emisi;  octava,  quam  habui  ad 
popuium  pofitridie,  quam  Catüina  profugU;  nona  in  condone,  quo  die  Äücibroges  f  invocarunt; 
decima  in  senatu,  Nonis  Decembr,  Sunt  praeterea  duae  hreves  quasi  änocnaafAana  legis 
agrariae.  Hoc  totum  ütüfjttt  curaho  ut  habeas,  et  quoniam  te  cum  scripta  tum  res  meae 
delectant,  iisdem  ex  libris  perspicies  et  quae  gesserim^et  quae  dixerim:  aui  ne  poposcisses; 
ego  enim  til>i  me  non  offereham.    Es  fehlt  die  Rede  pro  Morena. 

7)  pro  P.  Cornelio  Sulla.  Gehalten  im  J.  62.  In  dieser  Rede 
handelt  es  sich  um  die  Verteidigung  eines  der  Teilnahme  an  der  catilina- 
rischen  Verschwörung  Angeschuldigten.  Die  Klage  ging  von  L.  Manlius 
Torquatus  aus,  demselben,  dem  Cicero  in  dem  Werk  de  finibus  bonorum 
et  malorum  bei  der  Darlegung  der  epicureischen  Philosophie  die  Hauptrolle 
zuteilt.  Unterstützt  wurde  er  in  seiner  Klage  von  dem  Sohn  des  Ritters 
C.  Cornelius  (18,51).  P.  Sulla  war  mit  P.  Autronius  Paetus  zum  Konsul 
für  das  Jahr  65  gewählt  worden;  aber  er  wurde  von  unserm  L.  Torquatus 
wegen  atnbüus  erfolgreich  angeklagt  und  verlor  damit  das  Konsulat;  nicht 
besser  ging  es  dem  P.  Autronius  (17,49).  Nun  hätten,  behauptet  die  An- 
klage, beide  sich  mit  anderen,  darunter  Catilina,  verschworen,  am  1.  Jan. 
65  die  beiden  Konsuln  und  Senatoren  zu  ermorden.  Es  ist  die  sogenannte 
erste  Verschwörung.  Weiterhin  legt  ihm  die  Anklage  auch  Förderung  der 
zweiten  sog.  catilinarischen  Verschwörung  zur  Last.  Die  Verteidigung  des 
Angeklagten  führten  Hortensius  und  Cicero  und  zwar  teilten  sie  sich  so 
in  ihre  Aufgabe,  dass  Hortensius  die  erste  Verschwörung,  Cicero  die  zweite 
behandelte.  Dass  es  ungemein  auffallen  musste,  dass  Cicero  eine  solche 
Verteidigung  übernahm,  ist  klar;  und  der  Ankläger  beutete  dieses  Moment 
ganz  besonders  aus.  Cicero  musste  daher,  wenn  seine  Verteidigung  wirk- 
sam sein  sollte,  ganz  besonders  den  Gedanken  vorkehren,  dass,  wenn  ihm 
nicht  die  Unschuld  seines  Klienten  feststände,  er  Sulla  nicht  verteidigt 
haben  würde,  und  er  that  dies  im  ersten  Teil  seiner  Rede  (1, 1 — 12, 35);  im 
zweiten  Teil  geht  er  endlich  zur  Widerlegung  der  Anklagepunkte,  soweit 
sie  die  Förderung  der  zweiten  catilinarischen  Verschwörung  betreffen,  über, 
allein  er  verfügt  hier  nicht  über  viel  entlastendes  Material;  er  sucht  daher 
besonders  aus  einer  Vergleichung  des  Lebens  des  Sulla  mit  dem  der  anderen 
Revolutionäre  die  Unmöglichkeit  der  Annahme,  dass  sich  Sulla  an  der  Ver- 
schwörung beteiligt,  darzuthun.    Sulla  wurde  freigesprochen. 

Die  Rede  hinterlässt  keinen  befriedigenden  Eindruck  beim  Leser,  weil 
er  des  Gefühls  nicht  los  werden  kann,  dass  eine  ungerechte  Sache  ver- 
teidigt wird  und  die  Verlegenheit  des  Redners  klar  hervortritt. 

Nach  welcher  lex  die  Klage  erfolgte,  ob  nach  der  lex  Plaulia  de  pi  v.  J.  89  oder 
nach  der  lex  Lutatia  v.  J.  78,  ist  strittig;  vgl.  Halm-Laubmann  zu  33,  92.  Die  Anklage  ist 
kurz  zusammengefaast  4, 11  duae  coniurationes  ahs  te,  Torquate,  constituuntur,  una,  quae 
Lepido  et  Volcacio  consulibus,  paire  tuo  consule  designato,  facta  esse  dicitur,  altera,  quae 
me  consule;  harum  in  utraque  SuUam  dicis  fuisse.  Über  seinen  Anteü  an  der  Verteidigung 
spricht  sich  der  Redner  4, 13  und  5, 14  aus:  mei  consulatus  autem  tempus  et  crimen  maxi- 
mae  coniurationis  a  me  defendetur,  —  Et  quoniam  de  criminibtis  superioris  coniuratümis 
Hortensium  diligenter  audistis,  de  hoc  coniuratione,  quae  me  consule  facta  e^t,  hoc  primum 
attendite.  Was  Cicero  zur  Obemahme  dieser  seinen  Ruf  schädigenden  Verteidigung  ver- 
anlasste, lässt  sich  nicht  mit  voller  Sicherheit  sagen.  Ein  vielleicht  hieher  gehöriges  Mo- 
ment berichtet  uns  Gell.  12, 12;  cum  (Cicero)  emere  reitet  in  PakUio  domum  et  pecuniam 
in  praesens  non  haberet,  a  P,  Suüa,  qui  tum  reus  erat,  mutua  sestertium  viciens  tacite  ar- 
cepit.    Die  Freisprechung  Sullas  ergibt  sich  aus  den  Notizen  über  sein  späteres  Leben. 


OiceroB  Reden.  211 

Überlieferung:  Haupthandschriften  sind  der  Tegemseensis  s.  Monacensis  18787 
und  der  Palatinus-Vaticanus  1525,  der  aber  nur  die  Rede  bis  zu  15,43  meminisse  enthfilt. 
Halm  bevonugt  den  Tegemseensis,  Müllbb  den  Vaticanus. 

8)  pro  Archia  aus  dem  Jahre  62.  Der  Dichter  Archias  aus  Antiochia 
in  Syrien  kam  im  J.  102  nach  Rom;  hier  kam  er  mit  der  Familie  der 
LucuUer  in  nähere  Beziehungen.  Er  begleitete  später  den  M.  LucuUus 
nach  Sicilien;  auf  der  Rückreise  erhielt  er  in  Heraclea  das  Bürgerrecht, 
wohl  auf  Fürsprache  des  Lucullus  hin.  Durch  die  lex  Plautia  Papiria  des 
J.  89^)  wurde  bestimmt,  dass  alle  Nichtitaliker,  die  in  italischen  Städten 
das  BürgeiTecht  erlangt  hätten,  zugleich  des  römischen  Bürgerrechts  teil- 
haftig werden  sollten,  vorausgesetzt,  dass  sie  zur  Zeit,  als  das  Gesetz  er- 
lassen wurde,  in  Italien  sich  aufhielten  und  innerhalb  60  Tage  bei  einem 
Prätor  sich  anmeldeten  (4, 7).  Auf  Grund  dieses  Gesetzes  meldete  sich 
Archias,  der  ja  schon  längere  Zeit  in  Italien  gelebt  hatte,  beim  Prätor 
Q.  Metellus  Plus.  Dieses  auf  solche  Weise  erlangte  Bürgerrecht  des  Ar- 
chias focht  ein  sonst  nicht  näher  bekannter  Gratius  nach  der  lex  Papia 
V.  J.  65,  welche  gegen  die  Erschleichung  des  Bürgerrechts  gerichtet  war, 
an.  besonders  den  Umstand  benutzend,  dass  Archias  niemals  in  die  Gensus- 
listen eingetragen  war  (5,11).  Die  Verteidigung  des  Archias  übernahm 
Cicero,  der  Dichter  war  ja  daran,  ein  Gedicht^)  über  sein  Konsulat  zu 
schreiben.  Die  Rede  berührt  die  Rechtsfrage  nur  wenig  (2,3—6,12);  der 
übrige  Teil  der  Rede  enthält  einen  Panegyrikus  auf  die  Poesie  und  die 
Wissenschaften,  durch  welche  Archias  unter  allen  Umständen  ein  Anrecht 
auf  das  römische  Bürgerrecht  erhalte.  Diese  Deklamationen  gaben  Ver- 
anlassung, die  Rede  für  unecht  zu  erklären,  was  gänzlich  unbegründet  ist. 

Die  Klage  erfolgte  vor  dem  Prfttor  Q.  Cicero,  dem  Bmder  des  Redners.  Vgl.  schol. 
Bob.  p.  354  Or.  hanc  causam  lege  Popia  de  civitate  Romana  aput  Quintum  Ciceranem  dixit 
Archias  huius  M.  TuUii  fratrem.  Sie  Unechtheit  der  Rede  suchten  darzuthun  Schboeter 
(M.  C.  B.)  in  seiner  Ausgabe,  Leipz.  1818.  BuBCHinER,  commentatio  qua  M,  TulUum  Cice- 
ronem  orationis  pro  Archia  auctorem  non  esse  demonstratur,  Schwerin  1839  und  1841.  Treff- 
liche Gegenschrift  von  hxmuüxv,  Ciceronem  orationis  pro  Archia  rerera  esse  auctorem 
demonstratur,  Gott.  1847.  Richtig  urteilt  Tacit.  dial.  37  nee  Ciceronem  magnum  oratorem 
P,  Quintius  defensus  aut  Licinius  Archias  faciunt. 

Überlieferung:  Der  beste  Codex  ist  der  Gemblacensis  s.  Bruxellensis  5352  s.  XI/XII. 

9.  pro  L.  Flacco  aus  dem  J.  59.  L.  Valerius  Flaccus  war  Prätor 
unter  dem  Konsulat  Ciceros ;  er  unterstützte  Cicero  bei  der  Unterdrückung 
der  catilinarischen  Verschwörung  und  führte  den  verabredeten  Überfall 
gegen  die  allobrogischen  Gesandten  aus.  Im  J.  62  verwaltete  er  die  Pro- 
vinz Asia.  In  seiner  Verwaltung  liess  er  sich  grosse  Erpressungen  zu 
schulden  kommen.  Deshalb  strengten  die  Provinzialen  eine  Repetunden- 
klage  gegen  ihn  an.  Sie  wurden  vertreten  von  D.  Laelius,  der,  um  Be- 
weise gegen  Flaccus  zu  sammeln,  selbst  die  Provinz  Asia  durchreiste. 
Die  Verteidigung  führte  Hortensius  und  Cicero,  der  nach  Hortensius  sprach 
(17,  41;  23,  54),  Aus  der  Rede  gewinnen  wir  den  Eindruck,  dass  die  An- 
klagen nicht  zu  widerlegen  waren.  Der  Redner  muss  daher  sein  Haupt- 
bestreben darnach  richten,  die  Zeugen  zu  verdächtigen.  So  stellt  er  die 
Griechen   überhaupt  als  unzuverlässig  hin,  auch  die  Juden  werden  hart 


*)  oder  Ende  90;   vgl.  MoncsEK,   Rom.   I  ')  Das  Qedicht  wurde   nicht  vollendet; 

Gesell.  2«,  238  Anm.  vgl.  Cic.  Attic.  1,16,15. 

14* 


212    Bdmiache  LüteratnrgeBchiohte.    I.  Die  2eit  der  Republik.    2.  Periode. 

behandelt  (28,  66).  Nachdem  die  öffentlichen  Erpressungen  behandelt  sind, 
schreitet  der  Redner  zu  der  Widerlegung  der  von  römischen  Bürgern  vor- 
gebrachten Beschwerden.  Zum  Schluss  sucht  er  die  Richter  dadurch  für 
seinen  Klienten  günstig  zu  stimmen,  dass  er  auf  die  Folgen  der  Verur- 
teilung aufmerksam  macht,  an  die  Verdienste  des  Flaccus  bei  der  catili- 
narischen  Verschwörung  erinnert  u.  s.  w.  L.  Flaccus  wurde  freigesprochen. 

Über  des  Hortensios'  Rede  sagt  Cic.  ad  Att.  2, 25, 1  At  Hartalits,  quam  plena  manu, 
quam  ingenue,  quam  arnate  nostras  laudes  in  astra  sugtulU,  cum  de  Flacci  praetura  et  de 
iUo  tempore  Aüobrogum  diceret!  Sie  habeto,  nee  amantiue  nee  honorifieentius  nee  eopiosius 
patuisse  diei. 

Fttr  die  Gliederung  vgl.  12, 27  etenim  tarn  universa  istorum  eognita  cupiditate  ac- 
eedam  ad  singulas  querellas  criminationesque  Graeeorum.  29, 70  veniamus  iam  ad  eivium 
Ramanarum  quereUas.  37,  94  Sed  quid  ego  de  epistulis  Faleidi  aut  de  Androne  Sextüio 
aut  de  Deeiani  censu  tarn  diu  dispute,  de  saluie  amnium  nostrum,  de  fortunis  civitatis,  de 
summa  re  puldiea  taceo? 

Die  FreiBprechiing  des  Flaccus  erhellt  aus  Macrob.  2, 1, 13  pro  L.  Flaceo,  quem  re- 
petundarum  reum  ioei  opportunitate  de  manifestissimis  criminibus  exemit;  is  ioeus  in  ora- 
tione  non  extat:  mihi  ex  libro  Furii  Bibactdi  notus  est  et  inter  aJia  eius  dicta  celebratur. 

Überlieferung:  Die  Rede  bat  nach  dem  Eingang  eine  Lflcke.  Zur  Ausfüllung 
derselben  dienen  die  scholia  Bob.,  dann  das  fragm.  Mediolanense,  das  zuerst  A.  Mai  heraus- 
gegeben. Massgebende  Handschriften  sind  der  Vaticanus  (Tabularii  BasUicae)  s.  VHI/IX, 
welcher  aber  nur  17,39—23.54  enthält,  dann  der  Salisburgensis  34  s.  Monacensis  15734 
und  der  Bemensis  254.  (Oetlivo,  Progr.  v.  Hameln  1872;  MoiucaBN,  Hermes  18, 169  über 
820, 21  Tut.) 

148.  Dritte  Periode  der  ciceronischen  Beredsamkeit  (57—52). 
Nachdem  Cicero  in  die  Verbannung  gegangen  war,  dauerte  es  nicht  lange 
und  es  wurden  Versuche  zu  seiner  Rückberufung  gemacht.  Diese  Versuche 
gewannen  Aussicht  auf  Erfolg  mit  dem  J.  57.  Von  den  Konsuln  dieses  Jahrs 
war  P.  Lentulus  Spinther  ihm  gewogen,  der  andere  Konsul  Q.  Metellus 
stand  wenigstens  von  einer  Offensive  ab.  Von  den  Volkstribunen  wirkten 
besonders  für  ihn  P.  Sestius  und  T.  Annius  Milo.  Mehrere  Versuche, 
Ciceros  Verbannung  aufzuheben,  scheiterten,  namentlich  durch  das  gewalt- 
same Eingreifen  des  Clodius.  Endlich  am  4.  August  57  kam  ein  Volks- 
beschluss  zu  stand,  durch  den  Cicero  zurückgerufen  wurde.  Cicero  langte 
am  4.  September  in  Rom  an;  gleich  am  folgenden  Tag  hielt  er  eine  Rede 
in  dem  Senat;  es  ist  die 

1.  oratio  cum  senatui  gratias  egit.  In  dieser  Rede  spricht  er 
nicht  bloss  seinen  Dank  aus,  sondern  ergeht  sich  in  reichlichen  Schmähungen 
gegen  die  Konsuln  Gabinius  und  Piso,  welche  in  dem  entscheidenden  Jahr 
eine  so  feindselige  Haltung  gegen  ihn  angenommen  hatten;  auch  recht- 
fertigt er  sich,  warum  er  vor  Clodius  freiwillig  das  Feld  geräumt  habe. 
Die  Rede  ist  weder  in  Komposition  noch  in  Gedanken  ein  erfreuliches 
Produkt;  die  Selbstverherrlichungen  und  die  gegen  die  Gegner  geschleu- 
derten Schmähungen  stossen  den  Leser  ab.  Der  Ausdruck  ist  stark  überladen. 

Cic.  ad  Att.  4, 1  ante  diem  VL  Idus  Sextiles  cognovi,  cum  Brundisii  essem,  litteris 
Quinti,  mirifieo  studio  omnium  aetatum  atque  ordinum,  ineredibili  coneursu  Itaiiae  legem 
comitiis  centuriatis  esse  perlatam,  Inde  a  Brundisinis  honestissimis  decretis  omatus,  iter 
ita  feei,  ut  undique  ad  me  cum  gratulatione  legati  convenerint.  Ad  urbem  ita  veni,  ut 
nemo  uUius  ordinis  homo  nomenclatori  notus  fuerit,  qui  mihi  obviam  non  venerit,  praeter 
eos  inimieos,  quihus  id  ipsum,  se  inimicos  esse,  non  liceret  aut  dissimulare  aut  negare. 
Cum  venissem  ad  portam  Capenam,  gradus  tempHorum  ah  infima  plebe  completi  erant,  a  qua 
plausu  maximo  cum  esset  mihi  gratuUUio  signifieata,  similis  et  frequentia  et  plausus  me 
usque  ad  CapUolium  celehravit,  in  foroque  et  in  ipso  Capitolio  miranda  multitudo  fuit, 
Postridie  in  senatu,  qui  fult  dies  Non,  Septemhr.,  senatui  gratias  egimus. 


Cicero«  Reden.  213 

2.  Oratio  cum  populo  gratias  egit.  Diese  Rede  hat  im  wesent- 
lichen denselben  Inhalt  wie  die  vorige.  Auch  hier  haben  wir  wiederum 
eine  unleidliche  Verherrlichung  seiner  Rückberufung  und  eine  Lobpreisung 
der  Personen,  welche  für  ihn  thätig  waren.  Der  Wortschwall  ist  nahezu 
unerträglich. 

3.  De  domo  sua  ad  pontifices,  gehalten  am  30.  Sept.  57.  Giceros 
Haus  war  nach  seiner  Verbannung  niedergerissen  worden.  Glodius  liess 
auf  dem  Platz  einen  Tempel  der  libertas  errichten.  Um  Cicero  die  Mög- 
lichkeit zu  benehmen,  je  wieder  in  den  Besitz  seines  Hausplatzes  zu  ge- 
langen, liess  er  denselben  durch  den  Bruder  seiner  Gemahlin,  den  jungen 
Pontifex  L.  Pinarius  Natta  konsekrieren.  Durch  diese  Konsekration  wurde 
der  Platz  der  menschlichen  Benützung  entzogen.  Als  Cicero  zurückgekehrt 
war,  wollte  er  auch  diese  macula  beseitigt  wissen.  Der  Senat  verwies  die 
Sache  an  das  Pontifikalkollegium,  um  von  demselben  feststellen  zu  lassen, 
ob  die  Eonsekration  giltig  sei.  Cicero  sprach  selbst  vor  dem  EoUegium 
und  suchte  zu  beweisen,  dass  Glodius  nicht  zur  Eonsekration  befugt  war, 
dann  dass  auch  bezüglich  des  Objektes  der  Eonsekration  Bedenken  be- 
stünden, endlich  dass  auch  die  Form  der  Eonsekration  nicht  die  richtige 
war.  Das  Eollegium  entschied,  wenn  der  Eonsekrierende  nicht  namentlich 
zu  dem  Akt  durch  Volksbeschluss  ermächtigt  war,  so  stünden  keine  reli- 
giösen Rücksichten  im  Weg,  den  Hausplatz  Cicero  zurückzugeben.  In 
diesem  Sinn  entschied  auch  der  Senat. 

Cic.  ep.  14,2,3  Qtwd  de  domo  scribis,  hoc  est,  de  area:  ego  vero  tum  denique  mihi 
ridehor  restitutus,  H  illa  nobis  erit  restituta.  ad  Attic.  4, 2, 2  secuta  est  summa  corUetUio 
de  domo  (nämlich  im  Senat  am  1.  Okt.):  diximus  apud  pontifices  pridie  Kai,  Octobres, 
Acta  res  est  accurate  a  nobis  —  itagne  oratio  iuventuti  nostrae  deberi  non  potest;  quam 
tibi,  etiamsi  non  desideras,  tarnen  mittam  cito.  Cum  pontifices  decressent  ita,  SI  NEQXJE 
FOPÜLI  lüSSU  NEQüEPLEBTS  SCITU  IS,  QUI  SE  DEDICASSE  DICEBET,  NOMI- 
NATIM  EI  BEI  PBAEFECTUS  ESSET,  NEQUE  POPULI  lüSSÜ  AUT  PLEBIS 
SCITU  ID  FACEBE  lUSSUS  ESSET,  VIDEBI  POSSE  SINE  BELIGIONE  EAM 
PABTEM  ABEAE  MIHI  BESTITUI,  mihi  facta  statim  est  gratulatio  —  nemo  enim  dubi- 
tabat,  quin  domus  nobis  esset  adiudicata.  Über  die  Schwierigkeiten,  die  Glodius  und  ein 
Tribon  machten,  gibt  derselbe  Brief  interessante  Aufschlüsse;  doch  tags  darauf  (2.  Okt.) 
kam  der  Senatsbeschluss  zu  stände,  durch  den  jene  eonseeratio  aufgehoben  wurde. 

In  der  Rede  berührt  Cicero  2, 1—  12, 31  zuerst  einen  Gegenstand  extra  causam; 
Glodius  hatte  nftmlich  Angriffe  gegen  Gicero  gerichtet,  weil  dieser  wesentlich  mitgeholfen 
hatte,  dass  dem  Pompeius  das  Getreidewesen  übertragen  wurde.  Gicero  entschuldigt  sein 
Verfahren  mit  den  Worten  12,  32  inteUego,  pontifices,  me  plura  extra  causam  dixisse  quam 
aut  opinio  tuierit  aut  txAuntas  mea  —  sed  hoc  compensabo  brevitate  eius  orationis,  quae 
pertinet  ad  ipsam  causam  cognitionemque  vestram;  quae  cum  sit  in  ius  religionis  et  in  ius 
reiptibticae  distributa,  religionis  partem,  quae  muUo  est  verbosior,  praetermittam,  de  iure 
reipublicae  dicam.  Den  Gang  der  Rede  deuten  die  Worte  an,  welche  zum  letzten  Teil 
hinttberleiten  (54, 138) :  ac  si,  pontifices,  neque  is,  cui  ficuit,  neque  id,  quod  fas  fuit,  dedi- 
ravii,  quid  me  attinet  iam  illud  tertium,  quod  proposueram,  docere,  non  iis  institutis  ae 
rerbis,  quibus  caerimoniae postulant,  dedicasse?  Dixi  aprincipio  nihil  me  de  scientia  vestra, 
nihil  dt  saeris,  nihil  de  apscondito  pontificum  iure  dicturum.  Quae  sunt  adhuc  a  me  de  iure 
dedicandi  disputata,  non  sunt  quaesita  ex  occulto  aliquo  genere  litterarum,  sed  sumpta  de 
medio,  ex  rebus  palam  per  magistratus  actis  ad  coUegiumque  delatis,  ex  senatus  consuUo, 
ex  lege. 

4.  De  haruspicum  response.  Im  Jahre  56  unter  dem  Konsulat 
des  Gn.  Lentulus  Marcellinus  und  L.  Philippus  wurde  auf  dem  latiniensi- 
schen  Feld  ein  Donnern  der  Erde  vernommen.  Die  Haruspices  wurden 
zu  einem  Gutachten  aufgefordert.  Unter  anderem  enthielt  dieses  Gutachten 
auch  den  Satz,  dass  heilige  Orte  entweiht  wurden.    Glodius  beutete  sofort 


214    Bömiflohe  LüteraturgeBchichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

diesen  Satz  zu  neuen  Angriffen  gegen  Cicero  aus;  er  bezog  nämlich  diese 
Worte  auf  den  Hausbau  Ciceros,  durch  denselben  werde  ein  der  Liberias 
konsekrierter  Platz  entheiligt.  Cicero  widerlegte  im  Senat  diese  Interpre- 
tation und  zeigte,  dass  sich  im  Gegenteil  die  einzelnen  Passus  des 'Gut- 
achtens der  haruspices  auf  Clodius  bezögen.  Der  Senat  entschied  offenbar 
gegen  Clodius,  da  Cicero  seinen  Hausbau  fortsetzte  (ad  Q.  fr.  2,4;  2,6). 

Hauptetelle  5, 9  responaum  harttspicum  hoc  recens  de  fremitu  (in  agro  Latiniensi 
10,  20)  in  contiane  recitavit  (Clodiua),  in  quo  cum  aliis  muUis  scriptum  etiam  illud  est,  id 
qttod  audistis,  LOCA  SACRA  ET  RELIGIOSA  PROFANA  HABERL  In  ea  causa  esse 
dixit  domum  meam,  a  religiosissimo  sacerdote,  P.  Clodio,  consecratam. 

Der  ftlteste  Zeuge  f&r  diese  Rede  ist  Asconius,  der  p.  61  E.  S.  schreibt:  in  ea  autem, 
quam  post  aliquot  annos  habuit  (Cicero)  de  aruspicum  responso  und  daraus  eine  Stelle 
(12,24)  citiert. 

Die  vier  Reden,  welche  Cicero  nach  seiner  Rückkehr  hielt,  wurden  in  Bezug  auf 
ihre  EchÜieit  verdächtigt.  Die  ersten  Zweifel  regte  der  Engländer  Markland  an.  Sowohl 
in  seinem  Vaterland  als  auch  in  Deutschland  wurde  er  bektoipft,  in  Deutschland  wirksam 
durch  M.  Gessner  in  Göttingen.  Der  Streit  ruhte,  bis  F.  A.  Wolf  durch  seine  Ausgabe 
der  vier  Reden  von  neuem  ein  Verdammungsurteil  gegen  die  vier  Reden  aussprach.  Der 
Glanz  seines  Namens  verschaffte  seiner  Ansicht  lange  Zeit  fast  unbestrittene  Geltung.  In 
neuerer  Zeit  ist  man  von  dem  Verdammungsurteil  ziemlich  allgemein  zurftckgekommen. 
Bei  der  Rede  1,  3  und  4  machen  schon  die  äusseren  Zeugnisse  der  Athetese  Schwierig- 
keiten; der  zweiten  fehlt  es  zwar  an  einem  solchen,  allein  auch  hier  kann  die  Unechtheit 
nicht  mit  durchschlagenden  Gründen  dargethan  werden. 

Litteratur:  Mabeulmd,  Remarks  on  the  epistles  of  Cicero  to  Brutus  and  of  Brutus 
to  Cicero.  —  With  a  Dissertation  upon  four  Orations  ascribed  to  M,  TuHius  Cicero,  By  Jer. 
Markland,  London  1745.  —  F.  A.  Wolf,  Ciceronis  quae  pulgo  feruntur  IV  orationes,  Berl. 
1801.  M.  Lange,  De  Ciceronis  altera  post  reditum  oratione,  Leipz.  1875.  —  Schutzschriften: 
Gessneb,  Comm.  soc,  Gott.  3, 223.  Savels,  disputatio  de  vindicandis  Cic.  quinque  orationibus 
(unsere  vier  Reden  und  pro  Marcello),  Köln  1828.  Dazu  kommt  Progr.  zu  der  dritten 
Rede,  Essen  1833.  Lucas,  Quaestionum  Ttdlianarum  specimen,  Hirschb.  1837.  Lahmster, 
orationis  de  harusp.  resp.  hahitae  originem  Tüll,  def.,  Gott.  1859.  Hoffmakn,  de  fide  et 
auctoritate  orationis  Ciceronianae  quae  inscribitur  de  haruspicum  reyponso,  Burg  1878. 
Rück,  De  M.  T  Ciceronis  oratione  de  domo  suo,  München  1881,  wo  im  liingang  noch  mehr 
Litteratur  verzeichnet  ist. 

Überlieferung  der  4  Reden:  Der  beste  Codex  ist  der  Parisinus  7794  s.  IX;  nach 
ihm  ist  besonders  der  Gemblacensis  s.  Bruxellensis  5345  von  einiger  Bedeutung.  (Stock, 
Genethl.  Gott.  p.  106.) 

5.  pro  P.  Sestio.  Unter  den  Tribunen,  welche  unter  dem  Konsulat 
des  P.  Cornelius  Lentulus  Spinther  und  des  Q.  Metellus  Nepos  im  J.  57 
besonders  für  die  Berufung  Ciceros  thätig  waren,  befand  sich,  wie  bereits 
erwähnt,  auch  P.  Sestius.  Um  die  Zurückberufung  zu  hindern,  störte  Clodius 
die  Versammlungen  durch  bewaffnete  Scharen,  die  er  angeworben  hatte. 
Bei  einer  Verhandlung,  deren  Gegenstand  uns  nicht  bekannt  ist,  kam  es 
wieder  zu  einem  blutigen  Zusammenstoss,  bei  dem  P.  Sestius  schwer  ver- 
wundet wurde  (37,  79).  Zu  seinem  Schutz  umgab  sich  jetzt  auch  Sestius 
mit  bewaffneten  Rotten,  wie  dies  auch  der  Volkstribun  Milo  gethan  hatte. 
Auch  nach  der  Rückkehr  Ciceros  hörten  die  bewaffneten  Zusammenstösse 
nicht  auf.  Um  sich  an  P.  Sestius  für  dessen  Bemühungen  um  Zurück- 
berufung aus  dem  Exil  zu  rächen,  stiftete  Clodius  im  J.  56  eine  Klage  gegen 
ihn  an  de  vi  auf  Grund  der  lex  Plautia.  Kläger  war  M.  Tullius  Albino- 
vanus,  Präsident  des  Gerichtshofes  M.  Aemilius  Scaurus.  Die  Klage  lautet, 
P.  Sestius  habe  in  seinem  Volkstribunat  durch  Anwendung  bewaffneter 
Gewalt  die  Sicherheit  des  Staates  gestört.  P.  Sestius  wurde  von  mehreren 
Rednern  verteidigt,  darunter  von  Q.  Hortensius  und  M.  Cicero.  Cicero 
hielt  die  Schlussrede  (2,  3).    Dadurch  bestinmit  sich  der  Charakter  der 


Cicero«  Beden.  215 

Rede.  Sie  legt  alles  Gewicht  auf  die  Darlegung  des  Lebens  des  Sestius, 
besonders  seines  Tribunats.  Eine  Episode,  in  der  er  die  Geschichte  seiner 
Verbannung  erzählt,  schaltet  er  6,15-32,70  ein.  Dann  wird  der  Lebens- 
lauf des  Sestius  fortgesetzt  (bis  44, 96).  Daran  schliesst  sich  ein  Exkurs, 
das  Lob  der  Optimaten,  auch  die  Geschichte  seiner  Rückberufung  ist  hier 
eingeflochten.  Endlich  folgt  die  Peroratio  (69, 144).  Sestius  wurde  frei- 
gesprochen. 

Als  Verteidiger  des  Sestius  f&hrt  das  Argumentam  der  scholia  Bobiensia  p.  292 
Orelli  ausser  Cicero  und  Hortensius  noch  auf  M.  Crassus,  L.  Licinius  Calvus. 

Das  Klageobjekt  berfihrt  kurz  Cicero  36»  78  (accusator)  P.  Seatium  queritur  cum 
muüitudine  in  tribunatu  et  cum  praesidio  magno  ftUsse  und  39, 84  homines,  inquU  (accusator), 
emisti,  coigisti,  parasti. 

Seine  Rede  charakterisiert  Cicero  2,  5  Sed  quoniam  singulis  criminibus  eeteri  respon- 
derunt,  dicam  ego  de  omni  statu  P.  Sesti,  de  genere  vitae,  de  natura,  de  moribus,  de  in- 
credibUi  amore  in  bonos,  de  studio  conservandae  salutis  communis  atque  otii  contendamque, 
si  modo  id  consequi  potero,  ut  in  hoc  eonfusa  atque  universa  defensiüne  nihil  ab  me,  quod 
ad  vestram  quaestionem,  nihil,  quod  ad  reum,  nihU,  quod  ad  rempublicam  pertineat,  praeter- 
missum  esse  videatur. 

Die  erste  Epipode  leiten  die  Worte  ein  6,  15  Sed  necesse  est,  antequam  de  tribunatu 
P.  Sesti  dicere  incipiam,  me  totum  superioris  anni  rei  publicae  naufragium  exponere,  in 
quo  coUigendo  ae  reficienda  saJute  communi  omnia  reperientur  P.  SeMi  facta,  dieta,  consilia 
rersata;  den  Exkurs  am  Schluss  der  Rede  44, 96  Nimirum  hoc  illud  est,  quod  de  me  po- 
tissimum  tu  in  aceusatione  quaesisti,  quae  esset  nostra  'natio  optimatium':  sie  enim  dixisti. 
Rem  quaeris  praeclaram  iuventuti  ad  discendum  nee  mihi  difficilem  ad  perdocendum;  de 
qua  pauca,  iudices,  dicam:  et,  ut  arhitror,  nee  ab  utüitate  eorum,  qui  audient,  nee  ab  officio 
restro  nee  ab  ipsa  causa  P.  Sesti  abhorrebit  oratio  mea,  (GavinfE,  Orot.  Sestianat  disp., 
Gera  1885.) 

Den  Ausgang  dek  Prozesses  schreibt  Cicero  seinem  Bruder  (adQ.  2, 4, 1):  Sestius 
noster  absolutus  est  a.  d,  V.    Idus  Martias  et  —  omnibus  sententiis  absolutus  est, 

6.  In  Yatinium  testem  interrogatio.  In  dem  Prozess  gegen 
Sestius  trat  als  Belastungszeuge  P.  Vatinius  auf.  Da  die  Parteien  das 
Recht  hatten,  die  gegnerischen  Zeugen  zu  befragen,  so  richtete  Cicero, 
nachdem  Vatinius  als  Zeuge  vernommen  war,  gegen  denselben  in  der  Form 
der  Frage  eine  Flut  von  Schmähungen. 

Auch  diese  Rede  hatte  Erfolg.  Cicero  schreibt  an  seinen  Bruder  (2, 4, 1) :  scito  hoc 
nos  in  eo  iudicio  consecutos  esse,  ut  omnium  gratissimi  iudicaremur:  nam  defendendo, 
moroso  homini  cumulatissime  satisfecimus  et  —  id  quod  tue  maxime  cupiebat  —  Vatinium, 
a  quo  palam  oppugnabatur,  arbitratu  nostro  concidimus,  dis  hominibusque  plaudentibus  — 
ßumo  petulans  et  audax  (Vatinius)  valde  perturbatus  debilitatusque  discessit. 

Überlieferung:  Das  kritische  Fundament  für  beide  Reden  bildet  der  Parisinus 
*7794.    Nach  2,4  hat  die  Rede  in  Vatinium  eine  Lttcke. 

7.  pro  M.  Gaelio,  aus  dem  J*  56.  M.  Gaelius  Rufus,  den  wir  als 
Redner  oben  p.  194  charakterisiert  haben  und  dessen  Briefwechsel  mit  Cicero 
das  achte  Buch  der  sog.  epistolae  familiäres  bildet,  wurde  durch  eine  Klage 
de  vi  verfolgt.  Der  Hauptankläger  war  L.  Sempronius  Atratinus,  dessen 
Vater  von  Gaelius  wegen  ambitus  angeklagt  worden  war  und  gegen  den 
Gaelius  eben  wieder  gerichtlich  vorgehen  wollte.  Unterstützt  wurde  er 
von  L.  Herennius  Baibus.  Die  Anklage,  die  unter  dem  Vorsitz  des  Prätors 
Gn.  Domitius  Galvinus  erfolgte,  umfasste  fQnf  Anklagepunkte,  nämlich 
1)  Gaelius  habe  in  Neapel  einen  Aufstand  angezettelt;  2)  er  habe  gewalt- 
sam die  Güter  der  Palla  in  Besitz  genommen;  3)  er  habe  die  Gesandten 
des  Ptolemaeus  misshandelt;  4)  er  habe  sich  von  der  Glodia  Geld  geben 
lassen,  um  einen  der  Gesandten,  Dio,  zu  töten;  5)  er  habe  Glodia  zu  ver- 
giften versucht.    Die  Verteidiger  Grassus  und  Gicero  teilten  sich  so  in  i 


216    Bömische  Lüteratargesohichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

ihre  Aufgabe,  dass  Crassus  zuerst  die  Anklagepunkte  1—3,  dann  Cicero 
die  zwei  übrigen,  4  und  5,  zu  widerlegen  versuchte.  Ausserdem  sprach 
Gaelius  selbst.  Die  ciceronische  Rede  bestreitet  zuerst  die  Anschuldigungen, 
welche  sich  gegen  das  Privatleben  des  Gaelius  richten,  dann  geht  sie  auf 
die  eigentliche  Klage  ein;  hier  aber  wird  zuerst  Glodia,  die  frühere  Buh- 
lerin  des  Gaelius,  die  aus  Rache,  weil  er  sie  verlassen  (65,61),  die  Klage 
angestiftet  hatte,  mit  schwarzen  Farben  gezeichnet.  Die  beiden  Anklagen 
sucht  der  Redner  zurückzuweisen,  indem  er  auf  das  Unwahrscheinliche 
aufmerksam  macht;  dies  geschieht  besonders  durch  eine  Menge  aufgewor- 
fener Fragen,  welche  Zweifel  anregen  sollen.  Gaelius  wurde  freigesprochen. 
Für  das  soziale  Leben  der  Zeit  bietet  die  Rede  reichen  Stoff. 

Das  Crimen  berfihrt  Cicero  am  Schluss  29, 70:  De  vi  quaerUia  (iudices).  Quae  lex 
ad  imperium,  ad  maiestatem,  ad  statum  patriae,  ad  saltUem  omnium  pertinet,  quam  legem 
Q.  Catulus  armata  dissensione  citnum  rei  publicae  paene  extremis  temporibus  tulit,  quaeque 
lex  sedata  illa  flamma  consulatua  mei  fumantis  reliquias  eoniurationis  extinxit,  hacine 
lege  Caeli  adtdescentia  nan  ad  rei  publicae  poenas,  aed  ad  mulieria  libidines  et  delicias  de- 
posciturf  Clodius  war  also  nach  der  lex  lAUtatia  angeklagt;  über  das  Verhältnis  dieser  lex 
zur  lex  Plautia  bemerkt  Fbakcken  1.  c.  p.  202  neque  enim  per  Lwtatiam  abrogata  erat 
antiquior  (Plautia),  sed  in  8ummo  reip.  discrimine  eanfirmata,  adiectis  quibusdam  de  ardine 
iudicii  aeveriore  et  breviore. 

Die  einzelnen  Anschuldigungen  10, 23  partem  eauaae  graviter  et  omate  a  M.  Crasso 
peroratam  de  aeditionibus  Neapolitania ,  de  Älexandrinorum  pulaatione  Puteolana,  de  honis 
Pallae.  Vellem  dictum  eaaet  ab  eodem  etiam  de  Diane,  Die  zwei  der  Verteidigung  Ciceros 
anheimfallenden  crimina  berührt  die  Rede  21,  51  Duo  aunt  erimina  una  in  mutiere  aum- 
morum  facinarum:  auri,  quad  aumptum  a  Ciadia  dicitur,  et  reneni,  quod  eiuadem  Clodiae 
necandae  causa  parasae  Caelium  criminantur.  Aurum  aumpait,  ut*  dicitia,  quad  L,  Lueceii 
aervia  daret,  per  quaa  Alexandrinua  Dia,  qui  tum  apud  Lucceium  habitabat,  neearetur. 

Die  Zeit  der  Rede  bestimmt  Fravoksn,  Mnemos.  8  (1880)  p.  201  auf  4.  April  56. 

Oberlieferung:  Einzelne  Teile  in  dem  Mailänder  und  in  dem  Turiner  Palimpsest. 
Dazu  Parisinus  7794,  Erfnrtensis  s.  Berolinensis,  Gemblacensis  s.  Bruxellensis  5345,  Salis- 
burgensis  (34)  s.  Monacensis  15734,  Harleianus  4927.    (BIhrevs,  Revue  de  philol.  8,  33.) 

8.  De  provinciis  consularibus,  eine  Senatsrede,  gehalten  Mai  56. 
Als  es  sich  um  Anweisung  der  Provinzen  für  die  künftigen  Konsuln  des 
J.  55  nach  der  lex  Sempronia  handelte,  suchten  die  Optimaten  im  Senat 
einen  Schlag  gegen  Caesar  zu  führen.  Es  kamen  vier  Provinzen  in  Frage, 
die  beiden  Gallien,  dann  Macedonien  und  Syrien.  Unter  den  Vorschlägen 
tauchte  auch  der  auf,  Caesar  die  beiden  Gallien  oder  wenigstens  eines  zu 
entziehen.  Allein  dieser  Antrag  war  ganz  ungesetzlich,  denn  Caesar  waren 
durch  Senats-  und  Volksbeschluss  die  gaUischen  Provinzen  bis  zum  Ablauf 
des  J.  54  verliehen.  Cicero  bekämpfte  diesen  Vorschlag  und  sprach  sich 
für  die  Zuweisung  der  Provinzen  Syrien  und  Macedonien  an  die  künftigen 
Konsuln  des  J.  55  aus.  Dort  waren  Statthalter  Gabinius  und  Piso,  die 
persönlichen  Feinde  Ciceros,  die  während  ihres  Konsulats  das  meiste  zu 
seiner  Verbannung  beigetragen  hatten.  Durch  die  Bede  suchte  sich  Cicero 
Caesar  zu  nähern.  Der  Ausgang  der  Verhandlungen  entsprach  nicht  völlig 
den  Vorschlägen  Ciceros.  Zwar  behielt  Caesar  seine  Provinzen;  allein 
auch  Gabinius  blieb  noch  in  Syrien;  nur  Piso  wurde  abberufen  und  seine 
Provinz  Macedonien  dem  Prätor  Q.  Ancharius  überwiesen  (55). 

In  der  Rede  spricht  Cicero  zuerst  fOr  die  Abberufung  des  Piso  und  Gabinius,  indem 
er  ihre  Verwaltung  als  eine  schreckliche  darzustellen  sucht;  dann  wendet  er  sich  gegen 
die  Abberufung  Caesars  vgl.  8, 18  Quodai  eaaent  Uli  (Gabiniua  et  Piaa)  apHmi  viri,  tamen 
ega  mea  aententia  C.  Caeaari  auccedendum  non  putarem.  Sein  Verhältnis  zu  Caesar  kommt 
besonders  zur  Sprache.    (Müller,  Einleitung  zur  Rede,  Kattowitz  1886.) 


GiceroB  Beden.  217 

Überlieferung:  Zar  Konstitniemng  des  Textes  wurden  beigezogen  der  genannte 
Parisinus  7794,  der  Codex  Gemblacensis  s.  Bruxellensis  5345  und  der  Codex  Erfurtensis 
8.  Berolinensis. 

9.  pro  L.  Gornelio  Balbo,  aus  dem  J.  56.  L.  Cornelius  Baibus 
aus  Gades  erhielt  von  Cn.  Pompeius  das  römische  Bürgerrecht.  Pompeius 
war  hiezu  befugt  durch  die  lex  des  L.  öellius  und  Gn.  Cornelius;  nach  ihr 
sollten  alle  diejenigen  römische  Bürger  sein,  denen  Pompeius  nach  dem 
Gutachten  seines  Eriegsrates  das  Bürgerrecht  verliehen.  Als  Baibus  durch 
seine  intimen  Beziehungen  zu  Pompeius  und  Caesar  zu  grossem  Einfluss 
gelangte,  suchten  seine  Neider  ihn  durch  Bestreitung  seines  Bürgerrechts 
zu  schädigen;  auch  wurde  mit  dieser  Klage  ein  Schlag  gegen  Pompeius 
und  Caesar  geführt.  Da  die  Klage  nicht  bestreiten  konnte,  dass  Baibus 
das  Bürgerrecht  von  Pompeius  erhalten,  so  focht  sie  die  Gültigkeit  des- 
selben durch  den  Einwand  an,  dass  hiezu  die  Genehmigung  der  Gaditaner 
als  eines  verbündeten  Volkes  notwendig  war.  Für  Baibus  trat  ein  Pom- 
peius, dann  Crassus  und  Cicero.  Wie  gewöhnlich,  so  hielt  Cicero  die 
Schlussrede  (1,4;  7,13).  Baibus  wurde  freigesprochen.  Für  die  Erkenntnis 
des  römischen  Bürgerrechts  ist  die  Rede  von  grosser  Wichtigkeit. 

Klar  wird  die  Substanz  der  Klage  formuliert  8, 19:  Nascitur,  iudicea,  causa  Corneli 
ex  ea  lege,  quam  L.  GelHus  Cn.  Cornelius  ex  senatus  sententia  tulerunt;  qua  lege  videmus 
(unsichere  Lesart)  sanctum,  ut  cive^  Romani  sint  ii,  quos  Cn.  Pompeius  de  consilii  sen- 
tentia singWatim  civitate  donaverit.  Donatum  esse  L.  Comelium  praesens  Pompeius  dicü, 
indieant  puMicae  tabulae,  aeeusator  fatetur,  sed  negat  ex  foederato  populo  quemquam  potuisse. 
nisi  ispqptUus  fundus  f actus  esset,  in  hanc  civitatem  venire.   (Hoche,  De  C.  B.,  Roesleb.  1882.) 

Oberlieferung:  Sie  beruht  auf  dem  Cod.  Parisinus  7794,  dem  Gemblacensis  s. 
Bruxellensis  5345,  dem  Erfurtensis  s.  Berolinensis  und  dem  Wolfenbuttelanus. 

10.  In  Pisonem,  eine  am  Anfang  verstümmelte  Senatsrede  des  J.  55. 
In  der  Rede  über  die  konsularischen  Provinzen  waren  von  Cicero  seine 
persönlichen  Feinde,  die  Konsuln  des  J.  58,  arg  mitgenommen  worden. 
Als  nun  Piso,  von  seiner  Provinz  zurückberufen,  in  Rom  angekommen 
war,  hielt  er  im  Senat  eine  Schmährede  auf  Cicero.  Ihm  antwortete  Cicero 
in  der  vorliegenden  Rede.  Auch  diese  Rede  stellt  sich  als  eine  grobe 
Invectiva  dar;  sie  ist  eine  wahre  Fundgrube  für  Schimpf  werte.  Cicero 
vergleicht  darin  sein  staatsmännisches  Leben  mit  dem  Pisos;  dort  findet 
er  nur  Licht-,  hier  nur  Schattenseiten.  Die  Übertreibungen  sind  ausser- 
ordentlich stark.  Unter  den  Einzelheiten  dürfte  zu  erwähnen  sein,  dass 
Cicero  in  dieser  Rede  bereits  den  berüchtigten  Vers 

eedant  arma  togae,  eoncedat  laurea  laudi 

gegen  Piso  verteidigen  muss. 

Über  die  Abfassungszeit  spricht  mit  kritischem  verständigem  Urteil  Asconius  p.  1  K.S.. 
er  kommt  zu  dem  richtigen  Resultat:  Haec  oratio  dicta  est  Cn.  Pompeio  Magno  II  M. 
Crasso  II  coss,  (55  v.  Gh.)  ante  paucos  dies  quam  Cn.  Pompeius  ludos  faceret,  quibus  theo- 
trum  a  se  factum  dedicavit. 

Gegen  die  Invectiva  Ciceros  schrieb  Piso  eine  Schrift;  der  Bruder  Ciceros  war  der 
Ansicht,  dass  auf  dieselbe  eine  Entgegnung  zu  erfolgen  habe.  Cicero  lehnt  dies  ab  mit 
den  Worten  (3, 1, 11):  Alterum  est,  de  Calventii  Marii  (er  meint  damit  Piso)  oratione  quod 
scribis:  miror  tibi  placere  me  ad  eam  rescribere,  praesertim  cum  iJJam  nemo  lecturus  sit, 
si  ego  nihü  rescripsero,  meam  in  iüum  pueri  omnes  tamquam  dietata  perdiscant. 

Überlieferung:  Die  vorzüglichsten  Handschriften  sind  der  Turiner  Palimpsest, 
durch  den  wir  einzelne  Fragmente  kennen  lernen,  und  der  Codex  Vaticanus  (tahularii 
Basilicae  Vaticanae  s.  VIII),  der  14,  32  tamen  —  30,  74  ratione  hoc  enthält.  Ausserdem  die 
Codices  deteriores,  von  deneii  der  beste  ist  der  Cod.  Salisburgensis  34  s.  Monacensis  15734. 


218    Bömisohe  litteratnrgesohiohte.    l.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

Zur  AusfOlluiig  der  Lücke  asA  Anfang  liefert  einiges  die  Handschrift  des  Nicolaus  Gusanius. 
Vgl.  Eleiiv,  Die  Handschrift  des  N.  Gus.,  Berl.  1866  p.  49. 

11.  pro  Cn.  Plancio,  aus  dem  J.  54.  Im  J.  55  bewarb  sich  Plancius 
um  die  curulische  ÄdilitÄt  für  das  J.  54.  Allein  die  unter  Crassus  abge- 
haltenen Komitien^wurden  nicht  vollendet  (20, 49).  Erst  im  J.  54  wurden 
die  Ädilen  für  den  Rest  dieses  Jahres  gewählt;  es  waren  dies  A.  Plotius 
und  Plancius.  Mitbewerber  war  M.  Juventius  Laterensis,  der  aber  durchfiel. 
Nach  der  Wahl  klagte  Laterensis  den  Gn.  Plancius  auf  Grund  der  lex 
Licinia  de  sodaliciis  d.  J.  55  an,  d.  h.  der  Kläger  behauptete,  Plancius  habe 
durch  unrechtmässige  Beihilfe  von  Clubs  die  Wahl  zum  Ädilis  curulis 
durchgesetzt.  Die  Klage  unterstützte  L.  Cassius  Longinus.  Um  dieselbe 
zu  entkräften,  zeigt  Cicero  zuerst,  dass  der  Durchfall  bei  der  Wahl  für 
Laterensis  nichts  Schimpfliches  habe,  das  Volk  folge  eben  seinen  Neigungen ; 
dann  geht  er  (15,  36)  auf  den  eigentlichen  Klagepunkt  über;  endlich  wendet 
er  sich  (24, 58)  noch  gegen  L.  Cassius  Longinus  und  verteidigt  sich  hiebei 
gegen  den  Vorwurf  des  Laterensis,  dass  Cicero  die  Verteidigung  des  Plancius 
übernommen  habe,  und  gegen  sonstige  persönliche  Angriffe. 

Aus  Cic.  ad  Q.  fr.  3, 1, 11  Orationes  efflagUatas  pro  Scauro  et  pro  Plancio  absolvi  ist 
zu  schliessen,  dass  die  vorliegende  Rede  erst  später  schriftlich  ausgearbeitet  wurde. 

Über  den  Klagepunkt  15,  36  sed  aliquando  veniamua  ad  causam.  In  qua  tu  nomine 
legis  Liciniae,  quae  est  de  sodaliciis,  omnis  ambitus  leges  complexus  es» 

Überlieferung:  Die  besten  Handschriften  der  Planciana  sind  der  Tegemseensis 
s.  Monacensis  18787  und  der  Erfurtensis  s.  Berolinensis. 

12.  pro  M.  Aemilio  Scauro.  Im  J.  54  wurde  M.  Aemilius  Scaurus, 
der  als  Proprätor  Sardinien  (und  Corsica)  verwaltet  hatte,  wegen  Erpres- 
sungen von  P.  Valerius  Triarius  und  drei  Subskriptoren  belangt.  Es  ge- 
schah dies  besonders  deswegen,  um  Scaurus  von  der  Bewerbung  um  das 
Konsulat  zurückzuschrecken,  auf  Betreiben  seiner  Mitbewerber.  Dem  Ge- 
richtshof präsidierte  M.  Cato ;  Scaurus  nahm  in  ungewöhnlicher  Weise  sechs 
Verteidiger,  darunter  Hortensius  und  Cicero.  Die  vorliegende,  nur  in  Frag- 
menten durch  den  Ambrosianischen  und  Turiner  Palimpsest  erhaltene  Rede 
bezieht  sich  auf  eine  zweite  Verhandlung  der  Sache  (13, 29  14, 30).  Aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  sprach  Cicero  die  Schlussrede.*)  Er  behandelte 
zuerst  die  dem  Scaurus  zugeschriebene  Ermordung  des  Bostar  bei  einem 
Gastmahl,  dann  den  Tod  der  Gattin  des  Aris  (der  ^später  die  Mutter  des 
Bostar  zur  Frau  nahm).  Scaurus  habe  nämlich  die  Gattin  des  Aris  zur 
Befriedigung  seiner  Lust  verlangt,  Aris  sich  dessen  geweigert  und  die  Flucht 
ergriffen,  die  Frau  aber  sich  den  Tod  gegeben.  Nachdem  der  Redner  diese 
Anschuldigungen  zurückgewiesen,  geht  er  auf  die  eigentliche  Sache  ein 
und  handelt  über  die  Art  und  Weise  der  Anklage,  über  die  sardischen 
Zeugen,  über  Scaurus;  es  folgte  die  Behandlung  des  crimen  frumentarium, 
welche  Partie  nicht  erhalten  ist,  es  schliessen  sich  Teile  äer  peroratio  an. 
Scaurus  wurde  freigesprochen,  allein  nicht  lange  darauf,  im  J.  52  wurde 
er  von  demselben  Triarius  wegen  ambitus  angeklagt  und,  obwohl  wiederum 
von  Cicero  verteidigt,  verurteilt. 

Die  Zeit  der  Rede  ergibt  sich  aus  der  Erwähnung  des  Konsulats  des  Appius  Claudius 
Pulcher  (13,31).    Vgl.  die  einleitenden  Worte  des  Kommentars  des  Asconius  p.  16  K.S. 


0  Gaümitz  p.  266. 


Gioeros  Beden.  219 

hanc  quoqite  orationem  eisdem  consutibus  dixit,  quibfia  pro  VatiniOy  L.  Domitio  ÄhetwbarbOf 
Appio  Clat*dio  Pukhro  coss,  Summus  iudicii  dies  ftUt  a.  d.  IUI  Nona^  Septemb.  Über 
die  Subscriptares  Asconius  5,17:  Sübscripserunt  Triario  in  Scaurutn  L,  Marius  L.  f.  M, 
et  Q,  Pacuvii  fratreSf  cognomine  Claudi;  als  Patrani  führt  Asconius  p.  18  folgende  auf: 
P.  Glodius  Pulcher,  M.  Marcellus,  M.  Cididins,  M.  Cicero,  M.  Messala  Niger,  Q.  Hortensius. 

Die  spätere  Abfassung  dieser  Rede  wie  der  Planciana  erhellt  aus  Cic.  ad  Q.  fr.  3, 1, 11. 

Die  Disposition  des  Teiles,  der  sich  auf  die  causa  bezieht,  enthalten  die  Worte  10, 22 
Dicam  primum  de  ipso  genere  accusationis,  postea  de  Sardis,  tum  etiam  pauca  de  Scauro; 
quibus  rebus  explicatis  tum  denique  ad  hoc  horribile  et  formidulosum  frumentarium  crimen 
aecedam.    Vgl.  Gauxitz  p.  268,  eine  übersichtliche  ausführliche  Disposition  gibt  er  p.  279. 

Von  der  Rede  waren  bis  1814  nur  wenige  Fragmente  bekannt;  in  diesem  Jahr  teilte 
Mai  grössere  Bruchstücke  aus  dem  Ambrosianischen  Palimpsest,  und  später  Petbon  aus 
einem  Turiner  Palimpsest  mit;  und  zwar  ergänzen  sich  beide  Palimpseste;  „in  partibus 
Ulis  quae  in  Taurinensi  et  Ämbrosiano  simul  sunt  (§  18 — 24,  31 — 36)  paulo  melior  est 
Thurinensis^  (Fbanckjsn,  llnemos.  1883  p.  385).  Das  Verlorene  berechnet  Gauxitz  p.  276 
also :  Tota  Scauriana  si  incolumis  exstaret  1404  fere  wrsus,  sive  35  fere  paginas  editionis 
Bau.  Kays,  impleret, 

Litteratur:  Um  die  Fragmente  machte  sich  verdient  Beieb,  Orot,  pro  TulL  in  Clod. 
p,  Scauro  p,  Flacco,  Leipz.  1825.  Von  ihm  rühren  auch  die  Ergänzungen  her,  die,  wenn 
sie  oft  aucn  scharfsinnig  erdacht  sind,  doch  mit  Recht  Halx  (Sitzungsber.  d.  Münch.  Akad. 
1862  11  p.  9)  in  den  kritischen  Ausgaben  beseitigt  wissen  will.  Gauxitz,  De  M.  Aemilii 
Scauri  causa  repetundarum  et  de  Ciceronis  pro  Scauro  oratione,  Leipz.  Stud.  2, 249  (treff- 
liche Abhandlung). 

13.  pro  C.  Rabirio  Postumo,  aus  dem  J.  54.  A.  Gabinius,  der 
bekannte  Prokonsul  von  Syrien,  wurde  der  Erpressungen  beschuldigt.  Ein 
besonderer  Klagepunkt  war,  dass  er  von  dem  flüchtigen  König  von  Ägypten, 
Ptolemaeus  Auletes,  10,000  Talente  erhalten  habe,  um  denselben  mit  be- 
waffneter Macht  in  sein  Reich  zurückzuführen  (8,  21).  Gabinius  wurde 
verurteilt;  er  konnte  aber  die  Strafsumme,  zu  der  er  verurteilt  wurde, 
nicht  zahlen.  Nun  wurde  auch  C.  Rabirius  Postumus  in  die  Sache  ver- 
wickelt. G.  Rabirius  Postumus  war  der  Sohn  des  G.  Gurtius,  der  die 
Schwester  des  C.  Rabirius,  den  Cicero  im  J.  63  in  einem  Prozess  wegen 
Hochverrats  verteidigte,  zur  Frau  hatte.  Von  diesem  C.  Rabirius  adoptiert, 
führte  der  Sohn  des  G.  Gurtius,  unser  Rabirius  Postumus,  seinen  Namen. 
Wie  sein  Vater,  so  gab  sich  auch  Rabirius  Postumus  mit  Geldgeschäften 
ab.  Er  lieh  besonders  dem  König  Ptolemaeus  Auletes  grosse  Summen. 
Als  Gabinius  den  vertriebenen  König  nach  Alexandria  zurückgeführt  hatte, 
erschien  auch  dort  Rabirius;  er  wurde  vom  König  zum  ersten  Schatz- 
beamten gemacht;  Gabinius  stellte  ihm  Truppen  zur  Verfügung.  Er  konnte 
nun  für  sich  und  Gabiiäus  erpressen.  Er  scheint  dies  in  so  schrecklicher 
Weise  gethan  zu  haben,  dass  der  König  ihn  verhaften  lassen  musste; 
Rabirius  wurde  zur  Flucht  gezwungen.  Das  julische  Gesetz  über  Erpres- 
simgen  d.  J.  59  enthielt  die  Bestimmung,  dass,  wenn  ein  Verurteilter  die 
Strafsumme  nicht  zahlen  konnte,  die  beigezogen  werden  sollten,  die  auch 
von  dem  erpressten  Geld  erhalten.  Da  man  den  Rabirius  als  den  Raub- 
genossen des  Gabinius  ansah,  so  wurde  er  auf  Grund  der  erwähnten  lex 
Julia  belangt.  Der  Prozess  stellt  sich  sonach  als  ein  Anhang  zu  dem 
gegen  Gabinius  durchgeführten  dar.  Über  den  Ausgang  des  Prozesses 
fehlen  uns  positive  Nachrichten. 

Die  ProzeSBsache  legt  klar  folgende  Stelle  3,  8:  est  haec  causa,  QUO  EA  PECUNIA 
PERVENERITf  qtuisi  quaedam  appendicula  causae  iudicatae  atque  damnatae.  Sunt  lites^ 
aestimatae  A,  Gabinio^  nee  praedes  dati  nee  ex  bonis  populo  universa  peeunia  exacta  est, 
Jubet  lex  Julia  per  sequi  ab  iis,  ad  quos  ea  peeunia,  qttam  is  ceperit,  qui  damnafus  sit,  per- 


220    BömiBohe  Litteratargeachichte.    I;  Die  Zeit  der  Bepoblik.    2.  Periode. 

venerit.    Weiter  vgl.  11,30  ait  enlm,   Gabinio  pecuniam  Postumus  cum  eogeret,   deeumas 
imperatarwn  pecuniarum  Mi  coegisae.    (Halm,  Abh.  der  bayr.  Akad.  7, 3  p.  629.) 

Überlieferung:  Unsere  Handschriften  stammen  alle  aus  einem  Exemplar,  das 
Poggio  nach  Italien  brachte,  es  sind  daher  nur  junge  Handschriften  ims  zur  Veriugung. 

14.  proMilone.  Die  Verteidigung  des  T.  Annius  Milo  wegen  Er- 
mordung des  bekannten  P.  Glodius  Pulcher  fällt  in  das  J.  52.  Der  That- 
bestand  war  folgender:  Milo  begab  sich  mit  seiner  Frau  Fausta,  einer 
Tochter  des  Diktators  Sulla,  und  grossem  Gefolge  Anfang  des  J.  52  in 
seine  Vaterstadt  Lanuvium,  um  dort  als  Diktator  von  Lanuvium  einen 
Flamen  zu  ernennen.  Auf  der  Reise  dahin  begegnete  ihm  in  der  Nähe 
von  Bovillae  beim  Heiligtum  der  Bona  dea  Glodius.  Zwischen  beiden  be- 
stand schon  längere  Zeit  bittere  politische  Feindschaft;  besonders  war  es 
die  Person  Giceros,  die  beide  Männer  trennte,  indem  Glodius  ein  heftiger 
Gegner  des  berühmten  Redners  war,  Milo  dagegen  ein  warmer  Verteidiger 
desselben.  Da  Glodius  sich  mit  bewaffneten  Banden  umgab  und  dieselben 
gegen  seine  Gegner  wirken  liess,  so  griff  auch  Milo  zu  diesem  Mittel;  es 
kämpfte  daher  die  eine  Bande  gegen  die  andere.  Bei  jener  Begegnung  in 
der  Nähe  von  Bovillae  geriet  zuerst  das  beiderseitige  Gefolge  aneinander. 
Bald  wurde  aber  auch  Glodius  verwundet;  nun  kam  es  zu  einem  allge- 
meinen Kampf,  in  dem  die  Übermacht,  die  auf  Milos  Seite  war,  siegte. 
Den  verwundeten  Glodius,  der  in  ein  Wirtshaus  von  Bovillae  gebracht 
worden  war,  liess  Milo  herausreissen  und  umbringen.  Die  Leiche  wurde 
nach  Rom  gebracht;  es  wurde  eine  grosse  Erbitterung  rege;  bei  den  tumul- 
tuarischen  Vorgängen  brannte  die  Guria  Hostilia  ab.  Es  waren  ausser- 
ordentliche Massregeln  geboten,  um  den  Unruhen  ein  Ziel  zu  setzen.  Pom- 
peius  war  es,  der,  zum  Konsul  ohne  Kollegen  ernannt,  eingriff  und  das 
Prozessverfahren  gegen  Milo  regelte.  Zum  Quäsitor  wurde  L.  Domitius 
Ahenobarbus  ernannt.  Richter  waren  es  51.  Da  das  Faktum  der  Tötung 
des  Glodius  m'cht  geleugnet  werden  konnte,  so  musste  die  Verteidigung 
Giceros  darauf  gerichtet  sein,  dass  Milo  nur  aus  Notwehr  gehandelt.  Als 
Gicero  zu  sprechen  begann,  wurde  er  von  dem  Geschrei  der  Glodianer 
unterbrochen;  er  sprach  daher  nicht  mit  der  gewohnten  Festigkeit;  Milo 
wurde  mit  38  Stimmen  von  51  verurteilt,  er  ging  nach  Massilia  ins  Exil. 
Die  vorliegende  Rede  ist  ein  ganz  vortreffliches  Denkmal  ciceronischer 
Beredsamkeit,  allein  sie  ist  nicht  die  wirklich  gehaltene,  sondern  eine  erst 
später  aufgezeichnete.  Aber  auch  die  wirklich  gehaltene  Rede,  von  Steno- 
graphen nachgeschrieben,  hatte  sich  längere  Zeit  erhalten. 

Über  die  Vorgänge  in  der  Milonischen  Sache  handelt  meisterhaft  Asconius  in  seinem 
argumentum  (p.  26  K.  S.).  Über  das  Auftreten  Ciceros  vgl.  p.  36  Cicero  cum  inciperet 
dtcere,  exceptus  est  ac€lamati<me  Ciodianarum,  qui  se  continere  ne  metu  qtUdem  circum- 
stantium  militum  potuerunt.  Itaq%is  non  ea  qua  solüus  erat  eonstantia  dixit,  Manet  autem 
iU4i  quoque  excepta  eius  oratio:  scripsit  vero  hanc  quam  legimus  ita  perfecte,  ut  iure  prima 
haheri  possit,    (Über  das  Rhetorische  Meusburoer,  Progr.  von  Ried  [Österreich]  1882.) 

Über  das  Ziel  der  Verteidigung  9, 23  reliquum  est,  iudices,  ut  nihil  iam  quaerere  aJiud 
debeatis,  nisi  uter  utri  insidias  fecerit,  Asconius  p.  36  Cicero  —  Clodium  Mifoni  feeisse 
insidias  disputavit,  eoque  tota  oratio  eius  spectavit. 

Über  den  Ausgang  des  Prozesses  sagt  Asconius  p.  47 :  Senatares  condemnaverunt  XU, 
absoherunt  VI;  equites  condemnaverunt  XIII,  absolverunt  IUI;  tribuni  aerarii  condemnave- 
runt XIII,  absoherunt  IIL  Gassius  Dio  40,  54, 2  p.  235  Bekkeb  tovxoy  roV  Xoyov  tov  rvv 
fftQOfA&vov  wg  xtti  vn^Q  jov  MlXiavog  tore  Xs/^eyra  X9^^^  ^^^'  vareQoy  xal  xitt«  axoXiqr 
nfu^aQai^ag  ey^atj/ey  *  xal  d»j  xal  roiovde   ti  ne^l  €evjov  nagadidotai,  *  o  MiXwy  rw  Xoytp 


Ci<}eros  Reden«  221 

ntfi^syri  ol  vn  ttvtov  itrtpxwy  —  (tyzBniaruXe  Xdytay  öii  iv  ^^XB  ^'vr^  ivByeto  to  fitj 
lavd'*  ovtia  xat  iy  rai  cfi xor^m^^io)  Xe^^^^m  '  ov  ydo  ay  tMovrag  iy  rj  MaaatXnf,  iy  ^  xara 
tijy  tpvyrjy  i^y,  r^iyXag  ia&ieiy,  eincQ  ri  roiovroy  aTteXoyfjto. 

Haupthandschriften:  der  Tegemseenisis  s.  Monacensis  18787  und  der  Erfurtensis  s. 
Berolinensia  (für  einzelne  Stellen  der  Turiner  Palimpsest). 

144.  Die  vierte  Periode  der  ciceronischen  Beredsamkeit  (46—43). 
Nach  dem  J.  52  zeigt  die  uns  vorliegende  Sammlung  der  ciceronischen 
Reden  eine  längere  Pause;  erst  mit  dem  J.  46  erscheinen  wieder  redne- 
rische Produkte  Ciceros.  Zwei  Gruppen  von  Reden  treten  uns  in  diesem 
letzten  Abschnitt  der  ciceronischen  Beredsamkeit  entgegen,  die  Gruppe  der 
vor  Caesar  gehaltenen  Reden  der  J.  46  und  45  (die  sog.  caesar.),  dann  die 
Gruppe  der  gegen  M.  Antonius  gerichteten  (philippischen)  Reden  von  44  und  43. 

1.  pro  M.  Marcello.  M.  Claudius  Marcellus,  ein  heftiger  Gegner 
Caesars,  hatte  sich  nach  der  Schlacht  bei  Pharsalus  nach  Mytilene  frei- 
willig ins  Exil  begeben.  Sein  Bruder  C.  Marcellus  erwirkte  im  Senat  (46), 
indem  er  sich  «Caesar  zu  Füssen  warf  und  die  Senatoren  sein  Gesuch  unter- 
stützten, dessen  Begnadigung.  Caesar  erklärte  nämlich,  er  wolle  einem 
kundgegebenen  Willen  des  Senats  hierin  nicht  entgegentreten.  Bei  Dar- 
legung ihrer  Meinung  erging  eine  Reihe  von  Senatoren  sich  in  Dankes- 
äusserungen  gegen  Caesar.  Auch  Cicero  brach  sein  seit  längerer  Zeit  beob- 
achtetes Schweigen  und  feiert  in  überschwenglicher  Weise  Caesars  Milde 
und  da  Caesar  Befürchtungen  laut  werden  liess,  als  stelle  man  seinem 
Leben  nach,  führt  er  den  Gedanken  durch,  dass  Caesars  Leben  zu  kostbar 
sei  und  dessen  Erhaltung  im  Literesse  aller  liege,  da  noch  zahlreiche  Auf- 
gaben ihrer  Lösung  durch  ihn  harrten. 

Nach  dem  Vorgang  des  spanischen  Jesuiten  Juan  Andrez  (1782)  suchte 
F.  A.  Wolf*)  in  seiner  Ausgabe  des  J.  1802  die  Rede  als  unecht  zu  er- 
weisen, allein  weder  die  sachlichen  noch  sprachlichen  Bedenken,  die  vor- 
gebracht werden,  sind  stichhaltig. 

Ober  die  Vorgftnge,  welche  der  Danksagung  Ciceros  zu  Grunde  liegen,  berichtet  er 
Ep.  4, 4,  3  an  den  berOhmten  Juristen  Ser.  Sulpicius  Rufiis,  der  mit  M.  Marcellus  im  J.  51 
Konsul  war:  ipse  Caesar  aeeusata  acerbUate  MarcelH  ^-  repente praeter  spem  dixit  se  senatui 
roganti  de  Marcello  ne  hominis  quidetn  causa  negaiurum;  fecerat  auiem  hoc  senatus,  ut, 
cum  a  L,  Pisone  meniio  esset  facta  de  Marcello  et  C,  Marcellus  se  ad  Caesaris  pede« 
ahiecissfty  cunctus  consurgeret  et  ad  Caesarem  supplex  accederet  —  ita  mihi  pulcher  hie 
dies  risus  est,  ut  speciem  aliquam  viderer  videre  quasi  retdviscentis  rei  publicae.  Itaque 
cum  omnes  ante  me  rogati  gratias  Caesari  egissent  praeter  Volcadum  —  is  enim,  si  eo 
loco  esset,  negavit  se  facturum  fuisse  —  ego  rogatus  mutavi  meum  consilium;  nam  sin- 
tueram  non  mehercule  inertia,  sed  desiderio  pristinae  dignOatis  in  perpeiuum  tacere: 
fregit  hoc  meum  consilium  et  Caesaris  magniiudo  animi  et  senatus  officium;  itaque  pluH- 
bus  verhis  egi  Caesari  gratias;  meque  metuo  ne  etiam  in  ceteris  rebus  honesto  otio  ptivarim, 
quod  erat  unum  solatium  in  malis;  sed  tarnen,  quoniam  effugi  eius  offensumem,  qui  fortasse 
arbitraretur  me  hane  rem  publieam  non  putare,  si  perpetuo  tacerem,  modice  hoc  faeiam 
aut  etiam  intra  modum,  ut  et  illius  voluntati  et  meis  studiis  serviam.  Als  Marcellus  im 
folgenden  Jahre  nach  Italien  zurttckkehren  wollte,  wurde  er  im  Piräus  von  F.  Magius  Cilo 
ermordet  und  von  Ser.  Sulpicius  Rufus  in  Athen  begraben.    (Cic.  ep.  4, 12.) 

Die  Verdfichtigungsgrttnde  stützen  sich  auf  die  Anschauung,  dass  die  Rede  in  der 
Form,  in  der  sie  vorliege,  nicht  hätte  gehalten  werden  kOnnen,  da  sie  das  Mass  einer 
Danksagung  Oberschreite,   auch  die  Caesar  Flut.  Cic.  39  bei   dem  Frozess  des  ligarius  in 


')  Soman,  Untersuchung  p-  H  h&lt  die 
Unechtheitserkl&rung  Wolfs  „nlr  eine  Persi- 
flage auf  die  in  jener  Zeit  herrschende  Mode, 
Litteraturwerke  nach  oberflächlicher  Betrach- 


tung den  durch  die  Überlieferung  bezeichne- 
ten Urhebern  zu  entziehen  und  filr  unterge- 
schoben zu  erklären." 


222    BOmische  Litteratnrgescliichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

den  Mund  gelegten  Worte  tl  xwXvei  Sid  ^Qoyov  Ktxegtoyos  äxovaai  Xeyot^iog;  eine  Rede 
Ciceros  vor  der  Ligariana  unglaublich  erscheinen  lassen,  ferner  auf  die  Anschauung,  dass 
die  Veröffentlichung  einer  solchen  Rede,  auch  wenn  sie  gehalten  worden  w&re,  weder  im 
Interesse  Marcellus*  noch  Ciceros  lag,  endlich  auf  anscheinend  sachliche  und  sprachliche 
Verstösse,  die  man  Cicero  nicht  zu&auen  könne.  Alle  diese  Einwürfe  halten  genauerer 
Erwägung  nicht  stand.  Man  vgl.  z.  B.  das,  was  Passow  über  das  aus  (fta  /^oi^ot;  herge- 
nommene Argument  sagt  (p.  276).  Heutzutage  darf  es  wohl  als  ausgemacht  gelten,  dass 
die  Rede  von  Cicero  herr&nrt.  Auch  die  von  Jacob  (de  oratiane  pro  MarcelJo  Ciceroni  vel 
ahiudicanda  vel  adiudieanda,  Berl.  1813)  begründete  vermittelnde  Ansicht,  dass  der  Grund- 
stock der  Rede  echt,  aber  durch  Interpolationen  verwischt  sei,  kann  nicht  mehr  fest- 
gehalten werden.  Nur  Eines  darf  in  der  Frage  nicht  ausser  acht  gelassen  werden,  dass 
höchstwahrscheinlich  die  Rede  nicht  von  Stenographen  sofort  aufgenommen,  sondern  erst 
später  von  Cicero  rekonstruiert  wurde,  also  die  wirklich  gehaltene  Rede  immerhin  von  der 
geschriebenen  merklich  differieren  konnte. 

Litteratur:  F.  A.  Wolf,  M.  T,  Ciceronia  quae  vtUgo  fertur  oratio  pro  MarceUoj 
Berl.  1802.  Spaldüto  im  Mus.  der  Altertumsw.  1  (1808),  1.  Passow,  Verm.  Schriften  p.  258. 
Hahxe,  oratumem  pro  M.  denuo  def,  (Jenaer  Diss.),  Braunschweig  1876.  Schwaioue,  De 
Ciceronis  oratione  pro  M.  MarceUo,  Bromberg  1885  (Erlanger  Diss.)  verteidigen  die  Rede. 
ScHKiD,  Untersuchung  über  die  Frage  der  Echtheit  der  Rede  pro  M.,  Zürich  1888,  der  aber 
die  Abhandlung  von  Schwanke  nicht  kennt,  verwirft  sie.  Sohxid  will  einen  Anachronismus 
entdeckt  haben;  „die  Reformen,  deren  Verwirklichung  8,23  gewünscht  •  wird,  seien  1 — B 
Monate  vor  der  Zurückberufung  des  M.  grösstenteils  ganz  neu  durchgeführt,  zum  kleinem 
Teil  aus  früheren  wiederholt  imd  ergänzt  worden**  (p.  100).  Allein  selbst  die  Richtigkeit 
dieses  Satzes  zugegeben,  so  würde  bei  einer  späteren  Abfassung  der  Rede  ein  Anachronismus 
von  1 — 3  Monaten  sicherlich  bei  Cicero  nicht  wunderbar  sein. 

2.  pro  Q.  Ligario  (aus  dem  J.  46).  Q.  Ligarius  war  im  Bürgerkrieg 
auf  Seiten  der  Pompeianer  gestanden.  In  Adrumetum  fiel  er  in  die  Hände 
Caesars,  welcher  ihn  mit  Verbannung  bestrafte.  Seine  Brüder  und  andere 
Angehörige  suchten  bei  Caesar  seine  Begnadigung  zu  erwirken,  auch  Cicero 
fand  sich  als  Fürsprecher  mit  ein.  Allein  für  den  Augenblick  konnte  das 
Ziel  nicht  erreicht  werden,  wenngleich  ersichtlich  war,  dass  Caesar  sich 
zur  Milde  herbeilassen  werde.  Diese  Hoffnungen  schienen  aber  völlig  zu 
scheitern,  als  Q.  Aelius  Tubero  Klage  gegen  Ligarius  wegen  seines  ehe- 
maligen politischen  Verhaltens  erhob.  Ihn  verteidigte  Cicero  (mit  C.  Pansa) ; 
Ziel  der  Rede  konnte  nicht  sein,  den  Angeklagten  zu  rechtfertigen,  sondern 
lediglich,  für  Ligarius  Verzeihung  zu  erlangen.  Der  Umstand,  dass  auch 
der  Vater  des  Anklägers  und  der  Ankläger  auf  seite  der  Pompeianer  wie 
Ligarius  standen,  gibt  dem  Redner  zu  spitzigen  Angriffen  Anlass.  Tubero 
drang  mit  seiner  Klage  nicht  durch;  vielleicht  war  die  Klage  sogar  auf 
Anregung  Caesars  eingebrachjb,  um  dadurch  die  Begnadigung  des  Ligarius 
in  ein  helleres  Licht  zu  rücken. 

Bell.  Afric.  89  Adrumetum  pervenit  (Caesar),  Quo  cum  sine  mora  introisset,  armin, 
frumento  pecuniaque  conaiderata  Q.  Ligario^  C  Conaidio  filio,  qui  tum  ibi  futrant,  tdtam 
concesftit.  Über  die  dem  Prozess  vorausgehenden  Bemühungen,  fttr  Ligarius  Begnadigimg 
zu  erlangen,  berichtet  Cicero  £p.  6, 14  an  Ligarius  folgendes:  ego  —  cum  a,  d,  V.  Kai. 
interealares  priores  rogatu  fratrum  tuorum  venissem  mane  ad  Caesarem  atque  omnem  ad- 
eundi  et  conveniendi  illius  indignitatem  et  molestiam  pertulissem,  cum  fratres  et  propinqtii 
tui  iacerent  ad  pedes  et  ego  essem  locutus,  quae  causa,  quae  tuum  tempus  postulabaty  non 
solum  ex  oratiane  Caesaris,  quae  sane  moUis  et  liheralis  fuit,  sed  etiam  ex  oculis  et  vuliu, 
ex  multis  praeterea  signis,  quae  facilius  per^icere  potui  quam  scribere,  hoc  cpinione  dis- 
cessi,  ut  mihi  tua  salus  dubia  non  esset,  —  Das  Ziel  der  Rede  spricht  Cicero  gleich  an- 
fangs aus:  omnis  oratio  ad  misericordiam  tuam  conferenda  est;  um  auf  diese  misericordia 
hinzuwirken,  wird  am  Schluss  (12,  38)  der  Gemeinplatz  verwertet:  homines  ad  deos  nulla  re 
propius  accedunt  quam  salutem  hominibus  dando,  —  Über  den  Ausgang  des  Prozesses  vgl. 
Dig.  1, 2, 2, 46  (Tubero)  transit  a  causis  agendis  ad  ius  civile,  maxime  postquam  Qu,  Liga- 
rium  accitsavit  nee  obtinuit  apud  C,  Caesarem,  —  Über  die  Verbreitung  der  Ligariana  siehe 
Cic.  ad  Att.  18,12  13,20  13,44  13,19. 


Cicero«  Roden.  223 

3.  pro  rege  Deiotaro  (aus  dem  J.  45).  Der  Tetrarch  von  Galatien, 
Deiotarus,  hatte  wegen  seiner  Verdienste  um  das  römische  Volk,  besonders 
um  Pompeius,  Kleinarmenien  und  den  Königstitel  erhalten.  Im  Bürgerkrieg 
stellte  er  sich  auf  seite  des  Pompeius.  Es  wurde  ihm  daher  von  Caesar 
ein  Teil  seines  Besitzstandes  genommen,  der  Königstitel  aber  belassen. 
Im  J.  45  klagte  ihn  sein  Enkel  Castor  in  Rom  an,  er  habe  Caesar,  als 
dieser  nach  dem  Feldzug  gegen  Pharnaces  bei  ihm  verweilte,  nach  dem 
Leben  gestrebt;  als  Hauptzeuge  erscheint  der  Arzt  Phidippus,  ein  Mit- 
glied der  Gesandtschaft,  welche  Deiotarus  nach  Bom  zu  seiner  Recht- 
fertigung gesandt  hatte,  ein  Mann,  der  angeblich  von  Castor  bestochen 
wurde.  Auf  Bitten  der  übrigen  treu  gebliebenen  Gesandten  übernahm 
Cicero  die  Verteidigung  des  Königs  in  der  Wohnung  Caesars;  er  sucht 
das  Unwahrscheinliche  der  ganzen  Anklage  darzuthun,  auch  die  Angabe 
zu  widerlegen,  Deiotarus  sei  Caesar  gegenüber  immer  „auf  der  Lauer '^ 
(8,22)  gestanden  und  habe  ein  grosses  Heer  gegen  ihn  ausgerüstet.  Zum 
Schluss  erörtert  der  Redner,  dass  Deiotarus  von  keiner  feindseligen  Ge- 
sinnung gegen  Caesar  beseelt  sei  und  nicht  an  das  denke,  was  er  durch 
Caesar  verloren,  sondern  an  das,  was  er  durch  ihn  gerettet  habe.  Über 
den  Ausgang  der  Sache  fehlen  uns  positive  Nachrichten,  wahrscheinlich 
verschob  der  Diktator  die  Entscheidung.  Durch  die  bald  darauf  erfolgende 
Ermordung  Caesars  entging  Deiotarus  der  Gefahr. 

Ober  diese  Rede  urteilt  Cicero  anscheinend  geringschätzig,  indem  er  an  Dolabella 
schreibt  (£p.  9, 12, 2) :  aratiunctUam  pro  Deiotaro,  quam  requirebas,  habebam  mecum,  quod 
non  putaram:  itaque  eam  tibi  misi;  quam  velim  sie  legas,  ut  causam  tenuem  et  inopem 
nee  seriptiane  magno  opere  dignam;  sed  ego  hospiti  veieri  et  amico  munusculum  volui 
mittere  levidense  crasso  filo,  euiusmodi  ipaius  solent  esse  munera. 

Es  wurde  die  Behauptung  aufgestellt,  dass  Cicero  in  den  Reden  pro  Ligario  und 
pro  Deiotaro  mit  Rücksicht  auf  Caesar,  an  den  die  Reden  gerichtet  sind,  sich  des  attischen 
Stils  bediente.  Diese  Ansicht,  welche  zuerst  von  Wilaxowitz,  Hermes  12,  332  ausge- 
sprochen, dann  von  GurrMAim  in  seiner  Dissertation  De  earum  quae  vocantur  Coesarianae 
orationum  TuUianarum  genere  dicendi,  Greifsw.  1883  eingehend  durchgeführt  wurde,  ist 
nicht  haltbar;  einmal  ist  die  Marcelliana  ebenfalls  an  Caesar  gerichtet  und  doch  in  einem 
tumidum  genus  geschrieben,  auch  die  Deiotarana  ist  von  überladener  Diktion  nicht  frei- 
zusprechen; am  einfachsten  ist  die  Diktion  der  ligariana  und  doch  dürfte  es  auch  hier 
zweifelhaft  sein,  dass  der  Stil  der  attische  ist. 

Überlieferung:  In  der  Marcelliana  sind  die  besten  Führer  der  Codex  Gemblacensis 
8.  Bruxellensis  5345  und  der  Erfurtensis  s.  Berolinensis,  in  der  ligariana  dieselben  und 
der  Codex  Coloniensis  Graevii,  in  der  Rede  für  Deiotarus  der  Codex  Gemblacensis  s.  Bru- 
xellensis 5345,  der  Gudianus  s.  Wolfenbuttelanus  2,  der  Erfurtensis  s.  Berolinensis,  der 
Salisburgensis  34  s.  Monacensis  15734.  (Anders  Nohl,  Fleckeis.  J.  137,  398.  Dagegen 
MCllbr  1.  c.  p.  137.) 

4.  Die  14  Philippischen  Beden.  Dieselben  fallen  in  die  Jahre  44 
und  43.  Nach  Caesars  Ermordung  riss  M.  Antonius  alle  Gewalt  an  sich. 
Er  liess  nämlich  den  Senat  den  Beschluss  fassen,  dass  die  Mörder  Caesars 
nicht  gerichtlich  verfolgt  werden  sollten,  dass  aber  auch  alles  das,  was 
Caesar  angeordnet  (acta  Caesaris),  durchgeführt  werden  sollte.  Da  Antonius 
den  schriftlichen  Nachlass  Caesars  in  seinen  Besitz  brachte,  so  hatte  er 
damit  ein  Mittel  gewonnen,  das,  was  er  durchsetzen  wollte,  als  eine  An- 
ordnung Caesars  hinzustellen.  Hiebei  ging  ihm  Caesars  Schreiber  Faberius 
an  die  Hand,  indem  er  die  nötigen  Urkunden  fälschte  oder  unterschob. 
Als  Qegner  seines  Treibens  trat  unter  anderen  Cicero  auf.    Nach  dem  Tod 


224    Bömisohe  LitteratargMchichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

Caesars,  als  durch  die  Leichenfeier  tumultuarische  Scenen  hervorgerufen 
wurden,  hatte  Cicero  Rom  verlassen.  Er  hielt  sich  auf  seinen  Landgütern 
auf,  nach  seiner  Gewohnheit  die  Entwicklung  der  Dinge  erwartend.  Von 
Dolabella,  der  die  Provinz  Syrien  erhalten,  zu  seinem  Legaten  ernannt, 
bekam  er  einen  passenden  Verwand,  sich  von  Italien  zu  entfernen.  Schon 
befand  er  sich  auf  der  Reise,  um  anscheinend  seinen  Posten  anzutreten,  da 
erfuhr  er,  dass  in  Rom  die  Dinge  sich  zum  Bessern  gestalteten;  er  kehrte 
daher  nach  Rom  zurück.  Der  erste  Zusammenstoss  zwischen  ihm  und 
Antonius  fand  aus  Anlass  einer  Senatssitzung  am  1.  September  44  statt; 
in  dieser  Senatssitzung  hatte  Antonius  beantragt,  es  sollte  bei  den  suppU- 
catianes  ein  Tag  zu  Ehren  Caesars  hinzugefügt  werden.  In  dieser  Sitzung 
war  Cicero  nicht  erschienen,  was  Antonius  als  etwas  Ungewöhnliches  (2, 13), 
als  eine  Beleidigung  ansah  und  mit  Drohungen  vergalt.  Am  2.  September 
erschien  Cicero  im  Senat  und  hielt  die  1.  philippische  Rede.  In  derselben 
legte  zuerst  Cicero  Rechenschaft  von  seiner  Entfernung  aus  Rom  und 
seiner  Rückkehr  ab,  dann  wendete  er  sich  gegen  die  Drohungen  des  An- 
tonius wegen  seiner  Abwesenheit  von  der  Senatssitzung,  endlich  greift  er 
die  politischen  Handlungen  des  Antonius  an.  Antonius  war  in  der  Sitzung 
nicht  anwesend.  Am  19.  September  44  gab  er  in  einer  Senatssitzung  die 
Antwort  auf  den  Angriff  Ciceros,  der  aber  der  Sitzung  nicht  beiwohnte; 
es  war  eine  heftige  Anklage.  Cicero  erwiderte  in  der  2.  philippischen 
Rede;  er  weist  zuerst  die  Anschuldigimgen  des  Antonius  zurück,  dann 
(17,43)  geht  er  zum  Angriff  auf  seinen  Gegner  über.  Sie  beruht  auf  der 
Fiktion,  als  habe  Cicero  sofort  im  Senat  auf  die  Schmähungen  des  Antonius 
geantwortet;  allein  sie  erschien  nur  schriftlich  und  zwar  nachdem  Antonius 
bereits  Rom  verlassen  hatte.  Antonius  forderte  auf  Grund  eines  Volks- 
beschlusses  nämlich  von  D.  Brutus  die  Provinz  Gallia  cisalpina.  Da  sich 
dessen  D.  Brutus  weigerte,  kam  es  zum  Krieg,  Antonius  belagerte  den 
D.  Brutus  vor  Mutina.  Daher  stellte  Cicero  in  der  3.  Rede  im  Senat 
(20.  Dez.)  den  Antrag,  dass  D.  Brutus'  Entschluss,  seine  Provinz  gegen 
Antonius  zu  halten,  zu  billigen  sei,  ferner  dass  die  Statthalter  ihre  Pro- 
vinzen behalten,  bis  ihnen  Nachfolger  bestimmt  seien,  endlich  dass  Caesar 
Octavian  wegen  seines  Widerstands  gegen  Antonius  und  die  Truppen,  die 
sich  von  Antonius  abgewendet,  belobt  werden  sollen.  An  demselben  Tage 
teilte  in  der  4.  kurzen  Rede  Cicero  die  Senatsbeschlüsse,  die  in  seinem 
Sinn  erfolgt  waren,  dem  Volke  mit.  Am  1.  Januar  43  beriefen  die  Kon- 
suln Pansa  und  Hirtius  den  Senat  und  referierten  über  die  politische  Lage. 
Es  machte  sich  in  Bezug  auf  das  Vorgehen  gegen  Antonius  eine  mildere 
Ansicht  geltend,  welche  den  Krieg  vermeiden  und  den  Weg  der  gütlichen 
Unterhandlung  durch  Absendung  einer  Gesandtschaft  einschlagen  wollte. 
Cicero  vertrat  in  der  5.  Rede  den  kriegerischen  Standpunkt  (12,30)  und 
sprach  eifrig  für  Belobung  der  Gegner  des  Antonius.  Die  Verhandlungen 
dauerten  vier  Tage.  Die  verschiedenen  Belobungen  wurden  zwar  beschlossen, 
aber  auch  zugleich,  dass  Gesandte  an  Antonius  geschickt  werden  sollen. 
Über  diese  Absendung  von  Gesandten  belehrt  Cicero  in  der  6.  Rede  (4.  Jan.) 
das  Volk  (1,3).  Die  Gesandten  waren  noch  nicht  zurückgekehrt,  als  Cicero 
neuerdings  (Anf.  Febr.)  im  Senat  gegen  einen  Frieden  mit  Antonius  sicli 


Cicerös  Reden. 


225 


aussprach.  Dies  ist  der  Gegenstand  der  7.  Rede.^  Von  d^n  drei  6e-^ 
sandten,  die  zu  Antonius  geschickt  wurden,  Ser.  Sulpicius,  L.  Pliilippus 
und  L.  Piso,  starb  Ser.  Sulpicius  in  Ausübung  seines  Berufs.  Die  beiden 
anderen  kamen  mit  unannehmbaren  Forderungen  (8,  8,  25)  des  Antonius 
zurück.  Es  wurde  nun  die  Anwendung  von  Waffengewalt  beschlossen, 
allein  man  vermied  in  dem  Beschluss  das  Wort  „Krieg''  (bellum),  sondern 
wählte  dafür  „  Landfriedensbruch  **  (tumultus).  Diese  Halbheit  tadelte  Cicero 
aufs  stärkste,  indem  er  sich  besonders  gegen  Q.  Fufius  Galenus  wendet,  in 
der  8.  Rede  (Febr.),  und  beantragt  zugleich,  wer  vor  dem  15.  März  Antonius 
verlasse,  solle  straflos  ausgehen,  und  es  solle  niemandem  gestattet  sein 
(mit  Ausnahme  des  L.  Yarius),  ins  Lager  des  Antonius  zu  gehen.  In  der 
9.  Rede  sprach  Cicero  für  den  Antrag,  dass  der  in  Ausübung  seines  Be- 
rufs *)  gestorbene  Ser.  Sulpicius  durch  eine  Statue  und  ein  öffentliches  Be- 
gräbnis geehrt  werden  solle.  Die  10.  Rede  bezieht  sich  auf  M.  Brutus. 
Von  Caesar  war  die  Provinz  Macedonien  dem  M.  Brutus,  die  Provinz  Syrien 
dem  C.  Cassius  zugewiesen.  Nach  dem  Tode  Caesars  wurde  Macedonien 
für  M.  Antonius,  Syrien  für  Dolabella  bestimmt.  M.  Antonius  liess  aber 
seinem  Bruder  C.  Antonius  die  Provinz  Macedonien  übertragen.  Aber 
M.  Brutus  hatte  bereits  Griechenland,  Macedonien,  lUyricum  okkupiert  wie 
Cassius  Syrien.  Auch  hatte  sich  M.  Brutus  eine  grosse  Militärmacht  ver- 
schafft. Als  daher  C.  Antonius  von  seiner  Provinz  Besitz  nehmen  wollte, 
wurde  er  von  M.  Brutus  zurückgedrängt  und  nach  ApoUonia  geworfen. 
Über  diese  Vorgänge  berichtete  M.  Brutus  an  den  Senat.  Als  darüber 
verhandelt  wurde,  beantragte  Cicero,  dass  man  M.  Brutus  im  Besitz  seines 
Heeres  zum  Schutze  Macedoniens,  Illyricums  und  Griechenlands  belasse 
und  dass  Q.  Hortensius  die  Provinz  Macedonien  weiterverwalte,  bis  ihm 
ein  Nachfolger  geschickt  werde.  Diese  Verhandlungen  fanden  statt  im 
Februar.*)  Als  Dolabella  in  die  Provinz  Syrien  gehen  wollte,  stiess  er  in 
der  Provinz  Asien  auf  den  Prokonsul  derselben,  C.  Trebonius,  einen 
der  Caesarmörder  und  liess  ihn  hinrichten.  Als  dieser  Frevel  in  Rom 
bekannt  wurde,  beschloss  der  Senat,  Dolabella  den  Krieg  zu  erklären. 
Eine  Ansicht  ging  dahin,  den  Konsuln  Asien  und  Syrien  und  damit  die 
Leitung  des  Krieges  zu  übergeben.  Cicero  dagegen  wollte  Cassius  mit 
dieser  Aufgabe  betraut  wissen.  Dies  führt  er  in  der  11.  Rede  durch.^) 
Bald  darauf  regten  Anhänger  des  Antonius  von  neuem  Friedensverhand- 
lungen an;  es  wurde  auch  eine  Gesandtschaft  gewählt,  in  derselben  befand 
sich  merkwürdiger  Weise  auch  Cicero.  Allein  bald  bereute  er  seine  Teil- 
nahme und  lehnte  dieselbe  ab,  wie  er  sich  überhaupt  über  das  Zwecklose 
der  Absendung  von  Gesandten  an  Antonius  aussprach  (12.  Rede).  Es 
unterblieb  die  Gesandtschaft;  Pansa  zog  mit  seinen  Legionen  gegen  Anto- 


')  Die  Disposition  der  Rede  siehe  3, 9 
cur  igUur  pacem  noio?  quia  turpis  est,  ^ia 
periculosa,  quia  esse  non  potest, 

')  9, 1,  2  cum  tarn  ad  cangressum  con^ 
loquiumque  eius  pervenisset,  ad  quem  erat  mis- 
susy  in  ipsa  cura  ac  meditatume  dbeundi  sui 
muneris  excessU  e  vita, 

^)  Nach  CoBBT  (p.  156)  März.     Cicero 

Handbuch  der  Umi.  AltertumawtaBeniiehaft.    TUL, 


drang  durch,  denn  11  Philipp.  11,26  heisst 
es:  ni  Brutum  cmUigassemus  in  Graecia  et 
eius  auxüium  ad  Italiam  vergere  quam  ad 
Asiam  maluissemus, 

*)  Cicero  drang  nicht  im  Senat  durch; 
er  brachte  nun  die  Sache  mit  Hilfe  eines 
Tribunen  vor  das  Volk.  Allein  auch  dieser 
Versuch  schlug  fehl.    Vgl.  Cic.  Ep.  12,  7. 

15 


226     RömiBohe  Litteratnrgesoliichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode, 

nius  zu  Feld.  Einen  neuen  Anlass  zu  einer  Rede  (13)  erhielt  Cicero,  als  die 
Statthalter  L.  Plancus  und  M.  Lepidus  Schreiben  an  den  Senat  richteten, 
in  denen  sie  zum  Frieden  rieten  (Cic.  Ep.  10,  6).  Cicero  führt  durch  Ver- 
lesung und  Analyse  eines  Briefes  des  Antonius  im  Senate  aus,  dass  mit 
Antonius  ein  Friede  unmöglich  sei.O  Am  15.  April  schlug  Antonius  bei 
Forum  Gallorum  den  Konsul  Pansa,  welcher  eben  mit  seinen  Truppen  auf 
dem  Kriegsschauplatz  angekommen  war.  Pansa  erlitt  eine  schwere  Ver- 
wundung; allein  am  Abend  desselben  Tages  wurde  Antonius  von  Hirtius 
geschlagen.  Der  Bericht  über  diese  Vorgänge  wurde  am  22.  April  im 
Senat  verlesen.  Es  war  ein  Dankfest  beantragt.  In  die  Verhandlungen 
darüber  greift  Cicero  mit  der  14.  Rede  ein.  Er  beantragt  angesichts  der 
Verdienste  der  Konsuln  Pansa  und  Hirtius  und  des  Proprätors  C.  Caesar 
ein  Dankfest  von  50  Tagen  und  die  Errichtung  eines  Denkmals  für  die 
Gefallenen,  Belohnungen  für  die  Truppen  und  die  Angehörigen  der  Ge- 
fallenen. Bald  nach  jenen  Grefechten  wurde  die  entscheidende  Schlacht 
bei  Mutina  geschlagen;  Antonius  wurde  vollständig  besiegt,  allein  Hirtfus 
fiel  in  der  Schlacht  und  Pansa  starb  an  den  erhaltenen  Wunden.  Die 
streitenden  Machthaber  versöhnten  sich ;  im  Oktober  schlössen  M.  Antonius, 
Caesar  Octavianus  und  Lepidus  ein  Bündnis,  das  zweite  Triumvirat  ge- 
nannt. Die  Folge  dieses  Bündnisses  war,  dass  Cicero  auf  Betreiben  des 
Antonius  geächtet  wurde.    Die  Häscher  vollzogen  ihr  Werk  am  7.  Dez.  43. 

Über  den  Namen  heisst  es  Cic.  ad  Brat.  2, 3, 4  p.  648  W.  legi  arationes  duas  tuas, 
quarum  altera  Kai,  Jan,  U9U8  es  (5.  Rede),  aüera  de  lüteris  meis,  quae  hainta  est  abs  te 
contra  Calenum  (10.  Rede).  Nunc  scilicet  hoc  exspectas,  dum  eas  laudem:  nescio,  animi  an 
ingenii  tui  maior  in  his  libeÜis  laus  contineaiur ;  iam  concedo,  ut  vel  Philippici  poceniur, 
quod  tu  quadam  epistola  iocans  scripsisii.  ibid.  2, 4, 2  p.  649  W.  de  te  etiam  dixi  tum  quae 
dicenda  putavi:  haec  ad  te  oratio  perferetur,  quoniam  te  video  ddectari  Philippicis  nostris. 
Gellius  gebraucht  die  Bezeichnung  orationes  Antonianae,    Vgl.  Halm,  Einl.  p.  36. 

Aus  einer  16.  Rede  bringt  der  Rhetor  Arusianus  Messius  zwei  Fragmente  herbei. 
Vgl.  Zflrcher  Ausg.  p.  1410,  wo  noch  einige  Citate  aus  philippischen  Reden  angeführt  sind, 
die  sich  nicht  in  ihnen  finden. 

Auch  an  den  philippischen  Reden  wurde  ein  Athetisierungsversuch  unternommen; 
er  betraf  die  4.  Rede  durcn  Krause. 

Überlieferung:  Weitaus  die  beste  Quelle  ist  der  Codex  Vaticanus  (tabularii  Ba- 
silicae  Vaticanae)  H.  25,  der  enthält  p.  360  Müller  —  514, 20  ad  pirum,  526, 27  sumus  iudi- 
care  —  530, 19  corpo,  534 — 538, 18  acerbam.  Sekimdäre  Quellen  sind  ein  Bamberger,  ein 
Hemer  u.  s.  w. 

Litteratur:  Cobbt,  ad  Ciceronis  Philippicas,  Mnemos.  7  (1879),  113,  der  nicht  bloss 
kritische,  sondern  auch  historische  Beiträge  zu  den  Reden  liefert.  Krause,  Ciceros  4.  phi- 
lippische Rede  (Jahns  Archiv  13, 297).  Schuster,  Vindiciae  or.  Phil.  IV,  Lüneburg  1ö51. 
Jbntzen,  Ciceros  4.  phil.  Rede,  Lüb.  1820.    Schirlitz,  Cic.  philippische  IX,  Wetzlar  1844 

146.  Verlorene  Beden.  Ausser  den  Reden,  welche  uns  erhalten 
sind,  haben  wir  noch  Fragmente  von  über  17  Reden,  ausserdem  kennen  wir 
noch  die  Titel  von  c.  30  Reden.  Von  den  ersteren  sind  uns  einige  durch 
Argumente  und  Kommentare  so  bekannt,  dass  wir  die  Grundzüge  derselben 
feststellen  können.    Es  sind  folgende: 

1)  pro  G.  Cornelio  de  maiestate,  aus  dem  J.  65.  Der  Volks- 
tribun  G.  Gornelius  hatte  im  J.  67  Gesetzesvorschläge  gemacht,  welche  den 
Interessen  der  Optimaten  entgegenstanden.  Sein  Tribunat  war  daher  ein 
sehr  stürmisches.     Nachdem  dasselbe  abgelaufen  war,  belangten  ihn  die 

*)  Die  Anträge  des  Lepidus  und  Plancus  wurden  vom  Senat  zurückgewiesen 
(Ep.  10, 27). 


CiceroB  Reden.  227 

Brüder  Gominii  (66)  nach  der  lex  Cornelia  de  maie^tate,  da  er  trotz  der 
Interzession  eines  Tribunen  einen  Oesetzesvorschlag  vorgelesen.  Allein  die 
Gerichtsverhandlung  kam  infolge  von  Gewaltthätigkeiten  gegen  die  An- 
kläger nicht  zu  stände.  Im  nächsten  Jahr  wurde  die  Klage  von  den  Gominii 
wiederholt  eingebracht;  Cicero  verteidigte  Cornelius  vier  Tage  hindurch; 
zwei  Reden  gab  es  von  ihm  über  diesen  Prozess.  Cornelius  wurde  mit 
grosser  Majorität  freigesprochen. 

Das  Argument  ist  von  Asconius;  vgl.  p.  50  K.  S.  Die  Bruchstücke  der  Rede  bei 
MöLLEB,  P.  IV  vol.  m  p.  238.   Beck,  Quaestumes  in  Cic,  pro  Camelio  oraUones,  Leipz.  1877. 

2.  In  toga  Candida,  aus  dem  J.  64.  Cicero  hatte  bei  der  Be- 
werbung um  das  Konsulat  als  Mitbewerber  C.  Antonius  und  L.  Catilina, 
die  sich  beide  verbündet  hatten,  Ciceros  Wahl  zu  hintertreiben.  Da  sie 
zu  diesem  Zweck  die  offenkundigste  Bestechung  ausübten,  wurde  im  Senat 
angeregt,  ein  verschärftes  Gesetz  de  ambitu  zu  erlassen.  Allein  der  Volks- 
tribun  Q.  Mucius  Orestinus  interzedierte.  Als  Cicero  bei  der  Verhandlung 
im  Senat  um  seine  Meinung  gefragt  wurde,  benützte  er  die  Qelegenheit, 
Antonius  und  Catilina  scharf  anzugreifen.  Dies  ist  der  Gegenstand  der 
Rede  in  toga  Candida. 

Das  Argument  ist  von  Asconius;  vgl.  p.  73  E.  S.  Die  Bruchstflcke  der  Rede  bei 
MüLLEB  1.  c.  p.  259.    KoBTSOHAU,  De  Cic.  oratiane  in  toga  Candida  habita,  Leipz.  1880. 

3.  In  Clodium  et  Curionem.  Clodius  war  im  J.  61  wegen  des 
am  Feste  der  Bona  Dea  begangenen  Frevels  in  eine  Anklage  verwickelt 
worden.  Sein  Verteidiger  war  C.  Curio,  der  Vater.  In  dem  Prozess  war 
als  Zeuge  gegen  Clodius  Cicero  aufgetreten,  der  ein  von  diesem  vorge- 
gebenes Alibi  zu  schänden  machte.  Obzwar  Clodius  freigesprochen,  so 
fasste  er  doch  von  dieser  Zeit  einen  heftigen  Hass  gegen  Cicero.  Diesem 
seinem  Hass  gab  er  Ausdruck  in  Reden  vor  dem  Volk  und  im  Senat;  er 
suchte  hier  Cicero  lächerlich  zu  machen.  In  einer  Senatssitzung  vom  15.  Mai 
sprach  zuerst  Cicero  in  zusammenhängender  Bede  gegen  Clodius,  dann  kam 
es  zu  einem  Redegefecht  zwischen  ihm  und  Clodius,  von  dem  er  in  einem 
Briefe  an  Atticus  1, 16  eine  packende  Schilderung  gibt.  Später  arbeitete 
Cicero  eine  Invectiva  gegen  Clodius  und  Curio  aus. 

.  Das  Argumentum  gibt  uns  der  ScholiastaBobiensis  p.  329,  er  sagt:  sed  quoniam  habuerant 
in  senatu  quandam  iurgiosam  decertatioMeiHf  vi8um  Ciceroni  est  hanc  orationem  conscribere 
plenam  sine  dubio  et  asperitaiis  et  facetiarum,  quibus  mores  utriusque  proscindit  et  de  sin» 
gulorum  vitiis  quam  potest  acerbissime  loquitur.  Die  erhaltenen  Fragmente  enthalten  nur 
eine  Stelle  gegen  Curio  fr.  21.  Cic.  ad  Attic.  1, 16, 9  Clodium  praesentem  fregi  in  senatu 
cum  oratiane  perpetua,  plenissima  gratntatis  tum  altercatione  eiusmodi.  —  Inwieweit  die  oratio 
perpetua  und  die  altercatio  zu  der  neuen  Rede  benutzt  wurden,  Iftsst  sich  nicht  sicher  fest- 
stellen. Fragmente  bei  Mülleb  1.  c.  p.  271.  —  Beck,  Einl.  u.  Dispos.  zu  C.  Rede  «fi  Cl.  et  C. 
Zwickau  1886. 

4.  Für  das  Jahr  52  hatte  sich  T.  Annius  Milo  um  das  Konsulat  be- 
worben. Seine  Bewerbung  bekämpfte  aufs  heftigste  P.  Clodius  Pulcher, 
der  unter  anderem  geltend  machte,  dass  Milo  so  verschuldet  sei,  dass  er 
sein  Konstdat  ohne  Zweifel  dazu  benützen  würde,  um  sich  aus  seiner  miss- 
lichen Lage  zu  befreien.  Es  kam  zu  einem  Streite  zwischen  Clodius  und 
Cicero.  Auf  diesen  Streit  bezieht  sich  unsere  Rede  d.  J.  53  de  aere  alieno 
Mlonis  und  zwar  wählt  sie  wie  die  in  Vatinium  die  Form  der  interrogatio. 

Das  Argument  liefern  die  scholia  Bobiensia  p.  341.  Die  Fragmente  bei  MOllsb  1.  c.  p.  276. 

15* 


228^    RömiBche  LitteratargesoMohte.    I.  Die  Zeit  der  Bepablik«    2.  Periode. 

Verlorene  laudationes.  Auch  das  genus  demonstralivum  pflegte  Cicero.  Za 
demselben  gehören  die  von  ihm  verfassten  Lobreden.  Am  berühmtesten  ist  die  Lobrede 
aufdenjttngerenCato  nach  seinem  Selbstmord  geworden;  sie  war  eine  Verherrlichimg  der 
Republik  und  gegen  Caesar  gerichtet  (46).  Wir  haben  oben  p.  168  gesehen,  welche  Gegen 
Schriften  diese  laudatio  hervorrief.  Weiterhin  verfasste  er  einen  Paneg^ricus  auf  die 
verstorbene  Porcia,  die  Schwester  Catos  und  die  Gemahlin  des  L.  Domitius  Ahenobarbus 
im  J.  45  (ad  Attic.  13, 37«  3  13, 48, 2).  Auch  Caesar  wurde  in  einer  Lobrede  gefeiert  (56) ;  es 
war  dies  ein  Bussgang,  und  es  ist  äusserst  interessant  zu  sehen,  wie  Cicero  (ad  Attic.  4,  5) 
diese  „subturpicula  nttXiyi^ia'^   rechtfertigt.     (Eine  laudatio  funehris  bei  ad  Q.  tr.  3, 8, 5.) 

ScHNEiDEB,  de  Ciceronis  Colone  minore,  Zeitschrift  f.  d.  Altertnmsw.  1837  nr.  140. 
GöTTLiNG,  De  Ciceronis  laudatione  Catonis  et  de  Caesaris  AntieatonibuSf  Opusc.  p.  153. 

Unechte  Reden  sind  die  Rede  Pridie  quam  in  exilium  iret  und  die  gegen  Sallust 
(vgl.  §  134). 

Unter  dem  Namen  des  L.  Racilius  schrieb  Cicero  eine  Invectiva  gegen  Clodius;  vgl. 
Schol.  Bob.  p.  268  Or. 

146.  Kommentare  zu  den  ciceronischen  Beden.  Schon  im  Altertum 
wurden  die  ciceronischen  Reden  viel  gelesen  und  auch  kommentiert.  An 
Kommentaren  sind  uns  folgende  überliefert: 

1.  Der  Kommentar  des  Q.  Asconius  Pedianus  (3 — 88  n.  Ch.). 
Derselbe  ist  ein  ganz  ausgezeichnetes  Denkmal  sachlicher  antiker  Ge- 
lehrsamkeit; soweit  er  erhalten  ist,  bezieht  er  sich  auf  fünf  Reden:  contra 
L.  Pisonem,  pro  Scauro,  pro  Milone,  pro  Gomelio,  in  toga  Candida.  Da 
wir  geeigneten  Ortes  ausführlich  über  diesen  vortreMichen,  gewissenhaften 
Gelehrten  handeln  werden,  unterlassen  wir  hier  weitere  Bemerkungen. 

Hauptausgabe:  Q.  Äsconii  Pediani  orationum  Ciceronis  quinque  enarratio.  Rec. 
A.  EiBSSLiNG  et  R.  ScHOBLL,  Borl.  1875. 

2.  Scholia  Bobiensia.  Diese  Schollen,  die  wohl  bald  nach  Asconius 
in  christl.  Zeit  entstanden,  beziehen  sich  auf  die  Reden  pro  Flacco,  cum 
senatui  gratias  egit,  cum  populo  gratias  egit,  pro  Plancio,  pro  Milone,  pro 
Sestio,  in  Yatinium,  in  Glodium  et  Gurionem,  de  aere  alieno  Milonis,  de  rege 
Alexandrino,  pro  Archia,  pro  Sulla.  Hierzu  kommt  ein  £xzerpt  aus  dem 
Kommentar  zu  den  Verrinen  im  Schol.  Gronov.  A.  Auch  diese  Kommentare 
sind  überwiegend  sachlich  gehalten  und  sehr  wertvoll.  Es  ist  nicht  er- 
wiesen, dass  Früchte  der  reichen  Gelehrsamkeit  des  Asconius  in  diesen 
Schollen  stecken.  Jünger  sind  die  Schollen  in  Catilin.  IV,  pro  Marcello, 
pro  Ligario,  pro  Deiotaro,  pro  Scauro. 

Gauxitz,  Zu  den  Bobienser  Ciceroscbolien,  Leipz.  1884.  (Stakol,  Rh.  Mus.  39,231  u.428.) 

3.  Der  Kommentar  zur  Divinatio  in  Caecilium  und  einem 
Teil  der  Verrinen  (Actio  I,  Actio  11  lib.  I  und  lib.  11  [bis  14, 35]).  Dieser 
Kommentar  wurde  früher  ohne  handschriftliche  Gewähr  ebenfalls  dem 
Asconius  beigelegt,  alleiil  derselbe  hat,  wie  selbst  eine  oberflächliche  Be- 
trachtung ergeben  kann,  nichts  mit  Asconius  zu  thun  und  besitzt  nur  einen 
sehr  geringen  Wert. 

Der  Kommentar  stand  in  demselben  jetzt  verloren  gegangenen  Codex  SGallensis,  in 
dem  auch  der  echte  Asconius  stand;  aus  zwei  apographa  desselben  teilen  Eiesslino  und 
ScHOBLL  eine  KoUation  in  ihrer  Ausgabe  p.  87  mit.    (Stanol  1.  c.  p.  568.) 

4.  Scholiasta  Gronovianus.  Dieser  Scholiast,  der  von  dem  ersten 
Herausgeber  Jakob  Gronov  den  Namen  hat,  behandelt  11  Reden,  nämlich: 
Divinatio  in  Caecilium,  actio  I  in  Verrem,  Actio  II  lib.  I,  Catilinariae  (II, 
in,  IV),  pro  Ligario,  pro  Marcello,  pro  Deiotaro,  pro  Roscio  Amerino,  pro 
lege  Manilia,  pro  Milone.    Allein  von  diesen  Reden  sind  bloss  die  Kom- 


CiceroB  Eeden.  229 

mentare  zu  der  3.  und  der  4.  catilinarischen  Rede  vollständig,  die  übrigen 
mehr  oder  weniger  verstümmelt;  von  der  Rede  pro  Milone  ist  nur  einiges 
vom  Anfang  erhalten.  Auch  diese  Scholien,  in  denen  man  vier  verschiedene 
Verfasser  neuerdings  erkennt,  haben  nur  einen  sehr  geringen  Wert,  sie 
gleichen  den  pseudoasconischen  Scholien. 

Diese  Scholien  sind  uns  lediglich  erhalten  durch  eine  Leydener  Handschrift  (Voss. 
Quart.  138  s.  X).  Durch  Is.  Vossius  kam  sie  in  die  Hädde  des  bertthmten  J.  F.  Gronovins. 
An  der  Heransgabe  hinderte  ihn  der  Tod;  sein  weit  geringer  begabter  Sohn  Jakob  publi- 
zierte zum  erstenmal  den  Kommentar  in  seiner  Ciceroausgabe,  Lejden  1672.  Jakob  Gronov 
erkannte  auch,  dass  in  den  Verrinen  zwei  Kommentare  stecken;  einen  dritten  spürte  in  den 
Verrinen  Mai  in  seiner  Ausgabe  der  Scholia  Bobiensia  auf;  in  neuerer  Zeit  statuierte  einen 
vierten  f&r  die  übrigen  Reden  Th.  Stakol.  Derselbe  bezeichnet  die  vier  Scholiasten  mit 
A,  B,  C,  D;  auf  A  fftllt  in  Verr.  act.  H  lib.  I  §  1—62  (Gronov),  auf  B  Divinatio  in  Caecil. 
und  in  Verr.  act.  I  §  1 — 46  (Mai),  auf  C  in  Verr.  act.  I  §  16 — 20  (Gronoy),  auf  D  die  noch 
übrigen  Reden  von  in  Catilinam  ü  bis  pro  Milone  (Stakol).  Über  schol.  A  vgl.  nr.  2 
(Gaciotz  p.  15).  —  Stakgl,  Der  sog.  Gronovscholiast,  München  1888. 

Die  Kommentare  zu  den  ciceronischen  Reden  finden  sich  gesammelt  in  der  zweiten 
H&lfte  des  V.  Bandes  der  Zürcher  Ausgabe  (1833).  —  Madyio,  de  Q,  Asronii  Pediani  et 
aliorum  veterum  interpretum  in  Cic.  arationes  Commentariis,  Kopenhagen  1828. 

147.  Charakteristik  der  ciceronischen  Beredsamkeit.  Nur  die 
Rede,  in  welcher  der  Redner  seiner  tiefen  Überzeugung  Ausdruck  gibt, 
kann  einen  mächtigen  Eindruck  auf  den  Hörer  oder  Leser  hervorrufen.  Wer 
die  Staatsreden  des  Demosthenes  >)  liest,  wird  mitfortgerissen,  denn  man 
erkennt,  dass  das,  was  der  Redner  gibt,  Sache  seines  Herzens  ist.  Ganz 
anders  ist  der  Eindruck,  wenn  der  Leser  an  die  Lektüre  der  ciceronischen 
Reden  herantritt.  Trotz  der  schönen,  reichen  Worte  wird  der  Leser  nur 
selten  erwärmt;  unter  diesen  Reden  ist  keine  einzige,  die  uns  bis  in 
das  Innerste  erschüttert.  Wie  können  z.  B.  Reden  wirken,  welche  auf 
einer  Fiktion  beruhen,  wie  die  Verrinen  und  die  zweite  philippische  Rede? 
oder  Reden,  die,  wie  das  wohl  gewöhnlich  geschah,  erst  längere  Zeit, 
nachdem  sie  gehalten  worden,  in  einer  ganz  anderen  Stimmung  und  für 
eine  nicht  mehr  lebendige  Situation  niedergeschrieben  wurden  ?  Es  kommt 
noch  anderes  hinzu.  Nehmen  wir  die  Staatsreden,  so  stört  uns  die  un- 
erträgliche Eitelkeit,  mit  der  Cicero  stets  von  sich  spricht,  die  Lächer- 
keit,  mit  der  er  seine  zweifelhaften  Verdienste  bis  in  den  Himmel  erhebt, 
der  rohe  Hass,  mit  dem  er  seine  Oegner  verfolgt,  die  Feigheit,  die  ihn 
niemals  das  rechte  Wort  zur  rechten  Zeit  sprechen  lässt,  der  Wankelmut, 
der  ihn  zu  einem  höchst  unzuverlässigen  Politiker  macht.  Greifen  wir 
zu  den  Plaidoyers,  so  merken  wir,  dass  wir  einen  Advokaten  haben,  der 
bereit  ist,  alles  zu  verteidigen,  der  heute  gegen  die  Catilinarier  wettert 
und  morgen  einen  der  catilinarischen  Verschwörung  Verdächtigen  vertritt. 
War  doch  selbst  einmal  Catilina  von  ihm  verteidigt  worden;  Vatinius,  den 
er  56  aufs  gröblichste  beschimpft  hatte,  verteidigte  er  zwei  Jahre  später. 
Auch  in  der  Rede  pro  Cluentio  musste  er  eingestehen,  dass  er  in  dieser 
Sache  früher  auf  der  gegnerischen  Seite  plaidierte.  In  den  Staatsreden 
vermissen  wir  staatsmännische  Gedanken,  in  den  Gerichtsreden  scharfe 
logische  und  streng  juristische  Argumentation.    Um  so  reicher  sind  sie 


')  NXgblsbach  pflegte  gern  (vgl.  Bayr. 
Gymnasialblätter  8, 196)  auf  das  PfeffeFsche 
Epigramm  hinzuweisen: 
Wenn  Cicero  von  der  Tribtlne  stieg, 


Rief  alles  Volk  entzückt:  Kein  Sterblicher 

spricht  schöner! 
Entstieg  ihrDemosthen,  so  nefen  die  Athener: 
Krieg  gegen  Philipp,  Krieg! 


230    Römische  Litteratorgeschichie.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

an  Gemeinplätzen.  Wenn  daher  mehrere  Redner  in  einer  Sache  auftraten, 
so  wurde  in  der  Regel  Cicero  die  Schlussrede  zugewiesen,  in  der  nicht 
mehr  die  Beweisführung,  sondern  £rweckung  des  Mitgefühls  die  Aufgabe 
war.  Die  Bewunderung,  welche  die  ciceronischen  Reden  finden,  verdanken 
sie  der  schönen  und  reinen  Sprache  und  der  kunstvollen  Periodisierung, 
allein  auch  hier  darf  eine  Schattenseite  nicht  übersehen  werden.  Es  ist 
eine  gewisse  Wortfülle,  von  der  sich  Cicero  niemals  vollständig  losmachen 
konnte.  Wenn  er  auch  vorgibt,  er  sei  durch  Molo  von  seinem  Redeschwulst 
geheilt  worden,  so  zeigt  doch  ein  Blick  in  die  Reden,  dass  der  überflüs- 
sigen Worte  noch  immer  viel  zu  viel  sind. 

Für  seinen  Wankelmut  fEkhrt  Cicero  an  (pro  Plancio  39, 94) :  Ego  vero  haec  didici, 
haec  vidif  haec  scripta  legi;  haec  de  sapientisHmis  et  clarissimis  viris  et  in  hoc  rt  publica 
et  in  aliis  cimtatibus  monimenta  nobis  et  lUterae  prodiderunt,  non  semper  eaadem  sententias 
ab  eisdemf  sed  quascumque  reipublicae  Status,  inclinatio  temporum,  ratio  concordiae  postularet. 
esse  defensas.  In  derselben  Rede  wirft  ihm  der  Gegner  vor,  dass  Cicero  „nimium  mtiUos 
verteidige  (34,84).  Seine  Plaidoyers  charakterisiert  er  (pro  Cluentio  50, 139) :  Errat  vehe- 
menter, si  quis  in  orationibus  nostris,  quas  in  iudiciis  habuimus,  auctoritates  nostras  con- 
signatas  se  habere  arbitratur,  Omnes  enim  illae  causarum  ac  temporum  sunt,  non  hominum 
ipsorum  aut  patronorum,  £inen  Fall  verteidigt  er  (1.  c.  19,51)  so:  CoUegi  me  aliquando 
et  ita  constitui,  fortiter  esse  agendum;  Uli  aetati,  qua  tum  eram,  solere  laudi  dari,  etiam 
si  in  minus  firmis  causis  hominum  periculis  non  defuissem. 

Das  erkünstelte  Pathos  spricht  klar  und  deutlich  Cic.  Tnsc.  4, 25, 55  aus:  Oratorem  vero 
irasci  minime  decet,  simulare  non  dedecet.  An  tibi  irasci  tum  videmur,  cum  quid  in  causis 
acrius  et  vehementius  dicimus?  Quid?  cum  iam  rebus  transactis  et  praeteritis  orationes 
scribimus,  num  irati  scribimus? 

Über  seine  Stärke  im  Epilog  vgl.  Cic.  erat.  37, 130 :  Quid  ego  de  miseraJtionibus 
loquar9  quibus  eo  sum  usus  pluribus,  quod,  etiamsi  plures  dicebamus,  perorationem  mihi 
tamen  omnes  relinquebant;  in  quo  ut  viderer  exceUere,  non  ingenio,  sed  doUn'e  adsequebar. 
Vgl.  aber  oben  Tiisc.  4, 25, 55. 

Die  spätere  Abfassung  der  Reden  haben  wir  öfters  oben  angedeutet;  vgl.  p.  201,  208, 
218,  219,  220,  223,  224.  Nicht  aUe  Reden  wurden  ausgearbeitet,  manche  lagen  bloss  in 
Skizzen  und  Entwürfen  (commentarii)  vor;  in  der  Rede  pro  Murena  ist  ein  Teil  nicht 
ausgearbeitet,  sondern  nur  angedeutet.  —  Tiro  sammelte  solche  Entwürfe.  Quintil.  10,  7,  31 
Ciceronis  ad  praesens  modo  tempus  aptatos  (commentarios)  Tiro  contraxit. 

Litter atur  (mit  knapper  Auswahl): 

a)  Gesamtausgaben:  Manutius  3  Bde.,  Venedig,  der  Kommentar  auch  separat. 
Lambinus  3  Bde,  Venedig  1570.  Graevius  (cum  notis  variorumj  3  Bde.,  Amsterd.  1695 — 1699. 
Klotz  (erläutert)  3  Bde.,  Leipz.  1835—39. 

b)  Ausgewählte  Reden:  a)  Textausgaben:  Heine  (14  R.)  HaUe  (Waisenhaus) 
1870.  Madvig  (12  R.),  Kopenhagen  1820.  Halx  (18  R.)  2  Teile,  Berl.  1868.  Eberhard 
und  HiRSCHFELDSR  (19  R.),  Leipz.  1874.  Nohl  (15  R.),  Leipzig  (fVeytag).  Müller  (21  R.) 
aus  der  Teubneriana. 

ß)  Kommentierte  Ausgaben:  Teubner'sche  von  Richter-Eberhard  (pro  Roscio  A. 
[FLECKEiSEif],  in  Q.  Caecilium,  Verrinae  4.  und  5.  B.,  de  imperio  Cn.  Pompei,  Catilinariae, 
pro  Sulla  [Landgraf],  pro  Milone,  pro  Marcello,  Ligario  et  Deiotaro,  pro  Archia).  Teubner'sche 
von  Koch-Eberhard-Landoraf  (pro  Murena,  pro  Sestio,  Philippicae  I  und  II).  Weid- 
männische von  Halm-Laubxann  (pro  Roscio  A.  und  de  imperio  Cn.  Pompei,  contra  Q.  Cae- 
cilium und  Verrinae  4.  und  5.  B.,  Catilinariae  und  pro  Archia,  pro  Sestio,  pro  Milone  und 
pro  Ligario  und  pro  Deiotaro,  Philippicae  I  und  11,  pro  Murena  und  pro  Sulla). 

c)  Ausgaben  der  fragmentarischen  Reden:  Cic,  sex,  orationum partes  ineditae, 
Ed.  A.  Mai,  Mailand  1817.  Orationum  pro  M.  Fonteio  et  C,  Babirio  fragmenta,  Ed.  Nie- 
BUHR,  Rom  1820.  Orationum  pro  Scauro,  pro  Tuüio  et  in  Clodium  fragm.  ined,,  Ed. 
A.  Peyron,  Stuttg.  1824.  Orationum  pro  Tullio,  in  Clodium,  pro  Scauro,  pro  Flacco 
fragm.  ined..  Coli.  C.  Baier,  Leipz.  1825. 

d)  Einzelausgaben  mit  Kommentaren:  pro  Roscio  Amerino:  OsENBRitooEN, 
Braunschw.  1844;  Landgraf,  Erlangen  1882  und  1884  (Schulausgabe  Gotha  1882).  — 
pro  Roscio  com.:  C.  Ad.  Schmidt,  Leipz.  1839.  —  Verrinae:  C.  G.  Zumpt,  Berl.  1831.  — 
IV  et  V:  Thomas,  Paris  1886, 1885.  —  pro  Caecina:  Jordan,  Leipz.  1847.  —  De  imperio 
Cn.  Pompei:  Gossrau,  Quedlinb.  1854.  —  pro  Cluentio  Habito:  mit  englischen  Noten 
von  Ramsay,  Oxford  3,  Ausg.  1883.  —  De  lege  agraria:  A.  W.  Zumpt,  Berl.  1861.  — 


Cioeros  rhetorisohe  Bohriften.  231 

Catilinariae:  Bbnbckb,  Leipz.  1828.  or.  I:  Boot,  Amsterd.  1857.  or.  IV:  Ahbens, 
Kob.  1832.  —  pro  Murena:  A.  W.  Zümpt,  Berl.  1859.  —  pro  Sulla:  Fbotschbb,  Leipz. 
1831,  1832.  —  pro  Archia:  Stubbenbubo,  Leipz.  1832  (deutecb  1839);  Thomas,  Paris  1883. 

—  pro  Flacco:  Du  Mbsnil,  Leipz.  1883.  —  post  reditnm:  F.  A.  Wolf,  Berl.  1801.  —  post 
rediinm  in  senatu:  Saybls,  Köln  1830;  Waokbb,  Leipz.  1857.  —  pro  Sestio:  MCllbb, 
Köslin  1831.  —  In  Vatinium:  Halm,  Leipz.  1846.  —  pro  Caelio:  Vollgbaff,  Leyden 
1887.  —  De  provinciis  cons.:  Tisohbb,  Berl.  1861.  —  pro  Balbo:  Reid,  Cambridge  1879. 

—  pro  Plancio:  Wündbb,  Leipz.  1830;  Köpke  (Landgraf),  Leipz.  1887. —  pro  Milone: 
Osbhbbüggbn,  Hamb.  1841  (Wirz  1872).  —  pro  Marcello:  F.  A.  Wolf,  Berl.  1802;  Kbllbb 
(lat.  und  deutsch),  Ratibor  1860  (Programm).  —  pro  Ligario:  Soldak,  Hanau  1839.  — 
orationes  Philippicae:  Wbbksdobf  2  Bde.,  Leipz.  1821  und  1822. 

Hilfsmittel:  Mbboubt,  Lexikon  zu  den  Reden  Ciceros,  Jena  1873 — 1884. 

ß)  Ciceros  rhetorische  Schriften. 

148.  Rhetorica.  In  seiner  Jugend  verfasste  Cicero  eine  Lehrschrift 
über  die  Rhetorik,  die  aber  nicht  zur  Vollendung  kam;  denn  sie  behandelt  in 
zwei  Büchern  nur  die  Lehre  von  der  Erfindung  des  rednerischen  Stoffes. 
Das  Werkchen  beginnt  mit  einer  allgemeinen  Frage,  ob  die  Beredsamkeit 
dem  Menschengeschlecht  mehr  Nutzen  oder  mehr  Schaden  bringe.  Längeres 
Nachdenken  brachte  ihn  zu  dem  Satz,  dass  die  Weisheit  ohne  Beredsam- 
keit den  Staaten  wenig  nütze,  dass  aber  die  Beredsamkeit  ohne  Weisheit 
meistens  grossen  Schaden,  niemals  aber  Nutzen  stifte.  Daran  reiht  sich 
eine  Betrachtung  über  die  Entstehung  der  Ktdtur;  die  Weisheit  ist  die 
Schöpferin  derselben,  aber  ohne  Beredsamkeit  hätte  dieselbe  ihr  Werk  nicht 
vollbringen  können.  Es  folgt  dann  eine  Erklärung  für  den  Missbrauch 
der  Beredsamkeit;  in  den  Händen  schlechter  Menschen  führe  sie  grosse 
Nachteile  herbei.  Nur  im  Bunde  mit  der  Weisheit  vermag  sie  Heil  und 
Segen  zu  stiften.  Dass  hier  ein  Philosoph  spricht,  ist  nicht  zweifelhaft. 
Es  kann  als  ausgemacht  gelten,  dass  es  Posidonius  ist,  dessen  Ansichten 
Cicero  folgt.  Nach  dieser  Einleitung  geht  der  Autor  auf  seine  Materie 
ein,  allein  er  scheint  bald  die  Freude  daran  verloren  zu  haben, ')  denn  das 
genus  demonstrativum  ist  in  einem  Kapitel,  dem  Schlusskapitel  in  Bezug 
auf  die  vorliegende  Materie,  behandelt.  Seinen  Stoff  schöpft  Cicero  aus 
anderen  Schriften;  er  spricht  sich  darüber  mit  Beiziehung  eines  Vergleichs 
im  Eingang  des  zweiten  Buchs  aus;  sein  Verdienst  erblickt  er  darin,  dass 
er  von  allen  Seiten  das  Beste  zusammengetragen.  Mehrmals'  wird  Herma- 
goras  genannt.  Schwierig  ist  das  Verhältnis  der  Schrift  zu  dem  Auetor  ad 
Herennium  zu  bestimmen.  Was  aber  die  Darlegung  des  Stoffs  anlangt, 
so  ist  zweifellos,  dass  Ciceros  Schrift  keinen  Vergleich  mit  dem  genannten 
trefflichen  Lehrbuch  aushalten  kann;  sie  trägt  die  Spuren  der  Flüchtigkeit 
nur  zu  sehr  an  sich;  später  war  die  Veröffentlichung  der  Schrift  dem 
Verfasser  unbequem.  Im  Altertum  wurde  die  Schrift  kommentiert  von 
Marius  Victorinus  im  4.  Jahrh.  und  von  Grillius  im  4/5.  Jahrh.  (Orelli  5, 1, 1 ; 
Halms  rhet,  min,  p.  153.  —  Excerpta  ex  Grillio  Halm  1.  c.  p.  596.) 

Der  Titel  Rhetorica  ist  bezeugt  durch  die  Würzburger  Handschrift,  welche  die  Worte 
darbietet:  explicU  liher  rethoricae.  Weidner  betitelt  sie  in  seiner  Ausgabe  ar»  rhetorica,  sich 
mit  Unrecht  stutzend  auf  Quint.  2, 17, 2.  Öfters  citiert  Quintilian  die  Schrift  mit  rhetarici 
libri  oder  rhetorici  (3, 6, 49  3, 11, 10,  3, 11, 18  2, 15,  6),  Priscian  mit  rhetorica  (2, 81  u.  s.  f.). 

Über  Posidonius  als  Quelle  der  Einleitung  handelt  Philippson,  Fleckeis.  J.  133, 417. 


^)  Vgl.  Spenoel,  Rh.  Mus.  18, 495. 


232    BAmiBche  Litteratorgesoliiohte.    I.  Die  Zeit  der  Bepublik.    2.  Periode. 

Er  fasst  das  Resultat  seiner  üntersnchnng  p.  422  mit  den  Worten  zusammen:  «es  kann 
als  sicher  gelten,  dass  Cicero  dem  Poseidonios  im  Prooeminm  gefolgt  ist,  wahrscheinlich 
auch  in  seiner  Polemik  gegen  Hermagoras,  möglicherweise  in  dem  ganzen  Abschnitt  Aber 
die  argumentatio,^ 

Über  die  Gliederung  des  Stoffes  äussert  sich  Cicero  zusammenfassend  2, 3, 11  primus 
libeTj  exposUo  genere  huius  artia  et  officio  et  flne  et  materia  et  partibus,  genera  conirover- 
Hamm  et  inventiones  continebat,  deinde  partes  orationis  et  in  eas  omnes  omnia  praecepta, 
Quare  cum  in  eo  ceteris  de  rebus  distinctius  dictum  sit,  disperse  autem  de  confirmatione 
et  de  reprehensione,  nunc  certos  confirmandi  et  reprehendendi  in  singüta  eatisarum  genera 
locos  tradendos  arbitramur.  Et  quia,  quo  pacto  tractari  conveniret  argumentationeSf  in  libro 
primo  non  indiligenter  expositum  est,  hie  tantum  ipsa  inventa  unam  quamque  in  rem  ex- 
ponentur  sin^pJiciter  sine  uUa  exornatione,  ut  ex  hoc  inventa  ipsa,  ex  superiore  autem  ex- 
polUio  inventorum  petatur.  Quare  haec,  quae  nunc  praedpientur,  ad  confirmationis  et  re- 
prehensionis  partes  referre  oportebat. 

Die  Abhängigkeit  von  den  Quellen  sprechen  die  Worte  aus  2, 2, 4  omnibus  unum  in 
locum  coactis  scriptoribus,  quod  quisque  commodissime  praedpere  videbatur,  excerpsimus  et 
ex  variis  ingeniis  excellentissima  quaeque  libavimus, 

Dass  der  auctor  ad  Herennium  Cicero  vorgelegen,  behauptet  Badeb,  de  Ciceronis 
rhetoricorum  libris,  Greif sw.  1869  p.  6  u.  f.  „quem  Cicero  ubique  ante  oculos  habuit,  etiam 
in  iis  locis,  ubi  alios  artis  scriptores  secuius  est"  (p.  17);  seine  zweite  Quelle  sei  Herma- 
goras  (p.  18);  Eigenes  gebe  er  so  gut  wie  nicht  (p.  23).  Ebenso  L.  Spenoel,  Rh.  Mus. 
18,  495:  «Cicero  will  überall  streng  logisch  zu  Werk  gehen  und  führt  viele  Dinge  als 
wichtig  und  bedeutend  weitläufig  aus,  während  der  autor,  den  er  vor  sich  liegen  hatte 
und  häufig  benutzte,  derartiges  absichtlich  übergeht,  weil  er  es  für  den  angehenden  Redner 
nicht  praktisch  hält;  man  vgl.  2,27 — 30  mit  de  inv.  1,51 — 77,  um  sich  zu  überzeugen, 
dass  zwei  ganz  verschiedene  Personen  vorliegen,  von  denen  die  letztere  es  immer  anders 
und  besser  machen  zu  müssen  glaubt,  es  aber  gewöhnlich  schlechter  macht;  es  ist  daher 
eine  Gunst  des  Glücks,  dass  uns  der  autor  erhalten  ist.  Es  hat  den  Schein,  als  wollte 
er  ein  ganz  neues  Lehrbuch  verschieden  von  dem  seines  Vorgängers  geben,  aber  die 
äussere  Form  täuscht,  es  ist  im  Grunde  derselbe,  nur  nicht  so  einfach  und  natürlich ;  daher 
man  sich  dort  besser  zurechtfindet  und  die  Sache  viel  leichter  lernt.*  Wbidneb  bestreitet 
diese  Abhängigkeit  von  dem  auctor  und  setzt  den  lezteren  später  an  (Ausg.  p.  VIII). 
Die  Übereinstimmung  erklärt  durch  eine  gemeinschaftliche  lat.  Quelle  (mit  Kiessling) 
Thiele,  Quaest.  de  Cornificii  et  Cic.  artibus  rhetor.,  Greifsw.  1889.  Genaueres  bei  Comificius. 

Für  die  Abfassungszeit  liegt  nur  ein  allgemeines  Zeugnis  vor:  de  or.  1,2,5  quae 
pueris  aui  adolescentulis  nobis  ex  commentaridis  nostris  inchoata  ac  rudia  exciderunt, 
rix  videntur  hoc  aetate  digna  et  hoc  usu,  quem  ex  causis,  quas  diximus,  tot  tantisque  consecuti 
sumu^  Philippson  (1.  c.  p.  422)  seüct  sie  in  die  Zeit  nach  Ciceros  Rückkehr  aus  Griechen- 
land ;  allein  diese  Hypothese  ist  schwach  begründet  und  es  widerstreitet  pueris  aut  adules- 
Centulis, 

149.  De  oratore.  Die  Schrift  über  den  Redner  verfasste  Cicero  im 
J.  55  und  widmete  sie  seinem  Bruder  Quintus.  Sie  fällt  sonach  in  seine 
reife  Lebenszeit.  Sie  umfasst  drei  Bücher,  von  denen  das  erste  das 
Wesen  des  Redners  und  seine  Ausbildung,  das  zweite  die  Auffindung  des 
Stoffs,  die  Anordnung  und  die  Einprägung,  das  dritte  rednerische  Form 
und  Vortrag  behandelt.  Cicero  tritt  nur  in  den  Proömien  zu  den  einzelnen 
Büchern  hervor,  zur  Durchführung  des  Themas  wählt  er  die  Form  des 
Dialogs.  Er  gibt  uns  ein  Gespräch,  welches  angeblich  auf  einem  Landgute 
des  Crassus  bei  Tusculum  im  J.  91  an  zwei  aufeinander  folgenden  Tagen 
gehalten  wurde,  so  zwar,  dass  das  erste  Buch  allein  die  Unterredung  des 
ersten  Tags,  das  zweite  und  dritte  Buch  die  des  ganzen  zweiten  Tags  in 
Anspruch  nahm  (3, 30, 121).  Die  Form  des  Dialogs  ist  die  aristotelische, 
d.  h.  es  findet  zusammenhängende  Entwicklung  statt,  nur  hie  und  da  durch 
Fragen  und  Einwürfe  unterbrochen.  Die  Hauptpersonen  des  Dialogs  sind 
L.  Licinius  Crassus  und  M.  Antonius,  0  die  Nebenpersonen  die  jungen 
Männer  P.  Sulpicius  Rufus,   der  sich   zu  Crassus  hingezogen  fühlte,  und 


')  Vgl.  über  die  beiden  Redner  §  75. 


Cioeros  rhetodBohe  Sohrifien. 


233 


C.  Aurelius  Cotta,  der  Bewunderer  des  Antonius,  ferner  am  ersten  Tag 
noch  der  Augur  Q.  Mucius  Scaevola,^  ^^  zweiten  der  Sieger  über  die 
Gimbrer  Q.  Lutatius  Catulus  und  sein  Stiefbruder  G.  Julius  Gaesar  Strabo. 
Die  Hauptpersonen  teilen  sich  so  in  den  Stoff,  dass  sie  zusammen  das 
Fundament  aufbauen,  Antonius  den  Stoff  des  zweiten,  Grassus  den  des 
dritten  Buchs  behandelt.  Die  Schrift  ist  die  beste  der  rhetorischen  Schriften 
Giceros.  Sie  hält  sich  einmal  frei  von  den  dürren  Regeln  der  Schule  und 
behandelt  die  Materie  vom  Gesichtspunkt  des  Nützlichen  aus,  hütet  sich 
aber  auch,  blosser  Routine  das  Wort  zu  reden.  Sie  zeigt  Begeisterung 
für  den  Gegenstand  und  hält  den  Blick  auf  das  Ganze  gerichtet.  Nur 
das  Kapitel  über  den  Witz  (2,  54)  tritt  so  stark  hervor,  dass  man  von  einem 
Exkurse  reden  kann.  Durch  die  dialogische  Form  kommt  ein  anmutiger 
Wechsel  in  die  Rede,  auch  können  dadurch  die  verschiedenen  Seiten  der 
Betrachtung  zur  Geltung  kommen.  Dem  Ausdruck  ist  alle  Sorgfalt  zu- 
gewandt. 

Im  Nov.  55  schrieb  Cicero  an  Atticus  (4, 13,2):  De  libris  artUoriis  factum  est  a  me 
düigenter:  diu  müUumque  in  manibus  fuerunt;  describas  licet,  13,  19, 4  sagt  er  yon  dieser 
Schrift:  sunt  etiam  „de  oratore"  nostri  tres  (libri),  mihi  vehementer  probati:  in  eis  quoque 
eae  persanae  sunt,  ut  mihi  tacendum  fuerit,  Crassus  enim  loquitur,  Scaevola,  Antonius,  Ca^ 
tulus  seneXf  C.  Julius,  f roter  Catuli,  Cotta,  Sulpicius;  puero  me  hie  sermo  inducitur,  ut 
nullae  esse  possent  partes  meae.  Quae  autem  his  temporibus  scripsi,  'JgiinotiXetoy  morem 
habent,  in  quo  sermo  ita  inducitur  ceterorum,  ut  penes  ipsum  sit  principatus,  Aach  über 
diese  Schrift  gibt  Spengbl  treffende  Bemerkungen  (Rh.  Mus.  18,495):  „Die  sprechenden 
Hauptpersonen,  Crassus  und  Antonius,  drücken  nur  die  Überzeugung  des  Verfassers  über 
die  Rhetorik  aus.  Cicero,  der  durch  die  Macht  der  Rede  seine  hohe  Bedeutung  erlangt 
hatte,  wollte  sich  näher  aussprechen,  was  er  für  Beredsamkeit  halte,  was  dazu  gehöre, 
worin  sie  bestehe.  Die  gewöhnlichen  Lehrbücher  (der  autor  ad  Herennium)  galten  ihm 
als  zu  trivial,  um  sie  einer  Beachtung  wert  zu  halten,  daher  er  fiberall  dagegen  eifert;  und 
doch  waren  sie  es,  die  ihn  gross  gezogen  hatten,  und  die  er  noch  einige  Jahre  später  in 
der  Verteidigung  Milos  so  genau  befolgte.  In  der  Person  des  Antonius  belehrt  er  uns, 
wie  er  seine  Reden  technisch  ausarbeitete,  aber  Cicero  war  mehr;  mit  grosser  Begabung 
verband  er  ausgebreitete  Kenntnisse  auf  dem  Gebiete  der  Philosophie;  er  hatte  sich  in  den 
verschiedenen  Schulen  umgesehen,  nicht  als  Zweck,  um  einer  philosophischen  Sekte  anzu- 
hftngen,  sondern  nur  als  Mittel,  um  seine  Rhetorik  über  die  gewöhnliche  triviale  Kunst  zu 
erheben.  Im  Gegensatze  zum  Antonius,  der  sich  strenge  an  sein  Handwerk  zu  halten  und 
nicht  darüber  hinauszugehen  scheint,  aber  auch  nur  scheint,  vertritt  Crassus  die  Rolle 
eines  philosophischen  Redners,  der  alles  umfasst,  was  den  Redner  stärken  und  erheben 
kann.  In  der  Verachtung  der  gewöhnlichen  rhetorischen  Lehrbücher  stimmen  beide  über- 
ein; beide  sagen  nur,  was  Cicero  selbst  will,  auch  da  wo  sie  einander  entgegen  sind. 
Wenn  Antonius  den  Crassus  und  seine  philosophischen  Tendenzen  widerlegt,  so  soll  diimit 
nur  angedeutet  werden,  dass  man  dieses  philosophische  Studium  nicht  missverstehe;  nicht 
qua  phUosophus  müsse  man  Philosophie  kennen  lernen,  sondern  qiut  orator.  . .  .  Auch  der 
dritte  Sprecher  über  ioctis  und  facetiae  gibt  nur  Ciceros  Ansichten.* 

150.  Brutus  de  claris  oratoribus.  Zwischen  der  Schrift  de  oratore 
und  dem  Brutus  liegt  ein  Zeitraum  von  nahezu  zehn  Jahren.  Die  Zeit, 
in  welcher  der  Brutus  entstand,  war  für  Cicero  eine  Zeit  der  unfreiwilligen 
Müsse,  welche  ihm  das  siegreiche  Vorgehen  Caesars  auferlegt  hatte.    Die 


0  Über  den  Grund  des  Verschwindens 
des  Q.  Mucius  Scaevola  nach  dem  ersten 
Gespräch  spricht  sich  Cicero  ad  Attic.  4, 16, 3 
ans:  Quod  in  iis  libris,  quos  laudas,  perso^ 
nam  desideras  Scaetölae,  non  eam  temere 
dimopiy  sed  feeit  idem  in  Ttohrsitf  deus  ille 
naster  Flato,  der  auch  den  alten  Kephalos, 
um  ihn  nicht  so  lange  an  den  Gesprächen 
festzuhalten,   verschwinden  liess:   muUo  ego 


magis  hoc  mihi  cavendum  putavi  in  Scaevola, 
qui  et  aetate  et  valetudine  erat  ea,  qua  esse 
meministi,  et  iis  honoribus,  ut  vix  satis  de- 
corum  videretur  eumplures  dies  esse  in  Crassi 
Tusculano;  et  erat  primi  libri  sermo  non 
alienus  a  Seaevolae  studiis,  reliqui  libri  rt/- 
yoXoyiav  habent,  ut  scis:  huic  ioculatorem 
senem  iUum,   ut  noras,  interesse  sane  nolui. 


234    Römische  Lüteratnrgeschichie.    I.  Die  Zeit  der  Bepublik.    2.  Periode. 

Schrift  wurde  im  J.  46  verfasst.  Seit  dem  Erscheinen  des  Buchs  de  ora- 
tore  waren  aber  auch  andere,  Cicero  feindliche  rhetorische  Bestrebungen 
zur  Geltung  gekommen.  Die  Opposition  ging  von  den  Jungattikern 
aus.  Cicero  hatte  für  seine  mühsam  errungene  rednerische  Position  zu 
fürchten ;  er  bekämpfte  daher  die  neue  Richtung  durch  mehrere  Schriften. 
Zu  denselben  gehört  auch  der  Brutus,  in  dem  Cicero  die  Entwicklung  der 
römischen  Beredsamkeit  bis  auf  seine  Zeit  gibt.  Die  Schrift  hat  die 
Form  eines  Gesprächs,  das  zwischen  Cicero,  M.  Brutus  und  Atticus,  ehe 
Brutus  nach  Gallien  ging,  im  J.  46  stattgefunden  haben  sollte.  Allein 
im  Grunde  haben  wir  einen  Vortrag  Ciceros,  der  hie  und  da  von  den  Mit- 
anwesenden unterbrochen  wird,  um  die  Sache  nach  einer  andern  Seite  hin 
zu  beleuchten.  Es  werden  ausserordentlich  viele  Redner  vorgeführt;  die 
Behandlung  derselben  ist  eine  sehr  ungleiche,  oft  erhalten  wir  nur  eine 
Namenreihe  mit  dürren  Bemerkungen,  dann  fesseln  uns  wieder  glänzende 
Charakteristiken  wie  die  des  Hortensius,  auch  die  Darlegung  des  eigenen 
Entwicklungsgangs  Ciceros  flösst  uns  grosses  Interesse  ein.  Dadurch,  dass 
der  Verfasser  nicht  bloss  die  römischen  Redner  aufzählt,  sondern  auch 
charakterisiert  und  kritisiert,  gewinnt  er  zugleich  die  Gelegenheit,  seine 
rhetorische  Richtung  zu  verteidigen  und  die  nach  seiner  Ansicht  unberech- 
tigten Bestrebungen  zurückzuweisen.  Die  Angriffe  richten  sich  besonders 
gegen  die  Jungattiker.  Da  auch  Brutus  mit  dieser  Strömung  geht  (vgl.  §  139), 
so  verfolgt  Cicero  zugleich  den  Zweck,  diesen  Mann,  auf  den  er  in  Bezug 
auf  die  Beredsamkeit  die  grössten  Hoffnungen  baut,  zu  seiner  Richtung 
zu  bekehren.  Durch  diese  Bezugnahme  wird  auch  „Brutus^  im  Titel  der 
Schrift  gerechtfertigt.  Für  die  Gewinnung  des  Materials  dient  ihm  als 
Leitfaden  der  Annalis  des  Atticus,  auch  annalistische  Werke  und  Varro 
sind  benützt.  Das  Werk  ist  eines  der  wichtigsten  Denkmäler  für  die 
römische  Litteraturgeschichte. 

Die  angesetzte  Zeit  des  Gesprächs  des  J.  46  ergibt  sich  aus  46,171;  Brutus  war 
eben  im  BegiiOT,  auf  die  Weisung  Caesars  hin  nach  Gallien  cisalpina  abzugehen.  Als  Brutus 
in  Gallien  war,  schrieb  Cicero  den  Orator,  in  dem  bereits  des  Brutus  gedacht  wird  (7, 23). 

Das  Ziel  seiner  Schrift  spricht  er  klar  aus  5, 20  expone  nobis  quod  quaerimus.  Quid- 
nam  est  id?  inquam.  Quod  mihi  nuper  in  TuscuJano  inchoavisii  de  oratoribus,  qnando 
esse  coepissenty  qui  etiam  et  quales  fuissent.  69,  244  vdo  hoc  perspici,  omnibus  conquisitis 
qui  in  multitudine  dicere  ausi  sint^  memoria  quidem  dignos  perpaucos,  verum  qui  omnino 
nomen  habuerint,  non  ita  muUos  fuisse.  In  der  Aufsählung  unll  sich  Cicero  auf  die  Leben- 
den beschränken,  vgl.  65,  231  in  hoc  sermone  nostro  statui  neminem  eorum  qui  viverent 
nominarey  ne  vos  curiosius  eliceretis  ex  me,  quid  de  quoque  iudicarem,  allein  einigemal  weiss 
es  Cicero  doch  einzurichten,  dass  auch  Lebende  erwähnt  werden. 

Der  handschriftliche  Titel  ist  Brutus  de  claris  oratoribus.  Diese  Verbindung  von 
einem  Eigennamen  und  der  Inhaltsangabe  ist  eine  Eigentümlichkeit  der  Logistorici  Varros. 

Über  die  Benützung  des  liber  annalis  des  Atticus  vgl.  3, 14  und  15  (NAUKAim,  De 
fontibus  et  fide  Bruti  Cic,  Halle  1883  p.  6).  Ausserdem  citiert  er  die  Annalen  des  Fannius 
(21,82  87,299).  Jobdai?  erachtet  es  für  wahrscheinlich,  ,dass  die  Aufzählung  der  Redner 
vor  den  punischen  Kriegen  (14,  53 — 57)  unmittelbar  oder  mittelbar  sich  anlehnt  an  fingierte 
Reden  in  einem  annalistischen  Werke,  vielleicht  des  Valerius  Antias*  (Hermes  6, 213). 

151.  Orator  ad  M.  Bmtum.  Im  Brutus  hatte  Cicero  die  Geschichte 
der  Beredsamkeit  bis  zu  der  Stufe,  die  er  erklommen,  zur  Darstellung 
gebracht.  Schon  in  dieser  Schrift  leuchtet  der  Gedanke  durch,  dass  Cicero 
den  Höhepunkt  in  der  römischen  Beredsamkeit  erreicht.  Es  galt  nun, 
seine  rednerische  Richtung  als  die  allein  berechtigte  hinzustellen.    Dies 


CioeroB  rhetoriaohe  Sohriiten.  235 

geschieht  in  der  Weise,  dass  er  ein  Bild  des  vollkommenen  Redners,  ein 
rednerisches  Ideal  in  der  Schi-ift  i^Orator''  entwirft.  Sie  ist  auf  Aufforde- 
rung des  Brutus,  der  damals  Statthalter  der  Provinz  Gallia  cisalpina  war, 
im  J.  46  abgefasst  (10,34)  und  ihm  auch  gewidmet.  Nach  seiner  An- 
schauung ist  nur  derjenige  ein  vollkommener  Redner,  welcher  alle  Töne 
anzuschlagen  und  für  jeden  Gegenstand  den  richtigen  Ton  zu  finden  weiss, 
also  über  alle  Stilarten  verfügen  kann.  Damit  ist ,  der  Standpunkt  der 
Jungattiker  verurteilt,  welche  nur  den  schlichten  Stil,  das  tenue  genus 
dicendi,  kultivierten.  Sehr  ausführlich  spricht  er  sich  am  Schluss  über 
den  rednerischen  Numerus  aus.  Es  ist  nicht  zweifelhaft,  dass  er  auch  in 
dieser  Hinsicht  Angriffe  abzuwehren  hatte.  Sonach  stellt  sich  auch  diese 
Schrift  als  eine  Apologie  seiner  rhetorischen  Kunst  dar.  Trotz  der  glän- 
zenden Diktion,  welche  diese  Schrift  auszeichnet,  erhält  der  Leser  doch 
keinen  völlig  befriedigenden  Eindruck,  weil  die  tiefgehende,  prinzipielle 
(Gestaltung  der  Gedanken  fehlt.  Der  Verfasser  hielt  grosse  Stücke  auf 
diese  Schrift,  auch  von  Quintilian  wird  sie  hoch  geschätzt  (1,6, 18), 

Ep.  15, 20, 1  Oratarem  meum  —  sie  enim  inscripsi  —  Sabino  ttw  commendavi.  Nach 
dem  Inhalt  wird  die  Schrift  einigemal  (Ep.  12, 17, 2,  ad  Attic.  14, 20,  3)  durch  de  optimo 
gentre  dicendi  bezeichnet. 

Sein  Ziel  legt  der  Verfasser  öfters  dar  z.  B.  14, 43  nuUa  praecepta  ponemus  —  neque 
enim  id  suscepimus  —  sed  exceUentia  efoquentiiie  speciem  et  formam  adumbrabimus;  nee 
quibus  rebus  ea  paretur  exponemus,  sed  quaiis  nobis  esse  videatur. 

Ober  seinen  Idealredner  vgl.  21, 69  erit  eloquens  —  is  qui  in  foro  causisque  eivifibus 
ita  dicet,  ut  probet,  ut  deleetet,  ut  fleetat.  29,100  is  est  eioquens,  qui  et  humilia  subtiliter  et 
magna  graviter  et  mediocria  temperate  potest  dicere.  36, 123  m  erit  eloquens,  qui  ad  id, 
quodcumque  deeebit,  poterit  aecommodare  orationem,  Quod  cum  statuerit,  tum  ut  quidque 
erit  dicendum  ita  dicet,  nee  satura  ieiune  nee  grandia  minute  nee  item  contra,  sed  erit 
rebus  ipsis  par  et  aequalis  oratio.  29, 102  sucht  Cicero  an  seinen  Reden  zu  zeigen,  dass 
er  je  nach  der  Sache  auch  eine  verschiedene  Darstellung  gewählt:  nuUa  est  uilo  in  gener e 
laus  oratoris,  cuius  in  nostris  orationibus  non  sit  aliqua,  si  non  perfectio,  at  conatus  tarnen 
atque  adumbratio  (103). 

Den  Numerus  behandelt  er,  wie  er  sagt,  ausführlicher  als  irgend  jemand  vor  ihm 
(52, 174  67, 226),  er  disponiert  (52, 174) :  primum  origo,  deinde  causa,  post  natura,  tum  ad 
extremum  iisus  ipse  explicetur  orationis  aptae  atque  numerosae,  —  Wuest,  De  clausula 
rhetoriea  quae  praecepit  Cicero  quatenus  in  Orationibus  secutus  sit,  Strassb.  1881.  Ernst 
MÜLLEB,  De  numero  Cireroniano,  Kieler  Diss.  1886. 

Ep.  6, 18, 4  oratorem  meum  tanto  opere  a  te  probar i  vehementer  gaudes;  mihi  quidem 
sie  persuadeo,  me  quidquid  hdbuerim  iudicii  de  dicendo,  in  iUum  librum  contulisse:  qui  si 
est  talis,  qualem  tibi  videri  scribis,  ego  quoque  aliquid  sum;  sin  aliter,  non  recuso,  quin 
quantum  de  iUo  libro  tantundem  de  mei  iudici  fama  detrahatur, 

152.  De  optimo  genere  oratonmi.  Auch  diese  kleine  Schrift  steht 
mit  der  Opposition  gegen  die  Jungattiker  in  Verbindung.  Es  handelt  sich 
um  die  Stilmuster.  Die  Jungattiker  verehrten  Lysias  als  ihr  Ideal  unter 
den  attischen  Rednern.  Cicero  sieht  das  als  eine  Einseitigkeit  an,  er  macht 
geltend,  dass  auch  Demosthenes  zu  den  attischen  Rednern  gehöre.  Dass 
hier  ebenfalls  echte  Beredsamkeit  vorliege,  sollte  durch  eine  gut  lateinische, 
keineswegs  streng  wörtliche  Übersetzung  der  Rede  des  Demosthenes  fttr 
den  Kranz  und  der  parallelen  Rede  des  Äschines  der  römischen  Welt  ge- 
zeigt werden.  Zu  dieser  Übersetzung  bildete  das  vorliegende  Schriftchen 
die  Einleitung.  Allein  von  dieser  Übersetzung  ist  uns  keine  Spur  erhalten. 
Es  ist  daher  überhaupt  fraglich,  ob  Cicero  sein  Vorhaben  wirklich  ausführte 
und  die  Vorrede  nicht  zu  einer  Zeit  geschrieben  ward,  in  der  die  Reden 


236    Römiaohe  Lüieratargeschiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


noch  gar  nicht  übersetzt  waren.  *)  Der  Titel  wenigstens  hätte  wohl  anders 
lauten  müssen.  Über  die  Zeit  des  Schriftchens  haben  wir  keine  positive 
Angabe;  allein  da  dasselbe  eine  Ergänzung  zu  dem  Brutus  und  dem  Orator 
bildet,  wird  es  auch  in  derselben  Zeit  erschienen  sein. 

4, 13  ifUellegitur,  quoniam  Graecorum  artUorum  praestantissimi  aint  ei  qui  fuerunt 
Athenis,  eorutn  autem  princeps  facile  Demosthenes,  hunc  si  qui  imitetur,  eum  et  Ättice 
dicturum  et  optime,  —  Sed  cum  in  eo  mcLgnua  error  esset,  qudle  esset  id  dicendi  genus,  putatn 
mihi  suscipiendum  laborem  utilem  studiasis,  mihi  quidem  ipsi  non  necessarium.  Corwerti 
enim  ex  Atticis  duorum  eloqusntissimarum  nchilissimas  arationes  inter  seque  contrarias, 
Aeschini  et  Demostheni;  nee  converti  ut  interpres,  sed  ut  orator,  sententiis  isdem  et  earum 
formis  tamquam  figuris,  verhis  ad  nostram  consuetudinem  aptis;  in  quibus  non  verbum  pro 
verbo  necesse  habui  reddere,  sed  genus  omne  verhorum  vimque  servavi,  Non  enim  ea  me 
adnumerare  lectori  putavi  oportere,  sed  tamquam  appendere.  Hie  labor  meus  hoc  adsequetur, 
ut  nostri  homines,  quid  ab  iUis  exigant,  qui  se  Atticos  volunt,  et  ad  quam  eos  quasi  formulam 
dicendi  revocent,  intellegant.  Und  am  Schluss  heisst  es  7,23:  Quorum  ego  orationes  si  ut 
spero  ita  expressero,  virtutibus  utens  Ulorum  omnibus,  id  est  sententiis  et  earum  figuris  et 
rerum  ordine,  verha  persequens  eatenus  ut  ea  non  abharreant  a  more  nostro  —  quae  si  e 
Graecis  omnia  conversa  non  erunt,  tamen  ut  generis  eiusdem  sint  elaboravimus  — ,  erit 
regula,  ad  quam  eorum  dirigantur  orationes  qui  Attice  volent  dicere,  —  Philippbon, 
Fleckeis.  J.  133, 425. 

153.  De  pariitione  oratoria  (Fartitiones  oratoriae).  Auch  einen 
rhetorischen  Katechismus  schrieb  Cicero,  es  ist  das  Schriftchen  über  die 
rhetorische  Einteilung.  Dasselbe  gibt  uns  eine  kurze  Darstellung  der 
rhetorischen  Begriffe  in  der  Form  eines  Gesprächs,  das  zwischen  Cicero 
und  seinem  Sohn  auf  dem  Land  gehalten  wird.  Aber  auch  hier  haben 
wir  den  Scheindialog,  d.  h.  der  Vater  dociert,  der  Sohn  streut  hie  und 
da  einige  Woi*te  ein.  In  drei  Teilen  wird  der  Stoff  abgehandelt:  1)  die 
Lehre  von  der  rednerischen  Thätigkeit  (1,1 — 7,26);  2)  die  Lehre  von  der 
Rede  und  ihren  Teilen  (8,27—17,60);  3)  endlich  die  Lehre  vom  Thema 
(18,  61 — Schluss).  Die  Zeit  des  leblosen  Gesprächs  lässt  sich  nicht  sicher 
bestimmen,  wahrscheinlich  fällt  sie  in  dieselbe  Zeit,  in  der  der  Brutus  und 
Orator  geschrieben  wurden. 

Die  Disposition  ergibt  sich  aus  18,  61  quoniam  et  de  ipso  oratore  et  de  oratione 
dixisti,   expone   eum  mihi  nunc,   quem  ex  tribus  extremum  proposuisti,  quaestionis  locum. 

Da  Cicero  diese  Schrift  nicht  mehr  erwähnt,  woUte  Angelus  Decembrius  dieselbe  für 
unecht  erklären,  mit  Unrecht  vgl.  Dbumaiw  6, 293.  Quintilian  citiert  bereits  dieselbe  unter 
dem  Namen  Ciceros  (3,  3,  7). 

154.  Ad  C.  Trebatium  Topica.  Die  Topik  definiert  Cicero  als  die 
Wissenschaft,  die  Beweise  aufzufinden,  indem  sie  uns  die  tonoi^  loci  auf- 
zeigt, aus  denen  sie  gewonnen  werden.  Es  sind  dies  einmal  loci,  welche 
in  der  Sache  selbst  liegen,  oder  loci,  welche  ausserhalb  der  Sache  liegen. 
Die  ersten  erfahren  eine  vielfache  Gliederung;  die  Behandluhg  der  zweiten 
ist  eine  ganz  kurze.  Mit  21, 79  beginnt  eine  neue  Partie,  welche  bis  zum 
Schluss  reicht  und  mit  der  Topik  nur  schwachen  Zusammenhang  hat 
(vgl.  23, 87).  Es  ist  eine  Erörterung  über  das  Thema.*)  Die  Beispiele 
sind  mit  Vorliebe  aus  dem  juristischen  Leben  entnommen,  ohne  Zweifel 


^)  Bei  Hirtius  liegt  ja  derselbe  Vorgang 
vor;  vgl.  §  122. 

')  Spekoel,  Rh.  Mus.  18,497:  ^Mit  §  78 
war   erklärt   und   geleistet,    was   Trebatius 
wissen  wollte;  das  Weitere  hat  mit  der  Topik ^ 
nichts  zu  thun,  sondern  ist  die  Rhetorik  und 


ihre  Einteilung,  die  er  anderswo  schon  ge- 
geben hatte;  er  hatte  das  Buch  zugleich  auch 
ftlr  das  Publikum  bestimmt  (§  72)  und  des- 
wegen für  geeignet  gehalten,  noch  anderes 
hinzuzufagen.*  Daher  sagt  er  26, 100  plura 
quam  a  te  desiderata  erant,  sum  complexus. 


CioeroB  rhetöriBche  iSohriften.  237 

aus  Rücksicht  auf  den  Adressaten.  Eigentümlich  ist  die  Entstehung  des 
Schriftchens,  über  die  uns  die  Vorrede  berichtet.  Der  Rechtsgelehrte 
C.  Trebatius  befand  sich  bei  Cicero  auf  dessen  Tusculanum;  er  stiess  hier 
in  der  Bibliothek  auf  die  Topik  des  Aristoteles.  Er  fragte  Cicero  nach 
dem  Inhalt  der  Schrift  und  als  er  darüber  Aufschluss  erhalten,  zeigte  er 
Verlangen,  Näheres  über  diese  Disziplin  zu  erfahren.  Allein  von  der  Lek- 
türe des  Buchs  schreckte  ihn  die  Dunkelheit  desselben  ab;  ein  berühmter 
Rhetor  aber,  an  den  ihn  Cicero  wies,  wusste  auch  nichts  von  der  Sache. 
Cicero  machte  sich  nun  selbst  an  die  Bearbeitung  der  Materie  und  zwar 
geschah  dies  auf  einer  Seereise  von  Velia  nach  Rhegium  im  J.  44,  wie 
er  hinzufügt,  ohne  Bücher.  Nach  der  Vorrede  sollte  man  meinen,  eine 
Bearbeitung  der  Aristotelischen  Topik  vor  sich  zu  haben.  Auch  sagt  er 
Ep.  7, 19  in  einem  Brief  an  Trebatius,  dass  er  sich  entschlossen  habe,  die 
vTopica  Aristotelia^  zu  bearbeiten.  Allein  eine  Vergleichung  der  beiden 
Schriften  zeigt,  dass  dies  nicht  der  Fall  ist  und  dass  die  ciceronische  Topik 
80  gut  wie  nichts  mit  der  aristotelischen  gemein  hat.  Zur  Erklärung 
dieses  eigentümlichen  Widerspruchs  werden  zwei  Ansichten  aufgestellt; 
nach  der  einen  hat  Cicero  bei  dem  Worte  Aristotelia  in  der  Vorrede  und 
in  dem  Briefe  nicht  auf  eine  Bearbeitung  der  aristotelischen  Schrift  hin- 
weisen, sondern  nur  ganz  allgemein  die  Topik  als  eine  aristotelische  Er- 
findung  charakterisieren  wollen;  nach  der  zweiten  wäre  Cicero  (im  ersten 
Teil)  dem  Akademiker  Antiochus  gefolgt  und  hätte  irrtümlich  dessen  Lehre 
für  die  aristotelische  gehalten.  Zu  den  Topica  schrieb  Boethius  einen 
Kommentar,  .der  bis  20,  77  reicht  (Orelli  V  1, 269). 

Cicero  schreibt  £p.  7, 19  am  28.  Juli  44  von  Rhegion  aus  ut  primum  Velia  navigare 
coepi,  institui  Topica  Aristotelea  conscribere,  —  Eutn  librutn  tibi  miai  Bhegio,  Top.  1,  5 
haee  cum  mecum  libros  non  haberem,  memoria  repetita  in  ipsa  navigatione  conscripsi  tibique 
ex  itinere  misi. 

Die  Definition  der  Topik  lautet  1,2  discipHna  inveniendorum  argumentorum,  der 
loci  2, 8  =  eae  quasi  sedes,  e  quibus  argumenta promuntur.  Es  heisst  weiter:  ex  eis  locis,  in 
quibus  argumenta  inclusa  sunt,  alii  in  eo  ipso,  de  quo  agitur,  haerent,  alii  adsumuntur 
extrinsecus.  Eine  zusammenfassende  Übersicht  der  inneren  argumenta  erhalten  wir  18,71 
Perfecta  est  omnis  argumentorum  inveniendorum  praeeeptio,  ut,  cum  profectus  sis  a  defini- 
tione,  a  partitione,  a  notatione,  a  coniugatis,  a  genere,  a  forma,  a  similitudine,  a  differeniia, 
a  contrariis,  ab  adiunctis,  a  consequentibus,  ab  antecedentibus,  a  repugnantibus,  a  causis, 
ab  effectis,  a  comparatione  maiorum,  minorum,  parium,  nuUa  praeterea  sedes  argumenti 
quaerenda  sit  und  dann  geht  er  auf  die  argumenta  extrinsecus  allata  über;  de  iis  pauca 
dicamus. 

Eine  Vergleichung  der  aristotelischen  und  ciceronischen  Topik  nimmt  Klein,  De 
fontibus  Topic.  Cic,,  Bonn  1844  (p.  25)  vor  und  erhält  das  Resultat  (p.  33):  multum,  quod 
ad  summam  vel  caput  attinet  artis  didUdicae,  utraque  topica  inter  se  differre  nemo  est,  quin 
intellegat.  Auch  im  einzelnen  zeigen  sich  tiefgreifende  Unterschiede,  vgl.  p.  35 — 48.  Dieser 
Thatsache  stehe  weder  die  Vorrede  noch  Ep.  7, 19  entgegen,  denn  (p.  54)  nequaquam  per  verlm 
iUa  (Ep.  7, 19)  vel  in  topicorum  prooemio  iudicavit  sua  topica  esse  compendium  commenta- 
riumre  Aristotelicorum  librorum.  Dagegen  hält  Wallibs,  De  fontibus  Topicorum  Ciceronis, 
Halle  1878  p.  48  fiir  die  Quelle  des  ersten  Teils  der  Topica  (bis  c.  21)  den  Akademiker 
Antiochus,  der  seine  Topik  als  aristotelisch  hingestellt;  auch  Cicero  sei  dieses  Glaubens 
gewesen  (p.  46).  Der  Versuch  Hajoiers,  De  Cic,  Topicis^  Landau  1879,  eine  grössere  An- 
zahl von  Stellen  auf  die  aristotelische  Topik  zurückzufflhren,  ist  nicht  gelungen  (p.  5—17). 

Von  den  rhetorischen  Schriften  Ciceros  sind  die  wertvollsten  und  an- 
mutigsten die  Werke  de  oratore,  Brutus  und  der  Orator,  lauter  Schöpfungen 
seines  reiferen  Alters.  Alle  diese  drei  Schriften  sind  von  dem  GedankeU' 
getragen,  dass  die  ciceronische  Beredsamkeit  die  höchste  Stufe  der  römi- 


238    Bömisohe  Litteratargeschiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

sehen  repräsentiere.  In  der  Schrift  de  oratore  geben  Antonius  und 
Crassus  nur  die  Ansichten  Ciceros  wieder;  auch  der  Abschnitt  über  den 
Witz  ist  ciceronisch.  Im  Brutus  und  im  Orator  nimmt  diese  Darlegung 
seiner  Beredsamkeit  zugleich  einen  apologetischen  Charakter  an.  Eine 
wesentliche  Förderung  der  Theorie  ist  durch  die  rhetorische  Schriftstellerei 
Ciceros  nicht  bewirkt  worden.  Wenn  es  sich  um  scharfe  Begriffsbestim- 
mung handelt,  finden  wir  grosse  Mängel.  Allein  in  der  populären  Behand- 
lung, in  dem  Hervortreten  des  Persönlichen^  in  der  schönen  Sprache  ruht 
die  grosse  Anziehungskraft  dieser  Schriften. 

Überlieferung  der  rhetorischen  Schriften  Ciceros:  Fflr  die  Rhetorica  sind 
die  massgebenden  Handschriften  der  Wircebnrgensis  s.  IX,  der  Parisinus  nr.  7774  A  s.  IX  und 
der  Sangallensis  s.  IX.  Für  die  Schrift  de  partitione  oratoria  ist  die  reinste  Quelle  der 
Parisinus  72B1  s.  X  (Stböbel  p.  12),  für  die  Topica  die  zwei  Leydner  84  und  86  s.  X.  (das 
handschriftl.  Material  haben  vermehrt  Stafol,  Bayr.  Gynmasialbl.  18, 1  durch  zwei  Münchner, 
zwei  Bamberger,  vgl.  auch  Haxmeb,  De  Cicer,  Topicia  p.  30),  für  den  Traktat  de  opttmo 
genere  oratorum  der  StGallener  818  s.  XI.  Die  übrigen  rhetorischen  Schriften  sind  durch 
ein  gemeinsames  Schicksal  miteinander  verbunden.  Im  J.  1422  wurde  in  Lodi  eine  Hand- 
schrift aufgefunden,  welche  die  Kenntnis  der  rhetorischen  Schriften  Ciceros  bedeutend  er- 
weiterte. Bis  dahin  hatte  man  die  Bücher  de  oratore  und  den  Orator  nur  in  unvollständi- 
gem Zustand,  den  Brutus  aber  kannte  man  gar  nicht.  Durch  diese  Handschrift  erhielt  man 
zum  erstenmal  den  bis  dahin  unbekannten  Brutus  und  den  Orator  und  de  oratore  in  voll- 
ständiger Fassung.  Diese  Handschrift  (Codex  Laudensis)  ist  aber  wieder  verloren  gegangen. 
Aus  emem  Brief  Lamolas  (vgl.  Wochenschr.  f.  klass.  Philol.  1886  nr.  24)  ergibt  sich,  dass 
nach  einem  apographon  die  drei  rhetorischen  Schriften  verbreitet  wurden.  Lamola  machte 
sich  eine  genaue  Abschrift  nach  dem  Original.  Die  Auffindung  dieser  Kopie  wäre  von 
grösster  Bedeutung.  Aus  dieser  Textesgeschichte  ergeben  sich  die  Grundzüge  der  Rezension. 
Für  Brutus  handelt  es  sich  lediglich  um  Wiederherstellung  des  Codex  Laudensis;  hiefÜr 
erachtet  Heebdboen,  Fleckeis.  J.  1885  p.  110  drei  apographa  desselben  (im  Gegensatz  zu 
Stai7gl)  als  ausreichend:  Ottobonianus  1592,  Ottobonianus  2057  und  den  Florentinus  J  1, 14. 
Vgl.  auch  Stroebel,  Wochenschr.  für  klass.  Philologie  1886  nr.  29.  Für  den  Orator  ist 
als  Repräsentant  der  verstümmelten  Überlieferung  der  Codex  aus  Avranches  238  (Abrin- 
censis  A)  zu  betrachten ;  für  die  Restituierung  des  Laudensis  zieht  Heebdboen  herbei  den 
Codex  Florentinus  J.  1, 14  (F),  den  Codex  Vaticanus  Palatinus  1469  (P),  endlich  den  Codex 
Ottobonianus  2057  (0).  Für  die  Schrift  de  oratore  sind  neben  dem  Abrincensis  auch  noch 
der  Harleianus  2736  s.  IX/X,  den  Fbiedbich  (QuaesL  in  Cie,  lihr.  de  oratore  p.  5)  höher  steUt 
als  den  erstgenannten,  und  der  Erlangensis  848  s.  X  selbständige  Repräsentanten  der  Codices 
mutüi  (Stboebel,  De  Cic.  de  oratore  librorum  codicibus  mtUUis,  Erl.  1883  p.  48),  Haupt- 
repräsentanten der  auf  den  Laudensis  zurückgehenden  Codices  integri:  Ottobonianus  2057 
und  der  Vaticanus-Palatinus  1469.  {Sahbadini  i  eodici  deW  opere  rettoriche  di  C,  Rivista  16, 97.) 

Litteratur  mit  Auswahl:  M.  71  Ciceronis  artis  rhetoricae  Hbri  II,  Rec.  A.  Weidneb, 
Berl.  1878.  (Über  die  alten  Hdschr.  Stböbel,  Philol.  45, 469.)  —  De  oratore.  Ed.  Ellendt, 
Königsberg  1840  (Hauptausgabe).  Ausgabe  von  Sobof  in  3  Bänden  (Weidmann),  von 
Pidebit-HIbkeckeb  (Teubner),  beide  mit  deutschem  Konmientar.  itf.  T.  Cic.  de  oratore 
WUh  introduction  and  notes  hy  S.  WiLKiire  lih.  I,  Oxford  1879,  lib,  II  1881.  — 
M,  T,  Ciceronis  Brutus,  Ed.  Ellendt,  Königsb.  1825  und  1844  mit  einer  succineta  elo- 
queniiae  Romanae  usque  ad  Caesares  historia,  von  Peteb,  Leipz.  1839,  von  Stanol,  Leipz.- 
Prag  1886  (vgl.  dazu  Simon,  Krit.  Bemerk.,  Kaisersl.  1887).  Treffliche  erklärende  Ausgabe 
von  0.  Jahn  (Ebebhabd)  bei  Weidmann.  Von  Pidebit  ebenfalls  mit  deutschem  Kommentar 
(Teubner).  —  M,  T.  Ciceronis  Orator,  Ed.  Peteb  und  Welleb,  Leipz.  1838.  Ed.  Heebdboen 
(treffliche  Rezension),  Teubner  1884.  Ed.  Stanol,  Leipz.,  Prag  1885.  Gute  erklärende 
Ausgabe  von  0.  Jahn  (Ebebhabd)  bei  Weidmann;  von  Pidebit  bei  Teubner.  —  De  par- 
titione oratoria,  mit  deutschem  Konunentar  von  Pidebit  (Teubner).  Stböbel,  Zur  Hand- 
schriftenkunde  und  Kritik  von  Cic.  Partit,  orat,,  Zweibr.  1887.  —  Das  Schriftchen  de  optimo 
genere  oratorum  ist  von  0.  Jahn  hinter  dem  Orator  herausgegeben. 

y)  Ciceros  Briefe. 

156.  Die  erhaltenen  Briefsammlungen.  Aus  der  grossen  Masse 
der  Briefe  Ciceros  sind  uns  zwei  Gruppen  erhalten,  eine  Generalkorrespon- 
denz und  drei  Spezialkorrespondenzen« 


Cioeros  Briefe.  239 

Die  Generalkorrespondenz  führt  gewöhnlich  den  Namen  ad  fami- 
liärem, eine  Bezeichnung,  die  von  Stephanus  herrührt,  früher  hiessen  sie 
epistolae  familiäres,  später  ejnstolae  ad  diversos.  Allein  diese  Titel  haben 
in  der  massgebenden  Überlieferung  keine  Gewähr ;  dort  werden  die  einzelnen 
Bücher  nach  dem  ersten  Adressaten  bezeichnet ;  ein  allgemeiner  Titel  fehlt. 
Die  Generalkorrespondenz  hat  16  Bücher,  welche  die  Zeit  von  62—43  um- 
fassen. In  dieser  Briefsammlung  finden  sich  neben  den  ciceronischen  Briefen 
auch  solche,  die  von  anderen  an  ihn  gerichtet  sind.  So  besteht  das  ganze 
VIII.  Buch  lediglich  aus  Briefen  des  M.  Gaelius  an  Cicero;  das  X.  Buch 
bietet  uns  eine  stattliche  Anzahl  von  Briefen  des  L.  Munatius  Plauens, 
das  XL  eine  Beihe  von  Briefen  des  D.  Brutus.  Auch  von  M.  Cato,  G.  Cas- 
sius,  Asinius  PoUio,  M.  Lepidus  u.  a.  finden  sich  Briefe  in  der  Sammlung. 
Wie  im  VIII.  Buch  haben  wir  bloss  einen  Adressaten  im  HI.  Buch,  das  nur 
Briefe  an  Ap.  Claudius  Pulcher,  im  XIV.  Buch,  das  nur  Briefe  an  die 
Terentia  und  die  übrige  ciceronische  Familie,  endlich  im  XVI.,  das  nur 
Briefe  der  ciceronischen  Familienglieder  an  Tiro  (ausgenommen  16)  enthält. 
Alle  übrigen  Bücher  vereinigen  Briefe  verschiedener  Adressaten  in  sich. 
Das  Xin.  Buch  enthält  lediglich  ciceronische  Empfehlungsbriefe. 

VonSpezialkorrespondenzen  sind  uns  drei  Sammlungen  überliefert. 

1)  die  Briefe  Giceros  an  seinen  Bruder  Quintus  in  3  Büchern. 
Man  erwartet  einen  grösseren  Briefwechsel,  allein  auch  dem  Altertum 
lagen  nicht  mehr  Briefe  vor.    Sie  reichen  von  60 — 54. 

2)  die  Briefe  an  Atticus  in  16  Büchern.  Sie  umfassen  die 
Zeit  von  68 — 43.  Auch  in  dieser  Sammlung  haben  wir  als  Beilagen  oder 
Einlagen  Briefe  von  andern  Personen  z.  B.  des  L.  Cornelius  Baibus,  des 
Cn.  Pompeius  Magnus  und  einige  Briefe  Giceros  an  andere. 

3)  Der  Briefwechsel  zwischen  Gicero  und  M.  Brutus  aus  dem 
J.  44.  Derselbe  erscheint  in  den  bisherigen  Ausgaben  in  zwei  Büchern.  Die 
Briefe  des  ersten  Buchs  sind  uns  handschriftlich  überliefert ;  bezüglich  der 
5  (nach  alter  Zählung  7)  Briefe  des  IL  Buchs  sind  wir  aber  nur  auf  die 
Basler  Ausgabe  des  Gratander  vom  Jahre  1528  als  Quelle  angewiesen.  Als 
n.  Buch  hat  diese  Gratandrischen  Briefe  erst  Schütz  gegeben.  Allein  es 
steht  fest,  dass  diese  5  Briefe  früher  sind  als  die  des  sogenannten  ersten 
Buchs  —  diese  schliessen  sich  zeitlich  genau  an  jene  5  Briefe  an  —  und 
dass  alle  diese  Briefe  zusammen  das  IX.  Buch  einer  Briefsammlung  ad 
Brutum  bildeten.  Die  handschriftlichen  Spuren  eines  solchen  noch  jene 
5  Briefe  enthaltenden  IX.  Buchs  lassen  sich  nachweisen.  Es  ist  daher 
zweifellos,  dass  Gratander  diese  5  Briefe,  wie  er  sagt,  einer  Handschrift 
entnommen  hat.  Die  Briefsammlung  umfasst  15  Briefe  Giceros  an  M.  Bru- 
tus, 7  Briefe  des  M.  Brutus  an  Gicero,  1  desselben  an  Atticus.  Mit  den 
Spezialkorrespondenzen  ist  noch  verbunden 

ein  Brief  Giceros  an  Octavian,  über  dessen  Unechtheit  kein 
Zweifel  sein  kann. 

Der  Briefwechsel  zwischen  Cicero  und  M.  Bmtus  wurde  angezweifelt.  Zum  erstenmal 
erklärte  der  Engländer  Tunstall  im  Jahre  1741  die  Briefe  ftir  unecht.  Von  seinen  Lands- 
leuten trat  auf  seine  Seite  Makkt^and,  während  Middlbton  opponierte.  Seitdem  wur  lange 
Zeit  die  Unechtheit  der  Sammlung  fast  Axiom,  bis  K.  F.  Hermann  in  mehreren  Abhand- 
lungen der  Jahre  1844  und  1845  die  Frage  wieder  aufnahm  und  den  echten  Ursprung  der 


240    RömiBche  LiUeratiirgeBohichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

Briefe  verteidigte.  Allein  er  drang  nicht  durch.  In  neuester  Zeit  kam  besonders  durch 
CoBET  (1879)  wieder  Leben  in  die  Streitfrage.  Mit  grosser  Wfirme  verfocht  er  die  Echtheit. 
Wahrscheinlich  angeregt  durch  Cobets  Abhandlungen,  machte  nochmals  P.  Meyeb  den 
Versuch,  in  der  ausführlichsten  Weise  das  Verdammungsurteil  der  Engländer  zu  recht- 
fertigen. Allein  seine  Abhandlung  ftthrte  den  entgegengesetzten  Erfolg  herbei.  Fast  all- 
gemein wird  jetzt  die  Echtheit  der  Briefe  angenommen.  Nur  in  einem  Punkt  herrscht 
noch  Meinungsverschiedenheit.  Nippebdby  hatte  gelegentlich  (Abb.  der  sächs.  Gesellsch. 
1865  p.  71  Anm.)  die  Meinung  ausgesprochen,  alle  Briefe  der  Sammlung  seien  echt,  aus- 
genommen die  Briefe  1,  16  und  1,  17.  Diese  Ansicht  wurde  dann  genauer  begrOndet  von 
R.  Heine,  mit  der  Erweiterung,  dass  auch  1, 15,  3 — 11  unecht  sei  von  Gublitt,  endlich  von 
0.  E.  ScHioDT.  Dass  die  Ausscheidung  von  1, 15,3 — 11  höchst  bedenklich  und  unnötig  ist, 
hat  des  Näheren  0.  E.  Schiudt  dargethan  (Fleckeis.  J.  129  [1884]  635).  Allein  auch  die 
Zweifel  bezüglich  der  Briefe  1,  15  und  1,  16  sind  keineswegs  gerechtfertigt.  Hier  hängt 
alles  davon  ab,  ob  diese  Briefe  auch  dem  Plutarch  (oder  vielmehr  seiner  Quelle),  Brut.  c.  22, 
Cic.  45  vorlagen  oder  nicht.  Die  Übereinstimmungen  sind  derart,  dass  dies  meines  Er- 
achtens  nicht  geleugnet  werden  kann.  In  diesem  Fall  aber  müssen  wir  unsere  zwei  Briefe 
der  Zeit  des  Brutus  und  Cicero  möglichst  nahe  rücken.  Aber  auch  die  anderen  Briefe 
verraten  eine  solche  Kenntnis  der  damaligen  Zeitgeschichte,  dass  ihre  Entstehung  in  die 
allernächste  Zeit  nach  Brutus  und  Cicero  fallen  müsste.  Allein  damals  wäre  der  Betrug 
schwerlich  unbeachtet  geblieben,  selbst  den  Fall  angenommen,  dass  alle  echten  Briefe  der 
Sammlung  verloren  waren  und  der  Fälscher  die  9  Bücher,  nicht  bloss  das  IX.  Buch  unter- 
schoben hätte.  Aber  das  Altertum  weiss  nichts  von  einem  solchen  Betrug,  selbst  die 
vielangeführte  Stelle  Plutarchs  (Brut.  53)  beruht  nur  auf  einer  Schlussfolgerung  des  Autors, 
nicht  auf  einer  Thatsache.  Weder  sprachlich  noch  sachlich  geben  die  Briefe  Anlass  zu 
Bedenken,  die  unübersteiglich  wären. 

Neuere  Litteratur:  Standpunkt  der  Echtheit:  C.  F.  Hebmann,  Vindiciae  Latini- 
tatis  epistolorum  etc.,  Gott.  1844;  Epimetrum  Gott.  1845.  Zur  Rechtfertigung  der  Echtheit 
u.  s.  w.  2.  Abt.,  Gott.  1844.  Cobbt  im  VH.  Bd.  (1879)  der  Mnemos.  Ruetb,  Die  Korrespondenz 
Ciceros  44  und  43,  Marb.  1883.  —  Unechtheit:  P.  Meteb,  Untersuchungen  über  die  Frage 
der  Echtheit  des  Briefwechsels  Cicero  ad  Brutum,  Stuttg.  1881.  Bechkb,  de  Cieeronia  — 
ad  Brutum  epistuHSfR^xh,  1886.  Ober  die  Sprache  der  Briefe  ad  Brutum  Rhein.  Mus.  37, 576, 
Philol.  44,  471.  —  Teilweise  Unechtheit:  R.Heine,  Quaestionum  de  Ciceronia  et  Bruti 
mutuis  epistulis  cap,  duo,  Leipz.  Dissert.  1875.  Güblitt,  Die  Briefe  Ciceros  an  M.  Brutus, 
IV.  Supplementb.  des  Philolog.  p.  551.  Drei  Suasorien  in  Briefform  im  V.  Supplementb. 
des  Philolog.  p.  591.  Schibmeb,  Über  die  Sprache  des  M.  Brutus,  Metz  1884.  Stbeno,  de 
Cic.  ad  Brutum  epistolarum  libro  II,  Helsingfors  1885  (p.  8).  —  Die  Frage  der  Überliefe- 
rung behandeln  Gublitt,  Der  Archetypus  der  Brutusbriefe  in  Fleckeis.  Jahrb.  131  (1885) 
561.  Webxuth,  Quaestianes  de  Ciceronis  episttdarum  ad  M.  Brutum  libris  IX.  Basel  1887. 
Man  vgl.  auch  noch  0.  E.  Schmidt,  Die  hdschr.  Überlief,  der  Atticusbriefe  p.  279. 

156.  Entstehung  der  Briefsanunluxigen.  Ausser  den  erhaltenea 
Briefsammlungen  Ciceros  besass  das  Altertum  noch  eine  Reihe  anderer; 
es  werden  citiert  ad  Axium  L  II,  ad  Pansam  1.  III,  ad  Hirtium  1.  IX,  ad 
Caesarem  u.  a.  Bezüglich  der  Entstehung  der  Sammlungen  sind  wir  fast 
nur  auf  Vermutungen  angewiesen.  Wir  wissen,  dass  Tiro  nach  einem 
am  9.  Juli  44  an  Atticus  gerichteten  Brief  (16,  5,  5)  eine  Sammlung  von 
etwa  70  Briefen  beisanmien  hatte,  und  dass  Cicero  für  eine  spätere  Publi- 
kation derselben  seine  Fürsorge  in  Aussicht  stellte.  Allein  da  Cicero  am 
7.  Dez.  43  ermordet  wurde  und  die  unruhige  politische  Lage  in  der  Zwi- 
schenzeit ihn  ganz  in  Anspruch  nahm,  so  ist  eine  Herausgabe  des  Brief- 
wechsels zu  seinen  Lebzeiten  sehr  wenig  wahrscheinlich.  Vom  Briefwechsel 
an  Atticus  kann  gezeigt  werden,  dass  derselbe  geraume  Zeit  nach  Ciceros 
Tod  veröffentlicht  wurde.  Als  nämlich  Asconius  seine  Kommentare  zu 
Ciceros  Reden  schrieb,  kannte  er  diesen  Briefwechsel  nicht;  der  Philosoph 
Seneca  (ep.  ad  Luc.  97  und  118)  dagegen  kennt  ihn.  Derselbe  wird  also 
erst  etwa  60  n.  Ch.  erschienen  sein.  Wegen  der  vielen  Urteile  über  Poli- 
tik mag  die  Herausgabe  nicht  rätlich  erschienen  sein,  sie  blieben  >daher  im 
Archiv  des  Atticus  liegen,  wo  sie  Cornelius  Nepos  mehrere  Jahre  vor 


CiceroB  Briefe.  .    .      -      241 

Atticus  Tod  für  eine  Herausgabe  wohlgeordnet  gesehen  hatte  >).  So  werden 
auch  andere  Korrespondenzen  Glceros  erst  später  von  den  Adressaten  oder 
deren  Erben  aus  den  Hausarchiven  an  das  Licht  der  Öffentlichkeit  gezogen 
worden  sein.  Schwierig  ist  das  Verhältnis  der  Generalkorrespondenz  zu 
den  Spezialkorrespondenzen  festzustellen.  Man  hat  die  Generalkorrespondenz 
als  einen  Auszug  —  wenigstens  zum  grössten  Teil  —  aus  den  Spezial- 
korrespondenzen hingestellt;  allein  dann  müsste  die  grösste  Willkür  und 
der  grösste  Unverstand  bei  der  Auswahl  geherrscht  haben.  Auch  lässt 
sich  von  manchen  Briefgruppen  zeigen,  dass  sie  so  gut  wie  keine  Lücken 
zeigen.  Ein  anderes  Verfahren,  die  Schwierigkeit  zu  lösen,  besteht  darin,  eine 
Sanmilung,  welche  sowohl  die  Generalkorrespondenz  als  die  Spezialkorrespon- 
denzen umfasst,  und  einen  Sammler  anzunehmen ;  in  die  Generalkorrespondenz 
sei  aufgenommen  worden,  was  nicht  als  Spezialkorrespondenz  zu  erscheinen 
geeignet  war.  Allein  bei  dieser  Anschauung  begreift  sichs  nicht,  wie  trotz  der 
vorhandenen  Spezialkorrespondenzen  doch  noch  Briefe,  die  dahin  gehörten,  in 
der  Generalkorrespondenz  erscheinen  konnten.  So  gab  es  eine  Sammlung  der 
Briefe  an  M.  Brutus,  und  trotzdem  finden  sich  in  der  Generalkorrespondenz 
Briefe  an  denselben  Adressaten.  Nonius  citiert  1,  435  M.  eine  Stelle  aus 
1.  I  ad  Gassium,  diese  Stelle  findet  sich  auch  in  der  Generalkorrespon- 
denz 15,  16,  3,  es  finden  sich  aber  auch  noch  andere  Briefe  an  Cassius  in 
der  Sammlung.  Am  besten  lösen  sich  die  Schwierigkeiten,  wenn  wir  die 
Generalkorrespondenz  als  die  erste  Sammlung  betrachten,  der  dann  die 
Spezialkorrespondenzen  als  Ergänzungen  folgten.  Es  liegt  ja  in  der  Natur 
der  Sache,  dass  man  zunächst  bestrebt  war,  nur  einmal  zu  geben,  was 
man  an  Korrespondenzen  Ciceros  auftreiben  konnte.  Wer  diese  erste 
Sammlung  unternommen,  lässt  sich  nicht  mit  Bestimmtheit  sagen.  Man 
hat  auf  Tiro  geraten;  und  dessen  Autorschaft  hat  auch  viel  Wahrschein- 
lichkeit für  sich,  da  er  ja  wirklich  eine  Sammlung  Ciceronischer  Briefe 
veranstaltet  hatte.  Immerhin  ist  auch  mit  dem  Fall  zu  rechnen,  dass 
Sammler  und  Herausgeber,  wie  bei  den  Briefen  an  Atticus,  nicht  zusam- 
menfallen. Die  Sammlung,  sowie  sie  uns  vorliegt,  ist  von  dem  Ordner 
nicht  nach  einem  einheitlichen  Prinzip  gestaltet.  Überwiegend  ist  zwar 
der  Adressat  für  die  Anordnung  bestimmend  gewesen,  allein  für  das  XIII. 
Buch  ist  der  Inhalt  Norm  geworden.  Durch  successive  Entstehung  der 
Sammlung  erklärt  sich  diese  Diskrepanz  am  leichtesten. 

Litteratur:  L.  Gublitt,  de  Ciceronis  epiatulis,  GOtting.  Dies.  1879  entscheidet  sich 
nach  dem  Vorgang  E.  F.  Herkanns  fOr  eine  Sammlung  und  einen  Sanmiler  (mit  Aus- 
nahme der  Briefe  an  Atticus),  vgl.  p.  4.  Die  Excerptentheorie  fdr  die  Mehrzahl  der  Bücher 
ad  familiäres  verixitt  B.  Nake,  historia  eritiea  Ciceronis  epistularum,  Bonn  1861,  vgl.  p.  19. 
Die  Priorität  der  Greneralkorrespondenz  behauptet  F.  Hoffmaiw,  Ausgew.  Briefe  Ciceros, 
Einleitung.  Vermittelnd  Leiohton,  historia  crUica  Ciceronis  epist.  ad  famiL,  Leipz.  Diss. 
1877.  Die  Publikation  des  Briefwechsels  ad  Att.  nach  Asconius  deduziert  BOcheleb,  Rh. 
Mus.  34  (1879)  p.  352—355  aus  Asconius  p.  76  K.  defenstis  est  Catüina  etc. 

GuBLiTT,  Nonius  Marcellus  und  die  Cicerobriefe,  Steglitz  1888  verwirft  eine  Brief- 
sammlung ad  C.  J.  Caesarem  und  nimmt  nur  eine  ad  Caesarem  d.  i.  Octavianum  (vgl.  aber 
L.  MüLLEB,  Nonius  2,  203,  26)  an;  auch  die  Briefsammlung  ad  Pompeium  1.  IV  erklärt  er 


^)  Com.  Nep.  25, 16  eum  (Atticum)  prae- 
cipue  dilexU  Cicero,  —  Ei  rei  sunt  indicio 
praeter  eas  libros  in  quibus  de  eo  facit  men- 
tUmem,  qui  in  vulgus  sunt  editi,  sedecim  Vo- 


lumina epistularum  ab  consulatu  eius  usque 
ad  extremum  tempus  ad  Atticum  missarum: 
quae  qui  legat  non  multum  desiderabit  histo^ 
riam  contextam  eorum  iemporum. 


Bftodbach  der  klaas.  AltcrtumswiMenecliaft.    vni  16 


242    BOmisohe  LiUeratargeBoliiohte.    L  Die  Zeit  der  Republik,    d.  Periode. 

fOr  einen  Intam;  eine  solche  sei  nie  veröffentlicht  worden;  im  obigen  Citat  Nonius  1, 435  M. 
tilgt  er  1. 1. 

167.  Charakteristik.  Die  Worte  Goethes  „Briefe  gehören  unter  die 
wichtigsten  Denkmäler,  die  der  einzelne  Mensch  hinterlassen  kann.  Was 
uns  freut  oder  schmerzt,  drückt  oder  beschäftigt,  löst  sich  von  dem  Her- 
zen los ;  und  als  dauernde  Spuren  eines  Daseins,  eines  Zustands  sind  solche 
Blätter  fQr  die  Nachwelt  immer  wichtiger,  je  mehr  dem  Schreibenden  nur 
der  Augenblick  vorschwebte,  je  weniger  ihm  eine  Folgezeit  in  den  Sinn 
kam^,  geben  uns  den  Standpunkt  für  die  Wertschätzung  der  Briefe  an. 
Unsere  Briefsammlungen  enthalten  allerdings  eine  Menge  Briefe,  welche 
nicht  bloss  für  den  Adressaten,  sondern  auch  für  weitere  Kreise  bestimmt 
waren.  Diese  Briefe  fesseln  uns  durch  die  feine  Kunst  der  Berechnung 
und  die  hohe  stilistische  Vollendung.  Muster  dieser  Gattung  dürfte  sein 
der  Brief  Gates  ah  Cicero  Ep.  15,  5  und  dessen  Antwort  15,  6.  Der  grösste 
Teil  dagegen,  besonders  die  an  Atticus  gerichteten,  sind  ohne  Rücksicht 
auf  die  „Folgezeit''  geschrieben.  Diese  Dokumente  spiegeln  daher  das 
Seelenleben  Giceros  mit  seinen  Schwächen,  Schwankungen,  Kleinlichkeiten 
und  Eitelkeiten  in  einer  Weise,  dass  die  guten  Seiten  ausserordentlich 
zurücktreten.  Man  wird  kaum,  wenn  man  diese  Briefe  gelesen,  von  Gice- 
ros Persönlichkeit  eine  hohe  Meinung  festhalten  können.  Ausser  Gicero 
lernen  wir  aber  noch  eine  stattliche  Schar  anderer  Berühmtheiten  jener 
Zeit  aus  den  Briefen  kennen.  In  dieser  Hinsicht  sind  uns  besonders  die 
Briefe  sehr  willkommen,  welche  nicht  von  Gicero  herrühren.  Die  Indivi- 
dualität der  Briefschreiber  tritt  in  der  Regel  klar  zu  Tage,  man  lese  nur 
die  Briefe  des  leichtfertigen  Gaelius,  den  schönen  Brief  des  Matius  Ep.  11, 
28,  die  anmutige  Erzählung  des  Juristen  Sulpicius  Rufus  Ep.  4,  12.  Über- 
haupt sind  die  Briefe,  welche  sich  vom  Jahr  68 — 43,  allerdings  nicht  un- 
unterbrochen, erstrecken,  eine  reiche  Fundgrube  für  die  Zeitgeschichte, 
wenn  wir  auch  viel  Kleinliches  dabei  in  den  Kauf  nehmen  müssen.  Eben- 
so fällt  auf  das  litterarische  und  soziale  Treiben  der  damaligen  römischen 
Gesellschaft  durch  die  Briefe  ein  helles  Licht.  Endlich  sind  die  Samm- 
lungen für  die  Erkenntnis  des  lateinischen  Briefstils  und  der  römischen 
Umgangssprache  die  Hauptquelle.  Wir  haben  hier  den  Brief  in  allen 
seinen  Formen  vor  uns;  es  begegnet  uns  das  rasch  hingeworfene  Billet, 
die  sich  gehen  lassende  Plauderei,  das  abgemessene,  wohlerwogene,  für  die 
Öffentlichkeit  bestimmte  Schreiben,  der  in  festem  Geleise  sich  bewegende 
Empfehlungsbrief,  endlich  sogar  die  Abhandlung  in  Briefform.  Die  Um- 
gangssprache mit  ihrer  Beimengung  griechischer  Brocken  zeigt  uns  den 
grossen  Abstand  von  der  Schrift-sprache. 

Geschichte  der  Überlieferung  der  Briefe.  Die  Überlieferang  der  General- 
korrespondenz erfolgt  getrennt  von  der  der  Spezialkorrespondenzen.  In  Italien  knüpft  sich 
die  Wiederaoffindung  der  Ciceronischen  Briefe  an  den  Namen  Petrarca.  Derselbe  stiess 
in  Verona  etwa  1340  auf  eine  Handschrift,  welche  Ciceronische  Briefe  enthielt;  nach  seinen 
Citaten  waren  es  die  Spezialkorrespondenzen.  Diese  schwer  leserliche  Handschrift  schrieb 
Petrarca  mit  eigener  Hand  ab.  Weder  Original  noch  Kopie  ist  erhalten.  Etwa  1390  hatte 
der  florentinische  Staatssekretär  Coluccio  Salutato  erfahren,  dass  der  Herzog  von  Mailand, 
Visconti,  Handschriften  aus  den  Bibliotheken  von  Verona  und  Vercelli  erhalten  und  dass 
unter  diesen  Handschriften  auch  die  von  Petrarca  benützte  Cicerohandschrift  sich  be- 
finde, femer  dass  eine  Handschrift  von  Vercelli  Ciceronische  Briefe  enthalte.  Als  nun 
Salutato  um  eine  Abschrift  Ciceronischer  Briefe  bat  —  er  hielt  die  Sammlungen  der  beiden 


CioeroB  philosophifloho  Sohriften.  243 

Handschriften  fOr  identisoh  —  und  sie  empfing,  waren  es  ganz  andere  Briefe  als  die  Petrarca 
bekannt  gewordenen;  es  war  die  Generalkorrespondenz.  Nun  Hess  sich  Salutato  auch  die 
Veroneser  Handschrift,  d.  h.  die  Spezialkorrespondenzen  abschreiben.  Beide  fOr  Salutato 
gemachten  Abschriften  sind  uns  erhalten,  das  apogr.  des  Yeronensis  in  cod.  49, 18  der 
Laurentiana  und  das  apogr.  des  Yercellensis  im  cod.  49, 7.  Beide  hielt  man  bisher 
irrig  für  Kopien  von  der  Hand  Petrarcas.  Auch  das  Original  der  Generalkorrespon- 
denz, der  Yercellensis,  ist  in  die  Laurentiana  gekommen;  es  ist  dort  die  Handschrift  49, 9. 
Sonach  f&hrt  die  italienische  Überlieferung  auf  zwei  Quellen,  ftlr  die  Generalkorrespon- 
denz auf  49, 9  (aus  dem  Ende  des  s.  IX.),  fQr  die  Spezialkorrespondenzen  auf  49,  18.  Lange 
Zeit  hat  man  nur  diese  Textesquellen  als  die  einzigen  zu  Grunde  gelegt.  Jetzt  steht  aber 
fest,  dass  noch  andere  Kanäle  der  Überlieferung  vorhanden  waren.  Fflr  die  Generalkorre- 
spondenz kommt  ausser  andern  Handschriften  bes.  der  Harleianus  2682  für  B.  IX — XYI  in 
Betracht,  der  zwar  demselben  Archetypos  wie  49, 9  entstammt,  von  ihm  aber  unabhängig 
ist.  Für  die  Gruppe  der  Spezialkorrespondenzen  sind  als  unabhängige  Quelle  einzelne 
Bl&tter  einer  Würzburger  Handschrift  s.  £X  (vgl.  die  letzte  übersichtliche  Zusammenstellung 
der  erhaltenen  Reste  und  ihrer  Bearbeiter  von  G.  Schbpss  im  XX.  Bd.  der  bayr.  Gymna- 
sialbl.)  erkannt  worden.  Mit  denselben  stimmen  auffallend  überein  die  Randnoten,  welche 
sich  in  Cratanders  Ausgabe  d.  J.  1528  finden.  Auch  der  jetzt  verlorene  Tomaesianus  ist 
von  49, 18  unabhängig.  —  Yoiot,  Über  die  handschr.  Überlieferung  von  Ciceros  Briefen,  Be- 
richte Sachs.  Gesellsch.  d.  Wissensoh.  1879  p.  41 — 65.  Yibbtel,  Die  Wiederauffindung  von 
Ciceroe  Briefen  durch  Petrarca,  Königsb.  1879.  Ygl.  Fleckeis.  J.  1880  p.  231.  0.  £.  ScHxmr, 
Die  handschriftliche  Überlieferung  der  Briefe  Ciceros  an  Atticus  u.  s.  w.,  Abhandl.  sächs. 
Gesellsch.  d.  Wissensch.  1888  p.  273—880. 

Ausgaben:  Af.  T.  Ciceronis  epistolae.  Rec.  Wesbnbbro,  2  vol.,  Leipzig  1880  (der 
Apparat  nicht  durchsichtig  genug,  scharfsinnige  Emendation).  M,  T,  Cieeronis  epistolarum 
Cid  Atticum.  Rec.  J.  C.  G.  Boot,  2  vol.,  Amsterd.  2.  Aufl.  1886  (für  die  Erklärung  von 
Wichtigkeit).    Auswahl  mit  deutschen  Anmerkungen  von  Fr.  Hofmanh,  SOpfle,  Fbey. 

Chronologische  Untersuchungen:  Gbubbb,  de  tempore  atque  aerie  epistolarum 
Cic,  Stralsund  1836.  Nakb,  Über  den  Briefwechsel  zwischen  Cicero  und  Caelius,  Fleokeis. 
89,  60;  de  M.  Caeli  Ruft  epist.  in  Symh,  phüolog.  Bonn,  in  hon,  Ritschelii  p.  373;  De  Planet 
et  Ciceronis  epistutis,  Ben.  1866 ;  Der  Briefwechsel  zwischen  C.  und  D.  Brutus,  Fleckeis.  J. 
Suppl.  VHl  p.  647.  ScmcHB,  Zu  Ciceros  Briefen  an  Atticus,  Berlin  1881  und  1888;  Hebmbs 
18, 588.  0.  £.  Schmidt,  de  episttdis  et  a  Casaio  et  ad  Caattium  post  Caesarem  occisum  datis, 
Leipz.  1877;  Zur  Chronologie  der  Korrespondenz  Ciceros  seit  Caesars  Tod  Fleckeis.  J.  129, 331. 
Moll,  de  tempoHbus  epistularum  TuUian.,  Berlin  1883.  Schbllb,  de  M,  Antonii  epistulis 
p.  I,  Frankenb.  1883.  Stbbitkopf,  quaestiones  ....  de  episttdis  (50—49),  Marb.  1884. 
Kobbnbb,  de  epistulis  Cic.  quaestiones  chronologiae  {hl — 54),  Leipziger  Diss.  1885.  Rauschbk, 
Ephemerides  TuUianae  (von  58—54),  Bonn  1886.    Ziehbn,  Eph,  Tüll,  (49—48),  Budap.  1887. 

(f)  Ciceros  philosophische  Schriften. 

158.  De  republica  1.  VI.  In  dieser  nur  in  Fragmenten  erhaltenen 
Schrift  wird  die  Frage  behandelt,  welche  Staatsform  die  beste  sei.  Es 
geschieht  dies  in  Form  eines  Gesprächs,  das  im  J.  129  im  Garten  des 
jüngeren  Scipio  Africanus  stattgefunden  haben  soll.  An  dem  Gespräche, 
dessen  Leitung  Scipio  übernommen,  beteiligten  sich  noch  Q.  Aelius  Tubero, 
P.  Rutilius  Rufus,  L.  Furius  Philus,  C.  Laelius,  Spurius  Mummius,  die 
Schwiegersöhne  des  Laelius  C.  Fannius  und  Q.  Mucius  Scaevola  und  der 
Jurist  M\  Manilius.  Das  Gespräch  will  Cicero  von  P.  Rutilius  Rufus  ge- 
hört haben,  als  er  bei  ihm  in  Smyrna  verweilte.  Dem  Gespräch  geht  eine 
Einleitung  voraus,  in  der  auseinandergesetzt  wird,  dass  es  Pflicht  sei,  sich 
am  Staatsleben  zu  beteiligen.^)  Das  Gespräch  selbst  nimmt  seinen  Anfang 
von  der  eben  vorgekommenen  Erscheinung  der  „duo  aoles**,  dann  wendet 
sich  dasselbe  zur  Frage  nach  der  besten  Staatsform.  Scipio  erörtert  zu- 
erst die  den  Staat  konstituierenden  Elemente,  dann  führt  er  die  drei  Ver- 


*)  1,7, 12  haec  pluribus  a  me  verbis  dicta 
sunt  ob  eam  causam,  quod  his  libris  erat 
instituta  et  suscepta  mihi  de  re  publica  dis^ 


putatio;  quae  ne  frustra  haberetur,  duhi- 
tationem  ad  rempublicam  adeundi  in 
primis  debui  tollere, 

16* 


244    RömlBche  Litteraturgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Bepublik.    2.  Periode. 


fassungsfonnen,  die  monarchische,  die  aristokratische  und  die  demokratische, 
vor;  die  beste  Verfassung  ist  ihm  diejenige,  welche  aus  den  drei  Grund- 
formen gemischt  ist.  Das  Muster  einer  solchen  Verfassung  ist  die  römische, 
das  zweite  Buch  gibt  die  geschichtliche  Entwicklung  derselben.  Im  dritten 
Buch,  von  dem  Augustin  de  civitate  dei  2,  21  eine  Inhaltsübersicht  gibt, 
verlässt  das  Gespräch  den  historischen  Boden  und  wendet  sich  wiederum 
theoretischen  Betrachtungen  zu;  das  Problem,  das  jetzt  behandelt  wird, 
ist  die  Gerechtigkeit ;  dieselbe  wird  von  Philus  als  Vertreter  einer  fremden 
Anschauung  verworfen,  von  Laelius  dagegen  verteidigt.  Jetzt  greift 
wiederum  Scipio  in  das  Gespräch  ein  und  führt  den  Gedanken  durch,  dass 
eine  Staatsform  nur  in  Verbindung  mit  der  Gerechtigkeit  ihre  Existenz 
habe.  Das  vierte  Buch  handelt  über  die  ethischen  Einrichtungen  und  die 
Erziehung  im  Staatsleben.  In  dem  fünften  Buch  war  die  Rede  von  der 
Ausbildung  des  Staatslenkers  (redor  verum  publicarum).  Über  den  Inhalt 
des  sechsten  Buchs  sind  wir  fast  ganz  im  Dunkeln,  obwohl  uns  ein  grosses 
Stück,  der  Traum  des  Scipio,  durch  Macrobius,  der  ihn  kommentierte,  er- 
halten ist.  Durch  denselben  wird  den  Männern,  die  sich  um  das  Vater- 
land verdient  gemacht,  hoher  Lohn  auch  im  Leben  nach  dem  Tode  zu  teil. 
Seinen  Stoff  entnimmt  Cicero  zumeist  aus  griechischen  Quellen,  doch  bot 
ihm  manches  auch  seine  politische  Wirksamkeit. 

Die  Entstehungsgeschichte  des  Werks  können  wir  aus  dem  ciceroni- 
schen  Briefwechsel  abnehmen.  Dasselbe  wurde  begonnen  im  Mai  des  J.  54 
auf  dem  Cumanum  und  dem  Pompeianum.  Allein  die  Arbeit  schritt  nur 
langsam  fort,  öfters  änderte  Cicero  Plan  und  Komposition.  ^)  Im  Oktober 
waren  zwei  Bücher  fertig,  das  Ganze  sollte  aber  neun  Bücher  werden, 
welche  die  Gespräche  von  neun  Tagen  umfassten.  Als  er  die  fertig  ge- 
wordenen Bücher  Sallust  vorlas,  fand  derselbe  die  Einführung  toter  Per- 
sonen anstössig  und  wünschte  Cicero  als  Sprecher.  Er  beabsichtigte  nun, 
sich  und  seinen  Bruder  Quintus  als  Redende  einzuführen.  Allein  er  führte 
diesen  Plan  nicht  durch,  nur  soviel  ward  an  der  früheren  Komposition  ge- 
ändert, dass  statt  der  neun  Tage  nur  drei  angesetzt  wurden  (Lael.  4, 14) 
und  jeder  Tag  zwei  Bücher  zugewiesen  erhielt.  Allein  bis  zur  Vollendung 
oder  wenigstens  bis  zur  Bekanntmachung  des  Werkes  gingen  noch  einige 
Jahre  hin;  erst  im  Jahre  51  las  es  Atticus  (ad  Attic.  5, 12, 2),  auch  schrieb 
um  diese  Zeit  Caelius  an  Cicero,  dass  die  Bücher  allgemein  gelesen  werden 
(Ep.  8, 1,4).*)  Im  J.  50  erfuhr  Cicero  aus  dem  Briefwechsel  mit  Atticus, 
dass  seinem  Freunde  das  Werk  sehr  gefiel. 

Das  Werk  war  dem  Mann  gewidmet  (1,  8, 13),  mit  dem  er  als  einem 
adolescentulus  ^)  von  P.  Rutilius  Rufus  das  Gespräch  in  Smyrna  vernommen 
haben  will ;  die  Erwägung  aller  Umstände  führt  auf  seinen  Bruder  Quintus. 


*)  Aus  den  Worten  de  div.  2, 1, 3  hU 
Ubris  adnumeraftdi  sunt  sex  de  republica, 
quo8  tum  scripsimus,  cum  gubemacula  rei" 
publicae  tenebamus  will  Richabz,  De  Politi- 
carum  Cic,  Uhrorum  tempore  natali,  W2bg.l829 
p.  9  schliessen,  dass  Cicero  in  seinem  Kon- 
snlatsjahr  oder  1 — 2  Jahre  nach  demselben 
den  Bohentwurf  gemacht  und  im  J.  54  erst 
diesen  in  die  dialogische  Form  gebracht  habe. 


Allein  diese  Ansicht  ist  nnhaltbar;  der  Aus- 
druck gubemacula  reipublicae  tenebamus 
braucht  nicht  in  dieser  engen  Bedeutung 
gefasst  zu  werden. 

*)  Im  wesentlichen  hat  bereits  Richabz 
1.  c.  p.  13  dies  hervorgehoben. 

*)  Es  kann  deshalb  nicht  an  Atticus 
gedadit  werden;  denn  Cicero  konnte  wohl 
nur  dann  die  Jugend  seines  Begleiters  ein- 


CioeroB  philosophische  Schriften. 


245 


Den  Inhalt  der  zwei  ersten  Bücher  gibt  Scipio  an  2,  39,  65  de  optima  autem  statu 
equidetn  arbitrabar  me  satis  respondisse  ad  id,  quod  quatsierat  Laelius  Primum  enim 
numero  definieram  genera  civUatum  tria  probabilia,  perniciosa  autem  tribus  Ulis  totidem 
contraria,  nuUumque  ex  eis  unum  esse  Optimum,  sed  id  praestare  singulis,  quod  e  tribus 
primis  esset  modice  temperatum.  Quod  autem  exemplo  nostrae  civitatis  usus  sum,  non  ad 
definiendum  Optimum  statum  valuit  —  nam  id  fieri  potuit  sine  exemplo  —  sed  ut  dvit^Ue 
maxima  reapse  cemeretur,  quate  esset  id,  quod  ratio  oratioque  describeret. 

Die  EniBtehungsgeechichte  des  Werks  beleuchtet  besonders  folgende,  Ende  Oktober 
oder  Anfang  November  54  geschriebene  Stelle  (ad  Q.fr.  3,  5, 1):  Quod  quaeris,  quid  de  Ulis 
libris  egerim,  quos  cum  essem  in  Cumano,  scribere  institui,  non  cessavi  neque  cesso,  sed 
saepe  iam  scribendi  totum  consilium  raiionemque  mutavi;  nam  iam  duobus  f actis  libris,  in 
quibus  novendialibus  iis  feriis,  quae  fuerunt  Tuditano  et  Aquilio  consulibus,  sermo  est  a 
me  institutus  Africani  paullo  ante  mortem  et  Laelii,  Phili,  Manilii,  F.  Rutilii,  Q.  Tuberonis 
et  Laelii  generorum,  Fannii  et  Scaevciae,  sermo  autem  in  novem  et  dies  et  libros  distributus 
de  optima  statu  civitatis  et  de  optima  cive  —  ii  libri  cum  in  Tusculano  mihi  legerentur 
audiente  Salfustio,  admonitus  sum  ah  illo  multo  maiore  auctoritate  Ulis  de  rebus  dici  passe, 
si  ipse  loquerer  de  re  publica,  praesertim  cum  essem  non  Heraclides  Ponticus,  sed  consularis 
et  is,  qui  in  maximis  versatus  in  re  publica  rebus  essem;  quae  tam  antiquis  hominibus  attri' 
buerem  ea  visum  iri  ficta  esse;  oratorum  sermonem  in  Ulis  nostris  libris,  qui  essent  de 
ratione  dicendi,  belle  a  me  removisse,  ad  eos  tamen  rettulisse,  quos  ipse  vidissem;  Aristotelem 
denique,  quae  de  re  p^iblica  et  praestanti  viro  scribat,  ipsum  loqui.  Commovit  me,  et  eo  magis, 
quod  maximos  motus  nostrae  civitatis  attingere  non  poteram,  quod  erant  inferiores  quam 
iüorum  aetas,  qui  loquebantur;  ego  autem  id  ipsum  tum  eram  secutus,  ne  in  nostra  tem- 
pora  incurrens  offenderem  quempiam.  Nunc  et  id  vitabo  et  loquar  ipse  tecum,  et  tamen  Uta, 
quae  institueram,  ad  te,  si  Romam  venero,  mittam.    (Andere  Stellen  Tauchnitzausg.  p.  145.) 

Von  der  Schrift  waren  bis  zu  unserm  Jahrhundert  nur  einzelne  Citate  und  der  Traum 
des  Scipio  bekannt;  Ajvoblo  Mai  entdeckte  in  dem  vatikanischen  Palimpsest  5757  grössere 
Bmchst&cke  des  Werks  und  gab  dieselben  1822  heraus. 

Litteratur:  M.  TuUii  Ciceronis  de  republica  quae  supersunt,  £d.  A.  Mai,  Stuttg. 
1822.  (Über  den  Palimpsest  vgl.  Franoken,  Mnemos.  1885  p.  288.  Pfaff,  de  diversis 
manibus  quibus  Ciceronis  de  republica  libri  in  codice  Vaticano  correcti  sunt,  Heidelb.  1883.) 
Ausgaben  von  Heikrich  (Bonn  1823),  Stbikackeb  (Leipz.  1823),  Moser  (Frankf.  1826), 
OsAim  (Götting.  1847).  Das  Somnium  Scipionis  mit  deutscher  Erklärung  von  C.  Meissner 
(Teubner).  Zachariab,  Staatswissensch.  Betrachtungen  Ober  Ciceros  Werk  vom  Staate, 
Heidelb.  1823.  Schubert,  Quos  Cicero  in  libro  I  et  II  de  republica  auctores  secutus  esse 
videatur,  Würzb.  1883.    Corssen,  De  Posidonio  —  in  somnio  Scipionis  auctore,  Bonn  1878. 

169.  De  legibus  1.  m.  Ausdrücklich  als  Ergänzung  zu  den  Büchern 
über  den  Staat  schrieb  Cicero,  dem  Beispiel  Piatos  folgend,  die  über  die 
Gesetze.  Auch  sie  haben  dialogische  Einkleidung.  Cicero  unterhält  sich 
mit  seinem  Bruder  Quintus  und  mit  Atticus  zuerst  in  den  schattigen  Spazier- 
gängen seines  Landgutes  bei  Arpinum,  dann  vom  zweiten  Buch  an  auf  der 
nahen  Insel  des  Flusses  Fibrenus  (2, 1, 1  2,  3, 6).  Für  das  Gespräch  war 
ein  Tag  bestimmt  (2,27,69).  Erhalten  sind  uns  drei  Bücher,  und  auch 
diese  nicht  ohne  Lücken  (1,22,57  2,16,41  2,21,54  3,8,18).  Im  ersten 
Buch  wird  der  Satz  durchgeführt,  dass  das  Recht  von  der  Natur  stammt; 
im  zweiten  werden  die  sakralen  Gesetze  aufgestellt  und  erklärt,  im 
dritten  die  Behördenorganisation  dargelegt  und  erläutert.  Die  entworfenen 
Gesetze  sind  in  altertümelnder  Sprache  abgefasst.  Das  Werk  ist  nicht 
vollendet;  Macrobius  6, 4, 8  citiert  noch  ein  fünftes  Buch.  Am  Schluss  des 
dritten  wird  eine  Untersuchung  „de  potestatum  iure*'  angekündigt.  Wie  viel 
Bücher  es  waren,  wissen  wir  nicht.  Die  Quellenfrage  bedarf  für  diese  Schrift 
noch  einer  genaueren  Erörterung;  soviel  ist  aber  sicher,  dass  auch  hier 


seiüg  hervorheben,  wenn  derselbe  jünger  war 
als  er  selbst;  Atticus  war  aber  nm  3  Jahre 
älter.  Auch  hat  Cicero  im  Brutus  3, 14 — 4, 16, 
wo    er   von    dem    ihm    dedicierten   annalis 


spricht,  mit  keiner  Sübe  angedeutet,  dass 
ein  Gegengeschenk  vorliege,  im  Gregenteil 
er  stellt  eine  Gegenleistung  in  Aussicht. 
(Wachsmutb,  Leipz.  Stud.  11, 197.) 


246    Bömische  Litteratnrgesohiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


zumeist  griechische  *)  Quellen  voriagen  (3,5,13  3,6,14  2,6,15  1,21,55). 
Für  die  Zeit  des  Gesprächs  muss  das  Intervallum  Jan.  52  bis  Mai  51  an- 
gesetzt werden;  denn  2, 17, 42  setzt  den  Tod  des  Clodius  voraus,  der  Jan.  52 
erfolgte,  im  Mai  51  begab  sich  aber  Cicero  in  seine  Provinz  Gilicien,  also 
konnte  er  später  nicht  wohl  eine  Unterredung  auf  dem  Arpinum  ansetzen. 
Es  scheint  aber,  dass  auch  in  dieser  Zeit  das  Gespräch  geschrieben  wurde; 
denn  die  Leges  hängen  ja  aufs  innigste  mit  den  Büchern  über  den  Staat 
zusammen  und  in  den  letzteren  wird  fortwährend  auf  die  ersteren  Bezug 
genommen.  Allein  zum  Abschluss  kamen  diese  die  Republik  ergänzenden 
Bücher  damals  nicht;  sie  lagen  dem  Publikum  nicht  vor  im  J.  46,  denn  sonst 
hätte  Ätticus  (Brutus  5, 19)  nicht  sagen  können,  dass  Cicero  seit  den  Büchern 
über  die  Republik  nichts  mehr  veröffentlichte ;  selbst  in  den  Jahren  45  und  44 
schweigt  noch  Cicero  von  denselben,  weder  in  der  Einleitung  zu  dem  vierten 
Buch  der  Tusculanen  noch  in  der  Vorrede  zu  dem  zweiten  Buch  der 
Divinatio  spricht  er  von  ihnen.  Man  darf  daher  die  Vermutung  aussprechen, 
dass  diese  Bücher  gar  nicht  von  Cicero  herausgegeben,  sondern  erst  aus 
seinem  Nachlass  veröffentlicht  wurden.  Auch  steht  nicht  einmal  das  fest, 
ob  sie  überhaupt  ganz  zum  Abschluss  kamen.  Wenigstens  scheint  aus 
Ep.  9,2,5  hervorzugehen,^)  dass  Cicero  noch  im  J.  46  mit  dem  Werk  be- 
schäftigt war. 

Cicero  verweist  anf  de  republica:  1,  5,  15  quoniam  scriptum  est  a  te  (sagt  Atticus) 
de  optima  reipublicae  statu,  eonsequens  esse  videtur,  ut  scr%b<%s  tu  idem  de  legibus,  1,  6,  20 
1,  9,  27  2, 10, 23  3, 2, 4  3,  5, 13  3, 17,  38. 

Leitende  Stellen:  1,6,20  repetam  stirpem  iuris  a  natura,  qua  duce  nohis  omnis  est 
disputatio  explicanda.  1,  10,  28  nihil  est  profecto  praestabilius  quam  plane  inteUegi  nos  ad 
iustitiam  esse  natos,  neque  opinione,  sed  natura  constitutum  esse  ius.  2, 4,  8  videamus  prius- 
quam  adgrediamur  ad  leges  singutas^  vim  naturamgue  legis,  2,  7, 17  exprome  (sagt  Quintus 
Cicero),  si  placet,  istas  leges  de  religione,  worauf  Cicero  unter  anderem  erwidert:  leges  a 
me  edentur  non  perfectae  (nam  esset  infinitum)  sed  ipsae  summae  rerum  aique  sententiac. 
Am  Schluss  des  zweiten  Buchs  hodierno  sermone  conficiam,  spero,  hoc  praesertim  die; 
Video  enim  Platonem  idem  feeisse,  omnemque  orationem  eius  de  legibus  peroratam  esse  uno 
aestivo  die.  Sic  igitur  faeiam  et  dicam  de  magistratihus;  id  enim  est  profecto,  quod  con- 
stituta  religione  rem  publicam  contineat  maxime.  Am  Schluss  des  dritten  Bucns  heisst  es 
3,  20,  47  de  iudiciis  arbiträr  (dicendum);  id  est  enim  iunctum  magistratibus\  3,  20,  48 
faciendum  tibi  est,  ut,  magistratihus  lege  constitutis  de  potestatum  iure  disputes. 

Üher  die  Zeit  der  Abfassung  handelten  Chafmak,  Dissert,  de  aetate  chronol,  —  in 
TunstaU  Ep,  ad  Middleton,  Cambr.  1741,  der  die  Schrift  etwa  44  ansetzt;  gleicher  Ansicht 
ist  Peteb  in  seiner  Ausg.  des  Brutus  p.  270,  der  die  Schrift  nach  Brutus  entstanden  sein 
lässt.  Dagegen  FbldhÜoel  Ausg.  p.  XaYI.  Vgl.  DBUMAim  6,  105.  Horrmaitn,  de  tempore, 
quo  —  scripsisse  videatur,  Detm.  1845. 

Die  Überlieferung  beruht  auf  den  beiden  Yossiani  84  und  86,  der  Heinsianus  118 
hat  denselben  gegenüber  nur  die  Bedeutung  einer  Ergänzung  da,  wo  die  Lesarten  der 
beiden  ersten  Codices  nicht  sicher  eruiert  werden  können. 

Xitteratur:  Ausgaben  von  Davis  (neu  besorgt  von  Rath),  Halle  1809;  Moser  und 
Cbeuzer,  Frankf.  1824;  Bake,  Leyden  1842;  Feldhüoel,  Zeitz  1852.  Massgebende  kritische 
Ausg.  von  Vahlen,  2.  Aufl.  1883.  Mit  deutscher  Erklärung  von  Du  Mesnil  (Teubner). 
Über  die  entworfenen  Gesetze  und  die  altertfimelnde  Sprache  handelt  Jordan,  Krit.  Beitr.  p.  230. 

160.  Paradoxa  Stoicomm  ad  M.  Bmtum.    Durch  diese  Schrift  will 


')  über  Antiochus  als  Quelle  vgl.  Hoter, 
De  Antiocho  p.  15. 

')  Cicero  will,  si  nemo  utetur  opera,  tarnen 
et  scribere  et  legere  noXireiag  et  si  minus 
in  curia  atque  in  foro,  at  in  litteris  et  libris 
—  gubernare  rem  publicam  et  de  moribus 


ac  legibus  quaerere.  Vielleicht  ist  auch 
hieher  zu  ziehen  eine  SteUe  eines  Briefs  ad 
Attic.  13,  22, 1  aus  dem  Jahre  45  te  autem 
düfASvaitaxa  intexui  (nämlich  in  den  Acade- 
mica)  faciamque  id  crebrius.  In  den  Leges 
ist  ja  Atticus  redend  eingeführt. 


Cioeros  philosophisohe  Sohriften.  247 

Cicero  zeigen,  dass  man  auch  Sätze,  welche  mit  dem  gewöhnlichen  Be* 
wosstsein  in  Widerstreit  stehn  {naqddo^a^  admirabäia),  rhetorisch  behandeln 
und  verständlich  machen  kann.  Es  sind  folgende  Paradoxa:  1)  Das  sitt- 
lich Gute  ist  das  alleinige  Gut  (§  9);  2)  die  Tugend  ist  für  das  Glück 
ausreichend  (§  19);  3)  alle  Vergehen  und  alle  guten  Handlungen  sind  sich 
gleich  (§21);  4)  von  dem  vierten  Paradoxon,  dass  der  Thor  allein  wahn- 
sinnig ist,  sind  nur  einige  Worte  des  Anfangs  erhalten;  von  dem  folgenden 
ist  der  Anfang  verloren ;  es  lautet:  der  Weise  ist  allein  Bürger,  die  Thoren 
dagegen  sind  Verbannte  (§  31);  5)  der  Weise  ist  allein  frei  (§  34);  6)  der 
Weise  ist  allein  reich  (§  52).  Die  Kunst  der  Behandlung  zeigt  sich  be- 
sonders in  der  Anwendung  der  Frage  und  des  Beispiels.  Philosophischer 
Wert  ist  dem  Schriftchen  nicht  beizumessen;  es  ist  eine  rhetorische  Übung. 
Für  die  Zeit  der  Abfassung  ist  die  Vorrede  entscheidend;  hier  ist  von 
Cato  als  einem  noch  Lebenden  die  Rede;  Cato  tötete  sich  aber  im  April 
d.  J.  46.  Sonach  muss  das  Schriftchen  vor  diese  Zeit  fallen;  aber  es  muss 
nach  dem  Brutus  geschrieben  sein,  denn  Brutus  5, 19  wird  ausdrücklich 
gesagt,  dass  zwischen  der  Republik  und  dem  Brutus  kein  Werk  inmitten 
Hegt.  Der  Brutus  ist  aber  ebenfalls  im  J.  46  geschrieben.  Da  nun  §  5 
der  Vorrede  auf  das  Frühjahr  hinweist,  so  werden  wir  als  Entstehungszeit 
des  Traktates  Frühjahr  46  ansetzen. 

Den  Charakter  der  Schrift  bestimmt  der  Verfasser  in  der  Vorrede:  ego  tibi  Ula  ipsa, 
quae  vix  in  gymnasiia  et  in  otio  Staici  probant,  ludena  conieci  in  communes  locos,  Quae 
quia  sunt  admirdbUia  contraque  opinionem  omnium,  temptare  volui  possentne  proferri  in 
lucem  et  ita  dici,  ut  probarentur,  an  alia  quaedam  esset  erudita,  alia  popularis  oratio, 
eoque  hos  locos  scripsi  libentius,  quod  mihi  ista  nagddoia  quae  appeUant  maxime  videntwr 
esse  Socratica  longeque  verissima.  Äccipies  igitur  hoc  parvum  opusculum  his  iam  eon- 
tractioribus  noctibus,  quoniam  illud  maiorum  fHgiliarum  munus  in  tuo  nomine  ap- 
paruit,  et  degustabis  genus  exercitationum  earum,  quibus  uti  consuevi,  cum  ea,  quae  dieuntur 
in  scholis  &erixt5s,  ad  nostrum  hoc  Oratorium  transfero  dicendi  genus. 

Ober  die  Überb'eferung  vgl.  zu  §  164  p.  253. 

Litteratur:  Mobobnstebn,  Prolegomena  in  P,  in  Fbiedemanks  nnd  Sbebodbs  Mise, 
crit.  1, 386.    Ausgaben  von  Obblli  (mit  den  Tusculanen),  Zürich  1829.    Mosbb,  Gott.  1846. 

161.  De  finibus  bonomm  et  malomm  1.  Y.  Als  die  relativ  be- 
deutendste philosophische  Schrift  Ciceros  wird  das  dem  M.  Brutus  gewid- 
mete Werk  in  fünf  Büchern  über  das  höchste  Gut  und  Übel  betrachtet. 
Er  schrieb  dasselbe  im  J.  45  auf  seiner  Villa  in  Astura.  Wir  erhalten 
in  dem  Werk  drei  der  Zeit  und  dem  Ort  nach  verschiedene  Gespräche. 
Das  erste  Gespräch  fand  angeblich  statt  im  J.  50  auf  der  ciceronischen 
Villa  in  Cumae.  Der  Hauptredner  ist  L.  Manlius  Torquatus,  welcher  die 
epikureische  Lehre  vom  höchsten  Gut  im  ersten  Buch  entwickelt ;  ihm  ent- 
gegnete Cicero  im  zweiten  Buch.  Der  dritte  Teilnehmer  am  Gespräch, 
G.  Valerius  Triarius,  hält  sich  ganz  im  Hintergrund.  Das  zweite  Gespräch 
wird  in  das  Jahr  52  verlegt;  als  Ort  der  Unterredung  das  Tusculanum 
des  LucuUus  angenommen.  M.  Cato  entwickelt  im  dritten  Buch  die  stoische 
Doktrin  vom  Thema;  ihm  entgegnet  wiederum  Cicero  im  vierten  Buch  vom 
akademischen  Standpunkt  aus,  besonders  den  Gedanken  durchführend,  dass 
die  stoische  Doktrin  im  wesentlichen  mit  der  alten  peripatetisch-akademi- 
schen  im  Einklang  stünde.  Das  dritte  Gespräch  wird  im  J.  79  in  Athen 
gehalten;  hier  vertritt  im  fünften  Buch  M.  Pupius  Piso  vor  Cicero  und 
andern  die  Lehre   der  Akademiker  und  Peripatetiker  vom   höchsten  Gut 


248    BOmiflche  LitteratnrgeBohichte«    I«  Die  Zeit  der  Bepablik.    2.  Periode. 

nach  der  Anleitung  des  Antiochus;  auf  seine  Darlegung  wird  von  Cicero 
nur  weniges  erwidert.  Aus  dieser  Skizze  ersieht  man,  dass  im  vierten 
und  fünften  Buch  zum  grossen  Teil  dieselben  Dinge  behandelt  werden 
mussten.  Auch  das  erhellt  selbst  bei  oberflächlicher  Lektüre,  dass  ein 
selbständiger  Aufbau  und  eine  philosophische  Durchdringung  des  Stoffs 
nicht  stattgefunden.  Der  Schwerpunkt  der  Schrift  ruht  in  der  Yergleichung 
der  verschiedenen  Theorien,  aber  auch  hier  vermisst  man  oft  eine  tiefere 
Begründung  der  ethischen  Prinzipien  aus  dem  ganzen  philosophischen 
System  heraus.  Auch  in  diesem  Buch  ist  Cicero  seiner  Methode,  philo- 
sophische Schriften  zusammenzuschreiben,  treu  geblieben;  er  kompiliert 
einige  Handbücher.  Dadurch  ist  es  gekommen,  dass  oft  der  dogmatische 
und  der  polemische  Teil  gar  nicht  miteinander  harmonieren,  ^  weil  eben 
die  ausgeschriebenen  Handbücher  nicht  für  einander  berechnet  waren.  Diese 
Handbücher  mit  Sicherheit  zu  ermitteln,  ist  nicht  möglich.  Fest  steht, 
dass  im  vierten  und  fünften  Buch  eine  Schrift  des  Antiochus  von  Ascalon 
benützt  ist.  Bezüglich  der  anderen  Bücher  sind  nur  Vermutungen  gestattet. 
Die  Form  des  Werks  ist  der  aristotelische  Dialog,  d.  h.  der  Scheindialog. 

Über  den  Titel  der  Scbrift  gibt  Aufschluss  5, 8, 23  haec  quaestio  de  finibus  et  quasi 
de  extremis  bonorum  et  malorum.  3,  7,  26  sentis,  credo,  me  tarn  diu,  quod  riXog  Graeci 
dicunt,  id  dicere  tum  extremum,  tum  ultimum,  tum  aummum;  licebit  etiam  finem  pro  ex- 
tremo  aut  ultimo  dicere,    3, 17, 55  2, 2, 4. 

Das  Ziel  legen  dar  die  Stellen:  1,4, 11  his  libris  quaeritur,  qui  sit  finis,  quid  ex- 
tremum,  quid  ultimum,  quo  sint  omnia  hene  vivendi  recteque  faciendi  eonsilia  referenda, 
quid  sequatur  natura  ut  summum  ex  rebus  expetendis,  quid  fugiat  ut  extremum  malorum? 
1, 4, 12  hane  omnem  quaestionem  de  finibus  bonorum  et  malorum  fere  a  nobis  expHcatam 
esse  his  litteris  arbitramur,  in  quibus,  quantum  potuimus,  non  modo  quid  nobis  probaretur, 
sed  etiam  quid  a  singulis  philosophiae  disciplinis  diceretur,  persecuti  sumus. 

Die  Zeit  der  Entstehung  gibt  uns  der  Briefwechsel  an  Atticus  an  die  Hand.  Im 
Juli  45  schreibt  Cicero  (13, 21, 4):  scripsit  BaUms  ad  me  se  a  te  quintum  „de  finibus^  librum 
descripsisse,  in  quo  non  sane  muUa  mutavi,  sed  tamen  quaedam;  tu  autem  eommode  feceris, 
si  reliquos  continueris,  ne  et  adioQ&oita  habeat  Balhus  et  iwXa  Brutus;  ebenda  §  5  mirifice 
CctereUia  studio  videlicet  philosophiae  fiagrans  describit  a  tuis:  istos  ipsos  „de  finibus**  habet. 

Die  Quellenfrage  behandelt  Hibzbl,  Untersuchungen  ü.  Teil  2.  Abt.  p.  567 — 721. 

Dass  fOr  das  5.  Buch  Cicero  Antiochus  ausgescluieben,  erhellt  aus  3,  8  5, 14  6, 16 
Carneadia  nobis  adhibenda  divisio  est,  qua  noster  Antiochus  libenter  uti  solet,  27,  81  sdo 
ab  Antiocho  nostro  dici  sie  solere.  Madyios  Annahme  einer  zweiten  Quelle  beseitigt  Hibzel 
p.  691.  Auch  fOr  das  4.  Buch  ist  Antiochos  Quelle,  nur  die  am  Schluss  stehende  Kritik 
der  stoischen  Paradoxa  (27, 74)  will  Hibzel  p.  629  ausgenonunen  wissen.  Im  1.  Buch  folgt 
Cicero  einem  jüngeren  Epikureer,  sei  es  dass  dies  Zeno  oder  Philodem  war  (Hibzel  p.  690). 
Die  Kritik  der  epikureischen  Lehre  im  2.  Buch  will  Madvig  auf  Chrysippus,  Zietzsohxakn, 
de  Tusc,  fontibus  p.  8  auf  Panaetius,  Hibzbl  auf  dieselbe  Schrift  des  Antiochos  zurück- 
führen, der  auch  das  4.  und  5.  Buch  entnommen  ist  (p.  656).  Als  QueUe  des  3.  Buchs 
wurde  von  Pbtebsen  Chrysippus,  von  Madvig  Diogenes  oder  doch  ein  Anhänger  desselben, 
für  einzelne  Teile  aber  Chiysippus  und  Panaetius  oder  Posidonius  aufgesteUt  (Excurs.  V 
p.  845).  Hibzel  dagegen  kommt  durch  seine  Untersuchung  auf  Hecaton  als  Quelle  (p.  619). 
Hoyeb,  de  Antiocho  ^.  1 — 10  nimmt  weitgehende  Benutzung  des  Antiochus  an. 

Die  grossen  Schwächen  in  der  philosophischen  Au&assung  berührt  auch  Madvig 
Ausg.  p.  LXY. 

Überlieferung:  Die  besten  Textesquellen  sind  vor  allem   der  Codex  Palatinus 
Vaticanus  nr.  1513  s.  XI,  der  bis  4,  7, 16  reicht,  dann  die  auf  eine  Quelle  zurückgehenden 
Palatinus-Vaticanus  1525  s.  XY  und  Erlangensis  nr.  38  s.  XV. 

Litteratnr:  Enochemachende  Ausg.  von  Madvig  3.  Aufl.,  Kopenh.  1876.  Englische 
Ausgabe  von  Reid  3  Teile,  Cambridge  1883;  von  Holstein  (Teubner). 

162.  Academica.  Im  Jahr  45  schrieb  Cicero  die  akademischen  Unter- 
suchungen in  zwei  Büchern.    Die  Hauptträger   des   angeblich  zuerst  auf 

0  Hibzel  1.  c.  p.  628  und  p.  636. 


Ciceros  philoBophisohe  Schriften.  249 

einer  Villa  des  Catulus  an  der  campanischen  Küste,  dann  am  folgenden 
Tag  auf  der  Villa  des  Hortensius  bei  Bauli  gehaltenen  (pr.  3,  9)  Gesprächs 
waren  Q.  Lutatius  Catulus  (Gons.  78),  der  Sohn  des  aus  dem  Cimbemkrieg 
bekannten  Catulus,  und  L.  Licinius  Lucullus  (Cons.  74),  als  Nebenpersonen 
erschienen  Hortensius  und  Cicero  selbst.  Die  beiden  Bücher  wurden  nach 
den  beiden  Hauptpersonen  Catulus  und  Lucullus  genannt.  So  liess  Atticus 
die  Bücher  abschreiben.  Die  Erkenntnis,  dass  Catulus  und  Lucullus  sich 
nicht  als  Träger  der  spinösen  Untersuchungen  eigneten,  führte  ihn  zu 
einem  neuen  Plan,  die  Hauptrollen  dem  Cato  und  dem  M.  Brutus  zuzuteilen. 
Allein  kaum  war  dies  geschehen,  so  stellte  sich  die  Notwendigkeit  ein, 
das  Werk  noch  durchgreifender  umzugestalten.  Cicero  hatte  nämlich  von 
Atticus  erfahren,  dass  der  Polyhistor  Varro  den  lebhaftesten  Wunsch  hege, 
Cicero  möge  ihn  durch  eine  Schrift  auszeichnen.  Daraufhin  erweiterte 
Cicero  das  Werk  zu  vier  Büchern  und  gab  dem  Varro  eine  hervorragende 
Stelle,  ausserdem  beteiligten  sich  noch  am  Gespräch,  das  auf  die  varro- 
nische  Villa  bei  Cumae  verlegt  wird,  Cicero  und  Atticus.  Mit  einem  uns 
in  der  Ep.  9, 8  erhaltenen  Dedikationsschreiben  wurden  die  Bücher  an 
Varro  geschickt.  Dem  Publikum  lagen  jetzt  zwei  Ausgaben  vor.  Von 
der  ersten  Bearbeitung  (Äcademka  priora)  haben  wir  das  zweite  Buch, 
den  Lucullus,  von  der  zweiten  (Academica  posteriora)  ist  uns  das  erste 
Buch  (freilich  nicht  vollständig)  erhalten  und  mehrere  Fragmente.  Das 
Werk  behandelt  das  Problem  der  Gewissheit  der  Erkenntnis.  In  dem 
zweiten  Buch  der  ersten  Bearbeitung  verteidigt  Lucullus  die  Möglichkeit 
der  Erkenntnis,  er  schliesst  sich  hier  dem  Antiochus  und  zwar  höchst- 
wahi*scheinlich  dem  Sosus  desselben  an;  der  Darlegung  des  Lucullus  folgt 
Cicero  mit  einer  Verteidigung  der  Skepsis,  wohl  im  Anschluss  an  eine 
Schrift  Philons.  In  dem  Fragment  der  späteren  Bearbeitung  gibt  Varro 
einen  Abriss  der  philosophischen  Schulen  bis  auf  Carneades.  Auch  hier 
folgt  er  dem  Antiochus. 

Einige  Stellen  Aber  die  Komposition  des  Werks:  ad  Attic.  13,  19,  4  quae  his  Um- 
poribus  acripsij  'JfftaxojäXeioy  morem  habentf  in  quo  sermo  ita  indueUur  ceterorum,  ut  penes 
ip9um  8Ü  principatua.  —  Haec  Academica,  ut  acis,  cum  Catulo,  LucuUo,  Hortensie  contu- 
leram.  13, 32, 2  Tarquatus  Romae  est:  misi,  ut  tibi  daretur,  CkUulum  et  LucuÜum,  ut 
opinw,  antea:  his  liSris  novo  prooemia  sunt  addita,  quibus  eorum  uterque  laudatur.  Nach 
Krischb,  Gott  Stud.  p.  140  wftren  diese  Prooemien  erst  hinzugesetzt  worden,  nachdem  die 
Bficher  bereits  vom  Fubliknm  gelesen  waren.  13, 16, 1  quia  na^d  to  nf^inov  videbatur, 
quod  erat  haminibus  nota  non  üla  quidem  anatdevaia,  sed  in  iis  rebus  aiQi^ia,  simul  ac 
reni  ad  viUam,  eosdem  illos  sermones  ad  Catonem  Brutumque  transttäi,  13, 12,  3  ergo  illam 
^AxadrifAlxrjv y  in  qua  homines  nobiles  Uli  quidem,  sed  nullo  modo  philoloffi  nimis  acute 
loquuntur,  ad  Varronem  transferamus ,  etenim  sunt  Äntiochia,  quae  iste  valde  prob<U. 
13, 19, 3  aus  dem  J.  45  (Juli),  dialogos  (nämlich  die  akademischen)  eonfeci  et  absolvi  nescio 
quam  bene,  sed  ita  aecurate,  ut  nihil  possit  supra,  Academicam  omnem  quaestionem  libris 
quattuor.  In  eis,  quae  erant  contra  axaxaXijtffiay  praeelare  coUecta  ab  Antiocho,  Varroni 
dedi;  ad  ea  ipse  respondeo;  tu  es  tertius  in  sermone  nostro. 

Das  Verhältnis  der  beiden  Ausgaben  bespricht  Cicero  13, 13, 1  commotus  tuis  litteris, 
quod  ad  me  de  Varrone  scripseras,  totam  Academiam  ab  haminibus  nobilissimis  absttUi, 
transtuUque  ad  nostrum  sodalem  et  ex  duobus  libris  eontuli  in  quattuor:  grandiores  sunt 
omnino,  quam  erant  Uli,  sed  tarnen  multa  detracta.  —  Libri  quidem  ita  exierunt  —  nisi 
forte  me  communis  fpiXaviia  decipit  —  ut  in  UUi  genere  ne  apud  Graecos  quidem  simile 
quidquam.  Tu  illam  iacturam  feres  aequo  animo,  quod  üla,  quae  habes  de  Academicis, 
frustra  descripta  sunt;  muUo  tamen  haec  erunt  splendidiora,  breviora,  meliora.  Krische 
(p.  188)  bestimmt  das  Verhältnis  näher  dahin,  dass  das  erste  und  zweite  Buch  der  zweiten 
Ausgabe  dem  Catulus,  das  dritte  und  vierte  aber  dem  Lucullus  entsprachen. 


250     HOmisohe  LitteraturgeBohichte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 


Die  Quellenfrage  behandeln  Kbische  1.  c.  p.  191 — 200;  Hibzbl,  Unters.  3, 251.  Be- 
züglich der  Acad.  pr,  vgl.  4, 12  tum  et  Uta  dixit  ÄntiochuSf  quae  heri  CtUtdus  cammemoramt 
a  patre  suo  dicta  Philini,  et  alia  plura,  nee  se  tenuit,  quin  contra  auum  doctorem  librum 
etiam  ederet,  qui  Sosus  inscribitur.  Für  die  Erwiderung  Ciceros  hatte  Kbibche  (p.  194) 
GlitomachuB  und  Chrysippus,  femer  eine  historische  Darstellung  der  Ansichten  vom  tdXog 
(p.  195),  Erantor  negl  niv^ovq  (p.  196),  Lucrez  als  Quellen  angesehen.  Dieser  Vielheit 
der  Quellen  gegenüber  stellt  Hibzbl  den  Satz  auf  (p.  318),  dass  eine  Schrift  Philons  die 
Quelle  der  ciceronischen  Darstellung  war;  nur  32, 102 — 104  und  45, 137  sei  eine  Schrift 
des  Clitomachus  eingesehen  worden.  Reid  will  Clitomachus  als  die  Hauptquelle  für  die 
ciceronische  Erwiderung  angesehen  wissen.  Die  Partie  112 — 146  vindiziert  dem  Antiochus 
HoTEB,  De  Antiocho  p.  8.  —  Die  Quelle  der  Aead.  posteriora  stellen  die  oben  ausgehobenen 
Briefstellen  ausser  Zweifel.    Vgl.  Kbische  p.  199.    (Sghwei^ke,  Phil.  Rundschau  4, 878.) 

Überlieferung:  Von  den  Acad.  posteriora  sind  nur  junge  Handschriften  vorhanden, 
für  die  Acad.  priora  kommen  in  Betracht  die  beiden  Vossiani  84  und  86,  der  Vindobonensis 
189  und  der  Florentinus  Marcianus  257  s.  X  (Ebbliito,  Philol.  43, 705). 

Litteratur:  Ausgaben  von  Davis,  Cambridge  1736.  Obelli  (mit  de  finibus),  Zürich 
1827.    Reid,  Cambridge  1874,  zweite  Aufl.  1885  (mit  guter  Einleitung). 

163.  Tusculanamm  disputationum  1.  V.  In  dieser  dem  Brutus  ge- 
widmeten Schrift  haben  wir  fünf  Gespräche  über  fünf  Themata,  welche  an- 
geblich nicht  lange  vorher  in  fünf  Tagen  auf  seinem  Tusculanum  gehalten 
wurden.  Die  fünf  behandelten  Themata  der  einzelnen  Bücher  sind  folgende: 
1)  Von  der  Verachtung  des  Todes;  2)  von  der  Ertragung  des  Schmerzes; 
3)  von  der  Milderung  des  Kummers;  4)  von  den  übrigen  Gemütsbewegungen; 
endlich  5)  dass  die  Tugend  für  das  glückliche  Leben  sich  selbst  genüge. 
Alle  diese  Disputationen  werden  durch  den  gemeinsamen  Grundgedanken 
zusammengehalten,  yne  der  Mensch  glücklich  werden  kann.  Die  Form  der 
Einkleidung  ist  die,  dass  von  einer  Persönlichkeit  (A)^)  eine  These  aufgestellt 
wird,  welche  dann  von  einer  zweiten  (M)  bekämpft  wird.  Diese  fünf  Thesen 
enthalten  die  negative  Fassung  der  obigen  fünf  Sätze.')  Es  sollte  die 
Wahrheit  durch  Rede  und  Gegenrede  gefunden  werden,  allein  der  Form 
der  dialektischen  Entvdcklung  ist  Cicero  nicht  gewachsen;  denn  nur  zu 
bald  stellt  sich  der  zusammenhängende  Vortrag  wieder  ein.  Eine  andere 
hervorstechende  Eigentümlichkeit  des  Werkes  ist  die  ungemein  starke 
Heranziehung  von  Dichterstellen.  Dies  hängt  aber  mit  dem  Charakter  des 
ganzen  Werks  zusammen,  das  eine  populäre  Lebensphilosophie  geben  will, 
daher  auch  rhetorischen  Charakter  trägt.  Dass  Cicero  nicht  eigene  Ge- 
danken vorführt,  ist  selbstverständlich;  welchen  Quellen  er  aber  folgt,  ist 
bei  dem  Mangel  direkter  Hinweise  sehr  schwer  festzustellen. 

Die  Zeit  der  Abfassung  ergibt  sich  wiederum  aus  dem  Briefwechsel 
mit  Atticus;  die  Schrift  wurde  begonnen  im  J.  45,  vollendet  im  J.  44. 

1,  4,  7  hanc  perfectam  phUosophiam  semper  iudicavif  quae  de  maximis  quaestionibus 
copioae  posset  ornateque  dicere,  in  quam  exercitationem  ita  nos  studioae  dedirnua,  ut  iam 
etiam  scholas  Graecorum  more  habere  auderemus;  ut  nuper  tuum  poet  diseeaaum  in  Tua- 
cuiano  cum  eaaent  complurea  mecum  familiäres,  temptatn,  quid  in  eo  genere  poaaem,  üt 
enim  antea  declamitabam  cauaaa,  quod  nemo  me  diutiua  fecit,  aic  haec  mihi  nunc  aenüia 
est  declamatio,  Ponere  iubebam,  de  quo  quia  audire  vellet;  ad  id  aut  aedena  aut  ambulana 
disputabam,  Itaque  dierum  quinque  acholas,  ut  Graeci  appellant,  in  totidem  libroa  contuli. 
Fiehat  autem  ita,  ut,  cum  ia,  qui  audire  vellet,  dixiaaet,  quid  aibi  videretur,  tum  ego  contra 
dicerem.    Haec  eat  enim,  ut  acta,  vetua  et  Socratica  ratio  contra  dUeriua  opinionem  diaae- 


')  A.  Spengel,  Die  Personenzeichen  in 
den  Tusc.  (Philolog.  48, 367). 

')  1,  5, 9  malum  mihi  videtur  eaae  mora, 
2,  5, 14  dolorem  exisfimo  maxumum  malorum 
omnium.    3,  4,  7  videtur  mihi  cadere  in  aa- 


pientem  aegritudo.  4, 4, 8  non  mihi  videtur 
omni  animi  perturbationepoaae  aapiena  vacare, 
5, 5, 12  non  mihi  videtur  ad  beate  vivendum 
aatia  poaae  virtutem. 


Ciceroa  philosophisolie  SobrUtea. 


251 


rendi.  Nam  Ua  facüUme  quid  veri  similUmum  esset,  inveniri  posse  Socrates  arbUmbatur. 
Sed  quo  commodius  dispulationes  nostrae  eacplicentur,  sie  eas  exponam,  quasi  agatur  res,  non 
q^Aosi  narretur.  Das  Endziel  aller  fünf  Gesprftche  spricht  er  de  dir.  2,  1, 2  aus:  lihri  Tus^ 
culanarum  dispiUationum  res  ad  heate  vivendum  maxime  necessarias  aperuerunt.  Primus 
enim  (liber)  est  de  cantemnenda  morte,  secundus  de  tolerando  dolore,  de  aegritudine  lenienda 
tertius,  quartus  de  reliquis  animi  perturhationibus,  quintus  —  doeet  ad  beaie  tnvendum 
virtutem  se  ipsa  esse  contentam. 

Über  die  Quellen  unserer  Schrift  handelt  0.  Heine,  de  fontibus  TStsculanarum 
disputationum,  Weim.  1863,  der  die  Quellen  des  1.  und  4.  Buchs  untersuchte.^)  Da  das 
3.  Buch  in  Bezug  auf  die  Quellenfrage  im  grossen  Ganzen  mit  dem  4.  zusammenhängt,  so 
war  das  nächste,  die  Quellen  des  2.  und  5.  Buchs  zu  untersuchen.  Dieser  Aufgabe  unterzog 
sich  ZiSTZscHXAKK,  De  Tusc,  disputationum  fontibus,  Halle  1868;  er  nahm  als  Quelle  des 

2.  Buchs  einen  Brief  des  Panaetius  an  (p.  31),  als  Quellen  des  5.  für  den  ersten  Teil 
(c.  5 — 26)  Posidonius  (p.  51),  fOr  den  zweiten  (c.  29 — 31)  Antiochus  (p.  56),  fOr  den  dritten 
(c.  31—41)  einen  späteren  Epikureer,  etwa  Phaedrus  oder  Zeno  (p.  6o).  Einen  neuen  Weg 
schlug  P.  CoBSSEN  ein  {De  Posidonio  Bhodio  —  in  libro  I.  Tusc,  Disp.  et  in  Somnio  Scipionis 
auctore,  Bonn  1878);  er  stellt  als  Quelle  des  ersten  Teils  des  1.  Buchs  Posidonius  hin. 
Vgl.  DiELS,  Rh.  Mus.  34, 487.  In  einer  späteren  Abhandlung  (Rh.  Mus.  36, 506)  dehnt  er 
die  Autorschaft  des  Posidonius  auf  das  ganze  Buch  aus.  Saltzkakk,  Über  Ciceros  Kenntnis 
der  plat.  Schriften  I.  Teil  Cleye  1885,  &.  1886  will  2, 25  den  Protrepticus  des  Posidonius 
und  die  Schrift  Erantors  negi  niv&ovg  als  Quellen  des  1.  B.  angesehen  vrissen.    Für  das 

3.  und  4.  Buch  sucht  Poppelreuteb  (Quae  ratio  intercedat  inter  Posidonii  nsQt  na^y 
nffayßaxBiaq  et  Tusc.  disp,  Cic.,  Bonn  1883  p.  5)  nachzuweisen,  dass  alles,  was  über  die 
Gemütsbewegungen  hier  mitgeteilt  wird,  auf  Posidonius  zurückzuführen  ist.  Diese  Hypo- 
these bekämpft  Hirzel,')  Untersuchungen  3, 342  f.  und  erblickt  in  einer  Schrift  Phüons 
(wahrscheinlich  der  Xoyog  xtnd  g>iXoao<play,  ygl.  p.  481)  die  Hauptquelle  der  Tusculanen. 
Allein  auch  diese  Hypothese  ruht  auf  schwachem  Fundament.  (Dagegen  Sohwekxe,  Phil. 
Rundschau  4,  876.)  Kbeüttner,  Andronici  qui  fertur  libelli  negl  naihoy  pars  prior  de 
affectibus,  Heidelb.  1884  berührt  in  Kürze  die  Quellenfrage  des  3.  und  4.  Buchs;  er  denkt 
nach  einigem  Schwanken  besonders  an  Antiochos  (p.  24  und  Anm.  3).  Weitreichende  Be- 
nützung des  Antiochus  behauptet  Hoyeb,  De  Äntiocho  Äscalonita.  Bonn  1883  p.  11 — 15. 
Auch  ÜSENER  streift  die  QueUenfrage  der  Tusculanen  (Epic.  LVU):  unde  (ex  Protreptico 
Posidonii)  Tusculanarum  disputationum  caput  quod  legitur  1.  V  24,  68 — 28, 82  petitum  est, 
Ac  Posidonii  pratrepticum  secutus  Antiochus  Ascalonita,  quem  extrema  disputatione  Tuscu- 
lana  Y  29, 83 — 41, 120  Cicero  expressit,  etc,  Fowler,  Panaetii  et  Hecatonis  fragm.,  Bonn 
1885  gibt  einiges  p.  8—10. 

Dass  der  Beginn  der  Tusculanen  in  das  Jahr  45  fällt,  ersieht  man  aus  ad  Attic. 
13,32,2  Dicaearchi  negl  ^fv^fff  utrosque  velim  mittas  et  xrcraßäaetag  .  TQinohtixoy  non 
intenio  et  epistoJam  eius,  quam  ad  Aristoxenum  misit.  Tres  eos  libros  maxime  nunc  vellem; 
apti  essent  ad  id  quod  cogito,  vgl.  Tusc.  1,11,24  (Druhann  6, 347).  13,38,1  apite  lucem 
cum  scriberem  contra  Epicureos,  ygl.  das  2.  Buch  der  Tusc.  Im  Mai  44  hatte  Atticus 
bereits  das  erste  Buch  gelesen;  denn  Cicero  schreibt  an  ihn  (15,  2,4):  Quod  prima  dispu^ 
tatio  Tusculana  te  confirmat,  sane  gaudeo.  Die  Bücher  de  finibtis  waren  bei  der  Veröffent- 
lichung der  Tusculanen  bereits  erschienen  (5,11,32). 

Überlieferung:  Die  glaubwürdigsten  Zeugen  der  Überlieferung  sind  der  Codex 
Gndianus  294  s.  IX  oder  X  und  der  Codex  Pansinus  6232  s.  X. 

Litteratur:  Ausgaben  von  Davis,  Cambridge  1738,  Oxford  1805;  Kühner,  Hannov. 
1874;  Orslli  (mit  den  Paradoxa),  Zürich  1829;  Moser  3  Bde.,  Hannov.  1836;  M.  Setffert, 
Leipz.  1864;  Schiche,  Leipz.  1888.  Deutsch  kommentierte  Ausgaben  von  Klotz,  Leipz.  1835; 
von  TisGHER-SoROF  (Weidmann),  Heine  (Teubner),  Meissner,  Leipz.  1872  u.  a. 

164.  De  deorum  natura  1.  HE.  Die  Schrift  über  das  Wesen  der 
Götter  ist  an  M.  Brutus  gerichtet.  Sie  ruht  auf  folgender  Scenerie:  In  den 
lateinischen  Ferien  (etwa  77)  kommt  Cicero  zu  G.  Aurelius  Qotta,  der  seiner 
philosophischen  Richtung  nach  Akademiker  war,  und  trifft  dort  bei  ihm 
noch  den  Epikureer  G.  Yelleius  und  den  Stoiker  Q.  Lucilius  Baibus.    Es 


')  In  der  dritten  Auflage  seiner  Ausgabe 
wiU  er  fttr  das  1.  Buch  Posidonius  und 
Krantor,  fOr  das  2.  einen  jflngeren  Stoiker, 
für  das  3.  und  4.  Chrysippus  ncQi  naStoy, 
fQr  das  5.  einen  jüngeren  Stoiker  und  einen 
Epikureer   als  Vorlagen  angesehen   wissen« 


')  Auch  Afelt  stellt  fest  (Fleckeis.  J. 
131,  532),  dass  des  Posidonius  Erklärung 
Yon  den  Affekten  eine  wesentlich  andere  war 
als  diejenige,  die  uns  im  dritten  und  vierten 
Buch  von  Ciceros  Tusculanen  entgegentritt. 
Vgl.  noch  p.  518. 


252    BOmiBohe  LitteratnrgeBcliiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    8.  Periode. 

entspinnt  sich  ein  Gespräch  über  das  Wesen  der  Oötter.  Zuerst  tritt 
C.  Velleius  auf.  Seinen  Vortrag  eröffnet  er  mit  einer  Polemik  gegen  Plato 
und  die  Stoa,  schaltet  dann  eine  Übersicht  der  theologischen  Anschauungen 
von  Thaies  bis  auf  Diogenes  von  Babylon  ein  und  stellt  endlich  die  epikureische 
Lehre  selbst  dar.  Alsdann  ergreift  Cotta  das  Wort,  um  das  von  Velleius 
Vorgebrachte  zu  widerlegen.  Im  zweiten  Buch  gibt  Baibus  eine  Darstellung 
der  stoischen  Theologie  in  vier  Abschnitten,  der  erste  handelt  über  das 
Dasein  der  Götter,  der  zweite  über  das  Wesen  derselben,  der  dritte  über 
die  göttliche  Leitung  der  Welt,  der  vierte  endlich  über  die  Fürsorge  der 
Götter  für  die  Menschen.  Im  dritten  Buch  versucht  Cotta  eine  Wider- 
legung der  Auseinandersetzung  des  Baibus;  diese  Widerlegung  schliesst 
sich  an  die  vier  Abschnitte  des  zweiten  Buchs  an;  durch  eine  grosse  Lücke 
(25, 65)  ist  die  gegen  den  dritten  Abschnitt  gerichtete  Deduktion  verloren 
gegangen,  wie  der  Anfang  der  gegen  die  Fürsorge  der  Götter  für  die 
Menschen  gerichteten  Partie. 

Was  die  Quellen  anlangt,  so  ist  unzweifelhaft,  dass  Cicero  im  3.  Buch 
sich  wesentlich  auf  eine  Schrift  des  Clitomachus  stützt.  Schwieriger  ist 
die  Frage  nach  den  Quellen  in  den  zwei  vorausgegangenen  Büchern;  hier 
gehen  die  Ansichten  der  Forscher  auseinander;  doch  wird  für  das  erste 
Buch  der  Epikureer  Zeno,  für  das  zweite  Posidonius  ziemlich  allgemein 
als  eine  Quelle  angenommen. 

Die  Schrift  ist  ganz  besonders  flüchtig  gearbeitet.  Um  dies  an  einem 
Beispiel  zu  zeigen,  sei  darauf  hingewiesen,  dass  er  2, 29,  73  und  3,  7, 18 
plötzlich  ein  mehrere  Tage  umfassendes  Gespräch  annimmt,  während  dies 
doch  nach  dem  Anfang  des  zweiten  und  dritten  Buchs  ausgeschlossen  ist. 
Auch  in  philosophischer  Beziehung  lässt  sich  der  Verfasser  die  grössten 
Blossen  zu  schulden  kommen.    (Schoemann  Ausg.  p.  23.) 

Die  Schrift  wurde  vor  dem  Tode  Caesars  geschrieben,  also  vor  März  44. 
Dass  Cicero  im  J.  45  mit  derselben  beschäftigt  war,  ergibt  sich  aus  einem 
Briefe  an  Atticus  13, 39, 2.  Vollendet  wurde  sie,  nachdem  die  Tusculanen 
erschienen  waren,  also  44. 

Die  Überlieferung  des  Titels  schwankt  zwischen  de  deorum  natura  und  de  natura 
dearum.    Die  Grammatikerzeugnisse  yerst&rken  das  Gewicht  für  de  deorum  natura. 

Über  die  Ausfüllung  der  Lücke  aus  Minucius  Felix  ygl.  Nevkaiw,  Rh.  Mus.  36, 155 ; 
Wilhelm,  Bresl.  phil.  Stud.  II.  Bd.  1.  Heft  p.  4. 

Quellen  frage:  Für  die  Quellenuntersuchung  des  1.  Buchs  ist  die  Gliederung 
im  Auge  zu  behalten:  a)  Darstellung  der  epikureischen  Lehre,  b)  Kritik  derselben.  Die 
Kritik  führt  Hibzel  mit  Schoemaw  auf  eme  akademische  Quelle  (wahrscheinlich  Clito- 
machus) zurück  (Unters.  1, 43  1, 45),  Schwenke  auf  eine  stoische  (Posidonius  n€(fl  ^€tSy), 
vgl.  Fleckeis.  J.  119, 64  und  65),  Reinhardt  21, 57—37, 102  auf  Clitomachus,  87, 103—44, 124 
auf  Posidonius,  vgl.  Bresl.  phil.  Stud.  3.  Bd.  2.  H.  p.  33.  In  der  Darstellung  der  epi- 
kureischen Lehre  sind  wiederum  drei  Abschnitte  auseinanderzuhalten :  a)  die  Polemik  gegen 
die  platonische  un<t  die  stoische  Lehre  (8,18 — 10,24);  b)  eine  historische  Übersicht  der 
Lehren  über  das  göttliche  Wesen  (10,  25 — 15,  41);  endlich  c)  die  epikureische  Lehre 
(16, 42—20, 56).  Nach  Hirzel  sind  die  nichthistorischen  Partien  aus  Zeno  (p.  31),  die 
historische  aus  Philodemus  negl  evaeßeiag  (p.  4  und  p.  9)  entlehnt.  Schwenke  dagegen  nimmt 
für  alle  drei  Partien  eine  Quelle,  Zeno,  an  (p.  56  und  57),  Reinhabdt  endlich  statuiert 
wieder  eine  Mehrheit  von  Quellen,  für  1, 1—10, 24  beansprucht  er  Eigentum  Ciceros,  für 
10,  25—15, 41  Abhftngigkeit  von  Philodemus,  für  16, 42—20,  56  Abhängigkeit  von  Zeno. 

Auch  für  das  2.  Buch  muss  bei  der  Quellenuntersuchung  von  der  Disposition  1,  3 
ausgegangen  werden:  Omnino  dividunt  nostri  totam  istam  de  die  immartalibus  quar' 
stionem   in  partis  quattuor.    Primum  docent  esse  deos  (1,3 — 16,44);   deinde  quales  sint 


CiceroB  philosophiBohe  Bohriffcen.  253 

(17,45 — 28,72);  tutn  tnundum  ab  ih  (uiministrari  (29,73—61,153);  posiremo  consulere 
rebus  humanis  (61, 154 — 66, 167;  Hirzel  und  Schwbnke  beginnen  diesen  Abschnitt  bereits 
mit  §  133,  anders  Reinhardt  p.  48).  Ffir  alle  Teile  nimmt  eine  Quelle  an  Schwenke  und 
zwar  Posidonius  Schrift  hbqi  ^£(Jy,  deren  vier  ersten  Büchern  die  vier  Teile  entsprechen, 
ohne  dass  Cicero  jedoch  in  §  3  ihren  Inhalt  vollständig  angegeben  hätte,  vgl.  p.  140.  Ihm 
pflichten  Wendland,  Archiv  der  Gesch.  der  Philos.  1,206,  die  Herausgeber  Mayob  und 
GoBTHE  bei.  An  einer  Mehrheit  von  Quellen  halten  Hibzel  und  Rbinhabdt  fest.  Hibzel 
spricht  die  Meinung  aus,  dass  der  erste  und  letzte  Abschnitt  aus  Posidonius  ttc^c  ^$<oy, 
der  zweite  aus  Apollodors  gleichnamigem  Werke,  der  dritte  aus  Panaetius'  Schrift  ne^i 
TiQoyoiac  geschöpft  habe,  wobei  nicht  ausgeschlossen  sei,  dass  Cicero  hie  und  da  für  ein- 
zelnes noch  andere  Quellen  benützt  habe,  wie  Caelius  Aiitipater  (p.  224).  Reinhardt  sta- 
tuiert für  den  ersten  und  zweiten  Abschnitt  die  Benützung  des  Chrysippus,  wozu  aber  noch 
eigene  Gedanken  Ciceros  kommen,  für  den  dritten  die  Benützung  des  Panaetius  (mit  eigenen 
Gedanken),  für  den  vierten  die  Benützung  des  Posidonius  (p.  55).  Usbnbb,  Epicurea  p.  LXVIl 
spricht  folgende  Ansicht  aus:  in  altera  de  natura  deorum  libro  utprimum  theologiae  Stoicae 
Caput  esse  deos  explicet,  loeas  ex  Posidonio  temere  arreptas  cum  enchiridii  iüius  arademici 
(Carneadis),  quo  fortasse  ipse  adulescens  Athenis  usus  erat,  reliquiis  ineptissime  miscet: 
hine  discimus  enchiridUm  iilud  quod  Cameades  discipulis  paraverat  ita  institutum  fuisse, 
ut  sub  singulis  capUibus  sententiae  aut  argumentationes  deinceps  Zenanis  CleatUhis  Chrysippi, 
nuUo  opinor  verbo  addüo,  adponerentur.    Siehe  dagegen  Reinhardt  p.  54. 

Für  das  3.  Buch  ist  als  Hauptquelle  eine  Schrift  des  Clitomachus  allseitig  anerkannt. 
Das  Bedauern  Cottas  Über  den  Untergang  von  Corinth  und  Carthago  (38, 91)  wird  jetzt,  da 
es  von  Clitomachus  stammt,  weniger  fmffallend.  Genaueres  über  die  Komposition  des 
3.  Buchs  bei  Schwenks  p.  140  und  Reinhardt  p.  56. 

Dass  die  Bücher  de  natura  deorum  vollendet  wurden,  nachdem  die  Tusculanen 
herausgegeben  waren,  sagt  Cicero  ausdrücklich  de  div.  2, 1, 3  quibus  rebus  (libris  TuscuL 
disputat.J  editis  ires  libri  perfecti  sunt  de  natura  deorum,  Dass  dieselben  vor  dem  Tod 
Caesars  herausgegeben  waren,  ergibt  dieselbe  Vorrede,  welche  infolge  Caesars  Tod  ein 
neues  Progranmi  vorführt.  Dies  geht  auch  aus  1, 4, 7  hervor,  in  welcher  Stelle  cum  otio 
langueremus  et  is  esset  rei  fublicae  Status,  ut  eam  unius  consüio  atque  cura  gubemari  necesse 
esset  deutlich  auf  die  Alleinherrschaft  Caesars  hinweist.  Im  J.  45  schreibt  Cicero  an  Attic. 
13, 39, 2  libros  mihi,  de  quibus  ad  te  antea  scripsi,  vetim  mittas  et  maxime  ^aidgov  TtBQi  ^eaiy 
et  ne^l  HaXlados;  er  trug  sich  also  damals  schon  mit  dem  Gedanken,  über  deorum  natura 
zu  schreiben.  Der  Tod  seiner  Tochter  Tullia  (45)  veranlasste  ihn,  Trost  in  der  Schriftstellerei 
zu  suchen  (1,4,  9):  hortata  est,  ut  me  ad  haec  eonferrem,  animi  aegritudo,  fortunae  magna 
et  gravi  commota  iniuria;  euius  si  maiorem  aliquam  levationem  reperire  potuissem,  non  ad 
kane  potissimum  eonfugissem, 

Überlieferung:  Die  beiden  Vossiani  84  (mit  Vindob.  189)  und  86  sind  unsere 
Führer.  Vgl.  genaueres  Stemma  (nach  Mayor)  Schwenke,  Burs.  Jahresber.  47, 285.  Mit  de  nat, 
deorum  haben  ausser  dem  Lucullus  gleiche  Schicksale  der  Überlieferung  Paradoxa,  de 
dirinatione,  de  fato,  IHnweus,    Vgl.  noch  de  legibtis  §  159,  Topica  p.  238. 

Litteratur:  Ausser  den  citierten  Abhandlungen  sind  noch  zu  nennen:  Krische, 
Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  alten  Philos.  I.  Bd.,  (jött.  1840.  Lenonick,  Ad  emen- 
dandos  explicandosque  Cicer,  libros  d.  n.  d.  quid  ex  Philodemi  scriptione  negl  evaeßeiag 
redundet,  Halle  1871.  Diels,  Doxogr.  p.  121  und  p.  529.  —  Ausgaben  von  Davis,  Oxf. 
1807;  Heindorf,  Leipz.  1815;  Moser  und  Creuzer,  Leipz.  1818;  Schoekann  (Weidmann); 
Goethe  (Teubner).    Englische  Ausgabe  von  Mayor  in  3  Bänden,  Cambridge  1885. 

166.  Gato  maior  de  senectute.  Diese  Schrift  über  das  Alter  ist 
dem  T.  Pomponius  Atticus  gewidmet.  Es  ist  ein  Dialog,  der  sich  zwischen 
dem  jüngeren  Scipio,  Laelius  und  Gato  im  Jahre  150  abspielt.  Allein  auch 
hier  ist  die  dialogische  Form  Schein,  denn  Cato  führt  fast  allein  das  Wort; 
nur  hie  und  da  wird  er  von  den  Anwesenden  unterbrochen.  Gates  Rede 
weist  folgende  vier  Vorwürfe,  welche  gegen  das  Alter  gerichtet  werden, 
zurück:  1)  Dass  es  die  Thatkraft  hemme;  2)  den  Körper  schwäche;  3)  fast 
aller  Vergnügungen  beraube;  endlich  4)  dem  Tode  nahe  sei.  Obgleich  das 
Thema  sehr  allgemeiner  Natur  ist,  so  scheint  auch  hier  Gicero  wieder 
einer  griechischen  Quelle  gefolgt  zu  sein.  Oleich  im  Eingang  wird  auf 
eine  Schrift  eines  Peripatetikers  Aristo  hingewiesen;  hier  war  eine  mythische 
Person,  Tithonos,  Führer  der  Rede.    Indem  Gicero  ausdrücklich  konstatiert, 


254    Bömisohe  LüteratnrgeBchichte.    1.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

dass  er  im  Gegensatz  zu  Aristo  eine  historische  Person,  den  Gato,  zum 
Träger  der  Rede  gemacht,  scheint  er  andeuten  zu  wollen,  dass  er  jener 
Schrift  in  sonstiger  materieller  Beziehung  gefolgt  ist.  Die  Beispiele  aus 
der  römischen  Geschichte  mit  chronologischen  Daten  werden  einem  liber 
annalis  entnommen  sein;  höchstwahrscheinlich  war  es  der  des  Atticus,  den 
Cicero  ja  auch  im  Brutus  benützte.  Es  würde  in  dieser  Benützung  zu- 
gleich ein  Kompliment  für  den  Adressaten  liegen.  Die  Schrift  ist  anmutig 
zu  lesen;  Gato  als  Hauptfigur  gut  gewählt;  Atticus  hatte  an  dem  Werkchen 
grosse  Freude. 

Für  den  Ansatz  des  Qesprftclis  im  Jahre  150  spricht  5, 14,  wo  T.  FlamininoB  nnd 
M'.  AciliuB  als  „hi  cansules^  bezeichnet  werden,  es  sind  die  Konsuln  des  J.  150. 

Seinen  Vortrag  disponiert  Cato  5, 15  cum  complector  animo,  quaUuor  reperio  causas, 
cur  senectus  miaera  videatur,  unam,  quod  avocet  a  rebus  gerendiSf  alteram,  quod  corpus 
faciat  infirtnius,  tertiam,  quod  privet  fere  omnibus  voluptatibus,  quartatn,  quod  huud  procul 
absit  a  morte. 

Die  Stelle  Aber  Aristo  lautet  (1)3):  omnem  sermonem  tribuimus  non  Tithono,  ut 
Aristo  Cius  —  parutn  enim  esset  auctoritatis  in  fabula  —  sed  M.  Catoni  seni,  quo  maiorem 
auctorUatem  haberet  oratio;  apud  quem  Laelium  et  Scipionem  facimus  admirantes,  quod  is 
tarn  faciJe  senectutem  ferat,  eisque  eum  responderUem.  Qui  si  erudUius  videbüur  disputare, 
quam  consuevit  ipse  in  suis  libris,  attr^ito  litteris  Oraecis,  quarum  constat  eum  per^ 
studiosum  fuisse  in  seneetute. 

Für  die  Bestinunung  der  Abfassungszeit  ist  die  Hauptstelle  der  am  11.  Mai  44 
geschriebene  Brief  an  Atticus  14,21,3:  legendus  mihi  saepius  est  Cato  maior  ad  te  missus. 
Die  Schrift  muss  also  vor  11.  Mai  44  geschrieben  sein.  Die  zweite  Stelle  gibt  uns  die 
Schrift  de  divinatione  an  die  Hand  (2, 1,3):  interiectus  est  etiam  nuper  liber  is,  quetn  ad 
nostrum  Atticum  de  seneetute  misimus.  Aus  der  Vorrede  des  zweiten  Buchs  de  dif>.  geht 
hervor,  dass  sie  nach  Caesars  Ermordung  geschrieben  wurde.  Das  erste  Buch  dagegen 
fällt  vor  Caesars  Ermordung;  deim  gerade  dueses  wichtige  Erei^is  gab  den  Anlass,  dass 
sich  der  Schriftsteller  in  jener  Vorrede  über  die  Änderung  semes  rrogramms  aussprach, 
während  er  im  ersten  Buch  gleich  zur  Sache  schritt.  Die  Vorrede  scheidet  genau  zwischen 
Vorher  und  Jetzt:  (2, 1, 6)  id  ipsum  a  PUUone philosophiaque  didiceram,  naturalis  esse  quas- 
dam  conversiones  rerum  publicarum,  ut  eae  tum  a  principibus  tenerentur,  tum  a  populis,  (Hi- 
quando  a  singulis.  Quod  cum  aceidisset  nostrae  reipublicae,  tum  pristinis  orbati  muneribus 
haec  studia  renovare  coepimus,  ut  et  animus  mclestiis  hoc  potissimum  re  levaretur  et  pro- 
dessemus  civibus  nostris,  qua  re  cumque  possemus.  In  Hbris  enim  sententiam  dicebamus, 
contionabamur,  philosophiam  nobis  pro  rei  publicae  procuratione  substUutam  putabamus  — 
nunc  quoniam  de  re  publica  consuli  coepti  sumus,  tribuenda  est  opera  rei  publicae,  vel 
omnis  potius  in  ea  cogitatio  et  cura  ponenda,  tantum  huic  studio  relinquendum,  qtiantum 
vacc^bU  a  publica  officio  et  munere.  Da  nun  in  dieser  Vorrede  der  Cato  bereits  als  nuper 
interiectus,  also  als  bereits  geschrieben  erwähnt  wird,  so  muss  er  vor  Caesars  Tod  fallen. 
Vgl.  Maubeb,  Fleckeis.  J.  129,  388.  Er  wird  daher  zwischen  den  Büchern  de  deorum  natura 
und  dem  ersten  Buch  de  divinatione  verfasst  worden  sein. 

Ist  diese  Datierung  richtig,  so  kann  sich  in  der  Stelle  ad  Attic.  16, 3, 1  (geschrieben 
Juli  44)  Quod  vero  scribis  te  magis  et  magis  delectari  ,0  TUe  si  quid",  auges  mihi  scri- 
bendi  ala^ritatem,  Quod  Erotem  non  sine  munusculo  exspectare  dicis,  gaudeo  non  fefellisse 
eam  rem  opinionem  tuam,  sed  tamen  idem  avvrayfia  misi  ad  te  retractatius,  et  quidem 
ir^/erfTToy  ipsum  crebris  locis  inculcatum  et  refectum,  das  avyrayfza  nicht  auf  Cato  be- 
ziehen, sondern  auf  eine  andere  Schrift  und  zwar,  wie  aus  16, 2, 6  hervorgeht,  auf  die 
Schrift  de  gloria.  Damit  fallen  auch  die  Schlussfolgerungen,  die  man  für  die  Kritik  des 
Cato  (Otto  in  den  philol.  Abb.  zu  Ehren  Hertz's  p.  94;  Lüthojanv,  Rh.  Mus.  37,496)  aus 
dieser  Stelle  gezogen. 

Überlieferung:  Eine  hervorragende  Stelle  nehmen  der  durch  Momusek  bekannt 
gewordene  Leidensis  (früher  im  Besitz  des  P.  Dakisl)  s.  X  und  der  Parisinus  6332  s.  X  ein. 
Von  Wichtigkeit  scheint  auch  zu  sein  der  Vossianus  0  79  s.  X,  da  in  diesem  wie  im  Leid. 
§  8  die  Glosse  ignobilis  weder  im  Text  noch  über  der  Zeile  steht.  Vgl.  Gemoll,  Hermes 
20, 333.  C.  ToMANBTZ,  Über  Wert  und  Verhältnis  der  Hdsch.  von  C,  Wien  1883  und  1886. 
Dahl,  Zur  Handschriftenkunde  und  Kritik  des  C,  Christiania  1885,  1886.  De  Vbus,  De 
Cic.  Cot.  mai.  codice  Ashbumam,,  nunc  Parisino,  Leyden  1890. 

Litteratur:  Cato  et  Laelius  von  Madvio,  Eopenh.  1835;  von  Schiohb  (Freytag). 
Erläuternde  Ausgaben  von  Tibchsb,  Halle  1847;  Lahmsteb  und  Meisskeb  (Teubner);  Sommeb- 


OiceroB  philoBophische  Sohriften.  255 

BBODT  (Weidmann);   C.  W.  Naucx,  Berl.  1855.    Englische  Schnlaosgabe  von  Reid,  Cam- 
bridge 1888. 

166.  De  diyinatione.  L  11.  An  die  Schrift  über  das  Wesen  der  Götter 
schliessen  sich  als  Ergänzungen  an  die  Abhandlungen  über  die  Wahrsagung 
und  über  das  Schicksal.  Die  Schrift  über  die  Wahrsagung  (de  divinatione) 
besteht  aus  zwei  auf  dem  Tusculanum  gehaltenen  Unterredungen,  die  auf 
zwei  Bücher  verteilt  sind;  im  ersten  Buch  hält  der  Bruder  Ciceros  einen 
Vortrag  zur  Verteidigung  der  Wahrsagung;  er  stützt  sich  besonders  auf 
den  Gedanken,  wenn  es  auch  nicht  gelinge,  das  Warum  zu  ergründen, 
so  müssten  doch  die  hieher  gehörigen  Fakta  uns  zu  dem  Glauben  an  die 
Wahrsagung  bestimmen.  In  dem  zweiten  Buch,  welches  in  der  Vorrede 
die  wichtige  Übersicht  der  philosophischen  Schriftstellerei  Ciceros  enthält, 
ergreift  Cicero  selbst  das  Wort,  um  die  Nichtigkeit  der  Wahrsagung 
darzuthun.  Die  Schrift  ist  interessant,  weil  sie  uns  das  System  des 
Aberglaubens  kennen  lehrt.  Das  System  beruht  auf  der  Scheidung  der 
künstlichen  und  natürlichen  Wahrsagung;  die  erste  erfolgt 
durch  Eingeweide,  Vögel,  Blitz,  Wunderzeichen,  Gestirne,  die  natürliche 
durch  Träume  und  Ekstase.  Auch  in  dieser  Schrift  gibt  Cicero  wenig 
Eigenes.  Das  erste  Buch  enthält  die  stoische  Doktrin  der  Wahrsagung, 
wie  dies  ausdrücklich  2,3,8  gesagt  wird.  Er  folgt  hier  im  wesentlichen 
der  Schrift  des  Posidonius  nsQi  fAavuxijg.  Die  Widerlegung  des  zweiten 
Buchs  steht  nicht  in  rechter  Harmonie  mit  dem  ersten,  dies  ist  nur  mög- 
lich, wenn  die  Widerlegung  nicht  direkt  durch  die  Quelle  des  ersten  Buchs 
hervorgerufen  wurde;  ^)  diese  Widerlegung  ist  in  der  Hauptsache  aus  einer 
Schrift  des  Akademikers  Clitomachus  geflossen.  Der  Abschnitt  41, 87— 
47,97  ist  nach  bestimmter  Angabe  Ciceros  (46,97)  dem  Panaetius  ent- 
nommen. 

Die  Abfassung  der  Schrift  gehört  dem  Jahre  44  an;  das  zweite  Buch 
ist  nach  Caesars  Tod  geschrieben,  yne  dies  aus  dem  Prooemium  aufs  deut- 
lichste zu  erschliessen  ist,  denn  es  enthält  ein  verändertes  Programm;  das 
erste  Buch  dagegen  muss  vor  Caesars  Tod  fallen. 

Das8  die  Bficher  de  divinatione  eine  Ergänzung  zu  de  deorutn  natura  bilden  sollen, 
l&Bst  Cicero  seinen  ßnider  sagen  1,  5, 9  quod  praetermisttum  est  in  Ulis  libris  —  credo,  quia 
commodius  arhitratus  es  separatim  id  quaeri  deque  eo  disseri  — ,  id  est  de  divinaiionef  quae 
est  earum  rerum,  quae  fortuitae  putantur,  praedictio  atque  praesensio,  id,  siplacet,  videamus 
quam  habeat  vim  et  quäle  sit. 

Über  die  verscbiedenen  Arten  der  divinatio  vgl.  1,  52,  118  (placet  Stoicis)  —  ita  a 
principio  inchoatum  esse  mundum,  ut  certis  rebus  certa  signa  praecurrerent,  alia  in  extis, 
alia  in  aribus,  alia  in  fulgaribus,  alia  in  ostentis,  alia  in  steÜis,  alia  in  somniantium  visis, 
alia  in  furentium  voeibus,  1, 18,  34  iis  adsentiar,  qui  duo  genera  divinationum  esse  dixerunt: 
«iiMffi,  quod  particeps  esset  artis,  alterum  quod  arte  careret  —  carent  autem  arte  ii,  qui  non 
ratione  aut  eaniectura  observatis  ac  notatis  signis,  sed  coneitatiane  quadam  animi  aut  soluto 
liberoque  motu  futura praesentiunt,  quod  et  somniantibus  saepe  contingit  etnonnumquam 
vaticinantibus  per  furorem. 

Für  die  Quellenfrage  des  1.  Buchs  sind  Leitstern  die  Worte  2,3,8,  wo  Cicero  zu 
seinem  Bruder  sagt:  adcurate  tu  quidem,  Quinte,  et  Stoice  Stoicorum  sententiam  defendistt. 
Dass  für  das  erste  Buch  Posidonius  im  wesentlichen  die  Quelle  gewesen,  haben  dargethan 
ScHiCHE,  de  fontibus  librorum  Ciceronis  qui  sunt  de  divinatione,  Jena  1875  (p.  25);  Habt- 
PBLDEB,  Die  Quellen  von  Ciceros  zwei  Büchern  de  div,,  Freib.  i.  B.  1878  (p.  11).  (Die  dem 
Posidonius  nnzweifelhaft  angehOrigen  Partien  scheidet  Cobssbk,  De  Posidonio,  Bonn  1878 


*)  SCBICHE  p.   30. 


256     HOmisohe  Litteratnrgeschlohte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnbliki    2.  Periode. 

p.  14  aus.)  Sghichs  will  aus  der  ciceronischen  Anordnung  auch  den  Inhalt  der  5  Bücher  des 
Posidonischen  Werka  erkennen,  quorum  in  primo  P,  divinationem  universe  defendit,  altero 
demonstravit  divinationem  artificiosam  re  vera  esse,  iertio  idem  de  ea,  quae  arte  earet,  quarto 
quihus  rebus  divinatio  confirmetur,  quinto  quae  eius  sü  ratio.  Die  Yon  Cicero  öfters  unter 
dem  Namen  des  Caelius  hinzugefügten  geschichtlichen  Beispiele  (24, 48  24, 49  26, 55  26,  56 
35, 78)  gehen  auf  das  Geschichtswerk  des  Caelius  Antipater  zurück  und  zwar,  scheint  es, 
benutzte  Cicero  das  Werk  in  dem  Auszug,  den  M.  Brutus  aus  demselben  fertigte  (vgl. 
§  189,  8),  denn  Juni  45  schrieb  er  an  Atticus  (13,8):  epitomen  Bruti  Caefianarum  velim 
mihi  mitlas  et  a  Phüoxeno  üayaitlov  negl  ngoyoiag.    (Scsighe  p.  15.) 

Die  Quelle  des  2.  Buchs  muss  ein  jüngerer  Akademiker  sein.  Nun  wird  Öfters 
Carneades  erwfthnt  (3, 9  21,48  28,51  41,87  (47,97)  72,150);  allein  derselbe  hat  keine 
philosophischen  Schriften  hinterlassen;  von  seinen  Schülern  kann  nur  Clitomachus  in  Be- 
tracht kommen,  der  41, 87  genannt  wird.  Auch  in  diesem  Punkt  stimmen  Hartfelder 
(p.  19)  und  ScmcHB  (p.  42)  überein.  Wie  im  ersten  Buch,  so  glaubt  auch  hier  der  letztere 
aus  Cicero  Schlüsse  auf  das  griechische  Werk  machen  zu  können:  Quod  tribus  eonstitisse 
libris  probabüiter  conici  posse  videtur  ex  specie  libri  Ciceroniani,  qui  quidem  manifesto  ex 
tribus  potissimum  partibus  compositus  est,  Quae  enim  antecedunt  c.  11  (c.  8 — 10),  continent 
universae  divinatianis  refuiationem  {!),  reliqua  autem  dispuiatio  (c.  11 — 72)  iis,  quae  Cicero 
seeundum  alias  fontes  aut  suo  Marte  disserU  (c.  41 — 58),  ita  in  duas  partes  dividitur,  ui 
earum  prior  (c.  12 — 40)  seeundum  dipisionem  c.  11  propositam  eontineat  reiectionem  sin- 
gulorum  generum  dipinationis  artificioscte  (11),  altera  (c.  54 — 72)  divinationis  naturalis 
refutationem  (III).  Das  Zeugnis,  dass  die  Partie  41, 87 — 47, 97,  welche  die  monstra  Chal- 
daeorum  enthält,  aus  Panaetius  stammt,  lautet  videsne  me  non  ea  dicere,  quae  Carneades, 
sed  ea  quae  pHnceps  Stoicorum  Panaetius  dixerU?  (Hartfelder  p.  21;  Sghiche  p.  18);  der 
Abschnitt  über  den  ortus  Haruspicinae  (22, 50)  ist  vielleicht  auf  A.  Caecina  zurückzuführen. 
(SCHICHE  p.  43.) 

Über  die  Abfassung  des  2.  Buchs  nach  dem  Tod  Caesars  vgl.  die  entscheidende  Stelle 
§  165  bei  Cato  maior. 

Litteratur:  Ausgaben  (mit  de  fato)  von  Davis,  Cambridge  1730;  von  H.  Moser, 
Frankf.  1828.  —  Gibse,  Leipz.  1829. 

167.  De  fato.  Die  Schrift  über  das  Schicksal  (de  fato)  ist  nur  frag- 
mentarisch erhalten;  es  fehlt  der  Anfang;  dann  sind  mehrere  Blätter  vor 
Kap.  3  ausgefallen; ')  endlich  fehlt  der  Schluss.  Die  Einkleidung  der  Unter- 
suchung ist  folgende:  Aulus  Hirtius  kommt  zu  Cicero  auf  sein  Puteolanum 
und  fordert  ihn  auf,  einen  Vortrag  zu  halten.  Dieser  Vortrag  bezieht  sich 
auf  das  Schicksal  {elfiaQfiävrjj  fatutn)  und  begreift  in  sich  den  Streit  zwischen 
Notwendigkeit  und  Freiheit.  Es  werden  die  Ansichten  des  Posidonius 
(durch  die  Lücke  vor  c.  3  grösstenteils  verschlungen)  und  besonders  des 
Chrysippus  erörtert  und  bekämpft.  Die  Bekämpfung  basiert  auf  der  neueren 
Akademie;  es  tritt  uns  der  Name  Carneades  entgegen  (14,31  und  32).  Da 
nun  Carneades  keine  philosophischen  Schriften  hinterlassen  hat,  so  müssen 
wir  annehmen,  dass  die  Bekämpfung  der  stoischen  Lehre  einer  Schrift 
entstammt,  welche  ein  Schüler  des  Carneades  entworfen.  Es  wird  dies 
wie  im  zweiten  Buch  de  divinatione  Clitomachus  gewesen  sein.  Die  Schrift 
ist  im  J.  44  nach  Caesars  Tod  {post  interitum  Caesaris  1, 2)  verfasst.  Bei 
derselben  tritt  recht  klar  hervor,  dass  Cicero  des  Stoffs  nicht  Herr  ge- 
worden. 

Angekündigt  ist  die  Sclirift  de  div.  2, 1, 3  tres  libri  perfecti  sunt  de  natura  deorum, 
in  quibus  omnis  eius  loci  quaestio  continetur,  Quae  ut  plane  esset  cumulateque  perfecta,  de 
divinatione  ingressi  sumus  his  libris  scribere;  quibus,  ut  est  in  animo,  de  fato  si  adiun^ 
xerimus,  erit  abunde  satisfactum  toti  huic  quaestioni. 

Über  die  Komposition  1, 1 :  quod  in  aliis  libris  feci,  qui  sunt  de  natura  deorum,  item- 
que  in  iis,  quos  de  divinatione  edidi,  ut  in  utramque  partem  perpetua  explicaretur  oratio, 
quo  facüius  id  a  quoque  probaretur,  quod  cuique  maxime  probabüe  videretur,  id  in  hoc 
disputatione  de  fato  casus  quidam  ne  facerem  impedivit.    Über  die  Scenerie  der  Schrift 

')  Vgl.  Christ  zu  der  Stelle.    Eine  kleine  Lücke  ist  noch  vor  20,46  anzusetzen. 


Ciceros  philoBophische  Schriften.  257 

vgl.  If  2  cum  essem  in  Puteolano  Hirtiusque  noster,  cansul  designaius,  iadem  in  locis,  vir 
nobis  amicissimus  et  his  studiiSf  in  quilm3  nos  a  pueritia  viximuSf  deditus  mtdtum  una 
eramus,  bei  dieser  Gelegenheit  sagt  Hirtios:  ponere  aliquidt  ad  quod  audiam,  si  tibi  non 
eM  moiestum,  volo  (2,4). 

Als  Quelle  der  ciceronischen  Schrift  sieht  ohne  ausreichende  Begründung  Gsrcke, 
Chry»ippea  Fleckeis.  J.  14  Suppl.  p.  693  Antiochus  von  Ascalon  an:  Certo  Cicero  in  com- 
ponendo  de  fato  libeflo  secutus  est  Antiochum  Ascalonitam,  id  quod  inde  elucet,  quia  non 
»olum  inde  a  §  31  Carneadis  auctoritas  evocatur  tamquam  philosophi  inctoris  sed  etiam 
§  44  adffersariorum  senlentiae  ita  comparantur  aliaque  alii  accomodatur,  ut  conclusio  fiat 
*verbi8  eos,  non  re  disaidere^. 

168.  TimaeuB.  Es  sind  uns  Bruchstücke  einer  Übersetzung  des 
Timaeus  überliefert.  Allem  Anschein  nach  war  diese  Übersetzung  bestimmt, 
in  einem  Dialog  verwertet  zu  werden.  Es  ist  nämlich  der  Übersetzung 
eine  Einleitung  vorausgeschickt,  in  der  von  dem  pythagorisierenden  Philo- 
sophen Nigidius  Figulus  die  Bede  ist.  Derselbe  erwartete  angeblich  Cicero, 
als  dieser  in  seine  Provinz  Gilicien  sich  begab,  in  Ephesus.  Ebendahin 
kam  auch  von  Mytilene  der  Peripatetiker  Cratippus.  Diese  Personen  waren 
wohl  Träger  eines  Gesprächs,  das  über  die  Naturphilosophie  handelte. 
Hatte  doch  Cicero  de  div.  2, 2, 4  versprochen,  wenn  sich  kein  Hindernis 
einstelle,  alle  Teile  der  Philosophie  behandeln  zu  wollen.  Danach  würde 
die  Übertragung  in  die  Zeit  nach  de  divinatione  fallen;  dass  sie  nach  den 
Academica  entstanden,  besagt  die  Einleitung  ausdrücklich.  Auch  setzt  die 
Einleitung  den  im  J.  45  eingetretenen  Tod  des  Nigidius  Figulus  voraus. 
Wie  und  inwieweit  die  Übersetzung  in  dem  Dialog  verwendet  werden 
sollte,  entzieht  sich  unserer  Erkenntnis.  Allem  Anschein  nach  wurde  die 
Vollendung  des  Dialogs  durch  die  politischen  Ereignisse  verhindert.  Für 
die  Beurteilung  der  philosophischen  Schriftstellerei  ist  das  Fragment  nicht 
ohne  Interesse.  0 

Die  Einleitung  lautet  muita  sunt  a  nobis  et  in  Academicis  conacripta  contra  physicos 
et  saepe  cum  P.  Nigidio  Carneadeo  more  et  modo  dispuiata,  Fuit  enim  vir  ille  cum  ceteris 
artibuSf  qwu  quidem  dignae  libero  essent,  ornatus  omnibus,  tum  acer  investigator  et  diligens 
earum  rerum,  quae  a  natura  involuiae  videntur;  denique  sie  iudico,  post  iUos  nobiles  Pytha- 
goreoSy  quorum  disciplina  extineta  est  quodam  fnodo,  cum  aliquot  saecla  in  Italia  Siciliaque 
riguisset,  hunc  extitisse  qui  iUam  renovaret.  Qui  cum  me  in  Ciliciam  proficiscentetn  Ephesi 
expedavisset  Bomam  ex  legatione  ipse  decedens,  venissetque  eodem  Mytüenis  mei  salutandi 
et  risendi  causa  Cratippus,  Peripateticorum  omnium,  quos  quidem  ego]  audierim,  meo  iudicio 
facile  princeps,  perlibenter  et  Nigidium  vidi  et  cognovi  Cratippum.  Ac  primum  quidem 
tempus  8alut€Uionis  in  percontatione  consumpsimus. 

Der  Traktat  zeigt  dem  Original  gegenüber  folgende  Lücken:  1)  gleich  im  Eingang 
fehlen  11  Seiten  des  platonischen  Timaeus  von  p.  17 — 27  g  iany  ovy  dij  xaj  iurjv  do^av 
TtQioToy  d^ttiQtiioy  rcrdc.  Von  da  erst  beginnt  die  lat.  Übersetzung;  2)  8,28  lehlt  eine 
Seite  des  plat.  Textes;  die  Obersetzung  schhesst  mit  37c  (oray  di  av  negi  to  Xoyiauxoy  ij) 
und  flQirt  lort  mit  38  c  Vya  yeyyrj&j  XQ^^^^y  wozu  ein  Fragment  bei  Nonius  konrnit;  3)  13, 48 
schliesst  die  Obersetzung  mit  43  b  xcfroi  re  xai  ayta  xal  ndyxrj  und  ffthrt  fort  mit  46  a 
ircq  r€  av  negi  trjy  Xeiotijttty  es  fehlen  c.  3  Seiten.  Die  Übersetzung  schliesst  mit  47  b 
d(üfffj9iy  ix  ^ecüK,  während  das  Original  bis  92  reicht. 

Litteratur:  Hauptabhandlung  ist  C.  F.  Hermann,  De  interpretatione  Timaei  Plat. 
diaJ,  a  Cic.  relicta,  Gott.  1842.  —  HocHDAirz,  QuaeaL  crit.  in  Tim.  Cic.  e  Piatone  trän- 
scriptum,  Nordhausen  1880  führt  den  sonderbaren  Qedanken  durch  (p.  13):  Ciceronem  hoc 
quod  diahgi  habemua  socio  cuidam  literario  docto  (vielleicht  Tiro)  in  sermonem  Romannm 
transferendum  mandasse,  ut  sua  de  difficilUmi  et  obscurissimi  Piatonis  dialogi  singulis  locis 
sententia  cum  hotninis  alicuius  comparata,  cui  satis  eruditionis  et  ingenii  inesse  confidere 
poterat,  Graeci  philosophi  placita  ea  accuratius  percogitata  et  perspecta  civibus  suis  in 
proprio  opere  offerret. 


0  HiRZSL,  Untersuch.  1,2. 
Bftodbach  der  klM>.  AlteiinmswlweiMoliAn.  V1J|,  17 


258     BOmische  LüteratnrgeBoliiohte.    I.  Die  Zeit  der  Repnblik.    2.  Periode. 


169.  Laelius  de  amicitia.  Der  dem  Titus  Pomponius  Atticus  ge- 
widmete Dialog  Laelius  über  die  Freundschaft  ist  im  Jahr  44  nach 
dem  Cato  maior  und  vor  dem  Werk  über  die  Pflichten  entstanden.  Der 
Hauptredner  ist  der  Freund  des  jüngeren  Scipio,  Laelius,  die  Zwischen- 
redner die  Schwiegersöhne  des  Laelius  G.  Fannius  und  Q.  Mucius  Scaevola. 
Das  Gespräch  wird  in  das  Todesjahr  des  jüngeren  Africanus  (129)  versetzt 
und  spielt  in  dem  Hause  des  Laelius.  In  der  Einleitung  gibt  Cicero  an, 
es  sei  ihm  von  Scaevola  erzählt  worden.  Zuerst  spricht  Laelius  ganz  all- 
gemein*) über  den  Wert  der  Freundschaft  (5,  17—7,  24),  dann  über  das 
wahre  Wesen  derselben  (8,  26—9,  33),  indem  er  auf  den  Ursprung «)  der 
Freundschaft  eingeht,  endlich  über  die  Bethätigung  derselben  (10, 33—26, 100), 
worauf  der  Epilog  folgt.  Diese  drei  Abschnitte  sind  durch  die  Unter- 
brechungen genau  markiert;  am  ausführlichsten  ist  der  letzte  Teil.  Obwohl 
die  Schrift  anmutig  zu  lesen  ist,  so  vermisst  man  doch  auch  bei  ihr 
reiferes  Nachdenken  über  die  Sache  und  scharfe  logische  Gliederung.  Seine 
Hauptquelle  war  Theophrasts  Werk  über  den  gleichnamigen  Gegenstand; 
bereits  Gellius  1,  3,  10  hat  diese  Beobachtung  gemacht. 

Das  Yerhältms  zum  Cato  berfthrt  C.  1, 4  ut  in  Colone  Maiare,  qui  est  scriptus  ad 
te  (Atticus)  de  seneetuie,  CkUonetn  induxi  senem  disputantem,  quia  nuUa  videhatur  aptior 
persona  quae  de  illa  aetate  loqueretur,  quam  eius,  qui  et  diutissime  senex  fuisset  et  in  ipsa 
senectute  prcteter  ceteros  floruisset,  sie,  cum  aecepissemus  a  patribus  maxime  memorabilem 
C,  Laeli  et  P.  Scipionis  familiaritatem  fuisse,  idonea  mihi  Laeli  persona  visa  est,  quae 
de  amicitia  ea  ipsa  dissereret,  quae  disputata  ah  eo  meminisset  Scaevola.  —  de  off.  2,  8, 31 
de  amicitia  alio  libro  dictum  est, 

Zeit  und  Ort  des  Gesprftchs  erhellt  aus  1, 3  Scaevola  exposuU  ndbis  sermonem  Ladt 
de  amicitia  habitum  ab  iüo  secum  et  cum  altera  genero,  C,  Fannio  M,  F,,  paucis  diebus 
post  mortem  Africani  und  1,  5  C.  Fannius  et  Q,  Mucius  ad  socerum  veniunt  post  mortem 
Africani;  ab  his  sermo  oritur,  respondet  Laelius,  cuius  tota  disputatio  est  de  amicitia. 

Die  Disposition  enthalten  die  Worte  (4, 16):  pergratum  mihi  feceris,  si  —  de  ami- 
citia disputaris,  quid  sentias,  qualem  existumes,  quae  praecepta  des.  Wbissbnborn,  Gedanken- 
gang und  Gliederung  von  C.  L.,  Idfililhausen  i.  Th.  1882  will  (vgl.  p.  13)  als  ersten  Teil 
5,17—7,24,  als  zweiten  8,26—17,61,  als  dritten  17,62—26,100  aufgefasst  wissen.  Der 
zweite  Teil  umfasst  nach  ihm  a)  Ursprung  der  Freundschaft,  b)  Wirkungskreis  derselben, 
c)  Grad-  und  Massbestimmung  ihrer  Intensität.  Durch  diese  Gliederung  soll  der  Anstoss 
beseitigt  werden,  der  darin  hegt,  dass  eine  Untersuchung  angekündigt  wird:  qualis  sit 
amicitia  und  dann  nur  über  den  Ursprung  gehandelt  wird.  Allein  einmal  sind  in  dieser 
Gliederung  die  äusseren  Einschnitte  nicht  beachtet  worden,  durch  welche  der  Schriftsteller 
seine  Disposition  markiert  hat,  dann  fehlt  dem  zweiten  Teil  der  einheitliche  theoretische 
Charakter.  Auf  der  andern  Seite  dürfte  auch  erwogen  werden,  dass  eine  Untersuchung 
über  den  Ursprung  der  Freundschaft  zugleich  in  das  Wesen  derselben  einführt. 

Gell.  1,3, 10  sagt  Über  Theophrast  als  Quelle:  eum  libtum  (de  amicitiaj  M.  Cicero 
videtur  legisse,  cum  ipse  quoque  librum  de  amicitia  componeret.  Et  cetera  quidem,  quae 
sumenda  a  Theophrasto  existimavit,  ut  ingenium  facundiaque  eius  fuit,  sumpsit  et  trans- 
posuit  commodissime  aptissimeque;  hunc  autem  locum,  de  quo  satis  quaesitum  esse  dixi, 
omnium  rerum  aliarum  diffidUimum  strictim  atque  cursim  transgressus  est,  neque  ea,  quae 
a  Theophrasto  pensiculate  atque  enucleate  scripta  sunt,  executus  est,  sed  anxietate  iUa  et 
quasi  morositate  disputationis  praetermissa,  genus  ipsum  rei  tanttim  paucis  verbis  notavit. 
Die  Stelle  ist  17,  61  his  igiiur  finibus  —  dari  venia  possit.  Das  Theophrast'sche  Werk 
sucht  in  den  Grundzügen  zu  rekonstruieren  Heylbut,  De  Theophrasti  Jibris  ns^l  <piXias, 
Bonn  1876.  Hiebei  wird  fortwährend  auf  Ciceros  Laelius  Rücksicht  genommen;  allerdings 
regt  der  Vf.  Zweifel  an,  ob  Cicero  selbst  die  Theophrast'sche  Schrift  in  Händen  gehabt, 
vgl.  p.  36  quin  ne  Ciceronem  quidem  Theophrasti  libros  negl  <piXiag  evolvisse,  eo  certe  tem- 
poris  momento  ubi  LaeJium  libellum  condiderit,  sunt  quae  suspicionem  maveant.  Über  die 
Methode  Ciceros  vgl.  p.  38  ex  inconstanti  disputandi  genere  ad  hanc  modo  ad  illam  quae- 


*)  Dieser  Teil  wird  deutlich  abgeschlossen 
7,24  hactenus  mihi  videor  de  amicitia  quid 
sentirem  potuisse  dicere. 


^)  Der  Abschnitt  wird  abgeschlossen 
durch  die  Worte  (9, 32)  ortum  quidem  amicitiae 
videtis,  nisi  quid  ad  haec  forte  vuUis. 


CiceroB  philosophische  Schriften.  259 

9tionem  aucior  se  confert.  Seine  Flüchtigkeit  erhellt  ganz  besonders  aus  6, 22  neque  ego 
nunc  —  fuUf  welche  nicht  vorbereitet  sind,  vgl.  p.  14. 

Überliefe rnng:  Die  beste  Handschrift  ist  der  Codex  Parisintis  s.  IX  oder  X, 
den  MoMXSBN  bei  Dibot  gefunden  (Rh.  Mus.  18,594);  neben  ihm  ist  der  Monacensis  15514 
von  Wert. 

Litter atur:  Ausgaben  von  Madvio  und  Schichb  vgl.  zu  Cato.  Erläuternde  Aus- 
gaben von  Sbyfpebt  2  T.,  Brandenb.  1844  (2.  Aufl.  von  C.  F.  W.  Müller,  Leipz.  1876); 
Nauck  (Weidmann);  Lahmbteb  (Teubner);  Meissnbb  (Teubner);  Stbelitz  (Gotha);  Rbid, 
Cambridge  1883  (in  engl.  Sprache). 

170.  De  officiis  1.  in.  Die  Schrift  über  die  Pflichten  ist  an  den 
Sohn  Ciceros,  Marcus,  gerichtet.  Der  Aufbau  des  Ganzen  erfolgt  in  der 
Weise,  dass  im  ersten  Buch  über  das  Sittliche  und  den  Konflikt  des  Sitt- 
lichen mit  dem  Sittlichen,  im  zweiten  über  das  Nützliche  und  den  Konflikt 
des  Nützlichen  mit  dem  Nützlichen,  endlich  im  dritten  Buch  über  den 
Konflikt  des  Nützlichen  mit  dem  Sittlichen  gehandelt  wird.  Diese  Gliede- 
rung rührt  im  wesentlichen  von  Panaetius  her,  der  drei  Bücher  über  die 
Pflichten  geschrieben;  nur  den  Konflikt  des  Sittlichen  mit  dem  Sittlichen 
und  den  Konflikt  des  Nützlichen  mit  dem  Nützlichen  hatte  er  übersehen; 
auch  hatte  er  die  Erörterung  des  dritten  Problems,  obwohl  von  ihm  an- 
gekündigt, unterlassen.  Cicero  konnte  also  in  den  zwei  ersten  Büchern 
fast  ganz  dem  Panaetius  folgen;  und  er  ist  ihm  auch  nach  seinem  eigenen 
Zeugnis  gefolgt.  Dagegen  musste  er  sich  nach  andern  Quellen  umsehen 
in  den  kurzen  Partien,  in  denen  der  Widerstreit  des  Sittlichen  mit  einem 
andern  Sittlichen  und  der  Widerstreit  des  Nützlichen  mit  einem  andern 
Nützlichen  auseinandergesetzt  wird.  Im  dritten  Buch  musste  ebenfalls  eine 
neue  Quelle  ausfindig  gemacht  werden.  In  der  Ergänzungspartie  des  ersten 
Buchs  scheint  er  dem  Posidonios,  dessen  Benützung  ad  Attic.  16,11,4  zu- 
gestanden wird,  gefolgt  zu  sein  (1,45  1,59),  in  der  des  zweiten  Buchs 
dem  Antipater  aus  Tyrus  (2, 24, 86)  oder  Athenodorus  Galvus.  Für  das 
dritte  Buch  ist  die  bereits  angeführte  Stelle  aus  dem  Brief  an  Atticus  von 
Wichtigkeit.  Nachdem  er  nämlich  die  zwei  ersten  Bücher  vollendet,  schrieb 
er  an  Athenodorus  Galvus  und  bat  ihn,  er  möge  ihm  seine  Umrisse  [rd 
x€(pdkaia)  schicken;  als  er  dieselben  erhalten,  gefielen  sie  ihm  sehr  (ad 
Attic.  16,14,3).  An  diesen  Abriss  wird  sich  Cicero  im  3.  Buch  gehalten 
haben,  sowohl  was  den  Inhalt  als  die  Gliederung  anlangt.  Die  Beispiele 
aus  dem  römischen  Leben,  die  sich  in  diesem  Buch  besonders  zahlreich 
finden,  rühren  wohl  alle  von  Cicero  her.  Über  die  Zeit  der  Abfassung 
gibt  uns  der  Briefwechsel  mit  Atticus  Aufschluss.  Im  Nov.  44  waren 
zwei  Bücher  vollendet  (ad  Attic.  16,11,4). 

Auch  in  diesem  Werk  vermissen  wir  die  philosophische  Befähigung 
Ciceros.  Sein  Wert  ruht  in  den  praktischen  Lebensregeln.  „Diese  Stellen, 
einzeln  herausgehoben,  sind  so  vortreiflich,  dass  immer  noch  das  Buch 
seine  warmen  Freunde  und  Verehrer  behalten  wird,  wie  sehr  auch  der 
Schein  eines  Ganzen  ohne  innere  Totalität  den  systematischen  Denker  be- 
leidigen muss.""  9 

Cic.  ad  Attic.  16, 11,4  Ta  itegl  tov  xa^xoviog,  quatenus  Panaetius,  absolm  duobus: 
aitus  tres  sunt;  sed,  cum  initio  divisisset  ita,  tria  genera  exquirendi  officii  esse,  ununif  cum 
deliberemus,  honestum  an  iurpe  sit,   alterum,   utile  an  inutile,   tertium,  cum  Jiaec  inter  se 


»)  Hkrbart,  Ges.  Werke  12, 172. 

17 


260    Komische  LitteraturgeBohichte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


pugnare  videaniur,  quomodo  iudicandum  8Ü  —  de  duobua  primis  praeclare  disseruU,  de 
tertio  poUicetur  se  deincepSf  sed  nihil  scripsit.  Eum  loeum  Posidonius  persecuius  est  (de 
off.  3, 2f  S),  ego  autem  et  eius  lihrum  areessivi  et  ad  Athenodorum  Caltfum  seripsi,  ut  ad  me 
j«  xBffttXaut  mitteret,  nQoag>ayi5  atUem  Ciceroni  filio. 

Über  die  Ergftnziingspartien  sagt  Cicero  (1,3,10):  hac  divisione  —  duo  praeter- 
missa  sunt;  nee  enitn  solum  utrum  honestum  an  turpe  sit,  deliberari  solet,  sed  etiam  duohus 
proposUis  honestis  utrum  honestius,  itemque  dtiohus  propositis  utilibus  utrum  utilius,  Jta 
quam  nie  {Panaetius)  triplieem  putavit  esse  rationem,  in  quinque  partes  distribui  debere 
reperitur.    Vgl.  1, 43, 152.    Über  die  Quellen  vgl.  Hirzel,  Unters.  2, 723. 

Darüber,  dass  Panaetius  den  versprocbenen  dritten  Teil  nicht  geliefert,  spricht  Cicero 
ausführlicher  3.  2,  7.  Über  Gebühr  betont  er  hier  seine  Selbständigkeit  (3,  7,  34):  han€ 
partem  relictam  expUbimus  nullis  adminiculis,  sed,  ut  dicitur,  Marte  nostro,  Neque  enim 
quicquam  est  de  hoc  parte  post  Panaetium  explicatum,  quod  quidem  mihi  probaretur,  de  iis, 
quae  in  manus  meas  venerunt,    (Klohe,  p.  36.) 

Über  seinen  Anschluss  an  die  Stoiker  und  besonders  an  Panaetius  vgl.  1, 2,  6  sequemur 
hoc  quidem  tempore  et  hac  in  quaestione  potissimum  Stoicos,  non  ut  interpretes,  sed,  ut 
sdemus,  e  fontibus  eorum  iudicio  arbitrioque  nostro,  quantum  quoque  modo  videbUur,  hau- 
riemus,  3,4,20  erit  haec  formula  Stoicorum  rationi  diseiplinaeque  maxime  consentanea; 
quam  quidem  his  libris  sequimur.  3, 2,  7  Panaetius,  qui  sine  controversia  de  officiis  accu- 
ratissime  disputavit,  quemque  nos  correctione  quadam  adhibita  potissimum  secuti  sumus. 
1,  3,  9  2, 5, 16  2, 14,  51  3,  4,  18.  Im  dritten  Buch  wird  Hecaton  citiert  15,  63  23,  89.  Ein 
Streit  zwischen  Diogenes  und  Antipater  wird  berührt  (12, 51).  Höchst  wahrscheinlich  sind 
aber  diese  Quellen  nicht  direkt  benutzt.  Über  die  Quellen  des  dritten  Buchs  spricht 
HoTKR,  De  Antiocho  p.  19.  Panaetii  et  Hecaf^mis  librorum  fragm.,  Coli.  Fowleb,  Bonn 
1885.    Klohe,  De  Cic.  lihr,  de  officiis  fontibus,  Greifsw.  1889.     Hikzel,  Unters.  2,  736. 

Überlieferung:  Zur  ersten  Familie  gehören  Codex  Bambergensis  s.  X,  Wuerze- 
burgensis  s.  X,  Bemensis  391  s.  X;  zur  zweiten  geringeren,  mit  willkürlichen  Änderungen 
durchsetzten,  der  Harleianus  2716  s.  IX  oder  X,  der  Palatinus  1531  s.  XII  und  der  Bemensis 
104  s.  XIII.  Vgl.  ScmcHE,  Ausg.  p.  V.  Über  die  zweite  Familie  vgl.  Popp,  Acta  sem.  Erlang. 
3, 245  und  De  Palatino  1531,  Erlang.  1886. 

Litteratur:  Ausgaben  von  C.  Th.  Zumpt,  Braunschw.  1838;  Beier,  Leipz.  1820 — 31. 
Mit  deutschem  Kommentar  von  Ungbb  (1852),  J.  v.  Gbuber  (Teubner);  C.  F.  Müller 
(Teubner);  Heine  (Weidmann)  u.  a.    Kritische  Handausgabe  von  Schiche  (Freytag). 

171.  Verlorene  philosophische  Schriften.  Ein  Teil  der  in  das 
Gebiet  der  Philosophie  einschlagenden  Schriften  ist  uns  nicht  erhalten. 
Es  sind  folgende: 

1)  Consolatio.  Im  Anfang  des  J.  45  war  Ciceros  vielgeprüfte*) 
Tochter  gestorben.  Seine  Freunde  sprachen  ihm  Trost  zu;  ein  schönes 
Denkmal  ist  der  Brief  des  Sulpicius  Severus  (Ep.  4, 5).  Allein  Cicero  suchte 
auch  sich  selbst  zu  trösten;  er  las  daher  griechische  Trostschriften  und 
schrieb  selbst  eine  solche,  welche  uns  verloren  ging.  Allein  ein  Bild  der- 
selben erhalten  wir  einmal  durch  die  bald  darauf  entstandenen  Tusculanen, 
welche  im  ersten  und  dritten  Buch  verwandte  Gedanken  aussprechen  und 
auch  öfters  auf  die  Consolatio  Bezug  nehmen;  dann  durch  das  Epitaphium 
Nepotiani  (Ep.  60)  des  hl.  Hieronymus,  der  hier  die  Consolatio  benutzte. 
Was  die  Quellen  anlangt,  so  steht  durch  ausdrückliches  Zeugnis  Ciceros 
fest,  dass  Krantors  berühmte  Schrift  negl  näv&ovg  benützt  wurde.  Eine 
genauere  Untersuchung    der  Quellen    kann   nur   in  Verbindung  mit  den 


^)  Kurz  führt  Drümann  6, 710  ihre  Schick- 
sale vor:  Das  Unglück  verfolgte  sie  von  der 
Jugend  bis  zum  Grabe,  und  aus  Haas  gegen 
den  Vater  verleumdeten  sie  freche  l^en- 
Schänder,  als  sie  nicht  mehr  war.  Ihr  erster 
Gemahl  (C.  Calpumius  Piso  Frugi),  ein  braver 
Mann,  lebte  nicht  lange;  von  dem  zweiten 
(Furius  Crassipes)  wurde  sie  geschieden,  nach 


harten  Prüfungen  auch  von  dem  dritten 
(P.  Cornelius  Dolabella),  weil  er  zu  dem 
Auswurf  der  vornehmen  Welt  gehörte;  der 
Vater  verstiess  die  Mutter;  ein  Kind  nahm 
ihr  der  Tod,  bald  nach  der  Geburt  des  andern 
starb  sie  selbst,  und  zu  dem  allen  gesellte 
sich  der  Bürgerkrieg. 


Giceros  philosophische  Schriften.  261 

Tusculanen  angestellt  werden.  Die  meisten  Fragmente  der  Schrift  sind 
uns  durch  Lactantius  erhalten,  dem  sie  zur  Polemik  Anlass  gegeben.  Es 
sind  besonders  die  Gedanken,  dass  das  Leben  eine  Strafe  für  die  Sünden 
sei  (fr.  8  M.),  dass  es  das  beste  sei,  gar  nicht  geboren  zu  sein,  das  nächst- 
beste aber,  sobald  als  möglich  zu  sterben  (fr.  9). 

ad  Att.  12, 14, 3  qiwd  me  ab  hoc  maerore  reereari  vis,  facis  %U  omnia;  sed  nie  mihi 
HÖH  defuisse  tu  tesiis  es:  nihil  enim  „de  mcterore  minueHdo^  scriptum  ab  ullo  est,  quod  ego 
HÖH  domi  tuae  legerim;  sed  omnem  consolatianem  vincit  dolor.  Quin  etiam  feci,  ^^wd  pro- 
fecto  ante  me  nemo,  ut  ipse  me  per  lUteras  consolarer,  quem  librum  ad  te  mittam,  si  de- 
scripserint  librarii:  affirmo  tibi  nüUam  Consolationem  esse  talem.  Der  Brief  geschr.  März  45. 

Auf  die  CoHsolatio  nehmen  die  Tusc.  Bezug  4,29,63  1,34,83  1,31,76  1,26,65 
3,31,76  3,28,70.  Bxtresch  p.  95  ist  der  Ansicht,  dass  Cicero  die  Gedanken  der  Conso- 
latio,  nur  in  besserer  Ordnung,  in  die  Tose,  herübergenommen. 

Hieron.  ep.  60  legimus  Crantorem,  cuius  volumen  ad  eonfovendum  dolorem  secutus  est 
Cicero,  Plaionis  Biogenis  Clitomachi  Carneadis  Posidonii  ad  sedandos  luctus  opuscula 
percurrimus  qui  diversis  aetatibus  diversorum  luctum  vel  libris  vel  epistolis  minuere  sunt 

conati,  ut  etiam  si  nostrum  areret  ingenium  de  iUorum  posset  fontibus  irrigari Quid 

memorem  Bomanos  ducesf  .  .  .  quorum  non  minor  in  luctu  quam  in  bellis  virtus  fuit  et 
quorum  orbitates  in  Consolationis  libro  TuUius  explicavit.  Dass  Hieronymus  nicht  die  ge- 
nannten Quellenschriftsteller  gelesen,  verrät  er  selbst,  Cameades  hatte  ja  ausser  Briefen 
nichts  geschrieben.    Hieronymus  benützte  bloss  Ciceros  Consolatio,    (Bübesch  p.  48.) 

Die  Benützung  Crantors  bezeugt  Cicero  bei  Plinius  n.  b.  praef.  22  in  Consolatione 
filiae,  Crantorem,  inquit,  sequor. 

Litteratur;  Schneider,  De  consolatione  Cic,,  Bresl.  1835.  Schulz,  De  Cic.  eonsoL, 
Greifsw.  1860.  Bubbsch,  Consolationum  a  Graecis  Romanisque  scriptarum  hist,  crit,,  Leipz. 
Stnd.  9, 1  vgl.  p.  94. 

2)  Hortensius.  Als  Cicero  infolge  der  politischen  Verhältnisse  eine 
unfreiwillige  Müsse  erhielt  und  daran  ging,  alle  Teile  der  Philosophie  für 
seine  Landsleute  lateinisch  zu  bearbeiten,  war  sein  erstes,  durch  eine  Schrift 
zum  Studium  der  Philosophie  aufzumuntern,  d.  h.  einen  Xoyog  nqoxqsTmxdq 
ngog  ipikoao<piav  zu  schreiben.  Es  geschah  dies  in  einem  Dialog,  der  Hör- 
tensius  betitelt  war.  Die  Handlung  wird  in  die  Villa  des  LucuUus  verlegt 
(fr.  17. 18  M.).  An  dem  Dialog  beteiligten  sich  LucuUus  (fr.  11)  und  Catulus 
(fr.  14);  die  Hauptträger  des  Gesprächs  aber  waren  Hoiiiensius  und  Cicero. 
Wie  es  scheint,  begann  die  Unterredung  mit  der  Wertschätzung  der 
verschiedenen  Wissenschaften;  Lucullus  lobte  die  Geschichte;  auch  von  der 
Rhetorik  war  die  Rede  (fr.  14).  Alsdann  kam  man  auf  die  Philosophie, 
welche  von  Hortensius  bekämpft,  von  Cicero  aufs  wärmste  verteidigt  wurde. 
Unter  den  Argumenten,  welche  Hortensius  gegen  die  Philosophie  ins  Treffen 
führte,  befand  sich  der,  dass  ja  diese  Disziplin  erst  in  verhältnismässig 
später  Zeit  aufgekommen  sei,  woraus  sich  ergebe,  dass  sie  nicht  Weisheit 
sei  (fr.  32).  In  der  Gegenrede  Ciceros  war  besonders  der  Gedanke  durch- 
geführt, dass  wir  alle  glücklich  werden  wollen  (fr.  36),  dass  wir  aber  nur 
durch  die  Philosophie  glücklich  werden  können,  denn  das  Streben,  die 
Wahrheit  zu  erforschen,  bringt  uns,  auch  wenn  sie  nicht  gefunden  werden 
kann,  allein  das  von  uns  allen  gewünschte  Glück.  Das  geistige  Leben  ist 
das  wahre  Leben  (fr.  95).  Dasselbe  verbürgt  uns  auch  ein  glückliches 
Ende  (fr.  97). 

Vorbilder  für  Cicero  bei  der  Abfassung  waren  der  Protreptikus  des 
Aristoteles  und  der  Protreptikus  des  Posidonius. 

Die  Schrift  Ciceros  fand  gleich  bei  den  Zeitgenossen  Anklang.  Noch 
mehr  wurde  sie  aber  wegen  der  weihevollen  Haltung  von  den  Kirchen- 


262    Römiflohe  Litteratnrgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    8.  Periode. 

Vätern  bewundert;  das  Buch  regte  Augustin  zum  Studium  der  Philosophie 
an  und  erzeugte  bei  ihm  eine  gänzliche  Sinnesänderung.  ^)  Maximus  (fr.  103) 
und  Boethius^)  kennen  noch  den  Hortensius,  dann  verschwindet  er. 

Bereits  in  der  Schrift  de  fin.  weist  Cicero  auf  den  Hortensius  als  ein  gelesenes 
Büchlein  (1, 1, 2) :  philasophiae  vituperatorihus  satia  responsum  est  eo  libro,  quo  a  nMsphil<h- 
Sophia  defensa  et  coüaudata  est,  cum  esset  accusata  et  vituperata  ab  Hortensio.  Qui  liber 
cum  et  tibi  (Bruto)  probatus  videretur  et  iis  quos  ego  posse  iudicare  arbiträrer ,  plura  suscepi. 
Das  Ziel  der  Schrift  spricht  auch  de  div.  2, 1,  1  aus:  cohortati  sumus,  ut  maxime  potuimus, 
ad  philosophiae  Studium  eo  libro,  qui  est  inscriptus  Hortensius. 

Litteratur:  Bywateb,  Journal  of  Philology  2,  bb  (grundlegende  Abhandlung  für 
die  Erkenntnis,  dass  der  Protrepticus  des  Jamblichus  aus  dem  Protrepticus  des  Aristoteles 
geschöpft  habe),  üsekeb,  Rh.  Mus.  28, 895.  Hibzel,  Hermes  10,61.  Diels,  Archiv  für 
Geschichte  der  Philos.  1,478.  Hartlich,  De  exhortationum  a  Graecis  Romanisque  scrip- 
tarum  historia  et  indole,  Leipz.  Stud.  11,209,  wo  über  Hortensius  p.  291 — 300  gehandelt 
wird.  Habtlich  nimmt  zwei  Quellen  an,  den  Protrepticus  des  Aristoteles  und  den  des 
Posidonius.  „Fieri  polest,  si  Aristotelis  librum  Cicero  in  manibus  non  habuit,  ut  Aristoteiis 
loci,  qui  in  Hortensio  leguntur,  ex  Posidonio  petiti  sint,  Quod  ego  tarnen  contendere  noUm** 
(p.  300). 

3)  De  gloria  1.  II.  In  einem  Brief  an  Atticus  des  J.  44  (Juli)  15, 27,  3 
verspricht  Cicero,  ihm  eine  Schrift  über  den  Ruhm  baldigst  zukommen 
zu  lassen.  In  einem  etwas  späteren  Brief  16,2,6  lesen  wir,  dass  das 
bereits  geschehen.  Es  war  dies  aber  eine  Abschrift,  später  (16, 3, 1)  folgte 
auch  das  Original,  aber  erweitert  und  verbessert.  In  den  Büchern  über 
die  Pflichten  (2,  9, 31)  wird  bereits  auf  die  Schrift  Bezug  genommen.  Wie 
flüchtig  die  Schrift  abgefasst  war,  beweisen  zwei  Thatsachen.  Einmal  war 
Hector  und  Aiax  mit  einander  verwechselt  (Gell.  15,6,1),  dann  hatte  er 
ein  Prooemium  verwendet,  welches  bereits  im  3.  Buch  der  Äcademica  unter- 
gebracht war;  er  schickte  daher  an  Atticus  ein  anderes. 

ad  Attic.  16,  6,  4  nunc  negligentiam  meam  cognosce:  „de  gloria''  librum  ad  te  misi; 
at  in  eo  prooemium  id  est,  quod  in  Äcademico  tertio  —  itaque  statim  novum  prooemium 
exaravi  et  tibi  misi.  —  Schkeider,  Ztschr.  f.  Altertumsw.  1839  nr.  28. 

4)  De  virtutibus  handelte  über  die  vier  Kardinaltugenden;  die 
Schrift  wird  eine  Ergänzung  zu  de  officiis  gewesen  sein. 

Hieronym.  in  Zach.  1,2  quattuor  virtuies,  prudentia,  iustitia,  fortitudo,  temperantia, 
de  quibus  plenissime  in  officiorum  libris  Ttdlius  disputat  acribens  proprium  quoque  de 
quattuor  virtutibus  librum.     (Charis.  p.  208  E.) 

5)  De  auguriis,  allem  Anschein  nach  Ergänzung  zu  den  Büchern 
de  divinaiione,  daher  diese  Schrift  hier  noch  nicht  erwähnt  wird. 

de  div.  2,  35,  75  existimo  ius  augurum,  etsi  divinationis  opinione  principio  constitutum 
sit,  tarnen  postea  rei  publicae  causa  conservatum  ac  retenium.  Sed  de  hoc  loco  plura  in 
aliis,  nunc  ha^tenus. 

6)  De  iure  civili  in  artem  redigendo.  Durch  die  Beredsamkeit 
trat  Cicero  auch  in  Beziehungen  zu  der  Jurisprudenz.  Freilich  eine  Ver- 
tiefung in  die  einzelnen  Bechtssätze  wird  man  bei  ihm  nicht  erwarten 
können.  Dagegen  zeigte  er  Interesse  für  die  philosophische  Behandlung 
des  Rechts,  insofern  dieselbe  auf  Systematisierung  hinauslief.  Die  gram- 
matischen und  die  rhetorischen  Studien  hatten  ja  auch  damals  diese  Rich- 
tung genommen.  In  seiner  Schrift  de  oratore  lässt  er  1, 42, 190  den  Crassus 
den  Plan,  ein  Rechtssystem  zu  entwerfen,  in  Qrundzügen  entwickeln.    Es 


')  de  beata  vita  c.  4;  Confess.  3,4,  7. 
2)  ÜSEiTER,  Rh.  Mus.  28, 400. 


GiceroB  philosophiBche  Schriften.  263 

wird  von  der  Gliederung  des  Rechts  in  Hauptabteilungen,  der  Gliederung 
der  Hauptabteilungen  in  Unterabteilungen,  dann  von  den  notwendigen 
Begriffsbestimmungen  gesprochen.  Wir  werden  nicht  irren,*)  wenn  wir 
die  Meinung  aussprechen,  dass  Cicero  selbst  diesen  Plan  in  der  Schrift, 
welche  Quintilian  allgemein  andeutet  (12,3,10),  Gellius  genauer  de  iure 
civili  in  artem  redigendo  citiert  (1, 22, 7),  wirklich  durchgeführt  hat.  Während 
P.  Mucius  Scaevola  in  seinem  berühmten  Werk  (vgl.  §  80)  den  gesamten 
Rechtsstoff  in  ein  System  zu  bringen  versuchte,  war  es  Cicero  sicherlich 
nur  darum  zu  thun,  eine  knappe  Übersicht  der  Rechtsbegriffe  zu  geben. 

Quint.  12,  3, 10  Et  M,  Tuüius  non  modo  inier  agendum  nunquam  est  destitutua  scientia 
iuris,  sed  etiam  componere  aHqua  de  eo  coeperat  (hier  ist  der  Ausdruck  coeperat  auffällig). 
Grell.  1,22,7  M.  autem  Cicero  in  libro,  qui  inscriptus  est  de  iure  civili  in  artem  redi- 
gendo verba  hciec  posuit.  Deor.  1, 42, 190  si  aut  mihi  facere  lieuerit,  quod  iam  diu  cogito, 
aut  alius  quispiam  aut  me  impedito  occuparit  aut  mortuo  effecerit,  ut  primum  omne  ius 
civile  in  genera  digerat,  quae  perpauca  sunt,  deinde  eorum  generum  quasi  quaedam  membra 
dispertiat,  tum  propriam  euiusque  vim  definitione  decJaret,  perfectam  artem  iuris  civilis 
habebUis,  magis  magnam  atque  uberem  quam  difficilem  et  obscuram,   (Dibkssk,  H.  Sehr.  1,1.) 

7)  Die  Übersetzungen  des  Xenophontischen  Oeconomicus 
und  des  platonischen  Protagoras.  In  seiner  Jugend  übersetzte  Cicero 
Xenophons  Oeconomicus  in  3  Büchern  (Macrob.  3, 20, 4).  Auch  die  Über- 
setzung des  platonischen  Protagoras  hat  man  als  eine  Jugendarbeit  an- 
sehen wollen,  allein  aus  de  finibus  1, 3, 7  geht  hervor,  dass  bis  dahin  Cicero 
noch  keine  platonische  Schrift  in  der  Weise  des  Protagoras  übersetzt  hatte. 

Cic.  de  off.  2, 24,  87  Oeconomicus,  quem  nos,  ista  fere  aetate  cum  essemus,  qua  es  tu 
nuttc,  e  Graeco  in  Latinum  convertimus,  —  De  fin.  1,  B,  7  quamquam,  si  plane  sie  verterem 
Platonem  aut  Aristotelem,  ut  verterunt  nostri  poUae  fctbulas,  male,  credo,  mererer  de  meis 
civibus,  si  ad  eorum  cognitionem  divina  illa  ingenia  transferrem,  Sed  id  neque  feci  adhuc, 
nee  mihi  tamen,  ne  faciam,  interdictum  puto.  Vgl.  die  Interpretation  dieser  Stelle  Yon 
Philippson,  Fleckeis.  J.  133, 423. 

172.  Charakteristik  der  philosophischen  Schriftstellerei  Giceros. 
Zur  Beurteilimg  der  philosophischen  Schriften  Giceros  ist  es  vor  allem 
notwendig,  sich  die  äusseren  Bedingungen  vor  Augen  zu  halten,  unter 
denen  sie  zu  stände  kamen.  Nicht  durch  einen  inneren  Drang  wurde 
Cicero  zur  philosophischen  SchriftsteUerei  geführt,  sondern  erst  in  seinen 
späten  Lebensjahren  durch  die  äusseren  politischen  Verhältnisse.  Durch 
dieselben  zum  Rückzug  von  der  Politik  verurteilt,  glaubte  er  seine  Zeit 
am  besten  anwenden  zu  können,  wenn  er  sie  der  Schriftstellerei  widmete. 
Bereits  der  nach  dem  ersten  Triumvirat  eingetretene  Umschwung  der  Dinge 
hatte  ihm  eine  unfreiwillige  Müsse  auferlegt;^)  eine  zweite  schuf  die  Dik- 
tatur Caesars.  In  dieses  letzte  Otium,  das  den  Zeitraum  von  etwa  zwei 
Jahren  umfasste,  fallen  zahlreiche  Arbeiten  auf  dem  Gebiet  der  Philo- 
sophie. Es  ist  klar,  dass  in  einer  so  kurzen  Zeit  in  keiner  Weise  selbst- 
ständige Forschungen  geliefert  werden  konnten.  Es  war  dies  um  so  weniger 
möglich,  als  Cicero  auch  früher  niemals  den  Schwerpunkt  in  das  Studium 
der  Philosophie  gelegt  hatte.  Cicero  gab  daher  im  wesentlichen  nur  Über- 
tragungen aus  dem  Griechischen,  in  bezeichnender  Weise  nennt  er  selbst 
seine  philosophischen  Werke  „apographa^ .  Für  die  Form  dieser  Über- 
tragungen war  der  philosophische  Standpunkt,  den  Cicero  einnahm,  mit- 

')  DiBKSBN  p.  17. 

')  Dbumann  6, 27  mit  den  SteUen  unter  nr.  31. 


264    Bömische  Litteratnrgeflcliiclite.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

entscheidend.  Die  neuere  Akademie,  der  er  anhing,  verlangte  eine  grosse 
Zurückhaltung  mit  dem  Urteil,  eine  gewisse  Skepsis,  eine  vorurteilsfreie 
Betrachtung  fremder  Ansichten.  Er  konnte  daher  in  seinen  Schriften  die 
verschiedenen  Schulen  zu  Wort  kommen  lassen.  Dies  legte  die  Form  des 
Dialogs  nahe,  nicht  des  künstlichen  platonischen  Dialogs,  sondern  des  aristo- 
telischen d.  h.  des  Scheindialogs.  Es  halten  die  verschiedenen  Yeitreter 
der  Philosophie  zusammenhängende  Reden,  nur  die  Scenerie  und  einige 
eingestreute  Worte  erinnern  an  den  Dialog.  Den  Stoflf  schöpft  unser  Autor 
aus  landläufigen  Kompendien.  Wir  können  noch  nachweisen,  wie  flüchtig 
er  dieselben  benützt  und  wie  oft  er  sie  missverstanden  hat.  Auch  das 
lässt  sich  noch  darthun,  dass  manchmal,  wenn  ein  System  zur  Widerlegung 
eines  anderen  vorgeführt  wird,  Sätze  und  Gegensätze  nicht  in  Harmonie  zu 
einander  stehen ;  es  rührt  dies  daher,  dass  die  von  Cicero  benützten  Kom- 
pendien eben  nicht  für  einander  verfasst  waren.  Mehr  von  Eigenem  konnte 
Cicero  geben,  wenn  es  sich  um  moralische  Gemeinplätze  handelte;  auch 
Erläuterungen  durch  Beispiele  aus  der  Geschichte  konnten  hier  in  die  Theorie 
eingeschaltet  werden.  Bei  einer  solchen  Sachlage  kann  darum  von  einer 
wesentlichen  Förderung  der  Philosophie  durch  Cicero  keine  Bede  sein. 
Sein  Verdienst  ist  in  der  Latinisierung  und  Popularisierung  der 
griechischen  Philosophie  zu  suchen.  Was  die  Latinisierung  anlangt,  so 
sind  die  Schwierigkeiten,  welche  zu  überwinden  waren,  nicht  gering  an- 
zuschlagen; schon  die  Ausprägung  einer  lateinischen  philosophischen  Ter- 
minologie war  keine  leichte  Aufgabe.  Noch  mehr  Wert  legte  aber  Cicero 
auf  die  geschmackvolle,  anmutige  Form  und  hier  scheint  er  Epoche  gemacht 
zu  haben,  denn  seine  Vorgänger,  die  Epikureer  Amafinius,  Rabirius  und 
Catius,  hatten  nach  seinem  Zeugnis  die  Kunst  der  Darstellung  vollständig 
vernachlässigt.  Das,  was  Cicero  anstrebte,  durch  seine  Schriften  das  Inter- 
esse für  die  griechische  Philosophie  in  ihrem  ganzen  Umfang  in  den  weiteren 
Kreisen  seiner  Mitbürger  zu  wecken,  hat  er  ohne  Zweifel  erreicht. 

Über  sein  otium  als  Anlass  seiner  philosophischen  Schriftstellerei  spricht  er  oft  in 
seinen  Vorreden  z.  B.  de  div.  2, 2,  6  ac  mihi  ^idem  explicandae  philoacphiae  causam  adtulU 
casus  gravis  civitatis,  cum  in  armis  civilibus  nee  tueri  meo  more  rem  publicam  nee  nihil 
agere  poieram  nee,  quid  potius,  quod  quidem  me  dignum  esset,  agerem,  reperiebam. 

Die  bezeichnenden  Worte  bezüglich  der  apographa  stehen  ad  Attic.  12, 52, 3  'Jn6y^ag>a 
sunt:  minore  labore  fiunt;  verba  tantum  affero,  quibus  ahundo. 

Über  seinen  philosophischen  Standpunkt  äussert  er  sich  mehrfach.  Acad.  pr.  3, 7 
neque  nostrae  disputcUianes  quidquam  aliud  agunt,  nisi  ut  in  tUramque  partem  dicendo 
et  audiendo  eliciant  et  iamquam  exprimant  aliquid,  quod  aut  verum  sit  aut  ad  id  quam 
proxime  accedat;  nee  inter  nos  et  eos,  qui  se  scire  arbitrantur,  quidquam  interest,  nisi 
quod  illi  non  dubitant,  quin  ea  vera  sint,  quae  defendunt,  nos  prdabilia  muHa  hdbemus, 
quae  sequi  facile,  adfirmare  vix  possumus;  hoc  autem  libertäres  et  solutiores  sumus,  quod 
integra  nobis  est  iudicandi  potestas,  nee,  ut  omnia,  quae  praescripta  et  quasi  imperata 
sint,  defendamus,  necessitate  ulla  eogimur.  De  fin.  1, 2,  6  tuemur  ea,  quae  dicta  sunt  ab 
iis,  quos  probamfts,  eisque  nostrum  iudicium  (?)  et  nostrum  scribendi  ordinem  adiungimus. 
De  off.  2,  2,  8  quid  est  igitur,  quod  me  impediat  ea,  quae  probabüia  mihi  videantur,  sequi, 
quae  contra,  improbare  atque  adfirmandi  arrogantiam  vitantem  fugere  temerUatem,  quae 
a  sapientia  dissidet  plurimum? 

Ciceros  nachlässige  Benützung  der  Quellen  charakterisiert  Useneb,  Epic.  p.  LXV 
bene  profecto  actum  nobiscum  esset,  si  optimorum  librorum  vel  Panaetii  ac  Posidonii  apo- 
grapha nobis  reliquisset .  at  nego  Ciceronem  eum  fuisse  qui  philosophum  Graecum  veritatem 
spinosa  arte  exputantem  et  in  viscera  rerum  penetrantem  sequi  aut  vellet  aut  passet  .  foro 
natum  erat  hoc  ingenium,  non  scholas  .  .  .  igitur,  ut  quanta  ubique  Ciceronis  sit  fides  ex- 
ploretur,   non  id  solum   quaerendum  est,  quem  sequatur  scriptorem   Graecum,   sed  sana 


Ciceros  historische  und  geographische  Schriften.  265 

strenmaque  interpretatione,  observando  renim  tractatianem  et  aententiarum  ordinem  specu- 
landum,  qua  scribat  ratione,  quo  modo  quem  sequendum  sibi  proposuerit  exprimat  .  quam 
viam  cum  G.  'Ueylbutiua  indicasset,  qui  post  eum  de  auctoritale  Ciceronis  disptUaveruni 
pJerique  minime  ea  qua  par  fuit  eonstantia  tenuerunt  —  umbram  captes  eamque  fdüacem 
si  quaeras  quem  auctorem  sequi  Cicero  voJuerit,  nisi  aimul  quo  modo  sequatur,  expresserit 
necne,  explares. 

Seine  Vorgänger  charakterisiert  Cicero  Acad.  post.  1,  5  vide8  non  passe  nos  Amafinii 
aut  Rabirii  similes  esse,  qui  nuUa  arte  adhibita  de  rebus  ante  ocufos  positis  tmlgari  sermone 
disputant,  nihil  definiunt,  nihil  partiuntur,  nihil  apta  interrogatione  concludunt,  nullam 
denique  artem  esse  nee  dicendi  nee  disserendi  putant.  Tose.  1,  B,  6  2,  3,  7  4,  3,  6;  Cic.  £p. 
15,9,2  Epicurus,  a  quo  omnes  Catii  et  Amafini,  mali  verborum  interpretes  proficiscuntur, 
15, 16, 1.  Dagegen  Quint.  10, 1, 124  in  Epicureis  levis  quidem,  sed  non  iniucundus  tarnen 
auctor  est  Catius, 

Über  die  Popularisierung  der  griechischen  Philosophie  vgl.  Tusc.  1, 3,  5  phUosophia 
iacuii  usque  ad  hanc  aetatem  nee  uUum  habuit  lumen  Utterarum  Latinarum;  quae  inlu- 
stranda  et  excitanda  nobis  est,  ut,  si  oecupati  profuimus  aliquid  civibtis  nostris,  prosimus 
etiam,  si  possumus,  otiosi.    De  nat.  deor.  1, 3,  7. 

Bezüglich  der  Vorreden  ist  interessant  ad  Atüc.  16,  6, 4  habeo  volumen  prooemiorum: 
ex  eo  eligere  soleo,  cum  aliquod  avyyQafifia  institui, 

Litteratur:  Eühker,  Cic.  in  philosophiam  merita,  Hamb.  1825.  Herbabt,  Über 
die  Philosophie  Ciceros,  SftmÜ.  W.  12, 169  findet  an  Ciceros  philosophischer  Schriftstellerei 
drei  Momente  rOhmend  hervorzuheben  1)  die  skeptische  Sinnesart;  2)  die  feste  und  tiefe 
Überzeugung,  womit  er  der  Gültigkeit  der  moralischen  Ideen  huldigt;  3)  seine  lautere 
Achtung  f£'  die  Philosophie  in  ihrem  ganzen  Umfange,  als  eins  der  vorzüglichsten 
Bildungsmittel  der  Menschen,  ja  der  Nationen;  welches  an  die  römische  Sprache  zu  knüpfen 
ihm  eine  Angelegenheit  ist,  die  er  seinen  übrigen  Sorgen  um  den  Staat  zur  Seite  stellt  (p.  174). 

e)  Die  historischen  und  geographischen  Schriften  Ciceros. 

173.  Die  Memoiren  Ciceros.  Die  historische  Schriftstellerei  Ciceros 
beschränkt  sich  auf  das  Memoire.  Vor  allem  war  es  sein  Konsulat,  das 
er  einer  mehrfachen  Verherrlichung  in  Prosa  und  in  Poesie,  in  lateinischer 
und  in  griechischer  Sprache  für  wert  hielt  (vgl.  §  175),  Als  Pompeius  in  Asien 
stand,  richtete  Cicero  an  denselben  einen  Brief  über  sein  Konsulat,  welcher  den 
Umfang  eines  Buchs  hatte,  und  schlug  in  demselben  einen  sehr  hochfahrenden 
Ton  an.  Im  J.  60  schrieb  Cicero  an  Atticus  (1, 19, 10),  dass  er  ihm  ein 
Memoire  über  sein  Konsulat  in  griechischer  Sprache  überschicke.  Zu 
gleicher  Zeit  stellt  er  die  Übersendung  einer  lateinischen  Bearbeitung 'in 
Aussicht.  Auf  die  äussere  Form  scheint  er  grosse  Sorgfalt  verwendet  zu 
haben;  in  einem  zweiten  Brief  an  Atticus  (2, 1, 1)  wird  von  ihm  berichtet, 
er  habe  die  ganze  Salbenbüchse  des  Isokrates,  die  Schmuckkästchen  der 
Schüler  desselben  ausgebeutet,  ja  auch  aristotelische  Farben  aufgetragen. 
Posidonius,  den  er  auch  um  Verherrlichung  seines  Konsulats  angegangen, 
sei  durch  das  Werk  nicht  ermimtert,  sondern  abgeschreckt  worden.  Dieses 
vnofivrjfia  tfjg  vTraretag  ist  uns  verloren  gegangen,  allein  wir  können  das- 
selbe in  seinen  Grundzügen  restituieren,  da  Plutarch  dasselbe  in  seinem 
Leben  Ciceros  c.  10 — 23  ausgezogen  hat.  Im  J.  59  begann  er  eine  ge- 
heime Geschichte,  dvtxdoTa,^)  auch  expositio  consiliorum  suorum  (Ascon.  p.  74 
K.  Seh.)  oder  p-atio  consiliorum  suorum  (Charis.  p.  146  K.)  genannt.  Auch 
nach  dem  Tod  Caesars  ist  in  den  Briefen  an  Atticus  viel  von  diesem 
Heraklidischen  Unternehmen  die  Rede.*)  Die  Schrift  wurde  ohne  Zweifel 
erst  nach  dem  Tode  des  Verfassers  herausgegeben. 


«)  ad  Attic.  2, 6, 4  14, 17, 6.    Vgl.  Habnbckeb,  Fleckeis.  J.  123,  184. 
«)  ad  Attic.  15, 4, 3  15, 13, 3  15, 27, 2  16,  2,  6. 


266    BOmiBche  Lüteratnrgeflchiolite.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik,    2.  Periode. 

Das  Zeugnis  über  das  an  Pompeius  gerichtete  Memoire  steht  schol.  Bob.  p.  270  0. 
significat  epiattdam  nou  mediocrem  ad  instar  voluminia  scriptam,  quam  Pompeio  in  Asiam 
de  rebus  suis  in  eonsulatu  gestia  miserat  Cicero  aliquanto,  iU  vidMtur,  insolentius 
scriptam,  ut  Pompei  stomachum  non  mediocriter  eommoveret:  quod  quadam  superhiore  iac- 
tantia  omnibus  ae  gloriosis  ducibus  anteponeret,    (pro  Sulla  24, 67.) 

Über  das  vnofiytjfia  jfjg  fSnatsiag  ad  Attic.  1, 19, 10  commentarium  consulatus  mei 
Graece  compositum  misi  ad  te,  —  Ijotinum  si  perfecero^  ad  te  mittam.  2, 1,  1  meus  liber 
totum  Isocrati  myrothecium  atque  omnes  eius  discipulorum  areulas  ac  nonnihil  etiam 
Aristotelia  pigmenta  consumpsit  —  ad  me  scripsit  iam  Bhodo  Posidonius,  se  nostrum  illud 
vnofiytjfia  cum  legeret,  quod  ego  ad  cum,  ut  ornatius  de  iisdem  rebus  scriberet,  miseram, 
non  modo  non  excUatum  esse  ad  scribendum,  sed  etiam  plane  perterritum.  —  Tu,  si  tibi 
placuerit  liber,  eurabis  ut  et  Athenis  sit  et  in  ceteris  oppidis  Graeciae;  videtur  enim  posse 
aliquid  nostria  rebus  lucis  adferre,  Dass  dieses  vnSfiyrjfia  im  Auszug  bei  Plutarch  Gic. 
10—23  vorliegt,  hat  Weizsäcker  in  einer  trefflichen  Abhandlung  Fleckeis.  J.  111,417  dar- 
gethan.    Ergänzungen  gibt  Buresch  in  den  Comm.  philol.  zu  £hren  Ribbecks  p.  219. 

Ober  die  Änecdota  vgl.  Die  39, 10  p.  190  Bekksb  ßißUoy  ii  anog^roy  avyi&tpcs  xai 
indygaiffsy  avj^  tug  xai  negi  xiav  iavrov  ßovXsvfidtoMf  dnoXoyiafioy  riya  ex^'^^' 

174.  Oeographisches.  Im  J.  59  wurde  Cicero  von  seinem  Freund 
Atticus  aufgefordert,  ein  geographisches  Werk  zu  schreiben.  Und  wirklich 
finden  wir  ihn  von  dieser  Aufforderung  an  mit  dem  Gegenstand  beschäftigt. 
FreiJich  stiess  er  auf  mehr  Schwierigkeiten,  als  er  erwartet  hatte.  Die 
Geographie  widerstrebt  ja  der  rhetorischen  Behandlung  in  hohem  Grade. 
Er  scheint  aber  doch  zu  Ende  gekommen  zu  sein;  denn  Priscian  citiert 
1,267,  5  H.  eine  Stelle  aus  einer  Ghorographia  Giceros. 

ad  Attic.  2f  4, 3  (aus  dem  J.  59)  De  geographia,  dabo  operam,  ut  tibi  satisfaciam; 
sed  nihil  certi  polliceor.  Magnum  opus  est,  sed  tamen,  ut  iubes,  curabo,  ut  huius  peregri- 
nationis  aliquod  tibi  opus  extet,  2,  6, 1  yetay^afpixa,  quae  constitueram,  magnum  opus  est. 
—  Et  hercule  sunt  res  dif fidles  ad  explicandum  et  ofioeidetg  nee  tam  possunt  ay&tjgo- 
ygtt(peTa&ttt,  quam  videbantur,  2, 12,  3  quod  me,  ut  scribam  aliquid,  hortaris,  crescit  mihi 
quidem  materies,  ut  dids,  sed  tota  res  etiam  nunc  fluctuat;  xar'  ontugt^y  tqv(.  Quae  si 
desederit,  magis  erunt  iudicata,  quae  scribam;  quae  si  statim  a  me  ferre  non  potueris, 
primus  habebis  tamen  et  aliquamdiu  solus. 

Vielfache  Berührung  mit  der  Geographie  haben  auch  die  Admiranda  gehabt,  ein 
ciceronisches  Werk,  das  Plinius  an  mehreren  Stellen,  zweimal  mit  Angabe  des  Titels 
(31,12  31,51),  citiert. 

()  Ciceros  Gedichte. 

175.  Ciceros  politische  Gedichte.  Von  Cicero  als  Dichter  kann 
ernstlich  nicht  die  Rede  sein;  es  ging  ihm  jede  dichterische  Anlage  ab; 
nur  die  Kunst  des  Versificierens  konnte  er  sich  bei  seinem  ausgesprochenen 
formalen  Talent  aneignen.  Allein  der  Ehrgeiz  lockte  ihn  auch  auf  dieses 
Gebiet.  Nicht  bloss  versuchte  er  sich  in  Übersetzungen  und  Bearbeitungen 
griechischer  Muster,  sondern  er  ging  auch  selbständig  vor  und  verfasste 
einige  politische  Gedichte.  Das  passendste  Objekt  für  eine  Dichtung  schie- 
nen ihm  natürlich  seine  eigenen  Thaten  zu  sein ;  er  liess  es  auch  an  Auf- 
munterungen an  andere,  dieselben  zu  besingen,  nicht  fehlen.  Da  dies  keinen 
rechten  Erfolg  hatte  (ad  Attic.  1,  16,  15),  so  musste  er  im  Jahre  60  selbst 
ans  Werk  gehen  imd  der  Verkünder  seines  eigenen  Ruhmes  werden.  Es 
sollten  zugleich  drei  Schriften  seinem  Konsulat  gewidmet  werden,  eine 
griechische  Denkschrift,  eine  lateinische  und  endlich  ein  Gedicht  (ad  Attic. 
1,  19,  10).  Dieses  Gedicht  war  im  Jahre  55  in  den  Händen  des  Publi- 
kums; denn  in  der  Rede  gegen  Piso,  welche  in  dieses  Jahr  fällt,  musste 
er  bereits  den  viel  verspotteten  Vers 

cedant  arma  togae,  concedat  laurea  laudi 


Cicerofl  Gedichte.  267 

verteidigen  (29,  72).  Doch  dieses  Gedicht  über  sein  Konsulat,  das  drei 
Bücher  umfasste,  genügte  ihm  noch  nicht;  auch  die  Zeit  seiner  Verbannung 
und  seine  Rückkehr  bot  Stoff  zur  Selbstverherrlichung.  In  einem  Briefe 
des  J.  54  (Ep.  1,  9,  23)  spricht  er  von  einem  Gedicht  „de  temporibus  meis*'. 
Da  er  dieses  Gedicht  ausdrücklich  als  ein  noch  nicht  herausgegebenes 
in  jenem  Briefe  bezeichnet,  so  können  wir  dasselbe  nicht  mit  dem  bereits  55 
bekannten  Epos  über  sein  Konsulat  identifizieren,  wir  haben  vielmehr  eine 
Ergänzung  zur  ersten  Dichtung.  Von  diesem  Gedicht  de  temporibus  meis, 
das  auch  aus  drei  Büchern  bestand,  haben  wir  kein  sicheres  Fragment; 
dagegen  sind  uns  mehrere  aus  dem  Preise  seines  Konsulats  erhalten,  dai'- 
unter  die  langweilige  Rede  der  Urania  über  die  Zeichen,  welche  der  cati- 
linarischen  Verschwörung  vorausgegangen  waren  (de  div.  1,  17  —  22). 
Gleichfalls  im  Jahre  54  schrieb  er,  um  sich  Cäsar  gefällig  zu  erweisen,  ein 
Gedicht  über  dessen  britannische  Expedition  (ad  Q.  fr.  2, 13,2;  3, 9,6); 
wir  kennen  kein  Fragment  dieser  Dichtung.  Endlich  ist  noch  das  Epos 
«Marius'  zu  erwähnen,  welches  sicher  durch  landsmannschaftliche  Rück- 
sichten hervorgerufen  wurde.  Die  Zeit  desselben  lässt  sich  nicht  sicher  be- 
stimmen. An  das  Gedicht  knüpfen  die  „Gesetze*  Ciceros  (wohl  aus  dem  Jahre 
52)  an;  allein  wenn  der  Vers,  den  Cicero  in  einem  Briefe  an  Atticus  (2, 
15,  3)  anführt,  wie  kaum  zu  bezweifeln  ist,  aus  dem  Marius  stammt,  so 
war  das  Gedicht  bereits  59  vorhanden.  Höchst  wahrscheinlich  müssen  wir 
noch  weiter  zurückgehen.    Ein  längeres  Bruchstück  bietet  de  div.  1, 106. 

176.  Ciceros  ttbrige  Oedichte  und  Über  Setzungen.  In  seiner 
Jugend  schrieb  Cicero  in  Tetrametern  ein  Gedicht  über  den  Meergott  Glau- 
kos, das  zur  Zeit  Plutarchs  (Cic.  2)  noch  vorhanden  war.  Weiterhin  wird 
eine  Elegie  von  ihm  erwähnt  (Serv.  zu  Vergil.  Ecl.  1,  58),  als  deren  wahr- 
scheinlichen Titel  Heinsius  „Thalia  tnaesta^  hergestellt  hat.  Es  wäre  so- 
nach die  Geschichte  einer  sicilischen  Nymphe  behandelt  (Bähbens  zu 
fr.  21  p.  306).  Jul.  Capit.  Gord.  3,  2  lehrt  uns  die  drei  Gedichte  Alcyone, 
eine  Verwandlungsgeschichte,  Nilus,  eine  Beschreibung  des  Nil  und  Uxo- 
rius,  der  Weiberknecht  kennen.  Von  dem  letzten  Stück  abgesehen  weisen 
alle  diese  Versuche  auf  alexandrinischen  Ursprung.  Was  der  „Uxorius** 
gewesen,  lässt  sich  nicht  sicher  sagen,  wahrscheinlich  eine  Komödie  (viel- 
leicht nach  einer  yvraixoxQaTta).  In  der  vita  des  Terenz  5  citiert  Sueton 
unter  dem  Namen  Cicero  einen  Limon  und  teilt  daraus  4  Hexameter  über 
Terenz  mit.  Auch  ciceronische  Epigramme  gab  es,  vgl.  Quint.  8,  6,  73.*) 
Ein  solches  skizziert  Plinius  Ep.  7,  4,  6 ;  wir  sehen  daraus,  dass  es  mit 
Catull  99  auffallende  Ähnlichkeiten  hatte.  ^) 

An  Übersetzungen  griechischer  Dichter  haben  wir  einmal  Einlagen 
seiner  Schriften,  dann  die  für  sich  bestehende  des  astronomischen  Lehr- 
gedichts des  Aratos,  von  der  ein  grosser  Teil  erhalten  ist.  Aratos  behan- 
delte in  erster  Linie  die  ^atvofuva,  die  Himmelserscheinungen,  in  einem 
Anhang  die  Wetterzeichen  (die  Grammatiker  nennen  daher  diesen  letzten 
Teil  Jtocrjfietai,  Cicero  Prognostica  =  nQoyvwaei^  did  aijfietcov).  Seine  Über- 

*)  Das  Citat  nennt  einen  „ioeularis  libeüus". 
')  Harubcksb,  Fleckeis.  J.  133, 275. 


268    RönÜBche  Litteratorgeflchiohie.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

Setzung  der  Aratea  bezeichnet  Cicero  bestimmt  als  ein  Jugendwerk  (de  nat. 
deor.  2f  104),  und  jugendliche  Fehler  sind  nicht  selten.  Auf  die  Übersetzung 
der  Prognostica  in  späterer  Zeit  (um  60)  aus  ad  Attic.  2, 1, 11  ^)  zu  schliessen, 
erachte  ich  für  bedenklich. 

Litteratur:  Ausser  den  Ausgaben  gibt  die  poetischen  Fragmente  Ciceros  Bahbens 
und  zwar  die  Areata  vol.  I  pofitae  lat  min.  p.  2,  die  übrigen  fragm.  ^o6t.  Roman,  p.  298. 
Für  die  Aratea  haben  wir  nicht  bloss  einzelne  Stellen,  sondern  auch  einen  aus  480  Versen 
bestehenden,  zusammenhängenden  Abschnitt  der  Phaenomena  handschriftlich  (Harleianus 
647  s.  IX,  Dresdensis  183  s.  X).  Bekannt  ist  die  geistreiche  Ergänzung  der  Aratea  von 
Hugo  Grotius.  —  Sibo,  De  ,  ,  .  Ärati  interpretibue,  Halle  1886.  Gbollmus,  de  M.  Cicerone 
pcS^ta,  Königsb.  1887.  M.  Haupt,  Opusc.  I  211  über  den  Marius,  den  er  kurz  vor  den  .Ge- 
setzen* ansetzt.  Ribbeck,  Rom.  Dient.  1, 296 — 302. 


177.'  Bttckblick  auf  die  ciceronische  Schriftstellerei.  Nachdem 
wir  die  verschiedenen  litterarischen  Zweige,  in  denen  sich  die  Schrift- 
stellerei  Ciceros  bewegte,  durchgegangen  haben,  erübrigt  noch,  die  Schriften 
Ciceros,  soweit  möglich  und  rätlich,  nach  den  Jahren  vorzuführen. 

81  p.  Quinctio.  56  De  harusp.  response,  j).  Sestio,  in  Vatin., 

80  p.  Roscio  Am.  p.  Gaelio,  de  provinciis  consularibus,  p. 

72  oder  71  p.  Tullio.  Balbo. 

70  die  Yemnen.  55  In  Pison.,  De  oratore. 

69  p.  Fonteio,  (p.  Gaecina).  54  p.  Plancio,  p.  Scauro,  p.  Rabirio  Postume, 

(68  p.  Roscio  com.)  De  republica  begonnen  (De  tempo- 

68 — 43  Briefwechsel  mit  Atticus.  ribus  meis),  Gedicht  über  die  brit. 

66  de  imp.  Gn.  Pompei,  p.  Gl.  Habito.  Expedition  Gaesars. 

65  n.  Gomelio.  53  De  aere  alieno  Milonis. 

64  In  toga  cand.  52  p.  Müone,  De  legibus  angefangen. 

63  Die  kons.  Reden:  de  lege  agraria,  pro      46p.Marcello,p.Ligario,Brutu8,Paradoxa, 

Rab.  perd.  reo,  die  catilinarischen  Reden,  Orator,  De  optimo  genere  orator., 

p.  Murena.  (De  partitione  erat.). 

62  p.  Sulla,  p.  Archia.  45  p.  Deiotaro,  Gonsolatio,  Hortensius, 

62 — 43  £p.  ad  familiäres.  De  finibus,    Acad.,    Tuscul.   ange- 

61  In  Glod.  et  Gur.  fangen. 

60  Memoire  Über  sein  Konsulat,  Ge-      44  Die  ersten  4  philipp.  Reden,  Briefwechsel 

dicht  über  dasselbe.  mit  Brutus,  De  natura  deorum  voll- 

60 — 54  Briefw.  mit  Q.  Cicero.  endet,  Gate  maior.  De  divinatione, 

59  p.  Flacco,  dyexdora  begonnen,  Gho-  De  fato,  (Timaeus),  De  gloria,  To- 

rographie  (Marius).  pica,  Laelius,  De  officiis,  (De  vir- 

57  die  Reaen  post  reditum:.  im  Senat,  vor  tutibus),  (De  auguriis)* 

dem  Volk,  de  domo.  43  Die  übrigen  philipp.  Reden. 

Aus  dieser  Übersicht  ersehen  wir  sofort,  dass  die  rednerische  Thätigkeit 
Cicero  von  der  Jugend  bis  zum  Alter  begleitet,  dagegen  die  eigentliche 
wissenschaftliche  Schriftstellerei  erst  in  den  späteren  Jahren  seines  Lebens 
hervortritt.  Und  zwar  sind  es  besonders  zwei  Perioden,  in  denen  er  wissen- 
schaftliche Schriften  produziert,  die  Jahre  54 — 52  und  die  Jahre  46 — 44. 
Beide  Male  war  es  die  Unzufriedenheit  mit  der  politischen  Lage  und  die 
Vereinsamung,  welche  Cicero  zur  litterarischen  Beschäftigung  veranlasste 
und  zwar,  nachdem  er  die  Mittagshöhe  des  Lebens  überschritten.  Auch 
das  erkennen  wir,  dass  Cicero  besonders  in  der  zweiten  Periode  eine  so 
reiche  Schriftstellerei  entfaltet,  dass  er  in  derselben  unmöglich  Originelles 
darbieten  kann.  Und  in  der  That  sind  der  eigenen  Gedanken  in  diesen 
Schriften  wenige ;  was  er  gibt,  schöpft  er  fast  alles  aus  griechischen  Schrift- 
stellern. In  den  rhetorischen  Schriften  konnte  sich  noch  seine  reiche  Er- 
fahrung geltend  machen;  auch  in  den  politischen  Traktaten  brauchte  der 

»)  Vgl.  Jordan,  Krit.  Beitr.  p.  299. 


Rftckblick.    Fortleben  Ciceroa. 


269 


Verfasser  nicht  auf  Selbständigkeit  zu  verzichten;  dagegen  ist  er  in  den 
eigentlich  philosophischen  Abhandlungen  nichts  als  ein  Eompilator.  Es 
kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  die  glänzende  Form  ist  es,  welche  den 
ciceronischen  Schriften  ihren  Zauber  verleiht.  In  der  Periodisierung  und 
in  der  damit  notwendig  verbundenen  Wortfülle  hat  er  es  zu  anerkannter 
Meisterschaft  gebracht.  Diese  glänzende  Aussenseite  hat  ihm  die  Bewun- 
derung seiner  Zeit  und  der  späteren  Epochen  eingetragen.  Nicht  aber 
konnten  diejenigen  bei  Cicero  Befriedigung  finden,  welche  in  dem  Schrift- 
steller zugleich  eine  grossartige  Persönlichkeit  suchten  und  welche  das 
Wort  als  den  Ausdruck  innerer  Überzeugung  auffassten;  selbst  die  Reden 
mussten  ihnen  eine  Enttäuschung  bereiten.  Heutzutage,  wo  der  Kultus  der 
lateinischen  Rede  verschwunden  ist,  muss  Cicero  als  eine  gefallene  Grösse 
angesehen  werden. 

Um  richtige  Würdigung  Giceros  hat  sich  niemand  grössere  Verdienste  erworben  als 
Dbuxann  in  seinem  §  140  erwähnten  Werk.  Auch  Moxxsev  hat  in  seiner  römischen  Ge- 
schichte an  verschiedenen  Stellen  (3*,  579  619  622)  mit  scharfen  Strichen  ein  Bild  Giceros 
gezeichnet,   das  mit  der  landläufigen  Vorstellung  sehr  kontrastiert 

Gesamtausgaben  Giceros.  Wir  f&hren  nur  die  neueren  an:  Die  von  Obelli, 
Zürich  1826 — 30  4  Bde.  Hiezu  kommt  ein  V.  Band,  der  die  Scholien  und  Erläuterungs- 
schriften zu  Gicero  enthält,  und  drei  Bände  (VI — VIII),  Onomasticum  TuUianum  etc.  um- 
fassend. Zweite  Ausgabe  von  Obelli,  Baiteb,  Halm,  Zürich  1845 — 62.  Diese  zweite  bildet 
die  kritische  Grundlage  der  cic.  Schriften.  Textausgaben  von  Klotz,  in  neuer  trefflicher 
Bearbeitung  von  Mülleb  (Teubner),  von  Baiteb  und  Katseb  (Tauchnitz). 

178.  Fortleben  Giceros.  Eine  Geschichte  des  Giceronianismus  ist 
noch  zu  schreiben.  Wir  können  selbstverständlich  nur  einige  Beiträge  geben. 
Sehr  bald  trat  Cicero  in  die  Litteratur  ein;  sowohl  seine  politische  als 
seine  litterarische  Thätigkeit  wurden  Gegenstände  der  Forschung.  Noch 
zu  Lebzeiten  Giceros  schrieb  Atticus  eine  Geschichte  seines  Konsulats  in 
griechischer  Sprache  (§  116);  es  kam  die  Biographie  Giceros  von  Gornelius 
Nepos  (§  126),  endlich  die  jedenfalls  apologetische  Lebensbeschreibung,  welche 
Giceros  Freigelassener,  M.  Tullius  Tiro,  verfasste.  Eine  hervorstechende 
Eigentümlichkeit  der  ciceronischen  Schriften  war  der  witzige  Ausdruck. 
Auf  diesen  Gegenstand  warf  sich  zuerst  das  litterarhistorische  Studium. 
So  legte  G.  Trebonius  (43  von  Dolabella  ermordet),  wie  man  aus  Ep.  15,21 
schliessen  muss,  eine  Sammlung  der  ciceronischen  Witzworte  an.^)  Auch 
unter  dem  Namen  Tiros  war  eine  solche  Witzsammlung  in  Umlauf.  Weiter- 
hin erregte  das  litterarische  Interesse  der  Briefwechsel  Giceros.  Als  Gicero 
noch  am  Leben  war,  hatte  Tiro  bereits  eine  Sammlung  von  70  Briefen 
zusammengebracht.  Die  Veröffentlichung  der  Korrespondenz  Giceros  er- 
folgte nach  seinem  Tode  allmählich;  so  kann  das  spätere  Erseheinen  des 
Briefwechsels  mit  Atticus  aus  Zeugnissen  erschlossen  werden.  Auch  die  eine 
oder  die  andere  Schrift  wie  die  Anecdota,  wahrscheinlich  die  leges,  ist  erst 
aus  dem  Nachlass  herausgegeben  worden.  Dass  bald  das  Bedürfnis  sich 
ergab,  zusanmienfassende  Ausgaben  der  ciceronischen  Schriften  zu  veran- 
stalten, liegt  in  der  Natur  der  Sache.  In  der  That  hören  wir  von  einer 
Ausgabe  ciceronischer  Reden  durch  Tiro.    Auf  die  Reden  warf  sich  zuerst 


*)  Die  Stelle  heisst:  liber  iste,  quem  mihi 
mitistif  quanlam  höhet  declaraiionem  amaria 
tuif  primum,  quod  tibi  facetum  videtur,  quid' 
^id  ego  dixi,  quod  aliis  fortasse  non  item; 


deinde,  quod  iüa,  sive  faceta  sunt  sive  sectM, 
fiunt  narrante  te  venustissima;  quin  etiam, 
antequam  ad  me  reniatur,  risu8  omnis  paene 
conmimitur. 


270    BOmisohe  LitterainrgeBohiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


auch  die  kommentierende  Thätigkeit;  im  Anfang  unserer  Ära  schrieb 
Asconius  zu  denselben  seinen  ausgezeichneten  historischen  Kommentar  und 
zwar  nach  einer  Ausgabe,  in  der  die  Reden  chronologisch  geordnet  waren. 
Sehr  früh  trat  die  ästhetische  Würdigung  Ciceros  in  der  Litteratur  hervor. 
Der  berühmte  Kritiker  Asinius  PoUio  und  der  geistreiche  Historiker  Velleius 
Paterculus  sprechen  Cicero  ewigen  Ruhm  zu.  ^  Aber  auch  an  gegnerischen 
Stimmen  fehlte  es  nicht.  Der  Sohn  des  Asinius  Pollio,  C.  Asinius  Gallus, 
(t  33  n.  Ch.)  schrieb  eine  Parallele  seines  Vaters  und  Ciceros  und  erteilte 
seinem  Vater  die  Palme.')  Gegen  diese  Schrift  schrieb  der  nachmalige  Kaiser 
Claudius.^)  Selbst  Griechen  griffen  in  die  litterarische  Debatte  ein;  der  be- 
kannte Grammatiker  Didymus  schrieb  gegen  die  Bücher  über  die  Republik, 
auf  die  in  späterer  Zeit  Sueton  eine  Gegenschrift*)  erscheinen  liess.  Von 
den  Schriftstellern  der  Kaiserzeit  sind  Quintilian  und  Plinius  enthusiastische 
Bewunderer  unseres  Autors;  der  erstere  that  den  bekannten  Ausspruch,  dass 
der  überzeugt  sein  soll,  Fortschritte  gemacht  zu  haben,  der  an  Cicero  grossen 
Gefallen  finde  ;^)  der  jüngere  Plinius  stellt  aber  ausdrücklich  Cicero  als 
sein  Vorbild  hin.^)  Aber  auch  damals  fand  Cicero  seine  Gegner.  Von 
einem  Largius  Licinus')  wird  er  in  leidenschaftlicher  Weise  angegriffen, 
wahrscheinlich  demselben,  den  die  beiden  Plinii  öfters  citieren.  Den 
Rhetorschulen  konnte  Cicero  selbstverständlich  nicht  fremd  bleiben;  für 
manche  Themata  musste  er  den  Stoff  liefern.^)  Das  eine  oder  das  andere 
dieser  Produkte  kursierte  dann  unter  dem  berühmten  Namen  wie  z.  B.  die 
Rede  pridie  quam  in  exilium  iret  (§  145)  und  die  Invektiva  gegen  Sallust 
(§  134),  die  epistula  ad  Octavianum  (§  155).  Als  in  späterer  Zeit  die  latei- 
nische Sprache  schon  merkliche  Unterschiede  gegenüber  der  ciceronisehen 
zeigte,  musste  die  Wortforschung  unsern  Schriftsteller  zum  Gegenstand 
machen.  Etwa  gegen  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  schrieb  Statilius 
Maximus  über  vereinzelte  Erscheinungen  bei  Cicero.®)  In  alten  Hand- 
schriften finden  wir  differentiae  sermonum  Ciceronis  und  eine  Synonymik 
unter  seinem  Namen.  ^^)  Auch  die  kommentierende  Thätigkeit  wendet  mehr- 
fach die  spätere  Zeit  Cicero  zu.  Im  vierten  Jahrhundert  schrieb  C.  Marius 
Victorinus  Kommentare  zu  Ciceros  Topica  und  zu  den  philosophischen  Schriften , 


*)  Seneca  Suas.  6, 24  p.  36  Bu.  gibt  uns  das 
Urteü  des  Asinius  PoUio  mit  den  Worten :  huius 
viri  (Cic.)  tot  tantisgue  operibus  mansuri  in 
omne  devum  praedicare  de  ingenio  cUque  in- 
dustria  supervacuum  est.  Velleius  2, 66, 5  vivU 
vivetque  per  omnem  saectUorum  memoriam, 

')  Plin.  ep.  7, 4,  8  libri  Asini  Galli  de 
comparatione  patria  et  Ciceronis,  7, 4,  6  libros 
Galli,  quibus  iUe  parenti  ausus  de  Cicerone 
dare  est  palmam  decusque. 

')  Suet.  Glaud.  41  composuit  —  Ciceronis 
defensionetn  (utversus  Asini  Galli  libros  satis 
eruditam, 

*)  Suidas  s.  v.  TQayxvXXog  •  ey^aipe  — 
n$Qi  Ttjg  Kixi^foyog  nohreias  ti  '  ävTiXiyst  d^ 

^)  Quint.  10, 1, 112  hunc  spectemus,  hoc 
propositum  nobis  sit  exemplum,  ille  se  pro- 
fecisse  sciat  cui  Cicero  v<üde  placebit, 

•)  Plin.  ep.  4, 8, 4  M.  TuUius,  quem  aemu- 


lari  studiis  cupio, 

7)  Gell.  17, 1, 1  nonnufli  tarn  prodigiofti 
tamque  vecordes  extiterunt,  in  quibus  sunt 
Gnüus  Asinius  et  Largius  Lieinus,  cuiusliber 
etiam  fertur  infando  titulo  'Ciceromastix*, 
ut  scribere  ausi  sint  M.  Ciceronem  parum 
integre  atque  improprie  atque  inconsiderate 
locutum, 

«)  Senec.  Suas.  VII  p.  39  Bu.  deliberat 
Cicero  an  scripta  sua  conhurat,  prominente 
Antonio  incolumitatem,  si  fecisset.  Gontrov. 
7, 17  p.  196  Bu. 

')  Gharisius  p.  194, 11  Statilius  Maximus 
de  singularibus  apud  Ciceronem  posUis.  Auch 
als  Emendator  finden  wir  ihn.  Vgl.  unten 
p.  272. 

^^)  Die  Differentiae  sind  herausgegeben 
von  Hagbk,  Suppl,  gr,  lat,,  Leipz.  1870  p,  275. 
Bezüglich  der  Synonyma  siehe  Orblli  4, 1063. 


Fortleben  CiceroB. 


271 


welche  verloren  gingen,  dagegen  sind  erhalten  seine  Erläuterungen  zur 
Schrift  Rhetorica.  Diese  Abhandlung  kommentiert  ungefähr  um  dieselbe  Zeit 
Grillius  (§  148).  Der  ersten  christlichen  Zeit  werden  wir  auch  den  Kom- 
mentar zu  Ciceros  Reden,  bekannt  unter  dem  Namen  scholia  Bobietisia, 
zuzuteilen  haben.  ^)  Von  den  philosophischen  Schriften  fand  der  Traum  des 
Scipio  in  den  Büchern  de  republica  einen  Erklärer  in  Macrobius  (§  158). 
Noch  im  sechsten  Jahrhundert  war  die  Exegese  Ciceros  nicht  erloschen; 
so  schrieb  Boethius  einen  Kommentar  zur  Topik  (§  154). 

Durch  das  Mittelalter  hindurch  Cicero  zu  verfolgen,  mtissten  wir  noch 
mehr  solcher  Vorarbeiten  haben,  wie  sie  Schwenke  für  die  Karolingerzeit 
geliefert.^)  Im  grossen  Qanzen  lässt  sich  sagen,  dass  Ciceros  Name  sehr  be- 
rühmt war,  dass  er  aber  wenig  gelesen  wurde.  ^)  Der  Kreis  seiner  gelesenen 
Schriften  war  daher  sehr  eingeschrumpft;  manche  waren  verschollen;  manche 
existierten  in  unvollständiger,  lückenhafter  Gestalt  wie  de  oratore  und  der 
Oratop\  Das  Wiederaufleben  des  Ciceronianismus  ist  für  immer  mit  dem 
Namen  Petrarca  verbunden.  Petrarca  (1304—1374),  von  der  glühendsten 
Begeisterung  für  das  römische  Altertum  erfüllt,  bot  seine  ganze  Kraft 
auf,  die  Schriften  Ciceros  aus  ihrem  Versteck  hervorzuziehen  und  sie 
wieder  zum  Gegenstand  der  Lektüre  zu  machen,  so  dass  nun  die  Kopierung 
der  Ciceronischen  Werke  begann.  Aber  auch  ganz  verschollene  Schriften 
traten  jetzt  ans  Licht,  die  Auffindung  eines  Teils  des  ciceronischen  Brief- 
wechsels wird  jederzeit  eine  Ruhmespalme  im  Leben  Petrarcas  bilden. 
Bald  folgte  die  Entdeckung  der  übrigen  Teile  des  Briefwechsels  (§  157). 
Poggio  (1380 — 1459)  spürte  eine  Reihe  ciceronischer  Reden  auf.*)  End- 
lich wurde  im  Jahre  1422  in  Lodi  eine  alte  Cicerohandschrift  aufgefunden, 
durch  welche  die  Kenntnis  der  rhetorischen  Schriften  erweitert  wurde;  de 
oratore  und  der  Orator  waren,  wie  gesagt,  bisher  nur  in  verstümmelter 
Oestalt  bekannt,  jetzt  hatte  man  sie  vollständig;  der  Brutus  war  aber  ganz 
verschollen.  Mit  dem  Studium  der  ciceronischen  Schriften  ging  Hand  in 
Hand  die  Nachahmung  seines  Stils.  Wie  Cicero  schreiben  zu  können,  war 
das  höchste  Ziel  der  Humanisten.  Diese  Nachahmung,  welche  besonders 
durch  des  Lauren tius  Valla  Elegantiae  latini  sermonis  befördert  wurde, 
machte  die  lateinische  Sprache  zu  einer  wirklich  toten.  Die  Auswüchse, 
die  sich  an  den  stilistischen  Ciceronianismus  anschlössen,  zu  schildern, 
kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein.  In  unseren  Tagen,  in  denen  die  Kunst 
des  lateinischen  Stils  eine  untergeordnete  Bedeutung  hat,  sind  Verirrun- 
gen  in  dieser  Beziehung  nicht  mehr  möglich.  Sobald  aber  das  Interesse 
an  der  lateinischen  Form  erloschen,  musste  auch  das  Interesse  an  Cicero 
sich  mindern.  Eine  grössere  Bewegung  rief  noch  zu  Anfang  unseres  Jahr- 
hunderts   die  Entzifferung   von  Palimpsesten   mit  ciceronischen   Werken 


^)  Einen  Kommentar  des  Volcacins  zu 
den  Reden  Ciceros  erwflhnt  Hieronym.  apol. 
c.  Rafm.  1, 16  puto  quod  puer  legeris  Äspri 
in  Vergüium  ei  Saüustium  cammentarioa, 
Vuleaeii  in  orationes  Cieeronis,  Vidarini  in 
dialogos  eiua  etc.  Charisius  p.  21 1, 20  gedenkt 
eines  Kommentars  zur  Rede  p.  Rabirio  per- 
dnellionis  reo  von  Sacbr. 


')  Des  Hadoardus  Cicero-Exzerpte  Philol. 
5.  Supplementb.  p.  402. 

')  VoiOT,  Die  Wiederbelebung  des  klass. 
Altert,  p.  27. 

^)  Es  sind  folgende:  pr.  Caec,  de  leg. 
agr.,  in  Pison.,  p.  Rab.  Post.,  p.  Rab.  p.  r., 
p.  Roscio  Am.,  pr.  Roscio  com.,   p.  Murena. 


272     BOmiBohe  Idtieratnrgeaohiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

hervor.  An  dieser  Entzifferung  beteiligte  sich  in  erster  Linie  Angelo  Mai, 
dann  Peybon  und  Niebuhb.  Wir  erhielten  durch  dieselben  Teile  der  Bücher 
über  die  Republik  und  Fragmente  von  Reden  (§§  147  (p.  231),  158). 

M.  TulliuB  Tiro,  der  aditUor  in  lUeris  studiarum  eiu8  (Gell.  13,9, 1),  wurde  von 
Cicero  freigelassen  im  J.  54  (£p.  16, 16).  Seine  Biographie  Giceros  bezeugt  uns  Asconius 
p.  43  K.  Seh.,  wo  das  4.  Buch  citiert  wird.  Das  Werk  benutzte  Plutarch  vgl.  41  und  49. 
Die  Sammlung  der  Witze  bezeugt  Quint.  6,  3, 5  utinam  libertus  eius  Tiro  aut  alius  quis- 
quis  fuit,  qui  tris  hoc  de  re  Ubros  edidit,  parcius  dictarum  nutnero  indtUsisaent, 

Für  die  Herausgabe  ciceronischer  Schriften  war  Tiro  mehrfach  thfltig.  Grellius  er- 
wähnte eine  Ausgabe  der  Verrinen  (1, 7, 1  13, 21, 16).  Wahrscheinlich  veranstaltete  er  aber 
eine  Ausgabe  sämtlicher  Reden;  darauf  weist  eine  Subscriptio  hin:  Statilius  Maximus  rursiis 
emendavi  ad  Turonem  et  Laetanianum  et  Dom,  et  alioa  veteres.  Vgl.  Jahn,  Ber,  d.  sflchs. 
Ges.  1851  p.  329.  Auch  Entwürfe  Giceros  zu  Reden  publizierte  er.  Quint.  10, 7, 30  plerum- 
que  muUa  agentibus  accidtt,  ut  tnaxime  neeesaaria  et  utique  initia  scribant,  cetera,  quae 
domo  afferunt,  cogitatiane  compJectantur,  subitis  ex  tempore  occurratU.  Quod  feeisse  M. 
Tullium  commentariis  ipsius  apparet,  —  Ciceronis  ad  praesens  modo  tempus  aptatos  (com- 
mentarios)  libertus  Tiro  contraxit:  quos  non  ideo  excuso,  quia  mm  probem,  sed  ut  sint 
magis  admirabiles.  Auch  um  Sammlung  und  wohl  auch  um  Herausgf&e  der  ciceronischen 
Korrespondenz  machte  sich  Tiro  verdient  (§  156). 

Eigene  Schriften  Tiros.  Auch  mit  selbständigen  Arbeiten  trat  Tiro  hervor.  Gell. 
13,9,2  (Tiro)  Ubros  compluris  de  usu  atque  rationelinguae  fatinae,  item  de  variis 
atque  promiseis  quaesttonibus  composuit.  In  his  esse praecipui  videntur,  quos  Graeco 
titulo  naydixrag  inseripsit,  tamquam  omne  rerum  atque  doctrinarum  genus  continentis 
(Gell.  6, 3, 10). 

Tironische  Noten.  Die  römische  Stenographie.  Da  bei  den  Römern  das 
lebendige  Wort  eine  so  grosse  Rolle  spielte,  so  musste  sich  das  Bedürfnis,  dasselbe  zu 
fixieren,  herausstellen.  Die  wohl  auf  Sueton  zurückgehende  Hauptstelle  über  die  römische 
Stenographie  steht  bei  Isidor  Orig.  1,21  Vulgares  notas  Ennius  primus  mille  et  eentum 
invenit.  Notarum  usus  erat,  ut  quidquid  pro  contione  aut  in  iudiciis  dieeretur,  librarii 
scriberent  simuf  astantes,  divisis  inter  se  partibus,  quot  quisque  verba  et  quo  ordine  exeiperet. 
Romae  primus  TuUius  Tiro  Ciceronis  libertus  commentaius  est  notas,  sed  tantum  prae- 
positionum.  Post  eum  Vipsanius  Philarggrus  et  Aquila  libertus  Maeeenatis  alias  addiderunt, 
Denique  Seneca  contractu  omnium  digestoque  et  aucto  numero  opus  effecit  in  quinque  milia. 
Notae  autem  dictae  eo  quod  verba  vel  syUabas  praefixis  characteribus  notent  et  ad  notitiam 
legentium  revocent;  quos  qui  didicerunt,  proprie  iam  notarii  appeUantur, 

Die  Abkürzung  der  Schrift  erfolgt  entweder  durch  Schreibung  der  Worte  vermittels 
einzelner  Buchstaben,  Sigeln,  literae  singtdares  (meist  der  Anfangsbuchstaben)  oder  durch 
eigene  stenographische  Zeichen.  Die  literae  Singular  es  gehen  senr  weit  zurück.  Hier  an 
unserer  Stelle  ist  nur  von  stenographischen  Zeichen  die  Rede.  Von  den  Personen,  an 
welche  die  Entwicklung  der  römischen  Stenographie  geknüpft  wird,  ist  kein  Zweifel  be- 
züglich des  Philargyrus,  der  Freigelassener  Agrippas  0io  Gass.  55,  7)  war,  und  des  Aquila, 
dessen  Persönlichkeit  durch  die  Bezeichnung  als  libertus  Maeeenatis  festgestellt  ist.  Audi 
in  Bezug  auf  Seneca  ist  jetzt  Übereinstimmung  erzielt,  seit  in  Notenhandschriften  „Seneca 
Gordubensis  poeta*^  oder  „Seneca  Neronis  praeceptor*  erscheint  (Mitzschkb  p.  45).  Nur  Ennius 
macht  noch  Schwierigkeiten,  indem  die  einen  an  den  rudinischen  Dichter,  die  anderen  an 
einen  Grammatiker  der  ciceronischen  Zeit  denken.  Allein  wenn  es  sich  um  stenographische 
Zeichen,  nicht  um  literae  Singular  es  handelt,  kann  man  nicht  den  Dichter  Ennius  nennen 
(§  39  p.  59).  Jene  Zeit  hatte  noch  mit  der  Konstituierung  des  Alphabets  zu  thnn,  die 
stenographische  Zeichenschrift  gehörte  einer  späteren  Zeit.  Dass  erst  in  der  ciceronischen  Zeit 
die  Stenographie  praktisch  ausgeübt  wurde,  folgt  aus  Plut.  Gat.  min.  23  ovnta  rjaxovv  ovcT 
ix^xtfjyro  rovg  »aXovfjtiyovg  <rf}fi€ioyQtt(povg,  dXXd  tore  TtgcStoy  stg  txyog  ti  xaxaaxrjpai  Xiyoviny. 

Über  die  Weiterentwicklung  der  Stenographie  bemerkt  Schmitz,  Philologenvers,  zu  Trier 
p.  62 :  „Nach  Seneca  erhält  sich  die  tachygraph.  Kunst  durch  den  folgenden  Restdes  Altertums, 
geht  dann  in  den  Besitz  des  Mittelalters  Über  und  erlebt  in  der  Karolingerzeit  eine  hoho 
Blüte,  nimmt  aber  nach  dem  Anfang  des  10.  Jahrh.  ab  und  verschwindet  nach  dem  12.  Jahrb. 
gänzlich.*)    Vom   13.   bis   16.  Jahrh.  geschieht  der  Tironischen  Noten  keine  Erwähnung.** 

Es  ist  in  verschiedenen  Handschriften  (die  älteste  eine  Gasseier  s.  VIII)  eine  Sanun- 
lung  von  stenographischen  Zeichen  unter  dem  Titel  Notae  Tironis  et  Senecae  erhalten. 
Dieselbe  zerfällt  in  6  Gommentarii  aus  verschiedener  Zeit.  Abgedr.  in  Grutebs  Thesaurus 
inscr.,  Heidelb.  1603.  Vgl.  Kopps  Palaeographia  critiea,  Mannh.  1817.  Mit  einem  Gorpus 
der  tironischen  Noten  ist  Schmitz  beschäftigt. 

')  Über  einen  Versuch  in  der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahrh.  J.  Rose,  Hermes  8, 303. 


Qnintmi  Tnllius  Cicero.  :     273 

Litteratur:  Lehmann,  Quaest.  de  notis  Tironis  et  Senecae,  Leipz.  1869.  MitzscbTIc«, 
QtMest,  Tiraniatuie,  Rostock.  Dias.  1875.  Schmitz,  Beitr.  zur  lat.  Sprachgesch.  p.  179—807, 
wo  die  sftmtliehe  litteratur  berücksichtigt  ist. 

4.  Quintus  Tullius  Cicero. 

179.  Das  commentariolum  petitionis.  Wir  reihen  auch  den  Bruder 
Ciceros,  Q.  Tullius  Cicero  (102—43),  obwohl  er  von  der  praktischen  Be- 
redsamkeit sich  fern  hielt,  unter  die  Redner  ein;  denn  in  seiner  Schrift- 
stellerei  ist  lediglich  das  formale  Moment  das  hervorstechende.  Auch  ist 
die  geistige  Verwandtschaft  der  beiden  Brüder,  trotz  Marcus  ungleich  be- 
gabter war  als  Quintus,  eine  solche,  dass  dieselben  nicht  füglich  getrennt 
werden  können.  Von  Q.  Cicero  sind  uns  erhalten  vier  Briefe,  drei  an  Tiro 
(Ep.  16, 8  16, 26  16, 27)  und  einer  an  Marcus  (16, 16),  dann  das  sogenannte 
commentariolum  petitionis,  ein  Essay  über  die  Amtsbewerbung  in 
Form  eines  Briefs  an  seinen  Bruder,  geschrieben  im  J.  64,  als  sich  dieser 
um  das  Konsulat  bewarb.  Da  aber  das  Gesagte  auch  auf  andere  petitores 
Anwendung  finden  kann,  so  bekommt  sein  Brief  einen  allgemeineren  Charakter 
und  gehört  seinem  Wesen  nach  zur  isagogischen  Litteratur,  welche  bei  den 
Römern  einen  festen  Platz  hatte  (§  13),  Der  Verfasser  vermag  nach  eigenem 
Geständnis  nichts  Neues  zu  liefern,  sein  Ziel  ist,  das  über  den  Gegenstand 
Zerstreute  zusammenzufassen.  Drei  Gesichtspimkte  führt  er  seinem  Bruder 
vor,  dass  er  homo  novus  sei,  dass  er  sich  ums  Konsulat  bewerbe  und  dass 
Rom  es  sei,  wo  sich  die  Bewerbung  vollziehe.  Am  Schluss  ersucht  er 
seinen  Bruder,  Verbesserungen,  Streichungen,  Zusätze  vorzunehmen,  damit 
die  Denkschrift  die  möglichst  grosse  Vollkommenheit  erhalte.  Das  Ganze 
ist  ein  schwaches  Produkt,  den  Leser  stört  die  pedantische  Einteilung  und 
Gliederung  und  der  trockene  Ton;  lehrreich  ist  das  Schriftchen  für  die 
Geschichte  des  ambitus.  Ein  Seitenstück  und  Gegengeschenk  bildet  der  im 
J.  60  von  Marcus  an  Quintus  geschriebene  Brief  über  die  Provinzialver- 
waltung  (Ep.  ad  Q.  1,  1).  Man  hat  das  commentariolum  für  unecht  er- 
klären wollen,  besonders  weil  Entlehnungen  aus  der  Rede  in  toga  Candida, 
der  Rede  pro  Murena  und  der  erwähnten  Episttda  des  Marcus  stattgefunden 
hätten.  Allein  für  die  beiden  letzten  Produkte  stellen  sich  keine  schla- 
genden Ähnlichkeiten  mit  dem  commmtariolum  heraus.  Dagegen  ist  ein 
Konnex  zwischen  dem  commentariolum  und  der  Rede  in  toga  Candida  zuzu- 
geben. Allein  man  sieht  nicht  ein,  was  M.  Cicero  abhalten  konnte,  einzelne 
Gedanken  in  der  in  demselben  Jahr  gehaltenen  Rede  in  toga  Candida  zu 
verwerten.  Die  übrigen  Gründe  wiegen  nicht  viel.  Schon  der  Umstand, 
dass  man  gezwungen  war,  die  Abfassung  des  Schriftchens  in  die  aller- 
nächste Zeit  nach  Cicero  zu  verlegen,  hätte  Misstrauen  erregen  sollen. 

Der  Verfasser  leitet  seine  Schrift  mit  den  Worten  ein  1, 1  non  sum  alienum  arhi-- 
tratus  ad  ie  perseribere,  ea  quae  mihi  veniebarU  in  mentem  dies  ac  noctes  de  petitione  tua 
eogitatUi,  non  ut  aliquid  ex  iis  navi  addisceres,  sed  ui  ea  quae  in  re  dispersa  atque  infinit a 
Hderentur  esse,  ratione  et  distribuiione  sub  uno  aspectu  ponerentur.  Der  Schluss  lautet 
14, 58;  haec  sunt,  quae  putuvi  non  melius  scire  me  quam  te,  sed  facilius  his  tuis  occupatio- 
nibus  eoUigere  unum  in  locum  posse  et  ad  te  perscripta  mittere,  Quae  tametsi  ita  sunt 
scripta,  ut  non  ad  omnes  qui  honores  petant,  sed  ad  te  proprie  et  ad  hanc  petitionem  tuam 
vdUant,  tarnen  tu,  si  quid  mutandum  esse  videbitur  aut  omnino  tollendum  aut  si  quid  erit 
praeteritum,  velim  hoc  mihi  dicas;  voh  enim  hoc  commentariolum  petitionis  haberi  omni 
ratione  perfectum.    Die  Disposition  siehe  14,  54  haec  reniebant  mihi   in  mentem  de  duabus 

Uuidbooh  der  klaas.  AltcrtunmwiaMnaohaft  VIH.  18 


274    RönÜBohe  litteraiurgeBchiolite.    L  Die  Zeit  der  Bepnblik.    d.  Periode. 

Ulis  cammentcUionibus  mattUiniSf  quod  tibi  eotidie  ad  forum  descendenti  meditandum  esse 
dixeram:  „nopus  sum;  consulatum  petoJ*     Tertium  restat:  „Borna  est,** 

Die  Unechtheit  will  £us8neb  besonders  durch  folgende  Gründe  darthun  (p.  18): 
vidimus  ea,  quae  de  Quinto  et  tradita  sunt  et  a  nobis  fieri  possunt,  iudieia  nequaquam  cum 
hoc  commentarioH  oratione  congruere;  cognovimus  totum  libellum  ita  esse  compositum,  ut 
rhetoricae  disciplinae  alumno  fortasse  dignus  sit,  homini  erudito  et  ab  artis  rhetoricae 
ieiunitate  alienissimo  omnino  non  conveniat;  denique  talem  inteUeximus  esse  commentarioH 
similüudinem  cum  permültis  Marci  scriptorum  locis,  qualis  casu  nata  esse  nequeat  qutteque 
in  eum  hominem  quadret,  qui,  cum  ipse  et  cogitandi  facuUate  et  dicendi  copia  careret^  alienas 
tum  locutiones  tum  sententias  in  suum  usum  convertit  quique  non  eo,  quo  ipse  simulavit  anno 
(c.  Jan.  64,  Bücheleb  p.  3),  sed  aliquanto  post  ita  scripsit,  ut  hune  libellum  Marco  con- 
sulatum peteuti  suppeditari  fingeret.    Verständig  dagegen  Wirz,  Philol.  Anz.  5, 498. 

Oberlieferung:  Massgebende  Quellen  der  Harleianus  2682  s.  XI  und  der  Beroli- 
nensis  252  s.  XI/XII. 

180.  Die  verlorenen  Schriften  des  Q.  Cicero.  Auch  als  Dichter 
trat  Q.  TuUius  Cicero  auf.  Im  J.  54,  als  Legat  Caesars  in  Gallien^  hatte 
er  vier  Tragödien  in  16  Tagen  vollendet.  Es  war  darunter  eine  Electra 
und  eine,  deren  Titel  verdorben  ist;  die  zwei  andern  sind  uns  unbekannt. 
Weiterhin  bearbeitete  er  die  Zechgenossen  {IvvSemvoi)  des  Sophokles 
und  machte  eine  Er  igen  a  fertig  (vielleicht  beide  Satyrspiele  ^).  Auch  der 
epischen  Poesie  wandte  Q.  Cicero  seine  Kräfte  zu;  er  arbeitete  an  einem  Epos 
über  Caesars  Expedition  nach  Britannien.  Endlich  schrieb  er  auch  ein 
annalistisches  Werk;  unsere  Quellen  lassen  aber  keine  Entscheidung  zu, 
ob  dasselbe  in  gebundener  oder  nicht  gebundener  Rede  abgefasst  war. 

ad  Q.  h*.  3,  6,  7  quattuor  tragoedias  sedecim  diebus  absolvisse  cum  scribas,  tu  quid' 
quam  ab  alio  mutuarisf  Der  verdorbene  Titel  ist  trodam;  wof&r  man  Troadas,  Troilum, 
ASropam  geschrieben.  Über  die  Erigona  ad  Q.  fr.  3, 1, 13  3,  9, 6,  über  die  XvvdBinvo^  2, 15, 3. 

über  die  britannische  Expedition')  ad  Q.  fr.  2, 15, 4  (i.  J.  54)  o  iucundas  mihi  tuas 
de  Britannia  litteras!  —  te  vero  vno&eaiy  scribendi  egregiam  habere  video.  Quos  tu  situs, 
quas  naturas  rerum  et  locorum,  quos  mores,  quas  gentes,  quas  pugnas,  quem  vero  impera- 
torem  hohes!  ego  te  libenter  ut  rogas,  quibus  rebus  vis  adiuvabo  et  tibi  versus  quos  rogas 
yXavx'  eig  *A^vag  mittam.    Ob  das  Gedicht  vollendet  wurde,  ist  nicht  bekannt. 

Die  Annalen  erwähnt  Cicero  ad  Attic.  2, 16, 4  Q,  f rater  me  rogat  ut  Annales  suos 
emendem  et  edam, 

20  Hexameter  de  XII  signis  Überliefert  unter  dem  Namen  Q.  Cicero  der  Vossianus  111. 

Litteratur:  Q.  Ciceronis  reliquiae,  Rec.  F.  Bücheleb,  Leipz.  1869  (mit  Prolegomena). 
EussNEB,  Commentariolum  petitionis,  Würzb.  1872. 


y)  Die  Fachgelehrten. 
1.    Die  Polyhistoren. 

er)  P.  Nigidius  Figulus. 

181.  Abstruse  Gelehrsamkeit.  Vertreter  einer  ins  Wunderliche 
gehenden  Gelehrsamkeit  ist  P.  Nigidius  Figulus.  Bekannt  durch  sein  ver- 
trautes Verhältnis  zu  Cicero,  den  er  bei  der  catilinarischen  Verschwörung 
unterstützte  (Plut.  Cic.  20  Cic.  p.  Sulla  14, 42),  trat  er  im  Bürgerkrieg  auf 
Seite  des  Pompeius  (Cic.  Ep.  4,  13),  wurde  von  Caesar  verbannt  und  starb  in 


«)  Ribbeck,  Rom.  Trag.  p.  620. 

')  Diese  brit.  Expedition  verherrlichte  auch 
M.  Cicero  in  einem  Gedicht  (vgl.  §  175).  Auch 
ein  anderer  Legat  Caesars,  L.  Aurunculeius 
Cotta,  behandelte  die  britannische  Expe- 
dition. Athen.  6, 273  'lovhos  KaiaaQ  6  riQuiros 
näytioy  avd^^ntiy  neQaitu&eig  irti  rcr;  Bqst^ 


rayidag  yijaovg  fierd  x^Xltoy  axafpwy  r^et; 
otxitag  jovg  Ttayvag  avysnfjysto,  io£  Kojtag 
Urtogei  6  rore  vnoaxqaxrjydiv  «rvr^  iy  xto 
negl  xfjg  ^Ptouaitay  noXireiag  avyyQafifÄtni, 
0  tji  nargio}  tjfAtiy  (d.  h.  römischer)  yiyQanrat 
(ptayf.   Vgl.  BücHBLER,  Fleckeis.  J.  lll,  136. 


P.  HigidiuB  FignlvB.  275 

der  Verbannung  im  J.  45.*)  Die  Prätur  bekleidete  er  58  (Cic.  ad.  Q.  fr.  1, 2, 16). 
Drei  Gebiete  sind  es,  in  denen  sich  seine  Schriftstellerei  bewegte:  1.  die 
Grammatik,  2.  die  Theologie,   3.  die  Naturwissenschaft. 

In  der  Grammatik  wird  ein  aus  mindestens  29  Büchern  bestehendes 
Werk  „commentarii  grammatici^  (Gell.  10, 5, 1) angeführt.  Dasselbe  war 
mehr  eine  Sammlung  von  grammatischen  Untersuchungen  als  eine  syste- 
matische Darlegung  der  grammatischen  Disziplin.  In  demselben  bekannte 
sich  der  Verfasser  zu  der  Ansicht,  dass  die  Wörter  ihre  Entstehung  nicht 
der  Übereinkunft,  sondern  der  Natur  verdanken,  welche  Ansicht  er  in 
merkwürdiger  Weise  zu  erläutern  suchte  (Gell.  10,  4).  Die  verschieden- 
artigsten grammatischen  Dinge  waren  hier  behandelt;  besondere  Aufmerk- 
samkeit war  der  Orthographie  zugewandt,  er  suchte  durch  die  Schrift  die 
Casus  mit  gleichem  Ausgang  zu  differenzieren  (Gell.  13,  26).  Man  hat  ihm 
auch  die  Einführung  des  apex  zuschreiben  wollen,*)  allein  dafür  fehlt  es 
an  zwingenden  Beweisen.  Hier  wollen  wir  zugleidi  einer  rhetorischen 
Schrift,  de  gestu,  Erwähnung  thun,  von  der  ausser  dem  Titel  nichts 
weiter  bekannt  ist  (Quint.  11,3,143). 

Unter  den  theologischen  Schriften  war  am  wichtigsten  die  ^über  die 
Götter*  (de  diis).  Von  ihr  wird  das  19.  Buch  von  Macrob.  3,  4,  6  citiert. 
Es  sind  hier  der  Fragmente  beträchtlich  weniger  erhalten  als  bei  den 
grammatischen  Untersuchungen.  Nicht  bloss  die  Namen  der  Götter,  sondern 
auch  Kult  und  Ceremonien  waren  erörtert.  Hierzu  kommen  noch  drei 
Schriften  über  die  Weissagung  (divinatio);  Gellius  führt  7,  6,  10  das  erste 
Buch  eines  augurium  privatum  an,  16,  6,  12  citiert  er  de  extis;  bei 
Lydus  (de  ost.  45)  wird  ein  Buch  über  Traumdeutung  (rj  rdiv  ovbiqwv 
imtrxeipig)  erwähnt. 

An  naturwissenschaftlichen  Schriften  lernen  wir  kennen:  Die  Sphaera 
Graecanica  und  die  Sphaera  barbarica,  ein  astronomisch-astrologisches 
Werk  (Serv.  Georg.  1,43  1,218,  1,19),  de  vento  (Gell.  2, 22, 31),  de  ani- 
malibus  (Macrob.  3, 16,  7),  de  hominum  naturalibus  (Serv.  Aen.  1, 177). 
Von  beiden  wird  das  4.  Buch  citiert. 

Die  Gelehrsamkeit  des  P.  Nigidius  Figulus  war  eine  abstruse.     Sie 

konnte  daher  nicht  neben  der  Varros,  mit  der  sie  sich  vielfach  berührte, 

aufkommen;  dem  grossen  Publikum  blieb  sie  verschlossen  (Gell.  19,  14). 

Auch  was  wir  sonst  noch  über  des  Mannes  Treiben  vernehmen,  klingt 

sonderbar.    Er  wollte  den  längst  abgestorbenen  Pythagoreismus  wieder  zum 

Leben  erwecken  (Tim.  1, 1),  er  sammelte  daher  einen  Kreis  um  sich,  was 

ihn  in  den  Verdacht  der  Geheimbündelei  brachte  (Schol.  Bob.  p.  317  0.). 

Auch  die  Wunderthätigkeit  des  Pythagoras  führte  er  praktisch  durch.    So 

berichtet  uns  Sueton  Aug.  94,  dass  Nigidius,  als  Augustus  geboren  wurde, 

aus   der  Stunde  der  Geburt  dessen  künftige  Weltherrschaft  voraussagte. 

Ein  magisches  Kunststück,  den  Nachweis  verloren  gegangenen  Geldes  durch 

„pueri  carmine  instindi**,  erzählte  Varro  (Apul.  de  magia  42). 

Joann.  Lanr.  L^dus  gibt  de  ost.  c.  27 — 38  p.  57  W.  eine  itpijfABQog  ßgoytoaxonin 
TOTfunj  nQOi  ttjy  trsXtjytitf  xarit   xov  l^tafiaToy  ^iyoi'Xoy   ix   rtoy   Taytjrog  xa!^   igfitjyelay 


>)  Hieronym.  bei  Enaeb.  2, 137  Schoene. 

*)  Usbner,  Rh.  Mus.  24, 108.    Dagegen  Swoboda  p.  24. 

18' 


276    Bömisohe  litteratnrgeBohiohte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2,  Periode. 

ngog  Xe^iy.  In  dieser  Tafel  wird  die  Bedeutung  des  Donners  fOr  jeden  Monatstag  fest- 
gestellt :  quae  omnia,  bemerkt  Wachsxuth  p.  XXXII,  tarn  sunt  ridicula,  tarn  aupra  modum 
inepta,  ut  ea  Nigidio  astronomiae  peritissimo  attribuere  vesani  »U,  Dagegen  will  einen 
Kern  Nigidianischen  Gutes  Swoboda  anerkennen  (p.  32).  Über  das  Verhfiltnis  der  sphaera 
Graecanica  und  harhariea  bemerkt  Büchelbr,  Rh.  Mus.  13, 179:  , Beide  cammentarii  bildeten 
gewiss  ein  grösseres  Ganze  und  standen  in  genauem  Zusammenhang,  so  dass  Nigidius, 
nachdem  er  im  allgemeinen  von  den  Himmelszeichen,  ihren  Stellungen  und  Namen  u.  s.  w. 
berichtet,  beim  Übergang  auf  die  eigentlichen  Phaenomena,  den  Aufgang  und  Untergang 
der  Gestirne  eine  Scheidung  eintreten  liess  zwischen  der  auf  Athen  zurückgehenden  „sphaera 
graecanica**  und  der  auf  ägyptischen  und  chaldäischen  (assyrischen)  Beobachtungen  basie- 
renden „harhariea".  Bei  den  einzelnen  Sternbildern  aber,  von  denen  also  nur  einmal  die 
Rede  war,  mischte  Nigidius  griechische  und  ägyptische  Mythen,  welche  er  überliefert  fand, 
indem  er,  wie  es  scheint,  jedesmal  eine  Deutimg  sich  zu  eigen  machte  und  in  den  Vorder- 
grund treten  liess  und  zwar  in  Übereinstimmung  mit  der  ihm  nachgesagten  obseuritas  sub- 
tiliiasque  gewiss  die  abstruseste  und  spitzfindigste."  Dagegen  will  den  astrologischen  Cha- 
rakter des  Werkes  betonend  Swoboda  die  Verschiedenheit  der  Bezeichnung  der  beiden  Teile 
daraus  erklären,  dass  sphaera  Graecanica  dicerentur  apotelesmata,  quae  Graeci  observare 
solebant,  harhariea  ea,  quorum  observatio  Äegyptiorum  propria  erat  (p.  48).  —  Serv.  ad 
Aen.  XI  715  gewinnt  Kleix  p.  26,  indem  er  de  terris  statt  des  überlieferten  de  terras  schrieb, 
eine  Schrift  des  Nigidius  j,de  terris";  es  ist  aber  wahrscheinlich  hier  de  sphaera  zu  lesen. 
Vgl.  p.  128  Swoboda. 

Litteratur:  Hertz,  de  K  F.  studiis  atque  operibus,  Berl.  1845.  Klein,  Quaest, 
Nigid.f  Bonn  1861.  Roehbio,  de  P.  N,  F.  capita  IJ,  Leipz.  Diss.  1887.  Swoboda,  P.  N. 
F,  operum  reliquiae  mit  Prolegomena,  Wien  1889. 

ß)  M.  Terentius  Varro. 

182.  Das  Leben  Yarros.  M.  Terentius  Varro  wurde  116  in  Reate 
geboren  und  starb  27,  also  beinahe  90  Jahre  alt.  Als  seine  Lehrer  werden 
genannt  L.  Aelius  Stilo  (Cic.  Brut.  56,  205)  und  der  Philosoph  Antiochus 
aus  Askalon  (Cic.  acad.  post.  4, 12).  Seiner  politischen  Gesinnung  nach  Pom- 
peianer,  war  er  in  verschiedenen  Stellungen  im  Krieg  und  im  Frieden 
thätig;  im  J.  49  geriet  er  in  Spanien  in  die  Kriegsgefangenschaft  Caesars. 
Aber  es  muss  dann  eine  Versöhnung  zwischen  ihm  und  Caesar  einge- 
treten sein;  denn  er  widmete  den  zweiten  Teil  seiner  aniiquüates  dem 
Pontifex  Caesar;  andererseits  wurde  er  von  Caesar  mit  Ordnung  und  Ein- 
richtung der  öffentlichen  Bibliotheken  betraut.  Von  Antonius  wurde  Varro 
im  J.  43  proskribiert,  aber  durch  Fufius  Calenus  gerettet.  Von  der  Zeit 
an  scheint  er  zurückgezogen  lediglich  seinen  Studien  gelebt  zu  haben. 

Über  Geburts-  und  Todesjahr  berichtet  Hieronymus  2,131  Schöne;  1.  c.  2, 141.  — 
Caes.  b.  civ.  2, 20  tradita  legione  Varro  Cordubam  ad  Caesarem  venu;  relatis  ad  eumpublicis  ctim 
fide  ratianibus  quod  penes  eum  est  pecuniae  tradit  et  quid  ubique  habeat  frumenti  et  navium 
ostendit,  —  Suet.  Caes.  44  bibliothecas  Graeeas  Laiinasque  quas  maximas  posset  puhlieare, 
data  Marco  Varroni  cnra  comparandarum  ae  digerendarum.  —  Die  Rettung  Varros  nach 
der  Proskription  durch  Fufius  Calenus  erzählt  Appian  1.  c.  4, 47  (p.  974  Mbndelss.).  Roth, 
Das  Leben  des  Varro,  Bas.  1857. 

183.  Der  Katalog  der  varronischen  Schriften.  Über  die  reiche 
Schriftstellerei  Varros  belehrt  uns  am  genauesten  ein  Katalog,  den  Hiero- 
nymus von  der  Schriftstellerei  Varros  gegeben  hatte,  um  mit  ihr  die  Schrift- 
stellerei  des  Origines  zu  vergleichen  und  an  der  Hand  der  beiden  Ver- 
zeichnisse die  grössere  Produktivität  des  griechischen  Schriftstellers  dar- 
zuthun.  Dieser  Katalog  stand,  wie  wir  von  Hieronymus  selbst  de  vir.  ill.  54 
erfahren,  in  einem  Briefe  desselben  an  Paula;  allein  dieser  Brief  ist  uns 
nicht  mehr  erhalten.  Einiges  daraus  ging  aber  in  die  Apologia  des  Rufinus 
(2, 20)  über  und  gelangte  dadurch  zu  unserer  Kenntnis.  Endlich  fand  sich 
unvermutet  der  ganze  Katalog  der  Schriften  der  beiden  Autoren  in  der 


M.  Terentiua  Varro.  277 

Vorrede  zu  Rufinus'  Übersetzung  der  Homilien  des  Origines  zur  Genesis, 
zuerst  in  einer  Handschrift  von  Arras,  dann  auch  in  zwei  Handschriften 
von  Paris  nr.  1628  und  1629.  Leider  führte  Hieronymus  nicht  alle  Schriften 
auf,  sondern  brach  in  der  Mitte  ab.  Wir  erhalten  daher  nur  39  Titel, 
wobei  aber  zu  bemerken  ist,  dass  unter  einer  Nummer  zehn  Monographien 
(libri  singulares)  zusammengefasst  werden,  so  dass  sich  also  im  ganzen 
48  (oder  47)  >)  Schriften  Varros  ergeben.  Die  Gesamtzahl  aller  varronischen 
Schriften  berechnet  Ritschl  auf  etwa  74,  welche  etwa  620  Bücher  um- 
fassten  (Opusc.  3, 487). 

Der  Katalog  der  varronischen  Schriften  wurde  ausgezeichnet  bearbeitet  von  Ritsohl  ; 
die  darauf  bezügUchen  Abhuidlungen  stehen  im  III.  Band  der  Opnscula.  Der  Katalog 
schliesst  mit  den  Worten:  et  alia  pJura  quae  enumerare  longum  est,  Vix  medium  descripsi 
indUem  et  legentibus  fastidium  est  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ,  haben  wir  an  dem 
*  Katalog  des  äieronymus  mit  nichten  eine  litterarhistorische  Zusammenstellung  von  fremder 
Hand,  sondern  eine  von  Varro  selbst  entworfene  Liste  seiner  Werke  *"  (Ritschl,  Opusc.  3, 527). 

184.  Varros  Satorae  Henippeae  (1.  CL.)  In  unserer  Darlegung  der 
varronischen  Schriftstellerei  beginnen  wir  mit  den  freien  Schöpfungen.  Unter 
denselben  ragten  am  meisten  hervor  die  Saturae  Menippeae.  Das 
Eigentümliche  dieser  von  der  kynischen  Schule,  besonders  aber  vonMenippos 
aus  Gadara  (Mitte  des  3.  Jahrh.)  gepflegten  Litteraturgattung  war  das 
ixnovdoyäXoioVy  d.  h.  unter  der  Hülle  des  Scherzes  wurden  ernste  Wahr- 
heiten gepredigt.  Eine  formale  Eigentümlichkeit  dieser  Satire  war  die 
wunderliche  Mischung  von  Poesie  und  Prosa.  Diese  Gattung  ahmte  Varro 
frei  nach.  Dass  auch  er  Prosa  und  Poesie  gemischt,  kann  nicht  bezweifelt 
werden.  Das  wird  durch  das  Zeugnis  des  Probus  zu  Vergils  Ecl.  6,  31 
angedeutet;  dann  scheint  das  Fragment  57  Buch.  (XIII  Bimarcus)  den 
Übergang  von  Poesie  zur  Prosa  darzuthun ;  *)  endlich  liegt  eine  Reihe  von 
Fragmenten  vor,  welche  gar  nicht  oder  nur  mit  Gewalt  sich  in  gebundene 
Rede  umsetzen  lassen.  Der  Verlust  dieser  Satiren  ist  ausserordentlich  zu 
beklagen;  denn  nirgends  ist  die  kernige  Natur  Varros  so  rein  hervor- 
getreten wie  hier.  Schon  die  Titel  lassen  ahnen,  welcher  Schatz  in  Scherz 
und  Ernst  in  diesen  Schöpfungen  geborgen  war.  Wir  führen  einige  an: 
Nimm  dich  vor  dem  Hund  in  Acht  {Cave  canem).  Es  fand  der  Topf  den 
Deckel  {evgev  i^  Xonäq  %6  nSfia,  ttcqI  /f/a/ii^xorcoi^).  Du  weisst  nicht,  was 
der  späte  Abend  bringt  {nescis  quid  vesper  serus  vehat).  Was  dem  einen 
recht,  ist  dem  andern  billig  {Idem  Atti  quod  Titi),  Der  Nachttopf  hat  sein 
Mass  (Est  modus  matulae,  ncQi  fiev^tjc).  Morgen  glaube  ich,  heute  nichts 
{Cras  credo,  hodie  nihü).  An  den  cynischen  Ursprung  der  Gattung  erinnern 
der  Hunderhetor  {xvvoQrjwQ),  Cynicus,  der  Ritterhund  {tiinoxvtov),  das 
Leichenbegängnis  des  Menippus  {f'Cc^rj  Msvinnov),  Auch  aus  der  mytho- 
logischen Welt  sind  Titel  genommen,  wie  der  befreite  Prometheus  {Pro- 
metheus liber)j  die  Eumeniden,  die  Meleagri,  die  Endymionen,  Tithonus, 
die  Säule  des  Hercules  (columna  Hercxdis  negi  io^rjg),  Ganymedes  (Gata- 
mitus).    Auch  seine  Person  hat  der  Verfasser  in  die  Titel  hineingebracht, 


storicns  „MessaUa  de  tfoletudine  tuenda**  iden- 


^)  Das  Schwanken  zwischen  48  und  47 
rKhrt  daher,  dass  es  zweifelhaft  ist,   ob  de      tisch  ist  (Ritschl,  Opusc.  3,  440,  475). 
vaietudine  tuenda  eine  eigene  Schrift  oder,  *)  Vahlek,  Coniect.  p.  138. 

was  das  wahrscheinliche  ist,  mit  dem  Legi- 


278    Römiflche  Litteraturgeschichte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


z.  B.  die  Mareusstadt  (Marcopolis,  negl  a^x^O»  ^^^  Sklave  des  Marcus 
(Marcipor)y  der  doppelte  Marcus  (Bimarcus).  Von  den  meisten  Satiren 
lässt  sich,  sei  es  wegen  der  Dürftigkeit  der  Fragmente  oder  ihrer  Ab- 
gerissenheit,  der  Inhalt  auch  nicht  einmal  annähernd  feststellen.  Einige 
aber  reichen  doch  aus,  um  wenigstens  in  allgemeinen  Zügen  ein  Bild  zu 
gewinnen;  es  ist  dies  z.  B.  der  Lehi'er  der  Alten  (Y^QovtodiddaxaXog),  in 
welcher  Satire  die  alte  und  die  neue  Zeit  einander  gegenübergestellt  werden.  M 
Verwandt  ist  der  „Mann  von  sechzig  Jahren"  (Sexagesis).*)  Derselbe  ist 
als  Knabe  von  10  Jahren  eingeschlafen,  und  erwacht  im  Alter  von  50 
Jahren  (491)  und  staunt  nun  über  die  Veränderungen,  welche  unterdessen 
in  Rom  eingetreten.  Im  Bimarcus  ist  das  Thema  „der  Römer  von  ehedem 
und  von  jetzt".  Auch  im  Manius  ertönt  das  Loblied  auf  die  gute  Zeit 
der  Väter.  In  der  Satire  „Lerne  dich  selbst  kennen"  {yvad-i  (reavTov)  wird 
der  Naturphilosophie  gegenüber  die  Selbsterkenntnis  empfohlen.  Die  meisten 
Fragmente  sind  von  den  „Eumeniden"  erhalten.  Das  Thema  führt  den  Wahn- 
sinn der  Menschen  in  den  verschiedensten  Gestalten')  dramatisch  vor  unsere 
Augen.  Die  „Meleagri"  verspotten  die  übertriebene  Jagdlust;  es  war  ein 
Dialog  zwischen  einem  schwärmerischen  Jagdliebhaber  und  einem  Verächter 
der  Jagd.  „Papia  Papae"  handelte  über  die  Lobreden;  es  werden  einige 
Proben  gegeben,  z.  B.  das  Lob  auf  ein  schönes  Weib  (375).^)  Litterarischer 
Art  war  der  „Parmeno* ;  es  fanden  hier  Erörterungen  über  poema,  poesis, 
über  Rhythmus  und  Melos  statt,  auch  kam  hier  die  bekannte  Charakteristik 
der  drei  Dichter  Caecilius,  Terentius  und  Plautus  vor.*)  Von  der  Satire 
Nescis  quid  serus  vesper  vehat  erzählt  Gell.  13,  11,  von  der  Satire  Jlcgl 
ideaixdxfav  6,  16  in  anmutiger  Weise  das  Argument.  Wir  sehen  schon 
aus  dieser  kurzen  Darlegung,  welche  bunte  Welt  in  diesen  Dichtungen  an 
den  Augen  des  Lesers  vorüberzog.  Aber  überall  blickt  die  grundehrliche 
Überzeugung  des  Dichters  hervor,  die  Einfachheit  seines  Denkens  und 
seiner  Sinnesart,  seine  Bewunderung  des  alten,  festen,  römischen  Wesens, 
sein  Hass  gegen  alle  Neuerungen.  Von  den  Fragmenten  sind  manche 
ausserordentlich  reizend,  wie  das  Lob  des  Weins  (111): 

vino  nihil  iucundius  quisquam  hihit: 
hoc  aegritudinem  ad  medendam  invenerunt, 
ho^  hUaritatis  dtdce  seminarium, 
hoc  continet  coagtdum  convivia 

oder  über  die  Sorgen  (36): 

noH  fit  thesauris,  non  auro  pectu*  solututn; 
non  demunt  animis  curas  ac  religiones 
Persarum  montea,  non  atria  divitV  Crassi 

oder  über  das  Lebensschicksal  (288): 

nemini  Fortuna  currum  a  carcere  intimo  missum 
labi  inoffensum  per  aecor  candidum  ad  calcetn  sivit 

oder  die  wundervolle  Schilderung  eines  Regenschauers  auf  dem  Meer  (269). 


')  Analysiert  von  Mohmsen,  R.  Gesch. 
3«,  610.    RiBBBCK,  Rom.  Dicht  1, 255. 

')  Eine  Analyse  gehen  Mokmsen  1.  c. 
p.  611.  Ribbeck  1.  c.  p.  256.  Vahlen,  Con- 
iect.  p.  110. 

^)   Ribbeck   p.   250.     Anders   Vahlen, 


Coniect.  p.  172  (die  Schicksale  eines  Wahn- 
sinnigen). 

*)  Ribbeck  p.  260.  Vahlek,  Coniect. 
p.  39. 

^)  Ribbeck  p.  260.  Vahlbn,  Coniect. 
p.  91,  p.  96. 


IL  Terentiiui  Varro.  279 

Die  Satiren  fielen,  wie  es  scheint,  grösstenteils  in  die  Jugend  Varros, 
da  er  in  Giceros  Academica  (im  J.  45)  sie  vetera  sua  nennt. 

Acad.  post.  1,8  sagt  Varro:  in  Ulis  veteribus  nostris,  qtioe  Menippum  imitati, 
non  iMterpretati,  qttadam  hUaritate  eonspersimus ,  quo  faeiliua  minus  docti  intellegerent 
iueunditate  quadam  ad  legendum  invitaii,  muUa  admixta  ex  intima  phUasophia,  muUa  dicta 
dialectice.  1, 9  (zu  Varro)  ipse  varium  et  elegans  omni  fere  numero  poema  fecisti  philo- 
sophiamque  müUis  locis  inchoasii,  ad  impeUendum  satis,  ad  edocendum  parum.  Probus  z.  Verg. 
Ecl.  6,  31  Varro  quist  Menippeus  non  a  magistro,  cuius  aetas  longe  praecesserat,  nominatus, 
sed  a  sociekUe  ingenii.  quod  is  quoque  omnigeno  carmine  satiras  suas  expoliverat.  (Rohde, 
Gr.  Rom.  p.  249.)  G«ll.  2, 18, 7  Menippus^  cuius  libros  M,  Varro  in  satiris  aemulatus  est, 
quas  alii  cgnicas,  ipse  appeüiu  Menippeas.  Quintil.  10, 1,  95.  —  M.  T,  V.  saturarum  Menipp, 
reliquiae,  £d.  A.  Riesb.  Wir  eitleren  nach  der  Sammlung  in  der  Ausgabe  des  Petronius 
von  BOchelkb'  p.  163. 

Ausserdem  werden  noch  folgende  dichterische  Arbeiten  Varros  verzeichnet: 

1)  Pseudotragoediarum  1.  VI.  £s  sind  dies  sogenannte  Tragödien,  d.  h.  Tra- 
gödien, welche  nicht  zur  AuffEQirung  bestimmt  waren,  wie  sie  die  Gyniker  Diogenes, 
(PhiÜskos),  Oenomaos  geschrieben.    Vgl.  £.  Rohde  1.  c.  p.  249. 

2)  Poem  at um  1.  X.  Hier  werden  die  kleineren  Poesien  Varros  Platz  gefunden  haben. 
Ober  Epigramme  vgl.  §  186. 

3)  Satirarum  1.  IV.  Diese  Satiren  werden  zum  Unterschied  von  den  Menippeischen 
die  Mischung  von  Poesie  und  Prosa  vermieden  haben. 

4)  Ob  ein  Lehrgedicht  aus  Quint.  1, 4, 4  propter  Empedoclem  in  Graecis,  Varronem 
ac  Lucretium  in  Latinis,  qui  praecepta  sapientiae  versibus  tradiderunt  zu  folgern,  ist  ungewiss. 

185.  Philosophisch-bistorische  Abhandlungen  (Logietoricon  1. 
LXXVI).  Die  Logistorici  waren  Abhandlungen  in  Prosa,  welche,  wie  der 
Titel  besagt,  auf  einer  Verflechtung  von  Philosophie  {Xiyoi)  und  Geschichte 
(iaio^ia)  beruhten. ^  Diese  philosophisch-historischen  Abhandlungen 
behandelten  Themata  von  allgemeinem  Interesse,  wie  Kindererziehung, 
Qesundheit,  Oötterverehrung ,  Geschick,  Friede,  Thorheit,  Geschichte. 
Charakteristisch  ist  für  diese  Aufsätze  der  Doppeltitel,  indem  dem  in 
lateinischer  Sprache  formulierten  Thema  ein  Personenname  vorangeht,  z.  B. 
Catus  de  liberis  educandis,^)  Curio  de  deorutn  cuUu,  Marius  de  fortuna,  Orestes 
de  insania,  Me^sala  de  valetudine,  Pius  de  pace,  Sisenna  de  historia.  Eine 
wichtige  Frage  ist,  in  welcher  Beziehung  diese  Personen  zu  den  Aufsätzen 
standen.  Aller  VTahrscheinlichkeit  nach  waren  diese  Aufsätze  (aristotelische) 
Dialoge  und  den  in  den  Titeln  genannten  Personen  die  Hauptrolle  darin 
zugeteilt.  Dadurch  ergab  sich  auch  die  Möglichkeit,  diese  Personen  aus- 
zuzeichnen. Eine  annähernd  richtige  Vorstellung  der  ganzen  Gattung  er- 
halten wir  wohl  durch  die  Ciceronischen  Aufsätze  Cato  de  senectute  und 
Latlius  de  amicüia.  Zwei  Eigenschaften  scheinen  diese  Aufsätze  ausgezeichnet 
zu  haben,  einmal  der  populäre  Charakter,  dann  die  stark  hervortretende 
patriotische  Tendenz.  Beides  erreicht  der  Schriftsteller,  indem  er  seine 
theoretische  Erörterung  mit  der  Geschichte  verknüpft. 

RrrscHL,  Opusc.  3, 408.  Fragmente  bei  Riese,  Varronis  Sat.  Menipp,  p.  247.  Die 
meisten  Fragmente  haben  wir  von  Catus  de  liberis  educandis. 

Andere  freie  Schöpfungen  Varros  auf  dem  Gebiet  der  Prosa  sind: 

Orationum  1.  XXII  und  Suasionum  1.  III.  Über  dieselben  wissen  wir  nichts 
weiter. 

Auch  die  historischen  Werke  dürften  hier  ihren  richtigen  Platz  erhalten: 


^)  ,In  betreff  der  Logistorici  dflrfte  die 
allgemeine  Vorstellung  von  philosophi- 
schen, namentlich  ethischen^  jedoch  mit 
einem   reichhaltigen   Beiwerk    histo 


populär  als  systematisch  gehaltenen  Dis- 
kursen dem  Wahren  inuner  noch  am  näch- 
sten kommen.*     Ritschl,  Opusc.  3, 483. 

^)    Diesen     Logistoricus     rekonstruiert 


rischer  Belege  durchwirkten  und  mehr  ,  Moxmsen,  R.  Gesch.  3^610. 


280    Römische  LitteratargoBohichte.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

1)  Legationnm  1.  III.  Nach  Ritscbl  soll  hierin  Varro  von  seinen  eigenen  Lega- 
tionen gesprochen  haben  (Oehhicuen,  Plin.  Stad.  p.  27 ;  Reitzensteik,  Hermes  20,  517). 

2)  De  Pompeio  1.  III.  Die  engen  Beziehungen,  in  denen  Varro  zu  Pompeius  stand, 
befähigten  ihn  vorzugsweise,  über  Pompeius  zu  schreiben  und  seine  Handlungen  zu  recht- 
fertigen. 

3)  De  sua  vita  1.  III.    Gitiert  von  Charis.  p.  89  K.  de  vUa  sua, 

4)  Annalium  1.  III.  Die  geringe  Anzahl  der  Bücher  lässt  schliessen,  dass  es  ein 
chronolog.  Abriss  war.  (Charis.  p.  105  K.;  Gell.  17,21,23;  Ublichs,  Anfänge  der  griech. 
Künstlergesch.  p.  35.) 

186.  Yereinigung  von  Wort  und  Bild  (Imagines).  Das  erste 
lateinische  illustrierte  Buch  waren  die  Imagines  oder  Hebdomades  Varros. 
Diese  Gallerie,  welche  Varro  im  J.  39  abfasste  (Gell.  3, 10, 17),  bestand  nach 
dem  Katalog  aus  15  Büchern  und  zählte  nach  Plinius  700  Bildnisse,  von 
denen  immer  je  7  zu  einer  Einheit,  zu  einem  Blatte  0  zusammengeschlossen 
waren,  daher  der  Titel  Hebdomades.  Die  Verteilung  der  700  Bildnisse 
oder  100  Hebdomaden  auf  die  Bücher  ist  ein  Problem,  das  durch  vereinte 
Bemühungen  mehrerer  Gelehrten  also  gelöst  wurde:  Varro  nahm  7  Zweige 
der  Ruhmesbethätigung  an.  Da  er  seine  Berühmtheiten  sowohl  in  der  nicht- 
römischen als  in  der  römischen  Welt  suchte,  führte  er  eine  Zweigliederung 
des  Werks  in  der  Weise  durch,  dass  er  in  jedem  der  7  Fächer  ein  Buch 
den  Nichtrömem  (Griechen),  ein  zweites  den  Römern  widmete.  Auf  diese 
Weise  erhielt  er  14  Bücher,  wozu  noch  ein  Einleitungsbuch  kam.  Die 
Bücher  mit  den  geraden  Nummern  waren  den  Nichtrömem,  die  mit  un- 
geraden den  Römern  gewidmet.  Auf  diese  15  Bücher  waren  die  100 
Hebdomaden  Bilder  so  verteilt,  dass  das  Einleitungsbuch  die  ältesten 
Vertreter  eines  jeden  der  7  Fächer  sowohl  bei  den  Griechen  als  bei  den 
Römern  aufführte,  sonach  zwei  Hebdomaden  Bilder  enthielt,  jedes  der  fol- 
genden 14  Bücher  7  Hebdomaden  in  sich  schloss,  was  für  die  14  Bücher 
98  Hebdomaden  ausmacht.  Die  2  Hebdomaden  des  Einleitungsbuchs  und 
die  98  Hebdomaden  der  14  Bücher  geben  aber  100  Hebdomaden,  d.  h. 
700  Bildnisse.  Jedes  Bildnis  wurde  erläutert  durch  ein  metrisches  Elogium, 
das  nicht  immer  Varro  zum  Verfasser  hatte  (Syinm.  ep.  1, 2)  und  durch  einen 
prosaischen  Text.  Aus  Gellius  3, 11  kennen  wir  z.  B.  das  Epigramm  zum 
Bildnis  Homers  und  erfahren  ausserdem,  dass  Varro  dort  auch  die  Frage, 
ob  Homer  oder  Hesiod  älter  sei,  behandelte.  Als  die  von  Varro  aufgestellten 
7  Fächer  vermuthet  Ritschi  *)  1.  Könige  und  Feldherm,  2.  Staatsmänner, 
3.  Dichter,  4.  Prosaiker,  5.  Fachmänner,  6.  Künstler,  7.  sonstige  Berufs- 
arten. Zwei  Eigenschaften  charakterisieren  das  merkwürdige  Werk,  einmal 
der  wunderliche  Pedantismus,  den  Varro  mit  der  Siebenzahl,  über  die  das 
Einleitungsbuch  handelte,  treibt,  dann  das  Streben  der  Römer,  sich  den 
Griechen  überall  gleichzustellen. 

Plin.  n.  h.  35, 11  imaginum  amorem  ftagrasse  qtwndam  festes  sunt  Atticus  ille  Ciceronis 
edito  de  iis  rolumine,  M,  autem  Varro  benignissimo  invento  insertis  voluminum  suorum 
fecundidati  septingentorum  illustrium  aliquo  modo  hominum  imaginibus,  non  passus  inter- 
cidere  figuras  auf  vetustatem  aeH  contra  homines  valere;  inventor  muneris  etiam  die  in- 
ridiosif  qiuindo  immortalitatem  non  solum  dedit,  verum  etiam  in  omnis  terras  mtsit,  ut 
prae^^entes  esse  uhique  ceu  di  possent.    (Vgl.  §  116  p.  164.) 

An  der  Erforschung  der  Frage  beteiligten  sich  ausser  Ritschl  besonders  noch 
Mercklin,    Brunn  und   Urlichs,   deren  Abhandlungen   im   3.  Band   der  Opusc.   mit  den 

M  Brunn-Ritschl,  Opusc.  3,  580. 
')  Opusc.  3,  552. 


M.  Terentiofl  Varro.  281 

RiT8CHii*8chen  abgedruckt  sind.  Der  Fortschritt  der  Untersuchung  knüpft  sich  namentlich 
an  drei  Momente:  1)  an  die  Erkenntnis,  dass  die  von  Plinius  überlieferte  Bilderzahl  700 
keine  runde  ist;  2)  dass  das  Einleitungsbuch  je  7  Repräsentanten  der  Griechen,  je  7  der 
KOmer  enthielt;  3)  dass  für  die  Auswahl  dieser  Repräsentanten  nicht  die  Qualität,  sondern 
das  Alter  d.  h.  das  chronologische  Prinzip  massgebend  war. 

Durch  die  Pariserhandschriften  des  Eatdogs  erfahren  wir  (Ritschl,  Op.  3,  528), 
dass  Varro  von  dem  Werk  auch  eine  Epitome  in  vier  Büchern  (vielleicht  ohne  Bilder) 
gemacht  hatte,  wahrscheinlich  die  vier  Rubriken  Staat,  Litteratur  Kunst,  Anderweitiges  zu 
Grund  legend  (Ritschl  3,  554). 

Andere  litterarhistorische  Schriften  Varros  sind: 

1)  de  bibliothecis  1.  III.  Der  bibliothekarische  Auftrag  Caesars  mag  diese  Schrift 
hervorgerufen  haben.    Gitiert  von  Gharis.  p.  146  K. 

2)  de  lectionibus  1.  III  handelte  vielleicht  über  die  den  Römern  eigentümliche 
Sitte  der  reeitationes,    (Ritschl  3,  461.) 

3)  de  proprietate  scriptorum  1.  III.,  citiert  noch  von  Non.  p.  334.  Nach  Ritschl 
3,  463  war  wohl  stilistische  Vergleichung  von  Autoren  und  Gattungen  ein  darin  hervor- 
tretender Gesichtspunkt. 

4)  de  poematis  1.  III  (Charis.  p.  140,  p.  99  E.),  wohl  eine  Art  Poetik  ,von  den  Ein> 
teilungen,  Gattungen  und  Arten  der  Poesie.*     (Ritschl  3, 454.) 

5)  de  noctis  (nicht  im  Katalog).  Diesem  Werk  und  zwar  dem  ersten  Buche  teilt 
Gelliu8l,24  nie  Grabschrift  des  Plautus  zu;  wahrscheinlich  standen  in  demselben  auch  die 
dort  aufgeführten  Grabschiiften  auf  Naevius  und  Pacuvius.  Über  Ennius  und  Naevius 
macht  aus  demselben  Mitteilungen  ebenfalls  Gellius  17, 43  und  45. 

6)  de  orig'inibus  scaenicis  1.  III.,  eine  römische  Theater-  und  Bühnengeschichte, 
welche  dramatische  Anfänge  in  den  Volksbelustigungen  nachwies,  dann  die  Entwicklung 
der  ludi  scenici  aufzeigte,  endlich  auch  auf  das  Bühnentechnische  einging.  Eine  sehr  sorg- 
fältige Erörterung  über  diese  Schrift  liefert  Cichobius  in  den  Commentationes  zu  Ehren 
Ribbecks  p.  415.  Servius  zu  Georg.  1, 19  Varro  de  scaenicis  originibtis  vel  in  Scauro  liest 
er  p.  420  mit  Riese  II  et  statt  vel;  auch  Spuren  des  Werks  bei  Plinius  sind  aufgedeckt. 

7)  de  actionibus  scaenicis  1.  V.  Charisius  citiert  p.  95  K.  Varro  de  actionibus 
scenieis  L  V,  unser  Katalog  dagegen  de  seenicis  actionibus  IIL  Die  Schrift  handelte  über 
die  dramatischen  Aufführungen. 

8)  de  actis  scaenicis  1.  III.  Ritschl  (3, 457)  will  de  actibus  scaenicis  geschrieben 
wissen,  danach  hätte  Varro  hier  die  Akteinteilungen  der  Schauspiele  untersucht ;  F.  Scholl, 
Rh.  Mus.  31, 469  dagegen  hält  die  überlieferte  Lesart  fest  und  statuiert  eine  Schrift  über 
die  dramatischen  Urkunden,  d.  h.  die  Didaskalien. 

9)  de  personis  1.  III  über  die  Theatermasken.  Man  vgl.  Aristophanes  negl  ngo- 
atinioy. 

10)  de  descriptionibus  1.  III  soll  nach  Ritschl  3, 460  über  die  typischen  Cha- 
raktere der  Komödie  gehandelt  haben. 

11)  de  comoediis  Plautinis  (nicht  im  Katalog).  Gellius3, 3, 9  citiert  in  libro 
de  comoediis  Plautinis  primo.  Die  Schrift  untersuchte  wohl  die  Echtheit  der  plautinischen 
Komödien.    Vgl.  §  31. 

12)  (jnaestionum  Plautinarum  1.  V.  Diomedes  citiert  n.  486  K.  1.  II  des  Werks, 
ebenso  Nonius  p.  9.  Nach  diesen  Citaten  muss  man  annehmen,  dass  es  glossographischer 
Natur  war. 

13)  De  compositione  satnrarum  (nicht  im  Katalog).  Citat  bei  Nonius  p.  67. 
Büchelbr  bemerkt  retronius'  p.  186  zur  Satura  Kvyodidaaxahxd :  huius  libelli  argumentum 
non  videtur  discrepare  cum  eo  quem  Nonius  p.  67  memorai  „  Varro  de  compositione  saturarum**. 

187.  Römische  Altertumskunde  (antiquitatum  renim  humanarum 
et  divinarum  1.  XLI).  Der  Schwerpunkt  der  gelehrten  Thätigkeit  Varros 
ruhte  in  der  Erforschung  des  Lebens  des  römischen  Volks;  diese  Studien 
fanden  einen  glänzenden  Ausdruck  in  den  41  Büchern  der  Äntiquitates 
rerum  humanarum  et  divinarum.  Die  Gliederung  dieses  Werks  kennen  wir 
aus  Augustin,  de  civ.  dei  6, 3.  Den  menschlichen  Dingen  waren  25  Bücher 
gewidmet,  den  göttlichen  16.  Die  erste  Abteilung  enthielt  nach  einem 
Einleitungsbuch  vier  Hexaden,  entsprechend  den  Rubriken:  Menschen, 
Orte,  Zeiten,  Sachen.  Zu  diesen  vier  Rubriken  kam  in  der  zweiten 
Hälfte  noch  eine  fünfte  Rubrik  „Götter*  hinzu.  Während  die  erste  Hälfte 
über  die  menschlichen  Dinge  die  Rubriken  in  je  sechs  Büchern  durchführte. 


282    Bömisohe  LitteratnrgeBohiohte.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

sind  in  der  zweiten  je  drei  Bücher  den  fünf  Rubriken  zugeteilt.  Dies  gibt 
mit  dem  Einleitungsbuch  sechzehn  Bücher.  Von  der  zweiten  Hälfte,  welche 
dem  Pontifex  Caesar  gewidmet  war  (Aug.,  de  civ.  d.  7, 35),  teilt  uns  Augustin 
auch  den  Inhalt  der  einzelnen  Bücher  mit,  dagegen  kann  der  Inhalt  der 
einzelnen  Bücher  der  ersten  Abteilung  nur  durch  Kombination  näher  be- 
stimmt werden ;  solche  Kombinationen  liegen  vor  für  die  „Zeiten"  und  für 
die  „Orte".  Das  Werk  ist  von  epochemachender  Bedeutung  für  die  römische 
Altertumskunde  geworden.  Wir  kennen  keinen  Versuch  in  der  römischen 
Litteratur,  der  in  so  umfassender  Weise  die  römische  Welt  darzustellen 
versucht  hätte. 

Die  Bisposition  der  Abteüüng  rerum  divinarum  war  folgende  (August  1.  c.  6, 3) : 

Einleitung  Buch  26. 
1.  Ho  min  es:  27  (2)  de  pontificibus,  28  (3)  de  auguribus,  29  (4)  de  quindecimviris, 
II.  Loci:  30  (5)  de  sacellis,  31  (6)  de  sacris  aedibus,  32  (7)  de  locis  religiosis, 

III.  Tempora:  33  (8)  de  ferüs,  34  (9)  de  ludis  circensibus,  35  (10)  de  ludis  scaenicis, 

IV.  Res:  36  (11)  de  consecrationibus,  37  (12)  de  sacris  privatis,  38  (13)  de  sacris  publicis, 
V.  Dei:  39  (14)  de  deis  certis,  40  (15)  de  deis  incerüs,  41  (16)  de  deis  praecipuis  ac  selectis. 

Für  die  Tempora  der  rerum  hum,  begründet  Gbuppe,  Herrn.  10,54  folgende  Glie- 
derung: 14  prooemium  (de  aevo),  15  de  saeciüis,  16  de  lustris,  17  de  annis,  18  de  mensi- 
bus,  19  de  diebus;  für  die  loci  vermutet  Reitzenstein,  Herrn.  20, 545  und  550  folgende 
Disposition:  8  über  Rom,  der  Inhalt  von  9  und  10  ist  unbekannt,  11  über  Italien,  12  über 
das  übrige  Europa,  13  über  Asien  einschliesslich  Afrika.  (Eettneb,  Krit.  Bemerk,  zu  Varro, 
Halle  1868.) 

Schwarz,  de  T,  V,  apud  patres  vestigüs,  Fleckeis.  J.  Supplementb.  16  p.  462  hat  er- 
kannt, dass  aus  Aug.  de  civ.  d.  7, 30  sich  der  Inhalt  des  16.  B.  der  rerum  divinarum  fest- 
stellen lasse;  „Capite  30  enim  huius  libri  Augustinus  ostendit,  quaecunque  diis  selectis  munera 
tributa  sint,  omnia  unum  Deum  verum  administrare,  eaque  utitur  raüane,  ut  aut  singula 
singulorum  munera  aut  plura  interdum  aeque  gravia  enumeretJ'  Am  Schluss  sagt  1.  c. 
Augustin :  ista  sunt  certe,  quae  diis  selectis  per  nescio  quas  phgsicas  interpretationes  vir 
acutissimus  atque  doctissimus  Varro,  sive  quae  aliunde  accepit,  sive  quae  ipse  coniecit, 
distrihuere  laboravU.  Die  Rekonstruktion  des  16.  B.  der  res  divinae  gibt  Schwabz  p.  473 — 499. 

Litteratur:  Mibsch,  De  Varronis  antiq,  rerum  humanarum  libris  mit  der  Samm- 
lung der  Fragmente,  Leipz.  Stud.  5, 1.  (Der  Aufgabe  nicht  völlig  gewachsen  vgl.  Rbitzek- 
STEIN,  Hermes  20, 515).  Sammlung  der  Fragmente  der  res  divinae  von  Mebkel  in  seiner 
Ausg.  der  Fasti  Ovids  p.  CVI.  —  Kbahveb,  de  M.  T,  Varronis  antiquitatum  rerum  h.  et 
d.  libris  XLJ,  Halle  1834.  Über  das  X.  Buch  der  antiq,  div.,  Zeitschr.  f.  A.  1852  p.  385, 
1853  p.  97,  193.  Fbancken,  fragmenta  Varronis  quae  inveniuntur  in  libris  S.  Augustini 
de  civitate  dei,  Leyden  1836.  Lüttoert,  Theologumena  Varroniana  a,  S.  Augustino  in 
iudicium  vocata,  Sorau  1858  und  1859.  Eyssenhardt,  zu  Martianus  Capella  p.  XXXII. 
Gruppe,  oberlief,  der  Antiq,  rer.  h,,  Gomm.  Momms.  p.  540. 

Eine  Epitome  aus  dem  Werk  in  9  Büchern  berichtet  nur  der  Katalog. 

An  dieses  Greneralwerk  schliessen  sich  folgende  Monographien  über  res  h.  an: 

1)  De  familiis  Troianis  (nicht  im  Katalog).  Citiert  von  Serv.  Aen.  5,704.  Hier 
war  über  die  römischen  Familien  gehandelt,  welche  ihren  Stammbaum  auf  trojanische  Helden 
zurückführten. 

2)  tribuum  über  (nicht  im  Katalog).  Citiert  von  Varro  de  1. 1.  5,56.  (Mercexin, 
Quaest.  Varr,,  Dorp.  1852  p.  5.) 

3)  rerum  urbanarum  1.  III.,  noch  citiert  von  Charis.  p.  133  K,  wohl  eine  Topo- 
graphie Roms  auf  geschichtlicher  Grundlage.  (Jahit,  Hermes  2,  235  vgl.  die  Argeerurkunde.) 

4)  de  gente  populi  Romani  1.  IV.  („Über  die  Herkunft  des  römischen  Volkes.*) 
Da  nach  Amobius  adv.  nat.  5,  8  die  Zeit  von  der  deukalionischen  Flut  bis  zum  Konsulat 
des  Hirtius  und  Pansa  berechnet  war,  so  werden  wir  die  Entstehung  der  Schrift  in  das 
Jahr  43  zu  setzen  haben.  Zweck  des  Werks  war,  die  Stellung  der  römischen  Nation  zu 
den  übrigen  Nationen  darzulegen,  was  starkes  Hervortreten  der  Chronologie  notwendig 
machte.  Hiebei  war  Varro  besonders  bestrebt,  „Analogien  zwischen  ausländischen  und 
einheimischen  Institutionen,  Sitten,  Sprachformen  ausfindig  zu  machen  und  ohne  weiteres 
aus  Entlehnung  der  letzteren  zu  erklären **  (Scholl,  Hermes  11,  337);  vgl.  Serv.  zu  Aen.  7, 176 
maiores  enim  nostri  sedentes  epülabantur,  quem  morem  habuerunt  a  Laconibus  et  Cretensibus: 
ut   Varro  docet  in  libris  de  gente  populi  Romani,  in  quibus  dicit,  quid  a  quaque  traxerint 


M.  TerentiuB  Varro.  283 

gente  per  imitatianem,    (Angust.  de  civ.  d.  18,2.  —  Kettkeb,  Varron.  Stadien,  Halle  1865; 
Pbteb,  fr.  hiBt.  p.  228.    Frick,   Die  Quellen  August,  im  18.  B.  de  civ.  dei,  Höxter  1884.) 

5)  de  vita  populi  Romani  1.  IV  ad  Atticum.  Vgl.  Gharis.  p.  126  K.  ,ein  merk- 
würdiger Versuch  emer  römischen  Sittengeschichte,  die  ein  Bild  des  häuslichen,  finanziellen 
und  Kulturzustandes  in  der  Königs-,  der  ersten  republikanischen,  der  hannibalischen  und 
der  jüngsten  Zeit  entwarf  **  (Momüsen,  R.  Gesch.  3^,  625).  Kettkeb,  Varronis  de  vita  populi 
Bomani  quae  extarU,  Halle  1863. 

6)  Aetia  (Attia  nicht  im  Katalog).  Kallimachus  hatte  mit  seinen  Aixia  (Christ, 
Gr.  L.  p.  402)  eine  Litteraturgattung  gepflegt,  welche  den  Ursprung  von  Gebräuchen,  von 
Sitten,  Spielen  u.  s.  w.  darlegt.  Ihm  schliesst  sich  Varro  an,  wie  Serv.  Aen.  1.408  aus- 
drücklich bezeugt.  Höchst  wahrscheinlich  schöpfte  aus  diesem  Werk  besonders  Plutarch 
für  seine  Atua  ^otfiatxa.  Vgl.  Mercklin,  Phil.  3,  267  13,  710.  Thilo,  de  Varrone  Plut, 
quaest,  rom,  auctore  praecipuOf  Bonn  1853.  F.  Leo,  de  Plutarchi  quaest.  rom.  aueiorihuSf 
Halle  1864.  Glaesser,  De  Varron,  doetrinae  apud  Pltä.  vestigiis,  Leipz.  Stud.  4, 157. 

Mit  RiTSCHL  können  wir  hier  anreihen  den  Isagogicus  ad  Pompeium,  eine  An- 
leitung zur  Führung  des  Konsulats  für  Pompeius  (im  J.  71)  geschrieben.  Die  Schrift  war 
aber  nach  Varros  eigenem  Zeugnis  verloren  gegangen  (Grell.  14, 7, 2).  Über  diese  isago- 
gische  Litteratur  vgl.  §  13  und  Büchblbb,  Q.  Ciceranü  reliq.  p.  6. 

188.  Die  erste  Encyklopadie  der  artes  liberales  (Disciplinarum 
1.  IX).  Bereits  im  Beginn  der  römischen  Prosa  lernten  wir  eine  encyklo- 
pädische  Zusammenfassung  mehrerer  Wissensgebiete  kennen ;  es  waren  dies 
die  Unterweisungen  Catos  (§  66).  Ungleich  wichtiger  ist  die  Encyklo- 
padie Varros,  denn  an  sie  lehnen  sich  die  sieben  freien  Künste  des  Mittel- 
alters an.  Nach  den  Untersuchungen  Ritschis  waren  in  den  disciplina- 
rum libri  IX  folgende  Disziplinen  und  wahrscheinlich  in  folgender  Anord- 
nung behandelt:  1.  Grammatik,  2.  Dialektik,  3.  Rhetorik,  4.  Geometrie, 
5.  Arithmetik,  6.  Astrologie,  7.  Musik,  8.  Medizin,  9.  Architektur.  Durch 
Weglassung  der  Medizin  und  der  Architektur  ergaben  sich  die  bekannten 
artes  liberales^  Grammatik,  Dialektik,  Rhetorik,  Geometrie,  Arithmetik, 
Astronomie,  Musik,  wie  sie  sich  bei  Martianus  Gapella,  Cassiodorius,  Isidor 
und  mit  einer  Abweichung  schon  bei  Augustin  finden. 

Die  Zeit  der  Abfassung  bestimmt  Ritschl  3, 400  nach  Plin.  n.  h.  29, 65  cunctarer  in 
proferendo  ex  his  remedio,  ni  Varro  LXXXIII  vitae  anno  prodidisset.  Wenn  dieses  Heil- 
miUol  im  8.  Buch  der  disciplinae  stand,  so  schrieb  er  dieses  Buch  im  Jahre  33.  Sonach 
würde  das  Werk  zu  den  spätesten  Varros  gehören.  Die  Fragmente  stellt  zusanmien  Ritschl 
3, 372,  die  des  ersten  Buchs  auch  Wilmakks,  de  T,  V,  libris  grammaticis  p.  208. 

Monographien  über  diese  artes  sind: 

1)  de  forma  philosophiae  1.  III.  Vgl.  Gharis.  p.  103  K.,  der  das  II.  Buch  citiert. 
Augustin  de  civ.  dei  19, 1  citiert  nur  einfach  einen  liher  de  philoaophia,  in  dem  der  For- 
malismus Varros  recht  springend  hervortrat;  dort  berechnet  er  nämlich  die  möglichen 
philosophischen  Systeme  auf  288.  Man  muss  demnach  annehmen,  dass  neben  einem  Werk 
aus  3  Büchern  noch  ein  Monobiblos  oder  ein  Logistoricns  über  Philosophie  existiert  habe. 
Diese  philosophische  Schriftstellerei  fällt  nach  Ciceros  Academica  (post.  1, 3  2,  8). 

2)  Rhetoricorum  libri  (nicht  im  Katalog)  citiert  und  zwar  das  III.  Buch  lediglich 
Priscian  1, 489  H. 

3)  de  mensuris  (nicht  im  Katalog).  Wir  kennen  das  Buch  aus  Priscian  1,420H 
und  Boethius,  de  geometria  p.  1234  ed.  Basil.  1546.  Dasselbe  erörtert  die  Gromatik,  die 
Feldmesserkunst.  Anlass  dazu  mag  Varro  das  Ackerverteilungs-Kommissorium  des  J.  59 
gegeben  haben.    Vgl.  unten  §  202. 

4)  de  principiis  numerorum  1.  IX,  Zahlenlehre  nach  den  Pythagoreem. 
Kbahkeb,  Friedl.  Progr.  1846  (de  V,ph%losophia).  Etssbneuüidt,  M.  Capella  p.  XXXII. 

189.  Varros  juristisches  Werk  (De  iure  civili  L  XV).  Da  dieses 
Werk  uns  nur  durch  den  Katalog  bekannt  geworden  ist,  so  fehlen  uns 
Fragmente.  Bei  dieser  Sachlage  ist  es  gewagt,  das  Werk  näher  zu 
charakterisieren,  noch  gewagter  aber,  dasselbe  als  ein  Quellenwerk  nach- 
zuweisen. 


284    BOmiBche  LitteratargeBclüchte.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 


Beides  hat  Sanio  in  seiner  Schrift  ^Varroniana',  Leipz.  1867  gethan;  er  erklärt  p.  213, 
dass  Varros  Werk  ,kein  fachwissenschaftliches,  vielmehr  nur  ein  isagogisches,  zur  Vor- 
bildung künftiger  Icti  oder  iHri  civiles  überhaupt  bestimmtes,  vorzugsweise  propädeutisches 
Werk  gewesen  sei,  und  (p.  231),  dass  dieses  Werk  die  Grundlage  für  das  ebenfalls  isa- 
gogische  (p.  221)  Enchiridion  des  Pomponius  abgegeben  habe/ 

Juristischen  Inhalt  hatte  femer: 

de  gradibus  libri  (nicht  im  Katalog),  bekannt  aus  Serv.  zur  Aen.  5,412,  handelte 
wohl  über  die  Verwandtschaftsgrade.    Vgl.  Sanio  p.  235. 

190.  Miscellanea  (Epistolicae  quaestiones).  In  dieser  Schrift,  die 
nicht  im  Katalog  steht,  waren  Erörterungen  in  Briefform  über  verschiedene 
Gegenstände,  über  Staatsrechtliches,  Grammatisches,  Antiquarisches  gegeben. 
Kitschi  nimmt  wenigstens  8  Bücher  an,  indem  er  Gharis.  p.  84  E.  i^epistu- 
larum  VUI^  in  „epistolicarum  VUI^  korrigiert.  Das  grdsste  Bruchstück  aus 
denselben  gibt  Gell.  14,  7;  es  handelt  über  Senatus  consulta  (Ritsbhl  3, 477). 

Daneben  werden  auch  epistulae  citiert  und  zwar  bei  Nonius,  epistolae  latinae,  z.  B. 
1, 172  MüxLEB  1. 1  und  2,84  1.  II.  Danach  muss  man  wohl  noch  ein  Corpus  eigentlicher 
Briefe  und  zwar  in  zwei  Abteilungen,  einer  lateinischen  und  einer  griechiscnen,  annehmen. 
Vgl.  Müller  zu  1, 172.    (Mebcklin,  Quaest,  Varron,  p.  11.) 

191.  Varros  Geographie  (De  ora  maritima).  Durch  vier  Stellen, 
nämlich  Serv.  zu  Aen.  1, 108  1, 112  5, 19  8,  710  (nicht  durch  den  Katalog) 
erhalten  wir  Kunde  von  einer  varronischen  Schrift  mit  dem  Titel  „de  ora 
maritima".  An  der  ersten  Stelle  wird  eine  Beobachtung  der  SchMfer  für 
die  Fahrt  von  Sicilien  nach  Sardinien  mitgeteilt,  an  der  zweiten  eine  Er- 
klärung von  „vadus"  gegeben,  die  zwei  letzten  endlich  beschäftigen  sich 
mit  den  Winden.  Nach  diesen  Stellen  sollte  man  meinen,  unsere  Schrift 
habe  über  Schiffahrt  gehandelt.  Diese  Ansicht  wurde  auch  aufgestellt;  und 
zwar  hielt  man  unsere  Schrift  entweder  für  eine  praktische  Schiffahrts- 
kunde, *)  oder  für  ein  historisch-antiquarisches  Kompendium  über  die'  Schiff- 
fahrtskunde. ^)  Allein  der  Titel  will  zu  diesem  Inhalt  nicht  passen;  nach 
dem  Titel  sollte  man  vielmehr  eine  Erdbeschreibung  erwarten,  welche  dem 
Lauf  der  Küsten  folgt.  Als  eine  solche  wurde  sie  auch  aufgefasst,  indem 
man  überdies  noch  zu  erweisen  versuchte,  dass  sie  in  die  geographische 
Partie  der  naturalis  historia  des  Plinius  eingewoben  sei.')  Ich  erachte  diese 
Ansicht  für  die  richtige. 

Die  von  Solinus  11,6  de  litoralibus  genannte  Schrifl;  ist  zweifellos  mit  der  Sclirift; 
de  ora  maritima  identisch.  Weiterhin  wird  erwähnt  eine  ephemeris  nava^is,  welche  Varro 
dem  Pompeius,  als  er  um  77  y.  Ch.^)  einen  Zug  nach  Spanien  unternehmen  wollte,  dedi- 
zierte;  nach  der  Inhaltsangabe  des  Itinerarium  Alex.  6  hätten  wir  in  dieser  Schrift  einen 
Traktat  fiber  die  SchifTahrtskunde,  besonders  nach  der  Seite  der  Vorzeichen.  Die  von 
Yegetius  de  r.  m.  5, 11  genannten  libri  navalea  sind  allem  Anschein  nach  identisch  mit  der 
ephemeris  navalis,  Reitzensteik  dagegen  leugnet  die  Identität  (p.  529)  und  identifiziert  die 
Schrift  de  ora  maritima  mit  den  libri  navales  oder  will  sie  höchstens  als  Teil  der  libri 
navales  gelten  lassen  (p.  525).  Kaibel  hält  ebenfalls  an  der  Identität  der  libri  de  ora 
maritima  mit  den  libri  navales,  aber  er  identifiziert,  wie  man  schliessen  muss,  diese  beiden 
auch  mit  der  ephemeris  navcUis  (p.  610). 

Varro  citiert  de  1. 1.  9, 26  einen  liber,  den  er  de  aestuariis  geschrieben.  Als  Inhalt 
dieses  Über  erachtet  Reitzeksteik  p.  527  die  Erscheinung  der  Ebbe  und  Flut  und  betrachtet 
ihn  als  einen  Teil  des  Werks  de  ora  maritima.  Auch  wenn  man  an  eine  Küstenbeschreibung 
denkt,  lässt  sich  ein  solches  Buch  als  Teil  derselben  denken;  denn  Varro  musste  doch 
wohl  auch  vom  Meere  reden. 


0  So  Reitzbkstein,  Hermes  20,  530. 
«)  So  Kaibel,  ibid.  20,  610,  vgl.   auch 
Oeumichen,  Plin.  Stud.  p.  47. 


')  So  Detlefsen,  Hermes  21,255. 
<)  Bergk,  Rh.  Mus.1,369. 


M.  TerentiuB  Varro.  285 

Priscian  1, 256  H  erwähnt  eine  ephemeris,  welche  offenbar  von  der  epheme^Hs  navalis 
verschieden  ist;  dieselbe  ist,  da  über  die  Herkunft  des  Namens  des  Monats  Julius  die  Rede 
war,,  nach  der  Kalenderreform  46  v.  Gh.  abgefasst.  Bebok  spricht  folgende  Vermutung  aus 
(Rh.  Mus.  1,369):  videtur  prognostica  in  agricolarum  nMxime  %umm  iUustravisse,  ecique  far- 
tiuse,  ut  ab  üla  segregaretur,  dicta  est  ruattca  »ire  agrestis  ephemer is.  Zu  dieser  Be- 
stimmung gibt  aber  das  Gitat  bei  Priscian  keinen  festen  Anlass ;  vgl.  Reitzenstein  de  scrip- 
forum  rei  ru8t,  libris  p.  44;  Hermes  20, 529. 

192.  Die  erhaltenen  Bttcher  Yarros  de  lingua  latina.  Durch  den 
Katalog  sind  uns  25  Bücher  eines  Yarronischen  Werks  über  die  lateinische 
Sprache  (de  lingua  latina)  bezeugt.  Yon  demselben  sind  uns  jedoch  nur 
die  Bücher  5 — 10  erhalten,  freilich  sind  auch  diese  vielfach  verstümmelt 
und  verderbt  überliefert.  Durch  das  Erhaltene  und  die  fortwährenden 
Rekapitulationen  der  Einteilungen  sind  wir  im  stände,  fast  alle  Umrisse 
des  Werks  zu  zeichnen.  Nach  einem  Einleitungsbuch  kamen  drei  grosse 
Abteilungen,  von  denen  die  erste  der  Etymologie,  die  zweite  der  De- 
klination im  weitesten  Sinn,  die  dritte  der  Wortverbindung  (Syntax) 
gewidmet  war  (7,  110).  Jede  der  beiden  ersten  Abteilungen  enthielt  eine 
Hexade,  welche  wiederum  in  zwei  Triaden  zerlegt  war.  Der  dritten  Ab- 
teilung dagegen  waren  zwei  Hexaden,  also  vier  Triaden  zugewiesen.  Es 
ist  sonach  die  Symmetrie  verletzt;  Ritschi  stellte  daher  die  Ansicht  auf, 
dass  ,Yarro,  von  der  Absicht* einer  Dreiteilung  des  Ganzen  ausgehend, 
erst  im  Yerlauf  des  Werks  auf  den  Gedanken  gekommen  sei,  diesen  Plan 
durch  Hinzufügung  eines  vierten  Teils  zu  erweitern,  dass  sonach  diese 
Bücher  nicht  völlig  zur  Herausgabe  vollendet  worden,  sondern  ohne  den 
letzten  Abschluss  herausgekommen  sind**  (Opusc.  3, 466).  Allein  auch  in 
den  Antiquitäten  ist  in  der  zweiten  Abteilung  die  Symmetrie  nicht  völlig 
aufrechterhalten.  Die  Triaden  der  zwei  ersten  Abteilungen  verhalten  sich 
so  zu  einander,  dass  in  der  ersten  Triade  das  Allgemeine  (Philosophische), 
in  der  zweiten  das  Spezielle  behandelt  war.  So  war  in  der  ersten  Triade  (2 — 4) 
nach  der  bekannten  Manier  Yarros  eröii;ei*t  1)  was  gegen  die  Etymologie, 
2)  was  für  sie,  3)  was  von  ihr  zu  sagen  sei  (5,1.  7,109);  in  der  zweiten 
Triade  wurde  die  Etymologie  vorgetragen  nach  den  Klassen  der  Orts- 
bezeichnungen (B.  Y),  der  Zeitbezeichnungen  (B.  YI)  und  der  poetischen 
Ausdrücke  (B.  YH).  Auch  die  erste  Triade  der  zweiten  Abteilung  (8 — 10) 
schlug  einen  ähnlichen  Weg  der  Untersuchung  ein,  wie  die  erste  Triade 
der  ersten  Abteilung,  sie  untersuchte,  was  gegen  die  Analogie  (B.  YHI), 
was  gegen  die  Anomalie  (B.  IX)  spreche,  endlich  was  von  der  Analogie 
zu  halten  sei  (6.  X).  Ygl. 8, 24.  Es  ist  uns  sonach  erhalten  der  spezielle 
Teil  der  ersten  Abteilung  und  der  allgemeine  der  zweiten. 

Die  Bücher  2 — 4  waren  dem  P.  Septimius  gewidmet,  die  übrigen  dem 
Cicero,  der  Yarro  dafür  seine  Academica  dedizierte.  Diese  Doppelwidmung 
erklärt  sich  am  einfachsten,  wenn  man  annimmt,  dass  die  dem  Septimius 
gewidmeten  Bücher  bereits  publiziert  waren,  als  Yarro  Cicero  für  eine 
Widmung  in  Aussicht  nahm.  Die  für  Cicero  bestimmten  Bücher  waren 
im  Jahre  47  angekündigt,  im  Jahr  45  aber  waren  sie  noch  nicht  in  den 
Händen  Ciceros  (ad  Att.  13, 12),  aber  sie  wiu*den  fertig,  ehe  Cicero  starb,  da 
er  in  dem  Werk  als  Lebender  angeredet  wird.  Als  die  älteste  der  uns  er- 
haltenen grammatischen  Schriften  der  Römer  ist  das  Werk  Yarros,  das  in 


286    ROmisohe  Litteratnrgesohiolite.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

seine  spätere  Lebenszeit  fällt,  fUr  uns  von  dem  grössten  Interesse,  besonders 
weil  es  uns  einen  Einblick  in  den  Streit  der  Analogisten  und  Anomalisten 
gewährt.  Man  sieht  aus  dem  Werk,  dass  der  Streit  sich  seinem  Ende  nähert 
und  dass  in  der  Versöhnung  beider  Prinzipien  die  Wahrheit  liegt.  Varro 
will  Analogist  sein,  allein  er  beschränkt  die  Analogie  so,  dass  ihr  Wesen 
nicht  mehr  intakt  bleibt.  In  den  ersten  Bfichern  finden  wir  viele  wunder- 
liche Etymologien,  allein  durch  die  Belegstellen,  besonders  durch  die  Dichter- 
citate  erhalten  auch  diese  Bücher  hohen  Wert.  Die  Darstellung  ist  sehr 
abgerissen  und  hart. 

Bezfiglich  der  Widmung  sagt  Varro  im  Eingang  des  5.  Buchs  tris  ante  hunc  (dem  5.) 
feci,  quo8  Septumio  misi,  also  2,  3,  4.  Ob  die  Einleitung,  das  erste  Buch  eine  Widmung 
enthielt,  wissen  wir  nicht 

In  Bezug  auf  den  Aufbau  des  Werkes  nahm  man  daran  Anstoss,  dass  12  Bücher 
für  die  Syntax  zu  viel  seien.  0.  Müllbb  Ausg.  p.  L  vermutet  daher,  dass  in  den  sp&teren 
Büchern  der  Schriftatelier  den  „usus  vocabuhrum  et  orationie  omatus*^  behandelt  habe, 
eine  Ansicht,  der  auch  Ritschl  beipflichtet,  indem  er  annimmt,  dass  die  Syntax  nur  von 
Buch  14 — 19  reichte  (3,465).  Allem  dass  die  Syntax,  wenn  sie  nach  stoischem  System, 
wie  dies  bei  Varro  der  Fall  war,  behandelt  wurde,  genug  Stoff  für  12  Bücher  darbot,  zeigt 
z.  B.  die  reiche  Schrifistellerei  des  Ghrysippus  (Wiijeahits  p.  15), 

Die  Überlieferung  beruht  lediglich  auf  dem  Mediceus  in  Florenz  51, 10  s.  XI.  Aus- 
gaben von  0.  MüLLEB,  Leipz.  1833,  aus  dem  Nachlass  L.  Spengels  von  A.  Spkkgel,  Berl. 
1 885  (Hauptausgabe).  —  Die  Fragmente  der  verlorenen  Bücher  finden  sich  bei  Wilxakks 
p.  141—170. 

Von  einem  Auszug  aus  dieser  Schrift  in  9  Büchern  erhalten  wir  Kunde  durch 
einen  Titel  des  Katalogs.  Dieser  Auszug  spricht  auch  gegen  die  Annahme,  dass  das  Werk 
Varros  unvollendet  blieb. 

Ausser  diesem  Werke  verfasste  Varro  noch  folgende  granmiatische  Werke: 

1)  de  sermone  latino  ad  Marcellum  1.  V.  Diese  Buchzahl  gibt  der  Katalog. 
Rufinus  GL.  6, 556  K.  citiert' zweimal  das  VII.  Buch;  wahrscheinlich  ist  mit  0.  Jahn  IV  zu 
schreiben.  Diese  Schrift,  die  einem  nicht  näher  zu  bestinmienden  Marcellus  gewidmet  ist 
(Gell.  18, 12, 8),  handelt  zum  Unterschied  von  der  Schrift  de  lingua  latina  über  die  gut« 
Latinität,  für  welche  natura,  analogia,  cansuetudo,  auctoritas  massgebend  waren  (Wilhanus 
p.  80).  Es  handelt  sich  um  das  Einzelwort  und  dann  um  die  zusammenhängende  Rede. 
In  erster  Beziehung  musste  auf  die  Laute,  Silbenverbindungen,  den  Accent,  den  Rhythmus 
eingegangen  werden,  in  anderer  Beziehung  war  eine  Lehre  vom  Stil  geboten.  Ein  wert- 
volles Fragment  über  den  Accent  nr.  60  p.  186  WiLMAmvs. 

2)  de  similitudine  verborum  1.  III  ist  eine  Spezialschrift  über  die  Analogie. 
(Charis.  p.  91  K.) 

3)  de  utilitate  sermonis  (nicht  im  Katalog)  ist  das  Gegenstück  zu  der  voraus- 
gehenden  Schrift  und  handelt  von  der  Anomalie  der  Rede.  Die  Schrift  ist  uns  bekannt 
durch  Charis.  p.  123  K,  der  das  IV.  Buch  citiert. 

4)  ncQi  /o^axTi^^aiy  (nicht  im  Katalog),  nur  durch  Gharisius  p.  189  K  bekannt, 
der  das  III.  Buch  citiert.  Rftschl  gegenüber,  der  die  /a^a«r^^€f  mit  den  descriptianes 
„Charakterbilder"  identifizierte  (Op.  3, 459)  hat  Usekeb  richtig  die  Schrift  als  eine  gramma- 
tische erkannt.  «Varro  hatte  die  verschiedenen  Formen  (tvnoi)  der  Wortbildung,  der 
declinatio  in  dem  weiten  Sinn,  den  er  dem  Wort  beizulegen  pflegt,  darin  so  behandelt, 
dass  er  Paradigmen  der  Analogie  aufstellte,  um  daran  seine  weiteren  Bemerkungen  zu 
knüpfen.  Wie  sich  diese  Schrift  zu  den  drei  Büchern  de  similittidine  verborum  und  zu 
dem  Abschnitte  de  lingua  latina  B.  XI — XITI  verhaltet  habe,  wenn  sie  nicht  identisch  war 
mit  einem  von  beiden,  weiss  ich  nicht  zu  sagen.  Dürften  wir  Spezialtitol  für  einzekie 
Stücke  des  Werkes  de  1.  1.  annehmen,  so  würde  unser  Fragment  sich  sehr  einfach  auf 
B.  XIII  zurückführen  lassen,  worin  die  dichterischen  Abweichungen  in  der  declinatio  be- 
handelt waren*  (Fleckeis.  J.  95,  248). 

5)  de  antiquitate  litter arum  (nicht  im  Katalog),  citiert  von  Priscian  1, 8H,  wo 
das  II.  B.  angeführt  wird.  Ritschl  zeigt  (3, 469),  dass  die  von  Pompeius  comm.  Don.  p.  98  K. 
citierten  Bücher  ad  Attinm  mit  dieser  Schrift  identisch  sind;  es  war  eine  Geschichte  des  Alpha- 
bets; da  Attius  wahrscheinlich  der  Tragiker  ist,  so  gehurt  die  Schrift  zu  den  frühesten 
Arbeiten  Varros  (Ritschl  3, 498). 

6)  de  origine  linguae  latinae  1.  III  vgl.  Priscian  1,30H.  Nach  Jo.  Lydus  de 
magistr.  1, 5  p.  125  Bekk.  war  das  Werk  dem  Cn.  Pompeius  gewidmet. 

Aussenlem  war  die  Grammatik  in  dem  Werk  der  disciplinae  behandelt. 


M.  Tsreatins  Tarro. 


287 


Die  Fragmente  aller  dieser  Schriften  sind  zusammengestellt  und  erörtert  von  Wil- 
MANKS,  de  M,  T,  F.  liMa  grammaticis,  Berl.  1864. 

193.  Die  erhaltene  Schrift  Yarros  ttber  die  Landwirtschaft 
(remm  msticamm  1.  O).  Im  Alter  von  80  Jahren  (1,1, 1),  schrieb  Varro 
diese  landwirtschaftliche  Schrift.*)  Wie  Tremellius  Scrofa  (vgl.  §  202),  so 
ging  auch  Varro  darauf  aus,  den  Stoff  in  eine  systematische  Form  zu 
bringen  und  daher  alles  Ungehörige  auszuscheiden.  Auch  das  ist  be- 
merkenswert, dass  er  die  aristotelische  Form  des  Dialogs  für  seine  Dar- 
stellung wählte;  er  führt  uns  drei  verschiedenen  Personen  (seiner  Gattin 
Fundania,  Turranius  Niger,  Pinnius)  gewidmete  Gespräche  vor,  die  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  und  an  verschiedenen  Orten  stattfanden.  Das  Beispiel 
Ciceros  mag  hier  bestimmend  eingewirkt  haben,  im  besonderen  der  von  ihm 
übersetzte  Xenophontische  Öconomicus.')  Die  Verteilung  des  Stoffes  ge- 
schieht in  der  Weise,  dass  im  ersten  Buch  über  den  Feldbau  (de  agri 
culiura),  im  zweiten  über  Schafe,  Ziege,  Schweine,  Ochsen,  Esel,  Pferde, 
Maulesel  (de  re  pecuaria),  im  dritten  endlich  über  die  Tiere  des  Hofs, 
d.  h.  des  Geflügels,  der  Bienen,  Fische  und  einiger  Wildarten  (de  viUaticis 
pastianibus),  gehandelt  wird')  (3,1,9).  Die  Einführung  des  letzten 
Teils  als  eines  selbständigen  Zweigs  der  Disziplin  ist  ein  Werk 
Varros.  Den  Stoff  schöpft  der  alte  Gelehrte,  der  besonders  Viehzüchter 
war  (2  praef.  6),  aus  eigener  Erfahrung  (1,  1, 11),  dann  aber  auch,  und 
zwar  das  meiste,  aus  mündlichen  Mitteilungen  und  anderen  Schriften;  im 
ersten  Buch  zeigt  sich  genaue  Berücksichtigung  Catos.  Der  Blick  ist  nicht 
durch  die  enge  Scholle  des  eigenen  Bodens  gebunden,  sondern  zieht  ver- 
gleichsweise auch  die  Verhältnisse  anderer  Gegenden  und  anderer  Länder 
herbei.  Man  sieht,  wie  sich  eine  Summe  landwirtschaftlichen  Wissens 
entwickelte.  Kritisches  Urteil  lässt  Varro  nicht  selten  vermissen.  Die  Dar- 
stellung ist  eine  sachgemässe,  durch  eingestreute  Witze  belebte,  nament- 
lich die  Einleitungen  sind  anmutig  zu  lesen.  Die  Maschinerie  des  Dia- 
logs ist  steif  und  ungelenk.  Die  doktrinäre  und  pedantische  Art  Varros 
kann  sich  auch  in  dieser  Schrift  nicht  verleugnen ;  einmal  benützt  er  jede 
Gelegenheit,  seine  Etymologien  anzubringen;  alsdann  gefällt  er  sich  in 
schablonenhaften  Gliederimgen  und  Einteilimgen ;  ein  wahrhaft  monströses 
Beispiel  bietet  die  Anordnung  des  zweiten  Buchs,  wo  der  Stoff  zunächst 
in  künstlicher  Weise  in  drei  Fächer  zerlegt  wird,  dann  jedes  Fach  in  drei 
Rubriken,  jede  Rubrik  in  neun  Unterabteilungen,  so  dass  sich  81  Gesichts- 
punkte für  den  Schriftsteller  ergeben.  Diese  werden  mit  einer  durch  die 
Natur  der  Sache  gebotenen  Ausnahme  dem  Leser  wirklich  vorgeführt,  man 
kann  sich  denken,  welches  Gefühl  der  Ermüdung  sich  bei  der  Lektüre 
dieses  zweiten  Buches  einstellen  muss. 

Das  Gespräch  des  zweiten  Buchs  wird  ins  Jahr  67  verlegt,  vgl.  II  praef.  6,  das  des 


')  In  dieser  Schrift  finden  wir  bereits 
die  jetzt  so  viel  besprochene  Bacillentheorie 
klar  ausgesprochen  (1,12,2):  animadverten- 
dum  etiam,  H  qua  erunt  loca  palustria  — 
guod  ereaeunt  animalia  quaedam  minuta,  quae 
non  possunt  oetdi  c&nsequi  et  per  adra  intus 
in  corpus  per  os  ac  nares  perveniunt  atque 


efficiunt  difficilis  tnorbos, 

')  RBiTZüifSTEDr,  de  scriptorum  rei  rusti- 
cae  libris  deperditis  p.  2. 

*)  Den  Gegensatz  zwischen  Buch  II  und 
Buch  III  bezeichnet  Varro  3, 1, 8  mit  agrestis 
pastio,  mllatica  pastio. 


288    Bömisohe  Litteratnrgesohichte.    L  Die  Zeit  der  Bepablik.    2.  Periode. 

dritten  Buchs  ins  J.  54  (3, 2, 3).  Im  ersten  Gespräch  geschieht  (1, 2, 10)  des  Tremellius 
Scrofa  als  des  Kollegen  des  Varro  ad  agros  dipidendos  Campanos  Erwähnung.  Diese 
Kommission  war  im  J.  59  thätig. 

Ober  die  Quellen  gibt  ein  treffendes  Urteil  ab  Hbivzb  in  den  Gonmi.  zu  Ehren 
Ribbecks  p.  440:  Varronem  magnam  per  certe  libri  rerum  rustiearum  tertii,  per  maximam 
lihri  alterius  partem,  exceptis  eis  quae  de  rebus  Bomanis  (imprimis  de  etnptionibus)  et  quae 
historica  addit,  ad  fontes  suos  rebus  verbisque  presse  se  applicasse  inielJegimus,  cum  ea 
omnia  camponimus,  quae  eadem  fere  in  Geaponieis  vidimus  et  ad  fontes  cammunes  revaea- 
vimus.  Nee  minus  certum  est  non  pauca  ex  his  ad  Magonem  i.  e.  ad  Cassium  Dionysium 
rel  Diophanem  (vgl.  §  81)  redire.  Einen  trefflichen  methodischen  Wink  gab  auch  Bücheleb, 
Rh.  Mus.  39, 291. 

Die  Überlieferung  ist  dieselbe  wie  die  Catos;  vgl.  §  67.  —  Ausgabe  von  Kbil  (mit 
Cato),  Leipz.  1884.    Kleine  Spezialausgabe  Yarros,  Leipz.  1889. 


Sehen  wir  auf  die  Schriftstellerei  Varros  zurück,  so  werden  wir  unser 
Erstaunen  über  die  grosse  litterarische  Produktionskraft  nicht  unterdrücken 
können.  Sein  Oeist  umspannte  das  ganze  damalige  Wissen.  Litteratur, 
Altertumskunde,  Fachwissenschaften  hat  er  in  zahllosen  Schriften  erläutert. 
Aber  diese  reiche  Schriftstellerei  wird  auch  von  einer  Idee  getragen,  der 
Idee,  das  alte  römische  Wesen  zu  Ehren  zu  bringen  und  der  neuerungs- 
süchtigen Zeit  entgegenzutreten.  Neben  der  Reproduktion  schritt  aber 
auch  eine  sehr  interessante  Produktion  einher,  welche  die  altvaterische,  aber 
kerngesunde  Natur  des  Mannes  ganz  besonders  zu  Tage  treten  Hess. 

Dass  von  einem  so  reichen  litterarischen  Nachlass  Jahrhunderte  zehren,  ist  klar. 
Eine  genauere  Untersuchung  des  Fortlebens  Varros  lAuft  zugleich  auf  eine  Sammlung 
sämtlicher  Fragmente  hinaus,  welche  bedauerlicherweise  noch  fehlt.  Varros  hohes  Ansehen 
spricht  sich  auch  in  einer  Sammlung  von  Sprüchen  aus,  die  unter  seinem  Namen  umlief 
(bei  Riese,  Sat.  Menipp.  reliq.  p.  265).  Ob  unter  denselben  varronisches  Eigentum  sich 
befindet,  ist  zweifelhaft. 


2.  Die  Philologen. 

194.  Trennnng  des  grammatischen  und  rhetorischen  Unterrichts. 
Für  den  reifen  Jüngling,  der  die  Elementarbildung  sich  angeeignet,  eröff- 
neten sich  als  höhere  Stufen  des  Unterrichts  sowohl  im  Griechischen  als 
im  Lateinischen  die  grammatische  und  die  rhetorische  Schule.  Früher 
waren  diese  beiden  Stufen  nicht  geschieden,  indem  die  Grammatiker  auch 
zu  der  Rhetorik  Anleitung  gaben;  und  selbst  nach  der  Trennung  der  beiden 
Schulen  schlössen  sich  noch  an  den  grammatischen  Unterricht  vielfach 
Übungen  an,  welche  zur  Vorbereitung  für  die  Rhetorik  dienen  konnten, 
z.  B.  Aufsätze,  Paraphrasen,  Anreden  u.  s.  w.  Die  Scheidung  scheint  zu 
Anfang  unserer  Periode  völlig  durchgedrungen  zu  sein;  wir  lesen,  dass 
um  88 1)  L.  Plotius  Gallus  die  erste  lateinische  Rhetorschule  eröffnete. 
Die  erste  selbständige  lateinische  grammatische  Schule  scheint  Sevius 
Nicanor  geleitet  zu  haben.  Diese  Schulen  erhalten  jetzt  eine  überwiegend 
griechische  Prägung,  besonders  die  Spitzfindigkeiten  der  griechischen  Rhe- 
torik wurden  jetzt  der  römischen  Jugend  eingepflanzt. 

Suet.  de  gr.  4  veteres  grammatici  et  rhetoricam  dacebant,  ae  multorum  de  utraque 
arte  commentarii  feruntur.     Secundum   quam   eonsuetudinem  posteriores  quoque  existimo, 


*)  Also  nach  der  Schliessung  der  lat. 
Rhetorenschulen  des  Jahres  92  (vgl.  p.  117). 
Anders  Mabx,  Rh.  Mus.  43,  382  Anm.,  der 


durch   die  Schliessung  unsem  Plotius,   «den 
Freund  des  C.  Marius/  betroffen  werden  Iftsst. 


Die  Philologen.  289 

quamquam  tarn  discreiis  profesHonibus,  nihilo  minus  vel  retinuusse  vel  instituisse  et  ipsos 
quaedam  genera  instütUionum  ad  eloqueniiam  praeparandam,  ut  problemata,  paraphraais, 
aüoeuiiones,  ethohgias  atque  alia  hoc  genus,  ne  8cilicet  aicci  amnino  atque  aridi  pueri  rhe- 
toribus  traderentur,  Quae  quidem  omitti  iam  video,  desidia  quorundam  et  infantia;  nan 
enim  faMidio  putem,  —  Äudiebam  etiam,  memoria  patrum  quosdam  e  grammatici  statim 
ludo  transiase  in  forum  atque  in  numerum  praeatantissimorum  patronorum  receptos. 

Hieronym.  2, 133  Scsoens  zu  88:  Ftotius  GaÜus  primus  Romae  Latinam  rhetoricam 
docuit,  de  quo  Cicero  sie  refert:  Memoria  teneo  pueris  nobia  primum  Latine  docere  coepisse 
Plotium  quendam.  Bei  Sueton  de  rhet.  2  lesen  wir  weiter:  Ad  quem  cum  fieret  concursus, 
quod  studiosissimus  quisque  apud  eum  exerceretur,  doleham  mihi  idem  non  licere.  Conti- 
nebar  autem  doctissimorum  hominum  auctoritate,  qui  existimabant  Graecis  exercitationibus 
ali  melius  ingenia  posse.  Eine  Schrift  de  gestu  von  ihm  erwähnt  Quint.  11, 1, 143.  Auch 
schrieb  er  Reden  ftlr  andere  (Suet.  1.  c). 

Sevius  Nicanor  wird  von  Sueton  an  erster  Stelle  unter  den  Grammatikem  aufgeführt: 
primum  ad  famam  dignationemque  docendo  pei'venit.  Er  handelte  auch  in  einer  Satire 
über  sein  Leben,  aus  derselben  sind  uns  zwei  Verse  bei  Sueton  erhalten. 

196.  Lehrer  der  Grammatik  und  Bhetorik.  Wenn  wir  das  Ver- 
zeichnis der  Grammatiker  und  Rhetoren,  das  uns  Sueton  überliefert,  durch- 
gehen, so  finden  wir  1)  dass  die  meisten  auch  schriftstellerisch  thätig 
waren,  2)  dass  diese  Schriftstellerei  in  der  Regel  mit  ihrem  Lehrberuf  in 
Einklang  stand;  endlich  3)  dass  dieselben  sehr  oft  mit  vornehmen  MänneiTi 
in  Beziehungen  standen.    Wir  zählen  im  Anschluss  an  Sueton  folgende  auf: 

1.  Aurelius  Opilius.  Er  lehrte  zuerst  Philosophie,  dann  Rhetorik, 
endlich  Grammatik.  Später  löste  er  seine  Schule  auf  und  folgte  dem 
Rutilius  Rufus  ins  Exil  nach  Smyrna.  Hier  schrieb  er  unter  anderm  ein 
Werk  »Die  neun  Musen"  (novem  Musae).  Nach  den  Citaten,  die  wir  (aus 
demselben)  bei  GeUius  (1,25, 17)  und  bes.  bei  Varro^  (de  1. 1.)  und  Pestus 
lesen,  muss  er  sich  besonders  mit  Worterklärungen  befasst  haben.  Ferner 
erwähnt  Sueton  einen  Jliva^  mit  dem  Akrostichon  „Opillius".  Da  wir  aus 
Gellius  3, 3, 1  (vgl.  §  31)  wissen,  dass  sich  Opilius  mit  Scheidung  der  echten 
und  unechten  Stücke  des  plautinischen  Corpus  abgab,  so  werden  wir  nicht 
irren,  wenn  wir  diese  Schrift  dafür  in  Anspruch  nehmen. 

2.  Antonius  Gnipho  war,  bevor  er  eine  eigene  Schule  eröffnete, 
Hauslehrer  Caesars.  Er  trug  auch  Rhetorik  vor.  Seine  Schule  war  hoch- 
berühmt, wie  daraus  hervorgeht,  dass  selbst  Cicero  in  seinen  reiferen 
Jahren  dieselbe  aufsuchte.  Unter  seinem  Namen  kursierte  eine  Reihe  von 
Schriften;  allein  nach  der  Ansicht  des  Ateius  Philologus  stammten  von 
ihm  nur  zwei  Bücher  de  latino  sermone,  in  denen  wahrscheinlich  der 
Streit  zwischen  Analogie  und  Anomalie  behandelt  war. 

Von  diesen  angeblich  unechten  Schriften  kennen  wir  nur  einen  Kommentar  zu  Ennius' 
Annaleii,  den  Bücreler,  Rh.  Mus.  36,334  aus  den  Bemer  Scholien  zu  Yerg.  Georg.  2, 119 
erschloss.    (Vgl.  §  38.) 

3.  M.  Pompilius  Andronicus  hatte  mit  seiner  Lehrthätigkeit  keinen 
rechten  Erfolg  und  konnte  besonders  gegenüber  Antonius  Gnipho  nicht 
aufkommen.  Er  zog  sich  daher  nach  Cumae  zurück  und  lebte  der  Schrift- 
stellerei.  Von  seinen  Schriften  kennen  wir  nur  die  Erläuterungen  zu 
Ennius  Annalen  (Ennii  annalium  elenchi),  welche  er,  durch  die  J^'ot 
gezwungen,  verkaufen  musste  und  die  dann  später  Orbilius  publizierte. 
(Vgl.  p.  57  Anm.) 

4.  L.   Orbilius   Pupillus    aus    Benevent.     Nach   verschiedenen 

')  Vgl.  UsENER,  Rh.  Mus.  23, 682. 

Handbach  der  UtM.  AltertumtwlflseniichAft.    VIU  19 


290    Römische  Litteratnrgescldohte.    I.  Die  Zeit  der  Kepnblik.    2.  Periode. 

Lebensschicksalen  wurde  er  Schulmeister  in  seiner  Vaterstadt;  unter  dem 
Konsulat  Giceros  (63)  verpflanzte  er  seine  Lehrthätigkeit  nach  Rom.  Von 
seinen  Schriften  kennen  wir  eine  genauer,  nämlich  die,  welche  er  „/7f^#- 
aXyr^<;^^  (der  Leidensmann)  betitelte.  Höchst  wahrscheinlich  war  sie 
ein  Gedicht,  in  welchem  Orbilius  die  Leiden  des  Lehrerberufs  schilderte. 
In  seiner  herben,  verbitterten  Stimmung  griff  er  seine  Schüler  und  andere, 
selbst  hochstehende  Personen  an.  Aus  Horaz  ist  er  als  Orbüius  plagosus 
bekannt. 

Seine  Yerspothmg  durch  Forius  Bibaculus  berührten  wir  §  101.  Auch  wird  er  wahr- 
scheinlich (Hör.  sat.  1, 10)  als  grammaticarum  equitum  doctissimus  in  einer  ästhetischen 
Schrift  Ober  Lucilius  wegen  seiner  Stumpfheit  getadelt. 

5.  L.  Ateius  Praetextatus  „der  Philologe.  L.  Ateius,  der  sich 
Philologus  nannte,  war  in  Athen  geboren.  In  Rom  schloss  er  sich  besonders 
an  das  Haus  der  Claudier  an  (Appius  Claudius  und  Clodius  Pulcher).  Er 
fertigte  für  Sallust  einen  Abriss  der  römischen  Geschichte  (vgl.  §  129)  und 
für  Asinius  PoUio  eine  Anleitung  zum  guten  Stil.  Von  seinen  Schriften, 
deren  Zahl  nicht  gross  war,  erwähnt  Sueton  seine  „Miscellanea",  mit 
griechischem  Ausdruck  TAij  benannt,  welche  800  Bücher  umfassten. 

Asinius  Pollio,  der  Sallust  wegen  seines  altertOmelnden  Stils  angriff,  berichtet  (Suet. 
de  gr.  10):  in  eam  rem  (für  die  altertOmelnde  Redeweise)  aditüorium  ei  fecit  maxime 
quidam  Ateius  Praetextatus  nohilis  grammaticus  Latinus,  declamantium  deinde  auditor 
atque  praeceptar,  ad  summatn  Philologus  ab  semet  n&minatus.  Sueton  bezweifelt  aber  die 
Richtigkeit:  quo  magis  miror  Asinium  credidisse,  antiqua  eum  verba  et  figuras  solitum  esse 
colligere  Satlustio;  cum  sibi  sciat  ni  aliud  suadere  quam  ut  noto  civilique  et  proprio  sermone 
utatur,  vitetque  maocime  obseuritatem  SaUusti  et  audaciam  in  translation^ms.  Die  Sache 
scheint  bei  dem  feindseligen  Standpunkt  des  Asinius  Pollio  wenig  wahrscheinlich.  Von 
anderer  Seite  wurde  dem  Sallust  Diebstahl  aus  Cato  vorgeworfen  (vgl.  §  133). 

Über  seine  Schrift  sagt  Ateius  selbst  in  einem  Briefe  bei  Sueton:  Hylen  nostram 
aliis  memento  commendare,  quam  omnis  generis  coegimus,  uti  scis,  octingentos  in  libros. 
Andere  Citate:  Festus  p.  181  M.  in  libro  glossematorum;  Charis.  p.  184,  4  K  Pinacon  III; 
Gharis.  p.  127,  17  K.  „an  amaverU  Didun  Aeneas*^.  —  Gbaff,  Bulletin  der  Petersb.  Akad. 
3  Bd.  (1861)  p.  112,  p.  145. 

6.  Staberius  Eros  war  Lehrer  des  Brutus  und  Cassius.  In  der 
sullanischen  Zeit  lehrte  er  die  Kinder  der  Proskribierten  unentgeltlich. 
Er  schrieb  über  die  Analogie  der  Sprache  (de  proportione  Prise. 
1,  385  H.),  auch  waren  seine  Ausgaben  sehr  geschätzt  (Fronte  p.  20  N). 

7.  Curtius  Nicia  war  vertraut  mit  Cn.  Pompeius,  C.  Memmius  und 
mit  Cicero,  in  dessen  Briefen  er  mehrmals  erwähnt  wird  (Ep.  9, 10,2;  ad 
Attic.  7,3,10  12,26,2  12,51,1  13,29,1),  Von  ihm  gab  es  einen  ästheti- 
schen Essay  über  Lucilius. 

Über  F.  Yalerius  Cato  handelten  wir  §§  97,  98,  99,  über  Cornelius  Epicadus 
§  114  (bei^fügen  ist  nur  noch,  dass  ihm  Charis.  p.  110,3  E.  ein  Buch  de  cognominibus 
und  Victorinus  p.  209,  9  K.  ein  Buch  de  metris  beilegt;  auch  ein  antiquarisches  Werk 
scheint  er  verfasst  zu  haben,  wie  Pbtbb,  fr,  hist.  I  p.  CCEKXVU  n.  1  aus  Macrob.  1, 11, 47 
schliesst).  Über  Lenaeus  war  §  133  die  Rede;  hier  sei  nur  noch  bemerkt,  dass  Plinius 
n.  h.  25, 5  in  der  Einleitung  zur  Lehre  von  den  Heilmitteln  sagt:  antea  (vor  Valgius)  con- 
diderat  solus  apud  nos,  quod  equidem  inveniam,  Pompeius  Lenaeus  Magni  libertus,  quo 
primum  tempore  hanc  scientiam  ad  nostros  pervenisse  animo  adverto. 

Wir  wenden  uns  nun  zu  den  von  Sueton  behandelten  Lehrern  der 
Rhetorik: 

8.  Epidius  war  Lehrer  des  M.  Antonius  und  des  Augustus.  Sein 
Vorname  ist  im  Index  bei  Sueton  M.,  im  Text  steht  bloss  Epidius.  Danach 


Die  Phüologen.  291 

ist  die  Zuteilung  der  unter  dem  Namen  des  G.  Epidius  bei  Plinius  auf- 
geführten Kommentare  zweifelhaft. 

Es  waren  in  denselben  wanderbare  Dinge  berichtet  (Plin.  n.  h.  17, 243):  C  Epidi 
cammentarii,  in  quibus  arbores  locutae  quoque  reperiuntur. 

9.  Sextus  Clodius,  durch  seine  intimen  Beziehungen  zu  dem  Trium- 
vir  Antonius,  dessen  Lehrer  er  war,  bekannt.  Der  Rhetor  erhielt  von 
seinem  Gönner  reichlichen  Ackerbesitz  in  Sicilien  angewiesen;  Antonius 
wird  daher  von  Cicero  in  den  philippischen  Reden  (2, 17, 43  3, 9, 22)  ver- 
spottet, weil  er  nicht  dem  hohen  Honorar  Entsprechendes  gelernt.  Clodius 
dozierte  sowohl  lateinische  als  griechische  Rhetorik;  er  war  ein  sehr 
witziger  Mensch  (ad  Attic.  4, 15, 2).  In  griechischer  Sprache  schrieb  er 
vüber  die  Götter',  ein  Werk,  welches  Arnobius  (5, 18)  und  Lactantius 
(Inst.  1, 22)  benutzten. 

ünaerm  Clodius  teilt  BerkaySi  Theophrastos'  Schrift  p.  11  über  Frömmigkeit,  die 
im  ersten  Buch  von  Porphyrius'  Schrift  Oher  Enthaltsamkeit  von  Fleischnahrung  bezeugte 
Schrift  eines  Clodius  zu  (ügog  tovg  anexo/Ltiyovg  xaiy  aaQxtoy  p.  87,  10  Nauck),  in 
welcher  «auf  Grund  des  Opferkults  das  Töten  und  Essen  der  Tiere  mit  grossem  Aufwand 
antiquarischer  Notizen  und  mit  (grosser)  AusfOhrlichkeit  yerteidigt  wurde*  (p.  12).  Der  Um- 
stand, dass  Porphyrius  den  Autor  einen  Neapolitaner  nennt,  während  ihn  Sueton  ^e  Sicilia" 
herstammen  Iftast,  ist  kein  entscheidender  Grund  gegen  die  Identifizierung  (Bbbvatb  p.  141). 

Über  den  Rhetor  L.  Voltacilius  Pitholaus  haben  wir  gehandelt  oben  §  115. 

«Rhetor"  heisst  der  Gfinstling  des  M.  Antonius,  T.  Annius  Cimber,  der  Sohn  des 
Lysidicus  (Cic.  Phil.  11,6,14)  in  dem  merkwürdigen,  schwierig  zu  erklftrenden  (vgl.  die 
treffliche  Erklärung  des  Tau  gaüicum  von  Eaibel,  Rh.  Mus.  24, 316)  Epigramm  der  Vergil- 
schen  sog.  CkUäUcta  2  p.  163  B.  Nach  demselben  haschte  er  nach  altertümlichen  sprach- 
lichen Formen  (im  Griechischen) ;  auch  auf  seinen  Brudermord  wird  angespielt 

196.  Andere  PhilologexL  Wir  kennen  philologische  Gelehrte,  welche 
von  Sueton  nicht  unter  den  Lehrern  der  Orammatik  iind  Rhetorik  auf- 
geführt sind  und  daher  allem  Anschein  nach  dem  Lehrberuf  fem  standen : 

1.  Santra.  Von  Santra  wird  bei  Festus  (p.  277  M.)  und  Nonius 
ein  Werk  de  antiquitate  verborum  angeführt.  Hieronymus  zählt  ihn 
(de  vir.  ill.  praef.)  unter  den  Autoren  auf,  welche  über  berühmte 
Männer  schrieben.  Die  Reihenfolge  ist:  Varro,  Santra,  Nepos,  Hyginus. 
Da,  wie  es  scheint,  in  der  Aufzählung  die  chronologische  Ordnung  ein- 
gehalten wurde,  so  hätten  wir  Santra  als  jüngeren  Zeitgenossen  Yarros 
zu  betrachten.  Damit  stimmt  auch,  dass  er  eine  Schrift  des  Gurtius  Nicia 
über  Lucilius  belobt  hat;  dieser  Gurtius  Nicia  war  aber  mit  Gicero  be- 
freimdet  (vgl.  §  195, 7).  In  dieses  biographische  Werk  werden  wir  die  Nach- 
richten verweisen,  die  wir  von  ihm  über  Terenz  (Vita  Ter.  p.  31  R.)  und  die, 
welche  wir  von  ihm  über  die  Entstehung  der  asianischen  Beredsamkeit 
(Quint.  12, 10, 16)  lesen.  Nach  Art  der  alexandrinischen  Gelehrten  ver- 
suchte sich  Santra  auch  in  der  Dichtung  und  zwar,  wie  es  scheint,  auf 
dem  Gebiete  der  Tragödie. 

Über  Santra*s  Zeit  handelt  Ribbbck,  Rom.  Trag.  p.  616  Anm.  BOchelbb,  Rh.  Mus. 
40, 148  «wahrscheinlich  schrieb  er  nach  oder  neben  den  Arbeiten  Varros  —  auf  keinen 
Fall  vor  rund  700*.  Das  Gedicht  heisst  bei  Nonius  1, 107  MOlleb  «Nuntiis  Bacchus*,  was 
Ribbeck  in  «Nuptüs  Bacchi*  ändert.  —  Lersoh,  Zeitschr.  f.  Altertumsw.  1839  nr.  13;  Sprach- 
philosophie 8, 165. 

2.  Q.  Gosconius.  Aus  der  Schar  von  Autoren,  welche  Sueton  für 
das  Leben  des  Terenz  benutzt  hat,  erscheint  auch  ein  Q.  Gosconius;  der- 

19* 


292    BOmisohe  Litteratnrgesohiohte.    I.  Die  Zeit  der  Kepnblik.    2.  Periode. 

selbe  ist  wohl  identisch  mit  dem  bei  Varro  de  1.  L  6, 36  6, 89  erwähnten 
Gosconius. 

An  letzter  Stelle  wird  citiert  «Coaconins  in  actionibus*.  Ritsghl  erl&utert  (Opusc. 
3,  256):  fueruni  qui  de  Icto  potius  vel  de  oratore  cogitarenti  immerUo,  Nam  „de  actionibus^ 
acribere  grammaticus  C.  potuit  eodem  atque  ipse  Varro  instiiuto,  cuius  „de  actionibus  acae- 
nicis"  lihroB  fuisae  —  scUis  constat, 

3.  Ser.  Clodius.  Es  ist  der  Schwiegersohn  des  Begründers  der 
römischen  Philologie  Aelius  Stilo.  Er  wurde  beschuldigt,  ein  noch  nicht 
vollendetes  Werk  seines  Schwiegervaters  entwendet  zu  haben  (Suet.  de 
gramm.  3).  Was  seine  Schriftstellerei  anlangt,  so  lag  er  in  Kommen- 
tarien (Gell.  13, 23, 19;  Serv.  Aen.  1, 176)  der  Worterklärung  ob;  dieselben 
benützte  Varro  in  seiner  grammatischen  Schrift.  Auch  beteiligte  er  sich 
an  der  Sichtung  des  plautinischen  Corpus  (vgl.  §  31).  Hier  muss  er  sehr 
eingehende  Studien  gemacht  haben.  Sein  Gefühl  für  die  plautinische  Sprache 
war  so  geschärft,  dass  er  ohne  Mühe  einem  Vers  es  ansah,  ob  er  plau- 
tinisch  oder  nichtplautinisch  sei  (Cic.  Ep.  9,16,4). 

Im  J.  60  schreibt  Cicero  an  Atticus  (1, 20,  7  2, 1, 12),  dasB  der  Stiefbruder  des  Ser. 
Claudius,  L.  PapiriusPaetus,  ihm  den  litterariachen  Nachlass  desselben  übergeben  habe. 

Über  den  Grammatiker  Ennius  vgl.  §  39  p.  59  Anm.  Einen  Grammatiker  Hypsi- 
erstes  bei  Varro  de  1. 1.  5,  88. 

Erw&hnung  mag  hier  noch  finden  L.  CorneliusBalbus  (nicht  zu  verwechseln  mit 
dem  §  121, 1  §  143, 9  p.  300,  2  genannten  Baibus),  der  im  J.  43  eine  von  ihm  verfasste 
Praetexta  de  suo  itinere  in  Gades  aufführen  liess,  da  er  wohl  identisch  ist  mit  dem  Cor- 
nelius Baibus,  dessen  i^tjyrjtixd  zu  Vergil  Macrob.  3,  6, 16  erwähnt  (Serv.  Aen.  4, 127). 

197.  Anctor  ad  Herenninm  (das  yorzttglichste  Lehrbuch  der 
römischen  Rhetorik).  Den  Anlass  zu  der  hier  zu  beBprechenden  Schrift 
gab  Herennius,  der  sich  in  der  Rhetorik  ausbilden  wollte  und  darum  seinen 
Freund  und  Verwandten  (4,  56  69),  unseren  Verfasser  ersuchte,  ihm  einen 
rhetorischen  Lehrgang  abzufassen.  Diesem  Wunsch  kam  der  Verfasser 
nach  in  einer  Schrift,  welche  gewöhnlich  unter  dem  Titel  „Auetor  ad 
Herenmum*^  kursiert.  Dieselbe  geht  für  die  Darstellung  von  den  bekannten 
Teilen  der  Rhetorik,  inventio,  dispositio,  elocutio,  pronuptiatio,  memoria  aus, 
berücksichtigt  aber  auch  zugleich  die  Gattungen  der  Rede,  das  genus  iudi- 
ciale,  deliberativum  und  demonstrativum.  Im  ersten  und  zweiten  Buch  wird 
die  inventio  abgehandelt,  soweit  das  genus  iudiciale  in  Betracht  kommt; 
es  sind  hiebei  die  Teile  der  Rede  zu  Grund  gelegt.  ^  Im  dritten  Buch  wird 
bis  zu3,  8, 15  die  inventio  auf  das  genus  deliberativum  und  demonstrativum 
angewendet,  es  schliesst  sich  daran  die  Lehre  von  der  dispositio  (3,  9,  16 — 
3, 10, 18),  pronuntiatio  (3, 11, 19—3, 15, 27)  und  memoria  (3, 16, 28— Schluss). 
Das  ganze  vierte  Buch  ist  der  elocutio  gewidmet. 

Der  Verfasser  will  eine  kurze  und  eine  klare  Darstellung  der  Rhe- 
torik geben.  Die  Kürze  erreicht  er  dadurch,  dass  er,  das  praktische  Be- 
dürfnis stets  im  Auge  behaltend,  alle  theoretischen  Spitzfindigkeiten,  welche 
nur  ersonnen  wurden,  um  die  Kunst  schwieriger  erscheinen  zu  lassen,  bei 
Seite  schiebt,  dann  dass  er  überall  die  prinzipielle  Seite  hervorkehrt  und 
die  Einzelheiten  der  Praxis  überlässt,  endlich  dass  er  alles  Abschweifen 
von  seinem  Gegenstand  und  von  der  natürlichen  Ordnung  vermeidet.    Die 


*)  1,  3, 4  inf>entio  in  aex  partes  [oratio^ 
nisj  cansumitur:  exordium,  narrationem,  divi' 


sionem,  confirmationenif   confutaiionem,  con- 
clusionem.    (Vgl.  aber  Thiblb  p.  96.) 


Anoior  ad  Herennimn.  293 

Klarheit  erzielt  er  durch  völlige  Beherrschung  des  Stoffes,  durch  ständigen 
Gebrauch  römischer  Terminologie,  >)  endlich  dadurch,  dass  er  die  Lehre 
vom  Ausdruck  fast  stets  durch  eigene  Beispiele  erläutert. 

Über  seine  eigenen  Verhältnisse  teilt  uns  der  Verfasser  manches  mit. 
Wir  lesen,  dass  er  durch  häusliche  Angelegenheiten  sehr  in  Anspruch  ge- 
nommen ist  (1,1,1  1,17,27),  dass  ihm  die  Philosophie  höher  steht  als  die 
Rhetorik  (1,1,1),  dass  er  noch  Schriften  über  die  Grammatik  (4,12,17), 
über  Militärwesen  und  über  Politik  (3, 2,  3)  in  Aussicht  stellt.  Auch  eine 
Widerlegung  der  Dialektiker  will  er,  falls  es  Herennius  verlangt,  liefern 
(2,11,16).  Seine  politische  Gesinnung  erhellt  aus  den  von  ihm  gemachten 
Beispielen,  er  ist  Anhänger  der  Volkspartei. ^)  Aus  4, 22,  31  'ersieht  man, 
welche  Männer  seine  Sympathien  haben,  es  sind  die  Gracchen,  Apuleius 
Satuminus,  M.  Livius  Ih*usus  und  Sulpicius.  ^)  Über  die  Zeit  der  Abfassung 
erhalten  wir  Aufschluss  durch  ein  vielumstrittenes  Beispiel  der  brevitas 
(4,  54,  68),  über  dessen  Beziehung  auf  Marius  (nicht  Sulla)  jetzt  Überein- 
stimmung vorhanden  ist.^)  Da  diese  Stelle  den  Tod  des  Marius  voraus- 
setzt, 80  muss  unsere  Schrift  nach  86  verfasst  sein.  Sie  wird  auch  nicht 
viele  Jahre  danach  geschrieben  sein,'^)  denn  der  Verfasser  spricht  als  Poli- 
tiker von  der  Gegenwart  heraus  gegen  die  suUanische  Partei. 

In  der  handschriftlichen  Überlieferung  wird  das  Werk  Cicero  bei- 
gelegt; dass  es  von  ihm  nicht  herrühren  kann,  ersieht  man  auf  den  ersten 
Blick.  Als  der  wirkliche  Verfasser  kann  mit  der  grössten  Wahrschein- 
lichkeit Cornificius  bezeichnet  werden.  Den  Beweis  hiefür  liefert  Quin- 
tilian;  er  führt  unter  dem  Namen  Cornificius  Dinge  an,  welche  wir  in 
unserem  Lehrgang  finden  und  nicht  wohl  anderswoher  genommen  sein 
können.  So  nimmt  der  Verfasser  für  sich  die  lateinische  Terminologie  in 
Anspruch  (4, 7, 10).  Nun  finden  wir  eine  Reihe  von  lateinischen  Termini, 
die  bei  unserem  Autor  vorkommen,  auch  bei  Quintilian  und  zwar  unter 
dem  Namen  des  Cornificius.  Auch  Beispiele,  die  doch  der  Autor  entweder 
selbst  gemacht  oder  übersetzt  hat,  finden  sich  in  beiden  Autoren  in  gleicher 
Weise.  Es  kann  sonach  die  Autorschaft  des  Cornificius  nicht  zweifelhaft 
sein.  Welcher  Cornificius  der  Autor  war,  lässt  sich  jedoch  nicht  genauer 
bestimmen.  •) 

Eigentümlich  sind  die  Schicksale  des  Werkes.  Nach  Quintilian  kam 
der  Autor  in  Vergessenheit ;  der  Glanz  des  ciceronischen  Namens  Hess  ihn 
in  den  Hintergrund  treten.  Erst  ums  Jahr  400  n.  Chr.  kommt  er  wieder 
zum  Vorschein;   der  Kirchenvater  Hieronymus  erwähnt  die  Schrift,^)  und 


^)  Hie  und  da  sind  die  griech.  Termini 
in  einem  Relativsatz  beigefügt  z.  B.  1, 4,  6 
2.30,47   1,16,26. 

*)  Wie  wohl  auch  Herennius;  vgl.  Boch- 


rem,  in  demortui  loeum  qui  petat,  in  contione 
nominare,  den  tertninus  ante  als  gegeben 
erachten.  Dieses  Gesetz  sei  durch  SuUa  im 
J.  81  abgeschafft  worden.   Allein  völlige  Be- 


MANN,  De  Carnifici  —   rerum  Romanarum  |  weiskraft  besitzt  dieses  Beispiel  nicht,  da  der 

ifcientia,   Leipz.  Diss.  (Zwickau)  1875  p.  20.  ■  Vf.  auch  ein  nur  auf  die  Vergangenheit  pas- 

')  Man  vgl.  noch  4,  54,  67  (Satuminus),  sendes  Beispiel  wählen  kann.  Vgl.  Wbidner 

1, 15. 25  (Sulpicius),  4, 9, 13  (für  die  Bundes-  ;  Cic.  artin  rhet,  L  II  p.  XXII. 

genossen);  vgl.  V. Sc ALA,  Fleckeis.  J.  131,221.  j  ")  Vermutungen  bei  Kayser  p.  VI  (der 

*)  FowLKR,  Journal  ofphihlogy  10, 197.  i  bei    Cic.    Verr.  1,  30    genannte).     Dagegen 


Mabx,  Rh.  Mus.  43, 398. 

*)  BocHXAmr  1.  c.  p.  4  will  in  1, 11,20, 
wo  die  lex  erwähnt  wird,  welche  iubet  augu- 


BOCHMANN  p.  7. 

'j  Die  Stelle  bei  Kaysbr  p.  XIII,  1.  Vgl. 
Marx,  Rh.  Mus.  43,  386  s^uh  finem  saecuU  D" 


29-1    Römische  Litteratnrgesohiohie.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

zwar  unter  dem  Namen  Ciceros.  Von  da  an  schützte  der  berühmte  Name 
die  Lehrschrift;  sie  wurde  viel  gelesen  und  oft  abgeschrieben. 

Eine  wichtige  Frage  ist  das  Verhältnis  unseres  Lehrgangs  zu  der 
rhetorischen  Schrift  Ciceros  über  die  Erfindung  (§  48).  Dass  beide 
Schriften  vieles  gemeinsam  haben,  auf  der  anderen  Seite  aber  wieder  grosse 
Verschiedenheiten  darbieten,  erkennt  man  leicht.  Die  Entscheidung  hängt 
von  Cornif.  1,  9,  16  ab.  Hier  erklärt  der  Verfasser  eine  Neuerung,  die 
Aufstellung  von  drei  Fällen,  in  denen  die  Insinuatio  statt  des  Principium 
zur  Anwendung  kommen  soll,  als  seine  Erfindung.  Wir  finden  aber  auch 
bei  Cicero  diese  drei  Fälle  bei  der  Insinuatio,  freilich  falsch  subsumiert. 
Diesen  Fehler  wird  jeder,  der  weiss,  wie  Cicero  bestrebt  ist,  Neuerungen 
in  seiner  Schrift  anzubringen,  damit  aber  in  der  Regel  sehr  unglücklich 
ist,  Cicero,  nicht  aber  einer  vorausliegenden  Quelle  zuschreiben*  Und  ver- 
gleicht man  die  beiden  Autoren,  so  findet  man  selbst  in  dem  Ausdruck 
solche  Übereinstimmungen,  dass  man  sich  der  Überzeugung  nicht  ver- 
schliessen  kann,  Cicero  habe  neben  anderen  Quellen  auch  den  Comificius 
vor  sich  liegen  gehabt. 

Über  die  Trefflichkeit  des  Lehrbuchs  sind  alle  kompetenten  Beurteiler 
einig;  mit  Recht  nennt  es  Spengel*)  einen  „liber  auro  pretiosior^.  Was 
uns  die  Lektüre  der  Schrift  so  anziehend  macht,  ist  die  Persönlichkeit  des 
Verfassers.  Wir  haben  einen  Mann  vor  uns,  der  mitten  im  Leben  steht 
und  über  dem  kleinlichen  Treiben  der  gewöhnlichen  Rhetoren  erhaben 
erscheint.  Mit  schneidigen  Waffen  bekämpft  er  die  Schulpedanten  und  ihre 
M  geschwätzige  Kunst  der  Redeunfahigkeit'',  die  Dialektiker,  welche  nach 
Amphibolien  jagen  und  aus  lauter  Furcht,  zweideutig  zu  sprechen,  nicht 
mehr  ihren  Namen  auszusprechen  wagen.  Und  nachdem  der  Verfasser 
am  Schluss  seines  rhetorischen  Lehrgangs  angelangt  ist,  drängt  es  ihn  zu 
dem  Bekenntnis,  dass  die  Rhetorik  der  Güter  höchstes  nicht  ist  und  dass 
es  noch  Dinge  gibt,  die  höheren  Strebens  wert  sind  als  die  Rhetorik. 

Den  Anlass  der  Schrift  spricht  der  Verf.  zu  Anfang  aus  (1, 1):  tua  nas,  C.  Herenni, 
voluntcis  commovit,  ut  de  ratione  dicendi  eonscriberemus  —  et  eo  studiosius  hoc  negotium 
8U8cepimu8f  guod  te  non  »ine  causa  veüe  cognoscere  rhetoricam  inteüegebamus  und  gleich 
darauf  non  8pe  quaestus  aut  gloria  commoti  venimus  ad  scribendum,  quemadmodum  ceteri, 
sed  ut  industria  nostra  tuae  morem  geramus  voluntati.  —  Dass  Herennius  die  einzebien 
Bücher  zugeschickt  erhielt,  besagt  er  deutlich  3, 1, 1 :  quem,  ut  arhitror,  tibi  librum  (quar- 
tum)  celeriter  absolutum  mittemus  —  interea  prima  quaeque  et  nobiscum,  cum  votes,  et 
interdum  sine  nobis  legendo  consequere,  ne  quid  impediare,  quin  ad  hanc  uiilitatem  pariter 
nobiscum  progredi  possis. 

Die  Disposition  des  Werkes  wird  stark  hervorgehoben ;  am  besten  erhellt  sie  aus 
dt  Ifl:  ad  omnem  iudicialem  causam  quemadmodum  conveniret  inventionem  rerum  adcommodari, 
saiis  abundanter  arbitror  superioribus  libris  demonstratum.  Nunc  earum  rationem  rerum 
inveniendarum,  quae  pertinebant  ad  causas  deliberativas  et  demonsfrativas,  in  hunc  librum 
transtulimusy  ut  omnis  inveniundi  praescriptio  tibi  quam  primum  persoheretur.  Reliquae 
quattuor  partes  erant  artificii.  De  tribus  partibus  in  hoc  libro  dictum  est,  dispositione, 
2}ronuniiatione,  memoria.  De  elocutione,  quia  plura  dicenda  videhantur,  in  quarto  libro 
scribere  maluimus,  Dass  verschiedene  Systeme  ineinander  gearbeitet  sind,  sucht  aus  In- 
kongruenzen und  Inkonsequenzen  der  Disposition,  die  sich  nicht  ableugnen  lassen,  nachzu- 
weisen Thiele  p.  96. 


pauilo  ante  Hieronymi  aetatem  Cornificii  opus,  '  dam  inclutum,  fortasse  per  doctorem  Hiero- 

quod  post  Quintüianum  plane  neglectum  ia-  '  nymi    Aelium    Donatum    Ciceronem    invenit 

ceret,  denuo  in  grammaticorum  et  rhetorum  \  auctorem.^ 

cathedras  provenit  et  per  grammaticum  quen-  ,               ')  Rh.  Mus.  16,391. 


Anctor  ad  Herennivm. 


295 


Kttrze  und  Deutlichkeit  strebt  der  Vf.  ausdrücklich  an.  1, 17,27  sedulo  dedimus 
operam,  tU  breviter  et  dÜucide  diceremus.  3,  21, 34  quod  docere  non  grawiremur,  ni  metue^ 
remuSy  ne,  cum  ab  instüuto  nostro  recessissemiM,  minus  commode  servaretur  haec  dilucida 
brevUas  praeceptionia.  2, 1, 2  locuti  aumus  nee  pluribus  verbis,  quam  necesse  fuit,  nee 
minus  dUucide  quam  te  velle  existimabamus. 

Mittel  zur  Erreichung  der  Kürze:  1, 1, 1  iUa,  quae  Graeci  scriptores  inanis  adrogan- 
tiae  causa  sibi  adsumpserunt,  reliquimus:  nam  Uli,  ne  parum  multa  scisse  viderentur,  ea 
eonquisiverunl,  quae  nihü  aitinebant,  ul  ars  difficHior  cognitu  putaretur,  —  2, 4,  7  initia 
intfentionis  ab  arte  debent  proficisci,  cetera  comparabit  exercüatio,  3, 23, 39  praeceptoris  est 
docere,  quemadmodum  quaeri  quidque  conveniat,  et  unum  aliquod  aut  alierum,  non  omnia, 
quae  eius  generis  erunt,  exempli  causa  subicere,  quo  res  possit  esse  dilucidior,  Quod  genus 
cum  de  prooemiis  quaerendis  disputamus,  rationem  damus  quaerendi,  non  mille  prooemiorum 
genera  conscribimus,  —  4, 1, 1  in  superioribus  Itbris  nihil  neque  ante  rem  neque  praeter 
rem  locuti  sumus,  —  Über  die  lateinische  Terminologie:  4, 7, 10  nomina  rerum  Graeca 
convertimus:  ea  remota  sunt  a  consuetudine. 

Die  Wahl  eigener  Beispiele  verteidigt  der  Vf.  sehr  eingehend  im  Anfang  des 
4.  Buchs.  Dass  er  aber  nicht  fiberall  Eigenes  gibt  und  auch  griechische  Autoren  benützt 
hat,  beweisen  4, 34, 45  =  Demosth.  18, 129  4, 49, 62  =  (Demosth.)  25,  52  4, 29,  40  =  Dem. 
18,20;  4,15,22  =  Dem.  18,71;  vgl.  Spbnobl,  Rh.  Mus.  16,406/  Marx,  Rh.  Mus.  43,397. 

Für  die  Autorschaft  des  Cornificius  gibt  Eatseb  die  Belege  und  zwar  für  die 
Terminologie  p.  VI  Anm.  7,  für  die  Beispiele  p.  YÜ  Anm.  1.  Für  die  Terminologie  ist  die 
HanptsteUe  Quint.  9,  3,  97  adicit  his  —  Cornificius  interrogationem,  ratiocinationem,  subiectio- 
nem,  transitionem.  occuUationem;  praeterea  sententiam,  membrum,  articulum,  interpretationem, 
conclusionem.  Alle  diese  10  Termini  finden  wir  auch  im  Autor  (4, 15, 22  f.).  Die  Reihen- 
folge ist  zwar  eine  andere,  der  Autor  gibt  sie  in  der  Ordnung:  interrogatio,  ratiocinatio, 
sententia,  membrum,  articulus,  subiectio,  transitio,  occultatio,  interpretatio,  conclusio.  „At 
Q.  dupUcem  seriem  figurarum  affert,  Primum  enim  Itbrum  Cornificii  pervolvens  eas  ex- 
cerpit,  quas  We  verborum,  ipse  sententiae  figuras  ptäat;  deinde  vero  Herum  omnia  Schemata 
percurrens  ea  nominal,  quae  ipsius  sententia  Schemata  omnino  non  sunt,  Divisa  hoc  modo 
Serie  figurarum  plane  idem  est  ordo  qui  apud  nostrum**  (KrosHNERT  p.  41).  Weiter  vgl. 
Q.  5. 10,2  =  4,  18,  25  9,  3,  90  =  4,  24,  35  9,2,27  =  4,36,48.  —  Beispiele  9,  3,  31  = 
4, 14, 20  9, 3, 72  =  4, 22, 30. 

Die  im  einzelnen  von  Badeb  (vgl.  §  148  p.  232)  und  von  Kaysbr  p.  X  durchgeführte 
Ansicht  von  der  Abhängigkeit  Ciceros  von  Cornificius  wird  neuerdings  angefochten.  Marx 
(Rhein.  Mus.  43, 397)  hält  die  Angabe  des  Cornificius  1,  9, 16  adhuc  quae  dicta  sunt  arbitror 
mihi  constare  cum  ceteris  artis  scriptoribus,  nisi  quae  de  insinuationibus  nova  excogitavimus, 
quod  eas  soli  praeter  ceteros  in  tria  tempora  divisimus,  ut  plane  certam  viam  et  perspicuam 
rationem  exordiorum  haberemus  für  unglaubwürdig,  sich  darauf  stützend,  dass  Cornificius 
auch  versprochen  habe,  nur  durch  eigene  Beispiele  die  elocutio  zu  erläutern  und  doch  Bei- 
spiele aus  griechischen  Rednern  entnommen  habe.  Allein  hier  muss  doch  entgegengehalten 
werden,  dass  es  sich  um  einige  übersetzte  Beispiele  handelt,  welche  für  das  römische  Publi- 
kum als  neue  gelten  konnten,  abgesehen  davon,  dass  sie  ja  zum  Teil  auch  verändert  wurden. 
Auf  die  falsche  Subsumienmg  sich  stützend,  erachtet  Thible,  Quaest.  de  Cornif.  et  Cic,  artibus 
rhetoricis,  Greifsw.  1889  p.  19  die  Lehre  Ciceros  für  eine  andere  als  die  des  Cornificius. 
Auch  dies  ist  unrichtig,  denn  das  Beweisende  sind  hier  die  drei  Fälle,  die  sich  bei  beiden 
Autoren  finden,  nicht  die  Subsumierung.  Thiele  sucht  durch  eingehende  Vergleichimg  der 
beiden  Schriften  die  Ansicht  seines  Lehrers  Kibssliko  durchzuführen,  dass  die  xüinlich- 
keiten  durch  eine  gemeinsame  lateinische  Quelle  zu  erklären  seien.  (Comif.  1,  11, 18  noster 
doctor  tres  sc.  causarum  constitutiones  putavit  esse);  wer  der  lateinische  Rhetor  war,  bleibt 
unaufgeklärt  0  Würde  diese  Ansicht  richtig  sein,  so  müsste  unsere  Bewunderung  des 
Cornificius  sehr  reduziert  werden;  er  wäre  nicht  mehr  als  ein  Plagiator,  der  sogar  im 
Ausdruck  von  seiner  Quelle  abhängig  ist.  Allein  eine  solche  Vorstellung  passt  nicht  zu 
dem  Bilde,  das  wir  von  des  Autors  schriftstellerischer  Individualität  aus  dem  Werke  ge- 
winnen. Überall  sehen  wir  einen  zielbewussten,  klar  denkenden,  seinen  Stoff  innehabenden 
Schriftsteller  vor  uns;  nirgends  verrät  sich  der  Ausschreiber.  Als  solchen  kennen  wir 
aber  Cicero  aus  seinen  philosophischen  Schriften.  Die  Abweichungen,  die  Thiele  viel  zu 
stark  betont,  sind  teils  eigene  Zusätze  Ciceros,  wie  sie  jeder  machen  kann,  teils  beruhen 
sie  auf  anderen  Quellen. 

Überlieferung:  Die  Handschriften  zerfallen  in  zwei  Familien,  in  eine  lückenhafte, 
aber  alte,   und  in  eine  vollständige,  aber  jüngere  Sippe.     Die  Hauptvertreter  der  (bes.  am 


^)  Marx  p.  382  dagegen:  ars  Cornificii 
—  ex  Plotii  sive  Plotiani  cuiusdam  schola 
profeeta  esse  videtur:   at  Cicero  —  StÜonis 


acroaseif.  in  schola  exceptas  in  libris  de  in- 
ventione  edidit  multum  abhorrentes  a  Corni- 
ficii doctrina. 


296    Bömische  Idtterainrgeschiohie.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

Anfang)  lückenhaften  sind  der  Herbipolitanus  s.  IX/X,  der  ParLsinus  7714  b.  IX,  der 
Bemensis  433  s.  X.  Hauptvertreter  der  zweiten  Sippe  ist  der  Bambergensis  423  s.  XIL 
(Über  zwei  Äste  der  ersten  Familie  vgl.  Mabx,  Rh.  Mus.  43, 377.)  Die  Hauptfrage  für  die 
Becensio  ist,  ob  das,  was  die  zweite  Sippe  mehr  hat,  Ausfüllung  einer  Lücke  der  Hdschr. 
der  ersten  Familie  oder  Interpolation  ist.  Eine  sichere  Entscheidung  ist  oft  nicht  leicht. 
Halm,  Rh.  Mus.  15,536;  Spenoel  16,391;  Destinok,  De  codic,  Comificiorum  ratiane,  Kiel 
1874;  Simon,  Schweinf.  Progr.  1863  und  1864. 

Ausgaben:   Eayser,   Leipzig  1854   (mit  unmethodischem  Apparat).    Friedrich   in 
Müllers  Ausg.  Giceros. 

3.  Die  Juristen. 

198.  Die  Schule  des  Servius  Sulpicius  Bufus.  Nach  der  epoche- 
machenden Leistung  des  Q.  Mucius  Scaevola  machte  sich  Servius  Sulpicius 
Rufus  (gest.  43  vgl.  p.  225,  Gons.  51)  um  die  Rechtswissenschaft  in  hervor- 
ragender Weise  verdient.  Derselbe  war  wie  sein  Freund  Cicero  anfangs  der 
Redekunst  zugethan;  es  gab  noch  zur  Zeit  Quintilians  (10, 7,  30)  von  ihm  drei 
Reden  und  vortreffliche  Skizzen  für  solche.  Allein  bald  widmete  er  seine 
ganze  Kraft  der  Jurisprudenz.  Hier  entfaltete  er  eine  quantitativ  ungeheure 
schriftstellerische  Wirksamkeit.  Pomponius  berechnet  sie  in  den  Dig.  1,  2, 
2,  43  auf  nahezu  180  Bücher.  Diese  grosse  Masse  von  Schriften  zeichnete 
sich  auch  durch  einen  intensiv  hohen  Gehalt  aus.  Nach  der  vielleicht 
etwas  parteiisch  günstigen  Charakteristik,  die  Cicero  imBrutus  41, 152  ent- 
wirft, lag  der  Schwerpunkt  seines  Schaffens  in  der  ars,  in  der  Theorie, 
wie  sie  nur  die  Dialektik  an  die  Hand  geben  konnte.  Seine  Schriftstellerei 
behandelte  einmal  einzelne  Teile  des  Rechts,  so  werden  von  ihm  citiert 
eine  Schrift  de  dotibus  (Gell.  4,  3,  2)  und  eine  rfe  sacris  detestandis  (Gell. 
7  (6),  12, 1).  Er  behandelte  zum  erstenmal  das  prätorische  Edikt,  indem 
er  zwei  kurzgefasste,  an  M.  Brutus  gerichtete  Bücher  zu  demselben  schrieb 
(Dig.  1,  2,  2,  44);  zu  dem  systematischen  Werk  des  Mucius  verfasste  er 
kritische  Noten  (Gell.  4,  1,  20).  Vielleicht  hatte  er  auch  das  Zwölftafel- 
gesetz kommentiert  (Dig.  50,  16,  237).  Seine  Schriften  waren  auch  inso- 
fern für  die  Litteratur  von  grosser  Bedeutung,  als  er  die  elegante  Dar- 
stellung in  die  juristische  Schriftstellerei  einführte  (Cic.  Brut.  41, 153).  Ein 
Bild  von  seinem  Stil  erhalten  wir  durch  zwei  in  die  Generalkorrespondenz 
Ciceros  aufgenommenen  Briefe,  der  eine  (4,  5)  ist  ein  Trostschreiben  für 
Cicero  beim  Tode  der  TuUia,  der  andere  (4,  12)  eine  ErzäJilung  vom  Tode 
des  Marcellus.  Ich  stehe  nicht  an,  diese  Briefe  als  ein  Muster  schlichter 
und  sachgemässer  Darstellung  zu  bezeichnen.  Servius  Sulpicius  zog  auch 
eine  grosse  Schule  —  ebenfalls  ein  Beweis  seiner  hohen  Bedeutung.  Unter 
seinen  Schülern  sind  die  bedeutendsten  A.  Ofilius,  der  Lehrer  des  Ateius 
Capito,  ein  vertrauter  Freund  Caesars,  und  P.AlfenusVarus,  der  vielleicht 
mit  dem  bei  Hör.  sat.  1,  3,  130  genannten  identisch  ist.  A.  Ofilius  legte 
durch  seine  Schriftstellerei  zu  allen  Teilen  des  Rechts  Fundamente;  wie 
sein  Lehrer  wendete  er  sein  Augenmerk  auch  auf  das  prätorische  Edikt 
und  kommentierte  dasselbe  zum  erstenmal  in  sorgfaltiger  Weise  (Dig.  1, 
2,  2,  44).  Yarus  scheint  sich  mehr  auf  die  Kasuistik  verlegt  zu  haben, 
wenigstens  weisen  darauf  die  XL  libri  digestorum,  die  eine  geordnete  (di- 
gerere)  Responsensammlung  enthalten  zu  haben  scheinen  (Gell.  7  (6),  5,  1). 

Ausserhalb  der  Schule  des  Sulpicius  wirkte  C.  Trebatius  Testa,  Lehrer  des  berühmten 
Antistius  Labeo.    Er  war  mit  Cicero  sehr  befreundet  und   von   demselben  an  Caesar  in 


Die  JnriBten.  297 

Gallien  empfohlen  worden.  Es  ist  uns  eine  Reihe  von  Briefen  Ciceros  an  ihn  erhalten 
(Cic.  fam.  6 — 22),  in  denen  der  Briefschreiber  fortwährend  Anspielungen  auf  den  juristischen 
Beruf  des  Adressaten  macht.  Er  muss  zu  grossem  Ansehen  gelangt  sein,  weil  ihn  Horatius 
sat.  2, 1  als  einen  typischen  Juristen  einführen  konnte.  Femer  sind  zu  nennen  A.  Cascellius, 
Über  dessen  Charakter  zu  vgl.  Yaler.  Max.  6, 2, 12,  und  der  auch  als  Geschichtschreiber 
bekannte  Q.  Aelius  Tubero,  qui  Ofilio  operam  dedit,  Dig.  1,2,2,45  und  46;  vgl.  p.  159, 
Auf  Verbindung  von  Jurisprudenz  und  Grammatik  weist  des  C.  Aelius  Gallus  Schrift  de 
aignificatione  verborum  quae  ad  ius  cirile  periinent,  welche  von  Verrius  Flaccus  benutzt 
wurde  (Gell.  16, 5, 3).  —  Karlowa,  Rom.  Rechtsgesch.  I  483—488. 

199.  Bechtsdenkmäler.  Auch  die  grossen  legislatorischen  Werke 
wird  die  Litteraturgeschichte ,  welche  alle  Schriftdenkmäler,  in  denen 
sich  der  Geist  des  Volkes  manifestiert,  interessieren,  nicht  völlig  ausser  acht 
lassen.  Wir  haben  daher  seiner  Zeit  ausführlicher  der  zwölf  Tafeln  und 
anderer  Gesetzeswerke  gedacht.  Auch  in  unserer  Periode  ist  eine  grosse 
legislatorische  Arbeit  zu  Tage  getreten;  wir  meinen  die  Reformen,  welche 
Sulla  in  Bezug  auf  das  Kriminalwesen  traf.  „Die  Gesamtheit  der 
suUanischen  Quästionenordnungen  lässt  sich  als  das  erste  römische  Gesetz- 
buch nach  den  zwölf  Tafeln  und  als  das  erste  überhaupt  je  besonders  er- 
lassene Kriminalgesetzbuch  bezeichnen.*  0  Durch  diese  Gesetzgebung  wurde 
eine  feste  Schranke  zwischen  der  Kriminalsache  und  der  Civilsache  gezogen. 
Aber  auch  im  Zivilrecht  hatte  sich,  wenn  auch  keine  Kodifikation,  doch 
eine  Art  Gesetzbuch  sozusagen  spontan  gebildet,  nämlich  das  prätorische 
Edikt.  Die  Entstehungs weise  desselben  ist  folgende:  In  jedem  Gerichts- 
jahr erliess  der  Prätor  ein  Edikt,  in  dem  er  die  Normen  darlegte,  nach 
denen  er  seines  Amtes  walten  wollte.  Dieses  Edikt  dauerte  immer  nur, 
solange  das  Amtsjahr  währte;  ja  selbst  während  des  Amtsjahres  war  der 
Prätor  nicht  absolut  daran  gebunden,  erst  die  lex  Cornelia  des  J.  67  ver- 
pflichtete ihn  ausdrücklich  dazu.  Bei  der  Aufstellung  des  Edikts  war  der 
Prätor  nicht  gezwungen,  seine  Vorgänger  zu  berücksichtigen;  allein  es  lag 
in  der  Natur  der  Sache,  dass  sich  aus  den  verschiedenen  Edikten  ein  fester 
Kern  herausschälte,  der  übernommen  und  mit  Zusätzen  und  einzelnen  Ab- 
änderungen versehen  wurde.  Auf  diese  Weise  bildete  sich  „eine  Art 
Gesetzbuch  des  Privatrechts  in  der  Gestalt  von  Bestimmungen  über  Ge- 
währung von  Klagen,  Einreden  u.  s.  w.,  nicht  gerade  angenehm  zu  lesen 
und  nicht  gerade  in  Ciceros  Stil,  aber  ein  Gesetzbuch,  welches  in  seiner 
altvaterischen  Sprache  und  seinen  ungelenken  Wendungen  die  Erfahrungen, 
die  Weisheit,  die  Vorsicht  der  Voreltern  von  Generation  zu  Generation 
überlieferte.***)  Zur  Zeit  Ciceros  musste  dieser  Kern  der  Edikte  schon 
bedeutend  gewesen  sein,  weil  bereits  von  seinen  Wirkungen  gesprochen 
wird.  Freilich  wäre  eine  einheitliche  Kodifikation  jetzt  vielleicht  besser 
am  Platz  gewesen;  und  es  ist  ein  des  grossen  Caesar  würdiger  Gedanke 
gewesen,  hier  reformatorisch  vorzugehen.  Auch  diesem  Plane  bereiteten 
die  Mörderhände  ein  Ende. 

Cic.  de  leg.  1,5, 17  non  a  praetoris  edieto,  ut  plerique  nunCy  neque  a  XII tahtüis, 
ut  »uperiores,  sed  penitus  ex  intima  philasophia  hauriendam  iuris  discijüinam  piUas,  In 
Verrem  II  1,  42,  109  qui  plurimum  tribuufU  edicto praetoris  edictum  legem  annuam  dicunt 
es9e.  Suet.  Caes.  44  (Caesar  destinahat)  ius  civile  ad  certum  modum  redigere  atque  ex  im- 
mensa  diffusaque  legum  copia  optima  quaeque  et  necessaria   in  paucissitnos  conferre  libros, 

')  MoMMSKH,  R.  Gesch.  2*,  359. 
•)  SoHM,  Inst.»  50. 


298    BömiBche  LitieratiirgeBchiohie.    I.  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 


4.   Die  Schriftsteller  des  geistlichen  Rechts. 

200.  Die  Disciplina  auguralis.  Das  Kollegium  der  Augurn  hatte 
die  Aufgabe,  durch  Beobachtung  von  Auspicia  zu  ermitteln,  ob  eine  Hand- 
lung den  Göttern  genehm  sei  oder  nicht.  Zur  Lösung  dieser  Aufgabe 
bestand  eine  eigene  Technik,  die  disciplina  auguralis.  Bire  Quellen  hatte 
dieselbe  in  den  Schriften  des  Auguralarchivs,  wohl  auch  in  der  Tradition. 
Da  die  Auguralwissenschaft  mit  der  Staatsverwaltung  aufs  innigste  ver- 
bunden ist,  so  war  ihre  Kenntnis  für  den  Römer  von  grosser  Wichtigkeit. 
Wir  werden  es  daher  natürlich  finden,  wenn  sich  auch  die  Litteratur  dieses 
Zweiges  bemächtigt,  zumal  die  Römer  für  diese  isagogische  Litteratur 
grosses  Interesse  zeigten. >)  Vor  allem  ist  zu  nennen  Appius  Claudius 
Pul  eher,  der  Bruder  des  bekannten  P.  Glodius  Pulcher  und  der  Schwieger- 
vater des  M.  Brutus  (§  139,3),  Konsul  im  J.  54,  Gensor  50  (als  solcher 
stiess  er  Sallust  aus  dem  Senat;  vgl.  §  128),  und  der  Vorgänger  Ciceros 
in  der  Verwaltung  der  Provinz  Gilicien.  Zwischen  beiden  Männern  bestanden 
ausgedehnte  Beziehungen;  das  dritte  Buch  der  ciceronischen  Generalkorre- 
spondenz enthält  nur  Briefe  Ciceros  an  Appius  Claudius.  Im  Brutus  77, 267 
wird  Appius  Claudius  als  gewandter  Redner  und  als  ein  genauer  Kenner 
des  gesamten  Rechts  und  der  Altertumskunde  charakterisiert.  Einen  Zweig 
des  öffentlichen  Rechts  bearbeitete  er  auch  in  einem  eigenen  Werk,  nämlich 
die  Auguraldisziplin.  Das  Werk  wurde  Cicero  gewidmet;  das  erste  Buch 
erhielt  Cicero  im  J.  51  (Ep.  3, 4, 2);  die  Fortsetzung  scheint  sich  aber  ver- 
zögert zu  haben,  denn  Cicero  sprach  in  seinen  Briefen  mehrmals  den  Wunsch 
aus,  auch  die  übrigen  Teile  des  Werks  zu  erhalten  (Ep.  3, 9, 3  3,11,4). 
Noch  eine  merkwürdige  Eigenschaft  des  Appius  Claudius  berichtet  uns 
Cicero,  er  war  nämlich  Geisterbeschwörer.*)  Zu  gleicher  Zeit  schrieb 
ein  C.Claudius  Marcellus  ebenfalls  über  die  Auguralwissenschaft,  denn 
Cicero  erwähnt  (de  leg.  2,  32)  einen  Streit  der  beiden  Autoren  über  die 
auspicia.  Von  M.  Messala')  (Cons.  53)  citiert  Gellius  an  drei  Stellen 
(13,14,5  13,15,3  13,16,1)  eine  Schrift,  welche  über  die  Auspicien  {de 
auspiciis)  handelte.  Nach  der  Untersuchung  Peters^)  ist  der  Messala,  den 
Plinius  (zum  Unterschied  von  dem  berühmten  Redner  Messala)  bald  senex 
(Ind.  35),  bald  Messala  Bufus  (Ind.  7  und  34)  nennt  und  der  eine  Geschichte 
de  familiis  schrieb,*)  mit  unserem  Autor  identisch.  Ober  Auspicien  schrieb 
auch  Vera ni US,  wie  wir  aus  Verrius  Flaccus  ersehen.^)  Derselbe  be- 
handelte femer  Fragen  aus  dem  Pontifikalrecht.  Als  Augm*alschriftsteller 
erscheint  endlich  noch  L.  Caesar  (Macrob.  1,  16,29  Prise.  1,380H.). 

Von  Yeranius*  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete  des  pontifikalen  Rechts  werden  wir  durch 
Macrobius  unterrichtet  und  lernen  hiebei  folgende  Scnriften  kennen:  3,5,6  (quaestiones 
pontificales),    3,6,14  (pontificalium  is  Über  quem  fecit  de  aupplicationihus).    3,20,2 


^)  Die  verschiedensten  Funktionen  wur- 
den behandelt,  so  schrieb  z.  B.  Nicos tratus 
einen  liber  de  senatu  habende  (Festus 
p.  347  Mülleb).    Vgl.  oben  §  13. 

*)  Tusc.  1,  16,  37  Appius  yexvofAayieta 
faciebat,  de  div.  1,  58,  132  psi/chomaniia, 
quihus  Appius  uti  solehat. 

^)  Macrob.  1, 9, 14  Marcus  Messala,  Cn, 


Domitii  in  consulatu  eollega  idemqiie  per 
annos  quinquaginta  et  qninque  augur. 

*)  Fleckeis.  J.  125, 107. 

')  Plin.  35, 8  34, 137  7, 173.  Die  Frag- 
mente sind  zusammengestellt  in  der  kl.  Ausg. 
der  bist.  Fragmente  von  Petes  p.  265. 

^)  Festus  p.  289  Veranius  in  eo  qui  est 
auspiciorum  de  comitiis. 


Die  Schriftsteller  des  geistlichen  Rechts. 


299 


(de  verbis  pontificalibus).  Worterklärangeii  von  ihm  finden  sich  öfters  bei  Festus. 
Wahrscheinlich  stammen  dieselben  ans  einem  (an  einer  verstümmelten  Stelle  bei  Festus 
p.  158  citierten)  Werke,  in  dem  sakrale  Ausdrücke  behandelt  waren.  —  Hieher  gehört  auch 
Granius  Flaccus;  nach  Censor.  3, 2  Hbrum  ad  Caesarem  de  indigitantentis  scriptum 
reliquU.  In  den  Dig.  50, 16, 144  wird  ein  Buch  „de  iure  Papiriano"  imgeführt.  —  Über 
Anfustins  vgl.  Festus  p.  94  (Usbkeb,  Rh.  Mus.  24, 101). 

201.  Die  disciplina  Etmsca.  Die  Kunst,  aus  den  Eingeweiden  der 
Tiere  (exta),  aus  Wahrzeichen  (ostenta),  aus  dem  Blitz  (fulgura)  den  Willen 
der  Götter  zu  ermitteln  (Cic.  de  div.  2, 12, 28  18, 42),  ist  die  disciplina  Etrusca. 
Die  Kunst  ist  in  Etrurien  zu  Hause,  sie  wurde  zwar  auch  nach  Rom  verpflanzt, 
behielt  aber  stets  den  fremdartigen  Charakter  bei.  Bei  den  Etniskern  war 
die  Disziplin  in  eigenen  Schriften  niedergelegt;  lateinische  Bearbeitungen 
derselben  bringt  unser  Zeitraum;  an  denselben  beteiligten  sich  besonders 
Personen,  die  aus  Etrurien  stammten.  Nach  der  dreifachen  Thätigkeit  der 
Haruspices  gliedert  sich  auch  ihre  Litteratur,  es  gab  libri  haruspicini  im 
engeren  Sinn  (Opferschau),  libri  fulgurales  und  ostentaria,  *)  Hierher  gehörige 
Schriftsteller  sind: 

1.  Tarquitius  Priscus.  Von  ihm  teilt  uns  Macrobius  Gitate  aus 
zwei  Werken  mit,  dem  ostentarium  arborarium  (3,  20, 3),  dann  einem  Buch, 
welches  er  als  „transcriptus  ex  ostentario  Tusco*'  (8,  7, 2)  bezeichnet.  All- 
gemein wird  bei  Ammianus  Marcellinus  25,2,  7  von  „Tarquitiani  libri  in 
tiiulo  de  rebus  divinis"  gesprochen.  Der  Autor  wird  auch  von  Plinius  im 
Quellenverzeichnis  des  II.  und  XL  Buchs  angeführt.  Eine  in  Tarquinii 
gefundene  und  sich  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auf  unsern  Tarquitius 
Priscus  beziehende  Inschrift  erwähnt  ein  dichterisches  Werk  über  die 
etruskische  Disziplin  (carminibus  edidü).  Und  in  der  That  scheint  es,  dass 
dem  Gitat  bei  Macrobius  3,  7,  2  (und  nach  Böcheleb  auch  3, 20,  3)  Verse 
zu  Orunde  liegen,  und  zwar,  wie  Bücheleb  annimmt,  trochäische  Septenare. 
Unsern  Tarquitius  Priscus  nennt  Vergil  in  dem  wunderschönen  Gedicht, 
in  dem  er  seinen  bisherigen  Bestrebungen  Lebewohl  sagt  und  sich  zur 
Philosophie  wenden  will  (Bährens,  poet.  min.  2,165): 

Et  vo8j  Selique  Tarquüique  Varroque 
Scolasticarum  natio  madens  pingui, 
Ite  hinc,  inane  cymbaJon  iuventutis. 

Macroh.  3, 7, 2  ibi  (in  Ostentario  Tusco)  repperitur:  Purpuren  aureove  colori  ovis 
arieste  si  aspergetur,  principi  ordinis  et  generis  summa  cum  felicitcUe  largitatem  äuget, 
genus  progeniem  propagat  in  claritate  laetioremque  efficit.  Schwierig  ist  zu  heurteilen 
Lactant.  div.  inst.  1, 10, 2  hunc  (Aesculapium)  Tarquitius,  de  iüustribus  piris  disserens,  ait 
ineertis  parentibus  natum,  —  Chironi  traditum  didicisse  medicinam;  fuisse  autem  Messe- 
nium,  sed  Epidauri  moratum;  es  wird  hier  wohl  eine  von  der  disciplina  Etrusca  ver- 
schiedene Schrift  sein. 


0  Cic.  de  div.  1,  33,  72  führt  an  Etrus- 
corum  et  haruspicini  et  fulgurales  et  rituales 
libri.  Schwierig  ist  die  Bestimmong  des 
Verhältnisses  der  ostentaria  zu  den  libri 
rituales.  Zimheiwaivk  erachtet,  dass  die 
rituales  libri  auch  die  ostenta  enthielten 
{p.  29);  ScHMEissER,  Die  etruskische  Disziplin, 
Liegn.  1881  p.  16  ,In  den  libri  r.  muss  auch 
die  Deutung  der  Prodigien  nach  bestimmten 
Regeln  niedergelegt  gewesen  sein ;  zu  dieser 
Species  der  Ritudbücher  bildeten  die  fort- 


während weitergefOhrten  ostentaria  (Wimder- 
verzeichnisse)  die  Ergänzung  und  verhielten 
sich  wahrscheinlich  zu  den  Ritualbfichem, 
wie  die  Eommentarien  der  Auguren  zu  den 
Auguralbüchem ;  die  libri  r.  enthielten  näm- 
lich die  Regeln  über  die  Prodigiendeutung 
nur  skizziert,  während  sie  in  den  Ostentarien 
spezialisiert  waren.  **  Ich  glaube,  dass  die 
libri  rituales  alle  Zweige  der  Disziplin  um- 
fassten,  dass  daher  Cicero  ungenau  ist. 


300    BömiBche  LüieratnrgoBchichie.    I.  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 


Kritisch  gesichtet  hat  die  Stellen  über  T.  Pr.  zusammengestellt  M.  Haupt,  Opusc. 
2, 15, 2.  —  Die  ein  dichterisches  Werk  anführende  Inschrift  erörtert  Bormaivn,  Arch.  epigr. 
Mitteil,  aus  Österr.  11,94—103. 

2.  A.  Gaecina.  In  der  Generalkorrespondenz  Giceros  findet  sich  ein 
höchst  interessanter  Brief  eines  Gaecina  an  Gicero  aus  dem  J.  46  (£p.  6,  7). 
In  demselben  schildert  er  in  einer  sehr  anschaulichen,  wahrhaft  dramati- 
schen Weise,  wie  schwer  es  ihm  geworden  sei,  eine  allem  Anschein  nach 
prosaische  Schrift  zu  verfassen,  welche  den  Zweck  haben  sollte,  die  Auf- 
hebung des  Exils,  in  dem  er  lebte,  von  Gaesar  zu  erwirken.  Sie  führte 
den  Titel  „Querelae**  und  belobte  Gaesar  als  eine  milde,  versöhnliche  Natur 
(Ep.  6,  6).  Seine  Verbannung  hatte  sich  der  Verfasser  dadurch  zugezogen, 
dass  er  nicht  bloss  mit  den  Waffen  gegen  Gaesar  kämpfte ')  (Ep.  6,  7), 
sondern  ihn  auch  in  einer  Schmähschrift  angriff.  Dieselbe  erwähnt  Sueton 
Gaes.  75  und  nennt  sie  ein  „criminosissimus  liber".^)  In  der  Generalkorre- 
spondenz finden  sich  auch  drei  Briefe  Giceros  an  Gaecina  (6, 8  6,  5  6,  6). 
Von  diesen  belehrt  uns  der  sechste,  dass  Gaecina  die  etruskJsche  Disziplin 
von  seinem  Vater  erlernt.  Da  die  Familie  aus  Volaterrae  in  Etrurien 
stammt  (Plin.n.h.  11, 197),  so  ist  die  Kenntnis  einer  solchen  Disziplin  nicht 
auffallig.  Nur  erwähnt  Plinius  (Ind.  2)  einen  Gaecina  als  Autor  einer 
etruskischen  Disziplin;  auch  Seneca  lag  ein  solches  Werk  eines  Gaecina 
vor,  er  stellt  es  sehr  hoch,  denn  er  nennt  den  Verfasser  einen  beredten 
Mann,  der,  wenn  Gicero  nicht  gewesen  wäre,  es  zu  einem  bedeutenden 
Namen  gebracht  hätte  (qu.  nat.  2, 56);  an  zwei  Stellen  gibt  er  Auszüge 
aus  dem  Werk,  an  der  ersten  sind  die  drei  Gattungen  der  Blitze  behandelt 
(1.  c.  2,  39),  an  der  zweiten  (2^  49)  die  Namen  der  Blitze.  Es  fragt  sich,  ob 
dieser  Schriftsteller  der  Schreiber  des  siebenten  Briefs  oder  sein  Vater  ist. 
Die  Hervorhebung  der  kunstvollen  Darstellung  und  die  Heranziehung  Giceros 
passt  mehr  für  die  Zeit  des  Sohnes.^)  Dieser  Sohn  wird  aber  auch  der 
Gaecina  sein,  den  Gicero  im  J.  69  verteidigte  und  der  sich  wohl  des- 
wegen (Ep.  6,  7, 4)  seinen  alten  Klienten  nannte.^) 

£p.  6, 8  In  Caesare  haec  sunt:  mttis  clemensque  natura,  quatis  exprimitur  praeclaro 
iUo  libro  Quaerelarum  tuarum,  Gaecina  bearbeitete  bloss  einen  Teil  der  Disziplin,  die 
Blitze;  wir  teilen  ein  Bruchstück  mit:  Senec.  qu.  nat.  2,39  genera  fulgurum  tria  esse  ait 
Caeeina,  consiliarium,  auctoritatis  et  quod  Status  dicitur.  ConsUarium  ante  rem  fit, 
sed  post  cogüationem,  cum  aliquid  in  animo  versantibus  aut  suadetur  fuiminis  ictu  aut  dis- 
suadetur,  AuctoritcUis  est,  übt  post  rem  factam  venu  quam  bono  futuram  majore  significet. 
Status  est,  ubi  rebus  quietis  nee  agentibus  nee  cogitantibus  quicquam  fulmen  quidem  inter- 
f>enit  et  aut  minatur  aut  pramittit  aut  monet  etc,  —  ZuofSRHAifsr,  De  A.  Caeeina  scriptare, 
Berl.  1852.    Schhbisseb,  Quaest,  de  etrusca  disciplina,  Bresl.  1872  p.  23  (über  die  Fragmente). 

Aus  dem  Quellenverzeichnis  zu  Plin.  n.  h.  B.  11  lernen  wir  noch  einen  Schriftsteller 
der  etruskischen  Disziplin  kennen:  Julius  Aquila.  Von  des  Cfigidius  Schriftstellerei  auf 
diesem  Gebiet  war  oben  §  181  die  Rede. 


')  Es  ist  derselbe,  der  Bell.  Afric.  89 
erwähnt  wird.    Vgl.  Zimmermann  p.  12. 

')  Dass  eine  so  bedeutende  historische 
Persönlichkeit  wie  Caesar  eine  Litteratur 
hervorrufen  musste,  ist  nicht  zu  verwundem. 
Wie  A.  Caeeina,  so  schrieben  gegen  Caesar 
auch  Curio  f  53,  der  Vater  des  §  139  ge- 
nannten in  dialogischer  Form  (Cic.  Brut.  60, 
218),  femer  T.  Ampius  Baibus  {Cic.Ep.  6, 
12,  5  Suet.  Caes.  77),   M.   Actorius  Naso 


(Suet.  Caes.  9  u.  52)  und  Tanusius  vgl.  p.  161. 
Caesarische  SchriftsteUer  waren  L.  Cornelius 
Baibus  (§  121, 1  §  143,  9)  vgl.  Suet.  Caes.  81; 
L.  Aurunculeius  Cotta  vgl.  p.  274  Anm.  2; 
C.  Oppius  vgl.  p.  170  (auch  Biograph  des 
älteren  Africanus  Gell.  6,  1,  2).  Auch  die 
Streitlitteratur  über  Cato  vgl.  p.  168  p.  228 
greift  hier  ein. 


')  Zimmermann  p.  25. 


Zimmermann  p.  6.    Dbumann  6, 279,  7. 


Die  Schriftaieller  der  realen  Dieziplinen.  301 

5.  Die  Schrifsteller  der  realen  Disziplinen. 

302.  Landwirtschaft.  Cn.  Tremellius  Scrofa  war  im  J.  59  mit 
Varro  „  Vigintivir  ad  agros  dividendos  Campanos^  (Varro  de  r.  r.  1,  2,  10). 
Derselbe  schrieb,  wie  uns  Columella  berichtet,  ein  landwirtschaftliches  Werk. 
Dasselbe  scheint  einmal  den  Zweck  verfolgt  zu  haben,  die  Landwirt- 
schaft von  der  Hauswirtschaft  zu  scheiden  und  dieselbe  auf 
Ackerbau  und  Viehzucht  zu  beschränken.  Weiterhin  brachte  er 
seinen  Stoflf  in  eleganter  Darstellung  vor.  Von  Varro  wurde  Scrofa  als 
Landwirt  ungemein  hoch  geschätzt  (de  r.  r.  1,2,10);  in  dem  ersten  und 
zweiten  Buch  seiner  Schrift  lässt  er  ihn  in  hervorragender  Weise  am  Dialog 
teilnehmen. 

Die  Zeugnisse  Colnmellas  sind:  2,1,2  qui  (Tremellius)  cum  plurima  rwtticarum 
rerum  praecepta  aimul  eleganter  et  scUe  memoriae  prodiderit,  1, 1, 12  Scrofa  Tremellius 
(agricciationem)  eloquentem  reddidit. 

Bei  Varro  stellt  sich  Scrofa  in  scharfen  Gegensatz  zu  denjenigen,  welche  in  land- 
wirtschaftlichen Schriften  alles  Mögliche  hereinziehen;  besonders  tadelt  er  in  dieser  Be- 
ziehung die  beiden  Sasemae  (1,2,22).  Es  ist  daher  anzunehmen,  daas  er  auch  in  seiner 
SchriftsteUerei  die  Abgrenzung  der  Limdwirtschaft  von  der  Hauswirtschaft  durchgeführt 
hat.  Da  er  in  den  zwei  ersten  Büchern  Yarros,  welche  über  Ackerbau  (1)  und  Viehzucht 
(2)  handeln,  sich  am  Gespräch  in  leitender  Weise  beteiligt,  so  wird  er  auf  diese  zwei  Teile 
den  Umfang  der  Landwirtschaft  eingeschränkt  haben.  (REiTZEKSTEnr,  De  scriptorum  rei 
rusticae  libris  deperditis  p.  15.) 

Um  die  Zeit  der  Abfassung  des  Werks  zu  bestimmen,  benutzt  Heikze  in  den  Com- 
ment.  philolog.  zu  Ehren  Ribbecks  (Leipz.  1888)  p.  433  die  Thatsache,  dass  das  Werk 
Scrofas  niemals  bei  Varro  ausdrücklich  citiert  wird.  Diese  Nichterwähnung  soll  darin  ihren 
Grund  haben,  dass  zu  der  Zeit,  in  welche  die  Dialoge  der  zwei  ersten  Bücher  Varros  ver- 
legt werden,  Scrofas  Werk  noch  nicht  erschienen  war.  Da  nun  das  erste  Buch  wegen 
1,  2, 10  nicht  vor  59  angesetzt  sein  könne  (das  Crespräch  des  2.  Buchs  wird  ins  J.  67  vor- 
legt) und  Varro  im  J.  37  diese  Schrift  geschrieben,  so  müsste  Scrofas  Werk  vor  37  (vgl. 
Columella  1, 1, 12)  und  nach  59  entstanden  sein. 

Vielleicht  ist  noch  vor  Scrofa  als  landwirtschaftlicher  Schriftsteller  anzusetzen 
C.  Licinius  Stolo.  Varro  1,2, 12  ad  te  (sagt  Agrius  zu  Scrofa)  rudern  esse  agri  eulturae 
nunc,  olim  ad  Stolonem  fuisse  dicunt,  Colum.  praef.  82  muüum  profecerit,  si  usu  Tremellios 
Sassernasque  et  Stolones  nostros  aequaverit,  —  Reitzeksteik,  de  scriptorum  rei  rusticae 
libris  deperdüis,  Berl.  1884  p.  8. 

fBü<^:  Plin.  n.  h.  18, 16, 143  werden  wegen  einer  Futtersorte  Gate,  dann  Sura  Mamilius 
und  endlich  Varro  genannt.  Wir  haben  sonach  einen  neuen  landwirtschaftlichen  Schriftsteller 
vor  uns,  der  von  Plinius  auch  in  den  Quellenverzeichnissen  der  B.  8,  10,  11,  17,  18,  19 
angeführt  wird.    (Mommsen,  Rh.  Mus.  16, 282.) 

203.  Hauswirtschaft.  Nachdem  die  Landwirtschaft  die  Hauswirt- 
schaft ausgeschieden  hatte,  musste  die  letztere  in  der  Litteratur  selbst» 
ständig  werden.  Columella  führt  als  Schriftsteller  auf  diesem  Gebiete  an 
M.  Ambivius,  Menas  Licinius  und  C.  Matius.  Von  diesen  drei  Schrift- 
stellern ist  uns  nur  C.  Matius,  besonders  durch  den  ciceronischen  Brief- 
wechsel, näher  bekannt.  Im  J.  53  spricht  Cicero  seine  Freude  darüber  aus, 
dass  der  Jurist  Trebatius  mit  C.  Matius,  einem  suavissimus  doctissimusque 
hämo,  befreundet  geworden  sei  (Ep.  7, 15, 2).  Später,  als  die  Katastrophe 
des  Bürgerkriegs  über  Rom  hereinbrach,  suchte  Matius  und  Trebatius  eine 
Annäherung  zwischen  Caesar  und  Cicero  herbeizuführen.  Es  liegt  ein 
Schreiben  aus  dem  J.  49  vor,  in  dem  Matius  und  Trebatius  Cicero  die 
Mitteilung  machen,  dass  Pompeius  mit  seiner  Heeresmacht  von  Brundisium 
abgefahren  nnd  Caesar  in  die  Stadt  einmarschiert  sei,  dieselbe  aber  wiederum 
verlassen,  um  auf  Rom  zu  ziehen  (ad  Attic.  9, 15, 6).  Damals  besuchte  Matius 
(März)  Cicero  auf  dessen  Formianum  (ad  Attic.  9, 11, 2)  und  erhielt  von  ihm 


302     BOmische  Lüieraturgesohichie.    L  Die  Zeit  der  Bepnblik.    2.  Periode. 


Instruktionen  fttr  Caesar.  Ein  zweiter  Besuch  des  Matius  bei  Cicero  fand  in 
Brundisium  statt,  als  sich  dieser  nach  der  Schlacht  bei  Pharsalus  dort  nieder- 
gelassen (Ep.  11, 27, 4).  Nach  der  Ermordung  Caesars  wurden  Stimmen  gegen 
Matius  laut,  weil  er  seinen  Schmerz  über  die  Gewaltthat  nicht  zurückhielt. 
Auch  Cicero  gehörte  zu  den  Tadlem.  Als  dies  Matius  bekannt  geworden, 
beklagte  er  sich  durch  Trebatius  darüber  bei  Cicero.  Daraufhin  schrieb 
Cicero  einen  sehr  berechneten  Briefe)  (Ep.  11,27).  Die  Antwort,  welche 
Matius  ergehen  liess  (Ep.  11, 28)  gehört  zu  den  schönsten  Denkmälern  der 
römischen  Litteratur;  man  wird  nicht  leicht  ein  Schriftstück  auffinden, 
das  so  sehr  des  Verfassers  Adel  und  Reinheit  der  Oesinnung,  Uneigen- 
nützigkeit,  Standhaftigkeit  und  Treue  bekundet,  wie  dieser  schöne  Brief. 
Matius  hatte  keine  politische  Stellung  inne ;  er  konnte  daher  mit  den 
Personen  verschiedener  politischer  Richtung  verkehren.  Sein  Interesse  war 
der  Litteratur  zugekehrt.  Wie  Cicero  selbst  berichtet,  gab  ihm  Matius 
den  Anstoss  zu  seiner  philosophischen  Schriftstellerei.  Auch  mit  dem  be- 
rühmten Rhetor  ApoUodorus  aus  Pergamon  muss  er  enge  Beziehungen 
unterhalten  haben,  denn  dieser  widmete  ihm  seine  Ars.  Matius'  eigene 
Schriftstellerei  lag  auf  dem  Gebiet  der  Hauswirtschaft;  er  schrieb  ein  Werk 
in  drei  Büchern  über  die  Kochkunst,  das  erste  führte  den  Titel  ,Cocu8*, 
das  zweite  „Cellarius*',  das  dritte  „Salgamarius''.^) 

Coltun.  12, 4, 2  postquam  a  bellis  otiutn  fuU,  qu<Mi  quoddam  tributum  victui  humano 
conferre  dedignati  non  sunt,  ut  M,  Ämbivius  et  Menas  Licinius,  tum  etiam  C.  Matius, 
quihus  Studium  fuit  pistoris  et  coci  nee  minus  cellarii  düigentiam  suis  praeceptis  instituere. 

Auch  mit  Augustus  war  Matius  eng  befreundet,  divi  Augusti  amicus  nennt  ihn 
Plin.  n.  h.  12, 13. 

Anregung  Giceros  zur  philosophischen  SchriftsteUerei:  Cic.  Ep.  11,27,5  Tandem  ali- 
quando  Romae  esse  eoepimus:  quid  defuit  nastrcte  famUiaritati?  in  maximis  rebus  quonam 
modo  gererem  me  adversus  Ctiesarem,  usus  ttto  eonsilio  sum,  in  reliquis  officio:  cui  tu  tri- 
buisti  excepto  Cktesare  praeter  me,  ut  domum  ventitares  horasque  multas  saepe  suamssimo 
sermone  eonsumeres?  tum,  cum  etiam,  si  meministi,  ut  haec  <piXoao<povfd6ya  seriberem,  tu 
me  impulisti.  —  Quint.  8, 1, 18  (ÄpoUodori)  sola  videtur  Ars  edita  ad  Matium. 

Über  seine  Schrift  Columella  12, 46, 1  nee  ignoro  plurima  in  hunc  librum  non  esse 
collatOf  quae  C,  Matius  ditigentissime  persecutus  est;  Uli  enim  propositum  fuit  urbanas 
mensas  et  lauta  convivia  instruere;  libros  tres  edidit,  quos  inscripsit  nominibus  Coci  et 
Cellarii  et  Salgamarii. 

204.  Naturkunde.  Hier  haben  wir  nur  wenige  Arbeiten  zu  verzeichnen, 
und  zwar  sind  es  solche,  welche  keinen  wissenschaftlichen  Charakter  haben. 
Die  Naturbeschreibung  verbindet  sich  mit  der  Sucht,  wunderbare  Dinge 
zu  berichten  und  zwar  stellt  sich  als  bequemes  Organ  hiefür  die  Reise- 
beschreibung ein;  die  Himmelskunde  aber  verquickt  sich  mit  Astrologie. 
Es  sind  folgende  Autoren  hier  aufzuzählen: 

1.  Statins  Sebosus.  Derselbe  wird  von  Plinius  n.  h.  in  den  Indices 
der  Bücher  2,  3,  5,  6,  7,  12,  13  als  Sebosus,  im  Index  des  Buchs  9  und  im 
Text  als  Statins  Sebosus  angeführt.  In  dem  Text  teilt  uns  Plinius  9, 46 
seinen  Bericht  über  wunderbare  Würmer  des  Ganges  mit.  Dass  das  Buch 
die  Beschreibung  einer  Seereise  war,  erhellt  aus  6,201.  Diesen  Statins 
Sebosus  hält  Hardouin  für  identisch  mit  dem  von  Cic.  ad  Attic.  2, 14, 2 
2, 15, 3  genannten  Sebosus. 


^)  In  seinen  Briefen  an  Atticus  redet  er 
freilich  mehrmals  in  Schimpfnamen  von  ihm 
(ad  Attic.  14, 2, 2,   14,  5, 1   16, 11, 2). 


^)  d.  h.  derjenige,  welcher  die  Früchte 
einmacht. 


Rückblick. 


303 


2.  L.  Manlius.  Die  Fragmente  führen  auf  ein  ^Reise-  und  Wunder- 
buch''. Nach  Dionys.  antiq.  1,19  teilte  er  einen  Orakelspruch  mit,  den  er 
selbst  auf  einem  der  dodonäischen  Dreifüsse  gesehen;  bei  Pliniusn.  h.  10, 4 
wird  er  als  der  Gewährsmann  für  die  dort  erzählte  wunderbare  Geschichte 
des  Vogels  Phönix  namhaft  gemacht;  an  dieser  Stelle  erhalten  wir  auch 
ein  chronologisches  Datum  für  seine  Schriftstellerei,  das  Jahr  97.  i)  Es 
sind  aber  auch  Fragmente  in  gebundener  Form  überliefert;  darunter  be- 
findet sich  ein  scherzhaftes  Epigramm  (Baehbeks,  fragm.  p.  283) 

Caseum  duxisse  eascam  non  mirabUe  est, 
quoniam  eariosas  conficiebat  nuptias. 

Die  übrigen  zwei  Fragmente  enthalten  Mythologisches.  Es  ist  kaum  wahr- 
scheinlich, dass  auch  das  Poetische  in  dem  , Reise-  und  Wunderbuch''  ge- 
standen. *) 

3.  L.  Tarutius  Firmanus,  derselbe,  den  Cicero  seinen  familiaris 
nennt  (de  div.  2,  98),  schrieb  in  griechischer  Sprache  „de  astris*'  (Plin.  n.  h. 
Index  zu  B.  18).  Dass  aber  diese  Schrift  auch  auf  das  Astrologische  Rück- 
sicht nahm,  zeigt  die  ciceronische  Stelle. 

Litteratar:  HuDEMAim,  Der  rBmiache  Seefahrer  Staiius  Sebosus,  Ztschr.  für  die 
Altertiunsw.  1852  nr.  3p.  17.  Über  L.  Manilas  ist  die  grundlegende  Abhandlung  von  Mommsbk, 
Rh.  Mus.  16,  284.  —  Über  Tarutius:  Mohhsbn,  R.  Chronol.^  p.  145.  Er  berechnete  den 
Grfindungstag  von  Rom ;  vgl.  Soltat;,  Philolog.  45, 439. 

205.  Bttckblick.  So  hätten  wir  denn  wieder  einen  bedeutsamen  Ab- 
schnitt der  römischen  Litteratur  zurückgelegt  und  es  erübrigt  noch,  einen 
kurzen  Blick  auf  das  durchmessene  Gebiet  zu  werfen. 

In  der  Poesie  hatten  wir  einen  entschiedenen  Verfall  des  Dramas 
zu  verzeichnen.  Die  tragische  Muse  ist  so  gut  wie  verstummt,  die  Komödie 
aber  nimmt  in  der  Atellana  und  im  Mimus,  welche  beide  Formen  jetzt 
gepflegt  werden,  eine  entschiedene  Wendung  zur  Posse.  Auch  das  natio- 
nale Epos  tritt  fast  ganz  in  den  Hintergrund.  Ein  günstigeres  Geschick 
wird  der  Satura  und  dem  Lehrgedicht  zu  teil.  Die  Satura  fand  in  einer 
durch  wunderliche  Vermischung  der  gebundenen  und  ungebundenen  Rede 
hervorstechenden  Spielart,  der  Menippea,  eine  ausgezeichnete  Bearbeitung 
durch  Varro.  Das  Lehrgedicht  erreicht  mit  Lucretius  eine  Höhe,  welche 
die  Bewunderung  herausfordert.  Am  einschneidendsten  aber  beeinflusste 
die  Entwicklung  der  Poesie  in  unserer  Epoche  die  jungrömische  Dichter- 
schule. Im  Anschluss  an  alexandrinische  Muster  beschränkte  sie  sich  auf 
das  kleine  Gedicht,  das  mjrthologische  Epyllion,  das  Schmähgedicht,  das 
Epigramm,  die  Elegie,  das  Liebeslied  und  legte  auf  feine,  saubere  Technik 
den  grössten  Wert.  Die  Schule  gab  der  römischen  Litteratur  ihren  grössten 
Dichter,  Valerius  GatuUus,  der  durch  die  Innigkeit  der  Empfindung  in 
der  römischen  Dichterwelt  einzig  dasteht. 

Grosse  Fortschritte  machte  in  unserm  Zeitraum  die  Prosa.  In  der 
Historiographie  zeigen  sich  die  mannigfaltigsten  Spielarten,  wir 
finden  die  Zeilgeschichte,  die  Autobiographie,  die  Denkschrift,  die  Biographie, 


*)  Wir  haben  unsem  Schriftsteller  nicht 
der  Toraosgehenden  Periode  angeschlossen, 
weil  die  Annahme  Mohksehs  (p.  287)  an- 
sprechend ist    dass  er  der  Statthalter  des 


narbonensischen  Galliens  um  77  ist. 

')  Ebenso  bezweifle  ich,  dass  Manilius 
identisch  ist  mit  dem  Pinakographen  Mani- 
lius (§  31). 


304    Römische  LitieratnrgeBohichie.    L  Die  Zeit  der  Republik.    2.  Periode. 

das  historische  Gemälde,  daneben  auch  die  allgemeine  Stadtchronik.  In 
Bezug  auf  den  Stoff  greift  die  6eschichtschreibung  über  Rom  hinaus  und 
zieht  auch  das  Ausland  in  ihr  Bereich,  eine  Wirkung  der  römischen  Welt- 
herrschaft. Die  Kunst  der  Darstellung  entfaltete  sich  in  bewunderungs- 
würdiger Weise.  Sprechende  Beweise  hiefür  sind  der  klare,  von  erhabener 
Ruhe  getragene  StU  Caesars  und  die  pikante,  den  Leser  dui*ch  seine  psycho- 
logische Analyse  packende  Darstellung  Sallusts.  In  der  Beredsamkeit 
kam  es  zu  einem  erbitterten  Kampf  wegen  des  rednerischen  StUs.  Durch 
Hortensius  wurde  der  asianische  Barockstil  in  Rom  eingebürgert.  Dagegen 
erhob  sich  eine  scharfe  Opposition  und  zwar  ging  sie  von  denselben  Kreisen 
aus,  die  auch  in  der  Poesie  reformierend  auftraten.  Diese  Opposition  der 
sog.  Attiker  proklamierte  den  einfachen,  schlichten  Stil  und  wies  auf  die 
Attiker,  besonders  auf  Lysias  als  normgebende  Muster  der  Eloquenz  hin. 
Zwischen  beiden  Richtungen  suchte  eine  vermittelnde  Stellung  Cicero  ein- 
zunehmen, allein  in  Wahrheit  zog  ihn  seine  Individualität  nach  der  ersten 
Seite  hin.  Mit  Cicero  tritt  ein  Mann  in  die  Litteratur  ein,  der  zeigen 
kann,  wie  leicht  die  schöne,  anmutige  Form  über  innere  Hohlheit  Jahr- 
hunderte hindurch  wegtäuschen  kann.  Unter  seinen  Schriften  ist  auch 
nicht  eine  einzige,  welche  als  ein  Litteraturwerk  ersten  Rangs  gerühmt 
werden  kann.  Selbst  seine  Reden  machen  auf  den  Leser  keinen  tieferen 
Eindruck,  weil  sie  sich  nicht  als  Produkt  tiefinnerer  Überzeugung  kund- 
geben; seine  philosophischen  Schriften  sind  aber  nichts  als  übertünchte 
Kompilationen,  welche  keinen  Denker  befriedigen  können.  Am  besten 
übersteht  noch  die  Sonde  der  Kritik  die  eine  oder  andere  seiner  rhetori- 
schen Schriften.  Sehr  weite  Kreise  zieht  die  Fachgelehrsamkeit.  Den 
nicht  geringen  Umfang  des  gelehrten  Wissens  in  der  damaligen  Zeit 
repräsentiert  durch  eine  über  alle  Massen  reiche  Schriftstellerei  Yarro, 
auch  sonst  eine  eigenartige  Erscheinung,  ein  Römer  von  altem  Schrot  und 
Korn.  Die  philologischen  Studien  erhalten  durch  die  jetzt  eingetretene 
schärfere  Trennung  des  grammatischen  und  rhetorischen  Unterrichts  eine 
reichere  Pflege;  auch  der  Rhetorik  erwuchs  eine  glänzende  Leistung  in 
dem  trefflichen  Lehrbuch  des  Auetor  ad  Herennium.  In  der  Jurisprudenz 
ist  es  Sulpicius  und  seine  Schule,  welche  an  dem  Weiterbau  dieser  Dis- 
ziplin in  der  regsten  Weise  sich  beteiligten.  Die  Vorliebe  für  isagogische 
Schriftstellerei  führte  jetzt  auch  zur  Bearbeitung  des  geistlichen  Rechts. 
In  der  Landwirtschaft  bricht  immer  mehr  die  Abgrenzung  und  Gliederung 
des  Stoffs  durch;  die  ausgeschiedene  Hauswirtschaft  findet  zum  erstenmal  ihre 
Pflege.  Wenig  wussten  wir  von  wissenschaftlicher  Naturkunde  zu  berichten. 
Hand  in  Hand  mit  den  grossen  Fortschritten  der  Prosa  ging  auch 
die  Entwicklung  der  lateinischen  Sprache  vor  sich.  Der  Streit  zwischen 
Analogie  und  Anomalie  führte  zur  schärferen  Fixierung  der  Schriftsprache, 
das  Redegefüge  wurde  durchsichtiger,  die  Periodologie  durch  Cicero  zur 
höchsten  Blüte  gebracht.  Die  Ausdehnung  des  römischen  Reichs  führte 
zugleich  zur  Erweiterung  des  lateinischen  Sprachgebiets. 


r 


HANDBUCH 

DER 

KLASSISCHEN 


AUERTÜMS-WISSENSCHAFT 

in  systematischer  Darstellung 

mit  besonderer  Rücksicht  auf  Geschichte  und  Methodik  der  einzelnen 

Disziplinen. 


In  Verbindung  mit  Gymn.-Rektor  Dr.  Autenrieth  (Nürnberg),  Prof.  Dr.  Ad. 
Bauer  (Graz),  Prof.  Dr.  Blass  (Halle),  Prof.  Dr.  Brugmann  (Leipzig),  Prof. 
Dr.  Busolt  (Kiel),  Prof.  Dr.  v.  Christ  (München),  Prof.  Dr.  Gleditsch  (Berlin), 
Prof.  Dr.  Günther  (München),  Prof.  Dr.  Heerdegen  (Erlangen),  Prof.  Dr. 
Hommel  (München),  Prof.  Dr.  Hübner  (Berlin),  Prof.  Dr.  Jul.  Jung  (Prag), 
Dr.  Knaack  (Stettin),  Prof.  Dr.  Krumbacher  (München),  Dr.  Larfeld  (Rem- 
scheid), Dr.  LoUing  (Athen),  Prof.  Dr.  Niese  (Marburg),  Geh.  Regierungs- 
rat Prof.  Dr.  Nissen  (Bonn),  Priv.-Doz.  Dr.  Ohmichen  (München),  Prof. 
Dr.  Pöhlmann  (Erlangen),  Qymn.-Dir.  Dr.  0.  Richter  (Berlin),  Prof.  Dr. 
Schanz  (Würzburg),  Geh.  Oberschulrat  Prof.  Dr.  Schiller  (Giessen),  Gymn.- 
Dir.  Schmalz  (Tauberbischofsheim),  Prof.  Dr.  Sittl  (Würzburg),  Oberlehrer 
Dr.  F.  Stengel  (Berlin),  Professor  Dr.  Stolz  (Innsbruck),  Priv.-Doz.  Dr. 
Traube  (München),  Prof.  Dr.  Unger  (Würzburg),  Geh.-Rat  Dr.  v.  Urlichs  f 
(Würzburg),  Prof.  Dr.  Horitz  Voigt  (Leipzig),  Qymn.-Dir.  Dr.  Volkmann  f 
(Jauer),  Prof.  Dr.  Windelband  (Strassburg),  Prof.  Dr.  Wissowa  (Marburg) 

herausgegeben  von 

Dr.  Iwan  von  Müller, 

ord.  Prof.  der  klassischen  Philologie  in  Erlangen. 


Achter  Band. 

Geschichte  der  römischen  Litteratur 

bis  zum  Gesetzgebungswerk  des  Kaisers  Justinian. 


~^'«o<D>f^=>f~;>»'- — ' 


MÜNCHEN. 

C.  H.  BECK'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG  (OSKAR  BECK). 

1892. 


GESCHICHTE 


DER 


RÖMISCHEN  LITTERATUR 


BIS  im  GEmEüiCSlRK  DES  KAISERS  111. 


Von 


Martin  Schanz, 

ord.  ProfeMor  su  der  Uulvenilät  Würzbnrg. 


Zweiter  Teil: 


Die  Zeit  vom  Eode  der  Bepublik  (30  v.  Chr.) 
bis  anf  Hadrian  (117  n.  Chr.)- 


MÜNCHEN. 
C.  H.  BECK'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG  (OSKAR  BECK). 

1892, 


A.I10  Rechte  vorbehalten 


C.  H.  Beck'sclxc  Bachdrnckcrel  In  Nordllngen. 


A. 

Inhaltsverzeichnis  zum  zweiten  Teil. 


Einleitung.  Seite 

206.  Litterarische  Strömong  der  Augusteischen  Zeit 1 

207.  Übersicht 2 

Die  rdmisclie  liitteratur  in  der  Zeit  der  Monarchie. 

A.  Die  Litteratiir  rom  Ende  der  Republik  bis  zum  Tode  Aug^vstus  (80  t.  Ch.  bis  14  n.  Cli). 

1.  Augustus. 

208.  Einfluss  des  Augustus  auf  die  Litteratur 7 

209.  Die  Schrift»tellerei  des  Augustus 8 

210.  Der  schriftliche  Nachlass  des  Augustus 10 

211.  Das  Monumentum  Ancyranum            11 

2.  G.  Mäcenas. 

212.  Biographisches            18 

213.  Der  Kreis  des  Mäcenas 14 

214.  Maecenas*  Schriftstellerei 15 

8.  M.  Valerius  Messalla  Corvinus. 

215.  Messallas  Einfluss  auf  die  Litteratur 16 

4.  C.  Asinius  Pollio. 

216.  Pollios  Verdienste  um  die  Litteratur 18 

217.  Polbos  SchriftsteUerei 19 

a)  Die  Poesie. 

1.  P.  Vergilius  Maro. 

218.  Quellen  der  Vergil'schen  Biographie 21 

219.  Vergils  Leben 22 

ff)  Die  Bucolica. 

220.  Die  Sammlung  der  bucolischen  Gedichte           23 

221.  Gedichte  mit  rein  ländlichem  Charakter 23 

222.  .Verkleidete*  Hirtengedichte 25 

223.  Zeit  der  Abfassung  der  Bucolica 27 

224.  Würdigung  der  Bucolica            28 

ß)  Die  Georgica. 

225.  Skizze  der  Georgica            30 

226.  Abfassungszeit  der  Georgica 31 

227.  Die  Ausgaben  der  Georgica 32 

228.  Quellen  der  Georgica                 33 

229.  Kunst  des  Dichters 35 

y)  Die  Aeneis. 

230.  Äussere  Geschichte  der  Aeneis 37 

231.  Übersicht  des  Inhalts  der  Aeneis 39 

232.  Die  Aeneassage 41 


VI 

233. 
234. 

235. 
236. 
237. 
238. 
239. 
240. 
241. 
242. 

243. 
244. 

245. 

246. 
247. 
248. 
249. 
250. 

251. 
252. 
253. 
254. 
255. 
256. 
257. 
258. 
259. 
260. 
261. 
262. 
263. 
264. 
265. 
266. 

267. 

268. 

269. 
270. 
271. 
272. 

273. 

274. 
275. 
276. 

277. 

278. 
279. 


InhaltsTerzeichnis  zam  zweiten  Teil. 


Die  Komposition  der  Aeneis 

Würdigung  der  Aeneis 

(f)  Appendix  Vergiliana  (Die  sog.  Jugendschriften  Vergils). 
Bestandteile  der  Appendix  Vergiliana 
Culex  (Die  Mücke)      .... 
Der  Autor  des  Gedichtes 

Der  Aetna 

Abfassungszeit  und  Autor  des  Aetna 
v/ins  ...... 

Das  Catalepton  (Poetische  Kleinigkeiten) 
Copa  (Die  Schenkwirtin) 

e)  Anderes  Pseudovergiliana. 
Moretum  (Das  Iftndliche  Frühstück) 
Die  zwei  Elegien  auf  Maecenas         .... 


Rückblick  auf  die  Vergilischen  Dichtungen 

C)  Wirkungen  der  Vergilischen  Poesie. 

Aufnahme  der  Vergilischen  Dichtungen  bei  den  Zeitgenossen 

Vergils  Fortleben  im  Altertum 

Erhaltene  Vergil-Kommentare  

Der  Vergil  des  Mittelalters 

Vergil  in  der  Neuzeit 

2.  Q.  Horatius  Flaccus. 

Sein  Leben 

Erste  Satirensammlung 

Die  Epoden 

Zweite  Satirensammlung 

Charakteristik  der  Satirendichtung 

Erste  Liedersammlung 

Die  erste  Epistelsammlung 

Die  Litteraturbriefe  (zweite  Briefsammlung) 

Charakteristik  der  Briefe  

Zweite  Liedersammlung 

Charakteristik  der  Oden 

Verstechnik  der  Oden 

Rückblick  auf  die  Horazische  Dichtung 

Horaz  im  Altertum 

Erhaltene  Horazkommentare 

Horaz  in  der  Neuzeit 

3.  L.  Varius  Rufus. 

Gedichte  des  Varius  Rufus 

4.  Aemilius  Macer. 

Die  drei  didaktischen  Gedichte  des  Aemilius  Macer 

5.  Cornelius  Gallus. 

Die  Liebeselegie 

Das  Leben  des  Gallus 

Gallus'  Liebeselegien  (Lycoris) 

Gallus'  Übersetzungen  aus  Euphorion 

6.  C.  Valgius  Rufus. 

Die  Elegien  des  Valgius 

7.  Domitius  Marsus. 

Cicuta  (Epigrammensammlung) 

Elegisches 

Amazonis  (Epos  über  die  Amazonen) 

8.  C.  Melissus. 
Die  fahuia  trabeata 

9.  Die  Dichter  des  Messallakreises  (Albius  Tibullus  und  andere). 
Die  Messalla'sche  Sanmilung 

a)  Albius  Tibullus. 
Das  Deliabuch .        .        . 


Seite 

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InhaltsTerzeiolinis  zum  zweiten  Teil.  YII 

Belle 

280.  Das  Nemesisbuch 110 

281.  Charakteristik  Tibulls 110 

ß)  Lygdamus. 

282.  Das  Neaerabuch 112 

y)  Der  Panegyrist. 

283.  Der  Panegyricus  auf  Messalla            114 

(f)  Die  Dichterin  Sulpicia. 

284.  Die  £legienkränze  des  TibuU  und  der  Sulpicia 115 

10.  Sex.  Propertius. 

285.  Sein  Leben 117 

286.  Das  Cynthiabuch 118 

287.  Neue  Liebesgedichte 120 

288.  Das  letzte  Buch.  —  Die  römischen  Elegien 122 

289.  Charakteristik  des  Properz 124 

290.  Fortleben  des  Properz 126 

11.  P.  Ovidius  Naso. 

291.  Biographisches 127 

292.  Kntwickelung  der  Ovidischen  Dichtung 129 

ff)  Erste  Periode  der  Ovidischen  Dichtung.    Die  Liebespoesien. 

293.  Chronologie  der  Liebespoesien 130 

294.  Liebeselegien  (Ämorea) 131 

295.  Die  Heroides 133 

296.  Die  Echtheitsfrage  der  Heroides 139 

297.  Charakteristik  der  Heroides 142 

298.  De  medicamine  faciei  (über  die  Schönheitsmittel) 145 

299.  Ars  amatoria  (Liebeskunst) 145 

300.  Remedia  amoris  (Heilmittel  der  Liebe)              147 

ß)  Zweite  Periode  der  Ovidischen  Dichtung.    Die  Sagengedichte. 

301.  Die  ätiologische  Elegie 148 

302.  Der  Festkalender  (Fasti).  -  Seine  Genesis 149 

303.  Würdigung  des  Werkes 150 

304.  Die  Metamorphosen 152 

/)  Dritte  Periode  der  Ovidischen  Dichtung.    Die  Dichtungen  von  Tomi. 

305.  Die  Elegien  der  Klage  (Tristia) 154 

306.  Die  pontischen  Briefe  (Epintülae  ex  Ponte) 157 

307.  Das  Verwünschungsgedicht  Ibis 159 

808.  Das  Gedicht  von  den  Fischen  (llalieutica) 161 

309.  Verlorene  Gedichte  Ovids 161 

(f)  Pseudoovidiana. 

310.  Die  Klage  dos  Nussbaums  {über  nucis) 162 

311.  Das  Trostgedicht  für  die  Livia  (Consolatio  ad  JAviam)  163 

312.  Rückblick  auf  Ovids  Dichtungen 165 

313.  PorÜeben  Ovids 166 

12.  Grattius. 

314.  Des  Grattius  Gedicht  über  die  Jagd  {cynegetica) 167 

13.  Albinovanus  Pedo. 

315.  Des  Albinovanus  Pcdo  Epen  und  Epigramme            168 

14.  Rabirius. 

316.  Der  ägyptische  Krieg  Octavians 169 

15.  Cornelius  Severus. 

317.  Des  Cornelius  Severus  Gedichte 170 

16.  Die  übrigen  Dichter. 

318.  Der  Ovidische  Dichterkatalog 171 

319.  Eriäuterung  des  Katalogs 172 

Anhang. 

17.  Die  Priapeendichter. 

320.  Corpus  Priapeorum 176 


YUI  InhaltsTerzeiohniB  zum  zweiten  Teil. 

Seite 

b)  Die  Prosa. 

a)  Die  Historiker. 

1.  T.  Livius. 

321.  Biographisches  - 177 

322.  Aufbau  des  Livianischen  Werkes 178 

323.  Erhaltene  Bücher •.  .        .  180 

324.  Ersatz  der  verlorenen  Bücher 181 

325.  Seine  Quellen 182 

326.  Charakteristik  des  Livius *        ...  184 

327.  Fortleben  des  Livius 186 

2.  Pompeius  Trogus. 

328.  Die  erste  lateinische  Universalgeschichte 189 

329.  Die  Vorlage  des  Trogus 191 

330.  Die  Epitome  des  Justinus 193 

3.  Fenestella. 

331.  Fenestellas  antiquarische  und  historische  Schriften 195 

ß)  Die  Geographen, 

M.  Vipsanius  Agrippa. 

332.  Die  Weltkarte  des  Agrippa  und  des  Augustus 196 

333.  Agrippas  Kommentarien 197 

y)  Die  Redner  (Deklamatoren), 

334.  Die  Quelle  (Senecae  oratorum  et  rhetorum  aententiae  divisiones  colores)           .  198 

335.  Charakteristik  der  Schulberedsamkeit .  200 

336.  Die  einzelnen  Deklamatoren 202 

337.  Analogie  und  Anomalie  in  der  Rhetorik 210 

(f)  Die  Philosophen. 

338.  Die  Schule  der  Sextier 211 

339.  Die  Lehre  der  Sextier 213 

e)  Die  Fachgelehrten. 
a.  Philologen. 

1.  M.  Verrius  Flaccus. 

340.  Biographisches.  —  Verlorene  Schriften 214 

341.  Verrius  Flaccus  de  verborum  significatu  215 

2.  Der  Bibliothekar  C.  Julius  Hyginus. 

342.  Biographisches  217 

343.  Hygins  landwirtschaftliche  Schriften 217 

344.  Hygins  philologische  Kommentare 219 

345.  Hygins  historische  und  geographische  Werke  219 

346.  Antiquarische  Schriften 220 

3.  Der  Mythograph  Hyginus. 

347.  Die  unter  dem  Namen  Hyginus  erhaltenen  Schriften 220 

348.  Hygins  Schrift  de  astronomia  222 

349.  Hygins  mythologisches  Handbuch 223 

350.  Trennung  des  Bibliothekars  Hygin  und  des  Mythographen  Hygin    .  224 

4.  L.  Crassicius. 

351.  Der  Kommentar  zu  Cinnas  Smyma  226 

5.  Q.  Caecilius  Epirota. 

352.  Die  Einführung  der  modernen  Dichtungen  in  die  Vorlesungen         .  226 

b)  Die  Juristen. 

M.  Antistius  Labeo  und  C.  Ateius  Capito. 

353.  Analogie  und  Anomalie  in  der  Jurisprudenz 227 

354.  Die  Schriftstellerei  dos  Labeo  und  Capito 228 

c)  Die  Techniker. 
Der  Baumeister  Vitruvius  Pollio. 

355.  Vitruvs  Werk  über  die  Architektur 229 

856.  Rückblick  auf  die  augusteische  Zeit 233 


InhaltsverzeichniB  zum  zweiten  Teil.  IX 

Seite 

B,  Tom  Tode  des  Aiignstns  bis  zur  Reglernng  Hadrlans  (14  n.  Ch.  bis  117  n.  Ch.)- 

Die  Stellung  der  Regenten  züi  Litteratur. 

357.  Tiberius  (14—37) 236 

358.  C.  Cäsar  Caligula  (37  -41) 237 

359.  Claudius  (41-54) 238 

360.  Nero  (54—68) 240 

361.  Die  Flavier  (69-96) 242 

362.  Nerva  (96-98)  und  Traian  (98-117) 243 

a)  Die  Poesie. 

1.  M.  Manilius. 

363.  Astronomicon  1.  V  des  Manilius 244 

2.  Germanicus. 

364.  Die  Aratea  des  Germanicus 248 

3.  Phaedrus. 

365.  Leben  und  Schriftstellerei  des  Phaedrus            249 

366.  Schicksale  der  Phaedrischen  Fabelsammlung 251 

367.  Charakteristik  des  Phaedrus 253 

4.  Der  Dichter  Seneca. 
a)  Seneca  als  Tragiker. 

368.  Die  neun  Tragödien  Senecas 255 

369.  Hercules  (furens) 257 

370.  Die  Troerinnen  (Troades)            258 

371.  Die  Phönissen 259 

372.  Medea 260 

373.  PhÄdra 261 

374.  Oedipus 262 

375.  Agamemnon 263 

376.  Thyestes 264 

377.  Hercules  (Oetaeus) 265 

378.  Charakteristik  der  Tragödien 266 

ß)  Seneca  als  Satiriker  und  Epigrammatiker. 

379.  Divi  Claudii  UnoxoXoxvytoxns  (Claudius'  Verkttrbsung) 270 

y)  Pseudoseneca. 

380.  Octavia 272 

5.  P.  Pomponius  Secundus. 

381.  Leben  des  Pomponius.    Seine  Tragödien            274 

6.  A.  Persius  Flaccus. 

382.  Biographisches 275 

383.  Persius'  Satiren 276 

384.  Charakteristik  des  Persius 278 

7.  T.  Calpurnius  und  der  sog.  Einsiedler  Dichter. 

385.  Die  Zeit  des  Calpurnius      .        .        .   ' 280 

386.  Die  sieben  Eklogen  des  Calpurnius 281 

387.  Panegyricus  in  Pisonem 283 

388.  Die  zwei  Einsiedler  bucolischen  Gedichte 285 

8.  M.  Annaeus  Lucanus. 

389.  Biographisches 285 

390.  Skizze  der  Pharsalia 287 

391.  Beurteilung  der  Pharsalia 288 

392.  Fortleben  Lucans 291 

9.  Petronius  Arbiter. 

393.  Petrann  Satirae 292 

394.  Skizze  des  Romans 294 

395.  Zeit  und  Persönlichkeit  des  Autors 296 

396.  Charakteristik 298 

10.  C.  Valerius  Flaccus  Setinus  Baibus. 

397.  Biographisches            299 

398.  Skizze  der  Argonautica 299 

399.  Charakteristik  der  Argonautica 301 


X 


InhaltsverzeichniB  zum  zweiten  Teil 


400. 

401. 
402. 
403. 
404. 
405. 

406. 
407. 
408. 
409. 
410. 
411. 
412. 

413. 
414. 
415. 

416. 

16 

417. 

418. 
419. 
420. 


11.  Curiatius  Maternus  und  andere  Tragödiendichter. 
Die  Tragödien  des  Matemus 

12.  Ti.  Catius  Silius  Italiens. 

Sein  Leben 

Kurze  Inhaltsangabe  der  Punica 

Beurteilung  des  Gedichtes 

Die  lateinische  Ilias  

Zeit  und  Autor  der  Ilias 


Seile 
303 


304 
305 
306 
308 
309 


13.  P.  Papinius  Statius  und  andere  Epiker. 

Biographisches 

Skizze  der  Thebais      .... 
Würdigung  der  Thebais 

Die  Achilleis 

Die  Stoffe  der  Silven 

Charakteristik  der  Silven 

Rückblick 

14.  M.  Valerius  Martialis. 

Biographisches 

Das  Korpus  der  Epigramme 

Würdigung  Martials 


15.  Die  Dichterin  Sulpicia  und  andere  lyrische  Dichter. 
Das  unterschobene  Gedicht  der  Sulpicia  


311 
312 
316 
319 
320 
323 
324 

325 
328 
331 

335 


Die  Komödiendichter  Catullus,  M.  Pomponius  und  Vergilius  Romanus. 


Verschiedene  Versuche  auf  dem  Gebiet  der  Komödie 

17.  D.  Junius  Juvenalis. 
Biographisches 


Der  Inhalt  der  einzelnen  Satiren 
Charakteristik  Juvenals 


336 

337 
340 
343 


b)  Die  Prosa. 

«)  Die  Historiker. 
1.  C.  Velleius  Paterculus. 


421. 
422. 

423. 
424. 

425. 
426. 

427. 
428. 
429. 
430. 
431. 
432. 
433. 
434. 
435. 
436. 
437. 
438. 
439. 

440. 
441. 
442. 


Historiae  Romanae  1.  II 
Charakteristik 


2.  Valerius  Maximus. 
Factorum  ac  dictorum  memorabüium  1.  IX 
Charakteristik  des  Valerius 


3.  Q.  Curtius  Rufus. 
Die  Alexandergeschichte.    Zeit  und  Autor 
Charakteristik 


4.  Cornelius  Tacitus. 

Sein  Leben 

Der  Dialog  über  den  Redner 

Charakteristik  des  Dialogs 

Agricola 

Charakteristik 

Die  Germania 

Die  Quellen  der  Germania 

Die  Tendenz  der  Germania 

Die  Genesis  der  Taciteischen  Geschichtsschreibung 

Die  Historien 

Die  Annalen 

Die  Quellen  des  Tacitus 

Charakteristik  der  Geschichtschreibung  des  Tacitus 

5.  Die  übrigen  Historiker. 
Darstellungen  der  römischen  Geschichte 

Historische  Specialschriften 

Die  Memoirenlitteratur 


346 
347 

349 
350 

352 
354 

357 
359 
361 
363 
365 
367 
368 
369 
371 
372 
373 
374 
377 

380 
383 
383 


InhaliBvereeichniB  zum  zweiten  Teil.  XI 

Seite 
ß)  Die  Geographen. 
Pomponius  Mela. 

443.  Die  ftlteste  lateinische  Geographie 384 

y)  Die  Redner. 

1.  C.  Plinius  Caecilius  Secundus. 

444.  Biographisches  386 

445.  Plinius  als  Redner.     Der  Panegyricus  auf  Traian 387 

446.  Die  Dichtungen  des  jüngeren  Plinius .  389 

447.  Die  allgemeine  Briefsammlung 390 

448.  Der  Briefwechsel  des  Plinius  und  des  Kaisers  Traian 392 

449.  Charakteristik 394 

2.  Die  übrigen  Redner. 

450.  Verlorene  Reden 396 

d)  Die  Philosophen. 

451.  Allgemeines 398 

L.  Annaeus  Seneca. 

452.  Biographisches 400 

tt)  Die  in  einem  Corpus  enthaltenen  Schriften. 

453   Die  zwölf  Bücher  der  Dialoge  401 

454.  Ad  LuciUum  qaare  (üiqua  incommoda  bonis  viris  accidant,  cum  Providentia  sit 

(De  Providentia) 402 

455.  Ad'Serenum  nee  iniuriam  nee  contumeliam  accipere  sapientem  {De  constantia 
sapientis)     ..............  403 

456.  Ad  Novatum  de  ira  l.  III 404 

457.  Ad  Marciam  de  consolatione 405 

458.  Ad  Gallionem  de  vita  heata 407 

459.  Ad  Serenum  de  otio  407 

460.  Ad  Serenum  de  tranquillitate  animi 408 

461.  Ad  Paulinum  de  brevitate  vitae 409 

462.  Ad  Poltjhium  de  consolatione 409 

463.  Ad  Helviam  matrem  de  consolatione 410 

ß)  Die  ausserhalb  des  Corpus  stehenden  erhaltenen  Schriften. 

464.  Ad  Neronem  Caesarem  de  dementia  .  411 

465.  De  beneficiis  l.  VII 412 

466.  Ad  Lucilium  naturaliiim  quaestionum  Jibri  VII  413 

467.  Ad  LucUium  episttdarum  moralium  l.  XX 416 

y.  Die  verlorenen  Schriften. 

468.  Aufzählung  der  verlorenen  Schriften 418 

(f)  Apokryphes  und  Exzerpte. 

469.  Der  sogenannte  Briefwechsel  zwischen  Seneca  und  Paulus  419 

470.  Die  Florilegien  aus  Seneca 419 

471.  Die  Exzerpte  aus  Seneca  420 

472.  Rückblick  auf  die  prosaische  Schriftstellerei  Senecas.     Beurteilung  .  421 

«)  Die  Fachgelehrten. 
1.  Die  Encyklopädisten. 

A.  Cornelius  Celsus. 

473.  Die  Encyklopädie  des  Celsus 424 

474.  Die  Medizin  des  Celsus 427 

2.  Die  Grammatiker. 

1.  Q.  Remmius  Palaemon. 

475.  Die  verlorene  Ars  des  Palaemon 428 

2.  Q.  Asconius  Pedianus. 

476.  Des  Asconius  historischer  Kommentar  zu   den  Reden  Ciceros  und   seine  ver- 

lorenen Schriften 429 

3.  M.  Valerius  Probus. 

477.  Die  Probusausgaben  431 


XII  InhaltsverzeichniB  zum  zweiten  Teil. 

Seite 

478.  Die  grammatischen  Schriften  des  Probus 433 

479.  Die  unterschobenen  Probusschriften            434 

3.  Die  Rhetoren. 

1.  P.  Rutilius  Lupus  und  andere  Rhetoren. 

480.  Die  Figurenlehre  des  Rutilius  Lupus *  436 

2.  M.  Fabius  Quintilianus. 

481.  Biographisches            438 

482.  Die  verlorene  Schrift  de  causis  corruptae  eloquentiae 439 

483.  Institutionis  oratoriae  libri  XII 440 

484.  Die  zwei  Sammlungen  der  Quintilianischen  Deklamationen       ....  442 

485.  Die  Unechtheit  der  beiden  Sammlungen             443 

486.  Charakteristik 445 

4.  Die  Juristen. 

487.  Die  Rechtsschulen  der  Proculianer  und  Sabinianer 447 

488.  Die  Proculianische  Schule ^        .        .  448 

489.  Die  Sabinianische  Schule            449 

5.  Die  Schriftsteller  der  realen  Disciplinen. 

1.  Der  Encyklopädist  G.  Plinius  Secundus. 

490.  Biographisches            450 

491.  Die  naturalis  historia 451 

492.  Die  Quellen  der  naturalis  historia 454 

493.  Charakteristik .  456 

494.  Verlorene  Schriften  des  Plinius 457 

2.   C.  Licinius  Mucianus. 

495.  Die  Schriften  des  C.  Licinius  Mucianus 459 

3.  L.  Junius  Moderatus  Columella  und  die  übrigen  Landwirte. 

496.  Columellas  landwirtschaftliches  Werk 460 

497.  Charakteristik  Columellas 462 

4.  Caelius. 

498.  Apici  Caeli  de  re  coquinaria  libri  X                 464 

5.  Scribonius  Largus. 

499.  Das  Rezeptbuch  des  Scribonius  Largus 465 

6.  Sex.  Julius  Frontinus. 

500.  Die  Schriften  Frontins 467 

7.  Die  Agrimensoren. 

501.  Die  agrimensorischen  Schriften 469 

502.  Rückblick 471 


B. 

Zeittafel 


70  V.  Ch.  —  19  V.  Ch.  P.  Vergilius  Maro. 

70  V.  Ch.  —  27  V.  Ch.  Cornelius  Gallus. 

65  V.  Ch.  —  8  V.  Ch.  Q.  Horatius  Flaccus. 

64  V.  Ch.  —  8  n.  Ch.  M.  Yalerius  Messalla  Corvinus. 

59  V.  Ch.  —  17  n.  Ch.  T.  Livius. 

52  V.  Ch.  —  19  n.  Ch.  der  Antiquar  und  Historiker  Fenestella. 

48  V.  Ch.  —  18  n.  Ch.  Ovid.    Sein  Lehrer  der  Rhetor  Arellius  Fuscus.    Zeitgenosse  der 

Didaktiker  Grattius. 
42  V.  Ch.  Horaz  macht  die  Schlacht  hei  Philippi  mit. 
41  V.  Ch.  Asinius  Pollio  verlfisst  seine  Provinz,  das  jenseits  des  Po  gelegene  Gallien. 

Alfenus  Varus  tritt  an  seine  Stelle.    Verteilung  von  Land  an  die  Veteranen.    Vergil, 

Horaz,  Properz  geschädigt. 
40  V.  Ch.  C.  Asinius  Pollio  Konsul,  hesiegt  die  Parthiner  imd  Dalmatier. 
39  Asinius  Pollio  gründete  die  erste  öffentliche  Bibliothek.    (Recitationes.) 
38—36  V.  Ch.  der  sizilische  Krieg,  besungen  von  Cornelius  Severus. 
36  v.  Ch.  Maecenas  Stellvertreter  Octavians  in  Rom. 
31  V.  Ch.  Die   Schlacht  bei   Actium.     Maecenas   mit   Agrippa   Stellvertreter  Octavians 

in  Rom. 
29  V.  Ch.  Die  Tragödie  Thyestes  des  L.  Varius  Rufus  wird  aufgeführt. 
28  V.  Ch.  Gründung  der  bibliotheca  PcUatina  durch  Augustus  (vorher  die  Octavia). 
27  V.  Ch.  Octavian  nimmt  den  Beinamen  Augustus  an.    Triumph  des  M.  Valerius  Mes- 
salla Corvinus.    Die  Dichterin  Sulpicia. 
22  V.  Ch.  Der  Geschichtschreiber  der  punischen  Kriege  L.  Arruntius  Konsul. 
20  V.  Ch.  —  4  n.  Ch.  Gaius  der  Enkel  des  Augustus,  sein  Lehrer  M.  Verrius  Flaccus. 
19  V.  Ch.  Tod  des  Tibull.    L.  Varius  und  Plotius  Tucca  geben  nach  diesem  Jahre   die 

Aeneis  heraus. 
17  V.  Ch.  —  2  n.  Ch.  Lucius  der  Enkel  des  Augustus,  sein  Lehrer  M.  Verrius  Flaccus. 
17  V.  Ch.  Die  Sftkularfeier. 
16  V.  Ch.  Tod  des  Dichters  Aemilius  Macer. 
c.  16  V.  Ch.  —  13  V.  Ch.  Vitmvius  Pollio  schreibt  sein  Buch  über  die  Architektur, 
c.  15  V.  Ch.  Tod  des  Propertins. 
15  V.  Ch.  —  19  n.  Ch.  Germanicus,  der  Dichter  der  Aratea. 
12  V.  Chr.  Tod  des  M.  Vipsanius  Agrippa.    Blüte  des  Rhetors  L.  Cestius  Pius.  —  Der 

Grammatiker  Q.  Caecilius  Epirota. 
9  V.  Ch.  Der  Redner  Cassius  Severus  klagt  den  Freund  des  Augustus,  Nonius  Asprenas, 

wegen  Giftmords  an. 
8  V.  Ch.  C.  Asinius  Gallus,  der  Sohn  des  Asinius  Pollio,  Konsul.   Tod  des  C.  Maecenas. 

Zeitgenossen  die  Dichter  C.  Valgius  Rufus,  Domitius  Marsns  und  Maecenas'  Freigelassener 

C.  Meb'ssus,  der  Schöpfer  der  Trabeata. 
c.  5  V.  Ch.  Blüte  des  Rhetors  Albucius  Silus. 
4  V.  Ch.  Tod  des  M.  Porcina  Latro. 
2  V.  Ch.  M.  Valerius  Messalla  beantragt  für  Augustus  den  Titel  pater  patriae. 


XIV  Zeittafel. 

Die  Jahre  nach  Christas. 

4  Der  Historiker  C.  Glodios  Licinus  Consul  auffectus,  der  Freund  des  Bibliothekars  und 
Schriftstellers  Hyginus. 

5  Der  Jurist  C.  Ateius  Capito  Konsul.  Sein  wissenschaftlicher  Gegner  M.  Antistius 
Labeo. 

8  Verbannung  des  Ovid. 

9  Pompeius  Trogns  schreibt  sein  Geschichtswerk. 

12  Vorgehen  des  Augustus  gegen  litterarische  Produkte. 

14  Tod  des  Augustus  {MonumerUum  Ancyranum).     Sex.  Pompeius,  der  Gönner  des  Va- 

lerius  Maximus,   Konsul.     Die  Philosophenschule  der  Sextier.    Der  Grammatiker  L. 

Crassicius. 
14—37  Tiberius.    Der  Encyklopädist  Cornelius  Celsus.    Der  Dichter   der  Astronomica 

Manilius.    Der  Jurist  Masurius  Sabinus.    Der  Rhetor  P.  Rutilius  Lupus.    Über  den 

Rhetor  Cassius  Severus  wird  Verbannung  und  Vermögensverlust  ausgesprochen. 
16  Fahrt  des  Germanicus  durch  die  Ems  in  den  Ozean  (Albinovanus  Pedo). 
23—79  Der  ältere  Plinius. 
23  Die  Schauspieler  werden  vertrieben. 

25  Senatsbeschluss,  dass  die  Annalen  des  A.  Cremutius  Cordus  verbrannt  werden  sollen. 

26  Tod  des  Rhetors  Q.  Haterius. 

30  Konsulat  des  Vinicius,  dem  C.  Velleius  Paterculus  zum  Antritt  des  Amtes  seinen 
geschichtlichen  Abriss  widmet. 

31  Tod  des  Redners  P.  Vitellius.  Anklage  gegen  P.  Pomponius  Secundus,  den  Tragödien- 
dichter und  Feldherm. 

32  Der  Philosoph  Seneca  kehrt  von  Ägypten  zurück. 

33  Tod  des  Juristen  M.  Cocceius  Nerva,  des  Grossvaters  des  nachmaligen  Kaisers.  Sein 
Nachfolger  Proculus. 

34-62  A.  Persius  Flaccus. 

34  Tod  des  Redners  Scaurus  Mamercus. 

37—41  C.  Caesai*  Caligula.    Der  ältere  Seneca  schreibt  sein  rhetorisches  Werk. 

38  Tod  des  landwirtschaftlichen  Schriftstellers  Julius  Graecinus. 
39-65  M.  Annaeus  Lucanus. 

39  Der  Redner  Domitius  Afer  Cons.  »uff.  —  Der  Redner  Julius  Africanus. 
c.    40  Phaedrus  gibt  sein  3.  Buch  der  Fabeln  heraus. 

41—54  Claudius.  —  Der   Historiker   Aufidius   Bassus.  —  Der   Grammatiker   Remmius 

Palaemon. 
41  Q.  Curtius  Rufiis  bringt  seine   Alexandergeschichte  zum  Abschluss.     Verbannung 

des  Philosophen  Seneca  nach  Korsika.     Suetonius  Paulinus,   als  prätorischer  Legat 

bei  der  Unterwerfung  Mauretaniens  thätig. 
43—4  Abfassungszeit  der  Geographie  des  Pomponius  Mela. 

46  Edikt  des  Claudius  zur  Regelung  des  Eigentums  von  grossen  Landstrecken  in  Tirol. 

47  Edikt  des  Kaisers  Claudius  gegen  den  Theaterunfug. 

47  8  Scribonius  Largus  schreibt  sein  Arzneibuch. 

48  Claudius  hält  die  durch  die  Lyoner  Erztafel  erhaltene  Rede  im  Senat. 

49  Der  Philosoph  Seneca  wird  aus  dem  Exil  zurückgerufen. 

52  L.  Junius  Gallio  (M.  Annaeus  Novatus   von  dem  Rhetor  L.  Junius  Gallio  adoptiert), 

der  Bruder  des  Philosophen  Seneca  verwaltet  Achaia. 
54—68  Nero.    Der  bukolische  Dichter  T.  Calpumius  Siculus.  —   Der  Panegyricus  in 

Pisonem.     Curiatius  Matemus  beginnt  Tragödien  zu  schreiben. 
54 — 57  Q.  Asconius  Pedianus  schreibt  seinen  Kommentar  zu  den  Reden  Ciceros. 
55  Wahrscheinliches  Geburtsjahr  des  Juvenal. 
c.  56  Blütezeit  des  philologischen  Kritikers  M.  Valerius  Probus. 

58  Der  Memoirenschriftsteller  L.  Antistius  Vetns  Befehlshaber  in  Germanien. 

59  Tod  des  Historikers  M.  Servilius  Nonianus  (Cons.  35)  und  der  Memoirenschrift- 
stellerin Agrippina,  der  Mutter  Neros. 

60  Nero  stiftet  die  Quinquennalia.  Bei  der  ersten  Feier  trägt  Lucan  einen  Panegyricus 
auf  Nero  vor. 

62  Der  Philosoph  Seneca  zieht  sich  vom  Hof  zurück. 

64  Martialis  zient  nach  Rom. 

c.  64—5  Columella  schreibt  sein  landwirtschaftliches  Werk. 

65  Entdeckung  der  Pisonischen  Verschwörung.  Tod  des  C.  Calpumius  Piso,  auf  den 
sich  der  Panegyricus  in  Pisonem  bezieht.  Tod  des  Philosophen  Seneca.  Der  Rhetor 
Verginius  Flavus,  der  Jurist  C.  Cassius  Longinus.  der  Philosoph  Musonius  werden  ins 
Exil  getrieben. 

66  Tod  des  Romandichters  Petronius  Arbiter  und  des  P.  Thrasea  Paetus. 


Zeittafel.  XV 

67  Tod  des  Feldherm  und  Memoirenschriftstellers  Domitius  Corbulo. 

68  Der  Dichter  Silius  and  der  Redner  Galerius  Konsuln.  Der  Historiker  Cluvius  Rufus  von 
Galba  zum  Statthalter  der  Provinz  Hispania  Tarraconensis  bestimmt.  Quintilian,  von 
(ralba  nach  Rom  geführt,  eröffnet  seine  rhetorische  Schule.     Comutus  wird  verbannt. 

68—69  Galba,  Otho.     Vitellius. 

69 — 79  Vespasian.  Der  Jurist  Pegasus  praefecttis  urbi  unter  ihm.  Der  Dichter  der  Ar- 
gonautica  G.  Valerius  Flaccus. 

69  Der  Jurist  Caelius  Sabinus  Cons.  suffectus.  Der  Verfasser  von  Biographien  Junius 
Rusticus  Arulenus  Praetor;  Vipstanus  Messalla  nimmt  an  dem  Feldzug  dieses  Jahres 
teil. 

71  Die  Philosophen  und  Astrologen  werden  aus  Rom  hinweggewiesen. 

72  Zum  drittenmal  Konsul  C.  Licinius  Mucianus,  der  Freund  Vespasians. 
74  Der  Redner  Eprius  Marcellus  Konsul  (und  61). 

76  Titus  verfasst  ein   Gedicht  über  einen  Kometen.     Blflte   des  Rhetors   Sex.  Julius 

Gabinianus. 
78  Tacitus  heiratet  die  Tochter  Agricolas. 
79—81  Titus.  —  Der  Historiker  Antonius  Julianus. 
80  Titus  weiht  das  Flavische  Amphitheater  ein.  Martials  Epigramme  auf  die  bei  dieser 

Gelegenheit  gefeierten  Spiele. 
81->96  Domitianus.    Der  Dichter  P.  Papinius  Statins. 
86  stiftet  Domitian  den  Agon  Capitolinus. 

88  Tacitus  wirkt  als  Prätor  und  als  Quindecemvir  bei  den  Säkularspielen.  Quintilian 
zieht  sich  von  der  Schule  zurück. 

89  Die  Astrologen  und  Philosophen  werden  vertrieben, 
c.    90  Tod  des  Redners  Vibius  Crispus. 

93  Tod  Agricolas.    Zweite  Vertreibung  der  Astrologen  und  Philosophen, 
c.    95  Der  Jurist  P.  Juventius  Gelsus,  der  Sohn  nimmt  an  einer  Verschwörung  gegen  Do- 
mitian teil.  -    Statins  in  Neapel. 
96— 98  Nerva. 

97  Tacitus  Konsul,  Julius  Frontinus  curator  aquarum. 

98 — 117  Traian.  Die  Gromatiker  Hyginus  und  Baibus.  Die  Juristen  Neratius  Priscus 
und  Priscus  Javolenus.  —  Bibliotheca  Ulpia.  Unter  Traian  und  Hadrian  schreibt 
Juvenal  seine  Satiren. 

98  Martial  kehrt  in  seine  Heimat  Bilbilis  zurück    —  Die  Dichterin  Sulpicia. 

100  Der  jüngere  Plinius  Konsul  hält  seinen  Panegyricus  auf  Traian.  —  Die   Historiker 
Fabius  Rusticus,  C.  Fannius.    Der  Redner  Pompeius  Satuminus. 

101  Tod  des  Epikers  Silius  Italiens. 

c.  104  Tod  des  Epigrammatikers  Martialis. 

111—112  oder  112—113  Der  jüngere  Plinius  an  der  Spitze  von  Bith3mien. 


Berichtigrungen  und  Zusätze. 

P.  105  lies  im  letzten  Absatz  .Ob  Domitius*  statt  ^Ob  Marsus*. 
^  10b    ^     „        „  „       «umlaufenden'  für  «einlaufenden**. 

«  105  füge  nach  .Schwierigkeiten**  hinzu:  ,in  Bezug  auf  die  Feststellung  des  Eigentums; 

an  der  Identität  mit  Domitius  Marsus  ist  nicht  zu  zweifeln**. 
,  153  Z.  10  von  oben  lies  «des  Minyas'  statt  «der  Minyas*. 
«  154  Z.  28  und  33  von  oben  lies  «Phaethonsage'  statt  «Phaetonsage**. 
«  161  ist  §  309  durch  einen  Strich  von  §  308  abzutrennen. 
«  176  füge  über  nr.  17  «Anhang**  hinzu. 
«  182  Z.  12  von  unten  lies  «Partien*  statt  «Parteien**. 
«  187  Z.  2  ist  zu   bemerken,   dass  Wetmann  (Abh.  fttr  Christ,  p.  147)   ein   dem   Gelasius 

vorausliegendes  Zeugnis  aufgefunden  hat. 
«  238  Z.  6  von  oben  ist  «Carnnas**  zu  lesen  statt  «Carina**. 
«  238  Z.  8  von  oben  ist  statt  «dem  Feuertod  überliefert**  zu  lesen  «verbannt**  (vgl.  p.  244 

Anm.) 
«  248  Z.  2  von  oben  füge  hinzu:  «Bbchkrt,  De  M.  Manilio  poeta,  Leipz.  1891*. 
«  280  Absatz  «Überlieferung*    lies  Persins   (durch   den  Aristarch   der  Römer  Valerius 

Probus)  statt  «Persius  durch  den  Aristarch  der  Römer  Valerius  Probus**.    Vgl. 

p.  433  Anm.  1. 
«  339  Absatz  «Das  Geburtsjahr*  Z.  7  lies  «55  n.  Gh.*  statt  «55  v.  Gh.«. 
«  381,  3.  Anm.  Z.  2  tilge  «spätere* 

Da  der  Druck  ein  Jahr  in  Anspruch  genommen  hat,  fehlt  manche  neuere  Litteratur. 


Einleitung. 

206.  Litterarische  Strömung  der  Augusteischen  Zeit.  Die  Schlacht 
bei  Actium  war  geschlagen,  und  damit  waren  die  Geschicke  Roms  ent- 
schieden. Das  politische  Leben  konzentrierte  sich  jetzt  in  der  Hand  eines 
Einzigen;  für  die  übrigen  blieb  nur  noch  ein  geringer  Spielraum,  ihre 
Kräfte  den  öffentlichen  Interessen  zu  widmen.  Diese  Revolution  musste 
auch  eine  gewaltige  Wirkung  auf  die  Litteratur  ausüben,  sie  war  jetzt 
fast  das  einzige  Mittel  für  aufstrebende  Talente,  ihren  Ehrgeiz  :^u  be- 
friedigen. Das  litterarische  Leben  gelangte  daher  zu  einer  reicheren  Ent- 
faltung, es  begann  sich  eine  Reihe  von  dauernden  Einrichtungen  zu  schaffen. 
So  finden  wir  jetzt,  dass  vornehme  Römer  die  litterarischen  Persönlich- 
keiten um  sich  sammeln,  um  dieselben  geistig  wie  materiell  zu  fördern, 
und  dass  sich  dadurch  Litteraturkreise  bilden.  Es  jst  bekannt,  wie  mächtig 
Maecenas  und  Messalla  durch  solche  Vereinigungen  auf  die  geistige  Pro- 
duktion einwirkten.  Den  Verkehr  zwischen  Autor  und  Publikum  organi- 
sierte Asinius  PoUio;  er  las  zuerst  seine  Schriften  vor  einer  eingeladenen 
Gesellschaft  vor  und  wurde  dadurch  der  Schöpfer  der  Recitationes,  welche 
fast  die  ganze  Kaiserzeit  hindurch  in  Wirksamkeit  blieben.  Durch  diese 
Vorlesungen  konnte  der  Autor  den  Eindruck,  den  sein  Werk  auf  das  Pu- 
blikum machen  würde,  versuchsweise  kennen  lernen,  ehe  er  dasselbe  in 
die  Öffentlichkeit  gab.  Die  litterarische  Kritik  fand  hier  den  günstigen 
Boden  für  ihr  Wachstum.  Neben  den  Recitationen  waren  die  rednerischen 
Vorträge  (Declamationes)  eine  sehr  beliebte  Arena  des  geistigen  Wett- 
kampfs. Vor  einem  ausgewählten  Kreis  oder  vor  dem  grossen  Publikum 
erörterten  die  Rhetoren  in  pathetischer  Diktion  und  mit  Aufgebot  alles 
Scharfsinns  die  fingierten  Themata  mit  ihren  verwickelten  unnatürlichen 
Fällen.  Es  kam  alles  darauf  an,  eine  Sache  von  irgend  einem  neuen  Licht 
aus  zu  betrachten  und  durch  irgend  eine  unerwartete  Sentenz  einen  guten 
Treffer  zu  machen.  Diese  rhetorischen  üebungen  wurden  jetzt  die  Schule 
des  lateinischen  Stils;  besonders  die  epigrammatische  Schärfe  hat  er  hier 
gelernt.  Auch  für  die  Erhaltung  und  die  Verbreitung  des  geschriebenen 
Wortes  wurde  jetzt  neue  Fürsorge  getroffen.  Asinius  PoUio  gründete  die 
erste  öffentliche  Bibliothek,  welcher  bald  andere  folgten.  Auch  der  Buch- 
handel musste  infolge  der  gesteigerten  litterarischen  Bedürfnisse  eine  er- 

Handbuch  der  klass.  AUertnmswlnenscliaft.    Vm.    2.  Teil.  1 


2  BOmisohe  IdtteratargoBchichte. 

höhte  Bedeutung  erhalten.  So  zeigt  sich  auf  allen  Wegen  grosse  geistige 
Regsamkeit,  und  die  Schriftstellerei  wurde  Modesache,  wie  es  der  Dichter 
schildert  (Hör.  Ep.  2, 1, 108): 

mutavit  mentem  poptdus  levis  et  calet  uno 
serihendi  studio;  pueri  patresque  severi 
fronde  camas  vincti  cenani  et  rarmina  dietant. 

Es  kam  hinzu,  dass  auch  die  griechische  Litteratur  immer  mehr  in  den 
Kreis  des  römischen  Denkens  eindrang,  und  dass  sich  zwischen  der  griechi- 
schen und  römischen  gemeinsame  Berührungspunkte  und  gemeinsame 
Schicksale  herausbildeten.  Trotz  dieser  fast  unruhigen  Betriebsamkeit  war, 
genaiier  betrachtet,  die  Litteratur  doch  innerlich  gebrochen.  Gebannt  in 
ihrem  Wirken  an  die  Stadt  Rom,  hatte  sie  in  der  republikanischen  Zeit 
nur  die  römische  Gesellschaft  als  Richterin;  jetzt  aber,  da  in  Rom  ein 
Mann  über  alle  Macht  gebot,  musste  sie  unwillkürlich  ihre  Blicke  auf  ihn 
richten.  Wir  finden  daher  fast  in  allen  Publikationen  der  Kaiserzeit  Be- 
ziehungen zum  Herrscherhause.  Besonders  auf  die  Poesie  möchte  man  das 
Goetheische  Wort  anwenden:  „In  allen  souveränen  Staaten  kommt  der  Ge- 
halt für  die  Dichtkunst  von  oben  herunter."  i)  Die  Geschicke  der  Litteratur 
hingen  fortan  von  der  Gunst  und  Ungunst  dieses  Einzigen  ab.  Es  kamen 
Zeiten,  wo  die  Schriftstellerei  mit  grossen  Gefahren  verbunden  war  und 
das  geschriebene  Wort  seinem  Urheber  schwere  Verfolgungen  eintrug. 
Gewisse  Fächer  hatten  daher  von  vornherein  ein  gedrücktes  Dasein.  Der 
Historiker  musste,  um  nicht  anzustossen,  sich  von  der  Gegenwart  abwenden 
und  entlegene  Zeiten  aufsuchen,  und  selbst  hier  war  es  schwierig,  alle 
Klippen  zu  umschiffen.  Der  Redner  hatte  nur  noch  einen  sehr  eingeengten 
Wirkungskreis  im  Senat  und  vor  dem  Centumviralgericht;  er  musste  seine 
Stätte  aus  dem  Licht  der  Öffentlichkeit  in  die  dumpfe  Schulstube  verlegen. 
Selbst  die  Gesinnung  wurde  durch  die  neue  Gestaltung  der  Dinge  wesent- 
lich beeinflusst;  entweder  wurde  sie  nach  oben  hin  adulatorisch  oder  sie 
wurde  verbissen,  beide  Eigenschaften  durchziehen  das  gesamte  monarchische 
Schrifttum.  Kurz,  es  fehlt  der  Litteratur  das,  was  ihrem  Gedeihen  so  not- 
wendig ist  wie  der  Pflanze  Licht  und  Luft,  es  fehlt  ihr  die  Freiheit. 

207.  Übersicht.  Wie  wir  gesehen  haben,  bildet  die  Schlacht  bei 
Actium  (31  V.  Ch.)  für  uns  den  Ausgangspunkt  eines  neuen  Teils  der 
römischen  Litteratur,  welcher  seinen  Abschluss  in  dem  Gesetzgebungswerk 
des  Kaisers  Justinian  (527  —  565)  findet.  Dieser  grosse  Zeitraum  bedarf 
natürlich  der  Gliederung;  er  zerlegt  sich  in  zwei  ungleiche  Hälften,  deren 
Grenzscheide  die  Regierung  Hadrians  bildet.  Während  bis  dahin  die 
Litteratur  in  einer  Fortentwicklung  begriffen  ist,  beginnt  mit  Hadrian  die 
Produktionskraft  zu  versiegen.  Die  Nachahmung,  das  Ausschreiben,  die 
Verkürzung  der  vorhandenen  Autoren  werden  massgebende  Faktoren  der 
Schriftstellerei.  Nur  die  Jurisprudenz  schreitet  auch  in  diesem  Zeitraum 
ungestört  vorwärts,  ja  sie  erreicht  in  demselben  sogar  ihren  Höhepunkt. 
Noch  zwei  andere  Momente  geben  diesem  zweiten  Abschnitt  ein  charakte- 
ristisches Gepräge.  Während  bisher  die  römische  Litteratur  Stadtlitteratur 


')  Aus  memem  Leben,  Cotta  1871  23,  6. 


Einleitung.  3 

war,  d.  h.  sich  lediglich  in  Rom  abwickelte,  stossen  wir  jetzt  auch  auf 
provinzielle  litterarische  Mittelpunkte,  wodurch  die  Einheit  der  Sprach- 
entwicklung gefährdet  ward.  Von  noch  grösserer  Tragweite  erscheint  das 
zweite  Moment,  dass  der  nationalen  Litteratur  eine  mächtige  Gegnerin  in 
der  jetzt  auftretenden  christlichen  entsteht.  Zwar  haben  beide  Litteraturen 
die  Sprache  und  auch  gewisse  Elemente  der  Bildung  gemeinsam,  allein 
ihr  Ideengehalt  ist  ein  total  verschiedener.  Die  nationale  Litteratur  zehrt 
noch  von  den  Erinnerungen  an  eine  grosse  Vergangenheit,  sie  lebt  und 
webt  im  alten  Römertum,  ja  sie  hält  selbst  krampfhaft  die  unhaltbar  ge- 
wordenen Vorstellungen  von  den  vaterländischen  Göttern  fest;  die  christ- 
liche Litteratur  dagegen  sprengt  die  Schranken  der  Nationalität  ^und  be- 
trachtet alle  Menschen  als  Kinder  eines  und  desselben  Vaters,  sie  erblickt 
ihr  wahres  Vaterland  im  Himmelreich.  Dieser  Kampf  zweier  grund- 
verschiedener Welten  verleiht  der  Epoche  eine  hohe  Anziehungskraft. 
Von  den  beiden  genannten  grossen  Abschnitten  wird  der  erste  in  dem 
vorliegenden  Teil  zur  Darstellung  kommen.  Auch  dieser  verlangt  einen 
Ruhepunkt,  wir  erhalten  denselben  durch  den  Tod  des  Augustus.  Die 
augusteische  Zeit  stellt  die  Übergangsstufe  von  der  republikanischen  Lit- 
teratur zur  monarchischen  dar;  entsprechend  der  veränderten  politischen 
Lage,  müssen  jetzt  der  schriftstellerischen  Thätigkeit  neue  Wege  geebnet 
werden;  der  hohe  Aufschwung,  den  die  Poesie  genommen,  ist  die  Glanz- 
seite dieser  Epoche.  In  dem  folgenden,  von  Tiberius  bis  zu  Hadrian 
reichenden  Zeitabschnitt  gewahren  wir  die  Resultate  der  vorausgegangenen 
Gärung.  Die  Rhetorenschulen  ernten  jetzt  was  sie  gesät.  Die  Poesie  er- 
hält ein  rhetorisches  Gewand,  die  Prosa  nimmt  einen  pikanten,  manierierten 
Stil  an.  Es  verschieben  sich  die  Grenzen  von  Poesie  und  Prosa.  Schäd- 
liches Eingreifen  der  Staatsgewalt  in  den  Gang  der  Schriftstellerei  macht 
sich  jetzt  viel  stärker  geltend  und  hemmt  den  ruhigen  Entwicklungsgang 
des  litterarischen  Schaffens.  Immerhin  regen  sich  aber  auch  in  dieser 
Periode  einige  bedeutsame  Talente. 

Litteratar:  Ausser  den  p.  5  des  ersten  Teils  verzeichneten  Werken  sind  noch  zu 
nennen:  Ribbeck,  Geschichte  der  röm.  Dichtung  II.  Augusteisches  Zeitalter,  Stuttg.  1889. 
SsLLAR,  The  Roman  poetf.  of  the  Äugastan  Age,  2  Edition.,  Oxford  1883,  enthält  ausser 
einer  allgemeinen  Einleitung  hloss  Vergil.  Nisard,  iltudes  sur  les  poetes  latins  de  1a  de- 
cadence,  2  Bde.,  Paris  1878  (4.  Aufl.). 


Zweiter  Teil. 


Die  römische  Litteratur 


in  der  Zeit  der  Monarchie. 


Erste  Abteilung: 

Die  Zeit  Tom  Ende  der  RepnblilL  (30  t.  Cli.)  bis  auf  Hadrian  (ii7  n.  CIi.). 


A.  Die  Litteratur  vom  Ende  der  Republik  bis  zum  Tode 

des  Augustus  (30  v.  Ch.  bis  14  n.  Ch.)- 

Die  Patrone  der  Litteratur. 

1.  Augustus. 

208.  EinfluBS  des  AugastuB  auf  die  Litteratur.  Unsere  Betrach- 
tung hebt  naturgemäss  mit  den  Persönlichkeiten  an,  welchen  es  beschieden 
war,  in  den  Gang  der  Litteratur  einzugreifen.  In  erster  Linie  erscheint 
hier  der  Inhaber  der  Regierungsgewalt,  Augustus.  Ihm  musste  die  Litte- 
ratur eine  ungemein  wichtige  Regierungsangelegenheit  sein,  denn  sie  konnte 
seinen  Interessen  in  hohem  Grade  dienstbar  gemacht  werden.  Ein  Grund- 
gedanke des  Prinzipats  war,  die  durch  die  ewigen  Parteikätnpfe  erbitterten 
Gemüter  zu  beruhigen  und  mit  der  Gegenwart  auszusöhnen.  Bei  dem 
niederen  Volke  konnte  das  Ziel  leicht  durch  materielle  Spenden,  durch 
glänzende  Feste  und  Schaustellungen  erreicht  werden.  Allein  der  Klasse 
der  Gebildeten  musste  doch  ein  Feld  zur  Befriedigung  des  Ehrgeizes  er- 
öffnet werden.  Was  konnte  man  ihnen  aber,  nachdem  die  politische  Arena 
sehr  eingeengt  war,  anders  bieten  als  das  grosse  Reich  der  Litteratur, 
in  dem  Ruhm  und  Unsterblichkeit  des  Namens  den  Jüngern  entgegen- 
winkte? Aber  die  Litteratur  konnte  zu  gleicher  Zeit  der  versöhnenden 
Mission  des  Monarchen  die  Hand  entgegenstrecken;  sie  konnte  das  Friedens- 
regiment des  Herrschers  als  das  goldene  Zeitalter  feiern,  die  Grösse  des 
römischen  Weltreichs  in  erhabener  Weise  vor  Augen  stellen,  den  Römer- 
sinn durch  lebensfrische  Schilderung  alter  Gebräuche  und  Sitten  wecken, 
endlich  die  Philosophie  der  Entsagung  und  des  Quietismus  predigen.  Auf 
diese  Vorteile  der  Litteratur  durfte  der  Regent  aber  nur  dann  rechnen, 
wenn  er  den  litterarischen  Persönlichkeiten  das  grösste  Wohlwollen  ent- 
gegenbrachte. Er  zeigte  dies  in  der  mannigfachsten  Weise,  er  besuchte 
die  Recitationen  und  hörte  mit  der  grössten  Ausdauer  dieselben  an  (Suet. 
Aug.  89);  er  zog  die  Schriftsteller  an  seinen  Hof  und  hob  dadurch  ihre 
soziale  Stellung;  für  Leute,  welche  in  niederen  Verhältnissen  emporge- 
wachsen waren,  musste  diese  Auszeichnung  ein  grosser  Sporn  sein.  Wie 
freundlich  er  mit  den  Autoren  verkehrte,  welchen  hohen  Wert  er  auf 
ihren  Umgang  legte,  besagen  deutlich  Stellen  aus  Briefen  an  Horaz.  Auch 


8         Römische  Litteratnrgeschichte.    Ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

verhehlte  er  nicht,  dass  ihm  die  Erwähnung  von  Seiten  eines  angesehenen 
Schriftstellers  eine  grosse  Ehre  sei.  Wie  musste  das  den  Stolz  dessen, 
der  eine  solche  Ehre  erweisen  konnte,  heben?  Auch  die  Sorgen  des  Lebens 
nahm  er  gern  den  hervorragenden  litterarischen  Persönlichkeiten  ab;  es 
war  ihm  die  reinste  Freude,  den  Weg  für  die  Produktion  durch  Gewährung 
einer  behaglichen  Existenz  zu  ebnen.  Schon  in  seinen  Jugendgedichten, 
den  Bucolica,  konnte  Yergil  dankerfüllten  Herzens  sagen:  Dens  nobk  haec 
otia  fecü;  diese  fürstliche  Freigebigkeit  begleitete  den  Dichter  bis  zu 
seinem  Tode.  Yarius  erhielt  für  seinen  Thyestes,  der  bei  den  actischen 
Spielen  aufgeführt  wurde,  als  Geschenk  eine  Million  Sesterzen.  Horaz  bot 
er  eine  Sekretärstelle  an.  Doch  auch  auf  das  Schaffen  selbst  gewann 
Augustus  grossen  Einfluss.  Besonders  ist  es  die  Dichtung,  in  welcher  wir 
seine  Spuren  finden.  Bekannt  ist  der  Anteil,  den  er  an  der  Komposition 
wie  an  der  Erhaltung  und  der  Herausgabe  der  Aeneis  nahm;  der  Anregung 
des  Kaisers  verdanken  wir  Horazens  Carmen  saeculare,  das  vierte  Buch 
der  Oden  und  den  schönen  ersten  Litteraturbrief  im  zweiten  Buch  der 
Episteln;  die  wundervollen  römischen  Elegien  des  Properz  kamen  einem 
Lieblingsgedanken  des  Augustus  entgegen.  Von  Panegyriken  und  gelegent- 
lichem Preis  des  Herrscherhauses  wollen  wir  hier  ganz  absehen.  Für  die 
litterarischen  Bedürfnisse  sorgte  er,  nachdem  Asinius  PoUio  die  Initiative 
ergriffen,  durch  Anlegung  zweier  neuer  Bibliotheken,  einer  in  der  Säulen- 
halle der  Octavia^)  und  einer  zweiten  am  Tempel  des  palatinischen  Apollo.*) 
Von  grosser  Bedeutung  für  die  Entwicklung  der  Jurisprudenz  war  seine 
Verfügung,  dass  die  responsa  fortan  unter  kaiserlicher  Autorität  erteilt 
werden  sollten.^)  »Von  diesem  Augenblick  an  verschwindet  der  Einfluss 
des  Pontifikalkollegiums  auf  die  Entwickelung  des  Civilrechts  und  der  prin- 
ceps  im  Bunde  mit  der  jetzt  endgültig  laisierten  Jurisprudenz  tritt  in  den 
Vordergrund."^) 

Allein  auch  die  Schattenseiten  fehlen  dem  Bilde  nicht.  Einmal  wurde 
durch  das  Eingreifen  des  princeps  in  die  Litteratur  der  adulatorische  Ton 
nach  dem  Muster  von  Alexandria  grossgezogen.  Dann  begannen  schon  unter 
Augustus,  obwohl  er  Angriffen  gegenüber  gern  ein  Auge  zudrückte,  polizei- 
liche Massregeln  gegen  die  Schriftsteller  und  ihre  Werke.  Wir  erinnern 
nur  an  die  Verfolgungen  des  Labienus,  Cassius  Severus  und  des  Ovid. 
Sie  zeigen,  dass  trotz  allen  Glanzes,  den  die  Litteratur  im  augusteischen 
Zeitalter  entfaltete,  doch  der  Todeskeim  bereits  in  ihr  schlummerte. 

Campe,  Litterar.  Tendenzen  und  Zustande  zu  Rom  zur  Zeit  des  Horaz  (Fleckeis. 
Jahrb.  103, 463).  Sellar,  Ute  Roman  Poets  of  the  Augustan  Age  (Einleitung  p.  1—58). 
Friedländer,  Sittengesch.  3*  p.  375.    Boissier,  Vopposition  sous  les  Cdsars,  Paris  1885. 

209.  Die  Schriftstellerei  des  Augustus.  Die  ausgezeichnete  Bil- 
dung, die  Augustus  durch  angesehene  Lehrer  wie  durch  den  griechischen 
Philosophen  Areios,  den  berühmten  griechischen  Lehrer  der  Rhetorik, 
ApoUodoros  von  Pergamon  (Suet.  Aug.  89),  und  den  lateinischen  Rhetor 
M.  Epidius  (Suet.  de  rhet.  4)  zu  teil  ward,  befähigte  ihn  auch  zur  eigenen 
produktiven   Thätigkeit   auf    dem   litterarischen   Gebiete.    Sein   Biograph 


^)  Suet.  de  gramm.  21. 

^)  Suet.  Aug.  29,  de  gramm.  20. 


8)  Pomp.  Dig.  1,  2, 2, 47. 
*J  SoHM,  Instit.*  p.  61. 


Angnatus.  9 

Sueton  hatte  noch  zwei  dichterische  Werke  von  ihm;  das  erste  in  Hexa- 
metern führte  den  Titel  „Sicilien"  und  schilderte  wahrscheinlich  den  von 
ihm  gegen  Sextus  Pompeius  in  Sicilien  geführten  Krieg;  das  andere  um- 
fasste  Epigramme,  die  er  im  Bade  auszusinnen  pflegte.  Martial  (11,20) 
hat  uns  eines  erhalten;  leider  ist  dasselbe  sehr  obscöner  Natur  und  be- 
weist uns,  wie  sehr  damals  die  Zotenpoesie  in  Flor  war.  Sogar  an  eine 
Tragödie  wagte  sich  Augustus,  mit  Feuereifer  nahm  er  einen  „Ajax^  in 
Angriff;  allein  als  er  mit  dem  Werk  nicht  recht  vorwärts  kommen  wollte, 
brach  er  ab  und  gab  teilnehmenden  Freunden,  die  sich  nach  dem  Schick- 
sal der  Arbeit  erkundigten,  zur  Antwort,  sein  Aiax  habe  sich  in  den 
Schwamm  „gestürzt**.  Auch  von  Spottgedichten  (Fescennini),  die  er  ge- 
legentlich verfasste,  haben  wir  Kunde  erhalten  (Macr.  2, 4, 21).  Von  seinen 
prosaischen  Schriften  vermissen  wir  am  meisten  seine  „Denkwürdig- 
keiten'* in  13  Büchern,  welche  bis  zum  cantabrischen  Kriege  reichten, 
also  mit  der  dauernden  Einrichtung  des  Prinzipates  27  v.  Gh.  abschlössen.  0 
Auf  den  im  J.  9  v.  Gh.  im  Feldlager  verstorbenen  Drusus  machte  er  nicht 
nur  die  poetische  Grabschrift,  sondern  verfasste  auch  einen  Abriss  seines 
Lebens  in  Prosa.  In  die  Gatolitteratur  griff  Augustus  mit  einer  Ent- 
gegnung auf  den  Panegyricus  des  Brutus  ein  (Rescripta  Bruto  de  Catone). 
Ausserdem  pflegte  er  die  Gattung  der  koyoi  nQo%Q€mixoi\  indem  er  eine 
Schrift  (hortationes  ad  phüosophiam)  verfasste,  in  der  er  zum  philosophi- 
schen Studium  anregen  wollte.  Als  Redner  war  Augustus  sehr  sorgfaltig; 
er  sprach  nur  nach  eingehender  Vorbereitung,  sein  Stil  vermied  alles  Manie- 
rierte und  strebte  vor  allem  Klarheit  des  Gedankens  an  (Suet.  Aug.  84 
und  86).  Eine  Reihe  von  Reden  wird  von  den  Autoren  erwähnt.  End- 
lich gab  es  auch  Sammlungen  seiner  Briefe,  denn  die  Schriftsteller  ge- 
denken mehrfach  solcher,  und  allgemein  bekannt  sind  die  Stellen,  welche 
Sueton  in  seiner  Horazbiographie  augusteischen  Briefen  entnommen. 

Von  allen  diesen  litterarischen  Schöpfungen  ist  keine  auf  die  Nach- 
welt gekommen.  Sie  scheinen  also  nicht  sehr  bedeutend  gewesen  zu  sein; 
und  selbst  die  hohe  Stellung  des  Autors  konnte  offenbar  nicht  über  die 
Mängel  hinweghelfen. 

Die  Gedichte  des  Augustus.  Suet  Aug.  85  Poetica  summatim  attigit,  Unus 
liber  extat,  scriptus  ah  eo  hexametris  versibus,  cuius  et  argumentum  et  titulus  est  Steil ia; 
extat  alter  aeque  modicus  Epigrammatum,  quae  fere  tempore  balinei  meditabatur.  Nam 
tragoediam  magno  impetu  exorsus,  non  succedenti  stilOf  abolevit  quaerentibusque  amicitt, 
quidnam  Aiax  ageret,  respondU  Äiacem  auum  in  spongiam  incubuisse.  Suidas  p.  194  Bekk. 
Avyovaxog  —  ey^a^s  —  xal  rgayt^dlay  AUtvxog  rs  xal  UxMetogt  wozu  Dindorf,  Soph. 
fragm.f  Oxf.  1860  p.  208  bemerkt  „AchiUis  nomen  addidit,  quin  denegata  Aiaci  arma 
Achillis  tragoediae  argumentum  pratbuerunt."  Ein  von  Haoens,  Rhein.  Mus.  35,  569  aus 
Cod.  Bern.  109  veröffentlichtes,  den  Namen  Octavianus  Augustus  tragendes  Epigramm 
ist  unecht. 

Die  prosaischen  Schriften  des  Augustus.  Suet.  85  muUa  carii  generis  prosa 
oraiione  compoauit,  ex  quibus  nonnülla  in  coetu  familiarium  reliä  in  auditorio  recitaritf 
aicut  Rescripta  Bruto  de  Catone,  quae  volumina  cum  iam  senior  ex  magna  parte 
Ugisset,  fatigatus  Tiberio  tradidit  perlegenda;  item  Hortationes  ad  philosophiam  et 
aliqua  De  vita  sua,  quam  tredecim  libris,  Cantabrico  tenus  bello  nee  ultra ,  exposuit.  Das 
letzte  Werk  citiert  Plut.  comp.  Demosth.  c.  Gic.  3  cJ$  aviog  6  Kaiaag  iv  totg  nqog  'Ay^in- 
nav  nal  Maixtjyay  vnofiyijfiaaiy  etQtjxey.  (Die  Fragmente  bei  Pkter  p.  252.)  —  Über  die 
Hortationes  vgl.  Dibls,  Doxogr.  p.  83.    Hartlich,  Leipz.  Stud.  11,305.    -  Suet.  Claud.  1 

>)  Nissen,  Rhein.  Mus.  41,492. 


10      BOmiflche  Litteratargesohiohte.    n.  Die  Zeit  der  Honarohie.    1.  Abteilung. 

nee  corUentus  elogium  iumulo  eius  (Drusi)  versibus  a  se  eompositis  insetdpsisse,  etiam 
vitae  memoriam  prosa  aratione  composuit.  —  Über  die  Reden  vgl.  Meybb,  fragm.  arat, 
p.  518.  —  Stellen  aus  Briefen  siehe  bei  Suet.  Aug.  71, 76  u.  86,  besonders  aber  Suet.  Claud.  4. 

210.  Der  schriftliche  Nachla43B  des  AugastuB.  Für  den  Fall  seines 
Todes  hatte  Augustus  in  ausserordentlich  umsichtiger  Weise  Bestimmungen 
getro£Fen.  Fünf  Aktenstücke,  die  er  teils  selbst  geschrieben,  teils  diktiert 
hatte,  wurden  nach  seinem  Hingang  im  Senat  verlesen.  Zunächst  waren 
dies  Anordnungen  über  sein  Leichenbegängnis,  dann  sein  bürgerliches 
Testament.  Aber  ungleich  wichtiger  waren  die  Dokumente,  welche  den 
Zweck  hatten,  sein  Andenken  nach  seinen  Intentionen  der  Nachwelt  zu 
überliefern,  d.  h.  welche  die  Summe  seines  Lebens  ziehen  sollten.  Er 
veifasste  nach  Sueton  einen  Abriss  seiner  Thaten  mit  der  ausdrücklichen 
Verfügung,  dass  derselbe  auf  zwei  Säulen  eingegraben  werde,  welche  vor 
seinem  Grabmal,  dem  Mausoleum,  zur  Aufstellung  kommen  sollten,  *)  dann 
gab  er  eine  Übersicht  über  die  Finanzen  und  das  Militär  des  Reichs.  Dienten 
diese  zwei  Schriftstücke  der  Feststellung  des  Thatsächlichen,  so  fasste  er 
in  einem  an  Tiberius  und  den  Senat  gerichteten  Schreiben  die  Zukunft 
des  Reiches  ins  Auge  und  erteilte  politische  Ratschläge.  Er  warnte,  durch 
zu  häufige  Freilassungen  und  Erteilungen  des  Bürgerrechts  den  Grundstock 
des  Staates  zu  schädigen,  er  empfahl,  die  Beteiligung  an  den  Staats- 
geschäften allen  Befähigten  zugänglich  zu  machen  und  nicht  alles  in  Ab- 
hängigkeit von  Einem  zu  bringen,  d.  h.  er  plädierte  für  die  Aufrecht- 
haltung der  gegenwärtigen  Verfassung,  endlich  in  Bezug  auf  die  aus- 
wärtige Politik  verurteilte  er  alles  auf  Expansion  zielende  Streben.  Von 
diesen  fünf  Aktenstücken  ist  uns  nur  ein  einziges  erhalten,  der  „Abriss 
seiner  Thaten"  im  Monumentum  Ancyranum. 

Zeugnisse  Über  den  schriftlicben  Nacblass  des  Augustus.  Über  denselben 
liegen  folgende  Stellen  vor:  Tac.  Ann.  1,  8  nihil  primo  aenatua  die  agi  poLSsm  est  niai 
de  supremis  Äugusti;  cuius  teatatnentum,  inlatum  per  virginea  Veatae,  Tiberium  et 
Liviam  heredes  habuit.  1, 11  proferri  libellum  recitarique  iuaait  (Tiberiua).  Opea  publica^ 
continebantur,  quantum  civium  aociorumque  in  armia,  quot  clasaea  regna  provinciae,  tribtUa 
aut  vectigalia  et  neeessitatea  ac  largitionea.  Quae  euncta  sua  manu  peracripaercU  Augttatua 
addideratque  conailium  cdürcendi  intra  terminoa  imperii.  Suet.  Aug.  101  de  tribua  voluminibua, 
uno  mandata  de  funer e  auo  complexua  est,  (Utero  indicem  rerum  a  ae  geatarum, 
quem  vellet  inddi  in  aeneia  tabulia,  quae  ante  Mausoleum  atatuerentur,  tertio  breviarium 
totiua  imperii,  quantum  militum  atib  aignia  ubique  eaaet,  quantum  pecuniae  in  aerario  et 
fiacia  et  vectigdliorum  reaiduia.  Adiecit  et  libertorum  aervorumque  nomina,  a  quibua  ratio 
exigi  poaaet.  Dio  56,32  xal  tag  diad^ijxag  avrov  IloXvßioi  rig  xaiaagetog  aviyvta,  56,33" 
xocttvxa  fiiy  al  Sva^'^xaL  iSrjXovy,  iaexofiia^rj  dk  xai  ßißXla  xiaaaqa  •  —  iyiyQtmxo  di  iy 
fiky  T^  TiQüittf)  oaa  xijg  tatprjg  eix^ro,  iv  rf^  t^  devrigift  tu  egya  a  enga^e  ndyra,  «  xai 
ig  /aAÜKa;  atijXag  ngog  tc^  V9^^  avtov  ara^eiaag  avaygatpijvai,  ixiXavaev  *  ro  tgiroy  zd 
xe  xdüy  axgaxiarxcSv  xai  xa  xaSy  ngoaoStov  xuiv  xe  dyaX(Of£.dxwv  xtoy  drjfioclmyy  x6  xe  nXij&og 
xtSy  iy  xoig  ^aavgoTg  ^gwdxfay,  xtd  oaa  äXXa  xo^ovx6xgona  ig  xtjy  ijyefioyiay  (pigovxa  i^y, 
eixB  xai  x6  xixagxov  iyxoXdg  xai  iniax^tpeig  X(^  Ttßegit^  xai  xm  xoiy^y  aXAa;  re 
xai  oniog  fiijx'  dneXev^egotai  TtoXXovg,  Vya  fiij  nayxodanov  oxXov  xijy  noXiy  TiXtjgiuiaaMrty  fiijx' 
av  ig  xtjy  noXixeiay  avx^ovg  iaygdifxoai^yy  i'ya  noXv  x6  dia<pigoy  avxoTg  ngog  xovg  vnrjxoovg 
j  *  tu  xe  xoty«  ndai  xotg  dvyafiiyoig  xai  si^iyai  xai  ngdtxeiy  inixginuyy^  xai  ig  fArjdiya 
dyagxdy  avxa  nagpyeae  inpiaiy,  örtiag  fiijx e  xvgayyiSog  xtg  ini&vfÄijau,  fiijx'  av  nxalaayxog^ 
ixBivov  x6  dt^ficaioy  atpaXn  '  yywfiijy  xe  etvxotg  Icfoixe  xoTg  xe  nagovaiy  dgxea&ijyai,  xai 
[jirj6afAiag  ini  nXsioy  xrjy  agxfjv  inav^aai  i^eXijatti  '  dvatpvXaxxoy  xe  ydg  avxijy  eaea9ai 
xai  xtydvyetlaeiy  ix  xovxov  xai  xd  oyia  dnoXiaat  ^q>i]. 

Diese  Zeugnisse  gehen  auf  eine  Quelle  zurück  (vgl.  Nissen,  Rh.  Mus.  41, 481),  welche 
fünf  Aktenstücke  des  Augustus  namhaft  machte,  nämlich: 

^)  Vgl.  Geppert,  Zum  Monum.  Ancyr.  p.  11. 


AagUBtoB.  11 

1.  Anordnungen  über  sein  Leichenbegängnis  (Suei.,  Dio); 

2.  sein  bürgerliches  Testament  (Tacitus,  Dio); 

3.  sein  politisches  Testament  (Dio).  Bei  Tacitus  ist  offenbar  auf  dasselbe  hinge- 
wiesen mit  den  Worten  addideratque  consilium  cöercendi  intra  terminos  imperii.  Nach 
Tacitos  wäre  es  also  ein  Anhang  zu  dem  Breviarium  und  ihm  folgt  Mommsen  (Sybels 
bist.  Zeitschr.  57  [1887]  390),  nach  Dio  aber  eine  eigene  Schrift; 

4.  der  Index  rerum  (Suet.,  Dio); 

5.  Breviarium  (Suet.,  Dio,  der  libellua  des  Tacitus). 

Discriptio  totius  Italiae.  Plinius  (n.  h.  3,  46)  schreibt:  nunc  ambUum  eins 
(liaUae)  urhesqtie  enumerabimus,  qua  in  re  praefari  necessarium  est  auctarem  nos  divum 
Augustum  secuturos  discriptionemque  ab  eo  factam  Italiae  totius  in  regiones  XI,  sed  ordine 
eo  qui  litorum  tractu  fiet,  urbium  quidem  vicinitates  oratione  utique  praepropera  servari 
non  posse,  itaque  interiore  exin  parte  digestionem  in  litteras  eiusdem  nos  secuturos,  coloniarum 
mentione  signata  quas  Üle  in  eo  prodidit  numero.  Nach  diesen  Worten  gedenkt  Plinius  die 
1 1  Regionen  zu  Grunde  zu  legen,  aber  nicht  in  der  von  Augustus  festgesetzten  Reihenfolge, 
sondern  nach  dem  Lauf  der  Küste,  bei  Beschreibung  des  Binnenlands  will  er  die  Verzeich- 
nisse der  Städte  nach  der  von  Augustus  gewählten  alphabetischen  Anordnung  geben  und 
dabei  die  Kolonien  besonders  hervorheben,  die  Augustus  erwähnt  hatte.  Die  Wiederher- 
stellung dieser  augusteischen  Verzeichnisse  als  höchst  wichtiger  Urkunden  ist  von  der 
grössten  Bedeutung.  Mit  dem  Breviarium  werden  diese  Verzeichnisse  nicht  im  Zusammen- 
hang gestanden  sein  (Guirrz  p.  49).  —  BoaxAim,  Bemerkungen  zum  schiiftl.  Nachl.  des 
K.  Aug.  p.  33.  Detlefsen,  Comment.  Momms.  p.  23.  Cüntz,  De  Augusto  Plinii  geographi' 
corum  auctore,  Bonn  1888,  der  Buchform  dieser  Verzeichnisse  statuiert. 

211.  Das  Monumentuin  Ancyranum.  Unsere  Kenntnis  von  dem 
Bericht  des  Augustus  über  seine  Thaten  beschränkte  sich  lange  Zeit  auf 
das  Wenige,  das  uns  Sueton  darüber  mitgeteilt.  Niemand  ahnte,  dass  in 
einem  entlegenen  Ort  des  fernen  Ostens  der  Bericht  selbst  zum  Vorschein 
kommen  sollte.  Es  war  im  J.  1555,  dass  eine  kaiserliche  Gesandtschaft 
nach  Ancyra,  der  ehemaligen  Hauptstadt  Galatiens,  kam.  Dieselbe  fand 
in  dem  Pronaos  des  Tempels,  der  einst  Augustus  und  der  Göttin  Roma 
geweiht  war,  den  Bericht  des  Augustus  in  der  lateinischen  Originalsprache 
und  in  griechischer  Übersetzung;  sie  Hess  Teile  des  lateinischen  Textes 
abschreiben.  Allein  trotz  dieser  Entdeckung  und  trotz  weiterer  Mitteilungen 
von  Reisenden  blieb  ,die  Königin  der  Inschriften«  drei  Jahrhunderte  hin- 
durch  ein  ungehobener  Schatz.  Erst  im  Jahre  1861  wurden  wir  durch 
eine  französische  Expedition  über  das  Denkmal  genauer  unterrichtet;  der 
lateinische  Text  und  Teile  des  griechischen  wurden  jetzt  durch  ein  Facsimile 
bekannt  gemacht.  In  allerneuester  Zeit  hat  endlich  auf  Anregung  Momhsens 
der  bekannte  Baumeister  Humann  Gipsabgüsse  der  Inschrift  angefertigt; 
dieselben  befinden  sich  in  Berlin  und  ersetzen  uns  fast  das  Original.  Auf 
Grund  derselben  wurde  von  Mommsen  eine  meisterhafte  Bearbeitung  der 
Inschrift  gegeben.  Von  der  griechischen  Übersetzung,  die  allem  Anschein 
nach  erst  in  Galatien  angefertigt  wurde,  ^)  haben  sich  auch  wenige  Bruch- 
teile in  dem  einst  zur  Provinz  Galatien  gehörenden  Apollonia  vorgefunden. 

Die  35  Kapitel  umfassende  Inschrift  zerfallt  ihrem  Inhalt  nach  in 
drei  Teile,  zuerst  (c.  1 — 14)  zählt  sie  die  Ämter  und  Ehrungen  auf,  die 
Augustus  erlangt  hatte,  im  zweiten  Teil  (c.  15 — 24)  macht  sie  die  Auf- 
wendungen namhaft,  die  Augustus  für  Staat  und  Bürgerschaft  gemacht, 
wie  Geldspenden,  Bauten,  Feste;  der  dritte  Teil  endlich  (c.  25 — 35)  ent- 
hält seine  politischen  Thaten  im  Krieg  und  Frieden.  Auf  eine  völlige  Ein- 
haltung der  Disposition  ist  es  nicht  abgesehen,  da  ja  im  ersten  Teil  bei 


0  Nissen,  Rh.  Mus.  41, 494. 


12       Römische  LitteratargeBchiohte.    Ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Erwähnung  der  Auszeichnungen  auch  manchmal  die  Thaten  zu  berühren 
waren.  Was  will  Augustus  mit  diesem  merkwürdigen  Dokument?  Er  zieht 
in  demselben  die  Summe  seines  Lebens,  er  legt  am  Ende  seiner  Tage 
Rechenschaft  von  seinem  langen  staatsmännischen  Wirken  ab,  er  stellt  zu 
diesem  Zweck  seinen  Ehrungen  seine  Thaten  gegenüber,  er  zählt  auf,  was 
er  vom  römischen  Volk  empfangen,  und  was  er  dem  römischen  Volk  ge- 
geben. Schwieriger  als  der  Zweck  der  Inschrift  ist  deren  litterarischer 
Charakter  zu  bestimmen.  Von  grosser  Wichtigkeit  wäre  in  dieser  Hinsicht, 
wenn  wir  ermitteln  könnten,  wie  Augustus  selbst  seinen  Bericht  genannt 
hat.  Aus  der  jetzigen  Überschrift  gewinnen  wir  diese  Kenntnis  nicht, 
denn  diese  Überschrift  stammt  nicht  von  der  Hand  des  Augustus.  Da- 
gegen dürfte  uns  Sueton  zu  einem  Ergebnis  führen.  Als  Augustus  letzt- 
willige Bestimmungen  über  die  Aufstellung  seiner  Denkschrift  vor  seinem 
Orabmal  traf,  musste  er  dieselbe,  die  wahrscheinlich  ohne  Titel  war,  doch 
irgendwie  bezeichnen.  Sueton  teilt  uns  diese  für  den  Todesfall  erlassenen 
Verfügungen  mit.  Da  er  nun  die  wegen  des  Platzes  des  Dokuments  er- 
gangene Anordnung  durch  den  Konjunktiv  einführt,  mithin  als  fremde 
Meinung  darstellt,  ^)  so  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  auch  die  Bezeichnungs- 
weise der  Inschrift  nicht  von  ihm,  sondern  von  Augustus  selbst  herrülwt. 
Sie  wird  aber  hier  index  rerum  a  se  gestarum  genannt,  was  wir  natürlich 
in  index  rerum  a  me  gestarum  umsetzen  müssen.  Ist  diese  Vermutung 
richtig,  so  hätte  also  Augustus  seine  Denkschrift  in  die  Gattung  der  „res 
gestae^  eingereiht,  welche  in  der  That  als  ein  Zweig  der  Historiographie 
in  der  römischen  Litteratur  erscheint.  Allerdings  würde  der  Titel  streng 
genommen  nur  auf  den  zweiten  und  dritten  Teil  passen,  also  a  potiori 
gewählt  sein.  Eine  Schwierigkeit  bleibt  noch  übrig,  die  Aufstellung  des 
Berichts  vor  dem  Orabmal  des  Augustus.  Dieser  Umstand  hat  angesehene 
Forscher  bestimmt,  in  dem  Dokument  eine  Grabschrift  zu  erkennen. 
Allein  dass  die  Form  der  Grabschrift  nicht  vorliegt,  sieht  man  auf  den 
ersten  Blick.  Wohl  aber  ist  möglich,  dass  Augustus  seinen  Bericht  zu- 
gleich als  Ersatz  für  eine  Grabschrift  angesehen  wissen  wollte.  Doch 
wie  man  auch  darüber  denken  mag,  die  hohe  Bedeutung  der  Inschrift  ist 
keinem  Zweifel  unterworfen.  Diese  schlichte,  einfache  Aufzeichnung  der 
Thaten  eines  reichen  Lebens  erfüllt  jeden  Leser  mit  Ehrfurcht. 

Der  Titel  der  Inschrift  und  der  Anhang.  Der  Titel  lautet  im  lateinischen 
£xemplar:  Herum  gestarum  divl  Augusti,  quibus  orhem  terrarum  imperio  populi  Rom, 
subiecit,  et  inpenaarum^  quas  in  rem  publicam  populumque  Romanum  fecit,  incisarum  in 
duabus  aheneis  piliSf  quae  sunt  Romae  positae,  exemplar  subiectum.  Die  Inschrift  schliesst 
mit  den  Worten:  cum  scripsi  haec,  annum  agebam  septuagensufmum  sextum].  Dann  folgt 
ein  Anhang,  in  dem  zuerst  die  Summe  der  Geldspenden,  dann  die  neuen  oder  restituierten 
Bauten  aufgefühi't  werden,  endlich  noch  ganz  allgemein  angegeben  wird,  worauf  sich  die 
impensae  des  Augustus  erstreckt  haben.  Mommsen  bemerkt  richtig  (Sybels  bist.  Zeitschr. 
57  [1887]  397,3):  ,  Titel  und  Schluss  geben  sich  ausdrücklich  als  nicht  von  Augustus  ge- 
schrieben; es  sind  Zusätze  und  zum  Teil  recht  einfältige,  nicht  Interpolationen."  —  Über 
das  exemplar  subiectum  vgl.  Momhsen  p.  Xi,  dagegen  Nissen,  Rh.  Mus.  41,494. 

Abfassungszeit.  Die  letzten  Ereignisse,  die  erwähnt  werden,  fallen  in  das  Jahr 
14  n.  Ch.,  wie  der  dritt«  Census  (Frühjahr  14  n.  Ch.)  und  das  37.  Tribunat  (Juni  14 
n.  Ch.).  Aus  einer  Störung  der  Ordnung,  welche  in  der  Reihenfolge  der  Spenden  eine 
Schenkung   an   die  Veteranen  erfahren,   will  Momxsen  folgern,   dass  die  Inscnrift  bereits 


*)  J.  Schmidt,  Philol.  45, 403.    Mommsek,  Sybels  hist.  Zeitschr.  1.  c.  p.  391. 


G.  Haecenas.  13 

vor  2  y.  Ch.  und  nach  5  v.  Ch.  von  Augustus  geschrieben  wurde  und  im  J.  14  n.  Ch.  Zu- 
sätze erhalten  habe.  Neuerdings  äussert  er  sich  so  (Sybels  bist.  Zeitschr.  57  [1887]  397): 
«Nach  sprachlichen  Judicien  ist  das  Schriftstück  von  Augustus  nicht  erst  wenige  Monate 
vor  seinem  Tode,  sondern  früher  aufgesetzt  und  durch  Überarbeitung  von  fremder  Hand 
auch  das  Datum  umgeschrieben  worden,  welches  es  trägt/  Vgl.  jedoch  Bobmann  p.  11. 
Berok,  Ausg.  p.  4. 

Litterarischer  Charakter  der  Inschrift.  Während  über  die  grosse  Bedeutung 
der  Inschrift  alles  einig  ist,  gehen  die  Meinungen  über  den  litterarischen  Charakter  der 
Inschrift  auseinander.  Gelegentlich  wurde  sie  ein  „politisches  Testament*^  genannt 
von  HiBSCHFELD,  Wien.  Stud.  3  (1881)  p.  264;  ein  „Rechenschaftsbericht*  von  Mommsen, 
Hermes  18(1883)  p.  186;  eine  „Grabschrift"  von  Nissen,  Sybels  bist.  Zeitachr.  46  (1881) 
p.  49  Anm.  5,  Ital.  Landesk.  1  (1883)  p.  31  und  p.  81.  Aus  diesen  gelegentlichen  Äusse- 
rungen entwickelte  sich  eine  Streitfrage,  nachdem  Borkann,  Bemerkungen  zum  schriftl. 
Nachl.  des  Kaisers  Augustus  (1884)  p.  4  in  ausführlicher  Weise  für  die  Charakterisierung 
des  Denkmals  als  „Grabschrift''  eingetreten  war.  Auf  seine  Seite  stellte  sich  sofort 
J.  Schmidt,  Philol.  44  (1885)  p.  455,  während  Hirschfeld  ihm  entgegentrat  und  jetzt  die 
Inschrift  „memoria  vitae*  d.  h.  einen  Bericht  über  sein  öffentliches  Leben  und  Wirken 
genannt  wissen  wollte  (Wien.  Stud.  7  [1885]  p.  174),  was  wieder  Schmidt  Anlass  zu  einer 
lebhaften  Replik  gab  (Philol.  45  [1886]  p.  393).  Auch  Wilamowitz  bekämpft  die  Auf- 
fassung des  Denkmals  als  „Grabschrift*  (Hermes  21  [1886]  p.  623).  Vgl.  dazu  Geppert, 
Zum  Monumentum  Ancyr.,  Berl.  1887  p-  13.  In  diesen  Streit  warf  eine  originelle  Ansicht 
WöLFFUN  ein  (Münchn.  Sitzungsber.  1886  p.  280);  derselbe  stellt  das  monumentum  als  ein 
„Rechnungsbuch*  hin,  das  nach  Art  der  tahulae  accepii  et  expensi  die  Ehrungen  des 
Augustus  als  Einnahmeposten,  das  was  er  für  das  Volk  gethan,  sei  es  durch  Spenden  an 
seine  Mitbürger,  sei  es  durch  Eroberungen  und  Erweiterung  des  Reichs  als  Ausgabeposten 
auffasse  und  mithin  eine  Bilanz  des  Begründers  der  römischen  Monarchie  ziehe.  Es 
folgten  die  eingehenden  Abhandlungen  Nissens  (Rh.  Mus.  41  [1886]  p.  481)  und  Mommsens 
(Sybels  bist.  Zeitschr.  57  [1887]  p.  384);  dort  wurde  mit  aller  Schärfe  dem  Monumentum 
der  Charakter  als  „Grab schritt*,  hier  als  „Rechenschaftsbericht*  oder  „Denk- 
schrift* vindiziert. 

Ausgaben:  Augusti  rerum  a  se  gestarum  indicem  —  ed.  Bebok,  Göttingen  1873. 
Res  gestae  divi  Äugusti  iterum  ed.  Th.  Mommsen,  Berl.  1883. 

2.   G.  Itfaecenas. 

212.  Biographisches.  G.  ]\ilaecenas  stammte  aus  vornehmem  etru- 
skischem  Geschlecht;  er  wurde  geboren  am  13.  April  (Hör.  c.  4, 11, 14), 
etwa  in  der  Zeit  von  74 — 64  v.  Ch.  und  starb  8  v.  Gh.  (Dio  55,  7).  Seine 
historische  Bedeutung  liegt  in  zweifacher  Richtung,  in  dem  verständnis- 
vollen Eintreten  für  die  Monarchie  und  in  der  mächtigen  Förderung  der 
Litteratur.  Für  Augustus  waren  seine  Dienste  von  hohem  Werte.  Seine 
konziliante  Natur  machte  ihn  besonders  zur  Mittelsperson  geeignet;  es 
wurden  ihm  daher  öfters  diplomatische  Sendungen  übertragen;  seine  erste 
galt  der  Gewinnung  des  Sex.  Pompeius  für  die  Sache  Octavians;  um  dieses 
Ziel  zu  erreichen,  brachte  er  ein  Heiratsbündnis  zwischen  Scribonia,  der 
Schwester  des  Schwiegervaters  des  Sex.  Pompeius,  und  Octavian  zu  stände 
(App.  b.  c.  5, 53).  An  dem  Ausgleich  zwischen  Antonius  und  Octavian,  der  in 
dem  brundisinischen  Friedensschluss  im  Jahre  40  v.  Gh.  erfolgte,  war  er 
ebenfalls  beteiligt  (App.  b.  c.  5, 64).  Als  bald  darauf  wiederum  Differenzen 
zwischen  den  beiden  Machthabern  ausbrachen,  erhielt  er  neuerdings  eine 
Friedensmission,  welche  Horaz  in  seinem  launigen  Reisegedicht  (Sat.  1, 5, 27) 
berührt;  es  wurde  (37  v.  Gh.)  der  Friede  von  Tarent  geschlossen.  Weiter- 
hin betraute  ihn  Octavian  während  seiner  Abwesenheit  von  Rom  mit  seiner 
Stellvertretung,  es  geschah  dies  zuerst  im  J.  36  v.  Gh.,  zum  zweitenmal 
versah  er  diesen  Aultrag  mit  Agrippa  im  J.  31  v.  Gh. '(Dio  49, 16  51,  3). 
Sonst  hielt  er  sich   von  den  Staatsämtern  fern,  da  ihm  das  behagliche 


14       Römische  LitteratnrgeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

Privatleben  höher  stand.  Allein  dass  auch  das  Wort  des  Privatmannes 
bei  dem  Monarchen  schwer  wog,  dafür  legt  ein  Ereignis,  das  uns  Dio  55,  7 
berichtet,  Zeugniss  ab.  Octavian  war  im  Begriff,  mehrere  Todesurteile  zu 
fällen,  da  warf  ihm  Maecenas  seine  Schreibtafel  zu,  auf  der  die  Worte 
standen  „Stehe  doch  auf,  Henker.^  Sofort  hob  Augustus  die  Verhandlung 
auf.  In  seiner  Müsse  gab  sich  Maecenas  einem  verweichlichten  Leben  hin ; 
die  Autoren  wissen  manches  Auffällige  zu  berichten  über  seine  Kleidung 
(Seneca  ep.  114,  ß),  über  seine  Tafelgenüsse  (Plin.  n.  h.  8,  170),  über  seine 
Vorliebe  für  Pantomimen,  über  seinen  Umgang  mit  Schauspielern  (Tac.  Ann. 
1, 54)  u.  a.  Allein  die  merkwürdigste  Eigenschaft  des  Mannes  war,  dass  er, 
sobald  es  galt,  sich  zu  unerhörter  Energie  aufraffen  konnte,  um  nach  voll- 
brachtem Werk  wieder  in  die  gewohnte  Schlaffheit  zurückzusinken. 

Maecenas*  vornehme  Gebart  feiert  Horaz  Sat.  1,  6,  1  C.  1, 1, 1  3,29,1  Prop. 
4,  9,  1.  Mit  dem  Geschlecht  der  Cilnier  soll  Maecenas  mütterlicherseits  zusammenhängen. 
(Bobmann,  Index  lect.,  Marburg  1883  p.  IV).  ' 

Über  die  Stellvertretung  vgl.  noch  Tac.  Ann.  6,11  Vell.  2,  88  App.  b.c.  5, 99 
5, 1 12.  Die  Staatssorgen  des  Maecenas  in  der  Abwesenheit  des  Augustus  in  späteren  Jahren 
streift  Hör.  C.  3,  8, 17  mitte  civilis  super  urbe  curcut  (aus  dem  J.  29  v.  Ch.) ;  3, 29, 25  tu 
civitatem  quis  deceat  stcUus,  curcis  et  urbi  sollicitus  times  (aus  dem  J.  27  v.  Gh.). 

£ine  treffliche  Charakteristik  des  M.  entwirft  Velleius  2,  88,  2  mit  folgenden 
Worten:  tunc  urbis  custodiis  praepositus  C.  Maecenas,  equestri,  sed  splendido  genere  natus, 
vir,  ubi  res  vigiliam  exigeret,  sane  exsomnis,  j^oridens  atque  agendi  sciens,  simul  vero 
aliquid  ex  negotio  retnitti  passet,  otio  ac  mollitiis  paene  ultra  feminam  fluens,  non  minus 
Ägrippa  Caesari  carus,  sed  minus  honoratus  (quippe  vixit  angusti  clavi  fine  contentus)  nee 
minora  consequi  potuit,  sed  non  tarn  concupivit. 

213.  Der  Kreis  des  Maecenas.  Noch  viel  grösser  als  die  politi- 
schen sind  die  litterarischen  Verdienste  des  Maecenas.  Ein  Mann  von 
feiner  Bildung  und  Freund  edler  Geselligkeit,  ein  Kenner  der  beiden 
Sprachen  (Hör.  G.  3,  8,  5),  sah  er  gern  um  sich  einen  Kreis  hochstrebender 
jüngerer  Talente  und  indem  er  denselben  ihre  materiellen  Sorgen  abnahm 
und  auch  auf  ihre  dichterische  Thätigkeit  Einfluss  gewann,  trug  er  wesent- 
lich zur  Blüte  der  Dichtkunst  in  der  augusteischen  Zeit  bei.  Auch  an 
dem  höfischen  Charakter  der  damaligen  Poesie  hat  er  seinen  Anteil,  da 
er  die  Beziehungen  zwischen  dem  Monarchen  und  den  Dichtern  herstellte 
und  unterhielt.  So  kam  es,  dass  die  bedeutendsten  damaligen  Dichter  sich 
um  ihn  scharten.  Seinem  Kreise  gehörten  an  L.  Varius  Rufus,  durch  die 
Tragödie  Thyestes  besonders  berühmt  geworden ;  er  und  Vergil  führten  den 
Horaz  bei  ihrem  Gönner  ein;  gar  anmutig  erzählt  uns  der  venusinische 
Sänger  diese  erste  Begegnung  mit  Maecenas  (Sat.  1,6,54).  Ein  hochange- 
sehener Genosse  des  Kreises  war  Vergil;  später  kam  hinzu  der  geniale 
Elegiker  Propertius.  Von  Geistern  zweiten  Ranges  sind  zu  nennen  der 
gelehrte  Freigelassene  des  Maecenas,  C.  Melissus,  der  in  einer  neuen  Spiel- 
art der  Togata  seine  Kräfte  versuchte  und  der  Epigrammatiker  Domitius 
Marsus,  der  nach  den  Andeutungen  des  Dichters  Martialis  ebenfalls  Maecenas 
nahe  gestanden  sein  musste  (7, 29  8,  56).  Wenn  wir  dann  noch  hinzu- 
nehmen die  Freunde  des  Vergil  und  des  Horaz,  z.  B,  Tucca  und  Quintilius 
Varus  (Horat.  Sat.  1,  5,  40  Ep.  2,  3,  438),  so  erhalten  wir  eine  stattliche 
Schar  bedeutender  Persönlichkeiten,  welche  sich  der  Anregung  und  Gunst 
des  Maecenas  erfreuten.  Wie  sich  sein  Einfluss  äusserte,  lässt  sich  im 
einzelnen  nicht  darlegen;  denn  das  Korn,  das  auf  dem  Feld  des  Geistes 


C.  Maecenas.  \ 


K 


keimt  und  wächst,  ist  in  der  Regel  unsichtbar;  wir  haben  uns  zu  halten 
an  das  fertige  Werk.  In  dieser  Hinsicht  aber  zeugen  für  Maecenas  die 
weithin  strahlenden  Schöpfungen  seiner  Genossen.  Doch  fehlt  es  nicht 
ganz  an  Einzelzügen,  welche  uns  die  Einwirkung  des  Patrons  kennen 
lehren.  Wir  lesen,  dass  Maecenas  den  Horaz  zur  Herausgabe  der  Epoden 
drängte,  dass  er  Vergil  zu  seinem  landwirtschaftlichen  Gedicht  anregte, 
dass  er  Propertius  auf  grössere  Stoffe  hinwies  (4,  9).  Vielleicht  darf  man 
auch  vermuten,  dass  das  Werk  des  Sabinus  Tiro  über  Gartenkunst,  das  dem 
Maecenas  gewidmet  war,  mit  Rücksicht  auf  den  schönen  Park,  den  dieser 
sich  geschaflfen,  geschrieben  wurde  (Plin.  n.  h.  19, 177).  Auch  an  materiellen 
Förderungen  Hess  er  es  nicht  fehlen,  er  schenkte  Horaz  das  Landgut  Sabi- 
num,  auf  dem  der  Dichter  Ruhe  und  Frieden  fand.  Ohne  Zweifel  war  es 
kein  gewöhnliches  Gönnertum,  das  bei  ihm  waltete  und  schaltete.  Und 
wenn  es  auch  richtig  ist,  dass  durch  das  Maecenatentum  Talente  nicht  ge- 
schaflfen  werden,  so  ist  auf  der  anderen  Seite  auch  nicht  zu  leugnen,  dass 
manches  Talent  ohne  die  schützende  Hand  eines  Maecenas  verloren  geht, 
so  dass  der  Dichter  doch  nicht  unrichtig  sagen  kann  (Mart.  8,56,5): 

Sint  Maecenates,  non  deerunt,  Flacce,  Maronea, 

214.  Maecenas'  Schriftstellerei.  Schon  oben  haben  wir  eine  merk- 
würdige Dissonanz  in  Maecenas'  äusserem  Leben  kennen  gelernt,  den 
Wechsel  zwischen  grosser  Thatkraft  und  schlaffer  Ruhe.  Auch  in  seinem 
geistigen  Sein  tritt  uns  ein  auffallender  Widerspruch  entgegen ;  der  Mann, 
der  einen  so  feinen  Sinn  für  die  Litteratur  zeigte,  war  selbst  ein  mittel- 
mässiger,  ja  schlechter  Schriftsteller.  Auf  uns  gekommen  sind  nur  einige 
Trümmer,  aus  denen  wir  ersehen,  dass  sich  Maecenas  auf  den  beiden  Ge- 
bieten der  Rede  versuchte,  sowohl  in  der  Poesie  als  in  der  Prosa.  Unter 
den  wenigen  dichterischen  Überresten  sind  jene  priapeischen  Verse  am 
bekanntesten,  in  denen  Maecenas  alle  erdenklichen  körperlichen  Unbilden 
um  den  Preis  des  Lebens  auf  sich  nehmen  will  (fr.  3  B.) : 

Debilem  faeUo  manu,  debilem  pede,  coxa, 
tuher  adstrue  gibberum,  lubricoa  quate  dentes: 
Vita  dum  supereat,  bene  est  .  hanc  mihi  vel  acuta 
si  sedeam  cruce,  sustine. 

Die  spärlichen  Prosafragmente  weisen  auf  dilettantische  Versuche  über 
verschiedene  Themata  hin;  sie  erregten  eine  Zeitlang  Aufmerksamkeit 
durch  ihren  sonderbaren  Stil,  der  sich  in  seltenen  Worten,  gesuchten 
Wendungen,  unnatürlichen  Stellungen  gefiel.  Schon  Augustus  verhöhnte 
denselben,  indem  er  ihn  in  Briefen  an  Maecenas  konterfeite  (Suet.  Aug.  86 
Macrob.  2,4,12);  der  Philosoph  Seneca  nahm  öfters  Anlass,  über  denselben 
seinen  Spott  auszugiessen  (Ep.  19, 8,  bes.  114, 5);  auch  Quintilian  tadelte  die 
verschrobene  Wortstellung  des  Autors  (9, 4, 28). 

Die  Citate  lehren  ans  folgende  Titel  von  Prosaschriften  kennen: 

1)  Prometheus,  von  Seneca  (Ep.  19,  8)  wegen  der  unnatürlichen  Redeweise  ipsa 
enim  altitudo  attonat  summa,  die  ihm  ein  ebrius  sermo  erscheint,  angeführt.  Den  „liber", 
wie  die  Schrift  Seneca  nennt,  für  eine  Tragödie  zu  halten,  erscheint  bedenklich. 

2)  Symposion.  Nach  Serv.  Aen.  8,  310  nahmen  an  diesem  Gastmahl  ausser  Maecenas 
teil  Vergil,  Horaz,  Messalla.  Die  von  den  Griechen  ausgebildete  Litteraturgattung  der 
Symposien  ist  bekannt;  Reden  mit  dramatischer  Scenerie  bildeten  den  Rahmen.  In  der 
Torhegenden  Schrift  liess  Maecenas  den  Messalla  von  den  Wirkungen  des  Weins  reden 


16       ROmiBclie  Litteratnrgeachichte.    H.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

(ut  idetn  umor  ministrat  faciles  ocvlos,  pulchriora  reddit  omnia  et  dulcis  iuventae  reducit 
bona).  Wahrscheinlich  folgt  hier  Maecenas  dem  Symposion  Epicurs,  in  dem  auch  über 
den  Wein  gesprochen  wurde  (Usener,  Epic.  p.  115).  Unrichtig  bezieht  Hibzel,  Rh.  Mus. 
43,  316  auf  diese  Schrift  auch  Aelian  ed.  Horcher  II  239, 10  (iy  t^  avvSeinyip  xov  Maixijya). 

3)  De  cultu  suo  (über  seine  Lebensweise).  Aus  dieser  Schrift  teilt  Seneca 
(Ep.  114,5)  eine  wahre  Blumenlese  gezierter  und  unnatürlicher  Wendungen  mit,  z.  B.  al- 
reum  lintribus  arant  versoqtie  vado  hortoa  remittunt, 

4)  In  Octaviam.  Diese  Schrift  citiert  Priscian  1,536, 6  H.  und  daraus  die  Worte 
pexisti  capiUum  naturae  muneribua  gratum,  welche  für  ein  Prosawerk  sprechen.  Unter 
Octavia  wird  die  unglückliche  Gemahlin  des  Triumvirs  M.  Antonius,  welche  im  J.  11  v.  Gh. 
starb,  verstanden.  Allein  über  den  Gharakter  des  Buchs  ist  schwer  zu  einer  irgendwie 
begründeten  Vermutung  zu  gelangen;  Kbehl  schreibt  daher  in  octavo  statt  in  Octa- 
viam; vgl.  den  folgenden  Passus. 

5)  Dialogi.  Bei  Gharisius  p.  146  E.  lesen  wir  für  die  Form  volucrum  als  Beleg 
„Maecenas  in  dialogo  II".  Wenn  man  aus  «volucrum*  auf  Behandlung  auch  natur- 
wissenschaftlicher Dinge  in  den  Dialogen  schliessen  darf  —  allerdings  ein  sehr  problema- 
tischer Schluss  — ,  so  werden  hier  auch  die  Quellenangaben  bei  Plinius  Platz  finden  müssen, 
im  9.  Buch  (aquatilium  natura),  im  32.  (medieinae  ex  aquatilibus),  im  37.  (origo  gemma- 
rum)  wird  nämlich  unter  den  benutzten  Autoren  Maecenas  genannt.  Für  die  Geschichte 
vom  zahmen  Delphin  führt  Plin.  9, 24  als  Gewährsmann  Maecenas  neben  Fabianus  und 
Alfitts  Flavus  an.*) 

Schwierigkeiten  macht  das  Gitat  des  Gharisius  p.  79  K.  ut  Maecenas  in  X  mit  einem 
darauffolgenden  Hexameter;  denkt  man  hier  an  einen  10.  Dialog,  so  müsste  man  annehmen, 
dass  in  die  Dialoge  auch  Verse  eingestreut  waren;  anderenfalls  wird  man  mit  Meibom 
carminum  zu  ergänzen  haben. 

G.  2, 12,  9  ruft  Horaz  dem  Maecenas  zu:  tuque  pedestribus  dices  historiis  proelia  Cae- 
sariSj  Maecenas,  melius  ductague  per  vias  regum  coUa  minacium.  Daraus  leitet  Serv.  Greorg. 
2,42  als  Thatsache  ab:  etiam  Äugusti  Cfusaris  gesta  descripsit.  Allein  zu  dieser  Schluss- 
folgerung berechtigen  uns  die  Worte  keineswegs,  selbst  die  Notiz  über  Augustus,  welche 
uns  Plin.  n.  h.  7, 148  mit  Berufung  auf  Agrippa  und  Maecenas  macht,  reicht  nicht  aus, 
um  ein  historisches  Werk  des  Maecenas  über  Augustus  anzusetzen.  Lobende  Äusserungen 
über  Vergils  Kunst,  welche  Seneca  Suas.  1, 12  2, 20  mitteilt,  werden  dem  Freigelassenen 
des  Maecenas,  Melissus,  den  Plin.  n.  h.  28,  62  Maecenas  Melissus  nennt,  und  der  Über  Vergil 
schrieb,  angehören.') 

Litteratur:  Meibom,  Maecenas,  Leid.  1633.  Lion,  Tironiana  et  Maecenaiiana, 
Gott.'  1846.  FRAin>SEN,  G.  Gilnius  Maecenas,  Altena  1843  (ein  geschmackloses  Buch).  Ein- 
fach und  nüchtern  handelt  über  das  Leben  des  Maecenas  Matthes  im  5.  Bd.  der  symbolae 
literariae,  Amsterd.  1843  p.  5.  Nach  Meibom  und  Lion  hat  die  Fragmente  zusammen- 
gestellt und  erläutert  Habder,  Über  die  Fragmente  des  Maecenas  Berl.  Progr.  1889. 


3.  M.  Yalerius  Messalla  Corvinus. 

215.  Messallas  Einfluss  auf  die  Litteratur.  M.  Yalerius  Messalla 
(geb.  64  V.  Gh.,  gest.  8  n.  Ch.)  studierte  gleichzeitig  mit  Horaz  und  dem 
jungen  Cicero  in  Athen.  Wie  Horaz,  so  schloss  auch  er  sich  der  Sache 
des  Brutus  an.  Allein  nach  der  Schlacht  bei  Philippi  trat  er  zu  Antonius 
über  (App.  b.  c.  4, 38).  In  dem  nachfolgenden  Kampf  zwischen  Octavian 
und  Augustus  entschied  er  sich  für  Octavian,  bei  dem  er  grosses  Ansehen 
gewann.  Nach  der  Schlacht  bei  Actium,  die  er  mitmachte,  wurde  er  mit 
verschiedenen  wichtigen  Missionen  betraut,  er  führte  ein  Kommando  im 
Orient  gegen  Syrien  und  Cilicien,  später  zog  er  gegen  die  Gallier  ins  Feld. 
Siegreich  in  einer  Schlacht  am  Atax  erhielt  er  im  Jahre  27  v.  Ch.  einen 
Triumph.  Obwohl  er  seine  warme  Anhänglichkeit  an  Augustus  dadurch 
bekundete,  dass  er  für  ihn  2  v.  Ch.  den  Titel  „pater  patriae*'  beantragte, 
so  war  er  doch  auf  der  anderen  Seite  fest  entschlossen,   seiner  Über- 


*)  Härder  spricht  p.  21  die  Yermutung 
aus,  dass  die  Titel  Prometheus,  Symposium, 
Octavia,  vielleicht  sogar  „de  cultu  suo"  Spe- 


zialtitel  der  Dialogi  sind. 

»)  Härder  p.21.   (Donats  Vita  p.  58  R.) 


M.  Valerins  Hessalla  Gorvinna.  17 

Zeugung  nichts  zu  vergeben.  Als  er  zum  Stadtpräfekten  ernannt  ward, 
legte  er  schon  am  sechsten  Tag  nach  dem  Antritt  das  Amt  nieder,  da 
er  sah,  dass  es  seinen  politischen  Anschauungen  widerstritt  (Hieronym. 
2, 141  Seh.). 

Aber  nicht  bloss  im  öffentlichen  Leben,  auch  in  dem  litterarischen 
nahm  Messalla  eine  bedeutsame  Stelle  ein.  Er  wurde  der  Mittelpunkt 
eines  Kreises,  dessen  vorzüglichste  Glieder  TibuU,  Lygdamus  und  die 
Dichterin  Sulpicia^)  waren.  Wie  sehr  man  sich  um  die  Gunst  des 
vornehmen  Mannes  bemühte,  zeigen  noch  zwei  erhaltene  Panegyriken, 
welche  unbekannte,  unreife  Dichter  ihm  widmeten.  Gegenüber  diesem 
fördernden  Einfluss  auf  heranwachsende  Talente  stehen  seine  eigenen 
litterarischen  Arbeiten  erst  in  zweiter  Linie.  Jugendversuche  waren  wahr- 
scheinlich seine  bukolischen  Gedichte  in  griechischer  Sprache  und  seine 
Übersetzungen  gi'iechischer  Reden  ins  Lateinische.  Mehr  vermissen  wir 
ein  historisches  Werk,  vermutlich  Denkwürdigkeiten,  auf  welches  ver- 
schiedene Spuren  bei  den  Historikern  führen.  Erwähnt  wird  ferner  ein 
Protest  (indignatio)  gegen  den  Versuch,  die  Ahnenbilder  der  Laeviner 
seinem  Geschlechte  einzureihen.  Auch  mit  gelehrten  Problemen  beschäf- 
tigte er  sich,  allem  Anschein  nach  in  Briefform  (Suet.  gr.  4),  es  wird  ein 
Traktat  über  „S"  angeführt  (Quint.  1,  7,  23)  und  eine  Äusserung  über 
„literator^  (Suet.  gr.  4).  Als  Redner  schloss  er  sich  im  grossen  Ganzen 
dem  Stil  Giceros  an,  denn  dieser  hebt  rühmend  hervor,  dass  Messalla  in 
dem  „verissimum  genus  dicendi"  sich  ausbilde.  Das  was  ihn  von  Cicero 
trennte,  war  die  Zierlichkeit  und  das  Gesuchte  im  Ausdruck.  Seine  Manier 
diente  dem  nachmaligen  Kaiser  Tiberius  zum  Vorbild  (Suet.  Tib.  70). 

Geburts-  und  Todesjahr  Messallas.  Mit  dem  Zeugnis  des  Hieronymus,  der 
die  Geburt  in  das  Jahr  59  v.  Ch.  (Sghoene  p.  137j  und  den  Tod  in  das  Jahr  11  n.  Ch. 
(ScHOENE  p.  147)  versetzt  und  wie  ausdrücklich  bemerkt  wird,  Messalla  ein  Alter  von 
72  Jahren  erreichen  lässt,  lassen  sich  andere  Zeugnisse  nicht  in  Einklang  bringen.  So 
schreibt  Ovid  aus  dem  £xil  (P.  1,  7, 29),  dass  er  bei  dessen  Leichenbegängnis  persönlich 
seinem  Schmerz  Ausdruck  gegeben.  Da  Ovid  Ende  8  n.  Ch.  in  die  Verbannung  ging,  so 
ist  jenes  von  Hieronymus  angegebene  Todesjahr  unrichtig,  es  muss  früher  fallen.  Auch 
das  Geburtsrjahr  59  v.  Ch.  stimmt  nicht  zu  Jen  Lebensverhältnissen  Messallas;  wiederum 
brauchen  wir  einen  früheren  Ansatz.  Wie  es  scheint,  fand  eine  Verwechslung  der  Kon- 
sulate statt.  Im  Jahre  59  v.  Ch.  waren  Konsuln  Caesar  und  Bibulus,  im  J.  64  v.  Ch. 
Caesar  und  Figulus  (H.  Schulz,  (/e  Messallae  aetate,  Stettin  1886  p.  8).  Nehmen  wir  nun 
das  J.  64  V.  Ch.  an,  so  würden  wir,  wenn  wir  das  von  Hieronymus  angegebene  Alter  von 
72  Jahren  festhalten,  auf  das  J.  8  n.  Ch.  kommen,  so  dass  Messalla  kurz  vor  der  Ver- 
bannung Ovids  starb.  Mit  diesem  Ansatz  stimmt  Frontin  de  aquis  c.  99,  nicht  dagegen 
Tacitus  dial.  17,  wo  mit  Nippebdey  ein  Fehler  der  Überlieferung  zu  statuieren  ist. 

Schrift  stellerei  Messallas.  Die  bukolischen  Gedichte  in  griechischer  Sprache 
preist  der  Paneg.  im  Catalepton  Verg.  9  (11)  v.  14  fg.  Seine  Übersetzungen  griechischer 
Reden  ins  Lateinische  bezeugt  Quint.  10, 5, 2.  —  Über  die  Denkwürdigkeiten  vgl.  Plut. 
Brut.  40.  42.  45.  —  Plin.  35,  8  ertat  Mesaallae  oraioris  indignatio,  quae  prohibuit  inseri  genti 
8uae  Laevinonim  alienam  imaginem.  Über  Messalla  als  Redner  vgl.  Meyer,  arat,  fragm. 
p.  509.  Cic.  ad  Brut.  1, 15, 1  ita  gravi  iudicio  multaque  arte  se  exercuit  in  verisaimo  gener e 
dicendi,  Tacit.  dial.  18  Cicerone  mitior  Corvinus  et  dulcior  et  in  verbis  magis  elahoratua, 
Sen.  controv.  2, 4  (12),  8  fuit  Messalla  exactissimi  ingenii  quidem  in  omni  studiorum  parte, 
latini  utique  sermonis  observator  diligentissimus, 

Litteratur:  Wiese,  De  M.  V,  M,  tita  et  studiis  doctrinae,  Berl.  1829.  Valeton, 
M.  V.  M.  C,  Groningen  1874. 


»)  Vielleicht  auch  der  Dichter  der  Ciris  (v.  54),  C.  Valgiuö  Rufus  (Tib.  4, 1, 179)  und 
Aemilius  Maccr  (Tib.  2,  6, 1). 

Bandbucb  der  klan.  AltertamswlMieDBchaft.    Vm.    2.  Teil.  2 


18       Römische  LitteratargeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


4.   C.  Asinius  Pollio. 

216.  Pollios  Verdienste  um  die  Litteratur.  Asinius  Pollio,  geb.  76 
(Tac.  dial.  34),  bewegte  sich  als  junger  Mann  im  Kreis  der  jungrömischen 
Dichter.  Catull  nennt  ihn  „leporum  disertus  puer  ac  facetiarum^  (12, 8). 
Als  er  eine  Studienreise  nach  Athen  unternahm,  schrieb  ein  Genosse  des 
Kreises  ihm  das  Geleitsgedicht  (Propempticon,  vgl.  §  107).  Konsul  im 
J.  40  V.  Ch.  besiegte  er  die  Parthiner  und  Dalmatier  und  erlangte  im 
folgenden  Jahr  einen  Triumph.  Damit  zog  er  sich  vom  politischen  Leben 
zurück.  Als  Octavian  den  Wunsch  aussprach,  dass  er  ihn  zur  Schlacht 
bei  Actium  begleite,  gab  er  zur  Antwort:  Ich  habe  zu  viel  für  Antonius 
gethan  und  er  zu  viel  für  mich,  ich  werde  daher  dem  Kampf  ausweichen 
und  mich  dem  Sieger  als  Beute  hingeben  (Vell.  2, 86).  Fortan  ging  er  ganz 
in  litterarischen  Bestrebungen  auf.  Gleich  sein  Triumph  gab  ihm  Anlass, 
einen  schon  von  Caesar  gefassten,  für  die  Litteratur  sehr  wichtigen  Ge- 
danken praktisch  durchzuführen;  er  gründete  nämlich  von  der  gewonnenen 
Kriegsbeute  die  erste  öffentliche  Bibliothek;  im  Atrium  des  Tempels  der 
Libertas  auf  dem  Aventin  (Ovid  T.  3, 1,  71)  wurden  nicht  nur  die  litterari- 
schen Schätze  der  Griechen  und  Römer  aufgespeichert,  sondern  auch  die 
Büsten  der  hervorragenden  Schriftsteller  aufgestellt;')  von  den  lebenden 
Autoren  wurde  aber  nur  Varro  diese  Ehre  zu  teil  (Plin.  n.  h.  7, 115).  Nach 
dem  Muster  dieser  Bibliothek  wurden  im  Verlauf  der  Zeit  noch  andere  er- 
richtet. Aber  nicht  bloss  die  Werke  der  Litteratur,  sondern  auch  die  der 
Kunst  sollten  dem  grossen  Publikum  zugänglich  gemacht  werden.  Er  hatte 
sich  eine  ausgezeichnete  Kunstsammlung  angelegt,  zu  welcher  jedermann  der 
Zutritt  offen  stand.  Die  berühmte  Gruppe  des  farnesischen  Stiers  stammt 
aus  derselben  (Plin.  n.  h.  36, 33).  Noch  eine  für  die  Schriftstellerei  sehr 
wichtige  Einrichtung  verdankten  die  Römer  dem  eifrigen  Gelehrten.  Er 
war  es,  der  zuerst  vor  einem  geladenen  Kreise  seine  Schriften  vorlas  und 
dadurch  der  Schöpfer  der  Recitationes  wurde,  die  den  Werken  des 
Autors  den  Zugang  zum  Publikum  anbahnten  (Sen.  contr.  4  praef.  2).  Die 
Erzeugnisse  der  Rhetorschulen  wie  die  litterarischen  Schöpfungen  verfolgte 
er  mit  kritischem  Auge.  Der  Vater  Seneca  hat  uns  eine  Reihe  von  Äusse- 
rungen von  ihm  über  die  Rhetoren  seiner  Zeit  mitgeteilt.  Noch  merkwürdiger 
sind  seine  Urteile  über  verschiedene  Autoren.  Bekannt  ist,  dass  er  in  der 
Sprache  des  Livius  einen  Anklang  an  die  Heimat  des  Verfassers,  eine  ge- 
wisse Patavinität  finden  wollte,  dass  er  an  Sallusts  Schriften  viel  zu  tadeln 
wusste,  dass  ihm  Ciceros  Stil  keineswegs  behagte,  und  dass  er  selbst  an 
Catull,  dem  Dichterfreund  in  grammatischer  Beziehung  nörgelte.  Bekannt 
ist  auch  sein  herbes  Urteil  über  die  Glaubwürdigkeit  der  Memoiren  Caesars. 

Pollios  kritische  Urteile:  1)  Livius.  Die  Zeugnisse  stehen  im  Quint.  1,5,56, 
8,  1,  3;  vgl.  bei  Livius.  2)  Sallust.  Suet.  gr.  10  Ä.  P.  in  libro,  quo  Sallustü  scripta 
reprehendit;  vgl.  noch  Gell.  10, 26, 1,  wo  in  einem  Brief  an  Plancus  ein  sprachlicher  Aus- 
druck kritisiert  wird.  tS)  Cicero.  Quint.  12,1,22  nee  Asinio  utrique  (Cicero  videtur  scUis 
esse  profectus),  qui  vitia  orationis  eins  (Ciceronis)  etiam  inimice  pluribus  locis  insequuntur. 
4)  Catull.   Charis.  p.  97, 11;   es  handelt  sich  darum,   dass  Catull  die  Form  pugillaria 

')  Dass  die  Büsten  der  verstorbenen  7 y  IIb  msLcht  (unius  piventis posita  tmago  est) 
Schriftsteller  auch  aufgestellt  waren,  ist  wohl  zu  schliessen;  und  so  hat  wohl  auch  schon 
aas  dem  scharfen  Gegensatz,  den  Plinius  n.  h.      Isidor  orig.  6, 4  geschlossen. 


C.  Aslnins  PoUio.  19 

statt  pugillares  gebraucht.  5)  Caesar.  Suet.  Gaes.  56  (vgl.  oben  §  119).,  Die  Stellen, 
an  denen  er  über  die  Deklamatoren  seiner  Zeit  urteilt,  finden  sich  zusammengestellt  in  den 
Ausgaben  des  Seneca  rhetor  von  Kiesslivq  und  Müller. 

217.  Pollios  Schriftstellerei.  Über  Pollios  eigene  schriftstellerische 
Arbeiten  belehrt  uns  in  trefflicher  Weise  Horaz  in  der  Eingangsode  zum 
zweiten  Buch  seiner  Sammlung.  Als  er  dieselbe  schrieb,  hatte  PoUio 
gerade  eine  Darstellung  der  Bürgerkriege  unter  den  Händen,  ein  plenum 
opus  aleae,  wie  der  Dichter  sagt.  Pollios  tragische  Muse,  fährt  Horaz  fort, 
müsse  jetzt  für  einige  Zeit  der  Bühne  Lebewohl  sagen,  wenn  das  Geschichts- 
werk vollendet  sei,  werde  wieder  auf  dem  tragischen  Kothurn  einherschreiten 

insigne  maestis  praesidiutn  reis. 

Klar  und  deutlich  weist  also  Horaz  auf  eine  dreifache  Schriftstellerei 
Pollios  hin,  auf  seine  Tragödiendichtung,  seine  Historiographie  und 
seine  Reden.  Von  seinen  Tragödien  spricht  schon  Vergil  in  den  Ecl. 
8,10,  er  nennt  sie  mit  einem  Kompliment  für  den  Verfasser 

sola  Sophocleo  tua  carmina  digna  ccthurno. 

Auch  in  den  Satiren  des  Horaz  erscheint  PoUio  als  der,  welcher  die  Thaten 
der  Könige  in  dreigeteiltem  Verse  besingt  (1, 10, 42).  Diese  Tragödien 
lagen  noch  dem  Tacitus  vor  (dial.  21),  denn  er  will  in  denselben  die  Spuren 
des  Accius  und  Pacuvius  wieder  erkennen.  Sehr  zu  beklagen  ist  der  Ver- 
lust des  Geschichtswerks,  der  Historiae.  Ehe  er  dasselbe  begann  — 
es  war  dies  nach  dem  Tode  Sallusts  (34  v.  Ch.)  —  Hess  er  sich  von  dem 
Philologen  Ateius  eine  stilistische  Anleitung  schreiben;  in  derselben  war 
besonders  der  einfache,  reine  und  natürliche  Ausdruck  empfohlen  (Suet.  de 
gr.  c.  10).  Das  Werk  begann  mit  dem  Triumvirat  (60  v.  Ch.)  und  umfasste 
nach  Suidas  die  etwas  aufföllige  Zahl  von  17  Büchern.  Wie  weit  es  sich 
erstreckte,  lässt  sich  nicht  genau  bestimmen.  Die  Fragmente  weisen  auf  die 
Schlacht  bei  Pharsalus  (Plut.  Gaes.  46),  auf  den  Krieg  in  Spanien  (Suet. 
Gaes.  55),  auf  den  Tod  Giceros  (Senec.  suas.  6, 24),  auf  die  Schlacht  bei 
Philippi  (Tacit.  Ann.  4, 34).  Walwscheinlich  schlössen  sie  mit  diesem  Er- 
eignis und  stellten  also  die  Kämpfe  des  Octavian  und  des  Antonius  nicht 
mehr  dar.  Die  Spuren  des  Werks  lassen  sich  ziemlich  weit  herab  ver- 
folgen. Der  Rhetor  Seneca  (1.  c.)  teilt  uns  daraus  die  interessante  Gharak- 
teristik  Giceros  mit,  das  einzige  Fragment,  aus  dem  wir  eine  Vorstellung 
von  dem  Stil  erhalten.  Bei  Valerius  Maximus  (8,  13  ex. '4)  wird  das 
3.  Buch  angeführt.  Der  ältere  Plinius  citiert  das  Werk  im  Quellen- 
verzeichnis des  7.  Buchs,  Tacitus  (1.  c.)  kannte  es,  Sueton  benutzte  es  im 
Leben  Caesars  und  entnahm  ihm  höchst  wahrscheinlich  das  vielbesprochene 
ungünstige  Urteil  über  die  Kommentare  Caesars.  Grundlegend  wurde  es 
verwertet  von  Plutarch  und  Appian.  Als  Redner  vertrat  Pollio  besonders 
die  unschuldig  Angeklagten,  daher  das  Lob  des  Horaz.  Auch  an  den 
Deklamationen  beteiligte  er  sich,  und  der  ältere  Seneca  hat  uns  von  dieser 
Thätigkeit  manche  Proben  aufbewahrt.  Nicht  erwähnt  werden  von  Horaz 
Pollios  grammatische  Schriften  und  Briefe.  Auf  die  ersteren  führen 
aber  Citate  der  Grammatiker,  von  den  Briefen  liegen  uns  drei  an  Cicero 
gerichtete  in  der  Generalkorrespondenz  Giceros  vor  (10,31 — 33).') 

0  Vgl.  noch  CliariB.  p.  134,3  Asinios  Polio  ad  Caesarem  I. 

2* 


20       Bömische  Litteratorgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

Zur  Beurteilung  des  Stils  des  Asinius  Pollio  stehen  uns  einmal  die 
Urteile  der  Alten  zur  Verfügung,  dann  die  drei  Briefe  und  die  Stelle 
über  Cicero.  Die  Urteile  aus  dem  Altertum  rühren  von  dem  Philosophen 
Seneca,  Quintilian  und  Tacitus  her.  Seneca  nennt  Pollios  Darstellung  holprig 
und  sprunghaft,  Quintilian  schreibt,  dass  dieselbe  so  weit  von  der  Glätte 
Ciceros  entfernt  sei,  dass  man  meinen  sollte,  der  Schriftsteller  habe  ein 
Jahrhundert  früher  gelebt.  Tacitus  will  nicht  bloss  in  den  Tragödien, 
wie  bereits  erwähnt,  sondern  auch  in  den  Reden  Pollios  Pacuvius  und 
Accius  wiedererkennen;  so  trocken  und  hart  findet  er  ihn,  d.  h.  er  hebt 
die  archaistische  Diktion  der  Reden:  hervor.  Zwei  Eigenschaften  also, 
Archaismus  und  eine  gewisse  Holprigkeit,  werden  von  den  Alten  als 
Eigenschaften  des  Stiles  Pollios  hingestellt.  Ziehen  wir  nun  die  genannten 
Überreste  heran,  so  belehrt  uns  allerdings  die  Lektüre,  dass  die  Rede 
nicht  leicht  dahinfliesst,  und  dass  ungewöhnliche  Worte  auftreten.  Diese 
Eigenschaften  finden  in  dem  Charakter  Pollios  ihre  Erklärung,  ihm  ist 
nicht  das  Wort  wie  dem  M.  TuUius  Cicero  Selbstzweck,  sondern  weit  höher 
steht  ihm  die  Sache  und  er  flucht  der  Rede,  die  ihre  Bestimmung  nicht 
in  der  klaren  Darlegung  der  Sache  findet  (Schol.  a.  Hör.  Cruq.  p.  311). 

Das  Geschichtswerk  Pollios.  Für  die  Frage,  wie  weit  das  Werk  reichte,  ist 
die  kurze  Notiz  bei  Prise,  p.  386,  9  H.  von  Wichtigkeit  „cuius  experta  virtus  heUo  Germaniae 
traducta  ad  custodiam  Illyrici  est,  Nipperdey  bezieht  die  Stelle  auf  Tiberius  und  setzt 
sie  in  das  Jahr  12  v.  Ch. ;  neuerdings  will  Hirschfeld  (bei  Wölfflin,  G.  Asinius  Pollio  p.  828) 
an  Agrippa  denken,  „der  im  Jahre  88  den  Rhein  Überschritt  und  im  Jahre  84  den  Krieg 
in  Dalmatien  begann."  Allein  zu  welcher  Ansicht  man  sich  auch  bekennen  mag,  man  wird 
aus  dieser  Fixierung  nur  eine  Folgerung  für  die  Zeit  der  Abfassung  gewinnen,  denn  da 
Fragmente  über  die  Kriege  des  Octavian  und  Antonius  fehlen,  so  ist  waJu^cheinlicher,  dass 
jene  Notiz  in  der  Schlussbetrachtung  (Nipperdey)  oder  in  einem  andern  Zusammenhang 
gelegentlich  (Wölfflin)  angebracht  war.  Die  Worte  bei  Charis.  p.  100,  24  Polio,  Veneria 
antistita  Cuprus,  die  man  bisher  für  den  Rest  eines  Verses  gehalten,  erachtet  Wölfflin 
als  ein  Fragment  des  historischen  Werks;  sie  seien  gelegentlich  der  Erzählung  der  Er- 
oberung Cypoms  durch  Cato  (59  oder  58  v.  Ch.)  gebraucht  worden.  —  Bailleu,  Quomodo 
Appianus  in  bellorum  civ,  L  II— V  usus  sit  Ä.  P.  historiis,  Gott.  1874.  Thourbt,  De  Cic.f 
Asinio  PoUione,  Gaio  Oppio,  Leipz.  Stud.  1,303  (p.  824).    Peter  fr.  262. 

Bezüglich  der  grammatischen  Schriften  verweisen  wir  auf  Halt>t,  Opusc. 
2,  67  f. 

Die  Landgraf'sche  Hypothese.  Neuerdings  wollte  man  Asinius  Pollio  „als 
Redakteur  und  Herausgeber  des  Caesar-Hirtianischeu  Nachlasses  und  als  Verfasser  des 
bellum  Africanum"  ansehen.  Ich  habe  mich  §  122  gegen  diese  Hypothese  erklärt  und 
vermag  dieselbe  auch  nicht  nach  dem,  was  jetzt  Wölfflin  p.  326  zu  ihrer  Unterstützung 
vorbringt,  zu  vertreten.  Ja  Wölfflin  gibt  uns  selbst  ein  gegenteiliges  Moment  an  die 
Hand,  indem  er  eine*  Diskrepanz  zwischen  der  Darstellung  des  bellum  Africanum  und  der 
historiae  in  Bezug  auf  die  Schlacht  bei  Ruspina  höchst  wahrscheinlich  macht  (p.  850 j,  eine 
Diskrepanz,  für  die  ich  seine  Erklärung  nicht  ausreichend  finde. 

Der  Stil  des  Asinius  Pollio.  Die  Stellen  der  Alten  sind:  Sen.  ep.  100,7  (com^ 
positio)  PoUionis  Asinii  salebrosa  et  exiliens  et  uhi  minime  exspectes  relictura,  denique 
omnia  apud  Ciceronem  desinunt,  apud  Pollionem  caduntj  exceptis  paucissimis  quae  ad 
certum  modum  et  ad  unum  exetnplar  adstricta  sunt,  Quint.  10, 1,  118  multa  in  Asinio 
PoUione  inventio,  summa  diligentia,  adeo  ut  quibusdam  etiam  nimia  videatur,  et  eonsilii 
et  animi  satis;  a  nitore  et  iucunditate  Ciceronis  ita  longe  abest  ut  videri  pos- 
sit  saeculo  prior,  Tac.  dial.  21  Asinius  —  videtur  mihi  int  er  Menenios  et  Appios 
studuisse;  Pacuvium  certe  et  Accium  non  solum  tragoediis,  sed  etiam  oraiionibus  suis  ex- 
pressit:  adeo  durus  et  siccus  est.  Daraus  darf  man  nicht  mit  Wölfflin  (p.  334  und  p.  837) 
auf  ein  poetisches  Element  in  der  Sprache  des  Asinius  Pollio  schliessen,  sondern  nur  auf 
Archaismus.  Sen.  contr.  4  praef.  3  floridior  erat  aliquanto  in  declamando  quam  in  agendo: 
illud  strictum  eius  et  asperum  et  nimis  iratum  ingenio  suo  iudieium  adeo  cessabat,  ut  in 
muUis  Uli  venia  opus  esset,  quae  ab  ipso  rix  inpetrabatur.  —  Schmalz,  Der  Sprachgebr. 
des  A.  P.;  2.  Aufl.;  Manchen  1890. 


P.  Yergilias  Haro. 


21 


Litter  atur:  Grundlegende  Abhandlung  Thorbecke,  De  CA.  P.,  Leiden  1820  (andere 
Schriften  bei  Thoubet  1,  324).    Revision  von  Wölfflin,  Münchn.  Sitzungsber.  1889  p.  319). 


a)  Die  Poesie. 

1.  P.  Vergilius  Maro. 

218.  Quellen  der  Yergil'sclieii  Biographie.  Über  das  Leben  Ver- 
gils  ^)  sind  uns  verhältnismässig  ausführliche  Berichte  überliefeii.  Es  kommt 
dies  daher,  weil  Vergil  sehr  bald  Gegenstand  der  litterarischen  Forschung 
wurde.  So  hat  gleich  der  Herausgeber  der  Aeneis,  L.  Varius,^)  über  Vergil 
geschrieben,  ferner  C.  Melissus,  der  Freigelassene  des  Maecenas.^)  Dass 
auch  die  Gegner  des  Dichters  litterarisch  nicht  unthätig  waren,  geht  dar- 
aus hervor,  dass  Asconius  es  für  nötig  erachtete,  die  Angriffe  derselben 
in  einer  eigenen  Schrift  zurückzuweisen.^)  Da  Asconius,  wie  wir  aus  seinem 
historischen  Kommentar  zu  den  Reden  Ciceros  ersehen,  ein  ungemein  ge- 
wissenhafter und  besonnener  Gelehrter  war,  so  müssen  wir  die  Nachrichten, 
die  wir  auf  ihn  zurückführen  können,  mit  dem  vollsten  Vertrauen  hin- 
nehmen.   Von  den  erhaltenen  vitae  sind  drei  als  gute  Quellen  anzusehen: 

1)  die  vila,  welche  dem  Kommentar  des  Valerius  Probus  voraus- 
geschickt ist;  sie  ist  nicht  in  ihrer  ursprünglichen  Fassung  erhalten,  son- 
dern in  einem  Auszug;  doch  hat  sie  am  Schluss  auch  eine  Interpolation 
erfahren.^)  Sie  gibt  ein  dürres  Gerippe  von  Thatsachen.  Viel  reicheren 
Inhalts,  freilich  auch  anekdotenhafter  ist 

2)  die  vita,  welche  unter  dem  Namen  Donats  überliefert  ist.  Auch 
sie  ging  einem  Vergil-Kommentar  voraus,  von  dem  sich  aber  nur  die  Vor- 
rede, die  erwähnte  Biographie  und  die  Einleitung  zu  den  Bucolica  gerettet 
haben.®)  Diese  vita  ist  im  wesentlichen  Eigentum  Suetons,  in  dessen  be- 
kanntem litterarhistorischem  Werk  sie  stand.')  Dieselbe  Quelle  liegt  den 
Notizen  des  Hieronymus  über  Vergil,  die  er  in  die  Eusebianische  Chronik 
eingestreut,  zu  Grund.  Die  Donat'sche  vita  erlangte  sehr  grosses  Ansehen, 
sie  wurde  von  dem  Grammatiker  Phocas  im  5.  Jahrhundert  in  Hexametern 
versifiziert  und  bildete  das  Fundament  für  andere  vitae.  Auch  wurde  sie 
im  Laufe  der  Zeit  durch  Einfügung  von  läppischen  Sagen  entstellt.®)  End- 
lich haben  wir  noch  heranzuziehen 

3)  die  vita,  welche  im  Eingang  des  Servianischen  Kommentars  steht 
und  ebenso  wie  die  des  Valerius  Probus  durch  kurze  Fassung  in  Gegensatz 
zu  der  Sueton'schen  sich  charakterisiert.^) 

Nettleship,  Ancient  Utes  of  Vergil  mth  an  essay  of  the  poenis  of  V.,  Oxford  1879. 


*)  Dass  lediglich  die  Form  , Vergilius", 
nicht  »Virgilius*  die  richtige  Schreibweise  ist, 
wird  durch  die  Inschriften  erhärtet. 

«)  Vgl.  Ribbeck,  Proleg.  p.  89. 

*)  Ribbeck,  Proleg.  p.  89.  Ihn  citiert 
Donat  p.  58  R. 

*)  l)onat  p.  66  R.  Ascanitis  Pedianus  libro, 
quem   contra  obtrectatores  VergiHi  scripsit. 

^)  Reiffekscheid,  Suetoni  reliq.  p.  398. 
Steup  will  diese  Biographie  einem  jüngeren 
Valerius  Probus  zuweisen  {De  Probis,  Jena 
1871  p.  123). 


')  Dass  AeliusDonatus,  nicht Ti. Clau- 
dius Donatns  mit  der  vita  in  Verbindung 
zu  bringen,  erweist  Reiffrscheid  p.  400. 

^)  Reifferscheid  p.  401  patet  opinor 
vitam  quidem  Suetoni  no9  habere^  sed  retrac- 
tatam  illam  Donati  ctira.  Die  Überlieferung 
beruht  besonders  auf  dem  Bemensis  172.  Vgl. 
Hagen,  Fleckeis.  Jahrb.  4.  Supplb.  p.  676. 

^)  Man  vgl.  Reifferscheid  p.  399. 

^)  Gegen  die  Ansicht  Reifferscheids, 
dass  die  vita  nicht  die  echte  des  Servius  sei, 
vgl.  Haqen,  schol.  Bern.  p.  682. 


22      Römische  LitteratargeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Honarchie.    1.  Abteilang. 

219.  Yergils  Leben.  Vergil  wurde  am  15.  Okt.  70  in  Andes  bei 
Mantua  von  Eltern  geboren,  welche  in  bescheidenen  äusseren  Verhältnissen 
lebten.  Über  den  Stand  des  Vaters  ist  die  Überlieferung  eine  geteilte, 
die  einen  sagen,  er  sei  ein  Töpfer  gewesen,  die  anderen,  der  Taglöhner 
des.  Amtsboten  Magius,  dessen  Tochter  (Magia  Polla)  er  späterhin  zur 
Frau  nahm.  Doch  müssen  sich  die  Eltern  zu  einem  gewissen  Wohlstand 
emporgearbeitet  haben,  da  sie  ihrem  Sohne  eine  höhere  Ausbildung  ge- 
währen konnten.  Vergil  lag  den  Studien  zuerst  in  Cremona,  dann  nach 
Anlegung  der  Toga  virilis  in  Mailand  und  bald  darauf  in  Rom  ob.  Unter 
seinen  Lehrern  ist  besonders  auszuzeichnen  der  Epikureer  Siro,  weil  dessen 
Unterricht  von  tiefgehender  Wirkung  auf  ihn  war.  Das  äussere  Leben 
Vergils  verlief  im  ganzen  in  ruhigen  Bahnen;  nur  die  Ackerverteilung  an 
die  Veteranen  brachte  in  dasselbe  eine  grosse  Erschütterung.  Die  Ereig- 
nisse jener  Zeit  spiegeln  sich  in  den  Eclogen;  von  ihnen,  nicht  von  den 
Zeugnissen  der  Grammatiker  ist  unter  allen  Umständen  auszugehen. 
Zwei  Stadien  sind  es,  die  sich  in  jenen  Wirren  deutlich  abheben.  Nach 
der  Schlacht  bei  Philippi  sollten  die  Veteranen  durch  eine  grosse  Acker- 
verteilung für  ihre  Mühen  entschädigt  werden.  Zunächst  war  das  Ge- 
biet von  Cremona  zur  Aufteilung  ausersehen  worden,  allein  da  es  nicht 
ausreichte,  wurde  Mantua  miteinbezogen.  So  kam  es,  dass  auch  das  Gut 
des  Dichters  für  die  Konfiszierung  bestimmt  wurde.  Da  traten  für  den 
Dichter  seine  Freunde  ein.  Es  stand  damals  an  der  Spitze  des  jenseits 
des  Po  gelegenen  Galliens  Asinius  Pollio,  der  den  Dichter  zu  den  bukoli- 
schen Versuchen  angeregt  hatte  und  seine  Muse  bewunderte.  Wahrschein- 
lich war  es  in  erster  Linie  der  Einfluss  dieses  Mannes,  welcher  Vergil  die 
Gunst  Octavians  erwarb.  Diese  Gunst  hatte  zur  Folge,  dass  Vergil  vor- 
läufig in  seinem  Besitz  geschützt  wurde.  Die  Sachlage  änderte  sich  jedoch, 
als  Asinius  Pollio  die  Provinz  im  Sommer  41  verliess  und  Alfenus  Varus 
an  seine  Stelle  trat.  Jetzt  wurde  Vergil  aus  seinem  Gut  vertrieben,  und 
es  fehlte  nicht  viel,  so  hätte  er  hiebei  sogar  sein  Leben  verloren.  Allein 
den  Dichter  entschädigte  bald  die  Gönnerschaft  des  Maecenas,  durch  welche 
er  mit  dem  Herrscherhaus  in  noch  engere  Beziehungen  kam.  Ihm  zu 
Ehren  und,  wie  es  heisst,  auf  seine  Anregung  dichtete  er  die  Georgica 
(von  37  oder  36  an),  dann  zum  Preis  des  Augustus  die  Aeneis  (seit  29). 
Das  letzte  Gedicht  war  fertig,  der  Dichter  hatte  bereits  das  5L  Lebens- 
jahr zurückgelegt,  als  er  sich  zu  einer  Reise  nach  Griechenland  und  Asien 
entschloss,  um  noch  drei  Jahre  der  Ausarbeitung  seines  Epos  zu  widmen 
und  dann  sich  ganz  der  Philosophie  hinzugeben.  In  Athen  traf  er  mit 
Augustus  zusammen,  der  eben  im  BegriflF  war,  nach  Rom'  zurückzukehren 
und  ihn  einlud,  sich  ihm  anzuschliessen.  Krank  infolge  der  grossen  Hitze, 
welcher  er  beim  Besuch  Megaras  ausgesetzt  war,  kam  er  an  Bord;  das 
Leiden  verschlimmerte  sich  während  der  Fahrt;  als  er  in  Brundisium  ge- 
landet, raffte  ihn  die  Krankheit  in  wenigen  Tagen  dahin  (21.  Sept.  19  v.  Gh.). 
Seine  Gebeine  wurden  nach  Neapel  gebracht.  Auf  seinem  Grab  waren  die 
Worte  zu  lesen: 

Mantua  tne  genuit,  Calahri  rapuere,  tenet  nunc 
Parthenope:  cecini  pascua,  rura,  duces. 


Yergile  Bncolica.  23 

Den  Unterricht  Siros  bezeugt  Serv.  Aen.  6, 264  (2, 46  Thilo)  ex  maiore  parte  Sironem, 
id  est  magistrum  suum  Epicureum  sequitur.  Als  seinen  Lehrer  nennt  weiterhin  die  vita 
Bemensis  p.  745  den  Rhetor  Epidins;  es  heisst:  studuU  apud  Epidium  oraiarem  cum  Caesare 
Augusto  (Flbokbis.  Jahrb.  Suppl.  4, 745).  Allein  auf  praktische  Rhetorik  ging  nicht  die 
Neigung  des  Dichters;  Donat  p.  58  R.  egit  et  causam  apud  iudices  unam  omnino  nee  amplius 
quam  semel;  nam  et  in  sermone  tardissimum  ac  paene  indocto  similem  fuisse  Melissus 
tradidit. 

Über  die  Ackervertoilung  sei  ein  Zeugnis  hier  angeführt:  Serv.  Ecl.  9,28  ortis  hellis 
civUihus  inier  Antanium  et  Augustum  Augustus  tftctor  Cremonensium  agros,  quia  pro  An- 
tonio senserant,  dedit  militihus  suis,  qui  cum  non  suffecissent,  his  addidit  agros  Mantua- 
no8,  non  propter  civium  culpam,  sed  propter  vieinitatem.  Die  sich  aus  den  Eclogen  er- 
gebenden zwei  Stadien  (Gefahr  der  Beraubung  und  Vertreibung)  halten  die  Berichte  nicht 
auseinander.  Auch  in  den  Angaben  über  die  Fürsprache  einflussreicher  Gönner  bei  Octa- 
vian  herrscht  keine  strenge  Scheidung.  So  sagtValerius  Probus  1,  7  K.  restitutus  heneficio 
Alpheni  Vari,  Asinii  PoUionis  et  Cornelii  GaJli,  quibus  in  Bucolicis  adtdatur,  6, 1  da- 
gegen :  insinuaius  Augusto  per  Cornelium  Gallum.  condiscipulum  suum,  promeruit,  ut  agros 
8UOS  reciperet.  Das  Eintreten  des  Cornelius  Galfus  für  Vergil  ist  übrigens  nicht  unwahr- 
scheinlich, denn  a  triumviris  praepositus  fuU  ad  exigendas  pecunias  ab  his  municipiis, 
quorum  agri  in  Transpadana  regione  non  dividebantur  (Serv.  Ecl.  6,  64). 

tt)  Die  Bucolica. 

220.  Die  Sammlmig  der  bukolischen  Gedichte.  Zehn  Oedichte 
mit  idyllischem  Charakter  sind  in  einem  Corpus  vereinigt.  Dieselben  müssen 
früher  einzeln  erschienen  sein,  denn  es  sind  manche  darunter,  welche  einen 
bestimmten  Zweck  in  einer  bestimmten  Zeit  erreichen  wollten.  Die  Samm- 
lung nannte  Vergil  Bucolica,  weil  alle  Stücke  (mit  Ausnahme  des  vierten) 
das  Hirtenleben  zur  Grundlage  nehmen;  in  Handschriften  wurde  das  einzelne 
Gedicht  mit  dem  Namen  Ecloga  bezeichnet.  Die  Sammlung  ist  von  Vergil 
selbst  gemacht  worden,  denn  am  Schluss  der  Oeorgica  weist  er  durch  den 
Anfangsvers  der  ersten  Ecloge  auf  dieselbe  hin;  man  wird  die  Ansicht 
aussprechen  dürfen,  dass  auch  die  übrigen  Gedichte  in  der  jetzigen  Reihen- 
folge von  ihm  zusammengestellt  waren.  Bezüglich  der  Anordnung  hat  der 
Dichter  uns  einige  Winke  in  den  Gedichten  gegeben;  die  10.  Ecloge,  die 
er  zuletzt  geschrieben,  steht  auch  an  letzter  Stelle;  in  der  5.  Ecloge  wird 
V.  86  u.  87  auf  die  Eclogen  2  und  3  hingewiesen.  Man  sollte  demnach  an- 
nehmen, dass  für  die  Anordnung  das  Prinzip  der  Zeit  massgebend  war. 
Allein  diese  Annahme  ist  unrichtig.  Die  chronologische  Richtschnur  ist 
nicht  durchweg  zur  Anwendung  gekommen;  so  ist  die  erste  Ecloge  nicht 
die  früheste,  sie  ist  von  Vergil  an  die  Spitze  der  Sammlung  gestellt  worden, 
weil  sie  eine  Verherrlichung  Octavians  enthält.  Ausserdem  war  der  Dichter 
bestrebt,  durch  Abwechslung  Ermüdung  des  Lesers  zu  verhüten;  es  sind 
daher  die  Gedichte,  welche  die  Form  des  Wechselgesangs  haben  (1, 3,  5,  7, 9), 
durch  diejenigen  getrennt,  welche  dieser  Form  entbehren  (2, 4, 6, 10);  selbst 
die  8.  Ecloge  begründet  keine  Ausnahme,  denn  es  sind  dort  einfach  zwei 
Lieder  vom  Dichter  einander  gegenübergestellt. 

Serv.  Georg,  p.  169  L.  Bucolicorum  (tUülum)  transtuiU.  Prob.  p.  6,  9  K.  Bucolica 
seripsit,  sed  non  eodem  ordine  edidit,  quo  scripsit,  Serv.  Bucol.  p.  96  L.  incertum  est,  quo 
ordine  scriptae  sint  (eclogae).  Das  Prinzip  der  variatio  hat  zuerst  Waoneb  ausgesprochen. 
Noch  einen  Schritt  weiter  geht  Krause,  Quibus  temporibus  etc,  p.  6,  indem  er  nachzuweisen 
versucht,  dass  überdies  die  Gedichte  verwandter  Art  voneinander  geschieden  wurden  (1.9; 
2.8;  3.7;  4.6). 

221.  Qedichte  mit  rein  ländlichem  Charakter.  Wir  besprechen 
zuerst  die  Eclogen,  welche  im  Stil  Theocrits  gedichtet  sind  und  sich  von 


24      Römische  Litteratnrgescliiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

Allegorie  im  wesentlichen  freihalten.  Sie  gewähren  uns  eine  Vorstellung 
von  der  bukolischen  Dichtungsgattung.  Es  sind  dies  die  zweite,  dritte, 
fünfte,  siebente  und  achte;  von  diesen  fünf  Belogen  bieten  die  dritte, 
siebente  und  achte  einen  Wettgesang,  in  welchem  das  eigentliche  Element 
der  bukolischen  Poesie  zu  suchen  ist.  In  der  dritten  Ecloge  treffen  die 
beiden  Hirten  Menalcas  und  Damoetas  mit  ihren  Herden  zusammen.  Sie 
ergehen  sich  eine  Zeitlang  in  gegenseitigen  Sticheleien.  Endlich  fordert 
Damoetas  zu  einem  Wettstreit  im  Gesang  auf.  Er  setzt  ein  Kalb  als 
Wettpreis  ein,  Menalcas  ein  kunstvolles,  mit  Bildnissen  geschmücktes 
Becherpaar.  Da  kommt  der  Nachbar  Palaemon  hinzu,  er  wird  als  Schieds- 
richter bestimmt.  Der  Kampf  beginnt.  Je  zwei  Hexametern  des  Vor- 
sängers setzt  der  Rivale  zwei  andere  gegenüber.  Es  sind  verschiedene 
Dinge,  über  die  gesungen  wird,  aber  stets  bilden  die  zwei  Paare  in  der 
Weise  eine  Einheit,  dass  auf  ein  Bild  das  entsprechende  Gegenbild  folgt. 
Auch  Zeitgenössisches  berühren  die  Sänger;  Damoetas  feiert  (88)  den  Asinius 
Pollio,  auf  diesen  Preis  PoUios  antwortet  Menalcas  mit  einer  Schmähung  der 
Dichterlinge  Bavius  und  Mevius.  Mit  einem  berühmten  Rätselpaar  schliesst 
der  Kampf.  Einen  Wettgesang  der  gleichen  Art  enthält  die  siebente 
Ecloge.  Derselbe  findet  unter  dem  Vorsitz  des  Daphnis  auf  einer  Wiese 
am  Mincius  zwischen  Corydon  und  Thyrsis  statt  und  wird  von  Meliboeus 
erzählt.  Hier  streiten  die  Gegner  mit  je  vier  Versen  gegeneinander.  Auch 
in  diesem  Gedicht  wird  mit  der  Erwähnung  des  Dichters  Codrus  der  Rahmen 
des  Hirtengedichts  überschritten.  In  einer  ganz  anderen  Form  haben  wir 
den  Wettstreit  in  der  achten  Ecloge,  welche  dem  Asinius  Pollio  gewidmet 
ist.  Während  in  der  dritten  und  siebenten  Ecloge  der  Sängerkrieg  in  eine 
Anzahl  kleiner  Kampfesbilder  zerfallt,  wird  hier  alles  auf  einen  Wurf 
gesetzt.  Jeder  der  beiden  Gegner  produziert  sich  nur  mit  einem  Lied. 
Der  Gesang  des  Hirten  Dämon  behandelt  das  alte  Thema  über  die  Untreue 
der  Geliebten;  der  Morgen  ist  angebrochen,  an  dem  die  treulose  Nisa  mit 
Mopsus  verbunden  werden  soll.  Sein  Lied  ist  durch  einen  Schaltvers  in 
neun  Strophen  geteilt.  Es  folgt  der  Hirte  Alphesiboeus  mit  einem  Lied, 
in  dem  geschildert  wird,  wie  ein  verliebtes  Mädchen,  unterstützt  von  einer 
Gehilfin,  verschiedene  Zaubereien  vornimmt,  um  den  Daphnis,  der  sie  ver- 
lassen, wieder  zu  sich  zurückzuführen.  Auch  dieser  Sang  ist  durch  einen 
Schaltvers  in  Strophen  geteilt.  Verwandte  Komposition  zeigt  die  fünfte 
Ecloge.  Nur  findet  hier  kein  Wettstreit  statt,  in  friedlicher  Weise  singt 
jeder  der  beiden  Hirten  sein  Lied.  Sie  bewundern  und  beschenken  sich 
gegenseitig.  Die  beiden  Lieder  stellen  uns  in  ganz  besonders  anschaulicher 
Weise  Bild  und  Gegenbild  dar.  Während  der  Hirte  Mopsus  den  dahin- 
geschiedenen Daphnis  besingt,  feiert  Menalcas  den  zum  Olymp  erhobenen. 
Während  daher  in  dem  ersten  Lied  alles  voll  Trauer  ist,  finden  wir  in 
dem  zweiten  alles  in  hellen  Jubel  aufgelöst.  Man  hat  hier  ebenfalls  eine 
Allegorie  finden  wollen;  der  in  den  Olymp  eingegangene  Daphnis  soll  der 
im  J.  42  vergötterte  Caesar  sein;  allein  der  Dichter  hat  dafür  nirgends 
in  seinem  Gedicht  einen  Wink  gegeben.  Auch  führt  die  wörtliche  Inter- 
pretation keine  Schwierigkeiten  herbei.  Kein  Carmen  amoebaeum  ist  das 
zweite  Hirtenlied.    Der  Hirte  Corydon  schwärmt  für  den  schönen  Alexis, 


Yergils  Bncolica.  25 

den  Liebling  seines  Herrn.  Allein  seine  Liebe  findet  keine  Erhörung. 
An  einsamen  Orten  klagt  er  daher  Bergen  und  Wäldern  sein  Leid.  Zu- 
letzt aber  kommt  er  zu  sich  und  tröstet  sich  damit,  dass,  wenn  ihn  Alexis 
verschmähe,  er  eine  andere  Liebe  finden  werde. 

332.  „Verkleidete''  Hirtengedichte.  Die  Stücke,  die  wir  bisher 
betrachtet  haben,  waren  im  Stil  Theokrits  gedichtet,  und  es  that  ihnen 
wenig  Eintrag,  wenn  hie  und  da  der  Boden  des  bukolischen  Gedichts  ver- 
lassen wurde.  Ganz  anderer  Art  sind  die  Eclogen,  zu  denen  wir  uns  jetzt 
wenden.  Auch  diese  Gedichte  beruhen  auf  der  ländlichen  Scenerie;  allein 
diese  ländliche  Scenerie  mit  ihren  Hirten  ist  nur  ein  Schein,  es  stecken 
entweder  andere  Personen  hinter  dem  Hirtengewand  oder  es  sind  Dinge 
in  das  Hirtenleben  übertragen,  die  mit  demselben  nichts  zu  thun  haben. 
Wir  legen  zuerst  den  letzten  Fall  an  dem  zehnten  Gedicht  dar;  hier 
sehen  wir,  wie  ein  Stoff  aus  der  natürlichen  Sphäre  herausgehoben  und 
dem  Hirtenleben  angepasst  werden  kann.  Dem  Dichter  Cornelius  Gallus 
ist  die  Geliebte  Lycoris  untreu  geworden.  Der  Verlassene  wünscht  zu 
seinem  Trost  eine  Pastorale  von  Vergil.  Der  Freund  schreibt  die  zehnte 
Ecloge;  ausdrücklich  kündigt  er  sie  im  Eingang  (6  u.  7)  als  ein  Hirten- 
gedicht an.  Wir  haben  zwei  Teile,  in  dem  ersten  lässt  der  Dichter  nach 
einer  vorwurfsvollen  Anfrage  an  die  Musen  die  Hirten  mit  der  gesamten 
ländlichen  Umgebung  um  Gallus  trauern,  auch  verschiedene  Gottheiten 
nahen  sich,  unter  ihnen  Pan,  der  mahnt,  des  Liebesgrams  genug  sein  zu 
lassen.  Darauf  antwortet  Gallus  —  und  dies  ist  der  zweite  Teil.  Er  will 
trotzdem,  dass  seine  Liebe  von  den  Hirten  besungen  werde;  ja  er  wünscht, 
er  wäre  selbst  ein  Hirte  geworden,  er  malt  sich  ein  idyllisches  Dasein 
aus  und  stellt  es  in  Gegensatz  zu  seinem  jetzigen,  er  fasst  sogar  den  Ent- 
schluss,  das  Leben  eines  Hirten  oder  eines  Jägers  zu  führen.  —  Plötzlich 
wird  sein  Phantasiegemälde  unterbrochen  durch  den  rauhen  Gedanken, 
dass  sich  die  Liebe  doch  nicht  bändigen  lasse;  denn 

Omnia  vincU  Amor;  et  nos  cedamt*s  AmorL 

Nehmen  wir  die  erste  Ecloge:  in  derselben  unterreden  sich  zwei  Hirten; 
der  eine,  Meliboeus,  von  seinem  Hofe  vertrieben  und  im  Begriff,  in  die 
Ferne  zu  ziehen,  stösst  auf  Tityrus,  der  sich  seines  Besitzes  in  voller 
Behaglichkeit  erfreut.  Auf  seine  Frage,  wie  das  komme,  erzählt  ihm 
Tityrus,  dass  er  sein  Glück  einem  jugendlichen  Gotte  in  Rom  schulde, 
der  ihn  in  seinem  Eigentum  geschützt;  er  werde  ihm  steten  Dank 
bewahren.  Der  Dichter  berichtet  hier  ein  Ereignis  aus  seinem  Leben; 
auch  ihm,  wie  so  vielen  andern,  war  die  Vertreibung  von  Haus  und  Hof 
durch  die  Veteranen  angedroht  worden;  da  griff  Octavian  ein  und  rettete 
ihm  seine  Habe.  Auf  dem  Gegensatz  der  Stimmungen  des  Geschützten 
und  des  Verjagten  beruht  der  Reiz  des  Gedichts.  Auf  die  durch  die  Acker- 
verteilung an  die  Veteranen  entstandenen  Wirren  bezieht  sich  weiterhin 
die  neunte  Ecloge.  Es  begegnen  sich  zwei  Hirten,  Lycidas  und  Moeris. 
Der  letztere  treibt  Böckchen  zu  seinem  neuen  Herrn  in  die  Stadt;  sein 
alter  Gebieter,  Menalcas  mit  Namen,  war  verjagt  worden.  Die  beiden 
Hirten  beklagen  dies,  wir  hören,  dass  dem  Menalcas  früher  seine  Gedichte 


26       Bömiflche  LitteraturgeBchiohte.    n.  Die  Zeit  der  Honarchie.    1.  Abteilung. 

den  Besitz  des  Gutes  gerettet  hatten,  allein  dass  jetzt  auch  über  ihn  das 
Verhängnis  hereingebrochen,  denn  im  Wafifengeklirr  hätten  die  Gedichte 
keinen  Wert.  In  ihrem  Schmerz  gedenken  sie  der  Lieder,  welche  Menalcas 
gedichtet;  sie  teilen  sich  Bruchstücke  derselben,  soweit  sie  solche  im  Ge- 
dächtnis haben,  mit;  darunter  ist  eines,  in  dem  der  Dichter  dem  Varus 
hohen  Ruhm  durch  sein  Lied  in  Aussicht  stellt,  falls  nur  Mantua  erhalten 
bleibe,  Mantua,  das  leider  so  nahe  bei  Cremona  liegt.  Durch  den  letzten 
Zusatz  wird  die  Anspielung  auf  die  Ackerverteilung  völlig  sicher  gestellt. 
Menalcas  ist  Vergil.  Er,  den  anfangs  Octavians  Gunst  bewahrt,  war  jetzt 
unter  Gefahr  seines  Lebens  von  den  Veteranen  vertrieben  worden.  Er  richtet 
aber  seine  Hoffnung  auf  den  neuen  Legaten  Varus  und  will  dessen  Hilfe 
durch  ein  Lobgedicht  sich  erringen.  An  die  neunte  Ecloge  schliesst  sich 
allem  Anschein  nach  die  sechste  an.  In  der  neunten  Ecloge  war  dem 
Varus  ein  Panegyricus  versprochen  worden;  in  der  sechsten  erklärt  Vergil, 
er  habe  ein  Epos  über  „Könige  und  Schlachten^  zu  schreiben  beabsichtigt, 
allein  Apollo  habe  ihn  abgemahnt,  er  wolle  daher,  zumal  da  sich  sicherlich 
Leute  finden,  welche  das  Lob  des  Varus  singen  werden,  sich  wieder  an 
die  Hirtenpfeife  halten,  übrigens  werde  ja  auch  durch  Erwähnung  in  diesem 
Hirtenlied  Varus  verherrlicht.  Wir  sehen,  an  Stelle  des  versprochenen 
Panegyricus  tritt  die  Widmung  unserer  Ecloge.  Auf  diese  Einleitung  folgt 
das  eigentliche  bukolische  Lied.  Es  ist  dem  Silen  in  den  Mund  gelegt, 
wird  aber  nicht  direkt  vorgetragen,  sondern  erzählt.  Silen  fing  an,  so 
lautet  der  Bericht,  mit  der  Entstehung  der  Welt  und  ging  dann  zu  den 
verschiedensten  Mythen  über.  In  der  Mitte  wird  plötzlich  des  Dichters 
Gallus  gedacht.  Er  wird  in  den  Musenchor  eingeführt,  alles  erhebt  sich 
bei  seinem  Eintritt,  der  Sänger  Linus  reicht  ihm  die  Syrinx,  welche 
einst  Hesiod  gespielt,  und  mahnt  ihn,  die  Geschichte  des  gryneischen 
Orakelhaines  zu  besingen.  Drei  Dinge  helfen  uns,  die  Komposition  des 
Gedichts  zu  ergründen,  einmal  dass  Gallus  Nachahmer  und  Übersetzer 
Euphorions  war,  dann  dass  Euphorien  einen  Hesiod  geschrieben,  endlich 
dass  wirklich  Gallus  die  Geschichte  des  gryneischen  Orakels  aus  Euphorien 
übersetzt  hat.  Wenn  wir  dazu  nehmen,  dass  die  Einführung  des  „umher- 
schweifenden'' Gallus  in  den  Musenchor  nur  die  Bedeutung  haben  kann, 
dass  Gallus  statt  der  Liebeselegien  jetzt  ein  gelehrtes  Epyllion  schrieb, 
so  werden  wir  die  längst  ausgesprochene  Vermutung^)  billigen  müssen, 
dass  es  eben  der  Hesiod  des  Euphorien  war,  den  Gallus  übersetzt  hatte 
und  dass  er  mit  einem  zweiten  Werk  desselben  Euphorien  beschäftigt  war, 
in  dem  die  Geschichte  des  gryneischen  Orakels  vorkam.  Wir  werden 
noch  weiter  gehen  dürfen,  wahrscheinlich  stand  auch  der  grösste  Teil 
der  von  Silen  mitgeteilten  Mythen  im  Hesiod  und  wahrscheinlich  ist  aus 
den  letzten  Versen  zu  schliessen,  dass  dieselben  dem  Phöbus  in  den 
Mund  gelegt  waren.*)  Völlig  tritt  aus  dem  Rahmen  der  ländlichen  Ge- 
dichte die  vierte  Ecloge  heraus.  Gleich  im  Eingang  stellt  der  Dichter 
sie  als  ein  Lied  höheren  Schwungs  hin.  Sie  ist  an  den  Konsul  Asinius 
PoUio  gerichtet  und  verkündet  die  Ankunft  eines  neuen  goldenen  Zeit- 

*)  Vgl.  unten  bei  GaUus. 

«)  Ribbeck,  Rom.  Dicht.  2, 28. 


Vergila  BncoUca.  27 

alters;  es  sei  die  letzte  Periode  des  Weltjahrs  erschienen;  nach  deren 
Ablauf  wiederhole  sich  dasselbe,  es  komme  daher  wiederum  die  goldene 
Epoche  des  Menschengeschlechts.  Diese  neue  Ordnung  der  Dinge  bringt 
der  Dichter  mit  der  Geburt  eines  Knaben  in  Verbindung  und  zwar  in 
der  Weise,  dass,  je  weiter  derselbe  in  den  Jahren  fortschreitet,  desto 
reiner  sich  das  goldene  Zeitalter  entwickelt.  Wer  ist  dieser  Knabe?  Aus 
V.  17  muss  man  auf  einen  Sohn  des  Asinius  PoUio  schliessen.  Diese  An- 
schauung war  auch  im  Altertum  verbreitet.  Wir  haben  dafür  ein  Zeugnis 
des  Asconius,  der  uns  berichtet,  er  habe  von  Asinius  Gallus,  dem  Sohne 
des  Asinius  Pollio,  gehört,  dass  er  (Gallus)  in  dieser  Ecloge  verherrlicht 
worden  sei.')  Wenn  wir  die  spätere  Beamtenlaufbahn  des  Gallus  be- 
trachten, so  würde  in  der  That  seine  Geburt  in  das  Konsulatsjahr  des 
Asinius  Pollio  fallen.')  Man  hat  daran  Anstoss  genommen,  dass  diesem 
Gallus  eine  so  überschwenglich  ruhmvolle  Laufbahn  vorausgesagt  wird 
wie  (17) 

pacatumque  reget  patriis  virttätbus  orhem. 

Allein  diese  Übertreibung  darf  nicht  so  stark  urgiert  werden,  sie  ist  wahr- 
scheinlich veranlasst  worden  durch  einen  sibyllinischen  Spruch,  in  dem 
in  ebenso  überschwenglicher  Weise  ein  Knabe  als  künftiger  Herrscher 
eines  glücklichen  Geschlechts  gefeiert  wurde.  Es  bleibt  noch  die  Frage 
übrig,  warum  gerade  mit  Pollios  Konsulat  die  Anzeichen  einer  neuen 
Ordnung  der  Dinge  in  Verbindung  gebracht  werden.  In  demselben  Jahr,  in 
dem  Pollio  das  Konsulat  bekleidet  (40),  war  der  brundisinische  Frieden  und 
zwar  unter  Mitwirkung  Pollios  geschlossen  worden.  Freilich  waren  noch 
nicht  alle  Streitpunkte  beseitigt  (v.  14),  allein  man  hatte  jetzt  Hoffnung 
auf  eine  Ära  des  Friedens.  Was  Wunder,  wenn  die  Geburt  eines  Sohnes 
im  Hause  Pollios  den  Dichter  veranlasste,  seinem  Wohlthäter  ein  be- 
geistertes Denkmal  zu  setzen!^) 

223.  Zeit  der  Abfassung  der  Bncolica.  Als  festen  Punkt  haben 
wir  das  Zeugnis  des  gewissenhaften  Asconius,  das  uns  im  Kommentar  des 
Probus  überliefert  wird,  zu  betrachten;  nach  demselben  gab  Vergil  im 
28.  Lebensjahr  bukolische  Gedichte  heraus.  Dieses  Lebensjahr  hatte  der 
Dichter  im  Oktober  42  zurückgelegt.  Ein  zweites  Zeugnis,  das  uns  in 
der  Vergilvita  Donats  erhalten  ist,  berichtet,  dass  die  bukolischen  Gedichte 
in  drei  Jahren  zum  Abschluss  kamen.  Kombinieren  wir  beide  Zeugnisse 
miteinander,  so  gewinnen  wir  für  das  Triennium  das  Intervallum  vom 
Oktober  42  bis  Oktober  39.  In  diese  Zeit  müssen  sonach  die  Eclogen 
fallen.  Die  nächste  Aufgabe  wäre  nun,  die  Abfassungszeit  der  einzelnen 
Eclogen,  soweit  dies  möglich  ist,  genauer  festzustellen.  Die  vierte 
Ecloge  ist  an  Asinius  Pollio  als  Konsul  gerichtet;  da  wir  das  Konsulats- 
jahr desselben  kennen,  so  ergibt  sich  mit  völliger  Sicherheit  ihre  Ab- 
fassungszeit, es  ist  das  Jahr  40.   An  denselben  Asinius  Pollio  wendet  sich 


*)  ServiuB  2,  121  L.  Asconitis  Pedianus 
a  Gallo  audisse  se  refert  hanc  eclogam  in 
honorem  eins  factam.  Noch  ist  als  eine 
Schwierigkeit  zu  bemerken,  dass  nach  Ser* 
vius  manche  zwischen  Asinius  Saloninus  und 


Asinius  Gallus  schwanken. 

^)  Feilghenfeld  p.  32. 

')  Im  wesentlichen  auch  so  Sellar  p.  147 
(anders  Hermes,  Vergilii  Bucolica  p.  29). 


28       Bömische  Litteratargeachichte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

die  achte  Ecloge,  als  er  aus  seinem  dalmatinischen  Feldzug  zurückkehrte; 
da  dies  im  Jahr  39  der  Fall  war,  so  muss  das  Gedicht  in  diesem  Jahr  ge- 
schrieben sein.  Nach  der  Angabe  des  Dichters  ist  die  zehnte  Ecloge  die 
letzte;  da  die  neunte  schon  in  das  Jahr  39  fallt,  so  darf  sie  nicht  vor 
dieses  Jahr  fallen,  sie  kann  aber  auch  nicht  später  als  Oktober  39  ver- 
fasst  sein,  da  sonst  das  Triennium  überschritten  würde.  Für  die  Chrono-, 
logie  der  ersten,  neunten  und  sechsten  Ecloge  bildet  die  Acker- 
verteilung an  die  Veteranen  die  Grundlage.  Diese  Gedichte  müssen  in 
der  angegebenen  Reihenfolge  entstanden  sein;  denn  in  der  ersten  Ecloge 
war  der  Dichter  durch  Octavianus'  Gunst  vor  der  Vertreibung  geschützt 
worden,  in  der  neunten  hatte  er  nach  dem  Abgang  des  Asinius  PoUio 
sein  Gut  verloren,  und  rechnet  jetzt  auf  den  neuen  Legaten  Varus,  dem 
er  für  seine  Huld  ein  Lobgedicht  in  Aussicht  stellt.  In  der  sechsten 
Ecloge  entschuldigt  sich  der  Dichter,  dass  er  statt  des  Lobgedichts  ein 
bukolisches  Lied  gebe,  in  dem  jedoch  Varus  erwähnt  worden  sei.  Die 
Bedrohungen  des  Gebietes  von  Mantua  durch  die  Veteranen  gehören  dem 
J.  41  an;  in  dieses  und  vielleicht  noch  zum  Teil  in  das  folgende  Jahr 
müssen  daher  die  drei  Eclogen  fallen.  Bezüglich  der  übrigen  Gedichte 
fehlen  uns  chronologische  Indicien.  Fest  steht  aber,  dass  das  fünfte 
später  ist  als  das  zweite  und  dritte,  da  auf  dieselben  verwiesen  wird 
(5,86),  ferner  dass  das  fünfte  vor  dem  neunten  liegt,  da  in  diesem 
V.  19  der  v.  40  der  fünften  Ecloge  verwertet  wird.  Es  sind  also  diese 
drei  Eclogen  die  frühesten  von  allen.  Ihnen  wird  die  siebente  anzu- 
reihen sein. 

ProbuB  p.  1  K.  8crip8it  Bucolica  annos  natus  VIII  et  XX  TheoctHtum  secutus.  p.  7,  7 
Asconitis  Pedianus  dicit  (eum)  XXVIII  annos  natum  Bucolica  ediäisse.  Donati  Vita  p.  60  R. 
hiicoJica  triennio  perfecit. 

Die  Hypothese  Schaper 8.  Eine  eigentümliche  Ansicht  bezüglich  der  £cIogen 
stellt  ScHAPER  in  seiner  Abhandlung  ^Über  die  Entstehungszeit  der  Vergilischen  Eclogen, 
Fleckeis.  Jahrb.  89, 633— 657,  p.  769-794*  auf.  Nach  ihm  schrieb  Vergilius  die  sieben 
rein  bukolischen  Gedichte  1.  2.  3.  5.  7.  8.  9  in  den  Jahren  von  42  bis  etwa  88.  Nach  der 
Vollendung  der  Georgica  und  nach  der  ersten  nicht  sogleich  glücklichen  Arbeit  am  Epos 
kehrte  er  noch  einmal  zu  der  bukolischen  Dichtung  zurück  und  veranstaltete  eine  neue 
Ausgabe  seiner  Idyllen  unter  dem  Namen  eclogae,  in  welcher  er  die  Zahl  derselben  durch 
die  drei  letzten  (4.  6.  10)  vermehrte.  Er  begann  diese  Arbeit  auf  Anraten  des  Asinius 
Pollio  und  vollendete  sie  in  den  drei  Jahren  27 — 25*  (p.  794).  Diese  Ansicht  ist  in  beiden 
Teilen  unhaltbar;  weder  ist  eine  zweite  Ausgabe  der  Eclogae  zu  begründen,  noch  die  späte 
Entstehungszeit  der  drei  Eclogen  (4.  6.  10)  wahrscheinlich  zu  machen;  wer  die  sonderbaren 
Erklärungen  wie  z.  B.  die  10.  Ecloge  beziehe  sich  auf  den  verstorbenen  Dichter  Gallus 
oder  kritische  Operationen  wie  die  Ersetzung  von  Pollio  (4, 12)  durch  orbis  (p.  794)  be- 
trachtet, wird  eine  breite  Widerlegung  der  Hypothese  nicht  für  notwendig  erachten. 

Litteratur:  Eine  kurze  Geschichte  der  Arbeiten  über  die  Zeitfolge  der  Eclogen 
gibt  Feilchenfeld,  De  V.  BucoUcon  temporibuSy  Leipz.  1886  p.  5 — 8.  Von  den  neueren 
Gelehrten  behandeln  die  Frage  noch  Kbause,  Quibus  temporihua  quove  ordine  V.  eelogas 
scripserity  Berl.  1884  und  Przyoodb,  De  eclogarum  VergiUanarum  temporibuSf  Berl.  1885 
(eine  mit  guter  Methode  geschriebene  Dissertation). 

224.  Würdigung  der  Bncolica.  Es  wird  uns  berichtet,  dass  Vergil 
zuerst  mit  einem  epischen  Versuch  in  das  Reich  der  Poesie  eintreten 
wollte;  da  lenkte  Asinius  Pollio  die  Blicke  des  jungen  Dichters  auf  Theo- 
crit  und  führte  ihn  dadurch  auf  eine  ganz  andere  Bahn,  zur  idyllischen 
Poesie.  Als  „kleines  Gedicht**  stellt  das  Idyll  geringere  Anforderungen 
an  die  Kräfte  des  Anfängers  als  ein   Epos;   dann  mochte  auch  Vergils 


Vergils  Bncolica.  29 

Liebe  zur  Natur  und  sein  für  das  Stilleben  schwärmender  Sinn  ihn  für  die 
Hirtenpoesie  empfänglicher  gemacht  haben.  Mit  treuem  Fleiss  versenkte 
er  sich  in  die  reizenden  Gebilde  des  sicilischen  Sängers;  Wortschatz, 
Komposition,  Gedankenwelt  war  ihm  geistiges  Eigentum  geworden.  Aber 
zugleich  regte  sich  in  ihm  der  Drang  der  Nachahmung;  hier  stand  ihm 
als  leichtester  Weg  die  freie  Übertragung  der  einzelnen  Stücke  offen,  und 
auf  Übungen  dieser  Art  lassen  Bruchstücke,  die  im  9.  Gedicht  mitgeteilt 
werden,  schliessen.  Allein  in  der  vorliegenden  Sammlung  steht  Vergil 
auf  einer  höheren  Stufe;  er  ist  nicht  mehr  Übersetzer,  sondern  Bildner 
eines  gegebenen  Stoffs ;  er  führt  neue  Gebäude  auf,  aber  die  Steine  hiezu, 
den  Plan,  die  Einrichtung  entlehnt  er  dem  griechischen  Original,  das  eine 
aus  diesem  Gedicht,  das  andere  aus  jenem  nehmend.  So  ist  das  stark 
hervortretende  Prinzip  seiner  Komposition  die  Kontamination.  Und  es 
ist  interessant  zu  sehen,  wie  der  römische  Nachahmer  mit  dem  fremden 
Gut  wirtschaftet.  Einige  Beispiele  mögen  dies  veranschaulichen.  Theocrit 
hatte  den  liebeskranken  Daphnis  von  der  ganzen  landschaftlichen  Umgebung 
betrauern  lassen  (1);  Vergil  überträgt  diese  Klagen  auf  den  Dichter  Gallus^ 
dem  die  unglüclcliche  Liebe  zur  Lycoris  Leid  gebracht  hatte  (10).  Bei 
Theocrit  jammert  der  Cyklope  Polyphem,  weil  die  Galatea  seine  Liebe 
nicht  erwidert  (11);  Vergil  verwendet  die  hier  dargebotenen  Farben,  um 
die  nicht  erhörte  Liebe  Corydons  zu  Alexis  auszumalen  (2).  Theocrit  hatte 
in  der  2.  Idylle  eine  Scene  geschildert,  in  der  Simaetha  den  untreuen  Ge- 
liebten durch  einen  Zaüberspuk  in  einer  Mondnacht  zu  sich  zurückführen 
will;  Vergil  lässt  diese  Scene  in  einen  Wettgesang  zweier  Hirten  oin- 
fliessen  (8).  In  der  6.  Idylle  Theocrits  liegt  ein  Kampf  vor  und  zwar 
in  der  Form,  dass  dem  einen  Lied  des  Vormann»  ein  Lied  des  Rivalen 
folgt;  in  der  7.  Ecloge  entnimmt  Vergil  die  Einleitung  diesem  Gedicht, 
lässt  aber  die  andere  Form  des  Wechselgesangs  folgen,  in  der  die  Gegner 
Strophe  um  Strophe  einander  entgegenstellen. 

Den  Anfangspunkt  der  nachahmenden  Thätigkeit  Vergils  bilden  die 
ländlichen  Gedichte  Theocrits;  aber  noch  barg  der  griechische  Dichter  in 
sich  einen  Keim,  der  zur  reicheren  Entfaltung  aufgeschlossen  werden 
konnte.  Theocrit  lässt  nämlich  einigemal  verkleidete  Personen  in  seinen 
Idyllen  auftreten,  so  nennt  er  sich  in  dem  7.  Simichidas,  den  zeitgenössi- 
schen Dichter  Alexander  den  Ätoler  verhüllt  er  dort  wohl  unter  dem 
Hirtennamen  Tityrus.  Diese  Verkleidung  zog  den  grübelnden  römischen 
Dichter  ungemein  an;  er  schuf  sich  das  allegorische  Idyll,  in  dem  er 
seine  persönlichen  Verhältnisse,  seine  Bedrängnisse  durch  die  Ackerver- 
teilungen, den  Preis  auf  seine  Gönner  und  Freunde  Asinius  PoUio,  Octa- 
vian,  Varus  und  Gallus  in  die  bukolische  Sphäre  hineinzog. 

Dies  sind  die  wesentlichen  Elemente  in  der  Komposition  der  Vergili- 
schen  Bucolica.  Ein  Vergleich  des  Theocrit  und  Vergil  kann  nur  zu  Un- 
gunsten des  Nachbildners  ausfallen.  Theocrits  Dichtung  hat,  wenn  sie  auch 
durchweg  Kunstdichtung  ist,  doch  ihre  natürliche  Grundlage  in  den  Liedern 
der  sicilischen  Hirten;  in  der  lombardischen  Tiefebene,  der  Heimat  Vergils, 
ist  für  die  Entfaltung  eines  charakteristischen  Hirtenlebens  und  Hirten- 
treibens kein  rechter  Boden;  es  müssen  daher,  wenn  der  Römer  das  Drama 


30       Itömiflche  Liüeratnrgeschichte.    C  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

der  griechischen  Vorlage  an  den  Mincio  verlegt,  Inkongruenzen  sich  heraus- 
stellen. Die  Vergilische  bukolische  Poesie  ist  durch  und  durch  Treibhaus- 
pflanze, sie  entbehrt  der  natürlichen  Frische  und  der  dramatischen  Lebendig- 
keit, die  wir  so  sehr  an  Theocrit  bewundern,  sie  verleugnet  nicht  den 
Charakter  des  Gemachten  und  den  Mangel  an  Originalität,  denn  das  vierte 
Gedieht  ausgenommen,  das  sich  ganz  von  dem  bukolischen  Genre  entfernt, 
gewahren  wir  überall  die  Vorbilder  und  die  peinliche,  wenn  auch  saubere 
Arbeit  des  Nachtreters.  Das  Hereinziehen  fremdartiger  Verhältnisse  in 
die  Hirtenwelt  erzeugt  ein  Zwielicht,  das  unseren  Augen  wehe  thut.  Wenn 
wir  daher  von  einer  überfeinerten  Kultur  gedrückt  uns  nach  dem  einfachen 
Naturleben  zurücksehnen,  so  greifen  wir  nicht  zu  den  krankhaften  Ge- 
bilden Vergils,  sondern  wir  flüchten  uns  zu  den  anmutigen  Schöpfungen 
Theocrits;  und  in  ihrer  Lektüre  finden  wir  Ruhe  und  Frieden. 

» 

ß)  Die  Georgica. 

225.  Skizze  der  Georgica.  Auf  Anregung  des  Maecenas  schrieb 
Vergil  sein  ländliches  Gedicht,  die  Georgica;  ihm  hat  der  Dichter  seine 
Schöpfung  auch  zugeeignet.    Der  Inhalt  wird  im  Eingang  angekündigt: 

Quid  faciat  laetas  segetes,  quo  nidere  terram 
Vertere,  Maecenas,  ulmtsque  adiungere  pitia 
Conveniat,  quae  cura  houm,  qui  cultua  habendo 
Sit  pecori,  apihus  quanta  experientia  parcis, 
Hinc  canere  incipiam. 

Derselbe  ist  ein  vierfacher  und  diesem  vierfachen  Inhalt  entsprechen  die 
vier  Bücher  der  Georgica.  Das  erste  Buch  handelt  über  den  Ackerbau, 
das  zweite  über  die  Baumkultur,  das  dritte  über  die  Viehzucht,  endlich 
das  vierte  über  die  Bienenpflege.  Auch  den  Gartenbau  hätte  Vergil  noch 
geschildert,  allein  bei  der  Lehre  von  den  Bienen  angekommen,  wollte 
er  dieses  sich  an  die  Bienenzucht  anschliessende  Thema  nicht  mehr  durch- 
führen, sondern  dasselbe  andern  überlassen  (4, 148).  Wenn  wir  vorläufig 
von  dem  poetischen  Schmuck,  den  Einleitungen  und  den  Exkursen  absehen, 
tritt  uns  folgende  Gliederung  des  Stoffs  entgegen:  Der  erste  Gesang  be- 
ginnt mit  der  Pflege  des  Feldes  und  zwar  sowohl  vor  als  nach  der  Saat; 
dann  geht  er  zu  den  Dingen  über,  welche  der  Landmann  ausserdem  ins 
Auge  zu  fassen  hat,  zu  den  Ackergeräten,  der  Tenne,  den  Kriterien  der 
Fruchtbarkeit,  der  Behandlung  des  Samens;  es  folgt  der  Bauernkalender, 
der  eine  Anweisung  für  die  Zeit  der  verschiedenen  ländlichen  Beschäfti- 
gungen enthält,  und  diesem  das  Wetterbuch.  Im  zweiten  Gesang  erörtert 
Vergil  die  Entstehung  der  Bäume  und  Gesträucher  auf  natürlichem  und 
auf  künstlichem  Weg,  den  Anbau  derselben,  ihre  Verschiedenheit  und 
wendet  sich  hierauf  zu  der  speziellen  Kultur  des  Weinstocks;  zum  Schluss 
berührt  er  kurz  die  Gewächse,  welche  keine  intensive  Kultur  erheischen, 
z.  B.  Oliven,  Obstbäume.  Die  Viehzucht  behandelt  das  dritte  Buch  in  der 
Weise,  dass  es  zuerst  auf  die  Pferde  und  die  Rinder  eingeht,  dann  die 
Schaf-  und  Ziegenzucht  darlegt,  dort  die  Fortpflanzung,  hier  die  Weide, 
Wolle  und  Milch,  die  Gefahren,  die  Seuchen  ins  Auge  fassend.  Das  an- 
mutigste Buch  ist  das  den  Bienen  gewidmete  vierte;  wir  folgen  gern  dem 


Vergils  Georglca.  31 

Dichter,  wenn  er  uns  über  die  Wohnung,  das  Schwärmen,  den  Haushalt, 
die  Zeidelung,  die  Krankheiten  und  endlich  über  die  künstliche  Erzeugung 
der  Bienen  in  anschaulicher  Weise  belehrt. 

ServiuB  1,  2  Th.  proposuit  Maecenas  Georgien.  Der  Gartenbau,  den  Vergil  weg- 
gelassen, fand  bald  von  .einer  anderen  Persönlicbkeit  aus  dem  Kreise  des  Maecenas  eine 
litterarische  Bearbeitung,  nämlich  von  SabinusTiro.  Plin.  n.  h.  19, 177  fei-ro  quoque  non 
expedire  tangi  rutam,  cunilam,  mentam,  ocimum  auctor  est  Sabinua  Tiro  in  libro  cepuricon 
quem  Maeeenati  dicavit 

226.  AbfaSBungBzeit  der  Georgica.  Am  Schluss  der  Georgica  stellt 
sich  der  Dibhter  selbst  dem  Leser  vor  und  belehrt  ihn  über  die  äusseren 
Umstände  seiner  Dichtung,  über  Zeit  und  Ort.  Er  erzählt,  dass,  als  er 
mit  den  Georgica  beschäftigt  war,  Octavian  im  fernen  Osten  weilte  und 
„am  Euphrat  donnerte**  0  (4>  561).«)  Sonach  ist  klar,  dass  die  Georgica  voll- 
endet waren,  ehe  Octavian  von  seinem  Kriegszug  aus  dem  Ostön  zurück- 
kehrte. Dieae  Rückkehr  fand  aber  im  Sommer  des  J.  29  v.  Ch.  statt.^) 
Und  über  das  J.  29  hinaus  führen  keine  Spuren  des  Gedichts.  Dass  wirk- 
lich das  Gedicht  damals  fertig  war,  dafür  ist  der  sprechendste  Beweis, 
dass  Vergil  dasselbe  dem  Octavian  nach  dessen  Heimkehr  vorlas.  Aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  war  das  Werk  nicht  lange  vorher  zur  Vollendung 
gekommen.  Wäre  es  geraume  Zeit  vor  der  Vorlesung  abgeschlossen  ge- 
wesen, so  würde  es  vermutlich  auch  an  das  Licht  der  Öffentlichkeit  ge- 
treten sein.  Wir  werden  daher  höchstens  bis  in  das  Jahr  30  zurück- 
greifen dürfen.  Wie  bei  den  Bucolica,  so  arbeitete  Vergil  auch  an  diesem 
Gedicht  verhältnismässig  lange  Z'eit.  Derselbe,  anscheinend  auf  Asconius 
zurückgehende  Bericht,  der  uns  belehrte,  wie  viel  Jahre  der  Dichter  auf 
die  Eclogen  verwendete,  unterrichtet  uns  auch  über  das  Intervall,  durch 
welches  Anfang  und  Ende  der  Georgica  voneinander  getrennt  waren.  Das- 
selbe umfasste  sieben  Jahre.  Der  Dichter  begann  also  mit  seiner  Schöpfung 
im  J.  36  oder  37.  Da  die  Bucolica  nicht  über  das  J.  39  hinaus  erstreckt 
werden  können,  so  würde  zwischen  den  Bucolica  und  den  Georgica  ein 
Zeitraum  von  einigen  Jahren  liegen,  welche  den  Vorbereitungen  für  die 
neue  Dichtung  zugewiesen  werden  können.  Die  Anspielungen  auf  Zeit- 
ereignisse des  Dichters  reichen  von  36  oder  37  bis  29.  Auf  Grund  der- 
selben die  Abfassungszeit  der  einzelnen  Bücher  zu  bestimmen,  ist  un- 
fruchtbar, da  die  siebenjährige  Arbeit  an  dem  Gedicht  durch  Nachträge 
die  Zeitgrenzen  verschob. 

Donats  Vita  p.  60  R.  georgica  VIT  perfecit  annis.  Serv.  Vita  p.  2, 9  Th.  georgica, 
quae  scripsit  etnendavitque  Septem  annis.  Donat  1.  c.  p.  61  georgica  reverso  post  Actiacam  victo- 
riam  Augusto  atque  AteUae  reficiendarum  faucium  causa  commoranti  per  eontinuum  quatri' 
duum  legit,  suscipiente  Maecenate  legendi  picem  quotiens  interpeUaretur  ipse  vocis  offensione. 

Über  die  Abfassungszeit  der  Georgica  ist  die  grundlegende  Abhandlung  Ribbecks, 
De  georgicon  temportbus  in  den  Proleg.  p.  13  vor  allem  zu  berücksichtigen.  Ausserdem 
untersuchen  die  Chronologie  der  Georgica  Boroius,  De  temporihus  quibus  VergUi  Georgica 
scripta  et  perfecta  sint,  Halle  1875;  derselbe  setzt  nach  den  Zeitanspielungen  die  Abfassung 
in  die  Jahre  32 — 29,  nimmt  aber  wegen  des  Zeugnisses  des  Asconius  für  die  Emendation 
noch  die  Jahre  29 — 26  in  Anspruch.    Eine  scharfe  Trennung  der  compositio  und  emendatio 


')  August  30  zog  Octavian  von  Ägypten 
nach  Asien  und  brachte  noch  in  diesem  Jahr 
die  Provinz  zur  Ruhe. 

^)  Man  hat  diese  Verse  fOr  einen  frem- 
den Zusatz  erklären  wollen,  allein  dies  geht 


ebensowenig  als  wenn  man  das  Schluasge- 
dicht  der  Amores  bei  Ovid  (3, 15)  oder  das 
Gedicht  bei  Properz  (1,  22)  tilgen  wollte. 
«)  Dio  51,21. 


32       Römische  LitteratargeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.     1.  Abteilnng. 

ist  unmöglich.  Unrichtig  bestimmt  Schafeb  (De  Geoi-gicUt  a  V.  eniendatiSf  Beri.  1873)  die 
7  Jahre,  indem  er  noch  die  zwischen  einer  ersten  und  zweiten  Ausgabe  liegende  Zeit  hinzu- 
rechnet; er  setzt  für  die  Abfassung  die  Jahre  31 — 29  fest,  und  lässt  die  zweite  Ausgabe 
im  J.  25  erscheinen.  Van  Wagbntngbn,  De  Vergili  Georgicis,  Utrecht  1888  p.  24  gibt  als 
das  Resultat  seiner  Untersuchung,  Vergil  habe  sich  in  den  Jahren  33  und  32  auf  das  Werk 
vorbereitet,  31 — 28  dasselbe  geschrieben,  endlich  27  dasselbe  verbessert  und  den  Schluss 
neu  gestaltet.  Zuletzt  ist  die  Abfassungszeit  der  Georgica  mit  gutem  Urteil  untersucht  von 
PuLVEBMACHEB  {De  Georgtcis  a  Vergilio  retractatis,  Berl.  1890  p.  7 — 30). 

Zeitanspielungen  enthalten  folgende  Stellen:  1,24  1,509  2,161  2,171  (erst  zur  Zeit 
der  Beendigung  des  Werks  hinzugefügt,  vgl.  Pulvebiiacheb  p.  118)  2, 495  3,26  (erst  später 
von  der  Hand  des  Dichters  hinzugefügt,  vgl.  Pulvebmacheb  p.  118)  4, 560. 

227.  Die  Ausgaben  der  Georgica.  Vergil  gab  die  Georgica  selbst 
heraus;  es  wird  dies  bald  nach  der  Vorlesung  derselben  vor  Octavian  ge- 
schehen sein.  Allein  gewisse  Spuren  führen  darauf,  dass  von  dem  Dichter 
eine  zweite  Ausgabe  veranstaltet  wurde.  Es  wird  uns  nämlich  berichtet, 
dass  das  letzte  Buch  in  der  Schlusspartie  einen  Panegyricus  auf  den 
Dichter  Cornelius  Gallus  enthalten  habe;  da  aber  dieser  Cornelius  Gallus 
sich  infolge  der  Ungnade  Octavians  im  J.  27  den  Tod  gegeben,  soll  der 
Herrscher  den  Wunsch  ausgesprochen  haben,  dass  jene  Partie  geändert 
werde.  Daraufhin  habe  der  Dichter  das  Lob  des  Gallus  durch  die  mytho- 
logische Erzählung  vom  Aristaeus  oder,  wie  eine  andere  Quelle  bezeugt, 
vom  Orpheus  ersetzt.  Man  hat  die  Glaubwürdigkeit  des  ganzen  Berichts 
bestritten.')  Die  Entscheidung  wird  von  dem  Nachweis  abhängen,  ob  etwa 
noch  Störungen  auf  eine  ursprünglich  anders  geartete  Fassung  hindeuten; 
denn  für  das  litterarische  Schaffen  gilt ,  der  Satz,  dass  derselbe  Moment 
der  Konzeption  niemals  völlig  wiederkehrt.  Wir  legen  daher  den  Zu- 
sammenhang dar.  Der  Schriftsteller  hatte  von  den  Krankheiten  der  Bienen 
gesprochen.  Im  Anschluss  daran  behandelt  er  auch  den  Fall,  dass  alles 
Bienenvolk  umkommt,  und  schlägt  als  Rettungsmittel  die  künstliche  Er- 
zeugung der  Bienen  vor,  eine  Erfindung  des  Aristaeus,  welche  besonders 
in  Ägypten  grossen  Nutzen  stifte.  Das  Verfahren  wird  in  kurzem  mit- 
geteilt. Es  folgt  der  M3rthus  von  Aristaeus.  Dieser  hatte  durch  Krank- 
heiten und  Hunger  seine  Bienen  verloren;  in  seinem  Schmerz  wendet  er 
sich  an  seine  Mutter,  die  Nymphe  Cyrene,  und  macht  ihr  Vorwürfe.  Cyrene 
weist  den  bekümmerten  Sohn  an  den  Meergott  Proteus,  der  aber  nur  gefesselt 
seine  Weisheit  kundgibt.  Aristaeus  begibt  sich  zu  Proteus;  man  sollte  nun 
meinen,  der  Meergott  hätte  dem  Aristaeus  mitgeteilt,  was  er  zu  thun 
habe,  um  wieder  Bienen  zu  erhalten;  wir  erwarten  dies  um  so  mehr,  als 
Aristaeus  ausdrücklich  Errettung  aus  seiner  Not  als  Zweck  seines  Kommens 
angibt  (4,449): 

venimus,  hinc  lapais  quaesitum  oracula  rebus. 

Allein  Proteus  enthüllt  nicht  die  Zukunft,  sondern  die  Vergangenheit;  er 
deckt  die  Ursache  des  Unglücks  auf,  aber  spendet  keine  Batschläge;  er 
offenbart,  dass  die  Verwünschungen  des  Sängers  Orpheus  auf  Aristaeus 
lasten,  weil  er  der  Gattin  des  Orpheus  nachgestellt  und  diese  auf  der 
Flucht  durch  den  Biss  einer  Schlange  den  Tod  gefunden  habe.  Merk- 
würdigerweise erzählt  dann  Proteus  die  Trauer  des  Orpheus   und  seine 


*)  Zuletzt  iat  dies  von  Pulverhaohbr  in  der  erwähnten  Abhandlung  De  Georgicis 
ß  Vergilio  retractatis,  Berl.  1890  geschehn. 


Vergils  Georgica.  33 

Fahrt  in  die  Unterwelt.  Erst  Cyrene  sagt  dem  Sohn,  was  er  zu  thun 
habe,  um  wieder  in  den  Besitz  von  Bienen  zu  gelangen.  Hier  liegt  ein 
offenkundiger  Mangel  der  Komposition  vor.  Die  Schilderung  der  Orpheus- 
sage passt  nicht  hieher,  in  dem  Munde  des  nur  durch  Zwang  zum  Wahr- 
sagen zu  bestimmenden  Proteus  erregt  sie  noch  mehr  Befremden.  Auch 
muss,  wie  bei  Ovid  (Fasti  1,  363),  Proteus  den  Weg  der  künstlichen  Bienen- 
erzeugung mitgeteilt  haben.  Hier  hat  also  ursprünglich  etwas  anders 
gestanden;  es  wäre  thöricht,  nach  dieser  Erkenntnis  nicht  die  erhaltene 
Überlieferung  einer  zweiten  Ausgabe  zu  verwerten.  Das  später  gestrichene 
Lob  des  Dichters  Gallus  wird  ehedem  an  dieser  Stelle  seinen  Platz  ge- 
habt haben;  denn  dessen  Erwähnung  war  ja  dadurch  motiviert,  dass  die 
Erfindung  des  Aristaeus  angeblich  besonders  in  Ägypten  Segen  stiftete 
und  Gallus  Statthalter  dieses  Landes  war.  Nach  der  Streichung  des  Pane- 
gyricus  kam  die  Orpheusepisode  hinzu;  weiterhin  wurden  die  Ratschläge 
der  Mutter  zugeteilt. 

Noch  eine  zweite  Störung  bemerken  wir;  v.  285  kündigt  der  Dichter  an,  er  wolle 
den  Aristaeusmythus  von  seinem  Ursprang  an  verfolgen;  an  diese  Ankündigimg  reiht  sich 
mittels  der  Partikel  „nam''  die  Bemerkung  von  der  Anwendung  der  Erfindung  in  Ägypten 
an.  Vermutlich  war  bereits  hier  des  Cornelius  Gallus  gedacht.  Die  ganze  Erzählung  von 
Aristaeus  erst  der  späteren  Ausgabe  zuzuweisen,  ist  unthunlich;  denn  nur  die  künstliche 
Erzeugung  der  Bienen  in  Ägypten  bot  Vergil  einen  Anlass,  die  Rede  auf  Gallus  zu  lenken ; 
jene  Kunst  konnte  aber  nicht  leicht  ohne  die  Aristaeussage  berührt  werden.  Sonach  werden 
wir  die  Berichte  von  einer  zweiten  Ausgabe  der  Georgica  in  ihrem  Kern  für  wahr  halten 
müssen.  Auch  andere,  selbst  abenteuerliche  Erzählungen  werden  unter  dieser  Annahme 
verständlich,  wie  z.  B.  die  des  Gellius  6  (7)  20,  von  der  späteren  Ersetzung  des  Wortes 
Nola  durch  ora  (2,225).    Fortgepflanzt  wurde  die  zweite  Ausgabe. 

Zeugnisse  für  die  beiden  Rezensionen:  Servius  Ecl.  10,1  fuit  autem  (GaUus) 
amicus  Vergilii,  adeo  ut  quartus  Georgicorum  a  medio  uaque  ad  finem  eius  laudes  teneretf 
quas  postea  ivi>ente  Augusto  in  Aristaei  fahäatn  commutamt.  Georg.  4, 1  sane  sciendum, 
ut  supra  diximu8,  ultimam  partem  huius  Hbri  esse  mutatam,  Nam  laudes  Galli  hahuit 
locus  Ute,  qui  nunc  Orphei^)  continet  fabulam,  quae  inserta  est,  postquam  irato  Augusto 
GaUus  occisus  est. 

Das  Verhältnis  der  beiden  Ausgaben  in  der  Schlusspartie  sucht  Van 
Wageninoen  durch  Konjektur  also  näher  zu  bestinunen  (p.  108):  in  prior e  recensione  post 
V.  286  continuabantur  v.  317  sqq.  usque  ad  v.  459,  sed  reliqua  oratio  Protei  alia  erat; 
deerant  autem  v.  460 — 531  de  Orpheo,  quod  etiam  apparet  e  v.  530  „At  non  Cyrene** 
eet.,  quam  deam  in  nova  recensione  alio  modo  in  scenam  reducere  poeta  non  potuisse  videtur, 
Post  versum  459  pro  Orphei  fabula  sequebantur  olim,  opinor,  v.  532 — 547,  qui  postea 
matri  tributi  sunt,  quibus  subiungebantur  illa  de  Aeggpto  dicta  (v.  287 — 294),  sed  am^ 
pliora,  ut  etiam  cum  iis  Galli,  Aegypto  praefecti,  laudes  coniungerentur,  et  ipsa 
apium  recreandarum  inventio  (v.  295 — 314).  Andere  Spuren  einer  doppelten  Rezension 
will  RiBBEOK,  Proleg.  p.  32  nachweisen. 

Aus  dem  Auftrag  Vergils  (Donat.  p.  64  R.)  eidem  Vario  ac  simul  Tueeae  scripta  sua 
ȟb  ea  condicione  legavit,  ne  quid  ederent  quod  non  a  se  editum  esset  zu  schliessen,  dass 
die  zweite  Ausgabe  nach  seinem  Tod  erschienen  ist  (Ribbeck,  Proleg.  p.  29),  erachte  ich 
für  bedenklich;  ich  glaube,  dass  lediglich  die  Herausgabe  der  noch  m'cht  erschienenen 
Aeneis  durch  diese  Worte  untersagt  wird.  Die  anderen  Werke  waren  bereits  heraus- 
gegeben. Dieser  Gegensatz  tritt  auch  hervor  in  den  Worten  des  Servius  (p.  2,  9  Th.) 
Georgica  —  scripsit  emendavitque  Septem  annis,  —  Aeneidem  —  scripsit  annis  undecim, 
sed  nee  emendamt  nee  edidit, 

228.  Quellen  der  Georgica.  Bei  der  Frage  nach  den  Quellen  der 
Georgica  müssen  wir  genau  scheiden  zwischen  dem  landwirtschaftlichen 
Stoff  und  zwischen  dem  Rüstzeug  der  poetischen  Rede.^)    In  letzterer  Be- 


')  Die  Lesart  ist  allerdings  schwankend, 
RiBBEOK  (p.  22)  gibt  an:  Orphei  Vatic.  8317, 
Aristei  et  Orfei  Paris.  7959,    Aristaei 


Orphei  Yossianus und Barberinus.  Aristaei 
et  ist  ersichtlich  spätere  Interpolation. 
«)  Vgl.  Van  Waoeningen  p.  108. 


Handbach  der  klaas.  Altertumawlsseiucbaft.    "SUL    2.  Teil. 


34       Römische  LitteratorgeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


Ziehung  konnten  verschiedene  Dichter  Vergil  von  Nutzen  sein;  wir  finden 
in  den  Georgica  Nachwirkungen  der  homerischen  Gesänge,  der  Fundgrube 
aller  Poesie,  wir  finden  Spuren  der  Lektüre  Hesiods,  wir  finden  endlich 
auch  Anklänge  an  die  alexandrinischen  Dichter,  an  Apollonius  Rhodius, 
an  Theocrit,  Bion,  Parthenius  und  Gallimachus.  Den  landwirtschaftlichen 
Stoflf  konnte  Vergil  aus  eigener  Erfahrung  und  aus  Büchern  schöpfen.  Auf 
die  erste  Quelle  der  Erkenntnis  beruft  er  sich  an  mehreren  Stellen  seines 
Gedichts,  wie  1, 193  1,318  4, 125.  Dass  er  aber  auch  den  Unterricht  durch 
Bücher  nicht  verschmähte,  heben  alte  Zeugnisse  mehrfach  hervor.  Die 
landwirtschaftliche  Litteratur  der  Römer  war  verhältnismässig  gut  bestellt, 
das  übersetzte  Werk  des  Karthagers  Mago,  die  Schriften  des  alten  Cato 
und  Varros  konnten  hinreichende  Belehrung  über  das  landwirtschaftliche 
Detail  gewähren.  Besonders  des  letzteren  zur  Zeit  des  Beginns  der  Georgica 
erschienene  Buch  über  die  Landwirtschaft  war  sicher  in  den  Händen  Vergils; 
im  dritten  Gesang  zeigen  sich  in  der  That  die  starken  Einwirkungen  jenes 
Werks.  Am  meisten  aber  scheint  sich  der  Dichter  an  Hygin  angeschlossen 
zu  haben,  den  Golumella  geradezu  Yergils  Lehrmeister  für  die  Georgica 
nennt.  Die  Schriften  dieses  Grammatikers  (über  Landwirtschaft  und  über  die 
Bienen)  boten  dem  Dichter  auch  Sagenhaftes  und  Mythologisches  dar.  Bei 
dieser  Reichhaltigkeit  der  Hilfsmittel  brauchte  Vergil  nicht  nach  griechi- 
schen Fachschriftsteilem  zu  greifen ;  die  von  Servius  behauptete  Abhängig- 
keit von  Xenophons  Oeconomicus  bestätigt  sich  bei  näherem  Zusehen  nicht; 
auch  ein  Studium  des  Theophrast  und  des  Aristoteles  ist  nicht  anzunehmen.  ^) 
Anders  dagegen  steht  es  mit  den  griechischen  Lehrgedichten  über  die 
Landwirtschaft;  solche  mussten,  da  Vergil  in  der  römischen  Litteratur 
kein  Muster  hatte,  studiert  werden.  Ein  sachkundiger  Zeuge,  Quintilian, 
teilt  uns  mit,  dass  der  landwirtschaftliche  Dichter  Nicander  für  Vergil 
Vorbild  war.  Dieser  hatte  nicht  bloss  Ackerbau,  Viehzucht  und  Baum- 
kultur behandelt,  sondern  auch  in  einer  eigenen  Schrift,')  den  MeXur- 
aovQY^xaj  das  Bienenwesen.  Der  Titel  „Georgica*  stammt  wahrscheinlich 
von  Nicanders  Gedicht  her.  Leider  sind  wir  bei  dem  Verlust  desselben 
nicht  im  stände,  den  Grad  der  Abhängigkeit  Vergils  von  seinem  Meister 
zu  ermitteln.  Auch  das  Lehrgedicht  des  Menekrates  aus  Ephesos  mit  dem 
Titel  Mgycc  wurde  vielleicht  benutzt.^)  Dagegen  ist  eine  tiefer  gehende 
stoffliche  Einwirkung  von  Hesiods  ^'Eqya  xal  '^HfisQat  trotz  eines  entgegen- 
stehenden ^Zeugnisses  nicht  zuzugeben.  Ausser  den  eigentlichen  land- 
wirtschaftlichen Dichtern  hat  Vergil  auch  die  astronomischen  zu  Rat  ge- 
zogen. In  den  Lehren  über  die  Anzeichen  des  Wetters  folgt  er  sowohl 
in  der  ganzen  Anordnung  als  im  einzelnen  dem  astronomischen  Gedicht 
Arats ;  wie  dieser  schildert  er  zuerst  die  Vorboten  des  stürmischen  Wetters, 
dann  die  des  heiteren;  wie  jener  erörtert  er  zuerst  die  am  Monde,  dann 
die  an  der  Sonne  sichtbaren  Wetterphänomene;  nur  dadurch  unterscheiden 


')  Auch  die  Angabe  des  Plinius  n.  h. 
18,  321  Verffilius  etiam  in  numeros  lunae 
digerenda  quaedam  putavit  Democriti  secutus 
ostentationem  imiss  eine  irrige  sein,  da  weder 
eine  Beziehung  auf  1,  336  noch  auf  1, 276, 


wie    angenommen    wurde,    vorliegt.     Vgl. 
Morsch  p.  87. 

')  Schneider  in  seiner  Ausg.  p.  122. 

')  Über  dieses  Gedicht  vgl.  Morsch  p.  41. 


VergÜB  Georgica.  35 

sie  sich,  dass  der  griechische  Dichter  mit  den  Wetterzeichen  des  Mondes 
und  der  Sonne  beginnt,  der  römische  mit  denselben  schliesst.  Bei  der 
Übertragung  ging  es  nicht  ohne  einige  sachliche  Flüchtigkeiten  ab,  allein 
in  der  Anmut  der  Sprache  und  in  dem  Gebrauch  lieblicher  Bilder  übertrifft 
die  Kopie  weit  das  Original.  Auch  die  Stelle  über  die  Zonen  (1,233)  ist 
griechisches  Out;  dasselbe  entstammt  dem  Hermes  des  Eratosthenes. 

Aus  dem  Dargelegten  ersehen  wir,  dass  Vergil  nicht  eine  Quelle 
seinen  Gedichten  zu  Grund  legte,  sondern  mehrere ;  der  aus  verschiedenen 
Autoren  geschöpfte  Stoff  erhielt  seinen  einheitlichen  Charakter  durch  den 
Geist  und  die  Kunst  des  Dichters. 

Die  poetische  Einwirkung  der  verschiedenen  Dichter  bezeugt  Gellius 
(9,  9, 3)  Seite  et  considerate  Verffiliu8f  cum  aut  Homeri  aut  Hesiodi  aut  ApoUonii  aut  Par- 
thenii  aut  CalHnMchi  aut  Theacriti  aut  quarundam  aliorum  locos  ef fingeret,  partim  reliquit, 
alia  expressit.  Die  Nachahmnngen  behandelt  sorgfältig  Mobsch,  De  Graecis  in  Georgicis 
a  Vergilio  expresais,  Halle  1878,  hinter  dem  Knoche,  Vergilius  quae  graeca  exempla  aecuttis 
Sit  in  Georgicis,  Leipz.  1877  weit  zurücksteht. 

Über  die  benutzten  Fachschriftsteller  siehe  Servius  Georg.  1,43  sane  seien-- 
dum  Xenophontem  scripsisse  unum  Jibrum  Oeeonomieum,  cuius  pars  ultima  agricuUuram 
continet;  de  qua  parte  mtdta  ad  hoc  opus  Vergilius  transtulit,  sieut  etiam  de  georgicis  Ma- 
gonis  Afri,  Catonis,  Varronis,  Ciceronis  quoque  libro  tertio  oeeonomicorum,  qui  agricuUuram 
continet.  Allein  dass  Vergil  Xenophons  Oeconomicus  beigezogen,  leugnet  mit  Recht  Morsch 
p.  85.  Von  den  lateinischen  Fachschriftstellem  ist  die  Benützung  Yarros  zweifellos;  es 
ist  Zweck  der  Dissertation  Yak  Waoeninoens  (p.  184),  diesen  als  die  Hauptquelle  nachzu- 
weisen (satis  apparet,  praeeepta  agrieuHurae  VergUium  non  e  Graecis  fontihus  hausisse,  sed 
contra  eum  ubique  cum  Varrone  convenire).  Allein  im  wesentlichen  beschränkt  sich  die 
Benützung  Yarros  auf  den  dritten  Gesang  (bis  v.  413).  „Cum  V,  per  priores  lihros  per- 
pauca  a  Varrone  repetat  summamqtte  rerum  longe  alio  consilio  digerat,  in  tertii  carminis 
et  dispositione  et  singulis  praeceptis  iUius  auctoritatem  maxime  amplectitur,'^  Reitzeüstein, 
de  scriptorum  rei  rusticae  libris  deperditis  p.  20,  der  dies  im  einzelnen  nachweist,  femer 
nach  413  eine  neue  Quelle  (vielleicht  Mago)  annimmt  (p.  21).  —  Golum.  1, 1, 13  nee  post- 
remo  quasi  paedagogi  eius  (Vergili)  meminisse  dedignemur,  Julii  Hygini, 

Die  Zeugnisse  für  die  Benützung  der  griechischen  Lehrgedichte  Nican- 
ders  sind:  Quint.  10, 1,  56  Äudire  videor  undique  congerentes  nomitta plurimorum  poetarum. 
Quid?  Herculis  acta  non  bene  Pisandros?  Quid?  Nicandrumfrustra  secuti  Macer  atque 
Vergilitts?  (Ausführlich  erklärt  diese.  Stelle  und  weist  die  Änderung  Ungers  Yalgius 
statt  Yergilius  zurück  Mobsch  p.  54.)  Ausdrücklich  wird  Nicander  (ungewiss,  mit  welchem 
Buch)  als  Quelle  Yergils  für  die  3,391  berührte  Erzählung  von  Fan  angegeben  (Macrob. 
5, 22, 10).  Da  auch  noch  andere  Stellen  die  Benützung  der  vorhandenen  Gedichte  Nicanders 
darthun,  so  wird  man  an  Nicander  als  einem  Yorbild  für  Yergil  festhalten  müssen,  zumal 
da  Cicero  demselben  das  Lob  spendet  (de  or.  1, 16,  69) :  de  rebus  rusticis  hominem  ab  agro 
remotissimum  Nicandrum  CoU^honium  poetica  quadam  faeultate,  non  rustiea  scripsisse 
praeclare.  Freilich  bleibt  noch  als  offene  Frage,  ob  nicht  auch  Hygin  aus  Nicander  ge- 
schöpft und  daher  das  Meiste  erst  durch  Hygin  auf  Nicander  zurückgeht,  vgl.  Reitzeksteik, 
de  scriptorum  rei  rusticae  libr.  deperd,  p.  23  Anm. 

Zeugnisse  für  die  astronomischen  Dichter  als  Quellen  sind:  Macrob.  5, 2, 4 
rulgo  nota  sunt  quod  (Vergilius)  Theocritum  sibi  fecerit  pastoralis  operis  auctorem,  ruralis 
Hesiodum  et  quod  in  ipsis  Georgicis  tempestatis  sereniiatisque  signa  de  Arati  Phaenomenis 
traxerit.  Die  Behauptung  bezüglich  des  Hesiod  ist  unrichtig :  vix  duo  praeeepta  de  ipsa 
re  rustiea  apud  Vergilium  ad  Hesiodum  redeunt  (Morsch  p.  39).  Prob.  p.  42  K.  hane  uni^ 
rersam  disputationem  (1, 233)  certum  est  Vergilium  transtulisse  ab  Eratosthene,  cuius  Über 
est  hexametiHs  versibus  scriptus,  qui  Hermes  inseribitur. 

229.  Kunst  des  Dichters.  Die  Georgica  entstanden  auf  Anregung 
des  Maecenas  (3, 41),  ihm  ist  daher  auch  das  Gedicht,  wie  die  mehrfache 
Anrede  an  denselben  zeigt  (1,2  2,41  4,2),  gewidmet.  Einen  glücklicheren 
Stoff  konnte  Vergil  nicht  erhalten,  denn  derselbe  eignet  sich  zur  poetischen 
Darstellung  in  ganz  vorzüglichem  Grade.  Die  Landwirtschaft  ist  eine  der 
edelsten  Beschäftigungen  des  Menschen,  sie  erfreut  uns  durch  die  Mannig- 


36      BOmiflche  LitteratargoBohiclite.    II.  Die  Zeit  der  Monarohie.    1.  Abteilung. 

faltigkeit  der  Arbeiten,  durch  den  Wechsel  zwischen  Schaffen  und  Ruhen, 
durch  den  Verkehr  mit  den  Haustieren;  sie  birgt  in  sich  Scenen  idylli- 
schen Glücks,  sie  reizt  zum  Eindringen  in  das  Walten  der  Natur.  Mit 
voller  Begeisterung  hat  Vergil  sich  diesem  Gegenstande  hingegeben;  er 
sieht  mitleidig  herab  auf  die  abgegriffenen  mythologischen  Themata  (3, 4) ; 
hohes  Selbstgefühl  schwellt  seine  Brust,  dass  er  der  erste  Römer  diesen 
Stoff  in  das  Reich  der  Poesie  geführt  und  das  „askräische  Lied''  (2,176) 
auf  römischem  Boden  erklingen  Hess.  Wie  einst  Lucretius  sich  gerühmt, 
dass  er  auf  unbetretenen  Pfaden  der  Musen  einherwandele,  so  singt  auch 
unser  Dichter  (3,291): 

sed  me  Parnasi  deseria  per  ardua  dulcis 
raptat  amor;  iuvat  ire  iugis,  qua  nulla  priorum 
Castaliam  molU  devertitur  arbita  cUvo. 

Es  hiesse  Yergil  verkennen,  wenn  man  seinem  Gedicht  den  patriotischen 
Zweck  zuschreiben  würde,  zur  Hebung  der  gesunkenen  Landwirtschaft  bei- 
zutragen. Yergil  setzt  sich  als  oberstes  Ziel,  den  Leser  durch  die  Süssig- 
keit  der  Poesie  zu  erfreuen.  Es  ist  ihm  demnach  nicht  um  peinliche  Voll- 
ständigkeit zu  thun,  wie  er  selbst  verkündet  (2,42): 

non  ego  cuncta  meis  ampUcti  versibus  opto, 
MaecenaiSj  pelagoque  volana  dare  vela  petenti. 

Auch  die  trockensten  Lehren  in  ein  anmutiges  Gewand  zu  kleiden,  das 
strebt  der  Dichter  an  und  das  versteht  er  meisterlich.  Nehmen  wir  z.  B. 
die  Vorschrift  der  Bewässerung  (1,107): 

et  cum  exustus  ager  morientibus  aestutU  herbis, 
ecee  aupercilio  clivoH  tramitis  undam 
elicU  ?  Ula  cadens  raucum  per  levia  murmur 
aaxa  ciet,  scaiebrisque  areniia  temperat  arva, 

SO  sehen  wir,  dass  statt  eines  dürren  Satzes  der  Phantasie  ein  liebliches 
Naturbild  dargeboten  wird.^)  Oft  genügt  ein  einziges  Epitheton,  in  dem 
Leser  eine  angenehme  Nebenvorstellung  zu  erwecken;  z.  B.  wenn  der 
Dichter  ein  Wetterzeichen  des  Mondes  beschreibt.  Sein  Vorbild  Arat  sagt 
trocken  (803) 

Vergil  dagegen  (1,430): 

at  8i  virgineum  suffuderit  ore  ruboretn, 
ventus  erit;  venio  semper  ruhet  aurea  Phoebe. 

Jedermann  wird  fühlen,  welche  Poesie  allein  in  dem  „virgineus"  einge- 
schlossen liegt.  Aber  noch  in  anderer  Weise  sorgt  der  Dichter  für  die 
Belebung  seiner  Darstellung;  er  flicht  nämlich  wie  Perlen  in  eine  Krone 
Episoden  in  sein  Gedicht  hinein.  An  die  Bemerkung,  dass  oft  des  Menschen 
Thun  durch  fremde  Gewalt  zerstört  wird,  reiht  er  nach  einem  Blick  auf 
das  goldene  Zeitalter  eine  Schilderung,  wie  durch  den  von  Juppiter  ge- 
schaffenen Wandel  der  Dinge  der  menschliche  Geist,  um  der  Not  zu  ent- 
gehen, zu  Erfindungen  gedrängt  wurde  (1,121).  Die  Betrachtung  der  Er- 
zeugnisse der  verschiedenen  Länder  führt  zu  einem  begeisterten  Lob  Italiens 
(2, 136).  In  die  Vorschriften  vom  Pflanzen  klingt  hinein  der  Preis  des  Früh- 
lings, in  dem  alles  keimt  und  sprosst  wie  zur  Zeit,  als  die  Welt  entstand 

')  Mit  Recht  herangezogen  von  Bubse^  Entwickl.  d.  NaturgefQhls  bei  den  Römern  p.  62. 


VergilB  AeneiB.  37 

(2,323).  Liebliche  Bilder  des  dritten  Buchs  sind  die  kämpfenden  Stiere 
(220),  die  umherziehenden  Hirten  Libyens  (339)  und  das  Gegenstück,  die 
frierenden  Scythen  (349).  Eine  hübsche  ländliche  Idylle  ist  dem  vierten 
Buch  einverleibt  in  der  Schilderung  des  Schaffens  des  corycischen  Gärtners 
in  Tarent  (125).  Regelmässig  wird  am  Ende  eines  Gesangs  ein  farben- 
reiches Gemälde  gegeben.  Die  Lehre  von  den  Wetterzeichen  der  Sonne 
erinnert  den  Dichter  an  die  Unglückszeichen,  welche  sich  an  den  Tod 
Caesars  anschlössen  (1, 463);  er  entwirft  ein  in  Grau  gemaltes  Bild  jener  Tage 
und  geht  dann  über  zu  einem  ergreifenden  Gebet  für  die  Erhaltung  Octa- 
vians  inmitten  der  umtosenden  Gefahren.  Der  zweite  Gesang  wird  gekrönt 
von  einer  entzückenden  Beschreibung  des  ländlichen  Stillebens  und  einem 
eingewobenen  Preis  der  Naturerkenntnis.  Den  Schluss  des  dritten  Buchs 
bildet  die  norische  Tierseuche,  die  Vergil  mit  voller  Kunst  zur  Anschauung 
bringt,  den  Schluss  des  vierten  Gesangs  die  Erfindung  der  künstlichen 
Erzeugung  der  Bienen  durch  Aristaeus,  womit  der  Mythus  von  Orpheus 
und  Eurydice  verbunden  wird.  Auch  die  Einleitungen  zu  den  einzelnen 
Büchern  sind  gut  gemacht,  indem  die  betreffenden  ländlichen  Gottheiten 
um  ihren  Schutz  gebeten  werden;  im  ersten  wird  auch  Octavian  als  Hort 
des  Landmanns  angerufen  (1,41): 

ignarosque  viae  mecum  miseraUus  agrestis 
ingredere  et  votis  iam  nunc  adsuesce  vocari. 

Diese  Kunst  des  Dichters  bewirkt  es,  dass  wir  ihm  ohne  Ermüdung  durch 
das  ganze  Gedicht  hindurch  folgen.  Ja  unsere  Spannung  wächst  fort- 
während, da  der  Stoff  mit  jedem  Buch  .interessanter  und  belebter  wird. 
In  der  Sprache  ist  der  Fortschritt,  den  Vergil  gegenüber  Lucretius  gemacht 
hat,  ein  ungeheurer.  Es  ist  eine  Zartheit  in  derselben,  welche  den  Leser 
gefangen  nimmt.  So  vereinigt  sich  alles,  um  die  Georgica  zu  einem  der 
anziehendsten  Werke  der  römischen  Litteratur  zu  machen.  Jeder,  dem 
nicht  aller  Sinn  für  Poesie  verschlossen  ist,  wird  gerne  verweilen  bei  den 
anmutigen  Bildern  ländlichen  Treibens. 

Dass  in  den  Episoden  Vergil  am  meisten  seinem  Genius  folgte,  wird  nicht  zu  be- 
zweifeln sein ;  doch  sind  auch  hier  Einwirkungen  griechischer  Muster  zu  konstatieren ;  z.  B. 
in  dem  Preis  des  ländlichen  Lebens  weist  der  Gedanke  von  der  Justitia  (2, 473)  auf  Arat 
(105)  hin.  Eine  vollständige  Entlehnung  scheint  bei  der  Aristaeusfabel  eingetreten  zu  sein; 
denn  zu  4,  361  eU — amnem  bemerken  die  Bemer  Scholien  (p.  975  Haoen)  „hunc  veraum  ex 
Hesiodi  yvyaixtSy  catalogo  transtulit**  (Haupt,  Opusc.  3, 361).  Der  von  Homer  11.  18,  39  ab- 
weichende Nymphenkatalog  lässt  eine  griechische  Vorlage  als  unabweisbar  erscheinen  (vgl. 
Morsch  p.  70). 

y)  Die  Aeneis. 

230.  Äussere  Oeschichte  der  Aeneis.  Noch  ehe  Vergil  an  die 
Bucob'ca  herantrat,  trug  er  sich  mit  dem  Gedanken  einer  epischen  Dich- 
tung. >)  Als  er  die  Georgica  schrieb,  kündigte  er  wiederum  ein  episches 
Gedicht  mit  den  Worten  (3,46)  an: 

mox  tarnen  ardentis  accingar  dicere  pugncis 
Caesaris  et  nomen  fama  tot  ferre  per  annoa, 
Tithoni  prima  quot  ahest  ab  arigine  Caesar, 


*)  Wohl  über  die  Albanerkönige  (Serv.  Ecl.  6,3);  dann  vgl.  noch  oben  p.  26. 


38       BOmisohe  Lüteraturgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteiliing. 

Aus  diesen  Versen  muss  man  folgern,  dass  sich  dieses  beabsichtigte  Gedicht 
nicht  mit  der  Aeneis  deckte,  sondern  die  Thaten  Octavians  zum  Gegen- 
stand nehmen  wollte.  Es  war  ein  glücklicher  Gedanke,  dass  Vergil  von 
diesem  Projekt  zurückkam  und  den  Stammvater  des  Herrschergeschlechts, 
Aeneas,  sich  zum  Helden  erkor ;  denn  damit  gewann  er  einen  fruchtbareren 
Boden  für  seine  Dichtung,  die  entlegene  Zeit  der  Sage.  Wie  Servius  an- 
deutet, entsprang  diese  neue  Idee  dem  Geiste  Octavians.  Auch  an  der 
Aeneis  arbeitete  Vergil  geraume  Zeit;  es  werden  elf  Jahre  angegeben  und 
selbst  dann  hatte  das  Gedicht  noch  nicht  die  letzte  Feile  empfangen.  Da 
Vergil  im  J.  19  v.  Ch.  starb,  so  muss  er  mit  demselben  im  J.  29  v.  Gh.,  also 
nach  der  Vollendung  der  Georgica  begonnen  haben.  Gegen  26  v.  Ch.  war 
bereits  in  Dichterkreisen  bekannt  geworden,  dass  Vergil  sich  mit  der  Aeneis 
beschäftige,  denn  Propertius  überlässt  die  Seeschlacht  bei  Actium  zu  be- 
singen dem  Vergil  (3,34,63): 

qui  nunc  Aeneae  Troiani  suscUat  arma 

iactaque  Lavinis  moenia  littoribus, 
cedite  Romani  scriptores,  cedite  Grat; 

nescio  quid  malus  nascitur  Iliade. 

Wir  sehen,  welche  hohe  Erwartungen  sich  an  das  Gedicht  knüpften,  wir 
sehen  aber  weiterhin  aus  dieser  Stelle,  dass  man  immer  noch  neben  der 
Aeneis  ein  zweites  Epos  über  die  Thaten  Octavians  erwartete.^)  Es  ist 
natürlich,  dass  sich  auch  Augustus  für  die  im  Werk  begriffene  Dichtung  sehr 
interessierte.  Als  er  im  cantabrischen  Kriege  verweilte  (25  v.  Gh.),  liess  er 
eindringliche  Bitten  an  Vergil  gelangen,  ihm  doch  die  Entwürfe  oder  eine 
Probe  der  Aeneis  zuzuschicken,  allein  der  Dichter  sah  sich  damals  ausser 
stand,  dem  Herrscher  zu  willfahren.  Über  die  Eompositionsweise  liegt  uns 
ein  für  die  Beurteilung  der  Schöpfung  nicht  unwesentlicher  Bericht  vor. 
Er  skizzierte  sich  zuerst  den  Stoff  in  12  Büchern  in  Prosa.  Diese  Skizze 
brachte  er  aber  nicht  der  Reihe  nach  in  die  poetische  Form,  sondern  er 
griff  heraus,  wozu  ihn  Zufall  oder  Neigung  führte.  Auch  hielt  er  sich 
nicht  lange  bei  Einzelheiten  auf,  da  es  ihm  vor  allem  darauf  ankam,  ein- 
mal das  Ganze  im  Rohbau  aufzurichten;  daher  die  vielen  unvollständigen 
Verse.  Dem  Augustus  las  er  einige  der  fertig  gewordenen  Bücher  vor; 
sie  machten  grossen  Eindruck.  Nachdem  die  Dichtung  im  ersten  Entwurf 
vollendet  war,  beschloss  er  nach  Griechenland  und  Asien  zu  reisen,  um 
dieselbe  vollends  abzurunden.  Seine  Absicht  wurde  durch  den  Tod  ver- 
eitelt. Was  sollte  nun  mit  dem  vollendeten  und  wiederum  doch  nicht 
vollendeten  Gedicht  geschehen?  Nach  der  Intention  des  Verfassers,  die 
sich  in  verschiedenen  Handlungen  aussprach,  sollte  dasselbe  entweder  dem 
Untergang  geweiht  oder  (was  wohl  die  richtige  Version  ist)  von  der  Publi- 
kation ausgeschlossen  werden.  Augustus  befahl  dagegen  die  Herausgabe. 
L.  Varius  und  Plotius  Tucca  unterzogen  sich  dieser  Aufgabe  in  der  Weise, 
dass  sie,  abgesehen  von  unwesentlichen  Änderungen,  die  Aeneis  so  gaben, 
wie  sie  der  Dichter  hinterlassen;  der  sprechendste  Beweis  hiefür  sind  die 
unvollendeten  Verse.  Auch  deuten  inhaltliche  Widersprüche  zwischen  den 
einzelnen  Büchern  auf  das  Fehlen  der  letzten  Hand. 


0  Auf  diese  Erklänmg  führt  das  Wörtchen  „nunc*^. 


Vergils  Aeneis.  89 

Titel  des  Gedichts.  Nach  Serv.  Aen.  6,  752  hiess  das  Gedicht  später  Gesta 
populiRomani  (in  antiquis  inrenimus,  opus  hoc  appellatum  esse  non  Aeneidetn,  sed  gesta 
populi  Romani;  quod  ideo  mutaium  est,  quia  nomen  non  a  parte,  sed  a  toto  dehet  dari), 

SexT.  I  2, 12  Th.  postea  ab  Augiisto  Aeneidem  propositam  scripsU  annis  undecim, 
sed  nee  emendavit  nee  edidit:  unde  eam  moriens  praecepit  incendi.  Über  das  Verlangen 
des  Augustus,  Teile  der  Aeneis  kennen  zu  lernen,  vgl.  Donat  p.  61  R.  cui  (Augusto)  tarnen 
muUo  post  perfectaque  demum  materia  tres  omnino  libros  recUavit,  secundum,  quartum, 
sextum.  Anders  Serv.  zu  Aen.  4,  323  (p.  521  Th.)  recitavit  voce  optima  primum  libros  tertium 
et  quartum.  Allein  för  die  Bücher  U  und  IV  wird  die  Angabe  Donats  auch  durch  andere 
Indicien  bestätigt.  So  wird  in  jenen  Bttchem  Italien  deutlich  als  Ziel  der  Wanderfahrten 
bezeichnet  (2,780  4,345);  in  Buch  III  dagegen  ist  Aeneas  anfangs  über  das  Ziel  der  Reise 
im  Unklaren  (3,  7  3,  94,  welche  Stelle  in  direkten  Widerspruch  mit  4, 345  tritt).  Diese 
Diskrepanz  erklärt  sich  in  einfacher  Weise  durch  die  Annahme,  dass  Vergil,  als  er  zu  der 
Erzählung  der  Irrfahrten  schritt,  sah,  dass  er,  um  Aeneas  länger  von  Italien  fernzuhalten 
und  noch  an  andere  Orte  gelangen  zu  lassen,  über  die  letzte  Bestimmung  noch  Ungewiss- 
heit  verbreiten  müsse.  Da  sich  für  zwei  Bücher  das  Zeugnis  Suetons  bestätigt,  so  ist  aller 
Grund  vorhanden,  an  der  Richtigkeit  der  Angabe  auch  für  das  6.  Buch  festzuhalten,  zumal 
da  noch  ein  Nebenumstand  (die  Erschütterung  der  Octavia  bei  der  Vorlesung)  berichtet 
wird.  Im  Widerspruch  stehen  übrigens  auch  hier  Verse  mit  solchen  des  dritten  Buchs,  vgl. 
6, 115  II  3,41  f.  Man  sehe  ausser  Conbads  Quaest,  Verg,,  Trier  1863  Ribbeck,  Proleg.  p.  56; 
ScHVELEB,  Quaest,  Verg,  p.  1 — 20,  der  das  Ergebnis  seiner  Untersuchungen  in  folgende 
Worte  zusammenfasst  (p.  20) :  primi  scripti  sunt  libri  II  IV  FI,  id  quod  Suetoni  idonei 
auctoris  testimonio  satis  confirmatur,  post  scriptus  est  primus  liber,  atque  ad  extremum, 
interim  aliis  opera  data  ut  septimi,  octaviy  noni  certe  partibus,  liber  III  et  V. 

Donat.  p.  59  R.  Aeneida  prosa  prius  oratione  formatam  digestamque  in  XII  libros 
particukUim  componere  instituU  prout  liber  et  quidque  et  nihil  in  ordinem  arripiens  .  ut  ne 
quid  impetum  moraretur  quaedam  imperfecta  transmisit,  alia  levissimis  verbis  veluii  fulsU, 
quae  per  iocum  pro  tibicinibus  interponi  aiebat  ad  sustinendum  opus,  donec  solidae  columnae 
advenirent. 

Die  Herausgabe  der  Aeneis.  Vor  Antritt  seiner  Reise  hatte  Vergil  für  den 
Fall  seines  Todes  dem  Varius  den  Auftrag  gegeben,  die  Aeneis  zu  verbrennen.  In  seiner 
Krankheit  wollte  er  selbst  das  Gedicht  vernichten.  Diese  Nachrichten  sind  vermutlich 
Cbertreibungen  der  letztwilligen  Verfügung  (Donat.  p.  64  R.,  vgl.  oben  p.  33  im  leMen 
Absatz)  Vergils,  dass  sein  Gedicht  nicht  publiziert  werde. 

Den  Befehl  des  Augustus  zur  Herausgabe  der  Aeneis  bezeugt  Donat  p.  63  R.  L.  Varium 
et  Plotium  Tuecam:  qui  eius  Aeneida  post  obitum  iussu  Caesaris  emendarunt.  —  Später 
nennt  er  (p.  64  R.)  nur  den  L.  Varius  als  Herausgeber. 

Ober  die  lliätigkeit  des  Varius  (und  Tucca)  vgl.  1.  c.  p.  64  R.  edidit  auctore  Augusto 
Varius  sed  summatim  emendata,  ut  qui  versus  etiam  inperfectos  sicut  erant  reliquerit. 
Serv.  2, 12  Th.  Augustus,  ne  tantum  opus  periret,  Tuecam  et  Varium  hac  lege  iussit  emen- 
dare,  ut  superflua  demerent,  nihil  tarnen  adderent.  Als  getilgte  Verse  werden  die  be- 
kannten iüe  ego,  qui  quondam  des  ersten  Buches  und  die  Verse  567 — 588  des  zweiten 
Buches  angegeben.  Allein  die  Notiz  von  der  Streichung  der  Eingangsverse  geht,  wie  aus 
Donat  p.  64  R.  ersichtlich,  auf  den  Grammatiker  Nisus  zurück,  welcher  sich  wieder  auf 
Hörensagen  beruft.  Dieselbe  ist  daher  ebenso  unglaublich  als  jene,  dass  Varius  die  Ordnung 
der  Bücher  geändert  habe.  Die  Verse  2, 567 — 588  fehlen  in  der  guten  Überlieferung  und 
sind  nicht  gestrichen  (Serv.  zur  St.),  sondern  interpoliert  worden,  um  eine  Lücke  auszu- 
füllen (Ribbeck,  Proleg.  p.  93;  Schubleb  p.  21). 

231.  Übersicht  des  Inhalts  der  Aeneis.  Bereits  sieben  Jahre  be- 
fand sich  Aeneas,  der  Sohn  des  Anchises  und  der  Venus,  nach  der  Zer- 
störung Trojas  auf  Wanderungen,  um  sich  eine  neue  Heimat  zu  suchen. 
Das  erste  Buch  setzt  ein  mit  der  Erzählung  von  der  Abfahrt  des  Aeneas 
von  Sicilien.  Durch  einen  Seesturm  werden  die  Trojaner  an  die  libysche 
Küste  verschlagen.  Aeneas  erscheint  vor  der  Königin  von  Garthago,  Dido, 
welcher  Venus  heisse  Liebe  zu  dem  Fremdling  einflösst.  Auf  Verlangen 
der  Königin  erzählt  Aeneas  seine  Schicksale,  im  zweiten  Buch  die  Zer- 
störung Trojas,  im  dritten  seine  Irrfahrten.  Zuerst  kommen  Aeneas  und 
seine  Leute  mit  ihrer  Flotte  nach  Thracien ;  sie  gedenken  sich  hier  nieder- 
zulassen, allein  von  dem  Schatten  des  Polydorus  gewarnt,  verlassen  sie 


40      Römisohe  LitteratnrgeBchiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

das  Land  und  segeln  nach  Delos.  Durch  ein  Orakel,  das  sie  hier  empfangen, 
glauben  sie  sich  nach  Kreta  verwiesen.  Allein  Pest  und  Hungersnot,  welche 
die  dort  Angekommenen  befallt,  zeigt,  dass  die  Auslegung  des  Orakels 
irrig  war.  Aeneas  steckt  sich  jetzt  Italien  als  Ziel.  Sie  brechen  auf, 
werden  aber  auf  die  strophadischen  Inseln  geworfen.  Auf  der  Weiter- 
fahrt landen  sie  in  Actium,  wo  sie  zu  Ehren  Apollos  Spiele  veranstalten. 
Von  da  gelangen  sie  nach  Epirus  und  treffen  den  Seher  Helenus,  den 
Sohn  des  Priamus  als  Herrscher  des  Landes.  Dieser  offenbart,  dass  ihnen 
vom  Schicksal  Italien  als  neue  Heimat  beschieden  sei.  Sie  brechen  dahin 
auf,  verfehlen  aber  in  der  Dunkelheit  den  Weg  und  gelangen  nach  Sicilien. 
In  Drepanum  verliert  Aeneas  seinen  Vater  Anchises  durch  den  Tod.  Der 
erneute  Versuch,  Italien  zu  erreichen,  wird  wiederum  durch  einen  Sturm 
vereitelt,  der  sie  an  die  libysche  Küste  wirft.  Damit  endet  die  Erzählung. 
Der  vierte  Gesang  schildert  in  eindringlicher  Weise  die  Liebe  der  Dido 
zu  Aeneas.  Sie  sucht  den  trojanischen  Helden  bei  sich  festzuhalten,  allein 
Aeneas,  seiner  höheren  Bestimmung  eingedenk,  trennt  sich.  Aus  Schmerz 
über  die  Trennung  gibt  sich  die  Königin  den  Tod.  Mit  dem  fünften 
Buch  setzen  sich  die  Irrfahrten  der  Trojaner  fort.  Neuerdings  langt  Aeneas 
in  Sicilien  an  und  veranstaltet  zu  Ehren  seines  Vaters  glänzende  Leichen- 
spiele. Der  Schatten  des  Anchises  weist  ihn  an  das  sibyllinische  Orakel. 
Nachdem  Aeneas  die  Frauen  und  die  Schwachen  in  Sicilien  zurückgelassen, 
landet  er  mit  der  übrigen  Mannschaft  bei  Cumä  in  Italien.  Gegenstand 
des  sechsten  Buchs  ist  die  Zusammenkunft  mit  der  Sibylla  und  der  unter 
deren  Führung  vollzogene  Gang  in  die  Unterwelt.  Die  Irrfahrten  des 
Aeneas  haben  damit  ihr  Ende  erreicht,  es  beginnt  die  Zeit  der  kriegerischen 
Kämpfe. 

maior  verum  mihi  nascitur  ordo, 
maius  opus  moveo, 

singt  der  Dichter  (7,  44). 

Es  erfolgt  im  siebenten  Buch  die  Ankunft  der  Trojaner  in  Latium. 
Dort  herrschte  der  König  Latiäus,  dem  das  Orakel  geworden  war,  dass 
seiner  Tochter  Lavinia  ein  Gatte  aus  der  Fremde  werde.  Durch  das 
Wunder  der  „verzehrten  Tische"  erkennt  Aeneas,  dass  sie  endlich  das 
ihnen  vom  Schicksal  bestimmte  Land  gefunden  haben.  Aeneas  schickt 
eine  Gesandtschaft  an  Latinus,  um  einen  bescheidenen  Sitz  für  seine 
heimischen  Götter  zu  erlangen  (229).  Der  König  verspricht  ihnen  das 
Gewünschte  und  erkennt  zugleich,  dass  für  die  Erfüllung  des  Orakels  be- 
züglich der  Lavinia  jetzt  die  Zeit  gekommen  sei.  Über  diese  für  die 
Trojaner  günstige  Wendung  der  Dinge  erbittert,  dringt  Juno  in  eine  der 
Furien,  Krieg  anzuregen.  Diese  erfüllt  mit  Hass  die  Gattin  des  Königs 
Amata,  dann  den  Turnus,  den  König  der  Rutuler,  der  die  Lavinia  für 
sich  begehrte.  Die  Verwundung  eines  Hirsches  durch  Ascanius  gibt  das 
Signal  zum  Zusammenstoss.  Latinus  bleibt,  seines  gegebenen  Wortes  ein- 
gedenk, dem  Kampf  fern,  der  von  Turnus  gegen  Aeneas  begonnen  wird. 
Das  Buch  schliesst  mit  dem  Katalog  der  dem  Turnus  zu  Hilfe  geeilten 
Streitkräfte.  Darunter  befinden  sich  Mezentius,  Fürst  von  Caere  mit  seinem 
Sohn  Lausus  und  die  volskische  Heldenjungfrau  Gamilla.     Das  Glanzstück 


Vergils  Aeneis.  41 

des  folgenden  achten  Buchs  ist  die  Beschreibung  des  Schildes,  welchen 
Yulcan  für  Aeneas  gefertigt,  und  auf  dem  er  Scenen  aus  der  römischen 
Geschichte  bis  auf  Augustus  zur  Darstellung  gebracht  hatte.  Ausserdem 
wird  berichtet,  wie  sich  sowohl  Turnus  als  Aeneas  nach  Bundesgenossen 
umsehen.  Durch  ein  Traumbild  wird  Aeneas  auf  den  Arkader  Euander, 
der  auf  dem  Palatin  seinen  Sitz  hatte,  gewiesen.  Euander  gewährt  ihm 
auch  Hilfe,  er  stellt  eine  Reiterschar  unter  der  Führung  seines  Sohnes 
Pallas,  rät  aber  zugleich,  Hilfe  bei  den  Etruskem  in  Caere  zu  suchen,  welche 
sich  gegen  ihren  Fürsten  Mezentius  empört  hatten,  denselben,  der  jetzt  auf 
Seite  des  Turnus  stand.  Aeneas  folgt  seinem  Rat.  Die  folgenden  Bücher 
enthalten  Eampfesbilder.  Das  neunte  Buch  führt  uns  den  Angriff  auf 
das  trojanische  Lager  in  Abwesenheit  des  Aeneas  vor,  dann  den  Kampf 
und  Heldentod  des  Nisus  und  Euryalus,  endlich  das  Eindringen  des  Turnus 
in  das  gegnerische  Lager.  Die  Not  war  aufs  höchste  gestiegen,  da  langt 
Aeneas,  wie  uns  der  Dichter  im  zehnten  Gesang  schildert,  mit  dreissig 
Schiffen  aus  Etrurien  an.  Es  entspinnt  sich  eine  heisse  Schlacht,  in  der 
der  Sohn  Euanders  durch  Turnus  hingestreckt  wird.  Durch  ein  Scheinbild  des 
Aeneas  wird  der  Rutulerfürst  von  Juno  aus  dem  Getümmel  hinweggeführt. 
Jetzt  tritt  Mezentius  hervor;  er  sowohl  wie  sein  Sohn  Lausus  fallen  durch 
die  Hand  des  Aeneas.  Im  elften  Buch  folgt  ein  Waffenstillstand  zum 
Zweck  der  Beerdigung  der  Toten.  Die  Latiner  fangen  an,  des  Krieges 
überdrüssig  zu  werden;  es  tritt  eine  Friedensströmung  zu  Tage,  die  auch 
von  Latinus  geteilt  wird.  Turnus  ist  dagegen  für  Fortsetzung  des  Krieges. 
Während  dieser  Verhandlungen  rückt  Aeneas  zu  dem  Sitz  des  Latinus 
gegen  Laurentum  vor.  Ein  Treffen  wird  geliefert,  in  dem  die  Helden- 
jungfrau Gamilla  den  Tod  findet.  Aeneas  lagert  vor  der  Stadt.  Das  letzte 
zwölfte  Buch  bringt  den  Untergang  des  Turnus.  Er  wollte  den  Streit 
durch  einen  Zweikampf  mit  Aeneas  zur  Entscheidung  bringen.  Dieser 
geht  auf  den  Vorschlag  ein;  es  wird  ein  feierlicher  Vertrag  geschlossen. 
Allein  die  Rutuler  brechen  denselben.  So  wurde  der  Kampf  aufs  neue 
entfacht.  Mit  grosser  Erbitterung  gehen  die  Gegner  aufeinander  los.  Aeneas 
wird  verwundet,  aber  rasch  durch  seine  Mutter  geheilt.  Nachdem  der 
Streit  längere  Zeit  gewütet,  richten  die  Trojaner  ihre  Angriffe  auf  die 
Stadt.  Der  Schrecken  und  die  Verwirrung  treibt  die  Königin  Amata  in 
den  Tod.  Jetzt  findet  der  Zweikampf  zwischen  Turnus  und  Aeneas  statt, 
der  Rutulerfürst  wird  getötet. 

232.  Die  Aeneassage.  Wie  wir  gesehen,  liegt  der  Aeneis  die 
Aeneassage  zu  Grund;  zum  Verständnis  des  Epos  ist  daher  die  Geschichte 
dieser  Sage  vor  allem  notwendig.  Ihren  Ausgangspunkt  nimmt  sie  von 
den  Versen  Homers  (IL  20,303): 

xal  nal^ioy  nai^BS  toi  xev  fXBtonur&e  yivtoyjM, 

Hier  wird  dem  Aeneas  die  Herrschaft  über  die  Troer  verheissen.  Durch 
die  Gykliker  kommt  ein  neues  Moment  hinzu,  indem  Aeneas  nach  der  Zer- 
störung Trojas  auf  den  Berg  Ida  wandert,  also  noch  in  der  Heimat  bleibt.  ^) 


')  WöRNER,  Die  Sage  p.  3. 


42       RömiBche  LitteraturgoBchiclite.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


Eine  ungemein  fruchtbare  Idee  für  die  Weiterentwicklung  der  Fabel 
war,  dass  Aeneas  ausser  Land  über  das  Meer  zieht.  Damit  wurden  die 
Wanderungen  ein  Bestandteil  der  Sage,  alle  Orte,  die  den  Aphroditekultus 
angenommen  hatten,  wurden  jetzt  leicht  zu  Stationen  auf  der  Wanderfahrt 
des  Aeneas.  Der  erste  Zeuge  für  diesen  bedeutsamen  Fortschritt  ist  der 
sicilische  Dichter  Stesichorus  (640 — 555).  Auf  der  Tabula  Iliaca,  welche 
auf  dessen  Hiupersis  beruht,  sind  einer  Darstellung  die  Worte  beigegeben: 
„Aeneas  mit  den  Seinigen,  wie  er  nach  Hesperien  (d.h.  Italien) 
abfährt.''  0  ^^^  Irrfahrten  des  Aeneas  beschreiben  uns  Dionys  von  Hali- 
carnass  1,46—55  und  Vergil.  Sie  bieten  wesentliche  Differenzen  dar;  die 
hervorstechendsten  sind,  dass  Vergil  den  Aeneas  bei  der  Dido  in  Carthago 
und  bei  der  cumäischen  Sibylle  verweilen  lässt.  In  eine  neue  Entwick- 
lungsstufe tritt  die  Sage,  als  Aeneas  mit  Rom  verknüpft  wurde  und  Rom 
als  das  neue  Ilion  galt,  mithin  die  Römer  als  Abkömmlinge  der  Trojaner 
betrachtet  wurden.  Schon  der  Geschichtschreiber  Timaeus,  der  zur  Zeit 
des  Pyrrhus  lebte,  kennt  diesen  Zusammenhang  von  Ilion  und  Troia.^) 
Von  den  römischen  Schriftstellern  ist  Naevius  der  älteste,  welcher  von 
des  Aeneas  Niederlassung  in  Latium  erzählt.^)  Bei  Naevius  wie  bei  Ennius 
ist  Romulus  Sohn  der  Tochter  des  Aeneas,  also  sein  Enkel.^)  Allein  diese 
Auffassung  des  Zusammenhangs  von  Rom  und  Ilion  widersti*itt  der  ein- 
heimischen Überlieferung,  nach  welcher  Romulus  Sohn  des  Mars  war  und 
Rom  erst  lange  Zeit  nach  dem  trojanischen  Krieg  gegründet  wurde.  Es 
kam  daher  eine  andere  Version  auf  und  dieser  folgt  Vergil  (1, 265).  Aeneas 
gründet  Lavinium  und  herrscht  über  dasselbe  drei  Jahre.  Aber  dreissig 
Jahre  nach  Laviniums  Erbauung  verlässt  sein  Sohn  Ascanius  diese  Stätte 
und  erbaut  Alba  longa;  dort  regierte  des  Aeneas  Geschlecht  (die  Silvier) 
dreihundert  Jahre,  bis  Rhea  Silvia  von  Mars  die  Zwillinge  gebar,  welche 
Rom  gründeten,  ö)  Im  wesentlichen  folgt  dieser  Fassung  auch  Cato;  aus 
ihm  lernen  wir  ausführlicher  den  Teil  der  Sage  kennen,  welcher  die 
Kämpfe,  die  Aeneas  nach  seiner  Landung  zu  bestehen  hat,  schildert. 
Zuerst  nimmt  Latinus,  der  König  der  Aboriginer,  Aeneas  gegenüber  eine 
freundliche  Haltung  ein  und  gibt  ihm  seine  Tochter  Lavinia  zur  Frau.  Es 
entstehen  Zerwürfnisse  und  es  kommt  zu  drei  Schlachten,  in  der  ersten 
fällt  Latinus,  und  Turnus,  der  ihm  Hilfe  gebracht,  wird  besiegt;  in  der 
zweiten  Schlacht  finden  wir  Turnus  verbündet  mit  dem  etruskischen  König 
Mezentius,  Turnus  wird  getötet  und  Aeneas  verschwindet;*)  in  der  dritten 
kommt  Mezentius  durch  die  Hand  des  Ascanius  um.')  Vergil  schliesst 
sich  an  Cato  an,  allein  nicht  ohne  mannigfache  Änderungen;  die  wesent- 
lichsten sind,  dass  er  die  drei  Kämpfe  zusammengezogen,®)  den  Latinus 
am  Streit  unbeteiligt  sein,  endlich  den  Aeneas  über  Mezentius  und  zuletzt 
auch  über  Turnus  Herr  werden  lässt. 


*)  Zweifel  regt  an  Kiin>ER]iAim,  De  fabu^ 
lis  etc.,  Loyd.  1885  p.  20. 

*)   SCHWEGLER    1,304. 

')  ScHWEOLEB  1,  305.    Caubb,  Die  rom. 
Aeneass.  p.  101. 

*)  Serv.  Aen.  1, 273. 
*)  Cauer  p.  106. 


«)  Serv.  Aen.  4,  620. 

')  Gauer  p.  173.  Kindermakk,  De  fabu- 
lis  ele,  p.  52,  wo  auch  die  übrigen  Zeugnisse 
über  die  italische  Eroberung  übersichtlich  zu- 
sammengestellt und  verglichen  sind. 

»)  Cauer  p.  174. 


Yergile  Aeneis. 


43 


Lange  Zeit  hindurch  blieb  die  der  Aeneassage  zu  Grund  liegende 
Idee:  Rom  ist  die  Fortsetzung  von  Ilion.  Offizielle  Anwendung  von 
diesem  Zusammenhang  wird  seit  dem  ersten  punischen  Krieg  gemacht.^) 
Um  nur  einen  Fall  anzufühi*en,  in  einem  Schreiben  an  den  König  Seleucus 
(wahrscheinlich  Gallinicus)  stellte  der  Senat  ihm  Bundesgenossenschaft  in 
Aussicht,  wenn  er  den  Iliern  als  den  Blutsverwandten  der  Römer  Steuer- 
freiheit bewillige  (Suet.  Claud.  25).  Auch  durch  Einführung  neuer  Kulte, 
besonders  solcher,  welche  der  Venus  gewidmet  waren,  fand  jene  Idee  ihren 
Ausdruck.^)  Allein  zur  Zeit  Sullas  bekam  die  Aeneassage  einen  .neuen 
Gehalt.  Damals  wurde  es  üblich,  die  Stammbäume  der  römischen  Ge- 
schlechter auf  trojanische  Helden,  Genossen  des  Aeneas,  zurückzuführen. 
Dionys.  1, 85  berichtet,  dass  50  Familien  auf  diese  Weise  ihrem  Geschlecht 
einen  altertümlichen  Glanz  verliehen.  Yarro  konnte  daher  eine  eigene 
Monographie  über  „die  trojanischen  Familien*^  schreiben.  Aber  von  allen 
diesen  Familientraditionen  gewann  nur  eine  einzige  eine  erhöhte  Bedeutung 
und  führte  die  letzte  Entwicklungsstufe  der  Aeneassage  herbei:  Die  Juli  er 
leiteten  ihr  Geschlecht  von  dem  Sohn  des  Aeneas,  Ascanius,  her 
und  legten  sich  dadurch  den  Ursprung  von  der  Venus  bei.  Um 
diese  Verknüpfung  der  Julier  mit  Ascanius  zu  begründen,  wurde  Julus, 
der  Ahnherr  des  Geschlechts,  mit  Ascanius  identifiziert,  d.  h.  diesem  noch 
der  Name  Julus  beigegeben;  und  zwar  nahm  er  den  Beinamen  in  dieser 
Form  erst  nach  der  Zerstörung  Ilions  an,  während  er  vorher  Uns  hiess 
(Aen.  1,268).  Caesar  betonte  mit  Vorliebe  diese  göttliche  Abkunft.  3)  Da- 
mit wurde  die  Sage  in  den  Dienst  der  Verherrlichung  eines  bestimmten 
Geschlechts  gestellt.  Während  früher  die  Fortsetzung  von  Ilion  in  und 
durch  Rom  die  Idee  der  Sage  war,  tritt  jetzt  die  Fortsetzung  des  einst 
regierenden  Geschlechts  durch  Augustus  und  damit  die  Legitimierung  des- 
selben für  die  Herrschaft  in  den  Vordergrund.  Diese  jüngste  Phase  der 
Sage  ist  das  Fundament  des  Vergilischen  Gedichts. 

Litteratur:  Über  die  älteren  Werke  vgl.  das  Referat  Schweolebs,  Rom.  Gesch. 
1,  279,  der  die  klarste  Übersiebt  über  die  Sage  gibt.  Gaueb,  De  fabulia  graecis  ad 
ßomam  conditam  peHinentihuSf  Berl.  1884.  Ders.,  Die  römische  Aeneassage  von  Naevius 
bis  Vergilius  (Fleckeis.  Jahrb.  15  Suppl.  p.  97).  Nissen,  Fleckeis.  Jahrb.  91  p.  379.  WörneR; 
Die  Sage  von  den  Wanderungen  des  Aeneas,  Leipzig  1882  (vgl.  auch  dessen  Artikel  in 
Roschers  Mythol.  Lexikon  1, 158).  Pbeller- Jordan,  Rom.  MyÜiol.  2,  310.  Zoelleb,  Latium 
und  Rom,  Leipz.  1878  p.  70.     Hild,  La  Ugende  d*Enie  avant  Virgile,  Par.  1883. 

233.  Die  Komposition  der  Aeneis.  Es  war  keine  leichte  Aufgabe, 
aus  dieser  Sage,  deren  Fundament  ein  durchaus  rationalistisches  ist,  eine 
das  Herz  erfreuende  Dichtung  herauszuarbeiten.  Mittelpunkt  der  Handlung 
musste  Aeneas  werden;  das  Schicksal  erkor  sich  ihn  zum  Helden  und 
machte  ihn  zum  Gründer  des  römischen  Reichs  und  Ahnherrn  des  Regenten- 
hauses.  Diese  seine  hohe  Mission  wird  ihm  durch  Wunderzeichen  und 
Wahrsagungen  stets  vor  Augen  gestellt.    Schon  bei  dem  Fall  von  Ilion 


')  Die  Sage  ist  aus  politischen  Gründen 
kultiviert  worden;  als  Rom  mit  dem  helle- 
nistischen  Völkerverein  in  Berührung  kam, 
wollte  es  ebenbürtig  erscheinen.  So  war  in 
Bayern  die  Abstammung  des  Volks  von  den 
Kelten  zur  Zeit  der  Napoleonischen  AUianz 


offiziell ;  man  wollte  mit  den  Protektoren  auf 
einer  Linie  stehen. 

*)  Caubb  p.  99. 

3)  App.  b.  civ.  2,  68  Suet.  Caea.  6  Dio 
43, 43  Cic.  P]p.  8, 15. 


44       BOmische  LitteraturgeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

deutet  eine  auf  dem  Haupte  des  jungen  Ascanius  emporlodernde  Flamme 
auf  Grosses  hin  (2, 680).  Der  Schatten  der  Creusa  zeigt  ihm  die  Stätte 
seiner  Zukunft,  die  Gestade  des  Tiber  (2,  780).  Das  Gleiche  thut  die  Harpye 
Celaeno,  indem  sie  zugleich  ein  Erkennungszeichen  für  das  richtige  Land, 
das  Wunder  der  „verzehrten  Tische*  mitteilt  (3,256).  Vom  Priamiden 
Helenus  erhalten  sie  ein  neues  Erkennungszeichen,  das  Wunder  von  der 
weissen  Sau  mit  den  dreissig  Ferkeln  (3, 390).  Anchises  spricht  in  einem 
Traumbild  von  dem  niederzuwerfenden  Latium  (5,730).  Auch  die  Sibylle 
prophezeit  heisse  Kämpfe  ob  Lavinium  (6, 83).  So  wird  dem  Helden  fort- 
während und  immer  mit  neuen  Zügen  das  Fatum,  dessen  Erfüllung  in 
seine  Hände  gelegt  ist,  vor  Augen  gehalten  und  als  er  Gefahr  läuft,  in 
Carthago  in  die  Netze  der  Dido  verstrickt  zu  werden,  wird  er  durch  den 
Götterboten  gemahnt,  seiner  hohen  Bestimmung,  durch  sein  Geschlecht 
dem  Erdkreis  Gesetze  vorzuschreiben,  eingedenk  zu  sein  (4,  275  u.  231). 
Dem  Ziel  seines  Epos  entsprechend,  der  herrschenden  Dynastie  ein  weit- 
hin leuchtendes  Denkmal  zu  setzen,  weiss  der  Dichter  auch  das  Lob  des 
Augustus  in  sein  Gedicht  einzustreuen.  Es  geschieht  dies  dadurch,  dass 
entweder  ein  Gott  oder  sonstwer  den  Schleier  der  Zukunft  hinwegzieht. 
Gleich  im  ersten  Buch  (261  f.)  verkündet  Juppiter  die  Schicksale  des  Aeneas 
und  seines  Geschlechts,  die  Gründung  von  Lavinium,  von  Alba  longa,  von 
Rom;  dabei  weist  er  auf  den  künftigen  erlauchten  Sprossen  des  Ge- 
schlechts hin,  dessen  Ruhm  bis  zu  den  Sternen  steigen  werde,  und  dem 
es  beschieden  sei,  ein  die  Welt  umspannendes  Reich  des  Friedens  und  der 
frommen  Gesittung  zu  begründen.  In  der  Unterwelt  lässt  Anchises  die 
Seelen,  die  zu  einem  neuen  Leben  in  der  Oberwelt  auserwählt  sind,  an  den 
Blicken  des  Aeneas  vorüberziehen,  es  sind  die  künftigen  Grössen  der  römi- 
schen Geschichte;  unter  denselben  ragt  Augustus  hervor,  unter  welchem  in 
dem  bis  zu  den  Indern  sich  erstreckenden  römischen  Reich  das  goldene  Zeit- 
alter emporblühen  wird  (6,  789).  Auch  dem  so  grosse  Hoffnungen  erregenden 
M.  Claudius  Marcellus,  dem  Schwestersohn  des  Augustus,  den  er  zu  seinem 
Nachfolger  ausersehen,  der  aber  in  der  Blüte  der  Jahre  hinweggeraflft 
wurde,  tönt  ein  begeistertes  Lob  aus  dem  Munde  des  Anchises  (6,867). 
Endlich  wird  auf  dem  Schild,  den  Vulkan  für  Aeneas  fertigt,  der  Sieg 
des  Augustus  bei  Actium  in  anschaulicher  Weise  verheiTÜcht  (8, 675). 

Für  den  Aufbau  seines  Werks  ergab  sich  dem  Dichter  ein  ungeheurer 
Vorteil,  er  konnte  an  die  allgemein  bekannte  und  poetisch  ausgestaltete 
trojanische  Sage  anknüpfen;  er  konnte  sich  Homer,  den  Vater  aller  Poesie, 
zum  Führer  erkiesen.  Für  die  Wanderungen  des  Aeneas  boten  sich  als 
Musterbild  dar  die  Irrfahrten  des  Odysseus,  für  die  Kämpfe  des  Aeneas 
in  Latium  der  hin  und  her  wogende  Streit  vor  den  Mauern  Ilions.  Der 
für  hohe  Ziele  begeisterte  Sänger  schreckte  nicht  vor  dem  Wagnis  zurück, 
Odyssee  und  Ilias  in  seinem  Werk  zu  vereinigen,  danach  erfolgt  der  Auf- 
bau, die  sechs  ersten  Bücher  sind  die  lateinische  Odyssee,  die  sechs  letzten 
die  lateinische  Ilias.  In  der  Schilderung  der  Wanderungen  des  Aeneas 
benutzt  er  das  Kunstmittel  Homers,  indem  er  einen  Teil  derselben  erzählen 
lässt  und  dadurch  eine  episodische  Partie  des  Gedichts  erlangt;  vor  der 
Dido  schildert  Aeneas  seine  Erlebnisse  von  dem  Fall  Ilions  bis  zur  Landung 


VergiLs  Aeneis.  45 

in  Carthago.  Auch  an  die  Abenteuer  des  Odysseus  konnte  das  Gedieht 
vielfach  anknüpfen;  es  begegnen  uns  die  bekannten  Gestalten  des  Cyklopen, 
dann  Scylla,  Charybdis  und  die  Girce.  Noch  mehr,  ganze  Partien  konnten 
aus  Homer  kopiert  werden.  Die  Fahrt  des  Odysseus  in  die  Unterwelt  er- 
hielt ihr  Gegenstück  in  der  gleichen  Fahrt  des  Aeneas;  den  Spielen,  die  zu 
Ehren  des  Patroklos  gefeiert  wurden,  traten  die  Spiele,  die  Aeneas  seinem 
verstorbenen  Vater  veranstaltete,  an  die  Seite.  Aber  der  fleissige  römische 
Dichter  wollte  auch  die  nachhomerischen  poetischen  Schätze  seinem  Werk 
zu  Gute  kommen  lassen;  er  flicht  daher  die  wunderschöne  Erzählung  von 
der  Eroberung  Ilions  nach  den  kyklischen  Dichtem  ein;  eine  noch  glän- 
zendere Perle  gab  ihm  die  Didosage;  schon  Naevius  hatte  von  der  Be- 
gegnung der  Dido  und  des  Aeneas  berichtet;  so  wie  die  Erzählung  aus 
der  Hand  des  Dichters  gekommen  ist,  stellt  sie  eine  kleine  Tragödie  dar 
und  erinnert  uns  an  den  tiefen  Kenner  des  menschlichen  Herzens,  an 
Euripides,  vielleicht  in  dem  einen  und  dem  andern  Zug  noch  an  Apollonius 
des  Rhodiers  Schilderung  von  der  Liebe  der  Medea. 

Auch  in  dem  zweiten  Teil  verrät  sich  überall  der  Nachahmer  und 
zwar  zunächst  wiederum  des  Homer.  Dem  Aeneas  muss  ein  Achill  gegen- 
übertreten, es  ist  Turnus  (6, 89) ;  der  Helena  ähnelt  Lavinia,  um  sie  streiten 
sich  Turnus  und  Aeneas;  bei  Latinus  wird  man  unwillkürlich  an  Priamus 
denken.  Wie  Homer  seinen  Schiffskatalog,  so  hat  Vergil  seine  Aufzählung 
der  Stämme  Latiums,  die  sich  um  Turnus  geschart  haben  (7,641).  Dem 
Achilles  wird  ein  kunstvoller  Schild  von  Hephaestos  geschmiedet,  ebenso 
dem  Aeneas.  Der  nächtliche  Schleichgang  der  Helden  Diomedes  und 
Odysseus  ins  feindliche  Lager  wird  kopiert  in  dem  gleichen  Abenteuer 
des  Nisus  und  des  Euryalus,  zugleich  aber  ein  treues  Bild  aufopfernder 
Freundschaft  gezeichnet.  Wie  Achilles  eine  Zeitlang  vom  Kampfe  sich 
fernhält,  so  ist  auch  Aeneas  anfangs  dem  Streit  entzogen;  hier  wie  dort 
führt  dieses  Fernbleiben  eine  grosse  Notlage  herbei.  Ein  Yertragsschluss, 
der  den  Krieg  durch  Zweikampf  der  in  erster  Linie  Beteiligten  entscheiden 
will,  Bruch  dieses  Vertrages  und  infolgedessen  neuer,  um  so  erbitterter 
Kampf  sind  dem  römischen  wie  dem  griechischen  Dichter  eigen.  Das  Ent- 
scheidungstreffen zwischen  Turnus  und  Aeneas,  in  dem  der  Held  der  Rutuler 
fallt,  erweckt  in  der  Seele  des  Lesers  vielfache  Erinnerungen  an  den 
tragischen  Zusammenstoss  des  Hector  und  des  Achilles.  Selbst  im  einzelnen 
gewahren  wir  Abfälle  vom  reichen  Tisch  des  griechischen  Sängers,  Gleich- 
nisse, Bilder,  der  epische  Wortschatz  sind  nach  ihm  gebildet.  Auch  die 
lateinische  Ilias  greift  über  Homer  hinaus;  so  wird  für  die  Camilla  Pen- 
thesileia  in  der  Aethiopis  des  Arktinos  als  Leitstern  vorgeschwebt  haben; 
wem  er  in  der  Gestaltung  der  schrecklichen  AUekto  folgt,  können  wir 
nicht  mehr  feststellen;  der  Selbstmord  der  Amata  entwickelt  ein  tragisches 
Motiv.  Der  Kampf  gliedert  sich  dramatisch  durch  das  Auftreten  einzelner 
Persönlichkeiten,  in  jedem  Buch  strahlt  eine  Perle,  für  die  Erschütterung 
des  Gemüts  hat  der  Dichter  in  trefflicher  Weise  Sorge  getragen.  Mit  dem 
Tod  des  Turnus  ist  der  Zweck  des  Epos  erfüllt ;  die  Hindernisse,  die  sich 
dem  Werke  des  Aeneas  entgegenstellten,  sind  beseitigt;  da  über  seine  Ziele 
in  dem  Gedicht  volle  Klarheit  verbreitet  ist,  so  bot  sich  nichts  mehr  dar, 


46       BOmische  Litter atargeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

wodurch  der  Leser  hätte  gefesselt  werden  können,  der  Dichter  schloss 
daher  seinen  Sang. 

Zeugnisse  über  Nachahmangen.  Macrob.  5,  17,  4  de  Argonauticorum  gtsarto, 
quorum  scriptar  est  Apollonius,  Ubrum  Äeneidoa  auae  qttartum  totutn  paene  formavit  ad 
Didanem  vel  Aenean  amcUoriam  incontinentiam  Medeae  circa  Japanern  transferendo.  5, 2, 4 
eversionem  Troiae  cum  Sinone  suo  et  equo  ligneo  ceterisque  amnibus  quae  Hbrum  secundum 
faciunt  a  Pisandro  ad  verbum  paene  transcripsit.  Beide  Zeugnisse  beruhen  auf  offen- 
kundiger Übertreibung.  Die  Nachahmungen,  besonders  aus  Ennius  siehe  bei  Macrob.  6, 1,  8 
Gell.  1, 21,7  non  rerha  sola,  sed  versus  prope  totes  et  locos  quoque  Lucreti  plurimos  secutum 
esse  Vergilium  videmus, 

234.  Wflrdigung  der  Aeneis.  Auf  die  Römer  machte  die  Aeneis 
einen  mächtigen  Eindruck;  es  ist  dies  nicht  zu  verwundern,  war  sie  doch 
das  erste  Epos,  das  eine  Idee  in  kunstvollem  Aufbau  durchführte;  die 
Epen  des  Naevius  und  Ennius  konnten  mit  ihrer  annalistischen  Fassung 
nicht  in  einen  Wettstreit  eintreten;  auch  die  folgende  Zeit  hatte  nichts 
Ähnliches  an  die  Seite  zu  stellen.  Mit  Stolz  blickten  daher  die  Römer  auf 
ihren  Dichter,  den  sie  kühn  mit  Homer  verglichen,  ja  über  ihn  stellten. 
Es  kam  hinzu,  dass  das  Gedicht  den  Segnungen  des  Prinzipats  einen 
schwungvollen  Ausdruck  gab  und  das  römische  Nationalgefühl  durch  leb- 
haften Hinweis  auf  das  gewaltige  römische  Reich  und  auf  den  hohen  Be- 
ruf des  römischen  Volk^  befriedigte.  Kein  Römer  wird  ohne  Begeisterung 
die  Worte  gelesen  haben  (6,851): 

tu  regere  imperio  populos,  Romane,  memento; 
(hae  tibi  erunt  artes)  pacique  inponere  morem, 
parcere  subiectis  et  debeUare  superbos. 

Diese  starke  Bewunderung  der  Aeneis  zog  sich  mit  der  Bewunderung 
des  Dichters,  des  „Yerkünders  des  Messias^  auch  ins  Mittelalter  hinüber. 
Die  Neuzeit,  die  keinen  andern  Massstab  als  den  ästhetischen  anlegen 
kann,  steht  dem  Gedicht  kühler  gegenüber.  Schon  die  Sage  vermag  nicht 
unsere  Sympathien  zu  erregen.  Wir  empfinden  dieselbe  sofort  als  ein 
künstliches  Produkt.  Für  die  Fortsetzung  von  Dion  in  Rom  bietet  sich 
eben  gar  kein  natürlicher  Anhalt  dar;  nicht  einmal  der  Name  kommt  der 
Sage  zu  Hilfe.  Um  diese  Schwierigkeit  zu  beseitigen,  nimmt  der  Dichter 
zu  einer  Fiktion  seine  Zuflucht;  Juno  erbittet  sich  die  Gunst,  dass  der 
Name  Troia  verschwinde.  Und  Juppiter  willfahrt  der  Bitte  und  verkündet 
(12,834): 

sermonem  Ausonii  patrium  moresque  tenebunt, 
utque  est,  nomen  erit;  commixti  corpore  tantum 
subsident  Teucri,     Morem  ritusque  sacrorum 
adiciam  faciamque  omnis  uno  ore  Latinos, 

Damit  ist  Troia  in  Rom  eigentlich  beseitigt.  Unsere  Sympathien  sind  natur- 
gemäss  bei  den  Eingeborenen,  welche  den  heimischen  Boden  verteidigen, 
nicht  bei  den  fremden  Eindringlingen.  Auch  diese  Disharmonie  scheint  der 
Dichter  zu  fühlen  und  sie  dadurch  abzuschwächen,  dass  er  die  Trojaner 
als  Pioniere  der  Kultur  bei  den  wilden  italischen  Stämmen  auftreten 
lässt  (5,  730  9,  603).  *)  Noch  störender  wirkt  auf  uns  die  Verbindung  des 
Aeneas  mit  Romulus,  weil  dadurch  eine  wirklich  nationale  Überlieferung 
künstlich  in  einen  andern  Rahmen  eingereiht  wurde.    Ebensowenig  wie 


*)  Dieses  Moment  hebt  richtig  hervor  Nettleship,  Lectures  p.  106. 


VergilB  Aeneis.  47 

der  Sagenstoff  vermag  der  Held  des  Epos  eine  Anziehungskraft  auszuüben. 
Aeneas  handelt  ja  nicht  aus  inneren  Beweggründen ,  er  ist  in  den  Händen 
des  Fatum  und  lässt  sich  von  den  Göttern  wie  eine  Puppe  hin  und  her 
schieben.  Ein  einziges  Mal  pulsiert  eigenes  warmes  Leben  in  ihm,  als  er 
von  der  Liebe  zur  Dido  ergriffen  war.  Als  aber  die  Stunde  der  Trennung 
kam,  weiss  er  dem  in  Schmerzen  aufgelösten  Weib  keinen  andern  Trost 
entgegenzuhalten  als  den  kühlen,  dass  das  Fatum  ihn  nach  Italien  rufe; 
doch  werde  er,  solange  er  lebe,  der  Geliebten  eingedenk  sein.  Für  einen 
solchen  Helden,  der  in  der  Unterwerfung  unter  den  höheren  Willen  der 
Götter  seine  Lebensaufgabe  sieht,  ist  das  passendste  Prädikat  „pius*^. 
Selbst  wenn  er  in  den  Kampf,  dem  er  merkwürdigerweise  anfangs  aus- 
weicht, eingreift,  werden  wir  der  Vorstellung  nicht  los,  dass  infolge  des 
Fatum  über  den  Ausgang  kein  Zweifel  sein  kann.  So  kommt  es,  dass 
unsere  Herzen  nicht  für  Aeneas  schlagen,  sondern  für  den  heldenmütigen 
Turnus,  der  im  heissen  Ringen  mit  dem  fremden  Mann,  der  ihm  noch 
dazu  die  erkorene  Braut  entfuhren  will,  rühmlich  unterliegt,  und  für  die 
unglückliche  Dido,  die  ihre  Liebe  zu  dem  Mann  des  Fatum  mit  dem 
Tode  büssen  muss.  Selbst  untergeordnete  Personen  wie  Euander,  Pallas, 
Mezentius  u.  a.  flössen  uns  Interesse  ein,  nur  die  Hauptperson,  Aeneas, 
lässt  uns  gleichgültig.  Dann  ist  es  die  fortwährende  Vermischung  zweier 
Welten,  der  trüben  Vergangenheit  und  der  sonnenbeschienenen  Gegenwart, 
welche  einem  reinen  Genuss  störend  entgegentritt;  aus  der  Vergangenheit 
soll  ein  Licht  fallen  auf  die  Gegenwart,  aus  der  Gegenwart  werden  um- 
gekehrt Dinge  in  die  Vergangenheit  gerückt.  Die  Idee,  indirekt  durch 
ein  Epos  das  herrschende  Geschlecht  zu  feiern,  hat  diesen  Zwitterzustand 
geschaffen.  Auch  die  Götterwelt,  ohne  welche  die  Aeneis  gar  nicht  ge- 
dacht werden  kann,  entbehrt  der  Frische;  das  Eingreifen  der  höheren 
Gewalten  nimmt  nur  zu  oft  einen  äusserlichen  mechanischen  Charakter 
an;  es  sind  keine  naive,  sondern  gemachte  Götter.  Endlich  ist  es  ein 
unverkennbarer  Mangel  an  Originalität,  welcher  die  Bewunderung  des 
Gedichts  in  erheblichem  Masse  reduzieren  muss.  Es  ist  ganz  erstaunlich, 
wie  der  Dichter  Schritt  für  Schritt  dem  Homer  folgt.  Allein  nicht  immer 
gerät  die  Kopie;  und  nur  zu  oft  wird  das,  was  im  Original  an  seinem 
Platz  war,  in  einen  anderen  Gedankenkreis  versetzt,  unpassend  und  schief. 
Und  auch  bei  Vergil  nehmen  wir  an  vielen  Stellen  diesen  Fluch  der 
Nachahmung  wahr.  Obzwar  wir  nach  dem  Gesagten  über  die  Aeneis  als 
Ganzes  kein  günstiges  Urteil  zu  fallen  vermögen,  so  steht  doch  unleugbar 
fest,  dass  das  Gedicht  Einzelschönheiten  immerhin  genug  bietet.  Scenen 
wie  die  Eroberung  von  Ilion,  die  Liebe  der  Dido,  die  Heldenschau  in  der 
Unterwelt,  die  aufopfernde  Freundschaft  des  Nisus  und  Euryalus,  der  Tod 
des  Pallas  und  die  Klage  um  ihn  werden  stets  in  den  Herzen  fühlender 
Leser  ihr  Echo  finden. 

Litteratur  (knappe  Auswahl):  Nettleship,  Suggestion«  introductory  io  a  study  of 
the  Aeneid  (Lectures  and  Essays)^  Oxford  1885.  Plüss,  Vergil  und  die  epische  Kunst, 
Leipz.  1884  (phantastisch).  Neebhann,  Über  ungeschickte  Verwendung  homerischer  Motive 
in  der  Aeneis,  Ploen  1882.  Caüeb,  Zum  Verständnis  der  nachahmenden  Kunst  des  Vergil, 
Kiel  1885. 


48       BOmiflche  LitteraturgeBChichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarcliie.    1.  Abteilnng. 

(f)  Appendix  Vergiliana  (die  sog.  Jagendflchriften  Vergils). 

235.  Bestandteile  der  Appendix  Vergiliana.  Ausser  den  Werken 
Vergils,  die  wir  eben  kennen  gelernt  haben,  gab  es  bereits  im  Altertum 
unter  seinem  Namen  noch  eine  Sammlung  vermischter  Gedichte,  welche 
seine  Jugendversuche  umfassen  sollte.  Sowohl  Donat,  der  auf  Sueton 
zurückgeht,  als  Servius  legen  für  diese  Sammlung  Zeugnis  ab.  Beide 
zählen  auf:  Culex,  Dirae,  Aetna,  Ciris,  Gatalepton,  Priapeia  und 
Epigrammata,  bei  Servius  kommt  noch  Gopa  hinzu.  Die  Zugehörigkeit 
der  Gopa  erscheint  aber  als  zweifelhaft,  da  Servius  die  Zahl  der  Schriften 
schwankend  auf  7  oder  8  angibt.  Ein  (jetzt  aufgelöstes)  Gorpus  sog. 
Virgilischer  Gedichte  ist  auch  auf  uns  gekommen;  vergleichen  wir  den 
Bestand  desselben  mit  den  obigen  Zeugnissen,  so  finden  wir  dieselben 
Stücke  wie  bei  Servius  und  Donat,  nur  fehlen  die  Priapeia  und  die  Epi- 
grammata, die  Überlieferung  kennt  statt  dieser  Gedichte  nur  ein  Gata- 
lepton. Allein  in  diesem  Gatalepton  stehen  drei  Priapeia;  es  fehlen  also 
bloss  noch  die  Epigrammata.  Nun  wird  aber  von  Quintilian  (8,3,29)  ein 
Gedicht  des  Gatalepton  (nr.  2  p.  163  B.)  als  ein  „ Epigramm '^  bezeichnet, 
ebenso  spricht  Marius  Victorinus  p.  137  K.  von  einem  zweiten  (nr.  12  p.  173  B.) 
als  einem  „Epigramm**.  Durch  diese  Zeugnisse  ist  erwiesen,  dass  das 
Gatalepton  auch  Epigramme  enthielt.  Die  Lösung  der  Schwierigkeit 
ergibt  sich  jetzt  von  selbst;  das  Gatalepton  umfasst  zwei  Unterabteilungen, 
die  Priapeia  und  die  Epigramme;  Servius  und  Donatus  (oder  vielmehr  ihre 
Quelle)  hatten  also  in  ihrer  Sammlung  ganz  dieselben  Stücke,  wie  wir 
sie  haben;  nur  irren  sie  darin,  dass  sie  neben  dem  Gatalepton  noch  als 
eigene  Schriften  die  Priapeia  und  die  Epigramme  aufzählen,  ein  Irrtum, 
der  sich  durch  den  ungewöhnlichen  Ausdruck  Gatalepton  leicht  erklären 
und  entschuldigen  lässt. 

Die  in  dem  Gorpus  vereinigten  Gedichte  haben  sich  nicht  zufallig 
zusammengefunden,  sondern  sind  von  einem  Sammler  zusammengestellt 
worden,  wie  sich  aus  den  zwei  Schlussdistichen  ergibt: 

vate  Syrcicosio  gut  duicior  Heaiodoque 

maior,  Homereo  non  minor  ore  fuit, 
illUis  haec  quoque  sunt  divini  elementa  poetae 

et  i'udis  in  Wirio  carmine  Caüiape, 

Wann  die  Sammlung  gemacht  wurde,  lässt  sich  nicht  mit  Bestimmtheit 
ermitteln,  ebensowenig  wie  dieselbe  betitelt  war.  Wir  besprechen  die  ein- 
zelnen Stücke  mit  Ausnahme  der  Dirae,  da  dieselben  bereits  I  §  99  berück- 
sichtigt werden  mussten. 

Die  Bestandteile  der  Sammlung.  Donat.  p.  58  R.  poeticam  puer  adhue  auspi- 
catus  in  Balistam  ludi  magistrum  ob  infamiam  latrociniorum  cooperium  lapidibus  disti- 
chon  fecit: 

monte  sub  hoc  lapidum  tegitur  Balista  sepuUits; 
nocie  die  tuium  carpe  viator  iter. 

deinde  catalecton  et  priapia  et  epigrammata  et  diras,  item  cirim  (et  cupam  fügt  Bahbeks 
hinzu)  et  culicem,  aim  esset  annorum  XVI,  cuius  maieria  talis  est  u.  s.  w.  ...  scripsit 
etiam  de  qua  ambigitur  Aetnam,  Mox  cum  res  Romanas  inchoasset,  offensus  maieria  ad 
bucoHca  transiit,  Serv.  Aen.  p.  1,  8  Th.  primum  ab  hoc  distichon  factum  est  in  Battistam 
latrofiem  (folgt  dasselbe);  scripsit  etiam  septetn  sive  octo  libros  hos:  Cirin  Aetnam  Culicem 
Priapeia  Gatalepton  Epigrammata  Copam  Diras.    Das  Gatalepton  kommt  vom  griechischen 


Appendix  Vergiliana.    Culex.  49 

xata  XtTtJoy^  durch  welchen  Ausdruck  die  kleineren  Gedichte  den  grösseren  gegenüber- 
gestellt wurden.  Dass  unter  den  grösseren  Gedichten  sich  auch  die  Copa  befindet,  er- 
scheint auffällig,  allein,  wie  bereits  oben  angedeutet,  gehörte  vielleicht  die  Copa  nicht 
ursprünglich  zur  Sammlung.  Aus  diesem  Catalepton  wurde  später  durch  Hypostase  ein 
deklinationsfähiges  Wort;  wir  finden  bei  Ausonius  p.  139  Seh.  (13,5)  die  quid  significent 
Catalepta  Moronis.  Andererseits  wurde  durch  Verderbnis  Catalecta  (Berok,  Opusc.  2,  745), 
und  diesen  Titel  führen  in  der  Regel  (nach  Abtrennung  der  Priapea'))  die  Epigramme. 

Der  Titel  der  Sammlung.  Mit  der  handschriftlichen  Überlieferung  setzen  sich 
in  Widerspruch  Ribbeck  (Appendix  Verg.  p.  4)  und  Bahbens  (PLM.  2,  36),  wenn  sie  den 
Namen  „Catalepton*^  auf  die  ganze  Sammlung  beziehen.  Einen  Gesamttitel  können  wir 
nicht  mit  Sicherheit  eruieren,  Diomedes  p.  512  K.  citiert  „praeluaiones" ,  in  manchen  Hand- 
schriften finden  wir  aeptem  ioca  iuvenalia  Virgilii  oder  auch  Virgilii  iuvenalis 
ludi  libeHu8. 

Die  Geschichte  der  Überlieferung.  BIhbens  PLM.  2, 5  gibt  folgende  Grund- 
züge: servatum  erat  ex  antiquUate  lacerum  quoddam  exemplar  opuscula  pseudovergiliana 
eo  quem  in  hac  editione  exhibemus  ordine  (acilicet  Culicem  Diras  Copam  Aetnam  Cirin 
Priapea  Epigrammata  tdve  Caidlepta)  continena,  id  exemplar  —  ineunte  media  aevo  in  duas 
partes  ita  discissum  est  ut  prior  Culicem  Diras  Copam  Aetnam  — ,  altera  reliqua  poemata 
romprehenderet '  kis  duabus  partibus  varie  consuluit  fortuna;  nam  cum  posterior  nisi  a  con- 
suetis  quas  tempus  adspergere  solet  maculis  non  deformata  ad  nas  pervenerit,  prioris  non 
ita  quieta  fuere  faia.  Erst  später  wm'den  mit  der  Sammlung  vereinigt  die  Gedichte:  De 
Est  et  Non,  De  viro  bono,  De  rosis  nascentibus,  und  das  Moretum.  Von  diesem  sind  die 
zwei  ersten  (und  wahrscheinlich  auch  das  dritte)  von  Ausonius.    Vgl.  Bahrens  p.  10. 

Zeit  der  Sammlung.  Zusammengestellt  können  die  Gedichte  nicht  vor  der  Nero- 
nischen Zeit  sein,  denn  eines  dieser  Gedichte,  der  Aetna,  setzt  die  quaestiones  naturales  des 
Philosophen  Seneca  voraus  (p.  52).  —  Sonntag,  Über  die  Appendix  Verg.,  Frankf.  1887. 

236.  Culex  (Die  Mücke).  Das  Thema  des  aus  414  Hexametern 
bestehenden  Gedichts  ist  so  abgeschmackt  als  möglich.  Ein  Hirt  geht  auf 
die  Weide.  Als  die  Sonne  stark  brennt,  legt  er  sich  zur  Ruhe  und  fällt 
in  tiefen  Schlummer.  Da  kommt  eine  Schlange,  der  sicher  der  Schlafende 
zum  Opfer  gefallen  wäre,  wenn  ihn  nicht  eine  Mücke  im  rechten  Augen- 
blick gestochen  hätte.  Der  Hirte  erwacht  plötzlich,  fährt  nach  der  Mücke 
und  schlägt  sie  tot;  allein  zu  gleicher  Zeit  sieht  er  die  Schlange;  er  ist 
so  glücklich,  dieselbe  vor  ihrem  mörderischen  Beginnen  unschädlich  machen 
zu  können.  Nachts  erscheint  ihm  im  Schlafe  die  Mücke  und  klagend  über 
ihr  Schicksal  gibt  sie  eine  weitläufige  Beschreibung  der  Unterwelt.  Der 
Hirte  errichtet  ihr  einen  mit  den  schönsten  Blumen  geschmückten  Grabes- 
hügel mit  dem  Elogium: 

parve  culex,  pecudum  custos  tibi  tale  merenti 
funeris  officium  vitae  pro  munere  reddit. 

Das  Ganze  würde  noch  leidlich  motiviert  sein,  wenn  etwa  die  unbestattete 
Mücke  nicht  in  das  Totenreich  hätte  kommen  können  und  daher  um 
Beerdigung  gebeten  hätte.*)  Allein  der  Verfasser  durfte  diese  Bitte 
nicht  stellen  lassen,  um  Bilder  der  Unterwelt  dem  Leser  vorführen  zu 
können.  Die  Gemeinplätze  und  die  Schilderungen  sind  es  ofiPenbar,  durch 
welche  er  seine  Kunst  zeigen  will.  So  gibt  er  uns  ein  Lob  des  Land- 
lebens (58  —  97),  eine  Zeichnung  des  schattigen  Ruheplatzes  (109 — 156), 
eine  Beschreibung  der  Schlange  (163 — 182),  endlich  —  und  das  sollte 
wohl  seine  Glanzleistung  sein  —  eine  Ausmalung  der  Schattenwelt  mit 
ihren  Bewohnern  (216 — 375).    Das  Epyllion  ist  einem  Octavius  gewidmet; 


^)  Nabkb,  Val.  Cat.  p.  228  omiserunt 
Heynius  et  qui  proximi  ante  Heynium,  car- 
mina  ad  Priapum  spectantia  tria  und  vorher 
neque  dubium  mihi  quidem  videtur,  quin  re^ 


stituenda  sint  Catalectis  tria  exclusa  ab  Heg" 
nio  carmina, 

*j  Baüb  p.  375. 


I 


BADdbuch  der  klaas.  AltortuaiBWiBienichaft.    Vm.    2.  Teil. 


50       Römische  LüteratnrgeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


die  Widmung  geht  dem  eigentlichen  Gedicht,  das  mit  der  Anrufung  des 
Apollo,  der  Musen  und  der  Flurgöttin  Pales  beginnt,  voraus;  dieser 
Octavius  wird  v.  25  venerande  genannt,  an  zwei  Stellen  (26  und  37) 
puer;^)  es  wird  ihm  ewiger  Ruhm  verheissen  und  ein  langes  Leben  für 
ihn  erfleht. 

237.  Der  Autor  des  Gedichts.  Es  fragt  sich,  wer  dieser  Octavius 
ist.  Und  mit  dieser  Frage  treten  wir  an  die  Erörterung  der  Autorschaft 
des  Gedichts.  Nach  der  feierlichen  Art,  mit  der  derselbe  behandelt  wird, 
muss  man  glauben,  es  ist  Octavian.  Allein  Octavian  lässt  sich  schwer  mit 
Vergil  als  Verfasser  in  Einklang  bringen.  Denken  wir  an  die  Zeit,  in  der 
Octavius  sich  bereits  Octavian  nannte  (44),  so  stört  die  Anrede  Octavius, 
auch  würde  dann  Vergil  den  Culex  schon  in  reiferen  Jahren  verfasst  haben, 
das  Gedicht  würde  ganz  nahe  an  die  Eclogen  herangerückt  werden  müssen ; 
allein  diese  Annahme  ist  unmöglich,  denn  die  Differenzen  zwischen  den 
Eclogae  und  dem  Culex  sind  zu  gross.  Wollten  wir  aber  die  Abfassung 
des  Culex  in  eine  Zeit  zurückverlegen,  in  der  Octavian  noch  Octavius 
hiess  und  in  der  Vergil  noch  in  unreifen  Jahren  stand,  so  würden  wir  auf 
ein  Alter  des  Octavius  stossen,  in  dem  er  unmöglich  die  Aufmerksamkeit 
des  Dichters  auf  sich  ziehen  konnte.  Wir  können  aber  auch  nicht  an 
einen  andern  Octavius  denken,  etwa  an  den  Historiker  Octavius,  denn  auf 
diesen  würden  ja  schon  die  überschwenglichen  Epitheta  nicht  passen.  Wir 
sehen,  bereits  durch  diese  kurze  Betrachtung  ist  die  Autorschaft  Vergils 
erschüttert.  Sie  wird  völlig  unhaltbar,  wenn  wir  die  dichterische  Kunst 
des  Produkts  ins  Auge  fassen.  Diese  bietet  uns  einen  merkwürdigen  Gegen- 
satz dar,  auf  der  einen  Seite  die  peinlichste  Sorgfalt  in  Bezug  auf  die 
metrische  Technik  z.  B.  in  Bezug  auf  die  Zulassung  der  Elisionen,*)  auf 
der  andern  Seite  völlige  Geschmacklosigkeit.  In  beiden  Dingen  tritt  der 
Autor  mit  Vergil  in  Widerstreit.  Einmal  hat  dieser  nicht  jene  ein- 
schnürenden metrischen  und  prosodischen  Regeln  befolgt,  die  sich  der 
Culexdichter  auferlegt,  dann  steht  seine  Kunst  der  Komposition  so  hoch 
über  der,  welche  im  Culex  ausgeprägt  ist,  dass  keine  Altersdifferenz 
diesen  Unterschied  erklären  kann.  Wer  den  göttlichen  Funken  nicht  in 
der  Jugend  hat,  wird  ihn  auch  nicht  im  Alter  haben.  Das  Gedicht  kann 
nicht  von  Vergil  sein.  Dieser  Schlussfolgerung  scheint  aber  eine  grosse 
Schwierigkeit  entgegenzustehen.  In  der  Litteratur  begegnet  uns  mehrere 
Male  ein  Vergilischer  Culex;  Lucan  kennt  einen  solchen,  auch  Statius 
und  Martialis  reden  in  deutlicher  Weise  von  einem  solchen.  Es  ist  nicht 
wahrscheinlich,  dass  diese  Dichter  einen  andern  Culex  vor  sich  hatten  als 
den  unsrigen,  denn  sonst  müssten  wir  annehmen,  dass  der  Culex  dieser 
Dichter  verloren  ging  und  dann  erst  der  unsrige  ans  Tageslicht  trat; 
allein  in  eine  spätere  Zeit  führt  weder  die  Sprache  noch  die  Metrik. 
Wir  werden   daher  zu  statuieren  haben,   dass  vor  diesen  Dichtern  (also 


')  Mit  verwerflicher  Willkür  hat  zwei- 
mal Bahrens  dieses  „puer**  beseitigt,  v.  26 
durch  pateTj  v.  37  durch  fero.  Es  ist  selten 
ein  Text  mit  grosserer  Schonungslosigkeit  be- 
handelt worden  als  dieser  Culex  von  Hährens. 


*)  z.  B.  nur  dreimal  werden  lange  Vo- 
kale oder  Diphthonge  elidiert  (68. 288. 400), 
bei  Vergil  dagegen  ziemlich  oft,  vgl.  Haupt, 
Opusc.  1  p.  92."  Baur  p.  368.  Dazu  Bahskvs 
p.  26. 


Appendix  Vergiliana.    Aetna.  51 

vor  der  Neronischen  Zeit)  unser  Culex  Vergil  unterschoben  wurde.  Der 
Fälscher  benützt  die  echten  Gedichte  Vergils,*)  und  da  er  ein  Jugend- 
gedicht desselben  geben  will,  fingiert  er  eine  Anrede  an  den  puer  Octavius ; 
allein  es  fliessen  auch  Züge  hinein,  die  von  dem  nachmaligen  Octavian 
hergenommen  sind. 

BticHELER,  Rh.  Mus.  45,  324  Ovidio  rix  posterior  quaesiiae  doctrinae  specimen  arti- 
ficiosum  edidit  suppositurus,  nisi  de  Octapto  sententia  me  faUü,  Vergilio  aut  vati  alü  qui 
hoc  quasi  hido  ante  sexaginta  annos  adulescentem  delectasset  principem.  Ob  Vergil  selbst 
in  seiner  Jugend  einen  Culex  geschrieben,  der  von  ihm  vernichtet  wurde  oder  verloren 
ging,  kann  immer  noch  als  eine  offene  Frage  belassen  werden.  BXhrbns  spricht  die  Ver- 
mutung aus,  dass  vielleicht  das  oben  ausgeschriebene  Elogium  von  Vergil  herrührt  und  der 
Anlass  zum  Gedicht  wurde,  wie  für  die  Giris  die  Verse  der  Georgica. 

Die  den  Culex  bezeugenden  Stellen  sind :  Suetons  vita  Lucani  p.  50  R.  ut  praefatione 
quadam  aetatem  et  initia  sua  cum  Vergilio  eomparans  ausus  sit  dicere  „et  quantum  mihi 
restat  ad  Culicem,**  Stat.  Silv.  praef.  lib.  I  sed  et  Culicem  legimus  et  Batrachomyomachiam 
etiam  agnoscimus;  nee  quisquam  est  iUustrium  poetarum,  qui  non  aliquid  operihus  suis 
stilo  remissiore  praeluserit.  In  dem  Genethliacon  Lucani  (Silv.  2, 7, 73)  heisst  es:  haec 
primo  iuvenis  canes  sub  aevo  ante  annos  culicis  Maroniani,  Martial.  8, 56, 19  Protinus 
Jtaliam  concepit  et  arma  virumque,  Qui  modo  rix  Culicem  fleverat  ore  rudi,  14, 185 
Accipe  facundi  Culicem^  studiose,  Moronis,  Ne  nucibus  positis  arma  virumque  legas.  Da 
Lucan  in  der  Zeit  Neros  lebte,  so  musste  also  damals  schon  der  unechte  Culex  vorhanden 
gewesen  sein.    Dem  Donat  lag  sicher  unser  Culex  vor  (p.  58  R.). 

Einen  Vergilischen  Kern  des  Gedichts,  der  aber  durch  weitgehende  Interpolationen 
ganz  überschüttet  worden  sei,  nimmt  Heyios  an,  in  seiner  Ausgabe  macht  er  diese  Inter- 
polationen äusserlich  kenntlich.  Diese  Ansicht  kann  durch  nichts  begründet  werden.  Trotz- 
dem ist  sie  in  neuer  Zeit  wieder  aufgefrischt  worden  von  Hildebbamdt,  Stud.  auf  dem 
Gebiet  der  röm.  Poesie  und  Metrik  I.  T.  Vergib  Culex,  Leipz.  1887.  —  Baub,  Fleckeis.  J. 
93,357.    Ledbbeb,  Ist  Vergil  der  Vf.  von  Culex  und  Ciris,  Leipz.  1890. 

Zur  Komposition  des  Gedichts  gibt  treffliche  Bemerkungen  Birt,  De  Halieuticis 
p.  51.  Über  ähnliche  Themata  hatten  schon  die  Griechen  gedichtet.  Zenob.  4,  64  Kiaaami 
Ktüof  '  ovTog  tjy  6  noXv^giftuaro^  '  rovrto  tpaaiy  ^y^eXvy  intfpaiyofÄ^yfjv  xaz  heg  ro  xtiX' 
Xunoy  rtSy  ngoßättoy  agnäCeiy  '  xai  joy  Kiaaufiiy  ayeXety  avrtjy  '  tpaivofAiytjy  di  avr^ 
xax'  oyag  xsXevaai  xara&tiilfai  avxrjy  '  xoy  di  fjLTJ  (pQoyrlCoyra  nayyeyy  dnoX^o^ai. 

Überlieferung:  Die  weitaus  beste  Handschrift  ist  der  Vossianus  L.  0.  81  s.  XV. 

238.  Der  Aetna«  Dieses  Gedicht,  das  uns  in  furchtbar  entstellter 
Gestalt  überliefert  ist  (646  Hex.),  will  die  Theorie  des  Vulkanismus  dar- 
legen. Da  der  Vesuv  damals  als  ausgebrannt  galt  und  daher  wenig  mehr 
beachtet  wurde,  musste  der  Aetna  den  Hintergrund  für  die  Theorie  bilden. 
Diese  Theorie  hat  drei  Dinge  zu  erklären;  die  bewegende  Kraft,  die  Ent- 
stehung des  Feuers  und  das  Material  für  das  Feuer.  Die  bewegende  Kraft 
ist  die  Luft,  die  in  den  leeren  Räumen,  von  denen  die  Erde  durchzogen 
wird,  vorhanden  ist;  zusammengedrängt  entfacht  sie  den  Brand;  Nahrung 
für  das  Feuer  ist  bes.  das  Gestein,  welches  lapis  molaris  heisst.  So  fasst 
der  Dichter  seine  Grundanschauung  in  dem  Epilog  zusammen  (566): 

haec  operis  forma  est,  sie  nohilis  uritur  Aetna 
terra  foraminibus  vires  trahit,  urget  in  artum 
spirituSf  incendi  vincuntur  maxima  saxa. 

Seine  Lehre  entwickelt  der  Dichter  in  durchaus  sachgemässer  Weise. 
Hiebei  unterlässt  er  aber  nicht,  in  begeisterten  Worten  auf  den  hohen 
Wert  der  Naturerkenntnis  hinzuweisen  (224): 

non  oculis  solum  pecudum  miranda  tueri 
more,  nee  effusis  in  humum  grave  pascere  corpus; 
nasse  fidem  rerum,  dubiasque  exquirere  causas, 
ingenium  sacrare  caputque  attoHere  caelo. 

*)  Genauere  Ausführung  hei  Baub  p.  369. 


52       Römische  LitteratTirgeBohichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

Wir  werden  an  Lucretius  erinnert,  nur  dass  im  Aetna  die  grossartige 
Weltanschauung  fehlt,  welche  den  Worten  jenes  Poeten  ein  so  grosses 
Gewicht  verleiht.  Er  eifert  gegen  die  unwürdigen  Sagen,  welche  die  Natur- 
erscheinung des  Aetna  erklären  sollen,  er  klagt,  dass  die  Leute  so  viele 
Orte  ihrer  Merkwürdigkeiten  wegen  besuchen,  an  dem  grossartigen  Schau- 
spiel des  Aetna  teilnahmslos  vorübergehen ;  er  sieht  geringschätzig  auf  die 
Dichter  herab,  welche  die  abgedroschenen  mythologischen  Themate  be- 
handeln. Allein  auch  er  rauss  der  Phantasie  seinen  Tribut  darbringen, 
er  schliesst  sein  Gedicht  mit  der  schönen  Erzählung  der  Brüder  von 
Catane.  Diese  dachten  bei  einem  Ausbruch  des  Aetna  an  nichts  anderes, 
als  ihre  greisen  Eltern  zu  retten;  sie  nahmen  sie  auf  ihre  Schultern 
und  während  alle  übrigen,  welche  ihr  Hab  und  Gut  zu  bergen  suchten, 
den  verheerenden  Flammen  zum  Opfer  fielen,  ging  ihnen  das  Feuer  aus 
dem  Wege. 

239.  Abfassangszeit  und  Autor  des  Aetna.  Die  Autorschaft  Vergils 
trägt  Donat  bei  diesem  Gedicht  zweifelnd  vor;^)  in  der  handschriftlichen 
Überlieferung  wird  dagegen  dasselbe  ohne  weiteres  dem  Vergil  beigelegt. 
Auf  den  ersten  Blick  sieht  man,  dass  des  Dichters  Individualität  eine  ganz 
andere  ist  als  die  Vergils.  Geschrieben  muss  der  „Aetna**  vor  79  n.  Ch. 
sein;  in  diesem  Jahr  fand  der  bekannte  Ausbruch  des  Vesuv  statt;  eine 
solche  merkwürdige  Erscheinung  hätte  der  Verfasser  nicht  übergehen 
können.  Weiterhin  ist  gesichert,  dass  derselbe  die  Schriften  Senecas,  in 
erster  Linie  die  Quaestiones  naturales  fleissig  für  sein  Werk  benutzt  hat. 
Da  die  genannte  Schrift  Senecas  nicht  später  als  65  n.  Ch.  geschrieben 
sein  kann,  so  hätten  wir  als  Grenzen  für  die  Abfassungszeit  die  Jahre 
65 — 79  n.  Ch.  anzunehmen.  Ist  sonach  die  Zeit  des  Gedichts  ins  Reine 
gebracht,  so  stösst  dagegen  die  Bestimmung  des  Autors  auf  unlösbare 
Schwierigkeiten.  Ausgangspunkt  der  Untersuchung  ist  der  79.  Brief  Senecas 
an  Lucilius.  In  demselben  erwartet  Seneca  von  seinem  Freunde  zu  hören, 
was  die  Umschiffung  Siciliens  Neues  gebracht  habe;  er  rät  ihm  auch  die 
Besteigung  des  Aetna  an  und  erwartet,  dass  Lucilius  in  seinem  Gedicht  den 
Berg  beschreiben  und  den  allen  Dichtern  geläufigen  Gemeinplatz  ^streifen* 
werde.  Dies  habe  Ovid  und  Vergil  gethan;  auch  Cornelius  Severus  sei 
durch  diese  Vorgänger  nicht  davon  abgeschreckt  worden.  Aus  diesen 
Worten  hat  Scaliger  auf  Cornelius  Severus  als  Verfasser  geraten;  allein 
der  ist  ein  Schriftsteller  der  augusteischen  Zeit,  welcher  nach  dem  oben 
Gesagten  das  Gedicht  nicht  zugewiesen  werden  kann.  Viel  ansprechender 
ist  die  ebenfalls  auf  diese  Stelle  sich  stützende  Vermutung  Wernsdorfs, 
dass  Lucilius  den  Aetna  verfasst  habe.  Für  den  spricht  nicht  Weniges; 
er  lebte  in  der  von  uns  bestimmten  Epoche,  er  war  als  Freund  Senecas 
sicherlich  mit  dessen  Schriften  bekannt,  als  kaiserlicher  Prokurator  hatte 
er  reichlich  Gelegenheit,  sich  mit  dem  Aetna  zu  beschäftigen,  er  war  über- 
dies Schriftsteller  (Sen.  ep.  46),  jaDichter  (Sen.N.Q.4,2,2  Ep.8,10  24,20), 
der  in  einem  dichterischen  W^erk  sogar  Sicilisches  2)  wie  die  Sage  von 
Arethusa  (Sen.  N.  Q.  3,  26, 5),  behandelt  hatte. 

M  Waoleb  p.  63. 

«)  Ein  Hexameter  ist  Sen.  N.  Q.  3, 1, 1  angeführt  (Bahbeks,  FPR.  p.  362). 


Appendix  Yergiliana.    Girifl.  53 

Allein  der  Hypothese  stellt  sich  ein  Hindernis  entgegen ;  das  Zeugnis 
Senecas  setzt  ein  Oedicht  voraus,  in  dem  die  Beschreibung  des  Aetna  als 
Episode  gedacht  wird.  Ein  solches  Gedicht  aber  hat  Lucilius  nicht  ge- 
schrieben, denn  an  den  Stellen  der  naturales  quaestiones,  an  denen  Seneca 
des  Gedichts  gedenkt,  ersehen  wir  zwar,  dass  Sicilien  der  Gegenstand  des- 
selben war,  allein  der  Philosoph  schweigt  von  demselben  da,  wo  er  seine 
Theorie  der  Erdbeben  und  der  feuerspeienden  Berge  entwickelt.  Es  bleibt 
also  nur  die  Annahme  übrig,  dass  Lucilius  (nach  den  naL  quaest.)  ausser 
jenem  Gedicht  über  Sicilien  in  späterer  Zeit  noch  ein  zweites  über  den 
Aetna  verfasst  habe.  Diese  Vermutung  ist  sicherlich  möglich,  allein  sie 
lässt  sich  nicht  beweisen.  Sonach  ist  die  Frage  nach  dem  Autor  dieses 
Lehrgedichts  in  der  Schwebe  zu  lassen. 

Seneca  Ep.  79,4  donec  Aetnam  describas  in  tuo  carmine  et  hunc  sollemnem  omnibus 
poetis  locum  atiingas;  quem  qtiominus  Otidius  tractaret,  nihil  obstitU  quod  iam  Vergiliua 
impleverat:  ne  Severum  quidem  Cornelium  uterque  deterruit,  Omnibus  praeterea  f elidier 
hie  locus  se  dedit  (Waolbr  p.  61).  —  Gegen  Bähbens,  der  den  Aetna  in  die  augusteische 
Zeit  setzt  (p.  31),  wendet  sich  mit  Recht  Waolbr  p.  41,  ebenso  gegen  Kbuczkiewicz,  der 
die  Autorschaft  Vergils  festhalten  will  (Krakau  1883)  p.  62. 

Die  Abhängigkeit  des  Aetna  von  Seneca,  bes.  dessen  not,  quaest,  erörtert 
nach  Jacobi  (p.  XVII L)  genau  und  umsichtig  Waoler  p.  40;  besonderen  Wert  legt  (p.  57) 
er  auf  die  Übereinstimmung  von  N.  Q,  3, 16, 4  =  Aetna  302  und  303. 

Die  Überlieferung.  Am  besten  war  der  verschollene  Codex  Gyraldinus;  wir 
kennen  aber  dessen  Jjesarten  nur  zu  v.  138—287.  In  zweiter  Linie  steht  der  vollständige 
Cantabrigiensis  s.  X/XI,  die  beste  von  den  erhaltenen  Handschriften  (Waolbr  p.  1—48). 

Ausgaben:  Von  Jacob  (mit  Übersetzung),  Leipz.  1826;  von  Munro  (englisch), 
Cambridge  1867;  von  M.  Haupt  in  seiner  Vergilausgabc;  von  Bährbns,  PLM.  2, 88.  Um 
die  Kritik  dieses  ungemein  verdorbenen  Gedichts  hat  sich  die  grössten  Verdienste  M.  Haupt 
erworben,  vgl.  dessen  Opusc.  —  Waoler,  De  Aetna  quaest.  crit,,  Berlin  1884. 

240.  Ciris.  Als  Verfasser  der  Ciris  stellt  sich  in  der  Einleitung  ein 
schon  bejahrter,  durch  das  politische  Leben  hindurchgegangener  Mann  dar, 
der,  als  er  das.  Gedicht  ausarbeitete,  in  Athen  weilte.  Es  soll  nur  ein 
Intermezzo  sein  und  ein  in  jungen  Jahren  begonnenes  Werk  zu  Ende  ge- 
führt werden.  Später  will  der  mit  philosophischen  Studien  beschäftigte 
Autor  ein  Gedicht  „über  das  Weltall*"  schreiben.  Die  Ciris  ist  einem 
Messalla  gewidmet,  der  (36)  als  „gelehrter  Jüngling"  angeredet  wird,  ver- 
mutlich der  älteste  Sohn  des  Redners  Messalla,  Messallinus  (Gons.  3  v.  Gh.).*) 
Das  Epyllion  behandelt  den  Mythos  von  der  Scylla,  der  Tochter  des  mega- 
rischen  Königs  Nisus.  Die  Macht  der  Liebe,  die  zum  Verrate  am  Vater 
führt,  ist  der  Kern  dieser  Sage.  Minos  belagerte  Megara,  Nisus  ist  aber 
durch  eine  purpurne  Locke  geschützt,  denn  solange  diese  unversehrt  bleibt, 
hat  er  keine  Gefahr  zu  befürchten  (124).  Da  entbrannte  die  Tochter  des 
Nisus,  Scylla,  in  Liebe  zu  Minos.  Die  Leidenschaft  siegt  über  die  Pflicht, 
sie  schneidet  die  Locke  des  Vaters  ab.  Megara  wird  von  Minos  genommen, 
aber  die  Verräterin  erntet  nicht  die  Früchte  ihres  Verrats.  Sie  wird  von 
Minos  ans  Schiff  angebunden  und  durch  das  Meer  geschleift,  bis  sie  in 
einen  Meervogel,  Ciris  (von  xetQCiv  =  abschneiden),  verwandelt  wird.  Auch 
der  Vater  erfährt  nach  seinem  Tode  eine  Metamorphose;  da  er  wieder  das 
Tageslicht  schauen  will,  wird  er  in  einen  Seeadler  (haliaeetos)  verwandelt, 
der  die  Ciris  mit  grimmem  Hass  verfolgt;  denn 

*)  Das  ist  die  Ansicht  Teuffels,  Paaly  Realencyclop.  6, 2657. 


54      BOmische  Litteratorgeachichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


quacumque  illa  levetn  fugiens  secat  aethera  pinms, 
ecce  inimicus  atrox  magno  Stridore  per  auras 
insequUur  Nisus;  qua  se  fert  Nisus  ad  auras, 
illa  levem  fugiens  raptim  secat  aethera  pinnis. 

Mit  diesen  Worten,  welche  sich  auch  in  Vergils  Georg.  1,  406  finden,  schliesst 
das  Gedicht.  Der  unnatürliche  Mythus  weist  auf  die  alexandrinische  Rich- 
tung hin,  in  der  That  lesen  wir,  dass  Parthenius  diesen  Stoff  in  seinen 
Metamorphosen  behandelt  hat.^  Nach  Art  der  Alexandriner  sucht  der 
Dichter  seine  Belesenheit  kundzugeben,  er  berichtet  daher  im  Eingang  (54) 
die  verschiedenen  Sagen  von  Scylla;  bei  der  Britomartis  erläutert  er  kurz 
die  anderen  Namen  derselben  (303) ;  endlich  bringt  er  seine  geographischen 
Kenntnisse  als  Schmuck  des  Gedichts  an.  In  der  Form  verrät  die  häufige 
Anwendung  der  Parenthese  den  Alexandriner.  Um  eine  gleichmässig  über 
alle  Teile  des  Mythus  sich  erstreckende  Dichtung  ist  es  dem  Verfasser 
nicht  zu  thun.  Manches  wird  nur  ganz  kurz  behandelt,  z.  B.  das  Ver- 
hältnis des  Minos  zur  Scylla,  wie  der  weitere  Verlauf  der  Sache  nach  dem 
Verrat  der  Scylla.  Auch  greift  der  Dichter  sogar  der  Entwicklung  der 
Handlung  vor  (190).  Nur  einige  Teile  werden  aus  dem  Mythos  ausge- 
wählt und  zwar  solche,  welche  ein  ndd^og  in  sich  schliessen;  es  ist  dies 
einmal  der  erste  Schritt  der  Scylla  zur  verbrecherischen  That;  sehr  an- 
mutig wird  geschildert,  wie  Scylla  nachts  von  ihrem  Lager  sich  erhebt, 
um  zur  Ausführung  ihres  Vorsatzes  zu  schreiten;  wie  sie  von  der  sorg- 
samen Amme  Garme  überrascht  wird,  wie  sie  sich  zum  Geständnis  ihrer 
Liebe  herbeilässt,  wie  Carme  ihr  rät,  auf  dem  Weg  der  Güte  die  Ver- 
bindung mit  Minos  vom  Vater  zu  erwirken,  wie  der  Versuch  scheitert  und 
wie  endlich,  nachdem  alles  missglückt,  auch  die  Amme  Mithelferin  im 
Verbrechen  wird.  Die  zweite  Scene,  welche  der  Dichter  zum  Gegenstand 
seiner  Bearbeitung  macht,  ist  die  Bestrafung  der  Scylla.  Hier  fällt  alles 
Gewicht  auf  die  Wehklagen,  welche  die  vom  Schiff  durchs 'Meer  geschleifte 
Sünderin  ausstösst.  Es  lässt  sich  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  diese  Schil- 
derungen den  Leser  packen  und  rühren  und  die  Kunst  des  Dichters  in 
günstigem  Licht  erscheinen  lassen.  In  der  Form  zehrt  der  Verfasser  von 
den  Früchten  Catulls  und  Vergils;  man  kann  sein  Gedicht  fast  einen  Cetito 
aus  beiden  nennen.  Um  so  bewunderungswürdiger  ist  aber,  dass  auch  hier 
die  Spuren  der  Nachahmung  überwunden  sind  und  die  Darstellung  einen 
durchaus  einheitlichen  Charakter  an  sich  trägt. 

Die  verschiedenen  Phasen  der  Sage  ordnet  übersichtlich  Rohde,  Gr.  Roman  p.  93 
Anm.  3.  In  der  Bearbeitung  der  Sage  von  Ovid  Metamonph.  8, 1 — 151  treten  die  aufkeimende 
Liebe  der  Scylla,  ihre  Selbstfiberredung  zur  That,  ihre  Strafrede  an  den  abfahrenden  Minos 
als  Glanzseiten  hervor.  —  ElBeunen,  Proleg.  in  Cirin,  Utrecht  1882. 

Die  Nachahmungen  aus  Vergil  und  CatuU  stellt  Bähbens  zusammen  PLM.  2, 186. 

Überlieferung:  Für  die  Partie  von  v.  454  an  ist  der  zuverlässigste  Zeuge  der 
Bruxellensis  s.  XII,  für  das  übrige  vorzugsweise  der  Helmstadiensis  (Guelferbytanus) 
332  8.  XV. 

241.  Das  Gatalepton  (Poetische  Eleinigkeiten).  Catalepton  ist, 
wie  p.  49  dargelegt,  das  hypostasierte  xard  ksmov,  und  bezeichnet  nach 
dem  Vorgang  des  Dichters  Aratus  eine  Sammlung  kleiner  Gedichte.    In 


^)  Meineke,   anal.  Alex.  p.  272  Carmen 
ad   Parthenii   imitationem    compositum   esse 


haud  improbabüi  coniectura  saspicatur  Hey- 
nius.    Ebenso  Rohde,  Griech.  Rom.  p.  93. 


Appendix  Vergiliana.    Gatalepton. 


55 


demselben  sind  nach  den  Handschriften  3  Priapeia  und  14  andere  kleine 
Gedichte,  welche  von  einigen  Autoren  Epigramme  genannt  werden,  ver- 
einigt. 

Die  drei  Priapeia  haben  einen  Gemeinplatz  gemeinsam,  die  Schilderung 
der  Gaben,  die  dem  Priapus  in  den  verschiedenen  Jahreszeiten  gespendet 
werden.  Man  wird  daher  wohl  auf  drei  Autoren  schliessen  müssen,  welche 
denselben  Gedanken  variiert  haben,  i)  Dem  Urheber  der  Sammlung  war 
vielleicht  dieses  gemeinsame  Motiv  Anlass,  die  drei  Gedichte  zusammen* 
zustellen.     Von  Vergil  dürfte  keines  herrühren. 

Unter  den  übrigen  kleinen  Gedichten  befinden  sich  aber  solche,  welche 
mit  Wahrscheinlichkeit  Vergil  beigelegt  werden  können.  So  wird  der 
Meister  die  ergreifenden  Choliamben  nr.  5  (7)  geschrieben  haben,  in  denen 
er  von  der  Rhetoren-  und  Grammatikerschule  Abschied  nimmt,  um  sich 
der  Philosophie  des  Epikureers  Siro  zuzuwenden: 

ite  hinc,  inanes,  Ue,  rhetorum  ampuüaet 
inflata  rhoso  non  Achaio  verba 
et  V08,  Selique  Tarquitique  Varroque, 
scolasticarum  natio  madens  pingui 
ite  hinc,  inane  cymhalon  iuventutis; 
tuque  o  mearum  cura,  Sexte,  curarum, 
vale,  Sabine;  iam  miete  formosii 
no8  ad  heatos  vela  mittimus  portiis, 
magni  petentes  docta  dicta  Sironis, 
tntatnque  ab  omni  vindicabimus  cura, 
ite  hinc,  Camenae,  vos  quoque  ite  iam  aane, 
dulces  Camenae,  (nam  fatebitur  verum, 
dulces  fuistis);  et  tarnen  meas  cartas 
revisitote,  sed  pudenter  et  raro. 

Auch  das  ebenfalls  sehr  zarte  Gedicht  nr.  8  (10),  in  dem  der  Dichter  sich  und 
die  Seinigen  der  Villa,  die  früher  im  Besitze  Sirons  war,  in  dem  Zeiten- 
sturm zur  Aufnahme  empfiehlt,  werden  wir  als  echt  betrachten.  Die  Stücke 
nr.  1  und  nr.  7  (9)  sind  an  Vergilische  Freunde  gerichtet;  in  dem  ersten 
wird  Tuccas  Ruhmredigkeit  in  Bezug  auf  ein  Liebchen  verspottet,  in  dem 
zweiten  der  „dulcissimus"  Varius  angeredet.  Für  die  Echtheit  spricht, 
dass  alle  diese  Produkte  ihren  Stoff  aus  dem  Leben  Vergils  schöpfen  oder 
sich  auf  seinen  Freundeskreis  beziehen;  sie  enthalten  ferner  nichts,  was 
seiner  unwürdig  wäre.  Gewöhnlich  wird  noch  Gedicht  nr.  14  (6)  als  aus 
dem  Leben  Vergils  gegriffen  zu  den  echten  gezählt;  der  Dichter  verspricht 
hier  in  hübscher  Weise  der  Venus  reiche  Opfer,  falls  er  mit  seiner  Aeneis 
glücklich  zu  Ende  komme.  Allein  einer  der  feinsten  Kenner  dieser  Poesien, 
BücuELER,  hält  das  Gedicht  wegen  der  darin  vortretenden  Grundanschauung 
und  wegen  der  Nachahmung  echter  Virgilischer  Gedichte  für  eine  etwas 
später  fallende  Schöpfung.  =^)  Ebenso  bedenklich  ist  das  geschraubte,  äusserst 
dunkle,  auf  griechischen  Reminiszenzen^)  beruhende  Epigramm  nr.  2  auf 
den  altertümelnden  Annius  Cimber,  wenngleich  Quint.  8, 3, 27  und  Ausonius 
p.  139  Seh.  dasselbe  als  Virgilisch  bezeugen.  Die  Epode  13  (5)  weist 
auf  andere  Lebensverhältnisse  und  eine  andere  Individualität  als  die  des 


»)  Bahrbns,  flu.  2,  33. 
')  BücHELER   p.  524  alius  feeit   Ovidio 
fortasse  non  natu,  sed  arte  minor. 


^)  BücHELBR  p.  510.    (Kaibel,  Rh.  Mus. 
44, 316). 


56       Römische  Litteraturgeachichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilimg. 

Dichters  hin;  da  hier  allem  Anschein  nach  dieselbe  Persönlichkeit  ver- 
spottet wird  wie  in  nr.  6  (3)  und  12  (4),  so  ist  zu  vermuten,  dass  sie  alle 
drei  von  einem  und  demselben  Dichter  herrühren.  *)  Ebensowenig  kann  der 
Panegyricus  aus  Messalla  (nr.  9  oder  11)  Vergil  angehören,  ein  durchaus 
schülerhaftes  Machwerk,  aus  dem  man  sehen  kann,  wie  das  mythologische 
Beiwerk  und  die  rhetorische  Ausmalung  gehandhabt  wird.  Es  bleiben  noch 
die  merkwürdige  Parodie  eines  catullischen  Gedichts  (nr.  10  oder  8)  auf 
den  Prätor  des  J.  43  Yentidius  Bassus,  der  sich  zuerst  Quinctio,  dann 
Sabinus,  endlich  Bassus  nannte,^)  einen  frühern  Maultiertreiber,  das  Epi- 
gramm auf  Alexander  den  Grossen  als  einen  Zeugen  für  die  Vergänglich- 
keit des  Menschlichen  (3  oder  12),  das  heitere  nach  einem  Gedicht  des 
Callimachus  gearbeitete')  Gedicht  (11  oder  14),  in  dem  sich  der  Historiker 
Octavius  Musa  gegen  die  Nachreden,  dass  sein  frühes  Ende  durch  das 
viele  Zechen  verursacht  sei,  mit  den  Worten  verteidigt: 

pobiscum,  si  est  culpa ,  hibi:  sua  quemque  secutUur 
fata:  quid  inmeriti  crimen  habent  cyaihi? 

endlich  nr.  4  (13),  ein  inniges  Freundschaftslied  auf  denselben  Octavius 
Musa.^)  Bezüglich  dieser  Stücke  ist  das  Urteil  schwankend.  Ich  möchte 
höchstens  nr.  4  (13)  als  vergilisch  ansehen. 

Den  Titel  Catalepton  erläutern  folgende  Stellen :  Vita  Arati  p.  55  Westerm.  eygatpB 
dk  xal  äXXa  noitj/nara  nsgl  tb  'O/iaijqov  xal  'Ihadog  .  .  .  xal  eis  Mvqiy  roy  d&eX(p6y  hti- 
xtj&€ioy  xal  J^oarifAua  Xfd  £xv&ix6y  xai  xatd  Xenroy  äXXa.  Strab.  10,  486  "Jgatog  iy  rotg 
xard  XsTtToy,    Vgl.  R.  Ungeb,  Fleckeis.  J.  113,430. 

Oberlieferung:  Die  beste  Handschrift  ist  der  Bruxellensis  s.  XII,  von  der  zweiten, 
jüngeren  Familie  sind  die  reinsten  Vertreter  der  Helmstadiensis  332  s.  XV  und  der  Mona- 
censis  18895  s.  XV.  Nach  gewissen  Störungen  berechnet  Böcheler  p.  525  die  Zahl  der 
Zeilen  auf  einem  Blatt  des  Archetypus  auf  42. 

Litteratur:  Naeke  in  Valerius  Cato  p.  228;  Ribbegk,  Appendix  Vergüiana  p.  1 — 14; 
BXhrens,  PLM.  2,  35.  Treffliche  Beiträge  zur  Kritik  und  Erklärung  der  Gedichte  gibt 
Bücheler,  Rh.  Mus.  38,  507—525. 

242.  Copa  (Die  Schenkwirtin).  In  diesem  19  Distichen  umfassenden 
Gedicht  wird  uns  eine  vor  ihrem  Lokal  tanzende,  Gastagnetten  schlagende 
syrische  Wirtin  vorgeführt,  welche  den  Wandersmann  einladet,  ob  der 
Sonnenglut  Rast  zu  machen  und  in  ihre  Kneipe  einzukehren.  In  lebhafter 
Weise  schildert  sie,  was  alles  das  Leben  Erfreuende  dort  zu  finden  sei, 
Gaben  der  Ceres,  des  Amor  und  des  Bacchus.  Das  Idyll  schliesst  mit  einer 
Aufforderung,  das  Leben  zu  gemessen: 

pone  merum  et  talos.    pereat  qui  crastina  curet! 
mors  aurem  veUens  ,vivite*  auf  yVenio*» 

Der  Gewährsmann  des  Gharisius  p.  63, 11  E.  hielt  das  Gedicht  für  vergilisch:  quamvis 
Vergilius  librum  suum  Cup  am  inscripserit.    Allein  der  Ton  spricht  dagegen. 

Die  Abfassungszeit  bestimmt  Bücheler  also  (Rh.  Mus.  45,  323):  scriptam  ego 
Copam  post  Propertti  librum  ultimum  arbiträr,  sed  quia  pentametri  clausula  nondum  lege 
nova  adstricta  apparet,  proxime  a,  738/16. 

Überlieferung:  Wie  beim  Culex  ist  der  Vossianus  L.  0.  81  s.  XV  die  massgebende 
Handschrift. 

*)  Bücheler  p.  519.  I  "•)  Ribbeck,  Appendix  Vergüiana  p.  9. 


*)  Bücheler  p.  519. 
»)  Haupt,  Opusc.  2, 146. 


Bähreks  p.  34. 


Andere  PsendoTergiliana.  57 

e)  Andere  Pseudovergiliana. 

243.  Moretum  (Das  ländliche  Frfliistück).  Ausser  der  Appendix 
Vergiliana  tragen  noch  zwei  Produkte  in  der  Überlieferung  den  Namen 
Vergils,  das  Moretum  und  die  Elegiae  Maecenatis.  In  dem  ersten  Gedicht 
wird  ein  ländliches  Gericht  geschildert,  das  «Moretum^  heisst.  Dasselbe 
wurde  in  der  Weise  zubereitet,  dass  verschiedene  Kräuter,  Knoblauch, 
Eppich,  Raute  und  Koriander  in  einem  Mörser  zerstossen,  mit  Salz,  Käse, 
Öl  und  Essig  versetzt  und  dann  zu  einem  Klosse  geformt  wurden.  Dieser 
Kräuterkloss  bildete  mit  Brot  das  Frühstück  des  Landmanns  Simylus.  Der 
Dichter  malt  mit  frischen  Farben,  wie  Simylus  sich  dieses  Frühstück 
zurecht  macht.  Wir  sehen,  wie  sich  der  Bauer  beim  Hahnenruf  von  seinem 
Lager  erhebt,  wie  er  das  Feuer  anbläst,  wie  er  sich  das  entsprechende 
Quantum  Getreide  aus  der  Vorratskammer  holt  und  wie  er  dasselbe  auf 
der  Handmühle  mahlt.  Wir  hören,  wie  er  die  Magd,  Scybale  die  Afrikanerin, 
herbeiruft  und  ihr  befiehlt,  heisses  Wasser  zu  machen.  Der  Dichter  erzählt 
weiter,  dass  Simylus  das  Gemahlene  knetet  und  in  den  Ofen  schiebt,  dass 
er  in  den  Garten  geht,  um  sich  die  für  das  Moretum  notwendigen  Kräuter 
zusammenzusuchen.  Es  folgt  die  anmutige  Ausmalung  der  Operationen, 
welche  der  Kräuterkloss  erfordert.  Inzwischen  ist  auch  das  Brot  im  Ofen 
fertig  geworden,  der  Landmann  kann  jetzt  sein  Frühstück  verzehren; 
nachdem  er  dies  gethan,  wandert  er  aufs  Feld  hinaus. 

Wir  haben  hier  nur  einige  Striche  des  Gemäldes  gegeben,  die  ausser- 
ordentlich feine  Kleinmalerei,  über  welche  der  Dichter  gebietet,  kann  nur 
aus  der  Lektüre  des  Gedichts  selbst  geschöpft  werden.  Von  Vergil  kann  das 
liebliche  Idyll  nicht  sein;  der  Stil  ist  ein  anderer;  aber  es  liegt  der  Ver- 
gilischen  Zeit  sehr  nahe.  Ein  griechisches  Muster  wird  dem  Dichter  vor- 
gelegen haben.  Hatte  doch  Parthenius  von  Nicaea  ebenfalls  ein  „Mörser- 
gericht** (iivTT(ot6g)  geschrieben  und  bei  der  einflussreichen  Stellung,  welche 
der  Grieche  in  Rom  in  der  litterarischen  Gesellschaft  einnahm,  ist  eine 
Nichtberücksichtigung  dieses  Epyllion  nicht  wahrscheinlich.  Schon  früher 
(§  92)  hatten  wir  daher  für  das  Moretum  des  Sueius  als  Vorbild  dieses 
alexandrinische  Werk  vermutet.  Wie  sich  beide  Bearbeitungen  von- 
einander unterschieden,  können  wir  nicht  mehr  feststellen.  Nur  aus  den 
zahlreichen  eingeflochtenen  römischen  Zügen  des  erhaltenen  Moretum  lässt 
sich  folgern,  dass  dasselbe  keine  Übertragung,  sondern  eine  freie  Bearbei- 
tung war.i) 

Autorschaft.  Isaac  Vossius  hat  nach  seiner  Angabe  in  einer  ambrosianischen  Hand- 
schrift die  Notiz  gefunden:  Parthenius  Moretum  scripsit  in  Graeco,  quem  Vergilius  Imitat us 
ejft.  Allein  die  Beglaubigung  dieser  Nachricht  ist  doch  zu  gering,  um  darauf  Schlüsse  zu 
bauen.  In  die  Appendix  Vergiliana  kam  das  Moretum  erst  im  Mittelalter.  Über  den 
Stil  bemerkt  Nabke  p.  238  „stilus — elaboratwt  et  ronftummatus ,  at  a  Virgiliano  tarnen, 
qualis  est  in  Bucolicis  et  Georgici»,  diver susJ* 


M  Die  griech.  Vorlage  leugnet  Bücheleb,       est  in  sinu  Hecales,  contra  faeiunt  nonpatica 
Rh.  Mus.  45f  328   fru«tra  quaesivi  argumen-      ad  vitam  romanam  adumbrata  ut  semodius 


tum  quo  conversum  esse  de  graeco  Moretum 
comprobaretur ;  nihil  ad  hanc  rem  valent 
graeca  personarum  nomina  aut  indoles  poetae 
tenuis  ac  subtilis   nutrita   ut  consentaneum 


frumentiy  Äfra  fusca,  quadrae  panis,  Vesta 
pistorumf  nundinae  et  macellum  urhis,  nomen 
moreti  a  mortariis  ductum. 


58       Römijiche  LitteraturgeBohichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarohie.    1.  Abteilung. 

Zeit  des  Gedichts.    Ein  Kriterium  hat  Scaliger  in  dem  Verse  (76) 

grataque  nobilium  requies  lactuca  ciborum 

erkannt.  Lattich  diente  sonach  zur  Zeit  des  Dichters  als  Nachtisch.  Zur  Zeit  des  Mar- 
tialis,  also  zur  2^it  Domitians,  gehörte  Lattich  zum  Voressen  (13, 14) 

cludere  quae  cenas  lacttica  sohbat  avorutn 
die  mihif  cur  nostras  inchoat  üla  dapes? 

Die  von  Martial  vorgenommene  Versetzung  des  im  Moretum  geschilderten  Gebrauchs  in 
die  Zeit  der  Grossväter  führt  in  eine  Vergil  nahdiegende  Epoche.')  Daher  Lachmaitk, 
Lucrez  p.  326  (Moretum)  carmen  Vergilianis  aetate  par  esse  existimo. 

Über  die  Überlieferung  vgl.  Bahbens,  PLM.  2, 178.  —  Reichenbach,  Die  Echtheit 
des  M.,  Znaim  1883. 

244.  Die  zwei  Elegien  auf  Maecenas.  Von  Henoch  aus  Ascoli 
wurde  im  15.  Jahrh.  ein  Gedicht  auf  den  Tod  des  Maecenas  nach  Italien 
gebracht,  welches  dem  Vergil  beigelegt  war.  Scalioer  erkannte,  dass  mit 
dem  Vers  145  ein  neues  Produkt  anhebe  und  dass  sonach  in  dem  Fund 
zwei  Elegien  stecken.  Während  die  erste  Elegie  sich  auf  den  gestorbenen 
Maecenas  bezieht,  ist  der  Gegenstand  der  zweiten  der  sterbende,  wäh- 
rend in  der  ersten  der  Dichter  spricht,  vernehmen  wir  in  der  zweiten 
Maecenas  selbst.  Beide  Stücke  rühren  aber  von  einem  Autor  her.  Das 
erste  will  er  auf  Anregung  des  Lollius  zur  Verteidigung  des  Maecenas 
geschrieben  haben.  In  dem  zweiten  gedenkt  Maecenas  im  Sterben  noch- 
mals in  treuer  Anhänglichkeit  des  Augustus  und  ruft  ihm  ein  letztes  Lebe- 
wohl zu.  Die  beiden  Gedichte  sind  schlechte,  schülerhafte,  mit  Lesefrüchten 
und  einigem  mythologischen  Beiwerk  versetzte  Arbeiten;  der  metrischen 
Technik  nach  zu  schliessen,  scheinen  sie  aber  noch  aus  dem  ersten  Jahr- 
hundert unserer  Ära  zu  stammen. 

Zeit  der  Abfassung.  Im  Eingang  der  ersten  Elegie  verkündet  der  Verfasser 
dass  er  vor  kurzem  den  Tod  eines  Jünglings  dichterisch  beweint  habe,  jetzt  müsse  er  das 
Ende  eines  Greisen,  des  Maecenas,  beklagen.  Wer  der  Jüngling  war,  verrät'^)  er  uns  in 
der  zweiten  Elegie,  es  ist  Drusus,  der  im  J.  9  v.  Ch.  starb,  während  Maecenas  8  v.  Gh.  aus 
dem  Leben  schied.  Da  wir  nun  ^^'irklich  ein  Epicedium  auf  den  Tod  des  Drusus  haben, 
so  müssten  wir  also  unsem  Dichter  auch  für  den  Verfasser  jener  Conaoiatio  halten.  Und 
dass  wirklich  zwischen  den  Elegien  imd  der  Consolatio  Beziehungen  stattfinden,  erhärtet 
besonders  ein  kühner,  beiden  Schöpfungen  gemeinsamer  Ausdruck  „Caesaris  illud  opus** 
(Cons.  39  El.  2,  6),  womit  ausgedrückt  werden  sollte,  dass  Augustus  den  Drusus  erzogen. 
Allein  die  sofort  in  die  Augen  springende  grosse  Verschiedenheit  der  dichterischen  Kunst 
lässt  den  Gedanken  an  einen  und  denselben  Verfasser  der  Consolatio  und  der  Elegien  im- 
möglich aufkommen;  denn  der  Autor  der  Consolatio  ist  ein  ganz  leidlicher  Dichter,  der 
Verfasser  der  Elegien  dagegen  ein  Stümper.  Somit  ist  die  Angabe  von  der  Autorschaft  der 
Consolatio  eine  Fiktion;  imd  vielmehr  zu  statuieren,  dass  in  den  Elegien  die  Consolatio 
nachgeahmt  wurde.  Wenn  es  nun  richtig  ist,  dass  die  Consolatio  nach  Seneca  fällt,  so 
müssen  auch  die  Elegien  später  als  Seneca  sein  und  die  angebliche  Anregung  des  (aus 
Horaz  bekannten  M.)  Lollius  (10)  ist  ebenfalls  eine  Fiktion.  Auch  dem  Elegiendichter  lag 
Seneca  vor,  die  Vorwürfe,  die  der  114.  Brief  gegen  Maecenas  schleudert,  sucht  er  in  der 
ersten  Elegie  zu  widerlegen. 

Litteratur:  Ausgaben  von  Ribbeok,  Äppend,  VergiL  p.  193,  von  Barrens,  PLM. 
1,125.  —  Haupt,  Opusc.  1,347.  Hübker,  Hermes  13,239.  Schenkl,  Wien.  Stud.  2,  69. 
ScHANTz,   De  incerti  poetae  consol.  etc,  p.  13.    Wibdino,  De  aetate  consol.  p.  38. 


245.  Bückblick  auf  die  Yergilischen  Dichtungen.  Nachdem  wir 
die  unter  dem  Namen  Vergils  überlieferten  Gedichte  gemustert  und  die 
echten  von  den  unechten  geschieden,  erübrigt  noch,  eine  kurze  Charakte- 

^)  Vgl.  noch  Büchbleb,  Rh.  Mus.  45,  322. 

^)  Dies  Moment  scheint  mir  ganz  besonders  für  einen  Autor  zu  sprechen. 


Bttokbliok  auf  die  YergUischen  Dichtungen.  59 

ristik  seiner  Poesie  zu  versuchen.  Bei  der  Analyse  der  einzelnen  Werke 
Vergils  hat  sich  als  ein  hervorragendes  äusseres  Moment  die  lange  Zeit 
ergeben,  die  er  auf  jedes  derselben  verwenden  musste.  Zu  den  zehn 
Stücken  der  Bucolica  brauchte  er  drei,  zu  den  vier  Büchern  der  Georgica 
sieben,  zu  den  zwölf  Gesangen  der  Aeneis  elf  Jahre.  Es  war  sonach  ein 
sehr  langsamer  Arbeiter,  und  es  wird  uns  ausdrücklich  bezeugt,  dass  er 
nur  wenige  Verse  im  Tage  zustande  brachte  (Quint.  10,3,8);  er  feilte  fort 
und  fort  an  denselben  herum  und  verglich  sich  deshalb  mit  einer  Bärin, 
welche  ihren  plumpen  Jungen  durch  beständiges  Ablecken  die  gehörige 
Form  gebe  (Donat.  p.  59  R.).  Vergil  gehörte  also  nicht  zu  den  Dichtern, 
welche  eine  gärende  Ideenwelt  in  ihrem  Inneren  bergen;  er  ist  im  wesent- 
lichen auf  Nachahmung  angewiesen,  es  fehlt  ihm  die  Originalität.  Für 
diesen  Mangel  spricht  auch,  dass  sein  poetisches  Schaffen  stark  von  fremden 
Impulsen  abhing,  bei  den  Eclogen  von  der  Einwirkung  des  Asinius  Pollio, 
bei  d^n  Georgica  von  der  des  Maecenas,  bei  der  Aeneis  von  der  des 
Augustus.  Allein  trotzdem  hat  er  Bewunderungswürdiges  geschaffen,  er 
besass  etwas,  was  auch  der  andauerndste  Fleiss  nicht  ersetzen  kann,  die 
tiefe  poetische  Empfindung.  Und  da  wo  diese  Empfindung  ungehindert 
ausströmen  kann,  ist  er  am  glücklichsten.  Darum  sind  auch  die  Georgica 
sein  gelungenstes  Werk.  Hier,  in  diesen  lieblichen  Bildern  ländlichen 
Lebens  entfaltet  sich  der  Genius  des  Dichters  am  reichsten;  seine  Liebe 
zur  Natur  und  seine  Begeisterung  für  Italien  erklangen  auf  den  Saiten  am 
hellsten.  In  den  Bucolica  und  in  der  Aeneis  dagegen  ist  seine  dichterische 
Ader  mehrfach  unterbunden;  trotz  der  vielen  Schönheiten,  die  uns  entgegen- 
treten, ruht  ein  krankhafter  Zug  auf  jenen  Gebilden.  Vergil  mag  dies 
selbst  gefühlt  haben;  denn  in  einem  Brief  an  Augustus  klagt  er,  mitten 
in  dem  Schaffen  an  der  Aeneis  stehend,  dass  er  sich  durch  eine  „Verirrung 
seines  Geistes''  an  diese  Aufgabe  gewagt  (Macrob.  Sat.  1,24,11),  und  die 
ängstliche  Scheu,  das  noch  nicht  ausgefeilte  Werk  der  Öffentlichkeit  zu  über- 
geben, und  seine  hierauf  bezüglichen  Anordnungen  für  den  Fall  seines  Todes 
mögen  in  diesem  Gefühl  ihre  Wurzel  gehabt  haben.  Es  ist,  wie  Niebuhr  ') 
sagt,  dass  die  Natur  Vergil  eigentlich  zum  lyrischen  Dichter  bestimmt 
hatte.  Und  einzelne  Gedichte  in  dem  Catalepton,  die  wir  mit  aller  Wahr- 
scheinlichkeit ihm  zuschreiben  müssen,  wie  z.  B.  das  p.  54  mitgeteilte,  lassen 
eine  Süssigkeit  der  Poesie  erkennen,  wie  sie  nur  ein  echter  Lyriker  uns 
bieten  kann. 

Überlieferung  der  Vergilischen  Gedichte.  Für  Vergil  stehen  uns  sehr  alte 
Handschriften  zur  Verfügung.     In  Kapitalschrift  sind  7  geschrieben  und  zwar  folgende: 

1)  Codex  Mediceus  39,  1  in  Florenz  (s.  V).  Diese  Handschrift  hat  nach  den 
Bucolica  eine  subscriptio,  aus  der  wir  erfahren,  dass  Turcius  Rufius  Apronianus 
A Sterins  als  Consul  Ordinarius  des  Jahres  494  das  Exemplar  seines  Bruders  Macarius 
rezensiert  habe.  Der  auhacriptio  folgen  8  Distiche  über  diese  seine  Thätigkeit,  abgedruckt 
in  RiESBs  Anthol.  nr.  3;  Bahrens,  PLM.  5, 110.  Da  die  Schrift  der  subscriptio  von  der  des 
Textes  abweicht  und  etwa  dem  6.  oder  7.  Jahrh.  angehört,  so  ist  klar,  dass  diese  sub» 
scriptio  erst  in  dieser  Zeit  in  die  Handschrift  kam  und  zwar  nachdem  diese  mit  einem  von 
Turcius  Asterius  rezensierten  Exemplar  des  Macarius  verglichen  worden  (Ribbeck,  Proleg. 
p.  228).  Die  Handschrift  enthält  notae  (Ribbeck,  Proleg.  p.  158)  und  Scholien  (Ihm,  Rh.  Mus. 
45, 622).  Abgedr.  von  Foooini,  Florenz  1741.  Hoffmann,  Der  Cod.  Medic.  39, 1  d.  V.,  Berl.  1889. 

2)  Codex  Palatinus-Vaticanus  1631  s.  IV  oder  V,  früher  in  Heidelberg. 

0  Vorles.  über  rOm.  Gesch.,  hgg.  von  M.  Isler  3, 132. 


60       Römische  LÜteraturgeschichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

3)  Codex  Vaticanus  3867  s.  IV  oder  V,  eine  Bilderhandschrift  mit  metriechen 
Argumenten. 

4)  Schedae  Vaticanae  3225,  mit  Bildern.  Abdruck  (mit  den  Bildern)  von  Bottabi, 
Rom  1741. 

5)  Schedae  Sangallenses. 

6)  Schedae  Veronenses  rescriptae.    Es  sind  51;  dieselben  haben  Schollen. 

7)  Schedae  Berolinenses  et  Vaticanae.  In  Berlin  befinden  sich  drei  Blätter 
einer  Vergilhandschrift,  welche  mit  den  schedae  Vaticanae  3256,  welche  4  Blätter  umfassen, 
zusam  mengehören . 

Facsimile  von  1, 2,  3, 4, 5,  7  in  den  exempla  cod.  leU.  von  ZANOEMEisTEB-WATTEirBACH. 
Aus  keiner  dieser  sieben  Quellen  gewinnen  wir  einen  vollständigen  Text  Vergils.  Wegen 
dieses  fragmentarischen  Charakters  gebricht  es  an  einem  ausreichenden  Fundament  für  unter* 
suchimgen  über  das  Stemma  dieser  Handschriften.  Im  Codex  Mediceus  fehlt  nur  Weniges. 
Gegenüber  diesen  alten  Zeugen  können  die  jüngeren  keine  besondere  Autorität  beanspruchen 
wie  die  von  Ribbeck  herangezogenen:  der  Gudianus  70  s.  IX,  der  Bemensis  172  s.  X,  der 
Bemensis  165  s.  IX,  der  Bemensis  184  s.  IX,  der  Minoraugiensis  s.  XII. 

Gesamtausgaben  (mit  Auswahl):  von  Heyne- Waoneb,  4.  Aufl.,  Leipz.  1830 — 41. 
vol.  I — III  umfassen  die  Buc,  Georg,  und  die  Aen.,  vol.  IV  (carmina  minora)  von  J.  Sillig, 
vol.  V  Virgili  carmina  ad  pristinam  orthographiam  revocata.  Ed.  Ph.  Wagneb.  Von  Fobbioeb, 
4.  Aufl.,  Leipz.  1872 — 75,  im  3.  Band  auch  die  carmina  minora.  Kritische  Hauptausgabe  von 
0.  Ribbeck  (Vol.  I.  Buc.  et  Georg.,  II— III  Aen.,  FV  Appendix  Vergiliana);  hiezu  kommen 
noch  Prolegomena  criiica,  Leipz.  1859 — 1868  —  mit  ausgewähltem  Apparat  von  Ladewio, 
Berl.  1866.  Thilo,  Leipz.  1886.  —  Textausgaben  von  M,  Haupt,  2.  Aufl.,  Leipz.  1873, 
0.  Ribbeck,  Leipz.  1867.  —  Schulausgaben  von  Ph.  Wagneb  mit  lat.  Kommentar,  Leipz.  1861, 
von  Ladewio-Sotapbr  (Weidmann),  Kappes  (Teubner),  Klou6ek  mit  deutschen  Noten. 

Spezialausgaben:  Vergils  ländl.  Gedichte  (Text,  Übers,  und  Erklär.)  von  J.  H.  Voss, 
Bd.  I  und  II  Eclogae,  2.  Aufl.,  Altena  1830;  Bd.  Ill  und  IV  Georg.,  Altena  1800.  Kolsteb, 
Vergils  Eclogen  in  ihrer  strophischen  Gliederung  nachgewiesen  mit  Commentar,  licipz.  1882, 
Buc.  erklärt  von  £.  Glaser,  Halle  1876.  Georg,  von  dems.,  Halle  1872.  Aen.  ed.  P.  Hof- 
han Peeblkamp,  Leyd.  1843.  Kommentar  zum  1.  imd  2.  Buch  der  Aen.  von  Weidneb, 
Leipz.  1869. 

Erläuterungsschriften:  KV19ALA,  Vergilstudien,  Prag  1878.  Neue  Beitr.  zur 
Erkl.  der  Aen.,  Prag  1881.     Plüss,  Vergil  und  die  epische  Kunst,  Leipz.  1884. 

C)  Wirkungen  der  Vergilischen  Poesie. 

246.  Aufnahme  der  Vergrilischen  Dichtung  bei  den  Zeitgenossen. 

Die  Werke  Vergils  riefen  bei  ihrem  Erscheinen  eine  grosse  Gärung  hervor 
und  wurden,  wie  dies  bei  allem  hervorragenden  Neuen  zu  geschehen 
pflegt,  mit  gemischten  Empfindungen  aufgenommen.  Neben  den  Stimmen 
hoher  Bewunderung  gewahren  wir  auch  ganz  entschiedene  Äusserungen 
grosser  Feindseligkeit.  Gegen  seine  Bucolica  wurden  Antibucolica  ge- 
richtet, man  wollte  durch  die  ätzende  Schärfe  der  Parodie  den  Dichter 
lächerlich  machen.  Allein  nach  den  Proben,  die  uns  zufallig  zur  ersten 
und  dritten  Ecloge  erhalten  sind,  müssen  diese  Antibucolica  ein  einfaltiges 
Produkt  gewesen  sein.  Ebenso  albern  ist  die  Parodie  von  Georg.  1,299; 
man  sieht,  dass  die  Gegner  Vergils  diese  schneidige  Waffe  nicht  zu  führen 
vermochten.  Ernstlicher  waren  die  AngriflFe,  mit  denen  man  der  Aeneis 
zu  Leibe  ging.  Mit  Argusaugen  durchspähte  man  dieselbe,  um  Fehler 
aufzudecken;  dies  that  z.  B.  Herennius  und  Carvilius  Pictor,  der  seinem 
Buch  den  pikanten  Titel  „Aeneidengeissel"  (Aeneidomastix)  gab.  Eine 
besonders  ergiebige  Fundgrube  für  die  Bekämpfung  Vergils  boten  dessen 
zahlreiche  Nachahmungen  dar,  welche  auch  dem  oberflächlichsten  Blicke 
nicht  entgehen  konnten.  Eine  Zusammenstellung  der  Entlehnungen  musste 
ja  den  Mangel  an  Originalität  auf  Seiten  des  Dichters  klar  vor  Augen 
stellen.    So  hatte  Q.  Octavius  Avitus  in  einem  Werk  von  8  Büchern  die 


Wirkungen  der  YergillBchen  Poesie.  61 

5,*OiUoiori/rf$"  der  Aeneis  dargelegt.  Wollte  einer  noch  schärfer  auftreten, 
so  sprach  er  statt  von  Entlehnungen  und  Nachahmungen  natürlich  von 
Plagiaten  oder  Diebstählen  wie  Perellius  Faustus.  Auch  grammatische 
Nörgler  durchstöberten  die  Vergilischen  Gedichte  und  brachten  dann  ihre 
armselige  Gelehrsamkeit  auf  den  Markt.  Selbst  M.  Vipsanius  Agrippa 
mäkelte  an  dem  Stil  Yergils  (Donat.  p.  65  R.).  AUein  den  Feinden  traten 
die  Genossen  der  neuen  Dichterschule  als  geschlossene  Phalanx  gegen- 
über; nicht  bloss  rühmten  sie  gegenseitig  sich  und  ihre  Hervorbringungen 
wie  z.B.  Horaz  den  Preis  der  Bucolica  verkündet  (Sat.  1, 10, 44): 

molle  aique  facetum 
Vergilio  adnuerunt  gaudentes  rure  Camenae 

und  Properz  von  der  Aeneis  als  einem  Gedicht  spricht,  welches  die  Ilias 
in  Schatten  stellen  würde  (p.  38),  sondern  sie  gingen  auch  gemeinschaft- 
lich auf  die  Gegner  los.  Zu  ilirem  Schaden  mussten  dies  die  Dichter 
Mevius  und  Bavius  erfahren.  Sie  werden  von  den  Genossen  um  die 
Wette  verhöhnt.  Vergil  setzt  ihnen  einige  Gedenkverse  in  der  3.  Ecloge  (90) ; 
Horaz  spendet  dem  Mevius  ein  Geleitsgedicht  für  eine  Reise,  in  dem  er 
ihm  SchiflFbruch  und  jammervollen  Tod  wünscht  (Ep.  10);  endlich  Domitius 
Marsus  fällt  über  die  Dichterlinge  in  seiner  „Cicuta*  her,  indem  er  eine 
schmutzige  Familiengeschichte,  durch  welche  sie  in  Zwietracht  gerieten,  zum 
Besten  gibt.  Anders  trat  für  den  Freund  L.  Varius  Rufus  ein;  er  schrieb 
eine  eigene  Schrift,  in  der  er  sich  allem  Anschein  nach  das  Ziel  steckte, 
das  wahre  Bild  Yergils  nach  allen  Seiten  hin  festzustellen ;  und  aus  dieser 
Schrift  wird  der  ausgezeichnete  Gelehrte  Asconius  Pedianus  in  seiner  Bro- 
schüre »Gegen  die  Verleumder  Vergils**  (contra  obtrectatores  Vergüi)  geschöpft 
haben;  durch  diese  Darlegungen  fielen  die  Anschuldigungen  der  Gegner 
von  selbst  zusammen.  Sie  Hessen  auch  keine  nachhaltigen  Spuren  in  der 
Litteratur  zurück  und  hätte  Macrobius  in  den  Gesprächen,  die  sich  um 
die  Person  des  Vergil  gruppieren,  nicht  auch  einem  Gegner  das  Wort  ge- 
gönnt, so  wären  jene  Angriffe  fast  ganz  verhallt.  Die  vornehme,  gebildete 
Welt,  darunter  der  Inhaber  der  Regierungsgewalt,  stellte  sich  auf  die  Seite 
Vergils.  Aber  auch  das  grosse  Publikum  brachte  ihm  die  wärmsten  Sym- 
pathien entgegen;  selbst  sein  schwächstes  Produkt,  die  Bucolica,  wurden 
auf  dem  Theater  mit  Beifall  durch  Sänger  vorgetragen  (Donat.  p.  60  R.); 
und  wenn  der  schüchterne  Dichter  sich  einmal  von  seinem  Studiensitz  nach 
Rom  begab,  erregte  er  einen  solchen  Auflauf,  dass  er  sich  nur  durch  Flucht 
in  das  nächste  Haus  der  Neugierde  entziehen  konnte. 

Die  Parodien.  Numitorius.  Als  Urheber  der  zwei  Parodien  der  Bucolica  nennt 
Donat. p.  65 R.  numinatoris,  numinatoriis,  numinatorus.  wofELr  Ribbeck  (Proleg. p.  99), 
Uaoen  (Fleckeis.  J.  Suppl.  4,687)  und  Wölfflin  (Pbüolog.  24, 154)  Numitorius  gesetzt 
haben.  Auch  £cl.  2, 24  ist  durch  Veränderung  der  Interpunktion  eine  Parodie  entstanden.  Allein 
diese  falsche  Interpunktion  hat  ein  Vergiliomastix  aufgestochen  (Ribbeck,  Proleg.  p.  99). 

Q.  Octavius  Avitus*  Werk.  Überliefert  ist  .homoeutheleuton'^  (homaeo- 
theleuton)  octo  volumina  (Donat.  p.  65  R.).  Fdr  das  erste  schreibt  Rbifferscheid  ,ho- 
moeon  elenchon*.  Allein  wenn  man  sich  erinnert,  dass  in  der  griechischen  Philolologie 
'OfiotoTf^TBS  als  Buchtitel  vorkommt  (Ath.  15  p.  690 e,  4  p.  170e),  so  wird  man  mit  Uagbn 
I.  c.  p.  688  'OfioiotiJTtoy  als  die  richtige  Verbesserung  erachten. 

Cornificius  Gallus.  Eine  grammatische  Nörgelei  bezog  sich  auf  den  Gebranch 
des  Plurals  „ordea^  Georg;  1,210.    Der  Spottvers  lautet: 

ordea  qui  dixU,  auperest  ut  tritica  dicat. 


62       fiOmisclie  Litteraturgeacliichte.    lt.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


Von  Servius  zur  Stelle  wird  der  Vers  dem  Bavius  und  Mevius  zugeteilt;  allem  diese 
Zuteilung  eines  Verses  an  zwei  Dichter  ist  an  und  für  sich  verdächtig.  Es  kommt  hiezii, 
dass  Gledonius  p.  43  K.  dinselben  dem  Cornificius  Gallus  zuschreibt.  Die  Verschieden- 
heit der  Angabe  ist  wohl  dadurch  zu  erklären,  dass  die  Quelle  des  Servius  keinen  Namen 
des  Obtrectator  vorfand  und  daher  die  bekannten  Obtrectatores  Mevius  und  Bavius  durch 
Konjektur  substituierte.  Das  öfters  citierte  Werk  de  etymis  deorum  werden  wir  weder 
dem  Genossen  Catulls  Q.  Cornificius  (vgl.  oben  p.  155)  noch  dem  Cornificius  Gallus,  sondern 
dem  Serv.  Aen.  3,  332  genannten  Cornificius  Longus  beilegen.  —  BXhbens,  FPR.  p.  341. 

247.  Yergils  Fortleben  im  Altertum.  Das  Fortleben  Vergils  und 
sein  mit  der  Zeit  wachsender  Ruhm  beruht  in  erster  Linie  auf  der  Schule. 
In  dieselbe  aber  wurde  er  eingeführt  durch  Q.  Gaecilius  Epirota,  den  Frei- 
gelassenen des  Atticus.  Von  da  an  hatte  der  Dichter  eine  feste  Stellung 
im  Unterricht,  ja  er  bildete  den  Mittelpunkt  desselben.  Die  Eigenschaften, 
die  ihn  für  diese  Stellung  besonders  qualifizierten,  ist  der  reine  Stil, 
das  reiche  Gemüt,  das  sich  in  seinen  Werken  ausspricht,  dann  der  natio- 
nale Zug,  der  besonders  seine  Aeneis  durchdringt.  Schon  die  elementare 
Stufe  des  Lesens  lehnte  sich  an  ihn  an  (Quint.  1, 8, 5);  dass  der  Autor 
aber  auch  in  den  späteren  Klassen  beibehalten,  dass  er  nicht  einmal, 
sondern  wiederholt  vorgenommen  wurde,  wird  uns  ebenfalls  an  jener 
Stelle  berichtet.  Die  Elemente  der  Grammatik  und  Metrik  wurden  an 
ihm  erlernt  und  geübt.  Die  Art  dieser  Studien  veranschaulicht  uns  ein 
Produkt  der  späteren  Zeit,  Priscians  Partitiones  versuum  XII  Aeneidos. 
Wir  haben  hier  in  Fragen  und  Antworten  die  Analyse  der  Verse  nach 
grammatischen  und  metrischen  Gesichtspunkten;  es  sind  die  inii,uQia^io(, 
wie  sie  die  griechische  Grammatik  im  Homer  zu  handhaben  pflegte.  Aber 
auch  für  die  ersten  schriftlichen  Arbeiten  auf  dem  Gebiet  der  Prosa  so- 
wohl als  der  Poesie  musste  Vergil  den  Stoff  leihen.  Als  eine  prosaische 
Übung  diente  die  Erzählung  nach  ihm;  noch  zur  Zeit  des  hl.  Augustin 
machten  die  Schüler  solche  Versuche  (Conf.  1, 17,27),  Für  die  Versifikation 
aber  boten  sich  viele  Situationen  in  der  Aeneis  dar,  welche  einer  weiteren 
Ausführung  fähig  waren.  Wir  haben  noch  solche  an  den  Meister  sich  an- 
lehnende dichterische  Exerzitien  (PLM.  4, 187. 188).  Selbst  ausserhalb  der 
Schule  begegnen  wir  derartigen  Arbeiten.  Rufius  Festus  Avienus  (366) 
schrieb  die  vergilischen  Sagen  in  Jamben.  0  Eine  sehr  beliebte  Schrift- 
stellerei  war  die  Abfassung  der  Inhaltsangaben  zu  den  Werken  Vergils  und 
den  einzelnen  Büchern;  ohne  Spielereien  und  Künsteleien  ging  es  freilich 
hier  niclit  ab. 

Bei  der  engen  Verbindung,  in  welcher  der  grammatische  und  rheto- 
rische Unterricht  stand,  wird  man  sich  nicht  darüber  verwundern,  dass 
Vergil  auch  in  die  Rhetorschule  seinen  Einzug  hielt.  Wurde  doch  ganz 
ernstlich  die  Frage  debattiert,  ob  er  mehr  als  Redner  oder  mehr  als 
Dichter  aufzufassen  sei.  Eine  Untersuchimg  hierüber  stellte  P.  Annius 
Florus  in  einer  Schrift  an,  von  der  die  Einleitung  erhalten  ist.  Der  Kom- 
mentator Tiberius  Claudius  Donatus  sprach  geradezu  den  Satz  aus,  dass 
in  Vergil  der  grösste  Redner^)  stecke  und  dass  daher  derselbe  am  besten 
von  den  Rhetoren  interpretiert  werde.*)    Sein  noch  erhaltener  Kommentar 


')  Serv.  Aen.  X  272  Avienus,  gut  iatnhig 
acripsit  Vergilii  fabulas. 


«)  Vgl.  praef.    (Die  Stelle  unten  p.  67.) 
')  Dasselbe  widerfuhr  Homer;  so  schrieb 


Wirkungen  der  Vergiliachen  Poesie.  G3 

ist  daher  auch  durchweg  rhetorisch  gehalten.  Nicht  bloss  zur  Darlegung 
der  rhetorischen  Regeln  diente  der  römische  Dichter,  es  wurden  ihm  auch 
Themata  zum  rhetorischen  Unterricht  entnommen.  Von  Titianus  und  Calvus 
bezeugt  uns  dies  Servius,  an  einer  andern  Stelle  erwähnt  er  eine  aus 
Vergil  gezogene  Deklamation,  von  Ennodius  existiert  eine  mit  dem  Thema 
„Rede  der  Dido  beim  Abzug  des  Aeneas'^  (p.  505  Hartel). 

Es  ist  klar,  dass  bei  einer  solchen  intensiven  Behandlung  in  der 
Schule  Vergil  sich  ganz  im  Bewusstsein  der  gebildeten  Welt  festsetzen 
musste.  Der  heilige  Augustin  (de  civ.  d.  1,3)  sagt,  dass  derselbe  so  vom 
jugendlichen  Geiste  aufgenommen  wurde,  dass  seine  Worte  jederzeit  zur 
Verfügung  standen.  Dies  hatte  zur  Folge,  dass  die  nachfolgenden  Dichter, 
besonders  die  epischen,  sich  von  seiner  poetischen  Diktion  nährten.  So 
begegnet  uns  noch  in  der  augusteischen  Zeit  ein  Gedicht,  die  Giris,  welches 
stark  auf  Nachahmung  Vergils  aufgebaut  ist.^  Aber  auch  den  Anlass 
zu  einem  nichtigen  Spiel  gab  diese  völlige  Beherrschung  des  Sängers 
durch  das  Gedächtnis.  Die  Leute  gefielen  sich  darin,  aus  Versen  und  Ver- 
steilen desselben  Gedichte  mit  einem  ganz  verschiedenen  Inhalt  zusammen- 
zusetzen. Es  sind  dies  die  Centonen.  Die  wichtigsten  und  bekanntesten 
derselben  sind  der  des  Hosidius  Geta,  der  so  eine  Tragödie  Medea  zu- 
sammenstoppelte, und  der  cento  nuptialis  des  Ausonius.  Selbst  zu  christ- 
lichen Stoffen  wurden  diese  Flickgedichte  verwendet,  so  arbeitete  die 
Dichterin  Proba  aus  dem  Heiden  die  heilige  Geschichte  zusammen. 

Die  Bedürfnisse  der  Schule  wirkten  auch  tief  auf  die  Wissenschaft 
ein,  welche,  solange  Litteraturwerke  als  das  passendste  Mittel  zur  Jugend- 
bildung erachtet  werden,  mit  ihr  immer  Beziehungen  unterhalten  muss, 
die  Grammatik  oder  Philologie.  Man  kann  sagen,  dass  sich  um  Vergil 
die  grammatischen  Studien  gruppieren.  Ein  ganz  äusserliches  Kennzeichen 
ist  hiefür  der  schlagendste  Beweis.  Die  Gitate  aus  ihm  sind  so  zahl- 
reich, dass  wir,  wie  ein  trefflicher  Forscher  bemerkt,*)  aus  denselben  seine 
Poesien,  wenn  sie  verloren  gegangen  wären,  im  wesentlichen  rekonstruieren 
könnten.  Wenn  nicht  alles  trügt,  begannen  die  Spezialforschungen  über 
Vergil  mit  der  Erörterung  einzelner  Fragen  kritischer  oder  exegetischer 
Natur.  Die  Arbeiten,  3)  die  von  dem  berühmten  Grammatiker  G.  Julius 
Hyginus,  von  Modestus  und  dem  bekannten  Lehrer  des  Persius  Annaeus 
Gornutus  citiert  werden,  scheinen  sämtlich  diesen  Gharakter  gehabt  zu  haben. 
Den  ersten  zusammenhängenden  Kommentar  schrieb  Aemilius  Asper,  etwa  zur 
Zeit  Domitians;*)  wie  aus  den  ziemlich  häufigen  Anführungen  zu  vermuten, 
legte  er  sowohl  in  der  Kritik  wie  in  der  Exegese  Besonnenheit  an  den  Tag. 
Alle  diese  Forschungen  waren,  wenn  sie  auch  die  Kritik  berücksichtigten, 
doch  überwiegend  grammatisch-exegetischer  Art.  Es  muss  längere  Zeit 
nach  der  Entstehung  des  Schriftwerks  vergehen,  bis  sich  solche  Textesver- 
schiedenheiten bemerklich  machen,  dass  methodisches  Eingreifen  notwendig 
erscheint.    Die  erste  wahrhaft  kritische  Ausgabe  Vergils  ist  ein  Werk  des 


Telephus  TtBQi  rijg  xad^  't)fii]Qoy  ^oQiKtjg 
und  n$gl  rtoy  naq  'O/AfJQta  nxVf^^''^^  ^fjjogi- 
xioy.   Vgl.  BsBOK,  Gr.  Literatorgesch.  1, 878. 

>)  Vgl.  p.  54. 

')  CoMPABETTi^    Virgil    im    Mittelalter. 


Deutsch  von  Dütschke  p.  30. 

*)  Ribbeck,  Proleg.  p.  114. 

*)  In  spätere  Zeit  setzt  ihn  Lasxxerhibt, 
Camm.  Jen.  4, 401. 


64       ROmiBche  Litteratnrgeachiohie.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilnng. 


Grammatikers  M.  Valerius  Probus  aus  der  Zeit  Neros.  Er  führte  die 
Kecensio  vermittels  kritischer  Zeichen  nach  der  Methode  Aristarchs  durch ; 
ohne  Zweifel  eine  bedeutende  Leistung,  deren  Nachwirkungen  auch  heute 
noch  nicht  erloschen  sind.  Von  den  späteren  Interpreten  nennen  wir 
Velius  Longus  aus  der  Zeit  Trajans,  dessen  Kommentar  zur  Aeneis  bezeugt 
ist,  und  Q.  Terentius  Scaurus  aus  der  Zeit  Hadrians.  Reichere  Nach- 
wirkungen knüpfen  sich  an  den  Kommentar  des  Aelius  Donatus,  der  auch 
Terenz  interpretierte.  Derselbe  erstreckte  sich  auf  alle  drei  Gedichte,  das 
Vorwort,  die  vita  und  die  Einleitung  zu  den  Bucolica  haben  sich  daraus 
gerettet.  Donats  Einfiuss  auf  die  Yergilexegese  ist  nach  einer  Seite  hin 
verhängnisvoll  geworden;  bei  ihm  finden  wir  die  Allegorie  schon  in  einem 
Masse  ausgebildet,  dass  wir  die  Yerirrungen  späterer  Zeit  begreiflicher 
finden.  Ein  Beispiel  möge  unsere  Behauptung  begründen.  In  der  Reihen- 
folge der  dichterischen  Werke  Bucolica,  Georgica,  Aeneis  erblickt  Donat 
einen  Hinweis  auf  die  sich  ablösenden  drei  Kulturstufen:  Hirtenleben, 
Ackerbau,  Krieg.  Gegenüber  diesem  phantastischen  Verfahren  verhält  sich 
der  folgende  Kommentator  Servius,  der  Donat  viel  benützt  hat,  ^  im  ganzen 
nüchtern  und  schulmässig.  Die  allegorische  Erklärung  wurde  bei  Vergil 
begünstigt  durch  die  Bucolica,  da  hier  bekanntlich  vieles  in  Verkleidung 
erscheint.  Sie  wurde  aber  auch  begünstigt  durch  die  wichtige  Stellung, 
welche  er  durch  den  Unterricht  erhielt.  Vergil  war  das  Buch  der  Bücher; 
man  gewöhnte  sich  infolgedessen  in  dem  Dichter,  der  ja,  wie  nicht 
zu  leugnen  ist,  bedeutende  Kenntnisse  durch  Studien  sich  erworben,  die 
Summe  alles  Wissens  verkörpert  zu  sehen.  Eine  solche  Anschauung  muss 
zur  künstlichen  Interpretation  greifen,  sie  ist  gezwungen,  fremdartige  Ge- 
danken dem  Autor  unterzuschieben,  sie  sucht  wie  einst  die  ivatauxoi  bei 
Homer  überall  wichtige,  der  Lösung  harrende  Probleme.*)  Die  Idee  vom  alles 
wissenden  Vergil  tritt  uns  besonders  klar  in  einem  Werk  des  Macrobius 
zu  Tage;  in  Form  von  Gesprächen  wird  seine  grosse  Gelehrsamkeit  nach 
den  verschiedensten  Seiten  hin  dargelegt.  Mit  der  Vorstellung  von  dem 
weisen  Vergil  verbindet  sich  leicht  der  Gedanke,  dass  dieser  auch  die 
Zukunft  wisse.  Vergilische  Verse  dienten  daher  als  Orakelsprüche  und  als 
Wahrsagungen  (Sortes  Vergilianae). 

Das  Ansehen  Vergils  war  ein  so  gewaltiges,  dass  sich  das  Bedürfnis 
regte,  ihn  auch  den  griechisch  Sprechenden  zugänglich  zu  machen.  Es 
wurden  daher  Übertragungen  seiner  Werke  in  das  Griechische  veranstaltet. 
Ein  Epiker  Arrianos  übersetzte  die  Georgica.*)  Der  unter  Claudius  so 
mächtig  gewordene  Freigelassene  Polybius  verfasste  wie  eine  Paraphrase 
Homers  in  lateinischer,  so  eine  Vergils  in  giiechischer  Sprache.^) 

Die  metrischen  Argumente  zu  Vergil  sind  zusammengesteHt  bei  Bahrens, 
PLM.  4, 161.  Es  sind  da  Dekasticha  über  die  12  Bücher  der  Aeneis,  welche,  wie  die  eben- 
falls 10  Verse  umfassende  Vorrede  besagt,   Ovid  gemacht  haben  will.    £s  folgen  p.  169 


*)  Thilo  Servius  1,  LXXV  a  nullo  autem 
anperiorum  commentatorum  plura  Servitis 
petivit  quam  ah  Aelio  Donato,  quem  ipse 
saepius  quam  ceteros  commemoravU  aique  ita 
quidem  plerumque,  ut  aententias  eiua  refutaret. 

^)  £s   sind   dies  die   Quaeationes,   quae 


aölrendae  aunt  (Comparetti  p.  54  Anm.  3 
und  5). 

*)  Suidas  s.  v.  (p.  174  Bekkeb).  Vgl. 
Meineke,    ÄnaL  Alex,  p.  370. 

*)  Seneca  Consol.  ad  Polyb.  7, 26  (p.  327 

FiCXJiBT). 


Wirknmgen  der  Vergiliachen  Poesie. 


65 


nach  einer  praefatio  von  drei  Distichen  die  Argumente  des  Sulpicius  (Apollinaris)  von 
Carihago,  des  Lehrers  des  Gellius,  zu  den  Di  Bttchem  der  Aeneis  in  je  6  Hexametern. 
Diese  Hexasticha  enthalten  zugleich  die  Künstelei,  dass  sie  mit  den  ersten  Worten  des  be- 
treffenden Buchs  beginnen.  Hieran  schliessen  sich  (p.  173)  nach  einer  tetrastichischen  Vor- 
rede ein  Tetrastichon  zu  den  Bucolica,  eines  zu  den  Georgica,  je  eines  zu  jedem  der 
12  Bücher  der  Aeneis;  auch  hier  wird  in  der  ersten  Zeile  immer  auf  den  ersten  Vers  des 
betreffenden  Buchs  angespielt.  Noch  stärker  trat  die  Künstelei  hervor,  wenn  als  Form  des 
Arguments  das  Monostichon  gewählt  wurde.  Solche  Monosticha  sind  vorhanden  auf  die 
12  Bücher  der  Aeneis  (p.  176)  und  solche  (p.  177)  auf  die  Bucolica,  die  4  Bücher  der 
Georgica  und  die  12  Bücher  der  Aeneis  (also  zusammen  17).  Noch  schwieriger  war  es, 
den  Inhalt  eines  Buchs  durch  ein  Hemistichion  auszudrücken,  also  in  ein  Monostichon  zwei 
Bücher  einzuschliessen.  Auch  von  dieser  Künstelei  liegt  zur  Aeneis  eine  Probe  vor  (p.  178). 
In  den  Wettkämpfen  der  12  Weisen  spielt  auch  Vergil  eine  Rolle;  dem  Basüius  werden 
12  Monosticha  über  die  Aeneis  beigelegt  (PLM.  4, 151);  auch  Pentasticha  zu  der  Aeneis 
sind  auf  die  12  Weisen  verteüt  (PLM.  4, 136). 

Die  rhetorischen  Übungen  nach  Vergil  bezeugt  Serv.  Aen.  10, 18  et  Titianwi  et 
Calrus,  qui  themata  omnia  de  Vergilio  elicuerunt  et  deformarunt  ad  dicendi  usum,  10, 532 
8a ne  qui  in  Vergilium  seripait  declamationes,  de  hoc  loco  ait  ex  persona  Aeneae  u.  s.  w. 

Vergilische  Centonen  sind  zusammengestellt  bei  Bahrbns,  PLM.  4,  191—240. 
Es  sind  ausser  einem  am  Anfang  verstümmelten  de  alea,  Narcissus,  Mavortii  iudicium 
Paridis.  Hippodamia,  Hercules  et  Antaeus,  Procne  et  Philomela,  Europa,  Alcesta,  De  ecclesia 
(wahrscheinlich  von  Mavortius,  vgl.  v.  110),  Medea  des  Hosidius  Geta  (vgl.  Tertullian  de 
praescript,  haeret.  c.  39),  Luxorii  Epithalamium  Fridi.  Über  den  Gento  der  Proba  vgl. 
Aschbach,  Sitzungsber.  der  Wien.  Akad.  64, 369.  —  Borgen,  De  centonibus  Homer  et  Verg., 
Kopenh.  1828.  Hasenbalo,  de  centonibus,  Putbus  1846.  Delepierbe,  tahleau  de  la  littera- 
ture  du  Centon,  Lond.  1875. 

248.  Erhaltene  Yergil-Eommentare.  Von  den  zahlreichen  Er- 
läuterungsschriften zu  Vergil  sind  einige  auf  die  Nachwelt  gekommen. 
Es  sind  folgende: 

1.  Der  Kommentar  des  Servius.  Servius  war  ein  Grammatiker 
des  vierten  Jahrhunderts,  von  dem  uns  noch  andere  Schriften  erhalten 
sind.  Seine  Exegese  erstreckt  sich  auf  sämtliche  Gedichte  Vergils;  der 
Kommentar  zur  Aeneis  wurde  früher  verfasst  als  die  Kommentare  zu  den 
Bucolica  und  den  Georgica,  da  in  den  letzten  auf  den  ersten  Bezug  ge- 
nommen wird.  0  Das  Werk  des  Servius  ist  uns  in  einer  doppelten  Gestalt 
überliefert,  in  einer  kürzeren  und  in  einer  ausführlicheren.  Die  ausführ- 
lichere wurde  zum  erstenmal  von  P.  Daniel  im  J.  1600  veröffentlicht.  Für 
die  kürzere  Fassung  haben  wir  zahlreiche  Handschriften,  dagegen  für  die 
weitere  nur  wenige.  Die  erstere  trägt  in  der  Überlieferung  den  Namen 
des  Servius,  die  letztere  dagegen  ist  anonym.  Das  Verhältnis  der  beiden 
Fassungen  ist  nicht  das,  dass  etwa  die  kürzere  ein  Auszug  der  umfassen- 
deren ist,  auch  nicht  das,  dass  beide  Fassungen  einem  vollständigeren 
Kommentar  entnommen  sind,  die  erste  mit  mehr,  die  andere  mit  weniger 
Auslassungen.  Das  Verhältnis  ist  vielmehr  dies,  dass  dem  kürzeren  Kom- 
mentar Zusätze  aus  verschiedenen,  meist  sehr  guten  Quellen  beigegeben 
wurden.  In  dem  kürzeren  Kommentar  haben  wir  ein  einheitliches  Werk, 
die  Zusätze,  obwohl  sie  von  einem  Mann  gemacht  wurden,^)  spiegeln  da- 
gegen die  verschiedenen  Quellen.  Nur  der  kürzere  Kommentar  gehört  dem 


»)  Vgl.  G.  1,  488  B.  7,  26.  Der  Korn- 
mentar  zu  den  Bucolica  ging  dem  zu  den  G. 
voraus,  wie  die  Verweisung  G.  4, 101  darthut. 

*)  Thilo  p.  LXVI  cum  eadem  per  totum 
commentarium    ratione    eisdemque    artificiis 


Serviana  et  aliena  inter  ae  conexa  sint,  non 
diversis  temporibtts  et  gradatim  quasi,  sed 
ab  uno  Kamine  vel  certe  unius  hominis  con^ 
silio  ea  res  videtur  confeeta  fuisse.  Thilo  hftlt 
ihn  für  einen  römischen  Christen  (p.  LLVÜ). 


Haodbiich  der  klan.  Altertmnswissenschaft.    vm.    2.  Teil. 


66       Römische  LitteratnrgeBohichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilang. 

Servius^)  an.  Derselbe  verfolgt  den  Zweck,  den  Vergil  nach  der  damals 
gebräuchlichen  Schulmethode  zu  erklären;  er  berücksichtigt  darum  besonders 
das  Grammatische,  den  Ausdruck  und  die  Wortbedeutung.  Servius  geht 
mit  sehr  grosser  Ausführlichkeit  zu  Werk,  denn  in  ihm  lebt  ja  der  Ge- 
danke, dass  sich  in  Vergil  das  höchste  Wissen  verkörpert  hat  und  dass 
daher  alles  von  der  höchsten  Wichtigkeit  ist.  Die  Arbeit  des  Servius  hat 
für  uns  keinen  hohen  Wert,  sie  ist  interessant,  um  die  Exegese  seiner  Zeit 
zu  erkennen,  allein  sie  bereichert  nicht  in  erheblichem  Masse  unsere  Kennt- 
nisse. Die  Zusätze  dagegen  sind  für  uns  ausserordentlich  wichtig.  Sie 
sind  eine  unschätzbare  Fundgrube  für  die  römischen  Altertümer.  Die  darauf 
bezüglichen  Notizen  wurzeln  alle  in  der  Idee,  dass  Yergils  Schilderungen 
der  römischen  Vorzeit  durchaus  auf  genauer  Kenntnis  der  alten  Sitten  und 
Einrichtungen  beruhen.*)  Auch  die  Citate  aus  alten,  verloren  gegangenen 
Schriftstellern  leisten  uns  sehr  gute  Dienste. 

Für  den  ergänzten  Kommentar  sind  die  Quellen  und  zwar  für  die  Buc.  und  6.  der 
codex  Lemovicensis,  jetzt  Vossianus  80  in  Leyden  s.  X,  der  geht  von  B.  4, 1  bis  G.  1,278; 
für  die  Aeneis  ist  die  Überlieferung  eine  doppelte,  die  Bücher  I  und  II  beruhen  auf  dem  Gas* 
sellanus  (ehemals  Fuldensis)  s.  IX/X  (und  dem  Parisinüs  1750  s.  X,  der  jedoch  nur  einen  Teil 
eines  Codex  repräsentiert,  indem  mit  demselben  noch  der  Vossianus  79  in  Leyden  zu  ver- 
binden ist).  Für  die  Bücher  III — XII  sind  massgebend  vor  allem  der  Codex  Floriacensis 
s.  IX/X,  der  wie  der  vorige  in  zwei  Hälften  zerrissen  ist,  in  den  heutigen  cod.  Bern.  172 
(III — V)  und  in   den  Parisinus  7929  (VI — XII),   dann  der  Turonensis,  jetzt  Bemensis  165. 

Über  die  handschriftlichen  Quellen  des  nicht  ergänzten  Kommentars  des  Servius 
vgl.  Thilo  p.  LXXVII.  In  seiner  Ausgabe  scheidet  Thilo  die  beiden  Bestandtheile  durch 
die  Schrift,  indem  er  die  Ergänzungen  mit  liegenden  Lettern  druckt. 

Für  den  Standpunkt  auf  dem  Servius  steht,  sind  die  Eingangsworte  des  6.  Buchs 
bezeichnend :  tatu8  quidem  Vergüius  scientia  plenus  est,  in  qua  hie  liber  possidet  princi- 
patum,  cuius  ex  Homero  pars  maior  est  .  et  dicuntur  cäiqua  simpUciter,  tnulta  de  historia, 
tnuUa  per  altam  scientiam  phiJosophorum,  theologorum,  Äeg^ptiorum,  adeo  ut  plerique  de 
his  singulis  huitis  libri  integras  scripserint  pragmatias. 

Litteratur:  Grundlegende  kritische  Ausgabe  von  Thilo  [und  Hagsk]  (vol.  I  Leipz. 
1881;  vol.  II  Leipz.  1884,  vol.  III  fasc.  1  Leipz.  1887).  Kirchneb,  De  Servi  auctoribus 
grammaticis  quos  ipse  laudamt  (Fleckeis.  Jahrb.  Supplb.  8, 467.  Dazu  das  Brieger  Progr. 
1883.)  WissowA,  De  Macrobii  fantibus,  Bresl.  1880  p.  55,  Linke,  Quaest.  de  Macrobii 
fontibus,  Bresl.  1880  führen  den  Gedanken  durch,  dass  der  Kommentar  des  Servius  nicht 
von  Macrobius  benutzt  wurde,  dass  aber  aus  Macrobius  Notizen  in  den  ergänzten  Servius 
geflossen  sind,  welch  letztere  Ansicht  Halft ap,  Quaest.  Serv.,  Greifsw.  1882  p.  3  bestreitet. 
—  Thomas,  Essai  sur  Servius,  Paris  1880  (und  Supplement).  Labmmrbhtbt,  De  priscorum 
scriptorum  locis  a  Serrio  allatis,  Dissert.  Jen.  4,  313.  Nettleship,  Lectures  (Oxf.  1885)  p.  322. 

2.  Der  rhetorische  Kommentar  des  Tiberius  Claudius  Donatus 
zur  Aeneis.  Vergil  war,  wie  wir  oben  darlegten,  nicht  bloss  eine  Fund- 
grube für  die  Grammatiker,  sondern  auch  für  die  Rhetoren.  Es  ist  daher 
nicht  zu  verwundern,  dass  gegen  Ende  des  4.  Jahrhunderts  die  Aeneis  von 
Tiberius  Claudius  Donatus  (der  nicht  mit  Aelius  Donatus  verwechselt  werden 
darf  ^))  rhetorisch-ästhetisch  kommentiert  wurde.  Auf  das  Sachliche  geht 
der  Erklärer  nicht  ein,  dies  verspart  er  sich  nach  der  an  seinen  Sohn 
Ti.  Claudius  Maximus  Donatianus  gerichteten  Vorrede   für  eine   spätere 


*)  Die  Beweise  hiefi&r  siehe  bei  Thilo,   |   sedibus  non  licet;  peritissime  ergo  Vergilius 


Proleg.  p.  XIL  und  Halfpap  p.  1  und  p.  32. 
'^)  Eine  Stelle  möge  dies  zeigen,  wo  die 
Erläuterung  von  auspicibus  coeptarum  operum 
gegeben  wird:  auspieia  oinnium  rerum  sunt, 
auguria  certarum;  auspicari  enim  cuivis  etiam 
^eregre  licet,  augurium  a^ere  nisi  in  patriis 


veteris  consuetudinis  meminit  cum  facit 
Aeneam,  quia  peregre,  id  est  in  Thracia 
agit,  auspicantem,  id  est,  auspicibus  coeptO' 
rum  operum. 

')  Vgl.  VAN  DBB  HoBVEN,  ep.  ad  Surin- 
garum  de  Donati  comm.,  Leovardiae  1846. 


Wirkungen  der  VergiliBohen  Poesie.  67 

Zeit.  Daher  kann  dieser  KommentÄr  nur  für  die  Geschichte  des  rhetori- 
schen Betriebs  in  Betracht  kommen,  er  ist  auch  seit  der  Basler  Ausgabe 
des  Jahres  1613  (in  Verbindung  mit  Vergil)  nicht  mehr  erschienen. 

Praef.:  Si  Moronis  Carmen  campetenter  attenderis  et  eorum  mentem  romprehenderis, 
inrenien  in  poeia  rhetarem  sunimum;  atque  inde  intelliges  VergiHum  non  grammaticos,  sed 
oratorea  praeeiptwa  f rädere  debuistte.  Der  in  der  Vorrede  angekündigte  Realkommentar  sollte 
wohl  ein  Catalogus  der  Personen,  Völker,  Flüsse,  Berge  n.  s.  w.  sein  und  den  Anhang  zu 
den  rhetorischen  Interpretationes  bilden  (Bubckas,  De  T,  Cl.  D,  in  Aen,  camm.,  Jena  1888). 

3.  Die  Veroneser  Scholien.  Angelo  Mai  entdeckte  in  Verona 
einen  Palimpsesten  der  Kapitelsbibliothek  nr.  38,  dessen  ältere  Schrift 
Scholien  zu  Vergil  (Buc,  G.  u.  Aeneis)  enthielt.  Es  sind  51  Blätter.  Diese 
Scholien  gab  Mai  im  J.  1818  heraus.  Obwohl  uns  nur  Trümmer  vorliegen, 
so  müssen  wir  doch  dieselben  sehr  hoch  schätzen.  Wir  erhalten  einmal 
wichtige  Beiträge  für  die  Geschichte  der  Vergilexegese,  es  sind  besonders 
berücksichtigt  Cornutus,  Asper,  Yelius  Longus  und  Haterianus.  Der  wert- 
vollste Bestandteil  dieser  Scholien  sind  aber  die  Überreste  aus  verlorenen 
älteren  Schriften. 

Neu  verglichen  und  herausgegehen  wurden  diese  Scholien  von  H.  Keil  in  M,  Valerii 
Probt  commentariuSy  Halle  1848;  nach  Keil  hat  eine  abermalige  genaue  Untersuchung  der 
Scholien  A.  HEBRMANif  vorgenommen;  eine  vorläufige  Übersicht  der  von  ihm  gewonnenen 
Resultate  teilte  Büchelbr,  Fleckeis.  J.  93,  65  mit.  Später  hat  Herrmanv  über  diese  Scholien 
in  zwei  Donaueschinger  Programmen  (1869,  1873)  gehandelt.  Neu  ist  seine  Beobachtung, 
dass  Aen.  3, 691  eine  andere  Hand  beginnt  (Halfpaf  p.  33). 

4.  Der  Kommentar  des  M.  Yalerius  Probus  zu  den  Bucolica 
und  den  Georgica.  Johannes  Baptista  Eonatius  gab  zuerst  diesen 
Kommentar  aus  einem  codex  von  Bobio  Venedig  1507  heraus.  Das  Werk 
beginnt  mit  einem  Lebensabriss  Yergils,  teilt  dann  eine  dreifache  Ansicht 
über  den  Ursprung  der  bukolischen  Poesie  mit,  macht  weiterhin  Be- 
merkungen über  Veramass  und  Stil  des  bukolischen  Oedichts,  über  den 
Anlass  zu  diesen  Gedichten,  über  ihre  Anordnung,  über  Vortrag  und  über 
den  verschiedenartigen  poetischen  Charakter.  Der  Kommentar  ist  fast 
durchweg  auf  Sacherklärung  gerichtet,  er  behandelt  daher  besonders  die 
Mythen,  das  Geographische,  das  Astronomische  u.  s.  w.  Die  grammatisch- 
kritische  Seite  ist  dagegen  so  gut  wie  nicht  berücksichtigt.  Eine  solche 
Interpretationsmethode  will  nun  nicht  recht  zu  dem  Bilde  stimmen,  das 
wir  aus  Sueton  und  anderen  Quellen  von  Probus  gewinnen.  Es  kommen 
hinzu  Irrtümer  und  Absurditäten,  die  wir  jenem  berühmten  Kritiker  in 
keiner  Weise  zuteilen  können.  Man  hat  daher,  um  der  überlieferten  Autor- 
schaft des  M.  Valerius  Probus  gerecht  zu  werden,  den  Ausweg  beschritten, 
nur  einen  Kern  des  Kommentars  auf  Probus  zurückzuführen.  Allein  ein 
solcher  Kern  hebt  sich  in  dem  Werk  nicht  ab;  denn  er  ist  durchaus 
einheitlich  gestaltet.  Man  wird  also  höchstens  das  Eine  zugeben  können, 
dass  sich  M.  Valerius  Probus  unter  den  Quellen  des  Verfassers  befunden. 
Auf  die  Thatsache,  dass  M.  Valerius  Probus  der  Kommentar  in  der  Über- 
lieferung beigelegt  ist,  dürfte  nicht  zu  viel  Wert  zu  legen  sein,  da  ja 
auch  eine  zweifellose  Schrift  des  Grammatikers  Sacerdos  dem  Probus  zu- 
geteilt wurde.  Dass  diese  Scholien  einige  Überreste  antiker  Gelehrsamkeit 
haben,  stellt  selbst  eine  flüchtige  Lektüre  heraus;  ein  leuchtender  Beweis 
ist    der    merkwürdige    längere    Traktat    über    die    Elemente    der    Welt 

5* 


68       Römische  Litteratnrgeschichie.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilong. 

(p.  10  —21  K.),   welcher  etwa  den  sechsten  Teil  des  ganzen  Kommentars 
ausmacht. 

Eine  Übersicht  der  gelehrten  Scholien  des  Kommentars  gibt  Ribbeck,  Proleg.  p.  164. 
Ausser  dem  genannten  Traktat  ist  noch  interessant  der  über  die  Zonen  p.  40.  Fttr  die 
Mythen  war  vielleicht  Hauptquelle  Asclepiades'  TQayiodovfAB^a  (62,11  K.  46,27). 

Die  jetzt  massgebende  kritische  Ausgabe  ist  von  Keil  (Halle  1848).  Die  Spuren 
unserer  Überlieferung  führen  bloss  auf  den  genannten  Codex  Bobiensis,  der  aber  jetzt  ver- 
loren ist.  Zu  seiner  Herstellung  dienen  die  editio  Egnatii,  der  Yaticanus  2930  s.  XV  und 
der  Parisinus  8209  s.  XV. 

Über  die  irrige  Zuteilung  des  Kommentars  an  M.  Yalerius  Probus  vgl.  Riese,  De 
commentario  qui  M.  V,  P.  dicitur,  Bonn  1862,  Kuebler,  De  M.  V.  P.  commerUariia  Vergil., 
Berl.  1881,  der  ihn  (p.  40)  dem  4.  Jahrb.  zuweist.    (Beck,  De  F.  P.,  Groningen  1886.) 

Mit  der  Ausgabe  des  Kommentars  des  Yalerius  Probus  verbindet  Keil  auch  die 
Quaestiones  Yergilianae  des  Grammatikers  Asper  aus  einem  Pariser  Palimpsest.  Die 
Fragmente  sind  fast  nicht  lesbar.  Den  Charakter  der  behandelten  Gegenstände  mögen 
folgende  Quaestiones  voranschaulichen:  Plurale  ponit  pro  singulari  (p.  113);  Videamtis  quo- 
modo  numeret  (p.  114);  nunc  quemadmodum  generalibus  et  speeialÜtus  utatur  ostendam  ac 
primum  speciaiia  pro  generalibus  posita  (p.  114).  Diese  Quaestiones  sind  höchst  dürftige 
Auszüge  aus  den  Schätzen  des  Grammatikers,  für  uns  ohne  allen  Wert. 

5.  Die  Berner  Scholien  zu  den  Bucolica  und  Georgica.  Für 
diese  Scholien  ist  die  Hauptquelle  der  Berner  Codex  172  (s.  IX/X).  Der- 
jenige, welcher  sie  zusammengestellt  hat,  gibt  auch  seine  Gewährsmänner 
an,  aus  denen  er,  von  Unwesentlichem  abgesehen,  geschöpft  hat;  es  sind 
dies  Titus  Gallus,  Gaudentius  und  Junius  Philargyrius.  Von  diesen 
drei  Kommentatoren  werden  aber  nur  Gaudentius  und  Junius  Philargyrius 
sowohl  in  den  Eclogen  als  in  den  Georgica  citiert,  Titus  Gallus  dagegen 
bloss  in  dem  ersten  Buch  der  Georgica  und  zwar  lediglich  zu  Anfang.*) 
Wir  müssen  daraus  schliessen,  dass  der  Epitomator  den  Kommentar  des 
Titus  Gallus  bald  von  der  Benützung  ausschloss.  Wann  diese  drei  Kom- 
mentatoren lebten,  lässt  sich  nicht  mit  voller  Bestimmtheit  sagen.  Aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  gehören  sie  dem  5.  Jahrhundert  an.  Über  den 
Zusammensteller  verbreitet  einiges  Licht  eine  irische  Glosse  im  Scholion 
zu  G.  2, 115  (p.  895  H.).  Nach  derselben  werden  wir  als  die  Heimat  des- 
selben Britannien  zu  betrachten  haben.*)  Die  Zeit  des  Epitomators  wird 
in  dem  Intervallum  s.  VH — IX  liegen. 

Die  subscriptio.  Am  Ende  der  Bucolica  lesen  wir  (p.  839  H.):  haec  omnia  de 
commentariis  Romanorum  congregatn,  id  est  Tlti  Galli  et  Gaudentii  et  maxime  Junilii 
Flagrii  Mediolanenses(sic),  Allein  Mohmsen  (Rh.  Mus.  16, 446)  behauptet  mit  Recht,  dass, 
da  Gallus  in  den  Eclogen  nicht  citiert  werde,  die  Worte  an  den  Anfang  der  Georgica  ge- 
hören. Zerrüttet  ist  die  Subscriptio  unter  dem  ersten  Buch  der  Georgica  (p.  885  H.).  Der 
Name  Junilii  Flagrii  ist  aus  Junius  Philargyrius  entstellt. 

Die  Kommentare  des  Junius  Philargyrius.  Von  Junius  Philargyrius  haben 
wir  ausser  diesen  Auszügen  der  scholia  Bemensia  aus  einem  Kommentar  zu  den  Eclogen 
noch  zweierlei  Exzerpte,  ein  längeres  und  ein  kürzeres,  in  den  Handschriften  Laur.  45, 14 
s.  X  und  im  Parisinus  7960  s.  X.'O  Der  kürzere  Auszug  hat  den  Titel  explanatio  Junii 
FUagirii  Grammatici  in  Bocolica  Valentiniano,  der  ausführlichere  den  Titel  explanatio 
Junii  Filargirii  gramatici.  Diese  Scholien  exzerpierte  Angelus  Politianus  aus  dem  ge- 
nannten Laurentianus,  und  nach  seinem  jetzt  nicht  mehr  vorhandenen  Apographon  ver- 
öffentlichte die  Exzerpte  Fulvius  Ursinus  im  Jahre  1587.  Die  ganze  Scholienmasse  ist  so- 
nach noch  nicht  publiziert.  Neben  diesem  Kommentar  zu  den  Eclogen  gab  Ursinus  auch 
noch  einen  Kommentar  des  Philargyrius  zu  den  Georgica.  Diesen  entnahm  er  dem  Yati- 
canus 3317  s.  X/Xl,  in  dem  diese  Scholien  denen  des  Servius  fast  inrnier  mit  den  Worten 


»)  Es  sind  11  Stellen:  2,  3,  8,  13,  25, 
28,  31,  40,  54,  81,  149. 

^)  Sein  Name  war  vielleicht  Adananus 
(Thilo,  Rh.  Mus.  15, 132  Proleg.  ad  Serv.  I, 


p.  LXVIII). 

^)  Beide  Handschriften  enthalten  auch 
eine  Breris  expositio  zu  G.  I  und  H  1 — 90. 


Wirknngen  der  Vergüiflohen  Poesie.  69 

• 

et  aliter  beigefügt  sind.  Allein  im  Vaticanus  ist  Philargyrius  nicht  genannt.  Die  Zu- 
teilung dieses  Kommentars  an  Philargyrius  beruht  auf  einem  Irrtum  des  Fulvius  Ursinus, 
nicht  des  Angelus  Politianus,  wie  früher  Thilo  (Rh.  Mus.  15. 135)  angenommen  hatte.  Ab- 
gedruckt ist  derselbe  bei  Liok  2, 327  und  Thilo.     Kr  enthält  wertvolle  Bestandteile. ') 

Als  Appendix  zu  den  scholia  Bemensia  gibt  Haobn  p.  984  Figurae  Graecorunif  eine  Er- 
läuterung der  Figuren  durch  Vergilische  Beispiele,  p.  987  scholia  ex  codice  Bernensi  165  excerpta; 
endlich  p.  996  medii  aeri  excogitamenta  de  Vergilii  vita  atque  scriptis  ex  codice  Bernensi  167. 

Litte ratur:  Scholia  Bernensia  ad  Vergili  Buc.  atque  Georgica.  Ed.  Hagen  (Fleckeis. 
J.  4.  Supplementb.  p.  674).    I'hilo,  Rh.  Mus.  14,535   15, 119.    Mommsen,  Rh.  Mus.  16,442. 

249.  Der  Vergil  des  Mittelalters.  Im  Laufe  der  Zeit  war,  wie  wir 
gesehen  haben,  Vergil  zum  Repräsentanten  der  höchsten  Weisheit  geworden. 
Zu  ihrer  Aufdeckung  führte  ein  Weg:  die  allegorische  Erklärung.  Bis 
zu  welcher  Entartung  diese  Erklärungsweise  herabsinken  konnte,  setzt  in 
ein  besonders  helles  Licht  das  Buch  des  Fabius  Planciades  Fulgentius, 
eines  Christen  des  6.  Jahrhunderts  über  den  Inhalt  Vergils  (expositio  Ver- 
gilianae  continentiae).  Sein  Ziel  ist,  den  verborgenen  Inhalt  der  Aeneis 
mittels  der  allegorischen  Deutung  darzulegen.  Er  hat  seinem  Werk  die 
Einkleidung  gegeben,  dass  er  Vergil  bittet,  ihm  seine  Weisheit  zu  ent- 
hüllen. Derselbe  erfüllt  die  Bitte  und  setzt  in  mürrischer,  finsterer  Weise 
auseinander,  dass  die  Aeneis  ein  Bild  des  menschlichen  Lebens  sei.  Es 
ist  ganz  unglaublich,  zu  welchen  masslosen  Verirrungen  diese  Methode 
führte.  Allein  das  Mittelalter  bewunderte  diese  Thorheiten.  Alles,  was 
auf  Vergil  Bezug  hatte,  konnte  damals  auf  Interesse  rechnen.  Die  vierte 
Ecloge,  in  welcher  man  eine  Ankündigung  des  Erscheinens  Christi  er- 
blickte, sicherte  dem  römischen  Dichter  allgemeine  Verehrung,  überdies 
blieb  er  stets  eine  wichtige  Grundlage  für  die  Grammatik,  und  in  der 
Schule  nahm  er  noch  immer  seinen  Platz  ein.  Für  das  hohe  Ansehen, 
dessen  er  sich  bei  den  Grammatikern  erfreute,  möge  das  Faktum  als 
Beleg  dienen,  dass  sich  ein  obscurer  Sprachmeister  den  Namen  Virgilius 
Maro  beilegte.  Der  Wahnsinn,  den  dieser  Mann  auskramt,  ist  entsetzlich, 
allein  nach  den  zahlreichen  Handschriften,  in  denen  er  verbreitet  ist,  muss 
man  schliessen,  dass  sein  verrücktes  Zeug  eifrige  Leser  fand.  In  dieses 
entsetzljjphe  Dunkel  fällt  wie  ein  heller  Lichtstrahl  die  Verklärung  Vergils 
durch  den  grössten  Dichter  des  Mittelalters,  durch  Dante,  der  ihn  sich  als 
Repräsentanten  der  menschlichen  Weisheit  zum  Führer  für  seine  Wande- 
rung erkor.  Für  diese  Wahl  mag  bestimmend  gewesen  sein  die  ungemein 
hohe  Begeisterung,  welche  Dante  für  die  Vergilische  Dichtung  hegt,  die 
im  Mittelalter  allgemein  herrschende  Idee  von  der  grossen  Weisheit  des 
Römers,  die  mit  ihm  unauflöslich  verbundene  allegorische  Interpretations- 
methode, endlich  die  in  der  Aeneis  zum  Ausdruck  gekommene  römische 
Weltherrschaft.  Zur  Zeit  Dantes  hat  noch  ein  anderer  Dichter  Vergil 
behandelt;  wir  denken  an  das  Gedicht  Dolopathos,  das  ursprünglich  in 
lateinischer  Sprache  geschi*ieben  war,  später  in  französische  Verse  gebracht 
wurde.  Dolopathos  ist  nach  dem  Dichter  König  von  Sicilien,  der  seinen 
Sohn  Lucinian  Vergil  zum  Unterricht  übergibt.  Auch  hier  tritt  stark  die 
Vorstellung  von  Vergil  als  dem  alles  wissenden  Mann  hervor;  er  sieht 
das  Unglück  Lucinians  voraus  und  errettet  ihn  aus  grosser  Gefahr. 

*)  Thilo  Servius  III  1  p.  XIII  „pleraque  —  tribtienda  esse  piUo  —  primo  vel  alter i 
post  Christum  saeeulo," 


70       BömiBche  LitieratnrgeBchiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monorchie.    1.  Abteilung. 

Auch  in  der  höfischen  Poesie  des  Mittelalters  hat  Vergil  seine  Stelle. 
Die  Liebe  der  Dido,  der  Streit  um  die  Lavinia  waren  Stoffe,  die  jener  Zeit 
zusagten.  Aus  der  deutschen  Litteratur  ist  Heinrich  von  Veldeckes  Eneit 
bekannt,  die  nach  einem  französischen  Muster  gedichtet  wurde. 

Nicht  unwichtig  für  die  Weiterbildung  der  Vergilischen  Individualität 
ist  der  Eintritt  des  Dichters  in  die  Yolkssage.  Dieselbe  hat  ihren  Aus- 
gang in  Neapel.  An  diesem  Ort,  an  dem  Vergil  gern  zu  Lebzeiten  ver- 
S^eilte  und  wo  seine  Gebeine  ruhen,  bildete  sich  die  Idee  von  ihm  als 
dem  guten  Genius  der  Stadt,  dem  Retter  aus  der  Not,  dem  Talisman  in 
Gefahren.  Auch  dieser  Gedanke  steht  in  unleugbarem  Zusammenhang  mit 
dem  ihm  zugeschriebenen  alles  umspannenden  Wissen.  Dasselbe  erhielt 
eine  lokale  Färbung  dadurch,  dass  es  Neapel  zu  gute  kam.  Als  die  Sage 
aber  an  andere  Orte  gelangte,  die  keine  engeren  Beziehungen  zu  Vergil 
hatten,  musste  sich  sein  Bild  modifizieren,  aus  dem  Helfer  in  der  Not 
wurde  jetzt  ein  Zauberer.  Die  Sage  vom  Zauberer  Vergil  gewann  eine 
ausserordentliche  Verbreitung  und  nahm  noch  neue  Bestandteile  in  sich  auf. 

Das  Nachleben  Vergils  ist  yortrefflich  behandelt  von  Cohpabetti,  Virgil  im  Mittel- 
alter. Obers,  von  Dütschke,  Leipz.  1875.  Genthe,  Vergils  £cl.  übers,  mit  Einleit-ung  tLber 
Vergils  Leben  und  Fortleben  als  Dichter  und  Zauberer,  Leipz.  (2.  Aufl.)  1855.  Zappebt, 
Vergil  im  Mittelalter  (Denkschr.  der  Wien.  Akad.  philos.-hist.  Kl.  2.  Bd.  2.  Abt.  p.  17).  Roth, 
Der  Zauberer  Vergilius  (Pfeiffers  Germania  4, 257).  Creizenach,  Die  Aen.,  die  4.  Ecl.  und 
die  Pharsalia  im  Mittelalter,  Frankf.  1864.   TumsoK,  Virgil  in  the  middle  age,  Cincinnati  1889. 

250.  Vergil  in  der  Neuzeit.  Die  fast  abgöttische  Verehrung,  zu 
der  Vergil  im  Mittelalter  emporstieg,  konnte  der  neuen  Zeit  gegenüber 
nicht  standhalten.  Mit  dem  Schwinden  der  mittelalterlichen  Ideen  musste 
sich  auch  sein  Ansehen  mindern.  Nur  bei  den  Nationen,  die  ihren  Stamm- 
baum bei  den  Kömern  suchen,  hat  der  Vergilkultus  noch  immer  einen 
fruchtbaren  Boden.  Um  von  den  Äusserungen  eines  blinden  Enthusiasmus 
abzusehen,  wollen  wir  das  Urteil  eines  sonst  besonnenen  und  gelehrten 
Italieners,  des  Prof.  Domenico  Comparetti  hier  anführen.  In  seinem  schönen 
Buch  „Vergil  im  Mittelalter''  lässt  er  sich^)  zu  folgender  exorbitanten 
Bewunderung  der  Aeneis  hinreissen:  „Das  Werk  Vergils  ist  und  bleibt, 
wenn  man  es,  wie  recht  und  billig,  nach  seiner  Stellung  und  nach  einem 
geschichtlichen  Massstabe  betrachtet,  ein  Gedicht,  das  seinesgleichen 
weder  vorher  noch  nachher  hat;  der  Zauber,  den  es  durch  Jahr- 
hunderte auf  die  Gebildeten  ausübte,  hat  seine  volle  Berechtigung.''  In 
der  Wertschätzung  Vergils  musste  die  tiefere  Erkenntnis  Homers,  welche 
bei  den  germanischen  Stämmen  angebahnt  wurde,  einen  Wandel  hervor- 
rufen. Ein  Urteil  wie  das  bekannte  Voltaires:  „Homire  a  fait  Virgüe,  dit-on; 
si  cela  est,  c'est  sans  doufe  son  plus  bei  ouvrage,^^)  beweist  nur  zu  deutlich, 
dass  der  berühmte  Mann  die  Homerische  Poesie  nicht  gekannt  hatte.  Als 
die  Engländer  und  die  Deutschen  in  die  tiefen  Schachte  des  homerischen 
Volksepos  eingedrungen  waren,  musste  man  den  grossen  Abstand,  der 
Vergil  von  Homer  trennt,  fühlen.  Wer  einmal  seine  Seele  in  die  Dias  und 
in  die  Odyssee  versenkt,  wird  der  Aeneis  nicht  mehr  den  Lorbeerkranz 
zuerteilen;  und  wer  die  Süssigkeit  der  Idyllen  Theocrits  genossen,  wird  nicht 

M   p.    13    nach    der    Übersetzung    von  *)  Vgl.  Sellar,  The  Roman  poHs  p.  67. 

H.   DÜTSCHKE. 


Q«  HoratioB  Flaoons. 


71 


mehr  für  die  Bucolica  schwärmen J)  Der  Anstoss  zu  einer  unparteiischen 
Würdigung  Yergils  ging  von  England  aus:  Mabkland  war  es,  der  zuerst 
über  die  Aeneis  eine  harte,  mit  der  herrschenden  Verherrlichung  stark  in 
Widerspruch  tretende  Ansicht  aussprach.  Es  kann  natürlich  nicht  unsere 
Aufgabe  sein,  eine  grössere  Sammlung  kritischer  Kaisonnements ')  über 
Vergil  zu  geben.  Wir  greifen  nur  drei  Urteile  heraus  und  zwar  das  eines 
Philosophen,  das  eines  Philologen  und  das  eines  Historikers.  Hegel  zieht 
in  seiner  Ästhetik  (3, 870)  einen  Vergleich  zwischen  Homers  Gesängen  und 
Vergils  Aeneis  und  legt  an  einer  Reihe  von  Einzelzügen  die  Superiorität 
des  ersteren  dar.  Boeckh  bemerkt  in  der  Encyklopädie  (p.  684):  „Es  fehlt 
(der  Aeneis)  die  homerische  Naivetät;  alles  ist  mühsame,  wenn  auch  fein- 
gebildete Nachahmung  und  der  Inhalt  schon  so  romantisch,  dass  die  Stanzen 
der  ScuiLLER'schen  Übersetzung  ihm  vollkommen  angemessen  sind.**  Be- 
sonders interessant  ist  die  längere  Auseinandersetzung  Niebuhrs,')  aus 
der  wir  nur  einige  Hauptsätze  ausziehen:  „ Seine  Eclogen  sind  eine  nichts 
weniger  als  glückliche  Nachahmung  des  Theokrit,  sie  wollen  auf  römischem 
Boden  etwas  schaffen,  was  nicht  da  ist.  —  Glücklicher  ist  sein  Lehrgedicht 
über  den  Landbau,  es  hält  sich  auf  einer  mittleren  Stufe,  man  kann  nichts 
anderes  als  Löbliches  davon  sagen.  Die  ganze  Aeneis  ist  von  Anfang  bis 
zu  Ende  ein  misslungener  Gedanke,  das  hindert  aber  nicht,  dass  sie  voll 
einzelner  Schönheiten  ist,  sie  zeigt  eine  Gelehrsamkeit,  von  der  der  Histo- 
riker nie  genug  lernen  kann.  —  Traurig  ist,  dass  die  Nachwelt  gerade 
das  Misslungene  so  überschätzte;  zu  begreifen  ist  es  allerdings,  da  man 
ihn  nicht  mit  Homer  vergleichen  konnte,  den  man  gar  nicht  kannte,  die 
ausserordentlichen  Schönheiten  thaten  ihre  volle  Wirkung." 

Allein  die  Kritik  verwundet  nicht  bloss,  sie  heilt  auch.  Sie  hat  zwar 
die  Aeneis  und  die  Bucolica,  die  lange  Zeit  über  Gebühr  gepriesen  wurden, 
in  den  Schatten  gerückt,  aber  dafür  hat  sie  die  Georgica  auf  den  Thron 
gesetzt.  Sie  hat  erkannt,  dass  in  diesem  Gedicht  sich  die  dichterische 
Kunst  Vergils  am  schönsten  entfaltet  hat. 


2.  Q.  Horatius  Flaccus. 

251.  Sein  Leben.  Q.  Horatius  Flaccus  wurde  am  8.  Dezember  65 
V.  Ch.  in  Venusia  in  Apulien  an  der  Grenze  von  Lucanien  als  der  Sohn 
eines  Freigelassenen  geboren.  Obwohl  der  Vater  nur  im  Besitz  eines 
mageren  Gütchens  (S.  1,6,  71)  war,  so  setzte  er  doch  alles  daran,  seinem 
Sohne  eine  bessere  Erziehung  zu  geben.  Die  von  Flavius  in  Venusia  ge- 
leitete Elementarschule,  welche  auch  die  Söhne  der  Centurionen  besuchten, 
war  für  dieses  Ziel  ungenügend;  der  Vater  entschloss  sich  daher,  mit  seiner 
Familie  nach  Rom  überzusiedeln  (S.  1,  6,  76).    Hier  betrieb  er  das  Geschäft 


*)  Interessant  ist  es  zu  sehen,  wie  manch- 
mal der  Beifall,  der  dem  Römer  gespendet 
wurde,  im  Grunde  genommen  dem  Griechen 

filt.  So  bewunderte  Macaulay  die  Stelle 
Icl.  8,  37  saepibus — error  als  „the  finest  lines 
in  ihe  Latin  language**  und  freute  sich,  als 
er  entdeckte,  dass  auch  Voltaire  diese  Stelle 


als  die  schönste  im  ganzen  VergU  ansah. 
Allein  dieselbe  ist  nur  eine  Übertragung  aus 
Theocrit  (Sellar  p.  150). 

^)  Eine  solche  liefert  PitJss,  Vergü  p.  2 
Anm.  2. 

')  Vorträge  über  röm.  Gesch.  herausgg. 
von  IsLER  3, 130. 


72       ROmiBohe  LitteratnrgeBohiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteünng. 

eines  coactor  (S.  1,  6,  86)  d.  h.  er  kassierte  die  bei  den  Auktionen  erwach- 
senen Einzelforderungen  ein;  bei  der  hohen  Bedeutung,  welche  dieses  In- 
stitut im  römischen  Wirtschaftsleben  einnahm,  scheint  das  Geschäft  nicht 
unlukrativ  gewesen  zu  sein.  ^)  In  der  Hauptstadt  besuchte  der  junge  Horaz 
die  Schule  eines  Lehrers,  der  seines  Amtes  besonders  mit  der  Rute  war- 
tete, des  plagosus  Orbilius;  derselbe  las  mit  seinen  Schülern  die  Odyssee 
in  der  veralteten  Übersetzung  des  Livius  Andrönicus  (Ep.  2, 1,  70);  aber 
auch  die  Uias  wurde  in  seiner  Schule  erklärt  (Ep.  2,  2,  42).  Dass  Orbilius 
nicht  der  einzige  Lehrer  des  Horaz  war,  ersehen  wir  aus  S.  1,  6,  81. 
Rührend  wird  dort  beschrieben,  wie  der  Vater  bei  „allen"  Lehrern  selbst 
den  beaufsichtigenden  Pädagogen  machte,  um  den  Sohn  von  jedem  Ver- 
derben frei  zu  halten.  Seine  Erziehungsmaxime  war  in  erster  Linie,  durch 
den  Hinweis  auf  bekannte  Vorkommnisse  des  Lebens,  auf  die  Folgen  eines 
Lasters,  auf  Beispiele  zu  wirken  (S.  1,  4, 105).  Als  Horaz  den  herkömm- 
lichen Schulkursus  durchgemacht  hatte,  begab  er  sich  zu  seiner  höheren 
Ausbildung  nach  Athen  (Ep.  2,  2,  43),  wo  er  besonders  der  Philosophie 
oblag.  Aus  diesem  Studium  wurde  er  in  bewegter  Zeit  durch  die  An- 
kunft des  Brutus  in  Athen  (44  v.  Ch.)  herausgerissen  (Ep.  2,  2,  47).  Wie 
andere  junge  Römer  schloss  er  sich  dessen  Heer  an  und  erhielt  die  Stelle 
eines  Tribunus  militum  (S.  1,6,  48).  Er  machte  die  Schlacht  bei  Philippi 
(42  V.  Ch.)  mit  und  wurde  in  die  Flucht  des  geschlagenen  Heeres  des  Brutus 
hineingezogen  (C.  2,  7,  9).  Dieser  Ausgang  des  Bürgerkrieges  blieb  auch 
für  Horaz  nicht  ohne  schwere  Folgen.  Unter  den  Gebieten,  welche  von 
den  siegreichen  Machthabern  zur  Entschädigung  der  Veteranen  bestimmt 
waren,  befand  sich  auch  die  Heimat  des  Dichters,  Venusia  (App.  B.  C.  4, 3). 
Durch  diese  Massregel  verlor  er  Haus  und  Hof  (Ep.  2,  2,  51).  »An  den 
Schwungfedern  beschnitten"  kam  er,  als  den  Unterlegenen  Amnestie  ge- 
währt war,  nach  Rom;  doch  besass  er  noch  so  viel  väterlichen  Guts,  um 
sich  in  die  Korporation  der  Schreiber  einzukaufen  und  zwar  in  die  der 
Quästoren,  deren  Wirkungskreis*)  die  Führung  der  öffentlichen  Rechnungs- 
bücher war.  Dieses  Amt  gewährte  Horaz  ein  genügendes  Auskommen  und 
freie  Zeit,  um  sich  in  der  Poesie  zu  versuchen.  An  einer  vielbesprochenen 
Stelle  (Ep.  2, 2, 51)  sagt  er  von  dem  Entstehen  seiner  Dichtung: 

paupertas  inpülit,*)  audax 
ut  versus  facerem. 

Diese  Worte  sind  nichts  anderes  als  eine  Abbiegung  des  alten  Satzes: 
„Die  Not  macht  erfinderisch, '  indem  sie  speziell  das  Erfinderische  in  dem 
aggressiven  Charakter  seiner  Satiren  und  Epoden,  in  der  midacia  erblicken. 
Es  ist  nicht  statthaft,  aus  denselben  egoistische  Motive,  welche  Horaz  zur 
Dichtkunst  geführt  hätten,  abzuleiten.  Richtig  ist  es,  dass  allerdings 
Horazenft  Gedichte  auch  seine  äussere  Lage  verbessert  haben;  denn  durch 
sie  wurden  die  Gönner  der  Litteratur  und  der  kaiserliche  Hof  auf  ihn  auf- 
merksam.   Vergil    und   Varius   stellten    den    dichterischen   Genossen   dem 

^)  Vgl.  über  den  coactor  die  instruktive   |   et  itranger  1  [1877]  p.  397). 
Abhandlung    von    Mommsen,    ^Die    Pompej.  ')  Mokksen,  Rom.  Staatsr.  1, 273. 


Quittungstafeln "  (Hermes  12,  97);  dann  Cail- 
LEXER,  „  Un  Commissaire-Priseur  ä  Pompie*' 
(NoHvelle  Revue  historique  de  droit  fran^ais 


^)  So  ist  zu  interpungieren,  nicht   aber 
audax  auf  paupertas  zu  beziehen. 


Q.  Horatins  Flaccna. 


73 


Maecenas  vor  (S.  1,  6,  54).  Dies  geschah  im  Frühjahr  38  (S.  2,  6,  40),  neun 
Monate  später  (S.  1, 6,  61  im  Winter  38/37)  liess  Maecenas  den  Dichter 
wieder  rufen  und  nahm  ihn  unter  seine  Hausfreunde  auf.  Von  da  an  war 
er  der  materiellen  Sorgen  überhoben.  Ums  Jahr  33  v.  Ch.  erhielt  er  von 
seinem  Gönner  ein  Landgut  in  den  Sabinerbergen,  *)  das  ausser  dem  Guts- 
hof noch  fünf  ,, Feuerstellen'  in  sich  fasste  (Ep.  1, 14,  2).  In  einem  Brief 
an  Quinctius  beschreibt  er  dasselbe  in  anmutiger  Weise  (Ep.  1, 16). 

Jedenfalls  durch  Maecenas  kam  Horaz  auch  in  Beziehungen  zu  Au- 
gustus.  Gern  hätte  derselbe  ihn  näher  an  sich  herangezogen  und  ihn  zu 
seinem  Sekretär  gemacht,  allein  Horaz  wollte  seine  Freiheit  nicht  preis- 
geben. Auch  in  seinen  Dichtungen  hielt  er  sich,  obwohl  er  mit  vollem 
Herzen  auf  Seiten  der  neuen  Ideen  stand  und  dem  Hofe  seine  dichterischen 
Huldigungen  darbrachte,  doch  in  einer  gewissen  Zurückhaltung.  Sein  Leben 
verfioss  in  stiller  Behaglichkeit  auf  seinem  Landgut  und  in  Rom.  Er  starb 
den  27.  November  8  v.  Ch. 

Die  Hauptquelle  fßr  das  Leben  des  Horaz  sind  seine  Schriften.  Ausserdem  hat  sich 
die  vifa  aus  dem  Werk  Suetons  de  riris  iUustrihus  in  die  Horazhandschriften  hinüber- 
gerett«t  (Reifferschbid,  rel.  Suetoni  p.  44).  Auch  Porphyrie  hatte  eine  Biographie  ver- 
faast;  vgl.  S.  1,6,41  in  narratione,  quam  de  vita  illius  habtti,  ostendi. 

Litteratur:  Masson,  püa  Horatii,  Leyden  1708.  Teuffkl,  Horaz.  Tübing.  1843. 
Weber,  Q.  Hör.  Fl.  als  Mensch  und  als  Dichter,  Jena  1844.  Karsten,  Q.  Hör.  FI.,  aus 
dem  Holland,  übers,  von  Schwach,  Leipz.  1863.  Gerlach,  Leben  und  Dichtungen  des  H., 
Basel  1867.  L.  Müller,  Horaz,  eine  litterar-hist.  Biogr.,  Leipz.  1880.  Weissenfels,  Horaz, 
Berlin  1885.  —  Arnold,  Das  Leben  des  Hör.  und  sein  philos.,  sittl.  und  dicht.  Charakter, 
Halle  1860.  —  EstbI^,  Uaratiana  prosopographia,  Amsterd.  1846.  Jaffe,  De  personun  Horat.f 
Halle  1885.  Kiesslino,  De  per s.  Horat.  commentatio  im  Lektionenverzeichnis,  Greifsw.  1880. 
—  Teuffbl,  De  Horatii  amoribut*  (Jahns  Archiv  6,325  7,648).    Weber  ebenda  9,248. 

252.  Erste  Satirensammlimg.  Als  Horaz  nach  der  Schlacht  bei 
Philipp!  nach  Rom  kam  und  froh  sein  musste,  in  der  Korporation  der 
Schreiber  eine  Unterkunft  zu  finden,  da  war  es  die  Poesie,  durch  die  er 
seinem  gepressten  Herzen  Luft  machte.  Er  versuchte  sich  in  der  Art  und 
Weise  des  Archilochus  und  dichtete  Epoden,  aber  noch  geeigneter  fand  er 
für  seine  Studien  das  Feld,  das  Lucilius  angebaut  hatte,  die  Satire.  Sic 
wurde  ihm  das  geeignete  Organ  für  die  Plaudereien,  mit  denen  er  sich 
und  seine  Leser  in  angenehmer  Weise  unterhalten  wollte.  Stoff  konnte 
das  äussere  und  innere  Leben  des  Dichters  in  reicher  Fülle  darbieten.  Und 
in  der  That,  der  Dichter  plaudert  in  seinen  Satiren  über  die  mannig- 
fachsten Gegenstände.  Er  berichtet  über  Vorkommnisse  seines  Lebens,  so 
erzählt  er  uns  ein  Witzwort  aus  dem  Rechtsstreit  des  Ritters  P.  Rupilius 
Rex  aus  Praeneste  und  des  Bankiers  Persius  aus  Clazomenae,  der  vor  dem 
Richterstuhl  des  Brutus  ausgef echten  wurde  (7);  in  der  5.  Satire  gibt  er 
ein  Tagebuch  seiner  mit  Maecenas  unternommenen  Reise  nach  Brundisium ; 
es  ist  eine  sehr  ergötzliche  Erzählung;  in  einer  andern  schildert  er  uns 
höchst  anschaulich  die  Pein,  die  ihm  ein  aufdringlicher  Mensch  verursachte, 
der  sich  auf  der  Strasse  an  ihn  herandrängte,  um  Zutritt  zu  Maecenas  zu 
erlangen,  und  trotz  aller  Winke  sich  nicht  abschütteln  liess  (9);  eine  nächt- 
liche,  mit  einem  Knalleffekt  abschliessende  Beschwörungsgeschichte  ver- 


')  Die  Satire  2,  3  setzt  den  Besitz,  des- 
selben voraus.  Horaz  nimmt  bauliche  Ände- 
rungen (308)  vor,  scheint  also  eben  Eigen- 


tümer geworden  zu  sein.  Die  erwähnte  Satire 
ist  nicht  vor  33  v.  Ch.  geschrieben  (vgl.  Kiess- 
lino p.  148). 


74       RömiBohe  Litieratnrgeschiohie.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilimg. 

nehmen  wir  aus  dem  Munde  des  Gartengottes  Priapus  (8).  Aber  auch  an 
soziale  und  ethische  Probleme  wagt  sich  der  junge  Dichter  heran.  Er  malt 
uns  die  Oefahren,  denen  sich  die  Ehebrecher  aussetzen  (2),  er  wendet  sich 
gegen  die  lieblosen  Beurteiler  und  die  Splitterrichter  (3),  er  findet  in  der 
Habsucht  der  Menschen  den  Grund  ihrer  Unzufriedenheit  mit  ihrem  Lose 
und  ihres  Neides  (1).  Auch  persönliche  Verhältnisse  macht  er  zum 
Gegenstand  seiner  Verse.  Besonders  war  es  das  Verhältnis  zu  Maecenas, 
das  gegen  hämische  Missdeutungen  geschützt  werden  musste.  Er  thut  uns 
daher  in  einer  Satire  kund  (6),  wie  er  mit  Maecenas  bekannt  geworden, 
wie  er  von  seinem  Vater  nach  festen  Grundsätzen  erzogen  worden  sei, 
wie  es  ihm,  dem  Sohn  eines  Freigelassenen,  durchaus  nicht  beifalle,  über 
seinen  Stand  hinauszustreben,  wie  er  aber  auch  keinen  Grund  habe,  sich 
seines  Ursprungs  zu  schämen.  Zur  Verteidigung  seiner  Satirendichtung  und 
zur  Darlegung  seines  Verhältnisses  zu  Lucilius  ergriff  er  zweimal  das  Wort, 
einmal  hatte  er  es  mit  zwei  Klassen  von  Gegnern  zu  thun,  mit  solchen, 
welche  sich  an  der  Form  stiessen  und  mit  solchen,  welchen  der  aggressive 
Inhalt  tadelnswert  erschien  (4).  Da  er  in  dieser  Satire  Lucilius  in  Bezug 
auf  die  Form  stark  mitgenommen  hatte,  so  sucht  er,  wahrscheinlich  weil 
dieses  Urteil  Missfalleu  erregt  hatte,  später  seinen  Tadel  auf  ein  richtiges 
Mass  herabzusetzen  (10). 

Diese  Dichtungen  waren  anfanglich  nicht  für  die  Veröffentlichung 
durch  den  Buchhandel  bestimmt  (S.  1,4,  71);  nur  in  Freundeskreisen  wur- 
den sie  vorgelesen.  Allein  späterhin,  ungefilhr  im  Jahre  35  v.  Ch.,  stellte 
er  zehn  Stück  zu  einem  Buch  zusammen.  Die  Ordnung  der  hier  ver- 
einigten Satiren  ist  keine  zufallige,  sondern  eine  vom  Dichter  gewollte. 
An  die  Spitze  tritt  eine  Satire,  in  der  Maecenas  angeredet  wird;  es  sollte 
dadurch  das  ganze  Buch  seinem  Gönner  gewidmet  werden.  Die  Mitte  (6) 
nimmt  eine  Satire  ein,  in  welcher  wiederum  die  Persönlichkeit  des  Maecenas 
in  den  Vordergrund  tritt.  Die  letzte  Satire  kann  endlich  gut  die  Stelle 
eines  Epilogs  vertreten. 

Chronologie  der  ersten  Satiren  Sammlung.  Da  mehrere  Satiren  des  ersten 
Buchs  (1.  3.  5.  6.  8.  9.  10)  eine  innigere  Bekanntschaft  des  Dichters  mit  Maecenas  voraus- 
setzen, so  kann  die  Herausgabe  des  Buchs  nicht  vor  37  v.  Gh.  angesetzt  werden.  Wenn 
aber  die  zweit«  Satirensammlung  später  entstand  und  später  herausgegeben  wurde,  so 
müssen  wir  weiter  folgern,  dass  die  Edition  des  ersten  Buchs  nicht  nach  33  v.  Gh.,  über 
welches  Jahr  die  dritte  Satire  des  2.  Buchs  nicht  zurückdatiert  werden  darf,  statthatte. 
Ob  man  aus  der  Nennung  des  Bibulus  (1,10,86)  dessen  Anwesenheit  in  Rom  als  Unter- 
händler des  Antonius  und  damit  das  Jahr  35  als  Abschluss  des  ersten  Buchs  folgern  darf, 
ist  zweifelhaft.  —  Brai^deb,  De  editione  ufriusque  libri  satirarum  Horatii,  Halle  1885. 

253.  Die  Epoden.  Neben  den  Satiren  pflegte  Horaz,  wie  wir  sahen, 
die  Epoden.  Iin  Laufe  der  Zeit  war  ihm  eine  Reihe  von  Stücken  erwachsen. 
Von  Maecenas  gedrängt  (Ep.  14)  entschloss  er  sich  auch  zu  einer  Samm- 
lung dieser  Produkte  seiner  Muse.  Er  vereinigte  17  Gedichte  zu  einem 
Corpus  und  ordnete  sie  nach  metrischen  Rücksichten.  Die  ersten  10  Ge- 
dichte sind  in  dem  Mass 


gedichtet  d.  h.  es  folgt  auf  einen  jambischen  Trimeter  ein  jambischer  Di- 
meter.    Der  kürzere  Vers  erscheint  dem  längeren  gegenüber  als  eine  dau- 


Q.  HoratiuB  Flaccns.  75 

sula  und  führt  den  Namen  ino^doq.  Die  sieben  sich  »anschliessenden  Ge- 
dichte weisen  verschiedene  Masse  auf.  Meist  wird  auch  hier  ein  längerer 
Vers  durch  einen  kürzeren  abgeschlossen.  Von  dieser  metrischen  Erschei- 
nung führte  das  ganze  Buch  in  späterer  Zeit  den  Namen  „Epoden*'.  Allein 
in  manchen  Stücken  tritt  jene  Erscheinung  gar  nicht  hervor,  so  besteht 
das  letzte  Gedicht  aus  lauter  Trimetern,  in  Nr.  11  geht  der  kürzere  Vers 
voraus,  in  Nr.  13  sind  beide  Verse  nahezu  gleichlang.  Horaz  selbst  hat 
seine  Sammlung  „Jambi'*  genannt,  i)  In  diesen  Gedichten  ist  Horaz  Nach- 
ahmer der  archilochischen  Jambenpoesie.  Wenn  er  aber  sich  berühmt 
(Ep.  1,19,23): 

Parios  ego  pritnus  iambos 
Mtendi  LatiOf  numeros  animosque  secutus 
Archilochij  non  res  et  agentia  verba  Li/camben, 

80  ist  das  eine  offenkundige  Übertreibung;  denn  schon  vor  Horaz  haben 
Catull  und  seine  Genossen  in  dieser  Dichtungsgattung  Ausgezeichnetes  ge- 
leistet. Dagegen  ist  es  richtig,  dass  Horaz  mit  diesen  Gedichten  neue 
Masse  bei  den  Römern  einführte,  besonders  das  aus  zwei  jambischen  Reihen 
bestehende  Epodenmass.  Zeigt  sich  Horaz  als  glücklicher  Nachahmer 
des  Archilochus  in  der  Form,  so  steht  er  dagegen  in  Bezug  auf  den 
dichterischen  Gehalt  weit  hinter  dem  Griechen  zurück.  Bei  Archilochus 
ist  die  Dichtung  ein  treuer  Spiegel  seines  Lebens;  seine  leidenschaftliche 
Natur  findet  in  den  Jamben  die  Waffe,  um  alle  ihm  angethane  Unbill  zu 
rächen;  in  seinem  bewegten  Leben  hat  er  aber  deren  genug  erfahren.  Da- 
gegen ist  Horazens  Leben,  nachdem  er  die  Folgen  der  Schlacht  bei  Philippi 
überwunden,  von  aufregenden  Scenen  frei.  Es  kann  daher  seine  Jamben 
nicht  die  archilochische  Kraft  durchdringen;  ja  es  finden  sich  Stücke  da- 
runter, die  gar  nichts  Aggressives  enthalten,  wie  das  erste  Gedicht,  in 
dem  Horaz  von  Maecenas,  der  in  den  Krieg  zieht,  nicht  zurückgelassen 
sein  will;  ebenso  ist  die  Aufforderung  zum  frohen  Lebensgenuss,  wie  sie 
Nr.  13  ausspricht,  ohne  allen  bitteren  Beigeschmack;  nicht  minder  harm- 
los ist  das  14.  Gedicht,  in  dem  sich  Horaz  bei  Maecenas  entschuldigt,  dass 
er  die  Sammlung  der  Jamben  noch  nicht  zu  Ende  geführt,  ferner  das  Ge- 
dicht 1 1 ,  in  dem  er  seine  Liebespein  dem  Pettius  klagt.  Manche  Gedichte 
sind  nur  teilweise  aggressiv;  interessant  sind  in  dieser  Hinsicht  das  zweite 
und  das  sechzehnte,  beide  sind  Idyllen,  das  erste  schildert  uns  das  Glück 
des  ländlichen  Stillebens,  das  andere  führt  uns  auf  die  Inseln  der  Glück- 
seligen; allein  im  ersten  Stück  ist  durch  den  Schluss,  durch  den  die  ganze 
Verherrlichung  des  Landlebens  in  den  Mund  eines  Wucherers  gelegt  wird, 
im  zweiten  durch  den  Eingang,  der  ein  strafendes  Wort  an  die  durch  die 
Bürgerkriege  sich  zerfleischenden  Römer  richtet,  der  jambische  Charakter 
einigermassen  gewahrt.  In  der  Mitte  erinnert  an  Archilochus  das  Gedicht  9; 
indem  Horaz  den  Maecenas  zu  einer  Feier  des  Sieges  bei  Actium  auffordert, 
werden  harte  Worte  gegen  Antonius  geschleudert.  Die  übrigen  10  Stücke 
der  Sammlung  dagegen  sind  mehr  im  Geiste  des  Archilochus  geschaffen; 
-etwas  von  loderndem  Ingrimm  verraten  das  Schmähgedicht  auf  einen  reichen 


*)   Epod.  14,  7    G.  1,  16,  3  und  24  (nie  |    Fervor  et  in  celeres  iambo«  Misit  furentem). 
quoqiu  pectoris  Temptavit   in   dulci  iuventa   ,   Ep.  1  19, 23. 


76       RömiBohe  LitteratnrgeBohiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

Parvenü  (4),  die  Drohung  an  einen  feigen  Kläffer  (6),  das  verwünschende 
Propempticon  für  den  Dichter  Mevius  (10),  die  Abwehr  alter  und  häss- 
licher  Frauen  (8  u.  12),  die  Mahiirede  an  die  sich  in  einen  neuen  Bürger- 
krieg stürzen  wollenden  Römer  (7).  Nicht  ernst  gemeint  sind  die  furcht- 
baren Verwünschungen  eines  Knoblauchgerichtes,  mit  dem  Maecenas  den 
Dichter  bewirtet  hat  (3).  In  gedämpftem  Ton  erklingt  die  Klage  über  die 
Untreue  der  Neaera  (15).  Eigenen  Charakter  haben  die  zwei  Gedichte  auf 
die  Canidia;  in  dem  ersten  (5)  wird  sie  verhöhnt,  indem  eine  Scene  vorge- 
führt wird,  in  der  sie  einen  Knaben  mordet,  um  aus  dessen  Mark  und  Leber 
einen  Liebestrank  zu  brauen;  das  zweite,  das  Schlussgedicht  der  ganzen 
Sammlung,  enthält  ein  Zwiegespräch  zwischen  Horaz  und  Canidia.  Der 
Dichter  bittet  ironisch  um  Schonung,  dagegen  droht  ihm  die  Giftmischerin 
unerbittlich  mit  neuen  Qualen. 

Aus  der  gegebenen  Übersicht  erhellt,  dass  die  Epoden  zwei  ganz 
heterogene  Bestandteile  umfassen,  das  aggressive  Gedicht  und  das  Lied, 
und  dass  beide  Formen  manchmal  ineinander  übergehen.  Nachdem  die 
Sammlung  dieser  Gedichte,  welche  den  Zeitraum  von  40—31  umspannen, 
geschlossen  war,  kam  der  Dichter  nicht  mehr  auf  diese  Dichtungsart 
zurück.  Das  aggressive  Gedicht  hatte  eine  höhere  Stufe  bereits  in  der 
Satire  erhalten,  indem  der  Angrifif  sich  von  dem  Individuellen  auf  das 
Allgemeine  lenkte;  das  Lied  fand  späterhin  so  reiche  Pflege,  dass  dasselbe 
in  voller  Selbständigkeit  erscheinen  konnte. 

Chronologie  der  Epoden.  Die  Zeitanspielungen  führen  von  40  v.  Chr.  bis  31 
V.  Ch.;  in  jenem  Jahr  ist  das  16.  Gedicht  verfasst,  dagegen  weist  das  9.  auf  den  bei 
Actium  eben  erfochtenen  Sieg  (2.  Sept.  31);  noch  vorher  war  in  demselben  Jahr  das  1.  Stück 
gedichtet.  Wir  werden  also  die  Herausgabe  der  Sammlung  ins  folgende  Jahr  30  v.  Ch.  zu 
setzen  haben.  —  Teuffel.  Die  Abfassnngsz.  der  Epoden,  Zeitschr.  f.  Altertumsw.  1844  (508), 
1845  (506).    Leidloff,  De  epodon  Hör,  aetate,  Holzminden  1856. 

254.  Zweite  Satirensammlung.  Das  erste  Buch  der  Satiren  war 
bereits  geraume  Zeit  in  den  Händen  des  Publikums.  Es  kamen  dem  Dichter 
jetzt  Urteile  zu,  darunter  ablehnende.  Den  einen  missfiel  die  Schärfe  des 
Inhalts,  den  andern  die  schlottrige  Form  (S.  2, 1, 1).  Da  trat  er  mit  einer 
neuen  Sammlung  hervor,  in  der  die  Komposition  andere  Wege  einschlug. 
Während  in  den  Satiren  des  ersten  Buchs  mit  einer  durch  die  Natur  des 
Gegenstandes  (8)  begründeten  Ausnahme  der  Dichter  selbst  seine  Ansichten 
von  Menschen  und  Menschenleben  entwickelt,  lässt  er  jetzt  andere  Per- 
sonen reden.  So  bezeichnet  er  in  der  zweiten  Satire  ausdrücklich  seine 
Betrachtungen  über  die  Genügsamkeit  als  Gedanken  des  Landmanns  Ofellus, 
der  selbst  durch  widrige  Schicksalsschläge  seine  Zufriedenheit  nicht  ein- 
büsste.  In  der  dritten  Satire  erhalten  wir  die  Lehre  des  Stoikers  Ster- 
tinius  über  das  Paradoxon,  dass  ausser  dem  Weisen  alle  Menschen  Thoren 
seien  und  dass  jede  Thorheit  eine  Verrücktheit  sei.  Diese  Lehre  trägt 
aber  Stertinius  durch  den  Mund  eines  seiner  Anhänger,  des  bankerott  ge- 
wordenen Damasippus,  vor.  Ein  ähnliches  Verfahren  hält  Horaz  in  der 
vierten  Satire  ein,  in  der  ein  gastronomischer  Cursus  nicht  durch  den 
Meister  selbst,  sondern  durch  einen  Hörer  Catius  gegeben  wird.  Höchst' 
komisch  wird  in  der  fünften  Satire  eine  Anleitung  zur  Erbschleicherei 
dem  Seher  Tiresias  beigelegt,   den  Ulixes  bei  seiner  Fahrt  in  die  Unter- 


Q.  Horaüns  Flaocns.  77 

weit  gefragt  hatte,  wie  er,  nachdem  er  alles  verloren,  zu  Reichtum  ge- 
langen könne.  Das  stoische  Paradoxon,  dass  nur  der  Weise  frei  ist,  alle 
übrigen  Menschen  aber  Sklaven  sind,  erörtert  der  Sklave  Davus,  geschützt 
durch  die  Freiheit  der  Saturnalien,  in  der  siebten  Satire  vor  seinem 
Herrn,  dem  Dichter.  Seine  Philosophie  hatte  er  von  dem  Thürhüter  des 
Stoikers  Crispinus.  Einen  heiteren  Abschluss  der  Satirensammlung  bildet 
die  achte  Satire,  in  welcher  der  Komiker  Fundanius  ein  Diner  bei  dem 
reichen  Nasidienus  Rufus,  der  durch  die  stetigen  gastronomischen  Er- 
läuterungen seine  Gäste  belästigt  und,  als  der  über  das  Triklinium  ge- 
spannte Vorhang  herabstürzte,  ausser  Rand  und  Band  kam,  anschaulich 
schildert.  Ausserdem,  dass  Horaz  andere  Personen  statt  seiner  sprechen 
lässt,  strebt  er  auch  noch  dramatische  Gestaltung  an;  er  führt  nämlich 
in  den  Satiren  3,  4,  7,  8  sich,  in  der  5.  den  Ulixes  als  Hörer  und  Mit- 
redenden ein. 

Gegen  das  neue  Eompositionsgesetz  scheinen  die  erste  und  sechste 
Satire  zu  Verstössen.  Allein  diese  Ausnahmen  sind  durchaus  gerechtfertigt; 
in  beiden  Satiren  spricht  er  nämlich  von  seinen  eigenen  Angelegenheiten, 
in  der  ersten  verteidigt  er  seine  Satirenschreiberei  gegen  die  Angriffe  seiner 
Gegner,  in  der  sechsten  schildert  er  sein  zufriedenes  Stilleben  auf  seinem 
Landgut  und  stellt  demselben  das  Jagen  und  Treiben  in  Rom  entgegen. 
Aber  auch  diese  beiden  Satiren  sucht  er  soweit  als  möglich  der  neuen 
Kompositionsform  zu  nähern;  die  erste  gestaltet  er  dramatisch,  indem  er 
seine  Verteidigung  vor  dem  Juristen  Trebatius  abhält,  in  der  sechsten  wird 
aber  der  Gegensatz  des  Stadt-  und  Landlebens,  nachdem  ihn  Horaz  in  so 
überaus  anmutiger  Weise  geschildert,  zuletzt  auch  von  dem  Gutsnachbar 
Cervius  durch  die  Erzählung  von  der  Stadt-  und  Landmaus  anschaulich 
gemacht  und  dadurch  die  neue  Kompositionsform  sozusagen  noch  nachträg- 
lich durchgeführt. 

Chronologie  der  zweiten  Satirensammlung.  Da  Horaz  in  der  zweiten  Samm- 
lung eine  völlig  andere  Kompositionsform  als  in  der  ersten  eingeschlagen,  so  ist  es  ganz 
unwahrscheinlich,  dass  die  beiden  Sammlungen  gleichzeitig  entstanden  sind.  Es  kommt 
hinzu,  dass  die  Zeitanspielungen,  soweit  wir  sie  erkennen  können,  später  sind  als  die  im 
ersten  Buch  vorkommenden.  Die  Sammlung  kann  nicht  vor  31  v.  Gh.  herausgegeben  sein, 
denn  in  dieses  Jahr  und  zwar  gegen  £nde  desselben  fällt  die  6.  Satire  (Brandes  p.  8). 
Also  werden  wir  mit  der  Herausgabe  ins  Jahr  30  v.  Ch.  kommen  (Kiesslino,  Einleitung 
p.  XII). 

255.  Charakteristik  der  Satirendichtung.  In  der  Satire  setzte 
Horaz  die  Richtung  des  Lucilius  fort;  allein  es  trennte  doch  beide  Dichter 
eine  weite  Kluft.  Lucilius  hatte  sehr  wenig  Gewicht  auf  die  Form  gelegt; 
sein  schlottriger  Versbau,  sein  Mangel  an  Sorgfalt  in  der  Komposition,  die 
bunte  Mischung  von  Griechisch  und  Lateinisch  werden  von  Horaz  wieder- 
holt getadelt.  Diese  Formlosigkeit  durfte  sich  der  augusteische  Dichter 
nicht  mehr  erlauben,  da  war  der  Geschmack  doch  schon  zu  entwickelt  und 
die  Verstechnik  fortgeschritten.  Ebensowenig  konnte  der  Venusiner  in  der 
Anwendung  mannigfacher  Versmasse  dem  alten  Satiriker  folgen,  er  setzte 
den  Hexameter  als  den  einzig  zulässigen  Vers  in  den  Satiren  fest.  Auch 
der  Gedankenwelt  Horazens  waren  nicht  viele  Berührungspunkte  mehr  mit 
der  Lucilischen  gemeinsam.    Es  war  eine  andere  Zeit  mit  anderen  Ten- 


78       RömiBche  Litteratargeflcliiohte.    U.  Die  Zeit  der  Honarohie.    1.  Abteilnng, 

denzen  angebrochen;  die  Republik  hatte  sich  ausgelebt  und  die  Monarchie 
die  Gemüter  versöhnt,  für  politische  Erörterungen,  welche  bei  Lucilius  so 
stark  hervortraten,  war  jetzt  kein  Kaum  mehr.  So  blieben  noch  die  Kreise 
der  Litteratur,  des  Familienlebens,  eigene  und  fremde  Verhältnisse  für  die 
neuen  Satiren  übrig.  Um  diese  Poesie  in  ihrem  Charakter  näher  zu  be- 
stimmen, müssen  wir  zunächst  auf  den  Dichter  selbst  zurückgreifen.  Da 
finden  wir  nun,  dass  er  seine  Satiren  gar  nicht  als  eigentliche  Poesie  be- 
tmchtet,  sie  sind  ihm  in  Verse  gebrachte  Prosa.  Er  nennt  sie  daher  wie 
seine  Briefe,  nachdem  er  mit  seinen  Oden  das  Reich  der  echten  Poesie 
betreten  haben  wollte  (Ep.  1,4, 1  2,1,250  2,2,60)  nur  sermones  d.  h. 
Plaudereien.  Die  Plaudereien  setzen  eine  fingierte  Person  voraus,  etwa  den 
Leser,  mit  dem  sich  der  Dichter  unterhält  und  der  hier  und  da  durch 
Einwürfe  sich  bemerklich  macht.  Im  zweiten  Buch  wird  aber  in  der  Regel 
ein  wirklicher  Dialog  eingeführt.  Die  Plauderei  braucht  sich  nicht  an 
strenge  Ordnung  der  Gedanken  zu  halten,  auch  braucht  sie  nicht  den 
Gegenstand  nach  allen  Seiten  hin  auszuschöpfen;  es  genügt,  wenn  das  Auf- 
fällige, das  was  gerade  in  den  Wurf  kommt,  besprochen  wird.  Aber  es 
ist  klar,  dass  die  Plauderei  doch  den  Charakter  der  Kunst  an  sich  tragen 
soll.  Sie  muss  daher  so  beschaffen  sein,  dass  sie  den  Leser  erheitert  und 
erfrischt.  Wird  diese  Forderung  erfüllt,  so  kann  der  Dichter  über  alles 
Mögliche  plaudern;  seine  Dichtungsgattung  setzt  ihm  keine  Schranken.  Er 
kann  sich  mit  dem  Leser  unterhalten  über  eine  harmlose  Anekdote,  wie 
über  den  Streit  zwischen  Rupilius  Rex  und  Persius,  über  ein  Reisebild  wie 
in  der  fünften  Satire  des  ersten  Buchs,  über  ein  einfaches  Erlebnis  wie  in 
der  letzten  Satire  desselben  Buchs.  Aber  seine  Unterhaltung  kann  sich 
auch  einem  ethischen  Problem  zuwenden.  Hier  muss  sich  uns  die  innere 
Natur  des  Dichters  erschliessen  und  solche  Satiren  werden  daher  die  grösste 
Anziehungskraft  ausüben.  Die  ganze  Liebenswürdigkeit  des  Dichters  tritt 
in  denselben  zu  Tage.  Indem  er  über  das  Verkehrte  plaudert,  macht  er 
keinen  von  Grimm  erfüllten  Strafprediger,  durch  die  ungeschminkte  Dar- 
stellung löst  sich  die  Thorheit  selbst  auf;  mit  lachendem  Mund  verkündet 
er  das  Wahre  (1,10,14): 

ridiculum  (icri 
fortius  et  melius  magnas  plerumque  secat  res. 

Die  Lebensweisheit,  die  uns  in  diesen  Schöpfungen  dargereicht  wird,  ent- 
lehnt der  Dichter  zum  Teil  aus  den  Griechen.  Man  gewahrt  den  Einfluss 
des  Cynikers  Menippus  wie  z.  B.  in  der  5.  Satire  des  zweiten  Buchs,  noch 
mehr  scheint  Horaz  einem  andern  Schriftsteller  zu  verdanken,  dessen  Be- 
nützung entschieden  aus  Ep.  2, 2, 60  gefolgert  werden  muss.  Es  ist  dies 
Bion  aus  Borysthenes,  welcher  „der  Philosophie  ein  blumiges  Gewand 
anlegte.  **  Dessen  SiavQißai  waren  ganz  wie  manche  Horazische  Satiren 
Plaudereien,  nur  prosaische  über  ethische  Probleme.  Aber  man  merkt 
diese  Benützung  kaum  mehr;  der  Römer  hat  die  griechische  Weisheit  so 
in  sich  aufgenommen,  dass  sie  einen  Teil  seines  Wesens  bildet. 

Über  Bion  als  Quelle  des  Horaz  vgl.  Heinzb,  De  Horatio  Bionis  imitatore,  Bonn 
1889.  (Dazu  Rh.  Mus.  45,  519.)  Hense,  Teletis  reliq.  p.  LXVI.  Die  Benützung  des  Menippus 
von  Seite  des  Horaz  leugnet  Rowb,  Quaeritur  quo  iure  Horaiius  in  saturis  Menippum 
imitatus  esse  dicatur,  Halle  1888,  allein  mit  Unrecht. 


Q.  HoratiuB  Flacons.  79 

256.  Erste  Liedersammlung.  Mit  den  Epoden  hatte  Horaz  den 
Versuch  gemacht,  das  jambische  Epodenmass  des  Archilochos  in  Rom  ein- 
zubürgern. In  seinen  reiferen  Jahren  steckte  er  sich  noch  ein  höheres 
Ziel,  auch  das  äolische  Lied  des  Alcaeus  und  der  Sappho  sollte  auf  dem 
italischen  Boden  erklingen.  Es  war  dies  kein  kleines  Wagnis,  denn  es 
trennten  Jahrhunderte  die  Zeit  des  Dichters  von  jener  zarten  Blüte  der 
Poesie,  auch  bewegte  sich  die  damalige  Litteraturströmung  in  ganz  anderem 
Bette,  in  der  älexandrinischen  Dichtung,  welche  zeitlich  wie  sachlich  den 
Römern  am  nächsten  lag.  Wie  viel  Jahre  Horaz  dem  grossen  Werk  ge- 
widmet, können  wir  nicht  mit  Bestimmtheit  sagen,  die  in  den  Liedern 
liegenden  chronologischen  Indicien  führen  uns  nicht  über  das  Jahr  30  v.  Ch. 
zurück.  Nach  beiläufig  sieben  Jahren  (23  v.  Ch.)  hatte  er  so  viel  Lieder 
beisammen,  dass  er  drei  Rollen  füllen  konnte.  Er  vereinigte  zwanzig  zum 
zweiten  Buch,  dreissig  zum  dritten,  man  sieht  die  Einwirkung  der  runden 
Zahl ;  in  das  erste  Buch  musste  er,  wollte  er  nicht  auf  die  Aufnahme  mancher 
Gedichte  eines  äusseren  Prinzips  wegen  verzichten,  alles  einreihen,  was 
er  für  die  Publikation  bestimmt  hatte,  so  kamen  in  dieses  Buch  38  Lieder. 
Um  den  Lesern  gleich  eine  Vorstellung  seines  metrischen  Könnens  zu 
geben,  eröffnete  er  die  Sammlung  mit  lauter  Oden  von  verschiedenem 
Masse.  Es  werden  hier  (mit  Ausnahme  der  2,18  3,12  gebrauchten)  alle 
Metra  gewissermassen  in  Parade  vorgeführt,  welche  in  den  drei  Teilen 
der  Sammlung  vorkommen.  Nachdem  der  Dichter  einmal  diese  Tafel  ent- 
worfen, wollte  er  sie  auch  für  die  Anordnung  der  übrigen  Oden  des  ersten 
Buchs,  ja  auch  der  Oden  der  folgenden  zwei  Bücher  zu  Grunde  legen  und 
damit  zugleich  das  Prinzip  der  Abwechslung  soweit  als  möglich  zur  Geltung 
bringen.  Daneben  verfolgt  er  noch  andere  Rücksichten  bei  der  Anordnung. 
Das  erste  Wort,  das  wir  in  der  Sammlung  lesen,  ist  Maecenas;  er  suchte 
dadurch  anzudeuten,  dass  sie  dem  Patron  als  Gabe  dargebracht  werde. 
Auch  die  folgenden  Oden  des  ersten  Buchs  verdanken  ihre  bevorzugte 
Stellung  dem  Bestreben  des  Dichters,  seinen  Freunden  und  Gönnern  ein 
ehrendes  Denkmal  zu  setzen.  Das  zweite  Buch  wird  eingeleitet  durch  eine 
Ode  an  Asinius  Pollio;  denn  auch  diesem  einflussreichen  Kritiker  gebührte 
ein  Ehrenplatz.  Einen  besonders  glänzenden  Eingang  erhielt  der  dritte 
Teil  der  Sammlung.  An  der  Spitze  desselben  erschien  ein  Cyclus  von 
sechs  Gedichten,  die  sogenannten  Römeroden,  denen  von  jeher  die  grösste 
Bewunderung  gezollt  wurde.  Anfang  und  Ende  der  Sammlung  wurde  da- 
durch zusammengeschlossen,  dass  das  erste  und  das  letzte  Gedicht  in  dem- 
selben Versmass  erscheint.  Die  Stoffe,  welche  den  einzelnen  Liedern  zu 
Grund  liegen,  sind  sehr  mannigfaltig.  Es  ist  kaum  eine  bemerkenswerte 
Situation  des  Menschenlebens,  welche  nicht  an  die  eine  oder  die  andere 
Ode  angeknüpft  werden  könnte.  Bald  ist  es  die  Freundschaft,  bald  die 
Liebe,  bald  das  Vaterland,  bald  die  Götterwelt,  bald  das  fröhliche  Zech- 
gelage, bald  das  stille  Leben  in  der  Natur,  bald  ein  Ereignis  des  Tags, 
bald  die  Welt  der  Gedanken,  welche  seine  Leier  bewegt.  Für  jede  Stim- 
mung finden  sich  anklingende  Töne.  Ernstes  und  Heiteres,  Hohes  und 
Niedriges,  Phantastisches  und  Realistisches,  Leichtes  und  Tiefsinniges 
schwirren  bunt  durcheinander.   Als  er  auf  sein  mühevolles  Schaffen  zurück- 


80       Römische  lätteratnrgeBcliiohte.    Ü.  Die  Zeit  der  Honarchie.    1.  Abteilung. 

blickte,  überkam  ihn  das  Gefühl  einer  hohen  Befriedigung.  Im  Geiste  sah 
er,  wie  sein  Lied  zu  allen  Völkern  des  Erdkreises  dringen  werde,  selbst  zu 
denen,  welche  noch  von  der  Kultur  unberührt  geblieben ;  er  ahnte,  dass  er 
sich  ein  Denkmal  begründet,  das  der  Zeiten  Flucht  nicht  zerstören  könne, 
und  das  Herz  vor  Freude  geschwellt,  brach  er  in  den  Jubelruf  aus: 

Nan  omnis  moriar. 

Die  Paradeoden.  Auf  die  Absicht  des  Dichters,  durch  die  ersten  Oden  dem  Leser 
gleich  die  verschiedenen  Formen  seiner  metrischen  Kunst  vorzuführen,  machte  Christ  auf- 
merksam (Münchn.  Sitzungsber.  1868  I  p.  36  Anm.  12).  Wie  weit  sich  die  Paradeoden  er- 
strecken, ist  strittig.  Christ  nimmt  die  ersten  9,  Kiesslino  (p.  63)  die  ersten  12  als 
Probestücke,  da  das  Metrum  der  10.  Ode,  obwohl  sapphisch  wie  die  2.,  doch  zum  Teil 
andere  Normen  befolge,  also  eine  Variation  des  sapphischen  Masses  zum  Ausdruck  bringe, 
da  femer  die  11.  Ode  das  noch  nicht  vertretene  grössere  Asclepiadeum  anwende,  da  end- 
lich der  Dichter  mit  der  12.  Ode  wieder  zum  Metrum  und  Stoff  des  2.  Gedichts  zurückkehre. 

Die  Verteilung  der  übrigen  Gedichte  nach  dieser  Tafel  legt  Elter  dar  (Wiener 
Stud.  10, 158).  Die  Rücksichtnahme  auf  Freunde  und  Gönner  in  den  ersten  Oden  erörtert 
BücHELER  {Ind.  lect.y  Bonn  1878/9  p.  15).  Es  ist  eine  Beobachtung  Rieses  (Fleckeis.  Jahrb. 
1866,  474),  dass  der  Dichter,  da  er  im  dritten  Buch  gleich  zu  Anfang  sechsmal  im 
alräischen  Versmass  gedichtet,  erst  im  17.  wieder  darauf  zurückkam,  um  Übersättigung  des 
Lesers  zu  verhüten. 

Chronologie  der  drei  ersten  Odenbücher.  Wegweiser  war  hier  Lachmakv 
(Kl.  Sehr.  p.  155).  Vgl.  Kiesslino,  in  den  Philol.  Unters,  von  Kiessling  und  Wilamowitz 
2,  48.  In  dem  ersten  Epistelbuch,  welches  nach  dem  Schlussgedicht  im  J.  20  v.  Ch.  heraus- 
kam, findet  sich  ein  Bnef  (13),  in  dem  H.  nochmals  den  bereits  abgereisten  Vinnius  Asina 
instruiert,  wie  er  des  Dichters  Rollen  (volumina)  dem  Princeps  überreichen  soll.  Diese 
Volumina  können  nichts  anderes  gewesen  sein  als  die  drei  Bücher  Oden.  Diese  Über- 
reichung eines  Dedikationsexemplars  seiner  Gedichte  musste  also  vor  20  v.  Ch.  erfolgt 
sein.  Augustus  ging  Ende  22  v.  Ch.  nach  Sicilien  und  von  da  nach  dem  Osten.  Da  nun 
der  Bote  nach  der  Beschreibung  des  Dichters  den  Landweg  nimmt  (v.  10),  so  muss  Vinnius 
sich  seines  Auftrages  entledigt  haben,  ehe  Augustus  nadb  Sicilien  und  dem  Orient  ging, 
also  vor  Ende  22  v.  Ch.  Wir  können  aber  noch  weiter  hinaufgehen;  Marcellus,  der  Ende 
23  V.  Ch.  starb,  muss  noch  am  Leben  gewesen  sein,  sonst  würde  H.  kaum  in  der  Weise, 
wie  dies  1,12,45  geschehen,  an  ihn  erinnert  haben.  Weiter:  Horaz  feiert  in  mehreren 
Liedern  den  Schwager  des  Maecenas,  L.  Licinius  Murena  (2, 10  3, 19).  Dieser  Mann  wurde 
aber  in  der  zweiten  Hftlfte  des  Jahres  23  v.  Ch.  in  eine  Verschwörung  verwickelt,  die  sein 
tragisches  Ende  herbeiführte.  Man  wird  kaum  annehmen  können,  dass  Horaz  jene  Lieder 
nach  diesem  Ereignis  noch  in  seine  Bücher  aufgenommen  hätte.  Es  handelt  sich  noch  um 
den  terminus  post  quem.  Als  das  jüngste  Ereignis  erscheint  1, 24  der  Tod  des  Quintilius 
Varus,  den  Hieronymus  (IT  143  Seh.)  in  das  Jahr  23  (nur  ein  codex  24)  setzt.  Für  das 
Jahr  23  spricht  auch  die  Aufiiahme  des  Sestius  in  die  Paradeoden,  welche  erst  dann  recht 
verständlich  wird,  wenn  die  betr.  Ode  (4)  geschrieben  wurde,  nachdem  Sestius  Mitte  23 
das  Konsulat  angetreten  hatte.  Sonach  ist  die  Herausgabe  der  drei  Bücher  im  Jahre  23 
höchst  wahrscheinlich.  Die  älteste  Ode  ist  1,37  nunc  est  bibendum,  sie  fällt  in  das  Jahr 
30  V.  Ch.  (BÜCHELER,  Ind.  lect.,  Bonn  1878/9  p.  14). 

257.  Die  erste  Epistelsammlung.  Als  die  drei  Bücher  Oden  im 
J.  23  V.  Ch.  erschienen  waren,  drängte  es  den  Dichter  wieder  zu  den 
„Plaudereien^,  den  Erstlingsfrüchten  seiner  Muse,  zurückzukehren;  er  nahm 
sie  aber  in  einer  neuen  Form,  der  des  Briefs,  auf.  Auch  unter  dieser 
Form  wusste  Horaz  mehrere  Spielarten  zu  vereinigen.  Bald  sind  es  wirk- 
liche Briefe  wie  der  an  Julius  Florus  (3),  an  Celsus  Albinovanus  (8),  an 
Junius  (12),  Produkte,  welche  ganz  besonders  reizend  und  anmutig  aus- 
fielen; bald  sind  es  Fiktionen,  wie  der  Brief  an  Vinnius  Asella,  der  die 
drei  Bücher  Oden  an  Augustus  überbringen  soll  (13)  oder  der  an  seinen 
Verwalter  (14).  Dem  Inhalt  nach  sind  die  Briefe  entweder  individuell, 
in  welchem  Fall  aber  der  Dichter  auch  gern  weiter  ausgreift,  oder  sie 
erörtern  allgemeine  Gedanken.  Nichts  erscheint  dem  Dichter  wichtiger 
als  die  Lehre  vom  Glück  des  Lebens.    Die  praktische  Lebensphilosophie 


Q.  HoratiuB  Flacona.  81 

ist  der  schönste  Schmuck  dieser  Briefe.  Wir  vernehmen  das  „fiil  admirari", 
d.  h.  die  Mahnung,  sich  von  allem  leidenschaftlichem  Wesen  frei  zu  halten 
und  die  äusseren  Dinge  zu  nehmen,  wie  sie  wirklich  sind  (6),  wir  begegnen 
dem  stoischen  Grundgedanken,  dass  die  Tugend  hinreicht,  ein  glückliches 
Leben  zu  schaffen  (16),  wir  erfreuen  uns  an  dem  warmen  Lob  des  fried- 
lichen Stillebens  auf  dem  Lande  (10  und  14),  wir  stossen  auf  die  bekannten 
Sätze:  „Lasse  die  Sorge  fahren  (3,26);  lebe  so  als  wenn  der  heutige  Tag 
der  letzte  sei**  (4, 13),  wir  lesen  das  begeisterte  Lob  des  Weins  (5, 16), 
kurz  überall  werden  uns  die  Früchte  einer  gereiften  Lebensanschauung  in 
goldner  Schale  geboten  und  der  Sentenzen  sind  so  viele,  dass  sich  ein 
kleines  Brevier  daraus  herstellen  lässt.  Auch  ganz  praktische  Lehren  sind 
von  der  Darstellung  nicht  ausgeschlossen ;  und  in  dieser  Beziehung  ist  be- 
sonders merkwürdig  das  Briefpaar  (17»und  18),  welches  über  den  Umgang 
mit  der  vornehmen  Welt  in  feiner  Weise  belehrt.  Von  seinen  persön- 
lichen Geschicken  erzählt  der  Dichter  nicht  viel,  doch  hat  er  in  einem 
Brief  an  Maecenas  (19)  seine  litterarischen  Verhältnisse  berührt  und  den 
Nachahmern  wie  den  Kritikern  seiner  Oden  scharfe  Dinge  gesagt.  Immer 
mehr  reift  in  ihm  der  Gedanke,  die  Poesie  zu  verabschieden  und  der  Philo- 
sophie sich  zu  widmen.  In  einem  zweiten  Brief  an  Maecenas  entwirft  er 
dies  als  sein  Programm  und  stellt  daher  diesen  Brief  an  die  Spitze  des  Buchs. 
Die  „Plaudereien**  betrachtet  er  ja  nicht  als  eigentliche  Dichtung.  Diese  Muse 
ist  ihm  nur  eine  „pedestris"  (S.  2,6,17).  Es  war  noch  der  Epilog  zu  machen. 
Als  solchen  wählt  er  eine  Anrede  an  das  Büchlein,  das  jetzt  in  die  Welt 
hinaus  will  und  dem  er  einige  Verhaltungsmassregeln  mit  auf  den  Weg  gibt. 

Chronologie  des  ersten  Epistelbuchs.  Nach  dem  Epilog  (27)  hatte  Horaz  im 
J.  21  V.  Gh.,  in  welchem  M.  LoUius  und  Q.  Aemilius  Lepidus  Konsuln  waren,  44  Dezember 
zurückgelegt.  Da  Horaz  am  8.  Dez.  65  v.  Ch.  geboren  wurde,  so  sind  jene  Worte  des 
Epilogs  vor  dem  8.  Dez.  20  und  nach  dem  8.  Dez.  21  geschrieben.  Da  aber  das  12.  Ge- 
dicht wegen  Vers  27  in  den  Sommer  d.  h.  nach  der  Ernte  (v.  28)  20  v.  Ch.  fällt,  so  muss 
der  später  geschriebene  Epilog  nach  Mitte  20  v.  Ch.  verfasst  sein.  Die  Herausgabe  des 
Buchs  gehört  also  diesem  Jsübr  an.  Die  Zeitspuren  lassen  sich  zurückverfolgen  bis  zum 
Jahre  23  v.  Ch.,  in  dem  er  (vgl.  Brief  13)  die  drei  Odenbücher  an  Augusts  gelangen 
liess  (Gabbel,  Stettiner  Programm  des  J.  1888). 

258.  Die  Litteraturbriefe  (zweite  Briefsammlung).  Als  im  J.  20 
V.  Ch.  Horaz  sein  erstes  Epistelbuch  in  die  Welt  hinaussandte,  war  er, 
wie  wir  eben  sahen,  des  Dichtens  müde  geworden.  Sein  Geist  sehnte 
sich  nach  dem  Trost  der  Philosophie  und  er  war  entschlossen,  der  Poesie 
Lebewohl  zu  sagen.  Als  daher  Maecenas  zur  Fortsetzung  der  lyrischen 
Dichtung  drängte,  wies  er  darauf  hin,  dass  die  Jugend  und  der  jugend- 
liche Geist  entschwunden  (1,1,4  u.  10): 

nunc  itaque  et  versus  et  cetera  ludiera  pono; 

quid  verum  atque  decens,  curo  et  rogo  et  omnis  in  hoc  sum» 

Diese  Stimmung  scheint  längere  Zeit  angehalten  zu  haben.  Auch  in  einem 
Schreiben  an  Julius  Florus,  der  sich  in  der  Kohorte  des  Tiberius  befand 
und  ebenfalls  carmina  d.  h.  Oden  (2,1,25)  haben  wollte,  will  Horaz  vom 
Dichten  nichts  mehr  wissen,  auch  hier  bekennt  er  sich  zur  Philosophie 
als  Führerin  des  Lebens  (141): 

nimirum  sapere  est  abiectis  utile  nugis 
et  tempestivum  pueris  concedere  ludum, 

Handbuch  der  klaas.  AltertanuiwtaenMliaft.    YIU.    2.  Teil.  6 


82       RömiBclie  Litteratnrgesohiclite.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

ac  non  verba  sequi  fidibus  modulanda  Latinis, 
sed  verue  numerosque  modosque  ediscere  vitae. 

In  anmutiger  Weise  setzt  er  auseinander,  dass  er  für  die^  Liederdichtung 
schon  zu  alt  sei,  denn  mit  den  Jahren  sei  auch  Scherz,  Spiel  und  Liebe 
dahingegangen,  dass  Rom  mit  seinem  entsetzlichen  Lärm  ihn  keinen  poeti- 
schen Gedanken  fassen  lasse,  dass  er  der  tausendfachen  Rücksichten  auf 
die  leicht  erregbaren  und  eitlen  Kollegen  überdrüssig  geworden,  dass  es 
schwer  sei,  dem  so  verschiedenen  Geschmack  des  Publikums  Genüge  zu 
leisten,  dass  er  durch  seine  Dichtungen  erreicht,  was  Ziel  seines  Strebens 
war;  wozu  also  ein  neues  Wagnis?  Dies  sei  aber  um  so  weniger  ange- 
bracht, als  das  Dichten  grosse  Sorgfalt  und  mühevolle  Arbeit  notwendig 
mache.  Horaz  glaubte  jetzt  die  Zeit  gekommen,  in  der  er  statt  selbst 
poetisch  zu  schaffen,  lieber  seine  Ideen  über  dieses  Schaffen  den  lern- 
begierigen Anfängern  kundgeben  könne.  An  Material  fehlte  es  ihm  nicht; 
er  brauchte  nur  in  den  Born  seiner  reichen  Erfahrung  zu  langen,  er  konnte 
auch  das  eine  oder  das  andere  griechische  Werk  nützen  wie  das  des 
Neoptolemos  aus  Parion,  der  gegen  Ende  des  dritten  Jahrhunderts  über 
Poesie  schrieb.  In  einem  grossen  Brief,  den  er  an  die  Pisonen  (Vater 
und  zwei  Söhne)  richtet,  führt  er  sein  Vorhaben  durch,  er  verkündet 
dort  (306): 

nü  scribens  ipse,  docebo, 
unde  parentur  opes,  quid  alat  formetque  poetam. 

Der  Brief  ist  uns  unter  dem  Namen  ^Ars  poetica"  geläufig;  allein  man 
darf  nicht  eine  systematische  Poetik  *)  in  demselben  suchen.  Es  ist  Horaz 
nicht  um  Vollständigkeit,  nicht  um  strenge  Ordnung  und  nicht  um  tief- 
gehende philosophische  Begründung  zu  thun.  Zwanglos  wie  in  einem  Ge- 
spräch mit  einem  andern  entwickelt  er  seine  aus  der  Erfahrung  geschöpften 
Gedanken,  wie  sie  ihm  eben  zukamen.  Nachdem  er  zuerst  von  der  künst- 
lerischen Einheit  des  Dichtwerks,  von  der  richtigen  Wahl  des  Stoffs  und 
der  kunstgemässen  Auswahl  des  Ausdrucks  gesprochen,  geht  er  zu  Be- 
trachtungen über  die  dramatische  Poesie  und  das  Satyrdrama  über,  dann 
bringt  er  Aphorismen  über  das  poetische  Schaffen  im  allgemeinen  mit 
genauer  Berücksichtigung  der  römischen  Verhältnisse.  Eine  Fülle  packender, 
grossenteils  in  geflügelte  Worte  verwandelter  Gedanken  sind  hier  aus- 
gestreut, wie  dass  die  Dichter  nützen  oder  unterhalten  wollen,  dass  der 
echte  Dichter,  der  beides  zu  vereinigen  weiss,  den  Sieg  davonträgt,  dass 
den  Dichtern  nicht  die  Mittelmässigkeit  gestattet  ist,  dass  er  aus  dem 
Leben  schöpfen  muss,  dass  auch  der  gute  Homer  manchmal  schläft,  dass 
das  hinausgesandte  Wort  nicht  mehr  zurückkehrt  und  dass  man  daher 
sein  Produkt  bis  zum  neunten  Jahr  zurückhalten  soll,  dass  die  Beurteilung 
der  Gedichte  von  Seiten  der  Freunde,  die  auf  einen  guten  Tisch  und  andere 
Vorteile  rechnen,  verdächtig  ist  u.  s.  w.  So  lose  die  Sätze  auch  aneinander 
gereiht  sind,  so  mannigfaltig  ihr  Inhalt  ist,  es  durchzieht  sie  doch  eine 
Grundidee,  nämlich  dass  die  Dichtkunst  nicht  bloss  Sache  des  Talents, 
sondern  auch  des  Fleisses  ist  und  dass  dem  Dichter  Belehrung  und  Unter- 
weisung in  hohem  Grade  not  thut,  besonders  damit  er  Fehlerhaftes  vermeide. 

^)  Weissskfels,  Ästhetisch-kritltische  Analyse  der  ars  poStica,  Görlitz  1880, 


Q.  HoratiuB  FlaccuB.  83 

Es  darf  angenommen  werden,  dass  diese  zwei  Briefe,  in  denen  ein 
gereifter  Mann  aus  dem  Leben  heraus  über  Litteratur  sein  Urteil  abgibt, 
in  den  Kreisen  der  Gebildeten  grosses  Aufsehen  hervorriefen.  Sie  erregten 
auch  das  Interesse  des  Kaisers;  denn  wir  müssen  die  zwei  Briefe  für  die- 
jenigen halten,  welche  Augustus,  wie  Sueton  erzählt,  zu  der  Klage  ver- 
anlassten, dass  der  Dichter  seiner  gar  nicht  Erwähnung  gethan.  Eine 
solche  Klage  konnte  Horaz  natürlich  nicht  unbeachtet  lassen;  er  schrieb 
daher  einen  Brief  an  Augustus,  in  dem  er  ebenfalls  litterarische  Fragen 
erörterte.  So  beurteilte  er  abfällig  die  damals  aufgekommene  Richtung, 
die  alten  Autoren  auf  Kosten  der  neuen  zu  bewundern,  er  berührt  die 
Dichtwut  seiner  Zeit,  nicht  ohne  auch  die  günstige  Seite  dieser  Krankheit 
hervorzuheben,  er  klagt  über  den  Verfall  der  dramatischen  Dichtkunst, 
da  das  Publikum  nur  noch  Sinn  für  glänzende  Äusserlichkeiten  habe,  end- 
lich empfiehlt  er  dem  Herrscher  die  Pflege  der  Buchpoesie  als  der  besten 
Verkünderin  der  glänzenden  Thaten. 

Diese  drei  Briefe  stellte  Horaz  zu  einem  Buch  zusammen;  natürlich 
musste  der  an  Augustus  gerichtete  an  die  Spitze  treten.  Die  Ars  poetica, 
welche  den  letzten  Platz  einnahm,  löste  sich  später  ab  und  verband  sich 
mit  andern  horazischen  Gedichten. 

Chronologie  der  Litteraturbriefe.  Im  ersten  Brief  entschuldigt  sich  der 
Dichter  (111),  dass  er  sein  Versprechen,  der  (lyrischen)  Poesie  Lebewohl  zu  sagen,  nicht 
gehalten  und  daher  als  grösserer  Lügner  denn  die  Parther  befunden  werde.  Nun  ist  be- 
kannt, dass  Horaz,  nachdem  er  im  J.  23  die  drei  Bücher  Oden  veröffentlicht  hatte,  die 
lyrische  Poesie  als  abgeschlossen  erachtete  und  dass  erst  die  Aufforderung  des  Augustus, 
das  Säcularlied  (17  v.  Ch.)  und  anderes  zum  Preis  seines  Hauses  zu  dichten,  ihn  wieder 
zu  dieser  Bichtungsart  zurückführte.  Es  ist  sonach  klar,  dass  der  erste  Brief  nach  dem 
J.  17  V.  Ch„  in  welchem  die  lyrische  Poesie  wieder  aufgenommen  wurde,  geschrieben  sein 
muss.  Da  weiterhin  der  Brief  auf.  Oden  des  4.  Buchs  anspielt,  besonders  auf  die  im 
J.  15  y.  Gh.  entstandene  14.,  so  kann  derselbe  nicht  vor  diesem  Jahr  entstanden  sein. 
Also  wird  der  Brief  etwa  ins  Jahr  14  fallen. 

In  dem  zweiten  Brief  will  Horaz  der  ganzen  Poesie  Lebewohl  sagen  und  sich  dem 
Studium  der  Lebensweisheit  hingeben.  Von  poetischen  Arbeiten  frei  ist  die  Zeit  von  der 
Herausgabe  des  ersten  Epistelbuchs  (20  v.  Ch.)  bis  zur  Abfassung  des  Säcularlieds  (17  v.  Gh.). 
Da  in  dem  Eingangsbrief  des  ersten  Epistelbuchs  an  Maecenas  der  gleiche  Grundgedanke 
durchgeführt  ist,  fieser  Brief  aber  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  zur  Zeit  der  Publikation 
des  Buchs  geschrieben  wurde  (20  v.  Gh.),  so  werden  wir  auch  unsere  aus  der  gleichen 
Stimmung  hervorgegangene  Epistel  nicht  lange  nach  demselben  ansetzen,   etwa  19  v.  Gh. 

Schwierig  ist  die  chronologische  Fixierung  des  dritten  Litteraturbriefs,  der  Ars 
po^Uca,  Die  einzige  Stelle,  die  eine  brauchbare  Schlussfolgemng  gestattet,  scheint  Sueton 
in  der  rita  Horatn  darzubieten,  wo  es  heisst  (p.  46  R.):  scripta  quidem  eins  nsque  adeo  pro- 
barit  mansuraque  perpetuo  opinattis  est,  ut  twn  niodo  saeculare  carmen  conponendum  in- 
iuftjrerit,  sed  et  Vindelicam  rictoriam  Tiberii  Drusique  primgnorum  suorum  eumqae  coegerit 
propter  hoc  tribus  carminum  libris  ex  lonyo  intervallo  qiMrtuin  addere;  post  sennones  rero 
quosdam  lectos  nuVam  sui  meniionem  habitam  ita  sit  questus  „irasci  me  tibi  scitOy 
quod  non  in  plerisque  eiusmodi  scriptis  mecnm  potissimum  loquaris;  an 
rereris  ne  apud  posteros  infame  tibi  sit  quod  videaris  familiaris  nobis  esse'^ 
expresseritque  eclogam  ad  se  cuius  initium  est:  Cum  tot  sustineas.  Da  in  dem  ersten 
Buch  der  Epistel  Augustus  Öfters  erwfthnt  ist,  so  müssen  wir  uns  nach  anderen  „sennones** 
(also  mehreren)  umsehen  und  zwar  nach  solchen,  welche,  wie  eiusmodi  andeutet,  einer 
Gattung  angehören.  Diese  Forderung  Ifisst  sich  aber  nur  erfüllen,  wenn  yrii  die  zwei 
Litteraturbriefe,  den  Brief  an  Florus  und  den  an  die  Pisones,  als  die  von  Augustus  ge- 
lesenen Produkte  betrachten.  Der  Brief  an  die  Pisonen  würde  daher  wie  der  an  Florus 
vor  dem  Brief  an  Augustus  (2, 1)  liegen.  Dafür  spricht  auch  die  Gleichartigkeit  gewisser 
Gedanken  in  beiden  mit  breiterer  Ausführung  in  der  Ars.  Femer  ist  bemerkenswert,  dass 
Horaz  in  der  Ars  nicht  als  produktiv  (nil  scribens  ipse)  angesehen  sein  will  (305).  Aller* 
dings  ist  bei  dieser  Annahme  die  Angabe  Porphyrios  über  die  Persönlichkeit  der  Pisonen 
nicht  aufrecht  zu  halten.    Er  sagt  nämlich  (p.  344  M.):   hunc  Ubrum,  qui  inscribitur  De 

6* 


84       Hömisclie  Litteratnrgeschiclite.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Arte  PoeticOf  ad  Lucium  Pittonem,  qui  poatea  urbis  custos  fuit,  elusqiie  liberos  mutit; 
nam  et  ipse  Biso  poeta  fuit  et  «tudiorum  Uheralium  antistes.  Da  der  Vater  L.  Piso  48  v.  Cli. 
geboren  war,  also  bei  dem  Tod  des  Horaz  Anfangs  der  vierziger  Jahre  stand,  konnte  er  nicht 
wohl  schon  19  v.  Ch.  so  erwachsene  Söhne  haben,  dass  sie  als  iuvenes  sich  bezeichnen 
liessen.  Wir  müssen  daher  an  andere  Pisonen  denken;  als  solche  stellen  sich  uns  dar: 
Gnaeus  Calpumius  Piso,  der  im  J.  23  v.  Ch.  mit  Augustos  das  Konsulat  bekleidete  und 
wohl  etwas  älter  als  Horaz  war,  als  VatlBr,  dann  dessen  Söhne  Gnaeus  (Cons.  7  v.  Ch.) 
und  Lucius  (Cons.  1  v.  Ch.).  Beide  konnten  um  19  v.  Ch.  als  iuvenes  angeredet  werden. 
,  Litteratur:  Die  Chronologie  der  zwei  Litteraturbriefe  wurde  im  wesentlichen  fest- 

gestellt von  Vahlbn,  Monatsber.  der  Berl.  Akad.  d.  J.  1878  p.  688.  An  diese  Abhandlung 
schliesst  sich  an  Mommsen,  Die  Literaturbriefe  des  Horaz,  Hermes  15, 103.  Vgl.  Kiesslino, 
Philol.  Unters.  2,  58.  Die  frühere  Abfassung  des  Pisonenbriefs  legte  dar  Michaelis  in  den 
Comment.  Momms,  420.  Analyse  des  ersten  Briefs  von  Vahlbn,  Zeitachr.  f.  österr.  Gymn. 
1871  p.  1. 

Der  Brief  an  die  Pisonen,  dem  schon  Quintilian  8,  3,  60  den  Titel  „de  arte  poetica** 
gibt,  bildete  ursprünglich  mit  dem  Brief  an  Augustus  und  dem  Brief  an  Florus  das  zweite 
Buch  der  Episteln;  als  späterhin  noch  im  Altertum  (vor  Terentius  Scaurus)  eine  Horaz- 
ausgabe  zusammengestellt  wurde,  welche  die  4  Bücher  der  Oden  (mit  dem  carnlen  saecu- 
lare),  1  Buch  Epoden,  2  Bücher  Satiren  und  2  Bücher  Episteln  zählte  und  anordnete, 
wurde  der  am  Schluss  der  Sammlung  stehende  Pisonenbrief  als  eigenes  Buch,  als  10.  ge- 
rechnet. Dadurch  selbständig  geworden,  löste  sich  derselbe  leicht  ab  und  verband  sich 
mit  den  Oden.  Seine  ursprüngliche  Stelle  hinter  den  zwei  Briefen  des  zweiten  Buchs 
gaben  ihm  zurück  H.  Stephanus  und  Cruquius. 

Die  Benutzung  einer  griechischen  Quelle  bezeugt  Porphyrie  p.  344  M.  in  den  all- 
gemeinen Bemerkungen  über  die  Ar»:  in  quem  librum  rongettsit  praecepta  Neoptoletni  xov 
üttQiavov  de  arte  poetica  non  quidem  omnia,  sed  eminentissima,  —  Michaelis,  de  autaribus, 
quos  H.  in  arte  poetica  secutus  esse  rideatur,  Kiel  1857.     Nettleship,  Lectures  p.  168. 

259.  Charakteristik  der  Briefe.  Die  Briefe  haben  mit  den  Satiren 
gemein,  dass  sie  ebenfalls  keine  Dichtung  im  strengsten  Sinn  des  Wortes 
sein  wollen.  Auch  sie  sind  Plaudereien,  allein  diese  Plaudereien  wenden 
sich  nicht  mehr  an  eine  beliebig  angenommene  Persönlichkeit,  sondern  an 
eine  aus  dem  Freundeskreis  des  Dichters,  Während  daher  die  Satiren 
direkt  zum  Publikum  sprechen,  sprechen  die  Episteln  durch  das  Medium 
des  Adressaten  zu  demselben.  Es  ist  leicht  ersichtlich,  dass  schon  für  die 
Wahl  der  Materie  der  Angeredete,  an  den  sie  zuerst  gelangen  soll,  von 
Wichtigkeit  ist;  nicht  minder  ist  er  es  für  die  Durchführung.  Es  muss 
daher  dem  Brief  immer  etwas  Individuelles  innewohnen;  ja  manche  Stücke 
sind,  wie  wir  gesehen  haben,  sogar  durchaus  individuell  gehalten,  d.  h.  es 
sind  wirkliche  Briefe.  Die  Gattung  war  schon  vor  Horaz  angebaut  worden. 
Zur  Zeit  des  dritten  punischen  Kriegs  hatte  Spurius  Mummius  poetische 
Episteln  geschrieben.  Allein  dies  blieb  doch  nur  ein  vereinzelter  Versuch 
ohne  nachhaltige  Wirkung.  Erst  durch  Horaz  erhielt  der  poetische  Brief 
seine  hohe  Stellung  in  der  Litteratur. 

Seit  Horaz  die  Satiren  herausgegeben,  war  eine  lleihe  von  Jahren 
verflossen;  der  Dichter  war  in  ein  reiferes  Alter  getreten ;  seine  Auffassung 
der  Dinge  hatte  ihre  Schärfe  verloren  und  war  milder  geworden.  Sein  Geist 
war  jetzt  ganz  von  philosophischen  Problemen  erfüllt;  während  er  in  den 
Satiren  den  Philosophen  wuchtige  Hiebe  versetzt,  vertieft  er  sich  jetzt  selbst 
in  Gedanken  über  das  Wahre  und  Gute;  nicht  ein  bestimmtes  System  ist 
es,   dem  er  folgt,  er  nimmt  das  ihm  Zusagende,  wo  er  es  findet: 

nullius  addictus  iurare  in  verba  magist ri, 
quo  me  cumque  rapit  tempestas,  deferor  hospes, 

bekennt  er  mit  Freimut  (Ep.  1, 1, 14).   Es  ist  ihm  ja  nicht  um  theoretische 
Spekulation  zu  thun,  sondern  um  praktische  Weisheit.   Ausser  den  Fragen 


Q.  HoratiuB  Flaccns.  g5 

des  Lebens  beschäftigen  ihn  in  hohem  Grade  die  Probleme  der  Litteratur. 
Auf  beiden  Gebieten  werden  uns  die  köstlichsten  Schätze  mitgeteilt.  Man 
wird  ausser  Goethes  Faust  kaum  ein  Werk  nennen  können,  das  so  viel 
zu  den  geflügelten  Worten  beigetragen  als  Horazens  Briefe.  Sie  sind  das 
reifste  Denkmal  seiner  Poesie,  sie  gehören  zu  den  edelsten  Erzeugnissen 
der  römischen  Dichtung,  sie  sind  und  werden  bleiben,  solange  eine  höhere 
Kultur  besteht,  ein  anmutiges  Lebensbrevier,  das  jeden  anziehen  wird,  der 
die  Kunst  des  Lebens  zu  würdigen  weiss. 

Berkino,  Der  Geist  der  Horaz.  Briefe,  Recklinghausen  1856.  Vogel,  Die  Lebens- 
weisheit des  Hör.,  Meissen  1868.  Kirchhoff,  Die  Stellung  des  Hör.  zur  Philos.,  Hildesh. 
1873.     Beck,  Hör.  als  Kunstrichter  und  Philosoph,  Mainz  1875. 

260.  Zweite  Liedersammlung.  Im  Jahre  23  v.  Ch.  waren  die  drei 
Odenbücher  veröffentlicht  worden;  Horaz  wandte  sich  jetzt  einer  neuen 
Litteraturgattung  zu,  den  Episteln,  und  lehnte  die  Aufforderung  des  Mae- 
cenas,  wiederum  die  lyrische  Dichtung  zu  pflegen,  ab.  Doch  noch  einmal 
griff  er,  als  er  die  Mittagshöhe  des  Lebens  bereits  überschritten  hatte 
und  den  fünfziger  Jahren  nahe  war,  zur  Leier,  nicht  aus  eigener  Wahl, 
sondern  auf  Anregung  von  oben.  Im  Jahre  17  v.  Ch.  erhielt  er  nämlich 
den  offiziellen  Auftrag,  das  Festlied  für  die  Säcularfeier  zu  verfassen. 
Noch  mehr,  Augustus  drang  damals  auch  in  ihn,  die  Siege  seiner  Stief- 
söhne Tiberius  und  Drusus  durch  seinen  Sang  zu  feiern.  Horaz  willfahrte 
dem  Herrscher,  er  dichtete  das  Festlied,  das  am  dritten  Tag  im  apollini- 
schen Tempel  auf  dem  Palatin  von  27  Knaben  und  27  Mädchen  gesungen 
wurde,  er  dichtete  auch  Lobeshymnen  auf  die  Neronen,  auf  Augustus 
und  anderes;  was  sich  ihm  so  ausser  dem  Festhymnus  ergab,  stellte  er 
gegen  13  v.  Ch.  zu  einem  neuen  Buch  zusammen,  dem  vierten  und  letzten 
seiner  Oden.  Der  Dichter  mochte  fühlen,  dass  nicht  ohne  einige  entschul- 
digende Worte  diese  Spätlinge  hinausgegeben  werden  konnten.  Im  Ein- 
gangsgedicht fleht  er  daher  zu  Venus,  ihn  nicht  neuerdings  mit  ihrem  harten 
Joch  zu  bedrücken;  der  Knabe  Ligurinus  soll  die  Liebesflamme  wieder  an- 
gefacht haben.  Allein  dieser  Ligurinus  ist  natürlich  eine  Schattengestalt, 
wie  die  Phyllis  (11)  und  die  alternde  Lyce  (13),  die  in  diesen  Liedern  er- 
scheinen. Fast  möchte  man  vermuten,  dass  Horaz  den  Ligurinus  einführte 
(1  und  10),  um  auch  noch  der  in  den  vorausgegangenen  drei  Büchern  ver- 
nachlässigten Knabenliebe  ein  Plätzchen  in  seinen  Oden  zu  gönnen.  An- 
ziehender sind  zwei  Frühlingslieder,  in  dem  einen  (7)  wird  der  Wiederkehr 
der  Jahreszeiten  unser  Los  gegenübergestellt;  sind  wir  einmal  in  den  Orkus 
gewandert,  so  kehren  wir  niemals  mehr  daraus  zurück,  in  dem  zweiten 
Lied  (12)  knüpft  der  Sänger  an  das  Wiedererwachen  der  Natur  eine  Ein- 
ladung an  Yergil  zu  einem  Olas  Wein,  allein  mit  der  Bedingung,  dass  er 
Nardenöl  mitbringe.  Des  Maecenas  wird  nur  ein  einziges  Mal  gedacht 
(11,1,9),  aber  in  durchaus  herzlicher  Weise.  Desto  mehr  beschäftigt  sich 
dieses  Buch  mit  dem  kaiserlichen  Haus,  die  patriotischen  Oden  machen  die 
Glanzseite  dieses  Buchs  aus.  Da  finden  wir  eine  Ansprache  an  die  Chöre, 
die  das  carmen  saeculare  vortragen  sollen  (6),  das  Lied,  das  der  Sehnsucht 
nach  der  Heimkehr  des  Augustus  zarten  Ausdruck  verleiht  (5),  das  schöne 
Gedicht  auf  Drusus,  der  wie  ein  mächtiger  Aar  unter  die  Feinde  fahrt  (4), 


86       B^^misolie  LitteratnrgeBchichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

ein  zweites  auf  die  Siege  der  Neronen  (14),  beidemal  zu  dem  Preis  auf 
Augustus  sich  erhebend,  endlich  am  Schluss  zur  Krönung  des  Ganzen  den 
Hymnus  auf  die  segensreiche  Herrschaft  des  Augustus.  Damit  hatte  der 
Dichter  dem  regierenden  Geschlecht  gegeben,  was  er  geben  konnte;  zu 
weiterem,  wie  z.  B.  zu  epischem  Panegyricus,  fühlte  er  keine  Neigung,  an 
Julus  Antonius  schreibt  er  (2),  dass  diesem  als  Epiker  das  würdige  Lob 
des  Augustus  vorbehalten  sein  müsse. 

Jetzt,  am  Ende  seiner  lyrischen  Laufbahn  stehend,  noch  vor  kurzem 
als  Festdichter  ausgezeichnet,  durfte  er  sich  in  vollem  Selbstgefühl  sagen, 
dass  seine  Hand  nicht  umsonst  die  Harfe  gerührt.  Er  durfte  von  der  Macht 
des  Dichters  sprechen,  der  durch  sein  Lied  die  Unsterblichkeit  verleiht 
(8  und  9).  Glücklich  konnte  er  sich  preisen,  dass  auch  ihm  einst  die  Muse 
in  die  Wiege  gelächelt  (3),  er  durfte  freudigen  Herzens  darauf  hinweisen, 
dass  er  es  seinem  Sang  verdanke,  dass  die  Vorübergehenden  auf  ihn  deuten, 
dankerfüllt  konnte  er  der  Muse  sagen: 

Quod  Spiro  et  placeo,  si  placeo,  tuumst. 

Über  die  Entstehung  des  carmen  saecuUtre  und  des  4.  Buchs  vgl.  Suet.  p.  46  R. 
(die  Stelle  ist  oben  p.  83  im  letzten  Absatz  ausgeschrieben). 

Über  die  Chronologie  der  Gedichte  dieses  Buchs  vgl.  die  Spezialschrift  von 
TüsELMAHN.  Quaest.  chronolog.  Harat.,  Progr.  v.  llfeld  1885.^)  Keine  Zeitandeutung  enthalten 
die  Oden  3,  7,  8,  10,  11,  12,  13.  Mehr  oder  weniger  bestimmt  lassen  sich  die  übrigen 
datieren.  Die  chronologischen  Indicien  imifassen  das  Intervallum  von  17  v.  GL,  in  welchem 
Jahr  das  carmen  saeculare  und  das  Prooemium  (6)  gedichtet  wurden,  bis  13  v.  Ch.  Zur 
Feststellung  des  letzten  Termins  dient  die  Rückkehr  des  Augustus  aus  Gallien  nach  langer 
Abwesenheit  (seit  16  v.  t!h.)  im  Juli  13  v.  Gh.;  kurz  vorher  wird  das  5.  Gedicht  geschrieben 
sein.  —  Vahlen,  Monatsber.  der  Berl.  Akad.  d.  J.  1878  p.  690. 

Versbau.  Auch  in  der  metrischen  Gestaltung  zeigen  manche  Abweichungen  auf 
veränderte  Anschauungen,  auf  eine  Entwicklung  hin.  So  hat  sich  Horaz  im  Carmen  saecu- 
lare und  in  diesem  Buch  von  dem  Zwang  befreit,  im  sapphischen  Vers  die  Gäsur  an  der 
fünften  Stelle  eintreten  zu  lassen  (nur  siebenmal  ist  diese  Gäsur  nicht  beachtet:  1, 10, 1 
6  18  1, 12, 1  1, 25, 11  1,  30, 1  2,  6, 11  vgl.  KiEssLora  p.  64),  er  gestattet  sich  jetzt  auch  die 
Gäsur  an  der  sechsten.  Der  Auftakt  in  der  alcftischen  Strophe  ist  stets  lang.  Ein  weiterer 
Fortschritt  besteht  darin,  dass  er  in  dieser  zweiten  Periode  noch  mehr  bestrebt  ist  als 
früher,  Sinnesabschnitt  und  metrischen  Schluss  am  Ende  der  Strophe  nicht  zusammenfallen 
zu  lassen.  Endlich  ist  er  wieder  empfindlicher  gegen  die  Verschleifungen  geworden 
(Lehrs  in  seiner  Ausgabe  p.  III;  Tüselmann  p.  17). 

261.  Charakteristik  der  Oden.  Um  die  Odendichtung  des  Horaz 
richtig  zu  würdigen,  muss  man  vor  allem  im  Auge  behalten,  dass  sie  kein 
frisch  sprudelnder  Quell  ist  und  dass  sie  nicht  aus  innerem  Drang  hervor- 
gegangen ist.  Horaz  war  schon  ein  reifer  Mann,  als  er  sich  in  dieser 
neuen  Gattung  versuchte.  Seine  Oden  sind  ein  Produkt  der  Nachahmung 
der  äolischen  und  anakreontischen  Lyrik.  Er  ist  aber  keineswegs  blosser 
Übersetzer,  er  bewegt  sich  auch  in  dem  von  jenen  griechischen  Lyrikern 
gezogenen  Rahmen  selbständig,  aber  selbst  seine  freieren  Schöpfungen  baut 
er  gern  auf  Motiven  der  griechischen  Originale  auf.  Hierbei  widerfahrt 
es  ihm  sogar,  dass  er  den  ursprünglichen  Gedanken  nicht  festzuhalten 
vermag.  So  nimmt  die  9.  Ode  des  ersten  Buchs  ihren  Ausgang  von  der 
Schilderung  einer  Winterlandschaft  bei  Alcaeus,  allein  indem  der  Dichter 
zum  Genuss  des  Daseins  einladet,  erscheinen  plötzlich  statt  des  Eises  und 


^)  Über  die  Abfassungszeit  des  2.  Ge-      Julus  Antonius  handelt  Bücheler,  Rh.  Mus. 
dichts  und  den  in  demselben  vorkommenden      44,  318. 


^      Q,  HoratiuB  FlaoooB.  87 

Schnees  Liebespaare,  die  im  Freien  ihr  loses  Spiel  treiben.*)  Wir  haben 
in  den  Oden  ein  Werk  des  Fleisses,  und  der  Dichter  vergleicht  selbst  seine 
Thätigkeit  mit  dem  rastlosen  Schaffen  der  Bienen  (4,2,27): 

ego  apis  Matinae 

more  modoque, 
grata  carpentis  thyma  per  lahorem 
plurimum  circa  nemtis  uvidique 
Tiburis  ripas  aperosa  parvus 

carmina  fingo. 

Seine  Lyrik  ist  daher v  eine  reflektierende  und  kann  niemals  den  tief- 
gehenden Eindruck  erzeugen,  wie  die  innerlich  erlebte  Poesie  CatuUs.  Auch 
die  Leidenschaftlichkeit  des  Gefühls,  welche  uns  bei  Properz  so  anzieht, 
geht  ihr  gänzlich  ab.  Wenn  aber  trotzdem  Jahrhunderte  zu  Horaz  als 
ihrem  Liebling  emporgeblickt  haben,  so  beruht  dies  ausser  der  Klarheit 
seines  Denkens  und  der  schönen,  durch  das  Metrum  wunderbar  gehobenen 
Diktion  darauf,  dass  kein  Dichter  das  allgemein  Menschliche  so  zum  reinen 
Ausdruck  gebracht  hat,  wie  er.  Es  sind  bekannte  Gedanken,  die  vor 
unseren  Augen  auftauchen,*)  aber  sie  ergreifen  uns  doch  wunderbar.  Oder 
wer  wird  nicht  eine  innere  Rührung  empfinden,  wenn  uns  der  Dichter 
sagt:  Geniesse  das  Heute,  du  weisst  nicht,  ob  du  das  Morgen  siehst 
(1,11,8  1,9,13).  Der  Tod  geht  selbst  nicht  an  dem  Königspalast  vorüber, 
uns  alle  trifft  das  Los  des  Sterbens,  den  einen  früher,  den  andern  später 
(3, 1, 15  2,  3,  26).  Sind  wir  einmal  in  den  Orkus  hinabgestiegen,  so  gibt 
es  keine  Wiederkehr  wie  in  der  Natur  (4,  7,  21).  Pfeilschnell  eilen  die 
Jahre  dahin  (2, 14, 1)  und  nur  zu  bald  ist  dein  Haupt  gebleicht  (2,  11,  7). 
Alles  ist  vergänglich  (2, 11,  9),  magst  du  noch  so  viel  Schätze  aufeinander 
häufen,  du  musst  sie  lachenden  Erben  hinterlassen  (2,  14,  25).  Was  quälst 
du  dich  also  mit  Plänen?  (2,  16,25  2, 11, 11)  Zufriedenheit  macht  glück- 
lich (2, 16, 13),  nicht  das  Jagen  nach  Geld  und  Gut,  denn  der  Habsüchtige 
gleicht  dem  Wassersüchtigen,  das  Leiden  beider  kann  nicht  gestillt  werden 
(2,2,13).  Wer  nach  Vielem  jagt,  dem  geht  Vieles  ab  (3,16,42).  Der 
süsse  Schlaf  flieht  oft  den  Palast,  während  er  die  Hütte  aufsucht  (3,1,21). 
Die  Sorge  steigt  mit  aufs  Schiff  und  setzt  sich  hinter  dem  Reiter  aufs 
Pferd  (3,1,38).  Wandle  auf  der  goldenen  Mittelstrasse  (2,10,5)  und  halte 
dich  von  allen  Extremen  frei,  sowohl  von  schmutzigem  Geiz  als  von  un- 
sinniger Verschwendung.  In  allen  Lagen  des  Lebens  bewahre  dir  den 
Gleichmut  (2,3,1).  Solche  Sätze  stammen  nicht  aus  einer  hohen,  von 
Idealen  getragenen  Gedankenwelt,  sie  sagen  aber,  dass  Dichter  sein  auch 
heisst  Mensch  sein.  Als  bester  Verkünder  einfach  menschlicher  Gedanken 
wird  Horaz  stets  menschlich  fühlende  Gemüter  bezaubern;  durch  seine 
Gedichte  klingt  das  Wort: 

Homo  siitn:  humani  nil  a  me  alienum  puto, 

Arnold,  Die  griech.  Stud.  des  Hor.,  Halle  1855,  1856.  Tbüfpel,  Die  horaz.  Lyrik 
und  deren  Kritik,  Tüb.  1876.  Plüss,  Horazstudien  —  über  horazische  Lyrik,  Leipz.  1882. 
RosENBERO,  Die  Lyrik  des  Horaz,  Gotha  1883.  Gebhardi,  Ein  ästhetischer  Kommentar  zu 
den  lyrischen  Dichtungen  des  H.,  Paderborn  1885.    Leuchtbnbergeb,  Die  Oden  des  Horaz 

0  Kiessling,  Philol.  Unters.  2,  63.  heitsoden   1,4   1,7   1,9   1,11   2,2  2,3  2,10 

«)  ScHWEiDEWiN,  Die  Horaz.  Lebensweis-      2, 11  2,  U  2, 16  2, 18  3, 1   3, 16  4,  7   4, 12 
heit,   Hannover  1890,    der  die  Lebensweis-   \  untersucht. 


88       BömiBohe  LitteraturgeBchichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

fCLr  den  Schulgebr.  disponiert,  Berlin  1889.  Gebhard,  Gedankengang  horaz.  Oden  in  dis- 
positioneller Übers.,  im  Festpr.  des  Wilhelmsgymn.  München  1891,  wo  im  Eingang  über  die 
Litteratur  referiert  wird.  Mommsen,  Ober  die  sechs  Oden  des  3.  B.  (Fesir.  in  der  Sitzung 
der  preuss.  Akad.  24.  Jan.  1889). 

262.  Verstechnik  der  Oden.  Die  von  Horaz  gebrauchten  Masse 
haben  in  der  Regel  ein  ganz  anderes  Gepräge  als  seine  griechischen  Muster. 
Lange  Zeit  hielt  man  die  Modifikationen  der  ursprünglichen  Metra  für  eine 
künstlerische  Neuerung  des  Dichters.  Allein  die  genauere  Erforschung  der 
antiken  metrischen  Tradition  hat  vielmehr  ergeben,  dass  er  seine  Vers- 
technik wesentlich  aus  den  Lehren  seiner  Zeit  geschöpft  hat.  Diese  Lehren 
aber  beruhen  auf  der  Vorstellung,  dass  die  komplizierten  Masse  von  zwei 
Orundtypen,  den  allgemein  gebräuchlichen  Metra  des  Hexameter  und  des 
jambischen  Trimeter,  abzuleiten  seien.  Infolge  dieser  Ableitung  aber  wurden 
unwillkürlich  die  sekundären  Metra  den  primären  ähnlich  gestaltet;  daher 
kommt  es,  dass  bei  einem  aus  dem  Hexameter  abgeleiteten  Kolon  der 
Trochäus  des  Originalversmasses  regelmässig  durch  einen  Spondeus  ersetzt 
wird  und  ein  Logaödikon  wie  der  Pherecrateus  statt 

der  Form    -  w  _  o  ^  -  er 

die  Form v^  ^  _  ^ 

erhält.  Die  zweite  von  Horaz  ebenfalls  angenommene  Neuerung  jener 
Schultheorie  besteht  in  der  möglichst  scharfen  Gliederung  der  Verse  durch 
die  Cäsur.  Auch  hier  mögen  die  Grundtypen  nicht  ohne  Einfluss  gewesen 
sein,  wie  z.  B.  die  häufige  Cäsur  des  sapphischen  Verses 

integer  vitae  \  scelerisque  purus 

an  die  Penthemimeres  des  Hexameter  erinnert. 

Für  die  von  Horaz  durchgeführte  Strophenbildung  war  eine  Ent- 
deckung von  Meineke  und  Lachmann  von  grosser  Bedeutung;  beide  Ge- 
lehrte fanden,  dass  die  Verszahl  aller  Oden  (eine  einzige  4, 8  ausgenommen, 
in  der  aber  die  Interpolation  zweifellos  ist)  ein  Vielfaches  von  4  (4x)  dar- 
stellen, und  zogen  daraus  den  richtigen  Schluss,  dass  alle  Gedichte  in  vier- 
zeiligen  Strophen  komponiert  seien.  Für  gewisse  Strophenformen  wie  die 
alcäische,  welche  auf  der  Vierzeiligkeit  aufgebaut  sind,  brachte  das  entdeckte 
Gesetz  keine  Neuerung.  Allein  daneben  gibt  es  auch  monostichische  und 
distichische  Gedichte;  diese  erhielten  erst  durch  das  LACHMANN-MEiNEKE'sche 
Gesetz  ihren  vierzeiligen  Aufbau.  Ein  Zwang,  Sinnesabschnitt  und  metri- 
schen Abschluss  am  Ende  der  Strophen  zusammenfallen  zu  lassen,  besteht 
für  Horaz  nicht;  im  Gegenteil,  er  ist  eher  bestrebt,  dieses  Zusammen- 
fallen so  viel  als  möglich  zu  vermeiden.  Die  gebräuchlichsten  Strophen- 
formen des  Horaz  sind  die  asclepiadeischen  in  mehreren  Formen,  die  sap- 
phische  und  die  alcäische. 

Die  Erkenntnis,  dass  Horaz  in  seiner  Verstechnik  der  zu  seiner  Zeit  üblichen  Schul - 
theorie  folgt,  verdanken  wir  Chbist  (Sitzungsberichte  der  bayer.  Akad.  Jahrg.  1868  Bd.  1, 
1—44).  —  KiEssLiNO,  Die  metr.  Kunst  des  H.  im  1,  Bd.  seiner  Ausg.  Bock,  De  metr.  Hör. 
lyrUiSy  Kiel  1880.    Reichakdt,  De  metrorum  lyric.  Hör.  artificiosa  elocutione^  Marb.  1889. 

263.  Bückblick  auf  die  horazische  Dichtung.  Nachdem  wir  das 
poetische  Schaffen  des  Horaz  nach  allen  Seiten  hin  verfolgt  haben,  wollen 
wir  auf  den  zurückgelegten  Weg  zurückschauen  und  vor  allem  die  Chrono- 
logie seiner  Dichtungen  in  tabellarischer  Form  vorführen: 


Q.  HoraüoB  Flaooiis.  89 

Erste  Satirensammlung,  abgeschlossen  c.  35 

Epodenbuch,  umfasst  die  Jahre  40 — 81 

Zweite  Satirensammlung,  abgeschlossen  c.  30 

Erste  Liedersanunlung               „  23 

Erste  Epistelsammlung               ,  20 

Die  LitteraturbriefCf  umfassen  die  Jahre  19 — 14 

Zweite  Liedersammlung,  umfasst  die  Jahre  17—13. 

Diese  Übersicht  lehrt  uns,  dass  die  Entwicklung  der  horazischen 
Poesie  in  drei  Stufen  erfolgt;  sie  beginnt  mit  Nachahmungen  des  Archi- 
lochus  und  des  Lucilius,  schreitet  dann  zu  dem  äolisch-anakreontischen 
Lied  und  kehrt  endlich  mit  den  Episteln  zu  ihrem  Ausgangspunkt,  aber 
in  modifizierter  Gestalt  zurück.  Dass  nochmals  ein  Liederherbst  unter 
den  letzten  Dichtungen  erscheint,  beruht  auf  einem  äusseren  Anlass.  Diese 
Entwicklungsgeschichte  zeigt  uns,  dass  die  der  prosaischen  Rede  sich 
nähernde  , Plauderei"  die  Gattung  ist,  zu  der  sich  Horaz  durch  inneren 
Drang  hingezogen  fühlte  (S.  2, 1,28).  Seine  Lyrik  ist,  wie  wir  gesehen, 
nicht  ein  Produkt  jugendlichen  Ringens,  sie  ist  eine  Frucht  des  reiferen 
Alters,  sie  ist  ein  künstliches  Gewächs  und  vorwiegend  reflektierender 
Natur  wie  die  Plaudereien.  Horazens  Poesie  wurzelt  nicht  in  einer  hohen 
idealen  Weltanschauung,  sie  ist  nicht  der  Niederschlag  grosser  innerer 
Kämpfe  wie  die  des  Lucrez  und  die  des  Catull,  sie  ist  Realpoesie  und  ver- 
rät, wie  ein  geistreicher  Forscher  gelegentlich  bemerkte,  den  Libertinen- 
sohn  nicht.  Wie  sein  Leben,  nachdem  er  den  republikanischen  Traum 
abgeschüttelt,  unter  dem  Schirm  der  Monarchie  ruhig  dahinfloss,  so  war 
auch  seine  Dichtung  ein  Spiegelbild  eines  gefestigten  und  sich  völlig 
klaren  Daseins.  Ausserhalb  der  Kämpfe  des  Lebens  stehend,  aufs  ängst- 
lichste auf  Wahrung  seiner  Unabhängigkeit  und  Selbständigkeit  bedacht, 
blickt  er  sicheren  Auges  in  die  Welt  hinaus  und  sieht  die  Dinge  an,  wie 
sie  sind.  Seinem  klaren  Geiste  entgehen  auch  die  Verkehrtheiten  des 
gesellschaftlichen  Treibens,  der  litterarischen  Strömungen  nicht,  allein  sie 
verbittern  nicht  seine  Stimmung  und  trüben  nicht  seinen  Humor.  Eine 
grosse  Reihe  von  Lebensbildern  von  packender  Realität  zieht  an  uns  vor- 
über, kernige  Sätze  reifster  Lebensweisheit  werden  überall  eingestreut, 
es  gesellt  sich  hinzu  eine  durchsichtige,  von  allem  Überspannten  und  Krank- 
haften sich  frei  haltende  Darstellung.  Nicht  der  Dichter  der  Jugend, 
welcher  alles  noch  von  Gold  umwoben  erscheint,  ist  Horaz,  nein,  er  ist 
der  Dichter  des  Mannes.  Wer  die  Mittagshöhe  des  Lebens  überschritten 
und  mit  stiller  Wehmut  auf  die  zerronnenen  Ideale  der  Jugend  zurück- 
blickt, wer  sein  Auge  nicht  mehr  vorwärts,  sondern  rückwärts  schweifen 
lassen  muss,  wird,  wenn  er  die  Summe  seiner  Tage  zieht,  sich  sagen 
müssen,  dass  vor  etwa  zweitausend  Jahren  ein  Römer  gelebt,  der  richtig 
erkannt  hat,  dass  alles  vergänglich  ist,  und  dass  in  der  inneren  Zufrieden- 
heit und  in  der  frohen  Hingabe  an  die  Gegenwart  doch  ein  gut  Teil  des 
menschlichen  Glücks  besteht. 

Allgemeine  Litteratur  über  die  Abfassungszeit  der  horaz.  Gedichte: 
Grotbfend  bei  Ersch  und  Gruber,  Allg.  Encyclop.  2, 10  (1833).  457.  Die  schriftstellerische 
Laufbahn  des  H.,  Hanau  1849.  Fraivke,  FmH  Horatiani,  Berl.  1839.  Teuffel,  Proleg. 
zur  horaz.  Chronologie  (Zeitechr.  f.  d.  Altertumsw.  1842,  1103).  Zümpt  vor  Wüstemanks 
Ausg.  der  Sat.  p.  20.     Christ,  Fast,  Horat.  epicrisis,  Münch.  1877. 

Überlieferung:    Die  Kritik   des  Horaz   beruht  auf  dem  codex  antiquissimus 


90       BOmiBohe  LitteratnrgoBchiolite.    ü.  Die  Zeit  der  Honarohie.    1.  Abteilang. 

Blandinius.  Eine  Stelle  ist  hier  das  wahre  Schiboleth,  nämlich  Sat.  1,6, 126,  wo  dieser 
Codex  das  einzig  Richtige  hat  (nur  der  Gothanus  B.  61  kommt  noch  nahe),  nämlich  fugio 
campum  lusutnque  trigonem,  während  alle  übrigen  fugio  rahiosi  tempora  signi 
lesen.  Es  ist  ganz  unmöglich,  die  eine  Losart  aus  der  andern  durch  paläographische  Ver- 
derbnis zu  erklären;  dass  doch  ein  solcher  Versuch  gemacht  wurde,  beruht  auf  einer  be- 
klagenswerten Verblendimg.  Eine  solche  Handschrift,  die  an  einer  so  merkwürdigen  Stelle 
allein  das  Richtige  hat,  die  selbst  eine  über  Porphyrie  zurückgehende  Überlieferung  dar- 
bietet, zu  vernachlässigen,  wäre  unverantworlich.  Allein  diese  Handschrift  existiert  heut- 
zutage nicht  mehr;  wir  kennen  sie  nur')  aus  den  Mitteilungen  des  Cruquius.  Dieser  Pro- 
fessor in  Brügge,  der  mehrere  Horazausgaben  veranstaltete,  sah  sich  nach  verschiedenen 
Horazhandschriften  um.  Unter  anderem  zog  er  auch  4  Codices  des  Benediktinerklosters 
auf  dem  Blandinischen  Berg  bei  Gent  zu  Rat,  welche  er  sich  nach  Brügge  kommen  Hess 
(1565).  Diese  Handschriften  wurden  bald  nach  ihrer  Zurücksendung  mit  dem  Kloster  in 
den  Wirren  der  Bilderstürmer  ein  Raub  der  Flammen.  Über  die  Zuverlässigkeit  der  An- 
gaben des  Cruquius  hat  sich  ein  Streit  entsponnen.  Bebok  stellte  nämlich  die  These  auf 
(Opusc.  1,  737),  dass  die  Angaben  des  Cruquius  über  die  von  ihm  benutzten  Handschriften 
des  Horaz  zum  Teil  auf  Fälschung  beruhen  und  dass  es  darum  ihm  immer  unbegreiflich 
erschienen  sei,  wie  man  darauf  die  Kritik  des  Dichters  basieren  kann.  Mit  grossem  Eifer 
eigneten  sich  diese  These  die  beiden  Horazherausgeber  Holder  und  Keller  an ;  sie  packten 
aber  die  Sache  noch  schärfer  an,  sie  bestritten  sowohl  die  Glaubwürdigkeit  des  Cruquius 
als  die  Vortrefflichkeit  des  Blandinius.  Allein  mit  der  Leugnung  der  Glaubwürdigkeit  des 
Cruquius  fällt  die  Frage  nach  der  Vortrefflichkeit  seines  codex  eigentlich  weg  (Kellers 
Epilog,  p.  800  f.).  Wir  sind  in  der  Lage,  die  Zuverlässigkeit  des  Cruquius  jetzt  noch  einer 
Prüfung  zu  unterziehen.  Eine  der  von  ihm  verglichenen  Handschriften  ist  noch  vorhanden, 
es  ist  der  Codex  Carrionis  oder  Divaei  in  Leyden  (n.  127  A).  Bäussner  hat  in  der  Schrift 
„Cruquius  und  die  Horazkritik,  Bruchsal  1884"  diese  Prüfung  vorgenommen  und  daraus 
den  Satz  gewonnen  (p.  54),  „dass  den  Angaben  des  Cruquius  jeder  normative  Wert  für  die 
Horazkritik  abzusprecnen  sei*.  Allein  dass  diese  Schlussfolgerung  eine  völlig  irrige  ist, 
hat  Kukula,  der  dem  Blandinius  eine  eigene  Arbeit  gewidmet  {De  Cruquii  codice  vetussia- 
sima,  Wien  1885),  in  einer  sehr  umsichtigen  und  besonnenen  Abhandlung  der  österr. 
Gymnasial-Zeitechrift  36,  193  dargethan  und  das  Ergebnis  gewonnen,  dass  bei  550  Lesarten 
etwa  30  gröbere  Verstösse  des  Cruquius  zu  verzeichnen  sind,  dass  dieselben  aber  nicht  auf 
seine  mangelnde  fides,  sondern  auf  seine  mangelnde  Kenntnis  und  Unerfahrenheit  zurück- 
zuführen sind.  Es  ist  also  nicht  zu  bestreiten,  dass  sich  ein  sehr  annähernd  richtiges  Bild 
des  Bland,  antiquissimus  aus  Cruquius  herstellen  lässt  (Hoehn,  De  Codice  Blandinio  anti- 
quissimo.  Jena  1883  p.  24  und  25).  Über  den  Wert  des  Codex  kann  aber  ein  irgendwie 
zu  begründender  Zweifel  nicht  aufkommen;  die  Angriffe  Kellers  in  den  Epileg.  p.  801 
lassen  sich  leicht  widerlegen.  Mbwes  (Über  den  Wert  des  cod.  Bland,  vetustissimus,  Berl. 
1882  p.  15  und  p.  19),  Hoehn  p.  51  haben  numerisch  festgestellt,  wie  viel  von  den  be- 
kannten Lesarten  des  codex  als  richtig  und  welch  geringer  Bruchteil  als  falsch  zu  er- 
achten sei. 

Ausgaben:  tt)  Gesamtausgaben:  Die  epochemachende  Ausgabe  von  Bentley, 
Cambridge  1711,  neu  abgedruckt  Berl.  1869;  Orelli-Hirschfelder-Mewes,  Berl.  1885 
(mit  lat.  Kommentar);  Dillenburoer,  Bonn  1881  (mit  lat.  Kommentar) ;  Ritter,  Leipz.  1856 
(ebenfalls  mit  lat.  Kommentar).  —  Von  Keller  und  Holder,  Leipz.  1864—70  (krit.  Ausg.) ; 
dazu  0.  Keller,  Epilog.,  Leipz.  1879—1880;  Lehrs,  Leipz.  1869  (eine  durch  die  Athetesen 
verunglückte  Leistung).  —  Deutsch  kommentierte  Ausgabe  von  Düntzer,  Paderborn  1868; 
Schütz,  Beri.  1880—83;  Kiesslino  1884—1889  (vortreffliches  Werk).  —  Texteusgaben  von 
Meineke,  Berl.  1854;  Haupt- Vahlen,  Leipz.  1881;  Linker,  Wien  1856;  L.  Müller,  Leipz. 
1879  (1885);  Keller  et  Haussier,  Prag  1885. 

ß)  Satiren  von  Heindorf,  BresL  J815,  3.  Aufl.  von  Döderlbin  1859  (vortreff- 
liches Buch);  Kirchner  (übersetzt  und  erklärt  Leipz.  1854—57,  der  Kommentar  zu  B.  II 
von  Teuffel);  Hofman-Pebrlkamp,  Arasterd.  1863.  Lat.  und  deutsch  von  Döderlein  (reich 
an  originellen,  zum  Teil  paradoxen  Einfällen) ;  Krüger  (mit  Episteln),  12.  Aufl.  Leipz.  1889 ; 
Fritzsche,  Leipz.  1875.  1876;  Breithaupt,  Grotha  1888. 

y)  Oden  und  Epoden:  Von  Hofman-Peerlkakp,  2.  Aufl.  Amsterd.  1862.  L.  Müller 
mit  Anmerk.,  Giessen  1882.  Schulausgaben  von  Kosenbero,  Gotha  1883,  Naück  (13.  Aufl. 
Leipz.  1889). 

cf)  Episteln  lat.  und  deutsch  von  Döderlein,  Leipz.  1856.  1858.  Fbldbaüsch,  Leipz. 
und  Heidelb.  1863  (in  Prosa),  von  0.  Ribbbck,  Berl.  1869;  Anton,  Gotha  1888.  —  Ars 
poetica  von  Peerlkamp,  Leyden  1845. 

')  Denn  dass  der  Codex  auch  von  Petrus   1   hauptot  worden  (Matthias,  QuaeH,  Blandin., 
Nannius  benützt  worden,  ist  mit  Unrecht  be-  1  Halle  1882.  Vgl.  Hoehn  p.  6,  Häussner  p,  5). 


Q.  HoratiuB  FlaccQB.  91 

264.  Horaz  im  Altertum.  Auch  die  Wertschätzung  der  Autoren 
hat  ihre  Geschichte;  die  verschiedenen  Zeiten  urteilen  nicht  in  gleicher 
Weise  über  denselben  Schriftsteller.  So  ist  es  zweifellos,  dass  der  Lieb- 
lingsdichter der  Römer  selbst  Vergil  war,  während  man  Horaz  den  antiken 
Lieblingsdichter  der  modernen  Zeit  nennen  kann.  Der  Grund  dieser  Er- 
scheinung ist  nicht  schwer  zu  finden.  In  dem  einen  hat  die  Idee  des 
Bömertums  einen  prägnanten  Ausdruck  gefunden,  in  dem  andern  ist  ein 
entschieden  kosmopolitischer  Zug  wirksam.  Gleichwohl  muss  auch  auf 
seine  Zeitgenossen  Horaz  einen  mächtigen  Eindruck  gemacht  haben.  Als 
er  nach  längerer  Pause  die  Früchte  seines  zweiten  Liederfrühlings  heraus- 
gab, konnte  er  in  dem  schönen  Lied  an  Melpomene  (4, 3)  sich  rühmen, 
dass  ihn  sein  Volk  zu  seinen  Dichtern  zähle  und  die  Leute  auf  den  Strassen 
auf  ihn,  den  Sänger  Roms,  deuten.  Und  dass  seine  Dichtung  wirklich 
eine  Macht  geworden  war,  geht  daraus  hervor,  dass  Augustus  ungeheuren 
Wert  darauf  legte,  von  Horaz  genannt  zu  werden  und  dass  er  den  Dichter 
ermunterte,  die  Thaten  seiner  Stiefsöhne  zu  besingen  (Suet.  p.  46  R.).  Auch 
stellte  sich  die  Schar  der  Nachahmer  ein.  Besonders  regten,  wie  es 
scheint,  die  Oden  als  etwas  ganz  Neues  den  Schaflfenstrieb  anderer  Talente 
an.*)  Ovid  nennt  uns  einen  Rufus  als  Sänger  der  Pindarischen  Lyra 
(P.  4, 16, 28),  ein  Freund  des  Horaz,  Titius  (Ep.  1, 3, 9  Tibull.  1, 4, 73),»)  unter- 
nahm  ebenfalls  das  gefährliche  Wagnis,  Pindar  dem  römischen  Volke  zu  er- 
schliessen,  später  ist  nach  dem  Zeugniss  Quintilians  (10,1,96)  Bassus  in  der 
Lyrik  thätig,  und  der  jüngere  Plinius  erzählt  uns  von  einem  Passennus  Paulus, 
der  zuerst  Properz,  dann  Horaz  als  seinen  Meister  verehrte  (ep.  9, 22). 
Auch  der  Grammatiker  Remmius  Palaemon  wird  durch  seine  Beschäftigung 
mit  Horaz  dazu  gekommen  sein,^)  sich  in  „verschiedenen  und  nicht  ge- 
wöhnlichen Metra"  (variis  nee  vulgaribus  metris),  wie  es  heisst,  zu  versuchen. 
Doch  alle  diese  Versuche  hat  die  Zeit  hinweggefegt;  auf  günstigeren  Boden 
fiel  die  Satirendichtung;  es  ist  bekannt,  dass  diese  Gattung  durch  Persius 
und  Juvenal  fortgesetzt  wurde,  es  ist  nicht  minder  bekannt,  dass  die 
eifrige  Lektüre  des  Horaz  in  Persius  noch  ersichtlich  ist.*)  Ja  Horazens 
litterarisches  Ansehen  war  in  so  hohem  Grade  gestiegen,  dass  selbst 
unechte  Produkte  unter  seinem  Namen  ins  Publikum  drangen;  noch  zu 
Suetons  Zeit  (p.  47  R.)  waren  solche  Falsifikate,  Elegien  und  ein  Prosa- 
brief in  Umlauf.  Schliesslich  kam  Horaz  auch  in  die  Schule,  ein  Schicksal, 
das  er  sehr  fürchtete  (Ep.  1,20, 17),  dem  er  aber  kaum  entgehen  konnte. 
Es  war  nämlich  damals  die  Sitte  aufgekommen,  Autoren  der  jüngsten 
Gegenwart  dem  Unterricht  zu  Grund  zu  legen.  So  berichtet  uns  Sueton 
(de  gr.  16),  dass  der  Grammatiker  Q.  Caecilius  Epirota  über  Vergil  und 
„andere  neue  Dichter*  las.  Und  Horaz  konnte  mit  Rücksicht  auf  diese 
Einrichtung  es  als  einen  thörichten  Wunsch  der  Schriftsteller  hinstellen, 
dass  ihre  Werke  in  den  Elementarschulen  diktiert  werden  (Sat.  1,10,74). 
Wann  unser  Dichter  Schulschriftsteller  wurde,   können  wir  nicht  genauer 


*)  KiEssLiNG  in  der  Kieler  Philologen-  •)  Suet.  de  gr.  23.   Vgl.  Hbyneäann,  De 

vers.  1870  p.  30.  interpoL  p.  68. 

'j  Beide  identifiziert  Reifferscheid,  con-  '  *)  Heykemann  p.  63. 

iect  nova  p.  7.  , 


92       BOmiBche  Litteraturgesohichte.    n.  Die  Zeit  der  Honarohie.    1.  Abteilung. 

bestimmen.  Fest  steht,  dass  er  zu  Zeiten  Quintilians  in  den  Schulen 
behandelt  wurde,  denn  sonst  hätte  der  Rhetor  keine  Einschränkung  für 
die  Interpretation  des  Dichters  verlangen  können  (1,8,6).  Zu  Juvenals 
Zeiten  schmückten  die  Büsten  von  Vergil  und  Horaz  die  Schulzimmer,*) 
ein  Beweis,  dass  beide  Autoren  Gegenstand  des  Unterrichts  waren.  Die 
Einführung  des  Horaz  in  die  Schule  musste  zu  seiner  methodischen  Er- 
läuterung führen.  Wohl  die  erste  Frucht  dieser  Thätigkeit  sind  die  in 
den  Handschriften  enthaltenen  Überschriften  zu  den  verschiedenen  Ge- 
dichten. Diese  Überschriften  sind  besonders  für  die  Oden  charakteristisch ; 
sie  geben  die  Person  an,  an  welche  die  Lieder  gerichtet  sind,  bestimmen 
das  Metrum  nach  den  Kola  und  geben  kurz  Inhalt  und  Charakter  an.') 
So  bildete  sich  sogar  ein  kleiner  Litteraturzweig  „über  die  Personen  bei 
Horaz*. 8)  Auch  das  Bedürfnis  der  kritischen  Sichtung,  der  Recensio,  wird 
sich  infolge  der  starken  Verbreitung  des  Dichters  bald  eingestellt  haben. 
In  der  Zeit  Neros  erschien  die  erste  kritische  Ausgabe  des  venusinischen 
Sängers.  Sie  ward  besorgt  von  dem  römischen  Aristarch  M.  Valerius 
Probus,  der  sie  auch  nach  der  Methode  des  Meisters,  d.  h.  vermittels  An- 
wendung kritischer  Zeichen  durchführte.  Der  Interpreten  Horazens  können 
der  Natur  der  Sache  nach  nicht  wenige  gewesen,  sein.  Die  Namen  der 
meisten  sind  für  uns  verschollen;  doch  von  einigen  hat  sich  eine  Kunde 
erhalten.  So  werden  uns  Modestus  und  Claranus  genannt;  da  zwei 
Personen  dieses  Namens  als  Grammatiker  auch  Martial  (10,  21)  erwähnt, 
werden  wir  dieselben  als  identisch  mit  den  Horazexegeten  betrachten  und 
sie  dem  Sinn  der  Martialstelle  gemäss  dem  domitianischen  Zeitalter  zu- 
weisen. Man  kennt  zwar  auch  einen  Modestus,  der  Freigelassener  des 
AugusteersHyginus  war;  allein  diesen  anzunehmen,  ist  weniger  geraten,  viel- 
mehr wird  Modestus  zugleich  der  von  Vaticanus  3317  zu  Verg.  Georg.  2,497 
angeführte  Aufidius  Modestus  sein,  den  Plutarch  (quaest.  symp,  2, 1,5 
p.  632  A)  als  seinen  Zeitgenossen  bezeichnet.  Ebensowenig  wird  man  bei 
Claranus  an  den  denken,  welchen  der  Philosoph  Seneca  als  hochbetagten  Mann 
seiner  Freundschaft  gewürdigt  (Ep.  66, 1).  Die  hadrianische  Epoche  brachte 
das  bekannte  litterarhistorische  Werk  Suetons,  aus  dem  die  Biographie  des 
Dichters  entnommen  ist,  sie  brachte  auch  einen  Kommentar  des  Q.  Terentius 
Scaurus,  der  hiefür  eine  Ausgabe  des  Horaz  in  10  Büchern  —  die  der  jjoetica 
als  eigenes  Buch  gezählt  —  zu  Grunde  legte.  Es  folgte  in  der  Antoninen- 
zeit^)  Helenius  Acre,  der  ausser  Horaz  auch  Terenz  und  Persius  erläuterte. 
Alle  diese  Kommentare  sind  verloren  gegangen,  doch  steckt  manches 
davon  in  den  vorhandenen  Horazscholien,  die  wir  im  folgenden  Paragraphen 
besprechen  werden.  Ausser  den  gelehrten  Werken  zeigt  sich  das  Fortleben 
des  Horaz  ganz  besonders  in  den  Nachwirkungen,  welche  die  Lektüre  des 
Dichters  bei  den  Autoren  zurückgelassen  hat.  Man  hat  diese  Nachwirkungen 
bis  zum  Ausgang  der  nationalen  Litteratur  verfolgt.')     Und  dass  damals 


')  Friedländer,  Sittengesch.  3, 378. 
'^)  KiEssLiNo,    De   Horatian.   carminum 
inscriptionibiiSj  Greifsw.  1876.   Zarncke,  De 


*)  Schottmüller,  De  Flinii  libris  gramm, 
1,32. 

^)  Hertz   hat  dies   gethan  in   5  Bresl. 


rocab.  graecanicis  in  inncript.  carm.  Horat,,      Programmen   unter   dem  Titel   Analecta  ad 
Strassb.  1880  (Fleckeis.  Jahrb.  123,  785).  Carminum  Iloratianorum  hifftoriatnf   Berlin 

»;  Porph.  zu  Sat.  1, 3, 21  und  90.  i    1876—1882.     Auch    Haupt   hatte    sich    die 


Q.  HoratiuB  Flaccua.  93 

noch  Leute,  deren  Denken  in  dem  alten  Römertum  wurzelte,  an  ihrem 
Horaz  festhielten,  dafür  legt  eine  uns  in  einer  Reihe  von  Horazhandsehriften 
überlieferte  Subscriptio  Zeugnis  ab.  Aus  derselben  ersehen  wir,  dass  der 
Consul  Ordinarius  des  J.  527,  Vettius  Agorius  Basilius  Mavortius,  unter- 
stützt von  seinem  Mitarbeiter  Felix,  eine  Rezension  des  Horaz  gemacht. 
Die  Subscriptio  steht  hinter  den  Epoden.  Da  die  gewöhnliche  Reihenfolge 
der  Horazischen  Gedichte  in  den  Handschriften  ist:  Oden,  Ars  poetica, 
Epoden,  Carmen  saeculare,  Episteln,  Satiren,  so  stellt  sich  jene  Notiz  von 
Mavortius  wie  eine  Subscriptio  zum  ersten  Teil  der  Horazischen  Poesien 
dar;  es  ist  daher  zweifelhaft,  ob  sich  die  mavortische  Rezension  auf  den 
ganzen  Horaz  erstreckt  hat. 

266.  Erhaltene  Horazkommentare.    Wir  haben  deren  folgende: 

1.  Scholien  des  Pomponius  Porphyrie.  Anscheinend  im  4.  Jahr- 
hundert hat  dieser  Grammatiker,  der  auch,  wie  es  scheint,  Lucan  kom- 
mentierte (schol.  Luc.  1,214),  diese  Scholien  zusammengestellt.  In  denselben 
tritt  der  historisch-reale  Gesichtspunkt  sehr  in  den  Hintergrund,  dagegen 
wiegt  stark  das  Grammatische  und  Rhetorische  vor.  Die  Überlieferung 
des  Kommentars  ist  eine  feste,  d.  h.  wir  haben  (abgesehen  von  zufölligen 
Störungen)  ein  einheitliches  Werk  eines  Verfassers. 

Da  er  Sueton  citiert  (ep.  2, 1,1),  so  muss  er  nach  Hadrian  gelebt  haben.  Der  Ter- 
minus ante  quem  ist  schwieriger  zu  bestimmen.  Es  hängt  alles  davon  ab,  ob  das  Citat 
des  Grammatikers  Charisius,  der  etwa  360  anzusetzen  ist,  ut  Porphyrio  ex  Vet^o  et  Feato 
auf  den  im  ersten  Jahrzehnt  des  dritten  Jahrhunderts  schreibenden  Julius  Romanns,  den 
jener  gewöhnlich  ausschreibt,  zurückgeht  oder  ein  eigener  Zusatz  des  Charisius  ist.  Die 
letzte  Abnahme  ist  die  wahrscheinlichere. 

2.  Die  Pseudoacronischen  Scholien.  Ganz  anders  als  bei  Por- 
phyrio liegt  die  Sache  bei  einer  zweiten  Scholienmasse,  welche  man  früher 
Acre  beilegte.  Allein  der  Name  dieses  Horazkommentators  erscheint  in 
keiner  älteren  Handschrift;  erst  im  15.  Jahrhundert  taucht  Acre  in  Ver- 
bindung mit  diesen  Scholien  auf,  jedenfalls  nach  der  Vermutung  eines 
Gelehrten.  Diese  Scholien  variieren  in  den  verschiedenen  Handschriften 
auf  mannigfaltige  Weise,  so  dass  wir  eigentlich  eine  Schar  von  Pseudo- 
acronen  haben.  Trotzdem  scheint  ein  fester  Kern  aus  denselben  heraus- 
geschält werden  zu  können.^) 

KiESSLiNO,  De  persan.  Ilorat.  p.  6,  5  „haec  compilatio  quam  variis  modi»  rel  hreriata 
rel  dilatata  vel  cum  Parphyrionis  commento  denuo  contaminata  ita,  ut  primaria  eiuM  forma 
proTMus  paene  obscurata  sit,  in  lihris  propagetur  ahunde  docent,  quae  Useneru«  (De  nrhol, 
Nor.)  pratulit  exempla:  attamen  semper  unius  grammatici  opellam  quantumris  transforma- 
tarn  agnascere  posse  mihi  rideorJ'  —  Kukula,  De  tribus  paeudoacron,  schoHorum  recemtioni^ 
hu8,  Wien  188.S. 

3.  Der  Kommentator  Cruquianus.  Wir  verstehen  unter  dieser 
Bezeichnung  die  Erklärungen,  welche  sich  der  Prof.  Cruquius  in  Brügge 
aus  verschiedenen  Handschriften  und  Ausgaben  zusammengetragen.  Es  ist 
also  eine  Scholienmasse,  welche  erst  durch  ihn  ihre  Individualität  erhielt. 

JoBDAK,  De  commentatore  Hör,  Cruquiano,  Königsb.  1883.  Matthias  in  den  Quaeat, 
Blandin,  p.  29—51. 

Citate  aus  den  horaz.  Gedichten  von  Suet.  monia  bei  Keller-Holder. 

und  Quintil.  bis  hinab  in  die  Zeit,  wo  unsere  ^)  Wichtig  für  den  Kommentar  ist  der 

Handschriften  beginnen  —  über  1200  —  ge-  Parisinus  7900*. 

sammelt  (Opusc.  3, 47).    Vgl.  jetzt  die  testi- 


1 


94       HOmiBclie  LitteratiirgeBchichte.    Ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Ein  Unstern  waltete  über  der  Herausgabe  der  zwei  ersten  Scholienmassen.  Zwei 
unbrauchbare  Ausgaben  sind  hier  zu  verzeichnen,  die  von  Pauly,  Prag  1858  und  die  von 
IIauthal,  2  Bde.,  Berl.  1864.  1866.  Die  erste  Recensio  des  Porphyrie,  die  diesen  Namen 
verdient,  veranstaltete  W.  Meyeb,  Leipz.  1874  nach   der  Münchner  Handschrift  181  s.  X. 

Litteratur:  Useneb,  De  schoUis  Horat,,  Bern  1863.  O.Keller,  Scholiasten  des 
Horaz  in  den  Symhola  philöl.  Bonnensium  p.  491.  Schweikert,  De  Porph.  et  Acronis 
scholiiH  Horat.,  Münster  1865.     De  Acrone  qui  fertur  Hör.  scholiasta,  Kohl.  1871. 

2fi6.  Horaz  in  der  Neuzeit.  Wenn  Horaz  auch  im  Mittelalter  dem 
Vergil  weit  nachstand,  so  lassen  sich  doch  auch  in  dieser  Zeit  seine  Spuren 
verfolgen.  Alcuin  und  seine  Schule  beschäftigte  sich  mit  der  Erklärung 
des  Dichters,  ein  noch  in  einer  Wiener  Handschrift  erhaltener  fortlaufender 
Kommentar  zur  Ars  poetica  gibt  davon  Zeugnis.  ^  In  einem  Tierepos 
des  10.  Jahrh.,  Ecbasis  captivi  betitelt,  liegt  die  Verwertung  des  Horaz 
offenkundig  zu  Tage.  Die  grosse  Anzahl  der  erhaltenen  Handschriften 
ist  der  beste  Beweis  dass  man  in  den  Klöstern  auch  gern  Horaz  las.  Es 
würde  gewiss  ein  anschauliches  Bild  von  dem  grossen  Einfluss  des  Kömei's 
auf  die  mittelalterliche  Litteratur  ergeben,  wenn  man  seinen  Spuren  dort 
überall  nachgehen  wollte;  allein  dies  ist  bis  jetzt  nicht  geschehen.  Wir 
wenden  uns  daher  gleich  zur  neuen  Zeit.  Hier  stossen  wir  zuerst  auf  die 
Nachahmer,  welche  in  lateinischen  Gedichten  der  Muse  des  Horaz  nach- 
eiferten. Es  ist  dies  eine  ungeheuer  grosse  Schar,  die  von  der  Humanisten- 
zeit bis  in  unsere  Tage  reicht;  manche  haben  es  auf  diesem  Feld  sogar 
zu  einem  vorübergehenden  Ansehen  gebracht,  wie  die  Jesuiten  Bälde 
(1603—1668)  und  Sarbiewski  (1596—1640).  Aber  auch  auf  die  nationalen 
Litteraturen  hat  der  antike  Lieblingsschriftsteller  grossen  Einfluss  geübt. 
In  unbewusster  Nachwirkung,  in  absichtlicher  Nachahmung,  in  Übertragung 
lebte  der  Römer  weiter.  In  der  einen  oder  anderen  Periode  ist  er  sogar 
Mittelpunkt  für  die  dichterische  Thätigkeit  geworden,  wie  dies  z.  B.  in 
der  Zeit  unserer  sogenannten  anakreontischen  Dichter  der  Fall  war.*) 
Selbst  der  Kirche  blieb  sein  Einfluss  nicht  verschlossen,  dass  unter  die 
geistlichen  Lieder  auch  alcaeische  Strophen  wie  „Nun  preiset  alle  Gottes 
Barmherzigkeit^,  sapphische  wie  „Christe,  du  Beistand  deiner  Kreuzgemeine *" 
Aufnahme  gefunden  haben,  wem  verdanken  wir  es  in  letzter  Linie  anders 
als  Horaz?  3)  Das  Fortleben  des  venusinischen  Dichters  in  den  modernen 
Litteraturen  zu  verfolgen,  ist  uns  wegen  der  Überfülle  des  Stoffes  unmög- 
lich. Dagegen  müssen  wir  aus  den  philologischen  Studien  des  Horaz  die 
zwei  Epochen  herausgreifen,  welche  durch  die  Namen  Bentley  und  Peerl- 
KAMP  bezeichnet  werden.  Der  Engländer  Bentley  hatte  bereits,  ehe  er  an 
Iloraz  herantrat,  eine  unsterbliche  Leistung  hinter  sich,  es  war  dies  die 
geniale  Untersuchung  über  die  sogenannten  Briefe  des  Tyrannen  Phalaris,  in 
der  sich  eminenter  Scharfsinn,  reiche  Gelehrsamkeit,  lichtvolle,  erfrischende 
Darstellung  zu  dem  höheren  Zweck  verbanden,  Echtes  und  Unechtes  zu 
scheiden.  Dieser  erstaunlichen  Leistung  folgte  bald  eine  andere,  welche 
nicht  minder  die  gelehrte  Welt  aufrütteln  sollte  als  die  erste;  wir  meinen 
seine  Horazausgabe,   welche  mitten  unter  heftigen  persönlichen  Kämpfen, 


*)  Schol.  Vindob.  ad  Hör.  a.  p.  ed.  Zech-   |  *)  Gbrvintjs,   Deutsche  Literatai^escb.^ 

MEISTER,  Wien  1877  (Zeitschr.  f.  österr.  Gymn.      4, 224. 
28, 516).  »)  Fritzsche,  Jahrb.  f.  Phüol.  88, 169. 


Q.  HoraüuB  FlaconB. 


95 


an  denen  Bentleys  Leben  so  reich  ist,  im  J.  1711  ans  Tageslicht  trat. 
Hatte  der  Engländer  in  seiner  ersten  Schrift  eine  glänzende  Probe  der 
höheren  Kritik  gegeben,  so  lieferte  er  hier  eine  ebenso  glänzende  Probe  der 
Wortkritik.  In  seinen  kritischen  Operationen  vernachlässigte  er  zwar 
keineswegs  die  Überlieferung,  wie  denn  z.  B.  sein  scharfer  Blick  den  hohen 
Wert  des  ältesten  codex  Blandinius  erkannte,  allein  der  Schwerpunkt  seiner 
Kritik  liegt  nicht  nach  dieser  Seite  hin.  Der  liegt  vielmehr  darin,  dass 
er  mit  hohem  Selbstgefühl,  wie  es  nur  ein  Vorrecht  des  Genies  ist,  den 
Satz  proklamierte,  dass  der  Gedanke  höher  steht  als  hundert  Handschriften 
und  dass  eine  durch  Sinn  und  Zusammenhang  gerechtfertigte  Konjektur 
ebensoviel  wert  ist  als  eine  durch  hundert  Handschriften  bezeugte.  *)  Diesem 
Grundsatz  entsprechend  scheut  er  sich  daher  auch  nicht,  seine  Konjekturen 
in  den  Text  zu  setzen.  Die  Rechtfertigung  der  Konjekturen  von  der 
„ratio*'  aus  will  daher  nichts  von  dem  „Probabile**,  das  sich  auf  diesem 
Gebiet  breit  machte,  wissen,  sondern  steuert  mit  souveräner  Verachtung 
des  toten  Buchstabens  festen  Schritts  auf  das  „Certum'  hin.  Es  ist  über- 
all der  Massstab  der  Korrektheit,  welcher  für  die  Emendation  bestimmend 
ist.  Darin  liegt  der  ungeheure  Reiz  dieser  Kritik,  zugleich  aber  ihre 
Schwäche.  Denn  nur  zu  leicht  läuft  eine  solche  Methode  Gefahr,  zu  wenig 
die  Individualität  des  Schriftstellers  zu  berücksichtigen  und  statt  den  Ab- 
schreiber diesen  selbst  zu  korrigieren.  Und  dies  hat  Bentley  unzählige- 
mal  gethan.  Allein  trotzdem  ist  seine  Arbeit  für  den  Dichter  in  hohem 
Grade  förderlich  gewesen,  weil  sie  uns  zur  tieferen  Erkenntnis  seines 
Wesens  verhalf  und  nicht  bloss  seine  Licht-,  sondern  auch  seine  Schatten- 
seiten kennen  lehrte,  denn  aus  der  BENTLEY'schen  Konjektur  ersehen  wir,  wie 
oft  noch  der  Dichter  von  der  Vollkommenheit  des  Ausdrucks  entfernt  ist. 
Die  Bewegung,  welche  diese  Horazausgabe  hervorrief,  war  eine  gewaltige 
und  das  Entsetzen  der  autoritätsgläubigen  Menge  nicht  gering.  Es  er- 
schienen Pamphlete,  der  Aristarchus  Anti-Bentlejanus  von  R.  Johnson  1717, 
endlich  die  Ausgabe  von  A.  Cünningham,  Hagae  1721.  Zehn  Jahre  hatte 
dieser  schottische  Edelmann  daran  gesetzt,  den  BENTLEY'schen  Horaz  zu 
vernichten.  Allein  sein  Bemühen  war  vergeblich.  Jene  Gegenschriften 
sind  verschollen,  während  der  BsNTLEY'sche  Horaz  noch  heute  den  unver- 
gänglichen Ruhmeskranz  trägt.  Nach  Benti^ey  kamen  die  Horazstudien 
in  eine  Stagnation,  welche  über  hundert  Jahre  andauerte.  Da  brachte 
das  Jahr  1834  eine  neue  tiefgehende  Gärung  der  Geister,  veranlasst  durch 
die  Ausgabe  der  Oden  und  Epoden  von  Hofman  Peerlkahp.  In  an- 
mutiger Weise  erzählt  der  Holländer,  wie  er  von  Jugend  auf  Horaz  aufs 
eifrigste  studiert,  wie  er  dann  Bentley  und  andere  Herausgeber  aufs  ge- 
wissenhafteste zu  Rate  zog  und  wie  er  trotzdem,  als  er  den  Dichter 
seinen  Zuhörern  interpretieren  sollte,  hiebei  auf  unübersteigliche  Hinder- 
nisse stiess.  Da  alle  Hilfsmittel  hier  versagten,  so  erwachte  in  ihm  der 
Gedanke,  dass  Horaz  mit  Unechtem  versetzt  sei.  Und  dieser  Gedanke 
löste  ihm,  wie  er  glaubte,  alle  Schwierigkeiten.     So  gab  er  denn  seinen 


')  Zu  Carm.  3,27, 15:  tiobis  et  ratio  et 
res  ipsa  centum  c&dicihus  potiores  sunt;  zu 
1, 23,  5 :  nihil  profecto  hoc  coniectura  certius 


est  suoque  ipsa  lumine  aeque  se  probat y  ac 
si  ex  centum  scriptis  codicibus  proferretur. 


96       KOmiaolie  LitteratnrgeBohiohteT    Ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

Horaz  heraus,  in  dem  etwa  der  vierte  Teil  der  Oden  für  unecht  erklärt 
war.  Auch  Peerlkamp  teilt  den  Fehler  mit  Bentley,  dass  er  nicht  an 
den  Dichter,  wie  er  ist,  mit  allen  seinen  Vorzügen  und  Schwächen  heran- 
trat, sondern  gleich  den  Massstab  der  Vollkommenheit  mitbrachte,^)  dass 
er  sich  einen  Idealhoraz  konstruierte  und  das  was  von  demselben  abwich, 
für  unterschoben  erklärte.  Da  bei  Peerlkamp  naturgemäss  subjektiv- 
ästhetische Ansichten  einwirken,  so  kann  seine  Argumentation  bei  weitem 
nicht  den  siegesgewissen,  erfrischenden  Charakter  erhalten  wie  der  Bent- 
LEY'sche  Kommentar;  man  gewinnt  nur  zu  oft  den  Eindruck  des  krank- 
haften Nörgeins.  Das  Beispiel  Peerlkamps  reizte  natürlich  zur  Nach- 
ahmung; besonders  seitdem  G.  Hermann  die  Partei  des  holländischen  Ge- 
lehrten ergriflfen,  stellte  sich  eine  grosse  Schar  von  Nachtretern  ein,  welche, 
jeder  in  seiner  Weise,  den  Horaz  säuberten.  Den  Gipfelpunkt  erreichten 
diese  Bestrebungen  in  Grüppes  Minos  und  Aeacus  und  in  der  Horazausgabe 
von  Lehrs.  Schon  das  letzte  Buch  aber  konnte  keine  Bewegung  mehr  hervor- 
rufen und  erweckte  mehr  das  Gefühl  des  Bedauerns,  dass  dieser  Gelehrte 
seinen  Ruhm  durch  eine  so  „unverständliche"  Arbeit  schädigen  konnte.  Denn 
mittlerweile  waren  die  Wogen  der  Interpolationsflut  zurückgeworfen,  man 
erkannte,  dass  das  Vorgehen  Peerlkamps  ein  geistreicher  Irrtum  war,  man 
wurde  sich  bewusst,  dass  durch  die  noch  sehr  im  Rückstand  befindliche  Inter- 
pretation des  Dichters  jene  Verblendung  möglich  war.  Nur  sehr  wenige 
Früchte  sind  durch  diese  Interpolationswut  für  Horaz  gezeitigt  worden;  das 
Meiste  ist  unbrauchbar  und  liegt  längst  hinter  uns  in  wesenlosem  Scheine. 

Dem  unmethodischen  Verfahren  Peeblkakps  trat  M.  Haupt  entgegen  und  legte 
die  Kriterien  für  die  Annahme  von  Interpolationen  dar  (Opusc.  3,  55).  Von  mittelalterlicher 
Interpolation  kann  gar  keine  Rede  sein,  denn  die  Überlieferung  ist  eine  geschlossene. 
Nach  Haupt  hat  Heynemann,  De  interpolationifyus  in  cattnintbus  Horatü,  Bonn  1871  feste 
Prinzipien  für  die  Scheidung  des  Echten  und  Unechten  aufzustellen  versucht.  Allein  ob- 
wohl er  die  Zahl  der  nach  seiner  Ansicht  zu  begründenden  Interpolationen  sehr  reduziert 
—  vgl.  die  Obersicht  p.  56.  70  — ,  so  nimmt  er  deren  noch  immer  zu  viel  an. 


3.  L.  Varius  Rufus. 

267.  Gedichte  des  Varius  Rufus.  Der  Dichter  ist  als  Freund  des 
Vergil  und  Horaz  bekannt.  Seine  Freundschaft  für  letzteren  bekundete 
er  dadurch,  dass  er  mit  Plotius  Tucca  die  Aeneis  nach  des  Dichters  Tod 
herausgab;  Horaz  aber  führte  er  und  Vergil  —  ein  wichtiges  Ereignis  — 
bei  Maecenas  ein  (Sat.  1,6, 55).  Den  drei  Freunden  Varius,  Vergil  und 
Tucca  setzt  der  venusinische  Sänger  ein  schönes  Denkmal,  er  nennt  sie 
(Sat.  1,5,41): 

animae,  quales  neque  candidiores 
terra  tulit,  neque  quia  tne  sit  devinctiar  alter. 

Varius  war  ein  sehr  angesehener  Dichter,  von  ihm  rühmt  Horaz,  dass 
niemand  des  Heldenlieds  solcher  Meister  sei  wie  er  (Sat.  1, 10, 43).  Vergil 
klagt  unter  fremder  Hülle,  dass  er  bisher  nichts  des  Varius  und  des 
Helvius  Cinna  Würdiges  gesungen  (Ecl.  9, 35) ;  auf  ihn  als  den  rechten 
Mann,  Agrippas  Thaten  zu  besingen,  weist  Horaz  C.  1,6  hin. 


>)  Er  sagt  (Od.  1, 16, 13):   equidem  Ho- 
ratium  non  agnosco  nisi  in  Ulis  ingenii  monu- 


mentis  quae  tarn  apia   et  rotunda  sunt,  ut 
nihil  demere  possis,  quin  elegantiam  minuas. 


AemiliiiB  Macer.  97 

Zwei  Epen  sind  von  Rufus  bekannt;  unsere  Kenntnis  über  das  erste 
verdanken  wir  Macrobius.  In  den  Kapiteln,  in  denen  er  die  Nachahmungen 
Vergils  aufzeigen  will,  werden  uns  vier  Stellen,  welche  einem  Gedicht  mit 
dem  Titel  „de  morte^  nachgebildet  sind,  aufgezeigt. .  Da  eine  der  Nach- 
ahmungen in  der  8.  £cl.  (Macrob.  6, 2, 20  =  Ecl.  8, 85)  vorliegt,  so  muss 
dasselbe  vor  39  v.  Gh.,  in  welches  Jahr  diese  Ecloge  fällt,  geschrieben  sein. 
Den  Titel  bezieht  man  auf  den  Tod  Caesars.  Unter  den  Fragmenten  ist  das 
umfangreichste  das,  welches  in  schöner  Weise  uns  einen  einer  Hirschkuh 
nachspürenden  Hund  ausmalt.  Ein  zweites  Epos  war  der  Panegyricus 
Augusti  (Porph.  p.  287  M.).  Aus  der  Titulatur  »Augustus*  werden  wir 
schliessen  müssen,  dass  dasselbe  nicht  vor  27  v.  Ch.  fällt,  da  in  diesem 
Jahr  Octavian  jenen  Beinamen  erhielt.  Aus  diesem  Panegyrikus  hat  Horaz, 
um  den  Freund  zu  ehren,  eine  Stelle  seiner  Ep.  1, 16  einverleibt  (v.  27), 
welche  ein  feines  Lob  des  Augustus  enthält: 

tene  magis  salvum  populus  velU  an  poptUum  tu, 
servet  in  ambiguo,  qui  constUit  et  tat  et  urbi, 
Juppiter, 

Am  meisten  Ruhm  brachte  dem  Dichter  aber  die  Tragödie  Thyestes  ein. 
Zufällig  ist  die  Didaskalie  des  Stückes  erhalten.  Nach  derselben  wurde 
das  Drama  im  J.  29  an  den  Spielen  zur  Feier  des  Sieges  bei  Actium  auf- 
geführt; es  trug  dem  Dichter  eine  Gratifikation  von  1  Million  Sestertien 
ein.  Die  Medea  Ovids  und  der  Thyestes  des  Varius  gelten  als  die  tragi- 
schen Meisterwerke  der  Kaiserzeit. 

Die  Didaskalie  steht  im  Paris.  7530  (s.  VIII):  Lucius  Varius  cognomento  Rufus 
Thyesten  tragoediam  magna  cura  ahsolutam  post  actiacam  victoriam  Augusto  ludis  eius  in 
scaena  edidit;  pro  qua  fahula  sestertium  deciens  accepit,  Tacit.  dial.  12  nee  ullus  Äsinii  aut 
Messalae  über  tarn  illustris  est  quam  Medea  Ovidii  aut  Varii  Higestes.  Qnint.  10, 1,  98  Varii 
Thyestes  cuilibet  graecarum  comparari  potest  (Anspielung  auf  das  Stück  bei  Hör.  G.  1, 6, 8). 

Varius'  Schrift  über  Vergil.  Aus  Quint.  10,  3,  8  Vergilium  paucissimos  die 
composuisse  versus  auctor  est  Varius  hat  Spaldino  mit  Recht  geschlossen  (vgl.  auch 
Gell.  17, 10, 2),  dass  Varius  über  Vergil  ein  Buch  geschrieben  „in  quo  praeter  alia  de 
singulis  amici  operibus  quo  tempore  facta  et  edita  quaque  ratione  composUa  essent  edocuit 
lectores'*  (Ribbeck,  Proleg.  in  Verg,  p.  89). 

Körte  hat  (Rh.  Mus.  45, 172)  dargelegt,  dass  in  des  Epikureers  Philodemus  Schrift 
7Tf^<  noXanünq  ein  Varius  und  ein  Quintilius  angeredet  war.  In  dem  Varius  erkennt  er 
unsem  Tragiker  L.  Varius  Rufus,  auf  den  er  auch  Quint.  6, 3, 78  bezieht,  wo  von  einem 
L.  Vario  (so  zu  schreiben  statt  des  überlieferten  Vareo)  Epicureo,  Gaesaris  amico  die  Rede 
ist,  in  dem  Quintilius  aber  den  Quintilius  Varus  aus  Gremona.  Wie  sehr  die  epikureische 
Philosophie  den  ganzen  Kreis  beschäftigte,  wissen  wir. 

Litteratur:  Weicbkrt,  De  L,  Varii  et  Cassii  pita  et  carminibus,  Grimma  1836. 
Unoer,  L,  Varii  de  morte  eclogae  reliquiae,  Halle  1870.  1878.  Die  Fragmente  in  PLF.  p.  337. 

4.  Aemilius  Macer. 

268.  Die  drei  didaktischen  Gedichte  des  Aemilius  Macer.    In 

den  Tristia  4, 10, 43  lesen  wir  die  Verse: 

saepe  suas  volucres  legit  mihi  grandior  aew), 

quaeque  necet  serpens,  quae  iuvet  herba  Macer, 

Es  ist  keinem  Zweifel  unterworfen,  dass  in  diesen  Versen  drei  Gedichte 
eines  Macer  ihrem  Inhalt  nach  umschrieben  werden,  ein  Gedicht  über  die 
Vögel,  eines  über  den  Biss  giftiger  Schlangen,  endlich  eines  über  die  Heil- 
kräuter. Der  Dichter  ist  beträchtlich  älter  als  Ovid  und  daher  verschieden 

HaDdbnob  der  kU«.  AlterlumswiMeDschaft.    VUL    2.  Teil.  7 


98       Römische  LitteratargeBchichte.    TL,  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

von  einem  andern  jüngeren  Macer,  der  Epiker  ist  und  mit  dem  Ovid 
eine  Reise  durch  Asien  und  Sicilien  machte  (P.  2, 10,  21).  Der  didaktische 
Dichter  ist  Aemilius  Macer,  dessen  Tod  Hieronymus  ins  Jahr  16  v.  Ch. 
setzt  (2, 143  Seh.).  Von  diesen  drei  Gedichten  kennen  wir  die  zwei  ersten 
auch  den  Titeln  nach,  das  erste  war  eine  Ornithogonia,  das  zweite  war 
Theriaka  überschrieben;  von  dem  ersten  Gedicht  wird  in  Fragmenten  das 
zweite  Buch  citiert,  bei  dem  zweiten  ausdrücklich  angegeben,  dass  es  aus 
zwei  Büchern  bestand  (fr.  9  B.).  Das  botanische  Werk  wird  nicht  mit  Namen 
erwähnt,  wir  können  aber  Fragmente  mit  der  aUgemeinen  Bezeichnung 
Aemilius  Macer  demselben  zuweisen  (vgl.  fr.  11, 12, 13  B.).  Die  Quellen 
für  die  drei  Gedichte  waren  natürlich  griechische  Dichter.  Eine  Ornitho- 
gonia lief  unter  dem  Namen  des  Boios  um;  da  wir  sonst  keine  kennen, 
so  wird  diese  Dichtung  die  Quelle  Macers  gewesen  sein.  Für  die  Theriaka 
stellt  sich  naturgemäss  als  Vorbild  das  gleichnamige  Werk  Nikanders  ein, 
für  das  Lehrgedicht  von  den  Kräutern  dessen  Georgica.  Und  als  Nachahmer 
Nikanders  hat  bereits  Quintilian  den  Aemilius  Macer  erkannt  (10,1,56). 
Der  Rhetor  gibt  uns  auch  eine  Beurteilung  desselben;  er  nennt  ihn  „humilis" 
(10,1,87). 

Im  Quellenverzeichnis  des  Plinius  erscheint  Aemilius  Macer  in  den  Büchern  9.  10. 
11.  17,  und  mit  der  üblichen  Verschreibung  .Licinio  Macro**  in  den  Büchern  19.  21  (22). 
28.  29.  32.  Allein  noch  lange  nach  Plinius  scheinen  seine  Werke  gelesen  worden  zu  sein ; 
der  sogenannte  Cato  empfiehlt  Macers  Kräuterbuch  (prol.  2): 

quodsi  möge  nosse  lahoras 
herharum  vires.  Macer  haec  tibi  carmina  dirit. 

Wohl  durch  diese  Stelle  wurde  im  Mittelalter  der  Name  Macer  ein  , symbolischer". 
So  nahm  das  Gedicht  des  Odo  Magdunensis  den  Namen  „Macer*  an.  Vgl.  Rose,  Hermes  8,6«3. 

Über  die  'Ogyidoyoyia  des  Boios  vgl.  Enaaok,  Änalecta  Alexandrino-Rom.  p.  1 — 12; 
Bemerkungen  über  die  Theriaka  p.  11  n.  17.  Die  Bemer  Schollen  zu  Lucan  notieren  zu 
9,  701 :  serpenfum  nomina  aut  a  Macro  »umpsit  de  libria  Theriacon  (nam  duos  edidit)  aut 
quaesita  a  marsis  posuit.  Die  Übereinstimmung  Lucans  mit  Nikander  (vgl.  Knaaok  p.  11, 17) 
zeigt  auf  Nikander  als  Quelle  Macers.    UngeBj  De  Macro  Nicandri  imitatore,  Friedl.  1845. 

5.   Cornelius  Gallus. 

269.  Die  Liebeselegie.  Dem  Epos  folgte  in  der  griechischen  Litteratur 
die  Elegie.  Schon  die  äussere  Form  lässt  erkennen,  nach  welcher  Seite 
hin  die  Weiterentwicklung  vor  sich  ging.  Die  Elegie  knüpft  zwar  durch 
den  Hexameter  an  die  epische  Dichtung  an,  allein  durch  ein  neues  Element, 
das  aber  von  dem  Hexameter  abgezweigt  wurde,  durch  den  Pentameter 
gewann  sie  ein  epodisches  Mass  und  damit  eine  kleine  Strophe.  Durch 
diese  Veränderung  der  metrischen  Form  wird  der  gleichmässig  fortlaufende 
Fluss  der  Rede  aufgehoben ;  die  auf-  und  ab  wogenden  Stimmungen  vermag 
der  Dichter  auch  durch  ein  Auf-  und  Abwogen  der  metrischen  Form  kund- 
zugeben. So  steht  denn  die  Elegie  in  der  Mitte  zwischen  dem  Epos  und 
der  Lyrik,  mit  der  ersten  hat  sie  die  Erzählung,  mit  der  zweiten  die  innere 
Bewegung  gemeinsam.  Bald  überwiegt  das  erste  Moment,  bald  das  zweite. 
Selbst  nachdem  sich  die  reinen  lyrischen  Formen  herausgebildet  hatten, 
blieb  die  Zwittergattung  kräftig  genug,  um  sich  ihr  Fortleben  zu  sichern. 
In  der  alexandrinischen  Zeit  wurde  sie,  nachdem  man  der  langen  und 
langweiligen   Epen   überdrüssig  geworden  war,    die   Königin   der  Poesie. 


Cornelias  Gallns.  99 

Zwar  ist  sie  hier  nicht  mehr  wie  ehedem  in  Jonien  ein  Spiegelbild  der 
Kämpfe  der  Gegenwart,  allein  sie  findet  reichen  Ersatz  in  der  Schilderung 
der  Leidenschaft,  welche  alle  Menschenherzen  am  meisten  ergreift,  der  Liebe. 
Auch  die  erotische  Elegie  hält  an  der  Mittelstellung  zwischen  Epos  und 
Lyrik  fest.  Für  die  Erzählung  bot  die  Mythologie  reichen  Stoff  dar,  es 
konnten  ja  ähnliche  Situationen  wie  die  waren,  von  denen  der  Dichter 
bewegt  wurde,  dem  Leser  vorgeführt  werden.  In  solchem  mythologischen 
Beiwerk  gefielen  sich  die  Elegiker  jener  Zeit  ausserordentlich,  und  die 
Römer,  welche  sich  vor  allem  an  die  alexandrinische  Elegie  anlehnten, 
folgten  hierin  mit  grossem  Eifer  ihren  griechischen  Vorbildern,  es  war  für 
den  elegischen  Dichter  fast  eine  Notwendigkeit,  dass  er  dodus  sei,  d.  h.  dass 
er  in  der  Sagenwelt  gehörig  Bescheid  wisse.  So  Hess  sich  z.  B.  Cornelius 
Gallus  von  dem  Griechen  Parthenius  ein  Compendium  von  Liebesabenteuern 
anfertigen,  um  dasselbe  bei  seinen  elegischen  Dichtungen  verwerten  zu 
können.  Erotische  Sagen  konnten  aber  nicht  nur  als  Schmuck,  sondern 
auch  für  sich  gegeben  werden,  jedoch  so,  dass  auch  hier  die  lyrische 
Empfindung  durchdringt,  das  Ganze  „erzählte  Lyrik "^  wird.  Für  den  Aus- 
druck des  subjektiven  Stimmungsbildes  sammelte  sich  in  der  Liebeselegie 
ein  Schatz  von  Bildern,  Gedanken  und  Wendungen;  würden  alle  die  zer- 
streuten Züge  gesammelt,  so  würde  man  eine  Topik  der  Erotik  erhalten. 
Hier  können  wir  natürlich  nur  eine  flüchtige  Skizze  entwerfen.  Beim 
Aufkeimen  der  Leidenschaft  spielt  Amor  die  Hauptrolle,  bald  setzt  er  den 
Fuss  auf  den  Nacken  seines  Opfers,  bald  richtet  er  unzählige  Pfeile,  welche 
bis  ins  innerste  Mark  dringen,  auf  dasselbe.  Nur  zu  rasch  erkennt  der 
Getroffene,  dass  gegen  Amors  Macht  weder  Bacchus  noch  eine  andere 
Gottheit  zu  helfen  vermag.  Was  Wunder,  wenn  er  ihm  als  Sieger  er- 
scheint, der  wie  nach  einer  gewonnenen  Schlacht  in  einem  glänzenden 
Triumphzug  einherzieht.  Der  Jüngling  steht  da,  getroffen  von  der  Schön- 
heit der  Geliebten,  die  Augen  werden  ihm  zu  Führern  in  der  Liebe.  Ihr 
Gesicht  ist  so  weiss  wie  Milch  oder  Schnee,  sie  gleicht  der  zarten  Lilie, 
noch  mehr,  sie  überstrahlt  alle  Göttinnen  durch  ihre  hehre  Gestalt.  Diese 
braucht,  so  meint  der  Liebende,  keine  künstliche  Nachhilfe.  Auf  der 
andern  Seite  kommt  ihm  aber  auch  der  Gedanke,  dass  diese  holde  Blüte 
nicht  ewig  dauert  und  dass  sie  daher,  ehe  sie  verwelkt,  gebrochen  werden 
muss.  Seine  Empfindungen  lässt  der  Jüngling  im  Liede  ausströmen,  er 
verhüllt  die  Geliebte  unter  einem  Pseudonym,  aber  er  wählt  es  in  der 
Regel  so,  dass  der  wirkliche  und  der  fingierte  Name  im  Metrum  überein- 
stimmen. >)  Das  Lied  ist  nach  des  Sängers  Ansicht  der  höchste  Lohn  für 
die  Geliebte,  denn  es  bringt  ihr  ja  die  Unsterblichkeit.  Um  so  entrüsteter 
ist  er,  wenn  sie  diesen  Dichterpreis  gering  achtet  und  lieber  nach  Ge- 
schenken und  schnödem  Mammon  ihre  Hand  ausstreckt.  Da  entfallen  dem 
Dichter  leicht  Klagen  über  die  Verderbtheit  der  Welt.  Dass  die  Liebe 
Leid  bringt,  klingt  auch  durch  die  erotische  Elegie  hindurch.  Häufig  ist 
die  Klage,  dass  die  Eidschwüre  in  der  Liebe  nichts  gelten,  sondern  von 
den  Winden  fortgetragen  werden  und  dass  das  Herz  der  Gefeierten  von 


')  Vgl.  Bewtlby  ru  Hör.  C.  2, 12, 13  (Stüdemtikd  bei  Kleemann,  De  L  III  TibulU  p.  21). 


100    BOmiBche  Litteratnrgeschichte;    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

Eisen  oder  Stein  ist.  In  seinem  Kummer  eilt  der  Arme  in  den  Wald  hinaus, 
um  dort  sein  Weh  ausklingen  zu  lassen  und  ihren  Namen  in  die  Bäume 
einzuritzen. .  Was  hat  er  erst  zu  leiden,  wenn  er  in  Sturm  und  Wetter  vor 
der  Thür  der  Holden  steht  und  trotz  alles  Flehens  nicht  eingelassen  wird, 
wie  flucht  er  da  über  die  grausame  Thür  und  über  die  Alte,  welche  des 
Mädchens  Sinn  auf  einen  reichen  Nebenbuhler  gelenkt  hat.  Zuletzt  bleibt 
dem  Unglücklichen  nichts  anderes  übrig  als  zu  einer  Zauberin  seipe  Zuflucht 
zu  nehmen,  welche  die  Kunst  besitzt,  die  Ungetreuen  wieder  zurückzuführen. 
Hilft  alles  nichts,  so  wünscht  sich  der  Dichter  den  Tod,  aber  auf  dem 
Grabmal  soll  geschrieben  stehen,  wer  an  seinem  Untergange  schuld  ist. 

Diese  Gedanken  werden  zu  einem  gemeinsamen  Gut,  wie  es  bei  jeder 
ausgebildeten  Lyrik  mehr  oder  weniger  der  Fall  ist. 

Seit  Cicero  können  wir  die  Spuren  der  Elegie  bei  den  Römern  ver- 
folgen. Von  dem  Redner  selbst  wird  eine  Elegie,  wahrscheinlich  mit  dem 
Titel  „Thalia  tnaesta",  erwähnt.  Die  jungrömische  Dichterschule,  die  spöt- 
tisch genannten  Sänger  des  Euphorien  haben  derselben  ihre  Neigung  zu- 
gewendet, auch  P.  Terentius  Varro,  welcher  die  nationale  Richtung  mit 
der  alexandrinischen  verband,  schrieb  einen  erotischen  Elegienkranz  auf 
seine  Leucadia.  Aber  als  die  Hauptrepräsentanten  der  Elegie  galten  Gallus, 
Tibull,  Properz  nnd  Ovid.  Daher  singt  Ovid,  indem  er  von  TibuU  spricht 
(T.  4,10,53): 

successor  fuit  hie  tibi,  Oalle,  Propertius  ilUf 
quartus  ab  his  aerie  temporis  ipse  fui. 

Allgemeines  über  die  Elegie.  Diom.  p.  484  elegia  est  carmen  compositum 
hexametro  versu  pentametroque  —  quod  genus  carminis  praeeipue  scripserunt  apud  Romanos 
Propertius  et  TibuUus  et  Gallus,  imitati  Graecos  CalUmachum  et  Euphoriona,  Quint.  10, 1,  98 
Elegia  quoque  Graecos  provocamus  .  cuius  mihi  tersus  atque  elegans  maxime  tidetur  auctor 
TibuUuSj  sunt  qui  Propertium  malint.     Ovidius  utroque  kiscivior,  sicut  durior  Gallus. 

Pseudonyme  für  die  Geliebten.  Apol.  apol.  10  accusent  C.  Catullum  quod  Les- 
biam  pro  Clodia  nominarit,  et  Ticidam  similiter  quod  quae  Metella  erat  Perillam  scripserit, 
et  Propertium  qui  Cynthiam  dicat,  Hostiam  dissimulet  et  Tibullum  quod  ei  sit  Plania  in 
animo,  Delia  in  versu. 

Litteratnr:  Gruppe,  Die  röm.  Elegie,  Leipz.  1838.  Anthologie  von  Schulze,  Berl. 
1884.  Hallet,  Quaest.  Propertianae,  Gott.  1882,  treffliche  Dissertation,  in  der  (nach  An- 
leitung DiLTHEYs)  eine  Topik  der  Erotik  entworfen  wird.  Auch  Rohdb,  Griech.  Rom.  ent- 
hält sehr  nützliche  Auseinandersetzungen  über  die  Elegie. 

270.  Das  Leben  des  Oallus.  Der  Dichter  wurde  in  niederen  Ver- 
hältnissen (Suet.  Aug.  66)  zu  Forum  Julii  (Frejus)  70  v.  Ch.  geboren.  Als  Mit- 
schüler des  Augustus  erwarb  er  sich  dessen  Gunst,  wodurch  er  später  sehr  in 
die  Höhe  kam.  Im  Krieg  gegen  Antonius  hatte  er  ein  Kommando  inne,  nach 
der  Schlacht  bei  Actium  hielt  er  Paraetonium  gegen  Antonius  (Dio  51, 9). 
Nachdem  Ägypten  römische  Provinz  geworden  war  (30),  ernannte  ihn 
Augustus  zum  Präfekten  des  Landes.  Allein  der  Dichter  wusste  sein  Glück 
nicht  mit  Mässigung  zu  ertragen;  er  führte  schlimme  Reden  gegen  den 
Princeps  und  war  masslos  von  sich  eingenommen  (Ovid.  T.  2,446);  seinen 
Übermut  bekundete  er  besonders  dadurch,  dass  er  sein  Bildnis  überall  in 
Ägypten  aufstellen  und  seine  Thaten  auf  die  Pyramiden  schreiben  liess. 
Ein  früherer  Freund  Yalerius  Largus  denunzierte  ihn;  die  Folge  war,  dass 
ihm  Augustus  sein  Haus  und  den  Aufenthalt  in  seinen  Provinzen  unter- 
sagte.    Als  diese  Ungnade  bekannt  wurde,  traten  mehrere  mit  Anklagen 


OomelioB  OallQB.  101 

gegen  Gallus  vor.  Es  wurde  ihm  der  Prozess  gemacht  und  Exil  und  Yer- 
mögenskonfiskation  gegen  ihn  erkannt.  Diesen  Schlag  konnte  der  Dichter 
nicht  verwinden;  er  gab  sich  im  J.  27  im  Alter  von  43  Jahren  mit  eigener 
Hand  den  Tod  (Dio  53, 23).  Seine  dichterische  Bildung  scheint  er  in  der 
Schule  des  Valerius  Cato  erlangt  zu  haben;  es  spricht  dafür  seine  Bekannt- 
schaft mit  Parthenius,  dessen  Beziehungen  zur  jungrömischen  Dichterschule 
wir  §  97  dargethan  haben;  auch  ist  ein  scherzhaftes  Gedicht  eines  der 
Grenossen,  des  Furius  Bibaculus,  auf  Cato  wohl  an  unsern  Gallus  gerichtet. 
Ferner  wird  uns  berichtet,  dass  der  Grammatiker  Q.  Caecilius  Epirota  in 
seinem  Hause  lebte  (Suet.  de  gr.  16),  also  wohl  des  Dichters  litterarischer 
Gehilfe  war.  Von  den  zeitgenössischen  Dichteni  stand  Vergil  dem  Cornelius 
Gallus  am  nächsten.  Sicherlich  hatte  Gallus  viel  zum  Emporkommen  Vergils 
beigetragen.  Vergil  erwies  sich  ihm  auch  dankbar;  zweimal  zeichnete  er 
ihn  in  seinen  Eclogae  (6.  10)  aus;  in  den  Georgica  war  die  letzte  Partie 
des  vierten  Buchs  ein  Panegyricus  auf  Gallus;  dieselbe  musste  jedoch  nach 
dem  Sturz  des  Gallus  auf  Andrängen  des  Augustus  beseitigt  werden. 

Hieronym.  2, 141  z.  J.  27  v.  Ch.  Cornelius  GaVus  Foroitdiensis  poeta  a  quo  primum 
Äegyptum  rectam  supra  diximus,  XLIII  aetatis  suae  anno  proprio  se  manu  interfecit. 
Prob.  Verg.  6, 1  (VergUius)  insinuatus  Augusto  per  Cornelium  GaJlum,  condiacipulum  suum, 

271;  Gkdlus'  Liebeselegien  (Lycoris).  Der  Gegenstand  seiner  Liebes- 
elegien ist  die  Lycoris,  daher  Ovid  singen  kann  (Am.  1, 15, 29): 

Gallus  et  Hesperiis  et  Gallus  notus  Eois 
et  sua  cum  GaUo  nota  Lycoris  erit, 

Lycoris  ist  der  Gewohnheit  der  römischen  Dichter  entsprechend  nicht  der 
wirkliche,  sondern  nur  der  dichterische  Name  der  Geliebten.  Als  sie  mit 
Gallus  in  Beziehungen  stand,  konnte  sie  bereits  auf  eine  bewegte  Ver- 
gangenheit zurückblicken.  Sie  war  eine  Freigelassene  des  Volumnius  Eutra- 
pelus.  Bei  ihm  traf  sie  Cicero  im  J.  46  v^.  Ch.  bei  einem  Mahle  (£p.  9, 26); 
er  nennt  sie  Cytheris;  aus  Cic.  Phil.  2, 24, 58  erhellt,  dass  sie  Schauspielerin 
und  « Cytheris  **  ihr  Theatername  war.  Schon  vor  dieser  Zeit  hatte  sie 
ein  Liebesverhältnis  mit  dem  bekannten  M.  Brutus.  Nachdem  dieser  aber 
die. Tochter  des  Appius  Claudius  geheiratet,  finden  wir  die  Hetäre  in  den 
Armen  des  M.  Antonius.  Er  führte  sie  sogar  auf  seinen  amtlichen  Reisen 
durch  Italien,  mit  sich,  ^as  Cicero  zu  herbem  Spott  Anlass  gibt  (1.  c.  ad 
Attic.  10,10,5  10,16,5).  Bei  seiner  Verbindung  mit  der  Fulvia  (46)  musste 
er  die  Libertine  entlassen  (Cic.  Phü.  2, 31, 77).  Nun  scheint  Gallus  von 
ihr  Besitz  genommen  zu  haben;  allein  sie  blieb  ihm  nicht  treu;  in  der 
10.  Ecloge  Vergils  lesen  wir,  dass  sie  einem  Soldaten  in  den  Krieg  folgte 
(v.  23)  und  zwar  über  die  Alpen  an  den  kalten  Rhein  (v.  48).  *)  Die  Ge- 
dichtsammlung umfasste  vier  Bücher.  Für  dieselbe  benützte  er  wohl  das 
erwähnte  Büchlein  von  Liebesabenteuern,  welches  Parthenius  aus  Nicaea 
für  seinen  Gebrauch  zusammengestellt  hatte  und  das  uns  noch  erhalten  ist. 
Sein  Muster  war  der  dunkle,  schwer  verständliche  Dichter  Euphorien  aus 
Chalkis.  Es  scheint,  dass  von  diesen  Eigenschaften  manches  auch  auf  den 
Nachahmer  überging,  woraus  sich  dann  erklären  würde,  dass  Quintilian 
ihn  10, 1,  93  einen  poeta  „durior*^  nannte. 

>)  Vgl.  p.  25. 


102    BömiBche  LitteraturgeBchichte.    II.  Die  Zeit  der 


ie.    L  Abteilimg. 


Über  die  Lycoris  sind  die  Hauptstellen:  Ps.  Aurel.  Vict.  de  v.  iU.  82  (Brutus)  Cyther- 
idem  mimam  cum  Antonio  et  Gallo  poeta  amavit,  Serv.  zu  Ecl.  10, 1  hie  GaUus  amavit  Cyther- 
idem  meretricetn,  libertam  Vofumnii,  quat  eo  spreto  Antonium  euntem  ad  GaJlias  est  secuta 
(was  unrichtig  ist,  da  Antonius  zur  Zeit,  als  die  10.  EcL  geschrieben  wurde,  nichts  mehr 
mit  der  mitna  zu  schaffen  hatte).  Schol.  des  cod.  Medic.  zu  Ecl.  10, 2  Lycorin  Volumniam 
Cytherin  loquitur  quam  triumviri  Cornelius  Gallus  et  Marcus  Antonius  amaverunt,  quam 
per  potentiam  Antonius  secum  duxU  in  GaUias  ad  exercitum  proficiscens.  (Porphyrio 
p.  148  M.  Vergilius  in  Bucolicis  pro  Cytherid^  Lycoridem  appeUatl)  Die  Identität  der 
Lycoris  und  Cvtheris  wird  geleugnet  von  Yölksb  1,  27;  Flach,  Fleckeis.  J.  119,  793; 
L.  MtJLLER  zu  Propertius  p.  138,  ohne  stichhaltige  Grfinde.  —  Ober  die  Elegiensammlung 
vgl.  die  Stelle  des  Servius  im  folgenden  §.  Auf  dieselbe  wird  zu  beziehen  sein  Prob,  zu 
Ecl.  10,  50  Euphorion  elegiarum  scriptor  Chalcidensis  fuit,  cuius  in  scribendo  seaäus 
colorem  videtur  Cornelius  Gallus,  Aus  dieser  Sammlung  wird  der  einzige  Pentameter 
stammen,  der  von  Gallus  überliefert  ist  (FPL.  ^^ß2S).  2$C> 

272.  Oallus'  Übersetzungen  aus  Euphorion.  Dass  Gallus  ausser 
den  nach  alexandrinischem  Muster  gedichteten  Elegien  noch  Übersetzungen 
und  zwar  des  Euphorion  lieferte,  wird  uns  von  Servius  ausdrücklich  be- 
zeugt. Auch  in  den  Eclogen  Vergils  wird  an  zwei  Stellen  die  erotische 
Poesie  in  Gegensatz  zu  den  Euphorionischen  Übertragungen  gebracht.  Als 
Lycoris  dem  Dichter  untreu  geworden,  gelobt  er  (Ecl.  10,50): 

ibo  et  Chalcidico  quae  sunt  mihi  condita  vtrsu 
carmina  pastoris  Siculi  modulabor  avena. 

Also  kein  Liebeslied  mehr;  die  bereits  vorhandenen  Bearbeitungen  Eupho- 
rions  will  er  zur  Flöte  des  sicilischen  Hirten  singen.  In  der  sechsten 
Ecloge  wird  uns  von  einer  grossen  Umwandlung  des  Dichters  erzählt; 
bisher  »irrte**  er  am  Ufer  des  Helikonflusses  Permessus  umher,  jetzt  wird 
er  aber  von  einer  Muse  zum  Musensitz  geleitet,  bei  seinem  Eintritt  erhebt 
sich  der  ganze  Chor  und  Linus  überreicht  ihm  die  Syrinx,  welche  früher 
der  askräische  Sänger  Hesiod  gespielt.  Unter  den  Gedichten  Euphorions 
befindet  sich  ein  „Hesiodos**.  Die  Stelle  wird  verständlich,  wenn  wir 
annehmen,  dass  Gallus,  der  vorher  leichte,  tändelnde  >)  Liebespoesie  ge- 
schrieben, jetzt  ein  Werk  des  Euphorion  und  zwar  den  Hesiod  bearbeitet 
hat.  Noch  mehr.  Als  Linus  die  Syrinx  dem  Gallus  überreichte,  forderte 
er  ihn  auf,  über  den  Ursprung  des  Apollohains  (mit  seinem  Tempel  und 
Orakel)  von  Grynium  an  der  Küste  Äoliens  zu  singen.  Servius  berichtet 
uns,  dass  Euphorion  diese  Sage  behandelte  und  dass  Gallus  dieselbe  aus 
Euphorion  übersetzte.  Es  wird  also  eine  Anspielung  auf  die  Übersetzung 
dieses  zweiten  Euphorionischen  Gedichtes,  mit  der  Gallus  damals  beschäftigt 
war  und  von  der  Vergil  bereits  Kunde  erhalten  hatte,  vorliegen. 

Serviua  zu  Ecl.  10, 1  Euphorionem  transtulit  in  UUinum  sermonetn  et  amorum  suorum 
de  Cytheride  scripsit  libros  quattuar.  Serv.  zu  Ecl.  6, 72  wird  die  Sage  vom  Apollohain 
in  Giynium  und  der  in  demselben  vorgekommene  Wettstreit  des  Kalchas  und  Mopsus 
erzählt  und  dann  geschlossen:  hoc  autem  Euphorionis  continent  carmina,  quae  GaUus 
transtulit  in  sermonem  latinum  (nach  Meineke  stand  die  Sage  im  5.  Buch  der  Chiliaden, 
vgl.  Anal.  Alex.  p.  79).  Für  die  oben  vorgetragene  Ansicht  finde  ich  den  ältesten  Gewährs- 
mann in  Heyites  Ausg.'  p.  200:  Fontaninus  miro  acumine  plura  GaUi  carmina  ex  versihus 
Vergilianis  exsculpsit:  ex  v,  quidem  70  coUigere  vuU,  eum  latinum  fecisse  Hesiodum  Eupho- 
rionis, ex  ».  73  eum  vertisse  latine  Chiliadem.  —  Völckeb,  De  C.  G.  vita  et  scriptis  1  Bonn 
1840,  II  Elberf.  1844. 


^)  Ahnlich  Prop.  2, 10, 25  nondum  etenim 
Ascraeos  norunt  mea  carmina  fontes,  sed  modo 


Permessi  flumine  lavit  Amor  (Mallet,  Quaest. 
Prop.  p.  9). 


C.  ValgittB  Bnfto.    DomitioB  Xarsus.  103 

6.  C.  Valgius  Rufus. 

273.  Die  Elegien  des  Valgius.  Horaz  ermahnt  in  der  9.  Ode  des 
2.  Buchs  den  ihm  befreundeten  (S.  1, 10,82)  C.  Valgius  Rufus,  doch  endlich 
einmal  von  seinen  Klagen  über  den  Tod  des  geliebten  Knaben  Mystes  abzu- 
lassen und  lieber  die  grossen  Thaten  des  Augustus  durch  ein  dichterisches 
Werk  zu  verherrlichen.  Aus  diesem  Gegensatz  ergibt  sich,  dass  Valgius 
den  verstorbenen  Mystes  in  Elegien  besungen  hatte.  Elegien  des  Valgius 
werden  auch  von  Servius  (Aen.  11,457)  und  anderen  erwähnt;  unter  den 
drei  erhaltenen  Fragmenten  ist  das  erste  am  interessantesten,  weil  in 
demselben  der  zeitgenössische  Dichter  «Codrus*  ^)  mit  Helvius  Ginna  auf 
eine  Linie  gestellt  wird.  Über  die  dichterische  Kunst  des  Valgius  ge- 
stattet uns  die  Dürftigkeit  der  Fragmente  nicht,  ein  Urteil  zu  fallen;  von 
seinen  Zeitgenossen  wurde  er  bewundert;  dies  zeigte  die  oben  besprochene 
Ode  des  Horaz,  dies  zeigt  auch  der  Dichter  des  Panegyricus  auf  Messala, 
denn  er  erhebt  sich  zu  dem  überschwenglichen  Lob,  keiner  komme  Homer 
so  nahe  wie  Valgius,  keiner  eigne  sich  daher  so,  die  Thaten  Messallas  zu 
besingen,  als  Valgius  (v.  179). 

Auch  Epigramme  schrieb  er;  ein  einziger  Hendekasyllabus  ist  uns  daraus  erhalten, 
vgl.  FPR.  p.  342  nr.  1.  Ausserdem  zwei  Hexameter  (1.  c.  nr.  5),  welche  man  auf  ein 
bukolisches  Gedicht  beziehen  will  (Bebgk,  Opusc.  1, 552). 

YalgiuB'  gelehrte  Arbeiten.  Auch  .als  Gelehrter  war  Valgius  schriftstellerisch 
thätig.    Wir  kennen  folgende  Schriften: 

1)  Die  Übersetzung  der  Rhetorik  Apollodors.  Das  rhetorische  Lehrbuch 
ApoUodors  war  deshalb  so  wichtig,  weU  es  auf  dem  Prinzip  aufgebaut  ist,  dass  die  Sätze 
der  Rhetorik  unumstösslich  und  ausnahmslos  sind.  Den  gegenteiligen  Standpunkt  ver- 
traten bekanntlich  die  Theodoreer.  Dieses  Lehrbuch  übersetzte  Valgius,  und  seine  Bear- 
beitung wurde  von  Quintilian  benutzt  z.  B.  3, 5, 17,  wo  er  einige  Definitionen  rhetorischer 
Termini  aus  derselben  mitteilt. 

2)  De  rebus  per  epistulam  quaesitis  (briefliche  Untersuchungen).  In 
diesem  Miscellaneenwerk,  von  dem  Gellius  12,3,1  das  zweite  Buch  citiert,  waren,  soweit 
wir  sehen  können,  grammatische  Fragen  behandelt  (vgl.  Charis.  p.  143.  108). 

3)  Heilmittellehre.  Das  Werk  war  nicht  zur  Vollendung  gekommen;  es  war 
dem  Augustus  gewidmet,  der  in  der  ebenfalls  nicht  vollendeten  Vorrede  um  seinen  Schutz 
gegen  alle  Leiden  der  Menschheit  angegangen  werden  sollte.  Allein  troiz  des  unfertigen 
Zustandes  kam  es  in  die  Hände  des  Publikums. 

Zeugnisse:  Quint.  3, 5«17  (Jausam  finU  ApoUadorus,  tU  interpretatione  Valgii  dis- 
cipuH  eim  tUar,  ita,  Plin.  n.  h.  25, 4  post  eum  (Catonem)  unus  iüustrium  temptavit  C,  Val- 
gius eruditione  spectaius  imperfecto  volumine  ad  divum  Augustum,  inchoata  etiam  prae- 
fatione  religiosOf  ut  omnibus  malis  humanis  üHus  potutsimum  principis  semper  mederetur 
maiestas  (vgl.  Quellen  B.  20—27). 

RiTSCHL  ist  der  Ansicht,  dass  die  Bearbeitung  der  Ars  Apollodors  ein  didaktisches 
Gedicht  war;  er  will  in  den  von  Quint.  5,3,17  mitgeteilten  Definitionen  Senare  erkennen 
(Opusc.  3, 269).  Dies  ist  ganz  unwahrscheinlich,  da  doch  wohl  der  Übersetzer  die  Form 
seines  Originals  beibehielt.  Ebenso  unwahrscheinlich  ist  die  Annahme  R.  Unoers,  dass 
die  „Heilmittellehre"  ein  didaktisches  Gedicht  war.  Plinius  würde  dieses  Moment  kaum 
übergangen  haben.  —  Ungeb,  De  Valgii  Rtifi  pcfimatis,  Halle  1848. 

7.  Domitius  Marsus. 

274.  Cicnta  (Epigrammensammlung).  Öfters  erwähnt  Martial  als 
seinen  Vorgänger  neben  Catull  und  Pedo  Domitius  Marsus  z.  B.  5, 5, 6.  Es 
ist  daher  zu  vermuten,  dass  Domitius  Epigramme  geschrieben.  In  der  That 

')  Über  diesen  Codrus  vgl.  Vergü  Ecl.  5,11  7,21  7,25. 


104    BOmiBQhe  Litteratnrgeschiohte.    IL  Die  Zeit  der  Xonaxchie.    1.  Abteilimg. 

haben  wir  ein  bissiges  Epigramm  auf  die  Brüder  Bavius  und  Mevius,  die 
bekannten  Dichterlinge,  welche  volle  Gütergemeinschaft  hatten,  bis  durch 
die  Frau  des  einen  dieselbe  einen  unheilbaren  Riss  erhielt.  Diese  Verse 
citiert  nur  ein  Kommentator  zu  Yergils  Bucolica  und  gibt  zugleich  als 
Titel  des  Buchs,  dem  die  Verse  entnommen  sind,  „Cicuta"  an.  Derselben 
Sammlung  gehört  wohl  auch  der  Hexameter  an,  in  dem  der  Prügel- 
pädagogik des  aus  Horaz  bekannten  Orbilius  gedacht  wird  (p.  347  B.), 
ferner  der,  in  dem  der  Grammatiker  Caecilius  Epirota,  der  zuerst  Vergil 
und  andere  moderne  Dichter  vorlas,  „Amme  zärtlicher  Dichter**  (ieneUorum 
nutricula  vatum)  genannt  wird.  Endlich  werden  der  Epigrammensammlung 
angehört  haben  die  bekannten  Verse  auf  den  Tod  TibuUs  (vgl.  §  278). 

Philarg3rr.  ad  Verg.  ed.  3,  90  Domitius  in  Cicuta  refert.  Berok  schlägt  Scutica 
,  Peitsche "  ffi*  Cicuta  vor. 

276.  Elegisches.  Als  Martialis  dem  Liebhaber  des  Thestylus,  dem 
belesenen  Dichter  Voconius  Victor  seine  Epigramme  vorlesen  wollte,  bat 
er  den  geliebten  Knaben,  die  gelehrten  Gedichte  seines  Verehrers  etwas 
wegzulegen  und  auch  den  seinigen  sein  Ohr  zu  leihen  (Mart.  7,29, 7): 

et  Maecenati  Maro  cum  cantaret  Alexin, 
nota  tarnen  Marsi  fusca  Melaenis  erat. 

Dieses  Distichon  lehrt  uns  die  Geliebte  des  Domitius  Marsus  kennen;  es 
ist  die  braune  Melaenis;  es  lehrt  uns  weiterhin,  dass  Domitius  auch  dem 
Kreis  des  Maecenas  angehörte,  endlich  dass  auch  die  Melaenis  wie  Alexis 
in  Gedichten  verherrlicht  war.  Es  werden  Elegien  gewesen  sein.  Ihnen 
werden  wir  die  kleinen  poetischen  Erzählungen  (fabeUae)  anreihen,  über 
welche  nur  ein  einziges  Zeugnis,  das  des  Grammatikers  Charisius  (p.  72, 4) 
vorliegt.  Hier  wird  uns  ein  halber  Hexameter  aus  dem  9.  Buch  angeführt. 

276.  Amazonis  (Epos  über  die  Amazonen).  In  einem  Epigramm 
(4, 29)  beklagt  es  Martial,  dass  das  Seltene  höher  geschätzt  werde  als  das 
häufig  Vorkommende;  von  den  Beispielen,  durch  die  er  diesen  Satz  erhärten 
will,  ist  eines  auch  aus  der  Litteratur  genommen: 

saepius  in  fibro  numeratur  Persius  uno 
quam  levis  in  tota  Marsus  Amazonide. 

Persius  mit  seinem  einzigen  Buch  gilt  mehr  als  der  leichte  Marsus  mit 
seiner  ganzen  buchreichen  Amazonis.  Damals  waren  die  Vindelicier  mit 
den  Amazonen  in  Verbindung  gebracht  worden,  sei  es  dass  der  Ursprung 
jenes  Volkes  von  den  Amazonen  abgeleitet  wurde  (Serv.  Aen.  1, 243)  oder 
sei  es  dass  man  ihre  Bewaffnung  als  eine  von  den  Amazonen,  von  denen  sie 
aus  Thracien  vertrieben  wurden,  angenommene  hinstellte  (Porph.  p.  126  M.). 
Auf  diese  Sagen  spielt  Horaz  in  den  Oden  4,  4,  19  an  und  es  ist  eine 
treffende  Vermutung  von  J.  M.  Gessner,  dass  Horaz  an  jener  Stelle  der 
Amazonis  des  Domitius  Marsus  einen  Hieb  versetzen  wollte. 

NippEBDEY  ZU  Tac.  Ann.  6, 47  bestreitet  die  Identität  des  Dichters  der  Amazonis 
mit  dem  Epigrammendichter  Domitius  Marsus,  er  denkt  an  Vibius  Marsus,  von  dem  aber 
dichterische  Produkte  nicht  bekannt  sind.  Bezüglich  des  „levis^  bemerkt  M.  Haupt  (Opusc. 
3,33):  arbitror  levem  poetam  et  epigramma:tis  darum  longo  et  severo  carmine  epico  displi- 
cuisse  proptereaque  levis  illud  a  Martiale  additum  esse. 

De  urbanitate  (prosaisches  Werk).  Auffallend  ist,  dass  der  Dichter  auch  in 
Prosa  schrieb.    Freilich  war  es  ein  Gegenstand,  der  mit  seinen  Epigrammen  und  FabeUae  in 


G.  MeliBflQB.  105 

Verbindung  stand;  er  behandelte  nämlicb  die  Lehre  vom  schlagenden,  pikanten  Ausdruck, 
den  er  „urbanitas"  nannte.  Quintilian  zog  dieses  nach  seinem  Urteil  sorgfältig  abgefasste 
Werk  in  seinem  Kapitel  über  das  Lächerliche  bei;  daraua  erfahren  wir  manches  sogar  im 
Wortlaut  aus  demselben,  wie  z.  B.  die  Definition  der  urbanitas,  die  Charakterisierung  der 
urbana  dicta  als  heitere,  ernste  und  indifferente,  endlich  die  Einteilung  der  heiteren  in 
lobende,  schmähende,  indifferente. 

Quint.  6,  3,  102  Domitius  Marsus  —  de  urbatiUate  diligentissime  scripsit.  Seine 
Definition  der  urbanitas  lautet:  urbanitaa  est  virtus  quaedam  in  breve  dictum  coacta  et 
apta  ad  delectandos  movendosque  hamines  in  omnetn  affectum,  maxime  idonea  ad  resisten- 
dum  vel  lacessendumj  prout  quaeque  res  ac  persona  desiderat. 

Mit  Quintilian  zeigt  Übereinstimmung  in  bezug  auf  diese  Materie  Macrobius  im 
2.  Buch;  beide  müssen  aus  derselben  Quelle  geschöpft  haben;  diese  ist  aber  wahrschein- 
lich Domitius  Marsus.  Es  kann  daher  auch  Macrobius  zur  Kenntnis  des  verlorenen  Werks 
benützt  werden  „in  exordio  libri,  e  quo  praeter  Quint.  6, 3, 102  sq.  etiam  Macr.  2, 1, 14 
fluxisse  tndetur,  Marsus  de  urbanitatis  notione  atque  generibtis  exposuisse  videtur,  quam 
disquisitionem  excipiebat  ipsa  iocorum  conJeetio,  secundum  singtdos  homines,  ni  faJlor,  dis- 
posita;  hoc  enim  probabiU  fit  conlato  MacrobiOf  qui  vel  ordinem  in  fönte  repertum  servare 
soJet**  (WissowA,  Hermes  16, 502). 

Ob  Marsus  (Quint.  3, 1, 18),  an  den  der  berühmte  Rhetor  Apollodor  einen  Brief  über 
die  unter  seinem  Namen  einlaufenden  Artes  richtete,  Domitius  Marsus  ist,  lässt  sich  nicht 
mit  Sicherheit  sagen.  Auch  der  im  Quellenverzeichnis  zu  B.  34  des  Plinius  genannte  .Marsus 
poeta**  macht  Sdiwierigkeiten  (Ublichs,  Quellenreg.  zu  Plin.,  Würzb.  1878  p.  11). 

8.  C.  Melissus. 

277.  Die  fabula  trabeata.  Wir  haben  im  ersten  Teil  (§  53)  ge- 
sehen, dass  sich  aus  der  Palliata,  welche  sich  im  grossen  Ganzen  als  die 
Übersetzung  eines  griechischen  Originals  darstellte,  eine  nationale  Form  ent- 
wickelte, welche  zwar  auf  der  Grundlage  des  attischen  Intriguenstücks  ruhte, 
aber  der  Handlung  römisches  Gepräge  verlieh.  Es  war  dies  die  Togata,  das 
nationale  Lustspiel  der  Römer.  Wir  haben  aber  auch  weiterhin  gesehen, 
dass  dieser  volkstümlichen  Gattung  ein  nur  verhältnismässig  kurzes  Leben 
vergönnt  war,  einmal  erhielt  sie  sich  nicht  rein  und  mündete  wieder  in 
die  griechische  Palliata  ein,  dann  traten  andere  Spielarten  auf,  die  Atellana 
und  jder  Mimus,  welche  die  alten  Formen  in  sich  aufnahmen.  Da  taucht 
in  der  Zeit  des  Augustus  jenes  nationale  Lustspiel  in  neuer  Gestalt  auf. 
Während  früher  die  Togata  sich  gern  in  den  niederen  Sphären  der  Gesell- 
schaft bewegte,  in  den  Stuben  der  Handwerker,  in  den  Höfen  der  Bauern, 
finden  wir  sie  jetzt  in  die  feinern  Kreise  versetzt;  nicht  die  toga  ist  jetzt 
ihr  Symbol,  sondern  das  Ehrenkleid  des  Ritterstandes,  die  trabea.  Wenn 
wir  aber  ihrer  Ursprungsgeschichte  nachgehen,  so  gelangen  wir  in  den 
Kreis  des  Maecenas.  Dessen  Freigelassener  C.  Melissus  aus  Spoletum,  der 
nach  seiner  Freilassung  das  öffentliche  Amt  eines  Bibliothekars  verwaltete, 
wird  als  Urheber  der  traheata  bezeichnet.  Es  ist  daher  sehr  wahrscheinlich, 
dass  diese  Wiedererweckung  eines  abgestorbenen  Gebildes  dem  Maecenas 
verdankt  wird  und  in  seinem  bekannten  Streben,  das  nationale  Leben  nach 
allen  Seiten  hin  zu  kräftigen,  seine  Wurzel  hat.  Allein  die  Unmöglichkeit, 
etwas  Totes  wieder  lebendig  zu  machen,  sollte  auch  hier  sich  bewahrheiten. 
Ausser  einer  flüchtigen  Anspielung  Ovids  (P.  4, 16, 30)  schweigen  die  Schrift- 
steller über  das  neue  Lustspiel.  Es  scheint  keine  tiefere  Einwirkung  hinter- 
lassen zuhaben,  seine  Existenz  war  eine  ephemere;  plötzlich  aufgeschossen 
welkte  es  ebenso  rasch  wieder  dahin.  Ausser  diesen  Komödien  fertigte 
Melissus  in  seinen  alten  Tagen   noch  eine  Sammlung  von  drolligen  Ge- 


106     BOmiBche  LitteratargeBchichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.     1.  Abteilnng. 

schichten  (Ineptiae)  in  150  Büchern,  welche  später  den  Titel  „Joci*  er- 
hielten.    Auch  gelehrte  Arbeiten  scheint  er  verfasst  zu  haben. 

Suet.  de  gr.  2\  ut  ipee  tradit,  sexa^esimum  aetatia  annum  agena  libeüos  ineptiarum, 
qui  nunc  locorum  inscribuntur,  componere  instiiuUj  absolpitque  C  et  L,  quibus  et  alios  direrH 
operis  postea  addidit  .  fecit  et  novum  genus  togatarum  inacripsitque  trabeaUcts, 

In  den  Quellenregistem  des  Plinius  wird  ein  Melissus  zu  den  Büchern  7.  9.  10.  11, 
in  denen  vom  Menschen  und  von  den  Tieren  gehandelt  wird,  und  in  dem  B.  35  über  die 
Malerei  angeführt.  Femer  citiert  Serv.  Aen.  7,  66  Melis8U9f  qui  de  apibus  scripsU  (Glöckkeb, 
Rh.  Mus.  33, 159).  Auch  in  Donats  Vergilvita  begegnet  er  als  Zeuge  (vgl.  noch  p.  16).  An 
allen  diesen  Stallen  werden  wir  den  Freigelassenen  des  Maecenas  zu  statuieren  haben. 

9.   Die  Dichter  des  Messallakreises  (Albius  Tibullus  und  andere). 

278.  Die  Messalla'sche  Sammlung.  Als  der  Dichter  Tibull  im 
J.  19  V.  Ch.  starb,  konnte  Ovid,  der  ihm  ein  Trauerlied  widmete  (Am.  3, 9), 
rühmend  sagen,  dass  die  Elegienbücher  Delia  und  Nemesis  das  was  an  Tibull 
sterblich,  lange  überdauern  werde.  Die  beiden  Bücher  waren  also  damals 
in  der  gebildeten  römischen  Welt  bekannt.  Geraume  Zeit  später  erhielten 
dieselben  einen  Anhang;  es  wurden  hinzugefügt  sechs  Gedichte,  in  denen 
sich  Lygdamus  als  Dichter  nennt,  ein  Panegyricus  auf  Messalla  von  einem 
unreifen  unbekannten  Poeten,  zwei  sehr  merkwürdige  Elegienkränze,  von 
denen  der  erste  die  Liebe  der  Sulpicia  zu  Cerinthus  zum  Gegenstand  sehr 
zarter  Elegien  macht,  bald  den  Dichter,  bald  Sulpicia  sprechen  lassend,  der 
zweite,  von  Sulpicia  selbst  verfasst,  die  Blätter  enthält,  denen  sie  ihre 
Liebe  zu  Cerinthus  anvertraute,  Erzeugnisse  tiefer,  echter  Empfindung; 
endlich  kam  noch  hinzu  eine  wundervolle  Elegie  und  ein  Doppeldistichon 
auf  eine  nicht  genannte  Geliebte,  zwei  Stücke,  die  wir  wiederum  Tibull 
beilegen  müssen.  Auch  nachdem  diese  Stücke  angeschlossen  waren,  führte 
das  Buch  den  Namen  „Tibull"  weiter.  Und  unter  seinem  Namen  ist  die 
Sammlung  auf  uns  gekommen.  Der  Glaube  an  die  Autorschaft  Tibulls 
galt  als  so  selbstverständlich,  dass  man  im  Laufe  der  Zeit  ausser  dem 
Epigramm  des  Domitius  Marsus  auf  den  Tod  Tibulls: 

te  quoque  Vergilio  comitem  non  aeqtta,  TibuUe, 

mors  iuvenem  campos  misit  ad  Elysios, 
ne  foretf  atU  elegis  moflea  qui  fleret  amores 

aut  caneret  forti  regia  heUa  pede, 

noch  eine  kurze  Biographie  Tibulls  beischrieb.  In  dem  Archetypos  unserer 
Handschriften  standen  bereits  sowohl  das  Epigramm  als  die  Vita.  Aber  woher 
stammen  jene  oben  genannten  Zuthaten  und  wie  haben  sie  sich  zusammen- 
gefunden? Tibullus  ist  bekanntlich  das  ausgezeichnetste  Mitglied  des  Mes- 
salla'schen  Dichterkreises.  In  das  Haus  Messallas  führt  uns  der  Panegyricus. 
Dahin  weisen  auch  die  Lieder  der  Sulpicia,  der  Nichte  Messallas;  ursprüng- 
lich nicht  zur  Herausgabe  bestimmt,  werden  sie  von  der  Familie  aufbe- 
wahrt worden  sein.  Der  Elegienkranz  Tibulls,  der  an  das  Liebesverhältnis 
der  Sulpicia  anknüpft,  kann  natürlich  nur  da  gesucht  werden,  wo  die 
Sulpicialieder  sich  befinden.  Es  bleiben  noch  die  Lygdamuselegien  und 
die  zwei  Gedichte  am  Schluss  der  Sammlung,  oder,  da  die  Tibullische 
Herkunft  der  letzteren  ausser  Zweifel  sein  dürfte,  nur  die  ersteren.  Allein 
wer  wird  Lygdamus  vom  Messallakreise  trennen  wollen?  Wir  werden 
annehmen  dürfen,  dass  der  ganze  Anhang  zu  den  zwei  Büchern  Tibulls 


Albiu8  TibnUna.  107 

aus  dem  Messalla'schen  Nachlass  stammt  und  es  wird  gestattet  sein,  die 
ganze  Sammlung  die  MessaUa'sche  zu  nennen.  Wann  dieser  Schatz  ge- 
hoben wurde,  lässt  sich  genau  nicht  ermitteln,  jedenfalls  längere  Zeit  nach 
dem  Tode  Messallas  (8  n.  Ch.).  Martial,  der  in  einem  Epigramm  ein 
Tibullexemplar  seinem  Inhalt  nach  bestimmt,  scheint  nur  die  zwei  Bücher 
Tibulls  ohne  den  Anhang  gekannt  zu  haben. 

Die  beiden  Priapeia  der  Tibnllausgaben.  Mit  Tibull  pflegt  man  noch  zwei 
Priapeia  zu  verbinden;  das  erste,  ein  Epigramm  auf  ein  kleines  Heiligtum,  soll  in  der 
Nähe  Paduas  gefunden  worden  sein;  das  zweite,  in  reinen  Jamben  abgefasst,  behandelt  in 
eleganter  Weise  einen  schmutzigen  Gegenstand.  Das  letzte  fand  sich  in  dem  fragm,  Cuia-' 
cianum,  nicht  aber  das  erste.  Ob  beide  Gedichte  Tibull  zum  Verfasser  haben,  lässt  sich 
nicht  entscheiden. 

Die  Abfassungszeit  des  Nemesisbuchs  und  der  Glyceraelegien.  Ge- 
wöhnlich nimmt  man  an,  dass  das  zweite  Buch  erst  nach  dem  Tod  Tibulls  herauskam; 
dass  dies  nicht  richtig  und  auch  das  zweite  Buch  zu  Lebzeiten  des  Dichters  ediert  wurde, 
hat  zuerst  Dissen  behauptet  (p.  XXII),  Ulbich  Studio  TibuUiana  p.  29  scharfsinnig  er- 
wiesen. £s  ist  unzweifelhaft,  dass  Ovid  in  dem  Epicedion  nach  dem  ganzen  Zusammen- 
hang mit  dem  Vers  (31): 

sie  Nemesis  longum,  sie  Delia  namen  habebunt 

auf  zwei  Bücher,  in  denen  die  beiden  SchOnen  gefeiert  wurden,  hindeuten  wollte.  Da 
Ovid  diese  Bücher  als  allgemein  bekannte  voraussetzt,  so  müssen  sie  schon  länger  im 
Publikum  kursiert  haben,  also  geraume  Zeit  vor  19  v.  Ch.  herausgegeben  worden  sein.  In 
den  Jahren,  die  dem  Dichter  noch  zu  leben  vergönnt  waren,  wird  seine  Produktions- 
kraft nicht  erloschen  sein.  Bei  Horaz  (c.  1,83)  lesen  wir  von  Elegien  Tibulls  auf  eine 
neue  Geliebte,  die  Glycera.  Wir  werden  dieses  Liebesverhältnis  auf  das  mit  der  Ner.osis 
folgen  lassen.  Da  die  drei  ersten  Odenbücher  23  v.  Ch.  herausgegeben  wurden,  so  MÜsste 
also  das  Nemesisbuch  vor  diesem  Jahr  erschienen  sein  und  dann  die  Glyceraelegien  ihren 
Anfang  genommen  haben.  Es  wird  dies  kurz  vor  23  v.  Ch.  geschehen  sein.  Man  darf 
wohl  weiter  vermuten,  dass  Tibull  die  folgenden  Jahre  an  diesen  Elegien  arbeitete  und  an 
ihrer  Herausgabe  durch  den  Tod  gehindert  wurde.  Dass  die  in  der  Mossallasammlung 
hinzugekommenen  zwei  Tibulliana  ein  Überrest  dieser  Glyceraelegien  sind,  lässt  sich  zwar 
nicht  beweisen,  ist  aber  immerhin  sehr  wahrscheinlich  (Ulbich  p.  46).  Ob  dieser  Zeit 
auch  der  Elegienkranz  Tibulls  für  die  Sulpicia,  der  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ursprüng- 
lich nicht  für  die  Herausgabe  bestimmt  war,  angehört,  ist  ganz  ungewiss. 

Zeit  der  Entstehung  der  Messallasammlung.  Ein  Epigramm  Martials  (14, 193) 
charakterisiert  den  Inhalt  eines  zu  einem  Geschenk  bestimmton  Exemplars  des  Tibull  durch 
folgendes  Distichon: 

ussit  amatorem  Nemesis  lascica  TibuUum, 
in  tota  iurit  quem  nihil  esse  domo. 

Es  leuchtet  ein,  dass  mit  dem  Hexameter  das  Nemesisbuch  gemeint  ist;  der  Pentameter 
wiederholt  im  wesentlichen  einen  Vers  aus  dem  Deliabuch  (1, 5,  30)  und  es  ist  höchst 
wahrscheinlich,  dass  er  damit  dieses  Buch  bezeichnen  wollte  (Ulbich  p.  67).  Ist  diese 
Annahme  richtig,  so  bestand  zur  Zeit  Domitians,  in  der  Martial  schrieb,  der  Tibull  nur 
aus  zwei  Büchern  und  entbehrte  noch  des  Anhangs. 

Bucheinteilung  der  Messallasammlung.  Im  Archetypos  unserer  Handschriften 
wird  die  Appendix  als  drittes  Buch  gezählt.  Die  Teilung  desselben,  so  dass  noch  ein 
viertes  herauskommt,  hat  keine  Gewähr.  Es  hätte  sonach  der  Herausgeber  der  Messalla- 
sammlung alles,  was  er  gefunden,  zu  einem  Buch  verbunden  und  als  drittes  den  schon 
bekannten  zwei  Tibullischen  angereiht.  Allein  es  wäre  auch  denkbar,  dass  er  alles  mit 
dem  kurzen  zweiten  Buch  vereinigte,  und  auf  eine  solche  Bucheinteilung  scheinen  gewisse 
Exzerpte  zu  führen,  welche  Stellen  aus  den  Lygdamuselogien  unter  dem  zweiten  Buch  auf- 
führen. Doch  kann  auch  ein  Irrtum  hier  vorliegen  (Bebt,  Das  antike  Buchwesen  p.  426; 
Ulbich  p.  70). 

a)  Albius  Tibullus. 

279.  Das  Deliabuch.  Der  hervorragendste  Dichter  im  Kreise  Mes- 
salas  war  Albius  Tibullus.  Über  seine  Lebensverhältnisse  wissen  wir  nicht 
viel  mehr  als  das,  was  uns  seine  Lieder  bieten.  Das  Verhältnis  zu  seinem 
Gönner  erscheint  uns  hier  als  ein  durchaus  edles  und  von  Kriecherei  freies. 


108     BOmiBche  LitteratnrgeBchiohte.    n.  Die  Zeit  der  Xonarohie.    1.  Abteilung. 

Er  schloss  sich  zwar  der  Begleitung  Messallas  im  aquitanischen  Krieg  an, 
auch  nach  dem  Orient  wollte  er  ihm  folgen  und  nur  Krankheit  hielt  ihn 
in  Corcyra  zurück;  allein  er  machte  kein  Hehl  daraus,  dass  er  an  dem 
Krieg  keine  Freude  habe.  Auch  mit  Horaz  stand  TibuU  in  vertrauten 
Beziehungen,  in  einer  Ode  (1,  33)  tröstet  der  Venusier  den  Freund,  dem 
eine  unglückliche  Liebe  zu  Glycera  herbes  Leid  gebracht,  in  einem  Brief 
(1,  4)  bittet  er  den  auf  seinem  Landgut  bei  Pedum  lebenden  Dichter,  der 
lange  nichts  von  sich  hören  Hess,  um  ein  Lebenszeichen;  bei  dieser  Gelegen* 
heit  erfahren  wir,  dass  auch  litterarische  Probleme  zwischen  beiden  Dichtern 
verhandelt  wurden  und  dass  Tibull  über  die  Satiren  des  Horaz  ein  Urteil 
abgegeben  hatte.  Die  Richtung,  die  Tibull  in  der  Poesie  verfolgt,  ist  eine 
andere  als  die  des  Horaz;  sein  Reich  ist  die  Elegie.  Im  Jahr  27,  wie  es 
scheint,  trat  er  mit  einer  kleinen  Sammlung  vor  das  Publikum.  Kurz  zu- 
vor hatte  er  seinem  Gönner  Messalla  ein  Geburtstagsgedicht  zugeschickt  (7) 
und  da  es  sich  zufällig  traf,  dass  derselbe  an  seinem  Geburtstag  die  Aqui- 
taner  schlug,  seinen  Triumph  (Sept.  27)  und  seine  kriegerischen  Thaten 
gefeiert.  Mit  diesem  Gedicht  verband  er  noch  neun  andere  in  früherer  Zeit 
entstandene  zu  dem  ersten  Buch  seiner  Lieder.  Gleich  das  älteste  (10) 
mit  seinem  Thema  „Preis  dem  ländlichen  Stilleben,  Fluch  dem  Krieg*  ist 
für  Tibulls  Dichtungsart  charakteristisch.  Um  dieselbe  Zeit  mögen  die 
Marathuslieder  (4, 8,  9)  entstanden  sein,  welche  ein  Verhältnis  zu  einem 
Knaben  behandeln.  Es  ist  eine  widerwärtige  Geschichte,  die  uns  besonders 
da  abstösst,  wo  erzählt  wird,  dass  sich  Marathus  einem  hässlichen  und 
von  Podagra  gequälten  Alten  hingegeben,  doch  wirkt  versöhnend,  dass  in 
dem  Knaben  noch  die  Natur  siegt  und  er  sich  in  die  Pholoe  verliebt.  Die 
Krone  sämtlicher  Elegien  bilden  diejenigen,  welche  durch  den  Namen  der 
geliebten  Delia,  die  mit  ihrem  wahren  Namen  Plania  hiess,  zu  einem  Kranze 
verbunden  werden.  Obwohl  man  von  dem  Dichter  keine  Biographie  ver- 
langen kann  und  der  Phantasie  hier  notwendiger  WeiseT  ein  grosser  Spiel- 
raum einzuräumen  ist,  so  wird  man  doch  einen  Kern  in  den  Schilderungen 
des  Liebesverhältnisses  als  thatsächlich  erachten.  Als  diesen  Kern  wird 
man  anzusehen  haben,  dass  Delia  anfangs  frei  und  ledig  ist  (1,3),  dann 
von  einem  reichen  Liebhaber  sich  umgarnen  lässt  (5),  endlich  sich  ver- 
heiratet (2,  6).  Mit  diesem  Entwicklungsgang  haben  wir  auch  die  chrono- 
logische Folge  der  fünf  Elegien  in  Einklang  zu  bringen.  Die  schönsten 
sind  die,  welche  aus  der  ersten  Zeit  der  Liebe  stammen.  Als  er  krank 
in  Corcyra  lag  und  Todesahnungen  seinen  Geist  umschweben,  gedenkt  er 
der  Seelenangst  der  Geliebten  bei  der  Trennung  und  malt  sich  das  Glück 
aus,  das  ihn  eines  Tags  plötzlich  in  die  Arme  der  bei  ihrer  Arbeit  sitzen- 
den und  auf  die  Erzählungen  der  Alten  hörenden  Delia  zurückführt  (3). 
Nach  Rom  zurückgekehrt  will  er  nichts  mehr  vom  Feldlager  wissen,  der 
kriegerische  Lorbeer  ist  ihm  gleichgültig,  ihn  verlangt  nicht  nach  Reich- 
tum, nur  an  der  Seite  seiner  Delia  findet  er  in  friedlicher  ländlicher  Be- 
schäftigung sein  Glück  (1).  Die  folgenden  Elegien  zeigen  nicht  mehr  diese 
Innigkeit.  Es  trat  sogar  eine  Entfremdung  zwischen  den  Liebenden  ein. 
Durch  eine  Kupplerin  hatte  ein  Reicher  Zugang  zur  Delia  gefunden;  der 
Dichter  hatte  sich  losgesagt,   allein   er  ist  nicht  fähig,   die  Trennung  zu 


AlbinB  Tibnllna.  109 

ertragen;  er  erinnert  Delia  daran,  wie  er  einst  um  die  Kranke  besorgt  war, 
wie  er  sich  das  Leben  mit  ihr  ausgemalt,  er  schleudert  Flüche  auf  die 
elende  Kupplerin  (5).  Von  den  zwei  Gedichten,  welche  Delia  als  verheiratete 
Frau  voraussetzen,  spiegelt  uns  das  eine  (2)  die  Situation  vor,  wie  der 
Einlass  begehrende  Dichter  zurückgewiesen  wird,  das  andere  (6),  ein  kaltes 
und  nur  zuletzt  einen  warmen  Ton  anschlagendes  Produkt,  schildert  das 
treulose  Wesen  der  Delia  ihrem  Qatten  und  bietet  sich  ironisch  auf  Grund 
seiner  mit  ihr  gemachten  Erfahrungen  als  Wächter  an  —  natürlich  um 
sie  selbst  zu  gemessen. 

Die  Vita  Tibulls.  Ein  Kern  scheint  antik  zu  sein;  denn  die  Vita  enthält  Nach- 
richten, die  nicht  etwa  aus  Tibull  oder  Horaz  erschlossen  werden  kOnnen.  So  wissen  wir 
aus  der  Vita  allein,  dass  Tibull  dem  Ritterstand  angehörte,  dann  dass  er  im  aquitanischen 
Krieg  militärische  Ehrengaben  erhalten.  Diese  Nachrichten  als  unglaubwürdige  mit  Schultz 
p.  7  zu  verwerfen,  sind  wir  durch  nichts  berechtigt. 

Die  Delialieder.  Dass  der  eigentliche  Name  der  Delia  Plania  sei,  beruht  auf 
Appul.  apol.  10  (iceuaent  .  .  .  THyuUum  quod  ei  sit  Plania  in  animo,  Delia  in  verRU.  Es 
gibt  iedoch  keine  gens  Plania  (vgl.  Leo,  Philol.  Untersuch,  von  Kiessling  und  Wilamowitz 
2, 22).  Unsere  Darstellung  sucht  die  Mitte  zu  gewinnen  zwischen  denen,  welche  überall 
in  den  Gedichten  Realität  suchen  und  denen,  welchen  fast  alles  ein  Phantasieprodukt  des 
Dichters  ist.  Der  letzten  Ansicht  gibt  den  weitgehendsten  Ausdruck  Leo  (p.  ^3):  „Delia, 
in  poetischer  Hinsicht  ein  (Geschöpf  des  Dichters,  aus  einer  Wirklichkeit  hervorgegangen, 
die  wir  nicht  mehr  erfassen  können,  die  zu  erfassen  der  Dichter  in  seinen  Liedern  uns 
keinen  Anhalt  geben  wollte.  Die  äusserlichen  Züge,  die  das  Mädchen  in  einem  Gedicht 
erhält,  sind  im  nächsten  vergessen;  die  Elegien  besingen  ein  Liebesverhältnis,  aber  sie 
geben  keine  Geschichte  eines  solchen. '^  Gewiss  dürfen  nicht  alle  von  dem  Dichter  ge-  « 
brachten  Einzelheiten  mosaikartig  zu  einer  Biographie  zusammengesetzt  werden,  allein  der 
dreifache  Hintergrund,  welchen  Tibull  seinen  Gedichten  gibt,  wird  auch  in  der  Realität 
seine  Wurzel  haben.  Die  Ansicht  derjenigen,  welche  Delias  Verheiratetsein  in  allen  Liedern, 
nicht  bloss  im  2.  und  6.,  annehmen,  wie  0.  Richteb,  Rh.  Mus.  25,518;  Bahbens,  Tib.  Bl. 
p.  16,  hält  nicht  vor  dem  klaren  Wortlaut  der  Gedichte  stand  (Ribbeck,  Rh.  Mus.  32, 445). 
In  der  Anordnimg  der  Deliaelegien  wird  man  den  oben  angegebenen  Entwicklungsgang 
zu  Grunde  legen  und  die  zwei  die  verheiratete  Delia  voraussetzenden  Gedichte  an  den 
Schluss  rücken  (anders  Götz,  Rh.  Mus.  33, 145).  Die  3.  Elegie  ist  wahrscheinlich  nach  der 
Schlacht  bei  Actium,  als  Messalla  in  den  Orient  zog,  geschrieben  (30  v.  Gh.).  Vgl.  Schultz, 
Quaest.  in  TUnUli  librum  I  chronol,  p.  29.  Strittig  ist,  ob  die  dritte  Elegie  der  ersten 
vorausgeht  oder  nachfolgt;  für  die  erste  Anschauung  vgl.  Ulbich,  Stud.  Tib,  p.  15,  der 
die  ganze  Frage  einer  umsichtigen  Revision  unterzogen.  —  Lachmann,  Kl.  Sehr.  2, 151. 
DiETEBiCH,  De  Tibulli  amoribtutf  Marb.  1844. 

Die  Marathuselegien.  Zwei  Probleme  knüpfen  sich  an  diese  Elegien  (4.  8.  9), 
das  eine  ist,  in  welcher  Ordnung  sie  aufeinander  folgen,  das  andere,  wann  sie  anzusetzen 
sind,  beide  nur  durch  subjektive  Erwägungen  lösbar.  Die  Reihenfolge  (4.  9.  8),  wie  sie 
Gbuppe,  wenngleich  nicht  mit  durchweg  richtiger  Auffassung,  angenommen,  ist  die  natür- 
lichste; die  überlieferte  Reihenfolge  will  als  die  chronologische  festgehalten  wissen  Scheide- 
MAmrEL  in  den  Commeni  Ribbeck.  p.  378.  Die  Abfassung  der  Marathuslieder  vor  den  Delia- 
liedem  statuierten  Passow,  Verm.  Schrift,  p.  148;  Tbuffbl,  Studien  p.  355;  Scheidemantel 
p.  375;  Ulbich,  Stud,  Tib.  p.  24;  andere  wie  Dibsen  p.  XX;  BIhbens,  Tib.  Bl.  p.  23  nach 
denselben,  Ribbeck  zwischen  denselben  (Rom.  Dicht.  2,  192).  Die  erste  Ansicht  ist  die 
wahrscheinlichste. 

Die  Chronologie  der  Übrigen  Gedichte  bietet  keine  Schwierigkeiten;  das 
7.  Gedicht  ist  bald  nach  dem  Triumph  vetfasst,  also  27  (Schultz,  Quaeat.  p.  12).  Da  in 
dem  10.  Delia  nicht  erwähnt  ist,  so  wird  es  aus  der  Zeit  stammen,  in  der  der  Dichter  mit 
ihr  noch  nicht  bekannt  war,  also  aus  der  Zeit  vor  den  Deliaelegien  (Passow,  Opusc.  p.  297). 

Herausgabe  des  Deliabuchs.  Über  das  Jahr  27  v.  Gh.  hinaus  können  wir  keine 
Elegie  verfolgen;  die  Herausgabe  wird  also  wohl  in  diesem  Jahr  erfolgt  sein.  Nun  hat 
man  sich  aber  an  Ovids  Worte  (T.  2,463)  erinnert: 

nee  fuU  hoc  Uli  fraudi,  legiturque  TibuUas 
et  placet,  et  iam  te  principe  notus  erat, 

Princeps  sencUus  wurde  Augustus  im  J.  28  v.  Gh.  Manche  haben  daher  angenommen,  dass 
einzelne  Gedichte,  z.  B.  6.  5,  bereits  früher  bekannt  wurden  (Bahbens,  Tibull.  Blätter  p.  20 ; 
Schultz,  Quaest.  p.  38).    Ulbich,  Stud.  Tib.  p.  21  will  prinoepa  xar   i^oxfjy  gefasst  wissen 


110     ttOmische  LitteratorgeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

und  auf  die  Verleihung  des  Titels  Augustus  (Jan.  27  v.  Ch.)  beziehen.  Allein  mit  te 
principe  ist  nicht  gesagt,  dass  schon  28  v.  Ch.  Tibull'sche  Gedichte  (d.  h.  das  Deliabuch) 
erschienen  waren. 

280.  Das  Nemesisbuch.  Das  zweite  Buch  schildert  uns  eine  neue 
Liebe  des  Dichters,  die  zur  Nemesis.  Allein  dieses  Verhältnis  berührt  uns 
viel  weniger  sympathisch,  da  es  keine  Lichtblicke  darbietet  und  in  Ein- 
tönigkeit verläuft.  Es  ist  ein  habsüchtiges  Mädchen,  dessen  Gunst  TibuU 
mit  seinen  Liedern  erringen  will.  Qleich  im  ersten  Gedicht,  in  dem  sie 
erwähnt  wird  (3),  hat  sie  ein  reicher  Mensch  niederer  Herkunft  mit  aufs 
Land  genommen;  der  Dichter  ist  untröstlich  und  verwünscht  ihn  und  sein 
Gut.  Allein  trotzdem  vermag  er  sich  nicht  von  dem  Joch  der  Leidenschaft 
frei  zu  machen,  er  beklagt,  dass  ihm  seine  Gedichte  nichts  helfen  und  dass 
nur  das  Geld  den  Zugang  zu  der  Schönen  erschliessen  kann  (4).  Aber  ohne 
sie  will  nun  einmal  kein  Vers  gelingen  (5, 111).  Zuletzt  ist  der  Unglück- 
liche entschlossen,  wie  er  an  den  in  das  Feldlager  gezogenen  Macer 
schreibt  (6),  sogar  den  Eriegerrock  anzuziehen,  freilich  zaubert  ihm,  wäh- 
rend er  so  droht,  die  Hoffnung,  die  Trösterin  aller,  doch  noch  den  Besitz 
der  geliebten  Nemesis  vor;  er  beschwört  sie  bei  dem  Schatten  ihrer  früh- 
zeitig ums  Leben  gekommenen  Schwester,  sich  seiner  zu  erbarmen,  er 
sucht  sich  einzureden,  dass  die  Lena  an  allem  schuld  sei.  Damit  schliesst 
diese  Liebesgeschichte,  wie  es  scheint,  unglücklich  für  den  Dichter,  denn 
von  einer  Erhörung  vernehmen  wir  nichts.  Mit  den  Nemesisliedern  ver- 
band Tibull  noch  drei  andere,  eine  liebliche  Schilderung  des  Ambarvalien- 
festes  (1),  ein  schlichtes,  treuherziges  Geburtstagsgedicht  für  Gomutus  (2) 
und  ein  „Fest-  und  Ehrengedicht  in  Form  eines  Gebets,  aber  aus  elegischer 
Stimmung  für  den  neuen  Quindecimvir  Messallinus,  den  Sohn  Messallas  (5). 

Da  Ovid  in  dem  Gedichte  auf  Tibulls  Tod  (Am.  3, 9,  58)  die  Nemesis  an  des  Dichters 
Sterbebett  sitzen  lässt,  so  hat  man  angenommen,  dass  diese  Liebe  seine  letzte  war  und  er 
sozusagen  in  ihr  gestorben,  dass  demnach  die  vorhandenen  NemesisHeder  nur  ein  Fragment 
dieser  Liebe  darstellen,  und  dass  es  daher  wahrscheinhch  sei,  dass  das  zweite  Buch  erst 
nach  Tibulls  Tod  an  die  öffentUchkeit  trat.  Allein  dass  die  Scenerie  in  jenem  Gedicht  fingiert 
ist  und  darauf  keine  Schlüsse  gebaut  werden  dürfen,  hat  Ulbich,  Studia  TibulL,  Berl.  1889 
p.  85  dargelegt  (vgl.  oben  p.  107  über  die  PubUkation  des  Buchs).  In  einer  andern  Ab- 
handlung (De  libri  II  Tibull,  statu  integro  et  campoaitionef  Fleckeis.  Jahrb.  Supplementb. 
p.  382)  sucht  derselbe  Gelehrte  durch  ausführliche  Analyse  zu  beweisen,  dass  die  Elegien 
des  2.  Buchs  nicht,  wie   man  vielfach  angenommen,  Spuren  der  mangelnden  FeUe  zeigen. 

281.  Charakteristik  Tibulls.  Tibull  hat  die  Elegie  von  dem  Druck 
der  Gelehrsamkeit  befreit,  er  hat  gezeigt,  dass  auch  ohne  mythologische 
Anspielungen  und  Ausführungen  die  elegische  Dichtung  den  Leser  fesseln 
könne.  Er  verliess  daher  die  Pfade  der  Alexandriner  und  bewegte  sich 
mehr  in  dem  Geleise  der  ionischen  Elegie,  ohne  jedoch  zu  einem  blossen 
Nachahmer  zu  werden.  Sein  Lied  will  nichts  sein  als  ein  Stimmungsbild, 
er  will  das,  was  des  Dichters  Inneres  rührt,  in  einfacher  Weise  verkünden. 
Die  Welt,  in  der  Tibulls  Gedanken  wurzeln,  ist  allerdings  eine  kleine,  sie 
hält  sich  fern  von  den  vielfaltigen  Interessen  der  Gegenwart  und  ergibt 
sich  der  Träumerei.  Sein  Herz  sehnt  sich  nach  dem  Glück  der  Liebe,  aber 
er  kann  ihrer  nur  froh  werden  im  friedlichen  Stilleben  auf  dem  Lande. 
Die  Schilderungen  dieses  doppelten  Glückes  machen  den  Reiz  seiner  Dich- 
tung aus.  Mit  vollem  Behagen  hören  wir  ihm  zu,  wenn  er  uns  das  Glück- 
selige der  ländlichen  Arbeiten  ausmalt,  die  fromme  Verehrung  der  Götter, 


AlbioB  TibnUns.  Hl 

die  wohlthuende  Ruhe  auf  dem  warmen  Lager,  wenn  draussen  das  Wetter 
tobt,  das  Schalten  und  Walten  der  Delia,  wie  sie  das  heimkehrende  Vieh 
zählt,  den  Buben  des  Haussklaven  herzt,  den  zum  Besuch  gekommenen 
Gönner  in  umsichtiger  Weise  bewirtet,  endlich  die  Krone  von  allem,  den 
Jubel  und  die  Wonne  des  ländlichen  Festes.  Hie  und  da  erinnert  er  sich, 
dass  seine  Träumereien  durch  eine  tiefe  Kluft  von  der  Gegenwart  getrennt 
sind,  er  verflucht  den  Krieg  und  die  mit  ihm  innig  verbundene  Habsucht, 
lässt  sich  aber  sofort  von  den  Flügeln  der  Phantasie  in  jene  goldenen 
Zeiten  tragen,  welche  nicht  Krieg,  nicht  Schiff,  nicht  Grenzstein,  nicht 
Pflug  kannten.    Doch  sein  grösster  Schmerz  ist,  dass  die  elende  Habgier 

auch  das  Reich  der  Liebe  schändet,  dass  die  Geliebte  nicht  mehr  des  Liedes 

« 

achtet,  das  sie  der  Unsterblichkeit  übergibt,  sondern  die  hohle  Hand  nach 
dem  Gelde  ausstreckt.  Diese  Habsucht  zwingt  dem  Dichter  schrille  Weisen 
ab.  Doch  erklingen  immer  wieder  echte  Herzenstöne  hindurch,  und  wenn 
er  singt  (4, 1 3) : 

tu  mihi  curarum  requies,  tu  nocte  vel  atra 
lumen,  et  in  aclis  tu  mihi  turba  locis, 

SO  muss  er  dasselbe  empfunden  haben,  wie  unser  Dichter,  der  allerdings 
noch  stärkere  Akkorde  anschlägt: 

Du  meine  Welt,  in  der  ich  lebe, 
Mein  Himmel  du,  darein  ich  schwebe, 
0  du  mein  Grab,  in  dcu  hin<ib 
Ich  ewig  meinen  Kummer  gab, 
Du  bist  die  Ruh,  du  bist  der  Frieden, 
Du  bist  der  Himmel,  mir  beschieden. 

Die  Idee  der  TibuUischen  Elegie,  Stimmungsbild  zu  sein,  bestimmt  auch 
ihre  Komposition.  Nicht  auf  einem  straff  gezogenen  logischen  Fundament 
erhebt  sie  sich,  sie  geht  aus  von  der  den  Dichter  eben  ergreifenden  Grund- 
stimmung, von  dieser  aus  wogen  die  Gedanken  auf  und  ab,  öfters  verweilt 
er  länger  bei  einem  von  seiner  Phantasie  erfassten  Bilde,  es  scheint,  als 
wäre  er  von  seinem  Thema  abgekommen,  nachdem  aber  das  Motiv  aus- 
geklungen, findet  er  den  Weg  zurück  zu  der  ersten  Erregung  seines  Ge- 
fühls. Mögen  noch  so  viele  Nebentöne  die  Elegie  durchziehen,  sie  werden 
doch  durch  einen  Grundton  beherrscht.  Allein  dieses  Sichergehen  in  Träu- 
mereien und  Phantasien  verleiht  seiner  Poesie  einen  reflektierenden  Cha- 
rakter; es  fliessen  in  ihr  Wahrheit  und  Dichtung  zusammen.  Von  der 
tiefen  Leidenschaftlichkeit  und  Innerlichkeit  Catulls  verspüren  wir  nichts 
in  seinen  Liedern.  Wie  er  singt,  so  scheint  in  der  That  das  friedliche 
Stillleben  sein  Glück  ausgemacht  zu  haben.  Dem  heissen  Streben  nach 
Nachruhm  hat  er  niemals  Worte  geliehen  und  das  stolze  Bewusstsein, 
dass  er  in  seinen  Werken  fortleben  werde,  scheint  seine  Brust  nicht  ge- 
schwellt zu  haben,  aber  ein  anderer  hat  erkannt,  dass  diesen  Dichter  der 
Liebe  die  Welt  nicht  vergessen  wird,  und  ihm  zugerufen  (Ovid.  Am.  1, 15,27): 

d(mec  erunt  ignes  arcusque  Cupidinis  arma, 
discentur  numeri,  culte  Tibulle,  tui. 

Die  wenigen  Sporen  mythologischer  Gelehrsamkeit  bei  TibuU  erörtern  Maas,  Hermes 
18,321  (2,5  2,1,55),  1.  c.  24, 526  (4, 3) ;  Robbet  I.e.  22,454  (2,5). 

Die  Interpretation  Tibulls.  Das  richtige  Verständnis  der  TibuUischen  Poesie 
wollte  sich  lange  Zeit  nicht  erschliessen.  Schwer  lastete  auf  demselben  das  Vorgehen 
ScALioEBS    mit   seinen   willkürlichen   Umstellungen  von  Versen.     Dissens  Versuch,    die 


112     RömiBche  Litteratnrgescliichte.    U.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

Elegien  in  ihrem  Zusammenhang  nach  der  gegebenen  Überlieferung  zu  interpretieren,  konnte 
bei  seinem  schematischen  und  in  verwässernder  Ästhetik  sich  drehenden  Verfahren  nicht 
die  richtigen  Wege  weisen.  Ein  neues  Verhängnis  für  Tibull  war  es,  dass  zwei  grosse 
Philologen,  Haase  und  Ritschl,  fOr  das  ScALiGEB'sche  Prinzip,  freilich  mit  Vermeidung 
der  haltlosen  Willkürlichkeiten,  eintraten,  der  erste  in  seiner  Analyse  von  1, 1  (dispuiatio 
de  trihus  Tihulli  locis  transpositione  emendandi«,  Berl.  1855),  der  andere  in  seiner  Abhand- 
lung über  1, 4  (Berichte  der  sächs.  Gesellsch.  1866  p.  56  =  Opusc.  3, 616).  Ihre  Behand- 
lungsweise,  für  die  Ritschl  als  massgebenden  Grundsatz  hinstellte,  dass  man  vor  allem 
, logisch  **  verstehen  müsste,  erweckte  eine  Schar  von  Nachahmern.  Die  von  dem  Meister 
analysierte  vierte  Elegie  wurde  noch  mit  einem  halben  Dutzend  von  Umstellungsversuchen 
bedacht  (Hübneb,  Hermes  14, 308).  Aber  noch  in  anderer  Weise  war  das  Beispiel  des 
grossen  Gelehrten  kein  Segen  für  unseren  Dichter.  Seine  Umstellungen  hatten  ihm  zu- 
gleich ,eine  gar  nicht  gesuchte  symmetrische  Proportion  im  ganzen  und  grossen*^  als 
Nebengewinn  abgeworfen.  Und  noch  früher  hatte  er  in  der  berühmten  Abhandlung  über 
Aoschylus'  Sieben  den  Parallelismus  der  7  Redenpaare  aufgedeckt.  Damit  war  auch  für 
Tibull  die  Arena  für  das  Aufspüren  der  Symmetrie  und  Strophenbildung  aufgethan. 
Zahlreiche  Bewerber  stellten  sich  ziun  Wettkampfe  ein  (eine  Übersicht  derselben  findet 
sich  bei  Fbitzsche,  QuaesL  Tib.  p.  2,  Halle  1875,  wozu  noch  Riemauk,  Koburg.  Progr.  1878 
gefügt  werden  kann).  Es  war  Zeit,  umzukehren.  Zwar  hatte  lang  zuvor  Laohmakn  in 
seiner  Rezension  des  DissEN'schen  Tibull  (Kl.  Sehr.  2, 155)  treffliche  Winke  für  die  richtige 
Auffassung  der  Tibull'schen  Dichtungsweise  gegeben;  allein  sie  hatten  bei  seiner  knappen 
Art  nicht  die  nötige  Wirkung  erzielt.  Auch  Haupts  Auftreten  gegen  die  Umstellungen 
blieb  wirkungslos,  da  er  seine  Abhandlung  dem  Publikum  vorenthielt  (jetzt  Opusc.  3, 30). 
Endlich  ward  von  einem  Meister  der  Interpretation,  Vahlen  (Über  drei  Elegien  des  T., 
Monatsber.  der  Berl.  Akad.  d.  J.  1878  p.  343),  die  Eigenart  der  TibuUischen  Elegie  dar- 
gelegt und  damit  der  Weg  zu  ihrem  Verständnis  erschlossen.  Es  sind  treffliche  Worte, 
in  denen  er  seine  Anschauung  formulierte:  ,Der  Poesie  des  Tibullus,  in  dessen  Elegien 
sich  hin  und  wieder  gleichzeilige  Versgruppen  ohne  Schwierigkeiten  absondern  lassen,  ist 
alexandrinische  Symmetrie  fremd,  sie  bewegt  sich  wie  ein  sanfter  Wellenschlag,  dessen 
Auf  und  Ab  man  noch  empfindet,  auch  wenn  einmal  eine  Welle  weiter  ausgreift*  (p.  352). 
Die  Methode  Vahlens  liegt  den  Analysen  Leos  von  2,5  1,4  1,3  1,1  1,2  1,5  1,6  (Philol. 
Unters,  von  Kiessling  und  Wilamowitz  2  p.  1  und  Ulbichs  Analysen  der  Elegien  des 
2.  Buchs  .(die  5.  ausgenommen)  zu  Grund.  (Sämtliche  Gedichte  [ausgenommen  2, 2]  bespricht 
Kaesten,  Mnemos.  15,211  305  16,39.) 

Überlieferung:  Von  den  vollständigen  Handschriften  kommen  in  Betracht  die 
aus  einer  Quelle  stammenden,  Ambrosianus  R.  26  (s.  XTV),  die  beste  vollständige  Tibull- 
handschrift,  und  der  Vaticanus  3270  (s.  XV);  eine  ältere  Quelle  repräsentiert  das  fragm. 
Cuiacianum,  das  ungefähr  mit  3, 4,  65  anfing ;  dasselbe,  jetzt  verloren,  kennen  wir  nur  aus 
einer  Kollation  Scalioebs,  die  er  in  eine  1569  bei  Plantin  erschienene,  nunmehr  in  Leyden 
befindliche  Ausgabe  eingetragen.  —  Die  zweite  Textesquelle  liegt  uns  in  den  Exzerpten- 
handschriften vor.  Es  sind  dies  die  Excerpta  Parisina,  ein  (moralische  Tendenz  ver- 
folgendos) Florilegium,  die  wir  durch  zwei  Pariser  Handschriften  (7647  und  17903  s.  XIII) 
kennen,  und  die  wertvolleren  Excerpta  Frisingensia  einer  Münchner  Handschrift  6292  (s.  XI). 
—  Über  die  Tibullhandschriften  handeln  Rothstein,  Berl.  1880,  Leonhabd,  Freiburg  1882, 
über  den  Ambrosianus  Illmann,  Berl.  1886.  Ein  ausführliches  Referat  über  die  Hand- 
schriftenfrage liefert  Magnus,  Burs.  Jahresb.  51.  Bd.  p.  311. 

Ausgaben:  Erste  kritische  von  Lachxann,  Berl.  1829;  von  Dissen  mit  lat.  Kom- 
mentar, GöUing.  1835;  von  Bühbens,  Leipz.  1878;  von  Hilleb,  Leipz.  1885  (gute  Handaus- 
gabe).   Teubner*sche  Textausgabe  von  L.  Mülleb. 

ß)  Lygdamus. 

283.  Das  Neaerabuch.  Ein  ganz  anderer  Dichter  als  Tibull  tritt 
uns  in  den  6  ersten  Elegien  des  dritten  Buchs  entgegen.  0  Er  nennt  sich 
Lygdamus,  wahrscheinlich  ein  Pseudonym.  Auch  er  ist  ein  Dichter  der 
Liebe,  aber  die  warmen  Töne  TibuUs  erklingen  in  seinen  Liedern  nicht. 
Hier  spielt  sich  kein  Liebesroman  ab,  dessen  Schwankungen  wir  mit  Teil- 
nahme folgen,  es  ist  eine  viel  prosaischere  Geschichte.  Lygdamus  wurde 
durch  fremdes  Eingreifen  von  Neaera  getrennt  und  will  sie  sich  wieder 


^)  Zuerst  hat  dies  J.  H.  Voss  erkannt. 


LygdamnB.  113 

zurückersingen.  £r  sendet  ihr  daher  ein  Exemplar  seiner  Lieder  in  zier- 
lichem Einband  und  deutet  am  Schluss  seines  Widmungsgedichtes  leise  an, 
wonach  seines  Herzens  Sehnen  geht.  Welche  Gedichte  dieses  Dedikations- 
exemplar  enthielt,  wissen  wir  nicht.  Die  uns  überlieferten  sind  trotz 
mannigfacher  Einkleidung  arm  an  wirksamen  Motiven.  Zwei  sprechen 
die  Gedanken  aus:  „Ohne  dich  kann  ich  nicht  leben",  ,,Der  Reichtum  ist 
ohne  dich  für  mich  wertlos".  In  einem  dritten  beschreitet  er  einen  künst- 
licheren Weg,  um  seiner  Neaera  seine  Gefühle  zu  übermitteln.  Phöbus 
erscheint  im  Traum  und  mahnt  ihn,  in  seiner  Liebe  auszuharren,  es  werde 
alles  noch  zu  gutem  Ende  kommen.  Von  einer  Erhörung  des  flehenden 
Dichters  aber  vernehmen  wir  nichts;  ja  der  ganze  Liedercyklus  endet  mit 
einer  schrillen  Dissonanz.  Als  Lygdamus  beim  Mahle  sass  und  ihm  der 
Sinn  zwischen  Bacchus  und  Amor,  zwischen  der  Freude  des  Bechers  und 
dem  Kummer  seines  Herzens  hin  und  her  schwebte,  raffte  er  sich,  da 
Neaera  nicht  kam  und  das  Lager  eines  Fremden  aufsuchte,  zu  dem  Ent- 
schluss  auf:  „So  gehe  sie  ihrer  Wege,  dafür  den  Becher  her".  Es  ist 
unbegreiflich,  wie  man  hinter  diesem  trocknen  Dichter  TibuU  suchen  konnte. 
TibuU  verbindet  in  sinniger  Weise  die  Liebe  mit  dem  stillen  Glück  des 
ländlichen  Lebens,  seine  Dichtung  hat  einen  idyllischen  Zug  —  von  dieser 
Eigenschaft  findet  sich  bei  Lygdamus  keine  Spur,  selbst  wenn  er  Gelegen- 
heit hätte,  wie  in  der  dritten  Elegie,  seine  Gedanken  idyllisch  ausklingen 
zu  lassen,  er  thut  es  nicht.  Die  Komposition  Tibulls  gefallt  sich  in  dem 
auf-  und  abwogenden  Spiel  der  Empfindungen,  Lygdamus  ergeht  sich  da- 
für in  langatmigen  Beschreibungen  und  Schilderungen.  Bei  TibuU  eine 
zarte  Gefühlswelt,  bei  Lygdamus  dagegen  nüchterner  Sinn.  Auch  in  Sprache 
und  Metrik  haben  Kenner  Differenzen  wahrgenommen.  Kein  Zweifel,  der 
Verfasser  der  Neaeraelegien  ist  ein  anderer  als  der  Sänger  der  Delia  und 
der  Nemesis.  Er  ist  auch  nicht  Ovid,  zwar  bietet  die  fünfte  Elegie,  welche 
ausserhalb  des  Cyklus  steht,  eine  ganz  merkwürdige  Ähnlichkeit  mit  Ovidi- 
schen  Dichtungen,  ja  sie  wiederholt  sogar  den  bekannten  Vers,  durch  den 
Ovid  sein  Geburtsjahr  umschreibt,  allein  dass  bei  Ovid  das  Original,  bei 
Lygdamus  die  verunglückte  Kopie  vorliegt,  kann  kein  Einsichtiger  leugnen. 
Wahrscheinlich  ist  das  Gedicht,  in  dem  der  kranke  Dichter  an  seine  Freunde 
schreibt,  erst  in  seinen  reiferen  Jahren  verfasst  worden.  Eines  steht  fest, 
Lygdamus  musste  dem  Kreis  des  Messalla  angehört  haben,  sonst  könnten 
wir  nicht  erklären,  wie  seine  Gedichte  in  die  Messalla'sche  Sammlung 
kamen. 

Lygdamus  und  Neaera.  Was  wir  über  Lygdamus  und  Neaera  wissen,  stammt 
aus  dem  Liederbuch.  Bass  hier  im  wesentlichen  Reelles  vorauszusetzen  und  nicht  alles 
Fiktion  ist  (Bolle,  De  Lygdami  carminibus,  Detmold  1872  p.  4),  scheint  festzustehen. 
Lygdamus  wird  Pseudonym  sein,  allein  welche  Persönlichkeit  dahintersteckt,  ist  nicht  zn 
ermitteln.  Bezüglich  des  Verhältnisses,  in  dem  Neaera  zu  Lygdamus  stand,  herrschen  ver- 
schiedene Ansichten ;  Voss  hielt  sie  fttr  die  ehemalige  Creliebte,  Laohmann  für  die  ehemalige 
Gattin.  Die  Entscheidung  ist  schwierig,  weil  die  Ausdrücke  vir,  coniunx,  nupta  in  ganz 
freier  Weise  gebraucht  werden;  allein  alles  erwogen,  spricht  die  Wahrscheinlichkeit  mehr 
für  Lachmann. 

Lygdamus  und  Ovid.  In  der  5.  Elegie  gibt  Lygdamus  sein  Geburtsjahr  genau  mit 
demselben  Pentameter  an,  mit  dem  Ovid  T.  4, 10,  6  dasselbe  bestimmt  hatte;  er  wäre  sonach 
gleichaltrig  mit  Ovid.  Aber  auch  der  vorausgegangene  Pentameter  ist  fast  ganz  aus  Ovid 
(Ars  2, 6, 70),  und  das  nachfolgende  Distichon  ist  im  wesentlichen  ebendaher  (Am.  2, 14, 23) 

HADdbnch  der  klam.  AltertomswiflseDflchaft.    TIIL    2.  Teil.  9 


114    ROmiBche  Litteratnrgeaohichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

entnommen.  Diese  merkwürdige  Übereinstimmung  weist  mit  Nachdruck  auf  die  Frage 
nach  dem  Verhältnis  der  beiden  Dichter  hin.  Betrachtet  man  die  Stellen  bei  Ovid,  so 
stehen  sie  dort  im  natOrlichen  Zusammenhang  und  ganz  an  ihrem  Platz.  Die  Angabe  des 
Lebensalters  ist  in  einem  Schlussgedicht  passend,  in  dem  sich  der  Dichter  dem  Publikum 
vorstellt  und  daher  über  seine  persönlichen  Verhältnisse  berichten  muss;  bei  Lygdamus  ist 
dagegen  diese  Geburteanzeige  ohne  allen  Zweck  und  noch  dazu  mangelhaft  ausgedrückt. 
In  dem  Distichon  ist  in  höchst  sonderbarer  Weise  das,  was  Ovid  von  der  Abtreibung  der 
Leibesfrucht  gesagt,  auf  die  Jugend  des  Lygdamus  bezogen,  in  jeder  Hinsicht  auffallend. 
Es  steht  sonach  fest,  dass  bei  Ovid  das  Original,  bei  Lygdamus  die  Kopie  zu  suchen  ist, 
und  dass  demgemäss  jene  Stelle  nach  dem  4.  Buch  der  Tristien,  also  nach  11  n.  Gh.  ge- 
schrieben ist.  Man  wird  es  aber  für  natürlich  erachten,  nicht  bloss  diese  Stelle,  sondern 
die  ganze  Elegie  in  jene  Zeit  zu  verlegen;  diese  Annahme  wurde  verworfen,  weil  damals 
Lygdamus  mindestens  54  Jahre  alt  war,  also  nicht  sich  mit  .crescentes  uvae  und  modo 
nata  poma*,  wie  es  in  jenem  Distichon  geschehen,  vergleichen  konnte  (Hilleb,  Hermes 
18, 358).  Allein  auch  in  dem  Fall,  dass  jene  ovidischen  Nachahmungen  erst  nach  11  n.  Ch. 
von  dem  Verfasser  zu  seinem  Jugendgedicht  hinzugefügt  worden,  ist  die  Schwierigkeit 
nicht  beseitigt;  auch  auf  einen  jungen  Menschen  passt  der  Vergleich  nicht  recht;  fügte 
Lygdamus  als  reifer  Mann  jene  Stelle  hinzu,  so  musste  er  des  Widerspruchs  ja  enük  recht 
inne  werden.  Wenn  man  irgendwo,  so  wird  man  hier  zu  der  Ansicht  greifen  dürfen,  dass 
der  Schriftsteller  einen  Scherz  beabsichtigte.  Den  Freunden,  bei  denen  er  wohl  die  Kennt- 
nis der  Ovidstellen  voraussetzen  konnte,  musste  die  Verwendung  des  Distichon  in  einem 
ganz  andern  Sinn  als  es  bei  Ovid  gebraucht  war,  schon  komisch  genug  erscheinen,  um 
wie  viel  mehr  wenn  es  ein  54jähriger  Mann  von  sich  sagte.  Dass  das  Gedicht  einer 
anderen  Zeit  angehört  als  die  übrigen  Stücke  des  Buchs,  scheint  auch  daraus  hervorzugehen, 
dass  der  Neaera  hier  gar  nicht  gedacht  wird  (Bahrkns,  Tib.  Blätter  p.  40).  —  Man  ist 
noch  weiter  gegangen  und  wollte  das  ganze  dritte  Buch  Ovid  beilegen,  z.  B.  Gruppe 
(Die  röm.  Elegie  p.  133)  und  späterhin  Kleemaitk  (De  libri  tertii  carminibus  quae  T,  nomine 
circumferuntur,  Strassb.  1876).  Es  sollen  Jugendgedichte  desselben  sein.  In  diesem  Fall 
wäre  das,  was  wir  im  5.  Gedicht  als  Kopie  erkannten.  Original,  das  was  uns  Original  war, 
dagegen  Kopie.  Es  ist  dies  eine  Unmöglichkeit.  Aber  auch  die  ganze  Art  und  Weise  des 
Lygdamus  ist  von  der  des  Ovid  himmelweit  verschieden;  aus  dem  Lygdamus  hätte  niemals 
ein  Ovid  werden  können.  Ovid  ist  also  so  wenig  der  Verfasser  des  dritten  Buchs  als  es 
Tibull  sein  kann,  obwohl  auch  diese  Absurdität  neuerdings  wieder  vorgebracht  wurde  (da- 
gegen Kleemanv  p.  17  f.). 

y)  Der  Panegyrist. 

283.  Der  Panegyricus  auf  Messalla.  Der  Verfasser  dieser  Lob- 
schrift, welche  nicht  vor  31  v.  Ch.  fallen  kann  (122),  ist  ein  Mann,  der 
früher  in  glänzenden  Verhältnissen  lebte,  jetzt  aber  arm  ist.  Es  ist  also 
wohl  zu  vermuten,  dass  er  durch  sein  Gedicht  die  Gunst  Messallas  erringen 
und  dadurch  seine  äussere  Lage  verbessern  wollte.  Offen  bekennt  er,  dass 
die  Aufgabe,  die  er  sich  gestellt,  seine  Kräfte  übersteige,  und  weist  auf 
Valgius  hin,  der  viel  geeigneter  sei,  Messallas  Preis  zu  verkünden.  Sein 
Geständnis  ist  leider  nur  zu  sehr  begründet.  Der  Panegyricus  ist  ein 
äusserst  schwaches  Produkt.  Der  unbekannte  Dichter  arbeitet  nach  einer 
Schablone.*)  Nachdem  er  regelrecht  mit  einer  Captatio  benevolentiae  be- 
gonnen, schreitet  er  zu  pedantischen  Gliederungen;  er  sucht  den  Ruhm 
seines  Helden  in  zwei  Gebieten,  in  der  Redekunst  und  im  Kriegswesen, 
dort  wiederum  zwischen  politischer  und  gerichtlicher  Beredsamkeit,  hier 
zwischen  Lagerdienst  und  Gefecht  scheidend.  Damit  schliesst  der  erste 
Teil,  der  zweite  schildert,  welche  ruhmvolle  Thaten  des  Helden  noch  die 
Zukunft  bringen  werde.  Den  Schluss  des  Ganzen  bildet  die  Versicherung 
tiefster  Ergebenheit  gegen  Messalla.  Um  den  Stoff  etwas  zu  beleben  und 
einige  Lichter  aufzustecken,  macht  er  Digressionen,  aber  in  sehr  unglück- 


^)  Vgl.  Cbvsius,  Verhandl.  der  Züricher  Philologenvers.  p.  265. 


Der  Panegyrist.    Die  Dichterin  Snlpioia.  115 

licher  Weise.  So  nimmt  er,  indem  er  Messalla  als  Redner  mit  Nestor  und 
Ulixes  vergleicht,  das  zum  Anlass,  des  letzteren  Irrfahrten  anzuhängen; 
der  Gedanke,  dass  kein  Teil  der  Welt  Messallas  Tapferkeit  widerstehen 
werde,  verleitet  ihn  zu  einer  Beschreibung  der  fünf  Zonen.  Selbst  wenn 
die  Darstellung  eine  gehobene  wird,  wie  da,  wo  er  die  Spannung  und 
die  Ruhe  der  ganzen  Welt  ausmalt,  so  geht  doch  die  Wirkung  verloren 
durch  die  ungeeignete  Beziehung,  welche  jene  Schilderung  erhält.  Von 
Tibull  kann  der  Panegyricus  nicht  verfasst  sein ;  zwischen  dem  Panegyristen 
und  ihm  bestehen  weitgehende  Differenzen;  der  Lobredner  ist  von  seiner 
Nichtigkeit  durchdrungen,  er  ist  ein  niederträchtiger  Schmeichler,  er  ist 
ein  Bettler,  alle  diese  Eigenschaften  fehlen  Tibull.  Aber  auch  als  Dichter 
können  wir  sie  nicht  miteinander  vergleichen.  Geschmacklosigkeiten,  wie 
sie  sich  im  Panegyricus  finden,  wird  man  im  ganzen  Tibull  vergeblich 
suchen. 

Verfasser  des  Panegyricus.  Vor  allem  ist  die  Ansiebt  derjenigen  zurückzu- 
weisen, welche  den  Panegyricus  als  eine  rhetorische  Obung  angesehen  wissen  wollen,  denn 
in  diesem  Fall  würde  sich  die  Aufnahme  desselben  in  unsre  Sammlung  nicht  erklären 
lassen.  Auch  erinnert  derselbe  nur  zu  stark  an  reale  Verhältnisse  (vgl.  181  f.).  Das  Ge- 
dicht wurde  sicherlich  Messalla  übergeben.  Weiterhin  steht  fest,  dass  es  nicht  vor  31  v.  Ch. 
abgefasst  wurde,  in  welchem  Jahre  Messalla  mit  Octavian  Konsul  war.  Es  kann  aber  auch 
nicht  viel  snäter  geschrieben  sein,  da  es  die  späteren  Kriegsthaten  Messallas  nicht  erwähnt, 
z.  B.  nicht  den  Triumph  Messallas  im  J.  27.  Da  in  diesem  Jahr  Tibull  die  7.  Elegie  des 
ersten  Buchs  schrieb,  so  kennen  wir  die  Entwicklung  des  Dichters  in  einer  Epoche,  welche 
der  Zeit  der  Abfassung  des  Panegyricus  sehr  nahe  liegt  und  zwar  in  einer  verwandten 
Materie.  Der  innere  Abstand,  der  beide  Produkte  voneinander  trennt,  ist  so  gross,  dass 
die  Annahme  ganz  unmöglich  ist,  es  hätte  sich  aus  dem  Panegyristen  der  Dichter  der 
7.  Elegie  entwickelt. 

Litteratur:  Schon  sehr  früh  hat  man  erkannt,  dass  der  Panegyrist  mit  Tibull 
nicht  identisch  sein  kann.  Dieser  Anschauung  suchte  Gbuppe  in  ausftlhrlicherer  Darlegung 
entgegenzutreten  (Die  römische  Elegie  1, 147),  allein  ohne  Erfolg.  Auch  der  Rettungs- 
versuch Hakkels  (De  Panegyrico  in  MesaaUam,  Leipz.  1874),  gegen  den  sich  Härtung 
(De  Panegyrico  ad  MesseUlam,  Halle  1880)  wendet,  ist  missglückt  (Ehrengruber,  De  car- 
mine  Panegyrico  Messalae  I  Linz  1889,  U  1890). 

(f)  Die  Dichterin  Sulpicia. 

284.  Die  Elegienkränze  des  Tibull  und  der  Sulpicia.  Auf  den 
Panegyricus  folgen  in  den  TibuUhandschriften  elf  sehr  anmutige  Gedichte, 
welchen  die  Liebe  der  Sulpicia  zu  Cerinthus  zu  Grunde  liegt.  Man  be- 
trachtete diese  Stücke  als  ein  zusammenhängendes  Ganze  und  als  ihren 
Verfasser  Tibull.  Man  bewunderte  die  Schönheiten  in  den  einzelnen 
Elegien,  allein  über  Idee  und  Komposition  des  Gyklus  konnte  man  keine 
klare  Vorstellung  gewinnen.  Da  zerriss  den  Schleier  eine  glückliche  Ent- 
deckung Grüppes.^)  Der  erkannte,  dass  wir  nicht  einen,  sondern  zwei 
auch  räumlich  geschiedene  Elegienkränze  vor  uns  haben,  dass  jeder  von 
einem  anderen  Dichter  herrührt,  dass  in  beiden  zwar  derselbe  Liebesroman 
der  Sulpicia  und  des  Cerinthus  erscheint,  allein  mit  dem  Unterschiede, 
dass  er  einmal  als  erlebter,  einmal  als  nachempfundener  zur  Darstellung 
kommt.  Mit  dieser  Erkenntnis  war  erst  das  volle  Verständnis  dieser 
reizenden  Gebilde  gegeben.  In  dem  zweiten,  mit  4,  7  beginnenden  Cyklus 
schildert  Sulpicia  ihre  eigene  Liebe.   Sie,  eine  vornehme  Römerin,  vermut- 

')  Vgl.  die  röm.  Elegie  1, 27  f. 


116    BOmische  LitteratnrgeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarohie.    1.  Abteilung. 

lieh  die  Nichte  des  Messalla,  liebte  wider  den  Willen  ihrer  Mutter  Cerin- 
thus,  der  allem  Anschein  nach  ein  Grieche  war.  Sie  preist  sich  glücklich, 
dass  die  cytherische  Göttin  ihr  heisses  Flehen  erhört  und  ihn  in  ihre  Arme 
geführt,  sie  beklagt,  dass  sie  den  Geburtstag  des  Geliebten  fern  von  ihm 
auf  dem  Lande  bei  Messalla  zubringen  soll  und  frohlockt,  als  sie  ihm  mit- 
teilen kann,  dass  sie  in  der  Stadt  bleiben  darf;  nur  als  ihr  Kunde  von  der 
Untreue  des  Gerinthus  ward,  regt  sich  in  ihr  der  Römerstolz,  dass  sie,  die 
Tochter  des  Servius,  einer  Dirne  nachstehen  soll.  Auch  aus  dem  folgenden 
wunderschönen  Billet,  in  dem  sie,  die  Kranke,  fragt,  ob  ihr  Schicksal 
Gerinthus  rühre,  dringt  noch  ein  gedämpfter  Ton.  Allein  alle  diese  Wolken 
müssen  sich  verzogen  haben,  als  sie  das  Geständnis  machte,  dass  sie  tiefe 
Reue  darüber  empfinde,  weil  sie  in  der  vorigen  Nacht,  um  die  Glut  ihres 
Herzens  zu  verbergen,  Gerinthus  im  Stich  gelassen  habe.  Alles  ist  aus 
wahrer  Empfindung  heraus  gesagt,  nur  der  poetische  Ausdruck  macht  der 
Dichterin  noch  sichtlich  Mühe.  Diese  Herzensgeschichte,  soweit  sie  in  den 
fliegenden  Blättchen  zum  Ausdruck  kam,*  nimmt  sich  ein  zweiter  Dichter 
zum  Vorwurf,  um  einen  neuen  Liederkranz  zu  winden.  Er  thut  dies  in 
der  Weise,  dass  in  dem  einen  Gedicht  er  selbst  spricht,  um  dann  in  dem 
folgenden  das  Wort  der  Sulpicia  zu  geben.  Der  Dichter  hat  die  Aufgabe 
der  Nachempfindung  so  trefHich  gelöst,  dass  man  das,  was  er  hier  ge- 
schaffen, zu  dem  Zartesten  und  Innigsten  der  römischen  Litteratur  zählen 
muss.  Mit  einer  prächtigen  Schilderung  ihrer  Schönheit  führt  er  die 
Sulpicia  ein,  mit  einem  Gebet  an  Juno,  die  Liebenden  zu  dauerndem  Bund 
zu  vereinigen,  schliesst  der  Cyklus.  Die  Genesung  der  Sulpicia  erfleht  das 
mittlere  Stück.  Die  beiden  in  der  Mitte  stehenden  Sulpicialieder  zeugen 
von  tiefer  psychologischer  Auffassung,  besonders  das  erste,  das  an  die 
Voraussetzung  anknüpft,  dass  Gerinthus  auf  die  Jagd  gegangen,  malt  die 
Seelenstimmung  der  Liebenden  aufs  trefflichste.  Wer  ist  der  Dichter  der 
fünf  Meisterstücke?  Wir  vermögen  keinen  anderen  zu  nennen  als  Tibull. 
Wenigstens  kann  seine  Autorschaft  nicht  als  unmöglich  dargethan  werden. 
Ja  das  eine  oder  das  andere  Moment  dürfte  zu  seinem  Gunsten  in  die 
Wagschale  fallen. 

Personliches  der  Sulpicia  und  des  Gerinthus.  Bezüglich  der  Sulpicia  be- 
merkt M.  Haupt,  Opusc.  3, 502,  dass  die  Sulpicia  wahrscheinlich  die  Tochter  des  Ser.  Sul- 
picius  Rufus,  des  Sohnes  des  gleichnamigen  berühmten  Juristen  und  der  Yaleria,  der 
Schwester  des  M.  Valerius  Messalla  Corvinus  war.  —  Bei  Gerinthus  hängt  die  Fest- 
stellung seiner  Persönlichkeit  von  der  Entscheidung  der  Frage  ab,  ob  ein  Pseudonym  vor- 
liegt oder  nicht.  Wenn  man  bedenkt,  dass  in  diesen  Elegien  Sulpicia  genannt  wird,  so 
begreift  man  nicht,  warum  bei  dem  Geliebten  ein  anderes  Verfahren  eingehalten  werden 
soll,  um  so  weniger  als  diese  Gedichte  ursprünglich  wohl  nicht  zur  Herausgabe  bestimmt 
waren.  Es  ist  daher  eine  von  Gruppe  u.  a.  vorgenommene  Identifizierung  des  Gerinthus 
mit  dem  2, 2  und  2, 3  genannten  Gomutus  —  Gomutus  ist  die  wahre  Überlieferung  — 
abzuweisen  (Bahrens,  Tib.  Blätter  p.  41;  Ulrich,  De  lihri  II  IHbuUiani  statu  integro  et 
compositione  Fleckeis.  Jahrb.  Supplem.  17  p.  449). 

Scheidung  der  beiden  Liedercyklen.  Gruppe  hat  4,7  noch  zu  dem  ersten 
Gyklus  gerechnet,  Rossbach  dagegen  dem  zweiten  zugeteilt.  Diese  Ansicht  ist  die  richtige ; 
denn  schon  an  dem  Stil  erkennt  man,  dass  hier  das  „weibliche  Latein*^  beginnt  (Bährens, 
Tib.  Bl.  p.  42).  Für  Gruppes  Scheidung  spricht  nichts  als  die  Symmetrie,  dass  die  Sulpicia 
ebenso  oft  spricht  als  der  Dichter  (Ulrich  1.  c.  p.  451).  Allein  dieser  äussere  Gesichtspunkt 
kann  hier  nicht  ausschlaggebend  sein  (Hiller,  Hermes  18, 355). 

Verfasser  der  beiden  Gyklen.  Dass  Sulpicia  die  Verfasserin  des  zweiten  Lieder- 
)u*anze8  ist,  wird  jetzt  allgemein  angenommen.    Als  Verfasser  des  ersten  Liederkranzea 


Sex.  PropertittB.  117 

(4, 2—7)  hat  Gruppe  Tibull  hingestellt.  Die  Übereinstimmungen  desselben  mit  den  Elegien 
TibuUs  zeigen  Zikgerle,  Kl.  philol.  Abb.  2, 45;  Knappe.  Götting.  Diss.  1880  p.  9.  Dass 
aber  das  7.  Gedicht  Verschiedenheiten  von  Tibull  aufweist,  bemerken  Petersen,  De  Uhri  IV 
eleg.f  Glückst.  1849;  R.Richter,  De  quarti  libri  TibtiUiani  eleg.,  Dresden-Neustadt  1875  p.  1. 

10.  Sex.  Propertius. 

286.  Sein  Leben.  Auch  bei  Propertius  machen  wir  dieselbe  Erfah- 
rung, wie  bei  so  vielen  anderen  antiken  Schriftstellern.  Die  Zeitgenossen 
schweigen  von  seinem  Leben,')  es  reden  davon  zu  uns  nur  seine  Werke. 
Zweimal  macht  er  sein  Leben  zum  Gegenstand  seiner  Dichtung;  das  erste- 
mal, als  er  mit  seinem  ersten  Liederbuch  vor  die  Öffentlichkeit  trat,  spricht 
er,  einem  römischen  Dichterbrauch  folgend,  in  einem  Epilog  über  seine 
Heimat  (1,22);  späterhin,  am  Ende  seiner  Dichterlaufbahn,  lässt  er  sich 
über  sein  Leben  von  einem  Horoskopen  weissagen,  es  sind  natürlich  Weis- 
sagungen aus  der  Vergangenheit  (5, 1, 119).  Einzelheiten  liefern  auch  noch 
andere  Gedichte,  die  nämlich,  welche  Erlebtes  zur  Darstellung  bringen. 
Diese  verschiedenen  Angaben  ergeben  vereint  folgendes  Lebensbild: 

Sex.  Propertius  war  ein  Sohn  Umbriens,  sein  Geburtsort  wahrschein- 
lich Asisium,  wo  auch  Inschriften  mit  Propertiern  gefunden  wurden.  Weder 
der  Ruhm  vornehmer  Ahnen  noch  besonders  grosser  Reichtum  war  ihm  in 
die  Wiege  gelegt  worden  (3, 24, 37  3, 34, 55).  Weiter  traf  ihn  das  Un- 
glück, dass  er  seinen  Vater  früh  verlor  und  dass  die  „  Messrute '^j  welche 
in  jenen  bewegten  Zeiten  den  Veteranen  Grundbesitz  anwies  (41  v.  Ch.), 
auch  an  sein  Erbe  angelegt  wurde  (5, 1, 130).  Doch  muss  noch  immer- 
hin ein  erheblicher  Besitz  geblieben  sein,  sonst  hätte  ja  der  Dichter  nicht 
den  Bildungsgang,  der  ihn  zu  einem  der  ausgezeichnetsten  Dichter  der 
römischen  Litteratur  erhob,  nehmen  können.  In  Rom,  wo  er  als  Jung- 
gesell auf  dem  Esquilin  hauste  (4,23,24),  verzichtete  er  auf  den  Ruhm 
des  „unsinnigen"  Forum  (5,1,134);  seines  Lebens  treibendes  Element  war 
die  Liebe  und  das  die  Liebe  begleitende  Lied.  Gleich  nach  Anlegung  der 
Männertoga  packte  sie  ihn,  die  Zofe  Lycinna  hatte  es  ihm  angethan  (4,15,6); 
doch  war  diese  Neigung  eine  flüchtige  und  vorübergehende;  um  so  länger 
fesselte  ihn  die  schöne,  geistreiche  Cynthia.  Sie  war  es,  die  ihn  zu  seinen 
ersten  glühenden  Liedern  begeisterte,  sie  war  es,  die  fortan  nicht  mehr 
aus  seinen  Dichtungen  weichen  wollte,  so  dass  wahr  wurde,  was  er  gleich 
im  Anfang  verkündete  (1,12,20): 

Cynthia  prima  fuity  Cynthia  finis  erit; 

sie  war  es,  die  ihm  den  Ruhmeskranz  um  die  Schläfe  wand.  Als  die  erste 
Sammlung  der  ihr  gewidmeten  Lieder  in  Rom  erschien,  muss  ihre  Wirkung 
eine  sehr  grosse  gewesen  sein.  Nach  den  Gynthialiedern  versuchte  sich 
seine  Kunst  zwar  auch  an  anderen  Stoffen,  allein  immer  zog  es  ihn  wieder 
zu  dem  alten  Liebesspiel.  Seine  Elegien  gibt  uns  die  Überlieferung  in 
vier  Büchern,  allein  Lachmanns  Scharfsinn  entging  nicht,  dass  das,  was 
uns  als  zweites  Buch  vorliegt,  die  Überreste  von  zwei  Büchern  in  sich 


*)  Am  merkwürdigsten  ist,  dass  Pro- 
pertius niemals  bei  Horaz  genannt  wird; 
allein  wir  haben  ihn  wohl  hinter  dem  Elegi- 
ker  zn   suchen,   der  als   „Callimachus*   be- 


komplimentiert sein  will  (Ep.  2,  2, 100).  Da- 
nach würde  der  Grund  des  Schweigens  in 
einer  Abneigung  des  Horaz  gegen  Properz 
liegen. 


118     Bömische  Litteratnrgeschiolite.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

schliesst.    Da  über  das  Jahr  15  v.  Gh.  keine  Spuren  in  diesen  Büchern 
hinausführen,  so  wird  Propertius  bald  darauf  gestorben  sein. 

Die  Properzische  Gedichtsammlung.  Die  Überlieferung  kennt  vier  Bücher 
Properzischer  Gedichte.  Die  Erkenntnis,  dass  das  zweite  Buch  zu  zerlegen  ist,  schöpft 
Lachmanv  aus  3, 13,25  =  2, 13,25,  wo  es  heisst: 

sat  tnea  sai  magna  est  si  tres  sint  pompa  libelli, 
quo8  ego  Persephonae  maxima  dona  feram. 
Diese  Worte  stehen  nach  der  Oberlieferung  im  zweiten  Buch.  Wenn  der  Dichter  von 
drei  Büchern  spricht  —  drei  in  übertragener  Bedeutung  d.h.  im  Sinne  einer  kleinen  Zahl 
zu  nehmen,  ist  unzulässig  — ,  so  müssen  dieselben,  als  er  jene  Worte  schrieb,  vor- 
handen gewesen  sein.  In  diesem  Fall  wäre  es  aber  eine  ungeheure  Ungeschicklichkeit 
gewesen,  das  Gedicht  mit  jenen  Worten  ins  zweite  Buch  zu  stellen  und  also  dem  Leser 
des  zweiten  Buchs  zuzumuten,  an  das  dritte  zu  denken.  Es  ergibt  sich  somit  unabweisbar 
der  Schluss,  dass  das  Gedicht,  dem  jene  Verse  angehören,  in  dem  dritten  Buch  stand 
und  dass  daher  das  zweite  Buch  aus  zwei  Büchern  zusammengesetzt  ist.  Wo  begann  aber 
das  dritte  Buch?  Wir  sagen  mit  LiAcmcAinc:  im  10.  Gedicht,  das  sich  deutlich  als  Ein- 
leitungs-  und  Widmungsgedicht  an  Augustus  darstellte.  Der  Dichter  verspricht,  künftig 
einen  höheren  Anlauf  nehmen  und  die  Thaten  des  Augustus  besingen  zu  wollen,  für  jetzt 
vermag  er  nur  eine  geringe  Gabe  d.  h.  seine  Liebeslieder  daizubringen.  Diese  Scheidung 
Lachhanns  vermögen  wir  noch  durch  ein  neues  Argument  zu  stützen.  Es  ist  naturgemäss, 
dass  der  Dichter  das  Prooemion  wie  den  Epilog  zuletzt  schreibt.  Können  wir  nun  nach- 
weisen, dass  das  erste  und  das  letzte  Gedicht  des  von  Lachmann  konstruierten  Buchs  in 
dieselbe  Zeit  fallen,  so  ist  dies  das  deutlichst'e  Zeichen,  dass  der  Anfang  richtig  gewählt 
ist.  Dies  ist  aber  bei  den  beiden  fraglichen  Gedichten  der  Fall.  Wir  werden  im  Para- 
graphen 287  Anm.  zeigen,  dass  das  erste  Gedicht  ums  Jahr  26  v.  Ch.  anzusetzen  ist  und  dass 
auch  das  letzte  Gedicht  dieser  Zeit  angehört.  Der  LACHKANN^schen  Hvpothese  stellen  sich 
aber  zwei  Bedenken  gegenüber.  Einmal  wird  das  neue  zweite  Buch  sehr  klein;  allein 
dieser  massige  Umfang  scheint  durch  einen  Ausfall  verursacht  worden  zu  sein,  und  es  ist 
sehr  wahrscheinlich,  dass  derselbe  vor  dem  mit  sed  beginnenden  ersten  Gedicht  statt- 
gefunden. Schwerer  wiegt  der  zweite  Einwand,  der  erhoben  wurde.  Nonius  citiert  eine 
Stelle  des  Properz  (3, 21, 44)  aus  dem  dritten  Buch,  welches  nach  der  Trennung  des  zweiten 
das  vierte  sem  müsste  (p.  169).  Aber  auch  diese  Schwierigkeit  kann  mit  Bibt,  Buchw. 
p.  422  auf  eine  einfache  Weise  beseitigt  werden.  Da  das  erste  Buch  unter  dem  eigenen 
Titel  ,Gynthia*  erschien,  so  trat  es  in  Gegensatz  zu  den  folgenden  vier  Büchern;  es  konnten 
daher  diese  letzten  für  sich  citiert  werden,  ohne  dass  ein  Missverständnis  zu  befürchten  war. 
Erst  viel  später  vereinigte  man  die  Monobiblos  mit  den  vier  Büchern  und  zählte  fortlaufend. 
Sonach  dürfte  die  Hypothese  Lachmai^ns  begründet  und  auch  die  Versuche,  welche  durch 
Versetzung  des  fraglicnen  Gedichts  in  das  dritte  Buch  helfen  wollen,  zurückzuweisen  sein. 

Litteratur:  Gegen  Lachmann  erklärten  sich  Hertzbebo  (1,213);  Brandt,  Quaest, 
Prop.,  Berl.  1880  p.  20;  Plessis,  ^udes  critiques,  Paris  1884  p.  111;  Bährens  Ausg.  p.  XX; 
Heisch,  Wien.  Stud.  9,  95  u.  a. 

286.  Das  Gynthiabuch.  Die  erste  Sammlung  von  Gedichten,  mit 
der  Propertius  hervortrat,  führte  nach  der  Geliebten,  welcher  die  meisten 
Lieder  gewidmet  waren,  den  Titel  „Cynthia"  (3,  24, 1).  Es  war  ein  selb- 
ständiges Büchlein,  darum  stellt  sich  der  Dichter  am  Schluss  dem  Leser 
vor,  indem  er  eine  Notiz  über  seine  Heimat  beifügt.  Wie  im  ersten  Lied, 
so  wird  TuUus  auch  im  letzten  angeredet,  ein  Beweis,  dass  das  Büchlein 
ihm  gewidmet  ist.  Noch  zur  Zeit  Martials  war  dasselbe  einzeln  verkäuf- 
lich. Wer  ist  nun  jene  Cynthia,  deren  Namen  die  Rolle  trug?  Wer  ver- 
birgt sich  hinter  dem  Pseudonym,  das  von  dem  Berg  Cynthos  auf  Delos 
genommen  an  den  Musengott  Apollo  erinnern  und  die  Cynthia  als  Dienerin 
der  Musen  bezeichnen  sollte?  Propertius  schweigt,  erst  ein  später  Autor 
teilt  uns  mit,  dass  Cynthia  mit  ihrem  wahren  Namen  Hostia  hiess.  Aber 
auch  über  diese  Hostia  erfahren  wir  nichts  aus  den  Autoren;  so  bleibt  uns 
nur  übrig,  einige  Züge,  die  uns  der  Dichter  mitteilt,  zu  einem  Bilde  zu  ver- 
einigen. Sie  darf  sich  eines  berühmten  Grossvaters  rühmen  (4, 20, 8),  kann 
aber  trotzdem  mit  dem  Dichter  keine  legitime  Ehe  eingehen  (2, 7),  sie  scheint 


Sax.  PropertiuB.  119 

auf  hohem  Fuss  zu  leben  (1,11),  sie  ist  hochgebildet,  ja  Dichterin  (l,  2, 27), 
sie  fesselt  durch  ihi*  ganzes  Wesen  (1,4,13)  und  ist  so  schön,  dass  sie 
den  Vergleich  mit  den  berühmtesten  Heroinen  aushalten  kann  (1^  4, 5).  Was 
Wunder,  wenn  sie  des  Dichters  Herz  gefangen  nahm?  Lange  musste  er 
kämpfen  und  in  anschaulicher  Weise  schildert  die  erste  Elegie  sein  heisses, 
ja  verzweifeltes  Mühen.  Aber  die  folgenden  Stücke  beruhen  auf  der  Voraus- 
setzung, dass  das  Band  geschlungen  ist.  Seinen  vollen  Liebesjubel  lässt 
er  ausklingen  in  einem  Gedicht  an  Tullus  (14);  er  beneidet  dessen  Reich- 
tum nicht,  denn  alle  Schätze  der  Welt  können  ihm  nicht  das  Liebesglück 
ersetzen.  Selbst  über  das  Grab  hinaus  will  er  es  daher  festhalten  (19). 
Als  ihn  Tullus  mit  nach  Asien  nehmen  wollte,  lehnte  er  diese  Einladung 
ab;  Amor  ist  sein  Gott;  den  Vorwürfen  der  Cynthia  will  er  sich  nicht  aus- 
setzen (6).  Dem  Bündnis  sind  auch  die  Prüfungen  nicht  erspart  geblieben. 
Freund  Bassus  sucht  ihn  auf  andere  Bahnen  zu  ziehen  (4),  aber  vergeblich. 
Es  regt  sich  die  Eifersucht  des  Dichters;  besonders  als  Cynthia  in  dem 
verführerischen  Bajae  weilte,  wird  es  ihm  bange,  da  in  seiner  Herzens- 
angst erkennt  er  den  hohen  Wert  ihres  Besitzes  (11): 

tu  mihi  sola  domuSf  tu,  Cynthia,  sola  parentes, 
omni  tu  nostrae  tempore  laetUiae, 

Noch  schlimmer,  es  stellen  sich  wirklich  Rivalen  ein,  der  lockere  Gallus, 
der  sich  rühmen  konnte,  so  viele  Mädchen  hinters  Licht  geführt  zu  haben 
(13,5),  hat  ein  Auge  auf  Cynthia  geworfen  (5),  ein  Prätor  will  sie  als 
Begleiterin  nach  Illyrien  führen  und  sie  ist  geneigt,  ihm  zu  folgen,  doch 
sein  Lied  siegt  über  des  Gegners  Macht  und  Geld  (8).  Auch  sonst  fehlt 
es  nicht  an  Klagen  auf  beiden  Seiten,  sie  muss  zu  einer  Strafpredigt 
schreiten,  als  sie,  nach  langem  Warten  vor  Müdigkeit  eingeschlafen,  end- 
lich durch  den  Schein  des  Mondes  aufgeweckt,  den  halbtrunkenen  Geliebten 
an  ihrem  Lager  sitzen  sah  (3),  er  beschwert  sich  über  ihre  Gleichgültigkeit 
gegenüber  seinen  Schicksalen  (15),  doch  als  sie  nicht  mehr  in  seiner  Nähe 
war,  da  erwacht  wiederum  die  Liebe  in  vollen  Flammen  (12).  In  einem 
anderen  wunderschönen  Gedicht  (18)  eilt  er  hinaus,  um  dem  stummen  Wald, 
wo  allein  der  Zephyr  haust,  sein  Leid  zu  klagen.  Durch  eine  Reise  übers 
Meer  will  er  sich  von  seinem  Kummer  befreien,  ein  heftiger  Sturm,  der 
ihn  dem  Tod  nahe  brachte,  lässt  ihn  seinen  Entschluss  bitter  bereuen  (17). 
Man  sieht,  es  ist  ein  bewegtes  Spiel  der  Empfindungen.  Wie  viel  die 
Wirklichkeit,  wie  viel  die  Phantasie  beigesteuert,  wer  wird  es  entscheiden? 
Wir  dürfen  keine  Chronik  seiner  Liebe  vom  Dichter  verlangen,  was  wir 
von  ihm  erwarten,  ist  wahres  Empfinden  und  das  hat  er  uns  mit  reicher 
Hand  gegeben. 

Gegenüber  den  Gynthialiedern  treten  die  anderen  Dichtungen  des  Buchs 
in  den  Hintergrund,  doch  kennzeichnen  auch  diese  den  Meister;  die  Klage 
der  Thür  (16),  in  die  wieder  die  Klage  eines  ausgeschlossenen  Liebhabers 
über  die  Thür  eingeschoben  ist,  die  Erzählung  von  dem  Raube  des  Hylas, 
durch  die  Xrallus  ermahnt  werden  soll,  auf  seinen  gleichnamigen  Knaben 
acht  zu  haben  (20),  sind  anmutige  Gebilde;  scherzhaft  ist  die  Elegie  an  Pon- 
ticus,  der  sich  früher  über  die  Verliebtheit  des  Dichters  lustig  gemacht  (7), 
jetzt  selbst  eine  Flamme  für  seine  Magd  gefasst  hat  (9). 


120    Bömisohe  Litteratnrgeschiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Apul.  apol.  10  accusent  —  Propertiumy  qui  Cynthiam  dicat,  Hosiiam  dissimulet.  Die 
Thatsache,  dass  das  Cynthiabuch  einmal  selbständig  gewesen,  dringt  auch  durch  die  Über- 
lieferung hindurch,  indem  sich  noch  in  Handschriften  die  Bezeichnung  Monobiblos  findet 
(vgl.  jedoch  Bbisch,  Wien.  Stud.  9, 100  Amn.  20). 

Wirklichkeit  und  Dichtung  sucht  zu  scheiden  Mallet,  Quaest.  Propert,  Gotting. 
1882  (p.  53). 

287.  Neue  Liebesgedichte.  Durch  seine  Gynthia  war  Properz  mit 
einem  Schlag  ein  berühmter  Mann  geworden. 

Sic  loqueriSf  cum  tu  iam  noto  fahula  libro 
et  tua  Sit  toto  Cynthia  lecta  foro? 

lässt  er  einen  verwundernd  fragen  (3,  24, 1).  Bald  wagte  er  sich  mit  einem 
neuen  Buch  {alter  liber  2,3,4)  hervor.  Wie  die  Cynthia  war  auch  dieses 
der  Liebe  gewidmet.  Allein  es  weist  zugleich  auf  eine  veränderte  Lage 
des  Meisters  hin.  In  der  Eingangselegie  tritt  der  Name  Maecenas  auf, 
der  im  ersten  Buch  niemals  vorkam;  er  wird  (1,73)  als 

nostrae  pars  invidiosa  iuventae, 
et  vitae  et  morti  ghria  iusta  meae 

gefeiert.  Das  Cynthiabuch  hatte  also  auch  Properz  den  Zugang  zu  diesem 
mächtigen  Patronus  geöffnet.  Das  war  für  ihn  von  hoher  sozialer  Bedeu- 
tung, allein  auch  die  Schattenseite  sollte  nicht  fehlen.  Der  Liebesdichter, 
der  Verehrer  Amors,  sollte  nun  seine  Leier  auf  das  politische  Lied  um- 
stimmen. Er  musste  daher  seine  erotische  Elegie  in  Schutz  nehmen.  Zwar 
war  er  auch  in  seiner  Cynthia  einmal  mit  dem  Epiker  Ponticus  wegen 
seiner  Poesie  zusammengestossen,  allein  dies  war  harmloser  Scherz.  Jetzt 
aber  erörtert  er  gründlich  in  der  Einleitungselegie,  dass  es  ihm  nicht  an 
gutem  Willen  fehle,  der  Herold  von  Augustus'  Thaten  zu  werden,  allein 
seine  Kräfte  reichten  nicht  aus,  dann  lasse  ihn  die  Liebe  nicht  los.  Wir 
bekommen  also  wiederum  Liebeselegien ;  aber  nur  in  dreien  finden  wir  den 
Namen  der  Cynthia  (5,  6,  7).  Doch  das  Buch  ist  ja  nicht  unversehrt  über- 
liefert. Besser  steht  es  mit  dem  dritten.  Hier  wendet  sich  Properz  im 
Eingang  an  Augustus  und  gelobt,  sich  zur  Lösung  höherer  Aufgaben  empor- 
schwingen zu  wollen,  allein  für  jetzt  vermag  er  nur  geringe  Gaben  anzu- 
bieten. So  erhalten  wir  denn  auch  in  dem  neuen  Buch  wiederum  Liebes- 
gedichte; allein  in  einem  Gedicht  beschreitet  er  doch  schon  die  neue  Bahn, 
es  ist  das,  in  dem  er  den  eben  fertig  gewordenen  palatinischen  Apollo- 
tempel beschreibt  (31).  Die  Stoffe  der  erotischen  Lieder  sind  sehr  mannig- 
fach. In  einer  reizenden  Elegie  wird  die  Frage  beantwortet,  warum  Amor 
mit  luftigen  Flügeln,  mit  Bogen,  Pfeilen  und  Köcher  abgebildet  wird  (12). 
In  einer  anderen  lässt  er  eine  Schar  von  Amoren  auftreten,  die  nachts 
dem  halbtrunkenen  Dichter  auflauern  und  ihn  an  das  Haus  der  Geliebten 
schleppen,  wo  seiner  strafende  Worte  warten  (29).  Die  Geliebte  wird  uns 
in  verschiedenen  Situationen  vorgeführt,  sie  ist  krank  —  er  gerät  darob 
in  grosse  Herzensangst;  sie  ist  genesen  —  er  bricht  in  hellen  Jubel  aus  (28). 
In  einem  Traumbild  sieht  er  sie  mit  den  Wogen  ringen  und  in  der  Gefahr 
des  Ertrinkens  (26);  gleich  darauf  will  er  ihr  folgen  durch  das  fernste 
Meer.  Sie  weint,  von  bangen  Zweifeln  ob  der  Treue  des  Geliebten  ge- 
quält —  in  stürmischer  Weise  schwört  er,  ihr  für  immerdar  anzugehören  (20). 
Sie  zieht  aufs  Land  —  er  malt  eine  liebliche  ländliche  Idylle  (19).    Sie 


Sex.  Propertins.  121 

förbt  die  Haare,  damit  sie  eine  goldgelbe  Farbe  erhalten  —  er  tadelt  es, 
ihre  Schönheit  sei  ja  eine  solche,  dass  sie  des  Trugs  entbehren  könne  (18). 
Auch  die  Stimme  der  Eifersucht  dringt  an  unsere  Ohren.  Wir  stossen 
wieder  auf  den  illyrischen  Prätor,  den  wir  bereits  in  dem  ersten  Buch 
kennen  lernten  (16);  dem  Dichter  sind  ferner  die  fortwährenden  Fahrten 
der  Cynthia  nach  Praeneste,  Tusculum,  Tibur  verdächtig  (32).  Auch 
an  einen  unter  dem  Namen  „Lynceus"  verborgenen  Poeten  muss  er  eine 
Warnung  ergehen  lassen,  weil  er  sich  an  seine  Liebe  gewagt.  Dieser 
Vorgang  bringt  den  Dichter  wieder  auf  das  im  Eingang  behandelte  Thema 
zurück;  der  verliebte  Lynceus  erkenne  jetzt,  dass  ihm  epische  Gedichte,') 
Tragödien  nichts  helfen  können,  dass  nur  die  erotische  Elegie  hier  von 
Nutzen  sei;  er  solle  sich  an  ihm,  Properz,  ein  Beispiel  nehmen,  den  sein 
Lied  zum  Herrscher  der  Mädchen  beim  Mahle  mache;  der  Preis  der  Thaten 
des  kaiserlichen  Hauses  müsse  Yergil  überlassen  bleiben  (34): 

Qui  nunc  Äeneae  Troiani  suscUat  arma 
i€ictaque  Lavinis  moenia  Htoribus, 

Mit  einem  Preis  des  Dichterruhmes  hebt  das  vierte  Buch  an;  Pro- 
perz fühlt  sich  dessen  sicher,  er  hat  ja  das  Lied  des  Callimachus  und 
Philetas  in  Rom  heimisch  gemacht.  Auch  diesem  Buch  fehlt  es  nicht  an 
Entschuldigungen,  dass  er  sich  von  der  epischen  Poesie  fern  halte.  Er 
erzählt,  dass  Phoebus  ihn  in  einem  Traumbild  gewarnt  habe,  sich  an  solche 
Stoffe  zu  wagen  (3).  Und  als  Maecenas  ihn  auf  die  Bahn  der  hohen  Poesie 
lenken  wollte,  wies  er  darauf  hin,  dass  ja  auch  sein  Gönner  den  Glanz  der 
Ehren  verschmähe  und  sich  in  bescheidenen  Grenzen  bewege  (9).  Allein  trotz 
dieser  Reden  fängt  der  Dichter  an,  die  erotische  Poesie  in  den  Hinter- 
grund treten  zu  lassen.  Es  begegnen  uns  Gedichte  mit  anderen  Themata, 
wie  die  Elegie  auf  den  Tod  des  Paetus  (7),  der  Preis  der  Treue  der  Aelia 
Galla(12),  das  Epicedium  auf  Marcellus,  den  Schwiegersohn  des  Augustus 
(18),  die  Aufforderung  an  den  bekannten  TuUus,  von  den  Gefilden  Asiens 
zu  den  lieblichen  römischen  Landschaften  zurückzukehren  (22),  der  Hymnus 
auf  Bacchus  (17),  die  Darlegung  der  unheilvollen  Pläne  der  Cleopatra  in 
Gedicht  11.  In  den  erotischen  Stücken  kommen  nun  zwar  solche  vor, 
welche  auf  Erlebnissen  fussen,  wie  z.  B.  die  Aufforderung  der  Cynthia, 
noch  in  der  Mitte  der  Nacht  zu  ihr  zu  kommen  (16),  das  Gedicht  von  der 
Eifersucht  der  Cynthia  auf  Lycinna  (15),  das  reizende  von  der  gegenseitigen 
Verstimmung,  welche  durch  den  treuen  Sklaven  Lygdamus  gelöst  wird  (6), 
die  Gratulation  zu  ihrem  Geburtstag  (10);  allein  auch  allgemeine  Themata 
werden  behandelt,  wie  die  Habsucht  der  Frauen  (13),  die  weibliche  Gym- 
nastik in  Sparta  (14),  die  weibliche  Leidenschaft  (19);  dann  macht  sich  die 
Gelehrsamkeit  jetzt  stärker  geltend  als  früher.  Man  gewinnt  den  Eindruck, 
das  Feuer  der  Liebe  ist  im  Erlöschen.  Die  Lösung  des  Verhältnisses  macht 
den  Schluss  des  Buches.  Properz  wandert  nach  Athen,  um  dort  das  fünf 
Jahre  hindurch  getragene  Joch  Amors  abzuschütteln  (21),  in  einem  tief 
empfundenen  Gedicht  sagt  er  Cynthia  Lebewohl. 

Chronologie  der  Properzischen  Gedichte.    Da  mit  der  Trennung  von  Cynthia 
ein  Abschnitt  im  Leben  des  Dichters  eingetreten,  so  wird  hier  der  geeignete  Ort  sein,  die 

*)  Haube,  de  carm,  epic.  p.  29. 


122     BOmische  LitteratargeBchichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    L  AbteUimg. 

Abfassungszeit  der  einzelnen  Bücher,  soweit  es  mdglich,  zu  bestimmen.  Feste  Daten  erhalten 
wir  für  das  dritte  Buch  (2, 10  -34).  Im  31.  Gedicht  ist  auf  den  eröffneten  Tempel  des  pala- 
tinischen  Apollo  hingewiesen;  derselbe  wurde  28  v.  Ch.  vollendet.  Also  wird  das  Gedient  in 
dieses  Jahr  fallen.  Ein  weiteres  Datum  liefert  uns  das  Kinleitungsgedicht  (3, 10),  wo  wir  lesen : 

et  domus  intactae  te  tremit  Arabicie, 

Arabien  kann  int  acta  nur  heisscn.  wenn  noch  keine  römischen  Soldaten  in  dasselbe  ein- 
gedrungen waren.  Dies  geschah  aber  Sommer  25  v.  Ch.  durch  die  Expedition  des  Aeiius 
Gallus.  Jene  Worte  wurden  allem  Anschein  nach  geschrieben,  als  die  Vorbereitungen  zu 
der  Expedition  gemacht  wurden,  etwa  Ende  27  und  Anfang  26  v.  Gh.  Im  Schlussgedicht  wird 
des  „eben**  (modo)  verstorbenen  Dichters  Gallus  gedacht.  Dessen  Tod  wird  in  das  Jahr  27 
V.  Ch.  gesetzt.  Da  Prooemium  und  Epilog  in  der  Regel  zuletzt  gedichtet  werden,  so  werden 
wir  für  den  Epilog  von  vornherein  auch  das  Jahr  27  oder  26  v.  Ch.  annehmen.  Diese 
Annahme  findet  aber  eine  Bestätigung  durch  jenes  „modo".  Sonach  können  wir  für  das 
dritte  Buch  als  Intervallum  die  Jahre  28 — 26  ansetzen.  Für  das  vierte  Buch  gibt  Nr.  18 
auf  den  Tod  dos  M.  Claudius  Marcellus  einen  festen  chronologischen  Anhaltspunkt;  der- 
selbe fiel  in  das  Ende  von  23  v.  Ch.  (Über  die  Datierung  von  4, 4  und  5  vgl.  Brandt 
p.  29.)  Bezüglich  des  zweiten  und  ersten  Buchs  können  wir  nur  sagen,  dass  sie  nicht 
nach  28  v.  Ch.  datiert  werden  können. 

Chronologie  der  Cynthialiebe.  Drei  Angaben  werden  uns  vom  Dichter  ge- 
macht. 1)  Am  Schluss  des  vierten  Buchs,  als  Propertius  von  der  Cynthia  Abschied  nahm, 
sagt  er,  dass  er  ihr  fünf  Jahre  gedient  habe  (4,25  quinque  tibi  potui  servire  fideliter 
annoü);  2)  4, 15,  7  sollen  nahezu  drei  Jahre  —  so  werden  ja  die  nicnt  ganz  klaren  Worte 
zu  vorstehen  sein,  während  andere  an  etwas  weniger  als  2  Jahre  denken  —  seit  seiner 
ersten  flüchtigen  Liebe  zu  Lycinna  verflossen  sein;  3)  4, 16,  9  erzählt  er,  dass  er  ein  Jahr 
von  der  Geliebten  getrennt  war.  Es  fragt  sich,  ob  diese  Daten  zu  dem  gewonnenen  Zeit- 
rahmen passen.  Das  Ergebnis,  dass  das  erste  und  zweite  Buch  nicht  später  als  28  an- 
gesetzt werden  können,  führt  darauf,  dass  das  Liebesverhältnis  etwa  29  v.  Ch.  begann. 
Vnter  der  Voraussetzung,  dass  die  Elegie  4, 15  eines  der  frühesten  des  4.  Buchs  ist,  also 
etwa  noch  26  v.  Ch.  abgefasst  wurde,  konnte  der  Dichter  allerdings  damals  von  drei  Jahren 
seit  der  Verabschiedung  der  Lycinna  sprechen.  Hat  fernerhin  das  Liebesverhältnis  bei- 
läufig 29  V.  Ch.  seinen  Anfang  und  ungefähr  23  v.  Ch.  sein  Ende  genommen,  so  würde 
das  Intervallum  durch  das  Quinquennium  und  das  eine  Jahr  des  diaddium  ausgefüllt 
werden.  Andere  Wege  schlägt  Lachmani?  ein,  der  das  discidium  in  dem  zuletzt  geschrie- 
benen ersten  Gedicht  des  Cynthiabuchs  (v.  7)  angedeutet  finden  will  und  demnach  das 
discidium  nach  dem  Abschluss  des  ersten  Buchs  ansetzt,  weiterhin  das  Quinquennium  in 
in  die  Zeit  nach  dem  discidium  verlegt  und  die  4, 15,  7  angegebenen  Jahre  auf  die  Zeit 
vor  dem  discidium  bezieht.  Allein  1, 1,  7  kann  eine  vorurteilsfreie  Interpretation  die  Worte 
nur  auf  das  heisse  Ringen,  der  Cynthia  Liebe  zu  erlangen,  beziehen,  nicht  auf  das  discidium 
(Ribbeck,  Rh.  Mus.  40,  492 ;  Reiscu,  Wien.  Stud.  9, 116).  —  Noch  komplizierter  würde  die 
Cynthiafrage,  wenn  Ribbeck  recht  hätte,  dass  ,das  zweite  (ungeteilte)  Buch  vorderhand 
keine  Fortsetzung  der  der  Cynthia  gewidmeten  Monobiblos  ist,  sondern  sich  anschickt,  eine 
andere  unsterblich  zu  machen'^  (Rh.  Mus.  40, 498).  Allein  es  ist  dies  nicht  wahrschein- 
lich.    Phantasie  und  Wirklichkeit  lassen  sich  freilich  in  diesen  Gedichten  schwer  trennen. 

288.  Das  letzte  Buch.  —  Die  römischen  Elegien.  Im  Einleitungs- 
gedicht nimmt  Properz  einen  gewaltigen  Anlauf;  nachdem  er  mit  Seiten- 
blicken auf  die  Gegenwart  eine  begeisterte  Schilderung  des  alten  Rom 
hingeworfen,  gelobt  er  (1,59): 

exiguo  quodcumque  e  pectore  rivi 
fiuxerit,  hoc  patriae  serviet  omne  meae 

und  bestimmt  gleich  näher  den  Charakter  der  neuen  patriotischen  Dich- 
tung (69): 

Sacra  diesque  canam  et  cognomina  prisca  locorum. 

Plötzlich  fährt  ein  Astrolog  mitten  in  diese  Begeisterung  wie  ein  rauher 
Nordwind  hinein  und  sagt  mit  nackten  Worten,  dass  Properz  damit  etwas 
unternehme,  wozu  er  kein  Talent  habe,  und  späterhin  lässt  er  sogar  durch 
Apollo  an  den  Dichter  den  Warnungsruf  ergehen,  den  Dienst  der  Venus 
nicht  zu  verlassen  (1,139): 

nam  fihi  victrices,  quascumque  lahore  parasfi, 
eludet  palmas  una  puella  tuas. 


Sex.  Propertiaa.  123 

Der  Elegiker  ironisiert  sich  selbst;  in  phantastischer  Weise  deutet  er  an» 
dass  dem  Leser  auch  in  diesem  Buch  wieder  Erotisches  vorgesetzt  würde. 
Allein  ganz  in  der  alten  Weise  geschieht  dies  nicht  mehr.  Das  Liebes- 
gedicht ist  in  die  zweite  Linie  eingerückt,  es  ist  nur  eine  Beigabe  und 
nicht  Begleiter  eines  sein  Herz  bewegenden  Liebesverhältnisses.  Der  Grund- 
charakter des  letzten  Buchs  ist  ein  vaterländischer.  In  die  Mitte  (6) 
hat  der  Dichter  wie  ein  glänzendes  Juwel  das  schöne  Gedicht  vom  Siege 
bei  Actium  gestellt.^)  Wir  sehen,  wie  die  schützende  Hand  Apollos  über 
dem  Kampfe  ruht  und  unsägliche  Schmach,  die  Herrschaft  eines  Weibes, 
von  Rom  fern  hält.  Aber  selbst  in  die  altersgrauen  Zeiten  schwingt  sich 
sein  hoher  Gesang;  hatte  doch  auch  sein  Vorbild  Callimachus  in  seinen 
AiTia  den  Ursprung  der  Feste,  Spiele,  Tempel  in  anmutigen  Elegien  er- 
schlossen. Was  hier  der  Meister  für  Griechenland  war,  wollte  er  für  Rom 
werden.  Er  gedachte  endlich  die  Bahnen  zu  beschreiten,  die  ihm  Maecenas 
gezeigt.  Sein  Heimatland  sollte  mit  Stolz  auf  den  , römischen  Callimachus" 
als  seinen  Sohn  hinweisen.  In  vier  Elegien  pflegt  er  die  neue  Dichtungs- 
art; er  erläutert  uns  Namen  und  damit  Wesen  des  Gottes  Vertumnus  (2), 
wobei  er  das  alexandrinische  Kunstmittel  in  Anwendung  bringt,  die  „  Ur- 
sache'^  der  Benennung  durch  den  Gott  selbst  zu  offenbaren;  er  malt  uns 
in  ergreifender  Weise  die  Liebe  der  Tarpeia  zu  dem  feindlichen  Feldherrn, 
ihr  Verbrechen,  ihre  Strafe  (4),  um  zuletzt  daran  flüchtig  eine  Namens- 
erklärung anzuknüpfen;  die  Erzählung  von  der  Tötung  des  Gacus  durch 
Hercules  (9)  gibt  Anlass,  über  das  Forum  boarium,  über  die  Ära  maxima, 
über  die  Ausschliessung  der  Frauen  von  des  Heros  Gottesdienst  Kunde  zu 
erteilen;  endlich  in  dem  vierten  Gedicht  (10)  handelt  er  über  das  Heilig- 
tum des  Jupiter  Feretrius  und  über  die  von  Romulus,  A.  Cornelius  Cossus 
(437  V.  Ch.)  und  M.  Marcellus  (222  v.  Ch.)  den  feindlichen  Feldherrn  im 
Zweikampf  abgenommenen  Rüstungen  (spolia  opima),  welche  dort  auf- 
bewahrt wurden.  Es  liegt  ein  eigentümlicher  Zauber  in  diesen  Gedichten 
und  wir  beklagen  es  sehr,  dass  er  uns  nicht  mehrere  dieser  Art  gespendet. 
Unter  den  erotischen  Elegien  fesseln  unser  ganzes  Interesse  die  beiden 
Cynthialieder  (7, 8).  Seit  sich  der  Dichter  von  der  Geliebten  getrennt,  ist 
sie  von  hinnen  gegangen  und  ruht  jetzt  im  Grabe  auf  ihrer  Villa  in  Tibur. 
Wie  das  verglimmende  Abendrot  leuchtet  sie  nochmals  in  sein  Leben 
hinein.  Nicht  genug,  dass  er  ihr  Erscheinen  an  seinem  Ruhelager  in  er- 
greifender Weise  darstellt,  bringt  er  noch  ein  heiteres,  pikantes  Abenteuer, 
das  er  mit  ihr  gehabt,  zu  unserer  Kunde.  Es  ist,  als  ob  ihn  die  alte  Liebe 
nicht  loslassen  könnte.  Hatte  Properz  schon  durch  diese  Gegenüberstellung 
von  grausamem  Tod  und  frisch  pulsierendem  Leben  mit  Absicht  einen 
Kontrast  geschaffen,  so  wendet  er  noch  ein  neues  Kunstmittel  im  zweiten 
Gedicht  an.  Er  knüpft  jenes  Liebesabenteuer  an  ein  Fest  in  Lanuvium 
an,  so  dass  in  dieser  Elegie  sich  der  Charakter  des  ganzen  Buchs,  Ver- 
einigung des  Patriotischen  und  Erotischen,  wiederspiegelt. ^)  Ausser  den 
Cynthialiedern  spricht  uns  sehr  an  der  Brief,  den  Arethusa  an  ihren  im 

')  BücHELEB,    Ind.   lect.   Bonn,    1878/9      in   eine   frühere  Zeit  zu  verlegen,    da   der 
p.  13.  Dichter  noch  nicht  den  Plan,    ätiologische 

')  Sonach  ist  es  unmöglich,  das  Gedicht  \  Elegien  zu  schreihen,  gefasst  hatte. 


124     Bömiache  Litteratiirgeschiclite.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilmig. 

parthischen  Feldlager  weilenden  Gatten  schrieb,  ein  schönes  Denkmal  echter, 
zarter  Frauenliebe  (3).  Dagegen  stösst  uns  eine  Lena,  die  als  gemeine 
Lehrmeisterin  eines  Mädchens  auftritt  (5),  in  hohem  Grade  ab.  Das  Buch 
schliesst  mit  der  berühmten  Elegie,  welche  mau  etwas  übertreibend  die 
Königin  der  Elegien  nannte,  dem  Trauerlied  auf  die  Cornelia,  Gattin  des 
Paulus.  Sie  spricht  selbst  aus  dem  Grabe  und  bittet  den  Gatten,  vom 
Jammern  abzulassen,  da  der  Tod  ja  unerbittlich  sei.  Der  beste  Trost,  den 
sie  spenden  kann,  ist  ihr  schuldloses  Leben,  das  ihr  ein  Recht  auf  ein 
gutes  Los  in  der  Unterwelt  gibt.  Kuhig  kann  sie  daher  ihre  letzten  Mah- 
nungen an  die  Hinterbliebenen  richten. 

Das  ist  in  Kürze  der  Inhalt  des  letzten  Buchs,  das  überall  die  Meister- 
hand des  Dichters  zeigt.  Es  ist  unbegreiflich,  wie  man  annehmen  konnte, 
dass  dieses  Buch,  das  im  ganzen  Aufbau  wie  im  einzelnen  kunstvoll  ist, 
nicht  von  dem  Verfasser  selbst  herausgegeben  sei.  Die  chronologischen 
Indizien  führen  in  das  Jahr  16  v.  Gh.,  in  dem  die  Trauerelegie  abgefasst 
wurde  (v.  66),  vielleicht  noch  in  das  Jahr  15  v.  Ch.*)  (im  6.  Gedicht). 
Darüber  hinaus  gewahren  wir  keine  Spuren.  Ein  früher  Tod  scheint  dem 
Sänger  die  Harfe  aus  den  Händen  genommen  zu  haben. 

Im  Carmen  ad  Pisonem  heisst  es  Vers  237: 

Maecenas  aha  Tonantis 
er  HÜ  et  populis  ostendit  nomina  Grais, 
carmina  Ramanis  etiam  resonantia  chordis. 
Diese  Worte  bedeuten  nach  Bvcheler,  Rh.  Mus.  36, 337 :  alia  Tonantis  nomina,  id  est  Jovis 
tutelae   Augusti  atque   imperii  Romani,   antiqxia  haec   nomina  Romana  fieri  iussit  etiam 
Romanis  fidihtis   resonantia   carmina   ostendiique  Graecis   qui   cognoscerent   et  quanlumvis 
suae  gentis  gloria  inflati  agnosceretit  —  Itaque  si  recte  hunc  locum  explanavi,  fama  erat 
Romae  imperante  Claudio  pervolgata,  Maecenatis  iussu  impufsuque  de  antiquitatibus  rerum 
dityinarum  romanis  Propertium  talia  carmina  instituisse  qualibus  Callimachus  graecas  cele- 
braverat   .   eamque  famam  cur  damnemus  aut  contemnamus  non  video,   inveniefnus  fortasse 
quod  confirmet.    Simglus  ilJe  qui  Tarpeiae  fabulam  elegiacis  versibus  graecis  tractavit  (Plu- 
tarchus  Romuli   17),    nescitur  quis  fuerit   et  cuius  aetcUis,  potuit  vitae  annis  ac   ratione 
Studiorum  Maecenatem  proxime  attingere. 

Litteratur:  Dass  das  letzte  Buch  nicht  vom  Dichter  herausgegeben  sei,  wurde  mit 
Unrecht  von  Lachhank  behauptet  (Ausg.  1816  p.  329),  auf  dessen  Seite  sich  u.  a.  Reisch, 
Wien.  Stud.  9, 148  gestellt.  Siehe  dagegen  Otto,  Hermes  20,  572.  Eine  allzu  gekünstelt« 
Gruppierung  der  Gedichte  des  4.  Buchs  durch  Bücheleb  teilt  uns  Marx  in  seiner  Disser- 
tation De  Propertii  vita  etc.  p.  70  mit.  Den  ungeheuerlichen  Gedanken  Heimreichs  (Symb. 
philo!.  Bonn.  p.  674)  und  Carüttis  (Ausg.  p.  XXXFV),  dass  das  5.  Buch  mit  Ausnahme 
der  letzten  Elegie  unecht  sei,  fand  Kirchner,  De  Propertii  libro  V,  Wismar  1882  der 
Widerlegung  wert.  Über  die  Quellen  der  ätiologischen  Elegien  verbreitet  sich  Tuerk  in 
seiner  Diss.  Halle  1885,  aber  ohne  nennenswerte  Ergebnisse  zu  erzielen. 

289.  Charakteristik  des  Properz.  Zu  Callimachus  und  Philetas 
blickte  Properz  als  seinen  Meistern  empor.  Zu  ihnen  fleht  er,  ihn  in  das 
Heiligtum  ihrer  Poesie  einzulassen  (4,1,1): 

Callimachi  manes  et  Coi  sacra  Phüetae, 
in  vestrum,  quaeso,  me  sinite  ire  nemus. 

Mit  ihrem  Lied  will  das  seinige  den  Wettstreit  bestehen  (5,6,3): 

ara  Philetaeis  certet  Romana  corymbis 
et  Cyrenaeas  urna  ministret  aquas. 

Ihren  Ruhm  zu  teilen  ist  ihm  genug  (4,9,43): 

inter  Callimachi  sat  erit  plcuyuisse  libellos 
et  cecinisse  modis,  Coe  poeta,  tuis, 

*)  KiRCHi^ER,  De  Propertii  libro  V  p.  26. 


Sex.  PropertivB.  125 

Mit  ihnen  teilt  er  die  Abneigung  gegen  das  grosse  nationale  Epos,  mit 
ihnen  will  er  seine  Kunst  auf  die  Liebeselegie  beschränken;  ihnen  ent- 
nimmt er  die  ganze  Topik  des  Liebeslebens,  das  Ausmalen  der  Schönheiten 
der  Geliebten,  die  Versicherungen  ewiger  Treue,  die  Schilderungen  von 
dem  Treiben  Amors,  von  seinen  Verfolgungen  mit  den  Pfeilen,  von  dem 
harten  Joch,  das  er  den  Liebenden  auferlegt,  die  Verwünschungen  des 
jetzigen  der  Liebe  so  feindseligen  Zeitalters  und  die  Sehnsucht  nach  dem 
goldenen;  ihnen  entnimmt  er  die  gelehrten  Zuthaten,  durch  welche  die 
Empfindungen  beleuchtet  werden.  Diesen  zuletzt  genannten  Anschluss  an 
seine  alexandrinischen  Vorbilder  mag  man  beklagen;  denn  diese  mytho- 
logischen Illustrationen,  welche,  in  der  Regel  in  wenige  Distichen  einge- 
schlossen, die  Sache  mehr  andeuten  als  ausführen  und  durch  die  häufige 
Anwendung  des  Patronyinikons  verhüllen,  haben  über  den  Dichter  einen 
Schleier  geworfen,  welcher  ihn  von  der  grossen  Masse  der  Leser  entfernt 
hält.  Mag  aber  der  Römer  den  Griechen  noch  so  viel  verdanken,  so  ist 
er  doch  keineswegs  als  blosser  Nachtreter  anzusehen.  Für  seine  Selbstän- 
digkeit zeugen  laut  die  römischen  Elegien,  in  denen  ihm  die  Alexandriner 
die  Form,  nicht  aber  den  Inhalt  darbieten  konnten;  und  fast  alle  diese 
Stücke  sind  Meisterwerke.  Aber  auch  in  den  Liebesliedern  setzt  er  —  und 
das  ist  das  Entscheidende  —  überall  echte,  warme  Empfindung  und  eine 
mächtige  Phantasie  ein.  Es  ist  erstaunlich,  wie  seine  Poesie  alle  Affekte 
der  Seele  durchläuft,  und  stets  finden  wir  sein  Gemüt  von  der  jeweiligen 
Situation  aufs  tiefste  ergriffen.  Diese  tiefe  Ergriffenheit  gestattet  ihm 
nicht,  wie  TibuU  in  träumerischer  Weise  den  Gedanken  von  einer  gegebenen 
Empfindung  auf-  und  abwogen  zu  lassen,  sie  gestattet  ihm  noch  weniger, 
das  Empfindungsleben  in  ein  Tändeln  und  ein  Spiel  aufzulösen,  wie  dies 
Ovid  gethan  hat.  Stets  ist  es  die  volle  Glut,  die  volle  Leidenschaft  seines 
Innern,  welche  seine  dichterischen  Gestalten  erleuchten  und  erwärmen. 
Und  der  Leser  wird  um  so  stärker  von  diesem  Pathos  ergriffen,  je  mehr 
er  sich  in  die  tiefe  Gefühlswelt  des  Dichters  versenkt.  Dem  flüchtigen,  nach 
kurzatmigem  Vergnügen  Haschenden  bleibt  dieser  merkwürdige  Römer  ein 
Buch  mit  verschlossenen  Siegeln;  dem  aber,  der  in  die  tiefen  Schachten 
eines  echt  poetischen  Gemüts  hinabzusteigen  wagt,  wird  Properz  trotz  des 
Gestrüppes,  das  er  um  seine  Schöpfungen  gelegt,  eine  Quelle  des  erhabensten 
und  dauerndsten  Genusses  sein. 

Otto,  de  fabulitt  Propert.  I,  Borl.  1880,  wo  im  ersten  Teil  allgemeine  Gesichtspunkte 
über  die  Properzische  Dichtung  gegeben  werden.  Der  zweite  Teil  erschien  als  Programm 
von  Grossglogau  1886.  Vortreffliche  Winke  über  Properz  und  die  alexandrinische  Klegie 
überhaupt  finden  sich  in  der  von  Dilthey  angeregten  Dissertation  von  Mallet,  Quaest. 
Prapert.f  Göttingen  1882.  Ein  lebensfrisches  Bild  der  Properzischen  Dichtung  zeichnet 
BücHELER  in  der  Deutschen  Revue  8.  Jahrg.  3.  Bd.  (1883)  p.  187. 

Überlieferung:  Die  methodische  Sichtung  der  Handschriften  begann  mit  Lach- 
mann;  er  war  es,  der  zuerst  aus  der  Masse  der  Codices  zwei  als  treue  und  verlässige 
Zeugen  heraushob,  den  Neapolitanus  (jetzt  in  Wolffenbüttel  Gud.  224)  und  den  Groninganus 
s.  XV  und  dem  letzteren  den  Vorrang  einräumte.  Die  weiteren  Untersuchungen  in  der 
Frage  knüpften  an  den  Groninganus  an.  Seinen  Prinzipat  bestritten  Keil  (observ.  crit,, 
Bonn  1843)  und  Haupt  (Opusc.  2, 52  2, 101).  Viel  weiter  ging  Heimreich,  der  ganz  auf 
dessen  Beseitigung  hinarbeitete  und  den  Neapolitanus  als  alleinigen  Führer  anerkannt  wissen 
wollte  (QuaesL  Propert.,  Bonn  1863  p.  21).  Zum  Schutz  des  verurteilten  Codex  erhoben 
ihre  Stimme  LÜtjohann,  Comtn.  Prapeft.,  Kiel  1869  p.  1;  Hetdenreich  im  VII.  Kapitel 
seiner  QuaesL  Prapert,,  Leipz.  1875  p.  37,  während  Grumme  (De  codicibua  Propert.,  Aurich 


126     ROmiache  Litteratorgeschichte.    tl.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteiliing. 

1869)  auf  Heimbeichs  Seite  trat.  Trotz  der  Verteidigungsversuche  war  es  um  das  Ansehen 
dieser  Handschrift  geschehen.  Man  ging  nun  auch  daran,  den  Neapolitanus  zu  beseitigen. 
Dieser  Aufgabe  unterzog  sich  Barrens,  der  die  Properzkritik  auf  zwei  Handschriftenfamilien 
basierte,  deren  eine  aus  dem  Vossianus  38  s.  XIV  und  dem  Laurentianus  36,49  s.  XV;  deren 
andere  aus  dem  Ottobonianus-Vaticanus  1514  s.  XIV  und  dem  Daventriensis  1792  s.  XV 
besteht.  Allein  auch  diese  Ansicht  kam  zum  Fall,  des  Neapolitanus  nahmen  sich  an  Leo 
(Rhein.  Mus.  35,431),  Brandt  (Quaest,  Prop,,  Berl.  1880  p.  14)  und  Solbisky  (De  codic. 
Propert.,  Jena  1882  =  Bissert.  Jen.  2, 139),  der  auf  Grund  einer  sorgfältigen  Prüfung  zu 
dem  Resultat  gelangte,  dass  die  von  Bährens  als  erste  Familie  konstituierten  Handschriften 
wertlos  seien,  dass  als  die  beste  Properzhandschrift  der  Neapolitanus  betrachtet  werden 
müsse  und  dass  neben  ihm  die  Handschriften,  welche  die  zweite  Familie  bei  Bahreks 
bilden,  Bedeutung  beanspruchen  können. 

Ausgaben  von  Lachkann,  Leipz.  1816  (neben  Lucretius  die  einzige  Ausgabe, 
welcher  er  einen  Kommentar  beigefügt;  Textausgabe  Berlin  1829.  Hertzberg,  3  Bde., 
Halle  1843—45  (von  Haupt  vielfach  bekämpft);  Textausgabe  von  Keil,  Leipz.  1850.  Bahbens 
Leipz.  1880  (wie  alle  Ausgaben  dieses  Gelehrten  durch  willkürliche  Kritik  entstellt).  Femer 
in  den  Ausgaben  der  römischen  Elegiker  von  Haupt- Vahlen^  Leipz.  (Hirzel)  und  L.  Müller 
(Teubner). 

290.  Fortleben  des  Properz.  Eine  so  tiefgehende  Poesie  wie  die  des 
Properz  konnte  nicht  ohne  nachhaltige  Einwirkungen  auf  die  Litteratur 
bleiben.  Sie  wurde  Ftihrerin  für  einen  kommenden  Dichter,  für  Ovid.  Der 
reizende  Arethusabrief  gab  ihm  das  Modell  für  seine  Heroides,  die  ätio- 
logischen Elegien  regten  in  ihm  den  Gedanken  der  Fasti  an.  Das 
Trauerlied  auf  die  Cornelia  war  eine  nie  auszuschöpfende  Quelle  für  alle 
späteren  Epicedien.  Noch  zu  Zeiten  des  jüngeren  Plinius  bemühte  sich 
Passennus  Paulus  im  Geiste  des  Properz,  den  er  zu  seinen  Ahnen  zählte, 
Elegien  zu  dichten  und  nach  dem  allerdings  nicht  sehr  gewichtigen  Urteil 
des  Plinius  waren  diese  Nachahmungen  so  gelungen,  dass  man  sie  für 
Properzisches  Werk  halten  konnte  (Ep.  6, 15, 1).  Aber  auch  im  römischen 
Publikum  scheint  der  Dichter  sich  einen  festen  Platz  errungen  zu  haben. 
Seine  Cynthia  wurde  eifrigst  gelesen  (3, 24, 1).  Unter  den  Versen,  welche 
auf  die  Wände  in  Pompei  eingekritzelt  wurden,  befinden  sich  auch  solche 
aus  seinem  Liederkranz  (5,  5,  47  4, 16, 13).  Bei  den  Geschenken,  für  welche 
Martialis  Aufschriften  dichtete,  gewahren  wir  auch  das  Cynthiabuch,  von 
demselben  sagt  der  Dichter  (14,189): 

Cynthia  facundi  Carmen  iuvenale  Praperti 
accepit  famam:  non  minus  ipsa  dedü. 

Späteren  gedankenarmen  Zeiten  stand  die  Properzianische  Poesie  zu 
hoch;  sie  trat  daher  zurück  und  kam  mehr  und  mehr  in  Vergessenheit. 
Bei  den  öden  Grammatikern  wird  darum  Properz  verhältnismässig  selten 
angeführt;^)  in  den  düsteren  Zeiten  des  Mittelalters  war  er  verschollen. 
Erst  Petrarca  hat,  wie  so  viele  Autoren,  vermutlich  auch  ihn  aus  dem 
Dunkel  hervorgezogen;  wir  wissen,  dass  er  im  Besitz  einer  Properzhand- 
schrift war  und  dass  der  florentinische  Staatssekretär  Coluccio  Salutato  im 
Jahre  1374  sich  nach  dem  Besitz  dieses  Schatzes  sehnte.  Den  glänzendsten 
Triumph  erntete  der  Römer  in  der  neueren  Zeit.  Auf  den  grössten  deut- 
schen Dichter,  auf  Goethe,  hat  dessen  Poesie  einen  tiefen  Eindruck  ge- 
macht, ja  in  seinem  Innern  sogar  eine  Erschütterung  hervorgerufen;  in 
den  römischen  Elegien  folgte  er  seinen  Spuren,  so  dass  er  später  seinen 
Gegnern  zurufen  konnte: 

Also  das  wäre  Verbrechen,  dass  einst  Properz  mich  begeistert? 

*)  Die  Stellen  stehen  unter  dem  Text  in  der  Ausgabe  von  Bahbeks. 


P.  Ovidiaa  Naso.  127 

Auch  an  der  Übersetzung,  die  ein  Genosse  seines  Kreises,  Knebel,  ver- 
fasste,  hatte  er  seinen  Anteil.  Allein  trotz  dieser  hohen  Wertschätzung 
ist  der  modernen  Welt  der  römische  Dichter  noch  immer  eine  wenig  ge- 
kannte Grösse.  Was  vor  allem  uns  not  thäte,  wäre  eine  geschmackvolle 
Nachdichtung,  wie  sie  in  einzelnen  Proben  Bücheler  gegeben.  Eine  Über- 
setzung, wie  die  von  1, 18,  die  mit  den  Worten  beginnt: 

öd  ist  der  Ort  und  hOret  stamm  die  Klage, 

dem  Wehn  des  Wests  gehört  der  weite  Wald. 

Hier  darf  ich  ungestraft  mein  Leid  verkünden, 

verschwiegen  bleibt  doch  wohl  und  treu  der  Fels 

lässt  auch  bei  dem  Uneingeweihten  das  Gefühl  süsser  Poesie  zurück. 

11.  P.  Ovidius  Naso. 

291.  Biographisches.  Die  römischen  Elegiker  pflegten  gern  am 
Schluss  eines  Buchs  sich  dem  Leser  vorzustellen  und  über  ihre  Lebens- 
verhältnisse Aufschluss  zu  erteilen.  Dieser  Sitte  verdanken  wir  die  poe- 
tische Autobiographie  Ovids  am  Ende  des  4.  Buchs  der  Tristia.  Ovid  gibt 
uns  hier  alles  Wesentliche  über  sein  Leben;  es  lassen  sich  dem  Bilde  nur 
wenige  Züge  hinzufügen.  Ovid  wurde  am  20.  März  des  Jahres  43  in  Sulmo 
im  Pälignerland  geboren.  Seine  Familie  gehörte  dem  Ritterstande  an. 
Der  Sitte  der  Zeit  entsprechend  machte  er  die  rhetorische  Bildungsschule 
durch;  er  wurde  Zuhörer  des  berühmten  Rhetor  Arellius  Fuscus,  auch  die 
Deklamationen  des  Porcius  Latro  machten  auf  ihn  grossen  Eindruck,  ja 
denselben  wollten  Kenner  noch  in  seinen  Gedichten  wahrnehmen.  Bei  den 
rhetorischen  Übungen  trat  schon  seine  geistige  Richtung  zu  Tage.  Der 
Erörterung  eines  fingierten  Rechtsfalls,  der  controversia,  ging  er  möglichst 
aus  dem  Weg,  es  störte  ihn  die  Beweisführung  und  die  dadurch  notwendig 
gewordene  strenge  Ordnung  der  Gedanken;  seine  Stärke  lag  in  der  suasoria, 
wo  allgemeine  Gesichtspunkte  vorherrschend  waren  und  der  Verfasser  seiner 
Phantasie  die  Zügel  schiessen  lassen  konnte.  Noch  mehr  zog  ihn  die  Dicht- 
kunst an ;  ihre  Pflege  kostete  ihm  keinen  Schweiss ;  die  Verse  flössen  ihm 
nur  so  zu,  ja  selbst  wenn  er  in  Prosa  schreiben  wollte,  wuchsen  ihm 
unversehens  unter  der  Hand  Verse  heraus,  so  dass  er  von  sich  sagen 
konnte: 

et  quod  temptabam  dicere,  versus  erat. 

Den  Abschluss  seiner  Ausbildung  gab  eine  Reise  nach  Athen;  vielleicht 
reihte  sich  daran  auch  die  Reise  nach  Asien  und  Sicilien,  die  er  mit  Macer 
machte  (P.  2, 10, 21).  Dem  Wunsche  seines  Vaters  folgend  betrat  er  die 
amtliche  Laufbahn  und  zwar  die  richterliche,  doch  kam  er  nicht  über 
subalterne  Stellen  hinaus.  Er  mochte  bald  erkannt  haben,  dass  ihm  für 
die  Judikatur  nicht  weniger  als  alles  fehle,  und  gab  sie  daher  auf.  Seine 
Augen  waren  nach  dem  dichterischen  Lorbeer  gerichtet;  in  den  Kreisen 
der  Dichter  Macer,  Propertius,  Ponticus,  Bassus  und  anderer  bewegte  er 
sich  lieber  als  an  den  Gerichtsstätten.  Seine  Arbeiten  fanden  den  Beifall 
der  Genossen,  die  jüngeren  ahnten  schon  in  ihm  das  aufgehende  Gestirn. 
Im  grösseren  Publikum  wurde  die  Aufmerksamkeit  auf  den  Dichter  durch 
die  Corinnalieder  gelenkt.   Von  nun  an  bewegte  er  sich  auf  emporsteigender 


128    Römiache  Litteraturgeschichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Kuhmesbahn;  seine  Liebeskunst  musste  durch  die  sprudelnde  Genialität  des 
Meisters  Bewunderung  erwecken;  seine  Metamorphosen  gaben  der  römischen 
Litteratur  das  schönste  Werk  der  erzählenden  Poesie.  Angesichts  seiner 
Werke  durfte  sich  Ovid  laut  sagen,  dass  der  Dichterkranz  stets  sein  Haupt 
beschatten  werde.  Auch  in  seinem  schwankenden  Familienleben  stellte  sich 
endlich  noch  das  Glück  ein;  nachdem  zwei  Ehen  zusammengebrochen  waren, 
scheint  sich  endlich  eine  dritte  auf  wahrer  und  dauernder  Zuneigung  auf- 
gebaut zu  haben.  So  war  der  Dichter  in  das  51.  Lebensjahr  eingetreten, 
da  traf  ihn  (8  n.  Ch.)  ein  Schlag,  von  dem  er  sich  nicht  mehr  erholen  sollte. 
Er  befand  sich  gerade  mit  seinem  Freunde  Maximus  Cotta  in  Elba,  als 
er  die  Nacliricht  von  dem  drohenden  Unglück  erhielt  (P.  2, 3, 83).  Das 
Ärgste  geschah;  Augustus  sprach  über  ihn  die  Verbannung  nach  Tomi  aus. 
Zwar  wurde  ihm  Bürgerrecht  und  Vermögen  belassen,  allein  was  wollte 
dies  bedeuten  gegen  Rom?  Über  die  Ursachen  seiner  Strafe  spricht  er 
sich  in  seinen  Gedichten  zwar  oft  aus,  aber  stets  in  dunkler,  unbestimmter 
Weise.  Die  genaue  Betrachtung  aller  dieser  Stellen  begründet  aber  in 
hohem  Grade  die  Wahrscheinlichkeit  der  Vermutung,  dass  Ovid  in  das 
unsittliche  Treiben  der  Enkelin  des  Augustus,  Julia,  die  in  demselben  Jahre 
wie  er  verbannt  wurde,  mitverwickelt  war.  Auch  in  Tomi  verliess  die 
Muse  den  Dichter  nicht;  allein  seine  Lieder  schlagen  nur  einen  Ton  an, 
den  der  Klage  über  sein  trauriges  Los.  Seine  Rückberufung  oder  wenig- 
stens seine  Versetzung  an  einen  freundlicheren  Ort  zu  erlangen,  ist  der 
einzige  Gedanke,  der  diese  Trauergedichte  durchzieht.  Und  schon  schienen 
sie  wirklich  Augustus  umgestimmt  zu  haben,  da  starb  (14  n.  Ch.)  der  Kaiser 
und  mit  ihm  sanken  die  Hoffnungen  des  armen  Verbannten  ins  Grab.  In 
Tiberius'  kaltem  Herzen  fanden  die  aus  Tomi  kommenden  Rufe  keinen 
Widerhall.  Ovid  sah  sein  geliebtes  Rom  nicht  mehr  und  starb  in  der  Ver- 
bannung, wahrscheinlich  im  Jahre  18  n.  Ch. 

Das  Jahr  der  Verbannung.    Die  Streitfrage  ist,  ob  Ovid  im  J.  9  oder  8  n.  Ch. 
verbannt  wurde.    Zur  Entscheidung  dienen  folgende  Stellen:  P.  4,6,5  heisst  es: 

In  Scythia  nohis  qninquennis  oli/mpMS  acta  est: 
tarn  tempus  lustri  transit  in  alterius. 

Dieses  Gedicht  setzt  (vgl.  v.  17)  den  erst  kürzlich  eingetretenen  (recens)  Tod  des  Augustus 
(19.  Aug.  14  n.  Ch.)  voraus.  Diese  Nachricht  wird  kaum  vor  Oktober  nach  Tomi  gelangt 
sein.  Wenn  er  also  im  Oktober  des  J.  14  n.  Ch.  bereits  5  Jahre  in  Tomi  war,  so  rauss  er 
Oktober  9  n.  Ch.  schon  dort  gewesen  sein.  Eine  zweite  Zeitangabe  erhalten  wir  aus  Pont. 
4, 13,  40,  wo  er  bald  nach  dem  Tod  des  Augustus  schreibt  me  iam  nirali  sexia  relegatum 
bnima  »üb  axe  videt.  Zählen  wir  vom  J.  14  zurück,  so  ist  der  erste  Winter  seines  Auf- 
enthaltes „suh  axe  nirali*^  9/10.  Es  hängt  nun  alles  davon  ab,  zu  entscheiden,  ob  der 
erste  in  Tomi  zugebrachte  Winter  9/10  auch  der  erste  seit  der  Verbannung  Ovids  war 
oder  ob  noch  ein  Winter  auf  die  Reise  fiel.  Das  letztere  ist  der  Fall.  Im  Dezember  des 
Vorbannungsjahrs  befand  sich  Ovid  auf  seiner  Reise  nach  Tomi  noch  im  adriatischen  Meer 
(T.  1,11,3).  Die  Seereise  war  eine  stürmische  und  langwierige  (T.  1, 4u.  5  1,11,13 
3,1,12  3,1,42).  Aber  es  kamen  noch  zwei  Fussreisen  hinzu,  einmal  über  den  Isthmus 
von  Corinth,  dann  die  durch  ganz  Thracien  nach  Tomi.  Auch  muss  er  sich  unterwegs  an 
manchen  Orten  länger  aufgehalten  haben,  denn  er  empfing  Nachrichten  von  Rom  (T.  1,6, 8 
1,9,39).  Schon  diese  Momente  ergeben  die  volle  Unwahrscheinlichkeit,  dass  Ovid  noch  im 
Winter  9/10  in  Tomi  anlangte.  Er  müsste  —  eine  neue  Schwierigkeit  —  in  diesem  Fall 
mitten  im  Winter  durch  Thracien  zu  Fuss  gereist  sein.  Vielleicht  darf  aber  aus  dem 
Wunsch  T.  1, 11, 44  geschlossen  werden,  dass  schon  der  Frühling  nahte,  als  er  die  thracische 
Küste  erreicht«.  Der  Schluss  aus  dem  Vorstehenden  ist  einfach:  War  der  Winter  9/10 
nicht  der  erste  seit  der  Abreise  von  Rom,  so  muss  Ovid  gegen  Ende  des  J.  8  in  die 
Verbannung  gegangen  sein. 


Entwicklung  der  Ovidisohen  Dichtung.  129 

Litteratur:  Für  den  MASSON^schen  Ansatz  9  n.  CH.  erhob  sich  in  neuester  Zeit 
Bbajtdes  (Fleckeis.  J..  115, 353).  Schlagende  Widerlegung  fanden  seine  Ausführungen  durch 
Graisbeb,  QuaesU  Ovid.  p.  I  p.  111  und  Matthias,  Fleckeis.  J.  129, 202. 

Die  Ursachen  der  Verbannung  Ovids.  £in  zweifaches  Vergehen  gibt  Ovid 
als  den  Anlass  zu  seiner  Relegation  an  (T.  2, 207).  Bas  erste  war  ein  Gedicht.  Dass  dies 
seine  Ars  war,  steht  durch  das  zweite  Buch  der  Tristia  —  anderer  Stellen  nicht  zu  ge- 
denken —  fest.  Das  andere  Vergehen  charakterisiert  er  öfters  nach  dem  Grad  der  subjek- 
tiven Schuld;  bezüglich  des  objektiven  Thatbestands  lässt  er  sich  nur  zu  folgenden 
Äusserungen  bei  (T.  2, 103): 

cur  aliquid  vidi?   cur  noxia  lumina  feci? 
cur  imprudenti  cognüa  cuJpa  mihif 
und  T.3,5,49: 

inscia  quod  crimen  viderunt  lumina  plector 
peccatumque  ocülos  est  habuisse  meum, 

Damach  hat  Ovid  eine  strafbare  Handlung  wider  Willen  mit  angesehen.  Was  er  ge- 
sehen, sagt  er  nirgends;  nur  soviel  erfahren  wir,  dass  er  darüber  schweigen  muss,  um 
nicht  die  Wunden  des  Augustus  wieder  aufzureissen  (T.  2, 208)  und  dass  auch  die  Scham 
rät,  die  Übelthat  in  Finsternis  zu  hüllen  (T.  3,6,31).  Auf  der  andern  Seite  gibt  er  negative 
Andeutungen,  aus  denen  wir  schliessen  müssen,  dass  das  Vergehen  nicht  gegen  die  Person 
des  Kaisers  gerichtet  war,  also  keinen  politischen  Charakter  hatte  (T.  3, 5, 43).  Dies  alles 
erwogen,  werden  wir  zunächst  an  eine  unsittliche  Handlung,  welche  in  der  kaiserlichen 
Familie  vorkam,  zu  denken  haben.  Diese  Bestimmung  des  einen  crimen  als  eines  sitt- 
lichen Delikts  gewinnt  aber  noch  einen  höheren  Grad  von  Sicherheit,  wenn  wir  das  andere 
crimen  ins  Auge  fassen.  Die  Ars  wurde  circa  1  v.  Gh.  veröffentlicht.  Die  Verbannung 
Ovids  fiel  aber  in  das  J.  8  n.  Ch.  Nach  so  langer  Zeit  konnte  das  Gedicht  doch  nur  dann 
einen  Anklagepunkt  gegen  Ovid  bilden,  wenn  es  in  irgend  einen  Zusammenhang  mit  dem 
zweiten  crimen  gebracht  werden  konnte.  Auf  einen  Konnex  der  beiden  crimina  deuten  aber 
die  Worte  des  Dichters  von  seiner  Musa,  die  ihn  allein  gerecht  zu  beurteilen  wisse  (T.  4, 1, 25) : 

scilicet  hoc  ipso  nunc  aequay  quod  obfuit  ante, 
cum  mecum  adiuncti  criminis  acta  rea  est. 

Der  Zusatz  „adiuncti**  besagt,  dass  das  litterarische  crimen  nicht  für  sich  dasteht,  sondern 
mit  dem  zweiten  konkurriert.    Da  er  aber  von  diesem  Gedicht  sagt  (2,212): 

arguor  obscoeni  doctor  aduUerii, 

so  wird  man  das  zweite  crimen  als  ein  ehebrecherisches  Verhältnis  aufzufassen  haben,  und 
weiterhin  statuieren  müssen,  dass  auf  die  Schuldigen  die  Ars  nachweislich  Einfluss  hatte. 
Nur  Hypothese  ist  es,  dass  der  Ehebruch,  den  die  Enkelin  des  Augustus,  Julia,  mit  Silanus 
begangen,  das  Verbrechen  war,  in  das  Ovid  verwickelt  wurde;  allein  diese  Hypothese  wird 
se^  kräftig  durch  die  Thatsache  gestützt,  dass  die  Julia  in  demselben  Jahr  verbannt 
wurde  wie  Ovid  (Tac.  A.  4,  71).  Es  erübrigt  noch,  nachdem  das  crimen  festgestellt,  die 
Schuld  Ovids  zu  bestimmen.  Er  selbst  nennt  sie  einen  error  (T.  2,207  4,10,89  4,1,23), 
eine  stuttitia  (T.  3,  6,  35  1,2, 100),  eine  simplicitas  (T.  1,5,42)  und  weist  die  Auffassung  der- 
selben als  scelus  zurück.  Allein  diese  Allgemeinheiten  führen  nicht  weit.  Mehr  hilft,  dass 
er  durch  seine  Handlungsweise  keinen  Vorteil  erzielt  (T.  3, 6, 33)  und  nichts  gethan  haben 
will,  was  durch  Gesetze  verboten  sei  (P.  2,9,71).  Wir  sehen,  dass  wie  das  crimen,  so 
auch  die  culpa  nur  durch  Hypothese  bestinmit  werden  kann.  Es  ist  dies  folgende:  Ovid 
wurde  wider  Willen  Zeuge  des  ehebrecherischen  Verhältnisses  der  Julia;  hier  war  noch 
keine  Schuld  gegeben,  diese  trat  erst  ein,  als  Ovid  dasselbe  nicht  hinderte,  sondern  dazu 
schwieg,  vielleicht  dasselbe  sogar  begünstigte.  Die  Furcht  vor  Unannehmlichkeiten  mag 
mitbestinmiend  gewesen  sein;  und  wirklich  spricht  er  neben  dem  error,  der  ihn  zu  Falle 
gebracht,  auch  von  dem  timor  (P.2,2,17  T.4,3,39). 

Litteratur:  Die  Hypothesen  über  den  Gegenstand  sind  sehr  zahlreich.  Von  den 
jüngsten  Bearbeitern-  verständig  Apfel,  Quibus  de  causis  Ov,  ah  Augusto  relegatus  sit, 
Berl.  1872;  völlig  verfehlt  Schobkanv,  Phil.  41, 171  und  Hubeb,  Die  Ursachen  der  Ver- 
bannung des  0.,  Regensb.  1888.  (Willkürlich  Ellis,  Ibis  p.  XXVIII  Isidos  sacra  Ovidium 
violasse  existimo,  ita  tamen  iä  cum  infamia  id  Caesarum  coniunctum  fuerit.) 

Ovids  Todesjahr.  Hieronymus  (2, 147  Seh.)  setzt  den  Tod  Ovids  in  das  Jahr  17  n.  Ch. 
Nach  der  Anspielung  der  Fasti  1, 223—226  auf  den  im  Oktober  17  n.  Ch.  geweihten  Janus- 
tempel  muss  man  aber  vermuten,  dass  Ovid  noch  Frühjahr  18  n.  Ch.  erlebte;  denn  vor 
dieser  Zeit  konnte  die  Nachricht  von  jener  Einweihung  kaum  in  Tomi  angelangt  sein 
(Mbbkel,  Fasti  p.  CCLXVU;  Matthias,  Fleckeis.  Jahrb.  129,213). 

292.  Entwicklung  der  Ovidischen  Dichtung.  Die  dichterische  Thä- 
tigkeit  Ovids  beginnt  etwa  mit  seinem  zwanzigsten  Lebensjahre  und  währte 

Haudbncfa  der  klaw.  AUcrtuoMwiiBcnflcfaaft.    VIIL    2.  Teil.  9 


130    Komische  Lüteratnrgesohichte.    IL  IHe  Zeit  der  Monarchie.    1  Abteilimg. 

bis  zu  seinem  Tode,  urafasste  sonach  einen  Zeitraum  von  ungefähr  vierzig 
Jahren.  Ovid  fand  den  Weg  zur  Poesie  von  der  Rhetbrschule  aus,  und 
in  der  Manier  der  Schule  schrieb  er  Liebeselegien,  deren  Mittelpunkt 
Corinna  war,  und  Liebesbriefe,  welche  mythische  Frauen  an  ihre  abwesen- 
den Geliebten  richteten.  Eine  höhere  Stufe  erklomm  der  Dichter,  indem  er 
zur  leichten  didaktischen  Behandlung  der  Liebe  fortschritt.  Nachdem  so 
dieses  Gebiet  nach  allen  Seiten  durchfurcht  war,  lenkte  er  in  Oberaus  glück- 
licher Weise  seine  Blicke  auf  die  Sagenwelt  und  zwar  sowohl  auf  die 
griechische  als  die  heimische;  aus  jener  schöpfte  er  die  Mythen,  welche 
mit  Verwandlungen  der  handelnden  Personen  enden,  aus  dieser  die  Er- 
zählungen von  Festen  und  religiösen  Gebräuchen,  wie  sie  sich  an  den 
Kalender  anschliessen.  Es  war  der  Höhepunkt  in  seinem  dichterischen 
Schaffen.  Die  Verbannung  nach  Tomi  brachte  den  Verfall;  des  gebrochenen 
Dichters  Muse  geht  fast  ganz  in  dem  eintönigen  Klagelied  auf.  Es  heben 
sich  also  drei  Perioden  in  den  Ovidischen  Dichtungen  ab,  sowohl  dem  Stoff 
als  der  Zeit  nach;  die  erste  Periode  umfasst  die  Liebespoesien,  die 
zweite  die  Sagengedichte,  die  dritte  die  Dichtungen  von  Tomi.  Der 
Glanzpunkt  seiner  Werke  sind  die  „ Liebeskunst "  und  die  , Verwandlungen"; 
dort  bewundern  wir  das  geniale  Spiel  mit  dem  Stoff,  hier  die  wundervolle 
Anschaulichkeit  und  Anmut  der  Erzählung. 

o)  Erste  Periode  der  Ovidischen  Dichtung:   Die  Liebespoesien. 

293.  Chronologie  der  Liebespoesien.  Ovids  Liebespoesien  sind: 
1)  die  erotischen  Elegien  (Amores);  2)  die  Liebesbriefe  (Heroides);  3)  die 
Verschönerungsmittel  (De  medicamine  faciei);  4)  die  Liebeskunst  (Ars  ama- 
toria);  5)  die  Heilmittel  der  Liebe  (Remedia  amoris).  Über  die  chrono- 
logische Reihenfolge  erhalten  wir  aus  Ovid  folgende  allgemeine  Aufschlüsse. 
Der  Ars  gingen  voraus  die  Amores  und  die  Heroides,  denn  es  wird  in 
derselben  auf  diese  Werke  als  publizierte  hingezeigt  (3,  343).  Ebenso  lag 
auch  vor  der  Ars  „De  medicamine''  dem  Publikum  vor,  da  die  Ars  3,  205 
die  Frauen  zur  Lektüre  des  Schriftchens  auffordert.  Dagegen  sind  nach 
der  Ars  die  Remedia  geschrieben  (71),  wenn  auch  nicht  unmittelbar  nach 
derselben,  da  der  Dichter  bereits  von  der  Aufnahme  spricht,  welche  die 
Ars  beim  Publikum  gefunden  (361).  Schwieriger  ist  die  Frage  über  das 
chronologische  Verhältnis  der  Amores  und  Heroides  zu  einander.  Die 
Heroides  werden  Am.  2, 18, 21  erwähnt;  eine  Ausgabe  derselben  musste 
damals  bereits  publiziert  sein,  denn  sonst  hätte  Sabinus  nicht  den  Versuch 
machen  können,  Antworten  auf  die  Briefe  der  Frauen  zu  verfassen.  Sonach 
müssten  wir  den  Heroides  die  Priorität  vor  den  Amores  einräumen.  Allein 
dem  widersprechen  die  Worte  (T.4, 10, 57,  vgl.  Am.  3, 12, 16): 

carmina  cum  primum  poptdo  iuvenilia  legi, 

barba  resecta  mihi  bisve  semelve  fuit. 
moverat  ingenium  totam  carUata  per  urbem 

nomine  non  vero  dicta  Chrinna  mihi. 

Diese  Verse  besagen,  dass  Ovid  zuerst  durch  Corinnalieder  in  Rom  als 
Dichter  bekannt  wurde  und  dass  dieser  Ruhm  seinen  Geist  zu  weiteren 
Versuchen  anregte,  mit  denen  er  dann  selbst  vor  das  Publikum  trat.   Dass 


Ovids  Liebeapoesien.  131 

aber  diese  Versuche  das  Feld  weiter  pflegten,  auf  dem  er  Anerkennung 
fand,  ist  höchst  wahrscheinlich.  Da  nun  die  Corinnalieder  den  Mittelpunkt 
der  Amores  bilden,  so  müssten  sie  demnach  das  erste  Werk  Ovids  sein. 
Die  beiden  miteinander  in  Disharmonie  stehenden  Ergebnisse  finden  ihre 
Ausgleichung  durch  die  Angabe  des  Dichters,  dass  die  Amores  in  zwei 
Ausgaben  erschienen,  die  erste  in  fünf,  die  zweite  in  drei  Büchern.  Führt 
auch  diese  Angabe  zunächst  darauf,  dass  in  der  zweiten  Auflage  der  Amores 
eine  grössere  Anzahl  von  Elegien  ausgeschieden  worden,  so  schliesst  sie 
doch  nicht  aus,  dass  in  der  neuen  Ausgabe  das  eine  oder  das  andere  Ge* 
dicht  hinzukam,  und  gerade  von  der  Elegie  2, 18  ist  dies  sehr  wahrschein^ 
lieh,  da  sie  neben  den  Heroides  noch  die  Ars  nennen.  Ist  diese  Vermutung 
richtig,  so  können  die  Heroides  zwischen  der  ersten  und  zweiten  Ausgabe 
der  Amores  in  die  Öffentlichkeit  gekommen  sein. 

Nach  dieser  allgemeinen  chronologischen  Fixierung  wenden  wir  uns 
zu  den  Einzeldata.  Der  Anfang  der  Corinnalieder  ist  nach  der  obigen 
Stelle  etwa  ins  Jahr  22  v.  Gh.  zu  setzen.  Das  früheste  Ereignis,  das  wir 
in  den  Amores  eruieren  können,  ist  der  Tod  TibuUs  im  Jahre  19  v.  Gh. 
(3,  9).  Das  jüngste  Ereignis,  das  erwähnt  wird,  ist  der  Sieg  des  Augustus 
über  die  Sigambrer  im  Jahre  15  v.  Gh.  (1,14,45).  In  der  Ars  finden  sich 
zwei  Zeitanspielungen  im  ersten  Buch,  einmal  (1, 171)  gedenkt  der  Dichter 
der  Naumachie,  welche  eben  (modo)  Augustus  zur  Einweihung  des  Mars-» 
tempels  gegeben  (Vell.  2, 100),  dann  des  zum  Feldzug  gegen  die  Parther 
abziehenden  (1,  203)  Gaius  Caesar;  das  erstere  geschah  Ende  2  v.  Gh.,  das 
zweite  1  v.  Ch.^  Da  die  Remedia  noch  nicht  die  Besiegung  der  Parther 
und  den  im  Jahre  1  nach  Gh.  zu  stände  gekonmienen  Friedensschluss  zur 
Voraussetzung  haben,  so  müssen  die  Ars  und  die  Remedia  also  vor  diese 
Zeit  fallen.  Wir  hätten  sonach  für  beide  Werke  das  Intervallum  1  v.  Gh. 
bis  1  n.  Gh.  Allein  es  darf  hierbei  nicht  übersehen  werden,  dass  dor 
Dichter  schon  länger  vorher  an  der  Ars  gearbeitet  haben  mochte,  denn 
die  Partie,  in  der  jene  Zeitandeutungen  vorkommen,  konnte,  wie  schon  das 
lockere  Gefüge  zeigt,  erst  bei  der  Herausgabe  des  ersten  Buchs  hinzu- 
gefügt worden  sein. 

Vgl.  Hettwes,  De  tempore  quo  Ovidii  Amores  Myoides  Ars  am.  conscripta  cUque  edita 
sitU,  Mttnster  1883,  der  die  Frage  nicht  gefördert  hat. 

294.  Liebeselegien  (Amores).  Es  sind  drei  Bücher,  ursprünglich 
waren  es  nach  dem  vorausgeschickten  Epigramm  fünf.  Die  Sammlung 
liegt  also  in  einer  zweiten  Ausgabe  vor.  Fast  alle  Stücke  bewegen  sich 
in  dem  Stoff,  den  der  Titel  ankündigt.  Unter  den  wenigen,  welche  aus 
dem  Rahmen  heraustreten,  sind  die  hervorragendsten  die  bekannte  Elegie 
auf  den  Tod  Tibulls  (3, 9)  und  die  Schilderung  eines  Festzuges  zu  Ehi'en 
der  Juno  (3, 13),  ein  Vorläufer  des  poetischen  Festkalenders.  Die  Liebes- 
lieder gruppieren  sich  zu  einem  grossen  Teil  um  die  Geliebte  „Corinna*. 
Wer  ist  unter  der  Hülle  dieses  Namens  verborgen?  Wir  wissen,  wer  die 
Lesbia  des  Gatull,  die  Delia  des  TibuU,  die  Gynthia  des  Properz  war;  da- 
gegen wer  die  Corinna  gewesen,  erfahren  wir  nirgends.    Selbst  zu  des 


»)  Petkr,  Gesch.  Roms  3, 76. 


132     Römisohe  LitteratargeBohichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

Dichters  Zeiten  fragte  man  neugierig  nach  derselben  (Ars  3, 538),  man 
scheint  es  nicht  erfahren  zu  haben,  wohl  aber  will  der  Dichter  gehört 
haben,  dass  die  eine  oder  die  andere  sich  falschlich  für  die  Corinna  aus- 
gab (2,  17).  Diese  Corinna  existierte  nur  in  dem  Geiste  des  Dichters; 
er  brauchte  sie,  um  seine  Phantasiestücke  zu  individualisieren.  Es  klang 
doch  ganz  anders,  wenn  er  sagte  „Corinna  ist  mein"  (2, 12),  als  wenn  es 
bloss  hiess  „Ich  liebe **,  und  dann  der  Siegeszug  Amors  nachfolgte  (1,  2). 
So  muss  Corinna  die  Figur  fQr  eine  Reihe  erdichteter  Situationen  machen, 
der  Dichter  lässt  ein  Billet  doux  an  sie  gelangen  (1,11),  die  Antwort  der- 
selben lautet  zu  seiner  grossen  Betrübnis  auf  ein  Nein  (1, 12),  sie  spielt  die 
Spröde  (2, 17),  ihr  Papagei  ist  gestorben  (2,  6),  sie  tritt  eine  Seereise  an 
(2, 11),  sie  ist  krank  (2, 13).  Keines  dieser  Lieder  verrät  eine  tiefere 
Empfindung,  aus  keinem  leuchtet  der  Sonnenstrahl  lebendiger  Liebe,  es 
sind  leichte  Spiele  der  Phantasie.  Noch  mehr  wird  das  Gemachte  dieser 
Poesien  offenbar,  wenn  sie  von  der  Corinna  absehen  und  sich  allgemein 
halten.  Hier  begegnen  uns  förmliche  an  die  Rhetorschule  erinnernde 
Übungen.  Da  wird  das  Thema  „Die  Liebe  ist  ein  Kriegsdienst **  (1, 9)  mit 
Heiterkeit  durchgeführt,  ein  andermal  ist  es  die  allzufrüh,  besonders  für 
die  Liebenden,  erscheinende  Aurora,  die  von  dem  Dichter  gescholt.en  wird 
(1,13),  ja  sogar  das  den  Hetären  zu  verabreichende  Sündengeld  wird  mit 
scheinbarem  Ernst  als  eine  ganz  verwerfliche  Einrichtung  gegeisselt  (1, 10). 
Auch  wo  individuelle  Situationen  zu  Grunde  zu  liegen  scheinen,  schaut  das 
Thema  aus  den  Dekorationen  hervor,  wie  in  3,  8  „Das  Geld  regiert  auch 
in  der  Liebe**  oder  in  2,19  „Nur  die  verbotene  Liebe  ist  süss".  Manche 
Elegien  fallen  geradezu  in  einen  lehrhaften  Ton,  geben  z.  B.  Anleitungen, 
wie  das  Mädchen  vorteilhaft  seine  Schönheit  ausnützen  soll  (1, 8),  wie 
sich  die  verheiratete  Frau  beim  Mahl  Mann  und  Buhlen  gegenüber  zu 
verhalten  hat  (1, 4),  oder  reden  eindringlich  den  Thürhütern  und  Eunuchen 
zu,  doch  ein  Einsehen  zu  haben  und  ein  Auge  zuzudrücken  (2, 3  3, 4),  be- 
reiten sonach  schon  die  „Liebeskunst**  vor.  Alle  diese  Dinge  werden  mit 
spielender  Leichtigkeit  behandelt.  Das  Mythologische,  auf  das  die  antike 
Elegie  nicht  verzichten  will,  wird  sparsam  eingestreut,  nur  zweimal,  3, 12 
und  3, 6  alexandrinische  Gelehrsamkeit  ausgeschüttet.  Abstossend  auf  den 
modernen  Leser  wirkt  die  grosse  Frivolität,  welche  sich  in  diesen  Dich- 
tungen unverhüllt  hervorwagt.  Eine  Kleinigkeit  ist  es,  dass  er  schildert, 
wie  er  die  Holde  geschlagen,  denn  er  braucht  diese  Scene,  um  ein  Bild 
der  von  Schreck  über  die  Unbill  Betroffenen  (1,7)  zu  entwerfen;  allein  er 
führt  uns  auch  an  das  Bett  der  durch  eine  schimpfliche  That  an  ihrem 
Leibe  darniederliegenden  Corinna  (2, 13),  er  geht  noch  weiter,  er  malt  uns 
eine  Scene,  dass  wir  uns  mit  Abscheu  abwenden  (1,  5),  endlich  bietet  er 
uns  etwas  so  schmutziges,  dass  es  der  Übersetzer  mit  Stillschweigen  über- 
gehen muss  (3,  7).  Unser  Groll  löst  sich  aber  fast  in  Heiterkeit  auf,  wenn 
wir  zu  unserer  Überraschung  entdecken,  dass  gerade  das  imsauberste  dieser 
Gedichte,  das  letzte,  kein  Erlebnis  darstellt,  sondern  eine  Bearbeitung 
eines  Gedichtes  des  Philodemus  von  Gadara  ist,  nur  dass,  was  der  Grieche 
zart  andeutet,  hier  von  aller  Umhüllung  frei  auftritt,  und  die  wenigen 
Linien   des   Griechen    durch    grobe  Pinselstriche   zu   einem   vollen   Bilde 


(MdB  LiebeapoeBien.  133 

umgestaltet  werden'.)  Schon  dieses  eine  Beispiel  reicht  hin,  um  uns  vor 
dem  Glauben  zu  bewahren,  dass  bei  Ovid  ein  Band  zwischen  Leben  und 
Dichtung  bestünde.  Es  ist  blosser  Mutwillen,  wenn  er  in  alle  verliebt  sein 
will;  es  ist  das  nur  die  Einkleidung  des  glänzenden  Frauenspiegels,  den 
er  entwirft  (2, 4) ;  es  ist  harmloser  Scherz,  den  er  mit  seinem  Freund  Grae- 
cinus  treibt,  wenn  er  frohlockt,  dass  er  es  fertig  gebracht,  zu  gleicher  Zeit 
zwei  zu  lieben  (2,10);  es  ist  endlich  nur  ein  Kunstmittel,  wenn  er,  ein 
Vorgänger  Heines,  absichtliche  Dissonanzen  schafft  und  die  eine  Empfin- 
dung durch  die  entgegengesetzte  aufhebt.  Nur  um  des  Effektes  willen 
ruft  er  erst  in  heissem  Flehen  zu  Amor  „  Genug  *",  im  nächsten  Moment 
»Nur  zu*  (2,9),  droht  der  Untreuen  und  schilt  sie,  um  sofort  wieder  in  ihre 
Arme  zu  sinken  (2, 5),  leugnet  in  der  einen  Elegie  seine  Intimität  mit  der 
Zofe  ab,  die  er  in  der  darauffolgenden  zu  einem  süssen  Stelldichein  ein- 
ladet (2,  7  und  8).  Doch  auch  in  diese  Dämmerwelt  bricht  hie  und  da  das 
Licht  herein  und  das  eine  oder  das  andere  Gedicht  ist  von  dem  Gold- 
schimmer der  reinen  Empfindung  umwoben;  in  dem  dritten  Lied  des  ersten 
Buchs  klingt  etwas  wie  von  Liebesjubel  und  Liebesandacht  durch,  nur  dass 
die  mythologische  Anspielung  schrill  dazwischen  fahrt,  aus  dem  andern 
(2, 16)  hören  wir  die  uns  vertraut  gewordenen  Klänge  „Ich  will  dir  folgen 
durch  Wälder  und  Meer,  durch  Eis,  durch  Eisen,  durch  feindliches  Heer*". 
Allein  es  sind  Ausnahmen.  Nach  der  Rhetorstube  Kunstgriffen  und  Blend- 
werken schmecken  diese  Erzeugnisse,  nicht  spiegeln  sie  wie  die  unvergleich- 
lichen Lieder  CatuUs  des  Herzens  auf-  und  abwogende  Stimmungen,  man 
suche  daher  hier  nicht  das  wahre  Lebensbild,  es  findet  sich  dort  nur  das 
Bild  des  Lebensbildes. 

295.  Die  Heroides.  —  Die  Stoffe,  die  von  dem  Dichter  in  diesen 
Briefen  behandelt  werden,  sind  folgende: 

1)  Penelope  an  Ulixes.  Troja  ist  längst  genommen;  du  aber  bist 
noch  nicht  zurückgekehrt;  ich  bin  in  einer  bejammernswerten  Lage;  mein 
Vater  drängt  mich  zu  neuer  Ehe;  ich  werde  von  Freiern  umringt,  die 
schamlos  unser  Gut  vergeuden;  komme  doch.    Dies  der  Inhalt  des  Briefs. 

2)  Phyllis  an  Demophon.  Der  Sohn  des  Theseus  Demophon  war 
nach  langen  Irrfahrten  von  der  Königstochter  Phyllis  in  Thracien  freund- 
lich aufgenommen  worden  und  in  engeren  Verkehr  mit  ihr  getreten.  Bei 
seiner  Abreise  in  die  Heimat  hatte  er  versprochen  bald  wieder  zu  kommen, 
allein  sein  Versprechen  nicht  gehalten.  Phyllis  ergeht  sich  in  sehnsüch- 
tigen Klagen  und  droht  mit  Selbstmord. 

3)  Briseis  an  Achilles.  Die  von  Agamemnon  dem  Achilles  ent- 
rissene BriseYs  beklagt  sich  in  dem  Brief,  dass  Achilles  noch  immer  nicht 
seinem  Zorn  entsage  und  so  beweise,  dass  er  auf  ihre  Wiedergewinnung, 
welche  durch  Agamemnons  Vorschläge  ermöglicht  werde,  keinen  Wert 
lege,  sie  erwähnt  des  Gerüchts,  dass  er  ohne  sie  in  seine  Heimat  zurück- 
kehren wolle,  in  feierlichem  Schwur  versichert  sie,  dass  sie  der  Atride 
nicht  berührt  habe. 


*)  Kaibbl,  Philod,  Gad,  epigr.,  Greifew.  1885  p.  XXI. 


.134    Bömisohe  litteratargesohiohte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilong. 

4)  Phaedra  an  Hippolytus.  Phaedra  gesteht  ihrem  Stiefsohn 
schriftlich  ihre  Liebe,  da  ihr  zu  einer  mündlichen  Erklärung  der  Mut  ge- 
bricht. Der  Brief  entwickelt  sehr  bedenkliche  Grundsätze  der  Moralität 
z.  B.  Juppiter  esse  pium  statuU,  quodcumque  iuvaret  (133). 

5)  Oenone  an  Paris.  Als  Paris  noch  Hirte  und  nicht  als  Sohn  des 
Priamus  erkannt  war,  lebte  er  in  trautem,  glücklichem  Umgang  mit  der 
Nymphe  Oenone.  Dieses  Glück,  das  der  Eingang  des  Briefs  ausmalt,  wird 
durch  das  bekannte  Schiedsgericht  zerstört.  Paris  segelt  ab  und  kehrt 
mit  der  Helena  zurück.  In  ihrer  Verzweiflung  schreibt  die  Nymphe  an 
den  ehemaligen  Geliebten,  um  ihm  die  Buhlerin  in  wahrem  Lichte  darzu- 
stellen. 

6)  Hypsipyle  an  Jason.  Hypsipyle,  die  Tochter  des  Königs  Thoas 
von  Lemnos,  hatte,  als  die  Frauen  von  Lemnos  sämtliche  Männer  ermor- 
deten, ihren  Vater  dem  Verderben  entzogen  und  verborgen.  Sie  regierte 
als  Königin  die  Insel.  Da  landeten  die  Argonauten  auf  ihrem  Zug  nach 
dem  goldenen  Vliess  und  traten  mit  den  Frauen  in  Verkehr.  Jason  hatte 
sich  Hypsipyle  erwählt.  Mehrere  Jahre  blieben  die  Argonauten  auf  der 
Insel.  Geraume  Zeit  nach  der  Abfahrt  vernahm  Hypsipyle,  welche  dem 
Jason  während  seiner  Abwesenheit  Zwillinge  geboren,  dass  dieser  mit  Medea 
nach  Thessalien  zurückgekehrt  sei.  Sie  ruft  ihm  daher  in  dem  Schreiben 
seine  Treulosigkeit  ins  Gedächtnis,  stellt  sich  der  Giftmischerin  gegenüber 
und  bricht  zum  Schluss  in  heftige  Verwünschungen  gegen  Medea  aus. 

7)  Dido  an  Aeneas.  Die  Situation  ist:  Aeneas  ist  im  Begriff, 
Carthago  zu  verlassen.  Obwohl  Dido  wenig  Hoffnung  hat,  ihn  zurück- 
zuhalten, so  will  sie  doch  nochmals  alle  Gründe  vorbringen,  welche  ihn 
zum  Bleiben  bewegen  können.  Wenigstens  bittet  sie  um  Aufschub  der 
Abreise.  Wenn  auch  diese  Bitte  kein  Gehör  finden  sollte,  so  ist  sie  ent- 
schlossen, sich  mit  dem  troischen  Schwerte  zu  töten. 

8)  Hermione  an  Orestes.  Hermione,  die  Tochter  des  Menelaus 
und  der  Helena  war  in  der  Abwesenheit  des  Vaters  von  ihrem  Grossvater 
mit  Orestes  vermählt  worden.  Menelaus  hatte  sie  dagegen  in  Unkenntnis 
dieses  Vorgangs  dem  Neoptolemus  versprochen.  Dieser  hielt  sich  an  das 
gegebene  Versprechen  und  führte  Hermione  mit  Gewalt  hinweg.  In  ihrer 
verzweifelten  Lage  wendet  sich  Hermione  an  ihren  Gatten  Orestes  und 
bittet  um  Befreiung. 

9)  Deianira  an  Hercules.  Die  Gattin  des  Hercules  beklagt  sich 
über  die  Untreue  ihres  Gemahls  und  seine  neue  Liebe  zur  Jole.  Sie  malt 
besonders  seine  schimpfliche,  weibische  Knechtschaft  unter  Omphale  aus. 
Doch  darüber  hatte  sie  nur  durch  Erzählungen  Kunde'  erhalten;  jetzt  aber 
sieht  sie  mit  eigenen  Augen  das  schmachvolle  Treiben  des  Gatten,  Jole 
erscheint  ihr  als  Siegesbeute  von  Oechalia.  Mitten  im  Schreiben  kommt 
ihr  die  Kunde,  dass  Hercules  an  dem  Gewand,  das  sie  ihm  zugeschickt, 
zu  Grunde  gehe.  Sie  hatte  dasselbe  mit  dem  Gift  bestrichen,  das  ihr  einst 
der  Kentaur  Nessus  als  ein  Mittel,  die  erstorbene  Liebe  des  Gatten  wieder 
anzufachen,  überreicht  hatte.  Sie  erkennt  jetzt  zu  spät,  dass  sie  der 
Kentaur  getäuscht  und  beschliesst,  in  den  Tod  zu  gehen. 


OTidB  Liebespoeaien.  135 

10)  Ariadne  an  Theseus.  Die  auf  einer  Insel  von  Theseus  zurück- 
gelassene Ariadne  schildert  ihre  hilflose  Lage. 

11)  Ganace  an  Macareus.  Diese  Kinder  des  Aeolus  entbrannten 
in  unnatürlicher  Liebe  zu  einander.  Es  blieben  die  Folgen  nicht  aus;  da- 
durch kam  das  Verbrechen  zur  Kenntnis  des  Vaters.  Aeolus  lässt  das  Kind 
aussetzen  und  schickt  der  Ganace  ein  Schwert,  damit  sie  sich  selbst  töte. 
Ehe  sie  in  den  Tod  geht,  richtet  sie  einen  Abschiedsbrief  an  den  Bruder. 

12)  Medea  an  Jason.  Medea  war  von  Jason  aus  dem  Hause  ge- 
wiesen worden;  als  sie  dasselbe  mit  ihren  zwei  Kindern  verlassen,  drang 
Hochzeitsgesang  zu  ihren  Ohren.  Sie  musste  von  einem  ihrer  Kinder  ver- 
nehmen, dass  dieser  der  Vermählung  Jasons  mit  GrSusa  gilt.  In  leiden- 
schaftlicher Stimmung  schildert  sie,  was  sie  alles  um  des  geliebten  Mannes 
willen  gethan  und  erduldet,  und  fleht  um  Erbarmen,  doch  sieht  man  am 
Schluss  das  RachegefUhl  bereits  lodern. 

13)  Laodamia  an  Protesilaus.  Laodamia  schreibt  an  ihren  Ge- 
mahl Protesilaus,  der  mit  dem  Griechenheer  gegen  Troja  gezogen  ist,  das, 
wie  sie  vernommen,  durch  widrige  Winde  in  Aulis  zurückgehalten  wurde. 
Sie  schildert  den  herben  Schmerz  des  Abschieds,  gibt  ihren  bangen  Sorgen 
Ausdruck  und  bittet  ihn,  sein  Leben  zu  schonen.  Am  Schluss  erwähnt 
sie  auch  die  Wachsfigur,  die  sie  sich  nach  dem  Bilde  des  Protesilaus  ge- 
macht, um  mit  ihr  der  Liebe  zu  pflegen. 

14)  Hypermnestra  an  Lynceus.  Danaos  hatte  seinen  Töchtern 
befohlen,  ihre  Männer,  die  Söhne  seines  Bruders  Ägjrptos,  der  ihn  ver- 
trieben, in  der  Brautnacht  zu  ermorden.  Alle  gehorchten  dem  Befehl  mit 
Ausnahme  der  Hypermnestra,  welche  deshalb  von  ihrem  Vater  eingekerkert 
ward.  In  eindringlicher  Weise  erzählt  sie  in  dem  Briefe,  wie  ihr  beim 
Versuch,  den  Gatten  zu  töten,  die  Kraft  gebrochen.  Sie  bittet  den  ent- 
flohenen Lynceus  um  Hilfe  oder  wenigstens  um  eine  dankbare  Grabschrift. 

15)  Sappho  an  Phaon.  Der  geliebte  Phaon  hat  sich,  ohne  Abschied 
zu  nehmen,  nach  Sicilien  begeben.  Sappho  klagt  ihm  ihr  Liebesleid,  flicht 
ihre  Familienverhältnisse  ein  und  gedenkt  des  ihr  von  einer  Nymphe  an- 
geratenen Sprungs  vom  leucadischen  Felsen,  welcher  ihre  Leidenschaft  in 
die  Brust  Phaons  überleiten  soll. 

Echtheit  des  Sapphobriefs.  Die  eigentümliche  handschriftliche  Überlieferung 
war  es,  welche  zuerst  Zweifel  an  der  Echtheit  des  Briefs  erregte.  Die  Epistel  fehlt  in  den 
ältesten  Handschriften  der  Heroides,  in  den  jQngeren  steht  sie  entweder  vor  den  flbrigen 
Briefen  oder  nach  denselben;  man  findet  sie  auch  mit  andern  Ovidischen  Schriften  oder 
mit  anderen  Autoren  vereinigt.    Den  Namen  „Ovid*  trägt  sie  nur  in  einigen  Codices  des 

15.  Jahrh.  In  der  That  eine  schlechte  Beglaubigung.  Allein  dieselbe  wurde  wesentlich 
verbessert  durch  die  Exzerpte  der  zwei  Pariser  Codices  17903  s.  XIII  \md  7647  s.  XIII, 
welche  Auszüge  aus  unserm  Brief  geben,  und  zwar  zwischen  Auszügen  aus  dem  14.  und 

16.  Brief.  Die  Zusammenstellung  der  Exzerpte  wird  in  das  9.  oder  10.  Jahrh.  verlegt. 
Sonach  steht  fest,  dass  es  eine  alte  Überlieferung  gab,  in  welcher  der  Brief  der 
Sappho  in  dem  Corpus  der  Heroides  an  15.  Stelle  stand.  Damit  ist  aber  die 
Annahme,  der  Brief  könne  in  der  Humanistenzeit  verfaast  sein,  bereits  hinfällig  geworden. 
Nun  steht  durch  eigenes  Zeugnis  Ovids  (Am.  2, 18,  26)  fest,  dass  er  einen  Brief  der  Sappho 
schrieb.  Auch  das  scheint  dem  Zweifel  entrückt  zu  sein,  dass  der  Hinweis  auf  unsere 
Epistel,  den  Ovid  selbst  gibt,  nicht  mit  derselben  in  Widersnruch  steht.  Sappho  will  sich 
vom  leukadischen  Felsen  herabstürzen,  damit  sie  ihrer  Liebe  los  werde  und  diese  in  Phaon 
übergehe.    Sie  macht  für  den  Fall  des  Gelingens  des  Sprungs  ein  Gelöbnis  (181): 

inde  chelyn  Phoeho,  communia  munera,  ponam. 


186     Komische  Litteratargeschiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monarohie.    1.  Abteilnng. 

Ein  von  Sabinns  verfasstes  Antwortsclireiben  Phaons  läast  den  Wunsch  der  Sappho  erffiUt 
sein  und  sie  ihr  Gelöbnis  vollziehen  (Am.  2, 18,34): 

det  voiam  Phoebo  Leshia  amata  lyram. 
Das  Partizipium  amata  drückt  aber  die  Folge  des  Sprunges  vom  leukadischen  Felsen  aus. 
Die  unversehrt  gebliebene  Sappho  ist  von  ihrer  Liebe  geheilt,  Phaon  dagegen  verliebt. 
Sie  kann  daher  das  Gelobte  vollbringen. 

Es  könnten  also  nur  noch  innere  Grfinde  sein,  welche  uns  zwingen,  die  Autorschaft 
Ovids  aufzugeben  und  zur  Annahme  zu  schreiten,  dass  an  Stelle  des  echten  Briefs  ein 
unechter  getreten  sei.  Auf  einen  solchen  hat  LACHiCAim  hingewiesen;  die  139  erwähnte 
furialis  Erichtho  soll  aus  Lucan  6,508  entlehnt  sein;  demnach  könne  das  Gedicht  erst 
nach  der  Zeit  Neros  entstanden  sein.  Allein  die  dort  auftretende  Erichtho  ist  eine  thes- 
salische  Zauberin  und  Totenbeschwörerin,  von  der  unsrigen,  einer  Furie,  verschieden.  Die 
Erichtho  war  bereits  vor  Lucan  bekannt,  dies  beweist  die  Würzburger  Phineusschale,  in 
der  eine  Frau,  welche  als  Erichtho  bezeichnet  wird,  dem  blinden  Phineus  zur  Seite  steht. 
Hier  haben  wir  wieder  ein  ganz  anderes  Wesen  vor  uns  (Dtjhk  in  der  Heidelb.  Festschr. 
1882  p.  122);  Erichtho  muss  daher  in  der  Sage  verschiedene  Entwicklungen  durchgemacht 
haben,  sie  ist  aus  einem  Meereswesen  zur  bösen  Frau  geworden.  Eine  Abhängigkeit  unserer 
Epistel  von  Lucan  ist  damit  ausgeschlossen.  Es  bleiben  noch  einige  metrische  Anstösse: 
die  Wiederholung  desselben  Satzes  in  den  beiden  Hälften  des  Pentameters  Vers  40,  eine 
Elision  Vers  96,  die  metrische  Gestaltung  von  Vers  113,  allein  wenn  man  die  schlechte 
Überlieferung  des  Stücks  in  Rechnung  zieht,  wird  man  hier  lieber  Sünden  der  Abschreiber 
annehmen  als  Unechtheit  des  ganzen  Gedichts. 

Geschichte  der  Frage:  Brennend  wurde  die  Frage  durch  die  Abhandlung 
ScHNEiDEWiNs,  der  Rh.  Mus.  2, 138  (1843)  den  Brief  als  ein  Werk  der  Humanistenzeit  hin- 
stellte, diese  völlig  unhaltbare  Ansicht  jedoch  angesichts  der  Pariser  Exzerpte  selbst  zurück- 
zog (3, 144).  Gegen  denselben  richtete  einige  Bemerkungen  Welckbb,  Kl.  Sehr.  2, 116  (1845). 
Allein  das  kurze  Yerdammungsurteil,  welches  Lachxakn  1848  (El.  Sehr.  p.  57)  über  den 
Brief  aussprach,  lag  wie  ein  Bann  auf  demselben.  Erst  1876  suchte  Gokpabetti,  suüa 
epistola  Ovidiana  etc,  (Pubblic.  dell  Inst,  di  studi  superiori  vol.  2  n.  1)  denselben  zu  brechen, 
ihm  schlössen  sich  an  BXhreks,  Riv.  di  filoL  13  (1884)  p.  49,  der  Holländer  de  Vries, 
Epistula  Sapphu8  ad  Phaonem,  Leyden  1885  (Berl.  1888),  der  mit  der  Untersuchung  eine 
Ausgabe  mit  reichem,  aber  wenig  gesichtetem  kritischem  Apparat  verband,  der  Rumäne 
Barbu,  De  Sapphua  Episttda,  Berl.  1887.  Trotz  dieser  Verteidigungen  ist  noch  immer  der 
Glaube  an  die  Unechtheit  der  herrschende,  vgl.  Teuffel-Sohwabe,  R.  L.  §  248;  Ribbeck, 
Rom.  Dicht.  2, 260;  Birt,  Rh.  Mus.  32  (1877)  p.  388, 2  p.  340,  dessen  Bedenken  Bodenstein, 
Studien  zu  Ov.  Her.,  Merseburg  1882  zu  widerlegen  sucht  (p.  13),  ohne  jedoch  selbst  von 
Hin-  und  Herschwanken  loszukommen. 

16)  Paris  an  Helena.  Paris  weilt  als  Gastfreund  im  Hause  des 
Menelaus  in  Sparta.  Als  der  letztere  nach  Greta  abgereist  war,  richtet 
Paris  einen  Brief  an  Helena,  um  sie  zur  Entscheidung  zu  drängen.  Er 
führt  aus,  nicht  der  Zufall,  sondern  die  Liebe  zu  Helena  habe  ihn  nach 
Sparta  geführt,  sie  sei  ihm  ja  infolge  seines  Schiedsgerichts  von  der  Venus 
zugesprochen  worden.  Er  gibt  eine  Schilderung  von  seinem  Schiedsrichter- 
amt und  reiht  hieran  die  Erzählung  von  seiner  Abfahrt.  In  der  Warnung, 
welche  ihm  hiebei  Gassandra  zurief,  wie  schon  vorher  in  einem  Traum 
seiner  Mutter  vor  seiner  Geburt  erkennt  er  nur  Hinweisungen  des  Schick- 
sals auf  seine  glühende  Liebe.  Der  Anblick  der  Helena  übertrifft  alle 
seine  Erwartungen.  Um  ihre  Gunst  zu  gewinnen,  hebt  er  den  Ruhm  seines 
Geschlechts  und  den  Glanz  Trojas,  der  sie  erwarte,  hervor.  Die  Eifersucht, 
heisst  es  weiter,  verzehre  ihn,  wenn  er  die  Liebkosungen  des  Menelaus 
mitansehen  müsse,  er  müsse  um  jeden  Preis  in  ihren  Besitz  gelangen ;  jetzt 
biete  die  Abwesenheit  ihres  Gatten,  den  er  nebenbei  verhöhnt,  die  günstigste 
Gelegenheit,  zur  That  zu  schreiten;  wegen  der  Folgen,  sei  es  selbst  der 
Krieg,  möge  sie,  wenn  sie  mit  ihm  ziehe,  unbesorgt  sein. 

Echtheit  der  Verse  39—142.  Wir  hahen  in  unserer  Analyse  auch  die  Verse 
39 — 142,  welche  in  der  Ausgabe  von  Merkel  ganz  beseitigt  sind,  herangezogen,  überzeugt, 
dass  dieselben   von  dem  Verf.  des  Briefs  herrühren.    Handschriftliche  Grewähr  fehlt  den- 


Ovida  LiebeBpoeaieii.  137 

Beiben;  in  den  noch  vorhandenen  Handschriften,  wie  in  der  griechischen  Übersetzung  des 
Maximus  Planudes  kommen  sie  nicht  vor;  sie  erschienen  zuerst  in  der  editio  Parmensis 
1477  und  in  der  Yincentina  1480,  welche  im  Registrum  ausdrücklich  bemerken,  dass  jene 
104  Verse  aus  einem  andern  Codex  abgedruckt  wurden.  Allein  trotz  dieser  geringen  Be- 
glaubigung müssen  die  Verse  als  echt  angesehen  werden;  denn  wenn  sie  weggelassen 
werden,  wird  die  Rede  sowohl  in  der  jenen  Versen  nachfolgenden  als-  in  der  ihnen  voraus- 
gehenden  Partie  an  je  einer  Stelle  beziehungslos.    Auf  die  Verse  (37) 

ante  tuos  animo  vidi  quam  lumine  vuUus: 
prima  fuit  miltus  nuntia  fama  tui 
folgen,  wenn  39—142  gestrichen  werden,  unmittelbar 

credis  et  hoc  nohis?  minor  est  tua  gloria  vero, 
famaque  de  forma  paene  maligna  fuit. 
Mit  hoc  wird  auf  „minor  est  tua  gloria  vero**  als  etwas  Unerwartetes,  Ausserordentliches 
hingedeutet.    Die  Konjunktion  et  besagt  aber,  dass  auch  schon  im  Vorausgehenden  etwas 
Ungewöhnliches  vorgebracht  war.    Dies  liegt  aber  nicht  in  den  Worten  prima  fuit  vuUus 
nuntia  forma  tui,  wohl  aber  in  dem  ausgeschiedenen  Text  (v,  189  f.)    Im  Vers  17  heisst  es: 

namque  ego  divino  motu  —  ne  nescia  pecees  — 
advehor,  et  coepto  non  leve  numen  adest. 
Danach  wird  Helena  als  bisher  unwissend  in  Bezug  auf  den  Anlass  von  Paris'  Ankunft  dar- 
gestellt. Auch  der  Eingang  ihrer  Antwort  bestätigt  das.  Allein  wenn  Paris  diese  Un- 
wissenheit entfernen  will,  so  muss  er  auf  sein  Schiedsrichteramt  eingehen,  die  Andeutungen 
in  Vers  20,  35, 163  reichen  keineswegs  aus.  Erst  durch  die  Ergänzung  wird  Helena  völlig 
belehrt.  Es  kommt  hinzu,  dass  in  der  Antwort  der  Helena,  die  sich  an  den  Brief  des 
Paris  genau  anschliesst,  auf  manches  Bezug  genommen  wird,  was  in  der  ausgeschiedenen 
Partie  steht;  so  spielt  z.  B.  Helena  auf  den  Traum  der  Mutter  des  Paris  an  (17,239  =  16,45), 
femer  auf  die  Unheil  verkündende  Weissagung  der  Cas^andra  (wenngleich  übertreibend 
mit  ferunt  17,  241  =  16, 121),  auf  das  Liebesverhältnis  des  Paris  zur  Oenone  (17, 198  = 
16,96),  auf  das  Versprechen  der  Venus  beim  Schiedsgericht  (17, 118  und  126  =  16,85). 
Weder  metrisch  noch  sprachlich  bieten  sich  Anstösse  dar.  Sonach  ist  es  unmöglich, 
diese  Partie  als  eine  Fälschnng  der  Humanistenzeit  anzusehen.  Dagegen  spricht  auch  die 
auffallende  Gleichheit  der  Verse  100  und  101  mit  dem  Epigramm  der  Anthologie  nr.  702 
Reese,  das  nur  in  einer  einzigen  (jetzt  verlorenen  Handschrift)  überliefert  wurde;  die  Be- 
kanntschaft eines  Humanisten  mit  demselben  wäre  sehr  wunderbar.  Vgl.  Birt  p.  840.  — 
Noch  mehr  spricht  dagegen,  dass  sowohl  den  unbestrittenen  als  den  bestrittenen  Teilen 
nachweislich  dieselbe  Quelle,  die  Eyprien  zu  Grunde  liegt,  femer  dass  in  beiden  Teilen 
auch  dieselben  Abweichungen  von  der  Grundfabel  zu  Tage  treten  (Wetzbl  p.  XLI). 

Litteratur:  Nach  dem  Verdammungsurteil,  das  Über  die  Verse  LAOHicAinf  fällte, 
nahmen  sich  derselben  an  Birt,  Gott.  Anz.  1882  p.  841.  Peters,  Observ,  ad  Heroid.  p.  60. 
Wetzel  in  'Em^aXäfAioy,  Göttingen  1890  (als  Manuskript  gedruckt),  der  in  neuer  Weise  das 
Kriterium  in  der  Quellenfrage  sieht.  Sedlmayeb,  der  fiüher  die  Echtheit  der  Verse  fest- 
hielt, gab  später  diese  Ansicht  auf  (Erit.  Komment,  p.  88).  Auch  Ribbeok  scheint  sie  für 
eingeschoben  zu  halten,  da  er  sie  in  seiner  Analyse  des  Briefs  nicht  berücksichtigt  (p.  253). 

17)  Helena  an  Paris.  Ein  interessanter  Brief,  da  er  eine  sehr 
genaue  Kenntnis  des  weiblichen  Herzens  verrät.  Helena  kann  den  schmeich- 
lerischen Worten  des  Paris  nicht  widerstehen,  das  schöne  Weib  ist  stolz 
darauf,  dass  er  sie  den  von  den  zwei  andern  Göttinnen  versprochenen 
Gaben  vorgezogen  habe;  sie  sieht  nicht  ungern  seine  Liebe,  denn  wer 
kann  einem  Liebenden  zürnen?  (37),  allein  sie  vermag  Bedenken  verschie- 
dener Natur  nicht  zu  unterdrücken.  Und  auf  dem  Hin-  und  Herwogen 
von  Wollen  und  Nichtwollen  beruht  der  eigentümliche  Reiz  dieses  Briefs. 
Allein  wenn  die  Schreiberin  sagt,  dass  ihr  Zweifel  über  die  Beständigkeit 
der  Liebe  des  Paris  aufstossen,  so  ist  ein  deutlicher  Fingerzeig  gegeben, 
dass  Helena  unterliegen  wird ;  auf  diesen  Ausgang  bereiten  auch  die  Schluss- 
worte vor,  welche  Fortsetzung  des  heimlichen  Verkehrs  mit  Hilfe  der  Ge- 
sellschafterinnen der  Helena  wünschen. 

18)  Leander  an  Hero.  Ein  schon  sieben  Tage  andauernder  Sturm 
hatte  Leander  in  Abydos  abgehalten,  nach  Sestos  zur  geliebten  Hero  zu 


138    Römische  LitteratnrgeBohiohte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilimg. 

schwimmen.  Er  ist  daher  gezwungen,  durch  einen  Schiffer  einen  Brief 
nach  Sestos  zu  senden.  In  demselben  klagt  er  über  den  Boreas  und  gibt 
ein  anmutiges  Bild  von  seinen  nächtlichen  Wanderungen  zum  Gegenstand 
seiner  Sehnsucht.  Dann  verweilt  er  bei  der  Betrachtung,  dass  er  von 
Hero,  obwohl  so  nahe,  doch  getrennt  sei.  Er  will,  wenn  der  Sturm  noch 
länger  andauert,  doch  versuchen,  hinüberzuschwimmen,  wenn  nur  seine 
Leiche  zu  Hero  gelangt.  Freilich  besser  ist  es,  wenn  das  Tosen  des  Meeres 
nur  die  Spanne  Zeit  aufhört,  die  er  braucht,  um  hinüberzukommen;  drüben 
kann  er  ja  warten. 

19.  Hero  an  Leander.  Noch  viel  schmerzlicher  als  Leander  em- 
pfindet die  Trennung  Hero,  welche  fast  der  Last  der  Sehnsucht  unterliegt. 
Sie  schildert,  mit  welcher  Ungeduld  sie  den  Geliebten  jede  Nacht  erwartet 
habe,  wie  sie  nach  vergeblichem  Hangen  und  Bangen  in  Schlaf  gesunken, 
um  von  ihm  zu  träumen,  sie  vermag  den  Vorwurf  nicht  zu  unterdrücken, 
dass  das  Herüberkommen  am  Ende  doch  möglich  gewesen,  sie  ergeht  sich 
in  Zweifeln  an  seiner  Treue,  um  dieselben  doch  wieder  aufzugeben,  sie  schmäht 
auf  Neptun  und  berichtet  zuletzt  noch  von  einem  beängstigenden  Traum. 

20.  Acontius  an  Cydippe.  Acontius  aus  Ceos  verliebte  sich  in 
Delos  in  die  ebenfalls  dorthin  gekommene  Cydippe.  Um  in  ihren  Besitz 
zu  gelangen,  griff  er  zu  -einer  List,  er  warf  in  dem  Tempel  der  Diana 
vor  die  Füsse  der  Cydippe  einen  Apfel,  auf  dem  die  Worte  standen:  „Bei 
der  Diana  schwöre  ich,  den  Acontius  zum  Gemahl  zu  nehmen."  Cydippe 
hebt  den  Apfel  auf  und  liest  laut  die  darauf  stehenden  Worte,  damit  hatte 
sie  einen  feierlichen  Eid  geleistet  und  die  Göttin  zur  Wächterin  desselben 
gemacht.  Nun  war  aber  Cydippe  bereits  mit  einem  anderen  verlobt;  so 
oft  sie  jedoch  mit  demselben  verbunden  werden  sollte,  wurde  sie  krank. 
Die  Krankheit  der  Cydippe  gab  Acontius  den  Anlass  zu  einem  Brief.  In 
demselben  behauptet  er  sein  Recht  auf  Cydippe,  weist  auf  ihre  Krankheit 
als  eine  göttliche  Warnung  hin,  beklagt  sich,  dass  er  nicht  am  Bette  der 
Geliebten  weilen  könne,  indessen  ihr  Bräutigam  dort  wohl  sein  Glück  aus- 
nütze, rät  endlich,  die  Mutter  in  das  Geschehnis  einzuweihen  und  unter- 
lässt  endlich  nicht,  einiges  Empfehlende  über  seine  Person  beizufügen. 

21.  Cydippe  an  Acontius.  Cydippe,  welche  in  aller  Heimlichkeit 
den  Brief  geschrieben,  schildert  ihre  bejammernswerte  Lage,  da  sie  zwischen 
zwei  Liebhabern  hin  und  her  geschleudert  wird.  Sie  erzählt  ihre  Reise 
nach  Delos,  ihre  Begegnung  mit  Acontius,  die  List  mit  dem  Apfel.  Ob- 
wohl sie  heftig  gegen  die  Gültigkeit  des  erschlichenen  Eides  eifert,  kann 
sie  doch  nicht  ihre  Furcht  vor  der  Rache  der  Diana  unterdrücken.  Den 
von  Acontius  ausgesprochenen  Verdacht,  dass  der  Rivale  seine  Anwesen- 
heit am  Krankenbett  der  Cydippe  zu  Liebkosungen  benütze,  weist  sie 
zurück,  es  entschlüpft  ihr  sogar  das  Geständnis,  dass  sie  demselben  gegen- 
über kühl  geworden  sei,  und  damit  ist  das  Eis  gebrochen.  Sie  will  sich, 
auch  durch  das  delphische  Orakel  gewarnt,  ergeben  und  hat  daher  auch 
die  Muttor  ins  Vertrauen  gezogen.  Das  Übrige  müsse  sie  in  die  Hand 
des  Acontius  legen. 

Echtheit  der  Verse  13—248,  Unsere  Analyse  stützt  sich  auf  den  vulgären  Text, 
welcher  248  Verse  umfasst,  während  Mebkels  und  Rieses  Ausgaben  das  Gedicht  mit  dem 


OvidB  LiebeapoeBien.  139 

12.  Verse  schlioasen.  In  der  massgebenden  Überlieferung  der  Heroides  wie  in  der  s.  XIII 
angefertigten  griechischen  Übersetzung  des  Maximus  Planudes  fehlen  die  Verse  13—248. 
Von  denselben  wurden  zuerst  13 — 144  durch  die  editio  princeps  Rotnana  von  1471,  dann 
die  edUio  Veneta  von  1474  bekannt;  handschriftlich  findet  sich  diese  Partie  im  Guelferby- 
tanus  297  s.  XV,  Cremifanensis  329  s.  XV,  Vindobonensis  3198  s.  XV,  Parisinus  7997 
s.  XV/XVL  Die  Verse  145 — 248  traten  zuerst  ans  Licht  in  der  editio  Parmensis  von  1474. 
Diese  gab  also  den  Brief  vollständig.  Handschriftlich  ist  der  ganze  Brief  tiberliefert  in 
dem  Laut.  36, 27,  dem  am  Schluss  ein  Blatt  zugefügt  ist,  in  dem  die  Verse  8—248  s.  XVI 
nachgetragen  wurden  (Sbdlmateb,  Wien.  Stud.  3, 158).  In  dem  Vindob.  und  im  Cremifan. 
heisst  es  Heroidum  Ovidii  ultima  reeen»  reperta;  auch  in  der  editio  Parmensis  werden  die 
betr.  Verse  als  aus  einem  andern  Codex  nachgetragen  bezeichnet.  Aus  dieser  Darlegung 
ergibt  sich,  dass  die  in  der  gewöhnlichen  Übenieferung  fehlende  Partie  erst  im  15.  järh. 
zur  Kenntnis  kam.  Man  hat  daher  an  eine  Fälschung  eines  Humanisten  gedacht.  Allein 
schon  der  Umstand,  dass  die  Partie  in  zwei  Teilen  bekannt  wurde,  lässt  diese  Annahme 
als  unglaubwtlrdig  erscheinen.  Es  kommt  hinzu,  dass  die  Überlieferung  jener  Partien 
solche  Schäden  zeigt,  welche  nur  auf  dem  Wege  längerer  Fortpflanzung  erwachsen  sein 
können.  Doch  das  Entscheidende  ist,  dass  es  ganz  unmöglich  für  einen  Humanisten  jener 
Zeit  war,  das  Detail,  das  er  gibt,  aus  noch  vorhandenen  Schriften  zu  schöpfen.  Die  Er- 
zählung geht  auf  ein  Gedicht  des  Gallimachus  zurück,  das  damals  nicht  mehr  vorhanden 
war;  der  einzige  Schriftsteller,  der  noch  aus  dieser  Quelle  geschöpft,  ist  Anstaenetus.  Ab- 
gesehen  davon,  dass  dieser  Schriftsteller  nur  in  einer  einzigen,  ehemals  in  Apulien  befind- 
lichen Handschrift  fiberliefert  ist  und  erst  1565  veröffentlicht  wurde,  so  würde  doch  die 
Bekanntschaft  des  Fälschers  mit  demselben  Schriftsteller  ihn  nicht  in  den  Stand  gesetzt 
haben,  das  zu  bieten,  was  sich  in  dem  Briefe  findet.  Der  Brief  hat  manches,  was  Aristae- 
netus  nicht  hat,  so  dass  man  deutlich  ersieht,  dass  beide  aus  einer  Quelle  geschöpft 
haben,  nämlich  aus  dem  Gedicht  des  Gallimachus.  In  bezug  auf  Metrik  und  Prosodie  kann 
gar  nichts  Anstössiges  in  dem  Brief  aufgefunden  werden,  auch  an  der  Sprache  lässt  sich  in 
begründeter  Weise  nicht  rütteln.  Es  ist  daher  nicht  daran  zu  zweifeln,  dass  wie  der  An- 
fang so  auch  das  Folgende  demselben  antiken  Verfasser  angehört  und  dass  durch  Ablösung 
von  Blättern  am  Schluss  der  Briefsammlung  in  der  massgebenden  Überlieferung  jener 
Defekt  entstanden  ist. 

Litteratur:  Die  Frage  haben  nach  dem  Verdammungsurteil  Lachmanns  behandelt 
DiLTHBT,  de  CalHmachi  Cydippa,  der  mit  Luoiak  Mfh<LEB,  de  re  metr.  p.  43  für  die  Echt- 
heit mit  guten  Gründen  eingetreten;  ihm  folgten  Bibt,  Gott.  GeL  Anz.  1882  p.  839;  Peters, 
Ohserv.  ad  Ov.  heroid,,  Leipz.  1882  p.  52.  Dagegen  haben  sich  für  nicht  antiken  Ursprung 
ausgesprochen  Riese  (Bursians  Jahresber.  10.  Bd.  [1878]  p.  20),  dann  uiiter  Aufgeben  seiner 
früheren  Ansicht  Sedlmayeb,  Krii  Kommentar  zu  Ov.  Her.,  Wien  1881  p.  75. 

296.  Echtheitsfrage  der  Heroides.  Schon  sehr  früh  erwachten 
Zweifel  über  die  Echtheit  mancher  Heroides.  Allein  diese  Zweifel  stützten 
sich  nicht  auf  eine  methodische  Beweisführung  und  vermochten  daher  nicht 
eine  tiefere  Wirkung  zu  äussern.  Erst  durch  Lachmann  wurde  die  Frage 
mit  kritischem  Geiste  angefasst.  Von  der  Überlieferung  der  Briefe  aus- 
gehend verdammte  er  kurzweg  den  Sapphobrief  (15)  und  die  Ergänzungen 
zu  den  Briefen  16  (39—142)  und  21  (13-248);  an  die  Echtheit  dieser 
Stücke  zu  glauben,  erschien  ihm  als  eine  inepta  superstUio.  Komplizierter 
war  das  Verfahren  bezüglich  der  übrigen  Briefe.  Ausgangspunkt  der  Unter- 
suchung war  die  Elegie  der  Am.  2, 18.  In  derselben  klagt  Ovid,  dass, 
während  Macer  einen  grossen  Stoff,  die  vor  der  Ilias  liegende  Sage,  dichte- 
risch gestalte,  er  sich  in  seinen  Schöpfungen  von  Amor  nicht  losreissen  könne: 

quod  licet,  aut  artes  teneri  profitemur  Amoria, 

ei  mihi,  praeceptis  urgeor  ipae  meis, 
aut  quod  Penelopes  verbis  reddatur  ülixi, 

»crihimus  et  lacrima»,  Phylli  relicta,  tuas: 
quod  Paria  et  Macareua  et  quod  male  gratua  Jaao 

Hippohßique  parena  Hippolytuaque  legant^ 
qtwdque  tenena  atrictum  Dido  miaerabilia  enaem 

dicatj  et  Aeoliat  Leabia  amica  lyrae. 

Ein  Freund  Ovids,  Sabinus,  dichtete  Antworten  auf  die  Briefe: 


140    BOmisohe  LitteraturgOBohiohte.    ü.  Die  Zeit  der  Honarchie.    1.  Abteilung. 

qiiam  cito  de  toto  rediU  meus  orhe  Sabinus, 

8cript€tque  diversis  rettulU  ille  lociaf 
Candida  Penelope  aignum  cognovU  ülixis: 

legit  ab  Hippolyto  scripta  noverca  suo: 
iam  piua  Aeneas  miserae  rescripsit  Eliasae: 

quodque  legat  Phyllis,  si  modo  vivit,  adest: 
tristis  ad  Hypaipylen  ab  Jaaone  littera  venit, 

det  votam  Phoeho  Lesbia  amata  lyram. 

Aus  diesen  Worten  Ovids  schloss  Lachmann,  dass  die  Briefe  1,  2,  5,  11, 
6,  10,  4,  7,  15  bezeugt  seien,  ^)  nur  sei  der  15.  Brief  nicht  der  ovidiscfae, 
sondern  ein  unterschobener.  Die  übrigen  Briefe  3,  8,  9,  12,  13,  14,  16, 
17,  18,  19,  20,  21,  folgert  Lachmann  weiter,  entbehrten  des  ovidischen 
Zeugnisses  und  seien  von  vornherein  verdächtig;  denn  da  die  Ars,  mit 
der  Ovid,  als  er  die  18.  Elegie  schrieb,  bereits  beschäftigt  war,  die  Heraus- 
gabe der  Heroides  voraussetzt  (3,  345),  und  da  er  in  seinen  späteren  Ge- 
dichten dieser  Briefe  nicht  mehr  gedenkt,  so  müssten  die  genannten  zwölf 
Stücke  in  der  kurzen  Zeit  zwischen  der  letzten  Herausgabe  der  Amores 
und  der  Ars  geschrieben  sein,  was  höchst  unwahrscheinlich  sei.  Darauf- 
hin schreitet  Lachmann  zur  Anwendung  metrischer  und  prosodischer  Kri- 
terien und  gestützt  auf  dieselben  glaubt  er  von  den  verdächtigen  Stücken 
8,  9,  14,  16,  17,  19  als  unecht  erwiesen  zu  haben. 

Wenn  auch  diese  Untersuchung  das  unvergleichliche  kritische  Talent 
ihres  Verfassers  zeigt,  so  war  doch  der  eingeschlagene  Weg  nicht  der 
richtige.  Bedenklich  war  einmal,  dass  Lachmann  dem  Selbstzeugnis  Ovids 
so  grossen  Wert  beimass  und  trotz  desselben  den  Sapphobrief  verwarf. 
Damit  war  aber  der  Wert  des  Zeugnisses  auch  für  die  übrigen  dort  auf- 
geführten Heroides  stark  herabgemindert.  Allein  noch  verhängnisvoller 
für  die  Weiterentwicklung  der  Frage  war  Lachmanns  Voraussetzung,  dass 
alle  Heroides,  welche  Ovid  bis  dahin  verfasst  hatte,  in  der  Elegie  erwähnt 
werden.  Diese  Voraussetzung  ist  aber  eine  durchaus  irrige;  der  Zweck 
des  Gedichts  erfordert  keine  vollständige  Aufzählung,  da  es  dem  Dichter 
nur  auf  eine  Exemplifizierung  ankommt.  Dagegen  hat  Lachmann  es  unter- 
lassen, einen  anderen  Schluss  aus  der  Stelle  zu  ziehen,  durch  den  unsere 
Frage  auf  ein  ganz  anderes  Fundament  gestellt  wird.  Es  ist  dies  der  sich 
unweigerlich  ergebende  Satz,  dass  er  zur  Zeit,  als  er  die  18.  Elegie 
schrieb,  noch  keine  Doppelbriefe  verfasst  hatte.  Bei  dieser  Sach- 
lage dürfen  wir  nicht  mehr  die  8  (9)  erwähnten  Heroides  allen  übrigen 
gegenüberstellen,  sondern  wir  müssen  vielmehr  die  einfachen  den  Doppel- 
briefen gegenübertreten  lassen.  Die  Lage  der  beiden  Gattungen  von 
Briefen  ist  aber,  wie  jeder  sieht,  nicht  dieselbe;  es  konnten  ausser  den  auf- 
geführten Briefen  damals  auch  noch  andere  einfache  verfasst  sein,  da- 
gegen existierten  noch  keine  Doppelbriefe  von  Ovid.  Diese  können  wir 
nur  dann  dem  Dichter  beilegen,  wenn  es  uns  gelingt,  ihre  spätere  Ab- 
fassung wahrscheinlich  zu  machen.  Nun  zeigt  sich  wirklich,  dass  diese 
Doppelbriefe  manches  mit  den  späteren  Werken  Ovids  gemeinsam  haben. 
So  z.  B.  halten  die  Doppelbriefe  wie  die  späteren  Schriften  Ovids  nicht 
mehr  an  dem  zweisilbigen  Pentameterausgang  fest,  man  vgl.  16,  290  pudi- 


1)  Die  Antworten  des  Sabinus  beziehen  sieh  auf  die  Briefe  1,  4,  7,  2,  6  und  15. 


OvidB  LiebespooBieii. 


141 


cUiae,  17, 18  supercüiis,  19, 202  deseruit.  Einen  solchen  Ausgang  kennen  die 
einfachen  Briefe  nicht;  denn  der  Vers  14,  62,  in  dem  generis  am  Ende 
erscheint,  fehlt  in  einer  unserer  Quellen,  so  dass  dessen  Echtheit  be- 
gründeten Zweifeln  unterliegt.  Dagegen  lassen  das  mehr  als  zweisilbige 
Pentameterende  spätere  Gedichte  Ovids  zuJ)  Allein  dessungeachtet  führt 
die  Annahme  einer  späteren  Abfassung  der  Heroides  von  Seiten  Ovids  auf 
grosse  Schwierigkeiten.  Ais  Ovid  jene  Elegie  schrieb,  musste  eine  Aus- 
gabe der  Heroides  bereits  ins  Publikum  gedrungen  sein;  denn  Sabinus 
konnte  doch  nur  Antworten  auf  Briefe  schreiben,  welche  allgemein  bekannt 
waren.  Und  wenn  die  „Liebeskunst''  die  Mädchen  zum  Gesang  der  Epistulae 
auffordert  (3,845),  so  hat  eine  solche  Aufforderung  nur  gegenüber  einem 
weit ,  verbreiteten  Buch  einen  Sinn.  Es  könnte  daher  jene  Doppelbriefe 
Ovid  nur  einer  zweiten  Ausgabe  der  Heroides  einverleibt  haben.  Allein 
von  einer  solchen  hören  wir  nichts,  sie  ist  auch  nicht  wahrscheinlich,  denn 
sonst  würde  doch  wohl  der  Brief  der  Byblis,  der  jetzt  in  den  Metamorph. 
9, 529 — 569  «teht,  seine  Aufnahme  in  die  neue  Sammlung  gefunden  haben. 
Auch  wandte  sich  der  Dichter  bald  neuen  Stoffen  zu ;  die  Liebeskunst,  die 
Heilmittel  der  Liebe,  die  Metamorphosen,  der  Festkalender  beschäftigten 
ihn  gewiss  vollauf  und  werden  ihm  keine  Zeit  zu  einer  Fortsetzung  jener 
rhetorischen  Versuche  übrig  gelassen  haben.  Vollends  in  seiner  Leidens- 
zeit, in  der  ihm  alles  daran  lag,  die  Sünden  seiner  « Liebeskunst "  hinweg- 
zujammern,  konnte  ihm  niemals  der  Gedanke  kommen,  den  frivolen  Brief- 
wechsel zwischen  Paris  und  Helena  zu  schreiben.  Endlich  steht  mit  diesen 
Doppelbriefen  auch  der  Titel  „  Heroides ",  den  uns  Prise.  1,  544,  4  über- 
liefert, nicht  in  Einklang;  durch  denselben  sind  ja  die  Männerbriefe  aus- 
geschlossen. 

Aus  allen  Schwierigkeiten  scheint  nur  ein  Ausweg  hinauszuführen, 
die  Annahme,  dass  ein  Nachahmer  die  Neuerung  des  Sabinus  aufgriff,  je- 
doch mit  der  naturgemässen  Modifikation,  dass  er  die  Frauenbriefe  auf  die 
Männerbriefe  folgen  liess  und  sich  in  der  metrischen  Technik  an  die  letzten 
Schriften  Ovids  anschloss;  mehrere  Nachahmer  aufzustellen,  ist  kein  ge- 
nügender Grund  vorhanden.*)  Diese  Briefpaare  wurden  später  der  echten 
Sammlung  hinzugefügt,  da  aber  jetzt  der  Titel  „Heroides''  nicht  mehr 
passte,  kam  die  Überschrift  „Epistulae*  auf. 

Indem  wir  also  die  Doppelbriefe  dem  Ovid  absprechen  und  als  ein 
Werk  der  Nachahmung  erklären,  müssen  wir  auf  der  anderen  Seite  bei 
den  einfachen  Briefen  (selbst  den  Sapphobrief  nicht  ausgenommen)  solange 
die  ovidische  Autorschaft  festhalten,  bis  schlagende  Beweise  das  Gegenteil 
darthun;  allein  solche  sind  bis  jetzt  nicht  geliefert. 

Geschichte  der  Frage.  Wir  haben  zwar  bereits  im  Texte  einige  Hauptzüge  ans 
der  Geschichte  dieses  Echtheitstreits  gegeben,   allein  es  dürfte  doch  in  mehr  als  einer 


')  liACHXAlVK  p.  61. 

')  Aufgabe  der  Forschung  wird  es  sein, 
die  Verschiedenheiten,  welche  trotz  des  engen 
Anschlusses  doch  immer  den  Nachahmer  von 
dem  Autor  trennen,  darzuthun;  so  z.  B.  hat 
EscHBKBVRO  beobachtet,  dass  Ovid  certe  ego 
stets  im  Anfang  des  Hexameters  und  Penta- 
meters setzt,  der  Brief  20, 178  dagegen  in 


der  zweiten  Hälfte  des  Pentameters;  ganz 
das  Gleiche  gilt  17,246  von  ei  mihi.  (Wie 
hat  Ovid  u.  s.  w.  p.  4  und  p.  3.)  Eine  Menge 
Verschiedenheiten  will  Bilgbk  in  dem  Brief- 
paar 16  und  17  gefunden  haben  (die  Zu- 
sammenstellung derselben  p.  123),  allein  sie 
entbehren  der  gehörigen  Sichtung. 


142     ftOmisohe  LitieratnrgeBchichte.    It.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Hinsicht  nützlich  sein,  hier  noch  genauer  auf  den  Streit  einzugehen.  Eine  Übersicht  der 
älteren  Ansichten  über  die  Echtheit  der  Heroides  gibt  Sedlkayeb,  Zeitschr.  f.  österr.  Gymn. 
30,816.  Wir  sehen  daraus,  dass  schon  in  der  editio  Veneta  des  J.  1484  die  Streitfrage 
angeregt  wurde.  Sie  kam  aber  im  Laufe  der  Jahrhunderte  auf  keinen  festen  Boden,  erst 
Lachmank  versuchte  eine  methodische  Lösung  in  seiner  Abhandlung  De  Ovidii  epistidis, 
Berl.  1848  (Kl.  Sehr.  p.  56).  Allein  der  Weg,  den  er  beschritt,  war  nicht  der  richtige. 
Die  ersten  Bedenken  erhob  L.  Mülles,  de  r.  m.  p.  46,  wo  er  die  Schlussfolgerungen  Lach- 
MANNS  bemängelte  und  nur  die  Briefe  16,  17  und  19  preisgab.  Auch  Rh.  M.  17, 192  und 
18,  86  sprach  er  sich  in  diesem  Sinn  aus.  Dagegen  scMoss  sich  fest  an  Lachicann  Eschen- 
BUBG  in  seinen  metr.  Unters.,  Lübeck  1874  an.  Ganz  wie  der  Meister  die  acht  in  den 
Amores  aufgeführten  Heroides  (der  Sapphobrief  wird  ausgeschlossen)  den  übrigen  gegen- 
überstellend, will  er  gefunden  haben,  dass  die  acht  sicher  echten  Briefe  in  ihrer  metrischen 
Technik  genau  mit  den  carmina  amcUoria  des  Ovid  übereinstimmen,  während  sie  von  den 
übrigen  Distichen  desselben  und  den  Metamorphosen  in  mancher  Hinsicht  abweichen,  und 
umgekehrt,  dass  in  den  Heroides,  deren  Echtheit  bezweifelt  wird,  sich  eine  Reihe  metrischer 
Licenzen  findet,  die  Ovid  in  den  acht  echten  Briefen  und  den  Carmina  amat,,  wenn  auch 
nicht  in  den  übrigen  Distichen  und  den  Metamorphosen,  vermieden  hat.  Auf  Grund  dieser 
Untersuchungen  zog  er  die  Schlussfolgemng,  dass  die  von  Ovid  nicht  selbst  angeführten 
Briefe  sämtlich  unecht  seien.  Die  Richtigkeit  dieses  Schlusses  bestritt  Riese  und  warf  den 
Gedanken  hin,  dass  die  Heroiden  nicht  zu  gleicher  Zeit  entstanden  seinmüssten, 
dass  , einige*  Heroides  auch  der  späteren  Zeit  des  Dichters  angehören  können,  zuerst  kurz 
Fleckeis.  J.  109,  569,  mit  Begründungen  Burs.  Jahresb.  4.  Bd.  p.  233.  Welche  Heroides  er 
unter  diesen  „einigen*  versteht,  darüber  lässt  er  sich  nicht  klar  genug  aus,  bald  spricht 
er  allgemein  von  den  letzten  (p.  234),  bald  stellt  er  den  acht  die  übrigen  gegenüber  (p.  235). 
Diese  Ausstellungen  Rieses  machten  Eschenbubg  in  seiner  früheren  Anschauung  wankend, 
auf  Grund  einer  zweiten  Forschung  »Wie  hat  Ovid  einzelne  Wörter  und  Wortklassen  im 
Verse  verwandt",  Lübeck  1886,  modifiziert  er  die  früher  vorgetragene  Ansicht  dahin,  dass 
„Ovid  die  ims  erhaltenen  Heroiden  zu  verschiedenen  Zeiten  verfasst  habe,  in  einer  früheren 
Periode  die  acht  sicher  echten,  in  einer  späteren  die  übrigen*  (p.  39).  Allein  die  Schluss- 
folgerung, die  aus  der  „auffallenden  Übereinstimmung  zwischen  der  Technik  Ovids  und 
der  der  zweifelhaften  Heroiden*  gezogen  wird,  ist  eine  unrichtige;  denn  jene  Überein- 
stimmung konnte  auch  der  fleissige  Nachahmer  zustandegebracht  haben.  Diesen  falschen 
Weg,  aus  Tilmb'chkeiten  der  zweSelhaften  Heroiden  mit  den  echten  Schriften  Ovids  die 
Echtheit  zu  folgern,  hatte  bereits  früher  Wolfram  Zingerle,  Untersuchungen  zur  Echtheits- 
frage der  Heroiden  Ov.,  Innsbr.  1878,  beschritten;  er  hält  alle  Heroides  für  echt  (den 
Sapphobrief  ausgenommen).  In  neuster  Zeit  dringt  immer  mehr  die  im  Text  adoptierte  An- 
sicnt  durch;  diese  beruht  auf  der  strengen  Scheidung  der  einfachen  und  der 
Doppelbriefe.  Nur  der  Sapphobrief  bildet  noch  einen  Differenzpunkt,  indem  die  meisten 
denselben  für  unecht  halten.  Allein  wie  gefährlich  es  ist,  das  Selbstzeugnis  Ovids  in  einem 
Punkte  zu  verwerfen,  zeigt  das  Vorgehen  Lehrs,  der  auch  vor  anderen  dort  erwähnten 
Briefen  nicht  Halt  macht  und  die  ganze  Frage  dem  subjektiven  Ermessen  überliefert 
(Ausgab,  des  Horaz,  Leipz.  1869  p.  CCXXII).  Im  übrigen  stimmen  die  Anhänger  jener 
Scheidung  darin  Überein,  dass  allem  Anschein  nach  die  14  ersten  Briefe  echt,  die  Doppel- 
briefe dagegen  unecht  seien.  Nachdem  diese  Ansicht  Dilthet,  De  Callim.  Cydippe  p.  41 
Anm.  2;  Madvig,  advers.  2^11  beiläufig  ausgesprochen  haben,  wurde  dieselbe  ausführlicher 
verteidigt  von  Biet,  Rh.  Mus.  32, 391.  Zu  ilu-er  Stütze  dienen  auch  die  Dissertation  Biloers, 
De  Ov.  Heroidum  appendice,  Marb.  1888,  welcher  das  Brie^aar  16  und  17  ds  unovidisch 
darzuthun  bestrebt  ist,  und  die  Tolkiehns,  Quaest.  ad  Heroides  Ovid.,  Eönigsb.  Diss.  1888, 
welcher  die  in  den  Ainores  nicht  bezeugten  Briefe  3,  8,  9,  12,  13,  14  als  ovidisch  nach- 
zuweisen versucht  und  damit  die  sämtlichen  ersten  14  Briefe  Ovid  zuweist. 

297.  Charakteristik  der  Heroides.  Dass  zwischen  Liebenden  Briefe 
gewechselt  werden,  ist  seit  jeher  üblich  gewesen;  Am.  2, 19, 41  fordert  Ovid 
den  Wächter  auf,  acht  zu  haben: 

quas  ferat  et  referat  sollers  ancilla  tabellas. 

Dass  aber  der  Liebesbrief  auch  die  poetische  Form  erhält,  ist  bei  dem 
Bande,  welches  Liebe  und  Poesie  umschlingt,  natürlich  und  selbstverständ- 
lich. Propertius  gibt  uns  einen  solchen  Brief,  Arethusa  schreibt  an  ihren 
im  römischen  Feldlager  auf  parthischem  Boden  weilenden  Gatten  (5,3). 
Während  wir  aber  hier  einen  Brief  haben,  der  aus  der  Gegenwart  und 
dem  Leben  herausgegriffen  ist,   führt  uns  Ovid  mit  seinen  Heroides  in 


Ovids  LiebespooBien.  143 

altersgraue  Zeiten  zurück;  denn,  einen  Fall  ausgenommen,  sind  es  lediglich 
Frauen  der  Sage,  welche  ihr  Liebesleben  in  Briefen  darlegen.  Ovid  will 
diese  Gattung  der  Heroinenbriefe  erfunden  haben,  in  seiner  Liebeskunst 
lässt  er  ein  Mädchen  sagen  (3,  346) : 

ignotum  hoc  aliis  ille  novavit  opu8. 

Für  die  römische  Litteratur  mag  dies  seine  Richtigkeit  haben,  nicht  aber 
für  die  griechische;  denn  hier  war  dieser  Zweig  im  Keime  bereits  vor- 
handen. Auf  den  Kunstwerken  aus  dem  Reich  des  Mythus  sehen  wir 
Boten  mit  Liebesbriefen  und  die  alexandrinischen  Dichter  schmückten  gern 
ihre  Epyllien  mit  solchen  eingeschobenen  Episteln.  Auch  die  Rhetorschule 
legte  die  Idee  der  Hieroinenbriefe  sehr  nahe,  dort  waren  Themata  aus  dem 
Mythus  und  der  Geschichte  seit  langem  üblich,  dort  konnte  man  Reden 
des  seine  Tochter  opfernden  Agamemnon,  des  vor  Babylon  stehenden  Ale- 
xander, der  gegen  die  Perser  ziehenden  dreihundert  Spartaner  vernehmen. 
Von  der  Rede  zum  Brief  ist  nur  ein  kleiner  Schritt.  Dem  Dichter  boten 
übrigens  diese  Stoffe  einen  grossen  Vorteil;  es  war  in  denselben  eine  all- 
gemein bekannte  Situation,  an  die  er  anknüpfen  konnte,  bereits  gegeben, 
sie  musste  nicht  erst  dem  Leser  vorgeführt  werden.  Aber  auch  bei  der 
Bearbeitung  konnte  der  Dichter  aus  reichlich  fliesseuden  Quellen  schöpfen ; 
Homer,  die  griechischen  Tragödien,  besonders  die  euripideischen  und  die 
alexandrinischen  Epyllien,  auch  römische  Dichter  boten  ihm  den  Stoff,  den 
er  brauchte.  Seine  Aufgabe  war  nur,  diesen  der  Briefform  anzupassen.  Allein 
peinlich  genau  nahm  es  damit  der  Dichter  nicht,  er  erzählt  oft  Dinge  für 
den  Leser,  nicht  für  den  Adressaten.  Selbst  über  die  Unmöglichkeit  eines 
Briefes,  wie  dies  bei  der  Ariadne  der  FaU  ist,  setzt  er  sich  kühn  hinweg. 
Seine  Aufgabe  war,  die  Seelenstimmungen  seiner  Heldinnen  rhetorisch  aus- 
zumalen, r^&o7touag  zu  liefern.  Die  Situationen,  in  welche  uns  diese  Briefe 
versetzen,  sind  verschieden.  Am  natürlichsten  ist  die  Benützung  der  Brief- 
form zum  Zweck  des  Liebesgeständnisses;  mit  dem  Verse  (4,10): 

dicere  quae  puduit,  scribere  ittasü  amor 

motiviert  Phaedra  ihr  Schreiben.  Auch  die  Briefpaare  Paris  und  Helena, 
Acontius  und  Cydippe  haben  es  noch  nicht  mit  der  fertigen,  sondern  erst 
mit  der  werdenden  Liebe  zu  thun.  Diese  Episteln  stehen  der  Suasoria  sehr 
nahe,  sie  wollen  ^'a  vor  allem  überreden.  Mehr  erzählenden  Charakter 
tragen  die  Schreiben,  welche  das  Liebesleben  selbst  zum  Gegenstand  haben ; 
es  sind  dies  die  Stücke  Leander  und  Hero  und  Laodamia.  Im  Leander- 
brief lesen  wir  die  entzückende  Schilderung  der  nächtlichen  Wanderungen 
Leanders  zu  Hero,  Laodamia  malt  ihren  Abschied  von  Protesilaus,  ihren 
Kummer  und  ihre  bangen  Sorgen.  Den  reichsten  Stoff  bot  unserm  Dichter 
das  Kapitel  der  unglücklichen  Liebe.  Hier  kommen  ja  die  Affekte  vor, 
welche  eine  ganz  besonders  lohnende  rhetorische  Behandlung  zulassen. 
Auch  kann  der  Dichter  da  seine  Kunst  in  den  mannigfachsten  Situationen 
leuchten  lassen.  Er  hat  dies  reichlich  ausgenützt  und  das  Unglück  in  der 
Liebe  in  verschiedenen  Gemälden  gezeichnet.  Bald  will  der  Geliebte  in 
die  Feme  ziehen,  wie  Aeneas,  bald  ist  er  bereits  geraume  Zeit  abwesend, 
ohne  von  sich  Nachricht  zu  geben,  wie  Ulixes  und  Demophon;  oder  es 
klagt  die  Briefschreiberin  über  eine  Nebenbuhlerin,  wie  Oenone  über  Helena, 


144    BömiBche  LÜteratnrgeschichte.    IL  Die  Zeit  der  Konarcliie.    1.  Abteilung. 

Hypsipyle  über  Medea,  Deianira  über  Jole,  Medea  über  Creusa;  oder  es 
befindet  sich  die  Schreibende  wider  ihren  Willen  in  den  Händen  eines 
anderen,  wie  Briseis  und  Hermione;  oder  endlich  der  Brief  ist  ein  Weh- 
ruf einer  durch  ihre  Liebe  dem  Tod  entgegensehenden  unglücklichen  Frau, 
wie  der  Canace  und  der  Hypermnestra.  Welche  Empfindungen  und  Ge- 
fühle in  weiter  Scala  konnte  hier  der  Dichter  ertönen  lassen?  Wehmut 
der  Trennung,  Sehnsucht  nach  dem  Geliebten,  süsse  Erinnerung  an  das 
früher  genossene  Liebesglück,  aufbrausenden  Stolz,  demütige  Hingabe,  heftig 
lodernden  Zorn  über  Undankbarkeit,  quälende  Eifersucht,  Schmerz  über  das 
gebrochene  Leben,  Aufblicken  zu  dem  Tod  als  dem  einzigen  Erlöser.  Der 
Dichter  hat  auch  diese  Affekte  gezeichnet,  wir  bewundern  seine  Kenntnis 
der  weiblichen  Gemütswelt,  aber  er  vermag  uns  nicht  zu  erwärmen  und 
länger  zu  fesseln.  Das  ndxhog  seiner  Heldinnen  ist  rhetorisch  aufgeputzt; 
es  ist  ein  Spiel  mit  den  Empfindungen,  es  fehlt  die  einfache,  noch  zu  jeder 
Zeit  gern  gehörte  Sprache  des  Herzens. 

Die  Briefform  der  Heroides.  Durch  die  poetisch  geformte  Anrede  „Caitts  Titio 
aaltäem"  sind  sie  deutlich  als  Briefe  gleich  in  den  Eingangsdistichen  charakterisiert  und  zwar 
durch  deutliche  oder  allgemeine  Bezeichnung  des  Schreibenden  und  des  Adressaten  1,  2,  4, 
13,  14,  16,  18,  durch  Bezeichnung  des  Schreibenden  oder  des  Adressaten  3,  15  und  19. 
In  den  Briefen  5  und  10  stellt  das  zweite  Distichon  die  Briefform  her.  Im  11.  Brief  kann 
Vers  5  einen  Ersatz  für  die  epistolarische  Anrede  darbieten.  Die  übrigen  Heroides  ent- 
behren des  epistolarischen  Eingangs;  und  ist  bei  manchen  der  Eingang  sehr  abrupt,  wie 
in  Brief  7,  in  12,  17  und  auch  11.  Vahleit,  Ober  die  Anfänge  der  Heroiden,  Abh.  der 
Berl.  Ak.  1881  p.  14  kommt  aus  der  Betrachtung  dieser  Eingänge  zu  dem  Schluss,  dass 
diese  vier  Heroides  ihre  Eingangsdistichen  verloren  haben.  Man  wird  sich  seinen  Schluss- 
folgemngen  kaum  entziehen  können,  selbst  für  11  nicht,  obwohl  dort  später  die  Brief- 
schreiberin  deutlich  bezeichnet  wird.  Allein  wenn  er  weiter  folgert,  dass  auch  bei  den 
übrigen  Heroides,  wo  eine  solche  Nötigung  wie  bei  den  eben  genannten  nicht  vorliegt, 
diese  Eingänge  verloren  gingen,  so  geht  diese  Folgerung  zu  weit;  es  würde  bei  manchen 
diese  Briefformel  sogar  störend  sein.  Kompliziert  wird  die  Frage  dadurch,  dass  in  jüngeren 
Quellen  sich  solche  Eingangsverse  finden,  allein  alle  dem  Verdacht  der  Unechtheit  zu  ent- 
ziehen, wird  sich  niemand  entschliessen;  wird  aber  die  Unechtheit  auch  nur  eines  einzigen 
Distichenpaars  zugegeben,  so  können  in  der  Frage  nur  innere  Kriterien  entscheiden 
(Peters,  ohs.  p.  49). 

Quellen  der  Heroides.  Für  den  Brief  der  Penelope  und  der  Briseis  ist  Homer 
die  Quelle  (über  letzteren  Brief:  Tolkiehn,  Quctest.  p.  48);  für  den  Brief  der  Dido  die 
Aeneis,  für  den  der  Ariadne  Catull.  Die  schöne  Sage  von  der  Pfayllis  hatte  nach  Calli- 
machus,  dessen  Gedicht  Knaack,  Analecta  p.  29  restituiert,  bereite  Tuscus,  ein  Freund 
Ovids  bearbeitet.  Auch  die  Geschichte  von  Hero  und  Leander  und  die  von  Acontius  und 
Gydippe  weisen  auf  alexandrinische  Quellen;  aus  ebendenselben  schöpfte  Musaeus  für  sein 
Gedient  de  Hero  et  Leandro  (Rohde,  Griech.  Rom.  p.  135)  und  Ariataenetus  für  seine  Er- 
zählung von  der  Gydippe;  des  letzteren  Quelle  war  das  anmutige  Gedicht  „Gydippe*  von  Galli- 
machus,  das  Dilthey  meisterhaft  wiederherstellte  (De  Callim.  Cyd.,  Leipz.  1863).  Im  Sappho- 
brief  erinnert  die  Einführung  der  Naiade  (162)  an  alexandrinische  Kunst.  Ebenso  wird  die 
Figur  der  Oenone  ein  Werk  alexandrinischer  Dichtung  sein,  deren  Hintergrund  die  Kyprien 
sind  (Wetzbl,  'Em^aXtifAioy  p.  LVII;  Gompabetti  p.  52).  Der  Brief  der  Hypsipyle  wird 
seine  Grundlage  in  den  Argonautica  des  ApoUonius,  vielleicht  nach  der  Übersetzung  des 
Valerius  Flaccus  (Mayer,  De  Euripidis  mythopoeia  p.  65)  haben.  Nicht  wenige  Stücke 
schliessen  sich  an  griechische  Tragödien  an,  die  Deianira  und  die  Hermione  an  die  Trachi- 
nierinnen  und  die  auch  von  Pacuvius  übersetzte  Hermione  des  Sophokles  (über  die  Deianira 
vgl.  Biet,  Rh.  Mus.  32, 406),  die  Medea,  Laodamia,  Ganace,  Phaedra  an  Medea,  Protesilaos, 
Aeolus,  die  beiden  Hippolyti  des  Euripides  (über  die  Medea  vgl.  Biet  p.  401,  über  die 
Phaedra  Biet  p.  403;  KALKMAim,  de  Hippolytis  Euripid,  p.  24;  Mayer,  de  Eurip,  mythop, 
p.  66,  der  die  Nachahmung  auf  den  ersten  Hippel,  beschränken  will).  Für  den  Briefwechsel 
des  Paris  und  der  Helena  konnte  der  Alexandros  des  Euripides  einzelne  Züge  liefern 
(Welokeb,  Trag.  p.  404).  Die  Hypermnestra  endlich  wird  auf  die  Darstellung  des  auch  von 
Horaz  G.  3, 11  behandelten  Mytnos  von  Aeschylus  zurückzuführen  sein  (eingehende  Be- 
gründung von  Biet  p.  405,  gegen  den  sich  mit  Unrecht  RsrnKENS,  De  Äeschyli  Danaidibus^ 
Düsseid.  1886  p.  11  wendet). 


OvidB  Liebespoefiien.  145 

298.  De  medicamine  faciei  (Über  die  Schönheitsmittel).  In  der 
Liebeskunst  3,205  empfiehlt  Ovid  seinen  Leserinnen  ein  von  ihm  früher 
verfasstes  Werkchen  über  Kosmetik: 

est  mihi,  quo  dixi  vestrae  medicamina  formae, 

parvus,  sed  eura  grande,  libellus,  opus, 
hinc  quoque  praesidium  laesae  petitote  figurae. 

non  est  pro  vestHs  ars  mea  rebus  iners. 

Es  ist  uns  ein  solches  in  50  Distichen  überliefert.  Das  Gedicht  beginnt 
mit  einer  frischen  Schilderung  der  Ausdehnung  der  Kultur  gegenüber  der 
Beschränktheit  der  alten  Zeit  und  schliesst  hieran  die  Forderung  an  die 
Mädchen,  auch  ihrerseits  die  Körperschönheit  zu  pflegen,  zumal  da  jetzt 
sogar  die  Männer  dies  mit  grossem  Eifer  thun;  freilich,  bemerkt  schalk- 
haft der  Dichter,  sei  immer  das  erste  die  VortrefFlichkeit  des  Charakters, 
denn  die  Schönheit  vergeht,  der  Charakter  besteht.  Während  uns  die  An- 
mut und  Leichtigkeit  der  Einleitung  entzückt,  stösst  uns  das  Folgende 
ungemein  ab.  Es  kommen  Rezepte  zur  Glättung  der  Haut,  Vertreibung 
der  Flecken,  Herstellung  einer  blassen  Gesichtsfarbe  mit  genauen  Angaben 
von  Mass  und  Gewicht.  Der  Dichter  hat  ohne  Zweifel  ein  kosmetisches 
Buch  in  Verse  gegossen,  es  mag  ihm  diese  Arbeit  sauer  geworden  sein 
und  er  mag  nicht  ohne  Grund  die  auf  das  Büchlein  verwandte  „cura^ 
hervorheben,  allein  es  fehlt  der  Schmuck  der  Poesie.  Das  Gedicht  bricht 
plötzlich  ab,  die  Vermutung,  dass  sogar  dem  Abschreiber  die  Geduld  aus- 
gegangen, ist  zwar  nicht  richtig,  der  Schaden  ist  vielmehr  auf  Blattverlust 
zurückzuführen,  allein  dem  Verlorenen  weint  niemand  eine  Thräne  nach. 
Wahrlich,  der  Dichter  that  einen  glücklichen  Schritt,  dass  er  den  klein- 
lichen trockenen  Gegenstand  verliess  und  in  der  „Liebeskunst'  einen  Sto£f 
aufgriff,  in  dem  er  die  Belehrung  in  ein  heiteres  Spiel  umsetzen  konnte. 

Gitiert  wird  das  Gedicht  yon  Charisius  p.  90, 16  E.,  auch  Plin.  30,  33  Worte  „huius 
medicinae  auctor  est  Ovidius^  werden  sich  auf  eine  verlorene  Partie  unserer  Schrift  beziehen 
(KuKZ  p.  88;  Biet,  De  Halieut.  p.  41).  Ausser  der  Versttlmmelung  am  Schluss  sind  auch 
im  Gedicht  Lücken  nach  y.  26  und  nach  v.  50,  die  wahrscheinlich  durch  Blattbeschftdigung 
entstanden  (Schanz,  Rh.  Mus.  39,  313;  Ehwald,  Burs.  Jahresb.  43.  Bd.  p.  185). 

Die  Überlieferung  des  Gedichts  ist  von  der  der  Übrigen  carmina  amatoria  unab- 
hängig, die  älteste  und  beste  Handschrift  ist  der  Marcianus  Florentinus  228  s.  Xl/XU.  Vgl. 
die  Ausgabe  von  Eunz,  Wien  1881  p.  5. 

299.  Ars  amatoria  (Liebeskunst).  Schon  bei  den  Griechen  hatte 
sich  die  didaktische  Dichtung  des  Stoffs  der  Liebe  bemächtigt  und  eine 
pornographische  Litteratur  erzeugt.  Diese  Gattung  führte  Ovid  in  seiner 
Liebeskunst  in  die  römische  Litteratur  ein.  Es  sind  drei  Bücher  in  elegi- 
schem Masse.  Gleich  im  Eingang  wird  dem  Leser  die  Disposition  der 
Materie  gegeben  (1,35): 

principio  quod  amare  velis,  reperire  labora, 

qui  nova  nunc  primum  miles  in  arma  venis. 
proxitnus  huic  lahor  est  plaeitam  exorare  puellam: 

tertius,  ut  longo  tempore  duret  amor, 

Demgemäss  lehrt  der  Dichter  bis  Vers  264,  wo  und  wie  man  ein  Liebchen 
finden,  von  da  an,  wie  man  dasselbe  erobern  könne.  Dies  ist  der  Gegen- 
stand des  ersten  Buchs.  Im  zweiten  Buch  wird  die  Kunst  vorgetragen, 
sich  die  Gunst  des  gewonnenen  Mädchens  zu  erhalten  (2,12): 

arte  mea  capta  est,  arte  tenenda  mea  est, 
Handbuch  der  klan.  AltcrinmswiaseDecfaaft.    Vm.    2.  TeiL  10 


146    Bömische  Littaratnrgeflohiolite.    II.  Die  Zeit  der  Konurohie.    1.  Abteilung. 

Damit  ist  das  oben  angekündigte  Thema  erschöpft.  Allein  Ovid  nimmt 
nun  auch  die  Kehrseite  vor;  hatte  er  in  den  zwei  ersten  Büchern  für  die 
Männer  geschrieben,  so  wendet  sich  jetzt  im  dritten  Buch  seine  »Ars*  an 
die  Mädchen,  um  auch  ihnen  wie  den  Männern  Waffen  in  die  Hand  zu 
geben. 

Die  Liebe,  welche  die  Ars  lehren  will,  ist  die  sinnliche,  er  kündigt 
dies  auch  offen  an  mit  den  Worten  (3,27): 

nü  nisi  Jascivi  per  me  discuntur  amores, 

und  als  einen  praeceptor  lascivi  amoris  redet  ihn  Apollo  an  (2,497).  Das 
Ziel  derselben  ist  nicht  eine  dauernde  Verbindung,  sondern  der  vorüber- 
gehende Genuss.  Die  eheliche  Liebe  bleibt  daher  ausgeschlossen  (1,31 
2, 599)  und  zum  Glück  auch  die  Enabenliebe  (2, 683).  Bilder  des  erhebenden 
Liebesglücks  begegnen  uns  nicht,  wohl  aber  feine  psychologische  Zeich- 
nungen. Man  sieht,  dass  der  Dichter  auf  diesem  Feld  reiche  Erfahrungen 
gesammelt  und  sorgfältige  Beobachtungen  gemacht  hat.  Was  er  über  die 
Toilettengeheimnisse  und  über  die  Kunst,  körperliche  Fehler  zu  verdecken, 
vorträgt,  ist  dem  Leben  abgelauscht.  Auch  sonst  noch  muten  uns  Sätze 
wie  alte  Bekannte  an,  z.  B.  die  Vorschrift,  das  Mädchen  nicht  nach  dem 
Geburtsjahr  zu  fragen  (2, 663),  oder  wenn  wir  von  den  Frauen  lesen  (1,99): 

spectatum  peniunt,  veniurU  spectentur  ut  ipsae. 

Andere  Sätze  empfinden  wir  sofort  als  schlagende  Wahrheiten  wie  forma 
vires  nededa  decet  (1,509)  oder  ut  ameris,  amabüis  esto  (2,105).  Für  die 
Kenntnis  des  sozialen  Lebens  in  Rom  fallen  manche  interessante  Züge  ab, 
wir  lesen  z.  B.  nicht  ohne  Erstaunen,  welche  hohe  Anforderungen  man  an 
die  Bildung  dieser  Mädchen  stellt,  welche  in  einer  ganz  stattlichen  Reihe 
von  griechischen  und  lateinischen  Dichtern  bewandert  sein  sollen  (3,331). 
So  interessant  auch  die  psychologische  Kunst  ist,  mit  welcher  der 
Dichter  seinen  Stoff  behandelt,  so  würde  doch  der  lehrhafte  Ton,  durch 
das  ganze  Gedicht  festgehalten,  schliesslich  den  Leser  ermüdet  haben. 
Dem  begegnet  der  Autor  dadurch,  dass  er  mit  dem  Stoff  ein  anmutiges 
Spiel  zu  treiben  scheint.  Er  lässt  nämlich  in  seine  Lehren  fortwährend 
schlagende  Analogien  aus  Natur  und  Geschichte  hineinblitzen.  Ganz  un- 
erschöpflich ist  hier  die  Erfindungsgabe  des  Dichters,  wie  Raketen  schiessen 
die  Gedanken  hin  und  her.  Für  sich  betrachtet  sind  diese  Analogien  oft 
Goldkömer;  manche  sind  in  unseren  Citatenschatz  aufgenommen  worden, 
wie  3,502: 

Candida  pax  homines,  trux  decet  ira  feraa 

oder  3,63: 


oder  2,437: 


nee  quae  praeteriit,  Herum  revocabUur  unda 
nee  quae  praeteriit,  hora  redire  potest 


luxuriant  animi  rebus  plerumque  secundis, 
nee  facile  est  aequa  commoda  mente  paii. 

Dadurch,  dass  sie  aber  zur  Erläuterung  eines  frivolen  Stoffes  dienen, 
bekommen  sie  einen  ironischen  Beigeschmack.  Auch  Erzählungen  werden 
gern  eingestreut,  um  den  Stoff  zu  beleben.  Die  Mjrthen  boten  ja  Manches 
dar,  was  lüsternen  Ohren  genehm  sein  konnte.  Wir  lesen  die  Geschichte 
der  Pasiphae  (1,289),  die  Begegnung  des  Bacchus  und  der  Ariadne  (1,527), 


OvidB  LiebeBpoenen.  147 

die  Liebesabenteuer  des  Mars  und  der  Venus  (2, 561),  des  Achilles  und 
der  Deidameia  (1,681),  die  Eifersuchtsscene  der  Procris  (3,685);  auch  die 
Sage  vom  Raube  der  Sabinerinnen  ist  nicht  ohne  Frivolität  ausgenutzt 
(1, 101).  Mit  den  Obscönitäten  hält  der  Dichter  ziemlich  zurück,  nur  am 
Schluss  des  zweiten  und  dritten  Buchs  brennt  er  ein  Feuerwerk  ab,  das 
uns  durch  seinen  Gestank  über  den  Ort,  wo  wir  uns  befinden,  nicht  in 
Zweifel  lässt.  Mag  man  die  Wahl  des  Stoffs  beklagen,  Ovid  hat  denselben 
mit  solcher  Genialität  behandelt,  dass  er  uns  zwingt,  über  denselben  hin- 
wegzugleiten  und  seine  Kunst  zu  bewundem.  Mit  Honigseim  versüsst  wird 
uns  das  Gift  gereicht. 

300.  Bemedia  amoris  (Heilmittel  der  Liebe).  Die  Liebeskunst 
war  nicht  ohne  Tadel  geblieben;  der  Dichter  setzt  sich  zwar  über  den- 
selben weg  und  ist  getröstet,  wenn  er  nur  überall  gelesen  wird.  Seine 
Verteidigung  gipfelt  in  dem  Satz,  seine  Muse  berühre  nicht  die  Matrone, 
sondern  die  Libertine  (385): 

Thais  in  arte  tnea;  lascivia  libera  nostra  est, 
niJ  mihi  cum  vitta:  Thais  in  arte  tnea  est. 

Allein  er  schreitet  doch  zu  einer  Art  von  Palinodie,  welche  freilich  wieder- 
um an  dem  Schmutz  nicht  vorbeigehen  kann  (401).  Hatte  er  in  der  „Ars*^ 
Jünglingen  und  Mädchen  den  Weg  zur  Liebe  gezeigt,  so  will  er  jetzt  die- 
jenigen, welchen  Amor  drückend  erscheint,  belehren,  wie  sie  die  lästigen 
Fesseln  abwerfen  können  (15):  - 

at  si  quis  male  feri  indignae  regna  puellae,  » 

ne  pereat,  nostrae  sentiat  artts  opem, 

Obzwar  er  in  erster  Linie  mit  seinen  Lehren  das  Männergeschlecht  berück- 
sichtigt, so  sollen  dieselben  mutaiis  mutandis  auch  für  die  Mädchen  gelten  (49). 
Entschieden  lehnt  der  Dichter  Zaubermittel  ab  (249) ;  er  will  nur  auf  natür- 
liche Weise  vorgehen.  Für  das  Beste  hält  er,  die  Neigung  gleich  im  Keime 
zu  ersticken,  denn  (91): 

prineipiis  ohsta  .  sero  medicina  paratur, 

Ist  sie  aber  schon  fest  geworden,  so  rät  er,  den  Müssiggang  zu  fliehen 
und  Beschäftigungen  zu  suchen,  die  Fehler  der  Geliebten  aufzuspüren,  sich 
noch  mit  einem  Liebchen  abzugeben,  den  Genuss  bis  zur  Übersättigung  zu 
steigern,  auf  seine  Sorgen  den  Sinn  zu  lenken,  nicht  mit  dem  Gegenstand 
der  Sehnsucht  zusammenzukommen,  den  Umgang  mit  Liebenden  zu  ver- 
meiden, die  Liebesdichter  nicht  zu  lesen  u.  s.  w.  Manchmal  führt  den 
Dichter  die  Lust  am  Spiel  zu  weit,  wie  wenn  uns  der  Schalk  glauben 
machen  will,  er  habe  sich  von  seiner  Leidenschaft  kuriert,  indem  er  seine 
Phantasie  der  Geliebten  Fehler,  die  sie  gar  nicht  hat,  andichten  Hess  (315). 
An  Kunst  der  Durchführung  stehen  die  Heilmittel  der  Liebe  der 
Liebeskunst  nach;  das  Negative  des  Stoffs  schwächt  die  Gestaltungskraft 
des  Dichters;  doch  auch  so  bietet  das  Gedicht  noch  immer  des  Reizenden 
genug. 

Die  Überlieferung  der  carmina  amatoria.  Alle  carmina  amataria  gehen  auf 
einen  Archetypos  zurück,  nur  bezüglich  der  Schrift  de  medicamine  faciei  ist  mir  dies 
zweifelhaft;  meine  Zweifel  habe  ich  angedeutet  und  begründet  Rh.  Mus.  39,  314;  siehe  aber 
dagegen  Ehwald,  Burs.  Jahresber.  43  p.  185.  Den  Archetypos  bestimmen  L.  Mülleb  (de 
re  metr.  p.  45)  und  Birt  (Gott.  Qel.  Aiiz.  1882  p.  841)  näher  dahin,  dass  derselbe  Schrift* 

10* 


148     BömiBche  Litteratargeschiolite«    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

kolumnen  zu  26  Zeilen  hatte.  Daraus  erklärt  Bibt  (p.  841)  eine  Reihe  von  Defekten  in  unsem 
Handschriften:  , Gleich  (Her.)  XV  39 — 142  ergeben  just  vier  Kolumnen  zu  26  Versen;  es  fiel 
also  etwa  ein  Blatt  aus  mit  je  zwei  Kolumnen  auf  jeder  Seite.  Warum  bricht  ferner 
der  Gydippebrief  gerade  bei  v.  12  ab?  Deshalb  weil  hier  das  Ende  einer  Kolunme  und 
zugleich  ein  Seitenende  war;  denn  von  XV  143  bis  XX  12  sind  eben  1195  Verse  oder 
46  Kolumnen  der  angegebenen  Grösse.  Aber  noch  mehr.  Mehrere  Textesquellen  geben 
uns  statt  XX  13 — 248  nur  die  Verse  XX  13 — 144.  Diese  132  Verse  waren  wieder  5  Kolumnen 
zu  je  26;  bei  144  schloss  wiederum  eine  Kolumne;  daher  bricht  vielfach  hier  die  Oberlieferung 
ab.  Und  endlich  die  letzten  und  seltensten  Verse  XX  145 — 248,  auch  sie  füllen  wieder 
just  ein  Blatt  mit  4  Kolumnen  zu  26  Versen."  Die  massgebenden  Codices  sind  zwei  Parisini, 
der  Puteanus  8242  s.  XI,  der  Regius  7311  s.  X,  weiterhin  der  Sangallensis  864  s.  XI,  der 
Etonensis  s.  XI.  (In  den  Heroides  kommt  dem  Puteanus  sehr  nah  der  Guelferbytanus  260 
s.  Xni,  weniger  der  Etonensis  s.  XI;  vgl.  Peters,  Observ.  ad  Heroid.  p.  15.) 

ß)  Zweite  Periode  der  ovidischen  Dichtung:  Die  Sagengedichte. 

301.  Die  aetiologische  Elegie«  Unter  den  Sagen  bilden  eine  ge- 
schlossene Gruppe  diejenigen,  welche  irgend  eine  Erscheinung,  sei  es  ein 
Fest,  sei  es  ein  Eultusgebrauch,  sei  es  eine  göttliche  Eigenschaft,  sei  es  ein 
Sternbild,  auf  ihre  Ursache  {akia,  causa)  zurückführen.  Es  geschieht  dies 
in  der  Regel  in  der  Weise,  dass  an  irgend  ein  Begebnis  angeknüpft  und 
darin  die  ahfa,  causa  der  Erscheinung  gefunden  wird.  Um  es  an  einem 
Beispiel  zu  zeigen,  es  gab  in  Rom  eine  Göttin  des  Schweigens,  Muta  oder 
Tacita  genannt,  welche  auch  die  Mutter  der  Lares  cotnpitales  ist.  Um 
Wesen  und  Namen  der  Gottheit  zu  erklären,  wird  Folgendes  erzählt: 
Jupiter  liebte  einst  die  Juturna,  da  warnte  die  Nymphe  Lala  (oder  Lara) 
trotz  des  an  sie  ergangenen  ausdrücklichen  Verbots  die  Juturna  vor  den 
Nachstellungen  Jupiters,  ja  erzählte  das  Liebesabenteuer  sogar  der  Juno. 
Der  Göttervater  benahm  daher  der  Nymphe  die  Sprache  und  liess  sie  von 
Mercur  in  die  Unterwelt  führen.  Auf  dem  Weg  dahin  thut  derselbe  ihr 
Gewalt  an,  durch  die  sie  die  Mutter  der  Lares  compüales  wird  (2,583). 
Die  aetiologische  Elegie  wendet  sich  also  sowohl  an  den  Verstand  als  an 
die  Phantasie  der  Leser;  sie  schöpft  zu  gleicher  Zeit  aus  dem  Born  der 
Gelehrsamkeit  und  dem  Born  der  Poesie ;  sie  musste  daher  ganz  besonders 
den  „docti  poäae" ,  den  Alexandrinern  eine  willkommene  Dichtungsart  sein. 
Meister  derselben  war  Gallimachus,  der  eine  Reihe  von  Legenden,  die  sich 
auf  Feste,  Spiele  und  anderes  bezogen,  in  einer  Sammlung  von  vier  Büchern 
mit  dem  Titel  „AiTia'^  vereinigte.  Durch  ein  loses  Band  wurden  sie  zu- 
sammengehalten; der  Dichter  erzählt  nämlich  im  Eingang  von  einem  Traum; 
ihm  sei  es  vorgekommen,  als  werde  er  von  Lybiens  Gestaden  auf  den 
Helikon  geführt,  dort  sei  er  in  den  Kreis  der  Musen  getreten  und  habe 
sie  nach  den  Ursachen  verschiedener  Dinge  gefragt,  diese  hätten  ihm  ge- 
antwortet und  was  sie  ihm  enthüllt,  gebe  er  in  seinen  Gedichten  wieder. 
Dem  nüchternen  römischen  Verstand  sagte  die  aetiologische  Legende  in 
hohem  Grade  zu;  sehr  deutlich  spürt  man  in  ihren  Sagenkreisen  besonders 
das  Bestreben,  Institute  auf  ihren  Ursprung  zurückzuführen.  So  mag  schon 
ein  reicher  Stoff  vorgelegen  sein,  als  der  grosse  Polyhistor  Varro  in  einem 
prosaischen  Werk  „Aetia^  den  Ursachen  des  römischen  Lebens  nachspürte. 
Auch  der  Grieche  Butas,  wahrscheinlich  der  Freigelassene  des  jüngeren 
Cato  (Plut.  Cat.  m.  70)  schrieb  in  Distichen  römische  akfai.  Der  erste 
aber,  der  die  lateinische  aetiologische  Elegie  pflegte,  war  Properz.     Zu 


OvidB  Sagengedichte.  149 

einem  grossen  römischen  Sagenkranz  rüstete  er  sich,  allein  derselbe  gedieh 
nicht  zur  Vollendung;  nur  einzelne  Bilder  sind  uns  im  5.  Buch  seiner 
Elegien  erhalten.  Das  Beispiel  des  Properz  regte  Ovid  an,  auch  seinerseits 
sich  in  dieser  Dichtungsgattung  zu  versuchen  und  damit  seine  Muse  in 
den  Dienst  des  Vaterlands  zu  stellen. 

Über  die  fttiologische  Dichtung  gibt  tre£fliche  Bemerkungen  Rohde,  Gr.  Roman  p.  24, 
p.  84;  die  Atua  des  Callimachus  werden  fein  analysiert  von  Couat,  La  Poisie  ÄÜxan' 
drine  p.  111. 

302.  Der  Festkalender  (Fasti).  —  Seine  Genesis.  Die  Fasti  Ovids 
wollen  den  Kalender  poetisch  erläutern;  sie  berühren  daher  kurz  die  Er- 
scheinungen am  gestirnten  Himmel,  beleuchten  die  S^alenderzeichen,  schil- 
dern die  Feste  und  Festgebräuche  und  decken  deren  Ursprung  (causa)  auf. 
Wann  Ovid  mit  diesem  Werk  begonnen,  kann  nicht  genau  bestimmt  werden; 
jedenfalls  bald  nachdem  die  Liebesgedichte  beendet  waren.  Das  vierte 
Buch  fällt  in  die  Zeit  3  n.  Ch.  (4, 346).  Die  Natur  des  Werks  brachte  es  mit 
sich,  dass  dasselbe  nicht  in  einem  Zug  konzipiert  werden  musste.  Der 
Dichter  konnte  bald  das  eine  oder  das  andere  Bild  ausführen,  die  Zu- 
sammenfügung erfolgte  leicht  an  der  Hand  des  Kalenders.  Für  die  ein- 
zelnen Bücher  ergab  sich  leicht  der  Rahmen  in  den  zwölf  Monaten.  Die 
erste  Kunde  von  dem  Festkalender  erhalten  wir  durch  den  Brief,  welchen 
Ovid  im  J.  9  gleich  nach  seiner  Ankunft  in  Tomi  an  Augustus  gerichtet 
hatte.     Hier  heisst  es  (2,549): 

sex  ego  Fastorutn  scripai  totidemque  libellos 

cumque  suo  finem  tnense  volumen  habet; 
idque  tuo  nuper  scriptum  süb  nomine,  Caesar, 

et  tibi  sacratum  sors  mea  rupit  opus. 

Nach  diesen  Worten  war  das  Gedicht,  das  aus  12  Büchern  bestand  und 
dem  Augustus  gewidmet  war,  nicht  vollendet,  als  die  Katastrophe  über 
den  Dichter  hereinbrach.  Die  weiteren  Schicksale  derselben  können  nur 
durch  Rückschlüsse  aus  dem  Zustand  des  überkommenen  Werks  ermittelt 
werden.  Darnach  müssen  wir  annehmen,  dass  Ovid  in  der  Verbannung 
das  Gedicht  lange  Zeit  liegen  liess.  Es  ist  dies  sehr  zu  verwundern,  denn 
durch  nichts  hätte  der  Dichter  die  Sünden  der  Ars  so  ausgleichen  können 
als  durch  diese  echt  vaterländische  Schöpfung.  Allein  seine  Dichterkraft 
war  durch  den  ungewohnten  Schlag  so  gebrochen,  dass  nur  klagende 
Weisen  ihm  noch  gelingen  wollten.  Erst  nach  Augustus'  Tod,  nachdem 
sich  seine  Hoffnungen  an  die  Person  des  jugendlichen  Germanicus  geknüpft 
hatten,  trat  das  fast  vergessene  Werk  wieder  vor  seine  Seele.  Da  Ger- 
manicus selbst  Dichter  war  und  das  Lehrgedicht  des  Aratos  bearbeitet 
hatte,  so  erschien  er  als  die  geeignete  Person,  seinen  Namen  an  die  Spitze 
des  Festkalenders  treten  zu  lassen.  Ovid  begann  daher  das  Ganze  umzu- 
arbeiten, um  den  Preis  des  jungen  Fürsten  einzuflechten;  es  drängten  sich 
aber  auch  die  schrillen  Töne  der  Klage  in  das  Gedicht.  Wann  die  Um- 
arbeitung begann,  lässt  sich  nicht  genau  feststellen,  in  einem  bald  nach 
Augustus'  Tod  geschriebenen  Brief  (P.  4, 8),  in  dem  er  sein  poetisches  Talent 
dem  Germanicus  weihen  will,  ist  vermutlich  die  Umarbeitung  der  Fasti  zu 
Ehren  des  Germanicus  beabsichtigt,  aber  auf  keinen  Fall  vollzogen.  Mit 
dem  ersten  Buch  kam  Ovid  zu  Ende,  die  Zeitanspielungen  führen  auf  das 


150    Bömische  LitteraturgeBohichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


Jahr  17,  allem  Anschein  nach  sogar  in  das  Jahr  18,  da  ereilte  ihn  der 
Tod.  In  seinem  Nachlass  fand  man  6  Bücher,  das  erste  umgearbeitet, 
das  zweite  bis  sechste  in  ursprünglicher  Form.  Die  noch  fehlenden  sechs 
Bücher  waren  entweder  in  ganz  unfertigem  ^Zustand  oder  noch  gar  nicht 
angefangen;  ohne  dass  eine  Redaktion  des  jetzt  unharmonisch  gewordenen 
Werks  versucht  wurde,  traten  die  6  Bücher,  in  denen  die  sechs  ersten 
Monate  des  Kalenderjahrs  bearbeitet  sind,  wie  sie  der  Dichter  hinterlassen, 
in  die  Litteratur  ein  und  so  sind  sie  auf  uns  überkommen,  ein  sprechendes 
Zeugnis  von  dem  wandelbaren  Geschick  ihres  Schöpfers. 

Die  Umarbeitung  der  Fasti.  Eine  Betracbtong  der  einzelnen  Bttcher  der  Fasti 
ergibt  folgende  Diskrepanzen:  1)  Im  1.  Buch  ist  das  Werk  dem  Germanicus  gewidmet 
(1, 3),  dagegen  ist  in  Buch  2  ^2, 15)  und  in  Buch  3  (3, 116)  durch  die  Anreden  auf  Augustus 
hingewiesen.  Da  nun  Ovid  m  den  Tristien  2, 551  von  einer  Widmung  seines  Werks  an 
Augustus  spricht,  so  haben  wir  diese  Anrede  in  diesem  Sinn  zu  fassen.  Bloss  eine  Stelle 
ausser  dem  1.  Buch  redet  den  Germanicus  an,  4, 81.  2)  Nur  im  1.  Buch  begegnen  wir 
Stellen,  welche  in  Tomi  geschrieben  sind  z.  B.  1, 283  1, 533),  nicht  aber  in  den  Übrigen 
Büchern  2—6  —  wiederum  mit  einer  Ausnahme,  nftmlich  4,81;  dagegen  weist  3,10  auf 
den  in  Bom  schreibenden  Dichter.  3)  Im  1.  Buch  wird  Augustus  als  tot,  in  den  übrigen 
Büchern  dagegen  als  lebend  vorausgesetzt.  —  Diese  Diskrepanzen  zwingen  zu  folgenden 
Annahmen:  a)  dass  das  Werk  ursprünglich  dem  Augustus  gewidmet  war  und  dass  die 
Bücher  2 — 6  noch  in  dieser  Fassung  vorliegen;  b)  dass  Ovid  später  (nach  dem  Tod  des 
Augustus)  das  Gedicht  dem  Germanicus  widmen  und  dementsprechend  umarbeiten  wollte, 
aber  nur  mit  dem  ersten  Buch  fertig  wurde;  c)  dass  den  übrigen  Büchern  nur  eine  Stelle 
(4,81)  hinzugefügt  wurde;')  d)  dass  Ovid  an  der  Umgestaltung  der  Bücher  2 — 6  durch 
den  Tod  verhindert  wurde,  da  die  Spuren  der  Umarbeitung  bis  in  diese  Zeit  führen.  Sind 
diese  Folgerungen  richtig,  so  haben  wir  weiter  anzunehmen,  dass  die  Fasti  nicht  von  Ovid 
selbst  herausgegeben  wurden.') 

Diese  Hypothese  wurde  von  Mebkel  in  seiner  Ausg.  p.  CCLYI  begründet,  dann  ergftnzt 
und  im  einzelnen  berichtigt  von  Pbtsb  in  seiner  Ausg.  p.  9  und  Fleckeis.  J.  111, 499  und  von 
Enoegel,  De  retractatione  Fdstorum  ab  Ovidio  Tomia  inatituta,  Montabaur  1885.  (Verfehlt 
ist  die  unklare  Modifikation  Goldscheidebs,  De  retrtictatione  Fastarum  Ovidii  1877,  vgl. 
p.  2.)  Ihr  gegenüber  verdient  Rieses  Hypothese,  ,dass  Ov.  die  Fasti  im  ganzen  so  wie 
wir  sie  besitzen,  noch  in  Rom  vor  seiner  Verbannung  schrieb  und  sie  von  Anfang  an  dem 
Germanicus  widmete  und  nur  einzelne  Stellen  in  verschiedenen  Zeiten  änderte  oder  hinzu- 
fügte* (also  an  der  Tristienstelle  gelogen  habe),  keine  Beachtung  (Fleckeis.  Jahrb.  109,568). 

303.  Würdigang  des  Werks.  In  den  Amores  hatten  wir  eine  Reihe 
selbständiger  Einzelbilder,  die  nur  durch  den  Namen  der  Corinna  eine 
Einheit  erhielten.  In  den  Fasti  dagegen  machte  der  Dichter  den  Versuch, 
eine  Anzahl  von  Einzelgemälden  zu  einem  Ganzen  zu  verbinden,  also  einen 
Elegienkranz  herzustellen.  Es  geschieht  dies  in  der  Weise,  dass  die  Ge- 
dichte an  den  Tagen  des  Kalenders  aneinandergereiht  werden.  Freilich 
entsteht  dadurch  keine  innere  Einheit,  ja  der  Rahmen  zwingt  nicht  selten, 
Zusammengehöriges  auseinanderzuziehen  und  denselben  Mythus  an  mehreren 
Stellen  zu  behandeln.  Auch  wird  der  Stoff,  da  der  Dichter  doch  auch  den 
Kalender  in  das  Gedicht  aufnehmen  muss,  ein  geteilter,  ein  astronomischer 
und  ein  antiquarischer,  wodurch  eine  gewisse  Disharmonie  in  das  Ganze 
kommt.  Das  Astronomische  hat  der  Dichter  sehr  leicht  genommen,  leichter 
als  man  es  bei  einem  Verfasser  von  Phaenomena  erwarten  sollte,  schwere 
Fehler  sind  ihm  unterlaufen.  Das  Interesse,  das  uns  diese  Partien  ge- 
währen, liegt  lediglich  in  der  Anschaulichkeit  der  Schilderungen  und  in 
dem  Wechsel  des  Ausdrucks,  dann  in  den  anmutigen  Sternmythen,  den 

^)  Man  hat  auch  als  einen  späteren  Nach-  ^)  Der  ursprüngliche  Prolog  geriet  hie- 

trag 6f  666  ansehen  wollen,  mit  Unrecht  vgl.      bei  an  den  Aniang  des  zweiten  Buchs. 
Merkel  p.  CCLVIII;  Knoegsl  p.  17. 


(MdB  Sagengediohte.  151 

xataariQKffioij  welche  angeschlossen  werden.  Gern  verweilt  das  Gedicht 
bei  den  für  das  römische  Volk  denkwürdigen  Tagen,  besonders  bei  den 
Tagen,  welche  Marksteine  für  das  Herrscherhaus  geworden  sind;  hier 
findet  er  Gelegenheit  zu  patriotischen  Ergüssen  und  zur  Bekundung  seiner 
Hingabe  an  das  Kaisergeschlecht.  Doch  die  Glanzseite  des  Werks  sind 
die  poetischen  Illustrationen  zum  Festkalender.  Ein  Stück  römischen 
Lebens  und  Denkens  zieht  in  diesen  reizenden  Schöpfungen  an  unsern 
Augen  vorüber.  Bald  ist  es  ein  Ereignis  der  Gegenwart,  wie  ein  Festzug, 
bald  die  mythische  Vorzeit,  die  uns  geschildert  wird,  bald  ist  es  ein 
düsteres,  baJd  ein  heiteres  Bild,  bald  sind  es  flüchtig  hingeworfene  Skizzen, 
bald  eine  mit  reichen  Zügen  ausgestattete  Zeichnung,  immer  gefällig,  an- 
mutig und  erfrischend.  Die  Darlegung  der  Ursachen  (catisae)  wird  in  ver- 
schiedenster Weise  eingeführt,  einmal  lässt  er  die  beteiligten  Götter  Ent- 
hüllungen machen,  ein  andermal  ist  es  eine  Person  der  Gegenwart,  welche 
ihm  Aufschluss  erteilt,  auch  aus  seinem  Wissensschatz  will  er  geschöpft 
haben  (6,417).  In  diesen  Kunstmitteln  konnten  ihm  die  alexandrinischen 
Meister  Fingerzeige  geben ;  in  dem  Stoff  war  er  auf  römische  Quellen  an- 
gewiesen. Allein  an  weitschichtige  Studien  ist  bei  Ovid  nicht  zu  denken. 
Er  wird  sich  nach  einem  Leitfaden  umgesehen  haben,  in  dem  der  Kalender 
bereits  aetiologisch  erläutert  war ;  einen  solchen  Leitfaden  hat  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  der  berühmte  Grammatiker  Verrius  Flaccus  verfasst; 
war  doch  gerade  damals  ein  Steinkalender  von  ihm  in  Praeneste  in  sein 
Standbild  eingegraben  worden.  Dass  er  daneben  noch  die  eine  oder  die 
andere  Quelle  ausgeschöpft,  ist  nicht  zweifelhaft.  Sonach  werden  wir  das 
Verdienst  Ovids  vorwiegend  in  der  Formgebung  zu  suchen  haben,  allein 
dies  schmälert  die  Bedeutung  des  Werks  nicht.  Auf  der  richtigen  Fassung 
des  Edelsteins  beruht  ja  die  Macht  seines  Glanzes. 

Die  astronomischen  Fehler  stellt  zusammen  Idblbr,  Abh.  der  Berl.  Akad.  1822/23 
p.  168.  —  Über  die  Einführung  von  Göttern  zur  Darlegung  der  causae  ygl.  Pbtkb  p.  15. 

Quellen  der  Fasti.  Dass  Ovid  einen  Kalender  und  zwar  einen,  der  auf  der 
julianischen  Kalenderreform  beruhte,  fOr  sein  Gedicht  benützte,  ist  selbstverständlich. 
Merkel  versuchte  in  den  gelehrten  Proleg.  zu  seiner  Ausgabe  den  Nachweis,  dass  als 
kalendarischer  Leitfaden  Ovid  vorlag  ein  den  Fasti  Maffeiaui  ähnliches  Werk.  Demgemäss 
nahm  er  diese  Fasti  in  die  Tenbner'sche  Ausgabe  der  ovidischen  Dichtung  auf.  Diese 
Fasti,  die  sich  auf  das  kalendarische  Fachwerk  nebst  einigen  andern  Angaben  beschränkten, 
musste  dann  Ovid  ergänzen,  erweitem  und  poetisch  ausschmücken  (locupletavü  studioae  et 
%Uu8traf>U  copioae).  Um  aber  dies  durchzufünren,  waren  dem  Dichter  noch  andere  Quellen 
nOtig,  ja  in  denselben  lag  sogar  der  Schwerpunkt  der  Arbeit.  Dieser  Anschauung,  in  der 
sich  auch  Hülsens  Dissertation  Varronianae  doctrinae  —  vestigia,  Berl.  1880  bewegt,  trat 
WuvTHBB  mit  dem  Satz  entgegen,  dass  Ovid  alles  fast  nur  aus  einer  einzigen 
Quelle  geschöpft  (De  fastia  Verrü  FlacH  ah  Ovidio  adhibUia,  Berl.  1885).  Ein  Ver- 
gleich der  vorhandenen  Steinkalender  mit  Ovids  Fasti  ergibt  auffallende  Übereinstimmungen 
des  Dichters  mit  den  Fasti  Praenestini,  d.  h.  den  Fasti,  die  der  Grammatiker  Verrius  Flaccus 
redigierte,  und  die  auf  sein  Standbild  in  Praeneste  eingegraben  wurden.  Diese  Überein- 
stimmungen beziehen  sich  nicht  bloss  auf  das  Kalendarische,  sondern  —  was  von  besonderer 
Wichtigkeit  ist  —  auch  auf  das  Ätiologisch- Antiquarische.  Nach  MoiofSEN  ist  dieser  prae- 
nestinische  Steinkalender  aber  nur  ein  Auszug  aus  dem  gelehrten  Buchkalender  des  Verrius 
Flaccus.  WiNTHER  fügt  p.  42  die  Bemerkung  hinzu,  dass  dieser  Buchkalender  allem  An- 
schein nach  auch  in  des  Verrius  Fhiccus  eigenem  Werk  „de  verborum  aignificatu" ,  das  uns 
im  Auszug  des  Festus  vorliegt,  exzerpiert  wurde.  Da  nun  Ovid  ebenfalls  aus  einem 
Buchkalender  schöpfte  (1, 657),  so  vermutet  WurrHER,  dass  jener  Buchkalender  auch  Ovid 
vorlag.  Und  daran  dürifte  kein  Zweifel  gestattet  sein,  dass  des  Verrius  Kalenderhandbuch 
Führer  Ovids  war.  Allein  dass  daneben  auch  noch  andere  Quellen  beigezogen  wurden, 
kann  ebensowenig  bestritten  werden;  es  wird  daher  Aufgabe  der  weiteren  Forschung  sein, 


152    BömiBohe  LitteratnrgeBohiohte.    n.  Die  Zeit  der  Honarchie.    1.  Abteilang. 


die  Beobachtung  Wikthebs  zu  ergänzen ,  wobei  zwischen  dem  astronomiachen,  kalendarischen 
und  antiquarischen  Teil  genau  zu  scheiden  ist. 

Oberlieferung:  Von  den  jüngeren,  stark  interpolierten  und  darum  sehr  unzuver> 
lässigen  Handschriften  sondern  sich  ab  der  Vaticanus  Reginae  s.  Petavianus  1709  s.  X,  der 
Vaticanus  s.  Ursinianus  3262  s.  XI,  endlich  der  Monacensis  s.  Mallerstorfiensis  s.  XÜ/XIII 
(„Reginae  codex  amnium  testis  est  certissimus  ac  lange  optimus;  Monacensis  et  gut  haud 
fMÜto  melior  est  Vaticanus  dubiosis  Jods  nihil  praestant  nisi  interpolationes**  E^ueoeb,  de 
Ov,  fastis  recens,,  Schwerin  1887  p.  20). 

Litteratur:  Grundlegend  sind  die  ausführlichen  Prolegomena,  welche  Mebkbl 
seiner  Ausgabe  Berlin  1841  vorausgeschickt  hat  und  welche  p.  III — CGXCIV  umfassen. 
Petes,  Ober  den  Inhalt  und  die  Entstehungszeit  von  Ovids  Fasten  in  s.  Ausg.  p.  9.  Riese 
in  seiner  Ovidausgabe  3  p.  VI. 

304.  Die  Metamorphosen.  Die  Geschichte  seiner  Metamorphosen 
teilt  uns  der  Dichter  in  seinen  Tristia  1,  7, 13  mit.  Das  Werk  war  fertig, 
als  ihn  die  Verbannung  nach  Tomi  traf.  Von  Schmerz  überwältigt,  warf 
er  angeblich  mit  eigener  Hand  das  Gedicht  ins  Feuer.  Allein  es  waren, 
wie  es  weiter  heisst,  von  demselben  bereits  Abschriften  genommen;  diesen 
fehlte  natürlich  die  letzte  Hand  des  Dichters.^)  Dieser  erwartet  daher 
von  dem  Leser,  dass  er  der  Schicksale  des  Werks  stets  eingedenk  sein 
werde,  um  nicht  durch  die  Gebrechen  zu  einem  lieblosen  Urteil  verleitet 
zu  werden.  Die  Welt  der  Sage  ist  es,  welche  den  Gegenstand  der  fünf- 
zehn in  Hexametern  geschriebenen  Bücher  bildet.  Aber  nur  die  Mythen 
sind  ausgewählt  worden,  welche  auf  einer  Verwandlung,  einer  Metamor- 
phose beruhen.  Die  Entstehung  dieser  Sagenform  ist  nicht  schwer  zu 
ergründen.*)  Der  Glaube  an  eine  Fortdauer  nach  dem  Tod  wurzelt  tief  im 
menschlichen  Gemüt;  fasslich  stellt  sich  dem  natürlichen  Menschen  dieser 
Glaube  als  ein  Übergang  in  ein  anderes  Wesen  dar.  Besonders  beliebt 
war  das  Fortleben  als  glänzendes  Gestirn  am  Himmel.  Dieser  Glaube  an 
den  Übergang  der  einen  Wesen  in  die  anderen  konnte  sich  aber  auch  in 
der  entgegengesetzten  Weise  äussern.  Man  konnte  von  der  Natur  aus 
Rückschlüsse  auf  den  Menschen  machen.  Man  bemerkte  z.  B.  Ähnlich- 
keiten zwischen  menschlichen  und  tierischen  Eigenschaften,  man  sah  in 
Gegenständen  der  Natur  Umrisse  menschlicher  Körperteile,  was  lag  für 
die  naive  Anschauung  näher  als  solche  Vergleichungen  in  Metamorphosen 
umzusetzen?  Die  dichterische  Phantasie  kam  hinzu  und  die  Erzählung 
war  fertig.  Auf  diese  Weise  erarbeitet  sich  jedes  Volk  einen  Sagenschatz. 
Besonders  das  hochbegabte  Griechenvolk  erzeugte  eine  unerschöpfliche  Fülle 
solcher  Mythen.  Es  war  ein  ausserordentlich  glücklicher  Gedanke  Ovids, 
diese  Verwandlungssagen  in  einem  dichterischen  Kranz  den  Römern  vorzu- 
führen. An  Mustern  fehlte  es  nicht;  der  Grieche  Nicander  hatte  ein  hexa- 
metrisches Gedicht  mit  dem  Titel  "^Exsqotov^uva  geschrieben,  von  dem  be- 
kannten Griechen  Parthenius  gab  es  Metamorphosen,  auch  ein  Römer 
Aemilius  Macer  hatte  eine  Omithogonia  verfasst  (§  268).  Ovid  beginnt 
seinen  Sagenkranz  mit  der  Bildung  der  Welt  und  schliesst  denselben  mit 
der  Verwandlung  Caesars  in  ein  Gestirn.  Dadurch  erhält  der  Leser  eine 
scheinbare  chronologische  Entwicklungsreihe.  ^  Ruhepunkte  verschmäht  der 
Dichter,  unablässig  eilt  der  Strom  der  Erzählung  bis  zum  Schluss,  selbst 


^)  In  den  letzten  Büchern  deutet  manches 
auf  einen  unfertigen  Znstand  hin  (M.  Haupt 
zu  13,441). 


^)  Vgl.  die  Einleitung  in  der  Ausg.  von 
M.  Haupt. 


Ovids  Sagengediohte.  153 

die  einzelnen  Bücher  werden  nicht  durch  scharfe  Einschnitte  voneinander 
geschieden.  Nicht  leicht  war  es,  die  Verbindung  des  einen  Mythus  mit 
dem  andern  herzustellen.  War  ein  Mythus  in  mehreren  Versionen  ver- 
breitet, so  wählt  natürlich  der  Dichter  diejenige,  welche  einen  bequemen 
Übergang  zu  der  folgenden  Erzählung  gestattet.*)  Oft  genügt  eine  leise 
Modifikation  der  Sage,  um  das  überleitende  Motiv  zu  gewinnen.^)  Nicht 
selten  ist  das  Band  auch  ein  ganz  äusserliches.^)  Ein  nicht  unbeträcht- 
licher Teil  der  Verwandlungen  wird  episodisch  eingewoben.  Es  tritt  der 
Sänger  Orpheus  auf  und  trägt  eine  ganze  Reihe  von  Vei*wandlungssagen 
vor.  Die  drei  Töchter  der  Minyas  unterhalten  sich  bei  ihren  Wollarbeiten 
mit  Erzählungen  (4,40).  Der  Wettstreit,  den  Minerva  und  Arachne  in 
der  Webekunst  miteinander  bestehen,  gibt  Anlass,  durch  Vorführung  der 
von  den  Kämpfenden  gewobenen  Bilder  wiederum  eine  Reihe  von  Meta- 
morphosen anzubringen  (6, 1).  Manchmal  begnügt  sich  der  Dichter  mit  kurzen 
Andeutungen  über  eine  ganze  Schicht  von  Mythen.  Als  Medea  durch  das 
Luftmeer  die  Flucht  ergriff,  werden  die  Orte,  über  die  sie  fliegt,  durch 
Verwandlungssagen  charakterisiert  (7,  350).  Als  eine  der  Töchter  des 
Minyas  ihre  Erzählung  beginnen  soll,  schwankt  sie  und  weiss  nicht,  welche 
Sage  sie  herausgreifen  soll.  Allein  das  Schwanken  ist  nur  ein  Eunstmittel, 
durch  welches  ermöglicht  wird,  eine  Serie  von  Metamorphosen  flüchtig  zu 
streifen  (4,43).  Und  noch  andere  Wege  schlägt  der  Dichter  ein,  um  ein 
verknüpfendes  Band  zu  erhalten,  das  eine  oder  andere  Motiv  wird  er 
von  seinen  Vorgängern  entlehnt  haben.  So  erstaunlich  aber  auch  die  Ge- 
schicklichkeit des  Dichters  in  dem  Aufbau  des  Ganzen  ist,  so  ruht  doch 
nicht  in  ihr  der  Schwerpunkt  seiner  Kunst.  Dieser  ruht  vielmehr  in  der 
Darstellung.  Die  Anmut,  Leichtigkeit,  Anschaulichkeit,  Mannigfaltigkeit 
derselben  ist  bewunderungswürdig.  Immer  findet  der  geniale  Erzähler 
neue  Mittel,  um  den  Leser  zu  packen  und  Ermüdung  abzuwehren.  Die 
Verwandlungen  lässt  er  vor  unsern  Augen  vollziehen;  hiebei  weiss  er  ge- 
schickt den  Übergang  so  auszumalen,  dass  derselbe  uns  wahrscheinlich 
erscheint.  Auch  sein  retorisches  Können  verwertet  er  in  geeigneter  Weise. 
Er  entwirft  meisterhafte  psychologische  Zeichnungen,  ja  selbst  ein  be- 
rühmtes Redeturnier  hat  er  in  dem  Streit  zwischen  Ajax  und  Ulixes  um 
die  Waffen  Achills  eingeflochten  (13, 1).  Kleine  Widersprüche,  Anachro- 
nismen scheut  der  aller  Pedanterie  abholde  Meister  nicht;  er  rechnet  darauf, 
dass  die  Freude  an  dem  frischen  Strom  der  Erzählung  kleinliche  Mäke- 
leien nicht  aufkommen  lassen  werde.  In  jeder  Beziehung  war  das  Werk 
ein  gelungenes;  mit  wohlberechtigtem  Stolz  konnte  er  in  dem  Epilog  sagen: 

iamque  opus  exegi,  quod  nee  Jörns  ira  nee  ignis 
nee  poterit  ferrum  nee  edax  aholere  vetustas. 

Die  Quellen.  Die  Frage  nach  den  Quellen  liegt  bei  den  Metamorphosen  ganz 
anders  als  bei  den  Fasti.  Bei  dem  letzten  Werk  war  ein  Kalender  als  Leitfaden  unent- 
behrlich, auch  über  die  aitiat  (causae)  musste  sich  der  Dichter  aus  Schriften  instruieren, 
da  diese  gelehrten  Dinge  ihm  wohl  nur  zum  Teil  geläufig  waren.  In  den  Metamorphosen 
dagegen  hat  er  es  mit  einem  Stoff  zu  thun,  mit  dem  er  von  Jugend  auf  sich  vertraut  ge- 
macht hatte  und  in  dem  er  als  Dichter  sehr  bewandert  sein  musste.  Übrigens  standen  ihm 
hier  auch  die  reichsten  Quellen  zu  Gebote.    Eine  Anzahl  Dichter  hatte  die  Verwandlungs- 

»}  M.  Haupt  zu  2, 406  (der  Übergang  *)  M.  Haupt  zu  1, 438. 

im  Widerspruch  zu  8,  99).  ^)  M.  Haupt  zu  2, 531. 


154    BömiBche  litteratnrgesohiohte.    ü.  Die  Zoit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

sagen  bearbeitet,  alexandrinische  Epyllien  suchten  sich  hier  ihre  Themate,  die  Tragödien- 
dichter boten  verwendbares  Material;  endlich  wird  es  auch  an  niTthologischen  Kompendien 
nicht  gefehlt  haben.  Da  uns  diese  Quellen  nur  zum  Teil  erhalten  sind,  so  ist  das  Ver- 
hältnis Ovids  zu  denselben  schwer  zu  beurteilen.  Aus  dem  Altertum  liegt  ein  Zeugnis  vor: 
Prob,  zu  Verg.  Georg,  p.  44  E.  sagt:  varia  est  opinio  harum  tfoluerum  (sc,  cScifanum} 
originis.  liaque  in  altera  sequUur  Ovidius  Nicandrum,  in  altera  Theodarum  etc.  Die 
Nicandrische  Sage  haben  wir  11,270,  die  des  Theodor  7,401.  Bezüglich  der  letzteren 
Quelle  fehlt  uns  zu  weiterer  Prüfung  jeder  Anhalt,  da  wir  von  Theodor  so  gut  wie  nichts 
wissen.  Besser  steht  es  mit  der  ersten;  durch  Antoninus  Liberalis  sind  uns  mehrere  Er- 
zählungen erhalten,  welche  aus  Nicanders  hexametrischem  Gedicht  *EtBQotovfABva  zusanunen- 
gestellt  wurden.  Ein  Vergleich  zwischen  Ovid  und  Nicander  führt  einmal  zu  dem  Resultat, 
dass  die  meisten  Sagen  Nicanders  auch  bei  Ovid  vorkommen.  Eine  genauere  Analyse  der 
einzelnen  Stücke  deckt  aber  viele  Abweichungen  im  einzelnen  auf,  dieselben  erschienen 
RoHDE,  Gr.  Rom.  p.  127  so  einschneidend,  dass  ihm  die  Benützung  Nicanders  von  Seiten 
Ovids  zweifelhaft  erschien.  Allein  bei  einigen  Sagen,  wie  der  von  Ascalabus  (5,446  = 
Ant  c.  24)  und  der  von  Iphis  (9, 666  =  Ant.  c.  17)  ergeben  sich  doch  einleuchtende  Gründe 
für  die  nicht  sehr  wesentlichen  Diskrepanzen.  Es  halten  daher  Knaack,  Analecta,  Greifsw. 
1880  p.  54  und  Plaehn,  De  Nicandro,  Halle  1882  p.  48  daran  fest,  dass  Nicander  zu  den 
Vorlagen  Ovids  gehörte.  Wichtiger  ist,  dass  jenes  antike  Zeugnis  auf  Mehrheit  der  Quellen 
in  den  Metamorphosen  deutet.  Diese  lässt  sich  nicht  verkennen;  wir  ersehen  aus  seinen 
Schilderungen  die  Benützung  Homers,  der  griechischen  Tragödien,  Euphorions  (Schultze, 
Euphorionea,  Strassb.  1888  p.  26;  vgl.  bes.  fr.  28  mit  Met.  7,  406  p.  33),  Vergils  u.  a. 
Interessant  ist  die  Beobachtung  Robebts  (Bild  und  Lied  p.  281, 5),  dass  Ovid  die  Hypo- 
thesis  der  Medea  einsah  und,  durch  dieselbe  irre  geführt,  der  Veriüngung  Aisons  die  Ver- 
jüngung der  Erzieherinnen  des  Bacchus  (7,294)  folgen  liess.  Auch  Kontamination  der 
Quellen  ist  anzunehmen;  vgl.  Haupt  zu  13,  705.  Die  Quellenforschung  muss  bei  den  Meta- 
morphosen sich  zur  Sagenforschung  gestalten;  solche  Untersuchungen  lieferten  über  die 
Phaetonsage  Knaack  in  Philol.  Unters,  von  Kiessling  u.  Wilamowitz  8.  H.  (Berl.  1886), 
über  die  Meleagerfabel  Subbeb,  Zürich  1880,  über  den  Raub  der  Persephone  Föbsteb, 
Stuttg.  1874,  über  Pol3rphom  und  Galatea  Holland,  Leipz.  Stud.  7, 253, 272, 275  (mehrere 
Quellen),  Von  Wichtigkeit  ist  die  l^Vage,  ob  die  Zusammenstellung  der  Mythen  ganz  als 
eigenes  Werk  Ovids  anzusehen  sei.  Es  ist  dies  die  herrschende  Ansicht.  Allein  es  lassen 
sich  Zweifel  nicht  unterdrücken.  Wir  kennen  nämlich  eine  Verbindung  der  Phaetonsage 
mit  dem  M3rthu8  von  der  deukalionischen  Flut;  der  durch  den  Blitzstrahl  des  Jupiter  ent- 
fachte Weltbrand  soll  durch  die  grosse  Flut  gelöscht  werden.  Dieser  Verbindung  folgt 
zwar  Ovid  nicht,  er  knüpft  die  Flut  an  die  Verdorbenheit  der  Menschen,  bes.  des  Lycaon 
an,  allein  er  kennt  auch  jene  Verbindung,  denn  an  zwei  Stellen  (1, 253  und  2, 309)  wehrt 
er  sie  ab.  Es  muss  also  schon  zu  Ovids  Zeiten  Darstellungen  von  Mythen  gegeben  haben, 
welche  dieselben  in  einen  Konnex  zu  einander  brachten  (Mayeb,  Hermes  20,  135).  In 
manchen  Fällen  können  wir  sogar  nachweisen,  daSs  Ovid  seinen  Übergang  nach  fremdem 
Muster  gebildet  hat,  für  1,450  war  ihm  Vorbild  Euphorion  fr.  47,  &r  7,294  die  Hypo- 
thesis  zur  Medea  (vgl.  das  oben  hierüber  Gesagte). 

Überlieferung:  Die  Haupthandschrift  ist  der  Codex  Marcianus  225  s.  XI  in  Florenz. 
, Überall  da,  wo  der  Marcianus  versagt  (und  das  ist  leider  sehr  oft  der  Fall),  ist  ein  festes 
Prinzip  in  dem  Verfahren  der  Herausgeber  nicht  erkennbar*  (Magnus,  Studien  zu  Ovids 
Met.,  Berl.  1887'  p.  8).     Habthan,  De  Ovidii  metamorphoseein  edendis  Mnemos,  18, 164. 

y)  Dritte  Periode  der  Ovidischen  Poesie:  Die  Dichtungen  von  Tomi. 

305.  Die  Elegien  der  Klage  (Tristia).  Solange  der  SonneDglanz 
in  das  Leben  Ovids  hineinleuchtete,  blühte  auch  der  Baum  seiner  Poesie. 
Der  erste  Sturm,  der  über  ihn  hereinbrach,  knickte  nicht  bloss  den  Dichter, 
sondern  legte  sich  auch,  ein  eisiger  Hauch,  um  seine  Dichtung.  Es  wurde 
klar,  dass  ihm  die  Poesie  zwar  Schmuck  des  Lebens,  aber  nicht  jene  gött- 
liche Gabe  war,  welche  selbst  über  dem  Leid  und  Weh  verklärend  schwebt. 
Auf  seiner  Leier  verstummten  jetzt  Scherz  und  Spiel,  nur  klagende  Weisen 
wollten  auf  ihr  noch  gelingen;  denn  nach  des  Dichters  Meinung  bringt  ja 
bloss  Sonnenschein  das  echte  Lied  zur  Entfaltung  (T.  1,1,39): 

carmina  proveniunt  animo  dedticta  sereno. 

Trübe  Tage  trüben  auch  den  Strom  der  Dichtung  (T.  5, 1,5): 

flebilis  ut  noster  Status  est,  ita  flebile  carmen. 


OTids  Diohtaxigen  von  Tomi.  155 

Dieses  , klagende*  Lied  vernehmen  wir  fortan  bis  zum  Tode  des  Dichters. 
Aber  selbst  in  dieser  Leidenszeit  fliesst  die  reiche  Ader  seines  Geistes  un- 
unterbrochen, für  seinen  Nachruhm  allzu  reichlich.  Schon  auf  der  ge- 
raume Zeit  währenden  Reise  wuchs  ihm  eine  Anzahl  Gedichte  unter  den 
Händen  empor.  Die  trüben  Erinnerungen  an  die  Katastrophe  und  die 
mannigfachen  Erlebnisse  gestalteten  sich  ihm  zu  poetischen  Bildern; 
auch  war  der  Zusammenhang  mit  Rom  noch  nicht  völlig  unterbrochen, 
er  hörte  auf  den  Zwischenstationen  das  eine  oder  andere  von  seiner  Frau, 
von  Treue  wie  Untreue  der  Freunde,  das  seinen  dichterischen  Geist  an- 
regen konnte.  Noch  war  die  Reise  nicht  vollendet,  und  bereits  waren 
neun  Gedichte  beisammen,  darunter  die  tief  ergreifende  Elegie,  in  der  er 
seinen  Abschied  von  Rom  erzählt,  und  die  auch  in  GoetKe  nachklang,  als 
er  Rom  verliess  (1,3).^)  Es  waren  gerade  genug,  um  ein  Buch  zu  füllen; 
mit  einem  Epilog  und  einer  Vorrede,  in  der  er  dem  Büchlein  väterliche 
Lehren  über  sein  Verhalten  in  Rom  gibt,  versehen,  wanderte  dasselbe, 
noch  ehe  Ovid  Tomi  erreichte,  nach  Rom.  Es  ist  das  erste  Buch  der 
Tristia.  Als  der  Verbannte  in  Tomi  angekommen  war,  empfand  er  erst 
die  volle  Schwere  seines  Unglücks.  Es  war  ein  Kastell,  eine  griechische 
Kolonie  von  Milet,  in  der  jedoch  das  gotische  Element  die  Oberhand  hatte 
(T.  5, 7).  Es  wurde  daher  meist  gotisch  gesprochen,  das  Griechische  wurde 
nur  wenig  gehört,  das  Lateinische  war  ganz  unbekannt; 

barbarus  hie  ego  sum,  quia  non  inteüegor  üfli, 

klagte  der  Dichter  (5, 10, 37).  Die  Schrecken  des  E[lima  im  Winter  waren 
furchtbar;  dazu  kam,  dass  die  Kolonie  fortwährend  auf  der  Hut  vor  den 
umherschweifenden  wilden  Völkerstämmen  sein  musste,  selbst  der  des 
kriegerischen  Handwerks  ungewohnte  Dichter  musste  zu  Wehr  und  Waffen 
greifen.  Und  an  solchen  Ort  wurde  plötzlich  ein  Mann  verwiesen,  der  bisher 
in  allen  Annehmlichkeiten  des  hauptstädtischen  Lebens  geschwelgt,  der  sich 
an  anregendem  Umgang  dichterischer  Freunde  gesonnt,  der  nur  die  süsse 
Stimme  des  Beifalls  vernommen  hatte.  Was  Wunder,  wenn  dem  ohnehin 
schwachen  Mann  das  Herz  brach,  wenn  er  Jahr  für  Jahr  seine  Jammer- 
rufe nach  Rom  gelangen  liess,  um  Mitleid  und  Erbarmen  zu  finden?  Gleich 
nach  seiner  Ankunft,  bevor  die  Schrecknisse  des  Winters  ihn  bedrängt 
hatten  (vor  dem  Winter  9/10),  arbeitete  er  eine  grosse  Elegie  von  nahezu 
600  Versen  an  Augustus  aus,  sie  zählt  jetzt  als  zweites  Buch  in  der  Samm- 
lung; er  hoffte  durch  sie  wenigstens  das  zu  erreichen,  dass  er  an  einen 
andern,  Italien  näher  gelegenen  Verbannuhgsort  verwiesen  würde.  Diese 
Elegie  kann  als  seine  Rechtfertigungsschrift  gelten;  da  er  über  den  einen 
Punkt  der  Anklage,  um  nicht  anzustossen,  leicht  hinweggehen  musste,  so 
sucht  er  um  so  eifriger  den  andern,  die  Abfassung  der  Liebeskunst,  ab- 
zuschwächen. Freilich  dürfte  Augustus  über  manche  der  vorgebrachten 
Entschuldigungen  im  Stillen  gelächelt  (211),  ja  einen  oder  den  andern  un- 
schicklich gefunden  haben  (511).  Der  Brief  blieb  ohne  Wirkung.  Trotz- 
dem erlahmte  der  Dichter  nicht;  noch  weitere  drei  Bücher  füllte  er  mit 
seinen  Jammerrufen,  sie  bilden  den  dritten,  vierten  und  fünften  Teil  der 


')  It.  Reise  Gotta'sche  Ausg.  1871  Bd.  25  p.  157. 


156     BOmiflche  LitteratargeBchichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

Sammlung  und  gelangten  nacheinander  in  den  Frühjahren  10, 11  und  12  nach 
Rom.  Es  ist  eine  furchtbar  enge  Welt,  in  welche  wir  eingespannt  werden. 
Im  Grunde  genommen  sind  es  nur  drei  Gedankenkreise,  welche  trotz  aller 
Variationen  immer  und  immer  wiederkehren,  die  Entschuldigung  seines 
Vergehens  und  die  Schilderung  seines  traurigen  Loses;  und  diese  zwei 
Gedankenkreise  münden  schliesslich  in  den  dritten,  in  den  Euf  nach  Er- 
lösung aus.  Ein  grosses  Feld  für  poetische  Gestaltung  gewährt  keine 
dieser  drei  Sphären,  in  der  ersten  ist  es  die  heilige  Versicherung  der  IJn- 
absichtlichkeit  und  Unbesonnenheit,  in  der  zweiten  die  Schilderung  des 
harten  Winters  und  der  feindlichen  Einfälle,  welche  den  Verbannten  in 
dem  Einzigen,  was  er  noch  hat,  dem  Leben,  bedrohen,  in  der  dritten  die 
Bitte  um  einen  andern  Verbannungsort,  welche  das  dichterische  Material 
liefert.  An  der  unaufhörlichen  Wiederkehr  des  letzten  Gedankens  scheitert 
die  Kunst  des  Dichters.  In  der  Lage,  in  der  sich  der  Verbannte  befand, 
konnte  er  nur  das  thun,  was  seinerzeit  Silvio  PelUco  gethan,  er  konnte 
schlicht  und  einfach  ohne  vordringliche  Klage  sein  Unglück  und  seine  Er- 
lebnisse erzählen;  damit  hätte  er  sicherlich  eine  nachhaltige  Wirkung  er- 
zielt. So  sind  es  nur  einzelne  Stücke,  wie  die  an  seine  Frau  gerichteten 
Elegien,  in  denen  er  unser  Herz  packt;  in  fast  allen  übrigen  zeigt  er  sich 
schwach  und  weibisch,  und  ermüdet  mit  seinen  Wehrufen  den  Leser. 

Chronologie  der  Tristia.  Jedes  der  fünf  Bficher  ist  als  eine  Einheit  gedacht;  bei 
dem  aus  einem  Brief  bestehenden  (2)  ist  dies  selbstverständlich,  die  übrigen  werden  durch 
Prologe  und  Epiloge  zu  selbständigen  Werken.  Als  später  Ovid  seine  Briefe  ex  Pento  schrieb, 
machte  er  am  Schlnss  des  dritten  Buchs  auf  die  nichtchronologische  Anordnung  dieser  erst 
später  gesammelten  Briefe  aufmerksam  und  brachte  sie  dadurch  in  stillschweigenden  Gegen- 
satz zu  den  früher  veröffentlichten  Tristia.  Und  wirklich  ergibt  die  Betrachtung  der  chrono- 
logischen Indicien  in  diesen  Stücken,   dass  die  fünf  Bücher  nach  der  Zeit  geordnet  sind. 

Das  erste  Buch  umfasst  die  £[lagelieder,  welche  auf  der  Reise  entstanden.  Dies 
sagt  der  Eingang  des  Epilogs  aufs  deutlichste.  Dieses  Gedicht  wurde  geschrieben,  als  der 
Dichter  im  Begriff  war,  von  Samothrake  nach  Thracien  überzusetzen,  um  dort  die  Land- 
reise nach  Tomi  anzutreten.  Der  Winter  ist  bereite  zu  Ende  und  der  Frühling  naht.  Es 
war  der  Frühling  des  J.  9  n.  Gh.,  um  diese  Zeit  wird  die  Sammlung  ihren  Abschluss  ge- 
funden haben  und  noch  ehe  der  Dichter  in  Tomi  anlangte,  nach  Rom  geschickt  worden 
sein.  Gegen  die  letzte  Behauptung  könnten  die  Worte  8, 39  ora  sinistri  Ponti  etc.  be- 
denklich machen  und  zur  Annahme  verleiten,  es  sei  dieses  Gedicht  erst  in  Tomi  zu  der 
fertigen  Sammlung  hinzugetreten  und  diese  dann  schleunigst  nach  Rom  gesandt  worden. 
Allein  vor  die  Wahl  gestellt,  die  klar  ausgesprochenen  Schlussworte  des  ersten  Buchs  für 
irrig  zu  halten  oder  „haec  ora**  in  gewissermassen  vorgreifendem  Sinn  zu  nehmen  (vgL 
5,  62  10, 42),  wählen  wir  ohne  Bedenken  das  letztere. 

Im  zweiten  Buch,  der  Epistel  an  August,  spricht  er  im  allgemeinen  von  dem 
schrecklichen  Klima  seines  Yerbannungsorts,  er  malt  aber  nicht  die  Schrecknisse  des 
Winters,  er  fürchtet  zwar  feindliche  Einfälle,  aber  er  schildert  sie  nicht.  Es  ist  daher  zu 
vermuten,  dass  dieses  Gedicht  noch  vor  dem  Eintritt  des  Winters  9/10  fertig  wurde. 

Das  dritte  Buch  dagegen  kennt  sowohl  den  Winter  als  den  durch  denselben 
hervorgerufenen  Einbruch  der  feindlichen  Stämme,  aber  auch  der  Frühling  naht  bereits 
und  der  Dichter  feiert  seinen  Geburtstag  im  Monat  März;  das  Buch  kann  daher  nicht  vor 
Frühling  10  abgeschlossen  worden  sein. 

Die  Datierung  des  vierten  Buchs  stützt  sich  auf  zwei  Zeitangaben;  4,6, 19  wird 
des  zum  zweitenmal  (seit  der  Verbannung)  erschienenen  Herbstes  gedacht;  da  Ovid  erst 
etwa  Anfang  Dez.  des  J.  8  in  das  Exil  ging,  so  ist  der  zweite  Herbst  der  des  J.  10.  In 
der  zweiten  Angabe  (4,  7)  wird  gesagt,  dass  die  Sonne  zweimal  ihren  Lauf  begonnen  und 
zweimal  durch  den  Eintritt  in  das  Zeichen  der  Fische  vollendet.  Zum  zweitenmal  sieht 
er  seit  der  Verbannung  die  Sonne  ihren  Lauf  vollenden  Frühjahr  11.  Also  muss  nach 
dieser  Zeit  das  Buch  ediert  sein. 

Das  10.  Gedicht  des  fünften  Buchs  ist  geschrieben,  seit  Ovid  drei  Winter  in 
Tomi  erlebt;  es  ist  der  Winter  11/12.  Obwohl  das  Frühjahr  12  im  Buch  nicht  angedeutet 
ist,  wird  doch  höchst  wahrscheinlich  die  Vollendung  des  Buchs  in  dasselbe  fallen. 


Orids  Biphtiingen  von  Tomi.  157 

Die  chronologische  Reihenfolge  der  fünf  Bücher  der  Tristia  steht 
demnach  fest.  Aber  auch  die  Elegien  der  einzelnen  Bücher  sind  (wenn  wir  von  den 
zuletzt  geschriebenen  Einleitungsgedichten  absehen),  soweit  wir  sehen  können,  chronologisch 
angeordnet  (Schulz,  Quaest,  Oüid,^  Greif sw.  1883  p.  12). 

Überlieferung:  Über  dieselbe  belehrt  uns  die  sorgfältige  Untersuchung  Tanks, 
De  Tristibus  Ovidii  recensendis,  Greifsw.  1879.  Nach  derselben  ist  das  Fundament  der 
Rezension  der  alte  Teil  des  Laurentianus-Marcianus  223  (s.  XI),  der  1,5,11 — 3,7,1  und 
4, 1, 12 — 4, 7, 5  enthält.  Sekundären  Wert  für  diese  Partie  haben  noch  der  Guelferbytanus 
Gudianus  192  s.  XIII  und  der  Vaticanus  1606  s.  XIII.  Für  die  Partien,  in  denen  uns  die 
alte  Partie  des  Laur.  fehlt,  sind  die  Führer  die  genannten  Guelferbytanus  und  Vaticanus 
„qui  8i  certam  interpolationia  suspicionem  movetU,  Politianus  I  et  Pal,  II  et  ei  etiam  hi 
idem  Vitium  praebent,  Gothanus  testis  adhibendus  est"  (p.  60). 

806.  Die  pontischen  Briefe  (Epistulae  ez  Fonto).  Die  Tristien 
waren  für  die  gesamte  gebildete  römische  Welt  bestimmt;  es  finden  sich 
zwar  auch  Briefe  in  denselben,  allein  da  der  Verfasser  die  Namen  der 
Adressaten  aus  Furcht,  ihnen  Unannehmlichkeiten  zu  bereiten,  nicht  nennt, 
so  mussten  sie  eine  allgemeine  Fassung  erhalten  und  den  individuellen 
Charakter  ganz  abstreifen.  Neben  diesen  für  das  grosse  Publikum  be- 
stimmten Dichtungen  hatte  der  Verbannte  sicherlich  auch  dem  einen 
oder  andern  hochmögenden  Freund  und  Oönner  sein  Leid  in  poetischer 
Rede  ausgegossen.  Nach  der  Herausgabe  der  Tristien  im  J.  12  n.  Ch. 
scheint  er  aber  der  Überzeugung  gelebt  zu  haben,  dass  er  auf  diese 
Weise  eher  zum  Ziel  gelange.  Er  fasste  daher  die  verschiedensten  Per- 
sonen ins  Auge,  um  durch  Briefe  ihre  Fürsprache  bei  dem  Herrscher  zu 
gewinnen.  Diese  Briefe  kamen,  an  ihre  Adresse  gelangt,  auch  in  andere 
Hände,  es  wurden  ihm  Urteile  über  dieselbe  berichtet.  In  diese  Zeit  fällt 
ein  Ereignis,  an  das  Ovid  die  grössten  Hoffnungen  knüpfte,  der  pannonische 
Triumph  des  Tiberius,  der  am  16.  Jan.  13  n.  Ch.  gefeiert  wurde.  Jetzt 
glaubte  er  die  Gelegenheit  gekommen,  neuerdings  beim  Hofe  anzuklopfen. 
Zwar  an  den  kalten  Tiberius  wagte  er  sich  nicht  direkt  heran,  hier  blieb 
er  an  der  Grenze  eines  mühsam  zusammengestoppelten  Panegyricus  auf 
den  Triumphator,  den  der  Autor  selbst  durch  den  Vers 

ut  deaint  vires,  tarnen  est  laudanda  voluntas 

schützt,  stehen  (3, 4, 79).  Dagegen  erschien  es  weniger  bedenklich,  sein  Glück 
bei  dem  jungen,  durch  dichterische  Neigungen  ausgezeichneten  Germanicus 
zu  versuchen;  der  Umstand,  dass  dieser  Prinz  auch  einige  kriegerische 
Lorbeeren  in  Dalmatien  sich  erworben,  bot  eine  schickliche  Handhabe, 
daran  den  Hinweis  auf  einen  künftigen  Triumph  des  jungen  Helden  zu 
knüpfen.  Allein  der  Erfolg  blieb  aus.  Die  fehlgeschlagenen  Hoffnungen 
erweckten  in  ihm  einen  Funken  männlicher  Kraft;  in  einem  denkwürdigen 
Gedicht  (3,7)  findet  er  endlich  einmal  einen  Ausdruck  für  den  Mut  der 
Resignation.  Im  J.  13  n.  Ch.  kam  ihm  der  Gedanke,  auch  diese  poetischen 
Privatbriefe  dem  Publikum  vorzulegen;  natürlich  bedurfte  es  dazu  der  Er- 
laubnis der  Adressaten.  Sie  wurde  ihm  gewährt,  da  jetzt  Unannehmlich- 
keiten nach  so  langer  Zeit  nicht  mehr  zu  befürchten  waren.  Nur  einer 
wollte  seinen  Namen  nicht  hergeben  (3,6,5).^)  Die  gesammelten  Briefe 
stellte  Ovid  zu  drei  Büchern  zusammen  und  schickte  sie  zur  Herausgabo 


1)  Auch  8, 7,  an  die  Freunde  gerichtet  (v.  9),  ist  ohne  Adresse,  femer  4, 8  an  einen 
Ungetreuen  und  4, 16  an  einen  Invidus. 


158    BOmiBohe  Litteratnrgeaohiohte.    tl.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

an  den  Anwalt  Brutus  nach  Rom.  Die  drei  Bücher  sollten  ein  Ganzes 
bilden,  es  trat  daher  an  ihre  Spitze  ein  Prolog  in  Form  einer  Anrede  an 
Brutus,  das  dritte  Buch  wurde  durch  einen  Epilog  abgeschlossen ;  im  Innern 
fehlt  es  dagegen  an  scheidenden  Merksteinen.  In  dieser  Sammlung  stehen 
aber  nicht  bloss  die  Privatbriefe  aus  den  Jahren  12  und  13,  auch  solche 
aus  früherer  Zeit  wurden  eingereiht.  Ein  chronologisches  Prinzip  wie  in 
den  Tristien  ist  daher  hier  nicht  wahrzunehmen,  „sine  ordine"  wurden  die 
Briefe  zusammengestellt,  nur  wo  es  das  Verständnis  absolut  notwendig 
machte,  wurde  der  frühere  Brief  dem  späteren  vorausgestellt.  Wie  die 
Tristien  sind  auch  diese  Briefe  reich  an  Klagen; 

invenies,  quamvia  non  est  miserahÜis  index, 
non  minus  hoc  Vlo  triste,  quod  ante  dedi, 

sagt  der  Dichter  (1,1,15);  allein  sie  sind  doch  zugleich  innerlich  von  den 
Trauerelegien  verschieden.  Während  durch  Verschweigung  der  Adressen 
in  den  Tristien  das  Persönliche  in  den  Hintergrund  treten  musste,  ist 
dieses  in  den  pontischen  Briefen  stark  herangezogen.  Dadurch  kommt 
aber  zu  den  unmännlichen  Klagen  noch  die  viel  abstossendere  Eigenschaft 
der  Schmeichelei  und  Kriecherei.  Dem  poetischen  Werte  nach  stehen  daher 
diese  drei  Bücher  weit  unter  den  Tristien.  Sie  verraten  nach  allen  Seiten 
hin  den  gebrochenen  Mann.  Nicht  lange  nach  dem  Erscheinen  der  drei 
Bücher  starb  Augustus  (19.  Aug.  14  n.  Ch.).  Die  Folgen  des  Todes  für 
seine  Sache  verhehlte  sich  der  Arme  nicht,  er  wusste,  dass  mit  Augustus 
so  manche  Hoffnung  ins  Grab  gesunken  sei  (4,6,15): 

coeperat  Augustus  dece^tae  ignoscere  culpae; 
spem  nostram  terras  deseruitque  simul. 

Einem  Ertrinkenden  gleich  machte  er  doch  noch  einige  Versuche,  den  Hof 
umzustimmen.  Gleich  nach  dem  Tod  des  Kaisers  sandte  er  einen  Pan- 
egyricus  auf  denselben  in  die  Hauptstadt  (4, 6, 17).  Selbst  in  getischer 
Sprache,  die  er  mittlerweile  gelernt  hatte,  verkündete  er  das  Lob  des 
Augustus  und  des  Herrscherhauses  (4, 13, 23)  und  machte  davon  dem  bei 
Germanicus  verweilenden  Garus  Mitteilungen.  Allein  bei  Tiberius  wollte 
nichts  fruchten.  Und  so  musste  denn  allmählich  die  Hoffnung  auf  Er- 
lösung erblassen  und  eine  resignieri;e  Stimmung  an  ihre  Stelle  treten. 
Von  diesem  Umschlag  legt  das  vierte  Buch  der  Epistulae  Zeugnis  ab, 
das,  wie  es  sich  an  fast  ganz  andere  Personen  als  die  vorausgegangenen 
Bücher  wendet,  so  auch  in  dem  Ton  merklich  von  ihnen  absticht.  Selbst 
zu  Scherz  findet  er  wieder  die  Kraft,  so  wenn  er  in  anmutiger  Weise 
klagt,  dass  er  den  Namen  Tuticanus  nicht  ins  Metrum  hineinbringe  (4, 12). 
Die  Zeitspuren  dieses  vierten  Buchs  erlöschen  mit  dem  Jahr  16  n.  Gh. 
Dass  nicht  bloss  Briefe,  die  nach  dem  Erscheinen  der  drei  Bücher  ent- 
standen waren,  sondern  auch  solche  aus  früherer  Zeit,  ja  sogar  aus  dem 
Anfang  der  Verbannung  aufgenommen  wurden,  kann  wahrscheinlich  ge- 
macht werden.  Ob  das  Buch  von  Ovid  selbst  herausgegeben  wurde,  ist 
zweifelhaft;  das  Fehlen  einer  Einleitung  wenigstens  spricht  nicht  dafür. 

Chronologie  der  Briefe.  Da  Ovid  die  Briefe  in  den  drei  ersten  Büchern 
„sine  ordine"  zusammengestellt,  so  kann  ihre  Chronologie  lediglich  durch  Betrachtung  der 
Zeitverhältnisse  in  den  einzelnen  Stücken  ermittelt  werden.  Festes  Datum  enthalten  nur 
zwei  Gedichte;  1, 2,  28  erwähnt  die  „quarta  hiems**,  f&llt  also  in  den  Winter  12/13  n.  Ch., 


Ovids  Biohtangen  von  Toxni.  159 

1,  8, 28  gedenkt  der  vier  in  Tomi  zugebrachten  Herbste,  ist  sonach  Herbst  12  n.  Ch.  ver- 
fasst.  Bei  den  übrigen  Briefen  sind  wir  auf  Schlussfolgerungen  aus  Andeutungen  hinge- 
wiesen. Einen  festen  Punkt  bildet  der  Triumph  des  Tiberius  16.  Jan.  13  n.  Gh.;  um  den- 
selben gruppieren  sich  6  Gedichte  (2, 1  2,  2  3, 1  3, 3  2,5  3, 4) ;  ihre  Zeit  ist  daher  im  all- 
gemeinen gegeben.  Weiterhin  lassen  sich,  je  nachdem  der  Brief  auf  längere  oder  kürzere 
Dauer  des  £xils  schliessen  lässt,  zwei  Klassen  von  Briefen  konstituieren.  In  die  erste  Zeit 
der  Verbannung  gehören  1,3  1,6  2, 6.  Bei  den  Briefpaaren  (1, 3  u.  3, 4  1, 6  u.  2, 6  1, 2  u.  3, 3) 
kann  die  Priorität  des  einen  vor  dem  andern  festgestellt  werden.  Dhjbs  Einleitungsgedicht 
und  Epilog  erst  als  die  Sammlung  fertig  war,  gedichtet  worden,  ist  selbstverständlich. 

Aus  dem  für  sich  zu  betrachtenden  vierten  Buch  ergeben  sich  mehr  Data.  Sie 
reichen  von  Ende  13  (4,4)  bis  Sommer  16  (4,9).    Dazwischen  liegen  4,5  (Anfang  14), 

4.10  (Sommer  14),  4,6  u.  4,8  (Herbst  14),  4,13  (Winter  14/15).  Bei  anderen  sind  all- 
gemeine Fixierungen  möglich;  vor  Augustus'  Tod  sind  zu  setzen  4, 1  4, 12  u.  4, 14,  nach 
Augustus*  Tod  4,15  u.  4,7.  Aber  auch  hier  kommen  wir  in  frühere  Zeiten.  So  muss  4,2, 
vorausgesetzt  dass  der  Adressat  Severus  derselbe  ist,  früher  sein  als  1,8;  denn  4,2  ent- 
schuldigt sich  Ovid,  dass  er  bisher  den  Severus  noch  nicht  genannt,  in  1,8  ist  aber  Severus 
angeredet.  Noch  weiter  zurück,  bis  in  die  ersten  Zeiten  des  Exils,  führt  4,  3.  Also  auch 
für  das  vierte  Buch  bleibt  das  „sine  ardine"  in  Kraft 

Litteratur:  Die  Frage  der  Chronologie  der  Verbannungsgedichte  kam  in  der  jüngsten 
Zeit  durch  die  Forschung  über  das  Jahr  der  Schlacht  am  Teutoburgerwald,  welche  BRAimss 
1877  (Fleckeis.  J.  115,  349)  in  Zusammenhang  mit  der  ovidischen  Chronologie  brachte, 
in  Fluss.  Diese  Chronologie  der  Teutoburger  Schlacht  ist  auch  in  den  Abhandlungen  von 
ScHBADBB,  Fleckeis.  J.  115  p.  846;  Meyeb,  Zeitschr.  f.  Gymn.  1878  p.  449  und  Matthias, 
Fleckeis.  J.  129,  193  der  massgebende  Gesichtspunkt  Für  sich  behandelten  dann  die 
Chronologie  der  Verbannimgsgedichte  in  trefflichen  Abhandlungen  Gbabbeb,  Quaest,  Ovid, 
p,  I,  Elberf.  1881  p.  IE— IX.  Schulz,  Quaest,  Ovid.,  Greifsw.  1883,  Wabtenbbbo,  Quwsi. 
Ovid.,  Berl.  1884. 

Die  Adressaten.    An  die  Frau  Ovids  sind  gerichtet:  T.  1,6  3,3  4,3  5,2,1 — 44 

5. 11  5,14  P.  1,4  3,1.  Die  übrigen  Adressaten  zerfallen  im  wesentlichen  in  zwei  Klassen, 
in  die  der  hochstehenden  Gönner  und  in  die  der  gleichstehenden  Freunde.  Die  verschiedene 
Rangklasse  der  Adressaten  führt  auch  einen  wesentlich  verschiedenen  Briefton  herbei.  In 
die  erste  Klasse  gehören  ausser  den  fürstlichen  Personen  die  Brüder  Graecinus  und  Flacc'us 
aus  dem  Geschlecht  der  Pomponier,  Fabius  Maximus,  die  Söhne  des  Messala:  M.  Valerius 
Corvinus  Messala  und  M.  Aurelius  Cotta  Maximjis,  Sex.  Pompeius,  zu  der  anderen  Macer, 
Tuticanus,  C.  Severus,  Brutus,  Carus  u.  a.  Über  diese  Persönlichkeiten  handeln  Kooh, 
Prosopographiae  Ovid.  elementa,  Breslau  1865;  Gbaebsb  1.  c.  und  Untersuchungen  etc., 
Elberi.  1884;  Lobbntz,  de  amicorum  in  Ovidii  Trist,  personis,  Leipz.  1881.  Nahe  lag  der 
Gedanke,  auch  den  verschwiegenen  Adressaten  in  den  Tristia  nachzuspüren,  zumal  da  von 
vornherein  zu  erwarten  stand,  dass  diese  nicht  selten  mit  denen  der  pontischen  Briefe 
identisch  sind.  Diese  Frage,  der  Lobentz  und  Gbaebbb  wie  Schulz  1.  c.  (der  letztere 
nebenbei)  sich  zuwendeten,  ist  natürlich  mit  den  grössten  Schwierigkeiten  verbunden. 

Oberlieferung:  Die  Haupthandschriften  sind  Hamburg,  s.  XII,  Monacensis  384 
8.  Xll/Xin  und  Monacensis  19476. 

307.  Das  VerwttnschimgBgedicht  Ibis.  Bei  der  gelehrten  Richtung 
der  Alexandriner  konnte  es  nicht  an  Differenzen  und  gegenseitigen  Reibe- 
reien fehlen;  ^  sehr  heftige  erregten  die  verschiedenen  Anschauungen  über 
die  Aufgabe  der  Poesie  zwischen  Callimachus  und  seinem  Schüler  Apollo- 
nius,  dem  Rhodier.  Sie  verfolgten  sich  gegenseitig  durch  boshafte  Epi- 
gramme und  Anspielungen,  auf  den  Höhepunkt  gelangte  der  Streit  durch 
ein  Gedicht  des  Callimachus,  in  welchem  er  alles  Unheil  auf  seinen  Oegner 
herabwünscht.  Dieser  Fluchgesang  führte  den  Titel  nach  dem  unreinen 
Yogel  Ibis.  Selbstverständlich  muss  irgend  ein  Band  zwischen  Ibis  und 
ApoUonius  bestanden  haben,  das  Callimachus  gestattete,  mit  jenem  Vogel 
seinen  Gegner  zu  bezeichnen.  Einige  überkommene  Notizen  gewähren  hier 
etwas  Licht.  ApoUonius  hatte  die  Gründungsgeschichten  verschiedener 
Städte  geschrieben,  darunter  befand  sich  auch  Naukratis.    Da  er  auch  „der 


')  Gbroks,  IUl  Mus.  44, 126. 


160    BOmiBohe  LitteratiirgeBcliichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


Naukratite''  genannt  wurde,  so  darf  man  wohl  vermuten,  dass  er  das 
Ehrenbürgerrecht  von  der  Stadt  erhalten.  In  Naukratis  befand  sich  aber 
ein  Heiligtum  des  Theut,  dem  der  Vogel  Ibis  heilig  war  (Plato  Phaedr.  274c). 
Da  dieses  Wahrzeichen  von  Naukratis  zugleich  unsaubere  Vorstellungen 
erweckte,  so  eignete  es  sich  zum  Schimpfnamen  für  den  Rivalen.  Von 
dem  Pamphlet  des  Callimachus  ist  uns  nichts  erhalten;  aus  Ovid  erfahren 
wir  aber,  dass  dasselbe  einen  (verhältnismässig)  kleinen  Umfang  hatte  und 
die  Verwünschungen  in  einer  sehr  eigentümlicheji  Form  vorbrachte,  indem 
der  Autor  sie  in  „dunkle  Geschichten"  (caecae  historiae)  einhüllte  und  den 
geraden  Weg  verschmähte  (57).  Dieser  Manier  schloss  sich  Ovid  in  seinem 
Schmähgedicht  an;  als  eine  blosse  Übersetzung  dürfen  wir  aber  das  Werk 
nicht  betrachten,  denn  sonst  hätte  er  seinen  Verwünschungen  nicht  sum- 
marisch diejenigen  hinzufügen  können,  welche  Callimachus'  Ibis  enthielt 
(447).  Auch  darin  folgt  der  Römer  dem  Griechen,  dass  er  seinen  Feind 
vorläufig  Ibis  nennt,  mit  dem  wahren  Namen  will  er  erst  dann  heraus- 
rücken, wenn  der  Gegner  von  seinem  boshaften  Treiben  nicht  ablassen 
sollte.  Wer  dieser  Gegner  war,  ist  bis  zur  Stunde  unaufgehellt  und  wird 
wohl  auch  unaufgehellt  bleiben,  denn  es  sind  der  individuellen  Züge  von 
ihm  zu  wenige  vorhanden.  Aus  Vers  219  muss  man  auf  seine  Geburt  in 
Afrika  schliessen,  nach  seiner  (14  und  234)  hervorgehobenen  Thätigkeit  auf 
dem  Forum  hat  man  auf  einen  Sachwalter  oder  Delator  geraten,  ein  Wort 
im  Vers  19  lässt  ehemalige  freundliche  Beziehungen  zwischen  ihm  und 
Ovid  vermuten.  Allein  damit  gewinnen  wir  kein  Bild  einer  Persönlichkeit. 
Etwas  mehr  erfahren  wir  Über  sein  Treiben;  der  Eingang  des  Gedichts 
erzählt  uns,  dass  er  immer  von  neuem  das  Vergehen  Ovids  aufrüttelt  und 
dasselbe  auf  dem  Forum  breitschlägt,  dass  er  die  Frau  des  Verbannten 
bedrängt  und  —  dies  ist  das  Gravierendste  —  das  Vermögen  Ovids  an 
sich  zu  bringen  sucht.  Auch  in  den  Tristia  erscheint  ein  Freund,  dem 
Ovid  mit  dem  Wechsel  des  Glücks  und  der  Nemesis  (5,8)  und  mit  »Ver- 
ewigung" durch  ein  Gedicht  droht  (4,9);  auch  kehrt  hier  der  Zug  wieder, 
dass  der  Feind  immer  von  neuem  auf  das  Verbrechen  Ovids  zurückkommt, 
gegen  seine  Sittenlosigkeit  deklamiert  und  ihn  mit  bitteren  Worten  verfolgt 
(3,11,  Vs.  19,31,63).  Diese  Person  ist  vermutlich  mit  dem  Ibis  identisch^) 
und  jene  angedrohte  dichterische  „Verewigung"  wäre  sonach  durch  den 
„Ibis"  aiusgeführt  worden.  Der  Stoff  war  Ovid  nicht  sympathisch,  er  konnte 
sich  rühmen,  in  den  Fünfziger  Jahren  zu  stehen,  ohne  seine  Muse  dem 
Angriff  dienstbar  gemacht  zu  haben  (1);  auch  die  Eompositionsweise  des 
Callimachus  mit  ihrer  „tiefen  Nacht"  mutete  ihn  fremdartig  an  (58,60). 
Nachdem  der  Anlass  zu  dem  Gedicht  erzählt  ist,  schreitet  der  Dichter  zur 
Inscenierung ;  es  werden  alle  Götter  herbeigerufen,  der  Unhold  aber  auf- 
gefordert, an  einen  Altar  zu  stehen,  indess  der  Dichter  als  Priester  seines 
harten  Amtes  walten  will.  Mit  Vers  107  bricht  das  Hagelwetter  los,  in 
staunenswerter  Redefülle  wird  dem  armen  Sünder  alles,  was  das  Leben 
qualvoll  gestaltet,  gewünscht,  selbst  der  Tod  soll  keine  Erlösung,  sondern 
neues  unsägliches  Elend  bringen.    Doch  lässt  sich  dieser  Teil  noch  ver- 


*)  Graeber   (Quaest,  Ovid,  p,  X)  zieht 
auch  noch  den  impröbus  bei,   der  die  ver- 


fänglichen Stellen  Augustus  vorlas  (T.  2, 77) 
und  den  P.  4,3  bekämpfton. 


Die  Dichtungen  von  Tomi.  161 

stehen,  da  leitet  der  Gedanke  „Du  bist  zum  Unglück  geboren^  zur  Nacht, 
zu  den  «dunkelen  Geschichten''  über,  und  damit  beginnt  für  den  Leser 
eine  entsetzliche  Marter.  Alles  Unheil,  das  je  in  der  Sage  und  in  der 
Geschichte  vorgekommen,  wird,  wahrscheinlich  aus  Kompendien,  hervor- 
geholt und  in  kurzen  dunkelen  Umschreibungen,  wobei  besonders  die 
Patronymika  vortreffliche  Dienste  leisten,  dem  Feind  entgegengeschleudert. 
Es  ist  zum  Wahnsinnigwerden,  und  wenn  der  Gegner  diese  Flut  von 
Schmähungen  jährlich  an  seinem  Geburtstag  und  am  Neujahr  über  sich 
ergehen  lassen  muss,  so  ist  es  wahrlich  der  Strafe  genug. 

Risse,  Zur  Beurtheilung  von  Ovidius'  und  Eallimachos'  Ibis,  Fleckeis.  Jahrb.  109, 377. 

Die  Überlieferung  beruht  auf  dem  Turonensis  s.  XII,  dem  Cantabrigiensis  s.  XII 
und  dem  Vindob.  s.  XII/XUI.  (Maag,  De  Ibidoe  Ovtdii  eodicibus,  Bern  1887.)  Über  die 
SchoUen  zu  dem  Gedicht  vgl.  Ehwald,  De  scholiasta  qui  est  ad  Ovidii  Ibin  commentcttiOy 
Gotha  1876,  der  zu  dem  Resultat  kommt  (p.  11):  nan  duUto  interpretem  propter  seholiorum 
ipaorum  naiuram  septimo  vel  octavo,  cuitis  barhariam  Ula  spirant,  adscribere  aaeetüo;  ac 
ai  testimanüs  istis  tenuibua,  quae  ex  eJocutione  eiua  comparantur,  fidere  velia,  eum  clerieum 
fuisse  {n  GaUia  degentem  conicias,  «Die  Ibisscholien  einfach  über  Bord  zu  werfen,  wäre 
ebenso  falsch  als  sie  ohne  Bedenken  zu  citieren  —  es  ist,  wenn  auch  nicht  in  allen,  so 
doch  in  vielen  Fällen  möglich,  die  Spreu  vom  Weizen  zu  sondern.*  Gbffcken,  Die  Ealli- 
machoscitate  der  IbisschoHen,  Hermes  25, 91. 

808.  Das  Gedicht  von  den  Fischen  (Halieutica)  —  ein  Fragment 
von  134  Hexametern,  schlecht  überliefert,  in  dem  zuerst  über  die  List  der 
Fische  gehandelt,  dann  zu  den  Landtieren  übergegangen,  endlich  ein  Fisch- 
katalog nach  dem  Aufenthaltsort  entworfen  wird.  Das  Gedicht  lag  bereits 
dem  älteren  Plinius  vor  und  zwar  ganz  in  derselben  fragmentarischen  Ge- 
stalt, in  der  es  uns  überkommen  ist;  derselbe  Autor  gibt  uns  auch  Auf- 
schluss  über  die  Nichtvollendung  des  Gedichts,  indem  er  es  der  letzten 
Zeit  des  Exils  des  Dichters  zuweist.  Es  wurde  die  Ansicht  aufgestellt, 
dass  das  Gedicht  nicht  von  Ovid  herrühre  und  kurz  vor  Plinius  unter- 
schoben wurde.  Allein  die  Nichtvollendung  liesse  sich  in  diesem  Fall  nicht 
recht  erklären. 

Plin.  n.  h.  32, 11  mihi  videniur  mira  et  quae  Ovidiua  prodidit  piscium  ingenia  in  eo 
vdlumine  qitod  Halieuticon  inseribitur,  32,  152  hia  adiciemua  ab  Ovidio  posita  nomina 
(animalia  Bibt  p.  46)  quae  apud  neminem  alium  reperiuntur,  sed  fortassis  in  Ponto 
naaeentia  (naacentium  Haupt)^  übt  id  volumen  supremia  suis  temparibus  incohavit.  An- 
geführt Ovid  im  Index  zu  B.  31  und  32.  Für  die  ünechtheit  spricht  ausführlich  Bibt, 
De  Hälieuticis,  Berl.  1878:  „innotuisse  H.  diximus  simul  atque  edita  sunt  post  nonum  Flini 
librum  et  ante  trieesimum  aUerum  neque  post  Vespasiani  aetatem  neque  ante  Neroneam" 
p.  159  (vgl.  auch  Habtbl,  Zeitschr.  f.  österr.  Gymn.  17,334);  gegen  Bibt:  Zikoeblb,  El. 
philol.  Abh.  2, 1  und  Zeitschr.  f.  österr.  Gymn.  17,  334. 

Die  Überlieferung  beruht  auf  Vindob.  s.  Sannazarianus  277  s.  IX  und  Parisinus 
s.  Thuanens  s.  IX/X. 

809.  Verlorene  Gedichte  Ovids.  Aus  den  drei  Perioden  der  Dich- 
tungen Ovids  sind  Werke  von  ihm  verloren  gegangen.  Am  meisten 
haben  wir  den  Verlust  der  Tragödie  Medea,  die  er  in  der  ersten  Zeit 
seines  poetischen  Schaffens  schrieb  (Am.  2,  18,  18),  zu  beklagen.  Ein 
gewiss  kompetenter  Beurteiler,  Tacitus,  rechnet  sie  neben  der  Tragödie 
Thyestes  des  Varius  zu  den  vorzüglichsten  Werken  (D.  12);  auch  Quin- 
tilian  (10, 1, 98)  hat  von  derselben  eine  sehr  hohe  Meinung,  sie  zeige,  sagt 
er,  was  Ovid  hätte  leisten  können,  wenn  er  es  über  sich  vermocht  hätte, 
seinen  Geist  zu  zügeln.  Nur  zwei  Fragmente  haben  sich  aus  diesem  Meister- 

B«ndbiiGli  der  Uam.  Alteriuxiuiriawnscbftft.    Vm.    2.  Teil.  11 


162    BOmiBche  LitteratnrgeBchichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

werk  erhalten.  Aus  dem  einen  i)  (Senec.  suas.  3,5)  lernen  wir,  dasa  er 
seine  Heldin  wild  hin-  und  herrasen  liess.  Mehr  hilft  uns  der  Brief  der 
Medea  an  Jason,  da  es  höchst  wahrscheinlich  ist,  dass  der  Dichter  hier 
den  Gedankenkreis  seiner  Tragödie  wieder  verwertet  hat.  Dann  wird  auch 
Seneca,  der  ebenfalls  eine  Medea  verfasste,  an  dem  berühmten  Werk  seines 
Vorgängers  nicht  vorübergegangen  sein;  Ähnlichkeiten,  die  sich  zwischen 
Seneca  und  dem  Ovidischen  Briefe  finden,  erklären  sich  durch  die  gemein- 
same Quelle,  die  Tragödie,  am  einfachsten.^) 

Wir  stellen  hier  die  flbrigen  verlorenen  Schriften  Ovids  zusammen,  wobei  wir  auch 
die  nicht  ausschliessen,  welche  wir  in  anderem  Zusammenhang  erwähnt  haben. 

1)  Phaenomena  (Über  die  Sternbilder).  Aus  denselben  teilt  Lactantius  inst, 
div.  2, 5  den  Schluss  mit  (3  elegante  Hexameter),  ein  zweites  Fragment  verdanken  wir 
Prob,  zu  Verg.  Georg.  1, 138. 

2)  Epigrammata  und  Ludicra.    Vgl.  Bahreks,  FPL.  p.  349. 

3)  Epithalamium  für  Fabius  Maximus.    P.  1,2,133. 

4)  Elegie  auf  den  Tod  Messallas.    P.  1,7.30. 

5)  Carmen  triumphale  auf  den  Triumph  des  Tiberius  am  16.  Jan.  13.  P.  3,4. 
Vgl.  oben  p.  157. 

6)  Ein  lateinisches  Gedicht  auf  den  Tod  des  Augustus.  Gleich  nach  dem 
Tod  desselben  verfasst    P.  4,  6, 17.    Vgl.  oben  p.  158. 

7)  Ein  gotisches  Lobgedicht  auf  die  kaiserliche  Familie.  P.  4,  13,  21. 
Vgl.  oben  p.  158. 

8)  Ein  Gento  in  malos  po6tas,  aus  Macers  ^Tetrasticha"  angefertigt  Quint. 
6,  3, 96  Ovidius  ex  tetrastichon  Macri  carmine  librum  in  tnaloa  poetas  eompaauit. 

Von  diesen  Gedichten  ist  am  merkwilrdigsten  das  gotische  Gedicht;  auch  nr.  8  ist 
interessant,  es  ist  der  erste  Cento  der  römischen  Litteratur. 

d)  Pseudoovidiana. 

810.  Die  Klage  des  Nussbaums  (über  nucis).  Das  Thema  des 
aus  91  Distichen  bestehenden  Gedichts  ist  durch  die  Eingangsverse  be- 
zeichnet: 

nux  ego  iuncta  viae,  cum  aim  sine  crimine  vitae, 
a  populo  saxis  praetereunte  noiar. 

Ein  an  einem  Weg  stehender  Nussbaum  beklagt  sich  darüber,  dass  ihm 
die  Vorübergehenden  mit  Steinen  die  Nüsse  abschlagen.  Er  schildert,  dass 
er  sein  hartes  Geschick  nicht  verdient,  nur  seine  Fruchtbarkeit  sei  daran 
schuld.  Auch  sonst  werde  ihm  Zurücksetzung  zu  teil.  Er  preist  glücklich 
die  Bäume,  welche  abseits  stehen  und  ihre  Erträgnisse  dem  Herrn  abliefern 
können.  Nicht  einmal  reif  lasse  man  seine  Früchte  werden.  Leider  fehlten 
ihm  die  Waffen,  sich  zu  verteidigen.  Nur  im  Winter  bleibe  er  unbelästigt. 
Er  wundert  sich,  dass,  da  doch  der  Kaiser  alles  schütze  (143),  er  von  Ver- 
folgung nicht  frei  sei.  Verschiedene  Wünsche  ob  dieses  Unheils  steigen 
in  ihm  auf;  er  schliesst,  alles  wolle  er  erdulden,  wenn  irgend  eine  Schuld 
ihn  belaste;  sei  er  aber  von  Schuld  frei,  so  solle  man  ihn  in  Buhe  lassen. 
Das  Thema  wird  breit  ausgesponnen,  ist  aber  im  ganzen  nicht  un- 
geschickt durchgeführt.  Das  Pathos,  mit  dem  der  Nussbaum  spricht,  er- 
götzt den  Leser.  Nur  die  Ausführung  gehört  dem  Dichter,  das  Thema 
selbst  lag  ihm  in  einem  Epigramm  der  palatinischen  Anthologie  (9, 3)  vor. 
Die  Überlieferung  legt  das  Gedicht  Ovid  bei,  allein  die  Kunst  des  Dichters 


^)  Das  andere  steht  Quint.  8, 5, 6. 

*)  Vgl.  Leo,  Ausgab,  der  Tragödien  Senecas  1, 169. 


'  Psendoovidiana.  163 

ist  eine  andere,   weit  geringere.     Aber  Sprache  wie  metrische  Technik 
weisen  auf  einen  Dichter,  der  bald  nach  Ovid  lebte. 

Vers  73 — 86  sind  die  Spiele  mit  den  Nüssen  eingeschaltet.  Anspielungen  auf  das 
soziale  Leben  15,23.  Erste  kritische  Rezension  von  Wilahowitz  nach  dem  Lauren tianus 
(olim  S.  Marci  223)  s.  XI  in  den  Comm.  Momms.  p.  391,  dann  von  Bähseks,  PLM.  1,  90, 
der  als  zweiten  Vertreter  einen  Leydener  Codex  (Periz.  Q.  7)  s.  XY  beizieht.  Kommentiert 
von  LiKPEMAnif,  Zittau  1844. 

311.  Das  Trostgedicht  für  die  Livia  (Consolatio  ad  Liviam). 
Das  in  237  Distichen  abgefasste  Gedicht,  das  gewöhnlich  Epicedion 
Drusi  genannt  wird,  hat  zur  Voraussetzung  den  Tod  des  Drusus,  der  im 
J.  9  y.  Gh.  in  Deutschland  starb,  und  dessen  Leiche  nach  Rom  überführt 
wurde.  An  die  Mutter  des  Drusus,  Livia,  die  Gattin  des  Augustus,  wendet 
sich  der  Dichter  und  sucht  sie  ob  des  herben  Verlustes  zu  trösten  (341). 
Dabei  nimmt  das  Gedicht  folgenden  Gang:  Zuerst  stellt  er  verschiedene 
Stimmungen  und  verschiedene  Situationen,  welche  sich  an  den  Tod  des 
Drusus  knüpfen,  vor  Augen;  er  malt,  wie  die  Mutter  freudig  der  Heim- 
kehr des  siegreichen  Sohnes  wartet,  jetzt  aber  eine  Leiche  findet,  er  wirft 
unwillig  die  Frage  auf,  was  denn  Livia  von  ihrem  schuldlosen  Leben 
habe,  er  beklagt  das  fortgesetzt  auf  das  Herrscherhaus  hereinbrechende 
Unglück,  mit  gelehrten  Anspielungen  zeichnet  er  die  Trauer  der  Livia 
und  lässt  sie  ihren  Kummer  in  einem  Monolog  aussprechen  (121);  er  wendet 
sich  dann,  nachdem  er  kurz  die  Überführung  des  Drusus  nach  Rom  be- 
rührt, zu  dem  Leichenbegängnis  und  schildert  das  allgemeine  Wehklagen; 
selbst  der  Tibergott  sucht  durch  Austritt  aus  seinem  Bette  die  Verbrennung 
der  Leiche  zu  hindern,  es  bedarf  des  Eingreifens  des  Mars,  ihn  von  seinem 
Beginnen  abzulenken.  Nach  einem  Ausfall  auf  Deutschland  bricht  der 
Dichter  in  neue  Klagen  aus.  Seine  Phantasie  trägt  ihn  zur  Gattin  des 
Drusus,  Antonia;  sie  erscheint  in  ihrem  tiefen  Leid  und  Weh.  Indem 
er  ihr  Trost  zu  spenden  sucht,  erinnert  er  sich  plötzlich,  dass  sein  Ge- 
dicht für  die  Livia  bestimmt  ist,  mit  einer  unvermittelten  Anrede  an  sie 
führt  er  nun  seine  Trostgründe  aus.*)  Zuletzt  lässt  er  den  Dahingeschie- 
denen selbst  (446)  zur  Beruhigung  seiner  Mutter  sprechen. 

In  der  Überlieferung  wird  das  Gedicht  Ovid  beigelegt;  allein  schon 
die  Komposition  spricht,  abgesehen  von  Anderem,  dagegen,  denn  diese 
zeigt  Mängel,  welche  Ovid  nicht  zuzutrauen  sind.  Wenn  nun  der  Dichter 
ein  anderer  als  Ovid  ist,  so  fragt  es  sich,  in  welcher  Zeit  er  gelebt  hat. 
Aus  dem  Gedicht  selbst  erfahren  wir,  dass  der  Dichter,  der  sich  einen 
Ritter  nennt,  der  Bestattung  des  Drusus  beigewohnt  haben  will  (202). 
Auch  ist  für  die  Situation  des  Gedichtes  das  Jahr  9  v.  Gh.,  in  dem  Drusus 
starb,  anzunehmen.  Allein  eine  solche  Annahme  stösst  auf  Schwierigkeiten. 
Der  Dichter  ist  ausgesprochener  Nachahmer  des  Ovid  und  Propertius. 
Wenn  er  nun  aus  den  Tristien,  die  nicht  vor  9  n.  Gh.  entstanden  sind, 
einen  Pentameter  unverändert  (120  =  T.  1,3,42),  einen  zweiten  mit  nur 
geringer  Veränderung  (362  =  T.  2, 426)  entnimmt,  so  kann  die  Consolatio 
nicht  vor  9  n.  Ch.  geschrieben  sein.  Noch  weiter  kommen  wir  herab, 
wenn  wir  die  Verse  361 — 4  mit  Seneca  ad  Polyb.  20,2  vergleichen;  denn 

')  Das  Eintreten  der  consolatio  wird  stark  markiert  mit  den  Worten  (341):  haec, 
optima  mater,  debuerant  luctus  attenuare  tuo8, 

11* 


164     Bömisohe  litteratnrgeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  AbteÜnng. 


auch  hier  müssen  wir  wiederum  den  Dichter  als  Nachahmer  und  zwar 
als  Nachahmer  Senecas  ansehen.  Viel  weiter  werden  wir  aber  nicht  herab- 
gehen können,  denn  der  Verfasser  steht  mit  seinem  Sprachschatz,  mit  seiner 
Verstechnik,  mit  seinen  historischen  Kenntnissen  noch  auf  dem  Boden  des 
ersten  Jahrhunderts  und  nach  dem  Erlöschen  der  julischen  Dynastie  fehlte 
der  Anreiz,  das  Trauergedicht  zu  schreiben.  Die  Elegien  auf  Maecenas, 
welche  ebenfalls  in  diese  Zeit  gehören,  scheinen  bereits  an  unser  Gedicht 
anzuknüpfen^)  und  etwa  im  vierten  Jahrhundert  ahmt  Asciepiadius  in 
seinem  Gedicht  de  Fortuna  eine  Stelle  der  Conaolatio  nach  (v.  9,  10 
[4,148B.]  =  Consol.  371,2). 

Die  Mängel  in  der  Komposition  fasst  scharf  Haüpt,  Opusc.  1,335  zusammen: 
hunc  poetam,  qui  et  apte  c<meetere  carminis  partes  nan  proraus  perdidicU  et  eadem  Uerando 
inopiam  ingenii  ostendit  et  suis  ipse  senteniiis  adversaiur  et  arationem  recte  conformare 
saepius  nescit,  nuüo  pacta  putahimus  esse  Ovidium  Nasonem,  Nur  eine  Probe:  Vers  95 
bedauert  er  Livia,  weil  sie  nicht  am  Todesbett  ihres  Sohnes  weilen  konnte,  Vers  393  ist 
die  Nichtanwesenheit  unter  den  Trostgründen  aufgeführt. 

Die  Nachahmungen  des  Dichters  setzt  ausführlich  auseinander  Hübkbb,  Herrn. 
13  Bd.:  «Für  etwa  60  Verse  sind  die  ovidischen  Vorbilder  nachgewiesen  worden  ^.  160). 
Über  100  Verse  gehen  in  wiederum  mehr  oder  weniger  unmittelbarem  Anschluss  auf  das 
properzische  Vorbild  zurück,  davon  mehr  als  die  Hälfte  (etwa  60)  auf  die  Comeliaelegie 
(p.  176).  Auch  aus  anderen  Autoren  sind  Lesefrüchte  nachzuweisen,  z.  B.  Einiges  aus 
Yergil.  Wichtig  ist  die  Nachahmung  Senecas.  Hiefttr  ist  die  entscheidende  SteUe:  ad 
Polyb.  20,  2  mundo  quidam  minantur  interitum  et  hoc  Universum  quod  omnia  divina  huma- 
naque  complectitur,  si  fas  putas  credere,  dies  aliquis  dissipabit  et  in  confusianem  veterem 
ienehrasque  demerget;  eat  nunc  aliquis  et  singukts  conploret  animas;  —  eat  aliquis  et  fata 
tanium  aliquando  nefas  ausura  sibi  non  pepereisse  conqueratur  =  Vers  361 — 364  ecce  necem 
intentam  caelo  terraeque  fretoque  casurumque  triplex  vaticinantur  opus,  i  nunc  et  rebus 
tanta  impendente  ruina  in  te  solam  oculos  et  tua  damna  refer* 

über  das  Verhältnis  der  Maecenaselegien  zur  Consolatio  vgl.  p.  58. 

Die  Hypothese  Haupts.  Das  Gedicht,  dessen  Überlieferung  eine  ganz  junge  ist, 
wollte  M.  Haupt  in  einer  scnarfsinnigen  Abhandlung  als  ein  Werk  der  Humanistenzeit 
hinstellen.  Mit  Unrecht;  schon  die  Kenntnis  des  in  dem  Gedichte  verarbeiteten  historischen 
Materials  hätte  eine  Belesenheit  erfordert,  wie  sie  kaum  ein  Humanist  besessen.  Und 
selbst  wenn  dieselbe  vorhanden  gewesen  wäre,  so  würde  sich  schwer  nachweisen  lassen, 
woher  der  Humanist  den  Isargus  (386)  und  den  Dacius  Appulus  (387)  genommen;  auch 
würde  Metrik  und  Sprache  sicher  die  Spuren  der  späteren  Zeit  an  sich  tragen.  Das 
bleibende  Verdienst  der  HAUPT'schen  Abhandlung  ist  aber,  dass  er  eine  richtigere  Wert- 
schätzung des  Gedichts,  das  Valokekaeb  zu  den  erlesensten  Produkten  der  römischen 
Poesie  zfiilte  (opusc.  2,  356  Leipz.  1809),  angebahnt  hat. 

Weitere  Geschichte  der  Frage.  Der  erste,  der  die  Hypothese  Haupts  be- 
kämpfte, war  Adlbb.  Allein  seine  Arbeit,  ein  Schulprogramm  von  Anclam  (1851),  blieb 
lange  Zeit  völlig  unbeachtet,  Haupts  Ansicht  dagegen  erfreute  sich  des  allgemeinen  Bei- 
falls; liACHXAjm,  L.  MüLLEB  u.  a.  erklärten  ihre  ausdrückliche  Zustimmung  zu  derselben. 
Erst  E.  Hübneb  lenkte  wiederum  die  Aufmerksamkeit  auf  die  fast  verschollene  Abhand- 
lung Adlebs,  und  führte  des  Näheren  aus,  dass  die  consolatio  antiken  Ursprungs  sei  und 
etwa  dem  2.  Jahrb.  n.  Gh.  angehöre  (Hermes  13, 242).  Noch  mehr  trug  zur  llrschütte- 
rung  der  HAUPT'schen  Lehre  das  kurze,  aber  völlig  durchschlagende  Urteil  BÜohblbbs 
bei  (Philol.  Krit.,  Bonn  1878  p.  21).  Während  aber  Bücheleb  von  einer  genaueren  Be- 
stimmung der  Abfassungszeit  des  Produkts  absieht  und  nur  allgemein  von  einem  späteren 
Jahrhundert  des  Altertums  spricht,  trat  B&hbens  in  seiner  Ausgabe  mit  der  Behauptung 
hervor,  dass  das  Gedicht  im  J.  9  v.  Ch.  geschrieben  wurde.  Allein  dass  dies  unmöglich 
ist,  zeigen  die  Nachahmungen  aus  Ovid.  Bähbens  wurde  bekämpft  von  K  Schbnkl  (Wien. 
Stud.  2,  56),  der  das  Epicedion  in  die  Zeiten  des  Philosophen  Seneca  setzt  In  jüngster 
Zeit  wurde  das  Gedicht  zum  Gegenstand  von  zwei  Dissertationen  gemacht,  von  denen  die 
eine  für  das  Gedicht  das  Intervallum  43 — 68  in  Anspruch  nimmt  (Schaktz  p.  12),  die 
andere  dasselbe  den  ersten  Jahren  der  Regierung  Tibers  zuweist  (Wieding  p.  61).  Allein 
bei  der  letzten  Annahme  sind  wir  gezwungen,  den  Philosophen  Seneca  zum  Nachahmer 
der  consolatio  zu  machen,  was  kaum  glaublich  ist. 


0  Vers  7  Et  quisquam  leges  audet  tibi 
dicere  flendi  berührt  sich  mit  Statins  (silv. 


5,  5, 60)  qui  dicere  legem  flentibus  aut  fines 
audet  eensere  dölendi^ 


Bttckbliok  auf  Orids  Dichtongen.  X65 

Litterator:  Ausgaben  von  M.  Haupt,  Opusc.  1,  316.  BXhbens,  PLM.  1,  97.  — 
WiBOZNO,  de  aetate  consol,  ad  Liviam,  Kiel  1888.  Schaktz,  De  incerti  consoL  ad  Liv, 
deque  carminum  consolatoriorum  apud  Graecos  et  Eomanos  hUtoria,  Marb.  1889. 


312.  Rttckblick  auf  Ovids  Dichtungen.  Ovid  war  kein  tief  an- 
gelegter Mensch,  und  sein  Leben  wurde  nicht  von  der  Ideale  Sonnenglanz 
erleuchtet.  Nicht  zog  es  ihn  hin  zum  öffentlichen  Leben,  er  wandte  sich 
nach  kurzer  Thätigkeit  von  demselben  ab,  nicht  beseelte  ihn  eine  warme 
religiöse  Empfindung,  die  Götterwelt  diente  ihm  zu  Scherz  und  Spiel,  nicht 
erfüllte  ihn  ein  heisser  Drang,  des  Daseins  Rätsel  zu  lösen;  nicht  einmal 
die  Leidenschaft  der  Liebe  hat  ihn  gefangen  genommen,  es  sind  leblose 
Schemen,  denen  seine  Lieder  gelten.  Nur  an  des  Lebens  flüchtigem 
Schaum  und  Tand  hing  sein  Herz.  Als  daher  die  Nacht  des  Unglücks 
über  ihn  hereinbrach,  fand  sie  einen  haltlosen  Mann,  der  die  Würde  im 
Leid  nicht  kannte  und  in  weibische  Klagen  ausbrach.  Ein  Spiegel  seines 
äusseren  Lebens  ist  auch  seine  Dichtung.  Es  ist  keine  neue  gärende  Ge- 
dankenwelt, die  sich  unserem  Geiste  erschliesst,  es  strömt  aus  seinen  Ge- 
bilden keine  tiefgehende  seelische  Empfindung  in  unser  Inneres  herüber, 
es  sind  keine  erhabenen  ethischen  Ideen,  denen  die  Kunst  des  Dichters 
goldene  Fassung  verleiht.  Und  doch  ein  viel  bewunderter  Dichter?  In 
der  Form  liegt  der  Zauber  seiner  Poesie;  die  ausserordentliche  Leichtig- 
keit, einen  gegebenen  Stoff  zu  gestalten,  ist  das  Geheimnis  seiner  Kraft. 
Alles  bekommt  unter  des  Meisters  Händen  eine  berückende  Gestalt.  Sind 
es  äussere  Vorgänge,  die  er  schildert,  so  staunen  wir  über  die  Anschau- 
lichkeit, mit  der  sich  die  Handlung  vor  unseren  Augen  abspielt;  gibt  er 
Lehren,  so  werden  dieselben  durch  treffliche  Bilder  erläutert,  führt  er  uns 
mitten  in  die  Wogen  des  inneren  Lebens  hinein,  so  zeigt  er  sich  als 
kundiger  Seelenmaler,  der  mit  wundervoller  Kraft  die  verschiedenen  Affekte 
zeichnet.  Ja  nicht  selten  führt  die  unerschöpfliche  Lust  im  Bilden  sogar 
zum  geistreichen  Spiel  und  man  erkennt  den  ehemaligen  fleissigen  Zögling 
der  Rhetorschule,  er  spitzt  die  Gedanken  zu,  er  lässt  einen  Gegenstand 
bald  in  dieser  bald  in  jener  Beleuchtung  erscheinen,  er  breitet  eine  leise 
Ironie  über  das  Gesagte,  er  flicht  eine  gelehrte  Bemerkung  ein,  er  macht 
eine  kleine  Digression;  selbst  der  Vers  wird  diesem  leichten  Spiel  dienst- 
bar gemacht,  wie  wenn  z.  B.  die  beiden  Pentameterhälften  benutzt  werden, 
um  Bild  und  Gegenbild  ans  Licht  treten  zu  lassen.  Überall  erfrischt  uns 
die  echte  Schaffensfreude  des  Meisters,  der  rasch  dahingleitende  Vers,  der 
hin-  und  herschillernde  farbenreiche  Ausdruck,  der  durchsichtige  Gedanke. 
Es  ist  kein  Zweifel,   Ovid  ist  der  genialste  Erzähler  der  Römer. 

Litteratur:  a)  Gesamtausgaben  von  Nie.  Hedysius,  Amsterdam  1661  (3  Bde.)> 
von  P.  BuRMAim  (cum  notis  variarum),  Oxf.  1827  (5  Bde.),  von  Mbbkel  (Teubner),  neu 
bearb.  von  Ehwald,  von  Ribsb  (Tancbnitz),  von  Zinobble,  Güthlivo,  Sbdlhaybb  (Freytag). 

p)  Spezialausgaben:  Ovidii  amatoria  (ohne  Herold,  und  De  medic.)  reo. 
L.  Müllbb,  Berl.  1861.  —  Heroides.  Kommentierende  Ausg.  von  Loebs,  Köln  1829, 
Palmbb,  London  1874.  Kritische  Ausg.  von  Sbdlmatbb,  Wien  1886  (dazu  dessen  Proleg. 
crit.  ad  Her.  Ov.,  Wien  1878  und  Krit.  Kommentar  zu  Ovid.  Her.,  Wien  1881).  —  De 
medicamine  faciei  ed.  Akt.  Kukz,  Wien  1881.  —  Fasti  ed.  Mbbkel,  Berl.  1841  (krit 
Ausg.  mit  sehr  ausföhrl.  Proleg.).  Deutsch  kommentierte  Ausgabe  von  Pbteb  (Teubner).  — 
Metamorphosen.    Krit.  Ausgabe  von  Kobn,  Berl.  1880.    Erklärende  Ausg.  von  M.  Haupt 


166     BOmiflche  LitteratnrgeBohichte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarohie.    1.  Abteilung. 


(Weidmann),  in  neuer  Bearb.  von  H.  MOlleb  und  Kork,  von  H.  Magnus  (Gotbana).  Aus- 
wahl von  SiEBELis  (Teubner),  in  neuer  Bearb.  von  Polls  u.  a.  —  Tristia.  Bec.  Owen, 
Oxf.  1889.  —  Epistulae  ex  Ponto.  Erit.  Ausg.  von  Kobn,  Leipz.  1868.  —  Ibis.  Ausg. 
von  Eiiiis,  Oxf.  1881.  —  Halieutica.  Ausg.  von  M.  Haupt  (mit  Grrattius),  Leipz.  1838. 
Im  Anhang  zu  Biet,  De  Halietäicis,  Berl.  1878. 

313.  Fortleben  Ovids.  Der  Zeitgenossen  Beifall  war  Ovid  in  reichem 
Mass  zu  teil  geworden.  Seine  ^Corinna'  wurde  ein  Gegenstand  lebhafter 
Neugierde;  seine  Amores  wurden  sogar  im  Theater  gesungen;  dort  hatte 
sie  Augustus  gehört  (T.  2,519);  und  noch  später,  als  der  Dichter  bereits 
in  der  Verbannung  verweilte,  konnten  ihm  Freunde  von  dem  Beifall,  den 
jene  Elegien  fanden,  berichten  (T.  5, 7, 25).  Von  den  Metamorphosen  wurden, 
ehe  sie  veröffentlicht  wurden,  bereits  Abschriften  genommen.  Da  kam  die 
Katastrophe  und  es  schien  anfangs,  als  ob  auch  des  Verbannten  dichterische 
Werke  mit  in  dieselbe  gezogen  werden  sollten;  sie  wurden  sämtlich  aus 
den  drei  öffentlichen  Bibliotheken  entfernt  (T.  3, 1, 60).  Allein  der  Dichter 
lebte  schon  zu  sehr  in  dem  Herzen  seines  Volkes,  als  dass  diese  Massregel 
sich  hätte  besonders  schädlich  erweisen  können.  Selbst  auf  des  Verbannten 
Stimme  hörte  noch  gern  das  römische  Publikum ;  Beurteilungen  seiner  Briefe 
kamen  zu  seiner  Kenntnis  (P.  3, 9, 2).  Aber  auch  nach  seinem  Tod  schwand 
sein  Dichterruhm  nicht  dahin.  Wie  im  Leben  einst  die  jüngeren  Dichter- 
genossen zu  ihm  als  ihrem  Meister  emporschauten,  so  blieb  auch  des  Ver- 
storbenen Name  der  Anziehungspunkt  für  die  Diener  der  Musen.  Er  wurde 
eifrig  gelesen  und  man  kann  seine  Spuren  in  einer  ganzen  Reihe  von 
Dichtungen  verfolgen;  es  wurde  in  seiner  Weise  gedichtet  und  manche 
Erzeugnisse  der  Muse  traten,  wie  wir  oben  gezeigt  haben,  unter  den 
Schirm  des  berühmten  Namens  ins  Publikum.*)  Die  Grammatiker  hielten 
sich  dagegen  ziemlich  fern  von  dem  Dichter;  es  finden  sich  zwar  An- 
zeichen einer  kommentierenden  Thätigkeit  zu  den  Metamorphosen  i)  und 
zu  Ibis;  allein  zu  einer  eindringlichen  Thätigkeit  kam  es  sicher  nicht; 
manchen  ovidischen  Werken  begegnen  wir  in  den  grammatischen  Schriften 
äusserst  selten.  Dagegen  finden  wir  eine  prosaische  Bearbeitung  der  Meta- 
morphosen; es  sind  dies  die  narrationes  fabularum,  welche  in  der  besten 
Quelle  der  Metamorphosen  anonym  stehen,  in  den  Ausgaben  aber  willkür- 
lich einem  Lactantius  Placidus  zugeschrieben  werden.') 

Im  Mittelalter  musste  Ovid  hinter  Vergil  zurücktreten;  dessen  all- 
gemein geglaubte  Weissagung  über  das  Erscheinen  Christi  hatte  ihm  einen 
unverwelklichen  Strahlenkranz  um  die  Stirne  gewunden.  Allein  trotzdem 
blieb  Ovid  nicht  unbeachtet.  Besonders  seit  dem  12.  Jahrb.  wird  er  eifrig 
studiert.^)  Eine  ganze  Reihe  von  Produkten  wagt  sich  unter  dem  strahlenden 


*)  £hwald  p.  1  nuUi  Tristium  fuisse  vi- 
dentnr  commentarii,  nuUa  retus  interpretatio, 
quali  olim  tnetamarphoses  quidem  et  Ihim 
instructaa  fuisse  ex  tenuibus  reliquiis  con- 
cludas.  Enaack,  Analecta  p.  54  spricht  von 
einem  Metamorphosenkommentkr,  cuius  vesti- 
gia  praeter  Laciantium  Placidum  latent  in 
scholiis  Vergilianis, 

')  Vgl.  noch  p.  64  Anm. 

')  FöRSTEB,  Raub  der  Proserpina  p.  289. 
Vgl.  Knaack,  Fleckeis.  J.  4, 141, 349. 


*)  Gervinüs,  Gesch.  der  d.  Lit.  P,  4t57 
„Es  ist  im  höchsten  Grade  charakteristisch, 
dass  dieser  lüsterne  Dichter  der  Liebe,  als 
er  im  12.  Jahrb.  anfing,  den  gelehrten  und 
ritterlichen  Kreisen  bekannter  zu  werden, 
zuerst  bei  den  freigeistigsten  antipapistischen 
Theologen,  bei  den  lateinischen  Dichtern  der 
Tiersage  und  den  geistlichen  Vaganten,  dann 
bei  den  Minnesängern  in  Südfrankreich  and 
selbst  auch  in  Deutschland,  sowie  bei  den 
lasciven  Meistern   der   neumodischen   briti- 


GratüOB.. 


167 


Namen  Ovids  hervor.  *)  Auch  erschienen  Kommentare  zu  den  Metamorphosen, 
für  uns  wertlos,  aber  bezeichnend  fär  die  armselige  Geistesrichtung  jener 
düsteren  Zeiten;  auch  die  Ibisscholien  sind  in  dieser  Hinsicht  recht  be- 
lehrend. Nach  den  Fasti  wurden  Kalender  angefertigt.  Endlich  beginnt 
die  Ära  der  Übersetzungen;  es  ist  hier  nicht  der  Ort,  dieses  Kapitel 
weiter  auszuspinnen.  Nur  zwei  solcher  Versuche  sollen  erwähnt  werden, 
die  griechische  Übersetzung  der  Heroides  und  der  Metamorphosen  von 
Maximus  Planudes  im  13.  Jahrb.,  dann  die  Bearbeitung  der  Metamorphosen 
durch  den  Scholastikus  Albrecht  von  Halberstadt  im  J.  1210.  Das  ur- 
sprüngliche Werk  dieser  letzten  Übersetzung  ist  uns  nur  aus  einigen 
Trümmern  bekannt,  das  Ganze  kennen  wir  lediglich  aus  der  Umgestaltung 
des  Jörg  Wickram  aus  Kolmar  (1545).  Auch  in  die  neuste  Zeit  ragt  die 
Wirkung  der  ovidischen  Dichtung  hinein.  Die  Metamorphosen  wenigstens 
sind  noch  immer  ein  Lieblingsbuch,  an  dem  Kunst  und  Dichtung  sich  labt, 
und  sie  werden  es  bleiben,  solange  die  römische  Litteratur  gepflegt  wird. 

Zur  Greschichte  des  Fortlebens  ÜTids  liefern  Beiträge  Ehwald,  Äd  historiam  car- 
minum  Ovidianorum  recensionemque  symbolae,  Gotha  1889  (Tristia)  und  Bartsch,  ,Ovid  im 
Mittelalter*^  in  , Albrecht  von  Halberstadt,*  Quedlinb.  und  Leipz.  1861,  Sbdlmayeb,  Wien. 
Stud.  6, 142.  —  Den  Einfluss  Ovids  auf  die  nachkommende  Dichtergeneration  untersuchen 
verschiedene  Dissertationen  z.  B.  Craxeb,  De  Manilii  eloctUione,  Strassb.  1882  p.  68, 
Dbipseb,  De  P.  Papinio  Statio  Vergüii  et  Ovidii  imiiaiore,  Strassb.  1881,  Luehb,  De  Statio 
in  Silvia  priorum  poH,  R.  imitatore,  KOnigsb.  1880  p.  48,  Wezel,  de  C.  Silii  Italici  cum 
fontibua  tum  exemplis,  Leips.  1873  p.  86.  —  Kommentare  zu  den  Metamorph,  im  Monac. 
4610  8.  XI/XII  (Mbisbb,  Münchn.  Sitzungsber.  1885  p.  47).  Vgl.  auch  Haübbau,  Acad.  des 
inscHptions  1888  p.  45.  —  Ober  die  griech.  Übersetzung  der  Heroides  von  Planudes  vgl. 
Stüdbmuio),  Philol.  34,370,  dann  Gudemak,  De  Heroidum  Omdii  codice  Planudeo,  Berl. 
1888.    Ausg.  der  übersetzten  Metamorph,  von  Boissonadb,  Paris  1822. 


12.  Grattius. 

814.  Des  Qrattius  Gedicht  über  die  Jagd  (Cynegetica).  Unter 
dem  Namen  des  Grattius  (Gratius)  sind  uns  541  Hexameter  erhalten,  dar- 
unter freilich  mehrere  in  verstümmeltem  Zustand.  Das  Gedicht  beschäftigt 
sich  mit  den  für  die  Jagd  notwendigen  Dingen;  der  Verfasser  kündet  selbst 
an  (23) 

et  arma  dabo  venanti  et  persequar  artis 
armorum. 

Dementsprechend  beginnt  er  mit  den  Netzen,  geht  dann  zu  den  Mitteln 
über,  das  Wild  zu  scheuchen,  behandelt  die  Fallstricke  und  Schlingen,  am 
ausführlichsten  ist  er  aber  bei  den  Jagdhunden,  diese  Partie  bildet  den 
Kern  des  Gedichts,  denn  sie  reicht  von  150 — 495;  es  ist  hier  die  Rede 
von  den  Eigenschaften  der  verschiedenen  Hunderassen,  von  der  Paarung 
derselben,  von  der  Aufzucht  durch  den  Hundemeister,  besonders  ausführ- 
lich von  den  Hundekrankheiten  (344),  die  vom  Dichter  selbst  beobachteten 
Heilungen  der  kranken  Tiere  in  einer  Höhle  Siciliens  durch  Vulkan  (430) 
erregen  besonderes  Interesse;  die  Jagdpferde  bilden  den  Schluss.    Diese 


sehen  Romane  am  verstandensten  nnd  ge- 
lesensten  war;  so  bei  Chretien  von  Troies, 
wie  bei  Gottfried  von  Strasburg  und  der  ele- 
ganten Schule,  die  ihm  anhing,  bei  den 
K.  Flecke,  TOrlin,  Rudolf  von  Ems  nnd  be- 


sonders bei  Konrad  von  Würzburg/ 

*)  Goldast,  Catalecta  Ovidii,  Frankf. 
1610  (Wattekbach,  Pseudoovidische  Gedichte 
des  Mittelalters  in  der  Zeitschrift  für  das 
deutsche  Mittelalter  Jahrg.  1890  nr.  4). 


168     ROmiBohe  Litteraturgeschiohte.    IL  Die  Zeit  der  Monarohie.    1.  Abteilnng. 

Darlegung  des  Inhalts  erweist,  dass  das  Gedicht  nicht  vollendet  vorliegt, 
da  nur  die  Vorbereitungen  zur  Jagd,  nicht  die  Jagd  selbst  geschildert  wird; 
und  in  diesem  Zustand  scheint  es  bereits  Ovid  vor  sich  gehabt  zu  haben, 
denn  im  Dichterkatalog  (vgl.  §  318)  wird  es  durch  die  Worte  umschrieben  (34) 

aptaque  venanti  GrcUius  arma  dedit. 

Sonach  ist  die  Annahme  unwahrscheinlich,  dass  das  Gedicht  vollständig 
war  und  erst  durch  äussere  Umstände  die  übrigen  Bücher  verloren  gingen. 
Die  Darstellung  ist  ungemein  nüchtern;  dem  Verfasser  ist  jedes  poetische 
Talent  mit  Entschiedenheit  abzusprechen;  er  weiss  seinen  Stoff  nicht  zu 
beleben  und,  was  noch  trauriger  ist,  es  geht  ihm  der  feine  Geschmack  ab; 
wenn  er  einmal  sich  aufzuschwingen  sucht,  macht  es  einen  komischen 
Eindruck;  man  lese  nur  wie  er  die  Pfadfinder  auf  dem  Gebiete  der  Jagd, 
Dercylus  (95)  und  den  Böotier  Hagnon  (214),  einführt;  doch  am  sonder- 
barsten ist  es,  dass  er,  da  er  für  einfache  Nahrung  der  jungen  Hunde 
das  Wort  ergreift,  plötzlich  die  unheilvollen  Folgen  des  Luxus  bei  ver- 
schiedenen Völkern  darlegt  (311).  Auch  der  Ausdruck  ist  hart  und  un- 
beholfen; infolgedessen  ist  das  Gedicht  nicht  leicht  zu  lesen.  Die  Nach- 
ahmung eines  griechischen  Musters  lässt  sich  nicht  nachweisen;  sie  ist 
auch  nicht  wahrscheinlich,  denn  es  würde  dann  wohl  etwas  Besseres 
zustandegekommen  sein. 

Über  die  Person  des  Grattius  (dies  die  handscbrifÜiche,  auch  durch  Inschriften 
bestätigte  Schreibung)  wissen  wir  nichts  weiter;  aus  Vers  40  noatris  inbellia  lina  Falinds 
will  man  schliessen,  dass  der  Dichter  aus  dem  Faliskerland  stammt.  Obwohl  die  Schluss- 
folgerung nicht  mit  voller  Sicherheit  sich  ergibt,  so  ist  sie  doch  sehr  wahrscheinlich,  denn 
um  Falisci  den  fremdländischen  Bezugsquellen  gegenüberzustellen,  bedarf  es  nicht  des  Zu- 
satzes no  Stria, 

UnVollständigkeit.  Nach  der  Ansicht  Rieses,  Anthol.  1  p.  XXXVI  führt  die 
handschriftliche  Überlieferung  auf  eine  Subscriptio:  liber  I  Cynegeticorum,  wodurch 
auch  urkundlich   die  NichtvoUendung  des  Gedichts  erhärtet  würde. 

Die  Bucolica  des  Grattius.  Vielleicht  hat  Grattius  ausser  den  Cynegetica  noch 
Anderes  gedichtet;  denn  im  Dichterkatalog  Ovids  (vgl.  §  318)  müssen  beide  Verse  (33) 

Tityron  antiguas  passerque  rediret  ad  herhuui 
aptaque  venanti  Gratius  arma  daret 
auf  Grattius  gehen.  Der  Hexameter  ist  verdorben,  denselben  sucht  Madvio  zu  verbessern, 
indem  er  schreibt  (advers.  crit.  2  p.  II  Tityron  antiquas  rurstis  revocaret  ad  herbas),  Bergk 
(Opusc.  1,  667),  indem  er  vorschlägt:  Jityrua  apricans,  ut  erat,  qui  pasceret,  herbas.  Beide 
Kritiker  stimmen  sonach  darin  überein,  dass  Grattius  ausser  Cynegetica  noch  Bucolica 
geschrieben  habe. 

Überlieferung.  Für  die  Cynegetica  sind  unsere  am  Schluss  verstümmelten  Quellen 
der  Vindobonensis  277  s.  IX  und  für  einen  Teil  (1  -159)  der  Parisinus  8071  s.  IX/X. 
Die  erste  kritische  Ausgabe  von  M.  Haupt  (mit  Halieutica  u.  a.),  Leipz.  1838.  Babbbns, 
PLM.  1,29. 

13.  Albinovanus  Pedo. 

315.  Des  Albinovanus  Pedo  Epen  und  Epigramme.  Von  Albino- 
vanus Pedo  teilt  uns  der  Rhetor  Seneca  suas.  1,15  eine  lebhafte  Beschreibung 
einer  Seefahrt  mit.  Es  ist  tiefe  Nacht;  die  Schiffe  sitzen  im  Schlamme 
fest,  die  Fahi*enden  halten  sich  für  eine  Beute  der  Seeungeheuer.  Ver- 
geblich sucht  ihr  Blick  durch  das  Finster  der  Nacht  zu  dringen.  Sie 
wissen  nicht,  wo  sie  sind,  und  sie  brechen  in  Klagen  aus,  dass  sie  sich 
dem  unbekannten  Meere  anvertraut: 

di  revoeant  rerumque  vetant  eognoscere  finem 
mortales  ocuJos, 


Albinovaniis  Pedo.    Babirios, 


169 


Die  Seefahrt  wird  an  der  Stelle  Senecas  mit  dem  Germanicus  in  Ver- 
bindung gebracht;  wir  werden  sonach  an  die  Fahrt,  welche  Germanicus 
im  J.  16  n.  Gh.  durch  die  Ems  in  den  Ozean  machte,  zu  denken  haben. 
Den  Sturm,  der  ihn  traf,  schildert  Tacit.  Annal.  2,  23  in  ganz  ähnlicher 
Weise  wie  unser  Dichter.  Da  nun  damals  bei  dem  Heere  des  Germanicus 
sich  der  Beiterführer  Pedo  befand  (Annal.  1, 60),  so  ist  höchst  wahrschein- 
lich, dass  dieser  Offizier  mit  dem  Dichter  identisch  ist,  und  dass  er  sonach 
Selbsterlebtes  in  seinem  Gedicht  schilderte.  Die  Anschaulichkeit  der  ganzen 
Schilderung  würde  sich  so  leicht  erklären.  Das  Epos  des  Albinovanus  be- 
sang also  wahrscheinlich  die  Thaten  des  Germanicus.  Ausser  demselben 
behandelte  er  noch  einen  mythologischen  Stoff  in  einer  Theseis.  Kunde 
erhalten  wir  von  derselben  durch  einen  Brief  Ovids  an  den  Dichter 
(P.  4, 10, 71).  Auch  Epigramme  schrieb  Pedo,  und  Martial  weist  öfters 
auf  ihn  in  ehrender  Weise  hin  (5, 5, 5  2, 77, 5  praef.  zu  lib.  I).  Aus  dem 
Beiwort  „sidereus*',  welches  Ovid  dem  Pedo  gibt  (Pont.  4, 16, 6),  auf  ein  die 
Sternerscheinungen  behandelndes  Gedicht  zu  schliessen,^)  ist  nicht  gestattet, 
denn  auch  Vergil  heisst  bei  Golumella  10, 434  sidereus  vatis. 

Nicht  auf  die  Expedition  des  Germanicns,  sondern  auf  die  seines  Vaters  Dmsns 
(12  V.  Ch.)  bezieht  das  Fragment  des  Albinovanus  B^bok,  Monum.  Äncyr.  p.  97,2,  da 
Drusus  der  erste  war,  der  in  die  Nordsee  vordrang,  und  Haube,  Beitrag  p.  21.  Allein  bei 
dieser  Annahme  muss  bezfiglich  des  „Germanicus*  statuiert  werden :  praeoccupavU  poetarum 
adsentatio  Germaniei  cognomen,  quod  mortuo  demum  Druso  sencUtis  deerevU.  Auch  Tacitus 
begünstigt  diese  Annahme  nicht. 

Priscian  1,304  H.  fDhrt  von  einem  Albinus  drei  Hexameter  auf  einen  siegreichen 
Feldherm  (vielleicht  Pompeius)  aus  dem  ersten  Buch  ,rerum  Romanarum*  an;  dieses 
«Albinus"  ändert  Haübb  (de  carminibus  epicis,  Breslau  1870  p.  16)  ohne  jedweden  stich- 
haltigen Grund  in  «Albinovanus*  und  glaubt  danach  Alhinotfanum  amnia  hella  quae  inde  a 
Caesare  asqtie  ad  Tiberianam  aetatem  a  getUe  Jtdia  geaia  essent,  uno  iüo  carmine  esse 
amplexum,    (Vgl.  noch  Beitrag  p.  23). 

Als  eleganten  Enahler  (fabulator  elegantissimus)  charakterisiert  unseren  Pedo  Seneca 
Ep.  122, 15,  vgl.  Seneca  controv.  2, 10, 12,  Quint.  6, 3,  61. 

Das  Fragment  bei  Bähbens  fr.  p.  351,  kritisch  bearbeitet  von  M.  Haupt,  Opusc.  3, 412. 
Haube,  Beitrag  zur  Kenntnis  des  Albinovanus  Pedo,  Fraustadt  1880. 

14.  Rabirius. 


316.  Der  ägyptische  Krieg  Octayians.  Der  Dichter,  den  Ovid 
magni  oris  (P.  4, 16, 5)  nennt,  versuchte  sich  an  einem  zeitgenössischen 
Stoff,  er  besang  den  Untergang  des  Antonius.  Seneca,  dem  wir  die  Kunde 
von  diesem  Epos  verdanken  (de  benef.  6, 2, 3),  führt  ein  pikantes  Wort 
aus  demselben  an: 

hoc  habeo  quodeumque  dedi. 

Ausser  diesem  Bruchstück  sind  uns  noch  vier  Fragmente  unter  seinem 
Namen  überliefert.  Allein  vielleicht  lässt  sich  die  Zahl  derselben  noch 
beträchtlich  vermehren.  In  Herculanum  wurde  nämlich  eine  Papyrusrolle 
von  8  Seiten  gefunden,  dieselbe  umfasst  67,  freilich  zum  Teil  sehr  ver- 
stümmelte Hexameter.  Sie  handeln  über  den  ägyptischen  Krieg  Octavians 
und  über  den  Untergang  der  Cleopatra,  also  über  denselben  Stoff,  den 
auch  Babirius  bearbeitet  hatte.  Es  ist  daher  sehr  wahrscheinlich,  dass 
diese  Beste  dem  Werk  des  Rabirius  angehören.     Dieselben  lassen  nur 


^)  wie  es  Haube,   Beitrag  p.  9  thut. 
Allein  P.  4,  10  htttte  Ovid   dieses  Gedicht 


erw&hnen  müssen,  er  gedenkt  jedoch  dort 
nur  der  Theseis. 


170    Römiflohe  LitteratargeBohiohte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

einen  sehr  massig  begabten  Dichter  erkennen,  wie  dies  ja  auch  aus  dem 
Urteil  Quintilians  10, 1, 90  erschlossen  werden  muss.  Dass  Yelleius  2, 36, 3 
Rabirius  und  Yergil  als  die  ausgezeichnetsten  Dichter  seiner  Zeit  feiert, 
ist  eine  Kaprice  des  Schriftstellers. 

Die  Fragmente  bei  BIhbbks,  FPL.  p.  356,  vgl.  noch  Haupt,  OpuBC.  1, 158,  die  Beste 
des  Papyrus  PLM.  1, 212. 

15.   Cornelius  Severus. 

317.  Des  Comelins  Severus  Gedichte.  Über  des  Cornelius  Severus 
dichterische  Thätigkeit  liegen  drei  Zeugnisse  vor.  Allgemein  spricht  Ovid 
(P.  4, 16, 9)  von  einem  „königlichen  Gedicht*  (carmen  regale);  Quintilian 
nennt  den  Cornelius  Severus  einen  besseren  Versifikator  als  Dichter  und 
berichtet  weiter,  dass,  wenn  er  nach  Art  des  ersten  Buchs  den  «sicili- 
sehen  Krieg''  durchgeführt  hätte,  ihm  der  zweite  Platz  unter  den  gleich- 
artigen Dichtern  gebühre;  endlich  wird  an  einer  Grammatikerstelle  (4, 208  E.) 
das  erste  Buch  eines  Epos  mit  dem  Titel  „res  Botnanae"  citiert.  Die 
Fragmente  enthalten,  mit  Ausnahme  eines  einzigen,  des  grössten,  welches 
sich  auf  den  Tod  Ciceros  bezieht,  allgemeine,  zum  Teil  nicht  üble  Schil- 
derungen, aus  welchen  sich  nichts  für  den  Charakter  des  Gedichts  folgern 
lässt.  Als  festen  Punkt  erachten  wir  die  Angabe  Quintilians,  dass  Cornelius 
Severus  den  sicilischen  Krieg  besungen,  es  ist  der  Krieg,  der  zwischen 
Octavianus  und  S.  Pompeius  (38—36)  geführt  wurde.  Ausser  diesem  Ge- 
dicht scheint  Quintilian  kein  anderes  Epos  unseres  Dichters  gekannt  zu 
haben.  Es  liegt  daher  die  Vermutung  nahe,  dass  die  res  Bomanae  mit  dem 
bellum  Siculum  identisch  sind.  Was  unter  dem  „königlichen  Gedicht"  zu 
verstehen,  ist  dunkel ;  nur  so  viel  besagt  eine  andere  Stelle  Ovids  (P.  4, 2), 
dass  in  demselben  grosse  Könige  verherrlicht  wurden.  Man  könnte  an 
die  albanischen  Könige^)  denken,  die  vielleicht  in  Elegien  (nach  Art  des 
Propertius)  behandelt  waren. 

Zur  Erkenntnis  des  Dichters  dienen  vorzugsweise  die  25  Hexameter 
auf  den  Tod  Ciceros,  welche  uns  von  dem  Rhetor  Seneca  Suas.  6, 26  mit- 
geteilt werden.  Sie  müssen  im  ersten  Buch  des  Werks  gestanden  sein, 
das  sonach,  ehe  es  zum  sicilischen  Krieg  überging,  etwas  zurückgriff. 
Diese  Verse  erwecken  keine  günstige  Vorstellung  von  der  dichterischen 
Schöpfungskraft  des  Autors;  es  ist  keine  echte,  tiefempfundene  Poesie, 
sondern  rhetorische  Deklamation,  welche  uns  kalt  lässt. 

Quintil.  10, 1, 89  Cornelius  Severtis,  etiamsi  sit  versificatar  quam  poeta  melior,  si 
tatnen  [ut  est  dictum],  ad  exemplar  primi  UM  bellum  Siculum  perscripsisset,  vindicaret 
sibi  iure  secundum  locum. 

Die  Zahl  der  Gedichte  des  Cornelius  Severus.  Wir  haben  drei  Ansichten 
zu  unterscheiden.  Ribbeck  (Gesch.  der  röm.  Dichtung  2, 342)  statuiert  drei  Gedichte  des 
CS.:  1.  das  bellum  Siculum;  2.  das  carmen  regale;  3.  die  res  Bomanae.  Wahtissberg 
nimmt  dagegen  nur  zwei  Werke  an,  indem  er  das  bellum  Siculum  mit  den  Res  Bomanae 
identifiziert  (Quaest,  Ovid,  p.  99).  Haube  endlich  glaubt  nur  an  e  i n  Gedicht  „Bes  Bomanae'^, 
welches,  von  Aeneas,  den  albanischen  und  römischen  Königen  anhebend,  die  römische  Ge- 
schichte bis  zum  Ende  des  sicilischen  Krieges  ausführte  {De  carmin»  epic.  saeculi  Augusti, 
Bresl.  1870  p.  13).  Allein  ein  so  beschaffenes  Epos  konnte  Quintilian  nicht  „bellum  Siculum" 
nennen.    Dagegen  steht  nichts  im  Weg,   diese  Bezeichnung  zu  wählen,   wenn  der  Dichter 


^)  RiBBEOK,  R.  Dicht.  2, 342. 


Comeliiui  SeveniB.  171 

im  ersten  Buch,  wie  die  Verse  fiber  Cicero  zeigen,   die  dem  sicil.  Krieg  zunächst  voraus- 
liegende  2ieit  einleitnngsweise  geschildert  hatte. 

Der  Dichter  Sextilius  Ena.  Zu  den  Versen  auf  Cicero  bemerkt  Seneca  Suas. 
6,27,  dass  der  Vers  (11) 

eonticuit  Latiae  tristis  facundia  Ungttae 
eine  Verbesserung  sei  des  folgenden 

deflendus  Cicero  est  Latiaeque  silentia  lingtiae, 
welcher  dem  spanischen  Dichter  Sextilius  Ena  angehört,  den  Seneca  mit  den  Worten 
charakterisiert:  fuU  hämo  ingeniosus  magis  quam  eruditiM,   inaequalis  poeta  et  plane  gui- 
busdam  locia  talia  quales  esse  Cicero  Cordubenses  poetas  ait,  pingue  quiddam  sonatUis  atque 
peregrinum. 

Auch  eine  Beschreibung  des  Aeina  stand  in  dem  Epos  des  Severus,  Vgl.  Sen.  £p.  79 
quem  (Äetnam)  quominus  Ovidius  tractaret,  nihil  obstiiit  quod  iam  Vergilium  impleverat: 
ne  Severum  quidem  Cornelium  uterque  deterruit. 

Über  strittige  Fragmente  Charis.  p.  287, 4  vgl.  Naekb,  Opusc.  1,353,  Mbbkel, 
Ibis  p.  407;  Diomed.  p.  375,  22  mit  Priscian  1,  546,  21  H.  (Cornelius  Severus  in  VIII  de 
statu  suo:  ad  quem  salliti pumiliones  afferebantur);  Beckbb,  Zeitschr.  f.  Altertumsw. 
6  (1848)  p.  595. 

16.  Die  übrigen  Dichter. 

318.  Der  Ovidische  Dichterkatalog.  Als  Ovid  in  der  Verbannung 
lebte,  wurde  auch  sein  dichterischer  Ruhm  von  einem  neidischen  Menschen 
angegriffen.  Der  Dichter  richtet  daher  an  diesen  nicht  genannten  Oegner 
eine  Epistel  (Pont.  4, 16),  in  dem  er  denselben  ermahnt,  von  seinen  An- 
griffen abzulassen.  Zwei  Gedanken  gibt  er  zur  Erwägung,  einmal  dass 
sein  dichterischer  Ruhm  fest  begründet  sei,  dann  dass  seine  jetzige  Lage 
eine  solche  sei,  dass  sie  nicht  zu  neuen  Angriffen  ermutigen  könne.  Beide 
Gedanken  werden  aber  zugleich  in  Gegensatz  zu  einander  gebracht.  Auf 
die  Zeit  seines  dichterischen  Ruhms  blickt  nämlich  der  Dichter  wie  auf 
eine  der  Vergangenheit  angehörige,  in  seinem  Exil  zählt  er  ja  zu  den 
Toten.  Er  spricht  daher  in  der  Vergangenheit,  als  er  die  grosse  Schar  der 
zeitgenössischen  Dichter  aufzählt,  unter  denen  auch  er  seinen  Platz  ein- 
genommen. Wir  lassen  den  für  die  Litteraturgeschichte  wichtigen  Brief, 
soweit  er  notwendig  ist,  folgen: 

Invide,  quid  laceras  Nasonis  carmina  raptif 

non  solet  ingeniis  summa  nocere  dies, 
famaque  post  cineres  maior  venit,  et  mihi  nomen 

tunc  quoque,  cum  vitds  adnumerarer,  erat; 
^cum  foret  et  Marsus  magnique  Rabirius  oris 

IliaciMque  Macer  sidereusque  Pedo; 
et  qui  Junonem  laesisset  in  Hercule  Carus, 

Junonis  si  iam  non  gener  Üle  foret; 
quique  dedit  Lotio  Carmen  regale  Severus 
"       et  cum  subtm  Priscus  uterque  Numa; 
quique  vel  inparibus  numeris,  Montane,  vel  aequis 

sufficis  et  gemino  carmine  nomen  hohes; 
et  qui  Penelopae  rescribere  iussit  Ulixen 

errantem  saevo  per  duo  lustra  muri 
^^  quique  suam  Trisemem  imperfectumque  dierum 

deseruit  celeri  morte  Sabinus  opus; 
ingeniique  sui  dictus  cognomine  Largus, 

Gallica  qui  Phrygium  duxit  in  arva  senem; 
quique  canit  damito  Camerinus  ab  Hectore  Troiam; 
'®       quique  sua  nomen  Phyllide  Tuscus  habet 
velivolique  maris  vates,  cui  credere  possis 

carmina  caertdeos  conposuisse  deos; 
quique  acies  Libycas  Romanaque  proelia  dixit; 

et  scripti  Marius  dexter  in  omne  genus; 


172    Bömisohe  LitteratnrgeBohichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    L  Abteilnng. 


S6  Trinticriusque  8uae  Perseidos  aueior,  et  auctor 
Tantalidae  reducis  Tyndaridoaque  Lupua; 
et  qui  Maeoniain  Pkaeadda  vertit,  et  una 

Pindaricae  fidicen  tu  quoque,  Rufe,  lyrae; 
Musaque  Turrani  tragicia  innixa  cothumia, 
'^       et  tua  cum  socco  Musa,  Melisse,  levi; 
cum  Varius  Gracchusque  darent  fera  dicta  tyrannis, 

CdUimachi  Proeulua  molle  teneret  iter; 
Tityron  antiquas  passerque  rediret  ctd  herhas 
aptaque  venanti  Gratius  arma  daret; 
*^Naida8  a  satyris  caneret  Fontanus  anuUas, 
Clauderet  inparibus  verba  CapeUa  modis; 
cumque  forent  <üii,  quorum  mihi  cuneta  referre 

nomina  longa  mora  est,  carmina  vulgus  habet; 
essent  et  iuvenes,  quorum  quod  inedita  cura  est, 
^®       adpellandorum  nil  mihi  iuris  adest, 
te  tarnen  in  turha  non  ausim,  Cotta,  silere, 

Pieridum  lumen  praesidiumque  fori, 
maternos  Cottas  cui  MessaUasque  paternos 
maxima  nobilitas  ingeminata  dedit; 
*^dicere  si  fas  est,  claro  mea  nomine  Musa, 
atque  inter  tantos  quae  legeretur  erat. 

Damit  brechen  wir  ab.  In  dem  Gedicht  werden  uns  30  Dichter  genannt.  >) 
Darunter  sind  drei,  welche  nicht  mit  Namen  aufgeführt  werden,  der  Sanger 
des  bläulichen  Meeres  (v.  21),  der  Schilderer  einer  römisch-libyschen  Schlacht 
(v.  22),  endlich  der  Bearbeiter  einer  Phäakis  (v.  27).  Die  Namen  der  zwei 
ersten  Dichter  vermögen  wir  nicht  mehr  zu  eruieren,  dagegen  ist  der  an 
dritter  Stelle  genannte  Dichter  Tuticanus.  Höchst  wahrscheinlich  ist  aber 
noch  ein  vierter  Dichter  uns  dem  Namen  nach  unbekannt,  da  der  Trinacrius 
(v.  25)  bloss  die  Heimat  des  Dichters  zu  bezeichnen  scheint.  Von  den 
genannten  Dichtem  sind  sieben  bereits  behandelt:  Domitius  Marsus  (§  274), 
Rabirius  (§  316),  Pedo  (§  315),  Severus  (§  317),  Melissus  (§  277),  Varius«) 
(§  267)  und  Grattius  (§  314).  Wir  haben  daher  noch  die  Dichter  zu  be- 
sprechen, bezüglich  deren  wii*  fast  nur  auf  Ovid  angewiesen  sind. 

319.  Erläuterung  des  Katalogs.  Der  Katalog  zerfällt  durch  zwei 
rednerische  Figuren  in  zwei  Teile;  der  grössere  Teil  bringt  das  Poly- 
syndeton zur  Anwendung,  der  kleinere  das  Asyndeton.  In  der  grösseren 
Partie  sind  die  Dichter,  welche  vorzugsweise  als  Epiker  zu  gelten  haben, 
zusammengestellt,  in  der  kleineren  die  Dichter  verschiedener  Gattungen. 
Allein  die  beiden  Teile  sind  wiederum  so  ineinander  verschlungen,  dass 
bereits  im  ersten  die  Aufzählung  der  zweiten  Dichterklasse  beginnt,  jedoch 
in  der  Weise,  dass  durch  den  Gebrauch  der  Anrede  die  neue  Dichterreihe 
markiert  wird. 

1.  Macer.  Das  Attribut  „Iliacus*  besagt,  dass  das  Gedicht  Macers 
den  trojanischen  Sagenkreis  behandelte.  Genauer  bestimmt  Ovid  dieses 
Gedicht  Amor.  2, 18,  in  dem  er  Macer  mit  den  Worten  anredet: 

Carmen  ad  iratum  dum  tu  perducis  AchiUen, 
primaque  iuratis  induis  arma  viris. 


')  Hiebei  gehen  wir  von  der  Erwägung 
aus,  dass  im  Distichon  (33,  34)  ein  Dichter 
Grattius,-  nicht  aber  zwei  bezeichnet  sind.  Die 
£mendation  des  Verses  33  ist  strittig,  vgl. 


oben  §  314  Anm. 

*)  Die  Handschriften  (31 )  schwanken  zwi- 
schen Varius  und  Varus;  wir  billigen  Varius. 


Die  flbrigen  Bioliter,  173 

Es  war  sonach  das  dem  Zorn  des  Achilles  Vorausgehende  Gegenstand 
des  Epos.  Gegen  Ende  seiner  Elegie  kommt  Ovid  nochmals  auf  dasselbe 
und  erzählt,  dass  in  demselben  vom  Ehebruch  des  Paris  und  von  der 
Liebe  der  Laodamia  die  Rede  war.  Er  kennt  also  nur  ein  Gedicht  Macers. 
Auf  dieses  eine  Gedicht  müssen  wir  daher  auch  die  etwas  zweideutig  ge- 
haltenen Worte  des  Briefs,  in  dem  Ovid  der  mit  Macer  gemachten  Reisen 
gedenkt  (P.  2, 10, 13),  beziehen: 

tu  canis  aeterno  quicquid  reatabat  Homero, 
ne  careant  summa  Troiea  hella  manu, 

nicht  aber  auf  Posthomerica. 

Man  yennutet,  dass  dieser  Macer  identisch  ist  mit  dem  Pompeins  Macer,  eui  ordi- 
nandaa  bibliathecas  (Ättgustus)  delegaverat  (Suet  Jul.  56).  Über  die  Familie  vgl.  Nippbbdey 
zu  Tac.  Ann.  6, 18.    Einen  Grammatiker  Macer  citiert  Prise.  2, 13.    (Vgl,  §  309  nr.  8.) 

2.  Carus.  Die  Verse  7  und  8  umschreiben  eine  Herakleis.  Die 
Umschreibung  geschieht  in  der  Weise,  dass  der  Dichter  zugleich  einige 
mythologische  Kenntnisse  anbringt.  Hercules  war  einerseits  der  Juno 
wegen  der  Untreue  Juppiters  verhasst,  andrerseits  war  er  als  Oatte  der 
Hebe  auch  wiederum  ihr  Schwiegersohn.  Noch  in  einem  andern  Gedicht 
wird  auf  diese  Herakleis  angespielt,  nämlich  im  Briefe  P.  4, 13, 11,  aus  dem 
wir  zugleich  erfahren,  dass  Carus  der  Erzieher  der  Söhne  des  Germanicus 
war  (47). 

3 — 4.  Die  beiden  Prisci.  Hier  fehlen  genauere  Andeutungen  Ovids. 
Aus  Tacitus  wissen  wir  (Ann.  3, 49),  dass  ein  Mann  des  Namens  Clutorius 
Priscus  den  Tod  des  Germanicus  zum  Gegenstand  eines  Gedichts  machte. 
Von  diesem  Gedicht  gibt  auch  Dio  57, 20  Kunde,  nur  dass  er  den  Dichter 
Faioq  AomtoQiog  Uffaxog  nennt.  Ein  zweites  Gedicht,  das  er  vorgreifend 
bei  der  Krankheit  des  Drusus  auf  dessen  Tod  machte,  führte  ihn  ins  Ver- 
derben. Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  dieser  Priscus  mit  einem  der 
ovidischen  identisch  ist. 

5.  Numa.  Über  diesen  Dichter  fehlt,  abgesehen  von  unserer  Stelle, 
alle  Kunde. 

6.  Julius  Montan  US  war  nach  dem  Katalog  sowohl  dem  Hexa- 
meter als  dem  Distichon  gewachsen,  also  sowohl  im  Epos  als  in  der  Elegie 
thätig.  Zwei  Proben  seiner  Poesie  hat  uns  Seneca  Ep.  122  aufbewahrt, 
die  Schilderung  eines  Sonnenaufgangs  und  eines  Sonnenuntergangs.  Beides 
waren  Gemeinplätze  seiner  Dichtungen. 

7.  Sabinus.  Drei  Werke  deutet  Ovid  an;  a)  Antwortschreiben  auf 
die  Briefe  des  Heroides,  deren  Ovid  auch  in  den  Amor.  2, 18, 29  gedenkt 
(es  sind  die  Antworten  des  Ulixes,  Hippolytus,  Aeneas,  Demophon,  Jason, 
Phaon);  b)  ein  Epos,  dessen  Titel  verdorben  überliefert  wird;  endlich 
c)  ein  Gedicht  über  die  „dies",  das  aber  infolge  des  Ablebens  des  Sabinus 
nicht  zur  Vollendung  kam. 

Das  vollendete  Epos  wird  trisemem  genannt.  Es  wnrden  verschiedene  Verbesse- 
mngsversuche  fOr  das  verdorbene  Wort  vorgebracht;  am  wahrscheinlichsten  erscheint 
Hbinsius'  Vermutong  Troezena.  Freilich  welcher  mit  Troezen  zusammenhftngende  Stoff 
im  Gedicht  behandelt  war,  lAsst  sich  nicht  entscheiden.  Troezen  war  die  Heimat  des 
Thesens  und  des  Hippolytus;  beide  Sagenkreise  boten  Material  fOr  ein  Epos.  Das  Werk 
Aber  die  „diea^  werden  Fasti  in  der  Art  und  Weise  Ovids  gewesen  sein;  nennt  sich  doch 
Ovid  in  den  Fasti  1, 101  3, 177  vates  operoBua  dierum. 


174    Bömisohe  LitterainrgeBoliiolite.    n.  Bio  Zeit  der  Monarchie.    1«  Abteilung. 

8.  Largus.  Der  Sagenstoff,  den  dieser  Dichter  sich  zur  Bearbeitung 
erwählte,  war  die  Niederlassung  des  trojanischen  Helden  Antenor  am  Po, 
eine  Sage,  welche  Livius  gleich  im  Eingang  seines  Oeschichtswerks  erzählt. 

9.  Camerinus.  Während  Macer,  wie  wir  oben  sahen,  die  Uias  vom 
ergänzte,  setzte  Camerinus  die  Erzählung  der  Dias  fort. 

10.  Tuscus.  Sein  Werk  war  die  Phyllis;  es  war  die  Sage  von  der 
Liebe  der  Phyllis  in  Thracien  zum  Thesiden  Demophon,  welche  Gallimachus 
in  den  Aetia  behandelt  hatte.  Diesem  von  Gallimachus  gegebenen  Muster 
folgt  unser  Dichter,  wie  Ovid  in  dem  zweiten  Brief  der  Heroides.  Nach 
den  Worten  Ovids  muss  man  vermuten,  dass  der  Dichter  von  seinem  Ge- 
dicht einen  Beinamen  erhielt;  es  kann  dieser  nur  Demophon  gewesen  sein. 
Ist  diese  Annahme  richtig,  so  wäre  der  Demophoon  des  Propertius  (3, 22, 2) 
vielleicht  mit  imserm  Tuscus  identisch. 

Das  Callimacheische  Qedicht  von  der  Phyllis  sucht  zu  rekonstruieren  Enaack, 
Analecta  ÄlexandrituhRomana  p.  29-~48  (Über  Tuscus  p.  43).  Die  Identität  des  Demophon 
mit  Tuscus  behauptete  zuerst  Eiesslino,  eaniecturae  Prqp.,  Greifsw.  1875. 

11 — 12.  Nicht  bestimmen  lässt  sich  der  Sänger  des  bläulichen  Meeres, 
noch  sein  Gedicht.  Auch  der  folgende  Dichter,  dessen  Werk  einen  Krieg 
der  Römer  in  Afrika  behandelte,  ist  uns  unbekannt.  Man  dachte  an  einen 
der  punischen  Kriege;  allein  diese  Stoffe  lagen  jener  Zeit  fern,  viel  wahr- 
scheinlicher ist  die  Annahme  Haubes  (p.  19),  dass  ein  zeitgenössischer 
Krieg,  also  die  Kämpfe  Caesars  gegen  Juba  und  die  Pompejaner  in  dem 
Epos  zur  Darstellung  kamen. 

Durch  willkürliche  Veränderung  des  vatea  in  nomen  gewinnt  Mekkel  den  Dichter 
Ponticus  als  Sänger  des  bläulichen  Meeres.  Leere  Vermutung  Haubebs  p.  20  ist  es,  dass 
ein  Seekrieg  (etwa  das  bellum  Siculum  Oetavians)  das  Sujet  war. 

13.  Marius.  Über  diesen  Dichter,  der  in  dem  Katalog  als  viel- 
seitiger charakterisiert  wird,  wissen  wir  nichts  weiter. 

14.  Trinacrius  ist  der  Dichter  einer  Perseis.  Wie  aber  bereits 
oben  bemerkt,  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  Trinacrius  nicht  Eigenname, 
sondern  Ethnikon  ist  und  auf  einen  in  Sicilien  gebomen  Dichter  hinweist. 

15.  Lupus  schilderte  die  Irrfahrten  des  Menelaus  und  der  Helena 
bei  ihrer  Rückkehr. 

16.  Tuticanus.  Mit  der  Umschreibung  des  Verses  27  ist  der  Dichter 
Tuticanus  gemeint;  das  erweist  der  Brief  P.  4, 12, 27.  Seine  Phaeakis 
besang  die  Schicksale  des  Ulixes  bei  den  Phäaken.  Nach  dem  Ausdruck 
„vertu*'  unserer  Stelle  muss  man  engen  Anschluss  des  Oedichts  an  Homer 
vermuten.  An  Tuticanus  sind  zwei  Briefe  Ovids  gerichtet  (P.  4, 14  und 
4, 12).  In  dem  letzten  Brief  beklagt  sich  Ovid  in  heiterer  spielender  Weise 
darüber,  dass  Tuticanus  {-  ^  -  ^)  nicht  ins  Versmass  passe  (vgl.  auch 
4, 14, 1).  Weiter  erfahren  wir,  dass  zwischen  beiden  Dichtern  von  Jugend 
auf  die  innigste  Freundschaft  bestand  und  dass  sie  sich  gegenseitig  ihre 
dichterischen  Arbeiten  durchsahen. 

17.  Bufus  ist  in  seiner  Dichtung  Nachahmer  Pindars.  Da  uns 
gleichzeitig  ein  „pindarischer"  Dichter  Titius  bei  Horaz  Ep.  1,  3,  9  be- 
gegnet, so  vermutet  Beiffebscheid  bei  der  Unwahrscheinlichkeit,  dass  zu 
gleicher  Zeit  zwei  Dichter  sich  den  schwierigen  Pindar  zur  Nachahmung 


Die  übrigen  Dichter.  175 

erkoren,  dass  Titius  und  Eufus  auf  dieselbe  Person  gehen  und  demnach 
der  volle  Namen  des  Dichters  Titius  Rufus  ist. 

Reiffebschbid,  eoniecianea  nova,  Breslau  1880  p.  7.    (Vgl.  oben  p.  91.) 

18.  Turranius  ist  Tragiker,  sonst  ist  nichts  über  ihn  bekannt, 
wenn  wir  von  Hypothesen  absehen  wollen. 

19.  Gracchus  war  ebenso  Tragödiendichter  wie  Varius(§  267).  Ja  beide 
haben  sogar  denselben  Stoflf  behandelt,  die  Thyestessage.  Von  dem  Thyestes 
des  Oracchus  hat  uns  Priscian  1, 269  H.  einen  Trimeter  aufbewahrt. 

Wohl  identisch  mit  dem  Tacil  Ann.  1,53  genannten:  par  causa  aaevUiae  in  Sem- 
pronium  Cfracchum,  qui  famüia  nobiU,  soUers  ingenio  et  prave  facundas,  eandem  Juliam 
in  matrimonio  Marei  Agrippae  iemeraverat.  Noch  von  zwei  Tragödien  desselben  kennen 
wir  die  Titel  «Atalante*  und  ^Peliades*. 

20.  Proculus  wird  nach  den  Worten  Ovids  die  alexandrinische 
Elegie  gepflegt  haben. 

21.  Fontanus.  In  welcher  Dichtxmgsgattung  die  von  Fontanus  be- 
sungene Liebe  der  Satyrn  vorkam,  lässt  sich  schwer  sagen.  Wahrschein- 
lich waren  es  bukolische  Gedichte. 

Ribbeck,  R.  Dichi  2, 173  denkt  an  Satyrdramen,  von  der  Erwägung  ausgehend,  dass 
Horatius  das  Satyrdrama  in  seiner  Ära  poetica  hehandelt,  es  sonach  wahrscheinlich  sei,  dass 
damals  auch  in  dieser  Gattung  gedichtet  wurde. 

22.  Gapella  war  allem  Anschein  nach  Elegiendichter. 

23.  M.  Aurelius  Gotta  Maximus  wird  an  letzter  Stelle  genannt; 
es  ist  der  Sohn  des  Redners  M.  Valerius  Messala,  der  späterhin  durch 
Adoption  in  die  gern  Aurelia  (Cottq)  kam,  daher  seinen  Namen  führte, 
später  aber  nach  dem  Tod  seines  Bruders  sich  das  Gognomen  desselben, 
Messalinus,  beilegte.  Die  Dichtimgsgattung,  die  er  kultivierte,  ist  uns 
nicht  bekannt. 

Leider  sind  es  nur  Namen,  die  wir  dem  Leser  vorführen  konnten, 
Namen  ohne  Inhalt,  da  die  Schöpfungen  jener  Dichter  keine  nachhaltigen 
Spuren  ihres  Daseins  zurückgelassen  haben.  Allein  auch  an  den  blossen 
Namen  darf  die  Litteraturgeschichte  nicht  achtungslos  vorübergehen,  zeigen 
sie  doch  in  diesem  Falle,  wie  reich  die  poetische  Betriebsamkeit  der  augu- 
steischen Zeit  war  und  wie  wenig  sich  aus  den  Schätzen  jener  Epoche  zu 
uns  herübergerettet  hat.  Ob  das  Untergegangene  auch  seinen  Untergang 
verdiente,  wer  will  es  entscheiden? 

Andere  verschollene  Dichter.  Wir  reihen  hier  gleich  noch  eine  Anzahl  solcher 
Dichter  an,  von  denen  uns  nur  eine  dürftige  Kunde  überliefert  ist. 

1.  Julius  Antonius.  (Ober  den  Namen  BOcheleb,  Rh.  Mus.  44, 317).  Acro  zu 
Hör.  c.  4, 2, 33  heroico  metro  Jioufjdeiag  XII  Jibros  scripsit  egregios,  praeterea  et  prosa 
aliqua.  Dem  Epiker  (cancinea  33  u.  41  ist  richtig)  Julius  Antonius  stellt  sich  der  Lyriker 
Horaz  gegenüber  C.  2, 4. 

2.  C.  Fundanius  verfasste  Falliataei  welche  zum  Vorlesen  bestimmt  waren  (Hör. 
Sat.1,10,39). 

3.  Serv.  Sulpicius.  OvidT.  2,441  nee  sunt  minus  improba  Servi  earmina.  Also 
war  er  erotischer  Dichter  (Horai  sat  1,10,86  Plin.  ep.  5,3,5). 

4.  Die  Brüder  Visci.  Der  Schol.  Cruq.  zu  Sat.  1,10,83  hat  aus  Porphyrio  Fol- 
gendes: Visci  duo  fratres  fuerunt  optimi  poetae  et  iudices  crüici,  quorum  paier  Vibius 
Viscus  quamvis  divitiis  et  amieitia  Äugusti  clarus  esset  in  equestri  tarnen  ordine  permansit, 
cum  filios  suos  senatores  feeisset.    Der  eine  hiess  Viscus  Thurinus  (Hör.  Sai  2, 8, 20).    Vgl. 

•  KnmsLnyG  zu  Hör.  Sat  1,10«  83. 

5.  Ponticus  schrieb  eine  Thebais,  auf  dieselbe  spielt  Propertius,  mit  dem  der 
Dichter  befreundet  war,  an  (1,7,1  und  1,9,9);  es  war  darin  die  Rede  von  Oadmus,  von 


176    BOmiBche  LüteratargeBohiolite.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1  Abieilimg. 

Amphion  und  von  dem  Bruderzwist.    Als  sein  Vorbild  konnte  er  sieb  die  Thebais  des 
Antunachus  erwählen. 

6.  Der  Jambograpb  Bassus.  An  ihn  wendet  sich  Propertius  1,4.  Über  seine 
Dichtungen  wissen  wir  sonst  nichts.  Dass  er  auch  der  Rhetor  ist,  von  dem  Seneca  Gontrov. 
10  praef.  12  spricht,  ist  nicht  wahrscheinlich.  Von  den  beiden  genannten  Dichtem  sagt 
Ovid  (T.  4,10,47): 

PofUicus  heroo,  Basaus  quoque  clams  iambis 
dulcia  convictus  membra  fuere  mei, 

7.  Dorcatius.  Isidor  or.  18,69  führt  zwei  Hexameter  aus  einem  Lehrgedicht  über 
das  Ballspiel  an.  Wahrscheinlich  spielt  auf  dieses  Werk  Ovid  mit  den  Worten  an  (T.  2, 485) : 
ecce  canit  formas  alius  iaetusque  pUarum  (M.  Haupt,  Op.  3,571   Bahbbns,  FPL.  p.  357). 

8.  ArbroniusSilo.  Über  denselben  liegt  ein  Zeugnis  des  Seneca  rhetor  vor  (Suas. 
2,19):  memini  audUorem  Latranis  Arbraniutn  Silonem  patrem  huiiAS  SiUmis,  gut  pamiO" 
mimis  fabulas  scripsU  et  Ingenium  grande  non  tantum  deseruU  sed  poUuit,  reeiiare  Carmen. 
Es  folgen  zwei  Hexameter,  welche  sich  auf  die  troische  Sage  beziehen  (BikHBBNS,  FPL.  p.  356). 

9.  AlfiusFlavus  war  nicht  bloss  Dichter,  sondern  auch  ein  berühmter  Deklamator 
(Seneca  controv.  1,1,22  naturalis  vis  —  et  desidia  dbruia  et  earminibus  enervata)» 


17.  Die  Priapeendichter. 

320.  Corpus  Priapeornm.  Zu  einer  überwiegend  obscönen  Poesie 
gab  der  cu8tx)s  hortorum,  der  Beschützer  der  Gärten  vor  den  Dieben,  An- 
lass.  Eine  rohe  Holzgestalt  (44, 1)  war  er  charakterisiert  durch  das  rot  an- 
gestrichene männliche  Glied  (26, 9)  und  durch  die  Sichel  in  der  Hand  (30, 1). 
Die  an  Priapus  sich  anlehnende  Poesie  finden  wir  bereits  bei  den  Griechen; 
der  Alexandriner  Euphorien  aus  der  ägyptischen  Stadt  Chersonesus  hatte 
Priapea  geschrieben;  ^)  auch  führt  der  Doppelglykoneus  den  Namen  „metrum 
Priapeum'^.  Bei  den  B<5mem  war  diese  Poesie  ursprünglich  epigraphischer 
Natur;  den  Wänden  der  Priapustempelchen  wurden  pikante  Verse  auf  den 
Gott  beigeschrieben.  Später  hat  dieselbe  auch  in  der  Litteratur  ihren 
Platz  erhalten.^)  Uns  ist  eine  Sammlung  solcher  Gedichte  überliefert, 
80  an  der  Zahl,^)  von  denen  38  in  Hendekasyllaben,  34  in  Distichen  und 
8  in  Gholiamben  geschrieben  sind.  Die  Sammlung  enthält  ein  doppeltes 
Vorwort;  in  dem  ersten  wird  der  Leser  auf  den  schmutzigen  Charakter 
der  Epigramme  aufmerksam  gemacht: 

carminis  ineompti  lusus  lecture  procaces 
conveniens  Lotio  pane  »upercUium, 

In  dem  zweiten  führt  sich  ein  Dichter  von  Priapea  ein.^)  Es  ist  sonach 
wahrscheinlich,  dass  das  erste  Vorwort  von  einem  Herausgeber  herrührt, 
der  eine  durch  das  zweite  Vorwort  eingeleitete  Sammlung  als  Grundlage 
benutzte,  um  noch  andere  Priapea  damit  zu  vereinigen.  Denn  dass  wirk- 
lich Epigramme  verschiedener  Autoren  hier  vereinigt  sind,  zeigt  das  dritte 
Gedicht,  das,  wie  wir  aus  Seneca  controv.  1,  2,  22  ersehen,  von  Ovid  ist. 
Wann  unsere  Sammlung  veranstaltet  wurde,  lässt  sich  nicht  mit 
Sicherheit  feststellen.  Eines  dürfte  aber  nicht  geleugnet  werden  können, 
dass  die  Priapea  des  Corpus  der  augusteischen  oder  einer  nicht  viel 
späteren  Zeit  angehören. 


^)  Mbikbxb,  Anal.  Alex.  p.  841. 

')  So  grosse  Gedichte  wie  nr.  68  kann 
man  sich  schwer  als  epigraphische  vorstellen. 

')  BüOHXLEB  81,  er  trennt  nämlich  mit 
SoALiosB   (F.   Appendix  Ed.   Lindbnbbuoh 


p.  209)  die  zwei  letzten  Verse  ab  und  macht 
daraus  ein  eigenes  Epigramm. 

*)  Ausdrücklich  sagt  er  Vers  3  scrtpai 
non  nimium  laboriose. 


T.  Livins.  177 

Der  Stoff  der  Epigramme  ist  ein  sehr  beschränkter,  es  sind  wenige 
Themata,  in  denen  sich  die  Arbeit  dieser  Dichter  zu  bewegen  hat,  vor 
allem  das  Symbol  des  Priapus,  dann  die  obscöne  Bestrafung  der  Diebe, 
selten  die  Opfer,  die  dem  Priapus  dargebracht  werden  (16,  27,  42,  53,  65). 
Die  dichterische  Kunst  besteht  nun  darin,  demselben  Gegenstand  immer 
neue  Seiten  abzugewinnen.  So  wird,  um  es  an  einem  Beispiel  zu  zeigen, 
Priapus  mit  den  andern  Göttern  verglichen,  der  eine  Dichter  zieht  die 
Orte,  die  ihnen  lieb  sind  (75),  der  andere  ihre  Wehr  (20  und  9),  der 
dritte  endlich  charakteristische  körperliche  Eigenschaften  derselben  (36) 
zum  Vergleich  mit  Priapus  herbei.  Auch  diese  kleinen  Gedichte,  die 
doch  als  ein  freies  Spiel  gelten  wollen  (2),  weisen  hie  und  da  auf  die 
Schule  hin;  so  enthält  mythologische  Anspielungen  Nr.  16,  das  Gedicht  68 
zieht  Homer  ins  Obscöne,  auch  die  pornographische  Litteratur  wird  hie 
und  da  gestreift  (4  und  63,17),  das  Gedicht  24  ist  aus  der  griechischen 
Anthologie  geschöpft. 

Mit  dieser  Sammlung  yerbinden  die  Herausgeber  noch  fünf  in  anderen  Quellen  Über- 
lieferte Priapea.  Zwei  werden  dem  TibuU  beigelegt,  drei  stehen  unter  den  kleineren  Ver- 
gilischen  Gedichten. 

Die  Überlieferung  beruht  nur  auf  jungen  Handschriften:  Laurent.  38,81  (s.  XIV), 
Hehnstadiensis  338  (vom  J.  1460),  Laurent.  39, 34  (s.  XV),  Vossianus  L.  0.  81  (s.  XV). 

Ausgaben  von  Bücheleb  hinter  dem  Petronius  8.  Ausg.  p.  137,  L.  Mülles  in  der 
Ausgabe  der  Elegiker  1,95,  BXhbens,  PLM.  1,54. 

b)  Die  Prosa. 

er)  Die  Historiker. 
1.   T.  Livius. 

321.  Biographisches.  T.  Livius  wurde  59  v.  Ch.  in  Padua  geboren, 
einer  Stadt,  welcher  die  Sittenreinheit  ihrer  Bewohner  einen  hohen  Ruf  im 
Altertum  gab  (Plin.  ep.  1, 14, 6).  Diese  Eigenschaft  seiner  Heimat  teilt  auch 
unser  Historiker,  denn  er  war  ein  in  moralischer  Beziehung  durchaus  hoch- 
stehender Mann.  Auch  in  der  Sprache  verleugnete  er  die  Heimat  nicht, 
wollte  doch  der  Kritiker  Asinius  PoUio  noch  in  seinen  Werken  eine  ge- 
wisse Patavinitas,  d.  h.  manches  von  der  hauptstädtischen  Sprache  Ab- 
weichende entdeckt  haben.  Von  seinen  Eltern  wissen  mr  nichts.  Seine 
Ausbildung  war  eine  so  umfassende,  dass  er  als  Schriftsteller  in  drei  Ge- 
bieten auftreten  konnte.  Er  schrieb  über  philosophische  Probleme  und 
zwar  in  streng  wissenschaftlicher  und  in  populärer  Fassung.  Die  Werke 
letzterer  Art  waren  Dialoge  und  hatten  einen  stark  historischen  Zuschnitt, 
d.  h.  sie  belegten  die  vorgetragenen  Lehren  durch  geschichtliche  Beispiele. 
Weiterhin  kennen  wir  ihn  als  rhetorischen  Autor,  ein  hieher  gehöriges  Werk 
hatte  die  Form  eines  Briefes  an  seinen  Sohn;  es  war  in  demselben  über 
die  Auswahl  der  Schriftsteller  Anleitung  gegeben,  besonders  warm  wurden 
Demosthenes  und  Cicero  empfohlen.  In  demselben  stand  wahrscheinlich 
auch  die  uns  von  Seneca  (controv.  9,24,14)  mitgeteilte  Kritik  einer  Sallusti- 
schen  Phrase.  Aber  seine  Hauptschriftstellerei  war  die  historische,  er  fasste 
den  Plan  eines  grossen  Werks,  welches  die  römische  Geschichte  von  der 
Gründung  der  Stadt  bis  auf  seine  Zeit  darstellen  sollte,  und  widmete  der 
Ausführung  dieses  Gedankens  fast  sein  ganzes  Leben.   Die  Abfassung  eines 

Handbuch  der  klaas.  Altcrlumswiweuiichaft.    Vm.    2.  Teil.  12 


178     RömiBche  Litieratnrgesohiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  AbteUmig. 

solchen  Werks  konnte  nur  in  Rom  erfolgen,  und  es  weisen  auch  Stellen 
deutlich  auf  diesen  Aufenthalt  hin.^)  In  der  Hauptstadt  gelangte  er  zu 
hohem  Ansehen;  er  wurde  mit  Augustus  befreundet  und  diese  Freundschaft 
war  so  stark,  dass  es  ihr  keinen  Eintrag  that,  dass  Livius  über  Caesar 
hart  urteilte  und  sich  auf  die  Seite  des  Pompeius  neigte ;  Augustus  pflegte 
den  Historiker  einen  Pompejaner  zu  nennen.  Auch  mit  dem  späteren 
Kaiser  Claudius  unterhielt  Livius  engere  Beziehungen  und  veranlasste  ihn, 
selbst  das  Feld  der  Geschichte  zu  betreten  (Suet.  Claud.  41).  Von  den 
Familienverhältnissen  des  Schriftstellers  wissen  wir,  dass  er  eine  Tochter 
hatte,  deren  Mann  Rhetor  war  (Senec.  controv.  10  praef.  2),  dann  dass  der 
oben  erwähnte  Sohn  gleichfalls  als  Schriftsteller  auftrat,  denn  er  wird  in 
den  Quellenverzeichnissen  der  geographischen  Bücher  5  und  6  von  Plinius 
erwähnt.  Gestorben  ist  Livius  in  seinem  Geburtsort  im  J.  17  n.  Ch.  Ob 
er  in  der  letzten  Zeit  seines  Lebens  dort  gelebt  oder  nur  zufällig  dort 
verweilt,  wird  uns  nicht  berichtet. 

Geburts-  wie  Todesjahr  überliefert  uns  Hieron3rmus  2, 137  und  147  Sohoekb. 

Über  die  Patavinitas  sind  die  entscheidenden  Stellen  Quint.  8,1,8  ut  sint  (perba) 
quam  minime  peregrina  et  externa  —  et  in  T,  lAvio,  mirae  facundiae  viro,  putat  inesse 
Pöllio  Asinius  q%iandam  Patavinitatem.  Ähnlich  1,5,56  (wahrscheinlich  ein  nicht  ganz 
unparteiisches  Urteil  des  Kritikers,  vgl.  Haupt,  Opusc.  2,  69). 

Seine  philosophische  Schriftstellerei  bezeugt  Sen.  ep.  100,9:  scripsit  dialogos,  quas 
non  magis  philosophia^  adnumerare  possis  quam  historiae,  et  ex  professo  philosophiam  con- 
iinentis  libros;  seine  rhetorische  Quint.  10,1,39  apud  Livium  in  epistola  ad  filium  sripta 
legendos  Demosthenem  atque  dceronem,  tum  ita  tU  quiaque  esset  Demostheni  et  Ciceroni 
simiaimus  (2,5,20  8,2,18). 

Bezüglich  seines  Verhältnisses  zu  Augustus  vgl.  Sen.  n.  quaest  5,18,4:  quod 
de  Caesare  maiori  volgo  dictatum  est  et  a  T.  lAvio  positum,  in  incerto  esse,  utrum  ittum 
nasci  magis  reipublicae  profuerit  an  non  nctsci,  Tacit.  Ann.  4, 34  T.  Livius,  eloquentiae  ac 
fidei  praeclarus  in  primis,  Cn,  Pompeium  tantis  laudibus  tulit,  ut  Pompeianum  eum  Augustus 
appellaret;  neque  id  amicUiae  eorum  offecit. 

322.  Aufbau  des  Livianischen  Werkes.  Als  Livius  an  das  grosse 
Unternehmen  die  Hand  legte,  stand  er  in  den  dreissiger  Jahren;  denn  er 
begann  nicht  nach  25  v.  Gh.,  da  er  in  dem  ersten  Buch  (19, 3)  wohl  die  erste 
Schliessung  des  Janustempels  (29  v.  Gh.)  erwähnt,  aber  nicht  die  zweite 
(25  y.  Gh.).  Das  121.  Buch  wurde  nach  dem  Tode  des  Augustus  heraus- 
gegeben, wie  die  Periocha  desselben  besagt;  damals  war  Livius  Anfangs  der 
siebziger  Jahre.  Sonach  widmete  Livius  seiner  Geschichte  über  Werzig  Jahre 
seines  Lebens  und  schrieb  durchschnittlich  jedes  Jahr  drei  bis  vier  Bücher. 
Es  ist  von  selbst  einleuchtend,  dass  ein  solches  umfassende  Werk  nur 
successive  ans  Tageslicht  treten  konnte;  so  sahen  wir,  dass  die  Bücher 
1 — 120  vor  dem  Tod  des  Augustus,  die  übrigen  nach  demselben  erschienen. 
Von  vornherein  ist  wahrscheinlich,  dass  Livius  sich  nach  gewissen  Ruhe- 
punkten auf  dem  langen  Weg,  den  er  zu  durchschreiten  hatte,  umsah, 
dass  er  sonach  nicht  bloss  Bücher,  sondern  auch  Gruppen  von  Büchern 
unterschied.  Es  ist  uns  noch  möglich,  an  der  Hand  der  Überlieferung 
jene  Ruhepunkte  zum  Teil  festzustellen.  Das  109.  Buch  wurde  auch 
separat  als  erstes  Buch  des  Bürgerkriegs  gezählt.  Hier  liegt  sonach  ein 
deutlicher  Einschnitt  vor;  es  beginnt  die  Darstellung  der  eigenen  Zeit  des 
Autors.    Wir  stehen  an  dem  Wendepunkt  des  ganzen  Werks;  während 

>)  Weissbkborn,  Einl.  p.  4  (1,8,5  1,41,4  1,48,6  2,7,12). 


T.  Livins.  179 

bisher  in  den  vorausgegangenen  108  Büchern  Annalen  gegeben  waren,  hebt 
jetzt  mit  dem  109.  Buch  die  „historia*'  an.  Beide  grosse  Teile  erfordern 
natürlich  wiederum  die  Gliederung  in  Abschnitten.  In  den  Annalen  mar- 
kiert der  Historiker  mehrmals  Ruhepunkte  durch  Einleitungen;  eine  solche 
ist  dem  21.  Buch  beigegeben,  mit  dem  der  Hannibalische  Krieg  erö£fnet 
wird.  Der  Historiker  macht  in  nachdrücklicher  Weise  auf  die  Wichtig- 
keit des  Krieges  aufmerksam.  Auch  das  31.  Buch  hat  eine  Vorrede;  der 
Autor  ist  froh,  dass  der  Hannibalische  Krieg  zu  Ende  geführt  ist;  er  wirft 
einen  Blick  rückwärts  und  gewahrt  mit  Schrecken,  dass  die  Erzählung 
der  Ereignisse  von  der  Gründung  der  Stadt  bis  zum  Beginn  der  punischen 
Kriege  ebensoviel  Bücher  in  Anspruch  genommen  habe  als  die  Darstellung 
der  zwei  ersten  punischen  Kriege.  Da  die  zwei  ersten  punischen  Kriege 
mit  dem  16.  Buch  beginnen  und  mit  dem  30.  schliessen,  so  wird  die  An- 
nahme gerechtfertigt  sein,  dass  mit  dem  16.  Buch  wieder  ein  Ruhepunkt 
gesetzt  ist.  Demgemäss  stellen  die  vorausgegangenen  15  Bücher  für  sich 
eine  höhere  Einheit  dar.  Allein  auch  hier  bildet  noch  das  6.  Buch  eine 
Grenzscheide,  da  die  Epoche  nach  dem  kapitolinischen  Brand  in  Angriff 
genommen  wird,  sonach  die  Epoche  der  urkundlichen  Überlieferung.  Aus 
dieser  Darlegung  ergeben  sich  folgende  grössere  Einheiten  für  Livius: 
1)  B.  1—5,  2)  6-15,  3)  16-20,  4)  21-30  d.  h.  der  Schriftsteller  gibt 
uns  Bände  mit  fünf  und  Bände  mit  zehn  Büchern,  oder,  wenn  wir  den 
Band  mit  zehn  Büchern  als  Einheit  zu  Grunde  legen,  er  gibt  uns  zwei 
ganze  Bände  und  zwei  Halbbände.  Danach  darf  man  wohl  annehmen, 
dass  Livius  wirklich  von  der  Dekade  bei  Abfassung  seines  Werks  aus- 
gegangen ist.  Diese  Dekaden  lassen  sich  sogar  noch  weiter  verfolgen. 
Da  in  das  40.  Buch  der  Tod  des  Königs  Philipp  von  Macedonien  fällt 
und  damit  ein  Wendepunkt  in  dem  macedonischen  Krieg  herbeigeführt 
wird,  da  ferner  das  31.  Buch,  wie  wir  gesehen,  eine  eigene  Einleitung 
darbietet,  so  werden  wir  auch  die  Bücher  31 — 40  als  eine  zu  einem  Ganzen 
zusammengefasste  Dekade  zu  betrachten  haben.  Das  Buch  71  hebt  mit 
dem  Bundesgenossenkrieg  an,  das  Buch  80  schliesst  mit  dem  Tod  des 
Marius;  auch  hier  stellt  sich  naturgemäss  die  Dekade  ein;  und  da  das 
Buch  90  mit  dem  Tod  eines  in  die  Geschicke  Roms  tief  eingreifenden 
Mannes,  nämlich  Sullas,  einsetzt,  so  werden  auch  die  Bücher  81—90  eine 
Einheit  ausgemacht  haben.  Wenn  also  bisher  die  Dekade  oder  die  Halb- 
dekade als  die  Einheit,  zu  der  Livius  grössere  Gruppen  zusammenschloss, 
sich  herausstellte,  so  ist  von  dem  Buch  90  an  bis  zum  Beginn  des  zweiten 
Teils,  der  historia,  das  Dekadenprinzip  nicht  mehr  nachzuweisen.  Aber 
auch  in  der  historia  d.  h.  von  dem  109.  Buch  ist  keine  Gliederung  nach 
Dekaden  vorhanden;  werden  doch  die  Bücher  109—116,  welche  die  Ge- 
schichte vom  Beginn  des  Caesarischen  Bürgerkriegs  bis  zur  Ermordung 
Caesars  fortführen,  als  belli  civilis  libri  I—  VIII  gezählt.  Wir  müssen  also 
folgern,  dass  der  Historiker  das  Dekadenprinzip  im  Lauf  der  Zeit  aufgab. 
Der  Aufbau  des  ganzen  Werks  wird  sich  durch  folgende  Übersicht 
anschaulich  machen  lassen: 

1—5      Von  der  Gründung  der  Stadt  bis  zur  gallischen  Eroberung  (387/6  y.  Ch.) 
6 — 15    bis  zur  Unterwerfung  Italiens  (265  v.  Ch.) 

12* 


180     RömiBohe  litteratorgeBchichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarohie.    !•  Abteilnng. 

16-20  die  punischen  Kriege  bis  zum  Beginn  des  Hannibalischen  Kriegs  (219  v.  Ch.j 

21—30  der  HannibaHsche  Krieg  (bis  201  v.  Ch.) 

31—40  bis  zum  Tod  König  Pbilipps  von  Macedonien  (179  v.  Ch.) 

41 — 71  bis  zum  Ausbruch  des  Bundesgenossenkriegs  (91  v.  Ch.) 

71 — 80  Vom  Bundesgenossenkrieg  bis  zum  Tod  des  Marius  (86  y.  Ch.) 

81  -90  bis  zum  Tod  SuUas  (78  v.  Ch.) 

91 — 108  vom  sertorianischen  Krieg  bis  zum  gallischen 

109 — 116  vom  Beginn  des  caesarischen  Bürgerkriegs  bis  zum  Tod  Caesars  (44  v.  Ch.) 

117 — 133  bis  zur  Besiegung  des  Antonius  und  der  Cleopatra 

134 — 142  vom  Prinzipat  des  Augustus  bis  zum  Tode  des  Drusus  (9  v.  Ch.) 

Warum  Livius  gerade  mit  dem  142.  Buch  aufhörte,  dafür  lässt  sich 
kein  Grund  ausfindig  machen;  ob  es  ursprünglich  seine  Absicht  war,  das 
Werk  noch  weiter  zu  führen,  ist  ebenfalls  eine  Frage,  die  nicht  beant- 
wortet werden  kann.    Der  Titel  des  Werks  war  libri  ab  urbe  condita. 

Chronologische  Indicien.  Anspielungen  auf  Zeitereignisse  lassen  uns  die  Ent- 
stehungszeit mancher  Bücher  erkennen;  so  muss  das  9.  Buch  wegen  einer  Anspielung  im 
Kap.  36  vor  20  v.  Ch.  fallen;  das  28.  Buch  muss  nach  19  y.  Ch.  entstanden  sein,  da  Kap.  12 
der  Feldzug  Agrippas  gegen  Spanien  (19  y.  Ch.)  vorausgesetzt  wird.  Das  59.  Buch  er- 
wähnt das  Faktum,  dass  Augustus  die  Rede  des  Censor  Mete  Uns  aus  dem  J.  131  v.  Ch. 
im  Senat  vorlesen  liess;  da  dies  18  v.  Ch.  geschah,  so  ist  dieses  Buch  nach  diesem  Jahr 
verfasst.  —  Nisse^,  Rh.  Mus.  27,539;  Wölpplin,  Philol.  33,  139. 

323,  Erhaltene  Bücher.  Von  dem  bändereichen  Geschichtswerk  des 
Livius  sind  leider  nur  35  Bücher  auf  uns  gekommen,  nämlich  1 — 10,  welche 
die  Geschichte  der  Ereignisse  bis  in  den  dritten  Samniterkrieg  (293  v.  Ch.) 
hineinführen,  dann  die  Bücher  21 — 45,  welche  vom  zweiten  punischen 
Krieg  (218  v.  Ch.)  bis  zum  macedonischen  Triumph  des  L.  Aemilius  Paulus 
(167  V.  Ch.)  reichen.  Die  Fortpflanzung  des  Werkes  erfolgte  nach  Dekaden; 
es  sind  also  die  erste,  die  dritte  und  vierte  Dekade  und  von  der  fünften 
die  erste  Hälfte  gerettet  worden.  Die  Bücher  41 — 45  sind  vielfach  durch 
Lücken  entstellt. 

Die  Überlieferung  ist  nach  dem  Gesagten  von  jeder  Dekade  eigens  festzustellen. 

a)  Erste  Dekade.  Hier  sind  uns  durch  Subskriptionen  Rezensionen  bezeugt  und 
zwar  eine  des  Victorianus,  welcher  dieselbe  im  Auftrage  der  Familie  der  Symmachi  vor- 
nahm, für  alle  lö  Bücher;  dann  eine  der  beiden  Nicomachi  und  zwar  des  Nicomachus 
Flavianus  für  die  Bücher  6,  7. 8,  des  Nicomachus  Dexter  für  die  Bücher  3, 4,  5.  Diese  beiden 
Rezensionen  gehören  dem  4.  Jahrb.  n.  Gh.  an.  Auf  diese  (flüchtig  gemachte)  victorianisch- 
nicomachische  Rezension  gehen  alle  Handschriften  der  ersten  Dekade  zurück,  ausgenommen 
den  Palimpsest  der  Eapitelsbibliothek  zu  Verona,  der  uns  Reste  zu  den  Büchern  3—6  er- 
halten hat  (herausgegeben  von  Mohmsen,  Abh.  der  Berl.  Akad.  1868).  Unter  den  Hand- 
schriften der  victorianisch-nicomachischen  sind  die  besten  der  Mediceus-Laurentianus  62, 19 
s.  XI  und  der  jetzt  verlorene  Yonnaciensis,  dessen  Lesarten  bis  zu  6, 28  wir  aus  der  Aus- 
gabe des  B.  Rhenanus  und  Gelenius,  wenn  auch  nicht  vollständig,  kennen  lernen. 

ß)  Dritte  Dekade.  Lange  Zeit  hielt  man  den  am  Anfang  und  am  Schluss  ver- 
stümmelten Parisinus-Puteanus  5730  s.  V  für  die  einzige  Quelle  dieser  Dekade ;  erst  Hber- 
WA6EN,  comment,  crit,,  Nümb.  1869  zeigte,  dass  ausser  dem  Puteanus  noch  eine  zweite 
Quelle  floss,  welche  repräsentiert  wird  durch  einige  Palimpsestblätter  in  Turin  (s.  V)  und 
einen  jetzt  bis  auf  ein  Blatt  (28,39 — 41)  verloren  gegangenen  Codex  Spirensis,  von  dem 
Lesarten  B.  Rhenanus  (und  S.  Gelenius)  in  der  Basler  Ausgabe  des  J.  1535  mitteilt.  Zum 
Ersatz  des  verlorenen  Spirensis  dienen  mehrere  Handschriften,  welche  aus  derselben 
Quelle  wie  er  stammen,  einer  Quelle,  die  leider  nur  Teile  der  Dekade  enthielt,  nämlich 
26,30,9-26,31,2;  26,41,18—26,43,9;  26,46.2— 27,  7, 17;  27,  9,  8  bis  zum  Schluss  des 
30.  Buchs.  Dieser  Quelle  steht  am  nächsten  der  Harleianus  2684  s.  XV  (in  Teilen  des  29. 
und  30.  Buchs).  Vgl.  Luchs  Ausg.  der  Bücher  26—30  p.  XXXIV;  es  folgen  der  Laurentianns 
63, 21  s.  XllI  (m.  11)  und  der  Harleianus  2493  s.  XUl.  Siehe  die  zusammenfassende  Über- 
sicht bei  Luchs  p.  LIX. 

y)  Vierte  Dekade.  Quellen  sind  hier  der  Bambergensis  s.  XI,  welcher  die  Dekade 
bis  38, 46  gibt,  und  ein  verlorener  Codex  Moguntinus,   der  33, 17  bis  Schluss  der  Dekade 


T.  LiyiiiB.  181 

umfasste.  Unsere  Kenntnis  von  diesem  Codex  basiert  auf  den  Angaben  der  editio  Mognntina 
1519  und  der  editio  Basileensis  1535. 

(f)  Fünfte  Dekade.  Was  wir  von  dieser  Dekade  besitzen,  benibt  lediglich  auf 
dem  Codex  des  ehemaligen  Benediktinerklosters  Lorsch  (Laurishamensis),  jetzt  Cod.  Vindob. 
15  s,  V,  —  GiTLBAUER,  De  codice  Uv,  vdustissimo  Vindob,,  Wien  1876. 

324.  Ersatz  der  verlorenen  Bücher.  Auch  die  verlorenen  Bücher 
haben  Spuren  ihres  Daseins  zurückgelassen.    Wir  haben 

1.  ein  handschriftliches  Fragment  aus  dem  91.  Buch,  das  Paul 
Jakob  Bruns  im  J.  1772  in  dem  Palimpsest  Vaticanus-Palatinus  24  auf- 
fand und  1773  publizierte.  Dasselbe  bezieht  sich  auf  den  sertorianischen 
Krieg  (Hertz  4, 227). 

2.  Fragmente  bei  Schriftstellern.  Wörtlich  ausgeschriebene 
Stellen  der  verlorenen  Bücher  sind  verhältnismässig  sehr  wenige  erhalten. 
Am  bedeutendsten  sind  die  zwei  Stellen  über  Cicero,  welche  uns  der 
Rhetor  Seneca  aufbewahrt  hat  (Suas.  6, 17  und  22).  Häufiger  sind  An- 
führungen ohne  genaue  Festhaltung  des  Wortlauts. 

3.  Systematische  Auszüge.  Bei  dem  grossen  Umfang  des  Liviani- 
schen  Werks  musste  es  nahe  liegen,  dasselbe  ganz  oder  für  bestimmte 
Zwecke  zu  exzerpieren.  Wir  haben  mehrere  solcher  Auszüge;  die  wich- 
tigsten sind: 

a)  Die  Periochae.  Der  Verfasser  exzerpiert  einmal  die  Thatsachen, 
die  ihm  am  wichtigsten  erscheinen,  dabei  auch  Anekdotenhaftes  nicht  über- 
gehend, dann  gibt  er  aber  auch  (und  zwar  gewöhnlich  am  Schluss)  Inhalts- 
angaben, für  die  natürlich  der  Leser  auf  Livius  verwiesen  wird.  Das 
Werk  ist  also  gemischter  Natur,  indem  es  sowohl  epitome  als  index  ist. 
Erhalten  sind  uns  die  Periochae  zu  allen  142  Büchern  mit  Ausnahme  der 
Bücher  136  und  137.  Zu  dem  ersten  Buch  sind  zwei  überliefert,  von 
denen  aber  nur  die  zweite  den  nachfolgenden  gleicht,  also  die  echte  ist. 
Der  Umfang  derselben  ist  sehr  wechselnd;  von  zwei  Zeilen  (138)  wachsen 
sie  zu  ganzen  Seiten  an  (48,  49).  Ein  bestimmtes  Prinzip  für  diese  Ver- 
schiedenheit ist  nicht  erkennbar.  Es  scheint  das  bald  stärkere,  bald 
schwächere  Interesse,  dann  der  Zufall  wirksam  gewesen  zu  sein.  Gegen 
den  Schluss  des  Werks  forderte  auch  die  Ermüdung  ihr  Recht.  Dass  der 
Verfasser  mit  seiner  Arbeit  noch  bestimmten  Zwecken  dienen  wollte,  etwa 
der  Schule,  lässt  sich  nicht  mit  Bestimmtheit  sagen. 

b)  Das  Wunderbuch  des  Julius  Obsequens.  Dasselbe  enthält 
die  Prodigia  von  190 — 12  v.  Ch.  —  verloren  gingen  die  der  Jahre  249 
bis  190  V.  Gh.  —  und  nimmt  sein  Material  lediglich  aus  Livius. 

c)  Die  Eonsulatstafel  im  Ghronicon  des  Gassiodorius.  Für 
die  Zeit  bis  31  n.  Gh.  werden  ausdrücklich  als  Quellen  Livius  und  Aufidius 
Bassus  angegeben. 

Der  Vergleich  dieser  drei  Schriften  untereinander  und  mit  Livius 
führt  aber  noch  zu  einer  weiteren  Beobachtung.  Wir  finden  nämlich,  dass 
die  drei  entlehnenden  Autoren  bei  aller  Übereinstimmung  mit  Livius  doch 
auch  gemeinsam  Abweichungen  von  demselben  zeigen  und  sogar  die- 
selben Fehler  aufweisen.  Da  nun  diese  Schriftsteller  von  einander  unab- 
hängig sind,  so  lässt  sich  die  hervorgehobene  Erscheinung  nur  durch  die 
Annahme  erklären,  dass  zwischen  denselben  und  Livius  noch  ein  Mittel- 


182    Römische  LitteratnrgeBchichte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 


glied  liegt,  d.  h.   dass  sie  nicht  unmittelbar  aus  Livius,  sondern  aus 
einer  Epitome  des  Livius  schöpften. 

Die  verlorene  Epitome  Liviana.  Noch  andere  Schriftsteller  benutzten  diese 
Epitome,  so  Orosius  in  den  Abschnitten  seiner  Geschichte  über  die  römische  Repablik. 
Dies  hat  Zanoemeister,  Festschr.,  Freib.  1882  p.  89  durch  eine  eingehende  Vergleichung 
der  Periochae  und  des  Orosius  mit  den  erhaltenen  Büchern  des  Livius  dargethan.  Dass 
dieselbe  Epitome  auch  dem  Julius  Obsequens  und  Gassiodorius  vorlag,  zeigt  wiederum 
die  Obereinstimmung  mit  Orosius,  vgl.  ZXngexeister  p.  102.  Auch  für  Eutropius  und 
Idacius  kann  mit  Hilfe  des  Orosius  die  Benützung  derselben  Epitome  wahrscheinlich 
gemacht  werden.  Die  Identität  der  Epitome  bei  Ca^odorius  und  bei  den  zuletzt  ge- 
nannten Autoren  (und  anderen)  war  bereits  von  Mokhsen  erschlossen  worden  (Abb.  der  sächs. 
Ges.  d.  Wiss.  8  [1861]  p.  552  und  p.  696).  Durch  die  Feststellung  dieses  zwischen  Livius 
und  den  Periochae  liegenden  Zwischenglieds  werden  frühere  Ansichten,  dass  die  Periochae 
von  Livius  selbst  herrühren  oder  aus  Lemmata  entstanden  seien,  hinflQlig.  Dass  dieselben 
übrigens  das  Werk  eines  Einzelnen  sind,  konnte  schon  die  Komposition  (Hbteb,  Fleckeis. 
Jahrb.  111,645)  und  die  Sprache  (Wölfflin,  CommetU,  Momms.  p.  338)  darthun. 

Überlieferung  der  Periochae.  Die  älteste  massgebende  Handschrift  ist  der 
früher  dem  S.  Nazariuskloster  in  Lorsch  angehdrige  Nazarianus,  jetzt  in  Heidelberg  (Pala- 
tinus  894)  s.  IX.  Eine  neue  Kollation  desselben  gibt  Rossbach,  Rh.  Mus.  44,  74,  von  dem- 
selben ist  noch  eine  zweite  Handschrift  beigezogen,  Parisinus  7701,  dessen  Kollation  gleich- 
faUs  mitgeteilt  wird.  —  Ausgabe  von  0.  Jahn,  Leipz.  1853  (dann  in  den  Liviusansgaben). 

325.  Seine  Quellen.  Die  Quellenforschung  ist  bei  Livius  mit  grossen 
Schwierigkeiten  verknüpft,  da  die  benutzten  Autoren  fast  sämtlich  verloren 
gegangen  sind.  Die  Untersuchungen  haben  daher  selten  einen  festen  Halt 
und  bei  dieser  Sachlage  ist  es  nicht  zu  verwundern,  wenn  ein  wahres  Chaos 
von  Einfallen,  von  denen  der  eine  oft  geradezu  den  andern  aufhebt,  auf 
diesem  Gebiet  erwachsen  ist,  und  sichere  Resultate  bisher  nur  sehr  wenige 
ermittelt  sind.  Diese  beziehen  sich  fast  bloss  auf  die  vierte  und  fünfte 
Dekade;  hier  erhalten  wir  durch  Polybios  festen  Boden  unter  den  Füssen;  in 
ganz  vortrefflicher  Weise  wurde  von  Nissen  in  diesem  Teil  die  Arbeits- 
methode des  Historikers  und  die  Art  und  Weise  der  Abhängigkeit  von 
seinen  Quellen  dargelegt.  Das  Ergebnis  ist  kurz  gefasst  dieses,  dass  in 
jenen  Dekaden  zwei  Schichten  des  Stoffs  sich  deutlich  abheben,  die  erste 
Schicht  repräsentiert  einen  universalen  Standpunkt^  die  zweite  einen  spe- 
zifisch römischen,  die  erste  schildert  die  Beziehungen  der  hellenistischen 
Staaten  zu  Rom,  die  andere  enthält  Einzelheiten  zur  römischen  Oeschichte, 
die  eine  Darstellung  ist  widerspruchslos  und  einheitlich,  die  andere  lässt 
Diskrepanzen  an  den  Tag  treten.  Beide  Parteien  stehen  in  der  Regel 
unvermittelt  nebeneinander,  so  dass  sie  sich  leicht  ablösen  lassen.  Diese 
dargelegte  Verschiedenheit  der  zwei  Teile  hat  ihren  Grund  in  der  Ver- 
schiedenheit der  Quellen  und  in  der  Arbeitsweise  des  Livius.  In  der  ersten 
Partie  folgt  er  dem  Polybius, »)  in  der  zweiten  zwei  römischen  Annalisten, 
dem  Claudius  Quadrigarius  und  dem  Valerius  Antias.  Das  Verhältnis  des 
Livius  zu  seinen  Quellen  ist  also  hier  dieses,  dass  er  dieselben  je  nach 
dem  Stoff  wechseln  lässt.  An  der  Hand  des  Polybius  können  wir  aber 
auch  prüfen,  wie  Livius  seine  Quellen  verwertet  hat.  Diese  Prüfung  führt 
zu  dem  Resultat,  dass  der  Römer  den  Griechen  frei  bearbeitet  hat.  Die 
Verschiedenheiten  zwischen  beiden  erklären  sich  daraus,  dass  Livius  als 
Römer  und  als  Rhetor  sclireibt,  und  dass  er  seinem  Volk  ein  anmutiges  Lese- 


^)  Nur  ganz  selten  (in  wichtigeren  Fällen) 
sah  Livius  in  diesen  Partien  die  lateinische 
Annalistik  nach  und  konstatierte  eine  Ab- 


weichung oder  machte  einen  Zusatz  (Nissen 
p.  80). 


T.  LivinB. 


183 


buch  darreichen  will.  Schwieriger  ist  das  Verhältnis  des  Livius  zu  seinen 
Quellen  in  den  römischen  Partien  zu  bestimmen,  hier  haben  wir  es  mit 
zwei  Autoren  zu  thun  und  zwar  Autoren,  welche  uns  nicht  erhalten  sind. 
In  diesem  FaU  lässt  sich  eine  dreifache  Art  der  Benutzung  denken.  Ent- 
weder folgte  Livius  einem  der  Gewährsmänner  und  zog  nur  hie  und  da 
den  andern  bei,  oder  er  folgte  bald  dem  einen  bald  dem  andern,  oder 
endlich  er  berücksichtigte  gleichmässig  beide,  indem  er,  was  ihm  nach 
Yergleichung  der  beiden  Bücher  als  wahr  erschien,  zur  Darstellung  brachte. 
Die  letzte  Methode  als  die  schiiHerigste  hat  man  Livius  entweder  geradezu 
abgesprochen  oder  nur  höchst  ungern  eingeräumt.  Allein  ich  glaube  nicht, 
dass  man  dieses  Verfahren  unserem  Historiker  entziehen  darf.^)  Besondei*s 
in  der  dritten  Dekade,  welche  den  Hannibalischen  Krieg  schildert,  muss 
er  gleichzeitig  aus  mehreren  Quellen  geschöpft  haben.  Polybius  ist  von 
ihm  benützt,  aber  auch  lateinische  Historiker  lagen  ihm  vor;  dass  er  die 
berühmte  Monographie  des  Coelius  Antipater  über  den  punischen  Krieg 
erst  nachträglich  verwertet  haben  sollte,  ist  mir  unmöglich  anzunehmen.^) 
Allem  Anschein  nach  war  Coelius  Antipater  neben  Polybius  seine  Haupt- 
quelle im  zweiten  punischen  Krieg.  In  der  ersten  Dekade  ist  es  natürlich 
noch  schwerer  festen  Fuss  zu  fassen;  aber  so  viel  ist  klar,  dass  Livius  hier 
der  jüngeren  Annalistik,  nicht  der  älteren  sich  anschliesst;  dass  Valerius 
Antias,  Claudius  Quadrigarius,  Licinius  Macer,  Aelius  Tubero  seine  Gewährs- 
männer sind,  nicht  Fabius  Pictor,  nicht  Calpurnius  Piso.') 

Aus  dieser  Darlegung  ersieht  man,  dass  bei  Livius  nicht  an  ein 
Quellenstudium  in  dem  Sinne,  in  dem  wir  es  heutzutage  bei  dem  Histo- 
riker voraussetzen,  gedacht  werden  kann.  Er  hat  nicht,  ehe  er  an  sein 
Werk  herantrat,  erst  die  gesamte  Quellenschriftstellerei  einer  Prüfung 
unterzogen,  um  zu  eruieren,  wo  die  verhältnismässig  reinste  Überlieferung 
vorliegt.  Seine  Auswahl  der  Quellenautoren  war  eine  zufällige,  er  nahm 
die  zunächstliegenden,  die  jüngsten.  So  kommt  es,  dass  ihm  über  die 
Glaubwürdigkeit  eines  von  ihm  benützten  Autors  erst  im  Laufe  der  Dar- 
stellung ein  Licht  aufging.  Valerius'  Lügenhaftigkeit  und  Aufschneiderei 
z.  B.  hat  er  erst  ziemlich  spät  erkannt.^)  Auch  greift  er  plötzlich  nach 
geraumer  Zeit  zu  einem  Autor,  den  er  anfangs  beiseite  gelassen.  So  er- 
scheint Cato  mit  seinen  Origines  erst  in  der  vierten  Dekade.^)  Die  grosse 
Ausdehnung  seines  Werks  zwang  Livius,  nur  eine  sehr  beschränkte 
Anzahl  von  Quellen  heranzuziehen  und  nur  hie  und  da  die  eine  oder 
andere  einzusehen.  Allein  selbst  die  wenigen  von  ihm  benützten  Autoren 
wurden  nicht  nach  festen  kritischen  Grundsätzen  untersucht;   nicht  selten 


*)  Eine  Scheidung  des  Eigentums  des 
Antias  und  des  Claudius  Quadrigarius,  welche 
Unoeb  vorgenommen,  halte  ich  mit  Nissen 
für  unmöglich.  Auch  der  fortwährende  Wech- 
sel in  der  Benützung  des  Antias  und  Claudius 
ist  unwahrscheinlich. 

*)  Wie  Stubm  {Quae  ratio  inter  terttam 
T,  lAvi  decadetn  et  L,  Coeli  Äntipatri  histo- 
rias  intercedatj  Würzh.  1883)  darzuthun  sucht 
(Nissen  p.  101  f.). 

')  MoMXSEN,  Hermes  5, 270. 


*)  33, 10, 8  8i  Valerio  qui  credat,  am- 
nium  verum  immodice  numerum  augentü 
39, 48, 1  Valerius  AntiaSy  ut  qui  nee  oraiio- 
nem  Catonis  legisset  et  fahidae  tantum  sine 
auctore  editae  credidisset. 

')  Nissen  p.  38  „Cato  wird  an  5  Stellen 
erwähnt  hei  Dmgen,  an  welchen  er  persön- 
lich heteiligt  war.*  —  p.  39  «Nach  den  An- 
führungen zu  schliessen,  sind  Catos  Schriften 
nur  hie  und  da  gelegentlich  benutzt.* 


184    Römische  litteratiirgeschichie.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

deutet  Livius  in  seinem  Werk  an,  wo  die  Kritik  hätte  einsetzen  sollen; 
allein  aus  seinen  dabei  gemachten  Bemerkungen  erhellt  zur  Genüge,  dass 
er  keinen  kritischen  Geist  besass.  Bei  dem  Mangel  an  einer  festen 
Grundlage  muss  auch  die  Benützung  der  ausgewählten  Autoren  eine 
schwankende  und  zufallige  werden  und  wir  werden  nicht  irren,  wenn  wir 
annehmen,  dass  Livius  in  der  oben  angedeuteten  Weise,  bald  diesen  bald 
jenen  Weg  einschlug,  um  seine  Vorlagen  zu  verwerten;  dass  er  dabei  von 
bester  Absicht  erfüllt  war,  die  Wahrheit  zu  sagen,  wird  niemand  leugnen 
wollen. 

Über  Beine  Unsicherheit  und  seine  Kriterien  beim  Auseinandergehen  der  Quellen 
vgl.  Weibsenbobn  in  s.  Einleitung  p.  27.  Einige  Proben :  8,  40  nee  facile  est  aut  rem  rei 
aut  auctoretn  auctori  praeferre,  8,  18  Fla€cum  PotUumque  varie  in  annaUbus  cognomen 
consulis  invenio:  ceterum  in  eo  parvi  refert  quid  veri  sit  '  illud  pervelim  —  nee  omnes 
auctores  sunt  —  proditum  falso  esse,  venenis  absumptos  quarum  mors  infamem  annum 
pestilentia  fecerit;  sicut  proditur  tarnen  res,  ne  cui  auctorum  fidem  abrogaverim,  exponenda 
est.  4,  29  victorem  securi  percussum  tradunt '  nee  Übet  credere  —  et  licet  in  variis  opinio^ 
nibus.  7,  6  cura  non  deesset,  si  qua  ad  verum  via  inquirentem  ferret;  nunc  fama  rerum 
standum  est,  ubi  ceriam  derogat  vetustas  fidem.  27, 1  Romanorum  sociorUmque  quot  caesa 
in  eo  proelio  milia  sint,  quis  pro  certo  adfirmet,  cum  tredecim  milia  alibi,  alibi  tum  plus 
quam  Septem  inveniam  P  27, 27  tnultos  circa  unam  rem  ambitus  fecerim,  si  quae  de  Mar- 
celli  morte  variant  auctores  omnia  exequi  velim  —  ceterum  ita  fama  variat,  ut  tarnen  pleri- 
que  —  tradant. 

Litteratur:  Lachmann,  De  fontibus  historiarum  T.  Livii,  Gott.  1821.  Peteb,  Zur 
Kritik  der  älteren  röm.  Gesch.,  Halle  1879.  Nitzsch,  Rom.  Annalistik  bis  auf  Valerius 
Antias,  Berl.  1873.  Kieseblovg,  De  rerum  rom.  scriptoribus  quibus  T.  Livius  usus  est, 
Greifsw.  1859. 

Für  die  4.  und  5.  Dekade  ist  das  abschliessende  Werk  Nissen,  Krit.  Untersuchungen 
über  die  Quellen  der  4.  und  5.  Dekade  des  L.,  Berlin  1863.  Ergänzend  tritt  hinzu  Unoer, 
Die  römischen  Quellen  des  L.  in  der  4.  und  5.  Dekade  (Philol.  3.  Supplementband  Abtl.  2 
p.  1 — 211),  welcher  die  Scheidung  der  Bestandteile  aus  Claudius  und  Valerius  Antias  durch- 
zuführen sucht. 

In  der  3.  Dekade  dreht  sich  eine  zahlreiche  Litteratur  um  die  Frage,  ob  Polybius 
auch  in  den  Büchern  21  und  22  benutzt  ist,  da  die  spätere  Benützung  desselben  allgemein 
zugestanden  wird.  (Tillmanns  Quo  libro  Livius  Polybii  historiis  uti  coeperit  in  Fleckeis. 
Jahrb.  83,  844  nimmt  die  Benützung  vom  23.  Buch  an  (p.  852),  Nissen  vom  24.  (p.  84), 
allgemein  von  der  Zeit  Philipps  von  Macedonien  an  Niebuhb,  Vortr.  über  rÖm.  Gesch. 
hg.  von  Schmitz-Zeiss  p.  84).  Eine  Übersicht  der  Litteratur  mit  kurzen  raisonnierenden 
Bemerkungen  gibt  Föhlisch,  Über  die  Benützung  des  Polybius  im  21.  und  22.  Buche 
des  L.,  Pforzheim  1883  p.  2.  Peteb,  Liv.  und  Polybius,  über  die  Quellen  des  21.  und 
22.  Buchs  des  Liv.,  Halle  1863.  Böttcheb,  Kritische  Untersuchungen  über  die  Quellen 
des  21.  und  22.  Buchs  (Fleckeis.  Jahrb.  5.  Supplementb.  p.  353).  Dazu  Hibschfeli),  Zeit- 
sehr.  f.  österr.  Gyinn.  28,  801.  Lutebbacheb,  De  fontibus  libi'orum  XXI  et  XXII,  Strassb. 
1875.  —  WöLFFLiN,  Antioch.  und  Coelius  Antipater,  Leipz.  1872.  Michael,  De  ratione 
qua  Livius  in  tertia  decade  opere  Polybiano  usus  sit,  Bonn  1877.  Yollkeb,  Quaeritur 
unde  belli  Punici  secundi  scriptores  sua  hauserint,  Götting.  1872.  Posneb,  Quibus  auctoribus 
in  bello  Hannibalico  enarrando  usus  sit  Dio  Cassius,  Bonn  1874.  Fbiedebsdobpp,  Iav.  et 
Polybius  Scipionis  lerum  scriptores,  Gott  1869;  das  26.  Buch  des  Liv.,  Marienb.  1874. 
Kelleb,  Der  zweite  pun.  Krieg  und  s.  Quellen,  Marb.  1875.  Zieunski,  Die  letzten  Jahre 
des  zweiten  pun.  Kriegs,  Leipz.  1880.  Hesselbabth,  Eist.  krit.  Untersuchungen,  Lippstadt  1882. 

Für  die  1.  Dekade:  Peteb,  Das  Verhältnis  des  Liv.  und  Dion.  zu  einander  und 
den  älteren  Annalisten,  Anclam  1853.  Yibck,  Die  Quellen  des  Liv.  und  Dionys.  für  die 
älteste  Gesch.  der  röm.  Republik,  Strassb.  1877.  Lübbebt,  De  Liv.  libri  IV  fontibus, 
Giessen  1872.    Klingeb,  De  Liv.  l.  X  fontibus,  Leipz.  1884. 

326.  Charakteristik  des  Livius.  Patriotismus  war  es,  welcher 
Livius  bestimmte,  die  Geschichte  des  römischen  Volks  zu  schreiben.  Sein 
angesichts  der  grossen  Verderbnis  seiner  Zeit  gedrückter  Geist  sehnte  sich 
nach  Erfrischung  und  er  glaubte  sie  zu  finden  in  der  Betrachtung  der  er- 
hebenden Epochen  der  römischen  Geschichte.    Diese  Betrachtung  musste 


T.  LiTins.  185 

zugleich  die  Erkenntnis  bringen,  wie  es  möglich  war,  dass  sich  aus  so 
geringen  Anfängen  das  gewaltige  römische  ß^ich  entwickelte,  und  auf  der 
anderen  Seite,  wie  es  geschehen  konnte,  dass  das  starke  Römervolk  zu  dem 
damaligen  Sittenverfall  herabsank.^)  Es  %ar  ein  weitaussehendes  Unter- 
nehmen, an  das  sich  Livius  wagte;  nur  als  Lebensberuf  gefasst,  konnte  es 
Aussicht  auf  Gelingen  geben.  Die  hohe  Begeisterung,  von  der  Livius  er- 
fallt war,  verlieh  ihm  die  Energie,  die  nötig  war,  eine  solche  Riesenauf- 
gabe zu  lösen.  Schon  diese  Anspannung  aller  Kräfte  für  einen  grossen 
Zweck  gibt  dem  Historiker  ein  Anrecht  auf  unsere  Bewunderung  und 
sichert  ihm  dauernden  Nachruhm.  Es  ist  richtig,  Livius  besass  vieles  nicht, 
was  man  fuglich  von  einem  Historiker  verlangen  kann.  Sein  Quellen- 
studium war,  wie  wir  gesehen  haben,  sehr  eingeschränkt;  für  die  Ent- 
wicklung der  Verfassung  hatte  er,  der  niemals  ein  Staatsamt  bekleidet, 
kein  rechtes  Verständnis;  das  Militärische  war  ihm  ziemlich  fremd,  und 
seine  Schlachtbeschreibungen  lassen  in  der  Regel  die  Schablone,  nach  der 
sie  gefertigt  sind,  deutlich  erkennen.  Selbst  in  der  Chronologie  verrät  er 
ein  bedenkliches  Schwanken,  und  auch  an  eingehenden  geographischen  Stu- 
dien liess  er  es  fehlen.    Das  Lob  Dantes,  der  von  einem 

Livio  che  non  erra 

spricht  (Inferno  28, 12),  hält  also  einer  unbefangenen  Prüfung  nicht  stand. 
Aber  dafür  besitzt  der  Historiker  eine  Eigenschaft,  welche  uns  für  viele 
seiner  Mängel  entschädigt,  nämlich  das  Bestreben,  überall  die  Wahrheit 
sagen  zu  wollen.  Kein  ausgesprochener  Parteistandpunkt  trübt  seine  Auf- 
fassung. Livius  war  ein  Bewunderer  des  Pompeius,  aber  diese  Bewun- 
derung verleitete  ihn  nicht  zu  einer  Opposition  gegen  das  herrschende  Ge- 
schlecht. Er  hasst  das  demokratische  Treiben,')  aber  er  findet  auch  das 
Königsregiment  für  Rom  unerträglich,  s)  Das  Extreme  ist  es,  das  er  be- 
kämpft, mag  es  ihm  erscheinen,  wo  es  immer  will.^)  Noch  ein  zweites  ist 
es,  was  wir  für  den  Autor  in  die  Wagschale  werfen  können,  es  ist  dies 
die  tiefe  Empfindung  seines  Gemüts,  welche  über  das  ganze  Werk  wie 
ein  zarter  Duft  ausgebreitet  ist.  Das  warme  Gemüt  befähigt  ihn,  die 
Sagenwelt  in  liebevoll  sinniger  Weise  zu  behandeln  und  alles  Klügelnde 
hintanzuhalten,  dieses  ermöglicht  ihm,  in  die  ehrwürdigen  religiösen  Vor- 
stellungen der  alten  Zeit  sich  einzuleben  und  sie  in  frommer  schlichter  Weise 
kundzugeben,  dieses  treibt  ihn  an,  in  der  Geschichte  nicht  bloss  dürre 
Thatsachen,  sondern  zugleich  Musterbeispiele  für  unser  Handeln  zu  suchen 
und  daher  auch  das  sittliche  Moment  in  seinem  Werke  hervortreten  zu 
lassen.  Auch  in  die  Brust  des  Lesers  wirft  diese  seelische  Wärme  ihre 
Strahlen  und  unwillkürlich  schlingt  sich  ein  festes  Band  zwischen  ihm  und 
seinem  Schriftsteller.  Aber  dieser  warmherzige  Mann  ist  zugleich  ein 
Meister  des  Worts,  der  dem,  was  sein  Inneres  bewegt,  glänzende  Fassung 
verleihen  kann.  Vergleicht  man  seine  Sprache  mit  der  Ciceros,  so  erkennt 
man,  wie  sehr  er  die  Sprachmittel  erweitert  hat.^)    In   dem  Satzbau  hat 


? 


Vgl.  die  praefaiio. 

42.30,1  28,27,11. 
»)  27, 19, 4. 
^)  24,25,5  haec  natura  muUitudinis  est: 
aut  aermt  humiUter  aut  süperbe  dominatur, 


Hbertatem  quae  media  est,  nee  struere  modice 
nee  habere  sciunt. 

^)  Einen    belehrenden    Fall    analysiert 
Madyio,  El.  Sehr.  p.  356. 


186    BOmisobe  Liüeraturgesohiolite.    ü.  Die  Zeit  der  Monarde.    1.  Abteilimg. 

er  es  verstanden,  eine  ganze  Reihe  untergeordneter  Momente  in  parti- 
zipialer  Form  dem  Hauptgedanken  anzuschliessen,  und  dadurch  zur  Aus- 
bildung des  historischen  Stils  unendlich  viel  beigetragen,  mag  es  auch 
manchmal  nicht  leicht  sein,  den  Knäuel  zu  entwirren.  Seine  Latinität  hält 
den  Vergleich  mit  den  besten  Mustern  der  klassischen  Zeit  aus,  nur  das 
poetische  Kolorit  erinnert  hie  und  da  an  die  heranbrechende  Epoche  in  der 
Geschichte  der  lateinischen  Sprache.  Überall  zeigt  sich  der  ausgebildete 
Geschmack  des  Schriftstellers,  doch  die  Glanzseite  seiner  Darstellung  bilden 
die  zahlreichen  eingestreuten  Reden.  Fast  durchweg  auf  freier  Erfindung 
beruhend,  geben  sie  dem  Geschichtschreiber  Anlass,  uns  tiefer  in  den  Gang 
der  Ereignisse  einzuführen,  vorzugsweise  dienen  sie  aber  zur  feinen  psycho- 
logischen Charakteristik  der  sprechenden  Personen.  In  diesen  Reden  be- 
wundem wir  Livius'  reiche  rhetorische  Kunst;  wii'  sehen,  dass  er  Demo- 
sthenes  und  Cicero  nicht  umsonst  studiert  und  dass  er  aus  der  Rhetorschule 
eine  reiche  Ernte  davongetragen  hat.  Aber  niemals  verleitet  ihn  sein  red- 
nerisches Können  zur  blossen  Deklamation,  niemals  gibt  er  uns  Steine  statt 
des  Brotes.  Nicht  überall  hält  sich  seine  stilistische  Kunst  auf  gleicher 
Höhe.  Es  wäre  dies  ein  wahres  Wunder  bei  einem  Werke,  das  sich  fast 
durch  das  ganze  Leben  des  Verfassers  hindurchzieht.  Das  Alter  verlangt 
ja  auch  sein  Recht.  0  Und  der  Sto£f  ist  bei  einem  historischen  Werk  nicht 
ohne  Einfiuss  auf  die  Komposition.  Die  eine  Partie  wird  daher  den  Leser 
stärker  packen  als  eine  andere.  Das  grosse  erschütternde  Drama  der 
punischen  Kriege  wird  wohl  bei  den  meisten  die  mächtigsten  Eindrücke 
hinterlassen.  Aber  völlig  kalt  lässt  uns  kein  Teil  dieser  grossen  Schöpfung. 
Mit  derselben  hat  Livius  seiner  Nation  ein  unvergängliches  Gut  gespendet, 
aber  nicht  bloss  die  Römer,  sondern  alle  Kulturvölker  empfingen  von  diesem 
Werk  befruchtende  Anregung. 

Eine  Charakteristik  des  Livius  schicken  Weibsbkbobn  nnd  Hertz  ihren  Ausgaben 
voraus.  TAnns,  Essai  sur  TUe-Live,  Paris  1888;  Über  die  Reden  vgl.  Fbiedbbsdobff, 
De  orationihus  operi  Liv.  insertarum  origine  et  natura  I,  Tilsit  1886;  über  die  Sprache 
EÜHNAST,  Die  Hauptpunkte  der  Liv.  Syntax,  BerL  1872.  Riemahn,  müdes  sur  Ui  langue 
et  la  grammaire  de  Tite-IAve,  Paris  1884. 

Ausgaben  (mit  knapper  Auswahl).  Von  Alschefski  (zwei  Ausgaben,  eine  die 
Bücher  1—10,  21—23  umfassend,  BerL  1841—1846,  die  andere,  die  Bücher  1—10  21—30, 
BerL  1843—1844);  von  Madvio  und  Ussino,  Kopenhagen  1880—86;  von  Luchs  (21—25), 
BerL  1888;  von  demselben  die  Bücher  26—30,  BerL  1879.  —  Textausgaben  von  Weissbkbokn- 
MüLLEB  (Teubneriana),  von  Hbbtz  (Tauchnitziana),  von  Zinoeblb  (noch  nicht  vollendet), 
(Freytag).  —  Mit  deutschen  Anmerkungen  von  Weissenbokn-Mülleb  (Weidmann);  zahl- 
reiche Ausgaben  einzelner  Bücher  z.  B.  von  Fabbi-Heebwagek,  Nümb.  1852  (21 — 22),  von 
Wölfflin-Lutebbacheb  (21 — 23),  von  Fbiedebsdobff,  Leipz.  1883  (28). 

327.  Fortleben  des  Livius.  Dass  Livius  bereits  bei  seinen  Leb- 
zeiten eine  gefeierte  Grösse  war,  wissen  wir  durch  sein  eigenes  Zeugnis; 
in  der  Einleitung  zu  einem  Buch  schrieb  er,  dass  er  aufhören  könnte,  da 
ihm  des  Ruhmes  genug  geworden  sei,  allein  die  Schaffensfreude  halte  ihn 
an  dem  Werke  fest  (Plin.  n.  h.  praef.  16).  Sein  Ruhm  drang  bis  in  die 
fernsten  Teile  des  römischen  Reichs ;  ein  Mann  reiste  eigens  zu  dem  Zweck 
von  Gades  nach  Rom,  um  Livius  zu  sehen,  und  als  er  sein  Ziel  erreicht, 
kehrte  er  sofort  wieder  in  seine  Heimat  zurück  (Plin.  ep.  2, 3, 8).  Die 
hervorragendsten  Schriftsteller  spendeten  seiner  Geschichte  das  wärmste 

^)  Niebühb,  Vorlesungen  über  römische  (lesch.  von  Isler  1, 48. 


T.  Li^iuB. 


187 


Lob;  sie  rühmten  sein  wahrhaft  adliges  Gemüt, 0  seine  grosse  Kunst  der 
Rede,')  seine  feine  psychologische  Zeichnung.')  Der  Einfluss,  den  der  Ge- 
schichtschreiber auf  seine  Zeit  ausübte,  war  ein  ungeheurer.  Neben  Yergil 
scheint  er  der  gelesenste  Autor  gewesen  zu  sein,  man  muss  dies  aus  dem 
Hass  folgern,  mit  dem  Galigula  das  Andenken  dieser  beiden  Schriftsteller 
verfolgte;  denn  er  drohte  ihre  Werke  aus  den  Bibliotheken  zu  verweisen 
(Suet.  Calig.  34).  Besonders  die  eingestreuten  Reden  übten  grosse  An- 
ziehungskraft aus;  so  hören  wir,  dass  zur  Zeit  des  Domitian  Mettius 
Pompusianus  die  Livianischen  Reden  der  Könige  und  Feldherrn  sich  zu- 
sammengestellt hatte  (Suet.  Domit.  10).  In  der  Historiographie  wurde  Livius 
eine  Autorität  ersten  Rangs;  man  gewöhnte  sich  immer  mehr  dieses,  den 
gesamten  Stoff  zusammenfassende  und  anmutig  darstellende  Werk  als  die 
einzige  Fundgrube  der  römischen  Universalgeschichte  anzusehen  und  die 
älteren  Quellen  in  den  Hintergrund  treten  zu  lassen.  Es  ist  die  Vorrats- 
kammer, aus  der  die  historischen  Schriftsteller  ihren  Bedarf  holen.  Als 
die  Dichter  Lucanus  und  Silius  Italiens  ihre  historischen  Epen  schrieben, 
hielten  sie  sich  vorzugsweise  an  Livius.  Yalerius  Maximus  und  Frontinus 
zogen  für  ihre  Beispielsammlungen  den  Historiker  zu  Rat.  Um  seinen 
Panegyrikus  auf  das  römische  Volk  zu  schreiben,  schöpfte  Florus  vorzugs- 
weise aus  Livius.  Selbst  griechische  Historiker,  deren  Gewohnheit  es  sonst 
nicht  ist,  die  römische  Litteratur  zu  berücksichtigen,  konnten  nicht  an  dem 
römischen  Geschichtschreiber  vorübergehen.  Auch  in  der  Sprache  gewahren 
wir  bei  den  folgenden  Autoren  seine  Spuren/)  Es  kamen  lesemüde  Zeiten, 
selbst  diesen  war  Livius  teuer,  nur  verlangte  man  einen  bequemen  Auszug, 
der  einen  Teil  der  Arbeit  dem  Leser  abnahm.  Schon  Martial  kennt  einen 
solchen,  wie  seine  Verse  besagen  (14, 190): 

pellibus  exiguis  artatur  Livius  ingens 
quem  mea  non  tatum  bibliotheca  capit. 

Immer  mehr  tritt  das  Originalwerk  des  Livius  zurück,  seine  Stelle  erobern 
sich  Auszüge.  Ein  solcher  Auszug  hat  besonders  grosses  Ansehen  erlangt, 
da  eine  Reihe  von  Historikern  denselben  benutzt  hat;  wir  haben  den- 
selben bereits  oben  kennen  gelernt;  es  ist  derjenige,  welchen  Julius  Ob- 
sequens  für  sein  Wunderbuch,  Gassiodorius  für  seine  Eonsulartafel,  Eutro- 
pius  und  Rufius  Festus  für  ihre  Geschichtskompendien  und  Orosius  für 
seinen  Abriss  der  christlichen  Weltgeschichte  zu  Grund  gelegt  haben;  auch 
die  vorhandenen  Periochae  wurden,  wie  bereits  gezeigt,  nach  diesem  Aus- 
zug angefertigt.  Allein  ganz  konnte  diese  epitomatorische  Thätigkeit  das 
Original  nicht  verdrängen,  noch  im  vierten  Jahrhundert  wollten,  wie  die 
Subskriptionen  der  ersten  Dekade  zeigen,  vornehme  Leute  einen  revidierten 
Text  des  Livius  haben.  Um  dieselbe  Zeit  setzte  sogar  Avienus  den  ganzen 
Livius  in  jambische  Verse  um  (Serv.  Aen.  10,  388).  Im  fünften  Jahrhundert 
wird  zum  erstenmal  von  dem  Papst  Gelasius  (492—496)  der  Dekaden  Er- 
wähnung gethan  und  zwar  wird  die  zweite,  die  uns  verloren   gegangen. 


*)  Sen.  saas.  ^^22  ut  est  natura  candi- 
diasimus  omnium  magnorum  ingeniorum 
aestimcUor. 

«)  Sen.  de  ira  1,  20,  6  Tacit.  Agric.  10 
Annal.  4, 84  Quint.  8, 1, 3. 


')  Quint.  10, 1, 101  affectus  quidem,  prae- 
cipueque  eos  qui  8unt  dulcüyres,  nemo  histari- 
carum  magis  commendavit. 

*)  z.  B.  bei  Curtius  vgl.  Mützbll,  praef» 
p.  36. 


188     BOmiBohe  Lüteratnrgeschichte.    n.  Die  Zeit  der  Honarohie.    1.  Abteilung. 

angeführt.  Priscian,  ein  Orammatiker  des  sechsten  Jahrhunderts,  kennt 
Livius  noch  und  citiert  Stellen  aus  ihm.  Nach  dieser  Zeit  verschwindet 
der  Historiker  aus  dem  Gesichtskreis;  erst  im  zwölften  Jahrhundert  be- 
gegnen wir  ihm  wieder  bei  Joannes  Saresberiensis.  Von  da  an  ist  das 
Fortleben  des  alten  Bömers  gesichert.  Dante  setzte  ihm  in  seiner  unsterb- 
lichen Dichtung  in  dem  bereits  citierten  Verse  ein  unvergängliches  Denk- 
mal. Noch  mehr  zeigt  das  zweite  Buch  seines  Werkes  über  die  Monarchie, 
dass  er  Livius  las  und  dass  ihm  hier  die  Hoheit  der  römischen  Welt 
aufging.^)  Es  kam  die  Wiederbelebung  des  klassischen  Altertums;  für 
eine  Epoche,  welche  sich  nicht  bloss  an  den  Schätzen  der  alten  Welt  er- 
freuen, sondern  auch  die  alte  Welt  wieder  ins  Leben  rufen  wollte,  musste 
Livius  ein  besonders  wichtiger  Schriftsteller  werden.  In  der  That  gehört 
er  zu  den  Lieblingsautoren  Colas  di  Rienzo.  Die  Begeisterung  für  den 
Autor  war  so  stark,  dass  der  Dichter  Beccadelli  ein  Landgütchen  verkaufte, 
um  sich  einen  von  Poggio  geschriebenen  Livius  anzuschaffen.^)  Mit  grossem 
Eifer  suchte  man  jetzt  nach  den  verlorenen  Dekaden;  schon  Petrarca  lag 
dies  sehr  am  Herzen.  Auch  Poggio,  der  glückliche  Finder  so  vieler  Autoren, 
hatte  darauf  sein  stetes  Augenmerk  gerichtet;  sobald  sich  eine  schwache 
Spur  zeigte,  wurden  sofort  Nachforschungen  eingeleitet.  Papst  Nikolaus  V. 
sandte  sogar  einen  eigenen  Agenten,  den  aus  der  Textesgeschichte  des 
Tacitus  bekannten  Enoche  von  Ascoli  nach  dem  Norden,  um  Liviani- 
sche  Handschriften  mit  den  verlorenen  Teilen  aufzuspüren.  Vergeblich; 
man  musste  sich  mit  dem  Vorhandenen  begnügen.  Es  begannen  nun  die 
Livianischen  Studien,  die  kein  Qeringerer  als  Laurentius  Valla  einleitete.  Als 
die  Buchdruckerkunst  erfunden  war,  wurde  natürlich  auch  Livius  gedruckt. 
Der  erste  Herausgeber  war  Andreas,  der  nachmalige  Bischof  von  Aleria, 
der  den  Livius  1469  in  Rom  erscheinen  liess.  Allein  es  war  noch  ein  ver- 
stümmelter Autor;  er  enthielt  die  Bücher  1—10,  dann  21—32,  und  34 
bis  40;  das  40.  Buch  war  ebenfalls  nicht  vollständig.  In  der  Mainzer 
Ausgabe  (1519)  wurde  nach  einer  Mainzer  Handschrift  die  erste  Ergänzung 
gegeben;  nämlich  das  Fehlende  des  40.  Buchs  (von  37,3  an),  dann  das 
33.  Buch  von  c.  17  an.  Eine  viel  umfassendere  Ergänzung  brachte  das 
Jahr  1531;  in  der  Basler  Ausgabe  dieses  Jahrs  wurden  die  fünf  letzten 
Bücher  aus  der  Lorscher  Handschrift  hinzugefügt.  Endlich  erfolgte  die 
letzte  Ergänzung,  den  noch  fehlenden  ersten  Teil  des  33.  Buchs  fand  der 
Jesuit  Horrio  im  J.  1615  in  einer  Bamberger  Handschrift;  in  der  römischen 
Ausgabe  des  Lusignanus  aus  dem  Jahre  1616  wurde  dieses  Supplement  zum 
erstenmal  veröffentlicht. 

Livius  lag  gedruckt  vor,  jetzt  musste  die  Ausbeute  beginnen.  Wir 
stossen  gleich  auf  die  berühmten  Namen  Glareanus  und  Sigonius,  welche 
neben  dem  Textkritischen  besonders  auf  die  historische  Interpretation 
ihre  Sorgfalt  verwandten,  und  auf  N.  Macchiavelli,  der  über  die  erste 
Dekade  seine  berühmten  Discorsi  schrieb.  Die  methodische  Textesrezension 
begründete  im  17.  Jahrh.  der  grosse  Philolog  Johann  Friedrich  Gronov,  der 
durch  die  Benutzung  massgebender  Handschriften,  durch  tiefes  Eingehen 

*)  Voigt,  Die  Wiederbelebung  des  class.  *)  Voigt  p.  201. 

Alterth.  p.  10. 


Pompeitts  Trogns.  189 

in  den  Gedankengang  seines  Autors,  durch  sorgfaltige  Prüfung  der  histori- 
schen Verhältnisse,  durch  genaue  Kenntnis  der  lateinischen  Sprache  und 
des  Livianischen  Sprachgebrauchs  mit  seiner  Ausgabe  ein  unvergängliches 
Meisterwerk  schuf  (1645).  Auch  das  folgende  Jahrhundert  erzeugte  eine 
hervorragende  Leistung  für  Livius,  nämlich  die  Ausgabe  Dbakenborchs 
(1738),  welche  durch  die  Noten  Dükers  noch  einen  ganz  besonderen  Schmuck 
erhielt.  In  unserem  Jahrhundert  kamen  die  ausgezeichneten  Forschungen 
in  der  römischen  Geschichte,  in  denen  Niebuhr  bahnbrechend  wirkte,  auch 
Livius  zu  gute.  Aber  auch  die  Kritik  machte  grosse  Fortschritte;  mit 
Alschefski  begann  dies  planmässige  Studium  der  handschriftlichen  Schätze, 
die  Texteskritik  hat  einen  hervorragenden  Meister  in  Madvig  gefunden, 
dessen  Emendationes  Livianae  zu  den  Glanzwerken  der  Philologie  gehören. 

2.   Pompeius  Trogus. 

328,  Die  erste  lateinische  Universalgeschichte.  Um  dieselbe 
Zeit,  da  Livius  die  gesamte  Stadtchronik  in  einem  grossartigen  Werk  dem 
Leser  vorführte,  tritt  in  der  römischen  Litteratur  auch  die  erste  Uni- 
versalgeschichte auf.  Als  der  römische  Name  fast  die  ganze  Welt 
umspannte,  musste  sich  der  Blick  der  Forscher  auch  auf  die  Geschichte 
der  Völker  richten,  welche  ausser  dem  römischen  das  gewaltige  Reich 
bildeten.  Es  konnte  daher  als  eine  lohnende  Aufgabe  erscheinen,  in  einem 
Abriss  die  wechselvollen  Schicksale  des  grossen  Yölkerhaufens  den  Lesern 
zu  schildern.  An  diese  Aufgabe  trat  Pompeius  Trogus  heran.  Derselbe 
stammte,  wie  er  selbst  in  seinem  Werk  gelegentlich  einflocht,  von  den 
Yocontiem  in  Gallia  Narbonensis  ab.  Sein  Grossvater  erhielt  wegen  seiner 
Verdienste  im  sertorianischen  Krieg  von  Pompeius  das  Bürgerrecht;  von 
dessen  zwei  Söhnen  machte  der  eine  unter  Pompejus  den  mithridatischen 
Krieg  mit,  der  andere,  der  Vater  des  Schriftstellers,  diente  unter  Caesar 
im  gallischen  Krieg  (Gaes.  b.  g.  5,  36).  Der  Autor  selbst  ist  uns  nur  durch 
seine  Schriftstellerei  bekannt,  er  schrieb  über  Zoologie,  und  als  zoologische 
Quelle  kennt  und  benutzt  ihn  Plinius  in  seiner  Naturgeschichte;  soweit 
aber  die  vorhandenen  Fragmente  ein  Urteil  gestatten,  zeigte  er  sich  hier 
nicht  als  Forscher,  sondern  als  Kompilator,  denn  was  er  mitteilt,  hat  er 
aus  Aristoteles.  Viel  wichtiger  war  sein  historisches  Werk,  die  philip- 
pischen Geschichten  (historiae  Philippicae)  in  44  Büchern.  Dasselbe  ist 
uns  jedoch  nicht  in  der  ursprünglichen  Fassung  erhalten,  sondern  ledig- 
lich in  abgekürzter.  Eine  Epitome  des  Werks  von  Justin,  dann  Inhalts- 
angaben zu  den  einzelnen  Büchern  (Prologi)  sind  auf  uns  gekommen.  Allein 
über  den  Aufbau  des  Werkes  kann  kein  Zweifel  sein.  Dasselbe  beginnt 
mit  den  orientalischen  Reichen,  Assyrien,  Medien,  Persien.  Die  Geschichte 
des  Perserreichs  führt  auf  die  Scythen  und  auf  die  Griechen.  Mit  dem 
7.  Buch  hebt  die  Darstellung  der  makedonischen  Monarchie  und  der  aus 
ihr  entstandenen  Reiche  an;  deren  Geschichte  wird  erzählt  bis  zu  ihrem 
Aufgehen  in  das  römische  Reich.  Die  Schilderung,  dieser  unruhigen  an 
Kämpfen  reichen  Zeit  nimmt  die  Bücher  7—40  in  Anspruch.  In  dem 
41.  Buch  wendet  sich  die  Erzählung  zu  den  Parthern,  der  einzigen  Macht, 
welche  nach  Aufrichtung  des  römischen  Weltreichs  den  Römern  gefährlich 


190    BOmuiche  Liiteratargeschiohte.    11.  Die  Zeit  der  Monarcbie.    1.  Abteiliing. 


werden  konnte.  Ihre  Schicksale  werden  bis  zur  Rückgabe  der  erbeuteten 
Gefangenen  und  Feldzeichen  durch  Phraates  an  Augustus  im  J.  20  v.  Cfa. 
verfolgt  (42,  5,  11).  Nun  wäre  der  geeignete  Moment  dagewesen,  auch 
die  römische  Qeschichte  in  einem  Abriss  hier  einzuschalten;  allein  der 
Geschichtschreiber  begnügt  sich  damit,  nur  die  Anfange  derselben  bis 
auf  König  Tarquinius  Priscus  nach  griechischen  Quellen  zu  erzählen,  be- 
handelt noch  Gallien  und  Spanien  und  schliesst  mit  dem  Sieg  des  Augustus 
über  die  Spanier.  Aus  dieser  Skizze  ersehen  wir,  dass  der  Mittelpunkt 
der  Betrachtung  das  von  Philipp  gestiftete  makedonische  Reich  ist 
und  dass  darin  auch  der  nach  einem  Werk  Theopomps  gewählte  Titel 
„philippische  Geschichten*'  seine  Erklärung  findet.  Allein  die  Geschichte 
des  makedonischen  Reichs  und  der  aus  ihm  erwachsenen  Staaten  wird 
zugleich  mit  der  römischen  verflochten,  insofern  das  Aufgehen  eines 
jeden  dieser  Reiche  in  das  römische  Reich  den  Endpunkt  der  Schilderung 
darstellt.  Der  Aufsaugungsprozess  Roms  findet  seinen  Abschluss  in  dem 
Prinzipat  des  Augustus;  die  Kämpfe  der  Gegenwart,  die  Kriege  mit  den 
Parthern,  die  Siege  über  die  Spanier,  die  der  Historiker  noch  berührt,  lassen 
ahnen,  dass  die  augustinische  Weltmonarchie  Roms  nunmehr  eine  That- 
sache  ist.  Zu  diesem  kunstvollen  Aufbau  gesellt  sich  eine  selbst  durch 
den  Auszug  noch  hindurch  schimmernde  rhetorisch  gehobene  Darstellung, 
der  Vergleich  zwischen  Philipp  und  Alexander  (9,8),  die  Rede  des  Aga- 
thokles  bei  der  Landung  in  Afrika  an  sein  Heer  (22,5),  der  Abschied 
des  Agathokles  von  seinem  Weib  (23,  2),  die  vorwurfsvolle  Ansprache  des 
Eumenes  an  sein  Heer  (14, 4),  die  Schilderung  der  Rückkehr  des  Alcibiades 
(5,  4),  der  Bestürzung  der  Athener  beim  Eintreffen  der  unglücklichen  Nach- 
richten (5,  7),  sind  wirksame,  von  der  stilistischen  Kunst  des  Bearbeiters 
zeugende  Stücke.  Nicht  selten  lässt  der  Autor  in  seiner  Erzählung  Streif- 
lichter auf  die  Gegenwart  fallen,^)  auch  mischt  er  Betrachtungen  über 
den  Wandel  des  Glücks,^)  die  strafende  Nemesis^)  und  Andeutungen  über 
bedeutsame  Vorzeichen^)  in  seine  Erzählungen.  Die  grauenvollen  Zeiten, 
die  er  zu  schildern  hat,  erfüllen  jedes  Gemüt  mit  Schauer  und  regen  zum 
Nachdenken  an.  Eine  grosse  Erholung  für  den  Leser  sind  die  geographi- 
schen und  ethnographischen  Exkurse,^)  eine  charakteristische  Eigentümlich- 
keit dieser  Geschichte. 

Persönliches  des  Aators.  42,3,11  in  postremo  lihro  Tragus  ntaiores  suos  a 
Vacontiis  originem  ducere;  avum  suum  Trogum  Pampeium  Sertoriano  hello  eivitatem  a  Cn. 
Pampeio  percepisse  dicit,  patruum  MUhridatico  hello  tuitnas  equitum  sub  eodem  Pompeio 


')  z.  6.  15, 2,  9  tanto  honestius  tunc  hella 
gerehantur  quam  nunc  amicitiae  coluntur, 
2, 10, 11  tanto  moderatius  tum  frcUres  inter  se 
maxima  regna  dividebant  quam  nunc  exigua 
pairimonia  partiuntur.  Sinnreich  ist  die  Ver- 
mutung GuTSOHiUDs,  dass  in  der  Erzählung 
12,  7  (wegen  der  Anwendung  nichtindischer 
Namen)  eine  Anspielung  auf  Caesar,  Eleo- 
patra  und  Kaesarion  vorliegt. 

*)  2, 13, 10  erat  res  spectaculo  digna  et 
aestimoHone  sortis  humanae  rerum  varietate 
miranda,  in  exiguo  latentem  videre  navigio, 
quem  paulo  ante  vix  aequor  omne  capiehat, 
carentem   omni  etiam   servorum   ministerio, 


cuius  exercitus  propt^r  multitttdinem  terris 
graves  erant;  vgl.  weiter  2, 12, 10. 

■)  24,  3, 10  sed  nee  Ptolemaeo  inulta  sce- 
lera  fuerunt;  quippe  dis  inmortalibus  tot  per- 
iuria  et  tam  cruenta  parricidia  vindicantibus 
hrevi  post  a  Gallis  spoliatus  regno  captusque 
vitam  ferro,  ut  meruerat,  amisit. 

*)  37, 2, 1  huius  futuram  magnitudinem 
etiam  eaelestia  ostenta  praedixerant.  40, 2, 1 
quod  prodigium  mutationem  rerum  portendere 
haruspices  responderunt. 

"*)  Vgl.  seine  Betrachtung  über  die  ver- 
heerenden Kriege  des  Menschengeschlechts 
und  seine  Verherrlichung  der  Scythen  (2, 2). 


Pompeios  Trogm. 


191 


duxisae,  patrem  quoque  sub  Gaio  Caesare  miWasae  episttdarumque  et  legationum,  8imul  et 
anuU  curam  habuisse. 

Abfassungszeit  des  Geschichtswerks.  Nach  einer  unbekannten  antiken  Quelle, 
vielleicht  dem  Sueton,  teilt  uns  der  Mönch  Matthaeus  von  Westminster  (Anfang  des  14.  Jahr- 
hunderts) in  seinen  „Flores  historiarum"  die  Abfassungszeit  des  Geschichtswerks  mit: 
anno  divinae  incarnationis  nano,  Caesare  Äugusto  imperii  stii  Llum  agente  annum  Trogus 
Pompeius  Chronica  sua  terminavit.  Dieses  clu*onologische  Datum  (9  n.  Gh.)  hält  Gutscbmid 
fttr  richtig  und  weist  darauf  hin  (Fragm.  p.  261),  dass  die  Worte  fatutn  Parthiae,  in  qua 
iam  quasi  soUemne  est  reges  parricidas  haberi  (42, 4, 16)  nicht  bloss  den  Tod  des  Orodes  I. 
durch  seinen  Sohn  Phraates  lY.,  sondern  auch  den  Tod  des  Phraates  IV.  durch  seinen 
Sohn  Phraatakes  voraussetzen.  Der  letzte  Mord  ereignete  sich  aber  nach  Gutschmid  höchst 
wahrscheinlich  9  n.  Ch. 

Des  Trogus  naturwissenschaftliche  Schriftstellerei.  Charisius  citiert  137, 9 
Trogum  de  animalibus  libro  X.  Da  Trogus  in  den  Quellenverzeichnissen  der  botanischen 
Bücher  12 — 18  des  Plinius  aufgefUirt  wird,  so  hat  Gutschkid  noch  ein  botanisches,  aus 
Theophrast  geschöpftes  Werk  des  Trogus  annehmen  wollen,  zumal  sich  Botanisches  in  den 
Fragmenten  findet  (PI.  n.  h.  17,  58).  Allein  eine  solche  Abhängigkeit  von  Theophrast  ist 
unerweisbar,  auch  ist  in  den  zoologischen  Schriften,  wie  Aristoteles  zeigt,  vielfach  Gelegen- 
heit vorhanden,  Botanisches  zu  berflhren.  Sonach  liegt  keine  Nötigung  vor,  ausser  dem 
bezeugten  zoologischen  Werk  des  Trogus  noch  ein  unbezeugtes  botanisches  anzusetzen 
(Spbbnobl,  Rh.  Mus.  46,  57).  Die  nach  Aristoteles  lateinisch  bearbeitete  Zoologie  benutzte 
Plinius  (BiBT,  De  HaJieutieis  Ov.  p.  136).  —  Gutschmid,  Ober  die  Fragmente  des  P.  T., 
Fleckeis.  Jahrb.  2.  Supplementb.  p.  177. 

Die  römische  Geschiente  in  dem  historischen  Werk.  43,  1,  1  Parthicis 
orientalibusque  ac  totius  propemodum  orbis  rebus  explicitis  ad  initia  Romanae  urbis  Trogus 
veluti  post  longam  peregrinationem  domum  revertitur,  ingraii  eivis  officium  existimans,  si, 
cum  omnium  gentium  res  gestas  inlustraverit,  de  sola  tantum  patria  taceat.  Bretiter 
igitur  initia  Romani  imperii  perstringit,  ut  nee  modum  propositi  operis  excedat  nee  utique 
originem  urbis,  quae  est  caput  totius  orbis,  silentio  praetermittat. 

329.  Die  Vorlage  des  Trogus.  Für  die  Beurteilung  des  Trogus 
Pompeius  ist  die  Entscheidung  der  Frage  von  der  grössten  Wichtigkeit, 
ob  der  künstliche  Aufbau  des  Werks  von  ihm  herrührt  oder  auf  seine 
Vorlage  zurückzuführen  ist.  Wäre  das  erste  der  Fall,  so  müssten  wir  den 
Mann  anstaunen,  der  ein  so  kunstvolles  Gebäude  aus  den  verschiedensten 
und  entlegensten  Quellen  mit  grosser  Gelehrsamkeit  aufzubauen  verstanden. 
Zu  einem  solchen  Bild  des  Historikers  Trogus  will  aber  nicht  recht  stimmen 
das  Bild  des  Zoologen  Trogus ;  denn  diesen  fanden  wir  in  ganz  sklavischer 
Abhängigkeit  von  Aristoteles,  ihn  lernten  wir  nicht  als  gelehrten  Forscher, 
sondern  als  flüchtigen  Epitomator  kennen.  Sollte  also  eben  dieser  Mann 
in  dem  Geschichtswerk  ganz  andere  Seiten  des  litterarischen  Schaffens  ent- 
wickeln als  in  seiner  Zoologie?  Sollte  er  dort  zu  einem  ernsten  Quellen- 
studium sich  aufgerafft  haben,  das  er  hier  gänzlich  ausser  Acht  gelassen? 
Es  ist  dies  wenig  glaublich.  Überdies  weist  die  Idee  des  Aufbaus  auf 
einen  Griechen  hin;  denn  die  makedonische  Macht  ist  in  den  Vordergrund 
gestellt,  die  römische  erscheint  nur  als  ihre  Nachfolgerin,  da,  wie  nicht 
ohne  Bitterkeit  bemerkt  wird,  das  ^römische  Glück"  ja  über  Makedonien 
gesiegt  hatte  (30,4, 16).^)  Auch  sonst  machen  sich  Spuren  einer  den  Römern 
unfreundlichen  Gesinnung  bemerkbar.  Die  römische  Geschichte  wird  mit 
Ausnahme  eines  nach  griechischen  Autoren  bearbeiteten  kleinen  Fragments 
über  die  Urzeit  ganz  beiseite  gelassen,  die  Parther  werden  als  eine  den 
Römern  ebenbürtige  Macht  hingestellt,')  endlich  den  gehässigen  Reden  der 


')  Charakteristisch  sind  aach  die  Worte 
(39,5,3):  Ulm  fortuna  Bomana  porrigere  se 
ad  orientalia  regna,  non  contenta  Baliae  ter- 
minis,  coeperat. 


')  41, 1, 1  Parthi,  penes  quos  velut  divi- 
sione  orbis  cum  Bomanis  facta  nunc  orientia 
Imperium  est. 


192    Bömiscbe  Litteratnrgeschiclite.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Ätoler  (28,2)  und  des  Mithridates  (38,4)  kein  römerfreundliches  Gegen- 
gewicht beigesellt.  Es  ist  daher  die  Annahme  kaum  abzuweisen,  dass 
Trogus  den  ganzen  Aufbau  bereits  in  seiner  Vorlage  vorfand  und  dass  daher 
sein  Verdienst  vorwiegend  in  der  lateinischen  Bearbeitung  eines  griechischen 
Werks  zu  suchen  und  dass  der  Historiker  dem  Zoologen  völlig  adäquat 
ist.  Über  das  Original  sind  natürlich  nur  Vermutungen  gestattet.  *)  Aber 
eine  Persönlichkeit  drängt  sich  uns  doch  ganz  besonders  auf;  es  ist  dies 
Timagenes  aus  Alexandria,  den  wir  aus  Horaz  Ep.  1, 19, 15  kennen.  Der 
kam  unter  Pompeius  nach  Rom  und  bahnte  hier  nach  dem  Zeugnis  Quin- 
tilians  (10, 1,  75)  eine  neue  Epoche  der  griechischen  Geschichtschreibung 
an.  Von' ihm  können  wir  auch  ein  Werk  aufzeigen,  das  sich  Trogus  zur 
Bearbeitung  hernehmen  konnte,  es  ist  sein  Werk  „Die  Könige^,  in  dem 
die  Alexandermonarchie  und  die  daraus  entstandenen  Reiche  geschildert 
wurden.  Ihm  können  wir  eine  römerfeindliche  Gesinnung  zutrauen,  er  wird 
unter  den  „leichtfertigen  Griechen"  zu  verstehen  sein,  denen  Livius  vor- 
wirft (9, 18),  dass  sie  dem  Ruhm  der  Parther  im  Gegensatz  zu  den  Römern 
fröhnen;  auch  die  Eigentümlichkeiten  der  Komposition,  das  Rhetorisch- 
Pikante,  das  durch  die  Epitome  noch  hindurch  schimmert,  und  die  Gleich- 
stellung des  Geographischen  mit  dem  Historischen  treffen  auf  Timagenes 
zu,  Seneca  hebt  seine  Beredsamkeit  hervor  (controv.  10,  5  22),  ebenso  der 
Epitomator;  von  seinen  geographischen  Studien  legen  die  Fragmente  Zeugnis 
ab.*)  Sonach  werden  wir  das  Geschichtswerk  des  Trogus  mit  grosser 
Wahrscheinlichkeit  im  wesentlichen  als  eine  lateinische  Bearbeitung  der 
„Könige''  des  Timagenes  anzusehen  haben.  Näheres  über  sein  Verhältnis 
zum  griechischen  Original  lässt  sich  nicht  feststellen,  nur  eine  stilistische 
Eigentümlichkeit  ist  uns  noch  überliefert,  eine  Eigentümlichkeit,  die  aber 
nicht  zu  Gunsten  des  Trogus  spricht,  nämlich  seine  Abneigung  gegen  die 
direkte  Rede  in  der  Historiographie.  Allein  dass  diese  Schrulle  nicht  stets 
zum  Vorteil  der  Komposition  ausschlägt,  zeigt  die  vom  Epitomator  voll- 
ständig mitgeteilte  Rede  des  Mithridates,  welche  in  direkter  Form  ungleich 
wirksamer  gewesen  wäre. 

Ist  Trogus  Pompeius  nur  der  Bearbeiter  einer  griechischen  Vorlage, 
so  muss  natürlich  die  Quellenuntersuchung  nicht  den  Trogus,  sondern  den 
griechischen  Historiker  ins  Auge  fassen;  die  als  Hauptquellen  des  Trogus 
eruierten  Dinon,  Ephoros,  Theopomp,  Timaeus,  Phylarch,  Polybius')  sind 
Quellen  der  Vorlage. 

Die  Vorlage  des  Trogus.  Die  Ansicht,  dass  Trogus  ein  griechisches  Greschichts- 
werk  und  zwar  eines  des  Timagenes  lateinisch  bearbeitet  hat,  hat  zuerst  aufgestellt  und 
näher  begründet  Gutschmid,  Rh.  Mus.  37,  548.  Seine  Vermutung  bezüglich  des  Timagenes 
nennt  Mommsen,  Hermes  16, 619  zwar  keineswegs  sicher,  aber  ansprechend.  Die  Hypo- 
these  GuTSCHMiDS  will  Wachsituth  (Rh.  Mus.  46, 477)  dahin  modifizieren,  dass  er  dem 
Trogus  Pompeius  eine  grössere  eigene  Thätigkeit  zusclureibt;  einmal  soll  dieser  neben  dem 
Werk  des  Timagenes  „über  die  Könige*  Ephoros,  Theopompos,  Phylarchos,  Folybios, 
Poseidonios  für  grosse  Strecken  selbständig  benutzt,  dann  auch  den  Gesamtplan  der  Uni- 
versalgeschichte selbst  festgestellt,  nicht  entlehnt  haben.  Das  Zeugnis  über  die  Abneigung 


*)  Der  Auszug  selbst  nennt  natürlich 
keine  Quellen ;  er  spricht  einigemal  von  multi 
auctores  42,3,7  und  44,3,1. 

')  MoMusEN  teilt  ihm  einen  nsQinXovg 
näatji  ^aXdaafjg  in  fünf  Büchern  zu  (Hermes 


16,620).    Vgl.  dagegen  Wachsmuth  466, 1. 

»)  So  GüTscHinD,  Rh.  Mus.  37,  552; 
ScHAEFER,  Grundr.  2,  98  fügt  noch  Poseido- 
nios hinzu. 


JuBÜnns.  193 

des  TrogUB  gegen  die  direkten  Reden  lautet  (38,  3,  11):  quam  orationem  dignam  duxi, 
cuiiis  exemplum  brevUati  huius  operis  insererem;  quam  obliquam  Pampeius  Trogus  expaauU, 
quoniam  in  Livio  et  Sallustio  reprehendit,  quod  contiones  direetas  pro  atta  oratione  *)  operi 
8U0  inserendo  histariae  modum  excesserint. 

Zeugnisse  über  Timagenes.  Vgl.  den  Artikel  des  Suidas.  Quini  10, 1,  75  longo 
p08t  intervaUo  temporis  natus  (nach  Clitarchos)  Timagenes  vel  hoc  est  ipao  probahilis,  quod 
iniermiseam  historias  aeribendi  industriam  nova  laude  reparavit.  Stepb.  Byz.  p.  200  Westerm. 
T$fiaydyrji  nQtSTt^  ßactXiiay,  Seneca  controv.  10,  5  (34),  22  Timagene  —  homine  acidae  linguae 
et  qui  nimis  liber  erat  —  disertus  homo  et  dicax,  a  quo  multa  inprobe,  sed  veuuste  dieta. 
Barch  seine  freien  Reden  verscherzte  er  die  Gunst  des  Augustus,  der  ihm  domo  sua  inter- 
dixit  .  postea  Timagenes  in  contubernio  PoUionis  Asinii  consenuit  —  historias  postea  quas 
scripserat  recitavit  et  libros  acta  Caesaris  Augusti  continentis  in  igne  posuit  (Sen.  de  ira  8, 23). 
Bass  Liv.  9, 18  periculum  erat,  quod  levissimi  ex  Oraecis,  qui  Parthorum  quoque  contra 
nomen  Bomanum  gloriae  favent,  dictitare  eolent,  ne  maiestatem  nominis  Alexandri  —  eustinere 
non  potuerit  populus  Romanus  auf  Timagenes  gemflnzt  sei,  hat  Schwab  (De  Livio  et  Tima- 
gene, Stnttg.  1831)  zuerst  erkannt. 

Quellenfrage.  G utschmid  stellt  einige  allgemeine  Grundsätze  auf :  « Bie  Historiae 
Phüippicae  bekunden  eine  Ausbreitung  der  Quellenkunde,  die  bei  den  römischen  Historikern 
beispiellos  dasteht"  (p.  549).  «Nicht  bloss  das  ganze  Geschichtswerk  ist  ein  sauber  aus- 
geftmrtes  Mosi^,  Mosaik  ist  auch  mehr  oder  weniger  jeder  einzelne  Abschnitt'  (1.  c).  Be- 
züglich des  Timagenes  äussert  er  sich  (p.  554):  Bas  Material  war  mit  vielem  Fleiss  aus 
den  verschiedenartigsten  Quellen  zusammengetragen,  die  Bearbeitung  entbehrte  aber  der 
rechten  Kritik."  Sollte  diese  Ansicht  Gütschmids  sich  bewähren,  was  ich  jedoch  bezweifle, 
so  wäre  die  Quellenuntersuchung  bei  Trogus  ganz  anders  anzufassen,  als  dies  bisher  ge- 
schehen, denn  bislang  war  die  Anschauung  herrschend,  dass  den  verschiedenen  Partien 
der  Erzählung  immer  nur  je  ein  Hauptautor  zu  Grunde  liege,  wie  folgende  Übersicht') 
darthut: 

Ober  Binon  als  Quelle  für  persische  Geschichte  Wolffgabtbk,  De  Ephori  et  Dinonis 
historiis  a  T.  P.  expressis,  Bonn  1868  p.  60  (GuTSCHMn),  Bie  Fragm.  des  P.  T.  p.  191); 
dagegen  Nbühaus,  Bie  Quellen  des  T.  P.  in  der  persischen  Geschichte,  Hohensteiner  Gym- 
nasiidprogr.  aus  den  Jahren  1882,  1884,  1886  (Ruehl,  Bie  Textesquellen  des  Justin  p.  115). 

Über  Ephoros  als  Quelle  der  griechischen  Geschichte  bis  zum  Auftreten  Philipps 
WoLFFOASTEV  1.  c.  Enmann,  Über  die  Quellen  des  P.  T.  für  die  griechische  und  sicilische 
Geschichte,  Borpat  1880  p.  1—128. 

Über  Theopomp  besonders  als  Hauptquelle  in  den  ersten  sechs  Büchern  Hebren, 
Comm,  80c.,  Gotting.  15  (1804)  185,  auch  in  Frotschbrs  Ausgabe.  Westbbhavk,  De  fontibus 
hist.  Demosth.  p.  16.  Bibelj^,  Welche  Quellen  hat  P.  T.  in  seiner  Barstellung  des  dritten 
Perserzugs  benützt,  Rostock  1888  (bis  zur  Schlacht  bei  Salamis  Ephorus,  später  Theopomp 
Hanptquelle,  daneben  einzelne  Angaben  aus  Herodot  p.  4).    Vgl.  EmcAVN  p.  111. 

Über  Timaeus  als  Quelle  für  die  sicilische  Geschichte  vgl.  Enkaitn  p.  129  und  p.  148; 
Richteb,  De  fontibus  ad  Gelonis  historiam  pertinentibua,  Gütt.  1873  p.  35,  (p.  40). 

Über  Phylarchus  als  Quelle  der  Biadochenzeit  Brueckker,  S^itschr.  f.  Altertumsw. 
1842  p.  252;  Lücht,  ad  PhyJarchi  fragm.  p.  33.  Bagegen  Rbuss,  Hieronymus  von  Kardia, 
Berl.  1876  (Hieron3rmus) ;  Gbschwandtneb,  QuUnis  fontibus  T.  P.  in  rebus  successorum 
Alexandri  M,  enarrandis  usus  sit,  Halle  1878  (Hieronymus  und  Buris  p.  28). 

Über  Polybius  als  Hauptquelle   der  Bücher  30—34  Nissen,   Krit.  Unters,  p.  305. 

Über  Clitarchus  als  eine  Quelle  der  Alexandergeschichte  vgl.  Gubtius  9,  5,  21. 
Raun,  De  Clitarcho  Diodori  Curtii  Justini  auctore,  Bonn  1868.  Crohn,  De  T,  P.  apud 
antiquos  auctoritate,  Strassb.  1882  p.  25. 

Über  Posidonius  als  Quelle  der  Geschichte  des  Mithradates  vgl.  Gutschmid,  Bie 
Fragm.  p.  279. 

330.  Die  Epitome  des  Jostinus.  Über  die  Geschichte  des  Trogus 
herrscht  anfangs  bei  den  Autoren  tiefes  Schweigen,  und  es  währt  lange, 
bis  er  zum  erstenmal  citirt  wird.  Allein  es  wäre  verfehlt,  wenn  wir 
daraus  schliessen  wollten,  der  Historiker  sei  nicht  gelesen  worden.  Im 
Gegenteil,    eine   aufmerksame   Analyse   vermag   seine   Spuren    bei    einer 


')  direetas  pro  sua  ratione  Wölfflin, 
direetas  pervoraa  ratione  Gutschmid,  direeta 
(vel  dereeta)  oratione  Bährens. 

Handbuch  der  klMS.  AltertumiwinenBchaft.    Vm.    2.  Teil,  13 


*)  Vgl.  Neühaus,  Bie  Quellen  des  T.  P., 
Osterode  1882  p.  6. 


194    BOmische  Lüteratnrgesoliichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Aliteilimg. 

Reihe  von  Historikern,  die  seinen  Namen  nicht  nennen,  nachzuweisen, 
Valerius  Maximus,  Velleius  Paterculus,  Curtius,  Frontinus  zeigen  die  Nach- 
wirkungen der  Lektüre  seines  Geschichtswerks.  Im  vierten  Jahrhundert  ge- 
denkt seiner  neben  den  Historikern  Livius,  Sallustius,  Tacitus  der  Geschicht- 
schreiber Vopiscus  (Prob.  2).  Auch  bei  den  Grammatikern  Servius,  Junius 
PhUargyrius,  Priscian  fanden  wir  ihn  erwähnt.  Noch  bei  Jordanis  tritt  uns 
der  alte  Historiker  entgegen,  dann  aber  scheint  das  Originalwerk  der  Ver- 
gessenheit anheimgefallen  zu  sein;  seine  Stelle  vertrat  nunmehr  eine  früher 
gemachte  Epitome;  über  dem  Auszug  ging  aber,  wie  wir  das  so  oft  in 
der  Litteratur  finden,  das  Original  schliesslich  verloren.  Zwar  wurde 
in  neuester  Zeit  der  Glaube  wach  gerufen,  als  seien  noch  in  den  mittel- 
alterlichen, besonders  polnischen  Chronisten  Spuren  des  Originalwerkes 
des  Trogus  vorhanden,  allein  dieser  Glaube  hielt  ernster  Prüfung  gegen- 
über nicht  Stand.  Nur  Inhaltsverzeichnisse  zu  den  einzelnen  Büchern, 
die  sog.  Prologe  haben  sich  noch  erhalten  und  geben  zu  der  Epitome 
nützliche  Ergänzungen.  Über  den  Epitomator,  M.  Junianus  Justinus^) 
fehlen  uns  fast  alle  Nachrichten,  wir  wissen  nichts  von  ihm  als  das,  was 
er  uns  in  der  Vorrede  seines  Auszugs  erzählt.  Seine  Epitome  gibt  er 
uns  als  ein  Werk  seiner  Müsse,  die  er  gerade  in  der  Stadt  verbrachte, 
es  scheint  also,  dass  Rom  nicht  seine  Heimat  war;  seine  Arbeit  will  ge- 
wissermassen  eine  Blumenlese  geben,  das  Wichtigste  sollte  exzerpiert  werden, 
zu  oft  lässt  er  daher  Schlachtennamen  und  chronologische  Daten  weg. 
Nur  einmal  teilt  er  uns  einen  Abschnitt  des  Trogus  vollständig  mit,  es 
ist  dies  die  Rede  des  Mithridates  an  seine  Soldaten  (38, 4 — 8, 1).')  Seine 
Zeit  kann  mangels  aller  positiven  Daten  bloss  hypothetisch  bestimmt  werden. 
Es  stehen  sich  zwei  Ansichten  gegenüber,  die  einen  lassen  ihn  zur  Zeit 
der  Antonine  seine  Epitome  verfassen,  also  ungefähr  damals,  da  Florus 
seine  Übersicht  der  römischen  Geschichte  hauptsächlich  nach  Livius  schrieb, 
andere  wie  Niebuhr^)  und  Lachmann  ^)  setzen  ihn,  der  erstere  auf  Grund 
des  Namens,  der  zweite  auf  Grund  gewisser  Wortformen,  in  das  dritte 
Jahrhundert.  Diese  letzte  Ansicht  erachte  ich  für  die  richtige.  Im  Mittel- 
alter war  dieser  bequeme  Abriss  der  Universalgeschichte  ein  sehr  beliebtes 
Buch,  das  viel  abgeschrieben  wurde  und  daher  uns  in  zahlreichen  Hand- 
schriften überliefert  ist. 

Fortleben  des  Trogus.  Sorgfältig  haben  die  Spuren  des  T.  verfolgt  Gütschhid 
in  der  gelehrten  Abhandlung,  Über  die  Fragmente  des  Pompeius  Trogus  2.  Supplementb. 
der  Fleckeis.  Jahrb.  p.  187  und  Cbohk,  De  T,  P.  aptid  antiquos  auetaritate,  Strassb.  1882. 
Die  von  Bielowski  (T,  P.  fragm,  Lemb.  1853)  aus  mittelalterlichen,  besonders  polnischen 
Chronisten  hervorgezogenen  angeblichen  Fragmente  des  T.  P.  hat  Gutschku)  in  der  angef. 
Abh.  sämtlich  als  illusorisch  nachgewiesen;  auch  die  polnischen  Fälschungen  sind  dort 
aufgedeckt. . 

Des  Epitomators  Plan.  Praef.  4  horum  igiiur  quattuor  et  quadraginta  volumi- 
num  (nam  totidem  edidit)  per  otiutn,  quo  in  urhe  persabamur,  cognitione  quatque  dignis- 
sima  excerpsi  et  otnissia  his,  quae  nee  cognoscendi  voluptate  iucunda  nee  exemplo  erant 
necessaria,  hreve  veluti  florum  carpusculum  feci,  ut  haberent  et  qui  Graece  didicisaent  quo 
admonerentur  et  qui  non  didiciaaent,  quo  instruerentur,    (WolfiPgarten  p.  3.) 


^)  M,  lunianium  lustinutn  8olu8  nominat 
codex  Laur.  66, 21 ;  Rühl,  praef,  p.  XIV. 

')  Sonderbar,  aber  doch  aus  der  Laune 
des  Epitomators  erklärlich  ist  es,  dass  33, 2 
plötzbch  eine  glorreiche  That  des  M.  Cato, 


des  Sohnes  des  „orator*  in  aller  Ausführlich« 
keit  erzählt  wird. 

s)  Vortr.  über  alte  Gesch.  1, 12. 

«)  El.  Schriften  2, 193. 


Fenestella  und  die  übrigen  Historiker.  195 

Überlieferung:  Dem  Codex  Laurentianus  66,21  s.XI  (C),  der  die  Bücher  16—26, 1, 8 
30, 28 — 44^  4, 3  enthält  und  allein  eine  grössere  Lücke  24,  6,  6  ausfüllt,  stehen  alle  übrigen 
Handschriften  gegenüber,  welche  Ruebl  in  drei  Klassen  zerlegt,  in  die  italische  (I),  die 
transalpine  (T),  die  in  der  Regel  noch  die  Prologe  enthält,  und  in  eine,  welche  er  mit 
n  bezeichnet.  Auch  Orosius  ist  von  Bedeutung.  Die  Prologe  sind  durch  zwei  Klassen 
von  Handschriften  repräsentiert,  eine  ältere  und  eine  jüngere,  welche  eine  Lücke  in 
Buch  38  ausfüllt.  —  Kuehl,  Über  die  Textesquellen  des  Justin,  Fleckeis.  Jahrb.  Supple- 
mentb.  6, 1  und  die  praefatio  vor  seiner  Ausgabe.  —  Über  die  Codices  der  Prologi  vgl. 
GuTSCHJUD  in  der  RuEHL'schen  Ausgabe  p.  LU. 

Ausgaben.  Von  Fbotscheb  3  Bde.  Leipz.  1827 — 30.  Von  Dübner,  Leipz.  1831; 
von  Jeep,  Leipz.  1859;  von  Ruehl,  Leipz.  1886.  (Die  Prologi  sind  in  dieser  Ausgabe  von 
GuTscHxiD  rezensiert.) 

3.  Fenestella. 

831.  Fenestellas  antiquarische  und  historische  Schriften.  Fene- 
stella (52  V.  Chr. — 19  n.  Ch.)  wird  bei  verschiedenen  Schriftstellern  für  eine 
Reihe  von  Angaben  antiquarischer  Natur  als  Gewährsmann  angeführt. 
Wir  finden  darunter  staatsrechtliche  Fragen  wie  z.  B.  über  die  Provo- 
kation, litterarhistorische  Probleme  (über  Terenz,  Ciceronische  Reden)  und 
interessante  kulturhistorische  Notizen  (über  Perlen,  den  Ölbaum,  Klei- 
dung u.  s.  w.).  Diese  Angaben  treten,  ohne  dass  ein  bestimmtes  Werk 
namhaft  gemacht  wird,  bloss  unter  dem  Namen  Fenestellas  auf.  Andere 
Schriftstellercitate  geben  uns  Kunde  von  Gedichten  und  zwei  prosaischen 
Werken  Fenestellas,  von  Annalen,  deren  22.  Buch  mit  einem  Ereignis 
des  Jahres  56  v.  Ch.  citiert  wird  (Non.  385,  7)  und  von  einer  Epi- 
tome.  Da  die  einzige  Stelle,  an  der  dieser  Epitome  gedacht  wird,  ein 
historisches  Faktum  aus  dem  Leben  Caesars  berichtet  (Diomed.  p.  365), 
werden  wir  diese  Schrift  als  einen  (später  gemachten)  Auszug  aus  den 
Annalen  zu  betrachten  haben.  Die  oben  erwähnten  Notizen  sämtlich 
in  einem  annalistischen  Werk  unterzubringen,  erscheint  uns  unmöglich. 
Wir  müssen  daher  ausser  den  Annalen  auch  antiquarische  Schriften 
Fenestellas  statuieren.  Dafür  spricht,  dass  Plinius  den  Fenestella  in  den 
Quellenregistern  zu  mehreren  Büchern  aufführt,  welche  über  Tiere,  Bäume, 
Metalle  und  Malereien  handeln  (8.  9. 14. 15. 33. 35). 

Hieronym.  2, 147  Seh.  19  n.  Ch.  Fenestella  historiarum  scriptor  et  cartninum  septuage- 
narius  moritur  sepeliturque  Cumis.  Damit  steht  das  Zeugnis  des  Plin.  n.  h.  33, 146  reposUariis 
argentum  addi  sua  memoria  coeptum  Fenestella  tradit,  qui  ohüt  novissimo  Tiberii  Caesaris 
principatu  im  Widerspruch,  —  Mebcklin,  De  Fenestella  historico  et  poeta,  Borpat  1844. 
PoBTH,  De  Fenestella  historiarum  scriptor e  ei  earminum,  Bonn  1849. 

Wir  reihen  hier  die  übrigen  Historiker  des  Zeitraums  an: 

1.  P.  Volumnius  schrieb  über  M.  Brutus  (Plut.  Brut.  48.  51).    Ebenso 

2.  L.  Calnurnius  Bibulus,  der  Stiefsohn  des  M.  Brutus  (Plut.  Brut.  13.  23); 

3.  Q.  Dellius,  an  den  von  Horaz  die  dritte  Ode  des  zweiten  Buchs  gerichtet  ist  und 
der  wegen  des  fortwährenden  Wechsels  seiner  ParteisteUung  von  Mossalla  „desultor  bellorum 
citnlium**  genannt  wurde,  publizierte  Denkwürdigkeiten  über  den  parthischen  Feldzug  des 
M.  Antonius  (Strabo  11,  523  C).  Über  ihn  Seneca  Suas.  1, 7:  hie  est  Dellius,  cuius  epistulae 
ad  Cleopatram  fäscivae  feruntur. 

4.  L.  Arruntius  (Konsul  22  v.  Ch.)  verfasste  eine  Geschichte  der  punischen  Kriege, 
wobei  er  im  Stil  den  Sallust  in  lächerlicher  Weise  nachahmte  (Scn.  ep.  1 14, 17).  Derselbe 
wurde  von  Plinius  benützt;  vgl.  die  Quellenregister  zu  B.  3.  5.  6. 

5.  C.  ClodiusLicinus,  Cos.  suff.  4  n.  Ch.  und  Freund  des  Bibliothekars  Hyginus 
(Suet.  gr.  20),  gab  „Rerum  Romanarum  lihri  ''heraus.  Die  Citate  erwähnen  B.  III.  XII.  XXI 
(Liv.  29, 22  Nonius  535, 20  221, 13). 

6.  Julius  Marathus,  Freigelassener  und  Sekretär  des  Augustus,  wird  als  Autor 
einer  Monographie  über  Augustus  erwähnt  (Suet.  Aug.  79.  94). 

13* 


196    BömiBche  Liüeratargeschichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarohie.    1.  Abteilung. 


ß)  Die  Qeograpben. 

M.  Vipsanius  Agrippa. 

832.  Die  Weltkarte  des  Agrippa  und  des  Augustus.  unter  den 
Freunden  und  Gehilfen  des  Augustus  nimmt  keiner  eine  so  hervorragende 
Stelle  ein  als  M.  Vipsanius  Agrippa,  der  seit  21  v.  Ch.  auch  sein  Schwieger- 
sohn war.  Sowohl  im  Krieg  als  im  Frieden  hatte  er  Augustus  die  wich- 
tigsten Dienste  geleistet.  Dieser  Mann  wollte  auch  durch  ein  litterarisches 
Unternehmen  den  Patriotismus  heben ;  eine  Karte  des  gesamten  römischen 
Beichs  sollte  in  Rom  an  einem  öffentlichen  Platz  ausgestellt  werden,  damit 
das  Volk  mit  eigenen  Augen  sehe,  zu  welcher  Grösse  der  römische  Staat 
emporgestiegen  sei.  Die  Vorarbeiten  zu  dem  Werk  waren  vollendet,  da 
raffte  der  Tod  den  Arbeiter  hinweg  (12  v.  Ch.).  An  seine  Stelle  trat  jetzt 
Augustus;  er  liess  die  Säulenhalle  auf  dem  campus  Martins,  für  welche 
Agrippa  die  Karte  bestimmt  und  deren  Erbauung  seine  Schwester  Paula 
angefangen  hatte,  vollenden  und  die  Tafel  nach  den  Aufzeichnungen 
Agrippas  hier  auftragen.  ^  Zur  Beurteilung  des  wissenschaftlichen  Wertes 
der  Leistung  ist  es  vor  allem  notwendig  zu  wissen,  mit  welchem  Material 
Agrippa  gearbeitet  hat.  Längere  Zeit  war  man  der  Ansicht,  dass  die 
Karte  auf  einer  Vermessung  des  römischen  Reichs,  die  unter  Caesar  be- 
gonnen und  unter  Augustus  vollendet  wurde,  beruhe.  Allein  diese  Nach- 
richt gründet  sich  lediglich  auf  einen  Zusatz  zum  Julius  Honorius  (4.  oder 
5.  Jahrh.')).  Ältere  Autoren  wie  Strabo  und  Plinius  wissen  nichts  von  einer 
solchen  Reichsvermessung;  auch  den  Schriftstellern  über  Feldmesskunde 
ist  sie  unbekannt.  Es  ist  aber  nicht  denkbar,  dass  ein  so  grandioses  Er- 
eignis keine  ausgesprochene  Wirkung  in  der  Litteratur  geäussert  hätte. 
Weiterhin  treten  bei  der  Rekonstruktion  der  Karte  Angaben  zu  tage, 
welche  bei  einer  wirklich  stattgefundenen  Reichsvermessung  absolut  aus- 
geschlossen sind.  Wenn  also  eine  solche  Vermessung  als  Quelle  für  Agrippa 
bei  der  Zeichnung  seiner  Karte  in  Wegfall  zu  kommen  hat,  so  stand  ihm 
doch  immerhin  noch  ein  reiches  geographisches  Material  der  Archive, 
besonders  der  Itinerarien  zu  Gebote.  Allein  die  Benutzung  derselben 
scheint  nicht  besonders  kritisch  gewesen  zu  sein.  Für  die  geographische 
Litteratur  hatte  die  Tafel  eine  einschneidende  Bedeutung.  Sie  wurde  ein 
Typus  und  die  späteren  römischen  Karten  wie  die  Tabula  Peutingerana 
gehen,  soweit  wir  sehen,  auf  den  orbis  terrarum  Agrippas  zurück. 

Plin.  n.  h.  3, 17  Ägrippam  quidem  in  tanta  viri  diligentia  prctderque  in  hoc  opere 
cura,  cum  orhem  terrarum  urbi  spectandum  propasiturua  esset,  errasse  quis  eredat  et  cum 
eo  divum  Äugustum?  is  namque  complexam  eum  porticum  ex  deatinatione  et 
commentariis  M,  Agrippae  a  sorore  eius  inchoatam  peregiL  —  Dbtlefsex, 
Untersuchungen  zu  den  geogr.  Büchern  des  Plinius:  1.  Die  Weltkarte  des  M.  Agrippa,  Glückst. 
1884.  Philifpi,  Zur  Rekonstr.  der  Weltk.  des  A.,  Marb.  1886.  Hist.  Unters.  Bonn  1882  p.  239. 

Die  Karten,  von  denen  wir  genauere  Kenntnis  erhalten,  stimmen  in  «Anlage  und 
Ausführung*  wesentlich  überein  und  weisen  daher  auf  dasselbe  Original  zurück;  als  dieses 
müssen  wir  den  orbis  terrarum  Agrippas  ansehen  (Müllenhoff,  Hermes  9, 18i5).  Solche 
Karten  sind: 

1)  Die  tabula  Augustodunensis,  welche  Eumenius  pro  restaur.  schol.  20  er- 
wähnt (297  n.  Gh.):  pideat  in  iüis  porticibus  iuventus  et  cotidie  spectet  omnes  terras  et 


*)  Die  Form  der  Karte  war  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  die  ovale  (Müllenhoff, 


Hermes  9, 190  Kyxbitschsk,  Wien.Stnd.  7, 308). 
*)  MOllevhoff,  1.  c.  p.  183: 5.  oder  6.  Jahrh. 


IL  Tipsanins  Agrippa. 


197 


cuncta  maria  —  omnium  cum  nominibua  suis  locorum  sUus  spatia  intermüa  descripta 
sunt  etc.    Die  Karte  war  ein  arbis  (1.  c.  21). 

2)  Die  tabala  Peutingerana.  Biese  Karte  vnirde  von  Conr.  Geltes  entdeckt 
and  kam  im  J.  1508  an  den  Augsburger  Katsherm  Peutinger;  jetzt  befindet  sie  sich  in 
der  Wiener  Hofbibliothek.  Sie  bestand  aus  12  Pergamentstreifen,  von  denen  einer  ver- 
loren gegangen.  Die  Karte  vnirde  (wohl  im  13.  Jahrb.)  nach  einem  Original  gemalt, 
welches  seinem  Hauptkem  nach  wahrscheinlich  der  Mitte  des  3.  Jahrb.  angehörte;*)  das- 
selbe ruhte  auf  dem  orbis  terrarum  Agrippas,  hatte  aber  auch  die  Strassenzüge  ein- 
gezeichnet. Als  Reise-  und  Stationskarte  ernielt  sie  zur  Bequemlichkeit  statt  der  ovalen 
Gestalt  eine  gestreckte  (»die  Band-  und  Streifenform *).  —  Ausgaben  von  Schetb  (Wien 
1753),  Makkert  (Leipz.  1824),  Desjabdiks  (Paris  1868—74),  Millrb,  Die  Weltkarte  des 
Castorius,  gen.  die  Peutingerische  Tafel,  in  den  Farben  des  Originals  hgg.  (Ravensburg 
1888),  der,  auf  die  Angaben  des  Kosmographen  von  Ravenna  vorsclmell  vertrauend, 
Castorius  als  Verfasser  der  Karte  hinstellen  will. 

3)  Die  tabula  des  Julius  Honorius.  Etwa  im  4.  oder  5.  Jahrb.  machte  Julius 
Honorius  ein  Verzeichnis  der  Namen  der  Meere,  Inseln,  Berge,  Provinzen,  Städte,  Flüsse 
(hier  geht  er  über  die  blosse  Nomenklatur  hinaus)  und  Völker  nach  einer  Karte,  welche 
er  in  seiner  Schule  gebrauchte.  Der  Katalog  wurde  ohne  Wissen  des  Lehrers  von  einem 
seiner  Schüler  herausgegeben.  Aus  demselben  kann  der  Orbis  rekonstruiert  werden.  In 
einer  vermehrten  Ausgabe  des  Katalogs  findet  sich  jene  Notiz  von  der  unter  Julius  Caesar 
von  vier  Griechen  begonnenen,  dann  unter  Augustus  beendeten  Reichsvermessung  (Müllbn- 
HOFF,  Hermes  9, 183).  —  Kubitschek,  Die  Erdtafel  des  Honorius,  Wien.  Stud.  7, 1  und  278. 

4)  Die  tabula  des  Kaisers  Theodosius  II.  (ebenfalls  ein  Orbis),  welche  er  im  J. 
435  revidieren  und  malen  Hess  (Risse,  geogr,  min,  19  und  p.  XVIII;  Detlefsek,  Weltk.  p.  10). 

5)  Die  vom  Kosmographen  von  Ravenna  benutzte  tabula  (5.  Jahrb.). 
ScHWEDEB,  Über  die  Weltkarte  des  Kosmographen  von  Ravenna,  Kiel  1888.  Mit  der  Karte 
des  Ravennaten  war  verwandt  die  Karte  des  spanischen  Benediktiners  Beatus  aus  dem 
8.  Jahrb.  (Schwepbb,  Hermes  24, 602). 

333.  Agrippas  Eommentarien.  Wir  haben  oben  gesehen,  dass 
Augustus  nach  den  Aufzeichnungen  Agrippas  den  orbis  terrarum  herstellen 
liess.  Nun  führt  Plinius  in  dem  geographischen  Teil  seines  Werks  (3—6  B.) 
öfters  den  Agrippa  als  Gewährsmann  an^  und  zwar  enthalten  diese  Gitate 
fast  nur  Zahlenangaben  über  Länge,  Breite,  Umfang  von  Ländern  und 
Meeren  und  über  Entfernungen.  Zeugnisse  von  demselben  Gharakter  finden 
sich  auch  in  zwei  Schriften,  der  sog.  Dimensuratio  provinciarum  und  der 
Divisio  orbis,  welche  letztere  im  J.  825  der  irische  Mönch  Dicuil  dem  ersten 
Teil  seiner  Schrift  De  mensura  orbis  zu  Grunde  gelegt  hat.  Hiezu  kommt 
noch  in  zweiter  Linie  die  von  Orosius  in  sein  Geschichtswerk  eingeschaltete 
Ghorographie  (wenigstens  in  den  europäischen  Inseln).  Jn  allen  diesen 
Schriften  verspürt  man  eine  gemeinsame  Quelle.  Da  nun  Plinius  den 
Agrippa  nennt,  so  wird  man  ihn  als  den  gemeinsamen  Gewährsmann  be- 
trachten müssen.  Es  ist  nur  die  Frage  noch  übrig,  ob  diese  gemeinsame 
Quelle  etwa  aus  der  Karte  des  Agrippa  zusammengestellt  wurde  oder  ob 
eine  eigene  Schrift  dafür  anzusetzen  ist.  Eine  ethnographische  Notiz,  wie 
sie  in  der  Stelle  des  Plin.  3,  8  enthalten  ist,  lässt,  da  dieselbe  kaum  auf 
der  Karte  stehen  konnte,  bloss  die  letzte  Annahme  als  zulässig  erscheinen. 


*)  Die  Frage  ist  sehr  schwierig  und  die 
Forscher  gehen  in  der  Beantwortung  aus- 
einander. Als  Kriterium  bestimmt  Pabtsch 
(Deutsche  Literaturztg.  1888  p.  1533)  richtig: 
Unzweifelhaft  ist  es  geboten,  die  zwar  nur  un- 
vollkommen verwobenen  Bestandteile  der 
Tafel,  das  Strassennetz  und  die  Menge  der 
locker  eingefQgten  übrigen  Angaben  zunächst 
gesondert  zu  prtlfen.  Dann  dürfte  sich  er- 
geben,  dass  das  UrbUd  der  Tafel  nur  im 


Strassennetz  ein  treuer  Spiegel  seiner  Zeit 
war,  während  seine  ethnographischen,  seine 
physisch  und  politisch  geographischen  An- 
gaben grossenteils  einer  wesentlich  älteren 
Quelle  entlehnt  waren.  Das  Strassennetz  ist 
an  der  Hand  des  reichen  wissenschaftlichen 
Materials  auf  sein  Alter  zu  untersuchen.  Hier 
liegt  die  Entscheidung  über  das  Alter  der 
Tafel. 


198    Bömische  Litteratiirgeschiohte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    L  Abteilang. 


Auch  wäre  auffallend,  daös  Plinius  an  einer  Stelle  (6,39)  die  Karte  aus- 
drücklich citiert. 

Die  entscheidende  Stelle  lautet  (Plin.  3,  8) :  oram  eam  (sc.  Baeticae)  in  uniteraum 
originis  Poenorum  existimavit.    (Anders  Detlefsen  p.  14.) 

Aosser  diesem  Kartenwerk  schrieb  Agrippa  auch  noch  seine  Memoiren.  Vgl. 
Philargyr.  zu  Verg.  Georg.  2, 162  Agrippa  in  secundo  vitae  suae,  (Über  seine  Denkschrift 
über  die  Wasserleitungen  Roms  vgl.  Fbontin,  de  aquis  98  und  99). 

Litteratur:  Fbandsen,  M.  V.  Agrippa,  Altena  1836.  Eck,  Quaeat.  hist.  de  A,, 
Leyden  1842.  Muellenhoff,  Weltkarte  und  Chorographie  des  E.  Augustus,  Kiel  1856, 
p.  16  f.  Philippi,  De  tabula  Peutingerana,  Accedunt  fragmenta  Agrippae  geographica^ 
Bonn  1876,  p.  30.    Riese,  Geogr.  min.  p.  1. 

y)  Die  Redner  (Deklamatoren). 

334.  Die  Quelle  (Senecae  oratomm  et  rhetorum  sententiae 
divisiones  colores).  Unsere  Kenntnis  von  der  Beredsamkeit  der  ersten 
Kaiserzeit  beruht  auf  einem  merkwürdigen  Buch,  auf  einer  Blumenlesc 
Senecas.  Dieser,  ein  Spanier  aus  Gorduba  (Martial  1,61,7),  der  Vater  des 
bekannten  Philosophen  Seneca,  hatte  in  Rom  rhetorischen  Unterricht  er- 
halten und  eine  grosse  Zahl  berühmter  Rhetoren  aufmerksam  gehört.^) 
Ein  Mann  von  strenger  Gesinnung  konnte  er  der  Entwicklung,  welche  die 
Beredsamkeit  in  jenen  Tagen  genommen,  nicht  immer  seinen  Beifall  spenden, 
sein  rednerisches  Ideal  war  Cicero,  zu  dessen  Grösse  er  voll  Bewunderung 
emporblickte.  In  hohem  Alter  wurde  er  von  seinen  Söhnen,  welche  tiefer 
in  das  Wesen  der  Rhetorik  eindringen  und  besonders  die  älteren  Rhetoren 
kennen  lernen  wollten,  bestimmt,  aus  dem  reichen  Schatz  seiner  rhetorischen 
Erinnerungen  ihnen  Mitteilungen  zu  machen.  Wenn  irgendeiner,  so  war  er 
geeignet,  diesem  Verlangen  nachzukommen.  Die  Natur  hatte  ihn  mit 
einem  wunderbaren  Gedächtnis  ausgestattet;  in  seinen  jüngeren  Jahren 
konnte  er  2000  Namen  in  derselben  Reihenfolge,  in  der  sie  gesagt  waren, 
und  über  200  Verse  in  umgekehrter  Ordnung  wiederholen.  Diese  ausser- 
ordentliche Kraft  des  Gedächtnisses  ging  zwar  im  Alter  verloren,  für  die 
Aufnahme  neuer  Eindrücke  war  es  nicht  mehr  empfanglich,  dafür  hielt 
es  mit  grosser  Zähigkeit  alle  Erlebnisse  und  Erfahrungen  der  Jugend 
fest.  Gestützt  auf  dieses  grosse  Erinnerungsvermögen  trat  er  mit  Eifer 
an  die  Ausarbeitung  der  Schrift  heran,  die  er  nicht  bloss  für  seine  Söhne, 
sondern  für  das  gesamte  Publikum  bestimmte.  Sein  Ziel  war,  das,  was 
er  an  verschiedenen  Orten  und  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  von  römi- 
schen und  griechischen  Rhetoren  bei  der  Behandlung  der  herkömmlichen 
rhetorischen  Themata  vernommen,  aufzuzeichnen.^)  Zuerst  nahm  er  die 
schwierigeren  Themata  vor,  die  Gontroversiae,  bei  denen  es  sich 
um  die  Entscheidung  einer  Rechtsfrage  handelte.  Nach  drei  Haupt- 
gruppen ordnete  er  seine  Erinnerungen;  zuerst  teilte  er  die  Auffassungen 
(sententiae)  des  Falls  von  seiten  der  Rhetoren  mit,  in  der  Regel  so, 
dass  die  zwei  Seiten,  das  Pro  und  das  Gontra,  zu  Tage  treten.  Es  ge- 
schieht dies  durch  hervorstechende  bald  kürzere  bald  längere  Mitteilungen 
aus  den  Deklamationen;  sie  geben  sich  den  Anschein,   wörtliche  Repro- 


')  Zu  verschiedenen  Zeiten;  auf  eine 
Unterbrechung  und  damit  auf  eine  zeitweilige 
Abwesenheit  von  Rom  deuten  wohl  die  Worte 
Controv.  4  praef.  3  audivi  illum  et  viridem  et 


postea  iam  senem. 

^)  Das  im  Text  Gesagte  beruht  auf  der 
Praefatio  zum  1.  B.  der  Controversiae. 


Per  Rhetor  Seneca.  igg 

duktionen  zu  sein;  allein  ob  der  Wortlaut  ganz  genau  gewahrt  werden 
konnte,  scheint  doch  trotz  des  treuen  Gedächtnisses  des  Berichterstatters 
zweifelhaft  zu  sein.  In  der  zweiten  Rubrik  fQhrt  Seneca  aus,  wie  die 
Rhetoren  einen  Rechtsfall  in  verschiedene  Quaestiones  zerlegten  (divisio). 
Endlich  kommt  die  Kunst  der  Redner  zur  Darstellung,  einen  schwarzen 
Punkt  des  Falls  in  hellem  Licht  erscheinen  zu  lassen,  den  Mohren  weiss 
zu  waschen,  das  Unrecht  zu  beschönigen  (colores).  Hier  werden  wiederum 
wörtliche  Anführungen  aus  den  Deklamationen  eingestreut.  Auf  diese  Weise 
wurden  in  zehn  Büchern  74  Themata  durchgegangen.  Obwohl  Seneca  mit 
grosser  Freude  sich  in  die  Erinnerungen  seiner  Jugend  versenkte,  über- 
kam ihn  schliesslich  ein  Ekel  ob  des  nichtigen  Treibens  der  Rhetoren; 
er  fühlte  zu  deutlich,  dass  er  keiner  würdigen  Sache  seine  Kräfte  widme. 
Doch  fügte  er  noch  ein  Buch  Suasoriae  hinzu, ^)  es  ist  dies  die  leichtere 
Gattung  der  rhetorischen  Übungen,  da  es  sich  bei  denselben  nur  darum 
handelt,  ob  etwas  zu  thun  oder  zu  unterlassen  sei;  auch  hier  werden  die 
sententiae  und  die  divisio  angegeben,  die  colores  kommen  natürlich  in  Weg- 
fall. Im  ganzen  werden  sieben  Suasoriae  behandelt.  Den  einzelnen  Büchern 
wurden  Einleitungen  vorausgeschickt,  in  denen  in  ungemein  geistreicher  und 
fesselnder  Weise  verschiedene  Deklamatoren  charakterisiert  werden.  Während 
der  Schriftsteller  in  den  übrigen  Partien  meist  referierend  erscheint,  tritt 
er  in  diesen  Vorreden  schöpferisch  auf,  und  diese  muss  man  studieren, 
wenn  man  sich  über  die  schriftstellerische  Eigentümlichkeit  Senecas  ein 
Urteil  bilden  will. 

Die  Anthologie  Senecas  wurde  allem  Anschein  nach  viel  benutzt. 
Nur  so  lässt  sich  erklären,  dass  jemand  auf  den  Gedanken  kommen 
konnte,  einen  Auszug  von  den  zehn  Büchern  der  Controversiae  zu  ver- 
fassen. Dies  mag  im  4.  Jahrh.  n.  Ch.  geschehen  sein.  Der  Epitomator 
nahm  die  Vorreden  der  Bücher  1,  2,  8,  4,  7,  10  unverändert  herüber. 
Die  einzelnen  Kontroversen  dagegen  wurden  stark  gekürzt,  wobei  nicht 
selten  mit  grosser  Willkür  und  grossem  Unverstand  verfahren  wurde.  Etwa 
gegen  Ende  des  13.  Jahrh.  wurde  dieser  Auszug  von  dem  Mönch  Nicolaus 
de  Trevet  kommentiert.')  Merkwürdig  ist  eine  andere  Verwendung  der 
Kontroversen.  Da  die  in  denselben  behandelten  Fälle  nicht  selten  an  das 
Romanhafte  streifen,  so  mussten  sie  der  unter  dem  Namen  ,,Gesta  Roma^ 
norum''  im  Mittelalter  verbreiteten  Sammlung  von  Novellen  und  Anekdoten 
Material  liefern.^) 

Die  Epitome  verdrängte  das  Original  werk;  während  daher  die  Epi- 
tome  in  zahlreichen  Abschriften  sich  vorfindet,  ist  uns  das  Originalwerk 
nur  durch  eine  jetzt  verlorene  Handschrift,  von  der  sich  aber  einige  Kopien 
erhalten  haben,  überkommen.  In  diesem  Urcodex  standen  im  Einklang 
mit  der  Stufenfolge  des  rhetorischen  Unterrichts  die  Suasoriae  vor  den 
Controversiae.  Leider  war  derselbe  lückenhaft;  es  fehlte  der  Anfang  der 
Suasoriae   und   die  Bücher  3,  4,  5,  6,  8,   ferner   die  Vorreden  ^   zu   den 


\)  Dass  die  Suasoriae  später  sind  als  die 
Coniroversiae,  ersieht  man  aus  Controv.  2,  4 
(12),  8  Quae  dixerit  (Lairo)  suo  loco  reddam, 
cum  (td  suasorias  venera. 

')  BuBSiAN,  praef,  p.  VIII. 


>)  Fbiedlandeb,  Darstellungen  3',  393 

»g.p.VU.] 
^)  Sonach   sind   uns   die   Vorreden   der 


und  p.  471.    (MüLLEB,  Ausg.  p.  vU.) 


Bücher  1,  2,  8,  4   nur   ans   der   ^ Epitome* 
bekannt. 


200    Römisohe  Litteratargeschiohte.    IX.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


Büchern  1  und  2;  einigen  Ersatz  bietet  uns  die  Epitome.O  Als  nach  dem 
Wiedererwachen  der  Wissenschaften  die  Schrift  Senecas  aufs  neue  gelesen 
wurde,  hielt  man  sie  für  ein  Werk  des  bekannteren  Philosophen.  Es 
drohte  das  Eigentum  des  Vaters  in  das  des  Sohnes  überzugehen;  erst 
den  Bemühungen  der  Gelehrten  Kaphael  von  Volaterra  und  Justus  Lipsius 
gelang  es,^)  beide  schriftstellerische  Individualitäten  voneinander  zu  scheiden. 
Allein  diese  Ausscheidung  hatte  für  den  weniger  berühmten .  Vater  zur 
Folge,  dass  er  lange  Zeit  beiseite  geschoben  wurde.  Erst  in  unseren 
Tagen  wurde  die  methodische  Texteskonstituierung  vorgenommen. 

Ausser  dieser  rhetorischen  Anthologie  schrieb  Seneca  noch  andere 
Schriften,  nur  eine  kennen  wir  noch  ihrem  Titel  nach,  eine  Geschichte 
der  Bürgerkriege  bis  auf  seine  Zeit,  welche  bei  einigen  Autoren  Spuren 
zurückgelassen  hat. 

Abfassungszeit  der  rhetorischen  Schrift  Gleich  in  der  Vorrede  zum  ersten 
Buch  weist  der  Autor  auf  sein  hohes  Alter  hin.  Zeitanspielungen  setzen  uns  in  den  Stand, 
genauer  die  Grenzen  festzustellen.  Die  Sammlung  wurde  nach  34  n.  Ch.  gemacht,  denn 
sie  erwähnt  (Suas.  2,  22)  das  Erlöschen  der  Familie  der  Scaurier  durch  den  Tod  des 
Scaurus  Mamercus  (34  n.  Ch.  Tacit.  Ann.  6, 29);  auf  der  anderen  Seite  muss  sie  vor  41  n.  Ch. 
fallen,  denn  das  Exil  seines  Sohnes,  des  Philosophen,  welches  im  J.  41  eintrat,  erlebte  der 
Vater  nicht  mehr  (Consol.  ad  Helv.  2, 4).  Allein  dieses  Intervallum  kann  noch  etwas  eingeengt 
werden.  Das  bei  der  Erwähnung  des  Todes  des  Scaurus  über  den  Ankläger  gefällte  harte 
Urteil,  dann  die  Mitteilung  aus  einem  unter  Tiberius  amtlich  verbrannten  Buch  des  Cre- 
mutius  Cordus  (Suas.  6, 19)  konnten  unter  der  Regierung  desselben  nicht  in  einem  Werke  er- 
folgen, das  nicht  bloss  fttr  die  Söhne,  sondern  fQr  die  Öffentlichkeit  (Controv.  1  praef.  10) 
bestimmt  war,  also  wohl  auch  gleich  herausgegeben  wurde.  Die  Abfassungszeit  der  Schrift 
fällt  daher  in  die  ersten  Regierungsjahre  des  Caligula. 

Andere  Schriften  Senecas.  Der  Philosoph  Seneca  spricht  noch  von  anderen 
Schriften  seines  Vaters  (De  vita  patris  ed.  STUDBXUin>  p.  XXXI):  si  quaeeumque  composuU 
paUer  meus  et  edi  voluit,  tarn  in  tnanus  populi  emisissem,  ad  clarttcUem  nominis  8ui  satus 
sibi  ipse  prospexerat '  nam  nisi  me  decipit  pietas,  cuius  honestus  etiam  error  est,  inter  eos 
haberetur,  qui  ingenio  meruerunt,  tU  puris  et  inlustribus  titulis  nobiles  esaent,  quisquis 
legisset  eius  historias  ab  initio  bellorum  civilium,  unde  primum  veritatt  retro  abiU, 
paene  usque  ad  mortis  suae  diem,  magno  aestimasset  scire,  qutbus  natus  esset  paren- 
tibus  ilU,  qui  res  Romanas  .  . .  Daraus  ersehen  wir,  dass,  als  der  Phüosoph  die  Biographie 
seines  Vaters  schrieb,  die  Geschichte  der  Bürgerkriege  noch  nicht  ediert  war,  und 
dass  der  Vater  ausser  dem  historischen  noch  andere  Werke  verfasst  hatte.  Später  wurde 
aber  das  historische  Werk  herausgegeben,  denn  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  werden  zwei 
Fragmente  auf  dasselbe  zurückgeführt,  die  von  Lactantius  Inst.  div.  7,  15,  14  erwähnte 
Gliederung  der  römischen  Geschichte  nach  Lebensaltem  (infantia,  pueritia  u.  s.  w.)  und 
die  bei  Suet.  Tib.  73  stehende  Erzählung  vom  Tod  des  Tiberius.  Da  auch  bei  Florufs 
jene  Vergleichung  der  römischen  Geschichte  mit  den  Lebensaltem  vorkommt,  so  vermutet 
0.  Rossbach  eine  ausgedehntere  Benutzung  des  Werks  durch  Florus  (Bresl.  Stud.  2  Bd. 
3  H.  p.  165). 

Überlieferung.  Die  Kritik  des  Originalwerks  bemht  auf  drei  Handschriften  des 
X.  Jahrb.,  dem  Cod.  Bruxellensis  9581  und  dem  Antverpiensis  411  einerseits,  dann  dem 
Vaticanus  3872  andererseits.  Eine  von  dem  Archetypos  dieser  Handschriften  verschiedene 
Überlieferung  repräsentierte  die  Vorlage  der  Epitome.  In  zahlreichen  Codices  ist  der  Aus- 
zug erhalten;  die  massgebende  Quelle  ist  hier  der  Montepessulanus  126  s.  IX/X. 

Ausgaben.  Von  Bubsian,  Leipz.  1857;  von  Kiesslino,  Leipz.  1872;  von  H.  J.  Müller, 
Prag-Leipzig  1887. 

335.  Charakteristik  der  Schnlberedsamkeit.  In  der  republikani- 
schen Zeit  war  des  Redners  Arena  das  Forum;  die  Schule  konnte  nur  die 
Aufgabe  haben,  für  dieses  wahre  Kampffeld  vorzubereiten.  Dieses  natür- 
liche Verhältnis  von  Schule  und  Leben  wurde  durch  das  Aufkommen  des 


^)  Auch  die  Aussprüche  der  griechischen 
Autoren  fehlen  vielfach. 


')  Körbeb,  Üher  den  Rhetor  Seneca  p.  1. 


Die  Deklamatoren.  201 

Prinzipats  umgestürzt.  Der  Beredsamkeit  war  jetzt  nur  noch  ein  be- 
schränkter Raum  zur  Entfaltung  in  der  Öffentlichkeit  gegeben,  sie  zog 
sich  daher  in  die  Kreise  der  Schule  zurück.  Aus  dem  Orator  wurde  jetzt 
der  Deklamator.  ^)  Aber  welche  tiefe  Kluft  trennt  den  scholastischen  Redner 
vom  forensischen!  Der  Redner  des  Forums  spricht  zu  Leuten,  welche  die 
Entscheidung  seiner  Sache  in  den  Händen  haben,  der  Redner  der  Schule 
zu  einem  Publikum,  von  dem  er  nichts  als  Lob  und  Beifall  ernten  kann; 
der  forensische  Redner  will  überzeugen,  der  scholastische  gefallen,  jener 
den  Willen  bestimmen,  dieser  Phantasie  und  Verstand  reizen.  Der  foren- 
sische Redner  wird  von  dem  Bewusstsein  gehoben,  dass  von  seinen  Worten 
der  Ausgang  der  Sache,  welcher  er  sein  Wort  leiht,  abhängt,  der  schola- 
stische weiss,  dass  seine  Rede  ein  luftiges  Spiel  des  Oeistes  ist.  Bei  dem 
forensischen  Redner  ist  es  die  tiefe  innere  Überzeugung,  aus  der  er  seine 
siegreiche  Kraft  schöpft,  der  scholastische  hat  nichts  als  die  künstliche 
Aufregung,  das  hohle  Pathos,  durch  das  er  zwar  betäuben,  aber  nicht  er- 
wärmen kann.  Bei  dem  forensischen  Redner  ist  die  Rede  nur  ein  Mittel 
zur  Erreichung  eines  höheren  Zwecks,  bei  dem  Schulredner  dagegen  ist 
die  Rede  alles;  der  erste  vermag  auch  durch  die  schlichte,  zum  Herzen 
gehende  Sprache  zu  wirken,  der  zweite  bedarf  des  Pikanten  und  Mani- 
rierten.  Des  forensischen  Redners  Gebiet  ist  das  frische  pulsierende  Leben, 
der  scholastische  Redner  spinnt  sich  ein  in  die  trübe  Welt  des  Scheins; 
jener  führt  wirkliche  Waflfen,  dieser  macht  Lufthiebe.  Um  das  Wesen 
der  scholastischen  Beredsamkeit  zu  erkennen,  braucht  man  nur  die  Themata 
zu  mustern,  welche  damals  in  den  Rhetorschulen  behandelt  wurden.  Da 
berät  sich  Alexander  der  Grosse,  ob  er  in  Babylon  einziehen  soll,  weil  er 
von  einem  Wahrsager  gewarnt  wurde  (Suas.  4).  Oder:  an  die  Athener 
tritt  die  Frage  heran,  ob  sie  die  in  den  Perserkriegen  errichteten  Sieges- 
zeichen niederreissen  sollen,  da  Xerxes  droht,  falls  dies  nicht  geschehe, 
werde  er  wieder  nach  Griechenland  rücken  (Suas.  5).  Oder:  Cicero  schwankte, 
ob  er  seine  Schriften  verbrennen  soll,  als  ihm  Antonius  unter  dieser  Be- 
dingung das  Leben  schenken  wollte  (Suas.  7).  Allein  dies  sind  noch  ein- 
fache Fälle;  ungleich  verwickelter  sind  die  Controversiae.  Hier  werden 
Themata  gestellt,  wie  sie  nur  eine  krankhafte  Phantasie  ausklügeln  konnte, 
und  deren  Stoffe  an  Romane  erinnern.  Einige  Beispiele  mögen  dies  ver- 
anschaulichen. Mann  und  Frau  schwuren,  wenn  dem  einen  von  ihnen 
etwas  zustosse,  wolle  auch  der  andere  Teil  in  den  Tod  gehen.  D6r  Mann 
reist  in  die  Fremde  und  lässt  an  die  zurückgebliebene  Frau  die  Botschaft 
seines  Todes  gelangen.  Die  Frau  stürzt  sich  in  die  Tiefe,  erleidet  aber 
nicht  den  Tod,  sondern  nur  eine  Verwundung,  von  der  sie  geheilt  wird. 
Jetzt  befiehlt  ihr  der  Vater,  sich  von  dem  Mann  zu  trennen  und  als  sie 
sich  dessen  weigert,  wird  sie  Verstössen  (Gontr.  2, 2  [10]).  Ein  anderer 
Fall:  Ein  Mann,  der  eine  wunderschöne  Frau  hatte,  reist  ins  Ausland. 
Der  schönen  Frau  naht  sich  ein  fremder  Kaufmann  und  sucht  sie  zu 
verführen,  allein  ohne  Erfolg.  Der  Kaufmann  stirbt  und  macht  sie 
in    einem   Testament   zur   Erbin   seines    gesamten  Vermögens    mit   dem 


')  Gontrov.  1  praef.  12. 


202    Bömisohe  lätteraturgeBohiohte«    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

Beisatz  „Ich  habe  sie  keusch  gefunden".  Die  Frau  tritt  die  Erbschaft  an. 
Als  ihr  Mann  zurückgekehrt  war,  erhob  er  eine  Klage  wegen  Ehebruchs 
(Contr.  2, 7  [15]).  Oder:  Vater  und  Sohn  bewarben  sich  beide  um  den 
Oberbefehl  in  einem  Kriege.  Der  Sohn  wird  dem  Vater  vorgezogen.  Er 
zieht  in  den  Krieg,  wird  aber  von  den  Feinden  gefangen.  Nun  werden 
zehn  Gesandte  abgeschickt,  um  den  in  Feindeshand  befindlichen  Feldherrn 
auszulösen.  Auf  dem  Wege  begegnet  ihnen  der  Vater  und  erzählt,  er 
habe  seinen  Sohn  durch  ein  Lösegeld  befreien  wollen,  derselbe  sei  aber 
ans  Kreuz  geschlagen  worden.  Die  Gesandten  trafen  den  Feldherrn  noch 
lebend  an;  er  sagte  ihnen  „Hütet  euch  vor  Verrat*.  Daraufhin  wird  der 
Vater  des  Verrats  beschuldigt  (Contr.  7, 7  [22]).  Wie  man  sieht,  sind  es 
verwickelte  Rechtsfälle,  welche  diesen  Kontroversen  zu  Grunde  liegen; 
allein  auch  das  Recht  ist  in  dieser  Welt  des  Scheins  ein  willkürlich  an- 
genommenes; es  ist  weder  echt  griechisch  noch  echt  römisch.  Die  Themata 
waren  zum  grossen  Teil  Gemeingut  der  rhetorischen  Schulen;  nicht  bloss 
römische,  sondern  auch  griechische  Redner  versuchten  sich  an  denselben. 
Es  kam  also  alles  darauf  an,  einem  Thema  immer  neue  Seiten  abzuge- 
winnen, um  einen  durchschlagenden  Erfolg  zu  erzielen,  durch  irgend  einen 
Treffer  zu  überraschen  und  zu  blenden;  versuchten  doch  die  Deklamatoren 
sogar  in  Wettkämpfen  ihre  Kräfte.  Dass  ein  solches  Streben  zur  Unnatur 
führen  musste,  liegt  auf  der  Hand.  Daher  die  gesuchten,  spitzen  Gedanken, 
die  Übertreibungen,  das  Spiel  mit  den  Worten,  das  Haschen  nach  rhetori- 
schen Figuren,  besonders  nach  der  Antithese.  Die  allgemeine  Losung  war: 
geistreich  und  interessant  um  jeden  Preis.  Die  Leute,  die  zu  den  Dekla- 
mationen kamen,  mochten  diese  in  engerem  Kreise  oder  öffentlich  vor 
einem  grösseren  Publikum  stattfinden,^)  wollten  eine  bestechende  Sentenz, 
eine  ungewöhnliche  Gliederung,  ein  unerwartetes  Beschönigungsmittel  mit 
nach  Hause  nehmen.  In  den  Verhandlungen,  die  sich  an  die  Vorträge 
anreihten,  wurde  das  Gelungene  bewundert,  das  Missratene  unbarmherzig 
verhöhnt  und  zum  Gegenstand  von  Anekdoten  gemacht.  In  dieser  kleinen 
und  kleinlichen  Welt  bewegte  sich  die  Schar  der  Rhetoren  mit  unleugbarer 
Selbstzufriedenheit.  Aber  wehe  ihnen,  wenn  sie  aus  ihren  Schulräumen 
herausgerissen  wurden;  sobald  sie  den  blauen  Himmel  über  sich  hatten 
und  der  Wirklichkeit  ins  Antlitz  schauen  sollten,  spielten  sie  eine  kläg- 
liche Rolle  und  um  ihre  Redefertigkeit  war  es  geschehen.  Die  Folgen 
dieser  rhetoxischen  Bildung  der  Jugend  waren  tief  einschneidende,  für  den 
Charakter,  da  das  fortwährende  Spielen  mit  der  Lüge  und  dem  Schein 
das  Gefühl  für  die  Wahrheit  schwächen  musste,  für  den  Stil,  da  das 
Pikante,  das  Pathetische,  das  Unnatürliche  jetzt  dessen  Wesen  ausmachte. 
Das  sogenannte  silberne  Latein  mit  seinen  geistreichen  Pointen  wie  mit 
seiner  zerschnittenen  Darstellung  hat  hier  seinen  Ursprung;  der  rhetorische 
Charakter  der  späteren  römischen  Poesie  findet  hier  seine  Erklärung. 

KoEBBEB,   Über  den  Rhetor  Seneca  und   die  römische  Rhetorik  seiner  Zeit,  Marb. 
1864.    Gbuppe,  Quaest.  Annaeanae,  Stettin  1873  (p.  24).    FbiedlIndeb,  Sittengesch.  3«,  387. 

336.  Die  einzelnen  Deklamatoren.  Wir  beginnen  mit  zwei  Rednern, 


')  poptiJo  declatnare  (Contr.  10  praef.  4);  secreta^  exercitationea  (Contr.  7  praef.  1  . 


T.  Labienua.    CaBsias  Severns.  203 

welche  nicht  ganz  mit  der  alten  Zeit  gebrochen  hatten,  mit  T.  Labienus 
und  Cassius  Severus. 

1.  T.  Labienus.  Dieser  Redner  sprach  nicht  in  öffentlicher  Ver- 
sammlung; er  erklärte  dies  mit  der  Gensormiene,  die  er  gern  nach  aussen 
hin  annahm,  für  einen  Ausfiuss  der  Eitelkeit.  Eine  Persönlichkeit,  die 
keineswegs  für  sich  einnahm,  sondern  infolge  ihrer  schlechten  Eigenschaften 
nur  abstossend  wirken  konnte,  erzwang  er  sich  doch  Anerkennung  und 
Bewunderung  durch  sein  Talent.  Sein  Stil  war  altertümlich  gefärbt,  aber 
er  trug  zugleich  den  pikanten  Charakter  der  Neuzeit;  er  vereinigte  die 
Eigentümlichkeiten  zweier  Epochen  in  sich.  Berüchtigt  war  seine  unge- 
zügelte Zunge ;  die  Wut,  mit  der  er  über  alles  herfiel,  war  so  gross,  dass 
man  ihm  den  Beinamen  „Rabienus^  gab.  Der  politischen  Neugestaltung 
der  Dinge  stand  er  feindselig  gegenüber;  trotz  des  offenkundigen  Ana- 
chronismus wollte  er  Pompejaner  sein.  Seinen  oppositionellen  Standpunkt 
hatte  er  auch  in  einem  Geschichtswerk  kundgegeben.  Als  er  dasselbe 
einst  öffentlich  vorlas,  überging  er  eine  grosse  Partie  mit  den  Worten: 
„Was  ich  ausgelassen  habe,  wird  nach  meinem  Tod  gelesen  werden*^.  Seine 
Feinde  setzten  es  endlich  durch,  dass  seine  Schriften  auf  Senatsbeschluss 
hin  (Suet.  Calig.  16)  verbrannt  wurden.  Dies  nahm  sich  der  eitle  Mann 
so  zu  Herzen,  dass  er  sich  in  das  Grab  seiner  Ahnen  bringen  Hess  und 
dort  freiwillig  sein  Leben  endete. 

Diese  Charakteristik  fusst  auf  Seneca  Controv.  10  praef.  Von  den  mitgeteilten 
Stellen  zeichnet  sich  durch  Lebhaftigkeit  (Controv.  10, 4  (33),  17)  ein  Angriff  gegen  „aaeculi 
vitia  egregia**  aus. 

2.  Cassius  Severus.  Als  die  Schriften  des  T.  Labienus  verbrannt 
wurden,  machte  der  Redner  Cassius  Severus  die  Bemerkung,  jetzt  müsse 
man  auch  ihn  verbrennen,  da  er  die  Schriften  des  Labienus  auswendig 
wisse.  Es  währte  nicht  lange,  und  der  Witzbold  wurde  auch  wegen  seiner 
eigenen  Bücher  verfolgt.  Seine  Schmähsucht,  mit  der  er  in  denselben  auf 
die  vornehme  Welt  losfuhr,  veranlasste  Augustus  zum  Einschreiten. 
Er  wurde  nach  Kreta  verwiesen.  Als  er  auch  dort  sein  Unwesen  weiter 
trieb,  wurde  unter  Tiberius  über  ihn  die  Verbannung  mit  Vermögensver- 
lust ausgesprochen  (Tac.  Ann.  4,  21).  In  grosser  Armut  verbrachte  er  seine 
letzten  Tage  auf  der  Insel  Seriphos.  Die  Anhänger  der  Alten  erblickten 
in  Cassius  Severus  die  Grenzscheide  der  antiken  und  modernen  Bered- 
samkeit (Tac.  dial.  19).  Mit  den  republikanischen  Rednern  hat  er  gemein, 
dass  er  das  Forum,  nicht  den  Lehrsaal  als  den  Kampfplatz  betrachtet 
und  über  die  Welt  des  Scheins,  in  der  die  Deklamatoren  lebten,  ein  bitteres 
Urteil  föllt  (Controv.  10  praef.  8).  Er  liess  sich  daher  nur  selten  zu  Deklama- 
tionen herbei.  Um  an  einem  Beispiele  die  ganze  Nichtigkeit  der  Schulrednerei 
darzuthun,  zog  er  einen  namhaften  Rhetor,  Cestius  Pius  vor  Gericht.  Das 
Experiment  gelang;  der  Deklamator  zeigte  sich  hier  so  ratlos,  dass  er 
nach  einem  Vertreter  sich  umsah.  Cassius  Severus  war  ein  ausgezeich- 
neter Redner,  mit  Begeisterung  hingen  die  Zuhörer  an  seinen  Lippen,  nur 
das  Eine  befürchtend,  dass  der  Schluss  der  Rede  komme.  Ein  tiefer  Kenner 
des  menschlichen  Herzens  hatte  er  sein  Auditorium  vollständig  in  seiner 
Gewalt  und  rief  in  ihm  die  Seelenstimmung  hervor,  die  er  brauchte.  Seia 


204     Bömisohe  liiteratargeBohiohte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilnng. 

zündendes  Wort  fand  eine  mächtige  Stütze  in  vortreiflichen  körperlichen 
Eigenschaften;  er  besass  eine  grosse  Statur  und  eine  Stimme,  die  Kraft 
und  Wohlklang  miteinander  verband.  Obwohl  er  sich  seine  Rede  immer  aufs 
genaueste  konzipiert  hatte,  so  bewegte  er  sich  doch  beim  Vortrag  frei, 
und  war  er  genötigt,  einmal  aus  dem  Stegreif  zu  reden,  so  übertraf 
er  sich  selbst.  Seine  Reden  erzielten  eine  mächtigere  Wirkung  als  seine 
Schriften.  In  seinem  Stil  machten  sich  die  Wirkungen  der  neuen  Zeit 
geltend;  Reichtum  an  blendenden  Gedanken,  Lebhaftigkeit  und  Feuer,  ge- 
wählter Ausdruck  waren  charakteristische  Eigenschaften  desselben.  Eine 
etwas  längere  Probe  teilt  uns  Seneca  aus  einer  Kontroverse  mit,  in  der 
es  sich  um  eine  Anklage  gegen  einen  Mann  handelt,  der  ausgesetzte 
Kinder  verstümmelte  und  die  verstümmelten  zum  Betteln  zwang  (10, 4  (33),  2). 
Mit  grosser  Anschaulichkeit  und  Lebendigkeit  lässt  er  die  verschiedenen 
Verstümmelungen,  welche  die  Kinder  erleiden,  an  unseren  Augen  vorüber- 
ziehen; es  fehlt  auch  nicht  an  pikanten  Wendungen,  er  spricht  von  einer 
Werkstätte  menschlichen  Leids,  von  einer  Mördergrube  der  Kinder,  von 
einem  Tyrannen,  der  ohne  Gehilfen  menschliches  Elend  verteilt.  Für  die 
pointierte  Redeweise  scheint  Gassius  Severus  ganz  besonders  beanlagt  ge- 
wesen zu  sein;  er  fühlte  sich  daher  auch  sehr  zu  dem  Mimendichter 
PubliUus  hingezogen  und  führte  gern  von  ihm  Verse,  welche  dem  Ge- 
danken eine  spitze  Wendung  gaben,  im  Munde  (Sen.  Controv.  7,  3  (18),  8). 
Die  böse  Zunge  des  Redners  brachte  sich  nicht  selten  in  grausamer  Weise 
zur  Geltung.  Als  einst  der  Rhetor  Gestius  in  geschmackloser  Selbst- 
bewunderung sagte:  Wäre  ich  ein  Gladiator,  so  würde  ich  Fusius  sein, 
wäre  ich  ein  Pantomime,  Bathyllus,  wäre  ich  ein  Pferd,  Melissio.  Da 
fuhr  Gassius  Severus  ärgerlich  dazwischen  ^Und  wärst  du  eine  Gloaca,  so 
würdest  du  die  Gloaca  maxima  sein." 

Wir  folgen  iin  wesentlichen  der  Charakteristik,  welche  Seneca  in  der  Vorrede  zum 
III.  Buch  der  Controv.  liefert.  Beurteilt  wird  der  Redner  auch  von  Tac.  dial.  26  und 
Quint.  10,  1,  116.  Über  seine  Verurteilung  sagt  Tacitus  Ann.  1,  72:  primus  Äugusttis 
cognitwnem  de  famosis  libeUis  apecie  legis  eiua  (de  maiestate)  trtictavit,  commoitis  Cassii 
Severi  libidine,  qua  viroa  feminasque  inittstres  procacibus  acriptis  diffamaverat.  Allein  hier 
kann  Cassii  Severi  nicht  richtig  sein,  denn  Seneca,  der  doch  Zeitgenosse  war,  sagt  aus- 
drücklich, dass  hei  Labienus  zum  erstenmal  eine  Verfolgung  von  litterarischen  Produkten 
eintrat,  und  lässt  den  Cassius  Severus  durch  sein  Witzwort  ganz  unbeteiligt  erscheinen. 
Jene  Verfolgung  wird  aber  im  J.  12  n.  Ch.  geschehen  sein,  unter  welchem  Jahr  Dio  56, 27 
berichtet:  xai  fAa&iav^  öii  ßißXia  atra  itp'  vßQet  tiytSy  cvyygdffoixo,  Cv^rjaiy  avxtuy  inonj- 
aaro  xal  ixetyä  te  rd  fiir  ir  tj  noXei  et^ge&iyta  ngos  taiy  dyo^ayofitoy,  ja  di  l|ai  tt^ö; 
tiiSy  ixtt(nttx69i  ixQxoyt<oy,  xatitpXs^e  xal  nüy  üvy&iyxtov  avxd  ixoXaüi  xiyag,  Ist  die  Ver- 
mutung richtig,  so  mOsste  die  Massregelung  des  Cassius  Severus  später  als  12  n.  Ch. 
fallen  und  die  Angabe  des  Hieronymus  (2, 149  Seh.)  zu  32  n.  Ch.  Cassius  Severus  —  XXV 
exiUi  sui  anno  in  summa  inopia  moriiur  vix  panno  verenda  contectus,  welche  auf  das  J.  7 
n.  Ch.  führt,  irrig  sein. 

3.  M.  Porcius  Latro.  Mit  Seneca  war  aufs  innigste  befreundet 
M.  Porcius  Latro.  Beide  waren  Mitschüler,  beide  Zuhörer  des  Bhetors 
MaruUus.  Porcius  Latro  war  ein  sehr  beliebter  Lehrer;  obwohl  er  wie 
der  Grieche  Nicetes  die  Gewohnheit  hatte,  selbst  zu  deklamieren,  nicht  aber 
die  Schüler  deklamieren  zu  lassen,  wurde  schon  auf  das  Hören  desselben 
der  grösste  Wert  gelegt  (Sen.  Controv.  9, 2  (25),  23).  Ja,  die  Verehrung  seiner 
Zöglinge  artete  mitunter  in  einen  kindischen  Charakter  aus:  so  nahmen 
manche  Waldkümmel,  um  die  blasse  Gesichtsfarbe  des  Lehrers   zu  ge- 


M.  Poroins  Latro.    C.  Albnoiiui  Biliis. 


205 


winnenO  (Plin.  n.  h.  20, 160).  Originell  war  er  in  seinem  äusseren  Leben; 
er  kannte  nicht  die  Ökonomie  der  Kräfte  und  es  fehlte  seinem  Thun  die 
ausgleichende  Harmonie.  Hatte  er  sich  einmal  zur  Arbeit  aufgerafft,  so 
setzte  er  sie,  ohne  Ziel  und  Mass  einzuhalten,  Tag  und  Nacht  fort,  bis  die 
Kräfte  endlich  versagten.  Gab  er  sich  dann  den  Freuden  des  Daseins  hin, 
so  schien  sein  ganzes  Wesen  in  ^ Scherz  und  Spiel"  aufzugehen;  wanderte 
er  hinaus  in  die  „ Wälder  und  Berge",  so  that  er  es  an  ländlicher  Arbeit 
den  Altgewohnten  gleich;  nur  mit  Mühe  konnte  er  sich  von  diesem  Leben 
losreissen.  Geschah  es  aber,  so  schienen  seine  Kräfte  für  das  Studium 
verdoppelt  zu  sein.  Wie  die  Verbindung  von  Arbeit  und  Ruhe  ihm  fremd 
war,  so  auch  der  Wechsel  in  der  Arbeit.  Nahm  er  rhetorische  Übungen 
vor,  so  schrieb  er  an  einem  Tag  z.  B.  nichts  als  Epiphonemata,  an  einem 
andern  nichts  als  Gemeinplätze,  welche  er  seinen  Hausrat  nannte.  Seine 
Arbeitskraft  war  erstaunlich;  es  war  ihm  ein  Leichtes,  nach  einer  im 
Studieren  durchwachten  Nacht  sofort  zu  einer  Deklamation  zu  schreiten, 
oder  unmittelbar  nach  dem  Mahle  die  Arbeit  aufzunehmen.  Für  seine 
rednerische  Thätigkeit  kam  ihm  zu  statten  eine  gute  Brust  und  ein  starkes, 
wenn  gleich  belegtes  Organ.  Auf  die  Stimmbildung  verwendete  er  gar  keine 
Mühe,  und  man  erkannte  daher  in  ihm  den  Spanier.  Ausgezeichnet  war 
sein  Gedächtnis,  die  verlässige  Naturgabe  unterstützte  er  noch  durch  die 
Kunst.  So  schnell  er  schrieb,  so  war  doch,  was  er  einmal  geschrieben, 
sein  zweifelloses  Eigentum  und  konnte  von  ihm  jeder  Zeit  ohne  den  ge- 
ringsten Fehl  reproduziert  werden;  er  pflegte  zu  sagen,  er  brauche  keine 
Schreibtafeln,  er  schreibe  in  seinen  Kopf.  Bezüglich  der  Darstellung  er- 
kannten zwar  seine  Gegner  an,  dass  sie  sich  durch  Eindringlichkeit  aus- 
zeichne, wollten  aber  logische  Schärfe  vermissen.  Allein  in  lebhafter  Weise 
nahm  ihn  sein  Freund  Seneca  gegen  diesen  Vorwurf  in  Schutz.^)  Indes 
trotz  aller  dieser  ausgezeichneten  Eigenschaften  war  er  doch  nur  ein 
Schulredner,  selbst  einer  Deklamation  zu  aussergewöhnlicher  Zeit  oder 
an  einem  aussergewöhnlichen  Ort  entzog  ersieh  (Senec.  Gontrov.  10  praef.  15). 
Völlig  liess  ihn  seine  Kunst  im  Stich,  wenn  er  vor  Gericht  auftrat.  Als 
er  seinen  Verwandten  Porcius  Busticus  vor  Gericht  zu  verteidigen  hatte, 
kam  er  so  in  Verwirrung,  dass  er  seine  Rede  mit. einem  Solözismus  be- 
gann und  seine  Fassung  erst  wieder  erhielt,  als  auf  seine  Bitten  hin  die 
Verhandlung  vom  Forum  in  eine  Basilika  verlegt  wurde  (Sen.  Gontrov.  9 
praef.  3).  Im  Jahre  4.  v.  Gh.  gab  sich  der  Rhetor  selbst  den  Tod  (Hieronym. 
2, 145  Seh.). 

Hauptquelle:  Gontrov.  1  praef.  13.  Von  den  Proben,  welche  Seneca  gibt,  ist  beachtenswert 
die  umfassende  zur  Contr.  2,  7  (15);  sie  bildet  die  einzige  Mitteilung  zu  dieser  Controversia. 

4.  G.  Albucius  Silus  stammt  aus  Novara  und  brachte  es  in  seiner 
Vaterstadt  zur  Adilität.  Als  ihm  einst  in  einem  Prozess  von  der  Gegen- 
partei schwere  Unbill  widerfuhr,  eilte  er  schnurstracks  nach  Rom.  Hier 
schloss  er  sich  zum  Zweck  seiner  rednerischen  Ausbildung  an  L.  Munatius 


^)  Ein  Nachahmer  war  S  p  a  r  s  u  s  (Gontrov. 
10  praef.  12  utebatur  suis  verbis,  Latranis 
setUenttis).  Auch  Ovid  war  ein  Bewunderer 
von  Latro  und  lauschte  eifrig  seinen  Dekla- 
mationen (Gontrov.  2, 2  (10),  8). 


*)  Auch  über  seinen  Stil  fällte  Messalla 
das  Urteil  (Gontrov.  2,  4  (12),  8):  sua  Hngua 
disertus  est  .  ingenium  Uli  (Messalla)  coH' 
cessit,  sermonem  obiecit. 


206     ^mische  Litter atnrgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Plancus  an.  Nachdem  er  durch  rednerische  Erfolge  bekannt  geworden 
war,  eröffnete  er  eine  Rhetorschule.  In  öffentlicher  Versammlung  sprach 
er  sehr  selten,  im  Jahre  höchstens  fünf-  bis  sechsmal,  dagegen  hielt  er 
rednerische  Übungen  für  engere  Kreise,  welche  aber  auch  nicht  von  vielen 
besucht  wurden.  Ein  anderer  war  der  Redner  vor  einer  grossen  Ver- 
sammlung, ein  anderer  im  Kreise  vor  wenigen.  Hier  Hess  er  sich  gehen, 
er  sprach  sitzend  und  nur  wenn  ihn  der  Gegenstand  wärmer  machte,  er- 
hob er  sich.  Vorwiegend  erging  er  sich  in  philosophischen  Betrachtungen 
über  den  Fall,  diese  Hessen  ihn  nur  selten  zur  allseitigen  Durchfülu*ung 
des  Themas  gelangen.  Was  er  gab,  war  weder  eine  Analyse,  denn  dafür 
bot  er  zu  viel,  noch  eine  Rede,  denn  dafür  bot  er  zu  wenig.  Trat  er 
aber  vor  einen  grösseren  Kreis,  so  spannte  er  alle  seine  Kräfte  an  und 
hörte  dann  nicht  auf;  nicht  bloss  was  gesagt  werden  musste,  sondern  auch 
was  gesagt  werden  konnte,  brachte  er  vor.  Seine  Beweisführung  war 
mehr  pedantisch  als  scharf,  denn  er  konnte  gar  nicht  genug  beweisen  und 
häufte  Argumente  auf  Argumente.  Jede  Frage  des  Falls  wurde  behandelt, 
als  wäre  sie  für  sich  bestehend,  so  dass  unter  seinen  Händen  jede  Kontro- 
verse in  mehrere  auseinanderfiel.  Er  kannte  nicht  die  Unterordnung  der 
einzelnen  Teile  unter  ein  höheres  Ganze.  Seine  Diktion  war  glänzend  und 
eindringlich;  er  sprach  in  raschem  Fluss,  aber  ersichtiich  vorbereitet.  Um 
den  Ausdruck  war  er  nie  verlegen,  nicht  selten  Hess  er  auch  Wendungen 
des  niederen  Lebens  in  seine  Darstellung  einfliessen  und  störte  dadurch 
den  Eindruck  seiner  Rede.  Was  ihm  fehlte,  war  eine  scharf  ausgeprägte 
Individualität  und  ein  starkes  Selbstbewusstsein.  Daher  finden  wir  auch 
ein  fortwährendes  Schwanken  seines  Stils;  wen  er  gerade  gehört  hatte, 
den  suchte  er  nachzuahmen;  so  stand  er  eine  Zeitlang  unter  dem  Ein- 
fluss  des  Fabianus,  ein  andermal  beherrschte  ihn  wieder  Hermagoras 
Das  Ende  war,  dass  er  es  zu  gar  keinem  einheitlichen  Stil  brachte  und 
im  Alter  schlechter  sprach  als  in  der  Jugend.  Für  das  Forum  passte 
der  ängstliche  Redner  nicht.  Ein  drolliges  Erlebnis  bestimmte  ihn,  dem- 
selben gänzlich  zu  entsagen.  In  einem  Centumviratsprozess  gebrauchte 
er  den  Kunstgriff,  dass  er  den  Gegner  zum  Eid  aufforderte  und  dabei 
die  Übelthaten  anbrachte,  die  jener  begangen.  Schwöre,  rief  er,  bei  der 
Asche  deines  Vaters,  welche  unbestattet  da  liegt.  Und  in  dieser  Weise 
ging  es  weiter.  Da  erhob  sich  plötzlich  von  der  Gegenseite  L.  Arruntius 
mit  den  Worten:  Gut,  wir  nehmen  den  Eid  an,  Albucius  entgegnete, 
so  sei  es  nicht  gemeint,  er  habe  ja  nur  eine  Figur  gebraucht,'  und  wenn 
man  jede  Figur  ernst  nehmen  wolle,  so  würden  die  Figuren  aus  der 
Welt  verschwinden.  Meinetwegen  können  sie  verschwinden,  entgegnete 
Arruntius;  wir  werden  auch  ohne  sie  leben  können.  Der  Ausgang  der 
Sache  war,  dass  der  Angeklagte  wirklich  den  Eid  leistete  und  den  Prozess 
gewann. 

Theatralisch  war  das  Ende  des  Rhetors.  Als  ihn  ein  unheilbares 
Leiden  befallen,  kehrte  er  in  seine  Vaterstadt  zurück  und  berief  eine  Volks- 
versammlung, der  er  die  Gründe  auseinander  setzte,  warum  er  in  den  Tod 
gehen  müsse.  Als  dies  geschehen  war,  setzte  er  seinem  Leben  durch 
Enthaltung  von  Nahrung  ein  Ziel. 


Q.  HaieriuB.    L.  Jonina  Gallio. 


207 


Die  Grundlage  für  unsere  Darstellung  sind  Suet.  rhet.  6  und  Seneca  Contr.  7  praef.  Um- 
fassendere Bruchstücke  aus  den  Deklamationen  sind:  Contr.  7, 1  (16),  1  9, 2  (25),  6.  Vgl.  noch 
Quint.  2, 15, 86,  wo  eine  rhet.  Schrift  angedeutet  ist.  —  Lindneb,  De  C,  Albueio  Silo,  Bresl.  1861. 

5.  Q.  Haterius  pflegte  in  öffentlicher  Versammlung  aus  dem  Steg- 
reif zu  deklamieren ;  nicht  leicht  konnte  ein  Redner  eine  grössere  Herrschaft 
des  lebendigen  Wortes  besitzen  als  er.  Sein  Kedefluss  war  so  mächtig, 
dass  Augustus  einmal  sagte  « Unserem  Haterius  muss  ein  Hemmschuh  angelegt 
werden  **.  Es  war  ihm  völlig  gleichgültig,  welchen  Stoff  er  zu  behandeln 
hatte;  er  konnte  über  denselben  reden,  so  lang  und  so  oft  man  wollte; 
immer  wusste  er  dem  Gegenstand  neue  Seiten  abzugewinnen.  Diese  Leichtig- 
keit der  Rede  verleitete  ihn  aber,  nicht  Mass  zu  halten  und  nicht  eine 
Materie  zur  rechten  Zeit  abzubrechen;  er  folgte  daher  den  Winken  eines 
Freigelassenen,  der  ihn  darauf  aufmerksam  machte,  wann  er  weiterschreiten 
und  wann  er  schliessen  sollte.  An  eine  bestimmte  Ordnung  in  der  Glie- 
derung des  Themas  hielt  er  sich  nicht,  dafür  war  er  zu  sehr  von  dem 
momentanen  Eindruck  abhängig.  Seine  Diktion  beugte  sich  nicht  dem 
Rigorismus  jener  Schulen,  welche  Worte  des  gewöhnlichen  Lebens  und 
solche,  die  zimperlichen  Ohren  anstössig  sein  konnten,  peinlichst  ver- 
mieden. Nur  vor  ganz  abgedroschenen  und  veralteten  Wendungen  hütete 
er  sich,  doch  schlüpfte  manches  Wort,  das  Cicero  gebraucht  hatte,  aber 
jene  Generation  nicht  mehr  für  gangbar  erachtete,  in  seinen  Vortrag. 
Dass  die  Sucht  zu  glänzen  ihn  mitunter  auf  Abwege  führte,  liegt  in  der 
Natur  der  Sache.  So  begegnete  es  ihm  einst,  als  er  einen  Freigelassenen, 
welcher  der  Unzucht  mit  seinem  Herrn  bezichtigt  wurde,  verteidigte,  dass 
er  sich,  um  eine  spitze  Wendung  zu  erhalten,  zu  folgender  Geschmack- 
losigkeit hinreissen  Hess:  „Die  Unzucht  ist  bei  einem  Freigebornen  ein 
Unrecht,  bei  einem  Sklaven  eine  Notwendigkeit,  bei  einem  Freigelassenen 
—  ein  Dienst  **.  Alles  lachte  und  eine  Zeitlang  nannte  man  die  Unsittlichen 
die  —  Dienstwilligen.  Doch  war  das  Ansehen  des  Redners  immerhin  ein 
sehr  grosses;  allein  es  übertrug  sich  nicht  auf  die  Nachwelt;  denn  die 
Schriften  des  Redners  vermochten  nicht  in  gleicher  Weise  zu  fesseln  wie 
sein  lebendiges  Wort.  Mit  seinem  Tod  erlosch  zugleich  das,  was  ihm  den 
Ruhmeskranz  flocht,  das  hellklingende,  fliessende  Wort. 

Haterius  wird  von  Seneca  in  der  praef.  zum  4.  Buch  geschildert.  Auch  Tacitus 
giht  eine  kurze  Charakteristik  an  der  Stelle  (Ann.  4, 61),  wo  er  seines  Todes  gedenkt 
(26  n.  Gh.).  Von  den  mitgeteilten  Frohen  stehen  grössere  in  der  Suasoria  6  Deliherat 
Cicero  an  Antonium  deprecetur  und  in  der  Suasoria  7  Deliberat  Cicero  an  scripta  sua 
conburat,  promittente  Antonio  incolumitatem,  si  fecisset.  Beide  sind  in  lebhaftem  Ton  ge- 
schrieben. 

6.  L.  Junius  Gallio.  Mit  Seneca  war  sehr  befreundet  L.  Junius 
Gallio.  Diese  Freundschaft  erhielt  einen  besonders  wirksamen  Ausdruck 
durch  die  Adoption  des  ältesten  Sohnes  Senecas  M.  Annaeus  Novatus  von 
selten  des  Rhetors.  0  Auch  mit  Ovid  stand  Gallio  in  engeren  Beziehungen. 
Denn  der  Dichter  richtete  an  ihn  einen  Brief  aus  seinem  Exil,  um  ihn 
über  den  Verlust  seiner  Frau  zu  trösten  (P.  4,  11).  Über  sein  Leben  sind 
uns  fast  keine  Daten  überliefert.     Das  wichtigste  berichtet  uns  Tacitus 


^)  Auch  dieser  Adoptivsohn,  nach  der 
Adoption  L.  Annaeus  Junius  Gallio  ge- 
nannt,  wurde    ein    hervorragender  Redner. 


Es  ist  derselbe,  der  in  der  Apostelgeschichte 
18, 12  erwähnt  wird. 


208    ^mische  Litteratnrgesohichte.    II.  Die  2eit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


(Ann.  6,  3).  Er  stellte  nämlich  im  Senat  den  Antrag,  den  Prätorianem 
nach  ihrer  Dienstzeit  das  Recht  zu  verleihen,  im  Theater  den  Sitz  bei  den 
Rittern  einzunehmen.  Darob '  wurde  er  von  Tiberius  heftig  angelassen 
und  aus  der  Curie  wie  aus  Italien  verwiesen.  Er  lebte  in  Lesbos.  Da 
aber  der  Aufenthalt  auf  der  reizenden  Insel  keine  Strafe  zu  sein  schien, 
so  wurde  er  wieder  in  die  Hauptstadt  zurückberufen  und  dort  in  Amts- 
gebäuden untergebracht.  Als  Deklamator  erhielt  er  von  Seneca  seinen 
Platz  neben  Porcius  Latro,  Arellius  Fuscus,  Albucius  Silus;  diese  sind  nach 
Seneca  die  vier  grössten  Redner  jener  Zeit  (Controv.  10  praef.  13).  Bei 
Seneca  wird  er  zwar  in  hohem  Grade  berücksichtigt,  allein  eine  eingehende 
Charakteristik  desselben  ist  nicht  geliefert.  Wir  müssen  uns  daher 
aus  den  Mitteilungen  Senecas  selbst  ein  Bild  konstruieren.  Dieses  Bild 
aber  passt  nicht  recht  zu  den  glänzenden  Lobsprüchen  des  Rhetors.  So  ver- 
mögen wir  nicht  die  Bewunderung  zu  teilen,  welche  er  einem  Satz, 
den  Gallio  in  einer  Suasoria  angebracht  hatte,  spendet.  Das  Thema  war: 
Xerxes  verlangte  von  den  Athenern,  dass  sie  die  gegen  ihn  errichteten 
Siegeszeichen  niederreissen,  oder  er  werde  neuerdings  gegen  Griechenland 
ziehen.  Während  alle  Rhetoren,  welche  das  Thema  behandelten,  sich  gegen 
diese  Forderung  aussprachen,  trat  Gallio  für  das  persische  Ansinnen  ein 
und  brannte  das  Feuerwerk  ab:  «Die  Perser  können  es  mit  dem  Unter- 
gehen länger  aushalten  als  wir  mit  dem  Siegen''.  Die  grösseren  Proben, 
welche  uns  Seneca  von  seinen  Deklamationen  gibt,  zeigen  uns  eine  auf- 
gedunsene, aufgeregte,  unruhige  Darstellung;  von  der  Anaphora  ist  über- 
reichlich Gebrauch  gemacht,  so  dass  wir  das  Urteil  des  Tacitus  (D.  26),  der 
von  «Wortgeklingel*'  redet,  als  ein  berechtigtes  anerkennen  müssen.  Seine 
Deklamationen  wurden  aber  noch  lange  gelesen;  so  wird  er  von  dem 
Kirchenvater  Hieronymus^)  unter  den  rednerischen  Musterschriftstellem 
aufgezählt.  Als  Einzelschrift  kursierte  eine  Rede,  welche  er  für  den 
Günstling  des  Maecenas,  den  Pantomimen  Bathyllus,  gegen  die  Anklage 
des  Labienus  verfasste.^)  Ausserdem  hatte  er  auch  eine  rhetorische  Mono- 
graphie geschrieben  (Quint.  3, 1,  21). 

Bemerkenswerte  Äusserungen  Senecas  über  Gallio  sind  noch  folgende :  Contröv.  2, 1  (9), 
33  Otho  lunius  pater  —  edidit  IV  Uhros  colorum,  quos  helle  Qallio  noster  Antiphontis 
Hbroa  vocahat;  tantum  in  Ulis  somniarum  est  (vgl.  1,3, 11).  Controv.  7  praef.  5  hoc  (idio- 
tisman)  nemo  praestitU  umquam  Galliane  nostro  deceniias.  iam  adulescentulus  cum  decla^ 
maretj  apte  et  canvenienter  et  decenter  hoc  genere  utebatur.  —  B.  Schmidt,  De  L.  J.  G, 
rhetore,  Marb.  1866  (gut  geschrieben).    Lüidner,  De  L.  G.,  Uirschb.  1868. 

7.  Arellius  Fuscus.  Dieser  Redner  stammt  aus  Asien;  er  be- 
rücksichtigt daher  auch  gelegentlich  seine  Landsleute  Hybreas  und  Adaeos.  ^) 
Er  konnte  sowohl  in -lateinischer  als  in  griechischer  Sprache  seine  Vor- 
träge halten,  die  griechische  war  ihm  geläufiger.  Von  den  beiden  Gat- 
tungen der  Rede  bevorzugte  er  entschieden  die  Suasoria  (Suas.  4,  5). 
Seine  Diktion  war  nach  dem  Urteil  Senecas  zwar  glänzend,  aber  mühsam 


Sich  habe  hier  im  Auge:  Controv.  2,  3 
^    „     7, 1  (16),  13  7,  (22),  3  10, 2  (31),  1. 
^)  praef,  comm.  in  Esaiam. 
')  Conirov.  10  praef.  8  monstrabo  beRum 
vobis  libellum  quem  a  Gallione  vestro  petatis  . 
recitavit   rescriptum   Labieno  pro   Bathyllo 


Maecenaiis,    Die  Rede  wurde,  wie  aus  re- 
scriptum  hervorgeht,  nicht  gehalten. 

*)  Controv.  9,  1  (24)  12  und  9,  6  (29)  16. 
Vgl.  BuscHMAim,  CharaJcteristik  der  griech. 
Rhet.,  Parchim  1878  p.  11. 


ArelliuB  Fuscus.    L.  CestiuB  Pins.  209 

erarbeitet  0  und  verwickelt,  der  Schmuck  der  Rede  gesucht,  der  Perioden- 
bau zu  schlaff.  Die  einzelnen  Teile  waren  sehr  ungleich  gehalten.  Ein- 
gang, Beweise,  Erzählungen  waren  trocken,  dagegen  Charakteristiken, 
Schilderungen  im  Übermass  blühend  stilisiert.  Die  von  Seneca  mitge- 
teilten grösseren  Stücke  lassen  eine  aufgeregte,  enthusiastische  Darstel- 
lungsweise erkennen,  welche  besonders  von  der  Frageform  reichliche  An- 
wendung macht.  Man  vergleiche  z.  B.  den  Passus,  der  sich  gegen  die 
Wahrsagekunst  richtet  (Suas.  4,  1),  die  Rede,  in  der  die  dreihundert 
Lakonen,  welche,  von  den  ihnen  zu  Hilfe  geschickten  Griechen  verlassen, 
doch  zum  Ausharren  ermuntert  werden  (Suas.  2, 1),  oder  die  Kontroverse, 
in  der  ein  Reicher,  der  seine  drei  Söhne  Verstössen  hatte,  den  einzigen 
Sohn  eines  Armen  adoptieren  will  (Controv.  2, 1  [9],  1).  Unter  seinen  Schülern 
waren  die  hervorragendsten  der  Philosoph  Papirius  Fabianus  und  der 
Dichter  Ovid  (Controv.  2,  2  [10],  8). 

Za  vgl.  bes.  Controv.  2  praef.  Öfters  erhält  Arellios  Poschs  bei  Seneca  den  Zusatz  pater; 
es  ist;  aber  nicht  zulfissig,  die  SteUen,  denen  jener  Zusatz  fehlt,  auf  den  Sohn  zu  beziehen. 
Diese  Beziehung  musste  eigens  hervorgehoben  werden.  —  Likdner,  De  A,  F,,  Breslau  1862. 

8.  L.  Cestius  Pius.  Auch  dieser  Rhetor  war  ein  Grieche,  er  stammte 
aus  Smyrna  (Hieron.  2, 143  Seh.).  Er  war  ein  von  sich  sehr  eingenommener 
und  dabei  höchst  boshafter  Mensch,  dessen  Zunge  man  ungemein  zu 
fürchten  hatte.  Mit  Vorliebe  suchte  er  andern,  wo  er  nur  konnte,  eines 
anzuhängen.  Als  Albucius  einmal  in  einer  Kontroverse  gesagt  hatte: 
»Warum  zerbricht  der  Becher,  wenn  er  fällt,  der  Schwamm  aber  nicht"? 
bemerkte  er  höhnisch:  »Morgen  wird  er  euch  vordeklamieren,  warum  die 
Krammets  Vögel  fliegen,  die  Kürbisse  aber  nicht"  (Controv.  7  praef.  8). 
Als  bei  ihm  Varus  Quintilius,  der  Sohn  des  unglücklichen  Feldherrn 
Varus  eine  Gontroversia  deklamierte,  machte  der  Grieche  eine  grausame 
Anspielung  auf  die  Schlacht  am  Teutoburger  Wald  (Controv.  1,3, 10). 
Seinen  Zuhörern,  deren  Vortrag  von  einer  Sentenz  ausging  und  wieder 
in  dieselbe  einmündete,  pflegte  er  dm*ch  den  Ruf  „Echo",  durch  einen  Vers 
oder  irgend  eine  scharfe  Bemerkung  einen  Denkzettel  zu  geben  (Contr.  7, 
7  [22],  19).  Auch  gegen  die  Verstorbenen  richtete  sich  seine  Schmähsucht. 
So  zog  er  stark  gegen  Cicero  los.  Allein  dies  sollte  ihm  sehr  übel  be- 
kommen. Als  der  Sohn  Ciceros  an  der  Spitze  der  Provinz  Asien  stand, 
wurde  von  ihm  unter  anderen  Cestius  zu  Tisch  geladen.  Da  sich  der  Gast- 
geber nicht  mehr  des  geladenen  Bhetors  zu  erinnern  wusste,  zog  er  bei 
einem  seiner  Sklaven  Erkundigungen  nach  ihm  ein.  Der  suchte  dem  Ge- 
dächtnis seines  Herrn  dadurch  zu  Hilfe  zu  kommen,  dass  er  ihm  sagte 
„Es  ist  der  Mann,  der  von  deinem  Vater  sagte,  dass  derselbe  nichts  ver- 
stünde". Als  der  Sohn  Ciceros  dies  vernahm,  Hess  er  den  Griechen  sofort 
durchprügeln  (Suas.  7, 3).  Als  Redner  erfreute  sich  Cestius  eines  sehr 
hohen  Ansehens.  Die  Jugend  lernte  seine  Deklamationen  statt  der  Cicero- 
nischen Reden  auswendig  (Contr.  3  praef.  15).  Er  hatte  einen  Schwärm 
von  Anhängern  und  Anbetern.  Einer,  Argentarius,  trieb  es  in  der  Nach- 
ahmung des  Meisters  soweit,  dass  Cestius  selbst  ihn  seinen  , Affen"  nannte 


0  Darauf  weist  auch  eine  gezwungene 
Nachahmung  Vergils  (Suas.  3, 4),  wo  zugleich 
die  Motive  der  Nachahmung  angegeben  wer- 

Baodbuch  der  kl«n.  Altertamswlmenachan.    vni.    2.  Teil,  14 


den:  solebat  autem  Fuaeus  ex  Vergilio  multa 
trahere,  ut  Maecenaii  imputaret. 


210    Römische  LitteratiirgeBchiohie.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Ahteilnng. 

(Controv.  9,  3  (26),  12).  Ein  anderer,  Alfius  Flavus,*)  schien  den  Meister  zu 
übertreffen,  und  Cestius  sprach  nicht  mehr  gern  nach  ihm  (Controv.  1, 1, 
22).  Über  seine  rednerische  Fertigkeit  bemerkt  Seneca,  dass  ihm  als  ge- 
borenen Griechen  manchmal  die  Worte  ausgingen,  aber  niemals  die  Ge- 
danken (Gontr.  7, 1  (16),  27).  Allein  dass  Cestius  nur  ein  Mann  der  Schule 
war  und  seine  Beredsamkeit  nicht  dem  Leben  dienstbar  machen  konnte, 
zeigt   der  Fall,  den  wir  oben  bei  Cassius  Severus  (p.  203)  erzählt  haben. 

Aus  den  Deklamationen  teilt  Seneca  meist  kleinere  Bruchstücke  mit.  Grössere  sind : 
Suas.  7, 2  CJontrov.  2, 4  (12),  2  2,  5  (13),  2  1, 2,  7.  -  Liwdnbb,  De  L.  Gestio  Fio,  Züllichau  1858. 

Bei  Seneca  ist  noch  eine  ganze  Reihe  von  Rhetoren  angefahrt,  z.  B.  L.  Passienus 
Rufus  (Kons.  4  v.  Gh.),  der  Vater  des  C.  Passienus  Crispns,  der  mit  Galigulas  Schwester 
Agrippina  verheiratet  war,  (vgl.  üher  heide  Persönlichkeiten  Nipperdey,  Tacit.  Ann.  6, 20), 
dann  L.  Yinicius,  P.  Vinicius,  Triarius,  Murredius,  Votienus  Montanus,  Pom- 
peius  Silo  und  andere.  Über  dieselben  findet  sich  das  Nötige  in  den  trefflichen  Indices 
der  MüLLEB*schen  und  EisssLiKG'schen  Ausgabe. 

337.  Analogie  und  Anomalie  in  der  Rhetorik.  Neben  den  prak- 
tischen Übungen,  die  wir  soeben  kennen  gelernt  haben,  ging  die  Ausbildung 
der  Theorie  der  Beredsamkeit  einher.  Gerade  damals  war  eine  mächtige 
Bewegung  auf  diesem  Gebiet  eingetreten.  Der  Streit  über  Analogie  und 
Anomalie  der  Sprache,  der  in  der  Grammatik  die  grössten  Geister  wie 
einen  Caesar  beschäftigte  (§  77),  übte  seine  Nachwirkungen  auch  auf  die 
Rhetorik  aus.  Wie  dort,  so  wurde  auch  hier  die  Frage  lebhaft  debattiert, 
ob  es  möglich  sei,  allgemein  gültige  Gesetze  zu  formulieren  oder  nicht, 
ob  die  Rhetorik  eine  iniaxrmri  oder  eine  ^txvrl  sei,  ob  ihre  Vorschriften 
in  dem  Notwendigen  oder  in  dem  Nützlichen  ihr  Direktiv  haben,  ob  die 
Analogie  oder  die  Anomalie  für  sie  das  Bestimmende  sei.  Dieser  Gegensatz 
fährte  zur  Bildung  zweier  Schulen  oder  Sekten,  der  Apollodoreer  und 
der  Theodoreer.  Die  Apollodoreer,  welche  sich  an  den  berühmten  Rhetor 
ApoUodoros  von  Pergamon,  den  Lehrer  des  Augustus,  anschlössen,  be- 
kannten sich  zur  strengen  Gesetzesmässigkeit  der  Rhetorik,  die  Theodoreer 
dagegen,  welche  in  Theodoros  von  Gadara,  dem  Lehrer  Tibers,  ihren  Führer 
sahen,  leugneten  die  Möglichkeit,  allgemein  bindende  rhetorische  Normen 
aufzustellen,  da  alles  auf  den  jeweiligen  Fall  ankomme.  Wie  sich  der 
Streit  abspielte,  soll  durch  einige  Beispiele  veranschaulicht  werden.  So 
stellten  die  Apollodoreer  als  ein  unumstössliches  Gesetz  hin,  dass  die  Rede 
vier  Teile  haben  müsse,  prooemium,  narratio,  argumentatio,  peroratio;  dies 
bestritten  die  Theodoreer,  indem  sie  von  der  Ansicht  ausgingen,  dass  nur 
die  argumentatio  notwendig  sei,  die  übrigen  Teile  dagegen  auch  fehlen 
könnten.  Die  Apollodoreer  gingen  aber  in  bezug  auf  die  Teile  der  Rede 
noch  weiter,  sie  behaupteten,  nicht  bloss  die  Vierzahl,  sondern  auch  die 
angegebene  Reihenfolge  sei  unumstösslich;  auch  diesem  Satz  traten  die 
Theodoreer  mit  dem  Einwand  entgegen,  dass  es  keine  unabänderliche 
Reihenfolge  der  Redeteile  gebe.  Die  Rede  betrachteten  die  Apollodoreer 
als  ein  einheitliches,  in  sich  geschlossenes  Kunstwerk  und  zogen  daraus 
die  Folgerung,  dass  die  verschiedenen  Teile  der  Rede  sich  nicht  wieder- 
holen können,  dass  eine  Rede  mit  zwei  selbständigen  narraiiones,  mit  zwei 
Prooemia  eine  Unmöglichkeit  sei.  Auch  von  dieser  strengen  Regel  wollten 

»)  über  Alfius  Flavus  als  Dichter  vgl.  §  329,  9. 


Die  Apollodoreer  und  die  Theodoreer.  211 

die  Theodoreer  nichts  wissen  und  beriefen  sich  auf  die  Praxis.  Für  die 
Erzählung  schrieben  die  Apollodoreer  Kürze,  Deutlichkeit,  Wahrscheinlich- 
keit vor.  Auch  an  dieser  Forderung  mäkelten  die  Theodoreer,  indem  sie 
sagten,  es  sei  nicht  immer  nützlich,  kurz  und  deutlich  zu  sprechen.  Wir 
sehen,  wie  auf  diese  Weise  sich  ein  System  der  Rhetorik  bilden  musste. 
Das  positive  Schaffen  fällt  den  Apollodoreern  zu.  Durch  die  Theodoreer 
wurden  sie  aber  veranlasst,  immer  mehr  ihre  Sätze  itsu  vertiefen  und  gegen 
Einwendungen  zu  schützen.  Der  Streit  scheint  nicht  ohne  tiefe  Wirkung 
gewesen  zu  sein;  das  rhetorische  Lehrbuch  des  Apollodor  wurde  von 
G.  Yalgius  Bufus  ins  Lateinische  übersetzt  (§  273).  Noch  bei  Quintilian 
erkennen  wir  die  Nachwirkungen  jener  Kontroverse. 

Zeugnisse  über  die  Apollodoreer  und  die  Theodoreer.  Quint.  3,  1,  17 
praecipue  tarnen  in  se  converterunt  studio  Apollodarus  Pergamenus,  ^ui  praeceptor  Apol- 
loniae  Caesaris  Augusti  fuity  et  Theodorus  Gadareus,  qui  se  dici  maluit  Rhodium^  quem 
studiose  audisse,  cum  in  eam  insulam  secessisset,  dicitur  Tiberius  Caesar,  Hi  diversas 
opiniones  tradiderunt  appellatique  inde  Apollodor  ei  et  Theodor  ei,  ad  morem  certas  in  philO' 
Sophia  sectas  sequendi.  Strabo  13, 625  G.  noXXd  ydg  inexQtttei,  fiei^oya  S^  tj  xa&*  tjfÄtoy 
c/ovra  Tijv  x^iaiy  '  tov  lern  xal  ij  'AnoXXodtoQSios  «i^eaig  xal  ij  SeodtoQBiog.  Über  den  Streit 
belehrt  uns  am  besten  der  sog.  Anonymus  Seguerianus  (Rhet.  gr.  ed.  Spengel  1,  427), 
neuerdings  unter  dem  Titel  Cornuti  artis  rhetoricae  epitome  von  Joannes  Grasven,  Berl. 
1891,  in  trefflicher  Bearbeitung  herausgegeben.  In  einer  Abhandlung  Hermes  25,  36  habe 
ich  an  der  Hand  dieser  Schrift  den  Gegensatz  der  beiden  Schulen  dargelegt.  Über  Quin 
tilians  (theodorischen)  Standpunkt  in  der  Frage  vgl.  Quint.  2, 13, 2. 

cf)  IHe  Philosophen. 

338.  Die  Schule  der  Seztier.  Zur  Zeit  des  Augustus  tauchte  die 
Philosophenschule  der  Sextier  auf;  aber  sie  hatte  nur  eine  kurze  Dauer; 
kaum  entstanden,  schwand  sie  wieder  dahin.  Der  Stifter  der  Schule  war 
Q.  Sextius,  ohne  Zweifel  ein  Mann,  der  vom  Ernst  einer  hohen  Lebens- 
aufgabe erfüllt  war;  auf  äussere  Ehren  hatte  er  schon  unter  Cäsar  verzichtet 
und  sich  vom  Staatsdienst  fern  gehalten,  um  völlig  seinen  Ideen  zu  leben 
(Sen.  ep.  98,  13).  Aber  das  Merkwürdige  war,  dass  dieser  Mann  mit  seinen 
Lehren  auch  sein  Leben  in  Übereinstimmung  brachte;  es  wird  erzählt, 
dass  er,  wie  einst  Demokrit,  den  früher  erzielten  Gewinn  in  Athen  zu- 
rückgestellt habe  (Plin.  n.  h.  18, 274).  Die  Sprache  seiner  Schriften  war 
die  griechische,  aber  der  Gedankeninhalt  echt  römisch.  Sie  zeichneten  sich 
überdies  durch  Lebendigkeit  und  eine  Eindringlichkeit  aus,  wie  sie  nur 
eine  festgewurzelte  Überzeugung  an  die  Hand  geben  kann.  Zu  diesem 
Mann  blickte  als  ihrem  Meister  eine  kleine  Gemeinde  mit  Andacht  hinauf. 
Zunächst  war  es  der  Sohn,  der  den  Spuren  seines  Vaters  folgte;  aber 
auch  Femerstehende  fühlten  sich  von  dem  merkwürdigen  Philosophen  in  hohem 
Grade  angezogen;  es  kam  sogar  vor,  dass  der  eine  oder  der  andere  seinem 
glänzenden  Beruf  entsagte,  nur  um  ungestört  der  neuen  Lehre  folgen  zu 
können.  Ein  interessantes  Beispiel  bietet  L.  Crassicius  aus  Tarent,  der 
sich  nach  einem  bewegten  Leben  der  sextischen  Schule  anschloss.  Zuei*st 
mit  der  Bühne  und  den  Bühnenleuten  eng  liiert  leitete  er  späterhin  eine 
Schule,  welche  besonders  aus  der  vornehmen  Welt  stark  besucht  wurde,  seit 
ihm  ein  Kommentar  zu  dem  dunklen  Gedicht  des  Helvius  Cinna,  der  Smyrna, 
grossen  Ruhm  verschafft  hatte.  Plötzlich  löste  er  seine  Schule  auf  und 
wurde   Anhänger  der   Sextier  (§  251).     Auch   bei  Papirius  Fabianus 

14* 


212     Bömisohe  LitteratnrgeBohichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilnng. 

erzielte  Sextius  eine  mächtige  Wirkung.  Dieser  war  ein  Schüler  des 
Rhetors  Arellius  Fuscus  und  gelangte  durch  seine  Deklamationen  zu 
grossem  Ruhm.  Er  ahmte  anfangs  den  unharmonischen,  zwischen  Dürre 
und  Überladung  hin-  und  herschwebenden  Stil  seines  Lehrers  nach;  allein 
nachdem  er  zu  den  Sextiern  übergetreten,  sagte  er  sich  von  demselben 
los.  Jetzt  sah  er  mehr  auf  die  Eindringlichkeit  der  Gedanken  als  auf  den 
Redeschmuck  und  suchte  mehr  durch  das  Ganze  als  durch  gekünstelte 
Einzelheiten  sich  in  die  Seele  des  Lesers  oder  Hörers  einzubohren.  Dieser 
Stil  gefiel  dem  Freund  Senecas,  Lucilius,  nicht,  und  als  er  ein  Werk  des 
Fabianus  durchgelesen,  verhehlte  er  nicht  dem  Philosophen  die  Ent- 
täuschung, die  ihm  die  Lektüre  bereitete.  Darauf  hin  schrieb  Seneca  den 
an  spitzen  Wendungen  und  Antithesen  reichen  Brief  (100),  in  dem  er  die 
Darstellungsweise  des  Fabianus  verteidigt,  dessen  reiche  philosophische 
Schriftstellerei  hervorhebt,  die  an  Umfang  fast  der  philosophischen  Giceros 
gleich  komme  und  ihn  in  bezug  auf  die  Form  gleich  nach  Cicero,  Asinius 
Pollio  imd  Livius  folgen  lasse.  Auch  der  Vater  Seneca  beschäftigt  sich 
mit  dem  Mann;  in  der  Einleitung  zu  dem  zweiten  Buch  der  Eontroversien 
spricht  er  über  dessen  stilistische  Wandelung,  im  wesentlichen  stimmt  sein 
Urteil  mit  dem  seines  Sohnes  überein,  nur  dass  er  merkwürdigerweise 
noch  die  Dunkelheit  als  charakteristisch  anführt.  Weiter  erzählt  er  uns, 
dass  Fabianus  noch  nachdem  er  „übergetreten"  war,  der  Rhetorik  sein 
Augenmerk  zuwandte  und  bei  Blandus  studierte.  Auch  einige  Proben  aus 
seinen  Deklamationen  teilt  er  mit,  interessant  ist  die  Stelle,  in  der  der 
Philosoph  gegen  den  Luxus  der  Zeiten  eifert  (Gontrov.  2, 1  (9),  10).  In  diesen 
Stücken,  die  wahrscheinlich  aus  der  ersten  Periode  seines  Stils  stammen, 
ist  die  Diktion  eine  rhetorisch  gehobene.  Späterhin  pflegte  er  statt  der 
Disputationen  die  Deklamationen,  selbst  vor  einem  grösseren  Publikum  sprach 
er  (Sen.  ep.  52, 11).  Wie  bei  Sextius,  so  fällt  auch  bei  Fabianus  alles 
Schwergewicht  auf  das  Handeln;  Seneca  konnte  daher  sagen,  Fabianus  sei 
kein  Eathederphilosoph,  sondern  ein  Philosoph  von  altem  Schrot  und  Korn 
(de  brev.  vitaelO,  1).  Sextier  war  ferner  Gornelius  Gelsus,  über  den 
wir  später  eigens  handeln  werden.  Auch  der  Lehrer  Senecas  Sotion  scheint 
Berührungen  mit  dieser  Schule  gehabt  zu  haben. 

Schriften  der  Sextier.  Sen.  ep.  59,  7  Sextium  lego,  virutn  acrem,  graecis 
verhis,  romanis  maribus  philosophantem.  64, 2  cum  legeris  Sextium,  dices:  vivit,  viget^  liber 
estf  supra  hominem  est,  dimittit  me  plenum  ingentis  fiduciae.  —  Der  jüngere  Sextius  ist 
wohl  (vgl.  Wellhann,  Hermes  24,546)  Sextins  Niger,  der  über  Naturwissenschaftliches 
schrieb.  Bei  Plinius  wird  er  als  „diligeniissimus*^  medizinischer  Schriftsteller  benutzt.  Vgl. 
Ind.  12—16,  20-30,  32—34.    Erotian  p.  94  Kl.  citiert  ein  Werk  negl  vXrjg. 

Schriften  des  Papirius  Fabianus.  Seneca  ep.  100,  9  Ciceronem,  cuius  libri  ad 
philosophiam  pertinentes  paene  totidem  sunt  quot  Fabiani,    Citiert  werden: 

1)  libri  causarum  naturalium,  mindestens  drei  Bücher.    (Diomedes  375,22.) 

2)  De  animalibus.    (Charis.  105, 14.) 

3)  libri  civilium.    (Sen.  ep.  100, 1.) 

In  den  Quellenverzeichnissen  des  Plinius  erscheint  er  B.  2,  7,  9,  11 — 15,  17,  23, 
25,  28  und  36.    Danach  muss  er  auch  Botanisches  geschrieben  haben,  vgl.  18,276. 

Über  seinen  Stil:  Sen.  Controv.  2  praef.  1  und  2  exercehatur  apud  ÄreUium  Fuscum, 
cuius  genus  dicendi  imitatus  plus  deinde  laboris  inpendit,  ut  similitudinem  eius  effugeret  quam 
inpenderat  ut  exprimeret,  —  ab  hao  (i.  e.  splendida  oratio  et  magis  faseiva  quam  laeta) 
cito  se  Fabianus  separavit  et  luxuriam  quidem  cum  voluit  ahiecit,  obseuritatem  non  potuit 
evadere;  haec  illum  usque  in  philosophiam  prosecuta  est,  —  deerat  iVi  (sc.  Fabiano)  ora^ 
torium   robur  et  ille  pugnatorius  mucro,    splendor  vero  relut  t>oluntarius  non  elaboratae 


Die  Beztier. 


213 


arcUioni  aderat,  Sen  ep.  100  mores  ille,  non  verha  conposuU  et  antmis  scripsit  isia,  nan 
auribus.  —  Fabianus  nan  erat  neglegens  in  oratione,  sed  securus,  itaque  nihil  invenies 
sordidum:  electa  verba  sunt,  non  captata  nee  huius  sectili  tnore  contra  naturam  suam 
posita  et  inversa,  splendida  tarnen,  quamvis  sumantur  e  medio:  sensus  honestos  et  magnificos 
hohes,  non  coactos  in  sententiam,  sed  kUius  dictos.  —  deest  Ulis  oraiorius  vigor  stimidique 
quos  quaeris,  et  subiti  ictus  sententiarum,  sed  totum  corpus  videris:  quamvis  ineomptum, 
honestum  est,    Höfio,  De  Papirii  Fabiani  philosophi  vita  scriptisqne,  Bresl.  1852. 

839.  Die  Lehre  der  Seztier.  Wir  haben  keine  Schriften  der  Sex- 
tier, in  denen  ihre  Lehre  vorgetragen  wird,  sind  doch  überhaupt  ausser 
denen  von  Celsus  gar  keine  Werke  dieser  Schule  auf  uns  gekommen;  wir 
haben  auch  keine  Darstellung  ihrer  Lehren  von  fremder  Hand.  Was  wir 
von  den  Sextiern  wissen,  beschränkt  sich,  um  von  Sotion  abzusehen,  auf 
einzelne  meist  von  Seneca  mitgeteilten  Sätze.  Und  diese  Sätze  erinnern 
ungemein  stark  an  die  Stoa.  Wir  führen  zwei  der  bekanntesten  an. 
Sextius  pflegte  zu  sagen,  dass  der  brave  Mann  soviel  vermöge  als  Jup- 
piter  (Sen.  ep.  73, 12).  Fabianus  forderte,  dass  man  gegen  die  Leiden- 
schaften nicht  Distinktionen,  sondern  die  innere  Olut  und  Wärme,  nicht 
Nadelstiche,  sondern  die  Faust  einsetze  (de  brev.  vit.  10, 1).  Aber  viel 
wichtiger  sind  zwei  Zeugnisse,  welche  uns  in  das  Handeln  der  Sextier 
einen  Blick  thun  lassen.  Aus  dem  einen  ersehen  wir,  dass  Sextius  jeden 
Abend  eine  Art  Gewissenserforschung  vornahm  und  sich  die  Frage  vorlegte, 
ob  er  irgend  eine  schlimme  Eigenschaft  abgelegt  (Sen.  De  ira  3, 36, 1),  aus 
dem  andern,  dass  er  sich  der  Fleischnahrung  enthielt.  ^)  Wie  uns  Seneca  be- 
richtet (Ep.  108, 17),  begründete  er  diese  letzte  Massregel  mit  Humanitäts- 
und Nützlichkeitsrücksichten,  er  erachtete  es  für  eine  Grausamkeit,  Tiere  zu 
töten,  diese  Grausamkeit  sei  aber  ganz  zwecklos,  da  der  Mensch  der  Fleisch- 
nahrung nicht  bedürfe,  und  der  Gesundheit  das  Vielerlei  der  Nahrung  gar 
nicht  zuträglich  sei.  Von  der  Begründung  des  Yegetarianismus  mittels 
der  Theorie  der  Seelenwanderung,  wie  sie  Sotion  gab,  war  er  also  weit 
entfernt. 

Bei  einer  Schule,  welche  auf  die  Beobachtung  äusserer  Lebensvor- 
schriften dringt,  kann  sich  die  Spekulation  nicht  besonders  entwickeln. 
Wir  kennen  daher  keine  neuen  Wahrheiten,  welche  die  Sextier  dem  Schatz 
der  Philosophie  hinzugefügt;  es  fehlt  die  treibende  Kraft,  wie  sie  nur  neue 
lebensfrische  Ideen  erzeugen  können.  Wie  ein  Meteor  taucht  die  Sekte 
auf,  um  nach  kurzem  Glanz  wieder  zu  verschwinden.  Offenbar  war  es 
nur  die  originelle  Persönlichkeit  des  Sextius,  auf  welcher  die  Schule  ruhte; 
mit  dem  Hinscheiden  derselben  war  es  darum  auch  um  sie  geschehen; 
denn  mag  die  Persönlichkeit  noch  so  machtvoll  sein,  ihre  Spuren  verlieren 
sich  nur  zu  bald;  dem  Reich  des  Geistes  allein  ist  ewige  Dauer  beschieden. 

Sen.  n.  quaest.  7, 32. 2  Sextiorum  nova  et  romani  roboris  secta  inter  initia  sua,  cum 
magno  inpetu  coepisset,  extincta  est. 

Die  griechische  Spruchsammlung  des  sog.  Sextus.  Im  2.  oder  3.  Jahrh. 
n.  Ch.  legte  ein  Christ  sich  eine  SentenzensammJnng  in  griechischer  Sprache  an;  er  be- 
nutzte zwar  die  Evangelien,  aber  er  vermied  es,  spezifisch  christliche  Anschauungen  zu 
berühren  und  den  Namen  Christus  zu  gebrauchen.  Aoer  der  Monotheismus  durchdringt  die 
ganze  Sammlung.  Von  den  Sprüchen  sind  manche  bemerkenswert;  so  enthält  z.  B.  der 
Spruch  nr.  274  (p.  46)  G. :  grandem  poenam  putato,  cum  desideriis  öbiinueris;  nunquam  enim 
compescit  desiderium  possessio  desideratorum  eine  Wahrheit,  welcher  Schopenhaueb  eine 


')  Mit  Recht  betrachtet  Zelleb,  Griech. 
Philos.'  3, 1  p.  681  diese  zwei  Dinge  als  das 


am  meisten  Charakteristische   der  Sextier- 
schule. 


214-  BOmisohe  Litteratargesohiohte.    TL,  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

grossartige  Vertiefung  gegeben.  Diese  griechische  Sammlung  begegnet  uns  saierst  unter 
dem  Titel  £e^tov  yrtofiai  bei  Origenes  c.  Gels.  8,  30,  sie  ist  jetzt  verloren.  Ein  Auszug  ist 
aber  in  andere  Sammlungen  übergegangen  (Boissonadb,  Anecd,  1,  127);  auch  werden 
einzelne  Aussprüche  sonst  noch  angeführt,  z.  B.  von  Porphyrios  in  der  epistula  ad  Mar- 
cellam.  Wer  war  dieser  Sextus?  Obwohl  der  Verfasser  nur  Sextus  genannt  wird  (nicht 
Sextius),  so  hat  man  ihn  doch  mit  einem  der  Sextier  identifizieren  wollen;  so  betrachtet 
z.  B.  Ott  (Charakter  und  Ursprung  der  Sprüche  des  Philosophen  Sextius,  Rottweil  1861 ; 
Die  syrischen  auserlesenen  Sprüche,  ebenda  1862  und  1867)  den  jüngeren  Sextius  als  Ur- 
heber, der  das  ursprüngliche  System  der  Sextier  durch  pythagoreische  und  jüdische  Elemente 
modifiziert  habe.  Allein  von  einer  solchen  Umbildung  oder  vielmehr  Neubildung  des 
Systems  durch  den  jüngeren  Sextius  wissen  wir  nichts.  Auch  ist  ja  stets  zu  beachten, 
dass  vor  dem  3.  Jahrb.  sich  keine  Spuren  der  Sammlung  finden.  Dieselbe  hat  also  nichts 
mit  den  Sextiem  zu  thun.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  hiess  aber  der  Verfasser  Sextus. 
Dies  hat  dann  wohl  Anlass  gegeben,  einen  li^toq  Uv^ayogiKos  tpiXoaotpos  auf  1  n.  Gh.  an- 
zusetzen, vgl.  Eusebius  2, 144  Sch. 

Die  lateinische  Spruchsammlung.  Die  griechische  Sentenzensammlung  wurde 
im  4.  Jahrhundert  von  Rufinus  ins  Lateinische  übertragen.  In  einem  Brief  an  seinen 
Sohn  gibt  er  einige  Aufschlüsse  über  das  übersetzte  Werk,  besonders  interessant  ist 
es,  dass  er  als  eine  verbreitete  Meinung  anführt,  dass  der  Sextus  identisch  sei  mit 
Xystus,  dem  Bischof  von  Rom  und  Märtyrer  (nämlich  Sixtus  II  256—258).  Er  fügt  seiner 
Üoersetzung  auch  selbst  einige  Lehren  des  für  seine  Tochter  bestimmten  Büchleins  hinzu: 
addidi  praeterea  et  electa  quaedam  religiosi  parentis  ad  filiam,  sed  breve  totum,  ut  fnerito 
omne  opusculum  vel  enchiridionf  si  Graece,  vel  anulus,  si  Latine  appelletur.  Diese 
Übersetzung  ist,  mit  Ausnahme  des  von  Rufinus  hinzugefügten  Teils,  auf  uns  gekommen. 
Ziu*  Erklärung  des  Titels  „Anulus*^  sind  noch  die  vorausgehenden  Worte  heranzuziehen: 
nunc  ergo  Interim  hdbeatur  in  manibus  pro  anulo  Jiber. 

Die  syrische  Spruchsammlung.  Auch  in  das  Svrische  wurde  die  griechische 
Sammlung  übertragen.  Wir  haben  zwei  Versionen,  eine  stellt  eine  Auswahl  dar  und  führt 
den  Titel  , Auserwählte  Sprüche  des  h.  Xystus,  Bischofs  von  Rom*,  eine  andere  gibt  die 
ganze  Sammlung.  —  Hauptschrift:  Sexti  sententiarum  recensiones  latinam  graecam  sytHacas 
coniunctas  exkäuit  J.  Gildeheisteb,  Bonn  1873. 

£)  Die  Fachgelehrten, 
a.  Die  Philologen. 

1.   M.  Verrius  Flaccus. 

340.  Biographisches.  —  Verlorene  Schriften.  Der  berühmteste 
Lehrer  der  augusteischen  Zeit  war  M.  Verrius  Flaccus.  Seine  Methode 
war  eine  charakteristische,  sie  ging  auf  Erregung  des  Ehrgeizes  der  Ler- 
nenden hinaus,  zu  dem  Zweck  veranstaltete  er  Wettkämpfe  mit  Preis- 
verteilungen unter  seinen  Schülern;  die  Sieger  erhielten  ein  kostbares  oder 
seltenes  Buch.  Zuletzt  wurde  er  sogar  als  Prinzenerzieher  an  den  kai- 
serlichen Hof  berufen,  wo  er  den  Unterricht  der  Enkel  des  Augustus 
Gaius  (20  v.  Ch. — 4  n.  Ch.)  und  Lucius  (17  v.  Ch. — 2  n.  Ch.)  leiten  sollte. 
Verrius  verlegte  daher  seine  Schule  in  den  kaiserlichen  Palast;  er  durfte 
aber  fortan  keine  neuen  Schüler  mehr  aufnehmen;  entschädigt  wurde  er 
jedoch  durch  ein  hohes  Honorar,  100,000  Sesterzien  im  Jahre.  Allein  Ver- 
rius war  nicht  bloss  ein  ausgezeichneter  Lehrer,  sondern  er  war  auch  ein 
hervorragender  Philologe.  Um  Grammatik  und  Erforschung  des  antiken 
Lebens  hatte  er  sich  hohe  Verdienste  erworben.  Leider  sind  diese  Schriften 
fast  alle  verloren  gegangen,  nur  eine  ist  handschriftlich  überkommen,  von 
einer  andern  haben  sich  Überreste  auf  Steinen  erhalten.  Wir  meinen  den  von 
ihm  zusammengestellten  Kalender,  den  er  in  Marmortafeln  eingraben  und 
auf  dem  Forum  in  Praeneste  aufstellen  liess  (Fasti  Praenestiui).  Es 
ist  eine  sehr  wahrscheinliche  Vermutung,  dass  die  Erläuterungen,  welche 
diesem   Kalender  beigeschrieben   sind,   aus   einem   Handbuch,   einem   ge- 


M.  Yerrina  Flacciui.  215 

schriebenen  Kommentar  des  Verrius  Flaccus  zu  dem  Kalender  ausgezogen 
wurden  und  dass  dieses  jetzt  leider  verlorene  Werk  auch  Ovid  bei  Ab- 
fassung seiner  Fasti  als  Führer  diente.  In  sinnreicher  Weise  hat  man 
späterhin,  um  den  Gelehrten  zu  ehren,  seine  Statue  bei  dieser  Marmortafel 
aufgerichtet.    Hochbetagt  starb  Verrius  unter  der  Regierung  des  Tiberius. 

Die  biographischen  Notizen  verdanken  wir  Säet.  gr.  17.  Die  Fasti  Praene- 
stini  sind  erläutert  von  MoMHSEy  CIL.  1,  363.  Den  Gedanken,  dass  noch  ein  kommen- 
tierter, dem  Ovid  vorgelegener  (§  303)  Bachkalender  des  Verrius  anzunehmen  sei,  macht 
sehr  wahrscheinlich  Wintheb,  De  Fastis  Verrii  Flacci  ab  Ovidio  adhibitis,  Berl.  1885. 

Verlorene  Schriften.  Hier  ist  alles  Nötige  von  0.  MDlleb  p.  XIII  zusammen- 
gestellt worden: 

a)  OrammatiBohes.    Verrius  schrieb: 

1)  De  obscuris  Catonis.  Die  Schrift  wird  lediglich  von  Gellius  17,6  (und  zwar 
das  2.  Buch)  erwähnt.  Dieselbe  ist  in  den  zweiten  Schichten  des  Werks  de  verborum 
significatu  benutzt,  wie  dies  deutlich  der  Vergleich  der  Gellianischen  Stelle  mit  der  Glosse 
Recepticium  servum  erweist. 

2)  De  orthographia.  Gegen  diese  Schrift  richtete  der  Grammatiker  Scribonius 
Aphrodisius,  der  Schüler  und  Sklave  des  Orbilius,  den  die  Gemahlin  des  Augustus,  Scri- 
bonia,  loskaufte  und  freiliess,  eine  heftige  Schmähschrift  (Suet  gr.  19).  Benutzt  ist  diese  Mo- 
nographie bei  Velins  Longus  de  orthogr.  und  andern  Grammatikern. 

3)  Epistulae.  Dass  Verrius  auch  die  Briefform  für  grammatische  Untersuchungen 
wählte,  bezeugt  Serv.  Aen.  8, 423 ;  aus  dieser  Stelle  fällt  ein  Licht  auf  seinen  grammatischen 
Standpunkt,  er  beruft  sich  für  ein  praeceptum  auf  exetnpla,  auctoritcis  und  ratio.  Es  liegt 
also  eine  Vermischung  der  Analogie  und  Anomalie  vor. 

b)  Sakrales.    Hier  ist  anzuführen: 

Saturnus.  Nach  Macrob.  1,4,7  war  in  diesem  namentlich  citierten  „HbeUus**  das 
Fest  der  Satumalia  besprochen. 

Viel  Sakrales,  besonders  nach  der  ätiologischen  Seite,  behandelte  der  Buchkom- 
mentar zum  Kalender. 

c)  HistoriBohea.  Auf  diesem  Gebiet  haben  wir  den  Verlust  von  folgenden  Schriften 
zu  beklagen: 

1)  Rerum  memoria  dignarum  libri.  Das  erste  Buch  erwähnt  Gellius  (4,5). 
Auch  für  Plinius  war  es  allem  Anschein  nach  eine  ergiebige  Quelle,  es  wird  gemeint  sein, 
wenn  Plinius  den  Verrius  Flaccus  in  den  Indices  3,  7,  8,  14,  15,  18,  28,  29,  33,  34,  35 
aufführt.   Damit  stimmt,  was  im  Text  dieser  Bücher  unter  seinem  Namen  vorgebracht  wird. 

2)  Etruscarum  (rerum)  libri.    Schol.  Veron.  zu  Verg.  p.  103  Keil. 

341.  Verrius  Flaccus  de  yerboram  significatu.  Die  einzige,  wenn 
auch  in  Trümmern  uns  erhaltene  Schrift  des  Verrius  Flaccus  sind  die 
ausserordentlich  wertvollen  lexikalischen  Bücher.  Im  Laufe  der  Zeit  hatte 
sich  bei  den  Römern  eine  sehr  reiche  gelehrte  Litteratur  ausgebildet. 
Auf  Sprache,  Kultus,  Staatswesen,  Recht  hatte  sich  die  Forschung  ge- 
worfen. Das  Material,  das  in  vielen  Werken  aufgespeichert  vorlag, 
war  so  weitschichtig  geworden,  dass  der  Gedanke  nicht  ausbleiben  konnte, 
die  veralteten  und  nicht  mehr  recht  verständlichen  oder  selten  ge- 
wordenen Worte  aus  den  verschiedenen  gelehrten  Autoren  auszuheben 
und  mit  Erläuterungen  in  lexikalischer  Anordnung  dem  Leser  darzubieten. 
Diesen  Gedanken  führte  Verrius  Flaccus  durch  in  einem  Werk  mit  dem 
Titel  „De  verborum  significatu^.  Leider  ist  diese  Fundgrube  echter  Gelehr- 
samkeit vom  Schicksal  hart  mitgenommen  worden.  Einem  späteren  Ge- 
schlecht war  das  mit  freigebiger  Hand  ausgestreute  Material  drückend 
geworden,  es  sehnte  sich  nach  Erleichterung.  Pompeius  Festus,  ein 
jüngerer  Grammatiker,  ein  anmassender  Mensch  ohne  besonderes  Wissen, 
brachte  daher  das  umfassende  Werk  in  einen  Auszug  von  20  B.,  er 
merzte  viele  Glossen,  die  sich  auf  ganz  veraltete  Worte  bezogen,  aus 
und  kürzte  die  aufgenommenen.     Weiter  hinaus   ging  seine  Thätigkeit 


216     BOmiaohe  Litteraturgeschiohte.    TL,  Die  Zeit  der  Monarohie.    1.  Abieilong. 

nicht.  Zwar  wollte  er  anfangs  seine  dissentierenden  Ansichten  einschalten, 
allein  er  besann  sich  eines  Besseren  und  sparte  dieselben  für  ein  zweites 
Buch  auf,  das  den  Titel  priscorum  verborum  cum  exemplis  führen  sollte. 
Merkwürdigerweise  widerfuhr  dem  Festus  dasselbe  Los,  das  er  dem  Ver- 
rius  bereitet  hatte,  in  einer  Zeit,  die  noch  weniger  Ansprüche  an  Gelehr- 
samkeit erhob,  wurde  auch  er  zusammengezogen;  es  geschah  dies  Ende  des 
8.  Jahrh.  von  Paulus.  Allein  damit  sind  die  widrigen  Schicksale  des  Yer- 
rius  noch  nicht  erschöpft.  Von  dem  Auszug  des  Festus  ging  uns  die  erste 
Hälfte  verloren,  und  auch  die  zweite  ist  nicht  ohne  Schaden  geblieben. 
Wir  müssen  daher  in  den  ersten  Partien  bei  dem  Epitomator  Paulus  Er- 
satz suchen.  Dies  die  Unglücksgeschichte  des  glossographischen  Werks. 
Aber  auch  noch  im  Innern  des  Werks  verbirgt  sich  ein  Stück  Geschichte, 
nämlich  die  Geschichte  von  der  Genesis  desselben.  Die  Glossen  sind  unter 
die  betreffenden  Buchstaben  des  Alphabets  eingereiht;  innerhalb  der  ein- 
zelnen Buchstaben  heben  sich  aber  deutlich  zwei  Schichten  ab;  in  der 
ersten  werden  die  Glossen  nach  dem  zweiten,  manchmal  auch  noch  nach 
dem  dritten  Buchstaben  zu  Gruppen  vereinigt,  wir  finden  Gruppen  z.  B. 
unter  bo,  ba,  ge  u.  s.  w.  Aber  eine  streng  alphabetische  Anordnung,  wie 
wir  sie  heutzutag  in  unsern  Wörterbüchern  herstellen,  ist  nicht  durch- 
geführt. Auf  diese  Schicht,  die  wir  die  alphabetisch  gruppierte  nennen 
wollen,  folgte  eine  zweite,  welche  dieses  Prinzip  der  Anordnung  nicht 
kennt.  Es  treten  aber  bestimmte  Massen  heraus,  catonische  Glossen,  Er- 
läuterungen von  Werken  der  dramatischen  Dichter,  endlich  Sakrales,  für 
welche  letzte  Partie  sogar  neue  Quellenschriftsteller,  Yeranius,  Labeo 
und  der  Augur  Messalla  erscheinen.  Welches  ist  nun  das  Verhältnis  der 
ersten  Schichten  zu  den  zweiten?  Von  wem  rühren  die  letzten  her? 
Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  von  Verrius  Flaccus  selbst.  Es  sind  die 
Materialsammlungen,  die  er  sich  angelegt,  die  ebenfalls  unter  alphabeti- 
sche Gruppen  gebracht  und  dem  Werk  eingereiht  werden  sollten.  Allein 
diese  Absicht  blieb  unausgeführt,  vermutlich  weil  ihn  der  Tod  mitten  in 
der  Arbeit  überraschte.  Sonach  wären  die  glossographischen  Bücher  des 
Verrius  ein  Werk  seiner  letzten  Lebenszeit,  mit  denen  er  nicht  zu  Ende 
gekommen.  Erst  eine  fremde  Hand  hätte  die  in  bestimmten  Massen  ge- 
schiedenen Materialsammlungen  mit  dem  wenn  auch  nicht  endgültig  ab- 
geschlossenen, doch  relativ  fertig  gewordenen  Bestandteil  vereinigt  und 
so  die  zwei  Schichten  geschaffen,  ein  unharmonisches  Werk. 

Die  Lebenszeit  des  Festus.  Über  die  Zeit,  in  der  Festus  lebte,  sind  wir  auf 
Vermutungen  angeidesen;  Gharisius  citiert  1,220  Porphyrio  ex  Verrio  et  Festo,  Man  wird 
dieses  Citat  dahin  interpretieren  müssen,  dass  bereits  Porphyrio  den  Verrius  in  der  Be- 
arbeitung des  Festus  citierte,  demgemäss  wäre  er  vor  Porphyrio,  der  wahrscheinlich  im 
4.  Jahrh.  (§  265, 1  Anm.)  lebte,  anzusetzen. 

Des  Festus  Verfahren  beleuchtet  folgende  Stelle  (p.  218,  1):  euitia  (sc,  Verrii) 
opinionem  neque  in  hoc  neque  in  aliis  compluribus  refutare  minime  necesse  est,  cum  pro- 
positum  habeam  ex  tanto  librorutn  eius  numero  intermortua  iatn  et  sepuüa  verba  atque 
ipso  saepe  confitente  nullius  usus  aut  auctoritatis  praeterire  et  reliqua  quam  brevissime 
redigere  in  libros  admodum  paucos  '  ea  autem,  de  quibus  dissentio,  et  aperte  et  breviter, 
ut  sciero,  scripta  in  iis  libris  meis  invenientur^  <qui>  inscrtbuntur  priscorum  verborum 
cum  exemplis.    (Nettleship,  Lectures  and  Essays  p.  201.) 

Der  Epitomator  Paulus.  Dass  der  Epitomator  Paulus  identisch  mit  dem  be- 
kannten Paulus  Diaconus  ist,  daran  hat  mit  Recht  gegen  BsTHifAim  Waitz  festgehalten 
(Gott.  Gel.  Anz.  1876  p.  1520).    Vgl.  jetzt  des  weiteren  Neff,  De  Paulo  Diacono  Festi 


Der  Bibliothekar  C.  Julius  Hyginus.  217 

epUomatoref  Leipz.  Dias.  1891.  Die  Exzerpte  ans  Festns  kehren  auch  in  den  übrigen  Schriften 
des  Paulus  wieder  (Neff  p.  35);  dann  zeigt  die  Vorrede  des  Auszugs  die  gleichen  stilisti- 
schen Eigentümlichkeiten  wie  die  übrigen  Schriften  des  Paulus  (Nbff  p.  37);  endlich  spricht 
für  die  Identität  die  Widmung  des  Auszugs  an  Karl  den  Grossen. 

Die  zwei  Teile  des  Werks.  Die  zwei  Schichten  hat  zuerst  0.  Müllbb  erkannt 
(p.  XVI).  Das  Verhältnis  derselben  zu  einander  bestimmt  er  dahin,  dass  er  in  der  zweiten 
Schicht  Zusätze  des  Festus  erblickt,  die  er  aber,  urie  man  aus  seinen  Worten  (p.  XXXI) 
folgern  muss,  nicht  mit  den  verlorenen  Büchern  prisearum  rerborum  als  identisch  erachtet. 
Eine  wesentliche  Verbesserung  erhielt  diese  Hypothese  durch  Hoffkakn  (De  Festi  de 
rerborum  significatione  lihria  qutiest.f  Königsb.  1886);  auch  er  führt  die  zweite  Schicht  auf  Festus 
zurück,  allein  er  betrachtet  sie  lediglich  als  Materialsammlungen  für  die  angekündigten  libri 
priscorum  verborum,  nur  durch  einen  Zufall  seien  sie  mit  seiner  Epitome  aus  den  libri  de 
verbarum  aignificatu  vereinigt  worden  (p.  48).  Durch  diese  Formulierung  fand  die  un- 
organische Art  des  ganzen  Werks  zwar  eine  Erklärung,  allein  weder  passt  diese  zweite 
Schicht  zu  den  angekündigten  libri  priscorum  verborum  noch  überhaupt  zu  dem  Bild  des 
Festus,  das  sich  unwillkürlich  aus  der  vorliegenden  Bearbeitung  des  Verrius  Flaccus  heraus- 
gestaltet. Da  nichts  in  diesen  zweiten  Teilen  über  die  Zeit  des  Verrius  Flaccus  hinausführt, 
so  teilt  Rbttzensteik  (Verrianische  Forschungen,  Bresl.  1887  [1  Bd.  4  H.  der  Bresl.  Abb.]) 
dieselben  Verrius  selbst  zu,  eme  Ansicht,  die  zwar  auch  0.  Müllbb  angedeutet,  aber  zu- 
gleich als  weniger  wahrscheinlich  verworfen  hatte  (p.  XXIX).  Mit  Hoffmahn  stimmt  er 
in  der  Annahme  überein,  dass  erst  von  fremder  Hand  die  zweiten  Schichten  hinzugefügt 
wurden,  weiterhin  darin,  dass  er  dieselben  ebenfalls  für  Materialsammlungen  hält.  Reitzbn- 
STEiN  differiert  aber  von  HoFFKAim  insofern,  als  nach  ihm  diese  Exzerpte  des  Verrius  be- 
stimmt waren,  ebenso  alphabetisch  gruppiert  und  in  die  bereits  vorhandene  Sammlung  ein- 
verleibt zu  werden,  ein  Plan,  |der  aber  unausgeführt  blieb. 

Textesgeschichte.  Das  Werk  des  Festus  erhielt  sich  in  einem  einzigen  Codex, 
dem  Famesianus  (s.  XI),  welcher  sich  jetzt  in  Neapel  befindet.  Aber  von  diesem  Codex 
waren  bereits  um  1477,  als  er  in  die  Hände  des  Manilius  Rhallus  kam,  die  Quatemionen 
1 — 7  verloren  gegangen,  so  dass  nur  noch  die  Quatemionen  8.  9.  10.  11.  12.  13.  14.  15.  16 
vorhanden  waren,  welche  von  der  Mitte  des  Buchstabon  M  bis  etwa  zur  Mitte  des  Buch- 
staben V  reichen.  Allein  auch  diesen  fehlten  Blätter,  femer  hatten  die  Ränder  durch 
Feuer  und  Schere  Schaden  genommen.  Es  kam  ein  neuer  Verlust;  die  Quatemionen  8. 
10.  16  verschwanden.  Hier  müssen  wir  auf  die  Abschriften  (z.  B.  des  Angelus  Politianus, 
des  Pomponius  Laetus)  und  die  darauf  basierenden  Ausgaben  zurückgreifen,  welche  damals 
gemacht  wurden.  Von  des  Paulus  zahlreichen  Handschriften  sind  die  wichtigsten  Monac. 
14734  s.  X/XI,  Leidensis-Vossianus  116,  Trecensis  2291  s.  X/XI. 

Ausgabe  von  0.  Müllbb,  Leipz.  1839;  von  dem  Ungarn  Thewkewk,  Post  1889. 

2.   Der  Bibliothekar  C.  Julius  Hyginus. 

342.  Biographisches.  Über  die  Nationalität  des  C.  Julius  Hyginus 
war  im  Altertum  eine  doppelte  Ansicht  vorhanden;  die  einen  hielten  ihn 
für  einen  Spanier,  die  andern  gaben  Alexandria  als  seine  Heimat  an,  und 
wussten  noch  im  Besondern  zu  berichten,  dass  er  von  Caesar  nach  der 
Einnahme  Alexandrias  mit  nach  Rom  genommen  worden  sei.  Vielleicht 
ist  diese  doppelte  Angabe  dadurch  zu  erklären,  dass  Hyginus  in  Spanien 
geboren,  aber  frühzeitig  nach  Alexandria  kam.  Die  Notiz,  dass  er  von 
da  durch  Caesar  nach  Rom  gelangte,  klingt  zu  bestimmt,  um  als  Erfindung 
zu  gelten.  C.  Julius  Hyginus  war  ein  Schüler  des  Polyhistors  Alexander. 
Freigelassener  des  Augustus  wurde  er  später  Vorstand  der  palatinischen 
Bibliothek  und  erteilte  Unterricht;  einer  seiner  Schüler  war  Julius  Mo- 
destus.  Befreundet  war  Hygin  mit  dem  Dichter  Ovid  und  mit  C.  Clodius 
Licinus,  dem  Consul  suffectus  des  J.  4  n.  Ch.,  der  mit  dem  Historiker  (Liv. 
29,  22, 10)  identisch  ist  (§  331,  5). 

Hauptquelle:  Sueton.  gr.  20  C.  Julius  Hyginus,  Augusti  libertus,  natione  Hispanus 
(nonnulli  Alexandrinum  putant  et  a  Caesare  puerum  Romam  adductum  Alexandria  capto) 
studiose  et  audiit  et  imitatus  est  Comelium  Alexandrum  grammaticum  Graecum. 

343.  Hygins  landwirtschaftliche  Schriften.  Wir  finden  deren 
zwei  erwähnt,  eine  über   den  Ackerbau  (de  agri   cultura)  und  eine 


218     Bömische  Litteratorgeschichte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

über  die  Bienen  (de  apibus).  Man  hat  die  letztere  Schrift  als  einen 
Teil  der  ersteren  betrachten  wollen,  allein  in  diesem  Fall  passt  d^r  Titel 
„de  agri  cultura''  nicht  mehr,  man  würde  vielmehr  dann  als  Titel  „de  re 
rustica"  erwarten.  Hygin  wird  von  Columella  „ Meister  (paedagogus)'^ 
Vergils  in  der  Landwirtschaft  bezeichnet.  Diese  Bezeichnung  wird  dahin 
zu  erklären  sein,  dass  Vergil  in  seinen  Georgica  die  Schriften  Hygins  als 
Quelle  benutzte.  Ist  dies  richtig,  so  müssen  die  landwirtschaftlichen 
Werke  Hygins  vor  Vergils  Georgica,  also  vor  37/36  fallen  (§  226) ;  da  aber 
diese  in  Varros  landwirtschaftlicher  Schrift,  welche  im  J.  37  herausgegeben 
wurde,  nicht  erwähnt  werden,  so  werden  sie  wohl  um  die  Jahre  37/36 
verfasst  sein;  denn  das  Studium  derselben  wird  doch  der  Vergilischen 
Dichtung  vorausgegangen  sein.  Von  der  landwirtschaftlichen  Schrift  werden 
zwei  Bücher  citiert  (Charis.  p.  142).  Vermutlich  waren  in  diesen  zwei 
Büchern  Ackerbau  und  Kultur  der  Nutzpflanzen  erörtert.  Viehzucht  war 
dagegen,  wie  es  scheint,  nicht  berücksichtigt;  denn  Plinius  citiert  Hygin, 
den  er  sehr  ausgiebig  (10—22)  benutzt  hat,  nicht  als  Quelle  in  dem 
Buche,  in  dem  er  von  den  Haustieren  handelt,  auch  ist  auffallend,  dass 
Vergil  in  der  Lehre  über  die  Viehzucht  im  wesentlichen  Varro  folgt. 
Des  Autors  Quellen  werden  meist  Griechen  gew^en  sein;  auf  Nicander 
deutet  die  von  Columella  11, 3,  62  angeführte  Stelle.  0  Dass  er  aber  auch  di6 
Römer  nicht  verschmähte,  beweist  eine  andere,  ebenfalls  von  Columella  bei- 
gebrachte Stelle  (3, 11,  8),  aus  der  man  ersieht,  dass  für  Hygin  auch  Tremellius 
Scrofa  (§  202)  Fundgrube  gewesen  ist.  Die  Schrift  über  die  Bienen*)  war  die 
erste  lateinische  Monographie  über  diesen  Gegenstand.  Columella  charakteri* 
siert  diese  Schöpfung  als  eine  fleissige  Arbeit,  welche  das  bei  verschiedenen 
Autoren  (natürlich  besonders  Griechen)  zerstreute  Material  gesammelt  habe. 
Weiterhin  teilt  uns  Columella  mit  (9,  2,  5),  dass  Hygin  auch  Dinge  be- 
rührte, welche  mehr  für  den  Naturforscher  als  für  den  Landmann  Interesse 
haben,  endlich,  dass  er  Mythologisches  stark  beigezogen  habe.  Ausser 
Vergil  verwertete  den  Hygin  Plinius  in  den  entsprechenden  Partien  der 
Bücher  11  und  21. 

Die  Schriftsteller,  welche  vor  Hygin  die  Landwirtschaft  behandelten, 
waren  Landwirte;  wenn  sie  auch  Bücher  zu  Hilfe  nahmen,  so  stand  ihnen 
doch  immer  noch  die  Erfahrung  zur  Seite.  Hygin  besass  kein  Gut,  denn  er 
war  so  arm,  dass  er  auf  Unterstützung  befreundeter  Personen  angewiesen 
war.  Er  war  Buchgelehrter  und  als  solcher  schrieb  er  über  landwirtschaft- 
liche Dinge.  Durch  ihn  ward  zum  erstenmal  die  Landwirtschaft 
reine  Buchgelehrsamkeit,  eine  für  diese  Disziplin  verhängnis- 
volle Wendung. 

Columella  zählt  1, 1  die  landwirtschaftlichen  Autoren  auf;  nachdem  er  den  Vergil 
genannt,  fährt  er  fort  (1, 1, 13):  nee  postremo  quasi  paedagogi  eius  meminisse  dedignemur, 
Jülii  Uygini.  9,  2,  1  Hyginus  veterum  auctorum  placita  secretis  dispersa  monumentis  in- 
dustrie  collegU  —  atque  ea,  quae  Hyginus  fahulose  tradita  de  originibus  apum  non  inter- 
misit,  poeficae  mayis  licentiae  quam  nostrae  fidei  concesserim.  —  Reitzenstein,  De  scrip- 
torum  rei  rusticae  libris  deperditis  p.  18  (die  Citate  der  Fragmente  p.  53).  Unobr,  Der 
sog.  Cornelius  Nepos  p.  91.  Reisch  über  die  Monographie  de  apibus  (Comm.  Gryphisw. 
1887  p.  42). 


0  Vgl.  mit  dem  Fragm.  des  Nicander  bei 
Athen.  9, 369  b. 


2)  Colum.  9,13,8. 


Der  Bibliothekar  C.  Jnliiui  Hyginas.  219 

344.  Hygins  philologische  Kommentare.  Wir  haben  Kunde  von 
zwei  Kommentaren  erhalten;  es  sind  dies 

1.  Der  Kommentar  zum  Propempticon  Pollionis  von  Helvius 
Cinna.  Als  Asinius  Pollio  eine  Studienreise  nach  Griechenland  antrat, 
schrieb  Helvius  Cinna  ein  Geleitsgedicht;  in  der  alexandrinischen  Poesie 
waren  ja  solche  Propemptica  nicht  ungewöhnlich.  Nun  war  aber  Helvius 
Cinna  durchaus  poeta  dodus^  und  zwar  in  einer  Weise,  dass  seine  Gedichte 
einen  Kommentar  notwendig  machten.  Wie  sein  Hauptwerk  die  Smyrna, 
so  wurde  auch  sein  Propempticon  kommentirt.  Den  Kommentar  zum  letz- 
teren Gedicht  verfasste  Hygin;  eine  Stelle  teilt  Charis.  p.  134  mit,  an  der- 
selben wird  die  Reiseroute  berichtet.  (§  107). 

2.  Der  Kommentar  zu  Yergil  bestand  aus  mindestens  5  Büchern 
(Macrob.  6,  9,  7).  Aus  einem  Auszug  des  Gellius  (10,  16)  erfahren  wir, 
dass  in  diesem  Werk  besonders  Schwächen  der  Aeneis  aufgespürt  waren; 
allein  sie  wurden  nicht  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Feindseligkeit  vor- 
getragen, sondern  der  Grund  der  Unvollkommenheiten  wurde  in  der  Nicht- 
vollendung  der  Aeneis  gesucht.  Wenn,  was  wahrscheinlich,  auch  in  dem 
Kommentar  Hygins  wie  in  dem  betreffenden  Kapitel  des  Gellius  eine 
Reihe  von  tadelnswerten  Stellen  zugleich  behandelt  war,  so  müsste 
man  annehmen,  dass  der  Kommentar  nicht  ein  zusammenhängender  war, 
sondern  in  verschiedenen  Kapiteln  verschiedene  Fragen  erörterte.  Auch 
auf  Kritisches  ging  derselbe  ein;  für  eine  Lesart  (Ge.  2, 247)  berief  er 
sich  auf  eine  Handschrift,  welche  aus  dem  Hange  Vergils  stammte  (Gell.  1, 
21).  Diese  Stelle  zeigt  uns  zugleich,  dass  nicht  bloss  die  Aeneis,  sondern 
auch  die  Georgica  Objekt  der  Forschungen  Hygins  waren. 

Die  verschiedenen  Stellen,  in  denen  der  Vergilkommeniar  citiert  ist,  untersucht  im 
einzelnen  Ribbeck,  Proleg.  Vergil.ji.  117.  Leichtfertig  ist  der  Versuch,  den  Boroius  machte 
De  temporibiis  etc.  Halle  1875  p.  27  Anm.,  um  den  Augusteer  Hygin  als  Vergilkommentator 
zu  beseitigen. 

345.  Hygins  historische  und  geographische  Werke.  Die  Citato 
der  Autoren  führen  auf  folgende  Schriften: 

1.  Über  berühmte  Persönlichkeiten  (de  vita  rebusque  in- 
lustrium  virorum).  Unter  diesem  Titel  findet  sich  ein  Gitat  bei  Gellius 
1, 14, 1;  es  wird  dort  das  6.  Buch,  in  dem  die  Rede  von  C.  Fabricius  war, 
angeführt.  Allein  bei  Asconius  p.  12  KS.  kommt  ein  „liber  prior"  eines 
Werks  Hygins  »de  viris  claris*  vor.  Es  fragt  sich,  wie  sich  beide  lite- 
rarische Produkte  zu  einander  verhalten.  Da  offenkundig  die  Materie  in 
beiden  dieselbe  ist,  so  wird  man  das  letztere  aus  zwei  Büchern  bestehende 
als  einen  Auszug  aus  dem  ersteren,  mindestens  6  Bücher  umfassenden  an- 
zusehen haben.  Der  Vorgang  Varros  wird  hier  bestimmend  eingewirkt 
haben. 

Die  Hypothese  Üngers,  das  unter  dem  Namen  des  Cornelius  Nepos  bekannte  Feld- 
hermbuch  sei  von  Hygin,  ist,  wie  wir  §  124  gesehen  haben,  nicht  haltbar;  auch  seine 
Konstruktion  des  Hygin'schen  Werks  (I  de  historicis  graecis;  II  de  historicis  romanis; 
III  de  regibus  graecis;  lY  de  regibus  romanis;  Y  de  imperatoribus  graecis  (das  Feldherrn- 
buch); YI  de  imperatoribus  Romanis;  YII  de  Romanis  in  toga  claris)  ist  nicht  möglich; 
ebenso  ist  die  Ansicht,  dass  von  Asconius  nur  ein  besonderer  Teil  des  ganzen  Werks 
(die  Nr.  Y  und  YI)  citiert  werde,  unrichtig  (der  sog.  Cornelius  Nepos  p.  222  fg). 

2.  Exempla.  Unsere  Kenntnis  dieser  Schrift  beruht  auf  einer  ein- 
zigen Stelle,  Gell.  10,  18,  7,  in  der  von  dem  Wettkampf  erzählt  wird,  den 


220    Römische  Litteratnrgeschichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Artemisia  zu  Ehren  des  Mausolus  veranstaltete,  und  zu  dem  sich  Theo- 
pompus,  Theodectes,  Naucrates  einfanden. 

3.  De  familiis  Troianis.  Es  ist  bekannt,  dass  mit  der  Äneassage 
sich  auch  das  Bestreben  vornehmer  römischer  Familien  verband,  ihre  Stamm- 
bäume auf  trojanische  Helden  zurückzuführen.  Die  Geschichtschreibung 
unterstützte  vielfach  dieses  Streben,  bereits  Varro  hatte  über  die  trojani- 
schen Familien  geschrieben  (§  187).  Nach  Servius  Aen.  5,  389  wurde  die 
Hygin'sche  Monographie  von  Vergil  zu  Rat  gezogen. 

4.  Urbes  Italicae.  Aus  Servius  und  Macrobius  erhalten  wir  Frag- 
mente einer  Schrift  über  die  italischen  Städte.  Soweit  sich  nach  diesen 
Fragmenten  ein  Schluss  machen  lässt,  war  die  mjrthische  Seite  der  Be- 
trachtung stark  vorgekehii.  An  einer  Stelle  (Macrob.  1, 7, 19)  wird  als  sein 
Gewährsmann  Protarchus  von  Tralles  genannt.  Vermutlich  schöpfte  er 
viel  aus  dem  verwandten  Werk  «Italisches^  seines  Lehrers  Alexander 
Polyhistor. 

Eine  Schwierigkeit  bildet,  dass  Plinius  nicht  bloss  für  das  dritte  Buch,  welches  die 
Geographie  von  Italien  darstellt,  sondern  auch  für  das  vierte,  fünfte  und  sechste,  in  denen 
er  andere  Länder  durchgeht,  Hygin  unter  den  Quellen  anführt.  Demnach  glaubt  Unoeb 
(Der  sog.  Cornelius  Nepos  p.  211)  im  Anschluss  an  Bursian  (Fleckeis.  J.  93, 768  Anm.  14), 
dass  nur  das  zweite  Buch,  das  Macrobius  mit  den  Worten  in  libro  secundo  urbium  er- 
wähnt, sich  auf  die  italischen  Städte  bezog,  in  den  übrigen  Büchern  die  Städte  anderer 
Länder  behandelt  waren.  Allein  dem  widerspricht  das  ausdrückliche  Zeugnis  des  Servius 
Aen.  7,  678  de  civitatibus  totiua  orbis  muUi  quidem  ex  parte  scripserunt,  ad  pJenum  tarnen 
Ptolemaeus  graece,  latine  Plinius.  de  Italicis  etiam  urhibus  Uyginus  plenissime  scripsU 
et  Cato  in  originibus;  apud  omnes  tarnen^  si  diligenter  advertas,  de  auctoribus  conditarum 
urbium  dissensio  invenitur,  ade<^  ut  ne  urbis  quidem  Romae  origo  possit  diligenter  agnosei. 
Diesem  bestinmiten  Zeugnis  gegenüber  kann  jene  Anführung  Hjgins  für  andere  Länder  als 
Italien  bei  Plinius  nicht  in  die  Wagschale  fallen,  da  hier  der  Autor  auch  für  Nebensäch- 
liches verwertet  sein  konnte. 

846.  Antiquarische  Schriften.  Schon  die  Bücher  über  die  troja- 
nischen Familien  und  über  die  italischen  Städte  griffen,  wie  es  scheint, 
stark  ins  antiquarische  Gebiet  über.    Bein  antiquarischen  Charakters  sind: 

1.  Über  die  Eigenschaften  der  Götter  (de  proprietatibus 
deorum).  Nur  aus  Macrobius  (3, 8,  4  und  3, 2, 13,  an  welcher  Stelle  „Hyllus" 
MoMMSEN  in  «Hyginus''  verbessert),  bekannt. 

2.  Über  die  Penaten  (De  dis  Penatibus),  ebenfalls  nur  durch 
eine  Stelle  des  Macrobius  (3,  4, 13)  zu  unserer  Kenntnis  gekommen. 


Obwohl  Hygin  so  viele  Gebiete  bebaut,  ist  er  doch  in  keinem  bahn- 
brechend gewesen;  er  lehnt  sich  stets  an  Muster  an;  so  ist  ihm  für  das 
Buch  »über  berühmte  Personen"  und  die  „Beispiele**  Cornelius  Nepos  voran- 
gegangen; eine  Monographie  über  die  trojanischen  Familien  hatte  auch 
Varro  verfasst,  in  seiner  Geschichte  der  Italischen  Städte  konnte  er  sich  an 
seinen  Lehrer  anschliessen,  seine  sakralen  Schriften  hatten  ihr  Vorbild  in 
Werken  Varros  und  des  Nigidius  Figulus,  in  den  landwirtschaftlichen 
Büchern  scheint  er  besonders  Griechen  gefolgt  zu  sein. 

3.  Der  Mythograph  Hyginus. 

347.  Die  unter  dem  Namen  Hygins  erhaltenen  Schriften.    Von 

den  Schriften,  welche  wir  eben  vorgeführt  haben,  ist  ausser  einigen  Frag- 


Der  Mythograph  Hyginna.  221 

menten  nichts  gerettet;  dagegen  sind  zwei  Werke  auf  uns  gekommen, 
welche  zwar  nicht  den  vollen  Namen,  aber  doch  den  Namen  Hyginus  als 
Autor  geben,  nämlich  ein  astronomisches  und  ein  mythologisches 
Handbuch.  Dass  beide  Werke  wirklich  von  einem  Verfasser  herstammen, 
kann  erwiesen  werden.  In  der  ,  Astronomie*  sagt  der  Verfasser  2, 20  bei 
der  Erwähnung  des  goldenen  Vliesses,  dass  er  darüber  an  einem  andern 
Ort  sprechen  werde.  Dies  ist  in  der  That  in  der  dritten  Fabel  der  My- 
thologie geschehen.  Allein  der  Verfasser  der  Astronomie  weist  noch  auf 
ein  bereits  erschienenes  Werk  hin;  2, 12  sagt  er,  dass  er  „in  primo  libro 
Genealogiarum*^  über  den  erwähnten  Gegenstand  gehandelt  habe.  Mit  diesen 
Worten  erhalten  wir  ein  drittes,  wohl  aus  mindestens  drei  Büchern  be- 
stehendes Werk,  welches  den  Titel  „Genealogiae*  führte.  Aus  den 
Citaten  ergibt  sich  zugleich  die  zeitliche  Reihenfolge  der  drei  Schriften: 
Genealogien,  Astronomie,  Mythologie.  Auch  diese  neugewonnene 
dritte  Arbeit  ist  nicht  verloren  gegangen;  sie  ist  im  Auszug  vorhanden.  Das 
mythologische  Handbuch  enthält  nämlich  auch  Bruchstücke  von  Genea- 
logien, so  z.  B.  gleich  im  Eingang.  Es  ist  daher  eine  sehr  wahrschein- 
liche Annahme,  dass  Hygins  Genealogien  im  Auszug  mit  der  mythologi- 
schen Schrift  verbunden  worden  sind.  Die  Vereinigung  der  beiden  Werke 
wurde  durch  die  Verwandtschaft  des  Inhalts  nahe  gelegt.  Dieselbe  war, 
wie  es  scheint,  bereits  vollzogen,  als  im  J.  207  ein  Lehrer  Stücke  daraus 
ins  Griechische  übersetzte;  denn  das  für  seine  Übersetzungen  benutzte  Werk 
wird,  „als  die  allen  bekannte  Genealogie*  bezeichnet;  dasselbe  enthält 
aber  auch  Stücke  von  nicht  genealogischem  Charakter,  welche  wir  in  un- 
serem Handbuch  nachweisen  hönnen. 

Die  Verweisungen  in  der  Astronomie.  Es  sind  drei  Stellen,  an  denen 
in  der  Astronomie  auf  ein  künftiges  Werk  hingedeutet  wird;  2,  34  aed  quae  post 
mortem  eiua  Diana  fecerit,  in  eius  hiatoriia  dicemus;  allein  hier  hat  Bubsian  p.  766 
mit  Recht  statuiert,  dass  Hyginus  diese  Verweisung  in  voller  Gedankenlosigkeit 
aus  seiner  Quelle  (Istros)  herübergenommen;  2,  12  Euhemerua  quidem  Gorgonam  a  Mi- 
nerva  dicit  interfectam,  de  qua  (die  Überlieferung  schwankt  zwischen  quo  und  qua)  alio 
tempore  plura  dicemus.  Dieses  Citat  will  Bubsian  (p.  763, 5),  indem  er  bei  qua  an  Mi- 
nerva denkt,  gleich  auf  das  folgende  Kapitel  beziehen,  wozu  aber  alio  tempore 
schlecht  passt.  Die  dritte  oben  angeftlhrte  Stelle  2,  20  quem  Hesiodua  et  Phereeydes 
ait  habuisse  auream  pellem,  de  qua  alibi  plura  dicemus  lässt  dagegen  eine  völlig  zutreffende 
Deutung  auf  fab.  3  p.  33  B.  zu.  Wir  müssen  daher  annehmen,  dass  Hygin  damals,  als 
er  die  Astronomie  schrieb,  mit  dem  Plane  eines  dritten  Werks  umging  und  dieses  Werk 
im  Auszug  uns  noch  vorliegt.  Auf  dasselbe  ist  vielleicht  auch  2, 42  zu  beziehen.  (Zweifel 
äussert  DiETZE  p.  24.) 

Die  Genealogien  scheinen  noch  an  einer  anderen  Stelle  citiert  zu  sein:  2, 17 
a  quibus  (nntricibus  nymphis)  eum  (Liberum)  nutritum  et  nostri  in  progenie  deorum  ei 
complures  Graeci  dixerunt;  denn  statt  nostri  ist  mit  Robebt  (p.  234)  wohl  nos  (Schbffeb: 
nos  ipsi)  zu  schreiben.  Infolge  dieser  Korrektur  setzt  Robebt  das  Citat  in  Beziehung  zu 
dem  genealogischen  Fragment  182.  —  Vermutungen  über  den  Inhalt  der  wohl  über  zwei  anzu- 
nehmenden (doch  vgl.  Bubsian  p.  762)  Bücher  der  Genealogien  deutet  Bubsian  p.  773  Anm.  24  an. 

Bursians  Ansicht  Die  Anschauung,  dass  in  der  Astronomie  nur  auf  die  Genea- 
logien hingezeigt  werde  und  dass  mit  diesem  Auszug  aus  den  Genealogien  ein  nicht  von 
Hygin  herrührender  Abriss  des  mythologischen  Stoffs  aus  verschiedenen  Quellen  verbunden 
wurde,  dass  demnach  nur  zwei  Werke,  die  Astronomie  und  die  Genealogien,  Hygin  ange- 
hören (vgl.  Bubsian  p.  773),  hat  mit  Recht  Robebt  zurückgewiesen  (Eratosthen.  Cataste- 
rism.  p.  235). 

Die  griechischen  Übertragungen  aus  Hygin.  Die  der  Grammatik  des 
Dositheus  angehängten  Übertragungen  aus  Hygin  ins  Griechische  finden  sich  zusammen- 
gestellt bei  M.  ScHKiDT,  Ausg.  p.  LIV.  Die  einleitenden  Worte  lauten:  Ma^ifii^  xnl 
"AnQi^  vnuxoig  ti^o  y   eiitoy  lentefiß^iwy  'Yyiyov  yByeaXoylay  näaiy  yytoati^y  fABxiyqa^jxt^ 


222     Römisohe  LitieratnrgeBchichte.    II,  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 


T      y 


iv  li  %<soviai  TiXsioysg  UrroQiai  ^iBQfÄrjysvfiivai  iv  rovrtfi  na  ßtßXit^  '  d'Stoy  yaq  xai  ^Ettoty 
opofjLattt  iv  devxiqta  i^enXs^afAey  x.  t.  X.  Der  Übersetzer  war  zugleich  Abschreiber  der  Genea- 
logie. Das  obersetzte  kündigt  er  an,  es  sind  die  Namen  der  Musen,  ihrer  Künste,  ihrer  Lieb- 
haber und  Kinder,  der  12  GöUer,  der  Wochentage,  der  12  Sternbilder  und  dann  eine  R«ihe  von 
Erzählungen,  endlich  ein  Kapitel  über  die  Erfindungen.  Vorhanden  sind  die  Namen  der  Musen 
mit  den  Zusätzen,  der  12  Götter,  der  Wochentage,  der  Sternbilder  mit  Erläuterungen,  die  Ge- 
schichten von  Prometheus,  von  Philyra,  von  Odysseus  und  ein  Fragment  von  den  Qualen  des 
Tantalus.  Diese  Geschichten  stimmen  im  Inhalt  mit  denen  bei  Hygin  Überein,  auch  lassen 
sich  die  Titel  der  übrigen  in  Hygin  aufzeigen,  selbst  das  Kapitel  über  die  Erfindungen 
fehlt  hier  nicht.  Das  was  Über  die  Musen  gesagt  ward,  finden  wir  zwar  jetzt  nicht  mehr 
bei  Hygin,  allein  es  kann  ursprünglich  da  gestanden  haben.  Die  Namen  der  Götter, 
der  Wochentage  und  der  Sternbilder  scheint  der  Übersetzer  aus  anderen  Quellen  hinzuge- 
fügt zu  haben  (Lange  p.  7). 

348.  Hygins  Schrift  de  astronomia.  In  den  Handschriften  ist  das 
Werk  entweder  ohne  Überschrift  überliefert  oder  es  wird  verschieden  be- 
titelt, de  astronomia,  de  ratione  sphaerae,  de  sideribus  u.  a.*)  Von  den 
Herausgebern  wurde  es  Poetica  asfronornica  genannt.*)  In  dem  Archetypos, 
aus  dem  unsere  Handschriften  stammen,  war  das  letzte  Blatt  oder  die 
letzte  Lage  verloren  gegangen.  Mit  der  Zeitrechnung  bricht  die  Schrift 
ab.  Der  Verfasser  beginnt  mit  einer  langen  Einleitung,  in  der  ein  M. 
Pabius,^)  ein  in  der  Grammatik,  Poetik  und  Geschichte  bewanderter  Mann, 
angeredet  wird ;  hier  wird  in  breiter  Weise  dargelegt,  was  alles  dem  Leser 
vorgeführt  werden  soll.  Es  sind  dies  die  Fundamentalbegrifife  der  Astronomie; 
allein  bei  den  Sternbildern  erzählt  Hygin  auch  die  denselben  zu  Grund 
liegenden  Mythen  (2.  Buch),  denen  sich  Angaben  über  Zahl  und  Lage  der 
Sterne,  aus  denen  die  Sternbilder  zusammengesetzt  sind,  anschliessen 
(3.  Buch).  In  diesen  Mythen  folgt  er  vorwiegend  den  unter  Eratosthenes 
Namen  gehenden  xaTa<rT€Qi<rfio(;  ausserdem  benutzte  er  Parmeniskos,  den 
historischen  Schriftsteller  Asklepiades  Tragilensis,  Istros,  Euhemeros,  die 
Dichter  Aratos,  Kallimachos,  Ciceros  Aratea.  Die  Quellen  der  astronomi- 
schen Partien  sind  noch  nicht  genauer  erforscht.  Der  Stil  ist  im  ganzen 
holperig;  charakteristisch  sind  die  fortwährenden  Verweisungen  auf  früheres 
und  späteres. 

Der  Plan  des  Verfassers  ergibt  sich  aus  der  Vorrede:  praeter  nostram  scrip- 
iionem  sphaerae,  quae  fuerunt  ab  Arato  obscurius  dicta,  persecuti  planius  ostenäimus,  ut 
penitus  id  quod  coepimus  exquisisse  videremur  ,  quod  si  veJ  optimis  usus  auctoribus  effeei, 
ut  neque  brevius  neque  vei'ius  d leeret  quisquam,  non  inmerito  fuerim  laudari  dignus  a 
robis,  quae  vel  amplissima  laus  hominibus  est  doctis;  si  minus,  non  deprecatnur  in  hcui 
confectione  nostram  sententiam  ponderari  .  ideoque  maioribus  etiam  niti  laboribus  eogiiamus, 
in  quibus  et  ipsi  exerceamur  et  quibus  volumus  nos  probare  possimus  '  etenim  necessariis 
nostris  hominibus  scientissimis  maximas  res  scripsimus;  non  levibus  occupati  rebus  populi 
captamus  existimationem, 

Verhältnis  der  Astronomie  Hygins  zu  den  xaraffregifffiol  des  Erato> 
sthenes.  Robert  untersuchte  {Eratosth,  Berl.  1878)  das  Verhältnis  Hygins  zu  den  sog. 
xataaiBQiafjLoL  des  Eratosthenes,  welche  er  als  einen  Auszug  aus  einem  grösseren  Werk  des 
Eratosthenes  {KaxttXoyoC)  betrachtet,  wobei  der  Epitomator  die  Anordnung  der  Stern- 
bilder nach  Arat  änderte  (p.  33).  Das  Verhältnis  formuliert  er  so  (p.  2):  exhibet  Hyginus 
ea  quae  hodie  in  Catasterismis  leguntur  fere  omnia  —  ordine  tarnen  ita  differt,  ut,  cum 
Catasterismorum  auctor  Aratum  accurate  sequatur,  hie  orbis  signiferi  sidera  more 
Romano  ah  Ariete  exorsus  in  media  libro  coniunctim  enumeret  atque  septentrionalem 
orbem   antecedere,   meridionalem  sequi  voluerit.     Weiterhin   ist  zu   beachten,   dass   Hygin 


0  Vgl.  BuRSiAN,  Fleckeis.  J.  93,  761. 
Bunte  erachtet  in  der  Wochenschr.  f.  kl. 
Philol.  1889  p.  62  nach  den  einleitenden  Worten 
als  den  ursprünglichen  Titel  «Sphaera". 

^)  Dieser  Titel  verleitete  GOnther  im 


vorliegenden  Handb.  V  1,  p.  79  zu  dem  Irr- 
tum, das  Buch  als  ein  Gedicht  anzusehen. 
')  Wer  dieser  Fabius  ist,  kann  leider 
nicht  ermitt«lt  werden;  Quintilian  ist  es 
nicht.    Vgl.  BuRBiAK  1.  c.  p.  767. 


Der  Mythograpb  Byginiu. 


223 


„Cataaterismos  ampliorea  necdum  in  hanc  hrevitaiem  contractos"  vor  sich  hatte  (p.  3)  — 
aber  nicht  die  xaiaXoyoi  — ,  die  Catasterismi  wurden  im  Laufe  der  Zeit  noch  mehr  ge- 
kürzt. Ausser  den  Catasterismi  hat  Hygin  noch  andere  Quellen  zu  Rat  gezogen ;  es  werden 
viele  Namen  genannt;  ein  Verzeichnis  derselben  liefert  Bunte  in  seiner  Ausgabe  p.  3; 
allein  es  ist  kaum  anzunehmen,  dass  die  genannten  Autoren  alle  selbst  von  Hygin  ein- 
gesehen wurden.  Die  Quellen  des  zweiten  Buchs  hat  Robert  einer  Untersuchung  unter- 
worfen (p.  228  und  231);  die  Resultate  derselben  sind  oben  im  Texte  kurz  angegeben. 

Die  beste  Überlieferung  bieten  der  Codex  Reginensis-Vaticanus  1260  s.  IX,  der 
Codex  in  der  Bibliothek  der  Ecole  de  medecine  in  Montpellier  334  s.  X  (Bubsian,  Sitzungs- 
bericht der  Mttnch.  Akad.  1876  p.  2)  und  der  Dresdensis  183  s.  IX/X.  Unbrauchbar  ist  die 
Ausgabe  von  Buirrs,  Leipz.  1875.  Über  die  Überlieferung  der  Schrift  und  die  Ausgaben 
handelt  sorgfältig  Kaüffvakk,  De  Hygini  memoria  scholüs  in  Ciceronis  Aratnm  Harleianis 
servata,  Breslau  1888  (Bresl.  Studien  3  Bd.  4  H.).  Für  den  Text  der  Schrift  sind  auch 
wichtig  die  Scholien  des  Harleianus  647  s.  IX/X  zu  Ciceros  Aratübersetzung ;  denn  diese 
Scholien  stammen  alle  aus  der  Astronomie  Hygins.  Über  ihren  Wert  äussert  sich  Kauffhann 
also  (1.  c.  p.  2):  scholia  haec  Hyginiana  nan  solum  ad  restituendam  Hygini  memoriam 
tnultum  canferunt,  aed  cum  Hyginum  cum  Ciceronis  Arato  coniunctum  offerant,  ad  utrius^ 
que  libri  astronamici  per  medium  aevum  propagaii  condicionem  inlustrandam  videntur 
apta  .  fluxittae  ea  apparet  ex  archetypo  Hyginiano  ülo  deperdito,  a  quo  noatri  eodicea  originem 
petunt  omnea,  integriere. 

349.  Hygins  mythologisches  Handbuch.  Es  sind  hier  drei  Teile 
auseinander  zuhalten:  1.  die  Auszüge  aus  den  Genealogien;  2.  das  Sagen- 
buch; endlich  3.  die  Indices.  Die  Genealogien  gaben  die  Stammbäume  der 
Götter  und  Heroen;  das  Sagenbuch  erzählt  uns  die  Mythen  aus  den  ver- 
schiedenen Sagenkreisen;  es  ist  dies  der  Hauptbestandteil  des  Buchs.  In 
den  Indices  sind  Zusammenstellungen  nach  den  verschiedensten  Gesichts- 
punkten gemacht,  dieselben  sind  nicht  bloss  der  Mythologie,  0  sondern 
auch  der  Geschichte,  Litteratur,  Kunst  und  Geographie  ^)  entnommen.  Die 
Indices  sind  ein  unorganischer  Anhang,  der  nichts  mit  Hygin  zu  thun  hat; 
dagegen  sind,  wie  oben  dargelegt  worden,  die  Genealogien  und  Sagen  aus 
zwei  Werken  Hygins  zu  einem  Buch  in  der  Weise  zusammengestellt  worden, 
dass  der  Redakteur  auf  die  Genealogien  die  Sagen  folgen  liess.  Beide 
Werke  wurden  aber  nicht  vollständig,  sondern  nur  im  Auszug  mitgeteilt; 
von  den  Genealogien  ist  dies  von  vornherein  klar,  da  ja  dieselben  ursprüng- 
lich aus  mehreren  Büchern  bestanden;  aber  auch  bei  dem  Sagenbuch  ist 
diese  Annahme  wahrscheinlich.  5)  Wie  das  Werk  von  dem  Epitomator  be- 
titelt wurde,  können  wir  nicht  mit  Sicherheit  bestimmen;  dem  griechischen 
Bearbeiter  des  J.  207  n.  Ch.  lag  es,  wie  es  scheint,  unter  dem  Titel  »Ge- 
nealogie" vor;  die  handschriftliche  Überlieferung  kennt  keinen  Titel;  der 
jetzige  „Fabulae**  stammt  von  dem  ersten  Herausgeber  Micyllus.^) 

Das  mythologische  Corpus  war  als  vielbenutztes  Hand-  und  Schulbuch 
im  Laufe  der  Zeit  manchen  Veränderungen^)  unterworfen.  Es  lag  nahe,  in 
dasselbe  neue  Stücke  einzutragen,  wie  dies  z.  B.  innerhalb  der  Indices  ge- 
schehen ist.    Auch  Kürzungen  traten  ein.    So  lässt  sich  von  den  Indices 


'  z.  B.  qui  licentia  Parcarum  ab  inferia 
redierunt;  qui  lade  ferino  nutriti  aunt;  quae 
impiae  fuerunt. 

*)  Z.  B.  oppida  qui  quae  condiderunt  — 
aeptem  aapientea  —  aeptem  opera  mirabilia 
—  inaulae  maximae. 

')  Lange,  de  nexu  p.  9  Anin.  2.  Schmidt, 
Ausg.  p.  XXXVIII.  Dagegen  Bubsian,  Fleck- 
eis. J.  93,  771  , während  der  an  der  Spitze 
stehende  geneäogische  Abschnitt  ein  ganz 


magerer,  dürrer  Aaszug,  gleichsam  das  blosse, 
des  Fleisches  beraubte  Gerippe  eines  grösse- 
ren Werks  ist,  zeigt  die  zwar  nicht  kunst- 
volle, aber  doch,  abgesehen  von  den  Ver- 
derbnissen der  handschriftlichen  Überliefe- 
rung, überall  zusammenhängende  Darstellung 
in  den  einzelnen  fahulae  nirgends  den  Cha- 
rakter eines  Exzerptes.  ** 

^)  Bunte,  Ausg.  p.  19. 

^)  DiBTZE  p.  8  und  p.  18, 


224    Bömiaohe  LitteratnrgOBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


zeigen,  dass  das  Kapitel  über  die  Erfinder  Cassiodor  in  einer  ausführlicheren 
Rezension  vorlag.^)  Auch  unsere  Überlieferung  weist  auf  mehrere  Fassungen, 
eine  längere  und  eine  kürzere  hin.  Ferner  sind  Verschiebungen  eingetreten; 
eine  können  wir  mit  Sicherheit  aufzeigen;  Stück  137  bricht  plötzlich  ab, 
in  Nr.  184  b  wird  der  Faden  wieder  aufgenommen.  Weiterhin  ist  durch 
den  häufigen  Gebrauch  auch  die  Sprache  nicht  intakt  geblieben.  Seltener 
werden  wir  ümdichtungen  des  zu  Grunde  liegenden  griechischen  Originals')  an- 
zusetzen haben.  Dass  aber  auch  solche  vorgekommen  sind,  dafür  dient  als 
Beispiel  die  Erzählung  von  der  Sorge  (220),  welcher  bekanntlich  Herder  den  Stoff 
für  sein  Gedicht  „Das  Kind  der  Sorge*,  entlehnte.*)  —  Das  griechische  Original 
sprach  ohne  Zweifel  von  der  ^QovTtg,  welche  in  Gedanken  verloren  und  spielend 
aus  Thon  ein  Gebilde  schuf.  Sie  bat  Zeus,  demselben  Leben  einzuhauchen. 
Zeus  that  dies,  und  so  entstand  der  Mensch.  Als  nun  aber  die  Frage  auf- 
geworfen wurde,  wer  das  neue  Wesen  besitzen  sollte,  erhoben  ausser 
der  ^QovTi'g  auch  Jupiter  und  die  Erde  Anspruch.  Saturn  wird  als  Schieds- 
richter aufgerufen;  er  entscheidet,  dass  die  Sorge  den  Menschen  während 
seines  Lebens  besitzen  solle,  dass  aber  nach  dem  Tode  der  Geist  des 
Menschen  Zeus,  die  Gebeine  der  Erde  zufallen  sollten.  So  das  griechische 
Original;  der  römische  Bearbeitersetzte  den  Streit  um  den  Besitz  in  einen 
Streit  um  den  Namen  um,  sich  stützend  auf  die  verkehrte  Etymologie 
homo  von  humus.  Allein  durch  die  Aufnahme  dieses  fremden  Elements  in 
die  Sage  wurde  ihr  einheitlicher  Charakter  zerstört.  Dass  durch  die  Über- 
setzung der  (pQovTig  in  cura  das  „Sinnende*'  verloren  ging,  ist  der  Sprache, 
nicht  dem  Übersetzer  zur  Last  zu  legen. 

Das  mythologische  Handbuch  hat  für  uns  einen  sehr  hohen  Wert; 
besonders  der  Teil,  welcher  die  Sagen  enthält,  ist  für  die  Kenntnis  der 
Stoffe  der  griechischen  Tragödie  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel;  auch  die 
Indices  bergen  in  sich  gute  alte  Gelehrsamkeit. 

Überlieferung.  Unser  Text  beruht  auf  einem  jetzt  verlorenen  FrisingenBis,  von 
dem  einige  Fragmente  im  J.  1870  an  den  Tag  traten.  Nach  diesem  Codex  veranstaltete 
Micyllus  die  erste  Ausgabe  im  J.  1535,  auf  welche  die  Rezension  jetzt  angewiesen  ist. 
Für  einige  Stücke  bietet  der  Codex  Strozzianus  der  Germanicusscholien  einen  reineren 
(Robert  p.  215)  und  von  Interpolationen  freieren  (Robert  p.  216)  Text.  Einer  kürzeren 
Fassung  scheinen  anzugehören  die  von  Niebuhr  in  der  Vaticana  entdeckten  Palimpsest- 
blätter,  abgedruckt  bei  M.  Schhidt  p.  XLIX  (vgl.  Dietze  p.  9). 

Ausgaben  von  Bunte,  Leipz.  1857;  M.  ScHinDT,  Jena  1872,  der  eine  neue  An- 
ordnung der  Stücke  durchführt.  —  C.  Lange,  De  nexu  inter  C,  JuHi  Hygini  apera  mytho- 
logica  et  fahularutn  —  librum,  Mainz  1865  (Bonner  Diss.);  hier  werden  bes.  die  Quellen 
des  griecn.  Originals  untersucht.  Bursian  rezensiert  Fleckeis.  J.  93, 761  diese  Schrift,  ^lein 
die  Rezension  hat  sich  zu  einer  selbständigen,  in  alle  Hjnnfragen  tief  eingreifenden  Ab- 
handlung gestaltet.    Tschiassny,  Studia  Hyg.,  Wien  1888;  Dietze,  Quaest.  Hyg.,  Kiel  1890. 

350.  Trennung  des  Bibliothekars  Hygin  und  des  Mythographen 
Hygin.  Nachdem  wir  einen  Hygin  als  Verfasser  einer  Astronomie,  eines 
genealogischen  und  mjrthologischon  Werks  kennen  gelernt  haben,  harret 
noch  das  Problem  der  Lösung,  ob  dieser  Hygin  mit  dem  Grammatiker 
Hygin  aus  der  augusteischen  Zeit  identisch  ist.  Für  die  Identität  liegen 
keine  äusseren  Zeugnisse  vor;  der  Verfasser  der  Astronomie  und  des  my- 
thologischen Handbuchs  heisst  in  der  Überlieferurg  lediglich  Hyginus,  auf 


0  Knaacjk,  Herrn.  16, 589. 

^)  Werth,  De  Graeci  sermonis  vestigiis 


(Schedae  PhiloL,  Bonn  1891  p.  113.) 
>)  Bebnays,  Ges.  Abh.  2,  316. 


Der  Mythograph  Hyginns  225 

der  anderen  Seite  ist  durch  kein  Zeugnis  erhärtet,  dass  der  Grammatiker 
Hygin  jene  Schriften  geschrieben.  Wir  sind  sonach  zur  Entscheidung  der 
Frage  lediglich  auf  innere  Kriterien  angewiesen.  Diese  aber  sprechen  in  jeder 
Hinsicht  gegen  die  Identifizierung.  Der  Mythograph  zeigt  eine  solche  Urteils- 
losigkeit in  der  Übertragung  seines  griechischen  Originals,  wie  wir  sie  einem 
Mann,  der  als  Grammatiker  non  hercle  ignobilis  genannt  wird  und  der  philo- 
logisch-kritische Arbeiten  geliefert,  nicht  zutrauen  können.  Ein  schlagendes 
Beispiel  ist,  dass  er  Astr.  2,  1  die  leichte  Korruptel  AITÜAQN  statt 
AinOAQN  nicht  verbessert  und  in  dem  Mythus  merkwürdigerweise  von 
Ätolern  statt  von  Hirten  redet.  Auch  wenn  das  griechische  Original  heil 
geblieben  ist,  übersetzt  er  missverständlich,  i)  wie  es  ein  Kenner  der  grie- 
chischen Sprache  nicht  thun  kann.  Ein  schlagendes  Beispiel  bietet  die 
Erzählung  nr.  186,  wo  es  heisst  Melanippen  Desmontis  filiam.  Dieses  Des- 
montes  ist  gar  kein  griechischer  Name;  es  ist  durch  ein  Missverständnis 
aus  der  Aufschrift  negi  MeXavinnrfi  trjg  dsaiimtidog  entstanden.  In  der 
Astronomie  zeigt  er  eine  sklavische  Abhängigkeit  von  Eratosthenes.  Wenn 
es  richtig  ist,  dass  dieses  unter  dem  Namen  KaratrtsQitrfiol  gehende 
Werk  seine  jetzige  auf  Zusammenziehung  und  Änderung  der  Reihenfolge 
basierende  Gestalt  nicht  vor  dem  zweiten  Jahrb.  n.  Chr.  erlangt  hat,  so 
kann,  da  diese  Gestalt  schon  bei  der  Vorlage  Hygins  vorauszusetzen  ist, 
wiederum  der  Grammatiker  Hygin  der  Verfasser  nicht  sein.  Wir  unter- 
scheiden daher  den  Bibliothekar  Hygin  von  dem  Mythographen  Hygin.  Über 
den  letzteren  wissen  wir  nichts  als  dass  er  vor  207  n.  Gh.  gelebt  hat. 

Zeit  des  Mythographen  Hygin.  Robert,  Eratosth.  Caiasterism,  p.  35  äussert  sich 
folgendennassen:  postea  Eratosthenis  opus  in  compendium  contractum,  genuinus  ordo  Arateo 
permtUatus  est.  erat  tarn  mythologici  in  ArcUum  commeniarioli  instar;  inscrihehatur  Kaxa- 
otSQiafÄoi,  Eratosthenis  tarnen  praeclarum  nomen  retinuit,  quod  tarnen  ne  ante  alterum  p. 
Chr.  saeculum  factum  esse  reamur,  Catasterismorum  dictio  impedire  videtur  .  .  .  i»  eis 
quae  Hyginum  legisse  necesse  est  insunt,  quae  ne  primo  quidem  p,  Chr.  saeculo  tribuere 
ausint,  sermonis  vitia,  unde  efficitur,  ne  Hyginum  quidem  Uta  aetate  antiquiorem  esse 
posse,  diversum  igitur  esse  Astrologiae  et  Fahularum  auctorem  a  clarissimo  Augusti  Uberto 
ac  bibliothecario  C.  Julio  Uygino.  Auch  Maass  in  seinen  Andlecta  Eratosthenica  (Philol. 
Unters.  6  Heft,  Berl.  1883)  will  die  Catasterismi,  welche  er  dem  Eratosthenes  abspricht, 
in  den  Ausgang  des  ersten  oder  in  den  Anfang  des  zweiten  Jahrh.  n.  Ch.  verlegen  (p.  33 
und  p.  54).  Gegen  den  Beweis,  auf  dem  diese  Ansicht  ruht,  dass  nämlich  die  astronomischen 
Angaben  nicht  zu  der  Zeit  des  Eratosthenes  stimmen,  richtet  sich  die  Abhandlung  Böhmes, 
Rh.  Mus.  42, 286. 

Einen  neuen  Weg,  um  die  Verschiedenheit  der  beiden  Hygine  zu  erweisen, 
schlägt  Unger  ein  (Der  sog.  Cornelius  Nepos  p.  213).  Ausgehend  von  der  von  M.  Schkidt 
p.  XSXl  behaupteten  Benützung  der  Metamorphosen  (8,386  13,891)  und  des  Ibis  (302)  in  dem 
mythologischen  Handbuch  (nr.  148.  107.  123)  kommt  er  zu  der  Schlussfolgerung,  dass  dann 
Hygin  jenes  Werk  nur  im  späten  Lebensalter  geschrieben  haben  könne;  dies  widerstreite 
aber  den  Eingangsworten  der  Astronomie,  nach  denen  jenes  Werk,  wie  das  genannte,  in  die 
Jugendzeit  des  Autors  falle.  Diese  Schlussfolgerung  ist  unhaltbar,  weil  diese  Zeit- 
bestimmung nur  für  die  der  Astronomie  vorausgehenden  Genealogien  Gültigkeit  hat,  nicht 
aber  für  das  .nach  der  Astronomie  geschriebene  Mythenbuch,  dem  die  von  Schxidt  citierten 
Stücke  angehören.  Unoeb  identifiziert  unrichtig  unser  ganzes  Handbuch  mit  den  Genea- 
logien. 

Der  Gromatiker  Hygin.  Ausser  dem  Bibliothekar  Hygin  und  dem  Mytho- 
graphen Hygin  haben  wir  auch  noch  einen  unter  Trajan  lebenden  Gromatiker  Hygin. 
Dass  auch  dieser  nicht  etwa  der  Verfasser  der  Astronomie  (und  Mythologie)  sein  kann, 
föhrt  BüRsiAN,  Fleckeis.  J.  93,  767  aus:  , Vergleichen  wir  den  Abschnitt  von  dessen  (des 
Gromatikers)  Werke   de  limitibus   constituendis,  welcher   von   den   astronomischen 


0  Beispiele  stellt  Bubsian,  Fleckeis.  J.  93, 765  und  784  zusammen, 
Handbuch  der  klus.  Altertumswiascnschan.    vm.    2.  Teil,  15 


226    Römische  Litteratnrgesohiolite.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

Grundlagen  der  Feldmesskunst  handelt  (p.  183  ff.  Lachmann),  mit  der  Astronomie  unseres 
Hyginus  (bes.  grom.  p.  184  f.  mit  astr.  p.  568  f.  und  grom.  p.  186  mit«  astr.  p.  411  f.),  so 
finden  wir  so  bedeutende  Abweichungen  sowohl  in  Hinsicht  auf  die  vorgetragenen  Lehren 
als  auch  namentlich  in  bezug  auf  die  technischen  Ausdrücke,  dass  wir  notwendig  die 
beiden  Werke  als  von  verschiedenen  Verfassern  herrührend  betrachten  müssen.' 

4.  L.  Crassicius. 

351.  Der  Kommentar  zu  Cinnas  Smyrna.  Wir  haben  S.  153 
dargelegt,  dass  das  Mitglied  der  jungrömischen  Dichterschule  G.  Helvius 
Cinna  ein  Epyllion  verfasste,  in  dem  er  in  alexandrinischer  Manier  die 
Liebe  der  Smyma  zu  ihrem  Vater  behandelte.  Neun  Jahre  hatte  er  an 
diesem  Werk  gearbeitet;  man  kann  darnach  vermuten,  welche  entlegene  Ge- 
lehrsamkeit hier  zusammengeströmt  war.  Ein  solches  Gedicht  bedarf  natürlich 
der  Interpretation.  Dieselbe  lieferte  L.  Crassicius  mit  dem  Beinamen  Pasicles, 
später  Pansa  genannt.  Derselbe,  ein  Freigelassener  aus  Tarent,  war  zuerst 
für  die  Bühne  thätig,  indem  er  den  Mimographen  half;  alsdann  dozierte  er 
in  einer  Winkelschule,  da  gab  er  seinen  Kommentar  zur  Smyrna  heraus 
und  mit  einem  Schlag  war  er  ein  berühmter  Mann.  Ein  umlaufendes 
Epigramm  scherzte,  dass  Smyrna  sich  nur  dem  Crassicius  anvertraue, 
dass  es  vergeblich  sei,  sich  um  sie  zu  bewerben,  sie  wolle  sich  bloss  mit 
Crassicius  vermählen,  dem  allein  ihre  grössten  Geheimnisse  bekannt  seien. 
Sein  Unterricht  wurde  jetzt  von  den  Söhnen  hochangesehener  Familien 
aufgesucht;  er  konnte  mit  dem  berühmten  Verrius  Flaccus  in  Wettstreit 
treten.  Da  löste  er  plötzlich  seine  Schule  auf  und  bekannte  sich  zur  Lehre 
der  Sextier  (Suet.  gr.  18).    Vgl.  §  338. 

5.  Q.  Caecilius  Epirota. 

852.  Die  Einführung  der  modernen  Dichtungen  in  die  Vor- 
lesungen. Q.  Caecilius  Epirota,  gebürtig  in  Tusculum,  war  ein  Freigelas- 
sener des  Atticus,  des  bekannten  Freundes  von  Cicero.  Er  unterrichtete 
die  Tochter  seines  Patron,  welche  an  M.  Agrippa  verheiratet  war.  Da 
Verdacht  entstand,  als  ob  er  diese  Vertrauensstellung  missbrauche,  wurde 
er  entlassen.  Der  Elegiker  Cornelius  Gallus  nahm  sich  seiner  an  und  lebte 
mit  ihm  im  vertrautesten  Umgang,  was  dem  Dichter  von  Augustus  sehr 
verübelt  wurde  (§  270).  Nach  dem  Tode  des  Gallus  eröffnete  er  eine 
Schule  mit  einer  von  ihm  sehr  beschränkten  Schülerzahl.  Er  soll  zueilst  in 
lateinischer  Sprache  aus  dem  Stegreif  disputiert  und  Vergil  und  andere 
moderne  Dichter  in  den  {[reis  der  Vorlesungen  eingeführt  haben.  Für  die 
Entwicklung  der  Litteratur  war  dies  letzte  Moment  nicht  ohne  grosse 
Tragweite  (Suet.  gr.  16). 

Andere  Grammatiker  und  Philologen  sind: 

1.  SinniusCapito.  Von  Gellius  werden  Briefe  des  S.  0.  angeführt  z.  B.  an 
Clodius  Tuscus  (5,20,2),  welche  grammatische  Gegenstände  behandeln.  Der  liber  de 
syllabis  (Pompeius  5, 110)  wird  auch  ein  solcher  Brief  gewesen  sein.  Lactantins  citiert 
(Inst.  6, 20, 35)  einen  liber  spectaculorum.  Aus  Hieron.  in  Gen.  3  wird  man  auf  ein 
umfassendes  Werk  über  Antiquitäten  schüessen  müssen.  Bei  Festus  finden  sich  (z.  B. 
p.  325)  viele  Erklärungen  sprichwörtlicher  Redensarten  unter  dem  Namen  des  S.  C,  wahr- 
scheinlich ebenfalls  ein  eigenes  Werk  (vgl.  zuletzt  Reitzensteik,  Verr.  Forsch,  p.  22).  — 
Hebtz,  Sinnius  Gapito,  Berl.  1845. 

2.  CloatiusVerus.    Die  Citate  führen  auf  drei  Schriften:   1.  libri  quos  inscripsU 


M.  Antistins  Labeo  und  C.  Ateins  Capito.  227 

verborum  a  Graecis  iraciorum  (Gell.  16,12,1);  bei  Macrobius  B,  18, 4  in  Uhro  a 
Graecia  tractorum;  2.  Ordinatorum  Graecorum  libri  (Macrob.  3,  6, 2  3,18,8  3,19,2); 
3.  bei  Festas  werden  Erklärungen  aus  dem  römiscben  Sakralwesen  einem  Cloatius  bei- 
gelegt z.  B.  p.  309,  p.  193  u.  8.  w.).  Es  ist  wohl  unser  Cloatius  Veras  und  ein  drittes 
WeÄ  desselben  über  römische  sakrale  Ausdrttcke  anzunehmen. 

3.  Clodius  Tuscus.  Von  ihm  führt  Serv.  Aen.  1,176  1,52  2,229  commentarii 
an;  derselbe  verfasste  auch  einen  astronomischen  Kalender,  welcher  nur  in  der  griech. 
Übersetzung  des  Laurentius  Lydus  de  ostentis  p.  114  W.  erhalten  ist. 

b.  Die  Juristen. 

M.  Antistius  Labeo  und  C.  Ateius  Capito. 

853.  Analogie  und  Anomalie  in  der  Jurisprudenz.  Wir  haben 
oben  (§  77)  gesehen,  dass  zur  Zeit  Cäsars  sich  in  der  Grammatik  ein  Streit 
abspielte,  in  dem  es  sich  um  die  Frage  handelte,  ob  in  der  Sprache  all- 
gemein giltige  Gesetze  zur  Anwendung  kommen  oder  nicht,  mit  anderen 
Worten,  ob  in  der  Sprache  das  Prinzip  der  Analogie  oder  Anomalie  herrsche. 
Auch  bei  der  Darstellung  der  Rhetorik  (§  337)  stiessen  wir  auf  den  gleichen 
Kampf,  auch  dort  wurde  darüber  debattiert,  ob  sich  die  Rhetorik  auf  feste 
unumstössliche  Gesetze  zurückführen  lasse  oder  nicht.  Wie  in  der  Gram- 
matik der  Gegensatz  zur  Bildung  der  zwei  sich  befehdenden  Schulen,  der 
Analogisten  und  Anomalisten  führte,  so  schieden  sich  die  Bearbeiter  der 
Rhetorik  in  die  zwei  Lager  der  Apollodoreer  und  der  Theodoreer.  Es 
wäre  ein  Wunder,  wenn  die  Jurisprudenz  von  diesem  Kampf  unberührt 
geblieben  wäre,  zumal  da  zwischen  der  Behandlung  der  Sprache  und  des 
Rechts  unleugbare  Ähnlichkeiten  vorhanden  sind.  In  der  That  finden  wir 
in  dieser  Zeit  auch  zwei  sich  feindlich  gegenüberstehende  Sekten  der  juri- 
stischen Theoretiker;  das  Haupt  der  einen  ist  M.  Antistius  Labeo,  das 
Haupt  der  andern  C.  Ateius  Capito.  Über  den  Gegensatz  der  beiden 
Schulen  waren  wir  bisher  lediglich  auf  das  Zeugnis  des  Pomponius  in  den 
Digesten  (1,2,2,47)  angewiesen;  hier  wird  Labeo  als  Neuerer,  Capito  da- 
gegen als  Konservativer  auf  dem  Feld  der  juristischen  Doktrin  hingestellt. 
Allein  dieses  Zeugnis  vermag  uns  nicht  völlig  zu  befriedigen,  da  es  nicht 
über  das  innere  treibende  Prinzip,  das  die  beiden  Richtungen  trennte,  Auf- 
schluss  gibt.  Zur  Erkenntnis  desselben  können  wir  auf  direktem  Wege 
nicht  gelangen,  wohl  aber  verhilft  uns  dazu  die  Analogie.  Aus  Festus  s. 
V.  Penatis  ergibt  sich  nämlich  mit  unumstösslicher  Sicherheit,  dass  Labeo 
in  der  Sprache  Analogist  war,  d.  h.  feste  Regeln  und  Gesetze  statuierte.  Ist 
es  nun  denkbar,  dass  dem  Labeo  sich  in  der  Sprache  der  Gegensatz  zwischen 
Analogie  und  Anomalie  aufdrängte,  in  der  Rechtswissenschaft  aber  nicht? 
Es  ist  dies  eine  Unmöglichkeit,  denn  der  Jurist  und  der  Grammatiker 
wandeln  auf  dem  gleichen  Wege;  der  eine  wie  der  andere  sucht  nach 
Regeln,  durch  welche  eine  Mehrheit  einzelner  Erscheinungen  unter  einen  ein- 
heitlichen Gesichtspunkt  gebracht  werden  kann;  beiden  stellen  sich  aber 
Fälle  entgegen,  welche  sich  der  allgemeinen  Regel  nicht  fügen  wollen,  die 
Ausnahmen  in  der  Grammatik,  die  iura  singularia  in  der  Jurisprudenz; 
beiden  muss  also  sich  der  Gegensatz  von  Analogie  und  Anomalie,  von  Ge- 
setzmässigkeit und  Regellosigkeit  in  ganz  gleicher  Weise  fühlbar  machen; 
beide  müssen  in  dieser  Streitfrage  Stellung  nehmen.    Wird  aber  zugegeben, 

15* 


228    Bömische  Litteraturgesohichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

dass  Labeo  in  der  Jurisprudenz  an  jenem  Gegensatz,  der  auch  zu  derselben 
Zeit  das  Gebiet  der  Grammatik  und  der  Rhetorik  beherrschte,  nicht  vorüber- 
gehen konnte,  so  ist  damit  auch  die  Stellung  gegeben,  welche  er  zu  jener 
Kontroverse  einnahm;  der  Mann,  der  die  Grammatik  vom  Gesichtspunkt 
der  Analogie  aus  betrachtete,  kann  natürlich  nicht  die  Rechtswissenschaft 
vom  entgegengesetzten  Standpunkt  aus  behandelt  haben. 

War  aber  Labeo  juristischer  Analogist,  so  musste  sein  Gegner  selbst- 
verständlich juristischer  Anomalist  gewesen  sein.  Mit  einem  Schlage  wäre 
damit  über  die  prinzipielle  Differenz,  welche  beide  Schulhäupter  trennte, 
Licht  verbreitet. 

Dass  ein  Kampf,  wie  der  gekennzeichnete,  viele  Jahre  hindurch  währen  musste,  ist 
klar.  Seinen  relativen  Abschluss  konnte  er  eigentlich  nur  finden,  nachdem  das  R^chts- 
system  aufgestellt  war.  Mit  der  Zeit  traten  die  Urheber  des  Streites  zurück.  Die  Schulen 
wurden  sogar  nach  andern  Häuptern  genannt,  die  Schule  Labeos  nach  Proculus  die  Procu- 
lianer,  die  Schule  Gapitos  nach  Sabinus  und  Cassius  die  Sabinianer  oder  Cassianer. 

Zeugnisse  über  die  beiden  Schulen.  Dig.  1, 2, 2, 47 :  his  (Labeo  und  Gapito)  duo 
pritnum  veluti  diversas  sectds  feeerunt;  nam  Ateius  Capito  in  his,  quae  ei  tradita  fuerant, 
perseverabat;  Labeo  ingenii  qualitate  et  fiducia  doctrinae,  qui  et  ceteris  operis  sapientiae  operam 
dederat,  plurima  innovare  instituit.    Über  ihre  politische  Richtung  vgl.  Tacit.  Ann.  3,  75. 

Labeo  als  grammatischer  Analogist.  Festus  s.  v.  penatis  p.  253  sagt:  Penatis 
singulariter  Labeo  Antistitis  passe  dici  ptitat,  quia  pluraliter  Penates  dicantur,  cum  patiatur 
proportio  etiam  Penas  dici,  ut  optimas,  primas,  Antias.  Wer  den  Nominativ  Singular  eines 
nur  im  Plural  vorkommenden  Wortes  finden  will,  mnss  an  die  Analogie,  d.  h.  an  die  Gesetz- 
mässigkeit der  Sprache  glauben,  er  muss  schliessen:  wie  sich  optimates  zu  optimas,  so  muss 
sich  penates  zu  dem  gesuchten  Nominativ  verhalten ;  er  muss  nach  dieser  Proportion  penas 
sein.  Er  kann  an  der  Hand  der  Analogie  noch  weiter  gehen;  er  kann  schliessen:  wie  sich 
optimatis  zu  optimas  verhielt,  so  verhielt  sich  penatis  zu  penas.  Auf  diese  Weise  gewinnt  er 
den  Nominativ  penatis. 

ScHAifz,  Die  Analogisten  und  Anomalisten  im  röm.  Recht.  Philol.  42,  309;  nicht  durch- 
schlagende Bedenken  gegen  unsere  Auffassung  äussert  ElRüoeb,  Geschichte  der  Quellen 
und  Litteratur  des  röm.  Rechts,  Leipz.  1888  p.  142,  9. 

354.  Die  Schriftstellerei  des  Labeo  und  Capito.  Von  den  beiden 
Schulhäuptern  entfaltete  Labeo  eine  ungleich  reichere  litterarische  Wirk- 
samkeit als  Capito.  Labeo  behandelte  das  Recht  nach  den  verschiedensten 
Seiten  hin,  er  schrieb  theoretische  Untersuchungen,  ferner  Kommentare, 
auch  in  der  Systematik  des  Rechts  war  er  thätig.  Des  Mannes  wissen- 
schaftlicher Reichtum  war  so  gross,  dass  selbst  aus  seinem  Nachlass  ein 
timfassendes  Werk  von  40  Büchern  veröffentlicht  werden  konnte.  Im 
Ganzen  bezifferte  man  den  Umfang  seiner  litterarischen  Produktion  auf 
400  Rollen.  Dem  gegenüber  ist  die  Schriftstellerei  Capitos  fast  ver- 
schwindend. Diese  Erscheinung  erklärt  sich  aus  der  verschiedenartigen 
geistigen  Eigentümlichkeit  der  beiden  Gelehrten.  Labeo  zeigte  in  seinen 
Studien  einen  universellen  Zug,  er  pflegte  ausser  seiner  Fachwissenschaft 
noch  andere  Disziplinen,  die  Grammatik,  die  Altertumskunde  und  die  Dia- 
lektik. Durch  diese  Studien  wurde  sein  Blick  beträchtlich  erweitert. 
Aber  das  Entscheidende  war,  dass  er  an  feste,  unumstössliche  Sätze  in 
der  Jurisprudenz  glaubte,  denn  dieser  Glaube  musste  ihn  zum  positiven 
Schaffen  dringen.  Anders  derjenige,  welcher  von  der  Anomalie  des  Rechts 
ausgeht  und  daher  an  der  Möglichkeit,  zu  allgemein  giltigen  Sätzen  zu 
gelangen,  verzweifelt.  Seine  Aufgabe  wird  sich  negativ  äussern,  er  wird 
dem  Analogisten,  dem  positiven  Schöpfer  des  Rechts  Schwierigkeiten 
machen,  Einwürfe  erheben  und  seinen  Gegner  dadurch  zwingen,  den  Rechts- 


VitrnviuB  Pollio.  229 

Satz  schärfer  zu  formulieren  oder  ihn  durch  einen  zweiten  Rechtssatz 
zu  ergänzen;  allein  er  wird  nichts  oder  wenig  Positives  für  die  Rechtsent- 
wicklung beibringen,  und  dies  scheint  bei  Gapito  der  Fall  gewesen  zu  sein. 

Die  Stadien  Labeos.  Gell.  13,  10, 1  Laheo  Antistius  iuris  quidem  civilis  dis- 
ciplinam  principcUi  studio  exercuit  —  sed  ceterarum  quoque  bonarum  artium  non  expers 
fuit  et  in  grammaticam  sese  atque  dialecticam  litterasque  antiquiores  aUioresquc  penetra^ 
verat  laiinarumque  vocum  origines  ratianesque  perecdluerat,  eaque  praecipue  scientia  ad  eno- 
dandos  plerosque  iuris  laqueos  utebaiur. 

a)  Sohriften  des  Labeo  werden  folgende  erwähnt: 

1)  Pithana  (einleuchtende  Rechtsaxiome).  Dieses  Werk  (8  Bücher)  ist  in 
den  Digesten  in  einem  kritisierenden  Auszug  von  Paulus  benutzt  worden;  es  sind  34  Stellen 
daraus  ausgezogen. 

2)  De  iure  pontificio  (mindestens  15  Bücher),  wissenschaftliche  Durcharbeitung 
der  Pontificalbücher.  An  sechs  Stollen  wird  das  Werk  von  Festus  citiort  (p.  249,  p.  253  (bis), 
p.  348,  p.  351  bis).    Auch  Gell.  1, 12, 1  wird  hieher  gehören  (zweifelhaft  Macrobius  3, 10,4). 

3)  Kommentar  zu  den  XII  Tafeln.  Dieses  Werk  wird  von  Gellius  erwähnt 
(1, 12, 18  20, 1, 13  6, 15, 1),  nicht  aber  in  den  Digesten.  Im  Anschluss  an  die  XII  Tafeln 
wurden  viele  rechtliche  Bestimmungen  gegeben. 

4)  Kommentar  zum  praetorischen  Edict.  Hier  liegt  uns  das  Zeugnis  des 
Gellius  vor  (13, 10,3):  praeterea  in  libris,  quos  ad  praetoris  edictum  scripsit,  muUa  posuit 
partim  lepide  atque  argute  reperta,  sicuti  hoc  est,  quod  in  quarto  ad  edictum  lihro  scriptum 
legimus.  Die  meisten  Citate  Labeos  gehen  auf  dieses  Werk  zurück.  Demnach  ergibt  sich 
als  Bild  des  Kommentars:  „Fassung  und  Bedeutung  des  Ediktes  werden  kritisiert,  seine 
Worte  werden  erklärt,  deren  Sinn  festgestellt,  durch  historische  Exkurse  über  die  Veran- 
lassung des  Gesetzes  und  Beispiele  aus  der  Praxis  erläutert,  das  Ediktsrecht  durch  extensive 
Interpretation  weiter  entwickelt"  (Pernice,  Labeo  1,  55).  Nun  citiert  aber  ülpian  in  den 
Dig.  50, 16, 19:  Labeo  libro  I  praetoris  urbani  und  4,  3, 9, 4  Labeo  Hbro  XXX  praetoris  pere- 
grini.  Wahrscheinlich  ist  aber  dasselbe  Werk  gemeint,  das  in  zwei  Abteilungen  zerfiel, 
den  Kommentar  zum  Edikt  des  Praetor  urbanus,  und  den  Kommentar  zum  Edikt  des 
Praetor  neregrinus  (im  Anhang).  Es  konnte  nun  der  Buchzahl,  welche  durch  das  ganze  Werk 
lief,  auch  der  Name  der  Abteilung  hinzugefügt  werden  (Pemice  Labeo  1,  59). 

5)Libri  epistularum  werden  lediglich  von  Poroponius  in  den  Dig.  41,  3, 30,  1 
citiert,  es  sind  wissenschaftliche  Korrespondenzen  über  Rechtsmaterien. 

6)  Liber  responsorum;  eine  Sammlung  von  Rechtsgutachten,  mindestens  aus 
15  Büchern  bestehend  (Collat.  12,  7, 3). 

7)  Libri  posteriores.  Gell.  13, 10,2  sunt  libri  post  mortem  eius  editi,  qui  Poste- 
riores inscribuntur,  quorum  librorum  tres  continui,  XXXVIII  et  XXXIX  et  XL,  pleni 
sunt  id  genus  rerum  ad  enarrandam  et  inlustrandam  linguam  tatinam  conducentium,  d.  h. 
die  drei  letzten  Bücher  enthielten  sprachliche  und  grammatische  Erörterungen  zur  Er- 
läuterung juristischer  Definitionen,  die  vorausgegaugenen  Bücher  gaben  Untersuchungen 
über  civile  Rechtsinstitute.  Die  Citate  gehen  in  den  Digesten  nicht  über  das  37.  Buch 
hinaus,  sie  stammen  aus  zwei  Auszügen  Javolens,  von  denen  der  eine  durch  Labeo  libro 
—  Posteriorum  a  Javoleno  epitomatorum,  der  andere  durch  Javolenus  libro  —  ex  posterio- 
ribus  Labeonis  eingeführt  wird  (PEsiacE,  Labeo  1,  69). 

Nicht  sicher  ist,  ob  Labeo  einen  Kommentar  zum  ädilicischen  Edict  (wegen  Dig. 
21, 1, 1)  und  eine  Erläuterung  zur  lex  Papia  Poppaea  geschrieben  (wegen  24, 3,  64,  9).  Vgl. 
PERincE,  Labeo  1,66. 

b)  Sohriften  des  Capito  sind  zu  unserer  Kenntnis  folgende  gekommen: 

1)  Coniectanea  (aus  mindestens  8  Büchern  bestehend).  Das  8.  Buch  hatte  den 
Spezialtitel  „de  iudiciis  publicis",     (Gell.  4,  14, 1.) 

2)  De  pontificio  iure  in  mindestens  7  Büchern.    (Gell.  4,6,10  Fest.  p.  154.) 

3)  De  iure  sacrificiorum  (Macrob.  3, 10,  3). 

4)  De  officio  senatorio.  (Gell.  4, 10,  7).  Aber  vielleicht  bildete  dieser  Tractat  das 
9.  Buch  der  Coniectanea;  denn  dass  in  demselben  über  den  Senat  die  Rede  war,  beweist 
Gell.  14, 7, 12  14,  8, 2. 

5)  Epistulae  (Gell.  13,12,1). 

c.  Die  Techniker. 

Der  Baumeister  Vitruvius  Pollio. 

355.  VitruYS  Werk  über  die  Architektur.  Eine  interessante  Er- 
scheinung in  der  fachwissenschaftlichen  Litteratur  ist  das  Werk  Vitruvs 


230     Bömisohe  latteratorgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

über  die  Architektur,  von  grosser  Wichtigkeit  schon  deshalb,  weil  es  die 
einzige  römische  Schrift  dieser  Art  ist,  welche  uns  überkommen  ist.  Vor 
Vitruv  hatten  zwar  einige  Schriftsteller  auch  auf  diesem  Gebiet  ihre  Kräfte 
versucht,  zuerst  Fuficius,  dann  Yarro  in  seiner  Encyklopädie,  endlich  Publius 
Septimius  (p.  160, 8).  Allein  diese  Schriften  sind  vermutlich  vielfach  lücken- 
haft gewesen.  Das  Fach  der  Architektur  in  vollem  Umfang  scheint  unter 
den  Römern  allein  Vitruv  dargestellt  zu  haben.  Wenigstens  unterlässt  er 
nicht,  mehrfach  hervorzuheben,  dass  er  die  „umherirrenden''  Teile  der 
Baukunde  zu  einem  Ganzen  vereinigt  habe  (p.  2, 15  p.  83, 15).  Vitruv  schrieb 
als  Fachmann,  denn  er  erbaute  eine  Basilika  in  der  Colonia  Fanestris 
(p.  106, 12)  und  unter  Augustus  hatte  er  mit  zwei  andern  Baumeistern  die  Kon- 
struktion der  Wurfmaschinen  und  Wurfgeschosse  zu  leiten  und  bezog  für 
seine  Thätigkeit  eine  Besoldung,  welche  ihm  auch,  wie  man  nach  seinen 
Worten  schliessen  muss,  als  Pension  weitergewährt  wurde.  Wies  dies 
schon  auf  engere  Beziehungen  zum  Hofe  hin,  so  sprechen  auch  andere 
Anzeichen  für  dieselben.  Der  Baumeister  war  bereits  mit  Caesar  bekannt 
(p.  59, 16  p.  203, 11),  dann  konnte  er  sich  auch  der  Empfehlungen  von  Seite  der 
Schwester  des  Augustus,  der  Octavia,  rühmen  (p.  2,  7).  Da  Augustus  dem 
Bauwesen  eine  besondere  Sorgfalt  angedeihen  Hess,  so  fasste  Vitruv  den 
Plan,  seiner  Dankbarkeit  dadurch  Ausdruck  zu  geben,  dass  er  dem  Kaiser 
sein  Werk  widmete.  Als  er  dasselbe  schrieb,  war  er  schon  hochbetagt, 
denn  er  klagt,  dass  das  Alter  seine  verheerende  Wirkung  an  seiner  Person 
ausübe  und  seine  Gesundheit  geschwächt  sei  (p.  32, 23).  Die  Abfassung  er- 
folgte nach  der  Erbauung  des  Quirinustempels,  16  v.  Ch.  (70,  4)  und  vor 
der  Errichtung  eines  zweiten  Steintheaters,  13  v.  Ch.  (p.  71,  3).  Sein  Werk 
schliesst  weit  mehr  in  sich  als  wir  heutzutage  unter  der  Architektur  verstehen ; 
nicht  bloss  Hoch-  und  Tiefbau  werden  abgehandelt,  sondern  auch  die  ge- 
samte Maschinentechnik.  Die  Gliederung  ist  folgende:  In  den  ersten  sieben 
Büchern  ist  von  den  Bauten  im  engeren  Sinn  die  Rede,  im  achten  von 
der  Beschaffung  des  Wassers,  im  neunten  von  der  Konstruktion  der  Uhren, 
endlich  im  zehnten  von  dem  Maschinenwesen.  In  dem  Hauptteil  über  die 
Architektur  erörtert  das  erste  Buch  die  Grundlagen  der  Baukunst  und  der 
Städteanlagen,  das  zweite  die  Baumaterialien,  das  dritte  und  vierte  die 
Tempelbauten,  das  fünfte  den  Bau  der  profanen  Gebäude,  der  Theater, 
Bäder,  das  sechste  die  Privatgebäude,  das  siebente  den  Verputz.  Auf 
seine  Gliederung  des  Stoffs  legt  der  Autor  hohen  Wert  und  er  wird  nicht 
müde,  zu  Anfang  und  zu  Ende  der  einzelnen  Bücher  Rekapitulationen  an- 
zubringen. Charakteristisch  sind  auch  die  Einleitungen  zu  den  einzelnen 
Büchern,  da  sie  besonders  das  Wissen  verherrlichen.  In  Bezug  auf  die  Dar- 
stellung will  Vitruv  Kürze  und  Gedrungenheit  anstreben  (p.  103, 22  p.  104, 18), 
für  den  Ausdruck  nimmt  er,  da  er  als  Architekt,  nicht  als  Rhetor,  nicht 
als  Grammatiker,  nicht  als  Philosoph  schreibe  (p.  11,  3),  die  Nachsicht  des 
Lesers  in  Anspruch.  Allein  von  einzelnen  Wendungen  abgesehen  bietet 
die  Diktion  keine  sehr  erheblichen  Anstösse  dar  und  der  Fluss  der  Rede 
geht  ruhig  dahin.  Seinen  Stoff  schöpft  er  aus  eigener  Erfahrung  (p.  204, 5 
p.  269, 10)  und  dem  genossenen  Unterricht  (p.  91, 12  p.  269, 11),  zum  grössten 
Teil  aber  aus  den  griechischen  Fachschriftstellern.  Öfters  nennt  er  diese  aus- 


VitrnyiaB  Pollio. 


231 


diücklich  als  seine  Quellen,  in  der  Einleitung  zu  dem  siebenten  Buch  (p.  158, 13) 
teilt  er  einen  grossen  Katalog  von  solchen  griechischen  Schiiftstellern  mit, 
der  uns  mit  Erstaunen  über  die  Fruchtbarkeit  der  Griechen  auch  auf 
diesem  Gebiet  erfüllt.  Allein  es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass  Yitruv  alle 
diese  Schriften  gelesen,  wenn  er  sich  auch  so  ausdrückt;  er  wird  jene 
Zusammenstellung  bereits  in  einer  seiner  Quellen  vorgefunden  haben.  Auf 
der  anderen  Seite  ist  es  aber  auch  unwahrscheinlich,  dass  Yitruv  sich  auf 
das  Ausschreiben  eines  Werkes  wie  z.  B.  des  Varro  beschränkte;  da  er  in 
jener  Vorrede  heftig  gegen  die  Plagiatoren  loszieht,  so  würde  er  sich  ja 
ganz  unnötiger  Weise  selbst  das  Urteil  gesprochen  haben.  Die  verßchiedenen 
von  ihm  behandelten  Zweige  seiner  Disziplin  machten  ohnehin  eine  Mehrheit 
der  Quellen  notwendig.  Über  das  Materielle  der  Leistung  vermag  nur  der 
Sachkenner  ein  massgebendes  urteil  zu  fallen,  es  wird  öfters  über  die  Un- 
klarheit der  technischen  Vorschriften  Klage  geführt  0  und  in  dieser  Hin- 
sicht ist  es  besonders  zu  bedauern,  dass  die  Zeichnungen,  die  er  zur  Er- 
läuterung seinem  Werk  beigegeben  (p.  80, 5  p.  214, 4  p.  215, 8),  sich  nicht  er- 
halten haben.  Trotz  alledem  müssen  wir  dem  Autor  dankbar  sein,  dass  er  uns 
eine  ganz  neue  Welt  mit  einer  Fülle  von  Problemen  erschlossen  hat.  Selbst 
der  Laie  empfängt  eine  Reihe  von  interessanten  hochwichtigen  Anregungen 
aus  dem  Buch  und  liest  nicht  ungern  die  eingestreuten  Erzählungen. 
Auch  für  die  Person  des  Autors  erwärmt  uns  die  Lektüre.  Es  freut  uns 
zu  sehen,  welche  hohe  Anforderungen  er  an  seinen  Beruf  stellt  (p.  3, 12),  wir 
gewahren  nicht  ohne  Rührung,  dass  auch  dieser  schlichte  Baumeister  von 
dem,  was  die  edelsten  Geister  des  Altertums  gefangen  hielt,  von  der  Liebe 
zum  Nachruhm  tief  ergriffen  ist.  Die  äusseren  Güter  achtet  er  weniger, 
ihn  hebt  die  Hoffnung,  dass  er  durch  sein  Werk  seinen  Namen  der  Nach- 
welt überliefern  werde  (p.  133,  6  u.  9);  diese  Hoffnung  hat  ihn  nicht  be- 
trogen. 

Namen  des  Autors.  Die  Handschriften  des  Werkes  nennen  ihn  Vitruvius,  die 
Epitome  Vitmvius  Pollio. 

Gliederung,  p.  15, 5  partes  ipsius  architecturae  sunt  tres,  aedificatio,  gnomonice, 
machinatio.  Mit  dieser  Gliederung  steht  die  Einteilung  des  Werkes,  welches  der  Be- 
schaffung des  Wassers  ein  eigenes  Buch  widmet,  nicht  im  Einklang. 

Quellen,  p.  160, 4  folgen  auf  den  Katalog  die  Worte:  quamtn  ex  commentariis  quae 
utilia  esse  his  rebus  animadverti,  coUecta  in  unum  coegi  corpus^  et  ideo  nuucime  quod  ani- 
madverti  in  ea  re  ah  Graecis  volumina  plura  edita,  ab  nostris  oppido  quam  pauca.  Fu- 
ficius  enim  mirum  de  his  rebus  ni  primus  instUuit  edere  Volumen^  item  Terentius  Varro 
de  navem  disciplinis  unum  de  architectura,  Puhlius  Septimius  duo.  ampHus  vero  in  id 
.  genus  scripiurae  adhue  nemo  incubuisse  videtur,  cum  fuissent  et  antiqui  cives  magni  archi- 
tecti,  qui  potuissent  non  minus  eleganter  scripta  comparare  —  p.  8,  3 :  ideoque  de  veteribus 
architectis  Pytheos,  qui  Prienae  aedem  Minervae  nobiliter  est  architectatus,  ait  in  suis  commen- 
tariis (cf.  p.  90, 23)  —  p.  110, 20  (üher  die  Harmonie)  ut  potero  quam  apertissime  ex  Aristoxeni 
scripturis  interpretabor  et  eius  diagramma  subscribam  finitianesque  sonituum  designabo,  uti 
qui  dUigentius  attenderit  facilius  percipere  possit  -  -  p.  204,  5  ex  his  autem  rebus  sunt  non- 
nuUa  quae  ego  per  me  perspexi,  cetera  in  libris  graecis  scripta  inveni,  quorum  scriptorum 
hi  sunt  auctores  Theophrastos  Timaeus  Posidonios  Hegesias  Herodotus  Aristides  Metro- 
dorus,  qui  magna  vigilantia  et  infinito  studio  locorum  proprietates,  aquarum  virtutes,  ab 
inclinatione  caeli   regionum   qualitcUes   ita    esse  distributas  scriptis   dedicaverunt,  quorum 


')  Er  selbst  sagt  p.  268, 3 :  quantum  potui 
niti  iU  obseura  res  per  scripturam  dilucide 
pronuntiaretur  contendi,  sed  haec  non  est 
facüis  ratio  neque  omnibus  expedita  ad  in- 
teUegendum  praeter  eos  qui  in  his  generibus 


habent  exercitationem  .  quod  si  qui  parum 
intellexerit  ex  scriptis^  cum  ipsam  rem  cog- 
noscetf  profecto  inveniet  curiose  et  subtiliter 
omnia  ordinata. 


232    Bömisohe  Litteratorgesohichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarolue.    1.  Abteilnng. 


secutus  ingresstis  in  hoc  libro  perscripsi  quae  saiis  esse  putavi  de  aqucte  varietatibtis.  Über 
Archimedes  vgl.  p.  206, 9,  p.  5, 27,  über  Berosus  p.  224,  22,  über  Aristarcb  yon  Samos 
p.  225, 19  —  p.  260, 18,  nacodem  er  von  verschiedenen  Apparaten  des  Ktesibios  gesprochen, 
fährt  er  fort:  e  quibus  quae  maxime  täilia  et  necessaria  iudicavi  selegi,  et  in  priore  volu" 
tnine  de  horologiis,  in  hoc  de  expressianibus  aquae  dicendum  putavi.  reUqua  quae  non  sunt 
ad  necessitatetn  sed  ad  deliciarum  voJuptatem  qui  cupidiores  erunt  eius  subtilitatis  ex  ipsius 
Ctesibii  commentariis  pot erunt  invenire,  —  p.  275, 18  quae  sunt  ab  Diode  de  maehinijt 
scripta  quibus  sint  comparationibus  exposui .  nunc  quemadmodum  a  praeceptortbus  aecepi 
et  utilia  mihi  ridentur  exponam. 

Die  Überlieferung  basiert  Rose  auf  die  zwei  Handschriften,  den  Harleianus  2767 
s.  IX  und  den  Gudianus  69  s.  XI.  Hauptausgabe  von  Rose  und  Mülleb-Stbübiivo,  Leipzig 
1867.  Index  Vitruvianus  von  Nohl,  Leipzig  1876.  Übersetzt  und  erläutert  von  Rkbeb, 
Stuttg.  1864.  TERguEM,  La  science  rom,  a  V^poque  d* Auguste,  J^tude  historique  d*aprks  Vitrure, 
Paris  1885. 

Auszug  des  M.  Cetius  Faventinus.  Das  Werk  desVitruv  wurde  auch  in  einen 
Auszug  gebracht;  in  mehreren  Handschriften  führt  derselbe  den  Titel:  De  diversis  fabrici» 
architectonicae  ohne  Nennung  eines  Autors;  dagegen  ist  in  einer  Wiener  und  in  einer  Schlett- 
stadter  Handschrift  die  Epitome  überschrieben:  M.  Ceti  Faventini  artis  architectonicae  pri- 
vatis  usibus  adhreviatus  Über.  Es  ist  sonach  nicht  zweifelhaft,  dass  M.  Cetius  Faventinus 
der  Verfasser  der  Epitome  ist.  Das  Ziel  derselben  ist,  das  für  Privatbauten  Notwendigste 
zusammenzustellen;  p.  311,  25  quantum  ad  privatum  usum  spectat ^  necessaria  huic  libelio  ordi- 
navimus;  civitatum  sane  et  ceterarum  rerum  institutiones  praestanti  sapientiae  memorandas 
reliquimus.  Sein  Gewährsmann  ist  Vitruv;  nur  in  dem  29.  Kapitel  fliesst  eine  andere  Quelle. 
(Der  am  Schluss  über  die  maltha  beigefügte  Traktat  ist  jüngeren  Ursprungs  und  hat  mit 
Faventinus  nichts  zu  thun.)  Er  befolgt  aber  nicht  die  Anordnung  Vitruvs,  sondern  geht 
hierin  seine  eigenen  Wege.  Über  die  Zeit  des  Epitomators  gibt  sein  Verhältnis  zu  Palladius 
einigen  Aufschluss.    Auch  Palladius  macht  nämlich  in  einer  Anzahl  von  Kapiteln  Auszüge 

aus  Vitruv.  Allein  diese  Kapitel  zeigen  eine  auffallende  Übereinstimmung  mit  Faventinus, 
80  dass  entweder  der  eine  von  dem  andern  abhängt  oder  beide  aus  einem  und  demselben 
Auszug  aus  Vitruv  stammen.  Die  letzte  Annahme  ist  ausgeschlossen  durch  die  Eingangs- 
worte des  Epitomators:  De  artis  architectonicae  peritia  multa  oratione  Vitruvius  Polio  aliique 
auctores  scientissime  scripsere  .  verum  ne  longa  eorum  disertaque  facundia  humVioribus  in- 
geniis  alienum  faceret  Studium,  pauca  ex  his  mediocri  licet  sermone  privatis  usibus  ornare 
fuit  consilium.  Diese  Worte  deuten  nicht  auf  eine  Epitome  einer  Epitome,  sondern 
auf  die  Konstituierung  einer  solchen  hin.  Bezüglich  der  ersten  Annahme  aber  ist  zu  be- 
merken, dass  Faventinus  einige  Kapitel  mehr  hat,  so  dass  er  also  nicht  allein  aus  Palladius 
hätte  schöpfen  können,  sondern  neben  Palladius  auch  noch  Vitruv  direkt  hätte  benützen 
müssen;  eine  solche  Annahme  ist  von  vornherein  unwahrscheinlich  und  wird  auch  nicht 
durch  die  Eingangsworte  gestützt.  Da  umgekehrt  Palladius  alles  aus  Faventin  entnehmen 
konnte,  so  wird  die  offen  vorhandene  Übereinstimmung  beider  dadurch  zu  erklären  sein, 
dass  dem  Palladius  die  Epitome  des  Faventin  für  sein  landwirtschaftliches  Werk  vorlag. 
—  Nohl,  Comment.  Momms.  p.  65.*) 

Hier  möge  auch  angeschlossen  werden: 

Der  Arzt  Antonius  Musa.  Bekannt  ist,  dass  Antonius  Musa  den  an  schwerer 
Krankheit  damiederliegenden  Augustus  durch  Anwendung  des  kalten  Wassers  kurierto 
(Suet.  81  Dio  57,30).  Infolge  dieser  glücklichen  Heilung  win*de  die  Kaltwassermethodc 
Modesache  (Plin.  25,77);  auf  diese  Kur  spielt  Horaz  in  der  15.  Ep.  des  1.  Buchs  an.  Den 
Namen  des  berühmten  Arztes  tragen  mit  Unrecht  einige  Schriften: 

1)  De  herba  betonica,  an  M.  Agrippa  gerichtet; 

2)  De  tuenda  valitudine  ad  Maecenatem,  ein  Fragment. 

Mit  der  ersten  Schrift  sind  in  einigen  Handschriften  zwei  in  Senaren  abgefasste  Gc 
dichte  verbunden: 

1)  Precatio  terrae.  In  diesen  nicht  üblen  Versen  wird  die  Erde  als  die  Allmutter 
verherrlicht  und  zuletzt  angerufen,  den  von  dem  Dichter  angewendeten  Kräutern  die  erhoffte 
Wirkung  zu  gewähren. 

2)  Precatio  omnium  herbarum.  In  diesem  Gedichte  werden  die  Kräuter  selbst 
gebeten,  allen,  denen  sie  verordnet  werden,  die  Gesundheit  zu  verleihen. 


')  Wenn  hie  und  da  Palladius  einen  Aus- 
druck im  Gegensatz  zu  Faventin  mit  Vitruv 
gemeinsam  hat,  z.  B.  1,  9,  wo  er  das  Verbum 
torquere  mit  Vitruv  7, 1  (p.  163)  gebraucht, 
während  Fav.  19  (p.  301)  arcuare  hat,  und 


gleich  darauf  in  pavimento  hinzufügt,  wäh- 
rend Faventin  dies  weglässt,  so  darf  man  viel- 
leicht annehmen,  dass  er  die  eine  oder  die 
andere  Stelle  im  Vitruv  selbst  nachgeschlagen. 


Rückblick.  233 

Auch  diese  Gedichte  können  wir  nicht  mit  Fug  dem  Antonius  Mnsa  beilegen.  — 
Herausgegeben  sind  diese  Senare  von  Riese,  Anthol.  nr.  5  n.  6,  Bahrens,  PLM.  1, 138,  M. 
Schmidt,  Jenaer  Index  lectionum  des  J.  1874. 


356.  Bückblick  auf  die  augusteische  Zeit«  Die  von  uns  zurück- 
gelegte Epoche  Bchliesst  in  sich  die  Blüte  der  römischen  Poesie.  Nicht 
bloss  war  die  dichterische  Produktion  eine  so  grosse,  dass  Ovid  einen 
völligen  Dichterkatalog  seinen  Lesern  vorführen  konnte;  auch  intensiv  ge- 
wann die  Poesie  ungeheuer.  Die  poetische  Technik  erhielt  ihre  feinste 
Ausbildung  und  gelangte  in  die  festen  Bahnen,  wie  sie  nur  ein  fortge- 
setzter Schulbetrieb  schaffen  kann.  Der  poetische  Sprachschatz  wurde 
ausserordentlich  erweitert;  durch  die  vereinten  Bemühungen  der  vielen 
Poeten  bildete  sich  ein  konventionelles  Sprachgut,  das  die  Arbeit  des 
Dichtens  ungemein  erleichterte.  Die  Metrik  wurde  sehr  verfeinert  und  an 
strenge  Normen  gebunden.  Ein  Vergleich  der  Dichtungen  aus  der  Zeit  der 
Republik  und  der  Monarchie  lässt  einen  ungeheueren  Fortschritt  in  sprach- 
licher und  metrischer  Hinsicht  erkennen.  Die  poetische  Schaffenslust  treibt 
an  allen  Zweigen  ihre  Blüten,  nur  an  dem  Baum  der  dramatischen  Poesie 
will  es  nicht  recht  keimen  und  sprossen.  Zwar  werden  auch  zwei  Schö- 
pfungen dieser  Zeit,  die  Medea  Ovids  und  der  Thyestes  des  Varius  als 
Meisterwerke  bewundert,  ferner  taucht  der  merkwürdige  Versuch  auf,  das 
feinere  römische  Nationallustspiel  durch  das  Ritterstück,  die  fabula  trabeata, 
neu  zu  beleben.  Allein  trotzdem  ist  der  Verfall  des  Dramas  unverkenn- 
bar. Dieser  zeigt  sich  einmal  darin,  dass  sich  der  Schwerpunkt  der  sce- 
nischen  Aufführungen  nach  der  Seite  der  gemeinen  Possen,  der  Atellana 
und  namentlich  des  Mimus  zu  verschiebt,  dann  darin,  dass  selbst,  wenn 
Tragödien  der  alten  Meister  gegeben  werden,  auf  die  äussere  Pracht  der 
Darstellung  ein  ungebührliches  Gewicht  gelegt  wird.  *)  Doch  den  schwersten 
Schlag  brachte  der  scenischen  Dichtung  der  Pantomimus^)  bei,  dessen 
Entstehen  in  unseren  Zeitraum  fällt.  Auf  der  Trennung  des  Gesangs  und 
der  Aktion,  dieser  merkwürdigen  Erscheinung  des  römischen  Dramas 
baut  sich  diese  neue  Spielart  auf.  Eine  Handlung  wird  in  eine  Reihe 
von  packenden  Situationen  aufgelöst;  dieselben  werden  in  der  Regel  sämt- 
lich von  einem  einzigen  maskierten  Schauspieler  durch  Aktion,  besonders 
der  Hände  und  des  Kopfes,  dann  durch  Tanz  dargestellt,  während  ein 
Chor  einen  für  jegliche  Situation  passenden  Text  sang.  Die  Pantomimen 
Pylades  aus  Cilicien  und  Bathyllos  aus  Gilicien  sind  die  Schöpfer  dieses 
Spiels.  Ihre  Produkte  unterscheiden  sich  aber  dadurch  von  einander,  dass 
Pylades  seine  Stoffe  der  Tragödie  anpasste,  Bathyllos  dagegen  das  komi- 
sche Genre  pflegte.  Allein  der  tragische  Pantomimus,  der  mit  Vorliebe 
aus  der  Mythologie  schöpfte,  scheint  den  komischen  bald  verdrängt  zu 
haben.  Bei  diesen  scenischen  Aufführungen  war  das  dichterische  Wort 
sehr  untergeordnet;  es  ist  daher  nicht  zu  verwundern,  dass  der  Panto- 
mimus, obwohl  Dichter  wie  Lucan  und  Statins  Texte  für  denselben  lieferten, 
doch  der  Litteratur  ferne  blieb.    Durch  den  Pantomimus  wurde  die  Schau- 


0  Vgl.  die  Klage  des  Horaz  £p.  2, 1, 187.  |      *)  Vgl.  FBiEnairDEB,  Sittengesch.  2«,  447  fg. 


234    Bömische  LitteratorgeBchichie.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie«    1.  Abteilung. 

lust  namentlich  der  Gebildeten  befriedigt;  für  das  Vergnügen  der  grossen 
Menge  sorgten  ausser  der  Posse  noch  die  Wagenrennen,  die  Gladiatoren- 
spiele^  die  Naumachien.  Alles  dies  wirkte  zusammen,  um,  wie  gesagt, 
eine  reiche  Pflege  der  dramatischen  Poesie  zu  verhindern.  Um  so  mehr 
wurden  die  übrigen  Felder  der  Poesie  bebaut.  Besonders  war  es  das 
Epos,  dem  sich  eine  ganze  Schar  von  Dichtern  zuwendete,  seit  Vergil 
durch  seine  Aeneis  das  römische  Eunstepos  geschaffen  und  damit  allen 
späteren  Epikern  ein  unerreichbares  Muster  hingestellt  hatte.  *)  Historische 
und  vornehmlich  mythologische  Stoffe  wurden  um  die  Wette  bearbeitet; 
unter  den  historischen  Themen  nehmen  die  Panegyrici  auf  hervorragende 
Zeitgenossen,  besonders  auf  die  Glieder  des  Herrschergeschlechts  eine  be- 
sondere Stelle  ein.  An  die  Seite  des  Epos  trat  die  poetische  Erzäh- 
lung. Diese  Form  wurde  durch  Ovid  in  seinen  Metamorphosen  auf 
die  höchste  Stufe  gebracht,  indem  sich  Anschaulichkeit  mit  gefälliger, 
leichter  Darstellung  in  wunderbarer  Harmonie  verband.  Auch  das  Lehr- 
gedicht erhielt  in  unserer  Periode  sein  Meisterwerk,  nämlich  Vergils 
Georgica,  in  denen  ein  uns  sympathisch  berührender  Stoff  mit  ungemeiner 
Zartheit  dem  Leser  vorgeführt  wird.  Diesem  ausgezeichneten  Gedicht 
dürfen  sich  Ovids  Liebeskunst  und  sein  Festkalender  an  die  Seite  stellen. 
Ist  dort  auch  ein  frivoler  Stoff  Gegenstand  dichterischer  Behandlung,  so 
nimmt  doch  jeden  die  spielende  Leichtigkeit  der  Darstellung  völlig  ge- 
fangen; dem  Festkalender  hat  aber  die  bewunderungswürdige  Erzählungs- 
kunst des  Dichters  den  schönsten  Schmuck  verliehen.  Gegenüber  diesen 
leuchtenden  Produktionen  konnten  stoffliche  Lehrgedichte  wie  die  des 
Aemilius  Macer,  seine  Theriaka,  Ornithogonia,  Botanik  nicht  durchdringen ; 
sie  gingen  daher  unter.  Selbst  des  Grattius  Gynegetica  würden  wir  keine 
Thräne  nachweinen,  wenn  sie  ebenfalls  in  den  Orcus  hinabgesunken  wären. 
Die  poetische  Plauderei,  die  Satura  wurde  durch  Horaz  neu  kon- 
stituiert. Er  bestimmte  für  sie  den  Hexameter  als  das  gesetzliche  Mass, 
dann  beschränkte  er  sie  mit  Ausschluss  der  Politik  auf  Probleme  des  so- 
zialen und  litterarischen  Lebens.  Neben  der  Satura  erkor  sich  der  Dichter 
noch  den  Brief  zum  Organ  seiner  Plauderei.  Während  sich  die  Satire 
an  das  grosse  Publikum  wendet,  ist  der  Brief  an  eine  einzelne  Person  ge- 
richtet, dadurch  ergibt  sich  aber  in  der  Regel  eine  Verschiedenheit  der 
Darstellung.  Ganz  dasselbe  Verhältnis  herrscht  zwischen  den  Tristia  und 
den  pontischen  Briefen  Ovids.  In  den  Heroides  desselben  Dichters  ist  die 
Briefform  nur  gewählt,  um  die  Schilderung  von  Affekten  bequem  an  einen 
allgemein  bekannten  Vorgang  anzuknüpfen.  Zur  reichsten  Entfaltung  ge- 
langte in  der  augusteischen  Zeit  die  Elegie.  Hier  treten  uns  die  Meister 
Cornelius  Gallus,  Tibull,  Properz,  Ovid  entgegen.  Des  Gallus  Liebeselegien 
sind  uns  leider  nicht  erhalten;  die  drei  andern  Dichter  erschliessen  uns 
die  Möglichkeit,  ganz  verschiedene  Seiten  derselben  Gattung  kennen  zu 
lernen.  Tibull  entzückt  uns  durch  liebevolle  Bilder  des  ländlichen  Still- 
lebens und  des  Liebesglücks,  Properz  durch  die  tiefe,  allerdings  oft  durch 
gelehrtes   Beiwerk   verschleierte   Glut    der   Empfindung,    Ovid   durch   die 


^)  Vgl.  Haube,  De  carminibus  epicis  saeculi  Auguati,  Breslau  1870. 


BückbUck.  235 

rhetorisch  wirksame  Zeichnung  der  Affekte.  Die  römische  Elegie  ruht 
mehr  oder  weniger  auf  dem  Fundament  der  alexandrinischen,  welcher  das 
mythologische  Beiwerk  unentbehrlich  ist.  In  viel  entlegenere  Zeiten  des 
Hellenentums  führen  uns  dagegen  die  lyrischen  Versuche  des  Horaz.  Nach- 
dem er  in  seiner  Jambenpoesie  (den  Epoden)  sich  an  Archilochus  ange- 
lehnt hatte,  hier  übrigens  Muster  auch  unter  den  früheren  römischen  Dichtern 
vor  sich  sah,  machte  er  in  seinen  Oden  den  kühnen  Versuch,  das  alte  les- 
bisch-anakreontische  Lied  in  die  römische  Litteratur  einzubürgern.  Weniger 
glücklich  waren  die  Römer  auf  dem  Gebiet  der  Idylle;  auch  unsere  Epoche 
hat  hier  keine  Leistungen  ersten  Ranges  aufzuweisen,  denn  die  Eklogen 
Vergils  mit  ihren  allegorischen  Anspielungen  vermögen  als  ein  krank- 
haftes Produkt  uns  nicht  zu  erwärmen;  ein  schönes  Kabinetsstück  der 
Kleinmalerei  ist  dagegen  das  Moretum.  Sehr  eifrig  gepflegt  wurde  das 
Epigramm;  als  kleines  Gebilde  eignete  es  sich  vortrefflich  zur  Ausfüllung 
müssiger  Stunden.  Es  wurden  daher  ausserordentlich  viele  Epigramme 
verfasst,  auf  Priapus  waren  soviele  von  verschiedenen  Verfassern  vor- 
handen, dass  dieselben  sogar  zu  Sammlungen  vereinigt  werden  konnten.  Mit 
einem  eigenen  Epigrammenwerk  erschien  Domitius  Marsus  vor  dem  Publikum. 
Gegenüber  dieser  reichen  poetischen  Produktion  steht  die  prosaische 
Schriftstellerei  sehr  im  Hintergrund,  doch  gelangt  auch  die  Prosa  an 
einen  Wendepunkt  ihres  Daseins.  Durch  die  veränderten  rhetorischen 
Studien  wird  der  Sinn  auf  das  Pikante  gerichtet,  der  prosaische  Stil  wird 
dadurch  ein  manierierter.  Von  den  einzelnen  Fächern  hat  die  Geschichte 
die  glänzendsten  Leistungen  aufzuweisen.  Das  Werk  des  Livius,  das  die 
gesamte  römische  Geschichte  in  anmutiger  Weise  erzählte,  hat  tief  in  die 
Entwickelung  der  römischen  Historiographie  eingegriffen.  Neben  derselben 
ist  das  Unternehmen  des  Trogus  Pompeius,  die  erste  Universalgeschichte 
in  lateinischer  Sprache,  rühmend  hervorzuheben.  In  der  Geographie  hat 
die  öffentlich  ausgestellte  Karte  des  M.  Agrippa  eine  Epoche  begründet. 
Ein  entschiedenes  Zurückgehen  ist  in  der  Beredsamkeit  zu  verzeichnen, 
da  sich  dieselbe  infolge  der  politischen  Umgestaltung  vom  Forum  in  die 
Schulstube  flüchtet  und  die  Stelle  des  Redners  jetzt  der  Deklamator  einninmit. 
Die  Philosophie  lässt  in  der  Schule  der  Sextier  die  Spekulation  zurück- 
treten und  weist  einen  entschiedenen  Zug  für  das  Praktische,  für  die  Ge- 
staltung des  Lebens  auf.  Unter  den  Fachwissenschaften  hat  die 
Philologie  tüchtige  und  fleissige  Arbeiter  in  Verrius  Flaccus  und  in 
C.  Julius  Hyginus,  die  Jurisprudenz  leuchtende  Gestirne  in  M.  Anti- 
stius  Labeo  und  in  G.  Ateius  Capito,  die  Baukunde  endlich  eiuen  wackern 
Vertreter  in  Vitruvius  PoUio.  Allein  nicht  bloss  dem  Stofflichen  sind 
die  Studien  zugewendet,  wir  gewahren  auch  tiefere  Spekulation  über  den 
Aufbau  der  einzelnen  Disziplinen.  In  drei  Wissenszweigen,  der  Gram- 
matik, der  Rhetorik  und  der  Jurisprudenz  wurde  die  Frage  erörtert,  ob 
sich  allgemein  giltige  Gesetze  aufstellen  lassen  oder  nicht,  ob  Regel- 
mässigkeit oder  Regellosigkeit  anzunehmen  ist.  An  den  Streit,  der  sich 
in  jener  Frage  erhob,  knüpft  sich  der  wissenschaftliche  Fortschritt  jener 
Disziplinen. 


B.  Vom  Tode  des  Augustus  bis  zur  Regierung  Hadrians 

(14  n.  Ch.  bis  117  n.  Gh.). 

Die  Stellung  der  Regenten  zur  Litteratur. 

367.  Tiberius  (14—37).  Der  Kaiser  Tiberius  war  sowohl  in  der  griechi- 
schen wie  in  der  römischen  Litteratur  sehr  bewandert.  In  der  Rhetorik  hatte 
er  zum  Lehrer  den  berühmten  Gegner  ApoUodors  Theodorus  von  Gadara; 
im  lateinischen  Stil  schloss  er  sich  an  Messalla  Gorvinus  als  Vorbild  an. 
Allein  sein  ungerades  Wesen  führte  ihn  auch  hier  auf  Abwege.  Er  schrieb 
affektiert  und  gesucht  —  daher  wob  er  gern  in  seine  Darstellung  alter- 
tümliche Ausdrücke  ein,  auch  sein  strenger  Purismus  wird  hier  seine 
Wurzel  baben  —  und  haschte  absichtlich  nach  Dunkelheit  und  Zweideutig- 
keit der  Bede.  Von  den  Griechen  gefielen  ihm,  was  auch  charakteristisch 
für  seine  Geschmacksrichtung  ist,  besonders  die  gelehrten  Alexandriner 
Euphorien,  Bhianus  und  Parthenius;  die  Buchgelehrsamkeit  dieser  Dichter, 
besonders  die  Mythologie  zog  ihn  in  hohem  Grade  an,  und  es  ist  be- 
kannt, wie  gern  er  durch  verfängliche  Fragen  aus  diesem  Gebiete  den 
Grammatikern  Fallstricke  legte  (Suet.  70).  Auch  versuchte  er  sich  selbst 
in  griechischen  Gedichten,  worin  er  jenen  Meistern  nacheiferte.  Ausser- 
dem schrieb  er  ein  lyrisches  Gedicht  auf  den  Tod  des  L.  Caesar  in  latei- 
nischer Sprache.  Endlich  gab  es  von  ihm  ein  Memoirenwerk  über  sein 
Leben,  ein  Lieblingsbuch  Domitians,  in  dem  er  der  Wahrheit  frech  ins 
Gesicht  schlug  (Suet.  61). 

Trotz  dieser  litterarischen  Neigungen  Tibers  hatte  doch  die  Litteratur 
unter  seiner  Regierung  eine  sehr  gedrückte  Stellung.  Seinem  misstrauischen 
Charakter  konnte  leicht  jedes  Wort  zum  Stein  des  Anstosses  werden  und 
seiner  Rachsucht  ward  es  schwer,  über  einen  Angriff  hinwegzusehen. 
Zahlreich  sind  daher  die  litterarischen  Verfolgungen,  die  von  ihm  aus- 
gingen. Den  Dichter  Aelius  Saturninus  Hess  er  vom  Kapitel  herabstürzen, 
weil  er  einige  Verse  gegen  ihn  gemacht  hatte  (Dio  57,  22).  Auf  Grund 
der  gleichen  Anschuldigung  wurde  der  Dichter  Sextius  Paconianus  im 
Kerker  erdrosselt  (Tac.  Ann.  6,  39).  Der  als  Deklamator  hochangesehene 
Mamercus  Scaurus  hatte  eine  Tragödie  Atreus  geschrieben;    es  wurden 


TiberiuB.    C.  Caesar  Calignla. 


237 


darin  Verse  aufgespürt,  welche  eine  Deutung  auf  Tiberius  zuliessen;  sofort 
wurde  gegen  den  Verfasser  vorgegangen  (Suet.  61  Tac.  Ann.  6, 29).  Gremu- 
tius  Gordus  hatte  das  Verbrechen  begangen,  in  seinen  Annalen  den  M.  Bru- 
tus zu  loben  und  dessen  Ausspruch,  Gassius  sei  der  letzte  der  Römer,  bei- 
fällig anzuführen.  Dies  genügte,  dem  Historiker  den  Prozess  zu  machen. 
Treffende  Worte  sind  es,  die  der  Angeschuldigte  zu  seiner  Verteidigung 
und  für  die  Freiheit  des  schriftstellerischen  Schaffens  vorbrachte.  Golden  ist 
der  Satz:  Spreta  exolescunt:  si  irascare,  adgnita  videntur.  Er  endete  sein 
Leben  durch  Enthaltung  von  Speise  und  Trank,  seine  Schriften  wurden 
von  den  Ädilen  verbrannt;  allein  sie  waren  doch  dem  Untergang  ent- 
ronnen (Tac.  Ann.  4,  34).  Ausser  den  Schriftstellern  waren  es  die  Schau- 
spieler, gegen  welche  sich  der  Groll  des  Herrschers  kehrte;  sie  mochten 
ja  manches  freie  Wort  von  der  Bühne  herab  gegen  ihn  geschleudert  haben; 
besonders  in  der  Atellana  (wie  im  Mimus)  war  für  solche  Improvisationen 
reichlich  Gelegenheit  gegeben.  Die  Strafe  der  Ausweisung  aus  Italien 
schloss  ihnen  den  Mund  (Tac.  Ann.  4, 14).  Nicht  genug,  auch  der  Gehilfe 
des  Tiberius  Seianus  nahm  an  diesen  Verfolgungen  Teil;  jedermann  weiss 
aus  den  Fabeln  des  Phaedrus,  wie  sehr  der  Dichter  unter  diesen  Ghikanen 
zu  leiden  hatte.  Bei  einer  solchen  systematischen  Verfolgung  aller  Ge- 
danken —  die  eine  oder  die  andere  Ausnahme,  wie  die  Begnadigung  des 
Pasquillanten  G.  Gominius  (Tac.  Ann.  4,  31)  oder  die  Honorirung  des  Asellius 
Sabinus^)  für  einen  Wettstreit  zwischen  dem  Ghampignon,  der  Feigen- 
drossel, der  Auster  und  dem  Erammetsvogel  (Suet.  42)  ändern  daran  nichts 
—  musste  entweder  die  Schriftstellerei  verstummen  oder  sich  Gebieten  zu- 
wenden, die  der  Gegenwart  fern  lagen. 

358.  G.  Caesar  Galigula  (37— <41).  Tiberius'  Nachfolger  war  in 
seinem  Wahnsinn  unberechenbar,  auch  in  seinem  Verhältnis  zur  Litteratur.*) 
So  Hess  er  Exemplare  der  Werke  des  Titus  Labienus,  Gremutius  Gordus, 
Gassius  Severus,  deren  Vernichtung  Senatsbeschlüsse  angeordnet  hatten, 
aufsuchen  und  der  uneingeschränkten  Benutzung  übergeben,  er  habe  ein 
Interesse  daran,  meinte  er,  dass  die  Kenntnis  der  Geschichte  den  nach- 
kommenden Generationen  erhalten  bleibe  (Suet.  16).  Auf  der  andern  Seite 
wollte  er  die  Gedichte  Homers  vernichten;  wenn  Plato  ihn  aus  seinem 
Idealstaat  hinweggewiesen  habe,  warum  sollte  nicht  auch  er  dies  thun 
dürfen?  Ebenso  war  er  nahe  daran,  Werke  und  Büsten  des  Vergil  und 
des  Livius  aus  den  öffentlichen  Bibliotheken  zu  entfernen,  der  Dichter  sei 
ein  geistloser  und  ungelehrter  Mensch,  der  Historiker  aber  wortreich  und 
nachlässig.  Auch  der  Jurisprudenz  drohte  er  den  Garaus  zu  machen,  er 
wolle  es  noch  dahin  bringen,  dass  niemand  ohne  ihn  respondiere  (Suet.  34). 
Seinen  Wahnsinn  zeigt  das  Verfahren,  das  er  bei  den  von  ihm  veranstalteten 
Wettkämpfen  in  der  griechischen  und  römischen  Beredsamkeit  einhielt; 
die  Besiegten  mussten  die  Preise  für  die  Sieger  selbst  stellen  und  Pane- 
gyriken  auf  sie  verfertigen;  diejenigen,  welche  im  Wettstreit  mit  ihren 
Produkten  am  wenigsten  Anklang  gefunden  hatten,  zwang  er,  ihre  Manu- 


')  KiEssLivo,  Fleckeis.  J.  103,  646  iden- 
tifiziert ihn  mit  Sabinus  Asilius  bei  Sen. 
Buas.  2, 12  und  Asillius  bei  Suet.  Calig.  8. 


*)  Muwx-Seyffbbt,  Gescb.  d.  röm.  Litte- 
ratur  2,  185. 


238    fiömische  Litteraturgesotiichte.    It.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

Scripte  mit  Schwamm  oder  Zunge  auszuwischen,  wenn  sie  es  nicht  vor- 
zogen, durchgeprügelt  zu  werden  oder  in  dem  nächsten  FIuss  unterzu- 
tauchen (Suet.  20).  Von  diesen  närrischen  Streichen  abgesehen,  scheint  er 
jedoch  systematische  Verfolgungen  der  Schriftsteller  nicht  in  Scene  gesetzt 
zu  haben.  Die  Quellen  berichten  uns  nur  einige  Massregelungen  und  diese 
betrafen  untergeordnete  Persönlichkeiten.  Der  Rhetor  Carina  Secundus 
wurde  wegen  einer  Deklamation  über  das  altherkömmliche,  abgedroschene 
Thema  »Gegen  die  Tyrannen"  dem  Feuertod  überliefert  (Dio  59,20);  einen 
Atellanendichter  Hess  er  wegen  eines  zweideutigen  Scherzes  mitten  auf  der 
Bühne  verbrennen  (Suet.  27).  Merkwürdig  ist,  dass  auch  dieser  schreckliche 
Mensch  der  Litteratur  seinen  Tribut  darbringen  musste.  Er  schrieb  zwar 
keine  Schriften,  allein  er  geizte  nach  dem  Ruhme  des  Redners;  und  hier 
konnte  er  ausserordentlich  eifersüchtig  werden.  Eine  schöne  Rede,  die 
einmal  Seneca  im  Senat  und  vor  dem  Kaiser  gehalten  hatte,  hätte  dem 
Philosophen  fast  das  Leben  gekostet  (Dio  59, 19).  Übrigens  hatte  er  es 
wirklich  als  Redner  zu  einiger  Vollkommenheit  gebracht;  besonders  in  der 
Erregung  flössen  ihm  die  Worte  leicht,  auch  seine  Stimme  gewann  Modu- 
lation und  Kraft  unter  der  Herrschaft  des  Affektes.  Zierlichkeit  des  Stils 
war  dieser  rohen  Natur  durchaus  verhasst,  er  verachtete  darum  den  Mode- 
schriftsteller jener  Tage,  Seneca;  der  schreibe,  sagte  er,  blosse  Schaustücke 
zusammen  und  sei  Sand  ohne  Kalk  (Suet.  53). 

359.  Claudius  (41—54).  Claudius  war  fünfzig  Jahre  alt,  als  er  zur 
Regierung  kam.  Bis  dahin  hatte  er  verlassen  und  zurückgezogen  mit 
wissenschaftlichen  Beschäftigungen  seine  Zeit  hingebracht.  Vornehmlich 
war  es  die  Geschichte,  welche  er  unter  Beihilfe  des  Sulpicius  Flavus  kul- 
tivierte; Livius  hatte  ihm  hiezu  die  erste  Anregung  gegeben,  vermutlich 
aus  Mitleid  mit  dem  armen  Menschßn.  Seine  ersten  Versuche  in  der  Ge- 
schichtschreibung recitierte  er;  allein  auch  hier  spielte  ihm  seine  Unge- 
schicklichkeit einen  schlimmen  Streich.  Ein  komischer  Vorfall,  der  zu 
Beginn  der  Vorlesung  eintrat,  nötigte  ihm  Lachen  ab  und  er  konnte  das- 
selbe auch  im  weiteren  Verlauf  der  Vorlesung  nicht  mehr  unterdrücken. 
Zuerst  wollte  er  die  Zeit  vom  Tode  Cäsars  an  darstellen;  allein  er  kam 
nicht  über  das  zweite  Buch  hinaus,  da  er  es  weder  seiner  Mutter  noch 
seiner  Grossmutter  recht  machen  konnte.  Er  nahm  sich  daher  eine  spätere 
Periode  zum  Vorwurf,  er  behandelte  die  Zeit  vom  bürgerlichen  Frieden  in 
41  Büchern.  Es  ist  eine  bestechende  Vermutung,^)  dass  das  Werk  von 
Octavians  Ernennung  zum  Augustus  bis  zu  dessen  Tode  reichte  und,  da 
dieser  Zeitraum  41  Jahre  umfasste,  in  jedem  Buch  die  Ereignisse  eines 
Jahres  schilderte.  Ausser  diesem  grossen  Werke  publizierte  er  noch  seine 
Autobiographie  {de  vUa  sua)  in  8  Büchern.  Sie  war  nach  dem  Urteil 
Suetons  zwar  nicht  ohne  Eleganz,  aber  doch  im  ganzen  geschmacklos. 
Diese  Schriften  waren  in  lateinischer  Sprache  abgefasst;  der  fleissige  Ge- 
lehrte schrieb  aber  auch  Historisches  in  griechischer  Sprache,  eine  tyr- 
rhenische  Geschichte  in  20  und  eine  karthagische  in  8  Büchern.  Diesen 
beiden  Schöpfungen  hatte  er  sein  ganzes  Herz  zugewendet  und  er  war 


^)  BOcHELER,  Kommentar  zu  Senecas  Apocolocynt.  p.  48. 


Clandins. 


239 


aufs  ängstlichste  bestrebt,  ihr  Andenken  zu  erhalten.  Er  errichtete  daher 
neben  dem  alten  Museum  in  Alexandrien  ein  neues  und  verordnete,  dass 
in  dem  einen  Museum  die  tyrrhenische  Geschichte,  in  dem  andern  die 
karthagische  an  bestimmten  Tagen  vorgelesen  werden  sollte.  Der  Verlust 
der  beiden  Werke  ist  sehr  zu  beklagen,  wir  würden  sicher  vieles  daraus 
lernen,  ist  ja  auch  „was  in  der  auf  der  Lyoner  Tafel  fragmentarisch 
erhaltenen  Rede  des  Claudius  über  die  Etrusker  vorkommt,  fast  noch 
wichtiger  als  was  wir  bei  Livius  darüber  lesen''.*)  Doch  ist  damit  seine 
Schriftstellerei  noch  nicht  abgeschlossen.  Als  Asinius  Gallus,  der  Sohn 
des  Asinius  PoUio  in  einer  Schrift  einen  Vergleich  zwischen  Cicero  und 
seinem  Vater  anstellte  und  letzteren  auf  Kosten  des  ersteren  in  die  Höhe 
hob,  schrieb  Claudius  eine  gelehrte  Entgegnung.  Auch  philologische  Pro- 
bleme interessierten  den  vereinsamten  Prinzen  in  hohem  Grade.  Seneca 
spielt  auf  diese  Studien  in  seiner  giftigen  Satire  an,  er  lässt  den  ver- 
storbenen Claudius  grosse  Freude  darüber  empfinden,  dass  es  im  Himmel 
auch  Philologen  gebe;  Herkules  hatte  ihn  nämlich  mit  einem  homerischen 
Verse  examiniert  (5).  Besonders  war  es  die  Verbesserung  des  lateinischen 
Alphabets,  welche  seinen  Geist  beschäftigte.  In  einer  Untersuchung  über 
dasselbe  schlug  er  drei  neue  Zeichen  vor;  eines  für  das  konsonantische 
V,  welches  in  der  Schrift  nicht  von  dem  vokalischen  unterschieden  wurde; 
er  nahm  das  umgekehrte  Digamma  (d);  ein  zweites  für  die  Lautverbindungen 
bs,  ps;  dieselben  sollten  durch  das  Antisigma  (d)  ausgedrückt  werden, 
endlich  ein  drittes  für  den  zwischen  u  und  i  in  der  Mitte  liegenden  Laut, 
den  das  griechische  Y  bezeichnet;  er  wählte  die  ursprüngliche  Form  des 
griechischen  Spiritus  asper  (h).  Diese  Reformen  blieben  natürlich  ganz 
unbeachtet,  insolange  Claudius  Privatmann  war.  Als  er  den  Thron  be- 
stieg, tauchen  die  neuen  Zeichen,  wenigstens  das  erste  und  das  dritte^)  — 
in  Inschriften  auf,  um  bald  darauf  wieder  zu  verschwinden.  Da  Claudius 
dem  Würfelspiel  leidenschaftlich  ergeben  war,  widmete  er  auch  diesem 
Gegenstande  eine  Monographie;  vermutlich  hatte  dieselbe  einen  antiqua- 
risch-gelehrten Charakter  (Suet.  33).  Seine  Schriften  wurden  eine  Zeitlang 
benutzt,  die  historischen  namentlich  von  Sueton  und  Plinius  —  dann  fielen 
sie  sämtlich  der  Verschollenheit  anheim.  Dagegen  hat  sich  eine  Rede  auf 
der  bereits  erwähnten  Lyoner  Erztafel,  welche  im  Jahre  1524  aufgefunden 
wurde,  erhalten.  Diese  Rede  wurde  im  Jahre  48  n.  Ch.  im  Senat  vorgetragen. 
Der  gallische  Adel  hatte  sich  um  das  ius  honorum  beworben.  Es  erhoben 
sich  Stimmen  dafür  und  dagegen.  Claudius  sprach  sich  für  Gewährung 
der  Bitte  aus,  indem  er  ausführt,  dass  stets  Neuerungen  in  dem  römischen 
Staatswesen  üblich  gewesen  seien,  dann  (hier  ist  ein  Stück  der  Tafel  ver- 
loren) die  Ausdehnung  des  römischen  Bürgerrechts,  sowie  die  fortwährende 
Ergänzung  des  Senats  durch  Heranziehung  neuer  Kreise  urgiert.  Aus 
dem  Schriftstück  können  wir  uns  eine  Vorstellung  von  der  Darstellungs- 
weise des  Kaisers  machen.  Wü*  finden  Gelehrsamkeit  in  geschmackloser 
Weise  aufgestapelt;  im  Ausdruck  ist  die  Absurdität  bemerkenswert,   dass 


>)  So  Ranke,  Weltgesch.  8, 1, 98. 
*)  FQr  das  zweite,  das  Antisigma  fehlt 
es  an  einem  beglaubigten  Beispiel.  Weiterhin 


finden  wir  jetzt  die  Schreibung  AJ  statt  AE. 
(CJL,  6,  353  51  n.  Ch.). 


240    BOmische  Lüieratargesohichie.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1«  Abteilung. 

der  Kaiser  sich  selbst  anredet.  Noch  in  einer  andern  Beziehung  erregt 
das  Aktenstück  unser  Interesse;  dasselbe  wurde  von  Tacitus  in  seinen 
Annalen  benutzt  (11,24);  wir  haben  hier  ein  Beispiel,  wie  die  antiken 
Historiker,  vor  allem  auf  die  Einheit  des  Stils  bedacht,  solche  Originale 
ihrer  Darstellung  anpassen.  In  neuester  Zeit  ist  noch  ein  Aktenstück 
hinzugekommen;  im  Jahre  1869  wurde  nämlich  bei  Trient  eine  Erztafel 
gefunden,  welche  ein  Edikt  des  Princeps  aus  dem  Jahr  46  enthält.  Es 
handelte  sich  um  das  Eigentum  von  gewissen  Landstrecken,  welche  in 
jenen  Gegenden  am  Südabhang  der  rätischen  Alpen  nach  Anzeige  der 
römischen  Regierung  gehörten,  aber  derselben  widerrechtlich  entzogen 
wurden;  die  Untersuchung  darüber  war  jetzt  zum  Abschluss  gekommen; 
bei  dieser  Gelegenheit  ordnete  der  Kaiser  auch  die  persönlichen  Rechts- 
verhältnisse der  Bewohner  (Anauni,  Tulliasses,  Sinduni)  in  jenen  Gebieten; 
obwohl  dieselben  das  römische  Bürgerrecht,  von  dem  sie  Gebrauch  gemacht 
hatten,  nicht  erweisen  konnten,  verlieh  ihnen  Claudius  jetzt  dasselbe  ausdrück- 
lich und  zwar  mit  rückwirkender  Kraft.  Auch  dieses  Dokument  liefert  uns 
einen  Beitrag  zur  Kenntnis  des  Glaudianischeu  Stils;  der  Anfang  mit  seinem 
Gewirr  von  Sätzen  und  seinem  unerträglichen  Anakoluth  zeigt  die  „nur 
bei  einem  allerhöchsten  Konzipienten  denkbare  souveräne  Verachtung  der 
Stilgesetze  und  des  gesunden  Menschenverstandes". 

Unter  einem  solchen  Herrscher  konnte  die  Schriftstellerei  von  den 
schweren  Verfolgungen,  die  sie  unter  Tiberius  erlitten,  sich  wieder  er- 
holen. Die  steigende  Bedeutung  der  Litteratur  am  Hof  führte  zur  Ein- 
führung eines  eigenen  Amtes  „a  studiis".  Wir  finden  dasselbe  unter 
Claudius'  Regierung  fest  organisiert,  der  mächtige  Freigelassene  Polybius 
bekleidete  dasselbe. 

Zeugnisse  über  die  Schriftstellerei  des  Claudias.  Die  Hauptstelle  ist 
Suet.  41  und  42.  Die  Fragmente  der  historischen  Schrift  siehe  bei  Peter  (1883)  p.  295.  Die  bei 
Tacit.  Ann.  13,47  erwähnten  Commentarii  des  Claudius  sind  Notizen,  Aufzeichnungen  und 
Akten  und  dgl.,  die  Claudius  fOr  seinen  Handgebrauch,  aber  nicht  für  die  Herausgabe  be- 
stimmt hatte.  Über  die  neuen  Buchstaben  vgl.  noch  Tac.  Ann.  11, 13  und  14,  Quint  1,  7, 26 
Priscian  1,  15  H  (Buecheleb,  De  Ti.  Claudio  Caesare  grammcUico,  Elberf.  1856).  Wir 
fügen  noch  hinzu:  Suet.  11  ad  frcUria  memoriam  comoediam  quoque  Graecam  NeapolUano 
certamine  docuit  ae  de  sentetUia  iudicum  coronavit. 

Die  Lyon  er  Erztafel  ist  abgedruckt  und  kommentiert  in  der  Ausgabe  der  Taci- 
teischen  Annalen  von  Nippebdey  (2,  313),  die  zweite  Tafel  ist  abgedruckt  CJL.  5,5050, 
kommentiert  von  Mommsek  Hermes  4, 97 ;  sie  steht  auch  bei  Bruns  fontes  p.  224. 

860.  Nero  (54— 68).^)  Auch  der  Nachfolger  des  Claudius  Nero 
nahm  der  Litteratur  gegenüber  eine  freundliche  Haltung  ein.  Als  Knabe 
wurde  er  fast  in  alle  Disziplinen,  welche  der  Ausbildung  des  Geistes 
dienen  können,  eingeführt.  Freilich  bekämpften  sich  wie  im  späteren 
Leben,  so  auch  schon  hier  entgegengesetzte  Bestrebungen;  die  Mutter 
Neros  wollte  nichts  von  Philosophie  wissen,  sein  Lehrer  Seneca  dagegen 
nichts  von  dem  Studium  der  alten  Redner.  Seine  rhetorische  Ausbildung 
scheint  in  der  That  unvollkommen  gewesen  zu  sein;  ausdrücklich  wird 
berichtet,  dass  er  der  erste  Princeps  war,  der  bei  seinen  Reden  fremde 
Konzepte  zu  Grunde  legte  (Tac.  Ann.  13,  3).  Unbestritten  blieb  ihm  das 
Feld  der  Dichtkunst;   Nero  machte  gern  Verse;    noch  zur  Zeit  Suetons 


')  Münk-Seyffekt,  Gesch.  d.  röm.  Litt  2, 196. 


Kero.  241 

konnte  man  die  Schreibtafeln  sehen,  welche  Konzepte  seiner  Dichtungen 
von  seiner  Hand  mit  vielen  Korrekturen  enthielten.  Es  trat  zwar  die 
Meinung  auf,  seine  Werke  seien  unter  fremder  Beihilfe  zu  Stande  ge- 
kommen und  man  merke  dies  seinen  Gedichten  noch  an,  da  sie  weder  Schwung 
und  Begeisterung  atmeten,  noch  aus  einem  Gusse  seien  (Tac.  Ann.  14, 
1 6).  Allein  wenn  dies  auch  hie  und  da  sicherlich  der  Fall  war,  ist  es  doch 
sehr  unwahrscheinlich,  dass  auf  diese  Weise  alle  Gedichte  Neros  ent- 
standen. Dass  bei  seinen  Versifikationen  viel  Spielerei  mitunterlief,  ist 
nicht  zweifelhaft.*)  Doch  wollte  er  auch  durch  grössere  Werke  sich  dich- 
terischen Ruhm  erwerben;  eines  kam  wirklich  zu  Stand,  die  »Troica*. 
Ferner  gedachte  er  ein  Epos  über  die  gesamte  römische  Geschichte  zu 
schreiben;  ehe  er  damit  anfing,  ging  er  mit  sich  und  anderen  über  die 
Zahl  der  Bücher  zu  Rat.  Als  manche  den  Umfang  eines  solchen  Werkes 
auf  vierhundert  Bücher  berechneten,  meinte  der  Stoiker  Annaeus  Cornutus 
mit  Recht,  soviel  Bücher  würde  wohl  niemand  lesen,  und  als  man  ihm 
entgegen  hielt,  dass  ja  sein  Meister  Ghrysippus  noch  mehrere  geschrieben, 
erwiderte  er,  dessen  Schriften  seien  aber  für  das  menschliche  Leben  heil- 
sam.  Diese  freimütige  Äusserung  musste  der  Philosoph  mit  der  Ver- 
bannung büssen  (Dio  62,  29).  Die  Hauptanziehung,  welche  die  Poesie  für 
Nero  hatte,  lag  darin,  dass  sie  ihm  Gelegenheit  gab,  als  Recitator  oder 
Sänger  sich  dem  Publikum  zu  zeigen.  Hier  Lorbeeren  zu  ernten,  war  das 
höchste  Ziel  seines  Ehrgeizes.  So  trug  er  seine  Troica  an  dem  Feste  der 
QuinquennaUa  (65)  vor  (Dio  62,  29) ;  dieses  Fest  hatte  er  selbst  im  Jahr  60 
gegründet,  an  demselben  sollten  musische,  gymnische  und  Rennkämpfe 
abgehalten  werden  (Tac.  Ann.  14,  20).  Dann  sang  und  agierte  er  einzelne 
tragische  Scenen,  er  stellte  z.  B.  die  Ganace  in  Geburtswehen,  den  Mutter- 
mörder Orestes,  den  blinden  Oedipus  dar  (Suet.  21).  Die  für  diese  Ge- 
sangsvorträge notwendigen  Texte  wird  sich  Nero  grösstenteils  selbst  gemacht 
haben;  es  waren  auch  solche  Neronische  Produkte  im  Gebrauch  (Philostr. 
Apoll.  4,  39).  Wenn  man  nach  dieser  Vorliebe  Neros  für  die  Poesie  meinen 
sollte,  dass  ihm  die  Dichtkunst  eine  besondere  Förderung  verdankte,  so 
wäre  diese  Meinung  eine  irrige;  er  beneidete  vielmehr  die  dichterischen 
Talente,  weil  er  glaubte,  dass  sie  seinen  Ruhm  gefährdeten;  Lucan  war 
deshalb  seinen  Ghikanen  ausgesetzt  (Tac.  Ann.  15,  49).  Gegen  persön- 
liche Angriffe  war  er  dagegen  weniger  empfindlich.  Den  Autoren  der 
vielen  gegen  ihn  kursierenden  Verse  spürte  er  nicht  nach,  und  als  manche 
dem  Senat  angezeigt  wurden,  untersagte  er  eine  schärfere  Ahndung  der- 
selben. Ebenso  bestrafte  er  nur  mit  der  Verbannung  die  Schmähungen,  welche 
ihm  der  cjmische  Philosoph  Isidor  auf  offener  Strasse  entgegenschleuderte,  und 
die  boshafte  Anspielung  eines  Atellanenschauspielers  auf  den  Tod  des  Claudius 
und  der  Agrippina  (Suet.  39).  Zurückhaltend  war  er  auch  bei  der  Anklage 
gegen  den  Dichter  Antistius  (Tac.  Ann.  18, 48).  Nach  der  Entdeckung  der 
Pisonischen  Verschwörung  aber  traf  seine  Grausamkeit  auch  die  Schriftsteller; 
der  Lehrer  des  Persius  Verginius  Flavus  und  der  berühmte  Stoiker  C.  Mu- 
sonius  Ruf  US  wurden  damals  in  die  Verbannung  getrieben  (Tac.  Ann.  15,  71)« 


')  Z.  B.  Gedichte  lasciven  und  spötti- 
schen Inhalts  (Hart.  9, 26, 9  Plin.  ep.  5, 3, 6. 


Plin.  n.  h.  37, 50  Tac.  Ann.  15, 49  Suet.  Ner<> 
24).    Vgl.  0.  Jahn  zu  Persius  p.  LXXVI, 


Handbach  der  klias.  Altertnnwwlmenachftft.    VUI.    2.  Teil,  16 


242    Römische  LitterattirgeBohiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monarolüe.    1.  Abteilung. 

Über  die  Scbriftstellerei  Neros  ist  alles  Nötige  beigebracht  von  0.  Jahn  in 
seiner  Ausgabe  des  Persius  p.  LXXV.  Hauptstelle:  Suet.  52.  Die  Bruchstücke  seiner  Ge- 
dichte (wir  verdanken  dieselben  besonders  der  ersten  Satire  des  Persius)  finden  sich  bei 
Bahrens  fragm.  p.  368.  Dio  62, 18  Suet  38  berichten,  dass  Nero  die  ftXto^it  *lXlov  beim 
Brande  Roms  (64  n.  Ch.)  zur  Kithara  vortrug.  (Dies  ist  wohl  eine  Mythe,  vgl.  Ranks,  Welt- 
gesch.  3, 1  p.  168).  Dagegen  ergibt  sich  aus  dem  ersten  Einsiedler  Bucolicon,  dass  er  über 
das  Ende  Trojas  bei  einem  Agon  sang  und  deswegen  bekränzt  wurde.  Das  Verhältnis  der 
akfüifie  zu  den  Troica  kann  nur  das  gewesen  sein  wie  das  der  ^'Exro^og  XvtQa  zu  der 
Ilias,  d.  h.  wie  das  des  Teils  zum  Ganzen"  (Bügheleb,  Rh.  Mus.  26, 238). 

361.  Die  Flavier  (69—96).  Der  dumpfe  Schrecken,  welchen  die  Grau- 
samkeit Neros  in  seinen  letzten  ßegierungsjahren  über  alle  Schichten  der  Be- 
völkerung verbreitet  hatte,  hörte  auf,  als  die  Flavier  zur  höchsten  Macht  ge- 
langten. Vespasian  (69—79)  und  sein  Sohn  Titus  (79—81)  regierten  mit 
Milde.  Obwohl  beide  zunächst  tapfere  Soldaten  waren,  so  erscheinen  sie  doch 
nicht  von  höherer  Bildung  entblöst.  Vespasian  konnte  sich  ganz  geläufig 
griechisch  ausdrücken  (Tac.  bist.  2,  80);  an  Titus  rühmt  der  ältere  Plinius 
in  dem  ungemein  interessanten  Widmungsbrief  seine  Beredsamkeit  und 
sein  poetisches  Talent.  Vespasian  hinterliess  Denkwürdigkeiten,^)  Titus 
verfasste  im  Jahre  76  ein  Gedicht  über  einen  Kometen  (Plin.  2,  89).  Bei 
beiden  überwogen  jedoch  die  praktischen  Interessen  in  der  Weise,  dass 
eine  tiefgehende  Neigung  für  die  Litteratur  bei  ihnen  nicht  anzunehmen 
ist.  Aber  in  äusseren  Dingen  zeigte  sich  das  Wohlwollen  des  neuen  Re- 
giments. Vespasian  war  freigebig  gegen  Dichter  und  Künstler  (Suet.  18); 
er  liess  die  beim  Brand  des  Kapitels  untergegangenen  3000  Erztafeln  nach 
Kopien,  die  überall  aufgesucht  wurden,  wieder  herstellen  (Suet.  8);  er 
widmete  den  scenischen  Aufführungen  seine  Aufmerksamkeit  (Suet.  19),  er 
führte  endlich  die  Staatsbesoldung  der  lateinischen  und  griechischen  Bhetoren 
ein  und  schuf  damit  das  öffentliche  Lehramt  (Suet.  18).  Wenn  wir  nun 
von  einer  Verfolgung  der  Philosophen  (und  Astrologen  Dio  66, 13  und  9), 
die  unter  Vespasian  statt  hatte,  lesen,  so  kann  das  auf  den  ersten  Blick 
befremdlich  erscheinen.  Allein  bei  dieser  Massregel  wirkten  nicht  litterari- 
sche, sondern  politische  Rücksichten  ein.  Die  Philosophen  gefielen  sich  unter 
dem  Deckmantel  ihrer  Wissenschaft  in  einer  oppositionellen  politischen 
Haltung.  Eine  solche  konnte  nicht  geduldet  werden;  Vespasian  musste 
daher  gegen  den  Stoiker  Helvidius  Priscus  strafend  vorgehen.  Mucianus 
drängte  aber  auf  eine  radikale  Remedur  und  setzte  es  durch,  dass  die 
Philosophen  sämtlich  mit  Ausnahme  des  C.  Musonius  Rufus  verbannt 
wurden,  doch  verriet  auch  hier  Vespasian  seine  Gutmütigkeit.  Als  der 
Cyniker  Demetrius  in  seiner  Feindseligkeit  hartnäckig  verharrte,  liess 
ihm  der  Kaiser  sagen,  Demetrius  thue  zwar  alles,  um  seinen  Untergang 
herbeizuführen,  allein  einen  bellenden  Hund  wolle  er  nicht  töten. 

Von  dem  milden  Regiment  der  beiden  ersten  Flavier  sticht  ungeheuer 
ab  die  Regierung  des  dritten,  des  Domitian  (81—96).  Als  Prinz  hatte 
er  eine  Neigung  zur  Dichtkunst  zur  Schau  getragen.  Die  zeitgenössischen 
schmeichelnden  Schriftsteller  machen  grosses  Aufheben  von  diesen  poeti- 
schen Fähigkeiten  Domitians.  Quintilian  meint  (10,  1,  91),  den  Göttern 
wäre  es  nicht  genug  gewesen,  dass  Domitian  der  grösste  Dichter  sei,  sie 
hätten  ihm  daher  auch  noch  die  Sorge  für  den  Erdkreis  übertragen.    Va- 

»)  Jo8ephi  vUa  65  p.  340, 18  Bbkkbk,  p.  340, 18. 


Die  Flayier:   Kenra  und  Tn^an.  243 

lerius  Flaccus  weist  auf  ihn  als  den  berufenen  Sänger  der  Thaten  des 
Titus  hin  (1,10);  Silius  Italiens  stellt  ihn  über  Orpheus  (3,620);  Martial 
preist  ihn  als  den  Herrn  der  neun  Musen  (5,  6, 19).  Der  zuletzt  genannte 
Dichter  nennt  uns  auch  ein  domitianisches  Gedicht,  die  Erzählung  von 
dem  im  Dezember  69  stattgefundenen  Kampf  ums  Kapitel  (5, 5,  7).  Zum 
Thron  gelangt  liess  er  alle  litterarische  Beschäftigung  beiseite,  er  las 
weder  historische  Werke  noch  Gedichte;  das  einzige  Buch,  das  er  in  die 
Hand  nahm,  waren  die  Memoiren  des  Kaisers  Tiberius.O  Auch  die  Aus- 
bildung seines  Stils  vernachlässigte  er  vollständig  und  bediente  sich  für 
seine  Briefe  und  Erlasse  fremder  Kräfte  (Suet.  20).  Diese  Gleichgiltigkeit 
ist  um  so  merkwürdiger,  als  er  einige  Einrichtungen  im  Interesse  der 
Litteratur  schuf.  Er  stellte  die  durch  Brand  zerstörten  Bibliotheken  wieder 
her;  überall  liess  er  Exemplare  aufsuchen,  ja  er  schickte  sogar  Leute  nach 
Alezandrien,  damit  sie  dort  Bücher  abschrieben  und  emendierten  (Suet.  20). 
Wie  Nero,  so  stiftete  auch  Domitian  einen  Wettkampf,  den  berühmten 
Agon  Gapitolinus  (86);  derselbe  bestand  aus  drei  Abteilungen,  einer  musi- 
schen, einer  equestrischen  und  einer  gymnischen.  Zu  diesem  Agon,  der  alle 
vier  Jahre  abgehalten  wurde,  drängten  sich  aus  weitester  Entfernung  Be- 
werber. Daneben  feierte  er  jährlich  das  Fest  der  Quinquatren  der  Minerva 
auf  seiner  albanischen  Villa;  damit  wurden  scenische  Aufführungen  verbunden 
und  Wettkämpfe  von  Dichtern  und  Rednern;  es  ist  dies  der  Agon  Albanus. 
Allein  diese  glänzenden  Schaustellungen  wurden  in  Schatten  gestellt  durch 
die  grausamen  Verfolgungen,  welchen  die  Schriftsteller  ausgesetzt  waren. 
Zweimal  wurden  die  Astrologen  und  Philosophen  durch  Edikt  aus  der 
Stadt  vertrieben  (89  und  93  n.  Ch.)  Doch  kann  man  hier  wie  bei  Vespasian 
zur  Entschuldigung  sagen,  dass  Rücksichten  der  Politik  dabei  im  Spiele 
waren ;  allein  die  Autoren  berichten  uns  auch  Fälle,  in  denen  der  nichtigste 
Vorwand  genügte,  um  einen  Schriftsteller  dem  Tode  zu  überliefern  (Suet.  10) 
und  seine  Schriften  zu  vernichten.  Tacitus  schildert  mit  Flammenschrift 
im  Eingang  des  Agricola  jene  unselige  Zeit. 

Noch  eine  Schrift  rief  die  Eahlköpfigkeit  Domitians  hervor  (Suet.  18  libellus,  quem 
de  ciira  capiUorum  ad  amieum  edidit). 

362.  Nerra  (96—98)  und  Trojan  (98—117).  Die  Regierung  dieser 
beiden  trefflichen  Kaiser  liess  das  freie  Wort,  das  solange  geknechtet  war, 
wieder  an  das  freie  Tageslicht.  Alles  atmete  auf  und  freute  sich  der 
glücklichen  Gegenwart.  Die  Schriftsteller  nahmen  wieder  den  Griffel  in 
die  Hand;  das  erste,  was  sich  vor  ihre  Seele  drängte,  war  die  Erinnerung  an 
das  vergangene  Leid.  Auch  Nerva  und  Trajan  waren  in  ihrer  Art  ge- 
bildete Männer;  der  Schmeichler  Martial  nennt  Nerva  den  Tibull  seiner 
Zeit  (8,  70,  7).  Trajans  noch  vorhandene  Antworten  auf  die  Anfragen  des 
Plinius  zeigen  den  Kaiser  als  einen  Meister  des  bündigen  und  klaren  Ge- 
schäftsstils. Er  hatte  auch  den  dacischen  Krieg  beschrieben  (Prise.  205,  6); 
der  Verlust  dieses  Werkes  ist  ein  ungeheurer;  doch  lagen  seiner  nüchternen 
Natur  die  Angelegenheiten  der  Litteratur  ferne.  Hier  nahm  er  gern  die 
Beihilfe  des  einsichtigen  Licinius  Sura  an.    In  seinem  Panegyricus  rühmt 

^)  Wahrscheinlich  ist  daher  die  Angahe      bis  terque  rerohere  Caesar"  (6,  64, 15)  nichts 
Martials,  dass  seine  Gedichte  „tum  dedignatur      als  eine  Lobhudelei. 

16* 


244    BönÜBche  LüteratnrgeBchichte.    !!•  Die  Zeit  der  Honarohie,    1.  Abteilang. 

der  jüngere  Plinius  des  Kaisers  Fürsorge  für  die  Bildung  der  Jugend  und 
seine  Aufmerksamkeit  gegen  die  Lehrer  der  Rhetorik  (47).  Besonders 
zeichnet  er  den  liebenswürdigen  griechischen  Redner  Dio  Chrysostomus 
aus.  Auch  die  Gründung  der  Bibliotheca  Ulpia  ist  sein  Werk.  Allein 
das  Hauptverdienst,  das  er  sich  um  die  Litteratur  erwarb,  liegt  darin, 
dass  er  sie  einfach  gewähren  liess;  denn  auch  die  höchste  fürstliche  Gunst 
hat  in  der  Litteratur  ihre  Schattenseiten.^) 


a)  Die  Poesie. 

1.  M.  Manilius. 

363.  Astronomicon  L  Y  des  Manilius.  Was  der  Dichter  in  seinem 
Werk  darstellen  will,  kündigt  er  gleich  im  Eingang  deutlich  an: 

earmine  divinas  artis  et  conseia  fati 
Mera,  diversos  haminum  variantia  casus, 
(caelestis  rationis  opus)  deducere  mundo 
aggredior. 

Den  Einfluss  der  Gestirne  auf  die  Menschen  beabsichtigt  er  darzu- 
legen, d.h.  das  Lehrgebäude  der. Astrologie  dem  Leser  in  poetischem 
Schmuck  vorzuführen.  Nicht  ohne  Stolz  rühmt  er  sich,  dass  er  zuerst 
dieses  Gebiet  der  Poesie  erschlossen.  Im  Prooemium  des  zweiten  Buches 
wirft  er  einen  Blick  auf  die  Dichter  und  ihre  Stoffe,  er  lässt  Homer, 
Hesiod  und  andere  Sänger  an  unseren  Augen  vorüberziehen,  um  zu  zeigen, 
dass  alle  Pfade,  die  zum  Helikon  führen,  ausgetreten  seien.  Nur  er  kann 
von  sich  sagen  (2,57): 

nostra  loquar;  nulli  txUum  dehehimus  ora, 
nee  furtum,  sed  opus  veniet,  soloque  volamus 
in  caelum  curru,  propria  rette  pelUmus  undas. 

Auch  in  der  Einleitung  zum  dritten  Buch  rühmt  er  sein  kühnes 
Beginnen,  das  Reich  der  Musen  auszudehnen  und  sieht  mitleidig  auf  die 
mythologischen  und  historischen  Themate  herab,  welchen  die  Dichter  bis- 
her ihre  Kräfte  gewidmet  haben.  Sein  Selbstgefühl  steigert  sich,  wenn  er 
der  Schwierigkeiten  gedenkt,  die  er  zu  überwinden  hat.  Sein  Stoff  ist 
ein  spröder  (3,  39): 

ornari  res  ipsa  negat,  contenta  doceri 

und  es  ist  strenge  stufonmässige  Anordnung  nötig,  um  dem  Leser  das 
Verständnis  des  Ganzen  zu  erschliessen ;  in  reizenden  Bildern  von  den 
Kindern,  welche  das  Lesen  lernen,  und  von  den  Kolonisten,  welche  eine 
neue  Stadt  aufführen,  legt  er  dieses  allmählich  fortschreitende  Verfahren 
dar.  Auch  die  Terminologie  ist  nicht  leicht  zu  gewinnen;  ohne  Ent- 
lehnungen aus  dem  Griechischen  will  es  nicht  gelingen  (2,  694  5,  646). 
Allein  die  Erhabenheit  des  Stoffs,  die  Schilderung  der  in  der  Sternenwelt 
lebenden  und  webenden  Gottheit  verleiht  dem  Dichter  Mut  für  sein  schweres 
Vorhaben.    Seine  Lehre  trägt  er  in  fünf  Büchern  vor.    Das  erste  gibt  die 


0  Schon  hier  muss  ein  Fehler  dieses 
allgemeinen  Teiles  berichtigt  werden.  Im 
Manuskript  hiess  es:  ,Der  Rhetor  Garina  Se- 
cundus  wurde  —  verbannt/  Statt  des  rich- 
tigen , verbannt*  las  der  Setzer  , verbrannt", 
was  bei  der  Korrektur,  die  ohne  Manuskript 
vorgenommen  wurde,  eine  stilistische  Ände- 


rung nach  sich  zog  (dem  Feuertod  fiber- 
liefert). Weiter  ist  die  Form  ,,Carina',  die 
I.  Bekkbr  in  seinem  Index  zu  Dio  Cassias 
p.  464  hat,  zu  ersetzen  durch  «Garrinas*^, 
wie  die  Inschriften  bieten,  vgl.  die  neuer- 
dings Deltion  1891  p.  62  publizierte  (Nipper- 
DKY,  Tacit.  Ann.  13, 10). 


245 


astronomische  Grundlage.  Der  Himmel  ist  das  Operationsfeld  des  Astro- 
logen, seine  Kenntnis  ist  daher  demselben  unentbehrlich.  Dieses  Buch 
nimmt  daher  eine  Sonderstellung  ein  und  tritt  in  Gegensatz  zu  den  vier 
folgenden,  in  welchen  die  eigentliche  Astrologie  behandelt  ist.  Von  den- 
selben schildert  das  zweite  den  astrologischen  Himmel,  das  dritte  und 
vierte  führen  in  die  praktische  Anwendung  der  Astrologie  ein.  Die  Theorie 
stützt  sich  auf  die  Sternbilder  des  Tierkreises.  Damit  hätte  der  Dichter, 
wie  er  selbst  sagt,  schliessen  können;  allein  er  wendet  sich  jetzt  auch  zu 
den  übrigen  Gestirnen.  Als  Manilius  an  die  Ausarbeitung  seines  Gedichts 
schritt,  wünschte  er  sich  ein  hohes  und  friedliches  Alter  (1,115),  um  das 
Ziel,  das  er  sich  gesteckt,  zu  erreichen.  Aber  so,  wie  das  Gedicht  uns  jetzt 
vorliegt,  ist  dasselbe  nicht  vollendet.  Einige  Ankündigungen  des  Dichters 
sind  nicht  erfüllt,  das  fünfte  Buch  lässt  einen  ganzen  Teil  vermissen;  im 
Eingang  verspricht  der  Dichter  die  Wirkungen  der  Gestirne  beim  Auf- 
gang und  beim  Untergang  zu  schildern  (27),  allein  von  den  untergehenden 
Gestirnen  ist  keine  Rede.  Dann  hatte  der  Dichter  noch  die  Absicht  ge- 
habt, von  den  Planeten  zu  reden  (2,  965  3, 581),  auch  diese  Absicht  blieb 
unausgeführt.  0  Sonach  ist  das  Wahrscheinlichste,  dass  er  durch  den  Tod 
an  der  Vollendung  des  Ganzen  verhindert  wurde.  Allein  trotzdem  wir 
einen  Torso  in  dem  Gedichte  haben,  übt  derselbe  doch  eine  grosse  An- 
ziehungskraft auf  uns  aus.  Was  uns  für  die  Schöpfung  des  Dichters  in 
hohem  Grade  einnimmt,  ist  die  hohe  Begeisterung,  die  ihn  für  seine  Welt- 
anschauung erfüllt  Der  Stützpunkt  dieser  Weltanschauung  ist  der  Ge- 
danke von  der  Einheit  der  Welt  und  die  Überzeugung,  dass  alles  im  Uni- 
versum an  eine  feste  Ordnung  gekettet  ist.  Es  ist  der  göttliche  Geist, 
der  das  All  belebend  durchdringt;  derselbe  hat  auch  die  Schicksale  des 
Menschen  geordnet,  indem  er  sie  von  den  Sternen  abhängig  macht  (3,  58): 

fata  qtwqne  et  titaa  hominum  auspendit  ab  astria. 

Dort  ist  ja  der  Sitz  der  Gottheit.  Der  Himmel  ist  sonach  unser 
Vater,  mit  ihm  sind  wir  durch  ein  unlösbares  Band  verknüpft.  Es  ist 
eine  Doppelwelt,  die  himmlische  hat  ihr  Abbild  in  der  irdischen.  Alles 
ist  daher  unabänderlichen  Gesetzen  unterworfen  (4,14): 

fata  regunt  orbem,  certa  stant  omnia  lege. 

Dieser  Fatalismus  schliesst  alle  Freiheit  des  Menschen  aus.  Derselbe 
kann  nichts  anders  thun,  als  die  Sterne  über  sein  Geschick  befragen. 
Durch  diese  Erkenntnis  wird  er  gottähnlich  und  erhebt  sich  hoch  über 
die  Tiere. 

Es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  diese  Anschauung  poetisch  verwert- 
bare Elemente  in  sich  schliesst,  und  dass  Manilius  es  verstanden  hat,  die- 
selben zur  Geltung  zu  bringen.  Auf  Goethe  haben  die  Worte  des  Dich- 
ters (2,115): 


0  Vgl.  Bechebt,  p.  18  neque  illa  pars, 
quae  ad  occidentia  spectat  sidera,  quam  in 
sexto  libro  a  poeta  esse  ahsolutam  a  proba- 
bilitate  non  videtur  abhorrere,  neque  haec  pla- 
netarum  doctrina  usquam  legitur,  quamqtutm 
omnia  illa  olim  in  Manilianis  codicüms  scripta 
fuisse  eo  evincitur,  quod  Firmicus  Maternus, 


quem  extremes  Manilii  libros,  quamqunm 
fönte  nusquam  indicato,  sedulo  exscripsisse 
constat,  etiam  iUos,  cum  septimum  et  octavum 
maiheseos  libros  scriberet,  ante  oculos  habuit. 
Allein  diese  von  Scaliger  herrührende  An- 
sicht ist  nicht  wahrscheinlich.  (Woltjeb 
p.  48.) 


24.6    BOmieche  Litteratargeoohicbte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

quis  caelum  possU  nisi  caeli  munere  nosse 

et  reperire  deum,  nisi  qui  pars  ipse  deorum  est  f 

den  tiefsten  Eindruck  gemacht.')  Nicht  selten  erinnert  uns  die  grosse  Ein- 
dringlichkeit, mit  der  er  seine  Sätze  vorträgt,  an  seinen  berühmten  Vorgänger 
Lucretius.  Auch  für  die  Belebung  seines  Stoffes  sorgt  der  Dichter;  durch 
glänzende  Prooemien  und  durch  herrliche  Schilderungen  von  den  verschiedenen 
Charakteren  und  Bestrebungen  der  Menschen^)  fesselt  er  den  Leser;  eine 
Hauptzierde  des  Werkes  ist  die  ins  fünfte  Buch  (538)  eingestreute  Er- 
zählung von  Andromeda  und  Perseus,  welche  mit  aller  Kunst  durchge- 
führt ist.  Freilich  die  abstrusen  Lehren  der  Astrologie  leisten  der  poeti- 
schen Fassung  Widerstand.  Es  kommt  hinzu,  dass  der  Schriftsteller  in 
der  Grundlage  seiner  Disziplin,  der  Astronomie,  keine  tieferen  Kenntnisse 
besitzt  und  sich  daher  nicht  selten  Blossen  gibt.  Auch  die  astrologischen 
Lehren  treten  mitunter  in  verschwommener  Gestalt  vor  unsere  Augen. 
Endlich  ringt  der  Dichter  noch  sichtlich  mit  dem  Ausdruck,')  wenn  auch 
mit  dem  Fortschreiten  der  Dichtung  seine  Kräfte  wachsen.'^)  Durch  diese 
Dinge  wird  ein  harmonischer,  befriedigender  Eindruck  der  ganzen  Arbeit 
vereitelt. 

Über  die  Persönlichkeit  des  Dichters  sind  wir  völlig  ununterrichtet, 
nicht  einmal  der  Name  desselben  ist  Zweifeln  entrückt.  Nur  die  Zeit,  in 
der  sein  Gedicht  zu  stände  kam,  vermögen  wir  aus  vereinzelten  Andeu- 
tungen zu  erschliessen,  wir  gelangen  unter  die  Regierung  des  Tiberius.  Dass 
er  dem  Prinzipate  seine  Huldigung  darbrachte,  ist  bei  seiner  fatalistischen 
Gesinnung  nicht  zu  verwundern. 

Der  Name  und  die  Heimat  des  Dichters  ist  sehr  unsicher.  Leider  ist  in  der 
besten  Handschrift,  dem  Gemblacensis  die  Überschrift  ausradiert  und  erst  von  einer  Hand 
des  16.  Jahrhunderts  Mälius  poeta  hinzugefügt.  Im  Lipsiensis  1465  und  im  Leidensis  18 
lautet  die  Überschrift:  Ärati  philosophi  Astronomicon  liher  primus.  Auch  hier 
schrieb  eine  ganz  junge  Hand  darüber:  Marci  Manilii.  Im  Leidensis  3  lesen  wir  die 
Worte:  M.  Mallii  Equom.  astronomicon  divo  oct,  quirino  aug,prooemium  liher 
pritn.,  im  Vossianus  III :  Marci  Mallii  Antiochi  Poeni  astronomicon  divo  Octavio 
Quirino  Augusto.  Der  Laur.  30,  15  hat  Marci  Manlii  poetae  clarissimi  astro- 
nomicon lihri  V ad  Caesarem  Augustum,  der  Vaticanus  3099  M.  Mallii  poetae  Illu- 
stris  ad  Octavianum  Augustum  Astronomicon  l.  /,  der  Urbinas  668  M,  Manilii 
Boeci  astronomici  liher  primus,  der  Cassinensis  C.  Manilii  poetae  illustris 
Astronomicon,  (Vgl.  Bechert  p.  4 — 15).  In  einem  Madrider  Codex  heisst  es  M,  Ma- 
nilii Astronomicon  liher  primus  explicit^  später  M.  Manilii  Boetii  Astrono- 
micon liher  II  explicit  (im  Leidensis  3  M,  Mallii  hoeni  astronomicon  liher  II 
explicit).  Gebbert  citiert  „M.  Manlius  de  astrologia*  (Ep.  p.  117  Havet).  —  Ellis 
(Noctes  Manilianae  p.  218)  „On  the  name  of  3/.*'.  Freieb  p.  3  {de  carminis  inscrip- 
tione).  Aus  der  Sprache  und  andern  Indicien  hat  man  geschlossen,  dass  Manilius  ein  Pro- 
vinziale  war,  indem  man  bald  dieses  bald  jenes  Land  als  seine  Heimat  bezeichnete.  Allein 
die  Gründe  für  diese  Vermutung  sind  ganz  unzureichend.  Nichts  nötigt  uns  Manilius  für 
einen  Nichtrömer  zu  halten.    (I^iaemeb,  De  Manilii  Astronomicis,  Marburg  1890,  p.  67). 

Zeit  des  Gedichts.  Ein  unbestreitbares  Indicium  bietet  die  Erwähnung  der  Schlacht 
am  Teutoburger  Wald  (1,898): 


')  Ellis,  Noctes  Manilianae  p.  VIH.  excipiat  longas  nova  per  compendia  voces. 

^)  Vgl.  z.  B.  über  den  Pantomimen  5, 479  ^)  Vgl.  die   häufige  Wiederholung   des- 

und  über  den  Stenographen  (4, 197):  selben  Wortes  (Bechert  p.  47). 
hinc  et  scriptor  erit  velox,  cui  litera  verhum  est,  *)  Cbaker,    De  Manilii  qui  dicitttr  do- 

quique  notis  linguam  super  et  cursimque  lo-  cutione  p.  42. 

quentis 


M.  Manüius.  247 

•  ut  foedere  rupto 

cum  fera  ductorem  rapuit  Germania  Varum 

infecUque  trium  legionum  sanguine  campos 

arserunt  toto  passim  volitantia  mundo 

lumina 
Sonach  muss  das  I.  Buch  nach  9  n.  Chr.  geschrieben  sein.    Aber  wie  lange  nach  diesem 
Jahr?    Die  Antwort  soll  nach  der  Ansicht  einiger  Gelehrten  (Jacob)  4,764  geben: 

est  Rhodos,  hospitium  recturi  principis  orbem 
tumque  domus  vere  soUs,  cui  tota  sacrata  est, 
quum  caperet  lumen  magni  sub  Caesare  mundi. 

Aus  diesen  Worten,  welche  auf  das  Exil  Tibers  in  Rhodus  anspielen,  wollte  man  schliessen, 
dass  Tiberius  damals  erst  zur  Regierung  bestimmt  war,  sonach  Augustus  noch  auf  dem 
Thron  sass.  Es  wären  daher  die  4  ersten  Bücher  des  Gedichts  unter  Augustus  ent- 
standen. Der  Schluss  wäre  richtig,  wenn  jene  Worte  zur  Zeit  des  Exils  des  Tiberius,  das 
von  6  y.  Gh.  bis  2  n.  Ch.  dauerte,  geschrieben  wären.  Allein  eine  solche  Annahme  macht 
die  erste  Stelle  unmöglich.  Reciurus  bezieht  sich  nur  auf  die  Zeit  des  Exils  wie  hospi- 
tium, nicht  auf  die  Gegenwart.    Dagegen  gibt  eine  andere  Stelle  die  Entscheidung  (1,798): 

Venerisque  ab  origine  proles 
Julia  descendit  eaelo,  eaelumque  repJevit; 
quod  regit  Augustus  socio  per  signa  Tonante, 
cernit  et  in  coetu  ditmm  magnumque  Quirinum, 
altius  aetherei  quam  candet  circulus  orbis. 
Diese  Verse  können  ungezwungen  nur  auf  den  vergötterten,  d.  h.  verstorbenen  Augustus 
gehen.     Damit  kommen  wir  mit  dem  ganzen  Gedicht  in  die  Zeit  des  Tiberius.    Auf  diesen 
lassen  sich  auch  die  übrigen  Stellen,  welche  Zeitanspielungen  enthalten,  beziehen  (4,  934) : 

iam  facit  ipse  deos,  mittitque  ad  sidera  numen, 
maius  et  Äugusto  crescit  sub  principe  caelum 
Was  Lachmann  richtig  erklärt  (p.  43):   scilicet  Augustum  Tiberius  deum  fecit,  (vgl.  Vell. 
Paterc.  2, 126)  eoque  in  caelo  imperante  crescit  deorum  numerus,  Tiberio  caeterisque  posteris 
olim  caelitum  coetui  accessuris. 

cetera  {sidera)  non  cedunt;  uno  vincuntur  in  astro, 
Augustum  sidus  nostro  quod  contigit  orbi, 
Caesar  nunc  terris^  post  caelo  maximus  auctor.    (1,  384) 
Der  Dichter  will  sagen,   dass  die  südlichen  Gestirne  den  nördlichen  nicht  nachstehen,  ja 
durch  ein  Gestirn  den  Vorrang  erhalten.    Die  den  Versen  zu  Grunde  liegende  Anschauung 
ist,  dass  alle  Julier  nach  ihrem  Tode  in  das  julische  Gestirn  übergehen.    Jetzt  heisst  es 
Augustum,  nach  Tiberius  Tode  wird  es  dessen  Namen  erhalten. 

hinc  Pompeia  manent  veteris  monumenta  triumphi 

non  exstincta  acie,  semperque  recentia  flammis 

et  Mithridateos  vultus  induta  tropaea.    (5, 313) 
Tiberius  hatte  im  Jahre  22  n.  Ch.  das  abgebrannte  {igne  foriuito  haustum)  Pompeianischc 
Theater  wieder  hergestellt  (Suet.  Tib.  47). 

Auch  die  dehnbareren  Stellen  lassen  die  Beziehung  auf  Tiberius  zu  wie  (1,7): 

hunc  mihi  tu,  Caesar,  patriae  princepsque  paterque, 

qui  regis  augustis  parentem  legibus  orbem 

concessumque  patri  mundum  deus  ipse  mereris, 

das  animum  mresque  facis  ad  tanta  canenda. 
Hier  ist  zu  bemerken,  dass,  wenn  sich  auch  Tiberius  den  Titel  „pater  patriae"  verbat,  er 
doch  so  vom  Volk  genannt  wurde  (Tac.  Ann.  1,  72). 

LACHMAiofs  Scharfsinn  (El.  Seh.  p.  42)  hat  also  das  Richtige  gesehen,  dass  alle 
Bücher  des  Manilius  in  die  Zeit  des  Tiberius  fallen.  Vgl.  Freieb,  De  M.  Mnnilii  quae  ferunfur 
ctstronomicon  aetate,  Gott.  1880,  der  die  Lachmann*sche  Ansicht  verficht.  Mit  Unrecht 
wurde  dieselbe  bekämpft  von  Ebaexer,  De  Manilii  qui  fertur  astronomiciSy  Marburg  1890, 
der  das  Werk  der  Augusteischen  Regierungszeit  zuweist,  jedoch  mit  der  Eonzession:  fieri 
potest,  ut  in  quinto  libro  facienda  occupatus  huius  {Augusti)  mortem  superaverit  (p.  63). 

Überlieferung.  Der  beste  Zeuge  ist  der  Gekblacknsis  in  Brüssel  10012  s.  X/XI. 
—  Bechert,  De  Manilii  emendandi  ratione,  Leipz.  Stud.  1, 1. 

Ausgaben.  Übersicht  bei  Eraeher  p.  5.  Von  grosser  Bedeutung  waren  die  drei 
ScALiOER'schen  Ausgaben  (Paris  1579.  1590  Leyden  1600).  Bei^tlet's  Ausgabe  publizierte 
sein  Neffe,  London  1739.  Jüngste  Ausgabe  von  Jacob,  Berlin  1846.  Eine  neue  Kecension 
des  Dichters  ist  dringendes  Bedürfnis.  —  Ellis,  Noctes  Manilianae,  Oxford  1891  (kritische 
Behandlung  des  ganzen  Werks).    Im  allgemeinen  Höbleb,  Astrologie  im  Altertum,  Zwickau 


248    Römische  LitteratargoBohichie«    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilang. 


1879,   der  aber  leider  nicht  auf  das  aairologischo  System  des  Manilius  genauer  eingeht. 
WoLTJBB,  De  Manilio  pacta j  Groningen  1881, 

2.  Germanicus. 

364.  Die  Aratea  des  Germanicus.  Bei  den  Alten  war  die  Kenntnis 
des  gestirnten  Himmels  ungleich  verbreiteter  als  bei  uns,  sie  war  ein  Be- 
standteil der  allgemeinen  Bildung.  Gern  flochten  die  Dichter  Schilderungen 
der  Sternbilder  in  ihre  Darstellungen  ein,  gern  berührten  sie  die  mit  den- 
selben verknüpften  Sagen.  Aber  auch  astronomische  Lehrgedichte  konnten 
auf  Beifall  rechnen.  Bei  den  Griechen  fanden  die  Phaenomena  des  Aratos,  *) 
eines  Zeitgenossen  des  Königs  Antigenes  Gonatas,  an  dessen  Hof  er  lebte, 
und  eines  Freundes  des  Theokrit  grosse  Verbreitung.  Auch  die  Römer 
lasen  dieses  Gedicht  sehr  eifrig.  Von  seiner  Popularität  legen  die  drei 
lateinischen  Bearbeitungen  desselben  Zeugnis  ab.^)  Eine  dieser  Über- 
setzungen haben  wir  bereits  kennen  gelernt,  es  war  ein  Versuch  Giceros 
(§  176).  unser  Zeitraum  lehrt  uns  eine  zweite  kennen.  Sie  trägt  in  der 
massgebenden  Überlieferung  den  Namen  des  Claudius  Caesar;  der  Dichter 
ist  also  ein  Angehöriger  der  Claudischen  Familie  und  zwar  ist  es  Ger- 
manicus, der  Sohn  des  Drusus,  und  Germanicus  wird  er  auch  in  der 
geringeren  Überlieferung  genannt.  Derselbe  (geb.  15  v.  Ch.,  gest.  19  n. 
Ch.)  war  durch  hohe  Bildung  ausgezeichnet,  er  war  ein  vortreflflicher 
Redner,  er  war  auch  Dichter,  unter  ander m  hinterliess  er  Komödien  in 
griechischer  Sprache.^)  Seinen  rednerischen  und  dichterischen  Ruhm  ver- 
herrlichte nicht  ohne  Absicht  der  Verbannte  in  Tomi.  Die  Bearbeitung 
der  Phaenomena  ist  im  Ganzen  ein  gelungenes  Werk;  sie  steht  entschieden 
über  der  Ciceronischen;  der  Dichter  ist  Sachkenner  und  nimmt  die  Ände- 
rungen vor,  welche  der  Stand  der  Astronomie  zu  seiner  Zeit  notwendig 
machte;*)  er  bewegt  sich  überhaupt  dem  Original  gegenüber  mit  Freiheit, 
er  setzt  zu  und  streicht,  bei  Mythen  deutet  er  manchmal  durch  einen  Zu- 
satz seine  ablehnende  Haltung  an.^)  Gleich  der  Eingang  zeigt  eine 
charakteristische  Selbständigkeit.  Aratos  hatte  sein  Gedicht  mit  einem  Lob 
des  Zeus  begonnen;  dieses  Lob  lehnt  aber  Germanicus  ab  und  huldigt  dem 
Kaiser,  seinem  „Erzeuger"  (genitor);  dem  Friedensfürsten,  der  den  Schiffen 
das  Meer  und  dem  Landmann  seinen  Boden  zurückgegeben,  sollen  die 
Erstlinge  seiner  gelehrten  Arbeit  gewidmet  sein.  Dieser  Kaiser  kann  nur 
Tiberius  sein,  denn  Germanicus  hatte  seine  Aratea  nach  dem  Tode  des 
Augustus  geschrieben  (558).  Dass  Germanicus  den  Tiberius,  der  ihn  im 
Jahre  4  n.  Ch.  adoptierte,  Erzeuger  (genitor)  nannte,  ist  zwar  eine  Unge- 
nauigkeit  des  Ausdrucks,  allein  dieselbe  ist  nicht  unerhört.  Zu  den  Phae- 
nomena fügte  Germanicus  auch  noch  Prognostica,  von  welchen  sich  nur 


')  Über  dieses  Gedicht  vgl.  die  ein- 
gehende Würdigung  bei  Couat,  La  Pcüsie 
Alexandrine,  Paris  1882  p.  447.  Die  Ent- 
stehungszeit der  Phaenomena  setzt  er  zwischen 
260  und  250. 

^)  Berücksichtigt  hatte  dasselbe  auch 
Vabbo  Atachtus  in  seiner  Ephemeris  (§  109). 

^)  Suet.  Calig.  3  Claud.  11.     Auch  Ge- 


legenheitsgedichte gab  es  von  ihm  (Plin.  n- 
h.  8, 155). 

*)  Er  schöpfte  aus  einem  gelehrten  Kom- 
mentar, in  dem  vorzugsweise  der  Astronom 
Hipparchos  berücksichtigt  war  (Matbaum 
p.  48). 

*)  Z.  B.  durch  vere  264,  166,  durch  ve- 
teri  si  yratia  famae  31. 


QennanioaB.    PhaedruB.  249 

einige  Fragmente  erhalten  haben;  dieselben  sind  von  Aratos  JiOffr^fAeTai^) 
unabhängig. 

Besonders  wegen  des  „genitor"  wollte  man  als  Verfasser  der  Aratea  Domitian,  der 
den  Beinamen  Germanicus  führte»  hinstellen;  diese  von  Rutoers  (var.  lect.  IT|  9  p.  122) 
vertretene  Ansicht  hat  sich  zuletzt  Schekkl,  Sitzungsher.  der  Wien.  Akad.  68  (1871)i  274 
angeeignet.  Allein  schon  die  Üherlieferung,  die  deutlich  den  Dichter  als  Claudier  bezeichnet, 
spricht  dagegen,  dann  der  Umstand,  dass  Domitian  erst  als  Kaiser  (83)  den  Beinamen 
Germanicus  führte,  endlich  das  Schweigen  der  vielen  Schmeichler  Domitians  von  diesem 
Gedicht  (Ihhof,  Domitian  p.  29). 

Dass  die  Partie,  in  welcher  der  Tod  des  Augustus  erwähnt  wird,  nämlich  die  Schil- 
derung  des  Tierkreises  mit  Unrecht  angefochten  wird,  legt  dar  Matbauk,  De  Cicerone  et 
Germanico  Ärati  interpr.,  Rostock  1889  p.  19. 

Überlieferung.  Wir  unterscheiden  zwei  Klassen  von  Handschriften,  die  Grund- 
lage der  Recension  ist  die  erste  und  von  den  Handschriften  derselben  ist  die  normgebende 
die  Baseler  (A.  N.  IV  18)  s.  VIH  oder  IX.    (Maybaum  p.  30  u.  p.  35.) 

Ausgaben.  Epochemachend  ist  die  von  Hugo  Grotiüs,  Leyden  1600.  Cum  scholüs 
ed.  A.  Breysig  Berl.  1867,  von  Bährens  PLM  1, 148. 

Die  Scholien  zu  Germanicus.  Von  der  Beliebtheit  des  Gedichts  zeugen  die 
Scholien,  welche  sich  um  dasselbe  gruppiert  haben.  Die  sichtende  Betrachtung  ergibt 
zwei  Scholienmassen : 

1)  die  scholia  Basileensia,  überliefert  durch  den  genannten  Basler  Codex  und 
den  Parisinus  nr.  7886.  Quellen  waren  die  Catasterismen  des  Eratosthenes  in  ausführ- 
licherer Fassung  und  Nigidius  (Robebt,  Eratosth.  p.  20).  Dieselben  benutzte  bereits 
Lactantius  Firmianus,  er  scheint  sie  in  demselben  Band,  in  dem  auch  der  Germanicus 
stand,  vor  sich  gehabt  zu  haben  (Robebt,  Eratosth.  p.  9); 

2)  die  andere  Scholienmasse  sind  die  acholia  Sanger manensia,  so  genannt 
nach  der  Hauptquelle,  dem  cod.  Sangermanensis  778  s.  IX.  Auch  hier  sind  die  Kata- 
sterismen des  Eratosthenes  benutzt,  daneben  noch  andere  Autoren  wie  Fulgentius,  PUnius, 
Hygin  u.  s.  f. 

3)  Aus  beiden  Scholienmassen  wurde  eine  neue  kombiniert  (Robert  p.  205);  hinzugefügt 
wurden  Stücke  aus  Plinius,  Marianus  Capella,  Hyginus  (die  aus  dem  letzten  ausgeschriebenen 
Fabeln  zeigen  eine  bessere  und  von  Interpolationen  freiere  Gestalt  vgl.  Robebt  p.  220, 
dagegen  Gbuppe,  Philol.  47, 335)  und  andere.  Diese  Scholien  heissen  die  scholia  Stroz- 
ziana,  ihre  Quellen  sind  ein  Strozzianus  in  der  Laurentiana  s.  XIV  und  der  Urbinas  1358  s.  XV. 

Die  Scholien  finden  sich  in  der  Ausgabe  des  Germanicus  von'BBSTSia  und  in  der 
Ausgabe  des  Martianus  Capella  von  Eyssenhabdt. 

Die  Catasterismi  des  Calpurnius  Piso.  Hier  mag  noch  das  Gedicht  des  Cal- 
pumius  Piso  erwähnt  sein,  von  dem  der  jüngere  Plinius  sagt  (ep.  5, 17):  recitabat  xarn- 
arBQUtfÄfoy  erudiiam  sane  luciUentamque  materiam.  Scripta  degis  erat  flueniibus  et  teneris 
et  enodibus,  »ubJimibus  etiam,  ut  poposcit  locus. 

3.  Phaedrus. 

366.  Leben  und  Schriftstellerei  des  Phaedrus.  Was  wir  über 
das  Leben  des  Phaedrus  wissen,  ist  nicht  viel  und  lediglich  aus  seiner 
Fabelsammlung  zu  schöpfen.  Von  seiner  Heimat  spricht  er  im  Prolog 
zum  3.  Buch  (17): 

ego,  quem  Pierio  mater  enixa  est  iugo. 

Schon  im  17.  Jahrhundert^)  hat  man  die  Worte  bildlich  verstehen  wollen, 
als  wenn  Phaedrus  damit  sage,  er  sei  ein  Zögling  der  Musen;  auch  neuer- 
dings') ist  diese  Meinung  wieder  aufgetaucht,  allein  dass  sie  unrichtig 
ist,  beweisen  die  folgenden  Verse,  in  denen  er  sich  darum  zu  dem  Phrygior 
Äsop  und  zu  dem  Scythen  Anacharsis  in  Gegensatz  stellt,   weil  er  „dem 


')  Diese  bilden  einen  Anhang  zu  den 
Phaenomena. 

')  Z.  B.  in  der  Ausgabe  Pagbnstechebs, 
Duisburg  1662  (Hervieux  1, 8). 


>)  Vgl.  WöLPPLiN,  Rhein.  Mus.  39,  157; 
HABTfiL,Wien.Stud.7,i51.  Dagegen  Schwabe, 
Rhein.  Mus.  39, 476.  (Anders  UABflCAN,  De 
Phaedri  fabulis,  p.  3). 


250    RömiBche  Litteratargeschichte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 


gelehrten  Griechenland  näher  sei''.  Seine  Heimat  ist  also  Pierien  und  da 
die  älteren  Bewohner  Pieriens  Thraker  waren,  so  konnte  er  Orpheus  und 
Linus  zu  seinen  Landsleuten  zählen.  Phaedrus  kam  frühzeitig  in  lateinisch 
redende  Gegenden,  da  er  uns  als  eine  Reminiszenz  aus  seinem  Schul- 
unterricht einen  Vers^  des  Ennius  mitteilt  (3  epil.  34).  Die  Überschrift 
der  Fabelsammlung  bezeichnet  ihn  als  einen  Freigelassenen  des  Augustus. 
Ein  brennender  Ehrgeiz,  von  dem  seine  Gedichte  noch  Zeugnis  ablegen, 
trieb  ihn  zur  Dichtkunst;  er  brachte  äsopische  Fabeln  in  lateinische  Senare. 
Als  er  Stoff  für  zwei  Bücher  beisammen  hatte,  trat  er  damit  vor  die 
Öffentlichkeit;  im  Eingang  zum  ersten  Buch  will  er  nur  Bearbeiter  Äsops 
sein,  dagegen  im  Eingang  zum  zweiten  Buch  erklärt  er,  obwohl  er  der 
Weise  Äsops  treu  bleiben  werde,  gedenke  er  doch  hie  und  da  zur  Abwechs- 
lung etwas  Neues  einschieben.  Und  wirklich  bietet  das  zweite  Buch  eine 
Erzählung  aus  dem  Leben  des  Tiberius  (5).  In  einem  Epilog  zum  zweiten 
Buch  spricht  er  von  der  Aufnahme,  die  sein  Werk  beim  Publikum  wohl 
finden  würde,  schon  hier  schlägt  er  einen  selbstbewussten  Ton  an  (8): 

quod  si  labori  faverit  Latium  meo, 
plures  hahebit,  qiws  opponat  Graeciae. 

Als  er  das  dritte  Buch  folgen  Hess,  war  in  dem  äussern  Leben  des  Dichters 
eine  grosse  Veränderung  eingetreten;  er  war  in  eine  sehr  schlimme  Lage 
geraten  und  zwar  auf  eine  Anklage  des  Seianus  hin ;  er  wendet  sich  daher 
in  einem  Prolog  an  einen  Eutychus  und  bittet  ihn  (Epil.  25)  um  einen  ge- 
rechten Bescheid,  dies  müsse  aber  baldigst  geschehen,  wenn  nicht  vorher  der 
Tod  ihn  von  seinen  Leiden  befreien  solle.  Dieser  Eutychus  kann  kein  anderer 
sein  als  der  in  den  letzten  Kegierungsjahren  Caligulas  mächtig  gewordene 
Wagenlenker  Eutychus.  Welches  die  üble  Lage  des  Phaedrus  war,  in  die  er 
gekommen,  wissen  wir  nicht.  Dass  dieselbe  durch  seine  Gedichte  verursacht 
wurde,  deutet  er  Prol.  III,  40  an.*)  Sonach  muss  das  dritte  Buch  etwa 
40  erschienen  sein,  die  zwei  ersten  Bücher  vor  dem  Sturz  des  Seianus,  also 
vor  31  n.  Ch.  Mit  dem  dritten  Buch  wollte  der  Dichter  von  der  Muse 
Abschied  nehmen,  es  sollte  auch  anderen  etwas  zur  Bearbeitung  übrig 
bleiben.  Allein  er  besann  sich  doch  eines  Besseren  und  schrieb  ein  viertes 
Buch,  das  er  einem  Particulo,  den  er  (Epil.  5)  „vir  satictissmus"  nennt, 
widmet.  Als  Phaedrus  alt  geworden,  veröffentlichte  er  noch  ein  fünftes; 
in  der  letzten  Fabel  redet  er  einen  Philetes  an. 

Das  ist  das  Korpus  der  Phaedrischen  Fabeln,  wie  es  uns  durch  die 
Handschriften  überliefert  ist.  Allein  wenn  wir  die  Verszahl  und  die  An- 
zahl der  Fabeln  in  den  einzelnen  Büchern  betrachten,  ergeben  sich  grosse 
Verschiedenheiten,  wie  aus  folgender  Zusammenstellung  erhellt:^) 

I    31  Fabeln  mit  361  Versen 


U      8 


*)  Wahrscheinlich  aus  einem  Florile- 
gium. 

*)  Die  Worte  lauten  „in  calamitatem 
dcligens  quciedam  meam^,  deren  Sinn  ist: 
,Zu  meinem  Unglück  manche  Stoffe  aus- 
wählencP.  Man  betrachtet  als  diese  Gedichte 
gewöhnlich  1,2  1,6.    Andere  Gelehrte,  be- 


173 


sonders  Hartman,  De  Phaedri  fab.,  p.  4  und 
5  wollen  die  Worte  so  verstehen  «manche 
Stoffe,  die  auf  mein  Unglflck  passen,  aus- 
wählend". Nur  die  erste  Erklärung  ist  die 
richtige.  Vgl.  L.  Müller,  Berliner  Philol. 
Wochenschrift  1890  nr.  41  p.  1302. 
*)  BiRT,  Buchwesen  p.  385. 


Phaedrns. 


251 


III  19  Fabeln  mit  403  Versen 

IV  25      .  ,    423      „ 
V    10      ,          „     174      , 

Das  zweite  und  fünfte  Buch  stehen  an  Umfang  so  sehr  hinter  den 
übrigen  zurück,  dass  sie  sofort  den  Verdacht  der  Lückenhaftigkeit  erregen. 
Es  kommt  hinzu,  dass  im  Eingang  (6)  Phaedrus  ankündet,  dass  nicht 
bloss  die  Tiere,  sondern  auch  die  Bäume  sprechen  werden;  allein  diese 
Ankündigung  erfüllt  sich  nicht;  im  Eingang  zum  5.  Buch  erläutert  er, 
warum  er  den  Namen  Asop  gebrauchen  werde,  allein  auch  dies  geschieht 
im  Verlauf  des  fünften  Buchs  nirgends.  Sonach  müssen  wir  schliessen, 
dass  die  überlieferte  Fabelsammlung  des  Phaedrus  nur  den  Auszug  aus 
einer  grösseren  darstellt.  Zum  Glück  können  wir  aus  andern  Quellen 
die  unvollständige  Sammlung  ergänzen,  wie  dies  die  Geschichte  der  Fabel- 
sammlung darthun  wird. 

366.  Schicksale  der  Phaedrischen  Fabelsammlung.  Als  Phaedrus 
seine  Fabeln  schrieb,  war  er  fest  überzeugt,  dass  er  sich  damit  die  Un- 
sterblichkeit errungen.  Allein  es  fehlte  nicht  viel,  und  sein  Namen  wäre 
der  Vergessenheit  anheim  gefallen.  Als  der  verbannte  Philosoph  Seneca 
seine  Trostrede  an  Polybius  richtete,  sprach  er  von  der  Fabeldichtung 
als  einer  den  Römern  noch  ganz  unbekannten  Gattung  ^)  (8,  27),  er  wusste 
also  nichts  von  Phaedrus.  Auch  Quintilian  schweigt  da,  wo  er  von  den 
äsopischen  Fabeln  in  Versen  spricht  (1,  9, 2),  von  unserem  Dichter.  Erst 
bei  Martial  taucht  zum  erstenmal  sein  Name  auf  (3, 20, 5) ;  es  ist  bei  ihm 
von  den  improbi*)  loci  Phaedri  die  Bede.  Dann  herrscht  wiederum  tiefes 
Schweigen,  bis  im  4.  oder  5.  Jahrhundert  der  elegische  Fabeldichter  Avi- 
anus  in  seiner  Widmung  an  Theodosius  die  fünf  Bücher  des  Phaedrus  erwähnt. 
Eigentümlich  sind  die  Schicksale  des  Dichters  im  Mittelalter.  Hier  wurden 
seine  Verse  in  Prosa  umgesetzt  und  diese  prosaischen  Bearbeitungen 
drängten  das  Original  ganz  in  den  Hintergrund,  ja  brachten  den  Namen 
des  Autors  fast  in  Vergessenheit.  Wir  kennen  drei  solcher  Sammlungen, 
welche  direkt  aus  dem  Phaedrus  abgeleitet  sind  und  zwar  einem  voll- 
ständigem, eine,  die  sich  in  einer  Leydener  Handschrift  des  XUI.  Jahr- 
hunderts befindet  und  nach  dem  ersten  Herausgeber  (1709)  Ano- 
nymus Nilanti  genannt  wird;  eine  andere,  die  Weissenburger  Samm- 
lung, welche  in  einer  ehemaligen  Weissenburger,  jetzt  in  Wolflfenbüttel 
befindlichen  Handschrift  des  X.  Jahrhunderts  aufbewahrt  wird,  endlich 
eine  dritte,  welche  den  merkwürdigen  Namen  »Romulus"  trägt.  Die 
letzten  beiden  Sammlungen  sind  unter  sich  näher  verwandt.  Die 
grösste  Verbreitung  erlangte  der  Romulus,  er  bildete  wieder  die  Grund- 
lage für  andere  mittelalterliche  Fabelsammlungen,  von  denen  eine  in 
elegischen  Versen  lange  unter  der  Bezeichnung  Anonymus  Neveleti 
umlief,  bis  Hervieux*)  aus  einer  in  der  Würzburger  Universitäts- 
bibliothek vorhandenen  Ausgabe  als  ihren  Verfasser  Walther  von 
England  erkannte.    Wie  diese  lateinischen  Sammlungen  auf  die  Fabel- 


*)  Die  verschiedenen  Erklärungen  dieser 
Stelle  siehe  bei  Hebvieux  1, 151. 

*)  Zur  Erklärung  dieses  „improbi**  eine 
(unwahrscheinliche)    Vermutung    bei    Birt, 


Buchw.  p.  385.  3.  Fbiedlaitdeb  z.  St.  läugnet 
mit  Unrecht  die  Beziehung  auf  den  Fabel- 
dichter Phaedrus. 
»)  1,  447. 


252     BOmifiche  LitteratargeBchichte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 


dichtungen  der  verschiedenen  Nationen  wirkten,  kann  hier  nicht  des 
Näheren  dargelegt  werden.  So  lebte  Phaedrus  in  der  Überarbeitung 
fort,  aber  sein  Name  blieb  verschollen  bis  zur  Mitte  des  15.  Jahr- 
hunderts. Damals  bekam  der  späterhin  durch  sein  Cornucopiae  be- 
kannt gewordene  Nicolaus  Perottus  eine  Handschrift  des  Avianus  und 
eine  solche  des  Phaedrus  unter  die  Hände;  er  schrieb  sich  daraus  Fabeln 
ab ;  ^)  auch  eigene  Gedichte  mischte  er  darunter.  Allein  dieser  Aus- 
zug blieb,  wie  es  schien,  völlig  unbekannt.  Phaedrus  sank  wieder  in 
sein  Dunkel  zurück.  Da  brachte  ihm  das  Jahr  1596  die  Befreiung. 
In  diesem  Jahre  wurde  •  der  Dichter  in  seiner  ursprünglichen  Gestalt 
in  Frankreich  von  P.  Pithou  nach  einem  Manuskript,  das  er  von  seinem 
Bruder  Franciscus  erhalten,  herausgegeben.  Von  nun  an  war  die  Auf- 
merksamkeit der  Gelehrten  für  den  Autor  rege  geworden;  man  begann 
in  den  Bibliotheken  Nachforschungen  zu  halten.  Dem  Jesuiten  Sirmond 
glückte  es  im  Jahre  1608,  in  der  Abtei  von  Saint  Remi  eine  zweite,  dem 
codex  Pithoeanus  sehr  ähnliche  Handschrift  aufzufinden.  Leider  ging  diese 
Handschrift  im  Jahre  1774  bei  einem  Brand  zu  Grund.  Unsere  Kenntnis 
des  Kodex  beruht  daher  nur  auf  einer  von  Berger  mitgeteilten  Kol- 
lation, welche  Vincent  gemacht  hatte  und  welche  der  Pariser  Biblio- 
thek angehört  hatte,  jetzt  aber  nicht  mehr  aufgefunden  werden  kann.^) 
Um  dieselbe  Zeit  war  noch  ein  Fragment  des  Phaedrus,  8  Fabeln  ent- 
haltend, in  den  Besitz  des  berühmten  Peter  Daniel  gelangt;  Rigault  be- 
nützte es  für  seine  Ausgabe  des  Jahres  1599,  dann  entschwand  auch  diese 
Charta  Danielis  den  Augen  der  Gelehrten.  Sie  wurde  für  die  Königin 
Christine  von  Schweden  angekauft,  kam  in  die  Vaticana,  ruhte  hier,  bis 
sie  1831  von  Mai  veröffentlicht  wurde.  Aber  als  wenn  es  das  Schicksal 
besonders  auf  den  armen  Phaedrus  abgesehen  hätte,  nachdem  derselbe 
ans  Licht  gezogen  war,  wurde  seine  Echtheit  in  Zweifel  gezogen;  als 
Stütze  diente  namentlich  die  Senecastelle.  Heute  lächeln  wir  über  diesen 
ganzen  Streit,  der  mit  grosser  Heftigkeit  geführt  wurde.  Nochmals  wogte 
derselbe  auf,  als  die  Perottische  Epitome  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts 
von  Cassitto  und  Janelli  nach  dem  codex  Napolitanus  (und  später  [1831^ 
von  Mai  nach  einem  lesbareren  codex  Vaticanus)  publiziert  wurde  unc 
daraus  30  (oder  31)  neue  Fabeln  ans  Licht  traten.  Hier  war  der  Stand- 
punkt der  Verteidiger  ein  ungleich  schwieriger.  Allein  auch  diese  neuen 
Fabeln,  die  gewöhnlich  als  „Appendix**  den  Ausgaben  beigefügt  werden, 
haben  die  Prüfung  bestanden;  3)  sie  können  nicht  von  Nie.  Perottus  her- 
stammen, sie  weisen  entschieden  auf  dieselbe  Zeit,  in  der  Phaedrus  lebte, 
sowohl  durch  die  Sprache,  wie  Komposition  und  Metrik  als  durch  eine 
ganz  spezielle  Erzählung  von  Pompeius  (nr.  8).  Aber  an  einen  Nachahmer 
des  Phaedrus  zu  denken,  ist  bei  dem  offenbar  geringen  Anklang,  den 
Phaedrus  gefunden,  nicht  wahrscheinlich.  Sonach  lag  dem  N.  Perottus 
eine  vollständigere  Fabelsammlung  des  Phaedrus  vor  als  die  uns  zu  Ge- 


*)  Hkbvibux  1,  129. 

')  Ergänzend  tritt  hinzu  der  in  der  Pariser 
Universitätsbibliothek  vorhandene  Auszug 
aus  dem  Remensis  (Revue  de  philol.  11,  81). 


')  Vgl.  Müller,  De  Phaedri  et  Aviani 
fabulis,  Leipz.  1875,  p.  11,  Birt,  Buchw. 
p.  385,  3. 


Phaedma. 


253 


böte  stehende,  äusserst  lückenhafte.  Inzwischen  ward  auch  der  Kodex, 
aus  dem  Pithou  die  Fabeln  zum  erstenmal  veröffentlicht  hatte,  wieder 
aufgefunden  und  den  Gelehrten  zugänglich  gemacht.  Er  war  im  17.  Jahr- 
hundert in  die  Hände  der  Familie  de  Peletier  gekommen,  welche  denselben 
noch  im  Besitz  hat.  Im  Jahre  1830  publizierte  Berger  de  Xivrey  in  Paris 
das  berühmte  Manuskript. 

Dies  sind  die  Schicksale  der  Überlieferung  des  Phaedrus;  man  möchte 
hier  die  Worte  des  Dichters  anwenden  (2  epil.  18): 

fatale  vUium  carde  durcUo  feram,  « 

donec  fortunam  criminis  pudeat  sui. 

Aus  dieser  Geschichte  ersehen  wir,  dass  seine  Fabelsammlung  uns  zer- 
rissen vorliegt,  und  dass  es  demnach  unsere  Aufgabe  ist,  die  zersprengten 
Teile,  soweit  sie  noch  vorhanden  sind,  wieder  zu  verbinden.  In  erster 
Linie  dienen  uns  dazu  die  französischen  Handschriften,  in  zweiter  die 
Sammlung  des  N.  Perottus,  in  dritter  prosaische  Fabelsammlungen,  aus  der 
wir  etwa  20  neue  herausschälen  können.  Freilich  kann  bei  den  letzten 
die  metrische  Form  mit  Sicherheit  nicht  mehr  hergestellt  werden.  ^ 

Die  Geschichte  der  Überlieferung  des  Phaedrus  behandelt  in  weitschweifiger  Weise 
Hebyietjx,  Les  fabuJistes  latins,  zwei  Bände,  Paris  1884.  —  L.  Mülleb,  De  Phaedri  et 
Aviani  ftümlis,  Leipz.  1875. 

367.  Charakteristik  des  Phaedras.  Einzelne  Fabeln  waren 
schon  vor  Phaedrus  als  Schmuck  in  littorarischen  Erzeugnissen  verwertet 
worden;  so  hatten  Ennius,  Lucilius,  Horaz,  Livius  Fabeln  in  ihre  Werke 
eingestreut;  ^)  die  Fabel  aber  zu  einem  für  sich  bestehenden,  selbständigen 
Zweig  der  römischen  Dichtung  erhoben  zu  haben,  dieses  Verdienst  kann 
Phaedrus  für  sich  in  Anspruch  nehmen.  Phädrus  ist  auf  seine  Schöpfung 
ungemein  stolz,  er  zweifelt  nicht  einen  Augenblick,  dass  sich  an  derselben 
die  kommenden  Geschlechter  ergötzen  werden  (3  pr.  32),  und  verkündet 
in  stolzem  Selbstgefühl  dem  Particulo,  dem  er  das  vierte  Buch  gewidmet 
hatte,  dass  dessen  Namen  leben  werde,  solange  die  römische  Litteratur  in 
Ehren  stehe  (4  epil.  6);  die  Anerkennung  des  Publikums  scheint  ihm  aber 
nicht  in  dem  erwarteten  Masse  zu  Teil  geworden  zu  sein,  denn  er  klagt 
über  Neid  (3  pr.  60),  welcher  ihm  die  gebührende  Stellung  im  Dichterkreis 
versage  (3  pr.  23);  mit  Verachtung  sieht  er  auf  die  Leute  herab,  die  ihn 
nicht  würdigen,  und  vergleicht  sie  mit  dem  Hahne,  der  in  einem  Kehricht 
eine  Perle  gefunden,  mit  der  er  nichts  anzufangen  weiss  (3,12);  an  einer 
Stelle  (4,  7)  höhnt  er  die  „Catonen*,  welche  man  weder  durch  Fabeln  noch 
durch  tragische  Stoffe  zufrieden  stellen  könne.  Doch  um  des  ungebildeten 
Pöbels  Beifall  geizt  er  nicht  (4  pr.  20).  Der  dichterische  Ruhm  ist  ihm 
alles,  das  Streben  nach  äusseren  Oütern  hat  in  seinem  Herzen  keine  Stätte 
(3  pr.  21). 

Phaedrus  ist  in  erster  Linie  Bearbeiter  des  Äsop  und   bei  der  An- 


*)  Eine  Phaedrisclie  Fabel  entdeckte 
BOcHELEB  bei  Gregor,  Bist,  Franc,  4,  9 
p.  146A(Rb.  Mus.  41,3). 

')  Bei  £nnias  stand  die  Fabel  von  der 
Haubenlerche,  Gell.  2, 29  (nr.  481  Bährens), 


bei  Lucilius  im  30.  B.  (80  M.)  die  Fabel  vom 
kranken  Löwen,  Horaz  hat  (sat.  2,  6,  79) 
die  Fabel  von  der  Stadt-  und  Landmaus, 
Livius  (2,  32)  die  von  der  Verschwörung  des 
renter  gegen  die  membra. 


254    BömlBohe  LitteratnrgoBchiohte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


kündigung    seiner   Dichtung    wollte   er   auch   nichts    anderes   sein;    denn 
er  sagt: 

Aesopus  auctor  quam  materiam  repperit, 
hanc  ego  polivi  versihus  senariis. 

Allein  im  weiteren  Verlauf  der  Dichtung  dünkte  ihm  die  Rolle  des 
Bearbeiters  zu  gering,  er  wollte  auch  selbständig  erscheinen.  Schon  im 
zweiten  Buch  erklärte  er  daher,  auch  neues  sei  zur  Abwechslung  einge- 
streut, doch  wolle  er,  fügte  er  entschuldigend  bei,  im  übrigen  der  Weise 
des  „Alten"  treu  bleiben  (2  pr.  8)  und  begnüge  sich,  der  zweite  zu  sein, 
nachdem  Asop  nun  einmal  den  ersten  Platz  eingenommen  (2  epil.  6).  Viel 
selbstbewusster  wird  die  Sprache  im  dritten  Buch;  hier  rühmt  er  sich, 
dass  er  den  engen  Pfad  Äsops  erweitert  und  mehr  eigenes  gegeben  als 
jener  hinterlassen  (3  pr.  38).  Ähnlich  ist  die  Sprache  im  vierten  Buch; 
dort  bezeichnet  er  seine  Fabeln  als  äsopische,  nicht  aber  als  Fabeln  Äsops, 
da  er  neuen  Stoflf  nur  in  der  Weise  Äsops  und  zwar  reichlicheren  als 
dieser  darbiete  (4  pr.  11);  den  Tadlern,  welche  das  Gelungene  auf  Rech- 
nung Äsops,  das  Misslungene  auf  seine  Rechnung  setzen,  ruft  er  zu: 
„Jener  erfand  die  Fabel,  aber  unsere  Hand  führte  sie  zur  Vollendung" 
(4,  21).  Im  letzten  Buch  endlich  will  er  den  Namen  Asop  nur  als  Aus- 
hängschild gebrauchen  (5  pr.  3).^)  Sonach  findet  in  der  Dichtung  des 
Phaedrus  ein  Entwicklungsgang  statt,  indem  er  von  der  Übertragung  zur 
selbständigen  Produktion  fortschreitet.  Dieselbe  bethätigte  er,  indem  er 
einmal  Begebnisse  seiner  Zeit  in  dichterischer  Form  erzählt;  von  diesen 
Erzählungen  ist  die  anmutigste  die  vom  Flötenspieler  Princeps  (5,  7);  der  lag 
lange  Zeit  krank  darnieder;  als  er  wieder  im  Theater  erschien,  bezog  er 
einen  Chorgesang,  der  zum  Preis  des  Princeps  vorgetragen  wurde,  auf 
seine  Person;  als  sein  Irrtum  erkannt  wurde,  warf  das  Publikum  den 
armen  Flötenspieler  zum  Theater  hinaus.  Aber  nicht  bloss  als  selbstän- 
digen Erzähler,  sondern  auch  als  selbständigen  Fabulisten  sollten  ihn  die 
Leser  kennen  lernen.  Freilich  ist  eine  Fabel,  die  er  ausdrücklich  als  sein 
Eigentum  ausgibt,  sehr  missglückt  (4, 11).^) 

Als  den  Hauptvorzug  seiner  Fabeln  rühmt  er  die  Kürze,  und  er 
wird  nicht  müde,  uns  diesen  Vorzug  wiederholt  vorzurücken  (2  pr.  12 
3,  10,  60  3  epil.  8  4  epil.  8).  Er  hat  Grund  darauf  stolz  zu  sein,  denn 
„die  Kürze  ist  die  Seele  der  Fabel ''.^)  Im  Zusammenhang  damit  steht, 
dass  er  alles  Rhetorische  und  Aufgedunsene  von  seinen  Fabeln  fern  hält; 
auch  hier  leitet  ihn  das  richtige  Gefühl,  „dass  der  Fabel  vornehmster 
Schmuck  sei,  ganz  und  gar  keinen  Schmuck  zu  haben'. ^)  Er  spricht  eine 
klare,  einfache  und  reine  Sprache;  nur  der  häufige  Gebrauch  von  Ab- 
strakta  erinnert  an  die  sinkende  Latinität.'^)  Auch  in  dem  Bau  seines 
Senars  befolgt  er  eine  strenge  Gesetzmässigkeit.  Aber  damit  dürften  die 
Lobsprüche,  die  man  ihm  erteilen  kann,  erschöpft  sein.    In  der  Bearbeitung 


^)  Der  Dichlor  hat  sich  zu  Übertreibungen 
hinreissen  lassen,  „c'est  seulement  ä  partir 
de  la  deuxikme  partie  de  son  livre  IV,  qu*il 
commenee  ä  itre  original.  —  t7  reste  si  peu 
de  cho8e,  sait  de  la  deuxihne  partie  du 
livre  IV,  soit  du  livre  V,  quHl  est  impos- 
sible  de  savoir  ai  J^ope  Wen  avait  pas  encore 


fait  en  partie  lea  frais,*'    (Hebvisux  1,29). 

*)  Vgl.  Lessino,  Ges.  W.  (Göschen  Leipz. 
1858)  3, 253. 

^)  Lessino  1.  c.  p.  299. 

*)  Lessikg  1.  c.  p.  299. 

^)  Rasohio  zu  f.  XII;  L.  MClleb,  De 
Phaedri  et  Aviani  fab.,  p.  5. 


Der  Dichter  Seneca. 


255 


der  Fabeln  verlässt  ihn  oft  der  gute  Geschmack.  So  empfinden  wir  es 
als  störend,  dass  er  die  Lehren,  die  sich  aus  den  Fabeln  ableiten  lassen, 
dem  Leser  aufdringt  und  zwar  nicht  bloss  in  Form  von  Epimythien, 
sondern  auch,  was  noch  mehr  verletzt,  in  Form  von  Promythien.  Aber 
diese  Lehren  entsprechen  manchmal  gar  nicht  dem  Inhalt  der  Fabeln; 
woraus  man  erkennt,  dass  er  oft  nicht  den  Geist  seiner  Fabeln  erfasst 
hat.-O  Auch  im  einzelnen  zeigt  er  mitunter  keine  glückliche  Hand;  und 
Lessings  Vorwurf  ist  nicht  unbegründet,  dass  Phaedrus,  so  oft  er  sich  von 
der  Einfalt  der  griechischen  Fabeln  auch  nur  einen  Schritt  entfernt,  einen 
plumpen  Fehler  begeht.*)  Phaedrus  ist  kein  Genie,  er  verrät  wenig  dich- 
terische Anlagen,  er  ist  nichts  als  ein  treuer  Arbeiter;  er  ist  auch  kein 
hochstehender  Charakter,  die  Eitelkeit  beherrscht  sein  Denken  und  Sein 
und  lässt  ihn  selbst  dem  gegenüber  ungerecht  erscheinen,  dem  er  doch  seinen 
Ruhm  verdankt,  dem  Meister  Äsop. 

Beurteilungen  des  Phaedrus  bei  Nisabd,  jätudea  sur  les  poütes  laiina  1*,  3—53; 
Heryieuz,  Les  fahtdistes  latins  1, 27.  Hartman,  De  Phaedri  fabuHs,  Leyden-Leipz.  1890 
p.  17.    Über  seine  Metrik  Langen,  Rh.  Mus.  13, 197;  Ausg.  von  Mülleb  p.  IX. 

Litteratur:  Ausgabe  von  Bentley  hinter  dem  Terenz  1726;  von  L.  Müller  mit 
krit.  Apparat,  Leipz.  1877;  von  Riese,  Textausgabe  mit  Eicdeitung  über  Phaedrus,  Leipz. 
1885.    Schulausgaben  von  Siebelis-Eckstein  (Teubner),  Raschio-Richter  (Weidmann). 


4.  Der  Dichter  Seneca. 

a)  Seneca  als  Tragiker. 

368.  Die  neun  Tragödien  Senecas.  Bisher  hatten  wir  in  der  ge- 
samten tragischen  Poesie  der  Römer  nur  Fragmente  zu  verzeichnen;  nicht 
ein  einziges  der  vielen  und  zum  Teil  sehr  bewunderten  Tragödien  hat  die 
Zeit  überdauert,  unsere  litterarhistorische  Betrachtung  hatte  daher  mit 
nicht  wenigen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen;  sie  war  fast  immer  auf  Ver- 
mutungen und  Wahrscheinlichkeiten  angewiesen.  Da  wird  uns,  nachdem 
wir  bereits  den  Höhepunkt  der  Litteratur  überschritten,  eine  ganze  Samm- 
lung von  Tragödien  von  einem  gütigen  Geschick  in  die  Hand  gegeben. 
Es  sind  neun  Stücke,  welche  eine  ganz  freie  und  vielfach  mit  römischem 
Geist  durchtränkte  Darstellung  griechischer  Sagenstoffe  enthalten.  In  der 
massgebenden  Überlieferung  der  Florentiner  Handschrift  sind  sie  also  ange- 
ordnet: Hercules  (furens),  Troades,*)  Phoenissae,*)  Medea,  Phae- 
dra,^)  Oedipus,  Agamemnon,   Thyestes,    Hercules   (Oetaeus),  sie 


»)  Man  vgl.  1,20  1,4  1,10  5,6  1,8  8,18. 
Selbst  einander  widersprechende  Lebren  za 
derselben  Fabel  finden  sich  z.  B.  1,  9  1,  26 
1,21.  Scharfsinnig  sind  diese  Grebrechen  er- 
örtert in  der  Ausgabe  von  Raschig  (Zusam- 
menstellung p.  3).  Freilich  ist  die  Frage, 
ob  alle  diese  Promythien  und  Epimythien 
von  Phaedrus  herrtthren.  Besonders  fällt  in 
die  Wagschale,  dass  in  den  Fabeln,  welche  die 
Anthologia  Perotina  mit  den  Codices  des 
Phaedrus  gemeinsam  hat,  in  der  Regel  metri- 
sche Epimythien  und  Promythien  fehlen  und 
dafür  prosaische  Promythien  stehen.  Vgl.  über 
diese  Frage  L.  Mülleb  Ausg.  p.  XXV; 
Hartmak,    De  Phaedri  fabtdis,  p.  53—79; 


L.  Mülleb,  Berl.  Philol.  Wochenschr.  1890 
Nr.  41  p.  1300. 

''')  Lessino  1.  c.  p.  307.    Der  geniale  Kri 
tiker  wfthlt,  um  seinen  Vorwurf  zu  begrün- 
den, folgende  Fabeln:  1,4  1,5  1,11  4,9. 

")  Wegen  der  eigentümlichen  Stellung, 
welche  die  Dichtungen  Senecas  in  der  Litte- 
ratur einnehmen,  haben  wir  dieselben  ge- 
trennt von  seinen  übrigen  Schriften  behan- 
delt. 

*)  Hecuba  bei  Pseudoprobus  genannt. 

^)  In  der  geringeren  Überlieferung  The- 
bais  genannt. 

^)  In  der  geringeren  Oberlieferung  Hip- 
polytus. 


256    BAmiBche  litieratnrgeBchiohie.    U.  Die  Zeit  der  Monarchie,    1.  Abteilang. 


werden  ferner  einem  Annaeus  Seneca ')  zugeteilt.  Diese  Überlieferung  des 
Autors  dürfen  wir  nicht  willkürlich  beiseite  schieben,  wir  können  dies  um  so 
weniger  thun,  als  auch  Medea,  Hercules  (furens),  Troades,  Phaedra,  Agamem- 
non, Thyestes  durch  andere  Zeugnisse  unter  dem  Namen  Senecas  angeführt 
werden.  Halten  wir  Umschau  unter  den  Annaei  Senecae,  so  finden  wir  keinen 
andern,  den  wir  mit  diesen  Tragödien  in  Verbindung  bringen  können,  als 
den  L.  Annaeus  Seneca,  den  bekannten  Philosophen  .und  Lehrer  Neros. 
Denn  einmal  wird  uns  ausdrücklich  bezeugt,  dass  Seneca  in  seiner  viel- 
seitigen Thätigkeit  auch  das  Gebiet  der  Poesie  nicht  unberührt  gelassen, 
und  dass  Dichterisches  von  ihm  sich  im  Umlauf  befand.  Noch  mehr,  es 
wird  eines  Streites  gedacht,  der  sich  zwischen  dem  Tragiker  Pomponius 
und  Seneca  über  die  Zulässigkeit  eines  Ausdrucks  in  der  tragischen  Elede- 
weise  erhob,  und  der  in  „Vorreden"  ausgefochten  wurde.  Die  Stelle  be- 
weist also,  dass  Seneca  dem  tragischen  Stil  seine  Aufmerksamkeit  zuge- 
wendet, sie  legt  sogar  die  Vermutung  nahe,  dass  Pomponius  und  Seneca 
diese  Vorreden  ihren  Tragödien  vorausschickten.  Entscheidend  ist  aber, 
dass  wir  in  unsern  Tragödien  und  in  den  philosophischen  Schriften  Senecas 
dieselbe  Individualität  vor  uns  haben.  Hier  wie  dort  begegnet  uns  der 
gleiche  philosophische  Standpunkt  der  Stoa,  eine  in  die  Augen  springende 
Ähnlichkeit  gewisser  Gedanken,  dieselbe  Vorliebe  für  scharf  zugespitzte 
Sentenzen.  Man  sieht,  es  sind  Produktionen  eines  poetisch  angeregten 
Philosophen.*)  Gegenüber  dieser  inneren  Verwandtschaft  kann  das  Zeugnis 
eines  wenig  kenntnisreichen  Autors,  des  Apoll.  Sidonius  carm.  9,  229,  der 
den  Philosophen  von  dem  Tragiker  trennt,  nicht  ausschlaggebend  wirken. 
Würde  ein  solcher  Dichter  neben  dem  Philosophen  existiert  haben,  so 
würde  gewiss  bei  Quintilian  eine  darauf  bezügliche  Bemerkung  gemacht 
worden  sein. 

Wenn  es  aber  sonach  sehr  wahrscheinlich  ist,  dass  der  Philosoph 
Seneca  Tragödien  gedichtet,  so  bleibt  doch  noch  die  Frage  zu  beantworten, 
ob  er  auch  sämtliche  Tragödien  unseres  Korpus  bearbeitet  hat.  Es  wäre 
ja  möglich,  dass  sich  um  Seneca  als  den  Hauptrepräsentanten  der  Gattung 
nachahmende  Talente  anschlössen,  und  dass  dann  deren  Produkte  unter- 
schiedslos mit  denen  des  Meisters  zusammenflössen.')  Auch  in  dieser  Be- 
ziehung hielt  man  lange  Zeit  an  der  Ansicht  fest,  dass  nur  ein  Teil  der 
Tragödien  Seneca  angehören.  Allein  nach  dem  gegenwärtigen  Stand  der 
Frage  wird  von  den  meisten  Gelehrten  die  Authentizität  aller  Tragö- 
dien statuiert,  ausgenommen  den  am  Schluss  der  Sammlung  stehenden 
Hercules  Oetaeus;  aber  selbst  bei  diesem  Stück  ist  eine  umsichtige  For- 
schung dahin  gekommen,  wenigstens  den  ersten  Teil  für  Seneca  in  An- 
spruch zu  nehmen.  Wir  wenden  uns  zur  Besprechung  der  einzelnen  Tra- 
gödien. 

Die  Autorschaft  Senecas.  Die  Stellen,  an  denen  bei  andern  Schriftstellem 
Tragödien  unseres  Korpus  unter  dem  Namen  Seneca  citiert  werden,  sind  zusammengestellt 
von  Richter,   De  Seneca  iragoediarum  auctore  p.  8;  Zusammenfassung  (p.  11):   Medeam  a 


')  In  der  Florentiner  Handschrift  wird 
er  mit  zwei  Vornamen  Marcus  Lucius  An- 
naeus Seneca  genannt. 


>)  Rakke,  Ahh.  p.  69. 

»)  So  Bernhabdy,  R.  L.  1857  p.  397. 


Seneca  als  Dichter.  257 

Quintiliano  et  Diomede,  Herculem  (für,)  a  Terentiano  Mauro,  Troades  a  Probo  et  TertuU 
UanOf  Phaedram  et  Agamemnonem  a  Prisciano,  Thyestem  denique  a  Lactantio  (scholiasta). 
Über  die  Dichtungen  Senecas  vgl.  Qnint.  10, 1, 129  {Seneca)  tractamt  etiam  omnem 
fere  studiorum  materiam.  Nam  et  araiianes  eius  et  poemaia  et  epistolae  et  dialogi  feruntur, 
Tac.  Ann.  14,  52  öbiciebant  —  et  carmina  crehrius  factitare,  postquam  Neroni  amor  eorum 
renisset.  Quint.  8,  3,  31  memini  iuvenis  admodum  inter  Poinponium  ac  Senecam  etiam  prae- 
fationibus  esse  tractatum  an  gradus  eliminat  in  tragoedia  dici  oportuisset. 

Über  die  Übereinstimmungen  der  Tragödien  and  philosophischen  Schriften 
vgl.  NisARD,  Etudes  1,  66.  Auch  Rakke,  Abh.  p.  27  hat  auf  solche  kongruente  Stellen  auf- 
merksam gemacht. 

Athetierte  Tragödien.  Von  neueren  Gelehrten  erachtet  Richteb,  De  Seneca  etc.  den 
Hercules  Oetaeus,  Oedipus,  Agamemnon  (p.  29),  Pais  (t7  Teatro  di  Seneca)  die  Phoenissen, 
Oedipus,  Agamemnon,  Hercules  Oetaeus  (p.  20)  für  unecbt.  Der  verdiente  Herausgeber  Leo 
dagegen  hält  auf  Qrund  einer  eingehenden  Untersuchung  an  der  Echtheit  aller  Tragödien 
fest  mit  Ausnahme  des  letzten  Teils  des  Hercules  Oetaeus.  (Vgl.  noch  p.  266).  —  Elotzsch, 
De  Seneca  uno  tragoediarum  amnium  auctore,  Wittenb.  1802. 

Üeberlieferung  der  Tragödien  Senecas.  Die  Grundlage  für  die  Rezension 
der  neun  Tragödien  ist  der  von  I.  Fb.  Gronoy  im  Jahre  1640  gefundene  und  nEtruscus**  be- 
nannte codex  Laurentiantis  37,  13  s.  XI/XH  wozu  noch  einige  Fragmente  kommen,  die 
Blätter  des  Ambrosianischen  Palimpsestes,  welche  einige  Verse  der  Medea  und  des  Oedipus 
enthalten  (vgl.  das  apographum  Studemundi  bei  Leo  2,  XX)  und  die  Exzerpte  im  Miscellan- 
kodex  des  Thuanus,  jetzt  Parisinus  8071  s.  IX 'X,  welche  sich  auf  die  Troades,  Medea  und 
Oedipus  beziehen  (vgl.  das  neueste  Apographon  Leos  2,  IX).  Die  übrigen  nicht  vor  s.  XIV 
geschriebenen  Handschriften  gehen  auf  eine  Rezension  zurück,  die  einen  willkürlich  zurecht 
gemachten  und  daher  trotz  der  Glätte  sehr  trügerischen  Text  darbietet.  Diese  Quelle  darf 
daher  nur  mit  grosser  Vorsicht  benutzt  werden.  Äussere  Kriterien  für  die  beiden  Hand- 
schriftenfamilien sind  1)  die  verschiedene  Reihenfolge  der  Stücke;  2)  das  Hinzukommen 
eines  neuen  Stücks,  der  Octavia  in  der  interpolierten  Familie.  Da  an  vielen  Stellen  die 
ursprünglichen  Lesarten  des  Etruscus  ausradiert  oder  unleserlich  geworden  sind,  so  ist  es 
für  die  Kritik  von  der  grössten  Wichtigkeit,  einen  Zeugen  aufzusuchen,  welcher  von  diesem 
Schaden  frei  geblieben.  Einen  solchen  erhalten  wir  in  der  Quelle  der  beiden  Handschriften, 
des  Ambrosianus  D  276  inf.  s.  XIV  und  des  Vaticanus  1769  s.  XIV.,  welche  mit  Ausnahme 
der  Phoenissen  und  des  ersten  Teils  der  Medea  einen  nach  den  interpolierten  Handschriften 
korrigierten  Text  der  ersten  Familie  (nach  Leos  Ansicht  des  Etruscus  selbst  auf  Grund 
von  Troad.  635)  liefert.  —  Leo,  De  recensendis  tragoediis  im  I.  Band  seiner  Ausgabe.  Ein 
Referat  gibt  Taghau,  Phil.  48, 341. 

Ausgaben.  Epochemachende,  auf  den  Etruscus  gegründete  Edition  von  I.  Fb.  Gbokov, 
Leyden  1661;  zweite  Auflage,  Amsterdam  1682.  Die  Ausgabe  von  Peipeb  und  Richteb, 
Leipz.  1867  ruht  auf  der  unrichtigen  Idee,  dass  Seneca  alle  Teile  seiner  Tragödien,  Cantica 
wie  Dialog,  strophisch  gegliedert  habe.  Diese  irrige  Idee  hat  zu  ganz  willkürlichen  kriti- 
schen Operationen  geführt.  Die  Arbeit  ist  eine  pathologische  Erscheinung  auf  dem  Gebiete 
der  Philologie.  Vortrefflich  ist  die  neueste  Ausgabe  von  Leo  2  Bde.  Berl.  1878.  1879;  der 
erste  Band  enthält  die  sorgfältigen  de  Senecae  tragoediis  observationes  criticae.  (B.  Schmidt, 
De  emendandarum  Senecae  tragoediarum  rationibui  prosodicis  et  metricis,  Berl.  1860.) 

Erläuternde  Schriften.  Lachxann,  Ges.  Werke  4;  Sakdstbök,  De  L.  A.  Senecae 
tragoediis,  Upsala  1872  (unbedeutend);  Wblckeb,  Die  Rom.  Tragödien  in  dem  Werke  ,Die 
griech.  Tragödien*  p.  1446  (vortrefflich);  Ranke,  Die  Tragödien  Senecas  in  „Abhandlungen 
und  Versuchen**,  Leipz.  1888  p.  21  (stellt  Seneca  ziemlich  hoch).  Pais,  U  Teatro  di  L.  Anneo 
Seneca,  Torino  1890.    (Authentizität,  Quellen,  ästhetische  Würdigung  der  Stücke.) 

369.  Hercules  (furens).  Die  Andeutungen  von  dem  Schrecklichen, 
das  wir  in  dem  Stück  zu  erwarten  haben,  erhalten  wir  durch  Juno,  die 
erbittertste  Feindin  des  Hercules.  Dann  erscheinen  der  Vater  des  Her- 
cules Amphitryon  und  die  Gattin  des  Helden  Megara;  sie  beklagen  die 
Abwesenheit  des  Hercules,  der  gegenwärtig  in  der  Unterwelt  verweilt; 
denn  Lycus  hatte  sich  der  Gewalt  bemächtigt.  Der  Tyrann  tritt  jetzt 
selbst  auf  und  verlangt  Megara  zur  Gemahlin;  und  als  sie  sich  dessen 
weigerte,  droht  er  Megara,  ihren  Kindern  und  Amphitryon  den  Tod.  Ge- 
rade noch  zur  rechten  Zeit  langt  Hercules  mit  Theseus  aus  der  Unterwelt 
an.    Von  Amphitryon  über  die  Sachlage  unterrichtet,   entfernt  sich  der 

HauUbach  der  kUss.  AltertomswiBeenscbaft.    VUL    2.  TeiU  17 


258     BOmische  Litteratnrgesohichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Heros,  um  sofort  Lycus  zu  züchtigen.  Unterdessen  erzählt  Theseus  von 
ihrem  Gange  in  die  Unterwelt.  Hercules  kehrt  zurück,  Lycus  ist  getötet; 
es  folgt  der  grausigste  Moment  des  Dramas,  der  Wahnsinn  des  Aleiden, 
in  dem  er  seine  Kinder  und  seine  Gattin  hinmordet.  Dann  sinkt  er 
in  tiefen  Schlummer.  Als  er  daraus  erwachte  und  des  Unheils,  das 
er  angestiftet,  gewahr  wurde,  wollte  er  sich  selbst  den  Tod  geben;  es 
bedurfte  der  eindringlichsten  Ermahnungen  seines  Vaters,  um  ihn  von 
diesem  Entschluss  abzubringen.  Theseus  fordert  ihn  auf,  ihm  nach  Athen 
zu  folgen,  dort  werde  er  der  Reinigung  von  seiner  Blutschuld  teilhaftig 
werden. 

Das  Original.  Seneca  legt  die  Sache  in  der  Gestalt,  welche  sie  bei  Enrimdes 
empfangen  hatte,  zu  Grund;  es  finden  sich  daher  auch  bei  ihm  des  griechischen  Dichters 
Neuerungen,  die  Verlegung  des  Eindermordes  ans  Lebensende  des  Hercules,  die  Einführung 
des  Lycus  und  die  Heranziehung  des  Theseus  (Wilakowitz,  Euripid.  Herakles  1, 357).  Doch 
weicht  die  römische  Bearbeitung  von  der  griechischen  in  folgenden  wesentlichen  Stücken 
ab:  1)  Bei  Euripides  wird  der  zweite  Teil  der  Handlung  durch  eine  Art  von  neuem  Prolog 
eingeleitet,  indem  Iris  die  Lyssa  einführt,  welche  bei  Hercules  ihres  Amtes  walten  soU;  bei 
Seneca  setzt  gleich  im  Anfang  Juno  die  Furien  in  Bewegung,  so  dass  wir  auf  ^  eine  traurige 
Wendung  vollständig  gefasst  sind.  2)  Auch  mit  Lycus  nahm  Seneca  eine  Änderung  vor. 
Während  bei  dem  Griechen  der  Eindermord  damit  motiviert  wird,  dass  Lyons  sich  nicht 
Rächer  aufziehen  will  (168),  droht  bei  dem  Römer  der  Tyrann  Megara  und  dem  ganzen 
Geschlecht  des  Hercules  den  Tod,  weil  Megara  nicht  seine  Gattin  werden  will,  wie  er  zur 
Sichemng  seiner  Herrschaft  sich  gewünscht  hatte.  3)  Bei  Euripides  tritt  Theseus  erst  am 
Schluss  auf  und  greift  dann  in  die  Handlung  ein ;  bei  Seneca  kommt  er  mit  Hercules  aus  der 
Unterwelt.  Diese  Neuerung  wurde  vorgenommen,  um  Theseus,  während  Hercules  zur  Be- 
strafung des  Lycus  sich  entfernte,  die  Fa]hrt  in  den  Hades  erzählen  zu  lassen.  Diese  vorzeitige 
Einführung  des  Theseus  bedingt  auch  eine  Modifikation  am  Schluss.  4)  Der  Grieche  läast 
den  Mord  erzählen,  der  Römer  zieht  ihn  in  die  Darstellung  herein.  —  Leo  1, 160;  Webner, 
De  Seneca  Hercule  Troadibus  Phoenissis  quaest.,  Leipz.  1880  p.  5.    (Lessing  4, 225  Lachm.) 

370.  Die  Troerinnen  (Troades).  Mit  Klagen  der  Hecuba  und  des 
Chors  über  das  Schicksal  Trojas  wird  das  Stück  eingeleitet.  Talthybius 
führt  uns  in  den  Gegenstand  des  Dramas  ein,  indem  er  verkündet,  dass  Achilles 
aus  seinem  Grabe  emporgestiegen  sei  und  verlangt  habe,  dass  die  Tochter 
des  Priamus  Polyxena  seiner  Asche  zum  Opfer  dargebracht  werde.  Über 
diese  Forderung  entspinnt  sich  ein  Streit  zwischen  Pyrrhus,  der  seinem 
Vater  diese  Sühne  nicht  entzogen  wissen  will,  und  Agamemnon,  der  das 
verlangte  Menschenopfer  verabscheut  und  den  Standpunkt  der  Gnade  ver- 
tritt. Calchas  wird  zur  Entscheidung  angerufen.  Der  Seher  bekräftigt 
nicht  nur  die  Notwendigkeit  der  Opferung  Polyxenas,  sondern  erklärt 
weiter,  dass,  wenn  die  Flotte  günstigen  Wind  für  die  Heimkehr  erhalten 
wolle,  Hectors  Sohn  Astyanax  von  der  Veste  Trojas  gestürzt  werden  müsse. 
Aber  Andromache  war  bereits  gewarnt  worden;  ihr  war  Hector  im  Traum  er- 
schienen und  hatte  sie  gebeten,  den  kleinen  Astyanax  zu  verbergen.  Sie 
wählt  als  Versteck  das  Grabmahl  des  Gatten.  Kaum  ist  Astyanax  dort 
untergebracht,  als  XJlixes  erscheint,  um  im  Namen  des  griechischen  Heeres 
die  Auslieferung  des  Astyanax  zu  verlangen.  Andromache  gibt  vor,  ihr 
Sohn  sei  umgekommen;  allein  dem  scharfen  Blick  des  schlauen  Mannes 
entging  nicht  die  Unruhe  in  dem  Gebahren  der  Andromache.  Die  An- 
kündigung, dass  zur  Sühne  jetzt  die  Asche  Hectors  zerstreut  werden  müsse, 
ruft  einen  Zwiespalt  in  den  Gefühlen  der  Mutter  und  der  Gattin  hervor. 
Als  Ulixes  Hand  an  das  Grab  anlegt  und  der  Sohn  in  Lebensgefahr  ge- 
rät, gesteht  sie  ihren  Betrug  ein  und  sucht  durch  flehentliche  Bitten  Ulixes 


Senecft  als  Dichter.  259 

zu  erweichen.  Vergeblich.  Astyanax  wird  fortgeführt.  Die  Handlung 
wendet  sich  zum  zweiten  Opfer.  Helena  hatte  den  Auftrag  erhalten,  Po- 
lyxena  durch  List  in  die  Hände  der  Griechen  zu  bringen;  sie  soll  sagen, 
die  Königstochter  sei  als  Braut  für  Pyrrhus  bestimmt.  Allein  die  an- 
wesende Androroache  glaubt  den  Worten  der  Helena  nicht;  und  Helena 
offenbart  schliesslich  selbst  die  Wahrheit,  welche  über  Hecuba  neue  Er- 
schütterung bringt.  Das  Geschick  eilt  rasch  vorwärts.  Ein  Bote  ver- 
kündet, dass  Astyanax  von  den  Mauern  gestürzt  worden,  und  dass  Polyxena 
am  Grabe  des  Achilles,  vom  Stahl  des  Pyrrhus  getroffen,  hinsank.  Beide 
waren  unerschrocken  in  den  Tod  gegangen.  Die  Flotte  rüstet  sich  jetzt 
zur  Abfahrt. 

Die  Originale.  Wie  uns  die  Inhaltsübersicht  gezeigt,  beruht  der  Aufbau  des 
Stücks  darauf,  dass  zwei  Motive,  die  Opferung  der  Poljrxena  und  der  Tod  des  Astyanax 
miteinander  verbunden  sind.  Beide  Motive  sind  von  den  Tragikern  bearbeitet  worden,  in 
der  Hecuba  hat  Euripides  die  Opferung  der  Polyxena  neben  der  Bestrafung  des  Polymestor, 
in  den  Troades  neben  andern  Scenen  die  Tötung  des  Astyanax  behandelt.  Aber  auch 
Sophokles  versuchte  an  beiden  Stoffen  seine  Schaffenskraft.  Seine  „Gefangenen"  stellten 
den  Tod  des  Astyanax  dar  (Welcker,  Die  griech.  Trag.  1839  p.  171),  seine  , Polyxena*  die 
Opferung  der  Tochter  des  Priamus.  Da  uns  die  genannten  Sophokleischen  Tragödien  ver- 
loren gegangen,  so  ist  es  unmöglich,  genauer  festzustellen,  wie  weit  der  Nachdichter  seine 
Vorbilder  ausgenutzt.  Ziehen  wir  die  erhaltenen  Euripideischen  Stücke  zum  Vergleich  heran, 
so  ist  eine  Benutzung  der  Hecuba  ersichtlich,  in  viel  geringerem  Grad  vermögen  wir  die 
Einwirkung  der  Troades  (z.  6. 814  Eurip.  188)  nachzuweisen.  Aber  wir  kommen  nicht  mit  diesen 
Tragödien  aus,  wir  müssen  noch  VerwerUmg  des  einen  oder  der  beiden  Sophokleischen 
Stücke  ansetzen.  —  Leo  1, 170,  Habbücker  p.  37,  Webner  p.  20,  Paib  p.  60. 

371.  Die  PhOnissen.  Unter  diesem  Titel  sind  zwei  Fragmente  ver- 
einigt, welche  sich  auf  zwei  ganz  verschiedene  Situationen  beziehen.  In 
dem  ersten  Stück  (1 — 362)  hat  der  blinde  Ödipus  und  Antigene  Theben 
verlassen.  Ödipus  will  seine  Schritte  nach  dem  Githäron  lenken.  Sein 
Entschluss  ist,  seine  Schuld  durch  freiwilligen  Tod  zu  sühnen.  Diesem 
Gedanken  stellt  sich  Antigone  entgegen,  es  entspinnt  sich  eine  Erörterung 
des  Themas  vom  Selbstmord,  Ödipus  betrachtet  diesen  als  ein  Recht  des 
Menschen,  denn  „das  Leben  kann  man  uns  nehmen,  nicht  aber  den  Tod' 
(152).  Antigone  spricht  sich  dagegen  für  das  Ausharren  im  Leiden  aus. 
Da  tritt  plötzlich  eine  Veränderung  der  Scene  ein,  Ödipus  und  Antigone 
weilen  jetzt  allem  Anschein  nach  auf  dem  Githäron.  Wir  vernehmen,  wie 
Antigone  den  Vater  bittet,  dem  unheilvollen  Streit  des  Eteocles  und  Poly- 
nices  ein  Ziel  zu  setzen.  Diese  Bitte  versetzt  Ödipus  in  grosse  Er- 
regung, er  ergeht  sich  in  argen  Verwünschungen  und  weigert  sich,  seine 
Stätte  im  Gebirg  zu  verlassen. 

Das  zweite  Fragment  führt  uns  nach  Theben,  hier  sehen  wir  Jocaste 
und  Antigene.^)  Ein  Diener  tritt  auf  und  meldet,  dass  die  Heere  bereits 
vor  Theben  gegeneinander  rücken.  Der  Diener  und  Antigone  vereinigen 
ihre  Bitten,  um  Jocaste  zur  Schlichtung  des  Streites  zu  bewegen.  Scenen- 
wechsel;  die  ergraute  Mutter  wirft  sich  zwischen  die  streitenden  Söhne. 
Polynices  ist  es,  an  den  sie  ihre  eindringlichen  Worte  richtet  und  dessen 
Einwürfe  sie  widerlegt.    Zuletzt  spricht  auch  Eteocles  einige  Worte  über 


*)  Auch  die  Anwesenheit  des  ödipns 
denkt  sich  Leo  als  voransgesetzt  (1,  y5). 
Allein   die   Stellen,   aus  denen  er   dies   er- 


schliesst  (550.  622),  können  auch  ohne  diese 
Voraussetzung  ihre  Erklärung  finden  (Birt, 
Rh.  Mus.  34, 524;. 

17* 


260    Bömische  LitteratnrgeBchichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

die  Herrschaft,  sie  sei  unauflöslich  mit  dem  Hass  verbunden,  wer  diesen 
fürchte,  müsse  auf  das  Regieren  verzichten. 

Die  Fragmente  hält  Bibt  fElr  Exzerpte  aus  einer  ehemals  vollständigen  Tragödie. 
Zweck  des  Epitomators  sei  gewesen,  ,die  durch  die  Handlung  wirksamsten  und  mehr  noch 
die  rhetorisch  wirksamsten  Partien  herauszuheben"  Rh.  Mus.  34, 523).  Diese  Tragödie  suchte 
Birt  auch  zu  rekonstruieren,  wobei  er  allerdings  gezwungen  ist,  dreimaligen  Ortswechsel  zu 
statuieren  (p.  528).  Diese  Ansicht  ist  nicht  wahrscheinlich.  Wir  werden  vielmehr  diese 
Fragmente  als  Studien  oder  Entwürfe  des  Dichters  zu  betrachten  haben.  (Richter,  De 
Seneca  p.  21;  Habruckeb,  Quaest.  Ann,  Eönigsb.  1873  p.  22;  Braun,  Rhein.  Mus.  20,271; 
Webneb,  De  Senecae  —  Phoenissis  quaest,  Leipz.  1888  p.  44).  Interessant  ist  das  zweite 
Fragment  wegen  der  darin  niedergelegten  politischen  Maximen  (Ranke,  Abb.  p.  30). 

372.  Medea«  Gleich  bei  Beginn  der  Handlung  tritt  uns  Medea 
leidenschaftlich  erregt  und  rachedürstend  entgegen.  Die  Klänge  des  Hy- 
menaeus,  der  dem  Brautpaar  Jason  und  Creusa  gilt,  dringen  ja  bereits  an 
ihr  Ohr.  Vergeblich  rät  die  Amme  zur  Mässigung  und  zur  Flucht.  Von 
Creon,  dem  König  von  Korinth,  des  Landes  verwiesen  bittet  sie  um  Auf- 
schub. Ein  Tag  wird  ihr  gewährt,  hinreichend  für  die  Ausführung  ihrer 
Pläne.  In  dem  Gespräch  mit  Jason  macht  sie  einen  letzten  Versuch,  ihn 
zu  erweichen,  indem  sie  mit  lebhaften  Farben  schildert,  was  sie  alles  um 
des  geliebten  Mannes  willen  gethan.  Jason  lässt  sich  nicht  umstimmen, 
er  dringt  in  sie,  Korinth  zu  verlassen.  Sie  will  es  thun,  aber  nicht  ohne 
die  Kinder  mitzunehmen.  Als  sie  hört,  dass  Jason  ohne  dieselben  nicht 
leben  kann,  durchzuckt  sie  der  Gedanke,  dass  sie  jetzt  wisse,  wo  mit  der 
Rache  einzusetzen  sei  (550): 

hene  est,  tenetur,  vulneri  patuU  locus. 

Nach  dem  Abgang  Jasons  enthüllt  sie  den  Plan,  dass  ein  ver- 
giftetes Kleid  und  ein  vergifteter  Schmuck  durch  die  Kinder  der  Braut 
überreicht  werden  sollen.  Die  Zuschauer  werden  in  grausigen  Scenen  mit 
den  Vorbereitungen  zur  That  bekannt  gemacht;  zuerst  erzählt  die  Amme 
von  dem  Schaffen  der  Herrin,  dann  hören  wir  die  Medea  selbst,  wie  sie 
ihre  Beschwörungen  vollzieht  und  zur  dreigestaltigen  Hekate  fleht.  Nach- 
dem alles  fertig  ist,  werden  die  Kinder  gerufen,  um  die  unheilbringenden 
Geschenke  der  Braut  zu  überbringen.  Nach  einem  Chorlied  kommt  ein 
Bote  mit  der  Nachricht,  dass  die  Geschenke  den  ganzen  Königspalast  in 
Brand  gesteckt  haben  und  dass  Creon  und  Creusa  umgekommen  sind. 
Neuerdings  rät  die  Amme  zur  Flucht,  allein  der  Medea  Rachsucht  ist  noch 
nicht  gestillt.  Der  Hauptschlag  muss  noch  erfolgen,  die  Ermordung  ihrer 
beiden  Söhne.  Ein  Monolog  leitet  die  grausame  Handlung  ein,  der  eine  Knabe 
ward  ermordet,  dann  besteigt  sie  mit  dem  zweiten  und  der  Leiche  des  ersten 
die  Zinne  des  Hauses.  Jason  eilt  mit  Bewaffneten  herbei,  um  die  Misse- 
thäterin  gefangen  zu  nehmen.  Sie  zeigt  ihm  den  ermordeten  Knaben, 
dann  legt  sie  vor  Jasons  Augen  Hand  an  den  zweiten  an.  Die  flehent- 
lichsten Bitten  Jasons  prallen  an  ihrem  verhärteten  Gemüte  ab.  Als 
auch  das  zweite  Kind  hingeschlachtet  war,  fährt  sie  in  einem  Drachen- 
wagen durch  die  Lüfte. 

Das  Original.  Das  Musterstück  ist  die  Eoripideische  Medea.  Ein  Vergleich  der 
römischen  und  griechischen  Tragödie  zeigt  sofort^  dass  die  Ägeusscene  vom  Römer  weg- 
gelassen, dass  aber  dafür  eine  Scene,  in  der  Medeas  Giftmischerei  ausführlich  beschrieben 
wird,  hinzugefügt  ist.  In  Bezug  auf  die  Konstruktion  der  Handlung  ergibt  sich  eine  we- 
sentliche Verschiedenheit  durch  das  Verhältnis  der  handelnden  Personen  zu  den  Kindern; 
bei  Kuripides  bittet  Medea  Jason,   er  möge,  besonders   durch   die  Fürsprache   bei  seiner 


Seneca  ala  Dichter.  261 

Braut,  erwirken,  dass  die  Kinder  in  Eorinth  bleiben  dürfen;  es  geschieht  dies,  um  die 
Rache  gegen  die  Nebenbuhlerin  mit  den  vergifteten  Geschenken  erfolgreich  einleiten  zu 
können;  bei  Seneca  will  Medea  die  Kinder  als  Genossen  ihres  Exils  behalten,  Jason  dagegen 
sie  nicht  ziehen  lassen.  Dieser  Wunsch  regt  die  Medea,  nachdem  sie  gesehen,  dass  sie 
Jason  nicht  zurückgewinnen  kann,  ganz  besonders  zur  Tötung  der  Kinder  an,  um  die  Rache 
gegen  ihn  auf  die  höchste  Spitze  zu  treiben.  Infolge  dieser  Änderung  fiel  die  Sceno 
weg,  in  der  Medea  dem  Jason  gegenüber  Ergebung  in  ihr  Schicksal  heuchelt  (es  genügten 
einige  Worte  vgl.  554)  und  ihn  um  Verwendung  wegen  der  beiden  Söhne  ersucht.  Die 
Tötung  der  Kinder  läast  Seneca  öffentlich  und  zum  Teil  vor  Jason  vollziehen.  Ob  diese 
Neuerungen  von  Seneca  herrühren,  ist  zweifelhaft,  denn  vor  ihm  hatte  auch  Ovid  eine 
Medea  geschrieben,  und  es  ist  ganz  undenkbar,  dass  Seneca  von  dieser  berühmten  Tra- 
gödie  keine  Kenntnis   und   keine   Einwirkung  erfahren. 

373.  Phaedra«  Die  zweite  Gattin  des  Theseus,  Phaedra,  verzehrte 
eine  brennende  Leidenschaft  zu  ihrem  Stiefsohn  Hippolytus.  Der  aber 
hasste  das  Frauengenschlecht,  sein  Lebenselement  war  der  Dienst  der 
Artemis,  die  Jagd.  An  seinem  keuschen  Sinn  musste  daher  die  unreine 
Liebe  der  Phaedra  abprallen  und  zu  einer  Katastrophe  führen,  welche  der 
Dichter  uns  in  diesem  Stücke  enthüllt.  Wir  sehen  am  frühen  Morgen  in 
Athen,  wie  sich  Hippolytus  zur  Jagd  rüstet.  Nachdem  er  ausgezogen, 
tritt  Phaedra  auf  und  lässt  uns  einen  Blick  in  ihr  liebeskrankes  Herz 
thun.  Vergeblich  mahnt  die  Amme  von  der  unseligen  Leidenschaft  abzu- 
lassen, vergeblich  sucht  sie  alle  Gründe  zusammen,  ihre  Herrin  vermag 
der  tobenden  Leidenschaft  nicht  mehr  Herr  zu  werden;  als  einziger  Aus- 
weg aus  dem  Wirrsal  winkt  ihr  der  Tod.  Darob  erschreckt  ändert  die 
Amme  ihren  Sinn,  sie  will  selbst  Hippolytus  prüfen,  ob  er  für  eine  Re- 
gung der  Liebe  noch  empfänglich  ist;  diese  Prüfung  stellt  aber  das  Gegen- 
teil heraus;  Hippolytus  entwirft  ein  idyllisches  Bild  des  Jägerlebens.  Da 
naht  Phaedra;  sie  sinkt  zu  Boden,  Hippolytus  fasst  sie  in  seine  Arme  auf. 
Er  nennt  sie  Mutter,  das  Wort  erschreckt  sie,  sie  bittet  ihn,  Schwester 
oder  noch  lieber  Magd  zu  sagen,  sie  will  ihm  folgen,  wohin  er  nur  immer 
geht,  sie  kann  nicht  anders,  sie  bekennt  dem  Stiefsohn  ihre  Liebe.  Ent- 
setzt fahrt  Hippolytus  zurück;  als  die  Stiefmutter  noch  seine  Umarmung 
sucht,  zieht  er  das  Schwert  gegen  sie;  da  Phädra  aber  den  Tod  von  seiner 
Hand  als  überglücklich  preist,  lässt  er  sie  los  und  wirft  das  Schwert  weg. 
Der  Wendepunkt  der  Handlung  ist  eingetreten;  wie  ein  Blitz  fährt  der 
Gedanke  „scelere  velandum  est  scelus*^  der  Amme  durch  den  Kopf;  sie 
schreit,  ihrer  Herrin  sei  von  Hippolytus  Gewalt  angethan  worden,  der  sei 
entflohen  und  habe  in  der  Eile  sein  Schwert  zurückgelassen.  In  diese  Auf- 
regung fallt  das  Erscheinen  des  Theseus,  der  von  seiner  Fahrt  in  die 
Unterwelt  zurückkehrt.  Ihm  klagt  Phaedra  die  ihr  widerfahrene  Schmach, 
da  fleht  Theseus  zu  seinem  Vater  Neptun,  der  ihm  die  Gewährung  dreier 
Wünsche  zugesichert  hatte,  über  Hippolytus  noch  heute  den  Tod  zu  ver- 
hängen. Nur  zu  schnell  wird  diese  Bitte  erfüllt.  Ein  Bote  meldet, 
Hippolytus  hätte  zu  Wagen  das  Land  verlassen  wollen,  als  er  an  das 
Meer  gekommen,  sei  plötzlich  ein  Ungeheuer  aufgetaucht,  die  Pferde 
seien  scheu  geworden,  hätten  Hippolytus  herausgeworfen  und  elendiglich 
zerrissen.  Als  Phädra  die  zerfleischte  Leiche  sieht,  lodert  nochmals  die 
Flamme  der  Leidenschaft  auf;  sie  will  mit  dem  Geliebten  wenigstens  im 
Hades  vereint  sein.  Sie  gesteht  ihre  Verleumdung  ein,  dann  gibt  sie  sich 
den  Tod. 


262     ItOmische  Litter atnrgesohiohte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Das  Original.  Vergleichen  wir  die  Phaedra  Senecas  mit  dem  erhaltenen  'InnoXvrog 
aiBfpaprjtjpoQos  des  Enripides,  so  erkennen  wir  sofort,  dass  das  römische  StQck  auf  einer 
ganz  anderen  Grundlage  ruht.  Während  bei  Euripides  die  Liebe  der  Phaedra  zum  Hippo- 
lytus  durch  die  Amme  kundgegeben  wird,  gesteht  bei  Seneca  Phaedra  ihre  Liebe  dem 
Stiefsohn  selbst,  und  während  dort  Theseus  die  Phaedra  mit  einem  Briefe,  in  dem  sie  Hip- 
polytus  fälschlich  anschuldigt,  erhängt  vorfindet,  bringt  sie  hier  ihre  Anklage  persönlich 
vor.  Bei  Seneca  entdeckt  Phaedra  die  Unschuld  des  Hippolytns,  bei  Euripides  Artemis. 
Die  Phaedra  in  dem  römischen  Stück  ist  daher  wesentlich  anders  geartet  als  die  in 
dem  griechischen.  Nun  ist  bekannt,  dass  vor  dem  'InnoXvtos  atetpayijfpoQos  Euripides  einen 
'InnoXvTo^  xaXvnxofiBvog  geschrieben,  dass  dieser  aber  sich  dadurch  von  dem  andern  Stack 
unterschied,  dass  Phaedra  ihre  Liebe  offen  dem  Stiefsohn  bekannte  und  infolgedessen  ihr 
Charakter  frecher  gestaltet  werden  musste,  (vgl.  fr.  433  und  436  mit  den  Schlussworten  des 
Arguments).  Es  i^  klar,  dass  Seneca  dieser  Auffassung  der  Phädra  folgt;  er  wird  daher 
an  den  'InnoXvtog  xaXvnrofxeyog  sich  angeschlossen  haben,  wie  Ovid  in  der  4.  Heroide  (vgl.  Leo 
1, 173;  Kalkxakk,  De  Hippolytia  Huripideis  p.  24),  nicht  aber  an  die  Sophokleische  Phaedra. 

374.  Oedipus.  Mit  einer  Klage  des  Oedipus  über  die  Pest  beginnt 
die  Handlung.  Jocaste  spricht  einige  Worte  der  Ermutigung.  Auch  das 
Chorlied  bewegt  sich  in  der  Schilderung  des  schweren  Unglücks.  Da 
kommt  Creon  von  Delphi  und  bringt  den  Orakelspruch,  der  befiehlt,  dass 
der  Mörder  des  Laios  aus  Theben  vertrieben  werde.  Oedipus  spricht  seinen 
Fluch  über  diesen  aus  und  schwört,  dass  er  der  verdienten  Strafe  nicht 
entgehen  solle.  Der  Seher  Tiresias  naht  mit  seiner  Tochter  Manto.  So- 
gleich fordert  ihn  Oedipus  auf,  den  Thäter  zu  bezeichnen.  Unter  des  Tire- 
sias Leitung  trifft  Manto  die  Anstalten  zum  Opfer,  allein  dessen  Anzeichen 
fallen  äusserst  ungünstig  aus.  Tiresias  erkennt,  dass  ein  anderer  Weg 
zur  Erforschung  der  Wahrheit  einzuschlagen  ist,  dass  man  die  Unterwelt  be- 
fragen müsse.  Creon,  der  den  Tiresias  zu  diesem  Werk  begleitet  hatte,  kehrt 
zurück  und  erzählt  die  grausige  Beschwörungsscene.  Laios  war  ihnen  er- 
schienen und  hatte  Oedipus  als  seinen  Mörder  und  als  Teilhaber  des  müt- 
terlichen Ehebetts  erklärt.  Als  Oedipus  diese  Worte  vernahm,  zweifelte 
er  nicht  einen  Augenblick  daran,  dass  ein  Komplott  von  Tiresias  und 
Creon  geschmiedet  worden  sei,  um  ihn  von  der  Herrschaft  zu  verdrängen 
und  Creon  zum  König  zumachen;  er  liess  daher  diesen  festnehmen.  Allein 
die  Angst  und  Unruhe  wollte  seitdem  nicht  mehr  von  seiner  Seele  weichen, 
er  grübelt  und  erinnert  sich,  dass  er  an  einem  Dreiweg  in  Phokis  einen 
Mann  erschlagen,  er  forscht  Jocaste  aus.  Die  näheren  Umstände  stimmen 
auffällig.  Da  naht  ein  Greis  aus  Korinth  und  meldet,  dass  König  Polybus 
gestorben  und  dass  Oedipus  zu  seinem  Nachfolger  bestimmt  sei.  Als  er 
Bedenken  äusserte  wegen  eines  Orakelspruchs,  nach  dem  er  das  mütter- 
liche Ehebett  beflecken  werde,  eröffnet  ihm  der  Korinther,  dass  Merope 
gar  nicht  seine  Mutter,  Oedipus  vielmehr  unterschoben  sei.  Auf  weitere 
Fragen  hin  erzählt  der  Greis,  dass  ihm  vor  Jahren  Oedipus  als  Kind 
von  einem  königlichen  Hirten  auf  dem  Cithäron  übergeben  worden 
sei.  Jetzt  ist  das  Entsetzliche  nur  noch  durch  einen  dünnen  Schleier  ver- 
hüllt. Es  bleibt  bloss  übrig,  jenen  Hirten  beizurufen.  Der  alte  Phorbas, 
der  einst  über  die  königlichen  Herden  gebot,  erscheint,  und  damit  kommt 
die  volle  Wahrheit  an  den  Tag,  dass  Oedipus  der  Mörder  seines  Vaters 
und  der  Gemahl  seiner  Mutter  ist.  Ein  Bote  erzählt,  dass  Oedipus  sich 
die  Augen  ausgestochen.  Jocaste  stösst  angesichts  des  geblendeten  Oedipus 
das  Schwert  in  ihren  unseligen  Leib. 

Das  Original  ist  der  König  Oedipus  des  Sophokles.    „Oedipum  ita  contraxit  ut  in 


Seneoa  als  Dichter.  263 

1060  versibus  cantica  330  versus  complectaniur,  sacrificium  et  necromantia  230,  ut  ipsi 
fabulae  500  versus  relinquantur"  (Leo  1, 163).  Die  Hauptabweichung  vom  Original  knQpft  sich 
an  die  Person  des  Sehers  Tiresias.  Bei  Sophokles  wird  er  herbeigerufen,  um  mit  seiner  Seher- 
kunst den  Mörder  des  Laios  ausfindig  zu  machen,  bei  Seneca  dagegen  kommt  er  von  selbst 
und  zwar  mit  seiner  Tochter  Manto.  Bei  Sophokles  verkündet  der  Seher  sofort  nach  einem 
Wortwechsel,  dass  Oedipus  der  Mörder  des  Laios  ist,  bei  Seneca  ist  erst  eine  längere  Pro- 
zedur nötig,  ein  Opfer  und  dann  die  Beschwörung  der  Unterwelt.  Diese  Abweichung  hat 
natürlich  darin  ihren  Grund,  dass  der  Dichter  zwei  grausige  Scenen  erhalten  will.  Auch 
am  Schluss  hat  das  Streben  nach  stai'ken  Effekten  den  Nachdichter  verleitet,  noch  eine 
letzte  Zusammenkunft  des  Geblendeten  und  der  Jocaste  stattfinden,  und  die  Jocaste  vor 
unsem  Augen  sterben  zu  lassen.  Beide  Neuerungen  sind  eine  Verschlechterung  des  Ori- 
ginals; überhaupt  steht  die  Kopie  weit  zurück,  da  sie  die  psychologische  Entwicklung,  die 
wir  bei  Sophokles  so  sehr  bewundem,  in  den  Hintergrund  stellt. 

KöHLBB,  Senecite  tragoedia  quae  Oedipus  inscrihitur  cum  Sophoclis  Oedipo  rege  com- 
parata,  Neuss  1%65 ;  Braun,  Rh.  Mus.  22, 245.  Eine  Analyse  der  beiden  Dramen  stellt 
gegenüber  Nisabd,  Etudes  T,  142— 198. 

375.  Agamemnon.  Das  Stück,  das  in  Mycenae  spielt,  hat  einen 
ähnlichen  Eingang  wie  der  Thyestes,  es  tritt  zuerst  ein  Schatten  auf  und 
zwar  der  des  Thyestes.  Er  gedenkt  seiner  Greuelthaten  und  verkündet 
das  Unheil,  das  über  Agamemnon  hereinbricht.  Nach  einem  Chorlied  über 
das  Glück  der  goldnen  Mittelstrasse  erscheint  Clytaemnestra.  Sie  ist  zum 
Verbrechen,  zur  Rache  an  Agamemnon  entschlossen,  die  Amme  wehrt  in 
eindringlicher  Weise  ab.  Als  daher  Ägisthus  eingreift,  zeigt  Clytaem- 
nestra sich  schwankend,  schliesslich  aber  erklärt  sie  doch,  mit  Ägisthus 
im  Stillen  die  Sache  überlegen  zu  wollen.  Ein  Krieger  aus  dem  Heere 
des  Agamemnon  meldet  in  jubelnder  Erregung  die  Ankunft  des  Köm'gs; 
er  erzählt  der  Freude  heuchelnden  Clytaemnestra,  welche  grosse  Gefahren 
sie  auf  dem  Meere  überstanden  haben;  jetzt  erscheint  der  Chor  der  ge- 
fangenen Troerinnen,  darunter  Cassandra,  welche  als  Beute  Agamemnon 
anheimfiel.  Sie  gerät  in  Verzückung  und  erhält  eine  Vision,  in  der  ihr 
Sehermund  verkündet,  dass  noch  heute  derselbe  Kahn  den  Sieger  und  die 
Besiegten  in  Hades'  Reich  geleiten  werde  (753).  Da  naht  der  König 
selbst.  Nach  einem  neuen  Gesang  der  Troerinnen  überkommt  Cassandra 
wiederum  eine  Vision,  ihr  Geist  weilt  in  den  Gemächern  des  Königs- 
palastes und  sie  sieht,  wie  Agamemnon  hingeschlachtet  wird.  Da  stürzt 
Electra  in  höchster  Angst  mit  Orestes  heraus.  Sie  erblickt  den  Phoker 
Strophius,  der  gekommen  war,  Agamemnon  zu  begrüssen,  und  bittet  ihn, 
Orestes  zu  verbergen.  Strophius  eilt  mit  Orestes  und  Pylades  von  dannen. 
Die  jetzt  auftretende  Clytaemnestra  und  Ägisthus  bestürmen  Electra,  den 
Aufenthaltsort  des  Orestes  anzugeben.  Diese  verweigert  standhaft  die 
Antwort,  Ägisthus  droht  ihr  die  schrecklichsten  Strafen  an,  an  einem  von 
Mycenae  entfernten  Ort  soll  sie  in  ein  finsteres  Gemach  eingeschlossen 
werden,  sie  wird  durch  Schergen  abgeführt.  Nun  ist  es  Zeit,  auch  der 
Cassandra  den  Todesstoss  zu  versetzen.  Mit  dem  Befehl  der  Clytaemnestra 
hiezu  endigt  das  Stück. 

Die  Echtheitsfrage.  Auch  Agamemnon  wurde  bezüglich  seiner  Echtheit  in  Zweifel 
gezogen;  man  hat  auf  sprachliche,  metrische  Verschiedenheiten  und  auf  den  doppelten 
Chor  hingewiesen.  Eine  genaue  Untersuchung  der  ganzen  Frage  hat  Leo  angestellt,  Ausg. 
1,89  —  184.  Es  kommt  durch  eine  eingehende  Prüfung  der  vier  Gesänge  Agam.  589—686 
808—866  Oedip.  403—508  709—763  zu  dem  Ergebnis,  dass  dieselben  von  einem  und  dem- 
selben Dichter  herrühren  müssen,  dass  man  sonach,  wenn  man  den  Oedipus  für  echt  hält, 
auch  den  Agamemnon  für  echt  halten  müsse.  Zur  Erklärung  der  Verschiedenheiten  stellt 
er  aber  folgenden  Satz  auf  (p.  188):  iia  sentio  Agamemnonem  inter  Senecae  tragoedias  eam 
esse,  quam  primam  scripsit,   Oedipum  secundam;   quo  factum  est  etiam  ut  Uta  Ujtxiorem 


264    Römisohe  Litteraturgeecliichte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

ocfAuc  referat    anapaestorum    condendorum   artem.     Oedipum    autem   scimus  saUem  ante 
Phoenissßs  scriptum  esse. 

Das  Original.  Von  dem  Äschyleischen  Agamemnon  weicht  Seneca  ungemein  ab, 
besonders  ist  der  Anfang  und  das  Ende  ganz  anders  angelegt.  Während  bei  Äschylus  die 
Handlung  mit  dem  Wächter  beginnt,  der  endlich  nach  zehn  Jahren  das  die  Eroberung 
Trojas  verkündende  Feuerzeichen  gesehen,  lässt  Seneca  den  Schatten  des  Thyestes  und 
Ägisthus,  der  die  Clytaemnestra  zur  That  antreibt,  auftreten.  Am  Schluss  besteht  die 
einschneidende  Änderung  darin,  dass  Electra  mit  dem  jungen  Orestes  aus  dem  Palast 
stürzt  und  ihn  dem  eben  angekommenen  Strophius  aus  rhocis  zum  Verbergen  übergibt: 
bei  Äschylus  erzählt  Cljrtaemnestra,  dass  Orestes  bei  Strophius  verweilt,  und  vom  Auf- 
treten der  Electra  ist  keine  Spur  vorhanden  (880  D.).  Im  griechischen  Drama  wird  femer  Cas- 
sandra  mit  Agamemnon  ermordet,  Clytaemnestra  erzählt  es  selbst  (1404  D.) ;  bei  Seneca  be- 
fiehlt Clytaemnestra,  die  anwesende  Cassandra  zum  Tod  zu  schleppen.  Bei  Äschylus  ist  der 
Charakter  der  Cassandra  als  Seherin  festgehalten,  bei  Seneca  wird  sie  zuletzt  auf  die  Stel- 
lung eines  i^ayyeXog  herabgedrückt,  indem  sie  mit  Seherblick  verkündet,  was  im  Palast 
vorgeht;  es  fehlt  daher  auch  der  letzte  Aufschrei  Agamemnons.  Es  fragt  sich,  ob  diese 
Neuerungen  von  Seneca  ausgegangen  sind.  Ein  Blick  auf  die  Fragmente  des  Ägisthus  von 
Livius  Andronicus  zwingt  uns  die  Frage  zu  verneinen;  auch  dort  finden  sich  dieselben  im 
wesentlichen;  Ribbeck  (Rom.  Trag.  p.  30)  hat  aus  einer  Übereinstimmung  (fr.  2  Agam. 
449  D.)  den  Schluss  gezogen,  «dass  Seneca  oder  wer  der  VerfaBser  dieser  Deklamation 
gewesen  ist,  in  dieser  Partie  den  Text  des  alten  Dichters  vor  Augen  gehabt".  Allein  die 
Konkordanz  wird  vielmehr  durch  ein  gemeinsames  griechisches  Original  eines  jüngeren 
Dichters  zu  erklären  sein,  welches  neben  dem  Agamemnon  des  Äschylus  Seneca  noch  zu 
Rat  gezogen  hat  (Stbaüss,  De  ratiane  inter  Senecam  et  antiquas  fabulas  Bamanas  inter- 
cedente,  Rostock  1887  p.  46). 

376.  Thyestes.  Das  Drama  führt  uns  zuerst  den  Schatten  des  Tan- 
talus  und  der  Furia  vor.  Furia  dringt  in  Tantalus,  das  Pelopidenhaus  in 
neues  Wirrsal  zu  stürzen.  Auch  fallt  hier  schon  eine  Andeutung  über  die 
entsetzlichen  Dinge,  die  sich  vorbereiten.  Mit  erschreckender  Klarheit 
stehen  sie  vor  unsern  Augen,  nachdem  der  jetzt  auftretende  Atreus  seinen 
Racheplan  entwickelt.  Zwar  suchte  ihn  sein  Begleiter,  der  Satelles  ge- 
nannt wird,  in  einem  an  politischen  Wendungen  reichen  Gespräch  von 
demselben  abzubringen,  allein  ohne  Erfolg.  Mit  Atreus  hat  sich  der  Ge- 
danke, an  seinem  Bruder,  der  ihm  die  Gattin  verführt  und  das  Unter- 
pfand der  Herrschaft  entzogen  (225),  eine  unerhörte  Bache  zu  nehmen, 
unlösbar  verbunden,  sein  fester  Entschluss  ist,  die  Kinder  des  Thyestes 
zu  ermorden  und  sie  dann  als  Speise  dem  Bruder  vorzusetzen.  Was  folgt, 
ist  die  Durchführung  des  Rachegedankens.  Thyestes  war  auf  die  Ein- 
ladung des  Atreus  (296)  in  die  Heimat  zurückgekehrt,  Furcht  vor  Atreus 
und  bange  Ahnungen  machen  ihn  unschlüssig,  ob  er  bleiben  soll.  Sein 
Sohn  Tantalus  beruhigt  ihn,  Atreus  sei  völlig  ausgesühnt,  ja  er  wolle 
sogar  die  Herrschaft  mit  dem  Bruder  teilen.  Mit  schwerem  Herzen  stimmt 
Thyestes  zu.  Da  kommt  Atreus  und  heuchelt  grosse  Freude  über  die  An- 
kunft des  Thyestes,  auch  macht  er  den  Vorschlag  der  gemeinsamen  Re- 
gierung. Der  Chor  greift  mit  einem  Liede  ein,  indem  er  seine  Freude 
über  die  Versöhnung  ausspricht,  aber  doch  zuletzt  an  die  Wandelbarkeit 
aller  Dinge  erinnert.  Mittlerweile  ist  das  Furchtbare  geschehen,  ein  Bote 
tritt  auf  und  erzählt,  dass  Atreus  die  Kinder  des  Thyestes  hingemordet, 
von  ihrem  Leichnam  dem  Vater  ein  Mahl  bereitet  und  dieser  es  verzehrt 
habe.  Selbst  die  Sonne  habe  angesichts  dieser  Greuel  ihren  Lauf  zurück- 
gelenkt. Der  letzte  Akt  der  Rache  vollzieht  sich  vor  unsern  Augen. 
Atreus  überreicht  dem  Bruder  einen  Becher  Wein,  in  den  das  Blut  der 
ermordeten  Kinder  gemischt  war.    Als  Thyestes  denselben  an  die  Lippen 


Seneoft  als  Dichter.  265 

bringen  wollte,  versagen  die  Hände  ihren  Dienst,  in  entsetzKcher  Auf- 
regung verlangt  er  nach  seinen  Söhnen.  Da  zeigt  ihm  Atreus  die  abge- 
schlagenen Häupter  und  Hände  (764,  1005,  1039).  Beim  Anblick  derselben 
bricht  Thyestes  in  die  berühmten  Worte  aus  „da  erkenne  ich  den  Bruder*". 
Doch  hat  er  das  Gräulichste  noch  nicht  vernommen.  Als  Thyestes  die 
Leiber  der  Ermordeten  zur  Beerdigung  verlangt,  wird  ihm  die  erschütternde 
Kunde  zu  teil,  dass  er  sie  verzehrt. 

Das  Original.  Über  die  Quelle  der  lateinischen  Tragödie  ist  nicht  ins  reine  zu 
kommen,  da  uns  kein  zweites  Stuck,  welches  diesen  Stoff  behandelt,  aus  dem  Altertum 
überliefert  ist.  An  griechischen  Mustern  fehlte  es  nicht.  Sophokles  hatte  wahrscheinlich  zwei 
Dramen  des  Namens  „Thyestes"  geschrieben  (Nauck,  tragic.  Graec,  fragm.  p.  146  nr.  227) 
doch  waren  hier  andere  Teile  der  Sago  behandelt  (Welcker,  Gr.  Trag.  p.  366),  femer  hatte 
er  einen  Atreus  oder  die  Mykenerinnen  (Nauck  p.  127  nr.  137)  verfasst;  Euripides  hatte 
ebenfalls  einen  Thyestes  gedichtet;  (Nauck  p.  382  nr.  395;  Wilamowitz,  Anal.  Eurip.  p.  153). 
Aber  auch  noch  von  anderen  griechischen  Dichtem  finden  wir  Stücke  des  Namens  «Thy- 
estes** erwähnt.  Bei  den  Römern  hatten  drei  Dichter  dos  Thema  bearbeitet,  Ennius  in 
seinem  „Thyestes*  (Ribbeck,  Rom.  Trag.  p.  199),  Accius  in  seinem  „Atreus*,  aus  dem  die 
berühmten  Worte  oderint  dum  metuant  stammen  (Ribbbck,  p.  449),  endlich  L.  Varius  Rufus 
in  seinem  viel  bewunderten  Thyestes  (§  207).  Dass  die  letzte  Tragödie  von  Seneca  positiv 
oder  negativ  berücksichtigt  werden  musste,  ist  nicht  zu  bezweifeln  (Strauss,  De  ratioM 
p.  58—77). 

Die  politischen  Maximen  des  Stückes  verfolgt  genauer  Ranke,  Abhandl.  und 
Versuche  p.  38  „Man  wird  daran  erinnert,  dass  in  diesen  Zeiten  in  Rom  sich  die  Frage 
erhob,  ob  es  zwei  Oberhäupter  der  höchsten  Gewalt  geben  könne  —  Cajus  und  Gemellus, 
Nero  und  Britanniens".    (Analyse  des  Stücks  bei  Lessino  4, 269  Lachm.) 

377.  Hercules  (Oetaeus).  Die  Handlung  geht  in  Trachin  vor  sich, 
nur  für  den  Prolog  und  das  erste  Chorlied  muss  als  Ort  Oichalia  ange- 
setzt werden.  Im  Prolog  rühmt  Hercules  seine  Thaten  und  gibt  seinem 
Begleiter  Lichas  den  Befehl,  die  Besiegung  des  Eurytus  nach  Hause  zu 
melden.  Es  tritt  dann  die  gefangene  Jole  auf,  die  Tochter  des  Eurytus, 
welche  in  einem  Lied  ihr  Schicksal  beklagt.  Sie  wird  der  Anlass  zu  der 
Katastrophe,  welche  uns  das  Stück  schildert.  Die  Anwesenheit  der  schönen 
Gefangenen  erregt  in  der  Gattin  des  Hercules  Deianira  die  höchste  Eifer- 
sucht; in  einem  Gespräche  zwischen  ihr  und  der  Amme  malt  uns  der 
Dichter  bis  zur  Ermüdung  die  Wirkungen  der  Leidenschaft.  Deianira  sinnt 
aus  Rache  auf  den  Tod  des  Gatten,  schliesslich  fällt  ihr  ein,  dass  sie 
im  Besitz  eines  Zaubermittels  sei,  das  ihr  die  verlorene  Liebe  des  Helden 
zurückgeben  könne.  Sie  hat  ja  das  vergiftete  Blut  des  Centauren  Nessus 
und  braucht  mit  demselben  nur  ein  für  Hercules  bestimmtes  Gewand  zu 
bestreichen  und  Hercules  muss  sie  —  so  hatte  ihr  einst  der  Centaur 
geweissagt  —  wieder  lieben.  Sofort  wird  ein  Kleid  nach  dieser  Anweisung 
hergerichtet  und  dem  Hercules  durch  Lichas  übersandt.  Kaum  war  dies 
geschehen,  so  durchzogen  bange  Ahnungen  die  Seele  der  Deianira,  es  kommt 
ihr  der  Gedanke,  dass  ein  Racheplan  des  von  Hercules  getöteten  Nessus  im 
Spiel  sein  könne.  Eine  Probe  zeigte,  dass  die  Wolle,  die  mit  dem  Gift  be- 
strichen war,  in  der  Sonne  hinschwand.  Ihre  Ahnungen  erhalten  nur  zu 
bald  ihre  Bestätigung.  Hyllus,  der  Sohn  der  Deianira,  erscheint  und  be- 
richtet, dass  das  Gewand  über  Hercules  verheerende  Schmerzen  verbreitet, 
und  dass  er  in  seiner  Wut  den  Überbringer  Lichas  dahingestreckt  hat. 
Deianira  gibt  ihren  Entschluss  zu  sterben  kund.  Als  sie  sich  entfernt, 
naht  Hercules  selbst.  Den  von  furchtbaren  Schmerzen  gepeinigten  Sohn 
sucht  die  bekümmerte  Mutter  Alcmene  zu  trösten.     Da  meldet  Hyllus, 


266    Bömische  Litteratorgeschichte.    II,  Die  Zeit  der  Honarcliie.    1.  Abteilnng. 

dass  Deianira  in  den  Tod  gegangen  und  klärt  zugleich  den  Vater  auf, 
dass  kein  Verbrechen  der  Mutter^  sondern  eine  Rache  des  Nessus  vorliege. 
Hercules  erkennt,  dass  sich  jetzt  ein  dunkler  Orakelspruch  erfüllt  habe 
(1476),  und  befiehlt,  einen  Scheiterhaufen  auf  dem  Öta  zu  errichten,  auf 
dem  er  sterben  will,  dem  Hyllus  trägt  er  auf,  die  Jole  zur  Frau  zu 
nehmen.  Der  Wunsch  des  Aleiden  wird  erfüllt,  er  wird  fortgebracht,  ein 
Bote  erzählt,  wie  Hercules  auf  dem  Scheiterhaufen  geendet.  Alcmene 
wehklagt  über  den  Tod  des  Helden,  Hyllus  spricht  ihr  beruhigende  Worte 
zu,  aber  den  reichsten  Trost  spendet  ihr  der  heimgegangene  Sohn  selbst, 
er  verkündet,  dass  er  in  der  Sternenwelt  verweilt. 

Echtheitsfrage.  Schon  äusserlich  hebt  sich  der  Hercules  (Oetaeus)  durch  seine 
ungebührliche  Länge  von  allen  übrigen  Stücken  ab.  Auch  der  Wechsel  der  Scenen  und 
des  Chors  erregt  unser  Befremden.  Es  kommen  hiezu  Nachahmungen,  Geschmacklosig- 
keiten, lästige  Wiederholungen,  einige  metrische  Diskrepanzen,  sprachliche  Verschieden- 
heiten. Mit  Entschiedenheit  hat  bereits  D.  Heiksius  das  Stück  dem  Seneca  abgesprochen. 
In  unsem  Tagen  trat  der  Frage  Richteb,  De  Seneca  tragoediarum  auctorej  Bonn  1862 
näher  und  hielt  ebenfalls  das  Stück  für  unecht  (p.  31),  „quoniam  tot  tantaque  itUer  hatte 
fabulam  et  ceteras  in  re  metrica  et  prosodiaca,  in  dicendi  genere,  in  arte  dramcUica  inter- 
cedere  vidimus  discrimina*' .  Andere  Gelehrte  vertreten  den  Standpunkt  der  teilweisen  Un- 
echtheit;  so  hat  Habbuckeb,  Q wiest.  Ann,  p.  47  vermutet,  dass  der  Anfang  (1—232)  und 
das  Ende  von  Vers  1691  an  von  fremder  Hand  hinzugefügt  sei.  Ganz  entgegengesetzt 
urteilt  Leo;  er  nimmt  als  Werk  des  Seneca  nur  den  Anfang  bis  Vers  705  an,  von  der 
Auffassung  ausgehend  (p.  74),  dass  „integram  de  Hereulis  morte  tragoediam  scribere  S.  in 
mente  non  habuit;  singulas  seaenas  scripsit,  alteram  de  virginibus  ex  Oeekalia  abduetis, 
alteram  de  Deianirae  zelotypia".  Die  Unechtheit  des  ganzen  Stücks  hält  aufrecht  Bibt 
(Rhein.  Mus.  34, 509),  die  Echtheit  Melzeb,  De  Hercule  Oet,,  Chenmitz  1890  und  Steüt- 
BEBOBB  in  der  Christ'schen  Festschr.  (1891)  p.  188, 

Das  Original.  In  der  Bearbeitung  der  Sage  richtet  sich  Seneca  nach  den  Tra- 
chinerinnen  des  Sophokles,  aber  doch  mit  einschneidenden  Abweichungen.  Die  wichtigste 
ist,  dass  die  Handlung  über  den  Rahmen  des  Sophokleischen  Stückes  hinaus  geführt  und 
auch  die  Apotheose  des  Hercules  noch  der  Handlung  einverleibt  wird.  In  dem  letzten 
Teil  führt  der  Dichter  auch  eine  neue,  aber  unglückliche  Figur  ein,  die  Mutter  des  Her- 
cules Alcmene,  deren  Aufgabe  ist,  zu  trösten  und  zu  jammern.  Die  zweite  wesentliche 
Änderung  im  Aufbau  zeigt  sich  im  Eingang  des  Stückes.  Während  bei  Sophokles  Deia- 
nira die  Handlung  eröffnet  und  das  Schwergewicht  auf  die  allmähliche  Entwickelung  der 
Eifersucht  fällt,  ist  der  Eingang  der  römischen  Tragödie  ein  ganz  unorganisches  Gebilde. 
Zuerst  spricht  Hercules  prahlerisch  von  seinen  Thaten,  es  muss  daher  hier  ein  anderer  Ort 
der  Handlung  angesetzt  werden  als  später;  dann  ist  auch  Jole  redend  eingeführt,  endlich 
ist  Deianira  von  Anfang  an  das  von  Eifersucht  gepeinigte,  auf  Rache  sinnende  Weib. 

378.  Charakteristik  der  Tragödien.  Die  römische  Tragödie  war 
lange  nichts  anders  als  eine  freie  Bearbeitung  griechischer  Stücke.  Zwar 
tauchte  auch  hier  wie  in  der  Komödie  der  Versuch  auf,  zur  Selbständig- 
keit vorzudringen,  er  führte  bekanntlich  zur  Prätexta;  allein  tiefere 
Wurzeln  scheint  diese  Spielart  nicht  geschlagen  zu  haben,  der  Sinn  der 
R<5mer  war  für  das  Tragische  weit  weniger  empfanglich  als  für  das  Ko- 
roische. Im  wesentlichen  blieb  es  daher  in  der  ganzen  republikanischen 
Zeit  bei  der  Übertragung  griechischer  Originale.  Der  Tragödiendichter 
wollte  in  der  Regel  nichts  anders  sein  als  der  Dolmetsch  des  griechischen, 
er  betrachtete  als  seine  Aufgabe,  das  fremde  Original  seinen  Landsleuten 
zugänglich  zu  machen;  nahm  er  auch  hie  und  da  Änderungen  vor,  sein 
Werk  sollte  trotzdem  Kopie,  nicht  Original  sein.  Die  Stellung  des 
Dichters  zu  den  tragischen  Stoffen  der  Griechen  wurde  eine  völlig  ver- 
schiedene, als  in  der  Kaiserzeit  die  Rhetorik  sich  auch  der  tragischen 
Dichtung  bemächtigte.  Dieses  Eindringen  der  Rhetorik  in  die  Tragödie 
lag  nahe  genug.    Die  Stoffe  für  die  Deklamationen  wurden  ja  vielfach  aus 


Seneoft  «Is  Dichter.  267 

der  griechischen  Sage  entnommen,  und  die  Heroide  war  oft  nur  die  pa- 
thetische Schilderung  einer  bestimmten  Situation  aus  einer  Tragödie  in 
Briefform.  Ein  kleiner  Schritt,  und  man  kam  zur  Bearbeitung  einzelner 
Scenen,  besonders  solcher,  welche  zur  Entfaltung  des  Pathos  Gelegenheit 
darzubieten  schienen.  In  den  Phoenissen  Senecas  haben  wir,  wie  wir 
sahen,  eine  solche  rhetorische  Gomposition  einiger  Scenen.  Endlich  wurden 
auch  ganze  Stücke  in  der  neuen  Manier  gestaltet.  Wir  werden  nicht 
irren,  wenn  wir  die  am  meisten  bewunderten  Tragödien  der  ersten  Kaiser- 
zeit, die  Medea  Ovids  und  den  Thyestes  des  Varius,  als  glänzende  Muster 
der  rhetorischen  Poesie  betrachten.  Mit  den  alten  Tragödien  haben  die  neuen 
gemein,  dass  sie  an  Stoffe  herantreten,  welche  bereits  griechische  Dichter 
behandelt  haben;  allein  sie  unterscheiden  sich  von  jenen,  dass  sie  keine 
Kopie  mehr  sein  wollen,  sondern  eine  Neuschöpfung.  Es  ist  richtig,  dass 
der  Sagenstoff,  wenn  er  durch  einen  griechischen  Dichter  allgemeine  Gel- 
tung erhalten,  in  den  wesentlichen  Zügen  beibehalten  werden  musste,  dass 
sonach  nicht  in  der  Erfindung  eines  neuen  Stoffes  der  Schwerpunkt  der 
neuen  Richtung  liegen  konnte;  allein  immerhin  blieb  noch  ein  grosses 
Feld  übrig,  auf  dem  sich  die  Originalität  des  Dichters  bethätigen  konnte, 
wie  dies  ja  auch  moderne  Meister  in  vielbewunderten,  antike  Stoffe  darstel- 
lenden Werken  gezeigt  haben.  Solche  Originale  sind  auch  die  Tragödien 
Senecas;  und  es  ist  anziehend,  näher  zu  verfolgen,  worin  und  wie  sich 
diese  Originalität  äussert.  Vor  allem  prägt  der  Dichter  seine  Individua- 
lität aus;  das,  was  sein  Inneres  bewegt,  klingt  auch  durch  diese  Stücke 
hindurch.  Besonders  der  Ghor  gibt  ihm  Anlass,  sich  über  die  allgemeinen 
Fragen  des  Seins,  meist  in  stoischem  Sinn,  auszusprechen;  doch  legt  er 
auch  seinen  Personen  nicht  selten  philosophische  Sätze  in  den  Mund.  Da 
werden  Probleme  erörtert  oder  gestreift  wie  das  Fatum  (Oedip.  980),  der 
Weltuntergang  (Thyest.  827),  der  Tod  (Tro.  392),  der  Selbstmord  (Phoeniss. 
151  fg.),  das  Glück  des  leidenschaftslosen,  von  Ehrgeiz  freien  Mannes 
(Thyest.  342).  Auch  politische  Diskussionen  werden  geführt,  so  wird  die 
Frage  aufgeworfen,  ob  man  die  Herrschaft  auf  Liebe  oder  auf  Furcht 
gründen  soll,  wir  hören  den  Satz  (Tro.  258): 

violenta  nemo  imperia  cotUinuit  diUf 
moderata  durant. 

An  einer  andern  Stelle  (Phoen.  654)  heisst  es  dagegen: 

regnare  non  vuU  esse  qui  invisi4s  timet: 
simul  isla  mundi  eonditar  posuit  deus, 
odium  atque  regnum. 

In  Thyestes  spricht  Atreus  die  Grundsätze  seiner  Regierung  aus; 
er  vertritt  einen  schroffen  Standpunkt,  er  verlangt,  dass  das  Volk  unter 
allen  Umständen  den  Handlungen  seines  Herrn  Beifall  spende,  ja  er 
geht  sogar  soweit,  zu  behaupten,  dass  es  unmöglich  sei,  durchweg  mit 
ehrlichen  Mitteln  zu  regieren  (214).  Ihm  gegenüber  nimmt  der  Satelles 
den  Standpunkt  der  Mässigung  ein.  Oft  ergeben  sich,  wie  bereits  erwähnt, 
zu  den  in  den  Tragödien  entwickelten  Sätzen  schlagende  Parallelen  aus 
den  philosophischen  Schriften,  ein  Beweis,  dass  der  Philosoph  Seneca  und 
der  Tragiker  Seneca  dieselbe  Person  sind.  Auch  in  der  Form,  in  der  die 
philosophischen  Axiome  vorgebracht  werden,  zeigt  sich  die  Verwandtschaft, 


268     Römische  Litteratorgesohichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

hier  wie  dort  finden  wir  die  epigrammatisch  zugespitzten  Sentenzen  in 
reicher  Fülle.  Noch  mehr  enthüllt  sich  das  eigene  Wesen  des  Autors 
in  der  dichterischen  Komposition.  Der  griechische  Dichter  wurde  nur 
geleitet  durch  die  Rücksichten  auf  das  Schöne,  das  sich  in  stiller  Grösse 
durch  sein  Werk  entfalten  sollte;  der  Römer  wollte  einen  Effekt  erzielen 
und  zwar  mit  den  Mitteln,  welche  ihm  der  rhetorische  Unterricht  an  die  Hand 
gegeben.  Dort  hatte  er  gelernt,  farbenreiche  Beschreibungen  hinzuwerfen, 
die  verschiedenen  Affekte  kunstvoll  zu  zeichnen,  die  für  die  jeweiligen 
Stimmungen  passende  Situation  in  schlagender  Weise  vorzuführen;  nicht  aber 
hatte  er  dort  gelernt  die  Versenkung  in  einen  werdenden  Charakter,  die 
zarte  Motivierung  der  verschiedenen  Handlungen,  die  stufenmässige  Ent- 
wickelung  eines  tragischen  Stoffes.  Mehr  als  Rhetor  denn  als  Dichter 
tritt  er  an  die  alten  Meisterwerke  heran.  Er  braucht  vor  allem  Reden, 
die  dramatische  Bewegung  steht  ihm  daher  erst  in  zweiter  Linie;  er 
braucht  spannende  Scenen,  sein  Blick  ist  daher  weniger  auf  die  Verbindung 
von  den  Teilen  zu  einem  abgerundeten  Ganzen  gerichtet;  er  muss  starke  Töne 
anschlagen,  wenn  er  die  abgestumpften  Nerven  seines  Publikums  erregen 
will,  das  Geheimnis  der  Harmonie,  das  mit  so  wohlthuender  Wärme  aus 
den  griechischen  Schöpfungen  herausleuchtet,  ist  ihm  versagt.  Der  am 
meisten  in  die  Augen  springende  Grundzug  dieser  Stücke  ist  daher  das 
Masslose,  das  Forcierte,  das  Pathetische.  Beispiele  für  das  Gesagte  finden 
sich  allenthalben  in  diesen  Tragödien,  und  wir  haben  auf  verschiedenes 
hieher  Gehöriges  bereits  in  den  Analysen  aufmerksam  gemacht.  Um  eine 
schauerliche  Beschreibung  der  Unterwelt  anbringen  zu  können,  tritt  Theseus 
mit  Hercules  zugleich  auf,  und  während  dieser  zur  Züchtigung  des  Lycus 
schreitet,  finden  die  Anwesenden  die  Geduld,  der  Erzählung  aufmerksam 
zuzuhören.  Die  Totenbeschwörung  des  Tiresias  und  die  Giftmischereien 
der  Medea  werden  zu  ganzen  Scenen  ausgestaltet,  da  hier  der  Dichter  die 
erwünschte  Gelegenheit  fand,  durch  Darstellung  des  Grässlichen  zu  be- 
täuben. Auch  sonst  scheut  er  sich  nicht,  Dinge,  vor  welchen  der  zart« 
Sinn  der  Griechen  zurückgescheut,  offen  darzulegen.  Er  lässt  die  Jokaste 
nochmals  mit  dem  geblendeten  Oedipus  zusammentreffen,  er  lässt  die 
Phaedra  selbst  dem  Theseus  ihre  Schuld  gestehen,  er  lässt  die  Medea  die 
Kinder  vor  unsern  Augen  hinschlachten,  er  lässt  Hercules*  wahnsinnige  Thaten 
öffentlich  vor  sich  gehen;  alles  dies  zu  dem  Zwecke,  um  pikante,  grause 
Scenen  zu  erhalten.  Die  Charaktere  werden  durch  das  Pathos,  durch 
die  stete  Steigerung  der  Affekte  stark  vergröbert.  Seine  Deianira  ge- 
bärdet sich  infolge  ihrer  Eifersucht  wie  wahnsinnig,  auch  bei  Medea  ver- 
steigt sich  die  Leidenschaft  ins  ungemessene  und  wilde,  die  uns  aus  der 
griechischen  Tragödie  so  sympathisch  gewordene  Antigene  tritt  bei  ihm 
als  eine  redegewandte  Sophistin  auf,  Phaedras  Schuld  wird  losge- 
löst von  der  göttlichen  Einwirkung  der  Venus  und  dadurch  verstärkt. 
Was  aber  am  meisten  diese  Tragödien  von  den  griechischen  trennt,  ist  die 
überall  sich  breit  machende  Rhetorik;  deklamiert  wird  bei  dem  Römer 
ausserordentlich  viel,  und  die  Deklamationen  zeigen  ganz  die  Vorzüge, 
aber  auch  die  Gebrechen  der  Beredsamkeit  jener  Tage.  Sie  sind  lebhaft, 
geistreich,  scharfsinnig,   blühend,   aber  auch  affektiert,    überladen,   spitz- 


Seneoa  als  Dichter. 


269 


findig  und  unnatürlich.  Von  dieser  Behandlung  der  Diktion  hebt  sich 
der  Versbau  merklich  ab;  derselbe  ist  sorgfältig  und  streng  und  richtet 
sich  nach  den  besten  Mustern;  freilich  Geniales  darf  man  auch  hier  nicht 
suchen. ») 

Es  ist  eine  alte  Streitfrage,  ob  die  Tragödien  Senecas  zur  Aufführung 
bestimmt  waren.  Untersucht  man  dieselben  vorurteilsfrei,  so  wird  man 
in  denselben  nichts  finden,  was  eine  Aufführung  derselben .  unmöglich 
erscheinen  Hesse.  Ja,  es  finden  sich  sogar  Bühnenregeln  beobachtet, 
so  beschränkt  er  sich  auf  drei  Sprecher  in  den  einzelnen  Scenen,*)  er  hält 
die  fünf  Akte^)  ein,  er  macht  die  auftretenden  Personen  und  den  Ort  kennt- 
lich.*) Ferner  ist  zweifellos,  dass  die  rhetorische  Kunst  dieser  Produkte 
erst  durch  wirklichen  Vortrag,  nicht  durch  blosse  Lektüre  lebendig  wird. 
Für  die  ungebildete  Masse  mochten  diese  Dichtungen  allerdings  wenig  An- 
ziehungskraft haben,  für  die  Gebildeten  dagegen,  welche  sämtlich  die 
rednerische  Bildung  durchgemacht  hatten,  musste  das  Anhören  dieser 
Stücke  den  gleichen,  ja  vielleicht  einen  noch  höheren  Genuss  bereiten 
als  das  Anhören  von  Deklamationen  über  abstruse  Themata.  Und  wenn 
die  Tragödien  des  Pomponius  Secundus,  denen  wir  auf  Grund  des  Zeug- 
nisses von  Quintilian  (10,1,98)  auch  den  rhetorischen  Charakter  beilegen 
müssen,  wirklich  aufgeführt  wurden  (Tac.  Ann.  11, 13),  so  ist  es  ungereimt 
von  vornherein  als  eine  Unmöglichkeit  zu  betrachten,  dass  Seneca  für  die 
Bühne  gedichtet.  Eine  andere  Frage  ist,  ob  die  Stücke  wirklich  zur  Auf- 
führung gelangten.  Bei  dem  Niedergang  der  dramatischen  Poesie,  welcher 
durch  das  Überwuchern  des  Pantomimus  erzeugt  wurde,  ist  es  sehr  leicht  mög- 
lich, dass  sie  nur  in  der  Recitation  und  in  der  Lektüre  fortlebten.  Unter 
allen  Umständen  übten  sie  keine  tiefgehende  Wirkung  auf  die  römische 
Litteratur  aus,^)  wenn  sich  auch  von  ihrer  Benutzung  Spuren  bei  Späteren 
erhalten  haben.  ^)  Dagegen  hatte  Seneca  einen  nachhaltigen  Einfluss  auf 
die  moderne  Litteratur.  ^)  In  Italien  lässt  sich  das  Studium  und  die  Nach- 
ahmung der  Tragödien  Senecas  durch  Jahrhunderte  hindurch  verfolgen. 
Auch  in  der  Entwickelungsgeschichte  der  französischen  Tragödie  nimmt 
unser  Autor  eine  ganz  hervorragende  Stellung  ein;  Corneille  und  Racine 
haben  aus  ihm  geschöpft  und  sich  an  ihm  gebildet.  Schon  aus  dieser 
Einwirkung  ergibt  sich,  dass  diese  Tragödien  nicht  bedeutungslos  sein 
können  und  ein  ernsteres  Studium  verdienen.  Freilich  mit  dem  Aufleben 
des  Hellenismus  war  die  Rolle  dieser  Produkte  ausgespielt.  Jetzt  bilden 
sie  ein  interessantes  Seitenstück  zu  den  Erzeugnissen  des  griechischen 
Geistes,  das  uns  belehrt,  dass  das  hellenische  Ideal  des  Schönen  unüber- 
troffen dasteht  und  ein  Abweichen  von  demselben  sich  jederzeit  rächt. 

Über  die  Zeit  der  Abfassung  der  einzelnen  Tragödien  ist  schwer  ins  reine  zu 
kommen,  da  die  Anspielungen  grösstenteils  zu  unbestimmt  sind.  Was  Peipeb,  Praef,  ttuppl, 
p.  11.  p.  32  vorbringt,  sind  „somnia  nugaeque  merae".  Auch  Jonas,  De  ardine  librorum 
Senecae,  tritt  der  Frage  näher  und  sucht  zum  Teil  im  Anschluss  an  Peiper,  zum  Teil  den- 
selben rektifizierend,  die  Abfassungszeit  von  Medea  und  Troades  (bald  nach  der  Rückkehr 


J)  Vgl.  L.  MüLLBB,  Philol.  89, 419,  der  eine 
sachkundige  Kritik  der  metrischen  Kompo- 
sition in  kurzen  Zügen  entwirft. 

*)  Weil,  Jieme  archfologique  1865 
p.  21. 


»)  Weil  p.  32. 

*)  Leo,  Ausg.  1,76. 

»)  L.  Müller  p.  421. 

«)  Peipeb,  Rhein.  Mus.  32,  532. 

')  Ranke,  Abh.  p.  72. 


270    RömiBche  Litteratargeschiclite.    II.  Die  Zoit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

aus  dem  Exil  p.  38),  von  Oedipns  (nach  dem  Partherkrieg  des  Jahres  58  p.  46,  im  Wider- 
spruch mit  Leo  vgl.  §  875),  von  Phaedra  (nach  dem  Tod  des  Britanniens  p.  47),  von  Her- 
cules f.  (nach  57  vgl.  Vs.  839  p.  47),  von  Thjestes  (nach  dem  seeesstis  Senecas  p.  48)  zu  be- 
stimmen. Die  gewöhnliche  Anschauung  lässt  die  Tragödien  in  der  Einsamkeit  des  Exils  von 
Corsica  entstehen  (Rakke,  Abh.  p.  26). 

ß)  Seneca  als  Satiriker  und  Epigrammatiker. 

379.  Divi  Glaudii  ^AnoxoXoxvvt(aaiq  (Glaudins'  Yerkürbsang).    Ein 

hochinteressantes  Schriftstück  ist  diese  Schmähschrift  gegen  den  ver- 
storbenen Kaiser  Claudius.  Es  ist  eine  Menippeische  Satire,  denn  sie 
bietet  die  dieser  Gattung  eigentümliche  Mischung  von  Prosa  und  Poesie. 
Wir  führen  kurz  die  Grundzüge  derselben  vor:  Claudius  liegt  im  Todes- 
kampf, Mercur  bittet  eine  der  Parcen,  demselben  doch  ein  Ende  zu  machen. 
Clotho  reisst  daher  das  Lebensgespinnst  des  Claudius  ab;  zugleich  spinnen 
die  Parcen  den  Faden,  an  dem  das  Leben  Neros  hängt,  immer  weiter 
und  weiter;  Apollo  begleitet  sie  mit  seinem  Gesang;  er  feiert  in  über- 
schwenglicher Weise  den  neuen  Kaiser.  Claudius  kommt  im  Himmel  an; 
die  Götter  staunen  über  den  sonderbaren  Menschen;  da  sie  aus  seinem 
Kauderwelsch  nicht  herausbringen  können,  wessen  Landes  Kind  er  sei, 
wird  der  auf  der  ganzen  Welt  herumgereiste  Hercules  herbeigeholt,  um 
sich  den  Menschen  anzusehen  und  Aufschluss  zu  erteilen.  Auch  Hercules 
wird  es  bei  dem  Anblick  des  Fremdlings  nicht  geheuer;  mit  dem  be- 
kannten homerischen  Vers  riq  no&sv  stellt  er  ein  Examen  an;  Claudius 
antwortete  ebenfalls  mit  einem  homerischen  Hexameter,  durch  denselben 
seine  Abstammung  von  Uion  kundgebend.  Ihm  fällt  aber  die  Göttin 
Febris,  die  den  Claudius  allein  von  den  Göttern  Roms  begleitet  hatte,  in 
die  Rede  und  deckt  boshaft  seinen  Ursprung  aus  Lyon  auf.  Hercules 
fordert  ihn  in  tragischen  Versen  auf,  die  Wahrheit  zu  sagen,  zugleich  auf 
seine  Keule  hindeutend;  Claudius  sucht  Hercules  zu  begütigen.  Leider 
ist  hier  in  der  Überlieferung  (wahrscheinlich  durch  den  Ausfall  eines 
Blattes)  eine  Lücke  eingetreten,  der  Zusammenhang  erfordert  die  Dar- 
legung, dass  es  Claudius  gelang,  Hercules'  Gunst  dafür  zu  gewinnen,  dass  er 
ihn  in  den  olympischen  Senat  einführe.  Mit  den  Verhandlungen,  ob  der  Kaiser 
unter  die  Götter  aufgenommen  werden  soll,  fährt  das  Erhaltene  fort.  Die 
heftige  Schlussrede  des  vergötterten  Augustus  über  die  Schandthaten  des 
Claudius  führte  zu  einem  verneinenden  Votum  der  Himmlischen.  Der 
Götterbote  Mercurius  packt  ihn,  um  ihn  in  die  Unterwelt  zu  führen.  Als 
sie  auf  dem  heiligen  Weg  in  dieselbe  ziehen,  werden  sie  des  Leichenbegäng- 
nisses des  Claudius  gewahr  und  hören  die  dabei  gesungene  Totenklage; 
der  Dichter  teilt  dieselbe  mit.  Im  Fortgang  ihrer  Reise  stossen  sie  auf 
den  ehemaligen  Freigelassenen  des  Claudius,  Narcissus,  auch  er  war  auf 
dem  Weg  zur  Unterwelt  begriflfen;  er  wird  vorausgeschickt,  die  Ankunft 
des  Claudius  zu  melden.  Als  Claudius  bei  den  Unterirdischen  angekommen 
war,  schleppt  ihn  Pedo  Pompeius  sofort  vor  den  Richterstuhl  des  Aeacus 
und  macht  ihm  den  Prozess.  Claudius  wird  schuldig  gesprochen.  Schwierig- 
keit macht  die  Bestimmung  der  Strafe;  man  beschliesst  eine  ganz  neue 
über  ihn  zu  verhängen,  der  leidenschaftliche  Würfelspieler  wird  verurteilt, 
mit  einem  Würfelbecher  zu  spielen,  dessen  Boden  den  Würfel  vor  dem 
Wurf  durchgleiten  lässt.    In  gebundener  Rede  wird  seine  Strafe  geschildert. 


Seneca  als  fiichier. 


271 


Man  sollte  nun  meinen,  das  Draipa  sei  aus,  allein  es  kommt  ein  Anhang, 
nämlich  ein  neuer  Prozess.  C.  Caesar  reklamiert  den  Claudius  als  seinen 
Sklaven,  derselbe  wird  ihm  auch  zugesprochen;  Caesar  schenkt  aber  den 
Claudius  dem  Aeacus;  dieser  übergibt  ihn  wiederum  seinem  Freigelassenen 
Menander,')  damit  er  diesem  in  den  Untersuchungssachen  als  Knecht 
diene.  Diesen  Anhang  finden  wir  sehr  störend,  gegenüber  dem  ersten 
Prozess  fällt  dieser  zweite  in  seiner  Wirkung  bedeutend  ab.  Das  Miss- 
behagen würde  aber  verschwinden,,  wenn  noch  eine  Strafe  den  Claudius 
treffen  würde,  welche  die  bisher  verhängte  überbietet  und  so  einen  glän- 
zenden Schlusseffect  herbeiführt.  Mit  anderen  Worten,  es  scheint  ein 
Ausfall  am  Schluss  der  Satire  eingetreten  zu  sein.  Diese  Annahme 
findet  auch  von  einer  andern  Seite  her  Unterstützung.  Der  Titel  unserer 
Schrift  ist  in  der  massgebenden  Überlieferung  Divi  Qaudii  apotheosis  per 
saturam.  Allein  bei  Dio  Cassius  lesen  wir,  dass  Seneca  eine  Schmäh- 
schrift gegen  Claudius  schrieb,  welcher  er  den  Titel  anoxoXoxvvtwaig  ,als 
eine  Art  ano&avaTiaig'^  vorsetzte.  Es  fragt  sich,  ob  diese  Schrift  mit  der 
unsrigen  identisch  ist.  Die  Frage  muss  bejaht  werden,  denn  in  beiden 
Schriften  ist  ja  derselbe  Gegenstand  bearbeitet,  die  anoO^avatiaig  des 
Claudius,  nur  wird  sie  dort  anoxokoxvvrfamg,  hier  anoO^bduaig  genannt. 
Allein  wenn  wir  erwägen,  dass  der  erste  Titel  schwer  verständlich  ist, 
ferner  dass  im  zweiten  ein  Pleonasmus  vorliegt  (»Vergötterung  des  ver- 
götterten Claudius**),  so  werden  wir  anoxoXoxvvTtaaig  als  die  ursprüngliche 
Aufschrift  der  Schrift  festhalten,  an  deren  Stelle  späterhin  das  geläufige 
ccTioO^ewaig  trat.  Sind  diese  Erwägungen  richtig,  so  bekommen  wir  den 
glänzenden  Schlusseffekt,  den  wir  in  unserem  jetzigen  Text  vermissen,  es 
muss  in  der  Satire  noch  die  Metamorphose  des  Claudius  in  einen  Kürbiss 
zur  Darstellung  gekommen  sein,  denn  mit  einem  so  ungewöhnlichen  Wort 
konnte  der  Schriftsteller  nicht  bloss  im  Titel  spotten. 

Die  Satire  nimmt  zum  Ausgang  ihres  Hohnes  die  Vergötterung  des 
Claudius,  sie  muss  unmittelbar  nach  diesem  Ereignis  verfasst  sein,  denn 
nur  in  diesem  Fall  konnte  der  Autor  eine  volle  Wirkung  von  seiner 
Schmähschrift  erwarten.  Die  Satire  ist  unedel,  weil  sie  einen  toten  Mann 
trifiFt,  zu  gleicher  Zeit  aber  der  neuen  Macht  huldigt,  denn  sie  schont  die 
Agrippina  und  verherrlicht  Nero.  Die  Satire  ist  aber  geistreich;  in  feinem 
Spiel  werden  Eeulenschläge  gegen  Claudius  geführt.  Zu  der  Bitterkeit 
stimmt  die  kurze  schneidige  Sprache,  welche  den  philosophischen  Seneca, 
wie  wir  ihn  aus  den  anderen  Schriften  kennen,  nicht  verleugnet. 

Dio  Cassius  60,  35  'AyQhnniya  de  xal  6  NiQ(oy  nev&Btv  ngocenoiovt^o  oy  anexro- 
vecay,  eg  ts  toy  ov^ayoy  ayijyayoy  oy  ix  rov  avfjntwflov  (pogndrjy  Üsyrjyoxeffay  .  o&eyne^ 
Aovxiog  'Jovyioq  raXXltay  o  rot»  Ssyixa  adeXtpoe  aareioTttToy  ri  dnetp&iy^aro  *  (cvye&tjxe 
fihy  ya^  xal  6  Sevixaq  cvyyQafifA«  änoxoXoxvytüiaiy  avro  wansQ  tiyit  ano&ayätuny  oyo- 
fÄCtaag  '  ix€iyog  &^  iy  ßQu^t^rarta  noXXd  einuiy  dnofjiytj/Äoyevetai,)  ineidtj  ydg  rovs  iy  t^ 
dea/ÄtaTvjQito  9aytaov/Ä^yovs  dyxiaiQoiq  tujI  /ÄsydXoig  ol  dij/nioi  I;  re  xrjy  dyoQuy  dyetXxoy 
xaytBV&ey  is  roy  notu/Äoy  ecvgoyy  eg>rj  joy  KXavdtoy  dyxlaxQM  ig  roy  ovgayoy  dyp.yBX^^fiyM, 

Die  Ansicht  Birts  (De  Senecae  apocolocyntosi  et  apotheoai  lueubratio,  Marb.  1888 
p.  yn),   dass  Seneca  zwei  Schmähschriften  geschrieben,   eine  politische,   die  uns  erhaltene 


^)  Es  ist  der  Komiker  Menander  ge- 
meint, dessen  Vorliebe  fOr  Darstellung  von 
ßechtshändeln  bekannt  ist. 


*)  Dass  die  Satire  mit  einem  vollstftn- 
digen  Satz  schliesst,  ist  Zufall. 


272     Bömiscbe  Litteratorgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

ftnod^etoaig  und  eine  verloren  gegangene  philosophische,  die  anoxoXoTevyrfoaig,  ist  in  jeder 
Beziehung  unhaltbar  (Wachsmuth,  Leipz.  Stud.  11,340). 

Die  Aufschrift  ist  in  der  massgebenden  Überlieferung  Dim  Claudii  AHOSHOCIC 
Annei  Senece  per  safiratn.    Die  Worte  per  aatiram  sind  wohl  Grammatikerzusatz  (Bü- 

CHELEB  p.  38).  Gegenüber  dieser  Überlieferung  sind  Zweifel  an  der  Autorschaft  Senecas 
völlig  unberechtigt. 

Den  Gedanken,  dass  der  Satire  der  Schluss,  die  Verwandlung  in  einen  Kürbiss,  fehlt, 
hat  zuerst  Heiitbich  ausgesprochen;  genaue  Begründung  gibt  Wachbicuth  p.  338;  bekämpft 
wird  dieser  Gedanke  von  BOcheleb  (p.  37)  und  Biet,  Rh.  Mus.  46, 152. 

Überlieferung:  Die  St.  Gallener  Handschrift  nr.  569  (s.  X/XI)  ist  so  sehr  die  ge- 
treueste  Repräsentantin  der  Überlieferung,  dass  nur  sie  dem  Text  zu  Grund  gelegt  werden 
darf,  ja  die  anderen  ihr  gegenüber  weiter  nichts  nützen,  als  die  Entstehungsgeschichte  der 
zahllosen  Fehler  in  den  jüngsten  Handschriften  zu  illustrieren. 

Ausgaben:  von  Bücheleb  in  den  Symhola  phihL,  Bonn  p.  31  mit  Einleitung  und 
meisterhaftem  Kommentar,  Textausgabe  in  Bücheleb's  Petronius^  (1882)  p.  225. 

Die  Seneca'schen  Epigramme  und  die  Anthologie  des  Vossianus  Q.  86. 
Unter  dem  Titel  L.  Annaei  Senecae  epigrammata  super  exilio  sind  in  der  Ausgabe  von 
Haase  1, 261  neun  Epigramme  vereinigt.  Aber  nur  bei  dreien  beruht  die  Zuteilung  an 
Seneca  auf  handschriftlicher  Überlieferung,  nämlich  bei  nr.  I  und  11,  welche  das  schreckliche 
Gorsica  schildern,  dann  bei  nr.  VlI  (de  qualUate  temporis),  welches  die  Vergänglichkeit  aller 
Dinge,  sogar  des  Weltalls  darthut.  Bei  den  übrigen  ist  die  Autorschaft  Senecas  auf 
Grund  innerer  Kriterien  angenommen  worden.  Man  ist  noch  weiter  gegangen  und  hat 
eine  ganze  Sammlung  des  Vossianus  Q.  86  Seneca  zugeteilt.  Und  es  ist  sicher,  dass  bei 
manchen  die  angedeuteten  Lebensumstände  sehr  gut  auf  Seneca  passen,  allein  bei  weiterem 
Vorgehen  verlieren  wir  den  festen  Boden  unter  den  Füssen.  Richtig  ist  aber,  dass  fast 
alle  Epigramme  dieser  Sammlung  aus  der  ersten  Kaiserzeit  stammen;  denn  es  sind  Pro- 
bleme behandelt,  welche  in  späterer  Zeit  kein  nachhaltiges  Interesse  mehr  hervorrufen 
können.  So  klingen  noch  republikanische  Ideen  nach,  Cato  und  Pompeius  mit  seinen 
Söhnen  werden  in  einer  Reihe  von  Epigrammen  verherrlicht.  Auch  Monarchisches  tönt 
dazwischen,  wie  die  Epigramme,  welche  sich  auf  die  britanische  Expedition  des  Claudius 
beziehen.  Der  Grundcharakter  der  Sammlung  ist  der  rhetorische,  es  sind  viele  The- 
mata behandelt,  wie  sie  auch  in  Rhetorenschulen  hätten  behandelt  werden  können  z.  B. 
der  Tod  macht  alle  gleich  (437  R.  4,  47  B.),  das  Glück  eines  ruhigen  Lebens,  in  dem  mehrere 
Adynata  aneinandergereiht  werden,  um  zu  zeigen,  dass  alles  eher  eintreten  könne  als  ein 
Aufgeben  des  ruhigen  Lebens  (440  R.  4,  50  B.),  das  lange  Gedicht  über  die  Hoffnung  (415  R. 
4,  25  B.)  u.  a. 

y)  Pseudoseneca. 

380.  Octavia.  Noch  ein  merkwürdiges  Produkt  trägt  in  den  Hand- 
schriften den  Namen  Seneca,  die  Octavia.  Es  ist  dies  die  einzige  uns  er- 
haltene römische  Tragödie,  welche  einen  historischen  Stoff  behandelt  und  so- 
nach uns  einigermassen  den  Charakter  der  Praetexta  erkennen  lässt.  Der 
völlige  Untergang  des  claudischen  Hauses  ist  es,  was  der  Dichter  in  stark  rhe- 
torischer, aber  doch  ergreifender  Weise  zur  Darstellung  bringt.  Den  Mittel- 
punkt der  Handlung  bildet  Octavia,  die  Tochter  des  Claudius,  die  Stief- 
schwester Neros  und  seine  spätere  Gemahlin,  ein  bedauernswertes  Geschöpf, 
in  dessen  Leben  die  Sonne  des  Glücks  nicht  hineingeschienen.  Die  Tage 
ihrer  Kindheit  wurden  verdüstert  durch  das  Verhängnis,  das  über  ihre 
Mutter,  Messalina,  hereinbrach;  auf  Betreiben  Agrippinas,  der  Mutter 
Neros,  wurde  sie  mit  ihrem  Stiefbruder  vermählt,  nachdem  ihr  Verlobter 
Silanus  hingemordet  war;  bald  darauf  ward  ihr  Vater  von  Agrippina  dem  Tod 
überliefert;  zuletzt  musste  sie  noch  mit  eigenen  Augen  und  doch  ruhigen 
Bluts  mit  ansehen,  wie  ihre  letzte  Hoffnung,  ihr  Bruder  Britanniens,  an 
einem  von  Nero  gereichten  Gifttrank  beim  Mahle  zusammenbrach.  Jetzt 
harrte  auch  ihrer  das  Verderben.  Nero  hatte  seine  Gunst  der  Poppaea 
Sabina  zugewandt    und  war  entschlossen,   seine  Gattin  zu  Verstössen  und 


PsendoBeneca.  273 

seine  ßeliebte  auf  den  kaiserlichen  Thron  zu  setzen.  Hätte  der  Dichter 
nur  diese  Verstossung  Octavias  uns  vorgeführt,  so  hätten  wir  bloss  eine 
Familientragödie;  allein  er  hat  sich  ein  weiteres  Ziel  gesetzt;  auch  ein 
politisches  Moment  greift  in  die  Handlung  ein;  das  Volk  erhebt  sich  gegen 
die  neue  Verbindung  und  tritt  für  Octavia  ein.  Aber  —  und  hierin  liegt 
das  eigentlich  Tragische  des  Stücks  —  gerade  diese  Erhebung  schlägt  zum 
Unheil  der  Octavia  aus,  denn  sie  ward  für  den  Tyrannen  der  Anlass,  ihren 
Tod  anzuordnen. 

Dies  ist  der  Kern  der  Tragödie;  im  einzelnen  entwickelt  sich  die 
Handlung  also:  Im  ersten  Akt  werden  wir  durch  Octavia  und  ihre  Amme, 
dann  durch  den  auftretenden  Chor  mit  der  Situation  bekannt  gemacht; 
wir  erfahren  die  ßräuelthaten  im  kaiserlichen  Hause  und  den  Plan  Neros, 
sich  von  Octavia  zu  trennen  und  eine  neue  Verbindung  einzugehen;  wir 
hören,  wie  sich  das  Ehrgefühl  der  gekränkten  Gattin  in  hellauflodernden 
Hass  umsetzt,  wir  folgen  mit  Interesse  den  teilnehmenden  Reden  der  zur 
Ergebung  ratenden  Amme.  Im  zweiten  Akt  treten  Nero  und  Seneca  auf, 
jetzt  wird  die  Handlung  auf  das  politische  ßebiet  hinübergespielt,  das  Ge- 
spräch geht  über  die  Familienangelegenheit  hinaus  zur  Betrachtung  der 
Regierungsgrundsätze  über;  Seneca  vertritt  den  Standpunkt  der  Mässigung 
und  Besonnenheit,  Nero  den  der  Härte  und  des  autokratischen  Willens. 
Der  Dialog  schliesst  mit  dem  Vorsatz  des  Kaisers,  in  den  nächsten  Tagen  die 
Verbindung  zu  vollziehen.  Die  folgenden  Akte  setzen  die  Vermählung 
voraus.  Zuerst  schildert  uns  der  Dichter  den  Eindruck,  den  das  Ereignis 
macht.  Es  erscheint  der  Schatten  seiner  Mutter  Agrippina,  die  Unglücks- 
fackel schwingend  und  die  Scheusslichkeiten  des  Sohnes  enthüllend.  Auch 
Octavia  tritt  auf;  sie  ist  nunmehr  in  gefasster  Stimmung;  sie  freut  sich, 
bloss  noch  Schwester  des  Kaisers  zu  sein;  endlich  kommt  ein  Chor  und 
erhebt  ein  Klagelied  über  den  traurigen  Bund.  Die  Strömungen  der 
gegnerischen  Seite  bringt  der  Dichter  ebenfalls  in  dreifacher  Weise,  durch 
die  Amme  der  Poppaea,  durch  die  Poppaea  selbst  und  endlich  durch  einen 
der  neuen  Gattin  ergebenen  Chor  zum  Ausdruck.  Die  erste  malt  das 
Glück  der  Herrin  und  ist  darum  erstaunt,  dieselbe  bestürzt  zu  sehen, 
Poppaea  erzählt  ein  schreckliches  Traumbild,  von  dem  sie  in  der  Braut- 
nacht verfolgt  wurde,  der  Chor  feiert  Poppaeas  Schönheit,  welche  selbst 
des  Begehrens  Jupiters  würdig  sei.  Da  eilt  ein  Bote  mit  einem  mili- 
tärischen Befehle  herbei;  das  Volk  hatte  sich  gegen  Poppaea  erhoben 
und  die  Zurückführung  der  Octavia  gefordert.  Der  herrscherfreund- 
liche Chor  stellt  ein  strenges  Strafgericht  in  Aussicht.  Wie  recht  er 
hatte,  verkündet  uns  Nero  selbst.  Aufgebracht  über  die  Milde  der 
Soldaten  spricht  er  den  Gedanken  aus,  dass  lediglich  durch  die  Furcht 
die  Menge  niedergehalten  werden  müsse,  und  gibt  dem  Präfekten  den  Be- 
fehl, Octavia  auf  eine  entfernte  Insel  zu  bringen  und  dort  zu  ermorden. 
Während  Octavia  fortgeführt  wird,  erhebt  sich  ihr  Chor  zu  dem  Wunsche, 
die  Arme  möchte  wie  einst  Jphigenie  durch  einen  Windhauch  ins  Land 
der  Taurer  getragen  werden,  das  Fremdlinge  opfert  und  nicht  wie  in  Rom 
die  eigenen  Kinder. 

Dieses  Stück  ist,  wie  gesagt,  unter  dem  Namen  Senecas  überliefert; 

HAttdhnch  dftr  klMB.  Altertnmuwiiwenichaft.    Txn.    2.  Teil«  18 


274    BOmisehe  Litteratargeseliichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilimg. 

allein  die  Autorschaft  desselben  stösst  auf  Schwierigkeiten.  Es  ist  klar, 
dass  unter  Nero  die  Tragödie  sich  nicht  ans  Licht  wagen  konnte;  wir 
finden  überdies  Anspielungen  in  den  Visionen,  welche  die  Bekanntschaft 
mit  der  Art  und  Weise  des  Todes  Neros  voraussetzen.  Sonach  muss  die 
Dichtung  nach  Nero  entstanden  sein.  Allein  sie  kann  nicht  viel  später 
angesetzt  werden,  da  nur  ein  Zeitgenosse,  der  jene  Katastrophe  miterlebt 
hat,  sie  so  zu  schildern  vermochte.^) 

Die  Zeit  der  Praetezta.  Die  Anspielungen  finden  sich  in  der  Rede  der  Agrip- 
pina.  Vers  620  wird  dem  Tyrannen  turpis  fuga,  dann  der  Tod  in  hilf  loser,  verlassener 
Lage  prophezeit  (630) ;  auch  das  jugulutn,  in  das  sich  Nero  unter  Beihilfe  seines  Freige- 
lassenen den  Stahl  gestossen,  ist  auffälligerweise  erwähnt.  Man  vgl.  damit  die  Schilderung 
bei  Sueton  48  n.  49.  Rankes,  der  übrigens  selbst  jene  Stellen  (Abb.  u.  Vers.  p.  65)  anfahrt, 
Ansicht,  dass  Seneca  der  Verfasser  sei,  ist  daher  unrichtig.  Ganz  unbegreiflich  sind  die 
Versuche  der  Gelehrten,  welche  die  Octavia  in  das  4.  Ja]brhundert  (Peipbb  und  Richteb 
p.  XIII;  Bist,  Rh.  Mus.  34,559)  oder  gar  in  das  Mittelalter  (Bbaun,  Octavia  und  die  Zeit 
ihrer  Entstehung,  Kiel  1863)  versetzen  wollen.  Die  Behauptung,  dass  der  Verfasser  der 
Praetexta  seinen  Stoff  aus  Tacitus  geschöpft  habe,  ist,  wie  Nordmeteb  {Schedae  philo- 
logae  zu  £hren  Useners,  Bonn  1891  p.  94)  gezeigt,  eine  irrige.  Einen  bestimmten  Autor  nach- 
zuweisen, wie  Curiatius  Matemus  {Octavia  praetexta  .  Curiatio  Matemo  fdndicatam  recogn., 
Fb.  Ritteb,  Bonn  1843)  ist  unmöglich.    (L^ek,  De  Octavia,  Dissert.  Vindob.  3, 1.) 

5.  P.  Pomponius  Secundus. 
381.  Leben  des  Pomponius.  —  Seine  Tragödien.  Der  ältere  Pli- 
niu8  hatte  eine  Biographie  des  Pomponius  Secundus  geschrieben  (Plin. 
ep.  3,  5).  Leider  ist  dieses  Werk  verloren  gegangen;  wir  sind  daher  jetzt 
lediglich  auf  die  Nachrichten  des  Tacitus  angewiesen.  Der  Geschicht- 
schreiber stellt  den  Pomponius  sehr  hoch,  er  nennt  ihn  einen  geistreichen  Mann 
von  feinen  Sitten  (Ann.  5,  8)  und  behält  ihn  in  seinen  Annalen  fortwährend 
im  Auge.  Wir  stellen  die  von  ihm  berichteten  Züge  zusammen.  Unter 
Tiberius  wurde  er  beschuldigt,  er  habe  nach  dem  Sturz  des  Seianus  dem 
Aelius  Gallus,  der  wahrscheinlich  der  Sohn  Seians  war,  einen  Unterschlupf 
in  seinen  Gärten  gewährt.  Er  entging  seinem  Verderben  nur  dadurch, 
dass  ihn  sein  Bruder  bis  zu  der  Entscheidung  des  Kaisers,  die  er  aQge- 
rufen,  in  Gewahrsam  hielt.  Da  Tiberius  den  Fall  unerledigt  Hess,  blieb 
der  Angeschuldigte  in  Gefangenschaft  bis  zum  Regierungsantritt  Galigulas 
(Ann.  5,  8).  Diese  unfreiwillige  Müsse  wird  Pomponius  benutzt  haben,  um 
Tragödien  zu  schreiben.  Unter  Claudius  wurden  solche  von  ihm  aufge- 
führt. Bei  einer  solchen  Aufführung  stiess  das  Theaterpublikum  Schmähungen 
gegen  den  Dichter  aus.  Dieser  Vorgang  erregte  um  so  mehr  den  Ver- 
druss  des  Kaisers,  als  derselbe  einen  „vir  consularis"  betraf.  Da  auch  Frauen 
angesehener  Häuser  im  Theater  von  den  Zuschauern  beschimpft  wurden, 
so  trat  Claudius  im  Jahre  47  mit  einem  strengen  Edikt  dem  Unfug  ent- 
gegen (Ann.  11, 13).  Auch  als  Feldherr  that  sich  Pomponius  hervor,  er 
führte  einen  glücklichen  Schlag  gegen  die  räuberischen  Chatten  aus,  so 
dass  ihm  der  honor  triumphalis  zuerkannt  wurde  (Ann.  12, 28).  Diese  Aus- 
zeichnung schlägt  der  Historiker  gering  an  im  Verhältnis  zu  dem  dichte- 
rischen Ruhme  des  Feldherm,  dieser  werde  seinen  Namen  auf  die  Nach- 
welt bringen.    Mit  dieser  hohen  Wertschätzung  steht  Tacitus  nicht  allein, 


0  Dafür  spricht  auch  der  ganz  specielle 
Zug,  der  berichtet  wird,  dass  die  entlassene 


Geliebte  Neros  Acte  sich  ein  Grabmahl  er 
richten  Hess  (176). 


P.  Pompoxdiui  Seonndiui.  275 

auch  Quintilian  nennt  den  Pomponius  den  vorzüglichsten  Tragödiendichter, 
den  er  gesehen  (10, 1, 98).  Selbst  der  Tadel  wagte  sich  nicht  ohne  gleichzeitiges 
Lob  hervor.  Nach  demselben  Gewährsmann  vermisste  die  ältere  Generation 
an  Pomponius  die  tragische  Kraft,  gab  aber  zu,  dass  sich  seine  Tragödien 
durch  Bildung  und  Glanz  der  Darstellung  auszeichnend)  Merkwürdig  ist, 
dass  der  Dichter  den  sprachlichen  Problemen  grosse  Aufmerksamkeit  zu- 
wandte. Schon  bei  Seneca  haben  wir  gesehen  (p.  257),  dass  die  beiden  Dichter 
in  den  Vorreden  zu  ihren  Tragödien  über  die  Zulässigkeit  eines  Ausdrucks 
debattierten;  auch  in  Briefen  an  Paetus  Thrasea  war  von  Sprachformen 
die  Rede.  DieseStudien  wurden  aber  nicht  im  pedantischen  Geiste  gepflegt; 
denn  der  Dichter  betrachtete  als  die  Richtschnur  in  solchen  Fragen  das  allge- 
meine Sprachbewusstsein.  Tadelten  Freunde  einen  Ausdruck  und  drangen 
auf  Entfernung  desselben,  so  pflegte  er  seine  abweichende  Anschauung 
mit  den  Worten  zu  verkünden  „Ich  lege  Berufung  an  das  Volk  ein**  (Plin. 
ep.  7, 17, 11).  Leider  haben  sich  nicht  viele  Spuren  seiner  dichterischen 
Thätigkeit  erhalten.  Sicher  bezeugt  ist  der  Titel  eines  Stücks  „Aeneas*^, 
das  also  wohl  eine  Praetexta  war  (Charis.  1,132).  Bei  den  Titeln  Atreus 
(Non.  144, 20)  und  Armorum  iudicium  (Lactant.  zu  Stat.  Theb.  10,  841)  wird 
die  Autorschaft  des  Pomponius  bezweifelt.  Auch  der  Fragmente  sind  nicht 
viele  überkommen. 

B.  Schmidt,  Rh.  Mus.  16, 586;  Welckeb,  Rh.  Mus.,  Suppl.  2,  3  (1841)  p.  1440. 

6.  A.  Persius  Flaccus. 

382.  Biographisches.  A.  Persius  Flaccus  wurde  zu  Volaterrae  in 
Etrurien  den  4.  Dezember  34  n.  Ch.  aus  einer  ritterlichen  Familie  geboren 
und  starb  in  ganz  jungen  Jahren,  den  24.  November  62  n.  Chr.  Den  ersten 
Unterricht  erhielt  er  in  seiner  Vaterstadt;  nach  dem  zwölften  Lebensjahr 
kam  er  nach  Rom,  wo  er  der  Schule  des  Grammatikers  Remmius  Palaemon 
und  der  des  Rhetors  Verginius  Flavus,  dessen  rhetorisches  Lehrbuch 
Quintilian  späterhin  zu  Rate  zog,  übergeben  wurde.  Im  Alter  von  sech- 
zehn Jahren  schloss  er  sich  aufs  engste  an  den  stoischen  Philosophen 
Annaeus  Cornutus  an.  Dadurch  wurde  er  mit  der  Lehre  der  Stoa  be- 
kannt und  ein  warmer  Anhänger  derselben.  Auch  mit  anderen  hervor- 
ragenden Männern  jener  Zeit  unterhielt  er  engere  Beziehungen,  mit  dem 
Dichter  Caesius  Bassus,  mit  Calpurnius  Statura,  mit  Servilius  Nonianus, 
mit  dem  Epiker  Lucan,  endlich  auch  mit  dem  Philosophen  Seneca,  von 
dessen  Wesen  er  aber  nicht  sonderlich  angezogen  wurde,  mit  den 
Griechen  Claudius  Agathemerus  aus  Lacedaemon  und  Petronius  Aristo- 
crates  aus  Magnesia.  Besonders  vertrauten  Umgang  pflog  er  mit  dem 
hochangesehenen  Paetus  Thrasea,  dessen  Gattin  Arria  mit  ihm  verwandt 
war.  Auch  diese  Beziehungen  werden  die  Begeisterung  des  Dichters 
für  die  Stoa  genährt  haben.  Als  Persius  starb,  hinterliess  er  ein 
grosses  Vermögen,  das  er  seiner  Mutter  und  seiner  Schwester  ver- 
machte, jedoch   war   ein  Legat  und   die  Bibliothek    seinem  Lehrer   und 


*)  quem  (Pomp.)  aenes  quidem  parum  tragicum  putabant,  eruditione  ac  nüari  prae^ 
Stare  eonfitebantur,    (Schkidt  p.  592.) 

18* 


276     BOmiBche  LÜteratargeschichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    L  Abteilimg. 


Freund  Cornutus  zugewiesen.  Dieser  nahm  jedoch  nur  die  Bibliothek 
an,  auf  das  Legat  leistete  er  Verzicht  zu  Gunsten  seiner  Schwestern. 
Die  Ordnung  des  schriftlichen  Nachlasses  des  Dichters  vertrauten  die 
Hinterbliebenen  demselben  Cornutus  an;  dieser  schied  zuerst  die  Übungen 
der  Schulzeit  aus,  sie  wurden  auf  seinen  Rat  vernichtet;  nur  das  kleine  Corpus 
der  Satiren  wurde  der  Herausgabe  würdig  erachtet.  Zu  diesem  Zweck 
war  eine  geringe  Nachhilfe  notwendig;  es  mussten  am  Schluss  einige 
Verse,  jedenfalls  der  Anfang  einer  neuen  Satire  0  getilgt  werden,  da  sonst 
das  Buch  am  Ende  fragmentarisch  erschienen  wäre;  auch  war  eine  noch- 
malige Durchsicht  geboten,  die  aber  zu  keinen  bedeutenden  Änderungen 
führte.^)  Beider  Aufgaben  unterzog  sich  Cornutus,  dann  übergab  er  das 
Corpus  dem  Caesius  Bassus  auf  dessen  Bitten  hin  zur  Edition.  Ge- 
rühmt wird  von  dem  alten  Biographen  der  Charakter  des  Persius,  sein 
sanftes  Wesen,  seine  fast  jungfräuliche  Schamhaftigkeit,  seine  Liebe  zu 
seinen  Angehörigen,  seine  Massigkeit;  diese  inneren  Vorzüge  wurden  noch 
gehoben  durch  äussere  Schönheit. 

Quelle.  Diese  Biographie  folgt  der  pita  „de  commentario  Probt  Valerii  aublaia*', 
d.  h.  der  vita,  welche  aus  einer  Einleitung  zu  der  Persiusausgabe  des  berühmten  Kritikers 
Valerius  Probus  stammt.  Die  vita  steht  bei  Reiffebscheid  Suet.  rel.  p.  72,  in  der  Ausgabe 
von  Jahn-Büchbleb  p.  54. 

Unterdrückte  Schriften.  Das  Zeugnis  der  vita  lautet  (p.  74R.):  scripserat  in 
pueritia  Flaceus  etiam  praeteoctam  vescio  f  ^  odoinoQixtay  librum  unum  et  paucas  in  aoerum 
Thraaeae  in  Arriam  matretn  versus,  quae  se  ante  virum  occiderat  .  omnia  ea  auctor  fuit 
Cornutus  matri  eius  ut  aholeret. 

Caesius  Bassus.  Da  wir  Caesius  Bassus  als  Herausgeber  des  Persius  kennen  ge- 
lernt haben,  wird  es  am  Platz  sein,  seine  übrige  wissenschaftliche  Thätigkeit  ins  Auge  zu 
fassen.  Persius  selbst  führt  uns  noch  den  Caesius  Bassus  als  lyrischen  Dichter  vor;  er 
sagt  in  der  letzten  Satire: 

admovit  iam  hruma  foco  te,  Basse,  Sahino? 
iamne  lyra  et  tetrico  vivunt  tibi  pectine  chordae, 
ntire  opifex  numeris  veterum  primordia  vocum 
atque  marem  strepitum  fidis  intendisse  latinae, 
mox  iuvenes  agitare  iocos  et  poUice  honesto 
egregius  lusisse  senex?^) 

Also  verschiedene  Weisen  vermag  Bassus  der  Leier  zu  entlocken,  selbst  jugendliche  der 
alte  Mann.  Aber  er  war  auch  Gelehrter  und  beschäftigte  sich  mit  der  Theorie  seiner 
Kunst,  und  zwar  mit  der  Metrik.  Über  diese  Disziplin  schrieb  er  ein  Werk,  das  dem 
Nero  gewidmet  war  (GL.  6,  555)  Bassius  (irrig  statt  Bassus)  ad  Neronem  de  iambico  sie 
dicit.  Von  diesem  Werke  haben  sich  wichtige  Reste,  vermischt  mit  der  Metrik  des  Atiliua 
Fortunatianus  erhalten.  Dagegen  trägt  das  Fragment  Ars  Caesi  Bassi  de  metris  mit  Un- 
recht seinen  Namen.    (Über  das  metrische  System  des  C.  B.  vgl.  Leo,  Hermes  24, 280.) 

883.  Persius'  Satiren.  Wie  wir  gesehen,  hatte  Persius  schon 
während  der  Schulzeit  dichterische  Arbeiten  gemacht.  Nachdem  er  die 
Schule  verlassen,  machte  die  Lektüre  des  zehnten  Buches  des  Lucilius, 
welches  von  den  litterarischen  Zuständen  zur  Zeit  des  Satirikers  handelte, 


')  Jahit,  Proleg.  XLV. 

*)  ib.  p.  XLVI. 

')  An  die  Verteidigung  dieser  Überlie- 
ferung knüpft  BücHELEB,  Rh.  Mus.  41,  458 
folgenden  Lebensabriss  des  Caesius  Bassus: 
Er  war  jetzt  im  Spätjahr  61  etwa  doppelt 
so  alt  wie  Persius,  dem  er  und  Cornutus 
seit  50  in  Freundschaft  verbunden  waren, 
schrieb  seine  Ljrica  vor  61,  wohl  später  die 


Metrik  an  Nero,  edierte  den  Persius  wohl 
63  vor  Lucans  und  Petrons  Tod,  sicher  bei 
Lebzeiten  Neros  vor  68  und  stand,  wenn  er 
beim  Ausbruch  des  Vesuv  starb,  wie  ein 
Scholiast  als  fama  meldet  (vgl.  schoL  zur 
obigen  Stelle),  damals  in  den  Siebzigen.  Da- 
gegen kämpft  BiEOEB,  De  Persii  codice  C 
p.  4. 


Persins.  277 

einen  so  gewaltigen  Eindruck  auf  ihn,  dass  ihm  der  Gedanke  kam,  Satiren 
zu  schreiben  und  dem  Lucilius  nachzueifern.  Der  alte  Biograph  fährt  fort, 
dass  Persius  dies  in  der  Weise  ausgeführt  habe,  dass  er  zuerst  gering- 
schätzig über  sich  selbst  sprach,  dann  auf  die  Redner  und  Dichter  seiner 
Zeit  loszog.  Das  ei'ste  geschah  in  einem  in  Hinkiamben  geschriebenen 
Prolog,*)  in  dem  Persius  es  ablehnt,  den  Dichternamen  und  Dichterruhm 
für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen,  die  zweite  in  der  ersten  Satire.  In 
derselben  entwirft  er  ein  düsteres  Bild  von  den  damaligen  litterarischen 
Zuständen,  er  schildert,  wie  alle  Schriftsteller  lediglich  auf  den  Beifall 
hinsteuerten,  mochte  derselbe  auch  von  den  Ungebildetsten  gespendet  oder 
mochte  er  durch  äussere  Mittel  erschlichen  werden.  Diesem  nichtigen  Beifalls- 
streben gegenüber  will  sich  Persius  in  seiner  Schriftstellerei  in  erster 
Linie  von  dem  Rechten  leiten  lassen;  er  spottet  über  die  geglätteten  Verse 
und  über  die  Wut,  alles  in  hochtrabender  epischer  Weise  zu  behandeln, 
über  die  Sucht  anderer,  die  verschollenen  Dichter  auszubeuten,  mit  Indi- 
gnation hebt  er  hervor,  dass  selbst  in  den  ernstesten  Lagen  die  redneri- 
schen Figuren  mehr  wiegen  als  die  schlichte  Darstellung  der  Wahrheit. 
Er  bringt  Beispiele  aus  der  zeitgenössischen  Dichtung  und  klagt,  dass 
diesem  Zeug  die  männliche  Kraft  abgehe.  Der  Warnung,  dass  ihm  seine 
Satirendichtung  die  Gunst  der  vornehmen  Welt  entziehen  werde,  hält  er 
das  Beispiel  des  Lucilius  und  des  Horaz  entgegen  und  beharrt  auf  seinem 
Entschluss,  Satiren  zu  schreiben.  Als  seine  Leser  denkt  er  sich  Leute, 
welche  die  alten  Komiker  wie  Eupolis  und  Cratinus  verehren,  auf  rohe 
Menschen,  auf  Verächter  der  Wissenschaft  rechnet  er  dagegen  nicht. 

Diese  Satire  greift,  wie  man  sieht,  ins  frische  Leben  hinein  und 
schildert  eine  Seite  desselben,  die  litterarischen  Strömungen  der  Neroni- 
schen Zeit,  welche  in  ihrer  Verkehrtheit  des  Dichters  Unwillen  erregen. 
Hier  steht  er  wirklich  auf  den  Schultern  seiner  Vorgänger,  des  Lucilius 
und  des  Horaz.  In  den  fünf  folgenden  Stücken  dagegen  betritt  er  andere 
Bahnen;  den  Stoff  liefert  ihm  hier  nicht  das  Leben,  sondern  die  Schule, 
wir  erhalten  Erörterungen  über  stoische  Sätze.  So  ist  das  Thema  der 
zweiten  Satire,  welche  dem  Macrinus  zu  seinem  Geburtstag  gewidmet  ist, 
das  Gebet.  Zu  allen  Zeiten  gab  dasselbe  Gelegenheit,  die  thörichte  Ge- 
sinnung der  Menschen  zu  offenbaren;  denn  sie  erbitten  sich  Dinge  von 
den  Göttern,  um  welche  sie  niemals  die  Menschen  anflehen  würden; 
weiter  verlangen  sie  in  ihren  Gebeten  Güter,  wie  z.  B.  Gesundheit,  welche 
sie  auf  der  andern  Seite  mutwillig  zerstören;  sie  dichten  ihre  Leiden- 
schaften, wie  die  Habsucht,  den  Göttern  an  und  glauben  daher  ihre  Gunst 
durch  reiche  Opferspenden  zu  gewinnen;  allein  den  Göttern  ist  nichts  so 
willkommen  als  ein  reiner  und  frommer  Sinn.  Ausgehend  von  dem  Bild 
eines  in  Trägheit  dahinlebenden  Jünglings  will  der  Dichter  in  der  dritten 
Satire  den  W^iderspruch  zwischen  unserm  Handeln  und  unserem  besseren 
Wissen  aufdecken.  Es  gibt  allerdings  Leute,  die  mit  dem  Laster  so  ver- 
wachsen sind,  dass  in  ihnen  die  Unterscheidung  des  Guten  und  Bösen 
nicht  mehr  lebendig  ist.    Aber  wenn  einer  die  Tugend  erkennt  und  ihr 


')  In  der  Ausgabe  von  Jahk-Büchelbr  steht  das  Gedicht  als  Epilog. 


278    ROmisohe  Litteratorgesohiobte»    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

doch  den  Rücken  kehrt,  ist  seine  Lage  eine  unselige,  denn  er  wird  von 
den  grössten  Gewissensqualen  gefoltert.  Kindern  verzeiht  man,  wenn  sie 
Unnützes  treiben,  nicht  aber  dem,  der  aus  der  Weisheit  Quell  getrunken. 
Zur  Philosophie  muss  der  Unglückliche  seine  Zuflucht  nehmen,  mögen  auch 
rohe  Leute  wie  die  Centurionen  dessen  spotten.  Den  Kranken,  der  dem 
Arzte  nicht  folgt,  ereilt  der  Tod.  Auch  der  mit  Leidenschaften  Behaftete 
ist  krank.  Die  vierte  Satire  erörtert  den  Satz  „Erkenne  dich  selbst'. 
Wiederum  geht  der  Satiriker  von  einem  Beispiel  aus;  Alcibiädes,  der  in 
der  athenischen  Volksversammlung  das  Wort  führt,  wird  von  Sokrates  in 
eine  scharfe  Prüfung  genommen.  Die  Leute,  zeigt  der  Dichter  weiter, 
unterlassen  die  Selbstprüfung,  schreiten  aber  umsolieber  zur  hämischen 
Wertschätzung  anderer.  Nicht  das  Urteil  des  Nebenmenschen  ist  mass- 
gebend, sondern  die  Erkenntnis  des  eigenen  Selbst,  die  jeder  sich  verschafifen 
muss.  In  der  fünften  Satire  setzt  Persius  zunächst  seinem  Lehrer  ein 
rühmliches  Denkmal  der  Dankbarkeit,  er  schildert  schön,  wie  Cornutus 
seine  „zarten  Jahre''  geleitet  und  durch  welche  innige  Freundschaft  er 
an  ihn  gekettet  ist;  er  wirft  dann  einen  Blick  auf  die  verschiedenen  ver- 
kehrten Bestrebungen  der  Menschen  und  stellt  ihnen  das  Bild  des  Meisters 
gegenüber,  der  den  Blick  fest  auf  das  Studium  der  Philosophie  gerichtet 
hält  und  den  Zöglingen  die  Früchte  Cleanthischer  Weisheit  einträufelt; 
daran  schliesst  der  Dichter  eine  Betrachtung  der  wahren  Freiheit,  welche 
uns  das  Rechte  thun  lehrt  und  den  Menschen  von  der  Sklaverei  der  Leiden- 
schaften erlöste  Die  sechste  Satire  endlich  wendet  sich  an  den  befreundeten 
Dichter  Caesius  Bassus.  Persius  hatte  sich  nach  Luna  zurückgezogen  und 
führt  hier  ein  zufriedenes,  glückliches  Dasein.  Dies  leitet  ihn  auf  Be- 
trachtungen über  den  richtigen  Gebrauch  der  äusseren  Güter,  welche  die 
Mitte  zwischen  Verschwendung  und  Geiz  einzunehmen  hat.  Durch  die 
Einführung  einer  Scene,  in  welcher  der  Besitzer  mit  dem  Erben  ver- 
handelt, erzielt  der  Dichter  eine  grosse  Anschaulichkeit. 

Unsere  Betrachtung  ging  von  der  VorauBseizung  aus,  dass  die  erste  Satire  auch  der  Zeit 
nach  die  erste  ist;  dies  folgt,  wie  mir  scheint,  aus  den  Worten  der  Biographie  (p.  75  R):  sed 
mox  ut  a  scholis  et  magistris  divertit  (Rxiffebscheid  klammert  die  Worte  aed — divertit 
ein)  lecto  Lucilii  lihro  decinw  vehementer  scUiras  catnpanere  instituU,  cuius  libri  prin- 
cipium  imUatus  est,  sibi  primo,  mox  omnibua  detractuma  cum  tanta  recentium  poStarum 
et  oratarum  insectatione,  ut  etiam  Neronem  —  eulpaverit;  denn  das,  was  hier  angeführt 
wird,  finden  wir  im  Prolog  und  in  der  ersten  Satire.  Dass  die  fOnf  lehrhaften  Stflcke 
auch  Satiren  sein  soUten,  ist  doch  wohl  nicht  zu  bezweifeln.  (Teuffel,  Studien  p.  398). 
Anders  0.  Jahit  (p.  LXXXII) :  prima  aatira  quin  ultima  ab  eo  scripta  ait,non  dubito.  (Inhalts- 
übersicht und  holländische  Übersetzung  bei  Waoeninoen,  Peraiana  Gron,  1891  p.  4  u.  p.  28). 

884.  Charakteristik  des  Persius.  Die  Satiren  des  Persius  fanden 
sofort  bei  ihrem  Erscheinen  lebhaften  Anklang;  man  riss  sich  förmlich 
um  die  Exemplare.  Lucan  brach  bei  einer  Vorlesung  der  Schöpfungen  des 
Persius  in  den  Freudenruf  aus,  das  sei  wahre  Poesie.  Quintilian  meint, 
dass  der  Dichter  durch  dieses  einzige  Buch  sich  grossen  und  echten  Ruhm 
erworben  habe  (10, 1,  94),  und  Martial  verkündet  mit  einem  Seitenblick  auf 
die  Amazonis  des  Domitius  Marsus  das  Lob  des  Satirikers  (4,  29,  7).  Die 
hohe  Wertschätzung  des  Autors  pflanzte  sich  ins  Mittelalter  hinüber,  ^)  die 
verwertbaren  ethischen  Gedanken  wurden  ihm  hoch  angerechnet,  er  wurde 

»)  Mauitius  Philol.  47,  711. 


Persiiis.  279 

daher  viel  gelesen  und  auch  kommentiert.  Und  die  Neuzeit?  Sie  ver- 
urteilt nahezu  einstimmig  den  römischen  Dichter,  und  mit  Recht.  Nur 
die  Poesie  kann  uns  wahrhaft  erfreuen,  welche  uns  entweder  eine  neue 
Ideenwelt  in  packender  Weise  erschliesst  oder  welche  wenigstens  Gegebenem 
goldene  Fassung  verleiht.  Beides  fehlt  dem  Persius;  weder  Inhalt  noch 
Form  vermag  uns  anzuziehen.  Der  Autor  ist  ein  junger  Mann,  der  kaum 
der  Schule  entwachsen  ist  und  jetzt  den  Sittenprediger  macht.  Allein  nur 
gereiften  Jahren  steht  ein  solches  Amt  gut  an.  Persius  hat  noch  keinen 
Blick  in  das  verschlungene  Leben  gethan,  das  Geschick  hat  ihn  nicht  ge- 
schüttelt und  gerüttelt,  es  hat  ihm  im  Gegenteil  die  behaglichste  Lage 
geschaffen.  Was  kann  uns  ein  solcher  Mann  bieten?  Nichts  als  das  was 
er  in  der  Schule  gelernt  hat;  er  weiss  seine  stoischen  Sätze,  und  solche  ver- 
arbeitet er  in  fünf  Stücken.  Quellen  sind  ihm  natürlich  seine  philosophischen 
Bücher,  nicht  Rom  mit  seinem  Treiben  und  Jagen.  Mann  lasse  sich  nicht 
durch  die  eingestreuten  Beispiele  täuschen,  auch  diese  sind  nicht  der 
eigenen  Zeit  des  Schriftstellers  abgelauscht,  es  sind  Fälle,  welche  überall 
und  zu  jeder  Zeit  vorkommen,  solche  Fälle  konnte  er  zu  Dutzenden  in 
seinen  stoischen  Handbüchern  finden,  auch  die  von  ihm  zu  Rat  gezogenen 
Mimen  Sophrons  waren  eine  ergiebige  Fundstätte.  Selbst  die  hier  vor- 
kommenden Namen  bleiben  Namen.  Nur  eine  Seite  des  Lebens  wurde 
ihm  durch  die  Schule  bekannt,  die  litterarische,  welche  die  erste  Satire 
uns  ausmalt.  Aber  auch  hier  ist  er  nicht  originell;  das  Beispiel  des 
Lucilius,  der  den  zeitgenössischen  litterarischen  Zuständen  ein  scharfes 
Auge  zuwandte,  reizte  ihn  zur  Nachahmung.  Doch  würde  dieser  Mangel 
an  Originalität  zu  ertragen  sein,  wenn  uns  der  erborgte  Inhalt  in  kost- 
barer Schale  kredenzt  würde.  Allein  der  Schriftsteller  hat  alles  aufge- 
boten, um  uns  die  Lektüre  zu  einer  wahrhaften  Höllenpein  zu  machen. 
Der  Richtung  der  Zeit  gemäss  ist  Ziel  seines  Strebens  ein  interessanter 
und  pikanter  Stil.  Um  dieses  Ziel  zu  erreichen,  vermeidet  er,  wo  er 
nur  kann,  den  natürlichen  Ausdruck;  das  Einfache  muss  dem  Gesuchten 
und  Verschrobenen  weichen.  Er  hatte  fleissig  seinen  Horaz  gelesen  und 
dessen  Wortschatz  vollständig  eingesogen;  allein  er  weiss  das  Gute  nicht 
zu  nützen;  er  ruht  nicht,  bis  er  es  verrenkt  und  verunstaltet  hat.  Diese 
krankhafte  Ausdrucksweise  legt  uns  Schritt  für  Schritt  Fesseln  an,  es  ist 
ein  Meer  von  Dunkelheit,  0  durch  das  wir  hindurchsteuern  müssen.  Als 
ob  damit  nicht  genug  wäre,  hat  Persius  auch  noch  durch  die  Gomposition 
uns  Nebel  vor  die  Augen  gezogen.  Die  Gedanken  werden  aneinander  ge- 
reiht ohne  die  notwendigen  logischen  Verbindungsglieder;  ferner  geht  die  Dar- 
stellung oft  in  den  Dialog  über,  ohne  dass  derselbe  scharf  abgegrenzt  wird, 
so  dass  wir  bisweilen  nicht  wissen,  wem  die  Worte  angehören.  Niemals 
fallt  in  die  mühsam  zusammengestoppelte  Rede^)  der  Sonnenschein  der 
Heiterkeit.    Mit  Freuden  legen  wir  den  Dichter  aus  den  Händen. 

Die  Schollen  zu  Persius.    Aus  den  verschiedenen  Scholienmassen  heht  sich  als 
eine  bestimmte  Individualität  diejenige  hervor,  welche  den  Namen  Cornuti  comtnentum*) 


')  SoBN,  Die  Sprache  des  Persius,  Lai- 
bach 1890  p.  31. 

')  et  raro  et  tarde  scripsit,  sagt  die 


Biographie. 

')  In    einigen    wenigen    Handschriften 
Annei  Cornuti,  (Lisst.  p.  43);  das  Anne*  hielt 


280    Romische  LitteratnrgeBchichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilimg. 

führt.  Dieser  Kommentar  hat  das  eine  oder  das  andere  antike  Korn,  allein  im  ganzen  ist 
er  ohne  besonderen  Wert.  Jahns  Ansicht  ist,  dass  dieser  Cornutus  eine  wirkliche  Per- 
sönlichkeit sei  (nicht  etwa  blosser  Buchtitel,  hergenommen  von  dem  Lehrer  des  Persius), 
welche  identisch  sei  mit  dem  Verfasser  der  jüngeren  Schollen  zu  Juvenal  (Proleg.  p.  CXXXI, 
p.  GXXXV)  und  nicht  lange  nach  Karl  dem  Kahlen  den  Kommentar  unter  Benutzung  von 
älteren  Randnoten  (p.  CXXXll)  zusammengesetzt  habe.  Dieser  Ansicht  stellt  Liebl  (Die 
Disticha  CorntUi,  Straubing  1888  p.  42)  die  grosse  innere  Verschiedenheit  des  Com- 
mentum  Carnuti  zu  Persius  (doch  vgl.  Jahn  p.  CXXXI)  und  jener  jüngeren  Juvenalscholien 
gegenüber;  er  will  demgemäss  eine  ältere  im  wesentlichen  in  einer  Rezension  vorliegende 
Scholienmasse,  welche  etwa  in  der  Karolingerzeit  als  Cammentum  Carnuti  bezeichnet  worden 
sei,  von  einer  Scholienmasse,  welche  im  13.  Jahrhundert  ein  Magister  Cornutus,  der  Ver- 
fasser der  Disticha  und  derselbe,  welcher  die  jüngeren  Scholien  zu  Juvenal  verfasst,  ange- 
fertigt habe  (p.  47),  unterscheiden.  (Über  einen  Kommentar  des  Bemigius  vgl.  Losbl  p.  39). 
—  Kurz,  Die  Persiusscholien  nach  den  Bemei  Hdschr.  Burgdorf  1875.  1888.  1889;  Zikoeble, 
Wien.  Sitzungsb.  97,  731. 

Überlieferung.  Eine  Rezension  des  Persius  durch  den  Aristarch  der  Römer  Va- 
lerius  Probus  bezeugt  uns  Hieronymus  (apol.  adv.  Rufin.  1,  16).  Im  Jahre  402  n.  Ch. 
machte  eine  neue  Rezension  Sabinus,  auf  diese  Rezension  gehen,  wie  die  Subscriptio  zeigt, 
zurück  ein  Montepessulanus  nr.  212  s.  X  (A)  und  ein  codex  tahularii  hasiliccLe  Vaticanae 
36  H,  wohl  s.  IX  (B).  Dem  Archetypus  dieser  Handschriften  (a),  welcher  sonach  auf  der  Sabi- 
nusrezension  beruht,  steht  als  zweite  Quelle  gegenüber  der  Montepessulanus  125  s.  IX  (C), 
die  bekannte  Juvenalhandschrift.  „Wo  die  beiden  Rezensionen  auseinander  gehen,  da 
jedesmal  die  rechte  Entscheidung  zu  treffen,  ist  die  grösste,  nicht  völlig  lösbare  Schwierig- 
keit im  Persius;  durch  den  Besitz  der  beiden  aber  scheint  da,  wo  sie  zusammenstimmen, 
die  Erhaltung  des  Ächten  uns  besonders  verbürgt*  (Bücheleb,  Rh.  Mus.  41,  454).  Nach 
BiEQEB  {De  Auli  Persii  codice  Pithoeano  C  Berl.  1890)  bildet  der  Montepessulanus  C  wie 
im  Juvenal,  so  auch  im  Persius  die  Grundlage  der  Kritik.  —  Den  genannten  Quellen  gegen- 
über bedeuten  die  übrigen  Handschriften  fast  nichts  (Bibgbb  p.  5). 

Litteratur.  Ausgaben  von  Gasaubonxjs  (Paris  1615)  mit  meisterhaftem  Kommentar; 
von  0.  Jahk,  cum  acholiia  antiquis,  Leipz.  1843  (vortreffliches  Werk) ;  der  kritische  Apparat 
ist  methodisch  vereinfacht  in  dessen  kleiner  Ausgabe  des  Persius,  Juvenalis,  Sulpicia 
(Weidmaitn),  neue  Bearbeitung  von  F.  Buechbleb  1886  (mit  einer  Auswahl  von  Scholien 
unter  dem  Text);  von  Heiivbich  Leipz.  1844;  von  CoinyoTON  (zweite  Ausgabe  von  NetÜes- 
hip  Oxf.  1874),  Kommentar  und  Übersetzung  in  englischer  Sprache;  —  Beurteilungen  des 
Persius:  Jahn,  Proleg.;  Nisabd,  ^tudes  1,  201  (geistreiche  Causerie);  Teuffel,  Stud.  p.  396; 
Mabtha,  Un  palUe  stoicien  (Revue  des  deux  mondes  1863  p.  291). 

7.  T.  Calpurnius  Siculus  und  der  sog.  Einsiedler  Dichter. 

385.  Die  Zeit  des  Calpurnius.  Lange  las  man  unter  dem  Namen 
des  Calpurnius  eine  Sammlung  von  elf  bukolischen  Gedichten;  man  las 
sie  aber  nur  sehr  oberflächlich,  denn  sonst  hätte  man  merken  müssen, 
dass  in  dem  Korpus  die  Arbeiten  zweier  verschiedener  Dichter  vereinigt 
sind.  Solange  aber  diese  beiden  Dichter  nicht  voneinander  getrennt 
waren,  konnte  ein  klares  Bild  ihrer  Individualität  nicht  gewonnen  werden. 
Nur  die  sieben  ersten  Stücke  gehören  dem  Calpurnius,  die  vier  letzten 
dagegen  einem  andern  Dichter,  des  Namens  Nemesianus.  Dass  diese 
Scheidung,  sich  aus  inneren  Kriterien  ergibt,  wies  M.  Haupt  in  einer 
ausgezeichneten  Abhandlung  nach.  So  ist  die  Verstechnik  der  sieben 
ersten  Gedichte  eine  ganz  andere  als  die  der  vier  letzten,  z.  B.  der  Ge- 
brauch der  Elision  ist  bei  jenen  ungleich  eingeschränkter  als  bei  diesen. 
Auch  ist  die  erste  Partie  in  der  zweiten  entschieden  nachgeahmt;  man 
vergleiche  Vers  27  flf.  des  neunten  (zweiten)  Gedichts  mit  Vers  51  fif.  des 
dritten.  Allein  es  bedurfte  gar  keiner  weitläufigen  Untersuchung;  man 
brauchte  nur  die  Spuren  der  Überlieferung  zu  beachten  imd  es  war  das 


3 ABS  für  einen  Irrtum  (p.  CXXXV).  Die  ältesten  |  Handschriften  haben  die  Scholien  anonym. 


T.  Calpamius  SicnluB. 


281 


Eigentum  der  beiden  Dichter  so  geschieden,  wie  es  oben  geschehen.  Ein 
jetzt  verlorener  Kodex,  den  Th.  Ugoletus  gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts 
aus  Deutschland  nach  Italien  gebracht  hatte,  und  von  dem  wir  eine  Kol- 
lation von  der  Hand  des  N.  Angelius  in  einem  Riccardianus  besitzen,  liess 
auf  die  siebente  Ekloge  des  Calpurnius  vier  Eklogen  des  Nemesianus  folgen; 
auf  diesen  Einschnitt  deuten  auch  noch  andere  Handschriften  wie  der 
Oaddianus  und  durch  die  Subscriptio  der  Neapolitanus  hin. 

Nachdem  man  das  Korpus  gesichtet  hatte,  war  die  nächste  Aufgabe, 
die  Individualität  der  beiden  Autoren  festzustellen.  Bezüglich  des  Nemesianus 
lag  die  Sache  einfach,  wir  kennen  einen  Nemesianus,  der  unter  der  Re- 
gierung des  Carinus  und  Numerianus  (284)  lebte  und  ein  Gedicht  über  die 
Jagd  schrieb.  Da  nun  dieses  Gedicht  und  die  vier  Eklogen  gewisse  Eigen- 
tümlichkeiten gemeinsam  haben,  >)  so  wird  an  der  Identität  kein  berech- 
tigter Zweifel  möglich  sein.  Schwieriger  ist  die  Persönlichkeit  des  Cal- 
purnius zu  fixieren,  denn  unsere  einzige  Quelle  sind  die  von  ihm  verfassten 
Bucolica.  Allein  dieselben  bieten  soviel  Material,  dass  über  seine  Zeit 
völlige  Klarheit  erzielt  werden  kann.  Sie  erwähnen  einen  Kaiser  und 
rühmen  an  demselben  Jugendlichkeit  (1,  44  4, 137),  Schönheit  (7,  84),  Be- 
redsamkeit (1, 45),  dichterische  Begabung  (4, 87).  Diese  Eigenschaften 
passen  auf  keinen  Kaiser  so  wie  auf  Nero.  Die  Bucolia  gedenken«  ferner 
eines  Kometen  (1,  76),  der  den  Anbruch  einer  glücklichen  Zeit  verkündet; 
im  Herbst  des  Jahres  54  kurz  vor  dem  Tode  des  Claudius  wurde  ein 
solcher  in  der  That  gesehen  (Suet.  Claud.  46);  sie  gedenken  glänzender 
Schaustellungen  in  einem  hölzernen  Amphitheater  (7);  ein  solches  errichtete 
Nero  im  Jahre  57;  sie  gedenken  einer  neuen  Organisation  der  Regierung 
(1,  70),  in  der  That  begann  nach  Tacitus  (13,  4)  Nero  mit  einer  solchen, 
sie  träumen  von  einem  goldenen  Zeitalter  des  Friedens  (1,  54),  es  ist  be- 
kannt, welche  grosse  Hoffnungen  man  an  die  Thronbesteigung  Neros 
knüpfte.  Alle  diese  Indizien  weisen  also  mit  genügender  Notwendigkeit 
auf  die  Zeit  Neros  und  zwar  auf  den  Anfang  seiner  Herrschaft  hin;  da- 
mit steht  auch  die  Sprache  der  Eklogen  im  Einklang.  Sonach  kann  kein 
Zweifel  sein,  dass  Calpurnius  ein  Zeitgenosse  Neros  ist.  Ob  der 
Name  „Siculus"  auf  seine  Heimat  geht  oder  ob  er  damit  als  „Hirten- 
dichter'' ^)  charakterisiert  werden  soll,  muss  unentschieden  bleiben. 

Dass  Calpurnius*  höfische  Gedichte  sich  auf  den  Anfang  der  Regierung  Neros  be- 
ziehen, sah  zuerst  Sabpe,  Qu€ie8t.  Philol.,  Rostock  1879,  allein  dort  ist  Wahres  und 
Falsches  durcheinander  gemischt;  mit  grosser  Besonnenheit  wurde  die  Frage  von  M.  Haupt 
in  der  Überaus  lehrreichen  Abhandlung  De  cartninibtis  bucolicis  Calpurnii  et  Nemeaiani 
Optuc.  1,358  revidiert.  Schon  eine  Stelle  ist  entscheidend;  1,45  wird  von  dem  Kaiser 
gesagt:  tnaternis  causam  qui  vicit  JtUis  (so  die  Überlieferung,  nicht  ulnis).  Dieser  Vers 
bezient  sich  auf  die  Rede,  welche  Nero  für  die  Hier,  von  denen  die  Julier  ihr  Geschlecht 
ableiteten,  gehalten  hat.  Suet.  Nero  7  pro  Rhodiis  atque  Iliensibus  Graece  verba  fecit.  Ein 
solcher  spezieller  Zug  wird  sich  sonst  nirgends  nachweisen  lassen  als  bei  Nero.  (Ver- 
kehrter Ansatz  [unter  Gordian  III]  von  Garnett  Journal  of  Phil.  16, 216.) 

386.  Die  sieben  Eklogen  des  Calpurnius.  Die  Eklogen  des  Calpur- 
nius sind  teils  wirkliche  Hirtengedichte  (2,  3,  5,  6),  teils  nehmen  sie  nur 
das  Hirtenkleid,  um  in  dieser  Hülle  den  regierenden  Fürsten  enthusiastisch 


')  Dieselben  sind  erörtert  von  Haupt 
p.  369. 


»)  So  Glaeser  vgl.  Haupt  p.  377. 


282     BOmiBche  LitteratiirgeBchiohte.    ü«  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

zu  preisen,  diese  Stücke  (1,  4,  7)  können  wir  die  höfischen  Gedichte  nennen* 
Ihrer  Form  nach  geben  die  Eklogen  entweder  einen  Wechselgesang  oder 
nicht;  aus  dieser  Verschiedenheit  ist  das  Prinzip  der  Anordnung  abzuleiten, 
indem  die  Stücke  der  ersten  Axt  (2,  4,  6)  zwischen  die  der  zweiten  Axt 
(1,  3,  5,  7)  eingeschoben  sind.  Von  den  Bucolica  ist  das  fünfte  Gedicht 
eine  Art  Hirtenbrevier,  der  alte  Micon  will  sich  zur  Ruhe  setzen,  er  über- 
gibt daher  dem  jungen  Canthus  die  Herden;  er  thut  dies,  nicht  ohne  väter- 
liche Lehren  über  Warte  und  Pflege  der  Tiere  beizufügen.  In  der  dritten 
Ekloge  kommt  der  Hirte  Jollas  zu  Lycidas,  um  nach  einer  jungen  Kuh, 
die  sich  verlaufen,  zu  fragen.  Allein  Lycidsis  hatte  kein  Auge  für  das, 
was  um  ihn  vorging,  er  dachte  nur  an  seine  Phyllis,  die  ihn  verlassen 
und  sich  dem  Mopsus  ergeben  hatte.  In  seinem  Kummer  war  ihm  der 
Gedanke  gekommen,  durch  ein  Lied  die  ungetreue  Geliebte  zurückzuer- 
obern. Dieses  Lied  trägt  er  dem  Jollas  vor,  welcher  es  der  Geliebten  über- 
mitteln will.  Er  schildert,  wie  er  ohne  Phyllis  dahinsieche  und  wie 
ohne  sie  alles  für  ihn  wertlos  sei,  er  erinnert  sie  an  die  glückliche  Zeit 
der  Liebe,  stellt  einen  Vergleich  zwischen  sich  und  Mopsus  an,  der  sowohl 
in  Bezug  auf  Schönheit  als  Reichtum  natürlich  zu  seinen  Gunsten  ausfällt, 
und  erklärt,  er  sei  bereit,  alles  über  sich  ergehen  zu  lassen,  wenn  er  nur 
wieder,  in  Gnaden  aufgenommen  werde;  finde  er  keine  Erhörung,  so  droht 
er  sich  aufzuhängen,  auf  den  Baum  aber  eine  sein  Schicksal  darlegende 
Inschrift  einzugraben.  Das  zweite  Stück  enthält  den  Wettgesang  eines 
Hirten  und  eines  Gärtners,  beide  malen  uns  die  lieblichen  Seiten  ihres 
Berufs  und  gehen  dann  auf  den  Preis  der  Crocale  über,  zu  der  sie  beide 
in  Liebe  entbrannt  sind.  Auch  in  der  sechsten  Ekloge  sollte,  nachdem 
sich  zwei  Hirten  eine  Zeitlang  in  Sticheleien  ergangen,  ein  Wettgesang 
zur  Ausführung  kommen,  es  sind  bereits  die  Pfänder  eingesetzt,  auch  ist 
der  Ort  ausgewählt  und  der  Schiedsrichter  da,  allein  da  der  eine  Hirte 
wieder  sein  Sticheln  anhebt,  entsteht  ein  Streit,  und  der  Wettkampf  unter- 
bleibt. Von  den  höfischen  Gedichten  verherrlicht  das  erste  das  neue 
Regiment  unter  Nero  in  Form  einer  Weissagung.  Zwei  Hirten  finden  auf 
einer  Buche  Verse  eingeritzt,  als  deren  Verfasser  sich  Faunus  nennt.  Er 
verkündet,  dass  das  goldene  Zeitalter  nahe,  dass  die  Themis  ihren  Thron 
wiederum  auf  der  Erde  aufschlagen  werde  und  dass  Bellona  gebunden  und 
entwaffnet  nur  noch  gegen  sich  selbst  wüten  müsse,  dass  holder  Frieden 
nach  innen  und  nach  aussen  herrschen  werde;  das  heilige  Lied  fordert 
daher  alle  Völker  zur  Freude  auf  und  weist  auf  einen  glänzenden  Kometen 
als  den  Verkünder  der  heranbrechenden  glücklichen  Zeit  hin;  ein  Gott 
werde  ohne  alle  Erschütterung  das  römische  Reich  in  seine  starken  Arme 
nehmen.  Diesen  göttlichen  Gesang,  hofft  der  eine  der  Hirten,  werde  Meli- 
boeus  zu  den  Ohren  des  Herrschers  gelangen  lassen.  Diese  Hoffnung  ist 
erfüllt  in  der  vierten  Ekloge;  in  dieser  spendet  der  Dichter  seinem  Gönner 
das  wärmste  Lob;  er  sei  es  gewesen,  der  ihn  der  Armut  entrissen  und 
ihm  zu  einer  festen  Stätte  verhelfen;  ohne  seinen  Schutz  wäre  er  ans 
Ende  der  Welt  gewandert,  von  wo  sein  Wort  nicht  mehr  das  Ohr  des 
Herrschers  erreicht  hätte.  Vor  Meliboeus,  dem  ja  Apollo  auch  die  Gabe 
des  Sangs  verliehen,  soll  jetzt  ein  hohes  Lied  zum  Preise  dessen,  der  die 


Panegyridui  in  Pisonem. 


283 


Völker  regiert,  angestimmt  werden.  Gorydon  und  Amyntas  teilen  sich  in 
die  Arbeit;  sie  suchen  sich  in  Schmeicheleien  gegen  den  Gott  zu  über- 
bieten und  leisten  hierin  Unglaubliches.  Meliboeus,  der  des  Glaubens  war, 
dass  den  Hirten  nur  Lieder  niedern  Stils  gelingen  können  und  daher  an- 
fangs von  dem  Wagnis,  den  „Gott"  zu  feiern,  sogar  abgemahnt  hatte,  ge- 
steht jetzt  freudig  seine  Überraschung  ein.  Da  meint  Gorydon  naiv,  wie 
würden  ihm  erst  die  Verse  herunterlaufen,  wenn  er  einmal  ein  eigenes 
Heim  hätte.  Vorläufig  wird  Meliboeus,  dem  es  ja  vergönnt  ist,  bis  zum 
innersten  Heiligtum  des  palatinischen  Apollos,  d.  h.  Neros,  vorzudringen, 
gebeten,  auch  den  gehörten  Wechselgesang  dem  „Gotte'  zu  überbringen. 
In  der  letzten  Ekloge  erzählt  Gorydon  von  seinem  Besuch  Roms;  er  war 
dort  in  dem  von  Nero  errichteten  Amphitheater  gewesen  und  beschreibt 
voll  Entzücken  die  Pracht  der  Schaustellungen,  denen  er  beigewohnt;  aber 
noch  grösseres  Glück  ist  ihm  widerfahren,  er  hat  den  Herrn  der  Welt 
selbst  gesehen;  der  Eindruck  war 

in  uno 
et  Martis  vultas  et  ApoUinis  esse  putatur. 

Der  dichterische  Wert  der  Eklogen  des  Galpurnius  ist  kein  besonders 
hoher;  die  höfischen  Gedichte  leiden  an  unerträglicher  Schmeichelei,  die 
bukolischen  enthüllen  uns  keine  originellen,  den  Geist  des  Dichters  ver- 
ratenden Gedanken;  sie  bleiben  weit  hinter  ihrem  Vorbild  Vergil  zurück; 
hie  und  da  lässt  sich  der  Nachahmer  zu  argen  Übertreibungen  verleiten; 
in  seiner  achten  Ekloge  hatte  Vergil  Tiere  und  Flüsse  auf  den  Gesang 
des  Dämon  und  Alphesiboeus  aufmerken  lassen;  diese  Übertreibung  wird 
in  einigen  Versen  abgemacht  und  dadurch  erträglich,  bei  Galpurnius  wird 
dieses  Motiv  (2, 10)  langatmig  ausgesponnen  und  streift  dadurch  ans 
Lächerliche.  Was  dem  Dichter  an  Geist  fehlt,  sucht  er  durch  peinliche 
Sorgfalt  im  Versbau  zu  ersetzen. 

Die  Persönlichkeit  des  Meliboeus.  Wer  Meliboeus,  der  Gönner  des  armen 
Dichters  war,  ist  strittig;  manche  denken  an  Seneca  wie  Sabpe,  Qwust,  philoK,  Rostock 
1819  (M.  Haupt  p.  382) ;  allein  viel  wahrscheinlicher  ist  die  Vermutung  Haupts,  dass  es 
Galpurnius  Piso  war;  vgl.  darüber  den  folgenden  Paragraphen. 

Über  das  Fortleben  des  Galpurnius  im  Mittelalter  vgl.  Düxmlbb,  poet.  med, 
aev.  1,  382;  Bähbews,  Rh.  Mus.  30,  628;  Haupt,  Opusc,  1,378. 

Überlieferung.  Von  den  vorhandenen  Handschriften  nimmt  die  erste  Stelle  ein 
der  Neapolitanus  380  s.  XIV/XV,  mit  dem  eng  verwandt  ist  der  etwas  geringere  Gaddianus 
(in  Florenz)  90, 12  inf.  s.  XV  (wie  der  verlorene  codex  Ugoleti).  Dieser  Familie  steht  gegen- 
über der  Parisinus  8049  s.  XII,  der  aber  die  Eklogen  nur  bis  4, 12  enthält  —  Ausgabe 
mit  kritischem  Apparat  von  H.  Schenkl,  Prag  1885.    (Auch  bei  Bähbeivs,  PLM.  3, 65). 

387.  Panegryricus  in  Pisonem.  Von  einem  jugendHchen  (261)  und 
armen  (255)  Dichter  besitzen  wir  ein  nicht  übles  0  Lobgedicht  von  261 
Hexametern  auf  einen  Piso.  In  demselben  wird  ein  Piso  im  Gegensatz  zu 
seinen  kriegerischen  Vorfahren  als  ein  Mann  des  Friedens  gerühmt  (25): 

nos  quoque  pacata  Pisonem  laude  nitentem 
exaequamus  avis. 

Der  Dichter  weiss  an  seinem  Helden  -zu  rühmen  seine  Beredsamkeit  vor 
Oericht,  im  Senat  und  bei  den  Übungen;  sein  liebenswürdiges  Wesen, 
das  sein  Haus  zum  Mittelpunkt  einer  gewählten  Gesellschaft  macht;  seine 


')  Haupt,    opusc,   1, 406   „minime  ma- 
lum^.    Geringer  denkt  von  dem  Gedicht  Bö- 


CHBiiER    „ab    aduUscente    mediocris    ingenii 
composUum*'  (Rh.  Mus.  36, 333). 


284    Komische  Litteraturgesohiobte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

dichterische  und  musikalische  Fertigkeit;  endlich  seine  Gewandtheit  in 
den  verschiedenen  Spielen,  besonders  in  dem  unserm  Schachspiel  ähnlichen 
Indus  latrunculorum.^)  Des  Dichters  Zweck  ist,  durch  sein  Gedicht  Piso 
als  Patron,  als  Maecenas  für  sich  zu  gewinnen.  Unter  Piso  haben  wir 
uns  aber  keinen  andern  zu  denken  als  den  C.  Calpurnius  Piso,  der  eine 
Verschwörung  gegen  Nero  anstiftete  und  sich  im  Jahre  65  den  Tod  gab; 
denn  die  Eigenschaften,  welche  Tacitus  an  Piso  zu  rühmen  weiss  (Ann. 
15,  48),  werden  auch  in  dem  Lehrgedicht  gefeiert,  nur  dass  der  Dichter 
noch  auf  spezielleres,  wie  z.  B.  auf  das  Brettspiel,  zu  sprechen  kommt. 
Wenn  nicht  alles  trügt,  berücksichtigte  bereits  der  Gewährsmann  des  von 
Valla  herausgegebenen  Scholiasten  zu  Juvenal  5,  109,  Probus,  unseren 
Panegyricus.  Auch  er  erblickt  in  dem  gefeierten  Helden  den  Verschwörer. 
Dass  das  Gedicht  vor  65  n.  Ch.  fallen  muss,  ist  klar.  Würden  wir  das 
Jahr  wissen,  in  dem  Piso  Consul  suffectus  war  (Vers  70  erwähnt  das 
Konsulat),  so  würden  wir  damit  ein  zweites  Datum  erhalten,  nach  welchem 
der  Panegyricus  verfasst  sein  muss.  Allein  wir  kennen  das  Jahr  nicht. 
Wer  der  Verfasser  des  Gedichts  ist,  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit  be- 
stimmen. Eine  ansprechende  Vermutung  Haupts  ist  es,  dass  der  bukoli- 
sche Dichter  Calpurnius  und  unser  Dichter  identisch  seien,  indem  der- 
selbe, vielleicht  durch  Adoption,  in  die  Gens  der  Calpurnii  aufgenommen 
worden. 

Das  Zeugnis  des  Juvenalscholiasten.  Piso  Calpurnius,  ut  Probus  inquit, 
antiqua  famitia,  scaenico  habitu  tragoedias  actitarit,  in  latrunculorum  lusu  tarn  perfectus 
et  calliduSf  ut  ad  eum  ludentem  concurreretur  .  ob  haec  insinuatus  C,  Caesari  repente  etiam 
reUgatua  est,  quia  consuetudinem  pristinae  uxoris  abductae  stbi  ab  ipso,  deinde  remissae 
repetiisse  existimabatur  .  mox  sub  Claudio  restüutus  et  post  consulatum  matema  hereditate 
ditatus  magnificentissime  vixit  meritos  sublevare  inopes  ex  utroque  ordine  soHtus,  de  plebe 
vero  certos  quotquot  annis  ad  equestrem  censum  dignitatemque  provehere. 

Die  Identität  des  Verfassers  des  Panegyricus  mit  dem  Eklogendichter 
Calpurnius.  Diese  Hypothese  stellt  Haupt  auf  und  begründet  sie  also  (opusc.  1,391): 
Lehrsius  in  qaaestionibus  epicis  p.  305  —  ineptam  opinionem  qua  quidam  Statio  hane  Pi- 
sonis  laudationem  adscripserat  rectissime  confutavit  .  sed  eum  mirabilis  esse  videretur  ver- 
suum  arte  plane  singülari  f<ictorum  in  bucölicis  Calpurnii  et  in  laudatione  Pisonis  simili- 
tudo,  orationis  etiam  quaedam  in  dissimilibus  carminum  generibus  adpareret  contenientia, 
poetam  autem  iuvenem  et  pauperem  bucolica  non  minus  quam  laudatio  Pisonis  ostenderent, 
et  praeterea  mirum  esset  poetam  bucolicum  vocari  Ccdpurnium,  Pisonem  qui  altero  i/lo 
carmine  laudatur  esse  C.  Calpurnium  Pisonem,  et  mihi  et  prius,  quantum  memini,  Carolo 
Lachmanno  —  nata  est  suspicio  Calpurnium,  bucolicorum  scriptorem,  scripsisse  etiam  illam 
laudationem  —  putabamus  igitur  fieri  potuisse  ut  poeta  iUe  a  Pisone  —  non  sublevaretur 
tantum  solita  libertate,  verum  etiam  adoptaretur,  (Die  Adoption  verwirft  H.  Schenkl,  Calp. 
et  Nem.  p.  IX.) 

Zeit  des  Panegyricus.  Teuffei  zieht  daraus,  dass  ,bei  der  ausführlichen  Recht- 
fertigung (oder  Entschuldigung)  von  Pisos  Musizieren  (V.  157)  Neros  Vorgang  nicht  mit- 
angeführt wird,  die  Folgerung,  dass  dieser  noch  nicht  vorlag",  dass  sonach  der  Panegyricus 
vor  den  Regierungsantritt  Neros  fallt.  Es  würde  sonach  auf  den  Panegyricus  die  erste 
Ekloge,  welche  zu  Anfang  der  Regierung  Neros  geschrieben  ist,  folgen,  auf  diese  nach 
einiger  Zeit  die  vierte  (Scheiocl  p.  XI). 

Überlieferung.  Zum  erstenmal  wurde  der  Panegyricus  aus  einer  Handschrift 
des  Klosters  Lorsch  von  Sichard  in  seiner  Ovidausgabe  des  Jahres  1527  publiziert.  Die 
Lorscher  Handschrift  ist  verloren  gegangen.  Wir  müssen  uns  daher  an  die  Ausgabe 
halten.  Ausserdem  haben  wir  das  Gedicht  fast  ganz  in  einer  Florilegiensammlnng,  für 
welche  die  massgebenden  Handschriften  sind:  der  Parisini  7647  s.  XU/XHI  und  17903 
s.  XIU. 


>)  Vgl.  den  Exkurs  XI  von  Webnsdobf  PLM.  4,  404;  Beokeb,  Gallus  2, 229. 


Die  Einsiedler  Gedichte.    M.  Annaens  Lncanns.  285 

Ausgaben:  von  Fb.  Weber,  Marburg  1859  {adttotationea,  Marburg  18G0/1),  Bahbevs, 
PLM.  1,225. 

888.  Die  zwei  Einsiedler  bucolischen  Oedichte.  Aus  einer 
Einsiedler  Handschrift  (266  s.  X)  gab  Hagen  zwei  Bucolica  heraus. 
Peiper  erkannte,  dass  dieselben  der  Neronischen  Zeit  angehören.  Das 
erste  Stück,  das  einen  Wettkampf  zwischen  Thamyras  und  Ladas 
unter  dem  Schiedsrichter  Midas  darstellt,  feiert  Nero  als  Kitharoden,  dem 
zweiten  liegt  der  Gedanke  zu  Grund,  dass  das  goldene  Zeitalter  unter 
Nero  wiedergekehrt  sei.  Obwohl  das  zweite  Gedicht  gelungener  ist 
als  das  erste,  so  wird  man  doch  nur  einen  Verfasser  anzunehmen 
haben.')  Die  zweite  Nummer  bietet  noch  zwei  Besonderheiten  dar. 
Sie  beginnt  mit  den  Worten:  quid  tacitus  Mystes?  Dieser  Anfang 
gleicht  aber  merkwürdig  dem  Anfang  der  vierten  Ekloge  des  Gal- 
purnius:  quid  tacitus,  Corydon?  Der  Schluss  wiederholt  einen  Vers 
der  vierten  Vergilischen  Ekloge:  casta  fave  Lucina;  tuus  iam  regnat 
Apollo.  Ist  hier  der  Verfasser  Nachahmer,  so  scheint  er  im  ersten  Fall 
der  Nachgeahmte  zu  sein.  »Der  arme  Poet  (Calpurnius)  erwies  dem  vor- 
nehmeren (vgl.  1,17,  wo  er  seine  chelys  laudata^)  nennt),  eine  Aufmerksam- 
keit, indem  er  dessen  quid  tacitus  seinem  Meliboeus  in  den  Mund  legte, 
den  Anfang  des  Gedichts  im  Anfang  seiner  Variation  über  dasselbe  Thema 
wiederholte,  um  das  Vorbild  zu  ehren  und  soviel  an  ihm  war  zu  ver- 
ewigen.^) 

Litteratur:  Die  Gedichte  sind  zuerst  veröffentlicht  Philol.  28, 338 ;  sie  stehen  in 
der  Anthol.  Riese  unter  nr.  725  u.  726,  bei  BXhbens  PLM.  3,  60.  Zur  Erklärung:  Peipeb, 
praef,  in  Sen.  trag,  suppl.,  Breslau  1870  (p.  70);  Bücheleb,  Rh.  Mus.  26, 235  (Ribbeck  ebenda 
p.  406  p.  491);  Hagen,  Fleckeis.  Jahrb.  103, 139.    Bähbems  ebenda  105,  355. 

8.  M.  Annaeus  Lucanus. 

889.  Biographisches.  M.  Annaeus  Lucanus,  geboren  zu  Gorduba 
39  n.  Gh.,  war  der  Sohn  des  M.  Annaeus  Mela,  des  Bruders  des  Philo- 
sophen Seneca  und  der  Acilia.  Schon  frühzeitig  (40  n.  Gh.)  kam  er  nach 
Rom  und  genoss  dort  eine  sehr  sorgfältige  Erziehung.  Unter  seinen 
Lehrern  wird  der  stoische  Philosoph  Gornutus  genannt,  unter  seinen  Freunden 
der  Dichter  Persius,  dessen  Poesie  er  enthusiastisch  bewunderte.  Bei  dem 
UnteiTicht  fiel  nach  der  ganzen  Richtung  der  Zeit  das  Hauptgewicht  auf 
die  Rhetorik,  Lucan  wird  als  ausgezeichneter  Deklamator  in  beiden  Sprachen 
gerühmt.  Zum  Abschluss  seiner  Bildung  nahm  er  noch  einen  Aufenthalt 
in  Athen.  Von  da  rief  ihn  Nero  zurück,  um  ihn  in  seinen  Freundeskreis 
einzureihen.  Auch  andere  Auszeichnungen  wurden  ihm  zu  teil;  er  er- 
langte die  Quästur  noch  vor  dem  gesetzlichen  Alter  von  25  Jahren,  welches 
damals  für  die  Erlangung  dieser  Würde  vorgeschrieben  war;^)  auch  den 
Augurat  erhielt  er.  Sein  erstes  öffentliches  Auftreten  als  Dichter  fand  an 
den  ersten  Neronia  statt,  welche  bekanntlich  60  n.  Gh.  eingeführt  wurden. 
Hier  trug  er  einen  Panegyricus  auf  Nero  vor.  Diesem  Werk  folgten 
andere,  er  schrieb  einen  Orpheus  und  legte  Hand  an  sein  Hauptwerk, 
die  Pharsalia,   d.  h.  die  Geschichte  des  Bürgerkriegs  zwischen  Pompeius 


0  BücHELBB  p.  236.  ')  Bücheleb  p.  240. 

»)  Bücheleb  p.  289.  *)  Nippebdey  zn  Tac.  Ann.  3, 29. 


286    Römische  LitteratnrgeBoliiohte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 


und  Cäsar.  Als  drei  Bücher  fertig  waren,  übergab  er  sie  der  Öffentlich- 
keit. So  stand  alles  sehr  günstig  für  den  Dichter,  als  eine  Spannung 
zwischen  ihm  und  Nero  eintrat.  Wodurch  dieselbe  hervorgerufen  wurde, 
wissen  wir  nicht;  der  eine  Biograph  führt  sie  auf  die  Gleichgiltigkeit  und 
Kälte  zurück,  welche  Nero  bei  einer  Vorlesung  Lucans  an  den  Tag  ge- 
legt; der  andere  auf  den  Neid,  welchen  Lucans  dichterische  Erfolge  bei 
dem  Kaiser  erregten,  i)  Von  beiden  Seiten  werden  feindselige  Handlungen 
berichtet;  der  zweite  Biograph  erzählt  das  Unglaubliche,  dass  Nero  dem 
Lucan  die  Ausübung  der  Dichtkunst  und  Anwaltschaft  untersagt  habe, 
der  erste  Biograph,  dass  Lucan  ein  Schmähgedicht  auf  den  E^iser  ver- 
fasst  habe.  Die  Feindschaft  führte  schliesslich  den  Dichter  auch  auf  ge- 
fahrvolle Wege,  er  beteiligte  sich,  und  zwar  in  hervorragender  Weise,  an 
der  Pisonischen  Verschwörung.  Diese  Beteiligung  endete  mit  einer  Kata- 
strophe für  ihn,  da  die  Verschwörung  entdeckt  wurde.  Lucan  zeigte  dem 
Unglück  gegenüber  eine  grosse  Schwäche  des  Charakters.  In  der  Hoff- 
nung sein  Leben  zu  erhalten,  Hess  er  sich  zu  Geständnissen  herbei  und 
schonte  dabei  nicht  einmal  seiner  eigenen  und,  wie  es  heisst,  sogar  un- 
schuldigen Mutter  (Tac.  Ann.  15,  56).  Allein  dieses  schändliche  Vorgehen 
nutzte  ihm  nichts;  der  Kaiser  verfügte  seinen  Tod,  d.  h.  befahl  ihm  die 
Selbstentleibung;  er  liess  sich  ein  reichliches  Mahl  vorsetzen  und  öffnete 
sich  dann  die  Adern.  Als  das  Leben  aus  den  Extremitäten  zu  schwinden 
begann,  erinnerte  er  sich  noch  der  Beschreibung  einer  ähnlichen  Todesart 
eines  Soldaten,  die  er  in  seiner  Pharsalia  gegeben  hatte. ^)  Er  recitierte 
jene  Verse,  es  waren  seine  letzten  Worte.  So  bewies  er  doch  noch  in 
seiner  letzten  Stunde,  dass  die  Lehren  der  Stoa  nicht  spurlos  an  ihm  vor- 
übergegangen waren  (65  n.  Ch.). 

Biographien  Lucans  sind  uns  zwei  überliefert,  eine  allem  Anscheine  ans  des 
Suetonius  Werk,  De  viris  illustribus  herrührende,  dann  eine  zweite,  welche  einem  späten 
Kommentator  des  Dichters,  Vacca,  beigelegt  wird.  Die  erste  ist  im  Eingang  lückenhaft, 
kurz  ^efasst  und  dem  Lucan  nicht  woU  gesinnt,  die  zweite  viel  umfassender  und  gegen 
den  Dichter  freundlich  gestimmt.  (Kritische  Ausgabe  der  rüae  bei  Reiffebscheid,  Suetoni 
reliqu.  p.  50  und  p.  76.)  —  Genthe,  De  M.  Annaei  Lucani  vUa  et  scriptis,  Berl.  1859. 

Verlorene  Schriften  Lucans.  Unsere  Hauptquelle  ist  die  VUa  Vaceae;  in 
zweiter  Lmie  steht  das  GenetMiacan  Lucani  von  Statins  (Süvae  2,  7).  Wir  folgen  in  der 
Aufzählung  Vacca,  der  zuerst  die  Gedichte  vorführt: 

1.  Iliacon.  Dieses  Gedicht  hat  Statius  im  Sinn  (54):  ac  primum  teneria  adhite 
in  annis  \  Indes  Hectora  Thessaloaque  eurrus  \  et  supplex  Priami  potentis  aurum, 

2.  Saturnalia  d.  h.  Epigramme,  welche  den  (beschenken,  die  man  an  den  Satnr- 
nalien zu  verteilen  pfle^,  beigegeben  waren. 

8.  Catachthonion,  umschrieben  von  Statius  durch  den  Vers  (57):  et  sedes  reaerabis 
inferarum. 

4.  Silvarnm  X,  zehn  Bücher  rasch  hingeworfener  Gedichte  von  mannichfachem 
Inhalt. 

5.  Tragoedia  Medea,  die  aber  unvollendet  blieb. 

6.  Salticae  fabulae  XIV,  Tanzstücke  „in  usutn  pantomimorum  scriptae*'  (Jahn, 
Proleg.  in  Persium  p.  XXXIV). 

7.  Epigrammata.  Die  Überlieferung  bietet  et  appämata  und  et  ippamata  {et 
alia  poemata  s.  poematia  Cabtault,  Revue  de  philoh  11, 14). 


^)  Tac.  Ann.  15, 49  Lueanutn  propriae 
eausae  accendebant,  quod  famam  carminum 
eius  premebat  Nero  prohibueratque  ostentare, 
vanus  aemulatione.  Auch  gegen  Gurtius  Mon- 
tanus  war  Nero  wegen  seines   dichterischen 


Talentes,  wie  Tacitus  Ann.  16, 29  andeutet, 
von  Neid  erfüllt    (Hist.  4, 40  und  42). 

')  Tac.  Ann.  15,  70;  gemeint  ist  wahr- 
scheinlich die  Stelle  3,  630. 


M.  Annaeiui  LnoanaB.  287 

8.  Landes  Neronis.  Dieses  Gedicht  wurde  beim  pentaeterischen  Wettkampf  im 
Theater  des  Pompeios  vom  Dichter  (60  n.  Ch.)  vorgetragen. 

9.  Orphons.  Die  Werke  8  und  9  werden  durch  die  Verse  des  Statins  58.  59  um- 
schrieben. 

10.  Ein  Seh  mäh  gedieht  auf  Nero.  Von  diesem  Gredicht  schweigt  Vacca,  es  ist 
lediglich  in  der  Sueton'schen  vita  bezeugt  (p.  51 » 11). 

Als  Prosaschriften  führt  Vacca  an: 

11.  Eine  Rede  für  und  gegen  Octavius  Sagitta,  also  offenbar  Übungsreden. 
Der  Fall  wird  uns  von  Tacitus  berichtet  (Ann.  13,44).  Octavius  Sagitta  hatte  eine  tiefe 
Leidenschaft  für  eine  Frau  Namens  Pontia  gefasst.  Er  setzte  die  Trennung  von  ihrem 
Manne  durch,  allein  als  Pontia  frei  geworden,  setzte  sie  der  Ehe  mit  Octavius  Sagitta 
Schwierigkeiten  entgegen.  Da  erbat  sich  Sagitta  noch  eine  Zusammenkunft  mit  der  Ge- 
liebten. Als  sie  gewährt  war,  begab  er  sich  mit  einem  Freigelassenen  zu  ihr  und  tötete 
sie.  In  edler  Opferwilligkeit  nimmt  der  Freigelassene  die  Schuld  seines  Herrn  auf  sich. 
Allein  durch  eine  Magd  kam  der  wahre  Sachverhalt  an  den  Tag.  Sagitta  wird  angeklagt 
und  verurteilt 

12.  De  incendio  urhis.    Auch  diese  Schrift  berührt  Statins  mit  den  Versen  60.  61. 

13.  Epistolae  ex  Campania. 
Hiezu  kommt  noch 

14.  aUocutio  PoUae  Argentariae,  der  Gattin  Lucans.  Dieses  Produkt  kennen 
wir  lediglich  aus  Statins  Silv.  U  7,  62 :  tu  castae  titttlum  decusque  Pollae  |  iueunda  dabis  ad- 
loeutione.  Ob  dasselbe  in  Prosa  oder  in  Poesie  abgefasst  war,  wissen  wur  nicht.  —  Genthb 
p.  36;  ÜKGBB,  De  Lucani  carminum  reliquiia^  Friedland  1860. 

890.  Skizze  der  Pharsalia.  Als  der  Dichter  aus  dem  Leben  ge- 
schieden war,  fanden  sich  in  seinem  Nachlass  noch  sieben  Bücher  seines 
Epos,  das  sonach  im  ganzen  zehn  Bücher  umfasste.  Das  Werk  kam  in 
verhältnismässig  kurzer  Zeit  zustande,  nach  dem  Jahr  60  begann  Lucan 
damit  (vgl.  §  389),  im  Jahre  65  ereilte  ihn  bereits  der  Tod.  Wir  lassen 
nun  eine  möglichst  gedrängte  Übersicht  des  Inhalts  der  Pharsalia  folgen. 
Das  erste  Buch  legt  nach  der  Ankündigung  die  Ursachen  des  Bürger- 
kriegs zwischen  Caesar  und  Pompeius  dar  und  schliesst  eine  Charakteri- 
stik der  beiden  Gegner  an.  Cäsar  steht  am  Kubico  —  damit  beginnt  die 
Handlung  des  Gedichts  -—  die  Tribunen  flüchten  aus  Rom  ins  Lager  Cäsars. 
Von  Curio  und  Cäsar  werden  Beden  gehalten.  In  Rom  herrscht  grosse 
Bestürzung,  alles  flieht,  auch  Pompeius  verlässt  die  Hauptstadt.  Die  Seher 
weissagen  Unglück,  eine  Matrone  hat  eine  schreckliche  Vision.  Das  zweite 
Buch  bringt  den  Besuch  des  Brutus  bei  Cato,  ihre  Entscheidung  für  die 
Sache  des  Pompeius,  die  Wiedervermählung  Catos  mit  seiner  ehemaligen 
Gattin  Marcia,  der  Witwe  des  Hortensius.  Der  Pompejaner  Domitius,  der 
in  Corfinium  stand,  fiel  durch  Meuterei  in  die  Hände  Cäsars,  der  ihm  die 
Freiheit  schenkt.  Pompeius  organisiert  in  Capua  den  Widerstand  und 
hält  eine  Anrede  an  sein  Heer,  allein  dessen  Mutlosigkeit  verrät  sich 
deutlich  durch  das  Schweigen;  er  zieht  nach  Brundisium,  wohin  ihm  Cäsar 
folgt  und  ihn  belagert,  Pompeius  jedoch  entkommt  nach  Griechenland.  Das 
dritte  Buch  stellt  Cäsar  in  den  Vordergrund;  es  erzählt  von  seinem 
Schalten  in  Rom,  alsdann  von  seinem  Übergang  über  die  Alpen  und  von 
dem  heftigen  Widerstand,  den  er  in  Massilia  findet.  Die  Stadt  musste 
l[)elagert  werden;  allein  Cäsar  leitet  nicht  selbst  die  Belagerung,  sondern 
marschiert  nach  Spanien.  Die  Schilderung  der  Kämpfe  vor  Massilia  nimmt 
einen  breiten  Raum  des  Gesangs  ein.  Im  vierten  Buch  werden  wir  mit 
den  Ereignissen  vor  Ilerda  in  Spanien  bekannt  gemacht,  Afranius  und 
Petreius  leisten  hartnäckigen  Widerstand,  allein  der  Sieg  fällt  schliesslich 
Cäsar  zu.     Doch  auch  der  Sieger  wird  von  Unglücksschlägen  getroffen. 


288     Bömisohe  Litteratorgesohichte.    II.  Die  2eit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

C.  Antonius  wird  bei  Salona  eingeschlossen,  den  eifrigsten  Parteigänger 
Gäsars,  Curio,  ereilt  nach  glücklichem  Anfang  durch  die  Verräterei  des  Königs 
Juba  in  Africa  eine  Katastrophe,  sein  Heer  wird  vernichtet,  er  zieht  den  Tod 
der  Schande  vor.  Zierstücke  des  Buchs  sind  die  Heldenthat  des  Tribunen 
Yulteius  vor  Salona  und  die  Episode  von  Hercules'  Kampf  mit  Antaeus. 
Der  fünfte  Gesang  führt  auf  den  Kriegsschauplatz  nach  Griechenland.  Auch 
Cäsar  war  dort  gelandet.  Alles  drängt  zur  Entscheidung.  Da  M.  Anto- 
nius nicht  rasch  genug  herbeieilt,  versucht  Cäsar  allein  in  der  Nacht  nach 
Italien  überzusetzen,  und  persönlich  einzugreifen,  wird  aber  von  einem  Sturm 
zurückgetrieben.  Endlich  landet  Antonius,  Pompeius  bringt  seine  Gemahlin 
in  Lesbos  in  Sicherheit.  Im  sechsten  Buch  kommt  die  Schlacht  bei 
Dyrrhachium  zur  Darstellung.  Als  Schaustück  figuriert  der  glorreiche 
Widerstand  des  Centurionen  Scaeva.  Cäsar  rückt  nach  Thessalien;  auch 
Pompeius  führt  sein  Heer  dahin.  Sextus  Pompeius  lässt  sich  von  der 
thessalischen  Zauberin  Erichtho  weissagen,  er  erhält  einen  traurigen  Be- 
scheid. Mit  dem  siebenten  Buch  endlich  gelangen  wir  zum  Höhepunkt 
des  Epos,  zur  Entscheidungsschlacht  bei  Pharsalus.  Cäsar  wirft  zuerst 
die  Hilfsvölker  des  Gegners  und  schlägt  dann  das  Hauptheer.  Das 
Thema  des  achten  Buchs  ist  der  Tod  des  Pompeius;  derselbe  hatte  sich 
auf  seiner  Flucht  nach  Lesbos  gewandt,  wo  er  mit  seiner  Gattin  Cornelia 
zusammentrifft.  Doch  ist  seines  Bleibens  nicht  auf  der  Insel,  er  setzt 
seine  Flucht  fort  und  begibt  sich  auf  den  Rat  des  Konsul  Lentulus  nach 
Ägypten.  Hier  bestimmt  der  Eunuch  Pothinus  den  König,  Pompeius  um- 
zubringen. Ein  Römer,  Namens  Septimius,  gibt  sich  zu  dem  traurigen 
Werke  her.  Das  neunte  Buch  dient  der  Verherrlichung  Catos,  indem  es 
seine  Thaten  in  Afrika,  besonders  seinen  Marsch  durch  die  Wüste  schildert. 
Cäsar  landet  in  Ägypten,  der  König  übersendet  ihm  das  Haupt  des  Pom- 
peius. Das  zehnte  Buch  endlich  lehrt  uns  den  Aufstand  der  Ägypter 
gegen  Cäsar  kennen,  seine  Einschliessung,  seine  Flucht  auf  die  Insel  Pharos, 
wo  er  die  Bestrafung  des  Pothinus,  der  Seele  der  gegen  ihn  gerichteten 
Feindseligkeiten,  vollzieht.  Mit  dem  Auftreten  der  Arsinoe  und  des  Eu- 
nuchen Ganymedes  gegen  Cäsar  und  der  Darlegung  seiner  gefahrvollen 
Lage  bricht  das  Gedicht  ab. 

Metrische  Argumente  haben  wir  zwei  zehnzeilige  in  den  Commenta  Bernensia, 
zu  1.  II  und  1.  V  (Ü8ENER,  comm.  Bern.  p.  47  und  p.  151).  Über  ihre  Zeit  (nicht  später  als 
das  6.  Jahrh.)  Opitz,  Leipz.  Stud.  6,  307.  Dann  gab  Barth  metrische  Inhaltsangaben  heraus; 
abgedruckt  bei  Riese,  AL.  930,  bei  Bährens,  PLM.  5, 413.  Dieselben  sind  nicht  nur  in 
den  beiden  Oudendorp*schen  (Opitz  p.  309),  sondern  auch  in  zwei  spanischen  Handschriften, 
einem  Escorialensis  und  einem  Toletanus  (Goetz-Fleckeisen,  Jahrb.  143,  512)  nachgewiesen; 
an  eine  Fälschung  Barths  ist  daher  nicht  zu  denken.  Gleichwohl  ist  der  antike  Ursprung 
derselben  zweifelhaft.  (Opitz  p.  309:  antiquae  aetati  haec  argumenta  vindieari  nequeunt. 
Atque  idem  statuendum  est  de  argumeniis  iUis  decastichis  et  monostichis,  quae  Cortius  in 
ediiione  Lipsiensi  a,  1726  {e  codice  Guelferhytano)  publici  iuris  fecit). 

391.  Beurteilung  der  Pharsalia.  Wie  sich  aus  der  Inhaltsangabe 
des  zehnten  Buchs  ergibt,  ist  das  Epos  nicht  zur  Vollendung  gekommen. 
Schon  die  geringe  Verszahl,  die  dieses  Buch  den  übrigen  Büchern  gegen- 
über einnimmt,  zeigt,  dass  ein  unfertiges  Werk  vorliegt.  Wahrscheinlich 
sollte « der  Tod  Cäsars  die  Krone  des  Ganzen  sein.  Der  Cäsar  feindselig 
gesinnte  Dichter  musste  noch  diese  Katastrophe  berühren,  um  eine  Sühne 


M.  AnnaeuB  Lncanns. 


289 


des  ^Frevels''  zu  erhalten.  Vergleicht  man  diese  nachgelassenen  Bücher 
mit  den  bereits  publizierten  drei  ersten,  so  gewahrt  man  eine  Differenz. 
Der  Ton  gegen  Cäsar  ist  schärfer  geworden,  und  man  wird  nicht  irren, 
wenn  man  in  dem  mittlerweile  veränderten  Verhältnisse  Lucans  zu  Nero 
den  Grund  für  diese  gesteigerte  Abneigung  erblickt.  Im  ersten  Buch 
wird  noch  der  Kaiser  mit  einer  grossen  Schmeichelei  überschüttet,  selbst 
die  Greuel  der  Bürgerkriege  werden  entschuldigt,  da  sie  das  Emporkommen 
des  julischen  Hauses  und  damit  auch  die  Regierung  Neros  ermöglichten; 
daran  schliesst  sich  ein  enthusiastischer  Hinweis  auf  die  künftige  Ver- 
götterung Neros  (33).  Anders  in  dem  zweiten  Teil.  Hier  wird  (7,  455) 
als  eine  Folge  der  Bürgerkriege  die  Gleichstellung  der  Menschen  mit  den  Göt- 
tern angesehen  und  in  dieser  Gleichstellung  eine  Strafe  für  die  Gleich- 
gültigkeit, mit  der  die  Götter  damals  den  Ereignissen  zusahen,  erkannt. 
Auch  streift  Lucan  hier  (9,  982)  den  Neid  Neros  auf  seine  dichterischen 
Erfolge. 

Die  Herausgabe  des  Gedichts  musste  nach  dem  Gesagten  von  fremder 
Hand  erfolgen.  Vielleicht  rührt  die  Verschiedenheit  des  Titels  davon  her. 
Während  wir  aus  9,  985  schliessen,  dass  Lucan  sein  Gedicht  Pharsalia  ge- 
nannt wissen  wollte,  führt  die  handschriftliche  Überlieferung  und  das  Gegen- 
stück Petrons  auf  die  Überschrift  „De  hello  civüi**. 

Der  dichterische  Wert  dieses  Epos  ist  ausserordentlich  gering.  Schon 
die  Wahl  des  Stoffs  ist  eine  unglückliche.  Historische  Ereignisse,  welche 
der  Gegenwart  so  nahe  liegen,  vertragen  nur  schwer  eine  poetische  Be- 
handlung, entweder  hält  sich  die  Darstellung  an  die  Geschichte,  dann 
kommt  nicht  viel  mehr  als  eine  versifizierte  Chronik  heraus;  oder  sie  be- 
schreitet das  Reich  der  Phantasie,  dann  gerät  sie  in  Widerspruch  mit 
dem  historischen  Bewusstsein  der  Zeit.  Nur  wenn  der  Dichter  in  die 
dämmernde  Welt  der  Sage  sich  versenkt,  ist  sein  Geist  für  poetisches 
Schaffen  frei.  Lucan  bewegt  sich  auf  dem  historischen  Boden,  gibt  also 
eine  in  Versen  gebrachte  Geschichte,  er  verschmäht  sogar  den  herkömmlichen 
mythologischen  Apparat;  das  Fatum  ist  das  Lenkende  und  Bestimmende.^) 
Die  Beischaffung  des  Materials  war  mit  keiner  Mühe  verbunden;  er  durfte  nur 
seinen  Livius  aufschlagen  und  er  hatte  eine  Erzählung  über  den  Gang  der 
Ereignisse,  wie  er  sie  brauchen  konnte.  Freilich  von  einem  tieferen  Ein- 
dringen in  die  Ursachen  des  grossen  Kampfes  ist  keine  Rede,  auch  strenge 
Objektivität  darf  man  von  ihm  nicht  erwarten,  er  betrachtet  alles  vom 
pompeianischen  Gesichtspunkt  aus,  an  Übertreibungen,  Verschweigungen, 
Entstellungen  fehlt  es  daher  nicht.  Auch  verleitet  ihn  das  Verlangen,  eine 
poetische  Zierat  anzubringen,  hie  und  da  zur  Verletzung  der  Wahrheit. 
Das  merkwürdigste  Beispiel  ist  die  unhistorische  Einführung  Ciceros,^)  den 
er  vor  der  Schlacht  bei  Pharsalus  eine  Rede  halten  lässt,  um  den  zau- 
dernden Feldherrn  zum  Losschlagen  zu  bestimmen  (7,  62). 

War  sonach  der  Dichter  unglücklich  in  der  Auswahl  des  Stoffes,  so 
war  er  es  nicht  minder  in  der  Komposition.    Der  Held  des  Epos  ist  Pom- 


*)  MiLLABD,  Lucani  aententia  de  deis  et 
fat,  Utrecht  1891  p.  43  (Oettl,  Lucans  philos. 
Weltanschauang,  Brixea  1888). 


2)  Cic.  ep.  9, 18, 2;  Plutarch  Cic.  39  (vgl. 
die  Einführung  des  Figulus  1,639). 


Hftndlraoh  der  klns.  AltertamswiBMuBcliaft.    vm.    2.  Teil^ 


19 


290     BömiBche  LitteratlirgeBchiohte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

peius;  allein  niemand  war  fUr  eine  solche  Rolle  weniger  geeignet  als  er, 
da  er  uns  kein  wärmeres  Interesse  einflössen  kann.  In  ihm  gährt  keine 
Welt  neuer  Ideen,  er  ist  nicht  einmal  der  Herr  seiner  Entschlüsse,  da 
hinter  ihm  eine  abgehauste  Partei  engherziger  Aristokraten  steht,  drängend 
und  schiebend,  nirgends  wirft  er  eine  frische  Thatkraft  in  den  Entschei- 
dungskampf ein,  von  vornherein  hat  man  das  Gefühl,  dass  seine  Sache 
eine  verlorene  ist  und  eine  verlorene  sein  muss.  Wie  ganz  anders  Cäsar? 
Er  allein  ist  der  Held  in  dem  grossen  Drama;  er  allein  bezaubert  uns 
durch  die  Genialität  seiner  Gedanken,  durch  die  Sicherheit  und  Kühnheit 
seines  Auftretens,  durch  die  wahrhaft  edle  Milde  seines  Gemüts;  mit  Be- 
wunderung sehen  wir  zu  dem  grossen  Feldherm  hinauf,  wie  er  weiten  Blicks 
allen  Gefahren  trotzt  und  mit  mächtiger  Hand  die  Gegner  niederwirft; 
tieferschüttert  folgen  wir  dem  letzten  Akt,  in  dem  eine  Rotte  elender 
Bösewichte  dem  grossen  Mann,  nachdem  er  aller  Schwierigkeiten  Herr 
geworden,  ihre  Dolche  in  die  Brust  stiess.  Dieses  Bild  sucht  freilich 
der  Dichter  zu  trüben,  wo  und  wie  er  kann;  Gäsars  Vorgehen  muss  ein 
«Frevel'  sein,  und  er  für  alles  Unheil,  das  über  Rom  gekommen,  mitverant- 
wortlich gemacht  werden.  Umgekehrt  sieht  er  bei  Pompeius  überall  nur 
Treffliches  und  Grosses.  Der  Pompeius  des  Dichters  ist  daher  sowenig 
der  Pompeius  der  Geschichte,  wie  es  Cäsar  ist;  es  sind  verzeichnete  Ge- 
stalten. 

Für  die  Mängel  der  Konzeption  entschädigt  uns  auch  nicht  die  Kunst 
der  Darstellung.  Es  ist  als  ob  Lucan  zeigen  wollte,  was  er  in  seiner 
Rhetorschule  gelernt.  In  den  Reden  und  den  Beschreibungen  liegt  der 
Schwerpunkt  des  Epos.  Die  Reden  sind  ausserordentlich  häufig  zur  An- 
wendung gekommen,  sie  sind  von  grösstem  itdO^og  durchzogen  und  schlagen 
manchmal  so  starke  Töne  an,  dass  sie  fast  komisch  wirken.  In  den  Be- 
schreibungen wird  mit  Vorliebe  das  Nervenerschütternde  und  Grauenhafte 
hervorgesucht,  man  vergleiche  die  Schilderung  der  Todesarten  bei  den 
Kämpfen  vor'  Massilia  oder  das  Treiben  der  Zauberin  Erichtho  vor  Sex. 
Pompeius  oder  den  Zug  Catos  durch  die  Wüste.  Auch  Proben  seiner  Ge- 
lehrsamkeit streut  mitunter  der  Epiker  ein;  aber  in  der  Art  und  Weise 
der  Einführung  zeigt  er  wenig  Geschick.  So  schildert  er,  um  sein  Stu- 
dium der  Quaesiiones  naturales  Senecas  zu  verwerten,  Cäsar,  wie  er  sich  in 
seiner  keineswegs  beneidenswerten  Lage  in  Ägypten  von  Achoreus  über  das 
Wunder  des  Nils  belehren  lässt  (10, 194).  Die  Antaeussage  wird  dadurch  in 
das  Gedicht  eingeflochten,  dass  Curio  in  Afrika  sich  dieselbe  von  einem 
Landmann  erzählen  lässt  (4,  593).  Um  die  im  Epos  notwendige  Zurück- 
haltung des  Dichters  kümmert  sich  Lucan  wenig,  nicht  selten  unterbricht  er 
den  Gang  der  Erzählung,  um  einer  meist  leidenschaftlich  erregten  Stim- 
mung Ausdruck  zu  geben;  so  schliesst  er  sein  siebentes  Buch,  welches  die 
Schlacht  von  Pharsalus  zur  Darstellung  gebracht  hatte,  mit  einer  Anrede 
an  das  Unglücksland  Thessalien;  angesichts  des  Todes  des  Pompeius  (im 
achten  Buch)  kann  er  sich  nicht  enthalten,  über  Ägypten  seine  Verwün- 
schungen auszugiessen.  Auch  der  Tod  Curios  zwingt  ihm  einen  pathetischen 
Nachruf  am  Ende  des  vierten  Buchs  ab.  Als  bei  Pharsalus  die  Gegner 
aufeinander  loszogen,  stellt  der  Dichter  Betrachtungen  über  die  unseligen 


M.  AnnaeiiB  Lnoaniui.  291 

Folgen  dieser  Schlacht  an.^)  Überall  ist  es  das  Wort  und  die  Phrase,  die 
sich  breit  machen;  echte  poetische  Empfindung  fehlt  diesem  masslosen 
Werk. 

Sehr  eingehend  beschäftigt  sich  Nisard  in  seinen  iltudes  8ur  Jes  po^tes  Jatins  mit 
Lucan;  p.  (73—894),  ferner  Heitland  in  der  Einleitung  zur  Haskins'schen  Ausgabe.  Girard, 
Un  poke  ripublicain  9ou9  Neron  {Revue  des  deux  mondes  1875  p.  423). 

Der  Angriff  Petrons  auf  Lucan.  c.  118  eece  belli  civilis  ingens  opus  quisquis 
attigerUf  nisi  plenus  litieris,  sub  onere  labetur  .  non  enim  res  gestae  versibus  comprehen- 
dendae  sunt,  quod  lange  melius  historici  faeiunt,  sed  per  ambages  dearumque  ministeria  et 
fabulosum  sententiarum  tormentum  praecipitandus  est  liber  Spiritus,  ut  potius  furentis 
animi  vaticinatio  appareat  quam  religiosae  orationis  sub  testibus  fides.  Mössler  hat  .zuerst 
dargelegt  {De  Petronii  poemate  de  bello  civili,  Bresl.  1842  und  Quaest.  Petran,  speeimina,  Hirsch- 
berg 1857,  1865,  1870),  dass  das  eingestreute  Gedicht  de  bello  civili  gegen  Lucan  gerichtet 
ist.  Es  fragt  sich,  ob  die  Einlage  eine  Parodie  (Travestie)  vgl.  Westerbubo,  Rh.  Mus.  38,  92 
oder  ein  Musterbeispiel  für  die  vorgetragene  Lehre  ist.  (Klbbs,  Philolog.  47,  630).  Man 
wird  sich  fOr  die  letzte  Alternative  entscheiden  müssen;  da  ja  in  der  Einlage  gegenüber 
Lucan,  der  allen  mythologischen  Apparat  verschmäht,  das  Eingreifen  göttlicher  Mächte 
durchgeführt  ist.  Wir  mögen  dies  Urteil  des  geistreichen  Mannes  auffällig  finden  (anders 
ZiEHBB  p.  53  SouBiAU,  De  deorum  ministeriis,  Paris  1885  p.  79),  denn  dass  Lucan  den 
mythologischen  Apparat  aufgegeben,  darob  ist  er  nicht  zu  taoeln ;  sein  Fehler  lag  vielmehr 
darin,  das  er  einen  Stoff  gewählt,  der  einer  poetischen  Gestaltung  kaum  fähig  war. 

Über  das  Verhältnis  des  Dichters  zu  Livius  vgl.  Baibr,  De  LAvio  Lucani  in 
carmine  de  bello  civili  auctorCy  Diss.  Berl.  1874  (Livius  in  ea  carminis  parte,  quae  ad 
historiam  spectat,  Lucani  fons  fuisse  unicus  videtur  p.  46);  Sikgels,  De  Lucani  fontibus 
et  fide,  Leyden  1884,  der  am  Schluss  seiner  eingehenden  Analyse  sagt  (p.  151):  non  nimium 
audax  coniectura  videbitur  —  Lucanum  per  totum  poema  Livio  auctore  usum  esse,  licet  fieri 
possit,  —  ut  etiam  hie  atque  iUic  Caesaris  commentarios  inspexerit  —  sed  verisimiUimum 
puto  has  quoque  partes  ex  Livio  haustas  esse,  qui  in  historiis  componendis  Caesaris  com- 
mentariis  sine  dubio  usus  est  Lucan  kann  daher,  natürlich  mit  Vorsicht,  zur  Erkenntnis 
der  verlorenen  Teile  des  Livius  verwertet  werden  (Zieheb,  Berichte  des  Hochstifts  1890 
H.  1  p.  57).    (Mehrere  Quellen  statuiert  Giavi,  La  Farsaglia,  Turin  1888). 

392.  Fortleben  Lucans.  Als  Lucan  sein  Gedieht  schrieb,  war  er 
überzeugt,  dass  er  damit  etwas  liefere,  was  der  Zeit  siegreich  wider- 
stehen werde.  In  gehobenem  Dichtergefühl  prophezeite  er  seiner  Schöpfung 
die  Unsterblichkeit  (9,  985): 

PharscUia  nostra 
vivet  et  a  nullo  tenebris  damnabitur  aevo, 

und  wirklich  hat  sich  diese  Prophezeiung  erfüllt;  die  Pharsalia  ist  noch 
heutzutage  in  unsern  Händen.  Es  ist  eine  ganz  merkwürdige,  fast  unbe- 
greifliche Thatsache,  dass  dieses  Epos  Jahrhunderte  hindurch  Leser  fand, 
zumal  da  schon  einsichtigen  Leuten  im  Altertum  der  Mangel  jeder  Poesie 
in  dem  Werk  nicht  verborgen  bleiben  konnte.  Der  feine  Satiriker  Pe- 
tronius  hat,  wie  wir  gesehen,  richtig  bemerkt,  dass  Aufgabe  eines  Epos 
unmöglich  sein  könne,  die  Geschichte  in  Verse  zu  bringen.  Der  Rhetor 
Quintilian  sprach  aus,  dass  Lucan  mehr  den  Rednern  als  den  Dichtern  bei- 
zuzählen sei  (10,  1,  90).  Selbst  der  abgeschmackte  Fronte  kam  über 
die  Verse  des  Eingangs  nicht  ohne  Unbehagen  wegen  der  lästigen  Wieder- 
holung desselben  Gedankens  hinweg  (p.  157  Naber).  Allein  das  grosse 
Publikum  war  offenbar  anderer  Ansicht;  der  Verleger  fand  mit  der  Pharsalia 
reissenden  Absatz.  Einem  Exemplar  konnte  daher  Martialis  die  Geleit- 
verse mitgeben  (14,194): 


*)  Auch  Anspielungen  auf  Zeitereignisse  leuchten  hie  und  da  durch  das  Gedicht  (vgl. 
6, 54  ZiBHBR  p.  69). 

19* 


292     EOmische  LitteratorgeBohichie.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 


sunt  quidam,  qui  tne  dicunt  non  esse  poetam: ' 
sed  qui  me  vendit  bibliopola,  pwtat. 

Die  Pharsalia  wurde  Gegenstand  der  Recitationes  (Suet.  p.  52, 3  R);  der  Dialog 
des  Taeitus  stellt  den  Dichter  an  die  Seite  des  Horaz  und  Yergil  (20); 
Statins  ist  ein  Bewunderer  Lucans  und  ahmt  die  Pharsalia  nach,  der  Hi- 
storiker Florus  benutzt  sie  sogar  für  sein  Geschichtswerk.  >)  Auch  in  den 
Schulen  scheint  das  Gedicht  Eingang  gefunden  zu  haben;  wir  müssen  dies 
aus  den  Kommentaren  folgern,  welche  sich  an  dasselbe  angeschlossen  haben. 
Bereits  Hieronymus  zählt  Lucan  unter  den  kommentierten  Dichtern  auf 
(contr.  Rufin.  II  p.  47  V);  es  treten  uns  auch  Namen  von  Kommentatoren 
entgegen,  wie  Polemon,  Porphyrion,  Cornutus,  Vacca.*)  Zahlreiche  Citate 
aus  dem  Gedicht  finden  sich  bei  den  Grammatikern.')  Von  den  Scholien 
sind  uns  zwei  Massen  tiberliefert,  die  Commenta  {Bernensia),  welche  voll- 
ständig allein  in  einer  Berner  Handschrift  (nr.  370)  stehen,  dann  die  Ad- 
notationes,  für  welche  mehrere  Quellen  fliessen.  Der  Handschriften  des 
Gedichts  sind  sehr  viele,  ein  Beweis,  wie  eifrig  dasselbe  auch  im  Mittel- 
alter gelesen  wurde.*) 

Überliefe  rang.  Abgesehen  von  Palimpsestblättem  in  Wien,  Neapel  und  Rom, 
welche  ursprünglich  einer  und  derselben  (ältesten)  Handschrift  angehörten,  scheidet  sich 
die  Masse  der  Handschriften  in  zwei  Klassen,  in  solche,  welche  die  Subscriptio  haben 
Paulus  Constantinopolitanus  emendavi  manu  mea  solus,  die  sog.  Recensio  Pau- 
lina  (Yossianus  63,  Montepessulanus  H  113,  Colbertinus  und  Cassellanus)  und  in  solche, 
welche  dieser  Subscriptio  ermangeln.  Innerlich  unterscheiden  sich  die  beiden  Klassen  da- 
durch voneinander,  dass  die  subskriptionslose  (fast  nur  in  den  letzten  7  Bttchem)  eine 
Reihe  von  Versen  mehr  bietet,  welche  ursprünglich  in  der  ersten  Klasse  fehlten  (STBnmABT, 
Symb,  philol.,  Bonn  p.  291.  Fbancken,  Mnemos.'  18,5,  der  zu  dem  Resultat  gelangt:  ac- 
cessiones,  quae  in  praestantissimo  V {V  =  Vossianus primus)  sunt,  apparet  partem  ex  hono 
fönte  esse  ncUas,  ut  equidem  opinor  ex  ipso  poetae  exemplari,  primum  non  saiis  diligenter 
lecto  p.  21.  Vgl.  femer  Francken,  Selecta  de  Montepessulano  et  Ashburnhamensi  Lucani 
(Mnemos.'  19,  5).  —  Kindleb,  De  Lue,  vers.  qui  in  Montep,  et  Voss,  II  desunt,  Münster  1862. 

Ausgaben  von  Gobte,  Leipz.  1726;  OuDEia>oBP,  Leyden  1728;  P.  Bubkank,  Leyden 
1740;  Webeb  (8  Bde.,  der  dritte  enthält  die  Scholien  [adnotationes]),  Leipz.  1821 — 31; 
Haskins,  tciih  an  introduction  hy  Heitland,  London  1887  —  üsexeb,  Luc.  eommenta  Bernensia, 
Leipzig  1869;  Genthb,  Scholia  veter a  in  Lue,  e  codice  Montepessulano,  Berl.  1868. 

9.  Petronius  Arbiter. 

393.  Petronii  Satirae.  Ansätze  für  die  Romandichtung  waren  schon 
in  der  republikanischen  Litteratur  vorhanden.  Sisenna  hatte  die  schlüpf- 
rigen Märchen  des  Aristides  übersetzt  und  das  Obscöne  durch  eingestreute 
Spässe  verstärkt  (§  113).  Aber  hier  waren  doch  nur  Einzelbilder  dem  Leser 
geboten;  es  waren  Novellen.  Viel  näher  kam  dem  Roman  die  Reisebe- 
schreibung. Diese  gab  die  Möglichkeit  an  die  Hand,  verschiedene  Situa- 
tionen bequem  miteinander  zu  vereinigen  und  ein  grösseres  Ganzes  zu 
schaffen.  Als  solche  Reiseerzählungen  lernten  wir  früher  kennen  die  Werke 
des  Statins  Sebosus  und  des  L.  Manlius  (§  204);  in  denselben  war,  wie 
es  scheint,  besonderer  Nachdruck  auf  Kuriositäten  und  Wunderbarkeiten 


*)  Westebbübg,  Rh.  Mns.  37, 35.  Sogar 
ftir  Appian  wird  dies  behauptet  von  Pebbin, 
Lucan  as  a  historiccU  source  for  Appian 
{Americ,  journ,  of.  philol,  9,  325.) 

*)  Lyd,  de  magistr,  3,46.  Genthe,  Hermes 
6,221. 

•)  „monuit  Kiesslingius  videri  Lucanum 


et  Juvenalem  a  quarto  demum  saeculo  haberi 
a  grammaticis  in  numero  auctorum  idoneo- 
rum,  quam  observaiionem  verissimam  non 
possum  quin  paucis  enarrem**  Halfpap, 
Quaest,  Serv.,  Greifsw.  1882  p.  2. 
«)  Rossbebo,  Rh.  Mns.  38, 152. 


Petronins. 


293 


gelegt.  Auf  dem  Fundament  der  Erzählung  von  Erlebnissen  eines  Helden 
an  verschiedenen  Orten,  also  auf  dem  Fundament  des  Reiseromans  ruht 
auch  das  merkwürdige  Buch  des  Petronius  Arbiter.  Der  jugendliche  Encol- 
pios  berichtet  uns  die  Schicksale,  die  ihm  und  seinen  Genossen  an  ver- 
schiedenen Orten  und  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  widerfahren  sind. 
Aber  alle  diese  Abenteuer  werden  vom  Dichter  zu  einer  inneren  Einheit 
zusammengeschlossen,  indem  sie  Folgen  eines  Vergehens  sind,  das  sich 
der  Held  an  einem  Heiligtum  des  Priapus  zu  Schulden  kommen  liess. 
Wie  Odysseus  durch  Poseidon,  so  wird  Encolpios  durch  Priapus  hin  und 
her  getrieben.    Der  Träger  der  Erzählung  sagt  selbst  (139): 

me  quoque  per  terras,  per  cani  Nereos  aequar 
Hellespontiaci  sequitur  gravis  ira  Priapi, 

Allein  unser  Autor  will  nicht  bloss  abenteuerliche  Dinge  erzählen,  er  will 
auch  Typen  der  Gesellschaft  zeichnen  und  in  Lebensbildern  die  tiefen 
sozialen  Gebrechen  der  Zeit  darlegen.  Für  diese  Aufgabe  lieferten  ihm 
vortreffliche  Muster  die  Cyniker  mit  ihren  Satirae  Menippeae.  In  bunter 
Mischung  von  Scherz  und  Ernst,  von  Prosa  und  Poesie  Hessen  diese 
reizenden  Gebilde,  welche  Yarro  in  die  römische  Litteratur  einbürgerte, 
die  zahllosen  Thorheiten  der  Menschen  an  unseren  Augen  vorüberziehen. 
Solche  Gemälde  liefert  auch  Petronius  und  nannte  daher  sein  Werk  « Sa- 
tirae'^  ;  0  selbst  in  der  Form  schloss  er  sich  an  die  Menippeischen  Schö- 
pfungen an,  indem  er  Prosa  und  Poesie  vermengte,  d.  h.  dem  prosaischen 
Grundtexte  hie  und  da  einen  poetischen  Schmuck  hinzufügte.  Von  diesem 
unvergleichlichen  Meisterwerk  sind  uns  leider  nur  Fragmente  aus  dem 
15.  und  16.  Buch  erhalten.^)  Der  Roman  wurde  nämlich  ausgezogen,  was 
bei  der  nicht  straffen  Einheit  keine  Schwierigkeiten  darbot.  Die  Hand- 
schriften, welche  uns  die  Exzerpte,')  und  zwar  nicht  ohne  Abweichung 
überliefern,  sind  aus  einer  Quelle  abgeleitet,  die  wir  bis  ins  9.  Jahrhundert 
zurückverlegen  müssen.^)  Die  Hauptscene,  das  bekannte  Gastmahl  des 
Trimalchio,  wurde  erst  um  1650  in  dem  dalmatinischen  Städtchen  Trau  von 
Marinus  Statilius  aufgefunden.  Die  erhaltenen  handschriftlichen  Überreste 
drehen  sich  um  den  bereits  genannten  Encolpios,  die  Hauptperson,  und 
den  Erzähler  der  Erlebnisse,  als  Nebenfiguren  erscheinen  Ascyltos  und 
Giton,  und  späterhin  der  abgeschmackte  Dichter  Eumolpus.  Von  Ka- 
pitel 116  an  ist  der  Schauplatz  der  Handlungen  Croton;  den  Ort,  wo  sich 
die  vorausgegangenen  Ereignisse  abspielen,  deuten  die  Fragmente  nur  all- 
gemein an,  sie  nennen  uns  eine  griechische  Stadt  (81),  welche  am  Meer 
liegt  (77.  81),  nicht  fern  von  Baiae  (53)  und  Capua  (62).  Als  diesen  Ort 
sieht  man  Cumae  an,  wenngleich  dieser  Annahme  eine  Schwierigkeit  gegen- 
übersteht. Aus  den  Fragmenten  erhellt  weiter,  dass  allem  Anscheine  nach 
zuvor  der  Roman  auch  in  Massilia  spielte  (fr.  I  und  IV).  Die  Zeit  der 
Handlung  wird  der  Anfang  der  Regierungszeit  Neros  sein. 


*)  BOcHELSB,  Gr.  Ausg.  p.  VI. 

')  In  einem  alten  Kodex  des  Fulgontius 
wurde  das  20.  Kapitel  dem  14.  Buch  zuge- 
schrieben. 

*)  BücHBLES  p.  XI  iam  sub   Theodosii 


aetatem  excerptcuf  esse  satiras  Peiranianas 
facile  credOf  exploratissimum  atäem  mihi  est 
inde  a  septimo  saeculo  pleniorem  quam  nos 
Petronium  in  manibus  habuisse  neminem, 
*)  BücHBLEB,  Gr.  Ausg.  p.  XU. 


294    RömiBohe  Litteratnrgescilichte.    U.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Die  Komposition  des  Romans.    In  einem  Gebet  an  Priapus  sagt  Encolpios  (133): 

non  sanguine  iristi 
perfusus  venio,  non  templis  impius  hostis 
admopi  dextram,  sed  inaps  et  rebus  egenia 
attritua  facinus  non  toto  corpore  feci. 
Er  gesteht  also  hier  einen  dem  Priapus  zugefügten  Frevel  ein,  er  sucht  denselben  aber  ab- 
zuschwäch«)n,  indem  er  denselben  in  Gegensatz  zu  einer  Tempelplünderung  stellt    Welches 
der  Frevel  war  und  wo  er  geschah,   darüber  sind  nur  Vermutungen  gestattet.    Den  ihm 
zugefügten  Frevel  rächt  Priapus,  und  die  Fragmente  zeigen  die  Feindseligkeit  des  Gottes 
gegen  den  Helden  z.  B.  c.  104.    Wir  gelangen  zu  der  AnntJime,  dass  dieser  Zorn  des  Priapus 
das  Leitmotiv  des  Romans  war.    Durch  dasselbe  wurde  das  Ganze  in  eine  komische  Sphäre 
gerückt,  zugleich  aber  als  ein  Spiel  der  Phantasie  in  das  Reich  der  Kunst  (Klebs,  Philo). 
47, 622). 

Die  Orte  der  Handlung.  Massiliaund  Kroton  stehen  als  Orte  der  Handlung  fest. 
Nur  durch  Schlussfolgerung  ist  der  Ort  zu  bestimmen,  an  dem  Trimalchio  sein  Gastmahl 
hielt.  MoMMSEN  (Hermes  13, 109)  hat  als  solchen  Cumae  hingestellt.  Es  bleibt  aber  die 
Schwierigkeit,  dass  Trimalchio  sagt  (c.  48) :  Sibyllam  quidem  Cumis  ego  ipse  oadis  tneis 
vidi  in  ampulla.  Diese  Schwierigkeit  kann  aber  leicht  durch  Streichung  von  Cumis  ge- 
hoben werden  (Fbiedländeb  Ausg.  p.  6). 

Die  Zeit  der  Handlung  verlegt  Mokxsek  (Hermes  13,111)  unter  die  Regierung 
des  Augustus  (Haley,    Quaest.  Petron,  in  Harvard  Studies  2, 1),   Bücheleb  (Grosse  Ausg. 

§.  YIl)  in  die  letzten  Jahre  der  Regierung  Tibers,  FbiedlIndeb  (Ausg.  p.  7)  in  das  Ende 
er  Regierung  des  Claudius  oder  in  den  Anfang  der  Regierung  Neros.  Unter  anderem 
führt  Friedländer  für  seine  Ansicht  an,  dass  der  Gesangsvirtuos  Apelles  (c.  64)  und  der 
Komponist  Menecrates  (73)  als  allgemein  bekannte  Persönlichkeiten  angeführt  werden. 
Apelles  glänzte  aber  unter  Caligula  und  Menecrates  unter  Nero. 

394.  Skizze  des  Romans.  Die  Fragmente  beginnen  mit  einer  Dar- 
legung des  Verfalls  der  Beredsamkeit.  In  scharfer  Weise  schildert  En- 
colpios das  unnatürliche  Pathos,  das  Phrasengeklingel,  das  unpraktische 
und  schiebt  die  Schuld  an  diesen  Gebrechen  auf  die  Lehrer;  dagegen  findet 
der  Mitunterredner  den  Sitz  des  Übels  bei  den  Zuhörern,  deren  Neigungen 
die  Lehrer  entgegenkommen  müssen,  wenn  sie  nicht  vor  leeren  Blinken 
docieren  wollen.  Während  dieses  Gesprächs  hatte  sich  der  Genosse  des 
Encolpios,  Ascyltos,  entfernt.  Encolpios  gedenkt  in  sein  Quartier  zurück- 
zukehren. Als  er  dasselbe  nicht  aufzufinden  vermochte,  befragte  er  eine 
Alte;  die  aber  führt  ihn  in  ein  unsittliches  Haus,  wo  zu  seiner  Über- 
raschung auch  Ascyltos  auftaucht.  Sie  begeben  sich  zusammen  in  ihre 
Wohnung,  dort  geraten  sie  wegen  des  Burschen  Giton,  den  sich  Encolpios 
zum  Liebling  erkoren  hatte,  in  Streitigkeiten.  Es  reiht  sich  in  der  Er- 
zählung ein  ergötzliches  Abenteuer  auf  dem  Markte  an,  dann  fallen  sie 
der  Quartilla,  welche  sie  einst  bei  einer  Priapusfeier  gestört  hatten,  in 
die  Hände  und  werden  von  ihr  verschiedenen  Quälereien  ausgesetzt.  Mit 
Agamemnon  folgen  die  drei  Taugenichtse  einer  Einladung  zum  Mahl  bei 
Trimalchio.  Dieser,  ein  ehemaliger  Sklave,  war  zu  ungeheurem  Reichtum 
gelangt  und  spielt  jetzt  die  Rolle  eines  ungebildeten  Emporkömmlings. 
Alles  Einfache  ist  ihm  daher  verhasst,  alles  muss  bei  ihm  einen  aussergewöhn- 
lichen  Charakter  erhalten.  Bei  allen  Gängen,  welche  aufgetragen  werden, 
war  es  auf  eine  Überraschung  der  Gäste  abgesehen.  Da  wurde  ein  Speise- 
brett hereingetragen,  auf  demselben  lag  eine  hölzerne  Henne,  die  Flügel 
ausbreitend,  als  wenn  sie  brüte.  Die  Aufwärter  nahmen  Pfaueneier  aus  dem 
Neste.  Als  dieselben  geöffnet  wurden,  fanden  sich  in  denselben  fette  Feigen- 
schnepfen mit  gepfeffertem  Eidotter.  Dann  kam  eine  Schüssel,  welche  die 
zwölf  Zeichen  des  Tierkreises  durch  entsprechende  Speisen  versinnbildlichte; 
als  der  obere  Teil,  abgehoben  wurde,  sahen  die  Gäste  Geflügel,  Saueuter  und 


PetroniuB.  295 

einen  Hasen.  Noch  mehr  wurden  die  Gäste  in  Staunen  versetzt,  als  ein  grosser 
Eber  tranchiert  wurde  und  aus  der  Schnittfläche  gar  Erammetsvögel  heraus- 
flogen, welche  bereitstehende  Sklaven  mit  Leimruten  auffingen.  £in  anderes 
Stückchen;  es  wurden  drei  lebende  Schweine  hereingeführt,  Trimalchio 
befahl  dem  Koch,  das  älteste  sofort  zuzubereiten.  Kaum  waren  einige 
Minuten  vergangen,  als  das  Schwein  fertig  auf  dem  Tisch  lag.  Trimalchio 
meinte,  der  Koch  habe  vergessen,  es  auszuweiden.  Es  wird  die  Probe  ge- 
macht, da  fallen  aus  der  angeschnittenen  Seite  Würste  heraus.  Plötzlich 
fangt  das  Getäfel  an  der  obern  Decke  zu  krachen  an.  Alles  richtet  seine 
Blicke  dahin,  ein  ungeheurer  Keif  senkt  sich  herab,  an  dem  Dinge  hängen, 
die  zum  Mitnehmen  bestimmt  waren.  Köstlich  sind  die  Plaudereien,  welche 
eingeladene  Leute  vom  Schlage  Trimalchios  miteinander  führen,  sie  strotzen 
von  gemeiner  Gesinnung,  pöbelhafter  Sprache  und  kleinlichem  Stadtklatsch. 
Hohes  Interesse  erregt  die  von  einem  Gast  erzählte  Geschichte  von  einem 
in  einen  Wolf  verwandelten  Soldaten  (61).  Auch  Trimalchio  nimmt  gern 
das  Wort,  um  seine  Weisheit  leuchten  zu  lassen,  er  erzählt  uns,  was  der 
verschmitzte  Hannibal  bei  der  Eroberung  Trojas  gethan,  dann  dass  die 
Trojaner  mit  den  «Parentinern''  im  Krieg  lagen,  dass  Agamemnon  in  diesem 
Krieg  siegte  und  seine  Tochter  Iphigenia  dem  Achilles  zur  Frau  gab, 
worüber  Ajax  rasend  geworden  sei.  Als  das  Mahl  schon  weit  vorgerückt 
war,  taucht  eine  neue  Figur  in  dem  Steinhauer  Habinnas  auf,  der  halb- 
trunken von  einem  Gelage  kommend  mit  seiner  Gemahlin  Scintilla  heran- 
tritt. Auf  dringendes  Verlangen  des  neuen  Gastes  wird  die  Gattin  Tri- 
malchios Fortunata  herbeigerufen.  Die  Albernheiten  und  Roheiten  erreichen 
jetzt  einen  hohen  Grad.  Zuletzt  las  Trimalchio  den  versammelten  Sklaven 
sein  Testament  vor,  und  lässt  sich  schliesslich  als  einen  Toten  bejammern. 
Der  furchtbare  Lärm,  der  dadurch  entsteht,  rief  die  Wächter  herbei,  die 
einen  Brand  vermuteten.  Das  Durcheinander  gab  den  drei  Gesellen  En- 
colpios,  Ascyltos,  Giton  erwünschte  Gelegenheit,  sich  aus  dem  Staub  zu 
machen.  Wir  haben  nur  einige  Züge  herausgehoben,  den  Reichtum  des 
Originals  zur  Anschauung  zu  bringen  ist  uns  unmöglich.  Wir  fahren  in 
der  Skizzierung  der  Abenteuer  fort.  Wiederum  ist  es  Giton,  der  zwischen 
Encolpios  und  Ascyltos  eine  Trennung  erzeugt.  Ascyltos  entführte  näm- 
lich den  Knaben.  Vor  Schmerz  ausser  sich  sann  Encolpios  auf  Rache 
und  bewaffnete  sich;  als  er  auf  die  Strasse  trat,  begegnete  ihm  ein  Soldat, 
der  ihn  zur  Rede  stellte  und  ihm  das  Schwert  hin  wegnahm.  Statt 
Ascyltos  wird  nun  eine  neue  Person  in  die  Handlung  eingeführt,  Eumolpus. 
Als  nämlich  Encolpios  in  einer  Pinakothek  die  Bilder  betrachtete,  gesellte 
sich  zu  ihm  ein  Greis,  der  sich  als  Dichter  vorstellte  und  eine  schmutzige 
Geschichte  aus  seinem  Leben  zum  besten  gab.  Als  Encolpios  sich  in  die 
Betrachtung  einer  „Eroberung  Trojas**  versenkte,  erläuterte  der  Poet  flugs 
das  Gemälde  durch  ein  entsprechendes  Gedicht  von  65  Versen.  Mit  Stein- 
würfen verjagen  die  Anwesenden  den  lästigen  Dichter.  In  einem  Bade 
findet  Encolpios  seinen  Knaben  und  führt  ihn  in  seine  Wohnung  zurück. 
Auch  Eumolpus  stellt  sich  ein,  derselbe  ward  aber,  da  er  auch  ein  Auge 
für  den  Knaben  hatte,  dem  Encolpios  bald  so  lästig  wie  Ascyltos.  Ein 
Streit,  den  Eumolpus  mit  einer  fremden  Persönlichkeit  bekam,  gibt  En- 


296     Bömische  Litteratorgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

colpios  Anlass,  den  Dichter  hinauszusperren;  derselbe  wird  draussen  ge- 
prügelt. Da  tritt  auch  Ascyltos  auf,  um  Giton  aufzusuchen,  der  aber 
weiss  sich  den  Nachforschungen  zu  entziehen.  Als  Eumolpus  drohte, 
das  Versteck  desselben  zu  verraten,  versöhnen  sich  Encolpios  und  Giton 
mit  ihm.  Nun  bestieg  die  Gesellschaft  ein  Schiff,  zu  ihrem  Schrecken  ent- 
deckten sie  auf  demselben  den  Tarentiner  Lichas  und  Tryphaena,  gegen 
welche  sie  früher  schlimme  Streiche  verübt  hatten.  Sie  hielten  mit  Eu- 
molpus Rat,  wie  sie  sich  unkenntlich  machen  sollen.  Nach  längerer  Er- 
wägung verfallen  sie  auf  den  Gedanken,  sich  das  Haupthaar  scheren 
zu  lassen,  um  als  Sklaven  des  Eumolpus  zu  erscheinen.  Allein  die 
Sache  wurde  entdeckt,  und  es  entspann  sich  eine  grosse  Prügelei. 
Schliesslich  wurde  dieselbe  beigelegt  und  ein  Versöhnungsmahl  gefeiert; 
bei  demselben  erzählt  Eumolpus  die  bekannte  Geschichte  von  der  Witwe 
in  Ephesos.  Ein  Sturm  bricht  los.  Lichas  ertrinkt,  die  Übrigen  kommen 
mit  dem  Leben  davon.  Als  sich  unsere  drei  Abenteurer  nach  der  Ge- 
gend, an  die  sie  verschlagen  wurden,  erkundigten,  erfuhren  sie,  dass  sie 
in  der  Gegend  von  Groton  seien,  und  dass  in  dieser  Stadt  besonders  das 
Handwerk  der  Erbschleicher  in  grossem  Flor  stehe.  Sofort  schmieden 
sie  ein  Komplott,  Eumolpus  soll  sich  für  einen  reichen  kinderlosen  Mann 
aus  Afrika  ausgeben  und  durch  Hüsteln  an  sein  baldiges  Ende  erinnern, 
während  die  beiden  andern  seine  Diener  machen  wollen.  Unterwegs  de- 
klamiert Eumolpus  ein  Gedicht  vom  Bürgerkrieg  in  295  Versen.  In 
Groton  hatte  Encolpios  unsaubere  Abenteuer  mit  Circo;  auch  der  alte 
Eumolpus  führt  einen  nichtsnutzigen  Streich  aus.  Die  Erbschaftsschleicher 
schienen  schliesslich  misstrauisch  geworden  zu  sein,  da  das  in  Aussicht 
gestellte  Schiff  mit  seinen  Schätzen  und  der  Familie  des  Eumolpus  nicht  ein- 
traf. Die  Fragmente  schliessen  mit  der  Verlesung  eines  Testaments  des 
Eumolpus,  in  dem  die  Erbschaft  an  die  Bedingung  geknüpft  wird,  dass 
die  Erbenden  von  dem  Leichnam  des  Testators  essen. 

BücHELER,  Conspecttis  aaturarum,  El.  Ausg.'  p.  119. 

395.  Zeit  und  Persönlichkeit  des  Autors.  Wenn  wir  vorläufig 
von  dem  Verfasser  des  Romans  ganz  absehen  und  uns  lediglich  an  den 
Inhalt  der  Erzählung  halten,  so  können  wir  uns  das  Werk  nur  in  der 
Neronischen  Zeit  entstanden  denken.  Sprache,  Metrik,  der  soziale  Hinter- 
grund weisen  gebieterisch  in  diese  Epoche.  *)  Der  Angriff  auf  die  Pharsalia 
des  nicht  genannten  Lucanus  erfüllt  seinen  Zweck  nur  dann  vollkommen, 
wenn  er  in  die  Lebzeiten  dieses  Dichters  fallt,  ebenso  wird  die  Einlage  der 
„Troiae  Halosis**  nur  dann  recht  verständlich,  wenn  sie  von  einem  Zeit- 
genossen Neros,  der  ja  ebenfalls  ein  solches  Gedicht  gemacht  hatte,  her- 
rührt. Unter  den  Einsichtigen  herrscht  daher  heutzutage  über  die  Zeit 
des  Romans  kein  Zweifel.  Steht  aber  einmal  dieselbe  fest,  so  ist  auch 
die  Eruierung  der  Persönlichkeit  des  Autors  erleichtert.  Es  ist  klar,  dass 
wir  nur  einen  Petronius  brauchen  können,  der  in  der  Neronischen  Zeit 
lebte.  Einen  solchen  lernen  wir  aber  aus  Tacitus  Ann.  16, 18  kennen. 
Der  von  dem  Historiker  geschilderte  Petronius')  war  ein  Mann,   der  den 


0  BücHELEB,  Gr.  Ausg.  p.  V.  I  ')  Wahrscheinlich  mit  dem  Praenomen 


PetroniuB« 


297 


Tag  mit  Schlafen  zubrachte,  die  Nacht  aber  seinen  Geschäften  und  seinem 
Vergnügen  widmete.  Wie  andere  durch  ihre  Arbeit,  so  kam  er  durch 
seine  ünthätigkeit  zu  Ansehen;  er  galt  nicht  als  Schlemmer  und  Ver- 
schwender, aber  als  ein  Meister  des  raffinierten  Luxus.  Je  ungebundener 
seine  Reden  und  Handlungen  waren,  je  mehr  sie  den  Charakter  des  Sich- 
gehenlassens  an  sich  trugen,  desto  mehr  wurden  sie  unter  dem  Gesichts- 
punkt der  Naivetät  aufgefasst.  Als  Prokonsul  von  Bithynien  und  als 
Konsul  erwies  er  sich  jedoch  als  thatkräftig  und  seinen  amtlichen  Obliegen- 
heiten gewachsen.  Dann  sank  er  wieder  in  sein  Lotterleben  zurück;  von 
Nero  in  seinen  engern  Kreis  aufgenommen  spielte  er  am  Hofe  den  ,  Schieds- 
richter des  Geschmacks^  {elegantiae  arbüer),  dessen  urteil  sich  der  Kaiser 
willig  unterwarf,  wenn  es  sich  um  das  Anmutige  und  das  Üppige  handelte. 
Dieser  mächtige  Einfluss  erregte  den  Neid  des  Tigellinus.  Um  des  Pe- 
tronius  Verderben  herbeizuführen,  legte  er  ihm  ein  freundschaftliches  Ver- 
hältnis zu  Scaevinus,  der  sich  an  der  Pisonischen  Verschwörung  beteiligt 
hatte,  zur  Last.  Da  der  Angeschuldigte  sich  kein  Hehl  über  das,  was  ihm 
von  der  Grausamkeit  Neros  bevorstand,  machen  konnte,  beschloss  er  frei- 
willig in  den  Tod  zu  gehen.  Zuvor  legte  er  aber  Hand  an  ein  Dokument, 
in  dem  er  die  Schandthaten  Neros  unter  namentlicher  Angabe  der  Buhl- 
knaben und  Dirnen  und  der  einzelnen  Akte  aufzeichnete;  versiegelt  über- 
schickte er  das  Schriftstück  dem  Kaiser.  Aus  dieser  Schilderung  ergibt 
sich  mit  sehr  hoher  Wahrscheinlichkeit,  dass  der  hier  gezeichnete  Lebe- 
mann Petronius  mit  unserm  Romanschriftsteller  identisch  ist;  ja  vielleicht 
ist  das  Cognomen,  das  die  handschriftliche  Überlieferung  demselben  gibt, 
aus  jenem  „elegantiae  arbiter**  entstanden.^)  Der  Glaube  an  die  Identität 
der  beiden  Personen  darf  aber  nicht  dazu  verleiten,  auch  die  Identität  des 
von  Tacitus  genannten  Schriftstücks  und  unseres  Romans  zu  statuieren. 
Jenes  „  Sündenregister *"  war  durchaus  persönlich  gehalten  und  lediglich  für 
Nero  bestimmt;  es  passt  nicht  in  den  Rahmen  eines  Romans. 

Die  Abfassungszeit  unter  Nero  hat  in  eingehender  Abhandlung  Studbb  er- 
wiesen, Rhein.  Mus.  2, 50  und  202»  er  erblickt  auch  in  unserem  Petronius  den  bei  Tacitus 
genannten,  nimmt  aber  zugleich  irrig  eine  Identität  der  beiden  Schriftwerke  an.  Diesen 
Irrtum  hat  die  Abhandlung  Ritter^s  (Rh.  Mus.  2, 561)  gründlich  beseitigt.  Teuffsl  dagegen 
(Gharakt.  p.  395)  lässt  nicht  bloss  die  Identität  der  Schrift,  sondern  auch  die  der  Person 
fallen  und  hält  nur  die  Identität  der  Zeit  fest.  (Unbrauchbar  Kbaffebt,  Beitr.,  Verden 
1888  p.  9.) 

Die  Epigramme  des  Petronius.  In  der  Anthologie  werden  Petronius  mehrere 
Epigranune  zugeteilt  bald  auf  handschriftliche  Überlieferung,  bald  auf  das  Zeugnis  des 
I<\ilgentius,  bald  auf  subjektive  Erwägungen  hin.  Das  Zeugnis  des  cod.  Voss.  F.  111  haben 
für  sich  nr.  650  und  651  R.  (PLM.  4, 120, 121);  die  nr.  464—479  (PLM.  74-89)  sind  im  Voss. 
Q.  86  namenlos,  aber  466, 1  (76)  und  476,  6—9  (86)  werden  unter  dem  Namen  des  Petronius 
von  Fulgentius  citiert;  die  ganze  Reihe  teilt  dem  Petronius  Scaliger  zu.  Die  dritte  Reihe 
bilden  die  nr.  690—692,  218,  693—699  (PLM.  4,  90—100).  Diese  entnahm  einem  verlorenen 
cod,  Bellovace^isis  Binet  und  publizierte  sie  ebenfaUs  unter  dem  Namen  des  Petronius  in 
seiner  Ausgabe  des  Petronius  1579.  Das  erste  StUck  nr.  690  (90)  wird  auch  von  Fulgentius 
angeführt.  Ob  Binet  die  übrigen  nach  handschriftlicher  Überlieferung  oder  nach  subjektiven 
Erwägungen  hin  mit  dem  Namen  des  Petronius  versehen,  wissen  wir  nicht.  —  Krohn, 
Quaest.  ad  antholog,  lat.  »pectanUs,  Halle  1887. 


T.  Vgl.  Nipperdet  zu  Tacit.  Ann.  16, 17, 
der  auf  Plin.  n.  h.  37, 20  und  Plutarch.  de 
discr,  am,  et  aduL  p.  60 e  hinweist. 

'}  So  MoMMSEN,  Hermes  13, 107,  Anm. 


Umgekehrt  Büchblsr,  N.  Schweiz.  Mus.  3, 18 
„man  taufte  ihn  elegantiae  arbiter  mit  An- 
spielung auf  seinen  Beinamen  Arbiter*. 


298    BönÜBche  Litteratargeschichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


Die  sogenannten  Glossen  des  Petronius.  Mit  den  Exzerpten  aus  Petron 
waren  in  dem  Archetypos  der  Petronhandschriften  noch  kleinere  Gedichte  und  Glossen  (aus 
Gellius,  Isidorus,  Hieronymus)  verbunden  und  nahmen  irrtümlich  ebenfalls  den  Namen  Petro- 
nius an  (BüCHELEB,  Gr.  Ausg.  p.  XII). 

396.  Charakteristik.  Der  Roman  des  Petronius  ist  die  merkwür- 
digste Erscheinung  in  der  gesamten  Litteratur  der  Kaiserzeit.  Kein  Werk 
führt  uns  so  tief  in  die  Erkenntnis  des  sozialen  Lebens  ein  als  dieses. 
Mit  wunderbarer  Kunst  greift  der  Dichter  die  hervorragendsten  Typen  der 
damaligen  Gesellschaft  heraus,  um  ein  drastisches  Bild  derselben  zu  geben. 
Sein  Urteil  lässt  er  nur  selten  hervortreten,  er  wirkt  allein  dadurch,  dass 
er  seine  Personen  ihr  ganzes  Wesen  selbst  zur  Entfaltung  bringen  lässt. 
In  Trimalchio  wird  die  damals  so  stark  ausgebreitete  Klasse  der  Empor- 
kömmlinge mit  Meisterhand  gezeichnet.  Wir  sehen,  wie  diese  Leute  von 
ihrem  Reichtum  den  unsinnigsten  Gebrauch  machen,  wie  sie  in  vordring- 
licher Weise  mit  ihren  Schätzen  prahlen,  wie  sie  sich  den  Anstrich  der 
Bildung  zu  geben  versuchen,  wie  sie  hiebei  aber  ganz  besonders  ihre 
Pöbelhaftigkeit  verraten.  Encolpios  und  Genossen  stellen  uns  glänzende 
Repräsentanten  der  Libertinage  und  des  Abenteurertums  dar.  Mit  Eu- 
molpus  wird  uns  der  aufdringliche  Dichterling  jener  Tage,  vor  dessen  De- 
klamationen das  Publikum  sich  nur  durch  Steinwürfe  schützen  kann,  vor 
Augen  geführt.  Auch  die  Nebenpersonen  sind  lebensfrische  kräftige  Ge- 
stalten. Die  verschiedenen  Seiten  des  Lebens,  die  geistige  wie  die  ma- 
terielle hat  der  Dichter  mit  scharfem  Auge  verfolgt.  Über  den  Verfall 
der  Beredsamkeit  hat  ausser  Tacitus  niemand  so  packend  und  wahr  ge- 
urteilt; auch  was  er  gegen  Lucans  historisches  Epos  vorbringt,  ist  fein 
durchdacht,  wenngleich  er  nicht  zu  der  völligen  Verwerfung  dieser  Poesie 
vorgedrungen  ist.^)  In  das  kleinstädtische  Treiben  hat  er  einen  tiefen 
Blick  gethan  und  von  krähwinkliger  Denkungsart  wie  Sprache  eine  köst- 
liche Abkonterfeiung  gegeben.  Die  schweren  sozialen  Gebrechen  jener 
Tage,  die  unerhörte  Schlemmerei,  die  grauenhafte  XJnsittlichkeit,  die  häss- 
liche  Erbschleicherei  fanden  in  ihm  einen  Maler  ersten  Rangs.  Über  die 
Mittel  der  Darstellung  gebietet  Petronius  völlig  souverän;  gebundene  wie 
ungebundene  Rede  handhabt  er  mit  gleicher  Virtuosität;  in  jeder  Stilform 
ist  er  sattelfest.  Ohne  Übertreibung  kann  man  sagen,  dass  er  die  ge- 
samte Bildung  seiner  Zeit  in  sich  aufgenommen  hat.  Nur  eins  fehlt  ihm, 
die  sittliche  Grösse,  welche  den  Hintergrund  des  Romans  hätte  bilden 
sollen.  Aber  der  Dichter  lehnt  alle  sittlichen  Tendenzen  ab.  Dadurch, 
dass  er  die  Erlebnisse  seines  Helden  als  eine  Folge  der  Rache  des  Priapus 
darstellt,  kennzeichnet  er  deutlich  sein  Werk  als  ein  Spiel  der  Phantasie, 
das  den  Leser  erheitern,  nicht  aber  erheben  will. 

Grundlegende  Ausgaben  von  Bücheleb,  die  grössere  Berl.  1862,  die  kleinere  in 
3.  Aufl.,  Berl.  1882.  TreflPliche  Ausgabe  der  cena  Trimalchionis  mit  deutscher  Übersetzung 
und  erklärenden  Anmerkungen  von  Fbiedlandeb,  Leipz.  1891. 

Der  kritische  Apparat  seist  sich  aus  drei  Bestandteilen  zusammen,  der  Quelle 
der  vollständigeren  Excerpte  L  (Leidensis  Q.  61  und  die  Ausgabe  des  Tomaesius,  Leyd. 


0  Elbbs,  Philolog.  47.  681 ;  Mössleb 
in  den  p.  291  erwähnten  Abhandlungen. 
Es  sind  die  drei  ersten  Gesänge  Lucans, 
welche    noch   zu    Lebzeiten    des    Dichters 


ediert  wurden,  berücksichtigt.  Eine  Be- 
rücksichtigung des  7.  Buchs  nach  einer 
Recitation,  wie  Wbstebbubo,  Rh.  Mus.  38, 94 
annimmt,  ist  eine  Unmöglichkeit. 


YaleriuB  Flaocns.  299 

1575  und  des  P.  Pithoens,  Paris  1587),  der  Quelle  der  verkürzten  0  (Repräsentant  der  Ber- 
nensis  367  s.  X)  und  der  Quelle  für  die  cena  Trimalchionis,  dem  Traguriensis  8ive  Parisinu8 
7989  8.  XV. 

10.  C.  Valerius  Flaccus  Setinus  Baibus. 

897.  Biographisches.  Von  des  Dichters  Leben  ist  nur  eine  äusserst 
geringe  Kunde  zu  uns  gedrungen.  Wir  kennen  nicht  einmal  seine  Hei- 
mat, denn  die  Identifizierung  desselben  mit  einem  von  Martial  genannten 
Flaccus  aus  Patavium  (l,  76)  ist  unmöglich;  nach  dem  erwähnten  Epigramm 
war  der  Flaccus  des  Martial  ein  armer  Dichter,  unser  Flaccus  muss  als 
Mitglied  des  Kollegiums  der  Quindecimviri  sich  in  guten  äussern  Ver- 
hältnissen befunden  haben;  denn  auf  diese  Stelle  weisen  die  Eingangs- 
verse seines  Gedichts,  der  Argonautica  hin  (5).  Auch  über  die  Zeit  der 
Entstehung  erteilt  uns  das  Epos  Aufschluss.  Es  ist  dem  Vespasian 
gewidmet,  der  ja  auch  in  das  weite  Meer  nach  Britannien  hinaussegelte. 
In  der  Widmung  entschuldigt  er  sich,  dass  er  einen  antiken  Stoff  be- 
handele, während  doch  gerade  der  Sohn  Yespasians  Titus  die  Brandfackel 
in  Jerusalem  hineinwerfe;  allein  dessen  Thaten  werde  der  andere  Spross 
des  Kaisers,  Domitian  in  würdiger  Weise  besingen.  Nach  diesen  Worten 
muss  man  annehmen,  dass  der  Eingang  des  Gedichts  wohl  bald  nach  der 
Einnahme  Jerusalems  durch  Titus  (70  n.  Gh.)  verfasst  wurde.  Da  einige 
Verse  auf  den  Ausbruch  des  Vesuv  hinweisen  (3,  209  4,  507  4,  656),  also 
nach  dem  Jahr  79  n.  Ch.  geschrieben  sein  müssen,  so  scheint  Valerius 
lange  an  seinem  Werk  gearbeitet  zu  haben.  Uns  liegt  dasselbe  unvoll- 
endet vor;  im  achten  Buch  bricht  es  mitten  in  der  Erzählung  ab.  Es  ist 
eine  alte  Streitfrage,  ob  Nichtvollendung  oder  Verlust  vorliegt.  Für  beide 
Annahmen  lassen  sich  Gründe  beibringen,  eine  feste  Entscheidung  ist  nicht 
möglich.  Als  Quintilian  um  90  n.  Ch.  das  10.  Buch  seines  Lehrgangs  der 
Rhetorik  schrieb,  beklagte  er  den  nicht  lange  vorher  eingetretenen  Tod 
des  Dichters  (10, 1,  90). 

398.  Skizze  der  Argonautica«  Mit  den  Weissagungen,  welche  den 
Pelias  vor  den  Nachkommen  seines  Bruders  Aeson  warnen,  hebt  die  Er- 
zählung an.  Um  der  Gefahr  zu  begegnen,  stellt  er  an  Aesons  Sohn,  Jason, 
das  Ansuchen,  er  solle  das  goldne  Vliess  von  Kolchis  holen.  Von  der  Be- 
gierde nach  Ruhm  getrieben  entschliesst  sich  Jason  zu  dem  schweren  Werk; 
er  rechnet  auf  den  Beistand  der  Juno  und  Minerva.  Es  wird  die  Argo 
gebaut;  von  allen  Seiten  eilen  die  Helden  Griechenlands  herbei,  darunter 
auch  Hercules  mit  Hylas  und  der  Sänger  Orpheus.  Selbst  Acastus,  der 
Sohn  des  Pelias,  wird  von  Jason  veranlasst,  ohne  Wissen  und  wider 
Willen  seines  Vaters  an  der  Fahrt  teilzunehmen.  Dies  führte,  nachdem 
die  Argo  abgefahren  war,  zu  einer  schweren  Katastrophe;  Pelias  sinnt  auf 
Rache,  er  sendet  Häscher  zu  den  Eltern  Jasons,  diese  kommen  durch  einen 
freiwilligen  Tod  den  grausamen  Anschlägen  zuvor;  nur  an  dem  noch  un- 
mündigen Bruder  Jasons  können  sie  ihr  Werk  vollbringen  (1).  Unter  dem 
kundigen  Steuermann  Tiphys  ziehen  die  Argonauten  ihres  Weges  weiter; 
sie  kommen  nach  Lemnos,  wo  sie  von  den  Frauen,  die  ihre  Männer  er- 
mordet hatten,  freundlich  aufgenommen  wurden;  ausführlich  schildert  der 
Dichter  den  Gattenmord.    Die  Helden  pflegen  der  Liebe,  Jason  tritt  in 


300     EOmiBche  Litteratorgeschichte.    11.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilang. 

vertrauten  Verkehr  zur  Königin  Hypsipyle.  Da  wird  Hercules,  der  mit 
einigen  andern  auf  dem  Schiff  zurückgeblieben  war,  ungeduldig  und  drängt 
zur  Abfahrt.  Als  sie  an  der  Küste  von  Sigeon  längere  Rast  genommen, 
vernahmen  Hercules  und  Telamon  bei  einem  Spaziergang  eine  klagende 
Stimme;  sie  gehen  derselben  nach  und  entdecken  Hesione,  die  Tochter  des 
trojanischen  Königs  Laomedon,  welche  an  einen  Felsen  angebunden  war, 
um  einem  Meerungeheuer  zum  Frasse  preisgegeben  zu  werden.  Her- 
cules erlegt  das  Untier  und  befreit  die  Gefangene.  Die  Fahrt  geht 
weiter  durch  den  Hellespont,  sie  gelangen  nach  Gycicus,  wo  sie,  vom 
gleichnamigen  König  freundlichst  empfangen,  einige  Tage  verweilen  (2). 
Die  Argonauten  setzen  ihre  Reise  fort,  da  fallt  der  Steuermann  Tiphys  in 
tiefen  Schlaf;  das  Schiff,  sich  selbst  überlassen,  wird  wieder  nach  Gycicus 
zurückgetrieben.  Es  ist  Nacht,  die  Einwohner  von  Gycicus  glauben,  ein 
feindliches  Heer  sei  angekommen,  auch  die  Argonauten  erkennen  nicht 
den  Ort,  es  entsteht  ein  furchtbarer  Kampf,  in  dem  der  König  Gycicus 
seinen  Tod  findet.  Als  der  Morgen  heranbrach  und  man  des  Irrtums  ge- 
wahr wurde,  entstand  ein  grosses  Wehklagen.  Nachdem  Sühnopfer  dar- 
gebracht waren,  stechen  sie  wiederum  in  die  See.  In  Mysien,  wo  sie  ge- 
landet, begibt  sich  Hercules  mit  Hylas  in  den  Wald,  um  sich  ein  neues 
Ruder  zu  suchen.  Da  verliert  er  den  Hylas,  der  von  einer  Nymphe  ge- 
raubt wurde.  Hercules  sucht  seinen  Liebling  überall ;  als  er  nach  längerer 
Zeit  nicht  zurückkam,  beschliessen  die  Argonauten  nach  eingehender  Be- 
ratung die  Weiterfahrt  ohne  Hercules  (3).  Sie  gelangen  zu  den  wilden 
Bebrykern  mit  ihrem  gefürchteten  König  Amycus;  derselbe  fordert  die  An- 
kömmlinge zum  Faustkampf  auf;  PoUux  tritt  ihm  entgegen  und  streckt 
ihn  nach  heissem  Ringen  nieder.  Sie  passieren  den  Bosporus;  am  thyni- 
schen  Gestade  stossen  sie  auf  den  blinden  Seher  Phineus,  der  von  den 
Harpyien  arg  gequält  wird.  Die  Boreaden  Galais  und  Zetes  vertreiben 
die  Quälerinnen  und  verschaffen  dadurch  dem  Phineus  Ruhe.  Zum  Dank 
dafür  enthüllt  ihnen  der  Seher  die  Zukunft  der  Reise.  Es  naht  nun  die 
schwerste  Gefahr  der  Reise,  die  cyanischen  Felsen,  die  über  den  Schiffen 
zusammenschlagen;  mit  Hilfe  der  Juno  und  der  Minerva  gelangen  sie 
glücklich  hindurch.  Sie  machen  Halt  bei  den  Maryandinern  (4).  Hier 
verlieren  sie  durch  den  Tod  den  Seher  Idmon  und  den  Steuermann  Ti- 
phys. Unter  dem  neuen  Steuermann  Erginus  erreichen  sie  ihr  Ziel,  den 
Phasis.  Dort  war  bereits  wegen  des  Yliesses  zwischen  dem  König  Aeetes 
und  seinem  Bruder  Perses  ein  heftiger  Zwist  entstanden ;  Perses  war  ent- 
flohen und  mit  einem  Heer  zurückgekehrt,  um  seinen  Bruder  zu  bekriegen. 
So  standen  die  Dinge,  als  die  Argonauten  anlangten.  Jason  verlangt  von 
Aeetes  das  goldene  Vliess;  der  König  verbirgt  seinen  Zorn  über  dieses 
Verlangen  und  fordert  ver  allem  Hilfe  gegen  den  anwesenden  Feind  (5). 
Die  Argonauten  stellen  sich  auf  Seite  des  Königs.  Der  Dicht-er  schildert 
uns  die  herbeigeeilten  Völker,  die  sich  am  Krieg  beteiligen  und  führt  eine 
Reihe  von  Kampfesbildern  vor  unsere  Augen,  besonders  ragt  Jason  her- 
vor, er  ist  siegreich  gegen  Perses,  Juno  rettet  aber  den  Bedrängten,  in- 
dem sie  ihn  aus  dem  Getümmel  entführt.  Inzwischen  hatte  Juno,  den 
Gang  der  Ereignisse  voraussehend,  mit  Hilfe  der  Venus  der  Medea  heftige 


ValeriuB  Flaccns. 


301 


Liebe  zu  Jason  eingefiösst  (6);  denn  als  Jason  die  Früchte  seines  Bei- 
standes ernten  wollte,  zeigte  sich  Aeetes  wortbrüchig  und  verlangte,  dass 
Jason  das  Feld  des  Mars  mit  den  feuerschnaubenden  Stieren  bepflüge 
und  die  Drachenzähne  in  dasselbe  säe.  Jetzt  wird  Medea  die  Hauptträgerin 
der  Handlung.  Sie  hatte  einen  langen  Kampf  gekämpft  zwischen  der 
Liebe  zu  dem  Fremdling  und  der  Liebe  zu  Vater  und  Vaterland;  sie 
hatte  sich  —  so  war  es  der  Wille  der  Göttinen,  die  mächtig  eingegriffen 
hatten  —  für  Jason  entschieden  und  war  entschlossen,  ihn  vom  Untergang 
zu  erretten.  Mit  ihren  Zaubermitteln  vollzieht  Jason,  ohne  Schaden  zu 
nehmen,  die  aufgetragene  Arbeit;  die  Zauberei  der  Medea  bringt  die 
aus  der  Saat  emporgewachsene  Drachenbrut  schliesslich  dahin,  dass  sie 
sich  gegenseitig  hinmordet  (7).  Jetzt  galt  es,  sich  in  den  Besitz  des 
goldenen  Vliesses  zu  setzen,  Medea  schläfert  den  dasselbe  bewachenden 
Drachen  ein.  Jason  bemächtigt  sich  des  Vliesses,  und  Styrus  flieht  mit 
Medea  und  seinen  Genossen,  Der  Bruder  der  Medea,  Absyrtus,  und  ihr 
Verlobter  ziehen  zur  Verfolgung  aus.  Sie  holen  die  Argonauten  an  der 
Donaumündung  ein,  als  die  Hochzeit  zwischen  Medea  und  Jason  gefeiert 
wird.  Um  einen  Kampf  hintanzuhalten,  erregt  Juno  einen  heftigen  Sturm; 
Styrus,  der  trotzdem  den  Kampf  eröffnen  will,  versinkt  im  Meere,  Absyrtus 
belagert  die  Griechen  in  ihrer  Bucht.  Die  Argonauten  drängen  Jason,  die 
Medea  auszuliefern,  Medea  stürmt  mit  Gegenvorstellungen  auf  ihn  ein.  — 
Damit  bricht  das  Epos  ab. 

399.  Charakteristik  der  Argonautica.  Als  Valerius  Flaccus  den 
Plan  fasste,  die  Argonautensage  dichterisch  zu  gestalten  und  ,das  glän- 
zende Verdienst  des  VcRpasianus  um  die  Sicherung  der  römischen  Herr- 
schaft in  Britannien  und  die  Eröffnung  der  oceanischen  Schiffahrt  in  dem 
mythischen  Spiegelbilde  des  durch  die  Argo  eröffneten  Pontes  zu  verherr- 
lichen'', 0  konnte  er  sich  nicht  verhehlen,  dass  er  kein  jungfräuliches  Ge- 
biet vor  sich  habe.  Die  ganze  Sage  hatte  bereits  durch  ApoUonius  Rho- 
dius  ihre  poetische  Fassung  erhalten;  überdies  war  dieses  griechische  Werk 
von  Varro  Atacinus  in  lateinischer  Sprache  bearbeitet  worden  und  zwar 
wie  man  nach  den  Fragmenten  und  der  gleichen  Zahl  der  Bücher 
schliessen  muss,  in  engem  Anschluss  an  das  Original  (§  109).  Es  war 
also  keine  leichte  Aufgabe  hier  noch  Lorbeeren  zu  erringen.  In  der  Dar- 
stellung der  Sage  musste  sich  Valerius  natürlich  im  wesentlichen  an  den 
griechischen  Meister  halten;  allein  im  einzelnen  konnte  er  doch  Aende- 
rungen  genug  anbringen,  um  seiner  Schöpfung  den  Reiz  der  Neuheit  zu 
verleihen.^)  Diese  Abweichungen  von  ApoUonius  Rhodius,  wie  sie  in  den 
Argonautica  zu  Tage  treten,  genauer  zu  verfolgen,  ist  ausserordentlich  an- 
ziehend, da  wir  damit  einen  Blick  in  die  Werkstätte  des  Dichters  erhalten 
und  erkennen,  dass  er  nicht  selten  seine  Vorlage  wirklich  verbessert  hat. 
Besonders  glücklich  sind  jene  Neuerungen,  welche  zum  Zweck  haben,  die 


^)  Berhats,  Ges.  Abb.  2, 163  nnd  Anm., 
der  nocb  bemerkt,  dass  anch  die  Argonautica 
des  Varro  Atacinus  vielleicbt  durch  die 
gleichzeitigen  britannischen  Unternehmungen 
Julius  Caesars  angeregt  wurden.  E5stlin 
stellt  die  Ansicht  auf  (Philol.  48, 650),   dass 


die  Widmung  an  Yespasian,  wie  sie  jetzt 
vorliegt,  auf  einer  Umbildung  bei  einer 
zweiten  Ausgabe  beruht. 

')  Auch  liess  der  Dichter  manch  Römi- 
sches in  sein  Gedicht  einfliessen  (Köstlik, 
Philol.  48, 648). 


302    BömiBche  LitteratorgeschiGhte.    H.  Die  Zeit  der  Monarclde.    1.  Abteilang. 


Figur  des  Haupthelden  zu  heben  und  denselben  mit  reicherer  Thatkraft 
auszustatten.  £ine  solche  Neuerung  ist  der  ganze  Krieg  zwischen  Aeetes 
und  seinem  Bruder  Perses;  hier  konnte  der  Dichter  die  glänzende  Tapferkeit 
Jasons  mit  lebhaften  Farben  schildern ;  auch  bot  dieser  Kampf  noch  einen 
Vorteil  für  die  Komposition.  Jason  war  für  seine  Hilfe  von  Aeetes  das 
goldene  Vliess  versprochen  worden,  allein  der  hatte  sein  Versprechen  nicht 
gehalten;  diese  Treulosigkeit  gab  dem  Jason  gewissermassen  das  Recht, 
zu  den  Zaubereien  der  Medea  seine  Zuflucht  zu  nehmen.  Auch  die  Be- 
seitigung der  Kinder  des  Phrixus,  denen  ApoUonius  eine  nicht  unbedeutende 
vermittelnde  Thätigkeit  zugewiesen,  dient  dem  angegebenen  Zweck.  Andere 
Partien  wurden  hinzugefügt,  weil  sie  für  die  Entfaltung  der  dichterischen 
Kunst  besonders  geeignet  waren,  wie  die  Erzählung  vom  Tode  der  Eltern 
Jasons  im  ersten  Buch.  Nicht  selten  wurde  das  Original  gekürzt  und 
was  ApoUonius  reich  ausgeführt  hatte,  entweder  ganz  weggelassen  oder 
nur  mit  einigen  Strichen  angedeutet;  auch  der  umgekehrte  Weg  wurde 
eingeschlagen  und  Sagen  der  Vorlage  reicher  ausgeführt  wie  z.  B.  die  auf 
Lemnos  bezüglichen.  Kurz  überall  sehen  wir  den  Dichter,  wie  er  mit 
Freiheit  über  den  Stoff  schaltet,  wie  er  stets  bestrebt  ist,  nicht  als  blosser 
Nachtreter  zu  erscheinen.  Dass  er  ausser  ApoUonius  noch  andere  Quellen 
eingesehen,  ist  nicht  zweifelhaft,  so  hat  er  Manches  mit  Diodor  ^)  gemein- 
sam; allein  eine  Benützung  des  Historikers  ist  wegen  gewisser  Diskre- 
panzen ausgeschlossen,  es  gab  Kompendien  der  Mythologie  genug, ')  welche 
bequem  den  Stoff  darboten,  den  man  brauchte. 

In  der  formellen  Behandlung  musste  der  Dichter  seine  Blicke  auf 
VergiP)  richten;  durch  ihn  hatte  ja  die  epische  Technik  einen  hohen  Grad 
der  Ausbildung  erhalten;  in  den  Argonautica  stossen  wir  daher  fortwährend 
auf  die  Spuren  des  Meisters.  Aber  auch  die  Rhetorschule  ist  in  dem  Ge- 
dicht sehr  bemerkbar,  und  der  Dichter  benutzt  gern  die  Gelegenheit,  seine 
Helden  als  Redner  zu  zeigen.  Als  es  sich  darum  handelte,  ob  man  ohne 
Hercules  absegeln  solle,  fand  ein  förmlicher  Redekampf  statt,  und  Styrus 
hält  selbst  dem  Untergang  nahe,  noch  eine  Rede  (8,  337).  Auch  in  der 
Zeichnung  affektvoller  Scenen,  wie  im  Abschied  des  Jason,  konnten  rhe- 
torische Züge  verwertet  werden. 

Alles  zusammengefasst,  kann  man  dem  Römer  den  Preis  in  der 
Komposition  zuerkennen;  allein  in  der  Darstellung  gebührt  der  Vorzug 
dem  Griechen;  der  Stoff  ist  in  der  Nachahmung  zu  gestreckt,  und  der 
hochtrabende  Ton  und  das  fortwährende  schablonenhafte  Heranziehen  der 
Götter  verkümmert  mehrfach  den  Genuss.  Trotzdem  hat  das  Gedicht  viele 
Schönheiten  und  sein  Verfasser  steht  weit  über  Lucan  und  Silius  Italiens. 
Anklang  scheint  der  Dichter  bei  seinem  Volk  wenig  gefunden  zu  haben, 


1)  Vgl.  Thilo,  Ausg.  p.  VIII  z.  B.  die 
Befreiung  der  Hesione  durch  Hercules. 

')  Ich  erinnere  an  das  Kompendium,  das 
von  Diodor,  Apollodor,  Hygin  und  anderen 
benutzt  wurde  und  dessen  Entstehung  zwi- 
schen 100  und  50  y.  Ch.  fällt.  (Bethe, 
Quaest,  mythogr.  94  und  p.  96) ;  Wilamowitz 
{Eurip.  Herakles  1, 166)  nimmt  mit  Schwartz, 


De  Dionysio  Scytobrachione  p.  36  an,  dass 
„Valerius  Flaccus  die  mythologische  Gelehr- 
samkeit benutzt,  die  noch  heute  in  unserer 
Handschrift  des  ApoUonius  steht*. 

')  Vgl.beiBXHRENs(p.  174)  ein  Verzeich- 
nis der  nachgeahmten  Stellen.  Schbnkl,  Wiener 
Sitzungsber.  68,  271;  Manitiüs,  Philolog. 
48, 248. 


CariatiuB  Maternns.  303 

er  wird  nur  citiert  von  Quintilian,  Spuren  der  Lektüre  weist  der  eine  oder 
der  andere  Epiker  i)  auf. 

Ob  er  lieferung.  Massgebend  f&r  die  Texteskonstitnierung  ist  lediglich  der  Vati- 
canus  3277. 

Ausgaben  von  Thilo,  Halle  1863  (Hauptausgabe);  von  Schenkl  (Weidmann); 
Bahbens  (Teubner). 

Erläuterungsschriften:  Schekkl,  Studien  zu  den  Argonautica  des  V.  F.  (Sitzungs- 
her.  der  Wien.  Akad.  68  B.  271);  Ew.  Meier,  Quaest.  ArgonatUicae,  Leipziger  Diss.  1882 
(sorgfältig);  KEmrERKKECHT,  Zur  Argonautensage,  Bamb.  1887;  Peters,  De  C.  V.  F,  vUa  et 
carmine,  Königsb.  1890. 

11.  Curiatius  Maternus  und  andere  Tragödiendichter. 

400.  Die  Tragödien  des  Maternus.  Eine  der  schönsten  Figuren 
im  Dialog  des  Tacitus  ist  Curiatius  Maternus,  den  der  Sachwalterberuf 
nicht  befriedigt  und  dessen  Herz  bei  der  Dichtkunst  ist;  Tacitus  lässt 
ihn  daher  bei  der  Debatte,  ob  der  Dichtkunst  oder  der  Beredsamkeit  der 
Vorzug  einzuräumen  ist,  für  die  Dichtkunst  Partei  ergreifen.  Schon  unter 
Nero  hatte  er  eine  Tragödie  verfasst,  in  der  er  dem  schamlosen  Treiben 
des  Vatinius,  des  Günstlings  des  Kaisers,  entgegentrat  (Dial.  11);  wir 
kennen  nicht  den  Titel  des  Stücks,  wahrscheinlich  war  es  dasjenige,  in 
dem  Agamemnon  auftrat  (Dial.  9).  Ausserdem  hatte  er  eine  Medea  und 
einen  Thyestes  verfasst.  Allein  wichtiger  ist,  dass  er  auch  nationale 
Stoffe,  und  zwar  aus  der  unmittelbar  vorhergehenden,  tiefbewegten  Zeit 
dichterisch  verarbeitete,  also  wieder  an  die  alte  Prätexta  anknüpfte.  Es 
gab  von  ihm  einen  Cato  und  einen  Domitius  (Dial.  3).  Über  das  Sujet 
des  ersten  Stücks  ist  kein  Zweifel  möglich,  es  ist  der  jüngere  Gate.  Da- 
gegen ist  die  zweite  Figur  nur  hypothetisch  näher  zu  bestimmen.  Man 
dachte  an  Cäsars  Gegner  L.  Domitius  Ahenobarbus;  derselbe  hatte  bekannt- 
lich bei  Ausbruch  des  Bürgerkriegs  Corfinium  besetzt,  allein  seine  Soldaten 
meuterten  und  lieferten  ihn  an  Cäsar  £ftis;  dieser  begnadigte  ihn  und  liess 
ihn  frei,  allein  Domitius  benützte  die  Freiheit,  um  sich  wieder  auf  die 
Seite  der  Feinde  Cäsars  zu  schlagen;  er  kämpfte  bei  Massilia  und  bei 
Pharsalus,  wo  er  auf  der  Flucht  umkam.  Neuerdings  hat  man  vielmehr 
auf  seinen  Sohn  Cn.  Domitius  Ahenobarbus  als  eine  viel  geeignetere  tragische 
Hauptperson  hingewiesen.  Derselbe  spielt  in  der  Geschichte  des  zweiten 
Triumvirats  eine  hervorragende  Rolle.  Er  stand  auf  Seite  des  Brutus 
und  Cassius,  nach  der  Schlacht  bei  Philippi  blieb  er  zwei  Jahre  lang  im 
Besitz  einer  grossen  Flotte,  der  Gewalthaber  musste  mit  seiner  Macht 
rechnen.  Er  erlangte,  als  er  sich  an  Antonius  anschloss,  eine  einfluss- 
reiche Stellung.  Sein  Römerstolz  empörte  sich  aber  gegen  die  Buhlerin 
des  Antonius,  die  Eleopatra,  und  er  verhehlte  nicht  seine  tiefe  Abneigung 
gegen  dieselbe.  Als  Antonius  immer  mehr  an  Achtung  verlor,  tauchte 
der  Gedanke  auf,  Domitius  statt  seiner  emporzuheben;  allein  dieser  war 
damals  krank  und  daher  eines  Wagnisses  nicht  mehr  fähig;  nur  zu 
einem  neuen  Verrat  konnte  er  sich  aufraffen,  kurz  vor  der  Schlacht  bei 
Actium  trat  er  zu  Octavian  über.  Wenige  Tage  nach  seinem  Übertritt 
ereilte  ihn  aber  der  Tod.')    Dass  sich  dieser  Mann,  den  auch  Shakespeare 

')  Vgl.  die  erwähnte  Abhandlung  von  K.  *)  Vgl.  Dbümakn,  Geschichte  Roms  3, 24. 

ScHENKL,  ferner  Manitius,  Philolog.  48, 251. 


304    ^misohe  Litteratorgesohichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


in  „Antonius  und  Cleopatra '^  zu  einer  schönen  Gestalt  umgeschaffen,  besser 
für  eine  Tragödie  eignet  als  der  wenig  thatenreiche  Vater,  dürfte  keinem 
Zweifel  unterworfen  sein. 

Die  Persönlichkeit  des  Domitius.  Die  Beziehung  des  StQckes  auf  Gn.  Do- 
mitius  AhenobarbuB  hat  R.  Scholl  bei  Gelegenheit  einer  umsichtigen  Interpretation  von 
Dial.  13  {Comentat,  Woelfflinianae  p.  893)  wahrscheinlich  gemacht.  Unmöglich  ist  Bibts 
Hypothese  (Rh.  Mus.  34,  351),  dass  Domitius  und  Gato  nur  das  eine  StQck  Cato  bezeichneten, 
in  denen  die  Belagerung  Corfiniums  und  die  Belagerung  Uticas,  die  Ghuraktere  des  Do- 
mitius und  des  Gato  einander  als  Personifikationen  zweier  konträrer  Prinzipien  entgegen- 
gestellt worden  seien. 

Andere  Tragödiendichter.  Wir  reihen  hier  noch  andere  Tragödiendichter  an, 
von  denen  wir  nicht  mehr  wissen  als  ihre  Namen: 

1.  Scaeva^)  Memor,  der  Bruder  des  Satirendichters  Turnus  (Martial.  11, 10).  Zeug- 
nisse Über  ihn  und  Turnus  bei  Bücheleb  an  dem  in  der  Fussnote  citierten  Ort,  in  dem  capito- 
linischen  Agon  hatte  er  einen  Sieg  erfochten.  —  Hebtz,  De  Seaevo  Memore,  Bresl.  lo69. 

2.  Paccius  schrieb  nach  dem  Zeugnis  Juvenals  7,12  eine  Ale ithoe.  Der  Stoff  ist 
aus  der  Dionysossage,  Alcithoe  und  ihre  Schwestern  hatten  dem  Dionysos  die  Ehren  ver- 
sagt und  erhielten  di^r  ihre  Strafe. 

3.  Faustus  verfasste  nach  derselben  Juvenalstelle  eine  Thebais  und  einen  Tereus. 

4.  Rubrenus  Lappa  lieferte  einen  Atreus  (Juv.  7,  72). 

Von  den  meisten  Tragödien  dieser  Zeit  werden  die  Worte  gelten  können,  die  Martial 
einem  wohl  fingierten  Bassus  entgegenschleudert  (5,  53) : 

Colchida  quid  scribis,  quid  scribis,  amice  Thyesten? 

quo  tibi  vel  Nioben,  Basse,  vel  Andromachen? 
materia  est,  mihi  crede,  tuis  aptissima  chartis 
Deucalion  vel  si  non  placet  hie,  Phaethon. 

12.  Ti.  Catius  Silius  Italiens. 

401 .  Sein  Leben.  Ein  Brief  des  jüngeren  Plinius  (3, 7)  ist  unsere 
Hauptquelle  über  das  Leben  des  Silius  Italiens.  Es  ist  der  Brief,  in  dem 
er  einem  Freunde  den  Tod  des  Silius  Italiens  mitteilt.  Der  hatte,  nach- 
dem er  bereits  im  76sten  Lebensjahr  stand,  durch  den  Hungertod  sein 
Dasein  geendet  (101  n.  Gh.);  ein  unheilbares  Gewächs  hatte  ihn  zu  diesem 
Entschluss  geführt.  Die  Standhaftigkeit,  mit  der  er  denselben  durchführte, 
lässt  sofort  den  Stoiker  erkennen;  und  wirklich  erfahren  wir  aus  einer 
andern  Quelle,  dass  er  mit  dem  stoischen  Philosophen  Epiktet  Umgang 
hatte.  2)  Der  merkwürdige  Todesfall  wird  für  Plinius  Anlass,  auf  des 
Dichters  abgeschlossenes  Leben  einen  Blick  zu  werfen  und  einige  senti- 
mentale Betrachtungen  anzureihen.  Silius  bekleidete  das  Konsulat  im 
letzten  Regierungsjahr  Neros  (68  n.  Gh.);  er  stand  damals  in  keinem  guten 
Ruf;  man  hielt  ihn  für  einen  gehässigen  Ankläger.  Auch  in  den  nach- 
folgenden Thronstreitigkeiten  spielte  er  eine  aktive  gepriesene  Rolle;  er 
nahm,  wie  uns  des  Näheren  Tacitus  angibt  (Hist.  3,  65),  an  einer  Konferenz, 
welche  der  Bruder  Vespasians  Flavius  Sabinus  mit  Yitellius  hatte,  als 
Beistand  des  Yitellius  Teil.  Dann  verwaltete  er  rühmlich  als  Prokonsul 
Asien.  Hierauf  zog  er  sich  von  dem  öffentlichen  Leben  zurück  und  brachte 
seine  Zeit  grösstenteils  in  seinem  Studierzimmer  zu,  wo  er  sich  mit 
Schriftstellerei  beschäftigte  oder  mit  Freunden  gelehrte  Gespräche  führte. 
Nur  hie  und  da  trat  er  zu  einer  Recitation  in  die  Öffentlichkeit.  Als  die 
zunehmenden  Jahre  das  Bedürfnis  der  Ruhe  noch  steigerten,  verliess  er 


^)  So  BücHELBR^  Ausgabe   des  Persius 
und  Juvenal  p.  227. 


')  Epictet.  diss.  3, 8, 7.    (Bücbbleb,  Rh. 
Mus.  35, 390). 


Süins  ItaUona.  305 

die  Stadt  und  zog  sich  nach  Gampanien  zurück.  Er  lebte  in  den  behag- 
lichsten Verhältnissen  und  war  sehr  für  den  äusseren  Schmuck  des  Da- 
seins eingenommen.  Ja  es  war  hier  sogar  ein  krankhafter  Zug  an  ihm 
wahrzunehmen,  der  ihn  drängte,  immer  neue  Erwerbungen  zu  machen.  So 
kaufte  er  Villen  um  Villen,  über  den  neuen  vernachlässigte  er  die  alten. 
Auch  viel  Bücher,  Statuen,  Gemälde  hatte  er  zusammengebracht.  Besonders 
teuer  waren  ihm  die  Bildnisse  Vergils,  dessen  Geburtstag  er  mit  grösserer 
Feierlichkeit  als  den  seinigen  beging.  Von  den  zwei  Söhnen,  welche  er 
hatte,  starb  der  eine,  Severus,  vor  seinem  Vater,  der  andere  brachte  es 
zum  Konsulat. 

Das  ist  im  wesentlichen  der  Bericht  des  Plinius  von  dem  Leben 
des  Dichters;  ausser  Plinius  hat  der  arme  Dichter  Martialis  ein  aufmerk- 
sames Auge  auf  den  vornehmen  Römer  und  feiert  ihn  adulatorisch 
als  rednerische  und  dichterische  Zierde  (7,  63).  Durch  ihn  erfahren  wir 
noch  einige  Lebensumstände,  wie  dass  unter  den  Villen  des  Dichters 
sich  eine  der  ciceronischen  befand,  ferner  dass  er  das  Grab  Vergils  be- 
sass  (11,  48),  endlich  dass  er  mit  seinem  Epos  nach  seinem  Konsulat  be- 
gann (7,63). 

Den  vollständigen  Namen  Ti.  Gatius  Silios  Italiens  erfahren  wir  aus  den  fasti  der 
sodales  Augustales  (CIL.  VI  1984,  9).  Daraas,  dass  Martialis  Silius  niemals  seinen  Lands- 
mann nennt,  ist  mit  Sicherheit  zu  folgern,  dass  der  Beiname  „Italiens*  nicht  von  „Italica" 
in  Spanien  hergenommen  ist.  —  Seine  Verehrung  Vergils  findet  ihre  Erklärung  in  dem 
Gedicht  des  Silius,  das  ganz  auf  Nachahmung  jenes  grossen  Meisters  heruht.  Dem  schwärme- 
rischen Bewunderer  Vergils  widmete  Comutus  seinen  Vergilkommentar  (Gharis.  p.  125). 

'  402.  Kurze  Inhaltsangabe  der  Pnnica.  Die  Erzählung  hebt  mit 
den  Ereignissen  in  Spanien  an,  mit  dem  Auftreten  Hannibals  vor  Sagunt 
und  endet  im  ersten  Buch  mit  der  Anrufung  der  römischen  Hilfe  durch 
die  Saguntiner.  Die  Einmischung  Roms  führt  zum  Krieg  gegen  Karthago. 
Nach  heldenmütiger  Verteidigung  fällt  Sagunt  (zweites  Buch).  Im 
dritten  Buch  bricht  Hannibal  auf,  überschreitet  die  Pyrenäen  und  die 
Alpen  und  lagert  mit  seinem  Heere  in  Italien.  Das  vierte  Buch 
schildert  die  Kämpfe  gegen  die  Konsuln  Scipio  und  Tib.  Sempronius 
Longus.  Hannibal  zieht  über  die  Apenninen  und  verliert  bei  diesem  Zug 
ein  Auge.  Die  Schlacht  am  trasimenischen  See  ist  Gegenstand  des 
fünften  Buchs.  Der  sechste  Gesang  enthält  eine  grosse  Episode,  die 
Erzählung  von  den  Thaten  des  Regulus  im  ersten  punischen  Krieg,  und 
berichtet  dann  die  Wahl  des  Q.  Fabius  Maximus  zum  Feldherrn  und  den 
Zug  Hannibals  nach  Gampanien.  Im  siebenten  Buch  werden  wir  mit 
der  zaudernden  und  vorsichtigen  Strategie  des  römischen  Diktators  und 
mit  dem  fast  verhängnisvoll  ausschlagenden  Versuch  des  Minucius,  diese 
Strategie  zu  durchkreuzen,  bekannt  gemacht.  Das  achte  Buch  bringt 
die  Vorbereitungen  zur  Schlacht  bei  Gannae,  das  neunte  und  zehnte  be- 
schreiben die  Schlacht  selbst.  Im  elften  Buch  sehen  wir  Hannibal  in 
Gapua.  Mit  dem  zwölften  Buch  beginnt  Hannibals  Stern  niederzugehen; 
Marcellus  schlägt  ihn  bei  Nola.  Doch  weiss  Hannibal  nochmals  das  Glück 
an  seine  Fahnen  zu  heften,  ja,  er  erscheint  sogar  vor  Rom.  Das  drei- 
zehnte Buch  führt  Belagerung  und  Fall  Gapuas  vor,  streift  dann  kurz 
den  Tod  der  beiden  Scipionen  Publius  und  Gneius  in  Spanien  und  er- 

Eandbncb  der  Uum,  AltertnmawUMeDMbftft.    Vm.    2.  Teil.  20 


306    Bömische  Lüteraturgeschichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


zählt  dann  die  Totenschau,  die  Scipio,  dem  späteren  Africanus,  in  Cumae  zu 
Teil  wurde.  Im  vierzehnten  Buch  ist  der  Schauplatz  des  Gedichts 
Sicilien,  Marcellus  erobert  Syrakus,  das  sich  durch  die  genialen  Apparate 
des  Archimedes  lange  gehalten.  In  Spanien  —  fährt  das  fünfzehnte 
Buch  fort  —  beschreitet  P.  Scipio  seine  Ruhmeslaufbahn  und  erobert  Neu- 
karthago. Hasdrubal  wendet  sich  nach  Italien,  um  sich  mit  seinem  Bruder 
zu  vereinigen.  Allein  der  Konsul  Claudius  Nero  marschiert,  ohne  dass 
es  Hannibal  merkt,  zu  seinem  Kollegen  Livius  Salinator,  beide  schlagen 
Hasdrubal  am  Metaurus.  Das  sechzehnte  Buch  ist  fast  ganz  Scipios 
Thaten  im  spanischen  Krieg  gewidmet;  eine  Episode  sind  die  zu  Ehren 
der  gefallenen  Scipionen  veranstalteten  Leichenspiele.  Das  siebzehnte 
Buch  führt  die  Entscheidung,  die  Schlacht  bei  Zama,  herbei. 

AbfasBungszeit  des  Gedichts.  Aas  Martial  7,63  müssen  wir  scbliessen,  dass 
damals,  als  dieses  Epigramm  geschrieben  wurde,  Teile  der  Punica  bereits  vorlagen,  denn 
der  Dichter  spricht  von  legis.  Das  Buch  7  der  Epigramme  des  Martial  fällt  aber  Ende 
92.  Weiter  ist  zu  beachten,  dass  Punica  3, 607,  welche  Stelle  sich  auf  Domitian  bezieht, 
nicht  vor  92  geschrieben  sein  kann.  Allein  das  Buch  14  weist  am  Schluss  auf  die  Ke- 
gierungszeit  Nervas.  Da  aber  nicht  anzunehmen  ist,  dass  die  folgenden  Bücher  in  zwei 
Jahren  abgefasst  wurden,  so  wird  der  Schluss  des  ganzen  Werkes  in  die  Zeit  Trajans 
fallen  (Schikkel  p.  2;  Buchwald,  Quaest,  SiL^  Breslau  Dissert  1886,  der  auch  die  Be- 
ziehungen des  Statins  zu  Silius  untersucht;  Gartault,  Bevue  de  philoL  p.  11,  14). 

403.  Beurteilung  des  Oedichts.     Lucanus  griff  in  die  jüngstver- 
gangene Zeit,  als  er  sich  den  Stoff  für  sein  Epos  suchte;  0  glücklicher  ver- 
fuhr Silius,   indem  er  in  die  altersgraue  Vergangenheit  hinaufstieg  und 
eine  Glanzepoche  der  römischen  Geschichte,  den  zweiten  punischen  Krieg 
zum  Thema  seines  Gedichts  erkor.    Dieser  bedeutsame  Ringkampf  zweier 
Völker  um  die  Weltherrschaft  gehörte  sicherlich  zum  römischen  Sagen- 
schatz; ein  dichterisches  Talent  konnte  wirklich  hier  Gold  aus  dem  Schacht 
emporheben.    Allein  dies  war  nur  möglich,  wenn  in  einer  von  dichterischer 
Phantasie  umwobenen  Episode,  wie  z.  B.  in  der  Geschichte  der  Sophonisbe 
ein  Spiegel  der  ganzen  Zeit  mit  ihren  auf-  und  abwogenden  Kämpfen  vor- 
gehalten wurde.    Allein  für  eine  solche  Aufgabe  war  Silius  nicht  geeignet; 
die  schöpferische  Dichterkraft  war  ihm  völlig  versagt;  es  blieb  ihm  daher 
nichts  anders  übrig  als  dem  Laufe  der  Geschichte  geradlinig  zu  folgen« 
Ausgedehnte  Quellenstudien  waren  bei  einem  solchen  Stoffe  nicht  erforder- 
lich, Livius  hatte  eine  meisterhafte  Darstellung  dieser  Epoche  gegeben, 
die  wohl  Gemeingut  geworden  war.    Diesen  konnte  er  sich  zum  Führer 
nehmen;  da  er  aber  Dichter,  nicht  Historiker  sein  wollte,  so  durfte  er 
sich  auch  die  eine  oder  die  andere  Änderung  an  der  Überlieferung  er- 
lauben.   Aber  die  Hauptaufgabe  des  Dichters  blieb,  dem  Ganzen  ein  poeti- 
sches Kolorit  zu  geben,  dazu  diente  die  durch  Vergil  traditionell  gewordene 
epische  Maschinerie.    Die  Götterwelt')  musste  in  den  Krieg  hereingezogen 
werden.     Juno  steht  auf  Seite  Hannibals,  Venus  auf  Seite  der  Römer. 
Diese  Göttinnen  greifen  in  die  Handlungen  ein,  besonders  thätig  ist  Juno; 
sie  entflammt  Hannibals  Hass  gegen  Rom  und  ruft  dadurch  den  zweiten 
punischen  Ejieg  hervor  (1,  55),  sie  bleibt  von  der  Stunde  der  Entscheidung 


*)  Ober  die  Motive  zur  Wahl  dieses 
Themas  vgl.  die  Vermutungen  ScmivKEi's 
{Quaettt.  Sil.,  Leipz.  1883  p.  9). 


')  ScHiNKEL  p.  23  (de  deorum  ministeriis 
Punicorum  carmini  insertis). 


Bilins  Italiens.  307 

an  sein  treuer  Schutzgeist,  sie  feuert  ihn  zu  neuen  Thaten  an,  indem  sie 
die  Gestalt  des  Seegottes  Trasimenus  annimmt  (4,  727),  sie  sendet  die 
Nymphe  Anna  Perenna,  seinen  Mut  aufzurichten  (8, 28),  sie  warnt  ihn 
durch  Somnus  nach  der  Schlacht  bei  Cannae  vor  dem  verwegenen  Plan, 
nach  Rom  aufzubrechen  (10,  349),  späterhin,  als  er  vor  der  Hauptstadt 
stand,  bestimmt  sie  ihn  auf  Juppiters  Ersuchen,  vom  Sturm  abzulassen 
und  abzuziehen  (12,691);  bei  Zama  in  der  Entscheidungsschlacht  entzieht 
sie  ihren  Schützling  dem  Scipio,  indem  sie  ihm  Gaukelbilder  gegenüber- 
stellt (17,  523);  bei  Cannae  entführt  sie  den  Karthager  in  einer  Wolke  (9, 
484);  auch  im  zehnten  Buch  nimmt  sie  eine  Entführung  in  der  Schlacht  vor 
(10,  83).  Nicht  so  sehr  tritt  Venus  hervor,  allein  auch  sie  ist  nicht  unthätig. 
Als  Hannibal  die  Alpen  überschritt,  fleht  sie  Juppiter  um  Erbarmen  für 
die  Römer  an  (3,  557);  sie  erwirkt  von  Vulkan,  dass  er  die  aus  ihren 
Ufern  heraustretende  Trebia  vertrocknet  (4,  669),  sie  wirkt  mächtig  auf 
die  Entscheidung  des  Krieges  insofern  ein,  als  sie  Hannibal  durch  die 
Lockungen  der  Freude  in  Capua  festhält  und  auf  diese  Weise  einen  ver- 
weichlichenden Zug  ins  karthagische  Heer  bringt  (11,  387).  Auch  der 
Göttervater  begleitet  fortwährend  das  kriegerische  Drama  mit  seinen  Rat- 
schlüssen und  macht  sich  zum  Vollstrecker  des  ewigen  Schicksals.  An 
der  denkwürdigen  Schlacht  bei  Cannae  beteiligen  sich  auch  die  Götter  in 
gegenseitigem  Kampf,  Mars  hilft  Scipio,  Minerva  dem  Punier  (9,  439). 
Allein  diese  Götterwelt  lässt  uns  kalt,  blutlose  Schemen  werden  uns  vor- 
geführt. Auch  die  übrige  epische  Maschinerie  vermag  uns  nicht  in  das 
lichte  Reich  der  Poesie  zu  tragen,  sie  ist  überdies  eine  Anleihe,  die  zu- 
nächst bei  dem  Meister  Vergil,  >.)  hie  und  da  direkt  auch  bei  dem  Vater  der 
Poesie,  Homer  selbst,  gemacht  wurde.  Wie  Vergil  hat  er  seine  Leichen- 
spiele (16, 289),  seine  XJnterweltscene  (13, 395),  seine  Schildbeschreibung 
(2,  395),  seine  Völkerkataloge  (3, 222  u.  8, 358),  seine  Heldenjungfrau  (2,  56) ; 
wie  Vergil  durch  die  Erzählung  des  Aeneas  bei  der  Dido  eine  Episode 
gewinnt,  so  Silius  durch  die  Schilderung  der  Thaten  des  Regulus  (6  B.); 
wie  Vergil,  so  sucht  auch  der  Nachahmer  die  VergsTngenheit  und  die 
Gegenwart  miteinander  zu  verbinden.  Juppiter  enthüllt  der  Venus  die 
Zukunft  Roms  (3, 570) ;  dadurch  findet  der  Dichter  die  erwünschte  Ge- 
legenheit, auch  dem  herrschenden  Geschlecht  seine  servile  Huldigung  vor 
die  Füsse  zu  legen. 

Also  weder  in  Stoff  noch  in  der  Komposition  leuchtet  uns  der  dich- 
terische Funken  entgegen;  Silius  ist  kein  produktiver  Geist;  er  ist  ledig- 
lich ein  fleissiger  Arbeiter.  Die  Rhetorschule  hatte  ihn  die  Kunst  der 
Beschreibung  und  die  Kunst  der  Rede  gelehrt;  für  beide  Gattungen  bot 
ihm  sein  Stoff  reichen  Anlass,  die  Schlachtbeschreibungen  nehmen  einen 
breiten  Raum  im  Gedicht  ein,  aber  auch  Reden  werden  hie  und  da  einge- 
streut. Freilich  die  Gebrechen  der  Zeit,  die  Übertreibung,  das  Hervor- 
suchen des  Wunderbaren  und  das  Verlieren  in  Einzelheiten,  das  Pathos 
findet  man  auch  bei  Silius.  Der  Dichter  hatte  ferner  in  der  Philosophie 
sich  umgesehen  und  zu  der  Stoa  feste  Stellung  genommen;^)    er  konnte 

0  Qbobsst,   Qi4aienu8  S.  J.  a   Vergilio  ^)  BOcheleb,  Rh.  Mus.  35, 390. 

pendere  Hdentur,  Halle  1887.  1 

20* 


308     Römische  LitteratargOBchichte.    tl.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

daher  auch  die  Früchte  seiner  Gelehrsamkeit  seinem  Werke  zu  gute 
kommen  lassen ;  und  er  hat  dies  gethan ;  er  lässt  seinen  Scipio  am  Scheide- 
weg wie  einst  Hercules  stehen;  die  Voluptas  und  die  Yirtus  streiten  sich  um 
den  Helden,  der  natürlich  sich  der  Virtus  in  die  Arme  wirft  (15, 20).  Manch- 
mal wirkt  das  Hereinziehen  dieser  gelehrten  Reminiszenzen  störend.  Als 
Hannibal  die  Sehenswürdigkeiten  des  Herculestempels  in  Gades  betrachtet 
hatte,  wendet  er  seine  Aufmerksamkeit  der  Naturerscheinung  der  Ebbe 
und  Flut  zu  (3,  46).  Als  die  Kriegsoperationen  nach  dem  Abmarsch  Han- 
nibals  aus  Capua  sich  in  die  Länge  zogen,  findet  er  Zeit,  sich  über  ver- 
schiedene Merkwürdigkeiten  der  Gegend  über  den  Lucrinersee,  über  den 
See  Avernus,  über  den  Vesuv  zu  unterrichten  (12, 110).  Endlich  konnte 
der  Dichter  noch  seinem  Patriotismus,  seiner  Bewunderung  der  alten  Zeiten, 
die  ihm  einmal  den  spitzen  Ausruf  entlockte  (10,  658) 

haec  tum  Borna  fuit;  post  te  cui  vertere  mores 
9%  atabat  fatis,  potius,  Karthago,  maneres, 

den  richtigen  Ausdruck  leihen.  Aber  eines  konnte  er  nicht,  weil  er  es 
nicht  hatte,  er  konnte  nicht  dem  Leser  den  Zauber  süsser  Poesie  ge- 
währen. 

Über  seine  Quellen  und  sein  Verhältnis  zu  den  Originalen  handeln  Cosack, 
Quaest,  Sil,,  Halle  1844;  Wezel,  De  Sil.  Jt,  cum  fontibus  tum  exemplis,  Leipz.  1873.  Dass 
Livius  benutzt  werden  muaste,  ist  von  vornherein  klar.  Der  Versuch  Hbthachebs  (Die 
Quellen  des  S.  I.,  Hfeld  1874  und  im  Ilfeider  Programm  des  J.  1878),  nicht  Livius,  sondern 
einen  alten  Annalisten  wie  Fabius  Pictor  als  Quelle  festzustellen,  haben  mit  Recht  zurück- 
gewiesen Schlichteisen,  De  fide  hist.  Silii,  Konigsb.  1881;  Kerer,  Über  die  Abh&ngigkeit 
des  S.  I.  von  Livius,  Bozen  1880/1;  van  Veen,  Quaest.  Sil,,  Leyd.  1884;  Bauer,  Acta  semin.. 
Erlang.  3, 103.  Der  eine  oder  der  andere  Autor  mag  von  S.  noch  eingesehen  worden  sein, 
die  grösste  Zahl  der  Abweichungen  hat  in  der  poetischen  Freiheit  ihre  Wurzel. 

Zur  Beurteilung  des  Dichters  ist  sehr  dienlich  eine  Reihe  von  Aufsätzen  des 
Italieners  Occioni,  die  jetzt  bequem  vereinigt  sind  in  dessen  Scritti  di  letteratura  latina 
1891  p.  29—175  (siehe  besonders  Pregi  et  defetti  p.  86,  Varte  in  S.  L  p.  141).  Derselbe 
Gelehrte  hat  auch  eine,  soweit  ich  beurteilen  kann,  geschmackvolle  Übertragung  der  Punica 
ins  Italienische  geliefert. 

Überlieferung.  Silius  Italiens  wurde  nicht  viel  gelesen.  Im  Mittelalter  kam  er 
ganz  in  Vergessenheit.  Das  Konzil  von  Konstanz  wurde  wie  für  andere  Schriftsteller,  so 
auch  für  Silius  heilbringend.  Im  Jahre  1416  oder  1417  fand  Poggio  oder  sein  Begleiter 
Barthol.  di  Montepulciano  in  St.  Gallen  eine  Handschrift  des  Dichters.  Von  diesem  Kodex 
wurde  eine  Abschrift  mit  nach  Italien  genommen,  die,  wie  das  Original,  verloren  ging;  aus  ihr 
stammen  alle  unsere  vorhandenen  Handschriften  und  die  älteren  Ausgaben.  Da  trat  gegen 
Ende  des  16.  Jahrhunderts  eine  neue  alte  Handschrift  des  S.  in  Köln  zu  Tage.  Leider 
ging  auch  diese  Handschrift  verloren ;  doch  haben  sich  die  wichtigsten  Lesarten  durch  An- 
gaben des  L.  Carrion  und  F.  Modius  und  anderer  erhalten.  Die  Recensio  des  Silius  hat 
daher  zunächst  zwei  Aufgaben  zu  lösen  1)  Rekonstruktion  des  Coloniensis  aus  den  mitge- 
teilten Lesarten;  2)  Rekonstruktion  des  Sangallensis  aus  den  von  ihm  stammenden  Apo- 
grapha  (Laur.  37, 16  u.  a.).  Zur  Feststellung  des  Archetypus  ist  dann  die  Wertschätzimg 
der  beiden  Quellen  vorzunehmen,  der  Coloniensis  scheint  treuer  zu  sein  als  der  Sangal- 
lensis. Die  Geschichte  der  Überlieferung  hat  mit  rühmenswertem  Eifer  verfolgt  Blass, 
Die  Textesquellen  des  S.  L,  Fleckeis.  Jahrb.  Supplem.  8,  159. 

Ausgaben.  Von  den  älteren  kommen  noch  in  Betracht  die  von  Drakekborch 
Utrecht  1717  und  die  von  Ruperti  Gott.  1795.  1798  2  Bde.  Eine  kritische  Textesausgabe 
auf  Grund  des  von  Blass  gesammelten  Materials  hat  Bauer  veranstaltet  I  vol.  (I—X) 
Leipz.  1890. 

401.  Die  lateinische  Ilias.  Seit  Livius  Andronicus  die  Odyssee  in 
lateinische  Saturnier  übertragen  und  diese  Übertragung  zum  Schulbuch 
gemacht  hatte  (§  23),  musste  sich  auch  das  Bedürfnis  nach  einer  lateinischen 
Bearbeitung  der  Dias  regen.  Zumal  durch  die  damals  offiziell  gewordene 
Äencassage  werden  sich  mehr  und  mehr  die  Blicke  auf  jenes  Epos  gelenkt 


Die  lateinische  Ilias. 


309 


haben.  Die  zu  lösende  Aufgabe  war  keine  leichte;  es  ist  daher  kein 
Wunder,  dass  sie  von  verschiedenen  Seiten  in  Angriff  genommen  wurde. 
Zwei  solcher  Versuche  sind  uns  bereits  bekannt  geworden,  der  des  Matius 
und  der  des  Ninnius  Crassus  (§  90).  Allein  dieselben  scheinen  keinen  be- 
sonderen Erfolg  gehabt  zu  haben.  Auch  in  der  Kaiserzeit  wurde  das 
Problem  zu  lösen  versucht;  Attius  Labeo  übersetzt  nicht  bloss  die 
Ilias,  sondern  auch  die  Odyssee,  aber  Wort  für  Wort,  ohne  sich  um  den 
Sinn  viel  zu  kümmern.  Er  musste  daher  den  Spott  des  Perßius  in  der 
ersten  Satire  über  sich  ergehen  lassen.  Anderer  Art  scheint  die  Arbeit 
des  Polybius,  des  Freigelassenen  des  Claudius,  gewesen  zu  sein.  Seneca 
preist  ihn  nämlich,  dass  er  Vergil  und  Homer  einem  grösseren  Publikum 
erschlossen  habe.  Diese  Gleichstellung  Vergils  und  Homers  in  der  Leistung 
lässt  eher  auf  eine  prosaische  Bearbeitung  schliessen.  Alle  die^e  Versuche 
hat  die  Zeit  hinweggerafft.  Dagegen  hat  eine  lateinische  Ilias  sich  sieg- 
reich hindurch  gerettet.  Dieselbe  besteht  aus  1070  Hexametern;  davon 
fallen  251  Verse  auf  die  zwei  ersten  Bücher  der  Ilias,  über  die  Hälfte 
der  Verse  (537)  kommt  auf  die  fünf  ersten  Bücher.  Dem  17.  Gesang  des 
Originals  sind  drei,  dem  13.  sieben  Verse  gewidmet,  dem  22.  dagegen 
sechzig.  Schon  aus  diesen  wenigen  Angaben  erhellt,  dass  die  Bearbeitung 
den  Stoff  des  Originals  in  sehr  ungleicher  Weise  heranzieht.  Anfangs  schliesst 
der  Autor  sich  enger  an  dasselbe  an,  im  Laufe  der  Dichtung  aber  nimmt 
er  starke  Kürzungen  vor.  Dadurch  entstehen  manche  Unklarheiten  (z.  B. 
789.  790).  Aber  auch  Abweichungen  von  seiner  Vorlage  gestattet  sich 
derselbe  mehrfach.  0  Endlich  nimmt  er,  besonders  in  Reden  und  Schlacht- 
beschreibungen *)  auch  die  Gelegenheit  zu  Erweiterungen  wahr.  Wir 
haben  sonach  eine  freie  Bearbeitung  der  Ilias  vor  uns,  keine  Über- 
Setzung.  Dass  dieselbe  die  Schönheiten  des  Originals  fast  gar  nicht 
zur  Erscheinung  bringen  kann  und  nicht  selten  ein  dürres  Gerippe  werden 
muss,  ist  klar.  Aber  das  Ganze  ist  doch  ein  lesbares,  nicht  gerade  ge- 
ring zu  schätzendes  Produkt;  der  Versbau  regelt  sich  nach  strenger  Ge- 
setzmässigkeit, der  Wortschatz  verrät  die  eifrige  Lektüre  Vergils  und 
Ovids. 

Attius  Labeo.  Schol.  zu  Fers.  1,4  Labeo  transtulU  Iliada  et  Odysseam,  rerhum 
ex  verhOy  ridicide  satis,  quod  verba  patius  quam  settsum  secuttis  sit.  Vgl.  schol.  zu  Ys.  49 
(Accio  Labeoni)  und  Ys.  51 ;  vgl.  Büchelbr,  der  mit  Recht  annimmt  [Rh.  Mus.  39,  289],  dass 
der  von  Persius  einmal  Labeo,  dann  Attius  Genannte  dieselbe  Person  ist. 

Polybius.  Seneca  Conaol.  ad  Polyb,  8,  2  Homerus  et  Vergilius  tarn  bene  de  humano 
genere  meriti,  quam  tu  et  de  omnibus  et  de  Ulis  meruisti,  quos  pluribus  notos  esse  voluisti 
quam  scripaerant.  11,5  utriua  Übet  auctoris  carmina,  quae  tu  ita  resolviati,  ut  quamvia 
atructura  illorum  receaaerit,  permaneat  tarnen  gratia  etc. 

Die  Yergleichung  der  Ilias  Latina  mit  Homer  ist  durchgeführt  von  Döring, 
Über  den  Homerua  latinua,  Strassb.  1884. 

405.  Zeit  und  Autor  der  Ilias.  Das  Gedicht  wurde  wahrscheinlich 
schon  im  Altertum  als  Schulbuch  benutzt; 3)  auch  im  späteren  Mittelalter 
wurde  es  in  den  Schulen  viel  gelesen  und  zwar  unter  dem  Namen  „Ho- 
merus".   Da  wird  zuerst,  soweit  wir  sehen  können,  im  Jahre  1087  plötz- 


M  Döring,  Über  den  Hom.  lat.  p.  13. 
Vergl.  die  Zusammenstellung  von  Plbssis 
p.  XXXI. 


»)  Döring  1.  c.  p.  19  (Vs,  474). 
»)  Bährbns,  PLM.  3,  3. 


310     Römische  Litteratnrgeschiolite.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnsg. 


lieh  die  Wahl  zwischen  Homer  und  Pindar  als  Autor  des  Gedichts  ge- 
lassen.^) Nun  schleicht  sich  der  Name  Pindarus  auch  in  jüngere  Hand- 
schriften ein.')  Von  den  Handschriften  kam  der  Pindarus  (oder  Pindarus 
Thebanus)  in  die  Ausgaben.  Noch  niemand  hat  zu  erklären  vermocht, 
wie  Pindar  zu  der  Autorschaft  dieser  lateinischen  Ilias  kommen  konnte; 
über  die  Unsinnigkeit  derselben  ist  kein  Zweifel.  Als  man  in  neuerer 
Zeit  das  Werkchen  wieder  in  die  Hand  nahm,  wurde  auch  die  Frage  der 
Abfassungszeit  erwogen.  Mit  Recht  hat  man  als  Grundlage  für  diese 
Frage  die  Stelle  899  fg.  erkannt:») 

Quem  {Aeneam)  nisi  servasset  magnarum  rectar  ctquarum, 
ut  profugus  laetis  Troiam  repararet  in  arvis 
augustumque  genua  clarift  aubmitteret  astris, 
non  carae  gentis  nobis  mansisset  origo. 

Diese  Verse  konnten  nicht  nach  dem  Tode  Neros  geschrieben  sein.  Auch 
Sprache  und  Versbau  wies  auf  die  erste  Kaiserzeit  hin.  Der  Untersuchung 
kam  ein  glücklicher  Zufall  zu  Hilfe.  SeyflFert^)  entdeckte,  dass  das  Ge- 
dicht mit  einem  Akrostichon  begann,  das  trotz  einer  Verderbnis  den  Namen 
Italiens  an  die  Hand  gab.  Man  zweifelte  eine  Zeitlang,  ob  unter  diesem 
Namen  der  A^erfasser  oder  eine  angeredete  Person  sich  verberge.*)  Diesem 
Schwanken  machte  die  Entdeckung  Büchelers^)  ein  Ende,  der  am  Schluss 
des  Gedichts  das  Akrostichon  „scripsU"  aus  der  ebenfalls  verdorbenen  Über- 
lieferung eruierte.  Wer  ist  dieser  Italiens?  Kennen  wir  einen  Schrift- 
steller, der  um  jene  Zeit  diese  lateinische  Ilias  schreibei;!  konnte?  Ja,  Silius 
Italiens,  der  im  letzten  Regierungsjahr  Neros  Konsul  war.  Man  hat 
zwar  aus  Martial  (7,  63)  sehliessen  wollen,'')  dass  Silius  Italicus  erst  nach 
seinem  Konsulat  sich  der  Dichtkunst  widmete,  allein  wie  aus  dem  Eingang 
des  Epigramms  erhellt,  bezieht  sich  dies  nur  auf  die  Punica.  Man  hat 
weiter  die  Differenzen  des  Versbaus  zwischen  der  Ilias  latina  und  der 
Punica  eingewendet;  allein  es  ist  nicht  unnatürlich,  dass  Silius  in  der 
Ilias,  einem  Jugendwerk,  sich  strenger  an  die  Vorschriften  der  Schule  hielt 
als  in  dem  Werk  seiner  reifen  Mannesjahre.  Unter  allen  Umständen  wäre 
es  doch  sehr  auffällig,  dass  so  ziemlich  zu  derselben  Zeit  ein  zweiter 
Dichter  mit  dem  Namen  Italicus  lebte,  von  dem  sonst  niemand  etwas 
weiss. 

« 

Die  beiden  Akrosticha.  Nach  der  handschriftlichen  Überlieferung  ergibt  das 
Anfangsakrostichon  Italices,  das  Schiassakrostichon  Scqipsit.  Obwohl  sonach  in  den 
beiden  Akrostichen  Remedur  eintreten  muss,  so  kann  doch  gar  kein  Zweifel  an  der  Rich- 
tigkeit der  Entdeckung  aufkommen,  denn  die  Verse,  aus  denen  die  Akrostichen  gebildet 
wurden,  sind  zu  festen  Gruppen  zusammengeschlossen.  £in  Zufall  ist  hier  absolut  ausge- 
schlossen. 

Die  Punica  und  die  Ilias  latina.  Die  Zweifel,  ob  der  Italiens  unser  Silius 
Italicus  ist,  scheinen  nicht  begründet  zu  sein ;  der  Vergleich  mit  den  Punica  muss  natOrlich 
viele  Differenzen  ergeben,   da  sie  in  eine   ganz  andere  Entwickelungsperiode  des  Dichters 


0  Monum.  Germ.  13,  599. 

*)  Plessis  Ausg.  p.  XLVIII. 

")  Man  vgl.  noch  v.  236  u.  483.  Lach- 
mann verdanken  wir  die  Erkenntnis  dieser 
Grundlage ;  nur  schliesst  er  irrig  auf  die  Zeit 
vor  Tiberius  (KI.  Sehr.  p.  161);  vgl.  dagegen 
L.  Müller,  Philol.  15, 479. 

*)  Müwk-Sbyffbbt,   Gesch.  d.  röm,  Lit. 


2, 242  (1877).  Dieses  Anfangsakrostichon  hatte 
früher  auch  Prof.  Caesar  in  Marburg  er- 
kannt (Altenburg  p.  2). 

^)  Hebtz,  Zeitschr.  f.  d.  Gvmnasialw. 
31,  572;  FriedlILkdeb,  Sittengesch.  1,  p.  XX. 

«)  Rh.  Mus.  35, 391  (1880). 

')  Bähbens  1.  c.  p.  3. 


Pi^iniiia  Staüns. 


311 


fallen.  —  Mit  dieser  Frage  beschäftigt  sich  Döring,  Über  den  Homerus  laiinus,  Strassb. 
1884,  noch  ausführlicher  De  Silii  Italici  epitomes  de  metrica  et  genere  dicendi,  Strassb. 
1886  (für  Identität,  aber  methodisch  oft  anfechtbar);  gegen  ihn  Vebres,  De  S,  L  Punicia 
et  Italici  Iliade  lat.,  Münster  1888;  Eskuche,  Rh.  Mus.  45,  254;  Altbnbubo,')  Obs.  in  Italici 
Iliad.  lat.  et  Silii  Italici  Punic.,  Marb.  1890. 

Die  handschriftliche  Überlieferung  erörtert  Bährevs  vor  der  Ausgabe  PLM. 
3, 5,  der  8  Handschriften  herangezogen  vgl.  Plessis  XLI.  Die  hervorragendsten  sind  ein 
Erfurtenais  Ampl&n.  nr.  20  s.  XII  und  ein  Leidenaia  Voss.  L.O.  89  s.  XII.  —  Ausgaben:  von 
L.  Müller,  Berl.  1857;  von  Plessis,  Paris  1885. 


13.  P.  Papinius  Statius  und  andere  Epiker. 

406.  Biographisches.  Statius'  Heimat  ist  Neapel,  wo  sein  Vater, 
der  aus  Yelia  (S.  5,  3, 126)  stammte,  als  Lehrer  und  Dichter  thätig  war. 
Seine  Schule,  in  der  die  griechischen  Dichter  in  erstaunlicher  Anzahl  be- 
handelt wurden  (S.  5,  3, 148),  war  stark  besucht,  selbst  Knaben  aus  luca- 
nischen  und  apulischen  Städten  eilten  herbei.  Als  Dichter  hatte  er  in 
vielen  Wettkämpfen,  selbst  in  Griechenland,  den  Siegespreis  davongetragen 
(S.  5,  3, 141).  Der  Brand  des  Kapitels  im  Bürgerkrieg  des  Jahres  69  war 
von  ihm  dichterisch  gestaltet  worden,  auch  hatte  er  noch  ein  Gedicht  über 
den  bekannten  Ausbruch  des  Vesuv  (79  n.  Ch.)  geplant,  allein  der  Tod 
liess  ihn  nicht  zur  Ausführung  desselben  kommen  (S.  5,  3,  205).  Unter 
den  Augen  des  Vaters  betrieb  auch  der  Sohn  die  Dichtkunst,  für  sein 
Hauptwerk,  die  Thebais,  wurde  ihm  von  dessen  Seite  fördernde  Anregung 
zu  Teil  (S.  5,  3,  233).  Der  Vater  hatte  die  Freude,  noch  den  Sieg  des 
Sohnes  bei  dem  Wettkampf  an  den  Augustalien')  in  Neapel  zu  erleben 
(S.  5,  3,  225).  Nach  dessen  Tod  errang  dieser  noch  einen  Sieg  bei  dem  von  Do- 
mitian  eingerichteten  albanischen  3)  Wettkampf  und  zwar  durch  Gedichte  auf 
die  germanischen  und  dacischon  Feldzüge  Domitians  (S.  3, 5, 28;  4, 5, 22;  4,2, 
G5).^)  Dagegen  glückte  es  dem  Dichter  nicht,  bei  dem  kapitolinischen  Agon  ^) 
den  Siegespreis  zu  gewinnen.  Diese  Niederlage  schmerzte  ihn  tief,  und 
wir  werden  die  Vermutung  wagen  dürfen,  dass  ihm  infolgedessen  der 
Aufenthalt  in  Rom  verleidet  war.  Da  wir  den  Dichter  im  Jahre  95  in 
Neapel  finden,  so  wird  er  bei  dem  Wettkampf  von  94  unterlegen  sein. 
Vermählt  war  Statius  mit  einer  Witwe,  einer  Römerin  Claudia,  die  eine 
Tochter  mit  in  die  Ehe  brachte;  Statius  selbst  war  kinderlos  (S.  5,5,79). 
Seine  äusserlichen  Verhältnisse  scheinen  nicht  dürftig  gewesen  zu  sein; 
wenigstens  besass  er  ein  Gut  bei  Alba  (S.  3,  1,  61). 

Statius  war  epischer  Dichter.  Sein  Hauptwerk  war  die  Thebais,  der 
Kampf  der  Brüder  Eteokles  und  Polynikes.  Ausser  diesem  schrieb  er 
noch  eine  Achilleis,  die  aber  nicht  zur  Vollendung  kam,  dann  Gelegen- 
heitsgedichte, die  er  unter  dem  Namen  „sUvae^  zu  einzelnen  Büchern  ver- 


')  Altbnbubo  geht  vom  Wortschatz  aus, 
allein  was  er  beihringt,  entbehrt  oft  der 
flberzeugenden  Kraft.  Was  soll  es  für  einen 
Unterschied  ausmachen,  wenn  die  Ilias  in- 
spicere  gebraucht,  Silius  aber  inspectare  (vgl. 
p.  20),  oder  wenn  die  Epitome  interimere, 
exarnare,  exquirere,  Silius  dagegen  perimere, 
adornare  (p.  22  u.  p.  24),  inquirere  (p.  27) 
setzt? 


^)  Fbieblandeb,  Sittengesch.  3",  425. 

*)  Fbiedlaitdbb,  Sittengesch.  S'^,  428. 

^)  Dass  nicht  an  drei  Siege  zu  denken 
und  statt  ter  8,5,28  mit  Politian  ^tu''  zu 
lesen,  ist  mit  unumstösslichen  Beweisen  von 
Kerckhoff  p.  28  dargethan  worden. 

^)  FriedlIndeb,  Sittengesch.  3^,  42G,  der 
erste  Sieger  in  diesem  Agon  war  Collinus 
(Martial.  4, 54). 


312     Bömisclie  Litteratnrgesollichte,    II,  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteüimg. 

einigte;  den  ersten  vier  gehen  prosaische  Widmungen  voraus,  in  denen  er 
die  in  dem  betreffenden  Buch  vereinigten  Stücke  aufzählt.  Andere  Werke 
gingen  verloren. 

Die  verlorenen  Gedichte  des  Statins  sind: 

1)  Der  Pantomimus  Agave,  den  er  für  den  Tänzer  Paris  schrieb  und  fOr  welchen 
er  ein  gutes  Honorar  erhielt.  Da  Paris  84  von  Domitian  hingerichtet  wurde,  so  wird  das 
Produkt  in  die  erste  Regierungszeit  Domitians  fallen  (Juv.  7, 87). 

2)  Das  Epos  über  den  germanischen  Krieg  Domitians.  In  den  Scfaolien  des 
G.  Valla  zu  Juv.  4,  94  werden  vier  Hexameter  als  aus  dem  Papinii  Statu  carmen  de  hello 
Domitiano  quod  Domitianus  egit  entnommen  angeführt.  In  jenen  Versen  handelt  es  sich 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  um  eine  Beratung,  zu  der  Grispus,  Yeiento  und  Acilius  bei- 
gezogen waren.  Seine  Absicht,  die  Thaten  Domitians  zu  besingen,  deutet  der  Dichter  mehr- 
fach an;  so  Thebais  1, 17;  bestimmter  stellt  er  das  Epos  in  Aussicht  Ach.  1, 18  te  longo 
nee  dum  fidente  parata  molimur,  magnusque  tibi  praeludit  Achilles;  ebenso  Silv.  4, 4, 93 
nunc  —  mihi  temptatur  Achilles,  sed  vocat  arcUenens  alio  pater  armaque  monstrat  Ausonii 
maiora  ducis  .  trahit  impetus  illo  iam  pridem  retrahitque  timor  (Bücheleb,  Rhein.  Mus. 
39,  283).    Die  Abfassung  des  Gedichts  muss  in  die  letzte  ^it  der  Regierung  Domitians  fallen. 

Litteratur:  Nohl,  Quaest,  Stat.,  Berlin  1871  (tüchtige  Dissertation);  Kerckhoff, 
Dtiae  quaest,  Papinianae,  Berlin  1884;  (I  de  vita  operumquae  Stat,temp.  II  de  St€Uii  fa- 
cultate  extemporali);  Fbiedläitder,  Sittengesch.  3«  472  u.  479;  LEHAjeorEUR,  De  Statu  vita 
et  operihuSf  La  Rochelle  1878  (unkritische  Kompilation). 

407.  Skizze  der  Thebais.  Nach  der  mit  einer  Schmeichelei  gegen 
Domitian  verbundenen  Einleitung,  nach  der  Darlegung  des  Bruderzwistes 
und  des  Ratschlusses  des  Juppiter  werden  wir  an  den  Hof  des  Adrastus 
geführt.  Dort  in  der  Vorhalle  der  Königsburg  hatten  der  in  der  Ver- 
bannung lebende  Polynikes  und  Tydeus,  der  Sohn  des  Oeneus  von  Kalydon, 
der  wegen  einer  Mordthat  flüchtig  gegangen  war,  in  einer  stürmischen 
Nacht  Zuflucht  gesucht  und  waren  wegen  des  Lagers  in  Streit  geraten. 
Auf  ihr  Geschrei  eilte  Adrastus  herbei  und  versöhnte  die  Streitenden,  so 
dass  beide  die  treuesten  Freunde  wurden;  zugleich  erkannte  er  in  den 
beiden  Fremdlingen  die  ihm  vom  Orakel  bestimmten  Schwiegersöhne.  Beim 
Mahle  erzählt  er  die  Sage  von  der  Liebe  Apollos  zu  der  Tochter  des 
Königs  Crotopus.')  Dies  der  Inhalt  des  ersten  Buchs.  Das  zweite  be- 
ginnt mit  dem  Gang  Mercurs  in  die  Unterwelt;  er  hat  den  Auftrag,  den 
Laius  heraufzuholen  und  nach  Theben  zu  bringen,  damit  er  den  Eteokles 
gegen  seinen  Bruder  aufstachele.  In  Argos  wird  der  eheliche  Bund  der 
Töchter  des  Adrastus  mit  Tydeus  und  Polynikes  geschlossen,  zugleich  ver- 
spricht der  König  seinen  Schwiegersöhnen,  sie  in  die  Heimat  auf  den 
Thron  zurückzuführen.  Zunächst  wird  Tydeus  nach  Theben  geschickt,  um 
den  Eteokles  zu  bestimmen,  dem  Abkommen  gemäss  die  Herrschaft  seinem 
Bruder  für  ein  Jahr  abzutreten  und  während  dieser  Zeit  selbst  in  der 
Verbannung  zu  leben.  Allein  Eteokles  weigert  sich  dessen  und  begeht 
sogar  den  Frevel,  dem  nach  Argos  zurückkehrenden  Tydeus  einen  Hinter- 
halt zu  legen,  welcher  böswillige  Anschlag  aber  durch  die  Tapferkeit  des 
Helden  vereitelt  wurde.  In  dem  folgenden,  dritten  Gesang  erfahren  wir 
die  Grösse  des  Blutbads,  das  Tydeus  angerichtet,  und  den  tiefen  Eindruck, 
den  die  Vereitelung  der  Nachstellung  in  Theben  gemacht.  Nach  dieser 
Schandthat  ist  der  Krieg  nicht  mehr  zu  vermeiden.  Durch  die  Erzählung 
des  heimgekehrten  Tydeus  wurden  die  Gemüter  furchtbar  erbittert.    Be- 


*)  Pbbllbb,  Griech.  Myih.  1,  379. 


Papisiiia  BtaüiiB«  313 

sonders  Kapaneus,  der  Götterverächter,  drängt  zum  Aufbruch  und  obwohl  der 
Seher  Amphiaraus  grauenvolle  Anzeichen  wahrgenommen  hatte,  reisst  jener 
alles  durch  seine  Rede  mit  sich  fort.  Auch  Adrastus,  von  der  Gemahlin 
des  Polynikes  aufgestachelt,  vermag  der  allgemeinen  Bewegung  nicht 
Widerstand  zu  leisten.  Mit  dem  vierten  Buch  treten  wir  in  die  Eriegs- 
rüstungen  ein;  der  Dichter  macht  uns  mit  den  sieben  gegen  Theben  ziehenden 
Helden  und  ihren  Streitkräften  bekannt.  Auch  in  den  böotischen  Oi*ten 
regt  sich  die  Kriegslust.  In  Theben  selbst  ist  dagegen  die  Stimmung  eine 
gedrückte.  Eteokles  wendet  sich  daher  an  den  Seher  Tiresias.  Dieser 
nimmt  eine  Beschwörung  der  Unterwelt  vor,  welche  Scene  mit  aller  Aus- 
führlichkeit beschrieben  wird.  Dieselbe  findet  ihren  Gipfelpunkt  in  der 
Erscheinung  des  Laius,  den  Merkur  längst  wieder  in  die  Unterwelt  zurück- 
gebracht hatte.  Dieser  verheisst  zwar  Theben  den  Sieg,  deutet  aber  zu- 
gleich in  geheimnisvoller  Weise  auf  einen  Doppelmord  (604).  Inzwischen 
waren  die  argivischen  Helden  nach  Nemea  gekommen,  damit  (652)  be- 
ginnt die  grosse,  sich  durch  mehrere  Bücher  hindurchziehende  Episode  von 
der  Hypsipyle.  Um  sein  geliebtes  Theben  zu  schützen,  hatte  Bakchus  mit 
Hilfe  der  Wassernymphen  eine  furchtbare  Wassernot  über  das  argivische 
Heer  verhängt.  Beim  Suchen  nach  Quellen  stossen  die  Helden  auf  Hy- 
psipyle mit  ihrem  Pflegekind,  dem  Sohn  des  Lycurgus,  Opheltes,  der 
späterhin  in  bezeichnender  Weise  Archemorus  genannt  wurde,  und  flehen 
sie  um  einen  Trunk  an.  Diese  legt  das  Kind  in  das  Gras  und  führt  sie 
zu  der  Langia.  Das  folgende  fünfte  Buch  spinnt  die  Episode  weiter. 
Hypsipyle  erzählt  dem  Adrastus  ihre  früheren  Schicksale,  wie  die  Lem- 
nerinnen  die  Männer  hingemordet,  wie  sie  durch  List  ihren  Vater  gerettet 
habe,  wie  sie  die  Herrschaft  übernommen,  wie  die  Frauen  später  mit  den 
gelandeten  Argonauten  in  Verkehr  traten,  wie  sie  selbst  dem  Jason  Zwil- 
linge geboren,  wie  die  Rettung  des  Vaters  bekannt  geworden  sei  und 
dieses  Vorkommnis  sie  zur  Flucht  gedrängt  habe,  wie  sie  endlich  auf 
ihrer  Fahrt  von  Seeräubern  aufgegriffen  und  an  ihren  jetzigen  Aufenthalts- 
ort gebracht  worden  sei.  Gewiss  eine  spannende  Erzählung,  allein  während 
derselben  vergass  sie  des  ihr  anvertrauten  Kindes;  und  das  Unglück  wollte, 
dass  dasselbe  von  einer  Schlange  getötet  wurde.  Wutentbrannt  wollte 
der  Vater  Lycurgus  über  die  Hypsipyle  herfallen,  allein  er  wurde  vom 
argivischen  Heere  daran  gehindert.  Mitten  in  der  Verwirrung  werden 
auch  die  beiden  Söhne  der  Hypsipyle  entdeckt,  welche  auf  der  Suche  nach 
ihrer  Mutter  waren.  Der  Seher  Amphiaraus  verkündet,  dass  das  Andenken 
des  Archemorus  durch  die  nemeischen  Spiele  für  alle  Zeiten  aufrecht  er- 
halten werde.  Diese  Spiele,  wie  die  ihnen  vorausgegangene  Leichenfeier 
schildert  des  sechste  Buch.  Das  folgende,  siebente  bringt  den  Krieg, 
der  über  den  Festlichkeiten  ganz  in  den  Hintergrund  getreten  war,  wieder 
in  Fortgang.  Juppiter  hatte  nämlich  dem  Mars  den  Befehl  zukommen 
lassen,  seines  Amtes  zu  walten.  Infolgedessen  erwacht  wiederum  der 
kriegerische  Eifer  unter  den  argivischen  Helden.  Gerüchte  von  dem  Anzug 
des  feindlichen  Heeres  gelangen  zu  den  Ohren  des  Eteokles.  Derselbe  be- 
sichtigt seine  Streitkräfte  und  hält  eine  Ansprache  an  dieselben.  Auf  der 
Mauer  zeigt  Phorbas  der  Antigene  die    böotischen  Heerführer  und  ihre 


314    Römische  Litteratnrgesoliiohte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Leute.  Unterdessen  war  auch  Adrastus  vor  den  Thoren  Thebens  er- 
schienen. Jokaste  macht  noch  einen  Versuch  zur  Versöhnung,  allein  der- 
selbe wird  durch  das  Eingreifen  des  Tydeus  zum  Scheitern  gebracht.  Plötz- 
lich prallen  Thebaner  und  Argiver  aneinander.  Nach  einigen  Schlacht- 
bildern schliesst  das  Buch  mit  der  Versenkung  des  Amphiaraus  in  die 
Unterwelt.  Über  diesen  Einbruch  eines  Lebenden  in  die  Unterwelt  —  so 
fährt  das  achte  Buch  fort  —  ist  der  Heri'scher  der  Schatten  empört;  er  ver- 
kündet, dass  Tisiphone  durch  den  gegenseitigen  Brudermord  und  anderes  diese 
Frevelthat  sühnen  werde.  Aber  auch  das  argivische  Heer  gerät  über  das 
Verschwinden  des  Sehers  in  grosse  Bestürzung.  Nachdem  der  zum  Nach- 
folger des  Amphiaraus  erkorene  Thiodamas  ein  feierliches  Opfer  veran- 
staltet hatte,  wogt  aufs  neue  der  Kampf.  Unter  den  Opfern  der  Thebaner 
befand  sich  Atys,  der  Verlobte  der  Ismene;  sterbend  wird  derselbe  zu 
seiner  Braut  gebracht,  welche  ihm  die  Augen  schliesst;  doch  der  herbste 
Verlust  trifft  das  fremde  Heer  in  dem  Tod  des  Tydeus,  der  nach  ge- 
waltigen Heldenthaten  von  Melanippus  hingestreckt  wurde.  Sein  heissester 
Wunsch  ist,  noch  vor  seinem  Ende  den  Kopf  seines  Gegners  vor  sich  zu 
sehen.  Diesen  Wunsch  erfüllt  ihm  Kapaneus,  der  den  Melanippus  herbei- 
schleppt. Tydeus  lässt  ihm  den  Kopf  abschlagen  und  nicht  genug,  dass 
der  Sterbende  sich  an  dem  Anblick  desselben  labt,  schändet  er  seine 
Heldenruhm  dadurch,  dass  er  ins  feindliche  Haupt  biss  und  dessen  Blut  trank. 
Das  neunte  Buch  schildert  die  ungeheure  Erbitterung,  welche  die  The- 
baner ob  dieser  Greuelthat  erfasste.  Auf  der  andern  Seite  ist  Polynikes 
über  den  Tod  seines  treuen  Freundes  Tydeus  aufs  äusserste  erschüttert 
und  mutlos;  er  konnte  nur  durch  das  Dazwischentreten  des  Adrastus  vom 
Selbstmord  abgehalten  werden.  Hippomedon  schützt  die  Leiche  des  Tydeus, 
allein  Tisiphone  zog  ihn  durch  die  falsche  Angabe,  dass  Adrastus  in 
grosser  Gefahr,  von  demselben  ab;  dadurch  kam  sie  in  die  Hände  des 
Feindes.  Gleichwohl  wendet  sich  Hippomedon  aufs  neue  gegen  die  Thebaner; 
es  entbrennt  ein  heftiger  Kampf  am  Fluss  Ismenos,  in  welchem  auch  der 
Sohn  der  Nymphe  Ismenis,  Krenaeus,  den  Tod  findet.  Jetzt  braust  auch 
der  Flussgott  Ismenos  auf.  Hippomedon  wird  endlich  am  Ufer  durch  einen 
Hagel  von  Geschossen  niedergestreckt.  Hypseus  nimmt  dem  gefallenen 
Helden  die  Waffen  ab,  wird  aber  von  Kapaneus  getötet.  Dann  erscheint 
auf  dem  Kampfplatz  der  jugendliche  Parthenopaeus,  dessen  Fall  vom 
Dichter  zu  einem  schönen  Bild  ausgestattet  wird.  Vier  Heerhaufen  der 
Argiver  waren  jetzt  ihrer  Führer  beraubt;  die  Lage  des  Adrastus  war 
sonach  eine  verzweifelte.  Da  half,  wie  uns  das  zehnte  Buch  erzählt, 
Juno  auf  die  heissen  Bitten  der  argivischen  Frauen,  sie  beauftragte 
den  j^Schlaf,  Idas  thebanische  Heer  in  tiefen  Schlummer  zu  versenken. 
Dies  geschah.  Zu  gleicher  Zeit  fordert  der  von  einer  Verzückung  be- 
fallene Seher  Thiodamas  die  Argiver  zur  Rache  auf.  Eine  kleine  Schar 
macht  sich  unter  seiner  Führung  ans  Werk  und  richtet  ein  fürchterliches 
Blutbad  an.  Hopleus  und  Dymas  suchen  hiebei  die  Leichen  ihrer  Herren, 
des  Tydeus  und^des  Parthenopaeus  zu  bergen,  allein  sie  werden  von 
Amphion  ertappt,  den  Hopleus  rafft  ein  tödlicher  Wurf  dahin,  Dymas 
stürzt  sich  in  sein  Schwert.    Am  Tage  eröffnen  die  Argiver  einen  Sturm 


Papinins  StatiuB.  315 

auf  die  Mauern  von  Theben.  Infolgedessen  entsteht  in  der  Stadt  eine  be- 
denkliche Gährung.  Der  Seher  Tiresias  fordert  den  Sohn  Kreons  Menoekeus 
als  unumgänglich  notwendiges  Opfer.  Unbekümmert  um  die  eindring- 
lichen Vorstellungen  seines  Vaters  opfert  sich  der  wackere  Jüngling  für 
sein  Vaterland.  Jetzt  erfüllt  sich  auch  das  Geschick  des  Eapaneus;  er  be- 
steigt einen  Turm  der  Mauer;  seinen  Worten  macht  wie  seinem  Leben 
ein  Blitzstrahl  des  Juppiter  ein  Ende.  Das  elfte  Buch  führt  endlich 
zur  Spitze  des  ganzen  Gedichts,  zum  gegenseitigen  Mord  der  Brüder 
Eteokles  und  Polynikes.  Zu  dem  Zweck  werden  die  zwei  Furien,  die  Ti- 
siphone  und  die  Megaera,  in  Bewegung  gesetzt.  Sie  walten  ihres  Amtes, 
Tisiphone  beim  König,  Megaera  bei  Polynikes.  Dem  König  wird  bei  einem 
Opfer  gemeldet,  dass  ihn  sein  Bruder  zum  Zweikampf  auffordere.  Kreon, 
der  den  Verlust  seines  geliebten  Menoekeus  nicht  verschmerzen  konnte, 
drängt  unter  heftigen  Worten  zu  demselben;  auf  der  andern  Seite  sucht 
Jokaste  den  Eteokles  und  Antigene  den  Polynikes  von  dem  unseligen 
Schritte  abzuhalten.  Doch  da  stürmte  schon  Eteokles  aus  dem  Thore  und 
damit  ist  der  Kampf  eröffnet,  ein  letzter  Versuch  des  Adrastus,  die  Gegner 
zu  trennen,  misslingt.  Polynikes  stösst  dem  Bruder  das  Schwert  in  den 
Leib;  dieser  getroffen  greift  zur  letzten  Tücke;  absichtlich  fiel  er  zu  Boden, 
um  den  Glauben  zu  erwecken,  dass  er  völlig  tot  sei.  Als  Polynikes  sich 
über  ihn  bückte,  um  ihm  die  Rüstung  abzuziehen,  stiess  Eteokles  ihm  den 
Stahl  in  die  Brust.  Über  die  Leichen  wirft  sich  Oedipus,  wehklagend, 
dass  sein  Fluch  so  rasch  sich  erfüllt  habe.  Jokaste  tötete  sich.  Nun  be- 
steigt Kreon  den  Thron  und  beginnt  von  Herrscherübermut  ergriffen,  sein 
Regiment  mit  tyrannischen  Massregeln,  er  untersagt  die  Bestattung  der 
gefallenen  Argiver  und  verweist  den  Oedipus  des  Landes.  Auf  der  Anti- 
gene Vorstellungen  mildert  er  die  Strafe  dahin,  dass  er  Oedipus  den  Ki- 
thaeron  als  Aufenthaltsort  anwies.  Das  argivische  Heer  ergreift  in  der 
Nacht  die  Flucht.  Das  zwölfte  Buch  enthält  die  Strafe  Kreons  für  sein 
unbarmherziges  Vorgehen.  Die  Thebaner  verbrennen  die  Leichen  ihrer 
gefallenen  Landsleute;  die  Argiver  bleiben  unbestattet  liegen,  darunter 
auch  Polynikes.  Vom  Schmerz  getrieben  wollen  sich  die  argivischen  Frauen 
nach  Theben  begeben;  unterwegs  begegnet  ihnen  aber  Ornytus  und  teilt 
ihnen  mit,  dass  Kreon  die  Leichen  der  Argiver  nicht  bestatten  lassen 
werde;  er  verweist  sie  zugleich  auf  Theseus  als  den  Mann,  der  Kreon  zur 
Menschlichkeit  zu  zwingen  vermöchte.  Die  Meinungen  der  Frauen  schwanken, 
da  macht  die  Gemahlin  des  Polynikes  Argia  den  Vorschlag,  sie  wolle 
allein  nach  Theben  wandern,  indess  die  übrigen  Frauen  ihr  Anliegen  dem 
Theseus  vortragen  sollten.  Dieser  Vorschlag  wird  angenommen.  Auf  dem 
Schlachtfelde  trifft  Argia  mit  der  Antigene  bei  der  Leiche  des  Polynikes 
zusammen.  Sie  waschen  zusammen  den  gefallenen  Helden  und  verbrennen 
ihn.  Wächter  erscheinen,  ergreifen  die  zwei  Schuldigen,  die  sich  gegen  das 
Gebot  des  Königs  vergangen  hatten,  und  führen  sie  zu  Kreon.  Im  folgenden 
führt  uns  der  Dichter  zuerst  nach  Athen.  Dort  war  Theseus  von  Skythien 
siegreich  zurückgekehrt;  er  erblickt  die  Frauen  am  Altar  der  Schutz- 
flehenden und  fragt  nach  ihrem  Begehr.  Als  er  von  der  Unmenschlich- 
keit Kreons  Kunde  erhielt,  entbrannte  er  in  Zorn,  sammelte  ein  Heer  und 


316    Römisohe  LitteratargeBchiohte.    n.  Die  Zeit  der  Monarohie.    1.  Abteilang. 


führte  es  gegen  Theben.  In  dem  Kampf  fällt  Kreon.  Der  Bestattung  der 
Leichen  steht  jetzt  nichts  mehr  entgegen;  sie  wird  in  Gegenwart  der 
argivischen  Frauen  vollzogen. 

408.  Würdigung  der  Thebais.  Statins  schliesst  sein  Epos  mit  den 
Worten : 

durabisne  procul  dominoqm  legere  superstes, 
0  mihi  bissenos  muUum  vigilctta  per  annos 
Thehal?  iam  certe  praesens  tibi  Fama  benignum 
stravit  iter  coepitque  novam  manstrare  futuris, 
iam  te  magnanimus  dignatur  noscere  Caesar, 
Itala  iam  studio  discit  memoratque  iuventus, 
vive,  precor;  nee  tu  divinam  Aeneida  tempta, 
sed  longe  sequere  et  vestigia  semper  adora. 
moXy  tibi  si  quis  adhuc  praetendit  nubUa  livor, 
occidet,  et  meritf  post  me  referentur  honores. 

Aus  diesen  Worten  ersehen  wir,  dass  schon  bei  Lebzeiten  des  Dich- 
ters die  Thebais  Aufsehen  erregte.  Die  nacheinander  veröffentlichten 
einzelnen  Gesänge  wurden  von  der  Schuljugend  auswendig  gelernt,  und 
Juvenal  berichtet,  dass  Statins,  wenn  er  seine  Thebais  recitierte,  allge- 
meinen Zulauf  fand  (7,  82).  Aber  der  Epiker  wird  von  der  Hoffnung  ge- 
tragen, dass  ihm  auch  die  Zukunft  angehören  werde.  Zum  Teil  wenigstens 
ist  er  in  dieser  Hoffnung  nicht  betrogen  worden.  Im  Mittelalter  wurde 
das  Gedicht  aufs  eifrigste  gelesen,  davon  zeugen  die  vielen  Handschriften, 
in  denen  uns  dasselbe  überliefert  ist,  und  die  Scholien,  welche  sich  zu 
denselben  erhalten  haben.  Das  hohe  Ansehen,  dessen  sich  der  Dichter  in 
jenen  Zeiten  erfreute,  erhellt  ganz  besonders  aus  der  Rolle,  *)  welche  Dante 
ihm  in  der  göttlichen  Komödie  einräumte.  Es  ist  eine  schöne  Stelle,  in  der 
Statins  mit  Vergil  zusammentrifft  und  ihm  in  begeisterten  Worten  kundgibt 
(Purg.  22,  64),  dass  dessen  Schöpfungen  das  Feuer  der  Poesie  in  ihm  ent- 
fachten und  dass  Vergil  ihn  zu  den  Höhen  des  Parnass  geleitet.  Allein 
die  moderne  Zeit  teilt  diese  Bewunderung  für  den  Neapolitaner  nicht  mehr. 
Seit  uns  der  Zauber  des  Hellenentums  gepackt,  kann  uns  die  rhetorische 
Poesie  nicht  mehr  erwärmen.  Und  so  ist  auch  die  Thebais  jetzt  fast  ein 
totes  Produkt,  das  nicht  viele  Leser  mehr  an  sich  zieht.  Eine  kurze 
Würdigung  des  Gedichts  wird  den  Beweis  erbringen,  dass  dessen  Verfasser 
mit  Recht  die  Ungunst  der  Gegenwart  getroffen.  Sein  Epos  schöpft  den 
Stoff  aus  einem  Mythenkreis,  der  mit  den  Römern  in  keiner  Weise  in 
Verbindung  gebracht  werden  konnte.  Diese  Sage  war  überdies  dichterisch 
in  der  mannigfaltigsten  Weise  ausgestattet  worden.  In  der  Heroenzeit 
hatten  mehrere  Epen,  die  Oedipodie,  des  Amphiaraus  Ausfahrt,  die  The- 
bais mit  der  Fortsetzung  ,»die  Epigonen  *",  die  Alkmeonis  den  Grund  ge- 
legt.^) Auf  denselben  bauten  sich  die  späteren  Epen  auf,  vor  allem  das 
stoffreiche  Gedicht  des  Antimachos  von  Kolophon,  der  durch  den  Beifall 
Piatos  für  den  Mangel  an  Anerkennung  von  anderer  Seite  sich  reichlich 
entschädigt  erachtete.  3)    Auch  die  Tragödie  schöpfte  aus  dem  reichen  Born, 


^)  Vgl.  über  denselben,  um  auf  das  zu- 
nächstliegende Buch  zu  verweisen,  Goxpa- 
RETTi,  Vergil  im  Mittelalter,  übers,  von 
DÜTSCHKE  p.  199. 

')  Den  Versuch,    diese  Epen    zu   kon- 


struieren, macht  Bethe  in  seiner  lehrreichen 
Schrift  „Thebanische  Heldenlieder",  Leipzig 
1891  (p.  35). 

')  Spätere  Bearbeiter  der  thebanischen 
Sage  sind  Antagoras  von  Rhodos  und  Mene- 


PkpiDiiu  SUtinB.  B17 

wir  erinnern  nur  an  die  thebanischen  Stücke  des  Sophokles,  an  die  Sieben 
von  Äeachylua,  an  die  Phoenissen  und  die  Schutzäehenden  von  Euripides. 
Selbst  die  Römer  streckten  die  Hände  nach  der  reichen  Tafel  aus;  Pon- 
ticus  schrieb,  wie  wir  aus  Proporz  wissen,  ein  thebanisches  Heldenlied, 
das,  wie  es  scheint,  von  Kadmus  bis  zum  Epigonenzug  reichte; '}  auch  der 
unter  dem  Namen  .Lynceus'  sich  bergende  Dichter  scheint  eine  Thebais 
geschrieben  zu  haben;  ■)  der  Tragiker  Seneca  endlich  behandelte  den  Sagen- 
kreis in  seinen  Phoenissen.  So  zahlreich  waren  die  Vorgänger  des  Statius. 
Der  Muhe,  den  Stoff  erst  auficufinden  und  zu  einem  Ganzen  zu  verbinden, 
war  also  der  Dichter  Qberhoben.  Es  konnte  sich  nur  um  kleine  Modi- 
fikationen und  kleine  Verschiebungen  handeln.  Der  Aufbau  machte  ihm 
keine  Schwierigkeiten,  da  er  dem  Gang  der  Erzählung  folgte  und  den 
Mythus  von  Anfang  an  zur  Darstellung  brachte.  Statius  wollte  es  dem 
Vergil  gleichthuD,  denn  dieser  war  sein  dichterisches  Ideal;  er  schloss  sich 
daher  schon  beim  Aufriss  des  Ganzen  an  den  grossen  Vorgänger  an.  Die 
Aeneis  umfasste  zwölf  Bflcher;  auch  unser  Epiker  gliedert  seinen  Stoff  in 
zwölf  Gesänge.  Noch  mehr.  In  der  Aeneide  hebt  das  siebente  Buch, 
also  die  zweite  Hälfte  mit  der  Darstellung  der  Kämpfe  an,  auch  Statius 
lässt  ersb  mit  dem  siebenten  Buch  die  Kämpfe  vor  Theben  beginnen. 
Freilich  ist  durch  diese  Gliederung  ein  MissverhäUnis  der  zwei  Teile  heraus- 
gekommen, die  ersten  sechs  Gesänge  müssen  dem  Plane  gemäss  die  Vorbe- 
reitungen zum  Kampfe  schildern,  allein,  da  es  unmöglich  war,  damit  die 
Bücher  zu  füllen,  so  schob  der  Dichter  die  grosse,  mehrere  Bücher  sich 
hindurchziehende  Episode  von  Hypsipyle  und  Archemorus  ein.  Der  Aufbau 
der  zweiten  Hälfte  bot  keine  Schwierigkeiten  dar;  hier  musste  eine  Reibe 
von  Kampf esbil der n,  in  denen  die  einzelnen  argivischen  Helden  (Adrastus 
ausgenommen)  auftreten  und  den  Untergang  finden,  vorgeführt  werden; 
die  grauenhafte  Scene,  der  gegenseitige  Mord  der  Brüder  musste  als  die 
bedeutsamste  Situation  am  Schluss  erscheinen.  Allein  zum  Schaden  des 
ästhetischen  Eindruckes  führt  das  Gedicht  die  Erzählung  noch  über  dies 
Ereignis  hinaus  und  zieht  auch  Kreon  herbei.  Schon  aus  dieser  kurzen 
Darlegung  erhellt,  dass  in  der  Konzeption  des  Ganzen  das  Werk  an  sehr 
erheblichen  Mängeln  leidet.  Allein  dem  Dichter  ist  auch  gar  nicht 
darum  zu  thun,  in  diesem  Aufbau  den  Schwerpunkt  seiner  Kunst  zu 
suchen  —  er  hätte  ja  in  diesem  Fall  nicht  den  geradlinigen  Wtg  ein- 
geschlagen, sondern  einen  Ausschnitt  gegeben  —  ihm  liegt  vor  allini 
daran,  eine  Reihe  von  rhetorisch  wirksamen  Scenen  aneinander  zu  fugten. 
Diese  Scenen  erfordern  natürlich  die  epische  Technik;  Statius  findet  sie 
bei  seinem  Meister  Vergil,  den  einen  oder  den  andern  Zug  konnte  er  auch 
direkt  aus  Homer  holen,  allein  dies  geschieht  verhältnismässig  seltener. 
Sein  vornehmstes  Kunstmittel  ist  die  Göttermaschinerie;  durch  Jupplter 
wird  die  Handlung  in  Bewegung  gesetzt,  heim  Stocken  derselben  erfolgt 
ein  Ruck  von  oben,  um  die  Sache  wieder  in  Gang  zu  bringen;  thUtig  sind 
die  Furien,  wenn  es  gilt,  Krieg  und  Leidenschaft  zu  entfalten;  Schatten 

laoB  von  Aegae;  Tgl.  Aber  dieselben  Wblckbr,  1  corm.  «pfc.  p.  29. 
Kl.  Sehr.  1,395.  ')  Haitbb  p.  32. 

■)  Vgl.  p.  175  am  Endej    Haubb,    De  \ 


Slg    ftömisohe  LitteratargeBohiohte.    TL,  Die  Zeit  der  Monarobie.    1  Abteiliing. 

werden  aus  der  Unterwelt  heraufgeholt,  um  in  die  Handlung  einzu- 
greifen. In  allen  diesen  Gestalten  ist  kein  Funken  wahren  Lebens,  sie 
lassen  uns  daher  kalt  und  langweilen  uns.  Der  Dichter  geht  noch  weiter, 
selbst  abstrakte  Begriffe  müssen  sich  in  das  Oöttergewand  hüllen,  die 
Yirtus,  die  Pietas,  die  Oblivio  und  wie  sie  heissen  mögen,  tummeln  sich 
schattenhaft  auf  der  Bühne.  Man  sieht,  wie  die  Personifizierung  der 
Fama  bei  Vergil  auf  den  Nachahmer  gewirkt.  Bei  der  Betrachtung  der 
einzelnen  Scenen  stossen  uns  fortwährend  Erinnerungen  an  die  Aeneis 
auf.  Der  Dichter  sieht  es  ja  als  sein  höchstes  Ziel  an,  es  Vergil  gleich- 
zuthun  und  einmal  reisst  ihn  das  Bewusstsein,  einen  Treffer  gemacht  zu 
haben,  sogar  zu  einem  Ausbruch  der  Freude  mitten  in  dem  Gedicht  hin. 
Als  er  seine  Erzählung  von  Dymas  und  Hopleus,  welche  er  nach  dem 
Vorbild  der  Vergilschen  Episode  von  Nisus  und  Euryalus  entworfen,  zu 
Ende  geführt,  apostrophiert  er  in  grosser  Erregung  seine  Helden  also 
(10,  445): 

V08  quoque  sacratij  quamvis  mea  carmina  surgant 

inferiore  lyra,  memores  auperahitis  annos, 

forsiian  et  comites  non  aspernabitur  umhras 

Euryalus  Phrygiique  admittet  gloria  Nisi,  ^ 

Bei  der  starken  Anlehnung  an  Vergil,  welche  sich  durch  das  ganze  Ge- 
dicht hindurchzieht,  wird  sich  die  herkömmliche  Ansicht,  dass  Statius 
seiner  Thebais  das  Gedicht  des  Antimachos  von  Kolophon  zu  Grunde  ge- 
legt habe,  nicht  halten  lassen.  Selbst  den  Stoff  braucht  er  dort  nicht  zu 
holen,  den  konnten  ihm  die  mythologischen  Kompendien  viel  leichter  dar- 
bieten. Was  die  Darstellung  anlangt,  so  ist  der  Grundcharakter  derselben 
die  Übertreibung  und  die  Masslosigkeit.  Die  Helden  werden  ins  Groteske 
gezeichnet;  dass  Grässliche  wird  mit  Vorliebe  aufgesucht,  an  grauenhaften 
Bildern,  ich  erinnere  beispielsweise  an  die  Schilderung  des  Oedipus  und 
des  in  den  Kopf  seines  Gegners  beissenden  Tydeus,  ist  kein  Mangel.  Be- 
sonders starke  Farben  werden  aufgetragen,  wenn  der  Dichter  auf  den 
Brudermord  zu  sprechen  kommt;  selbst  die  Göttermaschinerie  wird  hier, 
um  das  Schaudervolle  zu  steigern,  in  Bewegung  gesetzt.  Langatmige 
Beschreibungen  nehmen  einen  breiten  Raum  ein.  Die  Gleichnisse  häufen 
sich  in  einer  Weise,  dass  sie  den  Leser  fast  erdrücken.  Der  sprach- 
liche Ausdruck  ist  nicht  harmonisch,  bald  ist  er  weitschweifig,  bald  bis  zur 
Dunkelheit  zusammengedrängt.^)  Nach  dieser  Darlegung  wird  man  be- 
greifen, dass  wahre  Poesie  in  diesem  Epos  nicht  zu  finden  ist;  nicht  der 
Dichter,  sondern  der  Rhetor  führt  den  Griffel. 

Die  Abfassungszeit  der  Thebais.  Das  Epos  wurde  kurz  vor  der  Herausgabe  des 
ersten  Buchs  der  Silven  publiziert;  denn  er  sagt  in  der  Vorrede:  adhuc  pro  Tkebaide  mea, 
quamvis  me  reliquerit,  timeo,  also  etwa  92,  da  wir  dieses  Jahr  (oder  Ende  91)  für  die  Herausgabe 
des  ersten  Buchs  der  silvae  in  Anspruch  nahmen.  Wenn  nun  der  Dichter  nicht  einen 
längeren  Zeitraum  zwischen  der  Herausgabe  und  der  Fertigstellung  des  Werks  verstreichen 
Hess,  80  muss  er,  da  er  zwölf  Jahre  an  dem  Gedicht  gearbeitet  haben  will,  etwa  80  damit 
begonnen  haben.  Damit  stimmt,  dass  im  Jahre  95  Statius  von  der  günstigen  Aufnahme 
des  Epos  sprechen  konnte  (4, 4, 87  vgl.  Fbiedlandeb,  Sittengesch.  3^  450,  Anm.). 

Die  Scholien.  Zu  der  Thebais  ist  ein  Kommentar  vorhanden  (abgedruckt  z.  6.  in 
der  Ausgabe  des  Fr.  Tiliobbooa,  Paris  1600),  der  in  manchen  Handschriften  für  sich 
allein  dasteht,  in  andern  mit  dem  Text  der  Thebais  verbunden  ist.    Der  Name  des  Autors 


^)  Vgl.  das  Urteil  M.  Haupts  opusc,  3, 128. 


Papinins  SiatiuB.  319 

schwankt  zwisclien  XactaDÜus»  Lactantius  Placidus  und  Caelius  Firmianus  Placidus  Lactan- 
tius.  Wahrscheinlicli  liiess  er  Lactantius  Placidus  und  werden  die  übrigen  Namen  durch 
Vermischung  des  Kommentators  mit  dem  Kirchenvater  hinzugekommen  sein.  Eine  Aus- 
gabe, die  durchaus  ffir  die  richtige  Beurteilung  des  Kommentars  notwendig  ist,  bereitet 
Kohlmann  (handschriftliche  Mitteilungen  Philolog.  33, 128)  vor;  eine  vorläufige  Probe  des 
selben  (zu  III  1—323)  gibt  das  Emdener  Programm  vom  Jahre  1886/7.  —  Schottky,  De 
pretio  Laetaniiani  cammentarü,  Breslau  1846  (unbedeutend);  ünoeb,  Electa  e  Lactantii  in 

Statu   Thebaidem,  Friedland  1864.  —  Über  die  metrischen  Argumente  vgl.  Opitz,   Leipz. 
Stud.  6, 306. 

Überlieferung.  Wie  in  der  Achilleis  ist  der  Vertreter  der  guten  Handschriften- 
familie der  Puteanus  oder  Parisinus  8051  s.  X.  Das  vierte  Buch  hat  die  subacriptio  codex 
Juliani  v.  c, 

409.  Die  Achilleis.  Seinen  Helden  nach  allen  Seiten  hin  zu  schil- 
dern, ist  sein  Ziel, 

quamquam  acta  Hri  mtiUum  inclita  cantu 
Maeanio,  sed  plura  tacatU:  noa  ire  per  omnem 
(sie  amor  est)  heroa  velis  Scyraque  latentem 
Dulichia  proferre  tuba  nee  in  Hectore  tracto 
sistere,  8ed  tota  iuvenem  dediicere  Troia, 

verkündet  er  im  Eingang  seines  Gedichts.  Die  Erzählung  beginnt  mit  der 
Abfahrt  des  Paris  und  der  Helena  von  der  spartanischen  Küste.  Als  die 
Mutter  des  Achill  Thetis  des  Schiffs  gewahr  wurde,  stellten  sich  ihrem 
Geiste  die  Gräuel  des  Krieges  dar,  welche  die  Folge  dieser  Fahrt  sein 
werden.  Sie  ist  fest  entschlossen,  diesen  ihren  geliebten  Achill  zu  ent- 
ziehen. Als  sie  daher  bei  Neptun  mit  ihrem  Gesuch,  das  verhängnisvolle 
Schiff  dem  Untergang  zu  weihen,  kein  Gehör  fand,  kam  ihr  der  Gedanke, 
den  Sohn  auf  andere  Weise  zu  schützen.  Sie  begibt  sich  daher  zu  dem 
Erzfeher  Achills  Chiron,  um  den  Sohn  abzuholen;  sie  will  ihn  verbergen. 
Als  ein  sicherer  Versteck  erschien  ihr  der  Hof  des  Königs  Lykomedes  auf 
der  Insel  Skyros.  Und  zwar  sollte  dort  Achilles  als  Mädchen  verkleidet  im 
Kreise  der  Töchter  des  Lykomedes  verweilen.  Auf  dem  Wege  dahin  nimmt  sie 
die  Metamorphose  vor;  als  Mädchen  tritt  sonach  Achilles  ins  Haus  des  Lyko- 
medes ein.  Nachdem  Achilles  auf  diese  Weise  geborgen  ist,  wendet  der  Dichter 
unsere  Blicke  auf  die  furchtbaren  Zurüstungen  zu  dem  Feldzug  gegen 
Troia.  Alles  war  aus  Griechenland  herbeigeströmt,  nur  Achilles  fehlte.  Nie- 
mand wollte  aber  denselben  missen.  Protesilaus  fordert  daher  Kalchas 
auf,  den  Aufenthaltsort  Achills  zu  offenbaren.  Der  Seher  weist  auf  Ly- 
komedes und  auf  die  weibliche  Hülle  des  Äakiden  hin.  Diomedes  und 
Ulixes  machen  sich  auf  den  Weg,  um  den  Yermissten  herbeizuholen. 
Mittlerweile  hat  sich  auch  in  Skyros  ein  Ereignis  zugetragen.  Eine  der 
Töchter  des  Lykomedes  Deidamia  hatte  die  Liebe  des  Achilles  erregt; 
es  entspinnt  sich  zwischen  beiden  ein  Verhältnis,  das  nicht  ohne  Folgen 
blieb.  Die  Frucht  ihrer  Liebe  ist  Pyrrhus.  Jetzt  sehen  wir  die  beiden 
griechischen  Helden  in  Skyros  landen.  Sie  begeben  sich  zu  Lykomedes; 
aus  verschiedenen  Anzeichen  glaubt  Ulixes  in  der  Mädchenschar  den  Achilles 
zu  erkennen.  Um  ihn  aber  völlig  zu  entlarven,  greift  er  zu  einer  List. 
Er  lässt  durch  Diomedes  verschiedene  Geschenke  für  die  Mädchen  herbei- 
schaffen; darunter  befanden  sich  auch  Wehr  und  Waffen.  Während  nun 
die  Königstöchter  die  dem  weiblichen  Wesen  entsprechenden  Geschenke 
sich  aussuchen,  wird  Achill  in  auffallender  Weise  durch  die  Waffen  ge- 
fesselt.   Da  naht  sich  Ulixes  und  eröffnet  ihm,  dass  der  junge  Held  er- 


320    Bömische  Litteraturgeschichte.    II.  Die  2eit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

kannt  sei.  In  seine  Worte  fallt  der  von  ihm  angeordnete  Schlachtruf 
mit  der  Trompete.  Da  konnte  sich  Achill  nicht  mehr  zurückhalten;  während 
die  Mädchen  bestürzt  fliehen,  greift  er  zu  den  Waffen,  der  Eampfesheld 
steht  vor  unsern  Augen,  die  Jungfrau  ist  verschwunden.  Entschlossen 
mit  in  den  Krieg  gegen  Troia  zu  ziehen,  gesteht  Achilles  dem  Lykomedes 
seine  Beziehungen  zu  Deidamia  und  erhält  Verzeihung.  Es  kommt  die 
Stunde  der  Trennung,  schwer  für  die  junge  Frau,  welche  die  in  die  Ferne 
Ziehenden  mit  ihren  Blicken  verfolgt.  Ulixes  tröstet  Achill  und  erzählt 
ihm  die  Veranlassung  des  Kriegs.  Dann  erkundigt  sich  Diomedes  nach 
dem  bisherigen  Leben  und  Treiben  Achills.  Mit  einer  Schilderung  der- 
selben durch  den  jungen  Helden  schliesst  das  Epos,  wie  man  sieht  unvoll- 
endet. Das  Epyllion  ist  zwar  breit  angelegt,  aber  doch  im  ganzen  an- 
mutig. 

Zeit  der  Abfassung.  Die  Achilleis  wurde  begonnen  im  Jahre  95;  er  erwähnt  sie 
4,  7,  28  primis  tneus  ecee  metis  haeret  Achilles;  4, 4,  88  wird  von  dem  Erfolg  seiner  The- 
bais  gesprochen  und  dann  fortgefahren  (93): 

nunc  vacuos  crines  alio  suhit  infula  nexu; 

Troia  quidem  magnusque  mihi  iemptatur  Achilles. 

Dieses  Stttck  fällt  unbestritten  ins  Jahr  95.  (Ohne  Bedeutung  5, 2, 163).  Die  NichtvoU- 
endung  erklärt  sich  durch  den  wohl  bald  nach  dem  Beginn  des  Epos  eingetretenen  Tod 
des  Statins. 

Überlieferung.  Die  gute  Handschriftenklasse  wird  vertreten,  wie  in  derThebais, 
in  erster  Linie  durch  den  Puteanus  s.  Parisinus  8051  s.  X.  In  diesem  Kodex  endigt  das 
erste  Buch  erst  mit  Vs.  960,  während  die  gewöhnlichen  Ausgaben,  auf  geringere  Hand- 
schriften gestützt,  den  Schluss  des  ersten  Buchs  schon  nach  Vs.  674  ansetzen.  Diese  Buch- 
einteilung lag  auch  Priscian  VII  65  p.  842  H.  und  Eutyches  II  6  p.  475,  13  K.  vor.  Auch 
unbedeutende  Scholien  sind  zur  Achilleis  vorhanden.  Den  grössten  Teil  derselben  publizierte 
EoHLMANK  im  Emdener  Programm  des  Jahres  1877. 

410.  Die  Stoffe  der  Silven.  Das  erste  Buch  ist  dem  Arruntius 
Stella^)  aus  Patavium  gewidmet,  an  den  auch  Martial  verschiedene  Ge- 
dichte gerichtet.  Derselbe  war  ebenfalls  Dichter  und  hatte  seine  Oeliebte, 
die  schöne  und  reiche  Yiolentilla  unter  dem  Namen  „Asteris''  besungen. 
Auf  die  Vermählung  des  Stella  und  der  Yiolentilla  dichtete  Statins  das 
Epithalamium;  in  demselben  erscheint  die  Venus  auf  Betreiben  Amors  bei 
der  Violentilla,  um  sie  für  Stella  zu  erwärmen.  Dieses  Qedicht  erscheint 
an  der  zweiten  Stelle;  die  erste  gebührt  dem  Kaiser,  denn  a  Jove  prin- 
cipium,  wie  der  Dichter  selbst  sagt;  das  Eingangsgedicht  beschreibt  die 
Reiterstatue  Domitians.  Auch  der  Schluss  geht  wieder  auf  den  Juppiter 
auf  Erden.  Domitian  hatte  an  einem  1.  Dezember  dem  Volke  ein  Fest 
gegeben,  zur  Vorfeier  der  Saturnalien.  Es  wird  geschildert,  wie  Geschenke 
verteilt  werden,  wie  ein  Mahl  ausgerichtet  wird,  an  dem  der  Kaiser  selbst 
teilnimmt,  wie  endlich  abends  ein  glänzendes  Feuerwerk  stattfindet,  das 
die  Nacht  zum  Tage  macht.  Von  den  übrigen  Gedichten  enthalten  zwei 
Schilderungen  glänzender  Bauwerke,  das  eine  (3.)  die  Beschreibung  der 
zwei  Paläste,  welche  sich  Manilius  Vopiscus  bei  Tibur  am  Anio  erbaut 
hatte,  dann  die  Beschreibung  des  Bades,  das  sich  Claudius  Etruscus  ange- 
legt hatte  (5.);  das  dritte  (4)  endlich  ist  ein  Dankesgedicht  auf  die  Genesung 
des  erkrankten  Stadtpräfekten  Rutilius  Galliens.    Auch  hier  wird  derselbe 


>)  FriedlXndeb  zu  Martial  1  p.  66. 


Papinins  Siaiins.  321 

Kunstgriff  wie  im  Epithalamium,  die  Heranziehung  der  göttlichen  Macht, 
in  Anwendung  gebracht. 

Das  zweite  Buch  hat  Statins  dem  durch  seine  elegante  Lebens- 
führung berühmten  Atedius  Melior  zugeeignet;  derselbe  bildet  auch  den 
Mittelpunkt  des  Buchs;  denn  drei  Stücke  beziehen  sich  auf  ihn;  er  er- 
hielt ein  Trostgedicht  auf  den  Tod  seines  Lieblings,  des  dreizehnjährigen 
Olaucias  (1),  dann  ein  Klagelied  auf  seinen  verstorbenen  sprechenden  Pa- 
pagei (4),  endlich  ein  Gedicht  auf  einen  Baum,  der  den  See  seines  Land- 
gutes beschattete  (3)  in  Form  einer  ätiologischen  Sage.  Ausserdem  ent- 
hält diese  zweite  Sammlung  noch  ein  Trostgedicht  für  Flavius  Ursus  beim 
Verlust  seines  Lieblings  Philetos  (6),  die  Beschreibung  der  Villa  des  reichen 
Puteolaners  PoUius  Felix  bei  Sorrent  (2),  endlich  die  Feier  des  Geburts- 
tages des  Dichters  Lucan  für  dessen  Witwe  (7).  Mit  dem  Hof  hat  nur 
ein  Stück  Berührung.  Als  der  gezähmte  Löwe  des  Domitian  durch  ein 
anderes  entflohenes  wildes  Tier  zerrissen  wurde,  sprach  auch  Statins  sein 
dichterisches  Beileid  aus  (5). 

Demselben  PoUius  Felix,  dessen  Villa  im  zweiten  Buch  beschrieben 
wurde,  gehört  die  dritte  Silvensammlung.  Das  erste  Gedicht  knüpft  na- 
turgemäss  an  Pollius  Felix  an  und  beschreibt  den  glänzenden  Tempel  des 
Hercules,  den  der  reiche  Mann  bei  Sorrento  errichtet  hatte.  Das  zweite 
Stück  ist  ein  Geleitspoem  für  den  ins  Feldlager  nach  Syrien  ziehenden 
MaeciusO  Geler.  Es  folgt  eine  Gonsolatio  für  den  uns  aus  dem  ersten 
Buch  bekannten  Claudius  Etruscus  bei  dem  Tode  seines  Vaters,  der  in 
Smyma  gebürtig,  sich  von  der  niedrigsten  Lebenslage  bis  zum  Vorsteher 
des  Rechnungsamtes  emporgeschwungen  hatte.  Das  vierte  Stück  führt 
den  Titel  „die  Haare  des  Flavius  Earinus*".  Dieser  Eunuche  war  Mund- 
schenk Domitians,  sein  erstes  abgeschnittenes  Haar  hatte  er  mit  einem 
Spiegel  dem  Tempel  des  Aesculap  zu  Pergamon  geweiht;  auf  seine  Bitte 
hin  feiert  der  Dichter  dieses  Ereignis  in  dichterischer  Form.  Im  Schluss- 
gedicht der  Sammlung  wendet  sich  der  Dichter  an  seine  Gemahlin  und 
sucht  sie  zu  bestimmen,  Rom  zu  verlassen  und  mit  ihm  nach  Neapel  zu 
ziehen. 

Das  vierte  Buch  ist  für  Vitorius  Marcellus^)  bestimmt  und  wurde 
nach  seiner  Übersiedelung  nach  Neapel  herausgegeben;  es  ist  derselbe, 
dem  Quintilian  seine  rhetorische  Unterweisung  gewidmet  hatte,  ein  be- 
rühmter Sachwalter.  Allein  die  Sammlung  wird  nicht  mit  dem  Ge- 
dicht an  ihn  eröffnet,  in  dem  Statins  den  Freund  auffordert,  sich  Ruhe 
zu  gönnen,  denn 

virea  instigat  aJitque 
tempestiva  gutes,  maiar  post  otia  pirtus. 

Dieses  nimmt  erst  die  vierte  Stelle  ein.  Den  Vortritt  hat  hier  wie- 
derum der  Kaiser,  den  die  drei  ersten  Stücke  verherrlichen;  im  ersten 
erhalten  wir  einen  Panegyricus  zum  17.  Konsulat  Domitians,  im  zweiten 
eine  Danksagung  an  den  Kaiser  für  eine  ihm  gewordene  Einladung  zum 
Mahle,  im   dritten  endlich  die  Beschreibung  der  via  Domitiana,   welche 


*)  So  zu  schreiben  FbiediJ^br  8,484. 


^)  Dies  ist  die  richtige  Schreibung  (Nohl,  Hermes  12,  517). 

Bandbuch  der  klam.  Altertumswimeiinrhuft.    VIII.    2.  Teil.  21 


322     Bömisohe  LitteratnrgeBehiolite.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Cumae  mit  Rom  verband.  Auch  zwei  Oden  hat  uns  der  Dichter  in  dem  Buch 
gespendet,  die  eine  (5)  enthält  das  Lob  des  Septimius  Severus,  der  sowohl 
als  Redner  wie  als  Dichter  thätig  war,  die  zweite  (7)  fragt  an,  wann  der  in 
Dalmatien  eine  militärische  Stellung  bekleidende  Vibius  Maximus  zurückkehre, 
da  ohne  ihn  des  Dichters  Muse  erlahme ;  zugleich  gedenkt  er  dankbar  der 
Anregung,  die  er  für  seine  Thebais  von  Vibius  Maximus  empfangen.  Zum 
Schluss  gratuliert  er  dem  Freunde  zur  Geburt  eines  Sohnes  und  weiss  hiebei 
auch  des  Adressaten  historisches  Werk  anzubringen.  Es  sind  noch  drei  Ge- 
dichte übrig,  eines  (6)  schildert  ein  Kunstwerk,  den  Hercules  des  Lysippos, 
den  Statins  bei  Novius  Vindex  gesehen,  das  zweite  (8)  ist  eine  an  Julius 
Menecrates,  den  Schwiegersohn  des  Pollius  Felix  gerichtete  Gratulation 
zur  Geburt  eines  dritten  Kindes,  das  letzte  (9)  ein  Scherz.  Der  Dichter 
hatte  an  den  Saturnalien  an  Plotius  Grypus  ein  fein  gebundenes  Büchlein 
geschickt  und  als  Gegengeschenk  ein  von  Motten  zerfressenes  Buch,  die 
„oscüationes  Bruti  senis^  enthaltend,  empfangen.  Darüber  ist  der  Dichter 
erzürnt  und  fragt  an,  ob  denn  Grypus  gar  nichts  auftreiben  konnte,  was 
sich  als  Geschenk  eignete. 

Das  fünfte  Buch  beginnt  mit  einem  des  Schlusses  ermangelnden 
Brief  an  den  kaiserlichen  Sekretär  Abascantus,  der  die  Überreichung  eines 
Epicedion  auf  die  vor  zwei  Jahren  gestorbene  Gemahlin  des  mächtigen 
Mannes  motiviert.  Von  einer  Widmung  des  Buchs  ist  dagegen  keine  Rede. 
Es  ist  daher  eine  sehr  wahrscheinliche  Vermutung,  dass  das  Buch  nicht 
von  dem  Dichter  herausgegeben,  sondern  erst  aus  seinem  Nachlass  zu- 
sammengestellt wurde.  Dafür  spricht  auch,  dass  das  letzte  Gedicht  un- 
vollendet vorliegt.  >)  Ausser  dem  Epicedion  auf  die  Gemahlin  des  Aba- 
scantus enthält  das  Buch  noch  ein  solches  auf  seinen  Vater  (3)  und  eines 
auf  seinen  Pflegesohn  (5).  Das  an  zweiter  Stelle  stehende  Gedicht  wendet 
sich  an  Vettius  Crispinus,  der  im  Alter  von  16  Jahren  das  Legations- 
tribunat  erhalten  und  auch  die  Salierwürde  bekleidete;  er  war  bei  den 
Recitationen  des  Dichters  eine  tüchtige  Beihilfe.  Endlich  ist  in  das 
Buch  noch  aufgenommen  ein  schönes  Gedicht  des  erkrankten  Statins  an 
den  Schlaf  (4). 

Die  Chronologie  der  Silven  hat  zwei  Fragen  zu  lösen  1)  wann  die  einzelnen 
Silvae  gedichtet  wurden;  2)  wann  die  einzelnen  Bücher  herausgegeben  wurden.  Ffir  uns 
genügt  eSf  wenn  hier  lediglich  die  Anfangs-  und  Endpunkte  festgestellt  werden.  Das 
älteste  Gedicht  der  Sammlung  steht  im  letzten  Buch  (3),  es  ist  das  Epicedion  auf  Statins' 
Vater;  es  wurde  drei  Monate  nach  dessen  Tod  gedichtet,  der  hald  nach  79  eintrat  (5,  3, 
205),  und  auf  dieses  Epicedion  spielt  er  (3, 3, 39)  an.  Aber  das  Gedicht  erfuhr  später 
eine  Umarbeitung,  denn  die  Verse  225  fg.  setzen  den  Sieg  des  Dichters  im  albanischen 
Agon  und  seine  Niederlage  im  capitolinischen  voraus;  da  das  letzte  Ereignis  mit  grosser 
Wahrscheinlichkeit  ins  Jahr  94  zu  setzen  ist,  so  muss  die  Umarbeitung  nach  dieser  Zeit 
erfolgt  sein.  Allein  dieses  Gedicht  ist  erst  aus  dem  Nachlass  veröffentlicht.  Die  übrigen 
Stücke  fallen  nicht,  soweit  wir  sehen  können,  vor  88.  Keines  der  Stücke  führt  uns  in 
die  Zeit  nach  Domitians  Tod;  sie  reichen  etwa  bis  95.  Sonach  haben  wir  anzunehmen, 
dass  alle  Silven  (abgesehen  von  dem  Epicedion  auf  seinen  Vater)  der  Zeit  von  88  bis  96 
angehören,  Statins  war  schon  ein  reiferer  Mann,  als  er  sie  schrieb,  denn  er  sagt  (4, 4, 69):  nos 
vergimur  in  Senium  vgl.  5,2, 158.  —  Was  die  Herausgabe  der  sütxu  anlangt,  so  kann  das 
erste  Buch  nicht  vor  Ende  91  oder  92  ediert  sein,  da  es  den  Tod  des  Rutilius  Galliens 
voraussetzt.   Allein  es  kann  auch  nicht  viel  später  herausgegeben  sein,  da  für  das  3.  Buch 

^)  Allerdings  wäre  auch  möglich,  dass  1  Laufe  der  Zeit  die  Verstümmelung  erlitten, 
das  Gedicht  vollständig  war   und  erst  im 


Papinias  SiatinB.  323 

das  Jahr  94  (Friedlandeb,  Sittongesch.  3^  478),  fOr  das  4.  Bach  95  sich  ergibt.  Wenn 
wir  fttr  jede  Silvensammlung  den  Zeitraum  eines  Jahres  ansetzen,  wird  das  eiste  Buch  92 
erschienen  sein.  Die  letzte  Sammlang  wurde,  wie  wir  annahmen,  nicht  durch  den  Dichter 
selbst  publiziert,  sie  wird  in  dem  Jahre  96  erschienen  sein.  Also  erblickten  die  fQnf  Bücher 
der  silvae  wahrscheinlich  in  der  Zeit  von  92—96  das  Licht  der  Öffentlichkeit. 

411.  Charakteristik  der  Silven.  Durch  zwei  Eigenschaften  wird 
der  Charakter  der  Silvae  des  Statins  bestimmt,  es  sind  Gelegenheitsge- 
dichte und  diese  Gelegenheitsgedichte  sind  fQr  vornehme  Leute  bestimmt, 
deren  Gunst  und  Freundschaft  der  Dichter  erlangen  oder  sich  bewahren 
will.  Seine  Muse  ist  also  eine  dienende,  ja  sie  arbeitet  sogar  auf  Be- 
stellung. Es  ist  selbstverständlich,  dass  ein  Wink  des  Kaisers  genügte, 
um  die  Dichterader  zu  erschliessen.  Aber  selbst  irgend  einer  Hofkreatur 
konnte  man  nicht  leicht  ein  Gedicht  versagen.  Allerdings  war  für  den 
Dichter  die  Erfüllung  mancher  Bitte  keine  leichte  Sache,  und  als  der  Lust- 
knabe Earinus  sein  abgeschnittenes  Haar  besungen  wissen  wollte,  mochte 
sich  Statins  das  Gefühl  unwürdigen  Thuns  aufdrängen,  allein  schliesslich 
gab  er  doch  nach,  sich  mit  dem  Satz  tröstend,  dass,  wer  die  Götter  ver- 
ehrt, auch  ihre  Diener  verehren  muss.  Gelegenheiten,  den  vornehmen 
Herren  ein  Gedicht  zu  präsentieren,  boten  sich  viele  dar.  Hochzeit,  Ge- 
burt, Tod  haben  zu  allen  Zeiten  den  Dienst  der  Poesie  in  Anspruch  ge- 
nommen. Aber  auch  der  häusliche  Glanz  forderte  den  Dichter,  da  dieser  der 
geeignete  Verkünder  desselben  ist.  Man  lud  ihn  daher  gern  ein,  man 
zeigte  ihm  die  glänzende  Villa,  das  luxuriöse  Bad,  auf  der  Tafel  prangte 
ein  kostbares  Kunstwerk,  ein  geschickter  Papagei  trieb  sein  drolliges 
Wesen,  im  Garten  stand  ein  merkwürdig  gewachsener  Baum.  Man  rechnete 
darauf,  dass  ein  Gedicht  diese  Herrlichkeiten  und  Merkwürdigkeiten  dem 
Publikum  bekannt  gebe  und  so  den  Ruhm  der  Besitzer  verbreite.  Nicht 
bloss  Statins,  sondern  auch  Martial  war  in  dieser  Weise  thätig.^  Die 
Silvenpoesie  musste  sonach  einen  panegyrischen  Zug  erhalten;  dieser 
tritt  in  den  meisten  Gedichten  nicht  störend  hervor,  allein  wenn  die 
Rede  auf  den  Kaiser  kommt,  artet  das  Lob  in  arge  Schweifwedelei 
und  Servilität  aus;  doch  fehlt  das  uns  bei  Martial  so  sehr  abstossende 
Betteln  um  ein  Douceur.  Das  Gelegenheitsgedicht  bringt  es  mit  sich,  dass 
dasselbe  in  aller  Eile  fertig  gestellt  werden  muss.  Diese  Momentpoesie 
verträgt  keinen  langen  Aufschub.  Leichtflüssigkeit  des  Schaffens  ist  das 
erste  Erfordernis  für  den  Gelegenheitsdichter.  Dieser  Eigenschaft  konnte 
sich  Statins  mit  Recht  rühmen;  als  er  seine  erste  Silvensammlung  in  die 
Welt  hinausschickte,  setzte  er  in  der  Vorrede  weitläufig  auseinander,  dass 
ihm  kein  Stück  über  zwei  Tage  gekostet  habe,  und  unter  den  in  jener 
Sammlung  vereinigten  Gedichten  befindet  sich  eines  mit  277  Hexametern. 
Durch  diese  Erklärung  glaubte  er  sich  gegen  Tadel  gesichert,  allein  dass 
dieser  doch  nicht  ausblieb,  zeigt  die  Vorrede  zu  der  vierten  Sammlung. 
In  der  That  können  dem  aufmerksamen  Auge  des  Lesers  die  Spuren  der 
eiligen  Arbeit  nicht  entgehen.  Vor  allem  ist  es  die  Schablone,  welche 
deutlich  wahrnehmbar  ist.    So  tummelt  sich  der  Dichter  in  den  Epicedien 


')  Die  Parallelgedichte  sind  nach  der 
ZoBaminenstellimg  FiaxDLlin>EB8,Sittengesch. 
3«,  475:  M.  6, 21  =  St.  1, 2  M.  6, 42  =  St.  1, 5 


M.  6, 28  =  St.  2, 1  M.  7, 21-23  =  St.  2, 7 
M.  7, 40  =  St.  3, 3  M.  9, 11—13  (16. 17, 36) 
=  St.  3,4   M.  9, 43  =  St.  4, 6. 

21* 


324    BOmiflche  Litteratnrgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilimg. 


auf  den  drei  Gemeinplätzen,  der  Wehklage  um  den  Verstorbenen,  dem  Lob 
des  Verstorbenen,  der  glänzenden  Leichenfeier.  Dann  muss  die  poetische 
Mache  herhalten;  die  Anrufungen  der  Götter  nehmen  einen  grossen  Raum 
ein,  auch  das  persönliche  Eingreifen  der  Götter  ist  zur  Anwendung  gekommen, 
durch  den  Aufenthalt  göttlicher  Wesen  wird  selbst  die  Schönheit  einer 
Gegend  charakterisiert.  Auch  Beden  und  Beschreibungen  tragen  zur  leichten 
Ausfüllung  des  Rahmens  eines  Gedichtes  bei.  Selbst  der  Wortschatz  ist 
von  Eintönigkeit  nicht  frei.  Mit  einem  Worte,  die  Silvae  quillen  nicht 
aus  einer  tiefen,  poetischen  Empfindung,  sie  zeigen  uns  den  gewandten 
Versemacher  und  Schilderer,  ^)  aber  sie  zeigen  uns  nicht  den  unser  Herz 
packenden  Dichter.  Das  Interesse,  das  uns  diese  Schöpfungen  erregen,  beruht 
wesentlich  darauf,  dass  sie  uns  Bilder  der  römischen  Gesellschaft  geben. 
Dieses  hohe  stoffliche  Interesse  hat  offenbar  Niebuhr  zu  seinem  über- 
schwänglichen  Preis  verleitet:  „Statins  ist  gross,  sind  seine  Worte,  in 
seinen  kleinen  Gedichten,  sie  gehören  zu  den  ächten  Gedichten,  welche  die 
rechte  Farbe  des  Landes  an  sich  tragen,  man  liest  sie  besonders  gern, 
wenn  man  sie  in  Italien  liest*.  Doch  aus  einem  Gedicht  strahlt  uns  der 
Duft  wahrer  poetischer  Empfindung  entgegen.  Als  den  kranken  Dichter 
sieben  Nächte  der  Schlaf  gemieden,  schilt  er  den  Gott  (5,4,1): 

crimine  quo  merui,  iuvenis  placidissime  divum, 
quove  errore  miser,  donis  ut  aolus  egerem^ 
somne,  tuis?  tcicet  oinne  pecits  volucreague  fertuque 
et  aimulant  fesaos  curvata  caeumina  aamnos, 
nee  trt*eibus  fluviia  idem  sonus;  occidU  Horror 
ctequoris,  et  terris  maria  aeclinata  quiescunt 

und  spricht  den  Verdacht  aus,  dass  ein  Mädchen  denselben  in  seinen  Armen  ge- 
fesselt halte;  er  wagt  nicht  die  Bitte,  dass  Somnus  sich  mit  seinen  Fit- 
tigen  über  seine  Augen  senke,  er  ist  schon  zufrieden,  wenn  er  ihn  nur 
mit  der  Spitze  seines  Stabes   berührt  oder  leicht  über  ihn  hinweggleitet. 

Das  Wort  silva.  Quint  10,3,17  diversum  est  —  earum  vitiumf  qui  primo  de* 
currere  per  materiam  stiJo  quam  velocisHmo  volunt  et  aequentea  ealorem  atque  impetum  ex 
tempore  scributU;  hanc  ailvam  voeant. 

Die  Überlieferung  der  silvae  basiert  aaf  dem  Kodex  von  St.  GaUen,  welchen 
Poggio  aufgefunden  und  nach  Italien  gebracht  hatte.  Denselben  verglich  Angelua 
Politianus  mit  der  editio  princeps  des  Jahres  1472.  Dieses  koUationierte  Exemplar  ist 
noch  in  der  bibliotheea  Corsiniana  zu  Rom  vorhanden.  Da  der  codex  SangaUenais  ver- 
loren ist,  so  sind  wir  jetzt  in  erster  Linie  auf  diese  Kollation  angewiesen.  Allein  dieselbe 
ist  schwer  zu  entziffern  und  gewährt  nicht  das  volle  Bild  des  koUationierten  Kodex.  In 
zweiter  Linie  stehen  die  Handschriften  welche  durch  ein  Mittelglied  auf  den  Sangal- 
ienais zurtlckgehen,  es  sind  dies  besonders  der  Matritenaia,  der  Rhedigeranus  und  der  in 
Wien  befindliche  Budenaia.  Nur  in  dem  Genethliacon  Lucani  (2,  7)  fliesst  eine  von  dem 
Sangallenaia  unabhängige  Quelle  in  dem  Laur.  82,  9. 

412,  Bflckblick.  Sehen  wir  auf  die  Werke  des  Statins  zurück,  so 
ist  der  Zeit  nach  das  früheste  die  Thebais,   die  wahrscheinlich   in  den 


^)  Diese  Eigenschaft  war  es,  die  beson- 
ders Goethe  imponierte;  denn  als  er  durch 
HAin>  auf  den  ihm  bis  dahin  unbekannten 
Statins  aufmerksam  gemacht  denselben  durch- 
gelesen: Statiua,  inquit^  poeta  eat  magnopere 
laudandua  aaaiduoque  atudio  noatro  dignus: 
non  me  offendunt  ea,  quae  luxuria  quadam 
ingenii  effudit,  aed  admiror  in  eo  artem, 
qua  res  conspicuaa  mente  comprehendere  et 


exacte  describere  Optimum  quemque  poetam 
decet.  Vide  quam  accurate  depingat  tüum 
equum  Domitiani,  quam  fideliter  reddat  ima- 
ginem  HereuliSf  quam  aubtiliter  deacribat 
viUarum  regionea,  balnei  ornamenta.  Omnea 
rea,  quaa  verbia  deaignat,  ante  oculoa  nobis 
versari  videntur:  tanta  est  ei  ara  rerum 
imaginea  percipiendi  et  repraeaentandi  (Hahd, 
Statu  Hercules  Epitrapezios  Jena  1849  p.  7). 


M.  ValeriuB  Martialis. 


325 


Jahren  80 — 92  entstand;  nach  derselben,  im  Jahre  95  wurde  die  Achilleis 
in  Angriff  genommen,  dieselbe  kam  durch  den  Tod  des  Dichters  nicht  zur 
Vollendung.  Die  Gelegenheitsgedichte  begleiten  beide  Werke;  von  dem 
Epicedion  auf  seinen  Vater  abgesehen,  beginnen  sie  etwa  mit  dem  Jahre  88. 
Die  Herausgabe  derselben  erfolgte  nach  dem  Erscheinen  der  Thebais,  wahr- 
scheinlich mit  dem  Jahr  92 ;  noch  drei  Sammlungen  Hess  der  Dichter  folgen, 
die  letzte  im  Jahre  95.  Aus  seinem  Nachlass  wurde  von  fremder  Hand 
ediert  die  Achilleis  und  noch  eine  Silvensammlung,  welche  jetzt  als  5.  Buch 
zählt. 

Wie  bei  andern  Schriftstellern  des  Altertums  hat  auch  bei  Statins 
die  Beurteilung  eine  tiefgehende  Änderung  erfahren.  Im  Mittelalter  waren 
die  Thebais  und  die  Achilleis  viel  gelesene  Oedichte,  dagegen  waren  die 
Silvae  nahezu  verschollen.  Heutzutage  lebt  Statins  nur  noch  in  seinen 
Silvae  fort.") 

Ausgaben  sämtlicher  Werke  des  St.  von  Duebnbr,  Paris  1835  (1  Bd.)*  1836  (2  Bd.); 
von  QüECK  (2  Bde.)  Leipz.  1854;  von  BIrbens  (Silvae)  und  EomjcANN  (Achilleis,  Thebais) 
Leipz.  1876  und  1879.  —  Thebais  (die  ersten  sechs  Bücher)  von  Otto  Müller,  Leipz.  1870. 
—  Silvae  von  MARKJ.Ain>,  London  1728  (schwer  zu  lesender  Abdruck  Dresden  1827),  eine 
durch  reiche  Konjekturen  ausgezeichnete  Ausgabe;  von  Hakd  (enthält  nur  1, 1 — 3,  weit- 
schweifiger Kommentar).  —  Bearbeitungen  einzelner  Silvae  (knappe  Auswahl):  1,2  Herzog, 
I^ipz.  1882;  1,4  Friedlandeb,  Sittengesch.  8'  479;  1,6  Wachsmuth,  Rh.  Mus.  43,21;  3,5 
Imhof  (Halle  1863) ;  4, 6  Hahd  (Jena  1849).  Stange,  Statu  carminum  quae  ad  Domitianum 
spectant  interpretatio,  Dresden  1887. 

Andere  Epiker  sind: 

1)  Saleius  Bassus.  Quintil.  10, 1,90  sagt,  als  er  von  den  Epikern  handelte:  tehe- 
mens  et  poeticum  ingenium  Salei  Bassi  fuit,  nee  ipaum  seneetute  nuUuruU,  Vgl.  Tacit. 
dial.  5  und  9;  Juv.  7,80.  —  Held,  De  Saleio  Basso,  Bresl.  1834. 

2)  Cord  US.    Von  ihm  erw&hnt  eine  Theseis  Juv.  1,2. 

3)  Julius  Cerialis  hatte  ausser  einer  Gigantenschlacht  auch  ländliche  Gedichte 
nach  dem  Muster  Vergils  verfasst  (Martial  11,52,17). 

4)  Caninius  Rufus  bellum  daeicum  scribere  parat,  wie  Plin.  ep.  8,'4, 1   berichtet. 

14.  M.  Valerius  Martialis. 
413.  Biographisches.  M.  Valerius  Martialis  ist  ein  Spanier;  Bil- 
bilis,  eine  in  der  Tarraconensischen  Provinz  am  Salo  gelegene  kleine  Stadt, 
nennt  er  seine  Heimat.  Seine  Eltern  Valerius  Fronte  und  Flaccilla  (5,  34) 
Hessen  ihn  die  grammatische  und  die  rhetorische  Schule  durchmachen  (9, 
73,  7).  Als  er  im  Anfang  der  zwanziger  Jahre  stand,  wandte  er  sich  (im 
Jahre  64)  nach  der  Hauptstadt,  um  dort  sein  Glück  zu  versuchen.  Ein 
doppelter  Weg  stand  ihm  offen,  er  konnte  den  mühevollen,  aber  reichlich 
lohnenden  Beruf  eines  Sachwalters  ergreifen ;  auf  der  anderen  Seite  konnte 
er  sich  auch  als  Klient  ein  zwar  unterwürfiges,  aber  im  ganzen  viele  freie 
Zeit  gewährendes  Dasein  verschaffen.  Reiche  vornehme  spanische  Familien 
gab  es  in  Rom  genug,  da  war  das  Geschlecht  des  Rhetor  Seneca,  da 
war  der  berühmte  Rhetor  Quintilian  und  andere.  Hier  war  es  ihm  ein 
leichtes,  in  das  Verhältnis  der  Klientel  zu  kommen,  hier  waren  sicher- 
lich auch  Empfehlungen  für  andere  angesehene  Häuser  zu  haben.  In 
seinen  Gedichten  sehen  wir  Martialis  lediglich  auf  der  zweiten  Laufbahn, 


*)  Auch  die  Übersetzung  der  Thebais  von 
Imhof  (Ilmenau  1885  und  1889)  wird  nach 


dem  Eindruck,   den  sie  auf  mich  gemacht, 
wenige  zur  LektQre  bestimmen. 


326     BömiBche  Litteratargeschiohte,    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

und  wir  wissen  nicht,  ob  er  jemals  einen  Versuch  in  der  Sachwalterkarriere 
gemacht.  Im  Interesse  der  Litteratur  können  wir  uns  nur  freuen,  dass  er 
dem  Elientendienst  sich  widmete;  derselbe  bot  ihm  reichlich  Gelegenheit, 
sich  mit  allen  Schichten  des  damaligen  Roms  vertraut  zu  machen;  ein 
feiner  Beobachter,  der  für  alles  ein  offenes  Auge  hatte,  sammelte  er  sich 
jetzt  die  Schätze,  die  er  später  in  das  lautere  öold  seiner  Poesie  umsetzte. 
Freilich  hatte  auch  seine  Stellung  als  Klient  manche  Schattenseiten,  und 
er  Hess  es  an  Klagen  nicht  fehlen;  es  war  hart,  besonders  im  Winter, 
sich  in  aller  Frühe  vom  Lager  erheben,  die  Toga  umwerfen  und  den  Patronen 
seine  Aufwartung  machen  zu  müssen;  auch  waren  der  Demütigungen 
manche  in  den  Kauf  zu  nehmen;  bei  den  Mahlzeiten  Hess  sich  der  Herr 
oft  bessere  Gerichte  vorsetzen  als  seinem  Klienten.  Allein  die  sportula 
ernährte,  wenn  auch  knapp,  ihren  Mann;  und  für  Martial  fielen  noch  be- 
sondere Geschenke  ab;  wenigstens  finden  wir  ihn  ziemlich  früh  im  Besitz 
eines  kleinen  Gütchens  bei  Nomentum  (13,42  und  119).  Das  dichterische 
Talent  musste  ja  Martial  einen  Vorsprung  gegenüber  vielen  andern  KUenten 
geben,  doch  ist  uns  von  Gedichten  Martials  aus  dieser  Zeit  nichts  erhalten. 
Die  erste  Spur  des  dichterischen  Schaffens  tritt  uns  von  Seiten  Martials 
erst  aus  der  Zeit  entgegen,  da  er  die  Mittagshöhe  des  Lebens  überschritten 
und  im  Anfang  der  vierziger  Jahre  stand.  Als  Titus  das  Flavische  Amphi- 
theater einweihte,  gab  er  (im  Jahre  80)  dem  Volk  eine  Reihe  von  Spielen, 
welche  durch  ihre  Pracht  und  ihre  Kuriosität  aUes  in  Erstaunen  setzten. 
Auf  diese  merkwürdigen  Darstellungen  warf  Martial  eiligst  eine  Anzahl 
Epigramme  hin  und  überreichte  sie  dem  Kaiser.  Seine  Eilfertigkeit  ent- 
schuldigt er  mit  den  Worten:  „Nimm  das  rasch  Hingeworfene  gnädig  auf: 
kein  Missfallen  verdient,  Cäsar,  derjenige,  der  sich  beeilt  dir  zu  gefallen*^  (32). 
Mit  diesem  Werk  war  der  erste  Schritt  zum  Dichterruhm  gethan.  Be- 
lohnungen blieben  nicht  aus,  so  das  Jus  irium  liberorum.  Schon  Titus 
muss  ihm  dasselbe  zugedacht  haben,  denn  er  spricht  an  mehreren  Stellen 
von  zwei  Kaisern,  welche  nur  Titus  und  Domitian  sein  können,  als  den 
Spendern  dieser  Auszeichnung  (3,  95,  5  9,  97,  5).  Da  er  aber  auf  der 
anderen  Seite  Domitian  um  Verleihung  des  Rechte  in  einem  noch  vor- 
handenen Epigramm  bittet  und  dann  in  einem  zweiten  für  die  Gewährung 
seiner  Bitte  dankt  (2,  91  und  92),  so  scheint  die  Gnadenbezeigung  des 
Kaisers  Titus  erst  durch  Domitian  ihre  Rechtswirksamkeit  erlangt  zu 
haben.  Auch  durch  den  Titel  eines  Militärtribunen,  womit  die  Erhebung 
in  den  Ritterstand  verbunden  war,  wurde  er  ausgezeichnet  (3, 95).  Allein  eine 
materielle  Verbesserung  seiner  Lage  scheint  ihm  von  Seiten  des  Hofs  nicht 
zu  Teil  geworden  zu  sein.  Etwa  vier  Jahre  nach  Veröffentlichung  jener 
Erstlingsepigramme  erschien  eine  neue  und  zwar  diesmal  umfassendere 
Sammlung,  welche  ihren  Anlass  in  den  Saturnalien  hatte.  Es  war  Sitte, 
an  diesem  Fest  sich  gegenseitig  Geschenke  zuzuschicken  oder  bei  der  Tafel 
zu  verlosen;  die  ersteren  hiessen  Xenia  (Gastgeschenke),  die  zweiten 
Apophoreta  (Mitzunehmendes).  Den  Gaben  fügte  man  poetische  Eti- 
quetten  bei.  Für  beide  Arten  von  Geschenken  verfasste  Martial  eine  Reihe 
von  Epigrammen  und  vereinigte  sie  zu  zwei  Büchern,  die  nach  der  ver- 
schiedenen Bestimmung  der  Geschenke  Xenia  oder  Apophoreta  hieesen. 


M.  Valerias  Mariialis«  327 

Allein  alle  diese  Versuche  zeigen  noch  nicht  den  Meister;  erst  als  er  sich 
von  dieser  einseitigen  Dichtung  emanzipiert  und  dem  freieren  Schaffen  zuge- 
wendet hatte,  leuchtete  sein  reicher  Geist  im  hellsten  Glänze.  Bis  zum 
Jahr  96  waren  elf  Bücher  in  den  Händen  des  Publikums,  sie  ver- 
breiteten den  Ruhm  des  Verfassers  in  alle  Weltgegenden,  nur  in  seiner 
äussern  Lage  trat  kein  Umschwung  ein;  zwar  finden  wir  ihn  gegen 
Ende  dieser  Periode  im  Besitz  eines  eigenen  Hauses  (9, 18  9, 97)  und 
eines  Maultiergespannes  (8,  61,  7),  allein  des  Betteins  und  der  Klagen  über 
den  Klientendienst  ist  kein  Ende;  einmal  gegen  88  hatte  sogar  der  Un- 
wille über  seine  Verhältnisse  ihn  bestimmt,  Rom  zu  verlassen  und  sich 
nach  Forum  Cornelii  in  Gallia  togata  zu  begeben;  das  dritte  Buch  der 
Epigramme  ist  dort  erschienen  (3, 4).  Doch  kehrte  er  bald  wieder  in 
die  Hauptstadt  zurück.  Nach  dem  Tode  Domitians  entschloss  er  sich 
endlich  definitiv  Rom  Lebewohl  zu  sagen.  Gewiss  war  der  politische  Um- 
schwung hiebei  mitbestimmend.  Für  Domitians  Anhänger  war  die  Stunde 
herangekommen,  in  der  sie  ihre  Rolle  ausgespielt  hatten.  Was  sollte  der 
Dichter  thun,  der  dem  toten  Kaiser  im  Leben  fast  in  cy nischer  Weise 
geschmeichelt  hatte?  Das  elfte  Buch  mit  seinem  über  alle  Massen  ob- 
scönen  Inhalt,  das  jetzt  fertig  geworden  war,  eignete  sich  nicht  zur  direkten 
Überreichung  an  den  neuen  Kaiser;  er  stellte  daher  eine  Anthologie  aus 
dem  zehnten  und  elften  Buch  zusammen,  um  sie  Nerva  vorzulegen.  Die 
Anthologie  ist  verloren,  das  Begleitgedicht  aber  erhalten  (12,  5).  Wahr- 
scheinlich stand  dort  auch  das  durch  den  Juvenalscholiasten  erhaltene 
Distichon: 

Flavia  gens,  quantum  tibi  tertius  absttUit  heres/ 
paene  fuU  tanti,  non  habuisse  dtos. 

Hier  wird  allerdings  ein  ganz  anderes  Urteil  über  Domitian  gefällt  als 
früher;  er  hat,  sagt  der  Dichter,  soviel  Schande  auf  das  Geschlecht  der 
Flavier  gehäuft,  dass  man  selbst  auf  die  beiden  ersten  guten  Flavier  ver- 
zichtet haben  würde,  wenn  man  damit  die  Regierung  des  dritten  abge- 
wendet hätte.  Allein  auf  die  neuen  Herrscher  konnten  solche  Beschimpfungen 
unmöglich  einen  günstigen  Eindruck  machen.  Auch  Schmeicheleien  fanden 
kein  geneigtes  Ohr  mehr.  Der  Dichter  verweist  daher  die  Blanditiae  zu 
den  Parthern  (10,  72,  4): 

iam  non  est  locus  hoc  in  urbe  vobis; 
ad  Parthos  procul  ite  piUeaios 

und  meint,  dass  durch  den  jetzigen  Kaiser  aus  dem  stygischen  Haus  zurück- 
geführt worden  sei  (10,  72, 11): 

siccis  rustica  Veritas  capiUis, 
hoc  sub  principe,  si  sapis,  catfeto, 
terbiSf  Roma,  prioribus  loquaHs. 

Nach  einem  Aufenthalt  von  34  Jahren  sagte  er  im  Jahre  98  Rom  Lebe- 
wohl und  wählte  die  Vaterstadt  Bilbilis  zum  Sitz  seines  Alters.  Eine 
Freundin,  die  hochgebildete  Marcella,  hatte  ihm  ein  herrliches  Land- 
gut geschenkt;  jetzt  völlig  Herr  seiner  Zeit  konnte  er  seine  Tage 
in  süssem  Nichtsthun  verbringen  (12,  31).  Aber  auch  in  Bilbilis  ruhte 
nicht  seine  Muse;  noch  ein  Buch  Epigramme  wurde  von  dort  nach  Um- 
lauf von  etwa  vier  Jahren  in  die  Welt  hinausgeschickt,  es  ist  das  zwölfte. 


328    Römische  Litteratargeschiolite.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

Allein  die  Zeit  des  poetischen  Schaffens  war  vorbei;  der  Dichter  war 
mittlerweile  alt  geworden,  dann  —  und  dies  ist  das  Entscheidende  — 
fehlte  der  Boden,  aus  dem  die  Poesie  Martials  ihre  Nahrung  zog,  Rom 
mit  seinem  grossstädtischen  Treiben  und  Jagen.  Bald  nach  der  Heraus- 
gabe der  letzten  Epigrammensammlung  starb  der  Dichter;  um  das  Jahr 
104  spricht  der  jüngere  Plinius  von  seinem  Tode  (3,  21). 

Die  Hauptabhandlung  über  das  Leben  und  die  Schriftstellerei  Martials  bietet  die  Ein- 
leitung zu  Friedländers  Ausgabe.  Bbandt,  De  Martialis  vita,  Berlin  1853;  ya»  Stockum, 
De  M.  rita  et  scriptis,  Haag  1884  (ohne  Werth);  Hübkeb,  Martial  (Deutsche  Randschau 
15.  Jahrg.  Heft  7,  April  1889  p.  85). 

414.  Das  Korpus  der  Epigramme.  Das  erhaltene  Korpus  stellt 
eine  äusserliche  Vereinigung  von  drei  Teilen  dar,  dem  für  sich  da- 
stehenden Buch  auf  die  Spiele  {liber  spedaculorum  von  Oruter  genannt), 
der  von  Martial  zu  einer  Einheit  zusammengeschlossenen  Epigrammen* 
Sammlung  in  zwölf  Büchern,  endlich  den  zwei  £tikettenbüchei*n,  den  Xenia 
und  den  Apophoreta.  Weder  das  Buch  auf  die  Spiele  noch  die  Xenia  und 
die  Apophoreta  tragen  eine  Buchnummer,  ein  deutlicher  Beweis,  dass  sie 
ausserhalb  der  Epigrammensammlung  stehen;  die  beiden  Etikettenbücher 
werden  in  den  Ausgaben  regelmässig  als  1.  XIII  und  1.  XIV  gezählt,  allein 
in  der  echten  Überlieferung  hat  diese  Numerierung  keine  Gewähr.  Es  ist 
wahrscheinlich,  dass,  da  die  drei  Teile  nicht  zu  einer  engeren  Verbindung 
gelangten,  die  Zusammenstellung  derselben  ei*st  nach  dem  Tode  des 
Dichters  gemacht  wurde.  Wir  wenden  uns  zur  Besprechung  der  drei 
Teile: 

1.  Der  liber  spectaculorum  liegt  uns  in  einem  Auszug  vor;  es 
fehlen  wichtige  Schaustücke,  deren  Übergehung  man  dem  Dichter  kaum 
zutrauen  kann,  wie  z.  B.  die  Seeschlacht  zwischen  den  Athenern  und  Syra- 
kusern,  welche  Dio  66, 25  erwähnt.  Das  Buch  in  seiner  jetzigen  Ge- 
stalt umfasst  32  Epigramme,  welche  in  der  Überlieferung  vielfach  ver- 
sprengt sind.  Die  drei  ersten  Nummern  führen  uns  den  Schauplatz  des 
Buchs,  Ort  und  Publikum  vor,  es  folgt  die  Ausstellung  der  Delatoren  (4), 
5 — 23  nebst  27  schildern  die  Produktionen  mit  wilden  und  gezähmten 
Tieren,  24—26  mit  28  die  Künste  und  Kämpfe  auf  der  unter  Wasser  ge- 
setzten Arena;  29  bezieht  sich  auf  den  Kampf  zweier  Gladiatoren,  30  auf 
die  Verfolgung  einer  Antilope  durch  Hunde,  31  ist  Schluss  eines  Gedichts 
auf  einen  Gladiatorenkampf,  endlich  32  ein  Distichon  aus  dem  Widmungs- 
gedicht an  den  Kaiser. 

Der  Bestand  des  epigrammaton  liber  wechselt  in  den  Martialhandschriften ; 
aus  ihnen  erhält  man  die  Nr.  1—30.  Die  zwei  letzten  Nr.  sind  aus  Exzerptensammlungen 
und  Florilegien  hinzugekommen,  zum  erstenmal  in  der  Ausgabe  des  Junius.  Nicht  hieher 
gehört  das  in  manchen  Ausgaben  als  Nr.  33  aufgeführte  Gedicht  Flatna  gen«  (p.  327).  Dass 
in  dem  Buch  auch  Epigramme  anderer  Dichter  stecken,  ist  eine  unbegründete  HypoÜiese 
Rutgers  und  Scrivers. 

Die  Abfassungszeit  ist  das  Jahr  80,  in  dem  die  Spiele  zur  Einweihung  des  Fla- 
yischen  Amphitheaters  gegeben  wurden,  Friedländer  statuiert  die  Möglichkeit,  dass  bei 
einer  neuen  Ausgabe  noch  einige  Epigramme  auf  Schauspiele  Domitians  hinzugekommen 
seien  (9.  22.  25  b.  18.  20).  Allein  die  Gründe  sind  völlig  unzureichend.  Noch  weniger 
wahrscheinlich  ist  die  Ansicht  Daus,  dass  das  Buch  ursprünglich  nur  aus  Epigrammen  auf 
die  Schauspiele  bei  dem  dacischen  Triumph  Domitians  bestand  und  auch  für  diesen  Kaiser 
bestimmt  war  und  dass  erst  später  (vielleicht  nach  dem  Tode  Martials,  p.  32)  die  auf  Titus 
sich  beziehenden  Epigramme  hinzugefügt  worden  seien.  (Vgl.  dagegen  Gilbert,  Wochenschr. 
f.  klass.  Philol.  5, 1069.) 


M.  Valerins  Martialis.  329 

2.  Die  grosse  Epigrammensammlung  bildet  insofern  eine  Ein- 
heit, als  einzelne  Bücher  vom  Dichter  mit  Nummern  versehen  wurden.  Dies 
geschah,  soweit  wir  sehen  können,  erst  vom  fünften  Buch  an.  Dieses 
Buch  wird  ausdrücklich  als  das  fünfte  bezeichnet  (5,  2,  6  5, 15, 1),  ebenso  ist 
das  sechste  (6, 1))  und  das  achte  (praef.)  numeriert.  Auch  vom  zehnten 
und  elften  Buch  ist  die  R^de  (12,  5, 1).  Von  vornherein  ist  wenig  wahr- 
scheinlich, dass  Martial  mit  einem  „ersten*  Buch  vor  die  Öffentlichkeit 
trat.  Der  Dichter  würde  ja  in  diesem  Fall  kundgegeben  haben,  dass  er 
des  Erfolges  seiner  Publikation  ganz  sicher  ist.  Als  er  das  jetzige  dritte  Buch 
herausgab,  sprach  er  von  einem  „über  prior*^  (3, 1, 3).  Es  waren  also  damals 
noch  keine  zwei  Bücher  vorausgegangen;  diese  lagen  aber  vor,  als  er  das 
fünfte  edierte  (5,  2,  5).  Sonach  muss  das  zweite  Buch  später  herausge- 
kommen sein.  Als  der  Dichter  dasselbe  und  zwar  mit  der  Nummer  dem 
Regulus  überreichte,  wunderte  sich  dieser  und  fragte  nach  dem  ersten  Buch 
(2,  93, 1).  Diese  Verwunderung  erklärt  sich  am  leichtesten,  wenn  wir  an- 
nehmen, dass  damals  Martial  noch  keine  numerierten  Bücher  gegeben 
hatte.  Auch  konnte  die  Einschaltung  des  neuen  Buchs  dann  an  einer  be- 
liebigen Stelle  erfolgen.  Wir  werden  uns  die  Sache  so  zu  denken  haben: 
Als  die  Epigramme  Martials  grossen  Anklang  fanden,  entschloss  er  sich 
auch  die  Epigramme  noch  zu  veröffentlichen,  welche  er  bisher  zurückge- 
stellt hatte.  Also  die  Idee  eines  Korpus  von  Epigrammen  hat  sich  erst 
allmählich  im  Qeiste  des  Dichters  festgesetzt;  wir  können  auch  nachweisen, 
dass  er  mehrere  Bücher  zu  Einheiten  zusammenschloss.  So  überreichte  er 
dem  Rufus  das  dritte  und  vierte  Buch  in  einer  Qesamtausgabe  (4, 82). 
Noch  durchgreifender  war  aber  die  Konstituierung  des  Korpus  der  ersten 
sieben  Bücher.  Manche  Leser  hatten  über  fehlerhafte  Abschriften  dem 
Dichter  gegenüber  geklagt  (7,11);  Martial  unterzog  daher  diese  Bücher 
einer  Revision  und  überschickte  sie  dem  Julius  Martialis  (7,17).  Hiebei 
wird  die  Numerierung  aller  Bücher  durchgeführt  worden  sein.  Aber  auch 
das  eine  und  das  andere  Epigramm  mag  hinzugekommen  sein;  so  ist 
höchst  wahrscheinlich,  dass  die  erste  Nummer,  in  der  Martial  von  seinem 
Weltruf  spricht,  erst  bei  dieser  zweiten  Ausgabe  der  sieben  Bücher  hinzu- 
trat. Es  ist  nicht  wohl  möglich,  dass  der  Dichter  gleich  bei  seinem 
ersten  Auftreten  mit  solchem  Selbstgefühl  von  sich  sprach,  selbst  wenn 
einzelne  Epigramme  schon  vorher  eine  weite  Verbreitung  und  Anerkennung 
gefunden  hatten.  Es  ist  aber  um  so  weniger  anzunehmen,  als  das  erste 
Buch  noch  ein  zweites  Epigramm  enthält,  welches  einen  Ton  anschlägt, 
aus  dem  man  sofort  erkennt,  dass  ein  zum  erstenmal  auftretender  Schriftsteller 
spricht  (1,  3).  Ein  ähnliches  Verhältnis  besteht  zwischen  den  prosaischen 
Vorreden  zum  ersten  und  zweiten  Buch;  die  Vorrede  zum  zweiten  Buch 
enthält  eine  Rechtfertigung,  dass  den  Epigrammen  eine  epistida  voraus- 
geht, sonach  müssen  wir  schliessen,  dass  zum  erstenmal  bei  der  Heraus- 
gabe des  zweiten  Buchs  ein  solcher  prosaischer  Brief  an  die  Spitze  trat; 
der  Brief  zum  ersten  Buch  wird  also  bei  der  Edition  der  sieben  Bücher 
hinzugekommen  sein  und  Martial  kann  daher  dort  von  „libeüi*'  sprechen.  Auch 
1,2  und  1,4  mögen  erst  später  hier  ihre  Stelle  gefunden  haben.  Weit- 
greifendere  Umgestaltungen   sind  aber,   soweit  wir  sehen  können,   nicht 


330    RönÜBche  LitteratnrgeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

eingetreten.  Dagegen  hat  das  zehnte  Buch  nach  dem  Erscheinen  des 
elften  eine  starke  Umwandelung  durchgemacht;  dasselbe  war  noch  vor 
Domitians  Tod  herausgegeben;  als  die  umarbeitende  Hand  an  dasselbe 
herantrat,  sass  Trajan  auf  dem  Thron;  die  starke  Vermehrung,  welche 
in  der  neuen  Ausgabe  eintrat,  mag  die  Ursache  gewesen  sein,  dass  die 
frühere  Ausgabe  des  zehnten  Buchs  unterging.  Auch  das  zwölfte  in  Spa- 
nien an  den  Tag  getretene  Buch  scheint  nicht  in  seiner  ursprünglichen 
Form,  sondern  in  einer  vermehrten  Ausgabe  vorzuliegen.  Als  nämlich 
der  Oönner  Martials  Terentius  Priscus  von  Rom  nach  Spanien  zurück- 
kehrte (Dezember  101),  verfasste  er  in  wenigen  Tagen  (praef.  20)  einen 
brevis  libellus  (1,  3).  Da  aber  das  uns  vorliegende  Buch  98  Epigramme 
enthält,  so  wird  der  Dichter  später  eine  vermehrte  Auflage  dieses  brevis 
libellus  veranstaltet  haben. 

Dies  ist  der  Bestand  der  Sammlung.  Die  Zeit  des  Erscheinens  der 
einzelnen  Bücher  anlangend,  so  liegen  die  in  Rom  geschriebenen  Bücher 
(1 — 11)  zwischen  85/6—96,  hiezu  kommt  noch  die  Umarbeitung  des  zehnten 
Buchs  vom  Jahre  98.  Unter  Domitian  sind  entstanden  eins  bis  neun,  das 
elfte  wurde  unter  Nerva,  das  umgearbeitete  zehnte  unter  Trajan  ver- 
öffentlicht. Das  letzte  (zwölfte)  Buch  erblickte  in  der  kürzeren  Fassung 
in  Bilbilis  das  Licht  und  zwar  Ende  101  oder  Anfang  102  unter  der  Re- 
gierung Trajans.    Wann  das  erweiterte  Buch  ediert  wurde,  wissen  wir  nicht. 

Ober  die  zwei  ersten  Bücher  hat  eine  ungemein  gekünstelte  und  verwickelte  Hypo- 
these Dau  aufgestellt  p.  78.  Friedländer  gibt  zuletzt  (Sittengeschichte  3^  472)  folgende 
Chronologie: 

I  u.  II  ediert  85/86 

III  ,       87/88 

IV  ,      Dezember  88 
V      ,       Herbst  89 

VI      ,       Sommer  oder  Herbst  90 
VII      ,       Dezember  92 
VIII      ,      Mitte  93 
IX      ,      Mitto  oder  Ende  94 
X^      n      Dezember  95 
XI      .  .96 

X  u.  XI  (Anthologie)  ediert  97 

X*  ediert  Mitte  98  (Abreise  Martials  aus  Rom) 
XII      ,      Anfang  102. 
Derselbe  lässt  nur  die  Möglichkeit  einer  zweiten  Ausgabe  der  sieben  ersten  Bücher  zu. 

3.  Xenia  und  Apophoreta.  Diese  zwei  Bücher  heben  sich  schon 
dadurch  von  den  übrigen  ab,  dass  jedes  Epigramm  eine  vom  Dichter  her- 
rührende Überschrift  hat.  Die  für  Xenia  bestimmten  Gaben  sind  mit  Aus- 
nahme von  4,  15,  126,  127  lauter  Speisen  und  Qetränke.  Die  Apophoreta 
haben  die  Eigentümlichkeit,  dass  sie  Paare  von  Geschenken  und  zwar  je 
ein  Geschenk  eines  Armen  und  eines  Reichen,  d.  h.  ein  kostbares  und  ein 
wohlfeiles  vorführen.  Die  Ordnung  der  Paare  ist  aber  gestört  teils  durch 
Verschiebungen,  teils  durch  Lücken.  >)  Die  beiden  Bücher  wurden  nach  dem 
Chattenkrieg  (84)  und  vor  dem  dacischen  (86—89)  herausgegeben  (vgl. 
14,34.13,4  14,170). 

Die  Behauptung  Daus  (p.  35—56,  bes.  p.  54),   dass  die  Epigramme   der  Bücher  13 

^)  Vgl.  Friedlander  Ausg.  2,295,  der  die  zusammengehörigen  Paare  herzustellen 
versucht. 


M.  Valerina  Mürtialis.  331 

und  14  allmählich  in  den  Jahren  84—92  entstanden  seien,  weist  Fbibdlakdeb  zurftck, 
Berl.  Philol.  Wochenschrift  1889  nr.  88  p.  1203 

Litteratur  tlber  die  Chronologie  der  Epigramme.  Stobbb,  Philol.  26,44; 
MoMMSEK,  Hermes  8, 120— 126  (Bttcher  10—12);  Stobbe,  Martials  10.  und  12.  Buch,  Philol. 
27,630;  HiBscHyELD,  Gott.  Gel.  Anzeig.  1869  p.  1505  (B.  3,  4  u.  9);  FbibdlXkdeb,  Ausg.  1, 
50  Sittengesch.  3*,  472 ;  Dau,  De  M,  V.  M,  libellarum  ratione  temporibusque  P.,  Rostock 
1887  (scharfsinnige,  aber  grösstenteils  unhaltbare  Aufstellungen). 

415.  Wflrdigung  Martials.  Als  Martial  die  sieben  ersten  Epigrammen- 
bücher zum  zweiten  Male  in  die  Welt  hinausgehen  Hess,  konnte  er  von 
sich  sagen  (1, 1): 

hie  est  quem  legis  iüe,  quem  requiris, 
tüto  notus  in  orbe  Martialis 
argtUia  epigrammaton  ItbeüiSf 
cui,  Jector  studiose,  quod  dedisti 
viventi  decus  atque  sentienti, 
rari  post  cineres  habent  poetae. 

Nicht  bloss  in  Rom  wurden  seine  Gedichte  aufs  eifrigste  gelesen,  selbst 
in  die  entferntesten  Teile  des  römischen  Reichs  drangen  seine  Schöpfungen, 
der  Centurio  hatte  in  seinem  Zelt  im  getischen  Land  den  Dichter  und  in 
Britannien  gingen  die  Epigramme  von  Mund  zu  Mund  (11,3).  Sogar  der 
lesescheue  Domitian  nahm,  wenn  wir  dem  Dichter  >)  glauben  dürfen,  wieder- 
holt die  Werke  des  Epigrammatikers  vor  (6, 64).  In  den  Buchhandlungen 
war  Martial  ein  sehr  gangbarer  Artikel;  in  verschiedenen  Ausgaben  war 
derselbe  vorrätig.  Secundus  verkaufte  die  Epigramme  in  Pergamentaus- 
stattung, welche  wegen  ihres  geringen  Umfangs  sich  besonders  zum  Ge- 
brauch auf  Reisen  eignete  (1,2);  bei  Atrectus  war  eine  Ausgabe  in  ele- 
ganter RoUenfoim  zu  haben  (1, 117).  Auch  der  Verleger  Quintilians  Trypho 
führte  den  Dichter  in  seinem  Verlag  (4,  72  13,  3).  Der  buchhändlerische 
Erfolg  war  ein  so  durchschlagender,  dass  sogar  die  vergessenen  Jugend- 
gedichte Martials  von  Q.  Pollius  Valerianus  neu  aufgelegt  wurden  (1, 113). 
Selbst  der  Plagiator  stellt  sich  ein ;  man  veröffentlichte  Martials  Epigramme 
unter  eigenem  Namen  oder  man  gab  seinen  Produkten  den  glänzenden 
Aushängeschild  des  berühmten  Dichtemamens;  allein  im  letzten  Fall  ver- 
riet sich  regelmässig  der  Übelthäter,  da  die  Individualität  Martials  eine 
so  stark  ausgeprägte  und  originelle  war,  dass  die  Nachahmung  durch  den 
weiten  Abstand  leicht  kenntlich  war  (1,  53).  Schlimmer  war  es,  wenn 
giftige  Produkte  sich  den  Namen  des  Dichters  beilegten  (7,  12).  Aus 
allem  geht  hervor,  dass  die  Bewegung,  welche  das  geistige  Schaffeti  Mar- 
tials hervorrief,  eine  ungemein  intensive  war.  Er  war  einer  der  berühm- 
testen Männer  seiner  Zeit;  man  wies  auf  ihn,  wenn  er  sich  zeigte,  mit 
den  Fingern  (5,13);  seine  Büste  stellte  Stertinius  Avitus  in  seiner  Biblio- 
thek auf  (praef.  1.  9).  Es  ist  nicht  zu  verwundem,  dass  den  sonst  sehr  be- 
scheidenen Epigrammatiker  hie  und  da  ein  Hochgefühl  ergriff,  dass  ihm 
zu  Lebzeiten  zu  teil  geworden,  was  andere  erst  nach  ihrem  Tode  erreichen, 
glänzender  Ruhm;  er  durfte  einem  reichen  Freigelassenen  die  Worte  ent- 
gegenschleudem:  Was  ich  bin,  kannst  du  nicht  werden;  was  du  bist, 
kann  jeder  erreichen  (5, 13).  Er  kannte  die  Macht,  welche  sein  Genius  ihm 
in  die  Hand  gelegt;  er  wusste,  dass  manche  zitterten  und  bebten  vor 
diesen  ausgelassenen  Kindern  des  Witzes  (6,61);  einem  Kläffer  konnte  er 

»)  Vgl  p.  243, 1. 


332    Römische  Litteratargeschichie.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 


zurufen,  er  werde  ihm  nicht  die  Ehre  anthun,  seinen  Namen  zu  nennen, 
namenlos  müsse  er  zu  Grunde  gehen  (5,60).  Dieser  Ruhm  des  Dichters 
war  kein  ephemerer;  noch  heute,  obwohl  uns  Jahrhunderte  von  seiner  Zeit 
trennen,  blicken  wir  mit  Bewunderung  auf  seine  sprühenden  Geistesfunken. 
Es  ist  nicht  schwer,  das  eine  oder  das  andere  gelungene  Epigramm  zu 
produzieren;  allein  nahezu  1200  zu  schreiben  und  nicht  zu  erlahmen,  ist 
lediglich  der  reichsten  Genialität  vergönnt.  In  dem  über  spectaculorum^ 
den  Xenia  und  den  Apophoreta,  in  welchen  das  eigentliche  Epigramm  zu 
Tage  tritt,  war  Martial  noch  nicht  in  seinem  Elemente;  aber  als  er  dichtend 
das  weitverzweigte  Leben  der  Gesellschaft  erfasste,  förderte  er  goldene 
Poesie  zu  Tage.  Nicht  leicht  hat  jemand  so  tiefe  Blicke  in  das  Treiben 
der  Menschen  gethan  als  er,  er  ist  einer  der  grössten  Sittenmaler  aller 
Zeiten,  mit  sicherer  Hand  zeichnet  er  die  verschiedensten  Typen  des  da- 
maligen Roms  und  die  Thalia  hatte  recht,  wenn  sie  sagt  (8,  3, 19): 

at  tu  Romano  lepidos  aale  finge  UbeUos, 
adgnoscat  mores  vita  legatque  suos. 

Eine  reiche  Gallerie  menschlicher  Schwächen  zieht  an  unseren  Augen  vor- 
über. Da  ist  Tongilius,  der  sich  krank  stellt,  um  Sendungen  von  gutem 
Wein  und  guten  Bissen  zu  erhalten  (2,40),  da  ist  Glytus,  der  mehrmals 
im  Jahre  seinen  Geburtstag  feiert,  um  wiederholt  die  Geburtstagsgeschenke 
einzuheimsen  (8,64),  da  ist  Tongilianus,  dem  sein  Haus  abgebrannt  ist 
und  der  durch  die  Kollekten  reicher  geworden  ist  als  zuvor  (3,52),  da 
sehen  wir  Selius  die  ganze  Stadt  atemlos  durcheilen,  in  der  Hoffnung, 
doch  noch  einem  Freund  zu  begegnen,  bei  dem  er  sich  zum  Essen  ein- 
laden kann  (2, 14),  da  stossen  wir  auf  einen  Scaevola,  der  sich  einen  be- 
stimmten Reichtum  wünscht,  um  behaglich  leben  zu  können  und,  nachdem 
er  ihn  erreicht,  noch  schmutziger  ist  als  zuvor  (1, 103),  da  tritt  uns  Ge- 
mellus  entgegen,  der  wütend  um  die  Maroniila  freit,  nicht  etwa  weil  sie 
schön  ist,  sondern  weil  sie  hustet  (1, 10),  da  sind  Leute,  die  nicht  gern 
Bücher  kaufen  und  daher  die  Epigramme  vom  Dichter  leihen  wollen,  wahr- 
scheinlich um  sie  nicht  mehr  zurückzugeben  (1,117  4,72),  da  erscheint 
ein  Ligurinus,  der  seine  Gäste  mit  dem  Vorlesen  seiner  Gedichte  zu  Tode 
quält  (3,50),  da  ist  ein  Coracinus,  der  sich  fortwährend  parfümiert,  und 
dadurch  dem  Verdacht  Raum  gibt,  dass  ein  anderer  Geruch  verdeckt 
werden  soll  (6,  55);  da  ist  ein  Ginna,  der  allen  alles,  auch  das  Unschuldigste 
ins  Ohr  flüstert  (1, 89),  da  ist  der  verliebte  Rufus,  der  seine  Naevia  nicht 
aus  dem  Mund  wegbringt  (1,68).  Wir  brechen  ab,  denn  die  Gallerie  ist 
unerschöpflich;  keine  Seite  der  römischen  Gesellschaft  ist  unberührt  ge- 
blieben. Aber  was  weiss  nicht  der  Dichter  aus  seinen  Beobachtungen  zu 
machen!  Seine  Epigramme  sind  fein  geschliffene  Edelsteine;  sie  erfüllen 
alle  Anforderungen,  welche  der  strengste  Kunstrichter  an  sie  zu  stellen 
berechtigt  ist,  indem  sie  die  Aufmerksamkeit  eines  Lesers  auf  einen  Gegen- 
stand zu  lenken,  seine  Erwartung  zu  spannen  und  durch  einen  unerwarteten 
Aufschluss  zu  befriedigen  wissen.  *)    Es  wird  eine  heisse  Torte  aufgetragen ; 


')  VgL  Lessino,  Zerstreute  Anmerkungen 
über  das  Epigramm  u.  s.  w.  (Ges.  V^erke 
Göschen  Leipz.  1858  6, 213).    Über  Martial 


6, 268  „Nur  wenige  haben  soviel  Sinngedichte 
gemacht  als  er  und  niemand  unter  so  vielen 
so  viel  gute  und  so  viel  ganz  vortreffliche*. 


IL  Valerins  XartiaHs.  333 

ein  Mensch  bläst,  um  sie  zu  kühlen,  mit  vollen  Backen  hinein  und  macht 
sie  dadurch  —  zu  Mist  (3, 17).  Aelia  hatte  noch  vier  Zähne,  sie  hustet 
und  verliert  zwei,  sie  hustet  nochmals  und  verliert  wiederum  zwei.  Jetzt 
kannst  du,  tröstet  der  Dichter,  doch  den  ganzen  Tag  forthusten,  denn  der 
Husten  kann  dir  nichts  mehr  nehmen  (1, 19).  Der  Arzt  Diaulus  war 
Leichenträger  geworden.  Was  ist  daran  verwunderlich,  meint  Martial, 
er  setzt  eben  sein  Metier  in  anderer  Form  fort  (1,47).  Als  unser  Epi- 
grammatiker einen  reichen  Freund  um  ein  verhältnismässig  kleines  Dar- 
lehen bat  und  dieser  ihm  sagte:  »Du  könntest  grossen  Reichtum  erlangen, 
wenn  du  einen  Advokaten  machtest*,  entgegnete  der  Dichter:  „Um  Geld 
habe  ich  dich  gebeten,  nicht  um  einen  Rat*  (2, 30).  Der  berühmte  Arzt 
Symmachus  begab  sich  mit  einer  Schar  seiner  Schüler  zu  einem  Patienten, 
alle  betasten  ihn  mit  ihren  kalten  Händen  und  bringen  es  richtig  fertig, 
dass  der  Patient,  welcher  vorher  kein  Fieber  hatte,  jetzt  Fieber  hat  f5, 9). 
So  könnte  man  Buch  um  Buch  durchgehen,  um  auf  immer  neue  Über- 
raschungen zu  stossen.  Die  Komposition  der  Epigramme  ist  so  präcis 
und  abgerundet,  dass  keine  Übersetzung  im  Stande  ist,  die  Kraft  des  Ori- 
ginals zu  erreichen.  Alles  Rhetorische  und  Aufgedunsene  ist  fern  gehalten 
und  mit  vollem  Recht  sagt  er  (4,49,7): 

a  nostris  procul  est  omnia  vesiea  Itbellis, 
Musa  nee  insano  symuUe  nostra  turnet. 

Wahrlich  ein  grosses  Verdienst  in  einer  Zeit,  in  der  die  Poesie  nur  in 
rhetorischem  Gewand  erschien.  Auch  das  war  etwas  Grosses,  dass  er 
die  Poesie  wieder  zu  einer  lebendigen  Macht  gestaltete  und  von  den  ab- 
gelebten mythologischen  Stoffen  nichts  wissen  wollte.  Selbst  die  Bewun- 
derung, die  diese  Werke  erfuhren,  erschütterte  ihn  nicht  in  seiner  Ansicht. 
Es  ist  wahr,  erwiderte  er,  diese  Epen  werden  bewundert,  aber  meine  Epi- 
gramme werden  gelesen  (4, 49, 10).  Ein  Mann  mit  dieser  Anschauung  konnte 
keine  engeren  Beziehungen  zu  dem  Dichter  der  Thebais  und  Achilleis  Statins 
unterhalten;  dessen  Name  wird  daher  in  den  Epigrammen  niemals  ausdrück- 
lich genannt,  wohl  aber  finden  sich  Stellen,  welche  einen  indirekten  An- 
griff gegen  ihn  und  seine  Dichtungsweise  enthalten.  Der  Leser  fühlt  sich 
wie  erlöst,  dass  ihm  bei  unserm  Dichter  nichts  Gemachtes,  nichts  Scha- 
blonenhaftes, nichts  Pedantisches  entgegentritt.  Die  Darstellung  bestimmt 
sich  lediglich  durch  den  Stoff,  überall  weiss  er  den  richtigen  Ton  anzu- 
schlagen, und  die  hie  und  da  eingestreuten  idyllischen  Dichtungen  zeigen, 
dass  er  uns  auch  dui*ch  Zartheit  und  Innigkeit  fesseln  kann.  Alles  ist 
wie  spielend  hingeworfen  und  tfägt  den  Charakter  des  Unmittelbaren  und 
Improvisierten  und  lässt  uns  leicht  über  kleine  Nachlässigkeiten  der  Sprache 
hinwegsehen.  Überall  gewahren  wir  den  Zauber  der  Originalität,  die  sich 
bei  ihm  in  einem  Grad  findet  wie  bei  wenigen  römischen  Dichtem.  Zwar 
hat  er  eifrig  die  poetischen  Schätze  seines  Volkes  studiert;  er  nennt  dank- 
bar seine  Vorgänger  Gatull,  Domitius  Marsus,  Albinovanus  Pedo  und  den 
unter  Galigula  getöteten   Cn.  Cornelius  Lentulus  Gaetulicus  >)  (praef.  1. 1). 

^)  Derselbe  wird  auch  als  Liebesdichter  1  mit  der  Einfübrung  „cum  ait  de  Britannts* 


in  der  bekannten  Stelle  Plin.  ep.  5,  3, 5  er- 
wähnt. Probns  zu  Qeorg.  1,227  citiert  drei 
Hexameter  von  ihm  (Barrens  FPL.  p.  361) 


wahrscheinlich  aus  einem  Gedicht  Qber  eine 
Expedition  gegen  die  Germanen  und  Britannen 
(Jahn  zu  Peknius  p.  CXLII). 


334    KOmiBche  Litteratnrgeschiolite.    Ü.  Die  Zeit  der  Xonarchie.    1.  Abteilang. 

Wir  können  auch  noch  die  Spuren  seiner  Studien  aufweisen.  Von  den 
drei  Metren,  die  er  fast  ausschliesslich  anwendet,  dem  Choliambus,  dem 
Hendecasyllabns  und  dem  elegischen  Distichon  gestaltet  er  die  beiden 
ersten  nach  dem  Muster  Catulls,  fär  das  dritte  ist  ihm  Vorbild  der  Meister 
Ovid.  Die  poetische  Phraseologie  ist  ihm  durch  die  fleissige  Lektüre  so 
vertraut  geworden,  dass  man  sie  nicht  mehr  als  ein  fremdes  Gut  empfindet. 
Auch  die  griechische  Litteratur  liess  er  nicht  unbenutzt;  schon  längst  ist 
bemerkt,  dass  die  Epigramme  eines  unter  Nero^  lebenden  griechischen 
Dichters  Lucillius  unserem  Epigrammatiker  vorlagen.  Allein  ein  Vergleich 
der  Originale  und  der  Kopien  erweist  den  Vorzug  der  Kopien;  auch  den 
Nachahmungen  hat  er  den  Stempel  seines  mächtigen  Geistes  aufgedrückt. 
So  ist  denn  bei  Martial  eine  Reihe  von  Eigenschaften  vereinigt, 
welche  einen  grossen  Dichter  ausmachen.  Und  seine  Meisterschaft  wird 
nicht  leicht  jemand  läugnen  wollen,  dagegen  werden  seinem  Charakter 
zwei  Gebrechen  zur  Last  gelegt,  seine  Obscönität  und  seine  servile  Ge- 
sinnung. Es  ist  wahr,  dass  viel  Schmutz  in  den  Epigrammen  aufgehäuft 
ist,  allein  immerhin  bilden  die  obscönen  Stücke  doch  nur  einen  verhältnis- 
mässig geringen  Bruchteil,  von  der  grossen  Sammlung  werden  es  nicht  zwei- 
hundert sein.')  Ganz  aber  konnte  kein  Dichter,  der  die  römische  Gesellschaft 
schildern  wollte,  an  dieser  Nachtseite  des  menschlichen  Lebens  vorübergehen. 
Schon  Martial  war  sich  bewusst,  dass  er  nach  dieser  Seite  hin  Anstoss  erregen 
werde,  und  lässt  es  an  Entschuldigungen  nicht  fehlen,  er  hebt  hervor,  dass 
er  nicht  für  Kinder  schreibe  (3, 69),  sondern  für  leichtlebige  Jünglinge  und 
Mädchen  und  für  Leute,  welche  die  Floralien  besuchen  (praef.  1. 1),  er  ent- 
schuldigt die  Nuditäten  des  elften  Buchs  mit  der  Freiheit  der  Satumalien 
(11,  2),  er  sagt,  dass  man  aus  seinen  Gedichten  keinen  Schluss  auf  sein 
Leben  machen  dürfe,  denn  (1,4,8): 

Uiaciva  est  nohis  ^agina,  vüa  proba. 

Und  wirklich  empfängt  der  Leser  auch  bei  diesen  widerwärtigen  Pro- 
dukten den  Eindruck,  dass  sie  nicht  darauf  ausgehen,  die  Sinneslust  an- 
zuregen, sondern  eher  abzuschrecken;  es  fehlt  das  Lüsterne,  das  die  ero- 
tischen Dichtungen  Ovids  so  gefahrlich  macht.  Schwerer  wiegt  der  Vor- 
wurf der  Servilität.  Die  Schmeicheleien  gegen  Domitian,  das  fortwährende 
Betteln,  die  Unterwürfigkeit  gegen  die  vornehmen  Herren,  die  sogar  soweit 
geht,  dass  er  sich  Themate  für  Epigramme  geben  lässt  (11,42),  beleidigen 
uns  oft.  Allein  hier  wird  eine  gerechte  Erwägung  zu  einem  weniger  ver- 
dammenden Urteil  sich  entschliessen  müssen.  Die  Buchhändler  zahlten  dem 
Dichter  kein  Honorar;  er  war  also  auf  fremder  Leute  Gunst  angewiesen. 
Als  er  nach  vierunddreissigjährigem  Aufenthalt  Rom  verliess,  trug  er,  der 
grösste  Epigrammatiker  aller  Zeiten,  ein  von  dem  jüngeren  Plinius  ge- 
spendetes Reisegeld  in  der  Tasche.  Bei  der  Not,  die  ihn  fortwährend 
bedrückte,  konnte  er  die  Unabhängigkeit  seiner  Gesinnung  kauni  aufrecht 
erhalten.  Dass  er  dem  Hofe  gegenüber  eine  kriechende  Haltung  annahm, 
wird  durch  die  traurige  Zeitlage  genugsam  entschuldigt.  Verächtlich 
wird  sie  erst  von  dem  Moment  an,  als  er  vor  dem  neuen  Herrn  sich 


^)  Vgl.  Fbiedlakder  Ausg.  1, 19. 

*)  In   der  Ausgabe   in   twim  Delphini 


von  CoLLBSso  sind  nur  150  als    anstössig 
ausgeschieden  (Fbisdi<andbb  Ausg.  1, 15). 


Die  Diohterin  Snlpicia  und  andere  lyrische  Dichter.  335 

duckend  den  alten  beschimpfte  (vgl.  p.  327).  Völlig  reinwaschen  lässt  sich 
der  Dichter  in  diesem  Punkt  nicht.  Doch  hat  er  wiederum  Eigenschaften, 
die  uns  fOr  ihn  einnehmen;  er  ist  frei  von  Überhebung,  er  ist  empfanglich 
für  wahre  Freundschaft,  er  hat  eine  tiefe  Liebe  zur  Natur,  er  zeigt  keine 
Spur  von  Neid,  sein  Witz  ist  von  allem  giftigen  Wesen  frei;  für  seine 
Typen  gebraucht  er  fingierte  Namen  (praef .  I).  ^)  Als  der  jüngere  Plinius 
die  Kunde  von  seinem  Tode  erhielt,  konnte  er  nicht  bloss  seinen  Witz 
und  seinen  Scharfsinn,  er  durfte  auch  seinen  „candor  animi"  rühmen  (ep.  3, 21). 

Die  Überlieferung.  Da  Martial  ein  viel^elesener  SchriffcsteUer  war,  so  sind  viele 
Handschriften  von  ihm  erhalten.  Sie  zerfallen  in  drei  Familien.  Die  erste  Familie 
wird  gebildet  aus  dem  Yossianus  86  s.  IX  (mit  272  Epigr.),  dem  Thuaneus  der  Pariser 
Bibliothek  8071  s.  IX  (mit  846  Epigr.),  dem  Vindobonensis  277  s.  X  (mit  14  Epigr.);  aus 
derselben  Quelle  stammte  auch  eine  von  Bokgabs  verglichene  Handschrift,  deren  Varianten 
er  am  Rand  eines  Exemplars  des  Colinaeus  (1539  in  der  Hemer  Bibliothek)  notiert  hat 
(FbibdlIndbb  Ausg.  1,76).  Die  zweite  Familie  beruht  auf  der  Becension  des  Torquatus 
Gennadins  (401  n.  Ch.)  vgl.  Fbibolandib  Ausg.  1,69.  Ihre  Glieder  sind  der  verschollene 
Kodex  Gruters,  der  Palatinus  Vaticanus  1696  s.  XV,  aus  einer  alten  Vorlage  genau  abge- 
schrieben, der  ArondeUianus  136  im  brit.  Mus.  s.  XV.  Die  dritte  Familie  wird  am 
besten  repriLsentiert  durch  den  Edinburgensis  s.  X,  den  Puteanus  s.  X,  den  mit  ihm 
aufs  innigste  zusammenhängenden  Eporediensis  und  durch  den  Vossianus  56  s.  XI/XII. 

Ausgaben.  Um  die  Kritik  Martials  machten  sich  die  drei  Niederländer  Hadrianus 
Junius,  Janus  Gmterus  und  Petrus  Scriverius  sehr  verdient.  Die  Ausgaben  des  Scriverius 
(besonders  die  von  1621)  sind  für  unsem  Dichter  epochemachend.  Die  neuere  Zeit  hat 
die  Ausgaben  von  Sghvbidbwin  (eine  mit  kritischem  Apparat  Grimma  1842,  dann  eine  Text- 
ausgabe Leipz.  1853),  die  mit  deutschem  Kommentar  versehene  Fbibdlakdbbs  in  zwei 
Bänden  Leipz.  1886)  und  die  von  Gilbebt,  Leipz.  1886  hervorgebracht. 

Andere  Epigrammendichter.  Dass  noch  mancher  Römer  seine  Musestunden 
mit  dem  Dichten  des  einen  oder  des  andern  Epigramms  ausfüllte,  ist  bekannt;  so  teilt 
uns  Plinius  ep.  9, 19, 1  das  Epigramm  mit,  das  sich  L.  Verginius  Rufus  auf  sein  Grab- 
mal setzen  liess.  Von  Cn.  Octavins  Titinius  Capito  sagt  derselbe  Plinius  ep.  1, 17,3 
clarissimi  ctiinsque  vitam  egregiis  carminibua  exomat,  (Über  Brutianus  vgl.  Martial 
4,  23,4  und  über  Cerrinius  Martial  8, 18, 1.) 

15.  Die  Dichterin  Sulpicia  und  andere  lyrische  Dichter. 

416.  Das  unterschobene  Oedicht  der  Sulpicia.  Martial  spricht  in 
zwei  Gedichten  (10,  35  und  10,  38)  in  enthusiastischer  Weise  von  einer 
Sulpicia,  der  Gattin  des  Galenus;  in  dem  ersten  feiert  er  sie  als  Dichterin : 

omnes  Sulpiciam  legant  pueÜae, 
uni  quae  eupiunt  viro  placere; 
omnes  Sulpiciam  legant  mariti, 
uni  qui  eupiunt  placere  nuptae. 
non  haec  Colehidoa  asserit  furorem, 
diri  prandia  nee  refert  Thyestae; 
Seyllam,  Byblida  nee  fuisae  credit: 
sed  eastos  docet  et  probos  amores, 
lu9U8,  delicias  facetiasque, 
cuius  earmina  qui  bene  aestimarit, 
nuüam  dixerit  esse  nequiarem, 
nullam  dixerit  esse  sanctiorem. 

Am  Schluss  deutet  der  Dichter  auf  ihr  eheliches  Glück  mit  Galenus.  Dies 
ist  auch  der  Gegenstand  des  zweiten  Gedichts,  das  an  Galenus  gerichtet 
ist  und  ihm  zu  seiner  fünfzehnjährigen  Verbindung  mit  der  Sulpicia  in 
warmen  Worten  gratuliert.  Die  zwei  der  Sulpicia  beigelegten  Trimeter 
sind  obscöner  Natur.    Ausserdem  tragen  noch  70  Hexameter  den  Namen 


')  Das  Genauere  über  dieselben  bei  Fbibdländsb  Ausg.  1,22. 


336     Bömische  LitteratargeBchiehte.    IL  Die  Zeit  der  Monarolue.    1  Abteilung. 

der  Dichterin;  in  denselben  entschuldigt  sie  sich  der  Muse  gegenüber  zu- 
erst, dass  sie  jetzt  eine  andere  Dichtungsart  mit  einem  andern  Versmass 
pflege;  dann  richtet  sie  die  Frage  an  Calliope,  was  denn  der  Göttervater 
vorhabe,  ob  Rom  wieder  in  Unkultur  zurücksinken  solle.  Durch  kriege- 
rische Tüchtigkeit  sei  Rom  emporgekommen  und  habe  sich  die  Welt  unter- 
jocht, dann  aber  habe  es  sich  dem  Studium  der  Weisheit  hingegeben  und 
sei  bei  den  Griechen  in  die  Schule  gegangen;  jetzt  aber  würden  die  Phi- 
losophen aus  Rom  hinweggejagt.  Die  Muse  tröstet  die  Klagende,  die  zu- 
letzt noch  bittet,  ihren  Galenus  in  Schutz  zunehmen,  indem  sie  des  Tjrrannen 
Untergang  weissagt.  Das  Gedicht  ist  abgeschmackt  und  kann  schon 
wegen  gewisser  auf  spätere  Zeiten  0  hindeutenden  sprachlichen  Eigen- 
tümlichkeiten nicht  von  der  Sulpicia  sein;  es  gehört  einer  sehr  späten 
Zeit  an. 

Ober  die  Zeit  der  Abfassung  des  Gedichtes,  das  der  Herausgeber  gegen  die 
Überlieferung  aatira  nannte,  gehen  die  Ansichten  auseinander.  Bahrbhs  sagt,  De  Sul- 
piciae  qwte  vocatur  8aiira  p.  42 :  ego  sie  statuo,  poemaHum  nostrum  non  muUo  post  Ausonn 
tempus  compositum  esse  a  tirone  quodamy  qui  lectis  Sulpiciae  opusaUis  —  summum  eius  in 
maritum  amorem  depingere  et  ipse  cupiens  egregiam  in  Domitiani  de  phüosophis  abigendis 
edicto  ansam  nactus  aibi  videretur.  Boot,  De  Sulpiciae  quae  fertur  satira^  Amsterd.  1888 
(aus  den  Abhandlungen  der  Niederl.  Akad.)  dagegen  hielt  das  Gedicht  für  ein  Er 
Zeugnis  des  15.  Jahrhunderts.  Allein  dem  widerspricht,  dass  das  Gedicht  1493  nach  dem 
Zeugnis  des  Raphael  Volaterranus  im  Kloster  Bobio  in  einem  Kodex  aufgefunden  wurde; 
BücHELSB  (in  der  von  ihm  besorgten  zweiten  Auflage  p.  XV),  der  wie  Boot  das  Gedicht 
dem  Altertum  abspricht  {verbis  examinatis  sententiisque  ac  nominibus  mihi  persuasi  [Sul- 
piciae quae  fertur  saturam]  compositam  esse  ab  aliquo  Caecio  incondite  balbeque  iocato), 
meint  daher,  dass  das  Gedicht,  welches  in  dem  codex  Bobiensis  gefunden  wurde,  nicht  mit 
dem  unsrigen  identisch  sei.  Der  codex  Bobiensis  ist  nämlich  verschollen  und  unsere 
Quellen  für  das  Gedicht  sind  die  editio  Veneta  des  Jahres  1498,  wo  es  im  Inhaltsverzeichnis 
lieisst:  SulpUiae  carmina  LXX  (es  sind  70  Verse)  quae  fuit  Domitiani  temporibus,  nuper 
iper)  Georgii  Mendae  opera  in  lucem  edita  und  die  editio  Parmensis  des  Th.  Ugoletus  des 
Jahres  1499.  Alles  erwogen  erscheint  die  Ansicht  Boots  und  Büchelers  nicht  haltbar  und 
werden  wir  das  Gedicht  noch  dem  spätem  Altertum  zuschreiben  müssen. 

Ausgaben:  von  Wernbdobf  PLM.  3, 83;  von  Bährbns  in  der  oben  citierten  Abhand- 
lung p.  37 — 40,  in  den  PLM.  5, 93,  von  Jahn-Büchblsr  in  der  Ausgabe  des  Persius,  Jnvenal 
(1886)  p.  223.  

Andere  lyrische  Dichter: 

1)  Vestricius  Spurinna  Plin.  ep.  3, 1,7  scribit  —  et  quidem  utraque  lingua  Igrica 
doctissima, 

2)  PassennuB  Paulus  Plin.  ep.  6, 15  scribit  elegos  (9, 22).  Über  ihn  als  Nachahmer 
des  Properz  vgl.  p.  126. 

3)  Sentius  Augurinus  Plin.  ep.  4,27  {Hendecasyllaben)  vgl.  Behrens  FPL.  p.  371. 

4)  Voconius  Victor  schrieb  Liebesgedichte  {doctos  Hbellos)  auf  seinen  Thestylos 
(Martial.  7, 29). 

5)  Varro  als  Tragiker  und  Lvriker  von  Martial  gefeiert  (5,  30). 

6)  Manilius  Vopiscus,  nicht  bloss  Lyriker,  sondern  auch  Epiker  und  Satiriker 
(d.  h.  dilettantische  Spielereien).    Stat.  silv.  1, 3,  99. 

16.  Die  Eomödiendichter  Gatullus,  M.  Pomponius  und  Vergilius 

Romanus. 

417.  Verschiedene  Versuche  auf  dem  Oebiet  der  EomOdie.  Auch 
an  vereinzelten  Bestrebungen  auf  dem  Feld  der  Komödie  fehlt  es  nicht  in 
unserm  Zeitraum.  Zur  Zeit  Galigulas  schrieb  ein  Gatullus  Mimen,  einen 
Laureolus  (Suet.  Calig.  57)  und  ein  Phasma')  (Juv.  8, 186  mit  SchoL).    In 


')  So  wird  Vs.  52  „captivus*'  gehraucht, 
wozu  BücHBLER  bemerkt:    ut  nunc  Itali  lo- 


cuntur,  cattiva,  ut  OaUi,  chitive, 

^)  Friedlandbb  zu  Martial  5,30. 


D.  Janias  Juvenalia. 


337 


einer  Inschrift  aus  Aeclanum  stellt  sich  uns  ein  Eomödiendichter  des 
Namens  M.  Pomponius  Bassulus  mit  folgenden  Senaren  vor  (CIL.  9, 
1164): 

ne  more  pecoris  otio  transfungerer, 
Menandri  paucas  vorii  acitas  fabulqs 
et  ipsus  etiam  sedtüo  finxi  novas, 
id  quäle  quälest  chartis  mandatum  diu. 

Pomponius  ist  also  in  doppelter  Weise  thätig,  er  übersetzt  Menan- 
drische  Stücke,  verfasst  aber  auch  eigene  Komödien.  Allem  Anschein  nach 
lebte  der  Dichter  in  der  zweiten  Hälfte  des  ersten  Jahrhunderts.  Einen 
zweiten  Komödiendichter  lehrt  uns  der  jüngere  Plinius  kennen,  den  Ver- 
gilius  Romanus.  Wie  Pomponius  schrieb  er  Stücke  nach  Art  Menanders 
und  anderer  Dichter  der  neuen  Komödie,  später  versuchte  er  sich  in  einer 
alten  Komödie  mit  satirischer  Tendenz,  auch  Mimiamben  verfasste  er.  Wie 
viel  an  dem  Lobe  des  Plinius  wahr  ist,  lässt  sich  nicht  entscheiden  (ep. 
6,  21,  2). 

17.  D.  Junius  Juvenalis. 
418.  Biographisches.  Das  Leben  Juvenals  bietet  der  Forschung 
nicht  geringe  Schwierigkeiten  dar.  In  seinen  Gedichten  spricht  der  Dichter 
selten  von  sich;  es  geht  uns  daher  das  lauterste  Zeugnis  ab.  Die  zahl- 
reichen Vitae  aber,  die  uns  von  Juvenal  überliefert  sind,  variieren  in  einer 
Weise,  dass  es  schwer  ist,  den  trotzdem  anzunehmenden  festen  Kern  heraus- 
zuschälen. Um  so  erfreulicher  ist  es,  dass  eine  von  dem  Dichter  her- 
rührende Steinurkunde,  die  leider  jetzt  wieder  verloren  ging,  uns  für 
einige  Daten  einen  festen  Halt  gibt.  Es  ist  eine  bei  Aquinum  gefundene 
Weihinschrift,  welche  Juvenal  für  den  Tempel  der  Ceres  Helvia,  die  er  in 
seiner  Satire  3, 320  erwähnt,  bestimmt  hatte.  Aus  dieser  Inschrift  er- 
fahren wir,  dass  Decimus  Junius  Juvenalis  Tribun  der  ersten  dalmatischen 
Kohorte,  dann  Duumvir  quinquennalis,  endlich  Flamen  des  göttlichen  Ves- 
pasian  war.  Sonach  bekleidete  Juvenal  ein  Staatsamt,  dann  zwei  Ge- 
meindeämter in  seiner  Vaterstadt.  Der  Militärtribunat  war  ohne  Zweifel 
die  höchste  militärische  Würde,  welche  er  erreicht  hatte,  als  er  die  In- 
schrift setzen  liess.  Die  Kohorte,  welche  er  kommandierte,  stand  nach 
inschriftlichen  Zeugnissen  105  und  124  in  Britannien.*)  Wir  dürfen  an- 
nehmen, dass  sie  auch  dort  stand,  als  Juvenal  das  Kommando  inne  hatte. 
Dass  der  Satiriker  in  seiner  Militärzeit  viele  Länder  und  Orte  gesehen, 
ist  an  und  für  sich  wahrscheinlich,  es  legen  aber  auch  seine  Satiren  davon 
Zeugnis  ab.^)  In  seiner  Heimat  gelangte  Juvenal  zur  höchsten  Stufe,  zum 
duoviratus  quinquennalis,  d.  h.  er  bekleidete  die  Konsulwürde  verbunden 
mit  der  Zensur. ')  Auch  das  Priestertum  des  vergötterten  Vespasian  war 
ein  hochangesehener  Ehrenposten.    Diese  Gemeindeämter  haben  zur  Vor- 


^)  Hübner,  Hermes  16, 566  Rhein.  Mus. 
11,30  16,566  CIL.  7,85. 

'^)  Vgl.  HüBKEB,  Wochenschr.  f.  klass. 
Philol.  1889  nr.  49  Sp.  1344, 

')  „Die  munizipale  Censur  oder  die  sog. 
Quinquennalität  ist,  obwohl  unzweifelhaft 
nach  dem  Muster  der  stadröm.  in  der  Zeit  ent- 
wickelt,  wo  es  in  Rom  bereits   besondere 

Handbuch  der  klass.  Altertamswissenscbaft.    yUL    2.  Teil. 


Censoren  gab,  dennoch  stets  mit  dem  Ober- 
amt vereinigt  geblieben,  so  dass  die  diese.s 
Geschäft  verwaltenden  Oberbeamten  zu  ihrem 
gewöhnlichem  Titel  den  Beisatz  censoria  po- 
teMate  oder  quinquennalis  hinzunehmen*. 
MomtsEK,  Rom.  Staatsr.  2,  1^  p.  324.  Mar- 
QUABDT,  Rom.  Staatsverw.  1*,  160. 


22 


338     BömiBche  LitieratnrgeBchichte.    11.  Die  Zeit  der  Xonarchie.    1.  Abteilung. 

aussetzung,  dass  Juvenal  seinen  Wohnsitz  in  Aquinum  hatte,  ferner  dass 
er  dort  begütert  war.  Über  die  Zeit,  in  der  sich  diese  doppelte  Laufbahn 
Juvenals  abspielte,  fehlt  es  an  positiven  Daten;  wir  sind  auf  Hypothesen 
beschränkt.  Allein  es  kann  kaum  einem  Zweifel  unterliegen,  dass  der 
Militärdienst  in  die  erste  Zeit  seines  Lebens  fiel,  und  dass  die  munizipale 
Laufbahn  den  Militärdienst  nicht  unterbrach,  sondern  demselben  nach- 
folgte.*) Wir  wenden  uns  nun  zu  den  rüae;  aus  denselben  erhalten  wir 
die  Nachricht,  dass  Juvenal  bis  zum  mittleren  Lebensalter  deklamierte 
und  dann  erst  sich  der  Dichtung  zuwandte,^)  also  erst  im  reiferen  Alter 
Satiren  schrieb.  Diese  Notiz  findet  eine  Bestätigung  darin,  dass  er  in 
der  elften  Satire  auf  die  , schrumpfende  Häuf*  (203),  also  auf  ein  hohes 
Alter  hinweist.  Da  die  Satiren,  wie  wir  sehen  werden,  ohne  längere 
Unterbrechung  nacheinander  gedichtet  wurden,  so  musste  Juvenal  in  der 
That,  als  er  mit  der  Satirenschriftstellerei  begann,  schon  die  Mittagshöhe 
des  Lebens  überschritten  haben.  Über  die  Zeit,  in  der  Juvenal  Dekla- 
mator war,  belehrt  uns  Martial,  der  mehrere  Epigramme  an  Juvenal 
richtet  (7,24  7,95  12,18).  Diese  Epigramme,  welche  in  die  letzten  Jahre 
der  Regierung  Domitians  und  in  den  Anfang  der  Regierung  Traians  fallen,^) 
kennen  noch  keinen  Satiriker  Juvenal,  sondern  nur  einen  beredten  {facundus) 
Mann,  d.  h.  einen  Deklamator;  auch  setzen  dieselben  Juvenals  Aufenthalt 
in  Rom  voraus.  Nun  entsteht  die  Frage,  ist  diese  Periode  der  deklama- 
torischen Thätigkeit  vor  oder  nach  der  munizipalen  Carriere  anzusetzen? 
Die  Frage  kann  nur  durch  Hypothese  gelöst  werden.  Wenn  wir  bei 
Martial  noch  lesen  (12, 18, 4),  dass  Juvenal  sich  um  die  Gunst  der  vor- 
nehmen Leute  ernstlich  bemüht,  so  werden  wir  geneigt  sein,  anzunehmen, 
dass  Juvenal  zuerst  in  Ron!  mit  Hilfe  der  Rhetorik  vorwärts  zu  kommen 
suchte,  und  erst  als  dies  misslang,  seine  Heimat  aufsuchte,  um  dort  zu 
einem  bescheideneren  Ziel  des  Ehrgeizes  zu  gelangen.^)  Die  Satiren  aber 
werden  grösstenteils  in  Rom  geschrieben  sein,  die  dritte  Satire  wenigstens 
lässt  unsern  Dichter  in  Rom  verweilen.  Also  muss  Juvenal  doch  nicht 
für  immer  seinen  Aufenthalt  in  Aquinum  genommen  haben,  später  zog  es 
ihn,  wie  es  scheint,  wieder  nach  der  Hauptstadt. 

Aus  dem  Gesagten   ergeben   sich  folgende  wahrscheinliche   Epochen 
im  Leben  Juvenals:    1)  Militärdienst  in  verschiedenen  Ländern;   2)  rheto- 


^)  i^Dass  sowohl  dor  Müitärdienst  als  die 
Bekleidung   von   Munizipalämtem   und    des 


2)  Vita  II  d  (Barber.  9, 3)  Dübr  p.  24  hie  ämo 
tetnpoi'e  videns  luxuriam  »cribentium  nimiam^ 


Flaminats  in  Juvenals  frühere  Lebenszeit  fällt,   |   licet  iisque  ad  dimidiam  aeiatem  suac  taniittftft 
kann  mit  Sicherheit  angenommen  werden".    1   ritae,  tarnen  satira«  describere  statuit.    Vit« 


(Friedlakdeb,  Sittengesch.  3^,  494.)  «Dass  er 
die  munizipalen  Ämter  vor  den  höchsten 
militärischen  bekleidet  haben  sollte,  wider- 
spräche aller  Wahrscheinlichkeit".  »Viel- 
mehr wird  nach  der  Analogie  zahlreicher 
ähnlicher  Ämtercarrieren,  die  aus  Inschriften 
bekannt  sind,  anzunehmen  sein,  dass  er  erst 
nach  völligem  Abschluss  der  militärischen 
die  munizipale  Laufbahn,  vielleicht  mit  Uber- 
springung  der  gewöhnlichen  Vorstufen  be- 
gann*.    ^HÜBKEB  1.  c.  Sp.  1373). 


Illa  (Dürr  p.  24)  prima  aetcUe  siluit,  ad  mediam 
fere  aetaiem  deelamamt. 

')  Frirdländbr  setzt  sie  in  die  Jahre 
92  und  Anf.  102. 

"•)  Hübneb  1.  c.  Sp.  1370;  Dürr  p.  17  lässt 
die  deklamatorische  Thätigkeit  nach  dem  Ab- 
schluss seiner  militärischen  und  politischen 
Laufbahn  erfolgen,  weiterhin  schiebt  er  die 
politische  Carriere  in  die  militärische  ein 
(p.  16). 


D.  JaniiuB  Juvenalis.  339 

rische  Thätigkeit  im  reiferen  Alter  in  Rom ;  3)  Amtslaufbahn  in  Aquinum ; 
4)  Satirensehriftstellerei  in  Rom. 

Gestorben  ist  er  einem  Zeugnis  einer  Vüa  zufolge  erst  unter  Anto- 
ninus  Pius,  an  welchem  Orte,  darüber  fehlt  es  an  einer  Nachricht. 

Allgemeine  Litteratur  über  das  Leben  Jnvenals.  Borghesi  Intorno  all  V/r) 
di  Giovenale  {oeuvres  5,49);  SvirnfiBBERG,  De  temporibus  vitae  carminumque  D.  Junii  Ju- 
renaiis  rite  constUuendis,  Helsingfors  1866;  Friedländer,  De  Juv,  vitae  iemporibus,  Eönigsb. 
1875;  Sittengesch.  3*,  486:  Nagüiewski,  De  Jia\  rita,  Riga  1883;  Nbttleship,  Life  and 
poems  of.  J.  (Journal  of  phU.  16,41);  Seehacs,  De  Juv,  vita,  Halle  1887;  Dürr,  Das  Leben 
Juvenals,  Ulm  1888;  Hübner,  Juvenal  der  römische  Satiriker  (Deutsche  Rundschau  17.  Jahrg. 
Heft  9  Juni  1891  p.  391-406). 

Die  Inschrift  lautet  nach  dem  CIL.  10,5382  also:  (Cere)ri  aacrum  (D.  Ju)niug 
Juvenalis,  (trib.)  coh{artis  I)  Delmatarum,  II  (vir)  quinq(uennali8),  flamen  divi  Vestpasiani, 
vovit  dedicav{itq)ue  sua  peciunia).  Über  den  Stein:  atetisae  videtur  ad  ipaam  aedem  Cereris 
Helnnae  vel  Elvinae  patius  dedicatam  prope  Rocraaeccam  ab  Elvio  quodam  Elpiave,  cuius 
gentis  non  desuni  in  his  partibus  lapides  (nr.  5585).  Der  dedicierte  Gegenstand  wird  ein 
Altar  gewesen  sein. 

Die  Vitae.  Dieselben  sind  zuletzt  zusammengestellt  und  nach  Typen  gruppiert  von 
Dürr  p.  21.  Auch  macht  derselbe  einen  Versuch,  die  Urvita  zu  konstruieren  (p.  26). 
Allein  die  Diskrepanzen  sind  zu  gross,  um  einen  solchen  Versuch  als  ausführbar  erscheinen 
zu  lassen.  Bei  der  Benützung  der  vita  ist  an  dem  Grundsatz  festzuhalten,  dass  von  dem 
Berichteten  nur  das,  was  nicht  aus  dem  Schriftsteller  selbst  erschlossen  werden  kann,  An- 
spruch auf  den  Glauben  an  eine  ältere  Tradition  hat.  Weiterhin  ist  auch  zu  beachten, 
dass,  wenn  die  vitae  über  einen  Gegenstand  sehr  differieren,  eine  ältere  Quelle  fehlt  und 
nur  Kombinationen  vorliegen. 

Das  Geburtsjahr.  In  einer  von  Dürr  p.  28  publizierten  vita  des  Cod.  Barberinus 
VIII,  18,  welche  als  Elaborat  eines  Humanisten  anzusehen  ist,  findet  sich  die  merkwürdige 
Stelle  „Juniua  Jurenalis  Äquinas  Junio  Juvenale  patre,  matre  vero  Sepfumuleia  ex  Aqui- 
nati  tnunicipio  Claudio  Nerone  et  L,  Antistio  consuUbus  natus  est.  Sororem  habuit  Septu- 
muleiam,  quae  Fuscino  nupsit.  Es  scheint,  dass  uns  hier  Nachrichten  gegeben  werden,  die 
aus  einer  wirklichen  Tradition  stammen.  Das  Geburtsjahr  des  Dichters  wäre  darnach 
55  V.  Ch.    Der  Versuch  Friedlanders  (vgl.  zuletzt  Sittengesch.  3^,  487)  die  Verse  13, 16: 

stupet  haeCy  qui  iam  post  terga  reliquit 
sexaginta  annoa,  Fonteio  consüle  natus 
auf  Juvenal  zu  beziehen  und  demnach  das  Geburtsjahr  67  n.  Ch.  für  denselben  anzusetzen, 
ist  entschieden  missglückt.    Jene  Worte  können  dem  Zusammenhang  nach  nur  auf  den 
Angeredeten,  nicht  auf  Juvenal  gehen.    Vgl.  die   treffliche  Erörterung   Schwabes,  Rhein. 
Mus.  40,  25. 

Die  angebliche  Verbannung  Juvenals.  Wir  haben  im  Texte  derselben  gar 
keine  Erwähnung  gethan,  weil  wir  sie  nirgends  rationell  unterbringen  konnten  und  weil 
sie.  selbst  ihre  Reell ität  vorausgesetzt,  keine  Spur  im  dichterischen  Schaffen  Juvenals  zurück- 
gelassen hat.  Allein  mit  dieser  Reellität  ist  es  sehr  schlecht  bestellt.  Der  Bericht,  der 
aus  den  vitae  herausgeschält  werden  kann,  lautet  etwa:  Juvenal  machte  unter  Domi- 
tian  auf  dessen  Pantomimen  Paris  mehrere  Verse;  als  er  späterhin  die  siebente  Satire 
schrieb,  fügte  er  jene  Verse  in  dieselbe.  Nun  traf  es  sich  aber,  dass  unter  einem 
späteren  Kaiser  (Hadrian,  wie  man  gewöhnlich  annimmt)  ein  Schauspieler  ebenfalls  grossen 
Einfluss  gewonnen  hatte.  Man  betrachtete  daher  diese  spätere  Einschiebung  jener  Verse 
als  einen  Spott  auf  die  Gegenwart.  Die  Folge  war,  dass  Juvenal  durch  Übertragung  eines 
militärischen  Kommandos  in  einen  entfernten  Teil  des  Reiches  verbannt  wurde.  Allein 
schon  dieser  Bericht  von  der  Veranlassung  des  Exils  ist  unglaubwürdig;  jene  Verse,  die 
später  eingeschoben  sein  sollen,  verraten  diesen  späteren  Einschub  in  keiner  Weise,  sondern 
stehen  ganz  an  ihrem  Platz  (Vablen,  Sitzungsber.  der  Berl.  Akad.  1883,  1175),  sind  also 
nicht  zur  Zeit  Domitians  gedichtet,  sondern  in  der  Zeit,  in  welcher  die  siebente  Satire  ent- 
stand. Aber  auch  über  die  Zeit  und  den  Ort  der  Verbannung  differieren  die  Angaben  der 
vitae  in  einer  Weise,  dass  man  sieht,  dass  sie  nicht  aus  einer  unabhängigen  antiken  Quelle 
schöpfen.  Es  bleibt  also  nichts  als  die  nackte  Tliatsache  des  Exils.  Aber  wir  vermögen 
dasselbe  nirgends  mit  Probabilität  in  das  Leben  Juvenals  einzureihen.  Setzen  wir  die  Ver- 
bannung unter  Domitian*)  an,  zu  dessen  Grausamkeit  sie  passen  würde,  so  stehen  wir 
dann  vor  der  unerklärlichen  Thatsache,  dass  die  nach  Domitian  erschienenen  Satiren  der- 
selben keine  Erwähnung  thun.    Nehmen  wir  aber  an,  dass  Juvenal  nach  Abschluss  der 

')  Wie  es  Friedlander  thut,  Sittengesch.  3^,  493. 

22* 


340    Römiache  Litteratargeschichte.    Ü.  Die  Zeit  der  Xonarchie.    1.  Abteilung. 


Satiren  (von  Hadrian)  verbannt  wurde,  so  fehlt  es  an  einem  haltbaren  Anlass  zu  der 
Verbannung;  auch  ist  dann  die  Notiz,  dass  Juvenal  mit  einem  militärischen  Kommando 
betraut  wurde,  bei  dessen  hohen  Alter  eine  pure  Unmöglichkeit.  Obwohl  das  Exil  auch 
von  Malalas  Chronogr.  10, 262  Bind,  und  Sidonius  Apollinaris  9, 269  bezeugt  ist,  so  können 
wir  nach  dem  Gesagten  demselben  keine  Stelle  im  Leben  Juvenals  einräumen  und  mOssen 
dieselbe  als  eine  Dichtung  ansehen.  —  Strack,  De  Juvenalis  exilio,  Laubach  1880;  Ritt- 
WEOEB,  Die  Verbannung  Juvenals,  Bochum  1886;  Fribdländer,  Sittengesch.  3«,  492; 
Hübner,  Wochenschr.  für  klass.  Philol,  1889  nr.  50  Sp.  1374. 

419.  Der  Inhalt  der  einzelnen  Satiren.  In  dem  ersten  Stück 
rechtfertigt  der  Dichter  seinen  Vorsatz,  Satiren  zu  schreiben.  Angesichts 
der  grossen  Verderbnisse  der  Zeit  könnte  man  eher  sagen:  difficile  est 
satiram  non  scribere.  Er  findet  es  daher  unbegreiflich,  wie  manche  mit 
langweiligen  mythischen  Epen  sich  und  ihre  Leser  abmühen  mögen.  Eine 
Reihe  knapper  Bilder  von  den  damals  grassierenden  Lastern,  welche  er  an 
unsern  Augen  vorüberziehen  lässt,  zeigt  den  überreichen  Stoff.  Sein  Pro- 
gramm ist  (85): 

quidquid  aguni  homines,  t>otum,  HmoTf  ira,  roluptas, 
gaudia,  distcursus,  nostri  farrago  libelli  est. 

Das  erste  Thema,  die  zweite  Satire,  gilt  der  Männerwelt;  seinen  Unwillen 
erregen  besonders  diejenigen,  welche  nach  aussenhin  die  Tugendhelden 
spielen,  im  stillen  aber  unnatürlichen  Lastern  ergeben  sind,  denn  (24) 

quis  iulerit  Gracchos  de  seditione  querentes? 

Dann  schildert  er  die  Verweichlichung  der  Männer  und  ihre  frevelhaften 
geschlechtlichen  Verbindungen.  Die  „Gefahren  der  Grossstadt"  ist  der  Stoff 
der  dritten  Satire.  Umbricius  wandert  von  Bom  aus  und  erörtert  die 
Gründe,  die  ihn  dazu  bestimmten.  In  Rom  sei  es  einem  ehrlichen  Mann 
unmöglich  anzukommen,  hier  dominieren  die  Griechlein,  ohne  Reichtum 
sei  man  in  einer  bejammernswerten  Lage,  auch  riskiere  man  durch  den 
Einsturz  der  Häuser,  Peuersbrunst,  den  sich  drängenden  engen  Verkehr  in 
den  Strassen,  durch  rohe  Angriffe  in  der  Nacht  von  Seiten  der  Trunkenbolde 
und  Strassenräuber  Gefahr  an  Leib  und  Leben.  Die  vierte  Satire*)  führt 
uns  an  den  Hof  des  Domitian.  Nach  einer  gegen  den  Emporkömmling 
Crispinus  gerichteten  Invektive  erzählt  er  eine  Geschichte,  die  sich  dort 
zugetrugen.2)  Ein  Fischer  hatte  bei  Ancona  eine  übergrosse  Steinbutte 
gefangen.  Er  macht  dieselbe  dem  Kaiser  zum  Geschenk  und  bringt  bei 
der  Übergabe  die  charakteristische  Schmeichelei  an,  dass  der' Fisch  selbst  ge- 
fangen sein  wollte,  um  zum  Kaiser  zu  gelangen.  Für  die  Zubereitung 
des  Fisches  fehlt  es  an  einer  entsprechenden  Schüssel.  Es  wird  daher 
ein  Kronrat  berufen,  als  wenn  es  sich  um  eine  wichtige  Staatsangelegen- 
heit handele.  Der  Dichter  charakterisiert  vortreflflich  die  herbeieilenden 
Grossen  des  Reichs.  Der  Beschluss,  der  gefasst  wird,  geht  dahin,  dass 
für  den  Fisch  sofort  eine  eigene  Schüssel  angefertigt  werden  soll.  Der 
unwürdigen  Behandlung  der  Klienten  von  seiten  der  Patrone  ist  die  fünfte 
Betrachtung  gewidmet;  drastisch  wird  die  Zurücksetzung  derselben  beim 
Mahle  geschildert,  wo  der  Herr  die  besten  Speisen  und  Getränke  für  sich 


')  Wahrscheinlich  ahmte  in  derselben 
Juvenal  das  Gedicht  des  Statins,  De  hello  Ger- 
manico  nach.    (Böchsleb,  Rh.  Mus.  39, 283). 

«)  Dass  diese  Einleitung  (1—27)  mit 
dem  nachfolgenden  Teil  der  Satire  in  keinem 


Zusammenhang  steht,  scheint  mir  festzustehen ; 
um  sie  anzubringen,  wurden  die  Verse  28—36 
eingeschaltet  (Friedlandbb,  Sittengesch.  3^, 
493;  Gyllino  I  p.  40). 


D.  JaniaB  JnvenaliB.  341 

reserviert  und  den  armen  Klienten  nur  Gewöhnliches  und  Schlechtes  vor- 
setzen lässt.  Die  sechste  Satire,  die  umfangreichste  von  allen,  malt  uns 
mit  düsteren  Farben  die  Untugenden  des  weiblichen  Geschlechts.  Anlass 
gibt  ihm  hiezu  die  bevorstehende  Vermählung  des  Postumus.  Die  un- 
würdige Stellung  und  die  karge  Entlohnung  der  gelehrten  Berufsarten 
wird  in  der  siebenten  Satire  entwickelt;  Dichter,  Geschichtschreiber,  Ad- 
vokaten, Rhetoren,  Grammatiker  werden  uns  von  dem  Autor  vorgeführt.  Aber 
der  neue  Kaiser,  so  heisst  es  gleich  im  Eingang,  erweckt  die  Hoffnung, 
dass  auch  für  die  Poesie  bessere  Zeiten  heranbrechen  werden.  Das  Thema 
der  achten  Satire,  die  sich  an  Ponticus  wendet,  ist  der  Satz,  dass  vornehme 
Geburt  ohne  innere  Tüchtigkeit  wertlos  sei.  Hier  lesen  wir  die  schönen 
Verse  (83): 

summtitn  crede  nefaa,  animam  praeferre  pudori 
et  propter  vitam  vivendi  perdere  causcts. 

Die  neunte  Satire  hat  die  Form  eines  Gesprächs  zwischen  dem  Dichter 
\  und  Naevolus.  Der  letztere,  der  aus  der  Unzucht  ein  Gewerbe  machte, 
sah  betrübt  darein;  als  ihn  Juvenal  nach  dem  Grund  fragte,  erhielt  er 
den  Bescheid,  dass  sein  Metier  ihm  nicht  mehr  viel  eintrage,  die  alten 
Kerle  seien  schmähliche  Geizhälse,  doch  empfindet  Naevolus  sofort  Reue 
ob  seiner  offenen  Worte,  denn  er  fürchtet  die  Rache  seiner  Herren, 
so  dass  es  einiger  beruhigender  Worte  des  Dichters  bedarf.  Wiederum 
ein  philosophisches  Thema  finden  wir  in  der  zehnten  Satire  erörtert  «die 
Kurzsichtigkeit  der  menschlichen  Wünsche".  Welche  Gefahren  oft  Reich- 
tum, mächtige  politische  Stellung,  rednerische  Tüchtigkeit,  Kriegsruhm,  hohes 
Alter,  Schönheit  mit  sich  bringt,  wird  in  fesselnder  Weise  dargelegt.  Am 
besten  ist  es,  schliesst  der  Dichter,  den  Göttern  zu  überlassen,  was  sie 
uns  bescheren  wollen,  da  diese  die  Zukunft  kennen.  Will  man  aber 
durchaus  nicht  auf  die  Wünsche  verzichten,  so  soll  der  vornehmste  sein 
(356): 

ut  Sit  mens  sana  in  corpore  sano» 

Der  elften  Satire  liegt  eine  Einladung  zu  einem  am  Megalesienfest  ge- 
gebenen Mahle  an  Persicus  zu  Grund.  Mit  einer  kurzen  Betrachtung 
über  die  Folgen  der  Schwelgerei  hebt  das  Gedicht  an,  es  folgt  die  Ein- 
ladung mit  einer  lieblichen  Schilderung  der  Einfachheit  der  alten  Zeit. 
Ein  an  jene  Zeit  erinnerndes  Mahl  soll  auch  der  Gast  Juvenals  erhalten, 
dasselbe  wird  im  Gegensatz  zu  der  damaligen  Schwelgerei  anmutig  skiz- 
ziert. Die  zwölfte  Satire  wendet  sich  an  Gorvinus  und  erzählt  ihm,  dass 
ein  Freund  Juvenals,  CatuUus,  aus  einem  heftigen  Seesturm  glücklich  ent- 
kam; für  dessen  Errettung  wolle  er  das  gelobte  Opfer  darbringen,  erb- 
schleicherische Nebenabsichten  hege  er  aber  dabei  nicht,  denn  Catull  sei 
mit  drei  Kindern  gesegnet.  Ein  Vorfall  des  gewöhnlichen  Lebens  gibt 
den  Stoff  für  die  dreizehnte  Satire  ab.  Calvinus  war  um  eine  Summe 
Geldes  geprellt  worden.  Juvenal  sucht  ihn  darob  zu  trösten,  der  Verlust 
sei  ja  nicht  so  erheblich,  in  der  schlimmen  Zeit  könne  so  etwas  leicht 
passieren,  übrigens  trage  der  Betrüger  die  ärgste  Strafe  in  sich,  indem 
er  von  dem  Bewusstsein  der  Schuld  gefoltert  würde.  Die  vierzehnte  an 
Fuscinus  gerichtete  Satire  behandelt  ein  pädagogisches  Thema,  sie  unt^r- 


342    Bömische  LitteratnrgeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

sucht  die  Schädlichkeit  des  bösen  Beispiels,  das  die  Eltern  ihren  Kindern 
geben,  während  doch  als  Leitstern  der  Erziehung  der  Satz  vorschweben 
sollte  (47): 

mojcima  dehetur  puero  reverentta. 

Besonders  das  schlimme  Laster  der  Habsucht  werde  durch  die  Eltern  gross 
gezogen.  In  der  fünfzehnten  Satire,  in  der  Yolusius  Bithynicus  ange- 
redet wird,  ist  der  Schauplatz  Ägypten.  Nachdem  sich  der  Dichter  zuerst 
tadelnd  über  den  schändlichen  Kultus  der  Ägypter  ausgelassen,  erzählt  er 
einen  schrecklichen  Fall  von  Barbarei.  Zwei  ägyptische  Stämme,  welche 
der  religiöse  Fanatismus  in  bittere  Feindschaft  getrieben,  hatten  einen  Zu- 
sammenstoss.  Als  der  eine  Stamm  in  die  Flucht  geschlagen  war,  geriet 
einer  der  Kämpfenden  in  die  Hand  der  Sieger.  Da  geschah  das  Uner- 
hörte. Die  erbitterten  Gegner  schnitten  den  Unglücklichen  in  Stücke  und 
frassen  ihn  auf.  An  die  grauenhafte  That  werden  einige  allgemeine  Be- 
trachtungen geknüpft.  Die  sechzehnte  Satire  ist  ein  Fragment,  der 
letzte  Teil  ist  in  dem  Archetypos  durch  Blattverlust  uns  entzogen.  In 
dem  Vorhandenen  schildert  der  Dichter,  Gallius  anredend,  die  Über- 
legenheit des  Militärstandes  in  Bezug  auf  das  Rechtsleben.  Der  Bürger- 
liche ist  von  vornherein,  wenn  er  eine  Klage  über  eine  Militärperson  er- 
hebt, in  einer  nachteiligen  Lage,  denn  er  muss  sich  an  ein  Militärgericht 
wenden  und  hat  selbst  im  Fall  des  Obsiegens  noch  mit  dem  Korps- 
geist abzurechnen.  Klagt  dagegen  ein  Soldat,  so  findet  er  die  prompteste 
Justiz.  Weiter  ist  der  Militärperson  das  Becht,  noch  zu  Lebzeiten  des 
Vaters  zu  testieren,  eingeräumt,  so  dass  der  Vater  sogar  bei  seinem  eigenen 
Sohn  Erbschleicherei  treiben  kann. 

Die  16  Satiren  sind  unter  der  Regierung  Traians  und  Hadrians  ge- 
schrieben. Sie  sind  chronologisch  angeordnet  und  in  5  liücher  eingeteilt 
und  zwar  in  der  Weise,  dass  sat.  1  —  5  =  LI,  sat.  6  =  1.  II,  sat.  7 — 9 
=  1.  III,  sat.  10—12  =  1.  IV,  sat.  13—16  =  1.  5  sind.  Ihre  Veröffent- 
lichung erfolgte  successiv. 

Gylling,  De  argumenti  dispositione  in  saiiris  I— VIII  Juv,  Lund  1886;  de  argum. 
dispos,  in  satiris  IX~XVI  Juv.  Lund  1889. 

Die  UnVollständigkeit  der  letzten  Satire  wurde  lange  Zeit  in  der  Weise  er- 
klärt, dass  man  annahm,  Juvenal  habe  dieselbe  nicht  vollendet.  Dass  diese  Annahme  un- 
richtig ist,  sucht  BücHELEB  dadurch  darzuthun  (Rh.  Mus.  29,  636),  dass  er  zeigt,  dass  im 
Archetypos  mit  dem  Verse  60  ein  Blatt  geschlossen  habe.  Aber,  wie  Beer  ausfährt,  bedarf 
es  hier  des  Archetypos  gar  nicht,  sondern  genügt  für  die  Erklärung  der  Montepessulanus. 
Hier  schliesst  mit  jenem  Verse  die  letzte  Zeile  des  letzten  Quaternio  (vgl.  SpiciUg.  Ju- 
venaL,  Leipz.  1885  p.  47,  zustimmend  Uosius  de  Juv,  cod.  recens.  Interpol,  p.  11).  Diese  Er- 
klärung schliesst  aber  die  weitere  Annahme  in  sich,  dass  unsere  Handschriften,  welche 
sämtlich  mit  jenem  Verse  abbrechen,  aus  dem  Montepessulanus  abzuleiten  sind.  Ist  die 
letzte  Satire  nur  durch  einen  äussern  Zufall  unvollendet,  so  fallen  damit  die  Kombinationen 
weg,  dass  Juvenal  durch  den  Tod  an  der  Vollendung  der  Satire  gehindert,  und  dass 
demnach  das  Korpus  von  fremder  Hand  ediert  wurde. 

Chronologie  der  fünf  Bücher.  In  der  ersten  Satire  ist  der  Verurteilung  des 
Marius  Priscus,  die  99/100  n.  Ch.  erfolgte,  gedacht  (49).  Also  ist  die  Satire  nach  diesem  Jahre 
geschrieben.  Noch  weiter  herab  führt  die  Anspielung  auf  den  gefährlichen  Delator  M.  Aquilius 
Regulus  (83),  die  höchstwahrscheinlich  erst  nach  dessen  Tod,  der  zwischen  (105  — 107)  an- 
gesetzt wird,  gemacht  wurde  (Dübr,  Das  Leben  Juvenals  p.  18  Anm.  75).  Wir  kommen 
also  in  die  Zeit  Traians.  Da  die  erste  Satire  als  Einleitung  allem  Anschein  nach  zuletzt 
geschrieben  wurde,  so  wären  auch  die  übrigen  Satiren  des  ersten  Buchs  noch  ins  Auge 
zu  fassen.  Dieselben  müssen  nach  Domitian  geschrieben  sein.  Die  vierte  Satire  spricht 
ausdrücklich  vom  Tode  Domitians  (153).  Die  zweite  Satire  enthält  einen  heftigen  Angriff  auf 


D.  Jonins  JuTenalia. 


343 


Domitian  (29),  die  dritte  einen  Angriff  auf  einen  GUnstling  Domitians,  auf  den  Delator 
Veiento  (185).  Von  vornherein  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass  zu  Lebzeiten  Domitians  und 
Veientos  Juvenal  jene  Angriffe  sich  gestattet«;  übrigens  sagt  der  Dichter  in  seinem  Pro- 
gramm selbst,  dass  seine  Satire  Verstorbene  treffen  soll  (170).  Da  Veiento  noch  unter 
Nerva  lebte  (Borghesi  oeuvres  5,511),  so  werden  wir  auch  mit  der  dritten  Satire  in  die 
Trajanische  Zeit  herabgehen  mtlssen.  Die  fünfte  Satire  enthält  keine  chronologischen 
Indicion.  Sonach  werden  wir  den  Satz  aussprechen  dürfen,  dass  Juvenal  erst  nach 
Domitian  seine  Satiren  schrieb.*)  Die  Worte  des  Programms  „nostri  farrago  lihelli 
est**  (86)  weisen  auf  einen  für  sich  bestehenden  libellus  hin.  Dass  dieser  Jibellus  nicht 
alle  16  Satiren  umfasste,  lehrt  die  Betrachtung  der  Zeitverhältnisse.  Die  Satiren  des 
ersten  Buchs,  das  Programm  inbegriffen,  umschliessen  einen  bestimmten  Zeitraum.  Wir 
werden  daher  als  Inhalt  des  libellus  die  Satiren  des  ersten  Buchs  zu  betrachten  haben. 
Daran  wird  sich  weiter  die  Vermutung  anknüpfen  lassen,  dass  auch  die  übrigen  vier 
Bücher  vom  Dichter  gewollte  Einheiten  sind ;  dass  dieselben  zugleich  successiv  ans  Tages- 
licht traten,  lehren  wiederum  die  in  ihnen  liegenden  Zeitindicien.  Jedes  Buch  ist,  soweit 
wir  sehen  könen,  später  als  das  vorausgehende.  Die  sechste  Satire,  welche  das  zweite 
Buch  ausmacht,  fällt  in  die  letzten  Regierungsjahre  Traians,  denn  es  ist  hier  398  von  einer 
Neuigkeitskrämerin  die  Rede,  welche  von  einem  Kometen,  von  einem  Erdbeben  u.  a.  er- 
zählt. Ein  Komet  wurde  im  November  115  gesehen,  ein  Erdbeben  fand  am  13.  Dezember 
115  in  Antiochia  statt.  Von  dem  letzteren  konnte  vor  116  in  Rom  nicht  gesprochen  werden. 
Also  wird  die  Satire  in  dieses  Jahr  fallen.  Die  siebente  Satire,  welche  den  Anfang  des 
dritten  Buchs  bildet,  erwähnt  als  Hoflhung  der  Dichter  einen  Kaiser;  da  das  zweite  Buch 
in  das  Ende  der  Regierungszeit  Traians  fiel  und  Hadrian  ein  ungleich  grösseres  Interesse 
der  Litteratur  entgegenbrachte  als  Traian,  so  ist  kaum  zweifelhaft,  dass  mit  dem  Kaiser 
Hadrian  gemeint  ist.  Sonach  fällt  die  Herausgabe  des  dritten  Buchs  in  die  Regierungszeit 
Hadrians  und  zwar  in  den  Anfang  (etwa  120).^')  Wir  wenden  uns  zu  dem  fünften  Buch, 
für  welches  auch  zwei  Daten  ermittelt  sind.  13, 17  wird  von  einem  Mann  gesprochen,  qui 
tarn  post  terga  reliquit  sexaginta  annos  Fonteio  consule  natus.  Das  Konsulat  des  Fonteius, 
das  lediglich  hier  in  Betracht  kommen  kann,  fällt  in  das  Jahr  67 ;  da  der  Dichter  60  Jahre 
seit  diesem  Konsulat  vergehen  lässt,  setzt  die  dreizehnte  Satire  das  Jahr  127  voraus.  15, 27 
ist  die  Rede  von  dem  „nuper  consul  Juncus**.  Dessen  Konsulat  gehört  dem  Jahr  127  an, 
also  kann  die  Satire  nicht  vor  128  verfasst  sein.  Die  Zeit  des  vierten  Buchs  bestimmt 
sich  durch  das  Intervallum,  das  zwischen  dem  dritten  und  dem  fünften  Buch  liegt.  — 
Borghesi,  Oeuvres  5,49  und  509;  Fbisolandeb,  De  JuvemUis  vitae  temparibtts,  Königsberg 
1875,  Sittengesch.  3«,  486. 

Keine  doppelte  Redaktion  der  Satiren.  Teuffel  (Stud.  und  Charakterist. 
p.  424)  glaubt,  dass  manche  Stellen  zur  Annahme  einer  doppelten  Redaktion  der  Satiren 
hindrängen  wie  1,73—76  =  77—80,  3,113—118  (nachträgliche  Einschaltung),  5,92—98 
=  99—102,  6,178-183  =  166  fg.,  6,582—84  =  589—91,  9,118-119  r^  120-123, 
8, 147  (Diskrepanz  der  Lesarten).  Allein  diese  Ansicht  hält  näherer  Prüfung  nicht  Stand 
(vgl.  ScHöNAicH,  Quaest.  Juv.,  Halle  1883  p.  12;  Mosbnoel,  Vindiciae  Jut),,  Erlanger  Diss. 
(Leipzig)  1887  p.  7.  Die  Worte  der  vita  IV  (V  Dürr)  „in  exilio  ampliavit  satiras  et  plera- 
que  mtUavit*'  sind  an  und  für  sich  unglaubwürdig.  Mit  Recht  nennt  Vahlen  diese  Hypo- 
these {Ind.  lect.  aestiv.  Beröl.  1884,  p.  30)  ein  „nebulosum  commentum". 

420.  Charakteristik  Juvenals.  Bei  keinem  Schriftsteller  ist  es  so 
notwendig,  zur  richtigen  Wertschätzung  desselben  die  äusseren  Umstände, 
unter  denen  seine  Werke  zu  Stande  kamen,  ins  Auge  zu  fassen  als  bei 
Juvenal.  In  der  Darlegung  der  Lebensverhältnisse  des  Dichters  haben 
wir  gesehen,  dass  er  erst  im  reiferen  Alter  sich  von  der  Rhetorik  der 
Satire  zuwandte,  ferner  dass  er  erst  unter  dem  milden  Regiment  Trajans 
seine  Satirensehriftstellerei  begann.  Diese  Zeit  aber,  die  nach  der  Tyrannei 
Domitians  als  das  Morgenrot  einer  glücklichen  Zukunft  aufleuchtete,  reizte 
gewiss  nicht  zum  Angriff  und  zum  Spott,  mochten  auch  in  der  damaligen 
Gesellschaft   noch    soviel   Schäden   verborgen    sein.     Was    thut   nun   der 


')  Die  Annahme,  dass  Satiren  zwar  unter 
Domitian  geschriehen,  aher  erst  nach  seinem 
Tod  herausgegeben  wurden  (SnorEBBERO,  De 
temporibus  vitae  etc.,  p.  60),  hat  nichts  für 
sich. 


')  Die  Einleitung  scheint  erst  nachträg- 
lich beim  Thronwechsel  hinzugefQgt  worden 
zu  sein,  da  zwischen  derselben  und  dem 
eigentlichen  Gedicht  kein  Zusammenhang  be- 
steht (Fbiedlander,  Sittengesch.  3*,  491). 


344    Itömische  LitteraiargeBchichte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


Dichter?  Darüber  belehrt  er  uns  in  seinem  Programm.  Nachdem  er  dort 
die  Yerderbtheit  seiner  Zeit  in  drastischen  Zügen  gekennzeichnet  und  mit 
dem  bekannten  Verse  (79) 

si  natura  negat,  facU  indignatio  reraum 

die  Spitze  en^eicht  hatte,  müssen  wir  uns  nicht  wenig  wundern,  wenn  er 
am  Schluss  seiner  zornigen  Rede  den  Entschluss  kundgibt: 

experiar,  quid  concedatur  in  illos, 
quomm  Flaminia  tegitur  cinis  atque  Latina, 

Also  nur  gegen  Verstorbene  will  er  mit  seinen  Angriffen  vorgehen;  und 
soweit  wir  sehen  können,  ist  Juvenal  diesem  Vorsatz  treu  geblieben,  ausser 
Verstorbene  nennt  er  höchstens  Leute,  die  ihm  nicht  mehr  schaden 
können,  wie  Verurteilte  und  Personen  niederen  Standes.^)  Seine  Satire 
hat  also  ihre  Wurzeln  in  der  Vergangenheit,  sie  lebt  und  webt  in  der  Er- 
innerung. Seine  Entrüstung  kann  daher  nur  eine  künstlich  angefachte  sein, 
da  sie  nicht  unmittelbar  aus  dem  Leben  ihre  Nahrung  empfängt.  Sie  ver- 
fallt leicht  in  eine  unnatürliche  Steigerung  und  wird  zum  Pathos,  und 
hiebei  kommt  dem  Dichter  der  Rhetor  zu  Hilfe.  Seine  Satire  wird  des- 
halb unwillkürlich  zur  Deklamation;  durch  vorwurfsvolle  Fragen,  durch 
staunende  Ausrufe,  durch  spitze  Sentenzen,  durch  Übertreibung  und  Häu- 
fung, durch  unvermittelte  Aneinanderreihung  der  Gedanken  will  sie  auf 
den  Hörer  oder  Leser  Eindruck  machen ;  die  Redeweise  ist  oft  geschraubt 
und  nicht  selten  dunkel.  In  der  Darstellung  verschieben  sich  mitunter 
die  Grenzen  der  Vergangenheit  und  der  Gegenwart.*)  Das  Verständnis  des 
Dichters  ist  daher  nicht  leicht. 

Der  deklamierende  Dichter  ist  aber  zugleich  ein  Mann,  der  die  Mit- 
tagshöhe des  Lebens  überschritten  hat  und  allen  Vermutungen  nach  auf 
eine  an  Enttäuschungen  reiche  Vergangenheit  zurückblickt;  ein  solcher 
Mann  ist  nur  zu  leicht  geneigt,  alles  von  der  trüben  Seite  anzusehen. 
Und  wirklich  bieten  Juvenals  Satiren  zu  viel  Schatten  und  zu  wenig 
Licht.  Was  weiss  z.  B.  der  Dichter  in  seiner  Anklage  gegen  das  weib- 
liche Geschlecht  nicht  alles  vorzubringen?  Er  wühlt  mit  zu  grossem 
Eifer  in  dem  Schmutze,  er  gewährt  uns  zu  wenig  Ruhepausen,  er  ge- 
sellt zu  selten  zu  der  Bitterkeit  das  ausgleichende  Element  des  Humors, 
statt  des  Polterns  wünschten  wir  oft  eine  harmlose  Plauderei.  Freilich 
vermag  sich  diese  unnatürlich  gesteigerte  Erbitterung  des  Dichters  nicht 
durch  alle  Satiren  hindurch  zu  erhalten;  mit  dem  Alter  wird  seine 
Haltung  ruhiger  und  an  Stelle  des  Pathos  tritt  sogar  die  kühle  theoretische 
Betrachtung;  wir  finden  allgemeine  Themata  wie  die  Eitelkeit  der  mensch- 
lichen Wünsche,  die  Schädlichkeit  des  bösen  Beispiels,  die  günstige  Lage 
des  Militärstandes.  Man  hat  daran  die  Vermutung  geknüpft,  dass  diese 
späteren  Satiren  nicht  von  Juvenal   seien.     Allein  diese  Anschauung  ruht 


*)  Vgl.  Stbaüch,  De  personia  Juvena- 
lianis,  Göttingen  1869  p.  62;  Fbiedlandeb, 
Über  die  Personennamen  bei  Juvenal  in 
dessen  Sittengesch.  3*,  495. 

*)  l&ADYiQf  opusc,  acad,,  Eopenh.  1887, 
p.  548:  Quid  est  tnagis  perspicuunt,  quam 
saepe  Juvenalem   sie  in   vitia   invehi,    ut  ea, 


quibus  ipae  recitaverit,  tempara  a  superioribus, 
ex  quibus  vifiorum  exempla  aumiit,  non  dili- 
genter  distinguat,  ac  saepe  se  in  hae^:  trans- 
ferat  scribendi  figura,  quoniam  universa  foe- 
ditas,  in  uno  exemplo  ennnewf,  ad  omnem 
iUam  aetatem  pertineat? 


D.  JnniaB  Jnvenalia. 


845 


auf  der  Yerkennung  des  deklamatorischen  Charakters  der  Juvenalischen 
Poesie  und  auf  der  Nichtbeachtung  des  Satzes,  dass  dem  Strohfeuer  keine 
dauernde  Kraft  innewohnt. 

Juvenal  wurde  viel  gelesen,  die  starkgewürzte  Kost  übte  jederzeit 
ihren  Reiz  aus,  auch  fesselten  die  reichen  Schilderungen  des  römischen 
Lebens  und  Treibens.  Ammianus  Marcellinuus  berichtet  uns  (28,  4, 14),  dass 
selbst  solche,  welche  den  Studien  aus  dem  Wege  gingen,  Juvenal  aufs 
eifrigste  lasen.  Auch  dem  Mittelalter  gefiel  der  an  den  Predigei*ton  er- 
innernde Satiriker;  er  wurde  als  „Ethicus"  viel  studiert.  Von  der  inten- 
siven Beschäftigung  mit  Juvenal  zeugen  die  Schollen,  welche  den  Dichter 
begleiten  von  dem  vierten  Jahrhundert  bis  in  die  spätesten  Zeiten  des 
Mittelalters. 

Die  Ribbeck'sche  Scheidung  eines  echten  und  unechten  Juvenal.  Einen 
ganz  andern  Juvenal  als  den  uns  gewohnten  gibt  Ribbeck  in  seiner  Ausgabe,  Leipz.  18t59. 
Hier  werden  nur  die  Satiren  1-9  und  die  11.  unserm  Dichter,  die  übrigen  Sttlcke  (10. 
12—16)  einem  Deklamator  zugewiesen.  Dieser  Deklamator  soll  aber  auch  noch  die  echten 
Satiren  mit  seinen  Zusätzen  ausgestattet  haben.  Zwischen  dem  echten  Juvenal  und  diesem 
Nachdichter  statuiert  der  scharfsinnige  Gelehrte  enorme  Unterschiede.  ,Der  Deklamator 
ist  ein  seichter  Schwätzer,  der  seine  innere  Hohlheit  mit  breitem  Wortschwall  aus- 
staffiert, ein  Philister,  der  unter  der  Maske  des  Satirikers  alle  Augenblicke  sein  eigenes 
fades,  seelenloses  Stubengesicht  hervorkehrt,  der  denkt  wie  ein  Seifensieder  und  römische 
Phrasen  drechselt  u.  s.  w.*  Seinem  Juvenal  spendet  er  dagegen  uneingeschränktes,  fast  enthu- 
siastisches Lob  (der  echte  und  der  unechte  Juvenal,  Berlin  1865  p.  30).  Seine  Hypothese 
sucht  Ribbeck  auch  durch  äusserliche  Indicien  zu  stützen;  einmal  zieht  er  die  Scholien- 
werte  zur  16.  Satire  heran  j,ista  a  plerisque  exploditur  et  dicitur  non  esse  Juvenalis*',  eine 
Bemerkung,  die  zur  Prüfung  des  Juvenalschen  Nachlasses  dringend  auffordern  soll.  Dann 
weist  er  auf  die  Worte  der  Vita  lY  (Dürb  V)  hin  „in  exilio  atnpliavit  scUiras  et  pJeraque 
mutacit*'.  In  diesen  thörichten  Worten  sei  das  unschätzbare  Zeugnis  enthalten,  dass  es  in 
Rom  nach  dem  Tode  Juvenals  zwei  in  Umfang  und  Redaktion  bedeutend  verschiedene 
Textausgaben')  seiner  Werke  gab,  eine  küizere,  wie  sie  der  Dichter  selbst  noch  in  Rom 
veröffentlicht  hatte,  und  eine  beträchtlich  erweiterte,  die  angeblich  in  seinem  ägyptischen 
Nachlass  gefunden  war,  (Der  echte  und  der  unechte  Juvenal  p.  73).  Darnach  erachtet  er 
es  für  wahrscheinlich,  „dass  ein  spekulativer  Buchhändler  und  ein  hungriger  Poet  niedrigen 
Ranges  sich  zu  dem  lukrativen  Geschäft  zusammenthaten,  eine  solche  postume  Aus- 
gabe zu  veranstalten*.  Die  Bekämpfung  dieser  geistreich  durchgeführten  Hypothese  Rib- 
becks musste  lange  Zeit  den  Stoff  für  philologische  Dissertationen  abgeben;  die  Vindiciae 
Juvenalianae  wurden  Modesache.  Allein  viel  wurde  damit  nicht  erreicht.  Die  Entscheidung 
der  Frage  hängt  meines  Erachtens  von  der  unbefangenen  Wertschätzung  Juvenals  ab. 
Wir  haben  den  Dichter  auch  mit  seinen  Fehlem  hinzunehmen. 

Die  Scholien  zu  Juvenal.  Zwei  Klassen  von  Juvenalscholien  sind  uns  über- 
liefert, die  erste  Klasse  (scholia  Pithoeana)  geht  zurück  auf  einen  Kommentar,  der  im 
4.  Jahrhundert  verfasst  wurde,  diese  Scholien  enthalten  noch  antike  Tradition.  Wir  lernen 
dieselben  kennen  aus  dem  Montepessulanus  125,  aus  dem  Sangallensis  nr.  870  s.  IX, 
der  uns  die  Scholien  (ohne  den  Text  gibt),  aus  den  Aarauer  Fragmenten,  endlich  aus  dem 
sog.  Commentum  Probi,  welches  nach  einer  jetzt  verlorengegangenen  Handschrift  Laureniius 
Yalla  für  seine  Ausgabe  Venedig  1486  konstituierte.  Die  letzteren  reichten  nur  bis  8, 198.  Allein 
da  Yalla  seine  Quelle  mit  grosser  Willkür  benutzte,  so  bleiben  für  uns  die  beiden  zuerst 
genannten  Handschriften  die  Uauptzeugen,  von  denen  keiner  von  dem  andern  abgeleitet 
ist.  (Stephan  p.  25 ;  Schönaich  p.  5).  In  neuester  Zeit  sind  noch  die  erwähnten  Fragmente  aus 
Aarau  hinzugekommen  (Wirz,  Hermes  15,437).  Die  zweite  Klasse  geht  auf  einen  Kom- 
mentar des  Mittelalters  zurück,  der  im  Laur.  52,4,  Bernensis  223  einem  Comutus  bei- 
gelegt wird  (Cornuti  expositio  super  toto  libro);  derselbe  ist  wortreich,  aber  inhaltslee)*. 
(Jahn,   Persius  p.  CXIX).  —  Dazu  kommen  noch  andere  spätmittelalterliche  Scholien. 

Matthias,  De  schol.  Jur.,  Hallo  1875;  Stephan,  De  Pithoeanis  in  Juvenalem  schoUis, 
Bonn  1882;  Beer,  De  nova  schoiiorum  in  Juvenalem  recensione  instituenda  (Wien.  Stud. 
Bd.  6  u.  7);  Zacheb,  Zu  den  Juvenalscholien  (Rhein.  Mus.  45,524);  Schulz,  Hermes  24,482. 


0  Über  eine  zweite  Ausgabe  der  siebenten 
Satire  (wegen  der  angeblich  die  Yerbaimung 


hervorrufenden  Yerse  88),  vgl.  Ribbeck,  Der 
echte  und  der  unechte  Juvenal  p.  70. 


346     Römische  LitteraturgoBchichte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

Die  Überlieferung.  Die  älteste  Fassung  ist  vollständig  erhalten  in  dem  Kodex 
Montepessulanus  125  s.  IX,  auch  Pithoeanus  genannt  (F.),  fragmentarisch  in  den  Frag- 
menten von  Aar  au  („quae  cum  prosint  ad  legendum  et  excutiendum  P,  proprie  dote  nuUa 
commendaninr^  Bügheleb),  dann  in  dem  prosodischen  Florilegium  des  Sangallensia 
nr.  870  (Stephan,  Rh.  Mus.  40, 263).  —  In  der  zweiten,  interpolierten  Familie  kennen  wir  zwei 
Rezensionen,  die  eine  trägt  die  Unterschrift  Legi  ego  Niceus  Romae  apud  Servium  magi- 
strum  et  emendavi  {Laurentianas  34, 42  Leidensis  82),  die  andere  inoipit  \,lll  legenteAepi- 
carpio  scrinbentis  Exuperantio  «t^rfto  (Parisin.  9345).  Da  alle  Handschriften  wie  der 
Montepessulanus  (vgl.  p.  342)  mit  16, 60  schliessen,  so  ist  zu  vermuten,  dass  in  ein  ans 
dem  Montepessulanus  abgeleitetes  Exemplar  die  Lesarten  der  zweiten  Familie  eingetragen 
wurden.  (Hosnrs,  De  Juvenalis  codicum  recensione  interpolata,  Bonn  1888  p.  12.)  Über  eine 
Schwierigkeit  dieser  Annahme  vgl.  Hosius  p.  13.  Der  inteipolierten  Rezension  gehören 
auch  die  fragmenta  Vaticana  (s.  V)  an. 

Ausgaben  von  Weber  (Weim.  1825);  von  Heinbich  (Bonn  1839);  kritische  Haupt- 
ausgabe (mit  den  Scholien)  von  0.  Jahn,  Berlin  1851,  Textausgabe  von  Jahn-Bücheleb 
mit  kurzem  Apparat  und  einer  Auswahl  der  Scholien,  Berlin  1886;  Thirteen  satires  of 
Juvenal  tvith  a  commentary  hy  Mayob  I®  1886  II*  1881.  Von  Weidneb,  Leipz.  '  1889.  — 
Texte  von  C.  F.  Hebicann  (Teubner),  von  Ribbeck  (Tauchnitz).  Für  die  Methode  der  Er- 
klärung wurden  sehr  wichtig  die  Abhandlungen  Madvios  in  den  opusc.  academ.,  Kopen- 
hagen 1887. 

b)  Die  Prosa. 

a)  Die  Historiker. 

1.  C.  Velleius  Paterculus. 
421.  Historiae  Bomanae  L  ü.  Der  Verfasser  dieses  Abrisses, 
C.  Velleius  Paterculus  0>  war  Militär ;  er  diente  unter  Caius  Caesar  in  Asien 
und  sah  als  Tribun  einer  Begegnung  zu,  welche  der  römische  Feldherr 
mit  dem  König  der  Parther  hatte  (2,  101).  Nach  dem  Tode  des  Caius 
Caesar  (3  n.  Chr.)  nahm  er  Dienste  bei  Tiberius,  unter  dem  er  in  den  höheren 
Stellen  eines  Reiterobersten  und  Legaten  (2, 104,  3)  die  langwierigen  Feldzüge 
in  Germanien  und  Pannonien  mitmachte.  Er  erfreute  sich  der  hohen  Gunst 
des  Imperator  und  hatte  die  Ehre,  zu  seinem  Triumphe  (12  n.  Chr.)  bei- 
gezogen zu  werden.  Auch  erlangte  er  (2, 124, 4)  durch  ihn  die  Prätur 
(15  n.  Ch.).  Damit  scheint  seine  amtliche  Laufbahn  ihren  Abschluss  ge- 
funden zu  haben.  Seine  Müsse  benutzte  er  zur  Abfassung  eines  geschicht- 
lichen Abrisses.  Derselbe  war  eine  Gelegenheitsschrift.  Als  nämlich 
Vinicius  im  Jahre  29  zum  Konsul  designiert  wurde,  kam  dem  Autor  der 
Gedanke,  dem  vornehmen  Mann  zum  Antritt  seines  Konsulats  ein  Werk- 
chen zu  überreichen.  Da  es  wahrscheinlich  ist,  dass  ihm  erst  die  De- 
signation des  Vinicius  zum  Konsul  den  Gedanken  der  Widmung  eingab, 
so  war  ihm  zur  Ausarbeitung  nur  die  kleine  Frist  von  mehreren  Monaten 
gegeben.  Er  musste  daher  sehr  eilig  zu  Werke  gehen  und  sich  auf  das 
Notwendigste  beschränken.  Beide  Momente  hebt  der  Schriftsteller  selbst 
an  vielen  Stellen  hervor.  Doch  trägt  er  sich  mit  dem  Plane,  später  ein 
reicheres  Werk  über  die  Zeit  des  Tiberius  und  die  zunächst  vorausgehende 
Epoche  (wahrscheinlich  von  den  Bürgerkriegen  an)  erscheinen  zu  lassen. 
Der  Abriss  zerfällt  in  zwei  Bücher;  das  erste  ist  leider  am  Anfang,  in 
der  Mitte  (zwischen  c.  8  und  9)  und  am  Schlüsse  verstümmelt;  durch  den 
Verlust  am  Anfang  ist  die  Vorrede  mit  der  Widmung  verloren  gegangen ; 
die  mittlere  Lücke  ist  sehr  beträchtlich.  Auch  im  zweiten  Buch  finden 
sich  kleinere  Lücken.    Der  Stoff  ist  in  der  Weise  verteilt,  dass  der  erste 


^)  Der  Vorname  ergibt  sich  aus  CIL.  8, 10,  311. 


C.  VelleittB  Patercnlas. 


347 


Teil  bis  zur  Zerstörung  von  Karthago  und  Korinth,   der  zweite  bis  zum 
Konsulat  des  Vinicius  (30  n.  Chr.)  reicht. 

Fatnilien-YerhältiiiBse  des  Autors.  Über  seine  Familie  streut  Velleius  manche 
Notizen  in  sein  Werk  ein,  über  seinen  Grossvater  2, 76, 1,  Über  seinen  Vater  2, 104,  l^, 
über  seinen  Bruder  2,121,3;  2,124,4,  über  seinen  Onkel  2,69,5,  über  seine  mütter- 
liche Herkunft  2,16,2. 

Über  M.  Vinicius  vgl.  Tacitus  Ann.  6, 15  mit  der  Aimierkung  Nippbrdeys. 

Seine  Eile  hebt  Velleius  hervor  1, 16, 1  (in  hoc  tarn  praecipUi  festinatione,  quae 
me  rotae  pronive  gurgitis  oc  verticis  nwdo  nusquam  patitur  consistere)  2,41,1;  2,108,2; 
2, 124. 1,  die  Kürze  2,  29, 2;  2,  52, 3;  2,  86, 1. 

Über  das  beabsichtigte  grössere  Werk  sprechen  folgende  Stellen  2, 48, 5 ; 
2,96,3;  2,99,3;  2,103,3;  2,114,5;  2,119,1.  Von  diesen  bezieht  sich  die  erste  auf  den 
Bürgerkrieg  zwischen  Caesar  und  Pompeius,  die  übrigen  aber  auf  die  Zeit  des  Tiberius.  Mit 
Unrecht  hat  man  danach  zwei  Werke  annehmen  wollen,  eines  über  den  Bürgerkrieg  zwischen 
Cäsar  und  Pompeius,  ein  anderes  über  Tiberius.  Allein  nur  die  Annahme  ist  gerechtfertigt, 
dass  Velleius  die  Zeit  von  Cäsar  bis  auf  Tiberius  herab  schildern  wollte.  Der  Plan  wurde 
aber  allem  Anschein  nach  nicht  ausgeführt,  wenigstens  ist  nicht  die  geringste  Spur  von 
dem  Werk  auf  uns  gekommen. 

422.  Charakteristik.  Dem  Leser  des  Abrisses  fallen  sofort  einige 
Eigentümlichkeiten  in  die  Augen.  Einmal  ist  charakteristisch,  dass  der 
Autor  auch  die  Literatur  und  Kulturhistorisches  berücksichtigt  (1,7,1; 
1, 16,  3;  2,  9,  2;  2,  36,  2;  2, 10, 1;  2,  33,  4),  dann  dass  das  erste  Buch  auch 
Griechen  und  Orientalen  in  den  Kreis  seiner  Betrachtung  zieht.  Weiter 
bemerken  wir,  dass  jedes  Buch  einen  Exkurs  enthält,  das  erste  über  die 
römischen  Kolonien*)  (1,14),  das  zweite  über  die  römischen  Provinzen 
(2,38).  Dass  er  die  Ereignisse  seiner  Zeit  ausführlicher  und  sachkundiger 
behandelt  als  die  der  Vergangenheit,  ist  eine  Eigentümlichkeit,  die  er  mit 
der  gesamten  römischen  Historiographie  teilt. ^)  Die  Ehrung  des  Vinicius, 
dem  das  Werkchen  gewidmet  ist,  tritt  dadurch  hervor,  dass  dieser  mehr- 
fach angeredet  wird  (1, 13,  5;  2, 101,  3;  2, 113, 1 ;  2, 130, 4)  und  nach  seinem 
Konsulat  die  Ereignisse  gestellt  werden  (1,8,1;  1,12,6;  2,7,3;  2,49,1; 
2,65,2).  Die  Komposition  wird  durch  das  Prinzip  bestimmt,  dass  die 
Persönlichkeiten  hervortreten  sollen.  Daraus  ergibt  sich  für  ihn  die 
Notwendigkeit,  die  Charakteristik  in  den  Vordergrund  zu  stellen.  Es  lässt 
sich  nicht  leugnen,  dass  der  Autor  hier  Vortreffliches  geleistet  hat.  Frei- 
lich lag  auch  die  Gefahr  nahe,  das  Persönliche  mehr  als  der  Qang  der 
Geschichte  erfordert  zu  betonen.  Und  dieser  Gefahr  ist  er  nicht  entgangen ; 
er  unterbricht  nicht  selten  die  Ereignisse,  um  Anekdotenhaftes  beizubringen 
und  ergreift  z.  B.  gern  die  Gelegenheit,  seine  Personalien  und  die  der 
übrigen  Familienglieder  einzuflechten.  Intensiveres  Studium  der  Quellen  ge- 
stattet die  Eile,  mit  der  er  seine  Arbeit  zum  Abschluss  bringen  musste, 
nicht;  vielleicht  dürfen  wir  aber  annehmen,  dass  er  manche  Materialien 
für  das  beabsichtigte  grössere  Werk  gesammelt  hatte,  die  jetzt  auch  für 
das  kleinere  Verwendung  finden  konnten.*)  Spuren  der  Flüchtigkeit  finden 
sich  allenthalben,  Unrichtigkeiten,  Nachträge,  Nachlässigkeiten*)  im  Aus- 
druck. Der  merkwürdigste  Fall  ist  aber,  dass  er  die  beiden  Ären,  die 
Catonische  und  die  Varronische  durcheinander  bringt. ")   Die  Darstellung  des 


^)  Wahrscheinlich  aus  Catos  orlgines 
(Kkitz  p.  XLLIX). 

')  Pernicb  p.  29  legt  demselben  keinen 
hohen  Wort  bei. 


')  Pernice  p.  11 . 

*)  2,  59;  2,  69  (Kbitz  p.  XXXVI). 

*)  Kbitz  p.  LXVII. 

®)  Kbitz  p.XLI;  PEBNiC£p.l5;  Kaiser p.20. 


348    Bömiflche  LitteraturgeBchichte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

Yelleius  ist  lebhaft  und  packend  und  verrät  den  geistreichen  Mann; 
allein  es  fehlt  ihr  die  Ruhe,  die  Harmonie  und  der  Sinn  für  das  Ein- 
fache. Überladung,  Überschwänglichkeit,  Haschen  nach  Spitzfindigkeiten 
und  Geziertem  lassen  kein  Wohlbehagen  aufkommen.  Auch  der  unorgani- 
sche Aufbau  der  Perioden  trübt  nicht  selten  die  Durchsichtigkeit  der  Rede. 
Am  unerfreulichsten  ist  aber  die  Stickluft  des  Hofes,  die  uns  aus  dem  Schrift- 
chen entgegenweht.  Die  Schmeichelei  gegen  Tiberius  hat  grosse  Dimensionen 
angenommen.  Selbst  wenn  man  in  Erwägung  zieht,  dass  Yelleius  als  Militär 
für  seinen  ehemaligen  Kriegsherrn  begeistert  war,  ferner  dass  er  ihm  für 
Gunstbezeugungen  zu  Dank  verpflichtet  war,  kann  man  über  seine  Haltung 
kein  mildes  Urteil  gewinnen. 

Quellen.  Erwähnt  sind  nur  zwei  Autoren,  Gate  und  Hortensius.  1,7,3  Sed  M. 
Cato  quantum  differt,  qui  dicat  etc,  —  ego  pace  diligeniiae  Catonis  direrim  etc.  2, 16, 2 
cuius  de  virttäibus  cum  alii  tum  maxime  dilucide  Q.  Hortensius  in  annalibus  suis  retuUt, 
Sonst  spricht  er  von  mehreren  Autoren  (1,7,2;  1,8,5;  1,15,3).  Die  Benützung  beider  ist 
daher  nicht  zweifelhaft.  Allein  auch  noch  andere  Hilfsmittel  müssen  ihm  zu  Gebote  ge- 
standen sein;  besonders  brauchte  er  für  das  Genealogische  einen  Führer,  wir  werden  den- 
selben in  den  Zeittafeln  des  Atticus  (§  116)  und  in  dessen  genealogischen  Monographien 
zu  suchen  haben  (Pemice  p.  13).  Livius  scheint  er  nur  selten  benützt  zu  haben.  Ansätze 
zur  Kritik  finden  sich  hie  und  da:  1,7,3;  2,4,7;  2,23,4;  2,32,5.  —  Eaise»,  De  fontibus 
Velleij  Berlin  1884  (bes.  das  Chronologische  ist  berücksichtigt). 

Seine  Glaubwürdigkeit.  Die  Beurteilung  derselben  hängt  besonders  von  der 
Frage  ab,  ob  wir  ihn  als  blossen  Schmeichler  zu  betrachten  haben,  auch  spielt  die  Frage 
über  die  fides  des  Tacitus  herein;  diejenigen,  welche  die  Taciteische  Charakterzeichnung 
des  Tiberius  als  eine  tendenziöse  ansehen,  recurrieren  gern  auf  Yelleius,  wie  SiEVERä 
Studien  p.  97  und  noch  viel  stärker  Frettao,  Tib.  und  Tacit.  p.  321  ,  Yelleius  enthält  (nach 
Abstreifung  des  rhetorischen  Schmucks)  nichts  über  Tiberius,  was  nicht  durch  die  Ge- 
schichte seine  Bestätigung  fände '.  Die  Gegner  übertreiben  nach  der  anderen  Seite  hin;  z. 
B.  Haase,  Einleit.  zu  Tacitus  p.  XLIY  Anm.  265.  Auch  hier  ist  der  Mittelweg  richtig:  nicht 
einfache  Yerwerfung,  sondern  vorsichtige  Prüfung  des  Mitgeteilten.  Eine 
solche  umsichtige  Prüfung  hat  Pebnice,  De  V.  Paterculi  fide  historica,  Leipz.  1862,  p.  15 
(die  Epoche  des  Tiberius  p.  44)  vorgenommen.  Ygl.  noch  Stakgeb,  De  M,  V,  P.  fide,  München 
1863;  Rakke,  Weltgesch.  2,3,268  bemerkt  «Selbst  für  die  Erforschung  der  Thatsachen 
hat  er  hie  und  da  einen  nicht  zu  unterschätzenden  Wert*. 

Die  Überlieferung.  Nur  einer  einzigen  Handschrift  verdanken  wir  unsere  Kunde 
von  Yelleius,  nämlich  einem  im  Jahre  1515  in  der  elsässischen  Abtei  Murbach  von  B.  Rhe- 
NANUS  entdeckten  Kodex.  Diese  Handschrift  ist  jetzt  verloren,  Ziel  der  Rezension  muss 
also  zunächst  sein,   diesen  Murbacensis  aus  den  apogr.  wieder  zu  gewinnen.    Diese  sind 

1)  die  editio  princeps  des  B.  Rhenanus,  Basel  1520,  die  nach  einer  auch  verloren  gegangenen 
Abschrift  gemacht  wurde;  eine  nochmalige  Yorgleichung  des  Drucks  wurde  von  Rhenanus' 
Schüler  Burer  vorgenommen   und  die  varietas  scripturae  in  einem  Anhang  beigegeben. 

2)  eine  noch  vorhandene  Kopie  des  apographum  von  B.  Aherbach  (Halm,  Rhein.  Mus. 
30,  534). 

Littteratur.  Ausgaben  von  Kritz,  Leipz.  1840  und  1848;  Haase^  Leipz.  1858; 
Halm,  Leipzig  1876.  —  Sauppe,  Schweiz.  Mus.  f.  bist.  Wiss.,  Frauenfeld  1837,  1, 137 
(Hauptschrift). 


Aemilius  Sura.  1,  6  hat  sich  folgende  Glosse  in  den  Text  des  Yelleius  ge- 
schlichen: Aemilius  Sura  de  annis  populi  Romani:  Assyrii  principes  omnium  gen- 
tium rerum  potiti  sunt,  deinde  Medi,  postea  Persae,  deinde  Macedones;  exinde  duobus  regi- 
bus  Philippe  et  Antiocho,  qin  a  Macedonibus  ariundi  erant,  haud  mtUto  post  Carthaginem 
subactam  devictis,  summa  imperii  ad  popidum  Romanum  pervenit.  Inter  hoc  tempus  et 
initium  regis  Nini  Assyriorum,  qui  princeps  rerum  potitus,  intersunt  anni  MDCCCCXCV. 
Danach  muss  man  annehmen,  dass  ein  Abriss  der  Weltgeschichte  vorlag,  der  nacheinander 
das  assyrische,  modische,  persische,  makedonische  Weltreich  und  als  letztes  das  römische 
(hieher  gehören  die  anni  populi  Romani)  behandelte  und  berechnete.  (Momxsen,  Rh.  Mus. 
16, 283).    Die  Zeit  dieses  Historikers  ist  gänzlich  unbekannt. 


Valerins 


340 


2.  Valorius  Maximus. 

423.  Factorum  ac  dictorum  memorabilium  L  IX.  Der  Verfasser 
dieser  Sammlung  von  denkwürdigen  Handlungen  und  Äusserungen,  Valerius 
Maximus,  ist  uns  nur  soweit  bekannt,  als  er  selbst  über  sich  Nachrichten 
gibt;  nach  diesen  Mitteilungen  war  er  arm  (4,4,11),  allein  er  war  so 
glücklich,  einen  hochgestellten  Gönner  in  Sex.  Pompeius,  der  Konsul  im 
J.  14  n.  Chr.  war  und  auch  in  freundschaftlichen  Beziehungen  zu  Ovid 
stand,  zu  finden.  Als  dieser  die  Verwaltung  der  Provinz  Asien  übernahm 
(etwa  27  n.  Chr.),  hatte  er  in  seiner  Begleitung  auch  den  Valerius  Maximus 
(2,  6,  8).  Das  Verhältnis,  das  ihn  an  seinen  Gönner  knüpfte,  vergleicht  er 
mit  dem  Freundschaftsbund,  wie  er  zwischen  Alexander  dem  Grossen  und 
Hephaestion  bestand  (4,  7  ext.  2).  Mit  Wärme  feiert  er  ihn  als  den  Mann, 
bei  dem  er  in  allen  Lagen  des  Lebens  auf  Teilnahme  rechnen  konnte,  der 
seine  Studien  gefördert  und  ihn  gegen  die  Wechselfälle  des  Lebens  ge- 
schützt hatte.  Da  dies  Lob  erst  nach  dem  Tod  des  Pompeius  veröffentlicht 
wurde,  so  ist  der  Gedanke  an  eine  Schmeichelei  ausgeschlossen.  Wie  es 
scheint,  gleich  nach  seiner  Rückkehr  machte  sich  Valerius  Maximus  an  sein 
Werk;  an  zwei  Stellen  erhalten  wir  bestimmtere  zeitliche  Indicien;  6,1 
prooem.  setzt  die  Livia,  deren  Tod  ins  J.  29  n.  Chr.  fallt,  als  lebend 
voraus,  9,  11,  ext.  4  ist  nach  Seians  Tod  (31)  geschrieben.  Das  Werk, 
das  an  den  Kaiser  Tiberius  gerichtet  ist,  bringt  den  gesammelten  Stoff 
in  9  Büchern  unter  95  Rubriken.  Jede  Rubrik  begreift  in  der  Regel 
zwei  Abteilungen  in  sich,  eine  für  die  römische  Geschichte,  eine  zweite 
für  die  fremde;  doch  ist  die  erste  Abteilung  bei  weitem  stärker  heran- 
gezogen. 

Das  Buch  des  Valerius  Maximus  fand  viele  Leser  und  ist  uns  daher 
in  vielen  Handschriften  überliefert.  Von  der  Beliebtheit  des  Werkes  legen 
auch  zwei  uns  erhaltene  Auszüge  Zeugnis  ab.  Die  Epitome  des  Julius 
Paris,  welche  dem  vierten  oder  dem  Anfang  des  fünften  Jahrh.  angehört, 
schliesst  sich  im  ganzen  ziemlich  genau  an  das  Original  an;  die  Kürzung 
erreicht  er  besonders  durch  Weglassung  des  rhetorischen  Beiwerks  des 
Originals,  hie  und  da  berichtigte  er  seinen  Autor  aus  anderen  Quellen,^) 
neue  Beispiele  aber  fügte  er  nicht  hinzu.  Die  zweite  vor  dem  Ende  des 
6.  Jahrh.  verfasste^)  Epitome,  die  des  Januarius  Nepotianus  reicht  in 
21  Kapiteln  bis  Valerius  Maximus  3,  2,  7,  hiezu  kommen  noch  einige  Er- 
gänzungen aus  der  Historia  miscella^).  Allein  diese  Epitome  ist  viel  weniger 
treu  und  setzt  auch  andere  Beispiele  hinzu.  Der  Wert  dieser  Auszüge 
ruht  vor  allem  darin,  dass  sie  uns  eine  ziemlich  umfangreiche  Lücke, 
welche  1,  1,  ext.  4—1,4  ext.  1  verschlang,  einigermassen  ersetzen.  Auch 
leistet  uns  der  Auszug  des  Paris  die  besten  Dienste  bei  der  Textes- 
konstituierung des  Valerius. 

Die  Zahl  der  Bücher.  Üherliefert  sind  neun  Bücher.  Allein  der  Epitomaior 
Jolios  Paris  hatte  zehn  Bücher  vor  sich,  denn  er  sagt  in  der  Vorrede:  decem  Valerii 
Maximi  Hbros  dictorum  et  factorum  memorabilium  ad  unum  volumen  epUomae  coegi.  Auch 
wird  in  der  Handschrift  des  Paris  ein  Traktat  „de  praenominibus**  als  lib.  X  eingeführt. 
Allein  da  der  Epitomator  ausdrücklich  nur  e  i  n  Buch  geben  wül,  so  kann  diese  Bezeichnung 


M  Kbmpf  '  p.  52. 

')  MoMMSEN,    Zeitschr.   f.  Rechtsgesch. 


10, 47. 

*)  Drotsen,  Hermes  13, 128. 


350    Römische  Litteraturgeschichte.    Q.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 


,lib.  X"  unmöglich  von  ihm  herrühren.  Aber  aach  der  Inhalt  spricht  nicht  dafür,  dass  in 
dem  Traktat  ein  verlorenes  Buch  des  Valerius  Maximus,  das  Paris  excerpiert  hätte,  stecke ; 
denn  es  ist  wesentlich  anderer  Art.  Doch  alle  Zweifel  werden  beseitigt  durch  die  sub-- 
scriptiOf  welche  von  einer  £pitome  des  C.  Titius  Probus  spricht.  Wenn  also  der  Traktat 
nichts  mit  Valerius  Maximns  und  nichts  mit  Paris  zu  thun  hat,  so  wäre  noch  zu  fragen 
1)  wie  Paris  dazu  kam,  zehn  Bücher  statt  neun  anzugeben;  2)  wie  die  Bezeichnung  des 
Traktats  als  b'b.  X  entstand.  Da  Paris  nach  Ausscheidung  der  Abhandlung  über  die  Namen, 
wie  sein  Auszug  zeigt,  im  wesentlichen  denselben  Valerius  Maximus  vor  sich  hatte,  wie 
wir  ihn  haben,  so  bleibt  nur  die  Annahme  übrig,  dass  er  einen  Valerius  epitomierte,  der 
statt  in  neun  Bücher  in  zehn  abgeteilt  war.  Ein  solches  Exemplar  scheint  auch  Gellius  gehabt 
zu  haben,  denn  unser  achtes  Buch  ist  ihm  das  neunte  (12, 7,  8).  Was  die  Bezeichnung  des 
lib.  X  anlangt,  so  ist  diese  wahrscheinlich  so  zu  erklären.  Auch  dem  Mittelalter  konnte 
der  Widerspruch  zwischen  der  Angabe  des  Paris  und  der  Überlieferung  des  Valerius  Ma- 
ximus, welche  nur  neun  Bücher  kannte,  nicht  entgehen.  Um  diesen  Widerspruch  auszu- 
gleichen, nahm  man  jenes  Stück  de  praenominihus,  das  sich  zufiLllig  in  einer  Valerius- 
handschrift  fand,  willkürlich  als  ein  zehntes  Buch  des  Valerius  an;  vgl.  über  die  ganze 
Frage  Traube,  Sitzungsber.  der  bayr.  Akademie,  1891  p.  387. 

Die  Epitome  dos  C.  Titius  Probus.  Die  Subscriptio,  welche  dem  Abriss  de 
praenominibus  beigegeben  ist,  lautet:  C.  Titi  Probi  finü  epitoma  historiarum  diversarum 
exemplorumque  romanorum.  Das  epitomierte  Werk  führte  also  den  Titel :  historiae  dwersae 
exemplaque  Romana;  es  war  eine  Anekdotensammlung,  eine  Zusammenstellung  von  Kurio- 
sitäten, Merkwürdigkeiten.  Hievon  hätte  also  ein  Abschnitt  über  die  Namen  gehandelt. 
Dass  der  Traktat  nicht  vollständig  ist,  leuchtet  sofort  ein;  darum  ist  es  auch  wahrschein- 
lich, dass  die  demselben  vorausgeschickte  Inhaltsangabe  De  pr<ietwminibus,  De  nominibus, 
De  cognominibus,  De  offnominibuSf  De  appell^ianibus,  De  verbia  auf  eine  ältere  Tradition 
zurückgeht.  Die  Ansicht  Traubes  (p.  B93),  dass  dieser  Index  aus  unserem  Fragment  heraus- 
gelesen wurde,  ist  nicht  stichhaltig,  da  ja  für  De  verbia  aus  dem  Fragment  nicht  der  ge- 
ringste Anhaltspunkt  sich  ergibt.  Der  Traktat  geht  auf  gut«  Quellen  zurück,  besonders 
scheint  Varro  benutzt  zu  sein.  Wer  der  Verfasser  des  epitomierten  Werkes  ist,  lässt  sich 
natürlich  nicht  feststellen.  Die  Citate  aus  den  Konsulartasten  führen  herab  bis  auf  11  v. 
Gh.,  da  der  Konsul  dieses  Jahres  Paulus  Fabius  Maximus  unter  den  Beispielen  aufgezählt 
wird.  Darnach  spricht  Traube  (p.  397)  die  Vermutung  aus,  dass  das  epitomierte  Werk 
die  Exempla  Hygins  seien.  Allein  wenn  in  dem  ursprünglichen  Werk  auch  von  agnomen 
gehandelt  war,  so  konnte  dasselbe  nicht  vor  dem  vierten  christlichen  Jahrhimdert  ange- 
setzt werden.  Denn  erst  in  diesem  Jahrhundert  kam  die  Lehre  von  agnomen  bei  den  römi- 
schen Grammatikern  auf  (Kempf,  Proleg.  p.  64).  Dass  aber  auch  das  agnomen  behandelt 
war,  müssen  wir  aus  den  Worten,  quod  ad  ultimum  adicUur  agnomen  est  {est  fehlt  in  der 
Überlieferung)  schliessen,  da  die  Annahme  eine  Interpolation,  wie  sie  Traube*)  (p.  404)  sta- 
tuiert, [quod  ad  ultimum  a]  dicitur  [agnomen],  wenig  Wahrscheinlichkeit  hat.  Für  die  An- 
nahme Hygins  als  Quelle  ergibt  sich  aber  die  Schwierigkeit,  dass  das  einzige  exemplum,  das 
uns  von  ihm  überliefert  ist  (§  345,  2),  ein  nichtrömisches  ist.  Das  Werk  war  sonach  in  jedem 
Fall  von  der  des  Auszugs  verschieden.  Für  die  Bestimmung  der  Lebenszeit  des  Epitoma - 
tors  fehlt  es  an  jedem  festen  Anhaltspunkt.  Nur  soviel  wissen  wir,  dass  er  von  dem  Ru- 
sticius  Helpidius  Domnulus,  welcher  der  ersten  Hälfte  des  sechsten  Jahrhunderts  angehOrt, 
lebte;  denn  dieser  machte  eine  kritische  Revision  der  Epitome.  Weiterhin  ergäbe  sich  ein 
termimis  post  quem,  wenn  die  Stelle  über  das  agnomen  nicht  interpoliert  ist;  des  Epito- 
mators  Zeit  läge  dann  zwischen  dem  vierten  und  sechsten  Jahrhundert.  Nur  vermutungsweise, 
ohne  Begründung,  setzt  ihn  Traube  (p.  398)  in  die  Zeit  der  Antonine. 

424.  Charakteristik  des  Valerius.  Als  Valerius  Maximus  seine 
Auswahl  berühmter  Thaten  und  Äusserungen  schrieb,  wollte  er  denen, 
welche  Belege  (Dokumente)  brauchten,  ein  Hilfsbuch  in  die  Hand  geben, 
d.  h.  er  wollte  den  Bedürfnissen  der  Rhetoron  und  Rhetorenschulen  ent- 
gegenkommen. Seine  Thätigkeit  war  zunächst  eine  doppelte,  sie  bestand 
einmal  in  der  Auswahl  der  Stellen,  dann  in  der  Einreihung  unter  bestimmte 
Rubriken.  Seine  Arbeitsweise  werden  wir  uns  so  zu  denken  haben,  dass 
er  sich  zuerst  das,  was  ihm  bei  der  Lektüre  der  verschiedenen  Autoren 
bemerkenswert  erschien,  in  ein  Kollektaneenheft  eintrug  (eligere),  dann  als 


0  Mit   Kempf,    Proleg.*    p.    64    t>erba 
quod  ad  ultimum  dicitur  agnomen  ab 


epitomatore  ex  ingenlo   addita   esse  probo' 
bile  est» 


Valerins  ICaximns.  351 

er  genug  Material  gesammelt  hatte,  zur  Einreihung  der  verschiedenen  Fälle 
unter  bestimmte  Rubriken  schritt  (digerere)  ^).  Diese  Rubriken  sind  nicht 
nach  einem  strengen  logischen  System  aufgestellt,  sondern  haben  den 
Charakter  der  Zufälligkeit;  es  scheint,  dass  sie  erst  bei  der  Anordnung 
der  Beispiele  aufgestellt  wurden.*)  Allein  der  Autor  ging  noch  Über 
diese  zweifache  Thätigkeit  hinaus,  fiir  Rhetoren  sammelnd  wollte  er  selbst 
als  Rhetor  erscheinen.  Er  stilisiert  das  ausgehobene  Beispiel  nach  seiner 
Art  und  Weise  und  gibt  zugleich  den  subjektiven  Empfindungen,  welche 
das  Mitgeteilte  in  seiner  Seele  erregt,  reichen  Spielraum.  Weiterhin  leitet 
er  gern  von  einem  Excerpt  zu  dem  folgenden  über;  endlich  pflegt  er  die 
einzelnen  Bücher  und  Fächer  entsprechend  einzuleiten.  Der  Stil  des  Samm- 
lers ist  von  dem  Bestreben  beherrscht,  durch  Abweichung  von  dem  Ge- 
wöhnlichen Effekt  zu  erzielen,  dadurch  lässt  er  sich  zu  geschraubten,  un- 
natürlichen Wendungen  verleiten,  oder  er  fallt  in  Ekstase,  die  sich  besonders 
gern  der  Apostrophe  bedient,  und  hascht  nach  Pointen.  3)  Durch  dieses 
unnatürliche  Streben  wird  seine  Redeweise  ungeniessbar  und  dunkel;  be- 
sonders in  den  Einleitungen,  in  denen  sich  der  Autor  keine  Zügel  anzu- 
legen braucht,  tritt  seine  Manieriertheit  stark  hervor.  Unerträglich  ge- 
schmacklos wird  er,  wenn  er  auf  Tiberius  zu  sprechen  kommt,  ein  leuchtendes 
Denkmal  seiner  Adulation  ist  die  Anrede  an  den  Kaiser  in  der  Einleitung 
des  Werks.*)  In  besserem  Lichte  zeigt  sich  uns  der  Schriftsteller,  wenn 
er  seinem  römischen  Nationalbewusstsein  Ausdruck  gibt.  Hiezu  gaben  die 
rühmlichen  Thaten  der  Vorfahren  leicht  Anlass.  Verkehrt  ist  es,  wegen 
solcher  Äusserungen  entgegen  den  ausdrücklichen  Worten  der  Einleitung 
dem  Werk  eine  patriotische  Tendenz  unterzuschieben.  Valerius  Maximus 
will  lediglich  Rhetor  sein  und  rhetorischen  Zwecken  dienen;  es  steht  ihm 
daher  auch  historische  Akribie  erst  in  zweiter  Linie,  und  an  Verstössen 
gegen  die  Geschichte  fehlt  es  nicht.*)  Doch  benutzt  er  gute  Quellen; 
Cicero,  Livius  sind  seine  Hauptautoren,  aber  auch  Varro  und  andere 
mussten  ihm  Material  liefern.  Selbst  Sammlungen  konnte  er,  wie  es 
scheint,  zu  Rate  ziehen;  wenigstens  erwähnt  er  die  Kollektaneen  eines 
nicht  näher  bekannten  Pomponius  Rufus  (4,  4  prooem.). 

Über  das  Ziel  der  Sammlung  sagt  die  Einleitung:  urbis  Bomae  exterarumque 
gentium  facta  simul  ac  dicta  memoratu  digna,  quae  apud  alios  latius  diffusa  sunt  quam 
ut  breviter  cognosci  possint,  ab  inlustribus  electa  auctoribus  digerere  constitui,  tit  documenta 
sumere  voleniibus  longae  inquisitianis  labor  absit.  Diesen  zuletzt  angedeuteten  Zweck  er- 
kennt auch  der  Epitomator  Julius  Paris  an,  indem  er  sagt:  exemplorum  conquisifionem 
cum  scirem  esse  non  minus  dispuiantibus  quam  declamantibus  necessariamf  decem  Valerii 
Majrimi  libros  dictorum  et  factorum  tnemorabilium  ad  unum  rolumen  epitomae  völgi.  Gegen- 
über diesem  klar  ausgesprochenen  Zweck  der  Sammlung  darf  man  nicht  andere  Ziele  dem 
Verfasser  unterschieben,  wie  das  z.  B.  Dirksen  [Hinterl.  Sehr.  1, 109  fg.]  gethan. 

Die  Quellen.  Eine  Zusammenstellung  der  citierten  Schriftsteller  siehe  bei  Elscbner 
p.  32.  Dass  Livius  (citiert  1,8  ext.  19)  und  Cicero  (8, 10,3;  8, 13  ext.  1)  in  erster  Linie 
benutzt  sind,  darüber  sind  die  Quellenforscher  einig;  vgl.  Kempf,  Proleg.'  p.  15  und  p.  13. 
ZscHECH,  De  Cicerone  et  Lirio  Valerii  Maximi  fontibus  (Cicero  p.  15,  Livius  p.  23);  Krieger, 
Quibus  fontibus  V,  M.  usus  sit  in  eis  exemplis  enarrandis,  quae  ad  priora  rerum  Roma- 
narum  tempora  periinent,  Berl.  1888  (Livius  p.  11,  Cicero  p.  24).  Weniger  klar  treten  die 
Übrigen  Quellen  hervor;  über  Varro  (3, 2, 24)  vgl.  Krieger  p.  27,  wo  p.  28  auch  die  übrige 


0  Kranz  p.  1. 

•)  ZSCHBCH  p.  5. 

»)  Kbmpp,  Proleg.  ^  p.  34. 


*)  Vgl  noch  2, 9, 6;  5,  5,  3;  9, 11  ext.  4. 
"")  Kempp,  Proleg. '  p.  26. 


352    Hömiaclie  Litteratnrgeachichte.    U.  Die  Zeit  der  Monarcliie.    1.  Abteilimg. 

hier  einschlägige  Litteratur  angegeben  ist;  über  Valerius  Antias  vgl.  Ebanz,  Beitr.  zur 
Quellenkritik  des  V.  M.,  Posen  1876  p.  20;  dagegen  Kbieoeb  p.  66;  Ober  Hygin  Krikoeb. 
p.  69;  über  Pompeius  Trogus,  dessen  Benu^ung  Kbieoeb  p.  75  bestreitet. 

Die  Überlieferung  des  Valerius  Maximus  erfolgt  auf  einem  doppelten  Weg, 
auf  einem  direkten  und  einem  indirekten.  Die  direkte  Überlieferung  beruht  auf  zwei 
Handschriften  des  9.  Jahrhunderts,  dem  Bemensis  366  und  dem  Florentiner  1899,  dem  ehe 
roaligen  Ashbumhamensis  (Stanol,  Philol.  45,225),  der  aus  dem  Benediktinerkloster  Sta- 
velot  herrührt  Beide  Handschriften  stammen  aus  derselben  Quelle  (Eempf-  p.  XXIU,  p.  XXVi). 
Gegenüber  diesen  beiden  Quellen  kommen  die  jüngeren  Handschriften  so  gut  wie  nicht  in 
Betracht.  Die  indirekte  Überlieferung  beruht  auf  der  Epitome  des  Julius  Paris,  d.  h.  dem 
Vaticanus  4929  s.  X.  Schon  im  Bemensis  liegt  eine  Vergleichung  der  direkten  mit  der 
indirekten  des  Paris  vor.  (Vgl.  Tbaube  p.  390.)  Die  Epitome  des  Jannarius  Nepotianns 
ist  uns  durch  den  Vaticanus  1321  s.  XIV  überliefert. 

Ausgaben  von  Kehpf  mit  ausführlichen  Proleg.  (Berl.  1854),  von  Halm  (Teubner 
1865),  von  Kehpf  (Teubner  1888),  welche  die  Kollation  des  Ashburnhamensis  enthält. 

3.  Q.  Gurtius  Bufus. 
426.  Die  Alexandergeschichte.  Zeit  und'  Autor.  Der  wunderbare 
Zug  Alexander  des  OroRsen  hat  auf  die  hellenische  Welt  den  tiefsten 
Eindruck  gemacht.  Eine  reiche  Litteratur  schloss  an  dieses  gewaltige 
Unternehmen  an;  der  Historiker  fand  hier  ein  ergiebiges  Feld  vor,  aber 
auch  der  auf  die  Unterhaltung  der  Leser  bedachte  Erzähler  bekam  wün- 
schenswertes Material,  um  der  Phantasie  Nahrung  zuzuführen.  Auch  der 
Kunst  flössen  mannichfache  Anregungen  aus  Alexanders  Thaten  zu.  Von 
Griechenland  verbreitete  sich  der  Alexanderkultus  nach  Rom,  besonders 
in  Kunstwerken  trat  die  jugendliche  Figur  des  Königs  den  Römern  an 
vielen  Orten  entgegen«  Es  war  daher  ein  glücklicher  Gedanke,  dass  ein 
Schriftsteller,  des  Namens  Q.  Gurtius  Rufus,  es  unternahm,  den  orienta- 
lischen Zug  Alexanders  in  unterhaltender  Form  den  Lesern  darzubieten.  Das 
Werk  bestand  aus  zehn  Büchern,  uns  sind  aber  nur  die  letzten  acht  (3 — 10) 
erhalten.  In  Folge  dieses  Verlustes  der  zwei  ersten  Bücher  beginnt  die 
Erzählung  erst  mit  dem  Jahre  333  v.  Gh.  Auch  das  Erhaltene  ist  nicht 
unversehrt  geblieben;  es  findet  sich  eine  grössere  Lücke  zwischen  dem 
fünften  und  sechsten  Buch,  ferner  hat  das  zehnte  mehrere  Einbussen  er- 
litten (zwischen  Kap.  1  und  2,  zwischen  3  und  4  und  zwischen  4  und  5). 
Das  Werk  stellt  uns  ein  Problem,  die  Ermittelung  der  Zeit  und  Persön- 
lichkeit des  Autors.  Zur  Lösung  des  Problems  wurden  die  verschiedensten 
Versuche  gemacht  und  die  verschiedensten  Ansichten  aufgestellt.  Heut- 
zutage kann  man  das  Problem  als  gelöst  betrachten.  Der  Historiker 
gab  sein  Werk  unter  der  Regierung  des  Kaisers  Glaudius  heraus. 
Der  Weg,  der  zu  diesem  Resultate  führte,  ist  in  kurzem  folgender:  Man 
beobachtete,  dass  bereits  der  Philosoph  Seneca  unsern  Schriftsteller  kannte 
und  las.  Was  er  in  seinen  Briefen  6,  7  (59),  12  von  Alexanders  mutiger 
Ertragung  einer  Wunde  berichtet,  berührt  sich  so  eng  mit  Gurtius  8, 10, 
27,  dass  die  Verwandtschaft  beider  Berichte  als  feststehend  betrachtet 
werden  kann,  zumal  da  uns  an  beiden  Stellen  Einzelheiten  vorgeführt 
werden,  welche  bei  andern  Schriftstellern  nicht  erscheinen.  0  Noch  eine 
zweite  Übereinstimmung  der  beiden  Autoren  (Gurtius  7, 1,  4  =  Seneca  ep.  6, 
4  (56),  9)  ist  entdeckt  worden  und  hier  zeigt  sich  sogar  eine  Konkordanz 


»)  WiBDKMAira,  Philol.  30,  248. 


Q.  Cartius  Rnfas.  353 

des  Ausdrucks,  wie  sie  nicht  leicht  der  Zufall  an  die  Hand  geben  kann. 
Dieser  Konsens  kann  weder  durch  eine  gemeinsame  Quelle,  noch  durch 
die  Abhängigkeit  des  Curtius  von  Seneca  eine  befriedigende  Erklärung 
finden ;  es  bleibt  sonach  nur  die  Annahme  übrig,  dass  Seneca  den  Curtius 
gelesen  und  für  seine  Briefe  benutzt  hat.  Damit  erhalten  wir  den  Ter- 
minus ante  quem,  er  muss  vor  dem  Tode  Senecas  (65)  fallen.  Den 
Terminus  postquem  gibt  uns  eine  scharfsinnige  Beobachtung  des  grossen 
Philologen  Lipsius  an  die  Hand ;  er  sah,  dass  bei  Tacitus  (Annal.  6,  8)  die 
Rede  des  M.  Terentius,  dem  die  Freundschaft  Seians  vorgeworfen  wurde, 
eine  auffallende  Ähnlichkeit  der  Gedanken  mit  der  aufwies,  welche  Amyn- 
tas  bei  Curtius  (7,  1,  26)  hielt.  Die  Schlussfolgerung  aber,  die  Lipsius 
aus  seiner  Beobachtung  zieht,  dass  Tacitus  aus  Curtius  geschöpft  hat,  stellt 
sich  bei  einer  genaueren  Betrachtung  als  unmöglich  heraus.  Wir  werden 
vielmehr  anzunehmen  haben,  0  dass  beide  einer  gemeinsamen  Quelle  folgen, 
die  auch  Dio  Cassius  58,  19,  1  vorlag.  Wenn  diese  Deutung  richtig  ist, 
muss  diese  gemeinsame  Quelle  die  Regierung  des  Tiberius  behandelt  haben ; 
der  Terminus  post  quem  wäre  also  das  Jahr  37.  Nach  dieser  Darle- 
gung können  wir  also  die  Zeit  des  Curtius  durch  das  Intervallum  37 — 65 
bestimmen,  der  Autor  müsste  sonach  entweder  unter  Caligula,  oder  unter 
Claudius,  oder  unter  Nero  geschrieben  haben.  Diese  dreifache  Möglichkeit 
wird  auf  eine  reduziert  durch  die  berühmte  Stelle  am  Schluss  des  Werks 
(10,9,3),  welche  die  Grundlage  für  die  verschiedensten  Hypothesen  abgab. 
Die  gefahrvolle  Situation,  in  welche  das  macedonische  Reich  durch  den 
Tod  Alexanders  geriet,  erinnerte  den  Geschichtschreiber  unwillkürlich  an 
ein  von  ihm  erlebtes  Ereignis  in  Rom.  Auch  dort  war  in  einer  Nacht 
durch  den  Tod  des  Herrschers  eine  gefahrvolle  Situation  entstanden;  die 
ihres  Oberhauptes  beraubten  Glieder  waren  in  Zwietracht  und  in  banger 
Furcht  befangen.  Allein  das  Erscheinen  des  neuen  Herrschers  brachte  alles 
in  Ordnung;  dankerfüllt  wünscht  er  daher  dem  Hause  dieses  Regenten 
lange  Dauer.  Die  Interpretation  der  Stelle  wird  ungemein  durch  die  me- 
taphorische Ausdrucksweise  erschwert.  Zum  Glück  enthält  aber  ein  Bild 
eine  Anspielung,  welche  uns  auf  den  rechten  Weg  führt.  Durch  den  Aus- 
druck „caligans  mundus"  werden  wir  (trotz  der  verschiedenen  Quantität) 
sofort  an  Caligula  erinnert  und  gewinnen  die  Möglichkeit,  den  von  Cur- 
tius geschilderten  Vorgang  mit  Leichtigkeit  zu  deuten.  Die  Historiker 
erzählen  uns  wirklich  von  einer  Nacht  und  zwar  der  unmittelbar  der  Er- 
mordung Caligulas  folgenden  (25.  Jan.  41),  in  der  sich  das  römische  Reich 
in  einer  Krise  befand.  Der  Senat  war  in  sich  gespalten,  manche  dachten 
sogar  an  die  Zurückf ührung  der  Republik ;  es  drohte  also  der  Bürgerkrieg. 
Mit  der  Erhebung  des  Claudius  auf  den  Thron  durch  das  Heer  wurden 
die  aufgeregten  Gemüter  endlich  beruhigt  und  auch  der  Senat  fügte  sich. 
Da  Claudius  noch  regierte,  als  Curtius  zum  Schluss  seiner  Geschichte  ge- 
kommen war,  so  ist  kein  Zweifel,  dass  dieselbe  unter  Claudius  an  das  Licht 
der  Öffentlichkeit  trat. 

Hat  sich  sonach  das  Problem,  soweit  es  die  Zeit  des  Autors  betrifft. 


^)  DossoN,  j&ude  p.  35. 

Handbuch  der  Uum.  Altertninswiaseiuchaft.    VUI.    2.  Teil.  23 


354    Römische  Litteratnrgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

% 

völlig  befriedigend  gelöst,  so  ist  das  gleiche  nicht  der  Fall  bei  der  Frage 
nach  der  Persönlichkeit  desselben.  Aus  der  Zeit,  in  der  das  Geschichtswerk 
entstand,  treten  uns  zwei  Gurtii  Rufi  entgegen,  über  den  einen  Curtius  Rufus 
berichtet  Tacitus  (Annal.  11,  20  fg.)  ausführlich;  er  brachte  es  bis  zur  Statt- 
halterschaft in  Afrika.  Da  Tacitus  am  angeführten  Ort  nichts  von  der 
Abfassung  der  Alexandergeschichte  berichtet,  so  ist  die  Wahrscheinlich- 
keit sehr  gering,  dass  dieser  der  gesuchte  Autor  ist.  Mehr  hat  für  sich 
der  zweite  Curtius,  der  auch  noch  dasselbe  Praenomen  wie  der  Historiker 
führt.  Dieser  ist  uns  lediglich  aus  dem  Index  bekannt,  den  Sueton  seinem 
Traktat  über  die  Grammatiker  und  Rhetoren  vorausgeschickt  hatte;  aus 
der  Stelle,  die  ihm  dort  in  der  chronologischen  Reihenfolge  eingeräumt  ist, 
folgt,  dass  er  unserer  Zeit  angehört.  Der  rhetorische  Charakter  des  Werks 
würde  zu  diesem  Autor  sehr  gut  stimmen. 

Die  Beziehungen  zwischen  Seneca  und  Curtius  legte  Wiedemajtn,  Phüol. 
30,  241  und  441 ;  31,  342,  551,  756  dar.  Bezüglich  des  gemeinsamen  Ausdruckes  vgl.  Curt.  7, 
1,  4  satis  prvden8  otii  vitia  negotio  discuti  =  Sen.  ep.  6,  4  (56),  9  ntAi7  tarn  certum  est  quam 
otii  vitia  fiegotio  discuti.  Auch  die  erste  Stelle  des  Seneca  (6,  7  (59),  12)  enthält  eine  sprach- 
liche Parallele,  indem  genies  ne  finitimis  quidem  satis  natas  entspricht  Curt  7, 3, 5  rex  nationem 
tie  finitimis  quidem  satis  notam  —  intravit. 

Die  Anspielung  auf  Claudius'  Thronhesteigung:  quod  imperium  sub  uno  stare 
potuisset,  dum  a  pluribus  sustinetur,  ruit.  Proinde  iure  meritoque  populus  Bomanus  salutem 
fte  principi  suo  dehere  profitetur,  qui  noctis,  quam  paene  supremam  habuimus,  norum  sidus 
illuxit.  Uuius  herculCf  non  solis  ortus  lucem-  caliganti  reddidit  mundo,  cum  sine  suo 
capite  discordia  membra  trepidareni.  Quot  ille  tum  extinxit  faces!  quot  condidit  gladios! 
quantam  tempestatem  subita  serenitate  discussit!  Non  ergo  revirescit  solum,  sed  etiam  floret 
imperium.  Absit  modo  inridia,  excipiet  huius  saecuH  tempora  eiusdem  domus^iUinam  per- 
petuoy  certe  diuturna  posteiHtas,  Auf  Caligula  und  Claudius  hat  die  Stelle  Lipsius  zu  Tacit. 
Annal.  11. 21  (p.  174  Ausg.  von  1627)  hezogen.  Die  Hinweisung  auf  Caligula  mit  caliganti 
mundo  erkannte  zuerst  Schultess,  De  Senecae  quaest.  nat.,  Bonn  1872  p.  52  (vgl.  auch  Hibsoh- 
FELD,  Hermes  8  [1874]  p.  472).  Eine  ausführliche  Interpretation  der  Stelle  giht  Mützsll  in 
seiner  Ausg.  1»  p.  L  und  Dosson,  Aude  p.  22. 

Zur  Geschichte  der  Frage.  Da  mir  die  Herausgabe  des  Geschichtswerkes  zur  Zeit 
des  Claudius  völlig  begründet  zu  sein  scheint,  ist  es  zwecklos,  die  anderen  Datierungen 
zu  kritisieren;  dieselben  finden  sich  zusammengestellt  bei  Dosson,  6tude  p.  18.  Sie  be- 
wegen sich  in  dem  Intervallum  von  Augustus  bis  Theodosius.  Um  die  Ansichten  einiger  her- 
vorragenden Männer  zu  berichten,  so  setzte  ihn  Gibbon  (Kap.  7,  n.  46)  in  die  Zeit  des  Gor 
dianus  III.  (238),  Niebühb,  (Kl,  Sehr.  1,  305)  und  Ranke  (Weltgesch.  3, 2,  83)  unter  Septi- 
mius  Severus  (193—211),  Hibt  (Das  Leben  des  C.Berlin  1820)  unter  Augustus,  Buttieann 
(Das  Leben  des  C.  Berlin  1820)  unter  Vespasian. 

426.  Charakteristik.  Jeder,  welcher  die  Alexandergeschichte  in 
die  Hand  nimmt,  wird  sofort  den  Eindruck  empfangen,  dass  er  eine  fes» 
selnde  Lektüre  vor  sich  hat  und  wird  gern  dem  Autor  bis  zum  Sehluss 
des  Werkes  folgen.  Diese  Anziehungskraft  ruht,  wenngleich  auch  der 
StoflF  schon  an  und  für  sich  ein  Interesse  gewährt,  doch  vornehmlich  in 
der  Kunst  der  Darstellung.  Die  Sprache  hat  klassisches  Gepräge,  aber 
zugleich  den  Reiz  der  Neuheit.  Sie  zeigt  bereit«  die  Spuren  der  silbernen 
Latinität,  aber  in  einem  Masse,  dass  wir  dieselbe  nicht  als  drückend  em- 
pfinden. Das  Gewöhnliche,  Einfache  genügte  auch  unserm  Historiker  nicht 
mehr.  Der  Wortschatz  musste  umgestaltet  werden.  Dies  geschieht  da- 
durch, dass  statt  der  Eonkreta  die  Abstrakta  stark  auftreten,  dass  gern 
poetische  Worte  hervorgesucht  werden ,  und  dass  der  metaphorische  Aus- 
druck eine  grosse  Ausdehnung  erhalten  hat.  Auch  im  Satzbau  bemerken 
wir  den  Einfluss  der  neuen  Zeit,  verwickelte  Periodologie  ist  nicht  zur 


Q.  Cnrtins  Rafas.  355 

Anwendung  gekommen,  die  kürzeren  Sätze  dominieren,  aber  sie  vermeiden 
die  Klippe  des  zerhackten  Stils,  der  uns  bei  der  Lektüre  Senecas  den  Oenuss 
vielfach  stört.  Die  Komposition  steckt  sich  dasselbe  Ziel  wie  die  Phraseologie, 
sie  will  Eindruck  machen.  Vor  allem  geht  der  Autor  Dingen,  welche  den 
Leser  ermüden  könnten,  aus  dem  Weg;  t-echnische  Schilderungen  der 
Schlachten,  genaues  Eingehen  auf  militärische  und  politische  Organisa- 
tionen, sorgfältige  chronologische  Fixierungen  darf  man  nicht  bei  ihm 
suchen.  Selbst  der  eigentliche  historische  Stoff  ist  nicht  gleichmässig 
herangezogen,  manche  Partien  werden  trotz  ihrer  Wichtigkeit  nur  ge- 
streift, dagegen  andere,  besonders  solche,  welche  packende  Scenen  und 
Persönliches  aus  dem  Leben  des  Helden  enthalten,  ausführlich  behandelt. 
Auf  anschauliche  Schilderungen  von  Land  und  Leuten  und  von  interes- 
santen Dingen  fallt  ein  Hauptnachdruck.  In  der  Anordnung  der  Ereig- 
nisse scheut  der  Geschichtschreiber  die  Unterbrechung;*)  auch  macht  er 
hier  von  dem  Kunstmittel  Gebrauch,  dass  er  kontrastierende  Ereignisse 
zusammenrückt.^)  Zur  Belebung  des  Stils  dienen  die  zahlreichen  einge- 
streuten Reden. 3)  Anlage  und  Durchführung  derselben  zeigen,  dass  der 
Verfasser  in  der  Rhetorschule  etwas  Tüchtiges  gelernt  hat,  allein  sie  zei- 
gen auch,  dass  er  nicht  den  Weg  von  der  Schule  zum  Leben  gefunden. 
Sämtliche  Reden  bewegen  sich  in  Allgemeinheiten,  sie  sind  zu  wenig  aus 
der  Situation  und  aus  der  Stimmung  der  Personen,  welche  sie  halten, 
hemusge wachsen.  Sie  werden  daher  fast  stets  als  ein  störendes  Beiwerk 
empfunden.  Auf  den  Effekt  sind  auch  die  zugespitzten  Raisonnements 
und  die  eingestreuten  glitzernden  Sentenzen  berechnet.  Hier  findet  sich 
viel  Triviales,*)  doch  begegnen  uns  auch  fein  geschliffene  Beobachtungen. 
Wenden  wir  uns  von  der  Darstellung  zum  inneren  Wert  des  Dar- 
gestellten, so  ändert  sich  bedeutend  das  Bild  des  Autors.  Derselbe 
gibt  uns  eine  Geschichte,  ist  aber  kein  Geschichtschreiber,  sondern  nur 
ein  Rhetor.  Seine  eigenen  Äusserungen  lassen  darüber  keinen  Zweifel 
aufkommen ;  denn  er  verzichtet  auf  jede  Kritik.  Ein  Mann,  der  sagt,  dass 
er  mehr  abschreibe  als  er  selbst  glaube,  kann  nicht  auf  das  Prädikat  eines 
Historikers  Anspruch  machen.  Von  einem  solchen  Schriftsteller  werden  wir 
auch  kaum  erwarten,  dass  er  sich  erst  mühsam  seine  Darstellung  aus  den 
Quellen  zusammengearbeitet  hat;  wir  werden  vielmehr  anzunehmen  haben, 
dass  er  im  wesentlichen  nur  einer  griechischen  Vorlage  folgt,  und  dass  daher 
sein  Verdienst  vorwiegend  in  der  lateinischen  Stilisierung  zu  suchen  ist. 
So  wie  jetzt  die  Darstellung  bei  Curtius  vorliegt,  ist  sie  das  Produkt 
eines  Verschmelzungsprozesses.  Der  Grundstock  der  Erzählung  beruht  auf 
der  Version,  welche  auch  bei  Diodor  vorliegt  und  die  auf  Clitarch  zurück- 
geführt werden  muss.  Allein  dieser  Grundstock  enthält  Bestandteile  der 
mehr  im  alexandrischen  Sinn  gehaltenen  Fassung,  welche  sich  bei  Arrian 
findet  und  deren  Urheber  Ptolemaeus  und  Aristobulus  sind.  Allein  von 
dem  Materiellen  abgesehen  macht  sich  in  dem  Werk  des  Curtius  noch  ein  Zug 


')  Vgl.  5,  1,  1. 

«)  z.  B.  4,  10,  16  fg.;  9.  10,  24  fg. 
(Fleischvahn,  Q.  Curtius  R.  als  Schnllektttre 
p.  33,  n.  24). 

')  Manche  standen  schon  in  der  Quelle, 


wie  die  Rede  des  Scythen  (7,  8, 11).  Vgl.  auch 
6,  11,  12  rex  Cratero  aceersito  et  sermone 
habitOj  cuius  summa  non  edita  est, 

*)  Eine  Sammlung  bei  Dosson  p.  234. 


23 


•?♦ 


356     Römieche  Litteratargeechiclite.    11.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

bemerkbar,  der  auf  das  Olück  Alexanders  grossen  Nachdruck  legt  und  ihn 
oft  hart  beurteilt.  Aber  alle  diese  Bestandteile  sind  so  verschmolzen,  dass 
sich  keine  Störung  mehr  fühlbar  macht.  Welches  die  Vorlage  des  Curtius 
war,  ob  Timagenes  (vgl.  p.  193),  kann  mit  Sicherheit  nicht  bestimmt 
werden.  Denn  er  selbst  lässt  uns  über  seine  Quellen  sehr  im  Ungewissen; 
er  zitiert  an  einer  Stelle  Clitarch,  an  einer  anderen  Clitarch  und  Tima- 
genes, deren  Angabe  er  mit  Hinweis  auf  Ptolemaeus  für  unrichtig  erklärt. 
Die  Verbreitung,  welche  Curtius  fand,  war  verhältnismässig  keine 
grosse.  Im  Altertum  sind  nur  wenige  Spuren  seiner  Benutzung  vorhan- 
den. Im  Mittelalter  wurde  er  zwar  gelesen,  wie  die  ziemlich  grosse  Zahl 
der  Handschriften  beweist,  allein  mit  den  romanhafteren  Darstellungen  der 
Alexandersage  konnte  er  die  Konkurrenz  nicht  bestehen.') 

Zeugnisse  ttbcr  die  Quellen.  9,5,21  Ptolemaeumj  qui  postea  regnavit,  huic 
pugnae  adfuisse  auctor  est  Clüarchus  et  Timagenes.  Sed  ipse  scilicet  gloriae  suae  tum  re- 
fragatus  afuisse  se  missutn  in  expeditumem  memoriae  tradidit.  9, 8, 15  octoginta  milia 
Indorum  in  ea  regione  caesa  Clitarchus  est  auctor  muUosque  captivos  sub  Corona  venisse. 
t^ber  sein  Verhältnis  zu  den  Quellen  belehren  folgende  Stellen:  9,1,34  equidem 
plura  transcriho  quam  credo:  nam  nee  adfirmare  sustineo,  de  quibus  dubito,  nee  subducere, 
quae  accepi,  7,8, 11  sie  quae  locutos  esse  {Scythas)  apud  regem  memoriae  prodUum  est,  ab- 
horrent  forsUan  moribus  hominibusque  nostris  et  tempora  et  ingenia  cultiora  sortitis;  sed  ut 
possit  oratio  eorum  sperni,  tamen  fides  nostra  non  dehet;  quare,  utcumque  sunt  tradita,  incor^ 
rupta  perferemus,  7, 4, 13  quae  inserui,  ut,  qualiscumque  inter  barharos  potuit  esse,  prudentia 
traderetur,  5,  6,  9  ceterum  aut  de  aliis  quoque  dubiiabimus  aut  credemus.  8, 1, 17  fabulam, 
quae  obiectum  leoni  a  rege  Lysimaehum  temere  rulgavU,  ab  eo  casu,  quem  supra  diximus, 
oriam  esse  crediderim,  10, 10,  5  sed  famam  eius  rei,  quamquam  ab  auctoribus  tradUa  est, 
ranam  fuisse  comperimus. 

Zur  Geschichte  der  Quellenfrage.  Wir  geben  eine  Übersicht  der  hieher  ge- 
hörigen wichtigeren  Erscheinungen  (vgl.  FrXnkel,  Die  Quellen  der  Alexanderhistoriker 
p.  2).  Sehr  alt  ist  die  Anschauung,  dass  Clitarch  die  massgebende  Quelle  für  Curtius  war, 
sie  vertritt  schon  P.  Daihel.  In  neuester  Zeit  suchte  Kaük  (De  Clitarcho  Diodori  Curtii 
Justini  auctore,  Bonn  1868)  Clitarch  als  die  Quelle  nicht  bloss  des  Curtius^  sondern  auch 
des  Diodor  und  des  Justin  darzuthun.')  Für  eine  Mehrheit  der  Quellen  spricht  sich  Petbrs- 
DORFF  aus  (Diodorus,  Curtius,  Arrianus  quibus  ex  fontibus  expeditiones  ab  Alexandra  in 
Asia  usque  ad  mortem  factas  hauserint,  Danzig-Königsberg  1870).  Nach  ihm  soll  Curtius 
ausser  Clitarch  noch  den  Ptolemaeus,  vereinzelt  den  Callisthenes  und  den  Timagenes  be- 
nutzt haben.  In  einer  späteren  Schrift  (Eine  neue  Hauptquelle  des  Q.  C.  R.  Hannover  1884) 
ändert  PetersdorfT  insofern  seine  Ansicht,  als  er  den  Trogus  Pompeius  unter  den  Quellen 
in  den  Vordergrund  stellt.  Einen  neuen  Gedanken  regte  Schoene  {De  rerum  Alexandri 
scriptorum  imprimis  Arriani  et  Plutarchi  fontibus,  Leipz.  1870)  an,  indem  er  für  Arrian 
und  Plutarch  nicht  die  Originale,  sondern  ein  Sammelwerk,  in  dem  aus  den  Autoren  die 
wichtigsten  Berichte  zusammengestellt  waren,  als  Quelle  annahm  und  für  Curtius  die  direkte 
Benützung  Clitarchs  bezweifelt.  Es  folgte  die  Dissertation  Laudirns  (Über  die  Quellen 
zur  Gesch.  Alexanders  in  Diodor,  Curtius  und  Plutarch,  Leipz.  1874).  Hier  sind  die  Gedanken 
durchgeführt,  dass  Diodor,  Curtius,  Plutarch  auf  Callisthenes  und  Onesikritus  zurück- 
gehen, aber  nicht  auf  die  Originale,  und  dass  in  der  Quelle  des  Curtius  auch  Clitarch  be- 
rücksichtigt war,  femer  dass  Curtius  selbständig  Aristobul  heranzog.  Gegen  diese  An- 
sichten wendet  sich  Kaerst  (Beiträge  zur  Quellenkritik  des  Q.  C.  R.,  Gotha  1878).  Die 
Hauptquelle  des  curtianischen  Werkes  ist  nach  ihm  Clitarch,  daneben  ist  noch  ein  Sanmiel- 
werk  von  Strabo  benutzt,  auch  Timagenes  und  Artemidor  (letzterer  für  8, 9)  eingesehen 
worden.  Wieder  anders  gestaltet  sich  die  Quellenfrage  bei  Köhler  (Eine  Quellenkritik 
zur  Geschichte  Alexanders  in  Diodor,  Curtius  und  Justin,  Leipz.  1879).  Dieser  behauptet 
(p.  46),  dass  Curtius  auf  eine  wiederholte  Bearbeitung  Clitarchs  zurückgehe.  In  umfassender 
Weise  wird  die  Frage  von  Fränkel  in  dem  Werk  „Die  Quellen  der  Alexanderhistoriker, 
Berl.  1883*  erörtert.  Das  von  ihm  gewonnene,  hieher  gehörige  Resultat  lautet  (p.  460): 
„Die  Quelle  Diodors  war  eine  nur  wenig  durch  Zusätze  oder  Missverständnisse  veränderte 
Bearbeitung  des  Clitarch.    Diese  Bearbeitung  wurde   dann  von  einem   andern  Autor  einer 

*)  Eussner,  Philol.  82,  5G6.  Dossok  gibt  |  ^)  Andere  Vertreter  dieser  Anschauung 

p.  357  fg.  eine   ausführliche  Geschichte  des  |  siehe  bei  Dossoif  p.  103  und  p.  104. 
Fortlebcns  des  Curtius. 


Cornelias  Taoitns. 


357 


weiteren  Modifikation  unterworfen  und  diese  so  modifizierte  Clitarchbearbeitung  wurde 
dann  sowohl  von  dem  Verfasser  der  Quelle  des  Curtius  wie  von  dem  Verfasser  der  Quelle 
des  Trogus  als  Grundlage  benutzt,  auf  der  jeder  seine  Kompilation  aufbaute.  —  Der  Ver- 
fasser der  curtianischen  Quelle  veränderte  dieselbe  ihm  vorliegende  Clitarchbearbeitung 
teils  dadurch,  dass  er  eine  Reihe  von  Zahlenangaben  durch  andere  ersetzte,  teils  in  der 
Weise,  dass  er  hin  und  wieder  in  der  Darstellung  bald  kleinere,  bald  grössere  Verände- 
rungen voniahm,  besonders  aber  dadurch,  dass  er  aus  andern  guten  Quellen  (vorzüglich 
aus  dem  Aristobul)  eine  grosse  Anzahl  Zusätze  machte.  Curtius  hat  neben  dieser  Kompi- 
lation noch  den  Timagenes,  aber  anscheinend  sehr  spärlich  benutzt*.  Zu  einer  ganz  un- 
haltbaren Ansicht  in  der  Quellenfrage  gelangt  der  Biograph  des  Curtius  Dobson  Etüde 
p.  160:  Zjes  travaux  de  ClUarque,  de  CkiUisth^ne,  d* AHstchtde,  dt  Ptoldm^e,  de  Trogue  Pom- 
peey  de  Vauteur  anonyme  farment,  dans  des  proportions  indgales,  le  fond  de  la  narration 
de  Quinte  Curce,  Les  relations  des  autres  histariens  ou  des  g^ographes  ont  fourni  des  rf/- 
tails  accessoires  ou  rectificatifs.  Neuerding,s  ist  nochmals  Kaerst  auf  den  Kampfplatz  ge- 
treten und  seine  Schrift  (Forschungen  zur  Geschichte  Alex.  d.  Gross.,  Stuttg.  1887)  verdient 
umsonlehr  Beachtung,  weil  sie  die  Anschauungen  Gutschmids  wiederspiegelt.  Dieser  aus- 
gezeichnete Historiker  legte  besonderes  Gewicht  auf  den  politischen  Standpunkt,  welchen 
die  Alexanderhistoriker  einnehmen,  er  trennt  scharf  die  uns  bei  Arrian  und  teilweise  bei 
Plutarch  erhaltene  Überlieferung  des  Ptolemaeus  und  Aristobul  als  eine  mehr  offizielle 
Darstellung  von  einer  zweiten,  mehr  das  makedonische  Interesse  als  das  des  Königs  ins 
Auge  fassenden.  „Am  reinsten  ist  diese  Überlieferung  durch  den  magern  Auszug  Diodors 
aus  Clitarch  erhalten,  ergiebiger  fliesst  eine  Quelle,  die  von  Curtius  und  Justin  gemeinsam 
ausgeschrieben  worden  ist;  freilich  auch  trüber;  denn  in  dieser  Quelle  ist  Clitarchisches 
mit  Elementen,  die  der  ersten  Klasse  angehören,  und  Auszügen  aus  einem  im  Gegensatz 
zu  der  sonstigen  Überlieferung  dem  Alexander  abholden  Geschichtswerke  gemischt*.  Im 
Anschluss  weist  Kaerst  nach,  dass  in  Curtius  die  zwei  Versionen  ineinander  gearbeitet  sind, 
dass  sich  sonach  der  Historiker  sowohl  mit  Diodor  als  mit  Arrian  berührt,  dass  aber  die 
durch  Diodor  vertretene  Version  den  Hauptstock  bildet  (p.  64).  Als  den  Urheber  der  Dio- 
dorischen  Version  sieht  er  Clitarch  an,  welcher  sonach  auch  der  Erzählung  des  Curtius 
zum  grössten  Teil  zu  Grund  liegt  (p.  71  und  p.  75),  als  die  Urheber  der  Arrianischen  Er- 
zählung Ptolemaeus  und  Aristobulos.  Die  bei  Curtius  und  Justin  öfters  hervortretende 
feindselige  Stimmung  gegen  Alexander  führt  Kaerst  auf  Timagenes  zurück  (p.  102).  Den 
historischen  Wert  der  Curtiuserzählung  schätzt  Kaerst  sehr  gering:  ,es  finden  sich  nicht 
oder  nur  in  verschwindendem  Grade  Nachrichten  von  selbständigem  Werte,  welche  über 
die  andern  Überlieferungen  hinausgehen'  (p.  65). 

Die  handschriftliche  Überlieferung.  Die  Handschriften  des  Curtius  sind 
zahlreich,  ein  Verzeichnis  derselben  gibt  Dosson  p.  315.  Die  gemeinsamen  Lücken  weisen 
auf  einen  Archetypos  hin.  Die  Sichtung  derselben  ergibt  zwei  Familien,  die  erste  ist  ver- 
treten durch  zwei  Sippen,  den  Parisinus  5716  s.  IX/X,  wozu  noch  Fragmente  von  Zürich 
(Rheinau),  Darmstadt,  Wien  und  Würzburg  kommen,  daim  durch  den  Vaticanus-Reginensis 
971  s.  XH;  Laur.  64,35;  Bern.  451;  Leid.  137 ;  Voss.  Q.  20.  Die  zweite  Familie  umfasst 
die  jüngeren  und  stark  interpolierten  Handschriften  (Eussner,  Philol.  32, 165). 

Ausgaben  von  Mützell  (mit  kritischen  und  exegetischen  Anmerkungen)  2  Bde., 
Berl.  1841;  Zumpt,  Braunschweig  1849;  Hedickb  (Textausgabe  mit  knappem  krit.  Apparat) 
Berl.  1867;  von  Vogel  mit  deutschen  Noten  (Teubner),  Textausgabe  Leipz.  1881.  Schmidt 
(Freytag).  —  Dosson,  ^tude  sur  Quinte  Curce  sa  vie  et  son  oeuvre,  Paris  1887. 

4.  Cornelius  Tacitus. 
427.  Sein  Leben.  Merkwürdigerweise  fliessen  über  den  grössten 
römischen  Historiker  die  Nachrichten  spärlich.  Wir  kennen  nicht  sein 
Geburtsjahr,  nicht  seinen  Geburtsort,  nicht  sein  Todesjahr;  ja  nicht  einmal 
über  seinen  Namen  sind  alle  Zweifel  zerstreut.  Der  Cod.  Mediceus  I. 
nennt  ihn  Publius,*)  dagegen  Sidonius  Apollinaris  (ep.  4, 14  und  22)  Gaius; 
mit  ihm  stimmen  überein  jüngere  Tacitus-Handschriften,  denen  aber  eine 
Autorität  nicht  beizumessen  ist.  Allein  die  Überlieferung  des  Mediceus 
dürfte  stärker  wiegen  als  das  Zeugnis  eines  wenig  kenntnisreichen  späten 


')  Ausdrücklich  bezeugt  Studemund,  dass 
die  mit  roter  Tinte  am  Schluss  des  ersten 
Buchs  stehende  Subscriptio,   welche  \\  auf- 


weist, ^Yon  gleicher  oder  doch  ganz  gleich- 
zeitiger Hand  wie  die  Textesworte  herrühren* 
(Herm.  8,  233,  vgl.  mit  Eos  2,  225). 


358    Bömische  Litteratargeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarcliie.    1.  Abieilimg. 


Autors.  Auch  über  die  Familie  des  Historikers  ist  nur  eine,  jedoch  sehr 
wahrscheinliche,  Vermutung  gestattet.  Plinius  (n.  h.  7, 76)  lernte  einen 
römischen  Ritter,  Cornelius  Tacitus  kennen,  welcher  procurator  Belgicae 
Gallicae  war,  dieser  konnte  der  Zeit  nach  sehr  wohl  der  Vater  unseres  Tacitus 
sein.  Von  seinem  Bildungsgang  ist  uns  lediglich  das  eine  bekannt,  dass  er  der 
Sitte  der  Zeit  entsprechend  eifrig  rhetorische  Studien  betrieb.  Er  schloss 
sich,  wie  er  uns  selbst  berichtet,  an  M.  Aper  und  Julius  Secundus,  welche 
damals  der  Glanz  des  Forums  waren,  an;  ob  er  auch  den  Unterricht 
Quintilians,  des  hervorragendsten  Lehrers  der  Rhetorik  in  seiner  Zeit,  ge- 
nossen hat,  ist  zweifelhaft.  1)  Von  seinen  Familienverhältnissen  ist  uns  die 
einzige  Thatsache  überliefert,  dass  er  die  Tochter  des  als  Statthalter  Bri- 
tanniens bekannten  Agricola  heimführte.  Dies  geschah  im  Jahre  78.') 
Über  seine  politische  Laufbahn  spricht  sich  der  Oeschichtschreiber  im  Ein- 
gang der  Historien  aus,  leider  in  so  allgemeiner  Weise,  dass  auch  hier 
nur  Hypothesen  die  Lücken  auszufüllen  vermögen.  An  jener  Stelle  hebt 
er  nämlich  hervor,  dass  die  drei  Flavier  ihm  Würden  verliehen  haben, 
und  dass  er  die  erste  Stufe  in  seiner  amtlichen  Garriere  Vespasian  ver- 
dankt, weitere  Rangerhöhungen  dagegen  dem  Titus  und  Domitian.  Welches 
aber  die  erste  Würde  war,  ist  nicht  gesagt;  man  vermutet,  dass  er  tri- 
bunus  militum  laticlavius  und  daneben  vigintivir  wurde.^)  Die  Standes- 
erhöhung unter  Titus  wird  mit  Recht  auf  die  Verleihung  der  Quästur  be- 
zogen, womit  der  Übergang  aus  dem  Ritterstand  in  den  Senatorenstand 
verbunden  war.*)  Unter  Domitian  wurde  Tacitus  Quindecimvir  sacris  fa-- 
ciundis  und  Praetor,  in  dieser  doppelten  Eigenschaft  nahm  er,  wie  er  an 
einer  anderen  Stelle  (Annal.  11,11)  berichtet,  an  den  Säcularspielen  des 
Jahres  88  teil.  Allein  zwischen  der  Quästur  und  der  Prätur  muss  noch  ein 
durch  Domitian  erlangtes  Amt  liegen,  es  war  dies  das  Volkstribunat  oder 
die  Adilität.  Bald  nach  seiner  Prätur  hatte  Tacitus  Rom  verlassen;  als 
sein  Schwiegervater  Agricola  im  Jahre  93  starb,  war  er  mit  seiner  Frau 
abwesend.  Diese  Abwesenheit  ist  offenbar  durch  ein  auswärtiges  Amt  ver- 
anlasst worden.  Welches  dies  war,  dafür  fehlt  jeder  feste  Anhaltspunkt. 
Nur  eine  Vermutung  ist  es,  dass  er  Proprätor  der  Provinz  Belgica  war.*^) 
Noch  in  demselben  Jahr,  in  dem  Agricola  starb,  kehrte  er  nach  Rom  zu- 
rück ;  den  Greuelthaten  Domitians  gegenüber  machte  er  einen  stillen,  sich 
vorsichtig  zurückhaltenden  Beobachter.  Das  Konsulat  blieb  ihm  unter  Do- 
mitian versagt;  diese  höchste  Stufe  des  Ehrgeizes  erlangte  er  erst  unter 
Nerva  im  Jahre  97.  In  seinem  Konsulat  hielt  er  die  Leichenrede  auf 
Verginius  Rufus,  der  den  Vindex  besiegt  und  der,  von  den  germanischen 
Legionen  zum  Kaiser  ausgerufen,  die  Kaiserwürde  abgelehnt  hatte.  Nach 
dem  Konsulat  tritt  uns  nur  noch  einmal  eine  öffentliche  Thätigkeit  von 
Tacitus  entgegen;  im  Jahre  100  vertrat  er  mit  dem  ihm  innigst  befreun- 
deten jüngeren  Plinius   die  Sache   der  Provinz  Afrika  in  ihrem  Prozess 


0  Angenommen  wird  dies  von  Ublichs 
p.  5,  bestritten  von  Wutk,  Dialogum  etc.  Span- 
dauer Progr.  1887  p.  IX. 

^)  Nach  Nipperde Y  noch  im  Jahre  77. 
Wir  folgen  dem  Ansatz  Borghesis. 

^)  So  Urlichs  mit  Borghesi  (p.  2). 


*)  Dignitas  aucta  ist  nach  Borghesi 
der  technische  Ausdruck  von  der  Qu&stur. 

^)  So  Borghesi  (Urlichs  p.  7).  Berok 
dachte  an  ein  Kommando  über  eine  nieder- 
rheinische Legion  (Zur  Geschichte  und  To- 
pographie der  Rheinlande  p.  40,  Anm.  2). 


Comelins  Tacitofi.  359 

gegen  Marius  Priscus  wegen  Erpressung ;  durch  ihre  vereinten  Bemühungen 
erreichten  sie  auch  seine  Verurteilung.  Von  da  an  aber  verlieren  sich 
völlig  die  Spuren  einer  politischen  Wirksamkeit  von  Seiten  des  Historikers. 
Der  Orund  davon  ist  leicht  ersichtlich.  Tacitus  hatte  sich  von  der  Öffent- 
lichkeit zurückgezogen,  um  alle  seine  Kräfte  der  Schriftstellerei  zu  widmen. 
Unter  Domitian  war  das  geschriebene  Wort  eine  höchst  gefahrliche  Sache, 
Tacitus  musste  schweigen.  Allein  er  konnte  während  dieser  Zeit  sammeln, 
denn  auf  die  Geschichte  waren  jetzt  seine  Blicke  gerichtet.  Nach  dem  Tode 
Nervas  (98)  trat  er  mit  zwei  Monographien  hervor,  zuerst  mit  einer  Bio- 
graphie seines  Schwiegervaters  Agricola,  dann  mit  einer  Schilderung  von 
Land  und  Leuten  Germaniens.  In  die  Zeit  nach  Domitians  Tod  wird  auch 
trotz  der  Stilverschiedenheit  das  Schriftchen  über  den  Verfall  der  Bered- 
samkeit, der  Dialogus  de  oratoribus  zu  setzen  sein.  Doch  dies  waren  nur  Vor- 
läufer; es  folgten  zwei  grosse  historische  Werke,  eines,  die  Historiae, 
welches  die  Zeit  von  Galba  bis  Domitian,  also  besonders  die  Epoche  der 
Flavier  schilderte,  ein  anderes,  gewöhnlich  Annales  genannt,  welches  die 
Zeit  vom  Tode  des  Augustus  bis  zum  Sturze  Neros,  also  die  julisch-clau- 
dische  Dynastie  zur  Darstellung  brachte.  Auch  das  letzte  Werk  erschien 
noch  unter  Traian,  so  dass  also  die  gesamte  historische  Schriftstellerei 
des  Tacitus  sich  unter  diesem  Regenten  abspielte.  Bald  nach  der  Heraus- 
gabe des  Werkes  muss  der  grosse  Historiker  gestorben  sein. 

Privatverhältnisse  des  Tacitus.  Plin.  n.  h.  7,  76  ipsi  nonpridem  vidimus  eadem 
ferme  omnia  —  in  filio  Corneli  T(wUi  equUis  romani^  Belgicae  GaUiae  rationea  procurantia. 
Dial.  2.  M.  Aper  et  Julius  Secundus  —  quoa  ego  in  iudiciia  non  uiroaque  modo  atndioae 
audiebanif  sed  domi  quoque  et  in  publica  asaectabar,  tnira  studiorum  cupiditate  etc.  — 
Agric.  9  conaul  (77)  egregiae  tum  apei  filiam  iuveni  mihi  despondit  cu;  poat  constdeUum 
(78)  coüocavit  et  atatim  Britanniae  praepositua  est. 

Seine  politische  Laufbahn.  Bist.  1,  1  dignitatem  noatram  a  Veapaaiano 
(69 — 79)  incohatam^  a  Tito  (79—81)  auctamf  a  Domitiano  (81 — 96)  longiua  provectam  non 
abnuerim  Ann.  11,  11  (Domitiantis)  edidit  ludos  aaecularea  (88)  —  iiaque  inteniiua  adfui 
aacerdotio  quindecimvirali  praeditua  ac  tunc  praetor»  Von  einer  längeren  Abwesenheit, 
als  der  Tod  Agricolas  eintrat,  spricht  er  Agric.  45.  Aus  dieser  Stelle  ergibt  sich  auch, 
dass  er  93  nach  Rom  zurückkehrte.  Über  sein  Consulat  sind  wir  auf  einen  Bericht  des 
Plin.  ep.  2,  1  angewiesen,  wo  der  Tod  des  Virginius  Rufus  erzählt  wird  mit  dem  Schluss- 
satz: laudatua  est  a  consule  Cornelia  Tacito;  nam  hie  aupremus  felicitati  eiua  cumülus 
accessity  laudator  eloquentissimus.  Gegen  die  Argumentation  Asbaghs  (Anal,  hist,  et  epigr. 
Bonn  1878  p.  16),  dass  Tacitus  98  Consul  war,  nicht  97,  richtet  sich  mit  Recht  Elebs  (Rh. 
Mus.  44,  273).  Über  die  Verteidigung  der  Afrikaner  Plin.  ep.  2,  11  ega  et  Cornelius  Tacitus 
adeaae  provincialibus  iuaai. 

Litteratur:  Urlichs,  De  rita  et  honoribua  Taciti  Würzburg  1879;  Asbach,  Corne- 
lius Tacitus  (Hist.  Taschenbuch  1886  p.  57,  1887  p.  139),  die  Einleitungen  zu  den  Aus- 
gaben, besonders  der  von  Nippebdey  und  Haasb. 

428.  Der  Dialog  über  die  Redner.  Fabius  Justus  hatte  öfters  an 
Tacitus  Fragen  nach  den  Ursachen  des  Verfalls  der  Beredsamkeit  gerichtet. 
Statt  eine  eigene  Antwort  zu  geben,  erzählt  der  Historiker  ein  Gespräch, 
dem  er  als  ein  sehr  junger  Mann  (iuvenis  admodum)  beigewohnt  haben 
will.  Dasselbe  fand  im  Hause  des  Curiatius  Maternus  statt,  der,  früher 
Sachwalter,  sich  jetzt  ganz  der  Dichtkunst  hingegeben  hatte.  Mitunter- 
redner waren  die  damaligen  Koryphäen  der  Eloquenz  M.  Aper  und  Julius 
Secundus.  Zuerst  drehte  sich  die  Unterhaltung  um  das  Problem,  ob  der 
Beredsamkeit  oder  der  Dichtkunst  der  Preis  gebühre.  Aper  dringt  näm- 
lich in  Maternus,   doch  wieder  seine  rednerische  Thätigkeit  aufzunehmen. 


360     Bömische  Litteratargeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    L  Abteilnog. 

und  schildert  in  lebhafter  Weise  die  Vorzüge  dieses  Berufs,  der  eine  Quelle 
der  höchsten  Macht  und  der  reichsten  Ehren  sei.  Darauf  entgegnet  Ma- 
ternus  mit  einem  warmen  Lob  des  stillen  Glücks,  das  ein  Dichterleben  in 
sich  schliesst.  Als  Maternus  geendet  hatte,  trat  Yipstanus  Messalla,  ein 
enthusiastischer  Anhänger  der  republikanischen.  Eloquenz,  ins  Zimmer. 
Jetzt  nahm  die  Unterredung  eine  andere  Wendung;  sie  behandelt  das 
Thema,  woher  der  tiefe  Verfall  der  Beredsamkeit]  komme.  Wiederum 
ergreift  Aper  das  Wort  und  setzt  auseinander,  dass  der  Begriff  .alt''  ein 
relativer  sei,  dass  selbst  im  Altertum  die  Reden  verschiedene  Stile  auf- 
weisen, dass  mit  den  Zeiten  sich  auch  die  Redekunst  ändere  und  dass 
der  moderne  Redner  ganz  andere  Aufgaben  zu  erfüllen  habe,  um  dem  Ge- 
schmack des  verwöhnten,  stets  nach  Pikantem  verlangenden  Publikum 
Genüge  zu  leisten;  hierbei  stimmt  der  Sprecher  ein  warmes  Loblied  auf 
die  moderne  Beredsamkeit  an.  Nach  dem  Schluss  des  Vortrags  bittet 
Maternus  den  Vertreter  der  entgegenstehenden  Anschauung,  Messalla,  nicht 
dem  Aper  mit  einem  Lob  der  antiken  Eloquenz  zu  entgegnen,  sondern 
das  eigentliche  Thema  „die  Ursachen  des  Verfalls  der  Redekunst''  zu  be- 
handeln; und  als  Messalla  doch  Apers  Ausführungen  berührt,  erinnert  er 
von  neuem  daran.  Messalla  geht  also  genauer  auf  die  Sache  ein.  Die 
Gründe  für  den  Verfall  der  Beredsamkeit  erblickt  er  einmal  in  der  verän- 
derten Erziehung,  welche  die  Bahnen  der  alten  Zucht  verlassen  habe,  dann 
in  dem  veränderten  rhetorischen  Unterricht.  Einen  neuen  Grund,  die  ver- 
änderte praktische  Ausbildung,  erörtert  er  noch  auf  Ansuchen  des  Mater- 
nus. Allein  seine  Erörterung  wird  plötzlich  durch  eine  grössere,  in  der 
Überlieferung  ausdrücklich  bezeichnete  Lücke  unterbrochen.  Was  auf  die 
Lücke  folgt,  bringt  einen  ganz  anderen  Gesichtspunkt  für  den  Verfall  der  Be- 
redsamkeit bei,  die  veränderte  politische  Lage.  Die  Darlegung  gipfelt 
in  dem  Gedanken,  dass  nur  in  der  Republik  der  Boden  vorhanden  ist,  auf 
dem  der  Redner  gedeiht,  nicht  aber  in  der  Monarchie  und  schliesst  daher 
mit  den  Worten:  »Nütze  das  Gute,  das  dir  deine  Zeit  gewährt  und  ver- 
kenne nicht  das  Gute,  das  eine  andere  Zeit  hatte.''  Diese  Worte  bildeten 
den  Schluss  der  Rede  des  Maternus. 

Die  Lücke.  Eine  nicht  unwichtige  Frage  für  die  Komposition  ist  die  Bestimmung 
der  durch  die  Lücke  zwischen  Kap.  35  und  36  verschlungenen  Partie.  Nach  der  Über- 
lieferung gingen  sechs  Seiten  verloren.  (Auf  V?  des  Ganzen  berechnet  den  Verlust,  aber 
mit  unzureichenden  Gründen  Habbb,  De  dialogi  locis  duobtis  Uicunoais  Celle  1888  p.  10). 
Damit  steht  eine  zweite  Frage  im  Zusammenhang,  ob  nämlich  ausser  dieser  Lücke  noch 
andere,  in  der  Überlieferung  nicht  bezeichnete  anzunehmen  sind.  Aus  der  Ankündigung 
dos  Maternus  (c.  16)  ergibt  sich,  dass  nicht  bloss  Maternus,  sondern  auch  Secundus  ge* 
sprochen.  Auch  würde  wohl,  wenn  Secundus  geschwiegen  hätte,  dies  am  Schluss  erwähnt 
worden  sein.  Aus  c.  42  finierat  Maternus  ist  weiter  zu  folgern,  dass  das,  was  unmittelbar 
vorangeht,  dem  Maternus  angehört.  Da  nun  vor  der  Lücke  auch  Messalla  das  Wort  hatte, 
80  ist  der  Schluss  gerechtfertigt,  dass  durch  die  Lücke  1)  der  Schluss  der  Rede  Messallas, 
2)  die  ganze  Rede  dos  Secundus,  3)  der  Anfang  der  Rede  des  Maternus  verloren  gingen. 
Dieser  einfachen  Auffassung  gegenüber  sind  die  anderen  Ansichten  verwickelt  und  un- 
wahrscheinlich, da  Lücken  noch  da  zu  statuieren  sind,  wo  uns  die  handschriftliche  Über- 
lieferung im  Stiche  lässt.  So  meint  Steiner  (Über  den  Dialogus  Kreuznach  1863),  dass 
durch  die  Lücke  der  Schluss  der  Rede  des  Messalla,  der  Anfang  der  Rede  des  Secundus, 
endlich  vor  Kap.  42  die  ganze  Rede  des  Maternus  ausgefallen  sind.  Eine  andere  Meinung, 
deren  Urheber  Heuxamn  ist,  geht  dahin,  dass  noch  Kap.  40  vor  non  de  otioaa  eine  Lücke 
(nach  derselben  Maternus)  anzusetzen  sei.  Diese  Meinung  adoptierten  Becker  (Seebode, 
Archiv  f.  Philol.  1825  p.  72  (Messala,  36—40,  Secundus,  dann  Maternus),  Andresen  (Ausgabe 


Cornelias  Taoitns.  361 

p.  5)  und  Habbe  (p.  15);  die  c.  36—40  teilt  letzterer  dem  Secundos  zu  (p.  18),  während 
Andresen  zwischen  Messala  und  Secundus  schwankt. 

Die  Zeit  des  Gesprächs  wird  vom  Verfasser  desselben  einmal  dadurch  be- 
stimmt, dass  er  vom  Todestag  Ciceros  bis  zum  Tag  des  Gesprächs  120  Jahre  verflossen 
sein  lässt  (c.  17).  Die  Zahl  120  wird  dadurch  geschützt,  dass  sie  noch  einmal  c.  24  erscheint. 
Dann  gibt  er  auch  an,  welches  Jahr  der  Regierung  Vespasians  bereits  angebrochen  ist, 
als  das  Gespräch  gehalten  wurde.  Es  ist  das  sechste,  wir  verbessern  mit  BIhbens  das 
fiberlieferte  ac  sextatn  iam  felicis  huius  principatus  stationem  in  sextum  iam 
felicis  huius  [principatus]  stcUionis.  Da  nun  Vespasian  Juli  69  zur  Regierung  kam,  so  be- 
ginnt das  6.  Jahr  Juli  74  und  endet  Juli  75.  In  diese  Zeit  muss  also  nach  der  Intention 
des  Verfassers  das  Gespräch  fallen.  Da  aber  das  iam  anzudeuten  scheint,  dass  das  5.  Regie- 
rungsjahr noch  nicht  lange  vollendet  ist,  so  wird  fttr  das  Gespräch  das  Jahr  74  anzusetzen 
sein.  Allein  mit  diesem  Ansatz  stimmt  nicht  die  Summe  120,  denn  rechnen  wir  vom  Tode 
Ciceros  die  120  Jahre,  so  kommen  wir  auf  das  Jalu-  77.  Es  muss  also  ein  irriges  Plus 
von  drei  Jahren  in  einem  Posten  stecken.  Dieses  Plus  steckt  in  der  Regierungszeit  des 
Augustus,  welche  auf  59  Jahre  angegeben  wird,  während  sie  thatsächlich  nur  56  Jahre 
beträgt.  Es  liegt  also  ein  Irrtum  des  Autors  vor.  Die  Versuche,  unter  Heranziehung  der 
richtigen  Zahl  56  doch  die  Summe  120  zu  gewinnen,  mussten  natürlich  zur  Änderung  des 
Regierungsjahres  des  Vespasian  führen.  Saüppb  setzt  (Philol.  19, 258)  novem,  iam  und  ge- 
winnt dadurch  als  Zeit  des  Gesprächs  das  Jahr  78.  Ublichs  schreibt  septimam  felicis  eto. 
(Festgruss,  Würzburg  1868  p.  4)  und  kommt  so  auf  das  Jahr  76.  Allein  alles  in  allem 
erwogen,  scheint  es  gerathen  zu  sein,  bei  der  Überlieferung  zu  bleiben.  (Bahbens  Ausg. 
p.  72,  ScHWBNKENBECHEB ,  Sprottauor  Progr.  vom  Jahre  1886  p.  6).  Auch  das  Hilfsmittel 
der  runden  Z^l  scheint  hier  nicht  angebracht  zu  sein.  Dass  die  Zeit  des  Gesprächs  vor 
77  fallen  muss,  kann  noch  auf  anderem  Weg  gezeigt  werden.  Es  wird  nämlich  c.  37 
Mucianus  als  lebend  erwähnt ;  als  aber  Plinius  seine  historia  naturalis  im  Jahre  77  heraus- 
gab, war  er  tot  (32,  62)  vgl.  Ublichs  Festgruss  p.  1. 

Überlieferung.  Der  Dialog,  die  Germania  und  das  Sueton'sche  Fragment  de 
grammaiicis  et  rhetoribus  haben  eine  gemeinsame  Überlieferung.  Alle  Handschriften 
gehen  auf  ein  Exemplar  zurück,  das  wahrscheinlich  (Zweifel  bei  Voigt,  Wiederbelebung 
des  klass.  Altert,  l^  256)  Henoch  aus  Äscoli  zur  Zeit  des  Nicolaus  V.  nach  Italien  gebracht 
hatte.  Aus  diesem  Exemplar,  wahrscheinlich  einer  Abschrift  Henochs,  stammen  zwei  jetzt 
verlorene  Codices;  der  erste  wird  repräsentiert  durch  den  Vaticanus  1862  (s.  XV)  und  den 
Leidensis  XVIH  s.  Perizonianus  Q.  21  (s.  XV),  der  zweite  durch  mehrere  Handschriften 
(Vaticanus  1518,  Farnesianus,  Vaticanus  4498,  Ottobonianus  1455,  Vindobonensis  711, 
alle  s.  XV.  Gegen  die  Überschätzung  der  zweiten  Familie  richtet  sich  Bindb,  De  T,  diaL 
quaest.  crit.  Berliner  Dias.  1884.  Revision  der  ganzen  Frage  durch  Schbübb,  De  Tacitei 
de  oratoribus  dial.  codicum  nexu  et  fide  Breslau  1891  (Breslauer  Philol.  Abb.  6.  Bd.). 

Ausgaben  von  Michaelis  (gute  kritische  Ausgabe)  Leipzig  1868,  von  Andbesen 
(erklärende  Schulausgabe)  Leipzig  *  1879;  von  Peteb  (desgl.)  Jena  1877;  von  Bähbens, 
(eine  durch  wilde  Konjekturerei  entstellte  Leistung)  Leipzig  1881. 

429.  Charakteristik  des  Dialog.  Die  kleine  Schrift  ist  unstreitig 
eines  der  schönsten  Denkmäler  der  römischen  Litteratur;  und  mit  Recht 
hat  man  sie  ein  goldenes  Büchlein  genannt.  Ein  höchst  interessantes 
Problem  wird  in  höchst  interessanter  Weise  behandelt.  Dass  die  Bered- 
samkeit, die  der  schönste  Schmuck  der  Republik  gewesen,  in  der  Kaiser- 
zeit gebrochen  war,  konnte  keinem  schärferen  Auge  entgehen.  Öieser  Ver- 
fall der  Redekunst  griff  aber  auch  tief  ins  soziale  Leben  ein,  weil  durch 
denselben  zugleich  auch  die  Erziehung  und  der  Unterricht  gezwungen 
wurde,  andere  Bahnen  einzuschlagen.  Sonach  lag  ein  Problem  vor,  das 
seine  grosse  Wichtigkeit  dadurch  erhielt,  dass  es  in  politische,  litterarische 
und  soziale  Verhältnisse  eingriff.  Liegt  also  schon  in  dem  Stoff  eine  grosse 
Anziehungskraft  für  jeden  Denkenden,  so  hat  der  Schriftsteller  auch  noch 
diesen  Stoff  in  sehr  anmutiger  Form  dargeboten.  Er  gibt  uns  ein  Ge- 
spräch, dadurch  wird  über  das  Ganze  dramatisches  Leben  ausgegossen 
und  wir  erhalten  in  den  sprechenden  Personen  Charaktere :  Aper  ist  durch- 
weg Realist,  Maternus  dagegen  eine  von  idealen  Anschauungen  erfüllte 
liebevolle  Persönlichkeit,  Messalla  ein  Anhänger  des  Alten  und    laudator 


862     BömiBche  Litteratnrgesohiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monarohie.    1.  Abteilnxig. 

actitemporis;  Aper  preist  die  Güter  der  Welt,  Einflues,  Macht,  Ehre;  Ma^ 
ternus  dagegen  freut  sich  des  stillen  Dichterglücks  und  schildert  dasselbe 
in  einer  Weise,  dass  jeder  Leser  aufs  tiefste  jgerührt  wird.  Bei  der  Dar- 
legung von  den  Ursachen  des  Verfalles  packt  uns  der  Autor  durch  äusserst 
zarte  und  liebevolle  Bilder  des  alten  römischen  Familienlebens  und  durch 
eine  lebhaft  durchgeführte  Gegenüberstellung  der  alten  und  der  modernen 
rhetorischen  Bildung.  Der  Kern  des  Dialogs  ruht  darin,  dass  gezeigt  wird, 
dass  unter  der  Monarchie  kein  Boden  mehr  für  die  echte  Beredsamkeit 
vorhanden  ist.  Damit  stellt  sich  von  selbst  die  Erkenntnis  ein,  dass  es 
unnötig  ist,  Zeit  und  Mühe  auf  dieselbe  zu  verwenden,  und  dass  es  daher 
geraten  ist,  andere  Zweige  des  Wissens  zu  pflegen.  Durch  diese  sich  von 
selbst  ergebende  Schlussfolgerung  ist  auch  die  Entscheidung  über  die  zu- 
erst angeregte  Frage,  ob  die  Dichtkunst  der  Beredsamkeit  vorzuziehen  sei, 
vollzogen.  Noch  mehr,  auch  für  den  Autor  wird  das  Endresultat  des  Dia- 
logs von  Bedeutung  sein ;  wii*  gewinnen  den  Eindruck,  als  wollte  der  Ver- 
fasser des  Dialogs  einem  Gegenstand  alter  Liebe  das  letzte  Lebewohl  zu- 
rufen und  sich  einem  neuen  Berufe  zuwenden.  Die  Darstellung  des  Schrift- 
chens entzückt  uns  durch  die  Lebhaftigkeit  und  Anmut;  die  Fülle  des 
Ausdrucks  ist  manchmal  übergross,  allein  der  Eindruck  des  Ganzen  wird 
dadurch  nicht  getrübt.  Es  ist  ein  Sonnenglanz  über  die  Diktion  ausge- 
breitet; der  Stil  ist  eine  feine  und  edle  Regeneration  des  Giceronischen  ohne 
Einseitigkeit. 

Die  Autorschaft  des  Schriftchens  ist  ein  vielumstrittenes  Problem. 
Die  Überlieferung  gibt  den  Dialog  als  ein  Werk  des  Tacitus;  auch  eine 
Stelle  des  Plinius  weist  ziemlich  deutlich  auf  denselben  und  damit  auf  die 
Autorschaft  des  grossen  Historikers  hin.  Was  viele  zu  einer  entgegen- 
gesetzten Annahme  führte,  ist  die  grosse  Stilverschiedenheit,  welche  diese 
Schrift  von  den  historischen  trennt.  Um  diese  Schwierigkeit  zu  über- 
brücken, hat  man  die  Abfassung  des  Werkchens  in  die  Jugendzeit  des 
Tacitus  verlegt.  Allein  damit  wurden  neue  Schwierigkeiten  geschafifen. 
Das  Wahrscheinlichste  ist,  das  Tacitus  erst  nach  Domitians  Tod,  sonach 
als  reifer  Mann  die  Abhandlung  geschrieben  hat;  er  gebraucht  hier  noch 
den  ihm  von  Jugend  auf  geläufigen,  auch  in  seinen  Reden  zur  Anwendung 
gekommenen  Stil;  in  den  historischen  Schriften  dagegen  trat  er  mit  einem 
selbstgeschaffenen  durchaus  künstlichen  Stil  hervor. 

Die  Autorschaft  des  Tacitus.  Die  Zweifel  an  der  Autorschaft  des  Tacitus  he- 
ginnen gleich  mit  der  ersten  Herausgahe  der  Schrift.  Besonders  wirksam  erwies  sich  das 
Verdammuugsurteil  des  Justus  Lipsius,  welcher  die  Schrift  dem  Quintilian  zuteilen  wollte. 
Später  Hess  er  die  Autorschaft  Quintilians  fallen,  allein  dieselbe  ward  um  so  eifriger  von 
anderen  Gelehrten  aufgenommen.  Heumaitk  versuchte  in  seiner  Ausgabe  Gröttingen  1719 
einen  eingehenden  Beweis  für  diese  Ansicht.  Aber  ein  ausgezeichneter  Kenner  Quintilians, 
Spalding,  entzog  diesem  Beweis  den  Boden.  Neben  der  Autorschaft  Quintilians  kam  auch 
die  des  jüngeren  Plinius  auf;  sie  wurde  aufgestellt  von  Nast  in  seiner  Obersetzung  des 
Dialogs  Halle  1787.  Einen  wichtigen  Einschnitt  in  der  Frage  büdete  die  Abhandlung  von 
Lange,  Dialogus  de  oratoribiis  Tacito  vindicatxis,  zuerst  erschienen  1811  in  Becks  Acta 
aem,  Lips.  1,  77,  jetzt  in  Lai?ob's  Vermischte  Schriften  und  Reden  p.  3.  Hier  wird  zum 
erstenmal  ein  äusseres  Zeugnis,  eine  Stelle  des  Plinius  verwertet.  Er  behauptete  nämlich, 
dass  Plinius  in  dem  all  Tacitus  gerichteten  Brief  mit  9,  10  itaque  poemata  qtUescunt,  quae  tu 
inttr  nemora  et  lucos  commodissime  perfici  ptiias  einen  Hinweis  auf  Dial.  c.  9  adice  quod 
poetisj  si  modo  dignum  aliquid  elaborare  et  efficere  velint,  relinquenda  conversatio  amicorum 
et  iucunditas  urbis,  deserenda  cetera  officia,  täque  ipsi  dicunt  in  nemora  et  lucos,  id  est  in 


Cornelins  Tacitns,  863 

solitudinem  secedendum  est]  c.  12  nemora  vero  et  luci  et  secretum  ipsum  qxiod  Aper  incre- 
pahat  tantam  mihi  afferunt  voluptatem  eto.  gibt.  Sehr  gründlich  ging  auf  die  Sireitfrage 
Eckstein  {Protegomena  Halle  1835)  ein;  allein  das  Endresultat  war  doch  wieder  ein  non  liquet. 
Im  Laufe  der  Zeit  jedoch  neigten  sich  immer  mehr  die  Ansichten  auf  Seite  des  Tacitus.  Be- 
sonders erfolgreich  wirkten  die  Untersuchungen  Weinkauffs  (seit  1857),  welche  erweitert  in 
Buchform  (Unters.  Ober  den  Dialog  desTac.)  Köln  1880  erschienen  sind.  Diese  Aufs&tze  laufen 
darauf  hinaus,  nachzuweisen,  dass  trotz  der  Verschiedenheit  des  Stils  doch  auch  im  Dialog  die 
Taciteische  Individualität  durchblicke.  Ein  Gedanke  Steikeb's  ist  es  {De  dialogo  Kreuz- 
nach 1 802),- die  Verschiedenheit  des  Stils  in  den  Taciteischen  Werken  als  eine  Folge  der 
Entwicklung  zu  erklären.  Tn  neuester  Zeit  wurde  nochmals  die  ganze  Frage  einer  um- 
sichtigen Revision  unterzogen  von  Jansen,  De  Tacito  diaiogi  auetore  Groningen  1878  und 
die  Autorschaft  des  Taci^  festgehalten,  wie  ich  glaube  mit  Recht;  denn  1)  ist  die 
Bezeichnung  der  Pliniusstelle  auf  den  Dialog  doch  unverkennbar;  2)  ist  der  Dialog  unter 
dem  Namen  des  Tacitus  überliefert;  3)  ist  die  Taciteische  Persönlichkeit,  trotzdem  der 
Dialog  eine  ganz  andere  Sprache  redet  als  die  übrigen  Schriften,  doch  noch  in  vielen  Spuren 
zu  erkennen. 

Abfassungszeit  der  Schrift.  Für  diese  Frage  ist  das  wichtigste  Moment,  dass 
der  Verfasser  als  iurenis  admodum  dem  im  Jahre  74  gehaltenen  Gespräch  beiwohnte, 
da^  er  sonach  als  reifer  Mann  das  gehörte  Gespräch  herausgab.  Es  wird  also  natur- 
gemäss  sein,  wenn  wir  zwischen  der  Zeit  des  Gesprächs  und  der  Zeit  der  Abfassung  un- 
gefähr 20  Jahre  verstrichen  sein  lassen;  wir  kämen  damit  beiläufig  mit  der  Abfassungszeit  ins 
Jahr  94.  Damit  steht  ein  anderes  Moment  in  Einklang.  Die  Delatoren  Eprius  Marcellus 
und  Vibius  Grispus  konnten  nicht  im  Dialog  so  besprochen  werden,  wenn  sie  noch  am 
Leben  waren;  nun  aber  lebte  Grispus  noch  hochbetagt  unter  Domitian.  Weiter  ist  zu  er- 
wägen, dass  manche  freimütige  Äusserungen  des  Dialogs  unter  Domitian  sich  nicht 
hervorwagen  durften.  Wir  kämen  sonach  in  die  2^it  nach  96.  Damit  ist  aber  die  Frage 
noch  nicht  ihrer  Lösung  entgegengeführt;  da  wir  von  der  Autorschaft  des  Tacitus  ausgingen, 
so  muss  noch  erörtert  werden,  ob  die  gewonnenen  Zeitbestimmungen  auch  auf  ihn  passen. 
Was  die  Zeit  des  Gesprächs  anlangt,  so  konnte  allerdings  Tacitus  von  sich  sagen,  dass  er 
einem  im  Jahre  74  gehaltenen  Gespräch  iuvenia  admodum  beigewohnt  habe;  denn  da 
für  seine  Geburtszeit  das  Jahr  55  oder  56  durch  begründete  Vermutung  angenommen  wird, 
so  stand  Tacitus  damals  im  jugendlichen  Alter  von  19  oder  20  Jahren.  Auch  die  Abfassungs- 
zeit würde  mit  den  aus  Tacitus  bekannten  Daten  vereinbar  sein,  denn  nach  dem  Prooemium 
des  Agricola  will  er  unter  Domitian  nichts  geschrieben  haben.  Weiterhin  ist  zu  bemerken^ 
dass  Plinius  seinen  bekannten  Brief  (1, 20)  an  Tacitus  über  rhetorische  Dinge  nicht  so  abgefasst 
hätte,  wenn  damals  der  Dialog  schon  vorgelegen  wäre.  Jener  Brief  Allt  nach  97,  wahr- 
scheinlich in  das  Jahr  98  (Wutk,  Dialogum  a  Tacito  Traiani  temvoribus  scriptum  esse 
Spandau  1887  p.  IX).  Endlich  setzt  der  Dialog  eine  solche  praktiscne  Erfahrung  und  Le- 
bensweisheit voraus,  wie  sie  bloss  einem  reiferen  Alt«r  zustehen  kann.  Nur  eine  Schwierig- 
keit erhebt  sich,  der  Dialog  steht  bei  unserer  Annahme  auf  derselben  Zeitstufe,  auf  der 
sich  der  Agricola  und  die  Germania  befinden,  und  trägt  doch  ein  vollständig  anderes  sti- 
listisches Gepräge.  Allein  diese  Erscheinung  nötigt  uns  lediglich  zu  dem  Schluss,  dass  wir 
die  Stilverschiedenheit  nicht  als  das  Produkt  einer  Entwicklung  anzusehen  haben,  sondern 
als  eine  mit  Bewusstsein  vollzogene  künstlerische  That.  Der  Stil  des  Dialogs  ist  offenbar 
der,  welchen  er  als  Redner  in  Anwendung  brachte,  also  der,  welcher  ihm  zur  Natur  geworden 
war;*)  dagegen  der  Stil  der  historischen  Schriften  ist  ein  künstlich  gemachter,  wie  ihn 
niemals  ein  Römer  sprach.  Das  Problem  besteht  also  nicht  darin,  die  Stilverschiedenheit 
des  Dialogs  zu  erklären,  sondern  die  der  historischen  Schriften.  Beispiele  einer  solchen 
Stiländerung  bietet  die  alte  und  die  moderne  Zeit  genug.  Um  ein  naheliegendes  Beispiel 
anzuführen,  schreibt  doch  der  Freund  des  Tacitus  Plinius  in  seinem  Panegyricus  ganz  an- 
ders als  in  seinen  Briefen.  Freilich  muss  auch  in  solchen  Schriften  mit  verschiedenem  Stil 
doch  noch  immer  derselbe  Autor  zu  erkennen  sein;  und  das  ist  hier  der  Fall. 

430.  Agricola.  Unter  Domitians  gewaltthätigem  Regiment  hatte  die 
Schriftstellerei  einen  bösen  Stand;  Tacitus  zog  es  daher  vor,  zu  schweigen. 
Erlösung  brachten  die  milden  Regierungen  Nervas  und  Traians.  Jetzt 
konnte  sich  das  freie  Wort  des  Schriftstellers  wiederum  hervorwagen,  jetzt 
konnte  auch  Tacitus  an  die  Durchführung  seiner  historischen  Pläne  denken. 
Er  stellte  eine  Geschichte  der  domitianischun  Herrschaft  und  eine  Geschichte 


*)  Ich  vermag  Nipperdey  nicht  zuzu-  Nipperdey  aus  Plin.  ep.  2,  11,  17  respondit 
geben,  dass  Tacitus  auch  seine  Reden  im  Cornelius  Taritus  eloquentissinte  et,  quod 
Stil  seiner  historischen  Werke  schrieb,  was      eximium  orationi  eins  inest,  ae^uytug  schliesst. 


364     Bömische  LitteraturgeBchichte.    TL,  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilang. 

der  gegenwärtigen  glücklichen  Zeit  in  Aussicht.  Vorläufig  spendet  er  — 
es  war  im  Jahre  98  n.  Chr.  —  eine  Biographie  seines  Schwiegervaters, 
des  Gn.  Julius  Agricola  dem  Publikum.  Er  bittet  in  der  Einleitung  um 
schonende  Aufnahme  seiner  Produktion,  da  ja  die  Gegenwart  biographi- 
schen Darstellungen  nicht  mehr  das  rege  Interesse  entgegenbringe,  wie 
die  Vergangenheit,  die  Tüchtigkeit  erfahre  nur  in  den  Zeiten  die  grösste 
Wertschätzung,  in  denen  sie  am  besten  gedeihe.  Er  nimmt  für  seine  Ar- 
beit keinen  litterarischen  Charakter  in  Anspruch,  er  will  sie  lediglich  als 
ein  Werk  der  Pietät  betrachtet  wissen.  Anders,  wenn  er  mit  der  Schil- 
derung der  erlebten  blutdürstigen  Zeiten  hervortreten  würde.  Hier  brauchte 
er  nicht  um  Nachsicht  zu  bitten ;  denn  die  hier  allein  zulässige  litterarische 
Beurteilung  müsse  unbedingt  eine  milde  sein,  da  Domitians  Regierung 
fünfzehn  Jahre  lang  alles  geistige  Leben  niedergehalten  hätte,  und  die  Fol- 
gen der  Unterdrückung  sich  nicht  so  leicht  ausgleichen  Hessen.  Aus  dieser 
Einleitung  ergeben  sich  zwei  für  den  Charakter  der  Schrift  wichtige  Mo- 
mente; einmal  setzt  Tacitus  die  Biographie  in  unleugbare  Beziehung  zu 
seiner  historischen  Schriftstellerei,  die  Monographie  soll  der  Vorläufer 
grösserer  geschichtlicher  Werke  sein;  dann  stellt  er  seine  Monographie 
ausdrücklich  als  ein  Werk  der  Pietät  bin,  es  ist  selbstverständlich, 
dass  sie  damit  eine  Lobschrift  wird,  welche  die  rühmenswerten  Eigen- 
schaften seines  Helden  hell  beleuchtet  und  die  Schattenseiten  verschweigt 
oder  entschuldigt.  Wir  können  also,  wenn  wir  die  Tendenz  der  Biographie 
kurz  bezeichnen  wollen,  sagen:  Tacitus  schreibt  das  Elogium  seines 
Schwiegervaters  und  verleugnet  dabei  nicht  seinen  Charakter 
als  Historiker.  Nur  wenn  wir  uns  diese  Tendenz  der  Schrift  stets  ge- 
genwärtig halten,  gewinnen  wir  das  richtige  Verständnis  von  der  Kompo- 
sition. Der  Gang  der  Biographie  ist  folgender:  Zuerst  schildert  er  Agri- 
colas  Abstammung,  dann  legt  er  seine  Ausbildung  dar,  welche  nach  der 
litterarischen  Seite  hin  in  Massilia,  nach  der  militärischen  in  Britannien 
unter  Suetonius  Paulinus  erfolgte.  Kurz  wird  seine  Vermählung  mit  Do- 
mitia  Decidiana  und  der  Anfang  seiner  amtlichen  Laufbahn,  seine  Quästur, 
sein  Tribunat,  seine  Prätur  abgemacht;  ausführlicher  und  wärmer  wird  der 
Historiker,  als  er  den  Anschluss  Agricolas  an  Vespasian,  sein  Legionskom- 
mando in  Britannien,  seine  Statthalterschaft  in  Aquitanien  und  sein  Kon- 
sulat erzählt ;  hier  werden  schon  einzelne  Charakterzüge  Agricolas  geschickt 
eingewoben.  Doch  den  Höhepunkt  erreicht  die  Biographie  erst  mit  dem 
Wirken  Agricolas  in  Britannien,  wohin  er  nach  seinem  Konsulat  als  Statt- 
halter beordert  wurde.  Der  wichtige  Einschnitt  wird  dadurch  markiert, 
dass  eine  Abhandlung  über  Land  und  Leute,  weiter  ein  Abriss  der  britan- 
nischen Expeditionen  vorausgeschickt  wird  (c.  10 — 17).  Dann  erst  hebt 
die  Erzählung  selbst  an.  Agricola  begann  seine  Thäligkeit  mit  einem 
glücklichen  Unternehmen  gegen  die  Ordoviker  und  mit  der  Besetzung  der 
Insel  Mona.  Hatte  dies  schon  sein  Ansehen  sehr  gehoben,  so  kam  noch 
weiter  hinzu  eine  sehr  umsichtige  und  gewissenhafte  Verwaltung.  Auch 
die  folgenden  Jahre  seiner  Statthalterschaft  zeigen  überall  den  siegi^eichen 
Feldherrn,  den  trefflichen  Verwaltungsbeamt^n,  den  klugen  Menschenkenner, 
den    edlen    Mann.       Ein     merkwürdiges    Abenteuer    einer    Cohorte    der 


Cornelias  Tacitns.  365 

Usipier,  welche  desertierte,  endet  die  Schilderungen  und  gewährt  ge- 
wissermassen  dem  Leser  einen  Ruhepunkt.  Es  folgt  die  Erzählung 
der  ruhmvollsten  That  Agricolas,  der  siegreichen  Schlacht  am  Graupius- 
berge.  Diese  Partie  der  Schrift  wird  besonders  durch  die  eingestreuten 
Reden  der  beiden  Führer,  des  Galgacus  und  des  Agricola  glänzend  ge- 
staltet. Mit  diesem  Ereignis  schliesst  die  Statthalterschaft  ab.  Der  Bio- 
graph wendet  sich  nun  zum  letzten  Abschnitt  im  Leben  seines  Helden, 
das  dieser  in  stiller  Zurückgezogenheit  in  Rom  verbrachte  (84—93).  Der 
Schwerpunkt  dieser  Schilderung  liegt  in  dem  Verhalten,  das  Agricola  dem 
grausamen  Herrscher  gegenüber  beobachtete.  Es  war  das  der  vorsichtigen 
Zurückhaltung.  Offenbar  erfuhr  dieselbe  späterhin  Tadel;  der  Historiker 
unterlässt  es  daher  nicht,  eine  politische  Maxime  einzustreuen.  Er  sagt, 
dass  auch  unter  schlechten  Fürsten  die  Existenz  grosser  Männer  möglich 
sei,  und  dass  Loyalität  und  Zurückhaltung,  mit  kräftiger  Thätigkeit  ver- 
eint, Anrecht  auf  denselben  Ruhm  geben,  den  viele  geerntet  haben,  welche 
in  trotziger  Verblendung  ohne  jedweden  Nutzen  für  das  Vaterland  den 
Tod  gesucht,  nur  um  ihrem  Ehrgeize  zu  fröhnen  (c.  42).  Es  kommt  der 
ergreifende  Bericht  von  dem  Ende  Agricolas,  der  sich  zuletzt  zu  einer 
warmen,  feierlichen  Apostrophe  an  den  Verstorbenen  erhebt. 

Der  Titel  der  Schrift  ist  nach  der  handschriftlichen  Überlieferang  De  tnta  ei  mo- 
ribu8  Julii  Agricolae,     (Nepos  Cato  3  de  vita  ei  maribus). 

Ahfassnngszeit.  Zwei  Stellen  kommen  in  Betracht:  c.  3  quamquam  primo  atatim 
heatissimi  saeeuli  artu  Nervo  Caesar  res  oUm  dissociabileSf  principatum  ac  libertatem  miscuerit 
augeafque  quotidie  felicitatem  temporum  Nerva  Traianus.  e,  44  non  licuU  (ei)  durare  in  hanc 
heatismmi  aaecuU  lucem  ac  principem  Traianum  pidere.  So  lange  Nerva  lebte,  wäre  es  un- 
geschickt gewesen,  von  Traian  zu  schreiben,  wie  es  im  letzten  Satz  geschehen.  Auch  konnte 
Traian  vor  dem  Tode  Nervas  (27.  Jan.  98)  nicht  princeps  genannt  werden.  (Nissen,  Tacit. 
Agric.  p.  14,  Wex  p.  146) ;  MoMifSEN,  Hermes  3,  106  Anm.  Dass  Nerva  an  der  ersten  Stelle 
nicht  diru8  genannt  wird,  ist  von  keinem  Belang.  Dass  der  Agricola  vor  die  Germania 
fällt,  ergibt  sich  aus  dem  Prooemium. 

Dis  Überlieferung  beruht  auf  zwei  ganz  jungen  Codices^  dem  Vaticanus  3429,  der 
im  1&.  Jahrh.  von  der  Hand  des  Pomponius  Laetus  geschrieben  wurde,  und  dem  Vaticanus 
4498  s.  XV.     Die  erste  Handschrift  ist  die  vorzüglichere  Quelle. 

Litteratur:  Ausgaben  von  Wex  mit  ausführlichen  Proleg.  und  ausführlichem 
Kommentar,  Braunschweig  1852,  Hofman-Peerlkamp,  Leyden*  1864,  Kritz,  Berlin^  1874, 
Urlichs,  Würzburg  1875  (Facsimile  von  A  und  Varianten  von  B  auf  der  einen  Seite,  die 
scripiura  emendata  auf  der  anderen),  Cornblissek,   Leyden  1881,  Peter,  Jena  1876  u.  a. 

431.  Charakteristik.  Jede  Betrachtung  der  Schrift  hat  davon  aus- 
zugehen, dass  sie  eine  Lobschrift  sein  soll.  Damit  ist  uns  auch  der 
Massstab  für  die  Würdigung  der  Arbeit  gegeben.  Dem  Schriftsteller  lag 
keine  leichte  Aufgabe  vor;  Agricola  gehörte  nicht  zu  den  durch  eine  un- 
gewöhnliche Qeistesgrösse  emporragenden  Männern  seiner  Zeit,  auch  durch 
Charakterstärke  leuchtete  er  nicht  hervor,  im  Gegenteil  er  wusste  sich 
ganz  gut  zu  den  verschiedenen  Regierungen  zu  stellen,  selbst  den  Grau- 
samkeiten Domitians  entging  er  durch  seine  Klugheit.  Ist  es  schon  an  und  für 
sich  schwierig,  einen  solchen  Helden  zu  feiern,  so  war  dies  für  Tacitus 
noch  mehr  erschwert,  weil  zur  Zeit,  als  er  mit  seiner  Monographie  her- 
vortrat, eine  sehr  feindselige  Stimmung  gegen  Domitian  und  alle,  welche 
unter  ihm  wirkten,  herrschte.  Wollte  der  Autor  daher  seiner  Schrift  eine 
günstige  Aufnahme  bei  dem  Publikum  sichern,  so  konnte  er  keinen 
Kampf  mit  der  öffentlichen  Meinung  in  dieser  Beziehung  aufnehmen.  Seine 


366    Hömische  Litteratargeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang, 

Lobschrift  durfte  nicht  die  Form  einer  offenen  Rechtfertigungsschrift  er- 
halten, höchstens  eine  leise  Andeutung  konnte  er  sich  gestatten,  wie  dies 
in  der  That  in  der  berühmten  Stelle  (c.  42)  geschehen  ist.  Im  Gegen- 
teil, er  musste  sogar  dieser  Stimmung  des  Publikums  entgegenkommen 
und  auch  den  Agricola  als  einen  Mann  darzustellen  versuchen,  welcher 
von  Domitian  manche  Unbill  zu  ertragen  hatte  und  nur  durch  seine  weise 
Zurückhaltung  grösseren  Gefahren  entging.  Besonders  die  thatenlose  Zeit 
Agricolas  nach  der  britannischen  Verwaltung  eignete  sich,  diesen  Gesichts- 
punkt hervorzukehren.  Die  Schwierigkeit,  welche  die  lobende  Partie  machte, 
umging  Tacitus  dadurch,  dass  er  rasch  über  die  Zeiten,  in  denen  von 
seinem  Helden  wenig  oder  nichts  zu  berichten  war,  hinwegging  und  alles 
auf  einen  Wurf  setzte,  auf  die  Schilderung  der  Statthalterschaft  in  Bri- 
tannien ;  hier  lag  ja  die  einzige  Lichtseite  im  Leben  Agricolas.  um  das 
Interesse  der  Leser  für  diesen  Abschnitt  und  damit  für  das  ganze  Werk 
besonders  zu  wecken,  verliess  er  den  Rahmen  der  Biographie  und  leitete 
die  Erzählung  ins  Historische  über ;  es  treten  uns  daher  auch  Einwirkungen 
der  Sallustischen  Monographien  entgegen.  *)  Er  schickte  der  Erzählung  von 
den  Thaten  des  Agricola  eine  Geographie  und  Ethnographie  Britanniens,  wie 
einen  Abriss  der  römischen  Expeditionen  in  jenes  Land  voraus.  Weiter 
liess  er  vor  der  Entscheidungsschlacht  die  sich  gegenüberstehenden  Feld- 
herren Reden  halten,  durch  welche  die  folgende  Darstellung  einen  bedeuten- 
den Hintergrund  erhielt.  Auf  diese  Weise  empfangen  wir  den  Eindruck, 
als  ob  sich  ein  wichtiges  Stück  der  Zeitgeschichte  vor  unseren  Augen  ab- 
spielte. Zugleich  tritt  der  Träger  der  Handlung,  Agricola,  dadurch  in  ein 
helles  Licht.  Aber  des  Autors  Mittel  sind  noch  nicht  erschöpft;  er  weiss 
die  Spannung  des  Lesers  aufrecht  zu  erhalten,  ja  noch  zu  steigern;  er 
bewirkt  dies  durch  die  ergreifende  Apostrophe  an  Agricola.  Unsere  Blicke 
werden  auf  die  andere  Welt  gelenkt.  Nicht  Klagen  verlangt  der  Ver- 
storbene, sondern  Nacheiferung  in  seinen  Tugenden;  nicht  'seine  körper- 
liche Hülle,  sondern  seinen  Geist  sollen  sich  die  Überlebenden  stets  ver- 
gegenwärtigen;  denn  jene  ist  hinfallig,  dieser  ist  ewig.  Alles,  was  an 
Agricola  bewunderns-  und  liebenswert  war,  wird  in  den  Herzen  der  Men- 
schen ewig  fortleben  und  während  viele  Vorfahren  schon  der  Vergessen- 
heit anheimgefallen  sind,  werden  von  Agricola  noch  die  spätest/en  Zeiten 
reden.  Der  Biograph  redet  in  so  eindringlicher  Weise,  dass  wir  in  tiefer 
Rührung  von  ihm  scheiden. 

Die  Komposition  und  die  Tendenz  des  Agricola  ist  in  der  neueren  Zeit 
Gegenstand  vieler  Abhandlungen  geworden.  Vier  Grundansclianungen  sind  dabei  hervor- 
ge^eten : 

a)  Der  Agricola  vertritt  die  Stelle  einer  laudatio  funebris,  er  ist  eine  in 
buchmässiger  Form  publizierte  latidatio  funebris.  Diese  Ansicht  hat  Hübneb,  Hermes  1,  438 
aufgestellt,  vor  ihm  hatte  den  Gedanken  schon  angeregt  Mohb,  Zu  und  über  T.  A.,  Meinin- 
gen  1828  p.  IV.  Freilich  muss  H.  zugeben,  dass  manches,  wie  die  Beschreibung  von  Britan- 
nien und  die  Erzählung  von  den  früheren  Expeditionen  dahin,  die  eingelegten  Reden  des 
Calgacus  und  des  Agricola,  ja  selbst  der  Bericht  über  Agricola«  britannische  Verwaltung 
dem  Charakter  der  Rede  geradezu  widerstreiten  oder  über  die  derselben  gesteckten  Grenzen 
hinausgehen;  diese  Schwierigkeiten  sucht  der  Urheber  der  Hypothese  durch  den  Satz  zu 
heben  (p.  442):    «Das  rhetorische  Kunstwerk  wird   durch  diese  Erweiterung  über  seine 


0  Vgl.  Ublichs,    De  vUa  Taciti  p.  22. 
Der  Einfluss  wird  vielfach  Überschätzt.   Viele 


von  den    angeblichen  Nachahmungen   (Ur- 
lichs, De  viia  Agric.  p.  4)  sind  zu  streichen. 


CorneliuB  Tacitna.  367 

Spli&re  hinaus  und  in  die  des  historischen  Kunstwerks  gehoben."  Mit  diesem  Satz  ist 
aber  der  Hypothese  ihr  Todesurteil  gesprochen;  denn  ein  Schriftstück,  das  in  eine  andere 
Sphäre  gehoben  wird,  gehört  eben  dann  anch  dieser  andern  Sphäre  an.  (Vgl.  dagegen 
HoFFMANV,  Zeitschr.  f.  österr.  Gyinn.  21,  250); 

b)  Der  Agricola  hat  keinen  einheitlichen  Charakter,  er  ist  Biographie 
und  Geschichte  zugleich  (Hirzel,  Die  Tendenz  des  Agricola,  Tübingen  1871).  Von 
diesem  Satz  ausgehend  stellt  Andresek  (Festschr.  des  grauen  Klosters,  Berlin  1874  p.  302) 
die  Hypothese  auf,  dass  die  Kapitel  10—38  einer  von  Tacitus  verfassten  Geschichte  der 
Unterwerfung  Britanniens  angehören,  dass  diese  Geschichte  aber  sich  nach  dem  Tode 
Agricolas  durch  Hinzufügung  der  Kapitel  1 — 9  und  39—46  in  das  uns  vorliegende  Buch 
verwandelte,  das  von  nun  an  zum  Teil  einen  biographisch-nekrologischen  Charakter  trug.*) 
Diese  Ansicht  lässt  die  Schriftstellerei  des  Tacitus  in  einem  Licht  erscheinen,  wie  sie  nie- 
mals zu  dem  Bilde  stimmt,  das  wir  von  Tacitus  gewonnen  haben,  und  rückt  die  Schrift 
aus  dem  Rahmen  eines  Kunstwerkes.    (Vgl.   dagegen  Eussner,  Fleckeis.  Jahrb.  111,350); 

c)  Die  Schrift  ist  in  der  Form  der  Biographie  wesentlich  eine  Apologie 
des  Agricola,  eine  Ehrenrettung  desselben.  Sie  sucht  Agricola  gegen  aen  Vor- 
wurf der  Servilitftt  in  der  2ieit  Domitians  zu  verteidigen,  mittelbar  verteidigt  der  Biograph 
sich  selbst,  da  er  ja  auch  unter  Domitian  ausgezeichnet  wurde,  und  sucht  Traians  Gunst 
zu  gewinnen  (Hoffmann,  Zeitschr.  f.  österr.  Gymn.  21,  252).*)  Diese  Ansicht  übersieht  den 
Charakter  der  Schrift  als  einer  Lobschrift  und  macht  einen  Nebenumstand  zur  Haupt- 
sache. (Dagegen  Hirzel,  Über  die  Tendenz  des  A.  Tüb.  1871).  Noch  stärker  wird  diese 
politische  Tendenz  von  Boissier,  Gantrelle  (Flbckeis.  Jahrb.  115,  787)  und  Asbach 
(Raumer,  Hist.  Taschenb.  6  F.  5.  Jahrg.  p.  69)  betont; 

d)  Die  Schrift  ist  eine  historische  Lobschrift')  (ürlichs,  De  vita  et  hono- 
rihus  Taciti  p.  20  und  p.  24).  Diese  Ansicht  ist  offenbar  die  richtige.  Ziel  der  Monogra- 
phie ist  die  Verherrlichung  Agricolas;  dieses  Ziel  schliesst  in  sich  das  Verschweigen  der 
Fehler  und  ihre  Bemäntelung,  also  auch  die  politische  Rechtfertigung.  Dieser  Grundcha- 
rakter der  Schrift  wird  aber  modifiziert  durch  den  Studienkreis  des  Autors.  Anders  hätte 
ein  Rhetor  dieses  Elogium  geschrieben,  anders  ein  Antiquar,  anders  ein  Philosoph;  wiederum 
anders  hat  es  der  Historiker  abgefasst. 

Eine  meist  nur  referierende  Zusammenstellung  der  über  den  Agricola  vorgebrachten 
Ansichten  findet  sich  bei  Ulbrich,  Der  litterarische  Streit  über  Tacitus'  Agricola,  Melker 
Programm  vom  Jahre  1884. 

432.  Die  Germania.  Bald  nach  dem  Agricola,  in  demselben  Jahre  98 
schrieb  Tacitus  eine  ethnographische  Monographie,  die  Qermania.  In  einem  all- 
gemeinen Teil  spricht  er  zuerst  über  die  Grenzen  des  Landes,  über  die  Ab- 
stammung des  Volks,  über  das  Klima,  über  die  Produkte;  dann  wendet  sich 
der  Historiker  zu  den  Bewohnern  und  beschreibt  zuerst  das  öffentliche  Leben, 
es  sind  interessante  und  für  die  Geschichte  unserer  Nation  sehr  wichtige 
Bilder,  welche  uns  vorgelegt  werden ;  da  wird  uns  geschildert  das  Kriegs- 
wesen, die  religiösen  Gebräuche,  die  Staats-  und  Gerichtsverfassung,  die 
Wehrhaftmachung  und  die  Gefolgschaft.  Es  folgt  die  fesselnde  Darstel- 
lung des  Privatlebens  der  Germanen,  wir  werden  unterrichtet  über  Woh- 
nung, Kleidung,  über  das  Familienleben,  wie  über  Ehe,  Kindererziehung, 
Erbrecht  und  Blutrache,  Gastfreundschaft,  Nahrung  und  Vergnügungen,  dann 
über  die  sozialen  Verhältnisse,  über  den  Stand  der  Sklaven  und  Freige- 
lassenen, über  Volkswirtschaftliches  wie  Geld  und  Ackerbau.  Den  Schluss 
bildet  die  Leichenbestattung  und  der  Totenkultus.  Nachdem  in  dieser  Weise 
Land  und  Leute  besprochen  sind,  handelt  der  Schriftsteller  in  dem  spe- 
ziellen Teil  über  die  einzelnen  Völkerschaften.  Auch  hier  ist  sein  Augen- 
merk auf  hervorstechende  Eigentümlichkeiten  der  einzelnen  Stämme  im 


')  Verwandt  damit  ist  die  Ansicht  Nib- 
BüHBS,  der  Kl.  Sehr.  1, 831  eine  doppelte  Bear- 
beitung des  Agricola  statuiert. 

*)  Mit  HoFPKANN  berührt  sich  vielfach 
A.  Stahb,  Geschichte  der  Reg.  des  Tiberius 


p.  11-12. 

')  Verwandte  Bezeichnungen:  „ Biogra- 
phische Lobschrift*  von  Artzt  in  seiner  Ober- 
setzung, Meissen  1800,  eloge  hiatorique  oder 
historische  Lobschrift  von  Gantrelle. 


368    BömiBche  Litteratnrgeschichte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilimg. 


Leben  und  in  Sitten  gerichtet.  Zuerst  nimmt  er  die  Orenzvölker  sowohl 
germanischen  als  nichtgermanischen  Ursprungs  vor,  dann  kommen  die 
germanischen  Völkerschaften  im  Westen  Germaniens,  weiterhin  im  Nord- 
westen an  die  Reihe.  Damit  ist  die  erste  Völkertafel  geschlossen,  der 
Einschnitt  wird  durch  eine  allgemeine  Betrachtung  über  die  Kämpfe  der 
Germanen  mit  den  Römern  in  wirkungsvoller  Weise  markiert.  Es  folgen 
die  Suebenvölker,  zuerst  die  Stämme  im  Innern  Germaniens  bis  zur  Elbe- 
mündung und  zur  cimbrischen  Halbinsel  hinauf,  dann  die  an  der  Donau  hau- 
senden, endlich  die  im  Osten  und  an  der  See.  Den  Schluss  der  Mo- 
nographie bilden  die  östlichen  Grenzvölker  und  die  märchenhaften  Tier- 
menschen. 

Der  Titel  der  Schrift.  Im  Vaticanus  1862  (und  1518)  lautet  der  Titel  De 
origine  et  situ  Germanorumf  im  Leidensis  De  origine,  situ,  moribus  ac  populis 
Germanorum.  Als  echten  Titel  sieht  Reifferscheid  an,  vom  Vaticanus  ausgehend:  De 
situ  Germaniae  (Reifferscheid,  Sgmh,  philoL,  Bonn  p.  625),  Wölfflin,  den  codex  Lei- 
densis zu  Grunde  legend:  De  situ  ac  populis  Germaniae  (Hermes  11,126).  Dagegen 
Reiffebscheid,  Ind,  lect.y  Berlin  1877/8  p.  9.  Ohne  Grund  vermutet  Berge  (zur  Geschichte 
und  Topographie  der  Rheinlande  p.  40),  dass  der  ursprüngliche  Titel  mit  einem  an  eine 
bestimmte  Persönlichkeit  gerichteten  Vorwort,  in  dem  er  sich  über  das  Ziel  seiner  Abhand- 
lung ausgesprochen,  verloren  ging. 

Die  Zeit  der  Abfassung,  um  zu  berechnen,  wie  viel  Jahre  seit  dem  ersten 
Cimberoeinfall  verflossen  sind,  nimmt  er  (c.  37)  das  zweite  Konsulat  Traians  als  Ausgangs- 
punkt für  die  Gegenwart.    Dieses  fällt  ins  Jahr  98.    (Frühjahr  98  nach  Asbach  p.  79). 

Die  Überlieferung  ruht,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  auf  derselben  Grund- 
lage wie  der  Dialog.  Allein  die  Frage  ist  hier  verwickelter,  da  mehr  apographa  vor- 
handen sind.  In  neuerer  Zeit  hat  man  besonders  dem  cod,  Hummelianus  Wert  beilegen 
wollen  (vgl.  die  Ausgabe  von  Holder),  einer  Handschrift,  welche  Nipperdey  als  bedeu- 
tungslos erachtete  (opusc.  p.  387).  —  Schefczik,  De  C,  T.  Germ,  appar.  crit.,  Troppau  1886. 

Litteratur.  Ausgaben  (in  knapper  Auswahl):  von  M.  Haupt,  Berl.  1855;  Müllen- 
hoff  Berl.  1873;  Eritz  Berl.  1878  (4.  Aufl.);  Holtzmakn-Holder,  Leipz.  1873;  Batthstabk, 
Leipz.  1875 — 80;  Holder,  Leipz.  1878  u.  a.  Die  Erläuterungsschr.  sind  sehr  zahlreich.  Eine 
Übersicht  findet  sich  bei  Baumstark,  Urdeutsche  Staatsaltertümer,  Berl.  1873  p.  VlII — XL 

433.  Die  Quellen  der  Germania.  Zur  Beurteilung  der  Schrift  ist 
vor  allem  notwendig  zu  wissen,  woraus  der  Geschichtschreiber  geschöpft. 
Die  lebensfrischen  Schilderungen  des  Werkchens  haben  vielfach  den  Glau- 
ben hervorgerufen,  dass  dieselben  zum  grossen  Teil  auf  Autopsie  beruhen. 
Allein  in  der  Schrift  findet  sich  keine  Stelle,  welche  mit  Notwendigkeit 
die  Anwesenheit  des  Historikei*s  zur  unbedingten  Voraussetzung  hätte. 
Andrerseits  sollte  man  erwarten,  dass,  wenn  Tacitus  sich  in  Deutschland 
aufgehalten  hätte,  er  es  nicht  unterlassen  haben  würde,  dieses  wichtige 
Moment  hervorzuheben;  besonders  am  Schluss  des  ersten  Teils,  wo  er  sagt: 
haec  in  commune  de  omnium  Germanorum  origine  ac  moribus  accepimus 
musste  sich  der  Hinweis  auf  die  Autopsie  gebieterisch  geltend  machen. 
So,  wie  die  Worte  dastehen,  können  wir  sie  nur  auf  die  Mitteilungen  an- 
.  derer,  seien  es  schriftliche  oder  mündliche,  als  Quelle  beziehen.*)  Solche 
lagen  aber  in  reicher  Fülle  vor.  Eine  stattliche  Reihe  von  Schriftstellern 
hatte  sich  mit  den  germanischen  Verhältnissen  beschäftigt,  den  Reigen 
eröffnet  Cäsar  mit  seinem  bellum  GaUi^um,  auch  in  Sallusts  Historien  war, 
nach  zwei  Fragmenten  zu  urteilen,  eine  Schilderung  der  Sitten  der  Ger- 
manen geliefert-),  recht  ausführlich  hatte  auch  Livius  die  germanisch-rö- 


*)  Die  Autopsie  nehmen  an  Berok,  Ur- 
lichs {De  vita  Tac,  p.  7).  Vgl.  dagegen 
Asbach  p.  82. 


')  Biese  Stellen  sind  fr.  18  Dietsch  (hist. 
3,  57  Kritz)  und  fr.  19  Dietsch  (3,  58  Kr.). 


GornelioB  Taoitns.  369 

mischen  Kriege  behandelt,  im  104.  Buch  war  sogar  eine  geographische 
und  ethnographische  Schilderung  gegeben  (situs  Germaniae  moresque), 
Reichen  Stoff  bot  ferner  Aufidius  Bassus,  der  die  germanischen  Kriege 
ausführlich  erzählt  hatte.  Weiter  hatte  Velleius  Paterculus  in  seinem  Abriss 
Germanisches  berührt  und  zwar  konnte  er  als  Augenzeuge  berichten;  der 
Geograph  Pomponius  Mola  widmete  der  Germania  einen  Abschnitt  seiner 
Schrift,  desgleichen  Strabo.  Aber  eine  Hauptfundgrube  für  Germanisches 
scheinen  die  zwanzig  Bücher  des  älteren  Plinius  über  alle  von  den  Römern 
mit  den  Deutschen  geführten  Kriege  gewesen  zu  sein,  auch  Plinius  stand 
wie  Velleius  als  Soldat  in  Germania  und  war  daher  gleichfalls  in  der  Lage, 
Schilderungen  zu  liefern,  welche  auf  Autopsie  beruhten.  Doch  waren  da- 
mit die  Hilfsmittel  für  die  Erkenntnis  unseres  Vaterlands  noch  nicht  er- 
schöpft ;  neben  der  schriftlichen  Überlieferung  ging  noch  eine  reiche  mündliche 
einher.  Der  Handel  hatte  viele  Römer  mit  den  Germanen  in  Beziehungen 
gebracht,  auch  durch  die  Kriege  kamen  viele  Römer  nach  Deutschland, 
darunter  hochgebildete  Offiziere,  welche  befähigt  waren,  geographische  und 
ethnographische  Beobachtungen  zu  machen,  endlich  sah  man  auch  Deutsche 
in  Rom,  wie  z.  B.  vornehme  Kriegsgefangene,  von  denen  man  manches 
über  Land  und  Leute  erfahren  konnte.  Es  muss  also,  ehe  Tacitus  mit 
seiner  Monographie  hervortrat,  bereits  eine  ziemlich  umfassende  Kenntnis 
der  germanischen  Zustände  unter  den  Römern  verbreitet  gewesen  sein. 
Welche  von  diesen  Quellen  Tacitus  benutzt  hat,  lässt  sich,  da  die  Haupt- 
schriften uns  nicht  erhalten  sind,  nicht  mehr  im  einzelnen  feststellen.  Un- 
wahrscheinlich ist  es,  dass  er  sich  nur  an  eine  angelehnt  hat.  Um  ein 
anschauliches  Bild  entwerfen  zu  können,  war  eine  gewisse  Fülle  des  Stoffes 
notwendig. 

Litteratur  Aber  die  Quellen.  Er  nennt  nur  den  Cäsar  (c.  28).  Der  Nach- 
weis der  verlorenen  Quellen  kann  nattlrlich  nicht  gelingen.  So  hat  man  ohne  Erfolg 
Sallust  in  seinen  Historien  als  Hauptquelle  der  Germania  erweisen  wollen.  Derselbe  soll, 
als  er  der  Bastamen,  einer  germanischen  Völkerschaft,  in  der  Geschichte  der  von  Mithri- 
dates  geführten  Kriege  gedachte,  eine  Charakteristik  der  Germanen  eingefügt  haben,  welche 
für  Tacitus  ,die  leitende  Quelle*  wurde.  (So  Wiedbmann,  sich  an  Köpke  anschliessend, 
Forsch,  z.  deutsch.  Gesch.  4, 173  und  183).  Dagegen  Breuker,  Quo  iure  SaUuatius  Ta- 
cito  in  descrihendia  Germanorum  moribus  auetor  fuisse  putetur,  Köln  1870;  Bauhstark, 
Urdeutsche  Staatsaltert.  p.  100.  —  Schleüssner,  Quae  ratio  int  er  Taciti  Germaniam  ar 
ceteros  primi  saeculi  libros,  in  quibus  Gertnani  tanguntur,  intercedere  videatur,  Barmen  1880; 
Schuhkacher,  De  Taciio  Germaniae  geoffrapho,  Berl.  1886. 

434.  Die  Tendenz  der  Germania.  Viel  hat  man  darüber  gestritten, 
was  der  Autor  mit  seiner  Schrift  bezweckte.  Sicherlich  wollte  er  zunächst 
nichts  anderes  als  eine  Geographie  und  Ethnographie  Germaniens  liefern. 
Auf  diesen  Gegenstand  musste  der  Historiker  durch  seinen  Plan,  die  Ge- 
schichte seiner  Zeit  zu  schreiben,  geführt  werden;  denn  ein  grosser  Teil 
der  Ereignisse  hat  seinen  Schauplatz  in  Germanien.  Er  hätte,  wie  er  es 
bei  andern  Völkern  that,  ehe  er  zur  Darstellung  der  germanischen  Kriege 
schritt,  in  einem  Exkurs  seines  Geschichtswerks  Land  und  Leute  schildern 
können.  Dass  er  dies  nicht  that,  sondern  die  Form  der  Monographie 
wählte,  mochte  wohl  in  der  Wichtigkeit  des  Gegenstands  und  der  dadurch 
bedingten  grösseren  Ausführlichkeit  seinen  Grund  haben.  Den  einsichts- 
vollen Leuten  konnte  es  damals  gewiss  nicht  entgehen,  welche  Gefahr  dem 
römischen  Reich  von  jenem  nordischen  Land  drohe ;  und  es  werden  daher 

Handbuch  der  klan.  AltertumswiMeuscbaft.    Vm.    2.  Teil.  24 


370    BömiBche  Litteratorgeschiolite.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilong. 

viele  Augen  dahin  gerichtet  gewesen  sein.  Besonders  in  dem  Jahre, 
in  dem  die  Monographie  erschien,  stand  Germanien  im  Vordergrund  des 
öffentlichen  Interesses.  Traian  befand  sich  in  Köln,  als  Nerva  starb;  ob- 
wohl er  mit  Ungeduld  in  Rom  erwartet  wurde,  verschob  er  doch  seine 
Rückkehr  bis  zum  Jahr  99,  er  wollte  erst  die  germanischen  Verhältnisse 
konsolidieren  *) ,  so  wichtig  dünkte  ihm  Germanien.  Während  der  Ab- 
wesenheit Traians  in  Deutschland  erschien  also  die  Broschüre  des  Tacitus. 
Dass  aber  der  Historiker  keine  politische  Tagesschrift  schreiben  wollte, 
ergibt  die  Monographie  aufs  unzweideutigste;  denn  dann  hätte  der  politische 
Gedanke,  den  er  zur  Geltung  bringen  wollte,  hervortreten  und  den  Mittel- 
punkt der  Schrift  bilden  müssen.  Allein  dies  ist  nicht  der  Fall,  nur  ein- 
mal tönt,  wie  es  scheint,  auch  die  Stimme  des  Historikers  in  den  Lärm 
des  Tages  hinein.  Als  er  auf  die  Gimbern  zu  sprechen  kommt  (c.  37), 
wirft  er  einen  Rückblick  auf  die  Geschichte  der  Kriege  Roms  mit  den 
Deutschen;  dieser  Rückblick  zeigt  klar,  welche  gefährliche  Gegner  die 
Römer  an  den  Deutschen  hatten.  Von  selbst  ergibt  sich  aus  dieser  That- 
sache  die  Schlussfolgerung,  dass  die  Defensiv-  und  Friedenspolitik,  welche 
Traian  eingeschlagen,  die  beste  ist.  Sonst  vermeidet  es  die  Monographie, 
die  Politik  zu  berühren.  Dagegen  stellen  sich  dem  Autor  unwillkürlich 
bei  Betrachtung  der  germanischen  Zustände  Gegenbilder  aus  der  römi- 
schen Welt  dar,  und  er  unterlässt  es  in  der  Regel  nicht,  diese  Gegensätze 
zu  markieren.  Dadurch  verleiht  er  seinen  Schilderungen  einen  ungemeinen 
'  Reiz,  denn  es  klingt  durch  dieselben  etwas  von  Sehnsucht  nach  dem  ein- 
fachen Naturzustand,  wie  wir  sie  bei  allen  Völkern  mit  überfeinerter  Kultur 
finden.  Auch  sonst  hat  Tacitus  dafür  gesorgt,  dass  der  Leser  gepackt 
wird;  er  veifügt  frei  über  die  verschiedenen  Mittel,  welche  geeignet 
sind,  eine  pathetische  Rede  zu  erzeugen;  Antithesen,  prägnante  Kürze, 
welche  an  passenden  Stellen  auch  eine  gewisse  Fülle  des  Ausdrucks  nicht 
ausschliesst,  poetischer  Schimmer,  Kühnheit  der  Phraseologie  geben  die 
Farben  zu  dem  Gemälde.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  mancher  Pinsel- 
strich aus  dem  Streben,  Effekt  zu  erzielen,  hervorgegangen  ist.  Auch 
war  nicht  ganz  zu  vermeiden,  dass  sich  halb  wahre,  schiefe  und  un- 
richtige Angaben  einschlichen ;  um  eine  nach  allen  Seiten  hin  stichhaltige 
Darstellung  zu  liefern,  dafür  waren  die  Verhältnisse  des  ausgedehnten  un- 
wirtlichen Landes  noch  zu  wenig  erforscht.  Allein  im  grossen  Ganzen 
ist  doch  eine  nchtige  Zeichnung  und  dazu  eine  von  grosser  Anschaulich- 
keit gegeben  worden.  Wir  Deutsche  müssen  es  als  ein  grosses  Glück  be- 
trachten, dass  zur  Zeit,  wo  unser  Volk  noch  in  seinen  Anfangen  stand, 
ein  hochgebildeter  Römer  diesem  fast  kulturlosen  Volk  eine  geistreiche  Schrift 
widmet,  und  wir  verzeihen  es  dem  kalten  Mann,  der  kein  Herz  für  das 
allgemein  Menschliche  hatte,  dass  er  in  den  Wunsch  ausbrach  (c.  33) 
„Mögen  die  Deutschen  stets  fortfahren  sich  zu  hassen,  denn  wenn  das 
Verhängnis  unseres  Reiches  herannaht,  kann  uns  das  Geschick  nichts  Bes- 
seres gewähren  als  die  Zwietracht  unserer  Feinde/ 


*)  ,Er  hob  die  militärische  Zucht,  schloss      und  begann  den  Ausbau  desselben  in  seiner 
Friedensbündnisse  mit  den  freien  Germanen,      ganzen  Ausdehnung*  (Abb ach  p.  78). 
legte  Heerstrassen  an,  verstärkte  den  Limes   , 


Comelins  Tacitas.  371 

Der  Zweck  der  Schrift.  Die  verschiedenen  Ansichten  Über  die  Idee  der 
Schrift  lassen  sich  auf  drei  zurückbringen  (vgl.  die  nützliche  Zusammenstellung  von  Wein- 
BEBOER.  Die  Frage  nach  Entstehung  und  Tendenz  der  Taciteischen  Germania,  Olmütz  1890 
und  1891): 

a)  Die  Germania  ist  ein  Sittenspiegel  für  die  Römer.  Allein  dem  wider- 
sprichty  dass  Tacitus  auch  die  Fehler  der  Germanen  in  drastischer  Weise  schildert.  Auch 
würde  einem  solchen  Zweck  die  Völkertafel  wenig  entsprechen,  und  viel  anderes  Material, 
das  gegeben  wird,  wäre  nutzlos. 

b)  Die  Germania  ist  eine  politische  Broschüre.  Diese  Ansicht  hat  zuerst 
Dierauer  (Bündinger's  Untersuchungen  zur  röm.  Kaisergesch.  1, 84  Anm.  3)  aufgestellt.  Nach 
ihm  ist  die  Broschüre  veröffentlicht  ,mit  der  deutlich  zu  erkennenden  Absicht,  die  Römer 
über  die  Notwendigkeit  einer  dauernden  Konsolidierung  der  gegenseitigen  Beziehungen  in 
den  rhenanischen  Grenzgebieten  aufzuklftren*  und  das  lange  Verweilen  des  Kaisers  in 
Germanien  zu  rechtfertigen.  Schon  vor  Dierauer  soll  Müllenhoff  diese  Hypothese,  wie 
Scherer  mitteilt,  vertreten  haben.  Derselben  pflichtet  auch  0.  Hirschfeld  bei  (Zeitschr.  f. 
österr.  Gymn.  28,  815).  In  eingehender  Weise  wird  dieselbe  von  Asbach  in  verschiedenen 
Abhandlungen  begründet  (Bonner  Jahrb.  69, 1 ;  Westdeutsche  Zeitschr.  3, 11 ;  Histor.  Taschen- 
buch 6.  Folge  5.  Jahrg.  p.  74).  Nach  ihm  ist  die  Germania  ,  durch  bestimmt  nachweisbare 
Vorgänge  am  Niederrhein  hervorgerufen*  (p.  76).  «Sie  billigt  rückhaltslos  die  Politik  Traians, 
welche  die  umfassende  Grenzregulierung,  die  die  Flavier  begonnen  hatten,  vollendete  und 
durch  Beförderung  der  inneren  Fehden  unter  den  Germanen  das  römische  Interesse  wahrte** 
(p.  81).  Allein  eine  vereinzelte  Bemerkung  im  87.  Kapitel  kann  doch  unmöglich  den 
Grundgedanken  der  ganzen  Schrift  bestimmen.  Und  wenn  es  richtig  wäre,  wie  Hirsch- 
felder glaubt,  dass  dieses  Kapitel  erst  später  eingeschoben  wurde,  so  würde  dann  gefolgert 
werden  müssen,  dass  alles  Übrige  durch  einen  andern  Plan  bestimmt  ist.  Wäre  das  Ziel 
der  Schrift  gewesen,  die  Politik  Traians.  zu  billigen,  so  müsste  sich  ergeben,  dass  jener 
Gedanke  die  ganze  Schrift  durchzieht.  Allein  ein  solcher  Nachweis  kann  nicht  geliefert 
werden. 

c)  Die  Germania  ist  ein  ethnographisch-geographisches  Werk.  Diesen 
Eindruck  von  dem  Charakter  der  Germania  wird  jeder  empfangen,  der  dieselbe  vorurteils- 
frei durchliest.  Mit  Recht  sagt  Momxben  (Sitzungsber.  der  Berl.  Ak.  Jahrg.  1886,  1  Bd. 
p.  44)  „Die  ganze  Schrift  macht  den  Eindruck  einer  rein  geographischen  Abhandlung". 
Auf  Grund  dieser  Anschauung  hat  Riese  (Eos.  2, 193)  der  Germania  eine  bestimmte  Stelle 
in  der  historischen  Schriftstellerei  angewiesen,  indem  er  sie  als  einen  von  den  Historien 
losgelösten  Teil  betrachtet. 

436.  Die  Genesis  der  Taciteischen  Geschichtschreibnng.  Schon 
als  Tacitus  seinen  Agricola  schrieb,  trug  er  sich  mit  dem  Plane,  die  Re- 
gierung Domitians  und  die  Regierung  Nervas  und  Traians  zu  schildern.  In 
der  Ausführung  erlitt  der  Plan  eine  Umgestaltung.  Nicht  bloss  die  Re- 
gierung Domitians,  sondern  auch  die  der  zwei  andern  Flavier,  ja  auch  noch 
die  vorausgegangene  Zeit  vom  1.  Januar  69  an  zog  er  in  den  Kreis  seiner 
Untersuchung.  Dagegen  lässt  er  den  Plan  einer  Geschichte  Nervas  und 
Traians  in  den  Hintergrund  treten ;  im  Eingang  der  Historien  verspart  er 
sich  diese  Arbeit  für  sein  Alter.  Sie  kam  nicht  zur  Ausführung ;  der  Ge- 
schichtschreiber richtete  vielmehr  seine  Blicke  auf  die  rückwärts  gelegene 
Zeit;  die  Epoche  des  sich  herausbildenden  Prinzipats  und  die  Schicksale 
der  julisch-claudischen  Dynastie  schienen  ihm  ein  wichtigeres  Objekt  für  die 
Forschung  zu  sein  als  die  traianische  Zeit.  Die  Vergangenheit  erschliesst 
sich  ja  leichter  der  historischen  Erkenntnis  als  die  unmittelbare  Gegenwart, 
in  welcher  der  Historiker  webt  und  lebt.  Allein  auch  dieser  Zeitraum 
schien  zunächst  eine  Teilung  notwendig  zu  machen.  Die  Zeit  des  Augustus 
hatte  bereits  treffliche  Bearbeiter  gefunden;  Tacitus  konnte  daher  von 
dieser  Periode  vorläufig  absehen ;  wichtiger  musste  ihm  sein,  vor  allem  die 
Erzählung  des  zweiten  Werks  soweit  zu  führen,  dass  sich  das  Ende  an 
den  Anfang  des  andern  anschloss  und  dadurch  ein  Ganzes  entstand,  welche- 
von  Tiberius  bis  auf  Domitian  reichte.    Und  dem  Schriftsteller  ist  ep 

2i* 


372    Bömische  Litteratnrgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilnng. 

lungen,  dieses  grossartige  Projekt  zur  Durchführung  zu  bringen.  Dagegen 
kam  er  nicht  mehr  dazu,  auch  die  beiden  andern  Gedanken  auszugestalten ; 
weder  eine  Geschichte  des  Augustus  noch  eine  der  traianischen  Zeit  hat 
er  geliefert. 

Agric.  3  non  tarnen  pigebit  vel  incondita  ac  rudi  voce  memoriam  prioris  servituiis  ac 
tesiimonium  praesentium  honarum  eomposuisse  Hist.  1,  1  quodH  f>Ua  auppeditet ,  principa- 
tum  divi  Nervae  et  imperium  Traianif  uberiorem  securioremqtie  materiam,  aenectuti  seposui 
Ann.  1,  1  8ed  veteris  populi  Romani  prospera  vel  adversa  claris  scriptoribus  memorata  sunt; 
temparihusque  Äugusti  dicendis  non  defuere  decora  ingenia,  donec  gliscente  adulatione  de- 
terrerentur,  Tiherii  Gaique  et  Claudti  ac  Neronis  res,  florentibus  ipsis  ob  metum  falsaef  post- 
quam  occiderantf  recentibus  odiis  compositae  sunt.  Inde  consilium  mihi  pauca  de  Augusto 
et  extrema  tradere,  mox  Tiberii  principatum  et  cetera^  sine  ira  et  studio^  qtwntm  causam 
proeul  habeo  Ann.  3,  24  sed  aliorum  exitus  aimul  cetera  illius  aetatis  (der  Augusteischen 
Zeit)  memorabOf  8i  effectis,  in  quae  tetendi,  plures  ad  curas  ritam  produxero. 

436.  Die  Historien.  In  dem  ersten  der  beiden  Werke  führt  der 
Historiker  die  selbsterlebte  'Zeit  von  69  bis  zum  Tode  Domitians  dem 
Leser  vor,  er  gibt  daher  demselben  den  Titel  „Historiae^^  Die  Zahl 
der  Bücher  lässt  sich  nur  hypothetisch  bestimmen ,  sie  hängt  ab  von 
der  Anzahl  der  Bücher  der  Annalen;  je  nachdem  diese  auf  16  oder  auf  18 
festgestellt  werden,  erhalten  wir  für  die  Historien  14  oder  12.  Doch  ist, 
alles  erwogen,  die  Buchzahl  14  die  wahrscheinlichere.  Allein  von  diesen 
vierzehn  Büchern,  aus  denen  ursprünglich  das  Werk  bestand,  sind  nur  die 
vier  ersten  und  vom  fünften  etwa  die  Hälfte  erhalten.  Diese  Bücher  be- 
handeln den  Zeitraum  von  nicht  ganz  zwei  Jahren,  von  69 — 70;  allein 
eine  Fülle  von  Ereignissen  ist  in  diesen  engen  Rahmen  eingeschlossen. 
Im  ersten  Buch  lässt  der  Geschichtschreiber  die  Regierung  Galbas,  seine 
Adoption  Pisos,  das  Auftauchen  Othos,  die  Revolution,  den  Sturz  Galbas 
und  Pisos,  den  Sieg  Othos,  die  Vitellische  Bewegung  und  Empörung  in  Germa- 
nien, das  Vordringen  der  Heere  unter  Valens  und  Gaecina,  die  Unruhen  in 
Rom,  Othos  Auszug  zum  Krieg  in  farbenreichen  Bildern  an  unseren  Augen 
vorüberziehen.  Im  zweiten  Buch  wirft  der  Historiker  zuerst  einen  Blick 
auf  die  Ereignisse  im  Orient,  wo  zwei  Personen  erscheinen,  denen  die  Zu- 
kunft gehört,  Vespasian  und  sein  Sohn  Titus;  dann  schildert  er  die  Ent- 
scheidungsschlacht zwischen  Otho  und  Vitellius  bei  Bedriacum.  Die  Waflfen 
waren  für  die  Sache  des  Vitellius ;  Otho  tötet  sich  mit  eigener  Hand.  Vi- 
tellius ist  jetzt  im  Besitz  der  Gewalt ;  allein  er  sollte  sich  derselben  nicht 
lange  erfreuen.  Vespasian  wird  im  Orient  zum  Kaiser  ausgerufen  und 
damit  beginnt  die  Erhebung  gegen  Vitellius.  Caecina  wird  zum  Verräter,  er 
beugt  sich  vor  dem  neu  aufgehenden  Gestirn  des  Vespasian.  Im  dritten 
Buch  folgen  die  erbitterten  Kämpfe  zwischen  den  Vitellianern  und  Flavia- 
nern,  welche  sogar  das  Kapitol  in  Asche  legten.  Vitellius  zieht  den  Kürzeren 
und  wird  ermordet.  Im  vierten  Buch  nimmt  der  Freiheitskampf  der 
Bataver  unter  Civilis  unser  volles  Interesse  in  Anspruch,  wie  im  fünften 
die  Expedition  des  Titus  gegen  Jerusalem.  Aber  auch  der  batavische  Auf- 
stand reicht  noch  in  dieses  Buch  hinein.  Mit  den  persönlichen  Verhandlungen 
zwischen  dem  siegreichen  i'ömischen  Feldherrn  Petilius  Cerialis  und  Civi- 
lis, der  seine  Unterwerfung  verkündet,  schliesst  der  erhaltene  Teil  des 
Werks.  Über  die  Zeit  der  Abfassung  dieser  Bücher  und  ihr  Erscheinen 
geben  uns  die  Briefe  dos  jüngeren  Plinius  einige  Anhaltspunkte. 


Cornelias  Tacitns.  373 

AbfassuDgszeit  und  Pablizierung.  Dass  die  Historien  den  Annalen  voraus- 
gingen, folgt  aus  Ann.  11,11,  wo  mit  den  Worten  (rationes)  satis  narratas  Hbris  quibus 
res  imperatoris  Domitiani  composui  deutlich  auf  den  letzten  Teil  der  Historien  hingewiesen 
wird.  Das  Werk  ist  allem  Anschein  nach  successive  erschienen.  Wahrscheinlich  wurden 
zugleich  die  beiden  ersten  Bücher  publiziert,  daher  am  Schluss  des  2.  Buches  eine  Art  Epilog, 
in  dem  er  ein  Urteil  über  die  flavische  Geschichtschreibnng  fällt  (Nissen,  Rh.  Mus.  26,  535). 
Die  Publikation  wird  zwischen  104  und  109  liegen  (Asbach  in  Raumeb*s  bist.  Taschenb. 
6  F.,  6.  Jahrg.  p.  145).    Vgl.  die  Briefe  des  Plinius  6, 16  6, 20  7, 20  7,  33  8,  7. 

Die  Zahl  der  Bücher  der  Historien  und  Annalen  Beide  Werke  umfassten 
zusammen  30  Bücher.  Hieronymus  comm.  zum  Zacharias  3, 14 :  Cornelius  TacUua,  qui  post 
Augtuitum  usque  ad  mortem  Domitiani  vitaa  Caesarum  iriginta  voluminihua  exaravit.  Nur 
wenn  die  Buchzahl  eines  der  beiden  Werke  ermittelt  werden  kann,  ist  damit  auch  die 
Buchzahl  des  zweiten  gegeben.  Von  den  Annalen  ist  das  letzte  erhaltene  Buch  das  16  te, 
von  demselben  ist  aber  die  zweite  Hälfte  verloren  gegangen.  Es  fragt  sich  nun,  ob  in 
dieser  verlorenen  Hälfte  der  Zeitraum  geschildert  werden  konnte,  welcher  von  dem  Hest 
des  Jahres  66  bis  zum  1.  Jan.  69  reicht  oder  allgemeiner  gefasst,  ob  in  dem  16.  Buch 
die  Ereignisse  von  65  (zum  Teil)  bis  1.  Jan.  69  untergebracht  werden  konnten.  Wenn  man 
die  §  437  gegebene  Tabelle  vergleicht,  so  erkennt  man,  dass  Tacitus  noch  grössere  Zeiträume 
als  3'/^  Jalire  in  einem  Buch  dargestellt  hat.  Auf  der  anderen  Seite  hätte,  wenn  man 
neue  Bücher  ansetzen  würde,  eine  Ausführlichkeit  in  dieser  verlorenen  Partie  stattgehabt, 
wie  sie  Tacitus  früher  niemals  angewendet.  Es  kommt  hinzu,  dass  in  der  Überlieferung 
ein  Anschluss  der  Historien  an  das  1 6.  Buch  der  Annalen  vorliegt,  indem  das  erste  Buch 
der  Historien  als  das  17.  bezeichnet  wird.  Es  ist  daher  kein  stichhaltiger  Grund  gegeben, 
den  Gelehrten  (Ritter,  Hirschfeld,  Zeitschr.  f.  österr.  Gymn.  1877,  S.  811,  Wölfflin, 
Hermes  21,  157)  beizupflichten,  welche  für  die  Annalen  18  Bücher  (und  folglich  für  die 
Historien  12)  annehmen,  um  damit  die  hexadische  Kompositionsweise  für  die  beiden  Werke 
zu  gewinnen;  wir  halten  vielmehr  an  der  herkömmlichen  Ansicht  fest,  dass  die  Annalen 
aus  16,  die  Historien  aus  30  —  16,  d.  h.  14  Büchern  bestanden. 

Die  Überlieferung  der  Geschichtswerke.  Der  zweit«  Teil  der  Annalen  (1.  XI 
—  XVI)  und  die  Historiae  sind  uns  nur  durch  eine  Handschrift,  den  Mediceus  II  s.  XI,  der 
sich  in  der  Laurentiana  unter  68,2  befindet,  erhalten.  Die  von  ihm  genommenen  Ab- 
schriften haben  nur  den  Nutzen,  zwei,  erst  nachdem  jene  apographa  angefertigt  waren,  ein- 
getretene Lücken  (1,69— 75  u.  1,86—2,2)  auszufüllen.  Für  die  erste  Hälfte  der  Annalen 
ist  nur  die  eine  Handschrift  vorhanden,  der  Mediceus  I  s.  IX,  der  sich  ebenfalls  in  der 
Laurentiana  unter  68, 1  befindet  Zu  diesem  Kodex,  der  mit  Quaternio  18  beginnt,  gehörten 
ursprünglich  noch  die  Briefe  des  Plinius,  welche  die  Quaternionen  1 — 17  umfassten  (= 
Laur.  47, 36).  Der  Mediceus  II  stammt  höchst  wahrscheinlich  aus  Monte  Gassino,  der  Me- 
diceus I  gehörte  dem  Kloster  Corvey  in  Westfalen  an. 

437.  Die  Annalen.  Dieses  reifste  Werk  des  Tacitus  behandelte  in 
16  Büchern  die  Zeit  von  dem  Tod  des  Augustus  (14)  bis  zum  1.  Januar 
69;  es  brachte  sonach  die  Regierungen  des  Tiberius,  Caligula,  Claudius 
und  Nero  zur  Darstellung.  Auch  war  noch  die  Zeit  vom  Tode  Neros 
(9.  Juni  68)  bis  zum  1.  Januar  69,  wo  die  Historien  einsetzen,  geschildert. 
Von  diesem  Werke  sind  uns  aber  nur  erhalten  die  Bücher  1—4,  der  An- 
fang von  5,  ferner  6  mit  Ausnahme  des  Anfangs,  dann  die  Bücher  11 — 16, 
wobei  aber  zu  bemerken  ist,  dass  sowohl  am  Anfang  als  am  Schluss  dieser 
Partie  eine  Lücke  vorhanden  ist.  Die  ersten  sechs  Bücher  umfassen  die 
Regierung  des  Tiberius;  die  Bücher  11  und  12  behandeln  den  Schluss  der 
Regierung  des  Claudius  (47 — 54),  die  noch  übrigen  Bücher  (13 — 16)  haben 
den  Prinzipat  Neros  bis  zum  Jahr  66  zum  Gegenstand.  Sonach  fehlt  von 
dem  geschilderten  Zeitraum  eine  Partie  von  Tiberius  und  zwar  die  Schluss- 
Ereignisse  des  J.  29,  das  ganze  J.  30  und  die  meisten  Ereignisse  des  J.  31, 
die  ganze  Regierung  Caligulas,  von  der  Regierung  des  Claudius  der  An- 
fang bis  47,  endlich  von  der  Zeit  Neros  der  Schluss  des  J.  66  und  die 
beiden  folgenden  Jahre.  Schon  der  Historiker  hat  sein  Werk  in  Bücher 
eingeteilt.  Gern  lässt  er  ein  Buch  mit  einem  bedeutungsvollen  Ereignis 
ausklingen,  das  zweite  Buch  mit  dem  Tod  des  Arminius,  das  fünfte  wahr- 


11 

47- 

-48 

12 

48- 

-54 

13 

54- 

-58 

14 

59- 

-62 

15 

62- 

-65 

16 

65- 

-66 

374    RömiBche  LitteratorgeBchiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

scheinlich  mit  dem  Tod  Seians;  das  elfte  Buch  mit  der  Him*ichtung  der 
Messalina,  das  zwölfte  mit  dem  Ende  des  Claudius,  das  vierzehnte  mit  dem 
letzten  Schicksal  der  unglücklichen  Clauderin  Octavia,  das  fünfzehnte  Buch 
mit  der  Niederwerfung  der  pisonischen  Verschwörung.  Als  urkundlicher 
Titel  des  Werks  stellt  sich  ab  excessu  divi  Augusti  heraus ;  derselbe  wurde 
nach  dem  Muster  der  Livianischen  ab  urbe  condita  gebildet. 

Der  Zeitraum  der  einzelnen  Bücher: 

1  umfasst  die  Jahre  14—15 

2  ,  ,       ,       16-19 
,        3        ,          ,       .      20-22 

4  .  ,      .      23-28 

5  ,  ,      .      29 

6  .  ,,      31-37 
Teilung  des  5.  Buchs.  Die  Überlieferung  kennt  kein  sechstes  Buch  der  Annalen. 

Zuerst  hat  Lipsius  bemerkt,  dass  in  dem,  was  die  Handschrift  ab  fünftes  Buch  gibt,  die 
Reste  von  zwei  Büchern,  dem  fünften  und  sechsten ,  stecken  (zu  VI  1  magnitudinem  resque 
gesias  aestimanti  ita  mdebatur).  Allein  er  machte  den  Einschnitt  an  einer  unrichtigen 
Stelle,  indem  er  das  sechste  Buch  mit  dem  Konsulat  des  Cn.  Domitius  und  Camillus 
(32  n.  Gh.)  begann  (c.  7).  Haase  hat  richtig  erkannt,  dass  das  fünfte  Buch  mit  dem  Tod 
des  Seianus  (31)  schloss,  und  dass  sonach  die  Lücke,  durch  welche  der  Schluss  des  fünften 
imd  der  Anfang  des  sechsten  verloren  ging,  zwischen  die  Kapitel  5  und  6  zu  legen  ist 
(Phüol.  3, 152). 

Die  Abfassungszeit  bestimmt  man  nach  2,61  exin  pentum  Elephantinen  ac 
Syenen,  claustra  oUm  Romani  itnperii,  quod  nunc  rtibrum  ad  mare  patescü.  Die  Aus- 
dehnung des  römischen  Reichs  bis  zum  persischen  Meerbusen  (dies  bedeutet  hier  rubrum 
mare)  erfolgte  durch  Traian  ums  Jahr  115.  Die  Abfassung  des  Werks  musste  also  nach 
dieser  Zeit  erfolgen.  Da  aber  Hadrian  diese  Eroberungen  Traians  gleich  nach  dem  Antritt 
seiner  Regierung  (117)  wieder  aufgab,  so  kann  jene  Stelle  nicht  zur  Zeit  Hadrians  ge- 
schrieben sein.  Einen  früheren  Terminus  setzt  Asbach  (Raum.  bist.  Taschenb.  6  F.  6.  Jahrg. 
p.  147),  indem  er  sich  darauf  stützt,  dass  schon  im  Jahr  108  der  Strich  Arabiens  von  Da- 
mascus  bis  zum  roten  Meere  durch  A.  Cornelius  Palma  dem  Reiche  als  Provinz  einverleibt 
worden  war.  Demgemäss  setzt  er  die  Publikation  des  ersten  Teils  der  Annalen  um  das 
Jahr  110  an. 

438.  Die  Quellen  des  Tacitus.  Die  Quellenfrage  ist  bei  Tacitus 
mit  unlösbaren  Schwierigkeiten  verknüpft.  Er  führt  uns  selten  seine  Ge- 
währsmänner an,  in  den  Historien  nennt  er  bloss  den  Vipstanus  MessaUa 
und  den  älteren  Plinius,  in  den  ersten  sechs  Büchern  der  Annalen  den- 
selben Plinius,  die  Kommentarien  der  Agrippina,  die  Reden  des  Tiberius 
und  die  acta  diurna,  in  der  letzten  Hälfte  der  Annalen,  in  denen  Quellen- 
angaben etwas  häufiger  werden,  Cluvius  Rufus,  Fabius  Rusticus,  Plinius, 
Domitius  Gorbulo,  Senatsprotokolle.  Viel  häufiger  begnügt  er  sich  mit  all- 
gemeinen Angaben,  indem  er  von  vielen  Autoren  und  verschiedenen  Be- 
richten spricht.  Auch  auf  mündliche  Mitteilungen  beruft  er  sich.  Dazu 
kommt,  dass  uns  die  von  Tacitus  angeführten  Schriften  und  auch  andere 
historische  Werke,  welche  denselben  Zeitraum  behandeln,  verloren  gingen, 
so  dass  wir  keinen  festen  Boden  unter  den  Füssen  erhalten.  Bestimmtere 
Schlussfolgerungen  für  die  Quellenfrage  schien  die  Betrachtung  des  Ver- 
hältnisses zwischen  Tacitus  und  Plutarch  (für  Oalba  und  Otho)  zu  gewäh- 
ren, und  mit  Vorliebe  hat  die  Forschung  an  diesen  Punkt  angeknüpft. 
Für  die  auffallende,  sich  sogar  aufs  Phraseologische  erstreckende  Überein- 
stimmung wurde  die  Erklärung  aufgestellt,  dass  beide  aus  einer  gemein- 
samen Quelle  schöpften.  Damit  glaubte  man  auch  einen  Einblick  in  die 
Arbeitsmethode  des  Historikers  gewonnen  zu  haben ;  dieselbe  war  nun  eine 
sehr  einfache;  sie  beschränkte  sich  darauf,  den  Stoff  aus  einem  Autor  zu 


ComeliaB  TacitnB. 


375 


nehmen  und  denselben,  freilich  auch  hier  in  Anlehnung  an  die  Quelle, 
stilistisch  zu  gestalten.  Diese  Anschauung  vom  historischen  Schaffen  wird 
jetzt  vielfach  auf  das  ganze  Altertum  übertragen.  Allein  mag  sie  auch 
für  Livius,  der  durch  die  gi*osse  Ausdehnung  seines  Werks  sich  auf  wenige 
leitende  Quellen  beschränken  musste,  ihre  Richtigkeit  haben,  für  Tacitus 
kann  sie  keine  Geltung  beanspruchen.  Derselben  widersprechen  die  vielen 
Stellen,  in  denen  sich  der  Autor  auf  eine  Mehrheit  von  Quellen  beruft, 
derselben  widerspricht,  dass  mehrere  Historiker  ausdrücklich  als  benutzte 
Quellen  genannt  werden,  derselben  widerspricht  endlich  die  nicht  selten 
vorkommende  Angabe  divergierender  Meinungen.  Auch  die  innere  ün- 
wahrscheinlichkeit  streitet  dagegen.  Eine  solche  sklavische  Abhängigkeit 
passt  nicht  zu  der  bedeutenden  geistigen  Individualität  des  Historikers. 
Auch  würde  ein  derartiges  Ausschreiben  allgemein  bekannter  Schriften 
den  Ruhm  des  Tacitus  ganz  unerklärt  lassen.  Warum  sollte  er  nicht  auch 
für  den  verhältnismässig  kleinen  Zeitraum,  den  er  zur  Darstellung  brachte, 
die  vorhandenen  Quellenschriftsteller  einsehen,  da  er  doch  sogar  den  jünge- 
ren Plinius  um  Material  für  vereinzelte  Fakta  ersuchte  (ep.  6, 1 6  und  20 
7,  33)  und  selbst  mündliche  Belehrung  nicht  verschmähte  ?  Eine  vorurteils- 
freie Erwägung  wird  daher  dem  Tacitus  auch  ein  eifriges  Quellenstudium 
nicht  versagen.  Freilich  dürfen  wir  an  ein  solches  nicht  den  Massstab 
der  Jetztzeit  anlegen.  Archivalische  Studien  sind  der  antiken  Historio- 
graphie wenig  geläufig ;  und  Tacitus  hat  den  acta  diurna  und  den  Senats- 
protokollen nur  geringe  Beachtung  geschenkt.')  Auch  hat  die  Ermittelung 
des  Stofflichen  bei  den  antiken  Historikern  nicht  die  Wichtigkeit,  wie  bei 
den  modernen,  bei  denen  sich  nicht  selten  ein  mikrologischer  Zug  geltend 
macht.  Der  Historiograph  will  ein  Werk  liefern,  das  gelesen  wird,  er 
muss  daher  auf  die  Darstellung  den  höchsten  Wert  legen.  Welche  Quellen 
Tacitus  im  einzelnen  zu  Grunde  legte,  ist  natürlich  nur  hypothetisch  zu 
bestimmen.  Für  den  ersten  Teil  der  Annalen  konnten  ihm  ausser  Plinius 
und  den  Kommentarien  der  Agrippina  noch  mehrere  Werke  den  Stoff  lie- 
fern, so  der  ältere  Seneca  (§  334  p.  200),  Aufidius  Bassus  (§  440,  3),  Sue- 
tonius  Paulinus  (§  442,  3),  Cluvius  Rufus  (§  440,  6),  Fabius  Rusticus  (§  440,  7), 
ferner  die  Memoiren  des  Tiberius  (§  357  p.  236)  und  Claudius  ^)  (§  359 
p.  238).  Für  den  zweiten  Teil  der  Annalen  sind  die  leitenden  Autoren 
die  schon  genannten  Fabius  Rusticus,  Cluvius  und  Plinius.  8)  Für  die  Hi- 
storien hat  er  ausser  Plinius  und  Vipstanus  Messala  wohl  noch  benutzt 
Cluvius,  die  Memoiren  Yespasians  (§  361  p.  242)  und  M.  Antonius  Julianus 
(§441,2)*). 

Die  namentlich  angeführten  Quellen  ergeben  sich  aus  folgender  Stellensamm- 
lung (bei  Lange,  De  Tacito  Plutarchi  auctore  p.  50): 
Ann.  1,69  tradit  C.  Plinius,  Germanicorum  beüorum  scriptof, 

j,     1,81  m  quicquam  firmare  ausim,  adeo  diveraa  non  niodo  apud  auctoreSy  sed  in  ip- 

8iu8  (Tiber ii)  orationibus  reperiuntur. 
„     3,3     non  apud  auctares  verum,  non  diurna  actorum  seriptura  reperio, 
j,     4, 53  id  ego,  a   scriptortbus   annalium    non   traditum,   repperi   in   commentariis 
Ägrippinae  filiae. 


*)  NiPPBBDEY,  Einl.  •  p.  XXI  r. 

»)  NipPERDBY,  Einl.  •  p.  XXIV. 

')  NiPPBBDEY,  Einl.  **  p.  XXVI.    Beson- 


ders ist  wichtig  die  Stelle  13, 20,  wo  A  o  r  u  m 
von  NipPERDEY  eingeschoben  wird. 
0  NiPPBBDEY,  Einl.  «  p.  XXVII. 


376    RömiBche  Litteratiirge8chiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilmig. 

Aim.  l%y  20 Fabiua  Ru8ticu8  auctar  est  scriptos  esse  —  PHnius  et  Cluvius  —  re- 
ferunt. 

,  14,2    tradit  Cluvius  —  Fabius  Rusticus  —  memorat. 

„  15,16  contraque  prodiderU  Corhulo. 

,  15,53  quod  C,  PHnius  memorat. 

„  15,61  tradit  Fabius  Rusticus. 

,   15,74  reperio  in  commentariis  senatus. 
Hist.  3,25  rem  nominaque  auctore  Vipstano  Messalla  tradam. 

,      3,28  Uormine  id  ingenium,  ut  Messala  tradity  an  potior  auctor  sit  C.  PHnius, 
—  hand  facile  discreverim, 

„     (3,  51  u^  Sisenna  memorat). 

Die  unbestimmten  allgemeinen  Angaben  sind  viel  häufiger,  vgl.  die  Zu- 
sammenstellungen bei  Lange  p.  51  (ftlr  die  beiden  Werke),  bei  Horstmakk  p.  37  für  die 
ersten  sechs  Bücher  der  Annalen,  bei  Nissen  (Rh.  Mus.  26,  525)  für  die  Historien. 

Bas  Verhältnis  zwischen  Plutarch  und  Tacitus.  Da  diese  Frage  den  Aus- 
gangspunkt der  Quellenuntersuchungen  für  Tacitus  bildet,  so  sei  hier  dieselbe  kurz  berührt. 
Schon  längst  hatte  man  die  auffallende  Übereinstimmung  des  Plutarch  in  seinen  Biogra- 
phien Galba  und  Otho  mit  Tacitus'  Hist.  (B.  1  u.  2, 1—50)  erkannt.  Zur  Erklärung  dieser 
Erscheinung  bot  sich  ein  doppelter  Weg  dar,  entweder  schöpften  beide  aus  derselben  Quelle 
oder  es  schöpfte  Plutarch,  der  hier  ja  auf  lateinische  Autoren  angewiesen  war,  aus  Tacitus 
(der  umgekehrte  Fall,  dass  Tacitus  aus  Plutarch  geschöpft  hätte,  ist  von  vornherein  als 
unzulässig  anzusehen).  Als  man  anfing,  sich  mit  dieser  Frage  zu  beschäftigen,  neigten  sich 
die  Ansichten  entschieden  nach  der  ersten  Seite  hin;  und  nur  ob  der  angenommenen  ge- 
meinsamen Quelle  erhoben  sich  Differenzen.  Als  solche  statuierte  Hibzel  (Comparatio 
eorum  quae  de  imperaioribus  Galba  et  Othone  relata  legimus  apud  Tacitum,  Plutarchum 
et  Suetonium  etc.  (Stuttgart  1851)  die  Acta  publica  ^  Wibdemann  (De  TacUo  Suetonio 
Plutarcho,  Cassio  Dione  Berl.  1857)  den  älteren  Plinius,  Peteb  (Die  Quellen  Plutarchs, 
Halle  1865)  Cluvius  Rufus.  Brennend  wurde  die  Frage,  als  Momxsen  mit  einer  Abhand- 
lung in  dieselbe  eingriff  (Hermes  4,295).  Er  betont  ganz  besonders,  dass  die  Überein- 
stimmung nur  durch  die  Gemeinsamkeit  der  Quelle  zu  erklären  sei;  als  den  gemeinsamen 
Autor  betrachtete  er  den  Cluvius  Rufus.  Dieser  Ansicht  trat  in  einem  ausführlichen  Aufsatz 
Nissen  entgegen  (Rh.  Mus.  26,497),  er  griff  wieder  auf  Plinius  als  Quelle  zurück.  Kurz 
zuvor  hatte  Clason  (Plutarch  und  Tacitus,  Berl.  1870,  Tacitus  und  Sueton,  Bresl.  1870) 
jene  Übereinstimmung  des  Plutarch  und  Tacitus  auf  einem  andern  Weg  zu  erklären  ver- 
sucht, indem  er  annahm,  dass  Plutarch  aus  Tacitus  geschöpft  habe.  Diese  Ansicht 
wurde  von  Nissen  (p.  502  Anm.)  skeptisch  behandelt,  allein  sie  gewinnt  immer  mehr  An- 
hänger. Für  dieselbe  ist  Nipperdey  mit  dem  ganzen  Gewicht  seines  Namens  eingetreten 
(Einl.  ^  p.  XXVri) ;  eine  Reihe  von  Monographien  hat  sich  ihm  angeschlossen ,  wie  Lange 
De  Tacito  Plutarchi  auctore,  Halle  1880;  Kbauss,  De  vitarum  Othonis  fide,  Zweibrücken 
1880;  Gersteneckee,  Der  Krieg  des  Otho  und  Vitellius  in  Italien  im  Jahr  69,  München 
1882  (p.  48);  Lezius,  De  Plutarchi  in  GaJba  et  Othone  fontibus,  Dorpat  1884.  Für  eine 
gemeinsame  Quelle  sprechen  sich  dagegen  aus  Sickel,  De  fontibus  a  Cassio  Dione  ad- 
hibitis,  Göttingen  1876;  Beckurts,  Zur  Quellenkritik  des  Tacitus  etc.,  Braunschw.  1880; 
KuNTZE,  (Beiträge  zur  Geschichte  des  Otho- Vitellius -Krieges,  Karlsruhe  1885,  vgl.  p.  9 
Anm.  p.  16.  Auch  Ranke  steht  auf  diesem  Standpunkt  (Weltgesch.  3, 2  p.  285).  Die  Froge 
wäre  entschieden,  wenn  wir  wüssten,  ob  die  Historien  oder  die  Biographien  früher  ge- 
schrieben sind;  allein  für  die  Entscheidung  dieser  Alternative  fehlen  uns  beweiskräftige 
Anhaltspunkte.  Wir  sind  daher  nur  auf  innere  Erwägungen  angewiesen.  Hier  ist  nun 
meines  Erachtens  das  Entscheidende,  dass,  wenn  wir  für  Tacitus  und  Plutarch  eine  gemein- 
same Quelle  statuieren,  Tacitus  nicht  bloss  im  Stoff,  sondern  auch  in  der  Form  sich  von 
dieser  gemeinsamen  Quelle  in  Abhängigkeit  gesetzt  haben  müsste.  Ein  Beispiel  Plut.  0.  3 
(foßovfASvoq  vnhg  rtov  «v^Qiav  avxog  tjv  (poße^g  ixelyoig  =  Tacit.  1,  81  cum  timeret  Otho,  time- 
batur.  Jeder,  der  Tacitus  kennt,  wird  die  spitze  Wendung  als  echt  taciteisch  betrachten. 
Dass  ein  Grieche  durch  Übersetzung  sich  dieselbe  aneignet,  ist  nicht  auffällig.  Aber 
dass  Tacitus  einem  bekannten  Werke  auch  die  Phrasen  entlehnte,  ist  nicht  glaublich. 
Unsere  Meinung  von  Tacitus'  Kunst  müsste  sehr  erheblich  reduziert  werden,  wenn  jene 
Ansicht  richtig  wäre.  So  wie  jetzt  die  Dinge  stehen,  ist  die  Annahme,  dass  Plutarch  für 
seine  Biographien  Galba  und  Otho  neben  anderen  Quellen  auch  Tacitus  verwertete, 
gerechtfertigt. 

Litteratur.  Karsten,  De  T.  fide  in  Ann.  I — VI,  Utr.  1868;  Wbidbmann,  Quellen 
von  Tac.  Ann.  I— VI  (3  Abb.),  Cleve  1868—1873 ;  Horstmann,  Die  Quellen  des  T.  in  Ann. 
I— VI,  Marburg  1877;  Binder,  Tac.  und  Tib.  in  Ann.  I— VI,  Wien  1880;  Froitzheim,  De 
Tac.  fönt,  in  libro  I  ann.,  Bonn  1873,  Rh.  Mus.  32,340;  Fleckeisen,  Jahrb.  109,201;  Lauf- 
FENBERG,  Quacst.  chronol.  de  rebus  Parthicis  Armeniisque  a   Tac.  ann.  XI—  XVI  enarratis, 


Comelina  Taoitas. 


377 


Bonn  1875.  Hiezu  kommen  noch  die  Untersuchungen,  welche  sich  zugleich  über  andere 
Schriftsteller  verbreiten :  Reichaü,  De  fontium  deUctu  quem  in  Tib,  —  Vell.  Tac.  Suet.  Dio 
habuerunt,  Eönigsb.  1865;  Thakk,  De  fontibus  ad  Tib,  historiam  pertinentibus,  Halle  1876; 
Andribssen,  De  fide  et  auetoritate  scriptorum  ex  quibus  rita  Tiberii  cognoscitur,  Hag,  1883, 
Christbnsbn,  De  fönt,  a  Diane  in  vita  Neronia  adhibitis,  Berl.  1871.  Vgl.  noch  die  oben 
erwähnte  Dissertation  von  Sickel. 

439.  CharakteriBtik  der  Geschichtschreibung  des  Tacitus.    Als 

Tacitus  den  Plan  fasste,  die  Geschichte  des  Prinzipats  vom  Tode  des 
Augustus  bis  zu  Domitian  zur  Darstellung  zu  bringen,  war  er  sich  bewusst 
(Ann.  4,  32  u.  33),  dass  seine  Aufgabe  und  seine  Stellung  eine  andere  sei 
als  die  des  Historikers  zur  Zeit  der  Republik.  Diesem  lagen  grosse  Stofife 
vor,  gewaltige  Kriege,  berühmte  Eroberungen,  Gefangennahme  von  Königen, 
heftige  innere  Kämpfe,  in  denen  es  sich  um  die  wichtigsten  politischen 
und  sozialen  Probleme  handelte.  Sein  Wort  war  ungebunden  und  frei 
von  allen  Schranken.  Dieser  hohe  Standpunkt  war  dem  Qeschichtschreiber 
der  Kaiserzeit,  Tacitus,  nicht  vergönnt.  Durch  den  Prinzipat  war  nicht 
nur  die  Freiheit  des  Wortes  von  vielfachen  Rücksichten  umgeben,  auch 
der  Thatenkreis  war  jetzt  sehr  eingeengt.  Dem  einzelnen  stand  in  politi- 
schen Dingen  nur  noch  ein  sehr  kleiner  Spielraum  offen;  die  Zeit  für 
republikanische  Träume  war  vorbei.  Der  Prinzipat  war  eine  Notwendig- 
keit geworden ;  im  Interesse  des  Friedens  lag  es,  sagt  der  Historiker,  dass 
alle  Macht  in  der  Hand  eines  einzigen  konzentriert  wurde  (Hist.  1, 1).  Auch 
ist  er  überzeugt,  dass  sich  der  Prinzipat  bei  Mässigung  der  Leidenschaften 
mit  der  Freiheit  vereinigen  lasse.  *)  Die  resignierte  Haltung  ist  hier  durch- 
aus geboten.  Eine  Auflehnung  gegen  die  neue  Ordnung  der  Dinge  erscheint 
daher  in  seinen  Augen  als  eine  Thorheit ,  und  jene  Idealisten ,  welche 
sich  nutzlos  für  Utopien  opfern,  ernten  bei  ihm  keine  Anerkennung^) 
(Agric.  42).  Auch  für  seine  Geschichtschreibung  zieht  er  die  notwendigen 
Konsequenzen  aus  der  veränderten  politischen  Lage;  da  die  Politik  dem 
Historiker  kein  genügendes  Feld  mehr  darbietet,  so  legt  er  den  Schwer- 
punkt seines  Schaffens  in  das  menschliche  Herz.  Seine  Geschichtschreibung 
wird  dadurch  eine  psychologische;  nicht  die  Ereignisse  als  solche  er- 
regen sein  Interesse,  sondern  insofern  die  Träger  derselben  Mehschen  sind.  *) 
Überall  ist  daher  sein  Bestreben  darauf  gerichtet,  die  Gedanken  der  Han- 
delnden zu  erraten  und  uns  einen  Blick  in  ihre  Seele  thun  zu  lassen.  Den 
guten  oder  bösen  Triebfedern  nachzuspüren,  erachtet  er  als  die  vornehmste 
Aufgabe  des  Geschichtschreibers,  welcher  den  Preis  der  Tugend  und  den 
Schimpf  des  Lasters  zu  verkünden  habe,  damit  jene  gepflegt,  dieses  ge- 
mieden werde  (Ann.  3,  65).  Wie  er  hiebei  zu  Werke  ging,  möge  an  einem 
Beispiel,  der  Thronbesteigung  Vespasians,  gezeigt  werden.  Der  gewöhn- 
liche Historiker  hätte  sich  begnügt,  die  einzelnen  Thatsachen  in  ihrer  Auf- 
einanderfolge gewissenhaft  zu  verzeichnen.   Tacitus  geht  weiter ;  er  weiss, 


*)  Agric.  3  Nerva  Caesar  rc8  olim  dis- 
sociabüea  miscuit,  principatum  ac  Ubertatem, 

2)  ÜBLiCHS,  De  vita  TacHi  p.  18.  Vgl. 
besonders  das  Urteil  über  Thraaea  Paetua 
Ann.  14,  12. 

')  DuBois  -  GüCHAN ,  TacUe  2,396  „il 
tkrit  pour  le  genre  humain,  quflque  nom  qu*il 


parte,  Ce  vaate  eaprit  a^adreaae  ä  Vhamme, 
qWelle  que  aoU  aa  naiion;  et  il  n'eat  pltvt 
^inemment  hiatorien  que  moraliate.  p.  402 
Tacite  a  introduit  Vhomme  dans  Vhiaf-oire; 
&eat  Vhamme,  c*eat  Vhumanit^  quHl  raconte 
en  racontant  Rome  et  ha  Romaina," 


378     Römische  LitteraiurgeBcliichie.    TL,  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  AbteiliiDg. 

dass  solche  schwerwiegende  Ereignisse  ihre  Bühne  nicht  bloss  in  der  Welt, 
sondern  auch  in  der  Seele  der  Handelnden  haben  und  also  den  äusseren 
Kämpfen  grosse  innerliche  Kämpfe  vorausgehen.  Einen  solchen  Seelenkampf 
enthüllt  er  uns  in  den  Historien  (2,  74  u.  75).  Aber  auch  die  Stimmungen 
der  Umgebung  Yespasians  lässt  er  uns  in  einer  Rede  des  Mucianus  er- 
kennen (76).  Auf  diese  Weise  werden  die  Dinge  in  einen  Innern  Zusammen- 
hang gerückt  und  erhält  die  Goschichtschreibung  einen  pragmatischen  Zug. 
Und  dieses  Ziel  setzt  sich  Tacitus  nach  seiner  ausdrücklichen  Erklärung 
(H.  1,4).  Freilich  der  tiefste  Blick  in  den  Gang  der  Weltgeschichte  war 
ihm  versagt,  da  er  nicht  zur  vollen  Klarheit  durchgedrungen,  ob  der  Zu- 
fall oder  eine  Vorsehung  alles  lenke  (Ann.  6, 28  [22]).  Auch  bei  der  Anführung 
der  Wunderzeichen  ist  das  Schwanken  über  diese  Grundfrage  bemerkbar 
(H.  2,  50).  Was  aber  der  Darstellung  des  Historikers  einen  ganz  beson- 
deren Reiz  verleiht,  ist,  dass  er  nicht  bloss  erzählt,  sondern  auch  seine 
Empfindungen  durch  die  Erzählung  durchschimmern  lässt.  Dadurch  tritt 
die  Person  des  Autors  dem  Leser  näher,  es  schlingt  sich  um  beide  ein 
engeres  Band.  Der  Schriftsteller  erscheint  uns  als  kalter,  vornehmer,  alles 
in  düsterer  Beleuchtung  sehender  Römer.  Wir  fühlen,  dass  er  tiefe  Blicke 
in  die  Abgründe  des  menschlichen  Herzens  gethan,  und  dass  er  nur  zu  sehr 
geneigt  ist,  von  seinen  handelnden  Personen  Böses  zu  denken.  Durch  die 
ganze  Darstellung  zieht  sich  der  gedämpfte  Ton  der  Schwermut.  Dieses 
subjektive  Element  ist  für  die  Beurteilung  der  Taciteischen  Geschichts- 
werke von  der  grössten  Bedeutung.  Es  steht  fest,  dass  er  uns  die  That- 
sachen  vorführt,  wie  sie  ihm  erscheinen,  nicht  wie  sie  sind.  Wir 
brauchen  hier  nicht  sofort  an  Parteilichkeit  zu  denken ;  wir  können  seiner 
Versicherung  der  Unparteilichkeit  (H.  1,1)  und  seinem  Gelöbnis,  sine  ira 
et  studio  zu  schreiben  (Ann.  l,  1),  Glauben  schenken,  allein  auf  der  andern 
Seite  ist  auch  zu  beachten,  dass  nichts  von  dem,  was  ein  Mensch  in  seine 
Hand  genommen,  sich  seiner  Einwirkung  entziehen  kann.  Selbst  der 
trockenste  Chronist  zeigt  wenigstens  durch  die  Auswahl  die  Richtung 
seines  Geistes;  je  bedeutender  aber  die  Individualität  ist,  um  so  mehr 
wird  sie  den  Schilderungen  ihren  Stempel  aufdrücken.  Eine  solche  bedeu- 
tende Individualität  war  aber  Tacitus.  Niemand  wird  daher  den  Satz  ver- 
treten können,  dass  die  Bilder  des  Tacitus  der  Wirklichkeit  voll  ent- 
sprechen. Sein  Tiberius  ist  zu  dunkel,  sein  Germanicus  zu  hell  gezeichnet. 
Die  Objektivität  der  Schilderung  wird  noch  durch  ein  anderes  Moment 
gestört.  Tacitus  vergisst  niemals,  dass  er  ein  Kunstwerk,  das  den  Leser 
fesseln  soll,  liefern  will.  Die  Ermittelung  des  Wahren  ist  ihm  daher 
nicht  letzter  Zweck ;  das  Wahre  erhielt  für  ihn  erst  dadurch  seine  Bedeu- 
tung, dass  es  zur  Darstellung  kommt.  Schon  die  Auswahl  des  Stofifes  ist 
wesentlich  durch  das  Streben,  Wirkung  zu  erzielen,  bedingt.  Erschütternde 
Ereignisse  werden  mit  Vorliebe  hervorgesucht.  Auch  in  der  Gruppierung 
der  Fakta  macht  sich  jenes  Streben  bemerkbar.  Zwar  hält  er  sich  an  das 
herkömmliche  annalistische  Schema  (Ann.  4,  71),  allein  hie  und  da  gestattet 
er  sich  doch  Ausnahmen.  So  erfordert  oft  bei  auswärtigen  Ereignissen 
die  Deutlichkeit  die  Zusammenziehung  mehrerer  Jahre.  Aber  bisweilen 
dient    die  Sprengung  des  annalistischen  Schemas  auch  feineren  Zwecken 


ComeliiiB  TaoitiiB. 


379 


der  Komposition.  1)  Mit  wirkungsvollen  Bildern  schliesst  er,  wie  wir  oben 
sahen,  gern  die  einzelnen  Bücher,  um  eine  tiefe  Bewegung  in  der  Seele  des 
Lesers  länger  nachzittern  zu  lassen.  Endlich  ist  auch  die  Dai*stellung  der 
einzelnen  Fakta  stark  durch  die  Rücksichten  auf  das  Pathos  beeinflusst, 
indem  sie  in  die  Beleuchtung  gerückt  werden,  welche  die  beste  Wirkung 
verspricht.  Nicht  selten  wählt  der  Geschichtschreiber  das  Halbdunkel,  um 
einen  Stachel  bei  seinen  Lesern  zurückzulassen.  Sein  Verfahren  erhellt 
z.  B.  deutlich  aus  den  Schlachtbeschreibungen.  Sie  genügen  so  wenig 
militärischen  Anforderungen,  dass  man  Tacitus  den  „ unmilitärischesten*' 
Schriftsteller  *)  nannte.  Allein  um  Feststellung  der  taktischen  und  strate- 
gischen Evolutionen  ist  es  ihm  gar  nicht  zu  thun,  damit  würde  er  die 
meisten  Leser  langweilen;  seine  Schlachtenschilderung  will  nichts  als  ein 
farbenreiches,  spannendes  Gemälde  sein.  Stets  müssen  wir  daher  im  Auge 
behalten,  dass  Tacitus  nicht  bloss  Historiker,  sondern  auch  zugleich  Rhetor 
ist,  freilich  nicht  ein  Rhetor  gewöhnlichen  Schlages.  Dies  beweist  auch 
der  Stil  seiner  Werke.  Der  rhetorische  Charakter  derselben  zeigt  sich  darin, 
dass  zu  starken  künstlichen  Mitteln  gegriffen  wird,  um  eine  drastische 
Erzählung  zu  erhalten.  Aber  der  Historiker  arbeitet  nicht  nach  der 
Schablone,  er  hat  einen  ganz  originellen  Stil,  wie  ihn  kein  Römer  ge- 
sprochen oder  geschrieben,  sich  geschaffen.  Vor  allem  ist  es  die  Gedan- 
kenschwere, welche  seine  Diktion  auszeichnet.  In  einen  Satz  sind  soviel 
Momente  als  möglich  zusammengedrängt,  die  Participia  leisten  hiefür  vor- 
treffliche Dienste.  Der  Phantasie  des  Lesers  bleibt  es  überlassen,  die  dem 
Gemälde  noch  fehlenden  Striche  zu  ergänzen,  was  einen  eigentümlichen 
Reiz  ausübt.  Auch  die  Feststellung  des  Gedankenverhältnisses  zwischen 
den  einzelnen  Sätzen  hat  der  Leser  selbst  vorzunehmen ;  der  Schriftsteller 
hat  die  Andeutung  derselben  unterlassen  und  Partikeln  fast  ganz  vermieden. 
Die  Wahl  der  einzelnen  Wörter  ist  eine  genau  berechnete.  Hier  gilt  die 
Vorschrift:  Vermeidung  des  Gewöhnlichen  und  Alltäglichen,  aber 
mit  Ausschluss  des  Fremdartigen.  Die  letzte  Rücksicht  verbietet 
ihm  den  Gebrauch  archaistischer  Ausdrücke  und  Wendungen,  und  den  Ge- 
brauch der  Fremdworte.  Sein  Wortschatz  erhält  sein  eigentümliches  Ge- 
präge dadurch,  dass  vielfach  poetische  Ausdrücke  und  Wendungen  eingeführt, 
dann  dass  überhaupt  die  abgegriffenen  Worte  in  fortwährendem  Wechsel 
durch  andere  signifikantere  ersetzt  werden.  Die  ciceronische  Periodologio 
ist  Tacitus  wie  dem  ganzen  Zeitalter  fremd.  Unser  Geschichtschreiber 
geht  aber  noch  weiter,  er  hebt  mit  Bewusstsein  die  symmetrische  Gestal- 
tung auf,  er  schafft  absichtlich  Dissonanzen.  Diese  zerschnittene  Redeweise 
passt  vortrefflich  zu  seinen  grauenhaften  Schilderungen.  Und  nicht  selten 
glauben  wir  die  Sprache  eines  gebrochenen  Herzens  zu  hören. 

Durch  alle  diese  Mittel  sind  die  Geschichtswerke  des  Tacitus  eine 
unversiegbare  Quelle  hohen  geistigen  Genusses  geworden.  Aber  zum  vollen 


*)  So  folgt  am  Schluss  des  2.  Buchs  auf 
den  Tod  des  Germanicus  (19  n.  Ch.)  der  Tod 
des  Arminius  (21  n.  Gh.);  die  Komposition 
zielt  hier  nach  der  Antithese.  Vgl.  Hirsch- 
FELD  (zur  annalistischen  Anlage  des  Tacito- 
ischen    Geschichtswerkes    Hermes   25, 363j, 


der  mit  Recht  als  ein  taciteisches  Problem 
hmstellt  (p.  377), ,  inwieweit  der  Historiker  die 
genaue  Zeitfolge  der  Thatsachen  der  künst- 
lerischen Komposition  untergeordnet  hat." 
^)  MomfSBN,  Rom.  Gesch.  5, 165. 


380     Römische  Litteratnrgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Verständnis  gehört  die  Reife  des  Lebens.  Nur  der,  welcher  Blicke  in  das 
rätselhafte  Menschenherz  gethan,  vermag  den  meisterhaften  Schilderer,  den 
grossen  Römer,  zu  würdigen.  Der  Jugend  bleibt  daher  der  Autor  zu 
einem  grossen  Teile  unverstanden,  und  es  ist  mir  stets  als  ein  Unrecht 
erschienen,  sie  in  diese  düstere  Welt  einzuführen,  während  ihr  doch  der 
erfrischende  Dialog  über  die  Redner  dargeboten  werden  kann. 

Der  Charakter  des  Tiberius  bei  TacituB.  Die  Darstellung  der  Geschichte  des 
TiberiuB  hat  am  meisten  Anlass  gegeben,  Tacitus  der  Pai*teilichkeit  anzuklagen.  Zuerst 
hat  Sievers  (Tac.  u.  Tib.  Hamb.  1850.  1851,  jetzt  Studien  zur  Gesch  der  röm.  Kais.  1  —  107) 
die  Richtigkeit  der  Zeichnung  des  Kaisers  von  Seite  des  Tacitus  in  Zweifel  gezogen.  Ihm 
folgten  Ad.  Stahb  in  Tiberius,  Berl.»  1873,  und  L.  Frbytao,  Tib.  u.  Tac.  Berl.  1870).  VgL  auch 
DüRB,  Die  Kriminalprozesse  unter  Tiberius,  Heilbr.  1881.  Diese  Schriften  leiden  an  Übertrei- 
bung. Den  richtigen  Standpunkt  deuten  die  Worte  Rankes  an  (Weltgesch.  3, 2  p.  293) :  »Der 
grossen  schriftstellerischen  Leistung,  die  wir  vor  uns  haben,  gegenQber  sind  wir  in  der  Not- 
wendigkeit, die  darin  berichteten  Thatsachen  von  dem  Urteil  des  Verfassers  möglichst  zu 
scheiden.  Bewunderung  schliesst  doch  die  Kritik  nicht  aus**  und  p.  300 :  ,In  Tiberius  hat 
Tacitus  das  Ideal  des  heuchlerischen  Despotismus  mit  starken  Farben  dargestellt,  mit  un- 
vergleichlichem Talent,  aber  es  ist  eben  ein  Gedankenbild  des  Historiograpfaen ;  volle 
Realität  kommt  ihm  nicht  zu.* 

Das  Fortleben  des  Tacitus  bis  zum  Widererwachen  der  Wissenschaften  behan- 
delt Cornelius  {Quomodo  Tacitus  in  hominum  memoria  rersaiiis  ttit  usque  ad  renascenfes 
literas  saeculia  XIV  et  XV,  Marb.  1888).  Besonders  bei  den  Historikern  lassen  sich  seine 
Spuren  verfolgen.  Allein  mit  der  Wirkung,  die  Livius  ausübte,  lässt  sich  die  des  Tacitus 
nicht  vergleichen.  Dafür  war  der  Autor  zu  schwierig.  Ja  es  scheint,  dass  wir  nur  dem  Ein- 
greifen des  Kaisers  Tacitus  im  3.  Jahrh.  die  Erhaltung  des  Historikers  verdanken.  Flav. 
Vopisc.  Tac.  10  Cornelium  Tacitum ,  scriptorem  historiae  Atigustae,  quod  parentetn  suum 
eundem  diceret,  in  omnibus  bibliothecis  conlocari  iussit  et  ne  lectorum  incuria  deperiret,  fi- 
brum  per  annos  singulos  decies  scribi  public itiis  in  cunctis  archiis  iussit  et  in  bybliothecifi 
poni.  Die  äusserst  geringe  handschriftliche  Verbreitung  zeigt,  dass  Tacitus  auch  im  Mittel- 
alter wenig  gelesen  wurde.  Um  so  grösser  ist  die  Wirkung,  die  Tacitus  auf  die  Neuzeit 
ausgeübt  hat.    Doch  dies  kann  hier  nicht  weiter  verfolgt  werden.') 

Litter atur:  Süvbrn,  Über  den  Kunstcharakter  des  Tac,  Berl.  Akad.  1822/3  p.  74; 
Hoffxeister,  Weltanschauung  des  Tac.,  Essen  1831 ;  M orlais,  ^udes  morales  sur  les  grandjr 
^crivains  latins,  Lyon  1889  (p.  289— 353);  verständige  Bemerkungen  bei  Wallichs,  Die 
Geschichtschreibung  des  Tacitus,  Rendsburg  1888;  Dübois-öüchan,  Tacite  et  son  si^cle,  Paris 
1861  (2  Bde.);  sehr  umsichtig  sind  die  Einleitungen  von  Nippbroey  u. Haase.  —  Gantrelle, 
Grammaire  et  style  de  T,,  Paris  1874;  Drager,  Syntax  und  Stil  des  T.,  Ixjipz.»  1882. 

Ausgaben  sämtlicher  Werke  von  Lipsius  u.  J.  F.  Gronov,  von  Ritter,  Cambridge 
1848  (4  Bde.),  Leipz.  1864,  Doederlein,  Halle  1841—47  (2  Bde.),  Orelli,  Zürich  1846,  in 
neuer  Bearbeitung  von  mehreren  Gelehrten,  Berl.  1886,  Haase  (Tauchnitz),  Halm  (Teubner), 
Nipperdet  (Weidmann).  Müller  (Freytag);  Spezialausgaben  der  Annalen  von  Nippe rdey 
(vortreffliches  Werk),  in  neuer  Bearbeitung  von  Andresen  (Weidmann),  von  Drager,  steht 
weit  hinter  Nipperdby  zurück  (Teubner),  Tücking  (Paderborn),  Pfitzner  (Gotha);  der 
Historien  von  Heraeus  (Teubner),  von  Wolpf  (Weidmann).  —  Gerber  und  Greef,  Lexicon 
Taciteum  (Leipz.  von  1881  an). 

5.  Die  übrigen  Historiker. 
440.  Darstellungen  der  römischen  Geschichte  haben  wir  aus  un- 
serem Zeitraum  folgende  zu  verzeichnen: 


^)  Charakteristisch  ist  der  Hass,  den 
Napoleon  I.  gegen  Tacitus  hegte.  Er  urteilte 
über  ihn  (Napoleon  I.  und  seine  Beziehungen 
zum  klass.  Altert,  von  Fröhlich,  Zürich 
1882)  also :  „Ich  wüsste  keinen  anderen  Histo- 
riker, der  die  Menschheit  so  verleumdet  und 
verkleinert  hat  wie  er.  In  den  einfachsten 
Handlungen  sucht  er  immer  nach  verbreche- 
rischen Motiven.  Aus  allen  Kaisem  macht 
er  vollendete  Schurken  und  schildert  sie  so, 
dass  wir  den  Geist  des  Bösen,  von  welchem 


sie  durchdrungen  sind,  und  sonst  nichts  be- 
wundem müssen.  Man  hat  mit  Recht  ge- 
sagt, dass  seine  Annalen  nicht  eine  Geschichte 
des  Kaisen-eichs  sind,  sondern  eine  Geschichte 
der  römischen  Kiiminalgerichte.  Nichts  wie 
Anklagen  und  Angeklagte,  Verfolgungen  und 
Verfolgte,  und  Leute,  die  sich  im  Bade  die 
Adern  öffnen.  Er  spricht  beständig  von  De- 
nunziationen und  ist  selber  der  grösste  De- 
nunziant." Auch  sein  Stil  missfällt  dem 
Korsen  sehr. 


Die  übrigen  Historiker.  381 

1.  A.  Cremutius  Cordus.  Wir  haben  oben  p.  137  gesehen,  dass 
Cremutius  Cordus  angeklagt  wurde,  weil  er  in  seinem  Geschichtswerk  M. 
Brutus  gelobt  und  C.  Gassius  den  letzten  der  Römer  genannt  hatte.  Dieser 
Prozess,  der  die  Verbrennung  seiner  Schriften  durch  die  Ädilen  und  seinen 
Selbstmord  zur  Folge  hatte,  fiel  in  das  Jahr  25  n.  Ch.  In  diesem  ver- 
brannten Werk,  von  dem  sich  aber  doch  durch  die  Bemühungen  seiner 
Tochter  Exemplare  gerettet  hatten ,  waren  die  Bürgerkriege  (Sen.  consol. 
ad  Marc.  26, 1)  und  noch  die  Zeit  des  Augustus  (Cassius  Dio  57, 24)  be- 
handelt. Der  ältere  Seneca  führt  Suas.  6, 19  6,  23  Stellen  über  Ciceros  Tod 
aus  diesem  Werke  an. 

Eine  von  den  anstössigen  Stellen  gereinigte  Ausgabe  deutet  QuintU.  10, 104  an : 
habet  amatores  nee  inmerito,  Cremuti  lihertas,  quamquam  circumcisis  quae  dixisse  ei  tto- 
ciierat:  sed  elatum  abunde  spiritum  ei  audaces  senteniUis  deprehendcts  etiam  in  his,  quae 
manent.  Den  Cremutius  Cordus  nennt  als  Quelle  Plinius  in  den  Indices  zu  den  BQcheni 
7,  10,  16.  Die  zwei  Stellen,  an  denen  er  ihn  erwfthnt  (10,74  16,108)  bezieben  sich  auf 
Kuriositäten.  Es  scheint  sonach,  dass  hier  auf  ein  zweites  Werk  hingewiesen  wird. 
Abhandlungen  von  Held,  Schweidnitz  1841,  und  Rathlef,  Dorpat  1860. 

2.  Bruttedius  Niger  und  Tuscus.  Beide  waren  Deklamatoren, 
versuchten  sich  aber  auch  zugleich  auf  historischem  Gebiet ;  von  dem  ersten 
teilt  uns  Seneca  Stellen  aus  der  Erzählung  von  Ciceros  Tod  mit  (Suas.  6,  20 
6,  21).     Tuscus  gehörte  zu  den  Anklägern  des  Scaurus  (Sen.  Suas.  2, 22). 

Tacitus  nennt  Ann.  6,  30  die  Ankläger  Servilius  und  Cornelius ;  einer  von  diesen 
muss  den  Beinamen  Tuscus  gehabt  haben. 

3.  Aufidius  Bassus.  Der  Philosoph  Seneca  kannte  noch  den  Hi- 
storiker, als  derselbe,  vom  Alter  schwer  gebeugt,  dem  Tode  nahe  war; 
denn  er  spricht  von  ihm  in  einem  Briefe,  der  gegen  Ende  der  Regierung  Neros 
(ep.  30, 1)  geschrieben  war.  Seine  historische  Schriftstellerei  ist  nicht  leicht 
zu  bestimmen,  Quintilian  (10, 103)  charakterisiert  uns  ein  Werk  über  die 
germanischen  Kriege.  Weiter  wird  uns  berichtet,  dass  der  ältere 
Plinius  sein  Geschichtswerk  „a  fine  Aufidii  Ba^si**  begonnen  habe,  d.  h. 
da  angesetzt  habe,  wo  Aufidius  Bassus  aufgehört  hatte  (n.  h.  praef.  20). 
Auch  mit  diesem  Zeugnis  wird  auf  ein  Geschichtswerk  und  zwar  auf  ein 
solches  allgemeiner  Natur  hingewiesen.  Es  fragt  sich,  ob  jene  Mono- 
graphie über  die  germanischen  Kriege  nur  ein  Teil  des  zweiten  allgemeinen 
Werkes  war  oder  nicht.  Ich  entscheide  mich  mit  Nippebdey  für  ein  eige- 
nes Werk.  Die  zweite  Frage  ist  die  nach  dem  Umfang  des  grösseren 
Werkes.  Hier  sind  nur  Vermutungen  möglich.  Soviel  ist  sicher,  dass  in 
demselben  über  den  Tod  Ciceros  die  Rede  war. 

Das  Ende  des  Werkes  bestimmt  sich  einigennassen  dadarcb,  dass  sein  Fortsotzor 
Plinius  sicher  die  spätere  Zeit  Neros  bebandelte;  Nipperdey  vermutet  (Opusc  p.  436,  Einl.** 
p.  XXIII),  dass  es  mit  dem  Tode  Cäsars  begann  und  mit  dem  Tod  der  Messalina  oder  des 
Claudius  schloss  (Nissen,  Rh.  Mus.  26, 498  u.  499). 

4.  M.  Servilius  Nonianus  war'EonsuI  im  Jahr  35  und  starb  59 
n.  Ch.  Zu  ihm  sah  mit  grosser  Verehrung  wie  zu  einem  Vater  Persius 
hinauf.  Aus  seinem  Qeschichtswerk  rezitierte  er  unter  Claudius,  wie  der 
jüngere  Plinius  uns  erzählt  (ep.  1, 13,  3).  Aus  den  Urteilen  des  Tacitus 
(Ann.  14, 19)  und  Quintilians  (10,  102)  geht  hervor,  dass  er  ein  bedeutender 
Mann  war.  Über  die  Ausdehnung  seiner  Geschichte  fehlt  es  uns  an  allen 
Indicien. 

5.  Cornelius   Bocchus.    Mit  Recht  wird  dieser  Bocchus  mit  dem 


382    ItOmiBche  LitteratnrgeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

L.  Cornelius  C.  F.  Bocchus  einer  Inschrift  identifiziert,  welche  in  dem 
lusitanischen  Municipium  Salacia  gefunden  wurde.  Die  Inschrift  gehört 
in  die  augustische  ZeitJ)  Plinius  zitiert  diesen  Bocchus  unter  seinen 
Quellenschriftstellern  für  die  Bücher  16,  33,  34,  37  und  führt  ihn  für 
spanische  Merkwürdigkeiten  an.  Auch  Solinus  benutzte  ihn  für  chrono- 
logische Angaben,  z.  B.  1, 97  2,  18,  so  dass  man  demnach  eine  Weltchronik 
des  Cornelius  Bocchus  voraussetzen  muss.  Ob  die  spanischen  Merkwürdig- 
keiten in  demselben  oder  in  einem  anderen  Werke  standen,  lässt  sich  nicht 
ausmachen. 

MomfSBN,  Einleit.  zu  Solinus  p.  XVI ;  Petes,  hißt.  fr.  p.  297 ;  Schafes,  Abriss  p.  100. 

6.  Cluvius  Rufus  war  ein  vornehmer  Mann,  der  an  wichtigen 
Staatsaktionen  seinen  Anteil  hatte,  er  war  Konsul  vor  41  und  wie  es 
scheint,  an  der  Ermordung  des  Caligula  beteiligt;  Nero  begleitete  er  auf 
seinen  Zügen  durch  Griechenland.  Von  Qalba  wurde  er  im  Sommer  68 
zum  Statthalter  der  Provinz  Hispania  Tarraconensis  auserwählt.  Nach  dem 
Tode  Galbas  schloss  er  sich  den  Vitellianern  an  und  schützte  Spanien 
gegen  die  Othonianer.  Bei  der  Abschliessung  des  Vertrages  zwischen  Vi- 
tellius  und  dem  Bruder  Vespasians  war  er  mit  dem  Dichter  Silius  Italiens 
als  Beistand  zugegen.  Dass  dieser  Mann,  der  sich  mit  verschiedenen 
Herrschern  gut  zu  stellen  wusste,  vieles  aus  seinem  Leben  berichten  konnte, 
ist  klar.  Der  Verlust  seiner  Historiae*)  ist  daher  sehr  zu  beklagen, 
zumal  da  nicht  einmal  direkte  Fragmente  desselben  erhalten  sind.  Nur 
einige  Berufungen  der  Autoren  auf  ihn  geben  uns  Kunde  von  dem  Werk. 
Tacitus  erwähnt  ihn  zweimal  (13,  20  14,  2)  für  Ereignisse  aus  der  Nero- 
nischen Zeit,  Plutarch  (Otho  3)  für  Otho,  endlich  der  jüngere  Plinius  (ep. 
9, 19)  für  Verginius  Rufus.  Nach  diesen  Zitaten  wären  es  also  selbst- 
erlebte Dinge,  welche  er  in  seinem  Geschichtswerk  erzählte.  Daraus  dass 
Plutarch  (quaest.  Rom  107)  ihn  als  Gewährsmann  für  eine  Ableitung  des 
Wortes  histrio  anführt,  ist  nur  zu  schliessen ,  dass  dieser  Gegenstand  ge- 
legentlich erwähnt  war. 

Über  Cluvius  Rufus  ist  alles  Nötige  von  Moxmsen  beigebracht,  Hermes  4, 318 
(Petes,  bist.  fr.  p.  311).  Die  Behauptung  Mohmseks,  dass  Cluvius  f&r  Plutarch  in  den 
13iographien  Galba  und  Otho  und  fUr  die  entsprechenden  Abschnitte  in  des  Tacitus  Histo- 
rien die  Hauptquelle  gewesen  sei,  lässt  sich  nicht  stichhaltig  begründen  (vgl.  p.  376). 

7.  Fabius  Rusticus  wird  von  Tacitus  der  beredteste  Historiker  der 
modernen  Zeit  genannt  (Agric.  10).  Da  er  ihn  bei  der  Beschreibung  Bri- 
tanniens als  Gewährsmann  nennt,  so  wird  man  vermuten  dürfen,  dass  Fabius 
sein  Geschichtswerk  mit  der  Regierung  des  Claudius  begann,  da  sich  hier 
die  passendste  Gelegenheit  darbot,  die  Geographie  Britanniens  einzuschal- 
ten. Doch  könnte  dieselbe  auch  bei  einer  Darstellung  der  Regierungszeit 
Neros  einen  Platz  gefunden  haben  (61  n.  Ch.)  Dass  aber  Nero  von  ihm 
behandelt  war,  ergibt  sich  mit  Sicherheit  aus  Annal.  13,  20,  wo  ihm  Par- 
teilichkeit für  Seneca  vorgeworfen  wird,  dann  aus  14,2  und  15,61. 

Allem  Anschein  nach  ist  er  der  im  Testament  des  Dasumius  Z.  23  (GJL.  VI  2, 10229) 
erwähnte  Rusticus,  auch  wird  man  auf  ihn  den  Brief  des  Plin.  9, 29  beziehen  dürfen ;  end- 
lich vermutet  man,  dass  Quintil.  10,  1,  104  superest  adhuc  et  exornat  aetatis  nostrae  gloriam 
vir  saeculorum  memoria  dignus,  qui  olim  nominabitur,  nunc  inteUegUur  ihn  im  Auge  hat 

»)  Hübner,  Hermes  1,  397  (CJC.  2,  35). 
*)  Plin.  ep,  9,  19,  5. 


Die  übrigen  Historiker.  383 

An  andern  Orten  sind  behandelt  worden : 

1.  Der  ältere  Seneca  (Geschichte  der  Bflrgerkriege)  p.  200. 

2.  Der  Kaiser  Claudius.  (Geschichte  wahrscheinlich  von  Octavians  Ernennung 
zum  Augustus  bis  zu  dessen  Tod  und  ein  unvollendetes  Werk  vom  Tode  Cäsars  an)  p.  288. 

3.  Der  ältere  Plinius.    (a  fine  Aufidii  Basal  31  Bücher). 

Nicht  näher  bestimmbar  ist  das  Geschichtswerk  des  Pompeius  Saturninus  zur 
Zeit  des  jüngeren  Plinius  (ep.  1, 16).  In  der  Geschichte  des  Sardus  war  von  dem  jüngeren 
Plinius  die  Rede  (ep.  9,  31).    Über  C.  Vibius  Maximus'  historisches  Werk  vgl.  p.  322. 

441.  Historische  Spezialschriften.  Unser  Zeitraum  hat  auch  eine 
Reihe  geschichtlicher  Monographien  hervorgebracht: 

1.  P.  Thrasea  Paetus,  der  von  Nero  im  Jahr  66  zum  Tode  ver- 
urteilt wurde  (16,33),  schrieb  im  Anschluss  an  Munatius  (Plut.  Cato  36) 
ein  Leben  des  Cato  Uticensis,  welches  Plutarch  zur  Grundlage  seiner 
Biographie  machte. 

2.  Antonius  Julianus,  der  mit  Recht  mit  dem  Prokurator  von 
Judaea  M.  Antonius  Julianus  identifiziert  wird,  verfasste  eine  Monographie 
über  die  Juden.  Es  ist  eine  Vermutung  von  Bernays,  dass  Tacitus  aus 
ihm  (bist.  5, 1)  geschöpft.  Julianus  stimmte  als  Mitglied  des  Kriegsrates 
für  die  Zerstörung  von  Jerusalem. 

Bernats  ,  Ges.  Abb.  2, 173.  Das  bistoriscbe  Werk  wird  bloss  von  Minucius  Felix 
Octav.  33,  4  erwäbni 

3.  Junius  Rusticus  Arulenus,  Prätor  69.  Von  ihm  gab  es  Lob- 
schriften auf  Paetus  Thrasea  (Tacit.  Agric.  2)  und  Helvidius  Priscus.  Diese 
Schriftstellerei  brachte  ihm  unter  Domitian  den  Tod  (Suet.  Dom.  10).  Über 
Helvidius  Priscus  schrieb  auch  HerenniusSenecio  aus  Hispania  Baetica, 
auch  er  fand  deswegen  den  Tod  durch  Domitian  (Plin.  ep.  7, 19,  5). 

4.  C.  Fannius,  der  mit  dem  jüngeren  Plinius  (ep.  5,  5)  befreundet 
war,  verfasste  eine  Monographie  über  das  Ende  der  von  Nero  Getöteten 
und  Verbannten.  Bereits  waren  3  Bücher  fertig  und  im  Publikum  ver- 
breitet, als  er  starb. 

Ein  ähnliches  Werk  hatte  der  ebenfalls  mit  dem  jüngeren  Plinius  befreundete  Cn. 
Octavius  Titin'ius  Capito  geschrieben  {exittis  inlustrium  virorum).  Vgl.  tlber  ihn 
als  Dichter  p.  335. 

5.  Claudius  Pollio.  Nach  dem  Zeugnis  des  Plin.  ep.  7,31  publi- 
zierte er  eine  Biographie  des  Annius  Bassus. 

6.  Pompeius  Planta  ist  der  Geschicbtschr eiber  des  Krieges  vom 
Jahr  69  (Schol.  Juv.  2, 99,  Plin.  ep.  9, 1). 

An  anderen  Orten  sind  erwähnt 

1.  Claudius  (tyrrhenische  Geschichte  in  20,  karthagische  Geschichte  in  8  B.,  beides 
in  griechischer  Sprache  p.  238). 

3.  L.  Annaeus  Seneca  (De  vitapatris).  Vgl.  p.  200  u.  bei  dem  Philosophen  Seneca. 

3.  Q.  Asconius  Pedianus  {De  vita  Sallusti).    Vgl.  bei  Asconius. 

4.  Der  ältere  Plinius  {De  vita  Pomponi  Secundi,  BeUorum  Germaniae  1.  XX,  vgl. 
unten  bei  Plinius). 

5.  Der  jttngere  Plinius  (Lobende  Biographie  des  Vestricius  Cottius  vgl.  unter 
Plinius. 

442.  Die  Memoirenlitteratur.  Dass  bewegte  Zeiten  dem  Memoire 
ausserordentlich  günstig  sind,  ist  bekannt.  Auch  unsere  Epoche,  welche 
ein  so  tief  erschütterndes  Ereignis  wie  den  Sturz  des  iulisch-claudischen 
Hauses  aufweist,  ist  reich  an  Denkwürdigkeiten.  Schon  oben,  als  wir  die 
Stellung  der  Regenten  zur  Litteratur  darlegten,  sahen  wir,  dass  Tiberius 
über  sein  Leben  schrieb,   ein  Lieblingsbuch  Domitians  (p.  236),   ebenso 


384     ItOmiBche  LitteraturgeBcliichte.    Ü.  Die  2eit  der  Monarchie.    1.  Abteilmig. 


Claudius  (p.  238),  dass  Vespasian^  Denkwürdigkeiten  hinterliess  (p.  264) 
und  dass  Traian  den  von  ihm  geführten  dacischen  Krieg  beschrieben  (p. 
243).  Auch  die  Mutter  Neros,  Agrippina,  schrieb  ihre  Denkwürdigkeiten 
(Tacit.  Ann.  4, 53).  Andere  Memoirenschriftsteller  unserer  Epoche  sind 
folgende : 

1.  Domitius  Corbulo  (f  67  n.  Gh.).  Es  ist  jedem  Leser  des  Tacitus 
bekannt,  wie  sehr  dieser  Feldherr  in  den  armenisch-parthischen  Feldzügen 
bei  Tacitus  hervortritt  und  wie  sehr  er  denselben  verherrlicht.*)  Über 
seine  Feldzüge  in  Armenien  (55 — 63)  schrieb  er  Memoiren,  welche  von 
dem  älteren  Plinius  (2, 180  5, 83  6, 23)  und  von  Tacitus  selbst  benutzt 
wurden  (Ann.  15, 16). 

Peter,  fr.  bist.  p.  303;  Held,  De  Cn.  Dom.  Corb.,  Schweidnitz  1862;  Wolfforajoi,  Co. 
Dom.  Corb.,  Prenzlau  1874  (Philol.  44,  371). 

2.  L.  Antistius  Vetus  war  Befehlshaber  in  Germanien  58;  er  wird 
von  Plinius  n.  h.  zu  den  Büchern  3—6  als  Quelle  (neben  Pomponius  Mela 
und  Domitius  Corbulo)  erwähnt.  Allem  Anschein  nach  hatte  er  ein  Me- 
moirenwerk über  seine  Thätigkeit  in  Germanien  geschrieben. 

WöLFFLiN  in  Bursians  Jabresber.  1874/5  1,  772. 

3.  Suetonius  Paulinus,  ein  grosser  Feldherr,  der  41  n.  Ch.  als 
prätorischer  Legat  bei  der  Unterwerfung  Mauretaniens  hervortrat  und  im 
Kriege  Othos  gegen  Yitellius  kämpfte.  Aus  dem  Zitate  des  Plinius  (n. 
h.  5, 14)  erhellt,  dass  er  seine  Expedition  nach  dem  Atlas  beschrieb. 

Nipperdey  zu  Tacit.  Ann.  14, 29  Einl.  •  p.  XXIV. 

4.  Yipstanus  Messalla,  einer  der  Mitunterredner  im  Dialoge  des 
Tacitus,  wird  von  dem  Historiker  in  den  Historien  (3,  25  u.  3, 28)  als  Ge- 
währsmann angeführt.  Da  er  den  Feldzug  des  Herbstes  69  mitmachte,  so 
wird  er  ihn  auch  in  seinen  Denkwürdigkeiten  beschrieben  haben. ^) 

„Die  Annahme  ist  gerecbtfertigt,  dass  er  die  Zeitereignisse  nnr  bebandelte,  insoweit 
er  persönlicben  Anteil  an  ibnen  batte,  also  entweder  in  seinen  Memoiren  oder,  was  bei 
der  Jugend  des  Verfassers  angemessener  erscbeint,  in  einer  bistoriscb-politiscben  Broschüre.* 
Nissen,  Rb.  Mos.  26,529. 

ß)  Die  Geographen. 

Pomponius  Mela. 
443.  Die  älteste  lateinische  Geographie.  Das  erste  uns  erhaltene 
geographische  Werk  der  römischen  Litteratur  ist  die  Chorographie  des 
Pomponius  Mela  aus  Tingentera  in  Spanien  (2,  96).  Sie  besteht  aus  drei 
Büchern.  Nach  einer  Übersicht  über  die  Erde  und  die  Weltteile  nimmt  der 
Autor  (1,  4, 24)  das  innere  Meer  zum  Ausgangspunkt  und  behandelt  zunächst 
die  rechte  Seite,  Afrika,  geht  dann  zu  Asien  über,  im  zweiten  Buch  wendet 
er  sich  zu  Europa,  mit  den  Skythen  beginnend  und  mit  der  inneren  Küste 
Galliens  und  Spaniens  schliessend;  in  einem  Anhang  spricht  er  über  die 


')  Einmal  spricht  Joseph  c.  Apion.  1, 10 
von  rots  Tcjy  avtoxgatoQüiy  vnoftyijuttiny. 

*)  ^Die  Gescbicbte  der  armeniscn-partbi- 
scben  Feldztlge  nach  Tacitus  wird  nacb  ihrer 
gescbicbtiicben  und  geographischen  Seite 
durcbaus  von  dem  Qesicbtspunkte  einer  ver- 
berrlicbenden  Lebensbescbreibung  des  Cor- 
bulo belierrscbt."  Eoli  in  Büdingers  Un- 
ters. 1,333. 


')  Von  seinem  Mitunterredner  Julius 
Secundus  sagt  Otbo  c.  9 :  tovto  fxky  dirjysho 
SjExovySog  o  ^^ttoQ.  Das  wird  auf  müncUicbe 
Äusserungen  zu  bezieben  sein.  (Nissen,  Rb. 
Mus.  26,  507.)  Die  von  ibm  gescbriebene  Bio- 
grapbie  des  Julius  Africanus  (so  Nippebbby, 
Opusc.  p.  285  statt  des  überlieferten  Julius 
Asiaticus)  scbildert  einen  bedeutenden 
Redner  der  damaligen  Zeit. 


Pomponina  Mola.  385 

Inseln  des  mittelländischen  Meeres.  Mit  dem  dritten  Buch  wird  das  äussere 
Meer  der  Stützpunkt  der  Darstellung,  das  äussere  Spanien  und  Gallien, 
Germanien,  Sarmatien,  Skythien  werden  geschildert,  am  Schluss  folgen 
wiederum  die  Inseln.  3,  59  begibt  er  sich  zum  östlichen  Meer  und  kehrt 
von  da  an  den  atlantischen  Ozean  zurück.  Aus  dieser  Skizze  ersieht  man, 
dass  Pomponius  Mela  das  Meer  als  Prinzip  für  die  Anordnung  des  Stoffes 
erwählte.  Dadurch  tritt  das  Küstenland  stark  in  den  Vordergrund,  das 
Ganze  nimmt  vorwiegend  die  Gestalt  des  Periplus  an. 

Pomponius  Mela  will  nur  einen  Abriss  geben,  wie  er  ausdrücklich  in 
der  Einleitung  hervorhebt.  Eine  ausführliche  Behandlung  behält  er  sich 
für  eine  spätere  Zeit  vor  (1,  2).  Daher  fehlt  bei  ihm  die  mathematische 
Geographie,  es  fehlen  Distanzangaben  und  andere  Einzelheiten.  Nicht  als 
Forscher  trat  Mela  an  seine  Aufgabe  heran,  der  Rhetor  ist  es,  der  den 
Griffel  in  die  Hand  nimmt.  In  charakteristischer  Weise  spricht  er  gleich 
anfangs  sein  Bedauern  aus,  dass  sein  Stoff  der  rhetorischen  Behandlung 
Schwierigkeiten  entgegenstelle,  allein  er  thut  doch  alles,  was  er  kann, 
um  den  Leser  für  die  trockenen  Partien  zu  entschädigen;  Beschrei- 
bungen und  die  Sittenzüge  lassen  die  Rhetorik  zu.  Der  Stil')  ist  oft  ge- 
ziert und  manchmal  nicht  durchsichtig  genug.  Das  Material  hat  Mela 
natürlich  aus  Büchern  geschöpft.  Zitiert  werden  bei  ihm  Hipparchus') 
(3,  70)  und  Cornelius  Nepos  (3,  45  3,  90).  An  der  einen  Stelle  (3,  90)  ist 
zugleich  Hanno  und  Eudoxus  erwähnt.  Allein  die  direkte  Benutzung  des 
Cornelius  Nepos  wird  von  angesehenen  Forschern  bestritten.  Über  die 
Zeit  der  Schrift  gibt  3,  49  Aufschluss ,  wo  er  von  einem  Kaiser  spricht, 
der  eben  durch  einen  siegreichen  Krieg  Britannien  erschlossen  hat  und  im 
Begriffe  steht,  seine  That  durch  einen  Triumph  zu  feiern.  Diese  Momente 
passen  auf  Claudius,  der  im  Jahr  43  nach  Britannien  eine  Expedition 
gemacht  hatte  und  im  Jahr  44  triumphierte. 

Die  Quellen  frage.  Hier  ist  das  wichtigste  Moment,  dass  die  beiden  Neposcitate 
aach  bei  Plin.  n.  fa.  2, 170  u.  2, 169  erscheinen;  auch  bei  dem  letzten  kommen  (2, 169)  wie 
bei  Mela  (3,  90)  als  Autoritäten  der  Karthager  Hanno  und  der  Grieche  Eudoxus  vor.  Wie 
Eudoxus  in  dem  Zitat  auf  Cornelius  Nepos  zurückgeführt  wird,  so  ist  auch  Hanno  keine 
direkte  Quelle  (vgl.  Hansek,  Fleckeis.  Jahrb.  117,502).  Aber  selbst  Cornelius  Nepos  wurde 
nicht  unmittelbar  benuizt  (Wagener  in  den  Comment.  Wölflflin  p.  3),  er  lag  in  der  Quelle 
vor,  welche  Plinius  und  Mela  zugleich  zu  Rate  zogen.  Über  die  Quellen  frage  vgl.  noch 
ScHWEDEB,  Die  Konkordanz  der  Chorographien  des  Mela  u.  Plin.,  Kiel  1879;  Beiträge  zur 
Kritik  der  Chorographie  des  Augustus,  3.  Teil,  Kiel  1883,  p.  35;  Philol.  46,276  47,636; 
Oehmichen,  Plin.  Stud.  p.  47. 

Die  Zeit  der  Abfassung.  3,49  tarn  diu  clausam  {Britanniam)  aperit  ecce princi- 
pum  nMximus,  nee  indomitarum  modo  ante  se,  verum  ignotarum  quoque  gentium  victor  pro- 
priarum  rerum  fidem  ut  hello  affeetavit,  ita  triumpho  declaraturus  portal,  Oehmichen  (p.  32) 
will  die  Stelle  auf  Caesar  beziehen  und  setzt  demgemäss  die  Schrift  nicht  lange  nach  dem 
Jahr  25  v.  Ch.  Allein  die  Beziehung  auf  Caesar  wird  schon  durch  die  Worte  „triumpho 
declaraturus"  unmöglich  gemacht.  Die  Stelle  muss  auf  einen  Kaiser,  der  Britannien  er- 
schloss  und  über  Britannien  triumphierte,  bezogen  werden.  Man  hat  für  diesen  Kaiser 
Caligula  gehalten  und  an  die  Jahre  41/42  gedacht.  Fbick  (Philol.  33,  742)  führt  zur  Er- 
härtung dieses  Ansatzes  an,  dass  die  Nordküste  A&ikas  noch  nicht  die  Einteilung  kennt 
(1,25),  welche  Claudius  im  Jahr  42  (Dio  Cassius  50,  9)  getroffen.  Allein  dem  Mela,  der  kein 
eigentlicher  Geograph  ist,  sondern  nach  Büchern  schreibt,  ist  ein  solcher  Verstoss  wohl 
zuzutrauen.  Am  besten  passt  die  Stelle  auf  Claudius  (43/44),  dessen  britannische  Ex- 
pedition wirklich  die  Bedeutung  der  Erschliessung  des  Landes  hatte. 


')  Eine  Eigentümlichkeit  desselben  ist 
das  häufige  ut  —  ita. 


')  Diesen  Autor  will  mit  Unrecht  besei- 
tigen Hansen,  Fleckeis.  Jahrb.  117,499. 


Handbuch  der  \Um.  Altertamnriaeiuchaft.    Vm.    2.  Teil.  25 


386    Römische  Litteraturgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilmig. 


Die  Oberlieferung  beruht  auf  einer  Handschrift,  dem  Vaticanos  4929  8.  X,  welcher 
die  Quelle  der  übrigen  Handschriften  geworden  ist  (Bübslan,  Fleckeis.  Jahrb.  99,631). 

Ausgaben  von  Tschucke,  Leipz.  1807  (7  Bde.),  Pabthbt,  Berlin  1867,  und  Fbick, 
Leipz.  1880. 

y.  Die  Redner. 

G.   Plinius  Caecilius  Secundus. 

444.  Biographisches.  Die  Nachrichten  über  das  Leben  des  jungem 
Plinius  fliessen  reichlich,  teils  liefern  uns  Inschriften  authentische  No- 
tizen, teils  liegt  in  dem  erhaltenen  Briefwechsel  ein  umfangreiches  Material 
vor.  Ursprünglich  führte  er  die  Namen  P.  Caecilius  L.  F.  Ouf.  Secundus,  nach 
der  Adoption  durch  den  Bruder  seiner  Mutter,  den  bekannten  Verfasser  der 
Naturgeschichte  C.  Plinius  Secundus  legte  er  sich  die  Namen  C.  Plinius  L.  P. 
Ouf.  Caecilius  Secundus  bei ;  er  änderte  sonach  den  Vornamen  und  verwies 
seinen  Geschlechtsnamen  unter  die  Cognomina.  ^)  Das  Geburtsjahr  bestimmt 
sich  durch  seine  Angabe,  dass  er  beim  Ausbruch  des  Vesuv  im  achtzehnten 
Lebensjahr  stand  (ep.  6, 20,  5).  Da  dieses  Ereignis  ins  Jahr  79  fiel,  so  wird 
er  im  Jahr  61  oder  62  geboren  sein.  Seine  Heimat  ist  Comum.  Darauf 
deutet  auch  die  Tribus  Oufentinaj  der  er  angehörte.  Seine  Anhänglichkeit  an 
seine  Vaterstadt  dokumentierte  er  durch  verschiedene  Zuwendungen;  er 
schenkte  ihr  eine  Bibliothek  und  gewährte  zugleich  ein  Kapital  zur  Unter- 
haltung derselben  (ep.  1, 8).  Ferner  machte  er  eine  Stiftung  zur  Alimentation 
freigeborener  Kinder  (ep.  7. 18).  Auch  in  seinem  Testament  war  die  Vater- 
stadt bedacht,  sie  erhielt  ein  Kapital  zur  Errichtung  und  Instandhaltung 
von  Thermen,  dann  war  eine  beträchtliche  Summe  zur  Versorgung  von  hun- 
dert Freigelassenen  des  Testators  ausgesetzt ;  diese  Summe  sollte  nach  dem 
Erlöschen  des  Stiftungszweckes  für  ein  jährlich  zu  gebendes  Mahl  für  das 
Volk  von  Comum  verwendet  werden.  Seine  Ausbildung  erlangte  er  in 
Rom,  er  nennt  als  seine  Lehrer  Quintilian  und  Nicetes  Sacerdos  (ep.  2, 14, 9 
6,6,3).  Über  seine  öffentliche  Laufbahn  sind  folgende  Daten  ermittelt: 
Sehr  frühzeitig  war  er  als  Sachwalter  thätig  (ep.  5,  8, 8).  Dann  bekleidete  er 
das  Decemvirat  litibus  iudicandis,  das  Militärtribunat  ^)  in  Syrien  und  den 
Sevirat  in  der  römischen  Ritterschaft.')  Bezüglich  der  folgenden  Ämter 
hat  umsichtige  Forschung  dahin  geführt,  dass  seine  Quästur*)  vom  1.  Juni 
89  bis  31.  Mai  90,  sein  Tribunat  vom  10.  Dez.  91  bis  9.  Dez.  92,  seine  Prätur 
ins  Jahr  93  zu  setzen  ist.*^)  Nach  der  Prätur  führte  er  (entweder  94—96 
oder  95 — 97)  die  praefectura  aerarii  militaris,  dann  die  praefedura  aerarii 
Saturni  (Jan.  98  bis  Jan.  100)^).  Konsul  war  er  mit  Cornutus  Tertullus 
in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  100^),  in  welchem  Traian  das  Konsulat 
zum  drittenmal  bekleidete.  In  das  Kollegium  der  Auguren  wurde  er 
103  oder  104  aufgenommen,^)  die  cura  alvei  Tiberis  et  riparum  et  cloaca- 
rum    urbis  war  wahrscheinlich   von  105 — 107  in  seinen  Händen.^)     Als 


*)  MomfsEK  D.  70. 

')  Während  desselben  verkehrte  er  mit 
den  Philosophen  Euphrates  und  Artemidorus 
(ep.  1,20,2  8,  11,5). 

")   MOMMSEN   p.    78. 

*)  Er  war  quaestor  imperatoris,  also  war 
ihm  Domitian  damals  zugeneigt.  MoMM8EN,p.87. 


^)  MOKMSSN  p.  86. 
•)  SoBBE,  PhUol.  27, 641. 
')  Entweder  vom  1.  Sept  bis  31.  Okt. 
oder  vom  1.  Juli  bis  80.  Sept.  Moiqisbn  p.  91. 

*)  MOMMSEN  p.  44. 
^)  MoMMSEN  p.  95. 


Der  Jüngere!  Plinins, 


387 


kaiserlicher  Legat  stand  er  der  Provinz  Bithynien  in  den  Jahren  111  und 
112  oder  in  den  Jahren  112  und  113  vor.»)  Sein  Tod  erfolgte  wahrschein- 
lich noch  in  der  Provinz  oder  bald  nach  seiner  Heimkehr  vor  dem  Jahr  114. 

Seine  Schriftstellerei  begann  Plinius  mit  der  Herausgabe  von  Reden, 
die  er,  nachdem  sie  gehalten  worden  waren,  einer  sorgfaltigen  Umarbei- 
tung unterzog.  Es  schloss  sich  hieran  die  Publikation  seiner  Briefe,  die 
vorwiegend  vom  stilistischen  Gesichtspunkt  aus  betrachtet  werden  müssen. 
Nebenher  läuft  die  Publikation  von  neuen  Reden  und  etwas  späterhin  so- 
gar von  Gedichten. 

445.  Plinius  als  Redner.  Der  Panegyricus  auf  Traian.  Seit 
seinem  neunzehnten  Jahre  (ep.  5,  8,  8)  war  Plinius  als  Gerichtsredner  thätig. 
Besonders  in  Centumviratsachen  lieh  er  den  Parteien  seinen  Beistand  (ep. 
6,  12,  2).  Aber  auch  in  Kriminalprozessen  ^)  plädierte  er ;  nach  dem  Tode 
Domitians  erachtete  er  es  sogar  als  Pflicht,  gegen  diejenigen,  welche  unter 
dessen  Regierung  Frevel  begangen  hatten,  aufzutreten  (ep.  9,  13,2).  Aus 
seinem  Briefwechsel  vernehmen  wir,  dass  ihm  seine  Plaidoyers  viel  Ruhm 
brachten.  Allein  dieser  genügte  dem  ehrgeizigen  Redner  nicht.  So  gi*oss 
auch  der  Kreis  der  Zuhörer  bei  den  Verhandlungen  war,  so  wünschte 
er  sich  doch  noch  ein  'grösseres  Publikum  für  seine  rednerischen  Er- 
zeugnisse. Hier  konnte  die  Recitation  helfend  eingreifen;  und  wirk- 
lich that  Plinius  den  kühnen  Schritt,  gehaltene  Reden  später  zum  Gegen- 
stand von  Vorlesungen  zu  machen.  Das  Verfahren  blieb  nicht  ohne  Tadel, 
und  er  war  gezwungen,  sich  gegen  diese  Angriffe  zu  verteidigen  (ep. 
7,17)«  Aber  selbst  die  Recitation  führte  noch  nicht  den  Redner  an  das 
Ziel  seiner  Wünsche.  Diese  gingen  vielmehr  auf  die  Unsterblichkeit  seines 
Namens  (ep.  5,  8,  6) ;  er  wollte  seine  Reden  auf  die  Nachwelt  bringen ;  dazu 
war  die  Buchform  derselben  notwendig ;  und  diese  bildete  den  Schlussstein 
des  rührigen  Schaffens,  welches  auf  seine  Plaidoyers  folgte.  Zuerst  wurde 
die  Rede  schriftlich  genau  fixiert ,  dann  einigen  Bekannten  vorgelesen,  um 
zu  sehen,  welchen  Eindruck  das  Produkt  hervorbringe ;  war  dies  geschehen, 
so  wurde  sie  Freunden  zur  Beurteilung  überschickt  und  falls  es  sich  als 
notwendig  erwies,  wurden  die  Aussetzungen  gemeinsam  beraten;  endlich 
wurde  sie  in  einer  Recitation  einem  grösseren  Publikum  vorgeführt;  auch 
für  diesen  Zweck  wurden  nochmals  ängstlich  Verbesserungen  vorgenommen. 
Jetzt  nach  dieser  vielfachen  Sichtung  konnte  das  Werk  auch  in  Buchform 
in  die  Hände  des  Publikums  gegeben  werden  (ep.  7, 17, 7).  Selbstverständlich 
musste  sich  infolge  dieser  wiederholten  Überarbeitung  und  Umarbeitung 
die  geschriebene  Rede  wesentlich  von  der  gehaltenen  unterscheiden;  es 
war  ja  ein  anderes  Publikum,  an  das  sich  das  neue  Produkt  wandte,  und 
manches,  was  für  die  Verhandlung  von  Interesse  war,  war  es  nach  länge- 
rer Zeit  nicht  mehr  (ep.  1,  8).  Allein  trotzdem  war  es  nicht  die  Kürzung, 
welche  Plinius  für  die  Buchreden  eintreten  Hess,  sondern  vielmehr  die  Er- 
weiterung. War  dem  Autor  die  Fülle  eine  notwendige  Eigenschaft  der 
gesprochenen  Rede^),  so  war  sie  es  ihm  noch  mehr  bei  der  geschrie- 


0  MOMMSEN  p.  96. 

')    MOHMSBK   p.   41. 

')  ep.  1, 20;  19  nan  amputata  oratio  et  ab' 


seisa,  sed  lata  et  magnifiea  et  excelsa  tonat, 
fulgurat,  omnia  denique  perturhat  ac  miscet. 


25* 


388     RömiBcbe  LitteratnrgeBchichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 


benen^;  denn  dieser  fehlte  ja  manches,  was  der  ersteren  zu  statten  kam. 
Er  streute  daher  Beschreibungen  und  Erzählungen  ein  und  nahm  noch 
sonst  Erweiterungen  ^)  vor,  um  das  Interesse  der  Leser  wachzurufen.  Al- 
lein trotz  der  Mühe,  welche  sich  der  Verfasser  gab,  um  diese  Reden  den 
kommenden  Geschlechtern  zu  fiberliefern,  hat  sich  doch  nur  eine  einzige 
erhalten,  der  Panegyricus  auf  Traian.  Durch  ein  Senatskonsult  war 
die  Bestimmung  getroffen,  dass  die  Konsuln  bei  Antritt  ihres  Amtes  dem 
Kaiser  ihren  Dank  aussprachen,  was  in  der  damaligen  Zeit  keine  andere 
Bedeutung  hatte,  als  dass  sie  dem  Kaiser  eine  Lobrede  hielten  (c.  4).  Dies 
that  auch  Plinius  und  zwar  zugleich  im  Namen  seines  Kollegen  Comutus 
TertuUus  (c.  90),  als  er  mit  ihm  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrs  100 
das  Konsulat  antrat.  Auch  diese  Rede  liegt  uns  in  umgearbeiteter  Gestalt 
vor ;  die  Umarbeitung  führte  zu  einer  ganz  ausserordentlichen  Erweiterung, 
so  dass  sie  dem  ursprünglichen  Zwecke  ganz  entfremdet  wurde..  Auch  das 
Gepräge  des  Stils  musste  jetzt  vielfach  ein  ganz  anderes  werden  und  das 
Überschwengliche  und  Überladene  noch  stärker  hervortreten.  Zuerst  las 
er  das  Werk  seinen  Freunden  vor,  es  waren  drei  Sitzungen  notwendig, 
um  die  Recitation  desselben  zu  Ende  zu  bringen.  Die  Rede  schildert  nach 
der  Einleitung  zuerst  das  Wirken  Traians  bis  zum  Einzug  in  Rom  (c.  5—24), 
dann  seinen  Einzug  und  seine  verschiedenen  politischen  Massregeln,  wie 
z.  B.  Versorgung  armer  Kinder,  seine  Spenden  an  das  Volk,  sein  Verfah- 
ren gegen  die  Delatoren,  Ordnung  finanzieller  Fragen,  Abschaffung  der 
Anklagen  auf  Majestätsverbrechen,  Sicheruug  der  Testamente,  Beseitigung 
der  Pantomimen,  seine  Bauten.  Dazwischen  werden  die  persönlichen  Eigen- 
schaften berührt  und  ihnen  die  Domitians  in  gehässiger  Weise  gegenüber- 
gestellt. Dann  kommt  er  auf  Traians  zweites  und  drittes  Konsulat  zu 
sprechen  und  schildert  weiterhin  seine  Fürsorge  für  die  Provinzen  und  sein 
richterliches  Wirken,  woran  sich  wiederum  Züge  aus  seinem  Privat-  und 
Familienleben  anreihen.  Den  Schluss  des  Schriftstücks  bildet  der  Dank 
des  Redners  für  das  ihm  und  seinem  Kollegen  verliehene  Konsulat. 

Wie  man  schon  aus  dieser  flüchtigen  Skizze  sieht,  ist  eine  ganz 
strenge  Disposition  nicht  durchgeführt.  Genauere  Analyse  zeigt  manche 
Unterbrechung  des  Zusammenhangs  und  sonstige  Störungen.  Zur  Erklä- 
rung dieser  Erscheinungen  wird  man  den  Gedanken  aussprechen  müssen, 
dass  die  Überführung  der  Rede  in  die  Buchform,  wodurch  ein  Zwitterding 
zwischen  Rede  und  Biographie  entstand,  diese  Inkonsequenzen  herbeiführte. 
Den  Versuch,  aus  dem  vorliegenden  Panegyricus  die  ursprünglich  gehal- 
tene Rede  herauszuschälen,  ist  aussichtslos. 

Die  Rede  ist  ein  höchst  unerfreuliches  Produkt  und  es  kostet  keine 
geringe  Anstrengung,  sie  von  Anfang  bis  zu  Ende  durchzulesen;  der  auf- 
gedunsene, überladene  Stil  ermüdet  uns,  die  grossen  Schmeicheleien,  die 


')  Bezeichnend  ist  die  Äusserung  ep. 
1,  20,  5  voluminibus  ipsis  auctoritaiem  quan- 
dam  et  pulchritudinem  adicit  magnitudo. 

*)  ep.  2,  5, 2  inde  et  Über  cremt,  dum  or- 
nare  patriam  et  amplificare  gaudemtiSf  pariter 
et  defenüioni  eins  servimus  et  gloriae.  —  (5) 
sunt  quaedam  adtdescentium  auribus  danda, 


praeserttm  si  materia  non  refragetur:  nam 
descriptiones  locorum,  quae  in  hoc  Ubro 
frequentiores  erunt,  non  historice  tantum, 
sed  prope  poi^tice  prosequi  fas  est,  9,  28,  5 
est  uberior  (oratio):   muUa  enim  postea  in- 


seria. 


Der  jüngere  Plinins.  3gg 

Traian  gespendet  werden,  widern  uns  an,  der  unedle  Hass  gegen  Domitian 
erbittert  uns,  doch  dUrfen  wir  nicht  übersehen,  dass  wir  fast  ledig- 
lich aus  dem  Panegyricus  die  Regierungszeit  Traians  bis  zum  Jahre  101 
kennen  lernen.  Die  Überlieferung  des  Panegyricus  ist  von  der  der  Briefe 
unabhängig.  Seine  Erhaltung  beruht  darauf,  dass  dem  Plinius  als  dem 
Begründer  der  Lobrede  auf  deq  Kaiser  dea  Ehrenplatz  in  einem  Corpus 
der  Panegyriker  eingeräumt  wurde. 

Verlorene  Reden,  welche  in  Buchform  vorhanden  waren:*) 

1.  Die  Rede  bei  der  Stiftung  der  Bibliothek  in  Comum  {sermo  quem  apud 
municipes  meos  {apud  decuriones  in  curia  ep.  1,  8, 16)  hetbui  bibliothecam  dedicaturtM  1,  8,2; 
er  überschickte  sie  dem  Pompeius  Saturninus  zur  Prüfung  vor  der  Herausgabe). 

2.  Die  Rede  zum  Preis  der  Vaterstadt;  einen  grossen  Teil  derselben  erhielt 
Lupercus  zur  Revision  (ep.  2,  5). 

3.  Die  Rede  für  Julius  Bassus,  welcher  wegen  Erpressungen  in  dei*  Provinz 
Bithynien  angeklagt  wurde  (ep.  4,9).  Die  Rede  wurde  von  Plinius  einer  Umarbeitung 
unterzogen  (4, 9,  23). 

4.  Die  Rede  für  Rufus  Varenus.  Auch  dieser  Mann  wurde  von  den  Bithynern 
verklagt  (ep.  5,  20). 

5.  Die  Rede  für  Attia  Viriola,  welche  wegen  Enterbung  einen  Prozess  führte 
(ep.  6,  33, 1). 

6.  Die  Rede  für  Clarius  (ep.  9,  28,  5). 

7.  Die  Rede  gegen  Publicius  Certus  in  der  Angelegenheit  des  Helvidius  (Suet. 
Dom.  10).  Dieser  hatte  unter  Domitian  ein  Nachspiel  , Paris  und  Oenone'  verfasst,  in  dem 
der  Kaiser  eine  Anspielung  auf  seine  Ehescheidung  erblickte.  Er  wurde  deshalb  hingerichtet. 
Für  seinen  Tod  wurde  in  irgendwelcher  Weise  Publicius  Certus  verantwortlich  gemacht. 
Gegen  ihn  hielt  Plinius  im  Senat  eine  Rede,  welche  er  später  erweitert  in  Buchform  her- 
ausgab (ep.  9, 13). 

Wir  reihen  hier  noch  an  die  rhetorische  Biographie  des  Vestricius  Cot- 
tius  (ep.  3, 10). 

446.  Die  Dichtungen  des  jüngeren  Plinius.  Im  vierten  Brief  des 
siebenten  Buchs  gibt  uns  Plinius  eine  ausführlichere  Geschichte  seiner 
poetischen  Bestrebungen.  Schon  im  vierzehnten  Lebensjahr  schrieb  er  eine 
griechische  Tragödie.  Als  er  aus  Syrien  zurückkehrte,  wurde  er  auf  der 
Insel  Ikaria  durch  widrige  Winde  aufgehalten;  er  benutzte  seinen  unfrei- 
willigen Aufenthalt  zur  Abfassung  einer  Elegie  auf  das  Meer  und  auf  die 
Insel.  Dann  versuchte  er  sich  im  heroischen  Masse.  Allein  dies  sind 
verschollene  Jugendversuche,  welche  keine  Spuren  zurückliessen.  Ernst- 
licher beschäftigte  er  sich  mit  der  Dichtkunst  erst  in  reiferem  Alter,  ums 
Jahr  105;  er  erzählt  uns  auch  die  Veranlassung.  Er  las  auf  seinem  Lau- 
rentinum  das  Buch  des  Asinius  Gallus,  in  dem  ein  Vergleich  zwischen 
dessen  Vater,  dem  Asinius  Pollio  und  Cicero  durchgeführt  war ;  bei  dieser 
Lektüre  stiess  er  auf  ein  Epigramm  Ciceros  auf  seinen  Freigelassenen  Tiro. 
Bei  der  Siesta  kam  ihm  der  Gedanke,  es  dem  grossen  Redner  hierin  gleich 
zu  thun;  und  wirklich  gelangen  ihm  sofort  1«S  Hexameter,  in  denen  er 
den  Vorfall  erzählt.  Freilich  uns  will  der  Versuch  recht  hölzern  erscheinen. 
Doch  damit  war  der  Bann  gebrochen.  Er  wagte  sich  jetzt  an  Elegien 
heran;  auch  diese  gingen  ihm  von  der  Hand.  Nach  Rom  zurückgekehrt 
las  er  seine  Produkte  den  Freunden  vor;  diese  spendeten  Beifall.  Nun 
glaubte  er  noch  einen  Schritt  weiter  gehen  und  mit  seinen  Gedichten  vor 
dem  grossen  Publikum  erscheinen  zu  dürfen.  Er  veranstaltete  eine  Sammlung, 
welche  den  Titel  „Hendecasyllabi''  führte.  Es  waren  Kleinigkeiten,  die 

0  Öfters  nennt  Plinius  nicht  die  herausgegebenen  Reden,  sondern  spricht  allgemein 
z.  B.  8,  3,  .2  9,  10,  3  9,  15, 2  1,  2, 1. 


390     RömiBcbe  Litteratargeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

bei  verschiedenen  Gelegenheiten,  im  Wagen,  beim  Bade,  während  des 
Mahles  rasch  hingeworfen  wurden.  Die  Stoffe  waren  die  mannigfaltigsten, 
auch  das  Obscöne  spielte  seine  Rolle.  Der  Dichter  will  mit  seiner  Arbeit 
reüssiert  haben.  Die  Gedichte  wurden  gelesen,  abgeschrieben,  gesungen 
und  sogar  von  Griechen,  welche,  um  die  Süssigkeiten  der  Plinianischen 
Poesie  kennen  zu  lernen,  die  Mühe  nicht  scheuten,  Latein  zu  lernen, 
zur  Zither  und  zur  Lyra  vorgetragen.  Ein  junger  Dichter,  Sentius  Augurinus, 
feiert  das  wichtige  Ereignis,  dass  Plinius  auch  nach  Catulls  Weise  dichtet, 
in  einigen  Versen  (ep.  4,  27).  Die  verständigeren  Männer  schüttelten  dagegen 
die  Köpfe  (ep.  5,  3, 1).  Allein  der  neue  Dichter  war  entschlossen,  auf  der 
Ruhmesbahn  fortzuschreiten ;  er  machte  sich  daher  an  eine  zweite  Sammlung 
und  diesmal  wollte  er  seine  Fertigkeit  in  verschiedenen  Massen  erproben. 
Als  er  eine  Anzahl  Gedichte  fertig  hatte,  las  er  sie  wiederum  seinen 
Freunden  vor.  Ob  auch  diese  Sammlung  erschienen  ist,  wissen  wir  nicht. 
Neben  diesen  eigenen  Produktionen  liefen  auch  Exercitien  einher;  er  über- 
trug die  griechischen  Epigramme  des  Arrius  Antoninus ;  die  Arbeit  scheint 
ihm  recht  sauer  geworden  zu  sein.  Den  Verlust  aller  dieser  Poesien  er- 
tragen wir  ruhig,  die  zwei  zufällig  zu  unserer  Kenntnis  gelangten  Proben 
erwecken  keine  Sehnsucht  nach  Weiterem. 

1.  Übersetzungen  der  griechischen  Epigramme  des  Arrias  Antoninus. 
Darüber  spricht  er  ep.  4, 18;  er  erklärt  die  Arbeit  für  eine  sehr  schwierige ;  dann  5, 15.  Ein 
anscheinend  aus  dem  Griechischen  übersetztes  Epigramm  überliefert  unter  dem  Namen  C. 
Caecili  Plinii  Secundi  die  Anthologie  (Riese,  nr.  710,  BXhkens,  PLM.  4,  103). 

2.  Die  Sammlung  .Hendecasyllabi"  ep.  4,  14, 2  accipiescumhac  episiula  hende- 
casyVabos  nostros,  quihus  nos  in  vehiculOj  in  hcUineo,  inter  cenam  oblectamus  oHum  tempo- 
ris,  (8)  unum  illud  praedicendum  videtur,  cogitare  me  has  nugaa  inscribere  hendecasyUahoSj 
qui  titulus  sola  metri  lege  constringitur  (5,  3). 

3.  Sammlung  kleiner  Gedichte  in  verschiedenen  Massen,  ep.  8,21,4  sagt 
von  einer  Vorlesung :  liber  fuit  et  apusculis  varius  et  metris.  —  Recitavi  biduo.  7,  9, 10 
teilt  er  4  hölzerne  Disticha  mit.  9,  10, 2  poemata  crescunt  (so  Mohmsen  p.  106  statt 
quie^cuni),     9,  16,  2  (novos  versiculos), 

447.  Die  allgemeine  Briefsammlung.  Neben  der  Rede  gab  auch 
der  Brief  Gelegenheit,  sein  stilistisches  Können  zu  zeigen.  Natürlich  lohnte 
es  sich  nicht,  wegen  des  Adressaten  allein  die  Mühe  der  Ausarbeitung  und 
Feile  auf  sich  zu  nehmen ;  man  bedurfte  eines  grösseren  Leserkreises.  Zu 
diesem  Zweck  wurde  der  Brief  gleich  so  konzipiert,  dass  er  in  die  Öffent- 
lichkeit treten  konnte.  Dadurch  wurde  aber  der  Brief  in  seinem  Charakter 
wesentlich  geändert.  Aus  solchen  Briefen  hat  Plinius  ein  Corpus  von  9 
Büchern  zusammengestellt  und  sie  seinem  Freunde  Septicius,  der  ihn  zur 
Herausgabe  der  Briefe  ermuntert  hatte,  dediziert.  In  dem  Dedikations- 
schreiben  spricht  er  sich  zugleich  über  das  Prinzip  der  Anordnung  der 
Briefe  aus,  er  will  sie  so  zusammengestellt  haben,  wie  sie  ihm  in  die 
Hand  kamen.  Da  er  nicht  Historiker  sei,  so  habe  er  keine  Rücksichten 
auf  die  Chronologie  zu  nehmen.  Wir  können  dem  Schriftsteller  die  letzt© 
Angabe  leicht  glauben,  allein  dass  er  bei  der  Zusammenstellung  sich  ganz 
vom  Zufall  leiten  liess,  ist  schlechterdings  unwahrscheinlich.  Weiterhin 
stellt  er,  falls  die  Sammlung  Beifall  findet,  auch  noch  die  Publikation  der 
zurückgehaltenen,  und  die  Publikation  der  später  entstehenden  Briefe  in 
Aussicht.  Sollten  die  letzteren,  auf  die  Zukunft  verweisenden  Worte  an- 
dere Briefe  als  die  unseres  Corpus  im  Auge  haben,  so  müssten  wir  das  von 


Der  jttngere  PliniaB. 


391 


dem  Autor  ausgesprochene  Prinzip  der  nichtchronologischen  Anordnung  für 
das  ganze  Corpus  gelten  lassen  und  wir  könnten  höchstens  den  einen  oder 
den  anderen  Brief  chronologisch  zu  fixieren  versuchen.^)  Anders  wenn 
sich  jene  Worte  auf  Briefe  beziehen,  welche  später  unserem  Corpus  ein- 
verleibt wurden;  in  diesem  Fall  würden  wir  nämlich  eine  succesive  Her- 
ausgabe des  Corpus  anzunehmen  haben  und  es  müsste  sich  ein  chronolo- 
gischer Faden  durch  das  Werk  hindurchziehen.  Dieses  successive 
Erscheinen  der  Sammlung  ist  von  vorn  herein  sehr  natürlich,  es  kann 
aber  auch  durch  Beweise  gestützt  werden.  Plinius  berichtet  ep.  9, 19  von 
einer  Mitteilung  des  Adressaten,  wonach  dieser  in  einem  Plinianischen 
Brief  das  Distichon  gelesen,  das  Verginius  Rufus  auf  sein  Grabmal  gesetzt 
wissen  wollte.  Das  geschah  aber  im  Brief  6, 10,  der  an  einen  anderen 
Adressaten  gerichtet  war.  Was  ist  hier  wahrscheinlicher  als  die  Annahme, 
dass  das  sechste  Buch  vor  dem  neunten  dem  Publikum  vorlag?  Ein  anderer 
Fall  ist  folgender :  In  dem  Brief  7,  28  rechtfertigt  sich  Plinius  dem  Sep- 
ticius  gegenüber,  welcher  ihm  eröffnet  hatte,  dass  Stimmen  des  Tadels 
darüber  laut  wurden,  dass  Plinius  seine  Freunde  bei  jedem  Anlass  über 
alles  Mass  lobe.  Auch  dieser  Tadel  ist  doch  wohl  nur  möglich,  wenn  die 
Briefe,  welche  jenes  Freundeslob  enthielten,  publiziert  waren.  Sonach 
können  wir  es  als  eine  Thatsache  betrachten,  dass  der  Briefwechsel  nicht 
auf  einmal  erschien,  und  dass  die  einzelnen  Bücher  oder  vielleicht  auch 
mehrere  zusammen  sofort  der  Öffentlichkeit  übergeben  wurden.  Es  werden 
daher  jene  Worte  von  der  nichtchronologischen  Aneinanderreihung  der 
Briefe  sich  nur  auf  das  erste  Buch  oder  auf  die  erste  Sammlung  beziehen. 
In  die  folgenden  Bücher  konnten  einmal  solche  Briefe  aufgenommen  wer- 
den, welche  bisher  zurückgestellt  waren,  dann  solche,  welche  nach  dem 
Erscheinen  des  vorauslicgenden  Buchs  oder  der  vorausliegenden  Gruppe 
von  Büchern  neu  verfasst  wurden.  Es  ist  nun  klar ,  dass  wir  in  der 
letzten  Partie  den  chronologischen  Faden  erhalten,  welcher  sich  durch 
die  einzelnen  Bücher  des  Corpus  hindurchziehen  muss.  Und  in  der 
That  reichen  die  chronologischen  Indicien  der  neun  aufeinander 
folgenden  Bücher  vom  Jahr  97  bis  zum  Jahr  109.  Von  dieser 
Partie  der  neu  hinzugekommenen  Briefe  hebt  jedesmal  sich  die  Partie 
der  älteren  aus  dem  vorhandenen  Vorrat  stammenden  ab,  welche  in  die 
verschiedensten  Zeiten  fallen  können.  Trotzdem  müssen  sie  stets  älter 
sein.  Stünde  dagegen  in  einem  früheren  Buch  ein  Brief,  der  jünger  ist 
als  einer  in  einem  späteren  Buch ,  so  könnte  dies  nur  dadurch  seine 
Erklärung  finden,  dass  die  betreffenden  Bücher  zusammen  ediert  wurden.^) 
Eine  chronologische  Anordnung  der  Briefe  innerhalb  der  einzelnen  Bücher 
ist,  wie  sie  für  den  Anfang  der  Sammlung  durch  die  eigenen  Worte  des 
Schriftstellers  ausgeschlossen  ist,  so  auch  für  die  späteren  Teile  nicht 
wahrscheinlich.  Dass  die  ganze  Sammlung,  sowie  sie  vorliegt,  von  Plinius 
selbst  herausgegeben  wurde,  kann  in  stichhaltiger  Weise  nicht  bestritten 
werden. 


*)  Dies  ist  die  Ansicht  Massoks  in  seiner 
Plinü  Vita,  Amsterd.  1709. 

*)  Bei  der  Richtigkeit  der  AsBAcnVhen 


Ansätze  müsste  für  die  drei  ersten  Bücher 
die  gleichzeitige  Herausgabe  angenommen 
werden. 


392    RömiBche  Litteratnrgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

Chronologie  der  Briefe.  Die  grundlegoDde  Abhandlnng  ist  von  Momxsek  (Herrn. 
3,31).  Nachdem  er  zuerst  dargethan,  dass  schon  für  den  ersten  Eindruck  sich  im  alige- 
meinen die  chronologische  Anordnung  der  Briefe  ergibt  und  ausserdem  die  suocessive  Her- 
ausgabe des  Werks  wahrscheinlich  ist,  sucht  er  Ar  die  einzelnen  Bficher  die  Zeit  der 
Herausgabe  festzustellen.    Er  gewinnt  folgende  Daten: 

I.  Buch,  vielleicht  zum  Teil  Ende  96  geschrieben  und  97  herausgegeben. 
II.  Buch,  enthält  Briefe  aus  den  Jahren  97—100  und  scheint  im  Anfang    des 
Jahres  100  herausgegeben. 

III.  Buch,  gehört  in  das  Jahr  101,  vielleicht  zum  Teil  in  102. 

IV.  Buch,  muss  zu  Anfang  des  Jahres  105  herausgegeben  sein, 
y.  Buch,  scheint  106  ediert  zu  sein. 

VI.  Buch,  f&llt  ins  Jahr  107. 
VII.  Buch,  gehört  vielleicht  dem  Jahr  107  an. 
Vfll.  Buch  \  nicht  vor  dem  Jahr  108  oder  109  und  wahrscheinlich   um   diese  Zeit 

IX.  Buch  I  herausgegeben. 

Gegen  die  MoMMSEN'sche  Abhandlung  richtet  sich  Petes  (Philol.  82,  698),  indem  er 
Fälle  vorföhrt,  welche  den  MoMMSEN'schen  Annahmen  widersprechen,  ohne  jedoch  der  Hy- 
pothese MoHMSENS  eine  andere  positive  gegenüberzustellen.  Eine  solche  tritt  in  der  Ab- 
handlung Stobbes  (Philol.  30, 347),  der  sich  ebenfalls  gegen  einzelne  Ansätze  Momxseks 
wendet,  hervor;  er  nimmt  eine  chronologische  Reihenfolge  der  einzelnen  Bficher  an; 
„innerhalb  der  einzelnen  Bücher  aber  sei  die  chronologische  Anordnung  soweit  festgehalten, 
als  sämtliche  seit  Publikation  der  nächst  vorhergehenden  Sammlung  geschriebenen  Briefe, 
soweit  sie  für  die  neue  Sammlung  bestimmt  waren,  der  2ieitfolge  ihrer  Abfassung  nach  in 
dieselbe  eingereiht  sind,  während  eine  Anzahl  älterer,  teils  um  die  Sammlung  zu  erweitem, 
teils  um  sie  herauszuputzen,  eingeschoben  oder  angehängt  wurde.  Zu  diesen  Füllstücken 
gehöre  ganz  gewiss  die  nicht  imbeträchtliche  Zahl  der  adressierten  Ghrien  und  Anekdoten" 
(p.  372).  Keine  prinzipielle  Förderung  der  Frage  führt  Gemoll,  De  temparum  ratiane  in 
Plinii  epistularum  IX  Hbris  observata.  Halle  1872,  herbei.  Dagegen  ist  einschneidender  die 
Untersuchung  Asbachs  (Rh.  Mus.  36, 38).  Seine  Schlussfolgerungen  sind  (p.  49) :  1)  Die  Bücher 
sind  in  Gruppen  herausgegeben;  so  ist  durchaus  wahrscheinlich,  dass  die  3  ersten  Bficher 
zusammen  erschienen  sind ; .  2)  Die  Aufeinanderfolge  der  Briefe  ist  in  allen  Bfichem  nicht 
chronologisch ;  3)  Für  die  einzelnen  Bücher  ergeben  sich  folgende  Daten ;  a)  die  drei  ersten 
Bücher  enthalten  Briefe  der  Jahre  97-104;  b)  die  Briefe  des  vierten  Buchs  stammen, 
einige  älteren  Datums  ausgenommen,  aus  den  Jahren  103 — 106;  c)  Das  fünfte  Buch  ist 
nicht  vor  dem  Jahr  109  herausgegeben.  Die  datierbaren  Stücke  dieses  und  der  folgenden 
Bücher  verteilen  sich  auf  die  Jahre  106 — 109;  einige  sind  älter. 

448.  Der  Briefwechsel   des  Plinius   und   des   Kaisers   Traian. 

Ganz  anderer  Art  als  die  Briefe  der  neun  Bücher  sind  diejenigen,  welche 
Plinius  und  Traian  austauschten.  Dies  sind  wirkliche  Briefe,  welche 
nicht  für  die  Öffentlichkeit  gemünzt  waren.  Diese  Korrespondenz  hatte 
eigentümliche  Schicksale.  Sie  blieb  lange  verborgen  und  wurde  erst  im 
16.  Jahrhundert  bekannt.  Im  Jahr  1502  gab  Hieronymus  Avantius  von 
Verona  zum  erstenmal  die  Briefe  41  — 121  heraus;  er  benutzte  dabei  eine 
Abschrift,  welche  Petrus  Leander  nach  einem  französischen  Kodex  gemacht 
hatte.  Die  Briefe  1—  40  kamen  im  Jahre  1508  in  der  Aldina  hinzu. 
Der  venetianische  Gesandte  Mocenigo  hatte  eine  Handschrift  aus  Paris 
mitgebracht,  aus  der  die  Ergänzung  genommen  werden  konnte.  Allem 
Anschein  nach  ist  es  dieselbe  Handschrift,  welche  auch  Petrus  Leander 
vor  sich  hatte,  als  er,  wir  wissen  nicht  warum,  nur  die  Briefe  41 — 121 
abschrieb.  Aber  schon  ehe  Mocenigo  den  Kodex  nach  Italien  brachte, 
hatte  Jucundus  aus  Verona,  ein  berühmter  Architekt,  die  Handschrift  ge- 
sehen und  die  notwendigen  Kopieen  für  Aldus  daraus  angefertigt.  Auch 
Budaeus  kannte  die  Handschrift,  denn  er  erwähnt  sie  in  seinen  Anmer- 
kungen zu  den  Pandekten  (1506),  auch  gedenkt  er  hiebei  des  Jucundus. 
Dieser  Kodex,  der  sämtliche  Briefe  des  Plinius  enthielt,  ist  seitdem  ver- 
schollen. Die  Kritik  war  daher  lediglich  auf  die  Ausgaben  des  Avantius 
und  des  Aldus  angewiesen.    In  neuerer  Zeit  ist  durch  einen  glücklichen 


Der  jüngere  Plinius. 


393 


Fund  des  Engländers  Hardy  die  Aufgabe  der  Recensio  etwas  erleichtert 
worden.  Er  entdeckte  nämlich  in  der  Bodleiana  einen  Sammelband,  der 
die  Ausgabe  der  Pliniusbriefe  von  Beroaldus  (1498),  die  Ausgabe  der 
Briefe  41 — 121  des  Avantius  (1502),  und  handschriftlich  die  Briefe 
aus  der  Korrespondenz  mit  Traian  (1— 40)^)  und  die  bis  dahin  fehlenden 
Briefe  des  8.  Buchs  enthielt.  Weiterhin  sind  Varianten  (hauptsächlich  zu 
den  gedruckten  Teilen)  am  Rande  beigefügt.  Auf  der  letzten  Seite  der 
Ausgabe  des  Avantius  wird  bemerkt,  dass  Ergänzungen  und  Verbesse- 
rungen aus  dem  Parisinus  stammen  und  dem  Architekten  Jucundus  ver- 
dankt werden.  Es  ist  daher  die  Vermutung  Hardys  nicht  unwahrscheinlich, 
das  uns  hier  das  Exemplar  des  Aldus  vorliegt,  wie  es  für  den  Druck  zu- 
rechtgemacht wurde. 

Nach  der  Überlieferung  sind  die  Briefe  im  grossen  Ganzen  chrono- 
logisch geordnet.  H.  Stephanus  änderte  (1581)  willkürlich  diese  Reihen- 
folge, indem  er  zuerst  die  Briefe  setzte,  welchen  keine  Antwort  Traians 
beigegeben  ist,  dann  die  folgen  Hess,  welche  von  Traian  beantwortet 
wurden.  Keil  stellte  mit  Recht  die  ursprüngliche  Reihenfolge  wieder  her. 
Von  dem  15.  Stück  an  beziehen  sie  sich  auf  die  bithynische  Statthalter- 
schaft, allein  sie  reichen  nicht  bis  zum  Ende  derselben.  Es  ist  daher  sehr 
wahrscheinlich,  dass  diese  Briefe  erst  aus  seinem  Nachlass  veröffentlicht 
wurden.  Sie  haben  eine  von  der  Sammlung  der  neun  Bücher  gesonderte 
Existenz;  die  Bezeichnung  dieser  offiziellen  Korrespondenz  als  10.  Buch 
durch  Aldus  dürfte  ohne  handschriftliche  Gewähr  sein.^) 

Die  Korrespondenz  ist  in  hohem  Grade  interessant.  Sie  lehrt  uns 
zwei  ganz  verschiedene  Charaktere  kennen,  auf  der  einen  Seite  den  Statt- 
halter, einen  ängstlichen,  pedantischen  Mann,  der  den  besten  Willen  zeigt, 
in  dem  aber  kein  Funken  eines  Verwaltungstalents  vorhanden  ist ;  auf  der 
andern  Seite  den  Kaiser,  der  mit  klarem  Blick  jeden  vorgelegten  Fall  be- 
urteilt und  mit  wenigen  Worten  den  Kern  desselben  darlegt.  Es  ruht 
eine  wahrhaft  grossartige  Hoheit  in  diesen  kaiserlichen  Handschreiben; 
die  Feinheit,  mit  der  Traian  seinen  Statthalter  hie  und  da  zurechtweist,  ist 
bewunderungswürdig.  Aber  auch  für  die  Erkenntnis  der  Provinzialverwal- 
tung  ist  der  Briefwechsel  sehr  belehrend.  Die  verschiedensten  Seiten  der- 
selben treten  uns  entgegen.  Bald  sind  es  Bauangelegenheiten,  bald 
Militärverhältnisse,  bald  Rechtssachen,  bald  polizeiliche  Angelegenheiten, 
über  welche  der  Statthalter  die  Ansicht  oder  die  Entscheidung  des  Kaisers 
einholt.  Am  merkwürdigsten  sind  die  zwei  Briefe,  welche  sich  auf  die 
Christenfrage  beziehen.  Neben  den  amtlichen  Gegenständen  behandeln  die 
Briefe  auch  Privatangelegenheiten,  besonders  Empfehlungen. 

In  frivoler  Weise  wird  die  Korrespondenz  in  Bezug  auf  die  Echtheit 
verdächtigt,  indem  entweder  sämtliche  Briefe  oder  die  Antworten  Traians 
oder  die  auf  die  Christen  sich  beziehenden  Stücke  für  unterschoben  er- 
klärt wurden. 


*)  UrsprQnglich ,  ein  Blatt  mit  den  drei 
ersten  Briefen  ging  verloren. 

'*)  Sidonius  Apollinaris   ep.  9, 1    spricht 


von  9  Büchern  der  Briefe  des  Plinius.   Doch 
vgl.  MoMiisEN  p.  32  Anm.  1. 


394     BömiBche  Litteratargeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

Über  den  Fund  in  der  Bodleiana  vgl.  Hardy,  Journal  of  Philol.  17,95  and  in 
den  Proleg.  seiner  englischen  Separatausgabe  der  Briefe  (London  1889)  p.  65. 

Zweifel  an  der  Echtheit  der  Korrespondenz.  Wir  haben  die  Geschichte 
ihres  Bekanntwerdens  ansfQhrlicher  dargestellt,  weil  die  Sammlung  in  Bezug  auf  die  Echt- 
heit angezweifelt  wurde.  Zuerst  erklärte  in  oberflftchlicher  Weise  der  Theologe  Sexleb 
(Neue  Versuche  1788)  die  sog.  Christenbriefe  fOr  unterschoben.  Weiter  ging  Held  (Proleg. 
Schweidnitz  1835),  indem  er  die  ganze  Sammlung  verwarf.  Diese  Abhandlung  machte  keinen 
Eindruck;  erst  im  Jahr  1860  wurde  sie  von  Ussiko  (Om  de  Keiaer  Traian  tiUagie  Brere 
tu  Plinius)  aufgegriffen  und  dahin  modifiziert,  dass  nur  die  Traianischen  Briefe  bestritten 
werden.  Allein  auch  Ussivos  Abhandlung  blieb  ohne  Wirkung.  Eine  Trtlbung  des  ursprüng- 
lichen Briefwechsels  statuiert  in  vager  Weise  L.  Sch aedel,  Plin.  der  jüngere  und  Casaiodo- 
rius,  Darmstadt  1887.  Eine  ausführliche  Darlegung  dieser  nichtigen  Unechtshjpothesen 
mit  Widerlegung  derselben  gibt  Wilde,  De  PI.  et  imperaioris  Traiani  epistulis  mutuis, 
Leyden  1889.  Ernstlicher  waren  die  Angriffe,  welche  in  neuester  Zeit  von  französischen 
Gelehrten  gegen  die  Ghristenbriefe  gerichtet  wurden.  {Aub4  hist.  des  persdeiäions  de  V^lise, 
Paris  1875,  p.  207,  De^'ardins  Revue  des  deux  mondes,  T.  VI  (1874),  p.  656,  Dupuy  An- 
nales  de  Bordeaux,  T.  II  (1880),  p.  182.)  Vgl.  dagegen  Wilde,  p.  67,  der  bei  einer  ein- 
gehenden Analyse  der  beiden  Briefe  die  Einwürfe  der  Gegner  vorführt.  Schon  Tertullian 
kannte  die  zwei  Briefe  (Apol.  c.  2). 

Die  Chronologie  der  Briefe.  Die  beiden  ersten  Briefe  gehören  unbestritten 
dem  Jahr  98  an.  Bezüglich  der  Briefe  3—11  statuiert  Mommsen  (p.  54),  dass  sie  in  die  2^it 
fallen,  wo  Plinius  praefectua  aerarii  Saturni  war,  (nach  Momhsen  (p.  89)  98—101),  übrigens 
in  sich  nicht  nach  der  Zeitfolge  geordnet  sind.  Den  13.  Brief  sebst  Mommsek  ins  Jahr  lOS 
oder  104,  den  14.  ins  Jahr  106  oder  107.  Vom  15.  an  beziehen  sich  die  Briefe  auf  die 
bithynische  Statthalterschaft.  Bezüglich  dieser  Briefe  weist  MoMMSEir  nach,  dass  sie  chro- 
nologisch geordnet  sind  und  vom  September  des  Jahres  (etwa)  111  bis  über  den  Januar 
113  hinaus  sich  erstrecken;  jedem  Brief  des  Stetthalters  sei  gleich  die  dazu  gehörige  Ant- 
wort des  Kaisers  angehängt  worden.  Die  nachfolgenden  Forschungen  beziehen  sich  auf  die 
nichtbithynischen  Briefe.  Stobbe  nimmt  auch  für  die  Briefe  3— 11  (wie  für  die  übrigen) 
streng  chronologische  Anordnung  an,  sie  fallen  nach  seiner  Meinung  (p.  364)  sämtlich  bis 
auf  den  letzten  in  die  Zeit  zwischen  der  Anklage  des  Priscus  (ep.  3)  und  der  Rückkehr 
Traians  nach  Rom  (ep.  10),  nämlich  ins  Jahr  99  (Über  ep.  11  vgl.  p.  365).     Asbach  p.  39. 

449.  Charakteristik.  Plinius'  Schriftstellerei,  die  nach  den  für  die 
Öffentlichkeit  bestimmten  Produkten,  dem  Panegyricus  und  der  grossen 
Briefsammlung  beurteilt  werden  muss,  lässt  sich  nur  aus  einem  Gesichts- 
punkt heraus  verstehen,  dass  dieselbe  dem  Kultus  der  Form  ergeben  ist. 
Seine  stilistische  Fertigkeit  zu  zeigen,  ist  das  Ziel  des  Autors.  Daher 
kann  er  sich  auch  nur  solchen  Gebieten  zuwenden,  wo  die  Form  ganz  be- 
sonders in  den  Vordergrund  tritt.  Als  er  aufgefordert  wurde,  sich  der 
Geschichtschreibung  zu  widmen  (ep.  5,  8),  so  verhält  er  sich  dieser  Auffor- 
derung gegenüber  kühl;  er  mochte  fühlen,  dass  hiezu  seine  Kriifte  nicht 
ausreichen.  Dagegen  konnte  er  in  der  Rede  und  in  dem  Brief  das  leisten, 
was  er  wollte.  Aber  selbst  hier  wird  die  Form  mehr  als  billig  kultiviert ; 
es  zeigt  sich  dies  in  der  völligen  Loslösung  des  Schriftstückes  von 
der  Veranlassung.  Wenn  eine  vor  Gericht  gehaltene  Rede,  lange  nach- 
dem sie  vorgetragen,  umgearbeitet  und  erweitert  einem  ganz  neuen  Publi- 
kum recitiert  wird,  so  muss  sie  den  Stempel  des  Gemachten  und  Gekün- 
stelten tragen,  und  das  Interesse  kann  sich  nur  auf  die  Form  konzentrieren. 
Ebenso  verliert  der  Brief  seinen  wahren  Charakter,  wenn  er  eigentlich 
nicht  für  den  Adressaten,  sondern  für  das  grosse  Publikum  bestimmt  ist, 
wenn  er  nicht  aus  der  jeweiligen  Stimmung  hervorquillt,  sondern  gekün- 
stelt und  gefeilt  ist.  Dass  aber  Plinius  den  Briefcharakter  nicht  gewahrt, 
zeigt  sich  einmal  darin,  dass  er  fast  in  jedem  Stück  der  grossen  Samm- 
lung immer  nur  einen  Gegenstand  behandelte  ^),  ferner  dass  sehr  oft  der 

*)  MomcsEN  p.  32,3. 


Der  jüngere  Plimos.  395 

Inhalt  seiner  Briefe  keinen  anderen  Berührungspunkt  mit  der  Person,  an 
die  sie  gerichtet  sind,  hat  als  den  der  Adresse.  Dass  aber  die  Briefe  des 
Corpus  für  die  Veröfifentlichung  bestimmt  waren,  geht  daraus  hervor,  dass 
(mit  einer  Ausnahme)  ^)  nur  solche  Personen  getadelt  werden,  welche  ent- 
weder gestorben  oder  verbannt  sind.  Wir  haben  also  gekünstelte  Reden 
und  gemacht«,  gefeilte  Briefe.  Der  Stil  der  erhaltenen  Rede  und  der  Stil 
der  Briefe  ist  aber  ein  durchaus  verschiedener;  dort  reiche,  blühende,  ja 
überladene,  hier  gedrungene,  einfache,  klare  und  anmutige  Darstellung. 
Die  Stilverschiedenheit  ist  natürlich  auf  bewusste  Wahl,  auf  Kunst  zu- 
rückzuführen. Der  Wert  der  Briefe  ist  sehr  gross,  sie  sind  ein  Spiegel- 
bild der  Zeit,  in  welcher  der  Autor  lebt.  Wie  uns  der  ciceronische  Brief- 
wechsel ein  treues  Gemälde  des  Übergangs  der  Republik  in  die  Monarchie 
gibt,  so  erhalten  wir  durch  die  Briefe  des  Plinius  einen  tiefen  Einblick 
in  das  Leben  der  Kaiserzeit.  Aber  die  Lektüre  der  Plinianischen  Briefe 
ist  viel  leichter,  weil  sie  nicht  so  viele  Voraussetzungen  machen  wie  die 
ciceronischen,  sie  sind  ja  nicht  Erzeugnisse  des  Moments,  sondern  wohl 
überdacht.  Abgesehen  davon  ist  es  auch  die  Persönlichkeit  des  Autors, 
welche  diesen  Briefen  einen  eigentümlichen  Reiz  verleiht.  Es  ist  zwar  keine 
grosse  Individualität,  sondern  eine  Mittelmässigkeit,  die  in  diesen  Pro- 
dukten erscheint,  wir  lernen  einen  etwas  pedantischen,  ängstlichen  und 
leise  auftretenden  Mann  kennen,  allein  trotzdem  gewinnt  diese  Persönlich- 
keit unsere  Sympathien  durch  die  unendliche  Herzensgüte,  durch  die  Milde 
des  Urteils,  durch  seine  Begeisterung  für  alles  Schöne  und  Gute  und  durch 
sein  heisses  Streben  nach  Unsterblichkeit  seines  Namens.  Nicht  ohne 
Rührung  lesen  wir  die  Worte  (ep.  5, 8) :  Nichts  packt  mich  so  sehr  als  die 
Sehnsucht  nach  der  Fortdauer ;  dieser  Wunsch  ist  gewiss  ein  des  Menschen 
würdiger,  besonders  wenn  ihm  nicht  das  Bewusstsein  einer  Schuld  Furcht 
vor  der  Nachwelt  einflösst.  Daher  sinne  ich  Tag  und  Nacht,  wie  ich  mich 
vom  Boden  erheben  könnte.  Damit  sind  meine  Wünsche  erfüllt;  „im 
Triumphe  die  Lippen  der  Menschen  zu  durchfliegen*  geht  über  dieselben 
hinaus. 

Die  Überlieferung  des  Plinins.  a)  der  Briefe.  Wir  haben  nur  von  einer 
Handschrift  Kunde  erhalten,  welche  nicht  bloss  die  neun  Bftcher  der  Briefe,  sondern  auch 
die  Korrespondenz  des  Plinius  mit  Traian  enthielt.  Diese  Handschrift  ist  aber  jetzt  ver- 
schollen ;  aoch  besitzen  wir  Mitteilungen  aus  derselben  (vgl.  §  448).  Die  Übrigen  Codices 
der  Pliniusbriefe  enthalten  den  letzteren  Briefwechsel  nicht.  Sie  lassen  sich  auf  drei 
Quellen  zurflckf&hren. 

Zuerst  erschien  ein  Exemplar  mit  100  Briefen.  Dies  wurde  in  der  Weise  ge- 
bildet, dass  die  ersten  vier  BQcher  (mit  Weglassung  des  Briefs  4, 27)  und  die  sechs  ersten 
Briefe  des  fOnften  Buchs  vereinigt  wurden.  Reprftsentanten  dieses  Exemplars,  welche  noch 
vorhanden,  sind  1)  der  Florentinus  284  in  der  Laurentiana,  früher  ein  Marcianus,  s.  X/XI; 
2)  der  Riccardianus  488  s.  IX/X,  der  frflher  mit  dem  Riccardianus  der  Naturgeschichte 
des  Plinius  verbunden  war.  Derselbe  war  längere  Zeit  verschollen,  erst  in  neuester  Zeit 
wurde  er  in  der  bibliotheca  Ashbumhamensis  gefanden,  jetzt  ist  er  wieder  in  Florenz 
(Stahol  Phüol.  45, 220). 

Nach  dem  Exemplar  der  100  Briefe  wird  ein  Exemplar  von  8  Büchern  be- 
kannt. Dasselbe  kam  in  der  Weise  zustande,  dass  das  8.  Buch  weggelassen  und  das  9. 
Buch  als  8.  gez&hlt  wurde.  Eine  weitere  Eigentümlichkeit  dieses  Exemplars  ist,  dass  die 
Ordnung  der  Briefe  in  dem  5.  und  in  dem  letzten  Buch  gestört  ist.  Repräsentant  dieses 
Exemplars  ist  der  codex  archivii  Caainatis  s.  XV.  Andere  Codices  dieses  Exemplars 
von  8  Büchern  sind  aus  Handschriften  des  Exemplars  mit  100  Briefen  interpoliert;  so 
z.  B.  der  Dreadensis  166. 

')  MoMMSBN  p.  32.    Die  Ausnahme  bezieht  sich  auf  Regulus. 


396    RömiBche  Litteratargesohiehte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteiliing. 

Gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts  taucht  auch  ein  Exemplar  der  neun  Bficher 
auf;  es  ist  der  Laurentianus  s.  Medicous  47,36  s.  IX/X,  der  bis  9,  26,8  reicht;  die 
Handschrift  gewinnt  fOr  uns  dadurch  besonderes  Interesse,  dass  sie  von  derselben  Hand 
wie  der  die  ersten  sechs  BQcher  des  Tacitus  enthaltende  Medic.  I  geschrieben  ist  und 
mit  diesem  einst  zusammengebunden  war.  Gegen  eine  Überschätzung  dieses  Kodex  durch 
Keil  wendet  sich  eine  Abhandlung  Ottos  (Hermes  21,  287),  der  zeigen  will,  dass  der  Codex 
von  einem  Gelehrten  korrigiert  und  interpoliert  wurde  (vgl.  StbÖbel,  Jahresber.  63, 210). 

ß)  Die  Überlieferung  des  Panegyricus  kann  erst  bei  den  Panegyrikem  er- 
örtert werden. 

Bender,  Der  jüngere  PL  nach  s.  Briefen,  Tüb.  1873;  Schoentao,  PI.  der  Jüngere,  ein 
Charakterbild,  Hof  1876;  Giesen,  Der  jüngere  PI.,  Bonn  1885.  (Über  das  Leben  des  PI. 
ist  die  massgebende  Abhandlung  von  Momhsen,  Hermes  3,  31.) 

Gesamtausgaben.  Die  massgebende  ist  die  kritische  von  H.  Keil,  Leipz.  1870, 
der  ein  index  nominum  cum  rerum  enarratione  von  Momxsen  beigegeben  ist.  Textausgabe 
von  H.  Keil,  Leipz.  1853. 

2.  Die  übrigen  Redner. 
450.  Verlorene  Beden,  unsere  Aufgabe  kann  nicht  sein,  alle  die 
Persönlichkeiten  aufzuzählen,  welche  als  Redner  von  den  Schriftstellern 
erwähnt  werden.  Wir  werden  vielmehr  nur  diejenigen  hier  einzureihen 
haben,  deren  Reden  herausgegeben  waren,  also  der  Litteratur  angehörten, 
uns  aber  nicht  mehr  erhalten  sind. 

1.  Mamercus  Scaurus  tritt  uns  öfters  bei  Tacitus  entgegen  (Ann. 
1, 13  3,  23  3,  31  3,  66),  Unter  Tiberius  wurde  er  in  Klage  wegen  Majestäts- 
beleidigung verwickelt  (Ann.  6,  9).  Der  Kaiser  verschob  die  Entscheidung. 
Allein  bald  darauf  wurde  er  neuerdings  in  den  Anklagezustand  versetzt, 
indem  er  des  Ehebruchs  mit  Livia  und  der  Zauberei  beschuldigt  wurde. 
Der  wahre  Anlass  für  seine  Verfolgung  war  aber  eine  Tragödie  Atreus, 
in  der  Verse  auf  Tiberius  bezogen  wurden.  Auf  Betreiben  seiner  Frau 
Sextia  gab  er  sich  selbst  den  Tod,  aber  auch  die  mutige  Frau  teilte  sein 
Schicksal  (6,  29).  Bei  dieser  Gelegenheit  charakterisiert  ihn  Tacitus  als 
einen  ausgezeichneten  Redner  (vgl.  3,  31),  aber  als  einen  anrüchigen  Men- 
schen (vgl.  3, 66).  Auch  der  ältere  Seneca  zeigt  für  Scaurus  grosses 
Interesse  und  gibt  in  der  Vorrede  zum  10.  Buch  seiner  Controversia  eine 
lichtvolle  Beurteilung  seiner  Redekunst.  Scaurus  hatte  ohne  Zweifel  ein 
bedeutendes  rhetorisches  Talent,  allein  er  pflegte  dasselbe  nicht;  trotzdem 
war  er  seines  Erfolgs  sicher,  sein  ganzes  Auftreten  Hess  über  die  Mängel 
hinwegsehen.  Er  gab  7  Reden  heraus,  die  nach  Senatsbeschluss  verbrannt 
wurden;  doch  bezieht  sich  Seneca  auf  erhaltene  Reden,  welche  aber  die 
Mängel  des  Scaurus  noch  schärfer  hervortreten  Hessen  als  die  gehaltenen. 

Sen.  controv.  X  praef,  3  orationes  Septem  edidit,  quae  deinde  senatus  consuUo  cam- 
bustae  8unL  Bene  cum  illo  ignis  egerat,  sed  extant  libefli  qui  cum  fama  eiu8  pugnani, 
niuUo  quidem  solutiores  ipsis  actionibus;  illas  enim  cum  destUueret  cura,  calor  adiuvabat ; 
hi  coloris  minus  habent,  neglegentiae  non  minus. 

2.  P.  Vitellius,  Oheim  des  nachmaligen  Kaisers.  Als  Begleiter  des 
Germanicus  nahm  er  an  der  Klage  gegen  Cn.  Piso  als  Mörder  desselben 
teil  (Tac.  Ann.  3, 13).  Die  gegen  ihn  gehaltene  Rede  lag  noch  dem  älteren 
Plinius  vor. 

Plin.  n.  h.  11, 187  extat  oratio  Vitelli  qua  reum  Pisonem  Aus  sceleris  (des  Giftmords) 
coarguit,  hoc  usus  argumento  palamque  testatus  non  potuisse  ob  venenum  cor  Germanici 
Caesaris  cremari;  contra  genere  morbi  defensus  est  Piso. 

3.  Domitius  Afer  aus  Nemausum  im  narbon.  Gallien  bekleidete 
verschiedene  Stellungen  im  Staate.  So  war  er  Prätor  (Tacit.  Ann.  4,  52), 
Cons.  suff.  39,    curator   aquarum  von   49—59.    Unmittelbar   nach   seiner 


Die  Übrigen  Bedner. 


397 


Prätur  (26)  klagte  er  die  Claudia  Pulchra  wegen  Ehebruchs  mit  Furnius 
und  wegen  Giftmii^cherei  und  Zauberei  gegen  den  Kaiser  an  und  setzte 
ihre  Verurteilung  durch  (Tac.  Ann.  4,  52).  Der  Lohn,  den  er  hiebei  erntete, 
spornte  ihn  an,  es  auch  mit  einer  Anklage  des  Sohnes  der  Claudia  Pulchra, 
des  Quintilius  Varus,  dessen  Vater  der  bekannte  unglückliche  Feldherr 
war  (Tac.  Ann.  4,  66),  zu  versuchen.  Doch  lieh  er  auch  sein  Talent  der 
Verteidigung  (Tac.  Ann.  4,  52).  Seine  Reden  wurden  noch  später  eifrig 
studiert,  Quintilian  las  eine  solche  für  Volusenus  Catulus  0  (10,  1, 24),  für  die 
Domitilla  (8,  5, 16  9,  2, 20  9,  3, 66  9,  4,  31),  für  die  Laelia  (9,  4, 31),  gegen 
einen  Freigelassenen  des  Claudius  Caesar  (6,  3, 81),  gegen  Longus  Sulpi- 
cius  (6,  3,32),  gegen  Mallius  Sura  (6,  3,54  11,  3, 126).  Der  Grammatiker 
Charisius  (p.  145,27  K.)  kannte  eine  Rede  für  die  Einwohner  von  Augusta 
Taurinorum.  QuintiUan  stellt  den  Domitius  Afer  als  Redner  ungemein 
hoch  (10,  1,118  12,  11,3).  Im  Alter  liess  jedoch  seine  Kraft  bedeutend 
nach.    Er  starb  unter  Nero  59  n.  Ch. 

Ausser  den  Reden  schrieb  er  eine  Schrift  De  testibus  (Qiiint.  5.7,7  Hbri  duo  a 
Domitio  Afro  in  hanc  rem  [de  testibus]  compositi),  dann  eine  Sammlung  urhane  dicto- 
rum  (Quint.  6,  3, 42). 

4.  Julius  Africanus.  Neben  Domitius  Afer  erachtet  diesen  Quintilian 
als  ein  bedeutsames  rhetorisches  Talent.  Sein  Vater,  ein  Gallier,  ist  an- 
scheinend der  Julius  Africanus,  von  dessen  Verurteilung  im  Jahr  32  n.  Ch. 
Tacitus  berichtet  (Ann.  0,  7). 

Quint.  charakterisiert  ihn  (10,  1, 118) :  hie  conciicUior,  sed  in  cura  verborum  nimius  et 
compositione  nonnunquam  longior  et  translatianibus  parum  modicus:  Eine  Stelle  aus  seiner 
Rede  an  Nero  beim  Tode  seiner  Mutter  teilt  Quint  8,  5, 15  mit. 

5.  Vibius  Crispus.  Als  zwei  mächtige  Redner  schildert  uns  der 
Dialog  des  Tacitus  den  Vibius  Crispus  aus  Vercelli  (gest.  etwa  90)  und 
Eprius  Marcellus  aus  Capua  (Kons.  61  u.  74).  Von  den  Reden  des  Crispus 
war  sicher  die  jpro  Spatale  publiziert;  es  war  eine  Erbschaftsklage ;  ein  Ehe- 
mann, der  im  Alter  von  18  Jahren  starb,  hatte  seiner  Buhlerin  Spatale 
den  vierten  Teil  seines  Vermögens,  seiner  Frau  dagegen  nur  den  zehnten 
vermacht. 

Quint.  8,5,17  ut  pro  Spatale  Crispus,  quam  qui  heredem  amaior  instiiuerat, 
decessit,  cum  haberet  annos  duodeviginti.  Vgl.  noch  Tac.  Dial.  8  Quint.  10,  1, 119  12,  10, 11 
Juv.  Sat.  4,  8, 1  Tac.  Ann.  14, 28  Bist.  2, 10  4, 41. 

6.  Galerius  Trachalus  (Kons.  68  mit  dem  Dichter  Silius).  In  der 
erwähnten  Streitsache  war  er  der  Gegner  des  Crispus  und  vertrat  die 
Sache  der  Gattin.    Auch  seine  Rede  war  veröflfentlicht. 

Quint.  8,  5, 19  führt  unter  dem  Citat  Trachalus  contra  Spatdien  eine  Stelle  daraus 
an.  Seine  Redeweise  kennzeichnet  der  Rhetor  also  (10,1,119):  Trachalus  plerumque 
sublimis  et  satis  apertus  fuit  et  quem  velle  optima  crederes,  at4ditus  tarnen  maior ;  nam  et 
vocis  quatitam  in  nullo  cognovi  felicitas  et  pronuntiatio  vel  scenis  suffectura  et  decor^  omnia 
denique  ei  quae  sunt  extra  superfuerunt  (vgl.  noch  12,  5,5  und  12,  10, 11). 

7.  Pompeius  Saturninus,  Zeitgenosse  des  jüngeren  Plinius,  ist 
diesem  ähnlich,  indem  er  zugleich  dilettantisch  sich  mit  mehreren  Lit- 
teraturzweigen    abgibt;    er    machte   Verse   nach   Art  des   CatuUus    und 


0  Wie  aus  der  Stelle  Quintilians  er- 
sichtlich, gah  es  auch  von  andern  Rednern 
Reden  pro  Voluseno  Catulo,  denn  es  heisst : 
nobis  pueris  insignes  pro    Voluseno  Catulo 


Domitii  Afri,  Crispi  Passieni,  Decimi  Laelii 
orationes  ferebantur.  Über  den  zuletzt  ge- 
nannten Laelius  Baibus  vgl.  Tacit.  Ann. 
6, 47  und  48. 


398     BOmische  LitteraiargOBChichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Galvus,    er   schrieb  Briefe ,  Historisches  (vgl.  p.  38),   auch  Reden  waren 
von  ihm  im  Umlauf. 

Plin.  ep.  1, 16  audii  causas  agentem  acriter  et  ardenUr  nee  minus  polite  ei  omate, 
sive  meditata  sive  subita  proferret.  Adsunt  acutae  crebraeque  sententiae,  gravis  et  decara  con- 
structio,  sonatUia  verba  et  antigua.  Omnia  haec  mire  plcment,  cum  impetu  quodam  et  flu- 
mine  pervehuntur;  plaeent,  si  retractentur.  SentieSj  quod  ego,  cum  orationes  eins  in  manus 
sumseris,  quas  facile  cuilibet  veterum,  quorum  est  aemulus,  camparabis. 

Wir  reihen  hier  auch  noch  die  Broschürenschreiber  an: 

1.  A.  Fabricius  Veiento,  der  uns  als  Schmeichler  Domitians  aus 
Juvenal  bekannt  ist  (vgl.  p.  343),  hatte  unter  Nero  fingierte  » Testamente ** 
(codicilli)  geschrieben,  in  denen  er  viele  Schmähungen  gegen  den  Senat 
und  die  Priesterkollegien  vorbrachte.  Tullius  Geminus  erhob  eine  Anklage 
gegen  ihn,  Nero  verbannte  ihn  aus  Italien  und  Hess  das  anrüchige  Werk 
verbrennen.  Allein  er  erreichte  damit  nicht  seinen^ Zweck;  gerade  der 
Akt  der  Verbrennung  reizte  die  Neugierde.  Die  Schrift  wurde  eifrigst 
aufgespürt  und  gelesen,  solange  die  Verfolgung  dauerte ;  als  diese  vorüber 
war,  kam  das  Produkt  in  Vergessenheit  (Tac.  Ann.  14,  50). 

2.  M.  Aquilius  Regulus  (vgl.  p.  342)  verfasste  eine  Schmähschrift 
auf  den  verstorbenen  Rusticus  Arulenus.  Als  er  seinen  Sohn  durch  den 
Tod  verlor,  las  er  eine  Biographie  desselben  vor  einem  grossen  Auditorium 
vor;  dann  liess  er  dieselbe  in  tausend  Exemplaren  vervielfältigen  und 
in  ganz  Italien  und  in  den  Provinzen  verbreiten.  Der  jüngere  Plinius,  der 
uns  die  meisten  Mitteilungen  von  dem  Manne  machte,  fällt  über  die  Bro- 
schüre ein  sehr  ungünstiges  Urteil  (4,  7,  7). 

Über  üin  vgl.  Plin.  ep.  1,  5, 1  (Hauptstelle)  2, 11,22  4,  2, 1  6, 2, 1.  Auch  Martial  sUnd 
mit  ihm  in  Beziehungen  (1,  111, 4  2,  74, 2  4, 16, 6  5,  28, 6  6,  38  6,  64, 11. 

(f)  Die  Philosophen. 

451.  Allgemeines.  Wir  haben  oben  gesehen,  dass  in  der  Auguste- 
ischen Zeit  die  philosophische  Schule  der  Sextier  auftaucht.  Sie  legte 
alles  Gewicht  auf  das  Handeln,  so  dass  sie  fast  den  Charakter  einer  ge- 
schlossenen Gemeinde  annahm.  Allein  die  Sekte  hatte  keinen  Bestand. 
Auf  die  originelle  Persönlichkeit  ihres  Stifters  gestellt,  schwand  sie  bald 
nach  seinem  Tode  dahin.  In  unserer  Epoche  treten  daher  wieder  die 
älteren  Systeme  auf;  der  zahlreichsten  Anhängerschaft  erfreute  sich  die 
Stoa  und  die  Lehre  des  Epicur.  Besonders  die  Stoa  sagte  dem  ernsten 
Sinn  der  Römer  in  hervorragender  Weise  zu.  Auch  in  unserm  Zeitraum 
fand  das  spekulative  Moment  der  Philosophie  fast  gar  keine  Pflege.  Man 
betrieb  die  Philosophie,  nicht  um  dem  Verlangen  des  Geistes,  die  Wahr- 
heit zu  erkennen,  Genüge  zu  thun,  sondern  um  Regeln  für  das  Handeln 
zu  erhalten.  Die  Glückseligkeit  war  es,  die  man  von  der  Philosophie  ver- 
langte, und  zwar  die  Glückseligkeit  dieses  Lebens;  denn  über  das  Jenseits 
lag  ein  undurchdringliches  Dunkel  ausgebreitet.  Bei  einer  solchen  Auf- 
fassung der  Philosophie  war  die  strengwissenschaftliche  Form  der  mora- 
lischen Vorschriften  von  untergeordneter  Bedeutung.  Die  Hauptsache  war, 
dass  die  Lehren  innere  Zufriedenheit  spendeten.  Auch  war  es  gleich- 
gültig, ob  die  eine  oder  die  andere  dieser  Lehren  einem  fremden  System 
entlehnt  war.  Der  Eklektizismus  ist  daher  eine  Eigentümlichkeit  des 
römischen   Philosophierens  geworden.     Noch  mehr,   man  konnte  auf   die 


Die  Philosophen.  399 

schriftliche  Darlegung  der  Moral  ganz  verzichten,  wenn  man  Rat  und 
Beispiel  eines  Philosophen  auszunutzen  Gelegenheit  hatte.  Und  in  der  That 
finden  wir  berühmte  Männer  unter  der  persönlichen  Leitung  von  Philo- 
sophen. Als  Rubellius  Plautus  vor  dem  Wendepunkt  seines  Lebens  stand 
(62  n.  Gh.),  liess  er  sich  von  den  Philosophen  Coeranus  und  dem  C.  Mu- 
sonius  Rufus  beraten  (Tac.  Ann.  14,  59).  Als  Kanus  Julius  auf  Befehl  des 
Caligula  zum  Tod  geführt  wurde,  begleitete  ihn  sein  Philosoph;  Kanus  ver- 
sprach nach  dem  Hingang  Kunde  von  dem  Wesen  der  Seele  (Sen.,  De 
tranq.  14,  4)  zu  geben.  Thrasea  Paetus  unterhielt  sich  nach  seiner  Ver- 
urteilung mit  dem  Cyniker  Demetrius  über  die  Trennung  der  Seele  vom 
Leibe  (Tac.  Ann.  16,  34).  Auch  Barea  Soranus  hatte  seinen  Philosophen, 
den  P.  Egnatius  Celer.  Leider  machte  dieser  einen  Angeber  gegen  seinen 
Gönner  (Tac.  Ann.  16,  32).  Schon  aus  dem  Gesagten  dürfte  hervorgehen, 
dass  für  ein  £mporblühen  der  philosophischen  Schriftstellerei  kein 
rechter  Boden  bei  den  Römern  vorhanden  war.  Überhaupt  hatte  die 
Philosophie  mit  manchen  Vorurteilen  bei  der  grossen  Masse  zu  kämpfen. 
Wenn  man  liest,  wie  kühl  Tacitus  von  dem  philosophischen  Studium 
spricht,  so  kann  man  sich  einen  Schluss  auf  das  Urteil  der  Ungebildeten 
in  dieser  Hinsicht  bilden.  Manche  Philosophen  verzichteten  daher  sogar 
auf  die  Muttersprache  als  Organ  ihrer  Mitteilungen  und  wählten  das  Grie- 
chische für  ihre  Schriften  und  ihre  Vorträge.  So  schrieb  Cornutus  seine 
philosophischen  Werke  in  griechischer  Sprache  und  G.  Musonius  Rufus 
hielt  sogar  in  diesem  Idiom  Vorträge.  Es  kam  hinzu,  dass  die  Philo- 
sophie auch  mit  den  Regierungskreisen  nicht  selten  in  Konflikt  kam.  Die 
Lehren  der  Philosophie  führten  in  ihrer  praktischen  Anwendung  vielfach 
zu  idealistischer  Ablehnung  des  Hergebrachten  und  Bestehenden.  Die  Ver- 
folgungen der  Anhänger  der  Philosophie  nehmen  daher  in  unserer  Epoche 
keinen  geringen  Platz  ein.  Unter  Tiberius  wurde  der  Ritter  Attalus  aus 
Rom  weggewiesen  (Sen.  suas.  2, 12),  Seneca  wurde  von  Claudius  verbannt. 
Viel  stärker  waren  die  Feindseligkeiten  Neros  gegen  die  stoisch  gesinnten 
Männer.  Thrasea  Paetus  und  Barea  Soranus  wurden  im  Jahre  66  ange- 
klagt und  zum  Tod  verurteilt  (Tac.  Ann.  16,  21  u.  30).  Schon  vorher  war 
Rubellius  Plautus  (62)  und  Seneca  (65)  in  den  Tod  getrieben  worden.  Die 
Verbannung  wurde  verhängt  über  Cornutus  (68)  und  Musonius  (65  vgl.  Tac. 
Ann.  15,  71),  ferner  über  Helvidius  Priscus,  den  Schwiegersohn  des  Thrasea 
Paetus  (66  Tac.  bist.  4,  5).  Auch  bei  Vespasian  finden  wir  feindselige 
Massregeln  gegen  die  Philosophen;  er  schritt  gegen  den  zuletzt  genannten 
Helvidius  Priscus  ein,  ja  er  liess  sich  sogar  zu  einer  generellen  Massregel 
bestimmen,  im  Jahre  71  wurden  die  Philosophen  mit  Ausnahme  des  Mu- 
sonius verbannt,  ja  zwei,  Demetrius  und  Hostilius,  mit  Deportation  be- 
straft (Dio.  66, 13).  Auch  sein  Sohn  Domitian  schritt  auf  diesem  Wege 
weiter,  durch  zwei  Edikte  (89  und  93)  wurde  den  Philosophen  und  Astro- 
logen der  Aufenthalt  in  der  Stadt  untersagt.  Wenn  man  bei  diesen  Ver- 
folgungen auch  in  Anschlag  zu  bringen  hat,  dass  Persönliches  mit  im  Spiele 
war,  so  wird  man  doch  auf  der  anderen  Seite  nicht  leugnen  dürfen ,  dass 
dieselben  auf  die  philosophische  Schriftstellerei  nicht  günstig  wirkten. 

Alle   diese  Momente   Hessen   eine  Blüte   der  philosophischen   Litte- 


400    Römiache  Litteratargeachichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung« 

ratur  nicht  aufkommen;  unser  Abschnitt  kann  nur  einen  einzigen  nam- 
haften Schriftsteller  vorführen,  Seneca. 

Die  Schriften  des  L.  Annaeus  Gornutus.  1)  Von  seinen  griechischen  Schriften 
ist  erhalten  Ttegt  t^g  twv  S-etÜy  (jfntaeoig  (Ausg.  von  Lang,  Leipz.  1881).  Auch  Rhetorisches 
schrieb  er  sowohl  in  griechischer  als  in  lateinischer  Sprache.  In  der  letztem  Sprache  ver- 
fasste  er: 

2)  Die  lihri  de  figuris  sententiarum.  Gell.  (9, 10,5)  citiert  eine  Stelle  aus  dem 
2.  Buch. 

Aber  auch  Grammatisches  wird  von  ihm  angefahrt  und  zwar: 

3)  Ein  Kommentar  zur  Aeneis  des  Vergil.  Derselbe  war  dem  Dichter  Silios 
Italiens  gewidmet,  vgl.  Charis.  p.  125, 16  Annaeus  Comutus  ad  Italicum  de  Vergilio  lihro 
X.  (BücHBLBs,  Rh.  Mus.  35,  390). 

4)  De  enuntiatione  vel  orihographia,  Auszüge  aus  dieser  Schrift  bietet  uns 
Cassiodor  (GL.  7, 147). 

5)  Schwierigkeiten  macht  das  Citat  Charis.  p.  201,  12:  Ann€ieu8  Comutus  Hb.  tab. 
castar.  patris  sui.  Büoheler,  Rh.  Mus.  34, 347  verbessert  castr.  und  löst  demnach 
auf:  libro  tahularum  castrensium  patris  sui.  Unter  tabulae  castrenses  versteht  er  ein  testa- 
mentum  factum  in  castris. 

In  der  vita  des  Persius  (p.  55  Jahk-Buechsles)  lesen  wir:  eognovit  per  Cornutum  etiam 
Annaeum  Lucanum  aequaevum  auditorem  Cornuti.  nam  Cornutus  iüo  tempore  tragicus  fuU 
seciae  poeticae ,  gut  ld>ros  philosopkiae  reliquit.  Hier  erscheint  Comutus  als  tragischer 
Dichter;  allein  die  Worte  nam  —  reliquit  sind,  wie  jeder  sieht,  ein  späterer  Zusatz,  daher 
von  zweifelhaftem  Gewicht. 

Über  einen  jüngeren  Rhetor  Comutus  vgl.  Cornuti  Artis  rhetoricae  epitome  ed. 
Graeven  p.  XXVIII;  über  Comutus  in  den  Scholien  zu  Persius  siehe  p.  279,  in  den  Scho- 
lien  zu  Juvenal  p.  345. 

L.  Annaeus  Seneca. 

462.  Biographisches«  Der  Rhetor  Seneca,  über  den  wir  §  334  han- 
delten, hatte  drei  Söhne,  welche  sämtlich  unser  Interesse  erregen.  Der 
älteste  war  M.  Annaeus,  Novatus,  der  von  dem  Freund  seines  Vaters,  dem 
Rhetor  Junius  Gallio  (p.  207)  adoptiert,  alsdann  den  Namen  L.  Junius 
Gallio  (Dio  60, 35)  führte.  Als  solcher  erscheint  er  in  der  Apostelge- 
schichte (18, 12).  Der  zweite  Sohn  erreichte  die  höchste  Stufe  des  Ruhms, 
es  ist  der  berühmte  Philosoph  L.  Annaeus  Seneca.  Der  dritte,  M.  Annaeus 
Mela,  ist  endlich  durch  seinen  Sohn,  den  Dichter  Lucan,  bekannt  geworden. 
Geboren  wurde  unser  Seneca  (einige  Jahre  vor  unserer  Aera)  in  Gorduba; 
allein  seine  Ausbildung  erhielt  er  ganz  in  Rom.  Seine  Lehrer  waren 
Sotion,  auf  dessen  Anregung  hin  er  ein  Jahr  lang  Vegetarianer  war  (ep. 
108,  22),  der  Stoiker  Attalus  (ep,  108,  3)  und  der  Sextier  Papirius  Fabianus 
(ep.  100, 12;  vgl.  oben  §  338).  Dass  er  auch  rhetorischen  Unterricht  er- 
hielt, ist  selbstverständlich.  Allein  sein  Geist  konnte  in  der  Deklamation 
unmöglich  dauernde  Befriedigung  finden;  ihn  interessierten  mehr  die  Pro- 
bleme des  menschlichen  Handelns  und  der  Natur.  Ein  längerer  Aufent- 
halt in  Ägypten  bei  seiner  Tante,  deren  Gatte,  Vitrasius  Pollio,  an  der 
Spitze  des  Landes  stand,  war  für  seine  geistige  Entwickelung  nicht  ohne 
Bedeutung.  Nach,  seiner  Rückkehr  (32)  war  er  als  Sachwalter  thätig 
(ep.  49,  2)  und  beschritt  mit  der  Quaestur  die  Beamtenlaufbahn  (ad.  Helv. 
19,2).  Unter  Caligula  (Dio  59, 19)  war  sein  Leben  bedroht,  nur  der  Ein- 
wand, Seneca  werde  ohnehin  bald  an  der  Schwindsucht  sterben,  liess  ein 
Todesurteil  als  unnötig  erscheinen.  Dagegen  traf  ihn  unter  Claudius  ein 
schwerer  Schicksalsschlag,  auf  Veranlassung  der  Messalina  wurde  er  (41) 
nach  Corsica  verbannt,  indem  er  der  Buhlschaft  mit  der  Schwester  des 
Caligula  Julia  Livilla  beschuldigt  wurde.    Acht  Jahre  musste  er  in  dem 


Der  Philosoph  Seneca.  401 

Exil  zubringen,  im  Jahre  49  setzte  Agrippina  seine  Riickberufung  durch 
(Tac.  Ann.  12,  8),  er  erhielt  zugleich  die  Prätur  und  wurde  mit  der  Er- 
ziehung Neros  betraut  (Suet.  Nero  7).  Damit  war  Seneca  vom  tiefsten 
Fall  plötzlich  auf  eine  hohe  Stufe  des  Olücks  gestellt.  Sein  Einfluss  wuchs, 
als  Nero  den  Thron  bestieg,  er  erlangte  das  Konsulat;  in  seinen  und  des 
Burrus  Händen  ruhten  die  Geschicke  des  Reichs.  Allein  mit  dem  Tode 
des  Burrus  war  auch  Senecas  Macht  gebrochen;  schon  längst  war  dem 
jungen  Kaiser  der  ehemalige  Lehrer  unbequem  geworden.  Seneca  erkannte 
die  Situation  und  zog  sich  vom  Hofe,  soweit  es  ging,  zurück  (62  n.  Ch.  Tac. 
Ann.  14, 52).  Allein  auch  dadurch  entging  er  nicht  der  Grausamkeit  Neros. 
Die  Pisonische  Verschwörung  bot  leichten  Anlass  dar,  auch  ihn  in  den 
Tod  zu  treiben.  Ruhig  und  gefasst  schied  er  durch  eigene  Hand  aus  dem 
Leben  (65  n.  Ch.  Tac.  Ann,  15,  62). 

Von  seinen  sonstigen  persönlichen  Verhältnissen  wissen  wir  noch, 
dass  er  stets  kränklich  war.  Verheiratet  war  er  zweimal.  Seine  erste 
Frau  scheint  noch  vor  seinem  Exil  gestorben  zu  sein.^)  Von  ihr  hatte  er 
zwei  Söhne,  von  denen  der  eine  ebenfalls  noch  kurz  vor  dem  Abgang  des 
Vaters  nach  Gorsica  (ad  Helv.  2,  5;  18,4)  starb.  Die  zweite  Frau  hiess 
Pompeia  Paullina;  sie  war  entschlossen  mit  ihrem  Gatten  gemeinsam  in 
den  Tod  zu  gehen  und  hatte  auch  die  notwendigen  Vorbereitungen  dazu 
getrofifen,  allein  sie  wurde  auf  Befehl  Neros  daran  gehindert. 

Die  Schriftstellerei  Senecas  war  eine  ausserordentlich  umfangreiche; 
sie  bewegte  sich  sowohl  auf  dem  Gebiet  der  Poesie  als  auf  dem  der  Prosa. 
Da  wir  bereits  seine  dichterischen  Werke  besprochen  haben  (p.  255),  sind 
hier  nur  noch  die  Prosaschriften  zu  behandeln,  von  denen  wir  zuerst 
die  erhaltenen,  dann  die  verlorenen  vornehmen.  Die  erhaltenen  zerfallen  der 
Überlieferung  nach  in  zwei  Gruppen,  indem  ein  Teil  zu  einem  Corpus  zu- 
sanunengefasst  ist,  ein  Teil  eine  gesonderte  Überlieferung  in  mehreren 
Quellen  hat.  Daran  schliessen  wir  das  Apokryphe  und  die  Exzerpte  aus 
Senecas  Werken. 

Über  das  Leben  Senecas  vgl.  Gelpkb,  De  Sen,  vUa  et  moribu»,  Bern  1848; 
Mabtens,  De  Senecae  vita  etc.,  Altena  1871;  Diepenbsock,  Sen.phiIo8,  viia,  Amsterd.  1888; 
Jonas,  De  ardine  librorum,  Berl.  1870  (p.  1 — 21);  Zellbb,  Die  Philosophie  der  Griechen 
3,  1=»  p.  693  Anm.  5. 

Über  die  Schriftstellerei  Senecas  vgl.  Qnint.  10,1,128  tractavU  omnem  fere 
Miuliorum  materiam ;  nam  et  arationes  eins  et  poemaia  et  epistufae  et  dialogi  feruntur;  in 
philosophia  parum  diligens,  egregius  tarnen  mtiarum  insectator  fuU;  müUae  in  eo  claraeque 
sententiae,  tnulta  etiam  marum  gratia  legenda,  sed  in  eloquendo  corrupta  pleraque  atque 
eo  perniciosissima,  quod  abundant  duleibiM  vitiis, 

a)  Die  in  einem  Corpus  erhaltenen  Schriften. 

453.  Die  zwölf  Bücher  der  Dialoge.  In  der  berühmten  Mailänder 
Senecahandschrift  sind  zwölf  Bücher  unter  dem  Namen  „dialogi^  zu  einem 
Corpus  vereinigt.^)  Es  sind  folgende  Schriften:  1)  ad  LucilUim  Quare 
aliqua  incomtnoda  bonis  viris  accidant,  cum  Providentia  sit  {de 
Providentia);  2)  ad  Serenum  Nee  iniuriam  nee  eontumeliam  ae- 
eipere  sapiefitem  (de  constantia  sapientis);  3—5)  ad  Novatum  de 
ira  libri  tres;    6)  ad  Mareiam  de  eonsolatione;    7)  ad   Gallionem 


')  Jonas  p.  16. 

^)  In  der  Mailänder  Handschrift  werden 


in   einem   Index    diese  Schriften  aufgezählt 
(vgl.  Gertz  Ausg.  p.  VI). 


HADdbQcb  der  Ums.  AltertumswinenacbiA.    Vm.    2.  Teil.  26 


402     RömiBche  Litteratnrgeschichte.    II.  Die  2eit  der  Monarohie.    1.  Abteilung. 

de  vita  beata;  8)  ad  Serenum  de  otio;  9)  ad  Serenutn  de  trän- 
quillitate  animi;  10)  ad  Paulinum  de  brevitate  vitae;  11)  ad 
Polybium  de  consolatione;  12)  ae^  Helviam  matrem  de  consolatione. 
Die  Bezeichnung  dieser  Schriften  als  Dialoge  ist  auffällig;  denn  nur  die 
Schrift*  „c^^  tranquillitate  animi"  kann  diesen  Titel  für  sich  in  Anspruch 
nehmen,  da  sie  in  der  Weise  componiert  ist,  dass  zuerst  Serenus  seinen 
Seelenzustand  dem  Philosophen  darlegt  und  dann  Seneca  mit  seiner  Dar- 
legung nachfolgt.  Die  übrigen  Stücke  der  Sammlung  erinnern  nur  durch 
mehr  oder  minder  häufige  Einwände  eines  gedachten  Gegners,  welche  in 
der  Regel  durch  inquis,  inquit,  dicet  aliquis  eingeführt  werden,  an  den  Dia- 
log. Allein  da  auch  andere  Schriften  Senecas  wie  de  beneficiis,  de  dementia, 
die  de  naturales  quaestiones  diese  Eigentümlichkeit  aufweisen,  so  ist  die 
Zusammenfassung  der  zehn  Schriften  zu  einem  Corpus  von  Dialogen  will- 
kürlich; und  wir  werden  kaum  irren,  wenn  wir  die  Zusammenstellung  nicht 
dem  Seneca,  sondern  einem  späteren  Abschreiber  beilegen.  Dass  die  kleinen 
Schriften  zu  einem  Ganzen  zusammengefasst  wurden,  lag  ja  sehr  nahe; 
Schwierigkeiten  macht  aber  wiederum,  dass  auch  die  drei  Bücher  de  ira 
in  die  Sammlung  aufgenommen  wurden. 

Die  Hypothese  Rossbachs.  Von  Quini  10, 120  (vgl.  §  452  Anm.)  ausgehend, 
stataiertO.  Rossbach  (Hermes  17,  366  fif.),  dass  das  Corpus  dialogorum  noch  andere  Schriften, 
wie  die  Bücher  de  heneficiis^  die  de  dementia,  die  naturales  quaestiones,  femer  Traktate  wie 
de  superstitione  (vgl.  Diomedes  p.  316  K.),  de  remediis  fortuitorum  de  amiciiia  und  andere 
(vgl.  p.  370)  enthalten  habe.  Um  die  volle  Konsequenz  aus  der  Stelle  Quintilians  zu  ziehen, 
mOssten  wir  eigentlich  alle  Schriften  ausser  den  Reden  und  den  Briefen  für  Dialoge  halten. 
Allein  der  gleichartige  Charakter  einer  Gruppe  von  Schriften  ermächtigt  uns  noch  keines- 
wegs, dieselben  auch  zu  einem  Corpus  zusammenzuschliessen.  Hier  können  lediglich  äussere 
Zeugnisse,  vor  allem  die  handschriftliche  Überlieferung  massgebend  sein;  diese  spricht  aber 
nur  fflr  das  Corpus  der  zwölf  Bücher  dialogi. 

Die  Überlieferung  des  Corpus.  Die  massgebende  Quelle  ist  der  Ambrosianus 
C.  90  inf.  s.  X/Xl.  Daneben  floss  aber  noch  eine  Quelle,  aus  der  die  stark  interpolierten 
Handschriften  stammten  und  die  nicht  ganz  ausser  acht  gelassen  werden  darf.  Der  gemein- 
same Archetypos  war  schon  durch  Lücken  entstellt,  so  fehlt  das  Ende  der  Schrift  de  beata 
Tita  und  der  Anfang  de  otio,  femer  das  Ende  der  letzten  Schrift.  Auch  der  Ambrosianus 
hat  Verluste  erlitten,  welche  aber  durch  die  Handschriften  der  zweiten  Familie  ausge- 
glichen werden  können;  so  liess  der  Schreiber  zu  Anfang  der  Schrift  de  ira,  da  er  die 
Lücke  erkannte ,  ein  leere  Seite  (12  r.),  welche  eine  Hand  des  XIV.  oder  XV.  Jahr- 
hunderts ergänzte.  Von  der  consolatio  ad  PoUjhinm  hat  der  Ambrosianus  nur  den  Schluas, 
von  den  Worten  magna  discrimina  (c.  17)  an;  alles  Vorausgehende  ging  durch  den  Aus- 
fall einiger  Blätter  verloren,  wir  sind  daher  für  diese  Consolatio  auf  die  schlechte  Familie 
angewiesen;  denn  das,  was  der  Ambrosianus  hat,  versuchte  man  auszuradieren;  daher  ist 
es  sehr  schwer  zu  entziffern.  —  Über  den  Ambrosianus  vgl.  die  erschöpfende  Darlegung 
in  den  Prolegomena  der  Ausgabe  von  Gertz;  über  die  kritische  Grundlage  handelt  Ross- 
BACH,  Bresl.  Stud.  2.  Bd.  3.  Heft  p.  6. 

454.  Ad  Lucilium  quare  aliqua  incommoda  bonis  viris  accidant, 
cum  Providentia  sit  (De  Providentia).  Die  Abhandlung  beginnt  mit 
dem  Gedanken,  dass  das  ganze  Universum  einer  einsichtigen  Leitung  unter- 
stellt ist.  Wenn  daher  den  Guten  Ungemach  widerfahrt,  so  geschieht 
auch  dies  nicht  ohne  den  Willen  der  Götter.  Die  Leiden  sind  eine  Übungs- 
und Prüfungsschule  für  die  Guten,  marcet  sine  adversario  virtus.  Nach 
dieser  Einleitung  schreitet  der  Philosoph  zur  Disposition;  er  will  zeigen, 
dass  das  Leid  zum  Heil  der  davon  Betroffenen,  dann  zum  Heil  der  Ge- 
samtheit ausschlägt.  Freiwillig,  soll  weiter  dargelegt  werden,  unter- 
werfen   sich   daher  die  Guten;  das  Geschick  ist  es,   das  im  voraus   die 


Der  Philosoph  8en6c&.  403 

Prüfungen  zumisst,  mit  den  guten  Menschen  sind  dieselben  unzertrennlich 
verbunden.  Endlich  will  er  Lucilius  davon  überzeugen,  dass  der  wackere 
Mann  niemals  des  Mitleids  bedarf,  da  er  nicht  unglücklich  sein  kann. 
Diese  sechs  Punkte  werden  sehr  ungleich  behandelt.  Am  ausführlichsten 
wird  der  Satz,  dass  das  Leid  dem  nutzt,  Über  den  es  verhängt  wird,  er- 
läutert ;  die  übrigen  Sätze  dagegen  sind  kürzer  abgemacht.  Der  Philosoph 
lässt  sogar  im  Verlauf  der  Untersuchung  jene  Disposition  immer  mehr  in 
den  Hintergrund  treten ;  der  zweite  Satz  wird  noch  regelrecht  angekündigt, 
der  dritte  und  vierte  werden  dagegen  nur  durch  ein  Stichwort  markiert,  der 
fünfte  und  sechste  dagegen  bleiben  unbezeichnet.  Manche  haben  sich  da- 
her zu  dem  Irrtum  verleiten  lassen,  dass  die  sechste  These  nicht  behandelt 
und  darum  die  Schrift  unvollständig  sei.  Allein  das  letzte  Kapitel,  be- 
sonders der  Eingang,  knüpft  ersichtlich  an  jene  These  an,  wenn  dies  auch 
nicht  in  der  Form  geschieht,  die  bei  der  Gliederung  gewählt  ist.  Der 
Hinweis  auf  den  Selbstmord  am  Schluss  der  Abhandlung  kann  doch  nur 
den  Zweck  haben,  den  Glauben,  dass  der  Mensch  unglücklich  sei,  zu  zer- 
stören, da  ja  jeder  es  stets  in  der  Hand  hat,  dem  Unglück  zu  entfliehen. 

Die  Schrift  als  Vorläufer  eines  grösseren  Werkes.  Der  Text  beginnt  mit 
den  Worten :  quaeaisH  a  tne,  Lucili,  quid  ita,  si  Providentia  mundus  regeretur,  muUa  bonis 
viris  mala  accidenL  Hoc  commodius  in  contextu  operis  redderetur,  cum  praeesse  universis  pro- 
videntiam  probaremus  et  interesse  nobis  deum ;  sed  quoniam  a  toto  particulam  rerelli  placef 
et  unam  contradictionem  manente  Ute  integra  solvere,  faeiam  rem  non  difficilem,  causam 
deorum  agam.  Hier  wird  die  Schrift  als  der  Vorläufer  eines  grösseren  Werkes,  in  dem 
über  die  göttliche  Vorsehung  gehandelt  werden  sollte,  vorgeführt.  Wahrscheinlich 
war  dieses  in  Aussicht  genommene  Werk  identisch  mit  den  später  herausgegebenen  mo- 
ralia  philosophiae  libri.  —  Gbbtz,  Studio  critica,  Eopenh.  1874,  p.  58;  Rossbach, 
Hermes  17,  372  Anm. 

Abfassungszeit.  Ist  die  obige  Vermutung  richtig,  dass  die  Schrift  ein  Vorläufer 
der  MoralphUosophie  ist,  so  wird  sie  vor  den  Briefen  geschrieben  sein,  denn  hier  ist  Se- 
neca  bereits  mit  der  Ausarbeitung  jenes  grösseren  Werkes  beschäftigt  (ep.  106, 2  u.  108, 1). 
Allem  Anschein  nach  gehört  die  Schrift  in  die  letzte  Epoche  der  Schriffcstellerei  Senecas. 

455.  Ad  Serenum  nee  iniuriam  nee  contumeliam  accipere  sa- 
plentern  (De  constantia  sapientis).  Die  Abhandlung,  welche  sich  an 
Serenus  wendet,  sucht  das  stoische  Paradoxon  zu  erweisen,  dass  der  Weise 
weder  Kränkung  noch  Verachtung  erleide.  Gemäss  der  Trennung  der 
iniuria  von  der  contumelia,  welch'  letztere  als  das  geringere  Übel  ange- 
sehen wird,  führt  er  seine  These  in  zwei  Teilen  durch.  Für  die  Behaup- 
tung, dass  die  iniuria  den  Weisen  nicht  treffe,  wird  eine  Reihe  von  spitz- 
findigen Beweisen  aufgebracht,  deren  wir  einige  hier  anführen  wollen.  Die 
Kränkung,  heisst  es,  hat  zum  Zweck  einem  andern  Böses  zuzufügen;  aber 
für  das  Böse  ist  bei  dem  Weisen  kein  Platz,  denn  die  Tugend,  in  deren 
Besitz  er  ist,  lässt  Böses,  sonach  auch  Kränkung  nicht  zu.  Oder:  die 
Kränkung  geht  auf  eine  Schädigung  eines  Outes  des  Nebenmenschen  aus. 
Der  Weise  kann  nichts  verlieren,  denn  das  einzige  Out,  auf  das  er  Wert 
legt,  ist  die  Tugend,  diese  lässt  aber  weder  Vermehrung  noch  Verminde- 
rung zu.  Oder:  Das,  was  schädigt,  muss  stärker  sein  als  das,  was  ge- 
schädigt wird,  die  Schlechtigkeit  ist  aber  schwächer  als  die  Tugend,  also 
ist  eine  Schädigung  des  Weisen  nicht  denkbar.  Im  zweiten  Teil,  in  dem 
nachgewiesen  werden  soll,  dass  den  Weisen  auch  keine  contumelia  treffen 
könne,  will  er  mehr  in  gemeinverständlicher  Weise  vorgehen.  Hier  wird 
besonderer  Nachdruck   auf  das  Argument  gelegt,   dass  wir  uns  Kinder, 

26  • 


404    RömiBche  Litteratargeachichte.    &.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 


Fieberkranke  nicht  beleidigen  können,  so  auch  den  Weisen  die  tief  unter 
ihm  stehenden  bösen  Menschen  nicht.  Beispiele  sind  mehrere  in  die  Schrift 
eingestreut;  selbstverständlich  figuriert  der  jüngere  Cato  als  Muster  der 
Weisheit,  ein  Ausspruch  des  Philosophen  Stilbon  wird  ausgenutzt,  auch 
Epicurs  Lehre  zur  Illustration  der  These  verwertet,  am  Schluss  Caligula 
als  abschreckendes  Beispiel  vorgeführt. 

Unterschied  zwischen  iniuria  und  contumelia,  b  prior  iUa  (iniuria) 
natura  gratHor  est,  haec  (contumelia)  levior  et  iantum  delicatis  gravis^  qua  non  laeduntur 
homines ,  sed  offendunter  16, 3  utraque  exempla  hortantur,  contemnere  iniurias  et  quas 
iniuriarum  umbras  ae  auspiciones  dixerim,  contumelias,  ad  quaa  despiciendas  non  sapiente 
opus  est  viro,  sed  tantum  consipiente,  qui  aihi  possit  dicere:  ^utrum  merito  mihi  ista 
a^cidunt  an  inmerito?  si  merito^  non  est  contumelia^  iudicium  est;  si  inmerUo,  illi,  qui  iniusta 
facit,  erubescendum  est,*^  Bezüglich  der  Gliederung  vgl.  10,1  quoniam  priorem  partem 
percucurrimus,  ad  alteram  transeamus,  qua  quibusdam  propriis,  plerisque  vero  eommunibus 
contumeliam  refutahimus, 

Abfassungszeit.  Der  angeredete  Serenus  ist  Annaeus  Serenus,  der  unter  Nero 
an  Gift  starb  (wohl  bald  nach  62,  Fbiedlandeb  zu  Martial.  7, 45, 2),  vgl.  Plin.  n.  h.  22, 96. 
Die  Schrift  wird  in  den  Anfang  der  Neronischen  Regierung  fallen  (Jonas  p.  43). 

456.  Ad  Novatum  de  ira  1.  in.  Die  auf  Verlangen  seines  Bruders 
Novatus,  des  späteren  Gallio,  abgefasste  Schrift  über  den  Zorn  besteht 
aus  drei  Büchern.  Der  Autor  beginnt  mit  einer  lebendigen  Schilderung 
des  äusseren  Zustands  eines  Zornigen  und  den  unheilvollen  Folgen  des 
Zorns.  Leider  folgt  jetzt  eine  Lücke,  in  welcher  die  verschiedenen  Defi- 
nitionen des  Zorns  kritisiert  waren.  Manches  Ausgefallene  hat  uns  die 
gleichnamige  Schrift  des  Lactantius  (c.  17)  aufbewahrt.  Die  Untersuchung 
führt  dann  den  Satz  aus,  dass  der  Zorn  nur  den  Menschen,  nicht  den 
Tieren  eigentümlich  sei,  und  berührt  kurz  die  verschiedenen  Spielarten 
des  Zorns.  Damit  ist  die  Betrachtung  des  Wesens  des  Zorns  erschöpft  % 
es  fragt  sich  nun,  ob  derselbe  der  Natur  gemäss  und  ob  er  nützlich  und 
teilweise  aufrecht  zu  erhalten  sei.  Diese  Fragen  werden  verneint  und 
denselben  gegenüber  betont,  dass  die  ratio,  nicht  die  ira  den  Menschen 
beherrschen  müsse. 

Nachdem  im  ersten  Buch  allgemeine  Fragen  berührt  waren,  nimmt 
das  zweite  speziellere  (exiliora)  in  Angriff.  So  wird  zuerst  gezeigt,  dass 
der  Zorn,  wenn  auch  die  erste  Kegung  unwillkürlich  erfolgt,  nicht  ohne 
Teilnahme  des  Geistes  sein  Wesen  entfaltet  ^),  dann  wird  der  Unterschied 
des  Zorns  und  der  Grausamkeit  dargelegt.  Im  sechsten  Kapitel  taucht 
die  auch  im  ersten  Buch  (1,  14)  gestreifte  Frage  auf,  ob  die  Tugend  durch 
schlechte  Dinge  sich  in  Zorn  bringen  lassen  soll;  hier  wird  sie  eingehen- 
der besprochen.  Auch  die  unmittelbar  sich  anschliessende  Partie  greift 
wieder  Probleme  des  ersten  Buchs  auf,  das  Problem  der  Nützlichkeit  oder 
Schädlichkeit,  der  Notwendigkeit  oder  Nicht notwendigkeit  des  Zorns  (c.  7 
c.  11).  Mit  dem  18.  Kapitel  schreitet  der  Autor  zu  dem  praktischen  Teil, 
bei  dem  es  sich  darum  handelt,  dass  wir  nicht  in  Zorn  fallen,  dann  dass 
wir  unsern  Zorn  zu  bezähmen  wissen.  Es  muss  daher  dargelegt  werden, 
was  den  Zorn  hervorruft,  um  die  Heilmittel  gegen  denselben  angeben  zu 
können,  die  Erziehung  kann  hier  das  Meiste  thun.  Allein  auch  im  reiferen 
Lebensalter  können  wir  durch  Beobachtung  einer  Reihe  von  Vorschriften 


*)  Vgl.  den  c.  5  markierten  Kinschnitt. 
*^  2, 3;  4  neque  enim  fieri  pofesf ,   ut  de 


uliione    et   poena    agaiur    animo    nescienie. 
Nach  c.  4  ist  wieder  eine  grossere  Lücke. 


Der  Philosoph  Seneca.  405 

den  Zorn  verhüten.  Gegen  den  Schluss  des  Buchs  fallt  er  wieder  in  theo- 
retische Betrachtungen  über  das  Wesen  des  Zorns  zurück,  indem  er  selbst- 
gemachte Einwürfe  zurückweist.  Man  sollte  nun  meinen,  dass  im  dritten 
Buch  der  zweite  Teil  der  Ankündigung  durchgeführt  und  gelehrt  worden 
wäre,  wie  wir  den  Zorn  bezähmen  können;  denn  die  im  letzten  Kapitel 
hingeworfene  Vorschrift,  dass  der  Zornige  gut  daran  thue,  sich  im  Spiegel 
zu  schauen,  kann  doch  nicht  als  eine  genügende  Lösung  dieser  Frage  betrach- 
tet werden.  Allein  das  dritte  Buch  tritt  nach  einer  allgemeinen  Betrachtung 
über  den  Zorn  an  den  praktischen  Teil  von  neuem  heran  und  gliedert  ihn 
jetzt  abweichend  von  dem  zweiten  Buch  dreiteilig,  indem  als  weiterer  Ge- 
sichtspunkt erscheint,  wie  wir  den  fremden  Zorn  heilen  können.  Es  ist 
sonach  klar,  dass  das  vorliegende  Werk  von  Seneca  nicht  zu  einer  völ- 
ligen Einheitlichkeit  ausgestaltet  wurde;  das  dritte  Buch  steht  nur  in 
einem  losen  Zusammenhang  zu  den  zwei  vorausgegangenen.  Ja  das  dritte 
Buch  bietet  selbst  wiederum  einen  Anstoss  dar,  da  auch  hier  die  vorgelegte 
Disposition  nicht  strenge  eingehalten  wird ;  denn  der  zweite  Teil  ist  nirgends 
markiert,  der  letzte  Teil  wird  kurz  am  Schluss  durchgeführt,  wenn  nicht 
mit  Lipsius  eine  Lücke  vor  dem  41.  Kapitel  anzunehmen  ist.O  Die  Bei- 
spiele treten  in  dem  letzten  Buch  stark  hervor. 

Über  den  Charakter  des  dritten  Buchs  handelt  eingehend  Pfennig,  De 
Jibrorum  quos  scripsU  Seneca  de  ira  compositione  et  originet  Greifswald  1887.  Das  Buch 
wiederholt,  abgesehen  davon,  dass  es  eine  neue  Disposition  aufstellt,  auch  viele  Gedanken 
aus  den  zwei  vorausgegangenen  Büchern.  Vgl.  die  Zusammenstellung  p.  32.  Zur  Erklä- 
rung dieser  eigent&mlichen  Erscheinungen  stellt  Pfennig  die  Hypothese  auf.  dass  das  dritte 
Buch  ursprünglich  selbständig  war  (p.  84),  diese  Selbständigkeit  sei  vielleicht  dadurch  ent- 
standen, dass  Seneca  das  Werk  für  R«citationen  abgefasst  habe  und  zwar  fttr  zwei  Reci: 
tationen,  für  eine  längere,  für  welche  die  zwei  ersten  Bücher,  für  eine  kürzere,  für  welche 
das  dritte  Buch  bestimmt  war,  bei  der  Herausgabe  habe- Seneca  die  beiden  Fassungen  mit- 
einander verbunden.  Diese  Hvpothose  ist  nicht  wahrscheinlich,  zumal  sie  ohne  Annahme 
einer  wenn  auch  kleinen  Redaktion  nicht  auskommt,  denn  3,  3, 1  ut  in  prioribus  libris  dixi 
und  3, 4, 1  quem  in  priorihus  libris  descripsimus  müssten  dann  spätere  Zusätze  sein. 

Über  die  Quellen  Allers,  De  C.  A.  Senecae  Jibrorum  de  ira  foniibus.  Götting. 
1891.  An  griechischen  Werken  über  die  Affekte  (nsQi  na&ay)  und  an  solchen  spe- 
ziell Über  den  Zorn  {rtegl  ogy^s)  fehlte  es  nicht.  So  hatte  der  Lehrer  Senecas,  Sotion, 
TtsQL  oQyrji  geschrieben.  Auch  von  Philodemus  gab  es  eine  Abhandlung  Über  den  gleichen 
Gegenstand,  welche  aus  den  Trümmern  von  Herculanum  hervorgezogen  wurde  (Ausgabe 
von  GoKPERZ,  Leipz.  1864).  Mehrheit  der  Quellen  statuiert  Allers,  nimmt  aber  besondere 
Benutzung  des  Chrysippus  an ,  wie  aus  Cic.  (Tusc.  disp.  4,  41)  und  Galen  (V.  p.  388)  er- 
helle (p.  43). 

Zeit  der  Abfassung.  Nach  Lipsius  sind  die  Bücher  de  ira  unter  der  Regierung 
Caligulas,  nach  Lehmann  unter  Claudius  im  Jahr  49  (Claudius  und  Nero  p.  11,  anders  früher 
Philol,  8,  316)  abgefasst.  Sicher  ist,  dass  das  Werk  nach  Caligulas  Tod  fällt,  wie  1,  20,  9 
zeigt.  (Die  Präsentia  3,  19,  3  werden  keine  Gregeninstanz  bilden.)  Da  vom  Exil  keine  Rede 
ist  (und  Novatus  noch  nicht  adoptiert  ist),  wird  die  Schrift  bald  nach  Caligulas  Tod  ent- 
standen sein  (Jonas  p.  29). 

467.  Ad  Marciam  de  consolatione.  Es  ist  eine  berühmte  Frau, 
der  diese  Trostschrift  gewidmet  ist,  Marcia,  die  Tochter  des  Geschicht- 
schreibers A.  Cremutius  Cordus.  Derselbe  hatte  ein  Qeschichtswerk  ge- 
schrieben, in  dem  Brutus  und  Cassius  lobend  erwähnt  waren.  Unter  Ti- 
berius  wurde  ihm  daher  der  Prozess  gemacht,  er  setzte  infolgedessen  seinem 
Leben  selbst  ein  Ziel,  und  seine  Schriften  wurden  von  den  Ädilen  ver- 
brannt (p.  237).    Allein  durch  die  Bemühungen  seiner  Tochter  entgingen 


0  pFKNino  p.  30. 


406     Bömische  LitteratorgoBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

sie  doch  dem  Untergang  (1,3),  und  Galigula  erlaubte  am  Anfang  seiner 
Regierung  die  Publikation  (Suet.  Galig.  16).  Dieser  Marcia  war  ein  Sohn, 
Metilius,  in  jungen  Jahren  durch  den  Tod  entrissen  worden,  nachdem  er 
es  bis  zur  Priesterwürde  gebracht  hatte  (24,3).  Schon  vorher  hatte  sie 
den  Oatten  verloren.  Drei  Jahre  nach  dem  Hingang  des  Sohnes  erhielt 
sie  von  dem  Philosophen  die  Trostschrift.  Den  Eingang  nimmt  der  Schrift- 
steller davon  her,  dass  er  Marcia  an  ihre  Seelenstärke,  die  sie  bei  dem 
widrigen  Geschick  ihres  Vaters  gezeigt,  erinnert,  das  verschiedene  Ver- 
halten bei  Todesfällen  durch  zwei  Beispiele  aus  dem  Eaiserhause  illustriert 
und  eine  Anrede  des  Philosophen  Areus  an  die  Livia  einschaltet.  Dann 
geht  er  zu  seinen  eigenen  Trostgründen  über.  Das  Trauern  hilft  nichts, 
einen  massigen  Schmerz  kann  man  sich  für  eine  Zeit  lang  gefallen  lassen, 
ein  fortdauernder,  unmässiger  ist  gegen  die  Natur.  Wir  denken  zu  wenig 
daran,  dass  das  Leid,  das  wir  täglich  vor  unsern  Augen  sehen,  auch  uns 
nicht  erspart  bleiben  kann.  Die  äusseren  Güter  besitzen  wir  nur  leih- 
weise. Alle  Menschen  werden  geboren,  um  zu  sterben.  Hat  das  uns 
entrissene  Kind  uns  noch  keine  Freuden  gemacht,  so  vermissen  wir  es 
weniger;  haben  wir  aber  Freude  von  ihm  geerntet,  so  sollen  wir  für  das 
Empfangene  dankbar  sein.  Dem  Einwurf,  dass  die  Freude  länger  hätte 
sein  sollen,  wird  damit  begegnet,  dass  die  kurzwährende  doch  noch  immer 
besser  sei  als  gar  keine.  Das  Unglück,  das  Marcia  betroffen,  ist  auch  an- 
deren hochstehenden  Leuten,  Männern  wie  Frauen,  widerfahren.  Sie  möge 
bedenken,  dass  ihr  das  Geschick  noch  immer  genug  übrig  gelassen  habe, 
zwei  Töchter  und  Enkelkinder,  darunter  zwei  Töchter  des  Verstorbenen. 
Marcia  musste  wissen,  dass  sie  einen  Sterblichen  geboren.  Der,  welcher 
ins  Leben  eintritt,  verpflichtet  sich  sowohl  dessen  Freuden  als  dessen 
Leiden  hinzunehmen,  dies  müssen  sich  die  Eltern  bezüglich  der  Kinder 
fortwährend  vor  Augen  halten.  Auch  das  ist  zu  bedenken,  dass  der  Tod 
das  Ende  aller  Widerwärtigkeiten  herbeiführt;  und  manchem  grossen  Mann 
wäre  ein  früher  Tod  ein  Segen  gewesen.  Auch  bei  dem  Frühverstorbenen 
muss  man  annehmen,  dass  er  sein  Lebensgeschick  erfüllt  hat,  und  man 
muss  erwägen,  aus  wie  vielen  Gefahren  des  Lebens  oft  ein  früher  Hingang 
befreit.  Der  Vater  der  Marcia  ist  ja  ein  leuchtendes  Beispiel,  welches 
Unheil  auf  das  menschliche  Dasein  einstürmen  könne.  Das  Ausgereifte, 
auch  wenn  es  in  jungen  Jahren  erscheint,  verlangt  das  Ende;  Metilius  hat, 
wenn  man  seine  Tugenden  betrachtet,  lang  genug  gelebt.  Sein  Leib  zer- 
fällt. Sein  Geist  aber  gehört  jetzt  dem  Kreise  an,  in  dem  die  Scipionen 
und  die  Catonen  und  ihr  Vater  verweilen.  Mit  einer  beruhigenden  An- 
rede, welche  der  Philosoph  Cremutius  Cordus  an  Marcia  halten  lässt, 
schliesst  die  Trostschrift,  welche  eindringlich  und  lebhaft  geschrieben  ist, 
in  Bezug  auf  logische  Gliederung  und  Reichhaltigkeit  der  Trostgründe 
aber  manches  zu  wünschen  übrig  lässt. 

Die  Mängel  der  Schrift  sind  genau  dargelegt  von  Schutnebbb  (Über  Senecas 
Schrift  an  Marcia,  Hof  1889  p.  14). 

Die  Abfassungszeit  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit  bestimmen.  Lipsiüs  ist  der 
Meinung,  dass  die  Schrift  nach  dem  Exil  geschrieben  sei  (ebenso  Michaelis  in  seiner 
Ausgabe,  Harlem  1840),  Schinnereb  sucht  wahrscheinlich  zu  machen,  dass  sie  aus  der  Zeit 
vor  der  Verbannung  (Ende  der  Regierung  des  Caligula)  stammt  (p.  11),  ebenso  Lehmann 
(Claudius  p.  9  [41  n.  Chr.]};  Heidbreede  (De  Senecae  consolatione  ad  Marciam,  Bielef.  1839) 


Der  Philosoph  Seneca.  407 

meint  (p..  11),  sie  könne  auch  während  des  Exils  geschrieben  sein;  Jonas  bestreitet  nur 
die  Abfassung  in  der  Zeit  des  Exils,  abgesehen  davon  lässt  er  unentschieden,  ob  sie  kurz 
vor  dem  Exil  oder  kurz  nach  demselben  abgefasst  sei  (p.  37).  Am  wahrscheinlichsten  ist 
die  Entstehung  vor  dem  Exil  (Bubesch  40  oder  Anfang  41,  Leipz.  Stud.  9,113). 

Über  die  Quellen  der  Seneca'schen  (?on9o?a/ton0«  im  allgemeinen  vgl.  Allers, 
De  S.  librorum  de  ira  fönt.  p.  5. 

468.  Ad  Oallionem  de  vita  beata.  Auch  diese  Abhandlung  ist  wie 
die  Bücher  de  ira  für  den  Bruder  Senecas  Novatus  geschrieben,  doch  führt 
derselbe  hier  den  Namen  Oallio,  so  dass  also  die  Schrift  nach  der  Adoption 
desselben  anzusetzen  ist.  Das  Ende  der  Schrift  ging  verloren,  um  die 
vorliegende  Frage  nach  dem  glücklichen  Leben  zu  lösen,  musste  der  Phi- 
losoph auf  zwei  Dinge  sein  Augenmerk  richten,  auf  das,  was  das  Leben 
glücklich  macht,  und  auf  die  Mittel  und  Wege,  welche  uns  zu  dem  glücklichen 
Leben  führen.  Das  glückliche  Leben  bestimmt  sich  nicht  nach  dem  Urteil 
der  Menge,  sondern  nach  dem  Urteil  der  Weisen.  Im  allgemeinen  kann 
dasselbe  definiert  werden  als  ein  Leben,  welches  der  Natur  entspricht. 
Allein  es  sind  noch  andere  Definitionen  möglich,  welche  dieselbe  Sache  uns 
stets  in  einer  neuen  Beleuchtung  erscheinen  lassen.  Das  Wesentliche  ist, 
dass  das  Olück  des  Lebens  in  der  Ausübung  der  Tugend  besteht.  Dieser 
Gesichtspunkt  führt  auf  eine  Polemik  gegen  die  voluptas  in  der  Form,  dass 
verschiedene  Einwürfe  eines  fingierten  Gegners  zurückgewiesen  werden. 
Nachdem  der  Begriff  des  glücklichen  Lebens  festgestellt  und  gegen  ab- 
weichende Ansichten  geschützt  ist,  erwartet  man,  dass  dargelegt  wird,  wie 
man  zu  dem  glücklichen  Leben  gelange.  Es  wird  auch  in  der  That  (c.  16) 
die  Frage  aufgeworfen,  was  die  virtiis  von  uns  wolle.  Allein  die  Frage 
wird  mit  einer  sehr  vagen  Antwort  abgethan;  die  Untersuchung  richtet 
sich  jetzt  vielmehr  auf  die  Anfeindung  der  Philosophie,  welche  sich  darauf 
gründet,  dass  Worte  und  Thaten  der  Philosophen  nicht  im  Einklang  stehen ; 
besonders  der  Gesichtspunkt  ist  stark  hervorgekehrt,  dass  der  Philosoph 
die  Verachtung  des  Reichtums  predigt  und  dabei  im  Besitz  von  Reich- 
tümern ist.  Man  gewinnt  den  Eindruck,  dass  sich  Seneca  selbst  gegen 
Angriffe  seiner  Gegner  verteidigt. 

Die  Abfassungszeit  kann  durch  die  zuletzt  erwähnte  Eigentümlichkeit  der  Schrift 
im  allgemeinen  bestimmt  werden.  Man  wird  die  Zeit  anzunehmen  haben,  in  der  Seneca 
durch  die  Schenkungen  Neros  zu  grossem  Reichtum  gelangt  war.  Femer  kann  ein  Indicium  aus 
17, 1  gewonnen  werden.  Dort  berührt  Seneca  den  offenbar  ihm  gemachten  Vorwurf  „lacrimatt 
audita  coniugis  aut  amici  morte  demittis**.  Halten  wir  damit  zusammen  die  Worte  Ep.  63, 14 
haec  tibi  scribo  is,  qui  Annaeum  Serenunt,  carissimum  mihi,  tarn  inniodice  flevi,  ut  quod 
niinime  velim,  inter  exempla  sim  eorum  quoa  dolor  vicit,  so  besteht  die  Wahrscheinlichkeit, 
dass  imscre  Schrift  nach  dem  Tod  des  Serenus,  der  unter  Nero  (wohl  bald  nach  62  vgl. 
§  455)  starb,  mithin  nach  den  Scliriften ,  welche  dem  Serenus  gewidmet  sind ,  abgefasst 
wurde  (Jonas  p.  43).  Diese  Ansicht  bekämpft  Schultbss  (De  Annaei  Senecae  quaest,  natuf\ 
et  epist.  p.  47),  „scriptus  est  cum  Seneca  imperatoris  gratia  etiam  tum  vcUeret,  ante  secessum 
illum  a,  62.'' 

459.  Ad  Serenum  de  otio.  Der  Eingang  wie  der  Schluss  der 
Schrift  ist  verloren.  Aber  die  Disposition  hat  sich  erhalten,  so  dass  wir 
über  die  Grundideen  nicht  im  Unklaren  sein  können.  Zwei  Thesen  sollen 
erwiesen  werden:  1)  dass  es  gestattet  ist,  sich  von  Anfang  an  ganz  der 
Spekulation  zu  widmen;  2)  dass  man  dies  auch  erst  im  Alter  thun  könne, 
nachdem  man  sich  längere  Zeit  im  geschäftlichen  Leben  bewegt  habe. 
Die  erste  Behauptung  wird  durch  den  Satz  erwiesen,  dass  das  höchste 


408    BömiBche  Litteratargesohichie.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1,  Abteilung. 

Gut  ist,  der  Natur  gemäss  zu  leben.    Nun  aber  ist  klar,  dass  die  Natur 
uns  nicht  bloss  für  das  Handeln,  sondern  auch  für  die  Spekulation  be- 
stimmt hat;   denn  der  Forschungstrieb  ist  allen  Menschen  eingepflanzt; 
schon  durch  den  Bau  unseres  Körpers  werden  wir  auf  die  Erkenntnis  des 
Universums  hingewiesen.    Indem  wir  aber  der  Natur  folgen  und  uns  in 
die  Betrachtung  des  Seienden  versenken,  handeln  wir  zugleich;   denn  mit 
der  Spekulation  ist  auch  Aktion  verbunden;  den  Forscher  wird  es  drängen, 
das  Erforschte  ins  Leben  einzuführen.    Allein  auch  wenn  der  Weise  ganz 
in  sein  Studium  aufgeht,  so  nützt  er  oft  mehr  durch  dasselbe  als  andere 
durch  die  glorreichsten  Handlungen,  auch  das  Auffinden  neuer  Wahrheiten 
ist  ein  Handeln.     Übrigens  sind  die  politischen  Verhältnisse  in  der  Regel 
derart,  dass  man  dem  Philosophen  nicht  verübeln  kann,   wenn  er  sich  in 
sein  otiu7n  zurückzieht. 

UnVollständigkeit  der  Schrift.  In  der  handschriftlichen  Üherlieferung  ist  die 
Monographie  de  otio  mit  der  vorausgehenden  de  vita  he  ata  zusammengeflossen.  Muretus 
erkannte  dies  zuerst  und  Lipsius  nahm  dementsprechend  die  Scheidung  der  zwei  Abhand- 
lungen vor.  Diese  wird  bestätigt  durch  den  Index  des  Ambrosianua,  der  auf  die  Schrift 
de  vita  beata  den  Traktat  ad  Serenum  (diese  Worte  sind  ausradiert)  de  otio  folgen 
lässt.  Durch  den  Ausfall  der  zwei  äusseren  Blätter  eines  Quatemio  ging  das  Ende  des 
Traktates  de  vita  beata  und  der  Anfang  des  Traktates  de  otio  und  das  Ende  dieser  Schrift 
verloren  (Geetz  Ausg.  p.  263). 

Abfassungszeit.  Die  Monographie  passt  am  besten  in  die  Zeit,  in  der  sich  Se- 
neca  vom  Hofe  und  von  den  Staatsgeschäften  zurückgezogen  hatte,  sie  wird  also  nach  62 
geschrieben  sein.  Man  kann  sie  „als  eine  Rechtfertigung  Senecas  gegen  den  Vorwurf, 
dass  er  durch  das  Aufgeben  seiner  staatsmännischen  Laufbahn  den  Lehren  der  Stoa  unge- 
treu werde*  (Lehmann,  Claudius  p.  15)  betrachten. 

460.  Ad  Serenum  de  tranquillitate  animi.  Die  Abhandlung  steht 
durch  die  Art  der  Einkleidung  singuIär  da;  es  wird  nämlich  im  Anfang  Se- 
renus  redend  eingeführt,  indem  er  seine  Seelenverfassung  darlegt.  Ihm  ant- 
wortet Seneca.  Zuerst  wird  der  Zustand,  welcher  der  Seelenruhe  entgegen- 
gesetzt ist,  geschildert,  derselbe  gipfelt  in  der  Unzufriedenheit  mit  sich 
selbst,  in  dem  sibi  displicere.  Dann  setzt  er  auseinander,  in  welcher  Weise 
man  zu  dem  inneren  Gleichgewicht,  zum  Frieden  der  Seele  gelangen  kann. 
Der  Philosoph  empfiehlt  gewissenhafte  Prüfung  der  eigenen  Kräfte  und  der 
Aufgaben,  an  deren  Lösung  man  herantreten  will,  endlich  Vorsicht  in  der 
Wahl  unseres  näheren  Umgangs.  Da  das  Streben  nach  materiellem  Be- 
sitz viel  Unruhe  in  unserm  Innern  erzeugt,  so  predigt  er  Genügsamkeit. 
Weiterhin  mahnt  er  Jeden,  sich  mit  seiner  Lebenslage  ruhig  abzufinden 
und  stets  auf  alles,  was  das  Schicksal  bringt,  gefasst  zu  sein,  alles  Über- 
flüssige und  das  geschäftige  Nichtsthun  zu  vermeiden,  die  richtige  Mitte 
zwischen  Eigensinn  und  Leichtfertigkeit  einzuhalten,  sich  durch  die  Thor- 
heit  der  Menschen  und  durch  das  traurige  Ende  berühmter  Männer  nicht 
ausser  Fassung  bringen  zu  lassen,  nicht  allzu  ängstlich  sich  zu  geben  und 
zwischen  Arbeit  und  Erholung  abzuwechseln. 

Dies  sind  die  Hauptgedanken  der  Schrift.  Die  Gedanken  sind  in  an- 
mutiger, gemeinverständlicher  Form  gegeben. 

Gegenstand  der  Schrift.  2,  3  quod  desideratt  magnum  et  aummnm  est  deoque 
viciniim,  non  concuti.  Hanc  stabilem  animi  sedem  Graeci  euthymian  rocant,  de  qua 
Democriti  volumen  egregium  est,  ego  tranquillitatem  voco.  Aus  dieser  Stelle  schliesst 
HiRZEL,  Hermes  14,  354,  dass  der  Titel  der  Schrift  nicht  de  tranquillitate  animi,  wie 
die  Überlieferung  darbietet,  sondern  bloss  de  tranquillitate  war  (vgl.  noch  17,  12). 
2,  4  quaerimus,  quomodo  animtis  semper  aequali  secundoque  cursu  eat  propitiusque  sibi  sit 


Der  Philosoph  Seneoa. 


409 


et  sua  laetus  aspiciat  et  hoc  gaudium  non  interrumpat,  sed  plaeido  statu  manecU  nee  ad^ 
tollens  8e  unquam  nee  deprimens:  id  tranquilUtas  erit, 

Quellen.  Ausser  der  Schrift  des  Democritus  wird  noch  angeführt  Athenodorus 
(3, 1 ;  7y  2).  Die  Hauptquelle  scheint  jedoch  die  Schrift  Democrits  nsQi  ev^v/Äitjg  gewesen 
zu  sein.    Vgl.  Hibzel,  Hermes  14,  354. 

Üher  die  Zeit  der  Abfassung.  Da  die  Schrift  dem  Serenoa  gewidmet  ist,  so 
muss  sie  vor  dessen  Tod  fallen  (vgl.  §  455). 

461 .  Ad  Paulinium  de  brevitate  vitae.  Der  herkömmlichen  Klage, 
dass  unser  Leben  kurz  sei,  stellt  der  Philosoph  den  Satz  gegenüber,  dass 
wir  selbst  uns  das  Leben  abkürzen.  Das  Leben  ist  lang,  wenn  man  es 
richtig  zu  benutzen  weiss.  Wir  leben  aber  nicht  für  uns,  sondern  für 
andere,  wir  leben  so,  als  wenn  der  Tod  uns  niemals  ereile,  wir  leben 
unsern  Leidenschaften,  wir  leben,  als  wenn  die  Zeit  keinen  Wert  habe, 
wir  leben  in  der  Zukunft,  wir  leben  in  geschäftigem  Nichtsthun.  Das 
wahre  Leben  ist  dasjenige,  welches  dem  Studium  der  Weisheit  gewidmet 
ist,  denn  dieses  beschäftigt  sich  mit  den  Gütern,  die  unvergänglich  sind, 
die  Weisen  rauben  uns  keine  Zeit,  sie  zeigen  uns  den  Weg  zur  Unsterb- 
lichkeit, sie  legen  uns  alle  Zeit  zu  Füssen. 

Die  Abhandlung  ist  an  Paulinus  gerichtet,  der  die  Verwaltung  des 
Getreidewesens  in  Rom  unter  sich  hatte;  sie  ermahnt  ihn,  endlich  sich 
dem  wahren  otium  zu  ergeben  und  stellt  seine  bisherige  Amtsthätigkeit 
in  Gegensatz  zum  Studium  der  Weisheit. 

An  pikanten  Sentenzen  ist  die  Schrift  reich :  z .  6.  1 , 3  non  exiguum  temporis 
habemus,  sed  multum  perdimus  7, 4  vivere  tota  vUa  discendum  est  et,  qiwd  magis  fortasse 
miraberiSf  tota  vita  discettdum  est  tnori  14, 1  soH  omnium  otiosi  sunt  qui  sapientiae  va- 
eant,  soll  vivunt.  Sehr  interessant  ist  die  Schilderung  ^qv  oceupatiy  besonders  eines  Stutzers 
im  Barbierladen  (12,  3),  dann  eines  gelehrten  Kleinigkeitskrämers  (13, 2). 

Die  Abfassungszeit.  Aus  13,  8  (über  das  pomerium)  ergibt  sich  der  terminus 
ante  quem,  d.  h.  die  Schrift  ist  vor  dem  Tag  geschrieben,  an  dem  Claudius  das  Pomerium 
hinausschob,  vor  49/50.  Die  Schrift  wurde  bald  nach  seiner  Rückkehr  aus  der  Verbannung 
ediert.  (Für  49  sprechen  sich  LsHMAinr,  (Dlaudius  p.  12,  Hirschfeldeb  (Philol.  19,  95)  und 
Jonas  (p.  34)  aus. 

463.  Ad  Polybium  de  consolatione.  Diese  an  den  mächtigen  Frei- 
gelassenen des  Kaisers  Claudius  gerichtete  Schrift  sucht  denselben  über 
den  Tod  seines  Bruders  zu  trösten.  Am  Anfang  verstümmelt  setzt  sie 
mit  den  Gedanken  ein,  nichts  ist  ewig  und  nur  weniges  von  längerer 
Dauer.  Selbst  dem  Weltgebäude  droht  der  Untergang;  also  ist  der  Tod 
etwas  Naturnotwendiges.  Der  Kummer  bringt  weder  dem  Verstorbenen 
noch  dem  Überlebenden  einen  Vorteil.  Wenn  auch  zugegeben  werden 
muss,  dass  Polybius  durch  den  Tod  seines  Bruders  ein  herbes  Schicksal 
erfahren,  so  ist  doch  auch  andrerseits  zu  bedenken,  dass  dasselbe  nun 
einmal  unabänderlich  ist,  und  dass  Jammern  dawider  nichts  hilft.  Selbst 
der  Verstorbene,  falls  es  eine  Fortdauer  der  Seele  gibt,  kann  nicht  an 
dem  Schmerz  des  geliebten  Bruders  Gefallen  haben.  Weiter  erinnert  der 
Philosoph  daran,  dass  Polybius  seinen  übrigen  Brüdern  an  Mut  vor- 
leuchten und  auch  auf  seine  Stellung  und  den  Kaiser  Rücksicht  nehmen 
müsse.  Für  die  Einsamkeit  empfiehlt  der  Trostspender  als  das  beste 
Mittel,  seinen  Kummer  zu  bannen,  das  Studium.  ^    Die  Betrachtung  wendet 


*)  Über  die  Schriftsiellerei  des  Polybius 
vgl.  p.  64.  Detlefsem  hält  auch  den  Frei- 
gelassenen für  identisch  mit  dem  bei  Flinius 


Autoren verz.  zu  Bd.  31  genannten  und  3, 131 
auch  citierten  lateinischen  Schriftsteller  über 
Medicin  (Glückst.  Programm  des  J.  1881  p.  4). 


410    Römische  Litteraturgeschiohte,    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilong. 

sich  wiederum  zu  dem  Toten  und  zeigt,  dass  derselbe  unter  allen  Um- 
ständen, mag  es  eine  Fortdauer  geben  oder  nicht,  kein  bejammernswertes 
Los  hat.  Als  neuer  Trostgrund  erscheint,  dass  Polyblus  seinen  Bruder 
doch  längere  Zelt  um  sich  gehabt.  Den  Einwurf,  dass  der  Verlust  wider 
Erwarten  eingetreten,  weist  die  Trostschrift  mit  dem  Satz  zurück,  dass 
mit  dem  Tag  der  Geburt  sich  der  Tod  als  Begleiter  einstellt.  Alsdann 
wird  der  Trauernde  aufgefordert,  sich  von  dem,  was  sein  Herz  bedrückt, 
zu  dem  Erfreulichen,  was  ihm  noch  verblieben  ist,  zu  wenden,  besonders 
seine  Augen  auf  den  Kaiser  zu  richten;  der  Schriftsteller  lässt  sich  hier- 
bei die  Gelegenheit  nicht  entgehen,  starke  Schmeicheleien  dem  Herrscher 
darzubringen,  um  seine  Begnadigung  zu  erreichen.  Zuletzt  legt  er  dem 
Kaiser  selbst  eine  Trostrede  an  Polybius  in  den  Mund;  Beispiele  von  ähn- 
lichen Schicksalsschlägen  werden  vorgeführt.  Mit  eindringlichen  Mahnungen 
an  Polybius,  sich  in  seine  Studien  zu  versenken,  das  Andenken  des  Ver- 
storbenen durch  eine  Schrift  zu  verherrlichen,  das  Masslose  des  Schmerzes 
zu  verbannen,  sich  einer  liebevollen  Erinnerung  an  seinen  Bruder  hinzu- 
geben, schliesst  die  Schrift. 

Zeit  der  Abfassung.  Die  Schrift  ist  unter  dem  Kaiser  geschrieben,  der  über  ihn 
die  Verbannung  ausgesprochen,  also  unter  Claudius  nach  41  (13,2);  sie  ist  aber  vor  44 
geschrieben,  denn  der  Kaiser  hatte  noch  nicht  triumphiert  (13,2);  einige  Zeit  hatte  Seneca 
schon  in  der  Verbannung  zugebracht,  denn  er  spricht  von  seinem  longo  iam  situ  obsoletus 
et  habetatua  animtis  (18,  9)  Vgl.  Jonas  jp.  31  {„missa  est  ad  Polybium  consolatio  paulo  ante 
triumphum  Britannicum  anno  43J44''  Öücheler,  Rh.  Mus.  37,  327). 

Echtheit  der  consolatio.  Man  wollte  das  Produkt  dem  Seneca  aberkennen. 
Schon  Diderot  hatte  dies  in  seinem  bekannten  Essai  gethan.  Obwohl  gegen  ihn  eine  Ab- 
handlung Volkmanns  sich  gerichtet  hatte,  so  wurden  doch  neuerdings  auch  von  Bubescii 
wieder  Zweifel  an  der  Echtheit  erhoben  (Leipz,  Stud.  9,  114 — 120),  allein  ohne  über- 
zeugende Kraft. 

463.  Ad  Helviam  matrem  de  consolatione.  Die  Trostschrift,  die 
Seneca  an  seine  Mutter  richtete,  ist  einige  Zeit  nach  der  Katastrophe  der 
Verbannung  geschrieben.  Die  Abhandlung  ist  auf  einer  durchsichtigen 
Disposition  aufgebaut.  Sie  versucht  zuerst  den  Nachweis,  dass  die  Ver- 
bannung kein  Unglück  ist.  Der  Weise  legt  überhaupt  auf  die  äusseren, 
zufälligen  Dinge  keinen  Wert,  sondern  sucht  stets  den  Schwerpunkt  seines 
Daseins  in  sich  selbst.  Deshalb  sind  die  Urteile  der  Menge  nicht  für  ihn 
massgebend,  sonach  auch  nicht  das  herkömmliche  Urteil  über  das  Exil. 
Dieses  ist  nichts  anders  als  eine  Ortsveränderung.  Wie  viele  verlassen 
aber  nicht  ihr  Vaterland  freiwillig!  Wie  viele  Fremde  birgt  Rom!  Selbst 
ganze  Völker  verliessen  ihre  Heimat  und  suchten  sich  andere  Wohnstätten 
auf.  Der  Mensch  mag  sein,  wo  er  will,  er  hat  stets  seine  eigene  Tugend 
und  die  gemeinsame  Natur.  Auch  wenn  der  Ort  der  Verbannung  traurig 
ist,  begründet  dies  noch  kein  Übel,  der  Weise  vermag  stets  die  wahren 
Güter  von  den  eingebildeten  zu  trennen.  Die  Armut,  die  der  Verbannte 
zu  tragen  hat,  ertrügt  der  Weise  leicht,  da  er  sehr  wenige  Bedürfnisse 
zu  befriedigen  hat.  Dieser  Bedürfnislosigkeit  des  Weisen  stehen  die  un- 
geheuren Ansprüche  der  gewöhnlichen  Menschen  in  Bezug  auf  Nahrung') 
und  Kleidung  gegenüber;  diese  Ansprüche  aber  geben  niemals  Buhe,  wäh- 
rend derjenige,  der  sich  auf  das  natürliche  Mass  beschränkt,  stets  zufrieden 


')  Vgl.  die  berOhmten  Worte  10,  3:  vomunt  ut  edant,  edunt  %U  wmant. 


Der  Philosoph  Seneca,  411 

ist  und  von  Armut  nichts  merkt.  Übrigens  gibt  es  viele  Lagen  des  Lebens, 
in  denen  auch  die  Reichen  auf  ihren  Luxus  verzichten  müssen.  Ist  aber 
des  Weisen  Sinn  gegen  die  Armut  gefestigt,  so  ist  er  es  auch  gegen  zwei 
andere  mit  der  Verbannung  in  Verbindung  gebrachten  Nachteile,  gegen  die 
Schmach  und  gegen  die  Verachtung.  Der  zweite  Teil  der  Trostschrift 
nimmt  seinen  Ausgangspunkt  von  der  Mutter  und  führt  aus,  dass  diese 
ebensowenig  wie  der  Sohn  Grund  hat,  sich  abzuhärmen.  Vorteile,  welche 
sie  aus  der  Anwesenheit  des  Sohns  ziehen  konnte,  sind  für  sie  völlig 
irrelevant,  da  sie  stets  ihr  Interesse  dem  der  Ihrigen  nachstellte.  Dieser 
Punkt  kann  daher  kurz  abgemacht  werden.  Länger  verweilt  der  Schrift- 
steller bei  dem  zweiten  Punkt,  dass  die  Mutter  den  Umgang  des  geliebten 
Sohnes  entbehren  muss.  Aber  auch  hiefür  stehen  Trostgründe  bereit.  So 
natürlich  jener  Schmerz  für  das  weibliche  Gemüt  ist,  so  muss  doch  auch 
auf  der  andern  Seite  der  Mutter  entgegengehalten  werden,  dass  sie  solche 
vortreffliche  Eigenschaften  des  Geistes  und  Gemütes  besitzt,  dass  man  an 
sie  höhere  Anforderungen  in  Bezug  auf  die  Ertragung  des  Leids  als  an 
gewöhnliche  Frauen  stellen,  und  dass  man  sie  auf  das  Beispiel  berühmter 
Mütter  wie  die  der  Gracchen  verweisen  darf.  Der  Philosoph  empfiehlt  ihr 
die  Beschäftigung  mit  ernsteren  Studien  und  erinnert  sie  daran,  dass  ihr 
noch  genug  des  häuslichen  Glücks  übrig  geblieben  sei. 

Quellen.  Dass  auch  für  diese  consolatio  der  Philosoph  in  der  Litteratur  sich 
umgesehen»  bezeugen  folgende  Stellen:  1,2  cum  omnia  claristtifnarum  ingeniorum  moni- 
menta  ad  compescendoa  moderandosque  luctus  composita  et>olverem,  non  inveniebam  exem- 
plum  eiiat,  qui  consölatua  suos  easetf  cum  ipae  ab  Ulis  comploraretur.  8,  1  adversus  ipsam 
commutationem  locorum  —  aatis  hoc  remedii  putat  Varro  —  quodj  quocumque  venimuSf 
eadem  rerum  natura  utendum  est;  M.  Brutus  satis  hoc  putat,  quod  licet  in  exilium  euntibus 
rirtutes  suas  secum  ferre.  9,  4  Brutus  in  eo  libro  quem  de  virtute  composuit,  ait  se  Mar- 
cellum  vidisse  Mytilenis  exulantem  et,  quantum  modo  natura  hominis  pateretur,  heatissime 
riventem  neque  unquam  cupidiorem  bonarum  artium  quam  illo  tempore;  itaque  adicit  visum 
sibi  se  magis  in  exilium  ire,  qui  sine  illo  rediturus  esset,  quam  illum  in  exilio  relinqui. 

Die  Abfassungszeit  lässt  sich  nicht  genau  bestimmen;  Lipsius  vermutet,  dass 
sie  gegen  Ende  des  ersten  Jahres  des  Exils  oder  zu  Anfang  des  zweiten  abgefasst  wurde. 

ß)  Die  ausserhalb  des  Corpus  stehenden  erhaltenen  Schriften. 

464.  Ad  Neronem  Caesarem  de  dementia.  Bald  nachdem  Nero 
den  Thron  bestiegen,  im  Jahre  55  oder  56  überreichte  Seneca  dem  Herr- 
scher ein  Werk  über  die  Milde  oder  die  Gnade.  Es  waren  ursprüng- 
lich drei  Bücher,  allein  uns  sind  nur  das  erste  und  der  Anfang  des 
zweiten  erhalten.  Das  erste  Buch  verbreitet  sich  im  allgemeinen  über  die 
Milde  und  zeigt  besonders  deren  Notwendigkeit  und  Nützlichkeit  für  den 
Herrscher.  Das  zweite  Buch  sollte  die  Begriffsbestimmung  entwickeln 
und  die  Kriterien  an  die  Hand  geben,  welche  die  Milde  von  den  ver- 
wandten Fehlern  unterscheiden.  Wir  erhalten  auch  die  Definition  der  Milde 
(3, 1),  dann  eine  Erörterung  über  die  Strenge  und  Grausamkeit  und  über 
den  Unterschied  der  misericordia  und  der  venia  von  der  dementia.  Allein 
damit  bricht  das  Buch  unvollendet  ab.  Dem  fehlenden  dritten  Teil  war 
die  Aufgabe  gestellt,  auszuführen,  wie  man  sich  die  Tugend  der  Milde 
aneigne,  erhalte  und  befestige. 

An  Schmeicheleien  an  Nero  fehlt  es  nicht.  So  nimmt  das  zweite 
Buch  geschickt  seinen  Ausgangspunkt  von  einem  Wort  desselben,  welches 


412    Römische  Litteraturgeschiohto.    U.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Ahtoilnng. 

ganz  besonders  sein  weiches  Gemüt  zu  bekunden  schien.  Als  er  nämlich 
zur  Bestätigung  eines  Todesurteils  gedrängt  wurde,  rief  er  aus  «Oh  könnte 
ich  doch  nicht  schreiben*'.  Auch  im  Eingang  des  ersten  Buchs  wird  in 
einem  Monolog  die  hohe  Stellung  und  die  grosse  Macht  Neros  geschildert. 
Aber  man  darf  nicht  vergessen,  dass  ja  die  ersten  Regierungsjahre  des 
jungen  Kaisers  zu  den  grössten  Hoffnungen  berechtigten. 

Dio  Disposition  der  Schrift,  welche  uns  ermögUcht,  das,  was  fehlt,  im  allge- 
meinen  zu  bestimmen,  lautet  (1,  3,  1):  in  tres  partes  omnem  hanc  materiam  ditidam  .  Prima 
erit  -\-  manumisaionia  (leider  noch  nicht  geheilt);  secunda  ea,  quae  naturam  clementiae 
habitumque  demonstret:  nam  cum  sint  vitia  quaedam  virtufes  imitantia,  non  possunt  secernij 
nisi  iis  signa,  quU>u8  dinoacantur,  inpreaseris;  tertio  loco  quaeremus,  quomodo  ad  hanc 
rirtutem  perducatur  animus,  quomodo  confirmet  eam  et  usu  suam  faciat. 

Über  das  Bruchstück  des  Hildebertus  Cenomanensis  vgl.  Rossbach,  Z>m- 
quis.  de  Sen,,  Rostock  1882  p.  33,  Berl.  Stud.  2.  Bd.  3.  H.  p.  112;  Thomas,  Fleckeis.  Jahrb. 
1884  p.  592. 

Die  Zeit  der  Abfassung  ergibt  sich  aus  1,9,1.  Nero  hatte  das  18.  Lebensjahr 
zurückgelegt,  als  die  Schrift  geschrieben  wurde,  also  l^llt  sie  zwischen  Dezember  55  und 
Dezember  56  (Jonas  p.  41). 

465.  De  beneficÜB  1.  Vll.  Diese  Bücher  sind  dem  Aebutius  Liberalis 
gewidmet.  In  dem  ersten  Buch  beginnt  er  mit  der  Betrachtung,  dass 
keine  Untugend  so  häufig  sei  als  die  Undankbarkeit.  An  derselben  sind 
aber  oft  die  Geber  selbst  schuld,  weil  sie  bei  der  Spendung  von  Wohl- 
thaten  nicht  die  richtigen  Wege  einschlagen.  Allein  die  Undankbarkeit 
darf  nicht  vom  Wohlthun  abhalten.  Dann  schreitet  er  zur  Definition  der 
Wohlthat;  das  Wesen  derselben  ruht  in  der  Gesinnung  des  Gebers,  nicht 
in  der  Spende.  Aber  es  ist  von  Wichtigkeit  zu  wissen,  was  für  Wohl- 
thaten  man  spenden  soll  und  in  welcher  Weise.  Nur  der  erste  Punkt 
wird,  noch  in  diesem  Buch  erörtert.  Mit  dem  zweiten  Punkt,  wie  Wohl- 
thaten  zu  spenden  seien,  hebt  das  zweite  Buch  an;  es  werden  über 
diesen  Punkt  recht  praktische  Lehren  gegeben.  Daran  schliessen  sich  Be- 
lehrungen über  die  Art  und  Weise,  wie  man  Wohlthaten  annehmen  soll. 
Auch  das  Gegenbild,  die  undankbare  Gesinnung  muss  hier  gestreift  werden. 
Die  Ursachen  derselben  werden  angeführt  und  kurz  erläutert.*)  Im  dritten 
Buch  wird  die  Betrachtung  der  Undankbarkeit  fortgesetzt;  es  sind  zwei 
Streitfragen,  welche  eine  ausführliche  Erörterung  gefunden  haben,  einmal 
die  Frage,  ob  die  Undankbarkeit  sich  zur  gerichtlichen  Verfolgung  eigne; 
der  Autor  antwortet  mit  Nein.  Das  zweite  Problem  ist,  ob  der  Sklave 
seinem  Herrn  eine  Wohlthat  erweisen  könne.  Hier  ist  das  Ergebnis  ein 
Ja;  rührende  Beispiele  von  Treue  der  Sklaven  gegen  ihre  Herren  werden 
eingeschaltet.  Ein  neues  Problem,  das  behandelt  wird,  ist,  ob  die  Kinder 
ihren  Eltern  grössere  Wohlthaten  erweisen  können  als  sie  empfangen 
haben.  Die  Untersuchung  wird  mit  einem  fingierten  Gegner  geführt,  der 
jene  Frage  verneint  hatte;  derselbe  wird  widerlegt.  Das  vierte  Buch 
erhärtet  zuerst  den  Satz,  dass  Wohlthun  und  Dankbarkeit  zu  den  Dingen 
gehören,  die  an  und  für  sich  zu  erstreben  sind;  dann  wird  der  Fall  ge- 
prüft, ob  man  auch  Undankbaren  Wohlthaten  erweisen  soll.  Im  fünften 
Buch  werden  verschiedene  quaestiones  besprochen  und  entschieden,  ob  es 
eine  Schande,  im  Wohlthun  besiegt  zu  werden  und  ob  jemand  sich  selbst 


^)  Über  die  Disposition  der  zwei  ersten  Bücher  vgl.  Haebeklin,  Rh.  Mos.  45, 45. 


Der  Philosoph  Beneca.  413 

Wohlthaten  spenden  könne.  Dann  wendet  er  sich  zu  den  stoischen  Paradoxa 
«Niemand  kann  undankbar  sein**.  „Alle  sind  undankbar."  Weiterhin 
wird  der  Fall  berührt,  ob  für  Wohlthaten,  die  z.  B.  der  Vater  empfangen, 
auch  der  Sohn  dankbar  sein  müsse.  Endlich  wird  untersucht,  ob  auch 
von  einer  Wohlthat  gesprochen  werden  könne,  wenn  der  Empfänger  die- 
selbe nicht  als  solche  empfindet  und  ob  man  Ersatz  für  eine  erwiesene 
Wohlthat  fordern  dürfe.  Casuistisch  ist  auch  das  sechste  Buch.  Da 
tauchen  die  Probleme  auf,  ob  das  beneficium  entrissen  werden  könne;  ob 
man  Dank  dem  schulde,  der  uns  wider  Willen  oder  ohne  es  zu  wissen, 
genützt  hat ;  ob  eine  Verpflichtung  für  uns  erwächst,  wenn  einer  in  seinem 
Interesse  uns  einen  Dienst  erwiesen,  ob  man  einem  Unglück  wünschen 
dürfe,  um  ihm  Hilfe  leisten  zu  können.  Ein  solcher  Wunsch  ist  verwerf- 
lich, wir  bedürfen  nicht  des  Unglücks,  um  wohlzuthun,  auch  das  äussere 
Glück  bietet  dazu  Gelegenheit.  Die  Hochstehenden  bedürfen  .oft  des  Rates, 
der  Stimme  der  Wahrheit  und  der  Belehrung.  Das  siebente  Buch  bewegt 
sich  nicht  minder  in  Casuistik;  der  Philosoph  bemerkt  im  Eingang,  dass 
vieles  in  der  Philosophie  nur  zur  geistigen  Gymnastik  betrieben  werde,  die 
Hauptsache  bleibe  immer,  die  Grundsätze  für  unser  Handeln  fest  inne  zu 
haben,  um  das  echte  Leben  des  Weisen  führen  zu  können.  Daran  schliesst 
er  das  Problem,  ob  man  dem  Weisen  etwas  schenken  könne,  da  derselbe 
ja  alles  besitze.  Weitere  Fragen  sind,  ob  der,  welcher  alles  aufgeboten, 
um  einen  Dienst  zu  vergelten,  seiner  Verpflichtung  quitt  sei,  ob  man  die 
Wohlthat,  die  man  von  einem  Weisen  empfangen,  vergelten  müsse,  wenn 
dieser  Weise  inzwischen  ein  böser  Mensch  geworden  ist.  Dann  wird  der 
Satz  „Der  Spender  soll  die  Wohlthat  vergessen"  erklärt  und  endlich  das 
Verfahren,  das  man  gegen  Undankbare  beobachten  soll,  dargelegt. 

Dies  ist  der  Inhalt  des  Werks.  Wie  man  sieht,  verliert  sich  das- 
selbe zuletzt  in  unfruchtbare  Spitzfindigkeiten.  Auch  an  streng  geschlos- 
sener Gliederung  fehlt  es;  doch  finden  sich  in  demselben  auch  feine,  aus 
dem  Leben  gesshöpfte  und  für  das  Leben  bestimmte  Regeln  und  Beob- 
achtungen. Eingestreute  Beispiele  gewähren  dem  ermüdeten  Leser  Ruhe- 
punkte. 

Die  Zeit  der  Abfassung.  Mit  Sicherheit  lässt  sich  behaupten,  dass  das  Werk 
nach  Claudius  abgefasst  wurde;  denn  die  den  Kaiser  gering  schätzende  Äusserung  des 
Crispus  Passienus  (1,15,5)  „malo  divi  Augusti  iudicium,  malo  Claudii  beneficium*^  konnte 
nicht  zu  Lebzeiten  des  Claudius  ver5fifentlicht  werden.  Als  Seneca  seinen  Brief  81  schrieb, 
verweist  er  (3)  auf  das  Werk  de  beneficiis.  Allein  da  diese  Briefe  in  die  letzte  Lebens- 
zeit Senecas  fallen,  gewinnen  wir  aus  diesem  Citat  nichts  für  die  Abfassungszeit. 

Die  Überlieferung  der  Schriften  de  dementia  und  de  beneficiis  beruht  auf  dem 
Codex  Nazarianus  s.  Vaticano-Palatinus  1547  s.  VITI/IX.  Die  übrigen  libri  „atU  ex  ipso  Naza- 
riano  aut  ex  codice  plane  gemino  desrripti"  (Gertz,  Ausg.  p.  Vlj  sind  so  gut  wie  wertlos. 

466.  Ad  Lncilinm  naturalium  qnaestionum  libri  VII.  Der  Phi- 
losoph beginnt  in  diesem  Werk,  das  dem  uns  schon  bekannten  Lucilius 
gewidmet  ist,  mit  einem  enthusiastischen  Lob  auf  die  hohe  Stellung  der 
Naturerkenntnis.  Nach  ihm  unterscheidet  sich  die  Naturphilosophie  von 
der  Moralphilosophie,  wie  sich  Oott  von  dem  Menschen  unterscheidet;  die 
eine  zeigt,  was  im  Himmel  vorgeht,  die  andere,  was  auf  Erden  zu  ge- 
schehen hat.  Die  Naturerkenntnis  macht  uns  mit  den  erhabensten  Gegen- 
ständen bekannt,  sie  ist  der  Gipfelpunkt  des  menschlichen  Wissens.   Wer 


414    Hömische  LitteratnrgeBciiiclite.    U.  Die  2eit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

die  himmlischen  Dinge  betrachtet,  überschreitet  die  Grenzen  der  Sterblich- 
keit. Plötzlich  bricht  er  ab  und  erklärt,  er  wolle  von  den  feurigen 
Lichterscheinungen  sprechen.  Dies  geschieht  auch;  den  Mittelpunkt 
des  Buchs  bildet  die  Erklärung  des  Regenbogens.  Das  zweite  Buch  wird 
mit  einer  Gliederung  der  Naturerkenntnis  eröffnet;  er  unterscheidet  drei 
Gebiete,  die  Region  des  Himmels  {caelestia),  die  zwischen  Erde  und  Himmel 
befindliche  Region  {sublimia),  endlich  die  Erde  (terrena).  Selbstverständlich 
muss  für  jedes  der  drei  Gebiete  eine  spezielle  Wissenschaft  bestehen,  für 
das  erste  die  Astronomie,  für  das  zweite  die  Meteorologie,  für  das  dritte 
die  Geographie.')  Gegenstand  dieses  Buchs  ist  das  Gewitter  (Wetter- 
leuchten, Blitz,  Donner).  Im  dritten  Buch  beklagt  er  sich,  dass  er  in  so 
hohem  Alter  sich  an  einen  so  unermesslichen  Stoff  gewagt,  er  ist  ent- 
schlossen, seine  Zeit  soviel  als  möglich  auszunützen,  um  die  Aufgabe 
zu  lösen.  Die  Erhabenheit  des  Gegenstandes  ermutigt  ja  zum  Ausharren ; 
er  beklagt  die  Schriftsteller,  welche  sich  mit  der  Geschichte  Philipps,  Ale- 
xanders, Hannibals  abmühen,  statt  die  Menschen  über  die  Grundsätze  des 
rechten  Lebens  zu  unterrichten;  dann  handelt  er  vom  Wasser,  von  der 
Entstehung  desselben,  Eigenschaften  u.  s.  w.  und  schliesst  mit  einer  phan- 
tasiereichen Ausmalung  der  allgemeinen  Überschwemmung  und  des  Unter- 
gangs der  Menschheit.  Der  Eingang  des  vierten  Buchs  ist  persönlicher 
Natur,  er  warnt  Lucilius,  der  Sizilien  zu  verwalten  hat,  vor  den  Schmeich- 
lern. Was  die  Materie  der  Betrachtungen  anlangt,  so  werden  die  Ur- 
sachen der  Anschwellung  des  Nils  aufgespürt,  plötzlich  stehen  wir  vor 
einer  Lücke,  nach  derselben  kommen  Hagel  und  Schnee  zur  Besprechung. 
Das  fünfte  Buch  entbehrt  jeder  Einleitung,  es  beginnt  sofort  mit  einer 
Definition  des  Windes  und  erörtert  dann  die  verschiedenen  Fragen,  die 
sich  an  dieses  Phänomen  knüpfen.  Im  sechsten  Buch  tritt  der  Philosoph 
an  das  Erdbeben  heran;  in  der  Einleitung  gedenkt  er  der  Erderschüttc- 
rung,  welche  im  Jahr  63  über  Pompeii  hereinbrach  und  verfallt  wieder  in 
moralische  Betrachtungen,  um  uns  den  Schrecken  vor  dieser  Naturerschei- 
nung zu  benehmen.  Das  letzte,  siebente  Buch,  untersucht  die  Natur  der 
Kometen. 

Aus  dieser  Inhaltsübersicht  ersehen  wir,  dass  die  drei  Teile,  in  welche 
er  die  Naturerkenntnis  zerlegt ,  sehr  ungleichmässig  berücksichtigt  sind ; 
der  Astronomie  sind  nur  2  Bücher  gewidmet  (I  und  VH),  ebensoviele  der 
Erdkunde  (IH  und  IV»),  der  Metereologie  dagegen  4  (II  IV»»  V  VI)  ^).  Wir 
haben  sonach  in  dem  Werk  kein  vollständiges  Lehrbuch  der  Naturerkennt- 
nis, bloss  gewisse  Partien  sind  herausgegriffen,  jede  macht  den  Gegen- 
stand einer  Monographie  aus,  die  wohl  für  sich  dem  Lucilius  überschickt 
wurde.  Die  Behandlung  des  Stoffes  anlangend,  so  liefert,  uns  der  Autor 
kein  Werk,  das  auf  reichen  Beobachtungen  aufgebaut  ist  und  in  dem  sich 
ein  intensives  Studium  der  Natur  ausprägt.  Er  schöpft  aus  Büchern,  er 
sieht  nach,  was  die  verschiedenen  Autoren  über  ein  Naturphänomen  aus- 
gesonnen haben  und  übt  an  den  Hypothesen  seinen  Scharfsinn.  Der  Dia- 
lektiker ist  es,  der  das  Wort  führt,  nicht  der  Naturforscher.    Dieser  Dia- 

*)  Die  Namen  der  Disziplinen  fehlen  an  der  Stelle. 
^)  Über  die  Stellung  dieses  Buchs  vgl.  2, 1, 3. 


Der  Philosoph  Seneca. 


415 


lektiker  ist  aber  eigentlich  Moralphilosoph  und  es  wird  ihm  daher  schwer, 
diesen  seinen  Charakter  zurückzudrängen.  Mit  Vorliebe  werden  daher 
moralische  Reflexionen  eingestreut. 

Das  Werk  erfreute  sich  des  höchstens  Ansehens  im  Mittelalter;  die 
moderne  Naturforschung  hat  natürlich  dasselbe  bei  Seite  gelegt. 

Die  Lficke  im  4.  Buch.  Das  Vorhandensein  einer  grösseren  Lücke  im  4.  Buch 
kann  von  niemand  ernstlich  bestritten  werden.  Denn  ehe  die  Untersuchung  über  den  Nil 
zu  Ende  gelangt  ist,  kommt  ebenso  unvermittelt  der  Hagel  zur  Betrachtung.  Weiterhin  ist 
aber  anzunehmen,  dass,  da  so  verschiedenartige  Gegenstände  nicht  in  einem  Buch  vorgetragen 
werden  konnten,  durch  die  Lficke  das  Ende  eines  Buchs  und  der  Anfang  eines  zweiten 
verschlungen  wurden,  dass  sonach  das  Werk  aus  acht  Büchern  bestand.  Weitere  Verluste 
einzelner  Bücher  nimmt  ohne  Wahrscheinlichkeit  Guitdbrmank  (im  Zusammenhang  mit  seiner 
Hypothese  von  der  Anordnung  der  Bücher)  an  (p.  351  fg.). 

Die  Reihenfolge  der  Bücher  ist  ein  in  der  letzten  Zeit  viel  behandeltes  Pro- 
blem. Oegen  die  herkömmliche,  durch  gute  QueUen  gestützte  Reihenfolge  hat  man  einge- 
wendet, dass  in  der  Überlieferung  auch  eine  andere  vorliege ;  nicht  bloss  die  Aufeinander- 
folge der  Bücher  in  den  Handschriften,  sondern  auch  die  Subskriptionen  (besonders  wertvoll 
die  des  Paris.  8624)  wiesen  auf  eine  andere  Ordnung  hin  (Müllbr  p.  14,  Gundermann 
p.  359).  Femer  hat  man  aus  Verweisungen  des  Schriftstellers  auf  andere  Teile  des  Werkes 
ein  Kriterium  gegen  die  traditionelle  Reihenfolge  abgeleitet  (wichtig  ist  besonders  2, 1,  3, 
vgl.  Müller  p.  19,  Gundermann  p.  351  und  p.  352,  verständige  Einwürfe  dagegen  bei 
ScHULTBSS,  Stud.  p.  13 ;  dann  1, 15, 4  vgl.  Schultsss,  De  S,  quaest,  not.  p.  8,  Müller  p.  18, 
Gundermann  p.  353).  Endlich  hat  man  als  Prinzip  für  die  Anordnung  der  Bücher  die 
Gliederung  der  scientia  naturalis  (Anfang  des  2.  Buchs)  angenommen.  Allein  keines  dieser 
drei  Kriterien  gibt  eine  feste,  einwandfreie  Grundlage.  Die  Ergebnisse,  welche  man  er- 
zielte, waren  daher  sehr  verschieden,  wie  folgende  Tabelle  zeigt: 

vulgo  1  (Feuer)  II  (Gewitter)  III  (Wasser)  IV»  (Nil)  IV^  (Hagel)  V  (Wind)  VI  (Erd- 
beben) VII  (Kometen), 

Haasb  IV»>  (Hagel)  V  (Wind)  VI  (Erdbeben)  VII  (Kometen)  1  (Feuer)  II  (Gewitter) 
III  (Wasser)  IV*  (Nil), 

ScHULTEss »)  II  (Gewitter)  HI  (Wasser)  IV»  (Nil)  IV^  (Hagel)  V  (Wind)  VI  (Erd- 
beben) VII  (Kometen)  I  (Feuer), 

Müller  III  (Wasser)  IV«  (Nil)  IV»>  (Hagel)  V  (Wind)  VI  (Erdbeben)  II  (Gewitter) 
I  (Feuer)  VII  (Kometen), 

Gundermann  VII  (Kometen)  I  (Feuer)  IV^  (Hagel)  V  (Wind)  VI  (Erdbeben)  II  (Ge- 
witter) III  (Wasser)  IV«  (Nil). 

Keine  dieser  Anordnungen  ist  vöUig  befriedigend,  die  zuletzt  vorgebrachte  leidet  z. 
6.  an  dem  Übelstand,  dass  die  Gliederung  des  Werks  erst  gegen  das  Ende  erscheint.  Bei 
dem  Problem  ist  zu  beachten,  dass  der  Schriftsteller  nicht  den  ganzen  Stoff  erschöpfen  will 
und  dass  er  seine  einzelnen  Bücher  als  Monographien  gibt,  femer,  dass  er  überhaupt 
strengem  logischen  Aufbau  abhold  ist. 

Litteratur:  Haasb,  im  Index  lectionum  von  Breslau  1859;  Larisch,  De  Sen. 
quaest,  nat.  codice  Leid,  Voss,  et  locis  iUarum  libr,  a  Vincentio  Belhvacensi  excerptis, 
Bresl.  1865;  Jonas,  De  ordine  p.  55;  Schultess,  De  L.  A.  S.  quaestionibus  naturalihus  et 
epistulis,  Bonn  1872;  Georg  Müller,  De  L,  A,  S,  quaest,  not.,  Bonn  1886;  Schultess, 
Annaeana  Studia^  Hamburg  1888,  p.  5;  Gundermann,  Die  Buchfolge  inSenecas^a^  Quaest. 
(Fleckeis.  Jahrb.  1890,  p.  351). 

Abfassungszeit  der  naturales  quaestiones.  Ein  deutliches  Indicium  der 
Zeit  enthält  6,  1 ;  das  Kapitel  weist  unter  Anführung  der  Consuln  auf  das  Jahr  63  (Non. 
Febr.)  hin,  in  welchem  ein  Erdbeben  in  Pompeii  stattgefunden  hat  (Von  einem  Erdbeben 
des  vorausgegangenen  Jahres  in  Achaia  und  Macedonien  spricht  6, 1, 13).  Mit  Unrecht  wird 
das  Jahr  63  von  Jonas  (p.  53)  bestritten  und  der  Ansatz  des  Tacitus  (62)  festgehalten. 
Da  das  dritte  Buch  deutlich  auf  den  secessus  (62)  hinweist,  so  werden  wir  die  Abfassung 
der  Bücher  um  die  Jahre  62/63  ansetzen  (Schultess,  Do  L,  Annaei  Sen.  quaest,  natural,  et 
epistulis,  Bonn  1872  p.  22). 

Die  Überlieferung.  Massgebend  sind  besonders  folgende  Handschriften:  Beroli- 
nensis  s.  XIII  (E),  der  Leidensis  Voss.  69  (L)  und  der  zu  derselben  Sippe  gehörende  Es- 
corialensis  s.  XIII/XIV,  der  Bambergensis  s.  XI ü  (B),  und  der  mit  ihm  im  Zusammenhang 


*)  Diesem  Buch  lAsst  aber  Schultess 
den  Prolog  des  ersten  Buchs  vorausgehen. 
Die  Worte  ^^sed  haec  deinde,  nunc  ad  prO' 


])ositum  opus  veniamf*  seien  interpoliert  (De 
S.  quaest.  nat,  p.  14). 


416     ItOmisohe  Litteratnrgeschichte.    n.  Die  2eit  der  Monarcliie.    1.  Abteilong. 


stehende  Pragensis  s.  XII/XIU  (P).  „Senecae  quaestianes  naturales  non  tarn  simpliei  via 
ad  no8  pervenerutUf  ut  in  uno  alterove  codice  omnis  salus  posUa  sit.  Imtno  saepisHme  E, 
saepissime  ELy  saepe  LB,  haud  raro  B,  ifUerdum  L  genuinam  lectionem  tradiderunt,^ 
MüLLEB,  De  S,  quaest,  not.  p.  27. 

467.  Ad  Lucilinm  epistalamm  moraliuxn  L  XX.  Dieses  Corpus 
besteht  aus  124  Briefen,  welche  in  20  Bücher  eingeteilt  sind.  Da  aber 
Gellius  12,2,3  das  22.  Buch  der  Briefe  citiert,  so  scheint  der  Schluss  des 
Werks,  das  sonach  mindestens  22  Bücher  umfasst  haben  musste,  verloren 
gegangen  zu  sein.  Gerichtet  sind  die  Briefe  an  den  ihm  befreundeten 
Lucilius.  Der  Gegenstand  der  Briefe  ist  die  praktische  Ethik,  sie  wollen 
Anleitung  zur  Erlangung  der  Glückseligkeit  geben.  Sie  stellen  uns  einen 
Kursus  der  Moral  in  zwangloser  Weise  dar.  Der  Verfasser  hebt  damit 
an,  dass  er  im  ersten  Buch  verschiedene  Lebensregeln  gibt,  dann  im  zwei- 
ten den  Gedanken  hervortreten  lässt,  dass  die  Philosophie  uns  allein  zum 
glücklichen  Leben  führen  kann,  und  daran  die  Meinung  reiht,  sich  nicht 
durch  nichtige  Dinge  vom  Studium  der  Philosophie  abbringen  zu  lassen, 
endlich  im  dritten  darlegt,  dass  wir  leicht  diese  Hindernisse  beseitigen 
können.  Diese  drei  Bücher  sind  durch  deutliche  Kennzeichen  von  Seneca 
zu  einer  Einheit  zusammengeschlossen.  Der  letzte  Brief  wird  ausdrücklich 
als  Schlussbrief  markiert  (29, 10),  ferner  werden  die  späteren  Briefe  im 
Gegensatz  zu  den  früheren  der  drei  ersten  Bücher  gestellt  (33, 1).  Endlich 
haben  alle  Briefe  der  drei  Bücher  (abgesehen  von  dem  ersten  Brief)  die 
Eigentümlichkeit,  dass  jedem  der  Satz  eines  Weisen  als  Schmuck  beigegeben 
wird.  Dass  die  Sammlung  zur  Publizierung  bestimmt  war,  geht  daraus 
hervor,  dass  Seneca  dem  Lucilius  durch  diesen  Briefwechsel  die  Fortdauer 
seines  Namens  in  Aussicht  stellt  (21,5).  Der  Annahme  aber,  dass  auch 
das  Corpus  von  Seneca  selbst  ediert  wurde,  steht  nichts  im  Wege.  Damit 
kämen  wir  auf  eine  geteilte  Publikation  des  Corpus,  und  es  ist  wahrschein- 
lich, dass  auch  die  übrigen  Bücher  nicht  auf  einmal,  sondern  successive 
ans  Licht  traten.  Man  hat  die  Ansicht  ausgesprochen,  dass  auch  diese 
später  erschienenen  Bücher  zu  Einheiten  zusammengefasst  waren;  allein 
dieser  Meinung  steht  die  schwerwiegende  Thatsache  gegenüber,  dass  der 
Schriftsteller  nirgends  durch  äussere  Marksteine  solche  Einheiten  klar  und 
deutlich  hervortreten  Hess.  Wenn  aber  solche  Marksteine  fehlen,  so  können 
wir,  selbst  wenn  sich  inhaltlich  bestimmte  Gruppen  abheben,  noch  nicht  vom 
Schriftsteller  gewollte  Einheiten  annehmen.  Die  ganze  Sammlung  ist  ent- 
standen, nachdem  sich  Seneca  vom  öffentlichen  Leben  zurückgezogen,  also 
nach  62;  er  besagt  dies  in  deutlicher  Weise.*)  Sie  wird  nicht  lange  vor 
seinem  Tod  ihren  Abschluss  gefunden  haben.  Ob  alle  Briefe  an  Lucilius 
gelangten,  ist  sehr  fraglich.  Es  scheint  vielmehr,  dasö  bei  der  Zusammen- 
stellung der  Briefe  zu  einem  Corpus  auch  Abhandlungen  eingereiht  wurden, 
welche  nur  ganz  äusserlich  die  Form  des  Briefs  annahmen. 

Die  Briefsammlung  ist  die  bedeutendste  Leistung  Senecas.  Gross  ist 
die  Fülle  der  Gedanken,  denn  immer  neue  Seiten  weiss  der  Schriftsteller 
seinem  Gegenstand  abzugewinnen.    Die  reiche  Lebenserfahrung,  die  der 


^}  8,  2  secessi  non  tantutn  ab  hominibtiSj 
sed  a  rebus,  et  inprimis  a  rebus  meis;  poste- 
rorum  negotium  ago.   Ulis  aliqua,  qttae  pos- 


sint  prodesse,  conscribo.  Auf  sein  Alter 
weist  12. 1  19, 1  26, 1  34, 1  48,  5  61,  1  67,  2 
77, 3  (Jonas  p.  61). 


Der  Philosoph  Seneca.  417 

Autor  hinter  sich  hat,  findet  vielseitigen  Ausdruck.  An  erhabenen,  ins 
Tiefe  gehenden  Gedanken  enthalten  die  Briefe  eine  grosse  Fülle.  Doch 
wirkt  das  fortwährende  Moralisieren  zuletzt  ermüdend  auf  den  Leser. 

Die  Entstellung  des  Corpus.  Lipsms  erkannte  zwar  an,  dass  sich  wirkliche 
Briefe  in  dem  Corpus  hefinden,  allein  in  dem  grössten  Teil  derselben  erblickte  er  mora- 
lische Abhandlungen,  als  Zeit  der  Abfassung  statuierte  er  die  Jahre  63  und  64.  Der  Heraus- 
geber Senecas  Haase  stellt  die  Meinung  auf,  dass  die  Briefe  für  die  Publikation  bestimmt 
waren  (ep.  21, 5),  dass  sie  aber  erst  nach  dem  Tod  Senecas  von  einem  seiner  Freunde  in 
der  Ordnung  der  Abfassungszeit  (mit  Ausnahme  von  75)  ediert  wurden  (vol.  III  praef.  p.  III), 
sie  seien  aber  nicht  völlig  f&r  die  Herausgabe  zugerichtet  gewesen,  wie  aus  den  von  Seneca 
später  gemachten  und  nicht  hineingearbeiteten  Zusätzen  zu  ersehen  (p.  V).  Nach  Haasb 
wendete  sich  der  Blick  der  Gelehrten  besonders  auf  die  Feststellung  der  Zeit,  in  welche 
die  Briefe  fallen.  So  setzte  Lbhmaxtn,  Claudius  und  Nero  p.  16  als  Intervallum  für  die 
Briefe  die  Zeit  62  (sfcessua)  bis  zu  seinem  Tod  65  (ep.  o,  2)  an,  die  Herausgabe  der 
Briefe  nach  dem  Tod  Senecas  nimmt  er  mit  Haase  an.  Einen  Rückschritt  macht  Peiper, 
Praef.  in  S.  trag,  suppl.,  indem  er  p.  14  fg.  (nach  ep.  91)  die  Abfassung  der  Briefe  in  den 
Zeitraum  57—58  zurückverlegt.  Jokas,  De  ordine  libr,  erachtet  als  sicher,  dass  die  Briefe 
nach  dem  secessus  geschrieben  sind  (p.  61),  dass  dieselben  fmit  Ausnahme  des  75. 
Briefs)  in  der  chronologischen  Ordnung  stehen  (p.  64  mit  Haase),  endlich  dass  die  drei 
ersten  Bücher  von  Seneca  herausgegeben  wurden  (p.  70),  und  dass  daher  eine  Herausgabe 
des  ganzen  Corpus  nach  dem  Tode  des  Schreibers  unmöglich  sei.  Mabteks,  De  Senecae 
vita,  Alton.  1871  p.  61,  setzt  den  50.  Brief  ins  Jahr  49,  die  übrigen  Briefe  in  die  Jahre 
60 — 65;  dieses  grössere  Intervallum  sei  notwendig,  um  die  lange  Korrespondenz  der  zwei 
entfernten  Freunde  zu  ermöglichen.  Schitltess,  De  Senecae  quaest.  nat.  et  epist.j  Bonn  1872, 
(p.  31)  bestimmt  den  Anfangspunkt  des  Briefwechsels  durch  den  Winter  des  Jahres  62/3, 
den  Endpunkt  (p.  41)  durch  das  Jahr  64.  Bezüglich  der  Anordnung  der  Briefe  ist  er  der  An- 
sicht, dass  das  Corpus  im  grossen  Granzen  der  Zeitfolge  nach  geordnet  ist  und  dass  nur 
dadurch  Störungen  der  chronologischen  Reihenfolge  entstanden,  dass  Briefe  gleichen  Inhalts 
zusammengerückt  wurden  (z.  B.  48,  68,  69,  70,  49).  £inen  neuen  Weg  schlug  Hiloenfeld, 
L.  A.  Senecae  episttdae  tnoralesy  Fleckeis.  Jahrb.  17  Suppl.  p.  601,  ein.  Er  statuiert,  dass 
die  ganze  Sammlung  in  mehrere  Corpora  zerfalle,  welche  von  Seneca  nacheinander  heraus- 
gegeben worden  seien;  die  Briefe  seien  teils  wirkliche,  teils  fingierte: 

I.  Corpus  1. 1— III  (ep.  1—29),  abgefasst  Anfangs  62  ; 
IL  Corpus  1.  IV.  V  (ep.  30—52),  abgefasst  Ende  62 ; 

III.  Corpus    Frühjahr  oder  Sommer  64; 

Abt.  1  1.  VI- VIII  (ep.  53-71), 

2  1.  IX— X  (ep.  72-79), 

3  1.  XI— Xni  (ep.  80-88), 

IV.  Corpus  1.  XIV— XX  (ep.  89—124)  abgefasst  Ende  64 ; 
V.  Corpus  1.  XXI— X  (ep.  125— x)  abgefasst  65? 

Diese  Corpora  seien  auch  durch  ihren  Inhalt  zu  Einheiten  zusammengeschlossen  und 
zwar  in  folgender  Weise: 

I.  Adhortatio  ad  phüosophiae  Studium;  II.  de  philosophiae  studio  recte  instituendo; 
III.  de  summo  bono;  IV.  moralis  philosophiae  conimentarii;  V.  de  deorum  cultu. 

Die  Überlieferung.  Die  Briefe  wurden  viel  gelesen  und  abgeschrieben.  Bei  dem 
grossen  Umfang,  den  dieselben  einnahmen,  trat  bald  die  Spaltung  in  zwei  Bände  ein; 
erst  später  im  12.  Jahrhundert  wurden  sie  wieder  vereinigt.  Aus  dieser  späteren  Zeit 
stammen  der  Abrincensis  239  s.  XII,  der  Montepesstdanus  H  445  s.  XIII,  der  Cantabrigiensis 
1768  s.  Xm. 

Der  erste  Band  der  Briefe  umfasst  die  Briefe  1—88  oder  die  Bücher  1—13. 
Die  Überlieferung  desselben  beruht  in  erster  Linie  auf  dem  Parisinus  8540  s.  X, 
dem  Parisinus  8658a  s.  X  und  dem  Laurentianus  76,40  s.  IX/X.  (In  den  Briefen 
16,  17,  10,  47,  43,  42,  5,  12,  15,  34  kommt  hinzu  der  Guelferhytanus-Gudianus  335  s.  X.) 
Über  die  übrigen  Handschriften  vgl.  die  eingehende  Darlegung  von  Rossbach,  Bresl.  Philol. 
Abh.  II.  Bd.  3.  H.  p.  41. 

Der  zweite  Band  der  Briefe  umfaaste  die  Briefe  89—124  oder  die  Bücher  14—20. 
Dieser  Band  wurde  weniger  oft  abgeschrieben;  die  massgebende  Überlieferung  beruht  auf 
dem  Argentoratensis  s.  IX/X,  der  aber  im  Jahre  1870  bei  der  Belagerung  von  Strass- 
bürg  verbrannt  wurde,  so  dass  wir  jetzt  auf  die  Collation  BOchelebs  angewiesen  sind ;  dann 
auf  dem  Bambergensis  V  14  s.  IX/X.  Beide  Codices  stammen  aus  demselben  Arche- 
typus. (Senecae  epistulae  aliquot  ex  cod.  Argentor,  et  Bamberg,  ed.  F.  Bücheleb,  Bonn  1879; 
Bossbach  1.  c,  p.  71.) 

Handlrach  der  klui.  Alteriumswlaaenscluift.    vm.    2.  Teil,  27 


418    Römische  Litteratnrgeschichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

y)  Die  verlorenen  Schriften. 

468.  Aufzählung  der  verlorenen  Schriften.  Eine  nicht  unbedeu- 
tende Zahl  von  Schriften  Senecas  ging  verloren.  Wir  schliessen  uns  in 
der  Aufzählung  derjenigen,  von  denen  uns  Kunde  geworden,  an  Haase  an. 

1.  De  motu  terrarum.  not.  quaesL  6,  4,  2  quamvis  aliquando  de  motu 
t  er  rar  um  volumen  ediderim  iuvenis,  also  wahrscheinlich  unter  Tiberius  oder 
Caligula  geschrieben  (Jonas  p.  23). 

2.  De  lapidum  natura  wird  erschlossen  aus  Plin.  n.  h.  Index  zu 
B.  36. 

3.  De  piscium  natura  (Plin.  n.  h.  Index  zu  B,  9  vgl.  9, 167). 

Jonas  (p.  60)  deutet  die  Möglichkeit  an,  dass  nr.  2  und  3  aus  Senecas  Naturales 
quaest,  und  zwar  ex  amissis  tertiae  partis  lihris  genommen  seien. 

4.  De  situ  Indiae  (Servius  Verg.  Aen.  9,  31  Seneca  in  situ  Indiae, 
Plin.  n.  h.  6,  60  und  Index  zu  1.  6). 

5.  De  situ  et  sacris  Aegyptiorum  wird  abgeleitet  aus  Serv.  Aen. 

6, 154  Seneca  scripsU  de  situ  et  sacris  Aegyptiorum. 

Die  Schriften  nr.  4  und  5  sind  als  Frucht  seines  Aufenthalts  in  Ägypten  zu  be- 
trachten. 

6.  De  forma  mundi.    Den  Titel  lernen  wir  aus  Cassiodor  kennen. 

SoHüLTESs,  De  A,  S.  quaest,  nat,  et  epistulis  (p.  24)  hält  diese  Schrift  fOr  einen  ver- 
lorenen Teil  der  naturales  quaestiones;  vgl.  auch  Rossbach,  Hermes  17, 370, 4. 

7.  Exhortationes,  eine  von  Lactantius  in  seinen  Instüutiones  divinae 
viel  benutzte  Schrift  (vgl.  1,  7, 13). 

8.  De  officiis.  Der  Titel  beruht  auf  einem  Citat  des  Grammatikers 
Diomedes. 

9.  De  immatura  morte.  Auch  diese  Schrift  wurde  von  Lactantius 
in  seinen  Institutiones  divinae  benutzt. 

10.  De  superstitione.  Aus  Diomedes  p.  316  K.  er-sehen  wir,  dass 
es  ein  Dialog  war.  Derselbe  ist  ausgebeutet  von  Augustin  de  civ.  dei 
(6, 10). 

11.  De  matrimonio.  Aus  dieser  interessanten  Schrift  haben  wir 
reiche  Auszüge  bei  Hieronymus  adv.  Jovinian,  Charakteristisch  ist  eine 
Stelle  aus  der  Schrift  des  Theophrastus  über  den  gleichen  Gegenstand. 
Die  Exzerpte  führen  viele  Beispiele  an. 

12.  Quomodo  amicitia  continenda  sit.  Dies  ist  der  urkundliche 
Titel;  vgl.  Studemünd,  Bresl.  Philol.  Abh.  11.  Bd.  3.  H.  p.  V.  Die  drei 
Palimpsestfragmente  siehe  nach  neuer  Lesung  1.  c.  p.  XXVI. 

13.  De  vita  patris.  Auch  von  dieser  Biographie  haben  wir  ein 
Palimpsestfragment,  welches  ebenfalls  von  Studemünd  nach  neuer  Lesung 
herausgegeben  wurde  (p.  XXIII),  dazu  Rossbach  Bresl.  Stud.  1.  c.  p.  161; 
vgl.  oben  p.  200. 

Die  Aufschrift  lautet:  incipit  eiusdem  Ännaei  Senecae  de  vUa  patris  felicUer  scri- 
bente  me  Niciano  die  et  loco  supra  scriptis, 

14.  Orationes;  er  verfasste  solche  für  Nero  vgl.  Tacit.  Ann.  13,  3 
13, 11,  (Schreiben  an  den  Senat  1.  c.  14, 10,  Quint.  8,  5, 18).  Auch  hatte  er 
eine  Lobschrift  auf  die  Messalina  geschrieben,  welche  er  später  ver- 
nichtete (Dio  Cass.  61, 10). 

15.  Epistulae.     Das  zehnte  Buch   eines  Briefwechsels  an  Novatus 


Der  Philosoph  Seneca.  419 

citiert  Priscian,  De  ponderibus  c.  3  (GL  2,  41 0).  Ferner  gedenkt  Martial 
7,  45,  3  der  Briefe  an  Caesonius  Maximus. 

16.  Moralis  philosophiae  libri,  herangezogen  von  Lactantius  in 
seinen  Institutiones  divinae  (z.  B.  1, 16, 10).  Seneca  selbst  weist  auf  dieses 
Werk  hin  ep.  106,  2  108, 1  109, 17. 

HiLOENFELD  (Fleckeis.  Jahrb.  17.  Suppl.  p.  673)  stellt  die  Behauptung  auf,  dass  diese 
moralis  philosophiae  libri  noch  vorhanden  seien  und  zwar  in  den  Büchern  XIV — XX  der 
episttilae  morales.  Allein  diese  Ansicht  ist  nicht  richtig;  dagegen  spricht  schon,  dass 
Lactantius  durchweg  (1,  16,  10;  2,2,14;  6, 17.28)  libri  moralis  philosophiae  citiert, 
nicht  epistulae.  Wenn  weiterhin  Hilgenfeld  die  von  Lactantius  citierten  Stellen,  welche 
sich  nicht  in  unsem  epistulae  morales  finden,  den  verlorenen  Büchern  der  Briefe  zuweisen 
will,  80  wäre  dies  ein  merkwürdiger  Zufall;  aber  doch  immerhin  zu  erklären,  wenn  sich 
alle  Stellen  auf  eine  Materie  erstrecken  würden.  Allein  die  Stelle  6, 17, 28  mit  dem  aus- 
drücklichen Citat  libri  moralis  philosophiae  hat  einen  anderen  Charakter  als  die  übrigen 
Fragmente  und  kann  nicht  in  dem  Abschnitt  gestanden  sein,  in  dem  diese  sich  befanden. 

cf)  Apokryphes  und  Exzerpte. 

469.  Der  sog.  Briefwechsel  zwischen  Seneca  und  Paulus.    Das 

geistreiche  Wesen,  das  den  Schriften  Senecas  eigen  ist,  musste  eine  grosse 
Anziehungskraft  ausüben.  ^  In  der  That  wurden  dieselben  viel  gelesen, 
wenngleich,  wie  bei  allem  Hervorragenden,  es  auch  nicht  an  gegnerischen 
Stimmen  fehlte.  Besonders  war  es  der  zerschnittene  Stil,  welcher  auf 
vielfachen  Tadel  stiess.  Schon  Caligula  bezeichnete  die  Schreibweise  Se- 
necas fein  als  „Sand  ohne  Ea^k''  (Suet.  Cal.  53).  Auch  Quintilian  erblickte  in 
Seneca  ein  Hindernis  für  seine  Bestrebungen,  den  lateinischen  Stil  durch 
Zurückgehen  auf  Cicero  zu  regenerieren.  Allein  schon  die  Opposition,  die 
er  dem  Philosophen  in  seinem  Lehrbuch  macht,  ist  ein  schlagender  Beweis, 
dass  derselbe  reichen  Anklang  fand,  und  Quintilian  selbst  bezeugt  uns,  dass 
Seneca  sich  damals  fast  allein  in  den  Händen  der  Jugend  befand  (10, 1, 126). 
War  Quintilian  als  Verehrer  Ciceros  der  Gegner  Senecas,  so  war  es  Fronte  mit 
seinem  Anhang  als  Archaist  (p.  155  N.).  Auch  aus  Gellius  (12,  2, 1)  er- 
sehen wir,  wie  damals  die  Parteien  in  Bezug  auf  die  Wertschätzung  des 
Schriftstellers  einander  gegenüberstanden.  Allein  trotz  dieser  Angriffe  war 
Seneca  die  Zukunft  gesichert;  das  Christentum  nahm  ihn  unter  seine  Fit- 
tiche; bei  den  mannigfachsten  Anklängen  an  die  christliche  Weltanschauung 
in  seinen  Werken  musste  er  sich  einer  grossen  Popularität  bei  den  Kirchen- 
vätern erfreuen.  Ja  man  hielt  ihn  sogar  für  einen  Christen.  Auf  dem 
Fundament  dieses  Glaubens  ruht  der  unterschobene  Briefwechsel 
zwischen  Seneca  und  dem  Apostel  Paulus.  Schon  Hieronymus  kannte 
diese  Briefe  und  war  von  ihrer  Echtheit  überzeugt.  Es  sind  vierzehn 
Stücke,  ohne  allen  Wert  und  ungeschickt  gemacht.  An  der  Unechtheit  dieser 
Produkte  ist  kein  Zweifel  möglich. 

Abgedruckt  bei  Haase  3,476  und  bei  Westerburo,  Der  Ursprung  der  Sage,  dass 
Seneca  ein  Christ  gewesen,  Berl.  1881  p.  41. 

470.  Die  Florilegien  aus  Seneca.  Eine  bleibende  Anziehungskraft 
übten  die  Schriften  Senecas  durch  die  scharfen  spitzen  Sentenzen  aus, 
welche  überall  mit  reicher  Hand  ausgestreut  sind.  Der  Schriftsteller  wurde 
dadurch  das  Objekt  für  Florilegien.     Wir  besprechen  zuerst  dasjenige, 


*)  Der  Einfiuss,  den  die  Tragödien  Sene-      wurde  bereits  p.  269  kurz  angedeutet;  bierhan- 
cas  auf  die  folgenden  Zeiten  ausgeübt  haben,      delt  es  sich  nur  um  die  prosaischen  Werke. 


27 


« 


420    Römische  Litteratnrgeschichte.    11.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

welches  Wölfflin  „Monita"  nannte.  Der  Grundstock  desselben  stammt 
aus  Seneca,  allein  derselbe  wurde  bald  mit  Sentenzen  aus  andern  Schrift- 
stellern versetzt. und  nahm  verschiedene  Fassungen  an,  so  dass  die  Schei- 
dung des  Eigentums  schwierig,  wenn  nicht  unmöglich  ist. 

Die  Wölfflin'schen  Monita.  Wölfflin  hob  aus  zwei  Pariser  Handschriften, ')  dein 
Parisinus  4841  s.  IX  und  dem  bekannten  Salmasianus  der  lateinischen  Anthologie  eine  Sen- 
tenzensammlung  heraus,  für  welche  er  aus  dem  Saimasianus  den  Titel  ,, Monita"  gewann  (^- 
^fcae  Monita f  £rlang.  1878  p.  14);  er  hält  diese  Sentenzensammlung  für  eine  eigene  Schrift 
Senecas,  welche  er  bei  Dio  62,25  wiederfinden  will:  ov  fiivioi  nQoxsQov  iavioC  ijilftcTo 
TJQiy  to  TB  ßißXloy  o  avyeyQttq)ey  inavoQ&tiSaai  xai  taXXa,  idsdiei  ydg  fiij  xal  i^  rov  Xegtaya 
iX&oyra  ffS-a^ji,  na^axara^ic^at  riciy.  Allein  diese  Ansicht  ist  sicherlich  unrichtig  (Haas, 
De  S.  Monitis,  Würzb.  Diss.  1878  p.  5);  es  sind  vielmehr  zu  einem  grossen  Teil  Auszüge 
aus  den  Schriften  Senecas  selbst. 

DieBo^,  sententiae Ruft.  Die  letzten  sententiae des  eben  erwfthnten  Parisinus 484 1 
tragen  die  Überschrift  sententiae  Ruft.  Allein  auf  die  Sentenzen  folgt  ein  Epilog,  in  dem 
ein  Rufus  angeredet  wird.  Dass  Rufus  sowohl  als  Verfasser  der  sententiae  wie  als  Angeredeter 
im  Epilog  erscheint,  erregt  Verwunderung  und  zwingt  zu  der  Annahme,  dass  statt  sen- 
tentiae Rufi  es  vielmehr  heissen  soU  sententiae  ad  Ruf  um  missae,  Wölfflin  ist 
der  Ansicht,  dass  diese  sententiae  die  letzten  Worte  Senecas  darstellen,  von  denen  Tacit. 
spricht  (Ann.  15,  63}  et  noHssimo  quoque  momento  suppedüante  eloquentia  advocatis  seriptoribus 
pleraque  tradidit,  quae  in  vulgus  edita  eins  verbis  invertere  supersedeo.  Allein 
auch  diese  Hypothese  ist  durchaus  unwahrscheinlich. 

Liber  de  moribus.  Auch  diese  Sentenzensammlung  trägt  den.  Nam^n  Seneca  in 
den  Handschriften.  Vergleicht  man  diesen  liber  de  moribus  mit  den  Monita,  so  sieht 
man,  dass  ein  grosser  Teil  der  Sprüche  beiden  Sammlungen  gemeinsam  ist.  Es  entsprechen 
nämlich  die  nr.  45 — 141  des  liber  de  moribus  (vgl.  die  Ausgabe  des  Pttblilius  Syrus  von 
Wölfflik  p.  136)  den  nr.  1—198  (abgesehen  von  Auslassungen  und  Znsätzen)  vgl.  Ross- 
BACH  p.  85.  Man  muss  den  liber  de  moribus  als  einen  Auszug  aus  den  monita  betrachten 
und  zwar  wird  dieser  Auszug  gemacht  worden  sein,  als  die  Sammlung  am  Anfang  noch 
vollständig  war;  daher  die  nr.  1—44  im  liber. 

Senecae  proverbia  s.  sententiae.  Eine  Redaktion  der  Sprüche  des  Publilius 
hatte  dieselbe  nur  von  den  Buchstaben  A— N,  um  Ersatz  für  die  zweite  verlorene  Hälfte 
zu  schaffen,  wurden  149  prosaische,  zum  grOssten  Teil  aus  dem  liber  de  moribus  stammende, 
hinzugefügt  (§  89).  Die  so  entstandene  Sammlung  erhielt  den  Namen  Proverbia  s.  senten- 
tiae Senecae  (Meyer,  Ausg.  p.  6).    Am  schicklichsten  werden  hier  auch  besprochen : 

Die  Notae  Senecae.  Suet.  p.  136  R.  berichtet  in  der  bekannten  Stelle  über  die  notae: 
Seneca  contracto  omnium  digestoque  et  aucto  numero  opus  effecit  in  quinque  milia.  Und 
wirklich  sind  unter  seinem  Namen  und  dem  Tiros  (notae  Tironis  et  Senecae)  Sammlungen 
von  stenographischen  Abkürzungen  erhalten.  Allein  Seneca  hat  sich  sicherlich  nicht  mit 
solchen  Dingen  abgegeben;  sagt  er  doch  ep.  90,  25  quid  verborum  notas,  quibus  quamvis 
citata  excipitur  oratio  et  celeritatem  linguae  nianus  sequitur?  vilissimorum  mancipiorum 
ista  commenta  sunt.  Gleichwohl  ist  anzunehmen,  dass  wie  bei  den  sententiae,  so  auch 
bei  den  notae  der  berühmte  Name  als  Sammelpunkt  diente. 

Eine  zweite  Florilegiensammlung  ist  insofern  eigens  geartet, 
als  die  Exzerpte  aus  einer  Schrift  genommen  sind  und  auf  einen  Gegen- 
stand Bezug  haben.  Es  sind  dies  die  Sätze  de  paupertate,  welche  aus 
dem  ersten  Band  der  epistulae  morales  ausgehoben  sind, 

471.  Die  Ezcerpta  ans  Seneca.  Lesemüde  Zeiten,  welchen  dio 
Werke  Senecas  für  die  Lektüre  zu  viel  waren,  brachten  die  Auszüge 
ganzer  Werke.  Zum  Teil  haben  diese  Auszüge  den  Verlust  der  Original- 
werke herbeigeführt.    Wir  haben  drei  Auszüge  aufzuführen: 

1)  Die  Exzerpte  aus  den  libri  de  beneficiis  sind  sehr  umfangreich; 
allein  da  die  Handschriften  derselben  nicht  über  das  }^U.  Jahrhundert  zu- 
rückgehen und  unserer  massgebenden  Überlieferung  gegenüber  keine  neuen 
Quellen  repräsentieren,  sind  die  Auszüge  ohne  besondere  Bedeutung  für 
uns  (Rossbach  p.  86). 

^)  Andere  handschriftliche  Quellen  macht  Rossbach  Bresl.  Stud.  1.  c.  p.  85  namhaft 


Der  Philosoph  Seneca.  421 

2)  Ad  Gallionem  de  remediis  fortuitorum.  Dieser  Auszug  aus 
der  gleichnamigen  Schrift  Senecas,  welche  TertuUian  (Apol.  c.  50)  noch 
vor  sich  hatte,  führt  uns  die  verschiedenen  Übel  des  Lebens,  wie  Tod, 
Armut,  Exil,  Vermögenseinbusse  vor  und  zeigt  durch  prägnante  Sätze, 
dass  sie  keine  Übel  sind. 

Eine  Texteskonstituiening  auf  neuer  Grundlage  (vgl.  Bosbbach  p.  95),  besonders  nach 
dem  oben  genannten  Salmasianus  gibt  Rossbach  p.  99. 

3)  De  formula  honestae  vitae.  Der  Erzbischof  Martin  aus  Bra- 
cara  (f  580)  richtete  einen  Traktat  an  den  König  Miro,  welchen  die  Vor- 
rede „formula  vitae  honestae*'  betitelt  und  als  einen  Auszug  bezeichnet. 
Dass  eine  Schrift  Senecas  excerpiert  wurde,  ist  sehr  wahrscheinlich.») 
Welche  Schrift  aber,  kann  nicht  mit  Sicherheit  festgestellt  werden.  Als  die 
geeignetsten  bieten  sich  de  officiis  und  die  exhortationes  dar.  Es 
werden  die  vier  Tugenden,  welche  zum  rechten  Leben  führen,  die  pru- 
dentia,  die  magnanimitas,  die  continentia,  die  iustitia  abgehandelt.  Es  ist 
ein  Lebensbrevier,  das  ausserordentlich  viel  gelesen  wurde. 

In  der  Vorrede  heisst  es:  lihellum  hunc  nuUa  sophismatum  ostentatione  polUumf  sed 
planitie  purae  simplicitaiis  excerptum  capacihus  fidenter  auribus  obiuli  recitandum.  Für 
den  Über  de  officiis  als  exzerpiertes  Buch  vgl.  Weidker  in  seiner  Ausgabe  Magdeb. 
Progr.  1872  p.  1,  fllr  die  exhortationes  Rossbach  p.  87.  Die  beste  Form  der  Überlieferung 
bietet  der  Monacensis  144  (neues  Material  gibt  Rossbach  p.  88).  Die  Schrift  erscheint 
auch  unter  dem  Titel  De  quatiuor  virtutibug  cardinalibus.  Über  den  Titel  De 
verborum  copia  vgl.  Haase  Ausg.  3  p.  XXI  (Ps.  Seneca  ad  Paul.  9);  (Schbpss,  Sechs  May- 
hinger  Handschr.,  Dinkelsbühl  1879). 

Zum  Glück  verdrängten  die  Exzerpte,  wie  wir  sahen,  nur  wenige 
vollständige  Werke  Senecas,  ein  grosser  Teil  wurde  durch  Abschriften  ver- 
vielfältigt. Es  wird  uns  in  einer  Chronik  des  Klosters  Monte  Cassino^) 
berichtet,  dass  der  Langobardenkönig  Desiderius  befahl,  Seneca  abzu- 
schreiben. Die  Senecahandschriften  reichen  (abgesehen  von  den  Palimpsest- 
fragmenten)  vom  achten  oder  neunten  Jahrhundert,')  dem  der  codex  Nazari- 
onus  angehört,  bis  zum  Wiedererwachen  der  Wissenschaften;  sie  sind  in 
grosser  Zahl  vorhanden,  fast  jede  bedeutendere  Bibliothek  zählt  solche.  Auch 
bei  den  mittelalterlichen  Schriftstellern  können  wir  die  Früchte  der  Seneca- 
lektüre  aufweisen.  Die  quaestiones  naturales  waren  das  hauptsächlichste 
Lehrbuch  der  Physik  im  Mittelalter. 

Auch  nach  dem  Wiederaufleben  der  Wissenschaften  behauptete  Seneca 
noch  seinen  Platz;  ausgezeichnete  Philologen  wie  Lipsius,  ferner  J.  F.  Gronov 
widmeten  ihm  ihre  Kraft.  Besonders  in  Frankreich  erfreute  sich  der  Philo- 
soph der  grössten  Popularität,  da  er  etwas  dem  französischen  Esprit  Ver- 
wandtes zeigt.  Die  hervorragendsten  Schriftsteller  dieses  Landes  beschäf- 
tigten sich  mit  ihm;  so  schrieb  Diderot  einen  Essai  über  sein  Leben  und 
seine  Schriften.  In  Deutschland  dagegen  konnte  der  Philosoph  es  niemals 
zu  einer  echten  Popularität  bringen.  Erst  in  neuerer  Zeit  hat  man  auch 
bei  uns  angefangen,  ihm  Aufmerksamkeit  zuzuwenden. 

472.  Rückblick  auf  die  proBaische  Schriftstellerei  Senecas.  — 
Beurteilung.    Nachdem   wir   die  verschiedenen    prosaischen  Werke   Se- 

*)  Kein  £xzerpt  aus  Seneca  nimmt  Ebebt,  ^)  Mon.  Germ.  Script,  7,  746. 

Allg.  Gesch.  der  Lit.  des  Mittelalt.  1*,  581,  an.  ")  Für  s.  YIII  Rossbach  p.  14. 


422     Römische  Litteratnrgeschichte.    U.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


necas  charakterisiert  haben,  wird  es  nützlich  sein,  eine  Übersicht  der  zeit- 
lich bestimmbaren^)  zu  geben.  Die  Einschnitte  sind  das  Exil  und  der 
secessus.  Sonach  erhalten  wir  folgende  Gruppen: 

A.  Vor  dem  Exil  (vor  41): 

Die  Monographie  Ober  die  Erdbeben. 
Die  Schriften  über  Ägypten  und  Indien. 
Die  conaolaiio  ad  Marciam. 
De  ira. 

B.  Im  Exil  (41—49): 

Cansolatio  ad  Helviam. 
Consolatio  ad  Polyhium, 

C.  Nach  dem  Exil  (nach  49): 
a)  Vor  dem  secessus  (vor  62): 

De  brevitate  vUae. 
De  dementia. 
De  tranquiUitate  animi. 
De  constantia  aapientis. 
De  beneficiis  (vielleicht). 

ß)  Nach  dem  secessus  (nach  62): 

De  Otto. 

De  vita  beata  (vielleicht). 
De  Providentia, 
Naturales  quaeationes. 
Epistulae  morales. 

Wenn  wir  auf  die  prosaischen  Schriften  Senecas,  die  erhaltenen  wie 
die  verlorenen,  zurückblicken,  so  sehen  wir,  dass  sich  dieselben  fast  aus- 
schliesslich der  Philosophie  zugewendet  haben.  Aber  auch  die  Philosophie 
wird  nicht  in  ihrem  ganzen  Umfang  behandelt,  mit  ganz  entschiedener 
Vorliebe  bewegt  sich  Seneca  auf  dem  Oebiet  der  Ethik.  Selbst  in  die 
naturwissenschaftlichen  Bücher  ist  Moralisches  oft  genug  eingewoben 
worden.  Diese  Hervorkehrung  der  praktischen  Seite  der  Philosophie  ist, 
wie  wir  in  der  Einleitung  gezeigt  haben,  durch  die  ganze  Richtung  der 
Zeit  bestimmt,  welche  für  das  Handeln  Direktiven  haben  wollte.  Diese 
Tendenz  der  Zeit  teilt  Seneca  vollständig,  und  hält  mit  der  Verurteilung 
der  wissenschaftlichen  Bestrebungen,  aus  denen  sich  kein  Gewinn  für  unser 
praktisches  Leben  ergibt,  nicht  zurück ;  er  lächelt  über  die  Antiquare  und 
Kuriositätenjäger,  die  Zeit  und  Mühe  an  unnütze  Studien  verschwenden 
{debreviLvit.lZ)^  er  tadelt  selbst  die  ernsthaften  Geschichtschreiber,  welche 
sich  mit  dem,  was  geschehen  ist,  statt  mit  dem,  was  geschehen  soll,  ab- 
geben {Nat  quaest,  3  praef.),  er  will  nichts  wissen  von  den  Silbensteche- 
reien  und  syllogistischen  Spitzfindigkeiten  der  Philosophen  (ep.  88, 42). 
Auch  die  philosophische  Arbeit  ,  welche  ihren  Schwerpunkt  in  dem  Auf- 
bau des  Ganzen  hat,  ist  unserem  Autor  gleichgültig.  Mit  dieser  Gering- 
schätzung des  Systematischen  steht  der  Eclecticismus  in  Zusammenhang, 
dem  er  entschieden  huldigt.  Die  Lehren,  die  er  vertritt,  sind  die  der  Stoa. 
Allein  die  Schroffheit  und  die  Schärfe  dieses  Systems  sind  wesentlich  ge- 


0  Die  nichterhaltenen  haben  wir  weniger 
berücksichtigt,  die  poetischen  hier  ausgeschlos- 
sen. Die  Zeit  der  Tragödien  (p.  269)  ist  sehr 
schwer  mit  Sicherheit  zu  bestimmen.  Soviel 
lässt  sich  aber  sagen,  dass  auch  diese  Pro- 
dukte sich  nicht  auf  einen   bestimmten  Le- 


bensabschnitt Senecas  beschränken.  Die 
Äpocolocyntosis  ist  unmittelbar  nach  dem  Tod 
des  Claudius  (54)  verfasst.  Die  Epigramme, 
welche  das  schreckliche  Corsika  schildern 
(p.  272),  stammen  natürlich  aus  dem  Exil. 


Der  Philosoph  Beneca.  423 

mildert.  Man  gewinnt  aus  seinen  Darlegungen  den  Eindruck,  dass  er  sich 
mit  der  menschlichen  Schwachheit  abfinden  will.  >)  Der  stoische  Weise  ist 
ein  Idealbild,  glücklich  derjenige,  welcher  von  sich  sagen  kann,  dass  er 
diesem  Idealbild  näher  kommt,  dass  er  von  Tag  zu  Tag  besser  wird.  Der 
eklektische  Zug  ist  auch  in  der  Stellung,  welche  er  zu  den  beiden  Haupt- 
problemen der  Philosophie  nimmt,  deutlich  erkennbar.  Wir  meinen  die  Frage 
nach  dem  Verhältnis  der  Seele  zu  dem  Körper,  und  die  Frage  nach  dem  Ver- 
hältnis der  Welt  zu  Gott.  Dort  lag  als  Problem  vor  die  Körperlichkeit  der 
Seele  und  doch  wieder  ihre  Gegensätzlichkeit  zum  Leibe '),  hier  die  Identität 
Gottes  mit  der  Welt  und  doch  wieder  die  Ausserweltlichkeit  desselben  in 
seinem  Wirken  als  Vorsehung.^)  In  diesen  beiden  Kardinalfragen  gewinnt 
bei  ihm  der  Dualismus  das  Übergewicht.  In  Anlehnung  an  platonische 
Anschauungen  stellt  er  den  Leib  in  starken  Gegensatz  zur  Seele,  indem 
er  in  dem  Leibe  ein  Hemmnis  für  das  Walten  der  Seele  erblickt.  Selbst 
in  die  Seele  überträgt  er  seine  dualistischen  Anschauungen,  da  er  einen 
vernünftigen  und  einen  unvernünftigen  Teil  derselben  unterscheidet.  In- 
dem er  ferner  die  Gottheit  gern  als  die  allwaltende  Vorsehung  sich 
denkt,  nähert  er  sich  dualistischen  christlichen  Anschauungen.  Ein  solches 
Schwanken  in  den  Hauptproblemen  beweist,  dass  ihm  die  Theorie  nicht  in 
erster  Linie  stand.  Sein  einziges  Ziel  ist  die  Beantwortung  der  Frage,  wie  der 
Mensch  sein  Leben  glücklich  gestalten  könne.  Er  findet,  dass  nur  derjenige 
dies  erreichen  wird,  der  von  den  äusseren  Wechselfallen  des  Lebens  sich 
unabhängig  erhält  und  den  Schwerpunkt  in  sich  selbst  hat.  Diese  innere 
Festigkeit,  die  Tugend  muss  natürlich  erworben  werden,  sie  wird  nicht 
ohne  steten  Kampf  mit  unsern  Neigungen  und  Affekten  gewonnen.  Die 
Philosophie  gibt  uns  die  hiezu  notwendige  Anleitung,  sie  lehrt  uns,  unser 
besseres  Selbst  zu  pflegen. 

Gemäss  dieser  Stellung  Senecas  zur  Philosophie  musste  sich  auch  seine 
Schriftstellerei  gestalten;  sie  brauchte  keinen  grossen  Wert  auf  strenge 
Deduktion  der  Gedanken  zu  legen,  sie  konnte  in  freier  zwangloser  Weise 
die  Lehren  entwickeln,  die  Hauptsache  war,  auf  den  Willen  des  Lesers  zu 
wirken  und  denselben  zu  einem  bestimmten  Handeln  anzuregen.  Dazu 
bedurfte  es  der  eindringlichen  Rede.  Die  rhetorischen  Mittel  sind  stark 
ausgenutzt  worden,  manche  Partien,  wie  die  Schilderung  des.  Weltunter- 
gangs {naL  quaesL)f  können  geradezu  als  rhetorische  Schaustücke  angesehen 
werden.  Auch  für  die  Lebendigkeit  der  Darstellung  sorgt  der  Schrift- 
steller, indem  er  gern  den  Fortgang  der  Untersuchung  an  die  Einwürfe 
eines  fingirten  Gegners  knüpft  und  so  seiner  Betrachtung  einen  dialogischen 
Charakter  verleiht.  Durch  Einstreuung  von  Beispielen  und  durch  farben- 
reiche Bilder  aus  dem  Leben  der  Gegenwart  steuert  er  der  Ermüdung. 
Freilich  ganz  kann  dieselbe  nicht  beseitigt  werden.  Die  fortwährenden 
Ermahnungen  und  moralischen  Predigten  verlieren  zuletzt  ihren  Reiz,  zu- 
mal manches  aus  dem  Leben  des  Autors  nicht  recht  mit  seinen  Lehren 
harmonieren  will.  Auch  folgen  wir  mitunter  nur  schwer  dem  Autor,  da 
er  die  streng  logische  Gliederung  sehr  in  den  Hintergrund  treten  lässt  und 

0  Zeller,  Die  Philos.  d.  Griech.  3,  1>  ')  Zelleb  p.  707. 

p.  717.  »)  Zelleb  p.  702. 


424    Römische  Litteratargeschichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


daher  ein  leitender  Faden  oft  nur  schwer  sich  auffinden  lässt.  *)  Trotzdem 
zieht  uns  manches  zu  dem  Philosophen  hin.  Er  ist  ein  geistreicher  Kopf,  der 
überallhin  seine  Geistesblitze  leuchten  lässt.  Auch  ist  ihm  Hoheit  der 
Gesinnung  und  aufgeklärte  Denkungsart  eigentümlich.  Wenn  er  das 
Walten  Gottes  und  die  Gleichheit  der  Menschen  erörtert,  glauben  wir  mit- 
unter die  Stimme  eines  Christen  zu  vernehmen.  Originell  ist  auch  sein 
Stil.  Derselbe  ist  so  stark  ausgeprägt,  dass  es  leicht  ist,  sofort  ein  Schrift- 
stück Senecas  zu  erkennen.  Seine  Darstellungsweise  stellt  sich  in  scharfen 
Gegensatz  zu  dem  Ciceronischen,  indem  sie  die  Periodologie  absichtlich  bei 
Seite  setzt.  Sie  liebt  die  Sätze  ohne  Verbindung  aneinander  zu  reihen; 
man  hat  mit  Recht  von  einem  zerschnittenen  Stil  gesprochen.  Fast  jeder 
Satz  ist  zugespitzt  und  erhält  durch  Antithese,  einen  gesuchten  Aus- 
druck oder  eine  eigentümliche  Verbindung  etwas  Manieriertes.  Oft  ist  es 
ein  Spiel  mit  den  Gedanken,  in  dem  sich  der  Philosoph  ergeht.  Es  ist  eine 
stark  gewürzte  Kost,  welche  uns  vorgesetzt  wird,  die  Sehnsucht  nach  ein- 
facher, gesunder  Nahrung  überkömmt  uns  daher  nicht  selten  bei  der  Lektüre 
seiner  Schriften. 

Über  ^ie  Philosophie  Senecas:  Zeller,  Phüos.  der  Griech.  3,  V,  693:  Holz- 
herr, Der  Philosoph  Seneca,  Gvmnasialprogr.  von  Rastatt  1858  u.  1869;  W.  Ribbeck,  L.  A. 
S.  der  Philosoph  und  sein  Verhältnis  zu  Epikur,  Plato  und  dem  Christentum,  Hann.  1887. 

Ausgaben  der  prosaischen  Schriften  von  J.  Lipsius,  Antwerpen  1605;  von 
Ruhkopp  (5  Bde.),  Leipz.  1797—1811;  von  Fickebt  (3  Bde.),  Leipz.  1842—1845  (unmetho- 
dische Arbeit);  von  Haase  (3  Bde.),  Teuhneriana  (treflFliche  Textesausgabe).  —  Einzel- 
ausgaben: Dialogorum  Uhri  XII  rec,  Gertz,  Kopenhagen  1886;  De  henef.  et  de  dem,  ed. 
Gertz,  Berl.  1876  (beides  rühmenswerte  Leistungen);  Epistolae  ed,  ^CB^isiQnkv^isR^  Strassb. 
1809;  Not.  Quaest.  ed,  Köleb,  Gott.  1819. 

6)    Die  Fachgelehrten. 
1)  Die  Encjklopädisten. 

A.    Cornelius   Celsus. 

473.  Die  Encyklopädie  des  Gelsus.  Die  Vorliebe  der  Römer  für 
encyklopädische  Gelehrsamkeit  ist  bekannt.  Ihrem  praktischen  Sinne  sagte 
die  mehrere  Wissenszweige  zusammenfassende  und  sich  demgemäss  aufs 
Notwendige  beschränkende  Schriftstellerei  in  hohem  Grade  zu.  Schon  im 
Beginn  der  römischen  Litteratur  stossen  wir  auf  ein  solches  Werk  des  alten 
Cato  (§  66).  Dann  hatte  Varro  die  Encyklopädie  der  at-tes  liberales  begrün- 
det (§  188).  Die  ßegierungszeit  des  Tiberius  spendet  uns  endlich  die 
Encyklopädie  des  Celsus.  Das  Werk  führt  in  der  handschriftlichen  Über- 
lieferung den  Titel  „Artes^;  von  demselben  hat  sich  aber  nur  die  Partie 
erhalten,  in  welcher  die  Medizin  abgehandelt  wird.  Das  erste  Buch  der  Medi- 
zin ist  zugleich  das  sechste  der  Artes ;  sonach  gingen  fünf  Bücher  voraus ; 
diese  erörterten  die  Landwirtschaft,  denn  er  citiert  sie  in  der  Medizin 
(5, 28, 16)  und  knüpft  deutlich  in  den  Eingangsworten  die  Medizin  an 
die  Agrikultur  an.^)  Auch  ist  uns  anderweitig  bezeugt,  dass  wirklich  die 
landwirtschaftliche  Schrift  des  Celsus  aus  fünf  Büchern  bestand.  Ausser 
der  Landwirtschaft  wurde  auch  das  Kriegswesen,  die  Beredsamkeit  und  die 


*)  Es  war  daher  ein  sehr  glücklicher 
Gedanke  Haasens,  die  Lektüre  dadurch  zu 
erleichtem,  dass  er  die  den  Fortschritt  der 
Untersuchung  begründenden  Stellen  mit  ge- 


sperrter Schrift  drucken  liess. 

'^)  ut  alimenta  sanis  corporibus  agricul- 
Iura,  sie  aanitatetn  aegris  medicina  promittit. 


A.  Comelina  Celans.  425 

Philosophie  durchgenommon.  Schlussfolgerungen  aus  Quintilian  endlich 
führen  auch  noch  auf  eine  Behandlung  des  bürgerlichen  Rechts.  Sonach 
bestand  die  Encyklopädie  aus  sechs  Teilen,  die  wahrscheinlich  also  an- 
geordnet waren;  1)  Landwirtschaft,  2)  Medizin,  3)  Kriegswesen, 
4)  Rhetorik,  5)  Philosophie,  6)  Jurisprudenz.  Diese  einzelnen  Teile 
werden  successive  erschienen  sein,  allein  wie  das  Vorhandene  erkennen 
lässt,  wurden  sie  schon  von  dem  Autor  zu  einer  Einheit  verknüpft. 

Aus  der  Inhaltsangabe  erhellt,  dass  die  Disziplinen  zu  einem  Ganzen  ver- 
einigt waren,  welche  für  den  gebildeten  Römer  unbedingt  notwendig  waren. 
Eine  Ausnahme  macht  nur  die  Medizin;  ihre  Aufnahme  in  den  Kreis  der  ency- 
klopädisch  behandelten  Disziplinen  befremdet  sehr,  denn  die  Ausübung  der 
Heilkunde  lag  fast  ganz  in  den  Händen  von  Oriechen  und  zwar  grössten- 
teils von  Freigelassenen.  Zur  Erklärung  dieser  auffallenden  Erscheinung 
kann  einmal  das  Beispiel  Catos  angeführt  werden,  welcher  ebenfalls  die 
Medizin  in  seine  allgemeine  Unterweisung  aufgenommen  hatte,  allein  dort 
wurden  praktische  Oesundheitsregeln  gegeben,  hier  aber  haben  wir  eine 
wissenschaftliche  Darstellung  der  Medizin.  Ich  vermag  nur  eine  Erklä- 
rung zu  geben,  dass  nämlich  Celsus  die  Medizin  deshalb  auch  behandelt 
hat,  weil  es  eine  Disziplin  war,  die  er  erlernt  hatte.  Ein  Laie  kann 
ja  kaum  auf  den  Gedanken  verfallen,  ein  medizinisches  Lehrbuch  zu 
schreiben.  Selbst  wenn  sich  der  Autor  an  Autoritäten  anlehnen  will,  sind 
Fachkenntnisse  nicht  zu  entbehren.  Die  Darstellung  der  übrigen  Diszi- 
plinen lag  dagegen  jedem  gebildeten  Römer  nahe,  Rhetorik  und  deren  Hilfs- 
disziplinen Philosophie  und  Jurisprudenz  waren  Gegenstände  des  Unter- 
richts ;  auf  Ackerbau  und  Kriegskunde  führte  die  Praxis.  Für  die  Rhetorik, 
Philosophie,  die  Jurisprudenz  und  den  Ackerbau  fehlte  es  übrigens  auch  nicht 
an  reichen  heimischen  Hilfsmitteln.  Auf  diese  musste  der  Encyklopädist  in 
erster  Linie  rekurrieren.  Und  für  Celsus  können  wir  den  Nachweis  liefern, 
dass  er  in  der  landwirtschaftlichen  Abteilung  Cato,  die  Sasernae,  Mago, 
Julius  Atticus,  Hyginus  benutzte.  In  der  Medizin  war  er  auf  Griechen  ange- 
wiesen, wie  auf  Hippokrates,  Asklepiades  und  andere.  Bei  den  andern  Fächern 
reicht  das  Material  nicht  aus,  um  die  Quellen  zu  erkennen ;  nur  bezüglich  des 
philosphischen  Standpunkts  des  Celsus  ist  uns  die  Kunde  geworden,  dass  er 
sich  der  Lehre  der  Sextier  (Quint.  10, 1, 126)  angeschlossen  hatte.  Die  Spuren 
der  Benutzung  der  Encyklopädie  ziehen  sich  ziemlich  weit  hinab ;  der  Mili- 
tärschriftsteller Vegetius  und  der  Rhetor  Fortunatianus  eitleren  Teile  aus 
derselben.  Früher  wurde  die  landwirtschaftliche  Partie  von  Columella  und 
Plinius  fleissig  herangezogen,  und  selbst  Quintilian  konnte  an  der  Rhetorik 
nicht  vorübergehen,    wenngleich  sie  nicht  seinem  Geschmacke  entsprach. 

Celsus'  Stellung  zur  Medizin.  Dass  Celsus  Fachmann  war,  ergibt  sich  aus  den 
iStellen,  wo  er  gegenüber  dissentierenden  Anschauungen  eine  eigene  Meinung  vorbringt, 
z.  B.  3, 24  ego  ubique^  si  natis  virium  est,  vtüidiora,  si  parum,  imbecilliora  auxilia  praefero. 
3,  4  ego  autem  medicament&rum  dari  pofiones,  et  ahum  duci  non  nisi  raro  dehere  eoncedo. 
3,  11  ego  tum  hoc  puto  tentandum,  cum  parum  cibus,  semel  et  post  febrem  datus,  prodeat, 
S,  4  sed  muUo  melius  est  ante  emplastra  experiri,  quae  calrariae  causa  romponuntur,  7,  7,  6 
ego  sie  restituium  esse  neminem  memini.  Ob  Celsus  die  Medizin  berufsmässig  oder  dilet- 
tantisch betrieb,  ist  für  die  litterarhistorische  Betrachtung  eine  sekundäre  Frage.') 

*)  Die  für  die  familia  rustica  bestimmten  Yaletudinarien  geben  für  die  dilettantische 
Praxis  reiche  Gelegenheit  (Haseb,  Gesch.  der  Medizin  1,278). 


426     ROmiflohe  LitteratargeBchichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1  Abteilnng. 

Die  einzelnen  Teile  der  Encyklopädie.  Quint.  12,11,24.  Quid  plura?  cum 
ei  Ulm  Cornelius  CeUus,  mediocri  vir  ingenio,  non  solum  de  his  omnibus  conscripserit  ar- 
Obus,  sed  amplius  rei  militaris  et  rusticae  et  medicinae  praecepta  reliquerit,  dignus 
vel  ipso  proposito,  ut  eum  scisse  omnia  illa  credamus. 

a)  Die  libri  rei  militari«  werden  auch  von  Vegetius  bezeugt  (r.  mi/»/.  1,8):  haec 
necessitas  compulit  evdutis  auctoribus  ea  me  —  fidelissime  dicere,  quae  Cato  iUe  Censorius 
de  disciplina  militari  scripsU,  quae  Cornelius  CelsuSy  quae  Frontinus  persfrin- 
genda  duxerunt. 

ß)  Die  libri  rei  rusticae,  Columella  1,1,14  Cornelius  (Celsus)  totum  corpus  dis- 
ciplinae  (nämlich  rei  rusticae)  quinque  libris  complexus  est;  Reitzenstbin  (p.  34)  bestinunt  ver- 
mutungsweise den  Inhalt  der  fOnf  Bücher  also:  I  de  agrorum  cuUu;  n.  de  pitibus  et  arbo- 
ribus  (?);  III  de  re  pecuaria;  IV  de  pillatica  paetione;  V  de  apibus  und  gibt  eine  darnach 
geordnete  Fragmentensammlung  in  Citaten  (De  scriptorum  rei  rusticae  libris  deperdüis  p.  55). 

y)  Die  erhaltenen  libri  medicinae  werden  im  folgenden  Paragraphen  be- 
sprochen. 

d)  Libri  rhetorici.  Quint.  3, 1,  21  scripsit  de  eadem  materia  ....  nonnihil  pater 
Gallio,  accuraiius  vero  priores  [Gallione]  Celsus  et  Laenas  et  aetatis  nostrae  Verginiwt, 
PliniuSj  Tutilius,  Citiert  wird  die  Rhetorik  auch  von  Fortunatian.  3, 2.  Ob  Schol.  zu  Juv. 
6,245  „Septem  libros  institutionum  reliquit^  auf  unsem  Celsus  bezogen  werden  kann,  ist 
nicht  sicher. 

b)  Der  philosophische  Teil  der  Encyklopädie  ist  nicht  leicht  zu  bestimmen. 
Wir  haben  zu  scheiden: 

a)Dieopinionesphilosophorum.  August. de haeres.proh schreibt: opiniones omnium 
pkilosophorum  qui  sectas  varias  condiderunt  usque  ad  tempora  sua  [neque  enim plus  poterat) 
sex  non  parpis  voluminibus  quidam  Celsus  absolvit;  nee  redarg uit  cdiquem,  sed  tantum  quid 
sentirent  aperuit  ea  brevitate  sermonis,  ut  tantum  adhiberet  eloquii,  quantum  rei  nee  lau- 
dandae  nee  rituperandae  nee  affinnandae  aut  defendendae ,  sed  aperiendae  indicandaeque 
sufficeretj  cum  ferme  centum  philosophos  nominasset:  quorum  non  omnes  institueruni  hae- 
reses  proprias,  quoniam  nee  illos  tacendos  putavit  qui  suos  m<igistros  sine  ulla  dissensione 
secuti  sunt, 

b)  Philosophisches  im  Sinne  der  Sextier.  Quint.  10,1,124  scripsit  nonparum 
multa  (de  philosophia)  Cornelius  Celsus  Sexiios  secutus  non  sine  cultu  ae  nitore. 

Die  gewöhnliche  Ansicht  ist  nun  die,  dass  die  opiniones  pkilosophorum  einen  Teil 
der  Encyklopädie  bildeten,  während  die  Sextischen  Abhandlungen  ausserhalb  derselben 
stünden.  Allerdings  muss  man  als  ausgeschlossen  betrachten,  dass  Quintilian  sich  auf  jene 
6  Bücher  bezieht.  Dies  ist  aber  doch  sehr  auffallend ;  Quintilian  hatte  einen  Teil  der  En- 
cyklopädie, die  Rheterik,  berücksichtigt,  er  kannte  also  das  Werk,  warum  sollte  er  einen 
andern  Teil  der  Encyklopädie,  und  dazu  noch  einen  sehr  umfangreichen,  bei  seinem  Urteil 
über  die  philosophische  Schriftstellerei  gänzlich  unberücksichtigt  lassen  und  zu  diesem 
Zweck  Schriften  heranziehen,  die  ausserhalb  des  Corpus  stenden?  Der  Gedanke,  dass 
jene  ojnniones  nicht  den  wahren  philosophischen  Stil  des  Celsus  zeigten,  ist  doch  nicht  zu- 
lässig. Weiterhin  müsste  dann  die  philosophische  Partie  der  Schrift  einen  ganz  andern 
Charakter  gehabt  haben  als  die  der  Medizin  und  der  Rlieterik.  Dort  würde  er  nur 
eine  Geschichte  der  Disziplin  gegeben  haben,  hier  aber  diese  Zweige  selbst.  Meine  Bo- 
denken, ob  bei  Augustin  unser  Celsus  gemeint  sei,  sind  daher  auch  durch  die  Opposition 
Schwabens  noch  nicht  beseitigt.  Richtig  ist,  dass  ein  zweiter  Celsus  nicht  bekannt  ist 
Allein  wir  kennen  einen  Celsinus,  der  ein  Werk  geschrieben,  wie  das  war,  welches 
Augustin  in  den  Händen  gehabt,  vgl.  Süidas  s.  v.  KeXaTyog  EvduiQov  KaaraßaXevg  tpiX6üo<pog 
iyQoipe  avyayioyrjy  doyfdaztay  ndarjg  algiaetag  (ptXoaötpov.  Vielleicht  ist  daher  Celsinus 
statt  Celsus  bei  Augustin  zu  lesen. 

C)  Die  juristischen  Bücher  werden  lediglich  aus  Quint.  (12,11.24)  gefolgert. 

Der  Titel  der  Encyklopädie.  In  der  handschriftlichen  Überlieferung  wird  dsts 
erste  Buch  der  Medizin  als  1.  VI  Artium  citiert;  es  führte  sonach  die  Encyklopädie  den 
Titel  „Artes".  Dem  gegenüber  hat  Berkats,  gestützt  auf  ein  von  Ritschl,  praef.  Bacch, 
ed.  II  p.  VF,  mitgeteiltes  Scholion  Celsus  libros  suos  a  varietate  rerum  cestos  vocavit  den 
Titel  „Cestus^  für  die  Encyklopädie  in  Anspruch  genommen  (Ges.  Abb.  1,35).  Allein  der 
Titel  ist,  abgesehen  von  der  trüben  Quelle,  der  er  entnommen  ist,  schon  darum  ver- 
dächtig, weil  Celsus  griechische  Bezeichnungen  soviel  als  möglich  vermeidet. 

Die  Zeit  des  Werks.  Die  Medicin  muss  früher  sein  als  des  Scribonius  Rezept- 
buch; denn  Celsus  teilt  4,7  ein  Rezept  mit,  das  sich  nach  seiner  Versicherung  in  keinem 
medizinischen  Werk  findet,  das  aber  mit  dem  entscheidenden  Bestandteil  bei  Scribonius 
vorkommt  (c.  70).  Celsus  muss  also  sein  medizinisches  Buch  vor  Scribonius,  d.  h.  vor  47.  S 
geschrieben  haben.  Auch  die  landwirtschaftliche  Schrift  liefert  uns  einen  terminus  ante 
quem,    Plin.  h.  n.  14, 33  sagt:  Graecinus,  qui  alioqui  Celsum  transscripsit.    Julius  Graecinus. 


A.  ComtiliiM  Celans. 


427 


der  Vater  des  Agricolai  schrieb  ein  Werk  devineiSf  in  dem  er  sich  also  an  Celsus  an- 
schloss.  Sein  Tod  fällt  in  das  Jahr  38  n.  Ch.  Folglich  muas  der  landwirtschaftliche  Teil 
der  Encyklopädie  und  da  diese  den  Anfang  bildet,  diese  selbst  vor  38  geschrieben  sein. 
Damit  wären  wir  in  die  Tiberische  2ieit  gelangt.  Da  aber  die  medizinischen  Bücher  nach 
23  V.  Ch.  fallen,  (vgl.  meine  Abh.  p.  363)  und  Colnmella  1, 1, 14  Gelsns  und  Julius  Atticus 
als  noatrarum  temporum  viri  dem  Yergil  und  Hjgin  gegenüberstellt,  so  werden  wir  die 
schriftstellerische  Thfttigkeit  des  Celsus  von  der  2ieit  Tibers  nicht  weiter  zurücklegen  dürfen. 

Litter  atur:  Eissbl,  Celsus,  eine  bist.  Monographie  T,  Giessen  1844;  O.Jahn  (Über 
römische  Encyklopädien)  in  den  Berichten  der  sächs.  GeseUsch.  der  Wissensch.  II.  Bd.  (1850 
p.  263) ;  M.  Schanz,  Über  die  Schriften  des  Cornelius  Celsus,  Rhein.  Mus.  36, 362  (dazu 
Schwabe,  Hermes  19,385). 

474.  Die  Medizin  des  Gelsns.  Mit  einer  interessanten  Einleitung 
beginnt  das  Werk;  zuerst  wird  die  Entstehung  der  Heilkunde  erörtert, 
dann  wird  die  Gliederung  derselben  vorgeführt;  sie  zerfällt  in  drei  Teile, 
in  denjenigen,  welcher  durch  Regelung  der  Lebensweise  (Diätetik),  den- 
jenigen, welcher  durch  Medikamente  (Pharmakeutik),  endlich  den,  welcher 
durch  manuelles  Eingreifen  heilt  (Chirurgik).  Daran  schliesst  sich  eine 
ausführliche  Darlegung  des  Gegensatzes  der  beiden  medizinischen  Schulen, 
der  rationellen  Richtung,  welche  alles  Schwergewicht  auf  die  Erkenntnis 
der  Ursachen  legt,  und  der  empirischen,  welche  sich  auf  den  Erfolg  der 
Heilmittel  stützt.  Celsus  nimmt  eine  vermittelnde  Stellung  ein,  doch  neigt 
er  sich  mehr  auf  die  Seite  der  Theoretiker*),  er  verurteilt  zwar  das  Ex- 
periment an  lebenden  Körpern,  hält  dagegen  das  an  toten  für  notwendig. 
Nach  dieser  Einleitung  schreitet  er  zu  seiner  Aufgabe.  Das  erste  Buch 
handelt  über  die  Lebensweise  im  allgemeinen  unter  Berücksichtigung  der 
verschiedenen  Individualitäten  und  krankhaften  Dispositionen.  Das  zweite 
Buch  enthält  die  allgemeine  Pathologie,  und  erörtert  das  Verhältnis  der 
Jahreszeiten,  der  verschiedenen  Alter  zu  den  Krankheiten,  die  An- 
zeichen eines  krankhaften  Zustandes  im  allgemeinen,  die  Symptome  der 
einzelnen  Krankheitszustände  und  die  prognostischen  Momente;  der  all- 
gemeinen Pathologie  folgt  die  allgemeine  Therapie.  Die  zwei  folgenden 
Bücher  wenden  sich  zu  den  einzelnen  Krankheiten,  das  dritte  bespricht 
die  Krankheiten,  die  dem  ganzen  Körper  zugeschrieben  werden  müssen, 
wie  z.B.  Fieber,  Wahnsinn;  das  vierte  diejenigen,  die  ihren  Sitz  in  den 
einzelnen  Körperteilen  haben.  Dies  macht  zuerst  eine  anatomische  Über- 
sicht notwendig.  Die  Darstellung  fängt  mit  dem  Kopfe  an.  In  beiden 
Büchern  hatte  die  Therapie  mehr  einen  allgemeinen  Charakter,  alle  Momente, 
die  zur  Heilung  führen  können,  waren  berücksichtigt,  nicht  bloss  die  Me- 
dikamente; in  den  beiden  folgenden  (5  und  6)  Büchern  wird  die  Lehre 
von  den  Arzneimitteln  systematisch  durchgeführt  und  eine  grosse  Anzahl 
von  composifiones  mitgeteilt.  Mit  dem  siebenten  Buch  wird  die  Chirurgie 
in  Angriff  genommen;  lesenswert  ist  die  Aufzählung  der  für  einen  guten 
Chirurgen  notwendigen  Eigenschaften.^)  Die  Knochenerkrankungen  sind 
einem  eigenen  Buch,  dem  achten,  reserviert. 

Es  steht  uns  natürlich  nicht  zu,  über  den  sachlichen  Wert  des  Buchs 


^)prooem.  (p.  8  Dakkmb.)  ista  naturae 
rerum  contemplatio,  quamris  non  faciat  me- 
dicum,  apti&rent  tarnen  medicinae  reddii. 

2)  Z.  ß.  7  praef  (p.  263  Daremb.)  mu^e- 
ricors  sie,  ut  mnari  relit  eunty  quem  accepit, 


non  tä  clamore  eitis  motwi  vel  magis  quam  res 
desiderat  proper  et  vel  minus  quam  necesse  est 
seceif  sed  perinde  faciat  omnia  ac  si  nullus 
ex  ragitibus  aUerius  affedus  oriatur. 


428     Komische  Litteraturgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

ein  Urteil  abzugeben.  Nur  soviel  darf  gesagt  werden,  dass  die  Abhängig- 
keit des  Celsus  von  den  Griechen  oflFen  vorliegt.  Dadurch  ist  er  eine  Haupt- 
quelle für  die  Geschichte  der  Medizin  seit  Hippokrates  geworden;  wir 
lernen  durch  ihn  72  verlorene  medizinische  Autoren  *)  kennen.  Sein  Ver- 
dienst muss  also  in  der  Form  gesucht  werden.  Hier  muss  ihm  aber  volles 
Lob  zu  teil  werden.  Des  Autors  Sprache  ist  rein  und  einfach  und  hält  sich 
von  allem  rhetorischen  Schwulste  frei ;  von  den  Rezepten  abgesehen,  ermüdet 
uns  die  Lektüre  durchaus  nicht,  öfters  tritt  uns  auch  die  Persönlichkeit 
des  Schriftstellers  näher,  wie  wenn  er  sagt,  dass  nur  unbedeutende  Geister 
nicht  gern  einen  Irrtum  eingestehen,  dass  aber  die  genialen  Menschen 
eine  irrtümliche  Ansicht  leicht  über  Bord  werfen  können,  da  ihnen  selbst 
dann  noch  genug  des  Eigenen  bleibt  (8, 4). 

Die  Überlieferung.  Alle  Handschriften  stammen  aus  einem  und  demäelben 
Exemplar,  da  sie  dieselbe  grosse  Lücke  im  vierten  Buch  (c.  27)  haben.  Die  ältesten  Hand- 
schriften sind  der  Vaticanus  5951  s.  X,  der  Laur.  73, 1  s.  XFI  und  der  Parisinus  7028  s.  XI. 

Ausgaben  ex  rec.  Targae  mit  .einem  lexicon  Cehianum  1810;  von  Ritter  und 
Albebs,  Köln  1835,  Dabemberg  Leipz.  1859. 


Die  Monographie  über  den  Partherkrieg.  Jo.  Lydus  de  magistrcUthus  1, 47 
(p.  208  Fuss)  nniotaro  Kiavaxttyrivoq  —  ^17  eivni  ^{fdioy  aXXwg  xatanoXefuj&rjyat.  Jlegaag 
fdij  eSaTiiyrjg  avioig  inixsofisytjg  i(p6dov  •  Kai  ovyyQttfprjy  nsQt  tovtov  fioyijgrj  KiXaog,  6  'Ptth- 
fittlos  tttxzixog,  anoXeXoiTjef  aagxog  dyadiddaxtoy,  uis  ovx  dXXtas  JliQant  'Putf^aloig  TtaQaarij- 
aoyrui,  ei  fitj  ai(pyidltog  Big  irjy  ixelytoy  j^toqrty  'Piouaioi  yyofpov  dixfjy  iyaxtjiffovaiy.  —  ly 
yctQ  dvaj^wQitt  niqüaig  InnrjXnTOvav  dvaifißaiog  '  of^ey  «tpogrjzog  avxoTg  6  KovQßoXiay  ini 
lov  Negatyog  iq>dytj.  Die  Schrift  bezieht  sich  auf  Corbulos  Feldzug  und  fällt  etwa  63  n. 
Ch.  Ich  habe  leise  Zweifel  angedeutet,  ob  diese  Monographie  von  unserm  Celsus  her- 
rührt, wenn  es  auch  wahrscheinlich  ist,  dass  Lydiis  den  Verfasser  der  Monographie  dafür 
hält  (vgl.  noch  1, 17).  Das  Gleiche  that,  ohne,  wie  es  scheint,  von  meiner  Abhandlung 
Kenntnis  gehabt  zu  haben,  Reitzenstein  p.  31  Anm.  50. 

2)  Die  Grammatiker. 

1.   Q.  Remmius  Palaemon. 

475.  Die  verlorene  Ars  des  Palaemon.  Der  Grammatiker  war  der  Sohn 
einer  Sklavin  in  Vicenza.  Er  erlernte  das  Weberhandwerk,  als  er  aber  den 
Auftrag  erhielt,  den  Sohn  des  Herrn  in  die  Schule  zu  begleiten,  benutzte  er  die 
Gelegenheit,  sich  eine  höhere  Bildung  anzueignen.  Später  freigelassen  er- 
öffnete er  eine  grammatische  Schule  und  verstand  es,  sich  zu  hohem  An- 
sehen emporzuringen,  obwohl  sein  sittliches  Leben  anstössig  war  und  sogar 
die  Kaiser  Tiberius  und  Claudius  vor  seiner  Schule  öffentlich  warnten; 
die  grosse  Anziehungskraft,  die  er  ausübte,  lag  in  seinem  stets  paraten 
Wissen  und  in  seiner  völligen  Herrschaft  über  das  lebendige  Wort.  Sein 
Selbstgefühl  war  sehr  stark  entwickelt,  er  prahlte,  dass  mit  ihm  die  Wis- 
senschaft zur  Welt  gekommen  sei  und  mit  ihm  auch  wieder  ins  Grab  sinke; 
er  versicherte,  dass  der  in  den  Bucolica  Vergils  zum  Schiedsrichter  erwählte 
Palaemon  eine  prophetische  Hinweisung  auf  ihn  als  künftigen  Kritiker  der 
Dichter  enthalte,  er  erzählte,  dass  Räuber,  denen  er  einmal  in  die  Hände 
fiel,  ihn  unbehelligt  Hessen ,  als  sie  seinen  Namen  hörten.  Gross  waren 
seine  Luxusbedürfnisse;  obgleich  ihm  seine  Schule  reiche  Honorare  ein- 
trug und  er  auch   noch  durch  andere  Unternehmungen,   besonders  durch 


*)  Haseb,  Gescb.  der  Medizin  l',280. 


Q.  RemmiuB  Palaemon.  —  Q.  Asconius  Pedianus. 


429 


rationellen  Betrieb  der  Landwirtschaft  grosse  Einnahmen  erzielte,  so  reichte 
doch  dies  alles  für  seine  Bedürfnisse  nicht  aus  (Suet.  gr.  23). 

Palaemons  Bedeutung  für  die  Litteratur  liegt  in  seinem  Lehrgebäude 
der  lateinischen  Grammatik,  in  seiner  Ars.  Zwar  war  er  auch  Improvi- 
sator von  Gedichten  und  um  seine  Kunst  zu  zeigen,  versuchte  er  sich  in 
den  schwierigsten  Metra.  Allein  diese  Spielereien  scheinen  nur  eine 
ephemere  Wirkung  gehabt  zu  haben.  Dagegen  erstreckte  sich  der  Eiufluss 
seiner  Ars  bis  auf  die  spätesten  Zeiten.  Leider  ist  uns  dieselbe  nicht  er- 
halten; doch  können  wir  dieselbe  einigermassen  restituieren.  Am  dien- 
lichsten ist  uns  für  diesen  Zweck  Gharisius,  der  ganze  Partien  aus  dem 
Werk  herübergenommen  hat.  Gewisse  Kriterien,  die  man  gefunden  hat, 
erleichtern  die  Aufgabe. 

Schottmüllers  Hypothese.  Schottmüllbb  (p.  31)  spricht  die  Ansicht  aus,  der  von 
Gharisius  benutzte  Palaemon  sei  ein  (gallischer)  Grammatiker  des  vierten  Jahrhunderts, 
den  Apollinaris  Sidonius  ep.  5, 10  erwähne.  Allein  seine  Gründe  sind  sehr  unzureichend. 
Vgl.  Keil  5,  334;  Ghbist,  Philo].  18, 125;  Mobawski  p.  352;  Mabschall  p.  8— 20.  Dass 
ein  Buch,  welches  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  als  Unterrichtsmittel  diente,  vielen  Inter- 
polationen und  Verschlechterungen  ausgesetzt  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Auch  durch  die 
indirekte  Überlieferung  hat  das  Werk  Schaden  genommen. 

Apokryph  ist  eine  den  Namen  des  Palaemon  tragende  Ars,  welche  bei  Ebil  5, 
533  steht. 

Die  Versuche  zur  Restitution  des  Palaemon.  SchottmOlleb,  De  C.  Plini 
Secundi  libris  grammaticut,  Bonner  Diss.  1858  tritt  in  eine  Untersuchung  der  Bestandteile 
des  Gharisius  ein  (p.  24)  und  wird  dadurch  auch  zu  einer  Ausscheidung  des  Palaemon  ver- 
anlasst. Es  folgt  Mobawski  ,  Quaest.  Charts,  (Hermes  11, 339),  der  ebenfalls  Kriterien 
für  die  Palaemonischen  Bestandteile  gewinnt.  Wiederum  einen  Schritt  weiter  that  Mab- 
SCHALL,  De  Q,  Remmii  Falaemanw  libris  grammaticis,  Leipz.  1887,  welcher  nicht  bloss  den 
Gharisius,  sondern  auch  den  Dositheus,  die  Exzerpte  Bobiensia  zur  Restituierung  der  Ars 
herbeizog.  Der  Versuch,  den  Julius  Romanus  aus  Gharisius  zu  gewinnen,  hat  neuerdings 
auch  Fböhdb  (De  C.  Julio  Romano  Charisii  auctore  in  Fleckeis.  Jahrb.  Supplementb.  18, 
567)  auf  die  Palaemonische  Frage  geführt  Trotz  der  Verdienstlichkeit  dieser-  Versuche 
fehlt  uns  noch  immer  die  rekonstruierte  Ars.  Nur  eine  möglichst  umfassende  Analvse 
der  gesamten  vorhandenen  grammatischen  Litteratur  der  Römer ')  (nach  MüLLEMHOFF^scher 
Methode)  verspricht  abschliessende  Resultate.    Mit  Stückwerk  ist  hier  nichts  gethan. 

2.  Q.  Asconius  Pedianus. 

476.  Des  Asconius  historischer  Kommentar  zu  den  Beden  Ci- 
ceros  und  seine  verlorenen  Schriften.  Die  litterarisch-historische  Seite 
der  Philologie  wird  in  ausgezeichneter  Weise  durch  Q.  Asconius  Pedianus, 
wahrscheinlich  aus  Padua  stammend  ^),  vertreten.  Einem  Funde  Poggios  in 
St.  Gallen  verdanken  wir  einen  Kommentar  desselben  zu  folgenden  Reden: 

1)  contra  L.  Pisonem  (55  v.  Ch.) 

2)  pro  M.  Scauro  (54  v.  Ch.) 

3)  pro  Milane  (52  v.  Ch.) 

4)  pro  Comelio  de  maiestaie  (65  v.  Ch.) 

5)  in  toga  Candida  contra  C,  Äntonium  et  L.  Catilinam  competitores  (64  v.  Ch.). 

Ursprünglich  scheint  derselbe  noch  ausgedehnter  gewesen  zu  sein, 
ein  Fragment  zu  der  zweiten  Rede  pro  Comelio  am  Schluss  des  Kommen- 
tars zur  ersten  lässt  auf  einen  Ausfall  mehrerer  Blätter  schliessen.  Der 
erhaltene  Teil  wurde  in  Rom  zwischen  54  und  57,  also  zu  Anfang 
der  Regierung  Neros  geschrieben.    Allein  der  ursprüngliche  Kommentar 


')  est  profecto  fere  nemo  grammaticus 
posterioris  aetatis  latinus,  quin  Palaemonis 
librum  adierit  (Mabschall  p.  81). 


^)  68, 17   sagt  er  Livius  noster.    Auch 
weisen  Inschriften  Asconii  in  Padua  nach. 


430     Komische  Litteraturgeschichte.    n.  Die  2eit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

umfasste  noch  viel  mehr  Reden,  denn  aus  Gellius  15,  28,  4  folgt,  dass  Asconius 
auch  einen  Kommentar  zur  Rede  für  Sex.  Rosciu  aus  Ameria  geschrieben ; 
auf  Kommentare  zu  anderen  Reden  führen  Verweisungen  in  dem  vor- 
handenen Kommentar.  Diese  kommentierten  Reden  waren,  wie  sich  aus 
den  Eingängen  des  Kommentars  zur  Scauriana  und  zur  Rede  in  toga  Can- 
dida, besonders  aber  zur  Comeliana  ergibt,  nach  der  Zeit  geordnet;  es  ist 
daher  die  obige  überlieferte  Reihenfolge  nicht  die  richtige. 

Sein  Werk  bestimmte  Asconius  für  seine  Söhne  (38,20).  Da  diese 
öfters  angeredet  werden,  so  erhält  dasselbe  einen  familiären,  gemütlichen 
Ton.  Der  Charakter  des  Kommentars  ist  ein  rein  historischer; 
die  grammatisch-rhetorische  Seite  bleibt  völlig  unberücksichtigt.  Seine 
Aufgabe  hat  Asconius  meisterhaft  gelöst.  Mit  der  grössten  Sorgfalt  zieht 
er  alles  heran,  was  sich  aus  den  übrigen  Schriften  seines  Autors  für  die 
Erkenntnis  des  Sachverhalts  ermitteln  lässt,  dann  sieht  er  sich  aber  auch 
nach  andern  Quellen  um,  die  acta  populi  Romani,  verwandte  Reden,  histo- 
rische Schriften  u.  a.  werden  durchforscht.  Nicht  zufrieden  damit  gibt  der 
gewissenhafte  Autor  auch  öfters  noch  an,  was  er  ermitteln  konnte  und 
was  nicht.  Sein  Urteil  ist  überall  ein  umsichtiges.  Die  Form,  in  die  er 
seinen  Kommentar  kleidet,  ist  die,  dass  er  zuerst  jeder  Rede  eine  Ein- 
leitung vorausschickt,  dann  einzelne  Stellen  mit  Rücksicht  auf  die  Be- 
dürfnisse seiner  Söhne  erläutert.     Sein  Stil  ist  klar  und  rein. 

Die  Neuzeit  schätzt  den  Asconius  ungemein;  alle,  die  sich  mit  ihm 
beschäftigt  haben,  sind  des  Lobes  voll  über  ihn.  Aber  auch  das  Altertum 
scheint  seinen  Wert  erkannt  zu  haben;  das  Lob,  das  Silius  Italiens  in 
seinem  punischen  Krieg  einem  aus  Padua  stammenden  Jüngling  Pedianus 
zollt  (12,  212),  werden  wir  als  eine  Ehrung  des  Asconius  zu  betrachten 
haben. 

Die  Zeit  des  Kommentars  bestimmt  sich  aus  den  Worten  p.  23,25:  possidet  tarn 
(domum)  nunc  Largus  Caecina,  qui  consul  fuU  cum  Claudio.  Caecina  starb  vor  Oktober 
57.  Das  Konsulat  des  Caecina  und  des  Claudius  fällt  ins  Jahr  42.  Da  Asconius  aber  die 
Worte  qui  consul  fuit  cum  Claudio  nicht  wohl  unter  der  Regierungszeit  des  Claudius 
schreiben  konnte,  so  würde  sich  das  Intervallum  auf  54—57  einengen  (Madvig  [1828]  p.  4). 

Die  Überlieferung.  Der  Kommentar  ist  uns  (mit  einem  fälschlich  dem  Asconius 
beigelegten  Kommentar  zu  einem  Teil  der  Verrinen  vgl.  §  146, 3)  durch  eine  jetzt  verlorene  Hand- 
schrift von  St.  Gallen  überliefert.  Dieselbe  wurde  im  J^u*e  1416  von  Poggio  und  seinen 
Freunden  Bartholomaeus  von  Montepulciano  und  Sozomenos  von  Pistoja  aufgefunden,  welche 
alle  drei  von  ihrem  Fund  Kopien  nahmen.  Von  diesen  Kopien  ist  uns  die  des  Bartholo- 
maeus von  Montepulciano  (Laur.  54, 5)  und  die  des  Sozomenos  (in  Pistoia  nr.  37)  erhalten, 
die  des  Poggio  ist  (wenn  sie  sich  nicht  in  Madrid  befindet)  verloren,  dieselbe  wurde  aber 
für  ungemein  viele  Handschriften  die  Quelle,  da  Poggio  sein  Exemplar  lesbar  gemacht 
hatte.  Unter  diesen  apographa  stechen  hervor  der  Leidensis  222  und  der  Laurentianus 
50, 4.  Ziel  der  Recension  muss  sein  Wiederherstellung  des  Sangallensis;  diesem  Ziele  dient 
in  erster  Linie  das  apogr.  Sozomenif  in  zweiter  das  apogr.  Bartholomaei,  endlich  in  dritter 
das  wiederum  erst  aus  den  apographa  zu  gewinnende  apographum  Poggianum. 

Litteratur.  Massgebende  Ausgabe  von  Kiebslino  und  R.  Schoell,  Berl.  1875. 
Grundlegende  Schrift:  Madvio,  De  Q.  Aac.  Ped,  et  aliorum  veterum  interpretum  in  Cic,  oraU 
commentariis,  Kopenh.  1828.    Dazu  appendix  critica  ebenda  1829. 

Seine  Quellenforschung.  Ober  die  Quellen  handelt  Licbtenpeldt,  De  Q.  As- 
conti  Pediani  fontibus  ac  fide,  Bresl.  1888  (Breslauer  Philolog.  Abhandl.  U,  Bd.  4.  H.).  Nur 
wenige  Proben  von  seiner  Gewissenhaftigkeit:  p.  9,24  socrus  Pisonis  qttae  fuerit,  inrenire 
non  potui,  videUret  quod  auetores  rerum  non  perinde  in  domibus  ac  famHiis'  feminarum, 
nisi  illustriumf  ac  virorum  nomina  tradiderunt  p.  32, 27  ha£c,  eisi  nuUam  de  his  criminibus 
nientionem  fecit  Cicero,  tament  quia  ita  compereram,  ptUavi  exponenda  p.  39,  3  ego,  uf  cu- 
riositaii  restrae  satisfaciam,  Acta  etiam  totius  illius  temporis  persecufus  »um  (vgl.  p.  27,  12) 


M.  Talerins  Probna. 


431 


p.  43,  7  de  oppugnaia  domo  nttsquam  adhur  legi  p.  82, 17  nwnina  harum  müHerum  nondum 
inveni  p.  42, 17  quo  die  periculum  hoc  adieritf  ut  Clodius  eum  ad  Regiam  paene  confecerit, 
nusquam  inveni;  non  tarnen  adducor  ut  putem  Ciceronem  mentitumy  praesertim  cum  adiciat 
ut  scitis  p.  68, 6  inducor  magis  librariarutn  hoc  loco  esse  mendam  quam  ut  Ciceronem 
parum  proprio  verbo  usum  esse  credam. 

Die  verlorenen  Schriften  des  Asconias. 

1)  liber  contra  obtrectatores  Vergilii,  bezeugt  in  der  Donati  vita  Vergilii 
p.  66, 2  Rbiffersgh.  Er  wird  die  Schrift  des  L.  Varius  Rufus  benutzt  haben  (vgl.  oben  p.  61), 
allein  die  hauptsächlichste  Quelle,  aus  der  er  schöpfte,  scheinen  die  mündlichen  Erkundi- 
gungen gewesen  zu  sein,  die  er  einzog  (vgl.  Donat  p.  57, 4  Rbiffebsgh.,  Servius  ad  eclog, 
4, 11).  Auch  in  dieser  Schrift  erkennen  wir  aus  den  wenigen  erhaltenen  Fragmenten  die- 
selbe Gewissenhaftigkeit  wie  in  dem  Commentar. 

2)  eine  vita  SaVustii,  Diese  Schrift  beruht  aber  nur  auf  dem  Zeugnis  der  pseudo- 
acronischen  Scholien  zu  Horat.  Sat.  1, 2,  41. 

3)  ein  Symposion.  Dasselbe  ist  aus  Suidas  s.  v.  'Jnixiog  Mdgxog  zu  erschliessen. 
Dort  wird  von  einem  Gastmahl  bei  Apicius  erzählt,  an  dem  ausser  Asconius  der  Konsul 
Q.  Junius  Blaesus  (28  n.  Gh.),  der  Gymnastiker  Isidoros  und  andere  teilnahmen.  Das  Ge- 
spräch drehte  sich  um  die  Ringkunst.  Besonders  scheint  die  Bedeutung  derselben  fQr  die 
Erreichung  eines  hohen  Alters  erörtert  worden  zu  sein.  Dieses  Gastmahl  werden  wir  nicht 
als  ein  wirklich  stattgefnndenes,  sondern  als  ein  fingiertes  betrachten  und  demselben  auch 
das  Fragment  zuweisen,  welches  über  das  hohe  Alter  der  Sammula  (Plin.  n.  h.  7, 159) 
handelt  und  das  zur  Ansetzung  einer  Schrift  des  Asconius  über  „  Langlebende  *  Anlass  gab. 
Vgl.  Suidas  1.  c.  y^Qovteg  di  akXoi  re  eXByoy  hti  rä/yp  naXataxQixj  xai  fiiytoi  xai  *Iovyiog 
BXauTos.    (HntzBL,  Rh.  Mus.  43, 314). 

3.  M.  Valerius  Probus. 

477.  Die  Probus- Ausgaben.  Sobald  eine  Litteratur  auf  eine  höhere 
Entwicklungsstufe  gekommen  ist  und  in  Folge  dessen  eine  intensivere 
Lektüre  der  Autoren  stattfindet,  stellt  sich  auch  das  Bedürfnis  nach  ge- 
reinigten Texten  ein.  Der  erste,  der  nach  der  von  Aristarch  ausgebildeten 
Methode  lateinische  Texte  kritisch  behandelte,  war  M.  Valerius  Probus  aus 
Berytos,  dessen  Blütezeit  in  die  Regierung  Neros  fällt.')  Lange  hatte  er 
sich  um  eine  Centurionenstelle ^)  beworben;  als  seine  Bemühungen  von 
keinem  Erfolg  gekrönt  waren,  wandte  er  sich  den  Studien  zu.  In  der 
Provinz  stiess  er  auf  ältere  Bücher,  die  dort  noch  gelesen  wurden,  während 
sie  in  Rom  bereits  verschollen  waren.  Die  Lektüre  reizte  ihn,  es  boten 
sich  ja  sprachliche  Probleme  dar;  nachdem  einmal  sein  Interesse  erwacht 
war,  suchte  er  noch  weiter  nach  solchen  alten  Büchern;  es  glückte  ihm, 
eine  grosse  Anzahl  zusammenzubringen.  Er  machte  sich  nun  an  die 
kritische  Bearbeitung  derselben.  Zum  Unterschied  von  anderen  Philo- 
logen beschränkte  er  seine  Thätigkeit  fast  nur  auf  diese  Seite  der  Philo- 
logie, und  mit  Recht  hat  man  ihn  daher  den  römischen  Immanuel  Bekker 
genannt.  Auch  hatte  er  keine  eigene  Schule,  allein  im  privaten  Umgang, 
den  er  einzelnen  Personen  gewährte,  sprach  er  sich  doch  hie  und  da  in 
zwangloser  Weise  über  seine  Probleme  aus  (Suet.  gr.  24). 

Die  Operationen,  in  welchen  sich  die  Thätigkeit  des  Herausgebers 
ausprägte,  waren  nach  Sueton  das  emendare,  das  distinguere,  das  adnoiare. 
Das  emendare  setzt  sich  als  Ziel,  die  durch  die  Abschreiber  in  den  Text 
gedrungenen  Fehler  zu  beseitigen.    Um  dieses  Ziel  zu  erreichen,  war  zu- 


0  Hieronymus  setzt  dieselbe  ums  Jahr 
56  an  (2, 155  Schöne).  Zur  Zeit  des  Martial 
scheint  er  nach  3, 2, 12  noch  gelebt  zu  haben. 


')  Stbüp  will  (p.  3)  statt  centuriatum 
geschrieben  wissen  rigintiviratum. 


432     Römische  Litteratargeschiohte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

nächst  notwendig,  ältere  korrektere  Exemplare  sich  zu  verschaffen.  War 
dies  geschehen  und  damit  eine  Grundlage  geschaffen,  dann  erst  konnte  die 
Verbesserung  der  Fehler  durch  Vermutung  erfolgen.  Weiterhin  galt  es, 
den  gereinigten  Text  dem  Verständnis  des  Lesers  zu  erschliessen,  dazu 
diente  das  distinguere,  die  Interpunktion,  welche  den  vollständigen  oder  re- 
lativen Gedankenabschluss  durch  Zeichen  andeutet.  Doch  das  wichtigste 
Geschäft  des  Herausgebers  war  die  adnotatio,  d.  h.  die  Erläuterungen  zu 
dem  edierten  Text.  Diese  Erläuterungen  konnten  einmal  durch  kurze 
Randbemerkungen  erfolgen.  Allein  daneben  war  auch  ein  adnotare  durch 
ein  System  von  Zeichen  (notae)  üblich.  Die  Römer  folgten  hierin  dem 
Vorgang  der  alexandrinischen  Grammatiker.  Diese  Zeichen  dienten  in 
erster  Linie  dazu,  die  Textesverderbnisse  zu  bezeichnen,  es  gab  aber  auch 
nofae,  welche  überhaupt  auf  eine  Stelle  aufmerksam  machten  oder  auf 
irgend  eine  Besonderheit  der  Diktion  hinwiesen  oder  Teile  des  Textes  (wie 
z.  B.  Strophe  und  Antistrophe)  markierten.  Uns  ist  ein  solches  Ver- 
zeichnis von  Noten  erhalten  und  bei  mehreren  wird  ausdrücklich  angegeben, 
dass  sie  von  Valerius  oder  von  den  Römern  gebraucht  wurden.  Nach  dieser 
Methode  bearbeitete  Probus  eine  Reihe  von  lateinischen  Autoren,  Vergil, 
Horaz,  Lucrez,  Terenz  und  Persius.  Seinen  Ausgaben  wurden  Biographien 
der  betreffenden  Autoren  vorausgeschickt. 

Zeagnisse  über  die  Probus -Ausgaben.  Anecdoton  Parisinum  (aus  dem  cori. 
Parisinus  7530)  Keiffersch.  Suet.  rel.  p.  138  heisst  es  nach  Aufzählung  der  Noten:  his  solia 
in  adnotationihus  Ennii,  Lmcüü  et  historicarum  usi  sunt  Vargunteius  Ennius  Aeliusque  et 
postremo  ProhiASy  qui  illas  in  Virgilio  et  Horatio  et  Liicretio  apposuit  ut  Homero  Aristo  r- 
chus.    Wir  erhalten  sonach  folgende  Ausgaben  des  Probus: 

a)  Die  Vergilausgabe  vgl.  oben  p.  63  fg.  Spuren  dieser  Ausgaben  liegen  uns  bei 
Gellius  und  Servius  vor.  Für  seine  Methode  ist  charakteristisch  die  Äusserung  (Gell.  13, 
21,  4):  in  primo  georgicon  quem  ego  librum  manu  ipsius  correctum  legi,  urbis  (für  urbes) 
per  i  literam  scripsU,  Sonach  war  er  für  seine  Vergilausgabe  auf  das  Urexemplar  des 
Dichters  zurückgegangen. 

Der  den  Namen  des  M.  Valerius  Probus  tragende  Kommentar  zu  den  Bucolica 
und  Georgica  hat  kaum  etwas  mit  dem  berühmten  Grammatiker  zu  thun  (vgl.  §248,4, 
p.  67).     Besser  dagegen  steht  es  mit  der  dem  Kommentar  vorausgehenden  vUa  (§  218, 1). 

b)  Die  Horazausgabe.  Sichtbare  Spuren  sind  von  ihr  nicht  vorhanden,  niemals 
erscheint  der  Name  Probus  in  den  Scholien. 

c)  Die  Lucrezausgabe.  Auch  von  dieser  Ausgabe  können  wir  die  Nachwirkungen 
nicht  klarlegen. 

Allein  noch  andere  Auteren  als  die  in  der  Stelle  genannten  scheint  er  kritisch  ediert 
zu  haben.    So  lässt  sich 

d)  eine  Terenzausgabe  nachweisen.  Sie  ergibt  sich  aus  Donat.  zu  Ad.  III,  2,  25 
(323).  Quid  festinas  mi  Geta]  Probus  assignat  hoc  Sostratae;  zu  Eun.  1, 1, 1  non  eam,  ne  nunc 
quidem]  non  eam  Probus  distinguit,  iungunt  qui  secundum  Menandri  exemplum  legunt. 
Andere  Stellen  wie  zu  Phorm.  I,  3,  3  (155)  V,  8  (9),  16  (1005)  II,  3,  25  (372)  Andr.  V,  3,  4 
(875)  Hecyr.  prol.  1,  2  (2)  Phorm.  I,  1,  15  (49)  betreffen  sprachliche,  nicht  kritische  Be- 
merkungen (Steup  p.  94  und  97). 

e)Dio  Persiusausgabe.  Hieronym,  apol.  c.  Rufin.  1,16  puto  quod  puer  legeris 
Aspri  in  Vergilfkfn  et  ScUlustium  commentarios,  Vuleacii  in  orationes  Ciceronis,  Victorini 
in  diahgos  eius  et  in  Terentii  comoedias  praeceptoris  mei  Donati  aeque  in  Vergilium  et 
aliorum  in  alios,  Plaut  um  ridelicet,  Lucretium,  Flaccum,  Persium  atque  Lucanum,  Hier 
wird  also  ein  Kommentar  des  Persius  bezeugt.  Es  ist  keine  Frage,  dass  der  Verfasser  des  Kom- 
menters ermittelt  werden  kann.  An  Comutus  als  Verfasser  dieses  Kommentars  darf 
nicht  gedacht  werden  (vgl.  p.  280).  Hieronymus  kann  nur  den  M.  Valerius  Probus  gemeint 
haben,  denn  dass  dieser  auch  den  Persius  kritisch  kommentierte,  beweist  die  uns  erhaltene 
vita,  welche  in  der  Überlieferung  als  „de  commentario  M,  Valerii  Probi  sublata"  eingeführt 


M,  Valerins  Probns. 


433 


wird.*)    Dass  diese  mta  in  ihrem  Kern  dem  Valerius  Probns  angehört,   kann   nicht  be- 
stritten werden. 

Probus-Ausgaben  des  Plautus  und  Sallust,   welche  Strup  seinem  jüngeren 
Probus  vindizieren  will  (p.  132,  p.  130),  können  nicht  sicher  erwiesen  werden. 

478.  Die  grammatischen  Schriften  des  Probus.  Obwohl  Probus 
den  Schwerpunkt  seiner  Thätigkeit  in  die  Herausgabe  von  Autoren  legte, 
so  konnte  er  doch  auch  an  den  Problemen  der  Grammatik  nicht  vorüber- 
gehen. Im  Gegenteil,  die  Handhabung  der  Kritik  erforderte  genaues  Ein- 
gehen auf  die  Eigentümlichkeiten  der  Sprache  und  ihr  Leben.  Und  wirk- 
lich hinterliess  er  einen  reichen  Schatz  von  Beobachtungen  über  das  alte 
Latein;  seine  Anhänger  scheinen  nach  seinem  Tod  manches  daraus  publi- 
ziert zu  haben.  Er  selbst  edierte  dagegen  nur  weniges  über  ganz  spezielle 
Probleme.  Aber  aus  seinen  mündlichen  Erörterungen  drang  auch  manches 
in  die  Öffentlichkeit.^)  Gellius  lagen  ohne  Zweifel  grammatische  Abband- 
lungeii  unter  dem  Namen  des  Probus  vor.  Uns  ist  nur  ein  einziges  Pro- 
dukt erhalten,  es  ist  ein  Verzeichnis  von  Abkürzungen,  welche  auf  Setzung 
der  Anfangsbuchstaben  der  betreffenden  Wörter  beruhen.  Dieser  kurze 
Traktat  zerfallt  in  vier  Abteilungen,  zuerst  werden  die  Abkürzungen  auf- 
gelöst, welche  in  den  amtlichen  und  in  den  historischen  Schriften  zur  An- 
wendung kamen,  es  sind  dies  besonders  die  Eigennamen.  In  den  übrigen 
drei  Abteilungen  handelt  es  sich  um  juristische  literae  singulares,  es  sind 
die  Abkürzungen  in  den  Volksbeschlüssen,  in  den  Legisactionen,  endlich  in 
den  Edikten.  Der  Schluss  der  in  den  Edikten  vorkommenden  Abkürzungen 
fehlt  in  den  Handschriften  des  Traktats,  das  Fehlende  kann  jedoch  aus 
einer  Einsiedler  Sammlung  (nr.  336)  zum  Teil  ergänzt  werden.  Das  Ganze 
scheint  nur  der  Auszug  aus  einem  grösseren  Werk  zu  sein,  das  vielleicht 
noch  andre  notae  behandelte.  Der  Überlieferung,  welche  die  Abhandlung 
dem  Valerius  Probus  zuteilt,  zu  misstrauen,  haben  wir  durchaus  keinen 
Grund;  denn  die  Zeitindizien  reichen  gerade  bis  zu  unserem  berühmten 
Grammatiker  und  nicht  darüber  hinaus.  Dann  legt  gerade  die  adnotatio 
der  Autoren  es  ihm  sehr  nahe,  sich  mit  den  notae  wissenschaftlich  zu  be- 
schäftigen. Endlich  werden  wir  durch  ein  Zeugnis  belehrt,  dass  es  wirk- 
lich eine  Abhandlung  von  Probus  über  das  -  betreffende  Gebiet  gab;  er 
hatte  nämlich  die  Chiffreschrift  Caesars  behandelt. 

Die  Schriftstellerei  des  Probns  im  allgemeinen.  Suet.  gr.  24  p.  118  R.  nimia 
pauca  et  exigua  de  quibusdam  tninutis  quaesHunctUis  edidit;  reliquit  autem  non  mediocrem  silvam 
ohservationum  sermonia  antiqui.  —  Gell.  15,  30,  5  ego  cum  Prohi  mttitos  admodum  commen- 
tationum  libros  adquiaierim. 

Einzelne  verloren  gegangene  commentationes,  1)  Gell.  4, 7,1  wird  fQr  die  Aus- 
sprache von  Hannibälem  und  UasdruhäJem  auf  Probus  verwiesen  und  zwar  auf  eine  epi- 
stula  ad  Marcellum  scripta  2)  Gell.  17,9,5  est  adeo  Prohi  grammatici  commentarius 
satis  curiose  factus  de  occulta  Htterarum  significatione  in  epistularum  C.  Cae- 
saris  scriptura  3)  Char.  p.  212,  7  Probus  de  inaequalitate  sermonis  quaerit.  Teile 
dieser  Schrift  werden  wohl  sein  «)  de  dubiis  generibus  (Priscian.  1, 171, 14);  ß)  de  dubio 
perfecto  (Priscian.  1,  541, 19).    Vgl.  Stbüp  p.  193.  m 

Die  Schrift  über  die  Abkürzungen.    Allem  Anschein  nach  ist  auch  die  im  vor- 


^)  Oben  p.  280  sind  leider  die  Klammem 
„(durch  den  Aristarch  der  Römer  Valerius 
Probus) "  weggeblieben,  was  zu  der  Annahme 
führen  könnte,  als  sei  an  der  Stelle  des 
HieronymuB    M.   Valerius    Probus    genannt. 


Eine  Mehrheit  von  Erklärem  mit  Teuffel 
zu  statuieren,  dazu  gibt  die  Stelle  keinen 
entscheidenden  Anlass. 

2)  Gell.  9,  9, 12;  1, 15, 18;  3, 1, 5;  6,  7,  3. 


Handbuch  der  klaas.  AltertamswiBseiuschaft.    YIO.    2.  Teil. 


28 


434    Römische  Litteraturgeschichte.    ü.  Die  Zeft  der  Monarchie.    1.  Abteilimg. 

ausgehenden  Absatz  (nr.  2)  angeführte  Schrift  mit  dem  erhaltenen  Traktat  in  Zusammenhang  zu 
bringen,  und  demnach  ein  umfassenderes  Werk  anzunehmen.  Die  Überschrift  des  Traktats 
„De  iuris  notarum  oder  iuris  notarum"  passt  nicht,  ist  sonach  ein  späterer  Zusatz.  Auch 
dieses  deutet  darauf  hin,  dass  wir  nur  einen  Teil  einer  grösseren  Sammlung  vor  uns  haben. 

Die  beste  Überlieferung  des  Verzeichnisses  bietet  der  Ambrosianus  J.  115. 

Massgebende  Ausgaben  von  Mohmsen  Leipz.  Sitzungsber.  1853,  119  und  in  Keils 
gr.  4,  271. 

479.  Die  nnterschobenen  Probusschriften.  Von  den  apokryphen 
Schriften  des  Probus  sind  vor  allem  diejenigen  auszuscheiden,  deren  Zu- 
teilung an  Probus  nicht  auf  einem  handschriftlichen  Zeugnis,  sondern  nur 
auf  einer  gelehrten  Vermutung  beruht.  So  hat  der  erste  Herausgeber  des 
Schriftchens  „De  ultimis  syllabis  ad  Caelestinum"  Parrhasius  dieses 
dem  Probus  zugeteilt.  Allein  seiner  Vermutung  geht  alle  Begründung  ab. 
Ebenso  willkürlich  setzte  Laurentius  Valla  einer  Scholienmasse  Juvenals  den 
I  Namen  des  berühmten  Grammatikers  vor  (vgl.  p.  345).    Im  Gegensatz  zu 

I  diesen  Produkten  hat  der  Name  des  Probus  die  Gewähr  der  handschriftlichen 

Überlieferung  für  sich  bei  folgenden  vier  grammatischen  Arbeiten,  die  wir 
zwei  jetzt  in  Wien  befindlichen,  ehemals  nach  Bobio  gehörigen  Hand- 
schriften, Vindob.  16  s.  Vll/Vm  und  Vindob.  17  s.  VHI/IX,  und  einem  Va- 
ticanus  s.  VI/VII  verdanken. 

1)  Catholica  ProbU)  Die  Schrift,  welche  mit  dem  liber  de  ultimis 
syllabis  der  Vindobonensis  16  erhalten  hat,  handelt  über  die  Deklination 
der  Nomina,  dann  über  die  Konjugation  der  Verba,  endlich  über  die  rhyth- 
mischen Satzausgänge  (GL.  4,  3). 

2)  Die  Inst It Ufa  artium,  über  die  acht  Redeteile,  stehen  im  Vati- 
canus,   daher  auch  Ars  Vaticana  genannt,   und  im  Vindob.  17  (GL.  4,  47). 

3)  Die  Appendix  Probi.  Dieser  Traktat  besteht  aus  verschiedenen 
Verzeichnissen;  das  erste  bezieht  sich  auf  das  Nomen  (z.  B.  Zusammen- 
stellung von  Beispielen  des  Ablativausgangs,  von  Pluralia  tanfum  u.  a.), 
das  zweite  gibt  Beispiele  über  den  Gebrauch  der  Casus  u.  a.,  das  dritte 
gibt  eine  Gegenüberstellung  der  richtigen  und  der  falschen  Schreibung 
einer  Anzahl  von  Worten;  für  die  Lehre  von  der  Aussprache  ist  dieses 
Verzeichnis  von  der  grössten  Wichtigkeit.  Am  Schluss  erscheint  eine 
Tabelle  von  differe^ttiae.  Ein  Teil  dieser  Tabelle  (p.  199, 18—201, 10)  ist 
auch  in  dem  Montepessulanus  306  überliefert  und  trägt  hier  die  Über- 
schrift „Differentiae  Probi  Valerii",  während  in  dem  Vindob.  17  die  Ap- 
pendix anonym  überliefert  ist.  Diese  Ajipendix  setzt  eine  Benutzung  der 
Instituta  artium  voraus 2)  (GL.  4,  193). 

4)  De  yiomine  excerpta  wird  in  dem  Vindob.  16  als  ein  Werk  des 
Valerius  Probus  bezeichnet.  Diese  Abhandlung  ist  aber  aus  verschie- 
denen Grammatikern  zusammengestellt^)  (GL.  4,  207). 

Das  sind  die  Produkte,  in  welchen  die  Überlieferung  ganz  oder  wie 
bei  Nr.  3  teilweise  für  Probus  eintritt.  Allein-  wie  wenig  Wert  dieser 
Überlieferung  beizumessen  ist,  zeigen  die  CatJwlica.  Schon  längst  hatte 
man  erkannt,  dass  zwischen  dieser  Schrift  und  den  Instituta  solche  Diffe- 


*)  Eingeführt  mit  den  Worten:  quoniam 
instituta  artium  sufflciettter  tractavimuSj  nunc 
üe  cathoUcis    nominum    verborumque 


rationibus  doceamus, 
«)  Stbup  p.  170  fg. 
*)  Steup  p.  175. 


H.  Talerins  Probns.  435 

renzen  bestehen,  dass  unmöglich  an  eine  und  dieselbe  schriftstellerische 
Individualität  gedacht  werden  kann.  In  den  Catholica  ist  die  Schreibweise 
kurz  und  gedrungen,  in  den  InstUuta  dagegen  ungemein  weitschweifig; 
dort  finden  sich  noch  Überreste  antiker  Oelehrsamkeit,  hier  aber  Sonder- 
barkeiten und  Absurditäten.  Auch  weichen  die  in  beiden  Schriften  vor- 
getragenen Lehren  so  voneinander  ab,  dass  nicht  einmal  die  Annahme 
zulässig  erscheint,  dass  die  gleichen  Quellen  benutzt  sind.  Diese  Be- 
obachtungen erhalten  eine  entscheidende  Bestätigung  durch  die  Yer- 
gleichung  der  Catholica  mit  der  Grammatik  des  Sacerdos;  es  zeigt  sich 
eine  merkwürdige  Übereinstimmung  der  Catholica  mit  dem  zweiten  Buch 
der  Grammatik  des  Sacerdos J)  Für  diese  Übereinstimmung  ist  bloss- die 
Erklärung  zulässig,  dass  die  Catholica  das  Eigentum  des  Sacerdos  sind 
und  nur  irrtümlich  den  Namen  des  Probus  tragen;  denn  dass  nicht  etwa 
Sacerdos  die  Catholica  als  zweites  Buch  herübergenommen,  geht  daraus 
hervor,  dass  dieses  zweite  Buch  ganz  dieselben  Eigentümlichkeiten  wie 
die  zwei  übrigen  Bücher  aufweist,  welche  doch  niemand  dem  Sacerdos  ab- 
sprechen kann.  2)  Auch  wird  in  den  Catholica  auf  ein  vorausgegangenes 
Buch  hingedeutet.  Die  Catholica  haben  also  nichts  mit  Probus  zu  thun. 
Merkwürdig  ist  aber,  dass  schon  von  Grammatikern  die  Catholica  unter 
dem  Namen  des  Probus  citiert  werden.  Aber  nicht  bloss  bei  den  Catholica^ 
auch  bei  der  Appendix  und  bei  den  Excerpta  de  nomine  müssen  wir  den 
Namen  des  Probus  fallen  lassen.  Die  Excerpta  sind  ja  aus  verschiedenen 
grammatischen  Autoren  zusammengestellt.^)  Die  Appendix  aber  anlangend, 
so  ist  von  Wichtigkeit,  dass  nur  ein  Stück  dem  Probus  und  zwar  lediglich 
in  einer  Handschrift  zugeteilt  wird.  Allein  dass  dieses  Stück  nichts  mit  dem 
berühmten  Grammatiker  zu  thun  haben  kann,  erkennt  man  sofort,  wenn 
man  die  differentiae  näher  ins  Auge  fasst,  denn  da  zeigen  sich  Spracher- 
scheinungen, welche  dem  Valerius  Probus  noch  gar  nicht  vorgelegen  sein 
können.  Aber  auch  an  eine  Identität  des  Verfassers  mit  dem  der  In- 
stituta  können  wir  nicht  denken,  da  in  der  Appendix  eine  unverkennbare 
Benutzung  der  Instituta  zu  Tage  tritt.  Sonach  bleibt  uns  nur  der  Probus 
der  Instituta.  Allein  dass  derselbe  nicht  mit  dem  Grammatiker  der  nero- 
nischen  Zeit  identisch  sein  kann,  haben  wir  eben  angedeutet;  dagegen 
spricht  der  ganze  Inhalt  des  Werks,  auch  ein  positives  Zeugnis  steht  uns 
zur  Verfügung;  p.  119,  26  werden  die  Diocletianischen  Thermen  erwähnt; 
somit  kommen  wir  ins  vierte  Jahi'hundert.*)  Wenn  also  die  Überlieferung 
recht  hat,  so  müssen  wir  neben  dem  berühmten  Berytier  noch  einen  be- 
trächtlich jüngeren  Probus,  den  Verfasser  der  histituta,  annehmen.  Man  hat 
nun  einen  solchen  auch  anderweitig  nachzuweisen  versucht;  wir  kennen 
aus  dem  vierten  Jahrhundert  einen  Probus,  der  mit  Lactantius  Firmianus 
in  Beziehungen  stand.  Allein  es  kann  nicht  dargethan  werden,  dass  dieser 
Probus  ein  Grammatiker  war.'^)    Die  Existenz  dieses  jüngeren  Probus  ist 


^)  Über  das  bandscliriffcliche  Verhältnis 
äussert  sich  Keil  GL.  6,422  also:  antiqutor 
et  pleniar  oUtn  Über  fuit,  ex  quo  tamquam 
cammuni  fönte  et  hie  Über,  quem  nunc  Claudii 
Sacerdotis  nomine  inscriptum  habemus,  et 
I  Probt  catholica  quae  ferunfur  ita  dticta  sunt,  ut 


alia  apud  hunc,  alia  apud  iüum  servarentur, 

')  AusfQhrlich  zusammengestellt  beiSTEUP 
p.  162. 

»)  Stbup  p.  175. 

*)  Steüp  p.  167. 

*)  Steup  p.  167  fg. 

28* 


436     Hömische  LitteratnrgeBchichte.    11.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 


daher  sehr  problematisch.  Wenn  man  sieht,  wie  sehr  der  Name  Probus 
im  Laufe  der  Zeit  eine  typische  Bedeutung  erhielt,  und  wie  leicht  sein 
Name  grammatischen  Traktaten  vorgesetzt  wurde,  so  wird  es  geratener 
sein,  diesen  jüngeren  Probus  aus  der  Litteraturgeschichte  zu  streichen  und 
einen  uns  unbekannten  Verfasser  für  die  Instüuta  anzunehmen. 

Die  Hypothese  Steups  von  den  drei  Probi.  Steüp  nnterscheidet  drei  Gram- 
matiker des  Namens  Probus  1)  den  Probus,  von  dem  uns  Sueton  berichtet  und  der  zur 
Zeit  Neros  gelebt;  2)  einen  etwas  jüngeren  Probus,  den  Sohn  oder  Neffen  des  Berytiers, 
der  bei  Martial  und  Gellius  erscheine,  den  Verfasser  des  Kommentars  zu  Vergils  Bucolica 
und  Georgica  und  der  vita  des  Persius  und  des  fragmentum  de  Werts  singuhribus  u.  s.  w. ;  3)  end- 
lich einen  Probus  aus  dem  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts,  den  Verfasser  der  Ars  Va- 
ticana.  Der  zweite  Probus  ist  nichts  als  ein  Phantasiegebilde  Steups.  Schon  der  einzige 
Umstand,  dass  Gellius  niemals  einen  jüngeren  Probus  von  dem  älteren  unterscheidet,  ge- 
nügt, die  Existenz  dieses  zweiten  in  das  Reich  der  Fabel  zu  verweisen.  Auch  dass  Steup 
gezwungen  ist,  die  beiden  Probi  in  dieselbe  Zeit  zu  versetzen,  weist  auf  ihre  Identität  hin. 
Auch  die  Schriftstellerei  der  beiden  ersten  Probi  gestattet  keine  Scheidung. 

Litteratur:  Steup,  De  Probis  grammaticiSf  Jena  1871,  wo  auch  die  übrigen  ein- 
schlägigen Schriften  verzeichnet  sind.    (Beck,  De  V.  P.  quaestiones  novae,   Groning.  1886.) 

Andere  Grammatiker  des  Zeitraums  sind: 

1.  Julius  Modestus  war  der  Freigelassene  und  Schüler  Hygins.  Seine  Blüte  fällt 
in  die  Zeit  des  Tiberius.')  Von  ihm  werden  zitiert  a)  Quaestiones  confusae  (1.  II  Gell. 
3,  9, 1).  In  diesen  Miscellanea  waren  viele  orthographische  und  etymologische  fVagen  be- 
handelt (Froehde,  De  C.  JuHo  Romano,  p.  608).    b)  De  feriis  (Macrob.  1, 4, 7). 

2.  M.  Pomponius  Marcellus  machte  Jagd  auf  Solöcismen  bis  zur  Hartnäckigkeit. 
Als  er  einst  den  Tiberius  wegen  eines  Ausdruckes  tadelte  und  ihm  Ateius  Capito  mit 
der  Behauptung  entgegentrat,  der  getadelte  Ausdruck  sei  auch  lateinisch  und  wenn  er  es 
nicht  wäre,  sei  er  es  von  nun  an,  da  brach  er  in  die  Worte  aus:  Du,  Kaiser,  kannst 
Menschen  das  Bürgerrecht  erteilen,  aber  nicht  Worten  (Suet.  gr.  22  p.  116  R.). 

Die  Grammatiker,  die  auf  der  Grenze  stehen  oder  deren  Zeit  strittig  ist,  werden  im 
nächsten  Teil  behandelt. 

3.  Die  Rhetoren. 

1.  P.  Rutilius  Lupus  und  andere  Rhetoren. 
480.  Die  Figarenlehre  des  Butilins  Lupus.  Der  Rhetor  Oorgias, 
ein  Zeitgenosse  Ciceros  —  er  unterrichtete  dessen  Sohn  *)  —  schrieb  vier 
Bücher  über  die  Figuren  in  vielfach  eigenartiger  Auffassung*).  Dieses 
Werk  bearbeitete  lateinisch  und  zwar  in  einem  Buch  Rutilius  Lupus. 
Diese  lateinische  Bearbeitung  lag  bereits  Celsus  vor,  auch  Quintilian 
benutzte  sie.  Das  Verhältnis  der  lateinischen  Fassung  zu  dem  ver- 
lorenen griechischen  Original  ist,  wie  sich  das  schon  aus  der  Verminde- 
rung der  Zahl  der  Bücher  ergibt ^  das  der  Verkürzung.  Für  diese 
Verkürzung  legt  übrigens  Lupus  noch  ein  ausdrückliches  Zeugnis  ab.  An 
das  Schriftchen  knüpfen  sich  einige  Probleme ;  dasselbe  enthält  nur  Wort- 
figuren, keine  Sinnfiguren,  während  Quintilian  die  Behandlung  der  Sinn- 
figuren durch  Rutilius  Lupus  ausdrücklich  bezeugt  und  auch  der  hand- 
schriftliche Titel  „Schemata  dianoeas"  deutlich  auf  diese  hinweist.  Diese 
Schwierigkeit  wird  sich  am  leichtesten  durch  die  Annahme  lösen,  dass  der 
Teil,  welcher  die  Sinnfiguren  enthielt,  verloren  ging.  Der  ursprüngliche 
Titel  wird  daher  „Schemata  dianoeas  et  lexeos**  gewesen  sein.  Weiterhin 
ist  das  Schriftchen  ohne  jeden  sichtbaren  Einteilungsgrund  in  zwei  Bücher 
zerlegt,  während  doch  Quintilian.  ausdrücklich  von  einem  Buch  spricht. 
Diese  Einteilung  ist  also  ein  Werk  späterer  Willkür.  Der  literarische 
Wert  des  Buchs  ruht  in  den  Beispielen,  sie  sind  fast  sämtlich  griechischen 


')  Über  Aufidius  Modestus  vgl.  p.  92. 
«)  Cic.  ep.  16,21,6. 


')  DziiLLAS,  quaest.  Rutil,  1860  p.  15  fg. 


P.  BntUins  Lupus  und  andere  Bhetoren.  4:37 

Reden  entnommen,  welche  uns  verloren  gingen.  Diese  Beispiele,  zu  denen 
sich  nur  wenige  römische  gesellen,  sind  ganz  vortrefflich  übersetzt  und 
stechen  merkwürdig  ab  von  den  Erklärungen  und  Definitionen,  welche 
sowohl  sprachlich  als  sachlich  mangelhaft  sind.  Um  diesen  Widerspruch 
zu  beseitigen,  hat  Casaubonus  die  Ansicht  aufgestellt,  Rutilius  Lupus  habe 
die  Beispiele  aus  vorhandenen  Übersetzungen  entlehnt  (Quint.  10, 5, 2). 
Allein  vielleicht  kann  jene  Discrepanz  auch  daraus  erklärt  werden,  dass 
Rutilius  alles  Gewicht  auf  die  Stilisierung  der  Beispiele  legte. 

Verhältnis  des  Rutilius  Lupus  zu  Gorgias.  Quint.  9,2,102  praeter  Uta  vero, 
quae  Cicero  inter  lumina  posuit  setUentiarum,  muUa  alia  et  (idem)  Rutilius  Qorgian  secu- 
tiiSf  nan  illum  Leontinunif  sed  alium  sui  temporiSy  cuius  quattuor  libroa  in  unum  suum 
transtulitf  et  Celsus,  videlicet  Rutilio  accedens,  posuerunt  Schemata,  Die  Verkürzung  erhellt 
aus  Lupus'  Worten  2, 12  quid  intersit ,  .  .  cognoscere  poteris  .  .  .  multo  diligentius  ex  graeeo 
Gorgiae  libro,  ubi  plurihus  uniuscuiusque  ratio  redditur. 

UnVollständigkeit  der  Schrift.  Sinnfiguren  führt  Quintilian  aus  Lupus  an 
9,  2, 103  und  106.  Die  UnvoUständigkeit  schränkt  sehr  ein  Dbaheim  ,  Schedae  Rutilianae, 
Berl.  1874  (p.  3  p.  9),  der  annimmt,  dass  etwa  in  einem  verlorenen  Prooemiom  die  Schemata 
dianoeas  kurz  behandelt  waren.  Dzialas  dagegen  meint,  dass  uns  Rutilius  Lupus  nur  in 
einem  Auszug  vorliege  (p.  36).    Beides  ist  unwahrscheinlich. 

Ausgaben:  vouRuhnken,  Leyd.  1768,  von  Jacob,  Lüb.  1837,  von  Halm,  Rh,  min,  p.  3. 

Andere  rhetorische  Schrifsteller*). 

Eine  Hauptstelle  ist  die,  an  der  Quintilian  die  rhetorischen  Schriftsteller  der  Römer 
anführt ,  hier  heisst  es  (3, 1, 21) :  scripsit  de  eadem  materia  (d.  h.  über  die  Rhetorik)  non- 
nihil  pater  Gallio,  accuratius  rero  priores  (Gallione)  Celsus  et  haenas  et  aetatis  nostrae 
Verginiusy  Plinius ,  Tutilius,  Von  diesen  werden  Celsus  und  Plinius  ausführlicher  an  an- 
deren Orten  besprochen.    Es  bleiben  sonach: 

1.  Popilius  Laenas.  Quint.  10,7,31  üUid  quod  Laenas  praecipit  dispUcet  mihi, 
in  his  quae  scripserimus  velut  summas  in  commentarium  et  capita  conferre,  11,3,183  (Lae- 
nas Popilius). 

2.  Verginius  Flavus  war  der  Lehrer  des  Persius;  er  hatte  grossen  Zulauf  von 
der  studierenden  Jugend;  der  Ruhm  seines  Namens  sollte  ihm  verhängnisvoll  werden,  er 
wurde  von  Nero  (65)  ins  Exil  getrieben  (Tac.  Ann.  15,  71).  Quint.  7, 4, 40  hoc  tarnen  ad- 
miror,  Flapum,  cuius  apud  me  summa  est  auctoritaSf  cum  artem  scholae  componeret,  tarn 
anguste  materiam  qualitatis  terminasse.  Seine  Rhetorik  ist  öfters  von  Quintüian  berück- 
sichtigt (3,  6, 46 ;  7, 4,  24;  11,  3, 126). 

3.  Tutilius.  Auch  Martial  erwähnt  diesen  Rhetor,  als  er  dem  Lupus  auf  seine 
Frage,  wem  er  seinen  Sohn  zur  Ausbildung  anvertrauen  solle,  Aufschluss  erteilt  (Mart. 
5,  56,  6  famae  Tutilium  suae  relinquas).  Wir  reihen  die  an  andern  Stellen  angeführten 
rhetores  an: 

4.  Visellius  schrieb  de  figuris.    Quint.  9,3,89;  9,2,101;  9,2,106. 

5.  Sex.  Julius  Gabinianus,  ein  Gallier.  Hieronym.  (2, 159  Sghoene)  setzt  seine 
Blüte  um  76  n.  Chr.  Er  war  ein  sehr  berühmter  Mann,  wie  aus  folgenden  Stellen  ersicht- 
lich :  Hieron.  zu  Esai.  8  praef.  qui  si  flumen  eloquentiae  et  concinnas  declamationes  desiderant, 
legant  TuHium,  QuintUianum,  Gallionem,  Gahinianum.  Tac.  dial.  26  quotus  quisque  scho- 
lasticorum  non  hoc  sua  persuasione  fruitur,  ut  se  ante  Ciceronem  numeret,  sed  plane  post 
Gahinianum  ? 

6.  Septimius.  Quint.  4, 1, 19  fuerunt  etiam  quidam  suarum  rerum  iudices.  nam 
et  in  libris  observationum  a  Septimio  editis  adfuisse  Ciceronem  tali  causae  in- 
renio.  Ob  diese  observationes  eine  rhetorischf  Schrift  waren,  lässt  sich  nicht  sicher  ent- 
scheiden. Auch  die  Identifizierung  dieses  Septimius  mit  dem  Septimius  Severus,  an  den 
Statins  4, 5  gerichtet,  ist  unsicher  (Teüffbl,  §  315, 5). 

7.  Valerius  Licinianus.  Über  das  bewegte  Leben  dieses  Rhetors  verbreitet  sich 
der  anmutige  Brief  des  Plinius  4,11.  Hier  heisst  es  nun:  ipse  in  praefatione  dixit  do- 
Unter  et  graviter  „quos  tibi,  Fortuna,  ludos  facis  ?  facis  enim  ex  senatoribus  professores,  ex 
professoribus  senatores,"  Daraus  schliesst  man  auf  eine  Schrift.  Dieser  Licinianus  wird 
mit  dem  Licinianus  des  Martial  (vgl.  Friedläitdbb  zu  Mart.  1,49)  identifiziert. 


')  Man  vgl.  auch  noch  das  dem  Sueton-      vorausgeschickte    Verzeichnis    der    rhetores 
sehen  Traktat  de  grammaticis  et  rhetorihus      (p.  99  Reiffbbsch.). 


438     Bömische  Litteraturgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilnng. 

8.  C.  Asinius  Gallus  (Konsul  8  v.  Gh.)«  der  Sohn  des  Asinius  PoUio,  schrieb 
eine  Schrift,  in  der  er  seinen  Vater  als  Stilist  höher  stellte  als  Cicero.  Plin.  ep.  7, 4,  8 
libri  Asini  Galli  de  comparatione  patris  et  Ciceronis.  Dieselbe  machte,  wie  os 
scheint,  grosses  Aufsehen,  sie  rief  eine  Gegenschrift  des  Kaisers  Claudius  hervor  (vgl.  p.  239). 

9.  Largius  Licinus  ging  ebenfalls  gegen  Cicero  vor.  Seine  Broschüre  ftlhrte  den 
Titel  „Ciceromastix*  (Gell.  17, 1, 1).  VieUeicht  ist  er  identisch  mit  dem  Largius  Licinus  bei 
Plin.  ep.  2, 14, 9;  3, 5, 17). 

2.  M.  Fabius  Quintilianus. 

481.  Biographisches.  Quintilians  Heimat  ist  Calagurris  in  Spanien. 
Seine  Ausbildung  erhielt  er  aber  in  Rom,  wo  sein  Vater  ebenfalls  als 
Rhetor  wirkte  (9,  3, 73).  Seine  vorzüglichsten  Lehrer  waren  der  Gramma- 
tiker Remmius  Palaemon  *)  und  der  Rhetor  Domitius  Afer  (10, 1,  86).  Doch 
waren  auch  die  berühmten  Redner  der  damaligen  Zeit  sicherlich  nicht  ohne 
Bedeutung  für  seine  rhetorische  Entwicklung.  Nachdem  er  seine  Studien 
vollendet  hatte,  kehrte  er  nach  Spanien  zurück.  Allein  im  Jahr  68  nahm 
ihn  der  damalige  Statthalter  des  tarraconensischen  Spaniens,  Galba,  nach- 
dem er  Kaiser  geworden  war,  wiederum  mit  nach  Rom;  er  erhielt  eine 
Schule  der  Rhetorik  und  aus  dem  Fiskus  eine  Besoldung.  Daneben  war 
er  auch  als  Oerichtsredner  thätig,  hier  lag  seine  Stärke  in  der  Elarlegung 
des  Falls,  und  gern  übertrug  man  ihm  daher,  wenn  mehrere  Redner  plä- 
dierten, diese  Aufgabe  (4,  2,  86).  Doch  veröffentlichte  er  selbst  nur  eine 
Rede  und  auch  diese  Veröffentlichung  bedauerte  er;  die  Reden,  die  noch 
unter  seinem  Namen  kursierten,  erkannte  er,  da  sie  von  fremder  Hand 
nach  stenographischer  Niederschrift  publiziert  waren,  nicht  an.  Sein  Ruhm 
wurde  durch  seine  Lehrthätigkeit  begründet;  sein  Ansehen  aber  war  ein 
gewaltiges,  erhielt  er  doch  sogar  die  konsularischen  Ehrenauszeichnungen 
(Ausonius  p.  23  Seh.).  Martial  (2, 90,  1),  der  freilich  in  seinem  Lob  oft 
stark  aufträgt,  nennt  ihn  den  Ruhm  der  römischen  Toga.  Unter  seinen 
Schülern  befand  sich  der  jüngere  Plinius  (ep.  2, 14, 10).  Nachdem  er  20 
Jahre  seinem  Lehrberuf  obgelegen,  zog  er  sich  zurück  und  legte  die 
Früchte  seiner  reichen  Erfahrung  in  einem  grossen  Werke,  der  Institutio 
oratoria,  nieder.  Zuvor  hatte  er  in  einer  kleineren  Schrift,  die  aber  leider 
verloren  ist,  die  Ursachen  des  Verfalls  der  Beredsamkeit  behandelt.  Doch 
wurde  er  nochmals  zur  Lehrthätigkeit  zurückgeführt;  er  wurde  Prinzen- 
erzieher ;  Domitian  übertrug  ihm  die  Ausbildung  der  Enkel  seiner  Schwester 
Domitilla,  der  Söhne  des  Flavius  Clemens,  welche  zur  Thronfolge  bestimmt 
waren  (4  prooem  2).  Diesen  äusseren  glänzenden  Verhältnissen  entsprachen 
nicht  ganz  die  häuslichen ;  hier  wurde  Quintilian  von  schweren  Schicksals- 
schlägen heimgesucht ;  er  verlor  durch  den  Tod  seine  junge  Frau  und  auch 
die  beiden  Söhne,  die  er  von  ihr  hatte  (6  prooem.).  Sein  Todesjahr  kennen 
wir  nicht,  es  wird  etwa  um  96  fallen.  Die  Briefe  des  jüngeren  Plinius 
setzen  allem  Anschein  nach  den  Tod  des  Rhetors  voraus  (2, 14, 10;  6,  6,  3). 

Hieron.  68  n.  Chr.  (p.  2, 157  Schoene).  M.  Fahius  Quintilianus  Romam  a  Gnlba  per- 
ducitur;  88 n.  Chr.  (2, 161)  Quintilianus  exHispania  CalagurritanusiquifngiYoLLXXRt  Rh.  Mus. 
46,  348  hinzu)  primus  Rotnae  publicam  scholam  et  salarium  e  fisco  accepit  {et  tilgt  Voll- 
hek)  claruit.    Die  Eröffnung  der  Schule  fällt  sicherlich  mit  dem  Jahr  68  zusammen. 

Litteratur.  Dodwell,  Annales  Quintilianeiy  Oxon.  1698  (auch  abgedruckt  in  Bun- 
KAMNS  Ausg.),  Hummel,  Quint,  pita,  Gott.  1843,  Driesen,  De  Q.  vita,  Cleve  1845. 


')  Schol.  zu  Juv.  6, 452. 


M.  Fabios  QnintilianuB.  439 

482.  Die  verlorene  Schrift  de  causis  corruptae  eloquentiae.  Über 
den  tiefen  Verfall  der  Beredsamkeit  seit  der  Kaiserzeit  konnte  sich  kein 
sehendes  Auge  mehr  täuschen,  denn  die  Hohlheit  der  Rhetorschulen  mit 
ihren  unnatürlichen  Übungen  lag  zu  offenkundig  vor.  Verständige  Männer 
hielten  auch  nicht  mit  ihrer  Meinung  zurück.  Petronius  fügte  in  seinen 
Roman  eine  scharfe  Charakteristik  der  Deklamatoren  ein,  Tacitus  schrieb 
seinen  wundervollen  Dialog.  Vor  Tacitus  hatte  auch  Quintilian  über  die 
Ursachen  des  Verfalls  der  Beredsamkeit  eine  Schrift  geschrieben. 
£s  war  ihm  gerade  damals  ein  fünfjähriger  Sohn  gestorben  (6  prooem.  3  u.  6) ; 
um  seinen  Kummer  zu  vergessen,  versenkte  er  sich  in  dieses  Thema,  das 
ihm  ja  Herzenssache  war.  Leider  ist  das  Werkchen  verloren  gegangen, 
doch  teilt  er  uns  einiges  daraus  in  seinem  Lehrgang  mit,  so  dass  wir  über 
den  Gang  der  Untersuchung  im  allgemeinen  orientiert  sind.  Der  Sitz  des 
Übels  war  leicht  zu  erkennen,  es  war  die  Khetorschule  mit  ihren  Dekla- 
mationen. Quintilian  verfolgte  den  Ursprung  der  Themata  mit  fingierten 
Fällen  und  fand,  dass  schon  zur  Zeit  des  Demetrius  Phalereus  solche  im 
Gebrauch  waren.  Allein  diese  Themata  wurden  im  Laufe  der  Zeit  in  un- 
natürliche, phantastische  Bahnen  geleitet,  so  dass  sie  den  Zusammenhang 
mit  dem  Leben  gänzlich  verloren.  Solche  Übungen  bekämpfte  die  Schrift 
aufs  entschiedenste;  sie  entbehren  nach  seiner  Meinung  der  männlichen 
Kraft,  sie  geben  uns  den  Schein  statt  des  Wesens,  sie  sehen  nur  auf  den 
blendenden  Glanz.  Der  Verfall  zeigt  sich  aber  am  auffallendsten  im 
Stil,  der  Wortschatz  ist  gesucht  und  überladen  und  von  einem  lächerlichen 
Haschen  nach  gleichen  oder  schillernden  Worten  erfüllt  und  der  Aufbau 
unklar  und  schlotterig.  Quintilian  scheint  im  einzelnen  die  verschie- 
denen Gebrechen  des  Stils  durchgegangen  zu  haben,  so  hatte  er  z.  B.  das 
Masslose  und  Fehlerhafte  bei  der  Anwendung  der  Hyperbole  gerügt.  Das 
Schriftchen  wird  also  vorwiegend  die  Darstellung  ins  Auge  gefasst 
haben.  Dieser  drohte  allerdings  noch  von  einer  nichtrhetorischen  Seite 
grosse  Gefahr.  Der  Philosoph  Seneca  hatte  mit  seinem  pikanten  Stil  un- 
gemeinen Anklang  bei  der  Jugend  gefunden,  und  doch  musste  dieser  Stil 
mit  seinen  „ süssen  Gebrechen''  Quintilian  sehr  missfallen.  Ohne  ihn  zu 
nennen,  griff  er  Seneca  scharf  an,  aber  doch  so  deutlich',  dass  die  Leser 
auf  eine  Feindseligkeit  des  Rhetors  gegen  den  Philosophen  schliessen 
konnten  (10, 1, 125). 

Soviel  lässt  sich  über  den  Inhalt  feststellen.  Ziehen  wir  zum 
Vergleich  den  Tacitus  heran,  so  erkennen  wir,  dass  beide  das  gleiche 
Thema  von  einem  verschiedenen  Standpunkt  aus  behandelt  haben.  Quin- 
tilian schrieb  als  Rhetor,  Tacitus  als  Historiker;  Quintilians  Blick  reichte 
nicht  über  die  Schule  hinaus,  Tacitus'  Geist  rückte  die  ganze  Frage  in 
den  Rahmen  der  Kultur.  Quintilians  Darstellung  fand  ihren  Mittelpunkt 
in  der  Betrachtung  des  degenerierten  Stils  und  in  der  Aufdeckung  und 
Heilung  der  Fehler  desselben,  Tacitus  sah  den  Verfall  der  Beredsam- 
keit als  eine  unabänderliche  Thatsache  an,  welche  in  der  geschichtlichen 
Entwicklung  begründet  sei;  der  eine  will  die  gegeni^ärtige  Rhetorik  re- 
formieren, der  andere  will  die  Blicke  von  der  Rhetorik  auf  andere  Fächer 
hinlenken.     Nur  wenn   der  Dialog  des  Tacitus  der  Schrift  des  Quintilian 


440    Komische  Litteraturgeschiohte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilnng. 

nachfolgte,  gewinnen  wir  das  richtige  Verhältnis ;  den  Ausführungen  Quin- 
tilians,  der  immer  noch  den  Glauben  an  die  Zukunft  seiner  Kunst  be- 
wahrte, konnte  Tacitus  gut  den  Satz  gegenüberstellen  und  erweisen,  dass 
die  Blüte  der  Beredsamkeit  für  immer  dahin  sei.  Wäre  des  Tacitus  Dialog 
aber  vorausgegangen,  so  musste  Quintilian  seiner  Schrift  eine  ganz  andere 
Tendenz  geben,  er  musste  zeigen,  dass  auch  in  der  Gegenwart  noch  Raum 
für  das  lebendige  Wort  ist. 

Zeugnisse  über  die  Schrift  de  causis  corruptac  eloquentiae.  Den  Titel 
gibt  an  die  Hand  6  prooem.  3  eum  lihrutn,  quem  de  causis  corruptae  eloquentiae 
emisi.  Ober  den  Inhalt  geben  folgende  Stellen  Aufschluss:  5, 12, 17 — 23,  wo  er  sich 
gegen  die  marklosen  Deklamationen  wendet  (20),  eloquentiam,  licet  hanc  (ut  sentio  enim,  dicam) 
libidinosam  resupina  voluptateauditoriaprobent,  nullamesseexistimabo,  quaeneminimum  quidem 
in  se  indicium  masculi  et  incorrupti,  ne  dicam  gravis  et  sancti  tnri  ostentet  —  (23)  sed  haee  et  in 
alio  nohis  tractata  sunt  opere  et  in  hoc  saepe  repeienda,  2,4,41  fieia^  ad  imitationcm 
fori  consiliorumque  mHterias  apud  Graecos  dicere  circa  Demetriutn  Phalereum  institutum 
fere  constat;  an  ab  ipso  id  genus  exercitationis  sit  inventum,  ut  alio  quoque  libro  sum 
confessuSf  parum  comperi.  8,3,57  (über  das  xaxoCij^oy)  est  autem  totum  in  elocutione 
—  corrupta  oratio  in  verbis  maxitne  impropriis,  redundantibus,  comprehensione  obscura, 
compositione  fracta,  vocum  similium  aut  ambiguarum  puerili  captatione  consistit  —  (58)  sed  de 
hoc  parte  et  in  alio  nobis  opere  plenius  dictum  est,  8,6,76  (über  die  Fehler  bei  der 
Hyperbole)  sed  de  hoc  satis,  quia  eundem  locum  plenius  in  eo  libro  quo  causas  corruptae 
ehquentiae  reddebamus  tractavimus. 

Die  Zeit  der  Abfassung  wird  aus  der  praef.  zum  6.  Buch  bestimmt.  Die  Be- 
Stimmung  hängt  von  den  Zeitverhältoissen  der  Institutio  ab.  Reuter  (p.  51)  setzt  unsere  Schrift 
zwischen  87  und  89,  Volkkann  (Rh.  Mus.  46, 348)  ins  Jahr  92.  Das  Jahr  ist  ziemlich  gleich- 
gültig, von  Wichtigkeit  ist  aber,  dass  dieselbe  vor  der  Institutio  gescbrieben  ist,  da  sie 
bereits  im  2.  Buch  erwähnt  wird,  und  dass  sie  somit  die  Vorgängerin  des  Dialogs  (p.  363)  ward. 

Litteratur.  Reuter,  De  Quintiliani  libro  qui  fuit  de  causis  corruptae  eloquentiae, 
Gott.  Diss.  1887 ;  Gruenwald,  quae  ratio  intercedere  pideatur  inter  Quintiliani  instUutionetn 
et  Taciti  dialogum,  Berl.  1883. 

Andere  verlorene  Schriften  Quintilians. 

1.  Die  Rede  pro  Naevio  Ärpiniano,  Quint.  7,2,24  teilt  uns  die  Rechtsfrage 
mit :  id  est  in  causa  Naevi  Arpiniani  solum  quaesitum,  praecipitata  esset  ab  eo  uxor  an  se 
ipsa  sua  sponte  iecissef.  Diese  Rede  war  die  einzige,  die  er  veröffentlichte :  cuius  actumetn 
et  quidem  solam  in  hoc  tempus  emiseram,  quod  ipsum  me  fecisse  ductum  iuveniU  cupidi- 
tate  gloriae  fateor. 

2.  Reden,  die  von  Stenographen  wider  Willen  Quintilians  veröffent- 
licht wurden.  £r  föhrt  nämlich  an  der  obigen  Stelle  fort:  nam  ceterae,  quae  sub  no- 
mine meo  feruntur,  neglegentia  excipientium  in  quaestum  notariorum  corruptae  minimam 
partem  mei  habent.  Welches  diese  Reden  waren ,  wissen  wir  nicht ;  er  nennt  uns  noch 
zwei,  die  er  gehalten;  die  Rede  für  die  Königin  Berenice.  Diese  war  die  schöne 
(Tac.  bist.  2,  81)  Tochter  des  älteren  Agrippa,  des  Judenfürsten  und  stand  in  Beziehungen 
zu  Titus  (Suet.  Tit.  7);  worin  der  Rechtshandel  bestand,  ist  nicht  bekannt.  Die  zweite  wurde 
in  einer  Erbschaftsangelegenheit  gehalten  (Quint.  9, 2,  73). 

3.  Auch  zwei  rhetorische  Lehrschriften  wurden  wider  Willen  des  Verfassers 
nach  stenographischer  Niederschrift  zweier  Vorträge,  eines  zweitägigen  und  eines  mehr- 
tägigen, von  Zuhörern  veröffentlicht.  Quint.  1  prooem.  7  duo  iam  sub  nomine  meo  libri 
ferebantur  artis  rhetoricae  neque  editi  a  me  neque  in  hoc  comparati, 

«)  namque  alterum  sermonem  per  biduum  habitum  pueri,  quibus  id  profMa- 
batur,  exceperant, 

ß)  alterum  pluribus  sane  diebus,  quantum  notando  consequi  potuerant,  inter- 
ceptum  boni  iuvenes,  sed  nimium  amantes  mei  temerario  editionis  honore  mtlgaverant 
(vgl.  3,  6,  68). 

483.  Institutionis  oratoriae  libri  Xu.  Als  Quintilian  nach  zwanzig- 
jähriger Thätigkeit  sich  von  seinem  Lehramt  zurückgezogen  hatte,  forderten 
ihn  seine  Freunde  Auf,  ein  Lehrbuch  der  Rhetorik  zu  schreiben.  Lange 
sträubte  er  sich  gegen  diese  Wünsche,  schliesslich  gab  er  nach.  Nachdem 
er  einmal  den  Entschluss  gefasst  hatte,  einen  solchen  Lehrgang  abzufassen, 


H.  FabioB  QaintiliannB.  441 

steckte  er  demselben  ein  höheres  Ziel.  Die  gewöhnlichen  Lehrschriften 
hatten  nur  den  speziellen  rednerischen  Unterricht  im  Auge,  Quintilians 
Anleitung  übernimmt  dagegen  den  Zögling  von  der  ersten  Kindheit  und 
geleitet  ihn  bis  zur  höchsten  Stufe.  Dadurch  wird  der  rhetorische  Kursus 
vielfach  zu  einem  Kursus  der  Erziehung  überhaupt.  Die  Gliederung  des 
Werks  ist  folgende.  Im  ersten  Buch  behandelt  er  die  elementare  Ausbildung, 
im  zweiten  Buch  die  rhetorischen  Anfangsgründe  und  das  Wesen  der  Rhe- 
torik, die  Bücher  drei  bis  sieben  führen  den  Hauptteil  der  Redekunst 
durch,  die  Lehre  von  der  Erfindung  und  von  der  Anordnung,  die  Bücher 
acht  bis  elf  die  Lehre  vom  Ausdruck,  Memorieren  und  Vortrag,  das  zwölfte 
Buch  stellt  uns  endlich,  nachdem  die  Theorie  (ars)  in  den  vorausgehenden 
Büchern  erledigt  ist,  den  Redner  und  die  Rede  selbst  vor  Augen.  Von  den 
zwölf  Büchern  hat  das  zehnte  ein  weitergreifendes  Interesse  dadurch  erhalten, 
dass  es  die  Lektüre  der  griechischen  und  römischen  Schriftsteller  für  den 
Zögling  der  Redekunst  und  dadurch  einen  Ausschnitt  aus  der  Litteratur- 
geschichte  vorführt.  Gewidmet  ist  das  Werk  dem  Vitorius  Marcellus. 
Die  Widmung  wird  dadurch  motiviert,  dass  der  Redner  bei  der  Abfassung 
der  InstUutio  besonders  den  hoffnungsvollen  Sohn  des  Freundes  Geta  im 
Auge  gehabt  haben  will.  Etwas  über  zwei  Jahre  nahm  die  Sammlung  des 
Materials  und  die  Niederschrift  in  Anspruch.  Die  einzelnen  Bücher  wurden, 
sobald  sie  fertig  waren,  dem  Vitorius  Marcellus  zugeschickt;  Quintilian  hatte 
dadurch  Gelegenheit,  in  den  Vorreden  von  dem,  was  gerade  sein  Herz  bewegte, 
dem  Freunde  Mitteilungen  zu  machen.  So  konnte  er  bei  Übersendung 
des  vierten  Buchs  von  der  ehrenvollen  Berufung  zum  Prinzenerzieher 
Kenntnis  geben;  als  ihn  bei  der  Abfassung  des  sechsten  Buchs  der  schwere 
Schicksalsschlag  traf,  dass  er  seinen  einzigen  hoffnungsvollen  Sohn  durch 
den  Tod  verlor,  schüttete  er  wiederum  in  ergreifender  Weise  sein  Herz 
aus.  Als  alle  Bücher  fertig  waren,  wollte  er  sie  eine  geraume  Zeit  liegen 
lassen,  um  sie  später  nochmals  einer  völlig  unbefangenen  Revision  zu  unter- 
ziehen. Allein  sein  Verleger  Trypho  drängte  zur  Herausgabe;  so  wurden 
sie  denn  mit  einer  Vorrede  dem  Publikum  übergeben. 

Der  Plan  des  Werks  wird  in  dem  Prooemium  zum  ersten  Buch  dargelegt  (21): 

Über  primtis  ea,  quae  sunt  ante  officium  rhetoris,  continehit; 

secundo  prima  apud  rhetorem  elementa  et  qitae  de  ipsa  rhetorices  substantia  quae- 
runtur,  tractabimus; 

quinque  deinceps  (III.  IV.  V.  VI.  VII)  inventioni  {nam  huic  et  dispoaitio  sitb' 
iungitur); 

quattuor  elocutioni  (VIII.  IX.  X.  XI),  in  cuius  partem  memoria  ac  pronuntiatio  ve- 
niunt,  dabuntur; 

unu8  (XII)  accedet,  in  quo  nöbis  orator  ipae  informandus  est,  ubi  qui  mores  eius, 
quae  in  suscipiendis,  discendis,  agendis  causis  ratio,  quod  eloquentiae  genus,  quis  agendi 
debeat  esse  finis,  quae  post  finem  studia  —  disseremus. 

Die  Abfassungszeit  und  Herausgabe  des  Werks.  Es  kommen  folgende 
Momente  in  Betracht:  1)  Quintilian  schrieb  sein  Werk,  nachdem  er  sein  Lehramt,  das  er 
zwanzig  Jahre  bekleidet  hatte,  niedergelegt  hatte;  da  wir  den  Antritt  desselben  ins  Jahr 
68  gesetzt  haben,  so  muss  die  Institutio  nach  88  fallen;  2)  er  that  dies  auf  Verlangen 
seiner  Freunde,  nachdem  er  sich  lange  gesträubt  (1  prooem.  1);  3)  als  er  das  zweite 
Buch  schrieb,  war  er  schon  längst  von  seinem  Lehramt  zurückgetreten  (2, 12, 12).  Es 
werden  also  ein  oder  zwei  Jahre  nach  88  verflossen  sein,  als  er  sich  an  das  Werk  machte ; 
4)  da  er  nun  zwei  Jahre  brauchte,  um  dasselbe  zu  vollenden  (vgl.  die  Vorrede  an  Trypho), 
80  kann  das  Werk  wohl  nicht  vor  92  fertig  geworden  sein;  5)  da  er  aber  nach  Fertigstellung 
desselben  noch  einige  Zeit  zuwartote,  wird  die  Herausgabe  nicht  vor  93  erfolgt  sein  (Reuter 
p.  45).     Ein   bestimmteres  Datum  glaubt  Vollmer  (Rh.  Mus.  46, 343)  eruiert  zu  haben,  in- 


442    Römische  Litteraturgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilong. 

dem  er  von  dem  Gedanken  ausging,  dass  Statins  in  dem  Widmungsbrief  des  vierten  Buchs 
den  Tadel  zurückweise,  den  Quintilian  10,3,17  gegen  seine  «t/pae  ausgesprochen  habe;  der 
Widmungsbrief  sei  an  denselben  Vitorius  Marcellus  gerichtet,  für  dessen  Sohn  Quintilian 
seine  Anleitung  schrieb;  von  dem  abfälligen  Urteil  des  Rhetors  habe  Statins  durch  den  ge- 
meinsamen Freund  Kenntnis  erhalten.  Da  jener  Widmungsbrief  im  Sommer  des  Jahres  95 
geschrieben  sei  und  das  abfällige  Urteil  Quintilians  in  einem  der  letzten  Bücher  st«he,  so 
sei  die  Vollendung  der  Institutio  etwa  Herbst  95  anzusetzen,  sonach  der  Beginn  im  Jahr  93. 
Die  Herausgabe  konnte  wegen  der  starken  Schmeicheleien  Domitian  gegenüber  im  Prooemium 
des  vierten  Buchs  nicht  nach  dessen  Tod  erfolgt  sein,  wird  also  ins  Jahr  96  fallen.  Allein  die 
Annahme,  dass  Quintilian  an  jener  Stelle  den  Statins  im  Auge  habe,  ist  durchaus  zweifelhaft ; 
es  kann  daher  die  Kombination  auf  Sicherheit  keinen  Anspruch  machen.  Die  genaue  Bestim- 
mung des  Jahres  der  Fertigstellung  und  der  Herausgabe  der  Institutio  hat  übrigens  kein 
tieferes  Interesse  für  die  Litteraturgeschichte. 

Die  Herausgabe  der  zwölf  Bücher  geschah  auf  einmal,  wie  aus  der  an  Trypho 
gerichteten  Vorrede  erhellt;  doch  zeigen  die  an  Vitorius  Marcellus  sich  wendenden  Vorreden 
dass  die  einzelnen  Teile  des  Werks  zuvor  dem  Vitorius  Marcellus  und  vielleicht  andern 
Freunden  mitgeteilt  wurden  (Reütek,  De  Ubro  etc.  p.  52). 

DieÜberlieferung  wird  durch  zwei  Handschriftenfamilien  vermittelt,  durch  eine  stark 
defekte  und  durch  eine  vollständige.  Die  defekte  ist  die  ältere.  Die  Repräsentanten  der- 
selben sind  der  Bernensis  351  s.  X  und  der  Parisinus  18527  s.  X.  Weitaus  der  beste  Ver- 
treter der  jüngeren  Klasse  ist  der  Ambrosianus  £  153  sup.  s.  XI,  derselbe  ist  von  mehreren 
Händen  geschrieben  und  zwar  in  den  letzten  Teilen  nachlässiger  als  in  den  ersten.  Leider 
fehlt  in  demselben  9, 4, 135—12, 11,  22.  Hier  tritt  der  Bambergensis  M.  4, 14  s.  X  ein,  der 
aus  dem  defekten  Bernensis  351  abgeschrieben  ist,  die  fehlenden  Partien  aber  von  einer 
jüngeren  Hand  aus  einer  dem  Ambrosianus  ähnlichen  Handschrift  ergänzt  hat.  Die  übrigen 
Glieder  der  jüngeren  Familie  sind  stark  interpoliert. 

Ausgaben:  von  Spalding  Leipz.  1798  —  1816,  4  Bde.,  wozu  ein  5.  Bd.  {supplemen- 
tum  annotationis)  von  Zumpt  und  ein  6.  Bd.  (treffliches  Lexicon  Quint,  von  Bonnell),  von 
BoNNELL  2  Bde.  Leipz.  1854,  von  Halm  (grundlegende  kritische  Ausg.)  2  Bde.,  Leipz.  1808, 
von  Meister  2  Bde.  Prag  1886 — 7.  Separatausgabe  des  10.  B.  von  Bonwell-Mbister  Berl. 
(Weidmann),  von  Krüger  (Teubner),  von  Meister  (Freitag),  des  1.  B.  von  Fierville,  Par.  1890. 

484.  Die  zwei  Sammlungen  der  Quintilianischen  Deklamationen. 

Von  dem  Studium  der  Rhetorik  ist  die  Übung  unzertrennlich,  Dass  Quin- 
tilian als  Lehrer  der  Rhetorik  auch  Übungen  in  fingierten  Reden  vornahm, 
kann  gar  keinem  Zweifel  unterliegen.  Es  kursieren  nun  unter  seinem 
Namen  zwei  getrennt  voneinander  überlieferte  Sammlungen  von  De- 
klamationen; die  eine  enthält  19  Stücke,  die  andere  umfasste  ursprünglich 
388  Stücke^  erhalten  sind  aber  nur  145,  da  die  Kollektion  mit  Nr.  244 
beginnt.  Die  19  Stücke  geben  uns  vollständige,  durch  alle  Teile  hindurch- 
geführte Schulreden  (daher  die  grösseren  Quintilianischen  Deklamationen 
genannt),  die  145  Stücke  dagegen  nur  Skizzen  (daher  die  kleineren  Quin- 
tilianischen Deklamationen  genannt).  Das  zweite  Corpus  zeigt  ferner  noch 
die  Eigentümlichkeit,  dass  es  neben  den  rednerischen  Skizzen  auch  in  der 
Regel  noch  Anweisungen  {sennones)  über  die  Behandlung  des  Thema  und 
über  einzelne  Punkte  gibt.  Diese  Erläuterungen  führen  uns  zum  Ursprung 
der  Sammlung,  sie  weisen  deutlich  auf  die  Schule  hin,  wir  vernehmen 
einen  Lehrer,  der  sich  an  einen  bestimmten  Kreis  von  Zuhörern  wendet. 
So  wie  sich  uns  jetzt  dieses  zweite  Corpus  darstellt,  war  es  keineswegs 
von  Haus  aus  für  die  Herausgabe  bestimmt,  es  fehlt  eine  planmässige 
Anordnung  der  Themata,  auch  die  sermones  lassen  die  Rücksicht  auf  buch- 
massige  Veröffentlichung  vermissen,  sie  tragen  einen  zwanglosen  Charakter 
an  sich.  Wir  werden  daher  anzunehmen  haben,  dass  diese  Sammlung  von 
einem  Zuhörer  nach  Schul  vortragen  herausgegeben  wurde.  Damit  erhalten 
wir  auch  den  Schlüssel  zum  richtigen  Verständnis  des  Werks.  Die  schrift- 
liche Fixierung  von  Vorträgen  und  Unterweisungen  kann  sich,  da  sie  nur 


IL  Fabins  QuintiliannB. 


443 


den  Zweck  hat,  das  Gehörte  zu  befestigen,  Lücken,  aphoristische  Bemer- 
kungen, Stichworte  0  gestatten.  Die  in  beiden  Sammlungen  behandelten 
Themata  sind  ganz  von  derselben  Art  wie  diejenigen,  welche  wir  aus 
Seneca  kennen.  Sie  haben  nichts  mit  dem  wirklichen  Leben  zu  thun, 
es  sind  Phantasmata,  welche  den  Scharfsinn  zwar  anregen  können,  die 
aber  zugleich  die  Natürlichkeit  des  Denkens  und  der  Sprache  zerstören. 

Die  Ansicht,  dass  uns  in  den  kleineren  Deklamationen  Excerpte  eines  vollständigeren 
Werks  vorliegen,  sprechen  aus  Ritter  p.  247,  mit  näherer  Begründung  Trabakdt  p.  32. 
Allein  bei  der  Entstehungsweise  der  Sammlung  erscheint  diese  Annahme  nicht  geboten  zu  sein. 

Die  handschriftliche  Überlieferung  der  grösseren  Deklamationen  ist 
eine  reiche.  Merkwürdig  sind  die  Subskriptionen.  Im  Bamhergensis  s.  X  lautet  sie:  de- 
aeripsi  et  emendavi  Domitius  Dracontius  de  codice  fratris  Hieri  mihi  et  usibus  meis  et  diu 
(vielleicht  discipulis  mit  Haase  oder  doctis  mit  Rohde  bei  Ritter  p.  207)  omnibus^  im  Parisinus 
16230  8.  XV  heisst  es  (p.  72  a):  legi  et  emendavi  ego  Dracontius  cum  fratre  Jerio  (?  vgl.  Rittek 
p.  205)  incomparabüi  arrico  (?  Ritter  p.  205)  urbis  Romae  in  scola  fori  Traiani  feliciter. 
Der  genannte  frater  Hierius  ist  wohl  identisch  mit  dem  Hierius.  dem  Augustin  seine  Schrift 
De  pu/chro  et  apto  ums  Jahr  379  gewidmet  hat  (Rohdb  bei  Ritter  p.  207).  —  Andere  Hand- 
schriften bei  Ritter  p.  204,  über  die  verschiedene  Reihenfolge  der  Stücke  p.  266,  über 
Handschriften,  welche  nicht  alle  Stücke  enthalten  p.  175,  über  Excerpte  aus  den  19  De- 
klamationen p.  204,  p.  175     (WiLAJfowiTZ,  Hermes  11, 118). 

Die  handschriftliche  Überlieferung  der  kleineren  Deklamationen.  Wir 
kennen  drei  Handschriften,  den  Montepessulanus  n.  126  s.  X,  den  Monacensis  309  s.  XV  und 
den  Chigianus  fol.  H.  VIII,  262  s.  XV.  Alle  145  Deklamationen  hat  nur  der  Montepessu- 
lanus; der  Monacensis  und  Chigianus  beginnen  erst  in  der  Mitte  der  Deklamation  252  (nicht 
mit  244).  Noch  von  einem  verschollenen  Kodex  haben  wir  Kunde,  von  dem  Kodex  des  Campanus 
(t  1477).  Auch  dieser  gehörte  der  verstümmelten  Klasse  an.  Alle  diese  Handschriften 
führen  auf  einen  Archetypos,  der  sich  als  eine  Sammlung  von  Deklamationen  darstellt  und 
zwar  1)  der  kleineren  Deklamationen  (ohne  Bezeichnung  des  Autors),  2)  der  Excerpte  aus 
Senecas  Deklamationen  (vgl.  oben  p.  200),  3)  der  Auszüge  aus  10  rhetores  minores^),  begin- 
nend mit  Calpumius  Flaccus.  (Nach  der  Handschrift  des  Campanus  folgten  dann  Antonius 
Julianus  und  extemporaneae  Quintiliani.)    Vgl.  Fleiter  p.  16  (gegen  Ritter). 

Ausgaben.  Gesamtausgaben  aller  Deklamationen  von  J.  F.  Gronov;  von  P.  Bitr- 
MAKN,  hinter  dem  Quintilian,  Leyden  1720.  -  Ausgabe  der  kleineren  Deklamationen  von 
Ritter  (Teubner).  —  Von  demselben  .Die  Quintili^.  Deklamationen **,  Freib.  u.  Tüb.  1881. 

485.  Die  ünechtheit  der  beiden  Sammlungen.  Bei  der  Frage 
nach  der  Echtheit  der  Quintilianischen  Deklamationen  ist  zuerst  von  der 
Überlieferung  auszugehen;  zwar  ist  durch  die  Zuteilung  einer  Sammlung 
an  Quintilian  die  Sache  noch  keineswegs  entschieden,  allein  auf  der  anderen 
Seite  kann  es  doch  auch  nicht  gleichgültig  sein,  wenn  eine  Sammlung 
nicht  einmal  in  der  handschriftlichen  Überlieferung  den  Namen  Quintilians 
trägt.  Dieser  Fall  liegt  aber  teilweise  bei  den  Quintilianischen  Dekla- 
mationen vor.  Das  Corpus  der  grossen  Deklamationen  führen  die  Hand- 
schriften auf  Quintilian  zurück,  nur  im  Vornamen  ergeben  sich  Differenzen.') 
Dagegen  weisen  die  erhaltenen  Codices  der  kleineren  Deklamationen  den 
Namen  Quintilian  nicht  auf,  auch  der  verlorenen  Handschrift  des  Antonius 
Campanus  scheint  er  fremd  gewesen  zu  sein.^)    Ähnlich  steht  es  mit  der 


»)  Vgl.  nr.  315. 

'^)  In  der  Überschrift  Incipit  ex  Calpur- 
nio  Flacco  Excerptae,  Excerpta  X  rhetorum 
minorum  hat  sich  die  allgemeine  Überschrift 
hinter  die  erste  Abteilung  verirrt. 

^)  Ritter  p.  104. 

*)  Denn  er  sagt  einerseits  „declamationes 
Quintiliani  ense  arbitror".  Hätte  die  Hand- 
schrift den  Namen  Quintilians  gehabt,  so 
wäre    das    ganze   Raisonnement   überflüssig 


gewesen.  Die  Worte  „quoniam  Quintiliano 
attribuuntur"  werden  sich  daher  nicht  auf  die 
Handschrift  beziehen.  Höchst  auffallend  ist, 
wie  wenig  Ritter  auf  diesen  Punkt  eingeht, 
vgl.  p.  252  und  seine  Ausgabe  p.  V.  Dass  in 
den  vorhandenen  Handschriften  die  kleineren 
Deklamationen  nicht  dem  Quintilian  beigelegt 
sind,  muss  ja  wohl  aus  dem  Mangel  einer  sol- 
chen Angabe  darüber  erschlossen  werden. 
(Vgl.  auch  Teuffel-Schwabe  325, 11.) 


444    RömiBche  Litteraturgeschichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

Beglaubigung  durch  Schriftstellercitate.  Für  die  grossen  Deklamationen 
stehen  ausdrückliche  Zeugnisse  zur  Verfügung,  für  die  kleineren  Dekla- 
mationen könnten  wir  höchstens  die  Zeugnisse  verwerten,  welche  sich  auf 
nicht  mehr  vorhandene  Stücke  beziehen.  Diese  bezögen  sich  möglicherweise 
auf  den  verlorenen  Teil  der  Sammlung.  Allein  es  wäre  denkbar,  dass  auch 
die  grosse  Sammlung  nicht  vollständig  erhalten  wäre,  und  dass  jene  Gitate 
zu  ihr  gehörten.  Aus  dieser  Darlegung  ist  ersichtlich,  dass  die  Über- 
lieferung fast  keinen  Anlass  gibt,  die  zweite  Sammlung  Quintilian  zuzu- 
schreiben. Um  so  verwunderlicher  ist  es,  dass  gerade  in  neuester  Zeit 
ein  Versuch  auftauchte,  welcher  die  kleinere  Sammlung  ohne  weiteres 
für  Quintilian  in  Anspruch  nahm  und  sie  sogar  unter  dessen  Namen 
edierte.  Allein  weder  die  unbezeugte  Sammlung  der  kleinen  noch  die  be- 
zeugte der  grossen  hat  etwas  mit  Quintilian  zu  thun.  Der  ganze  Charakter 
der  zweiten  Sammlung  zeigt,  dass  sie  nicht  von  Quintilian  selbst  ediert  sein 
kann.  Es  bleibt  also  nur  die  Annahme,  dass  sie  eine  Schülernachschrift 
darstellt.  Wäre  eine  solche  \or  der  Institutio  veröffentlicht  worden,  so  er- 
warteten wir  eine  Erwähnung  derselben.  Allein  nirgends,  so  oft  sich  auch 
ein  Anlass  dazu  bot,  und  das  ist  nicht  selten,  gedenkt  er  dieser  Kontro- 
versen. Man  hat  gemeint,  der  grössere,  mehrere  Tage  währende  und 
wider  seinen  Willen  von  Schülern  veröffentlichte  Lehrvortrag  sei  unsere 
Sammlung  der  kleineren  Deklamationen.  Allein  unmöglich  kann  Quinti- 
lian eine  solche  Sammlung  „liber  artis  rhetoricae"  nennen.  Dagegen  spricht 
auch,  dass  das,  was  er  an  einer  Stelle  (3, 6, 68)  aus  jenen  Lehrvorträgen  mitteilt, 
sich  nicht  in  unserer,  freilich  nicht  vollständigen  Sammlung  nachweisen 
lässt.  Ferner  ist  es  nicht  denkbar,  dass  die  388  Stücke,  welche  ein  vo- 
luminöses Werk  ausmachen,  in  wenigen  Tagen  vorgetragen  und  nachge- 
schrieben wurden.  Aber  auch  der  Annahme  einer  Publizierung  nach  der 
Institutio  stellt  sich  die  Schwierigkeit  entgegen,  dass  die  sermones  nirgends 
ausdrücklich  an  die  Institutio  anknüpfen,  und  der  Herausgeber  unbe- 
greiflicherweise unterlassen  hat,  auf  den  berühmten  Lehrer  aufmerksam 
zu  machen.  Man  wollte  Übereinstimmungen  zwischen  den  in  den  sermones 
und  in  der  Institutio  vorgetragenen  Ansichten  gefunden  haben,  allein  dies 
ist  nicht  bewiesen,  da  in  der  Rhetorik  ein  grosses  Gemeingut  vorhanden 
sein  muss  und  vorhanden  ist.O  Übrigens  wäre  es  nicht  auffallend,  wenn 
eine  spätere  Zeit  auch  von  den  Schätzen  der  Institutio  gezehrt  hätte. 
Auch  innere  Kriterien  verbieten  uns,  eine  der  beiden  Sammlungen  Quin- 
tilian beizulegen.  Beide  Produkte  sind  des  grossen  Meisters  unwürdig. 
Wir  können  nicht  glauben,  dass  er  seinen  Unterricht  mit  solchen  ge- 
schmacklosen Themata  ausgefüllt  hat.  Energisch  betont  er,  dass  auch 
die  Übungen  sich  nicht  allzusehr  von  der  Wirklichkeit  entfernen  und  dass 
die  romanhaften  Stoffe  nicht  die  Regel  bilden  sollen.  Beide  Sammlungen 
aber  bieten  des  Absurden  genug,  dessen  Quintilian  unfähig  ist.  Über  die 
Zeit,  in  der  die  Deklamationen  entstanden  sind,  lässt  sich  eine  bestimmte 
Angabe  schwer  machen.  Der  Sprache  nach  zu  urteilen,  scheinen  wenigstens 
die  kleineren  Deklamationen  der  nächsten  Zeit  nach  Quintilian  anzu- 
gehören. 

•)  Tbabandt  p.  20. 


H.  FabiuB  Qtiintilianas.  445 

Quintilians  Ansicht  über  die  Schuldeklamationen.  2f  10, 4  sint  efgo  et 
ipsae  materiae,  quae  fingentur,  quam  aimilUmae  verituti,  et  deelamatio,  in  quantum  maxime 
potest,  imüetur  eas  actiones,  in  quarum  exercitationem  reperta  est,  nam  magos  et  pestilen- 
tiam  et  reaponsa  et  scieviorea  tragicis  novercas ')  aliaque  magis  adhuc  fctbulosa  frustra  inter 
sponsianes  et  interdicta  quaeremua.  Quid  ergo?  nunquam  haec  supra  fidem  et  poetica,  ut 
vere  dixerim,  themata  iuvenibus  tractare  permittamus,  ut  exspatientur  et  gaudeant  materia 
et  quasi  in  corpus  eant?  erit  Optimum,  sed  certe  sint  grandia  et  tumida,  non  stnlta  etiam 
et  acrioribus  ovulis  intuenti  ridicula  —  (§  7)  totum  autem  deelamandi  opus  qui  diversum 
omni  modo  a  forensibus  causis  existimant,  ii  profecto  ne  rationepn  quidem,  qua  ista  exer- 
citatio  inpenta  sit,  pervident.  Vgl.  noch  10, 5, 14.  Besonders  wichtig  ist  der  scharfe  An- 
gnff  5, 2, 17  (Trabandt  p.  12). 

Zur  Qeschichte  der  Frage.  Treb.  Pollio  schreibt  im  Leben  der  dreissig  Tyrannen 
von  Postnmus  Junior  4, 2  (2, 98  P.)  fuit  autem  ita  in  declamationibus  disertus  ut  eius  controversiae 
Quintiliano  dicantur  insertae,  quem  declamatorem  Eomani  generis  acutissimum  vel  unius 
capitis  lectio  prima  statim  fronte  demonstrat.  Diese  in  die  Zeit  um  800  fallende  Erwäh- 
nung der  Quintilianischen  Deklamationen  ist  die  älteste;  diese  Stelle  ist  aber  zugleich  ein 
Beweis  daftr,  dass  fremde  Produkte  irrtQmlich  den  Namen  Quintilians  annahmen.  Vgl. 
noch  Auson.  p.  56  Seh.  seu  libecU  fietas  ludorum  evoUere  lites,  ancipitem  palmam  Quintilianus 
habet ;  Hieronym,  in  Esaiam  8  praef.  p.  328.  Voll,  qui  si  flumen  eloquentiae  et  concinnas  de- 
clamationes  desiderant,  legant  TuUium,  Quintilianumf  Gaüionem  etc.  Diesen  allgemeinen 
Zeugnissen  über  das  Vorhandensein  Quintilianischer  Deklamationen  stehen  Citate  ein- 
zelner Stücke  gegenüber;  sie  gehören  der  Sammlung  der  19  Stücke  an;  Hieronymus, 
De  cereo  paschali  11, 2  p.  210  B.  ValL;  Quaest,  Hebr.  in  Gen.  3, 1  p.  302  Voll,  citiert  nr.  X[ll; 
Ennodius  p.  483, 14  H.  bezieht  sich  auf  die  Decl.  V ;  die  Comm.  Bern,  ad  Luran.  4, 478  führen 
eine  Stelle  aus  Decl.  IV  an ;  Servius  Aen.  3, 661  aus  Deciam.  I.  Vielleicht  auf  Decl.  XI  ist  be- 
züglich Pompeius  GL.  5,  186  K.  Es  finden  sich  auch  Citate,  welche  sich  auf  nicht  mehr 
nachweisbare  Quintilianische  Deklamationen  beziehen,  z.  B.  Hieron,  Quaest.  Hebr,  in  Genes. 
3, 1  p.  353  Voll.,  Lactantius  Div,  inst,  1,  21  5,  7  6, 23.  Er  wäre  möglich,  wie  bereits  be- 
merkt, dass  sich  diese  Stellen  auf  die  verlorenen  kleinem  Quintil.  Deklamationen  beziehen,  es 
wäre  aber  auch  möglich,  dass  sie  zu  verloren  gegangenen  grösseren  Deklamationen  gehören, 
dass  sonach  auch  die  erste  Sammlung  nicht  vollständig  ist.  Die  Frage  nach  der  Autor- 
schaft dieser  Produkte  kam  erst  neuerdings  durch  die  Schrift  Rittebs,  Die  Quintil. 
Deklamationen  Freib.  und  Tübingen  1881,  in  Fluss.  So  umfassend  und  scheinbar  gründ- 
lich der  Verfasser  die  Frage  behandelt  hat,  so  sind  doch  die  Resultate  seines  Buchs  ver- 
fehlt. Bezüglich  der  grösseren  Deklamationen  will  er  gewisse  Gruppen  herausgefunden 
haben,  von  einer  die  Dekl.  3.  6.  9.  12.  13  umfassenden  behauptet  er  (p.  203),  dass  diese  in 
entschiedenem  Zusammenhang  mit  Quintilian  stehe,  imd  ein  innerlicher  Grund  gegen 
Quintilians  Autorschaft  für  diese  Stücke  nicht  vorliege.  Auch  nach  Durchforschung  der 
äusseren  Zeugnisse  heisst  es  (p.  218),  dass  jene  fünf  Stücke  wirklich  von  Quintilian  sind. 
Der  Schluss  des  Buchs  bringt  aber  eine  Retraktatio;  p.  265  schreibt  Ritter  «Wir  werden 
in  dem  Verfasser  einen  Schüler  Quintilians  zu  sehen  haben*.  Damit  ist  die  Untersuchung 
über  die  grösseren  Deklamationen  in  den  Sand  verlaufen.  Es  bleiben  also  noch  die  klei- 
neren Deklamationen,  von  denselben  wird  mit  einem  früheren  Herausgeber  derselben,  Aero- 
dius  (t  1601),  der  Quintilianische  Ursprung  behauptet.  Allein  die  Beweisführung  ist,  wie 
auf  den  ersten  Blick  ersichtlich,  durchaus  unnatürlich  und  unhaltbar.  In  völlig  ausreichender 
Weise  hat  dies  Tbabandt,  De  minoribus  quae  sub  nomine  Quintiliani  feruntur  declamatio- 
nibus, Greifsw.  1883,  dargelegt.  Es  erscheint  unbegreiflich,  wie  Ritter  nach  dem  Er- 
scheinen dieser  Dissertation  noch  (1884)  die  kleineren  Deklamationen  unter  Quintilians 
Namen  erscheinen  lassen  und  die  Ausführungen  seines  Gegners  völlig  ignorieren  konnte, 
welche  doch  z.  B.  auch  die  Billigung  eines  so  umsichtigen  Mannes  wie  Schwabe  gefunden 
haben.  Für  Unechtheit  spricht  sich  auch  Fleiter,  De  minoribus  quae  sub  nomine  Quin- 
tiliani feruntur  declamationibus,  Münster  1890,  aus,  ohne  jedoch  etwas  Erhebliches  zu 
bieten,  er  mäkelt  in  unfruchtbarer  Weise  an  Trabandts  Ergebnissen. 

486.  Charakteristik.  Wenn  je  ein  Mensch  mit  tiefer  Begeisterung 
und  warmer  Liebe  sein  Fach  umfasste,  so  war  es  Quintilian.  Die  Rede- 
kunst ist  für  ihn  die  Krone  des  menschlichen  Daseins;  sie  schliesst  in 
sich  die  moralische  Vollkommenheit ;  denn  er  hält  fest  an  der  catonischen 
Definition  des  Redners,  welche  auch  die  sittliche  Tüchtigkeit  von  diesem 
verlangt.    Diese  ist  aber  einmal  notwendig,   weil  mit  der  Beredsamkeit 


*)  Solche  Themata  sind  aber    in  dem  1  delt:  326.  329.  384  (pestilentia  et  responsa), 
Corpus  der  kleineren  Deklamationen  behau-  |  246.  350.  381  [novercae). 


446     Bömische  Litteraturgeschichte.    U.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilimg. 

der  grösste  Missbrauch  getrieben  werden  kann,  dann  aber  auch,  weil  ein 
schlechter  Mensch  es  gar  nicht  zu  einem  vorzüglichen  Redner  bringen 
kann.  Ohne  Zweifel  liegt  in  der  letzten  Behauptung  eine  Übertreibung, 
und  aus  der  Mühe,  welche  sich  Quintilian  gibt,  um  seinen  Gedanken  plau- 
sibel zu  machen,  geht  klar  die  Unhaltbarkeit  desselben  hervor.  Auch 
harmonieren  durchaus  nicht  alle  Lehren,  z.  B.  die  von  den  Beschönigungs- 
mitteln, mit  dieser  Anschauung;  Konzessionen  sind  unvermeidlich.  Bei 
der  ungeheuren  Bedeutung,  die  er  seiner  Kunst  beimisst,  ist  es  selbstver- 
ständlich, dass  er  ihre  Erlernung  als  eine  eminent  wichtige  Sache  hin- 
stellt und  daher  derselben  einen  viel  grösseren  Rahmen  gibt  als  die  ge- 
wöhnlichen Rhetoren;  die  Aneignung  der  Rhetorik  muss  sich  ihm  prinzi- 
piell zu  einer  den  ganzen  Menschen  erfassenden  Ausbildung  gestalten.  Die 
pädagogischen  Winke,  die  er  für  die  erste  Erziehung  gibt,  sind  höchst 
beachtenswert.  Das  System  der  eigentlichen  Rhetorik,  das  er  in  seinem 
Lehrgang  entwickelt,  beruht  auf  eifrigem  Studium  der  vorhandenen  rhe- 
torischen Lehrschriften  und  auf  einer  zwanzigjährigen  Erfahrung.  Der 
Standpunkt,  den  er  in  der  Frage  nach  der  Bedeutung  der  rhetorischen 
Gesetze  einnimmt,  ist  der  Theodorische;  er  leugnet  demgemäss  die  All- 
gemeingültigkeit der  Vorschriften  und  ist  der  Ansicht,  dass  dieselben  nach 
den  verschiedenen  Lagen  des  Falls  modifiziert  oder  auch  vernachlässigt 
werden  können.  Sonst  aber  ist  er  kein  Freund  der  starren  Schultheorie 
und  schwört  nicht  auf  ein  Schulhaupt.  Er  zieht  vielmehr  verschiedene 
Rhetoren  zu  Rat  und  wahrt  sich  seine  Selbständigkeit.  Bei  diesem  eklek- 
tischen Verfahren  musste  die  strenge  Folgerichtigkeit  des  Systems  oft  zu 
Schaden  kommen.  Und  in  der  That  liegt  die  Stärke  des  Schriftstellers 
durchaus  nicht  in  dem  Ausbau  nach  der  Seite  der  Theorie;  der  alte,  erprobte 
Lehrer  lässt  niemals  die  praktischen  Gesichtspunkte  ausser  Acht,  für  ihn 
haben  die  Anweisungen  nur  insofern  Wert,  als  sie  zur  Erreichung  des 
vorgesteckten  Zieles  führen.  Gern  erläutert  er  seine  Vorschriften  durch 
Beispiele  aus  den  Reden  der  klassischen  Zeit.  Kein  Redner  steht  ihm 
aber  höher  als  Cicero ;  ihn  führt  er  daher  am  liebsten  als  Zeugen  an.  Be- 
sonders ist  es  sein  Stil,  der  seine  Bewunderung  erregt  und  ihn  zu  dem 
Ausspruch  veranlasst,  dass  der  an  seine  Fortschritte  glauben  könne,  der  an 
Cicero  Geschmack  gefunden  hätte  (10,1,112).  In  Anlehnung  an  diesen 
unsterblichen  Redner  verfolgt  er  durch  sein  Werk  noch  das  Ziel,  dem 
verdorbenen  Modestil  mit  seinen  zerhackten  und  zugespitzten  Sätzen  ent- 
gegenzutreten. Und  seine  eigene  Darstellung  liefert  den  vollgültigen  Beweis, 
dass  es  möglich  war,  diesen  durch  Zurückgehen  auf  Cicero  zu  regenerieren, 
ohne  in  sklavische  Nachahmung  zu  verfallen.  Quintilian  schreibt  ein  ruhig 
dahinfliessendes  und  durch  mannigfache  Bilder  aus  den  verschiedenen 
Sphären  des  Lebens  gehobenes  Latein,  das  uns  nach  einer  Senecalektüre  mit 
wahrem  Behagen  erfüllt.  Aber  was  uns  die  Beschäftigung  mit  ihm  noch  be- 
sonders anziehend  macht,  ist,  dass  wir  in  dem  Autor  auch  den  Menschen  lieben 
können.  Wir  fühlen  uns  von  seinem  edlen,  gemütvollen  Wesen  angezogen 
und  freuen  uns  der  liebevollen  Unterweisung  des  alten  Lehrers.  Jeder- 
mann wird  dem  Urteil  des  grossen  Meisters  der  römischen  Geschicht- 
schreibung beistimmen,  der  den  Rhetor  die  Perle  der  spanisch-lateinischen 


Die  Juristen.  447 

Schriftstellerei  nennt  und  seine  Arbeit  also  charakterisiert:  „Sein  Lehr- 
buch  der  Rhetorik  und  bis  zu  einem  Grade  der  römischen  Litteraturge- 
schichte  ist  eine  der  vorzüglichsten  Schriften,  die  wir  aus  dem  römischen 
Altertum  besitzen,  von  feinem  Geschmack  und  sicherem  Urteil  getragen, 
einfach  in  der  Empfindung  wie  in  der  Darstellung,  lehrhaft  ohne  Lang- 
weiligkeit, anmutig  ohne  Bemühung,  in  scharfem  und  bewusstem  Gegensatz 
zu  der  phrasenr.eichen  und  gedankenleeren  Modelitteratur.  Nicht  am  wenig- 
sten ist  es  sein  Werk,  dass  die  Richtung  sich  wenn  nicht  besserte,  so  doch 
änderte.  An  inniger  Liebe  zu  der  eigenen  Litteratur  und  an  feinem  Ver- 
ständnis derselben  hat  nie  ein  Italiener  es  dem  calagurritanischen  Sprach- 
lehrer zuvorgethan.*'^) 

Quintilians  rhetorischer  Standpunkt.  2,13,2  erat  rhetorice  res  prorsus 
facilis  ac  parva,  si  uno  et  brevi  praescripto  cotUineretur :  sed  mutantur  pleraque  causiSf 
temporibus,  occasione,  necessitafe,  Atque  ideo  res  in  tyratore  praecipua  consilium  est,  quia 
varie  et  ad  rerum  momenta  convertitur.  —  (b) prooemium  necessarium  an  super- 
racuum,  hreve  an  longius,  ad  iudicem  omni  sermone  derecto  an  aliquando  aperso  per 
aliquant  figuram  dicendum  sit,  constricta  an  latius  fusa  narratio,  continua  an  divisa,  recta 
I  an  ardine  permutato,  causae  docebunt,    itemque  de  quaestionum  ordine,  cum  in  eadem  con- 

'  troversia  aliud  alii  parti  prius  quaeri  frequenter  expediat,  neque  enim  rogationibus 

plebisve  scitis  sancta  ista  praecepta,  sed  hoc,  quidquid  est,  utilitas 
excogitavit.    Vgl.  §  337. 

Sein  Eklektizismus.  3,1,22  non  tarnen  post  tot  ac  tantos  auctores  pigebit  nteam 
quibusdam  locis  posuisse  sententiam.  neque  enim  me  cuiusquam  sectae  velut  quadam  super- 
stitione  imbutus  addixi  et  electuris  quae  potent  facienda  copia  fuit,  sicut  ipse  plurium  in 
unum  confero  inventa,  ubicunque  ingenio  non  erit  locus,  eurae  testimonium  meruisse  con- 
tentus.   3, 4, 12  nobis  et  tutissimum  est  auctores  plurimos  sequi  et  ita  videtur  ratio  dictare. 

Die  ethische  Grundlage  12,1,1  sit  nobis  orator,  quem  constituimus,  is  qui  a  M. 
Catone  finitur,  pir  bonus  dicendi  peritus,  verum  id  quod  et  ille  posuit  prius  et  ipsa 
natura  potius  ac  maius  est,  utique  vir  bonus.  (3)  neque  tantum  id  dico,  eum  qui  sit  orator, 
virum  bonum  esse  oportere,  sed  ne  futurum  quidem  oratorem  nisi  virum  bonum. 

Die  Quellen  Quintilians  können  nur  durch  eine  Aufrollung  der  gesamten  rheto- 
rischen Litteratur  festgestellt  werden.  Untersuchungen,  die  in  einem  engeren  Rahmen  ge- 
führt werden,  führen  selten  zu  ergiebigen  Resultaten.  Claussen,  Fleckeis.  Jahrb.  Suppl. 
6,339;  MoRAWSKi,  Quaest,  Quint.,  Berl.  1874;  Teichert,  De  fontibus  Quintiliani  rhetoricis, 
I  Königsb.  Diss.  1884. 

4.  Die  Juristen. 

487.  Die  Bechtsschulen  der  Proculianer  und  Sabinianer.  Oben 
(§  353)  haben  wir  gesehen,  dass  in  der  Augusteischen  Zeit  zwei  Juristen 
M.  Antistius  Labeo  und  C.  Ateius  Capito  als  Vertreter  zweier  Richtungen 
sich  gegenüberstanden.  Pomponius  lässt  in  seinem  Abriss  die  Schulgegen- 
sätze auch  nach  dem  Tode  jener  hervorragenden  Juristen  fortdauern,  er 
gibt  ihnen  Nachfolger  bis  zui*  Zeit  Hadrians.  Merkwürdigerweise  erhielten 
die  beiden  Schulen  ihre  Namen  erst  von  späteren  Häuptern  derselben, 
die  Schule  Labeos  nannte  sich  nach  Proculus  die  Proculianer,  die  Schule 
Capitos  nach  Sabinus  und  Cassius  die  Sabinianer  oder  Gassianer.  Es  ist 
höchst  wahrscheinlich,  dass  diese  Schulen  auf  einer  korporativen  Ver- 
fassung ruhten  und  also  schon  rechtlich  einen  Vorstand  nötig  machten. 
Das  Beispiel  der  griechischen  Philosophenschulen  mag  hier  vorbildlich  ge- 
wesen sein.  Allein  auch  der  Gegensatz  der  Bechtsanschauung,  den  Labeo 
und  Capito  begründet  hatten,  muss  in  den  Nachfolgern  noch  fortge- 
wirkt haben.    Freilich  für  die  Länge  der  Zeit  war  die  ursprüngliche  Schärfe, 


')  MoMMSEK,  R.  Gesch.  5,  70. 


448    Bömische  Litteratnrgeschiohte.    II.  Die  Zeit  der  Honarohie.    1.  Abteilung. 

mit  der  sich  die  beiden  Richtungen  gegenüberstanden,  nicht  haltbar.  Die 
Vertreter  der  Analogie  im  Recht  waren  gezwungen,  die  Einwände  der 
Vertreter  der  Anomalie  in  ihren  Aufstellungen  zu  berücksichtigen,  durch 
diese  Berücksichtigung  ihrer  Anschauungen  waren  aber  auch  die  Anoma- 
listen  befriedigt.  Die  Parteien  erkannten  immer  mehr  die  Notwendigkeit 
der  gegenseitigen  Konzessionen.  Der  Streit,  von  dessen  Verlauf  und 
Ende  die  Quellen  kein  deutliches  Bild  geben,  führte  schliesslich  zu  dem- 
selben Ergebnis,  zu  dem  er  in  der  Grammatik  geführt  hatte;  weder  die 
Analogie  noch  die  Anomalie  konnte  ausschliesslich  das  Terrain  behaupten, 
sie  mussten  einander  die  Hand  zur  Versöhnung  reichen. 

Über  die  Häupter  der  beiden  Schulen  lautet  der  Bericht  des  Pomponius  im  Ein- 
gang der  Digesten  also: 

Et  üa  Ateio  Capitoni  Masaurius  Sabinus  siircessit,  Labeoni  Nerva,  qui  adhue  ean 
dissensiones  auxerunt  —  huic  (Sabino)  auccessU  Caius  Caasius  Langinus  —  Nervae  succesait 
Proculus.  Fuit  eodem  tempore  et  Nerva  filius,  Fuit  et  alius  Longinus  ex  equestri  quidem 
ordine,  qui  postea  ad  praeturam  usque  pervenit.  Sed  ProcuU  auctoritas  maior  fuit,  nain 
etiam  plurimum  potuit,  appellatique  sunt  partim  Cassiani,  partim  Proculiani,  quae  origo  a 
Capitane  et  Labeone  coeperat.  Cassio  Caelius  Sabinus  auccessit,  qui  plurimum  temporibua 
Veapaaiani  potuit;  Proculo  Pegasus,  qui  temporibus  Vespasiani  praefectus  urbi  fuit;  Caelio 
Sabino  Priscus  Javolenus;  Pegaso  Celsus;  patri  Celso  Celsus  filius  et  Priscus  Neratius,  qui 
utrique  consules  fuerunt,  Celsus  quidem  et  iterum;  Jaroleno  Prisco  Aburnius  Valens  et 
Tuscianus,  item  Sälvius  Julianus. 

488.  Die  Proculianische  Schule.  Als  Schulhäupter  werden  uns 
von  Pomponius  genannt: 

1.  M.  Cocceius  Nerva,  der  Grossvater  des  Kaisers  Nerva;  er  war 
ein  Vertrauter  des  Tiberius  (Tac.  Ann.  4,  58);  allein  im  Jahre  33  n.  Ch. 
fasste  der  angesehene  Mann  den  Entschluss,  in  den  Tod  zu  gehen,  da  ihm 
die  Lage  des  Vaterlandes  hoffnungslos  erschien.  Und  trotz  der  Bitten  des 
Tiberius  führte  er  seinen  Entschluss  durch  (Tac.  Ann.  6,  26;  Dio  58,  21). 
Er  wird  von  hervorragenden  Juristen  oft  angeführt,  ohne  dass  aber  dabei 
eine  Schrift  von  ihm  namhaft  gemacht  wird. 

Auch  sein  Sohn,  der  Vater  des  Kaisers,  war  Jurist;  von  ihm  wird  ein  Werk  de  usu- 
rapionibus  angefahrt  (Big.  41,2, 47).  Der  neben  ihm  genannte  Longinus  ist  sonst  unbekannt. 

2.  Proculus.  Da  die  Schule  von  ihm  ihren  Namen  erhielt,  so  muss 
er  sich  eines  grossen  Ansehens  erfreut  haben.  Wir  kennen  aus  den  An- 
führungen in  den  Digesten  seine  Epistulae,  die  mindestens  elf  Bucher 
umfassten  und  Responsa  und  Quaestiones  enthielten  (Dig.  19,  5, 12;  23,  4, 17). 
Auch  Noten  zu  Labeos  libri posteriores  verfasste  er  (Dig.  33,6,  IC;  3,  5, 10,  1). 

3.  Pegasus,  Praefectus  urbi  unter  Vespasian.  Wir  kennen  diesen 
Rechtsgelehrten  aus  der  vierten  Satire  Juvenals.  Er  wird  oft  von  den 
juristischen  Schriftstellern  citiert,  aber  ohne  Bezeichnung  von  Werken. 

Schol.  zu  Juv.  4, 77  Pegasus  filius  trierarchi,  ex  cuius  liburnae  para^emo  nomen 
accepit,  iuris  studio  gloriam  memoriae  meruit,  ut  liber  ruigo,  non  homo  diceretur.  hie 
functus  omni  honore  cum  provinciis  plurimis  praefuisset,  urbis  curam  administrarit,  hinc 
est  Pegasianum  SC,  (Inst.  2, 23,  5;  Gai.  1,31;    Sohm  Inst.^  p.  445). 

4.  Juventius  Celsus  der  Vater  und  P.  Juventius  Celsus  der 
Sohn.  Der  berühmtere  von  beiden  ist  der  Sohn,  der  auch  wegen  seiner 
Teilnahme  an  einer  Verschwörung  gegen  Domitian  in  der  Geschichte  be- 
kannt ist  (Dio  67, 13).  Seine  Wirksamkeit  erstreckte  sich  noch  in  die 
Hadrianische  Zeit  (Spart.  Hadr.  18).  Dieser  jüngere  Celsus  steht  als  Jurist 
ausserordentlich  hoch.    Die  Schärfe  und  Präzision  seiner  Gedanken  ist  be- 


Die  Joristen.  449 

wunderungswürdig.     In   den  Pandekten   ist  nur    ein  Werk  ausgezogen, 
seine  Digestorum  libri  XXXIX  und  zwar  sind  es  142  Stellen. 

Angeführt  werden  aber  in  den  Digesta  noch  folgende  Schriften: 

1.  commentarii  von  mindestens  7  B.  (Dig.  34,2,19,6}; 

2.  epiatulae  von  mindestens  11  B.  (Dig.  4,4, 3, 1); 

3.  quaestiones  (über  die  Zahl  der  Bücher  vgl.  EbOoeb  p.  166, 13). 

5.  Neratius  Priscus,  ebenfalls  ein  sehr  angesehener  Mann;  Traian 
schätzte  ihn  so  hoch,  dass  er  ihn  gern  als  seinen  Nachfolger  sich  dachte 
und  dies  auch  durch  Äusserungen  kund  gab  (Spart.  Hadr.  4,  8).  Exzerpiert 
sind  in  den  Pandekten  von  ihm  die  Responsorum  libri  III,  die  Membra- 
narum  libri  VII  und  die  Regularum  libri  XV. 

Angeführt  werden  in  den  Digesta  noch  folgende  Werke: 

1.  Epistulae  von  mindestens  4  B.  (Dig.  33, 7, 12, 35  u.  43); 

2.  libri  ex  Plautio  (Dig.  8,  3,  5, 1); 

3.  Über  de  nuptiia  (Gell.  4, 4, 4). 

Über  eine  auf  Neratius  Priscos  bezügliche  Inschrift  (CIL.  9, 2454)  vgl.  Bobohest, 
Oeuvres  5,  350;  Asbach,  Rh.  Mus.  36, 46, 1. 

489.  Die  Sabinianische  Schule.  Die  Häupter  dieser  Schule  sind 
folgende  Juristen: 

1.  Masurius  Sabinus.  Für  die  Entwickelung  der  Rechtswissen- 
schaft war  von  grossem  Einfluss  das  Institut  der  Responsa,  die  Recht- 
weisung. Seit  Augustus  wurden  die  responsa  mit  kaiserlicher  Autorität 
{ex  auctoritate  principis)  gegeben.  Die  in  der  vorgeschriebenen  Form  er- 
teilten responsa  der  Juristen,  denen  das  ius  respondendi  verliehen  war, 
hatten  für  den  Instruktionsbeamten  wie  für  den  Richter  verbindliche  Kraft ; 
es  musste  darnach  erkannt  werden,  wenn  nicht  ein  entgegenstehendes  Out- 
achten eines  andern  privilegierten  Juristen  vorgelegt  wurde.  Wenn  es 
nun  heisst,  dass  Masurius  Sabinus  zuerst  dieses  Recht  von  Tiberius  er- 
hielt (Pomp.  dig.  1,  2,  2,  50),  so  wird  das  dahin  zu  verstehen  sein,  dass  er 
der  erste  aus  dem  Ritterstande  war,  der  respondierte;  denn  das  Recht 
hatte  ja  bereits  Augustus  erteilt.*)  Trotz  dieser  Auszeichnung  waren 
seine  äusseren  Verhältnisse  dürftig;  er  war  auf  die  Unterstützung  seiner 
Zuhörer  angewiesen.  Sein  Hauptwerk  waren  die  libri  III  iuris  civilis. 
Das  Werk  wurde  von  dem  Juristen  Pomponius  in  wenigstens  36,  von  Ulpian 
in  wenigstens  51,  von  Paulus  in  wenigstens  17  Büchern  kommentiert. 
Diese  Kommentare  führen  in  den  Digesten,  für  die  sie  grosse  Wichtigkeit 
erlangten,  die  Bezeichnung  ex  Sabino  oder  ad  Sabinum,  Noten  schrieb  zu 
dem  Werk  der  mit  dem  jüngeren  Plinius  (ep.  1,  22, 1;  5,  3;  8, 14)  vertraute 
Titius  Aristo  (Dig.  7,  8,  6). 

Über  den  Aufbau  des  Werks,  das  sich  an  Labeo  anlehnte,  vgl.  Voigt,  Abh.  d.  s&chs. 
Gesellsch.  d.  Wissensch.  7,351;  Krügbh,  Geschichte  der  Quellen  etc.,  Leipz.  1888  p.  151; 
Leist,  Versuch  einer  Geschichte  der  r5m.  Rechtssysteme  1850  p.  44. 

Andere  Werke  des  Sabinus  sind: 

1)  Über  de  furtis  GeU.  11, 18, 11; 

2)  libri  ad  Vitellium  (Dig.  32,45;  33,7,8  pr.;  33,7,12,27;  33,9,3  pr.).  Auch 
zu  diesem  Werk  schrieb  Aristo  Noten. 

3)  libri  ad  edictum  praetoris  urbani  in  mindestens  5  BQchem  (Dig.  38, 1, 18); 

4)  Responsa  mindestens  2  Bücher  (Dig.  14,2,4  pr.); 

5)  Assessorium  (Dig.  47,10,5,8),  wahrscheinlich  über  die  amtliche  Thätigkeit 
der  assessares; 

6)  libri  memorialiumj  mindestens  11  Bflcher  (Gell.  5, 6, 13); 


')  Kröobb  p.  150, 4  (nach  Mommsen). 

Handbuch  der  Uub.  AltcrlttnuwlflMnscbaft.    Vm.    2.  Teil.  29 


450    Bömiflche  Litteraturgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilimg. 

7)  Fastif  in  mindestens  2  Büchern  (Macrob.  1|4,  6); 

8)  eomtnentarii  de  indigenis  (Gell.  4,  9,  8). 

Die  Fragmente  der  drei  letzten  Schriften  fanden  sich  bei  Huschke,  iurispr,  anteiusf.^ 
p.  123.  —  HouquES-FoüBCADE,  Mct88.  Sab,,  sa  pie,  son  oeupre,  Bordeaux  1889. 

2.  C.  Cassius  Longinus  (Konsul  30  n.  Gh.).  Dieser  Jurist  griff 
auch  tief  in  das  öffentliche  Leben  ein,  er  verwaltete  in  den  Jahren  40 
und  41  die  Provinz  Asien  und  im  Jahre  49  Syrien.  Tacitus  gedenkt 
seiner  mit  der  höchsten  Achtung  (Ann.  12, 12).  Dem  Kaiser  Nero  wurde 
der  wackere  Mann  verhasst;  als  Vor  wand,  ihn  zu  beseitigen,  musste  die 
Anschuldigung  herhalten,  dass  er  unter  seinen  Aimenbildern  auch  das  des 
Mörders  Cäsars  aufbewahre.  Über  den  erblindeten  Greis  (Suet.  Nero  37) 
wurde  die  Verbannung  verhängt,  als  Aufenthaltsort  wurde  ihm  Sardinien 
angewiesen  (Tac.  Ann.  16,  9).  Nach  dem  Tod  des  Tyrannen  unter  Vespa- 
sian  wurde  er  zurückberufen  (Dig.  1,  2,  2,  51).  Sein  Hauptwerk  waren 
die  libri  iuris  civilis  (Dig.  7,  1,  7,  3).  Der  berühmte  Jurist  Javo- 
lenus  machte  aus  demselben  einen  Auszug  von  15  Büchern,  der  in  den 
Digesten  benutzt  ist.  Ein  anderer  Jurist,  der  schon  genannte  Aristo,  erläuterte 
dasselbe  dm*ch  Noten.  Ausser  diesem  Hauptwerk  hat  Cassius  Anmerkungen 
zu  Vitellius  geschrieben  (Dig.  33,  7,  12,  27). 

Von  diesem  C.  Cassius  Longinus  ist  zu  trennen  der  von  Pomponius  neben  Nerva 
dem  Sohn  genannte  Proculianer  Longinus. 

3.  Cn.  Arulenus  Caelius  Sabinus  (Konsul  69).  Seine  Blüte  fallt 
in  die  Zeit  Vespasians.  Sein  Hauptwerk  war  eine  Beai*beitung  des  ädili- 
cischen  Edikts  (Gell.  4,  2,  3). 

4.  Javolenus  Priscus  war  wie  Cassius  Longinus  sehr  ins  öffent- 
liche Leben  verflochten.  Er  verwaltete  die  Provinzen  Britannien,  Ger- 
mania superior,  Syrien  und  zuletzt  Afrika.  Eine  Probe  seiner  Zerstreut- 
heit berichtet  uns  der  jüngere  Plinius  (ep.  6, 15).  Von  seiner  juristischen 
Thätigkeit  liegen  die  Niederschläge  in  den  Digesten  vor;  an  mehr  als 
zweihundert  Stellen  ist  er  exzerpiert. 

Über  seine  amtliche  Laufbahn  vgl.  CIL.  3,2864;  Äddenda  p.  1062;  Ephem.  epigr.  5, 
652.     Seine  Schriften  sind: 

\)  epistularum  l.  XIV.  Dieselben  enthielten  Responsa  imd  Quaestiones  (Dig.  ^. 
4,  5;  28,  5,  65  u.  a.).  Die  übrigen  Schriften  sind  Bearbeitungen  fremder  juristischer 
Werke,  nämlich 

2)  libri  XV  ex  Cassio  (Lenel  Palingetiesia  p.  277);  vgl.  Absatz  2; 

3)  libri  V  ex  Plautio  {Lenel  p.  297); 

4)  Zwei  Auszüge  aus  den  libri  posteriores  Labeos  (vgl.  p.  229),  der  erste 
wird  citiert  Labeo  —  libro  Posteriorum  a  Javoleno  epifomatorum,  der  zweite  Javolenus  Ubro 
—  ex  posterioribus  Labeonis,  ,In  dem  ersteren  spricht  Labeo,  Javolenus  hat  nur  Noiae 
hinzugesetzt;  in  dem  anderen  referiert  Javolen  aus  Labeo,  das  in  erster  Person  Ausge- 
sprochene geht  auf  Javolen.  Ein  sachlicher  Gegensatz  beider  Auszüge  tritt  nicht  hervor; 
auch  in  der  Bucheinteilung  gehen  beide  parallel,  der  erstere  Auszug  bricht  aber  in  den  Ju- 
stinianischen Digesten  mit  dem  sechsten  Buch  ab,  von  dem  anderen  sind  zehn  Bücher  be- 
nutzt* (Krüoeh  p.  163). 

Die  Übrigen  noch  von  Pomponius  genannten  Häupter  der  Sabinianer 
Aburnius  Valens,  Tuscianus,  Salvius  Julianus  gehören  bereit«  der  folgenden 
Epoche  an,  daher  wir  von  weiterem  hier  absehen. 

5)  Die  Schriftsteller  der  realen  Disziphnen. 

1.  Der  Encyklopädist  C.  Plinius  Secundus. 
490.  Biographisches«    G.  Plinius  Secundus  wurde  zu  Novum  Comum 
23  n.  Ch.  geboren.    Er  kam  frühzeitig  nach  Rom;  hier  schloss  er  sich  bc- 


Der  ältere  Plinins.  451 

sonders  an  Pomponius  Secundus  an,  dessen  Leben  er  in  dankbarer  Ge- 
sinnung später  erzählte  (§  381).  Dieser  bedeutende,  als  Feldherr  und  Dichter 
gleich  ausgezeichnete  Mann  war  ohne  Zweifel  von  tiefgehendem  Einfluss 
auf  die  Entwickelung  des  jungen  Plinius.  Wie  bei  Pomponius,  so  finden 
wir  auch  bei  ihm  die  Verbindung  der  amtlichen  Thätigkeit  mit  dem  Stu- 
dium und  dem  unermüdlichen  litterarischen  Schaffen.')  So  schrieb  er  als 
junger  Offizier  {praefeefus  cdae)  über  Kavalleriemanöver  und  im  reiferen 
Alter  begab  er  sich  noch  vor  Tagesanbruch  zum  Kaiser  Vespasian,  um 
mit  ihm  zu  konferieren  und  alsdann  des  ihm  übertragenen  Amtes  zu 
walten.  War  der  Pflicht  Oenüge  gethan,  kehrte  er  nach  Hause  zurück 
und  widmete  die  übrige  Zeit  dem  Studium.  Seine  Amtskarriere  ist  uns 
nur  in  allgemeinen  Umrissen  bekannt.  Wir  wissen,  dass  er  bei  der  Rei- 
terei diente,  und  dass  ihn  sein  Miltärdienst  nach  Deutschland  geführt 
hatte;  wir  wissen  femer,  dass  er  in  sehr  engen  Beziehungen  zu  den  Fla- 
viern  stand  und  mit  Vespasian,  wie  eben  gesagt,  täglich  amtliche  Geschäfte 
zu  erledigen  hatte.  Die  Biographie  teilt  uns  mit,  dass  er  angesehene 
Prokurationen  mit  der  grössten  Gewissenhaftigkeit  verwaltet;  eine  in 
Spanien  bekleidete  bezeugt  uns  ausdrücklich  sein  Neffe.  Das  Ende  seiner 
Laufbahn  bildete  das  Kommando  über  die  bei  Misenum  zusammengezogene 
Flotte.  Hier  ereilte  ihn  beim  Ausbruch  des  Vesuv  im  Jahre  79  der  Tod. 
Der  jüngere  Plinius  schildert  uns  in  einem  Briefe  an  Tacitus  (6, 16)  in 
sehr  anschaulicher  Weise  die  Katastrophe.  Eine  Ergänzung  hiezu  bildet 
der  Brief  6,  20,  der  die  Erlebnisse  des  jüngeren  Plinius  bei  dem  Er- 
eignis berichtet.  Die  wissenschaftliche  Neugierde  und  das  Verlangen,  in 
der  allgemeinen  Verwirrung  helfend  einzugreifen,  führten  ihn  in  den  Tod. 

Eine  Biographie  des  Plinius  fand  sich  in  dem  Werk  Suetons  De  viris  illustrihus  und 
zwar  in  der  Abteilung  der  Historiker.  Aus  derselben  ist  uns  aber  nur  ein  dürftiges  Frag- 
ment unter  der  Bezeichnung  „VUa  Flinii  ex  catalogo  pirorum  illustrium  Tranquilli*'  er- 
halten (Suet.  reliq.  p.  92  Rbiffebsch.). 

Zeugnisse  über  sein  Leben.  Das  Geburtsjahr  ergibt  sich  aus  Plin.  ep.  3,5,7 
((lecessit)  anno  sexto  et  quinquagenHmo,  Über  seine  amtliche  Karriere:  Plin.  ep.  3,5,4 
cum  in  Germania  militaret  3,  5,  3  cum  praefectus  alae  militaret  Suet.  p.  92  Reiffe>isch. 
equestrihtis  militiis  industrie  functus  procurationes  quoque  splendidissimas  et  continuas 
ttumma  integritate  administravit  3, 5, 17  cum  procuraret  in  Hispania  3,  5, 9  ante  liicem 
ibat  ad  Vespasianum  imperatorem,  inde  ad  delegatum  ttibi  officium  6, 16, 4  erat  Miseni 
classemque  imperio  praesens  regebat.  Auf  unsem  Plinius  bezient  Mohiisev  eine  in  Arados 
gefundene  griechische  Inschrift  (Hermes  19, 644).  '  Nach  derselben  wäre  Plinius  unter  anderm 
Untergeneralstabschef  im  jQdischen  Kriege  des  Jahres  70  gewesen ;  dadurch  finde  das  ca- 
strense  contuhernium  mit  Titus,  welches  in  der  Dedikation  der  N.  H.  erwähnt  sei,  seine  Er- 
klärung; weiterhin  sei  er  Prokurator  in  Syrien  gewesen.  Sein  Aufenthalt  in  verschie- 
denen Ländern:  16,2  sunt  et  in  septentrione  visae  nobis  (gentes)  Chaucorum  2, 149  ego 
ipse  vidi  in  Vocontiorum  agro  7,37  ipse  in  Afrira  vidi.  Über  seinen  Tod  gibt  die  Vita 
noch  ein  Gerücht:  vi  pulreris  ac  faviUae  oppressus  est  vel,  ut  quidam  existimant,  a  servo 
suo  occisus,  quem  aestu  deficiens,  ut  necem  sibi  maturaret,  oraverit.  Dies  Gerücht  verdient 
keinen  Glauben. 

491.  Die  naturalis  historia.  Plinius  war  einer  der  grössten  Leser 
des  Altertums.  Zugleich  war  er  auch  einer  der  fieissigsten  Epitomatoren. 
Kein  Buch  las  er,  das  er  nicht  exzerpiert  hätte;  denn  er  hielt  an  der  An- 
sicht fest,  dass  kein  Buch  so  schlecht  sei,  dass  es  nicht  irgend  einen  Er- 


')  Plin.  ep.  6, 16,  3  (an  Tacitus)  equidem 
beatos  puto  quibus  deorum  munere  datum  est 
aut  facere   scribenda   aut  scribere  legenda, 


beatissimos  rero  quibus  utrumque,  Horum 
in  numero  arunctdus  meus  et  suis  libris  et 
tuis  erit. 

29* 


452     ROmiBche  Litteratnrgeschichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.     1.  Abteüung. 


trag  abwerfe.  Nach  der  interessanten  Schilderung,  welche  sein  Neffe  von 
seinem  Onkel  entwirft  (3,  5),  verfloss  dessen  Leben  fast  ganz  über  an- 
haltendem Lesen.  Während  des  Essens  und  beim  Bade  wurde  vorgelesen, 
auf  seinen  Reisen  führt  er  seine  Bücher  mit  sich  und  zugleich  einen  Steno- 
graphen, der  seine  Notata  sofort  fixiren  konnte.  Das  Gleiche  geschah  in 
Rom,  wenn  er  sich  in  einer  Sänfte  spazieren  tragen  liess.  Bei  einer 
solchen  peinlichen  Ausnützung  der  Zeit  gewann  er  allmählich  eine  grosse 
Menge  von  Auszügen.  Als  er  Procurator  in  Spanien  war,  hatte  er  bereits 
eine  so  beträchtliche  KoUektaneensammlung,  dass  ihm  Largius  Licinius 
die  Summe  von  400,000  Sesterzien  für  dieselbe  bot.  Allein  er  konnte  sich 
nicht  von  seinem  Schatze  trennen,  er  erweiterte  ihn  vielmehr*  durch  neue 
Exzerpte.  Nach  seinem  Tod  fand  der  jüngere  Plinius  in  dem  Nachlass 
ein  Konvolut  von  160  auf  beiden  Seiten  eng  beschriebenen  Buchrollen. 
Ohne  Zweifel  bildeten  diese  „Electa"  die  Grundlage  für  die  naturalis  hi- 
storia,  die  sich  allein  von  seinen  Schriften  erhalten  hat.  Dieses  Werk 
steckt  sich  das  Ziel,  eine  gesamte  Encyklopädie  der  Naturwissenschaften 
zu  geben  und  zwar  in  der  Weise,  dass  auch  die  Zweige  behandelt  werden, 
welche  die  Naturwissenschaften  zur  Voraussetzung  haben,  wie  die  Erd- 
kunde und  die  Medizin,  oder  mit  denselben  in  irgendwelcher  Beziehung 
stehen  wie  die  Kunst.  Selbstverständlich  musste  zuvor  ein  genauer  Plan 
des  Ganzen  festgestellt  werden,  nach  welchem  dann  die  Exzerpte  verar- 
beitet wurden.  Im  Jahre  77  war  er  mit  dem  Werk  zu  einem  relativen 
Abschluss  gekommen,  der  Stoflf  war  in  36  Büchern  abgehandelt;  mit  einer 
charakteristischen  Vorrede  überreichte  er  sie  dem  Titus.  Der  Vorrede 
hatte  er  zugleich  die  Inhaltsangaben  der  einzelnen  Bücher  beigegeben, 
damit  Titus  sich  die  ihm  zusagenden  Materien  zur  Lektüre  heraussuchen 
konnte.  Ein  Verzeichnis  der  Quellenschriftsteller  war  jedem  einzelnen 
Buch  beigefügt.  Bald  darauf  wurde  Plinius  zum  Befehlshaber  der  bei 
Misenum  stationierten  Flotte  ernannt.  Auch  in  dieser  Stellung  behielt  der 
Autor  sein  Werk  im  Auge;  er  las  natürlich  weiter  und  liess  demselben 
auch  die  neuen  Früchte  seiner  Lektüre  zu  gute  kommen.  Dadurch  kam 
es  zu  Umarbeitungen  und  zu  Nachträgen.^)  Mitten  in  der  Arbeit  w^urde 
er  durch  den  Tod  abberufen  (79).  Das  vielfach  erweiterte  Werk  musste 
jetzt  von  fremder  Hand  dem  Publikum  dargeboten  werden;  es  hatte  also 
dasselbe  Schicksal,  wie  das  Geschichtswerk  A  fine  Aufidii  BassL  Als 
Herausgeber  stellt  sich  uns  von  selbst  der  jüngere  Plinius  dar,  welcher 
im  Besitz  des  littertoischen  Nachlasses  seines  Onkels  war.  Dieser  griflf 
aber  sicherlich  nicht  tief  in  das  Vorhandene  ein,  nach  den  Spuren  der  Un- 
fertigkeit,  welche  noch  allenthalben  sichtbar  sind,  muss  er  sich  mit  einer 
oberflächlichen  Redaktion  begnügt  haben.  Nur  in  dem  Aufbau  wurde  eine 
Änderung  vorgenommen,  welche  jedoch  auch  mehr  äusserlich  war.  Die 
Quellen  Verzeichnisse  wurden  mit  den  Inhaltsangaben  vereinigt;   die  Aus- 


^)  Bbukn  p.  2  qua  in  re  (in  der  Um- 
arbeitung) ita  versatus  est  Plinius,  ut  non 
solum  emendaret  aut  immutaret  nonnuJla, 
sed  etiam  tota  capita  transponeret  vel  adeo 
prorsus  novo  modo  libros  divideret  (cf.  V,  VI, 
XIV,  XV).  Proeierea  vero  ex  auctoribus  antea 


negUctis  etiam  nova  muUa  addidit,  quae  in 
excerpendOf  commodius  intexendi  tempus  ex- 
spectans,  saepe  ad  marginem  adnotasse  vide- 
tur,  unde  interdum  post  ipsius  mortem  ab 
imperita  manu  falso  loco  in  continuitafem 
rerborum  inserta  sunt. 


w  ■ 

I 


Der  ältere  PlininB.  453 

gäbe  enthielt  sonach  ein  Einleitungsbuch,  dann  36  Bücher  mit  dem  Stoff. 
Diese  Bücher  haben  folgenden  Inhalt:^) 

1.  Buch  Inhalts-  und  Quellen  Verzeichnisse; 

2.  Buch  mathematisch-physikalische  Beschreibung  des  Universums; 
3. — 6.  Buch  Geographie  und  Ethnographie; 

7.  Buch  Anthropologie  und  Physiologie  des  Menschen; 
8. — 11.  Buch  Zoologie 

8.  Säugetiere,    9.  Fische,    10.  Vögel,    11.  Insekten  und  noch  einiges  aus  der  ver- 
gleichenden Anatomie; 
12.-27.  Buch  Botanik 

12.  und  13.  ausländische  Bäume  und  Sträucher,  14.  und  15.  Obstbäume,   16.  wilde 

Bäume  und  eine  allgemeine  Botanik,  17.  Baumzucht, 
18.  und  19.  Getreide,  Kohlarten,  Feld-  und  Gartenbau, 
20. — 27.  Heilmittel  aus  dem  Pflanzenreich; 
28.-32.  Buch  Heilmittel  aus  dem  Tierreich; 
33.-37.  Buch  Mineralogie,  Metallurgie  und  Lithurgie 

33.  Gold  und  Silber,  34.  Erz,  35.  Farben  und  Malerei,   36.  Steine  und  ihre  Be- 
arbeitung, 37.  Edelsteine  und  ihre  Verwertung. 

Der  Aufbau  des  Werks  ist  im  ganzen  sachgemäss.  Die  einzige  Stö- 
rung dürfte  sein,  dass  die  Heilmittel  des  Tierreichs  nach  den  Heilmitteln 
der  Botanik  abgehandelt  werden.  Der  Autor  selbst  glaubt  dies  entschuldigen 
zu  müssen.^) 

Ursprüngliche  Anordnung  des  Werks,  praef.  21  in  his  tJoluminUms  auctorum 
nomina  praetexui  32  quia  occupeUionihus  tuis  publica  bono  parcendum  erat,  quid  singulis 
contineretur  libris,  huic  epistulae  subiunxi  summaque  cura  ne  legendos  eo8  höheres  operam 
dedi.  17  inclusimus  triginta  sex  voluminibus.  Eine  andere  Erklärung  des  scheinbaren 
Widerspruches  der  letzten  Angabe  des  Plinius  mit  der  Überlieferung,  welche  37  Bücher 
zählt,  versucht  Oehxichen,  Plin.  Stud.  p.  80  (,Das  37  Buch  ist  von  Plinius  ursprünglich 
nicht  beabsichtigt  gewesen  und  erst  nachträglich  von  ihm  gefertigt  worden**).  Vgl.  37, 13 
und  37,62. 

Widmung,  praef.  1  libros  Naturalis  Historiae  —  natos  apud  me  praxima  fetura 
Hcentiore  episiula  narrare  constitui  tibi,  iucundissime  imperatar  —  (3)  triumphalis  et  censorius 
tu  sexiesque  consul  (11  n.  Ch.)  ac  tribuniciae  potestatis  particeps  et^  quod  his  nobilius  fe- 
cisti,  dum  iUud  patri  pariier  et  equestri  ordini  praestas,  praefectus  praetorii  eius. 

Die  Überlieferung.  Die  Handschriften  sind  sehr  zahlreich,  es  sind  gegen  200. 
Sie  zerfallen  in  zwei  Gruppen  vetustiores  und  recentiores;  die  erste  ist  viel  weniger  zahl- 
reich und  leider  nur  sehr  fragmentarisch  erhalten;  keine  einzige  enthält  den  ganzen  Plinius. 
Das  Hauptkriterium  für  die  recentiores  ist,  dass  sie  sämtlich  auf  einen  Archetypos  zurück- 
gehen, in  dem  2,187—4,67  nach  4,67—5,34  gestellt  war.l 

a)  Für  die  vetustiores  sind  Quellen:  a)  die  Codices:  Der  Leidensis  f.  4  s.  IX, 
die  beste  Quelle  für  2, 196  —6,  51  (jedoch  mit  grösseren  Lücken,  welche  durch  Blattaus- 
fall entstanden  sind);  der  Bambergensis  s.  X  enthält  B.  32 — 37;  ß)  die  in  Uncialen  ge- 
schriebenen Fragmente:  codex  Moneus,  Palimpeestfragmente  s.  V/YI  des  Klosters  St.  Paul 
im  Lavanter  Thal  in  Kärnten,  von  Mone  aufgefunden  zu  B.  11 — 14,77;  codex  Sessorianus 
rt.  V,  14  Palimpsestblätter  zu  B.  23  u.  25  (Hauleb  in  Comment.  Wölflfl.  p.  307);  der  Parisinus 
9378,  s.  V/VI  enthält  B.  18,78-99;  Finrfofe.  233  s.  VI,  Fragmente  von  sieben  Blättern  zu 
33  und  34.  Alle  diese  Stücke  stammen  aus  vier  verschiedenen  ehemals  vollständigen  Hand.- 
schriften;  y)  die  Exzerpte:  der  Parisinus  b.  Salmasianus  10318  s.  VII/ VIII,  der  Codex  der 
Anthologie  gibt  Auszüge  aus  B.  19,3—20,73  und  20,218 — 253*  missverständlich  wurden 
früher  diese  Auszüge  Apuleius  de  remediis  salutaribus  genannt;  der  Parisinus  4860  s.  X 
enthält  umfangreiche  Auszüge  aus  B.  2  und  kurze  Stücke  aus  B.  3.  4.  6 ;  d)  die  in  den  recen- 
tiores beigeschriebenen,  verlorene  Quellen  repräsentierenden  Korrekturen  und  Zusätze. 

b)  Die  recentiores.  Der  hauptsächlichste  Vertreter  ist  ein  in  drei  Stücke  zer- 
rissener Codex,  so  dass  zu  verbinden  sind  der  Vaticanus  3861  s.  XI,  ein  Teil  des  Parisinus 
6796  s.  X'Xl,  der  ausserdem  noch  zwei  verschiedenen  Zeiten  angehörige  Bestandteile  enthält, 
und  der  Leidensis  fol.  61s.  XI.  Ausser  der  Zerreissung  in  drei  Teile  hat  der  Codex  noch  Verluste 


*)  Vgl.  Urlichs,  Chrest.  p.  XIX. 

*-')  N.  H.  28,  3    illud    admonuisse  per- 


inventa   —  nunc   quae   in  ipsis  auxilientur 
indicari  neque   illic   in  totum   omissa,  haec 


quam  necessarium  est,   dictas   iam   a  nobis      itaque  esse  quidem  alia,  Ulis  tarnen  conexa. 
naturas  animalium  et  quae  cuiusque  essent 


/ 


454    Bömische  Litteratnrgesohichte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abieilnng. 

von  Blättern  und  Blattlagen  erlitten.  Nach  Detlefsen  (Proleg.  4.  Bd.  p.  Y)  ist  der  Leidensi« 
Lipsii  7  s.  XI  eine  Abschrift  dieser  drei  Teile  und  identisch  mit  dem  Chiffletianus  (vgl. 
Einwendungen  von  Welzhofeb,  Ein  Beitrag  zur  Handschriftenkunde  des  PL,  München  187>^. 
mit  den  Gegenbemerkungen  von  Ublichs,  Bursian  Jahresber.  (1878)  2, 268).  Der  Riccardianus, 
um  1100  geschrieben,  sehr  verstümmelt,  mit  Ergänzungen  von  einer  zweiten  Hand;  der 
Parisinus  6795  s.  X/XI,  die  Quelle  vieler  anderen  Handschriften,  ist  ein  Hauptrepräsentant 
einer  zweiten  Gruppe  der  recentioresy  welche  die  Umstellung  der  verschobenen  Teile  vor- 
nehmen wollte,  aber  dadurch  die  Verwirrung  noch  grösser  machte.  —  Hauptabhandlung  von 
Detlefsen,  Philol.  28,284,  wozu  noch  Aufsätze  des  Rh.  Mus.  (15, 265,  367;  18,227,327} 
und   die  Vorreden  seiner  Ausgabe  kommen.    Hier  findet  sich  auch  die  übrige  Litteratur. 

Ausgaben  von  Habdouin,  Paris  1685  und  1723;  von  Sillio,  Gotha  1853—55,  8  Bde. 
(7.  und  8.  Indices) ;  von  L.  von  Jan,  Leipz.  1854 — 65,  6  Bde.,  in  neuer  Bearbeitung  von  May- 
hoff;  von  Detlefsen,  Berl.  1866—73.  —  Chrestomathia  Pliniana  von  Urlichs,  Berl.  1857. 

492.  Die  Quellen  der  naturalis  historia.  Während  bei  den  Alten 
das  Verschweigen  der  benutzten  Quellen  ungemein  häufig  ist,  hat  Plinius 
in  der  Vorrede  offen  ausgesprochen  (21),  dass  es  die  Dankbarkeit  und  der 
Anstand  erfordere,  die  Quellen  namhaft  zu  machen  und  diejenigen  scharf 
getadelt,  welche  stillschweigend  ihre  Vorgänger  ausplündern.  Er  hat  daher 
zu  jedem  Buch  ein  Verzeichnis  der  benutzten  Autoren,  der  lateinischen  wie 
der  griechischen,  geliefert.  Auch  in  dem  Text  sind  die  Gewährsmänner 
häufig  genannt.  Eine  Vergleichung  der  Autorenverzeichnisse  und  dieser 
Citate  ergibt  nun,  dass  die  Verzeichnisse  die  Autoren  in  der  Reihenfolge 
aufzählen,  in  der  sie  verwendet  sind.  Freilich  gilt  dies  Gesetz  nur  im  grossen 
Ganzen,  denn  der  Störungen,  welche  die  Reihenfolge  unterbrechen,  sind 
nicht  wenige.  Eine  hauptsächliche  Störung  wurde  dadurch  hervorgerufen, 
dass  Plinius,  nachdem  das  Werk  dem  Titus  übergeben  war,  noch  weitere 
Auszüge  machte  und  die  Namen  der  neu  exzerpierten  Autoren  vorläufig 
am  Schluss  der  Verzeichnisse  hinzufügte.  Die  Zahl  der  in  den  Quellen- 
registern aufgeführten  Schriftsteller  beträgt  ^  etwa  146  römische  und  327 
fremde,  also  im  ganzen  weit  über  400.  Nun  aber  sagt  er  in  der  Vorrede, 
dass  er  aus  100  erlesenen  (exquisUi)  Autoren  seine  Notizen  sich  gesammelt. 
Daraus  ergibt  sich  mit  Notwendigkeit  die  Schlussfolgerung,  dass  die  Autoren 
der  Indices  in  Bezug  auf  ihre  Benutzung  durch  Plinius  in  zwei  Klassen 
zerfallen,  in  Hauptquellen  und  Nebenquellen,  in  primäre  und  sekundäre 
Autoren.  Von  Wichtigkeit  für  die  Quellenfrage  ist  das  Kriterium  für  die 
Scheidung  der  beiden  Klassen.  Als  das  einfachste  bietet  sich  dar,  dass 
die  primären  Autoren  die  sind,  welche  ganz  oder  doch  in  ihren  Haupt- 
teilen ausgezogen  wurden,  die  sekundären  dagegen  diejenigen,  welche  nur 
vereinzelte  Notizen  für  die  Ergänzung  der  Hauptmassen  der  Exzerpte 
darboten.  Allein  wir  müssen  die  Grenze  für  die  sekundären  Autoren  noch 
weiter  ziehen ;  nicht  bloss  die  hie  und  da  eingesehenen  Schriftsteller,  son- 
dern auch  Schriftsteller,  die  Plinius  niemals  in  Händen  gehabt,  sondern 
in  seinen  Quellen  vorgefunden  hat  —  es  sind  dies  besonders  griechische 
—  rechnet  er  zu  der  zweiten  Klasse  seiner  Quellen.  Dass  damit  das  oben 
erwähnte  Gesetz  von  der  Quellenbenutzung  wiederum  eine  Trübung  er- 
fährt, ist  klar.  Es  fragt  sich  noch,  wie  Plinius  seine  Quellen  zu  einer 
bald  geringeren,  bald  grösseren  Einheit  verbindet.  Es  stehen  sich  zwei 
Ansichten  gegenüber,  die  einen  meinen,  dass  Plinius  Exzerpte  an  Exzerpte 
reihte,  die  andern,  dass  er  den  Grundstock  seiner  Darstellung  in  den  ein- 

')  Dbtlbfsbn,  Philol.  28,  702. 


Der  ältere  Plinias.  455 

zelnen  Materien  jedesmal  aus  wenigen  Autoren  gewann  und  zu  diesem 
Grundstock  dann  Zusätze  machte.  Vor  allem  ist  klar,  dass  gewisse  Partien 
des  Werks,  welche  einen  Organismus  zur  Voraussetzung  haben,  und  des- 
halb eine  zusammenhängende  Darstellung  erfordern,  auf  der  Grundlage  einer 
oder  mehrerer  Hauptquellen  aufgebaut  werden  müssen.  Andere  Partien, 
welche  mehr  den  Charakter  von  Registern  tragen,  lassen  die  Möglichkeit 
einer  Entstehung  aus  aneinandergereihten  Exzerpten  zu ;  allein  ein  Faden, 
an  dem  die  Excerpte  aneinandergereiht  werden,  ist  auch  hier  notwendig, 
es  wäre  denkbar,  dass  der  Autor  diesen  leitenden  Faden  aus  einem  Hand- 
buch entnahm,  ohne  daraus  etwas  Stoffliches  zu  entlehnen.  Allein  sehr 
wahrscheinlich  ist  das  nicht.  Wir  werden  daher  für  das  ganze  Werk 
zu  statuieren  haben,  dass  die  Hauptmassen  aus  wenigen  Autoren  ge- 
wonnen sind-O 

Quellenstudium  des  Plinius.  praef.  17  viginti  miiia  rerum  dignarum  cura  — 
lectione  voluminum  circiter  duum  miUum,  qtiorum  pauca  admodum  studiosi  attingunt  propter 
secretum  materiae,  ex  exquisitis  auctorUnis  centum  inclusimus  triginta  sex  voluminibu«,  ad- 
iectia  rebus  plurimis  quas  aut  ignoraterant  priores  aut  pastea  invenerat  rita. 

Das  Brunn'sche  Gesetz  von  der  Quellenbenutzung  des  Plinius.  (De  auc- 
torum  indicibus  Plinianis  disputatio  isagogica  p.  1)  PI  in  tum  eodem  ordine,  quo  in 
componendis  lihris  usus  est,  auctores  etiam  in  indices  rettulisse  contendo, 
Quod  simplicissimum  inventum  tarnen  non  tarn  simplex  est,  quin  ampliore  demonstratione 
egeat,  Variis  enim  modis  aut  obseuratus  est  ordo  aut  perturhatus,  ut  interdum  vix  aut 
tarn  otnnino  nan  agnascatur. 

Die  Arbeitsweise  des  Plinius  behandeln  eingehender  FurtwXnoleb,  Fleckeis. 
Jahrb.  9  Supplementb.  p.  4 ;  Oehmichen,  Plin.  Stud.  p.  72  (die  Ezzerpiermethode  des  PI.). 

Allgemeine  Untersuchungen  über  die  Quellen  des  Plinius.  Detlefsen, 
Vitruv  als  Quelle  des  Plinius  (Philo!.  31, 385),  gegen  diese  Abhandlung  Oehmichen  1.  c. 
p.  211.  Kuize  Notizen  über  einige  Queilenschriftsteller  des  Plinius,  Glückstadt  1881;  Dirk- 
sen,  Die  Quellen,  insbesondere  die  römisch-rechtlichen  der  N.  H.  des  PL  (Hinterl.  Schriften 
1, 133);  Oehmicheh,  Plinianische  Studien  zur  geogr.  und  kunsthist.  Litteratur,  Erlangen  18H0. 

Die  Quellen  der  geographischen  Bücher.  Detlefsek,  Varro,  Agrippa  und 
Augustus  als  Quellen  für  die  Geographie  Spaniens  (Comm.  Monuns.  p.  23);  die  Weltkarte 
des  Agrippa,  ölückst.  1883;  Untersuchungen  zu  den  geographischen  Büchern  des  PI.  (die 
Quellen  des  PI.  in  der  Beschreibung  des  Pontus,  Philol.  46,691);  Cuntz,  De  Augusto  Plinii 
geographicorum  auctare,  Bonn  1888;  Agrippa  und  Augustus  als  Quellenschriftsteller  des 
PL  (Fleckeis.  Jahrb.  17  Supplementb.  p.  475  «Das  Buch,  welchem  Plinius  die  statistischen 
Nachrichten  entlehnt  hat,  sind  die  von  Augustus  vollendeten  Commentare  des  Agrippa"). 
ScHWRDBB,  Beitr.  zur  Kritik  der  Chorographie  des  Augustus,  II.  T.  Kiel  1878  (die  Chorogr. 
des  Aug.  ab  Quelle  der  Darstellungen  des  Mela,  Plinius,  Strabo);  III.  T.  Kiel  1883  (über 
die  «Ghorographia*,  die  römische  Quelle  dos  Strabo,  und  über  die  Provinzialstatistik  in  der 
Geographie  des  Plinius) ;  Die  Konkordanz  der  Ghorographien  des  Mela  und  des  Plin.,  Kiel  1879 ; 
Über  die  gemeinsame  Quelle  der  geographischen  Darstellungen  des  Mela  und  des  Plinius 
(PhiloL46,276;  47,636). 

Die  Quellen  der  zoologischen  Bücher.  Montigny,  Quaest.  in  Plinii  N.  H.  de 
animaUhus  lihros,  Bonn  1844  (untersucht  besonders  das  Verhältnis  des  Plinius  zu  Aristo- 
teles). Aly,  Zur  Quellenkritik  des  filteren  Plinius,  Magdeburger  Progr.  1885.  Biet,  De 
HalUuticis  p.  132.    Heigl,  Die  Quellen  des  PL  im  11.  B.    Marb.  in  Österr.  1885.  1886. 

Die  Quellen  der  botanischen  Bücher.  Sprengel,  De  ratiane  quae  in  historia 
plantarum  inter  Plinium  et  Theophrastum  interceditj  Marb.  1890  (Theophrast  nicht  benutzt); 
Die  Quellen  des  älteren  PL  im  12.  und  13.  B  (Rh.  Mus.  46, 54) :  „Die  wesentliche  Quellen- 
grundlage des  12.  und  13.  B.  besteht  in  den  beiden  geographischen  Werken  des  Juba** 
(p.  70);  Stadler,  Die  Quellen  des  PL  im  19.  B.,  Münchner  Diss.  1891. 

Die  Quellen  der  kunsthistorischen  Bücher.  Jahn,  Ber.  der  sächs.  Ges.  der 
Wissensch,  1850  p.  114;  Bkieoer,  De  fontibus  librorum  33,  34,  35,  36  Naturalis  Historiae 
Plinianae,  quatenus  ad  artem  plasiicam  periinent,  Greifa'w.  1857;  Schreiber,  Quaestionum  de 
artificum  aetatibus  in  Plini  N,  H.  libris  relatis,  Lcipz.  1872  (Varro);  Brunn,  Cornelius  Nepos 
und  die  Kunsturteile  bei  Plinius,  Münchner  Sitzungsber.  1875  p.  311  (Varro,  Cornelius  Nepos, 

*)  Vgl.  Sprengel,  Rh.  Mus.  46,70,  wo  ein  Bild  der  Quellenbeuutzung  gegeben  wird. 


456     Bömische  Litieraturgeschichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

Pasiteles):  FübtwXngler,  Plinius  und  seine  Quellen  über  die  bildenden  Künste  (Fleckeis. 
Jahrb.  9  Supplementb.  p.  1);  Ublichs,  Die  Quellenregister  zu  Plinius*  letzten  Büchern, 
Wzbg.  1878;  Oehhichen,  Plin.  Studien,  Erlangen  1880  (das  37.  Buch  und  seine  Quellen 
p.  79,  die  Indices  der  Bücher  B3 — 36  p.  108);  Dalsteik,  Quibus  fontibus  Plinius  in  arti- 
ficum  historia  usus  sU,  Würzburger  Dissert.  1885;  Voigt,  De  fontibus  earum  quae  ad  arte» 
pertinent  partium  Nat.  Hist.  P/i».,  Halle  1887  (bes.  B.  34);  Holwerda,  De  pictorum  historia 
apud  PUnium  (Mnemos.  17, 326,  bes.  p.  344). 

493.  Charakteristik.  Das  Unternehmen,  an  das  sich  Plinius  wagte, 
war  gewiss  ein  grosses ;  in  diesem  Umfang  hatte  niemand  bei  den  Griechen 
und  niemand  bei  den  Römern  die  Aufgabe  in  Angriff  genommen.  Mit  vollem 
Recht  durfte  er  daher,  als  er  mit  dem  Werk  zu  Ende  gekommen  war,  aus- 
rufen: „Sei  gegrüsst,  Natur,  du  Mutter  aller  Dinge,  und  sei  mir  gnädig,  da 
ich  dich  allein  von  den  Quiriten  nach  allen  Seiten  hin  verherrlicht  habe."  Nur 
eiserner  Pleiss  konnte  ein  solch  grandioses  Werk  schaffen.  Das  umfas- 
sendste Bücherstudium  war  die  Voraussetzung.  Wir  haben  gesehen,  dass 
Plinius  für  sein  Buch  ausserordentlich  viele  Autoren  gelesen  und  exzerpiert 
hatte;  allein  bedauerlicher  Weise  ist  mit  diesem  Lesen  und  Exzerpieren 
seine  Hauptthätigkeit  erschöpft.  Einem  Mann,  der  nur  Zeit  für  das  Lesen 
hat,  bleibt,  wie  ein  neuerer  Philosoph  sagt,  keine  Zeit  zum  Denken;  wir 
fügen  noch  hinzu,  er  hat  auch  keine  Zeit  für  das  Beobachten.  Dem  Autor 
fehlt  daher  die  tiefere  Kenntnis  der  Natur  und  infolgedessen  auch  die 
Kritik;  er  ist  nicht  im  Stande,  den  Wert  und  die  Glaubwürdigkeit  seiner 
Quellen  festzustellen,  er  ist  nicht  im  Stande,  die  einzelnen  Nachrichten  zu 
beurteilen  und  zu  sichten,  er  ist  auch  nicht  im  Stande,  Wesentliches  und 
Unwesentliches  in  den  Berichten  auseinanderzuhalten  und  sich  vor  Miss- 
verständnissen zu  bewahren.  Es  ist  daher  kein  Wunder,  dass  uns  die 
sonderbarsten  Fabeln,  deren  Nichtigkeit  auf  der  Hand  liegt,  dargeboten 
werden.  Sein  Werk  kann  nur  als  eine  Kompilation  betrachtet  werden,  und 
mit  Recht  wird  es  daher  ein  „Studierlampenbuch"  genannt.  Des  Schrift- 
stellers Welt  sind  die  toten  Bücher,  nicht  die  lebendige  Natur.  Kein  Natur- 
forscher, sondern  ein  wissbegieriger  Dilettant  führt  den  Griffel. 

Durch  das  compilatorische  Verfahren  wird  natürlich  die  Einheit  der 
Komposition  gehindert.  Bloss  tiefe  Sachkenntnis  konnte  das  zerstreute  Material 
in  einem  Brennpunkt  vereinigen,  konnte  aus  einer  Notizensammlung  einen 
lebendigen  Organismus  erzeugen.  Bei  der  völligen  Abhängigkeit  von  den 
Quellen  hatte  er  keinen  Anlass,  oft  mit  seinen  eigenen  Ansichten  her- 
vorzutreten. Doch  finden  sich  Züge^)  seiner  Weltanschauung;  sie  ist  die 
stoische,  welche  jedoch  durch  Sätze  aus  anderen  Systemen  modifiziert 
wurde.  Auch  über  seine  politische  Stellung  lässt  er  uns  nicht  im  un- 
klaren ;  er  ist  zwar  überzeugter  Anhänger  des  Prinzipats,  allein  er  spricht 
auch  mit  Wärme  von  den  grossen  Zeiten  der  Republik.  Die  Laster  der 
Gegenwart  finden  auch  in  ihm  einen  Tadler.  Die  Darstellung  ist  dem 
ganzen  Charakter  des  Werks  entsprechend  ungleich,  bald  haben  wir  eine 
gehobene  rhetorische  Darstellung,  bald  dürre  Register.  Sein  Stil,  den  man 
am  besten  in  seinen  Auswüchsen  aus  der  praefatio  kennen  lernt,  ist  ein 
hervorragender  Typus  der  sogenannten  silbernen  Latinität ;  er  hascht  nach 
dem  Effekt;  Antithesen,  Exklamationen,  Metaphern,  Vernachlässigung  des 

*)  Ublichs,  ehrest,  p.  XVI  fg. 


Der  ältere  Plinias.  457 

Periodenbaus,  gekünstelte  Wortstellung  sind  die  Mittel,  durch  welche  dieser 
Effekt  erzielt  wird.  Allein  trotz  aller  dieser  Mängel  des  Inhalts  und  der 
Form  hat  das  Werk  einen  ungemein  hohen  Wert  für  uns,  weil  es  uns 
Seiten  der  antiken  Kultur  enthüllt,  welche  bei  anderen  Autoren  weniger 
Beachtung  gefunden  haben.  Sein  Abriss  der  Geschichte  der  bildenden 
Kunst  ist  ein  Hauptpfeiler  unseres  Wissens  auf  diesem  Gebiete.  Der  Ein- 
fluss,  den  die  Encyklopädie  des  Plinius  auf  die  späteren  Zeiten  ausübte, 
war  ein  sehr  grosser.  Plinius  wurde  viel  abgeschrieben,  die  Zahl  der 
Handschriften  ist  daher  eine  ansehnliche.  Auch  die  Epitomierung  ist  ihm  zu 
teil  geworden.  Besonders  zwei  Auszüge  haben  die  Kenntnis  des  Plinius 
vermittelt,  eine  Chorographie,  welche  die  Grundlage  für  die  Collectanea  re- 
rum  memorabilium  des  G.  Julius  Solinus  wurde,  und  eine  Medizin,  welche 
wiederum  den  Grundstock  für  Erweiterungen  bildete. 

Charakteristik  desWerks  durch  den  Autor,  praef.  12  levioris  operae  hos 
tibi  dedicam  lihellos.  Nam  nee  ingenii  sunt  capaces^  quod  alioqui  nobis  perquam  mediocre 
eratj  neque  admittunt  excesstis  aut  oratione»  sermonesve  atU  casus  mirabiles  vel  eventus  varios, 
ii4cunda  dictu  aut  legetUibus  blanda.  Sterilis  materia,  verum  natura^  hoc  est  vita,  narratur, 
et  haev  sordidissima  sui  parte,  ut  plurimarum  rerum  aut  rusticis  vocabulis  aut  externis, 
immo  barbaris,  etiam  cum  honoris  praefatione  ponendis.  Praeterea  iter  est  non  trita  auc- 
toribus  via  nee  qua  peregrinari  animus  expetat.  Nemo  apud  nos,  qui  idem  temptaverit, 
nemo  apud  Graecos,  qui  unus  omnia  ea  tractaverit  —  iam  omnia  attingenda  quae  Graeei 
Ttjg  iyxvxXoTtcadeiag  voeant,  et  tarnen  ignota  aut  ineerta  ingeniis  facta,  alia  vero  ita  multis 
2>rodita,  ut  in  fastidium  sint  adducta.  Res  ardua  vetustis  noritatem  dare,  novis  auctori- 
tatem,  obsoletis  nitorem,  obscuris  lucem,  fastiditis  gratiam,  dubiis  fidem,  omnibus  vero  na- 
turam  et  naturae  »uae  omnia;  nobis  utique  etiam  non  assecutis  voluisse  abunde  pulchrum 
atque  magnificum  est.  Equidem  ita  sentio  peculiarem  in  studiis  causam  eorum  esse,  qui  dif- 
ficultatibus  victis  utiHtatem  iuvandi  praetulerunt  gratiae  placendi,  idque  iam  et  in  aliis 
operibus  ipse  feci. 

Das  Fortleben  der  Naturalis  Historia.  Über  Solinus  und  die  Medicina  Plinii 
wird  im  III.  Teil  ausführlich  gehandelt  werden.  Sillig,  Über  das  Ansehen  der  Naturge- 
schichte des  PI.  im  Mittelalter  (Allgem.  Schulzeit.  1833  nr.  52  u.  53);  Rück,  Auszüge  aus  der 
Naturgeschichte  des  PI.  in  einem  astronomisch-komputistischen  Sammelwerk  des  VIII.  Jahrh. 
München  1888;  Manitius  Philol.  49, 380 ;  Wblzhofer,  Bedas  Citate  aus  der  N  H.  des  Plin. 
(Abh.  für  Christ,  Münch.  1891,  p.  25)  «Ein  Codex  optimae  noiae  war  im  Besitz  Bedas*  (p.  41). 

Litteratur.  Vobhauser,  Die  religiös-sittliche  Weltanschauung  des  älteren  Plinius, 
Innsbr.  1860;  Rummler,  C.  Plinii  See.  philosophumena,  Greifsw.  Diss.  1862;  Friese,  Die  Kosmo- 
logie des  Plin.  I,  Bresl.  1862;  Brosio,  Die  Botanik  des  älteren  Plin.,  Graudenz  1883  (günstige 
Beurteilung  des  PI.  vgl.  P.  29);  Nies,  Zur  Mineralogie  des  Plin.,  Mainz  1884  («den  Plinius 
interessierte  kein  Mineral  als  solches,  sondern  nur  insofern  es  praktische  Verwertung  fand*, 
p.  27,  vgl.  Meyer,  Gesch.  der  Botanik  2, 127);  Köbbrt,  Das  Kunstverständnis  des  Plin 
(Abb.  für  Christ,  Münch.  1891  p.  134  .absolut  kein  Kunstveretändnis*  p.  146). 

494.  Verlorene  Schriften  des  Plinius.  Aus  einem  Briefe  des 
jüngeren  Plinius  (3,5)  erhalten  wir  genaue  Kunde  von  den  Schriften, 
welche  Plinius  verfasst  hat.    Die  verlorenen  sind  folgende: 

1)  De  iaculatione  equestru  Diese  Monographie  über  den 
Reiterdienst  ist  unmittelbar  aus  der  Praxis  hervorgegangen,  denn  er  schrieb 
sie  als  praefectus  alae  mit  Geist  und  Sorgfalt.  * 

N.  H.  8, 162  forma  equorum  qualis  maxime  legi  oporteat  pulcherrime  qtiidem  Vergilio 
rate  absoluta  est;  sed  et  nos  diximus  in  libro  de  iaculatione  equestri  eondito. 

2)  De  vita  Pomponi  Secundi  l.  II,  eine  Biographie  des  Pom- 
ponius  Secundus,  der  als  Feldherr  und  als  Tragödiendichter  hoch  ange- 
sehen war  (§  381). 

3)  Bellorum  Germaniae  L  XK,  eine  Geschichte  der  Kriege,  welche 
die  Römer  mit  den  Germanen  führten.   Er  begann  damit,  als  er  in  Deutsch- 


458     BöuÜBohe  Litieratargesohichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilmig. 

ff 

land  diente.    Tacitus  führt  dieses  Werk  Ann.  1,  69  an  und  teilt  eine  Notiz 
daraus  mit. 

4)  Studiosus,  der  Studierende  der  Beredsamkeit,  in  drei  Büchern, 
von  denen  jedes  in  zwei  Abteilungen  zerlegt  war.  Dieses  Werk  war  eine 
Anleitung  zum  Studium  der  Beredsamkeit  und  begann  mit  dem  Kindes- 
alter.  Quintilian  kannte  dasselbe  (3, 1,  21);  er  teilt  zwei  Vorschriften  dar- 
aus (11,  3,  143  und  148)  mit,  die  sich  auf  Äusserlichkeiten  des  Redners  be- 
ziehen; bei  dieser  Gelegenheit  fällt  er  auch  ein  Urteil  über  den  Verfasser; 
er  findet,  dass  er  in  dieser  Schrift  fast  pedantisch  ist  {nimium  curiosus). 
Auch  Gellius  hatte  diese  Bücher  gelesen  (9,16,1);  er  berichtet  uns,  dass 
Plinius  auch  Sätze  aus  gut  stilisierten  Kontroversien  aushob. 

5)  Dubii  s  er  mortis  l.  VIII.  Diese  grammatischen  Untersuchungen 
entstanden  in  den  letzten  Jahren  der  Neronischen  Regierung,  als  das  lit- 
terarische Schaffen  mit  Gefahr  verbunden  war.  Noch  genauer  kann  man 
ihre  Herausgabe  nach  einer  Stelle  in  der  Praefatio  der  Naturgeschichte  (28) 
ins  Jahr  67  setzen.  Die  Schrift  hat  den  Zweck,  den  Schwankungen  in 
den  Sprachformen  ein  Ende  zu  machen.  Dies  liess  sich  dadurch  erreichen, 
dass  die  Prinzipien  der  Analogie,  der  strengen  Gesetzmässigkeit  durchge- 
führt wurden.  Die  Bücher  des  Plinius  haben  sonach  in  der  bekannten 
grammatischen  Streitfrage  der  Analogie  und  Anomalie  ihre  Wurzel.  Pli- 
nius nahm  in  seinem  Werke  eine  vermittelnde  Stellung  an,  er  erkannte 
neben  der  ratio,  der  Analogie,  auch  die  vetus  dignitaSf  die  consuetudo,  als 
massgebend  an.  Dass  aber  damit  die  Analogie  in  die  Anomalie  umschlägt, 
sieht  jedermann.  Wir  können  das  Werk  in  seinen  Grundzügen  rekon- 
struieren; für  die  Geschichte  der  Grammatik  ist  dasselbe  von  unleugbarer 
Wichtigkeit.!) 

Über  den  Charakter  der  libri  dubii  sermonis  handelt  Schutts,  De  PL  studiis 
grammaticis,  Nordhausen  1883  (bes.  p.  12);  Nettleship,  Journal  of  Phüol.  15,  201.  —  Für 
die  Herausschälong  der  Fragmente  waren  thätig  Lersch,  Die  Sprachphilos.  der  Alten  1,  179 
2,  158  Anm.;  Schottmüelleb,  De  PL  libris  grammaticis,  Bonner  Diss.  1858;  Neümawn, 
De  PL  dubii  sermonis  Hbris  Charisii  et  Prisciani  fontibus,  Kiel  1881;  Froehde,  De  C.  Julio 
Romano  p.  617  (Detlefsen,  Zur  Flexionslehre  des  älteren  Plinius,  Symb.  philolog.  Bonnens. 
p.  697). 

6)  Das  Geschichtswerk,  Ä  fine  Aufidii  BassiL  XXXI,  begann  da, 
wo  Aufidius  Bassus  geendet  hatte.  Leider  vermögen  wir  nicht  mit  Sicher- 
heit zu  bestimmen,  wo  Aufidius  Bassus  aufgehört  hatte  (§  440,  3).  Das 
älteste  Fragment  des  Werks  bezieht  sich  auf  das  Jahr  55  (Tac.  Ann. 
13,  20).  Dass  die  Regierungszeit  des  Vespasian  noch  behandelt  war, 
ergibt  sich  aus  der  im  Jahr  77  geschriebenen  Vorrede  zur  Naturge- 
schichte (20).  Nur  eine  Vermutung  ist  es,  dass  die  31  Bücher  31  Jahre 
umfassten  und  den  Zeitraum  41 — 71  in  sich  schlössen.*)  Das  Werk  hatte 
der  Verfasser  nicht  selbst  publiziert ;  erst  nach  seinem  Tode  sollte  es  das 
Licht  der  Öffentlichkeit  erblicken ;  es  geschah  dies,  um  volle  Unparteilich- 
keit walten  lassen  zu  können;  er  überliess  es  daher  seinem  Erben,  d.  h. 
seinem  Neffen  zur  Herausgabe.  Obwohl  das  Werk  sich  nach  dessen  Ver- 
sicherung   durch    grosse   Gewissenhaftigheit    auszeichnete   (ep.  5, 8, 5),   so 


*)  Detlefsen,  Symb.  p.  714. 
«)  So  Detlefsen,  Philol.  34, 48. 


G«  lioiniiiB  Mncianas.  459 

wurde  es  doch  durch  die  meisterhaften  Leistungen  des  Tacitus   zuerst  in 
den  Hintergrund  geschoben  und  geriet  dann  in  Vergessenheit. 

Die  Ansicht  Nissenb,   dass  das  Geschichtsbuch   des  Plinius  die  Grundlage   für  die 
Historiae  des  Tacitus  bildete  (Rh.  Mus.  26, 534),  ist  nicht  beweisbar.    (Vgl.  oben  p.  376.) 


Aus  diesem  Verzeichnis  erkennt  man,  dass  von  Plinius  ausser  der 
umfangreichen  Naturgeschichte  noch  eine  sehr  ausgedehnte  Schriftstellerei 
auf  anderen  Gebieten  vorlag.  Sie  umfasste  die  Grammatik,  die  Rhetorik, 
die  Geschichte  und  die  Kriegswissenschaft.  Es  ist  unmöglich,  dass  ein 
Autor  in  so  verschiedenen  Fächern  Selbständiges  leisten  kann.  Es  wird 
daher  auch  in  manchen  der  verlorenen  Schriften  der  compilatorische  Cha- 
rakter vorgewaltet  haben.  Nur  die  historischen  Werke  werden  anders 
geartet  gewesen  sein;  denn  in  denselben  konnte  Plinius  eigene  Er- 
fahrungen und  Erlebnisse  mitteilen,  und  der  Verlust  dieser  Werke  ist  daher 
am  meisten  zu  beklagen. 

2.  C.  Licinius  Mucianus. 

496.  Die  Schriften  des  C.  Licinius  Mucianus.  Jedem  Leser  der 
Historien  des  Tacitus  ist  G.  Licinius  Mucianus  bekannt;  war  er  es  doch, 
der  in  die  Wirren  nach  dem  Tod  Neros  mit  starker  Hand  eingriflf  und  an 
der  Erhebung  Vespasians  auf  den  Thron  den  grössten  Anteil  hatte.  Der 
damals  so  mächtig  gewordene  Mann  konnte  auf  ein  bewegtes  Leben  zu- 
rücksehen. Unter  Claudius  war  er  ein  abgehauster  Mann,  in  einem  Winkel 
Asiens  wurde  er  brach  gelegt.  Allein  bald  darnach  sehen  wir  ihn  in  ein- 
flussreichen Stellungen;  er  nahm  an  dem  Feldzuge  Corbulos  in  Armenien 
teil,  er  stand  an  der  Spitze  von  Lykien  (um  57),  und  später  von  Syrien 
(67).  Das  Konsulat  bekleidete  er  dreimal  (zuletzt  70  u.  72).  Sein  Wesen 
bewegte  sich  in  Extremen.  Im  Feld  konnte  er  eine  grosse  Thatkraft 
entfalten;  hatte  er  nichts  zu  thun,  so  ging  er  in  Genusssucht  auf.  Im  Um- 
gang war  er  bald  herablassend,  bald  anmassend;  aber  stets  machte  seine 
Persönlichkeit  auf  seine  Umgebung  den  tiefsten  Eindruck.  Sein  öffent- 
liches Leben  war  des  Ruhmes  voll;  anders  urteilte  man  über  den  Privat- 
mann. Einen  Thron  zu  vergeben  erschien  er  geeigneter  als  denselben  ein- 
zunehmen. Auch  die  Schriftstellerei  pflegte  dieser  merkwürdige  Mann. 
Während  seines  Aufenthalts  in  verschiedenen  Ländern  des  Ostens  hatte 
er  Gelegenheit,  so  manches  Interessante  und  Merkwürdige  aus  der  Natur 
und  dem  Menschenleben  kennen  zu  lernen.  Diese  Erlebnisse  stellte  er  in 
einem  Buch,  das  dem  Plinius  vorlag,  zusammen.  Um  Feststellung  der 
Wahrheit  war  es  ihm  hiebei  nicht  zu  thun,  er  brachte  die  unglaublichsten 
Dinge  vor,  die  Unterhaltung  des  Lesers  scheint  sein  vornehmstes  Ziel  ge- 
wesen zu  sein.  Im  höheren  Alter,  wahrscheinlich  nachdem  er  sich  von  der 
öffentlichen  Thätigkeit  zurückgezogen  hatte,  legte  er  eine  Sammlung  von  Reden 
und  Briefen  hervorragender  Männer  an.  Als  das  von  Tacitus  erzählte 
Gespräch  über  die  Redner  gehalten  wurde  (74),  war  er  gerade  mit  dem 
Werk  beschäftigt;  als  aber  Plinius  das  32.  Buch  seiner  Naturgeschichte 
schrieb  (also  gegen  77),  war  er  tot.O 


0  ÜRLicHs  (Festgruss,  Würzb.  1868  p.  1). 


460    BömiBche  LitteratnrgeBchichte.    n.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilang. 

Das  Reisebuch  des  Mucianus.  Plinius  führt  anter  seinen  Quellenschriftstellem 
öfters  den  Mucianus  an;  auch  bringt  er  Angaben  unter  seinem  Namen.  Gehen  wir  yon 
den  letzteren  aus,  so  sehen  wir,  dass  sich  dieselben  auf  die  verschiedensten  Dinge  beziehen, 
C4  eographisches.  Historisches,  Artistisches,  Naturwissenschaftliches  kommt  in  denselben  vor. 
Da  oft  in  diesen  Bruchstücken  die  Autopsie  hervorgehoben  ist  (Plin.  7, 36  8,  6 ;  vgl.  die  Zu- 
sammenstellung bei  Bbunn  p.  19),  so  ist  die  Vermutung  berechtigt,  dass  Mucianus  in  dem 
Werk  die  Merkwürdigkeiten  zusammenstellte,  auf  die  er  bei  seinem  Aufenthalt  in  fremden 
Ländern  stiess,  und  zwar  beziehen  sich  dieselben  auf  Östliche  Länder,  in  welche  ihn  mehr- 
fach, wie  wir  sahen,  seine  Berufsthäügkeit  geführt  hatte.  In  seinem  Werk  scheint  er  es 
besonders  auf  Kuriositäten  abgesehen  zu  haben;  darunter  befindet  sich  manches,  was  dem 
Urteilsvermögen  der  Verfassers  kein  günstiges  Zeugnis  ausstellt.  —  L.  Bbükn,  Dt  C.  Licinio 
Miiciano,  Leipz.  1870. 

Das  Sammelwerk  des  Mucianus.  {Acta  und  Epistulae,)  Tacit.  dial.  37  ne9cio 
an  venerint  in  manus  vestras  haec  vetera,  quae  et  ^)  in  antiquorum  bybliothecis  adhuc  ma- 
nent  et  cum  maxitne  a  Muciano  contrahuntur  ac  iam  undecim,  ut  opinor,  Actorum  librü< 
et  tribus  Epistularum  composita  et  edita  sunt,  ex  his  intellegi  potest,  Cn,  Pompeium  et 
M.  Crassum  non  viribus  modo  et  armis,  sed  ingenio  quoque  et  oratione  valuisse,  Lentuio^ 
et  MetcUos  et  Lucullos  et  Curiones  et  ceteram  procerum  manum  multum  in  his  sfudiiif 
operae  curaeque  posuissey  nee  qiiemquam  Ulis  temporibus  magnam  potentiam  sine  aliqua 
eloquentia  consecutum.  Damach  ist  zu  vermuten,  dass  in  den  Acta  Reden  und  in  den 
Epistulae  Briefe  aus  der  Zeit  der  Republik  zusammengestellt  waren. 

3.  L.  JuniuB  Moderatus  Columella  und  die  übrigen  Landwirte. 

496.  Golumellas  landwirtschaftliches  Werk.  Columella  ist  ein  Spanier, 
seine  Heimat  ist  Gades  (10, 185).  Eine  Inschrift  (CIL.  9,  235)  belehrt  uns, 
dass  er  tribunus  milUum  der  sechsten  Legio  ferrata  war.  Diese  hatte  ihren 
Standort  in  Syrien,  und  dass  er  in  Syrien  (wie  in  Cilicien)  sich  aufgehal- 
ten, sagt  er  uns  selbst  in  seinem  Werk  (2,  10, 18).  Allein  weder  der  Mi- 
litärdienst noch  die  Laufbahn  des  Sachwalters  (1  praef.  9)  zog  ihn  an. 
Sein  Interesse  war  vielmehr  der  Landwirtschaft  zugewendet.  Vielleicht  war 
sein  Onkel,  den  er  als  einen  ganz  ausgezeichneten  Landwirt  der  Provinz 
Baetica  feiert  (5,  5, 15),  nicht  ohne  Einfluss  auf  seine  Neigung.  Columella 
bewirtschaftete  selbst  mehrere  Güter;  so  zitiert  er  seinen  ager  ArdecUinus 
(3, 9,  2)  und  andere.  Seine  landwirtschaftliche  Schi*iftstellerei  hat  in  erster 
Linie  italische  Verhältnisse ^)  zur  Voraussetzung;  Italien  ist  ihm  das  dank- 
barste Land  für  die  Landwirtschaft  (3,  8,  5).  -  Dieselbe  liegt  uns  in  einer 
doppelten  Fassung  vor.  Einmal  haben  wir  eine  den  ganzen  Stoff  umfas- 
sende, abgeschlossene  Darstellung  in  12  Büchern,  dann  ein  einzelnes  Buch 
über  die  Baumzucht.  Allein  dieses  Buch  ist  nicht  etwa  als  eine  Mono- 
graphie anzusehen,  denn  sie  weist  gleich  im  Eingang  auf  ein  erstes  Buch 
hin,  in  dem  der  Ackerbau  behandelt  war.  Sonach  ist  dieses  Buch  der  zu- 
fällig erhaltene  Teil  eines  umfassenden  Werkes,  das,  wie  das  Wort  primus 
zeigt,  mindestens  drei,  wahrscheinlich  vier  Bücher  zählte.  Dieses  Werk 
stellte  eine  kürzere  Bearbeitung  der  Landwirtschaft  als  das  vollständig 
erhaltene  dar,  dem  Einzelbuch   entsprechen  die  Bücher  3 — 5  der  aus  12 


^)  Die  handschriftliche  Überlieferung  cor-  I  Africa);  3,13,1  {cum  Italici  generis  futuris 

rigiert  Bährens   in    „haec  monumenta  anti-  agricolis   tum   etiam  provinciaJibus);    4,1,5 

quorum,  quae  in  bybliothecis** ^   Andresen  in  j  (rix  etiam  proptncialibus  agricolis  approbari 

„haec  vetera  volumina,  quae  et  in  bybliothe-  I  possunt);  4,  33, 6  {haec  de  vineis  Italicis  vinea- 

eis**.  I  rumque  instrumentis,  quantum  reor,  non  in- 

'^)  Das  schliesst  natürlich  nicht  aus,  dass  titiliter  et  abunde  disserui,  mox  agricolarum 


er  in  zweiter  Linie  auch  die  Verhältnisse 
anderer  Länder  berücksichtigt,  z.  B.  2, 11, 12 


{Hispania    Baetica);    2,12,3    {Aegyptus   et      {sicut  in  Cilieia  et  Pamphyliä);  vgl,  nwih  QO. 


provincialium  vineaticos  nee  minus  nostratis 
et  GaUici  arbusti  cultus  traditurus) ;  11, 2,  56 


Colamella  und  die  ttbrigen  Landwirte.  461 

Büchern  bestehenden  Darstellung.  Das  Verhältnis  zwischen  den  beiden 
Schriftwerken  wird  allgemein  so  aufgefasst,  dass  das  kürzere  vorausging,  das 
ausführlichere  nachfolgte.  Die  12  Bücher  würden  sonach  uns  eine  erwei- 
terte zweite  Auflage  darstellen.  Dieselben  sind  dem  P.  Silvinus  gewidmet; 
durch  die  Vorreden  erhalten  wir  Aufschlüsse  über  die  Genesis  der  schrift- 
stellerischen Leistung.  Dieselbe  wurde  successive  publiziert,  denn  in  eini- 
gen Vorreden  wird  auf  Äusserungen  und  Urteile  über  das  Werk  Bezug 
genommen.  Bei  dieser  successiven  Entstehung  und  Veröffentlichung  ist  es 
begreiflich,  das  der  ursprüngliche  Plan  Modifikationen  und  Erweiterungen 
erfahren  konnte.  So  wollte  er  auch  den  Schlussstein  des  Werks,  den 
Gartenbau,  wie  die  vorausgehenden  Bücher  prosaisch  bearbeiten;  allein 
auf  Wunsch  der  Freunde  gab  er  demselben  poetische  Fassung;  es 
sollte  dadurch  zugleich  eine  Ergänzung  zu  Vergils  Georgica  gegeben 
werden,  welcher  den  Gartenbau  in  seinem  Lehrgedicht  nicht  behandelt, 
sondern  den  Späteren  zur  Bearbeitung  überlassen  hatte.  Damit  war  das 
Werk  eigentlich  zum  Abschluss  gelangt,  das  Gedicht  war  die  Krone  des 
Ganzen.  Allein  wiederum  waren  es  Freunde,  welche  in  die  Komposition 
eingriffen;  sie  veranlassten  den  Autor  zu  einer  Zugabe;  in  einem  11.  Buch 
erörterte  er  den  Gartenbau  in  Prosa,  schickte  aber  einen  Teil  voraus,  der 
sich  auf  die  Obliegenheiten  des  Meiers  {villiais)  bezieht.  Das  12.  Buch 
endlich  geht  den  Geschäftskreis  der  Meierin  durch  {villica).  Sonach  er- 
halten wir  folgenden  Aufbau  des  Werks:  Das  1.  Buch  enthält  die  allge- 
meinen Lehren  für  den  Landwirt  (über  Anlage  und  Einrichtung  des  Gutes 
und  über  das  Wirtschaftspersonal),  das  2.  Buch  behandelt  den  Ackerbau 
(Bodenkunde,  Umpflügen,  Düngen,  Säen  u.  a.),  die  Bücher  3—5  den  Wein- 
bau und  die  Baumzucht,  die  Bücher  6—9  die  Thierproduktion,  Gross-  (6) 
jmd  Kleinvieh  (7),  Geflügel  und  Fische  (8),  Waldtiere  und  besonders  Bienen 
(9),  das  10.  stellt  den  Gartenbau  in  einem  Gedicht  dar,  das  11.  spricht 
von  den  Obliegenheiten  des  Meiers  und  nochmals  in  Prosa  von  der  Garten- 
kultur, endlich  das  12.  ist  dem  Wirkungskreis  der  Meierin  gewidmet. 

Das  Werk  schrieb  Columella  in  spätem  Alter  nicht  lange  vor  dem 
Tod  des  Philosophen  Seneca.  Seinen  Zweck  scheint  aber  der  Autor  nicht 
erreicht  zu  haben,  denn  er  wird  nicht  viel  zitiert;  in  der  späteren  Zeit 
trat  Palladius  an  seine  Stelle. 

Das  singulare  Buch  beginnt  mit  den  Worten:  quoniam  de  eultu  agrorum  dbunde 
primo  volumine  praecepisse  videmur,  non  intempestitHt  erit  arbomm  virguUorumque  rura, 
quae  vel  tnaxima  pars  habetur  rei  rusticae.  In  einem  Index  heisst  es:  Praeter  hott  XII 
libros  singularis  est  liber  ad  Eprium  Marcellum  de  cultura  mnearum  et  arborum. 
(Schneider  2,  2  p.  673).  , Unsere  Handschriften  geben  es  durchweg  an  3.  Stelle,  ohne  an  den 
Worten  des  von  ihnen  als  Itb.  XI  bezeichneten  X.  Buchs  „superioribus  novem  Ubris"  Anstoss 
zu  nehmen,  ebenso  die  ältesten  Ausgaben.  Erst  die  edit.  Aldina  1514  traf  die  jetzt  übliche 
Ordnung*  (Haussnbb  p.  7).  Über  die  Quellen  des  Buchs  und  das  Verhältnis  des  Plin.  zu 
demselben  vgl.  Stadler,  Die  Quellen  des  PI.  p.  15  und  p.  11. 

Das  grosse  Werk.  1.  IX  praef.  2.  Quare  quoniam  tituli,  quem  praescripsimus 
huic  diaputationi.  ratio  reddita  est,  ea  nunc  quae  proposuimua  singula  persequamur.  Da- 
nach haben  die  Bücher  Separattitel  gehabt.  Und  wirklich  haben  in  einem  Mediceus  die 
Bücher  3—5  die  Überschrift  Surcularis  I  II  III.  (2, 11, 1  de  qua  dicemus  in  iis  Ubris  quos 
de  generibus  surculorum  conscripsimus,  12, 18, 1  priore  libro,  qui  inseribitur  ViUicus).  Auch 
Inhaltsangaben  fügte  er  hinzu  11,3, 65  omnium  librorum  meorum  argumenta  subieci,  ut  cum 
res  exegisset,  facile  reperiri  possit,  quid  in  quoque  quaerendum  et  qualiter  quidque  facien- 
dum  Sit.    Über  das  X.  Buch  vgl.  9, 16, 2  quae  reliqua  nobis  rustiearum  rerum  pars  super^ 


462    ttOmische  Litteraturgeschichte.    U.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilnng. 

est,  de  cultu  hortorum,  P.  Silvine,  deinceps  Ua,  ut  et  tibi  et  Gallioni  nosiro  compJacuerat, 
in  Carmen  conferemus  10  praef.  3  cultus  hortorum  —  diligentiua  nobis  quam  tradiderunt 
maiores  praecipiendus  est:  isque,  sicut  institueramy  prosa  oratione  priorihus  suhnecteretur 
exordiis,  nisi  proposUum  expugnasset  frequens  postulatio  tua  quae  pervicU,  ut  podieis  nu- 
meris  explerem  georgici  canninis  omissas  partes,  quas  tarnen  et  ipse  Vergilius  significaterai 
(georg.  4, 148)  posteris  post  se  memorandas  relinquere  11, 1, 1  Claudius  Augustalis  —  exiu- 
dit  mihi,  cultus  hortorum  prosa  ut  oratione  componerem;  —  (2)  numerum,  quem  iam  quasi  eon-- 
summaveram,  voluminum  excessi  et  hoc  undecimum  praeeeptum  rustieationis  memoriae  tradidi, 

Abfassungszeit.  3,3,3  am  certe  temporibus  Nomentana  regio  celeberrima  fama 
est  illustris  et  praecipue  quam  possidet  Seneca,  vir  exceVentis  ingenii  atque  doctrinae, 
cuius  in  praediis  vinearum  iugera  singula  culleos  oetonos  reddidisse  plerumque  compertum 
est.  Daraus  folgt,  dass  das  dritte  Buch  zu  Lebzeiten  Senecas,  also  vor  65  geschrieben  ist. 
Von  diesem  Gut  schreibt  Plinius  H.  N.  14, 49,  dass  dasselbe  vor  20  Jahren  (also  etwa  57 
vgl.  oben  p.  452)  Remmius  Palaemon  gekauft  und,  nachdem  er  es  etwa  10  Jahre  hindurch 
bewirtschaftet,  an  Seneca  verkauft  hatte.  Wir  kämen  also  in  das  Jahr  67,  in  welchem 
Jalire  aber  Seneca  nicht  mehr  lebte.  Die  Zahlen  20  und  10  sind  sonach  als  rund  zu  be- 
trachten ;  jedenfalls  müssen  wir  die  Abfassungszeit  des  Werks  sehr  nahe  an  das  Todesjahr 
Senecas  heranrücken. 

Die  Überlieferung  des  Columella  behandelt  erschöpfend  Haussker,  Die  hdschr. 
Überlieferung  des  Columella  nebst  einer  krit.  Ausg.  des  10.  B.,  Karlsruhe  1889.  Der  mass- 
gebende Kodex  ist  der  Sangermanensis  s.  IX/X,  welcher  einst  dem  Kloster  Corbie  in  der 
Picardie  angehörte,  jetzt  sich  in  Petersburg  (nr.  207)  befindet.  Mit  ihm  stammt  (Häussnbr 
p.  20)  aus  dem  gleichen  Archetypos  der  Ambrosianus  (L.  85  sup.  s.  IX/X),  den  Häüssher 
als  identisch  mit  Politians  ältestem  Kodex  betrachtet.  Diesen  beiden  ältesten  Handschriften 
stehen  der  Mosquensis  s.  XIV  und  die  übrigen,  sämtlich  dem  15.  Jahrhundert  angehörenden 
Handschriften  gegenüber,  welche  von  keiner  besonderen  Bedeutung  sind. 

Litter atur:  Gesamtausgabe  in  dem  Corpus  der  scriptores  rei  rusticae  von  Schitei- 
DBR.  Kritische  Separatausgabe  des  X.  Buchs  von  Haüssker,  vgl.  den  vorigen  Passus. 
BücHELER,  Rh.  Mus.  37, 335  (über  die  philos.  Anklänge  und  den  Pythagoreer  Moderatus). 

497.  Charakteristik  Golumellas.  Nur  der  Fachschriftsteller  kann 
in  der  Litteratur  eine  Bedeutung  beanspruchen,  der  Sachkenntnis  besitzt. 
Diese  können  wir  aber  dem  Columella  nicht  absprechen.  Er  war  wirklich 
ein  praktischer  Landwirt  und  kann  sich  daher  auf  eigene  Beobachtungen 
und  Erfahrungen  stützen.  Allein  er  hatte  daneben  auch  die  vorhandene 
lateinische  Litteratur  über  sein  Fach  aufs  eifrigste  studiert,  in  den  Schrif- 
ten Catos,  Varros,  der  Sasernae,  des  Tremellius  Scrofa,  des  Hyginus,  des 
Julius  Atticus,  des  A.  Cornelius  Celsus  und  des  Julius  Graecinus,  des  Mago 
war  er  durchaus  bewandert.  Da  er  in  seinem  Werk  diese  landwirtschaft- 
lichen Schriftsteller  stark  ausbeutet,  so  ist  dasselbe  die  Fundgrube  für 
einen  grösstenteils  verloren  gegangenen  Litteraturzweig  und  schon  darum 
von  grosser  Wichtigkeit.  Aber  der  Autor  gewinnt  uns  auch  durch  die 
warme  Begeisterung,  welche  er  für  seinen  Beruf  zeigt.  Er  stellt  das  land- 
wirtschaftliche Wissen  ausserordentlich  hoch  und  findet  es  unbegreiflich, 
dass  alles  Gegenstand  des  Unterrichts  sei,  Rhetorik,  Geometrie,  Musik, 
und  dass  es  nur  in  der  Landwirtschaft  weder  Lehrer  noch  Schüler  gebe. 
Dies  sei  aber  um  so  verwunderlicher,  als  doch  feststehe,  dass  ohne  die 
Kenntnis  des  Ackerbaus  die  Menschheit  nicht  bestehen  könne,  wohl  aber 
ohne  jene  Künste.  Allein  diese  Vernachlässigung  der  Landwirtschaft  räche 
sich  bitter;  sie  zeige  sich  in  der  Erschöpfung  des  Bodens,  einer  Folge 
unserer  Trägheit  und  Sorglosigkeit.  Aber  noch  mehr,  auch  das  Leben, 
führt  Columella  weiter  aus,  ist  seit  dem  Rückgang  der  Bodenkultur  ein 
anderes  geworden ;  die  Besitzer  weilen  nicht  mehr  auf  ihren  Gütern,  son- 
dern in  der  Stadt ;  an  Stelle  der  einfachen  Sitten  und  Gebräuche  ist  Luxus 
und  Unsittlichkeit  getreten.    Als  Ideal  schwebt  dem  Schriftsteller  die  Zeit 


Colomella  und  die  übrigen  Landwirte.  463 

vor,  in  der  man  die  Staatsmänner  vom  Pflug  wegholte,  und  alle  gleich 
tüchtig  waren,  den  heimatlichen  Boden  zu  bebauen  wie  vor  dem  Feind  zu 
schützen.  Mit  Wehmut  gewahrt  er,  dass  das  Gut  elenden  Sklaven  zur 
Bewirtschaftung  überlassen  wird,  und  dass  alle  Welt  den  in  jeder  Beziehung 
untadelhaften  Gewinn,  den  wir  aus  dem  Boden  ziehen,  verschmäht,  um 
schlimme  und  gefahrvolle  Wege  zur  raschen  Bereicherung  einzuschlagen. 
Sonach  verfolgt  Golumella  zugleich  eine  patriotische  Tendenz.  Seine  Schrift 
soll  die  Liebe  zur  Landwirtschaft  und  damit  auch  die  Liebe  zum  einfachen 
Leben  erwecken.  Um  dieses  Ziel  zu  erreichen,  musste  er  vor  allem  dar- 
nach trachten,  seinen  Stoff  in  eine  schöne  Form  zu  kleiden ;  dem  Leser  sollte 
die  Lektüre  der  Schrift  eine  Freude  sein.  Man  muss  gestehen,  dass  das 
Ziel  mit  Ausnahme  weniger  Partien,  welche  eine  gefallige  Darstellung 
ausschlössen,  erreicht  ist.  Golumella  schreibt  einen  leichten,  anmutigen  Stil 
und  die  Kapitel  von  allgemeinerem  Charakter,  wie  sie  sich  im  ersten  Buch 
finden,  werden  auch  vom  Nichtfachmann  gern  gelesen.  Weiterhin  musste 
er,  um  sich  einen  grösseren  Leserkreis  zu  sichern,  seiner  ganzen  Darstel- 
lung eine  populäre  Haltung  geben;  er  durfte  nicht  zu  sehr  ins  technische 
Detail  sich  einlassen,  sondern  musste  sich  auf  die  Hauptpunkte  beschränken. 
Auf  der  andern  Seite  musste  er  aber  auch  möglichst  encyklopädisch  ver- 
fahren, das  Wissenswerte  von  dem  ganzen  Fach  vorbringen.  Auch  der  prak- 
tische Gesichtspunkt  durfte  niemals  ausser  acht  gelassen  werden.  Golumella 
war  philosophisch  gebildet  wie  ein  anderes  Mitglied  seines  Geschlechts, 
nämlich  der  pythagoreische  Philosoph  Junius  Moderatus;  er  benutzte  auch 
die  Gelegenheit,  Philosophisches  zu  streifen,  allein  er  entging  der  Ver- 
suchung, sich  in  die  Spekulation  über  Naturphänomene  zu  vertiefen;  der 
Gharakter  seines  Werks  verbiete  ihm,  sagt  er,  den  Geheimnissen  der  Natur 
nachzuspüren  (9,2,5).  In  allen  diesen  Dingen  geht  der  Autor  stets  ziel- 
bewusst  vor.  Dagegen  war  er  weniger  glücklich  in  dem  Aufbau  des  Ganzen. 
Das  successive  Erscheinen  des  Werks  führte  im  Laufe  der  Zeit  zu  einer 
Änderung  des  Plans;  es  wurden  Teile  angeschoben  und  frühere  Partien 
wiederholt  vorgenommen.  So  wurde  z.  B.  der  Inhalt  des  poetischen  zehnten 
Buchs  nochmals  prosaisch  entwickelt.  Auch  das  war  kein  glücklicher 
Gedanke,  dass  Golumella  dem  von  ihm  so  hoch  verehrten  Meister  Vergil 
nachzueifern  suchte ')  und  ein  Buch  in  gebundener  Rede  abfasste.  So  sorg- 
fältig er  in  der  Form  ist,  es  fehlt  ihm  der  dichterische  Geist.  Endlich 
erfolgt  der  Abschluss  einer  Lehre  und  der  Übergang  zu  einer  neuen  durch 
das  ganze  Werk  hindurch  in  formelhafter,  eintöniger  Weise.  In  der  Kom- 
position liegt  also  nicht  der  Schwerpunkt  der  Kunst  Golumellas,  er  liegt 
in  der  Einzeldarstellung. 

Zur  Charakteristik  des  Werks.  Auf  die  Praxis  wird  Öfters  hingewiesen:  2,8,5 
idque  etiam  saepiiis  nos  experti  verum  adhtic  e»8e  non  camperimua  2, 9, 1  quamvis  de  men- 
sura  minu8  auctoribus  conrenit,  hanc  tarnen  videri  commodissimam  docuit  noater  usus 
2,10,11  sed  et  illtid,  quod  deincepn  dicturi  sumus,  experti  praecipimus  8,9,2  id  cum  sit 
reriaimile,  tum  etiam  verum  esse  nos  docuit  experimentum  3, 10, 8  nos  primum  rationem 
secutif  nunc  etiam  longi  temporis  experimentum  non  aliud  semen  eligimus  4, 3,  5  experto 
mihi  erede.  Dass  seine  Darlegung  nur  eine  Anleitung  gehen  will,  sagt  er:  1, 1, 17  nostra  prae- 
cepta  non  consummare  scientiam,  sed  adiuvare  promittunt,  nee  statim  quisquam  eompos  agricO" 
lationis  erit  his  perlectis  rationibus,  nisi  et  obire  eas  voluerit  et  per  factiftates  poterit.  Ideoque 

')  ScHBÖTER,  De  Columella  VergUii  imitatore,  Jena  1892. 


464    Römisclie  Litteraturgeschichie.    11.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

haec  velut  adminictda  studioais  promittimus,  non  profutura  per  se  sola,  aed  cum  alits.  5, 1, 1 
asseveraveram,  quae  vastüas  eius  scientiae  contineret,  non  cuncta  me  dicturum,  ned  plurima. 
nam  illud  in  unius  hominis  prudentiam  cadere  non  potercU,  Am  Schluss  des  Werks  heisst 
es :  nihil  dubUasse  me  p<une  infinita  esse  quae  potuerinf  huic  inseri  materiaey  verum  ea  qutie 
maxime  mdebantur  necessafHa,  memoriae  tradenda  censuisse  (vgl.  5, 1,  2). 

Seine  Quellen  macht  er  oft  namhaft,  so  dass  wir  ein  deutliches  Bild  von  seiner 
Arbeitsweise  erhalten.  Sein  Quellenstudium  war  umfassend,  die  damals  vorhandene  Litto- 
ratur  der  Römer  über  sein  Fach  war  ihm  bekannt  (vgl.  1,1,12).  Vereinzelt:  7,3,6  Epi- 
charmus  Syraeusanus,  qui  pecudum  medieinas  diligentissime  consci'ipsit  7,  5, 17  Äegyptiae 
gentis  auctor  memorabilis  Bolus  Mende»ius,  cuius  commenta,  qu(ie  appeüantur  Cfraece  /et- 
QoxfjLfjtay  sub  nomine  Democriti  falso  produntur,  censet.  11,3,53  nos  leviore  opera  istud 
fieri  apud  Äegyptiae  gentis  Bolum  Mendesium  legimus.  Doch  wahrt  er  sich  den  Quellen 
gegenüber  seine  Selbständigkeit;  3, 10, 1  non  ut  veteres  auctor  es  tradiderunt  3, 18,  2  rl- 
tiosa  est,  ut  mea  fert  qpinio,  Jtilii  Attici  satio.    Vgl.  noch  2, 10,  6. 

Andere  Schriften  Golumellas: 

1.  eine  Schrift  gegen  die  Astrologen.  11,1,31  in  iis  lihris,  quos  adver sus 
astrologos  composueram,  Sed  Ulis  disputationibus  exigebatur  id,  quod  improbissime  Chol- 
daei  poUiceniur,  ut  certis  quasi  terminis,  ita  diebus  statis  aeris  mutationes  respondeant. 

2.  eine  Schrift  über  lustrationes  caeteraque  sacrificia  quae  pro  frugi- 
b US  sunt.  Ob  dieselbe  vollendet  wurde,  wissen  wir  nicht,  denn  er  sagt  2, 21,6  differo  in 
eum  librum,  quem  componere  in  animo  est,  cum  agricolationis  totam  disciplinam  perscripsero. 


Andere  landwirtschaftliche  Autoren. 

1.  Julius  Atticus  verfasste  eine  Monographie  über  den  Weinbau.  Colum.  1, 1, 14 
hie  (Atticus)  de  una  specie  cuUurae  pertinentis  ad  vites  singularem  librum  edidit.  Weiter- 
hin nennt  ihn  Columella  an  dieser  Stelle  einen  zeitgenössischen  Schriftsteller.  Eine  Stellen - 
Sammlung  der  Fragmente  siehe  bei  Reitzenstein  p.  54. 

2.  Julius  Graecinus  setzte  die  Thätigkeit  des  Julius  Atticus  fort;  denn  Columella 
sagt  (1,1,14):  cuitis  (Attici)  velut  discipulus  dup  volumina  similium  praeceptorum 
de  vineis  Julius  Graecinus,  composita  facetius  et  enuiitius  posteritati  tradenda  curarii. 
Dieser  Graecinus  war  der  Vater  des  Agricola;  er  stammte  aus  Forum  Julii  und  wurde  im 
Jahr  38  n.  Chr.  hingerichtet.  In  seinem  Buch  schloss  er  sich  vielfach  an  Celsus  an  (Plin. 
N.  H.  14,  33  Graecinus,  qui  alioqui  Cornelium  Celsum  transcripsit.  Stellensammlung  der 
Fragmente  bei  Reitzensteik  p.  56. 

4.  Gaelius. 
498.  Apici  Gaeli  de  re  coquinaria  libri  X.  Tacitus  erzählt  uns 
(Ann.  4, 1)  von  einem  Apicius,  dessen  Liebling  Seian  gewesen  sein  soll. 
Dieser  Apicius  hiess  aber  eigentlich  M.  Gavius.  Als  raffinierter  Schwelger 
erhielt  er  aber  den  Beinamen  Apicius  von  einem  Vorläufer,  welcher  ein 
Zeitgenosse  des  P.  Rutilius  (Konsul  105)  war  (Athen.  4  p.  168d).  Durch 
ihn  ward  aber  der  Name  „Apicius*  noch  mehr  zur  Bezeichnung  des  un- 
sinnigen Verschwenders  und  Schlemmers  gestempelt.  Er  war  eine  solche 
Berühmtheit  in  dieser  Beziehung,  dass  Apion  ein  Buch  über  seinen  Luxus 
schreiben  konnte  (Athen.  7  p.  294f).  Zahllose  Anekdoten  waren  über  ihn 
im  Umlaufs);  Seneca  erzählt  von  ihm  {ad  Helv.  10,9),  dass  er,  nachdem 
er  unsinnige  Summen  verprasst  hatte,  einen  Überschlag  seines  Vermögens- 
restes machte;  er  fand,  dass  ihm  noch  zehn  Millionen  Sestertien  (etwa 
gleich  zwei  Millionen  Mark)  verblieben  waren;  im  Besitz  dieser  Summe 
dünkte  er  sich  ein  armer  Mann  und  setzte  seinem  Leben  durch  Gift  ein 
Ziel.  Athenaeus  berichtet  uns  einen  andern  Zug  (1  p.  7  c).  Apicius  hatte 
in  Minturnae  vernommen,  dass  es  in  Afrika  ungewöhnlich  grosse  Krebse 
gebe;  sofort  unternahm  er  die  beschwerliche  Reise  dahin;  als  sich  aber 
das  Gegenteil  herausstellte,  kehrte  er,  ohne  längeren  Aufenthalt  zu  nehmen, 
sofort  wieder  zurück.    Dieser  Schlemmer  machte  sich  auch  in  der  Litte- 


')  Friedlander,  Sittengesch.  3®,  18. 


ScriboniuB  Largns.  465 

ratur  bemerklich;  er  schriftstellerte  über  die  Kochkunst;  und  manche 
seiner  Rezepte  waren  so  angesehen,  dass  sie  seinen  Namen  tragen,  z.  B. 
apicische  Kuchen  (Athen.  1,  p.  7a).  Sein  Buch  bildete  eine  Lieblingslektüre 
des  Helius  (Ael.  Spart.  Hei.  5,  9).  Es  ist  uns  nun  ein  Kochbüchlein  er- 
halten, das  in  der  Überlieferung  einem  Apicius  Caelius  beigelegt  wird. 
Die  Küchenrezepte  sind  systematisch  in  zehn  Bücher  gebracht,  jedes  Buch 
hat  eine  griechische,  auf  den  Inhalt  hinweisende  Überschrift,  z.  B.  Sar- 
copteSj  der  Wurstler  für  Buch  2,  Thalassa  für  Buch  9.  So  wie  uns  die 
Sammlung  vorliegt,  kann  sie  nicht  von  Apicius  herrühren;  denn  sie  ent- 
hält Rezepte  mit  seinem  Namen,  z.  B.  134  patina  Apiciana,  173  minutal 
Apicianum,  Auch  stimmen  die  uns  von  Plinius  (n.  h.  8,  209  9,66  10,133 
19, 137)  nach  Apicius  gemachten  Mitteilungen  nicht  mit  denen  des  Koch- 
buchs. Endlich  führen  einige  Rezepte  ausdrücklich  in  eine  spätere  Zeit, 
so  z.  B.  ist  Nr.  205  nach  dem  Kaiser  Commodus  genannt.  Nimmt  man  noch 
hinzu,  dass  der  Autor  des  Büchleins  Caelius  Apicius  genannt  wird,  so  er- 
gibt sich  als  einziger  Ausweg  aus  allen  Schwierigkeiten  die  Annahme,  dass 
ein  Caelius  die  Kochrezeptensammlung  zusammengestellt  hatte  unter  dem 
Namen  Apicius,  und  dass  sonach  der  ursprüngliche  Titel  des  Werkchens 
war  Caelii  Apicius  de  re  coquinaria,  nach  dem  Muster  von  Ciceronis  Cato 
de  sefiedute. 

Das  Büchlein  wimmelt  von  griechischen  Termini,  ein  Beweis,  dass 
die  Kochkunst  in  Griechenland  zur  höchsten  Ausbildung  gelangte. 

Das  Kochbuch  des  M.  Gavius  Apicius.  Seneca  ad  Helv.  10,8  Apicius  nostra 
memoria  vixit  —  acientiam  popinae  professus  discipHna  sua  seculum  infecit  Schal,  Jur. 
4,  23  Apicius  aucior  praecipiendarum  cenarum,  qui  scripsit  de  iuscellis,  fuit  nam  exem- 
plum  gulae. 

Die  Überlieferung  ist  noch  nicht  methodisch  geprüft;  die  letzte  Ausgabe  fnsst  be- 
sonders auf  Yaticanus  1146  s.  X,  Paris.  6167,  Laur.  73,  20.  Über  die  „Apici  excerpta  a 
Vinidario**  vgl.  M.  Haupt  opusc,  3, 150. 

Neueste  Ausgabe  (mit  unglaublich  geschmackloser  Vorrede)  von  Schuch,  Heidel- 
berg 1867. 

5.  Scribonius  Largus. 

499.  Das  Bezeptbuch  des  Scribonius  Largus.  Von  den  sicher- 
lich zahlreichen  Ärzten  der  ersten  Kaiserzeit  kennen  wir  näher  den  Scri- 
bonius Largus.  Derselbe  war  ein  Schüler  des  berühmten  Yettius  Valens, 
der  wegen  seines  ehebrecherischen  Verhältnisses  zu  Messalina  im  Jahr  48 
hingerichtet  wurde  (Tac.  Ann.  11,  35),  des  Apuleius  Celsus,  den  auch  Valens 
gehört  hatte  (94),  endlich  des  Trypho  und  zwar  des  Sohnes  *)  (175).  Seine 
Praxis  war  nach  seiner  eigenen  Versicherung  eine  sehr  erfolgreiche  (praef. 
p.  1, 17  H.);  im  Gegensatz  zu  anderen  Ärzten,  welche  ihre  Heilmethode  auf  die 
Diät  begründeten,  legt  er  den  Schwerpunkt  in  die  Medikamente.  Seine 
glücklichen  Resultate  scheinen  ihn  auch  dem  Hofe  nahe  gebracht  zu  haben. 
Da  er  Claudius  auf  seinem  Zug  nach  Britannien  begleitete,  war  er  ver- 
mutlich Leibarzt  desselben.  Auch  auf  seine  Schriftstellerei  gewann  der  Kaiser 
Einfluss.  Der  dem  Arzt  gewogene  Freigelassene  G.  Julius  Callistus,  der 
unter  Claudius  das  Amt  a  libellis  führte,  legte  die  medizinischen  Schriften 
dem  Herrscher  vor  und  erlangte,  dass  sie  mit  dem  kaiserlichen  Namen 

')  BCCHELBR  p.  822. 
.;     Handbuch  der  klaaa.  Altertnnuwlasenschaft.    Vm.    2.  Teil.  30 


466    Römische  Litteratargeschkbte.    IL  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

herausgegeben  wurden  (praef.  p.  5,  21  H.).  Auf  den  Wunsch  dieses  Callistus 
stellte  er  auch  die  uns  erhaltene  Kezeptsammlung  (compositiones)  zu- 
sammen. Zwar  hatte  der  Freigelassene  nur  bestimmte  Rezepte  verlangt, 
allein  Scribonius  glaubte  darüber  hinausgehen  und  eine  ganze  Sammlung 
von  Heilmitteln  geben  zu  sollen.  Freilich  auch  die  vorliegende  war  ihm 
noch  nicht  vollständig  genug;  er  entschuldigt  sich  damit,  dass  er  das 
Werkchen  auf  einer  Reise,  bei  der  er  nur  wenige  litterarische  Hilfsmittel 
mit  sich  führen  konnte,  abgefasst  habe.  Doch  stellt  er  für  die  Zukunft 
die  Ausfüllung  der  Lücken  in  Aussicht. 

Die  Sammlung  enthielt  271  Rezepte,  durch  Blattverlust  gingen  indes 
(vgl.  167  fg.)  einige  verloren.  In  der  Anordnung  legt  er  die  Körperteile 
zu  Grund,  mit  dem  Kopf  beginnend,  mit  den  Füssen  schliessend.  Es  folgen 
(163)  die  Mittel  gegen  Schlangenbiss  und  die  Antidota,  dann  wegen  der 
innigen  Verbindung,  in  der  die  interne  Medizin  und  die  Chirurgie  zu 
einander  stehen,  auch  die  chirurgischen  Medikamente  (200),  endlich 
werden  der  Vollständigkeit  halber  auch  die  Malagmata  und  die  Acopa  an- 
geschlossen (255).  Die  Rezepte  sind  zum  grossen  Teil  von  ihm  selbst 
zusammengestellt  oder  in  irgend  einer  Weise  von  ihm  modifiziert  %  andere 
hatte  er  von  Freunden  erhalten,  die  für  die  entsprechende  Wirkung  mit 
ihrem  Eide  eintraten.  Wieder  andere,  besonders  chirurgische,  sind  unter 
dem  Namen  der  Erfinder  mitgeteilt.  Aber  auch  sonst  Hess  er  sich  keine 
Mühe  verdriessen,  um  irgend  ein  gutes,  erprobtes  Mittel  zu  erhalten. 
Selbst  von  Nichtärzten  verschaffte  er  sich  Rezepte,  so  kaufte  er  von  einem 
afrikanischen  Weib  ein  Mittel  gegen  Kolik,  mit  dem  dasselbe  viele  Hei- 
lungen in  Rom  erzielt  hatte  (122).  Manchmal  gelangte  er  nur  schwer 
zum  Ziele,  so  war  ein  berühmtes  Medikament  des  Arztes  Paccius  Anti- 
ochus  bei  seinen  Lebzeiten  nicht  zu  erlangen,  erst  nach  seinem  Tode  kam 
es  zur  Kenntnis  des  Scribonius,  da  die  über  dasselbe  an  den  Kaiser  ge- 
richtete Schrift  den  öffentlichen  Bibliotheken  zugewiesen  wurde  (97).  Die 
Wirkung  der  mitgeteilten  Rezepte  wird  stark  gepriesen*),  namentlich  die- 
jenigen werden  sehr  hoch  gestellt,  welche  auch  für  die  Zukunft  eine 
Sicherung  vor  dem  Leiden  geben  (162,  122).  Der  Arzt  unterlässt  nicht 
auf  die  günstigen  Heilerfolge,  die  mit  denselben  erzielt  wurden,  hinzu- 
weisen (16.  39.  102.  118.  162).  Auch  führt  er  gern  zur  Empfehlung  seiner 
Kompositionen  deren  Gebrauch  in  der  kaiserlichen  Familie  an  (31.  70.  268. 
271  u.  s.  w.). 

Über  den  medizinischen  Wert  der  Rezepte  steht  uns  kein  Urteil  zu; 
dagegen  darf  darauf  hingedeutet  werden,  dass  auch  der  Aberglaube  in  den- 
selben eine  Rolle  spielt.  So  fügt  Scribonius  einem  Mittel  die  Bemerkung  bei, 
dass  das  zu  gebrauchende  Messer  ein  solches  sein  soll,  mit  dem  ein  Gladiator 
umgebracht  wurde  (13).  Während  der  Autor  dies  an  der  Stelle  ohne 
tadelnde  Bemerkung  mitteilt,  regt  sich  bei  einer'  anderen  abergläubischen 
Vorschrift  doch  das  Standesgefühl  in  ihm,  indem  er  von  der  superstUio  eines 
Arztes  spricht  (152  vgl.  17).  Aber  auch  seine  Mittel  enthalten  Sonderbares 
(127.  70).     Erklärungen  für  die  Wirkung  der  Arzneien   finden  sich  nicht; 


')  Vgl.  Epilog.  I  *)  Sehr  oft  durch  mirifire  facit,  prodest. 


Sex.  Julias  FrontinoB.  467 

der  Autor  steht  durchaus  auf  empirischem  Standpunkt.  Seine  Kompositionen 
sind  ja  durch  die  Erfahrung  erprobt.  Freilich  weiss  er  sich  für  den  Fall, 
dass  eines  der  gepriesenen  Rezepte  versagen  sollte,  eine  Hinterthür  offen  zu 
halten;  er  erinnert  daran,  dass  die  Verschiedenheit  des  Leibes,  des  Alters, 
der  Zeit,  des  Ortes  auch  eine  verschiedene  Wirkung  der  Heilmittel  her- 
vorrufe. 

Das  Arzneibuch  scheint  am  Hofe  grossen  Anklang  gefunden  zu  haben. 
Wenigstens  hören  wir,  dass  Claudius  in  seiner  Censur  47/48  bekannt  ge- 
macht habe,  dass  für  den  Schlangenbiss  nichts  so  heilsam  sei  als  der  Saft 
des  Taxusbaums  (Suet.  Claud.  16).  Auch  Scribonius  hatte  ein  Gegengift 
für  diesen  Fall  mitgeteilt  (168).  Leider  ist  dasselbe  verloren  gegangen; 
wir  werden  aber  nicht  irren,  wenn  wir  vermuten,  dass  das  von  Claudius 
empfohlene  Mittel  dem  Buch  des  Scribonius  entnommen  war,  das  gerade 
damals  erschien. 

Abfassungszeit  der  Schrift.  Der  tenninus  post  quem  ergibt  sich  aus  der  Teil- 
nahme des  Scribonius  an  der  britannischen  Expedition  des  Claudius  (163);  der  terminun 
ante  quem  aus  der  Erwähnung  der  Messalina  als  lebend  (60).  Das  Intervallum  ist  so- 
nach 43 — 48.  Da  es  wahrscheinlich  ist,  dass  Callistus,  dem  die  compositiones  gewidmet 
sind,  das  Amt  a  lihellis  nach  Polybius*  Tod  (47)  bekleidete  und  die  Widmung  sicher  durch 
das  Amt  des  Freigelassenen  hervorgerufen  wuixle,  so  wird  sich  das  Intervallum  noch  auf 
47—48  einengen  (Bücheler,  Rh.  Mus.  37,  327). 

Überlieferung.  Zuerst  gab  Ruellius  den  Scribonius  im  Jahre  1528  (Paris)  heraus; 
allein  seine  Handschrift  ist  verloren:  wenigstens  konnte  sie  bis  jetzt  nicht  aufgefunden 
werden.  Unser  Text  beruht  daher  bis  jetzt  auf  seiner  Ausgabe;  eine  sekundäre  Quelle  ist 
Marcellus,  der  in  sein  Arzneibuch  den  grössten  Teil  des  Scribonius,  ohne  seinen  Gewährs- 
mann zu  nennen  (Helhbeich,  Bayr.  Gymnasialbl.  18,  385),  aufnahm. 

Ausgaben.  Ausser  der  editio  princeps  ist  die  von  Rhodius  wegen  des  Kommen- 
tars von  Wichtigkeit  (Padua  1655).    Neueste  kritische  Revision  von  Helmbbich,  Leipz.  1887. 

6.  Sex.  Julius  Frontinus. 

500.  Die  Schriften  Frontins.  Wir  kennen  Frontin  aus  Tacitus; 
er  erwähnt  seine  Prätur  des  Jahres  70  (Hist.  4,  39),  er  erwähnt  ferner 
seine  ausgezeichnete  militärische  Wirksamkeit  in  Britannien  als  Nachfolger 
des  Petilius  Cerealis  (Agr.  17).  Konsul^)  war  Frontinus  mehrmals  (Mart.  10, 48, 
20),  dann  Curator  aquarum  im  Jahr  97.  Gestorben  scheint  er  um  103  zu 
sein,  da  damals  der  jüngere  Plinius  sein  Nachfolger  im  Augurat  wurde. 
Eine  charakteristische  Äusserung  von  ihm  teilt  derselbe  Plinius  mit.  Fron- 
tinus verbot  nämlich,  ihm  ein  Denkmal  nach  seinem  Tode  zu  setzen,  mit 
den  Worten:  Der  Aufwand  für  ein  Monument  ist  ganz  überflüssig,  unser 
Andenken  wird  ohne  dieses  sich  erhalten,  wenn  wir  es  durch  das  Leben 
verdient  haben  (ep.  9, 19, 1  und  6).  Von  ihm  sind  folgende  Werke  zu  ver- 
zeichnen : 

1)  Eine  gromatischo  Schrift.  Dieselbe  wurde  unter  Domitian 
vcrfasst  (54, 11  L.).  Wir  haben  nur  Auszüge  aus  derselben,  sie  umfasste 
zwei  Bücher.  Die  Exzerpte  bekunden  einen  „tüchtigen  und  sachver- 
ständigen* Schriftsteller. 

Dass  die  Schrift  ursprünglich  aus  zwei  Büchern  bestand,  geht  hervor  aus  1,  64  Lach- 
MANN  UHO  libro  instüuimus  artificem,  nlio  de  arte  disputiwimus.  Die  Exzerpte  handeln  de 
agrorum  qualUate,  de  controversiis,  de  limitibtis,  de  controcersiis  agrorum.    Diese  Exzerpte 


*)   NiPPBBDET,   OpUSC.  p.  520. 

30' 


468     BömiBobe  Litieratargesohichte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

hat  zusammengesucht  und  zum  Teil  aus  dem  Kommentare  des  Agennius  Urbicus  (p.  34) 
herausgeschält  Lachmank  (Feldm.  2, 112  und  109);  Zarncke,  Conmi.  Studemimd.  p.  194. 

2)  Die  Strategemata.  In  seinem  Büchlein  über  die  Wasserlei- 
tungen stellt  er  diese  Denkschrift  in  Gegensatz  zu  seinen  übrigen  tech- 
nischen Schriften,  welche  er  erst  nachdem  er  in  den  betreflfenden  Fächern 
praktisch  thätig  war,  niedergeschrieben  hatte.  Zu  diesen  technischen 
Schriften  gehören  ausser  den  gromatischen  Untersuchungen  zwei  militär- 
wissenschaftliche Werke;  das  eine  hatte  einen  theoretischen  Charakter, 
leider  ist  uns  dasselbe  verloren  gegangen.  Dagegen  ist  uns  das  zweite, 
welches  Beispiele  von  Kriegslisten  {strategemata)  zusammenstellt,  erhalten. 
Die  Beispiele  sind  naturgemäss  in  der  Weise  angeordnet,  dass  im  ersten 
Buch  die  Kriegslisten  vor  der  Schlacht,  im  zweiten  die  in  und  nach  der 
Schlacht,  im  dritten  die  bei  der  Belagerung  aufgeführt  werden.  Innerhalb 
der  einzelnen  Bücher  deuten  die  Kapitelüberschriften  die  verschiedenen 
Arten  der  Strategemata  an.  Die  Fälle  sammelt  er  aus  Autoren,  beson- 
ders aus  den  Geschichtschreibern.  Die  römische  Kriegsgeschichte  ist  mit 
Vorliebe  herangezogen.  Die  Beispielsammlung  Frontins  reizte  zur  Nach- 
ahmung; vermutlich  nicht  lange  nach  dem  Erscheinen  derselben  ent- 
stand eine  neue  Sammlung.  Diese  legte  aber  mehr  moralische  Gesichts- 
punkte zu  Grund,  sie  ordnete  die  Beispiele  nach  den  Rubriken:  De  disci- 
plina,  de  effectu  disciplinae,  de  continentia,  de  iustitia,  de  constantia,  de 
affectu  et  moderatione,  de  variis  consiliis;  man  erkennt  sofort,  dass  hier 
ein  ganz  anderer  Plan  vorliegt  als  in  dem  Werk  Frontins.  Dieser  gibt 
uns  Strategemata,  Kriegslisten,  der  Verfasser  der  zweiten  Sammlung  will 
uns  Strategica,  d.  h.  Äusserungen  und  Handlungen  des  tüchtigen  Feldherrn 
darbieten.  Merkwürdigerweise  wurde  diese  zweite  Sammlung  mit  den  drei 
Büchern  des  Frontin  verbunden  und  als  viertes  Buch  gezählt.  Ja  noch  mehr, 
die  Verbindung  war  keine  zufällige,  sondern  eine  absichtliche,  das  vierte 
Buch  sollte  als  ein  Werk  Frontins  erscheinen.  Zu  diesem  Zweck  wurde 
eine  Vorrede  geschrieben  und  der  Vorrede  der  Frontinschen  Sammlung  ein 
Passus  beigefügt,  um  auf  das  neue  Werk  einstweilen  hinzuweisen.  Allein 
es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  dieses  Buch  nicht  von  Frontin 
herrührt;   ja  in  demselben  ist  Frontin  bereits  benutzt. 

Die  theoretische  Schrift  üher  das  Militärwesen.  StrctUg,  praef.  heisst  es: 
cum  ad  inntruendam  rei  militaris  scientiam  unus  ex  numero  studiosorum  eius  accesserim  eique 
desiinato  quantum  nostra  cura  valuit,  satisfecisse  visus  sim,  deheri  adhuc  institutae  arbiträr 
operae  ut  sollertia  ducum  facta  .  .  .  expeditis  ampUctar  commentariis  Vcget.  1,  8  cotnpufit 
evolutis  auctorUms  ea  me  in  hoc  opusculo  . .  .  dicere,  quae  Cato  Censorius  de  disciplina 
militari  scripsit,  quae  Cornelius  Celsus,  quae  Frontinus  peratringenda  duxerunt 
vgl.  noch  2, 8.  Diese  Stellen  können  sich  nicht  auf  die  strategemata  beziehen.  Auch  bei 
den  Griechen  fand  die  Schrift  Beachtung,  vgl.  Aelian.  tact.  praef.  und  Aelian,  de  ordin. 
inst.  1  (wo  statt  ^Q6yr(oy^  sni  lesen  ist  ^Qotiyta). 

Die  Unechtheit  des  vierten  Buchs  haben  Wachsmuth  (Rh.  Mus.  15,574)  und 
besonders  Wölfflüt  (Hermes  9, 72)  mit  unwiderleglichen  Beweisen  dargethan.  Der  Versnch 
t'RiTZES,  De  Juli  Frontini  strategematon  libro  IV,  das  vierte  Buch  wieder  für  Frontin  in 
Anspruch  zu  nehmen,  kann  nicht  als  gelungen  erachtet  werden. 

Über  die  Abfassungszeit  des  vierten  Buchs  herrscht  noch  wenig  Überein- 
stimmung. Wachsmtjth  nahm  als  diese  Zeit  das  4.  oder  5.  Jahrhundert  an  und  erfreute 
sich  für  seine  Behauptung  der  Beistimmung  Wölfflins.  Diese  Ansicht  kann  unmöglich  richtig 
sein ;  schon  die  Sprache  legt  ein  Veto  ein.  Viel  weiter  zurück  geht  GüKDBRiiAim  in  seinen 
Quaest.  de  Juli  Frontini  strategematon  lihris  (Fleckeis.  Jahrb.  16.  Supplementb.  p.  326),  er 
meint:  in  eam  incJino  sententiamy  ut  scriptum  esse  quartum  librum  existimem  ab  homine 
haud  ita  erudito  -    a  studioso,   si  viSf  rhetoricae  —  aetate  a  Frontino  non  multum 


Die  Agrimensoren.  469 

distante,  initio  fortaaae  aaeculi  alteriua  p.  Gh.  Ich  habe  (Philol.  48»  647)  ebenfalls 
in  den  Streit  eingegriffen  und  folgende  Hypothese  der  Prüfung  der  Gelehrten  unterstellt: 
„Der  Verfasser  des  IV.  Buchs  ist  der  Offizier,  dem  sich  die  Lingonen  im  Jahr  70  unter- 
warfen (4,  3, 14) ;  er  ist  sonach  Zeitgenosse  Frontins.  Für  seine  Schrift  benutzte  er  wie 
andere  Quellen  so  auch  die  Kriegslisten  Frontins.  Erst  eine  dritte  Person  hat  diese  Schrift 
mit  Frontin  verbunden,  zu  diesem  Zweck  eine  Vorrede  geschrieben  und  einen  Passus  der 
Vorrede  des  ächten  Frontin  hinzugefügt.* 

Über  die  Quellen  der  beiden  Sammlungen  Blüdaü,  De  fontihus  Frontinij 
Kdnigsb.  1883  (ohne  Bedeutung);  6uin>BB]LANN  p.  361;  Fritze  p.  32. 

Die  handschriftliche  Überlieferung  beruht  auf  zwei  Klassen.  Die  erste  ist 
am  reinsten  vertreten  durch  den  Harleianus  2666  s.  IX/X ;  hiezu  kommen  Auszüge  im  Goth. 
1  101  s.  IX  und  Cusan.  C.  14  s.  XII;  der  beste  Vertreter  der  zweiten  geringeren  Klasse  ist 
Parisinus  7240  s.  X/XI ;  (Gundbbmakn,  Comm.  Jen.  1, 86). 

Kritische  Ausgabe  von  Gündebxann,  Leipz.  1888. 

3)  De  aquis  urbis  Romae  L  11.  Als  Frontin  von  Nerva  mit 
der  Aufsicht  über  die  römischen  Wasserleitungen  betraut  wurde  (97), 
so  fühlte  er  das  Bedürfnis,  sich  über  sein  Ressort  genau  zu  informieren; 
denn  nichts  widerstand  seiner  Gewissenhaftigkeit  so  sehr,  als  sich  in  dem 
ihm  übertragenen  Amt  von  fremdem  Urteil  abhängig  zu  machen.  Zunächst 
also  zu  seiner  eigenen  Belehrung  und  zu  seinem  eigenen  Gebrauch  schrieb 
er  dieses  Promemoria  nieder,  allein  da  er  sich  der  Hoffnung  hingab,  dass 
es  auch  für  seine  Nachfolger  von  Nutzen  sein  könnte,  so  publizierte  er 
das  Werkchen  nach  dem  Tode  Nervas  unter  Traian.  Er  macht  uns  be- 
kannt mit  den  Namen  der  römischen  Wasserleitungen,  mit  der  Zeit  ihrer 
Errichtung,  mit  ihrem  Lauf  und  ihrer  Konstruktion,  mit  der  Verteilung 
des  Wassers,  endlich  mit  den  rechtlichen  Verhältnissen.  Die  Darlegung 
ist  einfach  und  sachlich  gehalten ;  es  ist  ein  vortreffliches  und  für  die  Er- 
kenntnis einer  höchst  wichtigen  Einrichtung  nützliches  Schriftchen,  das 
auch  durch  einige  eingelegte  Aktenstücke  (z.  B.  104,  106,  108)  bedeutungs- 
voll wird. 

Abfassungszeit.  Da  der  Autor  (2)  sagt,  dass  er  das  Schriftchen  hinter  initia 
ad  minist  rationU*  geschrieben,  so  fällt  die  Abfassung  ins  Jahr  97.  Allein  die  Herausgabo 
und  Schlussredigiening  muss  nach  dem  Tod  Nervas,  da  118  Nerva  divus  heisst,  unter  der 
Regierung  Traians  erfolgt  sein;  vgl.  93  novum  auctorem  impercUorem  Caesarem  Nerram 
Traianum  Augustum  praescribente  titulo. 

Die  Oberlieferung  beruht  auf  einer  einzigen  Handschrift  in  Monte  Gassino  361, 
von  der  alle  übrigen  abstammen.  (Neue  Kollation  derselben  von  Petscubnio,  Wien.  Stud. 
6,249).    Kritische  Ausgabe  von  Bücheleb,  Leipz.  1858. 

Auf  eine  landwirtschaftliche  Schrift  führt  ein  Citat  bei  Gargilius  Martialis 
Mai  auct,  clasif,  1, 410. 

7.  Die  Agrimensoren. 
501.  Die  agrimensorischen  Schriften.  Die  Römer  wurden  durch 
verschiedene  Umstände  auf  die  Feldmesskunst  hingewiesen,  das  Lager- 
schlagen, die  Agrargesetzgebung,  die  Militärkolonien  erforderten  die  Beihilfe 
des  Qeometers.  Es  bildete  sich  daher  im  Lauf  der  Zeit  ein  Stand  der 
Feldmesser  [Agrimensores],  von  dem  Visirinstrument  groma  auch  Gromatici 
genannt,  es  bildeten  sich  Schulen,  es  bildete  sich  eine  Litteratur,  die  wir 
vom  ersten  bis  zum  sechsten  Jahrhundert  verfolgen  können.')  Diese  Litte- 
ratur streifte  neben  dem  Mathematischen  auch  das  Juristische.  Wir  lernen 
durch  dieselbe  eine  neue  Seite  des  Altertums  kennen.  Freilich  wenn  wir 
diese  gromatischen   Schriften  auf    die  Wissenschaft  hin   untersuchen,  so 

1)  MoJucsEN,  Feldm.  2, 174. 


470     Bömiflche  Litter atnrgeschichte.   U.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

gewinnen  wir  kein  günstiges  Urteil.  Ein  Sachkenner  äussert  sich  also: 
„Die  Römer  selbst  mögen  in  der  Feldmesskunst,  worin  sie  seit  Alters 
Übung  hatten,  manche  praktische  Neuerungen  eingeführt  haben;  in  der 
Feldmess Wissenschaft  haben  sie  nur  abgeschrieben,  zuerst  den  Heron  von 
Alexandrien,  später  wahrscheinlich  eine  älteste  lateinische  Bearbeitung 
dieses  Schriftstellers,  an  welcher  jeder  neue  Abschreiber  nur  kleine  sti- 
listische Veränderungen  vornahm.  Das  wissenschaftliche  Verständnis  hat 
dabei  eher  abgenommen  als  zugenommen."    (Cantor  p.  139.) 

Ausser  Frontin  haben  wir  in  unserm  Zeitraum  noch  folgende  Agri- 
mensoren  zu  verzeichnen; 

1)  Hyginus  ist  von  dem  gleichnamigen  Qrammatiker  der  Auguste- 
ischen Zeit  und  dem  Mythographen  (§  350  p.  225)  wohl  zu  scheiden.  Der 
Gromatiker  lebte  zur  Zeit  Traians,  wie  aus  seinem  Werk  hervorgeht  (vgl. 
p.  121,  7  L.).  Dieses  Werk  handelte  in  drei  Abteilungen  1)  de  limUlbus, 
2)  de  condicionibus  affrorum,  3)  de  generibus  controversiarum  (108 — 134 
L.).  Strittig  ist,  ob  noch  eine  zweite  Schrift  De  Ihnitibus  constituendis  von 
unserem  Hygin  oder  einem  spätem  herrührt.  Es  ist  wohl  das  letzte  an- 
zunehmen. 

Eine  Schrift  über  die  sich  auf  die  Metation  beziehenden  Verordnnngon 
und  Gesetze  erwähnt  er  p.  133. 14  L.  cuiiM  {DomUiani)  edicti  verha  itemque  constUutioms 
qiiasdam  aHorum  princtpum  itemqiie  divi  Nervae,  in  uno  libello  contulimus. 

Der  Verfasser  der  Schrift  de  limitibus  constituendis  (^.IßQL.)  ist 
nach  Lachmann  ein  jüngerer  Hyginus  (Rom.  Feldm.  2, 136) ;  diese  Ansicht  wird  verworfen 
von  Lange  zu  Hyginus  de  munit.  castr.  p.  44  und  Gott  Gel.-Anz.  1853, 526 ;  für  Lachmanx 
spricht  sich  dagegen  mit  Recht  Geholl  aus  (Hermes  11, 174). 

De  munitionihus  castrorum  hat  man  auch  Hygin  beigelegt,  allein  ohne 
Grund,  da  diese  Schrift  keinen  handschriftlich  beglaubigten  Titel  und  Verfasser  aufzu- 
weisen hat  und  sprachliche  Gründe  gegen  die  Identifizierung  mit  einer  der  unter  dem  Namen 
Hygirs  überlieferten  Schriften  streiten  (Geholl,  Hermes  11, 174).  Die  Zeit  des  Schriftchens 
fallt  wahrscheinlich  in  das  dritte  Jahrhundert.  —  Ausgaben  von  Lange,  Göttingen  1848; 
Gemoll,  Leipzig  1879;  Dohaszewski,  Leipzig  1887;  vgl.  noch  Dboysen,  Rh.  Mus.  30, 469 ; 
Förster,  Rh.  Mus.  34,237;  Ursin,  De  castris  Hygini  qui  fertur  quaest.,  Helsingfors  1881. 
Juno,  Wien.  Stud.  11, 153. 

2)  Bai b US  ist  ein  Zeitgenosse  des  Hygin,  auch  er  schrieb  unter 
Traian;  er  hatte  den  Kaiser  auf  seinem  dacischen  Feldzug  begleitet;  nach 
seine]:  Rückkehr  vollendete  er  eine  Schrift  Expositio  et  ratio  omnium  for- 
marum  und  widmete  sie  einem  Celsus,  welcher  eine  Neuerung  an  einem 
gromatischen  Instrument  gemacht  hatte  und  deshalb  in  der  Feldmesskunst 
als  eine  Autorität  angesehen  wurde.  Seine  Schrift  „Darstellung  und 
Theorie  der  Figuren*  ist  eine  Geometrie  für  Feldmesser,  aber  nicht  voll- 
ständig erhalten  (Cantor  p.  99). 

Das  Schriftchen  de  asse  minutisque  eins  portiunculis,  das  früher  eben- 
falls dem  Baibus  beigelegt  wurde,  fällt  viel  später,  es  kann  nicht  vor  222  abgefasst  sein 
(Christ,  Münchner  Sitzungsber.  1863, 105;  Hultscu,  metrol.  Script.  2, 14). 

3)  Siculus  Flaccus  schrieb  de  condicionibus  agrorum  (und  zwar  der- 
jenigen in  Italien)  in  breiter  Darstellung*)  nach  Domitian. 

4)  M.  Juni  US  Nipsus.  In  der  Überlieferung  (p.  285  L.)  wird  ein 
agrimensorischer  Schriftsteller  eingeführt  mit  ^incipit  Marci  Juni  Nipai 
L  II  feliciter^.    Von  ihm  sind  folgende  Probleme  behandelt:   1.  Die  Über- 


0  Geholl,  Hermes  11, 171.    Über  die  Zeit  des  Autors  vgl.  die  Zusammenstellung  von 
Lange,  Gott.  Gel.  Anz.  1853,  p,  530. 


Rückblick.  471 

messung  eines  Flusses  {fluminis  varatio)  p.  285  L.  vgl.  Stoeber  p.  126; 
2.  Die  Wiederherstellung  einer  Limitationsgrenze  {limitis  repositio)  p.  286  L., 
vgl.  Stoeber  p.  128;  3.  Podismus  (Ausmessung  nach  Füssen)  p.  295  L., 
vgl.  Cantor  p.  96  und  dessen  eingehende  Betrachtung  p.  103.  Die  Zuge- 
hörigkeit des  Teils  297,  1—301,  14  bezweifelt  Mommsen  (Feldm.  2,  149). 
Die  Zeit  dieses  Feldmessers  wird  nicht  unter  das  zweite  Jahrhundert  n.  Gh. 
herabgesetzt  werden  dürfen  (Cantor  p.  103). 

Über  die  demonstratio  artis  geometricae  werden  wir  im  dritten  Band  handeln. 

Der  liher  eoloniarum,  Moidisbn  unterscheidet  zwei  Redaktionen,  eine  durch  den 
Arcerianus  vertretene  (=  1. 1  eoloniarum  Lachmanns)  und  eine  jüngere  besonders  durch 
den  Gudianus  erhaltene  (=  l.  II  eoloniarum  Lachmaitns).  Im  Pidatino-Vaticanus  1564 
stehen  beide  Recensionen  nebeneinander,  im  Erfurtensis  sind  sie  ineinander  gearbeitet,  vgl. 
Mommsen,  Feldm.  2, 157.  Die  erste  Fassung  ist  ein  im  fünften  Jahrhundert  gemachter  Aus- 
zug einer  noch  guten  Zeiten  angehörigen  Schrift.  Im  Arcerianus  lautet  die  Subscriptio  (p.  239  L.) 
huic  addendas  mensuras  limitum  et  terminorum  ex  libris  Augusti  et  Neronts  Caesarum,  sed  et 
Balhi  mensoris,  qui  temporibus  Augusti  omnium  provineiarum  et  formas  eivitcUium  et  mensuras 
compertas  in  eommentariis  eontulit  et  legem  agrariam  per  diversiiates  provinciarum  di- 
atinxit  ae  deelaravit.  Hier  ist  also  von  einem  Baibus  als  einer  Quelle  des  Hb.  eoL  die  Rede  und 
zwar  von  einem  Baibus  aus  der  Zeit  des  Augustus.  Allein  dies  ist  eine  Unmöglichkeit.  Selbst 
der  Baibus  der  tnganischen  Zeit  macht  Schwierigkeiten,  da  die  Zeitangaben  weiter  hinab- 
reichen, nämlich  bis  in  die  Zeit  von  M.  Aurelius  und  Gommodus  (Mommsen,  Feldm.  2,  178). 
Was  den  Wert  der  Verzeichnisse  anlangt,  so  ist  dieser  ein  sehr  problematischer,  besonders  die 
jüngere  Fassung  ist  „bis  zur  völligen  Unbrauchbarkeit  entstellt*^  (Mommsen,  Feldm.  2, 181). 

Überlieferung.  Die  wichtigste  Handschrift  der  Agrimensores  ist  der  Arcerianus 
in  Wolfenbüttel  s.  VI,  VII.  Den  Namen  erhielt  er  von  dem  früheren  Besitzer  Johann  Theo- 
doretus  Arcerius,  der  zu  Utrecht  im  Jahre  1604  starb.  Die  Handschrift  besteht  aus  zwei 
Hälften  (A  und  B),  ,die  erste  ist  in  einer  Kolumne,  die  zweite  in  zwei  Kolumnen  geschrieben, 
die  erste  zählt  28,  die  zweite  26  Zeilen  auf  jeder  Seite ;  die  erste  enthält  Zeichnungen  und 
Bilder,  die  zweite  nicht.  Auch  die  SchriftzUge  sind  verschieden:  die  der  ersten  Hälfte 
sind  altertümlicher,  am  Ende  der  Zeilen  oft  eine  Art  Kursiv-  und  in  Oherschriften  oft 
Kapitalschrift,  die  der  zweiten  dagegen  durchaus  in  Uncialschrift*.  Mehrere  Stücke  stehen 
in  jeder  der  beiden  Hälften.  Das  (original  ist  in  manchen  Stücken  nicht  dasselbe  (Blitme, 
Feldm.  2, 6). 

Ausser  dieser  Handschrift  befindet  sich  noch  eine  zweite  agrimensorische  in  Wolfon- 
'  büttel,  der  Codex  Gudianus  105  s.  IX  X,  welcher  der  zweiten  Handschriftenfamilie  ange- 
hört, wie  der  Palatino- Vaticanus  1564  s.  IX.X.  Repräsentant  einer  dritten  Familie  ist  der 
Erfurtensis-Amplonianus  362.  In  die  vierte  Klasse  gehören  die  Excerpta  Rostochiensia. 
Vgl.  Blume  im  Feldm.  2, 1—96,  die  Übersicht  der  einzelnen  Teile  der  Handschriften  von 
Lachmann,  Feldm.  1  p.  VIII 

Litteratur.  Über  die  Gromatik  belehren  in  mustergiltiger  Weise  die  groma ti- 
schen Institutionen  von  Rüdorff,  Feldm.  2,  229—464.  In  neuerer  Zeit  sind  zwei 
Schriften  hinzugekommen:  Cantob,  Die  röm.  Agrimensoren  und  ihre  Stellung  in  der  Ge- 
schichte der  Feldmesskunst,  Leipzig  1875;  Stöbbr,  Die  röm.  Grundvermessungon,  Münch. 
1877.  Beide  Arbeiten  ergänzen  sich.  Bei  Cantor  fällt  alles  Schwergewicht  auf  die  Dar- 
legung der  griechischen  Quelle,  aus  der  die  römischen  Agrimensoren  ihre  mathematischen 
Sätze  haben;  bei  Stöber,  der  im  allgemeinen  Teil  ganz  von  Rudorff  abhängig  ist,  ruht 
der  Hauptnachdruck  auf  der  technische  Ausführung. 


502.  Rückblick.  Die  einzelnen  Erscheinungen,  wie  sie  in  der  Litte- 
ratur von  Tiberius  bis  Hadrian  sich  abgespielt  haben,  sind  jetzt  zu 
Ende  geführt;  es  liegt  uns  noch  ob,  das  in  den  verschiedenen  Fächern 
Geleistete  zusammenzufassen.  Wir  beginnen  mit  der  Poesie  und  zunächst 
mit  dem  Epos.  Hier  erkennen  wir  aufs  deutlichste  die  Nachwirkungen 
Vergils.  Seine  Aeneis  war  für  die  epische  Technik  und  die  epische  Sprache 
vorbildlich  geworden,  und  die  Epiker  unseres  Zeitraums  sind  mehr  oder 
weniger  davon  abhängig.  Ihre  Stoffe  entnahmen  sie  teils  aus  der  grie- 
chischen Sagenwelt,  wie  Valerius  Flaccus  in  seinen  Argonautica  und  Sta- 


472     ftömisclie  LitteratnrgeBchichte.   tt.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilung. 

tius  in  seiner  Achilleis  und  in  seiner  Thebais,  oder  aus  der  vaterländischen 
Geschichte  wie  Lucanus  in  seiner  Pharsalia  und  Silius  kalicus  in  seinen 
Punica.     Das  nationale  Epos  lässt  aber  zwei  Strömungen  erkennen.    Silius 
Italiens  behält  den  mythologischen  Apparat»  die  traditionelle  Maschinerie 
bei,  Lucanus  will  von  dieser  völlig  erstorbenen,   schablonenhaften  Welt 
nichts  wissen  und  wirft  sie  daher  über  Bord;  ihm  ist  das  Fatum  das  Be- 
stimmende.  Ein  in  Petrons  Satirae  eingeschobenes  Epos  über  den  Bürger- 
krieg ist  durch  die  Absicht  des  Verfassers,  in  diesem  Kunststreit  Stellung 
zu  nehmen,  hervorgerufen   worden.     Höfische  Beziehungen  leuchten  mehr 
oder  weniger  aus  jedem  Epos  hervor;    man  sieht,   die  Poesie  richtet  be- 
sonders gern  ihre  Augen  zum  Herrscher  empor.    Aber  das  Hauptübel,  an 
dem  das  Epos  unserer  Zeit  krankt,  ist  der  Einfluss,  den  die  Rhetorschule 
auf  dasselbe  gewinnt;  dadurch  tritt  die  Handlung  zurück,   die  Rede  und 
die  Beschreibung  vor.  Jeder,  der  die  genannten  Epen  mit  vorurteilsfreiem 
Blick  würdigt,  muss  zu  der  Erkenntnis  gelangen,  dass  die  Zeit  der  epischen 
Dichtung  vorbei  ist.    Allein  der  Tod  ist  der  Anfang  eines  neuen  Lebens ;  für 
das  Epos  stellt  sich  der  Roman  ein,  der  in  unserer  Epoche  einen  ganz  vor- 
züglichen Bearbeiter  in  Petronius  Arbiter  gefunden  hat.   Zwar  nimmt  diese 
neue  Gattung  die  Form  der  Prosa  an  und  verwendet  die  Poesie  nur  zum 
Schmuck  und  zur  Einlage,   allein   trotzdem  beruht  sie  auf  dichterischer 
Konzeption.    Das  Werk  des  Petronius  ist  ein  Kulturgemälde  ersten  Rangs 
und  zweifellos  eines  der  besten  Produkte  der  römischen  Poesie  überhaupt. 
Das  didaktische  Gedicht,  das  in  der  vorigen  Periode  zu  einer  so  grossen 
Blüte   gelangt  war,   hat  sich  dieselbe  in  unserem  Zeitabschnitt  nicht  er- 
halten; doch  hat  es  noch  zwei  ansehnliche  Vertreter  gefunden,  und  zwar 
auf  dem  Gebiet  der  Sternenwelt,  welche  von  jeher  auf  die  Alten  die  grösste 
Anziehung  ausübte.    Ein  Mitglied  des  regierenden  Hauses  Germanicus  be- 
arbeitet mit  Sachkenntnis  die  Sternbilder  nach  der  Vorlage  des  griechischen 
Dichters  Aratus,  den  früher  schon  Cicero  übersetzt  hatte;   ein  uns  unbe- 
kannter Mann  Manilius  wagt  sich  an  die  Dunkelheiten  der  Astrologie;  trotz 
des  abstrusen  Gegenstandes  weiss  er  uns  durch  die  Eindringlichkeit,  mit 
der   er   seinen  Satz   vertritt,   dass    alles   im  Universum  zu  einer  Einheit 
verbunden  sei  und  dass  unser  Geschick  von  der  Sternenwelt  abhänge,   in 
nicht  geringem  Grade  zu  fesseln.  Von  keiner  poetischen  Bedeutung  ist  das 
zehnte  Buch  des  landwirtschaftlichen  Werks  Columellas  über  den  Gartenbau, 
es  ist  versifizierte  Prosa.    Interessant  ist  das  Gedicht  nur  deswegen  für  uns, 
weil  auch  hier  der  tiefe  Einfluss  Vergils  zu  Tage  tritt;  denn  der  Verfasser 
knüpft  an  die  Georgica  an  und  schreibt  dieses  Buch  in  Versen,  während 
sonst  sein  Werk  in  Prosa  abgefasst  ist,  weil  er  das,  was  bei  Vergil  keine 
Darstellung  gefunden,  ausführen  will;  die  Arbeit  stellt  sich  sonach  als  eine 
Ergänzung  der  Georgica  dar.    Ebenso  zeigt  das  Gedicht  über  den  Vulkanis- 
mus, Aetna  betitelt,  das  ebenfalls  unserer  Zeit  angehört,  zwar  die  Begei- 
sterung des  Verfassers  für   die  Naturerkenntnis,  aber  doch  keinen  gött- 
lichen   poetischen    Funken.    An    das  Lehrgedicht    mag   sich   die   Fabel 
anschliessen,  welche  zur  Zeit  Tibers  durch  Phädrus,  einen  nicht  besonders 
begabten  Dichter,  als  selbständige  Gattung  in  die  römische  Litteratur  ein- 
geführt wurde.   Wir  wenden  uns  zu  der  Satira.   Diese  hat  jetzt  eine  ganz 


Bückblick.  473 

andere  Verfassung  angenommen,  die  harmlose  Plauderei  der  horazischen 
Satiren  muss  dem  erbitterten  Schelten  Platz  machen.  Was  aber  noch 
mehr  zimi  Niedergang  der  Gattung  beiträgt,  ist,  dass  sie  nicht  mehr  aus 
dem  frisch  pulsirenden  Leben  herausquillt,  sondern  ein  Werk  kränkelnder 
Abstraktion  wird.  Persius  hat  nicht  auf  das  Treiben  der  Menschen  seinen 
Blick  geworfen,  sondern  in  seine  stoischen  Schulbücher;  Juvenal  gestaltet 
seine  Satiren  zu  Deklamationen;  aber  nicht  ist  es  die  Gegenwart,  die  ihn 
zu  seinen  Ausbrüchen  des  Zorns  hinreisst,  sondern  die  hinter  ihm  liegende 
tote  Vergangenheit.  Beiden  Dichtern  fehlt  die  Harmlosigkeit  und  Heiter- 
keit; ihre  Produkte  haben  zu  viel  Schatten  und  zu  wenig  Licht.  Auch 
die  andere  Form  der  Satire,  die  sogenannte  Menippeische,  lernten  wir  in 
einem  Produkt  kennen,  in  dem  Spottgedicht  Senecas  auf  Claudius,  welches 
den  sonderbaren  Titel  Apocolocyntosis  führt.  Es  ist  ein  geistreiches  Werk, 
aber  von  unedler  Gesinnung  und  gewährt  daher  k^nen  völlig  reinen  Ge- 
nuss.  Um  so  erfreulicher  steht  es  mit  der  „abgekürzten  Satire*',  dem 
Epigramm,  das  in  Martial  einen  wahrhaft  genialen  Vertreter  gefunden. 
Martial  ist  nicht  bloss  der  grösste  Epigrammatiker  der  Römer  geworden, 
er  ist  einer  der  grössten  Epigrammatiker  aller  Zeiten;  er  ist  aber  auch 
einer  der  grössten  Meister  der  römischen  Poesie  überhaupt,  denn  er  ist 
frei  von  dem  Fluch  der  römischen  Dichtung,  von  der  Rhetorik.  Das  Idyll 
bewegt  sich  in  den  von  den  Vergilischen  Eklogen  gezogenen  Bahnen;  es 
erscheint  wie  bei  ihm  in  der  Form  des  Hirtengedichts  und  nutzt  ebenfalls 
die  Allegorie:  diese  Allegorie  schielt  nach  dem  Hofe  und  gestaltet  das 
Idyll  zum  höfischen  Gedicht;  den  Charakter  desselben  können  wir  an  den 
Eklogen  des  Calpurnius  und  den  sogen,  zwei  Einsiedler  Gedichten,  welche 
sämtlich  der  Neronischen  Zeit  angehören,  studieren.  Auch  das  Gelegen- 
heitsgedicht, das  zur  Zeit  Domitians  in  den  Silvae  des  Statins  zur  Er- 
scheinung kommt,  stellt  sich  vorwiegend  in  den  Dienst  des  Hofes  und 
anderer  vornehmer  Persönlichkeiten,  doch  hat  der  Dichter  es  verstanden, 
uns  durch  anmutige  Schilderungen  zu  gewinnen.  Von  den  eigentlichen  lyri- 
schen Dichtern  hat  sich  keiner  erhalten ;  es  dürfte  kaum  einer  davon  eine 
tiefere  Bedeutung  gehabt  haben,  viel  Dilettantisches  lief  allem  Anschein 
nach  mitunter,  das  Obscöne  war  ein  stehendes  Element  dieser  Spielereien, 
und  selbst  eine  Dichterin,  Sulpicia,  scheute  nicht  davor  zurück.  Es  bleibt 
noch  das  Drama.  Die  Ursachen,  die  in  dem  vorigen  Zeitraum  der  vollen 
Entwicklung  der  dramatischen  Poesie  bei  den  Römern  entgegenstanden, 
wirken  auch  in  unserer  Epoche  noch  fort.  Doch  verdanken  wir  der- 
selben das,  was  wir  von  der  römischen  Tragödie  (von  Fragmenten  ab- 
gesehen) überhiCupt  besitzen.  Neun  Stücke  von  Seneca  sind  uns  erhalten; 
es  sind  freie  'Bearbeitungen  griechischer  Sagenstoffe,  das  Werk  eines 
geistreichen,  philosophisch  gebildeten  Mannes,  verhältnismässig  arm  an 
Handlung,  dagegen  überreich  an  Deklamationen.  Trotzdem  haben  diese 
Produkte  auf  die  Entwicklung  des  modernen  Dramas  den  grössten  Einfluss 
ausgeübt.  Auch  ein  Versuch  einer  nationalen  Tragödie  ist  uns  überkommen, 
der  nur  irrtümlich  den  Namen  des  Philosophen  angenommen  hat.  Das 
Stück  hat  auf  unser  volles  Interesse  Anspruch,  weil  es  uns  das  Wesen 
der   Praetexta   kennen  lehrt   und  uns  durch  den  tief  tragischen   Inhalt 


=r 


474     Bömische  Litteratnrgeschlchte.    II.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1;  Abieilnng. 

ergreift.  Ausser  Seneca  war  noch  der  berühmte  Feldherr  Pomponius  Se- 
cundus,  der  Oönner  des  älteren  Plinius,  und  Maternus  in  der  Tragödie 
thätig.  Die  Zeitgenossen  stellen  den  ersteren  sehr  hoch.  Selbst  in  der 
Komödie  fehlt  es  nicht  an  merkwürdigen,  jedoch  vermutlich  vereinzelten 
Bestrebungen.  Ein  CatuUus  schrieb  Mimen;  ein  Pomponius  Bassulus  über- 
setzte Menandrische  Stücke  und  lieferte  auch  Komödien  mit  eigener  Er- 
findung, ja  ein  Zeitgenosse  des  jüngeren  Plinius,  Vergilius  Romanus,  ging 
noch  weiter,  er  wagte  sich  an  Mimiamben  und  an  die  alte  griechische 
Komödie.  Alle  diese  Versuche  sind  von  der  Zeit  hinweggeschwemmt 
worden. 

Soweit  von  den  Leistungen  in  der  Poesie.  Für  die  Prosa  bedarf 
es,  *da  wir  diese  schon  nach  den  Gattungen  dargestellt  haben,  nur  noch 
einer  kurzen  Rekapitulation.  In  der  Geschichte  hatten  wir  den  Verlust 
zahlreicher  Schriften  zu  konstatieren ;  es  blieben  uns  noch  vier  Historiker, 
Velleius  Paterculus,  Valerius  Maximus,  Curtius  Rufus  und  Tacitus,  welche 
ihrem  inneren  Werte  nach  sehr  voneinander  verschieden  sind.  Das  Büch- 
lein des  Velleius  Paterculus  ist  eine  flüchtig  hingewoifene  Gelegenheits- 
schrift ohne  grössere  Quellenstudien,  doch  enthält  der  Abriss,  der  das 
Persönliche  stark  betont,  feine  Charakteristiken  und  zugleich  eine  aner- 
kennenswerte Berücksichtigung  der  Kultur  und  Litteratur.  Valerius  Maxi- 
mus ist  nicht  Historiker,  sondern  bloss  Sammler  historischer  Thatsachen 
für  den  Gebrauch  der  Rhetorschulen ,  sein  Verdienst  liegt  daher  nur  in 
dem  Auf  bau  der  Sammlung  und  in  der  Stilisierung;  und  selbst  dieses  Ver- 
dienst ist  ein  recht  zweifelhaftes.  Auch  Curtius  Rufus  kann  nicht  den 
Ehrennamen  eines  Historikers  beanspruchen,  da  er  auf  jede  Ki-itik  Ver- 
zicht leistet ;  sein  Verdienst  kann  ebenfalls  nur  in  der  Darstellung  gesucht 
werden,  welcher  ein  gewisses  Lob  nicht  versagt  werden  kann.  Dagegen 
der  vierte  Historiker,  Tacitus,  ist  die  grösste  Zierde  der  römischen  Historio- 
graphie und  kann  den  hervorragendsten  Geschichtschreibern  aller  Völker  bei- 
gesellt werden.  Seine  Erzählung  ergreift,  da  sie  im  Menschen  ihren  Aus- 
gangspunkt und  im  Psychologischen  ihr  Schwergewicht  hat,  das  Herz 
des  Lesers  aufs  tiefste.  Originell  ist  auch  der  Stil,  den  sich  der  Histori- 
ker geschaffen,  und  der  im  vollen  Einklang  mit  dem  dargelegten  Stoffe 
steht.  Die  Geographie  ist,  wie  einige  Exkurse  bei  Tacitus  zeigen,  gern 
Dienerin  und  Begleiterin  der  Geschichte,  doch  treten  uns  auch  geogra- 
phische Arbeiten  isoliert  entgegen,  wie  die  meisterhafte  Germania  des  Ta- 
citus und  das  bescheidene  Büchlein  des  Pomponius  Mela,  die  älteste  latei- 
nische Geographie,  die  uns  überkommen  ist.  In  der  Beredsamkeit 
können  wir  keine  hervorragenden  Leistungen  erwarten,  da  für  die  Blüte 
der  rednerischen  Kunst  die  wesentlichen  Voraussetzungen  fehlen.  Die  Rede 
hat  als  dedamatio  ihren  Sitz  in  der  Schule.  Der  rhetorische  Unterricht 
that  aber  sein  Mögliches,  um  die  Beziehung  zum  Leben  zu  lockern  und 
sich  in  eine  unnatürliche  Welt  des  Scheins  zurückzuziehen.  Für  die  Bil- 
dung der  lateinischen  Welt  war  das  Treiben  der  Rhetorschulen  mit  ihren 
sonderbaren  phantastischen  Themata  von  unheilvollem  Einfiuss.  Das  ge- 
künstelte Pathos,  das  Haschen  nach  blendenden  Stellen,  das  Manirierte  des 
Ausdrucks  hat  dort  seine  Quelle.    Aufmerksamen  Beobachtern  entging  der 


Rttckblick.  475 

Sitz  des  Übels  nicht.  Quintilian  deckte  in  einer  eigenen  Schrift  denselben 
auf  und  hoffte  auf  eine  Besserung  durch  Regenerierung  des  Ciceroni- 
schen Stils.  Allein  schärfer  sah  das  Auge  des  Tacitus.  Der  erkannte, 
dass  die  Schäden  tiefer  liegen  und  in  der  Monarchie  überhaupt  eine  Blüte 
der  Beredsamkeit  unmöglich  sei,  und  dass  derjenige,  welcher  den  Pulsschlag 
der  Zeit  richtig  fühle,  seinen  Blick  auf  andere  Gebiete  des  litterarischen 
Schaffens  lenken  werde.  Wir  lernen  die  rhetorische  Kunst  aus  einem  sehr 
traurigen  Produkt  kennen,  aus  dem  Panegyricüs  des  Plinius,  der  uns  die 
vielen  verlorenen  Reden  anderer  Redner  leichter  verschmerzen  lässt.  An 
die  Stelle  der  Rede  trat  in  unserem  Zeitraum  eine  andere  Form  des  sti- 
listischen Könnens,  der  Brief.  Derselbe  löste  das  Band  zwischen  dem 
Briefschreiber  und  dem  Adressaten  und  war  gleich  von  vornherein  für  die 
Öffentlichkeit  bestimmt.  Den  Brief  von  dieser  Seite  können  wir  aus  der 
grossen  Sammlung  desselben  Plinius  beurteilen,  während  der  wirkliche  Brief 
in  der  zwischen  ihm  Und  dem  Kaiser  Traian  geführten  Korrespondenz 
vorliegt.  Auch  die  Philosophie  brauchte,  da  sie,  auf  praktischer  Grund- 
lage, nicht  auf  theoretischer  Spekulation  ruhend,  auf  den  Willen  des  Men- 
schen wirken  wollte,  die  populäre  Fassung  und  die  Kunst  der  eindring- 
lichen Rede.  Diese  Richtung  tritt  uns  in  den  zahlreichen  Abhandlungen 
Senecas  entgegen.  Der  Fachgelehrsamkeit  haben  nicht  wenige  Bearbeiter 
ihre  Kräfte  gewidmet.  An  der  Spitze  stehen  die  encyklopädischen 
Darstellungen,  das  Werk  des  Celsus,  welches  die  Landwirtschaft,  die 
Medizin,  das  Kriegswesen,  die  Rhetorik,  die  Philosophie  und  die  Jurispru- 
denz zusammenfassend  behandelte,  und  das  Werk  des  älteren  Plinius, 
welches  die  Natur  und  ihre  Beziehungen  zum  Leben  darlegte;  von  der 
ersten  Encyklopädie  ist  uns  nur  die  Medizin  erhalten,  ein  anmutig  ge- 
schriebenes Buch,  das  uns  den  Verlust  der  übrigen  Teile  lebhaft  be- 
dauern lässt,  die  zweite  Encyklopädie  liegt  vollständig  vor,  sie  birgt  in 
sich  einen  ungeheuren,  höchst  wertvollen  Stoff,  allein  derselbe  ist  nicht 
durch  eigene  Sachkenntnis  gehoben,  sondern  ohne  Kritik  aus  Büchern  zu- 
sammengetragen. Von  den  einzelnen  Fachwissenschaften  erfreute  sich  der 
eifrigsten  Pflege  die  Philologie,  hier  leuchten  drei  glänzende  Gestirne, 
Remmius  Palaemon,  Asconius  und  Valerius  Probus,  in  verschiedener  Weise 
thätig,  aber  jeder  in  meisterhafter  Weise.  Valerius  Probus  hat  sich  als 
Feld  für  seine  Studien  die  Rezension  und  Emendation  lateinischer 
Autoren  erkoren  und  es  darin  zu  einem  hohen  Ansehen  gebracht,  mit 
Recht  hat  man  ihn  den  Aristarch  der  Römer  genannt.  Das  Arbeitsfeld 
des  Asconius  ist  die  historische  Exegese  und  dieselbe  ist  von  ihm  mit 
solcher  Meisterschaft  gehandhabt  worden,  dass  sie  noch  heutzutage  die 
Bewunderung  aller  Sachkenner  erregt.  Von  Palaemon  wurde  eine  Gram- 
matik der  lateinischen  Sprache  geschrieben,  welche  leider  verloren  ist, 
deren  grossen  Einfiuss  auf  die  späteren  Grammatiker  wir  aber  noch  heute 
gewahren.  Unter  den  Lehrern  der  Rhetorik  ist  Fabius  Quintilianus  un- 
leugbar der  hervorragendste.  Seine  Lehrschrift  ist  bewunderungswürdig 
durch  die  Fülle  des  dargebotenen  Stoffs,  durch  die  ruhige  edle  Darstellung 
und  durch  den  ethischen  Hintergrund.  In  der  Jurisprudenz  wirkt  der 
von  Labeo  und  Capito  begründete  Schulgegensatz  fort,  er  führt  auch  zu 


476     Römiache  Litteratnrgeachichte.    ü.  Die  Zeit  der  Monarchie.    1.  Abteilanf^. 

einer  äusserlichen  Schulorganisation;  die  Anhänger  Labeos  hiessen  nach 
einem  späteren  Leiter  der  Schule  Proculianer,  die  Anhänger  Capitos  da- 
gegen Sabinianer  oder  Cassianer.  Beide  Schulen  können  ungemein  scharf- 
sinnige Kapazitäten  aufweisen,  welche  zum  Ausbau  der  Jurisprudenz  unend- 
lich viel  beigetragen  haben.  Auf  Seite  der  Proculianer  ist  eine  Leuchte  der 
jüngere  P.  Juventius  Celsus,  auf  Seite  der  Sabinianer  hat  Masurius  Sa- 
binus  die  Entwicklung  der  Rechtswissenschaft  mächtig  gefördert.  Selbstver- 
ständlich mussten  die  Gegensätze,  welche  zwischen  beiden  Richtungen  bestan- 
den, sich  immer  mehr  ausgleichen,  um  schliesslich  in  eine  höhere  Einheit 
aufzugehen.  Unter  den  Bearbeitern  der  realen  Disziplinen  ist  unstreitig 
der  bedeutendste  Frontinus.  Derselbe  war  in  verschiedenen  Zweigen  des 
praktischen  Lebens  und  zwar  in  ganz  hervorragenden  Stellen  thätig;  als 
ein  Geschäftsmann,  der  mit  vollem  Interesse  seinen  Obliegenheiten  nach- 
kam, hatte  er  auch  das  Bedürfnis,  seine  verschiedenen  Sparten  theoretisch 
zu  durchdringen.  So  schrieb  er  technische  Militärschriften,  ein  vortreff- 
liches Promemoria  über  die  Wasserleitungen,  in  der  Feldmesskunst  war 
er  wie  allem  Anschein  nach  praktisch,  so  auch  theoretisch  thätig.  In 
der  Feldmesskunst  stellten  sich  noch  andere  Arbeiter  ein;  sie  gewinnt 
jetzt  ihre  feste  Stellung  in  der  Litteratur.  Theoretisch  gewährt  diese  Dis- 
ziplin keine  nennenswerte  Ausbeute,  die  mathematische  Grundlage  ist  von 
Griechen  entlehnt,  im  besonderen  von  Heron  aus  Alexandrien.  Allein  der 
praktische  Betrieb,  der  auch  in  das  Gebiet  der  Jurisprudenz  hinübergreift, 
ist  von  hohem  Interesse ;  wir  dürfen  daher  auch  diese  Litteratur,  die  frei- 
lich zerrüttet  und  entstellt  vorliegt,  nicht  geringschätzig  übersehen.  Von 
den  übrigen  Vertretern  der  realen  Disziplinen  verdient  unsere  Beachtung 
noch  in  hohem  Grade  der  landwirtschaftliche  Schriftsteller  Columerä, 
der  die  ethische  Bedeutung  der  Agricultur  für  das  Staatswesen  voll  erkannt 
und  dem  Fach  zum  erstenmal  auch  den  Schmuck  der  Darstellung  ver- 
liehen hat.  Ihm  gegenüber  treten  Personen ,  wie  der  Rezeptensammler 
Scribonius  Largus  und  Caelius,  der  Verfasser  eines  Kochbuchs,  in  den 
Hintergrund. 


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