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in 2008 with funding from
University of Toronto
https://archive.org/details/geschichtedesant01phuoft
Geſchichte
des
antiken Kommunismus
und
TASCS He
Geſchichte
—
antiken Köommunismus
Sozialismus
Dr. Bobert, Pohlmann,
o. Profeſſor der alten Geſchichte an der Univerſität Erlangen.
—
München 1893 Yy
C. 5. Beck'ſche Verlagsbuchhandlung
Oskar Bed,
Alle Rechte vorbehalten.
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69. Bechſche Buchdruckerei in Nördlingen.
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Dormwort
Eine Gejchichte des antifen Kommunismus und Sozia-
lismus ift noch nicht geſchrieben.) Die junge Wiſſenſchaft
der Sozial- und Wirtichaftsgejfchichte Hat ſich aus nahe-
liegenden Gründen ganz überiwiegend dem Mittelalter und
der Neuzeit zugewendet, während die Altertumskunde troß
mancher trefflicher Einzelarbeiten den Fortichritten der mo-
dernen Staats: und Soztalwiljenichaft noch lange nicht ge—
nügend gefolgt it. Obwohl wir in Deutjchland nad) dem
epochemachenden Vorgang von Stein und Gneiſt längit ge
lernt haben, die ganze Nechts- und Verfalfungsgeichichte auf
der Gejchichte der Geſellſchaft aufzubauen, hält die Altertums-
funde noch immer an der mechanischen Scheidung von Staats-,
Necht3: und Privataltertiimern feſt und erſchwert ſich jo ſelbſt
den Weg, auf dem ſie allein zu einer umfaſſenden ſozial—
wiſſenſchaftlichen Analyſe der zahlreichen Probleme gelangen
könnte, in denen all dieſe Gebiete unauflöslich ineinander—
greifen.?)
) Das Buch von Cognetti de Martiis: Socialismo antico (Turin
1889) behandelt nur einzelne Teile der Aufgabe und läßt es andererjeits zu
jehr an einer eindringenden Analyje und ſyſtematiſchen Verarbeitung des
Stoffes fehlen.
2) Wenn man freilich, wie es joeben wieder in der Ankündigung der
VI Vorwort.
Allerdings ſind die Schwierigkeiten derartiger Arbeiten
außerordentlich groß! Einerſeits wird ſchon die rein philo—
logiſch-hiſtoriſche Behandlung durch die Beſchaffenheit der
antiken Überlieferung in hohem Grade erſchwert, andererſeits
ſieht ſich hier der Forſcher ununterbrochen genötigt, in Ge—
biete überzugreifen, auf denen er unmöglich allen Fachmann
ſein kann. Eine allſeitige Würdigung ſozialgeſchichtlicher Er—
ſcheinungen iſt nicht möglich ohne eine ſyſtematiſche Verwer—
tung der Ergebniſſe der verſchiedenartigſten Wiſſenszweige:
der Pſychologie, der Ethik und Rechtsphiloſophie, der Rechts—
und Staatswiſſenſchaften, der Volkswirtſchaftslehre und Sozial—
wiſſenſchaft, der allgemeinen Kultur- und Wirtſchaftsgeſchichte
u. ſ. w. Dazu kommt, daß dieſe Ergebniſſe vielfach höchſt
ſchwankend, unſicher und widerſpruchsvoll ſind, daß häufig
nicht einmal über die wiſſenſchaftliche Terminologie eine ge—
wiſſe Einigung erzielt iſt. Gerade die Sozialwiſſenſchaft
ftellt auf dDogmengefchichtlichem Gebiete ein Chaos dar!!)
dritten Auflage von Pauly's Nealenchklopädie geichieht, Staat und Recht
ala „Antiquitäten“ betrachtet und demgemäß behandelt, jo famı von einer
lebendigen Auffaffung im Sinne moderner ſtaats- und ſozialwiſſenſchaftlicher
Auffaſſung nicht die Rede jein.
1) Die Verwirrung, die auf diejem Gebiete 5. B. über den Begriff
„Sozialismus“ herrjcht, wird von einem hervorragenden Syjtematifer mit
Recht als eine „Llägliche“ bezeichnet. ©. Diebel: Beiträge zur Gejch. des
Sozialismus und Kommunismus. Ztichr. F. Lit. u. Gejch. der Staatsw. T, 1.
Dazu die Einleitung in das schöne Buch desjelben Bf. über Rodbertus. —
Aber auch der äußert ſcharfſinnige und anregende Verſuch Diebels, eine
neue Terminologie zu begründen, iſt nicht ohne Widerjpruch geblieben, und
es dürfte in dev That nicht möglich fein, eine jo ſcharfe Grenzlinie zwischen
Sozialismus und Kommunismus zu ziehen, wie es hier gejchteht.
Diejev unfertige Zuftand auf dogmengejchichtlichem Gebiete mag es
entjchuldigen, wenn auch die in der vorliegenden Schrift zu Grunde gelegte
Auffafjung des Sozialismus als des Inbegriffes der auf möglichite Soziali—
Vorwort. VII
Allein ſo groß das Wagnis iſt, welches der Altertums—
forſcher auf ſich nimmt, wenn er unter ſolchen Verhältniſſen
an eine der ſchwierigſten Aufgaben der Sozialgeſchichte heran—
tritt, umgehen läßt jich Diejelbe auf die Dauer von der
Altertumswilfenichaft nicht. Soll es wahr bleiben, was
Lafjalle im Hinblid auf eine Rede August Böckhs gejagt hat,
da in Deutjchland gegen das Mancheftertum glüclicherweife
die antife Bildung ein Gegengewicht bildet, — ſoll diefelbe
wirklich, wie er noch hoffte,) die „unverlierbare Grundlage
des deutſchen Geiſtes“ bleiben und fich gegen den einbrechenden
Materialismus behaupten, dann muß auch eine Darftellung
des antifen Lebens erreicht werden, die, — um mit dem
unvergeplichen Nitzſch zu reden, — die alte Welt von den—
jelben Lebensfragen bis zum Grunde bewegt zeigt, welche
noch heute zum Teil ungelöft jeden ehrlichen Mann beichäf-
tigen.?)
Ver ſolche Fragen mehr oder minder ignorieren zu
fünnen glaubt, weil dabei, wie ein Bhilologe von des Ver-
faſſers Buch über die antiken Großſtädte gemeint hat, das
philologiſche Intereſſe zurücdtrete, der ſetzt ſelbſt den Wert
herab, welchen die Antike gerade für die Gegenwart ge—
winnen könnte.“) Jedenfalls wird derjenige, der es nie
ſierung von Volkswirtſchaft und Geſellſchaft gerichteten Beſtrebungen nicht
völlig befriedigen kann.
1) Es berührt uns heutzutage mit einer gewiſſen Wehmut, wenn wir
einer Zeit gedenken, in der ſelbſt ein radikaler Weltverbeſſerer, wie Laſſalle,
ſich mit ſolcher Wärme zu den Grundlagen unſerer höheren Bildung be—
kennen konnte, der Bildung einer Geſchichtsepoche, die er als ſolche doch „im
Ablaufen begriffen“ wähnte!
2) In der Vorrede zu den „Gracchen“.
3) Vgl. meine Abh. über „das klaſſiſche Altertum in jeiner Bedeu—
VII Vorwort.
ernftlich verſucht hat, ſich Nechenfchaft zu geben von den
legten Gründen Jozialen Lebens, nimmermehr dazu gelangen,
die antike Welt ſich und Anderen wirklich lebendig zu machen.
Das Ideal aller Humaniftiichen Bildung, auf einem Gebiete
heimiſch zu jein, von dem aus man die wejentlichjten Inter:
efjen der Menjchheit zu verftehen vermag, es iſt für ihn
nicht vorhanden.
Auch handelt es fich hier ja um Studien, welche für
die Erkenntnis des antifen Lebens überaus ergebnisteich
werden können. Wie Curt Wachsmuth in feiner Leipziger
Antritterede mit Necht bemerkt hat, find auf dem Gebiete
der antiken Sozial und Wirtfchaftsgefchichte ganz elementare
ragen noch gar nicht geſtellt, geichweige befriedigend beant-
worte. Wo Hätten wir 3. B. eine wirklich genügende kri—
tische Analyſe und fozialpolitiiche Würdigung der platonifch-
arijtoteliichen Staats: und Gejellichaftstheorie?
Ver hier von den richtigen Gefichtspunften aus und
mit der richtigen Frageftellung an die Quellen herantritt,
wird jelbft da, wo kaum eine Nachlefe möglich ſchien, über-
raſchende Nelultate gewinnen, wahre Entdederfreude erleben
fönnen. Auch der vorliegenden Arbeit hat Ddiejelbe nicht
gefehlt; und wenn Vf. irgend auf Anerkennung rechnen darf,
jo wird man ihm wenigitens die vielleicht nicht verfagen,
daß die hier durchgeführte Methode und Betrachtungsweile
wohl geeignet ift, auf wichtige Seiten des antiken Kultur:
und Geifteslebens ein neues Licht zu werfen, unfer Wifjen
von der Antife zu erweitern und zu vertiefen,
tung für die politifche Grziehung des modernen Stantsbürgers” (Beilage
3. allgem. Ztg. 1891 No. 26 u. 27.)
Vorort. 1X
Leider war es nicht möglich, in dem vorliegenden Bande
das erſte Buch zum Abſchluß zu bringen. Die Gejchichte
des Staatsromans und der Jozialen Demokratie in Hellas
muß dem zweiten (Schluß) Bande vorbehalten bleiben, der
außerdem noch Rom und die veligiöfen Erſcheinungsformen
des antifen Sozialismus (im Juden- und Ghriftentum und
im Mazdatismus) zur Darftellung bringen ſoll.
Grlangen im DOftober 1893.
Robert Vöhlmann.
Intzact.
Erſtes Buch. Hellas.
Erſtes Kapitel. Der Kommunismus älterer Geſellſchaftsſtufen.
Wahrheit und Dichtung 5—146.
Erſter Abfhnitt. Der Kommunismus der Urzeit. 3—17.
Wirtſchaftsſyſtem und Gigentumsordnung. Periode des Gejamteigen:
tums am Grund und Boden 4. — Genoſſenſchaftliche Befiedlung des Landes 7.
— Gejchlechtsverband und bäuerliche Anfiedlungsgemeinde 8. — Die Frage
nach der Eigentumsordnung der älteften Agrargemeinde und das angebliche
„Geſetz“ in Bezug auf das Kolleftiveigentum als eine notwendige Entwidelungs-
phaje des Agrarrechts 9. — Problematischer Charakter der vergleichenden
Methode 10 — ſowie der aus dem Genofjenjchaftsbegriff abgeleiteten Ansicht
Nommfens von der fommuniftischen Organifation der älteſten heflenischen Dorf:
mark 14. — Angebliche Spuren diejes Kommunismns im griechischen Recht 15.
Zweiter Abfhnitt, Die Haustommunion und die Frage der Feld:
gemeinjchaft bei Homer 17—46.
Der patriarchale Haushalt des Priamus ein Abbild der fommuniftischen
Hausgemeinschaft 17. — Hausfommunion und Dorfgemeinjchaft 19. — An:
gebliche Spuren der Feldgemeinſchaft 22 — und des Gejamteigentums im
Epos 32. — Uralte Entwiclung des Privateigentums im Zujammenhang
mit dem raſchen Fortjchritt dev wirtichaftlichen Kultur 38.
Dritter Abfhnitt. Der Kommuniftenjtaat auf Lipara 46—52.
Der Bericht Diodors 46. — Der Kommunismus der Liparer nicht
ein „Nachflang aus der Wanderzeit der doriichen Stämme” 48, — jondern
eine aus den örtlichen Verhältniffen zu erflärende finguläre Ericheinung 49.
Dierter Abſchnitt. Angebliche Spuren des Kommunismus in Groß:
griehenland 53—58.
Falſche gejchichtliche Schlußfolgerungen aus der Phthagoraslegende 53
— ſowie aus den arijtotelifchen Bemerkungen zur Sozialgejchichte Tarents
Inhalt. xT
54. — Wahre Bedeutung derjelben für die Geichichte der jozialen Auffaffung
des Eigentums 55.
Fünfter Abfhnitt. Die jtaatlich organifierte Bürgerjpeijung Spartas
und Kretas und der Sozialismus des friegeriichen Geſellſchafts—
typus 58—78.
Die Syifitien Überreft eines agrariichen Kommunismus? 59. — Die
homerischen Staatsmahle 60. — Die jpartanijch-kretiichen Syifitien in ihrem
Zujfammenhang mit der Wehrverfaflung und dem Sozialismus des friege:
rischen Gejellichaftstypus 62. — Sonjtige Formen von Syifitien 66. — Streng
gemeinwirtichaftliche Organifation des Inſtituts der Bürgerjpeifung auf
Kreta 69. — Kritik der Anſchauung als ſei diejelbe eine „rein kommu—
niſtiſche“ 72.
Sechſter Abfhnitt. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaſſung 78--103.
Alter der Flurteilung 78. — Verteilung der Landloje 82. — Nr:
jprüngliche genofjenjchaftliche Organijation des Agrarbefites? 85. — Kritik
der Argumente für die Annahme eines ftaatlichen Gejamteigentums am Grund
und Boden 86. — Begriff der noAırız) zwoe« 86. — Die Gebundenheit
de3 Agrarrechts und der Begriff des Privateigentums 87. — Angebliche
jozialpolitifche Wirkſamkeit des jpartanifchen Königtums im Intereſſe einer
möglichjt gleichheitlichen Verteilung des Grundeigentums 93. — Einfluß der
fozialen Theorie auf diefe Annahme 99. — Unmöglichkeit derjelben angefichts
der frühzeitigen Entwidlung des Imdividualeigentums am Grund und
Boden 101.
Siebenter Abfhnitt. Der Sozialftaat der Legende und das ſozia—
Liftiijche Naturreht 104—146.
Angebliche Tradition, dab die ſpartaniſche Grundeigentumsordnung
grundjäglich auf die Gütergleichheit angelegt gewejen jei 104. — Die
Legendenbildung und die foziale Frage 105. — Die jozialgejchichtlichen
Konftruftionen des fünften und vierten Jahrhunderts 108. — Die Lehre
vom Naturzuftand 110 — und der Glücjeligkeit einer kommuniſtiſchen Ur—
zeit 111. -— Plato 112. — Dikäarch 113. — Pofidonius und die Stoa 114.
— Die Idealiſierung der Naturvölfer 117. — Die vouue Bagßegıxa und
die fommuniftiichen Ideale 118. — Die Legende von dem joztalen Muſter—
ftaat Sparta 123. — Gejchichtlihe Anknüpfungspuntte 124. — Idealvor—
ftellungen don dem ethiichen und fozialpolitifchen Wert dev „lykurgiſchen“
Snftitutionen 125. — Iſokrates 126. — Ephorus 127. — Die Stva 128.
— Übereinftimmung der idealifierten Inftitutionen des „Iykurgiſchen“ Sparta
mit dem VBernunft und Naturrecht 131. — Anfnüpfung an den Tierjtaat
und an das Leben der Naturvölfer 132. — Volkswirtſchaftliche Schluß—
x11 Inhalt.
folgerungen aus diejer naturrechtlichen Auffaffung auf dem Gebiete des Agrar:
rechts 137. — Angebliches Recht jedes Bürgers auf einen Landanteil 138,
— Kritiklofigkeit der aus der Schule des Sokrates hervorgegangenen Hifto-
riographie gegenüber den thatjächlichen Erſcheinungen des fpartanifchen
Agrarrehts 139. — Verwandtſchaft zwiſchen dem Idealbild Altathens bei
Iſokrates und dem Mufterftaat Sparta bei Ephorus u. A. 140. — Piycho-
logische Entjtehungsmotive dieſer fozialpolitiichen Konftruftionen. Moderne
Analogien 143,
Zweites Kapitel. Die individnaliſtiſche Ierfekung der Geſellſchaft
und die Keaktion der philoſophiſchen Stants: und Gefellfhaftstheorie
146—264.
Erſter Abſchnilt. Individualiſtiſche Tendenzen 146—156.
Sozialökonomiſche Mißſtände 146. — Die Souveränität der Geſell—
ſchaft und ihre Folgen für das ſtaatliche Leben 147. — Der Klaſſenegoismus
und die Klaſſenherrſchaft 148. — Das individualiſtiſche Naturrecht 150. —
Der ſoziale Klaſſenkampf 153.
Sweiter Abſchnilk. Der Kampf der idealiſtiſchen Sozialphiloſophie
gegen den extremen Jndividualismus. Allgemeine jozialethijche
Pojtulate 156— 184.
Allgemeine Richtung der jozialphilofophiichen Gedanfenarbeit des
vierten Jahrhunderts 156. — Der Weg zum jozialen Frieden 157. — Die
„organiſche“ Staatsidee 161. — Begründung einer jozialen Ethit 167. —
Konſequenzen derjelben für die Auffaffung des Staates und ſeiner Auf:
gaben 177.
Dritter Abſchnitt. Die platonifche Kritik der gefhichtlichen Staats:
und Gejellihaftsordnung 184— 198.
Allgemeiner Ausgangspunkt 184. — Entftehungsgejchichte der Pluto:
fratie 186. — Das „Drohnen”- und Spefulantentum 189. — Piychologijches
Ergebnis des arbeitslojen Nentengenuffes 193. —-Rückwirkung auf die niederen
Volksklaſſen 194. — Kataſtrophe der Plutofratie 195. — Ochlokratiſche
Herrſchaft der materiellen Intereſſen 196. — Letztes Ergebnis der entfeſſelten
egoiſtiſchen Triebe: Die Tyrannis 196. — Entartung des Volksgeiſtes 197.
Vierter Abſchnikk. Angriffe der idealiſtiſchen Sozialphiloſophie auf
die Grundlagen der beſtehenden wirtſchaftlichen Rechtsordnung
198 — 264.
Notwendigkeit des Rückſchlages gegen die bisherige Entwicklung der
fozialen Zuftände 200. — Einſeitig ökonomiſche Beurteilung derjelben 201
— und deven Konſequenzen 202. — Hoffnung auf eine fittliche Wiedergeburt
Inhalt. XIH
durch die radifale Umgeftaltung der fapitaliftiichen Volkswirtſchaft 203. —
Der „Kampf gegen Reichtum und Armut“ 204. — Die Lehre von der Natur-
twidrigfeit des wirtichaftlichen Wettjtreites und von der fozialen Harmonie
de3 Naturzuftandes 209. — Forderung einer Rückkehr zu älteren, überwiegend
agrariichen Formen der VBolfswirtichaft 218. — Angriffe auf die jpefulativen
Tendenzen de3 Handels 221. — Healifierung des „wahren Wertes“, der
objektiven Gerechtigkeit des Preifes durch die Staatsgewalt 224. — Befeiti:
gung der Eigenjchaft des Geldes, als Erwerbsvermögen zu dienen, durch
Ausichliegung des edeln Metalles und aller Kreditgejchäfte 226. — Die
Lehre von der Naturiwidrigkeit des Geld- und Zinsgejchäftes 229 — und
der merfantilen Spekulation überhaupt 230. — Kontraſt zwischen diefen
dem Handel und Gewerbe abgeneigten Anjchauungen und der thatjächlichen
Entwicklung der hellenijchen Induſtrie- und Handelsjtaaten 236. — Berüh—
rungen der hellenischen mit der modernen joztaliftiichen Kritik des beftehenden
MWirtichaftsrechts und Wirtjchaftslebens 242. — Bleibende Errungenschaften
246. — Der „beite” Staat 262.
Drittes Kapitel. Organifationspläne zum Aufbau einer neuen
Stants: und Geſellſchaflsordnung 264—610.
Erfer Abfhnitt. Das Staatsideal des Phaleas von Chalcedon
264— 269.
Mangelhaftigkeit des ariftoteliichen Berichtes. Beſchränkung desjelben
auf einzelne fonfrete Fragen der jozialen Reform 265. — Die Forderung
einer Verftaatlichung der Induftrie und ihre Bedeutung im Syſtem 266. —
Gleiche Berteilung des Grumd und Bodens 267. — Ideenverwandtſchaft
mit Plato 267. — Die Kritik des Ariftoteles 268,
Zweiter Abſchnitt. Der VBernunftitaat Platos 269—476.
1. Der Staat und feine Organe 269— 294.
Die Erhebung des Staates über den jozial-öfonomijchen Intereſſen—
jtreit 269. — Herftellung des reinen Amtscharakters des öffentlichen Dienftes
271. — Konzentrierung aller politifchen Gewalt in den Organen der Gemein:
ichaft 271. — Das Prinzip der Arbeitsteilung 272. — Syjtematijche Ab-
ſchließung des Beamtentums und des Wehrftandes gegenüber den Erwerbs—
jtänden 277. — Die Güter-, Frauen: und Kindergemeinjchaft dev Hüterklaffe
278. — Die Erziehung derjelben durch den Staat 281. — Die Herrjchaft
der Philojophen 285. — Erhaltung der Zahl und Tüchtigfeit dev Hüter:
Elafje durch planmäßige Regelung der Fortpflanzung 290. —
2. Das Bürgertum 294—-371.
Gründe des Schweigens Platos über das Sozial: und Wirtſchafts—
recht der Erwerbsſtände 294. — Falſche Vorausſetzung der herrſchenden Anz
XIV Inhalt.
ſicht über die Stellung der letzteren im Vernunftſtaat 298. — Unvereinbarkeit
des Geſetzesſtaates mit dieſer Anſicht 299. — Angebliche Gleichgiltigkeit des
Vernunftſtaates gegen das wirtſchaftende Bürgertum 302. — Zeugniſſe für
das Gegenteil 302. — Analoger Standpunkt des Geſetzesſtaates 304. — Die
Anſchauungen der Politeia über die intellektuelle und moraliſche Beſchaffen—
heit der Erwerbsſtände 307. — Analoge moderne Anſichten über die geiſtige
und ſittliche Unreife der großen Maſſe 318. — Die Ausſchließung der Er—
werbsſtände von der Politik als logiſche Konſequenz des Syſtems 325. —
Folgerungen aus der platoniſchen Anſchauung von den Aufgaben der wahren
Staatskunſt 326, — aus dem Intereſſe des Bernunftitaates an der politifchen
und jozialen Gefinnung des dritten Standes 328, — aus der Berfafjung 332.
Sonjequenzen der ganzen Stellung des dritten Standes ſelbſt 332, — der
Spzialifierung des Arbeitslebens 333 — ſowie der Anforderungen, welche
der Staat an das Schaffen der „Demiurgen“ ftellt 334. — Bedeutung der
in den „Geſetzen“ vertretenen Anficht über die Grziehung der Jugend für
ihren fünftigen Beruf 336. — Folgerungen aus dem gegenjeitigen Verhältnis
der Stände im VBernunftitaat 337. — Die Tugenden de3 dritten Standes
343. — Hinweis auf die prinzipiellen Anfichten Platos über Erziehung,
Unterricht und allgemeine Schulpflicht 345. — Die Frage der Volksfittlichkeit
zugleich eine twirtjchaftliche und joziale Frage 348. — Intenfivfte Ausnützung
und Steigerung der individuellen Kräfte eine Eriftenzbedingung des Staates 349.
— Daher fein arbeitslojes Proletarier- und Nentnertum 351. — Unverein-
barfeit der herrichenden Anficht über das Wirtjchaftsrecht des dritten Standes
mit dem Ginheitsgedanfen des Bernunftjtaates 353. — Forderung einer ftaat-
lichen Regelung der Eigentumsfrage in der wirtichaftenden Gejellichaft 354.
— Allgemeine Andeutungen 355. — VBolfswirtichaftliche Konjequenzen der
platonifchen Anficht von der wahren Staatstunft 356 — und von der Ein-
heitlichfeit des Staates 357. — Angebliche Zeugnifje für eine rein indivi-
dualiftiiche Gigentumsordnung der Erwerbögejellichaft 359. — Pofitive Zeug-
nifje für Platos Anficht von der Notwendigkeit einer möglichiten Verallge—
meinerung der Gemeintirtichaft 361. — Die Kritik des Ariftoteles 363. —
Allgemeines Ergebnis in Bezug auf die Stellung Platos zum Grundproblem
der jozialen Ethik. Ariftofratiiche und demokratiſche Geſellſchaftsmoral 365.
— Das ariftofratiiche Prinzip Platos feine „Herrenmoral“ 367. — Ber:
jöhnung des Kultur: und des Glücksziels 370. — Herftellung der jozialen
Harmonie zwiſchen Minderheit und Mehrheit 371.
3. Die Koinzidenz don Sozialismus und Individualismus im
platonijchen Staatsideal 371-414.
Herkömmliche Anficht von der abjoluten Auflöſung aller individua-
liſtiſchen Tendenzen im Sozialismus des Vernumftftaates 371. — Ihatfächliche
Inhalt. XV
Gejtaltung: Boranftellung des Sozialprinzips 374. — Individualiſtiſche
Elemente der Kosmologie und Religionsphilojophie 377, — der Piychologie
und Ethik Platos 380. — Ergebnis 387. — Das individuelleeudämoniftijche
Element in der Staatslehre Platos 338. — Falſcher Ausgangspunkt der
herrſchenden Anjchauungsweife 391. — Kritik der zur ihren Gunften geltend
gemachten Stellen der Politeia 395. — Koinzidenz des öffentlichen und des
individuellen Glüdes 397. — Individualiſtiſche Argumentation zur Gewin-
nung des Einzelnen für den platonischen Staatsgedanten 399. — Appell an
das wohlverſtandene Selbjtinterejje 400. — Die Prinzipien der Gerechtigkeit,
Sreiheit und Gleichheit im Vernunftitaat 405. — Die Koinzidenz des Sozial:
und Individualprinzips 412.
4. Die Verwirflihung des Vernunftitaates 414—421.
Theorie und Praxis 414. — Glaube Platog an die Nealifierbarfeit
jeineg Staatsideals 415. — Notwendige Vorausſetzung derjelben 416. —
Die „Reinigung“ der bejtehenden Gejelljchaft 417. — Glaube an die Mög-
lichkeit einer friedlichen Verwirklichung 419. — Die Erhaltung des Ver:
numftitaates 421.
5. Zur geſchichtlichen Beurteilung der Politeia 421—476.
Die „Utopie“ eine berechtigte Literaturform? 421. — Die Frage der
praftijchen Verwirklichung 425. — Prüfung der Politeia auf ihren Gehalt
an bleibenden Ergebnifjen: Die dee einer jelbjtändigen Nepräfentation des
Staatögedanfens durch eine wahre Amtsgewalt 427. — Emanzipation von
den Illuſionen des einjeitig politifchen Doktrinarismus in Beziehung auf
die fortjchreitende Demokratifierung des Staates 428. — Die Überivindung
des abjtraften Freiheit: und Gleichheitsprinzips der reinen Demokratie 430.
— Die Erkenntnis der Notwendigkeit der qualifizierten (bevufsmäßigen) Ar:
beit al3 Grundlage einer techniſch möglichit vollfommenen DVBerwirklichung
der Staatszwecke 433. — Verwirklichung der dee des jozialen Charakters
der Privatrechte 434. — Anerkennung der grundjäßlichen Berechtigung einer
umfaſſenden jtaatlichen Thätigkeit auf dem Gebiete dev Volkswirtſchaft 435.
— Berührungen mit den jozialreformatorischen Beftrebungen der Gegenwart
437. — Die Kombination der beiden großen Lebensprinzipien der Geſell—
jchaft 444. — Verirrungen und Ginjeitigfeiten der Politeia: Die falſche
naturrechtliche Metaphyfit Platos 445 — und ihre Konjequenzen 447. —
Die ideale Geiftesarijtofratie Platos und ihre Organifation ein Phantom
449. — Kulturwidrigkeit der dee, den Staat auf der Stufe eines bloßen
Berwaltungsorganismus erhalten zu wollen 456. — Falſche Schlußfolgerungen
aus dem organifchen Staatsprinzip. Verkennung dev Unterfchiede in den Ent:
twieflungsprinzipien der Soztalgebilde und der phyfiichen Organismen 458. —
Überipannung des Grundjaßes der Arbeitsteilung 461. — Inkonſequenz in
XVI Inhalt.
Bezug auf das individuelle Lebensideal, das ſich im philoſophiſchen Staats—
mann verkörpern ſoll 463. — Übertriebene Vorſtellungen von der Macht der
Einzelperſönlichkeit 466. — Das Illuſoriſche der Lehre vom wohlverſtandenen
Intereſſe 467, — ſowie der dee der Brüderlichkeit 471. — Die Koinzidenz
de3 Sozial: und Jndividualprinzips eine Leere Abjtraftion 473. — Unmög-
lichkeit einer jeder Jndividualität gerecht werdenden Organijation de3 menſch—
lichen Arbeitslebens 474. — Der Bernunftjtaat eine tranzjcendentale dee
475. — Moderne Nücfälle in diefe Idee 476.
Dritter Abſchnitt. Der „zweitbeite” Staat Platos 477—581.
1. Gefhichtliche und piychologijche Vorausjeßungen 477-491.
Hoffnungen Platos auf den jozialsreformatorischen Beruf der Mon-
archie 477. — Enttäujchungen 481. — Rückwirkung auf die Gejamtanjchau-
ung Platos. Konzeſſionen an die Schwäche und Selbitfucht der. Menjchen-
natur 482. — Verzicht auf das abjolutiftiiche Regierungsſyſtem de3 Vernunft:
ftaates 484 — und auf den Kommunismus 485. — Konſequenzen in Bezug
auf die Verteilung der ftaatlichen Nechte und das gegenfeitige Verhältnis der
Stände 486. — Aufrechterhaltung des Staatsideals der Politeia im Prinzip 488.
2. Die jozialöfonomijchen Grundlagen des Gejeßesftaates
491—517.
Verzicht auf eine revolutionäre Umwälzung im Sinne der Politeia
491. — Hinweis auf den Weg des freiwilligen Experiments 494. — Eine
ideale Kolonie 495. — Gittliche und natürliche Borausjegungen 496. —
Stadtgründung und Flurteilung 500. — Klaſſenſcheidung 502. — Soziale
Drganijation des — der Vollbürgerjchaft vorbehaltenen — Grundbejites 503.
— Staatliche Regelung des beweglichen Befites dev Bürger 504. — Be:
fämpfung aller jpefulativen und fapitaliftichen Tendenzen in Handel und
Gewerbe 510.
3. Die Lebensordnung des Bürgerftandes 517—547.
Das platonijche Ordnungsprinzip 518. — Fürforge des Staates für
die Erzeugung eines phyſiſch und geiftig tüchtigen Nachwuchjes 519. — Das
Syſtem der Öffentlichen Erziehung 524. — Staatliche Überwachung des Lebens
dev Erwachjenen 529. — Das poetifche und künſtleriſche Schaffen und die
Staatszenfur 533. — Die religiöfe Sanktion des Gemeinweſens und die All:
macht der Staatsreligion 538. — Bejchränfungen der Freizügigkeit 544.
4. Die Berfajjung 547—561.
Zugeſtändniſſe an das demofratijche Prinzip 547. — Schugwehren
gegen den Mißbrauch desſelben. Beſchränkung der gejeßgeberijchen und richter-
lichen Gewalten des Demos 548, — Kautelen gegen den Demofratismus des
allgemeinen Stimmrecht 549. — Organiſation einer ftarfen Amtsgewalt
Inhalt. XV
553. — Die höchſte Nepräjentation des Staatsgedanfens in dem „nächtlichen
Rat” 557.
5. Zur Beurteilung des Gejeßesjtaates 562—581.
Verwandtichaft des Staatzideal3 der „Gejege” mit dem der Politeia
562. — Innere Widerjprüche in den Grundprinzipien der Nouo: 567. --
UÜberjpannung des Ordnungsprinzips 568. — Falſche Schematifierung und
Generalifierung des Geſetzgebers auf volfswirtichaftlichem Gebiete 572. —
Gehalt der Nouors an fruchtbaren Neformgedanfen: Die „Einführung der
Moral in die Nationalökonomie” 575 — Erkenntnis wahrer Aufgaben der
wirtjchaftlichen Thätigkeit von Volk und Staat 576. — Innere Bedeutjamkeit
de3 Agrarrechts der Nouor und ihrer Auffaffung des Grundeigentums als
eines jozialrechtlichen Inftituts 577. — Das Prinzip der Öffentlichkeit des
Gejchäftslebens 580.
Dierter Abfhnitt. Das Fragment des ariftotelifchen Staatsideals
581—610.
Grundjäßlicher Verzicht auf die letzten Konſequenzen der joztaliftiich-
organischen Auffafjung von Staat und Gejellichaft 581. — Das individuali-
ftiche Element in dem Verfaffungsprinzip des „beiten“ Staates. Anerkennung
des Gleichheit3: und Glücdsftrebens des Jndividuums 5854. — Das Gemein:
ichaftsprinzip des beiten Staates 591. — Die Koinzidenz des Individual:
und Sozialinterejjeg 592. — Organijation des wirtjchaftlichen Lebens 596. —
Bevölferungspolitit 598. — Öffentliche Erziehung 604. — Neformideen in
Bezug auf die Lage der wirtjchaftenden Klaſſen 607.
Viertes Kapitel. Der ſoziale Weltftant des Stifters der Sion
610—618.
Plutarch über die Grundprinzipien von Zenos Staatsideal 610. —
Die Gemeinjchaftsidee und die Sozialphilojophie der Stoa 612. — Der joziale
Kosmos Zenos 614. — Beränderte geichichtliche Stellung des Sozialismus
im Syiteme Zenos 615. — Der Einheitzftaat der Gattung 616. — Moderne
Analogien 617. — Die Herrichaft des Natur: und Bernunftrechts 617. —
Der Höhepunkt des Utopismus 618.
Pöhlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. T.
2
2; —
Kin —— 8 F
9
Erſtes Kapitel.
Der ßommunismus älterer Geſellſchaftsſtufen.
Wahrheit und Dichtung.
Erfter Abſchnitt.
Der Kommunismus der Urzeit.
Über der Vorzeit der Hellenen liegt ein Dunkel, welches die
Anfänge ihres nationalen Dajeins unjeren Bliden faft völlig ent-
zieht. Schmerzlich vermiffen wir in diefem Dunfel — um mit
Jacob Grimm zu reden — ein Morgenrot, wie es Danf eines
Römers unfterblicher Schrift die deutſche Urgeſchichte erhellt. Nach
Sahrhunderten zählende Entwiclungsperioden, auf welche dort das
volle Licht der Geſchichte fällt, gehören bier der vorgejchichtlichen
Epoche an. In den ältejten Schriftzeugniffen, die uns einen tieferen
Einblid in das Leben der Nation gewähren, in den Epen, haben
wir jchon eine in gewiſſem Sinne fertige Welt vor uns; insbejondere
läßt das wirtichaftlihe und foziale Leben der epiichen Welt ein —
im Vergleich mit den ältejten bezeugten Zuftänden der Germanen —
weit fortgejehrittenes Stadium der Entwiclung erkennen.
Wenn nun jelbit bei den Germanen troß der unſchätzbaren
Berichte eines Cäſar und Tacitus über das Haupt: und Grund-
problem der älteften Agrarverfaffung, über die Frage nach der Ent-
ftehung und Ausbildung des Privateigentums am Grund und
Boden ein jicheres Ergebnis aus den Quellen nicht zu gewinnen
it, und vielfah Schlüffe nad der Analogie primitiver Geſellſchafts—
zuftände überhaupt die ftreng bijtorifche Beweisführung erſetzen
müffen, wie viel mehr ift die äußerſte Borficht da geboten, wo die
geichichtliche Überlieferung eine jo ungleich jüngere ift! —
1*
4 Erſtes Buch. Hellas.
Immerhin wird man jelbjt über die erjten Anfänge des
nationalen Wirtjchaftslebens einige Vermutungen wagen dürfen.
Vieles von dem, was wir aus Sprachvergleihung und gejchicht-
licher Kunde über die Zuſtände der indogermanijchen Völker bei
ihrem Eintritt in die Gejchichte erfahren, drängt uns nämlich zu
der Annahme, daß die Hellenen in ihre jpäteren Wohnfige zuerjt
nomadifierend gekommen jind!) und daß fie daher — troß ihrer
Bekanntichaft mit einem primitiven Feldbau — ihre erſten Ein-
richtungen in der neuen Heimat jo getroffen haben werden, wie es
den Bedürfniſſen eines Wandervolfes entſprach. Schon Thukydides
ift der Anficht, daß die ältejten Griechen ein Volt von Viehzüchtern
gewejen feien, die fich nur zu einem notdürftigen Aderbau beguemt
und ſtets mit Leichtigkeit ihre Wohnſitze gemwechjelt hätten.2) Auch
er nimmt an, daß die Hellenen längere Zeit gebrauchten, bis fie
die bei allen Wandervölfern tief eingewurzelte Abneigung gegen das
mübjelige Gejchäft der Bodenbeitellung, die Luft am Raub- und
Wanderleben joweit überwunden hatten, daß jte fich zu dauernder
Siedlung entſchloſſen.
Sit dieſe Auffaffung richtig, dann würde ſich uns in der,
That ein beveutjamer Einblid in das Leben der Vorzeit eröffnen.
Denn mit dem Wirtſchaftsſyſtem dürfen wir auch gewiſſe Grund-
formen der Eigentums und Gejellichaftsordnung als gegeben anjehen.
Die angedeutete nomadijierende Wirtichaft hat bejtimmte von der
Natur gegebene Bedingungen, die mit zwingender Gewalt das menjch-
liche Dafein beftinnmen.>)
Da der Boden nur eine bejtimmte Zahl Vieh in Sommer
und Winter ernähren Tann und allzu große Herden nicht gemein-
9) Bol. bei. Schrader: Sprachvergleichung und Urgeſchichte? S. 407 ff.
SALE:
\ Bol. die allgemeine Charakteriftit dieſes Wirtſchaftsſyſtems bei
Middendorff: Einblicde in das Ferghana-Thal. Memoiren der Petersburger
Akademie 1881 ©. 457 ff. und Meißen: Das Nomadentum der Germanen und
ihrer Nachbarn in Weſteuropa. Abh. des 2. deutichen Geographentages zu
Halle 1882 ©. 75 ff. — Die Individualwirtjchaft der Germanen u. ſ. w.
Jahrbücher für Nationaldfonomie und Statiftif 18833 ©. 11f.
I. 1. Der Kommunismus der Urzeit. 5
ihaftlich zufammengehen können, müſſen Weidereviere gebildet wer-
den, deren Grenzen nicht überschritten werden dürfen. Demnach
zerfallen auch die Beſitzer der Herden in Gruppen, und dieſe Grup—
pirung vollzieht ſich bei dem geſchloſſenen Familienleben der Hirten—
völker naturgemäß nah Familien und Sippen. Der Geſchlechts—
verband betrachtet das beſetzte Gebiet als ſein gemeinſames Eigen—
tum, ſolange nicht etwa — wie es anfänglich öfters geſchieht —
die verſchiedenen Weidereviere innerhalb des ganzen Stammes in
wechſelnde Benutzung genommen werden und demgemäß der Stamm
als Träger des Eigentums am geſamten Stammesgebiet erſcheint.
Sedenfalls ift auf diefer Stufe der Grund und Boden immer un-
getheiltes Gemeingut und die Beitellung einzelner Stüce kann
höchjtens einen vorübergehenden Beſitz für die Dauer des Getreide:
baus begründen. Die natürlichen Bedingungen dieſes Wirtjchafts-
ſyſtems verbieten es, daß der Einzelne einen Teil des Bodens als
dauerndes und ausjchliegliches Eigen in Anfpruch nehme. Schon
wegen de3 unvermeidlichen Wechjels der Sommer: und Winterweide,
welche die Gejamtheit nötigt, die verjchiedenen Streden des Ge-
bietes in fejter, der Jahreszeit angepaßter Ordnung zu beziehen, !)
und wegen der ganzen Art und Weife der Bopdenbeftellung, wie fie
eine wilde, die gejamte anbaufähige Fläche im Wechjel von Saat
und Weide durchziehende Feldgraswirtichaft mit ſich brachte, konnte
man diejes Syjtem nicht durch das Belieben der Individualwirt—
ſchaft und das willfürliche Umfichgreifen des Privateigentums durch—
brechen laſſen. Dazu kommen die äußeren Schwierigkeiten, mit
denen das Wolf auf diefer Kulturitufe zu kämpfen hatte. Gegenüber
den Gefahren, die hier von der Natur für die koſtbarſte Habe, den
Viehſtand, und von feindlicher Gewalt für Eriftenz und Freiheit
droht, können Hirtenvölfer die Sicherheit ihres Dajeins nur in der
Vereinigung der Einzelnen zu einer ftreng organifierten Gemeinjchaft
finden, die fich bei der Gefchloffenheit des Familienlebens und dem
1) Bgl. über die in Hellas zu allen Zeiten üblich gebliebenen, durch
die verjchiedenen Vegetationsregionen beftimmten Wanderungen dev Herden
Neumann-Partſch: Phyſikaliſche Geographie von Griechenland ©. 404.
6 Erſtes Bud. Hellas.
patriarchaliichen Zuschnitt des ganzen Dajeins überhaupt in der
Kegel mit einer mehr oder minder fommuniftichen Wirtichaft ver:
bindet. Gemeinfame DBerteidigung, gemeinfame Befahrung der
Sommer: und Winterweiden, meift auch kommuniſtiſcher Erwerb
für die Genofjenschaft, fommuniftiiche Leitung durch das Gejchlechts-
oberhaupt oder den Stammeshäuptling find die charafteriftifchen
Züge der Entwiclungsitufe, auf der wir uns mit hoher Wahr:
Icheinlichfeit auch die älteſten Hellenen zu denken haben. Eine
gewiſſe communiftiiche Organiſation, wenigjtens das Prinzip des
Gelamteigentums am Grund und Boden würde daher auch für
Hellas al3 der Ausgangspunkt der jozialen Entwicklung anzunehmen
fein; wenn auch bei dem Anveiz, mit dem hier Boden und Klima
zum dauernden Anbau locte und bei den Schwierigkeiten, welche
dem Naumbedürfnis einer nomadifierenden Wittjchaft die orographifche
Zerſtücklung des Landes und die geringe Ausdehnung feiner Ebenen
entgegenftellte, diejer primitive Zuftand rascher überwunden wurde,
als anderswo.
Freilich müfjen wir uns bei alledem ſtets bewußt bleiben,
daß e3 fich hier eben nur um Wahrjcheinlichkeitsergebniffe handeln
fann, daß die Vorausſetzung, auf der die entwicelte Anficht beruht,
eine mehr oder minder hypothetiſche ift. Allerdings ergibt eine
Vergleihung des Griechiſchen mit den übrigen indogermanifchen
Sprachen, daß fich unter den urzeitlichen Ausdrücen, welche Eigen-
tum, Habe, Neichtum u. ſ. w. bezeichnen, Feiner befindet, welcher
fih auf Grund und Boden bezöge.!) Allein was für die indo-
germaniſche Urzeit gilt, braucht ja nicht notwendig auch auf die
helleniſchen Einwanderer in die Balkanhalbinſeln zuzutreffen und
die Möglichkeit, daß die bisherige Sprachforſchung und Urge—
Ihichte eine allzulange Fortdauer nomadifcher oder halbnomadiſcher
Zuftände bei den einzelnen indogermanifchen Völkern angenommen
hat, ift wenigjtens nicht ohme weiteres abzulehnen.)
1) Schrader a. a. O. ©. 420.
?) Bgl. die Unterfuchungen von Much: Waren die Germanen Wander:
I. 1. Der Kommunismus der Nrzeit. 7
Dod jei dem, wie ihm wolle, mag die angedeutete Form
der Gemeinwirtichaft einem älteren Stadium der Entwicklung anz
gehören oder in jpätere Zeit herabreichen, darüber kann nach den
Ergebnifjen der vergleichenden Wirtſchafts- und Nechtsgefchichte Fein
Zweifel beftehen, daß das genoſſenſchaftliche Brinzip, welches in jener
Gemeinmwirtichaft wirffam war, diefelbe lange überdauert hat. Auch
bei den Hellenen ift der Übergang zur vollen Seßhaftigfeit in ge-
noſſenſchaftlicher Weiſe erfolgt, ift die endgültige Beſiedlung
des Bodens nicht Sache des Einzelnen gewejen, fondern der als
Gemeinjchaften für alle Lebenszwede bejtehenden Verbände der
Familien und Sippen.‘) Diejer urjprüngliche Zufammenhang
zwijchen Gejchlechtsverband und bäuerlicher Anfievlungsgemeinde ift
bei den verjchiedenften indogermanischen Völkern noch deutlich erfenn-
bar, 2) und was insbejondere die älteſte griechiſche Dorfgemeinde betrifft,
birten (Ztſchr. F. deutſches Altertum 1892 ©. 97 ff.) und von Hirt: Die
Urheimat der Indogermanen. Indogermaniſche Forichungen 1392 ©. 485.
') Diefe die Gemeinde bildenden Verbände fünnen entweder einzelne
Gejchlechter (was offenbar die Regel) oder Zweige eines großen Gejchlechtes
oder Vereine mehrerer Gefchlechter jein.
2) Bei den Iraniern iſt vis nicht nur das Dorf, jondern zugleich
das Geſchlecht. Vgl. Geiger: Oſtiraniſche Kultur im Altertum ©. 421. Im
vediſchen Volt wohnt die WVerwandtjchaft (jänman) zujammen in einem
Dorfe (gräma). Zimmer: Altindifches Leben ©. 159 f. Ebenſo erfolgte bei
den Germanen der Anbau gejchlechteriweife (cognationes hominum, qui una
coierunt Gäjar b. g. VI, 22). Und wenn fich das auch noch auf einen halb-
nomadiichen Zuftand bezieht, jo beweift doch die jpäter für dag Dorf (vicus)
vorkommende Bezeichnung genealogia (3. B. L. Alam. 87) die Häufigteit
patronimijcher Ortsnamen u. dgl. m. den Zufammenhang zwiſchen germani-
ſcher Dorf- und Sippengemeinjchaft. Val. Gierke: Rechtsgefchichte der deutjchen
Genoſſenſchaft T, 60 f. Schröder D. R. G. I, 12. Brunner D. R. ©. I, 34.
Was die Slaven betrifft, jo gelten die Angehörigen des Mir (dev ruffiichen
Dorfgemeinjchaft) wenigftens als Abkömmlinge desielben Stammvaters. ber
das Gejchlechtsdorf der Südjlaven insb. vgl. Kraus: Sitte und Brauch der
Südjlaven S. 23 ff. Bei den Römern find affines die Grenznachbarn, aber
eben deshalb urjprünglic) regelmäßig auch Verwandte. Festus p. 11 affines
in agris vieini sive consanguinitate conjuncti. Bgl. Leiſt: Gräcositaltjche
R. 6. ©.103. Schrader a. a. D. ©. 787 f.
8 Erſtes Bud. Hellas.
jo hat ſchon Ariftoteles eine urſprüngliche VBerwandtichaft der Ge:
meindegenofjen angenommen, indem er fich u. a. mit Necht auf die
mehrfach vorfommende Bezeichnung derjelben als ouoyadaxres
(Milchvettern) beruft.)
Sehr treffend hat ferner Nriftoteles im Hinblid auf dieſe
urjprüngliche Spentität von Gemeinde und Gejchlechtsgenofjenichaft
den Sab aufgejtellt, daß die Berfaffung der Gemeinde fich anfäng-
lich mit derjenigen der Geſchlechtsgenoſſenſchaft gedeckt haben müſſe,
daß die ganze Gemeindeorganijation urjprünglich eine rein patriar-
chalifche war. Haben ſich Doch auch die Nechtsformen des helleni-
chen Staates von Anfang an jo enge an die der Familie ange
lehnt, daß der Sippenverband, wenn auch jpäter in der Geftalt
eines fünftlichen Syſtems fingierter Gejchlechtsvetterichaft, fich bis
tief in die geichichtliche Zeit hinein als ein wejentlicher Faktor der
politischen Drdnung behauptete. — Wenn noch in einer jehr jpäten
Epoche, wo die auf der Sejchlechterverfaflung beruhende Organi—
jation und Einteilung des Volkes längſt durch das territoriale
Prinzip durchbrochen war, die Erinnerung an das urjprüngliche
Gemeindeprinzip jo zähe fortlebte, daß die Vorausjeßung der Ver:
wandtjchaft unter den Dorfgenofjen als einer natürlichen mehrfach
noch feitgehalten werden konnte, jo muß diejes Prinzip in der That
lange Zeit die beherrjchende Norm des geſamten Bolfslebens und
daher auch die Grundlage aller agrariſchen Ordnung gewejen fein.
Wenn aber die Gejchlechtsgenofjenichaft als bäuerlicher An-
fiedlungsverband (zwun, Inuos) die urjprüngliche Trägerin der
wirtichaftlihen und fozialen Organiſation des jeßhaft gewordenen
Volkes war, jo ift fie es geweſen, deren Beſchluß die Art der An—
i) Politik 1,2, 7. 1252b. Auch die gentilicifche Bezeichnung attifcher
Gemeinden (Philaidai, Patonidai, Butadai u. a.) wird fich zum Teil aus dem
Zuſammenhang von Gejchlechtsgenoifenihaft und Anfiedlungsgemeinde erklären.
Ebenjo gehört hierher die uralte Volfsteilung nach Phratrien (gonren bei
Homer), die urjprünglich gewiß identifch find mit den ſüdſlaviſchen bratstva
(territorialen Vereinigungen blutsverwandter Familien). ©. Kraus a. a. O.
©.2. Zöpfer: „Attiſche Genealogie” geht auf die Frage nicht ein,
J. 1. Der Kommunismus der Wrzeit. 9
ſiedlung und die Berteilung von Grund und Boden beftimmte. Sie
hat nach feiten Normen den Losanteil (zAngos) der Genofjen am
Mohnareal und Aderland, die Nusung von Weide und Wald ge
regelt und gewiß auch die Art und Weife des Wirtichaftsbetriebes
ihrem Einfluß unterworfen, joweit es die öfonomifche Sntereffen-
gemeinschaft der Genofjen und die dadurch bedingte Gemeinfamfeit
des Handelns irgend erforderte.
Erhebliche Zweifel ergeben ſich nun aber freilich fofort, wenn
wir weiter fragen, wie und in welchem Grade die Gebundenheit
des Einzelnen durch diefe einheitliche von dem Gefühle innigiter
Lebensgemeinjchaft durchdrungene Genoſſenſchaft in der Eigen-
tumsordnung zum Ausdrud gekommen ift. Hat die Ngrargemeinde
an den gemeinwirtichaftlichen Lebensformen der älteren Wirtjchafts-
ftufe jo ftrenge fejtgehalten, daß fie die als Gejamteigentum occu—
pierte Flur auch ferner noch als jolche behandelte? hat fie nicht
nur an Weide, Wald und Odland dies genoffenfchaftliche Geſamt—
eigentum behauptet, jondern auch am Kulturboden und daher dem
Einzelnen nur ein vorübergehendes — periodisch neu geregeltes —
Nutzungsrecht gewährt, aus dem fich exit allmählich mit den fteigen-
ven Anforderungen an die Intenſität des Anbaues und dem zus
nehmenden Streben nach individueller Erwerbsjelbftändigfeit das
Sondereigentum herausgebildet hat?!)
Wir können dieje Frage doch nicht ohme weiteres mit der
Zuverficht bejahen, wie man es nach einer weitverbreiteten Anficht
über die gejchichtliche Entwicklung der Wirtichaftsformen thun müßte.
©o zahlreich die fommuniftischen Züge fein mögen, die man in
dem Agrarrecht der verjchiedeniten Völker nachgewiejen hat, jo ge-
nügen fie doch noch nicht, um auch für Zeiten völliger Sep:
haftigfeit die Behauptung zu rechtfertigen, daß „ver Kollektivbeſitz
1) Wir jehen hier ab von dem gewiß nur als Ausnahme eintretenden
Fall, daß in Folge bejonderer Terraimverhältniffe oder Stammesneigungen
die Anfiedlung in Einzelhöfen erfolgte, two die genofjenfchaftliche Agrargemein:
ſchaft fi” von Anfang an auf Viehweide und Waldnutzung bejchräntt
haben wird.
10 Erſtes Buch. Hellas.
von Grund und Boden al3 eine urgejchichtliche Erſcheinung von
allgemeiner Geltung angejehen werden Fönne,“ 1) oder — wie
ein anderer Bertreter derjelben Richtung fich ausdrückt?) —, daß
wir darin eine „notwendige Entwidlungsphaje der Gejellichaft
und eine Art von Univerjalgejeß erbliden wüfjen, welches in der
Bewegung der Grundeigentumsformen waltet”. Diejes „Geſetz“
fann als erwiefen nur infoferne anerkannt werden, als man dabei
die erſten Anfänge wirtfchaftlicher Entwicdlung überhaupt — ohne
Rückſicht auf die erreichte Stetigfeit des Wohnens — oder nur
einen Teil des Grund und Bodens im Auge hat. Wenn man
demjelben jedoch eine allgemeine Gütigkeit auch für die Zeiten
voller Sehhaftigkeit zufchreibt und zugleich für diejes fortgefchrittenere
Stadium ohne weiteres die Fortdauer des Kolleftiveigentums auc)
am Pflugland annimmt, fo beruht das wohl auf einer zu frühen
Verallgemeinerung, wie fie fich ja bei der einjeitigen Anwendung
des vergleichenden Berfahrens leicht einftellt.>)
Wir verfennen den unjchäßbaren Wert der vergleichenden
Methode Feineswegs. Das Verfahren, welches auf ftreng induk—
tivem Wege die unbekannten Zuftände eines Volkes durch Nüd-
Ihlüffe aus den bekannten Verhältniſſen von Ländern mit ver:
wandter Bevölkerung zu erhellen jucht, jteht von vorneherein weit
über der in der Altertumswiſſenſchaft ja noch immer verbreiteten
Art der Deduktion aus vagen allgemeinen Borjtellungen, bei denen
man die reale Anſchauung mehr oder minder vermißt, ſowie auch
über jener Außerlichen Verwertung der gejchriebenen Quellen, deren
legtes Ergebnis auf den Saß hinausfommt: quod non est in
!) Maine: Lectures on the early history of Institutions ©. 1.
?) Zaveleye: De la propriete et des ses formes primitives* 1891
©. 2.
) Wie unficher der Boden noch ift, auf dem wir uns hier beivegen,
beweift die Theorie, die Dargun in der Abh.: Urſprung und Entwicklungs—
geichichte des Eigentums (Zeitjchr. F. vergl. Nechtsw. V) aufgejtellt hat, daß
nämlich zwar unſer heutiges individuelles Eigentum aus dem Gemeineigentum
entjtanden, daß aber diefem in den allerrohejten Anfängen individuelles Eigen—
tum borangegangen jei!
I. 1. Der Kommunismus der Urzeit. 11
fontibus, non est in mundo.!) Wir find auch durchaus nicht
der Anficht, daß etwa die Urfprünglichfeit des privaten Grund—
eigentums bei den antiken Völkern irgendwie erweisbar2) und daher
jeder Verſuch, die Anficht von der jefundären Entftehung desielben
aus der allgemeinen wirtichaftlichen Kulturgeichichte zu begründen,
überflüffig jei. Allein wenn wir uns die Verfchiedenartigfeit der
Erſcheinungen vergegenwärtigen, die für einen folchen Verſuch zu
Gebote jtehen: Die germanijche Feldgemeinjchaft, die Agrarver—
faſſung der indischen Dorfgemeinde, den Gemeindefommunismus der
Oſtſlaven (den ruffiichen Mir), den Samilienfommunismus der ſüd—
ſlaviſchen Hausgemeinfchaft und den Stammkommunismus der
feltijch-irifchen Klanverfaſſung — jo wird man fich wohl faum der
Hoffnung bingeben, aus der Fülle diefer eigenartigen jozialen Ge—
bilde eine bei allen indogermanifchen Völkern nach ihrer Seßhaft—
werdung gleichmäßig auftretenden Urform der Eigentumsordnung
erichließen zu Fünnen. Dieſe Mannigfaltigkeit der Entwidlung ge:
ftattet für Völker, bei denen die Spuren der urjprünglichen Agrar:
verfallung jo jehr verwilcht find, wie bei den Hellenen, doch gar zu
verschiedene Annahmen! Die Vergleichung läßt uns bier einer:
jeits im Dunkeln darüber, mit welcher Form der Folleftiven Boden—
nußung diefe Völker etwa begonnen haben mögen, mit dem Gejamt-
) In dieſer Hinficht ſteht vorliegende Arbeit in principiellem Gegen:
ſatz zu der Methode, welche Büchſenſchütz in dem jonft jo verdienftlichen Buch
über Beſitz und Erwerb im griechifchen Altertum befolgt hat.
2) Wenn Fustel de Coulanges (La cité antique!? p. 62 ff.) dieſen
Beweis aus Religion und Cultus erbracht zu haben glaubt, jo überfieht er, daß
die Ideen und Anftitutionen, mit denen ex dabei operiert, meift ſchon das Er—
gebnis eines entwickelten jeßhaften Lebens find, alfo für die Anfänge desjelben
nichts beweiſen. Wenn er insbejondere den Sat aufftellt: „Il est resulte
de ces vieilles regles religieuses que la vie en communaute n’a jamais
pu s’ etablir chez les anciens,“ jo fällt diefe Behauptung einfach durch den
Hintweis auf das thatfächliche Vorkommen der Feldgemeinfchaft bei den Grie-
chen auf Lipara (ſ. u.).
3) So einfach Liegt die Sache doch nicht, wie z. B. Schrader (a. O.
©. 571) und Kraus (a. O. S.24) annehmen, indem fie ohne weiteres die jüd-
ſlaviſche Hausgemeinjchaft als „indogermaniſche“ Inſtitution hinſtellen.
12 Erſtes Buch. Hellas.
eigentum des Familien- oder des Sippenverbandes; andererjeits
Ichließ fie die Möglichkeit Feineswegs aus, daß auch bier ſchon von
dem Moment an, wo die perjönlichen Gejchlechtsverbände zu ding-
lichen Drtsgemeinden wurden, die einzelnen Famılienhäupter ein
dDauerndes und erbliches Befitrecht an einzelnen Stücden des
Acerbodens zugewiefen befamen. Was 3. B. die Germanen betrifft,
bei denen wir den Proceß der Seßhaftwerdung noch einigermaßen
verfolgen können, jo begegnen wir zwar auch bier dem agrarischen
Kolleftiveigentum, in den befannten Schilderungen Cäſars, aber
diefe Schilderungen beziehen fich auf Zuftände, die von einer feſten
Beſiedlung des Landes noch weit entfernt waren. Wenige Genera-
tionen jpäter, als das Bolf zu größerer Sehhaftigfeit gefommen,
in der Zeit des Tacitus, treten ung Verhältniſſe entgegen, die ganz
unverkennbar auf das VBorhandenfein bejtimmter und dauernder Be-
fißrechte der einzelnen Familien hinweiſen.) Während fich bei dem
ſlaviſchen Gemeindefommunismus der Landanteil aller Gemeinde:
glieder Durch periodiiche Neuaufteilung immer wider der wechjeln-
ven Kopfzahl entiprechend verändert, um das Prinzip der gleichen
wirtschaftlichen Dafeinsberechtigung Aller aufrechtzuerhalten, wäh:
vend hier demgemäß der Anteil des verjtorbenen Genoſſen an die
Gemeinde zurücdfällt, jeder zur Gemeinde neugeborene Knabe aber
ven Teiler mehrt und gleichen Anteil am vorhandenen Liegenſchafts—
vermögen fordert, findet fich bei der germanischen Feldgemeinschaft
von alledem feine Spur, weder von einer periodifchen Anderung
ver Zahl und Größe der Hufen, noch auch von einem auf alle
Nachgebornenen in gleichem Maße vererblichen Anrecht am geſam—
ten Aderland, wie e8 dem Prinzip des Kommunismus allein ent
ſprochen hätte.2) Von einem Kommunismus im Sinne der jlavi-
ſchen Agrarverfaffung ift alfo hier feine Rede.
') Vgl. Germ. ce. 20.
?) Daß bei der germanischen Feldgemeinjchaft die zu einer Hufe ge-
hörigen Acker alljährlich oder periodijch eine andere vom Los bejtimmte Lage
befommen können, iſt ebenfalls mit dem Inſtitut des Privateigentums voll-
fommen vereinbar.
T. 1. Der Kommunismus der Urzeit. 13
Sollen wir uns nun das ältejte Zeitalter der nationalen
Wirtihaftsentwidlung der Hellenen mehr nach germanifchem oder
ſlaviſchem Mufter vorjtellen ?
Eine gewiſſe Wahricheinlichkeit hat ja wohl das Exftere für
ih. Denn von den Hellenen gilt in ganz bejonderen Mafe, was
ein tiefer volfswirtjchaftlicher Denker der Gegenwart von den Grie-
hen, Stalifern und Germanen im allgemeinen bemerkt hat: „Sn
ihnen lebt ein wunderbarer Trieb, deſſen Wejen es ift, daß ihnen
niemals und auf feinem Gebiete ihres Lebens das genügt hat, was
fie hatten. Stark find fie in der Verteidigung deſſen, was fie be-
ſitzen; aber raſtlos ftreben fie weiter, Unbefanntem entgegen. So
lange fie eine Gejchichte haben, iſt es, als ob die Erde fie nicht
ruhen ließe, bis fie fie ganz bejigen und genießen. Auch andere
Völker haben große Weltzüge und Eroberungen aufzumweilen. Aber
jenen war Eines gemein. Bei ihnen genügte es nicht, daß der
ganze Volksſtamm ein Land gewann. Sie wollten von dem Ge-
wonnenen für jeden Einzelnen einen feſten ihm gehörigen Anteil.
Der Einzelne mit jeiner Kraft und feinem Beſitze war das Ziel
des Ganzen. Das hat fein Volk des Oſtens je verjtanden.”) Und
wo hätte diejes Streben nach individueller Erwerbsjelbitändigkeit
von Anfang an Fräftigere Impulſe erhalten, mannigfalteren Spiel-
raum für feine Bethätigung gefunden, als in der unendlich reichen
Berjchiedenartigfeit helleniſcher Landesnatur!
Allein jo wahrſcheinlich es ift, daß ſchon die ältejte helle:
nische Agrargemeinde, da, wo die Vorausjfegungen dafür gegeben
waren, den einzelnen Genofjen oder Familienhäuptern ein ges
wiſſes Maß individueller Selbitändigfeit einväumte, jo bleibt doch
auch hier wieder die offene Frage, ob eben jene Bedingungen überall
von Anfang an vorhanden waren. Es ift jehr wohl möglich, daß
da, wo noch feine ältere Bevölkerung das Werf der Landeskultur
in Angriff genommen, wo der hellenijche Anfiedler den ungebro-
9) L. v. Stein: Die drei Fragen des Grundbeſitzes und jeiner Zu—
funft. ©. 41.
14 Erſtes Buch. Hellas.
chenen Kräften einer wilden Natur entgegentrat, jener Trieb des
Volfscharafters durch das Bedürfnis des gemeinfamen Kampfes
gegen die feindlichen Mächte der Unkultur paralyfiert wurde und
daher auch das gemeinwirtfchaftliche Prinzip ſich ftrenger geltend
zu machen vermochte, als anderwärts. Hier, wo die Kraft des
Einzelnen weit weniger bedeutete, mag anfänglich nicht nur das Ge—
ichäft des Nodens und der Entjumpfung, der Fünftlichen Entwäſſe—
rung und Bewäſſerung, fondern vielleicht auch des Säens und
Erntens gemeinfame Sache der Agrargenofjenichaft geweſen jein,
mag der Einzelne feinerlei feſten Bodenbefig außer der Wohnjtätte
gehabt haben. —
Da es fi) demnach hier immer nur um Wahrſcheinlichkeits—
ergebniffe und um Löſungen von relativer Gültigkeit handeln kann,
fo erſcheint es don vornherein überaus bedenklich, wenn Mommſen
aus der bloßen Identität von Gejchlechtsgenofjenjchaft und Gemeinde
mit Sicherheit jchließen zu dürfen glaubt, daß die hellenische, wie
die italifche Dorfmark überall in ältefter Zeit „gleihjam als
Hausmark“ d. h. nach einem Syſtem jtrengfter Feldgemeinjchaft
bewirtjchaftet wurde, als deren wejentlichen Züge er Gemeinſam—
feit des Befißes, gemeinjame Beſtellung des Aderlandes
und Verteilung des gemeinjam erzeugten Ertrages unter
die einzelnen dem Gejchlechte angehörigen Häufer annimmt.!) Be—
vor wir einen jo völligen Kommunismus im Grundbeſitz und
Arbeitzertrag und zugleich die Allgemeinheit diefer Einrichtung als
Thatſache hinnehmen könnten, müßten uns doch noch ganz andere
Anhaltspunkte zu Gebote ftehen, wie fie ja Mommſen ſelbſt wenig.
ſtens für die altrömifche Dorfgemeinde aus der römiſchen Rechts—
gejchichte zu gewinnen verfucht hat.
Nun kennt allerdings das ältere griechiiche Necht eine gewiſſe
Gebundenheit des privaten Grundeigentums, welche der Verfügungs-
freiheit des Einzelnen, bejfonders über die Erb- und Stammgüter
zu Gunften der Familie mehr oder minder weitgehende Schranfen
15252 12736,.182.
I. 1. Der Kommunismus der Urzeit. 15
auferlegte; und man hat denn auch nicht gezögert, dieſe Erſcheinung
al3 Überreft eines uriprünglichen agrarifchen Gemeindefommunis-
mus, eines genofjenjchaftlichen Gejamteigentums des Gefchlechts-
verbandes zu erklären. Allein es findet fich doch nirgends ein An-
halt dafür, daß die Quelle dieſer Gebundenheit in einem jolchen
Gejamteigentum der Sippe zu juchen jei. Soweit wir die ver-
mögensrechtlichen Wirkungen der DVerwandtichaft im griechischen
Necht Feitzuftellen vermögen, jehen wir fie aus den Nechtsverhält-
nifjen des Haujes, nicht aus der Verfaſſung des Gefchlechtsver:
bandes hervorgehen. Um das griehiiche Erbrecht mit der nötigen
Sicherheit aus einem Geſamtbeſitz des Gejchlechtes ableiten zu können,
müßten jich doch wenigjtens Spuren eines ehemaligen Exrbrechtes
des ganzen Gejchlechtes finden, !) obgleich jelbjt das für fich allein
die Frage noch nicht entjcheiden würde. Denn wie das Privat:
eigentum mit einer Familien- oder Gejchlechtsanwartichaft jehr wohl
vereinbar ift, jo braucht auch dieſe letztere jelbit Feineswegs not-
wendig aus einem gentiliziichen Gemeineigentum hervorzugehen,
fann jogar unter Umständen Folge einer ziemlich jpäten Nechts-
entwiclung jein.2)
Ähnliches gilt auch für das Zuftimmungs- und Näherrecht der
Gemeindegenofjen bei VBeräußerungen, von welchem man im grie—
chiſchen Necht Spuren gefunden haben will und welches man eben-
falls mit Unrecht als Beweis für die frühere Exiſtenz der Feld—
1) Man Zönnte eine jolche Spur vielleicht in dem Stadtrecht von Gortyn
finden wollen, two befanntlich den Genofjen des Stammesverbandg (dev Phyle)
nach den Verwandten ein gewiſſes Necht auf die Hand von Erbtöchtern ein:
geräumt wird (VIII S 8 ff.). Allein der Einwand twird dadurch hinfällig,
daß diejes Heiratsrecht nach der urjprünglichen Idee der Inſtitution keines—
wegs als ein jelbjtnütiges vermögensrechtliches Necht erſcheint, ſondern diejen
Charakter erſt auf einer jpäten Stufe der Rechtsentwiclung angenommen hat.
Bol. Zitelmann: „Juriſtiſche Erläuterungen” zum Stadtreht dv. Gortyn.
Rhein. Muf. 1885 Ergänzgsh. ©. 150 f. und Simon: Zur zweiten Hälfte
der Inſchrift v. Gortyn. Wiener Studien 1887 ©. 8.
2) Das gilt jelbft für die Familienanwartjchaft, wie Bejeler in der
„Lehre von den Erbverträgen“ nachgewiejen hat. (©. 48 ff.)
16 Erſtes Buch. Hellas.
gemeinschaft und des Kolleftivbefiges am Grund und Boden geltend
gemacht hat.!) Denn wenn das Necht den Gemeindegenofjen die
Befugnis einräumte, die Auslieferung einer Hufe an einen ihnen
ummillfommenen Fremden zu verhindern, jo würde fich das bei dem
ganzen Charakter des Gemeindeverbandes zur Genüge aus Geſichts—
punften erklären, die von dem Agrarrecht gänzlich unabhängig find.)
Übrigens ift uns nicht einmal von diefem Inſtitut des Nachbar
rechts jelbft etwas Sicheres befannt. Wir wiſſen nur, daß es in
Hellas vielfach Sitte war, bei der Veräußerung von Grundſtücken
die Nachbarn als Zeugen oder Bürgen teilnehmen zu lafjen, und
daß dieſelben bei diejer Gelegenheit da und dort, wie z. B. in
Thurii, eine kleine Münze erhielten, „urnung Ever« xel ueg-
rvoias,“ wie TIheophraft hinzufügt.?) Von einem Nachbarrecht ift
dabei nirgends die Nede, und es iſt völlig ungerechtfertigt, wenn
Laveleye diefe Sitte mit einem angeblichen Einſpruchsrecht der Ges
meindegenofjen in Verbindung bringt und die Vermutung aufitellt,
daß die Münze al3 der Preis für ihre Eimwilligung oder als An-
erfennung eines gewiſſen Miteigentumstechts zu betrachten jei. Die
Beteiligung der Nachbarn hat hier offenbar von vornherein Feine
andere Bedeutung gehabt, als die, die wünjchenswerte Öffentlichkeit
des Übertragungsattes im Intereſſe feiner Nechtsgültigkeit und zu
Gunſten Beteiligter und Einjpruchsberechtigter zu wahren. — Wer
wollte überhaupt in Inftitutionen, die ſich ſelbſt in einer Kolonial-
1) So bei. Viollet: Le charactere collectif des premieres proprietes
immobilieres in der Bibliothöque de l’scole des Chartes 1872 (XXXIN)
©. 465 ff. und nach ihm Laveleye a. a. O. ©. 331.
2) Vgl. die treffende Bemerkung, die Heusler mit Bezug auf die deutjche
Markgenofjenichaft gegen Sohm (Die d. Genoſſenſchaft) gemacht hat. „Wohl
haben die Genofjen, wenn einer die Hufe an einen Ausmärfer verkaufen will,
ein Zugrecht reſp. Widerſpruchsrecht (L. Sal. tit. IV 5). Aber dasjelbe ent—
fpringt feiner Vermögensgemeinschaft, jondern dem Band der per—
fünliden Zujfammengehörigfeit, wie es auch innerhalb der Sippe
ohne Vermögensgemeinſchaft zur Erblojung geführt hat.“ Göttinger
Gel. Anz. 1889 ©. 322.
3) Isoi ovußoAciov bei Stob. Serm. XLIV, 22.
I. 2. Die Haustommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 17
gemeinde des perifleifchen Athens finden, einen Anhaltspunkt für
die Beurteilung der primitiven Agrarverfaffung der Urzeit juchen!
Zweiter Abjchnitt.
Die Hauskommunion und die Frage der Feldgemeinſchaft
bei Homer.
Mit ungleich größerem Rechte könnte man in dem zuletzt ge
nannten Sinne verwerten die Schilderungen patriarchalifchen Familien:
lebens, denen wir im homerischen Epos begegnen. Welcher Leſer
der Ilias erinnert fi nicht mit Vergnügen der Erzählung von
dem patriarchaliichen Haushalt am Hofe des greifen Troerfürften,
der fait die ganze Nachlommenjchaft dejjelben in Einer gemein:
Ichaftlichen Wirtichaft vereinigt? !)
— im Innern (des Schönen Palajtes)
Waren don glänzendem Stein fünfmal zehn Zimmer erbauet,
Eins ganz dicht an dem andern, und Priamos Söhne, des Herrjcherz,
Ruhten darinnen mit ihren vermähleten Frau'n auf dem Lager.
Dann auch waren im Innern des Hofs an der anderen Seite
Zwölf umdachte Gemächer von glänzendem Stein für die Töchter;
Eines dem anderen nah und es ruheten drinnen des Königs
Priamos Schwiegerjöhne vereint mit den würdigen Frauen.?)
Es kann wohl kaum einem Zweifel unterliegen, daß dem
Dichter bei dieſer Schilderung wirkliche Thatſachen alten Familien-
rechtes und alter Familienfitte vorgeſchwebt hatten. Stimmen doch
die wichtigiten Züge der Darftellung mit einer Inſtitution überein,
die wir bei den verjchiedenften Völkern nachweilen können, und vie
bei den Südſlaven vielfach bis in die Neuzeit ein wejentliches
Element der Agrarverfafjung gebildet hat. Der Hof des Priamus
it unverkennbar ein Abbild der fogen. Hausgemeinjchaften d.h.
Vereinigungen von Abkömmlingen desjelben Stammwvaters, Bluts-
1) IV, 243 ff.
2) Bgl. auch die Schilderung des Haufes Neſtors in der Odyſſee bei.
UI 413.
Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 2
18 Grites Buch. Hellas.
verwandten zweiten bis dritten Grades, welche in demjelben Gehöfte
wohnen, Grund und Boden gemeinjchaftlich befigen und von dem
Ertrag gemeinfamer Arbeit gemeinfam leben.)
Aber der vereinzelte Lichtjtrahl, der mit diefer Erkenntnis auf
geſellſchaftlichen Zuftände von Althellas Fällt, vermag leider das
allgemeine Dunkel nur wenig zu exhellen. Wir wifjen nicht einmal,
ob das homerische Bild der Hausgemeinfchaft der Niederfchlag von
Erinnerungen an eine kommuniſtiſche Familienordnung der Vor:
zeit ift oder ob es im Hinblid auf den Volksbrauch der eigenen
Zeit der Sänger entftand. Die Hausgemeinjchaft muß aljo hier
gar nicht einmal mit Notwendigkeit als ein primitives Inſtitut
angefehen werden. Sie fann wohl dadurch entjtanden fein, daß
gleich bei der urjprünglichen Aufteilung des Landes die Ackerloſe
nicht unter die Einzelnen, ſondern unter die in Hausgemeinschait
zufammenlebenden Familien verteilt wurden. Allein daneben bleibt
doch immer die Möglichkeit eines jetundären Urjprunges beftehen,
dv. h. die Hausgemeinschaft kann auch dadurch entitanden fein, daß
bei der Aufteilung jedem anteilberechtigten Genoſſen eine wirtjchaft-
liche Einheit, eine Hufe als Anteil an der gemeinen Feldflur über:
wiefen wurde, daß dieſe Einheiten aber von Anfang an als uns
teilbar galten, und daher bei wachjender Bevölkerung zulegt mehrere
Familien zufammen eine Hufe bewirtichafteten.
Sp war e8 z. B. in Sparta in Folge der Unveräußerlichkeit
und Unteilbarkeit des xAn7005 eine nicht ungewöhnliche Erſcheinung,
daß mehrere Brüder im gemeinfchaftlichen Befig des Familtengutes
zufammenbhauften.?) Sm der That finden wir die Hausgemeinſchaft
vielfach gerade in Ländern mit älterer Kultur,3) weil hier eben in
1) Bol. 3. B. die Schilderung der ſüdſlaviſchen Zadruga, Zudrina
1. ſ. iv. bei Kraus: Sitte und Brauch der Südjlaven, ©. 64 ff., über Die
communautes de familles im mittelalterlichen Frankreich, die joint family
in Indien Laveleye 487 ff., ©. 365 ff., über die Hausgemeinjchaften der
Kelten Seebohm: Die englifche Dorfgemeinde u. j. w. ©. 126 ff. (D. U. v.
Bunjen).
2) Bolybius XII, 6.
3) 3.8. in Rom cf. Plutarch Aemilius Paullus e. 5, Crassus ce. 1.
Il. 2. Die Hausfommunton u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft 6. Homer. 19
Folge der Verdichtung der Bevölkerung der Zwang zum Zufammen-
wohnen mehrerer Familien auf einer Hufe ſich mit ganz befonderer
Stärke geltend machen mußte, jolange man fich nicht zur Natural-
teilung entjchließen Fonnte.!)
Aber jelbjt wenn es völlig ficher wäre, daß ſchon die ältefte
hellenijche Gemeinde nicht einen Verband von Einzelfamilien, fon-
dern von Fommuniftiichen Hausgemeinfchaften darftellte, fo würde
damit für die Erkenntnis der Gemeindeverfaffung, der agrarischen
Gemeindeordnung wenig gewonnen fein. ES würde daraus noch
lange nicht folgen, daß der für die Hausgemeinschaft charakteriftifche
Familienkommunismus im Bejis und Arbeitzertrag urſprünglich
auch das beherrjchende Prinzip der Agrargemeinde war, d. h. daß
die gejamte Feldmark anfänglich als Gemeingut bewirtichaftet wurde,
dejjen gemeinjam erarbeiteter Ertrag nach Familiengruppen zur
Verteilung fam. Im Gegenteil würde gerade die Griftenz der
Hausgemeinichaft innerhalb der Dorfgemeinschaft eher dafür fprechen,
daß die Gemeinde von Anfang an der Sonderwirtichaft kleinerer
wirtjchaftliher Einheiten innerhalb des allgemeinen genoſſenſchaft—
Auch in Attika jcheint fie noch im 4. Jahrh. troß der freien Teilbarkfeit deg
Grumdbejises nicht ganz jelten gewejen zu jein. Val. Jevons: Kin and
Custom (Journal of philology XVI 102 ff.), deſſen Borftellungen über die
Verbreitung der Hausgemeinjchaft im fpätern Hellas allerdings ſtark über—
trieben find. Cr nimmt vielfach fälſchlich Hausgemeinſchaft an, wo uur
Bermögensgemeinfchaft bezeugt ift. ©. 3. B. Demofthenes Leochar. p. 1083
$ 10 und $ 18. Ebenſo verkehrt ift es, wenn englische Forſcher Hausgemein:
Ichaften da jehen, wo e3 fich unzweifelhaft nur um die engere Familie handelt.
So hat 3. B. Ridgeway a. a. O.: The Homeric landsystem (Jourmal of
hellenie studies VI 319) daraus, dab Charondas die Familiengenoſſen ala
Suooinvor, Epimenides als öuoxerros bezeichnet (Ariftot. Bol. I, 1, 6. 1252)
den Schluß gezogen, die beiden hätten das Inſtitut der Hausgemeinfchaft im
Auge gehabt. Als ob nicht ſchon die einfache Familie aus „Speiſe-“ und
„Hufe“ (oder Herd?) Genoſſen bejtände!
) Bgl. die treffende Bemerkung Nafjes (Göttinger gel. Anz. 1881 ©.
275) über die Verbreitung der Hausgemeinjchaft im Mittelalter, wo diejelbe
3. 2. in dem länger fultivierten und dichter bevölferten Frankreich viel
häufiger war, als in Deutjchland mit jeinem Überfluß an unbebautem und
unbejiedeltem Land.
9*
30 Grites Buch. Hellas.
lichen Verbandes einen gewiſſen Spielraum ließ; eine Sonderwirt:
Ichaft, die ja ſelbſt mit einem Gejamteigentum der Gemeinde ver:
einbar war, wenn man nur die unter den Hausgemeinschaften ver:
teilte Feldflur periodiſch neu verlojte.
Nur unter Einer Borausfeßung ließen ſich für die Annahme,
daß die fommuniftiiche Agrargemeinde eine notwendige Durch
gangsphaje der ſozialen Entwicklung der Hellenen gebildet habe,
genügende Wahrjcheinlichkeitsmomente gewinnen, wenn nämlich die
auch von neueren Gelehrten !) vielfach geteilte Anficht des Aristoteles
berechtigt wäre, daß die hellenifche Dorfgemeinde (xzoun) fich überall
erit aus dem Haufe entwicdelt habe, gewiſſermaſſen als Kolonie
des Haufes entſtanden ſei.?)
An ji) wäre eine jolche Entjtehung des Dorfes ja Feines:
wegs undenkbar. Der Gejchichtsichreiber der Slaven 3. B. hat uns
einen derartigen Proceß jehr anfchaulich gejchildert.3) Nach ihm
baute der alte Böhme fein Haus inmitten der ihm eigentümlich
gehörenden Grundſtücke (dediny). „Seine Nachfommen bewirt:
ſchafteten das väterliche Erbe oft mehrere Generationen hindurch
gemeinfchaftlih und ungeteilt. Faßte das Haus ihre vermehrte
Zahl nicht länger, jo wurden in deſſen Nähe andere Häufer au:
gebaut und jo entjtanden die älteften Slavendörfer des Landes.” —
Hätte die hellenifche Dorfgemeinde diejelbe Entjtehungsgejchichte ge—
habt, jo würden wir allerdings mit höchſter Wahrjcheinlichkeit jagen
fönnen, daß man, jo lange das patriarchalifche Gemeingefühl fich
jtarf erhielt, auch für das zum Dorf erweiterte Haus an den
Lebensnormen der Hausgemeinschaft feitgehalten haben wird. Anz
gefichtS der großen Beharrlichkeit der agrariſchen Zuftände in Zeiten
reiner Naturalwirtichaft würde man wohl faum irre gehen, wenn
man annähme, daß das auf urjprünglicdem Familiengut entitan-
dene Gejchlechtsdorf noch lange nicht nur Trägerin des Grund:
Y 3.8. von Jevons a. a. ©. 9.
?) Pol. 1,1,7.1252b. udktore d’ Eoıze zara« pVow 1) xwun anoızia
olxias Eivat.
) Palady: Gejchichte von Böhmen I ©. 168.
I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft 6. Homer. 91
eigentums, jondern zugleich eine geichloffene wirtichaftliche Einheit
blieb, die gemeinjame Dorfflur gemeinfam bewirtfchaftete. Sehen
wir doch z. B. bei den Südſlaven jelbft in neuerer Zeit, wo die
a)
Tendenz zur völligen Auflöfung des Verbandes der Hausgemein-
Ihaft ſehr ſtark hervortritt, die Theilung noch häufig in der Form
ih volßiehen, daß zwar das gemeinsame Zufammenmwohnen auf-
hört und die einzelnen Familien in eigenen Gehöften jede für fich
wirtichaften, daß jedoch die Grundſtücke auch weiterhin gemeinschaft:
ih bedaut werden.) —
Der Verſuch, auf diefem Wege von der Thatjache der Haus-
gemeinjchaft aus zu der vermuteten fommuniftischen Struktur der
Dorfgemeinichaft zu gelangen, muß nun aber leider als ein aus-
fichtslofer bezeichnet werden. Die Annahme, von der er ausgeht,
daß die Hellenen ihr Land in Einzelhöfen und nicht nach dem Dorf-
ſyſtem befiedelt hätten, fteht im Widerſpruch mit den Ergebniſſen
zahlveicher Unterfuchungen über die Gejchichte der beiven Syſteme,
die zur Genüge gezeigt haben, daß bei den indogermanijchen Völkern
die weitaus überwiegende primitive Art der Anfiedlung das
Dorfiyitem geweſen ift und die Niederlaflung nad Einzelhöfen als
primitive Siedlungsform in der Negel nur da auftrat, wo die
natürlichen Produktionsbedingungen die gejellichaftliche Niederlaffung
erichwerten oder wo bejondere Stammesneigungen derjelben ent
gegenftanden.2) Daher wird man auch vom Standpunkt moderner
vorrtichaftsgefchichtlicher Erkenntnis an der Anſchauung des Thuky—
dides feithalten müfjen, daß das Dorf von Anfang an die vor:
herrichende Form des Wohnens und Wirtjchaftens in Hellas ge
weien ift (zara zwues — ım malaıy uns EAladag voonw I,
10). In der That ift gerade für die ländlichen Gebirgsfantone
) Kraus a. a. O. ©. 114.
2) Vgl. meine Ausführungen gegen die der ariftoteliichen Anficht
entjprechende Mommſen'ſche Auffaffung von der Entjtehung des italijchen
Gejchlechtzdorfes, Anfänge Roms ©. 52 ff. Dazu die treffliche Erörterung
Geigers über die Niederlafjungen des Aweſtavolkes: Oftivanifche Kultur im
Altertum ©. 407 ff., Kraus über die Südſlaven a. a. ©. 23.
22 Erſtes Buch. Hellas.
des Nordweftens, in deren AZuftänden ſich nach dem Urteil des
Thukydides das Bild der hellenifchen Vorzeit am getreuejten wider—
fpiegelte, für Lokris, Ätolien, Akarnanien das Dorfſyſtem als regel-
mäßige Siedlungsform ausprüclich bezeugt.!) —
Nun hat man allerdings gemeint, daß neben dem Inſtitut
der Hausgemeinjchaft im homeriſchen Epos noch eine Reihe anderer
Thatſachen vorliegen, die mehr oder minder auf eine Zeit ſtreng
gemeinwirtjchaftlicher Drganijation der Gemeinde hinweiſen jollen.?)
Man hat in diefer Hinficht zunächſt die befannte Stelle der
Ilias (XII 421 ff.) geltend gemacht, wo das Ningen der um die
Bruftwehr des Schiffslagers kämpfenden Hellenen und Troer mit
dem hartnädigen Streit zweier Bauern verglichen wird, die um Die
Grenze ihrer Äcker hadern:
— tie zwei Männer im Streit find wegen der Grenzung
Und mit dem Maß in der Hand auf gemeinfamer Scheide des Feldes
Mit einander ftet3 hadern auf wenigem Raum um die Gleichung,
Aljo jchied auch jene die Bruftiwehr.°)
Das volle Verſtändnis diefer Schilderung joll — wie man
gemeint hat — nur dann möglich fein, wenn man der hier vor—
ausgejegten Agrarverfaſſung mindejtens das zujchreibt, was im
Syftem der mittelalterlichen Feldgemeinſchaft als das „gemeine“
') Thuf. I, 4, 3 und III, 94, 3. Dgl. auch über die Allgemein:
heit des Dorfiyftems im heutigen Griechenland Philippfon: Uber
Befiedlung und Verkehr in Morea. Berhandlungen der Gejellichaft für Erd:
funde zu Berlin 1883 ©. 450.
2) Sp bejonders Nidgeway in dem genannten Aufſatz über die home:
riſche Agrarverfaffung und Esmein: La propriete fonciere dans les poëmes
homeriques. N. revue historique de droit francais et &etranger. 1890.
©. 821 ff. Die ältefte griechifche Agrargemeinde repräfentiert ihm „denfelben
Typus” (le möme type d’institutions) wie die kommuniſtiſche Dorfgemeinde
des ruſſiſchen Mir!
3) AAN wor’ dugp' ovooıoı dV’ aveos dngidaoHor
erg’ Ev yEoolv Eyovrss, Enifvrw Ev apoTon
Wr’ oAyo Evi ywow £giöntov negl long,
WS doa rovs diespyov Entdkfuss.
/
I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 93
oder „offene“ Feld (Common Field, Open Field) bezeichnet wird.!)
tach diefem Syſtem waren urſprünglich nur die Wohnftätten d. h.
Haus und Hof mit dem Gartenland dauernd eingefriedigt und der
Privatrechtsiphäre ausschließlich vorbehalten, nicht aber die in Ge
menglage über die Dorfflur zerjtreuten Anteile der Hufe am Acker—
lande, das in gewijjem Sinne immer das blieb, was Homer an
unferer Stelle nennt, eine Erri£vvos d. h. Errizoıvos @govor, „ge
meines Feld“. Denn Ader und Wieſen unterlagen nicht nur der
gemeinfamen, durch den Flurzwang geregelten Dorfwirtichaft, ſon—
dern auch einer gewiſſen gemeinjamen Nubung der Dorfgenofjen.
Die Sondernugung des Einzelnen dauerte nur jolange, als die
Zeit der Beitellung und Bebauung währte. Nach der Ernte fielen
die Einfriedigungen der Felder und trat das Necht Aller zum ges
meinjchaftlihen DBiehauftrieb, zur Stoppel- und Brachweide in
Kraft. — Aljo eine Agrargemeinschaft, die allerdings an ſich das
PVrivateigentum am Aderland nicht mehr ausichließt, dasjelbe jedoch
noch wejentlichen Einſchränkungen zu Gunsten der Geſamtheit unter
wirft und daher vielfach als Überreft einer urſprünglich noch ftrenge-
ven Gemeinjchaft aufgefaßt worden ift.
Man hat nun die Bemerfung gemacht, daß der Vergleich
zwijchen dem von den Kriegern umjtrittenen Wall und der ftrittigen
Feldgrenze ein bejonders treffender wäre, wenn wir unter dem
Ausdruck ug ovgowı Grenzraine verjtchen würden, wie jie die
einzelnen Teilftüde einer unter dem Flurzwang ftehenden Feldmark
von einander zu jcheiden pflegen.) Wir könnten unfererfeit3 hin-
zufügen, daß unter diefer Vorausfegung der Vergleich auch dem
Gefichtsfreis des Volkes bejonders naheliegend erjcheinen würde.
Denn bei einer folchen Feldgemeinjchaft kann es nur zu leicht,
1) Das ift die Anficht von Nidgeway (a. a. O. ©. 319 ff.) der die
EniEvvos (d. h. Enixowos) @oovor in diefem Sinne auffaßt. Auch Paſſow
s. v. betrachtet diejelbe als Gemeindefeld.
2) Ridgeway ©. 323 a.a. O. DBgl. die übereinftimmende Bemerkung
Esmeins a. a. D. ©. 833: Ne voilä-t-il pas l’emage exacte de la pro-
priete collective?
24 Erſtes Buch. Hellas.
wenn der alte Gemeingeift im Schwinden begriffen ift, zu unauf-
hörlichen Grenzitreitigfeiten und dauernden Störungen des öffent
(ichen Friedens kommen, da die durch die Gemenglage der Ader-
ſtreifen herbeigeführte Zerſtückelung des ländlichen Befißes ſehr viele
Grenzraine nötig macht und jo dem Beltreben rücdjichtslofer und
anmaßender Nachbarn, durch fortwährendes Abpflügen von ven
Nainen ihre Felder zu vergrößern, reichliche Nahrung gewährt."
Auch der Ausdrud „eorinrov regt done“ würde auf diefe Weife
eine bejonders prägnante Bedeutung erhalten. Denn bei der ge
nannten Flurteilung fommt das Prinzip der Gleichberechtigung jehr
entjcehieden zum Ausdrud. Um jeder Hufe auch annähernd gleich-
wertige Anteile am Kulturboden zu verschaffen und in Beziehung
auf Lage der Feldſtücke zum Wirtichaftshofe, Beichaffenheit des
Bodens und Äußere Bedingungen feiner natürlichen Fruchtbarkeit
alle Anteilberechtigten gleichzuftellen, ift bier die geſamte Feldflur
in größere Abteilungen (Gewanne oder Breiten) geteilt, die ihrer:
jeitS wieder, um jede Hufe an verjchiedenen Gewannen zu beteiligen,
durch Die genannten Raine in Aderjtreifen von gleicher Größe
zerlegt find. Hier drehen fi alfo in der That die Flurftreitig-
feiten von Grenznachbarn um das gleiche Necht am Aderland der
Gemeinschaft, errı&vrp Ev @ooVvon — Tregi long.
Allein jo ſchön fich bei dieſer Auffaſſung alles zuſammen—
fügen wide, jo zwingend tft ſie doch nicht, daß wir auf ihr irgend—
wie weiterbauen fünnten. Weiſt doch eine Stelle der Ilias ſelbſt
auf die Möglichkeit einer ganz anderen Deutung hin! XXL 403 ff.,
wo e3 von der mit Ares fämpfenden Athene beißt:
„Da trat jene zurück und den zadigen, dunfelen Feldftein
Hob jie mit nervigter Rechten empor, der dort im Gefild lag,
Einjt als Grenze der Fluren gejegt von den Männern der Vorzeit.“ >)
Als Flurgrenze (ov905 doovons) erſcheint hier nicht das
Merkmal der alten Feldgemeinschaft, der Nain, jondern ſchon ge-
nau jo, wie in den fpäteren Zeiten der griechisch-römischen Welt
) Bol. 3. B. Seebohm-Bunſen a. a. 9. ©. 12.
‚ LO) ‚ ” r 3 3 ’
?) tov 0 ardge no0Te90ı Heoav Euusraı 0V00v EEOVONS.
I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 95
der Grenzitein (terminus); und es ift doch wohl kaum geftattet,
ohne einen zwingenden Grund die frühere Stelle des Gedichtes auf
eine andere Form der Grenzbezeichnung zu deuten. Selbft wenn
fich nachweifen ließe, daß dieſe Stelle einem älteren Beftandteil der
Diehtung angehört, als die des 21. Buches, und wenn man damit
einen Zeitraum gewonnen hätte, in dem fich etiwa der Übergang
von der Flurgemeinichaft zum vollen arrondierten Eigentum voll
zogen haben könnte, jelbjt dann würde man Bedenken tragen müſſen,
ohne ſonſtige Anhaltspunkte der erjten Stelle eine andere Erklärung
zu geben, als die, welche durch die zweite nahegelegt wird. Auch
ericheint ja die Schilderung des Grenzitreites bei dieſer Deutung
feineswegs unzutreffend, zumal, wenn man die Worte Ayo ev
X0om EoiSyrov in Betracht zieht. Man müßte ſich dann die
Szene jo denken, daß der Dichter die Teilung eines gemeinfamen
Privatbefißes im Auge hatte, bei der die von entgegengejeßten Sei-
ten des abzuteilenden Grundſtückes ausgehenden Parteien mit den
Meßſtangen — oAym Eri- yuom — aufeinander jtoßen und fich
nun über die Stelle des Grenziteines nicht einigen können, wobei
e3 fich naturgemäß eben nur um einen Kleinen Naum handeln Fan.
Wenn wir demnach darauf verzichten, aus der Form ver
Flurteilung bei Homer Schlüſſe auf die alte Agrarverfaflung zu
“ziehen, jo werden wir ung nach anderen agrarijchen Ericheinungen
umsehen müſſen, um ein Beweismoment für die Fortdauer der
Flurgemeinſchaft in den Zeiten des epischen Gelanges zu gewinnen.
Ein folches Zeugnis für die Flurgemeinjchaft hat man in der
ihönen Schilderung finden wollen, welche der Dichter in der Be-
ichreibung des Schildes Achills von dem ländlichen Leben der Zeit
entwirft. Da beißt es SL. XVII 541 ff. von dem Bildner des
Schildes:
Weiter ſchuf er darauf ein Brachfeld, locker und fruchtbar,
Breit, zum Dritten gepflügt; und darauf viel ackernde Männer,
Welche die Zoch’ in dem Kreis ſtets hierhin trieben und dorthin,
Immer, jo oft fie, getvendet, des Fruchtlands Grenzen erreichten,
Nahte ein Mann, den Pokal mit dem Lieblichen Wein in den Händen,
936 Erſtes Buch. Hellas.
Gab ihn den Pflügern, und dieſe, zurück zu den Furchen gewendet,
Strebten von neuem die Grenze der üppigen Flur zu erreichen.
Man hat gemeint,!) dies weite Brachfeld (veıos evosie) und
die Mafje der Pflüger (roAAoi aoorHess Ev aurn) erinnere augen-
fällig an jene großen Flurabteilungen (Gewanne) einer in Feld:
gemeinschaft betellten Dorfmarf, auf denen befanntlich alle Arbeiten
des Dorfes zu gleicher Zeit verrichtet werden mußten.
In der That, wenn man die homerische Schilderung mit
ähnlichen Daritellungen aus den Zeiten der mittelalterlichen Feld:
gemeinschaft vergleicht, jo ergibt fich eine merkwürdige Überein-
jtimmung. Ich erinnere an ein befanntes englisches Gedicht, Die
Vision of Piers the plowman.?) In diefem Gedichte des „Ackers—
mannes Piers“ wird ganz wie bei Homer ein „ſchönes Feld voll
von Leuten” erwähnt, wo der Dichter „allerhand Männer” arbeiten
ſieht. Einige wandeln hinter dem Pfluge, andere bewegen ſich hin
und ber beim Säen und Seßen u. j. w. 63 ijt ein Bild der
Flurgemeinſchaft, welches jämtliche Teilhaber eines Gewannes des
Common Field zwang, mit dem Pflügen ihrer Aderparzellen zu
gleicher Zeit zu beginnen.
Allein wenn nun auch die homerische Schilderung auf die
Feldgemeinfchaft eben jo gut pafjen würde, wie diejes mittelalter-
liche Gedicht, welches dieſelbe thatlächlich im Auge hat, folgt daraus,
daß der antife Dichter fich die Sache notwendig jo vorgeftellt haben
muß? Kann er nicht ebenfogut an vie über zahlreiche Arbeits-
fräfte verfügende Wirtfchaft der großen Herrengüter gedacht haben,
deren Ackerland nach den Schilderungen des Epos teilweije jehr
ausgedehnt und wohl arrondiert ericheint??) Man vergleiche nur
die unmittelbar fich anreihende Bejchreibung einer Erntejzene!
') Nidgeway a. a. D. ©. 330. Auch E3mein ©. 834 findet in der
Darftellung des Schildes „wenn auch nicht die juriftifchen, jo doch die ökono—
mijchen Merkmale des Kolleftiveigentums“. Nous trouvons, meint ex
©. 833, ce régime terrien pittoresquement repr&sente sur le bouclier
d’ Achille.
2) Bol. Seebohm-Bunfen a. a. O. ©. 13.
3) Bgl. 3. B. das SL. IX 578 |. erwähnte reuevos nregixahlts nevrn-
I. 2. Die Hausfommunton u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 97
Zwar fehlen auch hier feineswegs die Züge des Bildes,
welches der Erntetag auf einem mittelalterlichen Gewanne gewährt.
Wie auf dem vom Adersmann Biers gefchilderten Felde arbeitende
Zandleute, Bäder, Brauer, Fleiſcher erfcheinen, Köche „heiße
Paſteten“, Wirte Wein und Braten ausbieten, ift auf dem home-
riſchen Erntefeld eine Neihe von Schnittern, Garbenbindern, ähren:
lefenden Knaben thätig, daneben wird unter einer Eiche ein ge
Ichlachteter großer Stier für die Arbeitenden zum Mahle bereitet
und Weiber find mit der Heritellung von Mehlipeifen beichäftigt;t)
auch der Weinausichanf würde vom Dichter gewiß erwähnt worden
jein, wenn er dies Motiv nicht joeben bei der Beitellungsizene ver-
wertet hätte. — Würden diejenigen, welche die Dorfgemeinjchaft
bei Homer gefunden zu haben glauben, einen Moment zaubern,
in der Erntelzene das anjchaulichite Bild gemeinichaftlicher Dorf:
wirtschaft zu jehen, wenn der Dichter nicht zufällig oder vielmehr
aus einem beftimmten poetischen Miotiv,2) mitten unter die Arbei-
tenden den Grundheren geitellt und damit als Schauplaß diejer
Szene eine große Gutswirtichaft bezeichnet hätte?3) Oder ſollte der
Dichter gerade hier den Herrn noch aus einem andern als einem
rein poetiichen Grunde genannt haben; etwa, wie man gemeint
hat,t) um ausdrücdlih dem Herrenland der Erntejzene den anderen
ländlichen Schauplag als Bauernland gegenüberzuftellen ?
Man legt befonderes Gewicht darauf, daß das Ernteland der
xovröyvor, To uev Huiov olvoredoro, Murov dE ılmv dgocıw zedioro
tausoHeı. — Dazu das jehr charakteriftiiche Gleichnis XI 67:
Oi d’, wor’ duntnoss Evavruoı aAdmkorov
öyuov Ehavvworw avdoos udzagos zart doovgarv
nvoWv 7) xoLIEwv' Ta dE doc«yuare Tagpea ninte
os Towes zei Ayavoi En’ dAkmkoroı Fogövres
djovv xrA.
DSER&VIT, 55077
2) Siehe unten.
3) — Bacıdev5 d’ Er Toioı owrn Oxnargov Eywv Eormreı En’
Oyuov yn9oovvos #0.
4) Nidgeway a. a. O. ©. 336.
23 Erſtes Buch. Hellas.
eriten Szene als ein reusvos!) und der Gutsherr als Baoılevg
bezeichnet wird. Es könne fich alfo hier nur um den König und
das regelmäßige Attribut des homeriſchen Königtums, die Kron-
domäne handeln, für welche eben der Name rewevos ſchlechtweg
gebraucht wird. Nun fei e8 ferner die Abficht des Dichters, auf
dem Schild die verjchiedenen Seiten des bürgerlichen Dafeins in
einer Neihe von Einzelgemälden in der Weile zu veranfchaulichen,
daß die einzelnen Stände und Klaſſen des Volkes in gewifjen
charafterijtiichen Situationens dargeftellt werden: der Fürft auf
jeinem zeusvos, die zum Gericht verfammelten „Volksälteſten“
(yggovres) v. 503 ff. und die ebenfalls im Thing vereinigten Ge—
meinfreien (Aaoi d’siv @yoon-@9ovor) v. 497 f. Da eben das,
was den König vor den Geronten ſpezifiſch auszeichne, der Befit
des veuevos jei, jo babe der Dichter für feine Charafteriftif des
Königs als pafjendjten Zug eine Szene aus der füniglichen Domäne
gewählt, als Gegenſtück zugleich zu der in einer anderen Schild:
abteilung dargeftellten Dorfwirtichaft der Gemeinen.
Ich muß geitehen, daß der Dichter, wenn er wirklich die
Abficht gehabt hätte, die Stellung des Königtums gegenüber den
Edlen und Gemeinen zu charakterifieren, mit der Hervorhebung
eines ausjchlieglich wirtichaftlichen Momentes, der materiellen Aus—
ftattung des Königtums, nach meinem Gefühl einen recht unglüd-
lichen Griff gethan hätte; — ganz abgejehen davon, daß das
veuevos zwar eim notwendiges, aber Feineswegs ausjchließliches
Attribut des Königtums war.?) Allein der Dichter hat offenbar
die ihm zugefchriebene Abſicht gar nicht gehabt. Es find keines—
wegs die jozialen Klafjen des Volkes, welche den leitenden Gedanken
für die Kompofition des Schildes und das eigentliche Teilungs-
prinzip für die Gliederung abgeben, fondern vielmehr eine Reihe
von Erſcheinungen des gefellfchaftlichen und wirtjchaftlichen Lebens,
!) Ev WErideı TEuEvos Basvaniov zud.
°) Vgl. Il. IN, 578, XX, 184 über die Verleihung eines Tewevos
für hervorragende Verdienſte.
I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 99
die mit der Klaſſenſcheidung an und für fih gar nichts zu thun
haben.!) So jtellt der zweite Kreis des Schildes in zwei Abtei-
lungen eine Stadt im Frieden und eine andere im Kriege dar; wo—
bei die leßtere Abteilung jich wieder in drei Szenen gliedert: 1) die
Mauer mit den Verteidigern, 2) Überfall der Herden, 3) Kampf
der beiden Heere. Wo fände ſich aber nur die geringite Spur
davon, daß die jo überaus verjchiedene Nolle, welche bei Homer
gerade im Kampfe die Fürſten und Edlen gegenüber den Gemeinen
jpielen, von dem Dichter beſonders hervorgehoben wäre, wie es
doch dem Charakter des ritterlihen Epos vor allem entjprochen
hätte? Und ganz das Gleiche gilt für die Szenen aus der fried-
lihen Stadt! Es werden uns hier in verjchiedenen Bildern Epi-
joden des Hochzeitsfeites und eine Gerichtsizene auf dem Markte
vorgeführt, alfo Vorkommniſſe aus dem Leben des Gejamtvolfes,
an denen alle Klaſſen ohne Unterjchied beteiligt jein können, wes—
halb es auch jelbitverjtändlich ift, daß 3. B. Dei der Bejchreibung
der Gerichtsperfammlung eben die verichiedenen Beteiligten: die
jtreitenden Barteien, die richtenden Geronten, die Herolde, der Um:
ftand der Freien der Neihe nach aufgeführt werden. Die einzelnen
Gruppen jelbjt werden nur joweit charakterifiert, als es für das
Verſtändnis und die lebendige DVeranjchaulichung des Borganges
unbedingt nötig ift.
Daß das Grundmotiv des Dichters nicht die Schilderung
ſozialer Typen ift, zeigt gerade die Darftellung des länplichen
Leben im dritten Kreis des Schildes recht deutlih. Diejelbe glie-
dert fich nicht nach den Sozialen Berhältniffen der Landwirtichaft,
jondern nach den Gefichtspunften des Wirtjehaftsbetriebes, nad) der
Verichiedenheit der Jahreszeiten und der verjchtedenen Art der
Bodennutzung (Acerbeftellung, Ernte, Weinlefe, Weidetrift). Das
Feld der erſten Szene wird nicht al3 Dorfflur einer fürftlichen
Domäne, einem zeusvos Baoıırıov gegenübergeftellt, wie man auf
) Bgl. Brunn: Rhein. Muſ. N. F. V, 240 ff. und Abh. der bayı,
AL. philoſ. philol. KU. XI, 3, ©. 10 ff. (1888),
30 Erſtes Buch. Hellas.
Grund einer offenbar faljchen Lesart in den Tert hinein erklärt
hat, jondern als Brachfeld (weiss) einem zeusvog BayvAniov, dem
Acer, auf dem die Saat hoch aufgeſproßt iſt.
Dieſes Beiwort ift übrigens zugleich ein Beweis dafür, daß
bier rewevog gar nicht in dem ausschließlichen Sinne von Krongut
gemeint fein fann, jondern ganz allgemein eine Feldflur überhaupt
bezeichnet. Daß aber gerade bei der Bejchreibung des Erntefelds
auch der Gutsherr genannt wird, Der angefichts der verjchiedenen
Bedeutung des Wortes Pacıkevs nicht notwendig der König zu
jein braucht, das erklärt fih aus einem rein poetischen Motiv. Die
Erſcheinung des glüdlichen Gutsheren, dem die helle Freude am
Ernteſegen aus dem Antlig jtrahlt, gehört dichteriich jo notwendig
in das Erntebild, daß es kaum begreiflich ift, wie man bier dem
Dichter ſtatt eines jo überaus naheliegenden Motives einen nüch—
teınen ftaatsrechtlichen Gefichtspunft unterichieben fann. Oder hätte
der Dichter den Heren ſchon bei den Beltellungsarbeiten des Früh:
lings auftreten laſſen jollen, auf die Gefahr hin, ihn in der uns
poetischen Nolle des Aufſehers zu zeigen? Er konnte ja das Walten
des jorgjamen Heren ungleich feinfinniger auch hier veranjchaulichen,
ohne ihn zu nennen. Und daß er dies in der That gethan, dafür
jcheint mir die Perſon des Schenken zu jprechen, der jedem der
Pflüger, wenn er am Ende der Furche angelangt ift, einen Becher
Weines reicht und fie dadurch zu lebhaften Wetteifer anjpornt.
Die Art und Weife, wie der Dichter dieſe pſychologiſche Wirkung
des Weinausichanfes hervorhebt, läßt deutlich erkennen, daß die
jelbe der Zweck des leßteren ift, aljo von jemand ausgehen muß,
der ein Intereſſe an der raſchen Ausführung der Feldarbeit bat.
Und das fann doch eben nur der Gutsherr fein, der mit dienenden
Arbeitskräften wirtjchaftet! Der Schenk auf. dem Brachfeld handelt
daher gewiß ebenfo im Herrendienſt, wie Die dienenden Herolde
und Weiber auf dem Erntefeld. ES iſt unverkennbar als Seiten:
ſtück zu dieſen gedacht, wie fich ja ähnliche Barallelismen in der
Kompofition der Schildbejchreibung auch ſonſt finden.
Man könnte nach alledem höchjtens noch an die Möglichkeit
I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 31
denken, daß der Dichter etwa an eine feldgemeinjchaftlich organi-
ſierte hörige Bauernjchaft gedacht hat. Allein auch das könnte
für unſere Frage nichts beweiſen. Denn in diefem Falle könnte,
wie im Mittelalter jo oft, der berrichaftliche Verband die Duelle
des feldgemeinfchaftlichen Verhältnifjes fein, was einen zwingenden
Schluß auf die primitive Grumdeigentumsform der Vorzeit von
vornherein ausjchließt.
Nun enthält aber zu allem Überfluß die Schilderung des
Brachfeldes noch ein Moment, welches in jeiner Bedeutung aller:
dings bisher nicht erfannt ift, das aber meines Crachtens für die
ganze Frage entjcheidend jein dürfte. Das Brachfeld wird nämlich
als loder (uadexr)) und „vreimal gepflügt” (roirroAos) bezeichnet.
Es war aljo einerjeit3 tief umgebrochen, hatte eine tiefe Strume;)
andererjeit3 war das Umbrechen des Feldes ein mehrmaliges; das
bier bejchriebene Pflügen könnte möglicherweije jogar als die vierte
Furche betrachtet werden.2) Dieje energiiche Bearbeitung des Brach—
feldes zeigt uns, daß die homerifche Landwirtichaft bereits zu dem
Syſtem der vollen oder, wie fie gewöhnlich genannt wird, der
reinen, der jehwarzen Brache übergegangen war, ein Syitem, bei
dem von einer Benügung des Brachfeldes als Viehweide wenig
mehr die Nede fein konnte. Wo bleibt da das „offene“ Feld der
alten Feldgemeinfchaft und der gemeine Weidegang der Dorf
genofjen?
Sn der That erjcheint Ader und Weidewirtjchaft bei Homer
ihon ſcharf getrennt. Die letztere beginnt für ihn da, wo Die
Acerung aufhört, aygod Er Eoyarıns.?) Es iſt bereits diejelbe
fortgeschrittene Form der Wirtjchaft, wie wir fie in einer viel ſpäte—
ven Zeit, 3. B. in den Idyllen Theofrits wiederfinden, deſſen Schil-
1) Thaer: Der Schild des Achill in feinen Beziehungen zur Landwirt:
ichaft. Philologus 1870 ©. 590 ff.
2) Bgl. auch die jehr gründliche Brache bei Hefiod: Werke und Tage
v. 460 ff..
3) Vgl. Thaer a. a. O ©. 606.
33 Erſtes Buch. Hellas.
derungen in wejentlichen Punkten mit den homerifchen überein
jtimmen.!)
Aber ſelbſt wenn ſich in den Zeiten des epiſchen Gejanges
— was ja jehr wohl möglich, ja wahrjcheinlich iſt? — neben dem
hier gejchilverten jüngeren Wirtſchaftsſyſtem in einzelnen Landjchaf-
ten eine alte Feldgemeinschaft mit Flurzwang und gemeinem Weide:
gang erhalten hätte und für uns noch nachweisbar wäre, mas
würde damit für die weentlich Joziale Frage nach dem Charakter
der agrarischen Eigentumsordnung viel gewonnen fein? Wir
würden damit nur eine Form der Feldgemeinjchaft feſtgeſtellt haben,
die mit dem Somdereigentum am Aderland jehr wohl vereinbar
ift,3) ſogar unter der Vorausjeßung, daß bei dieſer Feldgemein-
ſchaft der „„xAroos“ des Einzelnen, wie man gemeint hat, nur einen
wechjelnden Losanteil an der Dorfmarf bedeutete. Zahlreiche Bei—
jpiele der neueren Wirtichaftsgejchichte haben gezeigt, daß Feinerlei
Art von Wechielland Privateigentum hindert, daß troß völlig freiem
Eigentum die Acer von Jahr zu Jahr oder periodisch eine andere
vom Los bejtimmte Lage im Gewann befommen Fönnen.t) Die
wahre und eigentliche — auf dem Prinzip des Gejamteigentums
beruhende — Feldgemeinfchaft bedürfte aljo immer noch eines be
ſonderen Nachweijes.
Kun hat man freilih Spuren auch diejes Syſtems in den
homeriſchen Gedichten finden wollen, Spuren einer Nechtsoronung,
die von dem Prinzip der ftrengiten Feldgemeinjchaft beherrſcht war
!) Bgl. bei. für die Trennung don Ader- und Weidewirtſchaft 21,
6—17, bei. v. 14 navreocıv vouoi wde TEedmAores alEv Eaoı, für das
Brachfeld dv. 25: roımodoıs.... Ev veioloıw ,.. zal Terganokoıoıy,
?) Ebenſo wie in Altitalien! Vgl. Weber: Die römijche Agrarges
ichichte in ihrer Bedeutung für das Staat? und Privatrecht. 106 ff.
>) Mit Recht bemerkt Heusler (a. a. O. 322) gegen die abweichende
Anficht Sohms, daß mit der Gemeinjamkeit im Bewirtſchaftungsmodus keines⸗
wegs auch ſchon eine materiell gemeinſchaftliche Okonomie, eine Bebauung
„auf gemeinjamen Gedeih und Verderb“ gegeben jet.
4) DBgl. die treffende Bemerkung von Meitzen: Die Individualwirt—
jehaft dev Germanen a. a. D. ©. 9,
I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinichaft b. Homer. 33
und ein privates Grundeigentum noch nicht kannte. Allein alle
die Stellen, welche man für diefe Annahme geltend macht, haben
mit den eben bejprochenen das gemein, daß fie eine fehr verjchie-
dene Deutung zulaſſen und jchon deshalb nicht beweifen Können,
was fie beweiſen jollen.
Es genügt daher, hier die wichtigiten diefer angeblichen Zeug:
nifje zu bejprechen und im übrigen auf die eingehende Unterfuchung
zu verweilen, welche die ganze Frage der Feldgemeinjchaft bei Homer
bereits an anderer Stelle gefunden hat.:)
In der Ilias XV, 495 ermahnt Hektor die Seinen zu todes-
mutigem Ausharren, indem er fie darauf hinweiſt, daß fie ja Weib
und Kind, Haus und Gut (xAno05) ungejchädigt hinterlaffen wür—
den, falls die Achäer abzögen. Man hat diefe Worte als ein
Verſprechen aufgefaßt, dahingehend, daß den Hinterbliebenen der
gefallenen Krieger der Losanteil an der gemeinen Mark in dem—
jelben Umfang verbleiben jolle, wie ihn bisher die Väter bejefjen.
K47oos joll hier ein von dem Vorhandenjein arbeitsfähiger Fami—
lienglieder abhängiger und daher durch den Tod des Familien:
hauptes unter Umftänden verloren gehender Nußungsanteil am ge
meinen Felde jein, wie dies 3. B. Nidgeway annimmt.2) Es be
darf kaum der Bemerkung, daß eine jolche Interpretation höchſtens
dann einige Berechtigung hätte, wenn eine wahre Feldgemeinjchaft
für die Zeiten der Ilias bereitS anderweit nachgewiejen wäre.
Damit erledigt Ti) auch der Hinweis auf die Klage der
Andromaches) über das Fummervolle Geſchick ihres verwaiften
Knaben, dem „andere die Felder wegnehmen” würden. ES ift reine
1) Bol. meinen Aufſatz über die Feldgemeinfchaft bei Homer. Ztſchr.
für Sozial: und Wirtfehaftsgefhichte I ©. 1 ff. Hier findet fich auch eine
erichöpfende twirtjchaftsgejchichtliche Erörterung der volkswirtſchaftlichen Mo—
mente, welche gegen die genannte Anficht ſprechen.
2) ©. 331.
2) ST. XXI, 489:
aiei Toı Tovrw ye novos zei x7dE ONioow,
Eooovt’ @Ahoı Ydo 0L ErTovENEoVCLV LOOVERS.
Pohlmann, Gejich. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 3
34 Erſtes Buch. Hellas.
Willkür, wenn man in diefer Wegnahme der Felder nicht — was
doch das Nächitliegende wäre — einen Akt der Vergewaltigung
fieht, fondern „die Anwendung der primitiven Sitte“,1) der gemäß
der Grundbefi des BVerftorbenen, der nur Unmiündige hinterließ,
an die Gemeinschaft zurücdgefallen fein joll.
Diejelbe gewaltjame Interpretationskunſt hat fi an jener
ſchönen Stelle der Odyſſee verſucht, wo der ländliche Hof des greifen
Laörtes gejchildert wird, den er „fern von der Stadt (voagyı roAnos)
perjönlich bewirtjchaftet. Diefer Hof joll jenfeitS der Flurgrenzen
der Feld marfgenofjenichaft durch Dffupation im Odland der Allınende
entjtanden und daher ein Beweisftüd dafür fein, daß damals noch
— ähnlich wie im deutjchen Mittelalter vor dem Ausbau des
Landes — ganz allgemein weite Streden unbebauten Kulturbodens
im Gemeinbefiß waren, an denen jeder Marfgenofje durch Nodung
und Kultivierung ein individuelles Anrecht erwerben fonnte: Die
einzige Möglichkeit der Entjtehung von Privateigentum an Grund
und Boden, welche Esmein — neben den gleich zu erwähnenden
Schenkungen aus Gemeingut — für die Zeit des Epos gelten lafjen
will.) Bei dem Hofe des Laörtes jei der „Nechtstitel des Er—
werbes” einzig und allein die perjönliche Arbeit, wie er es auch in
den Zeiten jtrengiter Feldgemeinjchaft für das Haus ift, welches
fi) der Einzelne mit eigener Hand erbaut.
Und woraus fol alles dies folgen? Einzig aus der Äuße—
rung des Dichters, daß der Hof „entfernt“ lag, und daß der greife
Beliter „ihn jelber erworben nach Überftehung vieler Mühſal!“
Warım kann aber die Mühjal, deren hier der Dichter mit einer
bei ihm ganz ftereotypen Wendung gedenkt, nicht etwa auch „Des
Kriegs mühjelige Arbeit” fein, wie der alte unbefangene Boß ganz
aus dem Geijte des Liedes heraus überjegt hat? Und was die
entfernte Lage des Hofes betrifft, ift fie nicht durch die ganze
Situation hinlänglich motiviert, ja geradezu gefordert?3)
1) So Esmein ©. 829.
2) V. a. D. ©. 84.
?) Dasjelbe gilt für das „arongodı niovas ayoovs“ (Il. XXIU
I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinschaft b. Homer. 35
Ebenjowenig wie das Gehöfte des Laörtes kann die „fern an
Grenze der Flur“ (eygor Er’ Eoyerınc) gelegene Baumpflanzung,
auf der nach Odyſſee XVII 358 einer der Freier dem als Bettler
verfleideten Doyfjeus mit höhniſchen Worten Beichäftigung anbietet,
für die Frage der Feldgemeinjchaft beweifend jein. Man denkt
dabei ebenfall3 an eine Neuanlage in der Allmende und fieht darin
ein Symptom für das Beftreben, mit Hilfe von abhängigen Arbeits-
fräften durch Nodung und Kultivierung von Gemeingründen neben
den nur zu periodischer Nußniegung überlaffenen Anteilen an der
bebauten Feldmark Grundjtüde zu vollem Eigentum zu erwerben. !)
Wir geben ohne weiteres zu, daß auf diefem Wege im frühen
helleniſchen Mittelalter ebenfo, wie im germanijchen, zahlveiches
PVrivateigentum aus Gemeingründen entjtanden jein wird,2) allein
was beweiſt das Recht der freien Nodung im Odland fir die Eigen-
tumsordnung der fultivierten Feldmark? Diejes Necht it in
Deutſchland unter der Herrichaft der von Anfang an auf dem
Prinzip des Individualeigentums beruhenden Hufenverfafjung bis
tief ins Mittelalter hinein geübt worden. Ja es ift von diefem
Recht in größerer Allgemeinheit und mit umfaſſenderem wirtſchaftlichen
Erfolg eigentlich exjt dann Gebrauch gemacht worden, als fich eben
unter dem Einfluß des Brivateigentums die Zahl der Grundbejtger
vermehrt hatte, welche durch wirtichaftliche Überlegenheit die Menge
der Gemeinfreien überragten und den Ausbau des Landes mit
833). Übrigens kehrt dieje Wendung in ganz ftereotyper Weife wieder. Vgl.
Od. IV, 757.
1) Esmein ©. 844.
2) In dem waldreichen Cypern iſt dies jogar noch in verhältnismäßig
jpäter Zeit gejchehen, wie Strabo XIV, 5, $ 5 nach Cratojthenes berichtet:
gpnei d’ 'EoatooHEvns To nakcıöv vAouevoivrwv Toy nediov, WOTE zUTE-
zeoIaı dovuois zei um yewopyeiocdeı, uızgd uev Enwgpeleiv 005 ToüTo
TE uerelle, devdoorououvrwv 005 Tv zuicıw Tod yahzor xai To
doyvoov, roo0yer&odeı JE zul Tv vavınylaev Tov oTolwv, 7dn nAeo-
uevns ddeos ı7s Yahdoons xal ucerd dvvduswov' Ws d’ ovx Eevixwv,
Enırokivaı tois BovAousvoıs zai duvauevoıs Exrxonteiv zei
Eysıv l(d1öxTntov zei arein nv diezadegdEeloev yıv.
3*
36 Erſtes Buch. Hellas.
größerer Energie, weil mit bejjeren und zahlreicheren Arbeitsmittel
in Angriff nehmen fonnten.!)
Daß es auch in der Welt des Epos bereits größeren privaten
Grundbefiß gegeben haben muß, vermag ſelbſt die größte Vorein-
genommenheit faum zu leugnen. In der Ilias 3. B. VI, 194
überweifen die Lyfier dem Bellerophon auserlefene Grundſtücke
Acerlandes und Baumpflanzung — offenbar zu vollem Eigen.
XX, 184 fragt Achill den Aneas, ob ihm etwa die Troer ein
ſolches Stück Landes in Ausficht geftellt, wenn ev ihn töte. IX,
575 verfprachen die Älteften und Prieſter der Ätoler dem Meleager
für feinen Beiftand in der fetteſten Flur ein ftattliches Gut, fünfzig
Morgen, zur Hälfte Nebengefilde, zur Hälfte Aderland.
Freilich find es gerade dieje Stellen, welchen man ein neues
Argument für das Vorherrſchen der Feldgemeinfchaft entnimmt. Es
it Gemeingut, welches hier durch Schenkung in den Beſitz Ein-
zelner übergeht, und das gejchenkte Grundſtück wird wenigitens an
den beiden erjtgenannten Stellen als 2F0x0» @AAwv bezeichnet, was
eben die Ausfonderung desjelben aus dem der Feldgemeinjchaft
unterworfenen Land bedeuten joll.2) i
Aber auch hier zeigt fi bei näherem Zuſehen jofort das
Muforische der ganzen Auffaſſungsweiſe. ES it nämlich nicht die
Agrargemeinde, jondern ſtets die ganze Völkerſchaft, die ftaatliche
Gemeinschaft, welche diefe Eigentumsübertragungen vollzieht. Wie
fönnen diejelben aljo für die Frage der Feldgemeinjchaft beweijend
fein? Und was das Z£oyov @Akov betrifft, warum joll es etwas
anderes bedeuten, als ein reuevog rregizedkes, wie zu allem Über:
fluß das gejchenkte Grundftüd an der lebtgenannten Stelle aus:
drüclich bezeichnet wird?
Das ift das Material, auf Grund deſſen man behauptet, daß
es in der Welt des Epos unter der Herrichaft der weitaus über-
wiegenden Feldgemeinjchaft nur zwei Möglichkeiten zum Erwerb
) Vgl. Inama-Sternegg: Die Ausbildung der großen Grundherr—
ſchaften in Deutichland 45 ff.
2) Esmein ©. 838,
I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 37
von Privateigentum an Grund und Boden gegeben habe: Nodung
und Neubruch einerfeits und Übertragung auf Grund bejonderer
Verdienſte um die Gejamtheit andererjeits.
Nicht beſſer ſteht es mit der inneren Wahrfcheinlichkeit diefer
Anficht: Gegen fie Ipricht Schon der ganze ſoziale Aufbau der homeri-
Ichen Welt, die Eriftenz eines zahlreichen ritterlichen Adels, welche
ohne die Ausbildung des Brivateigentums an Grumd und Boden
und ohne eine lange Rückwirkung desjelben auf die joziale Klaffen-
Ihichtung nicht zu erklären ft. War doch diefe Wirkung eine jo
intenfive, daß wenigſtens in der Odyſſee die Bezeichnung für Neich
und Arm (moAvzAngos — &xAng0c) dem Grundbefis entnommen
wird! Auch erjcheint bier die indivivualiftiiche Ausgeftaltung des
Eigentumsrechtes bereits bis zur freien Teilbarfeit des Grund und
Bodens,!) ja jelbjt bis zu einem Erbrecht der Frau an demjelben?)
fortgefchritten! Alles Thatfachen, die gewiß einen jehr langen
Prozeß der Eigentumsentwidlung vorausjegen. —
Nun hat allerdings Mommſen gemeint, der hellenische Acker—
bau müſſe ſchon deshalb anfänglich nad) dem Syſtem der Feld—
gemeinschaft betrieben worden jein, weil in Hellas, wie in Italien
nicht Grund», jondern Viehbejig der Ausgangs- und Mittelpunkt
alles Brivatvermögens war.?) Und Laveleye hat im Hinblick auf
1r
die große Bedeutung, welche das Vieh in der homerifchen Volks—
wirtichaft als Taufchmittel gehabt habe, den Sat aufgeftellt, daß
noch in den Zeiten des Epos der Grund und Boden wenigſtens
zum größeren Teile Gejamtbefig geweſen jein müſſe. Denn das
Vieh hätte nicht als Taufchmittel dienen können, wenn nicht der
größere Teil des Landes Gemeinweide gewejen wäre, auf welcher
jeder das Necht hatte, fein Vieh zu treiben.*)
Be) 55. XW, 208.
2) Od. XIV, 211 ff. myeyounv de yuvaiza noAveiigwv dvdgunwr
xrA. bezeichnet die Frau des Erzählers zwar nicht mit diveften Worten als
Erbin des väterlichen Grumdeigentums, aber unmittelbar geht dies doch aus
dem ganzen Zufammenhang deutlich hervor.
212.0, 12,.,20:
#) Zaveleye a. a. D. ©. 369 f.
38 Erſtes Buch. Hellas.
Allein dieſe Schlußfolgerungen, die wohlberechtigt find, ſoweit
fie nur die Anfänge des nationalen Wirtjchaftslebens im Auge
haben, !) leiden an dem Fehler, daß die hier zu Grunde liegenden
Rorftellungen von dem Übergewicht der Viehzucht in der Volks:
wirtſchaft des homeriſchen Zeitalters ohne Zweifel ftarf über:
trieben find. Laveleye überjieht, daß bei Homer einerjeitS das Vieh
vielfach ſchon nicht mehr als Taufchmittel, jondern häufig nur noch
als Wertmefjer zur Preisbeſtimmung fungiert und daß andererjeits
neben dem Vieh der Gebrauch der Metalle, — des Goldes, Exzes,
Eijens, — als Taufchmittel vollfommen eingebürgert erſcheint. Ein
Gebrauch, der im kleinaſiatiſchen Kolonialland um jo älter und
allgemeiner gewejen jein wird, als ja gerade in Vorderaſien die
Metalle Schon feit uralter Zeit für das Bedürfnis des Verkehrs in
handliche Formen gebracht waren, und der lebte entjcheidende Fort:
jehritt, durch welchen das gewogene Metall zum Geld wurde, Die
Münzprägung, eine Erfindung des folonialen Hellas oder feines
Iydiichen Hinterlandes geweſen iſt.) An den älteiten Stätten des
epijchen Gejanges bat fie, wenn nicht ſchon im achten, jo doch
ficherlich im Anfang des fiebenten Jahrhunderts Eingang gefunden, ?)
nachdem ohne Zweifel Jahrhunderte vorbereitender Entwicdlung vor:
angegangen waren. Selbſt im 9. oder 10. Sahrhundert kann alfo
das blühende Jonien Kleinafiens und der Inſeln nicht mehr auf
der primitiven Stufe des Verkehrs gejtanden haben, wie fie Laveleye
vorausjeßt.
Man darf übrigens bei gefchichtlichen Schlußfolgerungen aus
den Lebensformen, in denen fich die Helden des Epos bewegen,
) Daß in der Veriode der hellenifchen Bolfzwirtjchaft, in welcher die
„Viehwährung“ in allgemeiner Geltung war, in der That ein großer Teil
des Grund und Bodens Gemeintweide gewejen jein muß, ift ja far. Denn
der Gebrauch dieſes „Geldes“ erklärt ſich nur durch die leichte Koftenfreie
Konjervierung bei „Freier Weide”. Allein wie weit mag diefe Periode in
dem Entjtehungsgebiet des Epos zurücliegen!
>) Hultih: Griech. und röm. Metrologie (2. A.) 165 f.
) Brandis: Münze, Maß- und Gewichtswejen in Worderafien
u. j. w. 202.
I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 59
niemals außer Acht laſſen, wie oft der epijche Stil altertümliche
Züge des Lebens und der Sitte Fonventionell feitgehalten hat, die
in der Zeit der Sänger wenig oder feine Realität mehr bejaßen.
Nur weil man das Efonventionelle Moment in der epifchen Dar-
jtellung nicht immer genügend würdigt, hat man fich die wirtjchaft-
lichen Zuftände dieſer Zeit häufig unentwidelter vorgeftellt, als ſie in
Wirklichkeit waren.) Bewußt oder unbewußt ſchiebt ſich das Bild
eines primitiven, überwiegend auf Biehzucht bafierten Wirtjchafts-
lebens dem Erklärer unter und trübt den Bli in einer Weife, daß
man in dieſem Sinne jogar noch mehr in die Dichtung Hineinkieft,
als diejelbe für die genannte Anjchauung ohnehin jchon bietet.
Um 3. B. zu beweijen, daß im Epos bei der Aufzählung
des Neichtums angejehener Leute die Herden fait immer den wic)-
tigften Teil desjelben bilden, wird Ilias XIV, 124 angeführt, wo
„unter dem Befit des Tydeus die Schafherden obenanftehen“ jollen.2)
Die Stelle lautet:
Er wohnte
Rei) an Gut in dem Haus, und der weizengejegneten Fluren
Hat er genug und mit Bäumen bepflanzt rings Gärten in Menge,
Viel auch) Schafe beſaß er u. j. w.
tan fieht: „obenan“ fteht die koſtbare bewegliche Habe im
Haufe, dann folgt das Kulturland und zuleßt das Vieh, woraus
wir nun freilich unſererſeits keinen Schluß auf die geringere Wert
ſchätzung des leßteren ziehen möchten, da die Reihenfolge bei jolchen
Aufzählungen ja jehr leicht zugleich durch vein formelle, insbe—
fondere metrifche Gründe beftimmt fein kann. Nicht minder unzus
läſſig ift die Berufung auf Odyſſee I, 75, wo der Dichter „jelbit
Schaferden und Kleinodien unmittelbar neben einander gejtellt“
1) Man überfieht zu häufig die relative Jugend unferes Homer gegen:
über feinem Stoffe, und doch darf am wenigjten dev Wirtjchaftshiftorifer
vergeffen, daß — um mit Wilamowit zu reden — das ältefte Denfmal der
europätjchen Litteratur verhältnismäßig jo gar un urſprünglich ift! (Home:
riſche Unterfuhungen ©. 292.)
2) So Büchſenſchütz a. a. O. ©. 208.
40 Erſtes Buch. Hellas.
haben fol.) Bekanntlich erklärt dort Telemach vor dem Volke,
daß es für ihn vorteilhafter wäre, wenn diejes und nicht die Freier
jeinen Beſitz an liegenden Gütern und Herden (zeıumdıe ve 7rg0-
Beoiv ve) aufzehren würde, weil er dann wenigftens Hoffnung auf
Erſatz haben könnte. „Mein liegendes Gut und was weidet” über—
jegt treffend der alte Voß, den feine vorgefaßte Meinung an der
getreuen Wiedergabe des Sinnes gehindert hat. Gänzlich unzu—
treffend iſt endlich das Argument, welches man aus Od. XIV,
100 f. entnimmt,2) weil bier Cumäus, um eine Anjchauung von
dem Neichtum des Odyſſeus zu geben, ausſchließlich die Herden
aufzählt. Als ob dies vom Standpunkt des Hirten nicht das
Nächitliegende wäre! Daß jein Herr anders dachte, zeigt die Klage
Telemachs über den Verluſt der fruchtbaren Acerfluren durch die
Freier zur Genüge (Eodieral ou oixos 0Awls dE niove
&oye) IV, 318.
Wer wollte überhaupt aus folchen individuell bedingten Äuße—
rungen ohne weiteres den Gejamtcharafter des Wirtichaftslebens
einer mehrere Sahrhunderte und jehr verjchievenartige Wirtjchafts-
gebiete umfpannenden Epoche eripließen! Oder war etiwa auf dem
gebirgigen Felfeneiland Ithaka das Verhältnis zwiichen Ackerbau
und Viehzucht dasjelbe, wie auf dem üppigen Fruchtboden der weiten
TIhalgelände Holiens und Joniens? Wie wenig wird doch die
übliche Auffaffungsweile einer Dichtung gerecht, welche ein jo
feines Gefühl für die Verſchiedenheit der Naturbedingungen zeigt,
durch die der Standort der Wirtjchaftszweige bejtimmt wird. Das
Epos, das überhaupt eine Fülle wirtichaftsgeographiicher Charak-
teviftif bietet, fehildert eben das Wirtjcehaftsleben auf Ithaka im
wejentlichen jo, wie es der vorausgejegten Landesnatur entſprach.
) Nach der Anficht von Büchjenihüs ebd. Als ob das fürftliche
Domanium von Ithaka eine einzige große Schafweide Sütherland’scher Art
gewejen wäre und die Geftalten des biederen Eumäos und Philvitios, des
tückiſchen Melanthios nie exiftiert hätten!
2) Büchſenſchütz a. a. O.
I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinſchaft b. Homer. 41
lach dem Urteil eines jo hervorragenden Geographen, wie Bartjch,!)
ift der Naturcharakter der Inſel allenthalben jo treffend, mit fo
feiner Abwägung der Vorzüge und Schattenjeiten wiedergegeben,
daß in diefer friichen, echten Lofalfärbung ein wejentlicher Reiz des
Heldengedichtes Liegt.2) Auch über die kultur- und wirtjchafts-
geographiiche Schilderung wird man in der Hauptjache wenigitens
nicht anders urteilen können. Ich erinnere nur an den höchit ans
ſchaulichen Vergleich zwijchen der relativ bejchräntten, auf kargbe—
mefjene Naturgaben angewiejenen Inſelwirtſchaft und der reichen
Landesfultur in der gejegneten Fruchtebene Lafevämon!?) Wenn
aljo die Viehzucht in der Odyſſee, joweit Ithaka ihr Schauplatz ift,
bejonders in den Vordergrund tritt, jo handelt es ſich bier um
eine örtlich bedingtet) Erſcheinung, welche auf die Zuftände der
hellenijchen Welt im allgemeinen fein Licht wirft.
Übrigens läßt gerade das homeriſche Ithaka deutlich exfennen,
wie wenig „primitiv“ wir uns den volfswirtichaftlichen Hinter
grund der Döyfjee zu denken haben. Die — allerdings etwas
emphathiſche — Schilderung des Wein: und Getreideertrages der
Inſels) und die Charakteriftif von Telemahs Erbe‘) zeigt uns
1) Kephallenia und Sthafa. Ergänzungsheft 98 zu Petermanns Mit:
teilungen ©. 61.
2) Daß das Ithaka Homers keineswegs das fchattenhafte willkürliche
Phantafiegebilde eines nur mit Kleinafiens Ufern vertrauten Dichters ift, hat
gegen den befannten Radikalismus Herchers (Homer und das Ithaka der
Wirklichkeit: Hermes T, 263 ff.) die Unterfuhung von Partſch zur Genüge
feſtgeſtellt.
) Ob. IV, 602 ff.
4) Die Erörterung don Partſch über die Topographie Ithakas, ins—
bejondere über die Hochfläche Marathia hat es völlig Elargelegt, daß, wie Die
Hauptichaupläße der Dichtung überhaupt, jo auch gerade das Weiderevier des
Eumäus mit großer Treue dev Wirklichkeit entnommen find.
5) Daß Od. XIII, 242 &v u2v ydo ol oiros adEoperos eine poetijche
Übertreibung enthält, wird man Hercher ohne weiteres zugeben. Daß er
aber aus dieſer poetifchen Lizenz übereilte Schlüffe gezogen hat, iſt nach den
Mitteilungen von Partſch über die Ergiebigkeit der anbaufähigen Zeile
Sthafas (S. 96) ebenjo unzweifelhaft.
6) IV, 318. Einen Bejtandteil des Erbes bilden die zlora Eoya.
42 Erſtes Buch. Hellas.
bereitS damals die Bevölkerung des Eilands auch um Aderbau und
Nebenfultur eifrig bemüht.) Schon in den. Zeiten des epijchen
Geſanges haben alſo in dem Landjchaftsbild Ithakas die emfig ge-
pflegten Weinterrafen und die jorgfältig beitellten Fluren der Thal-
gründe nicht gefehlt, welche dort heute das Auge des Bejchauers
erfreuen. Ja man fann jagen, auch die Weidewirtichaft, wie fie
die Dichtung ſchildert, enthält unverfennbare Spuren einer fortge-
gejcehrittenen Stufe wirtjchaftlicher Entwicklung. Wohl zeugt fie
noch von einer ausgedehnten Bewaldung der Höhen, die den
Schweinen reichliche Eichelmaft ficherte, jehon find jedoch auch um:
fafjende Streden dem Weidegang der Ziege verfallen. Die Inſel
wird geradezu als ein Land der Ziegenweide bezeichnet,2) was da:
rauf Schließen läßt, daß einerjeitS an den Berglehnen bereits die
Entholzung begonnen, andererjeitS in den Niederungen der garten
artige Anbau entjchiedene Fortichritte gemacht hatte. Denn Die
Ziege, Die nicht, wie das Nind, fetter Wiejen, überhaupt weiter
Näume bedarf,3) jondern ſich mit dem wilden Strauchwerf der
heißen Felsabhänge begnügt, ift in den Gebirgslandichaften des
Südens vecht eigentlich das Haustier des gartenmäßigen Anbaues.*)
Erſt mit diefer Kulturart findet fie ihre eigentliche Stelle und nüß-
liche Verwendung. Und Ähnliches gilt von dem Maultier, deſſen
Einführung — eben wegen feiner größeren Genügjamfeit — gleich
falls mit dem Umfichgreifen der Baumzucht enge verfnüpft war.
Seine Verwendung als Arbeitstier — bei der Feldbejtellung fo:
wohl, wie bei der Beförderung von Laften — erſcheint ſchon in
der Welt der Jlias allgemein verbreitet und ift in der Ddyjee (IV,
637) gerade für Ithaka bezeugt. —
!) Eine Bemühung, die, wie der Dichter treffend bemerkt, troß des
beſchränkten Terrains infolge der uch des Klimas mit veichem Erfolg ge:
krönt war, v. 244 f.
>) IV, 605, XIII, 246 eiyißoros ayadın.
3) Dies wird als Urjache der ausgedehnten Ziegenzucht Ithakas von
Homer ausdrüdlich angeführt.
') Bgl. Hehn: Kulturpflanzen und Haustiere u. ſ. w. (4) ©. 110.
I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 43
Die Anfiht, nad) welcher noch in der Entjtehungszeit des
Epos ganz allgemein in Hellas Viehwirtſchaft und Allmendenbefit
das Übergewicht bejaß, fteht nun aber ferner auch im Widerfpruch
mit der Thatjache, daß die helleniiche Staatenwelt in der Geftalt,
wie fie die homerischen Gedichte vorausjegen, bei weitem nicht in
dem Grade auf Fulturlofem Boden entitanden war, wie etwa die
altgermanifche.) Daß das hellenishe Mutterland ſchon in fehr
alter Zeit ftarf bevölkert und dementiprechend Eultiviert war, be:
zeugen zur Genüge die zahllofen Überreſte diefer Kultur, ſowie die
Auswanderermaſſen, die das ägäiſche Meer und die Geftade Klein-
afiens dem bellenijchen Volkstum gewonnen haben. Dies foloniale
Hellas vollends, die Wiege dgS epiichen Gefanges, iſt vecht eigent-
lich auf uraltem Kulturboden erwachjen. Vielfach alfo fanden die
Stämme, auf denen die Staatenbildung des hiftoriichen Hellas be-
ruht, das Werf der Landesfultur beveit3 mehr oder minder fort-
geſchritten. Andererjeits muß dies Werk von ihnen mit großer
Energie weitergeführt worden fein. Die Zeriplitterung in eine
Fülle Kleiner Volksgemeinden, denen die Bejchränktheit ihrer Ge—
biete die Notwendigkeit einer möglichiten Nutzbarmachung derjelben
bejonders nahe legte, war dem raschen Ausbau im Lande ungemein
günftig. Die koloniſatoriſche Kraft, welche die DVerteilung des
nationalen Bodens unter jo viele Kleine Kulturzentren entfefjelte,
zeigte jich in der That jo überaus wirkſam, daß es der mächtig
anmwachjenden Bevölkerung jchon jehr bald in der Heimat zu enge
geworden ift. Welch eine gewaltige Fülle überſchüſſiger Volkskraft
vermochte die hellenifche Welt feit dem achten Jahrhundert aus
ihrem Schoß zu entjenden, um die Gejtade des Mittelmeer mit
helleniſchen Siedlungen zu bededen!
1) Übrigens iſt jelbjt hier die Entwicklung eine raſchere gewejen, ala
man gewöhnlich annimmt. Lamprecht (Deutſche Wirtſchaftsgeſchichte I, 12)
bemerkt mit Recht, daß troß der großen Betonung des Viehftandes
in den Volksrechten die Viehzucht damals doch nicht mehr im
Brennpunkt des Wirtſchaftslebens ftand, daß fie jich jchon in weſent—
lichen Punkten abhängig zeigt von der Kultur des Landes, vom Anbau dev
Felder und der Ausnügung von Wieje, Weide und Feld.
44 Erſtes Bud. Hellas.
Es ift in diefer Hinficht äußerſt bezeichnend, daß in ven
Kyprien, einer Dichtung des fiebenten Jahrhunderts, welche den
jüngeren Beftandteilen der Odyſſee noch gleichzeitig ift, die in der
Ilias erwähnte Bovin des Zeus Ei ein bevölterungspolitiiches
Motiv zurückgeführt wird, auf die Weiſe Abficht des Gottes, Die
Erde vom Drude der Übervölferung zu befreien! (aUvdero zov-
yiocaı avdowv außwroo« yalav.)
In der That ift nach allgemeiner Volksanſchauung die Landes—
kultur in Hellas eine fo uralte gewejen, daß die ſchwierigſten Kultur:
arbeiten auf mythiſche Heroen zurüdgeführt werden konnten, daß
in vielen Landfchaften die Idee von der Urjprünglichkeit des Ge—
treidebaues zu Haufe war und fich aufs innigjte mit den ältejten
mythiſchen Traditionen verflocht.!) Schon für die Slias ift die
Erde die vielewnährende (XY@v rovAvßorsıoa, yala« rroAvgpogßos),
und dem entjpricht die Stenfität des Anbaues, von der die Schil-
derungen der Epen überall Zeugnis ablegen. Nicht nur dab im
Ackerbau der Erhaltung und Vermehrung der Bodenfruchtbarkeit
durch jorgfältige Düngung und Brachpflügung Rechnung getragen
wird,2) jondern man ift auch in der Ausnützung des Bodens be-
reits bei einer entwicelten Gartenfultur angelangt. Die edle Baum:
sucht, an fich ſchon ein Kriterium uralter Kultur, jehen wir bereits
in der Ilias vom Obſt- und Weinbau bis zur Olkulturs) fortge
ſchritten. Ader und Pflanzung erjcheinen jo jehr als Foordinierte
Kulturzweige, daß 3. B. unter den Kennzeichen des barbarijchen
Urzuftandes der Cyklopen die Unbefanntichaft mit der Baumzucht
ebenfo betont wird, wie die mit dem Aderbau.t) Äußerſt bezeich-
1) Preller: Demeter und Perjephone ©. 283.
2) Ilias XXI, 174.
3) Vol. die don Neumann-Partſch Phyſ. Geogr. d. Griechenland ©.
413 aufgeführten Stellen der Ilias, die in Verbindung mit den in den prä—
hiſtoriſchen Anſiedlungen von Santorin entdeckten Ölmühlen das hohe Alter
der Ölgewinnung und wohl auch der Beredlung des Ölbaums gegen die be:
fannte Anficht Hehns zur Genüge beweijen.
) Od. IX, 108 Ovrte Yvrevovoır yeooiv pvröv, oVT’ dgoWwoıv.
\
I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 45
nend für das Gefühl auch der wirtjchaftlichen Überlegenheit, welches
ven in dieſe Naturwildnis verichlagenen Kulturmenfchen erfüllt, ift
das Bedauern des Odyſſeus über die Nichtbeftellung des für Pflug
und Pflanzung jo jehr geeigneten Bodens und der zuverfichtliche
Ausſpruch, daß das Cyflopenland, wenn es durch den Schiffsver-
fehr mit den Städten der Menjchen in Verbindung gebracht wer:
den könnte, bald in eine wohlbebaute Kulturlandjchaft umgewandelt
jein mwürde.!) Das kann nur aus den Empfindungen einer Zeit
heraus gedacht fein, in welcher der innere Ausbau des Landes im
wejentlichen vollendet war und für welche die landichaftliche Phyfio-
gnomie bereits duch das — Unland und Wald weit zurüd-
Drängende — Kulturland wohlgepflegter Fruchtgärten und Acker—
fluren entjcheidend bejtimmt wurde. ?)
Aus alledem geht zur Genüge hervor, in welch weiten Um:
fang ſchon in der Entjtehungszeit des Epos der bleibende perſön—
liche Befiß aus dem gemeinjam benübßten Lande ausgeſchieden jein
muß. Die allgemeine Verbreitung der edlen, von Bejchaffenheit
und Güte der perjönlichen Arbeit in hohem Grade abhängigen
Kulturen, des Weinbaues und der Baumzucht it ein untrügliches
Symptom der uralten Entwicklung des Privateigentums am Grund
und Boden, ohne welches dieſe „individuellen” Kulturen nicht ge
deihen Fünnen. Aber auch der Ackerbau war fiherlic) im großen
und ganzen den feldgemeinschaftlichen Formen entwachjen. Die
Ansprüche einer wachſenden Bevölkerung an die Intenſität des An—
baues, an die Produktivität der Arbeitsleiftung waren offenbar ſchon
1) Od. IX, 125 (ovd’ avdoss... Evı)
ol xE opıv zei vjoov £üzriuevnv Exduovro.
00 uEv ydo Tı xarn Ye, pEooı dE zev @gLe ndvre'
&v uv yco heıumves dhös nohıoio ag’ Oysas
vdonkoi, uehazoi" uch zdpdıror Aunehor eier.
Ev Ö’@oooıs Asin' ucdhe zev BaFo Amlov ale
eis WoRS dumer' Enei udie niag vn’ ovdes.
2) Bol. zur Charakteriftit der homerifchen Kulturlandjchaft Od. IX,
131 ff., XVII, 297 ff. und — ganz analog — auch jchon Ilias V, 87 ff,
XXI, 257 ff.
46 Grit Buch. Hellas.
zu hohe, der Trieb nach individuellem Erwerb und jelbjtändiger
Bewegung zu jehr entwidelt, als daß — in den fortgejchritte-
nerven Landjchaften wenigftens — eine gemeimwirtichaftliche Organi—
jation des Aderbaues dem Bedürfnis der Zeit noch zu genügen
vermocht hätte. In der That gehört nad) der Anjchauung der
Odyſſee wenigjtens zu den erſten Alten menschlicher Anſiedlung die
Austellung der Fluren und zwar unverkennbar zu individuellen
Eigentum.!)
Wenn wir nun aber nach alledem nicht im ftande find, neben
der Hauskommunion noch eine andere Form des agrarischen Kom—
munismus aus dem Epos zu erweijen, jo müſſen wir weiter fragen,
ob fich nicht etwa anderwärts Spuren eines Jolchen Kommunismus
erhalten haben.
Dritter Abfchnitt.
Der Kommuniſtenſtaat auf Lipara.
Eine der wichtigiten Thatjachen, die man für eine verhält-
nismäßig lange Fortvauer der Feldgemeinjchaft in der hellenifchen
Welt geltend gemacht bat,2) iſt unjtreitig die berühmte Gejell-
Ihaftsverfaffung der von den Hellenen Folonifierten lipariſchen
Inſeln. Wie der Sizilianer Diodor erzählt, waren um das Jahr
550 v. Chr. Auswanderer aus Knidos und Nhodos nad Sizilien
gekommen und hatten fich zuleßt auf den lipariichen Inſeln an—
gefiedelt. Um den Angriffen der Etrusfer gewachjen zu fein, bauten
fie eine Flotte und organifierten ihr ganzes Gemeinwejen auf Friege-
riſchem Fuß und zugleich nach ftreng kommuniſtiſchen Grund»
jägen. Der Grund und Boden der Inſeln blieb im Gejamteigen-
tum, und während immer ein Teil der Bevölkerung der Bekämpfung
ver feindlichen Piraten oblag, bebaute der andere das Land, dejjen
ı) Od, VI, 10.
2) ©o 3. B. Biollet a. a. DO. 467 ff., Zaveleye 371 ff.
I. 3. Der Kommuniſtenſtaat auf Lipara. 47
Ertrag bei öffentlichen Mahlzeiten gemeinſam verzehrt wurde.)
Diejes Syſtem eines vollfommenen agrariihen Kommunismus
wurde, wie Diodor berichtet, längere Zeit beibehalten. Dann wurde
der Boden der Hauptinjel Lipara zur Sondernußung aufgeteilt,
während die anderen Eilande — offenbar überwiegend als Weide?) —
auch ferner noch gemeinfam bewirtjchaftet wurden. Zulegt teilte
man das ganze Inſelgebiet, jedoch nicht zu vollem Eigentum, ſon—
dern jo, daß alle zwanzig Jahre eine Neuverlojfung vorgenommen
wurde.?)
Wir haben feinen Grund an der Nichtigkeit dieſer Erzählung
zu zweifeln, fie etwa auf Ein Niveau mit jener Schilderung des
Kommuniftenftaates der Fabelinjel Panchaia zu jtellen, welche Diodor
in demjelben Buch (V, 45) der iso« avaeyoayr des Euchemeros
nacherzählt hat. Der Bericht Diodors über Lipara ift gewiß —
wenn auch nur indireft durch Vermittlung des Timäust) — aus
der Darjtellung gefloffen, welche Antiochus von Syrafus in feinem
großen Gejchichtswerf über Sizilien den Inſulanern von Xipara
gewidmet hat. Sie entipricht dem lebhaften Intereſſe dieſes Ge-
Ihichtsjchreibers für Verfaſſungs- und Kulturgeſchichte und verdient
!) Diodor V, 9: "Yoreoov de tav Tuvoönvov Anotevorrwv Ta zarte
Faharrav TIOAEUOVUEVOL, KUTEOKEVEORVTO vavıızov, zul diskouevor OPEs
avrods, ol uEv EyEWgyovv Tds vij0oVS xolvds nomoavres, ol de moög Toüs
Anotas avreratrovro' zul TES oVolas xoıvds noımodusvoi zal bovres zarte
ovooit« Jıereleoev Ei TIvas Xo0vovS x0LrwviXWs PLODVTES.
2) Vgl. Strabo VI, p. 276 über die Bodenverhältnifje dieſer Kleinen
Inſeln.
3) "Yorsgov ,ν uv Amdocu za9” αν n molıs nv, dievei-
uavro, Tas dE @Adas Eyewgyovv xowwn. To de TeAevralov ndous Tas vjoovs
eis Eixooıw Ern dieköuevor, akıy xAmgovyoöcır, ötev Ö xo6vos oVTos
dıeAgn.
+) Die Vergleichung Diodors V, 9 mit Pauſanias X, 11, 3 und Thuf.
III, 88 jpricht wohl gegen die direkte Benützung, wie jie Müller Hist. graec.
fragm. I, XLV annimmt. Bol. Wölfflin: Antiochus dv. Syrafus und Coelius
Antipater S. 21 cf. 13. Volquardſen: Unterfuchungen über die Quellen der
griech. und fizil. Gejchichten bei Divdor ©. 80. Müllenhoff, Deutjche Alter:
tumskunde 1,2 447 ff.
48 Erſtes Buch. Hellas.
ſchon darum allen Glauben, weil Antiochos ernſtlich bemüht war,
möglichjt Zuverläffiges (Ex Tov aoyaiov Aoyav Ta novorara
za oeyeorare!)) zu überliefern, und weil er andererjeit$ die
geſchilderte Geſellſchaftsverfaſſung wenigſtens in ihren jpäteren Ent-
wicklungsphaſen jehr wohl aus eigener Anſchauung oder perjönlicher
Grfundigung kennen konnte. Auch liegt fein Grund zu der An—
nahme vor, daß die Diodoriſche Erzählung den urjprünglichen Bes
richt und das echte Bild dieſer Verfaſſung in weſentlichen That-
ſachen entjtellt haben ſollte. Sie zeigt unverkennbar die echten Züge
einer primitiven Agrarverfaffung und enthält fein Moment, welches
fich nicht aus der Gejchichte der Feldgemeinschaft vielfach belegen
ließe. ?)
Allein wenn wir auch die Feldgemeinjchaft auf Lipara als
geschichtliche Thatſache anerkennen, jo müſſen wir doch andererjeit3
die Schlußfolgerungen, die man aus dieſer Thatſache gezogen hat,
vielfach als zu weitgehend bezeichnen. ES ift durch nichts gerecht:
fertigt, wenn man die Vermutung ausgejprochen hat, daß der
Kommunismus der Liparer ſchon in den Zuftänden ihrer urjprüng-
lichen Heimat wurzle, vielleicht gar ein Nachklang aus der Wander:
zeit der doriſchen Stämme jei.?) Dagegen jpricht ſchon der Um—
1) Vol. Dinoyfius v. Halikarnaß I, 12.
?) Bol. 3. B. Diodor V, 34 über die Feldgemeinjchaft bei den Vaccäern
in Spanien (Sährliche Berteilung von Aderland und Ertrag), Strabo VII,
p. 315 über die der Dalmatiner (Alle acht Jahre Neuverteilung des Landes).
Dal. auch die Schilderung der fozialen Organifation der Sueven bei Cäſar
B. G. IV, 1, die in wejentlichen Zügen ein Seitenſtück zu der der Liparer
bietet. „Die, welche im Lande bleiben, jagt Cäſar, bauen den Ader für fi)
und die Abwejenden und jtatt der letzteren find jie hinwiederum das folgende
Jahr unter den Waffen, während jene zu Haufe bleiben. Es gibt feinerlei
Ackerland im Beſitz der Einzelnen und geſondert.“
>) So Viollet a. a. O. ©. 468: Peut-etre aussi ces tribus voyageu-
ses qui des Cyclades s’etaient transportees dans la Carie, qui, peu
apres (!?), quittaient Cnide et s’unissaient a quelques Rhodiens pour faire
voile vers la Sicile, peut-&tre ces tribus s’etant fixdes plus tardivement
que les autres, avaient-elles garde plus longtemps aussi les moeurs et
les usages qui conviennent aux nomades.
I. 3. Der Kommuniftenftaat auf Zipara. 49
jtand, daß Lipara eine der jüngſten Kolonien Siziliens war. AS
ihre Gründer aus Knidos und Rhodus auszogen, hatten dieſe Ge-
meinden bereitS eine Gejchichte von mehreren Sahrhunderten hinter
ih. Die duch die Kolonifation und die Erſchließung Ägyptens
im fiebenten Jahrhundert mächtig geförderte gewerbliche und mer:
fantile Blüte der kleinaſiatiſchen Städte, der wirtjchaftlihe Auf-
Ihwung der auf altem jemitischen Kulturboden begründeten Ge-
meinden von Rhodus, welches nach dem aus dem fiebenten Jahr—
hundert jtammenden homeriſchen Schiffskatalog (Sl. II, 670) „von
Zeus die unendliche Fülle des Neichtums empfangen”, die ariſto—
kratiſche Verfaſſung, mit der dieje Gemeinden in die Gejchichte
eintreten, al das läßt auf eine viel zu weit fortgejchrittene Ent-
wicklung der Eigentumsordnung jchliegen, als daß man bier noch
für das jechite Jahrhundert die Fortvauer der Feldgemeinjchaft
vorausjegen könnte.
Sn der That bedürfen die Zuftände auf den Liparen Feiner
Anknüpfung an die des Mutterlandes. Sie erklären ſich vollkommen
aus der bejonderer Situation, in der fich die Inſulaner befanden.
Mitten im friedlofen, von den Erbfeinden der Hellenen, von Etrus—
fern umd punifchen Semiten, beherrſchten Meere, auf einem der
gefährdetjten Außenpoſten der hellenijchen Welt,!) fortwährend von
Kataftrophen bedroht, wie fie z. B. im Mittelalter jelbjt das weit-
entlegene Island von afrifanischen Piraten erlitt, hatte die Bevöl-
ferung von Lipara ihre ganze Eriftenz auf den Kampf geftellt.
Sa es jpricht alles dafür, daß die Hellenen ſich dieſer Inſeln, die
als Warten auf hoher See das weitejte Gefichtsfeld beherrjchten,
von vorneherein in der Abficht bemächtigten, um von hier aus gegen
Etrusker und Karthager Kaperei zu treiben,?) die ja damals auf
1) Vgl. Strabo von Lipara — nıgös tes Tov Tvgönvav Enidgouds
TOMM yoovov avreogev. VI p. 275.
2) Wie es 3. B. jener Kapitän aus Phokäa ebenfalls in den fizilijchen
Gewäfjern that, von dem es bei Herodot heißt: Amiorys zarsorjxzee Eilıvor
uev ouderos Keoyndoviov de xal Tugomvor. VI, 17. In der That ift
twiederholt von den reichen Zehnten die Rede, welche die Liparer aus dem
Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I 4
50 Erſtes Buch. Hellas.
beiden Seiten als ein ehrliches Gewerbe galt und für welche die
giparen jo vorzüglich geeignet waren. Haben wir hier aber eine Art
Korfarenburg!) vor uns, jo tritt die liparische Verfaſſung aus dem
Nahmen der allgemeinen Volfsentwidlung vollfommen heraus. Sie
ericheint als ein ebenjo jinguläres Phänomen, wie 3. B. jener weit
indijche Flibuftierftaat, in welchem ſich ja auch auf Grundlage der
PBiraterie eine ftreng militärische Drganifation mit fommuniftifchen
Einrichtungen verband.
Eben diefe analoge Erjeheinung weit recht deutlich darauf
bin, daß der lipariſche Kommunismus in den befonderen Verhält—
niffen wurzelt, in denen wir die Hellenen hier finden. Wie leicht
konnte der kriegeriſche Korpsgeift einer Bevölkerung, in der fich alle
al3 Genofjen eines militärifchen Verbandes fühlten, zu jolchen In—
ftitutionen führen! Wo es ftets für die ganze eine Hälfte der
Volksgenoſſen feine andere wirtichaftliche Thätigkeit gab, als Beute:
auszug und Friegeriihen Gewinn, wo man gewohnt war, Beute:
ſtücke mit den Genoſſen als Erwerbsjtüde kameradſchaftlich zu
teilen, was lag da näher, als daß man auch den gemeinſam ge—
wonnenen Boden der neuen Heimat ebenſo behandelte, wie den
Kriegserwerb? Es entſprach durchaus der Natur der Dinge, daß
auch der Grund und Boden als Eigentum der ganzen kriegeriſchen
Beuteertrag ihrer vielen Kämpfe mit den Etruskern dem delphiſchen Gottte
weihten. Diodor V, 9, Strabo VI, p. 275, Pauſanias XII, 3.
) Sp bezeichnet Niffen treffend Lipara. Italiſche Landeskunde I, ©.
122. Bon diejer Stellung Liparas haben ſich in der Gefchichte auch noch
direfte Spuren erhalten. DBgl. 3 B. den Beriht des Livius V, 23 und
Diodor XIV, 93. über die Aufhebung einer römischen Gejandtichaft an den
delphijchen Apoll durch Piraten von Lipara. Mos erat civitatis, bemerkt
Livius dazu, velut publico latrocinio partam praedam dividere. Alſo
die von Einzelnen gemachte Beute wird nad) jtreng koumuniſtiſchem Prinzip
unter alle Bewohner Liparas verteilt!
Wenn in der Darftelung desjelben Ereigniſſes bei Plutarch (Camil:
lus c. 8) der Verſuch gemacht wird, dasfelbe in einem anderen Licht ex:
fcheinen zu laſſen, jo iſt das jpätere tendenziöfe Umdeutung, wie jchon Reinach)
mit Recht bemerkt hat: Le collectivisme des Grecs de Lipari. Revue des
etudes grecques 1890 ©. 93,
I. 3. Der Stommuniftenftaat auf Lipara. 51
Korporation erſchien, auf deſſen Nutzung jeder an feiner Verteidigung
beteiligte Kamerad ein wohlerworbenes Anvecht hatte. Dazu famen
die Vorteile, welche eine jolche Gefellfchaftsordnung gerade für die
Verhältniffe Liparas haben mußte. Indem fie die Entwicklung
ausjchlieglichen Eigentums möglichjt verhinderte, wirkte fie zugleich
im Intereſſe der jtetigen Kriegsbereitichaft, welche den Inſulanern
ihre Lage auferlegte. Sie erfticte im Keime, was den Friegerifchen
Sinn hätte jchwächen können, die Neigung zu friedlihem Schaffen
und Erwerben, jowie die Gewöhnung an reichlicheren und bequemeren
Lebensgenuß und die — bei dem Inſtitut des Privateigentums un-
vermeidliche — wirtjchaftliche und joziale Ungleichheit, die größte
Gefahr für den Geiſt der kriegeriſchen Bruderjchaft.!)
Bei diefer Auffaflung von den Entjtehungsmotiven der lipa-
riſchen Gejellichaftsoronung wird man es auch nicht für wahrjchein-
(ih halten, daß diejelbe eine erheblich längere Dauer gehabt haben
jollte, al3 die Verhältnifje, denen fie ihren Urſprung verdantte.
Allerdings bedient ſich Diodor bei der Daritellung ihres leßten Ent-
wicklungsſtadiums (Sonderbejiß mit periodischer Neuverlofung) des
Präſens, jo daß man den Eindrud gewinnt, als ob die Liparer
noch in Diodors Zeit, unter Kaiſer Auguftus, das PBrivateigentum
nicht vollftändig durchgeführt hätten, als ob ſie damals noch „vor
den Thoren Noms die von Cäſar in Germanien beobachteten perio-
diſchen Teilungen übten”.2) Allein dieſer Schluß wird durch die
nabeliegende Erwägung hinfällig, daß jenes Präſens ein Präfens-
biftorifum jein kann oder, wenn nicht, daß es von Diodor mög-
licherweije gevdanfenlos jeiner Duelle nachgejchrieben wurde, was
1) Was Cäſar don der Agrarverfaffung der friegeriichen Sueven jagt,
l. c. IV, 22, das gilt genau jo für die Hellenen auf Zipara: Ejus rei mul-
tas adferunt causas: ne assidua consuetudine capti studium belli gerundi
agricultura commutent, ne... potentiores humiliores possessionibus
expellant, ne... quo oriatur pecuniae aviditas, qua ex re factiones
dissensionesque nascuntur, ut animi aequitate plebem contineant, quum
suas quisque opes cum potentissimis aequari videat.
2) So Laveleye 372, Biollet a. a. O. 468.
4*
59 Erſtes Bud). Hellas.
bei einem fo „elenden Skribenten” !) nichts Auffallendes wäre. Auch
fonft fehlt es ja bei Diodor nicht an Beijpielen dafür, daß er
Sätze älterer Autoren unverändert herübernimmt, ohne Rückſicht
darauf, daß fie auf jeine Zeit gar nicht mehr pafjen.?) Für die
Frage nach der geichichtlichen Stellung und Bedeutung der Feld:
gemeinjchaft von Lipara ift demnach der genannte Umftand ohne
jede Beweiskraft.
Das Präſens in dem Berichte Diodors über Lipara Fünnte
höchitens joviel beweilen, daß jein Gewährsmann Timäus, dem
er es nachgejchrieben, von der Feldgemeinjchaft der Liparer wie von
einer noch bejtehenden Einrichtung geſprochen hat. Und es iſt ja
ſehr wohl möglich, daß Timäus diejelbe in ihrer legten Entwid-
lungsphaſe noch erlebt hat. Er beendete jein Werk noch vor der
Groberung Liparas durch die Nömer, vor der Mitte des dritten
Sahrhunderts.?) Wer wollte jedoch) annehmen, daß die von ihm
geichilderten Zuftände noch nach dieſer Zeit fortdauerten oder gar
noch dann, als Lipara eine römische Kolonie geworden war?t) —
Wie gründlich fi bis zur Zeit Diodors die Verhältniſſe auf Lipara
geändert hatten, beweiſen die Angaben Giceros in der dritten An—
Elagerede gegen Verres, deſſen Mißwirtſchaft auch diefe Inſulaner
ſchwer zu empfinden hatten. Die Liparer erjcheinen bier als ein
durchaus friedliches Völkchen, welches jo wenig von den alten
Traditionen der Inſel bewahrt hat, daß es fich den ungeftörten Bei
feiner Acker von den Piraten durch regelmäßige Zahlungen erfauft!>)
I) Dieſe Mommjenjche Charakteriftit Diodors (R. Chronol. ©. 125)
bleibt gewiß noch immer zu Recht bejtehen, troß der neuejten Divdor gewid—
meten Nettungsverjuche, wenn diejelben auch in Beziehung auf den Umfang
feiner Quellenbenügung eine gewiſſe Berechtigung haben.
?) Bgl. die treffenden Beobachtungen Müllenhoffs (Deutjche Altertum:
funde II, 180) über eine derartige fritiflog aus Poſidonius abgejchriebene
Stelle desjelben Buches (V, 32).
3) Die Einnahme Liparas erfolgte 251. Vgl. Polybius I, 39.
*) Plinius N. H. II, 9. Eine Thatſache, die Biollet und Laveleye
völlig ignorieren.
°) Cicero in Verrem III, 37: tot annis agellos suos redimere a
piratis solebant.
I, 4. Angebliche Spuren des Kommunismus in Großgriechenland. 53
Dierter Abfchnitt.
Angeblihe Spuren des Kommunismus in Großgriechenland.
Koch weit problematiicher, als die Nükihlüffe, die man von
dem immerhin geichichtlichen Kommuniftenjtaat der Liparer auf die
allgemeine Entwidlung von Hellas gemacht hat, erſcheinen die neuer-
dings hervorgetretenen Anfichten über gewiſſe Spuren des Kommunis-
mus im benachbarten Großgriechenland.
tan hat fich nicht gejcheut, aus dem Wuſte der neupythago-
reiſchen und neuplatonijchen Litteratur jene fabelhafte Gejchichte
herauszugreifen, wonach) auf das Wort des Pythagoras mehr als
2000 (nach anderen 600) Menjchen die Gütergemeinjchaft ange:
nommen und auf Grund derjelben ein eigenes Gemeinweſen geitiftet
hätten.!) Die Phantaſie franzöſiſcher Foricher hat ſich — offenbar
unter dem Einfluß der vorgefaßten Meinung von der Allgemeinheit
des Inſtituts der Flurgemeinſchaft — zu der Behauptung hinreißen
lafjen, daß diefer Angabe vermutlich eine alte mißverjtandene Über-
lieferung über die Entjtehung einzelmer ſüditaliſcher Gemeinden zu
Grunde liege, die in die jpäteren halb jagenhaften Erzählungen über
das Leben des Pythagoras „übergegangen“ jei.2)
Als ob es fich hier überhaupt um „Sage” hundle und als
ob nicht alles, was wir über die „pythagoreiiche” Gütergemeinjchaft
erfahren, unverfennbar den Stempel jüngerer Erfindung an ſich
trüge!3) Es follte doch Faum mehr eines Hinweifes darauf bes
dürfen, daß die Gejchichtserzählung für die Neupythagoräer und
Neuplatonifer lediglich eine Form ift, deren fie ſich mit Jouveräner
Willkür bedienen, um jeden beliebigen Inhalt hineinzulegen und
durch die Autorität der Vorzeit zu empfehlen.) Es jind die eigenen
1) ©. die Erzählung des Nikomachus bei Porphyrius Pyth. vita in
der Didotichen Ausgabe des Divgenes Laert. ©. 91.
2) Biollet a. a. O. 468, Laveleye a. a. D. 372.
3) Bgl. Zeller, Philojophie der Griechen It, 290 ff.
4) Zeller: Pythagoras und die Pythagorasfage. Abhandlungen. 1.
Sammlung 2. Aufl. ©. 33.
54 Erſtes Bud. Hellas.
Ideale, die fie ohne Scheu in den angeblichen Lehren und Schö-
pfungen des Pythagoras darjtellen. Diefe Ideale aber find wie
auf jpefulativem, jo auch auf ſozial-politiſchem Gebiete wejentlich
bedingt durch den Platonismus, ja der Neuplatonismus hat jogar
ein Projekt zur Verwirklichung des platoniichen Staates in Italien
aufzuweifen.!) Es unterliegt übrigens um jo weniger einem Zweifel,
daß die fommuniftischen Elemente der Pythagorasmythe (neben dem
Mihverftändnis des pythagoreiſchen Lebensprinzips: zowe va rov
yiAoy2)) der jpäteren Platonifierung der pythagoreiſchen Lehre
ihren Ursprung verdanken, als die älteren und glaubwürdigeren
Nachrichten über Pythagoras von der Gütergemeinjchaft noch nichts
zu melden wiljen.?)
Dover glaubt man, daß Plato, nachdem er der pythagoreifchen
Lehre und den Pythagoräern in Italien jelbjt perjönlich jo überaus
nabegetreten, jich in der Weife über die Undurchführbarfeit des
Kommunismus hätte äußern können, wie er es in den „Geſetzen“
thut, wenn er ein wirklich kommuniſtiſches Experiment des Ordens,
ein „Phalanſtère“ des Pythagoras vor Augen gehabt hätte? Und
jelbjt wenn man an ein jolches Experiment glaubt, was ift damit
für die total verjchiedene Frage nach der Fortvauer einer primis
tiven Feldgemeinjchaft gewonnen? Die Möglichkeit, daß die Bytha-
goraslegende in dieſer Hinficht an eine gejchichtliche Thatjache an—
fnüpfte, wäre höchſtens dann anzunehmen, wenn ſich ivgendwo in
dem bellenifchen Unteritalien Spuren einer alten Feldgemeinjchaft
erhalten hätten. Allein das ift nirgends der Fall! Denn das Bei:
jpiel Tarents, wo man im Hinblid auf eine Stelle des Ariftoteles
noch im vierten Sahrhundert Nachklänge einer gemeinwirtichaftlichen
Eigentumsordnung zu finden glaubt, beweift nicht, was fie beweijen
!) Porphyrius v. Plotin. e. 12.
2) Wie weit dies Mißverſtändnis ging, zeigt die Notiz des Photius
8. v. xoıva Ta TWv plhov' Tiuaios pyoıww Ev 1a Hravenv Aeydnvar xare
nv usyakyv Eiiade, xa9 ovs yoovovs Hvsayopas aveneidE ToVs Tavımv
xarorxoüvras adıeveunte zExTnoFRL.
3) Bgl. Zeller a. a. D.
>
N
T. 4. Angebliche Spuren des Kommunismus in Großgriechenland. 55
joll. Ariftoteles jagt von Tarent weiter nichts, als daß dort die
befigenden Bürger ihre Güter mit den Armen „gemein machten“,
indem ſie die letzteren an der Nußnießung teilnehmen ließen.!) So
allgemein diefe Bemerkung gehalten ift, jo iſt doch foviel Klar, daß
die hier geſchilderte Sitte in Feiner Weife al3 Überreft alter gemein-
wirtichaftlicher Verhältniffe aufgefaßt zu werden braucht. Es ift
völlig willfürlich, wenn man diejelbe den Inſtitutionen von Lipara
an die Seite geftellt hat.?)
Die Sitte erweift weiter nichts, al3 die Wirkjamfeit eines
ausgebildeten fozialen Sinnes, der jich bewußt ift, daß das Privat:
eigentum nicht ausschließlich dem Individuum, jondern auch dem
Intereſſe der Gejellichaft zu dienen hat. Und in der umfaſſenden
Bethätigung dieſes ſozialen Gemeingefühls, welche das Privat—
eigentum durch den Nießbrauch gewiljermaffen zum Gemeingut
machte, jtand nach Nriftoteles die Demokratie von Tarent keines—
wegs allein. Er findet ähnliches auch in anderen Staaten, die Jich
nach feiner Anficht gefunder bürgerlicher Zuftände erfreuten, mehr
oder minder verwirflicht;3) wie er denn ausdrücklich auf das Bei-
jpiel Spartas verweilt, deſſen Bürger fich gegenjeitig an gewiſſen
Gebrauchsgegenftänden (Pferden, Hunden, Feldfrüchten, Sklaven) in
beftimmten Fällen ein Mitbenügungsrecht einräumten. Ariftoteles
hält es daher auch für möglich, auf Grundlage der bejtehenden
Eigentumsoronung durch die politiiche Erziehung des Bürgers das
genannte Prinzip überall ins Leben einzuführen. Iſt e3 doch für
1) Politik (ed. Suſemihl) VII, 5, 5, 1320b: zeAos HEyeı uuueioder
xal tiv Tapevtivov doynv' Ereivoı ydo zolvd MoLodvTes Ta xıryuarte
Tois anogoıs Eni nv Konoıv evvovv rrco@oxEvaLovsı TO AmFoS.
2) Viollet und Laveleye a. a. D.
3) Ebd. II, 2,5, 1263a: Eorı de zai vov rov TEOTTov Toürov Ev Eviaıs
noAsoıv ovrwg Vroysyowuusvov os 0x 0v «dvraror, zei udhıora Ev Tais
xaAws oizovusvaıs Ta udv Eorı, ra dE yeroı’ dv’ idiav yag Exaoros mv
zıjoıw Eywv Ta uev yomoıua noiel Tois plkoıs, Tois dE yo Tal Ws xol-
vois, olov zei Ev Aazedeluorı Tois TE dovAoıs yoovraı Tois aAAnkwv as
sineiv idiors, Erı Ninnos zei zvolv, zav dendooıw Epodiwv <Tolc> Ev
Tois aygois zarte iv ywoav (oder Ingar?). cf. Xenophon De rep. Lac. 6, 3.
56 Erſtes Buch. Hellas.
ihn schon ein einfaches Gebot der Klugheit, daß die befikende und
herrſchende Klaffe auch entiprechend große Leitungen für die Ge—
famtheit auf fich nehme, gleichlam als „hohen Preis der Herr—
jhaft“.')
Mas Ariftoteles von Tarent berichtet, entſprach den jozial-
politiichen Spealen des Hellenentums überhaupt. Ganz ähnlich
erzählt 3. B. Siofrates in jeiner emphatischen Schilderung der
„guten alten Zeit“ Athens, in der fich eben dieje Ideale wider:
Ipiegeln, die Neichen hätten damals den Armen jtetS bereitwillig
gegeben, fie durch Verpachtung von Ländereien gegen geringen Zins?)
oder durch Zuwendung von einträglichen Arbeiten unterftüßt; und
jo hätten die Neichen ihren Bett gleihjam zu einem gemeine
famen Eigentum der Bürgerjchaft gemadt!’) Man fieht,
es handelt ſich hier um eine ganz jtereotype Wendung, der wir
daher auch anderwärts wieder begegnen, 3. B. in der plutarchifchen
Schilderung der Liberalität Cimons,*) wo es geradezu heißt: Cimon
habe gewifjermaßen die Gemeinjchaft (d. h. Gütergemeinjchaft) des
goldenen Zeitalter wieder ins Leben zurücgeführt! (Toorov viva
anv Erri Koovov uvhoAoyovusvnv zoiwwviay eis vov Plov WIRT,
xarhyEv.)
Man darf bei der Beurteilung diefer Frage nicht überjehen,
welch einen ftarfen Anreiz, welch mächtige innere Nötigung zu einem
derartigen gemeinnügigen Gebrauch des Privateigentums die Zus
) VII, 4, 6, 1321a — iv’ &xov 6 dyjuos un uereyn (TWv doyuv twv
zvELWTETWV) zei ovyyvaunv &ym Tois doyovoıw ws uodov noAvdv didovcr
us dogs.
2) Darum wird 8 ſich auch in Tarent vielfach gehandelt haben; und
Schäffle nennt daher mit Recht diefe „Mitnugung von Vermögensteilen der
Reichen durch die Armen“ in Tarent unter den Übergangs: und Mifchformen
zwiſchen dem von ihm fogenannten herrfchaftlichen und genofjenjchaftlichen
Kapitaligmus, zu denen er 3. B. auch die induftrielle Partnerichaft und die
Taglöhnergenofjenjchaft auf Großgütern rechnet. — Kapitalismus und Sozia—
lismus ©. 271.
8) Areopap. 32, 35, cf. 12.
4) Leben Cimons c. 10.
I. 4. Angeblihe Spuren de3 Kommunismus in Großgriechenland. 57
jtände der hellenifchen Welt enthielten. In dem verhältnismäßig
engen Kreife, in welchem ſich der Bürger des hellenifchen Stadt:
jtaates bewegte, traten auch die Vrivatverhältniffe, insbejondere der
Reichtum des Einzelnen, ungleich Elarer und offenfundiger zu Tage,
al3 dies in der modernen Welt der Fall ift. Auch ließ fich der
Beſitz von vorneherein ſchwerer verbergen, weil ihm nicht die mannig-
faltigen Formen der Anlage zu Gebote jtanden, wie ſie die Ent-
widlung der neueren Kreditwirtichaft geichaffen hat. Der Neichtum
ftand alfo ungleich mehr unter der Kontrolle der Öffentlichkeit; ein
Verhältnis, welches naturgemäß einen jtarfen Antrieb zu einem
liberalen Gebrauch des Eigentums enthielt. Und diefe Tendenz
wurde noch dadurch verjtärkt, daß die Eitte!) und eine Neihe anderer
Momente in derjelben Nichtung wirkſam waren: die Beichränftheit
der Bürgerzahl, die jtetige gegenjeitige Berührung zwijchen den
Bürgern, wie fie die Konzentrierung des politischen Lebens in dem
ſtädtiſchen Mittelpunfte des kleinen Gebietes zur Folge hatte, das
durch die Kleinheit des Staates ftetS lebendig erhaltene Gefühl der
Abhängigkeit der Wohlfahrt und Eriftenz des Einzelnen von den
Schidjal des Staates und der Gejamtheit, überhaupt der innige
Kontaft des Einzelnen mit der Öffentlichkeit, der von jelbft einen
mächtigen Anreiz enthielt, um die Gunft und Anerkennung der All—
gemeinheit zu werben u. dal. m.?)
1) Dal. 3. B. Kenophon Orxovouxos c. 11.
?) Dies Verhältnis zwiſchen Individuum und Gejamtheit im helleni-
chen Staat hat u. a. hervorgehoben Felix: Der Einfluß der Sitten und Ge—
bräuche auf die Entwicklung des Eigentums ©. 71. Dal. die befonders in
den Gerichtsreden des 4. Jahrh. vorkommenden Hinweiſe auf die Bethätigung
der ſozialen und politischen Pflichten des Beſitzes, wie ſie Schmidt: Ethik der
alten Griechen II, 383 zujammengeftellt hat. Dazu bei Xenophon Cyropäd.
VII, 4, 32 . die charakteriftiiche Betonung des Grundjaßes, fich weder reicher
noch ärmer zu ftellen, al3 man ift, und dieſe Offenfundigfeit des Beſitzſtands
zur Grundlage des fozialen Verhaltens zu machen.
Unrichtig ift es allerdings, wenn Felix a. a. DO. als Urſache des libe—
ralen Eigentumsgebrauches auch den Mangel einer umfafjenden ftaatlichen
Armenpflege bezeichnet, welcher die Fürſorge für die Armut und Not weſent—
58 Erſtes Buch. Hellas.
Al dem entiprach es auch, daß von der volfswirtjchaftlichen
Theorie der Griechen in der Frage des Vermögensgebrauches und
der Güterverwendung das ethiiche und joziale Moment mit bejon-
derer Entſchiedenheit betont wird, wie jte denn von vorneherein der
Frage der Verteilung und des Gebrauches des Nationalreich:
tums ein weit größeres Intereſſe entgegengebracht hat, als der der
Gütererzeugung. Sn diefem lebhaften Gefühl für die aus dem
Beſitz erwachjenden Pflichten hat ſich das Griechentum bereits zu
Anſchauungen erhoben, welche man jonjt nur als chriftliche zu be—
trachten gewöhnt it. Schon Euripides hat den jchönen — mit
dem neutejtamentlichen Gleichnis vom anvertrauten Pfund auf das
Innigſte fich berührenden — Gedanken ausgejprochen, daß das Ver:
mögen des Einzelnen nicht jein abjolutes Eigentum, jondern ein
ihm von der Gottheit zur Verwaltung übergebenes Gut jei.!)
Sp führt uns die ariftotelifche Bemerkung über Tarent wohl
auf Erſcheinungen, die für die foziale Auffaffung des Eigentums
bei den Griechen überaus bezeichnend find, die aber für die Ge-
Ihichte des Sozialrechtes einen Auffhluß nicht gewähren.
Fünfter Abfchnitt.
Die ſtaatlich organifierte Bürgerjpeifung Spartas und Kretas
und der Sozialismus des Triegeriichen Gejellichaitstypns.
Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen wir, wenn wir uns
jener vielbejprochenen und jo vielfach falſch beurteilten Inſtitution
lic) zu einer Sache der Privatthätigfeit gemacht habe. Vgl. 3. B. die neu—
aufgefundene "497. 704. c. 50 über die ftaatliche Armenpflege in Athen, die
jedem, der weniger als drei Minen befaß und arbeitsuufähig war, eine täg-
liche Penſion von zwei Obolen ausſetzte.
!) Boiwiooat v. 555 f.:
Ouros Ta yonuer’ idıa xExımvraı Bgorol,
Ta rov Hewv NEyovres Enıushovusde,
1. 5. Die jtaatl. org. Bürgerjpeifg. Sparta3 u. Kretas u. d. Sozialismus ec. 59
zuwenden, welche Tarents Mutterftadt und die verwandten dorischen
Gemeinden Kreta3 am längiten bewahrt haben: der öffentlichen,
d. h. jtaatlich organifierten Speifung der Bürger.
Auch. fie hat man als Überreſt einer primitiven agrarifchen
Gemeinſchaft in Anjpruch genommen. Wenn man die Früchte des
Landes gemeinschaftlich verzehrte, jo habe das feinen legten Grund
darin gehabt, daß man urjprünglich das Land nicht als Domäne
der Einzelnen, jondern als gemeinjame Ernährerin aller betrachtete. 1)
Ein klares Licht auf diejes Entitehungsmotiv falle durch die Be—
merfung Diodors über die Liparer: „Sie machten ihre Güter ge-
meinfam und jpeiften bei öffentlichen Mahlen.“ Letztere hätten fich
eben gejchichtlih unmittelbar an die Feldgemeinfchaft angefnüpft
und verhielten fich zu vderjelben, wie die Wirkung zur Urſache.?)
Sa das Inſtitut geftatte uns, noch weiter zurüczugreifen über die
erifte Begründung jeßhafter Gemeinden hinaus auf das Wander—
leben der patriarchalen Familien. Aus den Zeiten der Nomaden-
wirtichaft und einer primitiven Feldgemeinjchaft jei es durch Neli-
gion und Sitte fortgepflanzt und erhalten worden.
Man vergegenwärtige fich die außerordentlihe Tragweite diefer
Auffaſſung! Iſt fie richtig, find die Syffitien nur der letzte Über-
rejt einer alten Agrarverfaffung, welche nicht nur das Land, jondern
auch den Ertrag als Gemeingut behandelte, d. h. nicht einmal eine
Verteilung der Aderfrucht an die Einzelnen, jondern nur einen
ſtreng gemeinfamen Verbrauch von jeiten aller zuließ, jo it die
Bol. die analoge Äußerung des Bion (Stob. flor. 105, 56) r@ yonuera rois
nAovoloıs 9 tuyn ov dedwonzev alla dedaveızev,
1) So Biolett a. a. 9. und ihm folgend Laveleye ©. 375. Vgl. auch
Trieber: Forſchungen zur jpartanifchen Berfafjungsgeichichte ©. 26, wo die
Syifitien ebenfalls auf einen „urjprünglich kommuniſtiſchen Beſitz“ zurückge—
führt werden.
2) Trieber — und zwar, iwie e3 jcheint, in Übereinftimmung mit einer
mündlichen Außerung Neumann? — hat in der Stelle Divdor3 „den ſchla—
gendften Beweis" dafür gejehen, daß der Urfprung der Shilitien fich nur
durch) ehemalige Gemeinjamfeit alles Beſitzes erklären laſſe.
60 Grites Buch. Hellas.
helleniſche Bollswirtichaft in der That durch eine Entwiclungsphafe
bindurchgegangen, welche fich als die denkbar jtrengite Form eines
agrariichen Kommunismus darſtellt.) Das älteite Hellas hätte
Individualeigentum weder am Grund und Boden, noch am Frucht
ertrag gekannt; eine Verbindung von Gemeinbefiß und Gemeingenuß,
die dann ihrerjeitS wieder eine ſtreng gemeinjchaftliche, von Drganen
der Geſamtheit geleitete oder beauffichtigte Bewirtjchaftung des Bodens
zur notwendigen Vorausjegung gehabt hätte!
Welch’ tiefer Einblid in das jozialwirtjchaftliche Leben der
Vorzeit würde ſich da vor unſeren Augen eröffnen! Die Kenntnis,
die wir auf diefem Wege von der Wirtichafts- und Gejellichafts-
ordnung der älteſten Hellenen gewännen, würde an innerer Bedeut-
ſamkeit nicht hinter dem zurücitehen, was wir 3. B. von den ent-
Iprechenden altgermanijchen Verhältniffen durch unmittelbare Zeug:
niſſe willen; ja fie würde die aus dieſen Zeugniffen gewonnenen
Borftellungen an Klarheit und Beſtimmtheit weit übertreffen.
Man wird nun allerdings die Möglichkeit einer derartigen
ſtreng gemeinwirtjchaftlichen Durchgangsphafe der helleniſchen Volks—
entwiclung nicht von vorneherein in Abrede ftellen können. Allein
mit bloßen Möglichkeiten ift es hier nicht gedient. Vielmehr muß der
Nachweis erbracht werden, daß das Syilitieninftitut feinen anderen
Urſprung gehabt haben kann, nur jo in feiner Entjtehung verjtänd-
ih wird. Sit nun diefer Rückſchluß auf die Feldgemeinjchaft
wirklich ein jo zwingender?
Wie die homerifchen Gedichte bezeugen, war es alte Gewohn—
heit der Fürften und der Edlen des Volkes, fi) gemeinfam des
Mahles zu freuen, und zwar finden wir bereits bier das öffent:
liche Mahl, das Mahl als politijches Inftitut. Es werden Mahle
erwähnt, deren öffentlicher Charakter einerjeits aus ihrer Bedeutung
als Natsverfammlung, andererſeits daraus hervorgeht, daß fie —
') Dal. die Aufzählung der verjchiedenen Formen agrarijcher Gemein:
ſchaft bei Ariftoteleg: Politik II, 2, 1, 1263a: z«i ra yyneda xal oi xapnoi
xowvot!
I. 5. Die jtaatl. org. Bürgerfpeiig. Spartas u. Kretas u. d. Sozialismus ıc. 61
wenigjtens nach dem Zeugnis der Ilias — „von den Achäern zu:
gerüftet“, d. h. auf öffentliche Koften abgehalten wurden.!)
Wer wollte diefe homerijchen Staatsmahle aus anderen, als
politiichen und gejellichaftlichen Motiven ableiten?
Iſt dem aber jo, erſcheint bier das öffentliche Mahl als
integrierendes Element der ftaatlichen Drdnung, ohne daß auch nur
die geringfte Spur eines urſächlichen Zufammenhanges mit der
Agrarverfaſſung erfichtlih wäre, jo drängt fich von ſelbſt die Frage
auf, ob das Inſtitut nicht doch auch vielleicht in der Form, in
der es uns in den Syſſitien des doriſchen Kriegsadels entgegen:
tritt, wejentlich in den jtaatlichen Verhältniffen wurzelt oder wenig:
jtens zur Genüge aus ihnen erklärt werden kann.
In der That, wenn wir die Stellung der Syffitien im Dr:
ganismus des jpartanijch-Fretiichen Staates näher ins Auge fallen,
jo leuchtet jofort ein, das die Zurückführung derjelben auf ein rein
wirtjchaftliches Motiv jedenfalls eine willfürliche iſt. Die Vertreter
diejer Theorie heben an dem Syſſition allzu einjeitig den Charakter
der Speiſegenoſſenſchaft hervor, eine Auffafjung, die dem eigentlichen
Weſen und Zweck desjelben nicht entfernt gerecht wird.
Es bleibt dabei völlig unberüdjichtigt, daß die Syffitien in
Sparta, wie auf Kreta, zugleich einen organischen Bejtandteil der
Wehrverfaſſung, der militäriichen Volkserziehung und der bürger:
lichen Zucht (eyoyn) bildeten, ein Glied in jenem Syſtem ftetiger
Kriegsbereitjchaft, welche dem Herrenſtand dieſer Dorergemeinden
duch die Lage inmitten einer an Zahl weit überlegenen Unterthanen=
Ihaft und grundhörigen Bauernſchaft aufgenötigt wurde. Die Kriegs
bereitichaft war hier befanntlich mit einer Konjequenz durchgebildet,
daß das Gemeinweien als ein fürmlicher Lagerſtaat erſchien (vgl.
1) Il. IV, 344 önore deitae yEoovomw Eponkiiwuev "Ayeroi. cf. ib.
XVII, 250, wo Menelaos die Führer des Heeres zu tapferem Kampf aufruft,
die „bei den Atriden auf Koften des Volkes trinken" (d7ure nivovonv).
Dazu Fanta (Der Staat in der Ilias und Odyſſee ©. 71 ff.), dev allerdings
in der Betonung des politifchen Momentes vielfach zu weit geht und dadurch
zu willfürlichen Konftruftionen fommt.
62 Erſtes Buch. Hellas.
Plato von den Kretern: orgarorredov rolıreiav Eyers leg. II, 10
666e),!) deſſen Bevölkerung fih als eine alle Zeit unter den
Waffen ftehendes und zum Ausmarſch bereites Heer darftellt.
Man muß Sich eben, um die Spnftitutionen Spartas und
Kretas geichichtlich zu verſtehen, in weit höherem Grave, als es
gewöhnlich geichieht, die Lebensbedingungen und Konjequenzen des
„kriegeriſchen Gejellichaftstypus” vergegenwärtigen, wie fie neuer:
dings in jo vortrefflicher Weife von Herbert Spencer analyfiert
worden find. ?)
Ein jo ausjchließlich für den Krieg und den Kampf um die
Eriftenz organiftiertes Gemeinmwejen, wie es der jpartanifch-fretijche
Lagerftaat war, jah fi) von Anfang an auf eine in ideeller und
technifcher Hinficht möglichit vollfommene Verwirklichung des Ge—
meinjchaftsprinzips bingewiejen. Hier mußten — zum Zwecke des
Angriffes, wie der Abwehr — alle Bürger an ftetiges Zuſammen—
wirken in gemeinjamer Thätigfeit gewöhnt, mußten alle Kräfte und
Thätigkeiten der Individuen in möglichſt wirkſamer Weiſe fombiniert
und auf ein Ziel konzentriert werden. Der „chroniſche Militaris—
mus“, in welchem die Entwicklung des kriegeriſchen Geſellſchafts—
typus ihren Ausdruck fand, forderte die innigſte Verknüpfung aller
Teile des Volksganzen, eine Verſchmelzung, welche den ganzen
jozialen Aufbau diefer Staaten zu einem Ebenbild der fejtgefügten
Phalanx ihres Heeresorganismus machte. Das Bedürfnis, über
die ganze Kraft jedes Einzelnen jeden Augenblid verfügen zu können,
führte hier mit innerer Notwendigkeit zu dem Ergebnis, daß die
ſtrenge militärische Ordnung, das „Syftem der Negimentation” ſich
weit über das Heerweien hinaus verbreitete und alle Seiten des
bürgerlichen Lebens dem ftaatlichen Zwang und der ftaatlichen Auf-
ſicht unterwarf.?) Wie fich die taktische Virtuofität des ſpartaniſchen
Heereskörpers nach dem Urteile des Thukydides daraus erklärt, daß
!) Dazu Sokrates Archid. 81 von den Spartanern: zyv nodıreiav
Suoiav XUTEoTnocusda oroaronedw zaAwmg dioızovusvo xrA,
2) Prinzipien der Soziologie D. W. III, 669 ff.
3) DBgl. die oben angeführte Stelle des Sokrates.
1. 5. Die ftaatl. org. Bürgerfpeiig. Spartas u. Kretas u. d. Sozialismus ꝛc. 63
die einzelnen Glieder desjelben zu einander in zahlreichen Abftufungen
der Unterordnung jtanden, daß er „faſt ganz aus Vorgejeßten über
andere Vorgeſetzte bejtand und daher die Sorge um das, was ge
ſchehen jollte, jehr vielen am Herzen lag“,!) — ebenfo ftellte die
bürgerliche Gejellichaft Spartas ein Syſtem von ſucceſſiven Ab:
ftufungen der Unterordnung dar, in welchem jeder ältere Mann zum
jüngeren im Verhältnis des Höheren zum Niederen ftand.
Dieſe überall auf das einheitliche Zuſammenwirken in der
Maſſe gerichtete Thätigkeit des Staates ließ wenig Spielraum für
die freie Entfaltung des Einzelnen. Das Individuum erſcheint vecht
eigentlich dazu bejtimmt, in der Maſſe aufzugeben, jeine individuellen
Neigungen und Wünſche dem Ganzen zu opfern, dem jein Leben
gehört. Schon beim Eintritt in das Leben entjcheivet die Nückjicht
auf den Staatszwed über Sein oder Nichtjein des Individuums.
Wenn die Entjeheivung zu Gunjten desjelben ausfällt, geſchieht es
nur, um dies junge Leben jobald als möglich in die Zucht und
Schule des Staates zu nehmen, von welcher exit der Tod befreit.2)
Alles individuelle Leben wird in die Nichtung bineingezwungen,
welche der Staatszwec fordert, fein anderer Bildungsgang, Fein
anderer Beruf dem Bürger gejtattet, als der des Kriegers. Der
Staat teilt jedem jeine Thätigfeit zu, ftellt ihn ſozuſagen Tag und
Nacht unter die Zenſur der Öffentlichkeit. Er ſchreibt ihm vor,
wann er zur Ehe zu jchreiten hat, um dem Staate Bürger zu geben,
und fucht ihn andererjeit3 wieder dem häuslichen Leben möglichit
zu entziehen. Ex verfichert fich feiner Perſon für alle Zeiten, in:
dem er die Auswanderung des Bürgers mit dem Tode bedroht
und auch jonft die Freizügigkeit in hohem Grade bejchränft. Wie
der leibeigene Helote an die Scholle gebunden ijt, jo darf auch jein
Herr — in feiner Eigenfhaft als Soldat — ſich nicht ohne Er—
ı) v. 66: oyedov yao tı nav nimv ohiyov To orgarinedov Tor
Aaxsdauuoviov doyovrss doyorrwv £iol, xal To Enuuslis Tod domuevov
noAkois TTEOONKEIL.
2) Plutarch Lykurg 15: noWrov usv yag ovx idiovs Njyeiro tor
netegwv Toüs naldas, aAAd xowvoüs ums nokews 6 Avxoveyos,
64 Erſtes Buch. Hellas.
(aubnis von feinem Wohnort entfernen. Auch er ift ein unbedingt
abhängiges Werkzeug, auch er in gewiſſem Sinne ein Eigentum des
Staates. !)
Nicht minder erklärt fi) aus den Lebensbedingungen des
kriegeriſchen Gejellihaftstypus die Zentralifation der Verwaltung,
wie fie uns im Ephorat entgegentritt, und die ftaatliche Regulierung
der gefamten Volkswirtichaft. Wie jede Geſellſchaft von ſolch Frie-
geriichem Typus durch die Unficherheit ihrer Verkehrsbeziehungen
zu dem Ausland genötigt ift, eine fich ſelbſt gemügende und jich
jelbft erhaltende Drganifation zu jchaffen, in ihrem eigenen Bereich
für die Erzeugnifje aller notwendigen Lebensbedürfniſſe zu Jorgen und
fich dadurch vom Ausland unabhängig zu machen, jo jehen wir in
Sparta auch diefe Tendenz in radifalfter Weije verwirklicht, das
Prinzip der wirtjchaftlichen Autonomie bis zum Verzicht auf ein
allgemein gültiges Taufchmittel gejteigert. Eine Abjchließung, der
dann auf der anderen Seite als notwendiges Korrelat innerhalb
der Bürgerjchaft jelbit eine um jo engere ökonomiſche Gemeinschaft
entiprach, die — wie ſchon früher erwähnt?) — den Einzelnen
jogar dazu berechtigte, ji unter Umständen des Eigentums anderer
Bürger für feinen Gebrauch zu bedienen.
Wenn man fich diefe ganze Drganifation von Staat und Ges
jellfchaft vergegenwärtigt, welche durch eine das ganze menjchliche
Leben umſpannende jtaatliche Leitung, ja durch eine Art von gemein:
ſchaftlichem Haushalt die Gejamtheit der Bürger zu einem funftooll
gegliederten Ganzen, zu einem „Kosmos“ vereinigte, jo wird man
diejelbe als eine ausgeprägt ſozialiſtiſche bezeichnen dürfen. Der
Staatsjozialismus ijt das naturnotwendige Korrelat des kriegeriſchen
Gejellichaftstypus; und dieſer Sozialismus ift hier mit einer Kon-
jequenz Durchgebildet, daß uns aus ihm alle Thatjachen der ſpar—
1) Plutarch Lykurg: ovdeis Yyao nv agpsıusvos Ws EBovkero Inv, daR
olov Ev oroaronedo ın rohe zei diatev Eyovres WgLoucvnv za die-
Tgıßyv negl Ta xowd xai Ohws vouilovres oVy airov, aha ns nargidos
eivaı dıerelovv xt.
2) Bal. oben ©. 55.
I. 5. Die ftaatl. org. Bürgerſpeiſg. Spartas u. Kretas u. d. Sozialismus ıc. 65
tanisch-Eretifchen Gejchichte, welche Die oben erwähnte Doktrin auf
den Agrarfommunismus der Urzeit zurückführen zu müfjen glaubt,
vollfommen verjtändlich werden. !)
Die Form, in der fich dieſe jozialiftiiche Ausgeftaltung der
Geſellſchaft vollzog, war — wie ſchon angedeutet — einfach da—
ducch gegeben, daß man auch im Frieden möglichjt die Ordnungen
des Feldlagers fejthielt. Und der jprechendfte Beweis dafür tt
eben das Spyffitieninftitut, die gemeinfame Speifung der ganzen
Bürgerſchaft, als deren Zweck die Tradition daher mit Recht die
Erhöhung der Marjchbereitihaft und Schlagfertigteit bezeichnet. 2)
Die Waffenbruderjchaften, die im Felde zufammenlagerten und in
der Schlacht zujammenftanden, bejtehen als Tiſchgenoſſenſchaften
auch im Frieden fort,?) wobei der militäriiche Charakter der Ver—
bindung jo jtrenge feitgehalten wird, daß als Auffichtsbehörde über
fie die Polemarchen fungieren und die Genofjen zum gemeinjamen
Mahle ich bewaffnet verfammeln.
Angefichts dieſer Thatjachen erjcheint die Ableitung des ſpar—
taniſch-kretiſchen Syſſitienweſens aus politifch-militärischen Motiven
al3 die ungezwungenfte und natürlichite Erklärungsweiſe.) Wenig:
jtens find wir, um das Inſtitut gejchichtlich zu verftehen, in Feiner
') Ein moderner Nativnalöfonom (Elfter Howb. d. Staatsw. s. v. Plato)
Spricht geradezu von einem „politiichen Kommunismus” in Sparta.
2) Plutarch Apophthegm. Lac. p. 226c: onws E£ Eroiuov TE napay-
yskhousva deywvraı.
3) Bei Dionyſius dv. Hal. I, 23 heißt es von der „ayoyn neoi te
gidirie“, dab fie Lykurg eingeführt habe &v noAedum Jeis aido zei ng0-
voıwv zaraoınoas Exaotov Tor un) zurehıneiv Tov negeordınv, © xei
GVVEOTIEIGE Kal OVVEIVEE Kal xoıvov lEOWV UETEOYEV.
4) Auch die Alten haben die Sache nicht anders aufgefaht, bei Plato
Leg. I, 633a heißt es mit Beziehung auf Sparta: r« Evooiti« pausr zei
TE yvurcoıa no0s Tov noAeuov Eevonodar to vouodern und ib. I, 625e
mit Beziehung auf Kreta: Errei zei ra Zvooitie xındvveveı Evvayaysıv
00WV, WS TIEVTES, ONOTEV OTE«TEUWVT«I, TON vn’ @VTov TOoV E«yuaTos
avayzabovraı gpvAaxıs avrav Evsxa Evooıreiv ToVroP tor yoovorv. Dal.
auch Herodot I, 65: 74 Es noAsuor Eyovra' Evwuorias zei tomzddas
zei ovooitıc.
Pohlmann, Gejch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus. T. 5
66 Erſtes Buch. Hellas.
Weiſe genötigt, noch irgendwelche andere Entjtehungsgründe heran-
zuziehen, jo daß für eine Anfnüpfung an wirtichaftliche Berhält-
niffe jeder Anhaltspunkt fehlt. Neben den Tiſchgenoſſenſchaften
fann auch einmal die Feldgemeinjchaft beitanden haben, wie das
Beiſpiel des dorifchen Lipara beweift, allein diejelben brauchen keines—
wegs immer umd überall in einem urſächlichen Zuſammenhang
mit der Feldgemeinschaft zu ftehen. Iſt es doch angefichts der
ganzen Stellung, welche die gemeinfame Bürgerjpeifung im Organis-
mus des dorischen Kriegerftaates einnimmt, ſelbſt für Lipara keines—
wegs wahrscheinlich, daß die dortigen Syifitien ausſchließlich eine
Wirkung der Feldgemeinſchaft waren. Sie können auch bier jehr
wohl, wie die lipariſche Feldgemeinjchaft jelbit, zugleich als Ausfluß
der Friegerifchen Organiſation der Gemeinde betrachtet werden. —
Sa wenn die Syifitien in der Geftalt, in der fie ung auf
Lipara und Kreta, ſowie in Sparta entgegentreten, eine allgemein
doriſche oder gar althellenische Einrichtung überhaupt gewejen wären,
— wie man jeit Otfried Müller vielfach angenommen hat — dann
würde man allerdings berechtigt, ja genötigt fein, zumal für die
Landichaften, die ſich nicht in der Zwangslage der genannten Ges,
meinden befanden, ein Entjtehungsmotiv allgemeinerer Art zur Er—
klärung heranzuziehen, wie es eben die wirtjchaftlichen Verhältniſſe
darbieten würden. Allen ift für jene Annahme auch nur der
Schatten eines Beweijes erbracht?
Die Sitte des gejelligen Zufammenjpeifens hat allerdings zu
allen Zeiten eine große Nolle im ftaatlihen und gejellichaftlichen
Leben der Hellenen geipielt, fie ift in der VBerfallszeit ſogar in förm—
lichen Speifeflubs über alles Maß hinaus gepflegt worden. Allen
wo auch immer jonft von „Syifitien” die Nede ift, nirgends läßt
fich erkennen, daß es fich dabei um die regelmäßige und allgemeine
Speifung ganzer Bürgerjchaften handelte, wie in Sparta over Kreta.
Und nur diefe kann doch hier überhaupt in Betracht fommen, nicht
gewöhnliche Dpfer- und Feſtſchmäuſe oder gemeinfame Mahle ein-
zelner Korporationen, ſei es privaten oder öffentlichen Charakters.
Oder ſollen wir mit denen, die um jeden Preis Spuren einer
eV
I. 5. Die jtaatl. org. Bürgerjpeiig. Spartas u. Kretas u. d. Sozialismus ıc. 67
kommuniſtiſchen Durchgangsphaſe der jozialen Entwidlung von Hellas
finden möchten, auch dieſen „Syilitien” eine Beweiskraft für unjere
Frage einräumen?
Die Alten ſelbſt haben allerdings die verjchiedenen Formen
von Syſſitien keineswegs jtrenge auseinandergehbalten. Ariſtoteles
3. B. vergleicht ohne weiteres mit dem jpartanischen Inſtitut die
Mahle der „Hetärien” Karthagos,!) bei denen wir doch felbjtver:
ſtändlich auch dann, wenn fie öffentliche Korporationen waren, nicht
entfernt an eine tägliche und allgemeine Bürgerjpeifung denken
dürfen. Auch Dionyjius von Halifarnaß fieht ſich durch die Feſt—
und Opfermahle der römischen Kurien, die doch vielmehr in den
Dpferfchmäufen der attiichen Phratrien ein Seitenftüc haben, an
die ſpartaniſchen Syflitien erinnert; und wieder ein anderer, ein
Interpolator des Ariftoteles (zu Bolitit IV, 9,2. 13529b) fucht den
Urſprung des ſpartaniſch-kretiſchen Syſſitienweſens in Süditalien,
ohne im geringſten anzudeuten, ob die den altitaliſchen Bauern zu—
geſchriebene Sitte gemeinſamer Mahlzeiten wirklich mit der ſparta—
niſchen Ähnlichkeit hätte. Wir belächeln dergleichen Kombinationen,
allein iſt es viel weniger willkürlich, wenn nun auch moderne For—
ſcher die ſämtlichen, innerlich ſo durchaus verſchiedenen Formen von
öffentlichen oder gemeinſamen Mahlen als gleichwertig behandeln
und dieſelben nur als ſpätere Modifikationen eines und desſelben
urſprünglich zu Grunde liegenden Inſtitutes der Vorzeit gelten laſſen
wollen, als letztes Überbleibſel einer kommuniſtiſchen Wirtſchaft
patriarchaler Familiengruppen??)
Bücher glaubt als ein „beſonders wichtiges“ Beweismoment
für die Herkunft der Opfermahle der attiſchen Phratrien ans der
Feldgemeinschaft eben den „patriarchalen” Charakter dieſer Verbände
hervorheben zu müfjen.3) Allein ift die Beweiskraft dieſes Mo—
mentes wirklich jo zwingend? Daß der „patriarchale” Zuſammen—
halt örtlich oder verwandtjchaftlich verbundener Familien urſprüng—
') Politit II, 8, 2. 1272b.
2) So Biollet a. a. D. und Laveleye-Bücher: Das Ureigentum ©. 326 ff.
U, aD Atuterkr 9:
DE
68 Erſtes Bud. Hellas.
lich ftet3 auch einen förmlichen agrarijchen Kommunismus in jich
geichlofjen habe, ijt eine Anmahme, die in dieſer Allgemeinheit noch
nicht genügend erwieſen ift. Um jo ficherer ift es dagegen, daß
in Hellas jede Derartige patriarchale Gemeinschaft zugleich eine
Kultusgemeinschaft darftellte, mit der dann auch jene gemeinſamen
Mahle von ſelbſt gegeben waren. Mit den Dpferfeften, in denen
der ſakrale Zuſammenhang der Genofjenichaft zum Ausdrucd kommt,
verbindet fic) eben naturgemäß und notwendig das gemeinjame
Dpfermahl. Bedarf es da zur Erklärung der Sitte noch des
Kommunismus?!)
Übrigens wird von der genannten Theorie der weitere wich-
tige Umstand überjehen, daß gerade bei derjenigen Form des
öffentlichen Mahles, welche einer primitiven Agrargemeinjchaft am
meijten entjprechen würde, bei dem jpartanischen und allem An—
ſcheine nach auch bei dem kretiſchen Bürgermahl von einem Zus
ſammenhang mit patriarchaliichen Inſtitutionen überhaupt feine
Rede jein kann. Die jpartanifche Tiſchgenoſſenſchaft bildete ich
befanntlic) Durch die freie Wahl ihrer Mitglieder, fie nahm jo
wenig Rückſicht auf Familien und Gejchlechtsverband, daß nicht
einmal Vater und Sohn Mitglieder eines Syſſition zu jein brauch—
ten. Ebenſo jpricht alles dafür, daß auch die kretiſchen Syſſitien
ſolche freigebildete Genofjenichaften waren. ?)
Gerade hier tritt alfo das Inſtitut aus jedem Zuſammenhang
mit der Agrarverfaſſung heraus. Das Prinzip der Unteilbarkeit
) Wenig ſcheint mir auch gedient mit Bücher Hinweis auf die ge
meinjamen Speifungen verdienter Männer im Stadthaus oder Prytaneum,
ſowie auf die öffentlichen Speifungen, durch welche der Staat Fremden, be—
jonders Gejandten jeine Gaftfreundfchaft erwies, worin Bücher einen wichtigen
„nomadiſchen“ Zug exblict.
?) Schon Alfried Müller (Dover IL, 203) hat dies zur Erklärung des
Berichtes über die kretiſchen Syifitien bei Athenäus IV, 143 geltend gemacht.
— Die Anficht don Leift: Gräfositalifche Rechtsgeſchichte ©. 139, daß die
Syſſitien Spartas (aljo wohl auch Kretas) „anfangs nach den Oben und
Gejchlechtern eingerichtet waren, jo daß alfo urſprünglich die Berwandtichaften
zuſammenſpeiſten“, — entbehrt jeder Begründung.
I. 5. Die ftaatl. org. Bürgerfpeifg. Spartas u. Kretas u. d. Sozialismus zc. 69
und Unveräußerlichfeit der alten Stammgüter mochte jehr häufig
mehrere Familien zu gemeinſamer Wirtfchaft vereinigen, für die
Zufammenjegung der Tiichgenofjenichaften find dieſe Hausgemein-
Ichaften ebenjomwenig maßgebend gewejen, wie irgend ein anderes
agrarwirtichaftliches Berhältnis. Es ift daher auch von dieſem
Gefichtspunft aus völlig willfürlich, die Sylfitien als Überreft einer
engeren patriarchaliichen Vermögensgemeinichaft aufzufafjen. Über:
all, wo wir fonft einen Zuſammenhang zwilchen der Sitte gemein-
jamer Mahlzeiten und der Feldgemeinjchaft zu erkennen vermögen,
wie 3. B. bei gewiſſen oftafrifanischen Stämmen, bei den Indianern
und Siüdfeeinfulanern find es patriacchaliiche Gruppen, von denen
fie abgehalten werden, die Gejchlechtsgenofjenjchaften oder die auf
legteren beruhenden Dorfgemeinchaften. ')
Kun zeigt ja allerdings das Oyjfitieninftitut in der Form,
wie es uns auf Kreta entgegentritt, ein ausgejprochen gemein
wirtschaftliches Gepräge. Die ganze Bürgerſchaft wird hier auf
Koften der Geſamtheit ernährt. Alle Einkünfte, welche der Staat
von den Allmendegütern,?) aus den Kopfiteuern der unfreien Be—
völferung 3) oder aus anderen öffentlichen Einnahmequellen bez3og,*)
insbejondere die Grundſteuern, welche außer den Unterthanen?) vie
Bürger aus ihrem Anteil am Fruchtertrag ihrer Hörigen zu leiften
hatten (in Lyktos ein Zehntel der Ernte6)) wurden hier — ſoweit
fie nicht für den Kultus und ſonſtige Staatszwede zur Verwendung
famen — für die Syffitien in Anfpruch genommen. Während in
Sparta das Inſtitut zwar ebenfalls eine Anftalt der Gemeinschaft
war, aber im übrigen d. h. in feiner Verwaltung und feiner Thä—
tigfeit für die Gemeinschaft ſich wejentlich mit dem privatwirtichaft-
1) Vgl. die Angaben bei Laveleye-Bücher ©. 276.
2) Ariftoteleg Politik IT, 7, 40. 1272a.
3) Sp wenigſtens jpäter in Lyktos nad) Dofiadas bei Athen. IV, 143a.
5) Val. die auf die Gemeinde der Drerer fich beziehende Inſchrift bei
Cauer: Del. inseript. graec.? 121 C 38 ff.
5) Ariftoteles a. a. D.
6) Dofiadas a. a. D.
70 Erſtes Buch. Hellas.
lichen Prinzip von Leiſtung und Gegenleiſtung begnügte und ſo
individualiſtiſch organiſiert war, daß — bei gleicher Beitragspflicht
für alle — jeder für ſeinen Bedarf ſelbſt aufzukommen hatte, ja
im Unvermögensfalle den Anteil am Staatstiſch jowie das Boll
bürgergerrecht verlor,!) ift auf Kreta das privatwirtichaftliche Mo—
ment, der Grundſatz von Leiftung und Gegenleiftung, nur ſoweit
beibehalten, als es um der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit willen
erforderlich Tchien. Hier diente das Inſtitut prinzipiell den Bes
dürfniſſen der Gejamtheit als Gejamtbeit und die Gemeinschaft trat
daher ſelbſt mit ihren Mitteln für die wirtichaftlich minder Leis
ftumgsfähigen ein, fo daß auch die Ernährung der Ärmeren voll
fommen gefichert war.?2) Mochte die Beifteuer der lebteren- hinter
den Koften ihres Unterhaltes zurücbleiben, fie wurden deswegen
nicht ausgejchloffen, jondern der Ausfall duch die entiprechende
Höherbelaftung der VBermögenderen und den Staatsbeitrag aus:
geglichen. Da ſich die Beiftener des Einzelnen nicht, wie in Sparta,
nach feinem für alle gleichen Anſpruch an den Staatstiſch, ſondern
nach) der Größe des Einfommens richtete, jo kamen die Früchte
des ganzen vaterländiichen Grund und Bodens — mochte er Ge
mein oder Privatbejiß jein — bis zu einem gewifjen Grade wenig:
jtens allen zu gute.
Ja wenn uns die Darftellung diejer merkwürdigen Gejell-
Ihaftsverfaffung in der ariftoteliichen Politik unverfälicht überliefert
1) Diafäarch bei Athenäus IV, 1410. Plutarch: Lykurg 12. Bol.
Hultich: Metr ? 534. Gegen die Annahme Laveleyes a. a. D., daß die ſpar—
taniſchen Syifitien zugleich auf den Ertrag großer Domänen bafiert geweſen
jeien, vgl. Fustel de Coulanges: Etude sur la propriete à Sparte. Comptes
rendus de l’Acad. des sciences morales et politiques 1880, p. 623.
?) Ariftoteles a. a. D.: ano narrwv ydo Tav yıvousvav zaonWv
TE zei Booxnudtwv &x av dnuooiwov zul... PoEWwv oüs pEgovoıv ol
7EELOLXOL, TETEKTEL EOOS TO uEv NI005 ToVSs HEoVS zul Tas Kowvas Asırovo-
ylas To de Tois ovooırlors, oT Ex zoıvoV ToEYEoFRL navras xal
yvvaizas zei neidas zei ardgas. — Cf. Ephorug bei Strabo X, 4, 16,
480 — Onws TWv iowv uerdoyoLev Tols EVTTOGOLS oil nevEotego dmuooi«
ToEepouervoı.
I. 5. Die ftaatl. org. Bürgerjpeiig. Spartas u. Kretas u. d. Sozialismus ac. 7]
iſt,.) jo wäre man auf Kreta in der Durchführung des gemein:
wirtjchaftlichen Prinzips jomweit gegangen, auch die Ernährung der
nicht am Männermahl beteiligten Familienmitgliever, der Frauen
und jüngeren Kinder,2) auf Koften der Gejamtheit zu bejtreiten:
eine Annahme, die allerdings injoferne großen Bedenken unterliegt,
als eine jo volljtändige Durchführung des Nechtes auf Eriftenz ohne
Zweifel einen jehr bedeutenden Teil des Einfommens der vermögen-
den Klaſſen in Anſpruch genommen hätte und zugleich eine An—
bäufung großen Befites in wenigen Händen jehr erſchwert haben
müßte, während fih auf Kreta in Wirklichkeit eine entichiedene
Tendenz zu großer Ungleichheit der Wermögensverteilung bemerk
ih madt.°)
Doh ſei dem, wie ihm wolle, angejichts der gejchilderten
gemeinwirtjchaftlichen Organiſation des kretiſchen Syſſitienweſens iſt
jedenfalls ſoviel gewiß, daß dasſelbe ſich mit einem Grundgedanken
der ſtrengen Agrargemeinſchaft wenigſtens berührt. Es erkennt,
wie dieſe, jedem Gemeindegenoſſen ein angeborenes Recht auf Mit—
benützung der äußeren Natur, auf den Mitgenuß der materiellen
Exiſtenzbedingungen zu, wenn es dieſes Recht auch in weit beſchränk—
terem Sinne und in den durch das Sondereigentum bedingten
Formen wirtſchaftlich zur Geltung bringt, d. h. nicht ein Recht am
Grund und Boden ſelbſt, ſondern nur an einem Teil der jeweilig
produzierten Genußmittel einräumt.
1) D. h. wenn die Worte zei yuvvaizas zei neidas zrA. in der eben-
genannten Stelle der Politif wirklich von Ariftoteles herrühren und nicht
jpäterer Zujaß find.
2) D. h. derjenigen, die vom Vater noch nicht ins a@vdostov mitge-
nommen oder in die ayedaı der Yünglinge aufgenommen werden fonnten,
welch letztere nach Ephorus ib. p. 483 ebenfall3 auf Staatzfojten erhalten
wurden.
3) Außer diefer allgemeinen Erwägung fehlt uns allerdings jeder
nähere Anhaltspunft für die Beurteilung der Frage, da die Quellen völlig
darüber jchweigen. Was Onden: Die Staatzlehre des Arijtoteles IL, 386
für die Annahme einer Sinterpolation der Stelle beibringt, ijt Leider ohne
jede Beweiskraft.
72 Erſtes Buch. Hellas.
Ergibt fih nun aber aus diefer Thatfache irgend ein zwingen
des Beweismoment für die Annahme, daß wir hier eine durch die
Entwidlung des Privateigentumd am Grund und Boden hervor-
gerufene Umgeftaltung und Abſchwächung eines urjprünglichen agra-
rischen Gemeindefommunismus mit völlig ungetrennter Gemeinjchaft
des Landbefites vor uns haben? Nachdem ſich ung die Sitte der
gemeinen Bürgerſpeiſung ſelbſt aus dem Friegeriichen Lebensprinzip
des Lagerſtaates vollkommen erklärt hat, jollte da die Thatjache der
gemeinmirtichaftlichen Organiſation des Inſtituts für ſich allein
genügen, jo weitgehende Schlüfje zu ziehen?
Sch fürchte Doch jehr, daß hier die herrſchende Anſchauungs—
weile an einer gewiljen Verwirrung der Begriffe leidet, wenn fie
das Syifitieninftitut ohne weiteres als eine „rein kommuniſtiſche Ein-
richtung auffaßt,') welche „auf das Prinzip der Gütergemeinjchaft
zuriicgehe”,2) nur „aus einem urjprünglich Fommunijtischen Beſitz“
zu erklären ſei.)) Dieſe Auffaffung beruht auf der populären aber
gänzlich unklaren DVorftellung über den Kommunismus, bei welcher
der Gedanfe an eine abjolute Gemeinjchaft aller Güter, jelbit des
beweglichen Eigentums und bejonders aller Konjumtionsgegenftände
vorjchwebt;t) wie man denn in der That ausdrücklich den Satz
aufgeftellt hat, daß ſich der Urſprung der Syifitien nur durch die
ehemalige Gemeinſamkeit alles Befißes erklären lajje.?) Bon
') Tout à fait communiste. Laveleye ©. 378.
2) Büchſenſchütz a. a. O. ©. 29.
3) Trieber a. a. D. ©. 25. Auch nach Holm, Griech. Gejch. I, 230,
herrſchte in Kreta ein weit getriebener Kommunismus.
4) Wie Hleinwächter: Die Grundlagen und Ziele des jogen. wiſſen—
Ichaftlichen Kommunismus ©. 137 f. mit Recht bemerkt, iſt dieſer „volle“
Kommunismus, eine konſequent durchgeführte Ausjchliegung des Privateigen-
tums, eine Utopie. Der Menſch kann nicht exiftieren, wenn er nicht die aus—
jchließliche Dispofition wenigftens über die notwendigen Nahrungsmittel und
Gebrauchsgegenftände hat, d. h. wenn er nicht das Recht hat, diefelben aus:
Ichließlich für jeine Perſon zu verwenden und jedem anderen die Mitbenügung
zu beriwehren.
5) Trieber ebd. vgl. S. 10, wo die ſpartaniſchen Phiditien als Über-
veft einer grauen Vorzeit hingeftellt werden, in dev noch Gemeinjamkeit des
I. 5. Die jtaatl. org. Bürgerfpeijg. Spartas u. Kreta u. d. Sozialismus ıc. 73
diefem abjoluten Kommunismus haben nun aber die indogerma-
nischen Völker ſelbſt auf der älteften für uns erkennbaren Stufe
ihrer Entwiclung nichts gewußt. Schon die indogermanifche Urzeit
fennt gemeinfame Wurzeln für die Bezeichnung des Stehlens und
des Diebes, und auch für die Begriffe: Taufchen, Kaufen, Kauf-
preis umd verwandte finden fich in den indogermanijchen Sprachen
übereinftimmende Ausdrücke ſchon in alter Zeit entwicelt vor.!) Wenn
demnach der Begriff des Eigentums jchon der Urzeit aufgegangen
ift, wo bleibt da die „ehemalige Gemeinſamkeit alles Beſitzes“?
Überhaupt ift e3 irreführend, von einer „kretiſchen Güter:
gemeinschaft” in der Allgemeinheit zu reden, wie es jelbjt Nojcher
gethan hat.) Wer fich die ökonomische Struktur des Fretifchen
Syifitienweiens im Einzelnen veranschaulicht, wird es als „kommu—
niſtiſch“ Höchitens injoferne bezeichnen können, als das Inſtitut eben
Gemeinwirtichaft, insbefondere Zwangsgemeinwirtſchaft war. Diefen
gemeinwirtichaftlichen Charakter teilt es aber, wie mit der Inſtitu—
tion des Staates ſelbſt, der ja die höchite Form der Zwangsgemein-
wirtſchaft darstellt, jo mit jeder ftaatlichen Einrichtung, welche mit
den Mitteln Aller (d. h. auf der finanziellen Grundlage von Steuern
und öffentlichem Vermögen) für die Zwede aller d. h. für allge-
Bodens und alles Bejites beitand. ZTrieber fieht jogar eine Erinnerung
an diejen urjprünglichen Kommunismus in der Förderung des Stehlens bei
der jpartanischen Jugenderziehung, „wie denn gewiſſe Völker, die in primi—
tiven Zuftänden nur Gemeineigentum kannten, noch heutzutage das Stehlen
für etwas höchſt Unjchuldiges halten.” Vgl. dagegen die Anficht Schraders
(Linguiftisch = hiftorische Forichungen zur Handelsgeichichte und Warenkunde
©. 61), daß der Dieb auf niedrigen Kulturftufen eine viel ſtrengere Beurtei:
lung als auf höheren zu erfahren pflege! Man fieht, wie wenig mit jolch
allgemeinen Argumentationen gedient ift, denen bei der unendlichen Mannig—
faltigfeit der Erjcheinungen des Völkerlebens ftet3 pofitive Zeugniſſe auch für
diametral entgegengefeßte Anfichten zu Gebote ftehen.
1) Schrader a. a. D.
2) Syitem der DVBolfswirtichaft I S 833 Anmerk. 6. DBgl. auch den
Aufſatz Roſchers über Sozialismus und Kommunismus in der Zeitichr. F.
Geſchichtswiſſenſchaft III, 451, wo von einer „ehr fonfequenten Gütergemein:
ſchaft in Kreta” die Rede ift.
74 Erſtes Buch. Hellas.
meine Staatszwede arbeitet. Wo gäbe es überhaupt eine Nechts-
ordnung, die nicht in dieſem Sinne eine Menge „kommuniſtiſcher“
Elemente in fich ſchlöſſe! (Beichränfungen des Gebrauches und
Mipbrauches des Eigentums, Ge] Jamteigentum und Gemeinwirtichaft
in Staat und Gemeinde u. |. w.)9)
Auch greift das Fretiiche Syifitieninftitut, obgleich es gerade-
zu eine Lebensbedingung des Staates bildete, in das Privateigen-
tum prinzipiell durchaus nicht tiefer ein, als etwa das Sozial
recht des modernen Staates. — Wie bei der Fretiichen Bürger-
ſpeiſung der Ausfall, welcher dureh die ungenügenden Beiträge der
Ärmeren entftand, durch Staatszufchüffe und die höheren Beiftenern
der Neicheren gedecdt wurde, genau jo ergänzt die Sozialgejeßgebung
des. modernen Staates bei den öffentlichen Leiftungen an Kranken—
geld, Unfall, Invaliden- und Altersrente das unzureichende Ein-
fommen der befiglofen Klaſſen aus Leiftungen der Befigenden und
teilweife auch aus Mitteln des Staates (Neichszufchuß bei ver
Altersverficherung). Wie auf Kreta das Einfommen der Wohl
habenden durch den — mit dem Beliß fteigenden — Beitrag zum
Staatstifch den Armeren mit zu gute fam, jo übertragen auch wir
durch gejeglichen Zwang an die Arbeiter Einfommensteile, die jonft
den Arbeitgebern, alfo den Befigenden, zugefallen wären. Und wie
auf Kreta die Staatsgewalt auch dem Minderbemittelten die Bei-
tragspflicht auferlegte, jo zwingen auch wir jeden an der Arbeiter:
verficherung Beteiligten mit einem Teile feines Einkommens für
die Koften des Inſtitutes mit aufzufommen. Hier wie dort haben
wir demnach eine Gejeßgebung vor uns, welche in die natürliche
Verteilung des Volkseinkommens beftändig eingreift und derſelben
!) Bal. die Schöne Ausführung von Shering: Der Zweck im Recht I,
521: „Du haft nichts für Dich allein, überall jteht Div die Gefellfchaft oder
als Vertreter ihrer Intereſſen dag Geſetz zur Seite, überall ift die Geſellſchaft
Deine Partnerin, die an Allem, was Du haft, ihren Anteil begehrt: an Dir
jelbit, Deiner Arbeitskraft, Deinem Leib, an Deinen Kindern, Deinem Ber-
mögen, — das Recht ift die verwirklichte Partnerfchaft des Individuums
und der Gejellichaft.“
I. 5. Die ftaatl. org. Bürgerfpeifg Sparta3 u. Kreta u. d. Sozialismus xc. 75
mit der Zwangsgewalt des Staates eine der Volkswohlfart ent-
jprechendere Nichtung gibt. Zugleich bedeutet bier wie dort diefe
todififation der Einfommensverteilung eine Verſchiebung derjelben
zu Gunften der wirtichaftlih Schwachen auf Koften der Befigenden.
Wenn daher die Fretiiche Syilitienverfafjung „rein kommuniſtiſch“
fein fol, jo find es auch die Inftitutionen des modernen Sozial-
rechts, jo groß die Unterſchiede im übrigen auch fein mögen.
Allerdings ift auf Kreta der Staatszuihuß gegenüber der
Leiſtung der Beitragspflichtigen weit mehr ins Gewicht gefallen, als
es in dem Sozialrecht eines Staates der Fall jein kann, dem nicht
wie in dem dorischen Heerjtaat die Hilfsmittel einer außerhalb der
Bürgerfchaft ftehenden unterthänigen Bevölkerung zu Gebote ftehen;
ferner erſcheint in der kretiſchen Bürgerjpeifung das gemeinmirt-
ſchaftliche Prinzip auch auf die Konſumtion in einem Umfang aus-
gedehnt, der das bei ähnlichen DVeranftaltungen des modernen
Staates (bei der Gemeinwirtſchaft des jtehenden Heeres) übliche
Maß weit überjchritt, endlich war im kretiſchen Staate das Necht
auf Eriftenz in vollfommenerer Weile verwirklicht, als in unferer
modernen Armenverforgung und DVerficherungsgejeggebung. Allein
es handelt jich eben bei alledem nur um ein Mehr oder Weniger.
Denn die pezifiichen Eigentümlichkeiten einer „rein kommuniſtiſchen“
Nechtsordnung, die prinzipielle Negation des PBrivateigentums, Der
Individualwirtſchaft und des Individualhaushaltes find auch dem
fretiichen Staate fremd. Er kennt wohl ausgedehnten Domänen:
befiß, aber fein gemeinjames Eigentum am gejamten Grund und
Boden, ausgedehnte Allmendenwirtichaft, aber Feine gemeinwirt-
Ichaftlihe Drganijation der gejamten Güterproduftion, und eben-
jowenig find feine Männermahle eine Verwirklichung des vein kom—
muniftiichen Ideals der gemeinwirtjchaftlichen Komjumtion d. h.
des vollfommen gemeinjamen Haushaltes aller.!)
1) Über das Fortbeftehen der individuellen Hauswirtfchaft neben
den dvdosie vgl. Plato Leges VI, 780 e. duiw yao...... Ta uev neol
Toüs avdoas £vooitie zahos ua zei Orreo sirtov FAVUROTIKÜS KAHEO-
Tyxev,. — TO de nepi Tas yuraizas ovdauws ogFWs dvouodEerntorv
16 Erſtes Buch, Hellas.
Nicht wenig bat zur Entftehung der unklaren Anficht von
dem kommuniſtiſchen Charakter der Syflitien ohne Zweifel der Um:
ftand beigetragen, daß ſich diejelben in ihren jozialen Wirkungen
teilweife mit dem berühren, was auch als praftifches Ziel des
Kommunismus erjcheint. Im kommuniſtiſchen Staat foll die Be:
friedigung der Lebensbedürfnifje für alle die gleiche jein, und das
Syſſitienweſen hat wenigitens in einem Punkte eine jolche Gleich-
jtellung der Bürger im Genuß zur Folge gehabt. Allein über
diefer äußeren Ähnlichkeit darf man den fundamentalen Unterjchied
nicht überjehen! Dort fteht die Gleichheit der Lebensführung in
ver That in einem organischen Zuſammenhang mit der wirtjchaftlichen
Nechtsordnung: ſie ift der natürliche Ausdrud des kommuniſtiſchen
Prinzips der völlig gleichen Verteilung des Bolkseinfommens und
der durch fie bedingten Gleichheit der ökonomiſchen Lebenslage.
Dagegen beruht die durch die Syſſitien gejchaffene Gleichheit
überhaupt nicht auf einem volfswirtjchaftlichen, ſondern einem poli-
tiſchen Motiv: der durch den Staatszwecd geforderten ſyſtematiſchen
Disziplinierung der Bürger. Sie iſt demgemäß auch nicht Selbit-
zweck, wie die Gleichheit des vulgären Kommunismus, jondern eben
nur ein Mittel zur Sicherung der Lebensbedingungen des Staates.)
Es erſcheint daher von vornherein durchaus willfürlich, irgend
eine bejtimmte Eigentumsordnung als die notwendige Voraus:
jegung des Inſtitutes hinzuftellen. Die durch die Speijegenofjen-
Ichaften erzielte Gleichheit der Lebensführung war von der Lebens-
usdeitat xal 0Vx Eis TO Pos yarau To 115 Evooıtias aurov ETLLTN-
devua xrA. Dazu Ephorus bei Strabo X, 4, $ 19, p. 482. Dieje Thatjache
ignoriert Salvioni: Il Comunismo nella Grecia antica ©. 19, wenn ex von
den kretiſchen Syifitien jagt: „come essi avessero realmente l’aspetto di un
regime comunistico.* Vgl. auch die Bemerfung des Ariftoteles zur Plato—
nijchen Politik (Bolit. II, 7 Anf.): ovdeis yao ovre mv negi ta Texva
KoLWOTNTa xal Tas yuvalzas ahkog ZEZAIVOTOUNKEV, OVTE NIEQL TE 0VO-
OLTLIG TWV yvvalxwv.
') Plato: Leg. I, 626a: xal oyedov avsvonjasıs ovrW oxonWv Tov
Kontev vouodermv, ws Eis tov noAsuov ünevrae dnuooig zal idie mulv
dnroßkenwv ovvsrd£aro,.
I. 5. Die ftaatl. org. Bürgerfpeifg. Spartas u. Kreta ur. d. Sozialismus ıc. 77
lage der Bürger vollfommen unabhängig.!) Gerade auf Kreta
müſſen — wenigitens im vierten Jahrhundert — gleichzeitig mit
der ſtreng gemeinwirtichaftlichen Drganifation der Syſſitien die
Ihroffiten wirtjchaftlichen und jozialen Gegenfäge innerhalb ver
Bürgerichaft bejtanden haben. Ephorus jpricht von Armen und
Keichen,2) Ariftoteles von mächtigen Familien, deren Zügellofigteit
und Gewaltjamkeit fih über alle Schranken des Nechtes und der Ver:
faljung hinwegſetzen Eonnten.3) Er bezeichnet die damalige Ver:
fafjung der Fretifchen Städte geradezu als ein Dynaftenregiment,
die ſchlimmſte Form der Dligarchie. Die Maſſe der Bürgerjchaft
fügte ſich willig den „Mächtigen“ (dvrevor), die ihr offenbar durch
ausgedehnten Belig an Land und Grundholden weit überlegen
waren.*)
Wenn fih die „kommuniſtiſche“ Organiſation des Syifitien-
wejens mit jolchen gejellichaftlichen Zuſtänden vereinigen ließ, fo ift
es begreiflich, daß Ariftoteles es für durchaus möglich hält, fie in
allen Staaten im Einklang mit dem bejtehenden, auf dem Brinzip
des Privateigentums beruhenden Wirtichaftsrechte durchzuführen. >)
Ja er ijt jo weit entfernt, das Inſtitut aus der Gütergemeinjchaft
abzuleiten, daß er es im Gegenteil in feiner Polemik gegen die
fommunitischen Theorien als Argument dafür verwertet, daß auch
auf der Grundlage und unter der Herrichaft des Privateigentums
der Beſitz jeine jozialen Funktionen in befriedigenditer Weiſe zu
bethätigen vermöge. Er fieht hier nichts Kommuniftijches, als jenes
„Gemeinmachen des Eigentums durch den Gebrauch”,6) von den
bereits oben ausführlich die Nede war.
!) Bol. Thufydides über die Spartaner (I, 6) oos tous noAlovs oäf
ta usiiw zextnuevor loodiaıror uckıote xzateornoav.
(2 Zen h /
ana. aD.
D)rBolitit 11.27, 65 12726:
4) Bol. auch Polyb. VI, 45: Ieod de Kontasvor nevre Tovrors
VNEOYE TEvartia' Twv TE Ya WORV zarte dvvauıy avrois Epiaoıv 00
0X i len RE N F
vouoı, to dn Asyousvov, Eis Ereigov zTaoHFa.
SEI. I, 2, 102 12642; ef. I, 2,.5°12633.
°) A. a. D.$ 5 gearegov roivor orı BeAtiov eivaı uv idias Tas
78 Erſtes Buch. Hellas.
Man wende gegen diefe Auffaffung nicht ein, daß es fich bei
jenem gemeinnügigen Eigentumsgebrauh um eine Zwangsthätig-
feit handelte. Denn aus dem Umstand, daß bier die Staatsgewalt
von der Gejellichaft oder vielmehr von einem Teil derjelben zu
Gunften des anderen jolche Opfer erzwang, daß fie — im Syſſi—
tieninftitut — die privatwirtichaftlichen Kräfte zur Leiftung diefer
Dpfer obligatorisch zujammenfaßte, — aus diefem Moment des
Zwanges allein kann eine kommuniſtiſche Tendenz nicht abgeleitet
werden, da dadurch die Nechtsform des Brivateigentums als Grund-
lage des Wirtichaftslebens in feiner Weife berührt wurde und der
Staatliche Zwang weiter nichts beabfichtigte, als eine vorbeugende
Korrektur gewiſſer für die Lebensbedingungen des Staates bedenk—
lichen Konſequenzen der bejtehenden Wirtichaftsordnung. Jedenfalls
genügt der jtaatsjozialiftiiche Charakter des kriegeriſchen Geſellſchafts—
typus vollfommen, um auch diejes Fretiiche Syftem des Syſſitien—
weſens geichichtlich zu erklären.
Sechiter Abjchnitt.
Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaſſung.
Zu Rückſchlüſſen auf das Agrarweſen der Vorzeit bleibt uns
nach alledem nur noch das übrig, was wir von der Agrarverfaflung
ſelbſt in biftorifcher Zeit noch zu erkennen vermögen. — Da jehen
wir denn in Sparta, wie auf Kreta die Maffe des ländlichen Grund
und Bodens, joweit er im Eigentum der herrſchenden Klaſſe tan,
in Meierhöfe zexteilt, die von jchollenpflichtigen Bauern beftellt wur—
ven. Diele Hofitellen (zA7oor) bildeten gejchlofjene und unteilbare
wirtjchaftliche Einheiten. Für Kreta ift uns durch das Stadtrecht
von Gortyn, alfo für das fünfte Jahrhundert wenigjtens foviel
hinlänglich bezeugt, daß der Befig der „Häusler“ (Forxees), deren
z0eıs, 7) dE yomosı noeiv zowes und $ 10.... woneo TE regi Tas
xrseıs Ev Auxedaluorı zai Konrn Tois ovocırlors 6 vouoderns Exoivweerv,
I. 6. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfafjung. 79
Stellung der der fpartanifchen Heloten entiprach, nicht wie der
übrige Nachlaß ihrer Herren der Teilung unter die Erben unter:
worfen werden fonnte.!) Noch deutlicher iſt diefe Geſchloſſenheit
der Hufen in Sparta erkennbar. Hier war der Ertrag, den die
Helotenwirtichaften nach dem von Staatswegen feitgefegten Maßſtab
den Herren lieferten, für alle derjelbe (82 Medimnen Gerite und
ein entiprechendes Maß von Ol, Obſt und Wein)?), woraus fich
mit Notwendigkeit ergibt, daß die xAn000 nicht nur von annähernd
gleicher, jondern auch von unveränderlicher Größe gewejen jein
müfjen. Nur jo erklärt es fih auch, daß die innerhalb des par:
taniſchen Herrenftandes ſchon jehr früh hervortretende Tendenz zur
Konzentrierung des Grundeigentums die alte auf der Selbitändig-
feit zahlveicher Kleiner Betriebe beruhende Agrarverfaſſung offenbar
wenig berührt hat. Das Eigentumsreht an zahlreichen Heloten-
hufen mochte ſich allmählich in Einer Hand vereinigen, aber es ent-
ftanden dadurch, da das Verhältnis zwiichen Herr und Bauer nicht
einfeitig von dem einzelnen geändert werden durfte, Feine zuſammen—
hängend bewirtjchafteten Gutsfomplere. Die xAno01 bejtanden viel-
mehr als jelbjtändige Betriebe fort, die nicht zu einer organijchen
Wirtichaftseinheit verbunden werden Fonnten. — Eine hübjche
) Allerdings nimmt das Gejeß von der Teilung der Erbmaſſe direkt
nur das Vieh aus, welches einem Häusler gehört, und die Stadthäufer, denen
ein Häusler einhauft, der auf der Stelle hauft (IV, 31). Allein es handelt
ſich an der betreffenden Stelle des Gejeges überhaupt nur um eine Beltim-
mung über Vieh und Stadthäufer, von denen es heißt, daß fie an die Söhne
als Präzipuum fallen jollen (gegenüber den Töchtern), joweit fie nicht einem
auf eigner Stelle jelbjtändigen Häusler gehören. Den Acer des Häuslers
zu nennen, war gar feine Beranlaffung, da er hier überhaupt nicht in Frage
fam. Dagegen führt eben die Thatjache, dat Hofitelle und lebendes Inventar
des Häuslers nicht zur teilbaren Erbmaſſe gehörten, notwendig zu dem Schluß,
daß der Grund und Boden, den ex bewirtichaftete, derjelben Behandlung
unterlag, wie jchon Zitelmann mit Necht angenommen hat (Juriftiiche Er:
läuterungen zum Stadtrecht v. Grotyn. N. Rh. Muf. Bd. 40 Ergänzungsh.
©. 137 ff.).
2) Plutarch. Lyk. S. Inst. Lac. 41 Myron v. Priene bei Athenäus
XIV, 657d (Müller F. H. G. IV, 461).
80 Erſtes Buch. Hellas.
Anekdote erzählt von Lykurg, wie er einmal nach der Durchführung
ſeines Ackergeſetzes von einer Reiſe zurückkehrend durch die friſch
abgeernteten Felder gekommen ſei und beim Anblick der in regel—
mäßigen Reihen aufgeſchichteten Getreideſchober geäußert habe,
Lakonien ſehe aus wie das Eigentum von lauter Brüdern, die ſich
eben in ihr Erbe geteilt hätten.) Das iſt eine Legende, wie Die
Gejchichte von der Lykurgiſchen Landaufteilung jelbjt. Allein fie
enthält doch unverkennbar einen echten Kern. Es jpiegelt ſich in
diefer angeblichen Hußerung des Gejeßgebers ohne Zweifel der
Eindrucd wieder, der ji in der That dem Beobachter der Flur—
teilung und der durch leßtere bedingten Formen der Aderwirtichaft
in der Gemarkung Spartas aufdrängen mußte.
Es liegt auf der Hand und ift auch von dem Urheber der
genannten Erzählung ganz richtig herausgefühlt, daß dieſe Flur:
teilung nichts Naturwüchliges war, jondern künſtlich gemacht fein
mußte. E3 leuchtet ferner ein, daß, wenn diejelbe geraume Zeit
nach der Einnahme des Landes und nach einer längeren Epoche
der Entwicklung und Ausbildung des Privateigentums am Grund
und Boden hergeftellt wurde, dies nur möglich war durch eine all-
gemeine Gütereinziehung und jyitematische Neuaufteilung des ges
ſamten Agrarbejiges: Die denkbar radikalite jozialrevolutionäre Um—
wälzung, die von vornherein jo jehr aller inneren Wahrjcheinlichkeit
entbehrt, daß wir ihre Gejchichtlichkeit nur auf Grund einer aus—
gezeichnet beglaubigten Tradition annehmen könnten. Wo hätten
wir aber eine jolche Tradition? Was die Lyfurglegende von einer
derartigen Umgeftaltung der jpartanifchen Eigentumsordnung dur)
einen großen Gejeßgeber zu erzählen weiß, beruht überhaupt nicht
auf Überlieferung, ſondern verdankt feinen Urfprung ganz unver:
fennbar den jozialpolitifchen Nejtaurationsbeftrebungen und der diejen
Beitrebungen dienenden Tendenzlitteratur des vierten und dritten
') Plutarch a. a. OD. Atysraı d’avrov voregov note yoovw mv
zugav dis£egyousvov EE anodmuias dort TEIEDLEUE/NV 0EWVTa« ToVg 6WPoVs
rraoaAhmhovs za ouakels ueıdicocı Kal Einelv IO0S ToVs NaPOVTaS, WEM
Aezorızn geiveraı ncoa nolkov adehpgar eivaı vEewori vevsunusvorv,
I. 6. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaſſung. st
Sahrhunderts, Die aus der DOppofition gegen die gejellfchaftlichen
und ftaatlichen Mißſtände des damaligen Sparta erwachjen: ift.
Wenn jchon die Perſon des Geſetzgebers jelbit angefichts der mythi-
ſchen und hieratiſchen Elemente der Lyfurgjage als eine gejchichtliche
faum mehr anzuerkennen ift, jo kann noch weniger ein Zweifel da—
rüber bejtehen, daß das ihm zugejchriebene joziale Erlöſungswerk
nichts iſt als ein PBhantaftegebilde, welches nur eine vorbildliche
Bedeutung hat, d. h. den Zeitgenojjen im Spiegel der idealifierten
Vergangenheit vorhält, was fie im Intereſſe einer Wiedergeburt
von Staat und Gejellichaft zu thun hätten. !)
So bleibt denn nach diefem negativen Ergebnis nur die andere
Möglichkeit, daß nämlich die in gejchichtlicher Zeit in der Gemar:
fung Spartas bejtehende Flurteilung ſchon vollendet war, bevor der
Grund und Boden in das Sondereigentum der einzelnen Familien
des Herrenjtandes überging. — Damit fällt ein bedeutſames Licht
auf die Entjtehungsgeichichte der jpartanischen Agrarverfaſſung. Wir
jehen, wie das von den Spartiaten offupierte Land, ſoweit es nicht
im freien Eigentum der unterthänig gewordenen Landesbevölferung
(der Weriöfen) oder für andere Zwede vorbehalten blieb, von
Staatswegen in ein Syſtem von Meierwirtichaften (xA7ooı) zerlegt
) Neben den zahlreichen älteren Unterfuchungen über die Frage, deren
Ergebniſſe hier natürlich nicht twiederholt werden fünnen, vgl. jetzt bei. E.
Meyer: Lyfurgos don Sparta, Forfchungen zur alten Gejchichte I, ©. 211 ff.
Hervorgehoben jet hier nur die Thatjache, dat Plato und Sokrates das Bor:
fommen eines yns avadaouos in Sparta geradezu in Abrede ftellen. Vgl.
Plato Geſetze 7366: . . . yms zei yoeWv dnoxonng zei vouns negı dewv
za Enizuvdivov Eoıv ESepvyev und in Übereinftimmung damit jagt Iſo—
frates Panath. 259: Ev de 7m Zneoriarwv (sc. moAsı) oudeis av Eı-
deissiev — molıreiag ustaßoknv ovdE yosov anoxonds oVde yns dva-
daouov. Mit Unrecht jpricht Meyer a. a. D. der letzteren Stelle die Be:
weiskraft ab, weil hier nur don der hiftorifchen Zeit, nicht von der Urzeit
die Rede jei. Dieje Unterfcheidung hat Sokrates jo wenig, wie Plato gemacht.
Vgl. Geſetze 684 de. Natürlich enthält die Bemerkung des Sokrates noch)
feinen unmittelbaren Beweis gegen die Gefchichtlichfeit der Lykurgiſchen Land-
teilung an jich, jondern nur dafür, daß Sokrates ebenfo, wie Plato, nichts
don ihr gewußt hat.
Pohlmann, Geh. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 6
89 Erſtes Buch. Hellas.
wurde, wie die Größe derjelben mit Rückſicht auf das Intereſſe der
Landesfultur und den Bedarf für den Unterhalt der Gutshörigen
und ihrer fFünftigen Herren genau reguliert ward, und wie dann
die Höfe nebft ihrem lebenden Inventar unter die Mitglieder der
Herrengemeinde zur Aufteilung kamen.
Freilich find wir mit der Feititellung diefer Thatſache auch
ichon an der Grenze unjeres Wiſſens angelangt. Wir vermögen
nicht zu erkennen, nach welchem Prinzip die urjprüngliche Vertei—
(ung der Landloſe erfolgte, insbejondere ob diefelbe von Anfang an
eine definitive war und jofort zur Entjtehung von privatem Grund-
eigentum führte oder ob das Land noch eine Zeit lang im Gejamt-
eigentum der eingewanderten Dorer geblieben ift.
Zunächſt ift ja wohl joviel Klar, daß wir eine wirklich geſchicht—
fiche Überlieferung über diefe Anfänge des Wirtfchaftslebens nicht be—
fißen. Die Verhältniffe, die hier in Frage kommen, find weit über
ein halbes Jahrtauſend älter als die erſten „Zeugen“, die man
für fie anzuführen vermag, als Plato, der in den „Gejeßen“ (III,
684 u. V, 736) von den Gründern der Dorerjtaaten Argos,
Meffenien und Lafonien zu erzählen weiß, daß fie die Aufteilung
des offupierten Landes an ihr Kriegsvolf auf dem Fuße einer ge—
wifjen Gleichheit (looıns zıs ris ovoies) vorgenonmen hätten.
Allerdings wird Plato eine derartige Tradition ſchon vorgefunden
haben, allein diejelbe beruhte gewiß nicht auf hiſtoriſchen Erinne-
rungen, jondern auf bloßer Spekulation, die ja wahrjcheinlich das
Nichtige getroffen hat, aber für die Entſcheidung der Frage nicht
mehr ins Gewicht fällt, wie etwa moderne Neflerionen über diefe
Dinge.)
Dunder hat diefe Lücke durch Heranziehung von Analogien
ausfüllen zu Können geglaubt, indem er auf die Vorgänge bei zahl-
reichen anderen Kolonifationen hinwies: auf die germanischen An—
!) Daher find auch von vornherein die Schlüffe hinfällig, welche 3. B.
Hildebrand aus diefem „Zeugnis“ auf die urjprüngliche Agrarverfaſſung der
Doriihen Staaten gezogen hat. (Die joziale Frage der Berteilung des
Grundeigentums im klaſſ. Altertum: Jahrb. f. Nationalöf. u. Stat. XII, ©. 8.)
I. 6. Die jpartanifch-fretifche Agrarverfaffung. 3
ſiedlungen im römischen Neiche, die Nieverlaffung der Normannen
in England, deren Teilungsfatafter bekanntlich noch erhalten ift,
auf die deutſche Koloniſation im Dften der Elbe, deren Teilungs-
maß für die offupierten Gemarfungen (große oder Eleine Hufe)
auf unferen Flurfarten ebenfalls noch erkennbar ift, auf das Ver—
fahren der Konquiftadoren, auf die Parzellen der Kolonifationen
Friedrichs II. und die Landverfäufe der vereinigten Staaten Nord—
amerifas.!) Duncker ift umſomehr der Anſicht, daß die dorijchen
Staatengründungen nach dieſer Analogie beurteilt werden müßten,
weil wir in der That nachweifen können, daß in gejchichtlicher Zeit
bei den Hellenen die Behandlung eroberter Gebiete eine ganz ähn—
lihe war, Anſiedlung und Landaufteilung mit einander Hand in
Hand gingen. Schon das verhältnismäßig alte Lied von den
Phäaken in der Odyſſee weiß ja zu erzählen, wie bei der Be—
gründung einer Niederlaffung neben Mauer- und Hausbau die Auf
teilung der Acer die erſte Handlung der Anſiedler war (VI, 16).?)
Die Argiver verjagen einen König, weil er ein den Arkadern ab-
genommenes Gebiet nicht aufgeteilt habe, und als fie (463) Mykenä
zerftört, teilen fie defjen Landgebiet auf.?) Um zu bezeichnen, daß
Arkadien feine Bevölkerung nicht gewechjelt habe, d. h. «3 nicht ex:
obert worden jei, jagt Strabo: „Die Arfader find dem Loſe nicht
verfallen” (ovx Eurrerriwxaoıw eis vov #Aroov).‘) Von derjelben
Praris der Aufteilung neubefiedelter Gebiete Durchs Los (zare-
xAnoovgeiv) zeugen die Bemerkungen Diodors (V, 15, 81, 83, 84)
über die Kolonifierung der Cykladen, von Tenedos, Lesbos, Sar-
dinien, die Kleruchien Athens u. |. w. Was Sparta jelbit betrifft,
jo kann man auf die befannte dem König Bolydor in den Mund
gelegte Äußerung binweifen, der auf die Frage, warum er gegen
en !) Die Hufen der Spartiaten. Abh. 3. griech. Geſch.
?) Vgl. den Spruch der Pythia über die Kolonifation Eyrenes (Herodot
IV, 159):
"05 dE xev Es Außvav noAvnoatov voregov EAyn
Tas avadaroueves, uEte ol noxe pauı usAnoeıv,
2), Sttabo VIII 8,219,,p. 377.
“) ib. VII, 1, 2, p. 333,
84 Erſtes Buch. Hellas.
die Brüder (die Mefjener) zu Felde ziehe, geantwortet haben fol:
„er nv @xAmowvov vis Xuoas Padilo.“N) Auch der Drafel-
ſpruch gehört hierher, den die Pythia den Spartanern in Beziehung
auf die beabfichtigte Eroberung Arkadiens gegeben haben joll und
in dem es heißt: ?)
Avoo 001 Teysnv T7000(200T0v 0041000 Faı
Kakov sediov oyoivp dıausroroaodeı.
Dunder hat vollkommen xecht, wenn er meint, daß dieſer
Spruch, wie jenes Königswort nur aus der Vorftellung heraus er-
funden fein fonnte, daß die Spartaner erobertes Land „nach der
Schnur zu vermeſſen“ und aufzuteilen pflegten.
Allein liegt in alledem ein wirklich zwingender Beweis dafür,
daß ſchon bei der erjten Anſiedlung des dorijchen Kriegsvolfes im
Gurotasthal mit dem Grund und Boden in jeder Hinficht ebenjo
verfahren worden ift, wie bei den jpäteren Gebietserweiterungen
Spartas? Mer die joziale Entwicklung Spartas nur aus einem
urfprünglichen Agrarkommunismus begreifen zu können glaubt, wird
mit Recht einwenden können, daß die angeführten Stolonijationen
und Groberungen jolchen Zeiten angehören, in denen das Inſtitut
des Privateigentums am Grund und Boden bereits vollfommen
entwicelt und daher der Übergang neugewonnenen Landes in das
Sondereigentum jelbjtverjtändlich war. Soweit ſich auch dieſe Praxis
der Landaufteilung zurüdführen läßt, die Zeiten der erſten dorifchen
Staatengründungen liegen doch noch um Jahrhunderte weiter zus
rüc,5) in deren Verlauf ſich die wirtichaftlichen Anſchauungen und
Bedürfniſſe wejentlich verändert haben Fönnen. Wenn Dunder
meint, daß Anfievlungen auf Grund von Croberungen ohne Land—
teilung für die Eroberer undenkbar find, jo ift das injoferne richtig,
1) Plutarch: Apophtegm. Lac. 285.
2?) Herodot I, 60.
3) Die obigen Bemerkungen Divdor3 über gleich alte Koloniengrüns
dungen fommen hier natürlich nicht in Betracht, da fie nicht ein Zeugnis
für die Praxis dev Vorzeit, jondern nur für die der gejchichtlichen Zeit ent-
halten,
I. 6. Die jpartanijch-kretifche Agrarverfaffung. 85
als es ſich um eine Auseinanderſetzung, eine Abteilung mit der
alten Landesbevölkerung handelte; auch eine neue Flurteilung zur
Regelung des landwirtſchaftlichen Betriebes auf der der letzteren
abgenommenen Gemarfung muß, wie wir ſehen, in Sparta als
Folge der Dffupation angenommen werden. Was aber die Zu-
teilung der Landloje an die einzelnen Familien des Herrenftandes
betrifft, jo bleibt die Art und Weiſe derjelben für uns doch noch
eine offene Frage. Wenn durch das zeraxAngovgeiv der Tpäteren
Landaufteilungen der Grund und Boden in den bleibenden Beſitz
der Einzelnen überging, jo braucht das feineswegs von Anfang an
jo gewejen zu jein. Es it vielmehr wohl denkbar, daß eine jo
eng verbundene kriegeriſche Genofjenichaft, wie die jpartanifche
Herrengemeinde, welche die Notwendigkeit jteter Kriegsbereitjchaft
ohnehin zu gewiſſen gemeinjchaftlichen Inſtitutionen zwang, auch
dem gemeinfam errungenen Landbeſitz gegenüber an dem genofjen-
Ichaftlichen Prinzip möglichjt lange fejtgehalten hat. Wenn in dieſen
dorischen Herrenftaaten eimerjeitS das Hauptmotiv des Eigentums—
bedürfnifjes, die perjönliche Arbeit und der daraus entipringende
Anſpruch auf ausschließlichen Genuß ihres Ertrages von vornherein
wegftel und andererſeits duch die unvermeidlichen Folgen des
Privateigentums, durch Entfejlelung des Ermwerbstriebes und wirt-
Ichaftliche Ungleichheit die Kebensbedingungen des Staates befonders
gefährdet werden mußten, jo erjcheint es immerhin möglich, daß in
Sparta der Prozeß der Eigentumsbildung ähnlich wie bei ven
Dorern Liparas durch eine längere Periode der genofjenschaftlichen
Drganifation des Agrarweſens hindurchgegangen ift, d. h. daß der
ganze Kompler von Helotenhufen urjprünglich als Gejamteigentum
der Gemeinde behandelt und demgemäß den Einzelmen nur ein zeit-
weiliges Nußungsreht an den x47001 eingeräumt wurde. Auch
dafür ließen fich, wie ſchon das Beiſpiel des dorifchen Lipara be
zeugt, leicht Analogien finden. Wenn Dunder für feine Annahme
auf die privatwirtjchaftlichen Formen hinweijt, in denen fich in der
Neuzeit die Beſiedlung des amerikaniſchen Weſtens vollzieht, jo
fönnte man mit demjelben Necht Für jene entgegengejegte Auffaſſung
86 Erſtes Buch. Hellas.
die älteſte Koloniſation Neuenglands anführen, die bekanntlich viel—
fach mit einem agrariſchen Kommunismus verbunden war. Doch
was iſt mit ſolchen problematischen Analogien gedient, ſolange
andere Anhaltspunkte fehlen?
Kun glaubt man ja allerdings eine Neihe von jolchen Ans
haltspunften zu bejißen, welche jeden Zweifel daran ausschließen
jollen, daß Spartas Agrarverfaſſung bis tief in die hiftorische Zeit
hinein auf dem Prinzip des Gejamteigentums beruhte, daß hier —
wie man meint — ver Staat allezeit ein Eigentumsrecht an den
aufgeteilten Ackerloſen behauptet und die leßteren gewiljermaßen als
„Staatslehen” betrachtet habe, die ex jeden Augenblick behufs einer
Keuverteilung wieder einziehen könne.!)
Für dieſe Anficht beruft man ſich vor allem darauf, daß als
Gejamtname für den in den unmittelbaren Befiß der jpartanijchen
Herrengemeinde übergegangenen Teil Lacedämons die Bezeichnung
„rodrızn gooa“ gebraucht wird,?) wodurch derjelbe deutlich als
ager publicus charafterifiert werde. Allein ift eine ſolche Er—
klärung notwendig oder auch nur wahrjcheinlich? ES Liegt abjolut
fein Grund zu der Annahme vor, daß man in Sparta das Ge-
meinveland nicht ebenjo genannt haben follte, wie überall fonft
nämlich To xowor, To dnuoorov. Und warum foll zrokırızı)
wor etwas anderes bedeuten, als das „Bürgerland” d. h. das
unter die Bürger aufgeteilte und dem für die Bollbürger geltenden
Nechte unterworfene Zand im Gegenjat zu dem Unterthanenboden
der Beriöfenbezirte?3) Was man im Hinblid auf die Verfchieden-
1) Bol. 3. B. Schömann Gr. U. 13, 225: „Das Eigentum verblieb
dem Staat, von dem die Befiger damit nur gleichjam belehnt waren." 226:
„Die Beſitzer (dev Kleren) waren in der That eigentlich nur Nubnieger der
Güter. Der Staat konnte das Recht nicht aufgeben, die durch Sorglofig:
feit (?) oder ſonſtige Berhältniffe eingeriffene Ungleichheit, jobald fie dem
Staatswohl Gefahr drohe, wieder aufzuheben.”
2) Polybius VI, 45 — ravras Tovs noAites ioov Eysır der ms
noAttızns Xwoas.
3) Diefe Auffaffung entjpricht in der That vollfommen dem Sprach:
I. 6. Die jpartanijch-fretiiche Agrarverfaffung. 87
beit des Perſonen- und Güterrechts von dem römischen Stalien ge-
jagt bat, daß es gegenüber dem Brovinzialboden als das eigent-
lihe Bürgerheim und Bürgerland gegolten babe,!) das trifft un-
gleich mehr für die zrodırızı) gwo« Lacedämons zu. Sie bildete
mit ihrer von Staatswegen geficherten Beltellung durch eine unfreie
Arbeiterichaft die Vorausſetzung der ganzen bürgerlichen Eriftenz
des Spartiatentums; fie war gewiß auch grundſätzlich der herrichen-
den Bürgerschaft vorbehalten, jo daß fein Unterthan ohne Eintritt
ins Bürgerrecht in der Gemarkung, wo die „alten Zandloje” (ei
aoyalaı wolocı,?) ai aoxhYev dievsrayusvaı woloaı)?) lagen,
Grundeigentum erwerben konnte. Andererſeits haben die gewohn—
heitsrechtlichen Normen, welche Erwerb und Veräußerung dieſer
Landloſe vegelten, beziehungsweife beichränften, naturgemäß auf die
Grundeigentumsverhältniffe des Beriöfenlandes feine Anwendung
gefunden.
Hat uns aber jo der Begriff der rodırızr, gwoe nicht auf
den der Allmende, jondern auf den Begriff eines ſpezifiſch bürger-
lichen, dem ftrengen bürgerlichen Recht unterworfenen Bopdeneigen-
tums im Unterjehied von einem außerhalb dieſes ftrengen Nechtes
jtehenden geführt, jo drängt ſich alsbald die weitere Frage auf,
enthielt nicht eben die agrarijche Gebundenheit diefes bürgerlichen
Nechtes Momente genug, welche die Annahme eines wahren Eigen-
tums an den Hufen des „Bürgerlandes“ dennoch ausichließen?
Kun iſt es ja allerdings richtig, daß auf einen Beſitz, der
gebrauch. Vgl. Staat der Lac. 11, 4, wo die nodırızai uogaı des jparta-
nischen Heeres offenbar den Periöfenabteilungen gegenübergeftellt werden.
1) Madvig: Verfaffung u. Verwaltung des röm. Staates II, 100.
2) Heraclid. Pol. 11, 7.
>) Plutarch inst. lac. 22. Die Bezeichnung erinnert an die der
Stammgüter der jüdjlavifchen Hausgemeinjchaften: djedovina oder starina
(da3 aus alter Zeit Stammende). Kraus a. a. O. 104.
4) Arift. Polit. IT, 6, 10. 1270a: wveiodeı ydo 7 nwAelv mv
Undoyovoav (ywoarv) Enroinoevr ov zahov. Heracl. Pol. I, 7 nwAsiv de
ynv Aaxedaruovioıs aioyoov veroworau' ns (dE) aoyeias uoigas ovde
E£sotıv.
88 Erſtes Buch. Hellas.
weder veräußerlich noch teilbar war und einer ftreng obligatorischen
Erbfolge unterlag, !) der uns geläufig gewordene Begriff des Privat-
eigentum3 nicht anwendbar ift. Sollten wir aber deswegen mit
der traditionellen Altertumsfunde die genannte Frage bejahen?
Gewiß nicht! Denn nur derjenige kann dem ſpartaniſchen Agrar—
befiß der hiftorifchen Zeit den Charakter des Eigentums abjprechen,
der bewußt oder unbewußt von der naturrechtlichen Doktrin aus:
geht, daß das Weſen des Eigentums in der Unbeſchränktheit der
Herrſchaft des Eigentümers befteht, und daß daher jede Beſchrän—
fung desjelben im Grunde einen Eingriff enthält, der der Idee des
Spnftituts widerspricht.) St aber dieſe abſtrakt-individualiſtiſche
Auffaflung des Eigentumsrechtes als einer abjoluten Verfügungs—
gewalt nicht jo ungeschichtlich wie möglich, eine aprioriftiiche Fiktion,
deren Verwirklichung von vornherein undenkbar it? Wenn es die.
Aufgabe des Nechtes ift, „die Lebensbedingungen der Gejellichaft in
der Form des Zwanges zu fichern“ 3) jo kann es auc fein Eigen:
!) Dieſes Erbfolgerecht beſchränkte urfprünglich ohne Zweifel auch das
nach Ariftoteles a. a. O. in Sparta ſchon früh anerfannte Recht, über die
Landloje durch Schenkung und Teftament zu verfügen. Auch die, ſei eg nun
echte oder Faljche, Tradition über das angebliche Gejeh des Ephors Epitadeus
datiert die völlige Freigebung dieſes Rechtes, welches offenbar ein verhäng-
nispolles Werkzeug geworden ift, die Unveräußerlichfeit des Grundbeſitzes
durch eine legale Fiktion zu umgehen, erſt vom Anfang des vierten Jahr:
hundert. (Plutarch Agis 5.)
2) Am Schärfiten hat dieſe individualiftiiche Auffaffung Schömann a. D.
©. 225 formuliert: „Auch Cigentümer ihrer Güter waren die Spartiaten nicht,
da ihnen durchaus fein Freies Dispofitionsrecht darüber zuftand. Das Eigen:
tum verblieb dem Staat.” Zu welchen Konjequenzen dieſe Auffaſſung führen
fan, zeigt vecht deutlich das Buch von Hall (The effects of civilisation on
the people in European states 1859 s. 37), welches auf den älteren eng:
tiichen Sozialismus und dadurch indireft auf die heutige jozialiftiiche Be—
wegung großen Einfluß geübt hat. Er vergleicht das jpartanifche Agrar:
Iyftem mit dem Kommunismus des Jejuitenftaates in Paraguay. —
Übrigens Findet jelbft ein Gelehrter, wie Schrader (a. O. ©. 420), in der
ſpartaniſchen Agrarverfaffung eine Verwandtſchaft mit der der ſlaviſchen
Dorfgemeinde!
3) Jhering: Der Zwed im Recht T, 495.
I. 6. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaſſung. 89
tumstecht geben, welches nicht durch die ftete Nückjicht auf die Ge—
famtheit beeinflußt und gebunden wäre; und diefe Rückſicht kann
unter Umftänden zu jehr weitgehenden Beichränfungen des Einzelnen
führen, ohne daß derjelbe aufhört, Eigentümer zu jein.!)
Auch die Eigentumsbefchränfungen des ſpartaniſchen Agrar:
rechtes haben feinen anderen Sinn als eben den, die Lebensbedin:
gungen der bejtehenden Staats: und Gejellihaftsordnung zu fichern.
Sn dieſem ariſtokratiſchen Ständeftaat beruhte die Wrachtitellung ver
herrſchenden Klafje ja durchaus auf dem Grundbeſitz. Die Grund-
vente war für alle Angehöriger derjelben die unentbehrliche Voraus—
jeßung für die Behauptung eines jtandesgemäßen, von jeder Erwerb3-
arbeit befreiten Lebens, ſowie für die Erfüllung ihrer ftaatlichen
Pflichten. Die herrjchende Klaſſe hatte daher das Lebhaftefte Inter—
efje daran, den zu ihr gehörigen Familien ihren Beſitz an liegenden .
Gütern möglichit zu fichern, was eben mur dadurch erreichbar war,
daß man dem Einzelnen in der freien Berfügung über das Grund-
eigentum weitgehende Schranken auferlegte und dasjelbe als ein
familienweife gejchlofjenes zu erhalten juchte. Deshalb finden ſich
in Hellas unter der Herrjchaft der alten ariftofratiichen Verfaſſungen
) „Die Gejchichte des Eigentums”, jagt Treitſche mit Recht, „zeigt
einen unabläffigen Wechjel. Denn das Gigentum tritt in Kraft nur durch
die Anerkennung von jeiten des Staates; und da der Staat durch dieje An—
erfennung Macht verleiht, jo legt er den Eigentümern auch Pflichten auf,
jeßt ihrem Willen Grenzen, welche nach den Lebensbedürfniffen der Gejamt-
heit fich beftändig verändern. Kein Volk hat jemals das Eigentum als ein
jo unumſchränktes Recht angejehen, wie es in den Theorien des Privatrechts
losgetrennt vom Staatsrecht erſcheint.“ (Der Socialismus und jeine Gönner.
Preuß. Ibb. 1882.) Bol. dazu die jchöne Ausführung von Gerber, Zur
Lehre vom deutjchen Familienfideikommiß (Jahrbb. dv. Ihering I, 60): „Das
Grundeigentum in Deutichland hat niemals als ein Recht von ſchrankenloſer
Freiheit gegolten; es ift von jeher durch einen Zuſatz fittlicher oder politis
ſcher Pflichten gebunden geweſen; es hatte nicht bloß den Charakter eines
ausjchließlichen Nechts, jondern och mehr den eines Amtes. &3 ift das eine
der wirkſamſten Grundideen des deutjchen Nechtes, die ſich durch den ganzen
Verlauf jeiner Entwicklung rechtfertigen läßt und bei der Konſtruktion des
heutigen Nechts nicht überjehen werden darf.“
90 Erſtes Buch. Hellas.
ganz allgemein genau dieſelben agrariichen Eigentumsbejchränfungen,
wie in Sparta.!) Sa wir haben hier eine Erſcheinung vor uns,
welche fich bei den meilten Völkern in gewiljen Stadien ihrer Ent-
wicklung zu wiederholen pflegt. Wo die gejellichaftliche Ordnung
noch überwiegend auf der Naturalwirtichaft beruht oder der Grund—
bejig vorzugsweije den Mittelpunkt des Lebens ausmacht, da ftellt
ſich überall von jelbit ein ſtarkes Bedürfnis ein, der Familie dies
Lebensgut zu erhalten, auf das fich allein eine jelbitändige Eriftenz
gründen ließ, deſſen Verluſt unter den Verhältniſſen eines unent-
wicelten vwoirtjchaftlichen und ftaatlichen Lebens notwenig zur Ab-
bängigfeit und zu einer Minderung der jozialen Schätzung ſowohl
wie des perjönlichen und politischen Nechtes führen mußte. Motive,
Die Übrigens in Hellas noch Durch ein jehr zwingendes religiöſes
Intereſſe verftärkt wurden, weil hier das Familiengut zugleich Sik
des Familienkultus und der Erbbegräbnifje war, deren Pflege zu
ven heiligjten Pflichten der Nachfommen gehörte. 2)
Diejes Zuſammenwirken ftändifcher, wirtchaftlicher, religiöſer
Motive muß in den älteren Zeiten der helleniſchen Welt ganz all-
gemein eine ähnliche Stabilität der Grundbeſitzverhältniſſe zur Folge
gehabt haben, wie wir fie in dem Mittelalter anderer Völker wieder:
finden.?) Auch dem Bewußtſein des althellenischen Bauernſtandes,
zumal da, wo er feine urſprüngliche Kraft und Haltung zu be
baupten vermochte, wird es kaum weniger als dem Edelmann
1) Vgl. unten. Mit Bezug auf Leufas wird die hier urjprünglic
ebenfalls beftehende Unveräußerlichkeit der Kleren von Ariftoteles ausdrücklich
als Hauptſtütze der ariftofratijchen Verfaffung, ihre Aufhebung als Urſache
der Demofratifierung bezeichnet (Il, 4, 4. 1266b).
2) Ajchines I, 96 wirft dem Timarch vor, daß ex fich nicht entblödet
habe, die Beſitztümer feiner Vorfahren zu verfaufen; und in der Rede des
aus über die Erbſchaft des Apollodor (31) wird ebenfalls eine folche Ver—
äußerung aufs ſchärfſte verurteilt. Vgl. Schmidt: Ethik der Griechen Il, 392.
3) Dal. z. B. Stobbe: Hdb. des deutfchen Privatrecht? V ©. 53: „Die
von den Vorfahren ererbten Grundftüce galten nach altem Necht in dem Sinn
als Familiengüter, daß fie von dem Eigentümer nicht ohne Genehmigung der
nächiten Erben, bejonders der Söhne, veräußert werden jollten.
I. 6. Die jpartanifch-fretiiche Agrarverfaſſung. 91
Ichimpflich (ou za4or!) erſchienen fein, den ererbten Hof ohne drin-
gende Urſache zu veräußern. In der That geht durch das ganze
ältere griechische Necht ein Zug hindurch, in welchem fich die an:
gedeuteten Tendenzen jehr bejtimmt ausprägen, wenn wir auch nicht
immer far zu erkennen vermögen, inwieweit wir es mit geſetzlich
firierten Verboten oder mit dem in alter Zeit ja nicht minder
ftarfen Zwang der Sitte zu thun haben. So bat fich ſelbſt in
dem Induſtrie- und Handelsjtaat Athen die Erinnerung an eine
Zeit lebendig erhalten, wo legtwillige Verfügungen über das Ber:
mögen noch nicht gejtattet waren, weil — um mit Blutarc) zu
reden!) — Haus und Gut des Verſtorbenen jeiner Familie ver:
bleiben jollte. Eine Auffaffung, mit der es völlig übereinftimmt,
wenn PBolybius dem von den zeitgenöfjiichen Böotiern mit der
Teftierfreibeit getriebenen Mißbrauch die Vererbung „zere yEvos“
gegenüberjtellt, wie fie früher auch in Böotien üblich geweſen.?)
Was ferner die ſpartaniſche Unveräußerlichkeit des ererbten
Grundbefiges, der „alten Stammgüter”, betrifft, jo iſt diejelbe nach
dem Zeugnis des Nriftoteles „vor Alters“ in vielen helleniſchen
Staaten geltendes Necht gewejen.?) Und noch lange, nachdem das
Prinzip jelbjt aufgegeben war, haben ſich mehr oder minder weit-
gehende Bechränfungen des VBeräußerungsrechtes erhalten. So war
3. B. in Lofri noch im vierten Jahrhundert der Verkauf von Liegen:
Ihaften zwar zugelaffen, aber nur im Falle offenfundiger Not.t)
Im alten Nechte von Elis war dem Einzelnen die hypothefarifche
!) Solon ce. 21 evdoxiumos dE zav 1a neoi diaINzWv vouw' TIQO-
TE0ov yao ovx Einv AM Ev TO yEvsı tod TEdVNK0Tos Eder Ta yonuare
#ZaL TOV 0LX0V AZETAUEVELV,
2?) XX,6,5 oi uev ycdo arszvor Tas ovolas ov ToIs xura yYEvos
Ertiysvoufvors TEAEUTWVTES aneheıntov, OTTEO nv &90s 700’ MUTOLS TO0TEDOV
ra. Dei Ariftoteles wird es bejonders als ein Bedürfnis oligarchticher
Staaten bezeichnet: „res zAmoovoules un zara doow eivaı, dad xard
yEvos“ xt. A.a. ©. VI, 7, 12. 1009a.
3) Ebd. VII, 2,5. 1319a nv de To doyatov Ev moAdais noAsoı vevo-
uodernusvov unde nwäieiv E£eivaı Tovs TEWroVS xAmgovs.
9 Ebd. II, 4, 4. 1266b.
9% Erſtes Bud. Hellas.
Belaftung feines Grundbeſitzes nur bis zu einer gewiſſen Quote des-
jelben geftattet, um wenigitens einen Teil vor der durch die Ver—
ſchuldung drohenden Gefahr des DVerluftes ficher zu ftellen.!) Für
andere Staaten find wenigitens im allgemeinen gejeßgeberiiche Maß—
regeln zur Konfervierung der bejtehenden Agrarverhältnifie, zur
„Erhaltung der alten Stammgüter” (rovs reiaiovs xAngovs dıa-
onLew)?) bezeugt, wobei man entweder an Bejchränfungen der
Teilbarfeit und Beräußerlichkeit, oder an ein ftaatlich geregeltes
Adoptionsweien denken kann in dem Sinne, wie es die jogenannten
vonor Ferro in Theben einführten.?)
Wo findet ſich nun aber bei alledem eine Spur davon, daß
man mit diefen Bejchränfungen des Liegenjchaftsverfehrs das Inſtitut
des agrarischen Privateigentums jelbjt negieren wollte? Sie zeigen
uns wohl ein zu Gunften der Familie und im Intereſſe der bejtehen-
den Geſellſchaftsordnung gebundenes Grundeigentum, jchließen aber
den Begriff des Eigentumes ſelbſt feineswegs aus. Wenn daher das
Bodenrecht in Sparta feine anderen Beſchränkungen des Indivi—
duums kennt, als jolche, denen wir auch ſonſt in dem älteren grie—
chiſchen Agrarrecht begegnen, jo fehlt uns jeder Anhaltspunkt für
die Annahme, daß das Necht des Individuums oder der Familie
am Grund und Boden in Sparta prinzipiell anders aufgefaßt
wurde, als ſonſt in Althellas.
Möglich ift es ja immerhin, daß der Sozialismus des
friegerischen Gejellfehaftstypus das Gemeinjchaftsprinzip in Sparta
auch auf dem Gebiete des Bodenbefigrechtes noch in ungleich
ftrengerer Form zur Geltung brachte, al3 anderwärts. Die Art
und Weife, wie das thatfächlich bei der beweglichen Habe geſchah,
macht es ſogar in hohem Grade wahrjcheinlih. ES ift jehr wohl
1) Ebd. VII, 2, 5. 1319a.
2) Ebd. II, 4, 4. 1266b.
3) Ebd. IT, 9, 7. 1274b. vouodErng d’ avrois EyEvero Bılodaos rregi
T div TIvov zei negi TS neidonories, ovs zakovcıv Exelvor vouovs
Herizoös' zwi ToüT’ Eotıv idiws ün’ Exeivov verouodernuevov, OnWs 0
cos uös owLeraı tov xAyowr.
I. 6. Die jpartanijchzfretiiche Agrarverfafjung. 95
denkbar, daß ein Staat, der jo wie der ſpartaniſche, die Perſon
des Bürgers gewiſſermaßen als jein Eigentum behandelte, auch den
Befib desſelben grundjäglich nicht anders auffaßte, ſich als ven
Eigentümer alles Grund und Bodens, den Bürger nur als In—
haber eines abgeleiteten Nutzungsrechtes betrachtete.
Wenn auf die Frage: Wellen ift das Haus? — Stauffer
dem Landvogt erwidert: Diejes Haus ijt meines Herrn und Kaiſers
und Eures und mein Lehen”, jo mochte der alte Spartaner, dem
fi) der Staat nicht einer Perſon verkörperte, der vielmehr für die
Abſtraktion des Staates, der rodıs, volles Verſtändnis hatte, ſehr
wohl auf die gleiche Frage antworten: „Mein Haus und Gut ift
des Staates.“ Und es mag fi der Begriff der Oberlehensherr-
lichkeit, des Obereigentums des Staates am Landgebiet urjprünglich
im Agrarrecht Spartas jcharf ausgeprägt haben.
Allein indem wir jolche Möglichkeiten erwägen, müſſen wir
uns andererjeit3 ſtets bewußt bleiben, daß wir es dabei eben nur
mi Möglichkeiten zu thun haben. ES ift eine, durch die uns zu
Gebote jtehenden thatjächlichen Anhaltspunkte nicht gevechtfertigte,
vorschnelle Behauptung, daß die Spartaniichen Kleren fich nach den
rechtlichen Beltimmungen, welche für fie gelten, als Staatslehen
ermerlen‘‘.t)
Kun glaubt man freilich für diefe Eigenjchaft der Spartiaten-
hufen als Staatslehen ein bejonderes Moment zu bejigen in den
Befugniſſen, welche dem jpartanischen Königtum in gewiſſen familien-
rechtlichen, auch für die Belitverhältniffe wichtigen Fragen zus
famen. Man hat nämlich aus der bekannten Angabe Herodots (VI,
57), nach welcher die Adoptionen in Sparta vor den Königen
jtattfanden,2) den Schluß gezogen, daß hier der Staat fich in der
Perſon des Königs als des Vertreters jeiner Anfprüche an die ein-
zelnen Kleren mit den Kleveninhabern bei fehlender exrbberechtigter
Kachkommenjchaft über eine anderweitige Erbfolge verjtändigt habe;
1) Wie Gilbert: Gr. Staatzaltert. I? 15 behauptet.
?) jv tıs Herov nalde noeodaı EIEAN, BuoıkEwv Evavriov TOlEEoHeL,
94 Erſtes Buch. Hellas.
was eben in der Weile gejchehen ſei, daß der Inhaber des Kleros
„für eine bejtimmte Adoption die richterliche Entſcheidung des
Königs provozierte”.!) Durch Ddiefe Fönigliche Gerichtbarfeit Toll
fi) der Staat als der Eigentümer des Landes zugleich die recht-
liche Möglichkeit gewahrt haben, auf die Verteilung des Grund
und Bodens fortwährend einen bejtimmenden Einfluß
auszuüben. Der König habe es 3. B. in der Hand gehabt,
Adoptionen zu verhindern, welche die dem Staatsinterejfe zuwider—
laufende Bereinigung mehrerer Kleren zu Einem Beſitztum herbei—
geführt hätte, dagegen ſolche Adoptionen zu erzwingen, welche un—
verforgten Söhnen Finderreicher Häufer zu einem Kleros verhalfen.?)
Ganz analog hat man ferner ven Umstand gedeutet, daß die richter-
liche Enticheidung über die Hand von Erbtöchtern, welche nicht
Ion von jeiten des Vaters verlobt waren, ebenfalls den Königen
zuftand.?) Auch dies habe feinen anderen Grund gehabt, als den,
das Eigentumstecht des Staates an dem xAnoos zu wahren und
dem Staate zugleich die Möglichkeit zu gewähren, zu Gunften ſolcher
Bürger, die fein eigenes Gut hatten, über die Hand und den Beſitz
der Erbtöchter zu verfügen.!)
Gegenüber diefer Auffaſſung ift zunächit zu bemerken, daß,
jelbit wenn in Sparta das Adoptions- und Exrbtöchterrecht in Jolcher
Weile einer ſyſtematiſchen ſozialpolitiſchen Thätigfeit des Staates
dienftbar gewejen wäre, daraus allein doch noch nicht folgen würde,
daß der Staat bier gleichzeitig als Eigentümer des Grund und
Bodens gehandelt habe. Ein Staat, der mit jeiner Zwangsgewalt
jo, wie der ſpartaniſche, auf allen Lebensgebieten die Willens: und
Nechtsiphäre des Individuums einſchränkte, konnte fich jeher wohl
1) Gilbert: Studien 3. altipart. Geſch. 169.
2) Schömann a. D. I, 225.
3) Herodot a. D.
4) Schömann a. O. Auch O. Müller: Dorer IT, 199 betrachtet e3 ala
höchit wahrjcheinlich, daß man zu Männern der Erbtöchter ftet3 jolche nahın,
welche für Jich feinen xAnoos hatten, alfo nachgeborene Söhne zunächſt inner:
halb des orxos, dann des Gejchlechtes u. ſ. w.
T. 6. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaffung. 95
zu einem derartigen Verfahren ohne weiteres berechtigt halten, auch
wenn der Grund und Boden Gegenjtand des Vrivateigentums war.
Der Begriff des Privateigentums konnte eben in einem ſolchen
Staate von vornherein und prinzipiell die Zul läſſigkeit derartiger
Beſchränkungen enthalten, die übrigens, wie die , „ouoı Ferixoi“
Thebens beweijen, nicht einmal jpeziftich Eh gewejen wären,
jondern auch anderwärts dem Privateigentum auferlegt wurden.
Eine weitere Frage ift nun aber die: Findet die genannte
Anſchauung über die Stellung des jpartanifchen Königtums zum
Güterrecht irgend eine Stüße in den Quellen? So, wie der einzige
Bericht über die fragliche Thätigfeit der Könige lautet, gewiß nicht!
Herodot jagt von den ſpartaniſchen Adoptionen weiter nichts, als
daß fie in Gegenwart des Königs vollzogen werden mußten. Ob
und inwieweit leßterer ein Beftätigungsrecht hatte, ob und in wel:
har Nichtung er überhaupt den Adoptionsakt beeinfluffen konnte,
ft uns völlig unbekannt. Noch ungünftiger liegt die Sache bei
der Frage des Erbtöchterrechts. Herodot a. D. bezeichnet die be-
treffende Thätigkeit des Königs als ein „Nechtiprechen” 1) (dixaCem)?);
jedenfalls ift es völlig willkürlich, das Wort dıxaler bier in deu
allgemeinen Bedeutung von entjcheiden überhaupt zu verjtehen.
Wenn es Sich aber bei der Verfügung über Hand und Beſitz von
Erbtöchtern nm eine vichterliche Enticheidung der in Betracht kom—
menden Nechtsfragen?) handelte, jo war damit die Berückhichtigung
nichtjuriftiicher, alfo auch jozialpolitiicher Erwägungen von vorn-
) Dies hat mit Recht außer Balfenaer jchon Grote betont. Hist. of
Greece (ed. 1834) II 415 gegen die Anficht Thirlwalls, daß der König hier
al3 Hort der Armut gehandelt habe („that he could interpose in opposition
to the wishes of individuals to relieve poverty‘).
?) dixalsıv dE uoVvovs ToVs Paoıkeas Too«de uovve' TaTEoOVYoV TE
NROFIEVoV TIEQL, Es Tov ixvestar Eyeiv, ıjv UNNEO 0 NaTNE avımv Eyyvyon,
zei ödov dnuooıEwv TrEgt.
3) Bgl. über dieje z. B. das verwandte dorifche Stadtrecht von Gortyn
nebjt den Bemerkungen von Zitelmann: Rhein. M. Bd. 40 Ergänzungsheft
©. 149 ff. und Simon: Zur zweiten Hälfte der Inschrift von Gortyn, Wiener
Studien 1887 ©. 4 ff.
96 Erſtes Buch. Hellas.
herein ausgejchloffen. Auch wäre es ja jehr jchwer verftändlich,
warum ein Staat, der Fraft feines Dbereigentums in leßter Inſtanz
über alle Exbgüter verfügen Fonnte, dieſe jeine Macht nur in jo
beſchränktem Umfange ausgeübt haben jollte. Müßte man nicht
vielmehr erwarten, daß die Zuftimmung des Königs zu der Ehe
einer jeden Erbtochter gefordert wurde, wie es z. B. im fränfijch-
normanniſchen Lehensrecht ganz folgerichtig geichehen ift? Wie fonnte
ein „Oberlehensherr”, der es zugleich als feine Aufgabe betrachtete,
dafür zu forgen, daß „kein Landlos erledigt blieb, und daß die.
nichtanſäſſigen Mitglieder der Striegergemeinde möglichjt durch Ver:
heiratung wit Erbtöchtern zu Grundbeſitz gelangten“,!) wie konnte
der ein abjolutes Entjeheidungsrecht des Vaters anerkennen, das
gewiß häufig genug eher zu Gunften eines vermögenden, als eines
armen Bewerbers ausfiel??) Die Beſchränkung des ftaatlichen Ein-
miſchungsrechts auf Erbtöchter, für welche eine väterliche Willens-
meinung nicht vorlag, mußte ja der Durchführung jenes Gedankens
von vorneherein eine empfindliche Grenze jegen.?) In der That hat
fi) denn auch von der angeblichen fozialpolitifchen Wirkſamkeit des
Ipartanifchen Königtumes jo wenig in den thatjächlichen Verhält—
nijjen eine Spur erhalten, daß jchon ein paar Generationen nach
der von Herodot gejchilverten Zeit zwei Fünftel des gefamten Grund
und Bodens Spartas in die Hände von Frauen übergegangen war,
I) Curtius: Gr. Geſch. I? 178.
2) Dieje Entjcheidung des Vaters konnte — wenigſtens im 4. Jahr—
hundert — jogar durch letztwillige Verfügung erfolgen. Ariſtoteles a. D.
II, 6, 11. 1270a.
») Auch Schömann, der dies ignoriert, wundert fich über „die Un—
vollfommenheit der auf die Erhaltung der Gleichheit abzweckenden Maßregeln“
3. B. darüber, daß „nicht der Anfall mehrerer Güter an Einen Befiter 5.2.
de3 Gutes eines kinderlos verftorbenen Bruders an einen jchon ſelbſt mit
einem Gut verjehenen Bruder verboten geweſen jei; ein Fall, der in Kriegs—
zeiten häufig vorkommen mußte.“ (S. 226.) Auffallen kann dergleichen aber
nur dem, der eben willkürlich ein agrarpolitifches Syitem in Sparta voraus:
jet, welches der Zeit, von der der ältefte Zeuge für die genannten Maß—
regeln, Herodot, jpricht, gewiß fremd war.
I. 6. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaifung. 97
während ein großer Teil der Bürger eines genügenden jelbjtändigen
Grundbeſitzes entbehrte.!)
Wir haben nach alledem feinen Anlaß, die von Herodot ge-
jehilderte Kompetenz der jpartanijchen Könige prinzipiell anders auf-
zufaffen, als diejenige, welche 3. B. der erſte athenifche Archont
oder die römischen PBontifices auf demjelben Gebiete des Familien—
rechtes bejaßen. Die Beteiligung der Magiftratur erklärt ſich aber
in Hellas jehr einfach aus den engen Beziehungen zwiſchen Safral-
vecht und Familienrecht, aus den von der Berfon des zu Adop—
tierenden geforderten Qualifikationen, 2) aus der öffentlichsvechtlichen
Bedeutung des Adoptionsaftes. Denn die Familie, welche ver
Adoptierte fortjeßt, hat eben auch eine öffentlich-vechtliche Bedeutung
und die politiiche Gewalt hat daher hier naturgemäß ein entjchei-
dendes Wort mitzureden, eine Thatjache, die ihren prägnanten Aus-
druck darin findet, daß 3. B. in Nom der in den Kuriatfomitien
unter dem Vorſitz des Pontifex maximus verjammelte populus
Romanus, in Athen der Demos, in Gortyn die Bolksverfammlung
an dem Alte teilnimmt. Dazu fam, was das Erbtöchterrecht be-
trifft, der allgemeine Nechtsgrundjaß, Mangels anerkannter Leibes-
erben over bei Lebzeiten Adoptierter Erbſchaften nur infolge eines
amtlichen Verfahrens antreten zu laſſen, welches allen Berechtigten
die Geltendmachung ihrer Anjprüche erlaubte („avssidızov
eSelvaı Eyeıy unte xAmoov une Erri#Anoov“).?)
Warum follten wir die amtliche Thätigkeit der Ipartanifchen
x
am
I) Ariſtoteles a. O. 11.
2) Cicero de domo 13, 34 quae causa cuique sit adoptionis, quae
ratio generum ac dignitatis, quae sacrorum, quaeri a pontificum collegio
solet. Vgl. Sfocrates (XIX, 13) über das äginetifche Recht, welches Tovs
Suolovs xeleveı naides Eeiororsioder und Demojthenes über das attijche
Necht, welches befahl Ex Wr xar« yEvos Eyyvraro EionoLeiv viov TO Ters-
Aevrnzoti. (adv. Leochar. p. 1093.) In Beziehung auf Gortyn ſ. Zittel-
mann a. O. ©. 162. Simon ©. 18. Auch das indiiche Recht fordert die
Adoption des nächjtitehenden Verwandten und die Benachrichtigung des Kö—
nigs. Dal, Leift: Altarifches jus gentium ©. 33 cf. 103.
>) Demojthenes XLVI 1135.
Pöhlmann, Gef. des antiten Kommunismus u. Sozialismus. I. 7
98 Erſtes Buch. Hellas.
Könige auf demfelben Gebiete nach anderen Gefichtspunkten be-
urteilen? Wir find dazu umfoweniger berechtigt, als gerade hier
ihr Eingreifen durch ihre ganze öffentliche Stellung jehr wohl
motiviert erſcheint. MS Vertreter der Gefamtheit gegenüber den
Landesgöttern im Beſitz der höchften priefterlichen Würde waren fie
ja zugleich die geborenen Hüter der mit dem Familienrecht zus
ſammenhängenden religiöfen Intereſſen und daher ſchon aus diejem
Grunde zur Mitwirkung bei jenen wichtigen familienvechtlichen
Akten berufen, ganz ebenfo wie die römischen Pontifices.
Dagegen ergeben ſich ſofort unlösbare Schwierigkeiten, wenn
man den Königen die Befugnis zu einer jozialiftiichen Regulierung
der Eigentumsverhältnifje zujchreibt, wenn man fie als die großen
Segenfpender für die Enterbten der Gejellichaft hinftellt. So wie
fich bis auf die Zeit Herodots die Verteilung der ftaatlichen Macht:
verhältnifje in Sparta geftaltet hatte, wäre nicht das Königtum bes
rufen gewejen, ein Eigentumsrecht der Gejamtheit und ihr Inter—
eſſe am vaterländifchen Boden zu vertreten, die „Oleichheit des
Befiges und der Nechte zu üÜberwachen”,!) jondern diejenige Bes
hörde, welche damals bereits die oberſte Magiltratur in Sparta
war, nämlich das Ephorat. Hätte die Gemeinde in der genannten
Weiſe Anfprüche auf die einzelnen Landloje geltend machen wollen,
jo hätte fie dies damals gewiß durch eben die Drgane gethan, in
welchen fich vecht eigentlich die fouveräne Gewalt des Volkes (d. h.
des herrjchenden Standes) und jein Wille verkörperte Bei dem
eiferfüchtigen Mißtrauen, mit dem die Herrenklaffe jeit Jahrhunder—
ten bemüht war, zu verhüten, daß aus dem Königtum eine „Tyran—
nis” werde, wäre es geradezu unbegreiflich gewejen, wenn jte dem
Königtum eine derartige disfretionäre Gewalt auf einem der wich-
tigjten Zebensgebiete gelaffen hätte, während fie ſich doch im Gegen—
ja zum Königtum in dem Ephorat längit ein Drgan gejchaffen
- hatte, welches al3 Auffichtsbehörde über den gejamten ftaatlichen
„Kosmos“, als oberjter „Wächter“ über die Wohlfahrt und die
!) Curtius III? 120.
I. 6. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaſſung. 99
Intereſſen des Staates alle Vorausſetzungen für die Ausübung einer
ſolchen Gewalt in ſich vereinigte.) In der That erſcheint denn
auch die Entſcheidung der für die Geſtaltung der Beſitzverhältniſſe, für
die Entwicklung ſozialer Ungleichheit überaus wichtigen Frage, welche
um die Wende des fünften und vierten Jahrhunderts an Sparta
herantrat, der Frage nach der geſetzlichen Zulaſſung des Gold- und
Silbergeldes, ganz weſentlich mit als Sache des Ephorats.?) Was
vollends das Verfügungsrecht über Gemeindeeigentum betrifft, jo iſt
in den uns befannten Fällen, d. h. bei der Freilafjung von Heloten
und der Vergebung von Gemeindeland überhaupt Fein einzelnes
Negierungsorgan Fompetent gewejen, jondern die jouveräne Ge:
meinde jelbit.3)
Angefichts diefer Thatfachen können wir in der modernen
Auffaſſung des ſpartaniſchen Königtums als eines oberſten Regu—
lators des Wirtjchaftslebens nichts weiter exrbliden, al3 eine Fort
ſetzung der gleich zu bejprechenden antiken Legendenbildung über
den jozialen Mufterftaat Sparta. Auch das bat jene Auffaſſung
mit der antiken Legende gemein, daß fie diejelben Züge, welche das
von der ſozialen Theorie gejchaffene Bild eines idealen Staates
zeigt, in das Leben Altipartas hineinträgt. Denn bewußt over
unbewußt bat bier ganz unverkennbar der platonijche Geſetzesſtaat
vorgejchwebt, ein Staat, der in der That auf dem PBrinzipe be—
ruht, daß jeder feiner Bürger, der am vaterländiichen Boden einen
Anteil erhalten, „venjelben als etwas der Gejamtheit Gehöriges zu
betrachten habe“.t) Ebenda finden wir auch zur Verwirklichung
dieſes Gedanfens eine mächtige Zentralgewalt (zoxn weylorn zei
1) Man vergegenwärtige ſich nur, wie jehr infolge der fortwährenden,
die Leitung der Regierung durch die Krone geradezu unmöglich machenden
Feindichaft zwiſchen den beiden Dynaftien, durch häufige Verurteilung von
Königen und durch dormundjchaftliche Regierungen ſchon im fünften Jahr—
hundert die Autorität des Königtums gejhwächt war!
2) Plutarch: Lyſander 17.
3) Bol. Niefe: Zur Verfaſſungsgeſchichte Lacedämons. Hiſt. Ztichr.
1889 ©. 65.
9 ©. die Darftellung des Gejegesftaates.
100 Erſtes Buch. Hellas.
tuuorern), welde „für alle darauf zu ſinnen“ hat, daß der Boden-
anteil des Einzelnen, die Scholle, „Die jeine Heimat ift und die er
mehr in Ehren zu balten bat, als Kinder ihre Mutter”, nicht ver:
ringert werde, und daß womöglich jedem Bürger ein ſolcher Anteil
zufalle. Ebenjo wird unter den Maknahmen (unxernuere) diejes
Sozialismus ausdrüdlich die Einweihung nachgeborener Söhne in
jolde Hufen ausgejprochen, deren Inhaber Feine männliche Nach:
fommenjchaft haben. — Zugegeben, daß die Snititutionen Spartas
bedeutiame Analogen zu denen des Gejegesitaates bieten, — wie fie
denn Plato ohne Zweifel mit als Vorbild gedient haben, — um
jo jorgfamer werden wir und davor hüten müſſen, die Unter
jchiede zu verwilchen, die doch auch hier zwijchen Ideal und Wirk
lichkeit beſtehen.) Für uns kann es jedenfalls feinem Zweifel
unterliegen, daß auch auf dem agrarpolitichen Gebiete die Entwid-
[ung des geihichtlihen Sparta eine vielfach andere war als die
des Sozialjtaates der Legende. Es it ja allerdings in höchſtem
Grade wahrſcheinlich, daß die erſte Landaufteilung des doriſchen
Kriegsvolfes im Sinne weitgehenditer Gleichheit erfolgt war. Es
entſprach das nur dem gegenjeitigen Fameradichaftlichen Verhältnis,
wie e3 zwiſchen den Genofjen eines erobernden Friegeriihen Ver—
bandes von vornherein bejteht. Jeder Kamerad hatte hier ein
wohlerworbenes Recht auf die Nutzung des gemeinjam eroberten
Landes und dieſes Nußungsreht war naturgemäß ein ebenjo gleich—
artiges, wie die Stellung der Durhichnittsfreien im Heeresverband;
höchſtens daß, wie den Heerfünigen, jo den militärifchen Befehls-
babern überhaupt ein der höheren Leiftung und Ehre entiprechender
ı) Nicht ohne Einfluß auf die angedeutete moderne Anſchauungsweiſe
ſcheint auch die jozialiftiiche Theorie des Phaleas gewejen zu jein, der eine
„Ausgleihung” des Beſitzes am leichtejten dadurch ermöglichen zu können
glaubte, dat „die Reichen Mitgift gäben, aber nicht nähmen, und die Armen
umgefehrt nähmen, aber nicht gäben.” Ariftot. Pol. II, 4, 2. 1266b. Wie
fönnte man jonit ohne weiteres die Angabe als geſchichtlich verbürgt hin-
nehmen, daß es in Sparta überhaupt feine Mitgiften gab? ©. Mutard)
Apophth. Zac. p. 149. Alian V. H. VI, 6. Juſtin II, 3.
I. 6. Die jpartanijch-fretiiche Agrarverfafiung. 101
größerer Anteil an der Landbeute eingeräumt ward: Ein Vorzug,
der das Prinzip felbit in feiner Weiſe durchbrach. Ob dann aber
gleichzeitig eine Agrarverfaflung ins Leben trat, welche auf eine
dauernde Erhaltung dieſer uriprünglichen Gleichheit berechnet war
und ein PBrivateigentum an den aufgeteilten Landhufen nicht an—
erfannte? Wir willen es nit! Soviel ift jedoch gewiß, daß,
wenn in Sparta je eine ſolche Verfaſſung bejtand, fie verhältnis-
mäßig frühe außer Übung gefommen ift. Das ältefte Zeugnis der
jpartanifchen Agrargeihichte, die dem fiebenten Jahrhundert ange
hörende politiiche Dichtung des Tyrtäus läßt uns bereit einen
Blick in Verhältniffe thun, in denen das Jndividualeigentum am
Grund und Boden längjt beitanden haben muß, von einer prin=
zipiellen Gütergleichheit, wie fie Ephorus und Bolybius jelbit
noch für eine viel jpätere Zeit annehmen, feine Rede mehr fein
fonnte.
Es handelt jih um den aus Tyrtäus geichöpften Bericht des
Ariftoteles über die ſchwere innere Krifis (orecıs), welche der
ſpartaniſche Staat in der harten Zeit des zweiten meſſeniſchen
Krieges durchzumachen hatte. Zum erſten Male in der griehiichen
Geihichte tritt uns hier die Forderung einer Neuaufteilung des
Grund und Bodens entgegen, welche damals aus der Mitte der
durch den Krieg herabgefommenen Bürger (vielleicht der in Meſſe—
nien mit Kleren Begüterten und nun brotlos Gewordenen?) erhoben
wurde. Dieje Forderung muß nad) dem „von Empörungen in
Ariftofratien“ handelnden Bericht ſchon für jene Zeit als eine ebenſo
revolutionäre gegolten haben, wie jpäter, weshalb fie denn auch
von Tyrtäus unter Berufung auf das Prinzip der „Wohlgeſetzlich—
feit“, der svvoufe!) befümpft wurde. Sie mag vielleiht auf der
1) Politik VIII, 5, 12. 1307a. &» de reis gosrozoarieıs yivorza
örev ν anoowcı Alev ol d’ zunogooiw. zei
udhore Ev Tois mol£uoıs Toto yiveraı“ ovyeßn de zei ToVto Ev Auze-
‚deiuorı Uno Tov Meoonviaxzov nolsuov‘ djkov dE zei Tovto &x Tıjs
Tvgreiov noLmoews 15 zekovuerns Evvouias' SlıBousvor yeo Tives die
Tov nolsuov 7flovv Evadaotor noLeiv ınv ywoar xrl.
102 Erſtes Buch. Hellas.
anderen Seite mit dem Hinweis darauf begründet worden ſein, daß
der Einzelne ja fein Aderland urjprünglich von der Gejfamtheit be-
fiße, und daß daher die Gefamtheit allezeit berechtigt ſei, eine Neu:
regelung der Befisverhältnifje vorzunehmen. Allein wenn man
damals die Verwirklichung dieſes Gedankens eben nur noch von
der Gewalt erwarten durfte, jo beweift das zur Genüge, daß ein
jo weit gehender Eingriff der Staatsgewalt in die bejtehende Grund:
befißverteilung der Nechtsordnung und dem vorherrjchenden Rechts—
bewußtjein jener Zeit nicht mehr entiprad).
Nie tief muß hier das Inſtitut des privaten Grundeigen-
tums eingewurzelt gewejen jein, wenn der wenig jüngere Alcäus
einem Spartaner den Ausſpruch in den Mund legen Eonnte, daß
„die Habe den Mann macht“ und „fein Armer edel jein” Fünne!!)
Eine Äußerung, die zugleich ein unverkennbares Symptom dafür
it, daß ſchon im fiebenten Jahrhundert die natürliche Konjequenz
des PVrivateigentums, die wirtichaftliche Ungleichheit auch in Sparta
ſich mehr oder minder fühlbar gemacht hat. Wie hätte man auch)
damals von einer Anderung der beftehenden Grumdbefigverteihung
eine Berforgung der offenbar zahlreichen bejiglofen Glemente er:
warten können, wenn nicht ein beträchtlicher Teil der Spartaner
ſchon weit mehr als das unentbehrliche Normalmaß an Grund
und Boden befeffen hätte? |
Dieſe Ungleichheit reflektiert ich auch in einer bedeutſamen
wirtichaftlichen TIhatfache. In der Odyſſee, die ung ja bereits die
Zuftände des doriſchen Sparta jehildert,?) wird Lacedämon wegen
jeiner Vorzüge für die Roſſezucht gepriejen:
) Alcäus fr. 41:
Rs yao Idynor "Agıorodauov Yaıo’ ovx anahauvov Ev Indorg Aoyorv
einmv' yonuat avno‘ nevıyoos Ö’ ovdeis nreier’ E09Aos ovdE Tiuvos.
zoHjuere iſt hier, um die Wende des 7. u. 6. Jahrh. noch nicht Geldfapital.
Ob übrigens Alcäus vecht hat oder Pindar Iſthm. 2, 15, der den Ausspruch
einem Argiver zufchreibt, ift gleichgültig. Entjcheidend ift, daß man dergleichen —
überhaupt von einem Spartaner glauben konnte.
?) Vgl. Niefe: Die Entwicklung der homeriſchen Poeſie ©. 213 f.
I. 6. Die jpartanifch-fretiiche Agrarverfafjung. 103
Das „weite Blachfeld” des Eurotas,
„wo in Maſſe der Lotos gedeiht, wo nährender Galgant
Wo auch Weizen und Spelt und weißaufbuſchende Gerfte.“ 1)
Hier muß alſo die Roſſezucht jeit alter Zeit von Einzelnen
wenigitens mit Eifer betrieben worden fein, und wenn es auch eine
jtarf übertriebene Behauptung it, daß es feit den Perſernkriegen
die Spartaner darin allen übrigen Hellenen zuvorgethan hätten,?)
jo jind uns doch jedenfalls mehrere Spartaner al3 Sieger in den
olympischen Wettrennen bereits für das fünfte Jahrhundert be
zeugt.3) Eine Thatjache, die einen ficheren Schluß auf die Ge
ftaltung der Befitverhältniffe zuläßt, da im Altertum von jeher die
inzroroogpie al3 ein Zeichen hervorragenden Neichtums und fort-
gejchrittener wirtichaftlicher Ungleichheit gegolten bat.t)
Übrigens treten uns in Sparta in diefem Jahrhundert auch
ſonſt die Beſitzesgegenſätze, der Unterſchied von „ob zroAAor“ und
„oi va us zerunwevor“ jehr deutlich entgegen;) eine Differen—
zierung der Gejellichaft, die dann im vierten Jahrhundert mit
tapiver Schnelligkeit zu dem Gegenfag von Mammonismus und
Pauperismus entartet ift.®)
1) IV, 600 ff. Wenn Menelaos ebd. v. 99 von der „roffenährenden
Argos", ”Aoyos innöporos, ſpricht, jo verjteht er unter diefem vieldentigen
Begriff jein eigenes Land Lacedämon mit, wie auch v. 174 ff. beweiſt.
?) Nach Pauſanias VI, 2,1. riednoev navrwv gikorıuorara Eidn-
vwv 71005 InnWwv TOopEsS.
>) Bgl. ebd.
4) Über den großen Reichtum des Spartaners Lichas, der 420 in
Olympia mit dem Wagen fiegte, vgl. Thuf. V. 20, dazu Xen. Mem. I, 2, 61.
Plutarch Cimon 10.
DB ——
6) Ariſtoteles a. ©. II, 6, 11. 1270a.
104 Erſtes Buch. Hellas.
Siebenter Abjchnitt.
Der Sozialſtaat der Legende und das jozinliftiihe Naturrecht.
Die Annahme eines agrarischen Kommunismus als Aus:
gangspunktes der ganzen jozialen Entwicklung Spartas würde eine
wertvolle Stüße gewinnen, wenn wirklich, wie man gemeint hat,
in Sparta eine „alte” Tradition bejtand, daß die Grundeigentums-
ordnung hier prinzipiell auf Gütergleichheit angelegt geweſen jei,
daß von Nechtswegen jeder Spartiate einen Anlpruch auf gleichen
Anteil an Grund und Boden der Gejamtheit, am „Bürgerland“
bejefjen babe. „Ts mv Aaxsdaruovioy rolıreias — jagt
Polybius an einer vielbeiprochenen Stelle (VI, 45) — !dıov eivai
gaoı roWrov dv TE regi Tas Eyyalovg xınosıs, @v oVdevi
usreorı 1rAsiov, @AAR mavras vous molitag loov Eye del
ung mokırızns Xwoac.
Läge bier eine wirkliche und unverfälichte hiſtoriſche Erinne—
rung vor, jo wäre in der That die Annahme einer ftrengen agra=
tischen Gemeinschaft für die älteren Zeiten Spartas unabweisbar.
Um das Prinzip der Gleichheit des Grundeigentums zu verwirk
lichen, genügte ja nicht bloß eine einmalige gleiche Verteilung der
Hufen, wie fie Plato bei der Gründung des Staates — wahr:
Icheinlich mit Necht — annimmt, jondern es hätte dieſe Teilung
periodisch wiederholt werden müſſen, um die durch die Veränder—
lichkeit der Bürgerzahl, die Zufälligfeiten der Vererbung und andere
Momente entjtandenen Ungleichheiten immer wieder zu bejeitigen,
den Anfpruch eines jeden auf gleichen Anteil zur Wahrheit zu
machen: ein Verfahren, bei dem von einem Sondereigentum am
Grund und Boden nicht die Nede jein kann.
Freilich tritt auch hier wieder die Unficherheit unferer Er-
fenntnis, die Schwierigkeit, zu einem entjcheidenden pofitiven Er—
gebnis zu kommen, Klar zu Tage. In der Erörterung des Polybius
über die ſpartaniſch-kretiſche Verfaſſung, in der fich der obige Sat
findet, werden nur ſolche Quellen genannt, die im Verhältnis zu
ven hier in Frage kommenden Zeiten jehr iungen Urjprunges find,
I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das fozialiftiiche Naturreht. 105
Plato, Kenophon, Ephorus und Kallifthenes; und was insbejondere
die Bemerkung über die prinzipielle Gütergleichheit Spartas betrifft,
jo wird gerade fie überaus problematisch dadurch, daß als ihr Ge—
währsmann ohne Zweifel Ephorus zu betrachten iſt,) deſſen Un—
zuverläffigkeit und Unflarheit über die ältere ſpartaniſche Gefchichte,
deſſen faljcher PBragmatismus und künſtliche Zurechtmahung des
gefchichtlichen Stoffes von vornherein Mißtrauen gegen feine An—
gaben erweden.
Dazu kommt, daß es fih hier um eine Frage von durchaus
aktuellem Intereſſe handelte, welche ſowohl die Theorie, wie Die
praktische Volitif der Zeit auf das lebhaftejte bejchäftigte. Ein Mo—
ment, welches von jeher VBeranlaffung gegeben bat, die Gefchichte
in den Dienft von Zeitanfchauungen zu ftellen. — Die Litteratur,
mit der wir es zu thun haben, ijt entjtanden unter den Einwir—
fungen einer Epoche, in der fich der jpartanische Staat in einer
tiefgehenden Bewegung und Umwandlung befand. Die um die
Wende des fünften und vierten Jahrhunderts errungene Großmacht-
jtellung hatte die Traditionen des altipartanifchen Staats und
Geſellſchaftslebens auf das jtärkite erjchüttert. Dex demoralifierende
Einfluß, den der in Sparta zufammenftrömende Neichtum auf die
Gefinnung der Bürgerſchaft ausübte, äußerte ſich in überhand-
nehmender Üppigfeit und Habjucht, und in derſelben Nichtung
wirkte die ohnehin längst fühlbare, aber durch die Verminderung
der Bürgerzahl in der langen Kriegszeit noch gejteigerte Tendenz
zunehmender Vermögensungleichheit. Während das Sparta des
vierten Jahrhunderts als die reichte Stadt von Hellas gepriejen
wird,?) erſcheint andererjeitS die PVroletarifierung breiter Volks—
ſchichten ſoweit fortgefchritten, daß für fie die Erfüllung der ftaat-
!) Dal. Wachsmuth Gött. gel. Anz. (1870) ©. 1811, deſſen Ausfüh—
rung don Onden (Staat3lehre des Ariftoteles IL, 357) vergeblich angefochten
worden iſt. Das entjcheidende Bemweismoment für die Abhängigkeit von
Ephorus hebt treffend E. Mayer hervor: Lyfurgos von Sparta. — For:
ſchungen 3. alten Gejch. I, 219 f.
2) Plato Alkibiades I p. 122e: zei yovoo zei aoyvow oi Exel
nAovoıwraroi eioı twv EAAnvov. cf. Hippias major p. 283d.
106 Erſtes Buch. Hellas.
lichen Leiftungen zur Unmöglichkeit geworden war und innerhalb
der Bürgerſchaft ſelbſt eine recht: und landloſe Mafje der Kleinen
Zahl derer gegenüberftand, in deren Händen fi) der Grund und
Boden mehr und mehr Fonzentrierte.') Dazu fam der Geift ge-
wiſſenloſer Gewaltjamfeit und kühner, vor dem Umsturz der Ver:
faſſung ſelbſt nicht zurückſcheuender Neuerungsfucht, wie wir fie be
jonders in Lyſanders Perſon verkörpert jehen, Erjeheinungen, deren
zerjegender Einfluß um jo gefährlicher war, als gleichzeitig die
fortdauernde Gährung in der Hörigen- und Unterthanenbevölferung,
wie in den unteren Schichten der Bürgerjchaft ſelbſt unausgejeßt
an der Unterwühlung des Staatsgebäudes arbeitete. Gegenüber
diefen Berhältniffen war eine Reaktion unausbleiblid. Sie mußten
nicht bloß bei denen, die unmittelbar unter ihnen litten, ſondern
bei allen patriotifch Denfenden das Verlangen nach Neformen wach:
rufen und dieſes Neformbedürfnis juchte denn — jo wie die Dinge
hier lagen — naturgemäß jeine Befriedigung in dem Hinweis auf
die Ordnungen und LZebensnormen der guten alten Zeit, auf denen
die innere Stärke Spartas beruht hatte.?) ES ift gewiß nicht zu—
fällig, daß ein fpartanifcher König eben diejer Zeit, Pauſanias,
deſſen Stellung ſich ſchon durch feine Gegnerjchaft gegen Lyfander
und das oligarchiſche Ephorat Fennzeichnet, eine Schrift über Lykurg
gejchrieben hat, die nach E. Meyers ſcharfſinniger Vermutung nur
eine Berherrlichung der „lykurgiſchen“ Inſtitutionen enthalten haben
fann,3) und die fir uns noch dadurch ein befonderes Intereſſe er—
hält, daß fie von Ephorus als Autorität für jpartanische Dinge
benüßt worden ift. In diefer Schrift tauchen auch zuerft jene an-
geblich von Delphi ausgegangenen Drafel auf,t) durch welche man
1) Ariftoteles Pol. II, 6, 10. 12704.
?) Es entjpricht genau diefer Zeitftimmung, wenn es bei Ephorus—
Divdor XIV, 7 heißt: "Or oi Aazedaruorıoı Tois Tod Avzovoyov Yomodusro
vouols &2 Taneiıvov dvvaroraroı EyEvovto tov EAlnvwv xrA. Merd de raura
&x Tov zer’ oAlyov zarahvovres ExaoTov TOv vouluwv ..., aneßahov Tmv
nysuoviev. cf. Plutarch Lyfurg 29. 30.
®) A.a.D. ©. 233 ff.
4) nach Strabo VII, 5,5. Dal. dazu E. Meyer ebd.
I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das fozialiftiiche Naturreht. 107
die grumdlegenden Normen des altipartanichen Staatslebens in
idealem Gewande radifizierte und als göttliche Offenbarung (vouoı
zvF$0xonoror) hinzuftellen verſuchte,) um ihnen eine für alle Zus
funft verbindliche Autorität zu vindizieren. Konnte es ausbleiben,
daß dieſe Neftaurationstendenzen auf die Vorftellungen über das
Weſen der urjprünglichen Staats: und Gejellichaftsordnung Spartas
umgeftaltend einwirkten, zu einer mehr oder minder weit gehenden
Idealiſierung der Vergangenheit führten?
Bewußt oder unbewußt mußten fich die Ideale und Wünfche
der Gegenwart mit den traditionellen Anſchauungen über die Ber-
gangenheit verſchmelzen, in der diefe Wünſche ihre Rechtfertigung
juchten, wie zu allen Zeiten, in denen die Gegner des Beſtehenden
ſich bemühen, die Gewalt der gejchichtlichen Wirklichkeit durch die
Macht der Legende zu brechen.
Und was war andererjeitS natürlicher, als daß die Legenden—
bildung ſich mit befonderer Intenſität derjenigen Erſcheinungen de3
Volkslebens bemächtigte, welche im Wordergrunde des öffentlichen
Intereſſes ftanden? Das war aber eben die joziale Frage, die ſchon
im Anfang des vierten Jahrhunderts durch die Verſchwörung des
Kinadon in ihrer ganzen Bedeutung zu Tage trat. In der That
fönnen wir gerade auf diefem Gebiete das Eindringen tendenziöfer
Erfindungen deutlich verfolgen. Das angeblich Schon dem Lyfurg
erteilte Drafel,2) welches fich gegen das Geldfapital wendet (@ gı4o-
xonuaria Irraorav Ehoı, @Alo Ö2 ovder), iſt gewiß das Produkt
einer recht ſpäten Zeit und vielleicht nicht älter als die gejchilderte
Reaktion gegen die Ausfchreitungen des Kapitalismus und die Über-
flutung Spartas mit Edelmetallen jeit dem Ende des 5. Jahr:
hunderts.3) Ebenſo ift es eine Entftellung der gejchichtlichen Wahr:
) Bol. E. Meyer ebd. ©. 236 ff.
?) Nach Divdor VII, 14,5 (gewiß ebenfalls nach Ephorus).
3) Bol. übrigens auch die höchſt lehrreiche Art und Weife, wie die
ſpartaniſchen Sozialvevolutionäre de3 3. Jahrhunderts ihre Ideen mit Orakel
jprüchen legitimierten. Plut. Agis 9: "Eypaoav ovv zei Te napa ravıns
108 Erſtes Buch. Hellas.
heit, wenn fih damals mit den Anſchauungen über die gute alte
Zeit die Anficht verband, daß die bewegliche Habe früher bei den
Spartanern gar feine Rolle gejpielt habe,!) oder wenn wir in der
Litteratur über die Nevolutionzzeit des dritten Jahrhunderts?) leſen,
daß die angeblih von Lykurg geichaffene Gleichheit des Grund:
befiges, ja die Zahl der von ihm mit einem Gut ausgeftatteten
Familien ſich bis auf das befannte Gejeß des Ephors Epitadeus
unverändert erhalten habe. Borftellungen, deren volfswirtichaftliche
Adjurdität von ſelbſt einleuchtet, auch wenn ſich die Gegenfäße von
arm umd reich in Sparta nicht ſoweit zurück verfolgen ließen, wie
es thatlächlich der Fall if. Liegt da nicht von vorneherein der
Verdacht nahe, daß auch die Angabe über die prinzipielle Gleichheit
des Grundeigentum, die mit jenen nachweislich ungejchichtlichen
Vorftellungen in engem Zufammenbang jteht,?) der jozialpolitifchen
Nomantik einer ſpäteren Zeit ihren Urſprung verdankt und ebenfo
Tendenzerfindung ift, wie die Drafel der Göttin Paſiphae, welche
den Zeitgenofjen des Königs Agis die Wiederhertellung jener ge:
priejenen Gleichheit befahlen? t)
In einer von den Gegenjäben des Mammonismus und
Pauperismus zerrütteten Gejellfchaft ift das Auftauchen kommuni—
ftiicher Tendenzen eine fo jelbftverjtändliche Erjcheinung, daß man
ſich wundern müßte, wenn dieſes Schiboleth jozialer Unzufriedenheit
in dem damaligen Sparta gefehlt hätte.
Übrigens ift es feineswegs bloß Sparta felbft, wo wir die
Entftehung und Ausbildung der Legende zu juchen haben. Wir
jehen vielmehr die Litteratur des vierten Jahrhunderts überhaupt
(sc. Haoıpdas) uavrsia ngoorarreıv Tols Zuagtidteıs ioovg yevE-
oHaL navras za# Ov 6 Avzovoyos EE doyns Erafe vouor.
') Polyb. VI, 45 (offenbar nach Ephorus) cf das ebenfall3 auf Epho—
rus zurückgehende Exzerpt bet Divdor VII, 14. 7.
?) Pluturch: Agis c. 5, der hier gewiß die Anſchauung feiner Quellen
tpiedergibt.
?) Vgl. die gen. Stelle des Polybius VI, 45.
4) Bgl. oben ©. 107 Arm. 3.
I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 109
von der Tendenz beherrſcht, die fommuniftiichen und ſozialiſtiſchen
Soeale der Zeit an das „Iyfurgiiche” Sparta anzufnüpfen, das
Bild desjelben nach diefen Idealen zu geftalten.
Es iſt daher für eine allfeitige und abjchließende Beurteilung
der Frage unerläßlich, daß wir uns die jozialgejchichtlichen Kon-
jtruftionen dieſer Litteratur im allgemeinen, wie in ihrer befonderen
Anwendung auf Sparta vergegenwärtigen. Auch find ja dieje Kon-
jtruftionen, jo unergiebig ſie für die Gejchichte des praktiſchen
Kommunismus find, um jo beveutjamer für die Gejchichte der
kommuniſtiſchen und jozialiftiichen Ideen.
Die Schilderung idealer Volkszuſtände tritt uns als eine
überaus bezeichnende Eigentümlichkeit der hellenischen Gejchichtichrei-
bung ſchon frühzeitig entgegen. Man denfe nur — von Herodot
ganz abgejehen — an die in den Gejchichtswerfen des Theopomp
und des Hefatäus von Abdera enthaltenen Schilderungen völlig frei
geſchaffener Staats: und Gejellichaftszuftände, fürmliche „Staats-
tomane”,') die auf die ganze geijtige Atmoſphäre der Zeit, in der
die Legende von dem Sozialjtaat Sparta erwuchs, ein überaus be-
deutjames Licht werfen.
Wie muß die Luft mit Fabeleien diefer Art erfüllt ge
wejen jein, wenn jelbjt die Gejchichtichreibung dem Neize nicht
widerſtehen konnte, in ernten hiſtoriſchen Werfen das große Pro—
blem der Zeit in rein dichterifchem Gewand zu behandeln!2) Sit
es zu verwundern, daß eine jolche Gejchichtsichreibung auch in der
Darjtellung des wirklichen Lebens ji) mehr oder minder frei
gehen ließ, wo fich ihr ein Anknüpfungspunft für ihre Spefula-
tionen darbot. Auf die Frage, ob die bejtehende Gejellichafts-
ordnung die allein mögliche oder berechtigte jei, vermochte man ja
eine noch ungleich wirkſamere Antwort zu geben, wenn man an
der Hand der Gejchichte jelbit die Durchführbarkeit nnd VBernünftig-
feit der Gleichheitsiveale darlegen fonnte. Die Thatfachen der Ge-
') Vgl. das Kapitel über den „Staatsroman” im zweiten Band.
?) Über die ganz ins Märchenhafte ausjchweifenden Fabeleien Theo:
pomps vgl. Rohde: Der griechiiche Roman und feine Vorläufer ©. 205,
110 Erſtes Buch. Hellas.
ichichte und des Völferlebens allein konnten die Gegenprobe zu den
allgemeinen Folgerungen der jozialen Theorie und damit den Be—
weis liefern, daß dieſelben auch eine bejtimmte Geſtaltung ver-
trugen und wirklich lebensfähig jeien. Eine Probe, die um jo
überzeugender wirken mußte, je jchärfer und klarer der Allgemein-
heit der Theorie hier die lebendige Einzelthatjache gegenübertrat,
d. h. je mehr die Gejchihte zur Dichtung wurde. Allerdings ift
der erſte bedeutfame Schritt in dieſer Nichtung nicht von der .
Geſchichtsſchreibung jelbjt gemacht worden, jondern von der jozia-
len Theorie, allein fie ift derjelben doch alsbald auf dem Fuße
gefolgt.
Sn erſter Linie fommt bier in Betracht die Lehre vom
katurzuftand, wie wir fie zuerit bei Plato ausführlich formuliert
finden. Dieje Lehre wurzelt in der von der Sozialtheorie der Zeit
vielfach erhobenen Forderung einer Rückkehr zu möglichit einfachen,
„naturgemäßen” Formen der Bolkswirtichaft, zu einem Zuftand,
der fich mit der Vroduftion des „Notwendigen” begnügt und dur)
möglichjte Annäherung an die Naturalwirtichaft dem wirtichaftlichen
Egoismus und Spefulationsgeijt die engjten Grenzen ziehen joll.!)
Während Fühne joziale Idealbilder unendlich weit über alles ge
ſchichtlich Gewordene in eine bejjere Zukunft hinausweijen, ſchweift
bier andererſeits der Blick zurüd in die Vergangenheit, die, je mehr
fie fih von dem „Lünftlihen“ Bau der gegenwärtigen Gejelljchaft
entfernt, je primitiver, je „naturgemäßer” ſie ift, umjomehr die
Vermutung für ſich zu haben jeheint, daß bereits hier das deal
Wirklichkeit gewejen. Die Zuftände der Vergangenheit werden zum
Gegenftande ſozialphiloſophiſcher Konftruftion, romantischer Ver—
Härung und Vergeiftigung. Man fucht das erjehnte Neue in dem
Alten und trägt fo die Ideale des eigenen Herzens in die Ver-
gangenheit hinein, um gegen die verdorbene und verkehrte Gegen-
wart die ganze Autorität der Tradition heraufbeſchwören zu können.
Sp wird in den Gejegen Platos jene jelige Urzeit gejchildert, in
!) Vgl. über diefe Anfchauung das nächjte Kapitel.
I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das fozialiftiiche Naturrecht. 111
welcher die gefährlichen Konfequenzen des Privateigentums noch
nicht hervorgetreten jein jollen, weil bei der geringen Dichtigkeit
der Bevölkerung alle notwendigen Bedürfniffe mit Leichtigkeit ihre
Bedürfniſſe gefunden, alle Menjchen die gleiche Möglichkeit gehabt
hätten, jich in den Belig der unentbehrlichen Güter zu jegen. Sm
diefen glücdlichen Anfängen der heutigen Menfchheit, in denen der
Beſitz der einen noch nicht die Ausichliegung der anderen von den
Gütern der Erde bedeutete, gab es auch, wie Plato meint, noch
feine Nivalität, feinen wirtjchaftlihen Dafeinsfampf unter den
Menfchen. Sn ihrer einfachen Hirteneriftenz ahnten fie noch nichts
von ven fittlichen DVerheerungen der Erwerbsgier und des Kon-
kurrenzkampfes, wie fie mit der Entwiclung ftädtifcher Kultur Hand
in Hand gehen.!) Daher empfanden fie nur Liebe und Wohlwollen für
einander. Sie fannten eben weder den Mangel der Armut, welcher
die Menſchen notgedrungen in einen feindlichen Gegenjaß zu einander
bringt, noch auch den Neichtum.?) „Eine Gemeinjchaft aber, der
Reichtum ſowohl wie Dürftigfeit ferne ift, möchte ſich wohl der
größten Sittenreinheit erfreuen; denn bier erzeugt fich fein Frevel
und fein Unrecht, feine Scheelfucht und fein Neid.”3) Es ift ein
Zuſtand jeliger Unſchuld, der wohl hinter der Zivilifation jpäterer
Zeiten zurüchtand, aber viejelben in Beziehung auf die grund:
legenden jozialen Tugenden, fittliche Selbſtbeſchränkung und Ge—
!) Leg. 677b: xai dr ToÜs Toiovrovs ye avayzn nov Tov dhkwv
drteigovus Eivaı TEYVOV zul TWv Ev Tois doreoı no0s dAkmkovs unyavov
eis te nAcovelias zal gyıhoveizias, Kal 07100’ AA KUXoVEYNURTE 1005
akhmkovs Enivoovoıv,
?) Leg. 679ab: Howrov usv jyanov zei Epikopoovovvro aAAmkovs
di’ eonu ulev, Eneit@ 00 negiudymtos yv avrois j toogpn. vouns yag
oUx mv onavıs zul, — nevntes uev dm) dia To ToLoürov opoder oVx non
ovud’ ino nevias avayzalouevoı didpogoı Eavrois Eyiyvorro‘ nAovoioı d’
00% dv note Ey&vovro dyovool TE xal dvagyvooı Övres 0 TOTE Ev Exsivors
naeenv.
5) ib. 7 I dv notre &vvorxie unte nAodros Evvoin unte nevia,
oyEdov Ev Tavın yervanorere 799 ylyvorm’ dv: ovte yco vRgıs ovr' adızla,
Inkoi Te av zwi p9ovor oVx Eyyiyvorrau,
112 Grftes Buch. Hellas.
rechtigkeitsfinn, weit übertraf, und dem andererjeit3 die Schatten-
feiten, Krieg, innerer Zwilt, Nechtshändel und alle die Kunftgriffe
(ungerai), die der Menſch zum Schaden der Mitmenjchen erſann,
vollfommen fremd waren.
Es leuchtet ein, daß auch für diejenige Vorſtellungsweiſe, aus
welcher die Jentimentale Idylle dieſes unſchuldigen Naturzujtandes
entjprang, ganz wejentlich das Inſtitut des Privateigentums als
Duelle menjchlichen Elends erjcheinen mußte. Wenn nur die völlige
Bedeutungslofigfeit des Brivateigentums das höchſte Glück der
Menſchheit verbürgt, jo hatte diefes Glüd eben von dem Momente
an ein Ende, wo infolge der Zunahme der Bevölkerung und der
Bedürfniſſe der gemeinfame Naturfond den Charakter der Uner-
Ichöpflichkeit verlor und die Aneignung der Güter durch den Eine
zelnen immer mehr als Ausichliegung und Verkürzung Anderer
empfunden wurde. Wenn der auf diefe Weile entitehende Wett—
bewerb um die wirtichaftlichen Güter zugleich das Grab der Sitt-
(ichfeit und des jozialen Friedens jein joll, jo it eben die weſent—
lichjte Entftehungsurjache aller Demoralijation das PBrivateigentum,
welches diejen Wettbewerb entfejjelt. ES ift daher ebenjo für dieſe
Lehre vom Naturzuftand, wie für die früheren Ausführungen über
die beglücdenden Wirkungen des Kommunismus zutreffend, wenn
Aristoteles die Grumdanfchauung Platos dahin kennzeichnet, daß nach
ihr der Ursprung aller Übel eben im Brivateigentum liege.2) Jeden—
falls ift die Lehre vom Naturzuftand in ihrer weiteren Ausbildung
damals ebenjo, wie jpäter im achtzehnten Jahrhundert bei der
1) Die Menjchen des Naturzuftandes heiken „sopewveoregon zai Euu-
zravra dixaworeoor. ib. 679e.
2) Pol. II, 2, 8. 1263b: eurgoownos u&v ovv 7 Toievrn vouodeoie
zei pıldvdownos dv eivaı dotsıev‘ € yao dxgoWusvos dousvog anodeyerat,
vouilwv Eosodaı Yıhlav TIva Havucornv ndoı noös anavras, dAAmS TE xai
DTEV XETNyoon TISs TWVv viv ünaoyovrwv Ev Tais nokıreiaıis KUXov WS
yıvousvov did To un zoıvnv eivaı ımv ovolav, Ayo de dixas Te
71008 dAhjkovs rei ovußokaiwv xal zolosıs zei nAovoLWv
xolaxeias, wv ovder yiveraı ν dxowwvnoiav ahAd die Tmv uoy-
Imoiav xrA.
I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das ſozialiſtiſche Naturrecht. 113
prinzipiellen Negation des Privateigentums, bei der PBroflamierung
der Gütergemeinjchaft als des allein wahren und naturgemäßen
Zuftandes angelangt.
Eine beveutfame Stellung nimmt in diefer Frage der befannte
Schüler des Ariftoteles ein, Dikäarch von Meſſana, der in jeiner
griechischen Kulturgeſchichte (Bros EAAados) bei der Darftellung der
ftufenweifen Entwiclung der Zivilifation nicht nur die Lehre vom
katurzuftande im allgemeinen verwertete,!) jondern auch insbeſon—
dere die Entwidlung des PBrivateigentums als einen Abfall von
diefem glüdlihen Zuftand, von dem „Geſetze der Natur” zu er
weiſen Juchte.
Das Leben der Menjchen im Naturzuftand iſt für dieſen
Borläufer Noufjeaus?) ebenſo wie für Plato, eitel Friede und Ein-
tracht und er motiviert dies damit, daß bei der Bedürfnisloſigkeit
einer Geſellſchaft, die hauptjächli von Früchten lebte und noch
nicht einmal die Zähmung der Tiere kannte, noch fein Beſitz vor-
handen war, der al3 nennenswerter Gegenitand des Begehres und
des Kampfes hätte in Betracht kommen können (ovdE arassıc
zroög aAkrkovs: aIAov yo ovdEv aSıdkoyov Ev TO WEOW 77O0-
xeluEvov ÜNOXEV, I7TEo 0Tov Tıs av dieyogav Tooalınv Eve-
') Daß Dikäarch mit feiner Lehre vom Naturzuftand eine bereits ziem-
lich verbreitete Theorie twiedergibt, zeigt feine ausdrüdliche Bemerkung: zei
Tavre ... ouy mueis, aAR oi ra nahaıd borogig dısäeidovres eipyzasır.
F. H. G. II p. 233. Graf: Ad aureae aetatis fabulam symbola (Leipziger
Studien VIII 45) jchließt aus diefen Worten, daß Dikäarch auf eine eigene
Meinung in der Frage verzichte; -—- meines Grachtens faum mit Recht.
2) Es ijt wohl von Intereſſe, hier darauf hinzuweiſen, daß Dikäarch
die Gejellichaftstheorie Rouſſeaus direkt beeinflußt hat. Vgl. die ausdrück—
fie Erwähnung Dikäarchs in dem befannten Discours sur l’origine et les
fondements de l'inegalite parmi les hommes (Petits chefs- d’oeuvre de
Rousseau 1864 ©. 111). Allerdings zitiert hier Rouſſeau nicht dag aus:
führliche Dikäarchfragment des Porphyrius, jondern nur das furze Fragment
bei Hieron. adv. Jovin IX 230 (F.H.G. 234[2]), wo nur die Ernährungs:
nicht die Eigentumsfrage berührt wird; aber es wäre doch zu dertvundern,
wenn er nicht auch jenes gefannt hätte, mit deſſen Inhalt feine eigenen Aus:
führungen fich jo nahe berühren.
Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus, I. 8
114 Erſtes Buch. Hellas.
ornoero).!) Eine Auffafjung, welche der Urzeit allerdings den
Begriff des Privateigentums nicht diveft abjpricht, aber doch einen
Zuftand vorausfegt, in welchem dasfelbe ohne alle Bedeutung ift. —
Erſt das Streben nach „überflüjfigen Gütern“ und der damit ver-
bundene Übergang zu Viehzucht und Aderbau entfeffelte den Kampf
unter den Menjchen infolge des widerjtreitenden Intereſſes der—
jenigen, welche den Beſitz an diefen Gütern zu erwerben, und
derer, welche den ſchon gewonnenen Beſitz zu behaupten juchen.?)
Und mit diefem Wettbewerb menjchlicher Habgier, des gegenfeitigen
Mehrhabenwollens (eis @AAnkovs rAsovekie) geht dann Hand in
Hand Unrecht und Gewalt, Berfeindung und Fehde.
Ganz bejonders jcharf gefaßt ericheint endlich diefe Anſchau—
ung von den verhängnispollen Folgen der Entwicdlung des Brivat-
eigentums in einer allerdings jpäten, an Poſidonius fih ans
lehnenden Formulierung Senefas, die aber gewiß von Poſidonius
im wejentlichen ſchon der älteren Litteratur entnommen ift.3) „Die
Habſucht,“ Heißt es bier, „hat die brüderlichen Bande zerriffen,
welche die Menjchen urjprünglich vereinigte, jo lange fie unver:
dorben dem Gefege der Natur folgten. Aber diejer Abfall hat
!) Porphyr. De abstin. IV, 1, 2 (F. H. G. II 233). Dieſelbe Auf-
faſſung vertritt Dikäarchs Landsmann Theokrit XII, 15:
Aklrkovs Ö’ Epiimser low Liyo n da tor’ noav
Xovosıoı dhtv Avdoss, OT’ avrepiino’ 6 pılmdeis.
2) Mb (Ensidj?) yag aEisAoya zrjuate mv Ündoyovre ol ußv Eni
To nagslEodeı gıhoriuiav Enoiovvro, aHooıLousvol TE zei napuzeÄoüvrss
ahlmhovs, oi dE Eni To diepvadkar. Schade, da uns nicht Dikäarch ſelbſt,
jondern nur das Erzerpt des Porphyrius erhalten ift, deſſen Unvollſtändigkeit
und tendenzidfe Einfeitigkeit die Dikäarchiſche Auffaſſung nur unvollfommen
erkennen läßt. Insbeſondere tritt bei Porphyrius feinem Zive gemäß die
angeblich verhängnisvolle Bedeutung des Übergangs zur Fleiſchnahrung in
einer Weije gegenüber der Eigentumsfrage hervor, wie dies bei Dikäarch wohl
faum der Fall war. In diefem Punkte hat Graf a. a. D. gewiß richtig ges
ſehen. Vgl. über die Exrzerpiermethode des Porphyrius auch Bernays: Theo—
phraſts Schrift über die Frömmigfeit. passim.
3) Vielleicht Dikäarch ſelbſt? Vgl. Dümmler: Zu den hiftoriichen
Arbeiten der älteſten Weripathetifer. Rh. Muj. 1887 ©. 195.
I. 7. Der Sozialflaat der Legende und das fozialiftiiche Naturrecht. 115
ihnen feinen Gewinn gebradt. Denn fie (die Erwerbsgier) it
jelbjt für die, welche fie am meijten beveicherte, nur eine Quelle
der Armut geworden. Man hörte auf, alles zu bejigen, als man
ein Eigentum begehrte.”
Wir find um jo mehr berechtigt, diefe Formulierung des
Problems für unjere Frage heranzuziehen, als es fich hier um
Borjtellungen handelt, deren Spuren fi in der ſtoiſchen Schule
bis zum Stifter der Lehre, dem Zeitgenoffen Dikäarchs, zurück
führen laffen. Schon die Ethif des Cynismus, an welche jich die
ältefte Stoa jo enge anjchloß, predigte die Rückkehr zur Selbjt-
genügjamfeit der erjten Menfchen, die fie zugleich als einen Zus
ftand wahrer Freiheit pries.?2) Auch der in diefer Hinficht im
Geiſte des Eynismus gedachte Idealſtaat Zenos?) iſt offenbar von
der Idee des Naturzuftandes eingegeben. Diejer Staat, in dem es
feine Tempel, feine Gerichtshöfe, feine Gymnaſien, fein Geld geben
jollte,*) der die völlige Weibergemeinichaft 5) und möglichite Gleich-
jtellung der Gejchlechter verwirklichen und die allgemeine Nivellierung
der Menjchen bis zu einer Lebensgemeinichaft fteigern jollte, die
ausprücdlich mit dem Gemeinjchaftsleben einer Herde?) verglichen
') Seneca ep. XIV, 2, 3: inter homines consortium [esse docuit
philosophia], quod aligquamdiu inviolatum mansit, antequam societatem
avaritia distraxit et paupertatis causa etiam iis, quos fecit locupletissi-
mos, fuit.
2) Vgl. zu der Äußerung des Diogenes über die „Aevdsola ı El
Koovov“ Weber: De Dione Chrysostomo Cynicorum sectatore. Leipziger
Studien X ©. 18.
3) Über diejen ſ. Wellmann: Die Philofophie des Stoikers Zenon,
Sahrbb. f. kl. Phil. 1873 ©. 437 ff.
9 Diog. Laert. VII 32$. Bgl. die Erklärung des Diogenes gegen
den Gebrauch des Metallgeldes bei Athen. IV, 59e. (Knöchelgeld! j. Gom—
perz: Eine verſchollene Schrift des Stoifers Kleanthes. Ztichr. f. öſtr. Gymn.
- 1878 ©. 254.)
>) Diog. ebd. Vgl. 131 über Chryfippus, der ebenfalls dieſe Gemein-
ſchaft gefordert hat.
6) ebd. 33.
’) Hier wird volljter Ernſt gemacht mit dem platonijchen Bilde von
8*
116 Erſtes Buch. Hellas.
wird,') diefer Staat der Liebe, der Freiheit und Eintracht 2) follte
gewiß auch den allgemeinen Verzicht auf das Privateigentum ver:
wirklichen, als Die vollendete Verförperung jener Selbſtgenügſamkeit,
jener avraoxsıe, wie fie eben dem cyniſch-ſtoiſchen Ideal eines
wahrhaft freien und naturgemäßen Lebens (vov axoAovdms
ın pvosı Inv) entiprad).?)
Wie hätte diefe Lehre die „Freiheit“ des Naturzuftandes mit
dem Inſtitut des Brivateigentums vereinbar halten können?“) Die
Gütergemeinſchaft ift ja nur der vollendetite Ausdrud jenes all-
mächtigen Triebes nach Gemeinschaft (orxeiwoıs!), welcher nach der
Lehre der Stoa alle VBernunftswejen verbindet und vermöge deſſen
„man nicht für ſich leben Fann ohne für andere zu leben.”5) Wenn
dies Gejeß der Natur, das zugleich das der Vernunft ift, ein der-
artiges Aufgehen des einzelnen Individuums in der Lebensgemein-
Ihaft des Ganzen und im Dienjte für das Ganze fordert,s) wie
hätte die Stoa — im Anſchluß an die Volksfage vom goldenen
ben „Menſchenherden, die in den (beiten) Staaten nach den Anordnungen der
Geſetzgeber weiden“ (dvrdownwv aykkaıs, önooaı zera mov Ev Exdotaus
vousvorrar xard ToUÜs Tov yomıyarrwv vouovs. IIOM. 295e).
1) Plutarch: De Alex. fort. I, 6: eis de Bios 7 zei x00Wuos worteg
ayEhAns ovvvouov vouw Xoro OVVTOEPoUuEvnS.
?) Athenäus XII 56le: Ev zn modıreig Epn (Zijvov)‘ tov ’Eowra
Heöv Eivar ovveoyov Undoyovra moös Tv Ts nöhews owrnoiev. Bal.
ebd. die Auffaffung des Eros als „giklas zai Ehevdsoles Er TE zei —
volas AOROKEVROTIROS“.
3) Val. Chryſippus zeoi püsews bei Plutarcd De stoicorum rep. 20:
Tov ooporv, Ei Tıv ueyiormv ovoiav arroßdkoı, doayunv ulav ExBeßAnxevau
do£eıw und regt molıreias ib. 21 ovder ndorns Evsxa nocsew, ovdE naoa-
OXEVAOEOHLL TOVUS TOALTES.
4) Inwieweit freilich diefe Richtung an die Realifierbarfeit ihrer
geſellſchaftlichen Ideale glaubte, ift mit Sicherheit nicht zu entfcheiden. In
Beziehung auf die äÄltefte unmittelbar an den Cynismus ſich anjchliegende
Stva nimmt allerdings Hirzel einen jolchen Glauben an (die Entwiclung der
ſtoiſchen Philoſophie. Unter. zu Ciceros philoj. Schriften II, 271).
5) Seneca ep. 47, 3.
°) ib. 95, 52. Der Weife ift niemals bloß Privatmann. Cie. Tuse.
IV, 23, 5l,
1. 7. Der Sozialjtaat der Legende und das fozialiftiiche Naturrecht. 117
Zeitalter — die abjolute Herrichaft des Naturrechtes in der glück
lichen Urzeit des Menfchengeichlechtes lehren können, ohne damit
zugleich dem ökonomischen Individualismus des nach ihrer Anficht
aus dem DVerderbnis der Welt entiprungenen pofitiven Nechtes das
Seal eines wirtſchaftlichen Gemeinjchaftslebens entgegenzu—
ſtellen? ) —
In demſelben Ideengang wie dieſe Lehre vom Naturzuſtand
wurzelt die Idealiſierung der ſogenannten Naturvölker, die wir
in den ethnographiſchen Schilderungen der Litteratur der Griechen
und zwar ganz bejonders bei Ephorus finden.
Eine Anſchauungsweiſe, für welche die Erlöfung von den
jozialen Krankheitsericheinungen einer hochentwidelten Kultur gleich-
bedeutend war mit der Nüctehr zur „Natur“, mußte ja das Inter:
efje und die Einbildungsfraft vor allem auf jene Völker an den
Grenzen der Kulturwelt lenfen, deren ganzes Dafein als getreues
Abbild des Naturzuftandes und der geträumten bejjeren Vergangen—
heit des eigenen Volkes erichien. Hier hatte man eine Wirtjchafts-
ftufe vor ji, mit deren Armut und Bedürfnislofigkeit ſich von
jelbjt ein hohes Maß jozialer Gleichheit zwijchen den freien Volfs-
genofjen verband. Hier ſah man demgemäß auch in in den jozialen
Gemeinjchaften, welche den Charakter diejes primitiven Völkerlebens
beherrichten, in Familien, Sippen, Stämmen noch ein außerordentlich
1) Vgl. oben Poſidonius-Seneka und die von Cie. Fin. III, 21. ex:
wähnte ftoijche Forderung, daß jowohl die wpeinuere und PAduuere (fitt-
liche Güter und Übel), als die eiyonsıjuere und dvoyonsrjuere (jonftige
Borteile und Nachteile) allen Menjchen gemein fein jollen.
Anders als Pofidonius u. a dachte allerdings Chryfippus, von dem
wir jogar — dank Gicero (De fin. III 20) — einen Verſuch zur Recht:
fertigung des Privateigentums befigen, der freilich nichtsfagend genug iſt,
aber doch dem Lejer nicht vorenthalten jei: Cetera nata esse hominum causa
et deorum. — Sed quemadmodum theatrum cum commune sit, recte
tamen diei potest ejus esse eum locum, quem quisque occuparit, sie in
urbe mundove communi non adversatur jus, quominus suum quidque
eujusque sit. Sit das etwa in Gegenſatz zu Zeno gejagt, deſſen Anfichten
Chryſipp jo vielfachen Widerjpruch entgegengejegt hat?
118 Erſtes Buch. Hellas.
ftarfes Gemeinschaftsgefühl !) lebendig, welches naturgemäß inner-
halb diejer Kreife zu Jehr weitgehenden Forderungen wirtichaftlicher
Gerechtigfeit,?) zu einer Drganifation der Beſitzverhältniſſe führte,
die ji wenigitens bei den nomadifierenden Skythenftämmen als
mehr oder minder ausgeprägter Kommunismus dartellte.?) Was
hat nun aber die ivealiftiiche Spzialphilofophie der Griechen aus
diefen Thatſachen gemacht?
Sie reden von den „vowme Beoßagıza“, deren Sammlung
Hiftorifer und Philoſophen metteifernd betrieben, in einem Ton,
als ob hier die höchſten politifchen und gefellichaftlichen Ideale des
Hellenentums Fleiſch und Blut gewonnen hätten! In einer wahr:
Icheinlich auf Poſidonius, vielleicht auch ſchon auf Ephorus zurüd-
zuführenden Schilderung der Skythen beißt es, daß ihnen die
Natur gegeben, was die Griechen troß aller Lehren ihrer Philo—
fophen nicht zu erreichen vermochten.5) Der rohe Maßſtab wirt
1) Ein Vorbild, auf das in den politischen und ſozial-reformeriſchen
ZTendenzjchriften „reoi ouoroles“ offenbar häufig Hingewiejen wurde. — Mit
Necht vermutet 3. B. Dümmler (Prolegomena zu Platons Staat ©. 46),
daß Antiphon in jeiner Schrift eoi ouovolas (nach Harpofration s. vv.)
die uaxgoxepeakor, die ozıenodes und die Uno ynv olxoövres nur zu dem
Zwede erwähnte, um an ihnen die Durchführbarkeit feiner politischen Ideale
zu erweiſen.
?) Vgl. Schmoller: Die Gerechtigkeit in der Volkswirtſchaft. Jahrb.
f. Geſetzgeb, Verw. u. Volkswirtſch. 1881. ©. 39.
>) Auf fie bezieht ich wohl zum Teil Wriftoteles Pol. II,2, 1. 1263a.
4) Eine intereffante Anjpielung auf die Rolle, welche die Naturvölfer
in der damaligen Theorie jpielten, enthalten die Chorgejänge in den „Vögeln“
des Ariftophanes, der hier bei der Mufterung von allerhand Yabelvölfern
unter den Skiapodes plölich auf Sofrates und Chairephon ſtößt. v. 1470 ff.
1552 ff. Dal. Dümmler a. a. D.
sim IL 25
-— prorsus ut admirabile videatur, hoc illis naturam dare, quod
Graeci longa sapientium doctrina praeceptisque philosophorum eonsequi
nequeunt, cultosque mores incultae barbariae collatione superari. tanto
plus in illis profieit vitiorum ignoratio quam in his cognitio virtutis.
Hat e3 doch ſelbſt ein Plato nicht verſchmäht, ich im Sntereffe der von ihm
geforderten Gleichjtellung don Mann und Weib auf das Beifpiel der berittenen
I. 7. Der Sözialſtaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 119
Ichaftlicher Gerechtigkeit, welchen das Gleihheitsgefühl einer niedrigen
Kulturitufe und das Gemeinjchaftsleben im engjten jozialen Kreiſe
dein Naturmenjchen aufdrängt, wird ohne weiteres mit der hoben
Idee der jedem das Seine gebenden Gerechtigkeit identifiziert, zu
welcher ſich eine viele Jahrhunderte alte moraliiche Kulturarbeit
durcbgerungen hat. Die dixwioovvn erſcheint als Grundtrieb des
ſkythiſchen Volkscharakters, als leitendes Motiv des ganzen Lebens
dieſer „gerechteiten” aller Menjchen”,') genau ebenjo, wie fie von
Plato als das Grundprinzip des Idealſtaates oder von einem be:
fannten Schüler der Stoa, von Arat, als das Lebenselement jener
jeligen Urzeit bingeftellt ward, in der Dike noch leibhaftig auf
Erden waltete.?2) Und an dieſem Muftervolf der jozialen Gerech-
tigfeit muß fich dann natürlich all das reichlich erfüllt haben, was
der Idealismus der damaligen Sozialtheorie als notwendiges Er:
gebnis einer wahrhaft gerechten Lebensordnung anjah. Wenn
Plato von den Fommuniftiihen Einrichtungen feiner „evvouog
rrolıs“ erwartet, daß diejelben allen Haß und Streit bejeitigen
würden, der fich an den Kampf um den Belt zu Fnüpfen pflegt, >)
jo erſcheint einem Gefchichtsichreiber, wie Ephorus, dieſes Ideal
durch die eben als zvvowie gepriejenet) Gejellichaftsordnung ge:
wiſſer ſkythiſcher Stämme thatjächlich verwirklicht. Ihre gemein:
wirtichaftlichen Inſtitutionen jchließen nach jeiner Anficht alle Er:
werbsgier aus. Sie find 00 xonueriorei und als jolche frei
von allen jozialen Übeln, welche Plato als Folgezuftand des xon-
und wehrhaften Frauen der Sauromaten am ſchwarzen Meere zu berufen!
(Leg. 804e.)
1) Val. Ephorus bei Strabo VII p. 463. F. H. Gr. 1, 256 fr. 76.
2) Phaenom. 100 f. Zu der Anficht von der Verdrängung Difes vgl.
auch Hefiod Werke u. Tage v. 223.
3) Staat V 464d: dixzaı re zul Eyaamuare noös ahlmlovus oUx
oiyyostaı EE avrwrv, ws Eros Eineiv did To umdev idıov Exmodeı mv
To owua td d’ dhhe xowad' 69Ev In Ündoyei Tovrois COTKOLdoToLg eivar,
00« yes did yonudıwv 7 naidwv zul Fvyyevov zT701W dvdgwnor oTaold-
Covow; xt.
9 A. a. O.
120 Erſtes Bud. Hellas.
uerıouös beklagt.) Hab, Neid und ſklaviſche Furcht find ihnen
fremd. ?)
Sa Ephorus geht noch weiter. Nachdem die Spekulation
über das „Gerechte” und den Naturzuftand als wejentlichen Zug
desjelben auch die Schonung der Tiere und Enthaltung von Fleiich-
nahrung bingeftellt?) und die ältere Gejchichtsichreibung diefen Zug
bereits für die idealifierende Schilderung nördlicher Fabelvölfer
adoptiert hatte,t) trägt Epphorus ebenfalls fein Bedenken anzuneh—
men, daß die „Frommen” Volksgenoſſen des weiſen Anacharfis das:
jelbe Lebensideal verwirklicht hätten.) Die alte Bezeichnung diejer
Nomaden als „Salaftophagen” genügt ihm, ohne weiteres der Ge—
ſchichte dieſe Legende einzuverleiben, für die er ſonſt abjolut feinen
Anhaltspunkt hatte. 6)
I) Staat V p. 465c.
2) Vol. Nic. Damasc. (fr. 123 bei Müller F. H. Gr. III) nach Ephorus:
Ieoa rovroıs ovde eis oure pYorov, Ws Yaoiv, olTE uoov oVTE Ypoßov-
uevos iotoon9n7 die Tnv Tov Blov zoıvörnra zai dıxzavoovvnv,
>) Vgl. Empedofles Fragm. ed. Sturz 305.
4) Bgl. Hellanifus dv. Mitylene über die Hyperboräer F. H. Gr. I
p- 98 fr. 96 dıddoxsoHa DE avroüs — Sc. iotopget — dixzavoovvnv un
xoEWpeyoÜrvras aAN dxoodovVoıs Kowuevovs.
5) Dieje Anficht des Ephorus hat ein fpäterer geogr. Dichter unter
ausdrücklichen Hinweis auf diefen mit den Worten wiedergegeben:
Nouadıza Ö’ Enızakovuer, EVoEeßn av,
wv oVdE eis Eurbvyov ddızmoaı not ür,
olxopopa Öd’, Ws EIoNzE, xai OLToVuEve
yahazrı tais Exvdızatoi 9 inmouokyiaıs.
Ephoru3 fr. 78 bei M. F. H. G. 1, 257.
6) Galaftophagen waren die nomadischen Skythen natürlich nicht in—
foferne, weil fie fich anderer, insbeſ. Fleiſchnahrung, enthalten hätten, jondern
weil Milch und Milchprodukte in ihrer Ernährung die Hauptrolle jpielten.
Eine Tharjache, die ſich aus dem einfachen wirtichaftlichen Motiv erklärt, daß
diefe Skythen, wie die heutigen Kalmüfen, mit dem Schlachten ihres Viehes
höchſt ſparſam waren, dab ſie dieſes ihr einziges Kapital nur ungerne an—
griffen. — Dies hat Neumann (Die Hellenen im Sfythenland ©. 314) richtig
hervorgehoben, meint aber freilich irrtümlicherweife, daß auch Ephorus die
Sache nicht anders aufgefaht habe. Die idealijierende Tendenz der Schil-
derung des Ephorus ift damit völlig verfannt.
I. 7. Der Sozialſtaat der Legende und das ſozialiſtiſche Naturrecht. 121
Noch tiefgreifender find die Folgerungen aus den populären
Mißverſtändniſſen, zu denen das bei einzelnen Völkern des Nordens
beobachtete, aber in jeinem Weſen nicht erkannte Inſtitut der Poly—
andrie unter Familiengenofjen, jowie die eigentümliche Stellung der
Frauen im jEythiichen Ehe: und Erbrecht!) Veranlaffung gab. Wenn
nach ſkypthiſchem, wie nach mongolifchem Recht das Weib als
Familieneigentum galt, auf welches die Kinder, wie auf jedes andere
Familiengut ein Erbrecht bejaßen, jo wird daraus in der Vor:
jtellung der Griechen jene weitgetriebene Weiber: und Kindergemein-
Ichaft, wie fie 3. B. die platonifche und noch mehr die cyniſche
Gejellichaftstheorie im Auge hatte.) Eine Borftellung, mit der
ſich dann natürlich von vorneherein in derjelben Weife, wie bei
Plato, die Idee einer ungetrübten Harmonie der Gejellichaft, eines
uugejtörten jozialen Friedens verband. Wie ſchon Herodot von
einem Nachbarvolf der Skythen berichtet hatte, daß es völlige
Frauengemeinschaft hatte, „damit alle unter ſich Brüder und Ver:
wandte jeien, die weder Neid noch Feindjchaft gegen einander
heyen“,3) jo weiß auch Ephorus von feinen Galaftophagen zu er:
zählen, daß bei ihnen infolge verjelben Gemeinschaft jeder ältere
Mann Bater, jeder Jüngere Sohn, jeder Gleichalterige Bruder ges
nannt worden jei,!) genau entjprechend der Sitte im platonijchen
Spealftaat.d) Kein Wunder, daß Ephorus bei feinem Muſtervolk
!) Bgl. über dieje Inftitutionen Neumann a. a. DO. ©. 296.
2?) Ephorus fr. 76 M. — oos te aAAmhovs eVvouovvraı zoiwa navte
Eyovrss ta Te dla zul yurvalzas xal TExva zal Tv OAmv ovyyeveiav'
fr. 78: Cwow de Tv TE zınoıw dradedeıyores zoırjv endvıov mv TE
ovvolov ovoler.
®) IV, 104: Ayasvooo .. .. Enizowov Imnv yvvarxov Tv wulEıy
noLevvrat, iva xuoiyvntoi Te aAinimv Ewor zul olzmloı Eovres Tdvrtes unTte
p9ovm unt EyPei yocwvraı &s aAkmkovs,
*) Ber Nikolaus Damascenus a. a.D. Vgl. Ephorus fr. 76 M. j. oben
Anmerk. 2.
5) Bgl. Rep. V, 461d. Daher bezeichnet Strabo VII, 3, 7 (p. 300) die
Skythen im Sinne diefer Auffafjung als „res yuvarzas nAarwvıxzas
Eyovras xoves zei rerve, Diejen Zujfammenhang zwiſchen Plato und
122 Erſtes Buch. Hellas.
auch auf wirtichaftlichem Gebiete ein Ideal ſozialer Gerechtigkeit ver—
wirklicht fieht, welches hinter den kühnſten Träumen der ſozialökono—
mischen Metaphyſik feines Jahrhunderts nicht zurückbleibt. Wir be—
gegnen in der Schilderung des ſkythiſchen Volkslebens bei Ephorus
der unklaren Idee des reinen Kommunismus, der Borjtellung von
einem Gejellichaftszuftand, in dem alles und jedes Privateigentum
— am Grund und Boden jowohl, wie an Gebrauchs: und Nubß-
vermögen — fehlt und die wirtjchaftliche Lebensiage und die Be:
dürfnisbefriedigung für alle Smdividuen oder Familien die abjolut
gleiche ift. Selbit Blato, deſſen kommuniſtiſches Ideal bier offen-
bar mit Vorbild war, hat an die Möglichkeit einer vollfommenen
Verwirklichung dieies Kommunismus nicht zu glauben gewagt.
Er beſchränkt ihn — als allgemein gültige Lebensnorm — nicht
bloß auf eine bejondere Klaſſe der Bevölkerung jeines Idealſtaates,
jondern gibt auch bei diefer die Möglichkeit zu, daß Abweichungen
von dem rein fommuniftiichen Brinzip unvermeidlich werden könn—
ten.!) Ephorus fennt jolche Bedenken nicht. Ihm macht e3 Feine
Schwierigkeit, ohne weiteres ein ganzes Volk in einem ſolchen Zus
ftand zu denken. Aus der einfachen und klaren Thatjfache noma—
diſcher Gemeinwirtſchaft wird unter der Hand dieſer Gejchicht-
ſchreibung ein rein phantaftiicher Kommunismus, der nichts ift, als
das Gedankengeſpinnſt einer ungejchulten und verworrenen Speku—
lation über wirtichaftliche Dinge. —
Von einer Geſchichtſchreibung, die fich ſelbſt über Erſchei—
nungen des gleichzeitigen Völkerlebens derartigen Selbittäufchungen
Ephorus hat weiter verfolgt Niefe (Die Idealiſierung der Naturvölfer des
Nordens in der griech. und röm. Litteratur. Frankfurt. Progr. 1875) ohne
freilich in Beziehung auf den Grad der Sdealifierung bei Ephorus und feine
thatjächlichen Anhaltspunkte die im Texte hervorgehobenen Momente zu berück—
fichtigen. Übrigens dürften auf Ephorus auch die Ideen des Cynismus ein
gewirkt haben, wie dies bei feinem Mitſchüler Theopomp thatjächlich der Fall
war. Vgl. Schröder: Theofrit dv. Chios. Jahrb. f. Phil. 1890.
!) Rep. II, 416d: "0g« dj, einov &yw, El Toiövde Tivd Toonov dei
avroüs [mv Te zei oixeiv, Ei uEAAovaı ToLovroL 2080IaL" EWTOV uEv oVolev
xextnusvov undeuiav undeva idiav, ev un ndoa dvayay' zul.
I. 7. Der Sozialſtaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 123
hingab, wird man nicht erwarten, daß fie ſich ernftlich bemühte,
der wirklichen Geichichte ins Auge zu Schauen, !) zumal wo es ſich um
Zeiten handelte, deren Überlieferung ohnehin von der Legende völlig
überwuchert wurde. Was die hiftoriiche Phantaſie auf einem Ge:
biete zu leijten vermochte, das für fie gewifjermaßen ein unbeſchrie—
benes Blatt war, dafür ift nun gerade die im vierten und dritten
Sahrhundert jo maſſenhaft anjchwellende Litteratur über das „lykur—
gische” Sparta ein überaus charakterijtiiches Beijpiel. Es ſei nur
auf die befannte Thatjache hingemwiefen, daß man 3. B. nad)
Plutarchs ausdrücklichem Zugeitändnis 2) über Lykurgs Leben und
Geſetzgebung abjolut nichts Unbejtrittenes wußte, und daß Plutarch
troßdem aus jener Litteratur die anjchaulichite und in alle Einzel:
heiten eingehende Erzählung über den Gejeßgeber und fein Werf
entnehmen konnte. Das jprechendjte Zeugnis dafür, daß die Quellen
diefer und anderer Erzählungen über die ideale Urzeit Spartas
mehr oder minder ein romantisches Gepräge gehabt haben müfjen,
joweit fie nicht etwa jelbit Staatsromane gewejen find. Und wie
hätte auch in einer Epoche, in der das republifaniiche Hellenentum
aus einem rein politischen Intereſſe (in dem renophontijchen Staats-
roman der Cyropädie) ſelbſt das Idealgemälde eines Königs
ſchuf, der im Geifte der Nation lebendige bildnerische Trieb nicht
aufs mächtigfte angeregt werden jollen durch eine Staats und
Geſellſchaftsordnung, welche mit den allerdringendjten Lebensfragen
und Lebensinterejfen mit all den genannten ſozialpolitiſchen und
vwirtjehaftsphilojophiichen Ideen des Zeitalter die innigſten Be—
rührungspuntte darbot?
Hier hatte man eine jozialpolitiiche Schöpfung vor ſich, in
welcher die fozialiftiihe Grundanjchauung der damaligen Staats:
lehre wejentlich ihre Forderungen längſt verwirklicht Jah, in welcher
die Suprematie des Staates über die Gejellichaft in früherer Zeit
) Bon der ganzen hiev in Betracht fommenden Litteratur gilt, was
Strabo (III p. 147) von Pofidonius jagt (ef. fr. 48 Müller II): odz arreyeran
ns ovrdovs Önropeias, ale ovvevrdovoud taig vneoßokais.
2) Eyfurg 1.
124 Erſtes Buch. Hellas.
wenigjtens mit beifpiellofer Energie gewahrt erſchien. Durch die
Gleichheit und Strenge feines öffentlichen Erziehungsſyſtems hatte
diefer Staat die Entwidlung der heranwachſenden Generationen von
den Einflüſſen des Beſitzes und feiner Verteilung möglichjt unab-
bängig zu machen gewußt. Auch im Leben der ermwachjenen
Bürger hatte hier dasselbe Gemeinjchafts- und Gleichheitsprinzip,
welches dem Einzelnen und feinem Beſitze weitgehende joziale
Pflichten auferlegte, hatte das Prinzip der Unterordnung unter Die
Zwecke der Gejamtheit, welches dem rpanfionstrieb des indivi—
duellen Egoismus überall hemmend entgegentrat, mit jo intenfiver
Kraft fich bethätigt, daß jelbjt inmitten der Neize und Genüfje
einer weit fortgefchrittenen Kulturwelt die joldatische Bevürfnislofig-
feit und Einfachheit der alten Sitte verhältnismäßig ſehr lange
bewahrt blieb. Mit welch gewaltiger Hand endlich hatte dieſer
„männerbändigende” 1) Staat in das Güterleben ſelbſt hineinge-
griffen und dasjelbe durch zähes Feithalten an einem primitiven,
die Kapitalbildung aufs äußerſte erſchwerenden Münzſyſtem, durch
eine ſtrenge Gebundenheit des Agrarbefißes und die Ausſchließung
aller Erwerbsarbeit mit den Lebensbedingungen und Zwecken des
Staates in Übereinftimmung zu erhalten gefucht!
Es leuchtet ein, daß eine Gejellfchaftstheorie, für welche die
Entfefjelung der individuellen Kräfte, insbejondere des Erwerbs—
triebes, und die Entwicklung des Neichtums gleichbedeutend war
mit der Zerſtörung des jozialen Glüdes und der nationalen Sitt-
lichkeit, nächft den Naturvölfern Fein geeigneteres Objekt für die
geichichtliche Eremplifizierung ihrer Speale finden konnte, als eben
Sparta. An feinem Beifpiele ließ fich die Möglichkeit einer Ge—
jellichaftsordnung erweilen, in welcher das Privateigentum nicht bloß
ven Brivatzweden des Individuums dienſtbar war, jondern vor
allem der joziale Charakter desjelben gewahrt erſchien. Hier ließ
jic) zeigen, daß auch die Eigentumsordnung der fortgejchritteniten
und freiheitlichiten Gemeinweſen der bellenifchen Welt noch nicht
’) dauasiußooros nad) Simonides cf. Plutarc) Agefil cap. 1.
I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das fozialiftiiche Naturrecht. 125
die letzte und vollfommenfte jei, ſondern daß das Privateigentum
im Intereſſe einer harmoniſchen Entwidlung des Ganzen gemilje
Einjcehränfungen oder Modifikationen erfahren müſſe. Die jparta-
nischen Inſtitutionen boten ferner ganz ähnliche Anknüpfungspunkte
für idealiftiiche Filtionen dar, wie das Leben jener Naturvölfer.
Wenn man fi eine Epoche vorftellte, wo die gejchilderten, im
zeitgenöfliichen Sparta allerdings ſtark abgeſchwächten oder in ihr
Gegenteil verkehrten Tendenzen einer zentraliftiichen oder ſtaats—
jozialiftiichen Politiki) in urjprünglicher Kraft und - Reinheit
wirfjam waren, und wenn man fie) bei der Ausgeftaltung diefer
Borftellung im einzelnen nur einigermaßen von den Ideen beein-
fluffen ließ, die man fih von dem fozialen Mufterftaat gebildet
hatte, jo war es für ein Zeitalter fozialer Utopien ein Leichtes,
Altiparta als Träger einer Eigentums: und Gefellichaftsordnung
zu denken, welche ſelbſt hinter platonifchen und cynifch-ftoiichen
Idealen nicht allzumweit zurücblieb und das Prinzip wirtjchaftlicher
Gleichheit und Gerechtigkeit in radifaler Weije verwirklichte.
Sehr bezeichnend für diefen Prozeß der Spealifierung find
die Vorftellungen über den ethischen und jozialpolitichen Wert der
altipartanischen Smititutionen, wie fie in der griechifchen Litteratur
— bejonders jeit dem vierten Jahrhundert — zum Ausdruck kom—
men. Mac der Schrift vom Staate der Lacedämonier war bier
jenes fittlich-jchöne Leben, wie es die griechiiche Staatslehre als
böchiten Zweck des Staates aufgeftellt hat, in vollendetjter Weiſe
verwirklicht. Dank einer einzig daftehenden Pflege der fittlichen
Intereſſen it Sparta nach diefer Anſchauung eine Verförperung der
eoern, geworden, wie jonjt fein Staat in der Welt. Seinen In—
jtitutionen wohnt eine geradezu unwiderftehliche Kraft inne, alle und
jede Bürgertugend zur Entfaltung zu bringen,2) während die ge
1) Bol. die ſchöne Formulierung diefes Staatsgedanfens bei Thufyd.
II, 2 in der Rede des jpartanifchen Königs Archidamos: xaAdıorov yao Tode
zei dopakeorarov noAkovs Ovras Evi 200UuWw Yowuevovs paiveodeı.
2) ec. 10. (Avxoögyos) Ev ın LZncorn Nvayxaoe Ömuooig nadvres
TEOaS doxeiv Tüs agerds. Noreo ovv idıwrar idıiwrov diep£oovoıv doetn
126 Grites Buch. Hellas.
fährlichften fozialen Verirrungen, Erwerbsgier und Bereicherungs-
fucht hier von vornherein undenkbar find.!) Natürlih muß ein
folches Gemeinweſen auch verjchont geblieben fein von dem Elend
des Intereſſenkampfes und Klaſſenhaſſes, das die übrige Welt zer
rüttete, und es ift doch feine bloße Trivialität, ſondern in der
tiefen Sehnfucht nach jozialem Frieden begründet, wenn bejonders
diefer Friede, die „bürgerliche Eintracht” unter den idealen Zügen
des ſpartaniſchen Staats: und Bolfslebens hervorgehoben wird.
Iſokrates ift es, der für uns als einer der erften diefen Ton
angejchlagen hat. Die Art von Gleichheit und Freiheit, wie fie
in Sparta verwirklicht worden jei, gewährte nach feiner Anficht
eine unbedingte Bürgiehaft für die Aufrechthaltung inneren Frie-
dens.2) Und fein Schüler Ephorus hat dann denjelben Gedanken
wieder aufgenommen, indem ex zugleich das Moment der wirt:
ſchaftlichen Gleichheit bejonders heroorhob.?) In der Erörterung
des Polybius über den jpartanijchen Staat (VI, 45), der ohne
Zweifel die Meinung des Ephorus getreu wiedergibt,t) heit es
oi doxovvres twv duslovvrwv, 0VTW xal 7 Lrdorm Eixotos NaOOV TÜV
nolewv aoEern diapeoeı, uovn dnuooig Enırmdevovon mv zahoxayahier.
) ce. 7. Kai yao dn ri nAovros &xei ye onovdaore£os, Evda
io uer pEgeıv Eis Ta Enitndeia, ouoiws dE dieırcodeı Tafos, Erroinoe um
ndunadeias Evexa Yonudıwv ogEYEoHaL; xTA.
ib. Xovoiov yE umv zai doyvgıov Epevvaraı, xai dv Ti nov parı,
6 Eywv Imwovrar. Ti oVv @v &xei yonuarıouös onovdaloıro Evda
N xınoıs nAsiovs Aunas 7 m XoMoIs EVpoooVvas nag£yeı.
?) Panathen. 178. (tTovs Inraoriaras) negE opicı uEv avrols loo-
vouiav KATKOTNORL zai Imuoxgatiav ToLaVTmv, oiay TEO Yon) Tovs u£khovras
erevrae Tov yoovov ouovonosw. Höchſt bezeichnend für den hiſtoriſchen
Sinn dieſer PLitteratur ift die Anficht des Sokrates (ebd. 153), daß das
Iyfurgiiche Sparta eine Nachahmung de3 älteften — Athen jet!
) Vielleicht ift ex übrigen auch hier abhängiger von Sokrates, als
man gewöhnlich glaubt. Vgl. z. B. die Wendung des Sokrates a. a. O. 179:
vavra dE nod£avres (sc. ol Irregriaraı, Tov IMuov negioixovs noImoavres)
ms XO0as ns nooonNzev Ioov Eysıv Exaortov, avrors uev Aapßeiv...
Tv agloryv ... To dE nAndeı TmAıxodtov anroveiuc UEEOS TMS Yelpiorns,
wor Eniwouws Egyalousvovs uoAıs Eyeıv TO xa9” jucgev.
) Das beweift nicht nur der Umftand, daß Polybius als Hauptver:
I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 197
von dem mythiſchen Gefeßgeber und jozialen Heiland Spartas, daß
er auf Erden der einzige geweſen jei, der das, worauf es im Staate
hauptſächlich ankomme, richtig erwogen babe, nämlich die Wehr-
baftigfeit und die bürgerliche Eintradt. In jeinem Staate fei
das Beitreben mehr zu haben und mehr zu fein, als andere, die
rheove&ia oder — wie e8 an einer anderen Stelle heißt — 7)
zregi vo rrAeiov za vovkerrov gisoriuie, mit der Wurzel aus-
gerottet, jo daß die Spartaner von innerem Zwift dauernd ver-
Ihont geblieben und bürgerlicher Zuſtände teilhaftig geworden
jeien, deren glücdliche Harmonie in ganz Hellas nicht ihres Gleichen
babe. !)
Eine ähnliche Idealiſierung würde uns ohne Zweifel auch in
den verlorenen politijchen Schriften der Stoa entgegentreten, die
den jpartanischen Staat gewiß nicht bloß deshalb zum Gegenjtand
litterarifcher Verherrlihung gemacht hat, weil ex ihrer Lehre von
ver beiten Verteilung der politiihen Gewalten entiprach, ſondern
mindeitens ebenjojehr wegen der Berührung mit den jozial-öfono-
mijchen Idealen der Stoa.?) In dem jechiten Buche des Polybius,
deſſen politijche Erörterungen ganz von ſtoiſchem Geifte durchdrungen
und teilweije unmittelbar aus der Litteratur der Stoa gejchöpft
treter der im Text erwähnten Anficht neben den gefinnungsverwandten Schrift-
ſtellern Plato, Kalliithenes und XKenophon den Ephorus noch einmal ganz
bejonders nennt, jondern auch der Vergleich der Polybiusftelle mit Divdor
VII, 14, 3. ©. €. Meyer a. a. 9.
1) ("Egpogos, Zevopov etc.) noAvv dr tıva Aoyov Ev Errıuetow dıe-
tiyevrai, Pdoxovres Tov Avxoüpyov uovov TWv YEyovorwv Ta ovv&yorra
TEeIEWENKEraL" dvolv yao örvrwv, di’ Wr owleraı nohitsvua n&v, vis 71905
Toüs noAsulovs dvdosias, zul INS TOO OpEs wuTovs Öuovolas' davnon-
x0Ta ımv nheoveiiav, «ua Tavrn Gvvavnonxevaı naoav Eugpvsuov die-
Yoo«@v zei ordow' n xai Aaxedauuoviovs EXTOS OvVras Tov zaxov
Tovtwv xzdhlıora tov 'EAlnvwv Ta noös Opds avrovs nolı-
TEVEOF+aı zal Ovupgoveliv tavıd,
2) ©. oben ©. 115. — Das beweist übrigens ſchon die Schrift des
Stoifers Sphärus Meoi Aazwrızns nokreies, deren Hauptzweck der war,
dem Könige Kleomenes III. durch ein Idealgemälde Altipartas die hiftoriche
Grundlage für jeine Sozialveform zu jchaffen.
128 Erſtes Buch. Hellas.
find,!) heißt es von dem ſpartaniſchen Staate unter anderem, daß
hier die Vorzüge und igentümlichkeiten der beiten Berfafjungs-
arten jo glücklich mit einander verbunden waren, daß niemals durch
das Überwuchern eines Teiles das für die Gefundheit des Staates
unentbehrliche Gleichgewicht aller politischen Faktoren geftört werden
fonnte;2) — und weiter: „Zur Bewahrung der Eintracht unter
den Bürgern, zur Erhaltung des Gebiets und Sicherung der Frei—
heit bat Lykurg in Gefeßgedung und DVorausfiht der Zukunft jo
meifterhaft gehandelt, daß man verjucht ift, eher an göttliche, als
menschliche Weisheit zu denken. Denn die Gleichheit der Güter,
die Gemeinjamfeit vesjelben einfachen Lebenswandels mußte die
Bürger zur Selbjtverleugnung erziehen und dem Staate unerjchüt-
terlichen Frieden fichern.“ 3) Hier, meint Bolybius, war die Selbft-
genügſamkeit Lebensprinzip,t) jene avragxsır, die wir bereits als
ftoifches Lebensidal fennen gelernt haben.>)
Diejelben Anſchauungen gibt endlich die analoge Darftellung
in Plutarchs Lykurgbiographie wieder, in der höchltens die Form
Eigentum des Verfaſſers, aber gewiß fein einziger neuer Zug zu
dem überlieferten Spealbild hinzugefügt it. ES wird hier den
lykurgiſchen Inſtitutionen nachgerühmt, daß durch fie Überhebung
und Neid, Luxus und die noch älteren und ſchlimmeren
Krankheitserſcheinungen der Gefellichaft: Armut und Reich:
tum aus dem Staate verbannt worden jeien.6) Die Tendenz dieſer
Inſtitutionen gehe dahin, daß alle Bürger gleichen Loſes und gleicher
!) Bgl. dv. Scala: Die Studien des Polybius I, 201 ff.
2) AV, 10:
>) VI, 48. H uev ydo negi Tas xTnosıs looryg xal neoi ınv diaırav
apeleıe xal xoworns oWgpogovas uev Eushle Toös zart’ idiav Biovs napa-
GREVEOEIV, KoTaolaotov BE mv xoıwnv nagekcodaı nolıtelar,
*) jb. neoi Tois zur’ idiav Plovs aVT«oxEIs LVTOUS NUDEOKEIKEE
xzaı Autovc.
5) cf. c. 31. (Avzoveyos) no05 Tovro ovverafe xal oVvjouooeV,
onws EAsvFegior zei AUTEQREIS yervousvoi xal OWgppovoVvres Enni nAEloTov
xo0vov diateivoıv.
6) Lyfurg ec. 8.
1. 7. Der Eozialftaat der Legende und das fozialiftiiche Naturrecht. 199
Stellung mit einander leben follen, daß fie nur einen Unterjchied
anerkennen jollen, den der Tugend.!) — Belonders das Inſtitut
des Eijengeldes hat nach diefer Auffaffung Wunder gewirkt. Mit
dem Gold- und Silbergeld joll eine Unfumme von Immoralität
von vornherein in Wegfall gekommen fein. Diebjtahl und Be-
ftehung, Betrug und Naub feien völlig gegenjtandslos geworden,
weil es feine Werte gab, welche die Habjucht reizen fonnten!?) In
ebenfo naiv übertreibendem Ton wird — im Anſchluß an eine
Hußerung Theophrafts, alfo wieder eines Schriftitellers des vierten
Sahrhunderts — von den Syflitien gerühmt, daß durch fie der
Neichtum allen Neiz verloren habe und jelber zur Armut geworden
jei, daß Sparta — wie das Sprichwort jage — das einzige Land
jei, wo der Neichtum feine Augen babe und daliege gleich einem
Bilde ohne Seele und Leben?) In der That ein Staatswefen,
deſſen Schöpfer wohl diejelbe Freude über fein Werk empfinden
fonnte, wie Gott, als er den Kosmos ſchuf!“) Und die Bythia
hatte vollfommen vecht, wenn fie in den — ſchon von Ephorus in
jein Gejchichtswerf aufgenommenen — Berjen die den Spartanern
gewährte evvonie als eine Gabe rühmt, wie fie feinem anderen
irdiſchen Gemeinwejen zu teil werden wiirde.)
1) ib. (Avxovoyos) — ovvensioe — Lbnv uet’ aAlnlov ünevras
ouwkeis zul dooxAmgovs Tois Ploıs yevousvovs, To dE nOWTeiov der]
ustiöovras' as dAAns Ereow 7Io0g Eregov 00x ovons diapopas ovdE avı-
oorntos, nAnv 6omv aioyowv Woyos volle zei zaAov Entavos.
2) ib. c. 9. VBgl. diefelbe Behauptung im „Staat der Lac.“ e. 7:
To ye unv EE ddixwv yonuarilsodeı zul Ev Tols toLovrors diexwAvoer
(Avxovoyos).
3) ib. ec. 10. weitov de (mv) To Tov nAovrov dlmdov, as gyoi
Ozopoaoros, zul anAovrov AanEoyALoaod+aı tn xowörnt Tov deinvov xai
Tu negi Tv diestev sureheig. Xomoıs ydp oVx mv ovdE anoAavoıs ordE
oyıs OAws m Enideilis ıms noAhms napaoxsvuns Ei TO avro deinvovr to
nevntı tod nAovoiov BadiLovros‘ worte rovro dn To Hovkovusvovr Ev uovn
tov Uno Töv MAıov noAewv tn Indorn 0WLEoHaL, Tuphov Ovra tov nAovrov
zei xElusvov, WOEE Yyoapnv dıpvyov zal dzivntov.
2r1b..e2 29.
5) Divdor VII, 11.
Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u, Sozialismus. I. 9
130 Erſtes Buch. Hellas.
Man ſieht, das traditionelle Bild Altſpartas zeigt weſent—
liche Züge des Staatsromanes; und wenn man dieſe Dichtungs—
gattung im Sinne Schillers treffend als „ſentimentale Idylle“
bezeichnet hat, was iſt der Muſterſtaat Sparta anderes, als eine
ſolche Idylle, als „die Ausführung eines poetiſchen Bildes, in
welchem der Kampf, die Spannung, die Not der mangelhaften
Wirklichkeit völlig abgeworfen wird und das reine Ideal des
Denkers in reiner und ſtolzer Geſtalt ſich als das echte Wirkliche
darjtellt?” 1) Es ift vollfommen zutreffend, wenn Montesquieu —
allerdings ohne fich der Tragweite feiner Worte bewußt zu jein —
von der Lyfurgbiographie jagt, er habe angefichtS der hier gejchil-
derten Einrichtungen bei der Lektüre ftet3 den Eindruck gehabt, als
lefe er die „Geſchichte der Sevarambier”, den befannten Sozial—
roman von Vairaſſe.?)
In richtiger Erkenntnis der Berührungspunkte zwiſchen Theorie
und Tradition, wern auch ohne Ahnung von dem legendenhaften
Charakter der legteren, der eben dieje Berührungspunfte erklärt, —
macht Plutarch die Bemerkung, daß das Ziel, welches einem Plato,
Diogenes, Zeno u. A. bei ihren Theorien vorichwebte, duch den
Gefeßgeber Spartas zur Wahrheit gemacht worden jei, indem er
einen über alle Nachahmung erhabenen Staat ins Dafein gerufen
und denen, welchen das Ideal des Weiſen jelbjt für den Einzelnen
unerreichbar exjchienen, eine ganze Stadt von Weiſen vor Augen
geitellt habe. 3)
1) Definition des Staatsromans bei Rhode ©. 197.
2) Esprit des lois IV, 6. Eine Beobachtung, die ihn — dank feiner
Duellengläubigteit — nicht hindert, Sparta, ala die „vollfommenfte wirkliche
Republik“, der „erhabenften idealen Republik“, der platonifchen, ſowie dem
fommuniftiichen Sejuitenftaat in Paraguai an die Seite zu ftellen.
3) Ebd. ec. 31. V dE or yoduuara zai Aoyovs, dAR Eoyo moAt-
TEIEV auiunrtov Eis Pos TOOEVEYRUUEVOS Xui Tols EvunaoxTov eivau
nv Aeyousvmv neol Tov 00opov diedeoıw vnokaußevovoıv Enıdeitas
oAnv Tnv nolıvy pikocopovoev. Bol. übrigens ſchon Plato Prota=
goras 342d.
sa nach Plutarch (e. 30) macht Alt-Sparta gar nicht einmal mehr
I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 131
Eine Stadt von Weifen! Was föünnte bezeichnender jein für
die Speenverbindungen, aus denen der Idealſtaat Sparta erwuchs!
Wir jehen an diefer Wendung, wie das idealifierte Sparta zugleich
als das politiiche Seitenftüd, als Ergänzung zu dem indivi—
duellen Idealbild der Sittlichkeit diente, welches die griechifche
Moralphilojophie jeit den Cynifern, insbejondere die Stoa, in dem
Begriff des „Weiſen“ gejchaffen hat.!) Wie die ftoifche Ethik in
diefem Begriff eine yavraoia zeraknreızn, ein mit unmittelbarer
Überzeugungskraft wirkendes Bild, ein „Kriterium“ bejaß, dem fie
die Norm für das individuelle Handeln entnahm, jo ift das Ideal—
bild des altipartaniichen Staates für fie ebenfalls eine jolche
gyavraoia »aralnntıxn, weldhe das zoımmorov uns aAndeias
für die beſte Gejtaltung des jtaatlichen Gemeinichaftslebens ent-
bielt.?)
Wenn aber der altipartanijche Staat in diefem Maße den
Forderungen des VBernunftrechtes entiprach, jo lag darin zugleich
für die Anſchauung aller derer, die, wie die Stoa, in dem „Geſetze
der Vernunft“ das der Natur jelbit erblickten, eine prinzipielle Über-
einftimmung mit den Forderungen eines idealen Naturrechts.
Sn der That berührt fih die Lehre vom Naturzuftand mit den
geſchilderten Anſchauungen über Altiparta jo nahe wie möglich.
Finden wir nicht die Hauptzüge desjelben: die Bedeutungsloſigkeit
der wirtjchaftlichen Güter, die Freiheit von jeder Pleonerie und
allen Störungen des Jozialen Friedens, die Genügjamkeit, Gleich—
den Eindrudf eines Staates, jondern den eines Hauſes eines einzigen weiſen
Mannes: Wr Enızgerovvrwv (se. vouwv) e0TE009 ov noAsws 7) Lrndorn
nolıteiav aA avdoos doxnTov zei oopod Piov Eyovoa xrA.
) Für die hier verfolgten Sdeenzufammenhänge ift auch bezeichnend
die Vorftellung des Bofidonius über die Herrjchaft der Weiſen in der jeligen
Ürzeit. Vgl. Senefa: Epist. XIV. 2. 5: Illo ergo seculo, quod aureum
perhibent, penes sapientes fuisse regnum Posidonjus judicat.
2) Übrigens hat ſchon Plato diefen Ton angejchlagen, indem er Sparta
wenigftens in Beziehung auf die Grundlagen feiner Verfaſſung al3 einen
gejchichtlich gegebenen Mufterftant (naoddeıyua yeyovos) anerkennt. Leg.
692 c.
9*
132 Erſtes Buch. Hellas.
heit und Brüderlichkeit, furz die Harmonie des inneren und äußeren
Lebens — in genauer wörtlicher Übereinftimmung in dem Bilde
diefes idealen Mufterftaates wieder? Daß bier ein Zufammenhang
der Seen befteht, erſcheint mir unzweifelhaft. Iſt es doch, wie
wir jehen werden, jchon von Plato direft ausgejprochen worden,
daß der beite unter den bejtehenden Staaten derjenige fei, der in
jeinen Snftitutionen möglichit die Lebensformen des Naturzuftandes
nahahme,!) daß es die höchſte Aufgabe der Staatsfunft jei, eben
jenen Idealen ſich zu nähern, welche fich mit der Borftellung eines
glücklichen Urzuftandes der Menjchheit verbänden.?2) Welcher Staat
hätte fich rühmen können, diefes Ziel ernjtlicher verfolgt zu haben,
als Sparta?
Für den angedeuteten Einfluß der Lehre vom Naturzuftand
it beſonders charakteriftiich die Art und Weife, wie die Vor—
ftellungen über Sparta unmittelbar an das Leben der Naturvölfer,
ja jogar gewiljer gejelliger Tiere anknüpfen. Für eine Anſchauungs—
weife, welche in dem „Naturgemäßen” die abjolute Norm und
Richtſchnur aller menjchlichen Ordnungen ſah, lag es ja überaus
nahe, ſich auf jene merkwürdigen Formen des Gemeinjchaftslebeng
zu berufen, welche wir bei den „von Natur gejellichaftlichen” 3)
Tieren, wie 3. B. bei den Bienen finden. Der Bienenftaat mit
feiner ftrengen Unterordnung der Individuen unter die Zwecke der
Geſamtheit, mit jeinen jozialen Einrichtungen von mehr oder minder
ſozialiſtiſchem und fommuniftiihem Gepräge:) erſchien auf dieſem
) 2eg. IV, 73la: Tav yao di) noAswv, ov Eung009E Tas Evvorxmocıs
dinAHouerv, Er E0TEE« Tovrwv naunokv AEyerai Tis dEyN TE xal oixmoLS
ysyovevav Eni Koövov uad’ evdaluwv, 75 ulumue &yovod Eotıw NLıs Tov
vov GpLOTa olxeitat.
2) Ebd.
®) Cic. de off. I, 2.
4) Dab diejelben von den Alten genau beobachtet waren, zeigt Virgils
Georg. IV, 153:
Solae communes gnatos, consortia tecta
Urbis habent magnisque agitant sub legibus aevum,
i. 7. Der Sozialftaat der Legende und das fozialiftiiche Naturrecht. 133
Standpunkt — als eine gottgewollte Naturordnung!) — zugleich als
Vorbild für den Menjchen jelbit. Wenn der Menſch das, was
hier der Inſtinkt des Tieres unter dem unmittelbaren Antrieb der
„göttlichen Natur“ ſchuf, in feinem vernunftgemäßen Handeln nach-
bildete und zur Bollendung brachte, folgte ev da nicht dem Gebote
der großen Zehrmeifterin ſelbſt? Je beſſer daher Staat und Gejell-
ihaft georonet find, um jo mehr werden fie nach diefer Anſchauung
in ihren Einrichtungen jenen Gebilden einer unverfälichten Natur
gleichen,2) die den Romantiker wie ein leibhaftiger Überreft aus
der glücdlichen Urzeit jelbjt anmuteten. ine Auffaffung, mit der
wohl auch die Anficht zufammenhängen wird, daß die Bienen und
ver Bienenftaat ihre Entjtehung dem Zeitalter des Kronos zu ver-
danken hätten.)
So dürfen wir uns nicht wundern, daß man jelbit die ftrengfte
und einfeitigfte, eben an den Tierjtaat erinnernde Form, welche
das Gemeinjchaftsprinzip im ſtoiſchen Gejellichaftsideal annahm,
ein herdenartiges Gemeinjchaftsleben, in Sparta verwirklicht fand.
Nach Plutarchs Lykurgbiographie waren die Spartaner mit ihrem
Gemeinwejen verwachlen, wie die Bienen mit ihrem Stod (worreg
uekırraı To zomm ovugveis).t) Sie werden geradezu al3 ein
„vernunftbegabter Bienenſchwarm von Bürgern” (Aoyızov zei
zrokırızov ounvos) bezeichnet.>)
1) Zeus jelbit joll den Bienen ihre Natur gegeben haben. Birgil
(ebd. 149), der auch hier jelbftverftändlich nur ältere Borftellungen wiedergibt.
?) Wir finden noch einen Niederichlag diefer Anſchauungsweiſe aller—
dings in etwas anderer Faſſung in der jpäteren Litteratur 3. B. bei Didymus:
Geop. XIV, 3: zei ») nodıreia Tovtov tod Iwov 90080128 Tais udhiore
evvouovusvaıs Tov nölewrv.
3) „Saturni temporibus* wie es in Golumellas (R. r. IX, 2) Zitat
aus Nikander, einem griechiichen Autor des 2. Jahrh. dv. Ehr., heißt.
4) c. 25. Dgl. dazu die oben ©. 116 erwähnte Forderung Zenos:
eis dE Blos 7 zei x00u0s WOorEE Ay£hns ovrvvöuov vouw KoırW) ovr-
Toepouerns.
5) Plutarch a. a. D. Im Sinne diefer Auffafjung jagt übrigens ſchon
Plato (leg. II 666) von den Spartanern: olov aIo00VS nwAovs Ev dyeiy
134 Erites Buch. Hellas.
Nicht minder nahe lag es bei der angedeuteten Ideenver—
bindung Sparta und die Naturvölfer unter einem Gefichtspunft zu
betrachten. Wird doch ſchon bei Äſchylus das Land der Sfythen,
der typiichen Nepräjentanten des Naturzuftandes, und gemeinjam
mit ihm Sparta als „Wohnfiß der Gerechtigkeit“ gepriefen!?)
Und es liegt gewiß nur an der Lücenhaftigfeit unferer Über-
lieferung, daß wir dieſe Parallele nicht weiter verfolgen können.
Ichien nicht in dieſem „Wohnſitz der Gerechtigkeit” Die
jelige Urzeit eines unverfälichten Naturdaſeins ſelbſt wiederaufzu—
leben? In der That, wie den Schilderungen eines goldenen Zeit:
alters in der attiſchen Komödie und den platonifchen Staatsidealen
eine Neihe von Zügen des ſpartaniſchen Staats: und Bolfslebens
als Vorbild gedient hat,2) jo hat ganz unverkennbar die gejchichts-
philoſophiſche Spekulation umgekehrt die theoretischen Anſchauungen
über den Naturzuftand und eine naturgemäße Geſellſchaftsordnung
ohne weiteres auf Sparta übertragen. In der Lyfurgbiographie
Plutarchs werden 3. B. die eigentümlichen Ehegebräuche Spartas
ausdrüclich als „naturgemäße” roa«rrousve pvoızos) hingeftellt.?)
Ganz im Sinne des unfchuldigen Naturzuftandes, in dem es fein
Hlutvergießen und fein Töten der Tiere gab und der Menſch fich
mit einfacher vegetabiliicher Nahrung begnügte, wird bier ferner
veuousvovs pooßddas tous veovs xExrn09e. Dal. die Parallelen mit dem
Bienenftaat Rep. VII, 520b und 564e
!) Eumeniden 703 ff. heißt es vom Areopag:
toivds toi taoßovvres Evdixws Eßas
Egvud TE YWous zei NOAEWS CWTMELOV
&yoıt’ @v olov ovrıs avdeWnwv Eyeu
ovr’ Ev 3xvFaıoıy ovre llEAornos Ev Tonorc.
2) Bgl. Bergt: Comment. de reliquiis comoediae Atticae antiquae
p. 197 ff. mit Bezug auf die Komödie des Kratinus vom „Reichtum“.
3) Zugleich aber auch ala wahrhaft „politiiche” ro«rroueva noAırıza s.
e. 15. Natürlich wird dabei die Bedeutung diefer Gebräuche weit überjchäßt.
wenn es im Hinblick auf fie von dem Geſetzgeber heißt: ovx Ex Wr ruyor-
zwv, aAN Ex TOv aolorwv EBovAsro yEyovoras Eva Tovg a — ie
im Staate Platos!
I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das ſozialiſtiſche Naturrecht. 135
der Lebensordnung des lykurgiſchen Staates die Abjicht einer mög-
lichſten Beſchränkung, wenn nicht völligen Befeitigung der Fleiſch—
nahrung zugejchrieben. ES fommt in diefer Auffaffung die an fich
ja ſehr berechtigte Anfiht zum Ausdruck, daß die joziale tot der
Zeit und die VBerichärfung der fozialen Gegenſätze zum Teil wenig:
ftens in einer falichen Lebensweife und deren Folgen: der Genuß:
jucht, der fortwährenden Steigerung des Bedürfniſſe und der enge
damit zufammenhängenden allgemeinen Unzufriedenheit wurzle, daß
die Rückkehr zu einfacheren, natürlicheren und gejunderen Lebens—
verhältniffen eine Hauptbedingung aller jozialen Reform jet. Und
wie man von diejer richtigen Einficht aus alsbald zur einfeitigen
Berherrlihung einer rein vegetarifchen Lebensweiſe fortſchritt,) Fo
jah man auch diejes deal in dem Staate, der ja tbatjächlich auf
eine natürliche und gefunde Lebensweife feiner Bürger am folge:
tichtigften hingearbeitet hatte, mehr oder minder verwirklicht.
Bei der Berechnung der Abgabe von Getreide und Früchten,
welche die Spartaner von den Helotenhufen bezogen, ſoll nämlich
der Geſetzgeber von der Anficht ausgegangen jein, dab fie außer
diefen Erzeugniffen des Bodens für die Erhaltung des Wohlbefindens
und der Gefundheit feiner Nahrung weiter bedürften.?) Mit gutem
Grunde hat daher auch das Evangelium des DVegetarianismus, die
Schrift des Porphyrius von der Enthaltfamfeit mit der aus Dikäarch
entnommenen Schilderung des Naturzuftandes eine Verherrlihung
Sparta3 als desjenigen Staatsweiens verbunden, in welchem fich
die idealen Urzuftände von Hellas verhältnismäßig am veinjten
i) Bol. ſchon Plato Rep. II, 372b ff. Auch hier berührt ſich übri-
gens Altertum und Neuzeit in ihren Ideen unmittelbar. Vgl. 5. B. Die
Schrift des Vegetarianers Heller: Elend und Zufriedenheit. Uber die Ur—
ſachen und die Abhilfe der twirtjchaftlichen Not.
2) Lyk. ec. 8. Aoxlocıw Yao Wero ToGoVTov @vrois TNS Toogns
1005 gVellav zei vyısiav ixavns ahhov de undevös demoouevovs.
Nach ec. 12 enthalten fich wenigftens die Alteren der Fleiſchnahrung voll-
ftändig: Tu de vor evdoziusı udhore neg’ avrois 6 uehas Swuos,
wore undE xosadiov deiodaı rois nIQEOBVTEDOVS, alla TaoeywoeEiv
Tois veavioxos, errors dE Tod Lwuov xarayeouevovs Eotiaodlt,
156 Erſtes Buch. Hellas.
erhalten hätten.) ine Beobachtung, die der Neuplatonifer natür-
lich nicht als der Erſte gemacht, jondern wohl ſchon bei feinem
Gewährsmann Dikäarch gefunden hat, deſſen — in Sparta begeiftert
aufgenommene — Lobjchrift auf den jpartanischen Staat gewiß
von demfelben Gedanken beherrieht war. Ja ich zweifle nicht, daß
Dikäarch feinerfeitS damit nur einer Anſchauung Ausdrud gab,
die ihm in der vorhandenen Litteratur über die ältefte griechiſche
Geſchichte ebenjo fertig entgegentrat, wie die Lehre von der Ent:
wiclung der helleniſchen Menjchheit aus dem Naturzuftand jelbft.
Übrigens waren in Sparta ja auch die realen Vorausfeßungen
für eine Verwirklichung diejes Gejellfehaftsiveales in ganz hervor—
ragender Weife gegeben. Diejelbe Freiheit von der Mühjal und
Sorge der Arbeit, welche nad) der Lehre vom Naturzuftand Die
ältefte Menfchheit ihrer Bedürfnisloſigkeit und ihrer Befchränfung
auf die freiwillig dargebotenen Gaben der Natur verdanfte, gewährte
den Spartiaten die Drganifation der Gejellichaft, welche dem Voll—
bürger alle Exwerbsarbeit abnahm und dieſelbe auf die Schultern
einer abhängigen außerhalb der Gemeinschaft Ttehendeu Bevölkerung
abwälzte.2) Ein großer Teil der wirticehaftlichen Schwierigkeiten,
die ſich der Nealifierung gejellfehaftlicher Idealgebilde entgegen:
zuftellen pflegen, kam bier von vorneherein in Wegfall.) Kein
DEV zoo:
2) Vgl. Staat der Laced. c. 7. Evarria yE umv xai tdde Tois
adhkoıs EAAmoı zareornoev 6 Avxovoyos &v rn Incorn vouue. Ev usv
yco dymov tais ahkaıs noAeoı navtes yonuarilovrau 000v dvverıai, 6
usv ydo yEwoyei 6 de vovximgei ö de Eunogsvera, oi dE zwi and Tey-
vov to&povraı, Ev de ın Lrndorn ö Avzovgyos Tois uev ElevdEgois TOV
dupi yonuarıouov aneine undevös ünteode, 00« Ö’ Elevdegiav Tais
noAs0ı negaoxevaleı, taüra Erafe uöva Eoya avrov vouitew.
3) Schon Aristoteles hebt in feiner Kritik des platonischen Kommunis—
mus mit Necht hervor, daß demjelben viel weniger Schwierigkeiten da im
Wege ftehen, wo die Beſitzer nicht zugleich Bebauer des Bodens find. Pol.
II, 1, 2. 1263a: Ereowv uv orv Orıwv TWv ysopyovvrwv @kkos av Ein
Toonos zul Ödwv Sc. xoımv noisiv mv Yooav, avrwv d’ Eavrois die-
novodvrwy Ta neol Tas zımocıs nAeiovg dv napeyoı dvoxoklas' zu.
I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das jozialiftiiche Naturreht. 137
Wunder, daß die hiftoriiche Spekulation das Ideal, welches ſich
auf dieſem günftigen Boden in der Phantaſie aufbauen ließ, auch
fait bis in die legten wirtjchaftlichen Konjequenzen ausgebildet hat.
Eine völlig getreue Reproduktion des Naturzuftandes konnte
man ja allerdings jelbjt in der Eigentumsordnung diejes Miufter-
volfes nicht erbliden. Während dort der Boden und jeine Früchte
allen gemein gewejen, wie Luft und Sonnenlicht, war bier auf
Grundlage eines fejt geregelten Agrarſyſtems der Boden unter die
Einzelnen verteilt und ſelbſt dem von der Gemeinjchaft ausge
ſchloſſenen Bebauer des Aders durch die glebae adseriptio ein
individuelles Anrecht auf denjelben eingeräumt. Aber joweit einem
ungeſchulten volfswirtichaftlihen Denken und einer ungezügelten
Phantafie innerhalb dieſer Schranken eine Annäherung an den
Kommunismus der Urzeit erreichbar jchien, jo weit ift die im
Zauberring der Nomantif gefangene Hijtorie des ſpätern Griechen:
tums in ihrer Spealifierung der jpartaniichen Agrarverfaſſung that-
Jählih gegangen. Für ihre Anfchauungsweife war ja eine freie
Entfaltung der fittlichen Ideen im Volks- und Staatsleben nur
verbürgt bei möglichiter Gleichheit der Lebenslage aller Bürger. Wie
hätte jie ſich alfo eine Gejellichaftsordnung, in der fie den böchiten
Triumph der Sittlichfeit über die materiellen Intereſſen erblicte,
ohne die weitgehendfte Gleichheit der wirtichaftlichen Güter denken
fönnen! Und wo hätte der Doftrinarismus diefer Zeit fich bedacht,
die logiſchen Folgerungen, die er aus dem Wejen einer jolchen
Gejellfehaftsordnung in Beziehung auf ihre notwendigen Lebens—
äußerungen 309, jofort in angeblich geichichtliche Thatſachen um—
zujfegen?!) Sp erjcheint denn für dieſe Auffaffung die Teilung
ı) Wie aukerordentlich Leicht Fich die Legendenbildung auf dieſem Ge-
biete vollzog, dafür bietet ein draftisches Beiſpiel auch die bei Juſtin (III, 2)
erhaltene Angabe, dab das Iyfurgiiche Sparta von der Geldtwirtjchaft zum
reinen Naturaltaufch zurücgefehrt jei. (Lyceurgus) emi singula non
pecunia sed compensatione mercium jussit. Auri argentique usum
velut omnium scelerum materiam sustulit. Der Urheber diejer Anficht ging
offenbar don dem Gedanken aus, daß ein Staat, in welchem der Erwerbs:
138 Erſtes Buch. Hellas.
des Spartanifchen Grund und Bodens ganz jelbitverjtändlich wie
eine „Teilung unter Brüdern”; und wenn in der Urzeit, — um
mit Suftin (d. h. wahrjcheinlich mit Ephorus) zu reden — eine
Gemeinschaft des Belites bejtanden hatte, al3 ob „Alle insgejamt
nur Ein Erbe hätten“,') jo konnten die Bürger des jpartanischen
Mufterftaates wenigftens ſoviel von fi) rühmen, daß es auch unter
ihnen feine Enterbten gab, daß jeder von ihnen den gleichen Anteil
am „Bürgerland“ als fein angeborenes Necht beanjpruchen durfte.
Wie dieje prinzipielle Gleichheit des Grundbeſitzes im einzelnen
durchgeführt war, ob es überhaupt möglich war, diejelbe bei der
wechjelnden Bürgerzahl aufrechtzuerhalten, ohne gleichzeitig die Zahl
und Größe der Landhufen immer wieder von neuem zu Ändern,
darüber hat man fich natürlich wenig Gedanken gemacht. Man
ftellte fich die Sache jehr leicht und einfach vor. Wie im Otaate
der alten Beruaner jeder Familienvater bei der Geburt eines Kindes
ein neues Stüd Land zugewieſen exhielt,2) ebenjo joll in Sparta
jedem neugebornen Knaben, deſſen Aufziehung bei der Vorftellung
in der Gemeindehalle (LXesche) von den Stammesälteften gebilligt
war, eine Landhufe zuerkannt worden fein.?) Wodurch die Älteſten
trieb mit all jeinen unfittlichen Konfequenzen radikal ausgerottet fein jollte,
ein der Anfammlung fähiges Taufchmittel, irgend ein „Geld“ überhaupt nicht
zugelafjen haben kann. Dieje logiſch forrefte Schlußfolgerung genügte, da—
raus eine geichichtliche Thatſache zu formulieren und fie al3 jolche weiter zu
überliefern. — In diejelbe Kategorie gehört die Notiz bei Suftin III, 8
(Lyeurgus) virgines sine dote nubere jussit; ganz jo wie Plato in feinem
Gejegesftaat! ©. unten Kap. III. Auch diefe Anficht hat ſich Plutarch an—
geeignet. Apophthegm. Lac. p. 149 Lye. 15.
') XLIII, 1: veluti unum cunctis patrimonium esset! cf. Plutarch:
Lykurg 8: 7 Aazwrırn gaiveraı naoa nolAov adeApav Eivaı vewoti vers-
unusvorv,
?) Dal. Steffen: Die Landwirtſchaft bei den altamerifanijchen Kultur:
völfern. ©. 76 f.
3) Lykurg e. 16: TO dE yerındEv 00x mv zUglos Ö yErıjoas toEgpeır,
EAN Epege hußov eis Tonov rıva Akoyyv xahovusvov Ev ® zasImjusvor Tav
pvAsrav oi noEOBUTaTOL Katauadovres TO naıdagıov, El uev Eunayes Em
I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 139
in die Lage verjeßt wurden, jedem Anſpruch diefer Art zu genügen,
wird uns nicht gejagt; wohl aber wijjen wir, daß die Angabe in
Ichroffem Widerfpruche jteht mit allem, was jonjt über das jpar-
tanifche Güterrecht überliefert ift. Denn es leuchtet ein, daß, wenn
der Staat jeden neugeborenen Bürger mit einem #4r,00c ausstatten
wollte, der ganze Grund und Boden jederzeit der Geſamtheit zur
Verfügung jtehen mußte, ein dauerndes Beſitzrecht des Einzelnen
insbeſondere jedes Erbfolgereht von vorneherein ausgeichloffen
war,!) während doch derjelbe Plutarch, der die genannte Legende
unbedenklich wiedergibt, an anderer Stelle zugeitehen muß, daß in
Sparta jeit uralter Zeit die Landloje regelmäßig auf dem Wege
der Vererbung vom Vater auf den Sohn übergingen.?) Ebenſo
hätte es für eine nüchterne und unbefangene Betrachtung der Ver:
gangenheit klar jein müſſen, daß die Legende unvereinbar it mit
der thatjächlichen Entwiclung der Jozialen Verhältniſſe Spartas,
mit der hier bis ins fiebente Jahrhundert zurüczuverfolgenden wirt-
Ichaftlichen Ungleichheit unter den Bürgern.
Zu jolch kritifchen Erwägungen war aber freilich die Gejchicht-
ſchreibung, auf die wir in diejen Fragen angewiejen find, nicht im
Stande, am wenigjten diejenige, bei welcher uns die Legende von
der prinzipiellen Gleichheit des ſpartaniſchen Grundbefites mit am
früheften entgegentritt, das Gejchichtswerf des Ephorus. Die all-
zei ÖwuckEov, ro&peıv Ex£levov, xAMDO0v avro tov Evazıoyıklov
ng00vELU«VTES.
!) Daher begegnen wir im Inkareich neben der genannten Sitte gleich
zeitig der ftrengften Feldgemeinjchaft. Die Felder gehörten Hier dem ganzen
Dorf und fielen ſtets wieder an die Gemeinde zurücd, ſie fonnten weder ver—
äußert noch vererbt werden. Alljährlich wurden fie von neuem verteilt, wo—
bei der Einzelne bald mehr, bald weniger erhielt, je nachdem die Kopfzahl
jeiner Familie ab- oder zugenommen hatte. Vgl. Steffen a. a. D. ©. 77.
2) Agis e. 5. Die Berfuche, die Angabe Plutarchs jo umzudeuten,
daß der Widerſpruch mit den Thatſachen wegfällt, z.B. die Erklärung Schö—
manns Griech. Alt. I? 271 (cf. Hermann Ant. Lac. p. 188 ff. 194), thun
nicht nur dem klaren Wortlaut Gewalt an, jondern verfennen auch den Zu:
fammenhang der Borftellungen, aus dem fie allein verjtanden werden kann.
140 Erſtes Buch. Hellas.
gemeine Auffaffung des Ipartanischen Staates bei Ephorus, ſowie
jeine Schilderung des ſkythiſchen Naturvolfes ift Beweijes genug
dafür, was die Rhetorik der tjofrateischen Schule in der Spealifierung
gejchichtlicher Zuftände zu leiften vermochte. Der Schüler erjcheint
bier von denſelben phantafievollen Glücjeligkeitvorftellungen, von
denfelben Slufionen über eine verlorene beſſere Vergangenheit er-
füllt, wie fie in den Schriften feines Lehrers zum Ausdruck fommen.
Man vergegenwärtige ſich nur die Art und Weiſe, wie So:
frates die „aute alte Zeit“ der atheniichen Demokratie jchildert!
Diejes Altathen des Sokrates hat den Weg zum jozialen
Frieden gewirflich gefunden. Der Wettjtreit der Parteien, der nicht
fehlte, war hier nicht ein Kampf um die Macht oder die Ausbeu-
tung der Herrjchaft, jondern ein edler Wetteifer, fich gegenfeitig mit
Dienftleiftungen für das gemeine Beſte zuvorzufommen. Wo der
Trieb zu genoſſenſchaftlichem Zuſammenſchluß die Bildung von
kleineren Berbänden und Vereinigungen veranlaßte, galt es noch
nicht der einjeitigen Förderung von Sonderinterefjen, vielmehr fühlte
fi) jeder Einzelverband nur al3 Drgan im Dienfte des Volks—
interefjes.!) Ein Geift wechjelfeitigen Wohlwollens verband alle
Klaffen der Bevölferung.?) Der Arme fannte noch feinen Neid
gegen den Beligenden und Neichen. Im Gegenteil! Die unteren
Klaſſen jahen in dem Wohlitand der höheren eine Bürgſchaft für
ihr eigenes Gedeihen und waren daher ebenjo eifrig bemüht, vie
Intereſſen derjelben zu fördern, wie die eigenen.3) Die Befigenden
hinwiederum waren joweit entfernt, auf die Armen herabzufehen,
daß fie in der Armut vielmehr einen öffentlichen Mißſtand er—
!) Paneg. 79: ovrw de rolırızas &iyov, WOTE zei Tas oTdoeıs Enor-
oVvro Troös dAAmAovs ouy ÖnoTegoı Tods Erepovs anolkoavres tov koınWr
dofovov, AA onoTegoı pInoovra mv nöhw dya9ov Ti Momoavres’ zul
Tas Eraipeias ovynyov ovy ünto twv idie ovugpsoorrwv, dAA Eni cn Too
nndovs wopeleie.
) Areop. 31: 0v yao uovov nregi TWv xoırov Wuovoovv, aAld zei
regi rov idıov Blov Tooavınv Enowovrro noovoıwv dAlmawv, 00nv TeQ Kon
ToVs EU PoovVoÖrraS zai nrargidos zoLwWwvoVÖvres.
) ib. 32.
— ae
I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das joztaliftiiche Naturrecht. 141
blieften, der den Beſitzenden jelbit zum Vorwurf gereiche.!) Sie
waren daher allezeit bereit, zur Befämpfung der Not die Hand zu
bieten, fei es, daß fie Grundftüde gegen billige Pacht an Dürftige
überließen oder denjelben durch Geldvorſchüſſe die Mittel zum Be-
triebe eines Gewerbes gewährten. Sie hatten ja auch nicht zu
fürchten, daß ihnen die ausgeliehenen Kapitalien verloren gehen
würden. Denn damals war das ausgeliehene Geld ebenjo ficher,
wie daheim im Schranke. — Hier lag in Wirklichkeit die Sache
jo, daß die Fürforge für andere fich zugleich dem eigenen Wohle
förderlich erwies.?) ES verband fich mit der Sicherheit des Eigen-
tums ein Gebrauch desjelben, der dasjelbe gewiljermaßen zum Ge—
meingut aller Bürger machte, die einer Unterftüßung bedurften, 3)
jo daß es damals niemand gab, der jo arm gewejen wäre, um
ven Staat durch Betteln beſchämen zu müfjen.t) Syn der richtigen
Einficht, daß die Not auch die Urſache der fittlichen Mißſtände ift,
hoffte man durch die Befeitigung diefer „Wurzel der Übel“ auch
der leßteren Herr zu werden.?)
In der That ein Zuftand, dem zur Verwirklichung des „beiten
Staates” kaum mehr viel fehlt,6) und der jelbjt die Hoffnungen
!) ib. ... vnoluußdvovres aioyvvnv aitois eivaı Tv TWv nohkt-
Tov anogiev Enmuvvov tais Evdeiaıs.
2) ib. 35: due yco tous te nolites wgekovv zul Ta opereo’ av-
Tov Evsoya zaseotaoerv,
3) ib. xepdhaıov dE Tod zaAos aAAmAoıs Öuikeiv . ei utv yao xri-
es dopekeis n0av, oloısg zarte To dixaiov Ünoyorv, ai dE yonosıs xol-
vi naoı tols deousvoıs tov nolrwrv.
4) ib. 83: 76 de ueyıorov‘ Tore uEv ovdeis jv tWv noAırav Evdens
Tov dvayzaliwv, oVdE TO00GLTWV ToÜs Evrvyyavovras nv noAıv Karjoyvve,
viv de nAslovs Eioiv ol onavilovres TOv Eyovrwv.
5) ib. 44: tous uev yao Unodeeote0ov E«TTOVTaS Eni Tag yEWoYias
zei Eunoplas Ergenov, Eilores Tas anopias usv die Tas doyias yıyvoueves,
Tas dE zuzovpyias die Tas drropias' Evamgoüvres ovr nv coynv Tov
zaxov anahhd£eıv Dovro zai Tov dAhwv ducETNUcTwv Tov uer’ Exeivnv
yıyvousvorv.
6) Für Sokrates ift hier der „beſte Staat” bereits verwirklicht. Er
142 Grftes Buch. Hellas.
derjenigen rechtfertigen fünnte, die an die Möglichkeit einer radi—
falen fittlichen Umwandlung des Menfchengejchlechtes glauben und
davon eine völlige Neugeftaltung der Gefellichaft erwarten. Denn
wenn die Möglichkeit erwieſen ift, die befißenden Klaſſen jo weit
zu bringen, daß fie die Armut des Nächiten als perjönlichen Makel
betrachten, warum ſollte da nicht noch eine weitere Stufe der Ent:
widlung denkbar jein, wo man es jchon als eine Ungerechtigkeit
empfinden wird, überhaupt reich zu jein, während andere darben,
wo jedermann freiwillig auf feinen Überfluß verzichten und alles
an andere abtreten wird, was in deren Händen mehr nützen kann,
al3 in feinen eigenen?
Sedenfalls beſteht eine unmittelbare Kontinuität zwiſchen dem
Ideenkreiſe, aus dem vdiejes Idealbild Altathens bei Iſokrates er-
wuchs, und den idealifierenden Anfchauungen über den jozialen
Mufterftaat Sparta, wie fie in dem Gejchichtswerk feines Schülers
Ephorus zum Ausdruck kamen. Die Grundlage bilden bier wie
dort diefelben fozialpolitiichen Konftruftionen, nicht die ächte Über:
lieferung. |
Wie jehr dieſe ganze Gefchichtichreibung unter dem Einfluß
der Theorie ftand, zeigt recht deutlich die Art und Weiſe, wie ie
die Lehre vom Naturzuftand in die Gejchichte einführte. Wie un-
endlich leicht hat fie es ſich doch gemacht, den Kernpunkt diejer
Lehre, die Vorſtellung von dem idylliſchen Frieden primitiver Volks—
zuftände als gejchichtlich zu erweifen! Nach dem Zeugnis Dikäarchs
bat fich die Lehre vom Naturzuftande äußerlich in der Weije ent-
widelt, daß man von den Mythen über das goldene Zeitalter das
„allzu Fabelhafte” abjtreifte und mit Hilfe derjenigen Elemente der
mythiſchen Erzählung, welche jich vernünftiger Weife als gejchicht-
(ih möglich denken ließen, eine neue Urgeſchichte der Menjchheit
konſtruierte.) Wer wollte andererjeitS bezweifeln, daß unter den
fragt allen Ernſtes: zairor nos dv yEvoıro Tevrns nAelovog a&ia mohıreig,
Ts ovIw xaAos andvrwv Tov no«yuctov Enuusindeions;
5) A. aD. A den xai Eimyoluevos 6 Aızalapyos töv Eni Koovov
Bio» Towovror eivai pnow ei dei haußaveıv uEv auröv Ws yeyovora zei u)
I. 7. Der Soztalftaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 143
Autoren, auf welche ſich Dikäarch bei diejer Gelegenheit beruft, in
erfter Linie eben Ephorus jtand, deſſen gejchichtliche Methode ſich
ja durch diejelbe flache Nationalifierung des Mythiſchen, durch die—
jelbe Berquidung von Fabel und Gejchichte auszeichnet („ovyxeir
Tov TE ng ioTogias zei Tov Tov uvdov vurov!“)!)
Doch wozu bedarf es noch eines Hinweijes auf die Schwächen
dieſer Gejchichtichreibung? Wer die ganze Frage vom univerjal-
hiſtoriſchen Standtpunft aus betrachtet, der weiß, daß wir es hier
mit einer jener Erjcheinungen des menjchlichen Geifteslebens zu
thun haben, die ſich — unabhängig von der erreichten Höhe der
geſchichtlichen Kritik — als das logijche Ergebnis gewiſſer begriff:
bildender Seelenvorgänge von ſelbſt einzuftellen pflegen. In allen
bewegteren Zeiten, in denen die beftehenden fozialen und politischen
Drdnungen berechtigten Bedürfniffen und Wünfchen nicht mehr ent-
ſprechen und zu zerbrödeln beginnen, begegnet uns auch dieſes
Hinausftreben aus dert Zerjegungsprozeß des gegenwärtigen Lebens
in die Welt der Jdeale. In folchen Übergangsepochen ift es felbft
für die ftrenge Forſchung überaus ſchwierig, ſich Durch perfönliche
Wünſche und Hoffnungen nicht den Blick für jene ſchmale Linie
trüben zu laffen, welche die wirkliche Welt von der begehrten fcheidet,
ih das reale Bild des wirtjchaftlichen Lebens und feiner Kaufal-
zujammenhänge nicht durch Idealbilder durchkreuzen zu laſſen. Da—
her ift — von dem römiſchen Altertum ganz zu ſchweigen?) —
auch die hiftorifche Spekulation des neunzehnten Jahrhunderts aus
ähnlichen Motiven zu völlig analogen Anſchauungen über die Ver-
gangenbeit gelangt, wie die des vierten v. Chr. Wir begegnen in
udenv Eerunepnuuevov 10 dE Alav uvdızov aperras — Eis To die
Tod Aoyov pvorxov avayeır.
1) Strabo IX, 3, 12. p. 423. cf. X, 4, 8. p. 476.
2) Es bedarf ja faum eines Hinweiſes auf die römiſche „Baſtard—
Hiftorie” des 4. Jahrhunderts d. St., die im wejentlichen auch nur ein „quaſi—
hiſtoriſcher Abklatſch“ der agrarpolitifchen und ſozialrevolutionären Bewegungen
der grackhifch-Tullanifchen Zeit ift. Mommfen: Sp. Caſſius, M. Manlius,
Sp. Mälius, die drei Demagogen der älteren republifanifchen Zeit. Röm.
Forſch. 11 153 ff. bei. ©. 198 f.
144 Erſtes Buch. Hellas.
unferem von fozialveformatorischem Geift durchdrungenen Zeitalter
auf fozialpolitiichem Gebiete gejchichtlichen Konftruftionen, deren
quellenmäßige Unterlage faum weniger problematijch ift, als bie
Anficht der Alten über die prinzipielle Gütergleichheit Spartas. Ich
erinnere nur an die Nolle, welche die ojtjlavische Dorfgemeinschaft
(dev ruſſiſche Mir) in der modernen Agrargefchichte geipielt hat.
Diefer Slaviiche Gemeindefommunismus verwirklicht die genannte
Gütergleichheit durch einen periodiihen yjs avadaouos nad) der
Kopfzahl in radifaliter Weife, während die altgermanijche Feld-
gemeinjchaft — in den Zeiten der Seßhaftigfeit wenigſtens — feine
Spur von einem ſolchen Syſtem erkennen läßt.!) Trotzdem hat
man vielfach, wie 3. B. Laveleye, die germanische Dorfverfaflung
al3 das vollfommene Abbild der oftjlaviichen, die germanijche Ge—
meinde als ein vollfommen „kommuniſtiſch organifiertes” Gemein-
wejen?) hinftellen können! Die modernen Verfündiger des fozia-
liftiichen Evangeliums der „Bovenverftaatlichung” („nationalisation
of land“), der „Rückgabe des Landes an das Volk“ reden in der—
felben Weife von der „Rückkehr zum alten Necht des Gemein-
befißes am Boden”, wie die Spzialvevolutionäre der Zeiten des
Agis und der Kleomenes von der Rückkehr zu der wirtichaftlichen
tooTns xal xowworia des lykurgiſchen Sparta.3) Und jelbjt ein
Lorenz v. Stein wagt die Behauptung, daß bei den drei großen
Kulturvölfern Europas, Hellenen, Stalitern, Germanen, die Gemein-
ſchaft alles Grundbefiges die Grundlage des gefamten Nechtslebens
gewejen jei. Infolge einer ähnlichen Speenverbindung, wie wir
fie bei Ephorus, Polybius, Plutarch fanden, ericheint ihm die prin-
zipielle „Oleichheit des Anteil3 an dem gemeinfamen Gut” als die
1) Bagl. oben ©. 12.
2) So auch Kleinwächter: Zur Frage der ftändischen Gliederung der
Geſellſchaft. Zeitichr. f. d. Staatswiſſenſch. 1888. ©. 318.
3) Bal. z.B. die Monatzjchrift zur Förderung einer friedlichen Sozial:
reform. „Deutſch-Land“ Bd. IT, no 1 ©. 20. Engels: Die Entwicklung des
Sozialismus von der Utopie zur Wifjenjchaft ©. 51 in dem Anhang über
„die Mark”.
I. 7. Der Sozialſtaat der Legende und das ſozialiſtiſche Naturrecht. 145
notwendige wirtjchaftliche Verkörperung der „Gleichheit und Frei-
heit”, welche nah ihm die „Anfänge der Geſchichte Europas“
harakterifiert. „Das Lebensprinzip der drei Völker ift die Freiheit
des waffenfähigen Mannes, die zur Gleichheit des Belißes der Ein-
zelnen und zur Gemeinjchaft in Beſitz und Leiſtungen aller
wird, weil fie nur in der Gemeinjamfeit ihres Beliges verwirk—
licht werden konnte. Erſt die leßtere war es, welche jedem Ein:
zelnen die Kraft und das ftolze Bewußtfein des Ganzen gab.“ !)
Man fteht: die Idee einer glüclichen, leider zerftörten Gejellichafts-
verfallung der Vorzeit, die Idealvorſtellung einer Art präjtabilier-
ten Harmonie der Kräfte, um es kurz zu jagen, eines „goldenen
Zeitalters” 2) tritt hier mit demjelben Anſpruch auf, geichichtliche
Thatfachen zu reproduzieren, wie die analogen jozialgejchichtlichen
Konftruftionen der Alten.?)
Das Ungefchichtlihe und Übertriebene in dem angedeuteten
Idealgemälde ift in Beziehung auf das germaniſche Altertum neuer:
dings zur Genüge Elargelegt worden.) Was die hellenijche Welt
betrifft, jo wird nach dem Geſagten eines weiteren Beweijes nur
noch derjenige bedürfen, der mit Viollet,5) Laveleye,s) v. Stein”)
') Die drei Fragen des Grundbefiges und jeine Zukunft ©. 29 u. 37 f.
2) Der Ausdrud wird direkt gebraucht um die Zuftände des altgerma-
nijchen Staates zu charakterifieren, bei Lamprecht: Rheiniſche Studien 103 ff.
>) Wie weit die Analogie zwijchen antiken und modernen Cinfeitig-
feiten auf diefem Gebiete geht, dafür iſt auch dev Vorwurf bezeichnend, den
C. Delbrüf (Die indogermanijchen Berwandtjchaftsnamen ©. 215) Lamprechts
Studien zur Sozialgefchichte der deutſchen Urzeit macht, daß „Diejenigen
Schablonen, welche innerhalb des Rahmens der Waturvölfer erarbeitet find
oder zu jein jcheinen, allzu bereitwillig auf andere Völker übertragen werden,
als ob wir noch in den Zeiten lebten, da die großen Epopden der jpefula-
tiven Philoſophie die Gemüter gefangen hielten.“
) Don Meigen in dem gen. Aufjaß „über die Jndividualwirtichaft
der Germanen” a.a.D. ©. 717.
5) Y.a.D. ©. 465 f.
6, U.a.D. ©. 370.
) Stein: Die Entwicklung der Staatswiſſenſchaft bei den Griechen.
Sibgb. der Wien. Akad. (phil. hiſt. KL.) 1879 ©. 255.
Pöhlmann, Geſch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 10
146 Erſtes Buch. Hellas.
u. a. der Anficht ift, daß „vie antiken Dichter im goldenen Zeit:
alter einen alten Gefittungszuftand jchildern, deſſen Andenken fich
erhalten hatte!” Wer ſoweit geht und jchließlich mit Laveleye
jelbjt den befannten Spealftaat des Euhemerus!) al3 eine der wirk:
lichen Geſchichte angehörige Erſcheinung anerkennt, weil jeine In—
jtitutionen „die echten Züge der primitiven Agrarverfaffung an ſich
trügen“, für den find dieſe Ausführungen nicht gejchrieben.
Wie jehr der Sozialſtaat der Legende ein Gejchöpf des Zeit-
geiftes ift und nur als jolches vollfommen verständlich wird, könnte
durch nichts klarer veranfchaulicht werden, als wenn wir uns die
allgemeinen Zuftände der hellenischen Welt, welche ſich in der be
jprochenen Litteratur reflektieren, jowie die gewaltige Reaktion ver-
gegenwärtigen, welche jene Zuftände in dem ganzen politiichen und
jozialöfonomifchen Denken der edeljten Geifter der Nation hervor:
gerufen haben.
Hweites Kapitel.
Die individnalififce Ierfehung der Geſellſchaft und die Kenktion
der philoſophiſthen Staats: und Geſellſchafskheorie.
Erfter Abfchnitt.
Individualiſtiſche Tendenzen.
Die jozialen Mißſtände, unter denen das Sparta des vierten
und dritten Jahrhunderts zu leiden hatte, find typiich für die Ge
Ihichte Diefer Epoche überhaupt. Faſt überall in Hellas dieſelbe
Tendenz zur Verſchärfung der wirtjchaftlichen Gegenſätze, infolge
der zunehmenden Sonzentrierung des Kapitals und des Grundbejißes
ein unaufhaltiames Zuſammenſchwinden des Mitteljtandes, neben
') ©. das Kapitel über den Staatsroman im zweiten Band.
2) Zaveleye a. a. D. :
IM. 1. Individualiſtiſche Tendenzen. 147
dem Wachstum der Geldmacht die furchtbare Kebrfeite: der Pau—
perismus, in allen Schichten des Volkes eine die bejjeren Triebe
mehr und mehr überwuchernde Begier nach) Gewinn und Genuß,
rückſichtsloſe Ausbeutung und ausjchweifendfte Spekulation, Ver:
bitterung und gegenfeitige Entfremdung der verichiedenen Gejell-
Ihaftsichichten durch Klaſſenneid und Klaſſenhaß.
Dazu Fam, daß dieje Elemente der fozialen Zerjegung und
Auflöfung den freieften Spielraum für ihre Bethätigung hatten.
So wie die Dinge in der republifaniichen Staatenwelt von Hellas
lagen, fehlte hier eine Organiſation der Staatsgewalt, welche ftarf
genug gewejen wäre, gegenüber den in der Geſellſchaft vertretenen
Sonderinterejjen die Idee des Staates als des Vertreters des Ge—
meininterejjes und der ausgleichenden Gerechtigkeit in genügender
Weile zur Geltung zu bringen, den Egoismus der Gejelljchaft den
gemeinfamen Zweden des Staatslebens zu unterwerfen. In dem
auf dem Prinzip der Volksjouveränität beruhenden Staat, wo in
Wirklichkeit die Souveränität der Gejellichaft oder vielmehr der je:
weilig herrſchenden Gejellichaftsklaffe die eigentliche Grundlage der
Staatsordnung bildet, find ja die jozialen Mächte von vorneherein.
das ausjchlaggebende Moment auch im öffentlichen Leben. Die
Bafis der Gejellfehaftsordnung, der Beſitz und feine Verteilung find
jtetS zugleich maßgebend für die ftaatlihe Drdnung. Die ganze
Entwiclung des politischen Lebens der helleniſchen Nepublifen hing
daher im letzten Grunde von der Entjcheivung der Frage ab, welche
von den verichiedenen jozialen Klafjen, — die Fapitaliftiiche Minder-
heit, der Mitteljtand, die nichts oder wenig Beligenden, — den
vorwaltenden Einfluß auf die Staatsgewalt zu erlangen vermochte.
Solch eine fich ſelbſt überlaffene, durch eine Fraftvolle Reprä—
jentation des Staatsgedanfens nicht eingeſchränkte Gejellichaft ift
aber jtetS geneigt, ſich in ihrem jtaatlichen Verhalten durch gefell-
ſchaftliche Sonderintereſſen bejtimmen zu lafjen, ven Beſitz der
Staatsgewalt den eigenen Zweden dienjtbar zu machen. Der Kampf
der egoiſtiſchen Triebe, der in der Gejellichaft als wirtjchaftlicher
Konkurrenzkampf geführt wird, verpflanzt fi) aus der jozialöfono-
10*
148 Erſtes Buch. Hellas.
mifchen Sphäre auf das ftaatliche Gebiet; und jo jehen wir denn
auch hier alle Gegenſätze, welche die Geſellſchaft erfüllten, ſtets auch
im politifchen Leben zum Ausdrud kommen.
Der Anfpruch der politiichen Parteien auf Beherrſchung der
Staatsgewalt war in der Negel nichts anderes als der Anſpruch
auf Durchſetzung ſozialer Intereſſen, das mehr oder minder offen
anerkannte Ziel des Parteikampfes Fein anderes als die Ausnüßung
der Staatsgewalt im Sonvderinterefje der einen Geſellſchaftsklaſſe auf
Koften der anderen. Die Intereſſen des Güterlebens beberrjchten
vielfach fat mit derſelben elementaren Gewalt, wie die Gejellichaft,
jo auch den Staat; auch er wurde zum Tummelplaß roher jozialer
Begierden.
Wo der Staat in ſolchem Maße den Naturtrieben der Gejell-
ſchaft preisgegeben war, mußte der öffentliche Geift in der That
wie von ſelbſt in den Wahn hineingeraten, das politische Recht ſei
vor allem ein individuelles Necht ohne Berpflichtung gegen das
Ganze, die politifche Herrſchaft Feine Blichterfüllung für die Ge-
jamtheit, ſondern ein Mittel zur Befriedigung ſozialer Geltiſte.)
Denn es it nun einmal tief in den Neigungen der menjchlichen
Natur begründet, joweit die einzelnen entjcheiden, zuerſt für diefe
und erſt in zweiter Linie für andere und für das ganze Volk zu
jorgen. Eine Erfahrung, die ſich überall wiederholen wird, mag
nun die fapitaliftiiche Minderheit oder die Mafje der Nichtbejigen-
den duch die politiiche Macht die Möglichkeit erhalten, diejen Nei—
gungen ungehindert zu folgen.
Man nahm e3 zuleßt wie etwas Selbftverjtänpliches Hin,
politische Machtverhältniffe als ſoziale Herrſchafts- und Ausbeutungs-
verhältniffe aufgefaßt und ausgeübt zu jehen. Die befannte Schrift
über die athenifche Demokratie erklärt die Klaſſenherrſchaft des
Demos von deſſen Standpunkt aus als völlig naturgemäß, da
1) Bol. die bezeichnende Äußerung des Ariftoteles: »dv de die zus
Wpehsias TÜS ano TWv xowov zal Tas Ex Ts coyns Bovkovraı ovveyws
doyew, olov &l ovveßaıvev Öyiaiveiv del Tols KoyovoL voo«zegols ovoLr.
zal yap av ovVrws laws Edimxov TEs doyas. Vol. III, 4, 6. 1279a.
II. 1. Smdividualiftiiche Tendenzen. 149
man e3 ja niemand übel nehmen könne, wenn er vor allem für
jich ſelbſt ſorge; ) und mit der offenherzigiten Unbefangenheit wird
zugeftanden, daß im umgekehrten Falle die Reichen ihre Herrichaft
in demjelben Geifte ausmügen würden.?) ine Auffaffung, der e3
vollfommen entipricht, wenn Nriftoteles die beiden Grundformen
des damaligen Verfaſſungslebens, Dligachie und Demokratie als
Regierungsſyſteme definiert, von denen das eine zum Vorteile der
Reichen, daS andere zum Vorteile der Armen geübt wird.) Denn,
wie Ariftoteles weiter bemerkt, der Kampf zwiichen Arm und Neich,
zwijchen Bejigenden und Nichtbejigenden, der das helleniſche Volks—
und Staatsleben zerrüttete und vergiftete, Fonnte fein anderes Er—
gebnis haben, al3 daß die jeweilig fiegreiche Partei viel mehr auf
die Begründung einer Klaſſenherrſchaft bedacht war, als einer die
gemeinjamen Intereſſen aller jchügenden, die Sonderintereifen aus:
gleichenden ftaatlichen Drdnung (rodırei« zo) zei lon).t) Inſo—
ferne iſt es wohl berechtigt, wenn Plato die auf ſolcher Grundlage
erwachjenen Verfaſſungen geradezu als eine Negation der Staatsidee,
als Werkzeuge der Zeriprengung, nicht der Erhaltung der bürger:
lihen Gemeinjchaft bezeichnet. 5)
) II, 20: dnuozoariev DEya arro uev ro djuw ovyyYıyrW@oxw'
avrovy ydo EV olsiv navri ovyyvoun Eotiv.
o 3 N x ce x Mn — Se ’
?) I, 16, ei uEv ycdo oi yonotoi Eheyov xai EBovkevov, Tois Öuoloıs
opioıw avrols nv ayadd, tols dE dmuorizois oVx ayadd.
3) Bol. III, 5, 4. 1279b: 7 HoAıyapyia noos To (ovupeoov To)
Tov eunoowv, 7 dE dnuorgatia 005 TO Ovupegov TO TWv dnögwv' oos
de to To zoıv® Avaırtskoöv ordeuie auror,
9) ib. VI, 9, 11. 1296a: die To oraaeıs yiyveodaı zul udyas moos
>) ” - [4 x 2 > ” r r >” — — —
aklmkovs TO Inuw zai Tols Eurogoıs onoTegois dv uchhov Fvußn xoamjoct
Tov Everriwv, oV xadıoraoı zotvnv nokıreiav ovd’ Vomv, adAked Ts viens
asAov my Ünegoynv ıns nokırsias Aaußdvovov, zal ol uev dnuo-
zoeriev, oi d'olıyaoyiav noiovow.
5) Leg. 715b ravras dynov pausv Nueis vov ovVr’ eivaı nokıreias,
orT’ 00F0Vs vouovs, 0001 um Evundonsinsnoisws Evexa Tod zoıvov
erednoav' old Exexe Tivov, otuoıwreius, dAR ov noAıreias Tovrovs
pauev, zei TE Tovrwv dizae & Yaoıv eivaı, udrnv eioyodeı. cf. 832 6.:
Tovrwv yao d) molıreia uev ovdeula, oraoıwrei«a de nao«ı Aeyoırı dv
07 u un:
150 Erſtes Bud. Hellas.
Das ift es offenbar, was Mommfen im Auge hat, wenn er
von jenem griechiichen Weſen jpricht, das dem Einzelnen das Ganze,
dem Bürger die Gemeinde aufopferte und zu einer inneren Auf-
löſung der Gemeindegewalt Telbit führte. Das leßte Ergebnis ift
in der That ein extremer Individualismus, der bis zu einer fürm-
lichen Berneinung von Staat und Necht fortfehritt und das Inter—
eſſe des Individuums al das einzig wahre Intereſſe proflamierte.
Für die Theorie des Egoismus, wie fie Hand in Hand mit der
gejehilderten Geftaltung des öffentlichen Lebens Eingang fand, er—
Ichien das Individuum nicht nur al3 jouveräne Urjache aller Drd-
mingen und Einrichtungen des Zuſammenlebens, jondern fie be—
trachtete die Lebenszwece des ijolierten Individuums auc) als einzige
Zwede alles menschlichen Thuns.!)
Eine Auffaffung, die mit innerer Notwendigkeit zugleich zum
ethiichen Materialismus führen mußte! Denn da die Lebenszwede
des ijolierten oder ijoliert gedachten Individuums eben unbedingt
egoiftifche find und da fie fich vorzugsweife auf das phyfische Dafein
beziehen, was fann aus der ausjchließlichen Berückſichtigung diejer
Zwede anderes entitehen, als der Materialismus, ver fittliche
Nihilismus?)
Der Rechts- und Staatsidee wird ein angebliches Naturrecht
sodorera' Exovrwv ydo Exovoa ovdeula, dAR dxovrwv Exovon doysi odV
dei tivi Pie, poßovusvos DE doywv «oyousvor oVTE loyvoov ovr' ardgsior
oVTE TO napanav noAsuuzov ExWv Euosı ylyvsohai Tote,
) Das ijt in jozialpolitischer Hinficht der Sinn der dem Sabe nrav-
TWv Yonudtwv WErgov dvdgwnos don einer ſophiſtiſchen Moralphilofophie
gegebenen Deutung, daß der Menſch in feiner DBereinzlung, das beliebige
Individuum das Map aller Dinge jei.
?) Bgl. die Formulierung diefes Standpunftes bei Plato, Gorgias
491c: — Tovr’ Eorıv TO xara gYvow xaAov zul dixaov, ... . ori der tov
0eI05 Puwoousvov TÄs usw Enidvuies Tas Eavrod Edv ws usyioras eivaı
zei un zoldlew, ... . zei anroniunddver ov dv dei y Enidvuia yiyvaraı,
ef. 492d. 63 iſt der Lieblingsja des ethiſchen Materialismus der Gegen:
wart, daß der Menſch um fo glücklicher jei, je mehr Bedürfniffe er habe,
vorausgeſetzt, daß die Mittel zu ihrer Befriedigung vorhanden jind.
II. 1. Sndividualiftifche Tendenzen. 3
entgegengeftellt, welches dem Einzelnen in der Befriedigung feiner
jelbftfüchtigen Triebe feine andere Grenze ſteckt, als das Maß dev
eigenen Kraft. Wie im Kampfe ums Dafein, in der Tierwelt,
immer der Stärfere es ift, der die Oberhand über den Schwachen
gewinnt, jo ift nach diefer Dogmatik des Egoismus das Necht Itets
auf deſſen Seite, der die Macht hat; es ijt identiſch mit dem Inter—
effe des Stärkeren.) Die Negierungen machen mit vollem Rechte
das zum Geſetz, was ihnen nüßt; das jogenannte Gerechte it nichts
anderes, als der Vorteil der Machthaber.) Nur Thoren und
Schwächlinge werden ſich daher durch das pofitive Gejeß verhindern
laſſen, ſtets ihren eigenen Nuten zu verfolgen.
Die Mehrheit weiß recht wohl, daß ſie Schwach ift, und daß
die einzige Bürgſchaft für ihr Wohlſein in der Einjchränfung der
1) Diefe Anſchauungsweiſe wird in Platos Gorgias einem praktischen
Politiker, im „Staat“, mit etwas verjchiedener Motivierung, einem Sophiften in
den Mund gelegt. Gorgias 483d: 7 de ye, olueı, puoıs au dnropeivsı
av, oT dixawov Eortı Tov dusivo Tov yeloovos nAEov Eysıv xai Tor
dvvarorteoov Tor advverwregov. dmhoi dE Tavre noAleyor ori ovrwWs
&yeı, zal Ev Tols aAkoıs Lwoıs zei tav dvdoWnwv Ev oAcıs tais noAscı
xl Tols yEveoıv, OTI 0vTW To dixzaiov zExoıTel, TOV KOEITTW TOD Nrrovos
@oyEıv zai nAEoy Eysıv. — Die don Grote aufgetvorfene Frage, inwie—
weit die Sophijten mit Recht oder Unrecht als Träger dieſer Anſchauungsweiſe
erſcheinen, kommt für uns hier nicht in Betracht. Uns genügt die Thatſache,
dat fie von „Tauſenden“ geteilt wurde (exovw zei uvoiwv dhkov! wie es
rep. II, 358c heißt. ef. Gorg. 492d: oapws yado oÜ vor Akysıs, @ oü
adhoı dievoovvraı uev, Aeyeır dE ovx E9Elovomw). Das „Geheimnis aller
Welt“ — wie Helvetius don diefer Anficht gejagt hat. — Daß e3 fich dabei
übrigen? auch um thatſächlich dorgetragene Lehren handelt, ift nach den
Spuren, die fih in der älteren Litteratur, 3. B. bei Euripides (Jon V,
621 ff.) und dem von Jamblichos benüsten Sophiften (cf. Blaß, Kieler
Progr. 1889) finden, ganz unzweifelhaft. Das hat neuerdings wieder 7.
Dümmler: Prolegomena zu Platonz Staat und der platonifchen und ariftote-
liſchen Staatölehre (Basler Progr. 1891) ©. 30 gegen Gomperz (Apologie
der Heilfunft S. 112) mit Recht betont. — Vgl. übrigens auch Thukydides
V, 105, VI, 82-87.
2) rep. I, 338e: To dixzauov „ . . TO TOO xgEITToVos ovupeoov! cf.
ib. 338e.
152 Erſtes Buch. Hellas.
Starfen liegt. Zu diefem Zwecke hat fie durch das „xwillkürlich
ausgedachte” Geſetz das Naturrecht verdrängt. Die von Natur
Stärferen aber nimmt man von Jugend auf — wie junge Löwen —
in Zucht, jolange ihr Gemüt noch weich ift, und ſucht fie durch
allerlei Borfpiegelungen zu bethören und zur Anerkennung der
Gleichberechtigung der Andern zu erziehen. Wenn aber Einer, der
eine ausreichend kräftige Natur bejigt, zum Manne wird, dann
jchüttelt ev das Alles ab, durchbricht den magischen Ideenkreis, in
den man ihn fünftlich gebannt hatte, jowie alle der Natur wider:
ftrebenden Gefege, um als Herr und Meifter der Vielen aufzu=
treten und zu glanzvoller Erjcheinung zu bringen, was von Natur
techt ijt.!)
Ganz bejonders gilt dieſes antifoziale Naifonnement dem
Gebiete der wirtichaftlichen Konkurrenz, den Machtentſcheidungen
des jozialen Dafeinsfampfes, der von den Vertretern der genannten
Richtung ganz in derjelben Weiſe nach den Thatjachen der Tier:
entwiclung beurteilt wurde, wie von ihren modernen Nachfolgern,
welche die fchlechthinige Souveränität des Egoismus als unabweis-
bares Poſtulat der natürlichen Zuchtwahl binftellen. Es iſt die
einfache Übertragung des wilden Gewalt: und Überliftungskrieges
im Tierreich auf die Intereſſenkämpfe der bürgerlichen Gejellichaft,
wenn e3 als Naturrecht proflamiert wird, daß „das Belistum der
Schwächeren und Geringeren eigentlich den Stärferen“, d. h. ven
„Beſſeren oder Fähigeren” gehöre, daß jene mit dem zufrieden
) Gorg. 484a: &dv dE ye, oluaı, piow ixevjv yErnraı Eyov dvng,
ndvra Tavra anroosisdusvos za dieoomkas za [diapvyor] zarenarnoas
TE NUETEOR yoduuara xal uayyavsvuara xul Erwdas xl vouovs Todg
TRER Pvoıv ÜÄnavras, Enavaoras avspdvn deonorns nueteoos o dovkos,
Evraida Eelaupev TO TNS PVosws dixavor.
cf. Leg. X, 889e: zei dj zei t& zuAd gyvocı ußv dAhe eivaı, vouw
de Erepa‘ 1a dE di) dizaa 000’ eivaı To naodnev pvoc au, — — To
dizasöraerov 0 Ti Tıs dv vırd Bualousvog -— — TIO0S TOV ZUTd pVoLw
0090v Piov, 6 Eotı 17 aAmseige xoarovvra Inv tav div xal un dovAsvew
ETEDOLOL KATE vouov,
II. 1. Smdividualiftiiche Tendenzen. 153
jein müfjen, was ihnen dieje übrig lafjen.!) Eine Forderung, mit
der die Anjprüche der ausbeutenden Klaſſenherrſchaft ihren Höhe:
punft erreicht haben.
So wird der jelbjtfüchtige Wille des Individuums auf den
Thron gejeßt, die Gejellihaft in ihre Atome aufgelöft. Und was
fih bier als Theorie gibt, das erſcheint in feiner verhängnisvollen
Bedeutung für die Wraris des Lebens in dem furchtbaren Urteil,
welches ein jo nüchterner Beobachter, wie Ariftoteles im Hinblid
auf den Egoismus jeines Zeitalters gefällt hat: Immer find es
nur die Schwachen, welche nach Necht und Gleichheit rufen, Die
Starfen aber fragen nichts nach diefen Dingen.” 2)
Wo die höheren jozialen Gefühle dem Bewußtſein weiter
Kreife in ſolchem Maße verloren gegangen waren, da mußte der
Intereſſenkampf der Individuen und Gejellichaftsklaffen vielfach zu
einem über alle Schranfen der Sittlichfeit und des Nechtes ſich
hinwegjeßenden Ningen unverjöhnlicher Kräfte entarten. In den
wirtſchaftlich und politisch fortgeſchrittenſten Staaten der hellenijchen
Welt finden wir auf der einen Seite eine plutokratiſch gefinnte
Minderheit, welche das Prinzip der Bolfsfouveränität, der Geſetz—
gebung durch das Volk, als eine unnatürliche Knechtung der Stär-
feren, der jozial und geiftig Höherftehenden, auf das drückendſte
empfand und jtetS bereit war, fich derjelben mit allen Mitteln zu
entledigen, auf der anderen Seite das „Volk“, deſſen demofratijches
Bewußtjein ebenſo einjeitiger Individualismus im Intereſſe der
') Bol. Plato im Gorgias 484b, wo Kallikles die Verje Pindars
über den Rinderraub des Herafles zitiert (Eyes dizauov To Bıaıorarov Uneo-
tere yeıol' Texzuaiooucı Eoyowıy “Hoazxkeos, Erei — anoıdraes —) und
hinzufügt: Aeysı d’ örı ovre noidusvos ovre dörros tod Inovovov nAdoero
Tas Bovs, ds Tovrov Ovros Tod dixalov gvosı zei Bors zei taike
ZINUaTa Eivaı navra Tod Behtiovos TE zul Xx0EITTOVoS rd Tov
ZELI00VOv TE zei yrrovor,
?) Politif VII, 1, 14. 13186: meoi ur vor toov zei tov dizeiov,
zdv n ndvv yaherıov Eigeiv ımv ahndeıav neo aurov, Ouws Ödov Tuyelv
N ovuneioaı Tois duvvauevovs nAsovexteiv' del yao Imrovaı To dixaov zei
To ioov oi trovs, oi dE xowrouvres ovdEv poovrifovoıy.
154 Grites Bud. Hellas.
Maſſen war, wie das oligarchiſche Prinzip in dem der Neichen.
Wollte die Geldoligarchie überall die Emanzipation vom ftaatlichen
Zwang, wo derjelbe ihren Gewinntrieb beengte, jo wollte der radikale
Teil des Demos alles durch den Staat für die Mafje. Ein Gegen:
fat, der fich immer mehr verichärfen mußte, je mehr infolge der
einfeitigen kapitaliſtiſchen Entwicklung der Gejelliehaft dasjenige
Bolfselement, welches berufen gewejen wäre, den jehlimmjten Aus-
ſchreitungen und gewaltfamen Ausbrüchen des Klaſſenegoismus ent-
gegenzumwirken, der bejißende Mitteljtand, im Nüdgang begriffen
war, und die Kluft zwifchen wenig Überreichen und dem an Zahl
und Begehrlichkeit ftetig wachlenden Broletariat eine immer größere
wurde.
Nichts könnte die vernichtenden Wirkungen diejer Verſchärfung
und Berbitterung der Klaſſengegenſätze greller beleuchten, als das
frevelhafte Loſungswort der geheimen oligarchiſchen Klubs der Zeit:
„Ich will dem Volke feindlich gefinnt fein und durch meinen Nat
nad) Kräften ſchaden.“ Hier war die Zerftörung der geiftigsfittlichen
Gemeinjchaft der Volksgenoſſen, die Zerjegung der gemeinjamen
Speen und Gefühle, welche das Volkstum zufammenhalten, in der
That vielfach bis zu jenem Punkte gediehen, wo man in Wahrheit
jagen konnte, was die moderne Demagogie der Gegenwart den
Maſſen predigt, daß die höheren Stände im Vaterland, wie in
Feindesland lebten als die geborenen Gegner des kleinen Mannes.
Iſt es auf der anderen Seite zu verwundern, daß die dem
Pauperismus verfallene Maſſe, der „das Gemeinwejen gleichgültig
war, wenn fie nur Brot hatte“,!) ſtets die Neigung zeigte in der
Ausnützung der Macht, welche die politijche Gleichberechtigung und
das Gewicht ihrer Zahl verlieh, bis zur äußerſten Grenze zu gehen?
So wird der politifche Parteifampf mehr oder minder zu
einem Kampf um den Befiß und daher mit der ganzen Leidenschaft
lichfeit geführt, der diefem Kampfe eigen zu fein pflegt. Es iſt
nicht bloß ein Ningen in der politischen Arena, jondern nur zu oft
) Iſokrates Areop. $ 83.
u
I. 1. Individualiſtiſche Tendenzen. 153
ein Kampf mit Fauft und Schwert, deſſen blutige Gewaltjamkeit
den überall aufgepeicherten Zimdjtoff des Klaſſenhaſſes zu hellen
Flammen entfachte und zu denjelben Fucchtbaren Ausschreitungen
führte, wie die Parteikämpfe der jpäteren römijchen Republik, die
franzöfische Schredensherrihaft und die Kommune.
Man denke nur an die Greueljzenen in dem Streite zwiſchen
den Dligacchen und Demokraten Kerkyras (427), und an die Klaffiiche
Schilderung, welche Thukydites im Hinblid auf diefe und andere
Auswüchle des Barteihaders von der Zerrüttung der nationalen
Sittlichkeit duch den Geift der Selbitjucht unterworfen hat.) Man
denfe an den jogenannten Sfytalismos in Argos, wo im Jahre
370 der wütende Pöbel über die Befitenden herfiel und 1500
tenjchen mit Knütteln erjchlagen wurden. „Das Volk von Argos,“
jagt Sokrates, „macht ſich ein Vergnügen daraus, die reichen Bür-
ger umzubringen, und freut fi), indem es das thut, jo ſehr, wie
andere nicht einmal, wenn fie ihre Feinde töten.”2) Von den
Zuftänden im Belogones überhaupt heißt es an einer anderen Stelle:
„Man fürchtet die Feinde weniger alS die eigenen Mitbürger. Die
Neichen möchten ihren Belts lieber ins Meer werfen, alS den
Armen geben, den Armen dagegen iſt nichts erjehnter, als die Be—
raubung der Reichen. Die Opfer hören auf, an den Altären
ſchlachten ſich die Menſchen. Manche Stadt hat jegt mehr Emi-
granten, al3 früher der ganze Beloponnes.”3) So jcheiven die
jozialen Gegenjäße die Gejellihaft in zwei feindliche Teile, von
denen der eine dem andern ſtets den Nüchalt ftreitig macht, den
er am Staat für jeine wirtjchaftliche und gejellichaftliche Erijtenz,
für jeinen Befis und feine Freiheit hätte haben jollen.*) Die
1) III, 82.
2) Philipp. 8 20.
3) Archidam. 8 28.
#) Der Staat zerfällt gewiſſermaßen in ziwei fich feindlich gegemüber-
jtehende Staaten, jagt Plato Rep. 423a: dvo uEv yag, zdv öroüv 7, mroke-
wie aklmaaıs, 7 uev nevitwv, m de nAovoiwv (sc. mokıreie), Tovrwv d'
Ev Exareog navv nokkai «is Eav uEv Ws WIE NE00PEEN, TIEVToS dv dUdg-
156 Erſtes Buch. Hellas.
Elemente der Einheit find ſoviel ſchwächer geworden als die der
Trennung, daß nicht jelten die einander befämpfenden Klaffen fich
zulegt innerlich ferner ftehen, al3 ganz Fremden und Feinden.
Zweiter Abjchnitt.
Der Kampf der idealiftiichen Sozialphilojophie gegen den
extremen Individualismus. Allgemeine jozinlethiiche Poſtulate.
Es leuchtet ein, daß ein Volt von jo eminenter geiftiger
Energie, wie es die Hellenen waren, die geichilderte Geftaltung der
Dinge nicht in ftumpfer Refignation über fich ergehen lafjen konnte.
Das Jahrhundert, welches alle Kräfte der Zerjegung und Auf—
löfung zur vollen Entwicklung brachte, ift zugleich vecht eigentlich
das philoſophiſche Jahrhundert der belleniichen Gefchichte, eine
Epoche gewaltiger Geiftesarbeit, welche der furchtbaren Widerjprüche
im inneren und äußeren Leben der Nation Herr zu werden, den
Weg zu ihrer Löſung zu zeigen juchte.
Die Richtung, in welcher ſich dieſe ſozial-philoſophiſche Ge—
dankenarbeit bewegte, war durch die geſchilderten Verhältniſſe des
Lebens klar vorgezeichnet. Hatte die Zeit das Prinzip des Indi—
vidualismus auf die Spitze getrieben, das Intereſſe als die Trieb—
feder alles menſchlichen Handelns proklamiert, ſo mußte die Er—
kenntnis, daß die Überſpannung dieſes Prinzips nur zur Auflöſung
rots, Eav DE Ws moAkais, didois TE Tav Ereowv Tols Erägcıs, Konuare
TE zaL dvrdusıs 7 xaı avrovs, Evuudygoıs ubv aei mohhols gonoeı, noAeuiors
d’ oAlyoıs.
Man denkt dabei unwillfürfich an die Worte, welche Disraeli, der
Ipätere Premier, im Jahre 1848 über dag damalige Verhältnis zwijchen Arm
und Reich jchreibt: „Sie find gleichham zwei Völker, zwiſchen denen feinerlei
Verkehr und fein verwandtes Gefühl bejteht, die einander jo wenig fennen
in ihren Gewohnheiten, Gedanken und Gefühlen, als ob fie die Söhne ver-
ihiedener Zonen oder die Bewohner verjchiedener Planeten wären.
11. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphiloi. geg. d. extr. Individualismus ac. 157
der Geſellſchaft führte, bei allen tiefer Blidenden einen ftarfen
Rückſchlag in zentraliftiihem Sinne herbeiführen.
Gegenüber einer Anjchauungsweije, welche das Individuum
mit Vorliebe in jeiner VBereinzelung ins Auge faßte, jet jetzt in
der hellenijchen Litteratur eine mächtige Strömung ein, die von
dem Gedanken getragen tft, daß alles individuelle Leben und Stre—
ben jtetS zugleich unter dem Gefichtspunft feiner Zufammengehörig-
feit mit dem Ganzen betrachtet werden müſſe. An die Stelle einer
Moral, welche mit Bewußtjein der Dogmatik des Egoismus hul-
digte, deren lettes Ergebnis nur der Kampf aller gegen alle jein
fonnte, jollte wieder eine veinere Sittlichkeit treten, welche die Ziele
des menschlichen Wollens über das Individuum hinausverlegte, die
getrennten und verfeindeten Elemente der Gejellihaft aufs neue zu
einer lebendigen Gemeinjchaft zufammenzufchließen vermöchte. Die
ertremeindivivualiftiiche Weltanſchauung jollte innerlich überwunden
werden durch das, was man mit Comte und Garlyle als „al-
truiſtiſche“ Moral bezeichnen könnte.
Das iſt das große Problem, welches jich durch die joziale
Philoſophie jeit ven Zeiten des großen hellenijchen Bruderkrieges
wie ein roter Faden hindurchzieht. Sie will an Stelle des über:
mächtig gewordenen Egoismus wieder mehr die jozialen Motive zur
Geltung bringen, die Menjchen zum fozialen Handeln erziehen, zu
einer Thätigkeit, welche ſich nicht ausschließlich auf das eigene Da-
jein richtet, jondern ſtets zugleich Thätigfeit im Dienjte des Ganzen
jein will. So joll aus dem Kampfe, der Staat und Gefellichaft
zu zeriprengen drohte, der Weg gezeigt werden zum ſozialen Frie—
den, zu einer fortjchreitenden DVereinheitlihung der Glieder des
Staates.
Mit Necht wird dabei von Anfang an — ganz ähnlich wie
von den bahnbrechenden Führern der analogen modernen Bewegung,
von Fichte, Carlyle u. a. — darauf bingewiefen, daß, wenn die
Fähigkeit der Einzelnen zu Opfern für die Allgemeinheit gejteigert
und verallgemeinert werden joll, vor allem das Wechjelverhältnis
zwijchen den Individuen und Klaffen ein anderes werden müſſe.
158 Erſtes Buch. Hellas.
Der Zuftand, in dem die verjchtedenen Klafjen aufgehört haben,
fich gegenfeitig zu verftehen, Arm und Neich neben einander leben,
wie zwei feindliche Völker, die ganz verschieden fühlen und ver-
ichieden denken, dieſer Zuftand, der eben nur zum Kampfe führen
kann, weil er eine friedliche Berftändigung unmöglich macht, muß
überwunden und der Staat auf eine neue fittliche Grundlage ge
ftellt werbdeu. Es iſt darauf hinzuwirken, daß die Klafjengegenfäße
gemildert werden, und daß die Gejamtheit der Bürger ſich wieder
mehr als eine fittliche Gemeinschaft, als eine homogene Maſſe fühlen
fann, welche das alle gleichmäßig umjchlingende Band gemeinjamer
Empfindungen und Borftellungen und gemeinjamer Ideale innerlich
zufammenbält, ein Band, das ich jtärfer zu erweilen vermag, als
der Egoismus der Einzelnen, wie ganzer Klafjen.
Sn dieſem Sinne wird ſchon von Sokrates mit befonderem
Nachdruck auf den Bürgereid hingewiejen, der jeden Hellenen vor
allem auf die Pflege bürgerlicher Eintracht verpflichtet. Die
„suorore“, die Übereinftimmung einheitlich empfindender Menschen,
welche allein die trennenden Unterjchteve zwijchen Individuen und
Klaſſen zu überbrücken vermag, wird bier als das höchfte politische
Gut proflamiert.!) „IZeoi ouovolas“ wird das mit Vorliebe ge-
wählte Schlagwort für die Bezeichnung jener offenbar zahlreichen
publiziſtiſchen Schriften, welche für die radikale Neform des Staates
und der Gejellichaft eintraten und das Idealbild einer neuen beſſe—
ven Ordnung der Dinge entwarfen.?)
In demjelben Sinne erklärt Plato als höchjtes Ziel aller
Politik Friede und wechjelfeitiges Wohlwollen (eiervn rocs aAAN-
kovs -aua@ xl gYıhoygoovrn).) Die Gemeinjchaftsgefühle (To
1) Xen. Mem. IV, 4, 16.
2) Die unter dieſem Titel befannte Schrift Antiphons fteht gewiß
nicht allein. DBgl. auch da3 Fragment aus Demofrit (Stob. Flor. XLHI,
40): Ano öuovoins ta ueyaka Eoya xai moı nnoAıoı Tovs TroAguovg
Övvarov zareoyalsodeı, dAAws d’ ov.
3) Leg. X, 628e.
5 TR 9—
11. 2. Der Kampf d. idealift. Soztalphilof. geg. d. extr. Jndividualismus zc. 159
yihov za To xoıwov Ev cn wokeı),‘) die den Staat zufammen-
halten und feine innere Einheit verbürgen (0 av Evrdn ve xai
co wiev sc. vv roAıw),2) ſie mühjen vor allem gepflegt werden,
auf daß der Staat ein „in ich befreundeter” ſei (modıs Yin
&avrn).3)
Daher darf der Staatszwed auch nicht bloß das Wohlergehen
eines Volfsteiles, jondern nur das der Gejamtheit jein.t) Nach
den Intereſſen und Bedürfniffen der gejamten im Staate lebenden
Gemeinjchaft ift das Necht zu gejtalten, während das Necht des
Individuums erſt in zweiter Linie fteht. Ein Ziel, das nur er-
reicht werden kann, wenn ftaatliche Zucht und ſtaatliche Erziehung
der Willensiphäre der Einzelnen jolche Schranken gezogen, dieſelben
jo jeher in das Leben der Gemeinſchaft eingeordnet haben, daß fie
dem Staate als willige Mitarbeiter an der Befeftigung der die
ftaatliche Gemeinschaft zufammenhaltenden Bande dienen (erri env
Evvdsouov uns nroksws!).?)
Die auf Ddiefes Ziel gerichtete Thätigkeit der Politif, der
„königlichen Kunft” (Baoıkırns vEyvng) wird von dem genannten
Gefichtspunft aus mit einem jchönen poetischen Bild als die eines
„eöniglichen Spneinanderwebens der Gemüter” (Baoıkızng Evvv-
yavosws Eoyov) bezeichnet, welches durch „göttliche und menjch-
liche” Bande, durch Eintracht und Liebe eine fittliche Lebensgemein-
ſchaft heritellt,) das „allerköftlichite Geflechte” (Tavrov weyako-
7EETEOTETOV Öyaoucrwov za aoıorov), welches alle Glieder des
Staates mit einander verbindet.?)
DiEik 111 6977d.
2) Rep. V, 462d.
3) Leg. X, 693, ef. 701d. Ähnlich heißt es 743d.
4) VBgl. die oben ©. 149 angeführte Stelle. Leg. VII, 715b.
5) Rep. VII, 519e.
6) Eine Gemeinschaft, wo
„Alles fich) zum Ganzen webt,
Eins in dem Andern wirft und lebt!”
Dsibr 1,5311.
160 Erſtes Buch. Hellas.
DersSelbitfucht (j oypoder Eavrov yılla),!) die nichts Fennt,
als die Bedürfniffe des unerfättlihen Jh (der axoAasie), wird
entgegengehalten, daß fie im letzten Grunde alle Verfehrsgemein-
ſchaft zwijchen den Menjchen (die zoıwovie) und damit alle Bande
der Sympathie (yılia) aufhebt, daß ſie eine allgemeine Drdnung 2)
und ein Necht eigentlich gar nicht mehr zuläßt und damit alles
negiert, was „Himmel und Erde, Götter und Menſchen zuſammen—
hält.“ 3)
Schon der Begriff der alles umſchließenden und umzwingen-
den Weltordnung des Kosmos, deſſen Wejen eben „Ordnung“,
Gebundenheit, Harmonie jei, lafje den Anjpruc des Individuums
auf ſouveräne Ungebundenheit, eine durch rückſichtsloſe Geltend-
machung des Eigeninterejjes zu einem Wirrjal- anacchiicher Kräfte
(axoouie za axokecie) gewordene Gejellichaft als naturwidrig
ericheinen.) Die rückſichtsloſe Verfolgung der Pleonexie ift un:
vereinbar mit dem, was Wlato die verhältnismäßige Gleichheit
nennt,5) vermöge deren fich jeder an jeiner Stelle der Weltordnung
!) Leg. V, 73l1e Plato nennt (Gorgias 507e) die Praris des Egois—
mu3 ein ,„LInv Anortov Blov“,
2) Plato berührt fi) hier unmittelbar mit der hiftorisch-ethijchen
Richtung der modernen Nationalökonomie, die, wie 3. B. Schmoller, der
älteren individualiftiichen Schule gegenüber mit Recht betont hat, daß in
einer nur auf eigennüßigem Handeln der Menjchen beruhenden Gejellichaft
„Raub und Totjchlag (‚Ansrov Bios!‘) der bejte Verteilungsmodus“ jeien, da
die individuellen Intereſſen in ihrer Steigerung zur Aufhebung jeder Ord—
nung und Gejegmäßigfeit führen müßten.
3) Gorg. 507e: oVrE ydo av dhio avdounn nooopiAns av Ein ö
ToL0DTOS oVTE FEW xomwwveiv ydo ddvvaros’ O um Evi zowwrvie,
gılla oVx av Ein.
9) ib. 508a: yaoi d’ ol vopol, @ Kaklixkeıs, zei orgavov zul yıv
zul HEoÜs zul dvdoWnovs Tmv xolvwviav ovveyeiv zul pihlav zul %00-
uieomta zei 0WgYgooVrNV zul dizaioınta, zei To 0Aov tovro die raüra
x00uov zaAovcıv, 0 Eraigs, oVx dxooulav ovde dxoAaoler.
°) ib. ou de wor dozeis 0V TIO00EYEIV TÜV voov TOVTOIS, zei TaTTa
copos mv, ahld heinFEv 08 oT m looLns n) YyEWwWWuEsrToLZN zul Ev Feois
zul Ev avdownoıs ucya düvera oV de nAsovs£iarv oleı deiv dozeiv'
yEwuerglag yao auskeis.
IT. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof. geg. d. extr. Individualismus zc. 161
dienend einzugliedern hat, von welcher Staat und Gejellfchaft ſelbſt
ein Teil ift.
Hatte ein ertremer Individualismus den Staat in ein Ge—
wirt von atomiftisch neben einander ftehenden Individuen aufgelöft,
jo ericheint hier das Getrennte wieder zu einer lebendigen Gemein:
ſchaft verbunden, deren Glieder fich ftets der Pflicht bewußt find,
daß jeder ſich in feiner Wirkungsiphäre beichränfe (ve Eavrov
zroarre)!) und zugleich immer jo handle, daß feine Thätigkeit
auch der Gefamtheit mit zu gute fomme.?) Über die egoiftiichen
jollen joziale Beweggründe die Herrichaft gewinnen, vor allem die
fittliche Hingebung an die höchite Gemeinschaft, an den Staat. Der
zentrifugalen Strömung und den negativen Freiheitsivealen, welche
das Individuum zum Mittelpunkte der Welt gemacht hatten, tritt
jo eine ausgejprochene zentraliftiiche Strömung, dem extremen In—
dividualismus der Sozialismus entgegen.
Eine Gedankenentwicklung, ganz ähnlich derjenigen, welche in
der analogen Bewegung des legten Jahrhunderts gegen die Welt-
anjchauung der Aufklärungsepoche, des individualiftiichen Naturrechts
und der individualiftiichen Nationalökonomie zu Tage getreten ift.
ES entjpriht durchaus dem angedeuteten griechischen Vorftellungs-
freife, wenn Göthe in den Wanvderjahren die Idee ausführt, daß
jeder nur Verwalter feines Beſitzes ſei, den er zu Gunften des
Ganzen zu verwalten habe, wenn ferner an jeden Einzelnen die
Forderung geftellt wird: „Mache ein Drgan aus dir und erwarte,
was für eine Stelle dir die Menjchheit im allgemeinen Leben zus
gejtehen wird.“
!) Rep. IV, 433d.
2) ib. VII, 519e: ’EneAcsov, 77 d’ Eyw, nalıv, w giis, ori vouo-
IErn ov Tovro ueleı, Onws Ev tu yEvos Ev nolsı Diapeoovrws &v no@£et,
ah Ev OAm Tn noAsı TovVro ungavaraı Eyyeveodeı, Evvaguorrwv Tovs
noAitas neıdor TE xai avdyxn nowv weradıdovaı akkmkoıs tys
W@ehsies, Hv dv Exaoroı To zoıvöv dvvaroi woLv Wgeleirv, xal
AUTOS Eurtoiwv ToLovrovs dvdoas Ev tn mode, oVX Ivo agyın roensodaı
can Exaoros Bovkeraı, aAR iva xarayontaı avros avrois Eni tov
Evvdsouov ıns nokewe.
Pohlmann, Geſch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus. I. nl
162 Erſtes Buch. Hellas.
Allerdings haftet dieſer „organischen“ Auffaffung von An—
fang an — bei Plato, wie in der organijchen Staats: und Sozial-
theorie der Neuzeit — eine gewilje Einfeitigfeit an. Wenn Plato
von der Vorftellung ausgeht, daß der Staat „gleichſam der Menſch
im Großen” fei,!) jo wird bier verfannt, daß die Analogie zwiſchen
jozialen Erſcheinungen umd natürlichen Drganismen feine univerjelle,
die Totalität ihres Weſens umfaſſende jein kann, ſondern immer
nur eine folche, welche ſich auf einzelne bejtimmte Seiten des—
jelben bezieht.?2) Wie wir bei der Beurteilung der pofitiven Vor—
ichläge Platos zu einem Neubau von Staat und Gejellichaft jehen
werden, bat die Konftruktion des Staates als eines Organismus
zu tiefgreifenden Irrtümern, zu einer Überfpannung des Jozialiftifchen
Prinzips geführt; allein in der Negative und für die zunächlt-
liegende Aufgabe der Abwehr einer rein mechanifchen Auffaffung
der jozialen Erjcheinungen hat die „organische“ Betrachtungsweile
damals wie in der Neuzeit vortreffliche Dienfte geleiftet. Mit ihr
brach ſich die Erkenntnis Bahn, daß die ftaatliche Gemeinjchaft nicht
ein bloßes Aggregat, eine Ordnung äußerer Beziehungen zwiſchen
mehr oder minder ijolierten Perfonen ift, jondern daß ſich im
Staate das Volk zu einer Einheit zufammenjchließt, deren einzelne
Teile, — ähnlich wie im phyfiichen Organismus, — wenn auch
mit eigenem Leben begabt, jo doch gleichzeitig durch das Leben des
Ganzen bedingt und bejtimmt find, als „Glieder“ de3 Ganzen fun—
gieren. Der individualiſtiſch-atomiſtiſchen Anſchauungsweiſe, die den
Staat ohne weiteres mit jeinen jeweiligen menjchlicheperjönlichen
Trägern identifizierte und in einen Kompler mechanifcher Einzel-
beziehungen auflöfte, tritt hier eine Anſchauungsweiſe gegenüber, der
die Erkenntnis eines nicht in der Summe der Einzelintereffen fich
erſchöpfenden Intereſſes gejellfchaftlicher Gejamtheiten aufgegangen
it und die daher auch den Staat als ein einheitliches Ganzes, mit
!) zasarıeo Eva avdownov Leg. VIII, 829a. Dgl. Rep. 434d.
2) Bgl. die treffenden Bemerkungen von Menger: Unterſuchungen über
die Methode der Sozialwiſſenſchaften und der pol. Okonomie. S. 140 ff.
IT. 2. Der Kampf d. idealiſt. Soztalphilof. geg. d. extr. Individualismussc. 163
einem von der Summe jeiner Teile verjchiedenen Dafein anzu-
erfennen vermochte. Gegen die materialiftiiche Herabwürdigung des
Staates zu einem bloßen Werkzeug atomiftischer Einzelinterefjen er-
hebt fi) hier daS Bewußtjein von dem jelbftändigen Wefen des
Staates als eines von der Summe der Fonkreten jeweilig lebenden
Individuen unterjchiedenen Zweckſubjekts, das Bewußtjein von feinem
alles individuelle Leben und Streben überragenden, die Generationen
überdauernden Lebensgehalt, von der durch ihn verwirklichten Ein-
heit in der Bielheit.!)
Wie ganz anders erjcheint bei dieſer Auffaſſung die Stellung
des Individuums in jeinent Verhältnis zum Staat! Wird der
einzelne Menſch in jeinen jtaatlichen Beziehungen al3 Teil eines
Ganzen, als Glied eines einheitlichen Gejamtlebens gedacht, jo kann
er auch nicht mehr ausschließlich fich ſelbſt Zweck ſein und den
Staat zum Werkzeug diejes jeines jelbjtherrlichen Willens erniedri-
gen. Iſt der Staat nicht mehr bloß eine Summe ungleich ge
jtellter, teils herrſchender, teils beherrjchter Einzelperfonen, jo kann
er auch nicht mehr das jein, wozu ihn die Lehre des ertremen In—
dividualismus gemacht hatte: die Drganifation der Herrſchaft deu
einen über die andern zum Behufe bejjever Befriedigung der Inter
ejjen der Stärkeren duch Ausbeutung der Schwächeren. Über die
Anſprüche des Egoismus der Individuen und Klaſſen erhebt fich
die Idee des Staates als einer Macht, welche ihre eigenen fittlich-
vernünftigen Zwecke verfolgt, welche als die der Gejamtheit aller
immanente Einheit die Gerechtigkeit gegen alle zu verwirklichen hat.
Und die Einzelnen hinwiederum, als Elemente diefer Einheit, haben
) VBgl. die jchöne Ausführung von Gierke: Die Grundbegriffe des
Staatsrechts und die neueſten Staatsrechtstheorien, Tüb. Ztſchr. F. d. gef.
Staatsw. 1874 ©. 375, wo auch die platonifche Staatsauffaffung in dieſem
Punkte eine unbefangene Beurteilung findet. Dagegen kann Ban Krieden:
Über die jogen. organifche Staatstheorie S. 13 ff. von feinem Standpunkte
aus zu einer objektiven Würdigung des platonifchen Standpunktes nicht ge-
langen, joviel Richtiges auch feine Kritik dev Schwächen und Einfeitigfeiten
der organischen Staatstheorie enthält.
I
164 Erſtes Buch. Hellas.
den Inhalt ihres Dafeins nicht mehr ausschließlich in fich jelbit zu
fuchen, jondern zugleich in der Beltimmung für das höhere Ge—
famtleben, für das über allen Einzelwejen jtehende „Gemeinweſen“.
Darin liegt das Wahre und ewig Gültige in der „organi-
chen” Auffaſſung des Staates, !) wenn auch die Idee des Drganis-
mus an und für fich den politischen Einheitsbegriff nur unvoll-
fommen und in einjeitig übertriebener Weiſe zum Ausdrud bringt. 2)
Dieje Idee ift es jedenfalls, die, wie Garlyle richtig bemerkt, den
Weg zur Überwindung eines nicht minder einfeitigen Sndividualis-
mus gezeigt hat und eine joztalethiiche Auffaffung ermöglicht, wie
fie ſonſt nur religiöje Zeitalter beiten. Wie der Menſch als
Einzelwejen durch das Intereſſe, jo iſt er als Glied eines Ganzen
dureh das geleitet, was bei Carlyle bald als Glaube an „über:
individuelle Werte”, bald als Liebe, Selbjtüberwindung und „Loyali:
tät”, bei Götheals „Ehrfurcht“, Entjagung, Selbſtbeſchränkung erjcheint,
bei Blato als „fittlihe Scheu” (erdwc),3) als Sympathie (gyiÄie),
Selbitbeherrihung (soyooovrn) und Gerechtigkeit bezeichnet wird, t)
') Dies ignoriert Dilthey: Einleitung in die Geiſteswiſſenſchaften
286 ff.
2) Dilthey hat vollfommen recht, wenn ex den Begriff des Organis—
mus eine methaphyſiſche Begriffsdichtung nennt und auf die verhängnisvolle
Rolle hinweiſt, welche dieſe Auffajjung in der Gejchichte der politischen
Wiſſenſchaften unleugbar gejpielt hat. Allein es ift dem gegenüber ebenjo
entjchieden zu betonen, daß damals gegenüber der imdividualiftiichen Zer—
ſetzung des Staatsbegriffes die organische Staatstheorie einen Fortſchritt be—
deutete. Auch gibt ja Dilthey zu, daß „alles Leben des Staates jo außer:
ordentlich komplex ift, daß jelbjt die moderne wahrhaft analytijche Willen:
ſchaft noch am Anfange feiner wifjenjchaftlichen Behandlung fteht.“
3) Protagoras 323c, wo aldws zul dixm als nolswv z0ou0L TE xai
deosuol gıkias ovveywyoi bezeichnt werden.
*) owgeoovrn und dızauoovyn jollen nach Plato (Gorgias 507e) die
mahgebende Richtſchnur alles menjchlichen Handels in Geſellſchaft und Staat
jein. ovros Zuoıys doxel 6 oxonos eivaı, no0os oOv BAenovra dei iv,
Aal NEVTa EIS TOVTO TE aVUTOV OvVvrelvovra zul Te ns noAews,
ons dıxaioovuyn nageoraı zei EWEYEOSVVN TO uazaplw uehhovrı Eosodaı,
oöto nodtrev, oVx Emidvulas &avra dxoAdorovs Eivaı xal Tavtas Ert-
zElgoövre Amgorv dvivvrov xaxov, Anorod Blov Covre,
I. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof. geg. d. extr. Individualismusec. 165
die jedem das ihm Zufommende, das „Oeziemende” gewährt, ja
jogar lieber Unrecht leidet, als Unrecht thut.!)
Wenn man den Mann, dejien Fühner Idealismus der un—
geheuren individualiftiichen Strömung der modernen Welt ein Halt
gebot umd den Sieg einer neuen Gejellfehaftsauffaifung weſentlich
mit vorbereitete, wenn man Thomas Garlyle als den „Jeſaias des
Jahrhunderts“ bezeichnet hat, jo könnte man nicht treffender als
mit denjelben Worten die Stellung charakterifieren, welche Plato,
deſſen ganze Sozialphilojophie ein einziger gewaltiger Mahnruf an
das „Gewiſſen der Gejellichaft” ift, in dem Kampfe gegen die
Schwäche und den Egoismus jeines Zeitalters, gegen die materia-
liſtiſche und atomiftiiche Auffaffung gejellichaftlicher und politifcher
Erſcheinungen einnahm.
Doch ift es nicht bloß der das öffentliche Gewiſſen wach—
rufende Prophet und Idealiſt, jondern auch die nüchternere Staats-
lehre des Ariftoteles, welche wir von derjelben antisindividualiftiichen
Bewegung ergriffen jehen.
„Man darf nicht glauben,” jagt Ariftoteles ganz in plato-
niſchem Sinne, „daß der Bürger nur fich jelbit angehört, vielmehr
gehören alle dem Staate.” Denn — fügt er hinzu — jeder ift
ein Teil des Staates.?) — Ein Sab, in dem uns ebenfalls wie-
der die Auffaſſung des Staates als eines Organismus entgegen-
tritt. Um das Verhältnis zwiichen Individuum und Staat zu er=
läutern, wird geradezu der Vergleich mit den Gliedern des menjch:
lechen Körpers, mit Hand und Fuß herangezogen, die, wenn der
ganze Menſch zu exiftieren aufgehört hat, ebenfalls nicht mehr da
find, eS jei denn dem Namen nac.?) Der Teil eines Ganzen ver-
mag eben ohne dasjelbe jeine Beltimmung nicht zu erreichen, ift
„ſich nicht jelbjt genua,” gelangt alſo zu voller und wahrer Eriftenz
) Gorg. 469.
2) Pol. V, 1, 2. 1337a: @ua de ovdE yon vouiteıw, aurov aürov
Tıvd Eivaı Tov nolırav, aAAd navras ns NOAEwmS' UOELOV ydo
&xaoros INS TOAEWS.
5) I, 1, 11b. 1253a.
166 Erſtes Bud. Hellas.
erſt durch das Ganze,!) weshalb Ariftoteles vom Staate jagt, er
fei als ein Ganzes (bearifflich) früher, als jeine der Autarkie un:
fähigen Teile, die Individuen?) Nur aus der Idee des Ganzen
heraus kann das einzelne Glied begriffen werden.
Als Drganismus ift der Staats ferner nichts Fünftlich Ge-
machtes, ein bloßes Werf der Willkür und der Neflerion, jondern
erwachlen aus den in der Natur jelbjt liegenden Triebfeimen,?) die
jolche wenn auch minder vollfommene Formen der Lebensgemein-
ichaft ja ſchon im Tierleben, 3. B. im „Bienenftaat“ entjtehen
laſſen.)) Diejes in der Natur angelegte Gemeinjchaftsitreben er—
reicht in der ftaatlichen Gemeinjchaft das Endziel der Autarkie d. h.
des völligen Selbjtgenügens, welches das Weſen alles Glückes aus:
macht.
Denn ein wahrhaft glückliches Daſein ijt nicht das der Iſo—
lierung, in welchem der Menjch möglichjt nur fich jelber lebt, ſon—
dern ein ſolches, in welchem er als ein gejelliges Wejen zugleich
für Familie, Freunde und Mitbürger da ift.5) —
ı) „Seine Zugehörigkeit zur Allgemeinheit läßt fich nicht Fortdenfen.
ohne das Weſen des Menjchen zu negieren.“ Gierfe a. a. D. 301.
?) Ebd.
3) Der Menſch ein von Natur ftaatliches Wejen! dvIownos pvceı
noAırıxov Coov. Der Staat ein Naturproduft! raoe noAıs pvoeı Eortiv. ib.
4) Inwieweit diefe Analogie berechtigt ift, kann hier nicht erörtert
werden. Zurückgewieſen wird fie von dem — in Beziehung auf die allge:
meine Auffafjung wejentlich mit Ariftoteles übereinftimmenden — Natur:
forfcher unter den heutigen Philojophen, von Wundt, nach welchem die
danernden gejelligen Vereinigungen der Tiere ausnahmslos auf dem Ge—
ichlechtsverhältnis beruhen und daher nur als erweiterte Familien, nicht als
Staaten gelten können. Ethik 175. Vgl. den Aufſatz über Tierpfychologie
in den Eſſays 156. Anderer Anficht ift Hädel: Uber die Arbeitsteilung in
Natur und Menjchenleben 27 und Gierfe a. a. D.
5) Eth. Nie. (Suſemihl) I, 5. 10976, 8: 76 ... teAsıov dyasov
avraoxes eivaı doxei. To dE auraoxes Adyousv ovx avro uovo to Lorrı Biov
uovornv alle zei yovsvoı al TEZVOLIS zei yuvaızı za 0Aws Tols pikoıs
zaı nokitaıs, Ereidn pvocı nodırızov Cwov 6 dvdownos. cf. 1196b: roAı-
Tıxcv ydo 6 dvdownos za ovönv nepvxos. Kth. Eud. VII, 1142a: xor-
*
II. 2. Der Kampfd. idealift. Sozialphiloj.geg. d. extr. Individualismusec. 167
Gemäß diejer jozialen Grundauffaffung wird von Arijtoteles
ein bejonderer Nachdruck gelegt auf die Entwicdlung der ſozial—
ethiichen Empfindungen, denen er drei volle Bücher der Ethik ge
wiomet hat, jener gejellichaftlichen Gemeingefühle, welche ex in den
Begriffe der yıAia zufammenfaßt, ſowie der grundlegenden jozialen
Tugenden: der Billigfeit und Gerechtigkeit. —
Gegenüber dem Ipeziftichen LZafter des Egoismus: der Pleo—
nerie, der Plusmacherei des Stärkeren,!) der im Wettbewerb um
die heißumftrittenen äußeren Güter rücjichtslos fein Intereſſe auf
Koften des Schwachen geltend macht,2) erſcheint hier vor allem die
vovızov Coov. — In gleichem, nur über die nationale Schranke hinaus:
gehendem Sinne tritt Comte und der Poſitivismus der imdividualiftiichen
Doktrin mit der Aufftellung des altwuiftiichen Grundjages entgegen: „Lebe
für den Nächften d. h. für die Familie, das Vaterland, die Menjchheit;"
wozu Schulge-Gävernig (zum jozialen Frieden II, 14) mit Recht bemerkt, daß
dies die drei Kreiſe find, durch welche der Menjch in feiner Entwicklung hin:
durchgegangen ift, und von denen immer der dvorhergehende, weil er noch
mehr egoiftiiche Triebe in Bewegung jet, al3 Erziehung für den Nachfol:
genden zu betrachten ift.
!) Diefe Bekämpfung der „Pleonexie“ ift überhaupt charakteriftiich für
die ganze hier in Betracht kommende Richtung der Sozialphilofophie. Vgl.
z. B. jenen unbekannten Antor des 5. Jahrhunderts, den Jamblichus benüßt
hat (vielleicht Antiphon? Blaß fr. e. Kiel 1889. Univerf.Progr.): "Erı Toivur
oux Eni nAsoveäiav Öpudv del, ovdE TO xg«ros To Eni ın nAcovedig
nyeiodeı dosımv eivaı, T6 dE TWv vouwv ünaxovew deiklav' novmgordın
yco avın 1 didvod Eotı, zul EE avrjs navra Tüvertia Tois dyadols
yiyveraı, zaxia te zal BAaßn. El yco Epvoav uEv ol dvdgwnoı adv-
varoı xa®# Eva Lv, AR de won: aAAmkous tn avayan
Elxovress, naoe den on avrovs Aromen: xal TO TEYVnucTa <Ta> 20:
avınv, cvv ehAmkais dE Eivaı avrods zul avouie dıastaoFaı ovy olovre
(usilo ycao avrois Enuiav oürw yiyvsodaı Exsivns Ins zarte Eva dialiens)
die TaVTaS Toivvv Tas dviiyzas Tov TE vouov zal To dixaov Eußaoıkevev
Tois ardownors zal ovdaun weraorijvau dv auTd . Pvosı Yao ioyvod
evdedeodeı tavte.
2) Die Pleonexie ift die adızie 7) regt uumv 7 Yonuere 7 oWwrnglev
7 & twı Eyoıuev Evi övouerı negikaßeiv tavra navre, zei dv mndornv
iv ano tod xeodovs. (N. Eth. V. 4. 11350a, 1.) Sie bejteht in dem nAEor
168 Grites Buch. Hellas.
Gerechtigkeit als diejenige fittliche Gefinnung, welche das eigene
Smtereffe mit dem der anderen möglichit auszugleichen jucht. D. h.
der Menſch ſoll überall im Verkehr, wo es fi um die Zuteilung
materieller Vorteile oder Nachteile handelt, das Prinzip der ver:
hältnismäßigen Gleichheit walten laſſen, indem ev weder von jenen
fich felbft zu viel und dem Nächten (79 rAnoiov) zu wenig, noch
von dieſen ich jelbft zu wenig und dem anderen zu viel zueignet,
ſondern fich ehrlich um das richtige Mittelmaß bemüht.) Gerech-
tigfeit in diefem Sinne ift alfo die Verwirklichung des suum
cuique (1) «os di 19 ca avrov Exaoroı Eyovom. rheth. I,
9). Sm Gegenfaß zu jener Anſchauung, die nur Cine Norm
diftributiver Gerechtigkeit, das Necht der Kraft Fennt, wird dieſe
Gerechtigkeit auch dem Schwachen gerecht. Sie gibt daher auch
dem Nächiten mehr al3 das, was nötigenfall3 durch das Gejeß er—
zwungen werden Fan; denn fie ift nicht bloß Geſetzlichkeit, ſondern
auch Billigfeit (0 Errusizes), welche nicht auf dem Buchjtaben
des formalen Nechtes beiteht, jondern auch da, wo das Geſetz zu
Gunften de3 eigenen Intereſſes ſpricht, dieſes Intereſſe freiwillig
hinter dem innerlich berechtigteren Anfpruch des Nächiten zurück—
treten läßt.2) Die Gerechtigkeit ift, weil fie auch das Wohl des
aöuro v£usıv Tov ankos ayadov, Eharrov DE Tov anhos zaxov ebd. 10.
1134a, 34.
') ebd. 8.1134a,1: 7 uEv dizaioovvn Eoti za9” 17V 6 dixavos AEyeraı
nouxTıxös Kara TE0«IGEOIV Tod dixalov, zei dLaveunrıxös za erw
noös dAkov xal Eriow oög Eregov, oUy ovrws, Wore toi uEv aigerov
nAeov aöro Earrov de ıW nAmolov, too BAußegod d’ avanalıy, alla Tov
loov tod zart’ dvakoyiarv, Öuolws dE zal dhhw noös ahhov. Mit Recht
bezieht Schmoller (Grundfragen des Rechtes und der Staatswirtihaft ©. 61)
das, was Ariftoteles „austeilende Gerechtigkeit” nennt, auch auf den privat-
wirtſchaftlichen Verkehr, nicht bloß auf die Verteilung öffentlicher Rechte und
Laſten, wie Trendelenburg (Die ariftotelifche Begriffsbeftimmung und Ein-
teilung der Gerechtigkeit. Hift. Beiträge zur Philof. III 405), Zeller (Phil.
d. Gr. I1 [2]? 641), Neumann (Die Steuer nach der Steuerfähigfeit. Jahrb.
f. Nationalöfon. u. Stat. n. F. 1545) u.a. Bgl. übrigens auch Ahrends:
Naturrecht 1,6 42.
2), ebd. V, 14.,1137b, 1.
II. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof. geg.d. extv. Jndividualismugzc. 169
andern, nicht bloß das eigene will, zugleich ein „Gut der Mit-
menschen” (EAAorgıov ayadov, Sri roos Ereoov Eoriv all
yco Ta ovugysoorra moarre.!) Altruismus!); und infofern ift
fie auch die „vollendete Tugend“, weil der, welcher fie befitt, die
Tugend nit bloß als Individuum für jich ſelbſt und in feinem
inneren Leben, fondern auch im Verhältnis zu anderen zu bethä-
tigen vermag.?) Denn viele genügen den Anforderungen der «ger
zwar in Haus und Familie; wo es ſich aber um die Beziehungen
zu außerhalb Stehenden handelt, bleiben fie mehr oder minder weit
hinter derfelben zurück.) CS zeigt ſich das bejonders deutlich in
Lebensftellungen, in denen fich die Thätigfeit des Einzelnen recht
eigentlich auf die Anderen und auf die Gemeinjchaft richtet, wes—
halb Bias jehr treffend bemerkt hat, daß exit das Amt den Mann
erweilt.t)
Daher ift die Gerechtigkeit zugleih ein „politifches Gut“
(roAırıxov ayasov),5) weil fie ein der Gemeinschaft dienendes
ift (70 own) ovugeoov®)). Sie ift die „Irefflichkeit im Gemein-
leben“ (zowovız) agern)?). In der Gerechtigkeit, jagt Ariftoteles
mit einem Dichterwort, ift jede Tugend begriffen; fie it in ge
wiffen Sinne die aosen ſchlechthin. Nicht der Abendſtern, noch
der Morgenftern ift jo wunderbar wie fie.®)
) ebd. V, 3. 10a, 2,
2) ebd. V, 3. 1129b, 25: eürn uEv ovv 7 dixeioovvn dosın uev &orı
teleie, aA ovy anhwos aAAd Toos Ereoov . zei did Tovro noAlaxıs XQq-
tion 10V dostov eivaı doxel 7 dızaioovvn xrA.
3) ebd. 1130a 5: douoros d’ ouy Ö noos aurov (YoWwuesvos) ın doetn,
@AR’ 6 noös Eregov' Toiro ydo Eoyov yakenov.
4) ebd. 1: zei did rovro eu dozei Eysır 10 tod Biavros, Ort „aoye
Tov üvdoa delle“ mocs Eregov ydo zul Ev zoıvwvia 7m 6 doywv.
5) Bol. III, 6, 7. 1282b.
6) Eth. IIT, 11. 1160a, 14. *
) Pol. IN, 7, 7.1283a: zowwrizv co dosm)v eival pauev vv
dizaoovvnv, 7 Nadoas dvayzalov arolovdeiv tas aha.
8) Eth. V, 3. 1129b, 38: &v JE dixzauoouvn ovAAnpßdnv ao’ aosım
&otıv. cf. 1130a 9: eur udv ovVv 7 dixaioovvn ov u£oos aoerns aAh 6m
dos Eotıv.
170 Erſtes Buch. Hellas.
Indem die Gerechtigkeit darauf hinwirkt, daß im gegenfeitigen
Verfehre der Menjchen Leiftung und Gegenleiftung fich entſprechen,
d. h. in billigem Verhältnis zu einander ftehen, erweift fie fich
recht eigentlich al3 eine Kraft, welche Staat und Geſellſchaft zus
jammenhält, ven Menſchen an den Menschen feijelt.!)
Bergegenwärtigen wir uns die Tragweite diefer in der „Ethik“
entwickelten dee der Gerechtigkeit für die Entwicklung des Verkehrs—
lebens, jo ift ſoviel gewiß, daß fie von vornherein jene rein indivi-
dualiſtiſche Auffaffung der Volkswirtſchaft ausschließt, nach welcher es
als das „Naturgemäße” erjcheint, wenn der wirtjchaftende Menſch
für möglichft geringe eigene Leiftungen möglichft hohe Gegen:
leiftungen der anderen zu gewinnen fucht. Die arijtotelifche Ge—
techtigfeitsidee enthält vielmehr die Forderung, daß auch bei den
Erſcheinungen des Marktes, bei der Bildung des Taufchwertes und
ver Preife nicht der wirtichaftliche Egoismus das allein entjchei-
dende Moment fei, jondern mit der Bethätigung des berechtigten
Selbjtintereffes geradezu eine bewußte Rückſichtnahme auf das Wohl
des Nächften, eine pofitive Förderung desfelben Hand in Hand gehe.
Es iſt ein hochgefteigertes fittliches deal, welches damit in
das Verkehrsleben hineingetragen wird. Die Verfolgung des rein
„wirtſchaftlichen Prinzipes“, vermöge deſſen der Anbietende für
Hingabe eines möglichit geringen Warenguantums möglichit viel
Geld, der Nachfragende das Umgefehrte erſtrebt, wird nicht einmal
dann als „ethiſch farblos“ 2) anerkannt, wenn, wie es ja häufig
der Fall ift, jeder Teil überzeugt fein darf, daß der andere bei
dem Gejchäft feine Nechnung findet und durch den Erwerb deſſen,
') ebd. 8. 1132b, 31: «AA Ev uEv Tais xoıvwviaıs tais aAdazrızals
GuVSſO0ft TO Tolodrov dixaov To avrınenov9os, zart’ dvakoyiav zal um
zart loTyTa . TO dvrınoreiv yao avdkoyov ovuusvsı m noAıc.
Dal. 1133a, 1: 77 usradoosı dE ouuuevovow. Pol.I1,1,5.1261la: deoneo
zo toov TO avrınenovdos oWleır Tas ToAsıs.
2) So wird das „wirtichaftliche Prinzip“ von modernen National:
ökonomen bezeichnet 3. B. v. Diegel: Beiträge zur Methodik der Wirtjchaftz-
wiſſenſchaft. Jahrb. f. Nationalöf. u. Stat. n. F. IX 34 vgl. 39, Dazu
Dargun: Egoismus u. Altruismus in dev Nationalöfonomie 84.
II. 2. Der Kampfd. idealift. Sozialphilof. geg. d. extr. Sndividualismuszc. 171
was er bedarf, ebenfalls einen wirtjchaftlichen Vorteil davonträgt.
Der Menſch ſoll eben überhaupt nicht den höchſtmöglichen Lohn
für feine Arbeit, den höchſtmöglichen Preis für feine Mare, die
höchſte Rente für fein Kapital erſtreben, ſondern nur ein ſolches
Maß von Lohn und Preis, welches fich prinzipiell innerhalb der
Schranken der Billigfeit und Gerechtigkeit hält. Nirgends auf dem
Gebiete der Produktion, wie der Konjumtion foll uns der Menſch,
deſſen Konjens oder Mitwirkung wir bedürfen, nur als Mittel
und Werkeug gelten, auf welches wir andere als wirtichaftliche
Rücjichten zu nehmen nicht nötig haben, jondern ftetS zugleich als
Gegenſtand jittlicher Pflichten.
Es joll das Selbftintereffe in dem Sinne „moralifiert“ !)
werden, daß der Handelnde jich in jeinen wirtichaftlichen Akten von
vorneherein nie einjeitig nur um die Wahrung jeines Intereſſes,
jondern ſtets auch um dasjenige der anderen kümmert, daß er
dem Mitkontrahenten die Sorge für deſſen Wohl nicht aus:
Ihließlich überläßt, jondern jelbjt von dem ehrlichen Streben nad)
gerechter Ausgleichung der beiverjeitigen Anjprüche bejeelt und ge-
leitet it.
Man mag über die Nealifierbarkeit diefer Forderung denken,
wie man will, man mag den Drud, den die wirtjchaftlichen Ver—
hältnifje auf den Einzelnen ausüben, und der ja leider in unzäh-
ligen Fällen jeden Gedanken an nichtwirtichaftliche Rückſichten ver-
prängt,2) noch jo hoch anjchlagen, — darüber fann doch kaum ein
!) Um einen treffenden Ausdruck von A. Wagner (Orundlegung L,?
762) zu gebrauchen.
2) „In jedem Augenblick der wirtjchaftsgejchichtlichen Entwicklung —
jagt Diegel a. a. DO. mit Recht — werden infolge des Drängens der Bevölke—
rung auf die Subfijtenzmittel, der DVerfchiedenheit dev Ernten, des Mechjels
der Konjunktur und der Technik u. ſ. w. zunächit gewiſſe Klaſſen oder Kreife
der Geſellſchaft in ihrem Beſitzſtand getroffen, fühlen den Druc des bejchränften
Stoffguantums und reagieren darauf durch eine möglichſt ſtrikte Befolgung
des „wirtjchaftlichen" Prinzips in ihren wirtjchaftlichen Operationen. Damit
alterieren fie twieder den Beſitzſtand anderer Klafjen und die Folge iſt eine
jtete Bewegung in der Richtung diefes Prinzipes.” Freilich jpricht gerade
172 Erites Buch. Hellas.
Zweifel beftehen, daß die wünſchenswerte Geftaltung des Verkehrs
in einer möglichiten Annäherung an das hier aufgeftellte Ideal ge
jucht werden muß. Aller Fortichritt der fittlichen Kultur hängt
von der Frage ab, bis zu welchem Grade neben dem auf das
Wirtichaftliche gerichteten Trieb der Selbitbehauptung und Selbitent-
faltung die Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit als fittlicher Lebens—
maßſtab zur Geltung zu gelangen vermag. Wie wäre ferner auf
dem Wege zur Milderung und Verſöhnung wirtichaftlidder und
jozialer Gegenjäße weiter zu fommen, als „nach der Norm des
Strahlenden suum cuique” (Rodbertus)?
Dver jollen wir es für alle Zufunft als „einfaches Gebot
berechtigter mit der Liebe zum Nächiten vereinbaren Selbjtliebe“
anerkennen, wenn 3. B. der wirtichaftliche Unternehmer „bei dem
Angebote der Ware Arbeit” unter aleich tüchtigen Arbeitern regel-
mäßig nur diejenigen anwirbt, welche den geringiten Lohn fordern, 2)
ohne fich ernftlich die Frage vorzulegen, ob dieſe niedrigite Forde—
rung nicht etwa eine durch Die Not erzwungene ift, und ob er jelbft
nicht zu einer befjeren Entlohnung wirtichaftlih vollfommen in der
Lage wäre?
Sollen wir es für alle Zufunft als „berechtigt“ anerkennen,
wenn die wirtichaftlichen Intereſſengruppen den Egoismus ftetig
fteigern und zu immer unverholenerem Ausdrud bringen? Sollen
wir diefen Egoismus refigniert hinnehmen als etwas, „wogegen
nicht zu jagen ift,“ und im übrigen der Staatsgewalt die Sorge
dafür überlaffen, wie den ſchädlichen Folgen feiner antijozialen
Thätigfeit zu begegnen fei?2)
dies für die Notwendigkeit, die in entgegengefegter Richtung twirfenden Ten:
denzen möglichſt zu verftärfen.
') Eine Anficht, die z.B. Diebel vertritt, obwohl ex ſelbſt zugibt, daß
„der Ehrift, der Patriot, der Human und billig Gefinnte auch als wirtjchaft-
liches Ich nicht unchriftlich, unpatriotifch, hartherzig handeln kann" (a. a. O.
44) und daß die Annahme von dem ausschließlichen Walten des twirtjchaft-
lichen Prinzipes im Verkehr nur eine Hypothefe zum Zwecke der Gewinnung
abitrafter Geſetze jein fünne. n
?) Ein Standpunkt, wie er 5. DB. von dem deutjchen Reichskanzler in
II. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof. geg. d. extr. Individualismusec. 173
Ariitoteles ift anderer Anficht. Nach ihm hat ſich der Staat,
wie der Einzelne auch hier als Drgan der ausgleichenden Gerech—
tigfeit zu bethätigen, und das allgemeine Nechtsbewußtfein foll fo:
weit entwicelt werden, daß es jede Geltendmachung von Privat
interefjen, welche geeignet ift, das Ganze zu jehädigen, jede Aus—
beutung wirtjchaftlicher Machtverhältniffe zur Erzielung unbillig
großen Gewinnes als unſittlich brandmarft.
„Handle jo, daß die Marime deines Willens jederzeit als
Prinzip einer allgemeinen Gejeßgebung gelten könnte.” Diefe Kan:
tiihe Formel will nichts anderes, als das hier entwickelte ariftote-
liche Moralprinzip, für welches ja ebenfalls die Nückficht auf den
Nebenmenſchen und auf. die Gejamtheit das fittlih Entſcheidende
it. Es ift die Idee der Öegenfeitigfeit (des Mutualismus),') durch
welche auch in den Handlungen des wirtjchaftlichen Verkehrslebens
ein gewiſſes Gleichgewicht zwijchen den Forderungen berechtigter
Selbftliebe und denen des Gemeinfinnes zur Verwirklichung ge
langen joll.
Und dieſe jelbe Idee der Gegenfeitigkeit führt denn noch weiter
bis in jene Sphäre menschlichen Handelns hinein, in welcher die
„altruiſtiſche“ Empfindungsweife geradezu das Übergewicht erhält,
in das Bereich der Liberalität und Barmherzigkeit, d. h. alles deſſen,
was man neuerdings als das „Faritative” Syjtem dem „privat-
wirtjchaftlichen” an die Seite gejtellt hat. Hier erjcheint der ari-
jtotelifchen Betrachtung über die Gerechtigkeit das, was ein wahr-
haft gerechter Sinn fordert, durch jene ſchöne Volksſitte vorgezeich-
1
net, an den Mittelpunften des bürgerlichen Verkehrs ein Heiligtum
der großen Rede über die Handelsverträge vom 10. Dezember 1891 ver-
treten wurde.
) „In der jozialen Ordnung,“ jagt der — allerdings extrem indivi—
dualiftiiche — Proudhon, „iſt die Gegenfeitigfeit (reeiprocite, To avrınoeiv!)
die Formel der Gerechtigkeit. Sie ift die Bedingung der Liebe jelbft.
Die Gegenfeitigkeit ift in der Formel ausgedrückt: Thue anderen, was du
willſt, daß man dir thue. Das Übel, das uns verfchlingt, kommt daher, daß
da3 Geſetz der Gegenjeitigfeit verkannt und verlegt iſt.“ Vgl. Diehl: Proud:
bon II, 41.
174 Erſtes Buch. Hellas.
der Huldaöttinnen (Charitinnen) zu errichten.) Ariftoteles ſieht
darin eine jtete Mahnung zur Erfüllung der fittlihen Pflicht, dem
Nächiten Dienft mit Gegendienft zu erwivern, ja noch mehr! —
ihm mit neuen Liebeserweiiungen zuvorzufommen, wie es eben im
Weſen der Charis liegt.2)
Tach alledem gelangt Ariftoteles zu dem Ergebnis, daß die
Gerechtigkeit in vieler Beziehung etwas von dem an fich) babe,
was die Griechen gell nannten,?) von jenem Gemeingefühl,
welches Menſch mit Menſch verbindet, und welches vorhan-
den fein muß, wenn es zur Übung der Gerechtigkeit im reinften
und höchſten Sinne kommen ſoll.
Die yılla iſt ja nicht bloß mit dem perjönlichen Verhältnis
zwiſchen einzelnen, mit der Freundſchaft identisch. Sie ift zugleich
der dem Menfchen überhaupt innewohnende Trieb nach dem Leben
in der Gemeinjchaft.t) Und jo zeigt ſich der Gegenjab gegen
den ſozialen Atomismus, wie er diefe Auffaffung von der Gerechtig-
feit auszeichnet, auch in der Erörterung über die „Freundſchaft“,
indem neben der gyıAra im engeren Sinne die verjchiedenften Formen
des Gemeinlebens, Korporationen, Genofjenjchaften, kurz Berbände
aller Art,5) ſowie die verſchiedenartigſten Formen des Gemeingefühls
ins Auge gefaßt werden, die über das individuelle Leben mehr oder
minder binausführen.
1) Wie es 3. B. auf den Marktpläßen von Sparta, Olympia, Oxcho:
menes der Fall ivar.
2) Eth. V, 8. 1133a, 2: dio zei Xapitwv isoov Eunodov moiodvzat,
wa dvranodooıs N‘ ToöTo yag idtov yagıros' dvdvnmgerjoa Te
yco del TO yaoıcausvo zal nakıv avrov dofaı yagılousvov. Dal. die
Definition dev Charis Rhet. IL, 7. 2.
3) Ebd. VIII, 1. 1155a, 29: zei av dixaiwv To ucakıore @ıdlıxov
eivaı doxei.
) Bol. III, 5, 14. 128la: 7 yo Tod ovönv nooaiomoıs pıdie.
5) Auch diefe jozialpolitiichen Gebilde werden ala „gYiAias Eoyov“ be-
zeichnet, freilich injoferne mit Unvecht, al3 ſolche Genoſſenſchaftsbildung ganz
überwiegend das Ergebnis von individuellen Intereſſen oder auch von
jozialen Inſtinkten ift, die nicht notwendig mit altwuiftifcher Empfindungs-
weiſe zu identifizieren find.
<a
IT. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphiloſ. geg.d. extr. Individualismus sc. 175
Demgemäß ericheint auch hier wieder — al3 eine Form der
gyılia — die „Einheitlichfeit der Gejinnung” (ouovore),!) die
„politische Freundſchaft“. Sie hält den Staat zuſammen und bildet
eine feſte Schußwehr gegen innere Kämpfe, weil, — wo fie vor:
handen ift — die Einzelnen fih als Glieder einer geiftigsfittlichen
Gemeinjchaft fühlen, welche gemeinjame Ideale hat, die ihr höher
jtehen, als das indivivuelle Intereſſe: nämlich die Gerechtigkeit und
die Wohlfahrt der Gejamtheit.?)
Aber jelbjt über diefen weiten durch die ftaatliche Gemein:
ſchaft gegebenen Rahmen führt die Begriffsbeftimmung der yılrz
bei Ariftoteles hinaus. Er verweilt auf jenen Drang zum Gemein-
leben, welcher jchon den gemeinfam lebenden Tieren und in noch
viel höherem Sinn dem Menjchen eigentümlich ijt;?) jenes Gemein-
gefühl, als deſſen edle Frucht die „Menſchenfreundlichkeit“,
die yılavIowrcie ericheint, die immer aufs neue erkennen läßt,
) Ich entnehme dieſen ſehr glücklichen Ausdruck den Ausführungen
Schmollers, die fi) mit dem ariftoteliichen Standpunkt jo nahe berühren.
Die „ouovoe“ ift in der That nichts anderes als Schmollers „Einheitlichkeit
der Gefinnung”, die Gemeinschaft dev Ideen und Gefühle, die Schmoller jo
ſchön ala den „goldenen Ring” bezeichnet hat, welcher „das Volkstum
zuſammenhält“. Grundfragen 122. Vgl. Jahrb. f. Gejeßgeb. u. Volksw.
1890. S. 98 ff. (Das Weſen der Arbeitsteilung und der ſozialen Klaſſenbildung).
2) Eth. IX, 6. 1167b, 3: Eorıv d’ 7 ron ouovor@ Ev Tols En-
eixeoıw‘ ovror Yao zei Eauvrois Öuovoovcıv zei ahlmkoıs Ei tov avror
ÖVTes WS EinElv' TWV TOLOVTWv Yao uereı Ta Bovinueta zul 00 ueraoger
Wworeg Evgınos, BovAovrei TE TE dixaia zul Te Svugpeoovra‘ tovrwv dE
xei xoivn Eplevrat.
Vgl. VII, 1, 1155a, 22: Eoıxev de zul Tas noAsıs ovveyew m
pihie, zei oi vouoderaı uchAov regi avrnv onovdalsır 7 mv dizauoovvnv'
7 ydo öuovora Duowv Tı 17 Yilie Eoizev Eivaı, Tavıys dE uahıoıa £pi-
evraı xrA. cf. Bol. U, 1,16. 1262b: gıliav Te yao olousda ueEyıorov
eivar Tov dyasov tais noAsoır (oGros ycao dv Nzıora oraoıabouev) zei
TO ulav eivaı ınv nokıv Enaıvei udho# 0 Zwxrodıns 0 zal doxsi
xaxeivos eivai pyoL vis Yikias Eoyov xrA.
3) &th. VIII, 1, 1155a 16: gvosı Te Evvnaoyeiv Eoıze sc. pidie...
Tois Suoedveoı ıg0s @Almla zul uckıore Tois avdgwnoıs, OEV Tods pihar-
Hownovs Enaiwvovuer.
176 Erſtes Buch. Hellas.
wie „nahe verwandt und lieb der Menſch dem Menfchen ift“
(os oixslov areas av$owros avIeWrp xal yikov).!)
Alle wahrhaft menschlichen Empfindungen verleugnet daher
der Egoift, der alles nur um jeinetwillen („Ervrov gagıy ravre“)
und nichts thut, wobei nicht jein Intereſſe im Spiele ift (ovder
ay Eavror rroarreı), der in dem allgemeinen Konkurrenzkampf
um die Äußeren Güter des Lebens, um Neichtum, Ehre und Ge—
nuß einzig dieſem, jeinem jelbjtfüchtigen Intereſſe folgt?)
Solcher Eigenliebe fteht jene Gefinnung gegenüber, welche —
je nach der Nähe des perjönlichen Verhältnifjes, nach Würdigkeit
oder Dürftigfeit — jedem das Seine gewährt und jo all’ den ſitt—
lichen DVerbindlichkeiten gerecht zu werden jucht, welche die jo ver:
ſchiedenartigen Beziehungen zu Verwandten, Freunden, Mitbürgern
und anderen Menjchen dem Einzelnen auferlegen.?)
) Ebd. Schwer begreiflich ift es, wie Hildenbrand (Geſch. u. Shit.
der Rechts- und Staatsphil. T, 339) angeſichts dieſer Stelle, die allerdings
gewöhnlich überjehen wird, die Behauptung aufjtellen kann: Ariftoteles fenne
„ebenfowenig wie das ganze Heidentum den Begriff der Liebe ala dauernder
Beichaffenheit des Subjekts, welche jich gegen andere Menfchen äußern joll
und von der die Freundjchaft nur eine Steigerung und Anwendung ift.“
Man Sollte doch mit jolch einjeitigen Anfchauungen über das „Heidentum”,
nach welchen dasjelbe alles Mögliche nicht gefannt haben joll, endlich einmal
brechen! Allerdings erklärt es Ariftoteles für unmöglich, viele zu „Lieben“;
allein der Zufammenhang beweift, daß er hier nur eine bejtimmte Art der
Liebe im Auge hat, einen hohen Grad perjönlicher Zuneigung (pikov opoder
eivaı, vrrgoßoAm Yikies), nicht das, was wir unter allgemeiner Menfchenliebe
verſtehen. (Eth. IX, 10, 1171a, 10.) Die Liebe, heißt es ebd. 4. 1166, 32,
die mehr ift, als bloßes Wohlwollen, jchließt eine Spannung des Gemütes
(dierasır) nnd ein lebhaftes Verlangen (oosdır) in fich, wie es naturgemäß
nur durch Einzelne erregt werden fann.
>) ebd. 8. 1168b, 15: giAavrovs xaAovcı Toös Eavrois anov&uovras
To nAeiov Ev yomjuaoı zu. Vgl. 1168a. f
3) Ebd. 1. 1165a, 29: noös Eraigovs d’ av xal ddeApovs neognolav
zei EnIEvrwv xzoworntae ,„ xal ovyyEev£oı DE zei pvhetaıs xai nroditaıis zei
tois Aoınols Enaoıv dei neigarTeorv TO oiXelov anoveusıv, xal OvVyxolveiv
TE &xd0ToIS Ündoyovra zur’ olxEIornTa xal doETMmVv 7 Xonow . av uev
orv öuoyerWr ddr ı) zgloıs, av dE dinpegortwv Eoywdsotege . ou ur
11. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof.geg.d. extr. Sndividualismusac. 177
Es ift die Aufgabe der Erziehung, diefe ſozialen Gefühle im
Volke möglichit zu entwickeln und ihre richtige Anwendung zu fichern.
Die Erziehung zu einem jolchen fittlihen Gemeinschaftsleben aber
iſt wejentlih Sache des Staates, weil ja im Staate alle Gemein-
Ichaftlichkeit des Lebens zur Vollendung und abjchliegenden Gejtal-
tung gelangt.!) Der Staat und feine Inſtitutionen find es vor
allem, die den Einzelnen zur jozialen PBflichterfüllung, insbejondere
zu einem gemeinnüßigen Gebrauch des Vrivateigentums zu erziehen
und auf jene Ausgleihung der Begierden hinzuwirken haben,
welche für Ariftoteles die erſte Bedingung jozialen Friedens ift.?)
Ya der Staat hat die Erfüllung auch ſolch höherer jozialer Pflich—
ten nötigenfall3 zu erzwingen.>)
Auch mit diefer Auffaffung ſetzt fih Ariftoteles in ausdrüd-
lichen Widerſpruch zu den einfeitig individualiftiichen Doftrinen. der
Vorgänger. Er nennt jogar zwei Vertreter derjelben, den ohne
Zweifel der Sophiſtik naheftehenden Architekten und Staatstheoretifer
Hippodamos von Milet nnd den Sophilten Lyfophron.
Die auf dem Boden der Demokratie jtehende Staatstheorie
des Hippodamos iſt für uns die erſte, welche aus dem abjtraft-
individualiftiichen Freiheitsprinzip den Schluß gezogen bat, daß der
Staat und feine Gejeßgebung ſich prinzipiell auf den einen Zweck
des Nehtsihuses, der Sicherung von Perſon und Eigentum zu
die ye Todro anoorareov, aAA Ws dv Evdeyerai, ovrws diogioteov. Ein
interefjantes und glaubwürdiges Zeugnis für die humane Auffaſſung des
Ariftoteles ift die Erzählung bei Stobäus 37. 32, wonach Ariftoteles, ala
ihm wegen einer einem Unwürdigen erwieſenen Wohlthat ein Vorwurf gemacht
wurde, exividerte: „Sch Habe ſie nicht dem Menſchen, jondern der Menjchlich-
feit (co avdownivo) erwieſen.“
1) Bol. II, 2, 10a. 1263b: des nAndos 09 sc. ımv noAıv dıa mv
naudeiav zoıvnv zul ulav noıueiv.
2) Ebd. II, 4, 5. 1266b: ucAdovr ydo der Tas Emidvulas öuakilev
7 Tas ovoias, Toro d’ 0vx Eorı un nawdevousvors izevos uno Tv vouwr.
3) Ariftoteles verweift in diefer Beziehung auf Kreta und Sparta.
Eth. I, 13. 1102a, 10 u. X 9. 1180a, 14. Vgl. die analoge Auffaſſung Xeno—
phons über die erzieherijche Aufgabe des Staates. Staat der Lak. X, 4--7.
Kyropädie I, 2, 2—3. Erziehung der Bürger zur Gerechtigkeit! ib. I, 2, 6.
Pohlmann, Geſch des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 12
17.8 Erſtes Buch. Hellas.
beſchränken habe.) Noch deutlicher-tritt ung die atomiſtiſch-indivi—
dualiſtiſche Staatsauffaſſung bei Lykophron entgegen, von dem
Ariſtoteles die bezeichnende ÄAußerung mitteilt, daß das Geſetz nichts
ſei, als ein „Bürge der gegenſeitigen Rechtsanſprüche“ (Eyyunens
allykoıs row dıxaeiov).”) CS iſt das jo recht im Sinne einer
Anſchauung gedacht, für welche das Individuum der Angelpunft
des ganzen Nechtes und lediglich für fich jelbft da it. Das Necht
bejteht nur auf Grund eines Vertrages,?) in dem die Einzelnen ſich
gegenfeitig perjönliche Sicherheit verbürgen, und dem man ſich nur
fügt, um fich neben den Anderen behaupten zu können. Der Staat
hat nur das gewaltſame Übergreifen von einer Freiheitsiphäre in
die andere zu verhüten und ſich im übrigen gegenüber den Be-
ftrebungen der Einzelnen möglichjt paſſiv zu verhalten. Zwiſchen
ihm und den einzelnen Individuen bejteht ebenjomwenig ein inneres
Berhältnis, wie zwijchen diejen jelbit.
1) Bol. II, 4, 5. 1267b: @ero D ein... TWv voumv ziva rei
uovov . eo wv yao ai dir yivovraı, Tola Tavt eivaı Tov doLduor,
vBow, BAcPßnv, Iaverov. Sehr bezeichnend ift es übrigens, daß jchon diefer
erſte Vertreter des „abjtrakten Rechtsſtaates“ nicht umhin fann, dem Staate
Schließlich doch auch wieder TIhätigfeiten im Sinne des Kultur: und Wohl:
fahrtszweckes zuzuschreiben, welche mit dem allgemeinen Prinzip keineswegs
völlig übereinftimmen. cf. Arift. ebd. 1268a.
2) Ebd. II, 5, 11. 1281a.
3) Da Ariftoteles a. a. D. in unmittelbarem Zufammenhang mit der
Theorie des Lyfophron auch die VBertragstheorie erwähnt, jo kann es faum
zweifelhaft fein, daß diejelbe der Anficht Lykophrons entſprach. Es ergibt
ſich das übrigens ſchon aus dem Begriff der Verbürgung, die eben zivei
Kontrahenten vorausſetzt. — Die Lehre don der Entjtehung des Staates durch
Vertrag ift ja überhaupt der Sophiftif eigen. cf. Plato Rep. II. 358e:
nepvrevar ydo d7 yacı TO usv adızeiv dyadov, To dE adızeiodaı xzuxov,
nheovı dE zero Üneoßa@dleıv To adızeiodaı 7 aya9o To adızeiv, wor’
eneidav aAhmhovs adızaaı TE zul ddızWvraı zei aUPoTEowv YyEiwvraı,
Tois un dvvauzvoıs TO uEv Expevyev, To dE aigeiv doxeiv Avoutelsiv
SvvHeodaı dAAmkoıs und adızeır une adızeiodeaı . zai Evrsütev dN
aofaodaı vouovs TIFEOHaL xl Evvdnjxas aüTov, zul Gvoudoeı Te
Uno Tod vouov Eniitayuc vouluov TE xal dixaıov zul eivaı du Tavınv
yEvsoiv TE xal oVolav dixaloovvns.
+ 42
1. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof.geg.d. extr. Individualismus ec. 179
Im Hinblid auf diefe- Dogmatik des Egoismus entwicelt
Ariftoteles im dritten Buche der Politik die für alle Zeiten maf-
gebenden Grundgedanken einer Staats und Gejellichaftsanihauung,
für welche der Staat die weit über das Bedürfnis der Sicherheit
hinausgehende Aufgabe der pojitiven Förderung von Kultur, Wohle
fahrt und Sittlichkeit feiner Bürger hat.
Der Staat, — jo lauten diefe Sätze, die man nicht oft ge
nug wiederholen kann,) — hat zwar feinen Urſprung in den not-
wendigſten Bedürfniſſen der Menjchen, aber in feiner Entwicklung
joll ex der Bervollfommnung ihres — äußeren und inneren —
Daſeins Ddienen.?2) Der Staat ift auch fein bloßer Schußverein
gegen Nechtsverlegung und äußere Gewalt oder eine Anftalt für
den Verkehr?) oder eine Erwerbsgenofjenichaft.t) Denn auch felb-
) MWenigjtens jolange nicht oft genug, als jelbft Männer, wie Sufe-
mihl (Anmerk. 250 zur Bolitif) und Onden (Staatslehre d. Arift. I, 214)
der Nechtsjtaatstheorie don Hippodamos und Lyfophron eine „ſchöpferiſche“
Bedeutung zufchreiben oder fie — wie wenigjtens Onden — als eine geijtige
Errungenschaft feiern, mit der Hippodamos feine Zeit weit überholt habe
und ich neben den römischen Juriſten als Vorläufer des modernen Staates
darjtelle, der „im Gejege nur die Schutzwehr gegen Störungen der öffent:
lichen Ordnung ſieht.“
Übrigens behauptet Sujemihl (Einl. z. Bol. 27) mit Unrecht, daß
Ariftoteles nicht einmal den Verſuch mache, dieſes Prinzip der „Bejchränfung
der Gejeßgebung” zu widerlegen. Als ob nicht gerade die obige Erörterung
dieſe Widerlegung enthielte! Aber auch zugegeben, daß dem Philojophen
wirklich, wie Sujemihl ihm vorwirft, „jede Meinung über die Aufgabe des
Staates ohne weiteres damit als widerlegt erſchien, wenn fie auf eine jolche
Anſchauung von dem Geſetz hinausläuft,” — würden wir ihm heutzutage
daraus einen Vorwurf machen? Erſcheint nicht in der That gerade auf dem
heutigen Standpunkt jtaatstwiijenjchaftlicher Erkenntnis eine Widerlegung der
extremen Rechtsjtaatstheorie vollkommen überflüffig?
2) Bol. I, 1,8. 1252b: 7 noAıs yıvousvn uv Tod Cv Evexev, ovo«
de tor eu Giv. cf. III, 5, 10. 1280a.
3) Ebd. II, 5, 10: ... unre ovuueyias Evezev, Onws Uno undevos
adızavrai, unte did Tas ahlayas xal Tv YXomoıw Tmv noos aAhmkovs xrA.
In der befannten Polemik gegen den Anfpruch der Plutofraten auf
politifche Privilegierung des Befites (a. a. O.) heißt es: ed ur yao av
12*
180 Erſtes Buch. Hellas.
ftändige Staaten jehließen unter ſich Schutzbündniſſe und Handels:
verträge ab, Fümmern ſich aber nichts um die Sittlichfeit und
Bildung des DVolfes, mit dem das BVertragsverhältnis befteht;
während doch gerade dies ideale Moment, die Förderung der Sitt-
lichkeit und Gerechtigkeit, von der Idee einer wahren jtaatsbürger:
lichen Gemeinjchaft unzertrennlich ift.
Daher macht auch die Einheit des Ortes an fich noch feinen
Staat. Wenn man zwei in fich verjchiedenartige Gemeinwejen —
Ariftoteles nennt beijpielsweile Megara und Korinth — jo zus
ſammenrücken könnte, daß fie eine ununterbrochene Häuferreihe
bildeten, jo würde dadurch noch Fein einheitlicher Staat entjtehen.
Dover wenn eine Anzahl von Individuen zwar gejondert lebte,
aber doch nahe genug, um mit einander verkehren zu können, und
wenn fie überdies noch einen Friedensverein unter fich jchlöffen zur
Vermeidung von Nechtsverlegungen, jowie eine Verbindung zur
gemeinjamen Verteidigung, jo wäre auch das noch fein Staat. Ja
ſelbſt gejeßt den Fall, fie entjchlöffen fich zu einem fürmlichen
Synoifismos und zögen zufammen, jeder Einzelne aber würde fort:
fahren, fein eigenes Haus wie einen Staat für fich zu betrachten
und ſich ſelbſt nur als Mitglied eines Schußvereins, der zu nichts
verpflichtet, als zum Beiftand gegen äußere Gewalt, jo würde eine
wahrhaft jtaatliche Gemeinschaft ebenjomwenig bejtehen, wie zuvor,
da ſich ja in Beziehung auf Art und Zweck des gegenfeitigen Ver:
fehres nichts geändert hätte!)
Es ift alfo Elar, daß der Staat mehr ift, als eine bloße Ge:
meinjchaft des Wohnortes oder ein Verein zur Verhütung des Un—
zyudtwvy ydoiv ExoivWvnoev zul GvrnAdov, TOGOVTOV WETEYOVOL TNS TIO-
Aews 0007 reg zei rs zrmosws. — Man wird dabei lebhaft an die Polemik
Gneift3 gegen das moderne Manchejtertum erinnert, das den Staat wie eine
Altiengejellfchaft betrachtet oder wie eine mit Geldbeiträgen erfaufte Majchine,
die den Privatperjonen möglichjt viele Genüſſe fichern joll.
) Ebd. 13.128la: & ydo zei ovveidoıev oVUTW zoLıvWvoVvres Exaotog
uevroı ygBTo rn ldig olizig aoneo nokeı zal opioıw wvrols wg Enti-
ucyies oVons Bom}ovrtes EN Tode ddixzoövras uovov, 0V0’ ovrws Ev Eivau
doFeıe nohts Tols dxgLBOS Hewgovcıv, Eineo Öuolws outkolev Gvvehdovtes.
|
—
IT. 2. Der ſtampf b. idealiſt. Sozialphilof.geg. b. ertr. Individualismus ꝛc. 181
rechtes und zur Förderung des Verfehres.") All das ift zwar Die
notwendige Borausfegung für das Beitehen des Staates, das Weſen
besjelben aber ift Die Gemeinihaft zur möglichſt vollfommenen und
befriedigenden Verwirklichung aller menihlichen Lebenszwede.?2) Das
Biel diefer Gemeinichaft ift nicht das bloße Zujammenleben, fon-
dern ein Gemeinſchaftsleben, welches zugleid; das Schöne und Gute
eritrebt.?)
Inſoferne ift der Staat zugleih eine Anftalt zur Berwirk
lihung menſchlicher Glüdfeligkeit; nit in dem materialiftiichen
Sinne des Wortes — „denn e3 widerſpricht einer hochherzigen und
wahrhaft liberalen Gefinnung, alles nur auf den äußeren Nußen
zu beziehen” 4) --; dieſe Glücdjeligfeit bejteht vielmehr vor allem
in der Vervollkommnung deſſen, was der edelite Teil des menſch—
lichen Wejens ift, in der Entwicklung der geiftigen und fittlichen
Anlagen des Menjchen.?) hr gegenüber find die äußeren Güter
(t& Extis, va Ee&wregize) von jefundärer Bedeutung. Sie find
bi3 zu einem Grade unentbehrli, aber während der geiftige und
fittlihe Fortichritt feiner Natur nad ein unbegrenzter ift und fein
foll, verbürgt das feine Schranken fennende Streben nad) Bermeh-
tung der materiellen Güter weder das Glüd der Gejamtheit, noch
des Einzelnen. Im Gegenteil! Der materielle Reichtum kann,
!) ib. gavegov roivvv tœ ovz £arıv m nölıs zowwvie Tonov zei
too um «ddızeiv opas aitovs zei 15 ueredooews yagıv.
?) ib. 128la: modıs di N yevov zei zwuov zoıvovia Cons tektias
zul autapxovs <ycgıw> ‚roüro d’ Eoriv, ds gaufv, 10 Inv evdanuovos
zei zus.
) ib. zuv zahAuv dga nodkewv [ydgw] Yerkov eivaı tiv nokırızmv
xowwvlar, ahh 00 Too ovLnv.
s) ib. 13382.
5) Pol. IV 1,5.1323b: Or uev ovv Exdorw ıns eidaıuovias Emı-
Ba@adeı rooourov, Goov eo dgEImS zei goovjosws zei TOD ngdtreıv zerd
teures, toro ovvouokoynulvov Tulv, udorvoı TO Bew yomukvors, ds
evdeiuwv u£v korı zei uazdpios, di’ ovdiv dE ruv Ewrsgizov ahld di
aördv autos zai To nos Tıs eivar Tyv güsww, £nei zei tiv evrugiar ris
eideıuovias did radr dvayzalov Erigev eivaı,
182 Erſtes Buch. Hellas.
wenn er ein gewilles Maß überjchreitet, auch zum Unheil aus:
ſchlagen und die fittlichen Lebenszwecke ſelbſt gefährden.!)
Nun aber find es ja, wie Ariftoteles in der Grörterung der
Ethif über den Egoismus hervorhebt, gerade die äußeren Güter:
Neichtum, Ehre und Sinnengenuß, welche die meiften Menfchen als
die höchiten in heißem Bemühen erjtreben und welche daher Gegen-
ftand des beftändigen Kampfes der Leidenschaften und Begierden
ſind.)) Insbeſondere ift es das Gigentümliche des auf das Geld
gerichteten Erwerbstriebes, daß er dasjelbe ins Grenzenlofe zu ver:
mehren trachtet.°2) Den meiften Menſchen ift es eben nur um das
äußere Dafein, nicht um die VBeredlung des Lebens zu thun.t) Da
aber die Grenze des Lebens unbekannt ift, jo ift auch die Lebens:
fürforge eine unbegrenzte und damit auch das Beftreben, ein mög-
lichft reiches Maß von Mitteln zum Leben fich zu verfchaffen. Die:
jenigen aber, die auch nach DVerjchönerung des Lebens trachten,
haben dabei meift die äußeren Genüſſe im Auge, und da die Vor—
ausſetzung, fich ſolche zu ſchaffen, eben der Beſitz ift, jo richtet ſich
auch bei ihnen das ganze Dichten und Trachten auf den Ber:
mögengerwerb. Auch kennt dann naturgemäß diefer Erwerbstrieb
ebenjowenig eine Grenze, wie der Genuß, der fein Ziel ift.5) Sm:
dem jo das Leben der großen Mehrheit von einfeitigen Trieben
beherrjcht wird, entiteht ein Antagonismus zwiſchen den Lebens-
zwecken des Einzelnen und den Zwecken des Staates als des Trä-
ger3 der höheren Güter der Menfchheit, deren Verwirklichung eine
harmonische Ausgleichung der menjchlichen Triebe, das richtige
!) ib. 4. Ta uev yao &xros Eyeı TTEORS, WONEO Voyavov Tı (nav
yco To yoyoıuov Eorıw, av tv üneoßoknv 1) BAdnreiv dveyzatov 7) under
ogysAos Eivaı airov tois &yovam).
2) Eth. IX, 8, 1168b, 19. Bol. IV, 1,3. 13238.
3») Ebd. I, 3, 18. 1257b: nevres yap Eis dnreigov av&ovow ol Xon-
uarılousror TO vououe.
4) Ebd. 19. 1258a.
5) ib. Mriftoteles wiederholt hier nur die Auffaſſung Platos über den
Zujammenhang zwiſchen dev Unerfättlichkeit dev Gewwinnjucht und der Maß—
loſigkeit der Bedürfniſſe. Leg. XI, 918d.
IT. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof. geg.d.extr. Individualismus ꝛc. 183
fittliche Maß bedeutet. Wenn es daher recht eigentlich) Aufgabe
de3 Staates ift, den Egoismus der Einzelnen dem Wohle des
Ganzen zu unterwerfen, jo wird das Objekt, an welchen jich diejer
Egoismus bethätigt, und aus welchem er immer neuen Anreiz und
neue Nahrung erhält, das Gebiet der materiellen Intereſſen, für
den Staat, dem es mit feinen fittlichen Zielen Ernſt ift, ein Gegen:
ftand bejonderer Aufmerkſamkeit fein müſſen.
Er hat um diefer feiner Ziele willen mit Entjchiedenheit
Stellung zu nehmen gegen den extremen Jndividualismus auf wirt:
ſchaftlichem Gebiet. Gegenüber einer Lehre, welche unter Berufung
auf den Kampf um das Dafein in der Natur und das natürliche
Recht des Starken über den Schwachen, dem Eingreifen des Staates
in den wirtjchaftlichen Konkurrenzkampf prinzipiell ablehnend gegen-
überftand, welche das „freie Gehenlaſſen“, das „rarr« Eareov‘“!)
als das Naturgemäße proflamierte, jtellt Arijtoteles — ebenſo wie
Plato — dem Staate die Aufgabe einer fittlichen Neinigung des
Wirtſchaftslebens, einer pofitiven Bekämpfung der einfeitigen Aus—
artung oder Übertreibung des wirtichaftlichen Selbjtinterefjes. Auch
auf wirtjchaftlichem Gebiete joll nicht einjeitig das Jndivivuum
zum Zwecke des Gemeinjchaftslebens gemacht, ſondern erſt nach den
Bedingungen dieſes Gemeinjchaftslebens die Sphäre indiviouellen
Wollens und Handelns beftimmt werden. Der Naturgewalt der
materiellen Snterefjen, welche die Gejellfehaft beherrfchen und überall
des Beſſeren im Menschen Herr zu werden trachten, wird die hohe
Idee des Staates als einer fittlichen Lebensgemeinichaft gegenüber:
geftellt, welche den Beruf und — bei richtiger Drganifation — auch
die Kraft hat, dem höheren echte der ethijchen Ziele über die ein-
1) Ariſtoteles a. a. O. IT, 4, 12b. Die Stelle hätte wohl verdient
in der Gejchichte de „Laissez-faire* genannt zu werden, das ung hier zum
erſtenmale entgegentritt. Allerdings bezeichnet Ariftoteles a. a. O. das Prinzip
des nevre Eareov nicht mit ausdrüclichen Worten als Bejtandteil der indi—
vidualiftiichen Theorien; aber es war das ebenjowenig notwendig, wie bei
der Vertragstheorie, da jenes Prinzip in der von ihm befämpften Idee des
bloßen Rechtzftaates implicite enthalten war.
154 Erſtes Buch. Hellas.
jeitig wirtjchaftlichen Zwede, und ſei es auch durch Zuhilfenahme
ftaatlicher Zwangsgewalt, zum Siege zu verhelfen.
63 jollte dem Egoismus nicht bloß durch die Erziehung der
Einzelnen zur Sittlichfeit entgegengewirkt, ſoudern ihm unmittelbar
der Boden ſelbſt ftreitig gemacht werden, auf dem er fich am rück—
fichtslojeften Hatte zur Geltung bringen fünnen, der Boden des
wirtschaftlichen Verkehrslebens.
Dritter Abfchnitt.
Die platoniſche Kritik der geſchichtlichen Staats: und Geſell—
ſchaftsordnung.
Wenn die Erhebung des Staates über die einſeitige Herr—
ſchaft des Güterlebens als ein fundamentables Problem der Politik
aufgeſtellt wurde, jo ergab ſich für die philoſophiſche Staatslehre
von ſelbſt die weitere Aufgabe, durch eine einſchneidende Kritik der
beſtehenden Wirtſchafts- und Geſellſchaftsordnung ihrerſeits den
Kampf aufzunehmen und das öffentliche Bewußtſein ſo eindringlich
wie möglich auf die Gefahren hinzuweiſen, mit welchen das Über—
gewicht des wirtſchaftlichen Egoismus das ganze Volks- und Staats—
leben bedrohte. Gegenüber dem Quietismus, der den beitehenden
Zuftand der Dinge hinnimmt, wie er ift, weil er nach feiner An—
jicht gar nicht anders fein kann, mußte, um mit Fichte zu reden,
die Frage erhoben werden: auf welche Weije ift denn der gegen:
wärtige Zuftand der Dinge entftanden, aus welchen Gründen hat
die Welt fich gerade jo gebildet, wie wir fie vor uns finden? Denn
indem jo das hiſtoriſch Gegebene ſich als das Erzeugnis ganz bes
jtinmter „oft gar verwunderlicher und willfürlicher” Verhältniſſe
herausftellte, gewann der Denker, der „nicht nur das wirklich Vor-
handene durch den Gedanken nachzubilden, jondern auch das Mög-
liche durch denjelben frei in fich zu erſchaffen gewöhnt ift,“ eine
Rechtfertigung für den verjuchten Nachweis, daß „noch ganz andere
Verbindungen und Verhältniffe dev Dinge als die gegebenen mög:
II. 3. Die platon. Kritik der gefchichtl. Staats: u. Gejellfchaftsordnung. 185
lich und jedenfalls natürlicher und vernunftgemäßer ſeien.“) Aus-
drücklich hat Plato für die politiichen Wiſſenſchaften die Notwendig-
feit betont, fich nicht bloß auf „leere“ Theorien zu bejchränfen,
jfondern auch auf die Geſchichte und die Erſcheinungen des that-
fächlichen Lebens einzugehen.?) Insbeſondere jcheint ihm eine Unter:
fuchung über das deal der „Gerechtigkeit?, wie er jie mit der
Konftruftion des „beiten Staates“ verbindet, ohne eine Analyje
des -gegenteiligen PBrinzipes und jeiner thatjächlichen Lebensäuße-
rungen unvollitändig.?)
In wahrhaft großartiger Weile führt uns auf diefem Wege
Plato zu der Erkenntnis des innerjten Weſens der jozialen Mif-
jtände jeines Volkes. Das achte Buch der modırei« mit jeiner
einjchneidenden Kritik eines ganz in der Geſellſchaft aufgegangenen
und von der Gefellichaft beherrichten Staatslebens ift eine einzige
gewaltige Anklagejchrift gegen die plutofratiiche jowohl, wie gegen
die ochlofratifche Souveränität der materiellen Intereſſen.
Plato geht aus von dem Punkte der Entwiclungt), wo jtatt
ı) Fichte: Der gefchloffene Handelsſtaat S. W. III 449, wo ähnlich,
wie im platonifchen Staat, ein ganzes Buch der „Kritik der Zeitgefchichte”
gewidmet wird, wie denn überhaupt dieſer erſte Verſuch der modernen deut-
ſchen Bhilojophie auf dem Gebiete des Sozialismus jehr bedeutfame Analogien
mit dem platonijchen Sozialismus aufzuweiſen hat.
?) Leg. III 684a: negıruyovres yco Eoyoıs yerouevors, Ws Eoizev,
Ei Tov avrov Aoyov Einkudauev, WoTE 0V neol zevöov Ti Üntmoousv
Tov aurov Aoyov, aAAQ negl yeyovos re zul Eyov aAndEıarv.
3) Rep. VIII 545a. Bgl. 473b. 544a: zor de Aoınav nolıreiov
Epnode, Ws urnuoveviw, terrega Eidn Eeivaı, ov zul negı hoyov deiov
ein Eyeıv zal ldeiv airav Ta dueornuare zei Toüs &xeivams av
öuolovs TA.
+) Wenn ich von „Entwicklung“ vede, jo ift dies nicht jo zu verſtehen,
al3 ob der von Plato gejchilderte Auflöfungsprozeh ſich mit dem thatjäch-
lichen Verlauf der politifchen Entwicklung in den einzelnen Hellenenjtaaten
bis ins Einzelne und chronologisch genau dede. Plato konnte angefichts der
unendlichen Mannigfaltigfeit der hellenischen Staatenentwicklung nur ein
ideales Durchichnittsbild geben, welches in großen allgemeinen Zügen zeigt,
wie die Kräfte der jozialen Zerſetzung mit innerer Notiwendigfeit zu einer
156 Erſtes Buch. Hellas.
fozialer, Staat und Geſellſchaft zufammenhaltender Motive ein zer-
feßender, die fozialen Bande auflöjender Egoismus, und mit ihm
die „Jagd nach dem Golde” (gonueriouos) wenigftens für einen.
Teil der Gefellfchaft die allgewaltige Triebfeder des Handelns ge
worden ift.!) Diefe Wandlung des öffentlichen Geiftes erzeugt
nach Plato jelbft in einer ariftofratiichen Geſellſchaft eine Klaſſe
von Menschen, deren Göße das Geld ift, das fie insgeheim mit
roher Leidenfchaft verehren. Ihre Hauptiorge gilt ihren Geld—
ſchränken und den Depots, wo fie dasjelbe ficher bergen können.
An ihren Wohnungen jehägen fie vor allem die Mauer, die fie
von der Außenwelt feheidet. Denn fie jollen ihr „ureigenftes Neſt“
jein, in deſſen Dunkel fie mit Weibern und, mit wen e3 ihnen
ſonſt beliebt, ungeſtört dem Genuffe leben und ihre Handlungen
dem Auge des Gejeßes entziehen können. Sie werden erfinderifch
in neuen Formen des Aufwandes und modeln darnach jelbjt die
Gelege um, die Bürgen alter Einfachheit des Lebens, denen fie
und ihre Frauen untreu werden.?)
Der goldgefüllte Geldjchranf der Reichen (Tauıstov Exetvo
xovoiov zrAnoovusvor)?) beginnt nun aber jehr bald feine Anz
ziehungskraft auf die Allgemeinheit auszuüben. Es wird unter
dieſen jelbft und dann in immer weiteren Kreifen, indem ftetS der
Eine auf den Anderen blickt, ein fürmlicher Wettkampf um den
materiellen Befit entfeffelt, der die Erwerbsgier ftetig fteigert,
während andererjeits die idealen Güter (die Zosrn) in der öffent-
lichen Wertſchätzung finfen. Cine Entwiclung, die auf den Volks—
geift notwendig entfittlichend wirken muß. Denn wo man fich vor
dem Reichtum und den Neichen beugt, da wird man naturgemäß
die Tugend und die „Guten“ geringer achten. (Virtus post
ftufenweifen DBerjchlechterung der ftaatlichen Verhältniſſe führen mußten,
mochte auch da und dort der gefchichtliche Verlauf im Einzelnen von dem
hier aufgeftellten Schema abweichen.
1) 547 ff.
2) 548a.
>) 550d.
II. 3. Die platon. Kritik der gejchichtl. Staats- u. Geſellſchaftsordnung. 187
nummos!) Das aber, was einer fteten Achtung fich erfreut, wird
geübt, das gering Geachtete vernachläffigt.!)
Die Folge diefer Herrichaft des Geldes und der Spekulation
it dann natürlich die, daß auch der Staat in Abhängigkeit von
den Geldmagnaten gerät; und der Ausdruck diefer Abhängigkeit ift
die politiſche Herrichaft des Kapitals, die Blutofratie?) oder die Herr-
Ichaft der Wenigen. Der Reichtum allein wird gepriefen und be:
wundert, er wird der Weg zu den höchiten Ehren des Staates,
während der Nichtbefigende ſchon um dieſer feiner Armut willen
mißachtet wird. Eine Summe Geldes (nArj$os xonuarov) bildet
den Maßitab, der über das Necht des Einzelnen im Staat ent-
Icheivet.3) Der Staat zerfällt gewißermaßen in zwei Staaten, den
der Neichen und der Armen, die denjelben Raum bewohnend fic)
feindfelig gegemüberftehen und wenigjtens insgehein fich fortwährend
befehden.*) Auch äußerlich wird der Staat durch dieſe Entwiclung
ver Dinge geſchwächt. Seine Wehrhaftigkeit leidet. Denn die
Befigenden, die an ihrem Gute hängen, jcheuen die finanziellen
Dpfer, welche die Landesverteidigung erheifcht, und fie haben andrer-
!) ib. VIII, 55la: Tıuwuevov dr nAovrov Ev noAsı zai Tov nAovolwv
aTıuoTeoe doETY TE zul ol ayadyoi. Amkov . Aozeiraı dr) To del TLuWuevor,
quehsitaı dE To arıualöuevov. Wie treffend diefe Beobachtung ift, zeigt
die analoge Kritif des modernen Kapitalismus bei Schäffle (Bau und Leben
des jozialen Körpers III 439), der die von Plato hervorgehobene Erfcheinung
mit Recht daraus erklärt, daß, wo das Ringen um materielle Vorteile Haupt:
ſächlich entiwicelt ift, dev Ausdrud des Wertes der rivalifierenden Perſonen
borzugsiweife ein materieller fein wird. Der materielle Ausdrud des
jozialen Wertes rivalifierender Parteien und die Selbjtbefriedigung der im
Konkurrenzkampf fiegreichen Individuen erfolge eben darum in großem Auf:
wand und raſchem Wechjel der Formen luxuriöſer Erjcheinung.
2) Der Ausdruck wird allerdings an diejer Stelle nicht gebraucht; ex
findet jich aber bereit3 bei Platos Lehrer, Sokrates, auf die Geldherrichaft
angewandt. Vgl. Xenophon Mem. IV, 6, 12.
2) ib. 551h.
4) 55ld: ... dbo dvdyan eivar Tmv Towvımv noMv, Tv ußv
nevntwv, ım]v dE nAovoiwv oixovvras Ev TW av, dei EnußovAslovras
akkmkoıs.
188 Erſtes Buch. Hellas.
feit3, wenn fie die Mafjen unter die Waffen rufen, ſtets zu fürchten,
daß ihnen diefelben gefährlicher werden könnten, als der auswärtige
Feind.)
Das größte aller Übel aber ift nach Plato die dem Geifte
ver Geldherrſchaft entjprechende, oder wenigitens von ihr zugelafjene
abjolute Freiheit der Veräußerung und des Erwerbes der Güter.
Es entjteht dadurch jene ungefunde Anhäufung des Kapitals, welche
Einzelne überreich macht, während Andere in einen Zuftand hoff
nungslojer Armut herabjinfen. Die SKehrjeite des Mammonismus
it der Pauperismus und das Broletariat oder — um uns enger
an die Ausdrucksweiſe Wlatos anzufchließen — die Klaſſe der
„völlig Befiglofen“, die im Staate leben ohne einen Teil des—
jelben auszumachen, weder wirtjchaftlich, als Gejchäftsleute und
Handwerker, noch militäriich, für den Roß- und Hoplitendienft, ins
Gewicht fallen, die eben nichts find als die „Armen“, die „Dürf:
tigen“.?)
Dffenbar im Hinblid auf die fortwährende Vernichtung der
fleinen Vermögen durch die wenigen großen, die VBerfnechtung des
Volkes duch Pacht und Schulden, wie fie die jozialöfonomifche
Entwicdlung der Zeit charakterifiert, ftellt Plato es al3 eine allge-
meine Erfahrung bin, daß die Plutofratie die große Mafje ver:
jenigen, welche fich nicht zur herrſchenden Klaſſe emporzufchwingen
vermögen, am Ende in eine proletarifche Eriftenz herabdrüdt.?)
Er iſt fi aljo völlig Klar darüber, daß der zügelloje Kapitalismus
) 5öle.
2) 552a: Opa N, ToVTWwv ndvrwv TWv zuXWov El Tode WUEYIoToV
avrn nEwrn naoadeyera. To notov; To E£eivaı navra Ta KÜTOV
anodooyetı, zul dAAD xTNoaoH+aL TE Tovrov, xai dnodouevor
olzelv Ev an noAsı undev Ovre« TWv TS NOAEWS UEOWvV, UNTE yonuarıornv
unte Önwovoyov unte innea unte Onkirmv, ahhd nevnta xal Ärıogov
zexhmusvov. Mowın Ey. Ovxovv diaxwAverai yE Ev Taig OALyapyovusvaus
16 toioÖrov‘ od ydo dv ol ußv Uneonkovro noav, ol DE narvıd-
TAOL WEVNTES.
3) 552d: Ti ovVr; 87 Teig oAtyapyovusvaıs NOAEOL NTWYOUS 00
oogs Evovras; OAlyov y’, Epn, navres TOÜS ExTös TÜV coyövrwr.
ee Ze —
II. 3. Die platon. Kritik der geſchichtl. Staats- u. Gejellfchaftsordnung. 189
die Tendenz in fich ſchließt, den Abitand der Eleinen Leute von
der Ariftofratie des Beſitzes ftetig zu vergrößern, daß alfo durch
ihn die großen Einkommen und Vermögen bedeutend rascher wachien
als der Gejamtwohlitand, und gleichzeitig diejenige Klaſſe der Be:
völferung, die ohne Belt von der Hand in den Mund lebt, ſowohl
abjolut, wie relativ eine immer größere wird.
Dazu kommt die durch den Mammonisuus großgezogene
Klaſſe der Müßiggänger und Verſchwender, die Plato ſehr treffend
als Drohnen bezeichnet. Diejes Drohnentum ift ein Krebsjchaden
der Gejellihaft (voonux mroAsws)') und jehlimmer, als das im
Bienenjtaat. Denn die geflügelten Drohnen hat die Gottheit wenig:
ſtens jtachellos gejchaffen, jene menjchlichen aber teilweife mit argen
Stacheln verjehen. Aus ihnen refrutiert ſich beſonders das in der
plutofratiihen Gejellichaft jo zahlreiche Kontingent der Diebe,
Beutelfchneider, QTempelräuber und Anftifter aller ſonſtigen Unbill,
deren die Staatsgewalt nur mit Mühe Herr wird. Allerdings
gibt es im Menjchenftaat auch Drohnen, welche nicht in diefer
Weiſe ftachelbewehrt d. h. minder beherzt find, als ihre ent-
ſchloſſeneren Genofjen, die im Kampf gegen Sittlichfeit und Necht
voranftehen. Dafür aber ſchweben fie auch ftets in Gefahr, im
Alter zu Bettlern zu werden und jo doch wieder die Zahl der ge-
fährlichen Klaffen zu vermehren.?)
eben diefem Drohnentum, das überall, wo es auftaucht,
ähnliche Störungen im jozialen Organismus erzeugt, wie Schleim
und Galle im phyſiſchen Körper,?) tritt uns als typijche Charakter—
erſcheinung der plutofratiihen Gefellichaft das Spefulantentum
entgegen: die Leute, von denen Plato jagt, daß fie Begehrlichkeit
und Geldgier auf den Herricherfiß in ihrer Seele erheben und mit
1) Die durch den Kapitalisınus großgezogenen Faulenzer nennt ganz
im Sinne diejes platonifchen Bildes Schäffle (Kapitalismus und Sozialismus
©. 33) „nicht bloß Tagediebe, jondern auch Räuber an der Gejellfchaft, der
fie Lebenskraft entnehmen, ohne Leben aus eigener Kraft zu exjegen“.
2) 554.
3) 564b.
190 Erſtes Buch. Hellas.
Stirnbinden, goldenen Ketten und Ehrenſäbeln angethan zum Groß:
fönig in ihrem Innern erkiejen.!)
Um fich aus niederer Lage emporzuarbeiten, gehen fie mit
ihrem ganzen Dichten und Trachten auf im Erwerbe. Während aber
ihre Habe durch beharrliche Sparſamkeit und unermüdliche Thätig-
feit fich mehrt, verarmen fie an Geiſt und Gemüt, indem fie Beides
zum Sklaven der Erwerbsgier machen und den Verſtand über nichts
Anderes Forschen und finnen lafjen, als wodurch geringeres Ver:
mögen ſich mehrt, das Herz aber nichts Anderes bewundern und
in Ehren halten lafjen, als den Reichtum und die Neichen.?)
Schmutzige Seelen, die ihren Ehrgeiz auf weiter gar nichts richten,
als auf Gelderwerb und was demjelben etwa förderlich ift, Die
aus allem und jedem Nußen zu ziehen wiffen für den Einen Zweck
der Kapitalanhäufung. Alles Bildungsinterefje geht ihnen ab;
denn wie könnten fie jonft „einen Blinden zum Neigenführer” er:
fielen?
Auch in dieſen Menjchen beginnen fi) drohnenartige Be—
gierden (anprpwdsıs erridvuier) zu vegen, jobald ſich ihnen Die
Möglichkeit zur Ausbeutung von Schwachen 3. B. hilflofen Waijen,
oder ſonſt — 3. DB. bei der Berwendung fremder Gelder —
eine Gelegenheit bietet, ungeftraft Unvecht zu thun.t) Und dabei
können dieje Zeute im gejchäftlichen Verkehr als ehrenwerte Männer
daftehen! Denn fie find Flug genug, zur rechten Zeit ihre Begierden
zurüdzudrängen, weil fie wohl zu berechnen willen, wo ihnen die
) 5530.
——
3) Der Gott des Reichtums, Plutos, wurde bekanntlich als blind ge—
dacht. Reigenführer wird er inſofern genannt, als bei ſeinen Verehrern die
Geldgier alles andere überwiegt, gewiſſermaßen den Reigen ihrer Wünſche
führt, wie dev Chorführer im Drama. —
Zu dem Urteil jelbft vgl. die treffende Bemerkung von Schmoller, daß
gegenwärtig die Unbildung und Unkultur nicht bloß beim Proletariat, jon-
dern gerade bei den an Befi am jchnellften wachjenden Geſellſchaftskreiſen
zunehme. Grundfragen ©. 108.
4) 5460 ff.
II. 3. Die platon. Kritik der gejchichtl. Staats- u. Gejellfchaftsordnung. 191
Unehrlichkeit teurer zu ftehen fommen würde, als der Verzicht auf
wiverrechtlichen Gewinn. Ste erjcheinen wohlanftändiger, als viele
Andere, obgleich fie von der echten Tugend einer mit ich ſelbſt
einigen, harmoniſch gejtimmten Seele himmelweit entfernt find.!)
Übrigens arbeitet das Prinzip der Kapitalherrichaft ſelbſt
diefem Spefulantentum in die Hand. Der Unerfättlichfeit der kapita—
liſtiſchen Gejellichaft, die von dem was fie als das höchſte Gut
betrachtet, niemals genug haben kann,?) entjpricht jo recht jene
ſchrankenloſe wirtjchaftliche Freiheit, welche Jedem geftattet, beliebig
über feinen Beliß zu verfügen und ihn zu veräußern, damit ja
das Kapital Gelegenheit befommt, durch Darlehensgejichäfte und
Ichließlich duch den Ankauf verjehuldeter Güter ſich zu bereichern.?)
Dieje Freiheit bringt vor allem denjenigen den Ruin, welche der
Tendenz des Fapitaliftiichen Zeitalter zum unwirtjchaftlichen Kon—
jum, zum Luxus, exrliegend den Geldmännern in die Hände fallen.*)
Die Verarmten nun, fährt Plato im Sinne des oben er:
wähnten Bildes fort, kauern im Staate mit Stacheln und jonftigen
Waffen ausgerüftet, die einen mit Schulden überbürdet, die andern
ehrlos geworden, wieder andere von beidem betroffen, alle aber
1) 554e.
?) 555hb: anAmortia Tov mooxeiıuevov dyaFod, Tod WS TTAOVCLWTATOV
deiv yiyvsodau.
3) 5550. dre, oluaı, Eoyovres &v auın ol doyovrss Dia To mohhl
XEexTmodaı, 0Ux EFHEAOVCLV Eloysıv vouw tov vewv 0001 dv @xöAaotoL
yiyvovraı, un Eeivaı avrols avahioxeıv TE zul anoAAvvaı TE TWv Tolov-
Twvy zul eiodavsißovrss Erı nA0ovVOIWTEgOoL zul Evriuoregoi yiyvwvrat,
9 MWie nahe fich dieje platonijche Kritik des Kapitalismus mit ana-
logen Erjcheinungen der modernen Litteratur berührt, zeigt u. a. da3 drama:
tiihe Sittengemälde von Henri Becque, „Die Raben“. Das Leitende Motiv
der Handlung ift hier wie dort L’Argent, der Goldraufh. Es wird ganz
in platonifchem Sinne an dem Leben der modernen Gejelljchaft gezeigt, wie
die diefem Rauſche Berfallenen niemals befriedigt und immer von neuem
dürjtend ohne Rückſicht und Erbarmen über die mwirtichaftlih Schwachen
hinwegjchreiten, ſich wie freſſende Aasgeier über fie ftürzen, Leib und Seele,
Ehr und Gut derjelben als willfommene Beute betrachten, ja ſelbſt Recht und
Geſetz nach ihrem Willen zu beugen wiſſen.
192. Erſtes Buch. Hellas.
voll Hab und über Anfchlägen brütend gegen die, welche jte um
das Shrige gebracht, wie überhaupt gegen alle Welt, begierig
lauernd auf einen allgemeinen Umfturz.”') Die Geldmänner aber,
die geduckt umherſchleichen wie das leibhaftige böfe Gewiljen, und
diefe ihre Opfer gar nicht zu bemerken jcheinen „ſchleudern, ver-
wundend unter den Übrigen auf den, der fich ihnen preisgibt, den
Pfeil des Geldes nnd erzeugen, indem fie in ven Zinſen eine
reiche Nachkommenſchaft ſolchen Vaters (d. h. des Geldes) an ſich
bringen, der Drohnen und Bettler die Menge im Staate.”
Dabei ift ihnen die Stimmung, die fie durch all das in der
Gejellfehaft hervorrufen, jo wenig eine Mahnung, daß fie ruhig
zuſehen, wie. insbejondere die jüngere Generation fich der Schwelgerei
ergibt, allen Anftrengungen des Körpers und Geiftes abgeneigt,
weichlich und ſchlaff wird,?) während ſie ſelbſt gleichgiltig gegen
alles Andere, al3 den Gelverwerb, um wahre Tugend fi eben
jo wenig bemühen, wie der verachtete Proletarier.)
1) 555d: oö de dn yonuarıorai Eyzüiavrss, oVdE doxodvres Tovrovs
oo@v, twv Aoınov Tov «el üUneixovra Evievres COYVELOV TITOWOKOVTES, Kal
Tod naroog Exyovovs ToxXovs noAhankaoiovg zouılousvor, roAdv TOv Anpiva
zei nTWyov Eunorovoı zn mode. — 63 erinnert lebhaft an diefe Ausführung
Platos über den Zufammenhang zwijchen Kapitalnugung und jozialer Frage,
wenn 3. B. Proudhon jagt, daß dieſe Kapitalnugung in Geftalt von Rente,
Binfen, Profit, Agio u. f. w. notwendig den Barajitismus, den Bettel,
das Dagabumdentum, den Diebjtahl, Mord u. j. w. zur Folge haben müſſe.
2) Dieje Unterjcheidung der im Reichtum aufgewachjenen Generation
von derjenigen, welche denjelben in zäher Arbeit errungen, ift jehr bezeichnend.
Sie lehrt ung, wie unvichtig es ift, wenn gewöhnlich, z.B. von Lange (Geſch.
des Materialismus II? 456) behauptet wird, daß in den fapitaliftiichen Perioden
des Altertums nicht, wie heutzutage, die Kapitalbildung, jondern der unmittel
bare Genuß das mahgebende Intereſſe gebildet Habe.
3) 556b. Man fieht, e3 finden fich in der platonifchen Schilderung
alle wejentlichen Züge des Bildes, welches die moderne Plutofratie gewährt,
von der 3. B. Lange (Die Arbeiterfrage ©. 59) jagt: „Sie geht mit verhält:
nismäßig jeltenen Ausnahmen von dem Prinzip des bloßen Erwerbs nicht
ab. Sie begnügt ſich leicht mit einem äußeren Anftric) von Bildung, ver:
achtet das Einfache und Edle, verſäumt es in ihrer Nachkommenſchaft dor
allen Dingen männlichen Mut und Erhabenheit über den Wechjel äußerer
IT. 3. Die platon. Kritik der geſchichtl. Staats- u. Geſellſchaftsordnung. 193
So zieht man jelbit jene gefährliche Schmarogerpflanze auf
dem Boden der Geldherrichaft groß, den berufsmäßigen Müßig—
gang, der mit Hilfe des ererbten Nenteneinfommens fich jelbjt von
Beruf und Arbeit dispenfiert. Plato hat das Leben diejer reichen
Mühiggänger, das zum Spiel der ephemerften Stimmungen und
Launen wird, in feiner ganzen inneren Haltlofigkeit mit ſcharfem
Griffel gezeichnet. Der Verfall aller geiftigen und moralijchen
Energie, wie ihn der arbeitsloje Nentengenuß mit pſychologiſcher
Notwendigkeit herbeiführt, könnte kaum anjchaulicher gejchildert
werden, als in dem Bild, welches Blato von dem „demokratiſchen“,
d. h. perjönliche Ungebundenbeit über alles Liebenden Sohne des
„oligarchiſchen“ gelomachenden Vaters entworfen hat:
„Sp lebt der Mann von Tag zu Tage, jedesmal der Be-
gierde, die ihn gerade anmwandelt, nachgebend; jetzt zecht er und
läßt Flötenjpielerinnen kommen, dann wieder trinft er Brunnen
und braucht eine Entfettungsfur; jetzt treibt ex allerlei Leibesübungen,
ein andermal liegt er ganz träge und fümmert fi um gar nichts,
dann wieder thut er, als gäbe er fich mit Studien ab. Sehr ge
wöhnlich ift, daß er Politik treibt, die Tribüne befteigt und jagt
und betreibt, was ihm gerade beifällt; oder fein Blie fällt auf
Leute, die beim Kriegswejen find oder auch beim Bankweſen, als:
bald wirft er fi mit Eifer hierauf. Und fo ift in feinem Leben
feine Ordnung, feine Notwendigkeit; er jedoch nennt ein ſolches
Leben jüß und frei und lebt es bis an fein Ende.” 1)
Freilich arbeitet er mit dieſem „freien und glüdlichen” Leben,
das feine Pflichten Fennt, gleichzeitig an der Bejchleunigung des
Gerichtes, welches die herrichende Geſellſchaftsklaſſe durch das ge
Iehilderte Thun und Denken ihrer erwerbenden, wie ihrer genießenden
Elemente über ſich jelbjt heraufbeſchwört.
Plato hebt dabei vor Allem die piychologische Rückwirkung
auf die unteren Volksklaſſen hervor.
Geſchicke zu erzeugen; und jo bleibt ihre vermeintlich jo unüberwindliche Geld-
macht ein Koloß auf thönernen Füßen.
1) 561c.
Pohlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. T. 13
194 Erſtes Buch. Hellas.
„Nenn bei folder Gemütsverfaffung Herrfchende und Bes
herrſchte mit einander in nähere Berührung kommen, bei Reifen,
Wallfahrten, Heereszügen u. dgl., insbeſondere, wenn in den Ges
fahren des Krieges der Eine den Andern beobachtet, wird da der
Reiche Beranlafjung haben, auf den Armen verächtlich herabzufehen?
Wird nicht vielmehr das Gegenteil eintreten, wenn etwa ein jchlanfer,
von der Sonne verbrannter Mann aus dem Volke in der Schlacht
feine Stelle neben einem Neichen erhält, der an ſchattige Behaglich-
feit gewöhnt ift oder an übermäßiger Wohlbeleibtheit leidet, und
er deſſen SKeuchen und Not mit anfieht? Wird dem Armen da
nicht der Gedanke kommen, dergleichen Menſchen jeien nur durch
ihre Schlechtigfeit reich? Und wenn nun das Volk unter fi iſt,
wird da nicht einer dem andern zuflüftern: Unfere Herren find
im Grunde gar nicht® wert?!)
Diefer zum Bewußtjein der Maſſe gefommene Widerſpruch
zwischen der Unmwürdigfeit der Regierenden und ihrem Anfpruch auf
Beherrf hung von Staat und Gefellichaft gräbt der politifchen
Kapitalherrichaft das Grab. Durch die unerjättliche Begier nad)
dem, was fie als höchltes Gut erſtrebt und wodurch je jelbit ent—
ftand, durch die Vernachläſſigung alles anderen um des Geld»
erwerbes willen richtet fie ich jelbjt zu Grunde.2)
Wie e3 aber bei einem gejchwächten Körper nur einer ge:
ringen Veranlaffung bedarf, damit er erkranke, ja wie er bisweilen
auch ohne Anſtoß von außen das innere Gleichgewicht verliert, jo
fann auch über den Frankhaften Drganismus der plutofratijchen
Gefellichaft aus geringfügigem Anlaß die Kataftrophe hereinbrechen.
Der längft entzündete Unheilsbrand (TO xax0v Exxavouevorv),?)
1) 556d — co’ oieı aurov ovy HyElodaı zaxig Tn OpEr£og nAovreiv
ToÜs ToLovVrovs, zal dAov dA nagayyekkeıv orav dig Evyyiyvovraı, Otı
Avdoss nuertegoı eiolv ouder,
2) 562b: 6 rgoVsero ayadorv zal di ov 9) oAıyapyia zasiorero —
Toto d’ mv Öneondovros' 7 ydo; Nei. H nAovrov Toivvv anıyoria zei
N tWv dhlwv ducksıe die yonueriouöv avrjv anwäkr.
3) Hö6e.
IT. 3. Die platon. Kritik der gejchichtl. Staat3- u. Gejellfchaftsordnung. 195
den die Herrjchenden nicht zu Stillen verjtanden, dem fie im Gegen:
teil immer neue Nahrung zugeführt, ex lodert in hellen Flammen
empor.
Die Geldoligarchie erntet jeßt, was fie geläet. Denn au)
die Volksherrſchaft, die an ihre Stelle tritt, bleibt ein Tummelplatz
der drohnenhaften Begierden, welche der Kapitalismus großgezogen.
Kur erhalten jest die wirtichaftlich Schwachen, die wenig oder nichts
Beligenden die Macht, ihrerjeits dieſen Begierden gegenüber dem
Kapital die Zügel jchießen zu laſſen.) Die Drohnen d. h. die
ruinierten Verſchwender und Nichtsthuer ftellen fich zwijchen die
Beligenden und die — in der Demokratie zahlreichite — Klaſſe
derer, die von der Arbeit ihrer Hände leben. Sie willen die Mafje
des arbeitenden Volkes an ſich zu feſſeln, indem ſie deſſen Gelüfte
nach dem „Honig“ nähren, der nunmehr auf Koften der Befißen-
den zu exbeuten it. Der Neichtum wird zum Drohnenfutter
(znpivov PBoravn).?) Jetzt genügt der bloße Beſitz des Neich-
tums, um als Volfsfeind verdächtigt zu werden.?) Die frühere
Ausbeutung duch das Kapital vergilt jebt die Maſſe und ihre
Führer mit einer rücjichtslofen Bekämpfung des Neichtums, mit
Verbannungen, Hintichtungen und Konfisfationen, mit Anträgen
auf Schuldenkaſſierung und Aufteilung des Grundbefißes. Die
bisherigen Träger des Ausbeutungsprinzipes fallen nun ihm jelbjt
zum Opfer.
) 5654 ff.
2) ib.
3) 566c. Bgl. übrigens jchon die Verſe des Euripides in den „Schuß:
flehenden” 238—45:
„Drei Bürgerflafjen gibt es: was die Reichen anbetrifft,
Sie nügen niemand, trachten nur für fich nach mehr.
Die Armen, die des Lebenzunterhalts ermangeln,
Sind ungeftüm und richten ſchnöderem Neide zugewandt
Auf die Begüterten der Scheelfucht Pfeile,
Getaucht in Zungengift verlodender DBerleiter.
Der Mitteljtand nur ift dev wahre Bürgerftand,
Für Zucht und Ordnung wachend, die das Volk gebot.“
13*
196 Grites Buch. Hellas.
Aber auch die aus der Demokratie entjtehende ochlofratifche
Herrſchaft der materiellen Intereſſen, welche das vom Kapitalismus
auf wirtjchaftlichem Gebiet verwirklichte Prinzip der Freiheit auf
alle möglichen anderen Lebensgebiete überträgt, muß an der Über-
treibung dieſes ihres Prinzipes zu Grunde gehen. Sie erliegt zu—
(et dem, in welchem ſich der Egoismus und. die Selbftherrlichkeit
des Individuums am Neinjten verkörpert, der in der rüchfichtslofen
Geltendmachung des Eigeninterejjes ſich als der Stärkſte erwieſen
und „ein Nieje riefenhaft fich redend“ 1) aufrecht ftehen bleibt auf
dem Stuhle des Stuatswagens, nachdem er viele andere zu Boden
geſtreckt.) So erwächſt aus Kapitalismus und PBauperismus umd
aus dem freien Spiele rein individualiftiicher Kräfte zuletzt die Ge—
waltherrichaft, die Tyrannis.?)
Plato vergleicht an einem andern Ort diejes über alle objek—
tiven jittlichen Mächte fich hinwegſetzende Ningen brutaler Natur:
inftinfte mit dem Anſturm der Titanen gegen die Himmliſchen.
Der Soziale Dafeinsfampf ſcheint ihm mit diefem Erwachen titanen-
bafter Gelüfte in der Menjchenbruft zu den rohen gewaltjamen
) ucyas ueyaAwori; ein dem Homer (3. B. Ilias XVI 776) ent:
lehnter Ausdrud.
2) 566d.
3) Die größte Freiheit jchlägt in die ärgfte Knechtichaft um. “H yao
dyav EhsvIegia Eoızev oVx Eis aAdo Tı 7 Eis dyav dovisiav ueraßadleıv
za idıivrn zei modeı. 564a. Eine intereffante Parallele zu diejer Erklä—
rung der Tyrannis bildet die Ausführung des don Jamblichos benüßten
Sophiften (Antiphon? Blaß fr. f. 20): Tiyveraı de zai 7 tugavwvis....
ovx EE dAAov TIvös 7 dvouias' olovraı dE TIves TWv dvdoWnwv 0001 um
aoIus ovußdkaovrai, Tigavvov E£ dhhov TIvög zadioraodeı, Aal TOovs
avFownovs oTE0lOXEOFuL Ins EAevdegias 09% MÜToÖS aitiovg Ovras,
alla BıaoFEvras UNO Tod XETaoTaFEVTos Tvodvvov, 00% 00905 tavra Aoyı-
Löusvor . borıs yao jyeitaı Baoıhkea 7) tvoavvov EE dAhov TIvos yiyveodaı
7 EE dvouias te xai nAsoveäias, uaoos Eoriv . Eneidav yapg ünavres
gnt xaxXiav TE«IWVTEL, TOTE TOOTO yiyveraı .„0v ydo olov TE av$QwWTmovs
dvev vouwv zei dans Cyv' Otev ovv tevıa ta dVo &x Tod nAmdovg &xAinn,
6 te vouos zai 7) dien, Tore non Eis Eva drroyweeiv mv Enıtgoneiev Tov-
Twv za pviaxıyv.
II. 3. Die platon. Stritif der geſchichtl. Staats u. Geſellſchaftsordnung. 197
Formen eines vormenjchlichen Zeitalters zurüczufehren.!) Sa es
findet fich hier bereits Begriff und Wort des bellum omnium contra
omnes des Hobbes (‚ro roAswlovs eivaı mavras r&oıv“),2) in
welchem die fozialiftiihe Kritif der Gegenwart das charakteriftifche
Kennzeichen der modernen Gejellichaft erblicdt.3)
Mit denfelben düfteren Farben wird die Entartung des Volfs-
charafters durch den Egoismus eines jehranfenlofen Ermwerbstriebes
an einer jpäteren Stelle gefchildert: Die Liebe zum Neichtum, heißt
es dort, raubt den Bürgern alle Zeit, für etwas Höheres Sorge
zu tragen, als für das eigene Vermögen. Ihre ganze Seele hängt
daran, jo daß ſie ſich kaum noch um etwas anderes befümmern
fann, als um den täglichen Gewinn.t) Die Unterweifung und die
Einrichtungen, die diefem Zwecke förderlich find, nimmt jeder bereit-
willig an, anderes aber dünkt ihm lächerlich (vor dE @Alor
xaraysAc!).>)
Daher kommt es, daß jedermann in umerfättlicher Begier
nach Gold und Silber jedes Gewerbe, jedes Mittel, ſei es ein
ehrenhaftes oder nicht, fich gefallen läßt, wenn es nur zum Neich-
tum führt, daß man vor feiner Handlung zurücichredt, mag fie
nun gottgefällig oder gottlos und noch jo ſchimpflich fein, wenn fie
Zi hose —
2) ib. I, 626e.
3) Nach Marx hat die moderne bürgerliche Gejellfchaft den „allfeitigen
Kampf von Mann wider Mann“ erzeugt; fie „hat als oberſtes Gejeß den
Krieg aller nur mehr durch ihre Jndividualität von einander abgejchlofjenen
Individuen gegen einander oder mit einem Worte die Anarchie”. Vgl. Adler:
Die Grundlagen der Marrifchen Kritik der beftehenden Volkswirtſchaft ©. 254.
Ebenſo ift es nur die wirtjchaftliche Motivierung des platonifchen Satzes von
dem unvermeidlichen Siege des Stärkſten im jozialen Dafeinfampf, wenn
Proudhon in feinem Syſtem der ökonomiſchen Widerjprüche als notwendiges
Endergebnis der Konkurrenz, als Ausdruck dev jtegreichen Freiheit und der
Kampfgier das Monopol bezeichnet.
*) Leg. VII, 831c.
°) ib. Die VBerwilderung des Philiftertums!
198 Erſtes Buch. Hellas
nur die Möglichkeit gewährt, dem ſchrankenloſen Bauch und
Phallusdienſt zu Fröhnen. !)
Diejes Streben nach ſinnlichem Lebensgenuß und nach den
Mitten zu feiner Befriedigung ift eine der Haupttriebfräfte der
fozialen Zerfeßung. Denn indem man unbefannt mit dauernden
und reinen Luftgefühlen nad Art des Viehes auf der Weide
ftet3 nach unten blickend und zur Erde und zur Krippe bingebüdt
mit Freſſen und Befriedigung der Liebesbrunft ſich gütlich thut,
Ichlägt man fi” um den Vorzug in diefen Dingen gegenfeitig tot,
mit eifernen Hörnern und Hufen aufeinanderftoßend, in der Gier
der Unerfättlichfeit, weil diefe Genüffe nicht das Wirkliche (die
Seele) mit wirklichen Genüffen erfüllen. Dieſe Traumbilder wahren
Zuftgefühles erzeugen ein vajendes Verlangen in den Unverftändigen
und werden jo zum Gegenjtand blutigen Kampfes, wie das Trug:
bild der Helena in Ilion.?)
Dierter Abfchnitt.
Angriffe der idealiſtiſchen Sozialphilojophie anf die Grund:
lagen der beſtehenden wirtſchaftlichen Rechtsordnung.
Der Widerſpruch zwiſchen dem von der philoſophiſchen Staats—
lehre aufgeſtellten Ideal der ſittlichen und geiſtigen Entfaltung der
Perſönlichkeit und der durch den Beſitz und ſeine Verteilung be—
dingten, zu den ſchwerſten Verſuchungen führenden Ungleichheit der
Lebenslagen, die Unvereinbarkeit des die Geſellſchaft beherrſchenden
Egoismus der materiellen Intereſſen mit den fittlichen Ideen, die
nad) den Forderungen vderjelben Staatslehre in Staat und Necht
1) ib. S31d: die Tv To® yovood TE zul doyvoov aninoriev naoav
uEv TEeyvnv zei unyarıv xahlio TE zul doynuovsotegav EHElEıv Vrrousveiv
nevıa avdoa, ei uehkeı nAovorog E0E0Iaı, za nod£ıv ModTreıv 0010v TE
zei dvöcıov zei TÄvrWs ioyocv, undev dvoysoaivorre, Edv uovov &yn
dvvauıv zadaneo HImoiw Tod Yayeiv navrodane zul nIIEIV WORVTWS Kai
dpoodisiwv aoav EvTWs ag«oyElIv Amouornv.
2) Rep. 586a ff.
II. 4. Angriffed. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Rechtsordg. 199
zur Verwirklichung gelangen jollen, all das hätte feinen jchärferen
Ausdruck finden können, als in dem Nachtgemälde, welches hier
Plato von der gejellichaftlichen und politischen Entwiclung feines
Volkes entworfen hat.
Allerdings treten in diefem fozialpolitichen Zeitbild eben nur
die Mißſtände der kapitaliſtiſchen Geldwirtſchaft und dieſe in grellfter
Beleuchtung hervor; auch fehlt es nicht an tendenziöfen Übertrei—
bungen, wie 3. B. bei der Motivierung des Prinzips der wirt:
ſchaftlichen Freiheit. Aber man wird folche Einfeitigfeit nur zu
begreiflich finden, wenn man fich angefichts der thatjächlichen fitt-
lichen und öfonomifchen Übelftände der Zeit in die Empfindungen
hineinverjeßt, welche den philofophiichen Denker auf der reinen Höhe
ſozial⸗ethiſcher Weltanſchauung gegenüber dem materialiftichen Egois—
mus und ftaatsfeindlichen Individualismus der Zeit erfüllen mußte.
Die helleniiche Staatslehre hat wahrlich des Großen genug
für alle Zeiten geleijtet, indem fie diefem extremen Smdividualis-
mus eine wahrhaft joziale Auffafjung entgegenftellte, welche die
Freiheits- und Eigentumsfragen aus den Bedingungen des Gemein-
Ichaftslebens heraus zu entjcheiden juchte und damit ein Ziel auf-
jtellte, zu dem wir ſelbſt am Ende des neunzehnten Jahrhunderts
uns nur mühjelig dDucchzuringen vermögen. Das vierte Jahrhundert
v. Chr. hat und den Kampf vorgefämpft, in welchem wir felbft
mitten inne ftehen.!) Es hat einen guten Teil der Geilteswaffen
gejehmiedet, deren wir uns heute noch wie damals in diefem Stampfe
bedienen.
Wenn die hellenijche Sozialphilojophie in dem großen Brin-
1) &3 ift umrichtig, wenn Naſſe (Entwicklung und Krifis des wirt-
schaftlichen Individualismus in England. Preuß. Jahrb. XXX ©. 429) ge:
meint hat, daß der Individualismus und Sozialismus d. h. das Streben
nach möglichiter Freiheit der Einzelnen in ihrer Willensiphäre einerjeits und
nach Unterordnung derjelben unter die Zwede der Gefamtheit und Leitung
ihres Handels nach gemeinfamen Plane andererjeits fich faum jemals jo jcharf
entgegengetreten jind, tote in unjerer Zeit. Naſſe hat dabei nicht an das
vierte Jahrhundert dv. Chr. gedacht.
200 Erſtes Buch. Hellas.
zipienftreit zwifchen Individualismus und Sozialismus das vechte
Mittelmaß zwiſchen den Ertremen nicht zu finden vermochte und
in der Verfolgung ihres jozialiftiichen Foeenganges teilweiſe ſelbſt
wieder zu extremen und utopifchen Forderungen gekommen ijt, jo
hat gewiß das Jahrhundert, in welchem Sozialismus und Kom—
munismus eine „Lonftante Erſcheinung“ geworden find,!) ohne daß
eine Ausgleichung gefunden wäre, feine DVeranlafjung, auf das
Zeitalter Platos und Ariftoteles geringſchätzig herabzujehen, deren
fozialpolitiiche Spekulationen troß der ungleich geringeren exakten
Kenntnis ſozialökonomiſcher Zuftände und Entwicklungsgeſetze um
nichts utopifcher find, al3 die des modernen Sozialismus von Dwen
und St. Simon bis herunter zu Hertzka und Bellamy.
Nach dem die Entwicklung des menjchlichen Geifteslebens be—
herrſchenden Geſetz von Aktion und Neaktion konnte es gar nicht
ausbleiben, daß der unvermeidliche heftige Rückſchlag gegen die
Einfeitigfeiten einer hochgefteigerten materiellen Kultur, gegen Die
jozialen Disharmonien einer Fapitaliftiihen Wirtichaftsepoche zu
prinzipiellen Angriffen auf die Grundlagen diejer Fapitaliftifchen
Volkswirtſchaft führte.
Man Jah, wie gerade mit der fortjchreitenden Ausbildung
und zunehmenden Macht des Brivatfapitals die Auflöfung der alten
Sitte und Sittlichkeit, jteigender Egoismus, größere Genußfucht,
immer jchamlofere Arten des Gelderwerbes und wucheriſche Aus—
beutung der Schwachen Hand in Hand gingen. Man ſah durch
die übermäßige Anhäufung des Bejiges in den Händen Einzelner
bei gleichzeitiger Verkümmerung Anderer Klaſſengegenſätze entjtehen,
deren Forrumpierende Einflüſſe die höchiten Intereſſen von Staat
und Gejellichaft gefährdeten. Man empfand es in den Kreifen
aller tiefer Denfenden auf das Schmerzlichite, Daß gerade der durch
die Entwiclung der kapitaliſtiſchen Geldwirtſchaft herbeigeführte
materielle Fortjchritt für die idealen, ethischen Intereſſen vielfach
!) Ausdrud Helds: Sozialismus, Sozialdemokratie und Sozialpolitik
Seite 4.
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 201
Rückſchritt und Verfall bedeutete. Was lag da näher als der Ge-
danke, daß eben in dieſem materiellen Fortichritt und in der Ent-
wicklung des Reichtums an und für fich ſchon die Urfache aller
jozialen Krankheitserfcheinungen zu juchen ſei? Unter dem über:
mächtigen Eindrud‘, den die Erkenntnis des unleugbaren Zufammen-
hanges zwiſchen dieſen Erjceheinungen einerjeitS und dem Kapi-
talismus und Pauperismus andererjeitS auf die Gemüter hervor-
brachte, traten andere, für die Beurteilung der Dinge nicht minder
bedeutjame Momente unmillfürlich in den Hintergrund. Man über:
jah, daß die Wurzeln des Guten und Böjen unendlich viel tiefer
liegen, als in irgend einer Verfaſſung der Volfswirtichaft, daß die
Duellen des phyfiihen und moralijchen Elends unerichöpffich find.
Und jo machte man denn für die Schattenfeiten des fozialen Lebens
ver Zeit allzu einſeitig jenes wirtichaftliche Moment verantwortlich,
welches jo viele moraliſch und materiell in Feſſeln ſchlug d. h.
eben das Kapital.
Indem man aber jo von einer einjeitig öfonomijchen Be—
urteilung der jozialen Zuftände ausging und daher nicht minder
einjeitige Hoffnungen für Menjchenglüd und Menfchenwohl an die
heilende Kraft einer Umgeftaltung der Wirtſchaftsordnung Enüpfte,
mußte die Theorie mit innerer Notwendigkeit bis zu einem mehr
oder minder radikalen Bruch mit dem ganzen bejtehenden Wirt-
Ihaftsiyitem, bis zur Aufftellung eines völlig neuen Prinzipes für
die Ordnung des wirtschaftlichen Güterlebens fortichreiten. War
die legte Urjache aller ſozialen Übelftände der Gegenjag von Arm
und Neich, jo Fonnte in der That eine idealiftiiche Gejellichafts-
philojophie nicht vor der Forderung zurücichreden, daß die be-
ftehenden Formen des Kapitalerwerbes und die Grundlagen der
Kapitalbildung, aus denen fich dieſer Gegenfaß täglich neu erzeugte,
zu bejeitigen und durch andere zu erjegen feien.
Daraus ergab fi ein prinzipieller Widerfpruch gegen die
berrjchende Auffaffung des Inftitutes des Vrivateigentums und das
ganze Eigentums und Berfehrsreht. Ein Widerjpruch, der im
einzelnen ja vielfach das Richtige traf, aber doch — bei der Ein-
202 Erſtes Buch. Hellas.
feitigfeit des Ausgangspunktes — in der Verfolgung einer an ſich
berechtigten Tendenz viel zu weit führte.
War durch die ganze bisherige Entwicklung — wenigftens in
den Induſtrie- und Handelsftaaten — die Kapitalbildung und der
Kapitalerwerb möglichit begünftigt, das PBrivateigentum an beweg-
lichen und unbeweglichen Gütern auf das jchärfite ausgebildet und
— innerhalb gewiffer durch die Natur der Stadtitaatwirtjchaft
bedingter Grenzen — zu einem Rechte freieften Gebrauches der
Güter entwicelt worden, war überhaupt durch die im Weſen der
Geldwirtichaft liegende Beweglichkeit aller Verkehrs: und Lebens—
verhältniffe der menschlichen Selbſtſucht reichſte Gelegenheit ges
Ichaffen worden, fich zur Geltung zu bringen, jo führte jet der
Rückſchlag gegen die auflöfenden Wirkungen diefer Vorherrſchaft
individualiftiicher Tendenzen zu einer Überfpannung des Sozial-
prinzipes, zu dem Verlangen nad) einer Fellelung des Privateigen—
tums und des Einzelwillens, welche nicht nur der Bethätigung eines
unfittlihen Egoismus, ſondern auch dem legitimen Kapitalerwerb,
ja ſchon dem Erwerbstrieb und damit der Kapitalbildung über:
haupt die weitgehendften Schranken auferlegt hätte. Und wenn fich
insbefondere al3 das Nefultat des entfejjelten Intereſſenkampfes eine
übermäßige Ungleichheit der VBermögensverteilung ergeben hatte, jo
trat man jeßt den auf dem Boden diejer Ungleichheit entjtandenen
Disharmonien nicht nur mit der Forderung einer gerechteren, der
harmonischen Ausgeftaltung des Volks- und Staatslebens günftigeren
Vermögensverteilung entgegen, jondern man ging in der Überfpan-
nung dieſer an fich ja tiefberechtigten Forderung jo weit, eine
möglichite Nivellierung der wirtſchaftlichen Unterſchiede überhaupt
zu verlangen.
Sp, meinte man, würde das Privateigentum feiner anti-
jozialen Wirkungen entledigt und der Widerftreit der indivionellen
Intereſſen gegen die der Allgemeinheit in die engſten Grenzen ge—
bannt werden.
Wie hätte man aber hoffen dürfen, das genannte Ziel voll-
fommener zu erreichen als dadurch, daß man die leßten Konſe—
ara a TEE U En A ne
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H. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 903
quenzen jenes ganzen Ideenganges 309 und bis zur Negation des
Privateigentums jelbjt fortichritt?
Solange ein Privateigentum an den wirtjchaftlichen Gütern
bejteht, jolange wird ja immer demjenigen Teile der Gefellfchaft,
dem ein jolches Eigentum zufällt, ein anderer gegenüberftehen, der
fich von demfelben mehr oder minder ausgefchloffen fieht. ES wird
für den Erwerbstrieb und den Egoismus immer ein Objekt der’
Bethätigung übrig bleiben, welches den fittlichen Intereſſen Abbruch
thun kann. Wer daher ſchon den bloßen Nichtbefit ebenfo als
ein joziales Krankheitsiymptom anjah,!) wie die einfeitige Konzen-
trierung des Beſitzes, wer die Entartung des Erwerbstriebes und
des Selbjtinterejjes Schon im Keime verhindern wollte, der mußte
dem Urgrund aller Beſitzloſigkeit, dem Beſitze jelbit den Krieg er= "
klären; jein Ideal mußte ein Zuftand der Dinge fein, in welchem
es ein perjönliches Eigentum überhaupt nicht mehr gibt.
Als der erſte Theoretifer, welcher fich prinzipiell gegen die
wirtschaftliche Ungleichheit ausiprach, ericheint für ung Phaleas
von Chalcevdon. Er gehörte nach Ariftoteles zu denjenigen, welche
in diejer Ungleichheit die eigentliche Urſache aller bürgerlichen Zwie—
tracht Jahen?) und von ihrer Beleitigung?) zugleich eine durch—
greifende Berbejjerung der Bolfsfittlichkeit erwarteten,t) wenigjtens
eine Beleitigung der Gigentumsfrevel, die in der bejtehenden Ge—
ſellſchaft duch „Froft und Hunger“ hervorgerufen werden.)
) Bol. die Wendung bei Plutarch Lyfurg 8. ©. oben ©. 128.
2) Pol. II, 4, 1.1266a: dozei yag tioı 10 nepi Tas oVcies eivau
ueyıorov teraydaı zus‘ TTEEL Yydo Tovtwv noLlElodel paoı Tas
oraosısnavras.dio Bakcas 6 Kakxndovios TOVT’ EIonvsyze TToWtos. pyol
yco deiv isas eivaı tas zrjocis tav nolırov. Diefe Ausgleihung laſſe fich,
meint Phaleas, am Leichtejten dadurch erreichen, daß die Reichen Mitgift gäben,
aber nicht nähmen, und die Armen umgekehrt nähmen, aber nicht gäben (1266 b).
3) Nach Arijtoteles hätte er dabei allerdings nur die Ausgleichung
des Grundbeſitzes im Auge gehabt (12b. 1267a).
4) Ebd. 7: ov uovor # oi dvdownor DE TE avayzala adızovoır,
Br dxos eivaı voullsı (Bakdas) Tv looryra Ts ovoies, Wore un Awro-
dvrsiv did TO ÖLyoVv n neivnv ar,
) Ebd.
204 Erſtes Buch. Hellas.
An Phaleas reiht ſich unmittelbar Plato an. Sein fozial-
öfonomifcher Standpunkt charakteriftert ſich vor allem durch die
Energie, mit der er der vulgären Auffaffung entgegentritt, als
beftände eine der wichtigften Aufgaben der Politik in der Fürforge
für die möglichjte Steigerung des Neichtums.!) Die wahre Staats-
kunst erſtrebt nach jeiner Anſicht das Glück und, da wirkliches
Glück nicht ohne Tugend erreichbar iſt, die Sittlichfeit der
Bürger.?2) Steigerung des Neichtums bedeutet alfo an ich noch
feine Steigerung des Glücdes, wenn die, welche ihn bejißen, Die
erfte Bedingung dazu, die Sittlichfeit, nicht leiften und erfüllen.
Sit aber gerade von dem Neichen die Erfüllung diefer Bedingung
zu erwarten? Wlato glaubt diefe Frage überall da verneinen zu
müffen, wo der in Einer Hand vereinigte Beſitz ein gewiſſes Maß
überjchreitet. Nach jeiner Meinung kann der Beliger außer:
ordentlichen Neichtums kaum ein wahrhaft fittlicher Menfch fein. 3)
Denn wer einerjeit3 alle unfittlihen und unehrenhaften Wege der
Bereicherung ftrenge meidet und andererjeitS der dem Beſitz ob-
liegenden Berpflihtung zu Opfern für „edle und gute“ Zwecke
(zaia avalouere)*) voll und ganz gerecht wird, bei dem wird
es kaum zur Aufhäufung übermäßiger Schäge kommen.s) Über:
haupt bejteht zwijchen Neichtum und Sittlichfeit von Natur ein
!) Leg. V, 742d: Too voor Eyovros noArıxod Bovimors,
pauev, ovy Nvrıeo dv ol noAhol Yaiev, deiv BovAsodauı Tov dyayov vouo-
Heryv ds weyioryv te Eivaı ımv now, N voov Ev vouoseroi, zei Oö Tu
udkıora nAovoiav, xextnucvnv OD ad yovoia xzai doyvpia xai
zured yıv xal xara Iakarrav doyovoav or nAsiorwv.
2) 742.
3) Ebd. 742e: Aovoiovs d’ av opoden zui ayayoos ddvvaror
(yiyveodaı) cf. 743a: ayadyor dE Ovrae diapspovrws xei tAovorov Elvaı
diapsoovrws advraror.
+4) 743a.
5) 743b: 6 de dvadioxwv TE Eis TE zule zul xTauevos Ex Tov
dızeiwv uovov oÜT dv diepeowv nhovtw Öcdiws dv note yEvoıto ovd’
dv opodon nıevns . wore 6 Aoyos yulv 00905, Ws 0vx Eloiv ol naunkovoror
ayadoi’ ei dE un dyadol, ovdE svdaluoves.
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Rechtsoxdg. 205
jolher Antagonismus, als lägen beide in den Schalen einer Wage
und zögen jtet3 nach entgegengejegten Nichtungen.!) -
Der Neichtum wirkt nachteilig durch die Begünftigung von
Schwelgerei, Müßiggang und Neuerungsjuht, er vernichtet den
Geift der fittlichen Selbſtbeſchränkung;?) feine unvermeidliche Kehr-
jeite dagegen, die Dürftigkfeit, erzeugt Umfturzbegierden, Gemeinheit
der Gefinnung (eveisvFsoie)?), und treibt die Seelen der Menjchen
durch das Elend zur Schamlofigkeitt) oder zu jElavifcher Unter:
würfigkeit.5) Selbſt die wirtjchaftlichen Intereſſen des Volkes
leiden unter beiden Extremen. Denn der reich gewordene Gewerbs-
mann will nicht mehr arbeiten und der in Armut verfommende
fann es nicht in entjprechender Weije, weil ihn die unentbehrlichen
Borausjeßungen für den genügenden Betrieb feines Handwerkes
fehlen.) Das Schlimmite aber ift der Klaſſenhaß und der Bürger-
frieg, welcher das lebte Ergebnis des Gegenjages von Arm und
Neich zu jein pflegt. ”)
Die Gejellihaft Fällt ſchließlich in zwei feindliche Hälften
auseinander, oder, um mit Plato zu reden, der Staat in zwei
Staaten, den der Armen und der Neichen, die fich gegenfeitig
nicht mehr verjtehen und mit unverjöhnlichem Haſſe verfolgen.)
Es erwächſt, wie wir jagen würden, in dem Broletariat eine eigene
joziale Gruppe, die dem Intereſſe des Ganzen ihr bejonderes
Klafjeninterefje und ihre bejonderen Klafjenforderungen gegenüber:
!) Rep. VIII, 550e: 7 ovy ovrw nAovrov «gern dieotnzev, Worteg
Ev nAcorıyyı Lvyoo xeıuevov Exateoov, dei Tovvaevriov ÖENoVTE; zei
uch’, Epn.
2) Ebd. III, 422a. Leg. 555 c.
>) Ebd.
4) Leg. XI, 919b.
5) Ebd. V, 729a: ra udv vUneooyxza yco Exdotwv TovVrwv (sc. Ts
Tov yonudıwv zal zınudıwv zIn0Esws) EyYoas zei orTaosıs aneoyalerau
Tais nölsoı zul idie, Ta dE Ehkeinovre dovieies as TO noAv.
6) Rep. 421d.
?) Leg. V, 744d.
8) Rep. 422e.
206 Erſtes Buch. Hellas.
ftellt. Das Ziel diefer Forderungen aber ift nichts Geringeres,
al3 der Beſitz der politifchen Macht, um die Gefamtheit zu Gunften
der „Bettler und Hungerleider“ zu plündern. Die öffentliche Ge-
walt wird jo Gegenftand eines unaufhörlichen Kampfes, der zus
legt die Kämpfenden jelbjt und mit ihnen den Staat zu Grunde
richtet. !)
Will daher der Staat diejer „ſchlimmſten Krankheit” (we-
yıocov voonue) entgehen, jo wird er weder die Entjtehung großen
Reichtums, noch drüdender Armut (meria xgaskerır) zulafjen.?)
Überhaupt ericheint der „Kampf gegen Armut und Reichtum“ als
eine der wichtigjten Aufgaben aller Gejeßgebung.3) Diejer Kampf
gilt insbefondere dem vom Kapitalismus unzertrennlichen Drohnen-
tum, welches „überall, wo es auftaucht, zerrüttend wirkt wie Galle
und Schleim im Körper.” — „Gegen dieſe Drohnen muß der Arzt
oder Gejetgeber des Staates ebenjo gut, wie der verjtändige Zeivler
frühzeitig fich vorjehen, am beiten damit fie fich nicht einniften,
niften fie fich aber ein, damit fie jchleunigft zufamt den Waben
herausgejchnitten werden.” t)
In allen wejentlichen Punkten jtimmt mit der entwicelten
Grundanſchauung Ptatos der Standpunkt feines größten Schülers
1) 52la: ee de nrwyoi zai neivavres ayadav idiwrv Eni ra
dnuosıe iacıy, Evrsddev olouevoı Tayadov deiv aondLeıv ovx Eorı (Sc.
dvvern yevcodaı nohıs EV olxovusrvm)' TIEQLUGYEroV yag TO Eoyeıw yıy-
vousvov, oiXElos Wv xul Evdov 0 ToLoürog noAsuog avrovg TE dnnohAvoı zei
nv aAlnv nor.
2?) Leg. a. a. D.
3) Rep. 421e. Leg. 919b: 0090» uev dr nakaı TE eionusvov, wg
7005 dvo udysodaı zai Evavria yaherıov, zaydrıeg Ev Teig voooıg roAkois
te ahkoroı' zei DIN zul vor N TOVUTWv zei TEL TaÜTE Eoti roög dvo udyn'
neviav xal nAoörov, Tov ußv wuynv dIepdagxoT« TovpN Tov avdoW-
nov, ımv dE Aunaıs nootTerewuuevnv Eis avamoyvvriav avrmv .Tig ovv di
INS v000v TaVImS LEWYn yiyvort’ av Ev voiv Eyovon nold;
*) Rep. 564e. Ein Sab, der lebhaft an die Forderung Proudhons
erinnert, der Taugenichts, der ohne irgend eine ſoziale Aufgabe zu erfüllen,
tie ein anderer, ein Produkt der Gejellichaft verzehrt und oft noch mehr,
müſſe wie ein Dieb und Paraſit verfolgt werden.
IT. 4. Angriffe d. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Nechtsordg. 207
überein. So wenig Arijtoteles die Anficht teilt, al3 jei in den
wirtſchaftlichen Güterleben und in dem Eigentumsvecht die alleinige
Urſache des fittlichen und materiellen Elends der Gejellichaft zu
ſuchen, jo iſt doch auch er hinter den genannten wirtjchaftspoliti-
ſchen Forderungen der älteren Theorie nicht zurückgeblieben. Auch
er will der Vermehrung der Gütererzeugung prinzipiell eine Grenze
gejeßt willen. Er unterjcheivet den „wahren“ Netchtum, der nur
die für die ftaatliche und häusliche Gemeinfchaft „notwendigen und
nüglichen“ Güter umfaßt, von dem vulgären Begriff des Neich-
tums, dem „fein Ziel, erkennbar den Menfchen, geſteckt ift.“')
Jene Berichönerung und Vervollkommnung des Lebens, in der er
das Wejen des Glückes erblict, bedarf nur eines bejcheivenen Maßes
äußerer Güter und finnlicher Genüffe, und eine Überjchreitung
diefes Maßes kann nad jeiner Anficht das wahre Glück des
Menjchen nur gefährden. Ariſtoteles verwirft daher von vorne
herein jene fapitaliftiiche Spekulation, jene Chrematiftit, welche Die
Schuld trägt, daß es für Neichtum und Erwerb nit Maß und
Ziel zu geben feheint.?2) Und er bleibt bei dieſer prinzipiellen
Negation nicht jtehen!
Da eine freiwillige Selbjtbeichränfung der Einzelnen — zumal
auf dem Gebiete der Geldjpefulation — nicht zu erwarten ift, jo
verlangt er, daß die Gejeggebung im Sinne wirtjchaftlicheı Aus:
gleihung dem Grwerbstrieb die entjprechenden Schranken ſetze. Der
Staat darf das „unverhältnismäßige Emporkommen“ Einzelner?)
nicht dulden; er muß durch jeine Gejeßgebung präventiv dahin
wirken, daß es überhaupt zur Anfammlung übermäßigen Neichtums
in einzelnen Händen (zu einer vrregoxı) rrAovrov) nicht fomme,t)
) Bol. I, 3, 9. 1256b: 7 yao ns TaaVINS xIN0EwWs auraorsıa
noös ayadnv Cwnv oVx areıoos Eotıv, WonEO 2Z0Awv pnoi noımoas nAovrov
d’ ovdev TEoua nepaousvov avdoaoı zeiraı.
2) Ebd. 1257a: ... gonuariorixmv, di’ ıjv ovdev doxei negas eivaı
NAOVUTOV XUi XIM0EWS.
3) avänoıs nao« to avdAoyov VIII, 2, 3, 7. 1302b.
9) VIII, 7, 7b. 1305b: zai ucAıore usv neiododeı Tois vouoıs ovrw
6v&uileıv, worte undeva Eyyiyvsodaı noAv UnEoEYovra dvraueı
208 Erſtes Buch. Hellas.
ebenfo dahin, daß auch das entgegengejeßte Extrem, unverhältnis-
mäßige Armut, verhütet werde. Es darf feinen Beſitz geben, der
jo groß ift, daß er Üppigfeit erzeugt, oder fo Klein, daß er zum
Darben führt!) Denn „vie Armut erzeugt Aufruhr und Ver—
brechen.”2) Ja vom Standpunkt des beiten Staates hat Ariftoteles
wenigftens in Beziehung auf das Eigentum an Grund und Bopden
geradezu das Prinzip völliger Befißesgleichheit als eine Forderung
der Gerechtigkeit aufgeftellt. >)
Am ſchärfſten hat endlich den prinzipiellen Gegenſatz gegen
den Kapitalismus die Ethik der cynischen Schule formuliert. „Syn
einem reichen Staat, wie in einem reihen Haus,” jagt Diogenes,
„fann die Tugend nicht wohnen.”*) Die Liebe zum Beſitz ift für
ihn „die Mutterftadt aller Übel.”5) Von Natur, fagt ein jpäterer
Anhänger dieſer Ethik, find die Menſchen zur Tugend gejchaffen,
die meifte Unfittlichfeit ftammt aus dem Neichtum; zahlloſe Übel
wären nicht, wenn der Neichtum nicht wäre. 6)
Ebenjo ift es nur die Wiederholung von Ideen aus der
unte pilov unjte yonudtov, ei de un, anodnuntizds nolsioder TS
raoaordoes avrov. Vgl. 1303a über die politifche Gefahr der Konzen-
trierung des Neichtums.
1) II, 4, 5. 1266b: — (ovoier) 7 Alav noAAnv worte toupav, 7
diav oAlynv worte nv Yhloyows.
2) 7 dE nevia oTaoıw Eunoist zei xaxovoyiav (1, 3, 7. 1265b).
s) IV, 9, 8. 1330a ſ. jpäter.
4) Stob. flor. 93, 35. Jıoyevms Edeys, unte Ev nohsı nAovolg umte
Ev oixig agsrmv olxeiv dvvaodaı.
5) pıhapyvola untoonokıs navrwov Tov xaxov. Diogen. Laert. VI, 50.
Sn Beziehung auf die Armut nimmt allerdings die Ethik des Cynismus eine
andere Stellung ein, infoferne al3 fie eine aurcoxsıe, eine Emanzipation des
Individuums von allen über das primitivfte Maß hinausgehenden Bedürf-
niffen predigt, welche die Armut von vorneherein als ungefährlich, ja ala
Vorzug ericheinen läßt. Diogenes nennt fie befanntlich geradezu eine Tugend.
Stob. flor. 95, 19: erie aurodidaxros aoern.
°) Teles bei Stob. 93: zeI” wirtois uEv dvdownor rIE05 aoETmV
yeyovası, ovtos dE (sc. 6 nAodros) Ep’ airov ro&nsı: — EE airoö dE ei
nAsioreı TO övu novngiaı‘ zei uigie TWV xaxWv Oix dv mv, Ei u) 6ö
nAovTos nv.
IT. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Nechtsordg. 209
Gedanfenwelt dieſer Epoche, wenn in Plutarchs Biographien des
Lyfurg!) und des Königs SKleomenes ?) Neichtum und Armut
ſchlechthin — nicht bloß ein Ubermaß — als Grundübel und
ſchlimmſte Kranfheitsformen der bürgerlichen Geſellſchaft bezeichnet
werden, deren Heilung als das höchſte Problem für den wahrhaft
großen Staatsmann erjcheint.
Was nun die in ſolchen Anſchauungen wurzelnde Kritik der
Snftitutionen betrifft, aus denen fich Mammonismus und Bauperismus
das fittliche und materielle Elend immer wieder von neuem ewzeugt,
jo richten fich die Angriffe des Sozialismus hauptlächlich auf Drei
Einrichtungen der bejtehenden Gejellfchaft: das Inſtitut des Privat:
eigentums, den Gebrauch des Geldes und den Handel.
Plato erhoffte noch in der Zeit, als er den „Staat“ jchrieb,
von einer Rechtsordnung, welche mit dem Brivateigentum gebrochen,
eine vollfommene Berwirklihung des jozialen Friedens. Er be
zeichnet es als ein „NWuseinanderreißen der bürgerlichen Gemein:
ſchaft“ (dıeomav ınv moAıy), wenn der Eine das, der Andere
jenes jein Eigen nennt, wenn jeder fih in dem ausjchließlichen
Beſitz einer Behaufung befindet, in welcher er Alles zuſammenraffen
fann, was er irgend vor den Anderen zu erwerben vermag: Ein
Erwerb, der das Individuum ijoliert, weil fein Ergebnis, der
Alleinbeji, nur jolde Empfindungen, jei es der Luſt oder des
Leides, erregt, die von dem Einzelnen allein empfunden werden.
Gegenüber dieſer Sfolterung durch das PBrivateigentum ift Platos
Ideal ein Zultand, in welchem alle diejenigen, für welche derjelbe
durchführbar ift, infolge völliger Gemeinfchaft der Güter „möglicht
1) ec. 8: Vßoww xai pFoVov zul zuzovoylav zei TOVUPNV xei TE Tov-
Twv Erı nosoßBvreou za uelbw voonuara nokıreiag, nAovrov xai
Teviav, EEsladvwv ovveneise (AvzoVoyos) ... [nv uel’ aAlyaov ünevras
ou@keis zul looxAmgovs Tois Ploıs yevousvovs zT.
2) c. 10: & uEv oVv dvvarov nv dvev opayns anahkaiaı Tas Erreio-
axrovs ıns Aaxedeiuovos 17005, Tovgpas za nohıtektiag ui 0ER zei
deveıouods zal Ta TEEOBUTEE«T TOoVTwv zaxd, neviavxai nkodrorv,
EurvyEorarov dv nyelodaı navıov Baoıkewv Eavrov WOoNEE laTE6V dvw-
divws laodusvov nv netoide.
Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. T. 14
210 Erſtes Buch. Hellas.
denjelben Schmerz und diejelbe Freude teilen.“) Ein folcher Zu-
ftand, wo niemand etwas für fich befißt, würde nach Platos Anficht
die Befreiung von all dem Kampf und Streit bedeuten, welcher
unter den Menjchen um des Beſitzes irdiſcher Güter willen zu ent:
jtehen pflegt. 2)
Allerdings war Plato von Anfang an überzeugt, daß fo,
wie die große Mehrzahl der Menjchen nun einmal ift, dieſer ideale
Kommunismus nur annähernd zu verwirklichen jei; und ſpäter hat
er befanntlich auch diefe Hoffnung wejentlich herabgeftinimt.3) Allein
die Art und Weife wie er auch da noch in den unvermeidlichen
Stonjequenzen des PBrivateigentums, in der zunehmenden wirt:
Ichaftlichen Differenzierung der Gejellihaft die Erklärung für den
Verfall der Sittlichkeit juchte, beweilt zur Genüge, daß er fich
innerlich niemals mit dem Inſtitute ausgeſöhnt hat.
Überaus bezeichnend ift im diefer Hinficht feine Lehre von
dem Sozialen Frieden und der fittlichen Neinheit des primitiven
Katurzuftandes, die er — wie wir ſahen — noch in feinem letten
Werke vertrat.*)
Dieſe jozialiftiiche Lehre vom Naturzuftand ift die völlige
Umkehrung der früher erwähnten rein individualiftiichen Auffaffung
des Naturzuftandes als des rückfichtslofen Gewalts: und Über:
liftungsfrieges der Starken gegen die Schwachen. Doch jtimmt fie
!) Rep. V, 464e: °4’ owv oV%, ..... roıst un diconav ımv noAıy,
To Euov ovoudlovras un To avro, aA aAhov dAho, Tov uEv Eis ımv aurov
oixiav EAxovra 0 Ti dv durntaı ywois TWv dhlkwv xInoaodat, Tov dE &is
Tv Eavrov Eregav oVoav, xai yuralza TE zul naides Eregovs ndoras TE
xai aAyndovas Eunorovvras idiwv Ovrwv idias, aAA Evi doyuarı Tod olzelov
eg Eni TO @VTO Teivovras navras Eis TO dvvarov ÖOuonudels Avuns te
zei ndorns eivau;
?) Ebd. 464d: dixas re zul Eyraımuara noös aAAmAovs ovx olymoestaı
EE avrwv, ws Enos eineiv, dia To undev idıov Exrnodaı nAmv TO oWug,
ta 0’ alla zoıva; O9Ev dN ÜnKoyEL ToVrois EOTaOLEOTOLS sivaı, 00@ y&
JIE yonudtwv 7 neidwv xal Euyyevov xıyoıw dvdownor otaoıdLovoıv;
3) leg. V, 739b.
2) ©. oben ©. 111.
IT. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a.d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsoxdg. 311
mit dieſer leßteren injoferne überein, als auch fie aus ihrer An—
ſchauung über das wahrhaft Naturgemäße unmittelbar praftifche
Konjequenzen für die Gejtaltung der gegenwärtigen Gejelljchaft
zieht. Freilich in durchaus entgegengejeßtem Sinn! Während der
Sndividualismus den freien Konkurrenzkampf als eine Forderung
des Naturrechtes proflamierte, will der naturrechtliche Sozialismus
Platos im Gegenteil die möglichite Beleitigung der Nivalität, des
Mettjtreites um die wirtjchaftlichen Güter, in welchem er nur eine
Duelle jittlichen Elends und fozialen Unfriedens zu erbliden ver-
mochte.
Dffenbar von diefem Gefichtspunft aus meint Plato, indem
er an die volkstümliche Auffaſſung des unſchuldsvollen Naturzuftandes
als eines goldenen Zeitalters unter der Herrichaft des Kronos an-
fnüpft, daß für die bürgerliche Gejellichaft der einzige Weg aus
Unheil und Elend darin beftehe, daß fie „auf alle mögliche Art
die Lebensweile, wie fie nach der Sage unter Kronos bejtanden, !)
nachahme, und dem, was ſich Unfterbliches in uns befindet (d. h.
der Bernunft) gehorfam das häusliche und öffentliche Leben zu
gejtalten jucht, als Gejeß vorzeichnend, was die Vernunft feft-
jeßt.” 2)
Daß die Verwirklichung dieſes Vernunftsrechtes, welches fo
zugleich als das wahrhaft naturgemäße Recht erjcheint, einen radikalen
Bruch mit dem Beftehenden bedeuten würde, wird von Plato jelbjt
an der genannten Stelle unzweideutig ausgejprochen. Im Nahmen
der Staats- und Gejellichaftsordnung der Wirklichkeit, über welche
1) Diejelbe wird jchon im „Staatzmann” (2716) al3 ein Zuftand des
abjoluten Friedens charafterifiert, der „edonvn, aidos, evvoula, apsovia
dians.“ cf. ib. eoraoiaore zei evdaluove TE TOv dvIEWTWv aneigya-
Gero yern. Wenn alfo Plato Leben und Sitte des jagenhaften ſaturniſchen
Zeitalter als Mufter hinftellt, jo iſt das im Ergebnis dasjelbe, als wenn
er unmittelbar an jeine Theorie vom Naturzuftand angefnüpft hätte,
2) Leg. 713e: «Ad wuslodaı deiv jucs oiereı ndon unyarn töv
Eni vov Koovov Agyousvov Blov, zul 000v Ev nulv adavaoias Evsotı,
Tovrw neIFousvovs dmuooig zei idie Tas T’ oixmosıs xal Tas noAsıs dror-
zeiv, yv Tod vov dievounv Enovoudlovras vouor,
14*
212 Erſtes Buch. Hellas.
nicht da3 Vernunftrecht waltet, jondern das „endloje und unerjätt-
Liche Übel” (evrjvvrov zai aninorov xaxov voonue) menschlicher
Begierden, gibt es nach Plato Fein Mittel der Rettung (owrnores
ungern).:) Der Abjolutismus des Naturrechtes und der unver-
fälſchten Naturfittlichfeit tritt den vermeintlich fünftlichen Drdnungen
der verfälichten Wirklichkeit hier ebenſo Ichroff ablehnend gegenüber,
wie in der neueren Philoſophie. An Stelle des fchlechten von der
Selbftfucht und der Unwiſſenheit diktierten pofitiven Nechtes joll
ohne weiteres das durch die Vernunft gefundene Naturrecht zum
Staatlichen Geſetze werden.
In der Lehre vom Naturzuftande hatte der Sozialismus das
geiftige Nüftzeug gefunden, mit dem ex die beitehende Wirtjchafts-
und Gefellfchaftsordnung zu überwinden gedachte. Wurde dieſe
Lehre anerkannt, fo hörte die ganze joziale Ordnung und das durch)
fie legitimierte Inſtitut des PBrivateigentums auf, als etwas Un—
antaftbares zu gelten. Die Geſellſchaft und ihre Organiſationsform
jelbft war als ein Produkt der gejchichtlichen Entwiclung erkannt
und damit die Möglichkeit gegeben, den als joziales „Grundübel“
proflamierten Gegenfab von Arm und Neich und alle feine Folge
zuftände als den Ausfluß der bejtehenden fozialen und der auf fie
gegründeten rechtlichen Verhältniſſe hinzuftellen, die grundſätzliche
Umgeftaltung der leßteren im Namen der Geſchichte jelbjt zu for
dern. Die große Frage nach der Möglichkeit und Durchführbarkeit
einer Wirtſchafts- und Gejellfehaftsordnung, die auf völlig anderen
Grundlagen, al3 die bejtehende beruhte, war in bejahendem Sinne
beantwortet.
Wenn auch Plato — wie gefagt — auf das Hußerfte, auf
die Beſeitigung des Privateigentums thatlächlich verzichten gelernt
hatte, jo erſcheint doch angejichts der ganzen Art und Weiſe, wie
er den Kommunismus wenigftens als Ideal feithielt, wie er noch
in feinem leßten jozialpolitiihen Werk das Privateigentum durch
die möglichite Fejjelung des Eigentumsgebrauches und des Erwerbs-
triebes unschädlich zu machen fuchte, der prinzipielle Gegenjaß gegen
1) ib. 714a.
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a.d. Grunde. d. wirtich. Rechtsordg. 913
die ganze bisherige gefchichtliche Entwicklung nirgends aufgegeben.
Eine joziale Theorie, welche den Wettjtreit um ven Erwerb des
Eigentums, die Konkurrenz, in ſolchem Grade unterdrücken will,
jeßt fih mit den hiſtoriſchen Grundlagen der Gefellichaft kaum
weniger in Widerjpruch als der Kommunismus.
Es war ja an fich vollfommen gerechtfertigt, wern Plato die
entjittlichenden Wirkungen der reinen und ausschließlichen Konkur—
venz um den Geldvorteil, den Materialismus des Zeitgeiftes und
die Verdrängung der edleren Triebe durch die Pleonerie mit flam-
menden Worten geißelte. Man wird ihm auch zugeben müjjen,
daß er bei jeiner Polemik wejentlich die eine Seite der Konkurrenz:
den Kampf, den wirtichaftlichen Intereſſenſtreit, im Auge hat, und
daß eine Entwiclung der Gejellichaft, welche das Gebiet dieſes
Kampfes möglichjt einjchränkt,t) in dev That ein wünjchenswertes
Ziel ift. Die Beftrebungen der edelften Geifter der Gegenwart
drängen ja ebenfalls auf diejes Ziel hin. Ich erinnere an die Idee
des Schiedsgerichtes, welches den Antagonismus der wirtjchaftlichen
Parteien wenn auch nicht aufhebt, jo Doch auf freundjchaftliche
Weile ausjöhnen will, an die weitergehende Idee der Kooperation,
welche eine nterefjengleichheit und Intereſſengemeinſchaft zwifchen
den am PVroduftionsprozeß Beteiligten — Unternehmern und Arbei-
tern — beritellen und jo durch Bejeitigung des Zwietrachtsitoffes
ein lebendes Gefühl der Solidarität erzeugen will: Ideen, die, jo
neu fie find, doch ſchon da und dort dem Prinzip der Konkurrenz
d. h. des wirtichaftlichen Intereſſenkampfes Terrain abgewonnen
haben und in der Zukunft ohne Zweifel noch mehr abgewinnen
werden.
So jehr nun aber in gewiſſer Beziehung der hellenifche Sozia-
lismus mit jeinem Kampf gegen die Entartung der Konkurrenz
recht hat, jo ift Doch andererfeitS nicht minder gewiß, daß das von
ihm aufgeitellte Ideal eines abjolut konkurrenzloſen Zuſtandes eine
ı) Was der Amerikaner John Bla in feiner philosophy of wealth
(1886) als „non competitive economics“, als „displacement of competi-
tion“ bezeichnet.
214 Erſtes Buch. Hellas.
reine Utopie und die reaftionäre Verherrlichung primitiverer Gejell-
Ichaftszuftände, völlig abgeftorbener volfswirtichaftlicher Lebensformen
eine Berirrung ift.
Schon die gejchichtliche Grundanſchauung, die hier zum Aus—
druck kommt, thut der Natur der Dinge Gewalt an. Nicht der
Friede bildet den Ausgangspunkt der Entwiclung, jondern es find
vielmehr tierähnliche Daſeinskämpfe geweſen, welche die Anfänge
der Menſchengeſchichte beherricht haben müſſen. Wenn auch das
„Raum für alle hat die Erde” damals in extenfiver Nichtung volle
Wahrheit befaß, jo galt dasjelbe doch nicht wirtichaftlich in dem
Grade, wie die Lehre vom Naturzuftand vorausjegt. Sie überfieht,
daß der primitive Menſch noch viel zu wenig die Ausnützung des
von der Natur Gebotenen verjtand, daß er daher unvermeidlich
durch den Erhaltungs- und Entfaltungstrieb auch zum Kampf um
die Siherung md Erweiterung der Eriftenzbedingungen getrieben
wurde. Sie überfieht ferner, daß diefer Kampf die unentbehrliche
Vorausſetzung alles Kulturfortjchrittes geweſen ift und innerhalb
gewifjer Schranken im Intereſſe der höchſtmöglichen Kraftentwichung
der Produktion immer unentbehrlich bleiben wird.
Denn in einer Gejelliehaftsordnung, in welcher die aus der
natürlichen Verſchiedenheit der Individuen enſpringenden Intereſſen—
gegenſätze überhaupt keinen Raum mehr für ihre Bethätigung fän—
den, würde mit dem wirtſchaftlichen Intereſſenkampf aller Wett—
ftreit d. h. alles Wettftreben überhaupt und damit auch die
Vervollkommnung der Gejellichaft, wie der Individuen aufhören.
Der Wettjtreit it die höchſte Form der vervollfommmenden Auslefe
im Dafeinsfampf der Smdividuen.!) Das Prinzip der Kooperation
und der Solidarität wird daher neben dem des Wettjtrreites immer
nur eine relative Geltung beanſpruchen können und im übrigen
wird, was den leßteren jelbit angeht, der Fortichritt darin zu ſuchen
fein, daß der Wettjtreit möglichft humane und edle Formen an-
nimmt, daß der mit Gewalt und Lift durchgeführte Streit, der
) Bol. Stein: Darwinismus und Sozialwiſſenſchaft. Geſammelte
Aufſätze 34.
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Nechtsordg. 215
tierische Vernichtungsfampf zwiſchen den Individuen möglichjt be-
jeitigt wird. Wer daher, wie der naturrechtliche Sozialismus der
Griechen, das Heil der Geſellſchaft in Zuftänden fieht, welche eine
radifale Unterdrückung des wirtjchaftlichen Wettbewerbes bedeuten
würden, der bekämpft zugleich den wirtjchaftlichen Fortſchritt und
damit die höhere Zivilifation überhaupt.
Sn der eynifchftoischen Auffaſſungsweiſe tritt das ja befannt-
ih ganz deutlich zu Tage. Aber auch ſchon bei Plato jehen wir,
daß er fich diejer Konjequenz des genannten Standpunftes Feines-
wegs gänzlich hat entziehen können.
Allerdings denkt Plato nicht entfernt daran, im Sinne cynijch-
ſtoiſcher Ideale der ganzen Kultur feiner Zeit den Scheivebrief zu
geben. Die Art und Weiſe, wie er einmal das LZeben einer nad)
feiner Anficht wahrhaft geiunden Gejellihaft (medıs aA)
dyıns) ſchildert, ihre heitere Genügſamkeit und jinnvolle Selbit-
beiehränfung des Daſeins,) — ijt doch wejentlich verjchieden von
der quietiftiichen und Fulturfeindlichen Anſchauungsweiſe derjenigen,
welche die Geſellſchaft am liebjten auf den Standpunkt von armen
Wilden zurüdgejchraubt hätten.) Auch zeigt feine bekannte Forde—
rung, durch eine weitgehende Arbeitsteilung, die Leiſtungen der tech-
nischen Produktion möglichjt zu fteigern, daß ihm die Vervollkomm—
nung der materiellen Lebensbedingungen keineswegs gleichgültig war,
1) Rep. II, 369b ff.
2) Dies verfennt Zeller vollftändig, wenn er meint, Plato habe bei
der Schilderung der „rödıs Öyujs“ das chnifche Staatsideal (de3 Antifthenes)
im Auge gehabt; eine Anficht, bei der dann der weitere — jehr verbreitete —
Irrtum unvermeidlich it, daß jene Schilderung nur ironisch gemeint jet.
Phil. d. Gr. TI(d)! 325 A. 5 u. 893. — Wie Dümmler (Prolegomena 62)
angefichts der entwickelten Arbeits- und Ständegliederung, der zur Weinkultur,
zur Geldwirtjchaft, ja zum auswärtigen Handel fortgejchrittenen Volkswirt—
fchaft der „modrs Liyıys“ von „tierifchen Zuftänden“ veden kann, bei denen
ſelbſt von moralischen Vorftellungen, von „dixn und adızie noch gar nicht
die Rede fein” könne, ift mir unbegreiflich. Steht nicht der in den „Geſetzen“
als idealer Hort der Gerechtigkeit gepriefene Naturzuftand noch auf einem
weit niedrigeren Kulturniveau? —
216 Erftes Buch. Hellas.
daß er diefelbe al3 die Grundlage alles höheren geiftigen Auf
ſchwunges ſehr wohl zu ſchätzen wußte.
Allein es war doch andererſeits die unvermeidliche Konſequenz
der oben genannten Einſeitigkeit in den ſozial-ethiſchen Grundan—
ſchauungen Wlatos, daß die Frage des wirtichaftlichen Fortichrittes
zuleßt Doch auch bei ihm nicht zu ihrem Nechte kommt. Wo Ein
Gefihtspunkt alles andere jo jehr überragt, wie es bei dem hoch—
geipannten ethiſchen Idealismus diejes Syſtems der Fall ift, da
müffen notwendig andere Intereſſen verhältnismäßig leiden, muß
alles übrige Denken ſich gleichſam unter die Herrichaft diefes Einen
Grundzuges beugen, von ihm das charakteriftiiche Gepräge erhalten.)
Bezeichnend dafür iſt die Art und Weiſe, wie in der Schil-
derung des Verfalles der urjprünglich gefunden Geſellſchaft unter
den Symptomen der Entartung neben den Äußerungen des Lurus
und der Ausschweifung auch Errungenschaften der Kultur aufgezählt
werden, die feineswegs an und für fich, jondern nur dur Miß—
brauch oder Übertreibung zu einer Gefahr für das fittliche umd
phyfische Wohl werden können, und die ex jelbjt im idealen Ver—
nunftitaat nicht alle auszujchließen vermag. Plato kann ſich nicht
genug thun, der Gefellfchaft dasjenige, was ihm als Urjache ihres
„Fieberzuſtandes“ erſcheint, bis ins Einzelfte hinein vor Augen zu
jtellen: Den Lurus, der für die prunfoolle Ausstattung der häus-
lichen Einrichtung und der Kleidung „die Malerei und die Bunt-
färberei in Bewegung ſetzt“ und nur in der Verwertung des foft-
bariten Materials, wie Gold und Elfenbein, fein Genügen findet,
die Jonftigen immer mannigfalter werdenden Befriedigungsmittel der
Üppigfeit, Salben und Näucherwerk, Leckereien und Luftdirnen, —
1) Es gilt in diefem Sinne für Plato und die verwandte Literatur
dasjelbe, was Endemann über die ökonomiſchen Grundſätze der fanoniftifchen
Lehre (Jahrb. f. Nationalök. u. Stat. I) und Schmoller (Ztſchr. F. d. Staatsw.
1860. 470 ff.) über die nationalökonomiſchen Anfichten der deutſchen Nefor-
mationsperiode bemertt hat, die überhaupt mit ihrem einfeitigen, veligids-
fittlichen Ausgangspunkt die bedentjamften Analogien zu der platonifchen
Sozialphilofophie darbieten, vielfach ja jogar direft an Plato anknüpfen.
to
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 917
den „Schwarm überflüſſiger Menjchen”, wie Jäger aller Art (fol),
nachbildende Künftler (wurzei), d. h. Bildhauer, Maler, Muſiker;
die Dichter mit ihren Handlangern, den Rapſoden, Schauspielern,
Chortänzern, Entrepreneuren; die Bijouterie und Putzwarenfabri—
fanten, Kinderauffeher, Ammen, Wärterinnen, Kammermädchen und
Pusmacherinnen, Barbiere, Köche, Ledereienhändler u. |. w.) Dieſe
verichiedenartigen Elemente — der Künftler ebenfo wie die Luſt—
dirne, der Dichter wie der Lieferant gaftronomijcher Genüſſe — fie
alle werden hier zu einer einzigen homogenen Maſſe zuſammen—
gefaßt, die nur dazu gejchaffen jcheint, den Leidenjchaften, dem
Laſter und der Thorheit zu dienen, dem Materialismus zum Siege
zu verhelfen, obgleich ſonſt Plato Feineswegs verfennt, was 3. B.
die ſchönen Künfte für die idealen Intereſſen zu leiften vermögen.
Aber ſtärker als ſolche Erwägungen ift der düſtere Eindrud,
welchen der Mißbrauch der Kulturerrungenfchaften, die wirtjchaft-
lichen, fittlichen und politischen Gefahren einer einfeitigen Luxus—
produftion, ſowie die Überſchätzung der äußeren Güter auf das
Gemüt des Denkers ausübte. Ich erinnere nur an die bereits in
einem früheren Dialog ausgejprochene Verurteilung des perikleijchen
Athens und der ganzen Bolitit der Demokratie, welche die Stadt
reichlich mit Häfen, Mauern, Werften, Tributen und anderem jolchen
„Tand“ (romvrov gAvagıov) ausgejtattet habe, jtatt mit dem
Geiſte der Bejonnenheit und Gerechtigfeit.?)
Sp wenig bedeuten von diefem Standpunkt aus die „joges
nannten Güter“,3) daß Plato feinen Augenblid Bedenken trägt,
!) Rep. 373a ff.
?) Gorgias 517.
’) ta Asyousva dayade nAovToL TE zul TEE N TOL«VTN TAOROKEVN.
Rep. 495a. Übrigens fei hier auch, um Plato völlig gerecht zu werden, auf
die Klage des Demofthenes hingewieſen, daß infolge der einfeitigen Hinz
gabe des Volksgeiſtes an die materiellen Intereſſen jelbft die damals glänzenden
äußeren Machtmittel des Staates nahezu wertlos geworden ſeien. Phil. III,
120, 40: Enei toımosıs ye zai owudtov nAjbog zei gonudrwv zal
Ins dAAns zataoxevns apdovia, zai TEAM ols Ev Tis loyvew Tas noAsıs
zoivoi, vov draoı zal nheiw za usilw Eori ıWv Tore noAlo . dAAd Tavı’
218 Erſtes Buch. Hellas.
um des fozialethiichen Intereſſes willen Forderungen zu jtellen,
deren VBerwirklihung die Produktivität der gefamten Volkswirtſchaft
auf ein um Jahrhunderte niedrigeres Niveau herabgedrückt hätte.
Es genügt ihm, daß damit zugleich der Kreis der Güter beſchränkt
worden wäre, an welchen fich Rivalität und Leidenschaft entzünden
fan, daß die bürgerliche Gefellichaft gezwungen wäre, in Produktion
und Konfumtion fi) auf das wirklich „Notwendige“ zu beſchränken
und allen überflüffigen, Fünftlichen Bevürfniffen zu entjagen, Die
jest die Gejellfehaft in einen „Fieberzuſtand“ verjegen.!)
Diefe Forderungen finden ihren Ausdrud zunächit darin, daß
dem Aderbau, überhaupt der Urproduktion, die erſte Stelle Hoch
über allen anderen Erwerbszweigen angewiejen wird. Der Erwerb
joll vor allem und bauptjächlich in dem gefucht werden, „was der
Landbau hergibt und erzeugt“, weil dies den Erwerbenden nicht
nötigen wird, „das zu vernachläffigen, um deſſen willen man Er:
werb jucht, nämlich Seele und Xeib.“?) Im Aderbau liegt nad)
diefer Anschauung die beſte Gewähr für die Erhaltung reiner und
einfacher Sitte, während von Handwerk, Handel und Geldgejchäft
jchwere Nachteile für das phyfiiche und fittliche Wohlfein befürchtet,
insbejondere Geld und Handel als Haupturfache der Belitesungleich-
beit, der jozialen Zerfegung und der Selbtjucht mit größtem Miß-
trauen betrachtet werden.
Daher foll neben dem Aderbau für die anderen Erwerbs-
zweige nur joweit ein Spielraum übrig bleiben, als es unabweis—
bare Bedürfniffe notwendig erſcheinen laffen. Es foll, wie Plato
ſich ausdrüct, „ein eifriger Erwerb durch handwerfsmäßiges Treiben
nicht ftattfinden,“3) und ebenjo foll der Stand der Handelsleute
jo wenig zahlveich fein, als nur immer möglich.t) Eine Forderung,
@XENoTa, üngaxra, dvövnra ind twv nwAovvıwv yiyveraı (infolge
der Beftechlichkeit). Vgl. IV, 144.
!) Der beftehende Staat ift eine nrodıs pAeyuaivovoa. ib. 372e.
?) Leg. 743e.
>) yonuarıouos noAvs dia Bavavoias. ib. 743d.
1b. 919.
II. 4. Angriffe d. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Nechtsordg. 219
die Luther in ähnlicher Unterſchätzung der nichtlandwirtichaftlichen
Erwerbsthätigfeiten in die Worte gekleidet hat, daß es „viel gött—
licher: wäre, Aderwerf mehren, dieſe feine und ehrlihe Nahrung,
und Kaufmannschaft mindern.“ !)
Auch dieſe feindlihe Stellung gegenüber dem Handel ift die
unvermeidliche logische Konjequenz der ganzen gejchilderten Gedanken:
richtung und findet fich daher zu allen Zeiten wieder, wo wir ähn-
lichen jozialpolitifchen Speen begegnen. Die Wirkſamkeit des Eigen-
nußes und der Selbitfucht würde in der That durch) möglichite
Annäherung an naturalwirtichaftliche Zuftände bedeutend an Terrain
verlieren. Wo man fast ausichließlich Für fih und ſeine Familie
arbeitet und in der Negel nicht mehr produziert, als man für feine
Wirtſchaft braucht, wo der Einzelne überwiegend auf jeine eigene
Kraft und Leitung angewiefen ift und jelten in die Lage kommt,
die Arbeitsprodufte Anderer durch Tauſch in Anſpruch zu nehmen,
wo demnach der Verkehr noch unentwickelt ift, da ift der Spiel—
raum für die Bethätigung des wirtichaftlichen Egoismus natur-
gemäß ein mehr oder minder befchräntter.
Wenn dagegen der Handel und die Maffe der zum Tauſch
geeigneten und bejtimmten Güter zunimmt, wenn „dem Bauern
der Händler gegenübertritt, dem Fremden der Fremde, jeder bedacht
jo billig zu faufen und jo teuer zu verkaufen als möglich, ohne
Nückficht auf Nußen oder Schaden des Andern“, dann entwidelt
fih jenes „verſteckte Ningen in friedlicher Form”,2) welches recht
eigentlich unter dem Bann des Egoismus fteht. Während Die
Thätigkeit des für fich jelbft arbeitenden Landwirtes, Viehzüchters
u. |. w. dem Einzelnen Vorteile Schafft, ohne daß fie einem Anderen
) S. W. XXI, 329. Bol. Zwingli, der ebenfall® von der Bevor:
zugung de3 „dem Frieden und der Tugend förderlichen“ Aderbaues hofft,
daß „damit die unnüßen Handwerk, die zur Hoffart erdacht find, abnehmen“
würden (S.W. Züri 1823—41 II 416).
2) Vgl. die Ausführung von Dargun: Egoismus und Altruismus i.
d. Nationalökonomie 35 ff. und dazu Sar: Grundlegung der theor. Staats:
wirtſchaft 24.
220 Erſtes Buch. Hellas.
Schaden zu bringen oder mit deſſen Intereſſen zu Eollidieren braucht,
entjteht mit dem Handelsgeihäft eine wirtichaftlihe Thätigkeit,
welche fich ſtets mit dem wirtjchaftlichen Streben Anderer kreuzt,
zum Intereſſe Anderer in einen Gegenſatz tritt, weil, je vorteil-
hafter das Gejchäft des Einen, deſto weniger vorteilhaft das Ge-
Ihäft des Anderen ift. Jeder wünjcht hier, — wenigſtens joweit
die Durchſchnittsmoral in Betracht fommt —, joviel als möglich
für fich jelbft zu gewinnen, unbefümmert darum, wieweit das Inter—
ejje des Anderen dabei Befriedigung findet oder nicht. Für die
Durchſchnittsmoral gilt im Gejchäft feine Freundfchaft, iſt „geichäfts:
mäßig“ und „egoiftiich” ein und dasjelbe. Jedenfalls gibt dies
Prinzip der Pleonexie dem Verkehr, joweit er frei den eigenen
TIriebfräften folgen kann oder vielmehr unter dem Drude einer
übermäßigen „freien Konkurrenz“ fteht, in ungleich höherem Grade
jeinen Charakter, als jenes Bemühen um die „verhältnismäßige
Gleichheit“, um das richtige Mittelmaß in der Zuteilung der ma—
teriellen Vorteile over Nachteile, wie es eben die platonijch-ariftote-
liſche Ethik im Intereſſe wirtjchaftlicher Gerechtigkeit gefordert hat.
Auch zeigen ja die Erfahrungen aller höheren Kulturepochen un:
zweideutig genug, daß die durch die merfantile und induftrielle
Entwicklung gefteigerte Intenſität des Lebens infolge der Verallge—
meinerung und Verſchärfung des Kampfes um die Eriftenz und
um die Erhöhung der Eriftenz auch die egoiftiichen Triebfräfte zu
jteigern, den Egoismus intenfiver und rücjichtslofer zu machen
pflegt. !)
Soll daher ohne Rückſicht auf andere Kulturinterefjen alles
der Gerechtigkeitsidee Widerftrebende möglichſt ausgemerzt, der
') Man vergleiche nur 3.8. das Wirtjchaftsleben einer älteren Epoche,
wie es in abgelegenen Landichaften, alten Städten, £leinen Orten noch in die
Gegenwart hineinvagt, mir dem modernen Leben! Der Exrwerbstrieb exjcheint
bier, wie Cohn (Syftem der Nationalöfonomie I 389) treffend bemerft hat,
„äſſiger, behaglicher und namentlich vechtichaffener geartet, der Geſchäftsmann
in Handwerk und Handel viel weniger im Wirtjchaftlichen aufgehend, ein
kleiner Meifter, Gaftwirt, Kaufmann als Menjch oft viel mehr, denn im
neuen Leben große Induſtrielle und Spekulanten“.
> Tan Ei Er Eee
|
|
IT. 4. Angriffed. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 991
Spielraum des Egoismus im Wirtichaftsleben möglichjt eingeengt
werden, jo bleibt nichts übrig als die wirtschaftliche Reaktion oder
die Bejeitigung des privatwirtichaftlichen Handelsbetriebes oder min-
dejtens der Freiheit des Tauſchgeſchäftes.
Trogdem hat ſich Plato auf die Dauer wenigftens die
weiteftgehende dieſer Schlußfolgerungen eines fozialethiihen Nadi-
falismus nicht angeeignet. Der Gedanke jpäterer Sozialiften an
einen Zuftand, in welchem durch jtaatliche Drganijation der Volks—
wirtſchaft over durch unmittelbaren Verkehr zwiſchen Broduzent und
Konjument die volfswirtjchaftliche Funktion des Handels gänzlich
überflüffig werden ſoll, ift von Plato wenigftens nirgends pofitiv
ausgejprochen worden. Wenn auch in dem von fommuniftifchen
Speen erfüllten Entwurf des Idealſtaates jeine Gedanken fich ent-
ſchieden in diefer Richtung bewegen, !) jo findet ſich doch jelbjt hier
eine Ausführung, welche die Inſtitution des Handels in ihren ge—
ſchichtlichen Entſtehungsmotiven mit großer Unbefangenheit würdigt.2)
Sedenfalls kann in dem jpäteren Werke, in den „Geſetzen“, in
welchem er von vorneherein am Privateigentum und an der privat-
wirtichaftlichen Produktionsweiſe feithält, von jener radikalen For:
derung nicht die Nede fein.
Die Vorichläge, die er hier für die Negelung des Erwerbs:
lebens macht, jegen überall eine Gliederung der Produktion nach
jelbjtändig nebeneinander ftehenden Einzehwirtichaften voraus. Wie
wäre aber eine jolche Arbeitsgliederung nach ſelbſtändigen Zweigen,
von denen fich jeder die Befriedigung eines bejonderen Bedürfniſſes
zur Aufgabe jtellt, einigermaßen aufrecht zu erhalten, wenn nicht
jede Einzelwirtſchaſt hinreichend Gelegenheit hat, den Überſchuß
ihrer Erzeugnifje über den eigenen Bedarf gegen die zur Befriedi-
gung ihrer Bedürfnifie notwendigen Erzeugniſſe anderer Arbeits:
zweige auszutaujchen? Dieſer wechjeljeitige Austaufch andererfeits,
wie würde er bei einiger Ausdehnung des Marktes und einiger
1) Bol. fpäter.
2) Rep. 3716.
399 Erſtes Buch. Hellas.
maßen entwicelter Arbeitsteilung exjchwert fein, wenn Produzenten
und Konjumenten auf einander allein angewiejen blieben!
Plato, der bei feiner hohen Wertichägung der Arbeitsteilung!)
gerade die Spezialifierung der verjchiedenen Produktionszweige mög-
lichſt ſtrenge durchgeführt wiſſen wollte, konnte fich unmöglich der
Einficht verichließen, daß eS bei der Fortdauer des bloßen Tauſch—
handels eben durch dieſe von ihm geforderte Spezialifierung für
den einzelnen Broduzenten immer jchiwieriger werden müßte, ſtets
diejenigen Konjumenten zu finden, die Bedarf nach jeiner Ware
haben und zugleich als Produzenten in der Lage find, eine wert
entjprechende Ware feines eigenen Bedarfes in Tauſch zu geben.
Daraus ergab fi für Plato von jelbjt die Anerkennung der Un-
entbehrlichfeit eines vermittelnden Drganes, welches dem Vroduzenten
jeine Erzeugniffe auf Vorrat abnimmt und jo in der Lage ift,
einem Seven als Konſumenten die Gegenjtände jeines Bedarfes in
Tauſch zu geben.?) Er erklärt von diefem Gefichtspunfte aus den
Handel geradezu als eine Wohlthat für die Gejellfchaft, weil „er
den unverhältnismäßigen und ungleichfürmigen Beliß beliebiger Waren
zu einem verhältnismäßigen und gleichfürmigen umgeftaltet,“ 3)
weil er „allen Bedürfniſſen abhilft und eine Gleichmäßigkeit des
Beſitzes herbeiführt.”*)
Wie hätte ferner Plato das Prinzip der Arbeitsteilung, auf
!) Rep. II 369e. Leg. VIII, 846d.
N 2) Rep. II, 371e: "4v ovv xouioas 0 YEwmoyos Eis Tmv ayooav TU
wv noLei m) Tıs dAAos TWv dnuLovoyWv un Eis Tv auTov Yoovov Man Tols
deousvoıs Ta rap’ avrod wAAdkaodeı, doymosı Ts aurovd dmuiovoyias
xaIjusvos &v ayood; Ovdauos, 7) d’ ös, @AA Eioiv ol Tovro HgWvres &uv-
Tovs Ennt nv diexoviav TETToVOL TavTmv,
3) Leg. XI, 91Sb. zennieie ydo xard noAv naoa YEyovev oV
PAdßns Evexa To YyE xara vor, nav de Tovvertiov' NWS Yao ovVx
EVEOYETNS nas, 65 dv oVolav yonudrov Wvrırmvoov dovuuergorv
0U0aV xai dvauakov OuaAnv TE zul OVuuEsroov aneoyalerar
ToVTo Njulv yon pavaı xal mv tod voulouaros aneoyalsodeı durauı,
xai Tov Eunogov Eni Tovrw rerdydau dei Akysır.
9) ib. I1Se: . . . ndou Enixovoiay Tais yosiaıs EEgvrogeiv xal
ouckornta Tais ovolaıs (sc. duvaraı).
IT. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 993
das er Hinfichtlich der Produktion jo großen Wert legte, aus dem
Handel verbannen können? Wenn er im Intereſſe der Güte der
Arbeit von dem Produzenten forderte, ich auf die Erzeugung einer
beftimmten Warengattung zu bejehränfen, wie hätte ev dem Händler
verwehren jollen, die Vorzüge der Arbeitsteilung — im Intereſſe
der Allgemeinheit — auch jeinem Gewerbe nubbar zu machen.
Das heißt er mußte auch jene Form des Handels als eine be
techtigte anerkennen, bei der fich der einzelne Händler mehr und
mehr darauf bejchränft, den Austausch von Waren beftimmter
Art zu vermitteln, um dieje ſtets da auffuchen zu können, wo fie
am reichlichiten erzeugt werden und dahin zu Schaffen, wo der ſtärkſte
Bedarf nach ihnen ift.
Damit ift eine Geftaltung des Verkehrs gebilligt, bei der der
einzelne Händler immer weniger in der Lage ift, jedem Produzenten
den Gegenjtand feines bejonderen Bevdarfes in Tauſch zu geben
oder von jedem beliebigen Konſumenten gerade den Überſchuß
von deſſen Erzeugniffen in Tauſch zu nehmen, wo fi alſo für
ihn die Notwendigkeit herausitellt, jtetS eine Ware bereit zu halten,
die er womöglich jedem Produzenten für deſſen Ware anbieten
und deshalb auch von jedem Konjumenten annehmen fann. Kurz
es ijt damit die Notwendigkeit eines allgemeinen Taufchmittels
anerkannt, des Geldes, deſſen Unentbehrlichfeit für die wechjel-
feitige Ausgleihung der Bedürfniſſe von Plato ausdrüdlich zuge:
geben wird. !)
So klar fih nun aber Plato über die Funktionen war,
welche der Handel als Drgan einer auf dem PBrivateigentum be—
ruhenden Volkswirtſchaft auszuüben berufen it, jo entjchiedenen
Widerſpruch erhob er andrerjeit3 gegen diejenigen Zwede, welche
der Handel neben jeiner eigentlichen Aufgabe, der Vermittlung
zwiichen Produktion und SKonjumtion, von dem privatwirtichaft-
lihen Standpunkt des Einzelnen aus zu befriedigen ſucht.
Wie jpäter die Kanonijten, die Neformatoren, Fourier und
andere Sozialiften wirft er die Frage auf: Sit es zuläſſig, daß der
1) Bal. die ©. 222 U. 3 angeführte Stelle 9186.
224 Erſtes Buch. Hellas.
Kaufmann in Wirklichkeit feineswegs bloß als Drgan zur Er-
reichung dieſes allgemeinen Zweckes thätig jein will, ſondern ein:
feitig ſich ſelbſt als Zweck feßt und „in jchimpflicher Weife den
dem dringenden Bedürfnis geleiteten Beiftand (zıv ıns arrogeiac
ErIR0VO70Ww)!) zum Werkzeug des Privateigentums herabwürdigt?
Dürfen die Handeltreibenden aus dem Handel ein Geſchäft machen,
bei dem es ihnen in erfter Linie um ihre eigene Bereicherung,
nicht um die Befriedigung der Bedürfniffe zu thun ift?
Indem Plato dieje Tendenz des Handels prinzipiell ver-
wirft und jede Handelsthätigkeit unterdrückt wiſſen will, bei der es
auf „Bereicherung“ abgejehen ift und nur gefauft wird um
teurer zu verfaufen,2) ftellt ev die Forderung auf, daß bei allem
Kauf und Verkauf der Preis einfach nach dem bejtimmt werden
joll, was ev — allerdings ohne nähere Begriffsbeitimmung — den
„wahren Wert“ nennt?) Diefen wahren Wert, die objektive
Gerechtigkeit des Preifes, zu realifieren ift Sache der Staatsgewalt,
welche jich zu dem Zwed mit Sachverftändigen aus dem Handels—
und Gewerbejtand ins Benehmen zu jegen hat, denen die Bejtim-
mung des wahren Wertes nach Platos Anficht feine Schwierigkeit
machen Fann.t)
1) Ebd. 919b.
2) Ebd. 847e: zanmdeiev DE Evsxa yonuertiouwv wire owv Tov-
tov unte aAhov umdevos Ev N Ywo« OAn zul noksı yulv yiyveodaı.
5) Ebd. 921b: zei avaıpovusvo d’ Epyov EuußovAsvrijs vowos, Ereg
to nwAovvrı Evveßovieve, un nAEovos tTıuav dianeıoWuevorv, dA
"cs anhorortara ns dEias, Tairov dm nYoOTETTEL xal Ta avamovusı m“
yıyvooxeı yao 0 yE dnuiovoyos mv afiev. Plato hat hier offenbar das—
jelbe im Auge, was der moderne Sozialismus, z. B. Proudhon, als „gerechten
Preis” bezeichnet, der ſich nach Proudhon jederzeit durch genaue ftatiftifche
Treisberechnungen u. ſ. to. jicher erkennen lafje. Vgl. Diehl: Proudhon II 123.
9 Ebd. 920e. Bei direktem Verkauf von jeiten der gewerblichen Pro—
duzenten denkt Plato offenbar an den jogen. Arbeits: und Produftionswert;
denn nur in Beziehung auf diefen fann ex von dem Handwerfsmann jagen,
daß er den wahren Preis jehr wohl kenne. ©. oben 921b. — DBgl. auch
den ähnlichen Gedanfengang der fanoniftischen Lehre über den „richtigen“
Preis (Endemann a. a. O. 358 ff.) und dazu Luthers Schrift über die Kauf:
IT. 4. Angriffe d. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 225
Seines jpefulativen Charakters völlig entkleidet joll jo der
Handel zu einer Art Amt werden, das feine Aufgabe nur darin
zu ſehen bat, gewiſſe volfswirtichaftliche Funktionen dem Bedürf—
nifje der Geſamtheit entiprechend durchzuführen und welches fich
mit dem begnügt, was ihm die Allgemeinheit für die Ausübung
diefer Funktionen wie eine Art Gehalt zuerkennt.
Auf diefe Weiſe joll dem Handel jener „mäßige“ Ertrag!)
gefichert bleiben, welcher notwendig ift, um die wirtjchaftliche
Grijtenz der handeltreibenden Klaſſe zu erhalten, welcher aber die
Anfammlung größeren Kapitals von vorneherein unmöglich macht.
Um diejes legtere Ziel noch ficherer zu erreichen, verlangt
ferner Plato die Ausſchließung der edlen Metalle und damit des
Gold: uud Silbergeldes aus dem gejamten inländiichen Verkehre.
Er ſpricht fi Für die Einführung einer Landesmünze aus, die
ähnlich wie das ſpartaniſche Eijengeld im Auslande wertlos ift.
Es wird damit zugleih der auswärtige Handel an der
Wurzel getroffen, den Plato wegen feiner Gefahren für die Ein-
fachheit und Strenge der Sitten auf ein möglichit niedriges Niveau
herabdrücken möchte, indem er die Einfuhr aller foftbaren, nur dem
Luxus dienenden Waren verpönt und nur den Import von Gegen-
jtänden des notwendigen Bedarfes zulaſſen will.2) Ein Verbot,
das Übrigens auch den Handel an fich trifft, da ja die prinzipielle
Beichränfung der Produktion und Konſumtion auf das Notwendige
eine ganze Neihe von Handelszweigen und Gewerben von vorneherein
überflüffig macht.
Natürlich joll ſich auch die volfswirtichaftliche Funktion der
Landesmünze nach Platos Anficht nur auf das Notwendige be
handlung (X, 1090), ſowie andere Schriften der Reformatoren, die ala „öko—
nomiſch“ d. h. als produktiv nur den Handel gelten Laffen, der Überfluß und
Mangel ausgleicht, dagegen allen Handel veriverfen, der nur fauft, um teurer
zu verkaufen. Eine Auffaffung, die zum Zeil direft an Plato anfnüpft.
(corp. ref. XVI 427. cf. XI 394.)
!) xeodos ueroiorv ib.
2) EEd. 847c.
Pohlmann, Gejch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus, T. 15
226 Erſtes Buch. Hellas.
ſchränken; d. h. fie joll nichts Anderes mehr fein, als ein Hülfs—
mittel des Güterumjaßes und Preismaßjtab.!)
Inſoferne das Geld — infolge feiner unbejchränkten Auf-
bewahrungs- und Anfammlungsfähigfeit und feiner allfeitigen von
Zeit und Det unabhängigen Verwendbarkeit — den Erwerbstrieb
und die Erwerbsfähigfeit des Einzelnen und damit den wirtjchaft-
lichen Konkurrenzkampf fteigert, die Möglichkeit zur Anfammlung
von Neichtum vervielfältigt, mußte e3 ja ein Gegenftand des Miß-
trauens und der Abneigung für eine Theorie jein, welche in der
Konkurrenz und in dem Gegenjag von Arm und Reich) an fich
ſchon Symptone jozialer Erkrankung erblidte.2)
Dieje dem beweglichen Kapital dur) das Geld zugeführte
Macht joweit zu Schwächen, al3 es ohne Beleitigung des Geldes
jelbjt möglich war, jeheute der abſtrakte Dogmatismus der Theorie
vor den äußerſten Konjequenzen nicht zurüd. Wie fie die An—
jammlung größerer Werte mit Hülfe des Geldes einfach dadurch
unmöglich gemacht willen wollte, daß das edle Metall im Münz-
wejen duch Stoffe von ungleich geringerem Taujch- und Gebrauchs:
wert erjeßt wird, jo will jte die — in ihrem Ergebnis auch wieder
jener Konzentrierung von Werten fürderlihe — Eigenjchaft des
Geldes, jeinem Beliger als Erwerbsvermögen zu dienen, in radikaler
Weiſe dadurch bejeitigen, daß fie prinzipiell die Berechtigung der—
jenigen Gejchäfte negiert, durch welche das Geld ſelbſt Mittel des
Erwerbes wird. Das heißt: es jollen alle Kreditgejchäfte unmög—
(ich gemacht werden durch die Unterdrückung derjenigen Inſtitution,
welche die Seele des Kredite ift, nämlich der Zinsbarfeit ‘des Dar-
’) vououe ovußolov ıms aAkayns Evexae. Rep. Il 371b. Das Geld
feine Ware mehr, jondern nur noch ein Symbol, ein bloßes Zeichen!
2) Auch in dieſer jchon oben (©. 115) bei den Eynifern Eonftatierten
Abneigung gegen das Geld berührt fich der antife mit dem modernen Sozialis—
mus. „Das Geld", jagt Proudhon, „ift der Depot der Zirkulation, der
Tyrann des Handels, das Haupt der faufmännijchen Feudalität, das Symbol
des Eigentum? Das Geld müfjen wir vernichten!” (Vgl. Diehl a. a. O.
IT, 53.)
II. 4. Angriffed. ideal Sozialphil.a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 227
lehens,!) ſowie durch das Verbot, auf Kredit zu kaufen oder zu
verkaufen. 2) |
Das Kaufgeichäft joll möglichit den Charakter des Taufch-
geichäfts bewahren, der Kauf dem Tauſch möglichft nahe gerückt
werden, um jede freiere Geftaltung des Kaufes, wie fie eben der
Kredit geftattet, von vorneherein unmöglich zu machen. Der Kauf
joll nach diefer — auf möglichite Annäherung an die Natural:
wirtschaft hinftrebenden — Anſchauungsweiſe nichts fein, als ein
Tauſch mit fofortiger Nealifation, der ſich von demjenigen der
Naturalwirtichaft nur dadurch unterjcheivet, daß auf Seite des
einen Kontrahenten eine Geldſumme den Inhalt der Taufchleiftung
bildet. 3)
Auf diefe Weife joll das Geld, wie der Handel, aufhören,
Habjucht und Mammonismus einerjeits, Armut und Ausbeutung
des Armen andererjeitS zu fördern.
Man wird der allgemeinen Tendenz, welche in diefen Er:
örterungen zum Ausdrude kommt, eine gewiſſe Sympathie ja nicht
verjagen fünnen. Gerade die Gegenwart empfindet es als eine der
verhängnisvolliten und gefährlichiten Konſequenzen hochentwicelter
Geld- und Kreditwirtichaft, daß es durch fie einer kleinen Minorität
) Wer Geld auf Zins ausleiht, dem ſoll der Schuldner nicht einmal
mehr das Kapital zurüdzuzahlen brauchen. Leg. V, 742c: und& daveißsır
Ertl T0x0, Ws EEov um anodıdova TO nagenev TW davsıoauevo unte Toxov
unte zepaheıor. Ähnlich ſchon im „Staat“, wo es für wünſchenswert erklärt
wird, daß die Hingabe von Gelddarlehen nur auf „eigene Gefahr“ erfolgen
ſollte. 556: E&«v yao Eni TO avrov zıvdvvw Ta noAkd Tıs TWv Exovoiwv
Evußoleiov noooreırn Evußadleıv, yomuerilovro uv üv mrrov dvados
Ev ın noAeı, EAcdrrw Ö’ Ev aut Yrloıro TWv ToLlovVTwv xazov, oliv vor dm
EITTOUEV.
2) Leg. XI, 915d: Vod de die TIvos wvns n zul nodoews aAAdrre-
Tai dis Eregos dAım, ddovra Ev ywg« ın Terayusvn Exdorois za’ dyogav
xal deyousvov Ev TO nepayoyue tuunv ovrws daAharreodaı, EhAodı de
undauov, und’ Eni avaßoin nocoıw unmde wrnv noLeiodeı undevos.
3) Sehr bezeichnend für diefe Tendenz, den Kauf möglichit dem Taufch
zu nähern, iſt die Art und Weife, wie Plato an der eben genannten Stelle
bon einem „Eintaujchen durch Kauf oder Verkauf” ſpricht.
15*
228 Erſtes Buch. Hellas.
ermöglicht wird, dank ihren techniſchen Kenntniſſen und ihrer aejchäft-
lichen Beherrſchung des Kreditverfehrs die Gejamtheit in unver—
hältnismäßiger Weiſe auszubeuten. Allein es ift leider ebenjowenig
zu verfennen, daß die von Plato gemachten Vorſchläge zur Ber-
hütung und Heilung dieſes fozialen Übels in Feiner Weife aus-
gereift, jondern ideologiihe Träume eines jozialpolitiichen Adepten
find, der feine Wünſche und Hoffnungen an die Stelle der Neali:
täten feßt. Es bedarf für uns feines Beweijes, daß jelbjt in dem
verhältnismäßig beſchränkten Rahmen der antifen Stadtſtaatwirt—
ichaft, auf welche ſich dieſe platonifchen Vorſchläge prinzipiell be-
jchränfen, das Heil der Geſellſchaft unmöglich in der wirtjchaft-
lichen Reaktion gejucht werden konnte, wenn auch der Zweck Platos,
ftabile und gerechte Wertverhältniffe zu erzeugen, unanfechtbar ift.
Um fo auffallender exjcheint es bei dieſem utopijchen Charakter
feiner Theorie, daß die Anfichten Platos über Güterumfag und Geld-
verkehr nicht etwa in abgejhwächter, Jondern eher in noch radi—
falerer Faſſung bei einem ſonſt jo nüchternen Denker und jcharfen
Beobachter ſozial-ökonomiſcher Erjcheinungen, wie Ariftoteles wieder:
fehren. Wie gewaltig muß die antifapitaliftiiche Bewegung geweſen
fein, welch tiefer und nachhaltiger Eindrud muß der Gedanke einer
einfchneidenden Umwandlung der bejtehenden Wirtfchaftsordnung in
den Gemütern hinterlaffen haben, wenn jelbjt ein jo gearteter Den-
fer, der in der grundlegenden Frage der Eigentumsordnung ſich nie
in der Weife wie Plato vom Boden der Wirklichkeit entfernte, —
wenn Nriftoteles in feiner Kritif der Konſequenzen einer privat:
wirtschaftlichen Nechtsordnung, in jeinen Anſchauungen über den
Güterumſatz, die freie Konkurrenz, die Geldwirtichaft und die Kapital—
rente fich nicht nur an den Gevdanfengang Platos enge anjchloß,
jondern über denjelben noch hinausging!
Aristoteles erkennt, wie Plato, den Fortjehritt von der Natural-
zur Geldwirtichaft an, und feine Erörterung über die Entjtehung
und Natur des Geldes darf als eine klaſſiſche bezeichnet werden.)
1) Bgl. Pol. I, 8, 13. 1957a f.
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil.a.d. Grundf. d. wirtſch. Rechtsordg. 229
Doch fügt er ebenjo, wie Plato, die prinzipielle Einſchränkung hin—
zu, daß das Geld nur zur Vermittlung des Güterumfages, nicht
als Werkzeug der „Bereicherung“ dienen ſollte. Der Gewinn aus
Zinsdarlehen und jonjtigen Geldgeſchäften erjcheint ihm als durch-
aus widernatürlich (uakıora rreoa Yvow), weil auf diefe Weife
das Geld ſelbſt Mittel des Erwerbes und nicht dazu gebraucht
wird, wozu e3 erfunden ift. „Denn nur zur Erleichterung des
Taufches Fam es auf, nicht um durch den Zins fich jelber zu ver:
mehren.“ !)
Ebenſo, wie alles diejes, iſt es ganz platonijch gedacht, wenn
Ariftoteles ein Symptom der Entartung darin Sieht, daß durch
Geld und Handel eine wirtjchaftliche Thätigkeit hervorgerufen wird,
die wejentlich darauf gerichtet tft, „wie und mit welchen Mitteln
man beim Umſatz möglichit viel gewinnen könne.““) Er ftimmt
mit Plato darin völlig überein, daß aller Erwerb ſich auf die Bes
ſchaffung des Unterhaltsbedarfes beichränfen und an den vernünf—
tigen Bedürfniffen des Menjchen von vorneherein jein Maß und
feine Grenze haben mülje;?) daß daher die ganze thatjächliche Ent-
widlung des Handels, insbejondere des Geldhandels eine verwerf-
liche fei, weil derjelbe in der Verfolgung jeines Zieles eine ſolche
Schranke nicht anerkennt, ſondern auf „unbegrenzten Gelderwerb”
bedacht ift.t) .
Da der „wahrhafte” Neichtum nach der Anficht des Arijto-
tele8 nur in dem für das Leben Notwendigen und Nützlichen be—
jteht und das für ein vernunftgemäßes Dajein genügende Maß
1) Ebd. I, 3, 23. 1258b.
2) Ebd. I, 3, 15. 1257b: nosev zai nws ueraßellouevov nAsiorov
roımoeı xEodos.
») 8. 1256b.
4) 17. 1257: zei Tavıns TS yonucuouzns ovx Eortı Tod Telovs
neoas, tEhos BE 0 ToLovros nAo0rog zei yonudtov zımoıs. cf. 18: -— m
uv geiveraı avayzalov Eivaı navrös nAovrov rIEQaS, Ei de TWv yıro-
usvov ÖoWuEev ovußaivoy Tovvavılov' Idvrss ydo Eis AnEIVov avSovoıv
ob yonuarılousvor To vowoug,.
230 Erſtes Bud. Hellas.
eines ſolchen Befißes nicht ins Unendliche geht,!) jo tritt Arifto-
teles dem aus Handel und Geldgeichäft entjtehenden Neichtum, der
feiner Natur nach ohne Ziel und Grenze ift,2) ebenjo feindlich ent-
gegen, wie der platoniiche Sozialismus.
Dem „naturgemäßen“ Gütererwerb, deſſen Ziel die Befrie-
digung des naturgemäßen Bedarfes des Familien und öffentlichen
(Staats)haushaltes ift (orxovoman, 1) zreoi nv Toognv) wird als
naturwidrig die Gelderwerbsfunft (gonuerıorızı,) gegenübergeftellt.
Diefe auf das Geld als jolches gerichtete Spekulation tritt
zuerst „in ganz einfacher Geſtalt“ (41400 fons) auf im Klein
handel, jpäter „bei vermehrter Erfahrung fünftlicher”. Alsdann
handelt es fich bei dem Umſatz nicht mehr bloß um die Anſchaffung
des Hausbedarfes, jondern um ein auf den meilten Profit (xeodos)
gerichtetes Spefulationsgejchäft. Die Erwerbskunſt ift die Kunft
geworden zu jpefulieren, wo viel Geld herauszuſchlagen it. An
die Stelle des durch den Hausbedarf begrenzten natürlichen Reich—
tums und Gütererwerbs ift das jpefulative Kapital getreten, das
den Gelderwerb als Selbitzwecd betrachtet „und maßlos, wie. dieje
Geldbereicherung, werden dann die Bedürfnifje der entfeſſelten
ſchrankenloſen Leidenschaften, die nach maßlojen Befriedigungsmitteln
des ſchrankenloſen Sinnengenufjes ftreben.“ 3)
Wie all dies echt platonifch ift, jo ift-eS auch die Polemik
gegen ven Fapitaliftiichen auswärtigen Handel, dem fie möglichit
enge Schranfen gezogen wiſſen will. Auch der ariftotelifche Sozial:
ftaat läßt denſelben nur joweit zu, als er im Intereſſe des Aus—
taufches überſchüſſiger Landeserzeugniffe und unentbehrlicher, nur
aus dem Ausland zu beziehender Bedarfsgegenftände nicht zu um:
geben tjt.t)
') 20h: zard pic 7 negi Tnv toogNv, 0vX Wwoneo avın (sc. 7 un
dvayzala yonueriorizm) aneıpos aAAd Eyovoa Ögorv.
>) 17: dnrsıgog ö nAovros 6 ano Tawıns TS Konuatiotizms.
s) 19.
4) Der ariftotelische Sozialſtaat begrügt fich mit diefem Austaufch für
den eigenen Bedarf; er „gibt fich nicht zum Markt für andere her“, weil es
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 231
Der Handel erjcheint auch bier in feiner geſchichtlich gewor—
denen Geftalt wejentlich als ein Barafit der VBolkswirtichaft, deſſen
Thätigkeit zur Produktion nichts hinzufügt, ſondern immer nur für
den einen gewinnt, was fie den anderen nimmt.!)
Bei diefer Auffaffung kann es nicht zweifelhaft jein, daß
Aristoteles auch vom Standpunkt feines Gejellfchaftsiveales aus
die möglichite Unſchädlichmachung 2 „Naturwidrigen” Tendenzen
des Handels fordern mußte, wenn ſich auch leider die Art und
Meife, wie er fich die Verwirklichung diefer Forderung dachte,
unjerer Kenntnis entzieht. Ja es ift jogar die Möglichkeit nicht
ausgejchloffen, daß er in feiner Darftellung der wirtjchaftlichen
Drganifation des beften Staates, die befanntlich in der uns über:
lieferten Gejtalt nicht über die erſten Grundlinien hinausfommt,
zu einem abjchliegenden Ergebnis in diejer jchwierigen Frage über:
haupt nicht gelangte.
Immerhin jteht wenigstens in negativer Beziehung foviel feit,
daß er die Anficht Wlatos, als fünne der gewerbsmäßige Handel
bis zu einem gewiſſen Grade mit der Ethik in Einklang gebracht
werden, ſeinerſeits nicht geteilt, alfo thatlächlich eine noch ab-
lehnendere Haltung gegen den Handel eingenommen bat, als «3
Plato wenigitens in feiner legten jozialpolitiihen Schrift gethan
hatte. Und es ift diefer Peſſimismus von den oben genannten
Prämifjen aus ja jehr begreiflich!
dabei nur auf Bereicherung abgefehen wäre. An „jolcher Gewinnfucht” ſoll
er fein Teil haben. IV, 5, 5. 1327a: «urn ydo Eunogiziv, dA ov Tois
dhhous dei eva ımv nolıv' oi dE nageyovtes opds avrois naoıv dyogav
710000dov yaoır Tavr« nodtrovoiv' nv de un dei nokıy Toi@vTns UETEYEIV
nAeoveiias, ovud’ Eunogiov dei zextnjodeı Toiovror.
ı) Nur jo ift es meines Grachtens zu verftehen, wenn die auf den
bloßen Handelsgewinn berechnete Erwerbskunſt getadelt wird, weil fie „ov
zarte gvowwv, aAN ar ahdmyıov Eotiv“ (23. 1258b). Denn der Handel kann
doch nicht deshalb getadelt werden, weil ex in „gegenfeitiger Übereinkunft“
(itatt in der Natur) gegründet ift, wie Suſemihl auch überjegen will. Denn
auch der Gebrauch des Geldes ift „durch Übereinkunft eingeführt“ ($ 14)
und wird trogdem von Arijtoteles vollkommen gebilligt.
232 Erſtes Buch. Hellas.
Wer als Ideal einen Verkehr vor Augen hat, der nur um
des „wahren Bedürfniffes“ und des Gebrauchswertes der Güter
willen ftattfindet, dem kann ja im Grunde nur dasjenige Kauf—
geichäft als fittlich unbedenklich erjcheinen, bei dem der Erwerler
die Abficht hat, die erworbene Sache jelbit zu gebrauchen, der Ver—
fäufer, anderen den Gebrauch zu verſchaffen. Der gewerbsmäßige
Handel aber kann feiner Natur nach nicht nur dieſes wollen.
Denn er Fauft und verfauft die Dinge, weil fie neben den Ge-
brauchswert einen in Geld ausprüdbaren Taufchwert enthalten.
Bei ihm ift jeder Kauf notwendig zugleich Spekulationsfauf, bezw.
Verkauf d. h. um des Taufchwertes oder, was dasſelbe ift, um
des Geldwertes willen. Der privatwirtichaftliche Zwech der mit
den volfswirtichaftlichen Leiftungen des Handels immer Hand in
Hand geht, ift der durch die Nealifierung diefes Taufchwertes zu
erzielende Geldgewinn, der Mehrwert, welcher — um mit Marr
zu reden — durch die Verwandlung von Geld in Ware und die
Kücverwandlung von Ware in Geld entjteht; weshalb Ariftoteles
in diefem Sinne d. h. von dem pridatwirtjchaftlichen Stand—
punkt des Handelsgewerbes aus nicht Unrecht bat, wenn er das
Geld das Element und das Ziel des Handelsumjaßes nennt. !)
Wie könnte man demnach von dem Handel, ohne ihn feiner
eigenen Triebfraft zu berauben und ihn damit jelbjt zu vernichten,
mit Plato verlangen, daß er dieſen feinen jpefulativen Charakter
völlig aufgäbe d. h. fich bei Kauf und Berfauf aller Gedanken an
einen Gewinn entichlage, der als Bereicherung gefaßt werden
könnte?
In der That wird von Ariſtoteles die Frage unzweideutig
verneint, indem er den Satz aufſtellt, daß die auf die merkantile
Spefulation gerichtete Erwerbskunſt ihrer ganzen Natur nach eine
ſolche Grenze niemals innerlich anerkennen werde, jo wenig „wie
die Heilfunft ein Maß und eine Grenze habe, bis wohin fie die
Erzeugung der Gelundheit ausdehnen darf.” 2)
1,3, 1751957R.,
2 Rip. 7;
NZ
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Rechtsordg. 233
Wenn aber der gewerbsmäßige Handelsbetrieb grundſätzlich
mit der wahren Sittlichfeit unvereinbar ift, wenn ex feiner wahren
Tendenz nach auf die Vernichtung jener wirtichaftlichen Gleichheit
binarbeiten muß, welche Ariſtoteles al3 geſellſchaftliches Ideal auf-
stellt, jo mußte fich auf feinem Standpunkt bei einiger Konjequenz
die weitere Frage aufvrängen: Sit die Eriftenz eines bejonderen
Handelsgewerbes unter allen Umftänden notwendig, oder ift nicht
etwa ein Gejellichaftszuftand denkbar, welcher die Vermittlung des
Kaufmanns überflüfftig macht?
Welche Antwort er freilih auf diefe Frage hatte, darüber
laffen fi nach) dem oben Geſagten höchſtens Bermutungen auf:
ftellen. Einige Iußerungen der Politik erwecken wohl den Anfchein,
als ob fich Ariftoteles von der Entbehrlichfeit des Handelsgewerbes
doch nicht habe überzeugen können. Es find das die Stellen, wo
er eine Aufzählung der für die Geftaltung des Berfaffungslebens
in Betracht Fommenden Bolfsklaffen gibt und in der That neben
dem Bauern» und Handwerkeritand als dritten organijchen Beſtand—
teil des Volkes die handeltreibende Klafje nennt.) Aber es fann
das in feiner Weiſe als entjcheidend angejehen mwerden.?) Denn
Ariftoteles hat es in dem Teil der Bolitif, welchem dieje Stellen
angehören, nur mit der Pathologie und Therapie der beftehenden
Staats: und Gejellichaftsordnung zu thun, deren wirtjchaftliche
Grundlagen er bier als gegeben hinnimmt. Ein Beweis wäre alſo
nur dann erbracht, wenn auch die ideale Gefelliehaftsordnung des
„beiten“ Staates einen bejonderen Handelsitand Fennen würde.
Kun stellt Sich aber bei näherem Zuſehen die bedeutjame,
bisher merfwürdigerweile völlig überjehene Thatſache heraus, daß
Ariftoteles bei der wiederholten Aufzählung der volfswirtjchaftlichen
Borausfeßungen und der wirtichaftlichen Berufe, ohne welche auch)
jein bejter Staat nicht bejtehen Tann, das Handelsgewerbe mit
I) A, 121291 A, 3.132178:
2) Wie das z. B. Rau thut (Anfichten der Volkswirtſchaft 15) und
Kautz: Gefchichtliche Entwicklung dev Nationalökonomik 139.
234 Erſtes Buch. Hellas.
völligem Stillſchweigen übergeht.) Zugegeben, daß die eine oder
die andere dieſer Aufzählungen eine erſchöpfende Überſicht vielleicht
nicht beabſichtigt, ſo erſcheint doch dieſes vollſtändige Schweigen be—
redt genug. Kann es Zufall ſein, daß das Handelsgewerbe zwar
bei der Charakteriſtik der beſtehenden Volkswirtſchaft ausdrücklich
genannt wird, dagegen bei der Schilderung der wirtſchaftlichen
Grundlagen de3 Idealſtaates — und das an drei verjchiedenen
Stellen gänzlich ignoriert wird??) Wenn bier aber die Abficht un:
verfennbar ift, jo bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder hat der
ariftotelifchen Sozialtheorie in der That der Gedanke vorgejchwebt,
die Güterwelt durch die Verftaatlihung des Handels von allen
Mittelsperfonen zu befreien, oder ihre Tendenz ging wenigftens da-
hin, den gewerbsmäßigen Handel in eine für den Gejamtcharafter
der Volkswirtſchaft möglichft bedeutungsloſe Stelle herabzudrüden.
Doch jei dem wie ihm wolle! joviel geht aus allem hervor,
daß die Verwirklichung der ariftotelifchen jowohl, wie auch der
platonijchen Theorie thatfächlih eine mehr oder minder vadifale
Zerſtörung des Handels bedeutet hätte. Schon die Auffaffung von
der Stellung des Geldes in der Volkswirtſchaft muß zu Konfes
quenzen führen, die geeignet find, den Lebensnerv des Handels zu
lähmen.
Zwar bat Ariſtoteles — wie man im Gegenſatz zu Der
üblichen Auffaffung anerkennen muß — durchaus recht, wenn er
jagt, daß die wejentliche und einzige Funktion des Geldes in der
Vermittlung und Erleichterung des Taufches bejteht und daß eine
Summe von Geldftücden an fich Feine Zinfen erzeugen, ſich alſo
auch nicht ſelbſt durch den Zins vermehren könne. Allein es wird
) IV, 8, 1. 13286: der doa yewoywv T eivar Amos, 08 naoa-
oxevaLovor Tv TOoPINv, xal TEyvites, #ai TO WUdyıuov xal TO EUIOgoV
zai iegEIS zul xoıras av dizalov xal ovupsoorrwv. cf. 7, 4 und
921718292.
) Die Erwähnung eines Marktes beweift nichts. Selbjt in dem
fommuniftifchen Ntopien des Thomas Morus gibt es Märkte, obwohl hier
von einem privativirtjchaftlich organifierten Handel nicht die Rede jein kann.
I. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 935
dabei andererjeits überjehen, daß, wenn auch das Geld nicht ſelbſt
und unmittelbar produktiv ift, es doch für feinen Befiger mittelbar
dadurch produktiv zu werden vermag, daß es ihm die Aneignung
von Gütern ermöglicht, die zum Erwerb und zur Produktion neuer
Güter dienen fünnen. Es wird daher auch verfannt, daß, wenn
durch Überlaffung von Geld an einen anderen diefem die Möglich:
feit verichafft wird, fi in den Befit von Erwerbsvermögen und
Produftionsmitteln d. h. eines Kapitals zu jegen, der Darleihende
einen wohlbegründeten Anſpruch auf die Beteiligung an dem Er—
trage dieſes SKapitales erhält. Dies leugnen heißt aber nichts
anderes als das Darlehensgeichäft ſelbſt bejeitigen, die Entwid-
lung alles Kredites und damit die wirtjchaftliche Leiſtungsfähigkeit
aller derjenigen unterbinden, welche darauf angewiejen find, ſich das
für die Bethätigung ihrer Arbeitskraft und ihres Unternehmungs-
geiftes nötige Kapital auf dem Wege de3 Kredites zu verichaffen.
Was würde aber der Handel, deſſen Seele Geld und Kredit ift, in
einem voltswirtichaftlichen Syjtem bedeuten, welches die Produktivität
der Arbeit, die Kapitalbildung und vermehrung in diefer Weife
lähmen würde? —
Man ift vielfach geneigt, die Weite des Abitandes zu unter
Ihäßen, welcher die gejchilderte platonijch-ariftoteliiche Wirtſchafts—
theorie von der thatjächlichen Geftaltung des Lebens trennte. Man
fieht in ihr — insbeſondere in der Befämpfung des Brivathandels
— ein Symptom des relativen Zurückbleibens der antiken Volks—
wirtichaft, der fittlichen Geringſchätzung und des Mißtrauens, mit
welchem der Handel bei geringer entwidelter Kultur, wo man jeiner
verhältnismäßig weniger bedarf, ſtets betrachtet zu werben pflegt.
Ebenſo jollen die Angriffe auf die Zinsbarkeit des Darlehens
wejentlich der Nefler einer geringen Ausbildung der Kapitalwirt-
Ihaft und der hiermit unvermeidlich verbundenen Abneigung gegen
das Zinsnehmen jein.!)
1) Selbjt Suſemihl (Anmerk. zu Ariſtoteles' Politik IT 30) bekennt
fich zu der Anficht, daß die „Nechtmäßigkeit und vernunftgemäße Notwendig-
feit des Zinjes den Alten nicht klar geworden fein könne“, weil das „Kapital
236 Erſtes Buch. Hellas.
Allein wie wenig zutreffend erjcheinen doch dieje Borftellungen
angeficht3 der thatjächlichen Entwicklung der damaligen Volkswirt
ichaft! So richtig der Sat Suſemihls ift, daß das ariftotelijch-
platoniſche Staatsideal die Vorausſetzungen eines griechifchen Stadt:
ftaates in ſich hinübernimmt, jo ift es doch eine völlige Verkennung
der ganzen wirtichaftlichen Situation des Stadtftaates, wenn unter
diefen VBorausfeßungen auch die „Verachtung des Betriebes von
Handel, Snduftrie und Gewerbe” genannt wird.
Wenn man fich die wirkliche Lage der Dinge Klar veranſchau—
licht, jo wird man erkennen, daß gerade in den Berhältnifjen des
hellenijchen Kleinſtaates der mächtigite Anreiz zu fommerzieller und
induftrieller Thätigfeit lag. Bei ihrer Kleinheit waren diefe Staaten
frühzeitig darauf angewiejen, wichtige Gegenftände des Bedürfniffes,
welche die unvermeidlich einfeitige Produktion eines jo engen Ge
bietes nicht zu liefern vermochte, von auswärts zu beziehen. ALS
Gegenwert hatten fie zunächit die Exrträgniffe ihrer Landwirtſchaft
zu bieten, Wein, OL, Wolle u. f. w., die ſchon fehr frühe als
Gegenſtand der Maffenausfuhr und eines weit ausgedehnten Ber-
fehres erjcheinen. Nun waren aber der Steigerung der landwirt-
Ihhaftlichen Produktion naturgemäß mehr oder minder enge Grenzen
geſteckt, und daher die hellenische Stadtſtaatwirtſchaft vecht eigentlich
Bawerk: Kapital und Kapitalzins I, 17, wo die ariftotelische Anſchauung aus
einer „dem Darlehenszins äußerſt mihgünftigen, in der geringen Entwicklung
des Kreditweſens mehr oder minder begründeten allgemeinen Zeitftrömung“
erklärt wird.
Auf einer ähnlichen Einfeitigkeit beruht e3, wenn Simmel in feiner
geiftvollen Schrift über joziale Differenzierung (S. 125) die Anficht ausfpricht,
der „Mangel an Arbeitsteilung” habe im helleniſchen Wirtichaftsleben eine
jolche Reibung zwiſchen den Handeltreibenden erzeugt, daß die Kräfte von
dem eigentlichen wirtichaftlichen Ziel der „Befiegung des Objekts“ ganz ein-
jeitig auf die „perjönliche Befiegung der Mitbewerber” abgelenkt worden jeien,
und e3 feien daher die griechifchen Sozialpolitifer zu dem Urteil bered-
tigt gewejen, daß der eigentliche faufmännifche Beruf dem Staatswejen ver—
derblich und nur dev Landbau ein geziemender und gerechter Erwerb ſei, daß
nur dieſer feinen Nuben nicht von Menjchen und deren Beraubung nähme!
IT. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 937
auf diejenigen Thätigfeiten hingewiejen, die einer größeren Aus—
dehnung fähig waren, als die Agrikultur d. h. eben Gewerbefleiß
und Handel. 2
Am früheften und intenftoften tritt dieſe Tendenz da hevvor,
wo eimerjeitS der Boden an Landbauproduften weniger ergiebig
war, dagegen wichtige Rohſtoffe für die Induſtrie 3. B. Thon und
Erzlager u. |. w. darbot, oder wo eine günftige Verkehrsſtellung,
befonders die Lage am Meere, die Entwidlung der Schiffahrt be—
günftigte, wie e3 an zahllofen Drten der hellenifchen Welt der Fall
war. Hier war — bei der ausgeprägten Begabung der Bevölfe-
rung — der Keim zu einer Handelsgröße gegeben, wie fie auf
Grund ähnlicher Berhältniffe den Phöniziern, ſpäter den Benetianern,
Genueſern und Holländern zu teil geworden ift. Einen mächtigen
Anreiz in derjelben Richtung enthielt die außerordentliche Zunahme
der Bevölkerung, die in der koloniſatoriſchen Ausbreitung des
Hellenentums einen jo großartigen Ausdrud gefunden hat.
In der That beginnt die merkantile Entwicklung der helleni-
ſchen Küftenftaaten diesſeits und jenjeitS des ägäischen Meeres be-
reits in einer Zeit, welche weit jenfeits der beglaubigten Gejchichte
liegt. Schon im achten Jahrhundert ijt ein umfaſſendes Syſtem
von Handelswegen und Handelsverbindungen gejichaffen, an deren
Erweiterung und Vervollkommnung mit unabläſſigem Eifer ge
arbeitet ward. Diejes zähe und zielbewußte Streben jehuf eine
Welthandelkonjunktur, welche es ermöglichte, die Waren der ent-
legenjten Produftionsgebiete: die Luxuserzeugniſſe der alten Kultur—
länder des Oſtens, wie die für die Entwicdlung der heimiſchen
Induſtrie und für die Ernährung einer zahlreichen gewerblichen Be—
völferung jo wichtigen Naturprodukte der nordischen Länder in Maſſe
und mit der nötigen Negelmäßigfeit zu beziehen, eine Welthandels-
fonjunftur, welche den Erzeugnifjen der heimijchen Produktion ein
Abſatzgebiet eröffnete, das von dem innerſten Winkel des jchwarzen
Meeres bis zum atlantischen Dzean reichte.
Welche Bedeutung jo gerade die merfantilen Intereſſen ge:
wannen, daß zeigt neben dem frühzeitigen Übergang von der Natural-
238 Erſtes Buch. Hellas.
zur Geldwirtſchaft die Fommerzielle Rivalität, wie fie ſchon in alter
Zeit in fürmlichen Handelskriegen und in friedlichen Beranftaltungen,
3. DB. den — an die Kauffahrerhöfe der Hanjen erinnernden —
Faktoreien in Naufratis zu QTage tritt. Das zeigt das Empor:
Steigen des Handel: und Gewerbeftandes zur politifchen Macht, die
Entwielung der Kapital und Geldherrſchaft (Xoruare« gonuer
arro! Das Geld, ja das Geld macht den Mann! Ein Wort,
das ganz an das amerifaniiche to make mony erinnert). Wie
bat endlich . das Athen des fünften Jahrhunderts die Machtmittel
feines Neiches im handelspolitifchen Intereſſe auszubeuten gewußt!
Welch ruheloſer Handelsgeift erfüllte diefe Stadt, von deren Bes
wohnen Thukydides gejagt hat, daß fie immer vaftlos thätig, immer
außer Landes feien, um ihren Befiß zu mehren, denen die Arbeit
nicht Mittel jondern Zwed ſei und die daher auch nur wenig zum
ruhigen Genießen des Grarbeiteten gelangten, weil fie immer nur
wieder auf einen neuen Erwerb ſännen!)
Dieſes Athen ift die Geburtsjtätte der platonifch-ariftotelijchen
Wirtichaftstheorie! Ein Welthanvdelsemporium, wo fich auf der
Grundlage einer entwicelten Geldwirtſchaft ein wahrhaft inter:
nationales Verfehrsleben entfaltete, ein Stapelplaß, wo die Erzeug-
niſſe fait des ganzen befannten Länderkreiſes zufammenftrömten, ein
Geldmarkt, auf dem die Konzentration des Kapitals ſolche Fort-
Ichritte gemacht hatte, daß von bier aus weithin im Umkreis der
öſtlichen Mittelmeerwelt bis zu den fernften überſeeiſchen Bläßen
regelmäßig beträchtliche Handelsfapitalien vorgeſchoſſen wurden.
Vie kann man hier an die VBerhältniffe denten, welche das
frühe „Mittelalter“ der Völker charakterifiert, wo der Produktiv—
fredit wenig entwidelt ift, wo alle Darlehen nur fonfumtiv und
meist Notdarlehen find, wo der Gläubiger gewöhnlich reich, der
Schuldner arm ift und daher der Zins als gehäſſige Ausbeutung
des Armen, die Unentgeltlichkeit der Kreditgewähr in den Verhält—
niſſen ſelbſt begründet erjcheint?
7,270.
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Nechtsordg. 239
Welche Fülle von Kapital nahm in der gewerbreichen helle—
nischen Welt die in vielen Zweigen zum Fapitaliftiichen Großbetrieb
und zu fabrifmäßiger Mafjenproduftion entwicelte Induſtrie in
Anſpruch, die wie 3. B. die Gewebeinduftrien den Bedürfniſſen
eines hochgeiteigerten Lurus ebenjo, wie dem Maſſenkonſum des
gemeinen Mannes dienten und — dank der fortgejchrittenen Drgani-
jation des Handel3 — ihre Erzeugniffe über drei Weltteile ver-
jandten! Hat es etwa hier in den Zentren des Handels und der
Broduftion, wo der Einzelne in der Ausdehnung feines Gewerbe-
betriebes rechtlich einen jehr freien Spielraum hatte, an bedeutenden
gewerblichen Unternehmungen gefehlt, welche fremden Kapitales be-
durften?
Oder bot etwa die Landwirtjchaft weniger Gelegenheit fich
mit Kapital zu befruchten? in einer Zeit der intenfipften Garten-
fultur und des jpefulativen Anbaues von Handelsgewächlen, wie
Wein, DL, u. |. w., die ebenfalls einen Weltmarkt beſaßen? Und
war nicht der Boden jelbit, nachdem die jeine Veräußerung, Teilung
u. j. w. hemmenden Feſſeln, die Gebundenheit und Gejchloffenheit
ver Landgüter ſeit Sahrhunderten bejeitigt waren, längjt ein ex:
gtebiges Feld für das ſpekulative Kapital geworden? Schuf bier
nicht der mit der Mobilifierung des Grund und Bodens jtetig
jteigende Verkehr in Grundftüden, durch den der Boden jelbit zur
Handelsware wurde, die durch die freie Teilbarfeit dem Erben auf-
erlegte Notwendigkeit, Miterben abzufinden u. dgl. m. zahlloje Ver—
anlafjungen zu Anlehen, um Ländereien anzufaufen oder als Exbe
übernehmen zu könuen? Welche Kapitalien mußte endlich der Auf-
ſchwung des Handels und des Geldgejchäftes flüſſig machen, welches
die Seele diejes hochentwidelten Wirtichaftslebens bildete!
Wer jich prinzipiell auf den Boden dieſes Wirtichaftslebens
jtellte, und den Bedürfniſſen desjelben gerecht werden wollte, der
fonnte den jpefulativen Handelsgewinn und den Leihzins an fich
unmöglich al3 ungerecht und als Übervorteilung verwerfen. Und
in der That, wenn man die in den eigenen Erfahrungen und
dem eigenen Willen des wirtichaftlich thätigen Volkes wurzelnden
240 Erſtes Buch. Hellas.
Anſchauungen der Praris und den Geift des ganzes Verfehrsrechtes
ins Auge faßt, in welchen die zur Herrichaft gelangten Anfichten
von den Gegenftänden und Mitteln des Verfehres, vom materiellen
Güterleben überhaupt ihren Ausdruck fanden, jo ericheint die Frage
zu Platos Zeiten längit in modernem Sinne entjchieden.
Wir finden in den Induſtrie- und Handelsitaaten, wie Athen,
ein Kredit: und Bankweſen, das — bei aller Antipathie gegen die
wucherifche Ausbeutung desjelben — das größte gejchäftliche Ver—
trauen genoß, und infolgedefjen der Zinsverfehr in jo allgemeiner
und regelmäßiger Übung ftand, daß er auch von der Geſetz—
gebung längft rückhaltlos anerkannt war. Und dieſe geſetzliche
Zinsfreiheit erjcheint um jo bedeutjamer, wenn man die Höhe des
üblichen Zinsfußes, überhaupt der Gewinne aus produktiv ange:
legten Fonds in Betracht zieht, welche die Ausbeutung des Schwachen
durch das Kapital in hohem Grade begünftigte und nur zu ge
eignet war, Mißſtimmung gegen alle merkantile Spekulation zu
erzeugen.
Wie die für die Praxis des Verkehres und für die Geſetz—
gebung maßgebende Anſchauungsweiſe das Zinsproblem auffaßte,
dafür iſt überaus bezeichnend der Umftand, daß die griechifche
Geſchäftsſprache den Kapitalzins zoxos nennt, das „Geborene“, den-
jelben aljo aus einer direkten wertzeugenden Kraft de3 Geldfapitals
ableitet, neben der der Faktor Arbeit als verſchwindend Klein völlig
außer Acht gelafjen wird. Der Geldzins hat für diefe Vorftellungs:
weile jeinen Entjtehungsgrund einfach darin, daß das Leihfapital
ihn gewißermaßen ſelbſt erzeugt, jo daß jede weitere Frage nad)
der Berechtigung des durch den Zins dem Kapitaliften zufallenden
Mehrwertes vollfommen gegenftandslos wird. Eine Auffaffung,
welche jich auf das Engſte mit weitverbreiteten modernen Rapital-
zinstheorien berührt, die dem Kapital in ganz ähnlicher Weife eine
„aktive Rolle” zufchreiben, den Mehrwert ohne weitere Zwiſchen—
motivierung aus der produftiven Kraft des Kapitals hervorgehen
lajjen.)
') Wenn von Böhm-Bawerf a. a. O. I 134 als der Urheber der
11. 4. Angriffe d. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 241
Kann es einen einjchneidenderen Gegenſatz geben, als zwijchen
der platonifch-ariftoteliichen Lehre, welche kaum eine mittelbare
Produktivität des Geldes anerkennt, und dieſe in Volkswirtſchaft
und Necht zum Siege gelangte Anſchauung, welche das Geldfapital
ohne Weiteres als eine originäre Güterquelle, al3 eine jelbjtändige
Produktivkraft hinftellte, deren Wirken vollfommen gleichartig mit
der Arbeit des Menſchen erſchien?
Diejer grelle Kontraft zwiſchen dem Standpunkt der fozialen
Theorie und den Anſchauungen der Praris zeigt recht deutlich, wie
ganz anders, als bisher, wir die gejchichtliche Stellung jener Wirt:
ichaftsphilofophie zu beurteilen haben. Diejelbe ift nicht der den
thatſächlichen Zuftänden und Bedürfniffen mehr oder minder
entjprechende Ausdrud einer relativ niedrigen Stufe der Volkswirt:
ſchaft, ſondern vielmehr das Erzeugnis einer Neaktion gegen die
Auswüchſe einer hochentwicelten volfswirtjchaftlichen Kultur, einer
der ganzen thatjächlichen Geftaltung des Wirtfchaftslebens prinzipiell
feindlichen Weltanjchauung.
Nicht weil das mobile Kapital als Broduftionsmittel noch
wenig zu bedeuten gehabt hätte, jondern im Gegenteil, weil durch
die Entwidlung der Fapitaliftifchen Geldwirtichaft das Geld eine
dominierende Machtitellung gewonnen, weil der Materialismus
dieſer Geldherrichaft zu einer übermäßigen Wertſchätzung der äußeren
Güter und vor allem des Geldes, als des Inbegriffes aller Güter,
zu einer raftlos gierigen Jagd nad) Gewinn und Genuß geführt
hatte, Fonnte jich der edelſten Beifter der Gedanke bemächtigen, daß
das Geld durch eine weitgehende Beſchränkung feiner wirtschaftlichen
Funktionen möglichjt feines Wertes und feiner Macht entkleidet
werden müſſe, um dem Egoismus und Materialismus jeinen Haupt:
nährboden zu entziehen. Nicht weil der Erwerb aus Handel und
Theorie, welche die Exiſtenz de3 dem Kapitaliften zufallenden Mehrwertes
einfach mit der Produftivfraft des Kapitals jelbjt begründet, der von Böhm
jogen. naiven Produftionstheorie, 3. B. Say genannt wird, jo dürfte jet
nach dem oben Bemerkten der eigentliche Urjprung dieſer Theorie bei den
griechischen Geſchäftsleuten und Bankiers zu juchen ſein.
Pohlmann, Geich. des antiken Kommunismus u. Sozialismus I. 16
243 Erſtes Buch. Hellas.
Smduftrie neben dem Landbau wenig zu bedeuten gehabt hätte,
fondern im Gegenteil, weil gerade dieſer Erwerb durch feine inten:
five und extenfive Steigerung zu einem einfeitigen Übergewicht der
Geldmacht und der merkantilen Intereſſen geführt hatte, die als
ein verhängnisvoller materieller und jittlicher Druck empfunden
wurde, darum wurde jeßt in naturgemäßem Rückſchlag ebenjo ein:
jeitig dem mobilen Kapital der Grund und Boden als das einzig
fruchtbringende Stapital, als das wertvollite aller Güter entgegen:
ſtellt, darum follte jein Ertrag, der wahrhaft naturgemäße Erwerb,
jein Bejib der wahre Neichtum fein. Weil die jelbft den Grund
und Boden zur Handelsware machende Geldwirtichaft alle die Unter:
Ichiede zu vertilgen drohte, auf denen die Gejundheit des Volks—
und Staatslebens beruht, jo wurde jeßt diejer Unterſchied zwiſchen
Boden- und Geldfapital, zwijchen Bodenertrag und Handelsgewinn
um jo entſchiedener betont und der Widerſpruch gegen die zunehmende
Auffaugung des Grundbejiges durch das Geldfapital bis zu der
Forderung gefteigert, daß man allen nicht aus Grund und Boden
fließenden Erwerb neben dem Grundbeſitz wirtichaftlich, ſozial und
politiſch zur Bedeutungslofigfeit herabdrüden und jo die Macht
des Geldes volllommen brechen müſſe.
Der Radikalismus dieſer Forderungen begreift fih nur, wenn
man diejelben als Ausfluß einer allumfaſſenden ſozial-ökonomiſchen
Geſamtanſchaunng auffaßt, welche jtet3 das Ideal eines von dem
Beſtehenden mehr oder minder weit entfernten, wahrhaft guten und
gerechten Zuftandes der Gejellfchaft im Auge hatte, welche, wenn
nicht den Menjchen überhaupt, jo doch wenigftens die Mitglieder .
des bürgerlichen Gemeinwejens grundſätzlich in eine andere Stellung
zur Außenwelt und zum materiellen Güterleben zu bringen wünjchte,
als es in der Wirklichkeit der Fall war.
Es ijt mit einem Worte der „Jozialiftiiche” 1) Charakter diejer
Soztalphilojophie, welcher in den genannten Forderungen jeinen
) Sozialiftiich in dem ſpezielleren Sinne des modernen ertremen
Sozialismus, wie ex befonders in Frankreich und Deutjchland zur Ausbildung
gelangt ift.
I. 4. Angriffed. ideal. Sozialphil. a. d. Grunde. d. wirtjch. Nechtsordg. 243
Ausdrud findet. Daher tritt auch bereit bier diejenige Theorie,
welche an der Wiege des modernen Sozialismus ftand und Jich
Hand in Hand mit demjelben entwicelt hat, die heute in Angriff
und Abwehr bei dem Streit um die Organifation der Volkswirt—
Ihaft vor allem in Frage kommt: die Kapitalzinstheorie jo beveut-
Jam in den Vordergrund.
Zwar richtet ſich bei Plato — wenigitens jeitvem er auf den
Kommunismus verzichten gelernt hatte — jowie bei Ariftoteles der
Angriff nicht wie bei dem modernen Sozialismus gegen die Kapital:
tente in jeder Geftalt, insbejondere nicht gegen das unbewegliche
Kapital und die Grundrente. Wenn das Bürgertum des plato-
nischen Geſetzesſtaates und des ariftotelifchen bejten Staates von
wirtjchaftlicher Arbeit und wirtichaftlichen Sorgen frei nur der
jittlihen und geiftlichen Entfaltung der PBerjönlichkeit und dem
Dienjte des Staates leben, und wenn die Eriftenz diejes Bürger:
tums auf den Grundbefiß baſiert werden jollte, jo war die An-
erfennung der Grundrente ja unvermeidlich. Andererjeits ift dieſem
antifen Sozialismus in Beziehung auf den Darlehenszins die Unter:
ſcheidung fremd, Die der moderne Sozialismus macht, indem der-
jelbe die Leihzinſen nur den Arbeitern gegenüber, „auf deren Koſten
fie in legter Linie bezahlt werden“, für unvechtmäßig erklärt, nicht
auch den Unternehmern gegenüber, die fie zahlen. Denn dort
handelte es fich nicht um die Idee einer Emanzipation der Arbeit
vom Kapital, um die Herjtellung der „Identität von Arbeiter und
Kapitalift” duch Die Unentgeltlichfeit des Kredites im Sinne
Proudhons; im Gegenteil das gejellichaftliche deal, welches dort
vorſchwebte, jeßte gerade die Abhängigkeit der wirtfchaftlichen Arbeit
voraus.
Allein jo bedeutſam dieſer Unterichied tft, eine gewiſſe
Analogie beider Erſcheinungen it doch) unverkennbar. Wie die
moderne jozialiftiiche Kritit des Kapitalzinjes der jogenannten Pro—
duftivitätstheorie die Ausbeutungstheorie entgegenftellt, nach welcher
ein Teil der Gejellichaft, die Kapitalijten, ſich Drohmenartig einen
Teil vom Werte des Produktes aneignet, das der andere Teil der
16%
244 Erſtes Buch. Hellas.
Geſellſchaft, die Arbeiter allein hervorgebracht haben, ſo ſetzt auch
der antike Sozialismus wenigſtens in Beziehung auf das Geld—
kapital und auf den Darlehenszins in ganz ähnlicher Weiſe dem
Begriff der Produktivität des Kapitals den der Ausbeutung ent—
gegen. Ja der Leihzins iſt ihm unter allen Umſtänden nicht bloß
gegenüber der Arbeit eine natur- und rechtswidrige Ausbeutung des
Mitmenſchen.
Auch die allgemeine Tendenz der Angriffe gegen den Leih—
zins und das Geldweſen, gegen Zwiſchenhandel und freie Konkur—
renz, der Widerwille gegen die geldoligarchiſche Entwicklung der
Geſellſchaft, gegen die Konzentrierung des Beſitzes überhaupt be—
gegnet ſich mit den antikapitaliſtiſchen Grundanſchauungen des
modernen Sozialismus.!) Dieſe Tendenz iſt eine jo mächtige, daß
Plato und Ariftoteles mit ihren Forderungen der Konzentrierung
des Kapitals auf allen Gebieten des Wirtjchaftslebens entgegentreien
und daher auch die Grundeigentumsverhältnifje einer mehr oder
minder radikalen Umgeftaltung im Sinne wirtichaftlicher Ausglei-
hung unterworfen willen wollen.
Bon der Art und Weiſe, wie Ariftoteles den Umſchlag des
„Hausvermögens” in jpefulatives Kapital, des Gütererwerbs in
die Spekulation auf den Geldprofit (Zins) analifiert, hat Schäffle
ausdrüdlich anerkannt, daß fie „im Kern die ganze moderne
Kritik des Kapitals” d. h. die negative Arbeit der jozialiftifchen
Theorien enthalte,2) insbejondere jei die Marx'ſche Werttheorie
') Unmittelbar mit den gejchilderten Angriffen auf den yonueriouos
und Handel berührt fich z. B. Fourier, wenn er den Vorwurf gegen jeine
Zeit erhebt, daß in der jegigen Phaſe der Zivilifattion der Handelsgeift die
Politik dominiere und vegiere; daß die Kaufleute in der jozialen Ordnung
nichts ſeien als eine Truppe vereinigter Piraten, welche in jeder Beziehung
den ſozialen Körper Enechten. — Ähnlich ſpricht auch Marx von der „mo-
dernen Schacherwelt”. Vgl. Adler: Die Grundlagen der Marrifchen Kritik
der bejtehenden Bolkswirtichaft 215, 246. —- Überhaupt ift ja die Abneigung
gegen die „Zwiſchenperſonen“ (intermediaires) ein durchgehender Zug im
Sozialismus.
?) Bau und Leben des jozialen Körpers I, 256.
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 945
im leßten Grunde eine Entlehnung aus der Wucherkritik des Ari-
jtoteles. !)
Es iſt daher durchaus zutreffend, wenn der Sozialift Rod—
bertus die ariftotelifche Kritik der „Chrematiftif“ jener Zeit mit der
urodernen Reaktion gegen die von Nodbertus fogen. „Kapitaliftif“
der Gegenwart vergleicht,2) zu welcher der Sozialismus den erften
Anſtoß gegeben. In der That lieft es fich wie eine einfache Um:
ſchreibung der Anklagen des Stagiriten gegen die fieberhafte Geld—
ipefulation feiner Zeit, wenn Nodbertus das prophetifche Wort
ausipricht: „Nachdem erſt auf wirtjchaftlichem Gebiet alles als
Kapital behandelt worden, was und bloß weil es für Geld feil ift,
jo wird auch bald alles, was überhaupt für Geld feil ift, als
Kapital dienen, auch das, was immerdar weit über das wirtjchaft-
liche Gebiet hinausfallen follte. Macht heute nicht das Gründungs-
) Die Bekämpfung der Sozialdemofratie ohne Ausnahmegeſetz. Tüb.
Ztſchr. f. d. g. Stw. 1890 ©. 213.
?) Allerdings einigermaßen in Widerjpruch mit jeiner Gejamtanficht
von der antiken Bolfswirtjchaft, der nach Rodbertus der „heutige Gegenſatz
von Grundbeſitz und Kapitalbefik, von Grund: und Kapitalvente gefehlt haben
joll, weil es vom Grundbeſitz abgefonderte Fabrifationsgewerbe nur ganz
ausnahmsweiſe gegeben habe und daher der unbewegliche und bewegliche Befit
noch in dem einheitlichen „Difenvermögen” vereinigt gewefen, demfelben aljo
auch umngeteilt die gefamte Rente zugefallen ſei. Unterfuchungen auf dem
Gebiete der Nationalötonomie de3 klaſſ. Altertums, Jahrb. f. Nationalöf,
IV, 344 ff. DBerfuch, die Höhe des antiken Zinsfuhes zu erflären, ebd. N. F.
VII, 520 ff.
Würde der Grundbefit ſelbſt in den fortgejchrittenften Induſtrie- und
Handelsjtaaten der hellenijchen Welt dieje abjolut dominierende Stellung ein-
genommen haben, hätten „jalt alle produftiven Kapitalanlagen mehr oder
weniger die Natur von Firierungen im Boden” gehabt, jo müßte man aller:
dings die Stellung der ariftoteliichen Zinzlehre zur Wirklichkeit ähnlich be—
urteilen, wie die des fanoniftifchen Wucherverbotes im früheren Mittelalter.
Allein die genannte Anficht, die ja allerdings einen richtigen Kern hat, ift
doch ſtark übertrieben und Rodbertus felbit äußert ſich an der u. gen. Stelle
über Arijtoteles dahin, daß „das Geld in deſſen Zeit diejen einheit-
lichen Bejiß zerjegt und aufgelöft und durd die Chrematiftif
verdrängt habe!
246 Erſtes Buch. Hellas.
fieber auch ſchon Ehre und Amt zu Kapital? So ift heute die
Kapitaliftif zugleich die Paſſion der Zeit und unſere Zeitfranfheit
geworden, die auch in die bitterfte Paſſionsgeſchichte auslaufen
wird.“ ) —
„Wenn ſie,“ ſagt Ariſtoteles von ſeinen Zeitgenoſſen, „ihren
Zweck nicht durch die geſchäftliche Spekulation ſelbſt erreichen können,
ſo jagen ſie ihm auf anderen Wegen nach und wenden alle Künſte
und Talente ihrer natürlichen Beſtimmung entgegen zu dieſem
Zwede an. Denn die Tapferkeit iſt nicht dazu da, um Geld zu
erzeugen, ſondern Heldenmut, und die Kriegs und Heilkunſt hat
gleichfalls nicht jene Beſtimmung, jondern die erjtere will den Sieg,
leßtere die Gefundheit verschaffen. Was aber machen fie aus alle-
dem? Eine Geldjpefulation, al3 wäre das Geld das Ziel und
der Zweck von allem.?) —
Wir haben damit einen Punkt berührt, der von neuem zeigt,
daß auch der antife Sozialismus troß aller Berirrungen und Ein:
jeitigfeiten einen tiefberechtigten Kern, unleugbare Wahrheiten von
ewiger Gültigkeit enthält.
Es ift das unsterbliche Verdienft der helleniſchen Sozialtheorie,
für alle Zukunft den Nachweis erbracht zu haben, daß das Glück
der Völker nicht bloß von der Erzeugung einer möglichſt großen
Maſſe von Gütern, ſondern in gleichem, wenn nicht höherem Grade
von der Art und Weife der Verteilung derjelben abhängt. Wenn
man fich den einfeitigen Produktions ja Produzentenftandpunft ver
gegenwärtigt, der für die neuere Nationalökonomie bis tief in unjer
Sahrhundert hinein maßgebend war, jo wird man eine gewiſſe Be-
Ihämung empfinden angefichts der hohen geiltigen und fittlichen
Energie, mit welcher helleniſche Denker die Frage nach den volks—
wirtſchaftlichen und fozialzethifchen Wirkungen der verjchiedenen
) Zur Erklärung und Abhilfe der heutigen Kreditnot des Grund-
bejiges II? 273 ff. vgl. die Borrede VI ff. Dazu R. Meyers Berliner Revue
1872 289 f.
?) 1,3, 19 5. 1258a: 06 de naoas nowüoı yonugtiorixzds, WS TOVTO
telos ov, noös dE To reios ünavra deov anavıarv.
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil.a.d. Grundl. d. wirtjch. Nechtsordg. 247
Formen der Einkommens: und Vermögensverteilung, die Frage nach
der wünjchenswerten Verteilung überhaupt, nach dem Ziel, welches
in dieſer Hinficht erſtrebt werden joll, in den Vordergrund gerückt
und zu löſen verjucht haben.
Hier findet fich zum erjtenmale jene jcharfe prinzipielle
Erörterung des Verteilungsproblems, der fich gerade die Gegen:
wart immer weniger wird entziehen fünnen. Hier wird zum erſten—
male mit aller Entjchiedenheit für die Wiſſenſchaft das Necht in
Anfpruch genommen, ein ideales — wenn auch durch Zeit und
Volk bedingtes — Ziel für die Entwicklung der Vermögens: und
Einfommensverteilung aufzuftellen. Und wenn ein moderner Sozial
theoretifer von dieſem Standpunkt aus als deal volfswirtjchaft-
licher Verteilung der Güter diejenige bezeichnet, welche die an Ver—
vollfommnung der Gejellichaft fruchtbarſte ift, bei welcher die
Gemeinſchaft zum höchiten Maße der Gefittung und biedurch zum
höchſten Maße aller wahrhaft menschlichen Befriedigungen zu ge:
langen vermag, — worin unterjcheivet fich diefe Formulierung des
Poſtulates prinzipiell von der Art und Weife, wie die hellenijche
Soziallehre den Begriff des ev Cr als Maßſtab für die Beurtei-
lung der ftaatlichen Thätigfeit auf dem Gebiete der Güterverteilung
hinſtellt?
Nicht anders iſt es mit dem Kampf gegen die einſeitig indivi—
dualiſtiſche, den Zuſammenhang mit dem Ganzen und die Pflichten
gegenüber dem Ganzen ignorierende Auffaſſung des Eigentums—
begriffes, welche dem Einzelnen das abjolut zufpricht und zu
fichern verlangt, was er gerade befitt. Einer der hervorragenpften
Nechtslehrer unferer Zeit, ein Mann, der durch die ftreng indivi—
dualiſtiſche Schule des römischen Nechts Hindurchgegangen tft, fieht
„eine Zeit fommen, wo das Eigentum eine andere Gejtalt an fich
tragen wird, als heute, wo die Gejellichaft das angebliche Necht
des Eigentümers, von den Gütern dieſer Welt beliebig viel zu—
fammenzufcharren, ebenfowenig anerfennen wird, als das Necht des
altrömiichen Familienvaters über Tod und Leben feiner Kinder,
als das Fehderecht und den Straßenraub des Nitters, als das
248 Erſtes Buch. Hellas.
Strandrecht des Mittelalters.) Demgemäß verlangt Ihering vom
Staate, daß derjelbe „auf das Privateigentum einen Druck ausübe,
welcher dem Übermaß feiner Anhäufung auf einzelnen Punkten vor-
beugt und die Möglichkeit jchafft, den Druck auf andere Teile des
jozialen Körpers zu verringern, eine den Intereſſen der Gefelljchaft
mehr entiprechende d. h. gerechtere Verteilung der Güter herbei-
zuführen, als fie unter dem Einfluß eines Eigentums herbeigeführt
worden iſt und möglich war, welches, wenn man es beim rechten
Namen nennt, Unerfättlichfeit des Egoismus ift.“2) Und in dem:
jelben Gedanken begegnet ſich mit dem deutſchen Nomaniften der
befannte amerikanische Publiziftt Michaelis, deſſen Schrift gegen
Bellamys Zufunftsitaat gerade von der mancheiterlichen Preſſe dies—
jeitS und jenjeitS des Dzeans mit Jubel aufgenommen wurde, ob:
wohl auch fie zu Forderungen kommt, welche der doktrinäre Libe—
ralismus ohne weiteres al3 „ſozialiſtiſch“ verwirft.
Welch ein Zeichen der Zeit! Selbſt dieſer warme Bertei-
diger des freien MWettbewerbes fieht ſich genötigt, „gegen Die
Monopolwirtichaft, welche die Anhäufung riefenhafter Neichtümer
ermöglicht,“ die Staatsgewalt in die Schranken zu rufen. Gr be
zeichnet — ganz im Sinne der ariftoteliichen Oerechtigkeitsidee —
die Bildung von trusts d. h. jede Vereinigung zum Zwecke un—
verhältnismäßiger Steigerung der Warenpreife als einen Naubver-
juch, gegen den das Volk durch die Gejeße geſchützt werde müjfe.?)
Er verlangt ferner einfchneivdende Maßregeln der jtaatlichen und
internationalen Gejeggebung zur Belämpfung der übermäßigen Anz
bäufung des mobilen Kapitals, wie des Grundbefißes in einzelnen
Händen.*)
) Shering: Der Zweck im Recht I, 519.
?) Ebd. 521.
3) Ein Bli in die Zukunft ©. 83. (Neclam.)
) 933 ff. Michaelis berührt fich hier direkt mit der hiſtoriſch-ethiſchen
Richtung der deutſchen Nationalökonomie, deren Führer Schmoller ebenfalls
durch maßvolle progreſſive Einkommens- und Erbſchaftsſteuern die Anhäu—
fung übergroßer Reichtümer beſchränkt wiſſen will. (Grundfragen 95.)
———
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 949
Sp fehrt die moderne Welt von den verjehiedensten Aus-
gangspunften ber zu dem Grundgedanken der hellenifchen Sozial-
philofophie zurück, daß die feine Grenzen fennende Pleonexie der
Individuen ihre prinzipiellen Schranken in den Forderungen des
gemeinfamen Wohles aller finden müſſe. Mit unmiderftehlicher
Gewalt beginnt fi) von neuem die Erkenntnis Bahn zu brechen,
daß der Staat als das Organ der Gejamtheit berufen ift, einer
der nationalen Wohlfahrt und Sittlichkeit ſchädlichen Geftaltung der
Einfommens- und Belisverhältniffe mit feiner Zwangsgewalt und
durch Neformen des echtes, insbejondere des Brivatrechtes ent
gegenzuarbeiten. |
Auch in Beziehung auf die ethiſche Auffaſſung des Güter:
lebens treten in der fozialpolitifchen Litteratur der Gegenwart
— hervorgerufen durch analoge gejellfchaftliche Mißftände — Anz
Ihauungen hervor, die ſich mit antiken Lebensivealen nahe be
rühren.
Wenn es gilt, der Haft und Gier des Erwerbslebens der
Gegenwart, dem alles in jeinen Strudel hineinziehenden Kampf um
die Befriedigung endlos gefteigerter Bevürfnifje eine höhere menfchen-
würdigere Lebensanficht und Lebenspraris entgegenzuftellen, werden
wir da nicht von jelbjt auf einen der grundlegenden Gedanfen der
jozialen Ethik der Hellenen hingewieſen, daß es ein gewiſſes Maß
gibt, welches in allen Dingen das Heilfamfte ift, und daß der
wahre Zebensgenuß nicht von der Mafje der befriedigten Bedürf-
niſſe und der Schwierigkeit der Befriedigung abhängt, fondern von
jener reineren und edleren Geftaltung der Genüffe, zu welcher dem
modernen Menjchen durch das beftändige Halten und Wühlen der
ſchrankenloſen Erwerbſucht Neigung und Fähigkeit mehr und mehr
verloren gehen?
Und wenn wir weiter fragen, wie wohl ein Umſchwung von
dem ethiſchen Materialismus der Zeit zu einem gefunden Spealis-
mus möglich wäre, hat die moderne Ethik darauf eine andere Ant-
wort, als die Sozialphilofophie der Hellenen? Sie ſieht genau wie
dieje die Möglichkeit einer veränderten Geiftesrichtung nur in einer
250 Grites Buch. Hellas.
großartigen Belebung des Gemeinfinnes und in dem Zurücktreten
der überwuchernden Bleonerie.!)
Sprechen doch am wenigiten die Erfahrungen der Gegenwart
für die ausichließliche Geltung jenes Dogmas der neueren Volks—
wirtichaftslehre, nach welchem das Wohlergehen des Menſchen am
beften dadurch gefördert werden joll, daß man ihre Bedürfniffe
fteigert, weil jo mehr produziert werde und die Menge der vor:
handenen Werte zunehme. Vielmehr zeugt die ganze Phyſiognomie
unferer modernen Gejellfehaft nur zu deutlich für die Nichtigkeit der
antifen Lehre, daß das Glück in der verftändigen Bejchränfung der
Bedürfniffe zu juchen fei, daß es fich immer weiter zurüchieht, je
mehr der Kreis deſſen, was zum Leben begehrenswert erjcheint, fich
erweitert.
Nichts Fönnte die genannte Anfchauung der hellenifchen Sozial
philofophie glänzender betätigen, al3 die Schilverung eines modernen
Denfers, welchem ebenfo, wie für jene, alle fozialen Fragen zugleich
fittliche Fragen find, und der es verfteht, unferer Zeit duch „ihr
oft jo Fummervolles Auge bis auf den Grund des Herzens“
zu jehen.
„Inmitten des ungeheuerjtien Aufſchwunges von Reichtum
und Macht — heißt es hier — fieht man weder, daß die Haft
und Gier des Erwerbes in den befißenden Klaffen ſich auch nur im
mindeften mäßige, noch die Befriedigung der unteren Volksklaſſen,
troß großer, leicht ziffermäßig nachweisbarer Forſchritte in ihrer
allgemeinen Lebenslage ſich in Fenntlichem Maße gejteigert habe.
65 ift eine traurige aber allbefannte Wahrheit, daß unfere Zeit,
ausgerüftet mit den ungeheuerften Mitteln des Genuffes, das wirk-
liche Genießen kaum verfteht, weil fie alles von aufen erwartet,
weil die Vorbereitungen zum Genuß jo umftändfich geworden find,
dab fie immer ſchon drei Viertel des Genufjes jelbft verfchlingen,
und daß infolge deffen das Eine Bedürfnis, möglichft viel zu be-
figen, jo überwiegend geworden ift, daß auf diefem Wege eine be-
ſtändige Steigerung der Gütererzeugung und der Mittel zum Ges
) Bgl. 3. B. Lange: Gejchichte des Materialismus II,’ 460.
II. 4. Angriffed. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Rechtsordg. 251
nuſſe denkbar wird, ohne daß das Glück irgend eines Menfchen
dadurch wejentlich erhöht würde.”
Sit diefe Schilderung nicht ein frappantes Seitenftüc zu dem
Bilde, welches Plato im „Staate” von dem Fieberzuftand der Gefell-
Ichaft (der rodıs pAsyuaivovoe) entwirft, wie er nach feiner Anz
ficht ficd aus dem Überhandnehmen Fünftlicher Bedürfniffe und aus
der unerjättlichen Bethätigung des Erwerbstriebes notwendig ex:
zeugen muß und nach den Erfahrungen feiner, wie unjerer Zeit
thatlächlich erzeugt?
Es ijt wahr, der ethiiche Idealismus Platos und Arijtoteles’
wird der Frage des wirtichaftlichen Fortſchrittes nicht gerecht, aber
diefe Einjeitigfeit ift nur die Kehrfeite eines großen Vorzuges: der
Haren Erfenntnis, daß auch diefe Frage eben nur im engjten Zus
Jammenhang mit den ethiſchen Fragen zu beurteilen ift.
Mußte nicht ferner diefe analoge Beurteilung des Güterlebens
überhaupt zu einer gewiſſen analogen Beurteilung der Güterpro-
duftion insbejondere führen? In der That beginnt auch die moderne
Wiſſenſchaft fi) darin wieder der antiken Sozialphilofophie zu
nähern, daß fie bei der Frage nach der Höhe und Beichaffenheit
der Produktion nicht mehr bloß von wirtjchaftlich-technifchen Ge—
jichtspunften ausgeht, ſondern auch das ethijche Intereſſe wieder zu
jeinem Nechte kommen läßt. Auch fie ftellt wieder ein ideales Ziel
der Produktion auf, indem fie eine ſolche Bejchaffenheit derjelben
verlangt, welche für die Befriedigung der gerechtfertigten materiellen,
geiftigen und fittlichen Bedürfniſſe des Volkes ausreicht d. h. fie
weder unterjchreitet, noch überſchreitet.) Wir erkennen es heutzu—
tage als eine ſchwere Schädigung der wirtfchaftlichen und idealen
1) Theobald Ziegler: Die joziale Frage eine fittliche Frage ©. 30.
Vgl. Wolf: Sozialismus und fapitaliftiiche Gejellfchaftsordnung ©. 389:
„Bir find in das nervöſe Zeitalter getreten. Der Kleine Reſt von Beſchau—
Yichkeit, den frühere Jahrhunderte uns itberlieferten, iſt preisgegeben. Fieber:
haft jagen wir nach einem unfindbaren Glück — unfindbar, denn Glück ift
bloß möglich in der Beſchränkung, und dieje ift uns unleidlich.“
?) Adolf Wagner über „ſyſtematiſche Nationalökonomie” in den Jahr.
f. Nat. u. Stat. 1886 ©. 238.
959 Erſtes Buch. Hellas.
Spntereffen des ganzen Volkes, wenn die ungleiche Verteilung des
Volkseinfommens hauptjächlich zur reichlicheren und üppigeren Be—
friedigung der materiellen Bedürfniffe der beſſer Situierten führt.
Wir verwerfen einen Luxus, der die höheren Klafjen ſelbſt phyſiſch
und ſittlich Tchädigt, den Neid der niederen immer mehr aufftachelt
und zu einer ungünftigen Nichtung der ganzen Güterproduftion
(Lurusgüter für die Neichen, ftatt Mafjengüter für alle) führt und
der, abgejehen vom Kunftlurus, fein Kulturintereſſe des Volkes
fördert. Auch wir beginnen einzufehen, daß, wenn es joweit ge—
fommen it, die Gefeßgebung eine gewiſſe Ausgleihung in der Ber:
teilung des Volkseinkommens ins Auge faſſen müfje.!)
Man fieht: es ift prinzipiell derjelbe Gefichtspunft, nach wel-
chem bereitS Plato die Produktion beurteilt hat, wenn ex auch über
die Mittel zur Erreichung jenes idealen Zieles, über das, was
als gerechtfertigtes Bedürfnis anzuerkennen ſei, teilweife anderer
Meinung war.
tun könnte es allerdings jcheinen, als ob Plato in einer
nicht minder wichtigen Frage, nämlich) in der Beurteilung des wirt-
ſchaftenden Menſchen von unferer heutigen Auffaffung um jo
weiter entfernt fei.
Für Plato erichien das thatſächliche wirtjchaftliche Arbeits-
(eben wenigjtens in Handel und Gewerbe ausjchließlich von ego—
iſtiſchen Triebfevern beherrſcht. Die Selbitfucht ſoll das große
Triebrad der Volkswirtſchaft fein, das rückſichtslos verfolgte Eigen-
intereffe, die nimmer raftende Gier nad) Gewinn und Genuß, das
ganze Sinnen und Denken des wirtichaftenden Menfchen gefangen
halten.
Allein jo einfeitig diefe Auffaffung ift, ſie iſt es doch bei
weiten nicht in dem Grade, wie die jcheinbar gleichartige, aber
innerlich grundverjchiedene Beurteilung des Wirtjchaftslebens, welche
fich bei den modernen Doftrinären des Sndividualismus ſeit Bayle
und Mandeville und im extremen Mancheftertum findet. Diefelbe
) So 3.8. Wagner: Grundlegung 1,? 152.
IT. 4. Angriffed. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Nechtsoxdg. 255
Beobachtung, welche den antiken Denker mit Trauer und Abneigung
erfüllt, wird bier mit Befriedigung zur Orundlage der ganzen
Wirtſchafts- und Soziallehre gemacht. ES wird nicht nur als eine
naturgemäße, jondern als eine für Staat und Gejellichaft geradezu
wohlthätige, für den Fortjchritt unentbehrliche Thatfache hingeftellt,
daß auf dem mirtjchaftlichen Gebiet der Egoismus und zwar der
Egoismus allein das maßgebende Motiv, der eigentliche ſeeliſche
Motor it. Das- ganze menjchlihe Dajein wird grumdjäßlich in
zwei ftreng gejonderte Lebensiphären zerriffen, eine für das Handeln
nach Intereſſen, eine andere für die Übung der Tugend.
Diefe Auffaffung, für welche von Rechtswegen Sittlichkeit und
„Brüderlichfeit exit da beginnt, wo das Wirtſchaften und der Staat
aufhört, 1) konnte unmöglich diejenige von Männern jein, welchen
Ihon die Konjequenzen der politiichen Souveränität der gewerbe-
treibenden Klaſſen die klare Erkenntnis der Gefahren aufprängen
mußten, mit welchen der wirtjchaftliche Egoismus das ganze Volks—
und Staatsleben bedrohte.
Sn der That jehen wir, wie troß der pejjimiftischen Beurtei-
lung des wirtichaftlichen Arbeitslebens, zu welcher der hochgeipannte
Tugendbegriff des ethijchen Idealismus und das jchmerzlich em—
pfundene Mißverhältnis zwiſchen der damaligen politischen Macht:
jtellung des Gewerbeſtandes und jeiner moralischen, wie intellef-
tuellen Befähigung ja notwendig führen mußte, bei Plato dennoch
die Erkenntnis duchbricht, daß auch das ökonomiſche Leben fich
bis zu einem gewiſſen Grade mit fittlihen Empfindungen erfüllen
fönne und müſſe. Dem rein ökonomiſchen Arbeitsbegriff, der in
der Wirklichkeit als ausſchließlich herrſchend angenommen wird,
wird als fittliches Soll, als Ideal das Prinzip der Arbeit im
ſozial⸗ethiſchen Sinne gegenübergejtellt. Es wird gezeigt, wie auch
die wirtjchaftliche Arbeit wahrhaft geadelt werden könnte, wenn fie
nicht bloß als Mittel zur Befriedigung des wirtjchaftlichen Egois-
mus ausgebeutet, jondern im Geiſte vernünftigsjittlicher Selbit-
9 Huperung von Schulze-Delitzſch: Kapitel zu einem Arbeiterfatechig:
mus ©. 91.
254 Grites Buch. Hellas.
bejchränfung und in dem Bewußtfein geübt würde, daß fie zugleich
eine in den notwendigen Bedürfniffen der Menjchen begründete
foziale Dienftleiftung it (77 uns amogies Enıxovonosı T@0E0-
xEv@x0g).!)
Plato ift der Anficht, daß ſelbſt die durch den Mißbrauch
verächtlich gewordenen Berufsarten, wie 3. B. Krambhandel u. dal.
von wahrhaft fittlichen Menjchen in tadellojer Weiſe betrieben fich
der volliten Sympathie und Wertſchätzung erfreuen wür—
den, daß man fie wie eine Mutter und Pflegeamme in Ehren
halten würde?) Denn warum follte man nicht jeden, der mit
vedlicher Arbeit zur Befriedigung der allgemeinen Bedürfnifje bei:
trägt, al3 einen „Wohlthäter” anerkennen, der fortwährend dem
Bolfe und dem Lande Dienite leijtet?
Es iſt die dee eines jozialen Dienftpoftens, eines volfs-
wirtichaftlichen Beamtentums, wie fie neuerdings wieder von Rod—
bertus, Ihering u. a. aufgeftellt worden tft, welche uns bereits bier
vollfommen Kar ausgeſprochen entgegentritt. Zwar ift für Plato
dieſe Auffaffung der wirticehaftlichen Arbeit eben nur ein Ideal,
auf deſſen Nealifierung er wenigjtens in dem le&ten Stadium feines
wirtjchaftstheoretiichen Denkens verzichtet, weil eine ſolche Idealität
der Gefinnung nur von außergewöhnlich guter Charakteranlage und
jorgfältiger Erziehung zu erwarten ſei und der großen Mafje ewig
fremd bleiben werde.) Allein ev hält doch ſelbſt hier noch eine
') Leg. 919b. Es ift aljo unrichtig, wenn Hildenbrand (Rechts: und
Staatsphil. T 159) meint, Plato habe „nirgends den Gedanken erfaßt, daß
auch im der niedrigjten Bejchäftigung und in der Herrjchaft über den toten
fachlichen Stoff des Vermögens der Adel des menschlichen Geiftes ſich offen-
baren könne.“
2) 918e: . . . & xara Aoyov adıapyogov yiyvorto, Ev uMToos av
xl TEOPOO oynucti TIUWTO TE ToLwir« navıe,
3) 918b: Ws yao ovx evegyerns LES, 05 dv ovolev zoyuctov
WrvrivWvodr do® UUETOOV ovo«r xai drouakov ouakıv TE zal GVUUETOOV
dnegyalntaı; ef. 9I00: ovroı di) navres ywoav zei Ijuov Feganevovres
diersdovorv,
*) 9184.
II. 4. Angriffed. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Rechtsordg. 955
„wenn nicht vollftändige jo doch wenigjtens teilweife Heilung“ für
möglich !) und fieht in der Fürjorge für die fittlihe Gefundung des
wirtschaftlichen Verkehrs und Arbeitslebens, für die Moralität der
wirtjchaftlich arbeitenden Volksklaſſen eine der wichtigiten Aufgaben
der Staatlichen Gemeinſchaft,“) der fie ſich troß der Größe und
Schwierigkeit derjelben 3) nicht entziehen kann und darf.
So treten uns auch hier Ideen entgegen, deren unverlierbarer
Wert nicht zu verfennen ift, wenn fie auch andererjeits mit An—
Ihauungen verquict find, die ihre Bedeutung wieder einjchränfen.
Man fragt ja mit Recht: Wie konnte die Verfittlihung des Arbeits:
lebens, die Schäßung der Arbeit Fortjcehritte machen, jolange die
auch von Plato wenigſtens nicht prinzipiell mißbilligte unfreie
Arbeit fort und fort ihre entfittlichenden Wirkungen zu äußern und
dem Geijte des mirtjchaftlichen Egoismus ſtets neue Nahrung zus
zuführen vermochte? Sehen wir aber von ſolch unvermeidlichen in
Zeitanſchauungen wurzelnden Einfeitigfeiten ab, jo müſſen wir auch)
für dieſes Gebiet zugeben, daß es wahre Aufgaben der menjchlichen
Gefelliehaft find, die hier erkannt werden.
Wie nahe fih antifes und modernes Denken gerade auf
diejem Gebiete berühren, zeigt vecht deutlich die Idee des ſozialen
tenjchen, wie fie die ariftoteliiche Ethik formuliert hat, die arifto-
telifche Forderung eines ftetigen Zuſammenwirkens des Gemein-
finnes mit dem Selbjtinterejje zur Verwirklichung der verteilenden
und ausgleichenden Gerechtigkeit.
Schon die Art und Weiſe, wie Adam Smith in den Mittel-
punkt jeiner Theorie der moralifchen Gefühle das Sympathieprinzip
1) 9I8c: idwusv, iw el un xai To OAov, dAM’ ovv usom ye EE-
LaoWuEFa vouw,.
?) Es ift die Aufgabe, rois uereoyovoı rovrwv ray Enitndevuctwv
EÜEEIV unygavnv, ONWs MIN un avednv dvaoyvvrias TE zul dvehsvheoov
Yuyns uctoya ovußmostaı yiyveodaı Öadiws. 919ec. cf. 920a: onws
WS EELOTOS 7 Xal xUXöS WS MALOT« 0 ToloVros Mulv n Euvoıxos Ev Im
noAsı zT.
3) 919e: nocyu’ 69, ws Eoızev, ov gpevkor, ovde ouızods de-
Susvor dpETnS.
256 Erſtes Buch. Hellas.
ftefft, wie er hier und in der politifhen Ökonomie die Selbftfucht
(selfishness) duch die Wirkſamkeit der jozialen Triebe eingedämmt
willen will und prinzipiell nur ein ſolches Maß von Selbjtintereffe
anerkennt, welches ſich innerhalb der Schranken der Gerechtigkeit
hält, die Forderung endlich einer harmonischen Ausgleichung der
Gefühle und Leidenfchaften durch die Überwindung unferer jelbft-
jüchtigen und die Ausbildung unferer wohlwollenden Gefühle, ') all
das läßt in den jozialethiichen Grundfragen eine gewiſſe Ideen—
verwandtichaft mit der geſchilderten arijtoteliichen Sozialphiloſophie
erkennen, jo weit auch im übrigen und zwar gerade in der poli-
tiichen Okonomie die Standpunkte auseinandergehen.
Ungleich inniger freilich ift die Berwandtichaft mit der modernen
ethiichen Nichtung der Nationalökonomie. Es ijt ganz ariftotelifch ge—
dacht, wenn v. Thünen und Sinies die Rückſichtnahme der wirtjchaftlich
thätigen Einzelperfonen (nicht bloß auf ihren eigenen Borteil, ſon—
dern auch) auf das wirtjchaftliche Intereſſe „anderer Leute” fordern,
und wenn dann Knies den Saß aufitellt: „Daß irgend ein höheres
Maß mirtichaftlicher Güter auf den Wegen der Selbjtiucht, des
gegen den Nächiten und das Gemeinwejen rückſichtsloſen Eigen-
nußes von den Einzelnen gewonnen wird, jteht im Widerſpruch mit
dem materiellen und fittlichen Wohle aller Einzelnen, mit dem Ge—
meinwohl, ja mit dem jittlihen Wohle des Erwerbenden jelbt.“ 2)
Wenn ferner A. Wagner meint: „Die Beweggründe individuellen
wirtichaftlichen Vorteiles find wenigſtens möglichit zu verbinden mit
und zu erjegen durch altruiftiiche Beweggründe, und das, was in
diefer Hinficht der Einzelne und eine Verkehrsgeſellſchaft erreicht,
bildet den Maßſtab ihres fittlichen Wertes und ihrer wahren Kultur:
höhe;“s) — Jo entipricht das genau dem von der arijtotelijchen
Ethik aufgeftellten Ideal. Dasfelbe gilt für den Führer der hifto-
1) Bol. Hasbach: Die allgemeine philoj. Grundlagen der von Francois
Quesnay und Adam Smith begründeten politischen Ökonomie ©. 114 f. und
desjelben Unterfuchungen über Adam Smith ©. 54 ff.
2) Politiſche Ökonomie vom geſch. Standpunkt (2) 238 f.
>) Jahrb. f. Nationalöf. u. Stat. 1886. &. 230,
IT. 4. Angriffe d. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 957
riſchen Schule, für Schmoller, für welchen es ebenfalls die „ent:
ſcheidende Frage” ift, wie und in welchen Maße „ver Trieb, alles
auf die eigene Perſon und ihre Förderung zu beziehen, fich mit
jittlichen und rechtlichen VBorftellungen durchjegt und getränkt hat.“ ')
Auch iſt diefe vielfache Berührung antifen und modernen
Denkens feineswegs eine zufällige. Allerdings erklärt fich dieſelbe
vor allem daraus, daß es bis zu einem gewiſſe Grade analoge
Übelftände des Volfslebens waren, welche hier, wie dort eine höhere
jozialzethiihe Auffaffung des Güterlebens, eine tiefere Anſchauung
von Weſen und Beruf des Staates, eine gejteigerte Empfänglichkeit
für foziale Gerechtigkeit hervorriefen. Allein gleichzeitig beſteht doch
ein unmittelbarer bewußter Zuſammenhang.
So wahr das Wort au ift, daß ver joziale Sammer die
Bolkswirtichaftslehre der Ethif wieder in die Arme geführt hat, jo
Darf doch amdererjeitS nicht vergeſſen werden, daß es eine auf
humaniftiicher Grundlage erwachjene Wiſſenſchaft war, welche fich
zum Träger dieſes gewaltigen Umſchwunges des modernen Geiftes-
lebens gemacht hat; und es wird in der That in einem der grund-
legenden Werfe der hiftorifchen Schule der Nationalökonomie aus-
drücklich anerkannt, daß wir hier zugleich das Ergebnis einer Be—
fruchtung der modernen Wiſſenſchaft durch altklaffiihe Anſchauungen
vor uns haben.?)
Schon bei einem der erſten großen Vorkämpfer gegen Die
einfeitig-individualiftiiche Auffaſſung ökonomischer Phänomene, bei
Sismondi, tritt diefer Zuſammenhang Kar hervor. Er knüpft jeine
Polemik gegen die sience de l’accroissement des richesses un—
mittelbar an die jozialpolitiichen Erörterungen an, welche Ariftoteles
in der Bolitif der Chrematiſtik gewiomet hat.’) Und ganz in dem:
jelben Sinne hat unter den Deutſchen ſchon im Jahre 1849 Nojcher
1) Grundfragen ©. 57.
2) Knie a.a. D. 438.
3) Etudes s. 1. con. pol. 1,3. Bgl. Elfter: Simonde de Sismondi.
Ein Beitrag zur Gejchichte der Volkswirtſchaft. Jahrb. f. Nationalöfonomie
und Stat. N. 3. XIV 321 ff.
Pohlmann, Gejh. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 17
258 Erſtes Buch. Hellas.
in feiner jchönen Abhandlung über das Verhältnis der National-
öfonomie zum klaſſiſchen Altertum der herrſchenden Zeitvoftrin die
politifche Ofonomie der Griechen gegenübergeftellt, weil diefelbe nie-
mals den großen Fehler begangen habe, über dem Neichtum der
Menfchen zu vergejjen.!)
Ihm folgt Nodbertus mit der Forderung, daß wir unfere
Bolitif wieder etwas mehr mit antitem Geifte erfüllen jollten,2)
und Lorenz von Stein, der aus dem Studium der antifen Staats-
wiſſenſchaft die Überzeugung geſchöpft hat, daß wir, indem wir
durchforiehen, was die Alten gewejen und gethan, „uns gleichjam
jelbjt zum zweitenmal exleben.”3) Im Hinblid auf den noch immer
nicht überwundenen einjeitigen Individualismus der modernen Staats-
auffaſſung erklärt es Adolf Wagner von jedem politiichen Stand»
punfte aus für unvermeidlich, wieder an antike Anjchauungen an-
zufnüpfen. Für die Nationalökonomie, welche dies viel zu jehr aus
den Augen verloren habe, find nach Wagners Anficht die grund:
legenden Sätze des Ariftoteles über den Charakter des Staates
ſämtlich auch Fundamentalprinzipien für die VBolkswirtjchaftslehre.t)
Endlih hat — wie im Anfang des Jahrhunderts Sismondis
Theorie vom Reichtum auf Axiftoteles hinweiſt — in der Gegen:
wart Schmoller feine Zehre von der Verteilung des Einkommens
nach dem Verdienſt durch den Hinweis datauf unterjtüßt, daß er
damit mur eine Theorie wiederhole, die bereits Nriftoteles in feiner
Ethik aufgeitellt.5) Schon bewegt ſich ja auch unfere moderne
Gejeßgebung genau in derjelben Nichtung. Sit es nicht eine An
näherung an das ariftotelifche Ideal der verteilenden und aus—
gleichenden Gerechtigkeit im Verkehr, wenn Dank diefer Gejeßgebung
) Anfichten der Volkswirtſchaft aus dem geſchichtlichen Standpunkt
12) 7.
?) Zur Erklärung u. Abhilfe der heutigen Kreditnot des Grundbeſitzes
IL) 370.
3) Die drei Fragen des Grumdbefites und feine Zukunft. ©. 14.
#) Grumdlegung der politifchen Ötonomie 18 859.
5) A. a. O. ©. 61.
IT. 4. Angriffe d. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Rechtsordg. 959
der Kreis von Individuen, auf welche der wirtjchaftende Menſch
Rückſicht zu nehmen hat, in bejtändigem Wachjen begriffen it?
Doch jehen wir von den einzelnen Problemen ab und halten
uns an die Auffaffungsweife des bellenifchen Sozialismus im All—
gemeinen.
Müſſen wir nicht auch da troß aller Verivrungen eines ab:
ftraften und ideologiſchen Dogmatismus anerkennen, daß in der
ganzen Art und Weije, wie bier die Dinge angejchaut werden, ein
Fortichritt von größter Bedeutung lag, der Ergebnifjfe von bleiben:
dem Werte zeitigte und jo ebenfalls bis auf die Gegenwart herunter
nachzumirken vermochte?
Die Kritif, welche der helleniſche Sozialismus an der Wirk
lichfeit übte, ift nicht bloß eine Kritik der ökonomiſchen Berhältniffe,
fondern eben jo jehr auch der moralifchen, geiftigen, politiſchen
Zuftände des Volkes. Da dieſem Sozialismus von Anfang an
die Idee einer Umbildung des gejamten Lebens des Volkes vor-
ſchwebte, jo gab es ja von vorneherein kaum ein Gebiet, welches
er nicht in das Bereich feiner reformatorifchen Gedanken gezogen
hätte. Das wirtjchaftliche Güterleben und die auf der Verteilung
der Güter beruhende Ordnung der Gejellichaft wird von dieſem
umfafjenden Standpunkt aus Gegenſtand einer Betrachtungsweile,
welcher jich die Sozialwiſſenſchaft niemals hätte entfvemden jollen,
und welche ja gerade die Gegenwart wieder zur ihrigen ge
macht hat.
Die helleniſche Staatslehre hat für alle Zukunft gezeigt, daß
für die Nealifierung der Ideen, welche in Staat und Recht zur
Berwirklihung zu gelangen ſuchen, nicht bloß das Syſtem der poli-
tiſchen Smititutionen, die Drdnung und Verteilung der ftaatlichen
Gewalten von Bedeutung ijt, jondern noch mehr die Welt der
Güter und Intereſſen, jener gewaltigen bei der Gejtaltung aller
menjchlichen Dinge mitwirkenden Faktoren, die durch ihre Macht
über den Einzelnen auch auf die Geſellſchaft mit elementarer Kraft
zu wirken vermögen. Zum erjtenmale tritt uns hier in der Ge—
ſchichte der politiſchen Wiſſenſchaften ein tieferes Verſtändnis für
IT
2360 Erſtes Buch. Hellas.
die Natur der gejellichaftlichen Gegenfäte und für die Gefahren
entgegen, mit welchen das wirtſchaftliche Güterleben und die Ver-
teilung des Beſitzes das Edelfte im Menſchen, die höchften Kultur:
interejfen der Geſamtheit bedroht.
Wie hoch fteht die hellenifche Staatslehre mit dieſer Erkennt—
nis über jenem Doktrinarismus, der Staat und Volk nur als eine
Summe von Individuen zu denken vermag und über dem aus-
Ichließlihen Gegenjaß von Individuum und Staat jene wichtige
zwifchen dem Leben des Einzelnen und dem des Staates in der
Mitte liegende Sphäre überſieht, die wir Gefellfehaft nennen. Durch
ihre Analyſe der jozialen Erſcheinungen hat die hellenijche Staats-
lehre jene tiefere Auffaffung des Staates und der ftaatlichen Zwecke
begründet, welche ihr Augenmert vor Allem darauf richtet, in
welchen DVerhältnis die jozialen Zuftände des Volkes zu feinem
politiichen Leben ſtehen, wie ſich die verjchiedenen Glemente der
Gejellfchaft, die jozialen Klaffen zu einander und zum Staate ver-
halten oder verhalten jollen, wie überhaupt Staat und Gejellichaft
als zwei jeldjtändige in ewigem Antagonismus fich gegenüberftehende
und Doch wieder ſich ſtets gegenfeitig zu durchdringen ftrebende
Lebenskreiſe auf einander wirken.
Diefe ſoziale Auffalfung der Dinge, welche die Negierungs-
ſyſteme vor Allem auf ihre joziale Brauchbarkeit hin beurteilt, hat
einen Ariſtoteles befähigt, den Wechjel der Verfallungsformen und
die Geftaltung der politischen Barteifämpfe in ihrem Zuſammen—
hang mit der wirtjchaftlichen Gliederung des Volkes, die Abhängig:
feit der ftaatlichen Entwicdlung von der Gefellfehaftsordnung und
von der materiellen Grundlage derjelben, der Berteilung des Be
ſitzes in einer Weiſe Elarzulegen, daß einer der hervorragendften
Vertreter der modernen Staatswiljenfchaft von ihm gejagt hat, feine
Politik würde in diefer Hinficht für die Staatswiſſenſchaft der Zukunft
das jein, was Kopernifus’ Organon für die Ajtronomie geweſen.)
)2 v. Stein: Verwaltungslehre I? 32. Dal. Steins Aufſatz über
die Entwicklung der Staatswifjenjchaft bei den Griechen. ©ib.Ber. der Wien.
Ak. (phil. Hit.) Bd. 93. i
II. 4. Angriffed. ideal. Sozialphil. a.d. Grundl. d. wirtfch. Nechtsordg. 261
Andererſeits iſt jedoch Die arijtoteliiche Staatslehre in
der Betonung der ökonomischen Faktoren Feineswegs ſoweit ge
gangen, wie der jogenannte wiljenjchaftliche Sozialismus der
Gegenwart.
So bedeutfam das volfswirtichaftlihe Moment, insbejondere
das des Klafjenfampfes in jeiner Analyſe verfallungsgejchichtlicher
Entwicklungen in den Vordergrund tritt, Ariftoteles ift Doch weit
entfernt von jener materialiftiichen, die Gejchichte einzig und allein
vom Standpunkte des Klaſſenkampfes aus betrachtenden Anfchauungs-
weife, welche das ökonomische Moment geradezu als das immer
und überall beſtimmende, für die Geftaltung der Gejellichaft einzig
und allein ausfchlaggebende hinjtellt und das gejamte politische,
rechtliche, geiltige und religiöfe Dafein des Bolfes nur als einen
Überbau gelten läßt, deſſen Geftaltung durch das öfonomifche Fun-
dament und die wirtichaftlihe Struktur der Geſellſchaft unbedingt
vorgezeichnet jet.
Diejer Glaube an die Allmacht der rein wirtjchaftlichen
Faktoren mußte ja von vorneherein einer Auffafjungsweije fremd
bleiben, welche die leichberechtigung der wirtichaftlichen Zwecke
mit den ethiichen Zielen prinzipiell leugnete und das höchſte End—
ziel aller Bolitif darin jah, den Staat, feine Gejeßgebung und
Verwaltung von den gemeinen Intereſſen des Güterlebens möglichit
zu emanzipieren.
Allerdings hat auch der helleniſche Sozialismus mit pſycho—
logijcher Notwendigkeit durch eine Entwiclungsphaje hindurchgehen
müffen, die fich durch eine ftarfe Überſchätzung der Abhängigkeit
des fittlichen Lebens von wirtschaftlichen Faktoren charakterifiert.
In den überfchwänglichen Hoffnungen, welche Blato auf eine fitt-
liche Wiedergeburt durch den Kommunismus jeßte, und in der Art
und Weife, wie er das Mrivateigentum für den Verfall der Sitt-
lichkeit verantwortlich machte, trat uns dieſe Verirrung draſtiſch
genug entgegen. Allein wie raſch iſt gerade hier die Korrektur
erfolgt! Schon der ariftotelifche Sozialismus hat ſich von diejen
Illuſionen über die allheilende Kraft des Kommunismus wieder
262 Erſtes Buch. Hellas.
emanzipiert und ihnen gegenüber die fittliche Unvollfommenheit der
Menfchennatur mit einer Schärfe und Klarheit betont,!) von der
der moderne Sozialismus in feiner ökonomiſtiſchen Einfeitigfeit noch
weit entfernt ift.
Um fo mehr teilt freilich die antife Sozialphilofophie eine
andere Schwäche moderner Weltverbefferer. Ihr Idealismus bleibt
in der Schäßung deſſen, was die menjchliche Vernunft und der
Staat vermögen, um das Güterleben in ihrem Sinne zu regeln,
in nicht3 hinter den modernen Optimiſten zurüd, die angefichts der
großartigen Fortjcehritte auf allen Lebensgebieten die Gemüter mit
überipannten Hoffnungen auf die Möglichkeit und Leichtigkeit noch
unendlich viel gewaltigerer Umgeftaltungen erfüllt haben. Wie im
Zeitalter Bellamys jo begegnen wir auch in der hellenifchen Sozial—
theorie des vierten Jahrhunderts v. Chr. den denkbar höchſten Vor—
jtellungen von der Macht menschlicher Vernunft und menschlicher
Inſtitutionen. Mit derſelben gefteigerten Empfindlichkeit für Die
Ichmerzlichen Gebrechen der bejtehenden Gejellichaft verbindet ſich
auch bier dasjelbe ungemefjene Vertrauen auf die Fähigkeit Des
Menjchen, alle jene Gebrechen zu heilen, dasjelbe ungeduldige Ber-
langen nach einem jchnellen und radikalen Heilverfahren.
Wurde doch gerade bier dieſe Nichtung der Geifter von
allen Seiten her gefördert und genährt durch die thatlächliche
Entwicklung des Staatlichen Lebens! Welch ein unaufhörlicher
Wechſel der VBerfaflungsformen in diefem Mikrokosmos der klein—
jtaatlichen Hellenenwelt, die — um ein Wort Ciceros von den
griechischen Inſelſtaaten zu gebrauchen — „amt ihren Inſtitu—
tionen und Sitten gewiſſermaſſen auf ven Fluten zu Schwimmen“
1) Bol. II, 2, 8. 1263b: . ... wv (zaxwv) oVdev yivsraı die mv
axoıvwvnolev ahıd ba ınv uoysmoiev, Errei zul Toüs xoıvd KERTNUEVOVS
xai xoıwwvovvrag oA diepegousvovs uchdor bEWuEv 7 TOoUs YWois Tas
ovoies Eyovras. Mit aller Entjchiedenheit wird hier auch betont, daß es
eben die umerjättliche Begierde, nicht die Not ift, welche die meiften Verbrechen
erzeugt, und daß es daher ein Irrtum ift, von dev Aufhebung der Not einen
radikalen fittlichen Umfchwung zu erwarten.
II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a.d. Grund. d. wirtich. Rechtsordg. 263
ſchien!) Sn joldem ewigen Wandel der Dinge mochte in der
That das Staatswejen wie ein beliebig zu geitaltender Thon in
der Hand des „Geſetzgebers“ und feine Umgeftaltungsfähigfeit eine
unbegrenzte erjcheinen, mochte die Vernunft fich förmlich dazu ge-
drängt fühlen, mit Bewußtjein eine neue Grundlegung von Staat
und Gejellichaft als ihre eigene freie Schöpfung zu volßiehen.
Angefichts der Fülle von Entwicklungsformen, welche die un-
erichöpflichen Triebfräfte des politifchen und jozialen Lebens der
Hellenen erzeugt hatten, ohne Doch auf die Dauer eine gejunde Ge-
jtaltung desjelben herbeizuführen, verzweifelte die Sozialphiloſophie
daran, daß die Leiden der Gejellichaft durch gewöhnliche Mittel
geheilt werden könnten, während fie andererjeitS eben aus jener
unerjchöpflichen Geſtaltungskraft des gejchichtlichen Lebens die Hoff-
nung entnahm, die in fortwährender Umbildung begriffene Staats-
und Gejellfchaftsordnung vollends aus den Angeln heben und nach
einem freigefchaffenen Gedantenbild neuaufbauen zu können. In—
mitten des allgemeinen Zerfalles der überfommenen wirtjchaft-
lichen, fozialen, politifchen Ordnungen, eines Zerfalles, aus dem
ſich doch nirgends eine hoffnungsreichere Neugeltaltung erheben
wollte, empfand die Theorie den unwiderſtehlichen Drang, die
Kluft zwiichen Vergangenheit und Zukunft durch einen ſolchen Ge-
danfenbau zu überbrücen, durch das Idealgemälde einer anderen
und bejjeren Ordnung der Dinge, der die Zukunft gehören follte,
an der ji) die Gemüter wieder aufzurichten und zu jtärfen ver-
mochten.
Die Theorie veripra den Weg zu einem neuen Dajein zu
zeigen, in welchem alle abjtoßenden Züge des gegenwärtigen Lebens
in ihr jtrahlendes Gegenbild verwandelt erjcheinen, in welchen alles
was die Welt von heute bedrüct, verjchwinden joll, alles was die
Edelſten erjehnt, zur Wahrheit und Wirklichkeit geworden ift. Denn
dieſe, die führenden Geiſter der Nation ſelbſt find es, denen wir
!) Rep. 2. 9: Fluctibus cinctae natant paene ipsae simul cum
eivitatum institutis et moribus.
264 Erſtes Buch. Hellas.
auf ſolchem Wege begegnen. Bei ihnen war mit der Anlage zur
Abſtraktion, Deduktion und Konſtruktion die Richtung auf den
ſozialiſtiſchen Utopismus von ſelbſt gegeben, und ſie kamen dem
eigenen Bedürfnis ebenſo, wie dem der Zeit entgegen, indem ſie
mit der ſchärfſten, rückſichtsloſeſten Kritik des Beſtehenden umfaſſende
Organiſationspläne zum Aufbau einer neuen, beſſeren Staats- und
Geſellſchaftsordnung verbanden.
So entſtand das Zukunftsbild des wahrhaft guten, des „beiten“
Staates.
Drittes Kapitel.
Orannifationspläne zum Aufbau einer neuen Staats- und
Gelellihaftsordnung.
Erfter Abſchnitt.
Das Staatsidenl des Phaleas von Chalcedon.
„Der erſte Privatmann, der es unternahm, etwas über den
beiten Staat zu jagen,“ 2) it der bekannte Architeft Hippodamos
von Milet, der Erbauer der Hafenjtadt des PViraeus. Doch kann
diefer erſte Verſuch, der Wirklichkeit ein deal gegenüberzuftellen,
für die Gejchichte des Sozialismus kaum in Betracht fommen.
Wenigitens enthält das, was uns Nrijtoteles über die Ideen des
Mannes mitteilt, nirgends einen prinzipiellen Widerſpruch gegen
die Grundlagen der beitehenden Gejellichaftsordnung. Im Gegen-
teil, die individualiftiiche Grundtendenz der bisherigen jozialen und
politiihen Entwicklung wird hier, wie wir bereits früher gejehen
haben, nur noch konſequenter durchgeführt, indem die Gejeßgebung
auf die negative Aufgabe des Rechtsſchutzes beſchränkt und damit
in jozialötonomifcher Hinficht zur Unfruchtbarkeit verurteilt wird.2\
1) Ariſtoteles Politik IL, 5, 1. 1267 b.
2), S.70ben S: 177:
a
III. 1. Das Staatsideal de3 Phaleas von Chalcedon. 265
Die Geſchichte der ſozialiſtiſchen Staatsideale des Hellenen—
tums kann daher erſt mit der Politie des Phaleas von Chalcedon
beginnen, die vielleicht noch vor Platos „Staat“ verfaßt!) und
daher hier an erſter Stelle zu nennen iſt. Allerdings iſt uns das
Werk verloren und das Wenige, was unſer einziger Zeuge — Ari—
ſtoteles — über den Inhalt jagt, läßt gerade eine weſentliche
Frage unberührt, die Frage nach der dogmengeſchichtlichen Stellung
des Syſtems, nach der Bedeutung, welche demſelben in dem Ent—
wicklungsgang der ſozialen Ideen überhaupt zukommt. Während
Ariſtoteles bei der Beurteilung des platoniſchen Idealſtaates die
dogmatiſche Prüfung auf die grundlegenden ethiſchen und politiſchen
Prinzipien hin, aus denen heraus die Theorie als ein Ganzes gedacht
iſt, wenigſtens nicht völlig unterläßt, begnügt er ſich hier mit einer
Kritik der einzelnen Forderungen, welche Phaleas an die Praxis
ſtellt. Er regiſtriert und kritiſiert einige der „Spezifika“, welche
nach der Anſicht des letzteren geeignet ſein ſollen, die ſozialen
Krankheitserſcheinungen zu heilen. Wie aber der ſozialphiloſophiſche
Aufbau des beſprochenen Staatsideals — als ein theoretiſches
Ganzes, als ein Syſtem von Prinzipien betrachtet — ausſah,
) Die Äußerung des Ariſtoteles, auf welche ſich dieſe Annahme ſtützt,
iſt allerdings nicht ſicher beglaubigt. Ariſtoteles weiſt hier darauf hin, welche
Wichtigkeit ſchon don den früheren Theoretikern auf eine günſtige Verteilung
des Beſitzes gelegt worden ſei, und führt dann fort: dio Badkas 6 XaArn-
dovıos Toür’ Eionveyze nowrog xl. un findet ſich aber auch die Lesart
no@rov, die zwar der minder guten Überlieferung angehört, aber doch jehr
wohl die richtige fein könnte, ja dem Sinne nach zu dem VBorhergehenden
noch bejjer paffen würde. Damit wird uns für die nähere Beltimmung der
Zeit des Phaleas jeder feſte Anhaltspunkt entzogen. Die inneren Gründe,
die Sujemihl (in der Anmerk. zu der Stelle) für die Priorität des Phaleas
gegenüber Plato anführt, die „augenfcheinliche Dürftigfeit” feines Entwurfes
und deſſen „Mangel an aller feineren Durchbildung“ können nichts beweifen.
Auch Fragt es ſich doch jehr, ob wir berechtigt find, auf Grund des einzigen
uns erhaltenen höchſt Ddürftigen Berichtes über den Idealſtaat des Phaleas
ein jo ungünftiges Urteil zu fällen. Wie würden wir über Platos Politie
oder „Geſetze“ urteilen, wenn wir fie einzig und allein aus dem einfeitigen
und unvollftändigen Berichte des Ariftoteles kennen würden?
966 Erſtes Buch. Hellas.
darüber geht die arijtotelifche Darjtellung mit Stillfehweigen hinweg.
Wir erhalten Fein Bild von der willenjchaftlichen Individualität
des Mannes, noch auch von ihrem Zuſammenhang mit den Ver:
hältnifjen feiner Zeit und Umgebung.)
Sp bleiben uns nur Rückſchlüſſe aus dem, was Phaleas in
Beziehung auf einzehre konkrete Fragen der fozialen Reform ge-
äußert bat.
Den deutlichjten Fingerzeig für feinen allgemeinen Stand-
punft dürfte wohl der Vorſchlag enthalten, die geſamte Induſtrie
zu verftaatlichen und alle Angehörigen der gewerblichen Klaſſen zu
dienenden Organen einer ftaatlichen Kollektivwirtſchaft zu machen.
Denn dieje radikale Umgeftaltung der ganzen wirtichaftlichen Exiſtenz
der gewerblichen Bevölkerung bedeutet ihm zugleich eine politifche
Degradierung. Sie hört auf ein Teil des Staatsbürgertums zu
jein?) und ſinkt in ein Verhältnis der Unterthänigfeit, wenn nicht
gar der Unfreiheit herab.) Ein untrüglicher Beweis dafür, daß
die Forderung Folleftivwirtfchaftlicher Produktion hier nicht Ausfluß
eines fozialen Demofratismus ift, der die ertreme Durchführung
des individualiftiichen Gleichheitsprinzipes im Auge bat, jondern
einer antisindividualiftiichen Auffaffungsweile, für welche dieſe Aus—
Dehnung der Staatswirtichaft nur ein Mittel ift, durch die denkbar
radikalſte Unterordnung der gejamten gewerblichen Bevölkerung
) Trotzdem ift freilich Ariftoteles der Anficht, alles, was an den
Theorien jeiner Vorgänger irgend bemerkenswert fei, zur Genüge erörtert zu
haben! II, 9, 1. 1273b. — Mit Recht bemerkt 2. dv. Stein zu dieſer Be—
hauptung, daß die Alten überhaupt feinen Sinn für das hatten, was wir
die Gejchichte der Litteratur und Wiſſenſchaft nennen. „Die jtaatswifjenjchaft-
liche Theorie der Griechen vor Ariftoteles und Plato.“ Tüb. Ztſchr. f. d.
gej. Staatsw. IX 149.
2) Ariftoteleg Pol. II, 4, 13. 1267b: gpaiveraı d’ Ex ns vouodeoias
zaraoxsvdiov nv rohr wixgdv, Ei y’ ol Teyviraı ndvres dmuooioı Esovraı
zei un nAnowua tı nag£fovrau Ts TIOAEwS.
3) Der don den Getwerbetreibenden gebrauchte Ausdruck „dryuooror“
(öffentliche Diener) läßt es zweifelhaft, ob fich Phaleas diejelben als Fremde
und Beifaſſen oder als Sklaven gedacht hat.
——
II. 1. Das Staatsideal de3 Phaleas von Chalcedon. 267
unter die Zwangsgewalt des Staates ihre, wenn auch gleichzeitig
antifapitaliftifchen, jo doch in erſter Linie antivemofratiichen Ziele
zu verwirklichen. !)
Diefe antivemofratifche Grundtendenz des Bolitifers Phaleas
it ferner ein Beweis dafür, daß, wenn er den Grund und Boden
unter die Vollbürger jeines Staates auf dem Fuße vollfommener
Gleichheit verteilt wiſſen will,2) dieſe Gleichheit ebenfalls nicht
ausschließlich aus individualiftiiher Wurzel ſtammt. D. h.
Phaleas kann auch hier nicht einjeitig feinen Ausgangspunkt von
dem Intereſſe des Individuums genommen haben und von deſſen
Anſpruch, auf Grund der Gleichwertigfeit Aller möglichit gleichen
Anteil an den wirtfchaftlichen Gütern und dem durch fie erreich-
baren LZebensgenuß zu erhalten. Den Ausgangspunkt oder wenig.
ſtens das wejentlich mitentjcheidende Moment bildet das ſoziale
Intereſſe, das Intereſſe des Ganzen, wie wir das noch jeßt Daraus
erkennen, daß bei Ariftoteles als der Zweck, um dejjenwillen Phaleas
die Gütergleichheit einführen wollte, die Sicherung des joztalen
Friedens?) und die Hebung der Volksfittlichkeit bezeichnet wird.*)
Dasselbe gilt endlich für die Forderung gleicher Erziehung
Aller durch den Staat.5) Auch fie iſt hier eine Konfequenz des
Prinzips der Gemeinjchaft, der xowwvie, nicht der Freiheitsidee
des Individualismus.
Eine Ideenverwandtſchaft mit der Staats: und Gejellichafts-
theorie Platos ift jo ganz unverkennbar, wenn wir auch nicht die
Anfichts) teilen können, daß das eine der platonischen Staatsideale,
1) Dies wird betätigt durch die Ihatjache, dat in Chalcedon in der
That jeit dem Anfange des vierten Jahrhunderts die Demokratie zum Siege
gelangt war (Theopomp bei Athenäus II 526d). Gegen dieſe Bolfsherrjchaft
bedeutet der Idealſtaat des Phaleas eine ähnliche Reaktion, wie der des Plato
gegen die Demokratie von Athen.
2) Ariftoteles Bol. II, 4, 1. 1266 b.
3) Ebd. II, 4, 1. 1266a.
4) Ebd. II, 4, 7. 1267a. Dal. oben ©. 203.
5) Ebd. II, 4, 6. 1266b.
6) Bon Sujemihl a. a. O. Anmerk. 255.
268 Erſtes Buch. Hellas.
der Gefeßesftaat, „ſich Fat durchweg als eine verfeinerte Ausbildung
dieſes Staatsideals des Phaleas bezeichnen laſſe.“ Zu einer folchen
Annahme reichen die wenigen Notizen, die wir zur Charakteriftit
des leßteren anführen konnten, Feineswegs hin.
Was Ariftoteles ſonſt über Phaleas bemerkt, fügt zu dem
Geſagten nichts weſentlich Neues hinzu. Die Forderung, daß die
Reichen Mitgift geben, aber nicht nehmen, die Armen umgekehrt
nehmen, aber nicht geben jollen, bezieht ſich überhaupt nicht auf den
beiten Staat, ſondern joll nur einen Fingerzeig dafür gewähren, wie
man zunächlt innerhalb der beftehenden Gefellichaftsordnung am
leichteften eine Nusgleichung der Befitesgegenfäße herbeiführen
könne.) Wenn ferner Ariftoteles an dem Staate des Phaleas
auszuſetzen hat, daß derjelbe fein wirtjchaftliches Gleichheitsprinzip
nicht auch auf das mobile Kapital ausdehne,?2) daß er die zur
Aufrechterhaltung der wirtjchaftlichen Gleichheit unbedingt notwen-
digen bevölferungspolitiichen Maßregeln, wie z. B. eine ftaatliche
Regelung der Kinderzeugung u. ſ. w. unterlafje,’) daß e3 endlich
zweifelhaft bleibe, ob er mit feiner öffentlichen Erziehung das er:
reichen wolle und fünne, was noch wichtiger fei, als die Aus—
gleichung des Beſitzes, nemlich die Ausgleichung der Begierden,t) —
jo müſſen wir unfererfeit3 es dahingeftellt fein laſſen, inwieweit
dieje Kritik wirklich zutreffend ift oder nicht.
Aristoteles zeigt fich in der Darftellung der Theorien feiner
Vorgänger jo ſehr von dem Beltreben beherricht, die Mangel:
baftigfeit derſelben zu erweiſen,“) er hat fi) dadurch, — mie feine
Kritik der platonifchen Staatsiveale beweiſt —, vielfach zu jo un—
begründeten und ungerechten Ausftellungen verführen lafjen, daß
wir auf feine Ausſage allein bin ein ficheres Urteil nicht fällen
können. Wenn Plato jo manches ausdrüdlich erörtert hat, was
') Ariftoteles Pol. II, 4, 2. 1266b.
an, 4, 106, TobTae
s) II, 4, 3. 1266b.
#) II, 4, 6. 1266b.
D)EBaL., A
II. 2. 1. Der platonifche Bernunftftaat und feine Organe. 969
er nach der Behauptung des Ariftoteles gar nicht erwähnt haben
joll, wenn er in Anderem von ihm völlig mißverftanden worden
üt, jo ift doch hier die Möglichkeit, ja die Wahrjcheinlichfeit nicht
abzumeijen, daß das beurteilte Werk in Wirklichkeit vielfach anders
ausjah, als in den Augen feines Kritikers.
Hweiter Abfchnitt.
Der Bernunititant Platos.
ie
Der Staat und feine Organe.
Die grundlegenden Gedanken des platoniichen Idealſtaates find
unmittelbar aus der thatjächlichen Entwicklung des gejchichtlichen
Staates geſchöpft. War in der helleniſchen Staatenwelt überall die
Staatsgewalt zum Zankapfel der einzelnen Gejellichaftsklafien und
den — dem Leben der Gejelljchaft entipringenden — Sonderinter—
eſſen mehr oder minder dienftbar geworden, war die jelbitändige
Staatsidee ſozuſagen in der Gejellichaft untergegangen, jo will der
platonijche Idealſtaat dem Staatsgedanfen wieder ein Daſein jchaffen,
in welchem der Staat unabhängig und jelbitjtändig über der Ge
jellichaft jteht und daher auch von ihren Intereſſen nicht beherrjcht
wird. Aus dem rüdjichtslojen Wettitreit, in welchem die einzelnen
Teile der Gejellichaft, jei es Individuen oder Klafjen, ſich gegen-
jeitig ihren Sonderzweden und Sonderinterefjen dienftbar zu machen
juchen, erhebt ſich das Bild eines Gemeinwejens, welches die be
rechtigten Intereſſen Aller befriedigen will, welches den Beruf und
die Macht hat, den Egoismus der einzelnen Teile den Zwecken des
Ganzen, das Sonderinterefje dem der Gejamtheit zu unterwerfen.
„ir gründen — jagt der Sokrates des Dialoges — unferen
Staat nicht in der Abficht, daß Eine Klaſſe vor allen glüclich ſei,
jondern möglichft der ganze Staat.”!) Der Staat ift hier in der
That für Alle da. Denn die Staatsgewalt fteht hier nicht den
) IV 420be ef. VII 519e.
270 Erſtes Buch. Hellas.
ftärferen Sntereffen zu Gebote, die zu ihrer Geltendmachung den
größten Einfluß und die größte Macht aufwenden können, jie dient
vielmehr in jelbftlofer Hingebung gerade zum Schuße der Schwa—
hen.) Indem jo der in der Wirklichkeit durch den Egoismus
der Gefellfchaft verdunfelte Staatsgedante voll und ganz zur Ber:
wirflichung gelangt, erhebt der platonische Idealſtaat zugleich den
Anspruch, der Nechtsftaat zer’ E£oynv, die höchſte Verkörperung der
Gerechtigkeit zu jein.?)
Um die angedeutete Aufgabe zu erfüllen, d. h. über der Ge-
jellfehaft ftehend ihr Herr und Meifter zu bleiben, bedarf der Staat
Drgane, welche die Macht und den Willen haben, unabhängig von
einfeitigen Sntereffen die wahre Idee des Staates zu vertreten und
zur Geltung zu bringen. Es muß im Staat ein Machtelement geben,
bis zu welchem das gejellfchaftliche Intereſſe nicht mehr heranreicht.
Der beftehende ſei es oligarchiiche oder demokratiſche Staat
entbehrte ſolche Organe durchaus. Die Herrſchaft der Gejellichaft
über den Staat findet hier ihren Ausdruck eben vor allem darin,
daß die gefellfchaftlihen Intereſſen fich des öffentlichen Dienftes zu
bemächtigen und denſelben in feinen Funktionen von fi) abhängig
zu machen wußten; eine Abhängigkeit, die eine Außerliche und inner:
liche zugleich war. Indem das Beamtentum durch Los oder Wahl
unmittelbar aus den um die Macht ringenden wirtichaftlichen Klafjen
der Geſellſchaft ſelbſt hervorging, brachte es die piychologiiche Ab—
hängigfeit von Klaſſenintereſſen und Klaſſenanſchauungen in das
Amt mit hinein, von denen es fich auch bei ehrlichem Willen des
Einzelnen, der Allgemeinheit zu dienen, niemals auf die Dauer zu
emanzipieren vermocht hat. Wie wäre auch bei der Kürze der
) Bal. die einleitende Polemik gegen das angebliche Recht des Stär-
keren auf die egoiftifche Ausbeutung der politifchen Gewalt I, 338 ff. Dazu
346c und 347d über die Verpflichtung jeder Negierungsgewalt gegenüber
den Negierten und den Schwachen.
?) 420b: ov unv noos rovro PAEnovres znv nolv oixilouev, On@g
Ev Tu Yulv EIvos Eoraı diapeoövrws eudaruov, aA Oonws 0 Tu uckiora
0m 7) nohıs’ WnINUEV ydo Ev TH Toiwvrny udhuor’ av Eigeiv dixaioovvnv.
cf. 480d: 00 dr) Evsxza navra Emtouuev dızauoovvn.
IM. 2. 1. Der platoniſche Bernunftitaat und feine Organe. 971
Amtsfriſt und dem MWechjel der zur Herrichaft gelangenden Barteien
eine Berwaltung möglich gewejen, die ſich dauernd auf den jtaat-
lihen Boden gejtellt und nur als Drgan der Allgemeinheit gefühlt
hätte? Wie hätten insbefondere bei dem ftarken Übergewicht, wel-
ches die materiellen Intereſſen in dem Induſtrie- und Handelsitaat
des vierten Jahrhunderts gewannen, Elemente, die durch ihre ganze
bürgerliche Stellung mehr oder minder in das Getriebe des Er-
werbslebens verflochten waren, die Unabhängigkeit des Staates
gegenüber der Naturgewalt dieſer Intereſſen behaupten Fönnen!
Damit war für Plato der Weg Elar vorgezeichnet, auf wel-
chem die Emanzipation des Staates von der Herrichaft der Gefell-
Ihaft gejucht werden mußte. Sollte der reine Amtscharafter des
öffentlichen Dienjtes wieder zur Geltung fommen und das Amt in
den Stand gejeßt werden, jene jittliche Aufgabe des Staates zu
verwirklichen, wie fie ihm feiner Idee nach zufommt, jo war der
erſte Schritt aller Neform die Erhebung des Amtes zu voller
Selbftändigfeit.
Zu diefem Zwecke verlangt Blato die abjolute Loslöſung der
mit der Vollſtreckung des jtaatlichen Willens betrauten Individuen
von dem Erwerbs: und Wirtjchaftsleben, d. h. die Schaffung eines
ftabilen Beamtenförpers, dejjen Eriftenz dur Sold und Gehalt
fichergeftellt ift, und der ausschlieglih und allein dem Dienfte des
Staates lebt.
Sa Plato geht noch weiter. Sollte der Einfluß der wirt
Ichaftenden Geſellſchaft und der ſozial-ökonomiſchen Sonderinterefjen
für das ftaatliche Leben vollfommen unſchädlich gemacht werden, jo
mußte nach jeiner Anficht nicht nur die Ausübung des ftaatlichen
Willens, Verwaltung und Regierung diejem ihrem Einfluß entzogen
werden, jondern fie durfte auch feinen Anteil mehr haben an der
Bildung des ftaatlichen Willens, an der Gejebgebung. Die ganze
Fülle der jtaatlichen Gewalt mußte jih in jenen nur dem Zwecke
des Staates lebenden Organen der Gemeinſchaft konzentrieren. Sie
ind die alleinigen Träger aller Staatlichen Funktionen. Cine Macht:
jtellung, die freilich nur dadurch gefichert erjcheint, daß fie zugleich
272 Erſtes Buch. Hellas.
den bewaffneten Arm des Staates darjtellen. Die ganze übrige
Bevölkerung ift eben nichts als rein wirtichaftende Geſellſchaft; fie
it vom Wehrdienſt ausgeſchloſſen und derjelbe einer ftehenden Elite-
truppe anvertraut, die ein unbedingt zuverläffiges Werkzeug der
Negierungsgewalt ift und die vollkommene Unabhängigkeit des
Staatswillens verbürgt.
Und noch eine andere Idee ift es, welche durch diefe Organi—
jation des öffentlichen Dienjtes zur Verwirklichung fommt: Das
Prinzip der Arbeitsteilung d. h. der dauernden individuellen,
das ganze Leben ergreifenden und beherrſchenden Anpafjung an eine
Ipezialifierte Lebensaufgabe, welche den Einzelnen in den Dienft der
Anderen jtellt.!) Diejes Geſetz der Arbeitsteilung, in welchem Plato
die unbedingt maßgebende Norm für die äußere Ordnung des
menjchlichen Dafeins erblickt, ift ihm ein Naturgejeß, weil die
Menſchen nit einander gleich, jondern mit indivivuellver-
Ichiedenen Anlagen geboren werden.?) Es ift ihm ferner durch das
Intereſſe der Geſamtheit gefordert, weil die Konzentrierung auf
Eine Thätigfeit die Leiftungen jedes Einzelnen jteigert.?) Jeder
bat ſich mit feiner ganzen ungeteilten Kraft und Zeit in den Dienft
feines Berufes zu Stellen, darf ihn nicht al3 Nebengeichäft (Ev
ragsoyov weoeı) betreiben, jondern muß von allen jonjtigen Ver—
pflichtungen frei fein (oxoAıv vov @Almv ayov).t)
) Nach der jchönen Definition von Schmoller (Das Weſen der Arbeits:
teilung u. d. ſozialen Klaffenbildung a. a. D.), eine Definition, die im weſent—
lichen derjenigen Platos entjpricht: Evi Exdorw Woavrus Ev anedidouer,
005 6 nepVxeı Exaoros xal Ep’ w Euslde Twv alAwv oXolıv dyav did
Blov auto Eoyalouevos, 00 nagieis TOis xuigoVs, xaAug anegyaLsodat.
II, 374b.
?) 370b: — zusv gverat Exaoros 0 nIavv Ouolog Exdorw dhAe
diepeowv Tmv pic, dAhos En’ dAkov Eoyov nousıw. cf. V, 456d: Hos
ovv &ysıs dosns tod Tororde negı; Tivos dn; Toö ÖnoAaußeveıv nagd
cewvıo Tov ulv ausivo dvdor, Tov dE yeiow' 7 ndvres Öuolovs Myel;
ovdauws.
s) 370b: Ti dal; noregov xaAlıov nodrroı dv rıs eis @v moAlds
, ‚ 2 ’ 5 5 cr 2 ’
teyvas Eoyaböuevos, 7 Otev ulav eis; Ortav, n d’ 05, Eis uier.
) ib,
IT. 2. 1. Der platontiche Vernunftftaat und feine Organe. 973
Wenn dies Schon für die gewöhnliche Handarbeit gilt, wie
viel mehr für die höheren Berufe, insbejondere für den Dienft des
Staates! Die Thätigkeit des Negenten und Geſetzgebers, des Be—
amten und Militärs ſetzt nicht nur eine bejfondere Veranlagung,
jondern auch ein Willen voraus, welches nur durch eine ſyſtema—
tiiche Erziehung für diefen bejonderen Beruf erworben werden fann.
Sie nimmt ferner die Kraft des ganzen Mannes in Anſpruch, mehr
als irgend ein anderer Beruf.!)
Wie alfo überhaupt in dem Vernunftitaat fich Feine „Doppel:
und vielgejtaltige” Berjönlichkeit findet, jondern „jeder nur Eines
treibt, der Schufter nur Schulter und nicht zugleich Steuermann,
der Landwirt nur Landwirt umd nicht zugleich auch Nichter, der
Soldat nur Soldat und nicht zugleich Geſchäftsmann ift,“2) jo ift
auch alle politiiche Thätigkeit Gegenftand eines eigenen Berufes, fie
kann nicht zugleich Nebengejchäft der von der wirtichaftlichen Arbeit
in Anſpruch genommenen Klafjen fein.
Eine jolche aktive Beteiligung aller Klaſſen an Gejeßgebung
und Verwaltung würde ebenjo den Forderungen der Natur, wie
der Gerechtigkeit widerjprechen, welche „jedem das Seine” zuweijt
und eben damit jein Necht widerfahren läßt.>)
Auch dieſe jchroffe Formulierung des Prinzips der Arbeits:
teilung (Der orxsiorrgeyie)*) iſt weientlih durch die Erfahrungen
de3 gejchichtlichen Staatslebens bedingt. Sie beveutet eine jcharfe
Reaktion gegen den Anfpruch der herrjchenden Majoritäten, der
kompetenteſte Richter über alles, legte Inſtanz und oberjtes Tribunal
in jeder Frage zu jein, eine Neaktion gegen die Anjprüche der
) 374e: Ovxoöv, mv d’ &y@, How ueyıorov 10 TWv pvAdzwv Eoyor,
Tovovrw oyoAjs te rWv dAdov nAcioıns dv Ein zul au Teyvns Te xai
ertuueisiag ueylorns deousvor.
2) III, 397e: — ovx Eorı dindovs avno rag’ yulv ovde roAkandovs,
ErteLdn) ExXaoTos Ev Tou@ttei' xTA,
3) 433a: 70 ra Eavrod nodtrsıv zal um noAunoayuoveiv dixauoovvn
£otiv. cf. 434b, c.
*) 427d.
Pöhlmann, Geſch. des antiken Kommunismus u. Soztalismus, I. 18
274 Erſtes Buch. Hellas.
Mittelmäßigkeit und Unbildung, !) gegen die roAvrroeyuoovvn, wie
fie unter der Herrfchaft des Freiheits- und Gleichheitsprinzipes der
Demokratie fih breit machte. Cine Neaktion, die nun begreiflicher-
weije ihrerfeits in der Betonung des gegenteiligen Standpunftes
joweit ging als nur immer möglich, das Prinzip der Differenzierung
ebenjo auf die Spibe trieb, wie das der Zentralifation.
Diefer enge Zufammenhang von Theorie und Erfahrung wird
von all denen verfannt, welche wie 3. B. Zeller der Anficht find,
daß Plato die Lehre von der Arbeitsteilung erſt nachträglich zur
wiſſenſchaftlichen Rechtfertigung jeines Prinzips der Ständegliede-
rung hinzugefügt habe.?)
Eine ſolche Anficht ift nur da möglich, wo fich auf Kojten
der biftorisch-politiihen Auffaflung eine einfeitig jpefulative Be—
trachtung geltend macht. So erſcheint hier unter den ausjchlag-
gebenden Entjtehungsmotiven des platonifchen Staatsiveals einer-
jeitS der rein jpefulative Gedanke, daß durch dieſe Ständeteilung
der Staat diejelbe Gliederung erhielt, wie fie die Pſychologie Platos
für die Menfchenjeele, und jeine Kosmologie für das Weltganze an-
nimmt, andererſeits ein angeblich „plaftiiches Intereſſe, das be—
grifflih Verſchiedene auch äußerlich) auseinander zu halten, die
Momente des Begriffes zu Haven und abgerundeten Anſchauungen
zu verdichten.“ Beſonders dieſem letzten Intereſſe zu Liebe joll
Plato die verjchiedenen politiichen Thätigfeiten an eben jo viele
Stände verteilt haben, damit fie ſcharf geſchieden nur ihrer eigen-
tümlichen Aufgabe leben, „nur diefen bejtimmten Begriff in fi
darſtellen“ follen.
Es ift längft bemerkt worden,*) daß, wenn dies richtig ift,
I) Die Ausführungen Platos leſen fich wie eine Antwort auf die Ver:
herrlichung der Unbildung durch Kleon bei Thuk. III, 37: 00 de paväAoregoı
ToVv avdeWnwv nos Tods Evverwregovs Ws Eri TO nAslov dusıvov olxovcı
Tas nroieıs.
2) Philojophie der Griechen IT*, 1, 903.
>) Ebd. 904.
) Bon Nohle: Die Staatslehre Platos in ihrer gefchichtlichen Ent—
II. 2. 1. Der platonifche Vernunftftaat und feine Organe. 975
über Plato als Politiker von vorneherein das Urteil gefprochen
wäre Eine Staatslehre, für welche der Aufbau der menschlichen
Gejellihaft nur dazu da wäre, um das Logijche Verhältnis der
Teile eines Begriffes zu verfinnlichen oder eine Nachbildung der
Gliederung des Kosmos und der Einzelfeele zu geben, eine folche
Staatstheorie wäre für ung eine Abjurdität. Sie würde in der
Geſchichte der Staats wiſſenſchaft wenigjtens feinen Anfpruch auf
eine ernjtlihe Würdigung erheben können.
Plato jpricht an den beiden (einzigen) Stellen, auf welche
ji) die genannte Anficht berufen Tann, von dem Gerechtigfeits-
prinzip des Staates. Wovon geht aber die Erörterung aus? Etwa
von der pſychologiſchen Analyje der Seele oder der Ordnung des
Kosmos? Nichts weniger als das!
Schon an der erſten Stelle ift der Ausgangspunkt ein rein
hiftorifcher, nämlich der Gedanke, daß man, um zu erfennen, wie
Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit im Staate entjteht, fich über die
Entjtehungsgefchichte des Staates jelbjt klar werden müfje.!) Und
es wird dann der gejellfchaftliche Differenzierungsprozeß, die Ent-
ftehung einer gejelljchaftlichen und ftaatlichen Dronung aus dem
Ergänzungsbedürfnis des Individuums und der Entwidlung der
Arbeitsteilung abgeleitet. Eine Auffaſſung, welche in genialer Weife
die Ergebniffe der modernen Sozialwiſſenſchaft vorwegnimmt.?)
Ebenſo iſt es das Prinzip der Arbeitsteilung und andere rein jozial-
politiihe Momente, welche an der zweiten Stelle?) für die Frage
widlung XV. Übrigens ſetzt ſich Zeller ſelbſt mit feiner Auffaffung in Wider:
ſpruch, indem er ausdrücklich zugibt, daß „die Scheidung der Stände und Die
unbedingte Unterordnung der niederen unter die höheren jchon durch Platos
politijche Anfichten gefordert” war.
!) IT 369a: 40’ ovv, mv d’ Eya, ei yıyvouernv nokMv Heaoaiucsde
koyw, zei ımv dixaioovvnv avıns Woıuev dv yıyvousrvnv zei ımv adızlav;
Tag’ av, 0 66.
2) Bgl. dieſe Ausführungen Platos (369b) 3. B. mit denen Stein
(Gejchichte der ſozialen Bewegung in Frankreich I, XIX) oder Schmollers
(Wejen der Arbeitsteilung a. a. O. ©. 48 ff.).
3) IV, 433a ff.
18%
276 Erſtes Buch. Hellas.
nad) dem Wefen der Staatlichen Gerechtigkeit entjcheivend find. Die
PBarallelifierung mit der Menfchenfeele erfcheint dagegen als etwas
Sefundäres, gewiſſermaßen als Probe auf die Richtigkeit der hiftorifch-
politiichen Nejultate Hinzugefügtes. Sie will nur zeigen, daß das
für die ftaatlihe Drdnung jchon vorher und auf jelbitändigem
Wege gefundene!) Gerechtigkeitsiveal feine Richtigkeit eben dadurch
erweife, daß es auch mit demjenigen Sittlichfeitsprinzip überein-
ſtimmt, welches al3 die Bedingung einer gefunden ſeeliſchen Kon—
ftitution, als individuelles Sittlichkeitsideal zu gelten habe?) Die
Staatslehre wird bier alfo nicht auf die Piychologie begründet,
ſondern jucht in derjelben nur die Beltätigung ihrer Ergebniffe.
Es iſt ja allerdings Klar, daß auch jo dieſe Parallelifierung
eine Verirrung und nur zu geeignet ift, die politiihe Auffuffung
der Dinge jelbjt zu trüben. Allein wir würden ihr eine über:
triebene Bedeutung beilegen, wenn wir die jelbjtändige Conception
diefer politischen Auffaffung leugnen und annehmen wollten, daß
Nlato Momente, die er jelbit ausdrücklich voranftellt, erſt nach:
träglich zur Nechtfertigung hinzugefügt habe.
Davon kann um jo weniger die Rede jein, als die aus dem
Prinzip der Arbeitsteilung abgeleitete Forderung eines für jeinen
Beruf, für feine zexvn bejonders vorgebildeten Beamtentums be
kanntlich bereits von Sokrates aufgejtellt war?) und Plato nur
die legten Konſequenzen dieſer Forderung gezogen hat. Diejelbe
it eben recht eigentlich der Nefler deſſen, was fich unmittelbar vor
den Augen des Denkers abjpielte. So jtarf das doftrinäre Element
bei Blato überwiegt, die genannte Auffaljung iſt doch wejentlich
das Erzeugnis der thatfächlichen gejchichtlichen Bewegung, der fie
fih auf Grund einer kritiſchen Analyje der Lebensbedingungen von
Staat und Geſellſchaft unmittelbar entgegenftellt. Platos Staat
it eben, — um das jchöne Wort eines modernen Nechtslehrers zu
) Das wird ausdrücklich betont 369.
2) IV, 434d.
®) Xenophon Mem. II, 7, 5. ef. II, 1, 4.
III. 2. 1. Der platonifche Bernunftitaat und feine Organe. 20
gebrauchen,) — nicht ein müßiges Phantaſiegebilde, ſondern ein
der Wirklichkeit zugewandtes, nach allen Seiten von den Fäden der
Geſchichte durchwobenes Werk.
Doch kehren wir zu unſerem Ausgangspunkt zurück!
Um die genannte Trennung zwiſchen den Organen des öffent—
lichen Dienſtes, den „Hütern“ des Staates, wie Plato ſie nennt,
und dem wirtſchaftenden Bürgertum (dem yEvos gonueriorıxov)
jo vollitändig als möglich zu machen, ftellt er die Forderung auf,
daß die Erfteren ſogar aus dem Wohnverband mit der übrigen
Bevölkerung gelöft werden müßten. Eine Forderung, deren Ver—
wirklihung allerdings dadurch wejentlich erleichtert wird, daß Plato
bei feinem Berfafjungsentwurf prinzipiell die DVerhältniffe des
bhellenifchen Stadtjtaates zu Grunde legt. Das geſamte Perſonal
des Civil- und Militärdienftes mit Frauen und Kindern denkt er
fieh in einem feiten Lager — ähnlich wie die Spartiaten in der
Zagerftadt Sparta — auf demjenigen Punkte des Kleinen Gebietes
fonzentriert, welcher jowohl zur Abwehr auswärtiger Feinde, wie
zur Beherrſchung der Landesbevölferung am geeignetjten jet.2)
Freilich ergibt ſich hier alsbald ein Bedenken, dem fich auch
Plato Feineswegs verjchließt, nämlich die Frage, ob denn dieſe
vadifale Unterwerfung der mirtichaftenden Geſellſchaft unter Die
Drgane der Staatsgewalt nicht auch über den beiten Staat gerade
das heraufbeſchwören würde, was er prinzipiell vermeiden wollte,
die Gefahr einer ausbeuteriihen Klaſſenherrſchaft.
Merden dieſe Hüter des Staates, denen die Bürgerjchaft
völlig wehrlos gegenüberjteht, ſich allegeit nur als die Vertreter
des Staatsgedanfens, als xmdsuoves rs moAewns?) fühlen und
der Verfuhung, welche in der Macht liegt, nicht am Ende doch
erliegen? Werden nicht auch ſie als die Stärferen das Intereſſe
der Bürgerichaft, das ihrem fouveränen Willen anvertraut ift,
1) Hildenbrand: Geſch. u. Syſtem der Recht: und Staatsphilojophie
all.
2) Aldd.
3) 412c.
278 Erſtes Buch. Hellas.
ſelbſtſüchtigen Negungen nachfegen und zuleßt „Statt Hunden Wölfen“,
statt „wohlwollenden Verbündeten der Bürger ſchlimmen Feinden“
gleichen?“ !)
Da die Abwehr dieſer Gefahr die Grundbedingung für den
ganzen Beltand des beiten Staates iſt, jo iſt Plato bereit, der—
felben mit allen Mitteln (mevri voor) zu begegnen. Er ver:
folgt den Ideengang, auf welchem fich die Konftruftion dieſes
Staates aufbaut, mit rückſichtsloſer Kühnheit bis zu den letzten und
äußersten Konfequenzen. Ex fieht nämlich wohl ein, daß die bloße
äufßerliche Trennung der ftaatlichen Drgane von den Erwerbs—
klaſſen noch nicht eine vollkommene innerliche Befreiung von der
Gewalt der materiellen Intereſſen ſelbſt bedeutet, jolange Die Lebens-
ordnung diefer Drgane diejelbe ift, wie die der beſtehenden Gejell-
ſchaft, d. h. wenn auch hier das Inſtitut des Privateigentums,
de3 Erbrechtes und der Erwerbsfreiheit, ſowie die damit verbun—
denen Unterjchiede des Beſitzes beftehen und ihre Wirkungen auf
den Einzelnen auszuüben vermögen. Unter ſolchen Berhältnifjen
ift nach Platos Anficht an eine vollfommene Emanzipation der
Negierenden von den Intereſſen des wirtjchaftlichen Güterlebens,
an eine Unterordnung des Individuums und feiner egoiftilchen
Triebe unter den Staatszweck nicht zu denken. Solange die Beamten,
jagt Plato, im Beſitz von Geld, Häufern und Ackern find, ift ftets
Gefahr vorhanden, daß fie fih mehr als Haus: und Landwirte,
denn als Verwalter des Gemeinwejens fühlen.)
Sp verlangt er denn von den Organen feines Staates nichts
Geringeres als den Verzicht auf das Privateigentum. Nicht
der Einzelne ſoll von der Erwerbsgeſellſchaft bejoldet werden,
fondern das gefamte Beamten- und Soldatentum als ſolches; und
zwar ſoll der jährliche Betrag, den die Erwerbsflaffen zu dieſem
Zweck in ihren Steuern aufbringen, nicht größer fein, als der
1 N 3 , ’ ‚ \ PT — —
) 416b: ovxo0v gviazteov nevri Toonw, un ToLovtoy mulv o Erti-
zovooı TONOWOL 7IE05 Tovs oAltas, Ereid) aurov xgeiTtoVs Eloiv' dvri
Evuudywv eVusvov deonorais ayploıs EPouoLwdwWor;
2) 417a.
II. 2. 1. Der platonifche Vernunftſtaat und jeine Organe. 379
Unterhalt der Bejoldeten unbedingt erheiſcht, jo daß „venjelben
zwar nichts mangelt, aber auch nichts übrig bleibt.”1) Der Sold
wid in Naturalien geleiltet. Denn mit Geld, mit Gold und
Silber, das in der Hand der Mafje ſoviel Verruchtheit erzeugt,2),
jollen die Hüter des Staates nichts zu Schaffen haben. Sie follen
es nicht unter ihrem Dache dulden, noch ſich Schmudes oder Ge-
rätes aus edlem Metall bevienen.?) Sie bedürfen auch des Geldes
nicht, da fie feinen Vrivathaushalt führen, fondern alle ihre Be-
dürfniffe in gemeinfamen Speifehäufern und Magazinen befriedigt
finden. Sie entbehren — mit Ausnahme des Notwendigiten —
allen eigenen Befiges. Nicht einmal Wohnungen haben fie, zu
denen Anderen der Zutritt verjchloffen wäre.t)
Aber mit der Bejeitigung des Individualeigentums an den
Sachgütern find noch nicht alle Quellen der Selbjtjucht verjtopft.
Es bleibt für fie immer noch ein weites Feld der Bethätigung,
jolange jene individuellen Nechtsverhältniffe und Sonderbeziehungen
zwischen Berfon und Perſon bejtehen, welche das Inſtitut der Ehe
erzeugt. ES bleibt die Möglichkeit einer Zerſetzung und Spaltung
der Hüterklaſſe durch widerftreitende Familieninterejfen und da—
mit einer Gefährdung des unentbehrlichen einheitlichen Zuſammen—
1) 416d. „Nur an Konjummitteln — modern geiprohen — follen
fie Eigentum haben, nicht mehr an Produktionsmitteln“. Dießel: Bei:
träge zum Geſch. des Sozialismus und des Kommunismus. Ztſchr. f. Lit. u.
Gejch. der Staatzw. I, 391.
2) Albe: yovolov de zwi doyigiov eineiv aurols, Ortı Helov age
HEov dei Ev 1) Woyn &yovoı zal ovdev rgoodeoyrai Tod avdowneiov, ovde
001 Tmv Exeivov Know Tn ToV HVnTov yQvooV xıj0&ı Fvuuiyvvvras ulei-
veıv, diori TTOAAR zul avooıe EOL TO TWv noAAwv voulou« yEyovs, TO ap
exeivoıs dE axnoarov.
3) 41T7a: dAAd uovois avrois Twv Ev m noAsı uerayeıpileodaı zul
nischœts yovooO zul doyvoov ov YEuıs, oVd’ Uno Tov aurov 600Yorv levau
oudE regiawaodeı ovde iivsıv EE doyvgov 7 XQvooV „ xal ovrW ulv ow-
Lowwro 7’ av zei oWLoLev ımv nodıv.
+) 416d: neWrov uev (dei aurovs Inv) ovoiav zextnusvovr undeulav
undeva idiev, dv un naoa arayan' Ensite olxmolv al tauısiov underi
eivaı under roovrov, Eis 0 0v us 0 BovAousvos Eioeıoı,
250 Erſtes Buch. Hellas.
wirfens der Träger des Staatswillens, der Einheit des Staats:
willens ſelbſt.
Damit ift für Plato — ſoweit die dem Staate dienende
Klaſſe in Betracht fommt — das Urteil auch über die Familie
gejprochen. Wie hier das Privateigentum und die Individual—
wirtichaft durch den Gemeinbefiß und die Gemeinmwirtichaft exjeßt
wird, jo die Familie durch die Frauen und Kindergemeinjchaft.
Die Frauen, welche nach der Bejeitigung des Yamilienhaushaltes
einen bejonderen jozialöfonomifchen Beruf nicht mehr zu erfüllen
haben, jollen in ihrer ganzen Grziebung und Lebensweife dem
männlichen Gejchlechte gleichgeftellt werden, !) fie jollen im Prinzip
„allen Männern gemein jein und Feine mit feinem in bejonderer
Gemeinjchaft zufammenleben.”2) in Zuftand, der übrigens eine
ſtrenge Negelung des Gejchlechtsverfehrs durch den Staat Feines:
wegs ausjchließt?) und mit „freier Liebe” nichts zu thun bhat.t)
Ebenjo jollen auch die Kinder Gemeingut fein, und weder der Vater
den Sohn, noch der Sohn den Vater Fennen.5)
Plato hofft, daß die Angehörigen einer jo organifierten
Körperichaft alle Empfindungen der Sympathie und des Wohl-
wollens, die unter der Herrichaft von Ehe und Eigentum gewiljer-
maßen indivivuell gebunden erjcheinen, auf die Gemeinjchaft und
alle ihre Mitgliever übertragen würden. Mit dem Alleinbejit wir:
ven auch die allein empfundenen Freuden und Schmerzen aufhören.)
Wo jeder in dem anderen möglicherweile einen Bruder oder eine
Schweiter, einen Vater oder eine Mutter, einen Sohn oder eine
Tochter vor ſich hat,”) wo alle dasjelbe Mein nennen,s) da würde
) Selbft der höchſte Beruf, der des Negenten, ift ihnen zugänglich! 540c.
2) 451 f.
>) VBgl. weiter unten.
4) Nur diejenigen, welche über das zeugungsfähige Alter hinaus find,
genießen diejelbe innerhalb gewiſſer Schranten. 461b.
5) 457.
6) 464d.
) 463c.
8) 462.
a»
III. 2. 1. Der platonifche Vernunftftaat und feine Organe. 281
eine völlige Gemeinjchaft der Empfindungen in Freude und Schmerz,
eine ungeftörte Harmonie der Intereffen alle miteinander wie zu
einer einzigen großen Familie verbinden.!) Sie würden wie die
Glieder des gefunden phyſiſchen Organismus zufammenleben und
zufammenwirfen im Dienjte des Ganzen, als „echte Hüter” des
Staates. ?)
Plato glaubt diefe Wirfung von den vorgeichlagenen Inſtitu—
tionen um jo eher erwarten zu dürfen, als ex gleichzeitig die ganze
Hüterflaffe von zartejter Kindheit an durch ein rein ftaatliches Er-
ziehungsiyftem einer ſyſtematiſchen Disziplinierung und Durchbil-
dung unterworfen wifjen will, um fie auf das höchſtmögliche Niveau
der Sittlichfeit und Intelligenz zu erheben.
Die für den Dienft des Staates Beltimmten werden auch
ausschließlich Durch den Staat erzogen. Er bemächtigt fich ihrer
jofort nach der Geburt, indem er die Neugeborenen in öffentliche
Pflegeanjtalten bringen läßt und zugleich Sorge dafür trägt, dab
Kinder und Eltern ſich gegenfeitig völlig unbekannt bleiben.?)
Die Erziehung ſelbſt ift auf eine harmonische Durchbildung
von Leib und Seele gerichtet, auf die möglichit gleihmäßige Ent-
widlung aller leiblichen, ſeeliſchen und geiftigen Kräfte.) Um der:
einjt im Dienfte der Gemeinschaft harmonifch zuſammenwirken zu
fönnen, müfjen die Einzelnen vor allem mit fich ſelbſt im Einklang
jein.5) Was Gymnaftif, Muſik, Poeſie, bildende Kunſt in diefem
Sinne leijten kann und ſoll, wird eingehend erörtert. Ja es wird
Die ganze Entwicklung der Schönen Litteratur und Kunſt jelbit, da—
mit fie diefen exzieheriihen Beruf auch thatlächlich erfülle, unter
die Zenfur des Staates gejtellt. Alles was Verweichlichung, Un-
1) 462b. ef. 465b: Havraeyn dn €&x TWv vouwv eionvnv noos dAdn-
dovs ol avdoss d£ovoi; noAkmv Ye.
2) A64e: ansoyalsraı (sc. TE Eionusve) avrovs aAmFıvoVs pv-
Aazas zai note um dieonav ımv nolıv.
3) 460b ff.
*) 410b ff. Dal. 591b. Ziel ift: 7 Ev To oauerı douovie und 7
Ev tn Wuyn Evupwrie.
5) gudouooroı 412a.
282 Erftes Buch. Hellas.
fittlichfeit, Unwahrhaftigfeit, Srreligiofität fördern kann, ſoll rück—
ſichtslos aus ihr ausgemerzt werden.)
Der Dichter wird fi in dem beiten Staat zum Organ des
Sittlihen und Guten machen müfjen oder — „gar nicht dichten”.2)
Ebenfo wird die ftaatlihe Aufficht über Künfte und Handwerke
dahin wirken, daß an Statuen, Gebäuden und jonjtigen Werken
alles Unfittliche, Gemeine, Häßliche und Maßloſe vermieden werde.
Wer das nicht zu leiten vermag, dem foll e3 nicht geftattet jein,
bier feine Kunft auszuüben, damit nicht die Hüter des Staates
unter Nachbildungen der Schlechtigfeit, wie bei jchlechter Koft auf:
gewachlen und davon Tag für Tag in fich aufnehmend unvermerkt
ein großes Unheil in ihrer Seele erwachjen laſſen. Nur das Schöne
und Wohlanftändige ſoll duch Kunft und Gewerbe zur Darftellung
fommen, damit „die Sünglinge, wie an gejundem Orte wohnen,
aus allem Nußen ziehen, von welcher Seite immer etwas von den
Ihönen Werken ber in ihr Auge oder Ohr fällt, einem Luftzug
ähnlich, der aus heilfamen Gegenden Gejundheit bringt, und ſchon
von Kindheit auf umvermerft fie zur Befreundung und Überein-
jtimmung mit dem Schönen treibt.” 3)
Ein Hauptgewicht legt Plato auf die Erziehung zu einer hoch-
gejteigerten Neligiofität, da er ohne die Mitwirkung jehr ftarker
religiöfer Triebfedern die von ihm geforderte Hingebung des Indi—
viduums an den Dienft der Gemeinschaft für unmöglich hält. Bon
der Anficht ausgehend, daß fittlihe Poſtulate fih am wirkſamſten
vealifieren, wenn fie zugleich al3 Forderungen religiöfer Überzeugung
1) Daher der Ausschluß der dramatischen Kunft, die auch das Schlechte
nachahmt und eine Erregung der Affekte beabfichtigt, der Ausſchluß Homer
und anderer Dichtungen, welche „unwürdige Vorſtellungen über die Götter”
verbreiten. Vgl. übrigens, was die dramatische Poefie betrifft, die merkwür—
digen ganz analogen Auberungen Göthes in den Wanderjahren (im 7. Kap.
des 2, Buches) in der Schilderung der „pädagogischen Provinz”.
2) 401b: de’ owv Tois nomrais Nuiv uovov Enioteryreov zal
AOOG@VAYACOTEOV TNv Tod ayaHod Eixove MYIoVS Eurtoleiv Tols TTOLMUROLV
7 un neo’ nulv noıeiv,
3) 40lec.
III. 2. 1. Der platonifche VBernunftftaat und feine Organe. 283
auftreten, führt er in das Erziehungsiyitem gewiſſe autoritative
Slaubensvorftellungen ein, welche — in Form von Mythen — der
beranmwachjenden Generation eingeprägt werden ſollen, um diejelbe
mit wahrhaft jozialem Geijte zu erfüllen, die egoiftifchen, antifozialen
Motive in ihrem Thun und Denken nicht auffommen zu lafjen:
Da „vie künftigen Wächter des Staates es für ſchimpflich erachten
jollen, wenn man aus geringer Urſach fich untereinander befeindet,“
fo Sollen fie nichts zu hören befommen von den angeblichen Kämpfen
der Götter und Heroen; man ſoll vielmehr durch geeignete Sagen
womöglich den Glauben in ihnen erweden, daß jelbit auf Erden
unter den Bürgern Eines Gemeinweſen wenigitens alle Feindichaft
Simde fei, ja daß in Wirklichkeit eine jolche Sünde im Staate
(d. h. im beſten Staat) niemals vorgekommen fei.!) Durch einen
eigentümlichen Schöpfungsmythus ſoll ferner allen Klaſſen der Be
völferung, den Negierenden, wie den Negierten die Überzeugung
beigebracht werden, daß alle Angehörigen des Staates als Kinder
ein und derjelben Mutter Erde, als Sproſſen des Landes, das
ihnen zu gemeinjamer Pflege anvertraut ward, untereinander Brü-
der ſeien.?)
Plato ſieht wohl ein, daß derartige Vorftellungen vom rein
indivipualiftiichem Standpunkt aus ſchlechterdings unverſtändlich
find. Aber er hofft eben von der Kraft des Glaubens, daß fie
die Mächte der Selbjtfucht überwinden werde. Die Neligion hat
für ihn diejelbe jozialaufbauende Bedeutung, wie z. B. für Carlyle,
weil fie den Mittelpunkt, um den fich das Dafein des Einzelnen
bewegt, aus dem Individuum hinausverlegt und durch den Glauben
an außerindividuelle d. h. außerhalb des Individuums liegende
Werte die Fähigkeit entwicelt, Opfer für die Gemeinschaft zu bringen,
ih in das Leben derjelben einzuordnen.
1) 378e: dAR Ei ws ueAAousv nelosıv, Ws oldeis Worte noAitns
Eregos Er&ow arınyY#ero ovd’ Eorı Tovro doLov, rorwira hexrea uchkov 7rgos
Te nedie EUFÜs zei YEOoVOL zei yowvoi zul NOEOBVTEOOLS Yıyvouevors,
xal ToUs nomtas Eyy’s ToVrwv avayzaoreov hoyorousirv.
2) 4l5a: Eore uev yag dm navres ol Ev rn noAsı adeigpoi,
WS Ynoousv no0S aurovg wuHohoyovvres.
254 Erſtes Buch. Hellas.
Allerdings ſiud es nicht die überfommenen religiöſen Formen,
von denen er fi) eine genügende Förderung dieſes Prozeſſes der
Spzialifierung verſpricht; denn fie haben die Herrichaft des Egois-
mus über das Handeln der Menjchen nicht zu verhindern vermocht.
Die Abficht Platos, die Hüter feines Staates nicht nur zur Gottes-
furcht, ſondern „zu möglichiter Gottähnlichkeit” N) zu erziehen, fett
zu ihrer Verwirklichung eine Berinnerlihung und Vergeiftigung der
Religion voraus, welche vor allem der Sinnenwelt eine ganz andere
Stellung anmweift, als die herfömmliche Volksreligion. Die Welt:
anſchauung, für welche die Sinnenwelt und damit das der Sinnen-
welt angehörige Individuum einen abjoluten und höchiten Maßftab
abgibt, joll überwunden werden durch einen Idealismus, welcher
der Sinnenwelt al3 der unvollfonmenen Erſcheinung eines höheren
unfichtbaren Seins nur eine bejchräntte, untergeordnete Bedeutung
zuerfennt und die legten Ziele menjchlichen Strebens weit über das
Individuum und das flüchtige Exdenleben hinausverlegt.
Die „göttlichen Ausfichten” (Helaı Fewolaı),?) welche die
Schöpferfraft einer genialen dichterifchen Phantaſie in dem unver:
gleichlichen Bilde von der Höhle im fiebenten Buche und in den
großartigen Spekulationen am Schluffe des Werkes dem „ſterb—
lichen, dem Tod geweihten Gefchlecht” eröffnet,3) der Hinweis auf
ein göttliches Strafgericht, welches dem Gerechten im Jenſeits mit
paradiefischer Seligfeit, dem Ungerechten mit zehnfachen Dualen
lohnt,t) die Lehre von der wahren überirdiſchen Heimat der für
unsterblich erklärten Seele, dies alles wird die Gläubigen auf den
Pfade der Tugend und Gerechtigkeit verharren laſſen, der „Für fie
im Leben und nad) dem Tode der befte ift,“5) auf dem Wege der
„mach oben“ Führt, in den Himmel.®)
1) 388.
2) 517d.
3) Hrntov yEvos Favarjyogor, vgl. 61l7e yuyai Epnuegor.
4) 6l4c. 6lde.
5) 618e.
6) Asia nopeie zai ovoavia 619e, vgl. 621 den Schlußfat der rodı-
teia: aAN dv Euoi neıda usde, voullovres dddvarov ıyoynv xal dvvaryv
II. 2. 1. Der platonische Vernunftftaat und feine Organe. 285
Dieſe Glaubenslehre deckt ſich vollfommen mit den Grund:
gedanken der ivealiftiichen Bhilojophie, welche fich als die Blüte
des geſamten Unterrichtes im platonifchen Staate darftellt, und deren
innerliche Aneignung die Bedingung für das Emporfteigen zur
höchiten Amtsgewalt bildet. Die duch die Jugenderziehung bereits
entwidelten „richtigen Vorſtellungen“ jollen bei den befähigiten
Elementen der Hüterklaffe duch eine ſyſtematiſche wiljenfchaftliche
und philoſophiſche Schulung, welche bis zum Mannesalter (bis
zum 35. Lebensjahre reicht), auf die Höhe begrifflicher Erkenntnis
erhoben werden. !)
In diefer Erkenntnis, deren höchjtes und letztes Ziel das wahr:
haft Seiende und Ewige, die dee des Guten ift, einer Erkenntnis,
welche nicht in der Einzelericheinung aufgeht, ſondern ftet3 auch auf
das Ganze, auf „alles Göttliche und Menſchliche“ zugleich gerichtet
iſt,) bejigen die zur Herrſchaft Berufenen ein Gut von jo befeli-
gendem Wert (zzijue 7dv za uaxagıor), daß ihm gegenüber alle
anderen Intereſſen in den Hintergrund treten.
Wen „echtes Weisheitsitreben” auf ſolche Höhe des Denkens
geführt hat, dem kann das Äußere Dafein jo wenig „als etwas
Großes“ erjcheinen, daß ſelbſt der Tod alle Schreden für ihn ver-
liert.*) In wejenlojem Scheine liegt das Leben des bloßen Sinnen-
genufjes unter ihm, überhaupt alles, was die große Maſſe zur ruhe—
lojen Jagd nach dem Golde jtachelt.5) Denn „wo die Triebfräfte
der Seele mit aller Macht, einem abgeleiteten Strome gleich, auf
Einen Punkt hindrängen, da wirken ſie nach allen anderen Seiten
hin um jo jchwäcer.”6) Darum find diejenigen, für welche die
ndvra uEv xaxd avkysodaı, navre DE ayadd, TS dvwm Odov dei EE-
susda zei dixaioovvnv UETE POOVNOEDS avri TOoNW Eritndevoouerv, iva
zei nulv avroig pihou wuev xal ToIG FE0lG ATA,
) 5352 ff.
2) 490b. 486a.
») 496.
+) 486a.
5) 485d, e.
°) Ebd,
Erkenntnis das Höchſte ift, zur Leitung aller anderen berufen, weil
fie allein ein einziges und feites Ziel im Leben haben, welches
ihrem gejamten Fühlen und Handeln eine abjolut einheitliche Rich—
tung gibt.!)
Sie find umſomehr zur Herrichaft befähigt, je weniger gerade
für fie der Beſitz der Macht Gegenftand einfeitig egoijtiicher Gelüſte
jein fann. Sie haben ja den unausjprehlichen Reiz eines „beſſe—
ren“ Lebens fernen gelernt, in welchem fie fi jchon auf Erden
nach den Inſeln der Seligen verjett glauben.?) Was Fünnte fie
bejtimmen, von den reinen Höhen der Forihung und Erkenntnis)
binabzufteigen in das Dunkel eines „Ichlechteren“ Lebens?) Wenn
fie es — im beiten Staat — troßdem thun, jo thun fie es nur
notgedrungen 5) und gehorjfam dem Gejes, jowie in der Erfüllung
der Dankfespflicht, weldhe fie dem Staate als ihrem Erzieher ſchul—
den, dem Staate, der fie „zu ihrem und des Staates Frommen
wie in Bienenftöden zu Weijeln und Königen beranbilden ließ.“)
Indem jo die Ausübung der oberften Regierungsgewalt in
die Hände von Männern gelegt wird, für welche diejelbe grumd-
ſätzlich ein Amt und eine Pflicht ift, ericheint auch die Verwirk
lihung des Staatszwedes durch die Träger der Staat3gewalt ge
ſichert.) Die Idee des Staates hat einen Ausdrud gefunden, in
welchem jie über alle Intereſſen erhaben daſteht.
Hier gibt es daher auch feinen Kampf mehr um die poli-
tiihe Macht, wie er daS Leben des wirflihen Staates vergiftet,
in welchem blinder Wahn „um einen Schatten kämpft und über
die Herrſchaft fich entzweit, als ob diefe ein hohes Gut wäre.“®)
286 - Erftes Buch. Hellas.
!) 519e: ... oxonör &r to Bio ... Eyovsır Eve, ov oroyaLousvovs
dei änerre nodtreıv, & Er nocrrwoiv idie TE xai dnuocie zu.
2) 519e. |
) Wo fie && ro xadaos verweilen. 520d. vgl. 500b.
*) 519d vgl. 500e u. 520b, c.
5) ws En’ avayxaiov 520e.
6) 520b.
) 52la u. 521b.
°) 520,
—
III. 2. 1. Der platoniſche Vernunftſtaat und ſeine Organe. 287
Hier herrſchen in Frieden die Repräſentanten des wahrhaften Reich—
tums, nicht des Goldes, jondern desjenigen Reichtums, der für das
Glüd unentbehrlich ift, der Sittlichfeit und Vernunſt,) während dort
„Bettler und nach eigenem Nuten Hungernde ſich auf den Staat
werfen, in der Meinung, von ihm das Gute erbeuten zu müfjen“,
und jo den inneren Kampf entzündend ſich und ihre Mitbürger
zu Grunde rihten.?)
Statt der „Träumenden“ herrichen hier die „Wachenden”,3)
ftatt der „zur Gemeinichaft Untauglichen“, Antijozialen (dvo-
zowornto)*) die wahrhaft jozial Gejinnten (of gılomokıdee),
ftatt der jittlih und geiftig Unreifen die durch „Unterricht und
Alter zur Vollendung Gelangten” (Te/sımFeis naıdeig Te zei
nAızie)d). An Stelle der Blinden, deren Geifte überhaupt fein
deutliches Urbild der Dinge (Evaoyts magadsıyue) innewohnt,
find bier die Wiſſenden getreten, welche den Staat nad) jeinem
göttlichen Mufterbild (FElov eoadeıyue)®) zu formen verftehen,
diejenigen welche allein im Stande find, an alles Gegebene den
Maßſtab der Idee anzulegen und die Wirklichkeit ideengemäß zu
geitalten. Denn fie haben das Höchſte, die fittlihe dee geſchaut
(t7v Tov ayayor ideav, ueyıorov nasynne),‘) welche den bleiben-
den Mittelpunkt alles jozialen und politiihen Denkens und Handelns
bilden ſoll.
AN dies hat Plato im Auge, wenn er es auszufprechen
„wagt”, daß im beiten Staat die treuejten der Hüter zu „Weis:
1) 52la: & uovn yao aurn @pkovemw oi To oyrı nkovanoı, 0V ygv-
iov, dAR ov dei töv evdeiuore Aovreiv, [wis ayadıjs TE zai Euggovos.
2) Ebd.: ei de nrwyoi xai neiıvovres ayasov idiwv Eni Ta dmuocıe
iaoıy, Evreidev oiouovor Tayasov deiv condlsw, oVx Eotı' MEDLU«YNTor
Yao TO Goyeiv yıyvöusvor, oixeios wv xal Evdov 6 rorodzos nolsuos av-
Tovs Te anokkvoı zei ımv Ally nohır.
) 520.
4) 486b.
5) 487a.
6) 500e.
”) 505.
988 Erſtes Buch. Hellas.
heitsfreunden” (yeAocogor) gebildet werden müßten,!) und daß
die Staaten der Wirklichkeit exft dann von ihren Übeln exlöft
werden würden, wenn die „Philoſophen“ in ihnen zur Herrfchaft
famen.?) Allerdings werden es immer nur Wenige jein, welche
ſich auf eine ſolche Höhe der Intelligenz und idealer Geſinnung
zu erheben vermögen, wie fie hier von den oberiten Lenfern des
Staates verlangt wird,?) allein die Zahl der zur Negierung Ge—
langenden ift fir Plato gleichgültig. Mag die Negierungsform
eine monarchiſche!) oder eine ariftofratiiche (im beiten Sinne des
Wortes) fein, wenn es nur gelingt, durch eine jorgfältige Auslefe
wirklich die beiten Männer an die Spige zu bringen.
Zu diefem Zwed hat fich die heranwachjende Generation der
Hüterklaffe einer Neihe von Prüfungen zu unterwerfen, die neben
geiftiger Begabung und wiſſenſchaftlichem Fortſchritt ganz bejonders
die Charakterentwidlung des Individuums ins Auge faſſen. Alle
diejenigen, welche nicht in den niederen Stellungen des Verwaltungs-
und Militärdientes zurückbleiben wollen, müſſen ſich Durch ftrenge
wiſſenſchaftliche Studien zu einer Höhe der Bildung, zu einer har—
monifchen Geſamtanſchauung der Dinge erhoben haben, die fie
befähigt, ftetS auch) ven allgemeinen Zuſammenhang alles Einzel-
1) 503b: vor de roüro uEv TEeroAunosw Elneiv, OTL ToÜg dxoıßeore-
tovs pvAaxas Yıkooopovs der xadıoravat.
2) 487e: 00 n1007800v zuxWv navoovraı wi noAgıs oliv adv Ev av-
tais oi pılooogpoı do£woıv.
5) Hohır. 293a: Enousvov dE oluaı Tovrw Tv uev 0gdMv doymv
neol Eva Tiva zei Ivo zei navrenaoıv oAlyovs deiv Snteiv. „Unter taujend
Männern brauchen noch nicht fünfzig Staatsmänner zu ſein“ 292e ff. vgl
297e f. Gorgias 521d f. 537 f.
4) Überragt ein Einzelner alle Anderen, jo ſoll er König fein.
445d: Eyysvousvov uEv Yao avdoos Evös Ev Tolg Goyovoı dıiapegovros
Baoıkeia av xAmyein, nAsıovov dE aoLoToxgarie. —
Bol. das Lob der (wahren) Monarchie 5760: zei djAov navri, oT
Tvoavvovuevns (noAsws) uLv ovx Eorıv a9Aımreoa, Baoıhevoutvns dE ovVx
evdauuoveoreg«. 506b: evxovv nulv 7 nolıreia navreAog KEX00UMoETE«L,
EQv 6 TOL0ÜTos airnv Errioxonn pVheE 6 Tovtwv Erriormuwv; Allerdings
wird die Philofophenherrichaft überhaupt als ein Baorkevewv bezeichnet. 473d,
IT. 2. 1. Der platonifche Vernunftftaat und feine Organe. 989
wiſſens klar zu erfaffen. Sie müſſen andererſeits durch die ent-
ſchiedenſten Proben von Charafterfeftigkeit und DOpferfähigfeit dem
Staate eine Bürgſchaft dafür gegeben haben, daß fie ihr ganzes
Leben hindurch) das Wohl des Ganzen zur leitenden Norm ihres
Handelns machen werden.!) „Weit jorgfältiger als Gold im Feuer
geprüft” müfjen ſie gezeigt haben, daß nichts auf der Welt, nicht
Gewalt, noch Trug, noch Begierde fie jemals in ihrer Hingebung
an ven Staat wanfend machen könne.?)
Die aljo Erprobten treten mit fünfunddreißig Jahren in die
höheren Ämter der Nerwaltung und des Heerweiens ein, um fich
jene umfafjende praftiiche Erfahrung und Tüchtigkeit anzueignen,
welche auch nach Plato für den Staatsmann unentbehrlich ilt.>)
Diejenigen aber, welche ſich hier in jeder Hinficht den Forderungen
der Praxis gewachjen gezeigt, jollen an der Schwelle des Alters
— im fünfzigiten Lebensjahre — dem „letten Ziele zugeführt” und
veranlaßt werden, ihr geiftiges Auge emporzurichten zu dem, was
Allem Licht verleiht. Sie jollen die Muße erhalten, ſich in die
Welt der Begriffe zu verjenten, voll und ganz das zu erkennen,
was in allem Wechjel des Einzelnen das ewig Bleibende, Allge—
meine, daS von dem Zufall der Erſcheinung abgelöfte wahre Wejen
der Dinge ift. Zugleich ſoll ihnen die Macht zu Teil werden, nad)
diefem höchſten Maßſtab, den ihnen die begriffliche Erkenntnis, die
Einfiht in das „an fi” Gute“ an die Hand gibt, alles jtaatliche
und individuelle Leben zu geftalten.*)
1) Al2d: ExAsxreov do’ &x TWv dAkmv pvAdzwv Tolovrovs dvdoes,
ol dv 0xXonoVow „7ulv udlore Yaivoryraı nage navre Tov Bloy, 0 usv
av ın noAsı nynowovraı Evugeoeiv, ndon noosvuie noteiv, 6 d’ av un,
undervi roonw nocaı dv EIEleıv,
2) 412e. Dal. 413d.
3) Die „Philofophen”, die Plato zur Herrichaft berufen wiſſen till,
find aljo geſchulte Praktiker, keineswegs bloß Männer der Theorie. Sie
ftehen an Erfahrung (Eurreigie) hinter Keinem zurüd. A84d. Dies darf
man nicht außer acht lafjen, wenn man die platoniiche Philofophenherrichaft
mit der der „Gelehrten“ bei Fichte oder St. Simon vergleicht.
») 540a.
Pohlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 19
290 Erſtes Buch. Hellas.
Zu dem Zweck dürfen fie zwar fortan den größten Teil ihrer
Zeit der Erkenntnis widmen, allein gleichzeitig wird ihnen die Ver-
pflichtung auferlegt, in periodifchem Wechſel wenigſtens vorüber:
gehend die oberfte Leitung des Staates zu übernehmen, wenn die
Reihe fie trifft, ich „der Mühjfeligfeit der Staatsgefchäfte zu unter-
ziehen.”1) Die Macht, die fie ausüben, ift eine abjolute. Sie
find die eigentlichen „vollfommenen Hüter” (pviaxes mwavrekeic
relesoı) de3 Staates, ihnen gegenüber alle Standesgenofjen nur aus—
führende Organe, „Helfer und Förderer des Willens der Herrſcher,“
(Ertixovool ve ai BonFoi Tvois Tov aoxovrav doyuaoıy),?) wie
diefe jelbft nur Werkzeuge der Staatsidee fein wollen. So offen-
bart fich in allen Drganen des Staates die hohe fittliche Idee, für
welche fie bejtehen und funktionieren; fie ift als allgegenwärtiges
und allbeftimmendes Prinzip in allen Handlungen der öffentlichen
Gewalten wirkjant.
Sp unerjchöpflih nun aber auch die Fülle jittlicher und
geiftiger Kräfte erjcheinen mag, welche durch den gejchilderten Er:
ziehungs- und Bildungsprozeß entwidelt werden joll, — Eine Sorge
bleibt noch vor dem weitfchauenden Geifte des Denkers beitehen:
Wird fich diefe mühlam errungene Summe von Kräften auch uns
geſchwächt erhalten oder jpäteren Generationen wieder verloren
geben ?
Obgleich die ideale Beamten: und Kriegerklaſſe als Ganzes
genommen eine Elite darftellt, die unvermeidlichen Gradunterfchiede
in der Tüchtigfeit der einzelnen Individuen find doch auch bier
feineswegs geringe. Wie nun, wenn die für die höchiten ftaat-
1) 540b.
2) 414b. Sie find auch deren Schüler. Dal. den Schlußſatz der
Grörterung über die Träger der Negierungsgewalt, der für die ganze Stellung
derjelben bezeichnend ift 540b: „Nachdem fie immer wieder Andere zu jolchen
Männern herangebildet und an ihrer Statt al3 Hüter des Staates zurüd-
gelafjen, mögen fie nach den Inſeln der Seligen von dannen ziehen, um dort
ihre Heimat zu finden, der Staat aber ihnen, wenn der Pythia Spruch dem
beiftimmt, als Halbgöttern, wo nicht als Götterlieblingen und Gottähnlichen
Denkmäler und Opfer weihen.“
I. 2. 1. Dex platonische Vernunftftaat und feine Organe. 991
lichen Aufgaben befähigten Talente fich nicht in der nötigen Anzahl
reproduzieren, dagegen ein unverhältnismäßig großer Anteil der
Vermehrung auf die minder begabten Clemente trifft? Ein Er:
gebnis ganz unvermeidlich bei einer Menſchenklaſſe, welche durch
den Kommunismus der Sorge um das tägliche Brot vollkommen
überhoben ijt, in welcher daher auch die auf die Werminderung der
geringerwertigen Individuen hinwirkende Tendenz des Dajeins-
fampfes von vorneherein fehlt.
Nato jtand hier einfach vor der Alternative: entweder der
von den äußeren Zufälligfeiten der Fortpflanzung drohenden Ver—
ſchlechterung der „für das Gemeinwejen bejtimmten” Klaſſe ihren
freien Lauf zu laſſen und damit auf die Dauerhaftigkeit feiner
Staatlichen Schöpfung von vorneherein zu verzichten oder aber —
die Fortpflanzung ihres zufälligen und rein individuellen Charakters
zu entfleiven. So abjtoßend für unjer Empfinden die Konſequenzen
find, zu denen man auf leßterem Wege notwendig gelangen muß:
die jtaatliche Regelung der Fortpflanzung durch die bewußte und
fünftliche Auslefe oder Zuchtwahl, — bei Plato konnte feine Nede
davon fein, daß er auf eine Forderung verzichtet hätte, welche ſich
aus jeinem ganzen Syjtem mit logiicher Folgerichtigkeit ergab.
Tach feiner Anficht ift ſchön und gut, was dem Staatszwece
nüßt, unfittlicp und häßlich nur das, was denjelben jchädigt.!)
Denn der Staatszwed ift ja das Glüd und, weil das Glüd, au
die Sittlichfeit Aller. Wie fünnte alfo das, was diefem Zwecke
dient, der Sittlichfeit widerftreiten? Allerdings fordert es auch ein
großes, nach unferem Gefühl zu großes Opfer an Freiheit und
Selbſtbeſtimmung. Allein gibt es für den Beamten und Soldaten
des Bernunftftaates, das unbedingt ergebene Drgan für die Durch:
) 70 uev wpelıuor xuhov, To dE PAaßeoov aioyoov 457b. Wir
haben hier, nebenbei bemerkt, bereits eine Formulierung des Syſtems des
gejellfhaftlihen Utilitarismus vor ung, wie es in einem ganz ana=
logen Sat von Leibnig zum Ausdrud kommt (omne honestum publice i. e.
generi humano et mundo utile, omne turpe damnosum), und wie es neuterz
dings Ihering eingehend zu begründen unternommen hat. (Der Zweck im
Recht II 158 ff.) a
393 Erſtes Buch. Hellas.
führung des Staatszwedes, irgend ein Opfer, welches gegenüber
diefem Zweck ein zu großes wäre?
Übrigens widerſprach ja dem Empfinden des antiken Menjchen
ein Zwang gerade auf diefem Gebiete nicht in dem Grade wie
unferem modernen. Der Hellene war gewöhnt, jelbjt die Ehe —
als das Snftitut, welches dem Staate Bürger zu geben hat —
unter einem rein politiichen Gefichtspunft zu betrachten;!) und es
ift nur die äußerſter Konfequenz diefer Auffaffung, wenn der befte
Staat, der, um der befte zu fein, fich auch feine Organe felbft
ichaffen zu müſſen glaubt, den Anſpruch erhebt, durch eine plan-
mäßige Negelung des Fortpflanzungsgejchäftes fich die ftetige Wieder:
erzeugung der für feinen Dienft geeignetiten Individuen dauernd
zu jichern.
Sp legt denn der Vernunftſtaat feinen Dienern d. h. Beamten
und Soldaten die Verpflichtung auf, ſich bei der Erzeugung der
„für das Gemeinwejen bejtimmten Kinder“ an die Altersgrenzen
zu halten, welche nach feiner Anficht die ficherite Bürgichaft für
einen tüchtigen Nachwuchs gewähren.?2) Er verlangt von ihnen
den Verzicht auf die Ehe d. h. auf freiwillige und dauernde Ver—
bindungen, und die Unterwerfung unter die fünjtlichen Veranftal-
tungen, durch welche die Staatsgewalt für jeden einzelnen Fall
die Einzelnen zufammenführt, obgleich dabei rückſichtslos nach den
züchterifchen Grundſätzen der individuellen Ausleje’) die tüchtigften
Individuen vor den minder Tauglichen bevorzugt werden.t) Prinzip
1) Vgl. 3. B. die fpartanifchen Chegebräuche, die um die Erhaltung
der Familie zu fichern, im Unvermögensfalle des Mannes den monogamijchen
Charakter der Ehe unbedenklich preisgeben. Xen. Rep. Lac. I, 7 ff.
2) Die Zeugung darf weder in zu jugendlichen noc in zu hohem Alter
erfolgen. 459a ff.
3) Plato beruft ſich ausdrüclich auf die Analogie der fünftlichen Tier:
züchtung 459a.
4) Allerdings jollen die Mittel, durch welche die Regierung dies er
reicht, das Geheimnis derjelben bleiben. Die Zuteilung der Frauen joll durch
eine „ſchlaue Verloſung“ erfolgen, welche den Anfchein der Unparteilichkeit
erweckt.
III. 2. 1. Der platonische Bernunftftaat und feine Organe. 993
ilt, daß „die Belten jih am häufigſten mit den Beften verbinden
und umgekehrt die Schlechteften nur mit den Schlechteften.” Die
Tüchtigjten jollen eine möglichit zahlreiche Nachfommenfchaft er—
zeugen, weshalb z.B. allen denen, welche im Kriegs- oder Friedens:
dienſt ſich hervorgethan — zugleich als Belohnung — eine „häufi—
gere Begünftigung des Beilagers” zu Teil wird. Sa die Grund:
ſätze der Zuchtwahl werden jo ftrenge durchgeführt, daß die Kinder
der minder tüchtigen Individuen von vorneherein als außerhalb
der Klafje ihrer Eltern ftehend behandelt werden. Sie follen ebenso
wie etwaige gebrechliche Kinder ihrer tüchtigeren Standesgenofjen
„bei Seite gejchafft werden“.) Ferner follen alle Früchte einer
von der Obrigkeit nicht angeordneten Verbindung abgetrieben, oder,
wo das nicht möglich, jo behandelt werden, als „ſei für ihre
Auferziehung fein Platz vorhanden;“2) d. h. — wie Blato felbjt
jpäter zur Erklärung hinzugefügt hat, — alle diefe von der Er-
ziehung für den Staatsdienit ausgejchlojfenen Kinder jollen auf dem
Wege heimlicher DVerteilung in der übrigen Bürgerfchaft unter:
gebracht werden.?)
Indem jo Generationen hindurch immer wieder Diejenigen
Individuen zur Nachzucht gewählt werden, welche die durch ſyſte—
matische Erziehung und Disziplinierung entwidelten Charaftereigen-
Ichaften in hervorragendem Maße bewähren, den anderen dagegen,
welche ſich den höchſten Staatszwecden weniger anzupafjen vermögen,
die Vererbung innerhalb des Standes verjagt bleibt, werden die
dem Staatszwed angepaßten Eigenjchaften der Elite des Soldaten-
und Beamtenjtandes nicht nur erhalten, ſondern dur) Häufung
) 460c dal. 459e.
2) 46le. 63 joll eben die naheliegende Gefahr einer zügellofen ge
jchlechtlichen Vermiſchung möglichſt verhütet werden, indem jeder nicht legalt-
fierte gefchlechtliche Umgang als „Sünde“ gegen den Staat verboten wird.
Kinder, twelche unter Übertretung des Sernalfoder gezeugt find, heißen „eine
Frucht der Finfternis und Schwerer Unkeuſchheit“ (461a).
) Timaeus 19a. Darnach bejtimmt jich auch der Sinn von Rep. 459e-
Von einem Förmlichen „Ausſetzen“ der Kinder nach jpartanischem Borbild,
wie es 3. B. noch Zeller annimmt, ift nicht die Rede.
994 Erſtes Buch. Hellas.
fo jehr gefteigert, daß Plato an demjelben eine „Herde von mög-
lichſter Vollkommenheit“ zu erhalten hofft.
Aber auch noch in anderer Beziehung kommt dieſes Syftem
dem Beftande der Klaſſe zu Gute. Indem es die Fruchtbarkeit
derjelben der Willkür des Einzelnen entzieht und fie ſtets mit Den
gegebenen Verhältniſſen auszugleichen fucht, begegnet es zugleich
der Gefahr eines alu ftarfen Angebotes von Kräften, für welche
der Staat feine Verwendung bätte.?) Und diefe Gefahr ift ja
hier eine befonders große, wo der Kommunismus nicht nur Jedem
für fi volle Verforgung gewährt, jondern ihm auch die Fürjorge
fie den Unterhalt feiner Nachkommenſchaft gänzlich abnimmt. Eine
ſolche folidarifch verbundene Gefellichaft könnte überhaupt nicht bes
ftehen, wenn fie der Vermehrung ihrer Mitglieder Feine Schranke
jeßen und es als ein Ur und Grundrecht der Bürger anerkennen
wollte, die Gemeinfchaft mit einer beliebig großen Zahl von Spröß:
lingen zu belaften.
Sp find denn auch hier die Vorjchläge Platos, jo verwerf
lich fie für unfer Gefühl erſcheinen, aus den vorausgefeßten Zu—
ftänden mit ftrengfter Folgerichtigfeit entwickelt; Für diejenigen,
welche die Vorausfegungen annehmen, find fie logisch unabweis-
bar. Eine andere Frage ijt freilich die, ob all das, was Plato
fi von ihrer Durchführung verspricht, auch wirklich eintreten
würde!
2.
dns Bürgerkum.
Zu der Ausführlichkeit der Darftellung, welche Plato dem
Soldaten und Beamtentum widmet, fteht in eigentümlichem Gegen-
jaß die Kürze, mit welcher er über die Lebensordnung der Erwerbs—
geſellſchaft hinweggeht.
!) noiuvıov 6 tı axoorerov. 459e.
°) 460a: To de nAndos TWv yauwv Erti Tols doyovoi TToImoouer,
iv’ ws udhore diaoWLwoı Tov avrov agıyuov Tov avdowr, oös roAguovg
TE xOL VOOOVS XML TIÄVTE TE TOLRÜTE ÜITOGKONOUVTES, Kal umte ueyahn
yuiv 7) nolıs zera To dvrarov umte ouıxga yiyrnraı.
III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 395
Man hat darin feit Ariftoteles eine Lücke des ganzen poli-
tiichen Syſtems fehen wollen‘) und die bereits bei Arijtoteles
ziemlich deutlich ausgejprochene Vermutung daran geknüpft, als fei
Plato vor den Schwierigkeiten zurückgeſchreckt, welche dieſe Frage
einer ſyſtematiſchen Behandlung entgegenftellt.2)
Kun ift es ja allerdings richtig, daß Plato nähere An:
weilungen für die Drdnung des Wirtichaftslebens im Sdealjtaate
nicht gibt, während ex in feinem der Wirklichkeit mehr angenäherten
Drganijationsentwurf des „Geſetzesſtaates“ einen ausführlichen Plan
für die ftaatlihe Negulierung der geſamten Volkswirtſchaft dieſes
zweitbejten Staates ausgearbeitet hat. Auch ijt es, wie wir jehen
werden, nicht zu leugnen, daß Plato ſelbſt nicht zu einem ab-
Ichließenden Urteil darüber gelangt ift, wie und in welchem Um:
fange in der Praris das zu verwirklichen jet, was ihm als das
Ideal einer Wirtfchaftsordnung des beiten Staates vorjchwebte.
Troß alledem ift es jedoch nicht berechtigt, daraus eine „Lücke
des Syſtems“ zu konſtruieren. Plato jelbft hat nämlich dieſen
Vorwurf ſehr wohl vorausgejehen und fich daher jo klar und be:
jtimmt wie möglich darüber ausgeſprochen, warum ev in dem
Entwurf des idealen Vernunftſtaates auf detaillierte Vorſchläge nach)
der genannten Seite hin verzichtete.
Er hat ein lebhaftes Gefühl dafür, daß gegenüber der uns
endlichen Mannigfaltigkeit, Verſchlungenheit und Wandelbarfeit der
gejellfchaftlichen Zuftände, gegenüber dem nicht minder verjchieden-
artigen und wandelbarem Menfchengemüt alle pofitive Satzung nur
einen relativen Wert beanspruchen kann. Nach feiner Überzeugung
it es immer mißlich, das Leben durch ftarre Regeln meiltern zu
wollen, welche überall und immer Geltung beanfpruchen. Denn
fein Gefeßgeber fei im ftande, genau im Voraus zu bejtimmen, was
„für alle das Befte und Gerechtefte” ift, und „indem er allen ins—
) Noch Zeller ift diefer Anficht II, 1, 907.
2) Ariftotleg Pol. II, 2, 11”. 1264a.
3, Modır. 294b: ... vöuos ovx dv note dvraıro To TE dgLOToV Kai
10 dizoraerov dxgeıßos lu ndoı nepikeßev 1o Pehriorov Enuirdrrew' ai
296 Erſtes Buch. Hellas.
gefamt Vorfehriften gibt, genau jedem Einzelnen das ihm An—
gemefjene zuzuteilen“. Als ein Einfaches, welches feinem Weſen
nad) niemals mit dem Komplizierten ſich decken wird,?) könne das
geſchriebene Gejeg — zumal auf dem Gebiete des jo verwidelten
wirtjchaftlichen Verkehrsrechtes — nur mit „groben Durchichnitten“
rechnen,?) niemals wirklich genügend auf das Individuelle eingehen.
Die Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit, wie fie in denkbar
idealfter Weife der Vernunftitaat bezweckt, wird daher dem pofitiven
Recht immer nur innerhalb enger Grenzen möglich fein. Es gibt
fein formales Necht, welches nicht um den Preis teilweifer mate-
rieller Ungerechtigkeit erfauft wäre.
Von diefem Geſichtspunkte aus erſcheint die Unterwerfung der
Negierenden unter das gejchriebene Geſetz nur als ein Notbehelf,
welcher unentbehrlich ift, um das Intereſſe der Regierten gegen
deren Unverſtand oder Egoismus zu hüten.) Wie aber, wenn
die Negierung aus Männern bejteht, bei welchen es eines jolchen
Schutzes nicht bedarf, „wahrhaften Staatsmännern”, welche der
„königlichen Wiſſenſchaft“ (ertorjun Baoıkızı,) voll und ganz
Meifter find? Sollen ihnen die Feſſeln (Eurrodisuere) gejchrie-
bener Satzungen angelegt werden, welche der praftifchen Verwirk—
lichung ihrer höheren Einficht überall Hindernd und ftörend in den
Weg treten, einer Einficht, die fich bei freier Bethätigung notwendig
bejjer bewähren muß, als alles Gejeß? 5)
ydo dvoumorntes TWV TE AYIOWNWV zei Tov nodsewv zei Tod unmdenote
undev, os Eros eineiv, Novylavr dyeıv TWov dvd9gwnivav oVdEv Euoıww
dnhovv Ev ovderi negi dndvrwv xal Eni ndvra Tov Xg0vov anopaiveodaı
teyvnv oVd’ nvrivovv.
1) 2952.
2) 294c: oVxodv ddvarov EV &ysır nno0s Ta umdenore ankd To did
navros yıyvousvov arhovv; xzıvdvvevet.
3) rayitegov ... ds Eni To old xai Ei noAlovs 294e.
‘) Ebd. 3008 ff.
5) Val. das berühmte Bild dom Steuermann ebd. 297a: woreg 6
zuBegvnems 10 Tijs veos zei vevrov dei Evuploov nagapvkdrıov, or
yoduuara tıdeis aAAd Tmv Teyvnv vouov nageyouevos, OWLEı Tovs ovV-
III. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftftaate Platos. 2397
Es iſt nur die einfache und unabweisbare logische Konſequenz
dieſer bereits in dem Dialog über den „Staatsmann“ d. h. das
wahre Königtum entwicelten Auffaffung, wenn Plato darauf ver:
zichtet, den Negenten jeines Idealſtaates über die Art und Weife,
wie fie zu regieren hätten, „viele und weitläufige” (oA xai
meyaie) Borjchriften zu machen.) Er ift ja überzeugt, daß die
von ihm vorgefchlagene Erziehung und Drganifation des Beamten:
tums dem Staate eine Negierung verbürgt, welche das denkbar
höchſte Maß praktiſcher Erfahrung und theoretischer Erkenntnis in
ſich verförpert, ein höheres jedenfalls, als es der bloße Theoretifer
für ih in Anfpruch nehmen konnte. Er würde alfo mit feinen
eigenen Anſchauungen über das Verhältnis der echten Staatsfunft
zum gejchriebenen Gejeß in Widerjpruch geraten fein, wenn er es
„gewagt“ hätte, einer jo vollfommenen Regierung, welche „in den
meijten Fällen“ die notwendigen gejeßlichen Vorſchriften leicht ſelbſt
finden werde,2) für alle Zukunft die Hand zu binden. Nicht die
tote, gegenüber der raftlojen Bewegung des Lebens ftarı ſich gleich:
bleibende Satzung joll die Grundlage der im Vernunftftaat zu
verrirklichenden idealen Gerechtigkeit fein, ſondern die lebendige,
aus dem ewig friſchen und unerjchöpflichen Born praftifcher Er:
VEUTOS, OVUTW XUl KALTE TOV aUTOV TE6NOV TOVToV IROE TWV 0VTWS doyeiv
dvvausvov 0097 yiyvon’ dv nolıreie, mv Ts Teyvns Öwunv tov vouwr
NEOEKOUEVOV KOETTO; Xi NEvTa moL0Ö0L Tols Eupoooıv Eoyovaıv 0Vx
Eotıv ducgrnua, ueyoı neo dv Ev ueya pvAdrrwoi, TO uErd vov zei
teyvns dizawrarov «si diaväuovres Tols Ev ın noAsı, OWwLeıw TE avrous
oloi TE WOoL zei dusivovs &x yeıpovav anorshtiv zard 1ö dvvarov;
!) Rep. 423d.
2) 425d: ti de, @ no0s Yewv, Eypyv, rede Ta dyogalia Evußokaiov
Te regL zart’ ayogav Exaoroı & noös ahkmhovs Evußaihovoıv, &i de Boväkı,
zei yeıoorsyvızov neol Erußokeiov zei Aowdopıwv za aizlas zei dızav
Anfews xai dIXaoTWV zaraotdoews, zul Ei nov TeADv TIves ı) nodgeıc 7
HEoEIS dvayxalol Eioıy n xat’ ayooads n Auusvas, 7 xal TO naganav dy000-
vouıxd dıra 7) dotvvouxd 7) Ehhuuevixd 7) 000 dia ToLadre, Tov-
Twv rolumsouev rı vouossreiv; AAN ov2 dEiov, Eypn, avdodoı zahois
zadyadois Enırdrreiv‘ TE nolld yco wvınv, 00a dei vouoseryoaodet,
dadims tov EVoNoovEıv.
298 Erſtes Buch. Hellas.
fahrung und wiffenschaftlicder Erkenntnis jchöpfende Weisheit feiner
leitenden Staatsmänner.
Durch diefe Anſchauung iſt es prinzipiell ausgeſchloſſen, daß
der Entwurf des Idealſtaates ſich, „wie man vielleicht erwarten
mag,“i) auf Detailvorſchriften über Fragen der Wirtſchaftspolitik
u. dgl. m. einläßt.
Man fieht wie gründlich man Plato mißverftehen würde,
wenn man mit Zeller annähme, daß Platos Idealſtaat die Erwerbs—
ftände „durchaus fich ſelbſt überlafje”.2)
Eine ſolche Auffaffung ift nur möglich, wenn man die
Stellung der wirtjchaftlichen Klaſſen in dieſem Staate völlig ver-
fennt. Sie beruht auf der falfchen Vorausſetzung, daß hier nur die
Angehörigen der Hüterklaffe als Staatsbürger zu betrachten jeien,
und daß ſich daher das Intereſſe des Staats an der materiellen und
fittlichen Wohlfahrt feiner Bürger einzig und allein auf diefe Klafje
befchränfe. Die „Mafje des Volkes“ erjcheint auf dem hier voraus—
gefeßten Standpunkt nur als die unentbehrliche materielle Unterlage
für die VBerwirklihung der mit dem Staatszweck ſelbſt zuſammen—
fallenden Lebensziele einer höheren Geſellſchaftsklaſſe. Sie ift nichts,
al3 die misera plebs contribuens, die feinen Anjpruch darauf
hat, die eigenen Lebenszwecke in gleicher Weiſe, wie die jener Bevor—
zugten, als Objekt ftaatlicher Fürforge anerkannt zu ſehen. „Ihre
Befchaffenheit ift für das Gemeinweſen gleichgültig.” 3)
Hätte Plato wirklich jo gedacht, jo wäre jein ganzes politifches
Syftem eine Abfurdität. Diefes Syftem, welches ausdrücklich er—
flärt, daß e8 Feine Alaffe der Bürger auf Koften der anderen
glücklich machen will, es ſoll alles, was nicht Beamter vder Soldat
it, als ein ganz unweſentliches Mitglied der Gejellichaft, als reines
Mittel zum Zweck behandelt haben, es foll das ganze arbeitende
1) ws doksıev &v tıs. (423d.) Man fieht, Plato hat den erwähnten
Vorwurf von Ariftoteles, Zeller u. a. jehr wohl vorausgejehen.
2, Ma: D. ©. 907.
3) Das ift die Borausfegung, auf der die „berühmtefte, weithin alles
beherrjchende” Darjtellung Zellers beruht.
IH. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftitaate Plato2. 299
Bürgertum — vom gemeinen Sandlanger bis hinauf zum Künftler
— aß eine Mafje Hingeftellt haben, deren geiftiges und fittliches
Niveau ein jo niedriges ſei, daß von ihrem Wohle weiter nicht die
Rede zu jein braude, daß man über ihr Schidjal einfach zur
Tagesordnung übergehen könne!
Was würde ferner der fulturpolitiihe Wert eines Staates
bedeuten, deſſen Leiftungsfähigkeit in einfeitigfter Weile einem kleinen
Bruchteil des Volkes zu Gute fäme, während er für die ungeheure
Mebrheit,!) vielleicht für 1920, weder in materieller, noch in fitt-
licher, noch in geiftiger Hinſicht irgend einen Fortichritt gegenüber den
bejtehenden Zuftänden bedeutet hätte! Warum hätte endlich) Plato
ohne irgend eine innere oder äußere Nötigung das für den Beltand
jeines Idealſtaates überaus gefährlihe Erperiment machen jollen,
die kleine rein ſozialiſtiſch und zentraliftiih organifierte Korporation
feiner Hüter in den Mittelpunft einer Gejellihaft zu jtellen, deren
ganzes Leben durch daS diametral entgegengeiegte Prinzip des
laisser faire (de$ ravre Eareov) beherriht worden wäre? Und
vorausgejegt, man traut ihm eine jolche politiiche Ungeheuerlichkeit
zu, wie läßt ſich mit den oben entwidelten ſozialökonomiſchen Grund-
anſchauungen Platos die Anficht vereinbaren, er habe die indivi-
dualiſtiſche Wirtſchafts- und Gejellihaftsordnung der Wirklichkeit
einfach in jeinen Vernunftſtaat herübergenommen und die Verwirk-
lichung der fein ganzes Denken und Fühlen beherrichenden jozia-
liſtiſchen Ideen grundjäglih auf einen ganz unverhältnismäßig
Kleinen Teil der Volkes beihränft?
Plato hat befanntlich in dem ipäteren Merfe?) zu zeigen ge
jucht, wie der Staat auch bei dem Verzicht auf die iweale Mufter-
regierung des Vernunftitaates zu relativ befriedigenden Zuſtänden
!) Nato bejtimmt einmal beijpieläweije die Zahl der Hüter auf Tan-
jend, denen ein Bauern-, Handiverfer- und Handeläftand von mindeſtens
20000 Köpfen gegenüberjtehen mußte.
2) Jch zweifle nicht an dem platoniichen Urſprung der „Geiege* umd
jehe in denjelben eine überaus wertvolle Duelle für die Erfenninis des jozial-
politijhen Gedanfenjyitems Platos; ein Hilfsmittel, deifen Bedeutung noch
lange nicht genügend gewürdigt iſt.
300 Erſtes Buch. Hellas.
gelangen könne. Er hat ich hier genötigt gejehen, die Aufgabe,
deren Löſung er in der Politie getroft der „königlichen Kunft“ der
fünftigen Lenker feines beiten Staates anheimftellen konnte, feiner:
jeit3 in Angriff zu nehmen und der geringeren Einficht einer weniger
vollkommenen Regierung durch Aufftellung von pofitiven Normen
für die Einzelheiten der Verwaltung zu Hilfe zu fommen. Diefe
Normen, deren Beobachtung ihm für die Wohlfahrt von Volk und
Staat umerläßlich ericheint, bezweden eine mehr oder minder ſozia—
liftifche Negulierung der gefamten Volkswirtſchaft und erftreden
fih daher auch auf das Leben aller Klafien des Volkes. Mit
großer Grindlichkeit vertieft ex fich hier in die „niedere Welt des
Marktes”, von der er fich in den früheren Werke mit „vornehmer
Geringſchätzung“ abgefehrt haben foll.*)
Es ift unbegreiflich, zeigt aber wieder einmal vecht draftisch,
wie jehr die Macht vorgefaßter Meinungen den Blick für das
Nächitliegende trüben kann, daß allem Anjcheine nach noch nieman-
dem der unlösbare Widerfpruch aufgefallen ift, der fich bei der
herrjchenden Auffaffung. aus diefer Thatſache ergibt. Hier in den
„Sejegen” ein Staat, der zwar in Beziehung auf die Güte der
Regierung hinter den höchſten Anforderungen zurickbleibt, aber den
Negierten doch noch des Guten genug leiftet und ihnen nichts Ge—
tingeres verheißt, als Erlöfung von den ſchlimmſten Krankheits—
formen der beftehenden Gefellfchaft, von Mammonismus und Baupe-
vismus und ihren Folgezuftänden,2) ein Staat, der mit der größten
Energie auf die Berfittlichung des ganzen Verkehrs: und Arbeits—
lebens hinarbeitet;?) — und dort in der rodıreia ein Staat,
welcher der wahrhaft vernunft- und naturgemäße zu fein beansprucht
und die denfbar befte Negierung haben will, in welchem aber für
die ungeheure Mehrheit der bürgerlichen Gefellfchaft dieſe vortreff-
) So Dietzel (Rodbertus IT, 228), der in diefer Hinficht Plato auf
Eine Linie ſtellt mit Schelling und Hegel, im Gegenfaß zu Fichte und feinem
„Geſchloſſenen Handelftaat”.
) Vgl. 3. B. die antikapitaliftiiche Handels: und Gewerbepolitif des
Gejegesftaates im nächſten Abſchnitt!
°) Bgl. Leg. XI, 919 und oben ©. 224 ff., ſowie Abſchnitt 3.
II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Plato2. 301
liche Negierung eine gänzlich unfruchtbare ift und fie in der Haupt-
und Grundfrage der Zeit vollfommen im Stiche läßt, — ein Staat,
der in der abjoluten Unabhängigkeit der Negierungsgewalt von allen
jozialen und wirtjchaftlichen Sonderintereſſen und Borurteilen Die
denkbar beſte Bürgſchaft für eine gevdeihliche Löſung gerade diejer
Frage bejißt, der aber unbegreiflicherweife von jolch einzigartigem
Vorzug feinen Gebrauch macht!)
Und das ſoll der Staat gewejen fein, der ausdrüdlich den
Anſpruch erhebt, daß durch ihn das Wohl aller Bürger gefördert
werden joll, der Staat, in welchen PBlato auch dann noch das
höchſte politische Ideal erblicte, als er es unternahm, jenen zweit-
beiten Staat zu Eonftruieren?
Diejer Entwurf des zweitbeiten Staates ift, wie ſchon be—
merkt, ganz und gar von fozialreformatorischem Geifte erfüllt. Ex
erkennt ausdrücklich als ein „verftändiges Gemeinweſen“ (rodıs
vovy Exovoe) nur ein ſolches an, welches die „Heilung“ der jozialen
Krankheitericheinungen (Ts v000Vv revınc @owyrw) ernjtlich und
auf breitefter Bafis in Angriff nimmt;2) und er fpricht anderer
jeit$ die Erwartung aus, daß ein folches verftändiges Gemeinwesen
bei der Durchführung diefer und aller fonftigen ftaatlichen Auf:
gaben ſich jo enge als nur immer möglich an das Vorbild des
idealen VBernunftitaates anjchließen werde.?)
1) Ber jolcher Auffafjung iſt es allerdings begreiflich, daß man neuer—
dings ſogar eine Ahnlichkeit zwiſchen Plato und dem doftrinären Liberalismus
unjeres Jahrhunderts entdeckt Hat! „Unfere politiiche Litteratur — jagt
Krohn: Der platonijche Staat S. 29 — hatte eine Zeit, two fie mit der Ab-
handlung der Berfafjungsfragen alles gethan zu haben meinte. Die ſchwie—
rigeren Fragen, die für die Wohlfahrt und den Beſtand des Staates außer—
halb des formellen Organismus der Gewalten in Betracht kommen, fanden
feine Würdigung. Einer ähnlichen Einfeitigfeit unterlag Plato. Mit der
Bildung zu den Staatzämtern hielt ex die Sache für erledigt, radd«
Enera“.
LEERE 91IEZT
>) ib. 739e: dio d7 napadsıyua ye nokırsiag ovux @Akn on
GxXoneiv, aAA' Eyousvovs Tavıns mv 0 Ti uchıore Toiwvenv Inreiv zare
dvvauır.
303 Grites Buch. Hellas.
Wie wäre eine ſolche Auffaffung möglich gewejen, wie hätte
Plato auch damals noch den Bernunftsjtaat als das iveale Mufter-
bild für jeden fozialen Zufunftsitaat aufitellen können, wenn der-
jelbe fein jozialpolitifches Intereſſe ausschließlich auf feine Beamten
und Soldaten Fonzentriert und die ganze übrige Geſellſchaft dem
„größten Übel“ (dem ueyıoror voonue) überlaffen, alfo ſelbſt
nicht den Anforderungen entjprochen hätte, welche Plato an ein
verftändiges Gemeinwejen ftellt?
Sn den „Gejeßen” heißt es, jelbjt in einem Staate mit nur
mittelmäßiger Berfaffung und Berwaltung müſſe für alle Freier
und Sklaven joweit Sorge getragen werden, daß niemand in den
äußerſten Grad der Armut verfinfen könne und dadurch zum Betteln
genötigt werde.!) Im beiten Staate dagegen joll jogar die große
Mehrzahl der Bürger völlig fich ſelbſt überlaſſen bleiben!
Das einzige pofitive Zeugnis, welches für die angebliche
„Sleichgültigfeit” des Vernunftitaates gegenüber dem gejamten er-
werbenden und wirtjchaftlich thätigen Bürgertum geltend gemacht wird,
it die befannte Bemerkung der Bolitie, daß für den Beitand des
Staates die Beichaffenheit der an Negierung und Gejeßgebung Be-
teiligten wichtiger fei, alS die der Negierten. „Auf die übrigen —
d. h. wer nicht Beamter und Soldat it, — kommt es weniger
an. Denn wenn auch die Schuhmacher ſchlecht geworden und vor—
geben das Gegenteil, d. h. gute Schufter zu fein, ohne es wirklich
zu fein, jo liegt darin noch feine Gefahr für den Staat. Wenn
aber die Hüter der Gejeße und des Staates das nicht find, mas
fie heißen, jondern es nur feheinen, dann fieht man, daß fie den
ganzen Staat von Grund aus verderben, wie e3 ja auch allein in
ihrer Hand liegt, den Staat zu einem gut verwalteten und glüd-
lichen zu machen.“ 2)
1) Leg. 936.
?) 42la: «Ada av uev aAlov EiAdtwv Aoyoc' vevgoßodgpot yao
Yavkoı yevousvor za bIapFagEvrss za IE00NOLMEAUEVOL Eivat, UN OVTEs,
noAsı ovdev deıwov' gpiiaxes dE vouwv Te zul noAews um Ovres, aAAc
doxovuvres, opds d7 or naoav dodyv nom anoAdvaoı xal av Tod &Ü
oizeIv zul Evdauıuoveiv uovor Tov xuıgov Eyovoıv.
IT. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftitaate Platos. 303
Daß diefe Bemerkung für die herrichende Auffaffung nichts
beweift, liegt auf der Hand. Nur vorgefaßte Meinung kann in
derjelben einen falſchen Ariſtokratismus finden. Es iſt nicht
ariftofratiiches Vorurteil, jondern einfach wahr, daß der Staat in
eriter Linie an der Fähigkeit jeiner Drgane interejfiert ift und erſt
in zweiter an der QTüchtigfeit der einzelnen Privaten. !)
Übrigens ift dieſe letztere Plato Teineswegs gleihgültig.2)
Die Negierung feines Spealftaates hat jorgfältig darüber zu wachen,
daß nicht bloß die Negierenden, jondern auch alle anderen Klaſſen
ihr Tagewerk in möglichſt tüchtiger Weiſe betreiben?) Daher
finden fih auch gerade in dem Entwurf des Idealſtaates die be:
fannten Grörterungen, wie durch die Vervollkommnung der Arbeits:
teilung und die Bekämpfung des Mammonismus und Pauperismus
die Tüchtigkeit des wirtichaftenden Volkes gehoben werden Fünne.
Diefe Thatjache kann nur derjenige überjehen, der mit Zeller der
Anficht ift, daß bei einem „Verächter allev Erwerbsthätigkeit“ wie
Plato „von volfswirtjchaftlichen Gefichtspuntten überhaupt feine
Rede ſein“ Fönne!
Nun ſoll aber die Stelle nicht bloß beweiſen, daß Plato die
ı) Thomas Morus, der gewiß fein Verächter wirtſchaftlicher Arbeit
ift, hat den Sat Platos noch jchroffer formuliert: Reipublicae, heißt es in
der Utopia (II. 217), . . . salus et pernieies a moribus magistratuum pendet.
Dol. auch die Bemerkung Paulſens (Ethik II 750) über die Bedingungen des
Intereſſes der Gejamtheit an dem Erfolg der twirtjchaftlichen Arbeit des
Einzelnen.
2) Zeller überjieht, daß es nicht heißt zur Amy ovdeis Aoyos,
fondern EAdtrwv Aoyos. Das hat Freilich jchon Hegel ignoriert (Geſch. der
Phil. I, 286), deſſen Auffaſſung der Politie überhaupt die Anſchauungen der
Folgezeit in hohem Grade beeinflußt Hat.
3) 421e. Plato ift alſo ebenfo, wie fein Kritifer Ariftoteles IL, 2,
14. 1264b, überzeugt, daß in der That die Beichaffenheit der letzteren für
den Beitand des Idealſtaates eine wichtige Sache tft. — Das hat auch bereits
Nohle: Die Staatslehre Platos in ihrer gejchichtlichen Entwicklung (S. 145)
big zu einem gewiſſen Grade wenigſtens erkannt; eine Schrift, die überhaupt
— trotz mancher Einfeitigfeiten und Übertreibungen — mehrfach richtigere
Wege eingejchlagen hat, als die herkömmliche Auffaſſungsweiſe.
304 Erſtes Buch. Hellas.
praftifche QTüchtigfeit der arbeitenden Klaffen gering geſchätzt, ſon—
dern noch mehr, daß ihm auch für ihre Moralität das nötige Inter—
eſſe fehlte.) Nach der Anficht Zellers hätte Wlato, wenn ihm an
der Erziehung der gewerblichen Klaffen etwas gelegen war, Diejes
andeuten, er hätte jagen müffen: Ob der Schufter ein Schufter oder
nicht, berührt den Staat nicht groß, aber ob er ein rechtjchaffener
Mann ift, berührt ihn.“
Darauf iſt einfach zu erwivdern, daß nach dem ganzen Zus
ſammenhang dieſer Stelle eine ſolche Bemerkung gar nicht am
Nabe war, daß dagegen Plato unmittelbar darauf, wo er von den
genannten wirtichaftspolitifchen Maßregeln zur Hebung des dritten
Standes |pricht, in der That fein Intereſſe an der Sittlichfeit des—
jelben jo deutlich wie nur möglich zu erkennen gibt! Er will die
Bürger des dritten Standes vor Not, wie vor Überfluß bewahrt
willen, weil fie dadurch nicht bloß zu jchlechten Arbeitern, ſon—
dern auch zu Schlechten Menſchen würden,?) weil ſonſt Aus—
Ichweifung, Müßiggang, gemeine Gejinnung (avsdisvteore) unter
ihnen überhand nehmen könnte.?)
Ebenjo leicht erledigt fi die Behauptung, daß Plato, wenn
ihm an der Sittlichfeit des dritten Standes etwas lag, auch hätte
angeben müfjen, wie derjelbe dazu erzogen werde.
Wir jahen, daß Plato der Regierung des beiten Staates
ſolche Detailvorfehriften in Beziehung auf den dritten Stand über-
haupt nicht macht.*) Andererjeit enthält der Organifationsentwurf
des zweitbeiten Staates in der That jolche Angaben über die Art
und Weile, wie auch die Moralität der wirtfchaftenden Klaffen zu
heben jei — und zwar nicht bloß im öffentlichen Intereſſe, ſon—
’) Letzterer Anficht ift übrigens auch Nohle.
?) 42le: yelow uEv TE TWv Teyvov Eoya, yeloovs de avroi.
3) 449a.
*) Ebenjowenig wie über andere wichtige Lebensfragen de3 Staates
3. B. die Organifation der Juſtiz, Verwaltung u. ſ. w. Warum zieht Zeller
daranz nicht den Schluß: „Wenn Plato an einer guten Zuftiz, Verwaltung
u. ſ. w. etwas lag, jo hätte ex auch angeben müſſen, wie diefelbe zu organi—
fieren ſei.“
IT. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftftaate Platos. 305
dern zu deren eigenem Bejten.!) Plato jagt dort, die Hüter der
Geſetze hätten ſtets zu bedenken, daß fie nicht bloß Leute zu regieren
haben, deren Charakterbildung die Wohlthat einer guten Abkunft
und guten Erziehung zu teil geworden, und die daher vor gejegwidri-
gem und jchlechtem Thun leichter zu bewahren ſeien, als diejenigen,
denen dieſes verjagt ift und die noch dazu durch ihren Beruf ftarfen
jittlihen Verſuchungen ausgejeßt find. Diefe müßten bejonders
jorgfältig überwacht werden. Es müßten Mittel und Wege ge
funden werden, daß ſelbſt der Charakter des niedrigſten Krämers
„nicht jo leicht ein jchmußiger und ſchamloſer werde”, daß wir
auch „an einem jolchen einen möglichit wackeren oder doch einen
möglichit wenig Tadel verdienenden Mitbewohner unjeres Staates
haben.”2) Ja Plato geht noch weiter und gibt jelbjt ausführliche
Anweilungen über die Hebung derjenigen Menfchenklaffe, deren
moraliſche Verfümmerung für die Anſchauung des Hellenen wohl
als eine hoffnungsloje ericheinen konnte, nämlich der Unfreien.
Gegenüber der Anficht, daß an der Sklavenfeele nichts Geſundes fei
(ös vyıds ovVdev Woyng dovang), und daß man dem Sklaven in
allem und jedem mißtrauen mühe, hebt Plato die TIhatjache her-
daß viele Sklaven in jeder Art von Tüchtigfeit ihre Herren
überträfen (xgsirrovs rrooös aoeınv acer). Cr erklärt es als
eine Angelegenheit von großer W Wichtigkeit für das öffentliche, wie
für das private Intereſſe, dieſe Tüchtigfeit im Sklaven zu ent-
wiceln, und er verlangt zu dem Zwecke eine jorgfältige moralifche
!) Leg. 920e: zei oyedov ovrws av — d.h. nach Verwirklichung
der platonijchen Vorſchläge — xzenmisie Ta uEv wpehol Exdorovs, 0 ULXE0-
tara de av BAanıtoı Tovs Ev tais noleoı yowue£vovs.
2) 920a: Onws ws doıortos zal KUXOS WS NxrLoTa 06 ToLovros nuiv
n Evvoıxos Ev rn noAdı, Toos vouopvAazas yon vonoaı pvhazas eivaı un uovov
&xeivwv, OU pvharreıv ögdıov un naoavouovs zal zazoVüs ylyveodaı, 00qL
yev£ocı zul zeugigiz ev nenaldevvraı, tods dE un Torovrovg Ertndevuere
TE enıtndevovtes, & donnv Eyeı TtLvo lo yvocv 7005 To 1E0TEENELV
xaxoüs yiyvsosaL,pvAaxr£ov uckhkorv. Bgl.I19e:... Tois uereoyovaı
Tovrwv TWv Enıtndevudeov EvgElV ungarnv, OnNWs 797 un dvednv avaı-
oyvvrias TE xal avehsvdegov wuyjs uEToya ovußmoereı yiyveodaı badiws.
Pohlmann, Geſch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. 1. 2)
306 Erſtes Buch. Hellas.
Einwirkung auf defjen feelifches Leben. Der Staat wie der Einzelne
muß wünschen, daß die Sklaven ihren Herren möglihjt wohl:
wollend gegenüberjtehen.!) In der Behandlung der Sklaven zeigt
es fi), wer im ftande ift, „eine fruchtbare Tugendjaat aus-
zuſtreuen“ (orreiosıw £is @osrhs Exgyvow).?) Es handelt ſich
um eine fittliche Pflicht, deren Erfüllung — weil von dem Starken
gegenüber dem Schwachen geübt — das echtejte Kriterium einer
wahrhaft gottesfürchtigen und gerechten Gefinnung fei.?)
In folcher Gefinnung nimmt fich der platoniſche Gefeßesftaat
jelbft der Sklaven an, die nicht einmal Hellenen, ſondern verachtete
Barbaren find, da Plato in feinem Staat alles, was hellenifchen
Stammes ift, von vorneherein vom Sflavenlos verjchont willen
will.) Und bei ſolchen Anſchauungen jollte es Plato für „gleich
giltig” erklärt haben, ob in feinem Vernunftſtaat der Gewerbes
treibende, der hier noch dazu dem Staate als Bürger angehört,
ein rechtfchaffener Menfch ift oder nicht, während in den „Geſetzen“
als die einzige Steuer, welche der Staat von den Gewerbetreiben-
den fordert, deren Nehtlichfeit bezeichnet wird.) Derſelbe Mann,
der jogar den nichtgriechifchen Sklaven zum „Wohhvollen“ gegen
feinen Heren erzogen wiljen will, jollte es nicht „ver Mühe wert”
gefunden haben,) im Vernunftſtaat auf die Gefinnung der großen
Mehrheit der Bürger einzuwirken, ev jollte ſich „mit dem pafjiven
Gehorfam des dritten Standes begnügt haben, der im Notfall er:
zwungen werden Fann??)
) yon dovkovs ws EUUEVEOTETOVG ExImodai xai dolortovg.
776d vgl. 777e, wo am gejchichtlichen Beifpielen des Gegenteil beiviejen
wird, wie gefährlich die Nichterfüllung diefer Forderung werden fann.
2) 777e.
s) 777.
4) Diefe Forderung der Aufhebung der Unfreiheit für alle Hellenen
wird bereits im Staate (469b) aufgeftellt.
5) Der Geſetzesſtaat verlangt don ihnen weroiziov undE ouıxgov nAnv
tov owpooveiv xri. Leg. S50b.
6) Zeller ©. 890.
) Ebd, ©. 908.
III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 30%
Wenn dem wirklich jo wäre, jo müßte Plato feine Stellung
zur wirtschaftlichen Arbeit und zum wirtichaftenden Bürgertum in
der Zeit von der Abfaffung des „Staates“ bis zu der der „Ge—
jege” völlig geändert haben. Er wäre dann aber auch für uns
ein pſychologiſches Nätjel! In der von dem Fühnften Optimismus
erfüllten Epoche feines Lebens, in welcher ev von der idealen Ent-
wicklungsfähigkeit der menschlichen Natur jo hoch wie möglich dachte,
hätte ev dem wirtichaftenden Bürgertum in all feinen Gliedern die
Möglichkeit des fittlichen Fortichrittes grundſätzlich abgelprochen;
ſpäter dagegen, als bei ihm mit der gejteigerten Empfindlichkeit für
die Schwächen der menjchlichen Natur auch die Neigung zur herben
Beurteilung der Menjchen überhaupt zugenommen, al3 traurige
perjönliche Erfahrungen jeinen Glauben an die Menjchheit er-
Iehüttert und ihn zum Verzicht auf die Ausführung feiner Liebiten
Ideale bejtimmt hatten, hätte er gerade über die der fittlichen Ver-
juchung und Entartung am meiſten ausgejeßte Mafje des Volkes
ungleich günstiger geurteilt!
Nun find es allerdings gerade Äußerungen der „Politik“,
auf welche fich diejenigen ftüßen, die da meinen, Plato habe es
ih gar nicht anders denken können, als daß derjenige, welcher ſich
der wirtjchaftlichen Arbeit widmet, „keinerlei perjönliche Tüchtigkeit
erlange.”) Allein haben die Worte Platos wirklich diefen Sinn?
Er klagt einmal über die unberufenen Glemente, welche fich
— bejonders aus gewerblichen Kreifen — zu den Studien drängten,
um deren jehöner Außenfeite willen „von der Technik zur Philo—
jophie” überjprängen, obgleich fie entweder von Haus aus unge
nügend veranlagt Seien oder durch die unvermeidlichen Nachteile
einer handwerfsmäßigen Beihäftigung eine Störung und Hemmung
in ihrer leiblichen und geiftigen Entwidlung erlitten hätten. Worin
diejes Zurüchbleiben der körperlichen und geiftigen Entwiclung be
jteht, wird nicht gejagt. ES wird nur mit bildlichem Ausdruck
von einer „Niederbeugung”, einer „Knickung“ der Piyche ges
!) Zeller ebd. 890.
20*
508 Erſtes Buch. Hellas.
ſprochen. Dieſelbe erſcheint wie ein Baum, dem die Krone ge—
brochen und damit die Fähigkeit zum Emporwachſen genommen.))
Aber dem ganzen Zuſammenhange nach kann der Sinn der
Stelle nur folgender ſein: Wer durch mechaniſche Arbeit ſein Brot
erwerben muß, vermag ſich nicht jene Harmonie der phyſiſchen und
geiſtigen Kräfte zu erhalten, welche die Hauptbedingung erfolg—
reicher Gedankenarbeit iſt. Auch liegt es in der Natur der mecha—
niſchen Arbeit und der Sorge für den täglichen Erwerb, daß ſie
jene geiſtige Energie und jenen idealen Aufſchwung der Seele nicht
aufkommen läßt, welche die höchſten Berufe, insbeſondere der des
Denkers vorausſetzen.
Es iſt das dieſelbe Anſchauung, wie wir ſie z. B. bei Fichte
wiederfinden, wenn er „über das Weſen des Gelehrten“ ſagt, daß
die große Maſſe der Menſchen ausſchließlich in der Welt der ſinn—
lichen Erſcheinung lebe und in dem, was dieſelbe für Realität
nimmt, niemals ſich zur Erkenntnis deſſen aufzuſchwingen vermöge,
was aller Erſcheinung zu Grunde liegt. Die moderne Sozialwiſſen—
ſchaft betrachtet ſogar das als eine offene Frage, ob „der mecha—
niſche Handarbeiter je die Nerven: und Denkentwicklung erreichen
wird, wie unfere heutigen Kaufleute und Mittelftände.“2) Wie
fann man es da als Ausfluß ariftokratifchen Hochmutes gegenüber
den bandarbeitenden Klaſſen bezeichnen, wenn Plato denjelben nicht
die Nerven- und Denkentwicklung zutraut, welche die höchiten Be
rufe bedingen? Don Klafjenvorurteilen kann bier jo wenig die
Jede fein, wie bei dem Handwerkerſohn Fichte, der, obwohl ein
lebhafter Borfämpfer bürgerlicher Freiheit und Gleichheit, aus den—
jelben Prämiſſen, wie Plato, den Schluß zieht, daß politiſche
!) Rep. 495d: & twv reyvov Exındwoıw Eis mv gıAooogpiav, oL
av xouvoraroı Ovres TVyydrwoı nIEOl TO WürWv TEYVIov.. 0uUws Kao din
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pvVosıs, ondo dE TWv Teyvov TE zei Ömuiovoyiwv, woneo ta owuara Aeho-
Pnvrai, ovrw xal Tds ıyuyas ovyrsxharousvor TE xal anorsdovuusvor did
Tas Pavavoias Tvyydvovamv .n) 00% avayan; xal udha, Epn.
) Schmoller in dem Aufſatz über die Arbeitsteilung a. a. O. ©. 102.
II. 2. 2. Das Bürgertum im DVernunftitaate Platos. 309
Freiheit höchſtens nur für Einen notwendig fei, daß die Über:
tragung der Negierungsgewalt an diefen Einen oder einen „Aus—
ſchuß“ den Vorteil gewähre, daB „die Bürger alsdann ruhig fort-
fahren können, dasjenige zu treiben, was fie verſtehen!“i)
Wir befigen eine intereffante Parallele zu der Äußerung des
Philoſophen an der Erörterung über den Beruf des Schriftgelehrten
in dem jüdiichen Spruchbuch Jeſus Sirach. Hier heißt es wört—
ih: „Die Weisheit des Schriftgelehrten [geveihet] in glücklicher
Muße und wer in feinen Gejchäften erleichtert ift, wird weile. 2)
Wie kann weiſe werden, wer den Pflug führet und fich des Stachel-
ſtecken rühmet, Ochſen treibet und in ihrer Arbeit lebt und webt,
umd dejjen Gejpräh nur von jungen Stieren ift? Seinen Sinn
richtet er darauf, Furchen zu ziehen, und feine Sorgfalt aufs Futter
für die Rinder. Alſo jeglicher Werfmeifter und Baumeifter, welcher
Tag wie Nacht (mit Arbeit) zubringet; die Stecher der Siegelvinge:
Eines Solchen beharrliches Streben iſt manichfaltiges Gebild an—
zubringen; feinen Sinn richtet er darauf, die Abbildung ähnlich
zu machen, und ift früh und jpät daran, das Werk zu vollenden.
Alfo der Schmied, welcher am Amboß fitet und auf das Werk
des Eifens Acht hat. Der Dampf des Feuers zehret jeinen Körper
ab, und mit der Hiße der Eſſe hat er zu fämpfen. Der Schlag
des Hammers betäubet jein Ohr und auf das Mufter des Gerätes
jtehen jeine Augen. Seinen Sinn richtet er auf die Vollendung
feiner Werke, und ift früh und jpät daran, fie mit Zierlichkeit zu
vollenden. Alſo der Töpfer, welcher bei feinem Werke fißet und
mit jeinen Füßen die Scheibe umdrehet; der in bejtändiger Sorge
wegen jeines Werkes, und dem zugezählet ift ſeine Arbeit. Mit
jeiner Hand bildet er ven Thon und vor den Füllen biegt er die
feite Maffe. Seinen Sinn richtet er darauf, die Glaſur zu voll
1) Gef. Werfe VII 160. Man leje auch die düftere Schilderung des
Arbeitslebens und Verkehrs im zweiten Buche des „gejchlojfenen Handels:
ftaates” — und man wird Plato richtiger beurteilen!
2) 38. 24: oogia yoauuateiws Ev evxaıpie oyoAjs, zei 6 EAaooov-
uevos nodseı @uTov GOPLOFMEET«L.
310 Erſtes Buch. Hellas.
enden, und it früh und jpät daran den Dfen zu fegen. Dieſe
alle verlaffen fih auf ihre Hände, und jeglicher beweijet bei jeiner
Arbeit jeine Kunft. Ohne fie kann feine Stadt erbauet werden
und niemand kann darin wohnen noch verkehren. Aber in der
Gemeinde ragen fie nicht herror, figen nicht auf dem Nichterftuhle,
erforschen das Geſetzbuch nicht, noch können fie Necht und Gerechtig-
feit an den Tag bringen, und in Sprüchen werden fie nicht er—
funden. Sondern fie erhalten die Schöpfung der Welt und ihr
Verlangen gehet auf die Arbeit der Kunft.!) — Anders, wer
jeinen Geift darauf richtet und finnet über das Geſetz des Höchſten!“
Lieſt ſich Diefe ganze Erörterung nicht wie ein Kommentar
zu dem Urteile Platos über die wirtjchaftliche Arbeit? Und doch
bat wohl Niemand daran gedacht, jo weitgehende Schlußfolgerungen
aus den Sprüchen des Jeſus Sirach zu ziehen, wie aus jenem
Satze Blatos. Im Gegenteil! Ein gewiß nicht „volfsfeindlich“
gefinnter moderner Staatslehrer, Bluntichli, hat ſich zur Wider:
legung eines falſchen Gleichheitsprünzips u. a. auch dieſer nad)
feiner Anficht „kerngeſunden“ Sprüche bedient,2) obgleich diejelben
das Prinzip der Arbeitsteilung zu Ungunften der Erwerbsklaffen nicht
minder einfeitig überjpannen, als Plato.
Kun iſt es allerdings richtig, daß von Wlato das Banaufen-
tum mit einer gewiſſen Schroffheit in feine Schranfen zurücgewiejen
wird. Aber es ift damit doch noch nicht gejagt, daß bei einer
bandwerfsmäßigen oder gewerblichen Thätigkeit überhaupt von
feinerlei .perjönlicher Tüchtigfeit mehr die Nede fein könne, daß
jeder Gewerbsmann notwendig das fein müſſe, was wir einen „an
Leib und Seele verfümmerten” Menſchen nennen.
Wenn Plato in der Handarbeit eine Urſache zu vielfacher
Schwächung der phyfiichen, jeelifchen und geiftigen Kräfte fieht,
folgt daraus, daß er diefe Verfümmerung für eine jo weitgehende
') 33: zai Ev ExzAmoig ovy ünegakoövreı . Ertl dipoov dixaorod ov
zadoörraı zai Hadnenv xoluaros ov dievondmoortat, oVdE un Expavwoıv
dixaioovvyv zei zolua' zal Ev nagaßokais ovy EVEEIMEOVTEL AT.
?) Allgemeines Staatsrecht (6) 662.
III. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftftaate Platos. 311
und rettungsloſe hielt, um das ganze produzierende Bürgertum
einfach ſeinem Schickſale zu überlaſſen? So ungünſtig auch die
Vorſtellungen geweſen ſein mögen, welche ſich Plato bei ſeiner
Einſicht in das Getriebe der Volkswirtſchaft und der techniſchen
Produktion!) und in die Wirkungen einer weitgediehenen indu—
jtriellen Arbeitsteilung ja notwendig aufdrängen mußten, peſſimi—
ftifcher find feine Äußerungen jedenfalls nicht, als diejenigen, welche
der Begründer der modernen Nationalökonomie über die nach feiner
Anfiht in fortgejchrittenen Induſtrie- und Handelsftaaten unver:
meidliche Verfümmerung der handarbeitenden Klafjen gethan hat.
Es ift von Intereſſe, diefe Ausführung Adam Smiths fich zu
vergegenwärtigen. Sie vereinigt an Einer Stelle alle die Klagen, in
welchen der doktrinäre Liberalismus, wenn fie bei antiken Autoren
auftreten, nur Vorurteile eines falſchen Arijtofratismus zu ſehen pflegt.
„Bei der immer weiter getriebenen Teilung der Arbeit, jagt
Adam Smith, kommt es endlich dahin, daß der größte Teil derer,
die von ihrer Hände Arbeit leben, d. h. der größte Teil des Volkes
auf einige wenige Berrichtungen eingeſchränkt ift. Nun wird aber
der Verſtand der meilten Menjchen bloß durch ihre gewöhnliche
Beichäftigung gebildet. Der Menjch, welcher fein ganzes Leben
damit zubringt, einige einfache Operationen unaufhörlich zu wieder:
holen, Operationen, deren Erfolg auch immer derjelbe oder Doch
jehr gleichförmig ift, kommt nie in den Fall, jein Nachdenken an-
zufteengen oder feine Erfindungskraft zu üben. Er verliert aljo
gewöhnlich die Fähigkeit nachzudenken und wird mit der Zeit jo
unwiſſend und bejchränft, als nur irgend ein menjchliches Gejchöpf
werden fann. Die Schlaffucht, in welche jein Geift verfinkt, macht
1) Man denfe nur an die mannigfaltigen treffenden Vergleiche und
Beijpiele aus den verjchiedenften Produftionsgebieten, 3. B. die Ausführungen
im „Staatsmann“ über die Technik der Gewebeinduftrie, an die Erörterungen
über die Entftehung des Geldes und des Handels, über die Vorzüge der
Arbeitsteilung u. dgl. m. — Wie Dilthey: Einleitung i. d. Geiſtesw. ©. 286
angeficht3 diefer Ausführungen behaupten kann, Plato habe in „faljcher Vor—
nehmheit“, infolge feiner „Falfchen vornehmen Richtung Arbeit, Gewerbe und
Handel feiner Unterfuchung unterzogen“, iſt mir unbegveiflich.
312 Erſtes Buch. Hellas.
ihn nicht nur unfähig für vernünftige Disfuffton, ſondern erſtickt
auch in ihm alle edleren Gefühle des Herzens und erlaubt ihm
daher nicht einmal die gewöhnlichen Pflichten des Privatlebens
gehörig zu erfüllen. Über die großen und umfasfenden Gegenftände
des öffentlichen Wohles ift er durchaus unvermögend ein Urteil
zu fällen, und wenn nicht außerordentliche Vorkehrungen getroffen
find, den Wirkungen feiner Lebensweiſe entgegenzuarbeiten, fo ift
er auch unfähig, jein Vaterland im Kriege zu verteidigen. Die
Einförmigteit feiner fißenden Lebensweiſe ſchwächt jeinen natür—
lichen Mut und bewirkt, daß er das unftete, mühjelige und gefahr:
volle Leben eines Soldaten mit Furcht und Abjcheu anfieht. Sie
ichwächt jogar feine förperlichen Kräfte und erlaubt ihm nicht, Die
Stärke und Beweglichkeit feiner Glieder anhaltend und angeftrengt
in irgend einer anderen Beichäftigung, als in der Arbeit feines
gewöhnlichen Berufes zu gebrauchen. Die Gejchielichkeit in jeinem
Gewerbe ſcheint alfo auf Koften all feiner geiftigen, jozialen und
friegeriichen Tugenden erworben zu jein. In diefem Zuftand muß
aber der arbeitende Arme, alſo der größte Teil des Volkes bei
einer Nation, die in Gewerbe und Handel große Fortichritte macht,
notwendig geraten, wenn nicht der Staat ſich jeiner Erziehung und
Ausbildung annimmt.” Ohne dies würde nach Smith „der große
Haufe völliger Verwilderung anbeimfallen.“ !)
Man jieht, ſelbſt die denkbar ungünftigite Vorftellung über
die Wirkungen der Lebenslage der Mafjen braucht an und für ſich
noch feinen Verzicht auf die Forderung zu enthalten, daß diejen
Wirkungen von Seiten der Gejamtheit entgegengearbeitet werden
müſſe. Wenn man die analogen Äußerungen Wlatos anders be
urteilt, als die des liberalen Volkswirtes, jo liegt dies eben nur
an den Übertriebenen Vorftellungen, die man fich von feinem „jtarren
Ariſtokratismus“ macht. Aus feinen Äußerungen ſelbſt läßt fich
ein jolcher Berzicht nicht herauslefen.
Noch weniger ift ein ſolcher Verzicht ausgejprochen in der
) W. of. 2. V, 3.1.2.
II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Plato2. 313
einzigen Stelle der Nepublif, welche neben der eben beiprochenen über-
haupt noch in Betracht fommt. Dieje zweite Stelle ift gewiljermaßen
die Ergänzung der erſteren. Wie dieſe hauptfächlic auf Grund der
geiftigen Snferiorität der großen Mafje einen Proteſt gegen das Ein-
dringen des Banaufentums in die Gebiete rein geiftigen Thuns
enthält, jo tritt jene den politifchen Anfprüchen desjelben mit einem
Hinweis auf die fehlende moraliiche Qualifikation entgegen.
Die große Mafje wird für unreif zu politifcher Selbjt-
bejtimmung erklärt. Sie muß ſich von Nechtswegen durch die
jenigen leiten lafjen, welche „das Göttliche als Herrſchendes in fich
tragen”, und dieſe Forderung wird mit dem Hinweis auf die Maſſe
derjenigen begründet, duch welche Handwerk und Handarbeit ver
ächtlich würden, weil fie nicht verjtünden, dem edleren Teile ihres
Selbjit auf die Dauer die Herrſchaft über Leidenschaft und Begierde
zu verjchaffen, jondern dazu erſt des äußeren Zwanges des Gejeßes
bedürfen. ')
Auch diefe Äußerung enthält nicht die abjolute Verurteilung,
die man aus ihr herauszulefen pflegt. Sie gibt nur ein Urteil
über die thatlächliche Durchichnittsgefinnung der Mafje. Sie jagt
feineswegs, daß die Handarbeit an und für ſich oder gar jede
wirtſchaftliche Arbeit überhaupt den Menjchen unfähig mache, ein
gewiſſes Maß von Sittlichkeit zu erwerben. Plato jelbjt erkennt
ja ausdrüdlich eine Art des Erwerbes an, den Landbau, — in
welcher wenigitens die leitende wirtichaftlihe Arbeit „den Er:
werbenden nicht nötigt, das zu vernachläſſigen, um
dejjfenwillen man Erwerb ſucht, nämlich Seele und Leib.“ 2)
Aber ſelbſt die industrielle Klaſſe des Idealſtaates kann er fich
nicht förperlich und moraliſch jo verfümmert vorgeftellt haben, wie
man gewöhnlich annimmt. Er unterjcheivet unter den Bürgern
des Idealſtaates diejenigen, welche „an Leib und Seele gut ge
artet find”, (eugyveis va owuare zei vas Wvyas) von denjenigen,
1) 590.
f ?) Leg. 743d: ... 0n00@ un yonuerılousvov dvayxaocı aueheiv
Wv Evsxa TEDVXE TE yonuare,
314 Erſtes Buch. Hellas.
welche „ver Seele nach jchlecht geartet und unheilbar find” (zovs
dE zara ınv Woxıv zaxogvels za avıarovs). Nach der herrfchen-
den Auffaffung könnten die wirtichaftenden Klaffen nicht zu den
erjteren gehören, jondern nur zu den lebteren. Daß davon aber
feine Nede fein kann, beweilt das Schickſal, welches diejer „Schlecht:
gearteten“ im Spealjtaate harıt: Sie müſſen jterben!” 1)
Wir dürfen eben nicht vergeſſen, daß Plato zweierlei Arten
von Sittlichkeit Fennt: Jene ideale auf der vernunftgemäßen Er—
fenntnis der Wahrheit, auf dem „Wiſſen“ beruhende Sittlichkeit,
die philoſophiſche Tugend, und jene „volkstümliche“, bürgerliche
Tugend (dyuorien) zei zroAırızn @osen)?), welche durch Ange:
wöhnung und Übung entjteht (£E &Iovs ve zal weiseng yeyovviav
avsv yılocogyiag TE xal vor).
Diefe „bürgerliche“ Tugend, die fich insbefondere als „Be:
ſonnenheit“ und Nechtichaffenheit (onyeoovrn re zai dizawoovvn) >)
äußert, Ipricht Plato dem dritten Stande des Idealſtaates jo wenig
ab, daß er fie vielmehr für den Beſtand des Staates geradezu un-
entbehrlich nennt.*)
Auch Zeller kann das nicht leugnen,5) und ftellt ung damit
vor das unlösbare piychologiiche Nätjel, wie diefelben Menſchen,
von denen es fich Plato „gar nicht anders denken kann, als daß in
ihrem Innern die niedrigen Kräfte über die edleren die Herrichaft
gewinnen”, daß fie „keinerlei perſönliche Tüchtigkeit“ erlangen
können, gleichzeitig zur Übung diefer Tugenden befähigt fein follen!
Wer das Göttliche nicht „als ein Herrichendes in ſich trägt”,
der braucht eben noch lange nicht immer ein willenlojes Opfer nied-
riger Triebe zu fein. Was ihm fehlt, iſt nur jene höhere Erfennt-
nis, welche der „Wiffende” von dem wahren Wejen, von den
UA
Gründen und der Notwendigkeit des Sittlichen hat. Er kann nur
!) Rep. 410a.
2) Phädon 82a.
3) Rep. 500d.
9 Val. unten.
eU.20.9.281.
II. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftitaate Platos. 315
das erreichen, was Plato eine „richtige Vorftellung” nennt, die
doge @AnIns, welche ji) von jener Erkenntnis, der emiornun, da—
durch untericheidet, daß fie als ein bloßes Meinen immer die Mög:
lichkeit des Nücfalls in falſche Vorftellungen zuläßt,!) wie ſie eben
das Willen als feit gegründete Erkenntnis der Wahrheit von vorne:
herein ausſchließt. Das Wifjen kann durch Feine Überredung wan-
fend gemacht werden, die bloße richtige Vorftellung dagegen kann
es, weil fie ſelbſt durch Überredung, durch Einwirkung auf das
wandelbare Gemüt erzeugt ift, nicht durch die Erhebung des In—
telleft3 zu einem Willen, das jeiner Natur nach unantaftbar ift.2)
Die für die große Mehrheit erreichbare Sittlichkeit exjcheint
von diefem Standpunkt aus als ein unficherer und mwandelbarer
Beſitz. Sie genügt, um den Einzelnen zu einem „leidlich guten“
Menjchen (errjo weroros)?) zu machen, aber nicht, um eine über alle
Anfechtungen erhabene Herrichaft des Göttlichen in feiner Seele zu
erzeugen, welche „vie Richtung auf das, was droben ift“, uner-
jehütterlich feſthält.) Sie gibt — zumal großen Verfuchungen gegen:
über — nicht die Bürgſchaft der Unantaftbarkeit, wie fie Plato von
demjenigen fordert, der Anſpruch auf die politische Herrichaft macht.
Ber wollte leugnen, daß dieſe Auffaffung mit ihrer einfei:
tigen Ableitung der Sittlichfeit aus der Erkenntnis der „nichtphilo-
ſophiſchen“ Tugend keineswegs gereht wird! Sie unterſchätzt die
untefleftierte Sittlichfeit des geiftig Tieferftehenden und verkennt
daher, daß die höchſte Tugend in jeder Schichte der Gefellichaft
mögli und indiviouell auch thatſächlich vorhanden ift. Allein
dieje Unterihägung des für den Niedrigiten erreichbaren Maßes in:
dividueller Sittlichfeit berechtigt uns nicht, in dem Urteil über die
thatfächliche Durchfchnittsgefinnung der großen Mehrheit den Aus—
druck hochmütiger Mißachtung zu ſehen. Es ift ein Urteil, das
gerade damals angefichts der Klafjenherrichaft des Demos nur zu
) Meno 97 ff. Rep. 500e.
2) Timäus 5le.
>) Phädon 82b.
*) Rep. 621c.
316 Erſtes Buch. Hellas.
begreiflich exfcheint, und dem fich ganz analoge Hußerungen durchaus
volfsfreundlicher Beobachter an die Seite ftellen lafjen. „Bei den
Maſſen“, jagt 3. B. Schmoller, „bleibt der Egoismus innerlich,
wenn auch gebändigt durch die fittlichen Ergebniſſe des fozialen
Lebens, die Urſache der meisten Handlungen”.!) Andererfeits
jollte man nie vergeffen, daß Plato der einer ungeftörten Muße fich
erfreuenden Geldarijtofratie genau diejelbe fittliche Unzulänglichkeit
für die politische Herrſchaft zufchreibt, wie der Handarbeit, überhaupt
Anforderungen an die Charakter- und Geiftesbildung der Negieren-
den ftellt, welchen unter taufend Menſchen im günftigften Falle einige
Wenige, in der Regel höchitens einer oder zwei zu genügen vermögen.?)
Wir haben es eben hier mit einer Auffaffung zu thun, bei
ver die Frage nach dem Berufe und der fozialen Stellung des Ein-
zelnen infoferne an Bedeutung verliert,3) als gegenüber der „könig—
lichen Kunſt“, die mit ihrer Einficht daS Ganze umfaßt und das
Ganze beherricht, jede andere Thätigkeit, welche im Dienfte für
einzelne Bedürfniſſe der Gejellfehaft aufgeht, in gleicher Weife als
eine dienftbare erſcheint (rexvn, Erriormun diexovos). Der Land:
wirt wie der Gewerbsmann, der Lohnarbeiter, wie der Bankier
und Kaufmann, der Ningmeifter wie der Arzt, der Schreiber
wie der Prieſter und Seher,*) fie alle exrjcheinen ihm eben wegen
ver Schranken ihrer Thätigkeit und ihres Wifjens von den Anforde
rungen „ſtaatsmänniſchen Thuns“ (rodırızng rrow£ews) gleich weit
entfernt.) In dieſer Beziehung befteht für Plato kein Unterjchied
!) In dem Aufſatz über die Gerechtigkeit in der Volkswirtſchaft a. a. O.
?) Dabei urteilt Plato über die Niedrigkeit der Gefinnung der Durch:
ſchnittsmenſchen immer noch günftiger, als einer der größten modernen
Menſchenkenner (Shafefpeare im Hamlet): „To be honest, as this world
goes, is to be one man pick’d out of ten thousands.
) Vgl. Hodır. 297: @s 00x dv note nANFos 0Vd’ Wvrivwvodr
Tv Toiwvrnv AaBov Erormunv olov U’ dv yEroıro uerd vod diozeiv noir,
aA nregl ouıxgov Ti zei oAlyov zal To Ev Eorı Ünrnteov ınv ulav Exeivnv
nohıreiav ımv 0091v xıA. (sc. E0O79M).
) Bol. die Aufzählung ebd. 267e, 290a.
5) Ebd. 289 e.
II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Plato2. 317
zwijchen dem bejcheivenen Arbeiter und dem „hochmütigen wegen
der Wichtigkeit jeines Berufes hochangeſehenen“ Briefter.!)
Sollte es nun aber Plato deswegen, weil ihm die Ange
hörigen aller anderen Berufe dem zur Leitung des Ganzen befähigten
philoſophiſchen Staatsmann gegenüber eine niedrigere Stufe des
Wiſſens und der Einficht repräfentieren, für gleichgültig erklärt
haben, ob diejelben überhaupt ein höheres oder geringeres Maß
von QTüchtigkeit befüßen? Man fteht, zu welchen Konjequenzen die
herrſchende Anſchauungsweiſe Führt!
Übrigens findet unſere Auffaſſung auch in dieſer Frage ihre
volle Beſtätigung durch die „Geſetze“. Auch im zweitbeſten Staate
werden politiſche Rechte nur ſolchen eingeräumt, welche Gewinn aus
Handel und Gewerbe „verſchmähen“ und ihre „wahrhaft freie“ Ge—
ſinnung nicht in „ſchimpflichem Handwerkerſinn“ untergehen laſſen.?)
Und trotz dieſer Auffaſſung wird gleichzeitig die möglichſte Verſitt—
lichung des Arbeitslebens bis herunter zum verachteten Trödler, ja
zum Sklaven gefordert! Warum ſollte alſo eine ſolche Forderung mit
dem Standpunkt des Idealſtaates unvereinbar ſein, in welchem der
Handwerker noch dazu eine ungleich geachtetere Stellung einnimmt?
Die herrſchende Auffaſſungsweiſe läßt ſich eben viel zu ſehr
durch den Eindruck beſtimmen, welchen die ſchroffe Form mancher
platoniſcher Hußerungen macht, und fie zieht daher Konſequenzen
aus ihnen, die dem Urheber jelbjt ferne lagen. Sie überfieht, daß
die oft Leidenjchaftlich bewegten und wohl auch gelegentlich fich
widersprechenden Äußerungen einer genialen Perfönlichkeit, eines von
rücfichtslofem Eifer befeelten Apoſtels anders beurteilt werden
müffen, als die fühl abgewogenen Säße eines reinen Berjtandes-
menschen, welcher den Dingen ohne innere Anteilnahme gegenüber:
fteht. Sie überfieht vollftändig, daß jene Schroffheit des Ausdrudes
bei einem Manne, der mit der größten Unbefangenheit über den
Wert und die Ehrenhaftigfeit jeder Arbeit zu urteilen vermochte, ?)
ı) 290d.
2) 74le. ‚
3) Vgl. oben ©. 254.
318 Erſtes Buch. Hellas.
nicht bloß in Borurteilen wurzeln kann, daß ſie vielmehr ganz
wejentlich der pſychologiſche Nefler von Zuftänden ift, die dem für
die höchſten Aufgaben des Staates begeifterten Sinn des Denkers
unerträglich erſchienen, und deren Urheber eben der ſtädtiſche Demos
war. Diefe Empfindung eines unerträglichen Drudes mußte fich
mit elementarer Gewalt in bittere und harte Worte umfeßen, wenn
— wie in unferen Dialogen — unter gleichgejtinnten Männern das
Geſpräch auf die Leute Fam, die draußen auf der Agora „um die
Nednerbühne ſaßen und jedes mißliebige Wort tobend niederſchrieen,“
in deren Händen felbft die ivealfte Funktion des Staates, das Werk
der Gerechtigkeit, zur Karrifatur werden fonnte. Erkennen wir jo
die pſychologiſche Wirkung des Gegenjages, jo wird ung ſelbſt das
Härtefte begreiflich, vollends, wenn es — wie in jenen Hußerungen —
dem Manne in den Mund gelegt wird, der jelbjt der intellektuellen
und moralifchen Schwäche der Maſſe zum Dpfer gefallen war.
Hat der Terrorismus der Mehrheit, des „vielköpfigen Dejpoten“
(Aristoteles) nicht zu allen Zeiten genau in derſelben Weiſe auf evlere,
fittlich und äfthetifch feiner organifierte Naturen gewirtt? Grimnern
wir und 3. B. des Nefleres, welchen die Thaten der franzöftjchen
Demokratie in den Werfen unferer Geiftesheroen hinterlaffen haben!
Die Art, wie Goethe in taufend Sprüchen von der Menge
fpricht, gibt den platonischen Außerungen kaum etwas nad). Un:
mittelbar an das Wort des platonischen Sokrates von dem hin-
dDämmernden Traumleben der meiften Menfchen, die fih nie über
die bloße Vorftellung zur begrifflichen Erkenntnis zu erheben ver:
mögen, klingt der Spruch Goethes an: Weh denen, die dem ewig
Blinden des Lichtes Himmelsfakel Leihen.“ Mit platonifcher Schroff:
heit erklärt Goethe in den Wanderjahren: „Nichts iſt wiverwärtiger
als die Majorität. Denn fie beiteht aus wenigen fräftigen Vor—
gängern, aus Schelmen, die fich accommodieren, aus Schwachen, die
fich affimilieren, und der Maſſe, die nachtrollt, ohne nur im mindeſten
zu willen, was fie will.” — Eine Auffaffung, die übrigens Goethe
nicht gehindert hat, gerade in dem Entwurf des Gejellichaftsiveales,
welches die Wanderjahre enthalten, die Frage nad) der Stellung
II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 319
der wirtjchaftlichen Arbeit in wahrhaft hHumanem, von Klaffenvor-
urteilen vollfommen freiem Geiſte zu beantworten.
Und der „demokratiſche“ Schiller, jagt er uns nicht?:
„Mehrheit ıft Unſinn,
Verſtand ift ftets bei Wenigen nur geweſen.
Kümmert fi) um da3 Ganze, wer nichts hat?“
Aber auch bei ven Herolden und Führern der Demofratie jelbft
finden fich ähnliche Klagen: „Schwer ift es — jagt Rouſſeau in den
Bekenntniſſen — adelig zu denken, wenn alles Denken der Erhaltung
des Lebens gelten muß.” Und noch weit jchärfer der größte Wortführer
der Revolution, Mirabeau: „Verachtet das Volk und helft ihm”. —
Die Arbeit für das Wohl des Volkes wird als Pflicht anerkannt und
troßdem: „Verachtet!“ Eine Devife, die übrigens die Staatsmänner
des platonijchen Spealftaates nicht zu der ihrigen gemacht hätten.
Man denke fi eimmal bei uns die Monarchie durch das
rein parlamentarifche Prinzip thatlächlich befeitigt und die Parla—
mentsmehrheit in den Händen der Maſſe, Behördenwahl und Necht-
Iprechung durch das Volk nach atheniſchem Mufter! Wer wollte
bezweifeln, daß die unvermeidliche Neaktion der gebildeten Minder-
heit zu derſelben jchroffen Beurteilung der Maſſe, ihrer intelleftuellen
und Sittlichen Unveife führen würde, wie in den Zeiten der athe-
niſchen Demokratie? Die Illuſionen des doftrinären Liberalismus,
der jebt noch auf die in folchen politifchen Verhältniſſen ergrauten
antifen Denker herabzufehen gewohnt ift, würden wie Seifenblajen
verſchwinden und einem Peſſimismus Platz machen, der hinter dem
der antifen Staatslehre kaum wejentlich zurücbleiben dürfte. Es
it vollfommen richtig, wenn ein befannter Führer der Sozialdemo—
fratie gemeint hat, daß in dem Momente, wo viejelbe die Mehr:
beit in den Parlamenten erringen wide, die Minderheit das all
gemeine gleiche Stimmrecht einfach aufheben, aljo die große Maſſe
ebenjo zu politischer Ohnmacht verurteilen würde, wie Dies Plato
thut; — wobei übrigens nicht zu vergeſſen ift, daß Plato auch von
der Minderheit noch eine ganz andere Zegitimation zur Herrichaft
fordert, als dieje bis jetzt aufzuweiſen vermag.
320 Erſtes Bud. Hellas.
Schon jetzt ift unter dem gewaltigen Eindrud des Fühnen
Emporftrebens der Mafjen die „realiftiiche” Nichtung der modernen
Staatslehre, welche den Anſpruch erhebt, mit dem thatjächlichen Leben
und feine Forderungen in engjter Fühlung zu ftehen, genau bei den—
jelben Anfehauungen angelangt, welche dem modernen Liberalismus
an der Staatslehre der Griechen jo ganz unverftändlic waren.
Sie erklärt, wie diefe, das Prinzip der Majorität für ein „durch:
aus unrichtiges und faljches”. Es „unterliegt ihr — um die
Worte eines der moderniten Vertreter dieſes Realismus zu ge
brauchen — abjolut feinem Zweifel, daß die Mafje immer gedanfen-
(08 und roh ift, Vernunft und Adel der Gefinnung nur einer ver-
ichwindend Kleinen Minorität der Menjchen eigen iſt“. Eine That:
jache, die nur dadurch gemildert werden fönne, daß die große Maſſe
duch die Minorität von jedem Einfluß auf den Gang der öffentlichen
Angelegenheiten ferngehalten und ausgejchlofjen bleibt.') Das hätte
auch Plato nicht ſchroffer ausdrücen können!
ilder, aber doch in ähnlichem Sinne urteilt der Altmeifter
der hiſtoriſchen Richtung der politischen Ofonomie. „Steigt man —
jagt Roſcher — mit der Anteilgewährung an der Souveränität
immer tiefer herunter, jo it wohl zu bedenken, daß eine den Körper
unmäßig anftrengende Hantierung, ewige Nahrungsjorgen, enger
Gefichtsfreis von Jugend auf, jorgloje Erziehung feine gute Schule
für den Staatsmann bilden.“?) — Gerade in den unterjten Klaſſen
ist, wie Schmoller mit echt bemerkt,3) die Gefahr am größten,
daß ſich das Individuum ganz und ausschließlich dem Klafjengeift
ergibt, je mehr die Faktoren der allgemeinen Bildung, des Staat3-
und Nationalgefühls zurüdtreten. Selbſt ein jo liberaler Politiker,
wie Hirth, nähert ſich der platonifchen Charakterijtif der Demokratie,
wenn er in feinen „Freifinnigen Anfichten des Staates und der Volks—
wirtſchaft“ jagt: „Zu der enorm großen Rolle, welche heute bei ung
das Individuum als Wähler und indireft als Geſetzgeber, als
') Gumplomwicz: NRechtsftaat und Sozialismus ©. 260.
2) Umriſſe zur Naturlehre der Demokratie ©. 28.
?) Das Weſen der Arbeitsteilung a. a. O. ©. 9.
II. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftitaate Platos. 3931
Steuerzahler und Vaterlandsverteidiger Ipielt, zu dem ftolzen Selbjt-
bewußtjein, das ihm die Gleichheit vor dem Geſetze gibt, zu alle-
dem ſteht die wirkliche Nehtsfultur in gar feinem Vers
bältnis. Die große Mafje tappt im Finftern. Wohl ihr
und dem Staate, wenn fie zum wenigjten guten Inſtinkten folgt.
Das iſt alles, was wir hoffen dürfen.) — „Was in erregten
Augenbliden, — jagt Cohn, — nur als ein Recht exrjchien, deſſen
man ſich nur zu bemächtigen habe, um es auszuüben, erwies fich
in der Erfahrung als eine Schwierige Pflicht, welcher der
moderne Menſch und feine individualiftifhe Lebensrich—
tung nit gewachſen war.“2) — Eben das, was Plato von
der antifen Demokratie behauptet!
Und jolche Anſchauungen find feineswegs vereinzelt! Sie treten
uns genau jo, wie im Altertunt, gerade da entgegen, wo jich die
Entwidlung des ftaatlihen Lebens am „freiheitlichſten“ gejtaltet,
dem antifen Nepublifanismus am meijten genähert hat. Es ift
wahr, jagt ein Staatsmann des republifanifchen Zürich, daß es
Einzelne gibt, welche fich über die bloße vernünftige Selbitliebe er-
heben, welche von der höheren göttlichen Liebe getrieben ſich dem
Organismus des Staates unterordnen, bingeben, bereit jogar, ſich
für denfelben aufzuopfern. Dies ift eben die Tugend. Aber es ift
Selbittäufhung, diejelbe als das allgemeine, die Einzelnen leitende
und bewegende Prinzip, für den Gejamtwillen zu halten, da es
vielmehr nur eine jeltene Ausnahme it, obgleich viele ſich den An—
ſchein derjelben zu geben fuchen. — Rari in vasto gurgite nantes!”
— „Übrigens — wird ‚zur milderen Beurteilung der menjchlichen
Natur nach dem Durchichnittswert‘ hinzugefügt — kann jener tugend-
hafte Batriotismus von vielen, ja den meiſten nach ihrer Bildungs:
ſtufe und unter dem Drude täglicher Anftvengungen und Sorgen
für den dürftigen Lebensunterhalt gar nicht gefordert werden.” >)
Seit diefer Hußerung ift ein Menfchenalter verfloffen, in
1) ©. 66.
FA. ©4338.
3) U. Eſcher: Praktifche Politik I, 41.
Pohlmann, Geſch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 21
333 Erftes Buch. Hellas.
welchen der Demofratismus im Sinne des antiken Prinzips der
unmittelbaren Gejeßgebung durch das Volk weitere Fortjchritte ge
macht, gleichzeitig aber auch die Folgen der immer höher anjchwel-
(enden demokratiſchen Strömung jelbjt in „Liberalen“ Kreifen eine
Kandlung herbeigeführt haben, die in immer ſchärferen und jchrofferen
Hußerungen zu Tage tritt. So eröffnete die neue Züricher Zeitung
im Sahre 1891 einen Feldzug gegen die direkte Volfsgejeßgebung,
gegen das Neferendum, mit folgender Erklärung, welche direkt aus
der platonischen Staatslehre entlehnt fein fünnte: „Vom Gejeßgeber
wird verlangt! Sum für Billigfeit und Gerechtigfeit, ein weiter
Blick und umfassende Kenntniffe ALU dieſe Dinge find bei
der großen Maſſe des DBolfes nicht vorhanden. Wie
fann man alſo leßtere zum oberjten Gejeßgeber machen? Das
Referendum jollte zur politiihen Schulung des Volkes dienen.
Statt deſſen ift es Urſache, daß die ſchlimmſten menjchlichen Eigen:
ichaften, welche die Unzufriedenheit mit den ökonomiſchen Verhält-
niſſen erzeugt, nämlich Neid, Selbjtjucht und Engherzigfeit in poli—
tifchen Dingen wachgerufen und ausjchlaggebend werden.”
Die gegnerische demokratiſche Preſſe fieht in diefer Kritik
natürlich nur engherzigen volfsfeindlichen Arijtofratismus, genau
jo, wie man den über alles Getriebe der Partei erhabenen antiken
Denker zum ariftofratiichen Parteimann gejtempelt und unter die
Leute geworfen hat, die „in der Hetärie dem Demos den Tod ge=
Iehworen.“ ı)
Sit Plato Ariftofrat in diefem Sinne, dann ift es auch
Carlyle, der von Athen und Rom gejagt hat, daß fie „ihr Werk
nicht durch laute Abjtimmungen und Debatten der Mafjen, jondern
duch die weiſe Einſicht und Herrſchaft der Wenigen vollbracht
baben;“?) — dann ift auch ein anderer hervorragender britifcher
Denker, Henry Maine, engherziger Ariſtokrat, weil er gejagt hat:
!) Bgl. die von diefer einfeitigen Anfchauungsweife beherrichten Aus:
führungen Ondens (Ariſtoteles T, 115), der fi) damit Plato gegenüber auf
denjelben Standpunkt ftellt, wie die Ankläger des Sofrates gegen dieſen.
?) Chartism e. 5.
II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernimftitaate Platos. 323
„les was England berühmt und alles was England reich gemacht
hat, it das Werk von Minoritäten und oft von ſehr Eleinen. Es
Iheint mir unumftößlich ficher, daß, wenn jeit vierhundert Jahren
ein ausgedehntes Wahlrecht und eine zahlreiche Wählerichaft bier
zu Lande beftanden hätte, wir weder eine veligiöje Neform, noch
einen Wechjel der Dynaftie gehabt, noch Glaubensfreiheit, nicht
einmal einen richtigen Kalender erlangt hätten. Die Dreſchmaſchine,
ver mechanische Webftuhl, die Spinnmaſchine und möglicherweife
die Dampfmaschine wären verboten worden. Und wir fünnen ganz
allgemein jagen, daß die immer näher kommende Herrſchaft der
Mafjen von der übeljten VBorbedeutung für alle Gejeßgebung ift,
die fi) auf wifjenjchaftlicher Kenntnis gründet, die geijtige Ans
ftrengung exheifcht, fie zu verftehen, und Überwindung, ſich ihr zu
unterwerfen.“ 1)
Hat aber andererjeits das „bejigende und gebildete” Bürger:
tum von den freien Verfaſſungsformen des modernen Staates den
Gebrauch gemacht, daß das Mißtrauen, welches Wlato auch der
Bourgoifie entgegenbringt, lediglich als Ausfluß antiker Vorurteile
gelten könnte? Keineswegs! Die Erfahrungen des freiheitlichen
Staatslebens der Neuzeit haben unwiderleglich gezeigt, daß, wie
Schmoller treffend bemerkt hat,?) „die Mehrzahl der Menjchen, auch
der Gejchworenen, der Stadtverordneten, der Abgeordneten, daß alle
die, welche nicht eine ſehr hohe geiftige und moraliſche Bildung
haben, die Abſtraktionskraft und Fähigkeit nicht befigen, ihr Denken
) Volkstümliche Regierung ©. 63. Vgl. auch die Kritik der ameri—
kaniſchen Demokratie in dem befannten Aufſatz Herbert Spencers „Von der
Greiheit zur Gebundenheit”: „Wie wenig jahen die Männer, welche die ameri-
fanijche Unabhängigfeitserflärung erließen, voraus, daß nach einigen Menſchen—
altern die Geſetzgebung in die Gewalt der „Drahtzieher” gleiten, daß ihre
Geftaltung ganz von der Amterjagd abhängen würde, daß die Wähler, ftatt
felbftändig zu urteilen, durch ihre „Boſſes“ zu Taujenden als Stimm:
vieh an die Wahlurne getrieben werden und daß alle anjtändigen Menjchen
fi) vom politifchen Leben zurücdziehen, um den Bejchimpfungen und Ver:
leumdungen der gewerbsmäßigen Politiker zu entgehen.”
?) Grundfragen ©. 133.
21%
394 Erſtes Buch. Hellas.
und Fühlen als Gejchäftsinhaber von dem als Vertreter öffentlicher
Intereſſen ganz zu trennen.” —
Es wird dadurch mur das betätigt, was einer der größten
Meifter piychologiicher Beobadhtung, Schopenhauer, in feiner „Welt
als Wille und Borftellung” gejagt hat: „Der Vorteil übt eine ge-
heime Macht über unfer Urteil aus. Was ihm gemäß tft, erjcheint
uns alsbald billig, gerecht, vernünftig; was ihm zumwider ift, Stellt
fih uns im vollen Ernſt al3 ungerecht und abjcheulich oder zweck
widrig und abjurd dar. Daher jo viele Vorurteile des Standes,
des Gewerbes, der Nation, der Sekte, der Religion.”
Wenn aber jhon die Schwierigkeit des uninterejfierten und
jtimmungslojen Denkens für die Meiften eine kaum überwindliche
it, wie viele bejißen jene Fähigkeit zur bejtändigen Selbſtkritik
gegenüber den in den Schranken der Subjektivität wurzelnden
Ürteilstrübungen, jene Kraft der Abftraktion, ohne welche die höchite,
allen Standpunften und Intereſſen gerecht werdende Objektivität
nicht möglich ift? — Die Antwort, welche die gejchichtliche und
piychologiihe Erfahrung auf dieſe Frage gibt, lautet in der Formu—
lierung eines modernen Kritifers des Sozialismus: „Die Fähigkeit
abjoluter Objektivierung ift die Gabe der auserleſenſten Geifter allein.
Die größten Philoſophen, die größten Staatsmänner find Meifter
der Objektivierung gemwejen. Das Volk ift ftets Stümper darin.” !)
— Und was folgt daraus für die Sozialtheorie, wenn e3 gilt, Die
Grundſätze feitzuftellen, nach denen eine Gerechtigfeit höherer Ord—
nung zu verfahren hat? Sie „muß es ablehnen, ji) an die Be—
teiligten zu wenden”. Sie hat aus der klaren Erkenntnis der
Motive, von den die verfchiedenen Gejellichaftsklaffen bewußt oder
unbewußt fich leiten lafjen, die Einficht gewonnen, „wie verfehlt
es wäre, die Direftive für das jozialpolitiihe Handeln von ihnen
entnehmen zu wollen”.2) Sie fordert für die Feſtſtellung der
„Formel der Gerechtigkeit” eine Inſtanz, welche vollfommen jelb-
ſtändig und frei über dem Getriebe der Gejellichaft ſteht.
) Wolf: Syſtem der Sozialpolitik I, 593.
2) Wolf ebd. ©. 592.
III. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftitaate Platos. 3
G
[eo]
Bergegenwärtigen wir uns al’ diefe Thatjachen, deren wir
uns erſt in der Schule des modernen politifchen Lebens wieder voll
und ganz bewußt geworden find, die aber dank analogen Erfah:
rungen bereits dem antifen Denter klar vor Augen ftanden, jo
müſſen wir jagen: Wenn Blato aud) bier, wie jonjt, ohne Rückſicht
auf andere, für den gejchichtlich gewordenen Staat in Betracht kom—
menden Momente, die legten, rein logiſchen Konjequenzen ziehen
wollte, jo konnte er fich als den idealen Nepräfentanten feines Ge-
vechtigfeitsprinzipes nur den philojophiichen Staatsmann denken,
fonnte unmöglich der Erwerbsgejellichaft einen Einfluß auf das
jtaatliche Leben einräumen, der mit dem Eindringen ihrer „Urteils:
trübungen” gleichbedeutend gewejen wäre, die reine Durchführung
des Gerechtigkeitsprinzips von vorneherein in Frage geftellt hätte!
— Ob dieſe Löſung eine praftiich mögliche, das ijt eine andere
Frage. Uns kommt es hier nur darauf an, feitzuftellen, daß die
Ausſchließung der Erwerbsftände von der Politik durch die jtreng
logijche Konjequenz des ganzen Syſtems unbedingt gefordert war.
Dies verkennen alle Diejenigen, die da meinen, daß in den
politiichen Dialogen Platos dur” den Mund des Sokrates nur
arijtofratiiche Vorurteile des Verfafjers zum Ausdrud fommen. Daß
dem nicht jo ift, beweift jchon die bedeutfame Thatjache, daß auch
der geschichtliche Sokrates, der Bildhauersfohn, der Mann der
Arbeit, als politifcher Denker aus ähnlichen Motiven tiber die poli-
tiſche Herrſchaft der Erwerbsklafien nicht minder jchroff geurteilt
bat, als Plato. Bon ihm, der doch jeder Arbeit ihre Ehre gab,!)
ftammt das berbe Urteil über den jouveränen Demos, den „uns
wiljenden und ohnmächtigen Haufen von Walfern, Schuftern,
Zimmerleuten, Schmieden, Bauern, Händlern und Krämern, Die
nie über Politik nachgedacht haben”.2) Und trogdem! Wäre nicht
gerade Sofrates der Lebte geweſen, der darauf verzichtet hätte,
über dieſen unwiſſenden Haufen eine „fruchtbare Tugendjaat aus-
!) Xenophon Mem. III, 9, 15. val. I, 2. 5.
2) Ebd. II, 7, 5.
396 Erſtes Buch. Hellas.
zuftreuen”, ihn aufzuklären über fich jelbft und jeine Stellung in
der Gejamtheit? Hat nicht gerade Sokrates die Disfufftion über
die ittlichen Aufgaben des Menjchen hinausgetragen auf den Markt,
in die Baläftra und die Buden der Handwerker?!) Und ift es
nicht das Glück des gejamten Bolfes, in deſſen Dienft er alle
Staatsgewalt ftellt? 2)
Auch der platonifche Sokrates denkt troß feiner ungleich
größeren Zurüchaltung gegen die Maſſe in der Hauptſache nicht
anders.3) Denn darin liegt ja gerade das Wejen der von ihm
verfündeten „wahren Staatsfunft”, daß durch fie der Staat zu
einer Anftalt wird, welche möglichit alle zum Guten zu erziehen
jucht.2) Wenn e3 auch immer jolche geben wird, deren „Ungelehrig-
feit und niedrige Gefinnung” (auadie zei vansıyorng) aller Er—
ziehung ſpottet, jo kann doch bei dieſer Auffaffung der Staat un:
möglich von vorneherein ganze Klaſſen oder gar die große Mehr:
heit feiner Bürger von ſolcher Erziehung ausichließen. Ein Staat,
ver, wie der platonifche, nicht das Glück irgend eines einzelnen
Standes, jondern des ganzen Volkes will, muß auch die unent—
behrliche Borausfeßung alles Wohlbefindens, ein gewijjes Maß
von. Sittlichfeit möglichft zu verallgemeinern juchen. Alle anderen
1) Bol. was Plato ſelbſt in der Apologie (29d) Sofrates von fich
jagen läßt: ov un navooucı piAooopov zal dulv ragaxehsvouevos TE xui
evdsizvuusvos 0TD dv del Evrvyyaro Öuwv, Aywv olarıeo Eiwde,
ori W dowıs dvdgwv.... yonudıwv uEv 00x wloyiveı Enıushovusvog...,
poovnosws dE zul aimselas xal Ts wouyns Onws ws BeAtiorn Eoraı, 00%
ertrusdel oVtE poovrißeıs;
?) Xen. Mem. III. 2. 2: xzai Baoılsvs adyados, oUx El Uovov Tod
Eavrod PBlov xaAwsg TTEOEOTMKOL, AAN El zul, ov Beoıhsvor, Tovrous svdar-
wovias aituos ein. $4: zal ovrws Enioxonwv, Tis EIN ayaFov mysuovos
dem, ta uev dhda negimoei, zareisıne dE TO evdaiuoves noisiv wv
av nynraı.
) Bgl. die bezeichnende Frage des Sofrates im Gorgias 5l5a: Peoe,
Kekkızdns 7dn tıva Beitim nenoimze Tov nohırWv; Eotıv Os TIS I00TE00V
zovn90s wv Üdıxos TE zai axoAaoTos xal dpowv did Kaddızkkau xahös TE
xcyados yEyovev 7 EEvos N aoros, 7) dovAog 7) EAevdEgog;
2) Hot. 308 f.
III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 327
Wohlthaten, die den Bürgern erwieſen werden können, find ja nach
Platos Anficht für diefelben vollfommen wertlos, wenn es nicht
gelingt, fie zugleich auch fittlich zu bejjern.!) Und Blato kann diefe
Aufgabe feinem Staate umjoweniger abgeiprochen haben, da er der
Überzeugung lebt, daß für niemand Beruf oder Stand ein abjo-
lutes Hindernis bildet, je nach feiner Individualität ein größeres
oder geringeres Maß von Sittlichfeit zu erreichen. ?)
Nichts könnte auf diefe Anſchauung Platos ein Elareres Licht
werfen, als die Anklage, welche er gegen die politifchen Führer der
atheniſchen Demokratie, gegen Berikles, feine Vorgänger und Nach:
folger erhebt. Er kann fie nicht als „gute Staatsmänner” (00x
ayadoi a molırıza),’) ja nicht einmal als gute Staatsbürger
anerkennen, „weil fie es verabjäumt hätten, ihre Mitbürger aus
Schlechteren zu Beſſeren zu machen” (Peiriovs avri xeıgovov),t)
was doc „das alleinige Streben eines guten Bürgers fein muß“.>)
Sollte aber für denjelben Mann, der die Staatsmänner des
-geiehichtlichen Staates in ſolcher Weiſe für den Stand der all-
gemeinen DVolksfittlichfeit verantwortlich macht, der die Bolitifer
und Nedner der Demokratie vor allem als jehlechte Volkserzieher
verwirft und den Staat als eine Erziehungsanftalt für alle profla-
1) Ebd. 5l3e: dp’ 007 ovrws Erysipmreov nulv Eoriv 17 noAı zei
tTois noAitaıs Feoaneveiv, Ws BehArtiorovs aurTougs toTs noAitas
ToLoÖVTaS; Evsv yao dn Tovrov... ovdev opekos aAAnv EvVEo-
ysolav ovdsuiav nooogpE£oeıv, Edv un xaAn xayadn m didvore 7 tWv
usAlovrov 7 yoruara noAla haußdveıv 7 aoynv tivov 7 ahkıyv duvauıy
HrrıvoVV.
?) ©. die ſchöne Stelle über die Wahl der Lebenzloje Rep. 617e:
no@rtos de 6 Auyav noWros wigeio9w Plov, W ovv&orau EE avayans.. doetn
de adeonorov, nv TıuWv zul arıudlov nAELov xal EAarrov
arıns Exaoros Efsı alria Edouevov' YEos aveitıos. Vgl. Leg.
904d, e.
3) Gorgias 517a.
4) Ebd. 5ldd. {
5) uovov Eoyov «yadovd moAirov 517b. Vgl. 5l5b: 7 «Adov Tov
doa ν E&9av Ei Ta 17S noAews nodyucra 7 Onws € Tu
Bekrioror nokta wuerv;
3928 Erſtes Buch. Hellas. -
miert, jollte für den bei dem Entwurf feines Staatsiveals dieſe
Frage, ſoweit es ſich um die große Mehrzahl der Bürger handelt,
gar nicht mehr vorhanden gewejen fein?!) Eine ganz undenfbare
Annahme, welche zugleich die weitere Konjequenz in ſich ſchlöſſe,
daß der Vernunftſtaat für die Sache der Volkserziehung noch weniger
geleijtet haben würde, als der bejtehende.
Adam Smith weift in der erwähnten Grörterung über die
ſchädlichen Folgen der Arbeitsteilung rühmend auf die Gejeßgebung
ver helleniſchen Staaten hin, welche durch ihre Fürforge fir die
muſiſche und gymmaftifche Ausbildung aller Staatsangehörigen den
Einfeitigfeiten einer gewerblichen und merkantilen Entwidlung ent-
gegengewirkt hätten. Kann man Blato im Ernſte die Abficht zu—
trauen, in jeinem alle beglücenden Staat die ungeheure Mehrheit
diefer Wohlthat zu berauben und damit eine der wertoolliten
Schranken phyfiiher und fittlicher Entartung felbft niederzureißen?
Übrigens befigen wir von Plato ſelbſt eine Äußerung, in der
er fich mit der genannten Thätigkeit des beftehenden Staates voll-
fommen einverjtanden erklärt. Im Krito- werden die Gejete des
Staates vedend eingeführt; fie weiſen den eingeferferten Sofrates
auf die Fürſorge hin, mit der fie fich feiner von Kindheit auf an-
genommen, und ver er die „Erziehung und Bildung“, die mufische,
wie die gymmaftiiche, zu verdanken habe, die ihm fein Vater eben
den Geſetzen gemäß habe angedeihen laſſen. Sofrates d. h.
Plato jelbjt erkennt ausdrücklich dieſe ſtaatliche Fürforge, die auch
der Kinder des armen Handwerkes nicht vergißt, als etwas „Schönes“
an.2) 0 handelt es fich dabei nicht um ein vom Staate jelbft
) Und das, obgleich er noch im „Staatsmann“ denjelben Standpunkt
eiunimmt! Es heißt hier (297b) von den Eugpoorves doyovess, daß fie owdeır
oioi TE wor xel dueivovs &x yeıoovwv anoreleiv (ToVs Ev tn noAsı) are
To dvvarov.
2) 50d: 7 ov zaAws 1g00ETaTToV Nuov oi Eni Tovroıs (Sc.
TgopN ai naudeig) rerayuevoı vouor, nagayy£ikovres to narei ro
CD CE Ev uovoızn zai yvurasıızn nardeveırv. Auch dieſe für die
Benrteilung der jozialpolitichen Stellung Platos überaus wichtige Thatfache,
III. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftftaate Platos. 3939
geleitetes Erziehungswejen, jondern im weſentlichen nur um mittel-
bare Maßregeln, welche dem Staate eine gewiſſe Bürgichaft dafür
geben jollen, daß die heranwachſenden Bürger nicht ohne Erziehung
und Unterricht bleiben. Allein für die prinzipielle Frage, auf
welche Klaſſen fih nah Blatos Anficht die Unterrichtspolitif des
Staates zu erftreden hat, ift das ohne Belang.
Aber auch im Entwurf des Idealſtaates fehlt es Feineswegs
an Anhaltspunften dafür, daß Plato nach wie vor die TIhätigfeit
des Staates im Intereſſe der Erziehung und des Unterrichts dem
gefamten Bürgertum zu Gute fommen laſſen will.
Das harmonifche Verhältnis, welches der Idealſtaat zwifchen
allen Klaſſen der Gejellichaft herzuftellen jucht, Toll nicht bloß das
Werk des Zwanges, jondern in exrjter Linie eine Frucht der freien
Überzeugung, der „Überredung“ fein.!) Diefem Zweck dienen unter
anderem die Glaubensvoritellungen, welche Plato den Angehörigen
der Erwerbsitände, den „übrigen Staatsbürgern”, ebenjo eingeprägt
wiſſen will, wie den Beamten und Kriegern: der jehon erwähnte
Shöpfungsmythus, der durch die Lehre von der Verwandtichaft
aller Bürger das ganze Volt mit dem Geiſte dev Bruderliebe
erfüllen joll,2) ferner die ebenfalls mythiſch eingefleidete Lehre, daß
die Scheidung der drei Stände des Vernunftjtaates ein Werk der
Gottheit jelber jei,3) endlich der Götterſpruch, nach welchem jede
Veränderung in dem gegenfeitigen Verhältnis diefer Stände, jedes
Hinausitreben eines Standes über die ihn durch die Verfaſſung des
Staates zugewiefene Nechtsiphäre den Staat ſelbſt mit dem Unter:
gang bedrohen würde.)
daß Plato jelbit fich für die mufifche und gymnaſtiſche Ausbildung aller
Staat3angehörigen ausgejprochen hat, iſt bisher völlig überjehen worden,
jelbft von Strümpell, der in jeiner Gejchichte der praftiichen Philojophie der
Griehen (©. 387) in der Sache jelbjt bis zu einem gewiſſen Grade das Rich—
tige gejehen hat.
!) Rep. 519e.
?) 414e ff.
>) 415a.
9 Ale.
330 Erſtes Buch. Hellas.
Auch Für Die Negierten ſoll die Staatsordnung nicht bloß
etwas Hußerliches fein, ſondern ihrem Innenleben vermittelt werden.
Sie müſſen diejelbe, um ihr innerlich zuftimmen zu können, als das
Werk der höchjten Dronerin aller Dinge, der Gottheit, auffaſſen
lernen, deſſen Berechtigung von vornherein außer Frage fteht. Das
Individuum foll in den Stand gejegt werden, alle Zweifel an der
Gerechtigkeit der ftaatlichen Ordnung und alle Gedanken der Auf
lehnung zu überwinden, dadurch, daß ihm diejelbe zu einer gött-
lichen wird, daß es die Bejonderheit feiner eigenen Stellung und
Berufsarbeit als den Ausdrud eines göttlichen Willens, feine Unter:
werfung unter das Ganze al eine religiöjfe Pflicht erfaſſen lernt.
Die Unterweifung in diefen Glaubensvoritellungen bildet bei
der Hüterflaffe einen Beftandteil des muſiſchen Unterrichtes in dem
bergebrachten Sinne des Wortes, des Unterrichtes in Poeſie und
Mufif und in den yoruuere d. h. Lejen und Schreiben. Folgt
daraus nicht mit Notwendigkeit, daß Plato, wenn er dieje Unter:
weilung auch auf die Jugend des dritten Standes ausdehnen wollte,
diejelbe zugleih an dem lementarunterricht und der auf der ge
reinigten Volksreligion ruhenden fittlihen Erziehung beteiligen
mußte? Plato jagt ſelbſt in der Erörterung über dieje fittliche
Erziehung, daß das Gepräge (zvrros), welches man dem Fühlen
und Denken der Menſchen zu geben wünjcht, ſich am Leichteften in
dem lenkbaren Gemüt der Jugend erzeugen läßt.) Wie hätte er
das Gepräge, welches er dem ethifch-politifchen Empfinden des dritten
Standes geben will, auf anderem Wege juchen follen, als dem der
Sugenderziehung! Plato will ja auch die Jugend der bürgerlichen
Klaffen vor unwürdigen Vorftellungen über die Götter behütet
wiffen. Ale Mythen, welche jolche Vorjtellungen enthalten, wie 3. B.
die Gefchichte von Giganten und Götterfämpfen u. dgl. dürfen im
Bereich feines Staates überhaupt „nicht erzählt” werden, dürfen
„vor den Ohren Feines Knaben“ erwähnt werden, ſelbſt wenn fie
1) 377b: oVxoWv 0109, Otı doyn navıos Eoyov uEyıoTov, dhAws TE
udhora yao dn Tore nAdrrereu zai Evdverau
tunos, ov dv Tıs BovAeraı Evonumvaodaı ExdoTw.
zul vEew zei dnah) OTWoDV;
III. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftitaate Platos. 331
nur im jymboliihen Sinne gemeint find.!) „Denn der Knabe
vermag nicht zu unterjcheiden, was Sinnbild ift, was nicht, auch
pflegen die Borjtellungen, die der Menſch in dieſem Alter in fich
aufnimmt, nnaustilgbar und unveränderlich feitzuhaften.”2) Der
Soealjtaat wird daher unter feinen Umſtänden (ovd’ önworiovv)
zugeben, daß „die Knaben die eriten beiten Sagen, die von den
erſten Beſten erdichtet ind, anhören und in ihre Seele Borftel-
lungen aufnehmen, die größtenteils denen entgegengejegt find, von
denen wir glauben, daß ſie diefelben im jpäteren Leben feithalten
müjjen.“ >)
Wenn aber die heranmwachjende Jugend des dritten Standes
fih desselben ftaatlihen Schuges gegen das Eindringen ſtaats—
und fittengefährlicher Vorſtellungen erfreut, wie die der Hüterklaffe,
ſoll ihr nicht auch das pofitive Ergebnis der platonifchen Pädagogik
zu Gute kommen, nach welcher es eben wegen der Nachhaltigkeit
der Jugendeindrücke „für das Allerwichtigite anzufehen ift, daß Die
Kinder in dem, was ſie zuerjt hören, Dichtungen hören, deren Er-
zählung zur Tugend anzureizen vermag?”t) Liegt es nicht im
Intereſſe des Idealſtaates jelbit, die fittlichen, religöſen und ſozialen
Borftellungen, welche auch die Angehörigen des dritten Standes
„feſthalten“ müſſen, und die Dichtungen, durch welche fich diejelben
erzeugen follen, zum Gegenjtand einer ſyſtematiſchen Jugenderziehung
zu machen, welche nach Platos eigener Anficht dem Staate mehr
al3 irgend etwas anderes die Nachhaltigkeit ſolcher moralifcher Vor:
ftellungen und Gefinnungen verbürgen kann?
Und fordert nicht Schon die Verfaſſung des Bernunftitaates
ein gewiſſes Maß öffentlicher Erziehung für alle Volksklaſſen? Die
Ständegliederung Toll hier ja durchaus nicht zu einem ftarren Kaften-
wejen führen, welches den Niedriggeborenen unter allen Umſtänden
') 378b: ... 00 Aszıdun .... &v ı7 Hyusreog noAeı (sc. oörot od
Aoyoı) oudE Aszreov ven axovovr. 378d: ou nagadexreov eis ımv noAıy.
2) Ebd.
:) 377b.
#) 378e.
332 Erſtes Buch. Hellas.
an feinen Stand feſſelt, fie joll nicht der Ausdrud von ftändifchen
Privilegien und Monopolen fein, jondern einzig und allein ein
Werkeug für die DVerwirklihung des Staatszwedes, der jede
Klafjenpolitif ausjchließt. Um des Staatszwedes willen werden
bier die Söhne der oberen Klafje bis hinauf zu den Negenten,
wenn fie fich für den militärischen oder politifchen Beruf der Väter
ungeeignet erweiſen, rücjichtslos „zu den Handwerkern und Bauern
binabgeftoßen”, während der begabte Handwerker und Bauernjohn
ungehindert zu den höheren Bernfen, ja zur oberiten Negierungs-
gewalt emporfteigen fann.!) Dem Genie und Verdienft winkt hier
im wahrjten Sinne des Wortes die Krone?) Wie vermag aber
der Staat die für feine Zwecke hervorragend begabten Glemente
des dritten Standes zu erkennen, wenn er demjelben nicht ein ge-
willes Maß von Erziehung und Unterricht zu teil werden läßt?
Oder jollen die Kinder, wie in dem Utopien des ungariichen Fauſt
nach Maßgabe ihrer Schädelbildung den einzelnen Berufen zuge
wiejen werden? Wenn ferner Blato in feinem Staat jedem Ein-
zelmen durch die Gejamtheit den Beruf zuweilen will, der feiner
indiviouellen Naturanlage entipricht,?) wie kann diefe Naturanlage
fich offenbaren, wenn der Staat nicht Durch ein öffentliches Unter-
richtsſyſtem allen feinen Angehörigen die Gelegenheit dazu bietet?
Plato ſelbſt verlangt die allerforgfältigite ftaatliche Überwachung der
gejamten hevanwachjenden Jugend, damit fich der Staat über Die
Anlagen des Einzelnen ein Urteil bilden könne. Wie ift diefe
Überwachung anders möglich als mittels der Schule?
Zu demjelben Ergebnis gelangen wir, wenn wir ung die
Stellung vergegenwärtigen, welche der dritte Stand jelbit im Idealſtaat
einnimmt. Wir fehen, daß doch auch dieſem Stand ein fittliches
Ziel gefteckt wird, welches feineswegs ein niedriges iſt. Im Ideal—
ftaat wird von dem wirtfchaftenden Bürgertum erwartet, daß es
) Alde.
2) Bol. die Bezeichnung der Regenten des Idealſtaates als „Könige“ 543a.
3) 423d ſ. jpäter.
4) Alec.
II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftftaate Platos. 333
ſich nicht bloß gezwungen, jondern in freiwilliger Selbſtbeſchränkung
und aus innerer Überzeugung in die Unterordnung unter die zur
Herrſchaft Berufenen füge.) Es iſt der Geift der fittlichen Selbft-
zucht (owgyooovvn), der jich hier von oben ber über alle Stände
verbreitet,2) und mit dem fich andererſeits auch bei dem dritten
Stande die Fähigkeit verbindet, den Anforderungen zu entjprechen,
welche das Gerechtigkeitsprinzip des Vernunftjtaates an den Ein-
zelmen jtellt.
Diejes Gerechtigkeitsprinzip wird verwirklicht durch das „an-
gemefjene” Thun (orzeiorsoryie) aller Volsgenofjen.3) Jeder hat
die Stellung im allgemeinen Arbeitsleben, welche ihm die Geſamt—
heit nach dem Maße feiner Kräfte und Gaben angewiefen, voll und
ganz auszufüllen, auf fie hat er feine ganze Thätigkeit zu konzen—
trieren umd nicht in Wirkungsiphären überzugreifen, welche außer:
halb feiner befonderen Lebensaufgabe oder Befähigung liegen. Keiner
dat mur ſich jelbft und jeinem Intereſſe zu leben, ſondern als
Teil eines Ganzen auch im Sinne des Ganzen thätig zu fein, fo
daß das, was der Einzelne der Gejamtheit zu nützen vermag, der—
1) 431d: zei umv eineo av &v ahln nokeı 1) aurn dose Evsorı
Tois Te @oyovoı xai doyoue£voıs neol Tod ovorıvas dei doyeır,
zei Ev TavIN av Ein TovTo Evov.n ov doxei; zei udie, Egpn, opodee.
2) Die owgpooovrn iſt die Tugend, welche die Negierten mit den Re—
gierenden gemein haben, wie Plato ausdrüdlich jagt. 43le: & oreoos
oVv gross tWv noArov TO OWggoveiv Eveivaı, Ortev ovrws &ywoıv; &v
Toig Goyovoıw mM Ev Tois agyousvors; Ev aupoT£goıs nov, Eyn. Wie
fann man (3. DB. Ziegler: Gejch. d. Ethik J, 89) angejichts dieſer Stelle be-
haupten, daß der dritte Stand „überhaupt feine Tugend habe’? Die owgeo-
ovvn iſt allerdings nicht die beſondere Tugend desjelben; aber das jchließt,
tie Hirzel mit Recht bemerkt, feineswegs aus, da fie im Sinne der plato:
nijchen Piychologie „eine Tugend des dritten Seelenteils“ d. h. eben des mit
dem dritten Seelenteile von Plato in Parallele gejeßten dritten Standes ift. —
„Über den Unterichied der dezauoovvn und der swpgoovrn in der plat. Re
publik“: Hermes VIII, 383.
3) 434C: yomuatıorıxod, ErTLXOVOLXOV, PVvArzıXod YEvovg OLKELOTE«YIG,
EXLOTOV TOVTWV TO Euvrod TO«TToVToS Ev noldı, ToVvavtiov Exeivov (Sc. TS
noAvngayuoovvns ztA.) dizaioovvn T’ dv Ein zei Tıjv nokv dizalav nagEyoL,
334 Erſtes Buch. Hellas.
jelben auch wirklich zu Gute fommt.!) Alles Thun des Einzelnen
erhält jo ein foziales Gepräge und wird dadurch ein Mittel nicht
der Trennung und Verfeindung, des ſozialen Friedens, der
harmonifchen Übereinftimmung der Volksgenoſſen.
Diefe Sozialifierung des gejamten Arbeitslebens, die wie ja
Plato ſelbſt zugibt, nicht bloß durch äußere Gewalt und mechanische
tiederhaltung der egoiftiichen Triebe und Begierden der Wider:
ftvebenden, fondern mindeftens ebenfojehr durch „Überzeugung“ der
verftändigeren und bejjeren Elemente erreicht fein will, fie fann nur
das Ergebnis einer ſyſtematiſchen Erziehung zum Gemeinfinn fein,
welche ſchon das Gemüt des Kindes in ihre Zucht und Pflege nimmt,
welche das Bewußtfein der höheren Beſtimmung des Mannes für
das Ganze ſchon in der Seele des Knaben wedt.
Wie könnte überhaupt die Erziehung derjenigen für den Staat
gleichgültig fein, welche — zum Teil wenigftens — dereinft ſelbſt
befähigt fein follen, in ihrem Schaffen die höchiten Ziele desjelben
zu unterftügen! Wir ſehen, welches Gewicht Plato darauf legt,
daß in den Schöpfungen der redenden und bildenden Künſte, wie
in den Erzeugniffen des Handwerkes nur das Schöne, Edle, Maß:
volle zum Ausdruck komme, alles Gemeine, Häßliche, Unfittliche
ferne bleibe, damit ſchon die ganze äußere Umgebung das empfäng-
liche Gemüt der heranwachſenden Jugend mit harmonischen Eindrüden
erfülle, fie überall nur auf das Gute, Schöne, Ideale hinweile. Die
„Demiurgen” müſſen ſich, wie Göthe in dem Idealſtaat der Wander:
jahre von den Künftlern fordert, zuleßt dergeftalt über das Gemeine
erheben, daß die ganze Volksgemeinde in und an ihren Werfen
fich veredelt fühle! Sollte Plato wirklich) geglaubt haben, dieſes
hohe Ziel durch rein negative Mittel, durch polizeiliche Repreſſiv—
maßregeln erreichen zu fünnen?
Daß dies nicht der Fall ift, geht zur Genüge aus feiner
ausdrücklichen Erklärung hervor, daß das, was er in den Werfen
der Dichter, der Künstler und der „übrigen Demiurgen“ zum Aus:
!) 519e.
II. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftitaate Platos. 335
druck gebracht wiſſen will, im wejentlichen die Frucht der fittlichen
Beichaffenheit derjelben ift (eo zijs wugns nYIeı Errerau)!) und
zwar einer guten fittlichen Beichaffenheit (coypoovos re zai ayayov
n7>ovs),2) die Frucht einer Gefinnung, welche den „Charakter
gut und ſchön geftaltet hat.”?) Wie kann er es bei Diefer
Anſchauung einzig und allein dem Zufall überlaſſen haben, ob ſich
Poefie, Kunjt und Kunſthandwerk überhaupt auf die Stufe fittlichen
und äfthetiichen Empfindens erheben und auf ihr behaupten würde,
welche die Erfüllung jeiner Anforderungen vorausjeßt! Wie kann
er von ihnen ohne Weiteres erwartet haben, daß fie immer befähigt
jein würden, „vem Wejen des Schönen und Wohlanftändigen nach—
zujpüven” (eyvevsım ınv Tod zaAod ve zal evoyr,wovog yvoıv),t)
wenn die — allerdings unentbehrlide — Anlage dazu bei den
Einzelnen nicht entwicelt und gejchult wird?
Plato jelbit jagt an der nämlichen Stelle, wo er dieſe iveale
Forderung an die künſtleriſche und gewerbliche Produktion des
Idealſtaates jtellt: „Von der größten Wichtigkeit für die Erziehung
it die mufifche Bildung. Sie erzeugt eine mwohlanjtändige Ge-
finnung (yeosı unv EvVoxnuoovvnp). Nur wenn er richtig erzogen
wird, wird der Menſch zu einem ſolchen Wohlanjtändigen, wenn
nicht, zum Gegenteil.) Je beſſer die Erziehung, um jo jchärfer
wird der Blic für das „mangelhaft Gebliebene und unſchön Aus-
geführte oder von Natur unſchön Gebildete“,6) um jo empfindlicher
1) 400d.
2) 401a.
3) 400d: evAoyia doa zei evaguooria zul EVOyNUoovyN zul evgvduie
eundeig axohovdel, oby Ijv dvoiev ovoev vnoxogılousvor zaAovusv Ws Eu-
n9eıav, ahAa iv ös dAN9Ws EV re zul xuAwg To og xursoxeva-
sucvnv didvorer.
9 401c.
5) 401d: zei rousi (sc, 7) uovoıxm TOOYPN) EVoynjuore, Eav Tıs 00+WS
zoagpn, Ei dE un tovvarriov. — Endziel ift die Liebe des Schönen der de
nov TEehevTEv TE UovoLxa Eis TE ToV xahod Eowrixd. 406.
6) TOv nagakeınoukvwv zal un zaAos InuovoyndEvrov 7 um zuhas
püvrov 401e.
336 Erſtes Buch. Hellas.
wird der Einzelne für das Hähliche werden und voll Freude am
Schönen und dasjelbe in jeine Seele aufnehmend darin feine Nahrung
finden, das Häßliche und Gemeine dagegen ſchon als Süngling
verabjcheuen, bevor er noch den Grund davon zu erkennen im
Stande ift.
Allerdings wird dieſe Beobachtung in der Erörterung über
die Erziehung des Hüterftandes ausgejprochen. Aber fie jelbit ift
doch ganz allgemein gehalten und beruft ſich auf allgemeine, für
alle Menſchen in gleicher Weile gültige Erfahrungen. Wir find
daher wohl berechtigt, die Konjequenz diefer ganzen Auffaffung zu
ziehen und zu jagen: Sie führt zu dem logifch unabweisbaren
Schluß, daß, wenn in den Schöpfungen der Künftler und Kunft-
handwerker nur der Geift des Schönen und Wohlanftändigen zum
Ausdruck kommen joll, diefelben auch in dieſem Geifte erzogen und
gebildet werden müſſen. Aus mangelnder Erziehung würde ja,
um mit Blato jelbjt zu reden, nur das „Gegenteil“ entſpringen
fönnen: „Mufenentfremdung und Unempfindlichkeit für das Schöne”
(auovoia za arneıgoxahle).t)
Man fieht, in welch’ unlösliche Widerjprüche die herrjehende
Anficht Plato verwideln würde Sollen wir bei dem „guößten
Lehrmeiſter der Welt” ohne jeden zwingenden Grund auf feinem
eigenften Gebiet jolche Widerſprüche vorausjegen?
Übrigens befigen wir eine, allerdings fpätere Hußerung Platos,
aus welcher wenigitens ſoviel hervorgeht, daß ex auch der Erziehung
der „arbeitenden“ und wirtichaftenden Klafjen ein lebhaftes Intereſſe
entgegengebracht hat. Er jpricht bier die Anficht aus, daß, wer
als Mann es zu etwas QTüchtigem bringen will, von Kindheit auf
in Spiel und Ernſt in allem fie üben müſſe, was feinen fünf
tigen Beruf angeht.2) „Wer ein tüchtiger Landwirt oder Baus
) Ebd.
?) Leg. 643b, ce: Ayo d7 zei gnui Tov oTiovv ayadov dvdoa
uehkovra Eosodaı TOÜTo avro &x naidwv EVIÜS uslergv deiv nailovre TE
’ m Ar r ’ ‚ T
zei onovdaLovre Ev Tolc To TO«YURTOS EXLOTOIS TIOO0WKOVOLW . 0lov ToV .
uehkovra ayadov EosoIaı yEwgyorv 7 tıva olxodouov, Tov ulv olxodo-
II. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftitaate Platos. 337
meilter werden will, deſſen Spiel muß — bei dem Einen — in
der Aufführung Eindlicher Bauwerke, — bei dem Anderen — in
landwirtfchaftlihen Beichäftigungen beftehen, und die Erziehung muß
bei Beiden für Feines Handwerksgeräte, Nachbildungen des wirt
lichen, jorgen. Überhaupt muß die Erziehung darauf hinwirfen,
daß ſchon die Jugend gewiſſe Kenntniſſe und Fertigkeiten, deren
fie in ihrem jpäteren Berufe bedarf, ſich möglichjt ſpielend erwerbe,
daß ſchon durch die findlichen Übungen den Neigungen und Trieben
der Knaben die Richtung gegeben werde, in welcher fie bei ihrer
fünftigen Berufsthätigfeit zu beharren haben.!) Welche Bedeutung
von dieſem Gejichtspunft aus die Volfserziehung für einen Staat
erhalten muß, der Allen die Möglichkeit zu größter Berufstüchtig-
feit verjchaffen will, das liegt doch wohl auf der Hand!
Daß Plato in der That keineswegs den ganzen dritten Stand
als eine einzige „Itumpfe und unbildfame Menge” betrachtet und
behandelt wiſſen wollte, wie man ihm in völliger Verfennung feiner
ganzen Anſchauungsweiſe unterjchiebt,2) dafür ſpricht jogar, — fo
parador es Elingen mag, — die politifche Stellung, welche er dem
dritten Stande in feinem Idealſtaate zuweiit. Allerdings fehlt den
uoövrd tı Twv naıdeiwv oixodoumudtwv naiteıw 409, Tov d’ av yEwgyoövre
zei 0oyava EXaTEow ouıxod, TOv aAmdırov uunuare, nagwozevdleıy Tov
ToEpovra avrWv Exarepov’ zul dN] zul TWv uasNUudLwv 000 dvayaala
noousuadnxevaı ngouavdaveıv, 0olov TEXTOVG usrgeiv 7) oradudodaı zul.
Plato nimmt hier Gedanken vorweg, welche der modernften Volkserziehung
angehören, die Idee des Kindergartens und der Erweiterung desjelben zu einem
fürmlichen Arbeitzunterricht.
1) Ebd.: . . . zai neıgaodeı (pnui deiv) die TWv naıudınv Exeioe
Toeneıv Tas mdoras zei Enıdvulas tov naldwrv, ol dpızousvovs avrovs
det TEAos Eyeıv .„ zepahaıov On naideias Aeyousv mv 009Mv Toopmv, N
Tov naibovros mv yuynv Eis Egwra 0 tu udhıora dafs Tovrov, 6 demosı
yevousvov Gvdo’ avrov tEheıov Eivaı TS Tod NOLYUcTos dOETNS.
2) So Euden: Die Lebensanfchauungen der großen Denfer ©. 56.
Hätte Plato wirklich jo gedacht, jo würde es allerdings don vorneherein
abjurd erjcheinen, daß er nicht nur gehofft hat, mit feinen Borjchlägen „irgend
etwas zu jtande zu bringen” — wie Euden meint —, jondern jogar einen
Zuftand allgemeinen Wohlbefindens verwirklichen zu können!
Pohlmann, Gejih. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 22
338 Erſtes Buch. Hellas.
Grwerbsflaffen das Recht der Mitwirkung an der Bildung des
Staatswillens, alſo das, was nach demokratijcher Anſchauung von
dem Begriff des Staatsbürgertums unzertrennlich ift. Allein daraus
folgt feineswegs, daß fie deswegen im Staate Platos weniger
Bürger find, als die Klafje der Hüter, die man gegen die aus—
drücliche Erklärung Platos allein zu Bürgern des DVernunftitaates
geftempelt hat. Sit etwa das Staatsbürgerreht in dem eben-
genannten Sinne das auszeichnende Vorrecht dieſer legteren Klafje?
Gewiß nicht! Die Angehörigen derjelben jtehen als Beamte und
Soldaten in einem reinen Subordinationsverhältnis zu der allmäch-
tigen Negierung. Der Eine oder die Wenigen, welche „am Steuer
de3 Staates” ftehen, find im Beſitze der vollen und ungeteilten
Souveränität. Ihrer abjoluten Machtvolllommenheit gegenüber tt
die rechtliche Stellung aller anderen Klaſſen prinzipiell die gleiche:
die der unbedingten Unterordnung. !)
Zwar genießt die Hüterklaffe infoferne einen Vorzug, als die
Zaufbahn des Soldaten und Beamten die Vorbedingung für die
dereinftige Erlangung der oberjten Gewalt bildet, und die Kinder
der Klaſſe von vorneherein wieder für den Beruf der Väter erzogen
werden. Mlein ganz abgejehen davon, daß nur ein verjchwindend
Feiner Bruchteil das genannte Ziel wirklich zu erreichen und damit
aus den Neihen der Gehorchenden herauszutreten vermag, eine
Klaſſenherrſchaft ſoll damit ja in feiner Weije geichaffen werben.
Der erjtere Borzug beruht auf dem Grundſatz der Arbeitsteilung
und der daraus abgeleiteten Alleinberechtigung der praktiichen und
theoretiichen Fachbildung, der zweite auf der Fünftlichen phyfto-
logischen Auslefe, der die „für die Gemeinjchaft beitimmten Kinder”
ihr Dafein verdanken, und in welcher der Staat die unentbehrliche
Garantie für die Erzeugung eines feinen Zwecken entjprechenden
1) Gegenüber den doyovres bilden die orgerıwraır zei 7 Alm nodıs
eine unterthänige Maſſe. 414d. Die nichtphilojophiichen Hüter werden
ebenjo als „Beherrichte" aoyouevos bezeichnet, wie das wirtſchaftende Bolt
3. B. 459e. Es ift daher irreführend, wenn man mit Zeller Regenten und
Krieger ohne Unterjchied als „Aktivbürger“ bezeichnet.
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IT. 2. 2. Da3 Bürgertum im Vernunftftaate Platos. 339
Nachwuchſes fieht, ohne dabei jedoch gleichbefähigte Elemente aus
anderen Klaſſen auszujchließen. Hier gibt es nicht, wie im ftändijchen
Staat ein Recht der Kaftenangehörigfeit als ſolcher und daher
auch Feine Vergewaltigung durch erzwungene Ebenbürtigfeit der Un—
ebenbürtigen. Überhaupt erkennt der Staat dem Intereſſe der
Hüterklaffe feinen höheren Anſpruch auf Berüdjihtigung zu, als
den der „übrigen Bürger”. „Wir gejtalten ung,” jagt Wlato,
„ven glücklichen Staat nicht, indem wir einen Teil von der Gejamt-
heit ausjcheiden und eine Minderheit in ihm als glüdlih an-
nehmen, jondern den gefamten (Staat).!) Der Gejeßgeber küm—
mert fich nicht darum, daß fih im Staate Ein Stand vor Anderen
wohl befinde, jondern er jucht zu bewirken, daß es Allen im
Staate wohl ergebe.)
Daher ftehen fih hier auch die Angehörigen der verjchiedenen
Volksklaſſen nach den Intentionen Platos feineswegs als Herren
und Unterthanen gegenüber, vielmehr können fi alle Staats:
angehörigen, der Beamte, wie der Gewerbsmann, der Soldat, wie
der Bauer als Mitbürger:) ja als Brüder fühlen!) Dieſes
1) 420c und 421b 2) 519e. Über die Bedeutung diefer Stellen vgl.
die Ausführung im nächiten Paragraph.
°) Im platonifchen Staat jpricht Jeder den Andern als „Bürger“
an, wie in der Demokratie. 463a: Hokirtas udv dr) navres ovroL ahımkous
71000800001; nos Ö’ ou; Daher bezeichnet auch Plato überall gegenüber den
Hütern die Angehörigen der Erwerbsklaſſen als die „übrigen Bürger (4. B.
417b) oder als „Bürger“ jchlechthin (3. B. 416a). — Nriftoteles hat alfo
bier Plato ganz richtig verjtanden, wenn er jagt, daß die Hüter eigentlich
eine militärifche Beſatzung darjtellen und als Bürger jchlechthin die Bauern,
Handiverfer u. ſ. iv. zu betrachten feien. II, 2, 12. 1264a. Vgl. Plato 415d.
419: woreo Enixovoor uoswroi Ev Tn noAsı palvovraı zaINcIaL oVder
a@Alo 7) PoovVooVrTES.
©. auch Ariſtoteles ebd. 11P: zairoı oyedov To yes nAndos
ts nolews Te Twv dAAov nokırov yivercı nAnFos. — Daß man nad)
griechiſcher Anſchauung durch Ausihliegung von der «or keineswegs not-
wendig zum Nichtbürger wird, darüber vgl. Szanto: Das griechijche Bürger:
recht ©. 6 ff.
4) ©. oben ©. 283,
22*
340 Erſtes Buch. Hellas.
Solidaritätsgefühl ift ein jo inniges, die Wechjelbeziehungen zwiſchen
a einzelnen Ständen find jo jehr von dem Geifte gegenfeitigen
Wohlwollens und Vertrauens erfüllt, daß man im Idealſtaat die
Träger der Staatsgewalt nicht einmal mit dem Namen bezeichnet,
den man jelbft in der reinen Demokratie ohne Bedenken gebraucht,
nämlich al3 Negierende (woxovres) fondern als Erhalter und
Helfer (owrjoss zei Errizovoon); und ebenjfowenig fühlen die
Männer der Negierung fih als die „Herren“ (deomoraı) des
Volkes, ſondern fie ehren in demjelben ihre Lohngeber und Er:
nährer (wo Jodoras TE zar roopeac). Negenten, Beamte, Sol-
daten erjcheinen als „gefällige Verbündete” der übrigen Bür—
ger.) Sie fehen in ihnen nicht „Schüßlinge und Untergebene”
(regioizovs TE za olxeras), Jondern freie Männer, Freunde
und Grnährer (Edevdeoovs Yikovs TE xal ToopEas).?) Den
Mann der Handarbeit verbindet mit dem Geijtesarbeiter, der den
höchſten Zielen der Gemeinfchaft dient, von vorneherein ein ge
wiljes ideelles Band, der von Plato ausgejprochene Gedante, daß
auch jener in gewiffen Sinne ein Werfmeifter ift, der ſich in feinem
a möglichft tüchtig zu erweilen hat, ebenjo, wie die „anderen
Werfmeifter”.?)
Sp erfreuen ſich hier die Erwerbsftände einer Wertſchätzung,
von der Plato ſpäter in den Gejegen gejagt hat, daß fie dem
Gewerbe nur dann allgemein und unbeftritten zu Teil werden
) Eruueyoı tov dAmv nolrov A17b. Bol. 4162: Evuueayor
ETTLELKEIG.
2) 547e. Sn diefer Hinficht berührt fich der platonifche Staat un—
mittelbar mit dem deal, welches Schäffle im „Bau und Leben des joztalen
Körpers" 4. 279 aufgeftellt Hat, mit dem ideale „eines berufganftaltlich
bo beten Gejellichaftsförpers, in welchem von Herrichaft überhaupt nicht
mehr die Rede ift, jondern nur von politischer Berufsarbeit”.
3) 42]: Tods ’ Enızovgovs TovVrovS zei ToUs pukaxas Exeivo dvay-
zaoTEov TIOLEIV Xei TIELIOTEOV, ONWS 6 TI doLoroı OmuLovgyol Tov Eav-
Tov Egyov Eoovrai, zei Tods aAkovs inevras woavtws. cf. 421d: tous
akkovs av Ömwovgyoös oxoneı Ei rede diapdeigsı zrA, Eine Auffaſſung!
die übrigens noch in den „Geſetzen“ (921d) feſtgehalten wird.
II. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftftaate Platos. 341
würde, wenn e3 in den Händen von wahrhaft fittlihen Menfchen
wäre Im DVernunftitaat genießt in der That die wirtjchaftliche
Arbeit die Achtung, welche ihr — mie wir fahen — nad den
„Geſetzen“ unter jener Vorausſetzung gebührt: Sie wird „geliebt
und in Ehren gehalten wie eine Mutter und Pflegerin (Toogyos).!)
Allerdings wird hier diefe Anerkennung der Ehre der Arbeit
nicht von einer jo ivealen Bedingung abhängig gemacht, wie dort,
allein darüber kann doch Fein Zweifel bejtehen, daß Plato als
unentbehrlihe Grundlage ſolcher Berufsehre wenigjtens ein im
Bergleih mit der damaligen Wirklichkeit ziemlich hohes Durch-
ſchnittsniveau der allgemeinen Bolfsfittlichfeit notwendig voraus-
jeßen mußte. Wie wäre ſonſt jene Gemeinjamfeit der Gefühle
und Anschauungen möglich, die doch — Dis zu einem gewiſſen
Grade wenigſtens — vorhanden fein muß, wenn auch der Höchit-
gebildete und Höchititehende in dem Manne der Handarbeit den
„Freund und Bruder“ jehen joll, wenn „Alle — derjelben Herr-
ſchaft d. h. der Vernunft unterthan — nach Vermögen einander
ähnlich und befreundet” fein jollen?2)
Man mache ſich nur vecht deutlich, wie hochgeſpannt das
Seal ift, welches die joziale Drganifation des Vernunftjtaates ver-
wirklichen will. Hier ijt ja in vollem Maße das verwirklicht, was
!) Vgl. oben ©. 254. Man fieht, wie ſehr man Plato mißverfteht,
wenn man mit Zeller (Der platoniiche Staat u. |. w. ©. 65) die „Trennung
der Stände” bei Plato ableitet „aus der Verachtung des Griechen gegen die
Handarbeit, welche den Meiften das Gewerbe, den Spartanern jelbjt den
Landbau al eine Erniedrigung für den freien Bürger erjfcheinen ließ“.
Gerade im platonifchen Vernunftſtaat gibt auch die wirtfchaftliche Arbeit dem
freien Bürger jeine Ehre. y
2) 590c: .... va Eis duvauıy navres Ouoloı WuEV za gpikor To
aUrD zUBsovQuevot.
Alle die im Text entwicelten Gefichtspunfte ignoriert Noble, wenn ex
meint, dab die geiftige oder jittliche Ausbildung des dritten Standes nir-
gends durch das Intereſſe des Ganzen gefordert werde, daß die Gewerbe:
treibenden ihre Beftimmung vollfommen erfüllen, wen fie die nötige tech—
niſche Fertigkeit haben (©. 145).
349 Erſtes Buch. Hellas.
von Plato in einem früheren Werfe als das höchfte Ziel wahrer
Staatskunſt bingeftellt worden war, jenes „Sneinanderweben der
Gemüter, “') welches diejelben durch ein „göttliches Band“ 2) in
Einklang bringt und das Zujammenleben der verschiedenen Klaſſen
zu einem Abbild der Harmonie der Töne macht.?) Diejes ideale
Wechſelverhältnis der Stände aber jet hinwiederum voraus, daß
wenigftens die verjtändigen Glemente auch der Negierten „eine
richtige Vorftellung von dem haben, was jchön, gerecht und gut
ift,“4) oder daß, wie es im Staate heißt, alle Klaſſen darin
übereinftimmen, „was im Staate, wie in der Seele jedes Ein-
zelnen von Nechtswegen das Herrichende jein müfje,5) weil eine
jolche Anſchauungsweiſe allein „wenigitens in Beziehung auf den
Staat zu einer befonnenen und verjtändigen Haltung führen Fann.“ 6)
Mit der Harmonie, welche das Ganze erfüllt, muß fich auch
das Seelenleben der einzelnen Bürger möglichſt in Einklang jeßen.
Soll der Staat ein „in fich befreundeter” jein, ſollen nad) Mög—
lichfeit alle Bürger einander ähnlich und befreundet fein, jo
kann nicht die ungeheure Mehrheit derjelben fi) in einer Seelen:
verfaffung befinden, welche Plato al3 eine anarchiſche bezeichnet,
in welcher aus der „Verwirrung und verkehrten Richtung“ (Teoaxr
za rar) der verſchiedenen Seelenkräfte fich immer wieder von
neuem „Untecht und Zügellofigkeit, Gemeinheit und Unwifjenbeit,
kurz jede Schlechtigkeit erzeugt.) Der Staat will nicht bloß
aus möglichit vollfommenen technischen Einheiten zujammengejeßt
!) Hodır. 311b.
2) Helm Evrapuooauevn deouo. Ebd. 309».
3) Vgl. Rep. 432a die Bezeichnung des im Vernunftftaat alle Klafjen
beherrichenden Geiftes der owgpoosvvyn al3 die naowv napeyousvn Evvd-
dovras. Dazu 43le: douorie tıvi 7 OWgpgo0oVrn Wuolwrat,.
4) Hoiır. 309.
5) Rep. 432a: wors oodorer’ av gYealusv Tavımv Tmv ouovolav
OWFEOOVVNV Eivaı, ysigovos TE zul dusivovos zurd Yvow Evupwviar,
önoregov dei Goysıv zul Ev nroAsı zul Ev Evi Exdorw.
6) Hokır. 309.
7) 444c.
III. 2. 2. Das Bürgertum im DVernunftftaate Platos. 343
jein, wie das Getriebe eines toten Mechanismus, und muß daher
notwendig die jittliche Forderung aufitellen, daß jeder Bürger fich
bemühe, durch eine verjtändige Regelung des geſamten Trieblebens
zu einer gewiſſen Herrichaft über fich zu gelangen.
Schon die Forderung, daß jedem Bürger die feiner Natur:
anlage entjprechende Beichäftigung zuzumweifen fei, wird mit der
Notwendigkeit motiviert, daß Jeder „zu Einem, nicht zu einer Viel-
heit und damit auch die Gefamtheit der Einzelnen zu einer Einheit, nicht
zu einer Vielheit ſich geitalte.!) Soll diefe für den Einzelnen erreich—
bare Einheitlichfeit weiter nichts als die Konzentrierung auf ein tech—
nijches Arbeitsgebiet bedeuten und nicht auch zugleich eine gewiſſe
Bereinheitlihung des moraliſchen Menjchen? Die Antwort kann
nicht zweifelhaft fein. Plato jelbit bezeichnet eben dies leßtere Ziel
als die Richtſchnur für jedes Thun und Handeln, mag es fi nun
auf den wirtjchaftlichen Erwerb (Teoi gonuerwov zujow) und den
wirtichaftlihen Verkehr (Treo va ldıe Evußokcıe) vder auf das
jtaatsbürgerliche Verhalten beziehen.2) Und wenn auch Plato vor:
ausſieht, daß jelbit im Spealjtaat unter den Erwerbsklaſſen die
Zahl derer überwiegen wird, welche diefer Forderung nur unvoll-
fommen und unter der Einwirkung des auf fie durch” die Ber:
jtändigeren geübten Zwanges gerecht zu werden vermögen,>) fo
ericheint Doch die gejchilderte Gemütsverfaffung bis zu einem ge—
wiſſen Grade auch für den dritten Stand erreichbar. Ohne fie
würde ja auch von vorneherein von einem Glück dieſes Standes
nicht die Rede fein können.
Die Tugenden nun, in welchen jich diefe Gemütsverfaffung
äußert, find die „Nechtlichkeit” (dixwwoovvn) oder, wie Hegel über-
ſetzt, Nechtichaffenheit, und jenes fittliche Verhalten, welches Plato
1) 423d: zei ToVs @Akovs nokites, 700g 0 TIs NEPVxE, TIO0S
tovto Eva no0s Ev Ezaotoy Eoyov del zouilew, Onws av Ev T6 avrov
Erindeiwv Ezaotos un noAkoi ahkd Eis yiyvnrar zei ovrw di
&uuneoe mn nols ule ponta dAhc un nokkal.
) 443e.
3) 43le.
344 Erſtes Buch. Hellas.
als owgyooovvn bezeichnet.!) Die onyooovvn iſt fittliche Selbft-
beherrſchung, weil fie des Unvernünftigen in uns, der blinden Triebe,
der Selbitjucht und der Luft Herr wird,2) maßvolle Selbftbejchei:
dung, weil fie in dem richtigen Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit
ſich willig in die Unterordnung unter diejenigen fügt, welche durch
ihre höhere Einficht zur Leitung des ganzen berechtigt find,?) fie ift
der Geiſt ſtrengſter und treuefter Pflichterfüllung in dem indivi-
duellen Berufe, kurz „Ihun des Guten” (moakıs av ayayav),t)
„Geſundheit der Seele”.5) Sie „macht diejenigen, welche fie be
figen, zu guten Menschen” (eyaYoVs mrorel, ois &v 7agn).°)
Daß ein ſolches Maß von fittlicher Tüchtigfeit nur das Er—
gebnis der Erziehung fein kann, leuchtet von ſelbſt ein und wird
von Plato in dem Dialog, in welchem er das Wefen der o@gygo-
ovrn näher zu bejtimmen verjucht hat, ausdrücklich anerfannt.?)
Er verlangt eine Yegarreie Wuyns, wie eine Diätetif des Körpers;
und dieſelbe Forderung ehrt wieder in einer jpäteren Schrift —
im Gorgias, — wo er von den „Borjehriften und Anordnungen
für die Seele” fpricht, den vafsıs ve ai zoounoeıs vhs Wvxnc),®)
welche nötig jind, „damit fich in den Seelen der Bürger Necht:
Ichaffenheit und Bejonnenheit erzeuge.” Welches find aber die An-
') Bgl. über die owpgoovvn ala Vorausſetzung alles Glüdes Char:
mides 175e: ueya Tu dyasov eivaı zei einep ys Eyeıs «vd uaxdgıov
eivaı 08. — 176a: — 00W7TE0 OWppoveotegos &, TO0OVoW Eivau zul EÜ-
daıuoveorsoorv.
?) Rep. 430e: x00uos nov TIs..... 7 OWppoovVvn Eoti xai ndovwor
tıvov zal Enidvuov Eyzoateia zu.
3) 442d.
*) Charmides 163.
5) Ebd. 157a.
°) Ebd. 161a vgl. 160e: ouxovVv zai ayayol avdoss ol OWwppovss; vai.
) Ebd. 157a: wo Sofrates — angeblich mit den Worten des Za—
molxis — erklärt: Heganevcoda mv wuynv Enwdais toi‘ Tas d’ Enwdas
Taitas ToUs Aoyovs eivaı ToVs xaAoös' &x DE TOV Tolovrwv Aoywv Ev
tais wuyais O@pgo0VVnV yiyvaodaı.
8) H04d.
III. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftitaate Platos. 345
ordnungen für die Seele, welche Plato, wie man fieht, allen
Bürgern ohne Unterfchted zu gute fommen laſſen will? Der Ent-
wurf des beiten Staates gibt darauf die Antwort:t) ES ift die
„einfache“ muſiſche und aymmaftiiche Erziehung, durch die allein jene
Ausgleihung der Triebe, jene richtige moralische Vorftellungsweije
zu erzielen ijt, welche den Einzelnen befähigt, im Sinne des Ge-
rechtigfeitsprinzipes des beiten Staates freiwillig „das Seine zu
thun“.2) Ohne fie würde der Staat Gefahr laufen, daß die ge
ſamte Lebensweiſe aller durch das Übergewicht der niederen Seelen-
triebe verfehrt würde (Edurevre vov Plov navrov avargsım).?)
Durch eine mangelhafte Erziehung (Toon) zexr), wie durch ſchlech—
ten Umgang muß das Belfere der Übermacht des Schlechteren
(mir Is vovs xeloovos) erliegen.t) Wer daher in der Necht-
Ichaffenheit auch das Glück fieht, der wird anerkennen, daß man
duch That und Wort auf all das hinwirken müſſe (revra« Asysır
zei Tavra Troarreıw), wodurch der innere Menſch (6 Evros
&vI0@7ros, die guten Triebe im Menjchen, „ver wahre Menſch“)
die größere Gewalt erhält, daß man die „vielgeitaltige” Menjchen-
jeele „io behandelt wie der Landınann, der das Nubbare pflegt
und veredelt,d) das wilde Unkraut aber nicht aufkommen läßt”,
daß man allen Triebkräften der Seele jorgfältige Aufmerkſamkeit
ſchenkt, fie zu gegenfeitiger Übereinftimmung erzieht. — Es ift der-
jelbe Standpunkt, der in dem Worte Kant’3 zum Ausdruck kommt,
daß der Menſch nur Menſch wird durch Erziehung. — Wenn der
Menſch, heißt in den „Geſetzen“, nicht hinveichend oder nicht gut
erzogen wird, jo kann er fehr leicht, obwohl ex zu den zahmen Ge-
ſchöpfen zählt, das wildejte von allen werden, welche die Erde
!) Rep. 441e vgl. 410a: oü de dr veor ... dnkov ori EvAaßnoovrai
co dixaotızns Eis yosiav lEvaı, ın ann Exeivn uovoizn yowusvot, 7v dm
Epausv 6WPEO00VVNV Evrixreiv,
2) 442a. Timäus 73a.
®) 442b.
*) 431a.
5) 589h: ra uEv Nusoa ToEPwv zei TIFa0EvVwv xTA,
346 Grites Buch. Hellas.
erzeugt.) Daher die eminente Wichtigkeit des Erziehungswefens
für den Staat!?)
Mit befonderer Schärfe wird dieſer Gedanke wiederholt in
dem unmittelbar an den Soeengang der Bolitie fich anjchließenden
Timäus. Plato kann es ſich auch bier gar nicht anders denken,
als daß der, welcher ohne Erziehung und Unterricht aufwächlt, der
nicht „von Jugend auf die als Heilmittel gegen das Schlechte er-
forderliche Kenntnis erworben hat, ſchlecht ) werden” muß. Die
„Überredung“ d. h. doch wohl in erfter Linie die Erziehung er:
zeugt jene richtigen Vorftellungen, welche die Grundlage der Volks—
moral find.) Daher „muß jedermann, joweit es in feiner Macht
ſteht, nach der Erziehung, der Lebensweife, den Kenntniſſen ftreben,
durch welche er der Schlechtigfeit zu entrinmen und ihr Gegenteil
zu erreichen vermag“.5) Unter den Erziehern aber, die an diefem
Werfe mitarbeiten, fteht voran der Staat. Er trägt durch jeine
Einrichtungen und durch das, „was in ihm öffentlich und privatim
gelehrt wird“, wefentlich die Mitſchuld, wenn es mit der ©ittlich-
feit des Volkes ſchlecht beftellt ift.®)
Die Mängel der Volksſchulbildung werden daher von Plato
in feiner Kritik des Betehenden ſcharf hervorgehoben. Ex ftellt in
den „Geſetzen“ al3 Vorbild Ägypten auf, wo die große Maffe
!) Leg. 766a: dv9owros dE, ws pauev, nusoov, Ouws unv naudeias
usv 009NS Tuyov zul Yicsws Eurvyoos HElorarov NUusgWTarov Te Ioov
yiyvsodaı gılei, un ixavos dE m un xaAos ToapEv dypıararov
0N000 Ve y7.
>) Cbd.: ww Evexa od deviregov oVdE ndgsgyov dei Tv naidwv
ToopNv Tov vouodernv Eav yiyveodat.
3) xaxos Timäus S6c.
1) Ebd. 5le. DBgl. die Definition in den „Geſetzen“ 795d: ze de
uadnueTtd nov dirrd, ws y’ eineiv, yonoaostaı Evußeivor dv, Ta uev 00«
NEQL TO wur Yvuraotızns, TE OD evipuyias yapıv uovoızms.
5) 87h.
6) Ta: ... oOrav .. . molırsiaı zaxal xal Aoyoı zara noAsıs ldie
zei Önuooi« heydvow, Erı dE ua9MuaTa undaun Tovrwv iarızd &x veov
uavddvnraı, ravın xaxoi ndvres ol xaxoi did dio axovoiwwWrare
yıyvousda.
III. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftftaate Plato2. 347
der Kinder (Taurodvs neidwv oyAos) einen Elementarunterricht
genieße, mit dem ich das helleniſche Unterrichtsweien nicht mefjen
fünne. Er „ſchämt fich fire fih und alle Hellenen“, daß in Hellas
der Elementarunterricht in gewiſſen Dingen (in der Beurteilung der
einfachiten Naumverhältnifje) die Jugend in einer „lächerlichen und
ſchamloſen“ Unwifjenheit!) laſſe, wie fie nicht Menſchen, ſondern
einer Herde von Schweinen zufomme.?2) Es wird gewiljermaßen
ein Menfchenrecht anerkannt auf das nach dem Stande der Gefittung
unentbehrliche Maß der Bildung. Gleichzeitig geht der Gejeßesitaat
joweit, daß er die Kinder der höchjten Würdenträger mit denen des
ärmſten Arbeiters, ja des Sklaven — bis zu einem gewiljen Alter
wenigitens — gemeinjam erziehen läßt! 3) Und wenn dann auch eine
Scheidung zwijchen Freien und Unfreien eintritt, jo wird doch für
die erjteren das Prinzip der allgemeinen Schulpflicht ftrenge
ducchgeführt.*)
Sit es bei ſolcher Anſchauung denkbar, daß Wlato fein
Ideal in einem Staate gejehen haben jollte, der fich einzig und
allein um die Erzeugung guter Soldaten und Beamten kümmert
und fich gegen die Frage der Volfserziehung völlig gleichgültig ver:
hält, einem Staate, der die ungeheure Mehrheit der Bürger der
Gefahr der Entjittung und Verrohung preisgibt? Wenn die Kräfte,
die das Gejamtleben bejtimmen, nur durch Erziehung und Unter:
1) yeloia TE xai aloyoa ayvore. Leg. 819d.
2) Ebd.: ® gihs Käsivie, navranaoi yes unv xal autos dxovVoas
ÖryE note TO reEl Tara yuov naFos EIavunoe, xal Edo£f uoı Tovro 0Vx
dvdownıvov ahhd imvov Tivov eivar uchlov Iosuudtov, Noyvvanv
TE 00x Unto Euavrod uovov, dd zai Uinto dnarrov tov EiAlnvov.
3) Die hier eingerichteten ftaatlichen Kindergärten find allen Volks—
flafjen gemein. 794b.
4) 819a: Too@de Toivvv E2dotwv yon Yavar uavddveıv deiv
tous EAevdeoovs, 00€ zei ndunokvs Ev Alyinto naidov oykos aua
yocuucoı uevdarveı. Allerdings find unter EAsvHeoor zunächjt die Bürger
gemeint, allein aus der Gefamtauffaffung Platos geht doch unverkennbar her:
vor, daß er ein Mindeſtmaß von Kenntniſſen für alle Freien für not:
wendig hält.
348 Erſtes Buch. Hellas.
richt in jedem Einzelnen gewect und entwicelt werden fönnen, muß
da nicht gerade in einem Staate, der die möglichjt vollfommene
und der Gelamtheit Förderliche Entfaltung aller individuellen Kräfte
anftrebt, die Unterrichtsfrage ein wichtiger Gegenftand des öffent:
lichen Intereſſes ſein? Wie kann vollends ein Staat, in welchem
auch der Höchitftehende in jedem Volksgenoſſen einen Freund und
Bruder ehren fol, die Maſſe in einem Zuftand lafjen, den Plato
mit dem einer Schweineherde vergleicht?
Sa wir können noch weiter gehen und jagen: Mit der Frage
der Volfserziehung ift die Aufgabe des Idealſtaates gegenüber feinen
Bürgern noch lange nicht erſchöpft. Der Staat, der das Glüd
womöglich aller wollte, der eben Deswegen und um feines eigenen
Beſtandes willen an dem fittlichen Fortfehritt, an der Berufstüchtig-
feit, wie an dem äußeren Gedeihen der wirtjchaftenden Klafjen auf
das Lebhaftefte intereifiert war, der konnte unmöglich das gejamte
arbeitende Volk in allen übrigen Beziehungen fich ſelbſt überlaffen.
Für Plato ift, wie wir fahen, die Frage der Volfsfittlichkeit zus
gleich eine wirtjchaftliche und joziale Frage. Er ſieht diejelbe überall
durch Die ungefunden Auswüchſe der beftehenden Wirtſchaftsordnung,
durch Mammonismus und Bauperismus, auf das jchwerite ge-
fährdet, und zwar gerade diejenigen Eigenjchaften am meiften, die
der Spealftaat bei jeinen Bürgern in erſter Linie vorausfegt. Für
die ſittliche Selbſtbeſchränkung, die Ewgyeoovrn, aus der ſich hier
das harmonische Verhältnis zwiſchen allen Volksklaſſen erzeugt,
kennt Plato feinen jehlimmeren Feind als den Gegenjab von Neic)
und Arm, die Quelle aller Überhebung, Schamlofigkeit und Um—
fturzbegiexde.!) Dem Geifte der Einfachheit, der Mäßigkeit und
Arbeitfamfeit, in dem-Blato eine Grundbedingung gejunder gejell-
Ihaftlicher Zuftände fieht, widerjtreitet insbefondere der Reichtum,
der Erzeuger von Üppigfeit, Lurus und Müßiggang;?) er ermög—
licht das faule Nentierleben, welches der Arbeit hochmütig den
!) ©. oben ©. 204 f.
2) Rep. 42le.
II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 349
Rücken kehrt und damit dem vaterländischen Gewerbe leiftungsfähige
Kräfte entzieht,) wie denn überhaupt die bejtehende Verteilung des
Befiges nach Plato nicht bloß moralifche, jondern auch volfswirt-
liche Nachteile im Gefolge hat, deren Befeitigung er in dem Ent-
wurf des Soealftaates ausdrücklich ins Auge faßt. So wird ge
rade hier auf den ſchweren Übelftand bingewiefen, den die Kehr—
feite des Neichtums, die Beſitzloſigkeit hervorruft, daß ſich jo viele
aus Mangel an Betriebsfapital nicht die nötigen Broduktionsmittel
verschaffen und daher nicht das leisten können, wozu fie befähigt
wären.?2) Plato beflagt es lebhaft, daß auf dieſe Weile „Durch
beides, durch Reichtum und Armut, die Produktion, jowohl, wie die
fittlihe und technifche Tüchtigkeit der Produzierenden verjchlechtert
wird,3) ein Ergebnis, das mit den Forderungen des Bernunftitaates
abjolut unvereinbar ift.
Wir jahen bereitS bei der Drganifation des Zivil- und
Militärdienftes, mit welcher Konfequenz diefer Staat den Gedanken
verfolgt, jede individuelle Kraft an die Stelle zu bringen, die fie
ihrer Eigenart nach am beiten auszufüllen vermag. Diejes Prinzip
— jeder an feinem Plate für und durch das Ganze — wird von
Plato ausdrücklich auch auf die wirtjchaftenden Klaſſen übertragen.
„Auch von den andern Bürgern, jagt er, joll jedem Einzelnen
durch die Negierung die Beichäftigung zugemiefen werden, zu Der
ihn feine natürlichen Anlagen befähigen, „damit jeder das Eine,
ihm Zukommende betreibe”.t) Der Staat wird dadurch nicht nur
1) 421d: nAovrmoas yvrosis doxer 001 Eri Hehnosıv Eniusdeiodet
ns teyvns; ovdauws Epy. Aoyos dE za dusAns yermostaı udhkov autos
@ÜToV; NoAv ve, ovxovv zuxlwv YUTosds yiyveraız; x@i ToVTo, Epn, noAv.
2) Ebd.: zei umv zul doyava yE un Eywv napeyeodaı Uno nevias
N Tu AAho TWv Eis Tmv TEYVNV, TE TE EOYa TIOVMOOTEOR Eoydostaı xal tous
vieis, 7 @Ahovs, oVs av didaozn, XEloovs dnuovpyovs didaserat.
3) 42le. Dal. oben ©. 204 f. und 304.
4) Plato erwähnt 423c die früher von ihm ausgejprochene Anficht,
ws eo, Edv TE TWV pvAdzwv Tis pavkos Exyovog yErntat, Eis Toüs dAhovs
avrov anon£uneoda, Edv T’ Ex Tov alkmv onovdaios, Eis Tod pihazas;
woran die weitere Bemerkung geknüpft wird: roöro d’ EBovkero dnAovv ort
350 Erſtes Buch. Hellas.
dem Anspruch des Individuums auf eine feiner perfönlichen Leiſtungs—
fähigkeit entfprechende Lebenzitellung gerecht, jondern er erreicht
damit zugleich auch, daß jede Kraft im Dienfte der Gefamtheit voll
und ganz Verwendung findet. Denn der platoniſche Staat darf
feine Kraft unbenüßt laſſen. Da er, um die innere Einheit des
Staates nicht zu gefährden, fih grundſätzlich auf ein kleines Gebiet
beſchränkt,) muß er das, was ihm an Größe und Bürgerzahl fehlt,
duch eine möglichſt intenfive Anjpannung und Ausnüßung aller
Kräfte zu erjegen fuchen. Schon die oben erwähnte Gmanzipation
de3 weiblichen Gefchlechtes ift wejentlich durch dieſen Gedanken ver—
anlaßt. Es ift nach Platos Anficht mit dem jtaatlichen Intereſſe
unvereinbar, daß die ganze Eine Hälfte der Staatsangehörigen, die
weibliche, unter den bejtehenden Verhältniffen nicht das leiftet, was
fie bei einer vollftändigen Ausbildung ihrer Anlagen leiften könnte.?)
Denn dadurch bleibt, wie es in den „Geſetzen“ heißt, beinahe die
Hälfte der im Staat vorhandenen Geſamtkraft ungenüßt, jo daß
bei gleichartiger Ausbildung beider Gejchlechter das doppelte von
dem erreicht werden könnte, was jeßt erreicht wird.3) Er hat daher,
wie wir jahen, wenigftens den Frauen der für den öffentlichen
Dienft beftimmten Klaffe die denkbar weitgehenditen Bildungsziele
gefteckt, um eben damit zugleich die Leiltungsfähigkeit dev ganzen
Klaſſe zu erhöhen. Noch bezeichnender für dieſe Tendenz tft die
Klage, welche Plato in feinem fpäteren fozialspolitiichen Werk aus:
fpricht, daß wir „in Beziehung auf unjere Hände durch den Un—
verftand der Mütter und Wärterinnen gewiſſermaßen gelähmt wor—
den Find“, weil wir die linfe Hand nicht in gleicher Weiſe aus—
bilden, wie die rechte. Auch dieſen Mangel will Plato bejeitigt
zei Toüs dAdovs ToAites, TEOS 6 TIS NEPVUXE, TI00S TovTo Eva TIQ0S Ev
Exaotov Eoyov del xoulleıv, xTA.
1) 423b: ueyor 00 üv EIEAm (M noAıs) avEouevn eivas wie, ueygL
Tovrov avfeıv, Eoa de un.
2) 4566.
®) Leg. 8056: oysdov yco oAlyov naoa nulosıa noAs avri di-
nAaoias ovrw Eoti xrA,
ee
III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftitaate Plato2. 351
wiſſen. Die Jugenderziehung ſoll jorgfältig darüber wachen, daß
beide Gefchlechter im Gebrauch ihrer Glieder jo geſchickt wie mög:
lich würden und nicht durch falſche Gewöhnung die von Natur ver-
liehenen Fähigkeiten verfümmern laſſen.) Es ift, als ob man
einen modernen Techniker vor fich hätte, der es nicht mitanfehen
kann, daß irgend eine Kraft ungebraucht verloren geht.?) Eben
darum legt ja auch Plato ein jo großes Gewicht auf die ftrengite
Durchführung des Prinzips der Arbeitsteilung in dem gefamten
Gebiete der Produktion, weil fie die intenfivfte Ausnützung und
Steigerung der individuellen Arbeitskräfte geitattet.
Wenn aber in dem Bernunftitaat feine Kraft unbenützt bleiben
oder verkommen joll, jo muß er notwendig dahin ftreben, eine ge-
wiſſe Untergrenze aufrecht zu erhalten, unter welche überhaupt feine
Klafje der Bevölkerung herabſinken darf. Er kann feine Zwerg—
wirtichaften, Feine verfommenen Handwerker dulden, er kann den
Bürger nicht zum arbeitslofen und arbeitsjcheuen Proletarier wer-
den lajjen, der für das Wirken am Wohle des Ganzen d. h. für
den Staat überhaupt verloren iſt und damit nach Wlatos Anficht
aufhört, ein „Teil des Staates” zu fein.?)
Der DVernunftftaat duldet feine Drohnen,*) Feine fozialen
Schmarogereriftenzen. Daher ift hier auch Fein Naum für das andere
Ertrem, für das faule Nentierleben der Neichen. Ebenſo entjchie-
den, wie gegen hoffnungslofe Verarmung muß er gegen eine An-
Jammlung des Neihtums anfämpfen, welche für ganze Klaſſen allen
Anreiz zur Arbeit bejeitigen würde. Jeder, der eine Arbeit zu
verrichten vermag, die dem Wohle der Gejamtheit förderlich ift,
der ſoll auch arbeiten. ES ift nad) Plato von dem Begriff eines
wohlgeordneten Staates unzertrennlich, daß allen ohne Unterjchied
irgend eine Thätigfeit auferlegt ift, der fie jich nicht entziehen fönnen.5)
!) Leg. 794e.
2) Ein treffender Vergleich Nohles! (S. 136.)
») ©. oben ©. 188.
4) 564e ſ. oben ©. 189.
5) 433a: moAddzıs EAeyousv ori Eva Exaorov Ev dEoı Enıtndeveiv
352 Erſtes Buch. Hellas.
Der angebliche Verächter der Arbeit begegnet fich hier une
mittelbar mit dem Bewußtſein des arbeitenden Volkes, wie es bei
dem bäuerlichen Boeten von Askra zum Ausdrud kommt. Er
knüpft ſelbſt unmittelbar an Hefiod an, von dem wir das ſchöne Wort
befigen, daß „keinerlei Arbeit ſchändet, ſondern allein die Arbeits:
ſcheu.“ Das Bild von den parafitiichen Drohnen ift von Plato
aus Hefiod entnommen. Wie dem Dichter, jo iſt ihm der vor—
nehme und der gemeine Tagedieb (Tovpwv za aueing «oyog Te)
gleich verhaßt. Noch in feinem legten Werk kommt er auf den
Fluch Hefiods gegen den „arbeitjcheuenden” Mann zurück:!)
Der ift den Göttern verhaßt und den Sterblichen, welcher ohn’ Arbeit
Fortlebt, gleich an Werte den unbetwaffneten Drohnen,
Die der emfigen Bienen Gewirk aufzehren in Trägheit,
Nur Miteffer. (W. u. T. 302—6.) —
Zu diefem Kampf gegen Mammonismus und Pauperismus
ift aber der Vernunftjtaat noch) aus anderen Gründen gezwungen.
Seine ganze Eriftenz beruht auf der Entjagungsfraft und Opfer:
fähigkeit feines Beamtentuns und feiner Armee. Darf er hoffen,
den mühſam groß gezogenen Geift der Bebürfnislojigfeit und Ans
ſpruchsloſigkeit aufrecht zu erhalten, wenn der Beamte und Soldat
zuſehen muß, wie diejenigen, um derenwillen er dient, und denen
fein Verzicht auf Befis und Genuß wejentlih zu gute kommt,
ſchrankenlos Befis auf Beſitz, Genuß auf Genuß häufen und teil-
weije wenigjtens ein Leben führen, das jozujagen ein ewiges Zeit?)
fein würde?
Tov neol Tv nölıw, Eis 6 avroo N Yvoıs Eritmdsiorern nepvxvia Ein.
Dal. die charakteriftiiche Stelle über die Heilfunft (406e), two es für verfehrt
erklärt wird, dem an unheilbarer Krankheit Zeidenden das Leben künstlich
durch eine Behandlungsweife zu verlängern, welche denfelben an jeder Aus—
übung eines Berufes hindern würde. . . . Orı naoı Tois evvouovuevors E9yov
Tı Exdorw Ev rn noieı noootetezrai, 6 avayzalov Eoyalsodaı, zal ouderi
oyoAn die PBiov xauveıv largsvousvo.
!) Leg. X 90la.
?) Bgl. Rep. 429e. — Wenn in der ganz allgemein gehaltenen Ex:
drterung über die Motive der Arbeitsteilung und der jozialen Hlafjfenbildung
die Unvermeidlichkeit des Krieges und damit eines eigenen Wehrjtandes aus
III. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftftaate Platos. 355
Und die Negierten jelbft? Werden fie ſich auf die Dauer
in einem Zuftande abjoluter Unterordnung erhalten laſſen, wenn in
ihren Neihen im Gefolge des Neichtums das Selbtgefühl ftetig
wächſt, wenn fich unter den Handwerkern und Gewerbetreibenden
Leute erheben, die „übermütig geworden durch den Reichtum“ oder
ven Beſitz Jonjtiger äußerer Machtmittel den Gedanken faſſen können,
fie) den Zutritt zu den höheren Klaffen zu erzwingen?!) Wie wäre
überhaupt auch nur im Entferntejten an den von Plato mit der
Harmonie der Töne verglichenen Einklang der Gemüter im Ideal—
ſtaat zu denken gewejen, wenn verjelbe die Mafje der Bevölkerung
einfach in den überfommenen Zuſtänden belafjen haben würde, in
denen Plato nur die Brutftätte der ſchlimmſten Leidenschaften ex:
blidte! Er würde damit ja, wie ſchon Nriftoteles bemerkt hat,
alles was er an der beftehenden Gefellfehaftsordnung verwerflich
findet, in jeinen Idealſtaat hineingetragen haben. ?)
ie wir jahen, hört nach Platos Anficht durch den Gegen:
fa von Arm und Neich der Staat auf, ein einheitlicher Staat zu
jein, ex zerfällt gewilfermaßen in zwei einander feindliche Staaten.
Konnte es bei diefer Auffaffung gleichgültig ericheinen, ob im beten
Staat durch die ungeheure Mehrheit des Bolfes ein jo gewaltiger
Riß hindurchging? Allerdings war ja die Einheit des Staates
bier, wo die Staatsidee eine jelbjtändige Eriftenz über der Erwerbs-
gejellfchaft gefunden hatte, durch die jozialen Gegenfäße nicht jo
dem Dafeinsfampf erklärt wird, den der Staat zu führen hat, jobald eine
einjeitige Lurusproduftion und das Anwachſen unproduftiver Klaſſen die
Dollsernährung gefährdet und eine Gebietserweiterung auf Koften der Nach:
barn fordert, — wenn aljo hier der Schuß einer rovpwo« nosıs als Ent-
ſtehungsurſache eines bejonderen Wehrftandes erjcheint (374a), jo darf daraus
doch gewiß nicht mit C. F. Hermann (Die hiftorifchen Elemente des platoni=
ſchen Staatsideals Gej. Abh. 140) auf die Verhältniſſe des Idealſtaates ge:
jchlojjen werden! Hier fanır doch von dem Schuß einer roupWo« nokıs auch)
nicht entfernt die Rede fein!
!) 434b.
2) Ariftoteles Pol. TI, 2, 13. 1264a: EyxAnuara de zai dire zei
doa ahhu Tais ToAgoıv Ündoysiv pnoi zaxd, nav® Undofsı zei Tovrors.
Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. T. 23
354 Erſtes Buch. Hellas.
unmittelbar bedroht, wie in dem Staate der Wirklichkeit, wo ſich
dieſelben ftet3 auch auf das ftaatliche Gebiet verpflanzten. Allein
Daran war doch nicht zu denken, daß jelbjt der geſündeſte Beamten-
und Heeresorganismus in der ftetigen und — bei aller örtlichen
Abfonderung — unvermeidlichen Berührung und Reibung mit
einem kranken fozialen Körper, mit einer Gejellihaft, im „Fieber:
zuftand“, auf die Dauer gegen ſolche Anſteckungsgefahr gefeit blei-
ben würde. Aber felbft wenn man diefe Möglichkeit zugeben
wollte, wie wäre mit dem politifchen Einheitsbegriff Platos ein
Staat vereinbar, der „nut die „Jilbernen“ Seelen in das Joch
der Pflicht, in den Dienft der „Kolleftivität“ zwingt, während die
niederen Naturen frei erwerben und genießen dürfen?!) Ein
Staat, der, wie ſchon Ariftoteles richtig bemerkt hat, aus zwei
Gemeinwesen beftünde, deren innerer Gegenſatz notwendig zu einer
gegenfeitigen Verfeindung führen würde, einer mwodıs vyırs und
einer zrodıs yAeyualvovo«.?)
In der That kennt Plato feine Staatliche Angelegenheit, welche
für die Negierung des Spealftaates — nächſt der Aufrechterhaltung
der kommuniſtiſchen Drganifation des Hüterjtandes — wichtiger
wäre, als die ftaatlihe Regelung der Eigentumsfrage in
‚in der wirtjchaftenden Gejellihaft.?) Die Negierung hat
nach Platos ausdrüclicher Anweiſung jorgfältig darüber zu wachen,
„daß nicht etwa unbemerkt in den Staat fich einfchleiche die Armut
und der Reichtum.” 4)
’) Nach der Formulierung, welche Diebel (Rodbertus I, 22) der herr—
jchenden Anjchauung gegeben hat. Vgl. dagegen Rep. 742a.
2) Ebd. II, 2, 12. 1264a.
3) Dieje Frage ift mit der erſteren gewifjermaßen „verſchwiſtert“ (To
tovrov adeApor) 421e.
4) 421e: Erega di, Ws Eorxe, Tols golakıy EVonzausev, & navi
Toonw pvAazt£ov, ONWs UMnots wurodg Amosı Eis tv nölv nepadvvre,
loi« taöre; MMAovros, mv d’ 2yW, xai nevia, WS Tod UEV ToVpNV zal
aoyiav zai vewregiouov Eurtotodvros, Tod dE dvehsvdeglav xal zaxovoyiav
7005 TO vewreoiud. Die Bedeutung diefer Stelle ift Zeller (©. 609) völlig
entgangen. Kein Wunder, daß Kleinwächter ohne weiteres behauptet, auch
IT. 2. 2. Da3 Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 355
Wie fie diefe Forderung zu verwirklichen habe, dafür hat
Plato allerdings eine genauere Anweijung nicht gegeben. Es fehlt
zwar nicht an einzelnen Andeutungen über Reformen des Wirt:
Ichaftsrechtes, durch welche fih nad Platos Anficht dem Kapitalis-
mus und Pauperismus entgegenwirken lafje. So verlangt er z. B.
in der Kritik der Plutokratie ftarfe Einſchränkungen des Vertrags:
rechtes; er will nicht, daß jedermann in der Verfügung über fein
Eigentum oder in der Erwerbung fremden Gutes völlig unbejchränkt
jei, weil dadurch „die Einen überreih, die Andern dagegen ganz
arm werden”.)) Er will den Geldwucer an der Wurzel treffen,
indem er den Grundjaß aufitellt, daß die Klagbarkeit der Gelb:
Darlehen aufgehoben werden müfje”.?) Er will endlich im Ideal—
ftaat fein Gold- und Silbergeld dulden.3) Allein dieſe verein-
zelten und auf die Negation des Beltehenden ſich beichränfenden
Äußerungen gewähren in feiner Weife einen Anhaltspunkt dafür,
wie er ſich die pofitive Neugeftaltung der Wirtfehaftsordnung im
Idealſtaat vorgejtellt hat. Auch beziehen fie ſich ja nicht einmal
auf die oben ausgejprochene Forderung der Bejeitigung von Neich-
tum und Armut an fich, jondern fallen nur die Entartung des
erjteren zu übermächtiger Kapitalberrfchaft, der letzteren zum
Pauperismus und zur Not ins Auge Doch läßt fih immerhin
mit einiger Sicherheit wenigjtens die Frage beantworten: Was
wohl dem Verfaſſer der Bolitie als die wünjchenswertefte Lö—
jung des Eigentumsproblems vorgeichwebt haben mag.
Zunächſt fragt es fih: Was lag in der unabweisbaren Stone
die jpäteren Kommuniften hätten doch wenigſtens eine Borftellung davon, daß
die Verteilung der Güter unter der heutigen Wirtſchaftsordnung zu wünfchen
übrig laſſe, und fie wollten mit ihrem Kommunismus doch wenigſtens Übel:
jftände bejeitigen, Not und Elend verbannen, während Plato diejer Ge:
danke vollfommen fremd gemwejen jeil!
ı) 552a. Dal. 556a.
?) 556b.
>) 422d. Vgl. 422a die Bezeichnung des Idealſtaates al3 einer rodıs
Xonuete un xzezımuevn und 422e als einer modıs un nAovrovoe.
23*
356, Erſtes Buch. Hellas.
fequenz der Aufgaben, welche Plato der wahren Staatsfunft und
damit dem Idealſtaate teilt?
Wir fönnen das, was der Staat nad) Wlato „fein ſoll“, nicht
beſſer veranfchaulichen, als durch die Charafteriftif, welche das in
wejentlichen Bunkten ganz platoniſch gedachte Staatsiveal von Rod—
bertus bei feinem neuejten Biographen gefunden hat: Der Staat
foll danach die zentrale Drganijation des jozialen Körpers fein.
Das Wefen jeder Organifation aber befteht in der Kongruenz und
Harmonie der Teile, deren jeder eine bejtimmte auf das Geſamt—
(eben bezogene und mit der Thätigkeit aller übrigen Teile in Wechfel-
wirkung ftehende Funktion zu erfüllen hat. Je zentralifierter und
arbeitsteiliger, deſto vollkommener ift der Staat. Von feinem „über:
fichtlichen Standpunkt” aus kann und muß der Staat das Thun
der individuellen Vielheiten in Einverjtändnis und Einklang jeßen,
als der formende Bildner der jozialen Materie, als die gejell-
ichaftliche Vorfehung. Ihm gebührt auf allen Gebieten des fozialen
Lebens die „nitiative und dominierende Macht” auf dem Gebiete
der intellektuellen und fittlichen, wie auf dem der wirtjchaftlichen
Kultur.)
Im wejentlichen genau dasjelbe meint Plato, wenn er ein—
mal von der „königlichen Kunft“ jagt: „Sie ift die Urſache alles
richtigen Handelns im Staate (airia rot 0gIas ngarreıw Ev m
zroAsı), fie ſitzt am Steuer des Staates und alles lenfend und
überall herrichend (Tarr« zuBegvooa zai ravrwov @exovo«) macht
fie alles nutzbringend“ (Tavra« goroıua zrorsi).2) Denn ihr allein
jteht die vernunftgemäße Entſcheidung darüber zu, wie alles Thun
und Handeln feinem höchiten Zweck, der allgemeinen Wohlfahrt am
Beten dienftbar gemacht werden kann. Ihre Aufgabe ift es daher,
alle einzefnen Thätigkeiten auf dieſes Ziel hinzuleiten, fie jo zu
regeln, wie es der gemeinfame Zwed aller erfordert. Sie ijt der
oberjte Negulator des gejamten Arbeitsleben.)
J Dießel: K. Rodbertus II, 47.
?) Euthydemus 291h.
3) Ebd. (Edofe juli) tadın ın regen 9 TE orgarmyızn zui ai ahhaı
III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 557
Wie hätte der Idealſtaat diefe Brinzipien verwirklichen können,
wenn er das Inſtitut des Privateigentums in dem Umfang, wie
es beſtand, feitgehalten hätte. Um jede wirtjchaftliche Kraft an der
richtigen Stelle verwerten zu können, mußte er ja unbedingt allezeit
in der Lage fein, derjelben die nötigen Arbeitsmittel zuzuweifen.
Und damit war wiederum Zweierlei gefordert: Staatliches Geſamt—
eigentum an den Produftionsmitteln und gemeinfame Wirtfchaft
bei der Güterproduftion.
Ob Plato jelbit fich diefer Konfequenzen Elar bewußt war,
wird von ihm nicht ausdrüclich gejagt. Wohl aber wiſſen wir, daß
er Ideen ausgefprochen hat, welche noch über diefe beiden Forderungen
hinausgehen und auch in Beziehung auf das Privateigentum am
Genußvermögen, wie auf die PBrivatwirtichaft im Haushalt, einen
mehr oder minder radikalen Bruch mit dem Beftehenden bedeuten.
Plato wirft nämlich die Frage auf, worin das höchfte von
dem Gejeßgeber vor allem Anderen zu erjtrebende Glück de3 Staates
beftehe, worin das größte Übel.) Die Antwort lautet: Es gibt
für den Staat fein größeres Gut, als was ihn innerlich zufammen-
hält und einigt, Fein größeres Übel, als was ihn trennt und fpaltet.2)
Nichts aber wirft jo einigend, wie die Gleichheit der Intereſſen
oder — platonifch gejprochen — die „Gemeinfchaft von Freude
und Schmerz“3) nichts jo trennend, wie ihre Geteiltheit.+) Es ift
negadıdvaı doysır tav Egywv, Wv aural dnuiovgyol eiow, ws uovn
Erlotauevn yonotaı.
1) 462a: Ti notre To ueyıorov Eyousv Elneiv Eis NOAEWS KUTaoxEvNv,
ov dei oroyaLousvov Tov vouosErnv TıFevaı ToVis vouovs, zei Ti uEyıorov
zaXoV ;
2) 462b: Eyouer ovv tı usilov zuxov mohsı m &xeivo, Ö dv auımv
diaond zei non noAAds avri wies; n usllov ayadov Tod 6 dv Evvdn Te
zal nom Wiev; 00x Eyouer.
3) Ebd.: ovVxzoWv 7 uev ndors te zei Avnıns zowwvla Evvdei, otav
ori udkıore avres ol nodirer TOv avıor yYıyyousvov TE zal anoAAvusvov
neoenımoios zalowoı zal hunovraı; nevıdnaoı utv ovv Em.
*) Ebd.: 7 de ye rWwv raoVTwv Idiwoıs diekvei, Orev ol uev eQt-
ahyeis, ol dE negıyapeis yiyrovraı Eni Tols @vrols nedmucoı vs nolews
TE xal Tav Ev ın nokeı.
358 Erſtes Buch. Hellas.
zu wünſchen, daß möglichſt alle Bürger (our uadıora mavres
os zroAiraı) bei denjelben Vorkommniſſen des Lebens eine gleich-
artige Empfindung, ſei es der Freude oder der Trauer haben können,
daß nicht diefelben Begegniſſe die Einen hoch erfreuen, die Andern
mit tiefem Kummer erfüllen.) Wie bei dem einzelnen Individuum
der ganze Körper den Schmerz oder das Wohlgefühl einzelner Teile
mitempfindet, jo Soll auch im Staate, der um jo vollfonmener ift,
je mehr er in Beziehung auf innere Einheitlichfeit ein Abbild des
menjchlichen Organismus wird, die Gejamtheit aller fich mitfreuen
oder mitbetrüben Fünnen, wenn dem Einzelnen etwas Gutes oder
Übles widerfährt.2) Was ift es aber, was in der beftehenden Ge:
jellfehaft gerade das Gegenteil: die Geteiltheit der Intereſſen und
der Empfindungen und damit die Trennung der Gemüter verewigt?
ach Plato einzig und allein der Umftand, daß nicht von
allen Gütern des Xebens ebenfo gut das Wort gilt, „das
ift mein“ und „das ift nicht mein,“ daß durch das PBrivateigen-
tum der Gewinn und die Freude des Einen zum Verhuft und
Schmerz des Anderen werden fann.>)
Wenn wir uns die ganze Tragweite diefer Sätze vergegen-
wärtigen, jo leuchtet ein, daß Plato im Prinzip wenigſtens bei
dem Kommunismus des Beamten: und Heereskörpers unmöglich
jtehen bleiben konnte, daß er vielmehr eine möglichſte Verallge-
gemeinerung des Kommunismus gewünscht haben muß. Das
Seal ftaatlicher Einheit, welches hier aufgeftellt wird, war ja nur
dann voll und ganz zu verwirklichen, wenn nicht bloß der Beamte
') Vgl. auch Leg. 739d, wo genau in derjelben Allgemeinheit die
Forderung wiederholt wird: Erawveiv 7’ av zai weysıy xa9° Ev ori
uekıora Evunavras Eni Toig aUTOIg yeigovras xal Avrtovuevovs.
?) Rep. 462d: &vos di) olueı, ndoyovros av molırav Ötioiv N
dyadöv m) xaxov 7 Towvım nohıs wmehord Te Yyocı Eavrjs eiwaw To
1Coyov, za 7 Evvnodmosta &raoa n EvAhunmjoeraı .. avdayan, &pm, Tmv ye
evvouor.
3) 462c: ap’ odv &x torde ro rowvde yiyveraı, Orav m) due pIEyY-
yovra Ev q)) nodsı ra Toidde Ömuere, TO TE Euov xal TO 00% Euov; xai
ıeol Tod wAhorpiov zard Tavre;
III. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftitaate Platos. 359
und Soldat, jondern womöglich das ganze Volk lebte und wirt-
I%haftete, wie eine große Familie.
Die legten Wünſche Platos in Beziehung auf die wirtjchaf
tende Gefellfchaft gingen alfo auch über jenen halben Kommunis-
mus hinaus, welcher für eine ftaatlihe Drganifation der Arbeit
genügt hätte. Als lebtes und höchſtes Ideal ericheint auch bier
der volle und ganze Kommunismus d. h. das gemeinfame Eigen—
tum nicht bloß an den Broduftionsmitteln, jondern auch an dem
Genußvermögen, die gemeinfame Wirtichaft jowohl bei der Güter:
produktion, al3 auch im Haushalt.
Diefe Shlußfolgerung ift unabweisbar, ſelbſt wenn fich in
einem früheren Teile der Politie ÄAußerungen zu Gunften der reinen
Individualwirtſchaft der Erwerbitände fänden. Es wide das weiter
nichts beweifen, als daß eben im Verlaufe der Arbeit ſelbſt Plato
duch die Konfequenzen feines Gedankenſyſtems auf der Bahn des
Kommunismus weiter gedrängt wurde, als es jeinen urjprünglichen
Sntentionen entſprach. Allein meines Erachtens gibt es ſolche Äuße—
rungen nicht. Die Stellen, welche man als Beweis dafür anzu—
führen pflegt, daß Plato „bei der Mafje des Volkes die übliche
Lebensweije” vorausjegt, beweiſen dies abjolut nicht.
An der einen Stelle begründet Plato den Kommunismus
feiner Beamten und Soldaten damit, daß fie, wenn man ihnen
Privateigentum an Grundbefis, Käufern oder mobilem Kapital ge
ftattete, aus „Hütern” zu Haus: und Landwirten werden und als
feindliche Herren, ftatt als „Verbündete“ ihrer Mitbürger auftreten
und ihr ganzes Leben hindurch Haß hegend und erregend Urheber
und Gegenftand feindfeliger Nachitellungen jein würden.)
Man erklärt diefe Worte jo, als wollte Blato jagen: Der
Beamte und Soldat des Idealſtaates würde durch das Privateigen-
') AlTa: önore d’ wuroi ynv TE idiev zei olxies zei voulouar«
zıjoovrai, olzovouoı uEv zul yEwoyoi dvri pulczwv Eoovraı, deonoreı
d ErYool avri Evumdywv Tov dhhav nokıtav yErmoovreı, wiooVvres de
dN7 zei wioovusvo zui Enußovievoyres zul ErrıßovAsvouevo didfovoı avra
zov Blov.
360 Erſtes Buch. Hellas.
tum im dieſelbe privatrechtliche und wirtfchaftliche Lage verjegt
werden, wie fie der Bauer u. ſ. w. in demjelben Staate einnimmt.
Allein diefe Beziehung auf den dritten Stand des Idealſtaates ift
doch, wie ſchon einzelne Erklärer richtig erkannt haben,!), in die
Stelle erſt fünftlich hineingelegt. Der Sinn der Äußerung ift offen:
bar ein ganz allgemeiner, nämlich der: die Hüter würden ihrem
Berufe entfremdet, wenn fie zugleich bäuerliche und andere Privat—
wirte wären, d. h. ſie würden ein höheres Intereſſe an der. Ver:
mehrung ihres Vermögens und der Bewirtichaftung ihres Grund-
bejiges haben, als an ihrer Amtspflicht.
Ebenjo allgemein ift die andere bier in Betracht kommende
Stelle gehalten, wo eimer der Unterredner des Dialoges gegen die
fommuniftiiche Lebensordnung der Hüter den Einwand erhebt, daß
diejelbe doch wenig Naum für das Glück lafje, welches der Ideal—
jtaat jeinen Angehörigen verheißt. Dieſe Leute hätten den ganzen
Staat in ihrer Hand und trogdem von dem Staate nicht den ge-
vingiten äußeren Vorteil, „da fie ja nicht, wie Andere (oiov &AAoı),
Ländereien erwerben, ſchöne große Häufer bauen und entjprechend
ausjtatten können, fein Gold und Silber, furz nichts von alldem
befigen dürfen, was man bei denjenigen fucht, welche für glücklich
gelten jollen” (mavra« 00@ vowileran vois uehkovoı uaxagloıg
ever) ?).
Es ift Far, daß bier nicht, wie man gewöhnlich annimmt,
die Lage der höheren Klaſſen des Idealſtaates derjenigen der übrigen
Bürger desjelben gegenüber geftellt wird, — e3 heißt ja auch in
den meiften Handjchriften einfach „aAAloı“ nicht „or aAdoı“, —
jondern ganz allgemein dem Leben anderer Menjchen überhaupt,
wie es der vulgären Auffaffung vom Glüd entjpricht.
Selbjt diejenige Stelle, an welcher die Beamten und der
Wehrſtand in wirtichaftlicher Hinficht wirklich zu den übrigen Bür—
2]
a8
5
') 3. B. Praetorius: De legibus Platonieis a Philippo Opuntio
retractatis p. 8. Allerdings find die hier vorgebrachten Argumente nur teil-
weiſe ftichhaltig.
2) 419.
III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftitaate Platos. 361
gern in Gegenfab gebracht werden, fteht mit unſerer Auffaſſung
nicht in Widerſpruch. Man könnte ja aus der Äußerung Platos,
daß unter allen Bürgern allein den Angehörigen jener Stände
die Berührung von Gold und Silber verboten fei,!) den Schluß
ziehen, daß in dem Wirtfchaftsleben der übrigen Klaſſen den edlen
Metallen Feine wejentlih andere Nolle zugedacht war, als in der
bejtehenden Wirtjcehaftsordnung; und man würde darin ohne Zweifel
ein Hauptbeweismoment für die herrſchende Anficht jehen, wenn
nicht Plato ſelbſt Furz darauf ausdrüclich erklärt hätte, daß der
Gebrauch des Goldes und Silber der Bevölkerung des Ideal—
jtaates überhaupt duch das geltende Necht verjagt jei,2) — ſo
daß ulfo an jener erjten Stelle nur jenes Minimum von Gold- und
Silbergeld gemeint fein kann, auf deſſen Beſitz die Volkswirtſchaft
eines Stadtitaates wegen des auf die Dauer kaum zu entbehrenden
Importes notwendiger Bedürfniſſe aus dem Ausland niemals voll-
fommen verzichten kann, welches aber im Inlandverkehr ftrenge
verpönt ijt.?)
Während nun aber aus diefen Stellen über die Eigentums:
ordnung der wirtjchaftenden Gejellichaft des Idealſtaates nichts zu
entnehmen ift, fehlt es andererſeits Feineswegs an Hußerungen
Platos, welche ung zur Genüge erfennen lajjen, daß er fich der
volfswirtichaftlichen Konſequenzen jeiner allgemeinen ſozialpolitiſchen
Auffaſſung jehr wohl bewußt war, daß wir mit unjerer Auffaſſung
die Lehren Platos nicht willfürlich weiter ausgedehnt haben, als fie
von ihm jelbit gemeint waren.
Er erklärt nämlich ausdrüdlich, daß die vollendetjte Organi—
jation von Staat und Geſellſchaft da bejtehen würde, wo Die
„Meiften“ von denjelben Dingen jagen fünnten: Das iſt mein
1) 417a.
2) 422d: HNjuels uEv ovdEr yovsio ovd’ coyvelw gowusde, ou
nulv FEuus.
>) Wenn man die Sache jo auffagt, Fällt auch dev Widerjpruch weg,
den man hier gewöhnlich (3. B. Krohn ©. 35) Plato unterjchiebt.
362 Erſtes Buch. Hellas.
und das ift nicht mein.!) Und in voller Übereinftimmung damit
bezeichnet er es in feinem jpäteren Werfe als ein Grundprinzip
der beiten Berfaffung, daß durch fie möglichjt im ganzen Staate
der alte Spruch in Erfüllung gebe, der da lautet: Unter Befreun-
deten iſt in Wirklichkeit alles gemein.?) Der Staat kann fi) nad)
Nato im Intereſſe feiner inneren Einheit 3) und damit zugleich der
Sittlichfeit feiner Bürger fein höheres Ideal vor Augen halten, als
einen Zuftand, wo alles, was Eigentum heißt, überall im
menschlichen Leben durchaus befeitigt tft.) Daß freilich
diefes höchfte feiner fozialöfonomijchen Ideale jemals vollfommen
zu verwirklichen jei, das hat Plato offenbar jelbft auf dem Höhe:
punkt jeines Optimismus nicht zu hoffen gewagt. Er begnügt fich,
wie wir ſahen, in dem Entwurf des Idealſtaates ausdrüclich damit,
daß die Bürger nad Möglichkeit over, wie es an der anderen
Stelle heißt, die Meiften an dem Segen der Güter und Intereſſen—
gemeinschaft beteiligt würden. 5)
Auch ift Plato über die allgemeine Formulierung des Brob-
lems nicht hinausgegangen. Über alle Detailfragen, die fich dabei
ergeben, wie ſich denn diefe Forderung in Verwaltungsgejebe, vie
Verwaltungsgejeße in Verwaltungsmaßregeln, die leßteren in die
gewünschte Neugeftaltung der jozialen Verhältniffe umfegen liegen —
darüber und damit auch über das Maß des Erreichbaren über:
haupt bat ex fich eine Klare und bejtimmte Borftellung nicht ges
bildet. Er gibt nur im Allgemeinen die Richtung an, in welcher
fie) die Neform der Wirtfchaftsordnung zu bewegen bat. Er will
1) 462e: &v yrıvı dr) moAsı nAsloroı Eni TO wird xard tavıd
tovro Aeyovoı TO Euov zul TO 00x Euöov, avrn dgıora diowxeitai; oAv Ye.
?) Leg. 739b: own uev roivov nodıs TE Eotı zei nolıreia zei
vouoL @oLoToL, Onov TO ndhaı Aeyousvov @v yiyvnrar zatd naoav ımv
nokıv 0 tı udkıora' Aeyeraı dE, WS Ovrwg Eoti xoıvd Ta pihwr.
3) 739d: zard duvauıv oitıves vouoı ulav 6 ri udkiora
nöokıy eneoyabovraı, tovrwv ünegßoAn TTOOS doETNv ovdeis note 000v
dAkov HEusvos OEF0TERov ovdE Beiriw Inosrau.
ı) 739.
>) ©. oben Anmerf. 1 und ©. 358.
III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 363
die Wirtjchaftspolitif des beiten Staates von dem Gedanken geleitet
willen, daß die Volfswirtichaft jo ſehr als nur immer möglid)
Staatswirtjchaft werde. Allein die Entjeheivung über das Maß
der Verwirklichung diejes Gedankens überläßt ex jener Einficht, die
fih al3 das Ergebnis der vollendetjten theoretiichen und praktischen
Schulung in der Perſon der philoſophiſchen Herricher verkörpern wird.
Aristoteles hat daher den Standpunkt Platos nicht ganz
richtig erfaßt, wenn er in jeiner Polemik gegen den Idealſtaat
meint, Plato laſſe e8 völlig unentjchieden, ob die Lebensordnung
de3 dritten Standes auf der Grundlage des Kommunismus oder
des Privateigentums beruhen folle.!) Die Frage, welche Plato
offen läßt, lautet nicht: Privat: oder Gejamteigentum, Privat-
oder Gemeinwirtjchaft? Sondern jo: In welchen Umfang wird
man das Privateigentum und die Privatwirtichaft neben dem in
eriter Linie und fo allgemein als möglich zu verwirflichenden
Prinzip des Oejamteigentums und der Gemeinwirtſchaft notge-
drungener Weife noch zulaſſen müfjen?“2)
Immerhin ift Ariftoteles in diefer Frage der Auffaffung
jeines Lehrers ungleich näher gekommen, als die modernen Be:
urteiler, welche ihm ein völliges Mifverftändnis Wlatos vorwerfen,
weil er auch nur die Möglichkeit zugibt, daß Plato in der That
an eine mehr oder minder weitgehende kommuniſtiſche Drganijation
1) oA. II, 2, 12. 1264a: ov umv dAN ovde ö Toonos ns Odns
noltteias Tis Eorai Tois xoıwwavoVcır, oVT’ Elonxsv 6 Zwxodıns ovde Hadıov
eiteiv .. zaltoı oysdov TO ye nAmdos ns nolews To twv aAhwv nokırov
yivedau nlj90c, rIeol @v ovdEv dinoLoTai, TOTEOOV zGL TOIS YEWQYols Kolvas
eivaı del Tas xrnosıs 7 xu#° Exaotov idiov, Erı dE yuvalzas zal naldas
(diovs 7 xoWwovVs,
2) Ein Unterschied zwiſchen der wirtfchaftlichen Organiſation des Hüter:
ftandes und der deg Nährjtandes wird alſo immer bejtehen bleiben und Plato
kann daher (464a) jehr wohl fpeziell von dem Kommunismus der erjteren
Klaſſe reden, ohne damit eine teil weiſe Verwirklichung fommuniftijcher Ten:
denzen innerhalb der leßteren ausschließen zu wollen. Damit erledigt fich der
Einwand von Beger: Thomas Morus und Plato. Ztichr. F. d. gef. Staats—
wiſſenſch. 1879 ©. 419 ff.
364 Erſtes Buch. Hellas.
des dritten Standes gedacht habe. Ariftoteles ſoll mit der Er-
wägung diefer Möglichkeit eine Unfähigfeit an den Tag gelegt
haben, fi) in den Gedankenfreis des Bekämpften zu verfegen, wie
fie jtärfer nicht wohl gedacht werden könne.) In der That, wenn
Plato das gewollt und gejagt hat, was ihm die moderne Auf-
faſſung der Politie unterjchiebt, wenn er feinen idealen Vernunft:
ftaat auf der Grundlage einer rein individualiftifchen Volkswirt—
ſchaft aufgebaut wiſſen wollte, dann ift die ariftotelifche Kritik
eine jo ftümperhafte und oberflächliche, jo allen Verftändnifjes bare,
daß ihr Urheber von vorneherein unfähig erjcheint, in der Frage
mitzureden.
Nun iſt es ja richtig, daß diefe Kritik infolge ihres einfeitig
polemifchen Charakters mehrfach auch zu höchſt einfeitigen und
Ichiefen Ergebnifjen gekommen ift und die — allerdings nur ge:
legentlihen — Äußerungen Wlatos im „Staat“ und in den „Ge:
jeßen” unbeachtet gelaffen hat, welche einen Fingerzeig für die
richtige Beurteilung enthalten. Allein diefe Mängel, die er ja zum
Teil auch mit der neueren Kritik gemein bat, berechtigen ung doch
noch lange nicht bei Platos größtem Schüler eine jo Findliche Ver:
jtändnislofigfeit vorauszufegen, wie es die moderne Anfchauungs-
weile notgedrungen thun muß. Liegt hier nicht vielmehr der Ge:
danke nahe, daß die moderne Auffaffung des platonischen Staates,
die zu ſolchen Konfequenzen in Beziehung auf Ariftoteles führt,
von falfchen Vorausſetzungen ausgeht?“ 2)
) So Suſemihl Anmerf. 170 zur Politik.
?) Wenn übrigens Suſemihl eine ftärfere Unfähigkeit, fi in den
Gedanfengang Platos zu verjegen, faum für möglich hält, jo vergißt er, daß
er eine noch weit größere Unfähigkeit bei dem genialften neueren Beurteiler
der Politie, bei Hegel, annehmen müßte, dev das, was Ariftoteles immerhin
nur al3 mögliche Anficht Platos bezeichnet, geradezu ale Thatjache voraus—
jest. Hegel jagt von dem dritten Stand: „Er treibt Handwerke, Handel,
Aderbau, ex jchafft das Nötige für das Allgemeine herbei, ohne Eigentum
Durch jeine Arbeit zu gewinnen; fondern das Ganze ift eine Familie,
worin jeder fein angewieſenes Gejchäft treibt, aber das Produft der Arbeit
gemeinjam ift, und ex don feinem, wie von allen Produkten das erhält, was
IIT. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 365
Sedenfalls kann es nur zur Beftätigung der hier entwicelten
Anficht dienen, daß bei ihr allein uns auch Ariftoteles und feine
Kritik der Bolitie verjtändlicher wird.
Wenn wir uns nach alledem noch einmal die Montente ver:
gegenwärtigen, auf welche ſich unjere Auffaſſung des platonifchen
Staates und jeiner Stellung zum dritten Stande ftüßt, jo werden
wir über die ganze Stellung Platos zum Grundproblem der fozialen
Ethif richtiger und gerechter urteilen, als e3 der herrſchenden An-
ficht möglich war.
Die Wege, auf denen man die Löſung des genannten Brob-
lems jucht, führen — heute, wie in Platos Zeit — nach zwei
diametral entgegengejegten Richtungen auseinander. Auf der einen
Seite finden wir die Vertreter einer ariftofratijch-erflufiven, auf
der anderen die einer demokratiſch-egalitären Geſellſchaftsmoral.
Die Erfteren gehen davon aus, daß immer nur eine Heine Minder—
heit zu höherer geijtiger Kultur erzogen werden fünne und in ihrer
Kultur den Fortſchritt vepräfentiere. Sie ftellen den Kultur:
zwed und das höhere Recht der von Natur glücklicher Begabten
auf die Geltendmachung ihrer Überlegenheit allen anderen Rück—
fihten voran und legen demgemäß das entjcheidende Gewicht auf
die möglichite Differenzierung und möglichſt ariftofratifche Gliede-
rung der Gefellichaft, welche der Bethätigung diefer Überlegenheit
den günftigjten Boden darbietet.!)
er braucht” Gejch. der Phil. II 291. Diefe Auffaffung ift allerdings un—
richtig, injoferne als fie die fommuniftiiche Organijation der Volkswirtſchaft
vollfommen durchgeführt denkt, während Plato nur eine annähernde
Verwirklichung zu hoffen wagt. Auch die Motivierung, welche Hegel gibt,
it ungenügend, ja irreführend, allein das, was Plato als höchſtes deal
vorſchwebte, Hat Hegel richtig gezeichnet, und infoferne zeugt jeine Auffafjung
von einer innigeren und tieferen Verſenkung in den Gedanfengang Platos,
als die der jpäteren Kritik.
) In diefem Sinne meint Renan: „Das Wefentliche befteht weniger
darin, aufgeflärte Maſſen zu Schaffen, als vielmehr darin, große Meifter
herborzubringen und ein Publikum, das fähig ift, fie zu verſtehen. Wenn
366 Erſtes Buch. Hellas.
Dem gegenüber betonen die Anhänger des anderen Stand:
punkte den berechtigten Anjpruch der großen Mehrheit, ihrerjeits
an den Errungenfchaflen der Kultur und an den Gütern mit be
teiligt zu werden, welche geeignet find, das für den Einzelnen erreich-
bare Maß menschlichen Glüdes zu erhöhen. Über dem Kultur:
zweck ſteht ihnen der Glüdszwed oder — um mit Bentham zu
reden — das größtmögliche Glück der größten Anzahl.)
Beide Anſchauungen enthalten einen berechtigten Kern, beiden
haftet aber auch eine gewiſſe Einfeitigfeit an. Während hier eine
ſtarke Tendenz zu kulturwidriger Nivellierung hervortritt, wird
dort nur zu leicht die fittliche Forderung vergefjen, daß der Menſch
im Menfchen niemals bloß ein Mittel jehen joll. Der „Herren—
moral“, wie der extremſte Vertreter der ariſtokratiſchen Richtung,
Nietzſche, dieſelbe genannt hat, erſcheint unwillkürlich Die bevorzugte
Stellung der Hervorragenden als Selbjtzwed, fie nimmt e3 geradezu
mit Befriedigung bin, daß „die Menſchheit als Mafje dem Gedeihen
einer einzelnen ftärferen Spezies Menſch,“ das Wohl der Meiften
dem „Wohle der Wenigſten“ geopfert wird. Die Mafje, das
nüßliche und arbeitfame Herdentier, erjcheint nur dazu da, um Die
Folie zu bilden für die Entfaltung der feinften Blüten der Kultur,
wie bei einem Baum nur der Wipfel dazu da it, Blüten und
Früchte zu treiben, während der Stamm die Laft zu tragen hat.
Der Gejellichaftszwed ift einzig und allein der, den ganzen
Menfchen das Feld zu bereiten. „Man lege einen ſolchen Menjchen
— Sagt Nietzſche — in die eine Wagſchale und die breite wogende
taffe, die Herde, in die andere, jo wird dieje leßtere abjtürzen
hierzu die Unwiſſenheit eine notwendige Bedingung ift, nun um fo jchlimmer!
Die Natur Hält fich bei ſolchen Bedenken nicht auf, fie opfert ganze Gat-
tungen, damit andere die notwendigen Lebensbedingungen finden.“ — Philo-
fophiihe Dialoge D. A. ©. 77.
!) Vgl. die Formulierung dieſes Gegenjaßes bei Ariftoteleg Pol. II,
7, 13. 1283b: drogovoı ydo Tives, OTEDOV TO vouoFErn vouosernTeor,
BovAousvo TIdEoHaL ToUs OEFoT«ToVS vouovs, TOÖS TO TWrv Bekrıovov
GvupEgov 7 ngös To Tav nAsıovwv,
II. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftitaate Plato2. 367
bis an die Grenze der Möglichkeit. Denn, was fie faßt, find nichts
als Nullen.” Daher Untergang oder Knechtung aller Minder—
begabten !
Wem fällt bei diefer Auffaffung nicht fofort das Bild ein,
welches man von dem Geſellſchaftsideal Wlatos zu zeichnen liebt?
Sn der That ift wiederholt auf den Ideenzuſammenhang hinge—
wiefen worden, der zwiichen Plato und diefer Sozialphilofophie
des modernen Ariſtokratismus bejtehen fol. Und fie ſelbſt Hat
fi mit Vorliebe auf ihn berufen. Ein jo ausgezeichneter Kenner
des Altertums, wie Nießjche, preift ihn, den „Eöniglichen und pracht-
vollen Einſiedler des Geiſtes,“ ob feiner „Geringſchätzung des Mit-
leives,“ ob feines „Pathos der Vornehmheit und Diftanz.” Ja
jelbit die Onckenſche Anficgt von dem angeblih oligarchiſchen
Grundzug des platonifchen Denkens wird von ihm wiederholt.
„Unter jeder Oligarchie — jagt er — liegt das tyrannijche Gelüft
verftedt. Jede Dligarchie zittert beftändig von der Spannung ber,
welche jeder Einzelne in ihr nötig hat, Herr über dieſes Gelüft zu
bleiben. So war es 3. B. griechisch. Plato bezeugt es an hundert
Stellen. Plato, der jeinesgleihen fannte — und fich ſelbſt!“
Daß dieſe Anficht auf den Standpunkt PBlatos ein faljches
Licht wirft, kann nach den Ergebniffen unferer eingehenden Analyfe
des platonijchen Staates nicht zweifelhaft jein. Allerdings ift Plato
lebhaft von der Notwendigkeit überzeugt, daß — um ein befanntes
Wort von Treitſchke zu gebrauchen — die Millionen adern, Schmieden
und hobeln müfjen, damit einige QTaufend forſchen und regieren
können. Und er hat auf Grund diefer Überzeugung eine fehr
Starke Differenzierung der Gejelliehaft gefordert — eine zu ftarke,
wie wir ohne Weiteres zugeben —, allein die Art und Weije, wie
er fih die Stellung der hervorragenderen Elemente des jozialen
Drganismus denkt, ijt doch unendlich) von jener Gedankenwelt der
„oberen Zehntauſend“ entfernt, von der Herbert Spencer (the Man
versus State) gemeint bat, daß ſie heute noch im Wejentlichen
durch die Geſellſchaftsanſchauungen des klaſſiſchen Altertums bes
jtimmt werde.
368 Erſtes Buch. Hellas.
Um als Repräfentant dieſer Geſellſchaftsanſchauungen zu gelten,
müßte Plato vor Allem die fortjchreitende Differenzierung der Ge—
jellichaft auf Grund einer möglichjt weitgehenden Verſchiedenheit
der materiellen Lebenslage gefordert haben. Denn das ilt es
eben, was von dem gejchilderten Ariftofratismus mehr oder minder
offen al3 begehrenswertes Ziel der jozialöfonomijchen Entwiclung
bingeftelt wird: die mit der Konzentrierung des Neichtums gegebene
Möglichkeit einer raffinierten ariftofratiichen Geiftesfultur, einer
üppigen Entfaltung aller Blüten des höheren Lebensgenufjes, freiefte
Bahn für jene Virtuofen des Genufjes, die zugleich Virtuoſen des
Geiftes feien, und die, wie z.B. ein W. v. Humboldt, Gent
und Heine, ihre Kräfte eben nur in der Luft eines verfeinerten ſinn—
lichen Dafeins zu entwideln vermöchten.!) Ein Kulturideal, deſſen
volle Berwirflihung das „Opfer einer Unzahl von Menfchen”
vorausfegt, welche, wie Nießjche meint, um jener „Glücklichen“
willen zu unvollftändigen Menſchen, Sklaven und Werkzeugen herab:
gedrüct und vermindert werden müſſen.
Wie ganz anders Plato! Er verlangt für die Ariftofratie
feines Soealftaates überhaupt feine äußere Stellung, welche mit
der materiellen Ausbeutung des wirtjchaftenden Volkes oder gar
mit dem Maffenelend erfauft werden müßte. Die Anficht Treitjchkes,
daß den Talenten al3 Kulturbildnern und Vermittlern eine materiell
ausgezeichnete Poſition gebühre, würde er in dieſer Faſſung ohne
Zweifel als eine oligacchifche verworfen haben. Er deutet jelber
an, daß auf einem Standpunkt, bei dem das materielle Moment
eine jo entjcheidende Nolle jpielt, das Los der Hüterklaffe im Speal-
ftaat „nicht eben als ein jehr glücliches“ erſcheinen Fünne.?) Er
verlangt ja für fie nichts, al3 was für die Erhaltung ihrer phyfi-
ſchen und geiftigen Leiftungsfähigteit notwendig ijt: Befreiung von
) Bekanntlich hat Treitfchke in dem Aufjfa über den Sozialismus
und feine Gönner (Preuß. Jahrb. 1874) dieſe Beiſpiele gewählt, um die Not:
wendigfeit jtarfer wirtjchaftlicher Kontrafte zu erweiſen.
2) 419,
III. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftitaate Platos. 369
gemeinem Mangel und von körperlicher Arbeit.) Es ift das be
ſcheidene Lebensideal, zu welchen fich einmal Schiller in den Worten
befannt hat: „Um glüdlih zu fen, muß ih in einem gewifjen
jorgenfreien Wohlitand leben, und diefer muß nicht von den Pro—
duften meines Geiftes abhängig jein.” Das wirtichaftende Volk
des Idealſtaates nimmt feinen Negenten, Beamten, Soldaten die
Sorge für das tägliche Brot ab, indem es ihnen einen Lohn
zuteil werden läßt, bei dem fie „nicht notleiden, der ihnen aber
auch nichts übrig läßt.“2) Es iſt das Minimum von Opfern,
welche die Gejellihaft nun einmal bringen muß, wenn fie fich eine
ihren eigenen Beſtand fichernde Elite der Intelligenz und Wehr-
baftigfeit erhalten will. Ein Dpfer jedenfalls, für welches die
Gejamtheit nach den Intentionen Platos in den Leiftungen diejer
Elite vollfommenen Erjaß findet, und welches fie daher im leßten
Grunde nicht diejer, jondern in ihrem eigenen Intereſſe bringt.
Denn nicht darum wird bier ja ein Teil der Gejellichaft
über alle anderen erhoben, weil ihm jeine höhere Veranlagung als
ſolche ein Necht darauf gibt, jondern darum, weil ihn dieſe Ver-
anlagung zu den höchiten Leiftungen für den Dienft des Ganzen
befähigt. Keineswegs bloß um feiner jelbjt willen gelangt der
Einzelne in den Kreis dieſer Auserlejenen, jondern zugleich um
aller Anderen willen. So wenig daher die Ariftofraten Platos
von dem bejeelt find, was der Borfämpfer des modernen Ariſtokra—
tismus als „Willen zur Macht” bezeichnet hat, und jo wenig ihre
Exiſtenz die rückſichtsloſe Opferung und den „totalen Verbrauch“
der Anderen verlangt, jo wenig fühlen fi) die leßteren als die
Bergewaltigten und Gedrüdten, als die Leidenden und Unfreien.
Sie opfern fich für jene nicht in höherem Grade, als jene für fie.
') 416d: re d’ Enırydeia, 00Wwv deovraı dvdoes dyAntai nok£uov
GoOGPoOoVfG TE zul dvdosior, ta&auevovs naoa tWov @AAwv noktov deysodaı
90 0 X
1090v INS guvAazıs ToooVToV, 0009 UNTE TTEELELIVEL aVTois Eis Tov
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Eviavröv unte Evdeiv,
?) Bgl. die charakteriftiiche Bezeichnung der „Wächter“ als „zäher und
magerer Hunde.
Pohlmann, Gejch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus. T. 24
370 Erſtes Buch. Hellas.
Nicht „Herren und Sflavenmoral“ ftehen ſich hier in unverſöhn—
licher SFeindfchaft gegenüber, vielmehr ift e3 die Idee von den
Pflichten der jozialen Wechſelwirkung, welche Regierende und Negierte
in harmoniſcher Eintracht verbindet.
Wir haben mit Einem Wort in dem platonijchen Staat einen
Verſuch vor uns, das Kulturziel und das „Wohl der Wenigiten“
in Einklang zu bringen mit dem Glüdsziel und dem „Wohl der
Meijten”.
Der platoniſche Staat huldigt dem Ariftofratismus durch die
Schaffung feiner Hüterklafje, andererſeits aber gibt er dieſer Arifto-
fratie ein allgemein ftaatliches Gepräge, indem diejelbe alle für den
Dienft de3 Staates ungeeigneten Clemente abjtößt und ſich hin-
wiederum durch Heranziehung der Talente aus dem Volke beitändig
erneuert. So ſcharf ferner der durch die Verjchiedenheit der Auf:
gaben bedingte Unterjchied von Individuen und Klaſſen in jozial-
ariſtokratiſchem Sinne ausgebildet erſcheint, jo bedeutjam tritt in der
überaus bejcheidenen ökonomiſchen Ausftattung der höheren Klafje
die fozial-demofratifche Tendenz hervor, die Ungleichheit nicht über
das Maß deffen emporwachſen zu laffen, was die Harmonie des
Geſamtlebens erfordert. Der platonijche Staat will Feine Ungleich-
heit, welche eine große Anzahl von Händen nötigt, — ftatt für not-
wendige Bedürfniffe Aller — für die unverhältnismäßige Erhebung
Einzelmer tiber die ſozialökonomiſche Lage ihrer Mitmenſchen thätig
zu fein. Er ift weiterhin demokratisch, indem ev gleichzeitig das
Benthamfche Prinzip der Fürforge für Alle oder möglichjt Viele auf
jeine Fahne jchreibt und als Richtſchnur für das gegenfeitige Ver—
halten aller Bürger die Moral des gemeinfamen Mitleivens und
der gemeinfamen Mitfreude proflamiert, welche die Soztalphilojophie
des Ariftofratismus, die Herrenmoral des Stolzes, der Eigenmacht
und Härte!) als fozialiftiiche Bruderſchaftsſchwärmerei jedenfalls
weit von ſich weiſen würde.
Hat doc) Plato aus dem Glüdsprinzip fogar noch radifalere
') Die 416e ausdrücklich zurückgewieſen wird.
111. 2.3. Die Koinzidenz v. Sozialism. u. Sndividualism.t.plat. Staatsideal. 371
Folgerungen gezogen, als jelbjt der ebengenannte moderne Vertreter
diejes Brinzipes, Bentham. Auch diefer ift der Anficht, daß die
Summe der Glücjeligkeit um jo größer ſei, je mehr ſich das Ver—
hältnis des Befistums der Bürger der Gleichheit nähere. Allen
der hohe Wert, den er auf den Beſitz der materiellen Güter als
Grundlage perfönlicher Wohlfahrt legt, hindert ihn, diefen Gedanken
bis zu feiner legten Konjequenz, bis zur Forderung des Kommunis-
mus zu verfolgen. An Stelle gleichheitlicher Verteilung des Be—
figes tritt bei ihm eine gleichheitliche Verteilung der Nechte und
der Macht, von der er ein hinlänglich befriedigendes Ergebnis für
die Wohlfahrt der Gejamtheit erhofft, weil die Wohlfahrt, nad)
welcher die fouveräne Gejamtheit der Bürger Streben würde, ſtets
diejenige von allen fein werde. Plato, der diefe Hoffnung nicht
teilt und die gleiche Berteilung der Nechte nicht bedarf, um das—
jelbe Ziel zu erreichen, welches hier dem politischen Demofratismus
gejtellt wird, jchreitet um jo fühner auf der Bahn der ökonomiſchen
Gleichheit vorwärts. Da für ihn das höchite individuelle Glüc nur
ein geringes Maß von materiellen Gütern vorausfeßt, erjcheint ihm
die Ausgleichung des Intereſſes der Minderheit an der möglichiten
Intenſität des für fie erreichbaren Glüdes und des Intereſſes der
Mehrheit an der möglichſt extenfiven Ausbreitung des Glückes als
ein gerade auf dem Boden der Vollswirtichaft lösbares Problem
und damit die joziale Harmonie zwijchen Mehrheit und Minderheit
zur Genüge verbürgt.
3.
Die Koinzulenz von Sozialismus und Indiwidunlismus im platonifden
Stanfsuleal.
Wir find feit Hegel gewohnt, den platonifchen Staat als das
Prototyp eines Sozialismus anzujehen, aus dem alle und jede
individualiftiiche Tendenz in denkbar radikalſter Weiſe ausgemerzt
it, in dem alles individuelle Leben und Streben durch die Allge—
meinheit verichlungen wird.
Der Geift der platonischen Republik beſteht nach Hegel wejent-
24*
372% Erſtes Buch. Hellas.
(ich darin, daß alle Seiten, worin ſich die Einzelheit (Individualität)
als jolche fixiert, im Allgemeinen aufgelöft werden, alle nur als
allgemeine Menjchen gelten.!) Diejer Beftimmung gemäß, das
Prinzip der Subjektivität auszufchließen, ift jeder Teil nur als
Moment im Ganzen.?) Während im modernen Staat jedes Indivi—
duum für feine Intereſſen ich ergehen kann (sie!), ift dies aus der
platonischen Idee ausgejchlofjen.?) Plato- betrachtet nur, wie die
Drganifation des Staates die befte ſei, nicht wie die fubjeftive
Individualität.) „Daß die Individuen nicht aus Achtung und
Ehrfurcht für die Inſtitutionen des Staates, des Vaterlandes han-
deln, jondern aus eigener Überzeugung, nach einer moralischen
Überlegung einen Entſchluß aus fich fafjen, ſich darnach bejtimmen,
— dieſes Prinzip der jubjektiven Freiheit ift ein fpäteres, ift ein
Prinzip der modernen Zeit. In die griechifche Welt ift es zwar
auch gekommen, aber nur als das Prinzip des Verderbens für die
griechischen Staaten und das griechiiche Leben. Plato wollte es
verbannen und unmöglich machen in feiner Nepublif! 5)
„Der platonijche Staat,” jagt Stahl, „opfert den Menfchen,
jein Glüd, feine Freiheit, jelbft feine fittliche Vollendung. Denn
dieſer Staat — nur um ſeiner ſelbſt willen, um der Herrlich—
keit ſeiner Erſcheinung willen, und der Bürger iſt nur dazu be—
ſtimmt, als ein dienendes Glied ſich in die Schönheit ſeines Baues
fügen. So hat er den darſtellenden Charakter. Er iſt ein
Kunſtwerk, das minder für ſeine —— Teile da zu ſein ſcheint,
ala für den Befchauer.” 6)
An Einwänden gegen dieſe Auffaffung hat es zwar nicht ganz
gefehlt, ”) aber fie waren nicht überzeugend genug begründet, um die
1) Gefchichte der Philojophie II, 289.
2) 283,
3,7278.
4) 289,
5) 278.
°) Gejchichte dev Nechtsphilojophie (2) 16.
) Bgl. 3. B. Sufemihl: Platonifche Philofophie IT 283 und Nohle
0.0.9. TR.
11. 2.3. Die Koinzidenz d. Soztalism. u. Jndividualism.t.plat. Staatsideal. 373
Herrſchaft derjelben zu erichüttern. Die verbreitetfte moderne Dar-
jtellung, die von Zeller, fteht in der Hauptiache noch ganz auf dem
Standpunkte Hegels. Zeller ſieht das Charafteriftifche der plato—
nijchen Staatsidee in der Unterdrücdung aller, auch der berech-
tigften perfünlichen Intereſſen, in der Nechtlofigkeit des Einzelnen
gegenüber dem Staat, in dem Prinzip, daß die Bürger um des
Staates willen da jeien, nicht der Staat um der Bürger willen. !)
Sm platonischen Staat muß nach Zeller der Einzelne allen per
Jönlichen Wünfchen entlagen und fich zum reinen Werkzeug der
allgemeinen Gejege, zur Darftellung eines allgemeinen Begriffes
läutern. Denn dieſer Staat denkt nicht daran, die Nechte der
Einzelnen mit denen der Geſamtheit verlöhnend zu vermitteln, weil
jene in jeinen Augen diefer gegenüber gar Fein Necht haben,?) weil
der Menſch überhaupt auf alle perjünlichen Zwecke verzichten joll,
um nur für das Ganze zu leben.?) Im Gegenjaß zu den Staats-
romanent) der neueren Zeit haben bier dem einen exzieheriichen
Zwed des Staates alle anderen ſich unterzuordnen, ihm werden
alle Einzelintereffen rückſichtslos geopfert, er verlangt eine un:
bedingte Selbjtentäußerung aller Bürger. Plato will das Privat:
interefje aufheben, jeine modernen Nachfolger wollen es befrie-
digen, jener ftrebt nad) DVollfommenheit des Ganzen, dieſe nach
Beglücung des Einzelnen, Jener behandelt den Staat al3 Zweck,
die Perſonen als Mittel, diefe die Perſonen als Zwed, den Staat
und die Gejellihaft als Mittel.>)
Auch die moderne Staatswijjenichaft hat fi von dieſer An—
ſchauungsweiſe noch nicht loszumachen vermocht. Die neuefte Dar-
jtellung der Staats: und Korporationslehre des Altertums, welche
!) Der platonifche Staat in feiner Bedeutung für die Folgezeit. (Bor:
träge u. Abh. ©. 65.) Geich. d. Phil. II? 921.
2) Der plat. Staat a. a. D. 67.
>) Ebd. 78.
*) Zeller schließt ſich hier der unzutreffenden Anficht an, welche die
platonifche Politie zu den Staatsromanen zählt.
°) Ebd. 79.
374 Erſtes Bud. Hellas.
wir Gierke verdanten,!) ſchließt ſich rücdhaltlos dem eben genannten
Sabe an, daß für Plato das Individuum nicht Selbftzwed, ſon—
dern nur Mittel für den Zweck des Ganzen jei. Gierfe gibt zwar
zu, daß von Wlato „das Einzelleben als ein im ſich Bejonderes er-
kannt“ ift, allein es foll in dem Gemeinleben, welches ſich als
naturnotwendige höhere Dajeinsform im Staate verkörpert, voll-
fommen bejchlojjen jein, in ihm fein alleiniges Maß und
Ziel haben, an feinem Punkte feine Schranken überragen.?) Die
platonifche Staatslehre erſtrebt nach Gierfe die vollfommene Ab-
jorption des Individuums durch die Gemeinjchaft, fie weiß nichts
von einem Nechte der Berjönlichkeit;3) der Staat ift bier Fein
Mittel fir die Zwecke der Individuuen, jondern fich jelbit Zwec.t)
Suchen wir uns unjererjeitS den Ideengang Platos zu ver-
gegenwärtigen, jo iſt nach den früheren Ausführungen über die
allgemeine Tendenz der platonifchen Staatslehre jo viel ohne weiteres
zuzugeben, daß das Sozialprinzip von derjelben mit großer Ent-
jchievdenheit als das leitende Prinzip vorangeftellt wird (To zomwow
Nyovusror!)5) Sie nimmt ihren Ausgangspunft nicht von dem
Individuum, macht nicht die Sntereffen und Wünfche des Einzelnen
zur Norm für Staat und Gejfellichaft, jondern die Bedürfniffe der
Geſamtheit. Der DVBernunftitaat will eine Drdnung des Gejant-
lebens des Volkes jein, welche das größtmögliche Glüd der Gejamt-
heit verwirklicht und dieſem Ziele das Streben des Individuums
nach) dem eigenen größten Glüd grundſätzlich unterordnet. Nicht
darauf ift nach Plato die wahre Staatskunft gerichtet, daß einzelne
Klaſſen oder Individuen das höchſte Maß menschlichen Glüdes er-
reihen auf Koften der übrigen, jondern daß das Glüd und Ge
deihen der Gejamtheit der Bürger ein möglichſt vollfommenes fei.
Das Glückſtreben des Einzelnen findet hier feine prinzipielle Schranfe
') sn dritten Bande des deutschen Genofjenjchaftsrechtes.
) A. a. O. © 8.
—60
4) Ebd. ©. 13.
5) Leg. IX 875b.
ITI. 2.3. Die Koinzidenz d. Sozialism. u. Jndividualism.i.plat. Staatsideal. 375
in dem Grundſatz, daß es nirgends die Erhaltung und Entfaltung
Anderer oder gar Aller jchädigen darf. Das Glück des Ganzen ift
der Maßſtab, nach welchem exit das der einzelnen Teile zu be
meſſen ift.
Daraus folgt, daß die Organe der Gemeinschaft mit dem
äußeren Zwange ausgeftattet fein müffen, um den widerjtrebenden
Egoismus zu brechen und fein Sonderintereffe zur Geltung kommen
zu laſſen, welches nach ihrer Anficht mit dem Intereſſe der Gemein-
Ihaft in Widerſpruch fteht. Die Gemeinschaft, der Staat aljo ent-
ſcheidet. Und dieſe Entſcheidung ift die oberjte Richtſchnur für das
Handeln des Einzelnen, nicht das individuelle Urteil. Denn diejes
Urteil der Einzelnen ift nicht immer ein unbefangenes, weil die
teiften einfeitig an das eigene Glüd denten. Es gibt Feine ge=
nügende Bürgſchaft dafür, daß das fich ſelbſt überlafjene Indivi—
duum das Glüd der Gejamtheit als Richtſchnur für feine Hand—
lungen unentwegt fejthalten wird.!) Daher kann der Staat nicht
‚zugeben, daß „jeder die Nichtung einfchlage, die ihm behagt“.?)
Eine jolche Freiheit würde nur die Willfür des Individuums auf
den Thron jegen, würde gleichbedeutend jein mit Anarchie und
Desorganijation.
Damit erhält auch alles Glücjtreben von vorneherein eine
bejtimmte Nichtung. Das Glüc, welches der Einzelne im Sozial—
ftaat findet, kann nur ein jolches fein, welches mit dem Intereſſe
des Ganzen harmoniert. Es ift nicht ein möglichit intenfives
materielleg Genießen, wie es der vorzugsweile auf das finnliche
Dafein gerichtete Egoismus exitrebt. Denn dadurch wide, wie
Plato bemerkt, aus dem Beamten alles andere eher, al3 ein guter
Beamter, aus dem Landwirt oder Töpfer alles andere eher, als
ein guter Landwirt oder Töpfer werden.?) Überhaupt würde fi)
unter der Herrſchaft eines einjeitig materialiftiichen Eudämonismus
das Verhältnis des Einzenen zur Gejamtheit der Anderen in einer
!) Leg. V 731d ff.
2)... 00x va apın rocncodeı, onn Exaoros BovAeraı ep. 520.
s) 420.
376 Erſtes Buch. Hellas.
Weiſe geftalten, wie es mit den Lebensbedingungen der ftaatlichen
Gemeinschaft umverträglic wäre!) Diefe Lebensbedingungen de3
Ganzen verbieten es, daß die einzelnen Bürger oder ganze Gefell-
ſchaftsklaſſen das Leben gewifjermaßen ‚als eine Feftfeier (ravr-
yvors) anjehen und demgemäß ihre Lebensführung einrichten. Der
Staat kann nicht ein Tummelplag für panegyriiche Ungebundenheit
jein, denn er ift eine Ordnung, welche nicht nur Nechte gibt, fon:
dern vor allem Pflichten und damit Opfer auferlegt.?2) Der Staat
jelbft ift ja nur das Glied eines höheren Organismus, deffen einzelne
Teile bis zum denkbar Eleinften Atom herunter nach der Anord-
nung jeines göttlichen Lenkers in dem, was fie wirfen, wie in dem,
was jie erleiden, der Erhaltung und Vervollkommnung des Ganzen
dienen.?) Wie der Staat, jo ift auch der Einzelne dem Univerfum
gegenüber „nur ein Teikchen, welches, obwohl nur ein winziges
Atom, doch ftet3 auf das Ganze gerichtet mitwirkt”.) Die
Welt iſt nicht um dieſes Atomes willen entjtanden, fondern die
Teile entitehen, weil e8 die Lebensbedingungen des großen Ganzen
jo erfordern.)
So wird im Gegenjaß zu den Prinzipien des Egoismus, die
von dem nur an fich denfenden Individuum ausgehen, bei Plato
der Menjc von vorneherein zugleich als Glied der Gattung) auf:
) 421la.
2) 421c.
) Leg. 903a: nreidwuev Tov veaviav Tois Aoyoıs, WS TW TOD Iavrög
Erttushovusvo NIO0S mv oWrnoiav zei dosımv tod OAov nüvt £ori ovv-
Terayusve, W@v zei To WEQos Eis divauıv Exaotov TO 7T000Nx20V NEOKEL
HaL TIOLEL,
+) 903b: wv &v zei to oov, © oyerkıs, uogLov Eis To av Evvreivei
PAenov dei, zaineo ndvouıxgov OV.
3) oè de Aeinde — wird ebd. dem Zweifler erwidert — zregl Tovro
auro, ws yEveoıs Evexa Exeivov yiyveraı nüoe, Onws 7 7) TO Tod navrog
Bio Öndoyovoa eidaluwv ovoie, ouy Evexa 000 yıyvousvn, oo de Evexa
EXELVOD,
6) Dez ganzen dv9ownuvov yEvos Rep. 473d. — Yewv ye Ba, #Tn-
uaerd gpauev eivar ndvra, ON6OR Ivnta Coa, WrrLEo zal Tov oVgavor
ökov. Leg. 902b.
re — ———
II. 2.3. Die Koinzidenz dv. Sozialism. u. Individualism. i. plat. Staatsideal. 377
gefaßt, in welcher Eigenfchaft demjelben die Mitarbeit an der Ver
vollfommmung der menschlichen Gefamtheiten zu einer naturgemäßen
und primären Zebensaufgabe wird. Da ferner der Erfolg dieſer
Mitarbeit wefentlich bedingt ift durch Die Drganifation der ſtaat—
lichen Gemeinfchaft, welche alle einzelnen Kräfte zur Erfüllung der
menschlichen Kulturaufgaben zufammenfaßt, jo werden die Pflichten
gegen die Gattung von ſelbſt zu Pflichten gegen diejenige Gemein—
ſchaft, welche das Hauptorgan zur Erreichung der Gattungszwede
daritellt.
Soll nun aber die opferwillige Hingebung Aller an den die
Gefamtheit oronenden Staat, welche alles Necht zugleich als eine
Pflicht auffaßt, zu leiten und zu dienen, — ſoll diefe Hingebung
gleichbedeutend fein mit einer ſolch unbedingten Selbjtentäußes
rung und einem jo völligen Aufgehen des Einzelnen in der
höheren Einheit des Staates, daß daneben alles individuelle Zweck
jtreben verjchwindet, der Menſch ſich überhaupt nicht mehr als
Selbftzwed, fondern nur noch als Mittel und Werkeug für den
Zwed des Ganzen fühlen kann?
Plato weiß von einer folchen Auffaffung nichts. Seine Ab—
ficht wenigftens ift eg nicht, die Menjchen zu fleiſch- und blutlojen
Schemen der von ihm vertretenen Ideen zu machen. Selbſt für
die gewaltige Theodicee, welche in dem oben angeveuteten Sinn
den einzelnen Lebeweſen ihre Stellung im Weltall anweift, it das
Individuum fein jo völlig bedeutungsloſer Punkt neben zahllojen
anderen, daß e3 aufhören müßte, als Ich zu fühlen. Denn gerade
diefe Theodicee beruft fich gegenüber dem Widerſtreben „ſtarrſin—
niger” Zweifler ausdrüclich darauf, daß die Annahme ihrer Lehre
durchaus nicht einen Verzicht auf alle perjönlichen Zwecke fordere.
Sie apelliert mit dien Worten an das wohlverftandene Eigen:
intereffe des Smdividuums, welchem das, was dem Weltganzen
frommt, ſoweit es die allgemeinen Gejeße des Werdens geltatten,
notwendig mit zu gute kommen müfje.!) Sie behauptet eine prä—
1) Zwar heißt e8 (903b): &s yao iaroos xai nas Evreyvos Omut-
378 Erſtes Buch. Hellas.
ſtabilierte Harmonie zwiſchen dem richtig verſtandenen
Einzelintereſſe und dem des Ganzen, deſſen göttlicher Er—
halter und Lenker jedem die ihm „gebührend e”!) individuelle Lebens—
förderung zu teil werden läßt, alſo doch auch ein gewiſſes „Recht
der Verjönlichkeit” anerkennt.
Wenn mın aber nach Platos Anfiht Schon im unendlichen
AM, das doch ausschließlich ſich ſelbſt Zweck und nicht um des
Menschen willen da ift, der Menſch mehr bedeutet als ein bloßes
Moment im Ganzen, wenn ſelbſt bier das Bedürfnis nach einer
„verjöhnenden Bermittlung” zwiichen dem Ganzen und den An:
ſprüchen des Menjchenherzens auf die Anerkennung jeiner indivi—
duellen Lebenszwede in einer Weiſe betont wird, welche ganz an
die individualiſtiſchen Glücjeligkeitstheorien des achtzehnten Jahr—
hundert3 und ihre Zehre von der angeblichen Identität des allge:
mein Nüglichen mit dem individuell Nüßlichen erinnert,2) — wie
kann da Nato die Berechtigung jolcher Anjprüche gegenüber jenem
Teilchen des Kosmos geleugnet haben, das ſich Staat nennt und
das in diametralem Gegenfaß zu jenem recht eigentlich) ein Drgan
eo» joll für die Erreihung menſchlicher Lebenszwede, für die
ovoyös revrös ußv Evexa navra Eoyalerar noös To xoiwn Evvreivwv PBEI-
u£oos uv Evsxa 6hov zul ovy Ohov uEgovs Evexa anegyaberaı.
Aber, wird jofort Hinzugefügt: ad ayavazxreis dyvoov, onn To negi 08
doworov To navri Evußaiveı zal 00l xard duvauıy Tmv is
Tıorov,
KoLVNS YEVEOEWE.
!) vo nooonzov! 903a.
2) Bgl. den befannten Sat von Leibnitz: Deus accedens effecit ut
quidquid publice i. e. generi humano et mundo utile est, idem fiat etiam
utile singulis atque ita omne honestum sit utile et omne turpe damnosum.
Ebenſo ſtimmt die platonijche Theorie von der Koinzidenz der Glückſeligkeit
des Alls und der des Individuums bis zu einem gewilfen Grade überein mit
dev theory of moral sentiments von Adam Smith, wo die Überzeugung
ausgefprochen wird, daß Gott „in feinem Wohlwollen und jeiner Weisheit
von Ewigkeit her dieg ungeheure Getriebe des Weltall3 jo anorönete und
feitete, daß es jederzeit die größtmögliche Menge von Glück hervorbringt”,
weshalb er auch „in das Syftem feiner Regierung fein partielles Übel auf-
nehmen könne, welches nicht für das allgemeine Bejte notwendig wäre”.
III. 2.3. Die Koinzidenz v. Sozialism. u. Jndividualism.i.plat. Staatzideal. 379
Berwirflichung eines möglichſt hohen Maßes menschlichen Glüdes?
Wenn Zeller mit Emphaſe ausruft: „Wir werden uns nie über:
zeugen, daß es zur Bollfommenheit des Staatsganzen dienen Toll
oder daß es erlaubt ſei, die wejentlichen Nechte und Intereſſen der
Einzelnen feinen Zweden zu opfern”; — jo ift das gegenftandslos.
Denn auch PBlato will feine Vervollkommnung des Staatsganzen
auf Koſten wefentlicher Nechte und Intereſſen des Einzelnen.
Sein optimiftiicher und iveologijcher Dogmatismus gibt nicht einmal
die Möglichkeit zu, daß der Menſch als Atom im Natur: und Welt:
ganzen den Zweden desjelben rückſichtslos geopfert werden könne;
er kann ſich feine Vollkommenheit des AllS denken, welches mit dem
Intereſſe des Menſchen an eigenem Glück und eigener Vervollkomm—
nung im MWiderjpruch ftünde. Wie hätte Blato bei dieſer Anſchau—
ungsweife eine abjolute Abjorption des Individuums durch den
Staat forvern können?
Dagegen ſpricht Schon die allgemeine fpektulative und reli-
giöje Auffaſſung Platos. Sie ſteckt gerade der einzelnen Perſön—
lichkeit rein individuelle Ziele, die weit über das ftaatlihe Leben
binausragen. Indem fie dem jtrebenden Geift ein Reich der Wahr:
beit eröffnet, in welchem zu verweilen jein höchites Glück bildet,
gibt fie gerade den Edelſten des Volkes die Richtung auf ein deal,
welches ihr Fühlen und Denken über die „Schattenwelt der Er—
ſcheinungen“, alfo auch über den Staat weit hinausführt.
Die Erkenntnis, welche ſich hier dem Einzelnen erichließt,
wird ausdrücklich für wichtiger erklärt, als alle irdiſchen Inter—
eſſen !), und ein der Erfenntnis geweihtes Leben für befjer, als das
Leben im Staate und für den Staat.?) Nur der Not und der
fittlichen Pflicht gehorchend fteigen die zur Leitung des Staates
Berufenen von den feligen Höhen wiljenschaftlicher Betrachtung
herab zu den Gejchäften des Lebens. Auch thun fie das feines-
wegs bloß um des Staates willen, jondern ebenjojehr um ihrer
le
2) 519e.
380 Erſtes Buch. Hellas.
ſelbſt willen, weil ein gut regierter Staat die unerläßliche Voraus—
ſetzung für das Gedeihen der Wiſſenſchaft, für die erfolgreiche Pflege der
idealen Intereſſen iiberhaupt bildet.) Dieſe Intereſſen ſelbſt aber weiſen
nach Plato immer und immer wieder gebieteriſch auf ein höheres,
unſterbliches Daſein, welches eine Ausgleichung irdiſcher Mißver—
hältniſſe in Ausſicht ſtellt, wie ſie ſelbſt der vollendetſte Staat nicht
zu erreichen vermag. Daher endigt auch der Entwurf des Ideal—
ſtaates ſehr bezeichnend nicht etwa, wie der Sozialftaat Fichtes, mit
einer Verherrlichung der durch ihn verwirflichten Zuftände, ſondern
mit einem Ausblid auf ven Pfad, der nach dem führt, „was droben
it”, und auf dem fich diejenigen, welche ihn unentwegt verfolgen,
ſchon bienieden weniger als Bürger des irdischen Staates, denn als
die Fünftigen Himmelsbürger fühlen. Denn fie leben der Über:
zeugung, daß nichts Irdiſches das oberjte Anrecht auf fie bat,
jondern jene Macht, der „wir Sterblichen alle zu eigen gehören“
d. t. Öott.
Wie fann Gierke mit diefer Anſchauungsweiſe die Anficht ver:
einigen, daß bei Plato das Einzelleben vollfommen im ftaat
lichen Gemeinleben bejchloffen jei, in ihm jein alleiniges Ziel
babe, an feinem Punkte jeine Schranken überrage? 2)
Aber nicht bloß die Kosmologie und NReligionsphilofophie,
jondern auch die Pſychologie und Ethif Platos jteht mit der Anficht
jeiner modernen Beurteiler in Widerſpruch. Allerdings hat Plato im
Staat eine theoretiiche Auseinanderjegung über das Verhältnis der
egoiftiichen und altwuiftiichen Triebe der Menjchenfeele nicht gegeben.
Dagegen finden ſich in den „Geſetzen“ einige Andeutungen, die auf
den Standpunkt Platos ein bedeutfames Licht werfen. Cr beflagt
es bier al3 das größte aller Übel, daß die Naturanlage der meiften
1) 492e. ©. jpäter.
>) Nichtiger als Gierfe urteilt in diefer Beziehung Ahrens Naturrecht
1°. 42, der den „transcendenten, das ixdiiche Leben überragenden Zug im
platonischen Erziehungsſtaat“ hervorhebt gegenüber Ariftoteles, nach defjen
Anſchauung das menschliche Leben feine Befriedigung und feinen Abſchluß
in einem fich jelbjt genügenden autarkiſchen Staate finde.
11.2.3. Die Koinzidenz dv. Sozialism. u. Individualism. i.plat. Staatsideal. 381
Menjchen eine tief jelbjtfüchtige jei. Die Meiften dächten und han:
velten nach dem Prinzip, daß von Natur und Nechtswegen jeder
Menſch von Liebe zu fich ſelbſt erfüllt ſei.) ine Bemerkung, die
zunächft den Anſchein erwect, als würde die Berechtigung der Selbft-
liebe abjolut verneint, Selbitliebe ohne weiteres mit Selbftfucht
ientifiziert.
Daß das aber nicht die Meinung Blatos fein kann, beweift
der Einwand, den er unmittelbar darauf gegen das erwähnte Durch:
jcehnittSurteil erhebt, daß nämlich „die übertriebene Selbitliebe”,
7 opodga Eavrov yıkla, die Duelle aller Lafter jei. Sie, alfo die
Selbftfucht ift e3, deren Überwindung von jedem gefordert wird,
To opodga yılzly Eavrov,?) nicht die Verleugnung aller Selbjt-
liebe überhaupt, ein naturwidriger Verzicht auf jegliche Berhätigung
des Selbjtinterefjes. Nur dem jelbjtfüchtigen Individuum, nicht der
Selbitliebe an ſich tritt Plato feindlich entgegen.
Das zeigt ſich recht Har in der Stellung des platonifchen
Menjchen zum Sittengejeß. Hätte die herrjchende Auffaſſung Necht,
jo hätten demfelben die jittlichen Normen einzig und allein in der
Form des Ffategorischen Imperatives der Pflicht zum Bewußtſein
fommen müjjen, dem ji) der Einzelne blindlings zu unterwerfen
hat. Plato müßte für den Einzelmeu feine andere Neflerion übrig-
lafjen, als die Eine, wie muß ic) handeln, damit das Beitehen und
das Wohl der Gejamtheit gefördert wird? Der Gedanke an
das liebe Jh und an die Vorteile, welche die Förderung des Ge—
meinwohles für dasjelbe abwirft, hätte als treibendes Motiv des
Handelns völlig in Wegfall kommen müſſen.
Das ift nun aber durchaus nicht der Fall! Gerade der Ent-
) 731d: navrwv dE ueyıorov zaxov dvdowWnous Tols noAkols Eugpvrov
&v tais wouyais &oriv, ov nds &avıo ovyyrounv Eyov dnopvynv oddE ulav
ungavartaı' tovro d’ Eotıv 6 Akyovoıv, WS PlAos aürW nas AvYOoWnos
ice 7’ Lori zul 00905 Lyeı 1ö deiv eivaı rorovitov , ro DE dAmdela ye
navrov ducornuctov dia nv opodo« Eavrov pıklav aitıov Exdorw
yiyveraı Exaorore.
2) 732a: dio navra avdomnov Kon pevyeır TO 0p0do« Yılsiv autor,
382 Erſtes Buch. Hellas.
wurf des Spealftaates begnügt ſich nicht damit, die jittlichen Nor-
men als Naturbedingungen der menschlichen Gemeinjchaft zu er—
weiſen; ex jucht vielmehr ihre Anerkennung von jeiten des Ein-
zelnen zugleich dadurch zu fichern, daß er Impulſe zu Hilfe ruft,
welche aus den Tiefen der menjchlichen Natur ſelbſt ftammen.
Der platonifche Menſch handelt fittlih nicht bloß um der
Gemeinschaft willen, ſondern auch um jeinetwillen. Er fühlt fich
jogar zu der Frage berechtigt: Iſt das Gerechte auch ſubjektiv
nüglich,!) ift es vorteilhafter als die Ungerechtigfeit??) Und er
handelt fittlich, indem ex zugleich überzeugt ift, daß die Tugend
al3 „die Gejundheit der Seele” ebenſoſehr Grundbedingung des
individuellen. Wohlſeins ift, wie die Gejundheit des Körpers.?) Er
denkt dabei allerdings zunächit nicht an die Äußeren Erfolge der
Tugend, wie Lohn, Ehre u. j. w., jondern an ihren idealen Wert,
weil ex eben „vie Gerechtigkeit an und für fich jehon als das für
die Seele Beſte erfunden”.t) Allein bleibt bier nicht immer ein
jelbjtiiches, wenn auch nicht im fehlechteiten Sinne jelbjtiiches Motiv
als Triebfeder des individuellen Handelns bejtehen? Die getreue
Befolgung des Sittengejeßes erſcheint als ein Mittel zur Steige:
rung des perjönlichen Glüdes. Das Glüd, welches ſich an Das
fittlide Handeln knüpft, die inpividuelle Vollkommenheit, wird dem
Einzelnen unzweideutig al3 Ziel vor Augen geftellt, in welchem ex
den Lohn der Tugend zu juchen hat.) Er wählt das Gerechte,
!) Rep. 339b: .. . Evupe&gov yE tı zivaı xai &ya duoAoyo To
dizeıov. E
?) 345a: &yW yag dr voı AEywm To y’ Euov, Or ov neidouct ovd"
orucı adıziav dixaioovvns zegdadswregov eivaı. Bol. 445a.
3) Ein für das individualiftiiche Moment in Platos Ethif bejonders
bezeichnender Vergleich! 445b.
62 Bgl. 367 e.
>) Wenn es 612d heißt, daß die Gerechtigkeit Diejenigen nicht täujcht,
welche fie erlangen, jo wird die Luft, welche fich nach Plato an das jittliche
Handeln knüpft, offenbar ala eine vom Individuum erwartete Folge hin:
gejteltt, fie wird Zweck und Motiv des fittlichen Handelns zugleich.
IH. 2.3. Die Koinzidenz d. Sozialism. u. Individualism.i.plat. Staatsideal. 383
weil diefe Wahl für ihn im Leben und im Sterben die befte ift,')
weil er jo „vie höchite Glückſeligkeit erreicht” .2)
Man könnte hier jogar die Frage aufwerfen, ob in diejer
Anſchauung nicht das jubjektiv-individualiftiiche Moment in einer
Weije zur Geltung kommt, wie es der wahren Bedeutung des Sitt-
lichen nicht entjpricht. Doch begnügen wir uns mit der Feftftellung
der Thatjache, daß der joziale Eudämonismus Platos das jubjeftiv
eudämoniſtiſche und jubjektiv utilitarifche Element keineswegs aus-
ſchließt.“)) Geht doch Plato in feiner Rückſichtnahme auf den nim-
merjatten Glücjeligfeitstrieb des Individuums jo weit, daß er
„meben den Gütern, welche die Gerechtigkeit ſelbſt gewährt“ +) zu-
legt doch nicht umhin kann, noch des „großen und herrlichen
Lohnes“ zu gedenken, den fie der Menſchenſeele bei Göttern und
Menjchen erwirbt im Leben, wie nach dem Tode! >)
Der Gerechte im Sinne Platos begnügt ſich nicht mit dem
ſpinoziſtiſchen: beatitudo non praemium virtutis, sed ipsa virtus.
Er erhebt vielmehr jehr entjchiedene Anjprüche auf die bejondere
Gunft des Himmels. Er fühlt fi) zu dem Glauben berechtigt,
dab „wenn er in Armut, Krankheit oder fonftiges Unglück verfällt,
dies ihm im Leben oder nad) dem Tode zu irgend einem Seile
geveichen müfje”.) Wird ihm doch — in der Negel wenigftens
— jelbjt bei den Menſchen der äußere Lohn feines Thuns nicht
vorenthalten bleiben!
Wie der tüchtige Läufer das Ziel erreicht, den Siegespreis
') 618e: ori Lwyri te xai teievrmoavrı avım xoatlorn algescıc.
2) 619b: oßeo yap evdauuoveoraros yiyveraı dvdowrnos. Vgl. die:
ſelbe Auffaffung bei Thukydides (I, 42): 76 Te yao Evugeoov, Ev © dv tıs
EAayıoıq duaoravn, udhıora Enerar.
?) Vgl. auch die interejfante Statiftif über das Auftreten utilitariſcher
Ausdrüce in den Schriften Platos, bei. in der Republik bei Fosl: Der echte
und der xenophontiſche Sokrates ©. 435.
4) 6l4a: ... aIAd TE zei ulodoi zei doge yiyveraı (to dizaiw)
1005 Exsivors ToIs dyaols, ois avın nageiyero 7 dizaioovvn zrA.
5) 612b.
6) 613a und übereinftimmend damit Leg. 732d,
354 Grites Buch. Hellas.
empfängt und befränzt wird, jo wird es auch dem Gerechten er—
gehen; ex wird gegenüber dem Ungerechten die Siegespreife bei den
Menschen, Anjehen, Ehre u. ſ. w. davontragen. Und vollends
nach diefem Leben, da harren feiner Preiſe, Belohnungen und
Gaben, die jeden irdischen Maßſtab überfteigen, !) namenloſe Wonnen, 2)
während der Ungerechte jede Schuld mit zehnfachen Qualen büßen
wird! — Kurz, die Tugend wird ebenjo als Quelle äußeren, wie
inneren Glückes exftrebt.3) Darum werden wir — heißt es im
Schlußwort der Politiet) — die Gerechtigkeit mit Überlegung auf
alle Weile üben, Damit wir jo mit uns jelbjt, wie mit den Göttern
uns befreunden, und fo lange wir hier verweilen und nachdem wir
die Preife derjelben davontrugen, ringsumher wie befränzte Sieger
unferen Lohn einfammeln,’) kurz damit es uns jowohl hier, wie
dort wohlergebe.
Es ift derſelbe Standpunkt, den der fterbende Sofrates im
Nhacdon- vertritt. Die Herrlichkeit der Seligen (uaxa«owmv evdaı-
movie) ift das Motiv, „um dejjentwillen (Evex«!) man alles
thun muß, daß man im Leben der Tugend und der Vernunft
teilhaftig werde. Denn jchön ift der Preis und die Hoffnung
groß“.6)
Kann es etwas geben, was inpivivualiftiicher gedacht wäre,
als diefe Lohn: und Straftheorie, dieſe alle Gedanken der Nefig-
nation möglichft von fich weifende Moral der Hoffnung und Furcht,
1) 614a.
2) gunadeıeı xal Hear aunyavoı to xahdos 61da.
3) Vgl. Apol. 30b: ovx &x yonudrwv «osrn ylyveraı, ahA’ EE agers
xoyuara zei Ta dia dyasa rols dvdowWnors enavra xal idie zei Önuooig.
*) 621c.
5) Anfpielung auf die Tim. Gloss. p. 215 erwähnte Sitte: Hegueysıoo-
uEvoL vixmpogoı . ol vızmoavres &v dmuoolm ayorvı zei Jog« apa Tor
püowv zal oixeiov kaußdvovres zaı negriorres. Ein in der That für
Platos Auffaſſung jehr bezeichnender Vergleich!
) 115d: «Ale Tovrwv UM Evexa XoN... av noLeiv wore
EgEITS xal PgovjoEsws Ev TO Piw usraoyeiv' xuhöv yao To dIAov xai 7
EAnis usyaan.
II. 2.3. Die Koinzidenz dv. Sozialism. u. Zndividualism.t.plat.Staatsideal. 385
die jo ganz und gar in dem Tehnen und Wünſchen des egoi:
ſtiſchen Menſchenherzens wurzelt, bei der alles fittliche Handeln Ge-
fahr läuft zu einer Bolitif der verjtändigen Eigenliebe zu werden?
Durch diefen Wechlel auf die Sterne, durch den Hinweis auf den
Ausgleich im Senfeits, auf die Fürſorge der Gottheit für den durch
die Sittlichfeit zur Gottähnlichkeit fich exhebenden Menſchen wird
der Menſch als „Liebling der Götter” !) zulegt doch wieder zum
Mittelpunkt der Welt gemacht. Es triumphiert das ſchrankenloſe
Glücjeligkeitsftreben des Individuums, das es nicht faſſen will, daß
der Mensch zugleich ein Stück Natur ift und als folches in feinen
Dafein natürlichen Geſetzen unterliegt, die nur allzu oft jeinen
edeljten Bedürfniſſen, feinen ivealften Forderungen eine unüberfteig-
bare Schranke feßen.
er jo indivivualiftiich zu empfinden vermochte, der konnte
in der That gegen das, was am Individualismus unzweifelhaft be-
rechtigt ift, aljo auch gegen das Streben nad) dem eigenen Wohl:
jein an und für fich nichts einzuwenden haben. Demgemäß handelt
auch der platonifche Menſch, „Damit es ihm wohl ergehe“ (va eu
zroarron). Wohljein aber heißt nichts anderes, als ein Zuftand
befriedigter Luftgefühle oder der Befreiung von Unluftempfindungen ;2)
und die Theorie der Luftgefühle gewinnt daher auch für Plato eine
ſolche Bedeutung für Ethik und Politik, daß ſelbſt der Entwurf
des Spealftaates auf die Frage nach dem ſubjektiven Wert der Luſt—
gefühle eingeht, welche die Befriedigung der verjchiedenen Triebe,
wie 3. B. des Wiljenstriebes, der Chrbegierde, des Erwerbstriebes
1) HeopuAns Philebos 39e.
2) Bgl. über die Jdentität des „guten“ und angenehmen Lebens Protag.
351b: & jdEws Buoös zov PBlov TeAevınosıev, oVx EÜ dv co doxot ovrws
Beßiorevaı; 354b: ravra de ayada Eotı di’ aAko u m or Eis mdoras
anorsievid zal Avnov anahlayas zei anorgonds; m Eyere tı dAdo
TElos Akyeıv, Eis Ö anoßlewarres aura ayayd xadeıre, aAh Ndovas te
zal Aunnas; 357a: Eneidn dEndorns zai Avnns Evogdn zn aloeoeı
Epdvn julv 7 owrnoiae tov PBlov ovoa xri. Kin Standpunkt, der,
wie die ©. 386 f. angeführten Stellen der Bolitie und der „Gejege” beweijen,
auch jpäter feitgehalten wird.
Pohlmann, Gejch. des antiten Kommunismus u. Soztalismus. I, 25
336 Erſtes Buch. Hellas.
gewährt.) Die mannigfachen durch diefe Triebe bedingten Lebens—
richtungen werden daraufhin geprüft, welche von ihnen die ange
nehmfte und von Unluftgefühlen freiefte jet (wis rovrov Piov
hdıoros, 10 Ndıov zei aAvrroregov.?)
„Etwas feiner Natur nach jo recht Menjchliches — heißt es
in den „Geſetzen“s) — find die Gefühle der Luft und des Leides
und die Begierden. Das Sinnen und Trachten aller Sterblichen
ift mit Naturnotwendigfeit durch fie bedingt und beherrſcht.“ Da-
her haben auch die Menfchen, wenn fie an die Aufrichtung von
Gefegen denken, dabei faft ihre ganze Aufmerffamfeit auf
die Freuden und Schmerzen zu richten, wie fie fi im Leben
der Gejamtheit und im Gemüte des einzelnen Jndividuums
erzeugen.t) Denn auf der Art und Weife, wie man aus diejen
beiden ewig fließenden Quellen ſchöpft, beruht das Glück des
Staates, wie des einzelnen Bürgers.?)
Es ergibt fi) aus alledem die Berechtigung eines indivi—
duellen Lebensideales, d. h. des Strebens nach dem denkbar ſchönſten
Leben, deſſen Vorzug — neben der Ehre, die es bringt — darin
befteht, daß e3 „was wir alle erjtreben“, während feiner ganzen
Dauer mehr dev Freude, als des Leides gewährt.) Da wir mit
echt wünfchen, daß uns Luft zu teil werde?) oder daß in unjerem
!) Rep. 580d ff.
2) 581ec. Dal. 588a, wo eine fürmliche Bilanz gezogen wird zwiſchen
den Luftgefühlen des „Gerechten” und Ungerechten.
3) 732e: Eorı dn) Ypvoc dv9oWreiov ucdkiora novel zul Aunraı xai
erıdvulaı, £E Wr dvayan 10 Ivnrov nav Cwov drexgvos olov Eimornosei
TE zul EXXOEULUEVOV eivaı onovdais Tolc ueyioraus.
4) 636d: vouwv dE negı dieozonovusvwv avd0W@nwv oAlyov naoa
&otıv 7 ox&wıs negl TE Tas ndords zai ras Aunnag Ev TE noAeoı
zal Ev idloıs NYEoLV, s
5) Ebd.: dvo yap avraı myai uedeivreı pVosı dev, wv 0 udv
aovrousvos OWEV TE del xal ONOTE zul 0N000V evdaıuovel, zei moAg
ouolws zei ldıW ns za Swov anav zul.
6) 733a: zoqrei zui TovTw, 6 ndvres Inrovuev, TO yaigsiw nAeiw,
eicrıo JE Aunsiohei age Tov Blov anavre,
’) 733b: dornv BovAousde nulv eivat,
111. 2.3. Die Koinzidenz d. Sozialism. u. ndividualism.t.plat. Staatsideal. 387
Leben wenigftens die Luftgefühle überwiegen,!) jo muß fich in dem
glücklichiten Leben, deſſen der Menſch fähig ift, mit den unentbehr-
lichen fittlichen Gütern auch das verbinden, was uns „lieb und ans
genehm ift”.2) Gerade ein fittliches Leben bewährt fi) von diefem
Standpunkte aus als das Beſſere und Begehrenswertere, weil «8
„in Beziehung auf Leib und Seele angenehmer ift, als ein der
Schlechtigkeit ergebenes, weil die Tugend bewirkt, daß der gute
tenjch ein glüdlicheres Leben führt, als der Schlechte.” Und
ähnliches gilt von der Erkenntnis, von der in einem früheren, eine
ausführliche Theorie der Luftgefühle enthaltenden Dialog gerühmt
wird, daß durch die mit ihr verbundenen Genüſſe (ei zov uesn-
uarov Tdovei) eine vollfommenere Befreiung der Luft von der Un—
luft zu erreichen ift, als Durch irgend welche andere Geuüfje.3) Ein
der Erkenntnis geweihtes Leben wird in der Politie zugleich als
das angenehmite (Bios Hdıoros) bezeichnet, weil die mit ihm ver:
bundenen Luſtgefühle nach Inhalt und Dauer alle andere Luft über:
träfen.t) Ohne die Süßigkeit diejer Luftempfindungen würde jelbjt
das Leben des Denkers nicht lebenswert fein.?)
Sit es nach alledem zuviel gejagt, wenn wir den Sab auf:
) 733e: &v © udv Bio... vneoBdilsı TE tav jdorav, BovAousde,
&v © dE 1E Everria, or BovAousde.
2) 733d: tives dj zei 10001 eioi Bior, wv reg dei ngosAouevov 10
BovAntov Te zul Exovoiov, aBovAmtov TE zei adxovoıov idovre, Eis vouor
Eavro rafausvov, TO Pidov dua zul YOU xai EgLoToV TE xui xal-
Auorov Ekouevov Lv, ws oiov T’ Eoriv AVIEOWTOV URKUOLWOTATR; —
Ebenjo Rep. 580c. Der ESittlichjte zugleich der Glücklichſte! — Plato be:
rührt fich auch hier unmittelbar mit dev Moralphilojophie des achtzehnten
Sahrhunderts. Leslie Stephen hätte ebenjogut von Plato wie von Hutchefon
jagen können, daß nach ihm infolge einer präftabilierten Harmonie der
Zeiger des moraliſchen Sinnes jtet3 auf Handlungen gerichtet
fei, die das größte Glüd erzeugen. Vgl. Hasbach: Adam Smith I 103.
3) Bhilebus 52h.
4) Rep. 582a ff. 583a. 585e. 586e.
5) Phileb. 2le: & rs dekaıı’ dv ar Inv Nucv PoovyoLw ußv zei
voovy xal Eniormumv „.. KEXTNUEVoS, Ndorns dE uereywv unte ueya unte
cuızo0v und’ av Aunns, aAld To neganev anadjs ndvıwv IWv roloVrwv;
25 *
388 Erſtes Buch. Hellas.
ftellen, daß für die bier ausgeſprvchene Anſchauungsweiſe der Wert
des Lebens fich wejentlich mit nad) dem Neinertrag an Luftgefühlen
beftimmmt, welches es bringt?!) Es ijt daher eine völlige Ver—
fennung des Standpunktes Platos, wenn derjelbe von Zeller als
Vertreter eines rein ſozialen Eudämonismus (des ausschließlichen
Strebens nad der Vollfommenheit des Ganzen) in einen kontra—
diftorifchen Gegenſatz gejeßt wird zu feinen modernen Nachfolgern,
wie Thomas Morus und Fichte, als den Vertretern eines vein
individualiftiichen Sozialismus (des Strebens nach der Beglüdung
des Einzelnen).
Die Menjchen des platonischen Idealſtaates find von Dem:
jelben energiſchen Glücdsbedürfnis erfüllt, wie die Utopier des
ſtorus und die Bürger des gejchlojenen Handelsjtaates. Sie denken
gar nicht daran, gegenüber der Gejamtheit „allen perjönlichen
Wünſchen zu entjagen” oder gar fi „zur Darftellung eines all-
gemeinen Begriffes zu läutern“. Ihr Empfinden und Handeln
erſcheint keineswegs ausschließlich altruiftiich motiviert. Sie willen
zwar, daß das menschliche Einzelleben nicht ſchlechthin Selbſtzweck
jein darf, allein fie halten ebenjo entſchieden daran feit, daß es
auch nicht ſchlechthin Mittel für die Förderung der Gattung oder
eines menjchlichen Gattungsverbandes d. h. des Staates jein Fünne.
Daher beantwortet der platoniſche Menſch 3. B. die Frage nad
der Entftehungsurjfache des Staates mindeftens ebenfojehr vom Stand—
punkt des Individuums aus, wie dem der Öattung. Er gibt nicht
einmal zu, was doch jelbjt Individualiſten, wie Grotius und Lode
annehmen, daß es ein uninterejfierter Trieb, das Gattungsgefühl,
der Spzialtrieb gewejen ſei, welcher die Menſchen zur ftaatlichen
Gemeinschaft zufammengeführt habe. Der Staat entjteht ihm viel:
mehr recht eigentlich) aus dem Selbfterhaltungsbedürfnis des Indivi—
duums, „da feiner von uns für Jich jelbjt eriftieren kann, ſondern
jeder vieler Anderer bedarf”.2) — „Indem der Eine den Anderen
') Vgl. die eigentümliche Abjchägung der Luft und Schmerzquanta
im Leben des Gerechten und Ungerechten; eine fürmliche Luftbilanz Rep. 588a.
?) Ebd. 369b: Tiyvsrau toivor, 1 Ö' &yo, möhts, Ws EyWuaı, Eneudn
III. 2.3. Die Koinzidenz d. Sozialism. u. Individualism. i. plat. Staatsideal. 389
für verſchiedene Zwecke zu Hilfe nimmt, verfammelten wir — vieler
Dinge bevürftig — viele Genoſſen und Helfer an Einem Wohnort
und legten diefem Zufammenwohnen den Namen Staat bei.“) —
Es ift alfo das Intereſſe, „um dejjenwillen, — wie es ausdrüd-
lich heißt, — wir einen Staat grimdeten”.2) Die Individuen
treten zu einer Gemeinschaft zufammen, um einen Verkehr zu
organifieren, der es ihnen ermöglicht, einander die Früchte ihrer
Arbeit mitzuteilen;?) eine Mitteilung, bei der jeder — ſei es als
Gebender oder als Empfangender eben am beiten fein Intereſſe zu
befriedigen glaubt.*) Die Individuen fügen jich in einen jtaat-
lihen Verband, weil fie willen, daß „es jo für fie jelbit
bejjer ijt“.
Man fieht, Platos PBolitie zwingt durchaus nicht zu einem
Verzicht auf die Frage: Was leiftet der Staat für die Beglüdung
des Einzelnen? Ebenſowenig denken die Bürger des, Gejeßes-
jtaates an einen ſolchen Verzicht. Mit der Frage, wie der Staat
am zweckmäßigſten einzurichten ſei, verbinden fie unmittelbar die
andere, wie der Einzelne als ſolcher am beiten zu leben ver-
möge.5) Und wenn jelbit Fichte, „ver ftrenge Moralphiloſoph“,
den Bürgern feines Sozialftaates verkündet, daß jeder „jo angenehm
leben joll, als er vermag“,“) jo glauben auch die Bürger Platos
Tuyyaveı juov Exaotos 00x avraoxns, ahıd nohlov Evdens' m tiv’ oieı
doyiv ühkmv nohıv oizitew; ovdeulav, 7 d’ 6s.
ı) 369e: oſcao M do« neoahaußdvov dhhog Ehkov En’ ahhov, Tov
d’ En’ @Adov yoeig, olAov deouevor, noAkous Eis ulav oixmoLw ayeigavres
zowwvolis te zei Bomtovs, tavtn ın Evvoizige EIEUEFa okıv Ovoug.
?2) 371b: wv dj Eveza zei zoıvwvievy nomodusvoı mol Wxioauer.
Dal. 372a: goeie twi ın noös dAdmkovs.
—— —
4) 369e: Meradidwoı U Ehdos dh, Ei Tı ueradidwoıv, N uere-
haußavesı olöusvos aÜTO dusıvov eivaı.
5) Leg. 702a: teire yao ndvra eiontaı Tod xarıdeiv Evexa, Ws
nor’ dv nölıs doiora oizoln, zai (die nos dv rıs Bektıora Töv av-
tov Biov dıayayoı.
°) Gejchlojjener Handelftaat S. W. III 412.
390 Erftes Buch. Hellas.
Anspruch zu haben auf den Pros Ndıoros,!) zu dem ihnen eben
der Vernunftitaat der ſicherſte Führer zu jein verfpricht, weil er
mit dem öffentlichen zugleich das individuelle Glück verbürgt.?)
Vom Standpunkt des platonischen Eudämonismus ift das Indivi—
duum genau ebenjo zu der Frage berechtigt, in welchem Maße es
feine Rechnung im Staate finde, wie etwa von dem Standpunft
des in dieſer Hinficht ganz indivivualiftiich gedachten Syftems des
gejellfchaftlichen Utilitarismus in der Formulierung Sherings. „Bes
fomme ich für meinen Einfchuß ein entiprechendes Äquivalent,
macht fi das, was ich dem Staate leiſte, bezahlt in dem,
was ih von ihm erhalte? Bekommen nicht andere im Ver—
hältnis zu mir mehr, als ihnen gebührt, entipricht die Vertei—
fung der Vorteile der ftaatlichen Gemeinſchaft über ſämtliche
Mitglieder den Grundjägen der Gerechtigkeit?”3) — all dieſe
Fragen nach dem „Zweck im Recht” ftellt ſich auch der platonifche
Menſch.
Allerdings hat dieſer individualiſtiſche Eudämonismus Platos
nichts von vulgärem Hedonismus an ſich. Alles Glückſtreben des
Einzelnen erhält hier unbedingt Regel und Richtſchnur durch die
Forderungen der Vernunft und Sittlichkeit. Allein iſt das etwa
bei Morus oder gar Fichte weniger der Fall? Und gehört nicht
gerade das frohſinnige von dem geſundeſten Individualismus er—
füllte Völkchen der Utopier zu den eifrigſten Verehrern Platos?
Seine Schriften ſind die geleſenſten in Utopien, doch wohl ein
Beweis dafür, wie nahe ſich ihr Inhalt mit den Lebensidealen des
Volkes berührt. In der That handelt und empfindet dasfelbe in
vielen Dingen ganz platonifch und wenn auch in feiner Moral
philofophie und Lebenspraris unter den Bedingungen menschlichen
!) Vergleiche die ©. 385 f. angeführten Stellen. Protag 351b und
Rep. 880d.
?) Rep. 473e. Dadurch legitimiert ex fich eben ala der befte Staat,
OT oVr dv din Tıs Erdamoryosısv ovre idig ovre dmuooige. Dal.
Leg. 875b.
3) Jhering: Zweck im Recht I 537.
III. 2.3. Die Koinzidenz v. Sozialisın. u. jndividualism.i.plat.Staatzideal. 391
Glückes die äußeren Güter mehr zur Geltung fommen, als in der
theoretiichen Wertung derjelben bei Wlato, jo find die Utopier
doch weit entfernt, die Glückſeligkeit im Sinne des Hedonismus der
Sinnenluft gleichzujegen. Vielmehr wird von ihnen ebenjo ent-
ſchieden wie von Plato der jehr verjchtevdenartige Wert der einzelnen
Zuftformen und der weitaus überwiegende fittliche Wert der geiftigen
Genüſſe anerkannt. Auch fie „miſchen den Honig der Luft mit
dem Flaren nüchternen Waſſerquell der Einficht“.)
Nichts könnte auf die ganze Tendenz des platonifchen Staats-
iveals ein bedeutjameres Licht werfen, als die Thatſache, daß der
Bater des modernen Sozialismus und die Bürger jeines Speal-
ſtaates, — weit entfernt, jih in einem prinzipiellen Gegenſatz zu
Plato zu fühlen, wie man fälichlich angenommen hat, — fich mit
Begeifterung gerade zu den platonifchen Lebensidealen bekennen.
Wäre das nicht ein piychologiiches Nätjel, wenn dieſe Ideale an
ih ſchon und prinzipiell eine ſyſtematiſche Ertötung alles indivi—
duellen Lebens und Strebens bedeutet hätten?
Sn der That enthält denn auch die platonische Staatstheorie
indivivualiftiiche Züge genug, welche man nur darum überjehen hat,
weil man unter dem Einfluß des ertremen Individualismus der
Aufklärung und des Naturrechtes die Grundanſchauungen Blatos
ı) Mit Plato unterjcheiden fie die wahre Luft von der Scheinluft und
den „thörichten” Freuden des großen Haufens. So wenig wie Plato dulden
fie in ihrem Staat die „inanium voluptatum artifices* und die otiosa turba
der Müßiggänger. Die höchfte Luft ift auch ihnen die, welche mit der „Be:
trachtung der Wahrheit” verbunden ift. Alle andere Luft findet ihre Grenze
in der Nüchternheit, Mäßigkeit, Arbeitjamkeit, in der ftetigen Rückſichtnahme
auf das Wohl der Anderen und des Ganzen. Und jo hoch auch die Utopter
die Luft Stellen als Bedingung irdiſchen Glüdes, jo gilt ihnen doch, wie
Tlato, nichts im Leben ale größeres Glüd, denn ein feliger Tod. Der
ichmerzlichite Tod, der zu Gott führt, erjcheint ihnen bejjer, als das glück—
lichite Leben, weshalb fie denn auch voll Begeijterung die Gejchichte dom
Opfertod der Märtyrer und die Predigt vom Heiland annehmen! Das höchite
Glück des Lebens jehen fie mit Plato in der Erhebung über den Dienft der
Leiblichkeit zur Freiheit des Geijtes.
392 Erſtes Bud. Hellas.
von vorneherein in Bausch und Bogen verwarf und zu einem un—
befangenen Durchdenken des Einzelnen nicht fähig war. Die
Menjchen der Nenaifjance, welche die Antike nicht durch dieſe Brille
des Doktrinarismus anfahen, hatten auch dafür ein ſcharfes Auge.
Sp fonnte 68 3. B. einem Thomas Morus unmöglich einfallen,
ficd Deswegen wie 3. B. Zeller!) im Gegenjaß zur „hellenifchen
Staatsidee” zu fühlen, weil die Griechen „ſich ein menſchenwürdiges
Dafein überhaupt nur im Staate zu denken willen“, oder weil die
jelben eine „Verlegung berechtigter Intereſſen der Einzelnen überall
da nicht anerkennen, wo das Staatsinterejje diejes fordert (sic!),
überhaupt den Staat nicht für verpflichtet hielten, feinen Ange—
hörigen ein größeres Maß von Nechten zu gewähren, als es feine
eigenen Zwecke mit ſich bringen”.2) In allen diefen Punkten bat
eben Morus die Anſchauung der Antike durchaus geteilt, ebenfo
wie die moderne Staatslehre, ſoweit fie ſich von den Sllufionen des
doftrinären Liberalismus emanzipiert hat. Wer dagegen noch ſo
jehr im Banne des naturrechtlichen Individualismus fteht, daß er,
wie Heller, dem Staate das Necht zur Beichränfung der Inter—
ejfen und Rechte des Individuums in dem eben angedeuteten Um—
fang prinzipiell abjpricht, wer mit Zeller von der „naturwüchfigen“
Entwiclung der Einzelnen und der Gejellfchaft ein jo befriedigen-
des Ergebnis erwartet, daß er ſich ohne weiteres auf den „aus der
freien Bewegung der Einzelnen fi erzeugenden Gemeingeiſt“ ver-
lafjen zu können glaubt und daher „eine jelbjtändige Nepräfentation
ver Staatsidee” für unnötig erklärt?) wer fich ſogar ein menſchen—
wirdiges Dafein außerhalb des Staates denken kann,) bei dem ift
e3 nicht anders zu erwarten, als daß er bei Wlato eben nur den
denkbar extremſten Sozialismus zu jehen vermag, der das Indivi—
duum in jeder Beziehung prinzipiell den Staatsgedanfen ge—
opfert babe.
1!) Der platonifche Staat a. a. D. ©. 80.
?) Zeller ebd.
3) Wie Zeller: Geſch. der Phil. IT (1) ©. an
*) Wie Zeller: Plat. Staat ©. 80.
TU. 2.3. Die Koinzidenz d. Sozialism. u. Individualism. i.plat. Staatsideal. 393
Hätte diefe Auffaffung recht, dann würde es überhaupt feinen
Staat geben, der nicht auf einer Vergewaltigung des Individuums
beruhte. Dem wo iſt ein Staat, der ein „berechtigtes“ Intereſſe der
Einzelnen gegen das Staatsintereffe, ein „Recht“ des Einzelnen
gegen den Staat in Wirklichkeit anerkannt? Der Borwurf, den
geller vom Standpunkte einer falſchen naturvechtlichen M etaphyfit
3. B. gegen Fichte erhebt, daß fein ganzes jozialiftiiches Gebäude
einer „naturrechtlichen Grundlage” entbehre,!) ift gar fein Vorwurf.
Denn der Staat kann ein „Neht“ nur im Staat und durch
den Staat anerfennen, fein „Gejeß”, das mit uns geboren; er
kann nicht zugeben, daß ihm die einzelnen Individuen als ſou—
veräne Inhaber von urjprünglichen „Rechten“ gegenüberjtehen, die
der Staat bereit3 vorgefunden und die er als abjolute Grenze
feines Nechtes anerkennen müſſe, zu deſſen Schuß er von den Ein-
zelnen ins Leben gerufen jei. Der Staat würde fich ſelbſt negieren,
wenn er nicht grundfäglich feine Befugniffe ebenfo, wie die Pflicht
des Einzelnen zum Gehorfam als vechtlich unbegrenzt ſetzen würde,
mag der Spielraum, den er der individuellen Selbjtbeitimmung
geitattet, ein noch jo ausgedehnter fein.?) ES kann alfo auch beim
platoniſchen Staat nicht die Nede davon fein, daß er Deswegen,
weil er ſein Necht als das höhere jeßt, das Individuum grund
fäßlich geopfert habe.
Übrigens ift ja Plato ſelbſt fo ſehr ein Kind feiner Zeit und
) Fichte als Politiker. Vorträge und Abh. ©. 166.
2) VBgl. die Schöne Ausführung von Paulfen: Ethif S.799. Wie ehr
Zeller in diefen Dingen unter dem Einfluß ungejchichtlicher Zeitanfchauungen
fteht, beweift feine Bemerkung gegen Fichte a. a. O. 165: „E3 ift unrichtig,
dab das Eigentumsrecht erſt im Staate entftehe, fondern der Staat findet es
ebenjo, wie die Unverleglichkeit der Perfon und der Verträge als ein natür—
liches Recht des Einzelnen vor, das er nicht zn Schaffen, ſondern nur zu
ordnen und zu ſchützen hat (!!). Übrigens irrt Zeller, wenn er glaubt, daß
auf der naturrechtlichen Grundlage der „natürlichen Freiheit” notwendig auch
ein freiheitliches wirtjchaftspolitiiches Gebäude errichtet werden müſſe. Vgl.
3. B. was Hasbach: Unterjuchungen über Adam Smith ©. 195 don Hutchejon,
den englischen Bearbeiter des pufendorfiichen Naturrechtes, anführt.
394 Erſtes Buch. Hellas.
ihres ſozialpolitiſchen Nationalismus, ſteht jelbft jo durchaus auf
dem Boden einer naturrechtlichen Metaphyfit, daß er, wenn auch fein
Recht gegen den Staat, jo doch naturrechtlich begründete Anz
jprüche des Individuums an den Staat entſchieden anerkennt, wie
bereits aus dem bisher Gefagten hervorgeht und fpäter bei der
Analyje jeines Oerechtigfeits-, Freiheit: und Gleichheitsprinzipes
noch deutlicher werden wird.
Kun ift freilich auch das Maß freier Bethätigung, welches
der Vernunftſtaat dem Einzelnen thatfächlich einräumt, überaus eng
begrenzt. Er zwingt mit ummiderftehlicher Gewalt die Individuen
in die feſtbeſtimmten Bahnen, welche durch die Staatsidee vor:
gezeichnet find. Die Auffaſſung des Staates als eines einheitlichen
Organismus ift bis zu der utopifchen Forderung überfpannt, daß
ein abjoluter Sozialwille die einzelnen Individuen zu einer fozialen
Lebensgemeinschaft verjchmelze, in der das Streben und Handeln
jelbftändig empfindender und denfender Weſen genau ebenfo Harmo-
nich imeinandergreifen fol, wie die Funktionen der jeelenlofen Teile
eines organischen Naturganzen. Und dieſes Ziel wird durch eine
zentralifierte Staatsleitung zu erreichen verfucht, welche alle Fragen
des politifchen, jozialen und wirtjchaftlichen Lebens von oben und
von Einer Stelle aus löſen, alles indivivnelle Sein und Thun in
die Sphäre ftaatlichen Einfluffes und ftaatlicher Ordnung binein-
ziehen ſoll.
Allein ſelbſt dieſe extrem-ſozialiſtiſche Drganifationsform, die
ſich zu ihrer Verwirklichung und Vervollfommnung des Individuums
als unbedingt abhängigen Werkzeuges bedient, ift — was ihren
Endzweck betrifft — keineswegs jo konſequent anti-individualiftisch
gedacht, wie man gewöhnlich annimmt. Wenn Schmoller einmal
von Fichte geſagt hat, „er ſei zu ſehr vom germaniſchen Geiſt ent—
ſproſſen, um das Individuum ganz untergehen zu laſſen in dem
Getriebe der Maßregelung“,) jo kann man in ähnlichem Sinne
) J. ©. Fichte. (Zur Litteraturgefchichte der Staats- und Sozial:
wiljenjchaften ©. 62.)
III. 2.3. Die Roinzidenz dv. Sozialism. u. Individualism. i.plat. Staatsideal. 395
auch von Plato jagen: Er ift viel zu ſehr Hellene, ex fteht ſelbſt
zu jehr auf dem Boden der die ganze helleniiche Ethik und Spzial-
philofophie beherrfchenden eudämoniftischen Grundanfchauung,!) als
dab er ſich eine vollendete Drganifation des jozialen Ganzen zu
denfen vermöchte ohne die gleichzeitige Befriedigung des individuellen
Glückſtrebens und der berechtigten Lebenszwecke der Einzelnen, der
allein wirklich lebenden, bedürfenden, fühlenden menschlichen Indi—
viduen. Es ift einer der Grundgedanken jeines ganzen Syitems, daß
im Bernunftftaat ſelbſt der äußerte Zwang nur ein Zwang zum
Glücke fein wird, — auch für den Einzelnen !
Kun hat man allerdings im Sinne der herrjchenden Auf:
faljung gemeint: Der Sofrates der Politeia erkläre ja jelber aus:
drüclich, daß es in der That gar „nicht jeine Abjicht fei, Einzelne
glücklich zu machen, jondern das Ganze.”2) Allein kommt in dieſer
Formulierung der Sinn der betreffenden Stelle wirklich voll und
ganz zum Ausdrud?
Es handelt fih bier um die Widerlegung des Einwandes,
daß die Philofophen und Krieger des Bernunftitaates nicht eben
ſehr glüdlih (ravv vı evdaruoves) zu nennen jeien, da fie zwar
ven ganzen Staat in ihrer Gewalt, aber infolge ihres Verzichtes
auf materiellen Bejit und Genuß feinen Vorteil von der Herr—
Ihaft hätten.?) Wäre die herfömmliche Beurteilung des platonischen
Staates die richtige, Jo müßte Sokrates auf diefen Einwand ein-
fach erwidern: „Da der Staat nur Selbjtzwed, das Individuum
einzig und allein dienendes Mittel für die Zwecke des jozialen
) Val. Heinze: Der Eudämonismus in der griehiichen Philojophie.
Abh. der ſächſ. Gel. d. Wiſſenſch. NIX 645 ff. Wie Euden angefichts der
hier und im Text hervorgehobenen Thatſachen behaupten fan, es fei der
antifen Lebensanfchauung überhaupt eigentümlich, daß das Individuum
nirgends als Selbſtzweck erſcheint, ift mix unbegreiflich. — Lebensanſchau—
ungen großer Denker 123. Die Suggeftion, welche die überlieferte Lehre von
einer angeblichen „antiken Staatsidee” ausübt, macht blind gegen die offen-
fundigften Ihatjachen der Gejchichte.
?) Sp Diebel Rodbertus II, 22.
3) 419 f.
396 Erftes Buch. Hellas.
Körpers ift, jo hat es überhaupt feinen Anfpruch auf Befriedigung
jeines eigenen Glücksſtrebens im Staat und durch den Staat.”
Wie lautet nun aber die Antwort in Wirklichkeit?
Zunächſt wird entſchieden bejtritten, daß von einem bejon-
deren Glück der genannten Klaſſe nicht die Nede fein fünne. Es
wäre im Gegenteil unter jolchen Lebensbedingungen nicht zu ver-
wundern, wenn jie jogar des allerhöchſten Glückes teilhaftig würde!
Es wird alfo die Aufwerfung des individuellen Glücksproblems
feineswegs als unzuläffig abgelehnt, jondern als berechtigt an—
erkannt. Was zurücgewiefen wird, ift nur eine einfeitige Löfung
diejes Problems zu Gunften einer beitimmten Zahl von Individuen.
Inſoferne wird die Frage als faljch gejtellt bezeichnet, als fie ſich
auf das Glück einer befonderen Klaffe bezieht. Denn „nicht in
der Abficht,“ Fährt Sokrates fort, „gründen wir unferen Staat,
daß ein einzelner Stand (Ev zı 2Ivos) vor Allen (diegegovrus!)
beglüct fei, fondern daß es möglichft die ganze Gemeinde fei (6 zı
uakıore Ohm 7) modıs)'), d. h. die ganze Bürgerfchaft.?2) Es
dürfen nicht einige Wenige al3 Träger des im Staate zu ver-
wirklichenden Glücdes ausgeſchieden werden.?)
Man fieht, es handelt ſich an diejer Stelle gar nicht um
ven Gegenſatz zwijchen dem abjtraften Kolleftivindivivuum Staat
und jeinen Drganen, jondern um den Gegenjag Tonfreter Biel-
heiten, d. h. der Gejamtheit der zu einem Staate vereinigten Indi—
viouen, dem Volksganzen einerjeit3 und einer bejonderen Gruppe
derjelben andererſeits.) Daher wird die Frage noch bejtimmter
!) 420b.
?) Für die Berechtigung dieſer Überſetzung ſpricht auch Leg. 742de
und 743c, wo direkt das Glück der Bürger als Ziel der Geſetzgebung be—
zeichnet wird. — Vgl. übrigens auch Rep. 500e und Leg. 945d.
3) 420e: viv ußv oVv ws olwusda Tıjv eidaluorve (sc. noAıy) nAdr-
Touev 00x drroAaßovtes oAlyovs Ev aurn rolovrovs Tivas tıyevrss, dA Ohm.
*) Darüber darf auch der hier gebrauchte Vergleich des Geſetzgebers
mit dem Maler, dev eine Statue zu bemalen hat (420e), nicht Hintwegtäufchen.
Plato kann hier diefen Vergleich gebrauchen, weil für ihn, wie wir jehen
werden, ein Gegenſatz zwijchen dem Intereſſe des Staates als jelbjtändigen
II. 2.3. Die Roinzidenz d. Sozialism. u. Jndividualism.t.plat. Staatsideal. 397
dahin formuliert: Soll die Hüterklaffe jo geitellt fein, daß in ihr
das höchite Glück erwachje oder jollen wir mit Rückſicht auf den
ganzen Staat erforschen, ob es in diefem ſich finde?!) Der Staat
ſoll nicht ein einfeitig ausgebeutetes Machtmittel in der Hand der
herrſchenden Klafje fein, jondern er ſoll eine möglichſt allgemeine
Glückſeligkeit, das Glück möglichjt der gejamten Bürgerichaft ver
wirklichen. Denn — To heißt es weiter — jo wird er am meiften
den Forderungen der Gerechtigkeit entjprechen.)
Der Gerechtigkeit! Iſt etwa jene andere Frage, ob der Staat
die Glüdjeligkeit der Einzelnen als jeine Aufgabe zu betrachten
habe, oder ob die Individuen nichts find, als „Material“, welches
die Politik zu verarbeiten hat im Dienfte der Vervollfommnung
des höchſten Drganismus, des Staates, ift dieſe Frage eine Frage
der Gerechtigkeit?
Wie fih Plato das Glück des „ganzen Staates“ denkt, zeigt
der weitere Verlauf der Darftellung, aus der unzweideutig hervor:
geht, daß die Vorausfegung diefes Glücdes das der Einzelnen ift.
Damit der „ganze Staat” glücklich jei, müſſen möglichit alle Bürger
es fein, nicht in der Weife, daß Jedermann einem jchrantenlojen
Genußitreben folgen kann, — das würde die bürgerliche Gemein-
ſchaft jelbit unmöglich machen,3) — jondern daß jedem Einzelnen
das zu Teil wird, was ihm gebührt (T« rooonxovre).t) Und
an einer jpäteren Stelle, an der Plato wieder auf diefe Erörterung
zurückkommt, heißt es: Damit nicht ein Übermaß des Glückes auf
Eine Klafje ſich häufe, jondern daß das Glüd im ganzen Staate
Zweckſubjekts (interet general) und dem (wohlverſtandenen) Intereſſe der
Gejamtheit jeiner Bürger (dem inter&t de tous) nicht eriftiert.
1) 421b: oxenteov ovVv, noTEgov 1005 Tovro BAfnovres ToVs pühazas
zasloTWuev, Onws 0 Ti nAelorn avrois eudaruovia Eyyermostei, 7) TovTo
uev Eis mv nohıv Ohmv Bhenovras Heateov, Ei Exeivm Eyyiyvaraı zul,
2) 420b: wmImuev yco Ev Tn toLavın udkıora adv EÜgeElv
dixzaioovvnv zei av Ev 17 zdxıore oixovulvn ddıziav, xarıdovres de
zoivaı av, 0 naher Inrovuerv,
») 420e f.
#) 419d,
398 Erſtes Buch. Hellas.
fie finde, müfjen die Bürger fo erzogen werden, daß fie einander
gegenjeitig an dem Nuten teilnehmen lafjen, den ein jeder der
Gejamtheit bringen kann.) Man ſieht, was der Gemeinschaft für-
derlich ijt, erjcheint bei diefer Auffaſſung gleichzeitig auch als ein
Förderungsmittel indivivuellen Wohles.
Vie groß allerdings der Anteil der einzelnen Klaffen an der
allgemeinen Glückſeligkeit fein wird, läßt Plato dahingeftellt. Er
erklärt jeine Aufgabe für gelöft, wenn es ihm gelungen ift, für den
Staat die Drganijationsform zu finden, welche diefe allgemeine
Glückjeligfeit zu erzeugen vermag.?) Allein es wird dadurch an der
ganzen Auffafjung nicht das Geringfte geändert. Denn diefer Ber:
zicht liegt ja in der Natur der Sache ſelbſt, d. h. in den unvermeid—
lichen Schranken, welche allem gejchriebenen Necht geſetzt find. Der
„Geſetzgeber“ ift eben von vorneherein nicht in der Lage für die
Verwirklichung der distributiven Gerechtigkeit im Einzelnen ge
naue Normen aufzuftellen, weil jede einmal firierte rechtliche Ord—
nung zu jehr auf den Durchſchnitt berechnet, zu wenig elaftifch
it, um das suum cuique in idealer Weife verwirklichen zu
fünnen. >)
Der Geſetzgeber, der jeine Sagungen „für Alle insgefamt“
gibt, ift einfach nicht im Stande, genau jedem Einzelnen das ihm
Gebührende zuzuerteilen” (exgıfos Evi &xaorp To rgochxov arcodı-
dovaı).t) Alfo nicht, weil er dem individuellen Glücsftreben
jeden Anfpruch auf Berücjichtigung abjpricht, jondern im Gegen-
teil, um eine gerechte Befriedigung desjelben zu ermöglichen, läßt
') 5l9e: Eneiddov, . ... oT vouw ov Tovro weile, onws Ev U
y£vos Ev nölsı duapsgovrws EV nodle, ahh Ev Öhn m noAsı toüro
unyararaı Eyyeveodaı, Evvaguortwv Tovs ToAitas TIEIFOL TE zul avdyan,
nowv ueradıdovaı aAAmkoıs ıys wpeisias, iv dv Exaoroı TO xoıvor
dvvaroi wow sigpslsiv xrA.
2) 42le: xzai ovrw Evundons ms noAewg avsavouerns xai XaAQs
oixılouevns Euteov, ONWs Exdortoıs Tols E$veoıv 7 pvoıs anodidwoı
Tov uerahkaußdveiv evdaıuovias.
2) ©. oben ©. 295 f.
*) IoA. 295 a.
II. 2.3. Die Koinzidenz v. Soztalism. u. Individualism. i.plat. Staatsideal. 399
der DVerfaflungsentwurf des Idealſtaates die Frage feinerfeits un-
gelöſt. Denn fie joll deshalb nicht etwa überhaupt ungelöft bleiben!
Gerade dazu hat ja der Bernunftitaat feine idealen Staatsmänner,
die frei von den Felleln des Irrtums und ftarrer Saßung jeder:
zeit allen Bürgern „das nach Vernunft und Kunſt Gerechtefte zu
gewähren”) und jene Koincivenz des öffentlichen und individuellen
Glückes herbeizuführen vermögen, welche eben den Vernunftitaat
zum beften Staate macht.
Und beruht nicht eben darauf auch die ganze Hoffnung Blatos,
den Einzelnen auf dem Wege vernunftgemäßer Überzeugung zu
—2
freiwilliger Unterwerfung unter die Prinzipien des Vernunft—
jtaates bejtimmen zu können? Man vergegenwärtige fi nur das
Argument, welches ihm als das überzeugungskräftigfte erſcheint.
Es iſt ein entſchieden indtvidualiftiiches!
Plato geht nämlich dabei von dem Saße aus, daß alle indi—
viduelle Fürſorge am meiſten Demjenigen gewidmet wird, was man
liebt. Vor Allem aber — meint er — lieben wir das, womit
uns die engfte Intereſſengemeinſchaft verbindet, oder — um mit
Blato zu reden — für welches wir eben dasjelbe erſprießlich
halten, wie für uns ſelbſt, und wovon wir glauben, daß es
bei feinem Wohlergehen zumeift auch uns wohl ergebe und im
gegenteiligen Falle jchlecht.2) Das gilt aber nah Plato recht
eigentlich vom Staat. ES ift aljo nicht einfeitig die ftarre, nur
Dpfer heijchende Pflicht, welche den Einzelnen an das Gemeinwejen
fettet, jondern zugleich die Sympathie, die aus der Zuverficht er—
wächſt, daß er, indem er fih in den Dienft des Ganzen jtellt, am
beiten zugleich für die eigene Wohlfahrt jorgt. Der Bürger des
platoniſchen Staates ift überzeugt, daß es für das Beſondere
) Bol. die Stelle oben ©. 296 Anmerk. 5.
2) 412d: xmdorto de y’ dv Tıs udkiore Tovrov, 0 Tvyyavor pL-
Adv, — dvdyan . — xal unv Toüro y’ dv udhore gpıhoi, © Evupegeir
nyolto t« würd xal Eavro, zal Orav udkıora Exeivov ußv eV
noetrovros oloıro Evußalivsır zal Eavro EV nodtreıv, un) de
Tovvavriov.. — oVTws, Em.
400 Erſtes Buch. Hellas.
ebenso eriprießlich fei, wie für das Ganze, wenn es vor Allem
mit dem leßteren gut beitellt ift.')
Selbſt bei dem opferfreudigiten und idealitgefinnten Element
des Nernunftftaates, bei den philofophiichen Negenten hält e3 Plato
fir - notwendig, an die menjchliche Selbftliebe zn appellieren. Es
ift allerdings ein Opfer, welches der philofophiiche Denker bringt,
wenn er von den ſeligen Höhen der Erkenntnis herabjteigen muß,
um das, was er dort erblicdt, auf die Sitten der Menjchen im
öffentlichen und privaten Zeben zu übertragen, ftatt bloß der eigenen
Vervollkommnung zu leben.?2) Allein er bringt diejes Dpfer doc)
nicht bloß aus Pflichtgefühl, ſondern auch deswegen, weil er mit
feinem perfönlichen Glüd in hohem Grade dabei interefftert ift.?)
Auch auf dieſem Wege findet er ja Freuden, Die zur Bervoll-
fommnung jeines Daſeins dienen. Denn eine ijolierte Eriſtenz
wie ſie der Philoſoph notgedrungen im Staate der Wirklichkeit
führt, kann für ihn niemals die Quelle höchſter Vollkommenheit
und höchſten Glückes werden.) Dazu bedarf es der Ergänzung
durch eine glücdliche Drganifation der bürgerlichen Gemeinjchaft,
welche ihn ſelbſt perfönlich fördert, ihn „größer“ macht, indem fie
ihm eine erfolgreichere Arbeit an der eigenen Vervollfommnung,
wie derjenigen der Allgemeinheit ermöglicht.5) Unter den bejtehenden
1) Leg. 875a: Euugpeosi TO xowo TE xal idie Toiv augoiv, nv ro
zowov tyra xahos ucdhov 7 To idrov. Vgl. die Außerung Platos über
den Nuten, den der Bernunftjtaat dem Volke bringt, in dem er entjteht,
Rep. 54la: xai ovrw Tayıord TE xai 6dora nelıy TE xai noAreiav, mv
EAEYouEv, KETaoTGoav avımv TE Eidaıuovjosiv za Te Edvos, Ev w dv
eyy&vntaı, nAelora ovmosır.
2) Rep. 500d.
s) 592a. .
4) 497 a: ovdE yes, einov, Ta u£yıora (sc. av dianoufduevos anad-
Acdtroito), un TuyWv nolıreias TE00NKOVOnS' Ev YAE TI000NX0V0N avTos
te uchhov arlinosreı zal uerd Tov ldiwv td zoıvad OWoeL.
5) Im beftehenden Staat fehlen die VBorausjegungen für die richtige
Erziehung zur Philofophie und für den Philoſophen ſelbſt die Möglichkeit,
fie Anderen im wünjchenswerten Umfang zu geben, wodurch er jelbjt perjön:
lich verliert.
NT. 2.3. Die oinzidenz dv. Soztalism. u. ndividualism.i.plat. Staatsideal. 401
Staaten gibt es nad Platos Anficht auch nicht Einen, der für die
Entwidlung eines echt philofophiichen Kopfes der rechte Boden
wäre. Das hat zur Folge, daß die Philoſophie ſelbſt unter den
bejtehenden Verhältniſſen am jchwerjten leidet. Sie artet aus, und
wird ihrem urjprünglichen Weſen entfremdet. Es gebt ihr, wie
einem ausländischen Gewächs, das — in ein anderes Erdreich ver-
pflanzt — endlich den üblen Einflüſſen der neuen Heimat erliegt.!)
Nur unter den Verhältniffen des VBernunftitaates findet die Philo—
jophie den geeigneten Boden für ihr Gedeihen.
Der Bernunftitaat aber hat eine politiiche Drganifation, die
undenkbar ift, wenn nicht die „Philoſophen“ als die einzigen wahr:
haft Befähigten die Negierung übernehmen. Und fie werden das
um jo lieber thun, weil fie damit zugleich jehweres Unheil von
fich jelbjft abwenden. Denn würden fie die Negierung minder
Würdigen überlaffen, jo winden fie ein Leid über ſich herauf:
bejhwören, das ihnen nur als eine ſchwere Züchtigung erjcheinen
fönnte, nämlich den unerträglichen Zwang, Schlechteren gehorchen
zu müſſen, ihrem Haß und ihrer Verfolgung ausgejegt zu jein.?)
Die Vermeidung diefes Zwanges, überhaupt all der Übel, von denen
fie im bejtehenden Staat bedroht find,?) wird geradezu als der
Lohn bezeichnet, der für fie, wie überhaupt für alle zum Dienjte
des Staates Berufenen das mit Necht begehrte:) Aquivalent ihrer
Dienfte bildet. Ja Plato geht jogar joweit, anzuerkennen, daß
ohne jolch individuellen Antrieb die Beſetzung der Amter im beften
Staat ihre Schwierigkeiten haben würde: weil ſonſt Jeder es vor-
1) 497.
?) 347c.
3) Bgl. die Schilderung 487b--497 a.
9 347 a. Plato folgt übrigens auch hier nur dem Beijpiel des
Sofrates, der mit derjelben utilitarijehen Begründung zur Beteiligung am
politijchen eben auffordert. Xen. Mem. III, 7. 9: zei un dueksı twv ms
n0AEws, & Ti dvvarov Eotı dia 08 Pehtiov Eyeiv . TOVIWVv yao xahas
&yövrwv ov uövov ol aAkoı nokta, aAhl zul oi ol gihoı za arrög oU
ovx Eayıore WPEAnoN.
Pohlmann, Geſch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 26
402 Erſtes Buch. Hellas.
ziehen würde, von Anderen Nugen zu ziehen, al3 jich jelber durch
deren Förderung Unruhe zu beveiten!!)
Wie läßt fih mit diefer ganzen Anjchauungsweile die An:
ficht vereinigen, Plato habe es auf eine prinzipielle Negierung aller
perfönlichen Intereſſen abgejehen, ex wiſſe nichts von einem Rechte
der Perſönlichkeit? Erkennt er nicht gerade ein ſolches „Necht der
Perſönlichkeit“ ausdrüdlich an, indem er fich ſelbſt den Einwand
macht, ob fein Staat den Negierenden nicht etwa ein Unrecht zu-
fügt, dadurch daß er fie nötigt, ftatt des bejjeren Lebens, zu dem
fie befähigt find, ein jchlechteres zu führen??)
Die Gefeße des Staates werden redend eingeführt, wie fie
den Einzelnen zu überzeugen juchen, daß eben das, was fie von
ihm fordern, jein gutes Necht nicht beeinträchtigt.) Sie ftellen
ihm vor, daß im bejtehenden Staate allerdings von Natur: und
Nechtswegen die Philofophen fich nicht am politischen Leben zu
beteiligen brauchen. „Denn hier erwachjen fie von ſelbſt ohne Pflege
von feiten der jeweiligen Negierung; und das Selbjtwüchlige, das
niemandem jeine Ernährung verdankt, ift auch berechtigt (dixyv
Zyeı), fich der Zahlung von Abungskoften zu entſchlagen. — Wir
aber (d. h. die Gejeße des Staates) ließen Euch zu Euerem eige—
nen und des Staates Beiten,t) zu Weiſeln und Königen wie im
Bienenſtock heranwachſen, beſſer und vollfommener ausgebildet, als
jene (ſelbſtwüchſigen Philoſophen), und bejjer befähigt, Euch an Beiden
(d. h. an Philoſophie und Politik) zu beteiligen.” — So wandelt
fich der gefeßliche Zwang in eine freiwillig übernommene Leiſtung,
„weil eben nur „Gerechtes Gerechten” (dixae dixaiors) 5) anbe-
) 347d: Wore nas dv 6 yıyvoorwv To wgeleiodaı uaAhov Ehoıto
in’ @dkov 7 dhhov WpEAov nodyuare Eyeiv.
2) 519d: Zneir’ Epn, ddız moouev avrovs, xai TTOLOouEVv yEigov
Inv, dvvarov aurois Ov @usıvov;
) 520a: oxdıbaı Toivov, &inov, & Tiavzwr, ötı ovd’ adızyoouev
tous ao’ Hulv giAooogpovs yıyvousvovs ahhd Sixaıa TOO auToüs Eoovuev,
nooo«vayxdlovres tov dAAwv Enuuskeiodei Te zei poharıeıv,
4) vulv te avrois ım te dAAn noAsı. 5206.
>) 520e.
IIT. 2.3. Die Koinzidenz dv. Sozialism. u. Individualism. i. plat. Staatsideal. 403
fohlen wird, und diefe unmöglich einen Anſpruch an ihre Perſon
zurückweiſen können, den fie ſelbſt als einen gevechtfertigten aner-
fannt haben. !)
Aber auch der Beamte und Soldat ift feineswegs ein aller
Subjeftivität beraubtes blindes Werkzeug der Staatsgewalt. Auch
fein Gehorfam wird wefentlich mit durch die Überzeugung verbürgt,
daß das, was von ihm verlangt wird, nicht bloß für den Staat,
jondern auch für ihn ſelbſt am erjprießlichiten ift,2) daß ihm „ein
Leben zu teil wird, weit ſchöner und beſſer, als das der
Sieger von Dlympia.3) Ein Leben, das frei iſt von Nahrungs-
jorgen und der entwürdigenden Abhängigkeit vom Neichtum,*) das
er daher jedem anderen Leben vorziehen muß, wenn er nicht eine
unverftändige und jugendlich unbejonnene Anficht von den Bein:
gungen der eigenen Glückſeligkeit hat.5) So bringt auch der Be-
amte und Soldat aus freier Entjchließung jedes Opfer, weil er
dafür nur größeres Glück eintaufcht. Für ihn ift in der That,
um mit Hejtod zu reden, die Hälfte mehr al3 das Ganze.) Ge—
rade durch den Verzicht gelangt er zur höchſten Glückſeligkeit.“)
1) 520d.
2) 458b.
) 466a. Er fünnte ebenjo von fich jagen, wie Sokrates (Mem. IV.
8.6): 00% 0109, örı uEyoı usv Tovde Tod yoovov Eyo ovderi ardownwarv
Upelunv av ovre Beitiov 009° MdLov Euod Beßıwzevar;
4) 465.
5) 66h: wvontos TE za usıpaxzınadns dose evdaruovias neo. 3
ift umbegreiflih, wie Zeller (Geſch. d. Phil. a. a. ©. 921) unter völliger
Ignorierung der hier angeführten Thatjachen von den Regenten und Kriegern
des Idealſtaates jagen kann, die Idee des Staates fünne fich derfelben nur
dadurch bemächtigen, daß diejelben alles deſſen, worin das individuelle Inter:
eſſe Befriedigung findet, entfleidet werden. ine Karikatur freilich nach der
andern Seite it es, wenn Kleinwächter (Staatsromane ©. 40) zu Platos
Schilderung des Lebens der „Wächter“ die Bemerkung macht, diejelbe „bejage
mit dürren Worten: „Damit es den Soldaten nicht einfalle, über den fried-
lichen Bürger herzufallen und ihm feine Kartoffeln und fein Bier vom Munde
wegzufchnappen, muß man ihnen täglich Braten und Wein vorjegen“. (!!)
6) 466%.
) 420b: .. . zei ovroı ovrws evdaıuoveoraroi eioww.
26*
404 | Erſtes Buch. Hellas.
Und was für die Organe des Staates gilt, das trifft nicht
minder auch für die Negierten zu. Sie wiffen, daß fie in einem
Staate leben, in welchem das Gejeß allen Staatsangehörigen „ver-
bündet“ ift, (m&cı vois Ev a) moAsı Evuuexos)'!) daß es das
Glück eines Jeden und zwar ganz bejonders der Negierten will?)
und daß hier das Wohl und Wehe des Einzelnen, jeine Luft und
fein Schmerz der jympathiichen Teilnahme Aller ficher fein darf.
Sie wiſſen, daß fie das Mittel zur Herjtellung der allgemeinen und
damit ihrer eigenen Glücfeligfeit, eine gute Negierung, nicht ſelbſt
zu erzeugen vermögen, und fie find daher, joweit fie nicht Ver—
blendung und Leidenschaft an der Erkenntnis ihrer wahren Inter—
efjen hindert, freiwillig damit einverftanden, daß ihnen dieſe Negie:
rung duch Andere zu teil wird. Eben deswegen, weil die richtige
Einficht in ihr eigenes Intereſſe den Bürgern diejes Staates jagt,
daß es für Jeden das Beſte ift, ſich der in der Negierung ver:
förperten Herrſchaft der Vernunft unterzuordnen,?) entjteht bier jene
allgemeine Überzeugung von der inneren Berechtigung der be:
ftehenden Staats- und Gejellfchaftsordnung, jene ſpontane Hingebung
an das Ganze, welche dem ftaatlichen und jozialen Zeben fein har—
monijches Gepräge gibt.*)
Man fieht, der platonifche Idealſtaat will jene Bürger nicht
automatenhaft durch einen fremden Willen, d. h. ausschließlich Durch
die Zwangsgewalt des Staates bejtimmen, ſie zu bloßen Trieb:
rävern im Mechanismus des Ganzen machen. Der Wille des
Bürgers ſoll vielmehr ebenfo gut, wie durch die Gejfamtheit, In—
halt und Nichtung aus feinem eigenen Innern empfangen, das ob-
jeftive und jubjeltive Moment zur Geftaltung des fozialen Lebens
harmonisch zufammenwirken.
) 590e.
2) 347d: ori To Oyrı aAmdıwos doywv 0v NEpvxE TO auro Evugpeoor
Groneiodeı, aid TO TO aoyousvo.
>) 590d.
*) Wie kann man nach alledem diefe Hingebung mit Stahl (a. a. O.)
eine don dem Einzelnen „ohne Rücbeziehung auf fich ſelbſt“ geübte nennen?
III. 2.3. Die Koinzidenz d. Sozialism. u. Judividualism.i.plat. Staatsideal. 405
Diefe Tendenz zeigt ji ja von Anfang an darin, daß neben
der Idee der Gemeinschaft, die vem Ganzen das Seine zumeilt
und die Forderungen des Ganzen über die Anfprüche der Teile
jtellt, ein anderer wejentlich entgegengejegter Gedanke ſich wie ein
roter Faden durch den ganzen Entwurf des Spealftaates hindurch-
zieht: die Idee der Gerechtigkeit, welche jedem Einzelnen das
Seine geben will.
Ein Kenner des menschlichen Herzens, wie Blato, ſah jehr
wohl ein, daß Feine große joziale oder wirtjchaftliche Reform einzig
und allein durch den Hinweis auf ihre Zweckmäßigkeit und gefell-
ſchaftliche Nüßlichkeit den trägen Wiverftand zu überwinden vermag,
der ich ihr naturgemäß überall entgegenftellt. Er wußte, daß folche
Forderungen, um zu zünden und die Geiter in Bewegung zu jeßen,
an Empfindungen anknüpfen müſſen, aus denen das Individuum
jelbjt feine Lebensideale, die Borftellungen über das „Seinjollende”
zu Schöpfen pflegt. Daher jucht ſich der Idealſtaat vor dem in-
dividuellen Bewußtjein der Einzelnen durch den Hinweis darauf zu
legitimieren, daß er mit feinen Forderungen möglichjit dem ent-
jprechen "will, was fie ſelbſt im innerſten Herzen als das Sein:
jollende, d. h. als das Gerechte fordern müſſen.
Indem er jo die Idee der Gerechtigkeit als ein Funda-
mentalprinzip feiner eigenen Drdnung anerkennt, nimmt der Ideal—
ftaat ein unverkennbar indivivualiftiiches, wenn auch durchaus be
rechtigt individualiſtiſches Element in fih auf. Die Frage, ob
beftimmte Einrichtungen und Handlungen gerecht oder ungerecht find,
bildet ja geradezu den Angelpunft alles Individualismus. Vom
individualiftiichen Standpunkt aus verlangen wir Gerechtigkeit, Pro—
portionalität der Vflichten und Nechte, während die Gejamtheit und
ihr Intereſſe in erjter Linie Opfer fordert und nicht jelten genötigt
it, die Folgerungen, die fi) aus jenem Grundprinzip des Indivi—
dualismus ergeben, zu befämpfen oder abzuichwächen.!)
!) Bal. die fchönen Ausführungen von Schmoller: Die Gerechtigkeit
in der Volkswirtſchaft. Jahrb. f. Gejebgek. 1881 ©. 25. Damit fteht nicht
im Widerjpruch, daß der Einzelne, um gerecht zu jein, gleichzeitig im ftande
406 Erſtes Buch. Hellas.
Sndividualiftifch, wie dieſe Idee der Gerechtigkeit, ift auch die
der Freiheit, welche fih mit ihr in der Anſchauungsweiſe Platos
auf das innigfte verbindet. Indem Plato ſich bemüht, jeine poli-
tijchen Forderungen vor dem Forum der indivivuellen Bernunft
als eine Konfequenz der Gerechtigkeit zu erweilen, und ein entjchei-
dendes Gewicht darauf legt, daß diejelben von allen Verftändigen
als Necht erkannt und gewollt werdeu, zeigt er, daß der jtaatliche
Zwang nicht fein leßtes Wort ift, daß es ihm vielmehr um eine
möglichjt Freiwillige Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze
zu thun ift. Der rechtlich beitehende Zwang joll für alle einficht-
vollen Elemente des Idealſtaates thatjächlich entbehrlich werden, in-
dem die äußere gejeßlihe Norm zu einem freiwillig befolgten
Glaubensjag wird, der im Gemütsleben des Volkes, im innerften
Zentrum des menschlichen Seelenlebens jelbft Wurzel gejchlagen
bat. Der platonijche Staat will über freie Geijter herrſchen, nicht
über knechtiſche.
Daher heißt es von der wahren Staatsfunft im „Staat3-
mann”, daß fie, im Gegenjab zum Dejpotismus eine Herrichaft
über Freiwillige fei (ermiueisıe Exovoros za Exovoiwov)!); fie
joll eine Herrichaft fein, die mit Luft geübt und der mit Luft ge:
horcht wird (Exovror Exovce oyeı), während in den gegen:
wärtigen Staaten das Bejtehen jeder Negierung jtet3 mit einem
gewifjen Zwang (ovv «ei rırı Pig) verbunden jei und nur die Re—
gierenden jelbjt zu befriedigen vermöge, bei dem Beherrichten da—
gegen nur Empfindungen des Wiverwillens erwede.2) Die Auf
gabe aller Gejeßgebung geht daher dahin, daß der Staat ein wahr:
baft freier werde, d. h. von aller Zügellofigkeit ebenfo weit ent-
fernt fei, wie von jeder Überfpannung ftaatlichen Zwanges, die auch
nach Platos Anficht nur ſchädlich wirken fann.>)
jein muß, altwuiftifch zu empfinden und zu handeln, daß vom Standpunkt
des Individuums Gerechtigkeit zugleich Altruismus fein kann. ©. oben
©. 168.
1) oA. 276e.
2) Leg. 832c.
) Ebd. 70Le.
III. 2.3. Die Roinzidenz dv. Sozialism. u. Individualism. i.plat. Staatsideal. 407
Plato lehnt ausdrüclich den Vorwurf ab, daß der Zwang,
den die Verwirklichung jeiner Staatsidee dem Individuum auf-
erlegt, weniger berechtigt ſei, als derjenige, welchen die bejtehenden
Staatsordnungen, ſei es Blutokratie oder Demokratie, ausüben. Sit
etwa der Zwang, — fragt er, — den ein unwiſſender Neicher oder
Armer übt, mehr oder weniger gerecht oder ungerecht, als wenn
er von dem jachverjtändigen Staatsmann fommt?!) Sit nicht viel-
mehr dies das Entjcheivende, daß die jtaatliche Praxis das Nich-
tige trifft, daß die Wohlfahrt der Negierten den Händen einer
weifen und guten Regierung anvertraut ift 22) -
Indem eben die Regierung das Bedürfnis der großen Mehr:
beit, die nicht ſelbſt herrſchen kann, wahrhaft befriedigt, wird ihre
Herrſchaft nicht als ein Zwang empfunden. Die einftchtsvollen
Bürger des VBernunftitaates würden ſich auch bei freier Wahl feine
andere Negierung geben, als eben dieſe, jo daß bier das thatläch-
liche Endrefultat fein anderes ift, als wenn die Negierung aus dem
Willen Aller hervorgegangen wäre, vorausgefeßt, daß der Wille der
Verftändigen für die Mehrheit beftimmend ift. Der Staat wird
zu einem freien Staat, weil hier die Staatsgewalt und die Staats:
ordnung geitüßt und getragen wird durch den einheitlichen Gejamt:
willen des Volkes, weil fie der freiwilligen Zuftimmung (Evugyo-
vie) aller Klaffen, des Starken wie des Schwachen, der geiftig
Höchititehenden wie der Niedrigften ficher jein darf.?) Den Ge:
horſam, den der Einzelne der Staatsgewalt Teiftet, leistet ev in dem
Bewußtjein, daß ihm nichts auferlegt wird, was nicht auch durch
den Willen aller Verftändigen gefordert, ja durch die Bernunft und
die Natur der Dinge jelbjt vorgezeichnet ift.?)
Da der Einzelne nur das will, was jeiner Individualität
1) MoA. 296d.
2) Ebd. 296.
®) Rep. 432a.
4) Vgl. 474e, wo es don den Negierenden, bezw. Regierten heißt, Orı
Tois uev NE00MzEL PVosı anısodai TE Yıhoooplas myeuovsvew T’ Ev
toAgı, Tols Ü' dhkoıs umte anteodaı dxokovdeiv TE TD Nyovusvo.
408 Erftes Buch. Hellas
angemeffen ift (70 reocnzov), ſo fommt er im Idealſtaat nicht in
Konflikt mit der wahren Freiheit, ſondern nur mit der inneren Un-
freiheit, der Verblendung durch Selbſtſucht und Leidenschaft, welche
den Menjchen über die Poſtulate feiner eigenen fittlich-fozialen Natur
täuſcht. Denn aller Zwang wirkt ja hier genau nur in vderjelben
Richtung, wie dieſe wahrhaft freie Selbitbeitimmung.!) Jeder Ein-
zelme wird durch den ftaatlichen Machtwillen an der Erreichung der
jeinem eigenften Wejen und Beruf entiprechenden Ziele in Feiner Weile
gehemmt, jondern vielmehr ſyſtematiſch gefördert. Indem hier Jedem
nach jeinen phyſiſchen und geiftigen Anlagen der Beruf zugänglich
gemacht wird, der jeiner Individualität am beiten entjpricht, in dem
er daher auch jeine Befriedigung findet, wird recht eigentlich jede
Individualität auf den ihr ausſchließlich zufagenden Weg geleitet
und dadurch wahrhaft frei gemacht. — „Denn, — um ein ſchönes
Wort von Lagarde zu gebrauchen, — frei ift nicht, wer thun kann,
was er will, jondern wer werden kann, was er foll. Frei ift,
wer feinem anerfchaffenen Lebensprinzip zu folgen im ftande ift.
Frei tft, wer die von Gott in ihn gelegte Idee erkennt und zu
voller Wirkſamkeit entwickelt.“
Enthält die im Idealſtaat verwirklichte Unterwerfung Aller
unter die Herrſchaft der Vernunft ſchon negativ eine Befreiung in—
ſoferne, als ſie den Menſchen von der Herrſchaft der Leidenſchaft,
der zweck und zielloſen ſich ſelbſt unklaren Willkür befreit, jo ver—
wirklicht ſich hier andererſeits eben jene poſitive höhere Freiheit,
indem Jeder einen inhaltsvollen und in ſeinem Werte anerkannten
Kreis der Thätigkeit erlangt, in welchem er ſein individuelles Weſen
entfalten kann, ſo weit es der Anſpruch der Anderen auf gleiche
Entfaltung ihrer Perſönlichkeit geſtattet. Da endlich die Bürger
zugleich gelernt haben, dieſen individuellen Beruf als einen ſozialen
aufzufaſſen, fo bedarf es für alle verftändigen, der vernünftigeu Über:
redung (reıIo) zugänglichen Elemente nicht des äußeren Zwanges.
) Plato hätte daher auch von jeinem Staat mit Rouſſeau jagen
fünnen, daß der Zwang, den ex dem Ungehorjamen auferlegt, „nichts anderes
bedeutet, als ihn nötigen, frei zu fein“. (Contr. soc. I, 7.)
111. 2.3. Die Koinzidenz v. Sozialism. u. Individualism. i.plat. Staatzideal. 409
Sie ftellen ſich freiwillig in den Dienft diefes Berufes. Das, was
ihre Beitimmung ift, wird, wie ſchon Hegel treffend bemerkt hat, !)
wirklich zum eigenen Sein und Wollen der Individuen.
Indem aber jo Jedem die Möglichkeit erſchloſſen wird, nach
feiner befonderen Anlage und Neigung zum Werke des Ganzen bei-
zutragen und damit zugleich den Platz innerhalb der Gemeinjchaft
zu erringen, welcher feiner Bedeutung und feinem Werte für das
Ganze entipricht, wird mit der wahren Freiheit zugleich auch Die
wahre Gleichheit verwirklicht. Auch die dee der Gleichheit hängt,
wie die der Freiheit, aufs Engite mit der Gerechtigkeitsidee zufammen.
Der Ipeziftiche Begriff der Gerechtigkeit, der hier vor allem in Be
tracht fommt, ift der der verteilenden Gerechtigkeit. Derſelbe
verlangt Broportionalität zwiichen den Leiftungen und den pofitiven
oder negativen Gütern, die zu verteilen find. Sie will das Gleiche
gleich, das Ungleiche ungleich behandelt willen, jo daß fein einzelnes
Glied der Gemeinschaft zu viel, das andere zu wenig erhält. Diefer
Forderung unjeres individuellen Bewußtſeins wird Plato dadurch
gerecht, daß er die Gleichheit der Demokratie, welche „Oleichen und
Ungleichen in demſelben Maße Gleichheit zu Teil werden läßt,“ als
eine Vergewaltigung des Individuums verwirft2) und ein Gleich—
heit3prinzip proflamiert, „welches dem Überlegenen mehr, dem Schwä-
cheren weniger, d. h. jedem das feiner Natur Angemeſſene zuteilt“
und zu gleichen Funktionen nur Gleiche, zu ungleichen aber nur Un—
gleiche beruft.) Szene abjolute Gleichheit würde dem Prinzip der
Gerechtigkeit widerjprechen, welche eben nur eine relative Gleichheit
fennt, — relativ der ungleichen Individualität. — So wird auch
hier die Individualität nach den Intentionen Platos wenigjtens
wieder in ihr Necht eingefeßt.
ae. 19.286;
2) 598c.
3) 757c: TO uev yado usidorı nAeiw, TO d’ EAdrrovi OuixgoTEo«
veusı (N loorns) ueroıe didoise no0S Tv avrav puvoıv Exarkow, zei
d7 zul Tiuds ueilooı uEv rIoös dosımv dei welßovs, tois dE ToVvertior
Eyovay agsıms TE xal naudeias TO noEtov Exarepoıs dnoväusı zara Aoyov,
&orı ydo dj nov zei To mokırızov muiv «ei Toür’ avro 10 dixwor.
410 Erſtes Buch. Hellas.
Selbjt Hegel, der darin meitfichtiger ift, als feine Nachfolger,
hat — allerdings in unvereinbarem Widerſpruch mit feiner Ge
jamtauffafjung des platonifchen Staates — das individualiftifche
Element anerkennen müſſen, welches das Freiheits-, Gleichheits- und
Gerechtigfeitsprinzip Platos in deſſen Staatsideal hineingebracht hat.
Dadurch, daß im platonischen Staat „Fever das, zu dem er
geboren ift, aufs befte treiben lernt und treibt“, fommt er — wie
Hegel ausprücdlich zugibt — „als beftimmte Individualität
allein zu jeinem Recht. Denn er fommt in den ausgebildeten
Bei und Gebrauch feiner Natur, feiner eigentlichen Habe.“ ')
Indem Plato durch jein Gerechtigfeitsprinzip jeder befonderen Be—
ſtimmung ihr Necht widerfahren läßt, befriedigt er die Forderung,
welche Hegel zugleich al3 eine jolche der „Freiheit“ erklärt, daß „vie
Partifularität des Individuums ausgebildet, zum Nechte, zum Da-
jein komme“, daß „jeder an feiner Stelle fei, jeder feine Be:
ſtimmung erfülle und jo jedem fein Necht widerfahre”. Hier
wird in der That das verwirklicht, was ein moderner Spzial-
politifer als eine Hauptforderung jozialer Gerechtigkeit, als „Toziales
Grundrecht” bezeichnet hat: Das Necht auf fich jelbit, d. h. das
Necht der Verjönlichkeit auf den Bollgenuß ihrer ſpezifiſchen brauch:
baren Begabung. ?)
Wer wollte verkennen, daß in dieſen Punkten die platonijche
Staatslehre ſich mit der Nechtstheorie des modernen Individualis—
mus berührt? Wie die letere bekleidet auch die platoniiche Sozial:
philojophie das Individuum mit unveräußerlichen und unzerjtör-
baren Rechten, mit Naturrechten und ebenfo mit Naturpflichten.
Der platoniſche Staat erfennt — wenn auch mit Beichränfung auf
die Nationalität — ein Necht auf Freiheit an, ein Recht auf Gleich-
heit, ein Necht des Individuums auf volle Entfaltung feiner ſpezi—
fiſchen Begabung, auf einen feiner Individualität zufommenden
Lebensinhalt; ex verhilft jedem Einzelnen zu feinem natürlichen
Recht und zwingt ihn andererjeits zur Anerkennung feiner natür—
rn. 9. 281
) Wolf a. a. O. ©. 608 (über die „Formel der Gerechtigkeit”).
III. 2.3. Die Koinzidenz v. Sozialism. u. Sndividuralism.i.plat. Staatsideal. All
lichen Pflichten. Die Stellung, welche das Individuum im Otaate
einnimmt, ſei es herrjchend oder dienend, ijt eine naturrechtlich
begründete (mooonzsı yvosı!). Auch bei Plato „ſchweben dieſe
Naturrechte und Naturpflichten als objeltiveg gYvaeı bejtehendes
Soll über Individuum und Geſellſchaft, ift die Verwirklichung diejer
‚natürlichen‘ Drdnung die dem Staate gejebte Aufgabe, fein ideales
Ziel“. ) Auch die Nechtsordnung des Bernunftjtaates legitimiert
ih vor dem individuellen Bewußtſein dadurch, daß fie von der
Bernunft als übereinjtimmend mit der vernünftigen Natur erkannt
wird, als vouos zera gylow,?) daß ſie der natürlichen Gerech—
tigfeit entjpricht, der Gerechtigkeit, deren Berwirklichung geradezu
als der Endzweck des Vernunftftantes bezeichnet wird (od Ever
zravra Cnvovwer!).”®)
Die Nealijierung diefes Gerechtigkeitsprinzipes enthält von
jelbft auch die der grundlegenden Ideale des Naturrechts, der
„wahren“ Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Auflöfung ver
Spntereffengegenfäße in einer vollendeten Intereſſenharmonie, Die
Rückkehr zu der paradiefiihen Welt der Eintracht, welche die Ge-
ſchichtsphiloſophie Platos ja genau ebenſo an den Beginn der ge
ſchichtlichen Entwicklung ftellt und genau ebenfo als ideales Ziel
derjelben feithält, wie Grotius und Lode. Allerdings ſieht Plato
das Mittel zur Verwirklichung diejer Ideale nicht in der politischen
Emanzipation des Individuums, fondern in einer abjoluten Staats:
gewalt; er ift weit davon entfernt, das Individuum und feine
Autonomie einjeitig als Zwed des Staates hinzuftellen; allein dieſe
grundſätzliche Verſchiedenheit darf uns doch über die thatjächlich
vorhandenen individualiftiichen Elemente jeiner Staats- und Sozial—
theorie nicht hinmwegtäufchen.
Man Sieht, eine unbefangene Erwägung aller in Betracht
kommenden Momente führt zu Ergebniffen, welche mit den herr:
!) Sp tharakterifiert Diegel im Howb. der Staatsw. ©. 531 die in:
dividualiftiiche Rechtstheorie Grotes und Lockes.
2) Dal. 3. B. 456c.
3) ©. oben ©. 270 Anmerf. 2.
412 Erſtes Buch. Hellas.
fehenden Anſchauungen über den platonifchen Staat vielfach in
Widerſpruch ftehen. Sie zeigt, daß der Sozialismus Platos Feines:
wegs in einem kontradiktoriſchen Gegenjab zum Individualprinzip
an ſich fteht, dasjelbe vielmehr innerhalb gewiſſer Schranfen als
berechtigt anerkennt. Zwar geht Plato von den Pflichten gegen die
Gejamtheit aus, aber er jucht auf der anderen Seite auch dem
Individuum und den Forderungen des individuellen Bewußtjeins
gerecht zu werden. Gr wendet fich nicht bloß an das fittliche
Gefühl, jondern zugleich an den Intellekt, indem er den prinzi-
piellen Wert feines Idealſtaates darin erblickt, daß hier Jeder, in-
dem er fir das Ganze ſorgt, am beften zugleich für fich jelber
jorgt. Es ift mit Einem Wort die Koinzidenz der beiden
Prinzipien, — des ſozialiſtiſchen und des individualiftiichen, —
welches ſich als das lebte Ergebnis der platonifchen Staatstheorie
herausftellt. Von der Übereinftimmung der Bürger über das, „was
das Herrichende fein ſoll im Staat und in der Seele des Einzelnen“
erwartet Blato, daß hier alle Verftändigen das, was ihre Pflicht
gegenüber der Gejamtheit ift, freiwillig.thun werden, daß fie wollen
werden, was fie jollen.!) Eine Koinzivenz von Freiheit und
Zwang, bei der jeder jeinen Vorteil findet, weil er ihn eben —
individuell und fittlic) genommen — richtig verjteht.?) Die Grund-
lage des ganzen Staatsgebäudes ift die durch die ſyſtematiſche Er—
ziehung und Belehrung der Negierenden und der Negierten erzielte
moraliſche und intellektuelle Bildung, welche nötig ift, um ‘jene
Koinzivenz herbeizuführen.
Damit bejtimmt fich auch die Stelle, welche der platonifche
Soealftaat in der Gejchichte der jozialpolitifchen Idealbilder ein-
nimmt.
!) Für den Bürger des Idealſtaates gilt dasjelbe, was Poſidonius
von dem Menfchen der jeligen Urzeit jagt (bei Senefa Ep. XIV, 2, 4: tantum
enim, quantum vult, potest, qui se nisi quod debet, non putat posse).
2) „Der gute Menjch, der gute Staat, die gute Welt beruhen alle auf
derjelben Harmonie.” Hermann: Die hiftorifchen Elemente des platoniſchen
Staatsideals. Gel. Abh. ©. 135.
II. 2.3. Die Koinzidenz d. Soztalism. u. Jndividualism.i.plat. Staatsideal. 413
Er jteht prinzipiell auf feinem anderen Standpunkt, als die
ältejte und erhabenſte aller Utopien, die Schilderung eines goldenen
Zeitalters, wie wir fie bei Jeſaias leſen.) Wenn die Herrichaft
des Mammons gebrochen, wenn der Herr die Tarfisichiffe der reichen
Kauffahrer vernichtet haben wird, gleichwie er die hohen Gedern
des Libanon herabjtürzt, dann wird er ein Neich des Glüdes und
des Friedens ins Daſein rufen, das zu feiner Verwirklichung feiner
anderen Vorausſetzung bedarf, als daß „von Zion ausgeht Be—
lehrung und das Wort Jehovas von Jeruſalem“. „Nichts Böſes
und nichts VBerderbliches thun fie auf meinem ganzen heiligen Berge,
denn voll ift das Land von Erkenntnis Jehovas, wie die Waſſer
das Meer bededen.” j |
Sit es nicht genau diejelbe utopiſche Vorausſetzung, auf der
ſich dieſes deal des Sehers, wie der von der Erkenntnis beherrjchte
Bernunftitaat Platos aufbaut? Die Vorausfegung nämlich), dab
die Menjchheit, wenn fie die wahren Wege, die jte wandeln joll,
erfannt bat, notwendig auch zu einem glücjeligen Dajein ge
langen muß?
Kur injoferne geht Plato über Jeſaias hinaus, als er zuerit
eine ausführliche theoretifche Erörterung der Frage gegeben hat,
worin denn die VBorbedingung der VBorbedingung jenes deals be—
jtehe, d. h. unter welchen Umftänden die fittliche und intellektuelle
Bildung den Grad erreichen wird, daß Jeder will, was ex ſoll.
Andererfeits ift Plato bei feiner Unterfuchung zu dem Ergebnis
gekommen, daß die genannte Koinzivenz von Freiheit und Zwang
in Wirflichfeit nie eine allgemeine jein könne, d. h. daß es
ſtets einen mehr oder minder großen Bruchteil von Menſchen geben
werde, bei dem feine Belehrung den äußeren Zwang überflüflig
machen fann.
ı) Das hat zuerft richtig erkannt Jaſtrow: Ein deutjches Utopien
(Schmoller? Jahrb. 1891 ©. 527), obwohl ex eine nähere Begründung nicht
gegeben hat. Sch kann feiner Auffafjung des prinzipiellen Verhältniſſes
zwischen Jeſaias, Plato und den jpäteren Utopiſten im wejentlichen nur zu:
ftimmen.
414 Erſtes Buch. Hellas.
Doch es bedeutet das eben nur eine Modifikation, eine Ein-
ſchränkung der Lehre, Feine theoretifche Fortbildung, von der ja
überhaupt bei einer derartigen in ſich gejchloffenen, von Anfang
an vollfommen fertig auftretenden Doftrin feine Rede jein Tann.
Daher ift auch in feinem der Idealbilder, in welchem das gleiche
Prinzip zum Ausdruck kommt, in diefer Beziehung ein theoretijeh
bedeutfamer Fortjehritt über Plato hinaus zu erkennen. Selbſt die
genialfte moderne Utopie, Hertzkas Freiland, jo wejentlich ſie von
Plato durch ihr ausſchließlich individualiftiiches Grundprinzip ab:
weicht, lenkt wieder ganz in deſſen Bahnen ein, indem fie den Sozial—
ftaat auf der Vorausfegung aufbaut, daß feine Bürger ihren Vor—
teil richtig verftehen.
4.
Die Verwirklichung des Vernunftfiantes.
Wenn wir den platonischen Idealſtaat in die Neihe der
Utopien ftellen, jo joll damit nicht gejagt fein, als ob Plato ſelbſt
der Meinung gemwejen wäre, ein Ideal menschlicher Zuftände zu
ſchildern, an deſſen Verwirklichung nicht zu denken jei. Er be
zeichnet zwar diefe Schilderung als ein dichteriſches Bhantafiegebilde !)
und betont mit aller Entjchievenheit, daß ſchon die bloße Auf-
jtellung eines ſolchen „Mufterbildes“,2) die rein theoretische Be—
lehrung über das Seinjollende an und für ſich von hohem Werte
jei, weil fie eben dem Handeln der Menfchen Ziel und Nichtichnur
gibt. Auch räumt er ausprüdlich ein, daß zwiſchen Theorie und
Praris immer eine gewiſſe Entfernung bleiben werde, daß bei der
Umfegung der theoretiichen Exkenntnis in die Wirklichkeit eine
abjohut genaue Übereinftimmung zwifchen dem praktifchen Ergebnis
umd der Idee nicht zu erzielen jei,3) weshalb man fich auf jeden Fall
!) molıreia nv uvshoAoyovuev Aoyw. 50le.
?) negadsıyua ayaıns noAews. 472e.
°) 473a: 40’ oiov TE Tu ngaydmvar ws Akyeraı, 7 Yvoww Eyet
ngasıy hElews Nrrov ahmIeias Epanteodeı, zav Ei um tw doxei, dAAd oÜ
nortegov Öuokoyeis ovrws 7) 00; OuoAoyo, Epn.
IIT. 2. 4. Die Verwirklichung des platonischen Bernunftitaatee. 415
mit dem Nachweis begnügen müſſe, daß die Wirklichkeit dem Ideale
wenigftens nahe zu fommen vermöge.!) Allein je eifriger ich Wlato
im weiteren Verlaufe der Darjtellung bemüht, eben diefen Nachweis
zu erbringen und die Mittel und Wege zur Verwirklichung feines
Ideals darzulegen, um jo mehr Nachdrud wird von ihm gerade
auf die Ausführbarkeit desfelben gelegt. Und beim Abſchluß des
ganzen Entwurfes ſpricht er die zuverfichtliche Überzeugung aus,
man werde ihm rücdhaltlos zugeben, daß er feineswegs nur Fromme
Wünfche geäußert habe, und daß die Ausführung feiner Vorfchläge,
wenn auch nicht leicht, jo Doch möglich, und zwar in feiner anderen,
al3 der von ihm angegebenen Weile möglich jei.2)
Das Kriterium aber für die Nealifierbarfeit feiner Staats:
idee findet er darin, daß die Forderungen derjelben zugleich Forde—
rungen der Natur jeien, während das Beltehende mehr oder min-
der naturwidrig jet.?) Er folgert daraus, daß Neformen auf den
Boden des Beltehenden nichts als dürftige Notbehelfe find, welche
auf die Dauer doch nie zu wirklichen Berbejjerungen, ſondern im
Gegenteil nur zu einer Verſchlimmerung der gejellichaftlichen Miß—
jtände führen fünnen. Er vergleicht die Thätigfeit der Staats-
männer, welche immerfort Gejege gäben und an dem Beftehenden
1) Ebd.: Toviro uEv dr) un arayzabe us, oia rw Aoyo dimAdouer,
ToLeüra nevranaoı zul TO E0yW deiv yıyvousva anopealivew' aA, Eav
oloi TE yEerWusde EÜgEIV, WS dv Eyyvrara Tov siomuevwv nolıs olxmosıEv,
pavar nuds EEevonxevar, Ws dvvara tavra yiyveodaı, & 00 Enitatreig.
2) 540d: Evyywoeite negi Ts moAews TE xal nolıteias uN navra-
naoıw Nuds Euyds Elonxevar, ahhe yahend uev, duvara de mm xuA.;
Dal. dazu Göthe: Marimen und Reflexionen (6): Man denke ſich das
Große der Alten, vorzüglich der jokratijchen Schule, daß fie Quelle und Richt:
ſchnur alles Lebens und Thuns vor Augen ftellt, nicht zu leerer Spefulation,
jondern zu Leben und That auffordert.
3) 456e: oVx Goa ddvvar« ye ovdE evyals Ouoıa Evouoderoüuer,
ETIEINEO KaTd PVoıv Erideuev Tov vouov' dAd td vov napa Tadra
yıyvöusva Tagd« Yvorw udhkov, ws Eoıze, yiyveraı. Gin Sab, der fich
allerdings zunächit auf die Forderung der Frauenemanzipation bezieht, aber
ebenjogut von dem Syſtem überhaupt gilt.
416 Erſtes Buch. Hellas.
nachzubeffern fuchten, mit dem Herumfchneiden an der Hydra, der
für jeden abgejchlagenen Kopf zehn neue nachwachſen.) Dem Staate
gehe es bei all diefer nur auf Symptome gerichteten Neformarbeit
wie dem Kranken, der duch fortwährendes Medizinieren geſund zu
werden hofft und dabei doch die Lebensweiſe fortjeßt, die ihn krank
gemacht hat.?)
Freilich folgt aus dieſem Wiverjtreben der kranken Gejellichaft
gegen einen radikalen, das Übel an der Wurzel faffenden Eingriff,
daß fie fih den Boftulaten der Natur und Bernunft niemals
frewillig unterwerfen wird. Soll daher der bejte Staat feine bloße
Utopie bleiben, jo müfjen diejenigen, welche das „Urbild“ desjelben
in der Seele tragen, die Möglichkeit erhalten, mit unumfchränkter
Machtvollfonimenheit über die Geſchicke des Staates zu entjcheiden.?)
Ein „alüdlicher Zufall” muß es fügen, daß die im beftehenden
Staat zur Unthätigkeit verurteilten Denker (TE Yılocoyov yevos)!)
an das Staatsruder gelangen und in die Notwendigkeit verſetzt
werden, ſich des Staates anzunehmen, oder daß aus der Neihe der
Fürſten ein philoſophiſcher Geift exjteht, der von „göttlicher Be—
geifterung ergriffen“ die Machtmittel der abjoluten Monarchie in
den Dienjt des großen Werkes tell.) Der Staatsmann, der zum
Netter und Befreier von der Unnatur des Beftehenden werden fol,
muß den Staat in feiner Hand haben, wie der Maler jeine Tafel,
auf daß er die Umriſſe des Neubaues ganz nad) dem göttlichen
Urbild entwerfen und dies Aboild dann im einzelnen „bier auss
löjchend, dort hinzuzeichnend” — frei ausgejtalten könne.6)
Kur im Belige ſolch abjoluter Autorität Tann er auc der
Hindernifje Here werden, welche die Gemüter der Menjchen ver-
nunftgemäßer Belehrung unzugänglic” macht, und jo das Volks—
1) 426e.
2) 426a.
3) Wiſſen und Macht müfjen zujammenfallen. 473c.
4) 497h.
>)5499b. Bol AY3d:
6) 500e. 501e.
III. 2. 4. Die Verwirklichung des platonifchen Vernunftſtaates. 417
leben mit einem neuen fittlichen Geift erfüllen, ohne welchen die
beſte jtaatliche Organiſation feinen Beſtand hätte.)
Auf dies piychologische Moment legt Plato begreiflicherweife
das höchfte Gewicht. Die Verfaſſungen, meint ex, wachjen nicht
wie Eicheln auf den Bäumen, noch entjpringen fie wie Quellen
aus den Felſen, jondern die Sinnesart der Bürger ift es, worin
fie wurzeln und wodurch ſie ihr ganzes Gepräge erhalten. ?)
Der große Neinigungsprozeß, welchen die Gejelliepaft durch—
machen muß,3) wenn der Aufbau des Idealſtaates möglich werden
joll, bejteht daher vor allem darin, daß der reformatoriſche Staats-
mann das Werk der Erziehung in die Hand nimmt. Dieje Er:
ziehung ſoll gemeinjchaftlihe Mafjenerziehung fein, weil nur fie
jenes ideelle Maffengefühl und jene durch Eine Anſchauungs- und
Gefühlsweile, Eine Meinung und Gefinnung, Eine Abficht und Ein
Ziel iveell verbundene Maſſe jchaffen kann, deren der Sozialftaat
zu jeinem Beſtande bedarf. Plato hofft, daß eine Jugend, die von
Anfang an den disziplinierenden Einfluß der Gemeinschaft an fich
verjpürt, dieſen Einfluß auch in ihrem jpäteren Leben nicht ver-
leugnen und jelbft in den individuellften Außerungen die Rückſicht
auf das Ganze nicht außer Acht lafjen wird.
1) Ebd.: zei To u8v dv, oiuaı, EEahsipouev, TO dE nddıy Eyyocgoıev,
Ews 0 Ti udlıore EvdoWneie 797 Eis 0009 Evdeyerau Heogıln nomjosıer.
2) 544d: 0169 owv, mv d’ &yw, dt zul avdounwr eidn Tooaur«
dvdyzn T00NWv Eivaı, Vo«neQ zui molurteiov; ı) olcı &x dovos oder ı) &x
netoes Tas nokıreias yiyveodaı, AN oVyi &x Tov Nov TWv Ev tais
nöhsoıw, & dv wonso Öfwarra tahıa Epeizvonta; Ovdauds Eyoy’, &ypn,
adhogev 7 Evrevder. Wer denft hier nicht an das jchöne Wort W. vd. Hum—
boldt3, dab „ſich Staatsverfaſſungen nicht auf Menſchen wie Schößlinge auf
Bäume pfropfen laſſen“. — „Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben,
da iſt es, al3 bindet man Blüten wie Fäden an. Die exrjte Mittagjonne ver-
ſengt ſie.“
) 50la: Aaßovres, nv d’ 290, wonse niraza nokıy te zei
NN AVIEHTNWV, NOWTov UV zuIapdv nomosıev dv‘ 06 0v ndvv Öddıov'
daR orv 0109, orı Tovtw dv EVhüs tov dAkwv dıeveyxoıev, TO unte idiw-
tov unte nolews EHehjocı dv adaodaı umdE yodpeıv vouovs, noiv m)
negahaßeiv zadaocv 7 avroi nomoaı. Kai 00905 y’, Egpn.
Pohlmann, Gejch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus, I, DT
418 Erſtes Buch. Hellas.
Es ift derjelbe DVorjehlag, mit welchem an der Schwelle
unferes Sahrhunderts patriotifche deutſche Denker hervortraten, als
dem einzigen Mittel, welches dem Verfall alles Bürgergeiftes und
aller Bürgerkraft en und von neuem die Gemeinjchaftsbande
entftehen Tafjen fünne, die zu einem wahren Bürgertum erziehen.
„Die Zöglinge dieſer neuen Erziehung, jagt Fichte in den Reden
an die deutjche Nation, werden, obwohl abgejondert von der jchon
erwachjenen Gemeinschaft, dennoch unter einander jelbjt in Gemein:
ichaft leben und jo ein abgejondertes und für fich jelbit beftehendes
Gemeinweſen bilden, das jeine genau bejtimmte, in der Natur der
Dinge begründete und von der Vernunft durchaus geforderte Ver-
faffung habe. Das allererfte Bild einer gefelligen Ordnung, zu
deffen Entwerfung der Geift des Zöglings angeregt wird, ſei dieſes
der Gemeine, in der ex felber lebt, alfo daß er innerlich gezwungen
jei, diefe Dronung Punkt für Punkt gerade jo ſich zu bilden, wie
fie wirklich vorgezeichnet ift, und daß er diejelbe in allen ihren
Teilen al3 durchaus notwendig aus ihren Gründen verſteht.“!)
Verwirklicht denkt fich Plato das Prinzip der Maffenerziehung
in der Weife, daß die ganze jugendliche und noch bildſame Gene-
ration unter zehn Jahren von der unter den alten Zuftänden auf-
gewachjenen getrennt und, ungeftört durch die jchädlichen Einflüffe
der leßteren, nach den oben entwicelten Grundſätzen erzogen wird,
Eine Iſolierung, die dadurch erreicht werden joll, daß alle über
zehn Jahre alten Bewohner der Stadt diejelbe zu räumen und fich
Draußen im Landgebiet anzuftedeln haben!?) In der Stadt bleibt
nur die Negierung mit ihren Schußbefohlenen, aus denen fie jich
das für die Zwede des neuen Staates nötige Beamten und Sol—
Datenmaterial heranzieht. So — meint Plato — würde jich der-
jelbe am ſchnellſten und Leichteften verwirklichen laſſen und die
Glücjeligfeit, die er gewährt, offenbar werden.
Daß diefer Dioikismos eine gewaltige Ummwälzung der Bes
’) Werke VII 293,
2) 54l:
u
II. 2. 4. Die Verwirklichung des platonischen Vernunftftaates. 419
figverhältniffe, eine unendlich tiefgehende Störung der ganzen Volks—
wirtichaft bedeutet hätte, hat für den rückſichtsloſen Neformeifer
Platos nichts Bedenkliches. !)
Eine radikale volfswirtjchaftliche Nevolution ift ja ohnehin
die unvermeidliche und von vorneherein gewollte Konjequenz feines
ganzen Syftems. Gr bedarf ihrer nicht bloß zur Erreichung des
bereitS genannten Zwedes, jondern auch zur VBerwirklichung feines
wirtichaftspolitifchen Speales. In der „Stadt“ joll zugleich das
Zentrum und die Herzkammer der verhaßten kapitalistischen Geld-
wirtſchaft unschädlich gemacht und jo die Umkehr des Handels und
Smoduftrieftaates zum Acerbauftaat erzwungen werden.
Dabei ift Plato jo ganz und gar von dem Glauben an die
unmiderjtehliche Macht jeiner reformatorischen Ideen erfüllt, daß
er troß der Verlegung zahllofer Intereſſen, welche eine ſolche Um—
wälzung zur Folge haben müßte, nicht auf die Hoffnung verzichtet,
auch die erwachjene Generation für die neue Drdnung der Dinge
zu gewinnen. Er meint: Wenn die Bürger nur einmal die Seg-
mungen des neuen Staates aus Grfahrung kennen und wahre
Staatsmänner am Werfe jehen würden, dürfte es gewiß nicht un—
möglich jein, fie allmählich zu freiwilligem Gehorfam zu beftimmen.?)
!) Die Sache erjcheint allerdings injoferne weniger ungeheuerlich, ala
eine jolche Auflöſung jtädtifcher Gemeinden in der griechifchen Gejchichte feines:
wegs etwas Unerhörtes war. Man erinnere ſich nur an den Dioikosmos
Mantineas (385), mit welchem ſich nach dem allerdings tendenziöſen Berichte
Xenophons wenigſtens der konſervative Teil der Bevölkerung vollkommen
ausgeſöhnt haben ſoll. Hell. V. 2. 7: zei To usv noW@rov jονrο, otı
Tas uev Ünaoyovous oixias Ede zadaıgeiv, dAhas dE orxodousiv' Enei de
ob Eyovres Tas oVolas Eyyvreoov uEv Wxovv TWv Ywolwv, Orrwv aurois
NELL Tas xWurs, OLOToRgeTiE Ö’ Eyoovro, dnnkheyutvor Ö nocv Wr
Begewv dnueyoyorv. Ndovro rois nenpayusvos. Wenn das auch Schön-
färberei ift, jo wirft es doch ein bedeutjames Licht auf die Art und Weife,
wie man auf antidemofratifcher Seite über jolche Umwälzungen dachte.
2) 502b: doyorros ydo mov, jr 0’ £yo, TIIevros Tois vouorg zei
te enıtndevuare, & dıehmkvdauev, ov dnnov adivarov EIEAsIV orsiv ToVs
zokitas . Ovd’ Onworiovv.
97%
|
420 Erjtes Buch. Hellas.
Denn was hindert, daß „das, was uns gut erjcheint, auch anderen
jo exjcheine?” 1)
Wenn fich die große Maſſe des Bürgertums gegenwärtig den
Forderungen des Denkers verjchließe, jo fei dies nur die Folge
mangelnder Erfahrung und abjichtlicher Jrreführung.?2) Würde
das Volk durch freundliche Belehrung über die wahren Intentionen
der Philoſophie auf den richtigen Weg geleitet, jo würde es ein-
jehen, daß dieſelbe nur jein Beſtes will, und ihr nicht länger wider
ftreben.3) Denn warum jollte man feindfelig gegen den Gütigen,
gehällig gegen den Wohlwollenden gefinnt fein, wenn man jelbjt
frei von Mißgunft ift und ein gutes Herz hat?t)
Daß ſich aber das Volk in jeiner großen Mehrheit jo gut
geartet erweifen werde, wird von Plato gegenüber einer jfeptijchen
Beurteilung der Maſſe ohne Weiteres behauptet,5) obwohl ex ſelbſt
furz vorher die Ausfchreitungen des — allerdings von den Dema-
gogen mißleiteten — Demos in den düfterften Farben gejchildert
hatte.) Das Volk, dejjen leidenjchaftliches Gebahren auf der Agora
ihn an die Unbändigkeit und Wildheit eines ſtörriſchen Tieres er-
innert,?) das Bolf, welches das gut heißt, was ihm angenehm,
ichlecht, was ihm zuwider ift,3) welches dem, der fich um feinen
Beifall bemüht, einen wahrhaft unerträglichen Zwang auferlegt,?)
diejes jelbe Volk wird fi), wenn es nicht mehr als einheitliche
1) Ebd.: aid dr, Eneo julv doxei, do&aı zai ahkoıs Favuaorov Tu
zai adiverov; Ovx orweu Eywye, 7 0’ ös. $
2) 499e. DBgl. 498d: To uevrou ua) neideoduı Tols AEyouevols Tovs
nokhods Haduc oVder' oV Yydo Worte Eidov yevousvov TO vor Aeyousvor.
3) 500e.
9 500a: 7 zei, &dv ovrw Hewvraı, ahkoiav TE PI0OELS aurovs dosav
Ampeodaı zal dAka anozoweioder; 7 olsı Tıvd yahenaiveiv TO un) Xahkeno
7 gp9oveiv TO un PIovsow Eyp9ovov TE zui noGov OvIe;
5) 499d.
°) 492b ff.
“ 7) 4932.
8) 493c.
») 4934.
II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 49]
Maſſe zu ſouveränen Machtenticheivungen zujammentreten Tann,
willig und neidlos der Leitung der geiſtig Höherſtehenden überlafjen
und zur lammfrommen Herde werden!
Co wird ein Staat entjtehen, der zwar das Los alles Irdiſchen,
die Vergänglichkeit, auch von ich nicht abzuwenden vermag, ver
aber doch nach der Meinung jeines Urhebers die denkbar beite
Bürgſchaft für lange ungeftörte Dauer gewährt. !)
Eigentlih iſt es nur Ein Moment, von dem Plato eine
Schwächung und Zerrüttung feines Staates befürchtet, der Natur:
lauf, der in einer Lebensfrage des Ganzen, nämlich in Beziehung
auf die ftetige Wiedererzeugung der für den Staatsdienft geeigneten
Kräfte und Talente alle menschliche Berechnung illuſoriſch zu machen
vermag.?) Ebenjowenig, wie Mißwachs, kann menjchliche Voraus:
ficht verhüten, daß einmal ein Gejchlecht geboren wird, dem die
Natur die für die höchiten Berufe notwendigen Anlagen verjagt
hat, das aber trogdem den Zutritt zu denjelben erlangt. Dann
aber werde die unvermeidliche Folge fein, daß die Einheit der Ge-
ſinnung unter den Trägern und Drganen der Staatsgewalt ver-
loren geht und Zwieſpalt einreißt, womit die Auflöfung des Ver—
nunftitaates entjchieden ift.3) Dan ſieht, was diefen Staat bedroht,
it einzig und allein ein Naturprozeb, dem gegenüber Menjchen-
wille und Menjchenklugheit ohnmächtig iſt. Soweit es ſich um rein
geichichtliche Berhältniffe, um Schwierigkeiten und Gefahren han:
delt, welche diefer Wille und dieſe Einficht zu beherrſchen ver:
mag, glaubt der Bermunftitaat des Erfolges unbedingt ſicher
zu fein.
5
Zur gefhidtlichen Beurteilung der Polikeia.
Die Anficht über Wert und Bedeutung des platonijchen
Werkes hängt vor allem von der Entjeheidung der VBorfrage ab,
1) 546a.
2) Ebd.
>) Ebd.
499 Erſtes Buch. Hellas.
ob die Zeichnung eines Idealſtaates, wie fie bier verjucht wird,
überhaupt als eime in der Wiſſenſchaft berechtigte Litteraturform
anzuerkennen it over nicht. Wer die Frage verneint, wer die
„Utopie“ als eine Verirrung, als das müßige Spiel einer aus—
jehweifenden Phantaſie grundjäglich verwirft, für den ift auch das
Urteil über Plato gejprochen. Er wird mit dem neueften Hiftorifer
der „Staatsromane” in den platonijchen Theorien nichts anderes
erblicken können als Luftſchlöſſer, welche luftig ins Atherblau hinein-
gebaut find und welche ihren Urheber auf eine Linie etwa mit
Jules Berne ftellen. !)
Daß dieſes Urteil nicht das lebte Wort einer wahrhaft ge:
ſchichtlichen Auffaffung der Dinge fein kann,“) wird dem Unbe:
fangenen kaum zweifelhaft erſcheinen in einer Zeit, in der gerade
die Aufſtellung jolcher ideeller Gebilde eine noch vor kurzem völlig
ungeahnte Bedeutung gewonnen bat, und felbjt von anerkannten
Vertretern der Wiſſenſchaft — man denke nur an Herbfa — nicht
verſchmäht wird, um als Nüftzeug in dem großen Kampf der
1) So KHleinwächter: Die Staatsromane ©. 27.
?) Bei Kleinwächter hat es thatjächlich zu einer xeinen Karikatur
geführt. Bon dem genannten Standpuntt aus ift eben ein liebevolles Der:
jenfen ins Einzelne, ohne welches ein richtiges Bild nicht möglich ift, von
vorneherein überflüſſig.
Irreführend ift es übrigens auch, wenn hier die Politeia ohne weiteres
unter die „Staatsromane” gezählt wird, die uns in einem jpäteren Kapitel
bejchäftigen werden. Wie ſchon Mohl (Geſch. u. Lit. der Staatsw. I, 172)
mit Necht bemerkt hat, gibt hier Plato durchaus nicht ein vein Ddichterifches
Bild, die Schilderung eines beſtimmten erfonnenen Staates in Form einer
Erzählung, jondern eine theoretifche Erörterung über die Inſtitutionen, welche
er zum Aufbau eines idealen Staates überhaupt für nötig erachtet. Damit,
daß dieſe Inſtitntionen in gewijjem Sinne „exdichtet” oder, um mit Klein:
wächter zu reden, „Produkte der jpefulativen Philoſophie und des deduktiven
Denkens“ find, iſt doch noch lange nicht der Begriff des Romans gegeben!
Die Politeia ift fein Noman, jondern ein Aktionsprogramm. Sch jehe daher
nicht ein, warum es „unwiſſenſchaftlich“ fein fol, die Utopien in Romanform
bon denen in Abhandlungsform zu trennen. (Wie Oldenberg in Schmollers
Jahrb. 1893 ©. 255 gemeint hat.)
III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der PBoliteia Platos. 493
Geifter zu dienen, der um die Grundlagen der bürgerlichen Gejell-
ſchaft entbrannt ift.
Angefichts der frappanten Analogie, die auch hier das 19. Jahr:
hundert mit dem vierten v. Chr. darbietet, drängt ſich ja ganz
von jelbjt die Erkenntnis auf, daß wir es in dem Utopismus mit
einer gejchichtlichen Erſcheinung zu thun haben, die mit der Geſamt—
entwiclung der Bölfer aufs Engjte zufammenhängt und daher
unter analogen gejchichtlichen Vorausſetzungen mit pſychologiſcher
Notwendigkeit fi) immer wieder von neuem einftellt, auch wo man
fie längft als „überwunden“ anſah.
Wie Hohn Stuart Mill mit Necht bemerkt bat, ift Der
Utopismus das naturgemäße Ergebnis aller Epochen, in denen,
wie eben in der Gegenwart und im Zeitalter Blatos eine allgemeine
neue Prüfung der Grundprinzipien des Staates und der Gefell-
Ihaft als unvermeidlich erkannt iſt.) Se tiefer und ſchmerzlicher
bei jolcher Prüfung die Unvereinbarfeit des Bejtehenden mit be-
vechtigten Intereſſen und Wünfchen dev Menjchheit empfunden wird,
je hartnädiger andererjeitS der gedankenloſe Alltagsmenſch an die
Ewigkeit der Zuftände glaubt, in denen ex die Befriedigung feiner
kleinen perſönlichen Intereſſen findet, um jo zwingender macht ſich
andererjeitS das Bedürfnis geltend, den Kontraft zwijchen der Wirk
lichkeit und den Forderungen der Vernunft und Gerechtigkeit eben
dadurch mit möglichjter Stlarheit vor Augen zu ftellen, daß der—
jelben das Idealbild einer beijeren Staats und Gefellihaftsordnung
entgegengejebt wird, ein Ideal menjchlicher Zultände, wie fie fein
jollten und unter Umftänden vielleicht auch jein könnten. Durch
die Gegenüberftellung von Ideal und Wirklichkeit ſchafft ſich der
menschliche Geift ein mächtiges Hilfsmittel, um das Bejtehende
ſchärfer begreifen und beurteilen zu lernen, jeine Lücken und Fehler
jih und Anderen möglichſt Kar zum Bewußtjein zu bringen.
Gegenüber der quietiftiichen Bejchränktheit, welche die jeweilig
bejtehende Ordnung der Dinge als die allein richtige oder allein
1) Grundjäge der pol. Ökonomie I, 237 (D. X.).
494 Erſtes Buch. Hellas.
mögliche anfieht, it daher das Auftauchen ſolcher Spekulationen
über die Möglichkeit anderer und befjerer Zuftände ftets ein Symptom
des Fortichrittes und fie werden darum auch nie ganz verſchwinden,
folange der menschliche Geift ſelbſt im Fortjchreiten begriffen ift.
In ihnen stellt fich gegenüber der gedankenloſen Vergötterung des
Beftehenden die Erkenntnis dar, daß dasjelbe doch weſentlich mit
das Werk wandelbarer menschlicher Anordnung ift, und fo ericheinen
fie, foweit fie Begründetes enthalten, als die Vorkämpfer fin das
höhere Necht der Zukunft gegenüber dem, was ohne innere Be—
rechtigung durch das Schwergewicht äußerer Momente noch fort-
befteht. In den Idealen, die ſich jo ein Volk durch feine Denker
ichafft, reflektiert fich jene höhere Stufe des politischen Bewußtſeins,
auf der mit der Erkenntnis des Gegenwärtigen ſich das lebendige
Gefühl für die Zukunft verbindet.
Darauf beruht der Wert und die Bedeutung diejer Idealen
Konſtruktionen, daß fie — ſoweit fie nicht hohle Bhantafieen, ſondern
das Ergebnis ernſter Gedanfenarbeit und der Erkenntnis wahrer
Bedürfniſſe find, — der Arbeit der Zukunft die Probleme jtellen,
der gejchichtlichen Entwiclung und der organischen Neformarbeit
Ziel und Nichtung weisen.
Daher hat jelbjt ein jo nüchtern denkender und durchaus
fonfervativ gefinnter Mann, wie Robert von Mohl ſich entſchieden
gegen Diejenigen ausgejprochen, welche aus den dem Wtopismus
anbaftenden Irrtümern ſchließen zu dürfen glauben, daß derjelbe
überhaupt Für Leben und Theorie feine Bedeutung haben Fünne.
Er erkennt vollfommen au, daß „dieſe Irrtümer durchaus nicht in
wefentliher Beziehung zu der Aufgabe ftehen, und daß ein
Schriftitellev von Geift und Talent, der das Problem von der
rechten Seite faſſen winde, die Wiſſenſchaft zu zwingen vermöchte,
jein Werk ihren Schäßen beizuzählen”.1)
) A. a. ©. 214. Lange, der übrigens die Anfiht Mohls vollkommen
teilt, hat freilich in Beziehung auf die letztgenannten Worte bemerkt, daß
die Utopie zwar Gegenftand wiſſenſchaftlicher Betrachtung jein und auf Die
Wiſſenſchaft wie auf das praftifche Leben befruchtend und anvegend zurück—
III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 425
Eine andere Frage it nun aber freilich die, ob es zur Auf:
gabe diejer Litteraturform gehört, Projekte zu entwerfen, welche auf
unmittelbare praftiiche Verwirklichung berechnet find. Bei aller
Achtung für die moraliiche und wiſſenſchaftliche Energie, mit welcher
der gelehrte Verfaffer der beveutendften modernen Utopie die prak—
tiiche Verwirklichung feiner Bläne in die Hand genommen bat,
muß Doch diefe Frage entjchieden verneint werden. Es bat fi)
bisher wenigitens noch immer unmöglich erwieſen, irgend eine neue
Form des Staates und der Geſellſchaft zu erfinden, von der man
wie von einer auf dem Papier konſtruierten Machine die Wirkungs-
weile im voraus beitimmen fönnte,
Ein Kritiker von Freiland, der zugleich Hiſtoriker ift, hat
ſehr treffend bemerkt, daß fich der Idealſtaat zur praftiichen Volks—
wirtichaftslehre verhalte, wie etwa die phyſikaliſchen Beobach-
tungen im luftleeren Naum zur Mechanik.) Sämtliche Fallgejebe,
die für den Luftleeren Raum aufgeftellt ind, find richtig, aber
fie gelten für eine Vorausſetzung, die im wirklichen Leben niemals
zutrifft. „Der Mechaniker kann dieſe Gejege nicht entbehren; ex
muß fie kennen und muß fie benüßen. Aber ev muß jedesmal
den Widerftand des Mediums als jtörenden Faktor mit einjegen.
Der Phyſiker, der verlangen würde, daß die Gefeße, die er
durch Experimente und Berechnung im luftleeren Raum gefunden
bat, von den Mechanifern entweder widerlegt oder angewendet
werden jollen, würde fi) dem Schickſal ausgejeßt jehen, daß weder
das Eine noch das Andere gejchteht, daß ſeine Ergebniſſe gelobt,
aber zu einem ganz anderen Zwecke verwertet werden, als er ge
wünſcht hat. Und in derſelben Lage befindet fich der Volkswirt,
der jeine Beobachtungen in einer Gemeinjchaft macht, welche von
Thorheit und Leivenjchaft jo Frei it, wie der Naum unter der
Zuftpumpe von Luft frei ift. Soweit feine Ergebniſſe richtig find,
können fie praktisch exit angewendet werden, wenn man alle Störungen
wirken fann, daß fie aber ihrer eigenen Natur nach niemals ein Werk der
Wiſſenſchaft, ſondern nur ein Werk der Dichtung ſein könne.
) Saftrow a. a. 9. ©. 211.
496 Erites Buch. Hellas.
und Neibungen des wirklichen Lebens mit ihren wahren Koeffizienten
einzulegen vermag.“
Erſt unter dieſer Vorausſetzung und mit diefer Einfchränfung
iſt der Gedanke an die Nealifierung eines Staatsideals disfutierbar.
Und es ift ja in der That im Berlaufe der Geſchichte wiederholt
verjucht worden, in Kleinen Kreifen, in denen duch die Ausſchließung
aller fremden und ftörenden Einwirkungen die Neibungswiderjtände
möglichjt reduziert waren, Ideen zu verwirklichen, zu denen man
als den äußerten Konjequenzen eines folgerichtigen Denkens über
den Zuſammenhang der menschlichen Handlungen gekommen war.
Sp iſt vielleicht der Gedanke, Staat und Geſellſchaft als Kunſt—
werk zu geitalten, als einheitlichen Mechanismus zu konſtruieren,
von Niemanden jo folgerichtig durchgeführt worden, als von dem
fühnen Dominikaner, der — in Platos Fußltapfen wandelnd —
ein Staatsiveal rein nach den Grundjäßen der natürlichen Vernunft
entwarf. Und doch iſt Gampanellas Sonnenjtaat innerhalb eines
halben Jahrhunderts in feinen wejentlichen Zügen in den Urwäldern
Südamerikas verwirklicht worden!!) Freilich zeigt gerade dieſes
Beilpiel, wie weit doc immer der Abjtand zwiſchen Ideal und
Wirklichkeit, zwiichen dem Anſpruch, etwas Bollfommenes, ein
Höchſtes an ſich zu Ichaffen und dem thatſächlich Erreichten blei—
ben wird.
Prüfen wir die Boliteia des Plato von diefen Geſichtspunkten
aus, jo kommt zunächſt die Frage nach ihren theoretijchen Ergeb—
niſſen in Betracht. Welches ift ihr Gehalt an bleibenden Errungen-
ſchaften politiſcher und jozialöfonomifcher Erkenntnis? Hat fie
Ideen gezeitigt, welche in der That der Zukunft als Leitjtern dienen
konnten und, ſoweit fie nicht verwirklicht ſind, auch heute noch dienen
können?
) Bgl. die intereſſante Parallele zwiſchen dem Sonnenſtaat und dem
amerikaniſchen Jeſuitenſtaat bei Gothein: Der chriſtlich-ſoziale Staat der
Jeſuiten in Paraguay ©. 3 ff., wobei es allerdings zweifelhaft bleibt, inwie—
weit eine bewußte Nachbildung vorliegt oder nicht.
III. 2. 5. Zur gefchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 427
Im allgemeinen ift die Frage bereits bejaht durch die poli-
tijche Ökonomie der Gegenwart. Wenigſtens hat einer ihrer hervor:
ragendſten Vertreter es von jedem politiichen Standpunkt aus für
unvermeivlich erklärt, wieder an gewiſſe antike Grundanjchauungen
anzufnüpfen, wie ſie — neben der Mriftotelifchen Politik — in
Platos Staat niedergelegt find. !)
Gemeint find hier vor allem jene Sätze, welche im Gegen:
jaß zur atomiſtiſch-individualiſtiſchen Staatsauffaffung und ihrer
Boranftellung des Individuums in erjter Linie die Notwendigkeit
der Unterordnung des Einzelnen unter den Staat und feiner Ein:
ordnung in den Staat betonen. Bon ihnen bat Adolf Wagner
anerkannt, daß fie — richtig verftanden — nicht nur berechtigt
jind für altgriechiſche Verhältniſſe, ſondern unbedingt wahr, nicht
Sätze von hiſtoriſcher Nelativität, ſondern von logiſcher Abjolutheit.2)
Aus der Boranftellung des Gemeinschaftsprinzips ergibt fich zu—
nächjt das von der Gegenwart in jeiner Berechtigung immer tiefer
empfundene Verlangen nach einer jtarfen und zugleich über der Gejell-
Ichaft jtehenden Negierungsgewalt, welche die Kraft und den Willen
hat, das Intereſſe der Individuen unter die Intereſſen und Zwecke
der Gemeinschaft zu beugen, das Verlangen nach einer wahren d. h.
nicht bloß als Mandat einer Mehrheit oder Minderheit der Gefell
Ihaft aufgefaßten und ausgeübten Amtsgewalt, wie fie nur dur)
ein jelbjtändiges, von der Gejellichaft und deren jozialöfonomischen
Sonderintereſſen unabhängiges Beamtentum verwirklicht werden kann.
Erſcheint diefe Forderung nicht geradezu wie ein prophetijcher
Hinweis auf eine wahrhaft jtaatlihe Monarchie, wie ſie vor allem
der deutſche Staat verwirklicht hat? Wie ein moderner Sozial-
politiker mit Necht bemerkt, beruht die Gejundheit des modernen
Staates und der modernen Gejellihaft im Gegenjag zum antiken
und teilweile auch zum mittelalterlihen Staate darauf, daß neben
die Bejigenden, die jo leicht der Abhängigkeit von ihren Sonder:
') U. Wagner: Grundlegung I? 859.
SO a2
4938 Grites Buch. Hellas.
intereffen erliegen, eine breite einflußreiche Geſellſchaftsſchicht trat,
die eine durchſchnittlich ivealere Geſinnung, nicht dieſe piychologijche
Abhängigkeit von egoiſtiſchen Klaffenintereffen dat: unjere heutigen
Staats- und Kommunalbeamten, Geiftliche, Lehrer, Offiziere u. ſ. w.,
in der Mehrzahl Leute, denen ohne oder doch ohne großen Befit
die höchſte Bildung zugänglich ift, die auf eine mäßige, aber ihren
Berdienften wenigftens ungefähr entiprechende Einnahme angewiesen,
ihre Joziale Stellung von Generation zu Generation nicht Durch ihr
Vermögen, Jondern nur durch die Erziehung ihrer Kinder behaupten,
die nicht ſo Direkt in das Getriebe des Erwerbslebens verflochten,
bei ihrem Einfluß auf das Staatsleben leichter von höheren Motiven
als der bloßen Erwerbsluft ausgehen.!) Eben dies, die Schaffung
einer jo geftellten und jo gefinnten Gejellichaftsichicht, wie fie der
moderne Staat befißt und der damalige entbehrte, ift von Plato
mit genialem Scharfblid als eine Haupt und Grundfrage aller
Politik erkannt worden. Eine Erkenntnis, die ihrerſeits von feiner
tiefen Einficht in die Mißftände zeugt, zu welchen die Souveränität
ver Gefellichaft zuleßt notwendig führen muß, mag nun der ein
jeitig individnaliftiiche Wille einer bejigenden Minderheit oder der
großen Mehrheit den Staatswillen bejtimmen.
Wahrhaft vorbildlich für die Gegenwart ift die Schilderung
der ummiderftehlichen Gewalt, mit der bier die egoiftischen Inter—
eſſen überall in die Poren des Staatskörpers einzudringen ſuchen.
Die Hoffnungen auf die jegensreichen Wirkungen einer immer
weiter fortjchreitenden Demokratifierung der Staaten, wie fie der
einjeitig politiſche Doftrinarismus des legten Jahrhunderts groß:
gezogen, und denen unjer Bürgertum jo ſchwer zu entjagen vermag,
jie werden bereits von Plato auf Grund einer wahrhaft jozial-
politiichen Auffaffung der Dinge als Jllufionen erwieſen. Grote,
deſſen griechische Geſchichte durchaus von diefen Sllufionen erfüllt
it, bemerkt in feiner Kritif des befannten Staatsmannes Dion,
daß derjelbe nur deshalb den Wert des reinen Volfsftaates in
') Schmoller: Grundfragen ©. 115.
II 2.792 Zur geſchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 429
Frage geſtellt habe, weil ſeine Anſchauungen nicht durch die Er—
fahrungen des praktiſchen Lebens und der beſten praktiſchen Staats—
männer, ſondern durch die Lehren der Akademie und Platos be—
ſtimmt worden ſeien.) Kann es einen größeren Triumph für die
Auffaffung Platos geben, als das Urteil, zu welchem derjelbe
Grote gerade durch die politifche Erfahrung jeiner |päteren Jahre
in Beziehung auf die Bedeutung der engliichen Wahlen gekommen
it? „Nimm einen Bruchteil der Geſellſchaft,“ lautet ein Wort
von ihm aus diejer jpäteren Zeit, „mache einen Durchſchnitt davon
von oben bis unten und prüfe dann die Zufammenjegung der auf-
einander folgenden Schichten. Sie find von Anfang bis zu Ende
einander ſehr ähnlich. Die Anfehauungen gründen ſich ſämtlich
auf die gleichen fozialen Inſtinkte, niemals auf eine klare und
erleuchtete Erkenntnis der Intereſſen des Ganzen. Jede bejondere
Klaſſe verfolgt ihre eigenen, und das Nejultat ift ein allgemeiner
Kampf um die Vorteile, welche aus der Herrichaft einer Partei
erwachjen.“ 2)
Das hätte Wlato genau ebenjo jagen können, wie er es ja
dem Sinne nach thatlächlich gefagt bat.
Mit der Sicherheit eines Naturgefeßes jehen wir in der
klaſſiſchen Schilderung der Politeia vor unjerem geiftigen Auge jenen
verhängnispollen Prozeß ſich vollziehen, wie durch die abjolute Selbjt-
regierung der Geſellſchaft der Staat unvermeidlich Mittel und
Werkzeug für die Bereicherung der zu politifchem Einfluß gelangten
Volkselemente wird und jo zu einer Klaſſenherrſchaft der Beligenden
entartet, wie dann in naturgemäßem Nücjchlag bei Ffortichreitender
Radikaliſierung der öffentlichen Inftitutionen die große Maſſe die
Möglichkeit zu gleichem Mißbrauch erhält, bis am Ende die „freieſte“
Verfaſſung in ihr diametrales Gegenteil, in den eäſariſchen Despo-
tismus umjchlägt.
Das wertoollfte und für die Gegenwart wichtigfte Ergebnis
!) History of Greece X, 477.
) The personal life of G. Grote p. 313.
450 Erſtes Buch. Hellas.
diefer geſchichtlichen Erörterung ift die wiffenjchaftliche Überwindung
des abjtraften Freiheitsprinzipes eines extremen Demofratismus, der
in feinem Streben nach einer möglichjt abjoluten perjönlichen Freiheit
alle Freiheit einfeitig als individuelles Necht anfieht und die mit
diejem Nechte notwendig verbundenen jozialen und politiichen Pflichten
mehr oder minder ignoriert. Unwiderleglich ift der Nachweis, daß
da, wo die atomiſtiſchindividualiſtiſche Freiheits- und Gleichheitsidee
der „reinen” Demokratie voll und ganz verwirklicht und der Maſſen—
mebrheitswille das entjcheidende Moment für Negterung, Geſetz—
gebung und Verwaltung geworden tft, der Staat einer zur Erfüllung
dieſer Pflichten ebenjfo wenig fähigen, wie gewillten Maſſenherrſchaft
anheimfällt, und daß dieſe Mehrheit die politische Macht für die
Sonderinterefjen derjenigen, welche die Mehrheit bilden, ſtets ebenjo
rückſichtslos ausbeuten wird, wie fie die plutofratiiche Minderheit
nur jemals für fih auszubeuten verjtand. Die unerbittliche Logik
diefer Schlußfolgerungen läßt nirgends mehr Naum für den opti
miſtiſchen Troſt derjenigen, die da wähnen, das durch nichts be=
ſchränkte allgemeine Stimmrecht trage die Heilung ſolcher Übelftände
in ſich jelbit.
Dem Glauben an die abjolute Bortrefflichkeit der gegen-
gewichtslojen Herrſchaft des allgemeinen Stimmvechts, welcher ohne
weiteres den durch dieſes Stimmrecht allein erzielbaren augenblid-
lihen Mehrheitswillen mit dem „Volkswillen“ identifiziert und, —
als ob niemals auf ein perikleiſches Zeitalter eine Kleonepoche ge:
folgt wäre, — die Beichlüffe der jeweiligen Maſſenmehrheit für den
beiten „allgemeinen“ Willen, die Erwählten derjelben für die ge-
eignetſten Träger ftaatlicher Funktionen hält, — dieſem naiven
Glauben des politiihen Nadikalismus wird von Plato die Klare
Erkenntnis der geſchichtlichen Thatſache entgegengejeßt, daß das
abjolute Majoritätsprinzip ftetS auf die Vergewaltigung eines
mehr oder minder großen Teiles der bürgerlichen Gefelljchaft hinaus:
läuft und jo gerade das, was e3 verjpricht, die „gleiche Freiheit
Aller” am wenigften zu erreichen vermag. Der Kampf, den die
deutſche Staatswiſſenſchaft der Gegenwart mit ihrer grundſätzlichen
III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurterlung der Politeia Platos. 431
Forderung einer machtvollen Darjtellung des Staatsgedanfens gegen
die bei jo vielen modernen Völkern mehr oder weniger durchgeführte
Gejtaltung des Staatsweiens nad) den Grundjäßen der Volks—
jouveränität führt, diefer Kampf ift im Grunde bereitS durch die
platoniſche Staatslehre entſchieden.
Es iſt ja begreiflich, daß der doktrinäre Liberalismus des
neunzehnten Jahrhunderts für Erörterungen, wie die im achten
Buche der Boliteia, Fein Verſtändnis hatte, jolange die befigende
Bourgeoifte mit ihrem Intereſſe an individueller Freiheit und die
beſitzloſe Maſſe mit ihrer Forderung politischer Gleichheit noch einig
Hand in Hand gingen. Jetzt, wo die Scheidung eingetreten,
welche Plato längſt als eine notwendige Entwiclungsphaje der
Demokratie erkannt hat, it uns die Nichtigkeit feiner Darftellung
des Entwiclungsprozeijes der rein individualiftiichen Freiheits- und
Sleichheitsivee mit erſchreckender Deutlichfeit aufgegangen. Wir
willen jeßt, wie er, daß die Freiheitsliebe der wirtichaftlich Stärkeren,
der Beſitzenden und Gebildeten, und der Gleichheitsdurft der niederen
Maſſe niemals auf die Dauer miteinander Hand in Hand gehen
können, weil die Freiheit ſtets die Tendenz in fich trägt, zur Herr:
Ihaft der Starken über die Schwachen, die Gleichheit aber die,
zur Freiheitsbeſchränkung und DVergewaltigung der Stärferen zu
entarten.
Wahrhaft vorbildlich für die Gegenwart iſt die Ausführung
Platos, daß das Freiheitsprinzip der wirtjchaftlich ſtarken und be-
ſitzenden Klafjen, welches den Staat von allem weg haben will, was
ihren Gewinntrieb einengt, ſtets ihr unvermeidliches Korrelat findet
in der gleich extrem individualiſtiſchen Freiheits- und Gleichheitsidee
der Mafje, dab diejelbe aus ihrem politischen Individualismus
allezeit ebenjo rein wirtjchaftliche Konjequenzen ziehen wird, wie das
befiGende Bürgertum, und daß jo diejes ſelbſt in der politischen
Demokratie den Feind jeiner Freiheit und jeines Eigentums heran—
zieht, den die Gegenwart als Sozialdemokratismus bezeichnet.
Mit diefem aus einer unvergleichlichen geichichtlichen Erfahrung
geichöpften Nachweis ift für alle Zeiten das Wahnideal des ſchranken—
439 Erſtes Buch. Hellas.
(ofen Smdividualismus auf dem Gebiete des Berfaljungsrechtes
zerftört, der das Volk nur als Summe von Einzelnen, den Staats:
willen nur als Maffenmehrheitswillen aufzufallen vermag und an
Stelle des gegliederten Bolfes eine Individuenmaſſe jeßt. Siegreic)
bricht fich bier die Erkenntnis Bahn, daß der Staat nicht der
Kopfzahlmehrheit, jondern dem ganzen Volke in feiner lebendigen
Gliederung gehört, und daß daher dieſe Gliederung auch im
Drganismus der Verfaſſung zum Ausdruck kommen muß, wenn
nicht die Eriftenzbedingungen des Ganzen geſchädigt werden jollen.
Denn dieje, die Lebensbedingungen des Ganzen, nicht ein
atomiftischer Freiheits- und Gleichheitsbegriff, werden alS das maß-
gebende Moment für die Verteilung der öffentlichen Nechte und
Nflichten erkannt. Mit fiherem Blie für die wahren Bedürfniſſe
des staatlichen Lebens wird an die Stelle des abjoluten Gleichheits-
prinzipes der Demokratie der Begriff der „wahren“ Gleichheit gejeßt,
d. h. der Verhältnismäßigkeit zwiſchen politiichem Machtanteil und
perjönlicher Leiftung. Es wird endlich nicht minder treffend jener
Gleichheitsforderung der Demokratie das von Plato als eine Lebens-
frage für den ftaatlichen Organismus erkannte Poſtulat der Einheit
des Staates entgegengeftellt, in der richtigen Erkenntnis, daß ein
Prinzip, Durch welches die DVielheit als jolche (oi roAdor!) zur
Herrin des Staatlichen Willens wird, die unentbehrliche Einheit diejes
Willens unmöglich macht und jo den ftaatlichen Organismus jelbjt
mit dem Zerfalle bedroht.
Hatte der Volksſtaat das Necht des Einzelnen und zwar jedes
Einzelnen anerkannt, zu regieren und Gefege zu geben, zu verwalten
und zu richten oder Nichter, Verwaltungs: und Negierungsorgane
gleichberechtigt zu wählen, jo jchöpfte dagegen Plato aus der
lebendigen Einficht in die Konjequenzen diejes Syftems die Erkenntnis,
daß die ftaatliche Thätigkeit in Negierung, Verwaltung und Gejeb-
gebung eines befonderen ausgebildeten Drganismus bedarf, der
nicht heute durch den momentanen Willensaft eines Wählerhaufens
in das Dajein gerufen ift, um binnen furzem in dieſem Moloc)
wieder zu verſchwinden. Dem einjeitig politischen Doktrinarismus,
II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 433
der in einem Jolchen Zuſtand jeine Befriedigung findet, wird Die
gefunde realpolitiihe Erwägung entgegengefeßt, daß es für die Ent-
ſcheidung der Frage, ob eine Verfaſſung als Beeinträchtigung wahrer
Freiheit und Gleichheit empfunden wird, vor allem darauf ankommt,
ob das Volk feine Angelegenheiten in den Händen einer gerechten
und weilen Negterung wilje oder nicht. Plato ſpricht damit nur
einen Gedanfen aus, der gerade von der öffentlichen Meinung der
Gegenwart mehr und mehr geteilt wird, daß nämlich die Verwaltung
des Staates für das Wohl und Wehe der großen Mehrzahl der
Bevölkerung noch mehr bedeutet, als die Verfajlung.!)
Die hohen Anforderungen, welche Blato von diefem Stand»
punkte aus an die Thätigkeit des Staates und damit an die
Leiſtungen feiner Drgane jtellt, Schließen aber noch weitere Boftulate
in fich, welche recht eigentlich auf den modernen Staat hinweijen.
Plato iſt nämlich zu der Erkenntnis gelangt, daß die technisch
möglichjt vollfommene Berwirklihung der Staatszwecke — des
Kultur und Wohlfahrtszwedes ebenfo wie des Machtzwedes —
gleich dem Produktionsprozeß der Volkswirtſchaft nur durch die
qualifizierte (bevufsmäßige) Arbeit erreichbar it, daß alſo von
vornerherein ein Teil der Bevölkerung nach dem PBrinzipe der
Arbeitsteilung ſich ausichließlich dem Staatsdienjte zu widmen und
lich für denjelben eigens auszubilden hat, um den hohen Anforde
rungen an die Qualität der Staatsleiftungen wirklich entiprechen zu
fönnen. In dieſer Beziehung ift der platonische Staat ein moderner
Staat, in dem er wie diejfer mit feſt angeftellten, berufsmäßig ge
bildeten und bejoldeten Beamten arbeitet. „Was Blato, — jagt
ein moderner Sozialpolitifer, — jo tiefſinnig durch Die jorgfältige
Erziehung der „Wächter in jenem Staate erreichen wollte, iſt heute
ein größeres praftiches Bedürfnis, als jemals. In diefem Bunkte
jind feine Anfchauungen wieder von ewigen Werte. Daher muß
wohl auch hier wieder mehr an Ideen angefnüpt werden, wie fie
') Vgl. mit diefer Schon im „Staatsmann“ 2964 ausgejprochenen An—
jicht die Bemerkung von Gneift: Das englifche Verwaltungsrecht der Gegen-
wart IP’ (IX).
Pohlmann, Gejd. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. T. 23
434 Erſtes Buch. Hellas.
eben in Platos Staat über die Notwendigkeit einer richtigen Staats-
dDienererziehung entwidelt worden find.” ')
Diefelbe Betonung des Sozialprinzipes, derjelbe Gegenjaß zu
der atomiſtiſch-individualiſtiſchen Auffaſſung des Freiheitsbegriffes,
aus welchem ſich für Plato die angevdeuteten muftergiltigen Grund—
ſätze der Berfaffungspolitif ergaben, ift dann natürlich auch maß-
gebend auf dem Gebiete des Privatrechtes und ver Verwaltungs:
politif. Nachdem er die Bedingungen einer erfolgreichen extenfiv
und intenfiv gefteigerten Thätigfeit des Staates Flargelegt, zeigt er
mit derjelben überzeugenden Kraft, daß der Staat auch bei diejer
Thätigkeit berufen und im Stande ift, den gefährlichen Konſequenzen
eines einjeitigen Freiheitsbegriffes entgegenzutreten. Mit dem
Fortjchritt, den der platonifche Staat auf dem Gebiete der Staats-
pbilojophie und des öffentlichen Nechtes bedeutet, verknüpft fich jo
zugleich ein bedeutjamer Fortichritt auf dem Gebiete der privaten
Nechtsordnung. Wie die Frage der ftaatsbürgerlichen Freiheit vor
allem aus den Bedingungen des Gemeinſchaftslebens heraus be-
urteilt wird, jo auch die der wirtchaftlichen Freiheit. Auch darin in
Übereinftimmung mit der immer fiegreicher ſich geltend machenden
jozialen Nichtung der modernen Staatswiſſenſchaft. Dieſelbe gebt
ja längft nicht mehr von dem natürlichen Freiheitsvecht des als
abjolut gedachten Individuums und ſeinen Anforderungen an die
Geſtaltung des Eigentums- und wirtichaftlichen Verfehrsrechtes aus,
um darnach exit die Nechte der Gemeinjchaft gegenüber dem Einzelnen
und jeinem Eigentum zu bejtimmen; jie fragt vielmehr umgekehrt:
Welches ind die Bedingungen des gejellichaftlichen Zufammenlebens,
insbejondere des wirtjchaftlichen emeinfchaftslebens? Wie muß
daher die Freiheitsfphäre des Individuums, das Vermögensrecht,
das Eigentums- und Vertragsrecht mit Rückſicht auf diefe vor allem
zu erfüllenden Bedingungen des jozialen und ökonomiſchen Zuſammen—
lebens geregelt werden??)
V Adolf Wagner a. a. 9. 915. 922.
2) A. Wagner: Allgem. Volkswirtſchaftslehre 12 351
III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 435
Diejelbe Auffaffung liegt der Rechtsordnung des platoniſchen
Staates zu Grunde. Er geftaltet — um mit Ihering zu reden!) —
alles Recht nach Maßgabe der gejellichaftlichen Zweemäßigfeit. Es
it der Gedanke des jozialen Charakters der Brivatrechte, welcher
hier jiegreich zum Durchbruch kommt. Der platonijche Staat er-
fennt fein Necht an, welches nicht durch die ftetige Rückſicht auf
die Gemeinschaft beeinflußt und gebunden ift. ES zeugt bei einem
Manne, der der Geburts: und Belitesarijtofratie angehörte, von
großartiger Unbefangenheit des Urteils, daß er dieſe jeine Auf-
fallung auch gegenüber den großen Grumdinftituten des Privat:
rechtes, wie 3. B. dem Eigentumstvecht, mit rüchichtslofer Energie
zur Geltung bringt. Die moderne Sozialwiſſenſchaft muß Dies
ganz und voll anerkennen, jo wenig fie auch mit der Art jeiner
Neaktion gegen das bejtehende Eigentumsrecht und mit den ertvemen
Folgerungen einverftanden fein kann, die ev aus dem Sozialprinzip
zu Ungunften des Privateigentums und der Vertragsfreiheit ge-
zogen hat.
Dasselbe gilt für einen Teil der allgemeinen Grundanſchauungen,
welche Blato vom Standpunkt des Gemeinjchaftsprinzipes und des
damit enge zufammenbängenden ftaatlichen Wohlfahrtsprinzipes über
die grumdjäßliche Berechtigung und die Notwendigkeit einer um—
fallenden Staatsthätigfeit im der Volkswirtſchaft und des Zwanges
in volfswirtichaftlichen Verhältniffen im Entwurfe des Spealftaates
zum Ausdruck bringt. Er nimmt auch hier Gedanken der Zukunft
vorweg, indem er aus den Übeljtänden, welche ein Ubermaß von
Freiheit auf dem Gebiete des Güterlebens zur Folge habe, den
jozialpolitifchen Beruf des Staates und die Notwendigkeit erweilt,
an Stelle einer einjeitigsindivionaliftiichen, für die wirtjchaftlich
Starken und Mächtigen allzu freie Bahn Ichaffenden Geftaltung des
wirtſchaftlichen Verkehrsrechtes eine in ſtärkerem Maße gemein, be-
ſonders zwangsgemeimmwirtjchaftlich organifierte Volkswirtſchaft an—
zuſtreben. Auch darin ſich enge berührend mit einer Zeit, die, wie
) Der Zweck im Recht ©. 517.
28 +
436 Erſtes Buch. Hellas.
die Gegenwart, unter dem Zeichen einer fortjchreitenden Ausdehnung
der gemeinmwirtichaftlichen auf Koften der privatwirtjchaftlichen Unter:
nehmung fteht, einer Zeit, in welcher ſelbſt jolche, welche nichts
weniger als lauter Staatsgewerbe wünschen, auf eine Zeit hoffen,
in der ohne Schaden für die Selbjtthätigfeit der Individuen Staat
und Gemeinde manches übernehmen fünnen, was fie bisher noch
nicht oder nur teilweife und nicht ohne gewiſſe Gefahren über:
nehmen konnten. !)
Dabei bleibt fich Plato vollfommen Eonjequent, wenn er aus
demjelben Sozialprinzip, das ihn zur Verwerfung eines einjeitigen
Demofratismus auf dem Gebiete der Verfaſſungspolitik geführt,
die Notwendigkeit einer jtärferen Demofratijierung der Volks—
wirtichaft folgert.
Dieſe Forderung verlangt vom Staate mit Necht ein Doppeltes:
einmal die Bekämpfung des extremen ndividualismus und der
jozialen und politifchen Überhebung des Fapitaliftiichen Großbürger-
tums, die Aufrichtung von Schußwehren gegen die Blutofratie,
andererſeits Maßregeln pofitiver Soztalpolitit im Intereſſe der
möglichjten Sicherftellung der Maſſe gegen Nahrungsnot und Er—
werbslofigkeit. Was die Gegenwart als ein berechtigtes Verlangen
ver letzteren anerkennt, ein bejcheivenes, mindejtens das Notwendige
jicher gewährendes wirtjchaftliches Ausfommen, es wird bereits hier
als ein Hauptziel ſtaatlicher Wohlfahrtspolitif hingeftellt.
Für Blato ift es ebenjo gewiß, wie für Adam Smith, „daß
fein Staat blühend und glüclich fein fann, wenn der weitaus
größte Teil feiner Bürger arm und elend ift.” Gr erkennt, daß
eine Bolkswirtichaft, welche den Ertrag der nationalen Broduftion
jo verteilt, daß eine unverhältnismäßig große Zahl der Bürger
faum ihr Leben friften kann, nicht mehr den Zielen des ganzen
Volkes dient, jondern nur noch denen eines Teiles. Denn er hat
ein außerordentlich Lebhaftes Gefühl für die fittliche Herabwürdigung
und die „Knechtung“ der Verjönlichkeit, welche eine ſolche zur reinen
') ©. Schmoller: Grundfragen ©. 100,
(sb)
II. 2. 5. Zur gefchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 4
Klaſſenherrſchaft entartete Volkswirtſchaft für die Mafje der Befit-
loſen zur Folge hat, und er verlangt daher auch für den nievrigiten
Volksgenoſſen die Möglichkeit einer gewiſſen Entfaltung der Ber:
Jönlichkeit im fittlicher und wirtichaftlicher Hinficht. Ex verwirft
grundſätzlich Zuftände, welche den Einzelnen ökonomiſch oder rechtlich
in eine Lage verjegen, in der jeine Perjönlichkeit gänzlich aufhört,
fich jelbit Zwed zu fein. Gin Standpunkt, von dem aus er einer:
ſeits die perfönliche Freiheit fordert für alles, was Hellenenantliß
trägt, und andererfeitS mit voller Entjchiedenheit die Verpflichtung
aller jtaatlichen Verwaltung anerkennt, eine Verwaltung der jozialen
Reform zu fein.
Die platonijche Staatstheorie fordert eine ununterbrochene
Arbeit für die Erhöhung des Niveaus, auf dem die unteren Mit-
glieder der bürgerlichen Gejellichaft verharren müſſen, fie proflamiert
die große Idee der Hebung der unteren Klafjen, den Kampf gegen
die „Armut“ d. h. gegen die Vernichtung und Verfrüppelung ganzer
Gefellfehaftsichichten, zu welcher die fteigende Differenzierung der
Gejellichaft durch die übermäßige Ungleichheit der VBermögensver-
teilung notwendig führen muß.
Damit tritt die platoniſche Staatslehre in die Neihe der
Theorien vom joztalen Fortjchritt und einer humanen Umbildung
der volfswirtjchaftlichen Drganifationsformen, und allezeit wird Plato
in der Gejchichte der jozialen Theorie unter den Erften genannt
werden müſſen, welche jenen Kampf aufgenommen haben, in dem
wir jelbjt mitten inne jtehen: den Kampf gegen den Quietismus
und Peſſimismus, der nicht zugeben will, daß es in der fozialen
Gliederung einen wejentlichen Fortichritt geben kann, der eine ftetig
und dauernd zunehmende Ungleichheit der Einfommensverteilung
und damit fteigende Klaſſengegenſätze als etwas normales, ja not-
wendiges und wünjchenswertes betrachtet.
Aber die Berührung mit den jozialreformatorischen Beftrebungen
der Gegenwart gebt noch weiter. Plato will nicht nur verhindert
willen, daß die unteren Schichten der Gejellichaft unter ein gewiljes
Niveau herabſinken, jondern es ſoll auch allen aufjtrebenden, nach
435 Grites Buch. Hellas.
Bethätigung ringenden Talenten derjelben die Möglichkeit gejchaffen
werden, auf der jozialen Stufenleiter fo hoch emporzufteigen, als
die perfönliche Begabung geftattet. ES ſoll womöglich einem Jeden
der Beruf zugänglich gemacht werden, für ven jeine körper—
lichen und geiftigen Anlagen am beiten pafjen. Ein Ziel, das nicht
blos als eine joziale Gerechtigkeits>, jondern auch eine Zweckmäßigkeits—
forderumg erſten Nanges gerade von der Gegenwart immer ent»
ichiedener anerkannt wird, jo wenig dieſelbe auch verkennt, daß es
fich hier immer nur um eine gewiſſe Annäherung an ein niemals
vollkommen zu verwirklichendes Ideal handeln kann.
Der platoniſche Staat weit der Vollserziehung der Zukunft
Ziel und Wege, indem er den begabtejten Kindern des Volkes Die
Möglichkeit exfchließt, auf dem Wege der Bildung in den Belit
der höheren Kulturgüter, ſowie der Macht zu gelangen. Den Genies
und Talenten aller Klaffen ſoll die Gelegenheit zur Ausbildung für
alle ihrer Eigenart entfprechenden Berufszweige, jelbft für die höchſten
gewährt werden. Hier wird in der That ein auch vom Stand-
punkt der Gejamtheit aus berechtigtes Gleichheitsverlangen des
Volkes erfüllt. Es Sollen feine begabteſten, geſchickteſten, ſtreb—
famften Köpfe emporfommen können, nicht bloß dem Nechte nach,
ſondern auch den erforderlichen Mitteln nad. Die Talente aus
dem Volke follen, ftatt in Haß und Neid gefährliche Wühler und
Umftürzler zu werden, die höheren Klaffen verjtärfen. Wer be
fähigt ift, zu bereichen, wer die gejchiefteften Hände hat, joll nicht
durch willkürliche Schranken gehindert werden, auch wirklich zur
Herrſchaft zu gelangen, fein Geſchick auch wirklich zu bethätigen.
Nicht bloß in feinem eigenen, jondern vor allem im Intereſſe des
Ganzen ſoll jedem Einzemen die Möglichkeit zur Geltendmachung
jeiner individuellen Fähigkeiten gewährt werden.
Der angedeutete geſunddemokratiſche Zug, der in dem jozialöfono-
miſchen Syitem Platos zum Ausdrucd kommt, zeigt ſich auch in ver
Bekämpfung jener volfswirtichaftlich jo überaus nachteiligen Richtung
der Produktion, welche auf Kosten der Bedürfnisbefriedigung der
Maſſen einfeitig dem Luxuskonſum der Wohlhabenden zu gute fommt.
III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung dev Politeia Platos. 439
Nato erkennt, daß die Tendenz der Fapitaliftifchen Geſell—
Ichaft, durch die Bedürfniffe des Lurus der Erzeugung notwendiger
Grijtenzmittel des Bolfes eine unverhältnismäßige Menge von
Arbeitskräften, Kapital und Boden zu entziehen und damit den
Kahrungsipielraum des Volkes überhaupt zu gefährden, durch die
Staatsgewalt ihre grundſätzliche Schranke finden muß.
Er erkennt, daß dieſe Tendenz durch nichts mehr gefördert
wird, als durch eine allzugroße Ungleichheit des Beſitzes; und fo
ift es fir ihn das unabweisbare Ergebnis einer jozialen Auf:
fafjung der Dinge, daß feinem Teile des Volkes ein unbedingtes
Recht auf ein Übermaß von Einfommen und Beſitz zugeftanden
werden Fönne, durch welches einem anderen Teile ſelbſt die Be-
friedigung der notwendigen Erijtenzbedürfniffe mittelbar oder un-
mittelbar unmöglich gemacht würde. ES wird die Berechtigung
einer abjoluten Schranke der Ungleichheit des Einkommens, ſowie
die Berechtigung der zur Aufrechterhaltung diefer Schranfe not-
wendigen Eingriffe der Staatsgewalt in das PBrivateigentum für
alle Zukunft fejtgeftellt.
Die Geſchichte von Hellas jelbit, wie die der ganzen Folgezeit,
hat unwiderleglich dargethan, daß das, was Blato als Kampf gegen
Keihtum und Armut bezeichnet, einen unleugbar richtigen Kern
enthält, innerhalb gewiſſer Grenzen geradezu durch das Lebensinter-
efje der Völker gefordert ift. Eine große Ungleichheit der Ver—
mögensverteilung bat ja bisher noch zu allen Zeiten den Berfall
ihrer Gefittung eingeleitet. Sie waren um fo langlebiger, je jpäter
und langjamer die VBermögensungleichheit eintrat.‘) Und daher
drängt fi) gerade unjerer modernen Sozialwiſſenſchaft mehr und
mehr dieſelbe Einficht auf, welche Plato durch die analogen Er—
fahrumgen jeiner Zeit nahegelegt waren, daß ein Wolf, welches be-
!) Das hat neuerdings bejonders treffend hervorgehoben Schmoller.
Grundfragen ©. 111. Schmoller befürchtet geradezu den Untergang unferer
Kultur, wenn uns nicht eine gewiſſe Ausgleichung der Beſitzesgegenſätze ge-
lingt, wenn wir in dem „elementaren Strudel einer wachſenden Vermögens-
ungleichheit forttreiben“.
440 Grites Bud. Hellas.
reits das für die Entwidlung höherer Kultur unentbehrliche Maß
von Wohlftand erreicht Kat, um jo gefunder bleiben wird, je ge:
vinger die zunehmende Ungleichheit fteigt, je mehr es gelingt, eine
aleichmäßigere Verteilung des Volkseinkommens herbeizuführen.
Das Wort von dem Kampf gegen Armut und Reichtum, zu
dem der platonifche Staat aufruft, wird in gewiſſem Sinne, wenn
auch nicht ganz fo, wie es fein Urheber gemeint, die Parole wer:
den für die Staatsfunft der heraufziehenden Jahrhunderte.) Schon
jeßt ift die ernfte Wiſſenſchaft mit Erfolg bemüht, die Einwände
zu befeitigen, mit denen der Doktrinarismus einer älteren Epoche
den Gedanken, die Einfommensverteilung in gefündere Bahnen zu
(enfen, für immer abgethan zu haben glaubte. Sie nimmt einfach
das leitende Motiv der platonifchen Spozialpolitif wieder auf, in-
dem fie „die joziale Neform im Sinne einer gleichmäßigeren Ver—
teilung des Volkseinkommens“ nicht nur als eine Forderung ver
Humanität und Gerechtigkeit, ſondern auch als die Bedingung der
wirtjchaftlihen Wohlfahrt und jeder ftaatserhaltenden Politik zu er—
weiſen jucht.2)
Wenn fie auch diefe gleihmäßigere Verteilung des Nein-
ertrages der nationalen Produktion nicht mit den Mitteln herbei-
geführt wiſſen will, die Plato im Auge hat, und wenn fie auch
anvererfeits im Gegenfaß zu diefem einen mehr oder minder weiten
Abſtand zwiſchen größtem und Eleinften Beſitz, eine ausgebildete
wirtschaftliche Klaſſenordnung im Intereſſe der wirtjchaftlichen
Leiftungsfähigkeit des Volkes und jeiner Kultur für unbedingt not:
wendig hält, in der Überzeugung begegnet fie ſich doc) unmittelbar
mit ihm, daß der ich ſelbſt überlaffene Verkehr die Tendenz zu
einer Ungleichheit der Einkommens: und Bermögensverteilung in
fich schließt, welche ebenfo die wirtichaftlichen, wie die fittlichen
') Vgl. die ſchöne Ausführung über die volfswirtjchaftliche und fitt-
liche Aufgabe des „Kampfes gegen die Armut“ bei Ziegler: Die joziale Frage
eine Jittliche Frage ©. 146.
) ©. Herner: Die foziale Reform als Gebot des wirtſchaftlichen
gortichritts. Dazu Sombart: Archiv für joziale Reform 1892 ©. 600.
t
{
III. 2. 5. Zur geichichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 441
Intereſſen der Völker gefährdet, daß daher „vie Einkommensvertei—
lung aus einer bloß durch blinde Naturfaktoren bedingten Erſchei—
nung zu einer von Sitte und Necht beherrichten” werden müſſe.!)
Es ift recht eigentlich im Sinne Platos, wenn die moderne Sozial-
wiſſenſchaft die Forderung aufſtellt, es jei immer mehr dahin zu
wirken, daß „auch der größte Beſitz nicht aufhört, von der Arbeit
zu entbinven, daß auch die geringste Arbeit zu einigem Beſitze führe,
daß die Überlegenheit des Befiges als ſolchen über die Arbeit ver
mindert, der Ausbeutung der Nichtbefigenden, der Überlegenheit der
Beltgenden über = Kichtbejigenden überhaupt, immer mehr Terrain
entzogen werde”. Was Plato als Sohn eines von Jozialvevolutio-
nären Strömungen erfüllten Zeitalters klar vor Augen Jah: daß alle
die, welche nur Renten verzehren ohne Gegenleiftungen, an dem
Kommen des Gerichtes arbeiten, wie könnte es noch länger von der
Gegenwart ignoriert werden ?>)
Selbjt diejenige Konſequenz, die Plato aus einer ſolchen Auf:
fallung der Dinge zieht, die Anerkennung des jtaatlichen Nechtes,
dureh unmittelbare Eingriffe in die Ordnung des Brivateigentums,
in die Vermögens- und Einfommensverteilung einer übermäßigen
Ungleichheit Schranken zu ſetzen, hat, wie wir jahen, von feiten der
modernen Nechts- und Sozialwiſſenſchaft Nachfolge gefunden.
Sind es doch die Thatfachen der Gejchichte ſelbſt, analoge
gejcehichtliche Erfahrungen, welche hier wie dort der Theorie un—
zweideutig genug die Wege N haben. Die ſoloniſche Wirt:
ſchafts- und Sozialveform, das Werk des größten Sozialveformers
der antifen Welt dort, die modernen Agrarrefornen und Die
Stein-Hardenbergifche Gefeggebung hier find — um das Wort eines
) Schmoller a. a. O. ©. 96 f. Auch diejer ift, wie Plato, der An—
ficht, daß „koloſſale Neichtümer unter feinen Umſtänden gejellfchaftliches Be:
dürfnis find und dab daher eine forrigierende Cozialvolitif, die don den
Reichen und Neichften nimmt, um den Armen zu geben, weit entfernt davon
iſt, fulturwidrig zu fein.
) Schmoller a. a. D.
3) Bgl. die Beinerfung von Pauljen: Ethik IT 417.
442 Erſtes Buch. Hellas.
modernen Beurteilers derjelben zu gebrauchen — „Beifpiele der
großartigjten Art, wie eine hochherzige Politik in die Eigentums:
ordnung eingreifen kann und foll, wie die Sühne für Jahrhunderte
langes Unrecht die Verlegung taufendfacher Einzelintereffen, ja ſo—
gar Maßregeln unvermeidlich machen fan, die man geradezu als
eine Neuverteilung des Eigentums bezeichnen darf, die aber darum
noch Feine Jozialiftiichen Maßregeln im Fchlimmen Sinne des Wortes
waren.) Inſoferne hat die Gejchichte des athenischen, wie Die
des modernen deutſchen Staates feit den Agrarreformen des lebten
Jahrhunderts einer wahrhaft fozialen Auffaſſung der Dinge in
gleich hohem Grade vorgearbeitet, als fie unwiderleglich dargethan
hat, daß das zu allen Zeiten gegen eine kraftvolle Durchführung
des Spztalprinzipes erhobene Gejchrei über Eigentumsverlegung und
Beraubung, über Verwirrung und Erjchütterung der Nechtsbegriffe
verjtummen wird und muß, wenn nicht Böbelleivenschaft, ſondern
eine ihrer Pflicht voll und ganz bewußte Staatsgewalt jolche Maß:
regeln durchführt, wenn nicht „die Willfür da nahm, um dort zu
verjchenfen, jondern ſyſtematiſch nach feiten Grundfäßen die neuen
Eigentumslinien gezogen wurden“.?)
In demfelben Zufammenbange ergibt ſich aber für Plato
noch ein weiteres Necht der ftaatlichen Gemeinjchaft gegenüber dem
Individuum. Er erkennt, daß auch der erfolgreichite Kampf gegen
die übermäßige Konzentrierung des Neichtums und die einfeitige
Entwicklung der auf Werkzeuge der Üppigkeit gerichteten Luxusarbeit
für ſich allein nicht ausreichen wird, die Lage der großen Mehrheit
des Volkes auf die Dauer günftig zu gejtalten. Als Bewohner
eines dichtbebauten und Ddichtbevölferten Kleinftaates it ex ſich ſehr
deutlich der Thatjache bewußt, daß es nicht bloß die ungleiche Ver—
teilung des Volkseinkommens und Volfsvermögens ift, durch welche
die auf den Einzelnen fallende Quote von Unterhaltsmitteln über
) Schmoller a. a. D. ©. 9%.
°) Schmoller ebd. Gibt doch ſelbſt Treitichte zu, dab die Ackergeſetze
dev Zukunft tiefer in die Eigentumsordnung einjchneiden werden, als die
Fabrikgeſetze. Der Sozialismus und feine Gönner. Wa. O. ©. 137.
II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 443
mäßig verkürzt werden kann, jondern auch die an natürliche und
unüberfteigliche Grenzen gebundene Größe des Volkseinkommens.
Plato hatte ja ftets den höchſt intenfiven wirtichaftlichen Dafeins-
fampf vor Augen, den der hellenijche Stadtitaat zu beftehen hatte,
um den Ertrag feiner Volkswirtſchaft im Gleichgewicht mit feiner
Bollszahl zu erhalten. Er war daher von vorneherein frei von
dem Optimismus des Bewohners großer Staaten, die noch um—
faſſende Flächen unangebauten oder ſchwach bevölferten Bodens be—
figen. Das Bevölferungsproblem, welches der ökonomiſche Sozia—
lismus, wie der ökonomiſche Liberalismus der Neuzeit in leicht:
herziger Dberflächlichfeit mehr oder minder ignorieren zu Dürfen
glaubte, es ſtand ihm in feiner ganzen furchtbaren Bedeutung klar
vor Augen. Wenn der moderne Sozialismus diejes Problem ein
fach durch die Erwägung bejeitigen zu können meint, daß die Ge—
fahr einer Übervölferung nur als das Produkt der beftehenden
indivioualiftiichen Nechts: und Wirtjehaftsordnung eintreten könne,
unter der Herrſchaft einer Jozialiftiichen Organifation von Produktion
und Berteilung überhaupt nicht zu fürchten ei, jo bat ſich ver
helleniſche Sozialismus von diefer Illuſion frei gehalten.
Von Plato wenigftens wird es als ein Hauptſymptom geſunder
jozialer Verhältniſſe hervorgehoben, wenn ein Volk in verftändiger
Fürſorge gegen die Gefahr des Maſſenelendes oder des Krieges!)
„nicht über die Unterhaltsmittel hinaus Kinder erzeugt“.2) Selbjt-
verjtändlich erſcheint es dann von dieſem Standpunkte aus als ein
unveräußerliches Necht der ftaatlichen Gemeinschaft gegenüber dem
Individuum, mittelbar oder unmittelbar durch die Geſetzgebung auf
1) Dieſe Bejorgnis vor der Entftehung don Kriegen infolge von Über:
völferung ift bezeichnend für die Bedeutung des Bevdlferungsproblems im
helleniſchen Kleinſtaat. Wenn der Grund und Boden nicht mehr ausreicht,
die zunehmende Bevölkerung zu ernähren, bleibt ihm oft nichts anderes übrig,
als der Weg der gewwaltfamen Annexion von Weide: und Aderland auf Koften
der Nachbarn. ©. Plato Rep. 373d.
?) Die Betwohner einer roAıs Öyıns werden (372e) bezeichnet als ovy
Uno Tmv ovVoley nowwvusror Tois naldes gvAaßovusvor neviev n) noAsuor,
444 Erſtes Buch. Hellas.
eine Einjchränfung des Volkswachstums hinzuwirken, wenn dasjelbe
das Gleichgewicht zwiſchen Produktion und Konſumtion dauernd in
Frage Stellt. So verwerflich nach unferen fittlichen Begriffen Die
bevölferungspolitifchen Vorſchläge Platos im Einzelnen find, jo ſehr
er gerade hier im Banne von Zeitanjchauungen fteht, an fich ift
doch die Aufnahme des Bevölferungsproblems in das Syſtem der
Politik, der Hinweis auf die Gefahren der Übervölferung, welche
dem modernen Europa erjt jeit einem Jahrhundert durch Malthus
zum Bewußtjein gefommen find, die Anwendung des Gemeinjchafts-
prinzipes auch auf diefe Frage ein Fortſchritt von prinzipieller
Bedeutung. i
Indem nun aber jo das Sozialprinzip Platos die Ordnung
von Staat ımd Necht, von Geſellſchaft und Volkswirtſchaft nad)
den Bedürfniſſen des Volkes als einer Totalität gejtaltet willen
will, beabfichtigt ev mit diefem feinen Sozialismus feineswegs
eine abjolute Negation alles Jndividualismus. Er ift ich Klar be-
wußt, — md auch darin berührt ex ſich mit der neueren deutjchen
Wiſſenſchaft, — dab dem leteren ebenfo feine bejondere Berech-
tigung zufommt, wie dem erfteren, daß es ſich alfo nicht um eine
gegenfeitige Ausichliegung, ſondern nur um eine Kombination der
beiden großen Lebensprinzipien der Gelellihaft handeln kann. Die
Stellung, welche die platoniſche Sozialtheorie dem Selbjtinterefle
einräumt, jein Freiheits-, Gleichheits: und Gerechtigkeitsprinzip
wurzelt in der richtigen Erkenntnis, daß es fich nicht um Indivi—
Dualismus oder Sozialismus handelt, Fondern um Jndividualismus
und Sozialismus, daß die theoretiiche und praktische Streitfrage
nicht ein Entweder — oder ift, jondern ein Sowohl — als aud).')
Allezeit wird dem platonifchen Staat der Ruhm bleiben, die exfte
theoretische Vermittlung zwiſchen den mächtigen jozialen Geftaltungs-
) Bol. U. Wagner: Über fyftematiiche Nationalökonomie. Jahrb. F.
Nationaldf. u. Stat. 1886 ©. 201. Dazu Sar: Theoretiſche Staatswirtjchaft
©. 31: „Welche Bahnen immer die joziale Fortentwicklung des Menjchen:
gejchlechtes einjchlagen mag, ftet3 werden die Kategorien des Jndividualismus
und Kollektivismus als lebendige Potenzen bejtehen bleiben.“
III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung dev Politera Platos. 445
g )
tendenzen verfucht zu haben, welche alles menjchliche Leben in ewig
wechjelnden Formen beherrichen. —
Vergegenwärtigen wir ums noch einmal all’ das, was wir
vom heutigen Standpunkt jtaats und ſozialwiſſenſchaftlicher Er—
fenntnis aus in Platos Ergebniffen als Errungenschaften von bleiben-
dem Werte anerfennen müſſen, jo wird es nicht zuviel gejagt er—
jeheinen, wenn wir -- anfnüpfend an die Worte, die Nanfe einer
friegeriichen Nuhmesthat der athenischen Bürgerfchaft gewidmet hat,
— das geniale Geifteswerf ihres größten Sohnes ein Werk nennen,
das „voll von Zukunft“ ist. Was Schmoller an dem Sozialftaat
Fichtes gerühmt hat,!) es gilt auch, — Joweit man eben nur Die
hervorgehobenen Momente ins Auge faßt, — von Plato: „Was
er erkennt, jind die wahren Aufgaben der menjchlichen Geſellſchaft.“
Dieſer Nuhmestitel bleibt, jo ſchwer auch in die andere Wag-
ſchale das fällt, worin er geirrt bat. Denn daß bier mit der
Fülle der Erkenntnis die größten und folgenjchwerften Irrtümer
Hand in Hand gehen, das tritt ja nicht minder Klar zu Tage!
Die Einfeitigfeit jenes ideologischen Dogmatismus, der uns
bereits in der Darftellung der platonischen Wirtjchaftstheorie ent-
gegengetreten ift, hat eben auch die Ausgejtaltung des platonijchen
Staats und Geſellſchaftsideals in verhängnisvoller Weije beeinflußt.
Sp entjchieden auf der einen Seite die platonijche Theorie der
„irklichkeit zugewandt” ift, und jo beveutjam die Ergebniffe find,
welche fie der jcharfen Beobachtung der realen Erſcheinungen, der
Induktion aus den empirischen Thatſachen des Staats= und Gejell-
ichaftslebens verdankt, jo hat doch andererjeit3 das ſchon durch die
Natur des ganzen Problems bedingte Übergewicht der apriorifchen
Deduktion und Konſtruktion vielfach dazu beigetragen, die Theorie
auf falſche Bahnen zu leiten.
Schon das Ziel jelbit, das bier aufgejtellt wird, zeigt uns
die Theorie noch ganz im Kindesalter einer falſchen Fonftruierenden
Metaphyſik.
) Zur Litteraturgeſch. der Staats- und Sozialwiſſenſchaften ©. 72,
446 Grites Buch. Hellas.
Plato bezeichnet, wie wir ſahen, als Endzweck feines Staats:
ideals die Verwirklichung der Idee der Gerechtigkeit. Wonach be
ſtimmt ſich aber der Inhalt deijen, was das Gerechte jein joll?
Einfach darnach, daß der platonifche Staat den Anſpruch erhebt,
der „naturgemäße” Staat zu jein (xaera« yvorv oixıoJeloa mokıs).!)
Das Necht, das er jchaffen will, it daher ebenfalls „ver Natur
gemäß”. Es iſt Necht, nicht weil es irgendwo auf Erden gilt, —
das erſcheint völlig gleichgültig,2) — jondern weil es der unver—
fälichten menjchlichen Natur als folcher, überhaupt der ewigen Natur
ordnung und damit der über der Natur waltenden Vernunft ent-
jpricht.3) Im Himmel mag wohl der „im Neiche der Ideen liegende
Staat” (modıs Ev Aoyoıs zeıwern)!) als ein heiliges Mufterbild zu
finden fein für denjenigen, der ihn ſchauen will.5) Daher ift auch
das Necht, das der Idealſtaat verwirklicht, nicht bloß „Recht“ für
eine bejtimmte Zeit und unter bejtimmten konkreten Verhältniffen,
jondern es iſt — zumal dem Wandel des jeweiligen pofitiven
echtes gegenüber — das überall Gleiche, Ewige, Unveränderliche.
Es bat als das abjolut Vernünftige und Vollkommene feine Ent:
wiclung, da das, was für die Vernunft heute gilt, ebenfo für alle
Zeiten und unter allen Umftänden Geltung beanjprucht.6) Wo es
gelingt, dieſes Necht als das Uriprüngliche, im Laufe der Gejchichte
nur Berfälichte und VBerdorbene in jeiner Neinbeit wieder herzu—
jtellen, die durch Egoismus und Unverſtand hevorgerufenen Miß—
bildungen und Entjtellungen wieder zu beſeitigen, da ijt das Neich
der Vernunft und des Glückes auf Erden begründet!
Diefe ganze Auffaffung ift, wie ſchon angedeutet, das Pro:
ı) IV, 428.
2) 592b: diepeosı dE ovder, eite nov Eotıv EitE Eoraı‘ TE yao
TavINS uoryS dv nod£eıev, dAdns dE ovdeuias (0 ye voov &xwv).
>) ©. oben ©. 415 Anmerfung 3
4) 592a.
°) 592b: Ev ovoar® iows nregadeıyur arazeıraı To PBovkouevo
vp«v za vEW@rTı Eavrov zuroızileıv.
°) Allerdings ift die Verwirklichung nur Gallen möglich.
=
II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 447
duft einer falſchen Metaphyſik. Der Begriff eines Nechtes an und
für ſich it ein Phantom und zwar ein höchſt verhängnisvolles, da
er die Sozialtheorie vor ein Problem jtellt, welches ebenſo unlösbar
it, wie etwa die Quadratur des Zirkel.
Nichts Fönnte die Unfruchtbarkeit der hier formulierten Auf-
gabe drafticher beweilen als die TIhatjache, daß der Inhalt der
„naturrechtlichen“ Forderungen zu verſchiedenen Zeiten ein höchſt
verschiedener gewejen ift. Wie ganz anders ſieht das Naturrecht
Platos aus im Vergleich mit dem Naturrecht der damaligen Auf-
Härungsphilojophie oder dem Naturrecht dev modernen Metaphyſik
des Nechtes! Der beſte Beweis dafür, daß das Naturrecht eben
in Wirklichkeit nicht aus einer Menfchennatur in abstracto ent-
wicelt it, jondern aus den Anſchauungen und Bedürfniffen von
Individuen oder Gruppen verjelben, daß es das Ergebnis ganz
beftimmter hiftorifcher VBorausjegungen, eines ganz beſtimmten Stand»
punktes der ethischen Kultur iſt.!)
Das zrowrov Wevdos der naturrechtlichen Metaphyſik ift
die völlige Verkennnung der Thatjache, daß eben auch ihren For-
derungen nur eine relative Berechtigung zukommen kann. Daher
der naive Optimismus im Beziehung auf die Ausführbarkeit der:
jelben! Was ein entwiceltes jittliches Bewußtjein als „echt“
fordert, exfcheint auf diefem Standpunkt ohne weiteres auch als
möglich. Die Frage, ob es von den realen Kräften des Lebens
überhaupt geleiftet werden kann, ift von vorneherein bejaht. Eine
Illuſion erzeugt eben die andere! Die für jede Gejeßgebungs:
politif grundlegende Frage, od überhaupt in einer beſtimmten Zeit
die Bedingungen für die Verwirklichung der betreffenden Forde-
rungen gegeben find, braucht bei diejer Auffaſſung nicht ernftlich
erwogen zu werden. Um ei Recht, das vom Anfang aller Ge—
Ihichte an „echt“ iſt und in der Natur der Dinge ſelbſt wurzelt,
) Bgl. die jchöne Abhandlung von Jodl über das Weſen de Natur—
rechts und jeine Bedeutung in der Gegenwart. Juriſtiſche Bierteljahresichrift
1893 8. 23.
448 Grites Buch. Hellas.
zur Anerkennung zu bringen, erjcheint auch die Kraft eines Ein-
zelnen binveichend, wenn er nur die nötige Macht befißt. Daß die
Umwandhung ſozial-ethiſcher Ideen in Normen oder nftitute des
pofitiven Nechts durchaus abhängig ift vom Stande der allgemeinen
Kultur und ganz bejonders der ethiichen Kultur, welche die bür-
gerliche Geſellſchaft jeweilig erreicht hat, das wird mehr oder minder
verfannt. Daher auch der Grundirrtum Platos, daß es fich bei
der Aufftellung eines Staatsiveals um ein Projekt handle, welches
die unmittelbare praftiiche Verwirklichung verträgt.
In eigentümlichem Gegenjaß zu dieſem Anfpruch auf Die
unmittelbare Nealifierbarfeit des Staatsiveals ſteht die Art und
Weiſe, wie — allerdings der Natur des Problems entiprechend —
der Stoff vor Allem ſyſtematiſch zu bewältigen verjucht wird,
wie alles Gewicht auf die logische Korrektheit der deduktiv gewon-
nenen Säbe, auf die Formulierung von Ariomen gelegt wird, aus
denen fich alles Weitere mit logischer Notwendigfeit ergeben joll,
während doch die Neibungswiderftände des wirklichen Lebens un—
vermeidlich außer Anjaß bleiben müſſen.
Sm den Beftreben nach Syftematifierung wird nur zu häufig
verfannt, daß feine menschliche Inſtitution ihre äußerſten Konſe—
quenzen verträgt, daß ſich für die praftifche Ausführung eines all-
gemeinen Brinzipes infolge des Entgegenwirkens anderer gleichbe-
rechtigter Ideen und Bedürfniſſe immer mehr oder minder weit-
gehende Begrenzungen ergeben werden. Was der Biograph eines
modernen Nachfolgers Platos als einen „durchaus modernen“ Fehler
rügt,) das Auftürmen mächtiger Konftruftionen, ohne daß ſorg—
fältig genug unterfucht wäre, ob das Fundament fie zu tragen
vermag, — eben das gilt für den platonischen Staat in beſonderem
Maße.
Diefe Beobachtung drängt ſich uns gleich bei dem grund:
legenden Brinzip der Berfaflung des Idealſtaates auf. So be=
vechtigt Die Forderung einer ſelbſtändigen Nepräfentation des Staats—
') Dießel: Rodbertus II, 181.
II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 449
gedanfens durch die möglichite Konzentrierung der Macht in den
Händen der Befähigten ihrem Sterne nach it, jo einfeitig ift die
Löſung, welche dies jchwierige Problem bei Plato gefunden hat.
Er will nicht bloß eine ſtarke, jondern eine geradezu allmächtige
Negierung, weil er durch jein Erziehungsſyſtem dem Staate Ne-
genten geben zu können glaubt, welche durch die Tiefe und Unis
verjalität ihres Wiſſens und ihrer Erfahrung, durch die Idealität
ihrer Geſinnung eine jo eminente Bürgſchaft für die dem Geſamt—
wohl fürderlichite Verwirklichung der jtaatlichen Aufgaben gewähren
würden, daß jede Fonftitutionelle Beichränfung ihres Willens nur
eine Lähmung der Energie und KLeijtungsfähigfeit des Staates
ſelbſt wäre.
Zwar haben wir es hier mit einem Gedanken zu thun, der
jeit Blato immer und immer wieder und nicht am wenigiten in
der Neuzeit die Geifter angezogen bat. Von Fichte und Saint
Simon bis auf Niegiches Philoſophen: „die cäſariſchen Züchtiger
und Gewaltmenjchen der Kultur, die da jagen: jo joll es fein,
die das Wohin? und Wozu? des Menschen bejtimmen und mit
Ichöpferifcher Hand nach der Zukunft greifen, deren Erkennen Schaffen,
deren Schaffen Gejeßgebung!”!) Unter dem Eindrud der Erfahrungen
der modernen franzöfiichen Demokratie fommt ein Nenan zu der
Ueberzeugung, daß die Entwicklung der menjchlichen Wohlfahrt,
der Fortjchritt in der Nealifterung von Wahrheit und Gerechtigkeit
ſich nicht durch „Alle“, nicht durch die Demokratie vollenden könne,
jondern nur durch das, was er ganz platonifch „Negierung der
Wiſſenſchaft“ nennt, eine Ariftofratie, welche „der Menjchheit als
Kopf dienen und in welche die Menge den Sammelplat für ihre
Vernunft verlegen würde.” Dieſe Ausleje der Geifter wide im
Belige der bedeutſamſten Geheimniſſe des Dajeins die Welt durch
die mächtigen, in ihrer Gewalt jtehenden Wirkungsmittel beherrjchen. 2)
) Jenſeits von Gut und Böſe ©. 141 vgl. 151.
2) Al3 materielle VBorausjegung dieſer Macht wird allerdings ange-
nommen, daß e3 in Zukunft möglicherweile Kriegsmajchinen geben werde,
welche ohne die Leitende Hand von Gelehrten Werkzeuge ohne jede Wirkſam—
Böohlmann, Ge;d. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 29
) )
450 Erſtes Buch. Hellas.
Die Idee einer geiftigen, auf die Meberlegenheit der Intelligenz
gegründeten Macht könne zur Wirklichkeit werden, ohne daß dieje
unumſchränkte Herrſchaft eines Teiles der Menjchheit über einen
anderen etwas Gehäſſiges an ji haben würde. Denn die Arifto-
fratie, von der er träume, würde nicht von perjönlichem oder
Klaſſenegoismus geleitet werden, ſondern die Verförperung der Ber:
nunft fein. — Schade nur, daß Nenan ſelbſt dieſe dee eines
Zeitalters, in welchem „die Kraft die Herrichaft der Vernunft be-
gründen wird“, al3 einen Traum bezeichnen muß! Und das wird
fie in der That bleiben, jo viele auch nach ihm noch diefen Traum
Platos nachträumen werden.
Schon die Vorausjegung, von der Plato ausgeht, der Glaube
an die Möglichkeit und den Beltand einer Gefellichaftsklaffe, welche
in ununterbrochener Stontinuität aus fich ſelbſt die denkbar höchiten
und idealiten Leiftungen auf rein geiftigem, wie auf politifch-mili-
täriichem Gebiete zu erzeugen vermag, kann vor einer nüchternen
Anſchauung der Dinge nicht beftehen. Die Mittel, durch welche
Plato den Beſtand einer jolchen Klafje fichern zu können glaubt,
find mehr oder minder illuforiih. So hoch man die Macht einer
rationellen Erziehung, den Einfluß wiljenschaftlicher Durchbildung
anjchlagen mag, — Hoffnungen, wie jie Blato auf jein Erziehungs—
ſyſtem aufbaut, werden ſich nie erfüllen. Darüber wird fi am
wenigiten die Gegenwart einer Täuſchung bingeben, jeitdem fie auf
die Erfahrungen einer Zeit zurücbliden kann, in der das allge-
meinte Intereſſe ich auf die Förderung des pädagogiſchen Prob—
lems fonzentrierte, in der man von einer „natur und vernunft
gemäß” erzogenen Jugend das Heil der Welt erwarten zu Dürfen
glaubte; — ein Glaube, der fih längſt als trügerifch erwieſen hat.
Wenn auch die jozialiftiichen Erziehungsoptimiften der Neuzeit noch
jo felt überzeugt jein mögen, daß das Genie fich züchten Laffe,
daß jeder Menjch auf eine die bloße Hand» oder Körperfähigkeit
feit, in dieſer Hand aber furchtbare Hilfsmittel zur Vernichtung aller Wider:
jtvebenden werden wirrden. — Philoſophiſche Dialoge. D. A. ©. 75 ff.
III. 2. 5. Zur geichichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 451
erheblich überfteigende Ausbildungsitufe hinauferzogen werden könne,
die ideale Geiftesariftofratie des platonifchen Staates ift nicht
minder ein Phantom, wie die Maſſe von Michelangelos und Lio-
nardos, welche Bebel für jeinen Sozialjtaat in Ausficht ftellt.
Insbeſondere hat Plato — in dieſem Punkte ift auch er
ganz ein Kind der Aufklärung — die ethiſche Bedeutung des
Wiſſens weit überſchätzt. Das richtige Wilfen verbürgt durchaus
nicht in dem Grade die richtige Gefinnung und das richtige Han—
deln; Intelligenz und Sittlichfeit find durchaus nicht in der Weiſe
Storrelate, wie das die platoniiche Moralphiloſophie annimmt. Die-
jelbe verfennt die Doppelheit der Menfchennatur, in der Wille und
Sntelleft die Gegenpole bilden und jo immer wieder jene traurige
Zwiejpältigkeit entjteht, daß das Individuum ein Leben, das es
als das bejte erkannt, deſſen Wert es ſtark und aufrichtig empfindet,
dennoch thatſächlich nicht lebt, daß die deutlichite Einſicht in die
Berfehrtheit des Willens dennoch an jeiner Natur nichts zu ändern
vermag.
Auf gleich irrtümlicher Schätzung beruhen ferner die An:
ſichten Platos über die pſychologiſchen Wirkungen der Inſtitutionen,
in denen er eine weitere Bürgſchaft für die fittliche Integrität
der höheren Klaſſen ſucht. Wie utopiih it die Hoffnung, welche
er an den Kommunismns knüpft, die Erwartung, daß mit der
Aufhebung des PBrivateigentums und der Familie alle Quellen der
Selbitjucht und Begierden verfiegen würden! Man bat Ddiejer
Illuſion, welche übrigens bei allen jpäteren Utopiſten mehr oder
minder wiederfehrt, längſt die Erfahrung entgegengehalten,!) daß
die menschliche Leidenschaft fich unter allen Umftänden mit Gier
ihre Objekte jucht, daß unter Männern, die Feine Nahrungsiorge
mehr kennen, mit um jo ungezügelterer Leidenschaft der Kampf um
das Weib entbrennen würde, daß in einem folchen Gejchlecht Ehr—
I) Val. die treffenden Bemerkungen Jaſtrows gegen Hertzkas „reis
land’ a.a 9. Eine Illuſion ift natürlich auch die Annahme, daß Jich bei
diefem Kommunismus, der den Einzelnen um ein gutes Stück idealer Lebens—
befriedigung brächte, die Hüterklaffe im höchiten Grade glücklich fühlen würde.
29*
452 Erſtes Buch. Hellas.
geiz und Ruhmſucht die Stelle frei finden würden, welche die Ge—
winnjucht verlaffen bat, daß mit Einem Wort im Menschen ein
Quantum von Leidenjchaft enthalten ift, mit welchem überall ge
rechnet werden muß, wo es ſich um einen auch nur etwas größeren
Kreis von Individuen handelt.
Gegen jolche Gefahren gewährt auch die rein jozialiftische
Drganijation der Jugenderziehung, die zwangsweile Erziehung in
Staatsanftalten feine Gewähr. Im Gegenteil! Die Art und
Weile, wie im platonischen Staat der fünftige Krieger und Beamte
ſchon von zartefter Kindheit an von der ganzen übrigen Bevölkerung
ſtändiſch abgejchloffen wird, iſt nichts weniger als geeignet, jenes
voltsfreundliche und volfstümliche Beamtentum zu erziehen, auf
welches Plato jo großen Wert legt. Biel eher würde hier der
Geift der Überhebung großgezogen werden, der mit pfychologiicher
Kotwendigkeit die Entartung zur Klaſſenherrſchaft herbeiführen
müßte. Auf der anderen Seite wide die Überfpannung des
ftaatlichen Zwanges in diefem Syſtem und die übermäßige Kon-
zentrierung der Macht in der Hand der Negierenvden bei der Hüter-
flafje die Devotion nach oben, den Geift des Strebertums und
der Kriegerei ebenso ſyſtematiſch begünftigen, wie die Überhebung
nad) unten. Der Mut, der feft zur eigenen Überzeugung fteht,
die fittlihe Kraft, welche auch vor der Ungnade des Mächtigen
nicht feige zurückweicht, fie würden extötet durch die Charakterlofig-
feit, die immer erſt nach oben fieht, die vor allem Neden und
Handeln immer exit fragt, ob es auch „genehm” ift und „gerne
gejehen” wird. Gerade das, was den führenden Clementen des
Bolfes nicht minder notthut, als der Geift dev Zucht und Drdnung:
Charakterfeſtigkeit, Selbſtändigkeit, Kraft der Smitiative würde hier
unvermeidlich verfümmert werden. Welche Gefahr aber in einem
Syſtem liegt, das die Entwidelung der jo nahe miteinander ver:
wandten deſpotiſchen und Fnechtifchen Anlagen der menschlichen Natur
in ſolcher Weiſe begünftigt, das bedarf Feines weiteren Beweifes.
Übrigens ift das ganze Syftem auch feineswegs jo „naturgemäß“,
wie Plato annimmt. Die Grundlage desjelben: die allgemeine
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|
j
III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 453
Erſetzung der Familienerziehung durch die Staatsammenjchaft it
eine Abjurdität. Selbſt im Bienenftaat find die Ammen, welche
zugleich die einzigen Arbeiterinnen find und die Kinder einer ein-
zigen Eöniglichen Generalmutter erziehen, wenigitens gejchlechtslofe
Individuen.)
In der That muß ſogar Plato ſelbſt die Unzulänglichkeit
der zur Organiſation der Hüterklaſſe vorgeſchlagenen Maßregeln
unwillkürlich einräumen, indem er, um dieſelbe möglichſt frei von
innerem Zwiſt zu erhalten, — insbeſondere bei der obrigkeitlichen
Regelung des geſchlechtlichen Verkehrs — als „Arzneimittel“ ein
Syſtem des Truges und der Lüge für notwendig hält, welches
zu der vorausgeſetzten Geſinnung dieſer Klaſſe in eigentümlichem
Widerſpruch ſteht.) Welche Gewähr bietet eine Regierung,
welche jolcher Mittel bedarf, um ihrer eigenen Drgane ficher
zu jein?
Damit ift im Grunde auch das Vroblematijche der eben nur
durch Lug und Trug realifierbaren phyliologiichen Experimente zu—
gejtanden, im denen Plato ein Hauptmittel für die Erzeugung und
Erhaltung einer zum öffentlichen Dienſt prädeftinierten Klaſſe ge:
funden zu haben glaubt.
Zwar ift gerade diefer Gedanke von der Neuzeit wieder auf-
genommen worden. Ich erinnere nur an die Aeußerung Schopen-
hauers: „Will man utopische Pläne, jo jage ich: Die einzige Lö—
jung des Problems wäre die Dejpotie der Weifen und Edlen,
einer echten Ariftokratie, eines echten Adels, erzielt auf dem
Wege der Generation, dur) Vermählung der evelmütigjten
!) Darauf hat mit Recht Schäffle Hingewiefen. Ausfichtslofigkeit der
Sozialdemokratie? ©. 40.
2) 459e: ovyv® To wevdeı xai tn anarn zZiwvdvvevsı mulv
denosıv yonsdaı roös doyovras En’ wopektig av doyousvorv. Eine „Ichlaue
Verloſung“ ſoll e3 ermöglichen, daß der Einzelne, dev mit dem ihm zuge:
fallenen Werbe nicht zufrieden iſt, dem Zufall und nicht der Regierung Die
Schuld gibt. 460a. Uber die Zuläffigfeit der Täufchung als Regierungs-
prinzip vgl. auch 339b.
454 Erites Buch. Hellas.
Männer mit den Flügften und geiftreichten Weibern. Dieſer Vor:
Ichlag ift mein Utopien und meine Nepublif des Platon.)
Ein Gedanke, der übrigens der Gegenwart durch Die mo-
dernen naturwiffenichaftlichen, zumal die darwiniftiichen Ideen be—
jonders nahegelegt war. Wenn es richtig ift, daß fi) im Laufe
der Zeiten aus den niedrigjten Organismen die höherjtehenden
Lebeweſen und zuleßt der Menſch entwicelt hat, warum jollte ſich
da nicht am Ende aus dem Menſchen ein noch höheres Weſen
entwickeln können, deſſen geiftige und moraliiche Kräfte Anforde:
rungen zu genügen vermögen, denen ſich die menjchliche Natur
bisher nicht gewachjen zeigte? — Nenan hat auch diefe Idee auf-
genommen. Er meint: „Eine ausgedehnte Anwendung der Ent:
deckungen auf dem Gebiete der Phyfiologie und des Prinzips der
natinlichen Zuchtwahl könnte möglicherweife zur Schöpfung einer
höherftehenden Naffe führen, deren Necht zu regieren nicht nur
in ihrem Wiffen, ſondern jelbft in dem Vorzug ihres Blutes,
ihres Gehirns und ihrer Nerven begründet wäre.“ 2)
Wer denkt Hier nicht umvillfürlich an die Idee vom „Über-
menjchen“, wie fie die Sozialtheorie Nietzſches — allerdings in
wejentlich anderem Sinne als Plato — entiwidelt hat, an die
Lehre von der Veredlung der menschlichen Natur, die er als „Er:
höhung Des Typus Menſch“ bezeichnet und die er ſich ebenfalls
als das Werk einer ariftofratifchen Gefellichaftsverfaffung denkt?
Auch bier wird die Hoffnung ausgejprochen, daß ſich auf Folcher
Grundlage eine ausgejuchte Art Weſen zu einer höheren Aufgabe,
überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermöge, als die
bisherige Menſchheit, „vergleichbar jenen jonnenfüchtigen Kletter—
pflanzen auf Java, welche mit ihren Armen einen Eichbaum jo
lange und jo oft umflammern, bis fie endlich hoch über ihm, aber
auf ihn geftügt, in freiem Lichte ihre Krone entfalten und ihr
Glück zur Schau tragen können.”
!) Barerga und PBaralipomena II, 275.
2) A. a. O. ©. 86.
II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 455
Allen was können ſolche Spekulationen über den „Menſchen
der Zukunft“ für die Soziallehre bedeuten? Man mag fich mit
dem Philojophen des Ariftofratismus an der Vorſtellung beraufchen,
was alles noch unter befonders günftigen VBerhältniffen aus dem
Menjchen zu züchten wäre, wie der Menjch noch unausgejchöpft für
die größten Möglichkeiten ift, ſoviel ift gewiß, daß eine Sozialtheorie,
deren Verwirklichung eine derartige Erhöhung des Typus Menjch
bedingt, auf unabjehbare Zeit eine utopifche bleibt. Damit ift auch
die Frage der Ausführbarfeit des platoniſchen Staates entjchieden!
Denn Plato ſelbſt hat, wie wir jehen werden, in einer fpäteren Phaſe
jeines Joztalpolitischen Denkens zugeben müſſen, daß ſein Negierungs-
ideal nicht vealifierbar ift ohne das, was man eben den „Über:
menschen“ nennen könnte. Er ift zuleßt ſelbſt zu der Erkenntnis
gelangt, daß die vorgejchlagene foziale Drganifationsform — ins—
bejondere der ideale Kommunismus — Menfchen vorausfegen würde,
die auf einem unendlich viel höheren Niveau der Sittlichfeit und
Spntelligenz ſtehen müßten, als es für die gegenwärtige Menschheit
erreichbar jei: e8 müßten ſozuſagen Götter und Götterjöhne fein. !)
Die Gewalt jelbit, welche den Negenten des Vernunftitaates
eingeräumt wird, ftellt die menjchliche Natur auf eine Probe, der
fie, wie Plato ebenfalls fpäter zugibt, auf die Dauer nicht gewachfen
wäre. Eine jo jchranfenlojfe Macht exrträgt eben der Menſch nicht.
Sie wird in jeiner Hand zuleßt immer zum Werkzeug der Selbft-
jucht werden.?2) Daher ift es eine Lebensbedingung des wirklichen
Staates, daß jede Gewalt in ihm mit Schußvorrichtungen gegen
ihren Mißbrauch umgeben werde, daß — um mit I. Stuart Mill
zu reden — in feiner Verfaſſung ein Zentrum des Widerſtandes gegen
die vorherrichende Gewalt enthalten jet. Und wie ein Gegengewicht
ihrer Macht, jo erfordert die Menjchlichkeit und Gebrechlichkeit ſelbſt
der beiten Negierung eine bejtändige Ergänzung, wie fie eben nur
die jelbjtthätige Beteiligung der Bürger an der Bildung des Staats-
1) Leg. 740a j. jpäter.
) Leg. 875b f. fpäter.
456 Erſtes Buch. Hellas.
willens zu gewähren vermag, vorausgeleßt, daß der Stand der all-
gemeinen Kultur eine ſolche Mitwirkung geftattet.
Ja gerade im Interefje der Soztalveform Liegt eine möglichit
allgemeine Heranziehung des Volkes. Denn die Gejchichte aller
Ariſtokratien, auch der beiten, läßt nur zu deutlich erkennen, dab
— ſo, wie die menschliche Natur nun einmal it, — ohne den An—
trieb der Maſſe des Volkes eine allfeitig Durchgreifende, dem Klaſſen—
egoismus und Klaſſenvorurteil rückſichtslos entgegentretende Reform—
politik, ein poſitives Wirken für das „Volk“, wie es ja gerade der
Sozialſtaat Platos will, auf die Dauer kaum denkbar iſt.
Wenn alſo Plato glaubt, daß eine allmächtige Staatsgewalt
in einem „wahrhaft freien” Staate denkbar ſei und daß eine ſolche
Negierung jo ſehr den idealiten Anforderungen zu genügen vermöge,
daß ihre Herrſchaft verftändiger Weile von Niemand als drücender
Zwang empfunden werben könne, jondern al3 die beſte Vertretung
der Intereſſen Aller die freie Zuſtimmung aller Klaffen finden würde,
jo ift diefer Gedanke eine reine Utopie. So richtig Plato das Endziel
aller Politik erfaßt hat, wenn er das Ideal einer Regierung in der
freiwilligen Unterordnung der Negierten, in der harmonischen Aus—
gleichung zwijchen der Idee der Freiheit und der Notwendigkeit
ftaatlihen Zwanges exrblidt, — in den Mitten zur Erreichung
diefes Zieles hat ex vollfommen fehlgegriffen.
Diefe Mittel — vor allem die Züchtung einer Ariftofratie
von Halbgöttern, zu der ein politifch durchaus unmiündiges Volk
nur mit ſcheuer Ehrfurcht umd Bewunderung emporzublieen ver
möchte, — ftehen übrigens auch in einem unverföhnlichen Gegenfaß zu
dem Ergebnis, welches die Gejchichte der Kulturmenjchheit wenig:
ſtens bisher gegeitigt hat. Wie durch den bisherigen Verlauf der
Kulturgeschichte eine früher ungeahnte Berallgemeinerung der Güter
der Zivilifatton herbeigeführt, der Kreis der an den Errungen-
ſchaften der Kultur teilnehmenden Volkselemente ftetig erweitert
worden ift, jo haben die Maſſen auch) mehr Nechte und größeren
Einfluß auf das jtaatliche Leben erlangt. Und daß troß der gleich:
zeitigen unleugbaren Bertiefung der Kluft zwiſchen der Lebens:
III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 457
haltung des Proletariers und der höheren Stände die genannte
Tendenz auch in Zukunft mächtig fortwirfen wird, das kann für
den nicht zweifelhaft fein, der fich die Entwiclung der Menschheit
von der Völkerknechtung vrientalifcher Deipotien bis zur Epoche
der Koalitionsfreiheit und des allgemeinen Stimmrechts vergegen-
wärtigt. Auch wenn man das Wirkliche in der Gejchichte Feines-
wegs zugleich als das Bernünftige anertennt und bereitwillig zu—
gibt, daß fich abjolute Urteile über das ſoziale Seinfollen aus
der Empirie nicht gewinnen laſſen, wird man doch kaum geneigt
jein anzunehmen, daß dieſe ganze Entwicdlung nur ein einziger
großer Irrtum der Gejchichte jei.!)
Daher kann der Grundjaß: „Nichts dureh das Volk, wenn
auch alles für das Wolf” immer nur zeitweilige Anwendung finden;
nur Übergangszuftände können es rechtfertigen, den Staat zu einem
bloßen VBerwaltungsorganismus zu machen, wie dies Plato beab-
ſichtigt. Je mehr der Fortichritt und die Verallgemeinerung der
Kultur die perfönliche Entwicklung des Einzelnen fördert und da—
mit das ganze geiftige und moralische Niveau breiterer Volksſchichten
jteigert, um jo intenfiver und allgemeiner macht ſich auch das Be—
dürfnis geltend, nicht bloß Gegenſtand obrigkeitlicher Fürſorge und
Bevormundung zu fein, jondern duch einen freien Akt der Selbjt-
beftimmung an der Entjcheivung über die eigenen Geſchicke mit-
beteiligt zu werden. Erſt das Necht ſolcher Mitentjcheidung, welches
wenigjtens einen Antrieb enthält, den Einzelnen über den engen
und beengenden Kreis jeines individuellen Dafeins zu erheben, er—
möglicht die volle Entfaltung perjönlicher Kraft und perjönlicher
Würde, welche gerade vom Standpunkt des Staates aus einer mög-
lihjt großen Anzahl jeiner Bürger zu wünjchen ift.
) Bol. die jchöne teilweije allerdings zu optimiftiiche Ausführung von
Lange über den „Kampf um die bevorzugte Stellung” in dem Buche über
die Arbeiterfrage (2) ©. 55 ff. Er bezweifelt mit Recht, daß das Gejeb der
„natürlichen Züchtung“ (dev natural selection) je dahin wirken werde, den
bevorzugten Klaſſen ein jo ftetig wachjendes Übergewicht zu geben, dab da=
durch eine völlige Spaltung in eine höhere und niedere Nafje als Reſultat
der Differenzierung hervortreten müßte.
458 Grites Buch. Hellas.
Wenn der platoniiche Staat — um mit Stahl zu reden!)
— die innere Harmonie, die er erjtrebt, mur dadurch herftellen
fann, daß er zugleich als ein Neich der Freiheit befteht, wenn „die
Schönheit ſeines Baues nicht bloß wie die Natur da ift, fondern
von Wollenden, für fie Begeifterten in jedem Augenblicke gleichſam
aufs Neue geichaffen wird“,2) — fo erjcheint feine Verwirklichung
von dem genannten Gefichtspunfkte aus von vorneherein unmöglich.
Wenn dies Plato verfennt, jo liegt das an den falſchen Schluß:
folgerungen, die er aus der Auffaffung des Staates als eines Dr:
ganismus gezogen hat. So fruchtbar fich die Barallele in Einer
Hinficht erwieſen bat, der Glaube, daß ſich in einer einigermaßen
entwickelten Gejellichaft ein ähnliches Smeinandergreifen und Zus
ſammenwachſen der Individuen zu einem abjolut einheitlichen, von
Einem Zentrum aus vegulierten Ganzen erreichen lafje, wie im natür-
lichen Organismus, beruht nichts dejtoweniger auf einer Sllufion. Ex
verfennt die fundamentalen Unterſchiede in den Entwicklungsprin—
zipien der gejellichaftlichen Gebilde einerjeits und der phyſiſchen
Drganismen andererfeits.
Indem Plato die Vollendung des Staates darin erblickt, daß
in ihm alles Leben und alle Bewegung ebenjo von einem Zentral
organ ausgeht, wie im Drganismus, jet er ſich in Widerſpruch
zu der Thatfache, daß das, was im Naturleben den Höhepunkt
der Entwiclung darftellt, auf jozialem Gebiete gerade der roheſten
und primitivften Stufe eigen ift. Die geformte organische Sub»
tanz iſt in ihrer niederjten Erſcheinungsform, wie allerdings Blato
noch nicht ahnen konnte, ein Klumpen Brotoplasma, das in feinen
Teilen in feiner Weife differenziert ift und deſſen Leben ausjchließ-
ih in dieſen Teilen, nicht in einem einheitlichen Lebenszentrum
beruht. Je höher entwicelt und leiftungsfäbiger dagegen der phy—
ſiſche Organismus ift, je mehr er ſich aus differenzierten, durch die
Verrichtung verſchiedener Funktionen ſich gegenjeitig ergänzenden Or—
VEN
?) Stahl ebd.
III. 2. 5. Zur geichichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 459
ganen zuſammenſetzt, umſomehr entwicelt Fich ein Teil, der allein der
Sit der Empfindung, das Zentrum des Lebens des Ganzen ift.
— Durchaus verſchieden geitaltet fich der Verlauf bei den ſozialen
Gebilden. Se mehr fich hier bei der fortjchreitenden Arbeitsteilung
die einzelnen Teile differenzieren, umſomehr ftrebt bier auch Die
befondere Individualität derjelben zur jelbjtändigen Geltung zu
fommen, deſto mehr tritt die Tendenz hervor, den Einfluß, den das
Ganze durch Autorität und Herkommen auf das Einzelleben aus:
übt, abzujchwächen. Während dort das Endergebnis eine immer
jtärfere Konzentration alles Lebens in Einem Drgan iſt, iſt es bier
eine mehr oder minder weitgehende Berjelbjtändigung der einzelnen
Teile!) Und ganz folgerichtig ftellt fi daher auf der Höhe der
Entwicklung die Forderung ein, daß es eine Sphäre des Indivi—
duums geben müſſe, die nur ihm eignet, einen Kreis geiftiger und
jittliher Bethätigung, vor welchen der Staat mit jeinem Zwange
Halt macht, Die er anerkennt und jchüßt, aber nicht mehr inhalt
lich beſtimmt. Eine Forderung, die feine „naturrechtliche”, ſondern
recht eigentlich ein Erzeugnis der Kultur und des Kulturftaates ift.
Nun ſetzt ſich ja allerdings die platoniſche Anſchauungsweiſe
mit ihrer Predigt von der Rückkehr zur Natur und zum Natur—
recht in einen gewiſſen Gegenfaß zu den Fortichritten der Kultur,
deren Nejultat dieſes Verhältnis zwijchen Staat und Individuum
it. Im „Naturzuftand” zeigen die jozialen Gebilde in der That
die Organifation, welche Plato exjtrebt. Der fommuniftiiche So:
ztalverband der Urzeit hat ein einheitliches Zentrum, von dem alles
Leben ausgeht, das mit unumſchränkter Autorität das Ganze be
herricht. Allein wie kann dann noch von einer Geftaltung des
„beiten” Staates nach der Analogie des phyfiichen Drganismus
die Nede fein, wenn eben das, was auf dem Gebiete der organischen
Natur fich als ein Fortichritt erweiſt, auf jozialem Gebiete nur als
ein gewaltiger Nücjchritt denkbar it?
’) Vgl. die jchöne Darlegung dieſes Prozefjes bei Brentano: Die Volks—
wirtjchaft und ihre konkreten Grundbedingungen. Zeitſchr. für Sozial: u.
Wirtſchaftsgeſch. L, 98.
460 Grites Buch. Hellas.
Auch ergäbe ſich ja bei Jolcher Rückkehr zu der primitiven
Drganijationsform der jozialen Gebilde ſofort ein neuer Wider:
ſpruch! Diejelben haben nämlich auf diefer Stufe mit den untersten
Entwiclungsphalen phylischer Organismen das gemein, daß fie in
ihren Teilen in feiner Weiſe differenziert find, daß — abgejehen
von der Arbeitsteilung zwilchen Mann und Weib — alle ihre
Glieder genau diefelben Funktionen verrichten. Die bejondere wirt
Ichaftliche, rechtliche, moraliſche Individualität der einzelnen Teile
des jozialen Ganzen eriftiert auf einer jo niedrigen Stufe des wirt-
Ihaftlichen und gejellfehaftlichen Lebens noch nicht.) Allein gerade
in diefem Punkt, in dem fich die Entwiclungsgejchichte der ſozialen
Drganismen wirklich mit der der phyſiſchen nahe berührt, verjagt
bei dem platoniichen Staat die Analogie durchaus. Diefer Staat
jeßt ja gerade die möglichite Vervollkommnung der Arbeitsteilung
und die ſtärkſte Differenzierung feiner Glieder voraus. Die recht-
liche, geiftige und moralifche Individualität von Einzelnen, wie
von ganzen Klafjen erjcheint in hohem Grade entwidelt. Es ſoll
jich hier alfo mit der niederjten Organifationsform der jozialen
Gebilde, der denkbar ſtärkſten Konzentration, dasjenige vereinigen,
was beim phyfiichen, wie beim fozialen Organismus am Ende der
Entwiclung fteht: die möglichite Differenzierung der Teile.. Daß
diefe Verfnüpfung von Anfang und Ende einen verhängnisvollen
Wiverjpruch enthalten würde, daß im jozialen Drganismus die
Differenzierung gerade eine mächtige Tendenz in entgegengejeßter
Richtung in Sich chließt, die Individuen mit einem unwiderſteh—
lihen Drang nach jelbjtändiger Bewegung und jelbjtändiger Be
thätigung erfüllt, das bleibt bei Plato vollfommen unbeachtet.
Yun bat ja allerdings auf einzelnen Gebieten gerade der
Fortſchritt der Kulturentwidlung zu der genannten Kombination
von äußerſter Differenzierung und ftrengfter Konzentration geführt.
Infolge der Errungenschaften der induftriellen Erfindſamkeit hat fich
auf volkswirtichaftlichem Gebiete eine Technik der Menjchenzufanmen-
') Vgl. Brentano a. a. 9. ©. 99.
III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. A461
fafjung herausgebildet, welche große Maſſen von Individuen zu
bloßen Triebrädern im Gefüge eines Me einheitlichen, von Einem
Zentrum aus vegulierten Organismus gemacht hat. Allein einer:
ſeits gravitiert doch der technische Fortſchritt glüclicherweife nicht
ausſchließlich nach dieſer Nichtung Hi, da die Kultur auch wieder
neue Mittel für die individuelle Thätigkeit Tchafft und vielfach ge
trade das Individuum zu großen, früher der Gejamtheit vorbehal-
tenen Zeiftungen befähigt, andererjeits ijt es nur zu befannt, welche
Disharmonien in das moderne Kulturleben gerade Durch jene den
indivioualiftiichen Grundtendenzen desjelben jo ſchroff wiederſprechende
Konzentration — worden ſind: Diſſonanzen, die recht
deutlich beweiſen, daß eine Verallgemeinerung des zentraliſtiſchen
Organiſationsprinzips eben in den innerſten ſeeliſchen Triebkräften,
in den Bedürfniſſen und Anſchauungen des Kulturmenſchen eine
unüberwindliche Schranke finden würde, daß ſie jedenfalls nichts
weniger als die ſoziale Harmonie und den ſozialen Frieden zu
ſchaffen vermöchte.
Was uns die thatſächliche Entwicklung der Kultur und des
Völkerlebens lehrt, enthält nun aber noch einen weiteren Wider—
ſpruch gegen die Normen, nach denen ſich die Rechtsordnung des
Vernunftſtaates geſtalten ſoll. Wir ſahen, daß es neben der Idee
einer machtvollen Vertretung des Staatsgedankens und des Sozial—
prinzips ganz beſonders die Idee der Arbeitsteilung iſt, aus welcher
Plato die Notwendigkeit einer unbedingten Trennung aller poli—
tiſchen und aller wirtſchaftlichen Thätigkeit gefolgert hat. Auch
dieſe Folgerung beruht auf der Überſpannung eines an ſich ja
durchaus berechtigten Grundgedankens.
So ſehr bei fortſchreitender Kultur mit der zunehmenden
Kompliziertheit der Verhältniſſe im ſtaatlichen Leben diejenigen Auf—
gaben das Übergewicht erhalten, bei denen die techniſche Kenntnis
der Sache entſcheidet und nicht die Volksüberzeugung, ſo ſehr man
alſo gerade mit Plato von den politiſchen Einrichtungen eine Bürg—
ſchaft dafür verlangen muß, daß in allen ſolchen Fragen in Regie—
rung und Verwaltung nur Sachverftändige die letzte Entſcheidung
462 Erſtes Buch. Hellas.
fällen, nicht minder bedeutſam tritt Doch gerade auf der Höhe der
Kultur das Bedürfnis und das Streben hervor, den für die Volfs-
wohlfahrt gefährlichen Konſequenzen einer übermäßigen Arbeits—
teilung entgegenzutreten. Und dieſes Streben bricht ſich Bahn
jelbjt auf die Gefahr hin, daß Fortſchritte der Arbeitsteilung wieder
rückgängig gemacht werden müſſen.
Während 3. B. Plato um des Brinzipes der Arbeitsteilung
willen die vein berufsmäßige DOrganifation der Wehrverfaſſung vor-
Ihlägt, hat dagegen die Neuzeit den entſchiedenſten Rückſchritt in
der Arbeitsteilung gemacht, indem fie zu dem Prinzip der allge
meinen Wehrpflicht zurückkehrte, in der Erkenntnis ſowohl ihrer
militärischen Bedeutung, wie ihres Wertes für die Erhaltung der
phyfischen und moralischen Gejundbeit des Volkes. — Plato ver-
langt im Intereſſe der Arbeitsteilung die ausschließliche politifche
Herrſchaft der Sachkenntnis, die Neuzeit ſetzt neben die Minifter
umd ihre Näte d. h. neben die Techniker und Fachleute ein Ab—
georonetenhaus, d. h. zum großen Teile Laien. Blato will, daß
der Schujter nichts als Schufter, der Landwirt nur Landwirt und
nicht auch Nichter ſei u. ſ. w., die Neuzeit jebt auf allen Gebieten
durch die Ausdehnung der lofalen Selbitverwaltung und der Ge—
Ihworenenjuftiz, durch unbezahlte Ehrenämter, durch Einführung von
Vertretungen neben den Beamten in Gemeinde und Staat die
Laien neben die Techniker. Und fie begeht alle dieſe Sünden gegen
die Arbeitsteilung, weil die Teilnahme am öffentlichen Leben ein
Gegengewicht gegen die fittliche und geiftige Verfümmerung von In—
dividuen und Klafjen bildet, weil fie im Intereſſe einer alljeitigeven
Erziehung der Nation und eines größeren Gleichgewichtes der Kräfte
unentbehrlich ift.!)
Das hat bereits der größte Gefchichtichreiber der Antike Elar
ausgejprochen, indem er es feinen Perikles als einen Nuhmestitel
des damaligen Athens verkünden läßt, daß bier ein und dieſelben
') Bgl. die schöne Ausführung Schmollers: Grundfragen ©. 127.
Dazu „Uber das Weſen der Arbeitsteilung a. a. O. ©. 65.
II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 463
Männer die Verwaltung öffentlicher Ämter mit privatwirtjchaftlicher
Thätigkeit vereinigten und auch das arbeitende Volk ein binläng-
liches DVerftändnis für öffentliche Dinge befiße.!) Allerdings wird
hier das Bejtehende von dem Redner der Demokratie idealifiert und
in ftarfer Überfhägung der Negierungsfähigfeit und der politifchen
Bildung der Mafjenmehrheit die Autonomie der Gejellichaft ebenfo
einjeitig verherrlicht, wie die philoſophiſchen Gegner der Demokratie
das entgegengejeßte Prinzip überjpannt haben, allein die Ueber:
treibung thut der allgemeinen dee, die der perikleischen Auffafjung
zu grunde liegt, feinen Abbruch. Dem in der menjchlichen Natur
jelbjt liegenden Bildungstriebe, wie den Lebensbedingungen des
Kulturjtaates wiverjpricht es in gleicher Weije, wenn das Denken
und Fühlen des Einzelnen durch die einjeitige Thätigkeit in feinem
befonderen Lebensberuf vollkommen abjorbiert und jo mehr oder
minder unempfänglich wird für alles, was jenjeitS der eigenen
Lebens und Intereſſenſphäre liegt. Die Bildungsgegenfäße, die
dadurch entjtehen, enthalten womöglich eine noch ſchlimmere joziale
Gefahr, als die Gegenſätze des Beliges. Sie durch möglichite
Hebung der Intelligenz und politiichen Bildung der unteren Klaffen zu
mildern, ift eine Hauptaufgabe aller fozialen Neform. —
Zu der rücjichtslofen Konſequenz, mit der Plato bei der Dr:
ganijation der Staatsgewalt den Grundjaß der Arbeitsteilung zur
Geltung bringt, fteht in eigentümlichem Widerſpruch das indivi-
duelle Lebensiveal, welches er für diejenigen aufitellt, denen ex
die StaatSgewalt anvertraut wiſſen will. Diejes Ideal des voll-
fommen barmonijch ausgebildeten, körperlich und geiltig vollendeten
Menjchen, das der philojophiiche Staatsmann Platos in feiner
Perſon verwirklicht, beruht auf einer Verfennung der Schranken,
in welche eben die Notwendigkeit der Arbeitsteilung das ſchwache
und Furzlebige Menjchenwefen gebannt hält. indem Plato in dem
Ideal jeines Staatsmannes die intenfivfte Kraft Tpefulativen Denkens
eines IT, 40: Erı Te rois avrois oixeiov Gun zei nokırızov
eriudheın zei Er£ooıs 005 Eoya Tergauusvors ta nolrxd wi) Evdews
yrovat.
464 Erites Buch. Hellas.
mit der Fülle des Fachwiſſens und praktiſcher Erfahrung vereinigt
denkt, häuft er auf Eine Perſon, was durch ſpezialiſierte Ausbil-
dung der Kräfte in jehr verjchiedenartigen Lebensberufen als das
Höchfte erreicht werden fan. In der Perſon des philojophijchen
Staatsmannes joll das Unmögliche möglich werden, in ihr ich
eine Summierung von Kräften verkörpern, die nur in unjeren Ge:
danken vollziehbar iſt. Dazu die piychologijche Unmwahrjcheinlichkeit,
daß ſich in denſelben Berjönlichfeiten öfters gerade die entgegen-
gefeßteften Gaben vereinigen werven: Das Talent zur augenblid:
lichen und doch zugleich volljtändigen Würdigung der Gegenwart,
zum ununterbrochenen „PBulsfühlen der Zeit”, das den Staatsmann
macht, und das jo wejentlich verjchiedene Talent der rein abjtraften
Spekulation!)
Yun iſt freilich die Inkonſequenz, der wir bier bei dem
eifrigen Berteidiger der Arbeitsteilung begegnen, pſychologiſch voll:
kommen begreiflich! Plato mußte dieſe Inkonſequenz begehen, wenn
er nicht von vorneherein auf die Verwirklichung feines Staatsiveals
verzichten wollte. Soll die Intelligenz und Leiftungsfähigfeit einer
Regierung all das aufwiegen, was Willen und Urteilsfraft aller
Übrigen etwa zur Löſung ihrer Aufgaben beitragen könnte, dann
muß man in der That von dem Einen oder den Wenigen, welche
dieſe Negierung darftellen, nichts geringeres verlangen, als daß fie
das Unmögliche möglich machen.
Man fieht, wie auf den abjtraften Höhen der begriffsmäßigen
Konftruftion, die alles auf möglichſt einfache Prinzipien zurüdführen
‚will, jelbft bei einem ſonſt durch Scharfe und feinſinnige Beobachtung
des Menfchenlebens und feiner Schwächen ausgezeichneten Denker
das Gefühl für die Unvollfommenheit alles Irdiſchen völlig verloren
gehen kann. Die der Wirklichkeit gegenüber jo oft befundete Schärfe
des Urteils verjagt dev Möglichkeit gegenüber gänzlich) und macht
1) Vol. die von Nofcher (Grundlagen der Nationalöfonomie $ 25)
hervorgehobene Ihatjache, daß gerade die genialften Staatsmänner — tie
Pitt von jich äußerte — weit mehr inftinftmäßig ihren Weg zu fühlen, als
ihn mit einer Klarheit, die ihn für andere bejchreiben könnte, zu ſehen pflegen.
IIT. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 465
der reinen Phantaſtik Platz. Wenn aber das Negenteniveal Blatos
em Phantom ift, wenn es nie ein Negierungsiyften geben wird,
deſſen leitenden Mittelpunkt eine „alles umfaſſende“ Vernunft bildet, !)
dann iſt auch das gefamte harmonische Lebensbild des Idealſtaates
eine Utopie. Wenn niemals eine Negierung im Stande jein wird,
den ganzen unendlich Fomplizierten Organismus der Gejellfchaft von
Einer Stelle aus jo zu leiten, daß innerhalb desjelben jedes einzelne
Glied völlig zu ſeinem Nechte kommt, daß mit dem Intereſſe ver
Geſammtheit zugleich jedes berechtigte Intereſſe und Bedürfnis der
Einzelnen befriedigt wird, dann ijt auch das ideale Verhältnis
zwilchen Negierenden und Negierten, wie es Plato durch die wahre
Staatsfunft verwirklicht denkt, eine Illuſion. Die zahlreichen Sn:
dividuen, welche ſich durch die rechtlich allmächtige, aber gegenüber
der Größe der ihr gejtellten Aufgabe ewig unzulängliche und irrtums—
fühige Negierung verhindert jehen würden, ihre Individualität fo
zur Geltung zu bringen, ſich jo zu entwiceln und auszuleben, wie
fie es nach ihren perjünlichen Anlagen und Kräften beanjpruchen
fönnten, alle die, welche bei der Unmöglichkeit der freien Berufs—
wahl durch ſolche DVerkennung gewaltfam in eine faljche Berufs—
und Lebensrichtung bineingezwungen würden, fie wären ebenfoviele
beredte Zeugen gegen ven Anfpruch des platonischen Staates, ein
eich vollfommener Gerechtigkeit, wahrer Freiheit und Gleichheit zu
jein. In dem Momente, wo man mit der Verwirklichung dieſes
Staates Ernſt machen wollte, würden auch die Kräfte wirkſam
werden, welche jeine beiten Intentionen in ihr Gegenteil verkehren
würden, fein Gerechtigkeitsiveal in drückend empfundene Ungerechtig-
feit, jein Freiheits- und Gleichheitsprinzip in Zwang und Ver—
gewaltigung. Statt eines lebendigen Organismus, der er nach der
Abficht jeines Urhebers fein follte, hätten wir das jeelenloje Räder—
werf einer Majchine vor uns. Das politiche Gebilde, welches als
!) Der voös, der Erri av 00% zei BAEreı, wie es Leg. 875d von
der Einficht des wahren Staatzmanns heißt. Vgl. Hoi. 301d4: EHeAsır zei
dvvarov eivar us dosıms zul Emiormjuns deyorra TE dixuue zai bci
diar£usıv 00905 nıaoıv.
Pohlmann, Geſch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus. TI. 30
466 Erſtes Buch. Hellas.
bloßes Mufterbild im Lichte idealer Verklärung ftrahlt, würde — in
den Staub des Irdiſchen herabgezogen — in der That zu jenem
Zerrbilde werden, welches die moderne Kritif aus dem platonijchen
Staat gemacht hat, indem fie ihn nicht darnach beurteilte, wie ev im
Geiſte feines Schöpfers lebte, jondern nach der Mißgejtalt, welche
ihm das wirkliche Leben geben wiirde.
Übrigens ift nicht bloß die Negierung, die alles fieht und
alles kann, das Erzeugnis eines ideologiſchen Dogmatismus, jondern
auch das Verhalten, welches Wlato ihr gegenüber von dem Re—
gierten erwartet. Welche Verkennung der Menjchennatur, zu glauben,
daß, wenn nur der wahre Herricher in der Welt erjchiene, alle
Herzen ihm zufliegen würden,!) daß in diefem Falle die indivi-
duellen Ideen des Einzelnen über das Gerechte hinreichen würden,
die Gemüter zu diefen Idealvorſtellungen zu befehren und uralte
Inſtitutionen durch Gebilde der abftraften Vernunft zu erſetzen,
troß der dabei unvermeidlichen Verlegung zahllojfer berechtigter In—
tereſſen und tiefgewurzelter Anſchauungen und Lebensgewohnheiten,
an denen nun einmal die ungeheure Mehrheit mit Leidenschaft zu
hängen pflegt! Als ob die alten Menjchen von heute unter vers
änderten Lebensbedingungen notwendig auch neue Menjchen werden
müßten! E3 ift verjelbe vulgäre Fehler, der bei den meiſten Uto—
piften wiederkehrt, daß fie den Menjchen nach dem beurteilen, was
fie jelbft in gleicher Lage empfinden und thun würden.
Allerdings hofft Plato einen Wandel in den Motiven menſch—
lichen Handelns gleichzeitig von der überzeugenden Macht der Belehrung,
welche von den philoſophiſchen Begründern des neuen Gemein—
wejens ausgehen ſoll. Allein auch dieſe Hoffnung it eine rein
utopifche. Sie beruht auf der Theorie von dem wohlverjtandenen
Intereſſe des Individuums, ſowie auf der platoniſchen Überſchätzung
von Erziehung und Belehrung, die zu den Atavismen aus der Auf-
flärungsepoche, aus der Sophiftenzeit gehört, ein Erbe, an dem das
platonische Denken reicher ift, als man ſich gewöhnlich vergegenwärtigt.
1) IIoA. 301d.
IT. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politera Platos. 467
Zwar hat fich gerade die Lehre vom wohlverjtandenen In—
terefje bis auf den heutigen Tag behauptet, von den ja auch der
Aufklärung entiprungenen Katechismen der franzöfiichen Nevolution
durch die Schule Benthams hindurch bis zu dem Syftem des ge
jellfehaftlichen Utilitarismus, welches in Iherings „Zweck im Necht“
zur Darjtellung kommt. Wie für Plato beruht auch für Fhering
die politifche Bildung des Individuums wejentlich auf dem „richtigen
Berftändnis der eigenen Intereſſen“, ſowie auf ver Erkenntnis, daß
„das eigene Wohlergehen bedingt it Durch das des Ganzen, und daß
man, indem man leßteres fördert, zugleich fein eigenes Intereſſe
fördert”, daß „die gemeinjamen Intereſſen zugleich die des Einzelnen
ſind.“) — Mlein man wird troß diefer bedeutſamen Nachfolge nicht
jagen fünnen, daß es gelungen ift, die Einwände gegen die theoretifche
Nichtigkeit und praftiiche Anwendbarkeit der Lehre zum Schweigen
zu bringen. Wer das Verhältnis zwiichen Individuum und Staat
auf eine jo einfache Formel zurüctühren zu können glaubt, wird
vor allem die Schwierigkeit, den Einzelnen für den Staat zu ge
winnen und zum joztalen Handeln zu erziehen, jehr leicht unter-
Ihäßen. Dies zeigt Sich Schon bei Plato. Er gibt ſich der Täufchung
bin, daß die einfache und klare Formel, in der er ſelbſt die Löſung
der Disharmonie zwiſchen individuellem und ftaatlichem Wollen ge-
funden zu haben glaubt, auch für alle Anderen oder wenigitens die
Mehrzahl faßbar und für ihr Handeln beftimmend jein werde.
Als ob es jo leicht wäre, jein eigenes Beſtes oder gar das der
Geſamtheit zu erkennen! Als ob fich überhaupt ein Standpunkt
objeftiver Beurteilung finden ließe für das, was der Wohlfahrt des
Einzelnen, dem „wohlverftandenen” Intereſſe entjpricht!
Wenn es aber feinen folchen abjoluten Maßſtab gibt, wie
ift da zu erwarten, daß fich der Einzelne bei der Entjceheidung
einer idealphilojophiichen Ethik beruhigen werde, die fein wahres
Intereſſe beifer zu verjtehen behauptet, als er ſelbſt? Wie läßt fich
') ©. diefen Cab don der Koinzidenz des öffentlichen und privaten
Intereſſes, der unmittelbar aus Plato entnommen fein könnte a. a. ©. I, 549,
52
2
dazu 553.
30*
A468 Grites Buch. Hellas.
z. B. der Sab von der Koinzivenz des Glückes und der Sittlichkeit,
welcher die Hauptgrundlage der platonischen Sozialphilojophie bildet,
für das individuelle Bewußtjein beweilen? Der berechnende Egois—
mus des Klugen und Starken wird immer Mittel Fennen oder zu
fennen glauben, welche ihn eine unfittliche Ausbeutung Anderer ge
ftatten, ohne daß fein individuelles Glüdsgefühl darunter leidet
oder gar dem Gefühl des Elends Bla macht. Schon Viele haben
in ſolchem Glück ein hohes Alter erreicht, ohne daß es ihnen irgend:
wie zum Bemwußtjein gefommen wäre, daß der Gejamtertrag ihres
Lebens an Glück duch ein wahrhaft fittliches und joziales Verhalten
wejentlich gefteigert worden wäre. Wer will ihnen beweifen, daß
fie ihr Spntereffe nicht wohl verftänden? Wer will dem Egoiften,
der die beglüdende Rückwirkung der Mitfreude und der Opfer:
willigfeit, der liebevollen Hingebung an die Mitmenschen und an
die großen Intereſſen der Gejamtheit gar nicht kennt, dasjenige
Maß von Wohlbefinden mit Erfolg abjtreiten, welches ex thatfächlich
zu befißen behauptet? Was will ihm gegenüber eine Aufforderung
zu angeblich Beſſerem, wenn er erklärt, ex ſei nun einmal jo be
jeheiven, daß er fih mit dem „geringeren“ Glüdsgrad begnüge?')
Was der Einzelne als Glück fühlt, it eben viel zu verjchiedenartig,
als daß es durch ein abjolutes Prinzip vegulierbar wäre. Wie naiv
it vollends der Glaube, die Menſchen ſelbſt davon überzeugen zu
fönnen, daß Für fie ſogar der Berzicht auf das Leben das Beſte
jei, wenn es duch unheilbare Krankheit oder Gebrechlichfeit „nutz—
los“ geworden, daß der Staat nur zu ihrem eigenen Glück fie
dahinfterben läßt und die Ärzte verbannt, die ihnen etwa dies nub-
(oje Leben zu friften wagen!
Nicht minder problematiſch ift die Hoffnung, daß die Idee
der Intereſſenſolidarität zwiſchen Individuum und Gelellichaft je—
mals ſo allgemein und ſo intenſiv das Handeln der Einzelnen be—
ſtimmen werde, wie es im Vernunftſtaat der Fall ſein ſoll. So
') Nach der einleuchtenden Bemerkung Schuppes gegen Ihering in
Schmollers Jahrb. 1882 1122: „Ethiſche Standpunkte. Dazu Schuppes
„Ethik“ passim.
III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 469
richtig es ift, daß das perfönliche Wohlergehen in hohem Grade
von der Gelamtwohlfahrt abhängt, daß das Wohlbefinden jedes
Einzelnen auf mancherlei Weile mit dem Wohlbefinden Aller ver
fnüpft ift, die präftabilierte Harmonie zwiſchen individuellen und
allgemeinem Intereſſe, zwischen dem Wohl des Einzelnen und dem
der Gejellichaft, wie fie die platonische Sozialtheorie vorausjegt,
iſt eine Abjtraftion, welche vor dem wirklichen Leben nicht bejtehen
kann, obgleich auch dieſe Theorie jeitden vielfach wiederholt worden
it.) Es ift eine Illuſion, wenn noch neuerdings Herbert Spencer
gemeint hat, die allgemeine Tendenz der gejchichtlichen Entwicklung
jtrebe bejtändig einem Zuftande entgegen, in welchem „beide Sn:
terejjen, die der einzelnen Bürger und die der Gejamtheit in Eins
verihmelzen und die den einen und den andern entiprechenden
Gefühle zu vollfommener Übereinftimmung gelangen.“ 2)
Wenn Blato für die Opfer, welche der Einzelne der Gemein:
Ichaft bringt, demjelben gleichzeitig eine individuelle Lebensförderung
duch den Staat in Ausficht jtellt, welche die in der Hingabe an
die Gemeinschaft liegende indiviouelle Lebensopferung mehr oder
minder aufwiegt, jo ignoriert er, daß diefe Ausgleichung doch nur
für das abjtrafte Individuum gilt, während das Fonfrete ſehr
wohl einen jolchen Erſatz nicht finden und ganz und gar zum Opfer
fallen faın. Bon einer Identität des Intereſſes der Gejamtheit
und ver Einzelnen kann eben nur injoferne die Nede fein, als man
unter leßteren den Durchſchnitt verjteht, nicht dieſes oder jenes be-
jtimmte Individuum. Zwiſchen diefem Einzelnen und der Geſamt—
beit fann ſehr wohl ein jcharfer Intereſſengegenſatz entſtehen, eine
Thatſache, die ja Plato ſelbſt unmillfürlich anerkennt, indem ex fich
die befannten Wendungen aneignet, daß das Intereſſe des Einzelnen
) Sch jehe Hier eine gewiſſe Ideenverwandtſchaft ſelbſt mit Ricardo,
Adam Smith und Malthus, deren Anfichten über die präftabilierte Harmonie
zwijchen dem Wohl des Ginzelnen und der Gejellichaft, über die Wirkſamkeit
des „wohlverftandenen” Selbjtinterejjes faum weniger optimiftiich find, als
die entjprechenden platontjchen.
2) Thatjachen der Ethik. D. U. ©. 263.
470 Erſtes Buch. Hellas.
fih dem Ganzen unteroronen müſſe, daß die wahre Staatskunft
nicht einjertig den Nugen des Einzelnen, ſondern das allgemeine Wohl
im Auge habe, daß hetzteres dem erjteren vorangehen müſſe, und was
dergleichen Hußerungen mehr find, aus denen Klar hervorgeht, daß
die Nechnung bezüglich der Intereſſenharmonie eben doch nicht ohne
Bruch aufgeht.
Übrigens ift auch Platos eigenes Vertrauen auf die tiber:
zeugende Kraft der ganzen Lehre jo wenig ein unbedingtes, daß er
zur Stüße derjelben und „um die Bürger geneigter zu machen, für
den Staat und für einander Sorge zu tragen“,') noch ein anderes
und zwar ſehr bedenkliches Hilfsmittel heranziehen zu müſſen glaubt,
nämlich „zwecmäßige Täuſchungen“, wie fie ihm die Neligion und
der Mythus an die Hand gab.?)
Zwar ift es an und für fich ja durchaus Fonfequent, wenn
Plato, um von der Wahrheit feines Staatsideals zu Überzeugen,
zulegt an den Glauben appelliert. Die oberſten Prinzipien der
Spzialphilofophie find wie die aller Philoſophie Ariome, die als
jolche feinen exakten wiljenfchaftlichen Beweis, jondern nur ein ſub—
jeftives Fürwahrhalten zulaffen. Jede Anficht über den Zweck des
Staates, über die Zwecke feiner Glieder und ihr Verhältnis zum
Staatsganzen ift mehr oder minder Glaubensjache, worüber fich am
wenigiten die moderne Staatswiljenichaft täufchen kann.) Und
wenn auch Plato perfönlich überzeugt war, feinen Staatsbegriff voll:
kommen hinreichend begründet zu haben, jo hat er doch injoferne
inftinktiv das Nichtige gefühlt, al3 ex die Notwendigkeit anerkannte,
denjelben nicht bloß der Maſſe, Jondern womöglich auch dem Höchit-
jtehenden eben zugleich als einen Glaubensbegriff nahe zu bringen.
) 415d: aA xei ToVto .... EU dv &yoı no0S To ucAAov auroug
ts nokews te zul dAkmAwv xmdeodeaı,
2) 414b: Tis av ovVv nuw, nv d’ €/0, unyarn yvoro tov
vevdw@v TWv Ev dEovriı yıyvou£vwv, Wr dn viv EAEyousv, YyErvaiov
zu Ev aevdousvovg reioaı ucdhore uEv al auroüg org doyorıes, ei de
un, ınv aAAnv nodıy;
) Das hat neuerdings befonders treffend hervorgehoben Dietzel: Rod:
bertus II, 214.
u
III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 471
Allein To folgerichtig das war, nichts könnte doch die innere
Schwäche der Grundlagen, auf denen fich das harmonische Lebens-
bild des Idealſtaates aufbaut, klarer darthun, als gerade diefe Be-
rufung auf die religiöje Sanftion, die ihr Urheber jelbit als eine
„Lüge“ anerkennen muß und die er nur durch echt Tophiftiiche
Argumentation zu rechtfertigen vermag.!) Es ift als ob Plato jelber
empfunden babe, wie wenig das Gefühl der „Brüderlichkeit“, von
vem die Volksgenoſſen feines Staates für einander erfüllt ſein ſollen,
den thatjächlichen Volksinſtinkten, der niederen ebenfo, wie der
höheren Schichten, entjpricht, wenn er es für notwendig hielt, dies
Gefühl durch ein Märchen hevvorzurufen.
Die Erfahrungen der Neuzeit haben wahrlich zur Genüge
gezeigt, daß von den drei Grumdforderungen des doftrinären Demo—
fratismus, der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Feine weniger in
dem inftinftiven Bedürfnis des Volkes wurzelt, als die dee der
„Brüderlichkeit“. In den aus der Kargheit der Natur ewig neu
ſich gebärenden und zugleich für die Vervollkommnung des Menfchen-
geſchlechtes unentbehrlichen Wettbewerb um den Lebensbedarf, in
dent furchtbaren Kampf um das Dafein, der unaufhörlich die
Schwachen durch Elend, Hunger, Siechtum dahinvafft, unter jolchen
naturgegebenen Lebensbedingungen, welche den Kampf geradezu
verewigen und immer von neuem Sieger und Beſiegte ſchaffen, ift
die Idee der allgemeinen Berbrüderung ein Phantom.
Allerdings glaubt Plato, diefen Kampf durch die Berwirk
lihung jeiner radikalen Neformpläne auf den Gebiete des Eigen-
tums= und Cherechtes, durch „Beleitigung von Armut und Reich—
tum“, wenn nicht ganz aus der Welt zu jchaffen, jo doch feiner
gefährlichiten Wirkungen zu entkleiven. Allein jo jehr wir die
Energie des fittlichen Idealismus bewundern mögen, mit der Diele
Spzialphilojophie bemüht ift, in den Kampf der Gejellichaft den
Frieden, in ihre jelbjtlüchtige Zerfahrenheit den Gemeinfinn und die
Harmonie hineinzutragen, nicht minder augenfällig iſt es, daß Platos
ee bie ganz den Geift der Sophijtif atmende Ausführung über die
Zuläffigfeit dev Täujchung und tendenziöjen Legendendichtung 382c F.
472 Erſtes Buch. Hellas.
praktische Vorſchläge zur Erreichung dieſes Zieles ebenjo utopiſch
und überſpannt find, wie das Ziel ſelbſt, daß die Aufhebung von
Eigentum, Ehe u. ſ. w. niemals jene Wandlung in dem fittlichen
Empfinden und Handeln der Menjchen herbeiführen würden, vie
Plato von ihnen erhofft hat.
Auch it es eine Illuſion zu glauben, daß auf diefem oder
irgend einem anderen Wege die Gefühle, welche in dem Familien—
zuſammenhange wurzeln, ſich jemals auf die große politiiche Ge:
meinjchaft übertragen laſſen würden, und dieſe dadurd auf ein
Marimum von Zulammenschluß und Kraft gebracht werden könne.
Die weiteften Bande find nicht immer die fefteften!!) Die ftetige
Beziehung zu einer großen weiten Gemeinjchaft kann zwar dazu
beitragen, den Einzelnen über einen engherzigen Egoismus empor:
zubeben. Allein abgejehen von jenen höchſten Gebieten, auf denen
die Energie der Arbeit in idealen Antrieben wurzelt, wird in der
Regel das joziale Bewußtjein um jo ſchwächer, die Gleichgültigkeit
um jo größer, je umfafjender der joziale Kreis ift, für den und in
dem ſich der Einzelne zu bethätigen hat. Die menjchliche Natur
und die menschlichen Verhältniſſe find eben in vieler Hinficht jo
angelegt, daß das Individuum, wenn jeine Beziehungen eine gewille
Größe des Umfanges überjchreiten, um jo mehr auf ich Jelbft
zurückgewieſen wird.?) Schon Ariftoteles hat gegen den platonijcheu
Idealſtaat den Einwand erhoben, daß ex ich ſelbſt Schwäche, indem
er das ſtarke Intereſſe für das Eigene und Einzelne durch das un—
aleich ſchwächere für die Gemeinschaft erjege. Je mehr etwas Vielen
gemeinjant jet, dejto weniger Sorgen mache ſich darum der Einzelne.
Ein platonijcher Bürger, der gleichſam taujend Söhne hätte, würde
id nicht etwa um alle gleich viel, ſondern um alle gleich wenig
fümmern.?) Beſſer ein wirklicher Vetter jemands zu jein, als auf
) r de ein heißt nicht: Alle lieben, fondern: den Nächten Lieben
wie jich ſelbſt.“ Ziegler: Soziale Frage ©. 103.
2) Bgl. die Beobachtungen von Simmel: Über foziafe Differenzierung
©. 61 ff.
3) Bol. II, 1, 10. 1261b: 7xıora yao Enıuelsias Tuyyaveı 10 nkei-
II. 2. 5. Zur gefchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 475
platonijche Weife jein Sohn! Die Freundichaft und Liebe würde
durch eine derartige Gemeinjchaft nur verwäſſert werden, wie ein
wenig Süßigkeit unter viel Waſſer gegoffen wirkungslos wird. !)
So große Fortichritte daher auch Die joziale Schulung der
Völker in der Zukunft noch machen mag, — und wer wollte an
der Möglichkeit ſolchen Fortichrittes verzweifeln! — jene vollfom-
mene ımd allgemeine Gefühlsgemeinjchaft von Luft und Leid, die
Zufammenjchmelzung alles individuellen zu Einem jozialen Leben
it eine pſychologiſche Unmöglichkeit, — wenn auch diefer Traum
immer wieder von neuen geträumt werden wird.?)
Aus alledem gebt zur Genüge hervor, daß die von dem Ideal—
ſtaat verheißene Koinzivenz des Individual- und des Sozialprinzipes,
von Individualismus und Sozialismus eine leere Abjtraktion it
und niemals zur Wirklichkeit werden wird.
Solange der erbarmungsloje Mechanismus der Naturordnung
unzähliges organiſches Leben ſchafft, das nur dazu da jcheint, um
von anderen verbraucht und wieder vernichtet zu werden, jolange
wird auch der Mechanismus der Gejellichaft, der bis zu einem ge
willen Grade ja ebenfalls Naturordnung ift, unzählige Menſchen—
leben verbrauchen, die der harte Zwang der Notwendigkeit nie zur
vollen Entfaltung deſſen fommen läßt, was an Keimen zu einer
höheren Entwicklung in ihnen liegt. Solange die Eriftenz einer
zahlreichen dienenden und mehr oder minder hart arbeitenden Maſſe
eine Naturnotwendigkeit ift, — und Plato erkennt diejelbe ja ſchon
durch die Zulafjung der Sklaverei an, — jolange wird auch einem
beträchtlichen Bruchteil des Volkes, vielleicht der Mehrheit, Die
orov zxoıvov' TWOv yco ldiwv udkıore poovrilovoiv, tov de xowov nrrov,
n 000» &xdorw Enıßahhsı zra.
TE. 1,17. 1262.
2) Man vgl. z. B., was ein platontichen Anjchauungen jonft jo ferne
jtehender Schriffteller wie Herbert Spencer in Bezug auf die Vertiefung und
Erweiterung des Mitgefühls, auf die „Umprägung und Umgeftaltung des
Menſchen und der Gejellichaft zu gegenjeitigem Zuſammenſtimmen“ in der
Zufunft für möglid Hält. A. a. O. ©. 263 ff.
474 Erſtes Buch. Hellas.
Möglichkeit einer höheren Ausbildung feiner menjchlichen Fähigkeiten
und Anlagen fehlen. Er wird ſich in der Hauptſache damit be-
gnügen müſſen, der Minderheit bei der Ausbildung ihrer Anlagen
bebilflih zu jem.!) Die Bervollfommung der gejellfchaftlichen
Drganifation, die Berallgemeinerung und Vertiefung des jozialen
Pflichtgefühls, welches jeden Menjchen als jolchen zugleich als Selbſt—
zwecd anerkennt, wird diefe Opfer qualitativ und quantitativ ver:
ringern und auch die Entwiclungsfähigfeit der Maffen im Ganzen,
wie die Möglichkeit zum Emporfommen des Einzelnen bedeutend
ſteigern können, aber all das bat doch gewiſſe in der Natur der
Dinge liegende Grenzen, welche menjchliche Kraft nicht zu beſei—
tigen vermag. ES ift ein utopischer Gedanke, eine Drganijation
des menjchlichen Arbeitslebens finden zu wollen, welche im Stande
wäre, jedem Einzelnen die Entwicdlung feiner Anlagen und Die
Stellung im Organismus des Staates und der Gefellichaft zu ver:
bürgen, welche diefen Anlagen entjpricht. Selbjt die jorgfältige
Überwachung der Jugend im platonifchen Staate würde nicht ver-
hindern können, daß zahlreiche Talente in der Werkſtatt und hinter
dem Pfluge unerkannt oder infolge mangelnder Verwendbarkeit uns
entwidelt bleiben würden.
Plato löſt die Aufgabe nicht, jondern umgeht fie, indem er
eine Theorie von der Vererblichkeit der Anlagen und Talente auf:
ftellt, die — wenn fie richtig wäre — das ganze Problem aller:
dings wefentlich vereinfachen wide. Er nimmt an, daß bei allen
Berufsftänden die Anlagen der Kinder größtenteils denen der Väter
entjprechen: daß, wie der Sohn des Beamten und Soldaten, jo
auch der des Bauern, des Handwerfers und Handarbeiters in den
meilten Fällen ſchon durch die anererbte Anlage wieder zum Berufe
des Vaters fürmlich prädeftiniert, alfo ſchon durch eine von Ge:
burt an einfeitige Begabung zum Verzicht auf jede andere Stel
ung gezwungen fei, als die, in welche er hineingeboren.?) Nicht
') Das Wird man der „realiftiichen” Stantslehre zugeben müſſen.
©. Gumplomwit: Nechtsjtaat und Sozialismus ©. 500.
2) 415b.
II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 475
die Geſellſchaft iſt 8, die den Einzelnen zum unvollftändigen Men-
chen herabdrückt, jondern er wird ſchon als jolcher geboren.
Man braucht nur diefe naturgegebene Thatlache dadurch dem
allgemeinen Volfsbewußtjein nahe zu bringen, daß man fte in die
Form des Mythus Eleivet, des Märchens von der Berjchiedenartig-
feit der Menfchenfeelen, von denen der eimen Gold, der anderen
Silber, der anderen Erz und Eiſen beigemijcht ift,!) — und Die
öffentliche Meinung ift für den Glauben gewonnen, daß die Stel-
lung des Einzelnen in der Gefellichaft eine naturrechtlich begründete,
ja daß fie das Werk des perjonifizierten VBaterlandes ſelbſt iſt, das
jeine Kinder bei der Bildung aus feiner Erde jo verichieden be-
dacht hat. Auf Solche Weile ift es allerdings leicht, ein Bild der
Gejellichaft zu Eonitruieren, in welchen jich alles in Harmonie und
Gleichgewicht befindet! Und doch! ift etwa der Irrtum des mo—
dernen Liberalismus geringer, wenn er dasjelbe ideale Ergebnis von
dem Syſtem der freien Konkurrenz erhoffte, von dem ja auch nichts
Geringeres zu erwarten jein follte, als daß jeder Einzelne diejenige
hohe oder niedere Staffel auf der ſozialen Leiter finden werde,
welche ihm gerechterweife — als verdient oder verjchuldet durch
jeine Individualität — gebühre?
So führt jeder Verfuch, die Idee eines abjolut guten Staates
in Eonfreter Anſchauung auszuführen, immer wieder zu demjelben
Reſultate. Ste erweiſt ſich — um mit Kant zu reden — als eine
transjcendentale Idee, d. h. als ein Begriff, zu dem eine kongru—
ievende Wirklichkeit in der ſinnlichen Welt nicht gegeben werden
kann. Was wäre auch ein Staat, der alle feine Aufgaben gelöft
hat! Er würde fich ſelbſt aufheben, weil es in ihm für menjch-
liches Streben feinen Inhalt und fein Problem mehr gäbe. Alles
menschliche Streben jet die Möglichkeit eines weiteren Fortichrittes
') 415a. Cine Theorie, die allerdings nicht willfürlicher ift, als ge:
wiſſe Hypothejen des modernen Sozialismus 3. B. von Yourier über das
harmonische Wechjelverhältuis zwiichen der Summe der Berufsarten, welche
die Gejellichaft bedarf, und der Summe der einzelnen VBeranlagungen, welche
die Natur in die Gejamtheit der Menjchen legte.
476 Erſtes Buch. Hellas.
und der Fortſchritt die ewige Wandelbarkeit und Umbildungsfähig—
keit aller menſchlichen Dinge voraus. Der vollkommene Staat, der
nur als ein ſtationäres Non plus ultra gedacht werden kann,
negiert dies alles und damit ſeine eigene Ausführbarkeit.
Wir haben übrigens keinen Grund, auf die idealiſtiſche Sozial—
philoſophie Platos herabzuſehen, weil fie dieſe einfachen Wahrheiten
verkannt hat. Der Zauber des Gedankens, der hier vorliegt, iſt
ein ſo mächtiger, daß er bis auf den heutigen Tag die Geiſter
immer wieder gefangen genommen bat. Selbſt unſer ,„hiſtoriſches“
Jahrhundert hat es erlebt, daß Männer, die mitten in der moder—
nen ſozialökonomiſchen Forſchung jtanden, in Platos Irrtum zurück
gefallen find.
„Ich blickte vorwärts — jagt Stuart Mil — in ein zu:
fünftiges Zeitalter, deſſen Anſchauungen und Einrichtungen jo feſt—
gegrümpdet auf Vernunft und die wahren Anforderungen des Lebens
jein würden, daß fie niemals wieder gleich allen früheren und gegen:
wärtigen religiöfen, ethiſchen und politischen Meinungen umgeftoßen
und durch andere erſetzt werden Fünnten.“') Und ähnlich äußert
ſich Laveleye in dem prophetijchen Ausblid am Ende feines Buches
über das Ureigentum: „ES gibt eine Ordnung der menschlichen
Dinge, welche die beſte iſt . . . Gott kennt fie und will fie. Der
Mensch muß fie entdecken und einführen.”
Daß ſolche Rückfälle in platonische Anſchauungen noch immer
möglich ind, fteht in eigentümlichem Kontraſt zu den Wandlungen,
welche das platonifche Denken jelbjt auf dieſem Gebiete erfahren
hat. Eine Sinnesänderung, die Plato bekanntlich dazu führte, wenn
ne nicht grumdjäglich, jo doch thatjächlich auf die Verwirklichung
des abſolut guten Staates zu verzichten, jich mit dem Ideal einer
bloß relativ beiten d. h. mit den derzeitigen Dafeinsbedingungen
der Menjchheit vereinbaren Staats: und Gejellichaftsordnung zu
begnügen.
) Autobiographie ©. 166.
III. 3.1. Der plat. Geſetzesſtaat nach }. geich. u. piychol. Borausjegungen. 477
Dritter Abjchnitt.
Der „zweitbejte” Staat Platos.
1%
Geldudtliche und pfyhologifhe Vorausfeßungen.
Wie wir ſahen, war nad Platos Anficht eine radikale Ne-
form von Staat und Gejelliehaft nur auf dem Wege des Abſolu—
tismus zu erwarten. Trotz der vernichtenden Kritik, welche er
in der Bolitie an der Tyrannis geübt, it er gleich den meiſten
Doktrinären — man denfe nur an Rouſſeau und St. Simon, an
Laflalle und Nodbertus! — in gewiſſem Sinne Anhänger des
Cäſarismus, — vorausgejegt, daß fich derjelbe zum Träger jeiner
Speale macht.) „Gebt mir einen Staat, — heißt es noch in
jeinem legten Werfe — der von einem abjoluten Fürsten beherrſcht
wird. Der Fürft aber ſei in jugendlichem Alter, mit gutem Ge—
dächtnis und leichter Faſſungsgabe ausgerüftet, unerichroden und
edelgeſinnt; dazu füge es ein glüclicher Zufall, daß er unter feinen
Zeitgenojjen einen Mann als Berater findet, der zum Gejeßgeber
berufen ift. Dann fann man jagen: Gott hat jo ziemlich alles
gethan, was er thun muß, wenn er einem Staat eine außer:
gewöhnlich glückliche Zukunft bereiten will.) Jedenfalls iſt kaum
ein jehnellever und bejjerer Weg denkbar, auf dem der Staat in
den Beſitz einer Verfaſſung gelangen könnte, welche ihm dauerndes
Glück verbürgt.” 3)
Es ift gewiß fein zufälliges Zufammentreffen, daß in der
jelben Zeit, wo in der joztalpolitiichen Theorie die Monarchie jo
bedeutjam in den Vordergrund tritt, eben die Monarchie für die
helleniſche Welt eine jtetig jteigende Bedeutung erhielt. Während
') Vgl. Rep. 499. Dazu oben ©. 416.
2) Leg. 710d.
3) 710b: Tevımv Toivvv mulv 6 TVoRVVoS Tv pVoıw EyEtw ntoös
Exeivaus TaIs pvosoıw, &ı uehhsı nokıs WS duvarov Eotı TayIoTa zai LOLOT«
oyıjsew nokıreiaev, ıv haßovoa eidaıuoveotara diaseı . Iarrwv ydo tavıns
zei aueivorv nohreies dicHeoıs oVT Eorıv OUT’ dv note yevorto,
478 Erſtes Buch. Hellas.
fi im Norden die Erhebung des mafedonischen Königtums vor-
bereitete und in Hellas ſelbſt die Tyrannis wieder ihr Haupt zu
erheben begann, war der größte Teil des hellenifchen Weftens
durch die gewaltige Hand des erjten Dionys zu Einem Neiche
verſchmolzen worden, deſſen Beftand ſelbſt durch den Übergang
der Negierung auf einen jungen unerprobten Nachfolger nicht mehr
in Frage geftellt werden konnte. Welch eine Ausficht, wenn dieſe
ſtarke Monarchie der Sehnſucht der edeljten Geifter nach einer
machtoollen Darftellung des Staatsgedanfens verjtändnisvoll ent-
gegenfam, wenn fie ihre Aufgabe im Sinne jenes jozialen König:
tums erfaljen lernte, wie es eben die Staatslehre des vierten Jahr—
hunderts als eines ihrer politifchen Ideale proflamiert hat!!) Eine
Ausficht, auf deren Verwirklichung man übrigens um jo mehr
hoffen durfte, als mit der Thronbejteigung des jüngeren Dionys
eine Konftellation eintrat, welche in überrafchender Weile alle die
Borausjegungen zu enthalten jchien, von denen Plato felbjt eine
mehr oder minder weitgehende Verwirklichung jeiner Ideen erwartete.
Auf dem Throne des mächtigsten Hellenenftaates ein jugend-
licher Fürft, deſſen lebhafter und empfänglicher Geijt bei richtiger
Leitung einer höheren Auffaſſung feiner Stellung feineswegs un:
zugänglich ſchien, — ihm zur Seite einer der hervorragendfteu
Staatsmänner der Zeit, Dion, der ganz von dem Geifte der Aka—
demie erfüllt und ein Bewunderer ihres Meifters, für Plato als
der geborene Geſetzgeber erjcheinen mußte, und beide, — der Fürft,
wie fein Minifter — einig in dem Wunſch, den gefeierten Denker
jelbft in ihre unmittelbare Nähe zu ziehen, einig auch, wie es
wenigftens den Anfchein hatte, in dem Wunſch, daß in feiner Unter:
weilung der fürftliche Jüngling fich zum wahren Staatsmann bilde!
Iſt 68 zu verwundern, daß Blato, als der Nuf nad) Syrakus
an ihn herantrat, fich demfelben nicht verfagt hat? Er fonnte in
') Vgl. die Bemerkungen Platos im Mosır. 302 und 296 f. über die
Monarchie, ſowie des Arifloteles über das „wahre Königtum“ ala eine Schub:
wehr gegen die Klaſſenherrſchaft IIT, 5, 2. 1279a. — VIII, 8, 6. 1311a. —
MSIE:
11.3.1. Der plat. Gejegesitaat nach 5. geſch. n. pſychol. Borausfegungen. 479
diefer Einladung von jeinem Standpunkte aus nur einen jener
„glücklichen Zufälle” erkennen, von denen er ſelbſt im „Staate“
anerkennt, daß fie dem Philoſophen die Notwendigkeit auferlegen,
ſich in den Dienft des Staates zu ftellen, er mag wollen oder nicht.)
Wie weit allerdings die Hoffnungen gingen, mit denen er
nad Syrakus Fam, das läßt fih bei dem apogryphen Charafter
unferer Überlieferung nicht mehr quellenmäßig feftitellen. Zwar
wird allen Ernftes berichtet, er habe vom Fürften Land und Leute
erbeten, um mit ihnen den Verſuch zu einer Verwirklichung des
Idealſtaates jelbjt zu machen, und Dionys habe ihm auch die Er-
füllung diefer Bitte in Ausficht geftellt.2) Allein wenn dabei auch
von der richtigen Borausfegung ausgegangen wird, daß in dem
damaligen Sizilien, wo jo manche Hellenengemeinde verödet und
in Trümmern lag, die Möglichkeit zu Neugrimdungen reichlich
vorhanden war, jo it Doch die Nachricht ſelbſt allzu jchlecht be—
glaubigt. Nur jo viel wird man fiher annehmen dürfen: Plato
muß mit großen Erwartungen, mit weitausfehenden Plänen ge-
kommen jein. Denn wie hätte ex fich ſonſt entjchloffen, das be-
glücdende Dafein im Haine der Akademie, die behagliche Stille der
Schule im SKreife bewundernder Schüler aus allen Teilen der
Hellenenwelt mit dem jehlüpfrigen Boden und geräufchvollen Treiben
eines Tyrannenhofes zu vertaufchen?
Ein jo großes perjönliches Dpfer wird nur dann verjtänd-
ih, wenn er in der That überzeugt war, daß der junge Fürft
feinen Spealen ein hohes Maß von Empfänglichkeit entgegen-
bringen werde. Was aber eine ſolche Überzeugung gerade bei
einem Plato zu bedeuten hatte, das wird uns klar, wenn wir ums
') Rep 599b. In dieſer Beziehung hat der Bf. des fiebenten pſeudo—
platonifchen Briefes die Situation richtig beurteilt, wenn er Dion die Be—
rufung Platos mit den Worten motivieren läßt: rivas Ydo zuıooVs uelLovs
NEOLUEVOVUEV TOV vov TaQayEYovorwv Heie Tri TUN; 327 e.
?) Diog. Laert. III, 21: Jevreoov no0S vewreoov re Atovvorov
aitov yıv zul ardownovs ToVS zarte Tıv nokıreiav aurod Imsoufvovs' 6 de
zaineo VnooyÖuervos 00% Ertoimoer.
480 Erſtes Buch. Hellas.
den umverwüftlichen Optimismus vergegenwärtigen, mit dem er
bis zulegt den Glauben an eimen wahrhaft Wunder wirkenden
Einfluß machtvoller Berjönlichkeiten feftgehalten bat.
Noch in den „Geſetzen“ äußert er die Anficht, daß das,
wovon das Schicjal aller großen jozialen und politiihen Um—
geftaltungen abhängt, die fittliche Erneuerung des Volkes, für einen
unumſchränkten Monarchen durchaus Feiner bejonderen Anftren-
gungen, ja nicht einmal jehr langer Zeit bedürfe.) Wenn er nur
ſelbſt zuerft den Weg betritt, auf den er die Bürger binleiteu
will, und durch jeinen eigenen Vorgang in allem Thun und
Handeln das Mufter aufitellt, indem er zugleich darauf bedacht ift,
daß denen, die dem Beiſpiel folgen, Lob und Ehre, allen Wider:
Itrebenden aber für jede verpönte Handlung Tadel und Schande
zu teil wird! 2) Wen ſolche Überredungsmittel und ſolche Macht
zu Gebote jtünden, dem würden die anderen Bürger in Bälde
nachfolgen.?) Glücklich der Staat unter ſolch' vorbildlicher Herricher:
leitung; fie wird für ihn die Urheberin taufendfältigen, ja alles
denkbaren Guten,*) fie eröffnet den Pfad zur „beiten Verfaſſung
und den beiten Gejeten.“ >)
Dieſe Anſchaungsweiſe läßt ein helles Licht auf das Ziel
fallen, welches Plato vorſchwebte, als er den Boden Siziliens be
trat. Auf dem Thron von Syrafus jollte ſich ohne Zweifel die
erjehnte Sneinsbildung der politischen Macht mit der Philoſophie
vollziehen, der an dem jchöpferischen Geiſt des Denkers herange—
bildete philoſophiſche Herrjcher alsdann die Erhebung der Gefell-
') 711b: oudev der novwr ovVdE tıvos aunoAkov Xoovov TO TVodvro
ustaßakeiv Bovinderrı noAews 747‘ Togeveoder dE aurov dei noWrov
tevrn, Onnneo dv EFehnjon, Edv TE NOOS EEETNS Eritndevuare NOoTgENEOHeL
Toüs nolites £dv TE Eni ToVvevtiov, aUTOV NOWTOV NEVTE BNOYO«porta
TO nodrreıv, TE uv Eneivoirre zei Tiuovre, TE Ö’ au Eos Woyor
ayovre, xal Tov w) neıdousvor arıudlovra za9° Exaotas tov noasewr.
) Ebd.
Te:
end:
Sl.
IIT. 3.1. Der plat. Geſetzesſtaat nach ſ. geich. u. pfychol. Borausjegungen. 481
ichaft zu einer höheren Sittlichkeit, die Ausbreitung der von der
Doktrin verfündeten jozialethiichen Grundwahrheiten, die Samm—
lung des duch ſchroffe innere Gegenfäße geipaltenen Volkes unter
dem Zeichen der ethifchen Neform in feine Hand nehmen und fo
die Möglichkeit gewinnen für den Ausbau einer neuen, bejjeren
Drdnung des Staates und der Gefellichaft.!)
Se erhabener die Aufgabe war, die hier der Monarchie zu:
gedacht wurde, um jo jchmerzlicher mußte die Enttäufcehung fein,
wenn der Träger der Gewalt, mit welcher dem reformatoriſchen
Eifer jo Großes erreichbar ſchien, all diefe Hoffnungen zu nichte
machte.
Wie gründlich die Enttäufchung gerade bei Dionys war, ift
befannt. Es iſt — bei aller zur Schau getragenen äußeren Ver:
ehrung für Plato — kaum ein jchärferer Kontrast denkbar, als
der, welcher zwijchen den Soealen der Akademie und dem Thun
und Denken des Tyrannen zu Tage trat, ſowie derjelbe die Zeit
für gekommen bielt, ſich in jeiner wahren Geftalt zu zeigen. Mit
erſchreckender Deutlichkeit fiel hier am Tyrannenhofe gerade das
ins Auge, was Plato bei dem Aufbau feines Staatsideals nur
ungenügend gewürdigt hatte: die furchtbare Verſuchung, welche bei
der Schwäche der menschlichen Natur in dem Beliß einer unbe
ſchränkten Gewalt liegt. — Hatte damals der Gedanke, daß mur
mit Hilfe einer jolchen Gewalt das erjehnte deal zu verwirklichen
jei, jede andere Erwägung ſiegreich zurüdgedrängt, jo mußte fich
jeßt unter dem Eindrucke unmittelbarfter perjönlicher Erfahrung die
nüchterne Erwägung der Thatlache auforängen, daß dieſelbe Ge
walt, welche das Ideal jchaffen kann, zugleich ihrer ganzen Stellung
nach fürmlich darauf angelegt erſcheint, in ihrem Träger die Eigen-
Ichaften zu ertöten, deren er für jeine ideale Aufgabe am meiften
bedürfte.
1) Auch der Verf. des genannten Briefes (328b0 und 3366) hat —
ſei es auf Grund guter Überlieferung oder der angeführten Auberungen
Platos — jolche Hoffnungen bei diefem angenommen.
Pöhlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus T. 31
489 Erſtes Buch. Hellas.
Es lieft fich wie ein elegischer Rückblick auf die befannten
Geſchicke Dionys des Zweiten und feines DVerhältnifjes zu Dion,
wenn es in den „Gejegen” heißt: „ES gibt feine fterbliche Seele,
die jung und in unverantwortlicher Machtftellung ſtark genug wäre,
die höchſte Gewalt unter den Menjchen zu ertragen, ohne von Un—
vernunft ergriffen und dadurch ſelbſt den nächiten Freunden ver:
haft zu werden, was dann die unvermeidliche Folge hat, daß ver
Herricher in Furzer Zeit zu Grunde gerichtet und jeine ganze Macht
zerjtört wird. !)
Bor allem fieht der greife Plato durch den Befit der abjo-
(uten Gewalt das gefährdet, was ihm als eine der fundamentalften
Tugenden des Bürgers erjcheint, nämlich die Fähigkeit, die richtige
Stellung zu finden zu dem Intereſſe des Ganzen. Wenn es für
den Einzelnen an ſich ſchon ſchwer genug jei, fi) davon zu über:
zeugen, daß die Staatsfunft nicht einfeitig den Nutzen des Indivi—
duums, jondern das Wohl der Gejamtheit im Auge haben müffe,
und daß die Verwirklichung dieſes Prinzipes auch feinem eigenen
Intereſſe am beten entipricht, jo würde am wenigjten der unume
ſchränkte und unverantwortliche Herrſcher fich ſtark genug erweiſen,
diefer Überzeugung Zeit feines Lebens treu zu bleiben und vor
allem anderen ftetS das allgemeine Beſte zu fördern, ihm das eigene
Sonderintereffe unter allen Umständen nachzuftellen. Die Schwäche
der Menfchennatur wird ihn vielmehr nur zu leicht verführen, den
Antrieben ver Selbſtſucht und der Begierde zu folgen, jtatt den
Forderungen der Gerechtigkeit; immer größere Finfternis wird ſich
über jeine Seele breiten, und jo zuleßt äußerftes Unheil auf ihn
jelbjt und den ganzen Staat ſich häufen.
Die Verfuhungen des Abjolutismus erjcheinen jetzt Plato
al3 jo überwältigende, daß dadurch jogar die Grundanficht feiner
Ethik, der Glaube an die ethiiche Bedeutung des Wiſſens und die
Unfreiwilligfeit der Sünde einigermaßen ins Wanfen gerät. Er
macht jebt das bedeutſame Zugeftändnis, daß ſelbſt von demjenigen,
1) 691e.
II. 3.1. Der plat. Gejeßesftaat nach ſ. geſch. u. piychol. Borausfegungen. 483
der auf dem Wege der „Kunſt“ d. h. der philofophifchen Ethik
und Staatslehre zur Klaren Erkenntnis des naturgemäßen Verhäl-
niſſes zwilchen Individuum und Staat durchgedrungen, auf Die
Dauer faum ein diefer Erkenntnis entiprechendes Verhalten zu er-
hoffen jei, wenn ihm eine Macht zu teil werde, die feine Schranfe
fennt. Die Ideale, mit denen ſich fein Geift erfüllt hat, (zaAoi
Ev Wovyn Aoyoı Evovres) würden ihn nicht hindern, ihnen in allen
Stüden zuwiderzubandeln!!) Das Gegenteil würde -eine fittliche
Größe vorausjegen, die äußert jelten, ja vielleicht nirgends zu
finden jei.2) Jedenfalls wäre es als eine bejondere göttliche Fü-
gung zu betrachten, wenn einmal ein Menſch von jolcher Seelen-
jtärfe geboren würde.?)
So iſt es nicht minder als die Unwiſſenheit, die Willens:
ihwäche der menschlichen Natur,t) welche die Theorie bei ihrem
Kalkül in Rechnung zu Stellen hat; und Plato zögert nicht, auch
hier die volle Konjequenz jeines Gedankenganges zu ziehen. Sit der
beſte Staat nur unter der Vorausſetzung zu verwirklichen, daß die
größte Macht ſich mit (dev größten) Weisheit und Bejonnenheit
in ein und derjelben Perſon vereinigt,5) jo erſcheint jegt für Plato
angefichts der thatlächlichen Lage der Dinge der Gedanke an das
Eintreten diefer Möglichkeit nahezu ausſichtslos. Ex gibt zu, daß
fein Gejeßgeber e8 wagen darf, der Negierung eines Staates eine
) 875h: Eav dpa zei TO yrvovai tıs, HTı Taita ovTw regpvxrs, Aapy
ixevos Ev TEYVN, Erd dE ToVTo dyvnsvdvvos TE zul QUTOXO«TWO doEN
NOAEWS, 00% dv note duvarro Euusivaı tovrw to doyuarı za dießtiovav
10 uev xowor myolusvor toEpwr Ev ın noAeı, 10 dE idiov Enousvov Two
zowo, daR Ei nAeoveiiev za Ödiomgeyiav 7) Hrn pioıs aurov bgumoeı
dei, Yevyovoa ucv aloyws Tv Avnmv, diwzovoe dE ımv ndorıjv, tod de
dizauoreoov TE zwi ausivovog EriN0009Ev CUPW TOVTW TTOOOTNOETLI, zul
6x0T05 ansoyalouevn Ev aim narıwv zerov Eunhmoeı no0s To tedos
aiııv TE zei ımv nokıv oAnv. Bol. 689e.
2) S75d: 00 ydo Eotıv ovdauuod ovdauns, dA 7 zerd BoayV,
:) 875e.
4) 734b.
>), 712.
484 Erſtes Bud. Hellas.
jo diskretionäre Gewalt anzuvertrauen, wie er ſie für die Herrſchaft
der Intelligenz im Idealſtaat gefordert hatte.)
Aber auch da, wo die furchtbare Verſuchung des Allmachts-
gefühles nicht in Frage kommt, urteilt er jetzt ungleich nüchterner,
refignierter. Seine Hoffnungen in Beziehung auf das, was der
Menfchennatur überhaupt zugemutet werden darf, ericheinen außer
ordentlich herabgeftimmt. Wie tief muß der greife Denker vie
dämonische Macht der Selbftjucht empfunden haben, „des größten
den Seelen der meisten Menſchen eingebovenen Üebels,“ wenn er
ihon das als einen für den menschlichen Geiſt Schwer faßlichen
Gedanken bezeichnet, daß der Staat nicht einfeitig zur Förderung
individueller Intereſſen, ſondern für das Wohl der Gejamtheit da
jei. Und wie jchwierig vollends erjcheint ihm jeßt der Verſuch, den
Einzelnen für den ungleich) weniger einleuchtenden Gedanken zu
gewinnen, daß eine präftabilierte Harmonie zwijchen dem mwohlver:
ftandenen Einzelinterefje und dem der Gejamtheit beitehe, daß der
Einzelne daher am beiten für fich ſelbſt Jorge, wenn er zugleich
für das allgemeine Wohl forgt! —2) Eine Überzeugung, von
der doch notwendig die große Mehrzahl der Bürger lebendig er
griffen jein muß, wenn nicht die Intereſſengemeinſchaft und Inter:
ejjenharmonie im Sinne des Idealſtaates von vorneherein ein
Phantom jein joll.
Aber jelbft da, wo es gelingt, den Einzelnen in vernunft-
gemäßer Weiſe aufzuklären über das, was zu feinem eigenen Beſten
und dem des Staates dient, drängen ſich dem greifen Plato die
ſchwerſten Bedenken und Zweifel auf. Wird der zur richtigen
1) 693h: ov dei ueydhas dogs oVd’ av duiztovs vouodereir.
2) ST5a: ... picıs evdoWnwv ovdevös ixavn gVereı Worte yrvorai
TE TG ee darHoWnois Eis Tohreiev zul yvovoa To Behriotov dei
Övvaodai TE za EIEAEIV TORTTEIV ., yvovaı usv Ydo NOWTov KahEenov, OTL
nohırızn zul aAmIEl Teyvn ov TO idiov dAAd TO xoıwor avayan uekeıy, —
To uev yao xoıwov Evrdst To dE idiov diese Tas noAsıs, -— xal ori Evu-
PEgeı TO xowo TE xal idw ToIw augolv, 7v TO xowov tıImtar zaAws,
uckkov n co idıorv,
11.3.1. Der plat. Geſetzesſtaat nach ſ. geich. u. pſychol. Borausjegungen. 485
Einficht Gelangte auch ſtets die Kraft und den Willen haben, feine
richtige Erkenntnis im Leben zu bethätigen? Auch diefer Frage
fteht der Plato der Gejege ungleich ſkeptiſcher gegenüber, als der
ver Bolitie.')
Kein Wunder, daß fein Glaube an die Möglichkeit einer jo
vollfommenen Ausgleichung des Individual- und Sozialprinzipes,
wie fie der Idealſtaat verwirklichen jollte, auf das tieffte erſchüttert
it. Der Staat, in dem der Glaube an die Harmonie aller wahren
Intereſſen die denkbar innigite, jelbjt auf Ehe und Eigentum ver:
zichtende Lebensgemeinjchaft erzeugt, ein jolcher Staat ift jegt für
ihn in der That zur Utopie geworden, an deren Verwirklichung
wenigjtens in der damaligen Welt nicht zu denken war. Nur
Götter und „Götterföhne”, meint ev in den „Geſetzen“, würden
die Güter-, Frauen: und Sindergemeinjchaft des beiten Staates
vertragen können.?)
Durch den Verzicht auf den Kommunismus werden nun
aber auch die Hoffnungen hinfällig, welche Plato auf die ethischen
und jozialpolitiichen Wirkungen kommuniſtiſcher Inſtitutionen ſetzte.
Wurde der individuelle Beſitz und die Individualwirtſchaft von
Plato für die damalige Menjchheit als unvermeidliche Grundlage
ver gejellfehaftlichen Drdnung anerfannt, jo war auch die Unmög—
lichkeit zugeftanden, eine ganze Gejellichaftsklaffe von dem Getriebe
der wirtjchaftlichen Intereſſen vollfommen loszulöfen und der Staats-
idee eine jo ideale und über den gelellichaftlichen Intereſſenkampf
jo völlig erhabene Vertretung zu ſchaffen, wie fie die Hüterklaffe
des beiten Staates daritellte. Ein Verzicht, der dann Plato natur:
gemäß zu weiteren tiefgreifenden Konſequenzen in Beziehung auf
die ganze Gejtaltung des jtaatlichen Lebens führen mußte.
Erſchien es — jo wie die Dinge einmal lagen — als un:
abweisbare Notwendigkeit, die Verwaltung und Gejeßgebung des
Staates in die Hände von Individuen zu legen, die durch ihr
) Bgl. die zulegt angeführte Stelle.
2) 7394. Über den Sinn des Ausdrucks „Götter und Götterſöhne“
ſ. unten.
486 Erſtes Buch. Hellas.
Eigentum, jei es Grund- oder Kapitalbefig, immerhin mit dem
wirtschaftlichen Spntereffengetriebe verknüpft waren, jo trat an die
politifche Theorie, wenn fie nicht von vorneherein an einer wenig:
ftens velativ befriedigenden Verwirklichung ihrer Ziele verzweifeht
wollte, eine neue wichtige Aufgabe heran.
Sie ſah fi durch die Konjequenz ihres allgemeinen Stand:
punktes zu der Frage gedrängt: Wie läßt ſich der Spielraum, den
das ökonomiſche Selbftinterefje im Leben der zu politiichen Funk:
tionen berufenen Volkselemente einnimmt und damit die Gefähr-
dung der etbiichen Ziele der ftaatlichen Gemeinfchaft durch vie öko—
nomifche Selbftjucht auf ein möglichit geringes Maß reduzieren?
Die Antwort darauf lautet ebenjo einfach, wie vadifal: Die
Grundlage aller politifchen Berechtigung muß derjenige Beruf
werden, der den Menschen nach Platos Anficht ') am wenigften
an der harmonischen Ausbildung von Leib und Seele hindert, der
Landbau. Die bürgerliche Geſellſchaft des relativ beiten Staates
kann nur eine aderbauende fein. Nachdem es einmal als unver:
meidlich anerfannt war, daß alle Bürger zugleich „Haus und
Landwirte” 2) jeien, jo follte der Druck der wirtjchaftlichen Inter—
effen auf den Staat wenigjtens dadurch möglichſt abgeichwächt
werden, daß man diejenigen Gebiete, auf denen ſich der wirtjchaft-
liche Intereſſenkampf intenfiv und extenſiv am meiſten geltend
machte, Handel und Gewerbe, zu völliger Bedeutungslofigkeit herab-
drückte, ja die ganze Handel und Gewerbe treibende Klaſſe außer:
halb der ftaatlichen Gemeinschaft ſtellte.
Der Idealſtaat hatte auch die Angehörigen dieſer Klafje
als Bürger anzuerkennen vermocht. Dank dem jtrahlenden Bor:
bild jeiner philofophiichen Negenten und dank jeinen gemeinwirt-
ihaftlicden Inſtitutionen nach Platos Anficht zur denkbar günjtigiten
Einwirkung auf das Gemütsleben aller Klafjen befähigt, hatte dieſer
Staat auch in allen Klaffen diejenige Geſinnung erzeugen zu
) ©. oben ©. 218.
>) Was der beſte Staat um jeden Preis hatte vermeiden wollen. ©.
II. 3.1. Der plat. Gejeßesftaat nach ſ. geſch. u. piychol. Vorausſetzungen. 487
können geglaubt, welche im Intereſſe eines harmonischen Zuſammen—
lebens, eines wahrhaft befriedigenden Wechjelverhältniffes der Stände
erforderlich jchien. Er hatte feinen Beruf von der ftaatlichen
Gemeinschaft auszuſchließen gebraucht. Anders lag die Sache,
wenn die erzieheriiche Kraft jenes idealen VBernunftsregimentes und
entwicelter gemeinwirtjchaftlicher Spnititutionen in Wegfall Fam.
War ohne fie bei den der fittlihen Verſuchung am meiften aus:
gejeßten Elementen des Volkes auf jenen Grad von Einficht und
Selbitzucht zu rechnen, ohne welchen die auch jet noch als unent-
behrlich geforderte harmoniſche Uebereinjtimmung der Bürger über
die höchjten Ziele jtaatlichen Lebens von vorneherein unmöglich war?
Blato verneint in den „Geſetzen“ dieſe Frage unbedingt und
zieht dann eben daraus mit ver ganzen rückſichtsloſen Folgerichtigkeit,
die ihm eigen war, den Schluß, daß die genannten Elemente aus
der politischen Gemeinſchaft mit den übrigen ausfcheiven müßten.
Die Berwirklihung des ſchönen Traumes von einem alle Teile des
Volkes beglüdenden Gemeinweſen it in nebelhafte Ferne gerückt.
In der rauhen Wirklichkeit der beitehenden Welt erſcheint ihm der
Glückszweck des Staates nur noch Für diejenigen Glemente des
Volkes realifterbar, welche dazu ganz bejondere Vorausſetzungen
mitbringen. Der Gewerbsmann und Lohnarbeiter, den im deal:
ſtaat auch die Höchititehenden wie einen Bruder lieben und als
ihren Ernährer in Ehren halten jollen, vermag nach der Anficht
der „Geſetze“ dieſen Borausfeßungen nicht zu entiprechen und muß
lid in eine abjolute Unterordnung unter die Zwecke jener bevor-
zugten VBolfsfreife fügen. ine unüberjchreitbare Scheivelinie, wie
fie der Idealſtaat — abgejehen von dem Inſtitut der Sklaverei —
nicht gekannt hatte, trennt hier auch den reiten vom Freien. Was
in der Bolitie Scharf verurteilt und als ein Symptom des Ver—
falles des Idealſtaates bezeichnet worden war, — Die Herab—
drückung der wirtichaftenden Klaſſen in ein Beiſaſſen- und Unter:
thanenverhältnis!) — wird hier wenigitens für einen Teil derjelben
geradezu gefordert.
!) Rep. 547b, wo e3 von den „Hütern“ heiht: Buadousvov de zai
458 Erſtes Buch. Hellas.
So jehen wir aus dem ftoßen Bau eines idealen Staates
einen Stein nach dem andern herausgebrochen, DIS das ganze Ge—
bäude von der Hand des Meifters ſelbſt zertrümmert am Boden liegt.
Man begreift, wenn dem Greis, der ſich zu ſolchem Zerftö-
rungswerk verurteilt Jah, quälende Gedanken an die Nichtigkeit und
Vergeblichkeit wdischen Thuns auffteigen, wenn er fich fragt, ob die
menjchlichen Dinge überhaupt eines großen und ernſten Strebens
wert jein,!) und von den Menſchen als von „Eintagsgeichöpfen”
und von „Drabtpuppen” jpricht, von denen man nicht wiſſe, ob
fie von den Göttern bloß zu deren Spielzeug oder wirklich zu einem
ernfteren Zweck geſchaffen worden ſeien.?)
Doch war Plato nicht der Mann, um die mächtigen refor—
matoriſchen Impulſe ſeines Geiſtes durch ſolche Stimmungen lähmen
zu laſſen. An derſelben Stelle, wo er erklärt, daß die menſchlichen
Dinge eines eifrigen Strebens unwert ſeien, und daß dasſelbe jeden—
falls nichts Beglückendes für uns habe, erkennt er an, daß ein
ſolches Streben gleichwohl eine Notwendigkeit ſei, der wir uns nicht
entziehen dürfen.?, Auch geht Plato in der Reſignation keineswegs
joweit, daß er nun jein Staatsiveal als ein für die praftiiche Ge-
ftaltung der Dinge abjolut beveutungslojes Spiel der Phantaſie
einfach zu den Toten geworfen hätte. Im Gegenteil! Die Glut
jeines veformatorischen Eifers iſt jo wenig exlojchen, daß ex ich
auch jest noch nicht genug thun kann in der begeifterten Schilve-
rung der Herrlichkeit und Glücheligkeit eines Gemeinwejens, in dem
der Einzelne nichts mehr bejigt, was ihm allein zu eigen ift, wo ſogar
das, was ihm die Natur zum unmittelbariten Befigtum verliehen,
dvrırsivovtov ahlmkoıs, Eis uEoov WuoAoynoav ynv uEv zai olxias Kata-
veıuausvovs (diwoaodet, Toüg de ıoiv puvharrousvovs in’ avrov Ws Ehev-
HEoovs pikovg TE xai ToopEas dovAwoduesvoı Tore NEQLolXoUg
TE xal olxetas EyXovrss avrol nol£uov TE zul pvhaans aurov Ertt-
uereiodeı. Und dazu vergl. die Bejtimmung der „Geſetze“ 920a: weroızor
eivaı XoEWv n EEvov, Os dv uElAn xanınkevosır.
!) Leg. 803b.
2) 923a, 644d.
>) 803h: avayxalov ye umv onovdabeır,
nn re
11.3.1. Der plat. Gejeßesftaat nach ſ. geſch. u. pſychol. Borausfeßungen. 489
durch die Einheit von Wollen und Handeln zum Gemeingut wird,
wo alle Augen, Ohren und Hände nur in Gemeinjchaft jehen, hören,
handeln, wo alle Herzen durch ein und dasjelbe zu Freud und Leid
geſtimmt, zu Lob und Tadel bewegt worden!!)
Auch glaubt Plato, wie wir jahen, ſelbſt jeßt noch an die
Möglichkeit einer wahrhaft Wunder wirkenden Neformthätigkeit in
dieſer Nichtung, wenn fich nur der gewaltige veformatorische Genius
dazu finden würde. Und jo jehr jeine Hoffnung auf das Kommen
eines ſolchen Erlöſers gejunfen it, etwas abjolut Undenkbares
it es ihm doch auch jest noch nicht. Durch eine außerordentliche
„göttliche Fügung“ könne es immerhin geichehen, daß einmal eine
wahrhaft philojophiiche Herrſchernatur in diefer Welt ericheine.?)
Wenn er daher auch an einer früheren Stelle einmal den
ivealen Kommunismus des Bernunftitaates und Dielen Staat ſelbſt
eine Einrichtung „Für Götter und SS nennt, jo kann ex
denjelben damit doch nicht als ein Ideal bingeftellt haben, das
menjchlichem Streben und menschlicher Kraft für immer entrückt
it. Denn wie könnte er ſonſt an jene Möglichkeit überhaupt noch
gedacht haben? „Götter und Götterföhne” kann bier nur eine
ſprichwörtliche Wendung fein zum Ausdruck eines Ideales perjün-
licher Vollkommenheit, auf deſſen Verwirklichung Plato zwar bei
der gegenwärtigen Bejchaffenheit des Menſchengeſchlechtes verzichtete,
das er aber damit doch nicht Ichlehthin für unerreichbar er—
Eläven wollte.) Sagt ev doch ſelbſt von jenem idealen Kommunis—
mus nur jo viel, daß derjelbe für das „jebige“ Menſchengeſchlecht
und das „jebt“ erreichte Niveau yittlicher und geitiger Kultur zu
—
2?) 875cd.
>) In diefer Hinficht ftimme ich mit Steinhart (Platons Werke VII
[1] 210) überein, jo wenig ich dejjen Anficht teile, daß die genannte Bezeich:
nung des DVernunftitaats feine jtärferen Zweifel an deſſen Ausführbarfeit
befunde, als gewiſſe Stellen der Politeia ſelbſt (3. B. 592ab). Damit ift
der Abjtand zwiſchen dem optimiftischen Grundzug der Politeia und der Ne:
fignation der „Geſetze“ völlig verfannt.
490 Erſtes Buch. Hellas.
hohe Anforderungen ſtellt,)) womit doch unzweideutig genug vie
Möglichkeit einer Erhöhung des Typus Menſch und einer Steige:
rung jeiner Fähigkeit zur Befriedigung Jolcher Anforderungen immer
noch offen gelafjen wird.2) Und es findet ſich in der That in dem—
jelben Zufammenhang eine Wendung, welche die Verwirklichung
jenes Kommunismus in der Zukunft ausdrüdlich als eine mögliche
und denkbare Gventualität behandelt.?)
Doch ſei dem wie ihm wolle, Thatjache iſt jedenfalls, daß
Plato grundfäglich wenigſtens an dem Staatsideal der Politie bis
suleßt feitgehalten hat. Er hat zwar erkannt, daß es auf unab-
jehbare Zeit hinaus auf Flugfand bauen hieße, wenn man inter
den bisher gegebenen Verhältniffen des menschlichen Dajeins an die
Aufführung jenes kühnen Baues denken wollte. Trotzdem it ihm
das Spealbild des Vernunftſtaates allezeit der Leititern geblieben,
der allein den rechten Weg durch das Labyrinth; der großen Pro—
bleme des Staates und der Geſellſchaft zeigen fan. Der Ideal—
ftaat bleibt nach wie vor die vegulierende Norm, das mujftergültige
Vorbild für alle Bolitif. Dieſes Vorbild hat jeder praftiiche Staats—
mann feft im Auge zu behalten und joweit, als es die Unvoll-
kommenheit der menſchlichen Dinge irgend zuläßt, die Wirklichkeit
nach ihm zu gejtalten.*)
Sm diefem Sinne hat Plato no am Ende jeines Lebens
') 740a: ned) 10 ToıTtov weißov N xere Tv vürv yEveoıv xail
Toopyv zei neidevow elonrat.
2) Eujemihl (Genet. Entw. d. plat. Philof. II 622) glaubt allerdings,
diefe Auffaſſung jei unmöglich angefichts der Bemerkung Platos (853e), daß
der Entwurf des Gejeßesftaates auch auf das Kriminalrecht eingehen müſſe,
weil derjelbe nicht für „Heroen, für Götterfühne, jondern für Menſchen“
Sejebe gebe. — Allein eine Antitheje zum Vernunftſtaat ift doc) hier gewiß
nicht beabfichtigt! Denn auch der Vernunftftaat ift keineswegs jo göttergleich,
daß ex der Strafjuftiz völlig entbehren fünnte.
q >) 739e, wo es von dem Kommunismus des Idealſtaates heißt: Tovz’
oVv Elite nov vor Eorıv Eid’ Eotai notre zu,
9) 739e: dio di) negadeıyud ys nokıreiag 00% dhlm XoN oxoneiv,
ah Eyousvovs Tavıns Tv 5 Tu udhore vor@vryv Inteiv xard dvvauır.
III. 3. 2. Die jozialölon. Grundlagen des platon. Gejeßesitaates. 491
in den „Geſetzen“ das Bild eines „zweitbeiten” Staates entworfen,
der zwar den Forderungen des realen Lebens mehr angepaßt it,
aber doch andererjeitS dieſe Forderungen mit den Grundgedanken
der Politie möglichſt auszugleichen ſucht.
2.
Die Fozinlökonomifden Grundlagen des Geſehesſtaafes.
Den Standpunkt des greiſen Plato, der an den Idealen jeiner
Mannesjahre zwar grundjäglich feſthält, jedoch einen Glauben an
die Umbildungsfähigkeit menjchlicher Zuftände bedeutend berabge-
ſtimmt bat, könnte nichts beſſer charakterifieren, als die Erörterung
der „Geſetze“ über die Art und Weile, wie überhaupt die Umge—
jtaltung der beftehenden Staats: und Geſellſchaftsordnung im Sinne
idealer Anforderungen praktiſch durchführbar fei.
Wir jahen, mit welch’ naivem Optimismus ſich der Entwurf
des Soealjtaates über den Gedanken an die gewaltige jozialöfono-
miſche Revolution hinweggeſetzt hatte, die auf den Trümmern der
alten Geſellſchaft Raum für einen völligen Neubau jchaffen jollte.
Wie verhältnismäßig leicht und einfach hatte-es ji) Plato damals
gedacht, die Einwohner eines ganzen Staates, wenn auch nur eines
Kleinen Stadtjtaates unter ganz andere Lebens und Wirtſchaftsbe—
dingungen zu verlegen und dadurch nach allen Seiten bin zugleich
andere Menjchen aus ihnen zu machen! !) Sm den „Sejegen“ ur—
teilt ex über die Möglichkeit einer ſolchen Umwälzung weit nüch-
terner. Er bat erkannt, daß es ein Gejeß der hiſtoriſchen Kon—
tinuität im Völkerleben gibt, das es verbietet, ohne weiteres in
einen DVernichtungsfampf mit den bis dahin wirkſamen hiſtoriſchen
Kräften einzutreten. Er vergegenwärtigt fich jest ſehr lebhaft die
Schwierigkeiten, mit denen der Gejeßgeber zu kämpfen hat, der im
Intereſſe einer wiünjchenswerten Ausgleichung der Beſitzverhältniſſe
fich genötigt fieht, tiefer in die bejtehende Eigentumsordnung ein-
zugreifen. Sobald e3 jemand wagen würde, „an jo etwas auch
1) ©. oben ©. 419.
492 Erſtes Buch. Hellas.
nur zu rühren“, würde ihm von allen Seiten der Vorwurf ins
Geficht geichleudert werden, daß er an Dingen rüttle, die unantaft-
bar jeien. Wollte er vollends zur unbedingt notwendigen Neu—
regulierung des Grumdeigentums und Kaffterung von Schulden
jehreiten, jo werde er unter der Wucht der allgemeinen Verwün—
ſchungen in eine jehr bedenkliche Lage geraten.)
Ja Plato geht joweit, angefichts dieſes unausbleiblichen hef—
tigen Widerftandes auf ein raſches und vadifales Vorgehen in der
Frage der Jozialen Neform überhaupt zu verzichten. Eine umfaſſen—
dere Neform der Gefellfehaft jei zwar nicht möglich, ohne den Streit
um Yandaufteilung und Schuldenerlaß anzufachen, doch dürfe Fein
Staat wagen, es auf diefen „Fucchtbaren und gefährlichen Kampf“
ankommen zu laſſen.) Auch die Emanzipation des weiblichen Ge—
jchlechts, ohne welche ſich Plato eine radikale Geſellſchaftsreform
nicht denken kann, würde auf unüberwindliche Schwierigkeiten ſtoßen.
„Sewohnt in Verborgenheit und Dunkel zu leben“, würden die
Frauen jelber dem, der fie „mit Gewalt ans Licht ziehen wollte”,
allen erdenklichen Widerſtand entgegenjegen und gewiß in dieſem
Kampfe Sieger bleiben. >)
Der Staat, welcher die realen Berhältniffe würdigt, muß ſich
daher, wenn nicht mit frommen Wünjchen, jo doch jedenfalls mit
einem ſehr allmäbhlichen und behutiamen Fortſchritt begnügen, bei
dem man in langer Zeit nur um ein Geringes vorwärts fommt. Und
auch Jo hängt das Gelingen noch von bejonvders günjtigen Um:
ftänden ab. Es muß nämlich diejenige Gefellfchaftsflaffe, auf deren
Koſten allein die joziale Neform möglich ift, und welche derjelben
Dpfer zu bringen hat, es müſſen vor allem die Bejigenden für Die
Sache des jozialen Fortfehritts gewonnen fein. Nur dann, jagt
1) 684e.
?) Bgl. die Bemerkung über die yrs zei yoswov anoxonns zei vouns
negı deiwnv zei Enızivdvvor vouosereloder dvayxaodeion
’ av ziveiv dvvarov
un = > n =’ “ 2 — J
noÄgı TWv doyeiov oiTE Edv olov TE «zivmtov ovr
— —
Eoti tive toonov T36d.
3) 781e.
111. 3. 2. Die jozialöton. Grundlagen des platon. Geſetzesſtaates. 493
Nato, wird die Neform Erfolg haben, wenn diejenigen fich zum
Träger derjelben machen, welche jelbjt viel Grundbeſitz oder viele
Schuldner haben und zugleich bereit find, mit dem Armen groß-
herzig zu teilen, d. h. Schulden zu erlaſſen und Ackerland abzu:
treten.!) Und eine jolche Dpferfähigkeit iſt wiederum nicht denkbar
ohne eine Wandlung der fittlichen Anſchauungen über das, was
im Berhältnis der verjchiedenen jozialen Klaſſen das Nechte, „Das
Gerechte” jei. Jeder große Fortichritt in der Geftaltung des Wirt-
ſchaftslebens wird ſtets zugleich ein Sieg ſittlicher Ideen fein müſſen,
das Ergebnis eines geläuterten Sittlichfeits: und Gerechtigfeitsge-
fühles, durch welches allein der Widerftand des geborenen Gegners
aller Reform, des wirtichaftlichen Egoismus, gebrochen werden
fann.2) Ar Stelle der feine Grenzen fennenden Gewinnjucht muß
das Freimwilligsfihgenügenzlafen an einem gewiſſen Mittelmaß von
Gütern treten, die Überzeugung, daß nicht jede Verminderung
des Beſitzes Verarmung bedeutet, wohl aber jede Zunahme der
Unerfättlichfeit.?) Erſt wo dieſe Gejinnung fi eingebürgert hat,
kann man jagen, daß ein wirklich guter Anfang zur Rettung des
Staates gemacht ift, daß das feite uud fichere Fundament gelegt ift,
auf dem fich ein Neubau von Staat und Gejellichaft aufführen läßt.')
Wo dagegen der moralifche Fortichritt ausbleibt, da ift jede weitere
jozialpolitifche Neformarbeit eine mehr oder minder vergebliche.?)
') ib.: 7 de (sc. uere@ßaoıs) TOv zıwovvrwv dei xexztmusvov uev av
- > Pl} c ” * x N > [4 c ar n 4
Tov yıv dpsovov Urdoyei, zexrnuevov dE zai ogpeıkerag autois nokkovs,
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uEv dpievras, TE dE veuouevovg.
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) 737a: eiojodo dn vür, orı die ToVv un gYıhoygnuareiv were
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4) 736e: FWwrngles TE Yo «oy:) usyiorn nokews avın yiyveraı zei
Eni Tavıns olov zonntdos uoviuov Erroızodousiv duvarov, Ovtiva dv voTEgorv
¬xodoun TIS x00uov ToAlTızov TIQOONKOPTE TN TOLMÜTN KUTaoTdoeı.
5) 737a: tevıms de oadoas ovons Ts uetaßdoews 00% EUTIO00S 9)
UETE TaVT« mnosırızı) noakıs ovdeud yiyvorı av nokeı,
494 Erſtes Buch. Hellas.
Kann man die Machtlofigkeit einer Gefebgebung, die fremd
und unvermittelt einem Volk oder einer Zeit aufgezwungen wird,
unumwundener anerfennen? Kann man entjchiedener die Notwendig—
feit betonen, überall an das Beitehende anzuknüpfen, es Schritt für
Schritt umzubilden, zu reformieren und zu bejjern?
Von einer gewaltſamen revolutionären Umwälzung, von einer
„dramatiſchen Löſung“, wie fie die Politie zur Ausführung des
Staatsideals vorgefchlagen, fann unter jolchen Umständen feine
Rede mehr fein. Und wenn auch Plato nicht darauf verzichtet, der
Welt noch ein zweites Mal das Mufterbild eines Staates vor
Augen zu Stellen, — der Gedanke, auch nur diefen zweitbeiten Staat
ohne weiteres auf dem Boden der gegebenen Zuftände verwirklichen
zu können, fällt für ihn von vorneherein weg.
Nun ift aber freilich Plato noch immer viel zu ſehr Spealift
und Doktrinär, um fich mit der völlig unficheren Möglichkeit zu be
gnügen, daß die Nation auf jenem langjamen, für die Ungeduld
des Neformeifers allzu langſamen Wege der Evolution in ideale
Zuftände bineinwachjen werde. Er will nicht umſonſt der harten
Wirklichkeit Konzeffionen gemacht haben, er will wenigjtens für die
relativ vollfommenen Zuftände, die ihm in diefer unvollfommenen
Wirklichkeit noch erreichbar ericheinen, die Möglichkeit einer raſcheren
und leichteren Verwirklichung gewinnen.
Das führt ihn auf einen Weg, der jeitvem von dem Sozia-
(ismus theoretifch und praktifch immer wieder von neuem betreten
worden iſt. Wenn nämlich die Zukunftsbilder einer glüclicheren
Gemeinschaft keinen genügenden Widerhall in der Gefelljchaft finden,
wenn fich Diefelbe nicht durch einen plöglichen Umſturz zu einer
jolchen Gemeinjchaft umwandeln läßt, jo ſoll der Welt gezeigt
werden, was ferne von dem materiellen und fittlichen Elend der
beitehenden Gejellichaft auf dem Wege des freiwilligen Erperiments
ein Verein von Männern zu leiten vermag, die für das große
Werk ver fozialen Erlöfung gewonnen und zu den nötigen Opfern
bereit find. Wie in der Neuzeit Eabet ferne von der Verderbnis
der gealterten europäischen Kultur fein Ikarien ins Werk zu jeßen
IM. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des platon. Gejeßesitaates. 495
fuchte, wie Hertfas „Freiland“ im Innern des dunklen Exdteils
eritehen ſoll, jo denkt fich Plato den zweitbeiten Staat in Geftalt
einer Kolonie verwirklicht, die ferne von dem großen Getriebe des
helleniſchen Verkehrslebens an einer für die Zwecke dieſes Staates
bejonders günftig gelegenen und ausgeftatteten Erdenſtelle begründet
werden Toll.
Plato ſieht fich durch diefen Ausweg mit einem Schlag von
all’ den Hindernifjen befreit, welche fih im Nahmen des Beftehen-
den feinen Idealen entgegenftellten. Dex Gejeßgeber, der ſich außer:
halb diejes Nahmens befindet, entgeht eben damit „jenem beftigiten
aller Vorwürfe” und den furchtbaren Gefahren jener Kämpfe, welche
die Erjehütterung einer felteingewurzelten Eigentumsordnung ent-
felleln würde. Er fteht auf neuem Boden, wo ihn fein ererbtes
Necht und Geſetz behindert. Eine ähnliche glückliche Lage, wie die,
in welcher ſich die Gründer und Gejeggeber der peloponnefischen
Dorerjtaaten, „vie Kolonien der Herakliden“, befunden hätten, als
fie ihr Gemeinwejen auf der Grundlage weitgehender Beſitzesgleich—
heit einvichteten.!)
Freilich taucht dafür eine Schwierigkeit auf, welche nad)
Platos Anficht im bejtehenden Staat in diefem Grade nicht vor:
handen ift, nämlich die Frage: Wie find von der Koloniftengemeinde
alle Elemente fern zu halten, welchen die für din Neubau der Ge—
ſellſchaft unentbehrlichen fittlichen und geiftigen Eigenschaften fehlen?
Der Gejeßgeber des beftehenden Staates habe genügende Anhalts-
punkte, um eine „Säuberung” vorzunehmen. Er kenne die ſchlimm—
ſten Elemente, welche ſich als unbeilbar erwieſen, und könne fie
durch Verbannung und Todesitrafe bejeitigen. Er kenne insbejon-
1) 736c: ode de un Aavdaveıw yıyvousvov Nuds EuTUynuR, oT
zadaneo Eeinousv Tv tov Hoazleıdov anoıziav EUTvyeiv, Os yns zei
49E0v anozonns zei vouns negı deiwnv zei Ennizuvdiwov Eoıv EEepvyer. —
684d: Olx mv tois vouodeteıs 7 ueyiorn Tov ucwmyewv, loöryte« @vTois
Tıva zaraorevaLovoı TS ovolas, neo Ev ahlaıs vouoderovuevaıs noAeot
noAkais yiyveraı, Ecav Tıs men yns TE zIıoIv zıveiv zal yosov diakvoww,
0pWv Ws oUx dv Övraıro dvev ToVTWv yev£odaı note To ioov ixuvos,
496 Erſtes Buch. Hellas.
dere den Pöbel, der ſich allezeit bereit erwiejen, feinen Führen
zum Kampfe gegen die Befigenden zu folgen, und entferne ihn „als
eine im Staat ausgebrochene Krankheit” auf möglichjt milde Weile
durch eine ſyſtematiſche Drganijation der Auswanderung.!) Eine
Säuberung, die um jo grümdlicher jein werde, je größer die Macht
des Gefeßgebers ift, am gründlichſten, wenn er zugleich abjoluter
Fürſt ift.
Anders der Leiter des Unternehmens, welches Plato im Auge
hat. Er ift fein allmächtiger Dejpot und hat es amdererjeits mit
Elementen zu thun, welche ſich ſchwer überjehen laſſen, weil fie aus
verjchiedenen Teilen der helleniſchen Welt zujammengebracht find.
Die junge Kolonie wird mit einem See verglichen, in welchem
Duellen und Gießbäche von allen Seiten her zufammenftrömen. Es
bedarf ganz bejonderer Aufmerkfjamkeit, den „Zuſammenfluß des
Wafjers jo rein als möglich zu erhalten.“2) a eine wirklich be-
friedigende Antwort laſſe fich auf die Frage, wie denn die Neint:
gung am beiten gelingen werde, a priori überhaupt nicht geben.
Trotzdem zweifelt Wlato nicht, — und darin ift er wieder
ganz Optimift und Doktrinär, — daß die Schwierigkeiten und Ge-
fahren, welche in der Zufammenfeßung des für jein Experiment zur
Verfügung jtehenden Denjchenmateriales liegen, von der Praris
ſchon überwunden werden würden. Er jchneidet alle weiteren Ein-
wände durch einen Machtſpruch ab, indem er ſich darauf beruft,
daß es fich für ihn ja zunächſt nur um die litterarijche Darjtellung
des Grperiments, nicht um deſſen praftiiche Ausführung handle!
Er Lädt den Leſer ein, vorläufig mit ihm anzunehmen, die Bürger:
ſchaft der neuen Kolonie ſei bereits zufammengebracht und zugleich
die Säuberung derjelben von allen unlauteren Clementen nad)
Wunſch gelungen. Die fchlecht gearteten Individuen unter den
ſich Meldenden jeien nach einer genügend langen und jtrengen
Prüfung beſtimmt worden zurücdzubleiben, tugendhafte Leute aber
IT. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des platon. Gejeßesftaates. 497
nach Kräften duch wohlwollendes Entgegenfommen für die DBe-
teiligung gewonnen. !)
Wie ich Plato diefe Prüfung denkt, wird nicht gefagt. Immer—
hin Liegt Schon in der bloßen Forderung, daß jedem derartigen
Unternehmen eine jorgfältige moralijche Ausleſe vorangehen müffe,
ein gewiſſer Vorzug der platonischen Auffaffung vor der jo mancher
anderen Sozialiften. Man vergleiche 3. B. wie leicht der Schöpfer
von „Freiland“ über das ganze Problem hinmweggeht! Eines Schönen
Tages läßt er durch die Preſſe zweier Weltteile verfünden, daß
fi) eine Anzahl von Männern aus allen Teilen der zivilifierten
Welt zu dem Werfe vereinigt hätten, einen praftiichen Verſuch zur
Löſung des jozialen Problems ins Werk zu jeßen. ine völlig ge:
nügende Bürgſchaft für die Qualifikation ihrer Mitglieder findet
diefe internationale Gejellichaft in deren Glauben an die Segnungen
des geplanten Gemeinwejens und ihrer opferfreudigen Begeifterung.
Diejelben leben in dem echt platonischen Gedanken, einen Staat
zn gründen, der „Armut und Elend an der Wurzel faſſen, und
mit diejen zugleich auch all jenen Jammer und die Neihe von Laflern
vernichten wird, die als Folgeübel des Elends anzujehen find.”
Und fie haben diefe Überzeugung nicht bloß in Worten, fondern in
ihrer Handlungsweife zum Ausdruck gebracht, indem fie — jeder
nach jeinen Kräften — zur Verwirklihung des gemeinfamen Zieles
beigefteuert. „Dieſe Wohlhabenden und Neichen, — jagt der Grün-
der der Gefellfehaft und legt darauf ganz bejonderen Nachdruck —,
die zum Teil mit vielen taufenden von Pfunden an unſerer Kaffe
erjcehienen, fie find uns bis auf geringe Ausnahmen nicht bloß als
Helfer, jondern zugleich als Hilfefuchende beigetreten; fie wollen
das neue Gemeinwefen nicht bloß für ihre darbenden Mitbrüder,
jondern zugleich für fich jelbit gründen. Und daraus mehr als aus
allem Anderem ſchöpfen wir die felfenfefte Überzeugung von dem
Gelingen unjeres Werkes.” 2)
Plato teilt diefe Hoffnung nicht. Er verlangt von dem Ge—
BETT
2) Herkfa: Freiland ©. 6.
Pohlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u, Sozialismus, T,
©
Id
498 Erſtes Buch. Hellas.
nofjen feiner idealen Kolonie ftärfere Bürgschaften als den Glauben
an das verheißene Glück und die Leiftung der materiellen Opfer,
die fie um dieſes Glücdes willen bringen. Während die Verwirk-
lichung von Freiland gefichert it, wenn die Mitgliederlifte der inter:
nationalen Gelellfehaft eine genügende Anzahl von Beiträgen auf
weist, ift dies bei Platos Kolonie erſt dann der Fall, wenn es un:
zweifelhaft feitjteht, daß deren Mitglieder einen genügenden Fond
von jittlihen Kräften mitbringen. Auch jucht Plato noch eine
weitere Bürgichaft darin, daß jeine Koloniften in ihren Nechtsan-
ſchauungen, ihren fittlichen und religiöſen Ideen von vorneherein
ein gewifjes einheitliches Gepräge zeigen; er will fie vorwiegend
aus Ländern dorischen Stammes, aus Kreta und dem PBeloponnes
genommen willen, ) wo er in Staat und Gejelljchaft bereit3 jo manches
verwirklicht fand, was ſich mit jeinen eigenen Idealen berührte.
Aber nicht nur das Volkstum, welches zum Träger dieſer
Ideale berufen wird, muß ganz bejtimmten Vorausſetzungen ent
Iprechen, jondern auch die Äußeren, phyſiſchen Bedingungen, unter
denen der neue Staat ins Dafein treten ſoll, müſſen ganz befonders
günftige fein. Sorgfältig werden die Einflüffe erwogen, welche die
Berhältniffe der Äußeren Natur auf Volksgeiſt und Volksgemüt
ausüben. Wenn man neuerdings gefordert hat, daß die Wifjen-
ichaft der Politik auf die Naturgejchichte des Volkes im Zuſammen—
bang mit dem Lande zu begründen jet, jo erſcheint hier Plato als
einer der Erften, welche diefer Forderung gerecht zu werden juchten.
Seine Erörterungen über das Ineinanderwirken der phyfiichen und
moralijchen Welt, über den Kaujfalzufammenhang zwilchen Landes-
und Volksnatur berühren fich unmittelbar mit den Ergebniffen der
damaligen Naturwiſſenſchaft, wie fie in den hochbedeutſamen Unter:
juchungen des Hippofrates über die pfychologisch-phyftologischen Ein-
wirfungen von Boden, Klima u. j. w. vorlagen.
Ganz im Geifte des großen Arztes von Kos nimmt Plato
einen Zuſammenhang zwijchen der Landesnatur md der größeren
ı) 708a.
III. 3. 2. Die joztalöfon. Grundlagen des platon. Gejegesftaates. 499
oder geringeren fittlichen und intellektuellen Tüchtigfeit des Volkes an.
Er hebt die einzelnen phyſikaliſchen Verhältniſſe hervor, die nad)
jeiner Anficht nicht bloß auf den Körper, jondern auch auf das
Seelenleben einen guten oder jchlimmen Einfluß auszuüben ver-
mögen: Das Syſtem der Luftſtrömungen, die Temperatur der At-
mojphäre, die Bejchaffenheit des Waſſers und der Nahrung, !) und
er fordert daher auch von dem Staatsmann und Gejeßgeber eine
jorgfältige Erwägung aller in Betracht kommenden Naturfaktoren
und geographiichen Berbältniffe, die jeine Bemühungen um die ſitt—
liche und aeiftige Hebung der Völker ebenjojehr erleichtern, wie
erſchweren können.)
Bon diefem Gefichtspunft aus erjcheint als eine der wich-
tigften Vorfragen die richtige Ortswahl. Wlato nimmt an, daß
auch diefe Frage befriedigend gelöft jei. Er weiſt auf einen herren:
lojen Landftrich im Innern der Inſel Kreta hin,?) wo fich alle die
geographiichen Vorausſetzungen finden jollen, die für das Gedeihen
des geplanten Gemeinwejens notwendig jeien.
Der Platz für die Stadtgründung ift SO Stadien (zwei geo-
graphiiche Meilen) von der Meeresküfte entfernt. Cine nach Platos
Anſchauung ſehr günftige Lage! Denn der Staat nach ſeinem
Herzen kann ja nur ein Agrikulturftaat fein, in dem Handel und
Gewerbe zu möglichjter Beveutungslofigkeit herabgedrüct jind.*)
Diefer Staat flieht daher die Nachbarschaft des Meeres, weil fie
die Bürger mit Dandelsgeift und krämeriſcher Gewinnfucht exfülle,
den Volfscharafter trügeriſch und unzuverläjlig mache und jo die
Bürger im Verkehr unter ſich, wie mit anderen Menjchen der Treue
) 747d.
?) Ebd. Vgl. meine „Hellenischen Anſchauungen über den Zuſammen—
hang zwijchen Natur und Gejchichte” ©. 59 ff.
>) Nach) Plato war die im Ausſicht genommene Gegend einjt von
thejjalijchen Magneten bewohnt gewejen, danı aber — feit deren Auswan—
derung nach Alien — umnbefiedelt und wüſte Liegen geblieben. Daher be-
zeichnet ev die nee Anlage wiederholt als „Stadt der Magneten“. 704c, 860d.
9 ©. oben ©. 218.
32*
500 Erſtes Buch. Hellas.
und dem Wohlwollen entfremde.') Auch ift hier gar fein beſon—
deres Bedürfnis nach Seeverfehr und überſeeiſchem Handel vor:
handen. Denn das Land bringt faſt alle notwendigen Erzeugnifje
jelbft hervor, es bedarf Feiner nennenswerten Einfuhr, andererjeits -
ift infolge feines gebirgigen Charakters diefe Ergiebigfeit feine ſo
große, daß fie zu einem lebhaften Ausfuhrhandel Veranlaſſung geben
könnte. Überhaupt ift eine maritime und kommerzielle Entwiclung
außerordentlich dadurch erſchwert, daß das Material für den Schiffs:
bau jo gut wie völlig fehlt. Alle die Hölzer, welche derjelbe be—
darf, die Tanne, die Fichte, die Föhre, die Cypreſſe, die Platane,
find entweder in ungenügender Zahl oder in ungenügender Größe
vorhanden. Angefichts diejer „glücklichen“ Naturverhältniffe iſt auch)
nicht an eine ſtarke Entwiclung der Geldwirtichaft zu denken. Mit
dem auswärtigen Handel kommt die größte Gefahr für die Volks—
moral, die Überſchwemmung des Landes mit Gold- oder Silbergeld
von vorneherein in Wegfall.2)
So fann denn mit gutem Vertrauen auf die Zukunft Die
Einrichtung des neuen Gemeinweſens in Angriff genommen werden.
Möglichſt in der Mitte des ganzen Gebietes erhebt ji von einer
freistunden Ningmauer umgeben die Zandesburg mit dem Heilig:
tum der Schußgötter des Staates, der Heltia, des Zeus und der
Athene. Radial von diefem Zentrum aus wird das anjchließende
Stadtgebiet in zwölf Quartiere eingeteilt und dementſprechend das
ganze platte Land in zwölf Flurbezirke, und zwar find die Flur—
bezirfe ihrer Größe nach ungleich, d. h. breiter oder ſchmäler, in—
dem die mit gutem Boden einen Kleineren Umfang befommen, die
weniger ergiebigen einen größeren. Durch eine weitere Unterabtei-
lung wird dann — der Zahl der Bürger entjprechend — die ge
ſamte Landesmark nach demjelben Prinzip unter genauer Beobach—
tung der Bodenbejchaffenheit in 5040 ungleich große, aber dem
Ertrag nach Aleiche Grundſtücke zerlegt, und von dieſen wieder jedes
III. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des Platon. Gejeßesitaates. 501
in zwei Teile.) Je zwei dieſer Teiljtücle werden zu Einem Los
vereinigt, welches den Landanteil des einzelnen Bürgers repräfentiert
umd zwar in der Weile, daß immer ein in der Nähe der Stadt
gelegenes Stück mit einem ferner liegenden kombiniert wird.?) Die
Zuweilung diefer zweigeteilten Hufen an die Bürger erfolgt dur)
das Los, jo daß die denkbar vollfommenfte Gleichheit alles Grund:
befiges hergeftellt ift. Aber auch das bewegliche Vermögen, das
die Kolonisten mitbringen, ſoll mit dem Gleichheitsprinzip einiger:
maßen in Einklang gebracht werden. Es wird öffentlich aufgezeich-
net umd dann möglichit gleihmäßig unter die zwölf Abteilungen
verteilt, in welche die Bürgerschaft — entiprechend den zwölf Be—
zirken des Landes — gegliedert it.) Endlich erhält jeder Bürger
zwei Häufer, eines in der Stadt und eines auf dem platten Zanpde.t)
Wie das ganze Land feinen Mittelpunkt in der Stadt findet,
jo jeder der zwölf Bezirke in dem Marktflecken, der in feiner ganzen
baulichen Einrichtung ein Abbild der Stadt im Fleinen ift. Gr hat
einen Marktplatz mit den Heiligtüimern der Stadtgötter umd der
befonderen Schußgottheiten des Bezirkes, zu deren Feſten die Be—
wohner desjelben fich bier zu verſammeln pflegen; er ift Stügpunft
der Landesverteidigung und zugleich Wirtichaftszentrum, indem hier
als Beilaßen und Fremde die Gewerbetreibenden zufammenwohnen,
deren die Landwirte der Umgegend bedürfen.) Was die übrige
) Die Zahl 5040 iſt mit Rückſicht auf die fomplizierten Teilungen
gewählt. Da fie durch alle einfachen Zahlen bis 10 und dann Wieder durd)
12 ohne Bruch teilbar ift, jo bietet fie eine bequeme Grundlage für die
Flurteilung, wie für die politifche und militärifche Gliederung des Volkes. 737 e.
2) 745d.
3) ib.: veiuaoda dE der zul ToVs drdoas dwdexe ueon, mv ms
adlns ovolav £is ioa« 0 tı uckıora ra dwdexa ucon ovvrafdusvov, dno-
yoagns ndvrov yeroukvns. Diefe Ausgleihung ift allerdings nur eine
annähernde. (vgl. 745a.) Der reichere Kolonift muß fich mit einem gewiſſen
Marimum begnügen, damit für den ärmeren ein Minimalbefik zur Verfü:
gung stehe.
) 745e. cf. 775e. Die Höfe auf dem platten Lande find insbeſondere
für die erwachjenen Söhne und Erben der Hufner bejtimmt.
5) 848e.
502 Erſtes Buch, Hellas.
gewerbliche Bevölkerung betrifft, jo bewohnt fie das Weichbild der
Stadt in eigenen Vororten, die ſich — je einem der zwölf Stadt:
quartiere entjprechend — rings um die Stadt herumziehen, jo daß
die in der Stadt wohnenden Bürger von der gewerbetreibenden
Bevölkerung räumlich vollfonmen getrennt find.
Dieje räumliche Trennung joll auch eine wirtjchaftliche und
Klaſſenſcheidung ſein. Denn der Bollbürger hat feinen anderen
Beruf, als die Pflege der politischen Tugend. „Die allgemeine
Drdnung des Staates herzuftellen und zu erhalten ift eine Kunft,
welche den Bürger vollftändig in Anfpruch nimmt, viel Übung und
mannigfache Kenntnifje erfordert und ſich nicht als Nebenwerk be
treiben läßt.!) — Wer es zum Hauptwerk feines Lebens macht,
jeine Leibes- und Seelenkräfte zur Vollkommenheit zu bringen, findet
zweimal joviel, ja noch weit mehr zu thun, als derjenige, dem das
Streben nach dem pythiichen oder olympischen Sieg zu allen andern
Gejchäften des Lebens Feine Zeit übrig läßt.?2) Daher ijt den Bür-
gern jeder Betrieb von Handel und Gewerbe auf das jtrengite unter-
jagt. Die wirtichaftliche Grundlage ihrer Eriftenz ift einzig und allein
der — von unfreien Zandarbeitern bejtellte — Grundbefiß, der für den
mäßigen Unterhalt einer Familie ausreicht. Auch erhält der Grund:
befiß eine ſoziale Organiſation, welche alles jorgfältig fernehält, was
das Eindringen merkantiler Spekulation und einfeitig kapitaliſtiſcher
Tendenzen begünftigen, was überhaupt die einmal fejtgejegte Ord—
nung jtören könnte,
Wenn auch auf den gemeinwirtichaftlichen Betrieb des Acer:
baues als auf ein unausführbares deal verzichtet wird, jo ſoll
doch der Gedanke jtrenge fejtgehalten werden, daß aller Grund und
Boden als Gemeingut des ganzen Staates zu betrachten ift, daß
daher der Befiß, welcher dem Einzelnen durchs Los zugefallen, dem—
jelden nur ein Nußungsrecht gewährt.) Der Boden, den er be
1) 846d.
2) 807e.
) 739e: veucodov d’ ovv roıgde diavoig nws, Ws doa dei iv
II. 3. 2. Die joztalöfon. Grundlagen des platon. Gejeßesftaates. 503
baut, iſt des Vaterlandes Erde, die er noch forgfältiger hegen und
pflegen muß, als Kinder ihre Mutter.!) Eine Auffaffung, die ihren
rechtlichen Ausdruck darin findet, daß jede Veräußerung, jeder Kauf
over Verfauf von Grund und Boden unbedingt ausgejchloffen ift.?)
Der Landanteil jedes Bürgers iſt für alle Folggzeit in den heiligen
Iempelfataftern auf cypreſſenen Tafeln verzeichnet,?) er kann als
ein unteilbares und unveränderliches Ganze von dem Vater ftets
nur auf einen einzigen Sohn, beziehungsweife Adoptivjohn über-
gehen, der in allen Stüden, in den Verpflichtungen gegen Haus
und Staat, gegen Götter und Menjchen, Nechtsnachfolger des Vaters
iſt.) So foll die Zahl von 5040 Hufen als ebenjovieler Befites-
einbeiten ſtets unverrückt aufrecht erhalten werden.
Plato verhehlt ſich nicht, daß das feine großen Schwierig:
feiten haben werde, und er denkt auch auf mancherlei Mittel, den:
jelben zu begegnen. Die Söhne, die auf der väterlichen Hufe feine
Verforgung finden, follen von anderen Bürgern adoptiert werden,
die feine männliche Nachfommenschaft haben und zwar von jolchen,
„denen fie der Vater am liebjten gibt und die fie am Lliebjten
nehmen“.5) Wenn fi) das aber auf dem Wege der Freiwilligkeit
nicht erreichen läßt, oder wenn ein Bürger eine zu große Zahl von
Söhnen hat over von Töchtern, die er nicht alle verheiraten kann,
jo joll die Staatsgewalt die nötigen Maßregeln ergreifen. Ihre
Sache ift es überhaupt, mit allen Mitteln der Übervölferung vor:
kayovra ınv Ansıv Taviımv vouileıv uEv xoıvnv avınv ın5 nokewms
Evundons zu.
1) jb.: neroidos dE ovons ns XWwous Heoaneveiv avuımv dei
usılovos 7 unteoe ntaides.
2) 741b. Der Bürger joll bedenfen, daß fein Land den Göttern ge:
heiligt ift (as yrjs isods oVons Tor navıov Ssov) und daß Priefter und
Priefterinnen unter Darbringung don nicht weniger als drei Opfern im
Gebete erfleht haben, e3 möge den Käufer oder Verkäufer des Landlojes die
verdiente Strafe treffen.
>) 74lc.
4) 740b.
>) 740c. Die Adoption erfolgt zard yaoıy udkıore,
504 Erſtes Buch. Hellas.
zubeugen, wie fie auch in dem umgekehrten Falle mit ihrer Für:
jorge eintritt, wenn der Nachwuchs der Bevölkerung nicht genügen
jollte, die Bürgerſchaft volßählig zu erhalten. Unter den „zahl:
reichen” Mitten, welche „allzu veichliche Zeugung“ hemmen, oder,
wenn nötig, zur Aufziehung von Kindern ermuntern jollen, nennt
Nato öffentliche Auszeichnungen bezw. Ehrenftrafen, Ermahnungen
und Zurechtweifungen der jüngeren Männer von jeiten der älteren, !)
und, wenn all dies verfagt, im Falle dauernden Übergewichtes der
Sterblichkeit über die Geburtsziffer Aufnahme von Fremden bis
zur Herftellung der normalen Bürgerzahl,2) im Falle der Über-
völferung dagegen eine jtaatlich organifierte Auswanderung, bei der
allerdings von Plato vorausgejeßt werden muß, daß es Feines
Zwanges bedürfen werde, um diejenigen, welche der Regierung für
die Teilnahme an einer Koloniegründung geeignet erjcheinen wür—
den, zum Berzicht auf die Heimat zu beftimmen.?) Um jo größer
ift der Zwang, der — allerdings in Übereinjtimmung mit den be
ftebenden Nechtsanfchauungen — dem weiblichen Geſchlecht auf:
erlegt wird. Der nad) diefer Anſchauung den Verwandten zus
jtehende Nechtsanfpruch auf die Hand von Erbtöchtern, über welche
der Water nicht legtwillig verfügt hat, wird auch im platoniſchen
Staate anerkannt, nur wird dieſes Necht im fozialpolitischen Inter—
eſſe dahin modifiziert, daß derjenige Verwandte den Borzug erhält,
der noch nicht im Beſitz eines Landloſes ift.*)
Dank diefer Agrar und Bevölferungspolitif kann es unter
den Bürgern weder landloje Broletarier, noch Latifundienbefiger
geben. Nur Eine Möglichkeit jozialer und ökonomischer Ungleich-
heit bleibt auch hier: die des mobilen Stapitalbejiges. Ste ganz
zu beſeitigen, ift bei der privatwirtchaftlichen Drganifation der
1) 740d.
2) 74le.
>) 740e. Auf die gewaltfamen Mittel, welche die Bevölferungspolitif
des Gdealftaates zur Anwendung bringt (vergl. oben ©. 293), kommt hier
Plato nicht mehr zurück.
1) 924 e.
III. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des platon. Gejekesftaates. 505
agrariichen Betriebe und bei der Inſtitution des Brivateigentums
undenkbar. So joll wenigitens duch Aufftellung eines Minimal
oder Marimalbefises der Entjtehung größerer Gegenſätze vorgebeugt
werden, und zwar joll als Eleinftes Maß beweglichen Bermögens,
dejfen Verringerung nicht zuläſſig ift, der Wert einer Hufe, —
eines vollen Losanteiles, — angenommen werden, als Maximum
das Vierfache dieſes Betrages.!) Was jemand darüber erwirbt,
joll bei Schwerer Strafe dem Staat und feinen Göttern dargebracht
werden. Eine Vorschrift, mit deren Durchführung eine der höchiten
Behörden betraut ift, welche jorgfältige Aufzeichnungen über das
bewegliche Vermögen der Bürger zu führen und jo eine gleich ſtrenge
Kontrole über dasjelbe zu üben hat, wie über das Grumdeigentum.?)
Auch darin erſcheint die Stellung des mobilen Kapitals den
Nechtverhältniffen des Grundbeſitzes möglichit angenähert, daß ver
Einzelne nur ein ftarf beichränktes Verfügungsrecht über jeine be
wegliche Habe beſitzt. Bezeichnend it die Begründung, mit welcher
Plato die in diefer Hinficht für legtwillige Verfügungen aufgeftell-
ten Vorſchriften einleitet.
„Freunde, läßt er den Gejeßgeber zu den Sterbenden jagen,
es it Schwer für Euch, Eure Verhältniſſe und noch ſchwerer — um
mit der Pythia zu reden — Euch ſelbſt zu erkennen. Daher er-
kläre denn ich Euch, der ich Euer Gejeßgeber bin, daß nicht ein—
mal Ihr ſelbſt Euer Eigen ſeid und noch weniger Diele
Eure Habe, jondern daß diejelbe Eurem ganzen Gejchlechte ge-
hört, ſowohl dem, das vor Euch war, als dem, das nah Euch
fommen wird, ja noch mehr, daß dieſes ganze Gejchlecht
jamt feinem Bermögen dem Staate gehört.) Wenn dem
') 744d: Eorw d) nevias u&v 0005 7 Tod zAmoov ruun, ov dei ueveiv
zai öv doywv ovdeis ovderi note egiorpera Ehdıro yıyvouevor,
2) 745 a.
3) 923a: Eyoy’ ovVy vouodEerns ou ν wuroveivar
Tiymut oVTE Tmv oVoigv Tavımv, Zuurevtos de ToV yEvovs luov rov TE
Eungoo#ev zai Tod Eneıta Eooufvov, zai Erı uahkov ıns nokewg Eivaı
To TE yEvos navy xal ıov ovoiav. Dal. 877d: ovdeis olxos ıuv
506 Grites Buch. Hellas.
nun aber jo ift, Jo werde ich es nicht qutwillig zugeben, daß Euch
jemand, während Euer Geift von Krankheit und Alter erjchüttert
it, mit Schmeicheleien umjchleiht und Euch zu Anoronungen be
ſchwatzt, welche dem gemeinen Beſten widerſprechen. Vielmehr werde
ih) im Hinblid auf dieſes gemeine Belte, auf das Wohl Eures
ganzen Gejchlechtes, wie des ganzen Staates Euch Durch Gejege
beſchränken, indem ich mit vollem Nechte den Borteil des Einzelnen
geringer anjchlage, als den der Gejamtheit.!) Darum möget Ihr
in Frieden und Wohlwollen gegen uns den Weg gehen, den Ihr
jegt nach der Ordnung der menschlichen Natur betretet und Euch
darauf verlajfen, daß wir für alles, was Euch gehört, nach beften
Kräften Jorgen werden.“
Nach ſolchem „Freundlich ermahnenden” Eingang verfügt das
Geſetzt Der Erblafjfer hat das Necht, denjenigen feiner Söhne,
welchen er für den würdigſten erachtet, zum Erben der Hufe und
des gejfamten dazu gehörigen Inventars einzufegen. Hat er noch
andere Söhne, Die nach dem Gejeß möglicherweile in eine Kolonie
ausgeſandt werden könnten, jo kann er das übrige Vermögen nad)
Belieben unter fie verteilen. Dasjelbe gilt für unverlobte Töchter.
Dagegen dürfen Söhne, die bereits ein Haus haben (als Erben der
väterlichen Hufe oder als Adoptivföhne von Hufenbefigern), nichts
von dieſem Vermögen erhalten, ebenjowenig Qöchter, die bereits
verlobt find. — Letzteres entiprechend dem Geſetz, das hier gleich
miterwähnt jei, daß in diefem Staat niemand eine Mitgift nehmen
oder geben darf,2) damit nicht „Übermut bei den Weibern und
ſklaviſche Kriecherei um des Geldes willen bei den Männern ent:
TETTEE«LXoVT« xl nevraxıioyıdlov TOD EvoLzovdvrog Eoriv ovdE Evunevrog
ToV yEvovs 0VTWS WS TS TOAEmS Gmuooıos TE xal idvos.dei dy
Tyv yes nökıw ToVs aurjs olzovs WS ÖOLWIETOVS TE Kal EUTVYEOTETOVS
ZELTNIIRL xXard dvvauır.
) 923b: 0 ru dE rn modeı TE dpLoTov naon xal YErEi, 005 av
tovro BAerıwv vouodErnow, 10 Eros ExdoTov zararıdeis Ev uolgaıs EAdTrooL
dixaiwms.
2) 742.
III. 5. 2. Die ſozialökon. Grundlagen des platon. Geſetzesſtaates. 507
ſtehe.“) — Ebenfo ſollen diejenigen Söhne oder Töchter, welche
nach der Abfaffung des Teitamentes durch Adoption bezw. Heirat
ihre Berforgung gefunden haben, das ihnen vermachte mobile Kapital
an den Haupterben abtreten. Hat der Erblaffer nur Töchter, Yo
joll er nach freier Wahl einer derjelben einen Gatten bejtimmen,
der natürlich noch Feine Hufe befigen darf, und denfelben als Erben
der Hufe an Sohnes Statt einjegen. Falls eine ſolche Willens—
erklärung fehlt und unverheiratete Töchter vorhanden jind, beſtimmt
die Bormundjchaftsbehörde Für die Erbtochter einen Mann und
zwar womöglich den nächſten Verwandten des Erblajjers, dem dan
das Erblos zugeteilt wird. Macht endlich jemand ein Tejtament,
der völlig Einderlos ift, So joll ev nur über den zehnten Teil des
zum väterlichen Grundbeſitz hinzuerworbenen Vermögens frei ver:
fügen können; alles übrige hat ex demjenigen zu hinterlafjen, den
er dem Gejeß gemäß adoptieren und zum Exben der Hufe Deftellen
muß, damit ev fih jo an ihm in ungejchmälerter Achtung einen
dankbaren Sohn erhalte.)
Aber ſelbſt in dieſer umfaſſenden, überall den individuellen
Willen den Zweden der Gemeinjchaft unterwerfenden Negelung des
Vermögensrechtes ſieht Plato noch Feine genügende Bürgſchaft für
die volle Verwirklichung diefer Zwede. Er verbindet damit jenes
noch ungleich tiefer eingreifende, jede Fapitaliftiiche Entwicklung der
Volkswirtichaft im Keime exftidende Syſtem ftaatlicher Wirtjchafts:
politik, welches wir bei der Darftellung der antifapitaliftifchen Ge—
jamtanjchauung Platos bereits in jeinen Grundzügen kennen gelernt
haben.) Der Staat läßt nicht zu, daß Silbers- oder Goldesteich-
tum einen feiten Wohnfiß in ihm erhalte;t) er duldet daher im
') 774d. Ausgenommen ift nur die Ausftattung in Stleidern u. j. w.
im Werte von 50, 100, 150, 200 Drachmen (ca. 120 M.) je nad) der
Cenſusklaſſe.
2) 923 c—924 a.
2) ©. oben ©.-213 ff.
4) 801: . . . ovre doyvoovv dei nAovrov ovte yovoovv Ev nıodeı
idovusvov Evoizeiv,
508 Erſtes Buch. Hellas.
inländischen Verkehr nur eine Landesmünze von unedlem Metall,
die außerhalb jeiner Grenzen feine Gültigkeit hat. Helleniſches
Kourant, Gold- und Silbergeld bejigt nur der Staat, der dasselbe
für jeinen nicht ganz zu vermeidenden Verkehr mit dem Ausland
nicht entbehren fann. Der Brivatmann, der ins Ausland reift,
was er Übrigens nur mit Erlaubnis der Negierung thun darf, muß
ſich ſolches Geld an der Staatskaſſe einwechleln. Ebenſo hat er
alles, was er aus dem Ausland —— an derſelben Kaſſe
wieder in Landesmünze umzutauſchen.,) Was den Gebrauch dieſer
letzteren betrifft, jo ift auch er ein außerordentlich befehränfter. Sie
dient faft nur als Taufchmittel und Wertmaßftab. Das eigentliche
Geld- und Kreditgeichäft ift in der bereits früher geſchilderten Weife
durch die Unklagbarfeit von zinsbaren Darlehen, durch das Ber:
bot des Zinsnehmens überhaupt unmöglich gemacht.?)
Übrigens würde dasjelbe für den Bürger von vorneherein
nicht in Betracht kommen. Der Bürger hat ji) durchaus mit dem
Ertrage des Landbaues zu begnügen. Eben deshalb ift ihm ja auch)
jede Beteiligung an Sntbefsgefähkften an gewerblicher und Hand—
werksthätigkeit und ſei es auch nur mittelbar durch jeine Sklaven
unter Androhung ſchwerer Strafen unterjagt.?)
Selbjt in der Verwertung des Ertrages jeiner Grundftüce
jind ihm enge Grenzen geſteckt. Zunächſt it die Ernährung fait
der ganzen bürgerlichen Bevölkerung Sache des Staates. In öffent:
lichen Speifehäufern vereinigen fich die Bürger und — infolge der
grumdjäglichen Gleichitellung des weiblichen Gejchlechtes — aud) die
Bürgerinnen mit ihren Kindern alltäglich zu gemeinfamen Mahl:
1) 742b.
?) 742c. ©. oben ©. 226 5.
3) 846d: . . . Ereyworos umdeis Eotw TWv nIE0OL TE dmutovpyırd
Teyrnuata dtenovovvrwv, unde oizeıns ardoös Enıywoiov. Vgl. 741c
und die Strafbeitimmung 919d: Wer irgend ein Gewerbe treibt, das ins
Gebiet des Kleinhandels einjchlägt, macht ſich „der Beſchimpfung feines Ges
ſchlechtes“ jchuldig und wird zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Hilft
das nicht und wird ex rückfällig, jo wird die Gefängnisftrafe verdoppelt und
jo in jedem weiteren Falle!
II. 3. 2. Die jozialöton. Grundlagen des platon. Gejegesftaates. 509
zeiten, zu denen nach dem Vorbild des Fretiichen Syflitieninftitutes
alle Bürger einen Teil der Erträge ihrer Landwirtſchaft zu jteuern
haben.) Aber auch in der Verfügung über das, was dem Ein-
zelnen nach dieſer Abgabe übrig bleibt, ift er durch den Staat viel-
fach gebunden.
Handelt es fich doch bier um ein Gebiet der Vollswirtichaft,
welches bereits der bejtehende Staat vor allen anderen zum Gegen:
ſtand ftaatlicher Bevormundung und Leitung gemacht hatte. Die
ganze Situation der Stadtjtaatwirtichaft mit ihrem bejchränften
Produftionsgebiet, die außerordentliche Größe der Gefahren, die hier
Schwierigkeiten in der Verſorgung mit den unentbehrlichen Lebens—
mitteln für den Beſtand des Staates ſelbſt enthielten, hatte auch
in ven fortgejchritteniten Gemeinwejen zu einem Syftem ftaatlicher
Negulative geführt, welches durch Gelege gegen Auffauf und Korn:
wucher, durch Ausfuhrverbote, Stapelvechte u. ſ. w. den Nahrungs:
mittelverfehr im Intereſſe der Gefamtheit künstlich zu regeln juchte.:)
Der platonijche Idealſtaat, der alle Vorausſetzungen der Stadt-
ſtaatwirtſchaft herübernimmt und die Schwierigkeiten derjelben durch
möglichite Iſolierung gegenüber der Außenwelt noch vermehrt, ift
natürlich genötigt, auch diejes jtaatliche Bevormundungsiyiten nach
allen Seiten hin auszubauen und zu verjchärfen.
Die Grundlage jeiner Agrarpolitik ift das unbedingte Verbot
jeder Ausfuhr von landwirtichaftlichen Erzeugniſſen, jowie die volle
Öffentlichfeit der Ernteerträge und Vorräte, ihr Ziel, die leßteren
jtets in vichtigem Verhältnis zum augenbliclichen und fünftigen
Bedarf zu erhalten. Es joll nicht zu wenig und nichts zu teuer
auf den Markt kommen. Zu dem Zweck haben alle Bürger den
geſamten Jahresertrag ihrer Landwirtſchaft in zwölf Teile zu teilen
und jedes Zwölftel wieder in drei verhältnismäßige Teile nach einem
Maßſtab, der durch das Zahlenverhältnis von Bürgern, Unfreien
und Beiſaſſen beſtimmt wird.?) Der lebtere Teil wird wie eine
) 780b ff.
?) Vgl. Böckh. Staatshaushaltung der Athener 1?. 103 ff.
») 847e.
510 Grites Buch. Hellas.
Art Lieferung aufgefaßt, welche die Landwirte in fejtgeregelter Weife
gegen Entgelt der gewerblichen Bevölkerung zu leiſten haben. Keiner
darf etwa in ſpekulativer Abſicht Vorräte länger zurückhalten oder
eher veräußern, oder in anderen Quantitäten oder anderswo —
etwa an Aufkäufer — verkaufen, al3 der Staat vorjchreibt. Viel:
mehr ſoll jeder Bürger in monatlichen Zwijchenräumen den zwölf-
ten Teil der zum Verkauf an die Beiſaſſen beftimmten Vorräte
durch eigens dazu bejtimmte Mittelsperfonen — nichtbürgerlichen
Standes — auf den „Fremdenmarkt” bringen laſſen, damit das
gewohnte Angebot niemals willkürlich gejtört, die Größe und der
Preis der zu Markte gebrachten Vorräte möglichſt vor Schwankungen
bewahrt bleibe.) Was vollends die für den eigenen Bedarf der
bürgerlichen und aderbauenden Bevölkerung vorbehaltenen Erzeug-
niſſe der Landwirtſchaft betrifft, jo ſoll bier jede Vermittlung durch
den Zwiſchenhandel, wie er für die Beifafjen umd Fremden —
allerdings nur in der Form der „Höckerei“ — ausdrücklich zus
gelafjen wird, in Wegfall fommen. Der Landwirt joll von dieſem
Teil feiner Erzeugniffe immer nur wieder an den Landwirt d. h.
der Bürger an den Bürger verfaufen.?)
Die Wirkjamkeit diefer Gefeßgebung reicht nun aber natürlich
noch weiter über den Kreis des Bürgertums hinaus. Auch in der
Handel und Gewerbe treibenden Klaſſe ſollen jpefulative und kapi—
taliftiiche Tendenzen feinen Nährboden finden. Die für den In—
faffen ebenfo, wie fir den Bürger geltenden Beftimmungen über
Geld- und Kreditverkehr ſtecken dem Erwerbstrieb auch diejer Klaſſe
von vornherein die engiten Grenzen.
Sie hat ja ohnehin feine Zukunft in einem Staat, der als
') 849b. Am erften Monatstag ift Kornmarft, wo fich jeder Beis
jaife und Fremde auf einen Monat mit Brotfrucht zu verjorgen hat; am
zehnten Markt für alle flüjfigen Erzeugniffe, am zwanzigften Viehmarkt, immer
für die gleiche Zeit. An dem legten Markttag jollen auch alle Nebenprodufte
der Landwirtichaft zum Verkauf kommen, wie Felle und jonjtige Bekleidungs-
jtoffe, Geflechte, Filzwaren u. j. w.
2) 849c.
11. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des platon. Geſetzesſtaates. 511
reiner Agrikulturftaat ſich noch etwas darauf zugute thut, daß er
— dank jeinen unentwidelten volfswirtichaftlichen Verhältniſſen —
„nicht Halb jo viel Geſetze“ braucht, wie die meiften anderen Staaten,
insbejondere „fait fein Gejeß über Seeweſen, über Groß- und Klein:
handel, über Gafthäufer, über Zölle!) und Bergwerfe, über Darlehen
und Wucher“, — in einem Staat, der „das alles ruhig von der
Hand weiſen kann, weil er es nur mit Aderbauern, Hirten, Bienen:
züchtern und jolchen zu thun bat, welche jenen die nötigen Hilfs:
mittel und Werkzeuge bejorgen.” 2)
Die ganze Thätigkeit von Handel und Gewerbe bat fich eben
darauf zu bejchränfen, einer aderbauenden Bevölkerung die unent—
behrlichjten Handwerkserzeugniffe und ſonſtigen Bedarfsgegenftände
zu liefern. ine Grenze, die dadurch noch enger gezogen wird, daß
der Staat Jorgfältig darauf bedacht ift, die Lebensbedürfniffe der
herrichenden Klafje auf einem möglichit beſcheidenen Niveau zu er—
halten, und daher von vornherein überhaupt nur jolche Gewerbe
zuläßt, welche „notwendige“ Bedürfniſſe befriedigen.)
Der ganze ohnehin im allerengiten Nahmen ſich bewegende
Ein und Ausfuhrverkehr ſteht unter Ichärfiter ftaatlicher Kontrolle,
welche nur das ins Land läßt, was nun einmal nicht entbehrt
werden kann, und andererjeitS jede Ausfuhr der im Innern ver-
wendbaren Erzeugnifje des Landes unmöglich macht.*)
Und nicht genug, daß der Kreis der Objekte, an denen fich
der geichäftliche Unternehmungsgeit bethätigen könnte, ein überaus
enger iſt, auch innerhalb der ihm thatlächlich zugeitandenenen Sphäre
it Gewerbe und Handelsverfehr in hohem Grade gebunden.
Adgejehen von den ohnehin ſchon Schwer genug auf ihm laſten—
den Normen über Geld» und Kreditweſen jteht ſich dieſer ganze
Verkehr einem Syſtem ftaatlicher Regulative unterworfen, welches
den Handel- und Gewerbetreibenden auf Schritt und Tritt daran
) &3 gibt in diefem Staat weder Einfuhr: noch Ausfuhrzöfle S47b,
2) 842d.
>) 920.
#) 847b ff.
512 Erſtes Buch. Hellas.
erinnert, daß er nichts als ein wirtfchaftlicher Funktionär im Dienfte
des Landes fein ſoll,) daß er fich daher jeder jpefulativen Aus—
beutung jeines Berufes, jedes Gedanfeus der „Bereicherung“ ent-
ichlagen und mit dem „mäßigen“ Ertrag jeiner Arbeit zufrieden fein
muß, den der Staat als zuläfftg anerfennt.‘)
Um alle Überteuerung und Übervorteilung zu verhindern,
werden die Preiſe Jämtlicher Waren nach) dem Nate der Sachver-
ſtändigen von den jtaatlichen Behörden feitgejeßt.?) Diefelben haben
zugleich jorgfältig darüber zu wachen, daß der Kapitalismus und
und die Fapitaliftische Spekulation, welche aus dem Hauptnahrungs-
zweig Des Landes, aus der Agrikultur, verbannt find, nicht auf
anderen Gebieten der Volkswirtſchaft emporkomme. Wie es feinen
Großgrundbeſitz geben joll, jo auch Feine fapitaliftiichen Großunter—
nehmmmgen, die zur Konzentrierung bedeutender Kapitalien im Handel
und Gewerbe führen fünnten. Die Stleinbetriebe jollen erhalten
bleiben, allev Handel möglichſt nur Kleinhandel (zaerrydere), alle
Induſtrie nur Handwerk fein. Die faufmännische Vermittlung ſoll
möglichit ausgejchloffen und zu dem Zwed von StaatSwegen auf
eine ſyſtematiſche Beichränfung der Zahl der im Zwijchenhandel
beſchäftigten Individuen und Gewerbe bingearbeitet werden.!) Was
insbeſondere die Handwerke betrifft, jo Joll die von der kapitaliſtiſchen
Spefulation der Zeit jo energiſch ausgebeutete Möglichkeit, durch
Beſchäftigung zahlreicher in verichiedenen Techniken ausgebildeter
Sklaven gleichzeitig mehrere Gewerbebetriebe in der Hand eines
Unternehmers zu Fonzentrieren, völlig bejeitigt werden. Jeder joll
nur das Gewerbe treiben, das er jelbjt erlernt hat, und nicht etwa
aus der Thätigkeit zahlreicher Sklaven, die er für ſich in anderen
Handwerken bejchäftigt, größere Einkünfte beziehen, als aus dem
') 920e. Bgl. oben ©. 224 f. 254 f.
?) 847d. Hier fommen die ©. 224 F. beiprochenen Grundanſchauungen
Platos über die Bejeitigung des jpefulativen Charakters des Handels zum
prägnanten Ausdruck.
>) 847b, 920.
») 919.
IH. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des platon. Gejegesftaates. 513
Gewerbe, das er jelber veriteht.) ine Betimmung, die zwar
durch das auch hier ſtrenge durchgeführte Prinzip der Arbeitsteilung
gefordert ift, die aber unverkennbar — wie ja die von Plato ge
wünschte Arbeitsteilung ſelbſt — ein Kampfmittel gegen das Kapital
und die Fapitaliftiiche Betriebsweiſe bildet.
Sollte e8 aber troß al’ dieſer Schranfen einem Handel oder
oder Gewerbe treibenden Beiſaſſen gelingen, jein Vermögen über
das Durchſchnittsmaß deſſen zu jteigern, was der grundangeſeſſene
Bürger bejist, jo iſt feines Bleibens nicht länger im Lande!
Während für den Bürger der vierfache Wert einer Landhufe als
Marimum des Erwerbes feitgejegt ift, wird dem Beiſaſſen nur das
Doppelte dieſes Wertes, aljo die Hälfte des für den Bürger erreich-
baren Kapitalbeſitzes geftattet.2) Alle Beifaffen, deren Vermögen
die Schagung der dritten von den vier Zenſusklaſſen der Bürger:
Ichaft überiteigt, jollen binnen Monatsfrift von dem Tage an, wo
diejer Vermögenszuwachs eintritt, mit ihrer ganzen Habe das Land
verlaffen, und es joll den Behörden nicht gejtattet jein, ihnen die
Erlaubnis zu längerem Bleiben zu gewähren! Wer ſich dem zu
entziehen jucht, joll mit dem Tode beftraft und jein Vermögen für
den Staatsſchatz eingezogen werden!?) — Übrigens ift dem Ber-
mögenserwerb der Beiſaſſen ſchon dadurch eine abjolute Grenze ge—
1) S4be: umdeis yeixsiwv due Textaweodw, und’ av rezreıwöousvos
zehrsvovrwv dhlwv Erriusrtiodn uchAov 7 Ts autov TEyvns, nO0paoLV
Eyor, ws ToAlov oixerWv Eniuskovusvos Eavrd ÖMuiovoYoVvTWVv EIXOTWS
uahhov Eniuskeitai Exeivov die To nv n0000dov Exsidev auro nAeiw
yiyvsosaı ts airovo reyvns, adAR Eis ulav Exaoros Teyynv Ev nöheı
HEZTNUEVOS ENO TaVINS Qua za To Inv zrdodw.
2) Dasjelbe gilt für den Freigelaffenen, nur daß diejer infofern einer
noch größeren Bejchränfung unterliegt, als er auf feinen Fall veicher werden
darf, als jein Herr, und alles, was er mehr erwirbt, an diejen abliefern
mnb. 915a.
3) 915b: Eav dE tw aneksvdegwdern 7 zei Twv akhov Two Fevar
ovcie nAslwv yYiyvmraı Tod roltov ueyEdeı Tuumuatos 1 dv tovro nusog
yEvntal, TOLERoVTE NUEsOWv dno tavıns vs nucgas kadov enitw TE Eav-
Tod zei umdeule 175 uovns neoairyoıs Er TOVTW aQ’ doyovrwv yıyveodw,
Pöhlmann, Gejch. des antifen Kommunismus ıı. Sozialismus. 1. 33
514 Erſtes Buch. Hellas.
steckt, daß diejelben überhaupt nicht zu immerwährenden Aufenthalt
und Gewerbebetrieb zugelafjen werden. Steiner darf länger als
zwanzig Jahre — vom Tage jeiner Einjchreibung an — im Lande
bleiben; ift diefe Zeit um, jo hat er mit feinem Hab und Gut
von dannen zu ziehen! Nur ausnahmsmweile wird auf Grund her—
vorragender Verdienfte um das Land von Nat und Volksverſamm—
fung ein Aufſchub oder die Erlaubnis zum Bleiben auf Lebenszeit
bewilligt. Gleiches gilt für die Söhne der Beiſaſſen, bei denen
das vollendete fünfzehnte Lebensjahr als Anfangstermin angenommen
wird, ſowie für die Freigelafjfenen.!)
Eine weitere Konjequenz der antikapitaliftischen Handels- und
Gewerbepolitik des Geſetzesſtaates ift die unbedingte Offentlichkeit
des geſchäftlichen Lebens. Wenn diejer Staat ſchon die ungleich
ducchfichtigeren Vermögensverhältniſſe der grundbeſitzenden Klaſſe
einer ſyſtematiſchen Kontrolle unterwerfen zu müſſen glaubte, wie viel
mehr mußte er auf einer beſtändigen Offenlegung des gewerblichen
Lebens beſtehen, deſſen wirtſchaftlicher Ertrag ohne das volle Licht
der Publizität ſich aller Beurteilung entzieht! Ohne die Publizität des
Geſchäftsbetriebes hätte ja nichts den Geſchäftsmann verhindern können,
den Gewinnertrag ſeines Gewerbes, und mochte ſich derſelbe ver—
doppeln, verdreis oder verzehnfachen, jo zu verſchleiern und zu ver—
heimlichen, daß die Vorjehriften über das zuläſſige Marimum des
gewerblichen Kapitalbefites mehr oder minder illuſoriſch geworden
wären. Wie daher der Staat durch Grundkataſter und fortlaufende
Aufzeichnungen über den gejamten beweglichen und unbeweglichen
Belig der Bürgerfchaft unterrichtet ift, jo ſcheut er auch vor der
jehwierigeren, aber von feinem Standpunkte aus unabweisbaren
Aufgabe nicht zurüd, durch analoge Aufzeichnungen über Vermögen
und Erwerb der Beiſaſſen den Ertrag von Handel und Gewerbe,
das Quantum des Verdienftes jedes Einzelnen, die Zus oder Ab-
nahme jeines Vermögens allezeit evivent zu erhalten.)
') 850be, 915b. In letzterem Falle tritt auch noch die Erlaubnis
des Freilaſſers Hinzu.
) S50a: To dE wrndEr 7) noaHevr How nÄEov av 7 zai nAEovogs N
IT. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des platon. Geſetzesſtaates. 515
Dieje amtliche Statiftik iſt hier zu einer Vollfommenheit aus:
gebildet gedacht, daß niemand die Art und Weife, wie er feine
Arbeitskraft und fein Kapital verwendet, geheimbalten kann, daß
alle geichäftlichen Unternehmungen und die Höhe der dabei euzielten
Erträgnifje bis ins Einzelne hinein den Staatlichen Gewalten Far vor
Augen liegen. ES ift in der denkbar vollfommenften Weife dafür
gejorgt, daß Niemand ſich für feine Perſon den Konjequenzen jener
großen allgemeinen Prinzipien zu entziehen vermag, auf denen fich
der Staat aufbaut. —
Daß ein ſolcher Staat auch außerordentliche Mittel anwenden
wird, um Chrlichfeit und Solidität im Warenverfehr, im Handel
und Wandel zu fördern, ift von vorneherein zu erwarten, und es
wird uns in der That eine Anzahl von Beitimmungen aus dem
Polizeirecht, insbefondere aus der Marktordnung!) des Geſetzesſtaates
mitgeteilt, die durchaus im Geifte des bisher entwicelten Syſtems
gehalten jind. ES wird da vorgejchrieben, daß aller Kauf und Ber:
fauf auf dem Markte und an den für die einzelnen Warengattungen
angewiejenen Stellen jtattfinde und zwar in der Weife, daß die
Ware jofort von dem Käufer in Empfang genommen MR baar
bezahlt wird.) Wer außerhalb des Marktes oder auf Borg ver:
kauft, thut dies auf eigene Gefahr, denn das Gejeß gewährt ihm
fein Klagerecht gegen den Käufer.) Da ferner die obrigfeitlichen
Warentaren nur eine Marimalgrenze feitfegen, innerhalb deren dem
Berfäufer für die Preisbejtimmung immerhin ein gewiſſer Spiel-
raum bleibt, jo werden die Mibftände, die ſich daraus im Berfehr
ergeben Fönnten, duch die Borjehrift befämpft, daß alle Preiſe
XaTE ToVv vouov, OS EIONZE TI0O00V TIEOOYEVOUEVOV Xai anoysvousvov dei
umdersg« Tovrwv noisiv, Evayoapnto tor’ 70 naga rols vouopvaakı To
nleor, E£ahsıpeodw dE TO Evavrlov „ra avrd dE zul nıeol uerolzwv Eotw
TS Avaygapns nnegı Ts ovolas.
!) Diejelbe ift auf eine Säule vor dem Amtshaufe der Marktaufjeher
eingegraben. 917e.
?) 915d, vgl. 849d.
3) 915e. Eine Ausnahme bilden die auf Leftellung gelieferten Ar:
beiten. ©. unten.
39 *
516 Erſtes Bud. Hellas.
wenigftens fejte jein ſollen. Niemand joll doppelte Preiſe führen.
Wenn er daher das, was er für feine Waaren einmal gefordert
hat, nicht erhalten kann, ſoll er diejelben lieber wieder mit nad)
Haufe nehmen, als an dem betreffenden Tage die Preiſe ändern.!)
Ebenſo jind alle Mittel der Neklame ftrenge verpönt: Kein Ber:
fäufer joll jeine Waaren anpreiſen oder gar ihre Güte mit einem
Schwur beteuern.?)
Wer ſich gegen dieſe VBorjcehrift vergeht, Fann von jedem —
über dreißig Jahre alten — Bürger, der die eivliche Anpreifung
vernommen, körperlich gezüichtigt werden! a, es iſt dies jogar die
Pflicht des Bürgers, deren Verſäumnis er mit der öffentlichen Nüge
büßt, daß er „das Gejeß verraten.“?) Wer vollends im Waren:
verkauf betrügt, 3. B. verfälichte Waren verkauft, ſoll nicht nur
derjelben verluftig gehen, jonvdern auch für jede Drachme des ge
forderten Breifes vom Herold auf öffentlichem Markt einen Geißel-
bieb erhalten, nachdem vorher der Grund der Beitrafung von dem:
jelben öffentlich verkündet werden.*)
Harte Strafe trifft auch den Kontraktbruch. Der Lohn:
bandwerfer,5) der Arbeiter, der die ausbedungene Arbeit nicht
leiftet, der Gewerbsmann, der die bejtellte Ware böswilliger Weife
nicht zur verabredeten Zeit liefert, hat dem Beſteller nicht nur den
vollen Wert der Arbeitsleiftung oder der Ware zu entrichten, jondern
fie überdies in der vorher ausbedungenen Zeit unentgeltlich zu
liefern.) Andererſeits joll auch der Bejteller, der für geleijtete
Arbeit nicht zur bejtimmten Zeit den verjprochenen Lohn oder Preis
zahlt, ven doppelten Betrag vesjelben ſchuldig jein, und wenn er
die Zahlung über ein Jahr anftehen läßt, joll er überdies monatlich
1) 917b.
WEN
>) Ebd.
4) 9174.
°) Das Handwerk ift für dieſe ganze Auffaſſungsweiſe offenbar mehr
Lohnhandwerk ala Waren verfaufendes Handwerk.
°) 921.
II. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Geſetzesſtaates. 517
von jeder Drachme einen Dbolus (!/s) alfo jährlich 200% als Zins
bezahlen, troß des ſonſt geltenden Grundſatzes der Zinslofigfeit aller
Schuldfapitalien.!)
Auch die Religion wird angerufen, um die Zwede diefer Ge
jeßgebung zu erreichen. Es wird ein großer Nachdrud darauf ge-
legt, daß das Gewerbe unter der Obhut der Götter fteht, des
Hephäftus und der Athene, in welchen bejonders die Metalltechnif
und die Gemwebeinduftrie ihre Patrone verehrt. Sie ericheinen ge
wiljermaßen als die Ahnherren aller Gewerke, und daher die einzelnen
Gewerksgenoſſen naturgemäß bejtrebt, ihnen durch gejeßwidrige
Handlungen feine Schande zu machen.?)
>
Die Lehensordnung des Bürgerflandes.
Wie Plato auf dem gefamten Gebiete der materiellen Intereſſen
und des wirtſchaftlichen Dafeins dem individuellen Leben und
Streben feine Bahnen vorjchreibt und feine Ziele jegt, jo joll auch
auf allen anderen Lebensgebieten, welche für die Erreichung der
Staatszwede irgend in Betracht fommen, der einzelne Bürger der
bejtändigen Zucht und Leitung des Staates unterworfen fein.
Gegenüber dem individualiftiichen Freibeitsprinzip der Demofratie
mit jeiner eimjeitigen Betonung „ver Freiheit des individuellen
Denkens und Handelns“ 3) wird hier ebenjo einfeitig das Ordnungs—
prinzip bis in feine äußerſten Konfequenzen zur Geltung gebract.
Mas Perikles in der Lobrede auf die Demokratie als einen ihrer
größten Vorzüge gepriefen, daß ſie unbejchadet der Gejeglichkeit und
Sittlichfeit der Bürger alle „läſtige“ jtaatlihe Einmiſchung in das
Privatleben und den Privatverfehr unterlafen könne,“) das wird
1) 921e.
: 90 e: ols (dnuoveyois) dn nıegl ra roiwüre 0v noEnov dv ein
weudeotat, FEoÜs Ig0YovovSs aurov aidovuevovs.
3) liberty of individual thought and action, liberty and diversity
of individual life, wie der moderne Gejchichtfchreiber der helleniſchen Demo—
fratie dies ihr Prinzip bezeichnet.
) Thufydides II, 37.
518 Erſtes Bud. Hellas.
hier ohne weiteres als eine Illuſion bezeichnet. Wenn man der
Anficht fei, daß das Geſetz das Verhalten der Einzelnen nur ſo—
weit zu regeln habe, als Fragen des öffentlichen Nechtes und des
jozialen Zufammenlebens in Betracht kämen, daß es dagegen für
das Vrivatleben „nicht einmal der aller dringendften Gejeße bedürfe“,
jo jei das ein Irrtum. Das Gejeb könne nie darauf rechnen,
daß der Einzelne in jeinem politifchen und fozialen Verhalten allen
Anforderungen gerecht werden würde, wenn es nicht gleichzeitig
auch das Leben des Individuums einer ſyſtematiſchen Ordnung
unterwerfe, welche Niemandem geftattet, „jeine Tage nach Belieben
zu verbringen“.!)
Darin liegt nach Platos Anficht Fein ungerechtfertigter Zwang
— auch der Gejeßesitaat joll ja ein wahrhaft freier Staat jein?)
— vielmehr iſt nur jo der Anſpruch Aller auf die Erreichung des
höchſtmöglichen Glücdes duch den Staat realifierbar.3) Sollen fie
duch den Staat glücdlich werden, jo müſſen fie, da die Vorbedin-
gung alles Glückes die Tugend ift, ſich auch vom Staate zur Sittlichkeit
erziehen laſſen.) Daher ericheint auch die Hoffnung berechtigt, daß der
Einzelne in richtiger Erkenntnis der Notwendigkeit und des Segens
jolcher Negelung des individuellen Lebens dem Gejege willig gehorchen
und dabei als PBrivatmann, wie als Bürger ji glücklich
fühlen wird.?) Das Geſetz ſelbſt Jucht dieſe richtige Erkenntnis auf alle
ı) 780a: dorıs dr) dievoeiraı nnoAsoıv drropeiveodeı vouovs, um TE
Omuooıe zul zoıwd avrovg yon Inv nodrrovres, twv dE idimv 0009 avdyzn
unde oisraı deiv, E£ovolav de &xdotois eivat nv nucoav Inv OTWS av
EHEAN, zei un ndavra dia ra£ewg deiv yiyveosaı, ngo&uevos dE Ta
idıe dvouodEernra Nysiraı TE ye xoıva zul dmuooıe EHeAmosıv airovs Cnv
die vouwv, ovx 00F05 dievosiraı,
2) 693h: dv 2AevdEgav re eivaı dei. Bgl. 719-723 und
897e. Die Gejege find für Freie!
3) Val. die Poklamierung des Glüdsprinzips als Grundmotiv der
Gejeßgebung 742de und 743c. “Huiv de 7 Twv vouwv Unodeoıs Evravdu
EBkerıev, Onws Ws EVdaıuov£oraroı Eoovraı zul 0 tu udhıora dAkmkoıs
gikoı (oi moklzeı).
9 742 de.
>) 7b: ra rwr dsonorwv TE xal EAsvdeowv Ev tais nokeoıw 797
II. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejeßesftaates. 519
Weiſe zu fördern, indem es in der liebevollen und verjtändigen
Art eines Vaters oder einer Mutter zu den Bürgern Tpricht, nicht
im Tone eines Despoten, der jchlechtweg drohende Befehle gibt,
die er einfach an der Mauer anjchlagen läßt, ohne irgend etwas
dazu zu thun, um ihnen gütlich Eingang zu Schaffen.) In Platos
Staat wirkt die Geſetzgebung jelbit aufklärend und exziehend, indem
den Gejeben eine Einleitung vorausgeichiet wird, welche durch
ausführliche Darlegung der Motive von Gebot und Verbot Geift
und Gemüt empfänglic) und willig macht.2)
Überhaupt verbreitet fich die Geſetzgebung, wie fie Plato im
Auge hat, über vieles, „was mehr auf Belehrung und Ermahnung
binausläuft, als wirklichen Gefeßen ähnlich fieht.” — ES kommen
eben im Privatleben und im Innern des Hauſes viele an fich ge:
tingfügige Dinge vor, für welche fich Fein Gejeß mit Strafandrohung
geben läßt, welche aber bei völligem Gehenlaſſen in den Sitten
der Bürger leicht Abweichungen von dem allgemeinen Geift der
Geſetzgebung erzeugen können. Hier, wo der Zwang verjagt, aber
auch „völliges Schweigen unmöglich it”, muß der Gejeßgeber
wenigjtens duch Lehre und Ermahnung der VBolksfitte die Nichtung
zu geben juchen, welche feinen Intentionen entipricht.2).
Die Einwirkung des Staates anf das Einzelleben beginnt
bereits lange vor der Geburt. Im Intereſſe der ftaatlichen Ge-
meinjchaft, wie der fünftigen Bürger ſelbſt wird mit allen Mitteln
darauf hingearbeitet, daß möglichſt ſolche Ehen geſchloſſen werden,
welche die Erzeugung einer phyſiſch und geiftig tüchtigen Nach:
fommenjchaft verbürgen. Da diefer Zwed der Ehe leicht dadurch
Tey’ dv dxoVoavre Eis ovvvor@v dpixot dv Tv 009M7v, Ortı Ywois ys
dies dıowmmoews Ev Tais noAsoıw 0045 yıyvouevns udenv dv TE xovd
tıs oloıro E£sıv Tiva BEßaiörmte FEDEwS vouwv, ZU TAUTE Evvoov @vTog
vouoıs dv tols vor OMFEloı XOWTo, zul KoWwusvos EV mv TE olziav zei
noAıy due tv airod dioızWv gVdaıuorvot.
) 859a.
2) 720a. 722b. 857e.
®) 7882 f.
920 Erſtes Buch. Hellas.
gefährdet wird, daß in Folge ungenügender gegenfeitiger Bekannt—
ichaft der eime Ehegatte über die Eigenjchaften des anderen in
einer Täufchung befangen ift, jo joll der heranwachjenden Jugend
vor allem Gelegenheit gegeben werden „zu ſchauen und gejchaut
zu werden.” Zahlreiche religiöſe Felte, die zugleich dazu dienen,
daß die Bürger mit einander näher befannt und befreundet wer-
den,!) öffentlihe Spiele, bei denen Jünglinge und Mädchen in
Neigentänzen auftreten, erleichtern e3 dem jungen Bürger „ein
Mädchen nach feinem Sinn zu finden, von dem er jich für Die
Erzeugung und gemeinfchaftliche Auferziehung von Kindern Gutes
verjpricht.“ 2)
Bevor er aber wählt, fommt ihm wiederum die ftaatliche
Fürforge zur Hilfe, indem er durch die Einleitung in das Che:
vecht Iyftematifch darüber belehrt wird, wie er eine geeignete Ge:
fährtin zu juchen habe. — „Mein Sohn“, jagt das Gejeß „ou
mußt eine Ehe jchließen, welche auf den Beifall verjtändiger Leute
rechnen darf; und diefe werden dir raten, der Verbindung mit
einer ärmeren Familie nicht aus dem Wege zu gehen, ja unter
übrigens gleichen Verhältniffen gerade einer jolchen Verbindung jtets
dev Verſchwägerung mit dem Neichtum den Vorzug zu geben.
Das wird ſowohl dem Staate, wie den betreffenden Familien ſelbſt
zum Heile gereichen. Denn es liegt im Sinne der Gleichheit und
Mäßigung und damit auch der Tugend.“ — Ferner ift im Intereſſe
einer harmonifchen pſychiſchen Konftitution der Kinder auch auf eine
richtige Miſchung der Temperamente zu jehen, indem möglichſt die
entgegengejegten Charaktere den Ehebund ſchließen. Überhaupt hat
der leitende Gedanke bei ver Ehejchließung der zu jein, daß ever
die für den Staat eriprießlichite, nicht die ihm jelbjt am meiften
zujagende Wahl treffe.?)
Wieweit freilich der Einzelne dieſen Direftiven folgen will,
e
E \ S ? S B —
3b: zei zarte narros Eis Eotw udFos yauov' Tor — zn noAeı
dei ovup
Ex
& urnotev JELV yduor EXaoTov, oV tov ndıoror aü To.
II. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Geſetzesſtaates. 521
liegt in feiner Hand. Denn „es winde nicht bloß lächerlich fein,
ſondern auch bei Vielen nur Unwillen erregen, wenn das Geſetz
ausdrücklich vorjchreiben wollte, daß die Wermögenderen und Mäch-
tigeren nicht wieder die Töchter von ihresgleichen freien, oder daß
Männer von leidenjchaftlihem Naturell fi) nur nach Frauen von
ruhiger Gemütsart und ruhigere Männer nur nach lebhaften Frauen
umſehen dürfen.” 1)
Wo dagegen die Regelung durch den Staat Feine Schwierig-
feit zu haben jeheint, da tritt fie auch ein. Dies gilt zunächit für
die Zeit der Eheſchließung. Die in die Ehe Tretenden jollen
einerjeit3 eine gewilje Neife erlangt haben, anvdererjeitS aber auch
nicht zu alt fein. Der Staat gejtattet daher feinem Bürger Die
Ehe vor dem 25. Lebensjahre?) und läßt ebenjowenig zu, daß die
Ehe jpäter, als mit 35 Fahren geichlojjen wird. ?)
Was das eheliche Leben ſelbſt betrifft, Jo verzichtet zwar der
Staat jo lange, al3 der Durcchichnittsftand der allgemeinen Volks—
DlTabe.
?) 772d val. 785b, wo allerdings im Widerjpruch damit das 30.— 35.
Jahr al Zeit für die Eheſchließung feitgefeßt wird. Für das Mädchen
wird hier das 16.—20. Jahr, an einer anderen Stelle (833d) dag 18.—20.
bejtimmt. Sa e3 findet ſich jogar völlig abweichend davon im Erbtöchter:
recht die Beitimmung, daß die Angemefjenheit des Alters zum Heiraten von
dem Nichter beurteilt werden fol, dev zu dem Zweck die Jünglinge ganz
nact, die Mädchen bis zum Nabel entblößt befichtigen darf. (925a). Eine
Vorſchrift, die Übrigens in den gefchichtlichen Nechten des Altertums nicht
ohne Analogie ift.
Es kann fich hier nur darum handeln, diefe Widerjprüche zu konſta—
tieren. Inwieweit fie auf Plato ſelbſt und die Unfertigfeit jeines Werkes
oder auf Interpolation zurücdzuführen find, läßt ſich nicht entjcheiden. Über:
haupt können Fragen, wie die der Kompofition der „Gejege” in einer Ge—
ichichte des Sozialismus nicht erörtert werden.
3) Es ſoll übrigens damit zugleich die Eheloſigkeit befämpft werden.
Empfindliche, jährlich fich wiederholende Geldftrafen treffen jeden, dev nach
feinem 35. Jahre noch nicht verheirathet ift. „Er joll nicht glauben, das
fedige Leben bringe ihm Eriparnis und Bequemlichkeit. 721b f. Die an
den Tempelichag der Hera zu zahlenden Strafgelder betragen 30, 60, 70,
100 Drachmen je nach der Steuerklajje. 774a.
5939 Grites Buch. Hellas.
fittlichfeit ein befriedigender ift, auf ein unmittelbares Eingreifen;
er „läßt die Sache ftillichweigend auf fich beruhen und gibt fein
Geleß darüber.” Nur Belehrungen, „wie fie Kinder zu zeugen
haben,” werden den jungen Eheleuten zu teil. Zeigen fich aber
infolge diejes Gewährenlaſſens Mißſtände und fruchten die Beleh-
tungen nichts, jo ſcheut er auch nicht vor der weitgehendſten Be
vormundung zurüd. Die Ehe wird dann unter ftrenge öffentliche
Kontrolle geftellt, die vor allem darauf zu jehen hat, daß ihr Zweck
auch wirklich erreicht wird. Dieje Kontrolle liegt in der Hand
von Matronen, die von der Negierung als „Aufjeherinnen über
die Ehen” (zvoreı vov yauor) beſtellt ſind.) Diejelben verfam-
meln fich alltäglich im Heiligtum der Geburtsgöttin, der Eileithyia
(Juno Lucima), um ſich gegenfeitig Mitteilung zu machen, - wenn
eine von ihnen „einen Ehemann oder eine Chefrau in den zur
Zeugung bejtimmten Jahren entdeckt bat, die ihr Augenmerk auf
etwas anderes richten, als auf das, was ihnen unter bochzeitlichen
Dpfern und heiligen Handlungen geboten wurde.” Un das zu
verhüten, der „Unerfahrenheit und etwaigen Fehltritten der jungen
Eheleute zu ſteuern“, haben die Aufjeherinnen das Recht und die
Pflicht, diejelben in ihrer Wohnung zu bejuchen und durch gütliches
Zureden oder Durch Drohungen auf den rechten Weg zu führen.
Gelingt ihnen das nicht, jo wenden fie ſich an die oberſte Negierungs-
behörde, die jogenannten Gejegesbewahrer, und wenn auch dieſe
nichts erreichen, erfolgt Anklage vor dem Volksgericht, die im Falle
der Verurteilung zur Aberkennung gewifjer bürgerlicher Ehrenrechte
führt.?2) Eine Strafe, die da, wo offenfundiger, zum öffentlichen
1) 794b.
2) Der jchuldige Mann darf fich an feiner Hochzeit und feinen Opfer:
feften beteiligen, welche zur Feier der Geburt von Kindern ftattfinden; und
wenn er es dennoch thut, kann ihn jeder förperlich züchtigen! Dasfelbe
Verbot trifft die Fchuldige Frau, die außerdem auch an feinem Feftaufzug
der Frauen oder jonftigen Auszeichnungen ihres Gejchlechtes mehr teilnehmen
darf. 784d. Sit die Konkubine eine Sklavin, jo wird fie ſamt ihrem Kinde
ins Ausland verichiekt. 930e. Am Liebften würde freilich Plato jeden, auch
den geheimen Ehebruch ftrafrechtlich verfolgen. S44d.
II. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Geſetzesſtaates. 593
Ärgernis gewordener Konkubinat oder widernatürliche Lafter vor-
liegen, zu völliger Ehrloserklärung gefteigert werden fann.!)
Dieje Beauffichtigung der Ehe dauert zehn Sahre, worauf
diejenigen, welche kinderlos geblieben jind, gejchieden werden !?)
Aber auch damit ift das Einmiſchungsrecht des Staates nicht er—
ſchöpft. Der Wittwer 3. B., der Söhne und Töchter hat, muß
es fich gefallen laflen, daß ihn das Gejeß zwar nicht zwingt, aber
ihm doch dringend empfiehlt, feinen Kindern feine Stiefmutter zu
geben. Iſt er dagegen Finderlos, jo wird er geradezu genötigt,
fich wieder zu verehelichen, „bis er für fein Haus und den Staat
eine hinlängliche Anzahl von Kindern gezeugt bat,“ d. h. mindeſtens
einen Knaben und ein Mädchen. Stirbt der Mann mit Hinter:
laſſung diejer Kinderzahl, jo ſoll die Mutter verpflichtet jein, Wittwe
zu bleiben und ihre Kinder aufzuziehen. Nur wenn fie noch zu
jung ift, um ohne Gefahr für ihre Tugend ehelos leben zu können,
follen die Angehörigen in gemeinfchaftlicher Beratung mit den Auf:
feherinnen der Ehen „mit ihr verfahren, wie es ihnen am beiten
ſcheint“. Dasjelbe bat „zum Zweck der erforderlichen Kinder:
erzeugung” zu geichehen für den Fall, daß die Ehe Einderlos war. >)
Natürlich tritt Die ftaatliche Fürjorge, die ſich bereits der
ungeborenen Generation angenommen, nach der Geburt in erhöhten
Maße ein. Wenn auch der Gejebgeber, „um nicht zum Oelächter
zu werden“ darauf verzichtet, das häusliche Leben durch gejeßliche
Borihriften über das Verhalten der Mütter, die Pflege der Neu—
geborenen u. ſ. w. zu meiltern und auf Schritt und Tritt mit
Strafen zu bedrohen,*) jo ſorgt ex doch durch ſyſtematiſche öffent
liche Belehrung und Aufklärung über die vationelljte leibliche und
pſychiſche Behandlung der Kinder dafür, daß fich in diefer Hinficht
vernünftige freiwillig befolgte Sitten herausbilven.>)
) 84le.
2) 784h.
3) 930b ff.
4) 788a. 790a.
5) Plato verſchmäht es nicht, ſelbſt ſolche Anweiſungen zu geben. 789 d ff.
524 Erſtes Buch. Hellas.
Auch tritt dev häuslichen Erziehung jo bald als nur immer
möglich die öffentliche zur Seite. Eine Offentlichfeit, die zugleich
von Anfang an eine bejondere Steigerung dadurch erhält, daß —
ähnlich wie in Sparta — alle Bürger zur Mitwirkung an der
Sugenderziehung berufen werden, indem jeder nicht mur berechtigt,
jondern jogar bei eigener ſchwerer Verantwortung verpflichtet ift,
Vergehen der Kinder auf der Stelle durch Förperliche Züchtigung
zu ahnden.
Das erſte Stadium des ftaatlichen Erziehungsſyſtems bildet
dev Kindergarten. Vom vollendeten dritten bis zum vollendeten
jechiten Jahre haben fich die Kinder jedes Gemeindebezirfes, Knaben
und Mädchen, in Begleitung ihrer Wärterinnen alltäglich bei den
Gotteshäufern auf gemeinfamen Spielplägen zu verfammeln, welche
unter der jorgfältigen Dbhut öffentlicher Auffeherinnen stehen.)
Mit dem jechiten Jahre beginnt dann der ſyſtematiſche Unterricht
in den beiden Hauptzweigen der Jugendbildung: Gymnaftif und
Mufit, und zwar für beide Gejchlechter getrennt, obgleich Plato
auch hier daran feithält, daß das weibliche Gejchlecht an der Bil-
dung und Beichäftigung des männlichen möglichjt Anteil haben
fol?) und daher auch die Mädchen, die ſich irgend dazu anlafjen,
im Neiten, Bogen-, Speer, Schleuderjchießen, in jeder Art von
Waffentanz und Kampfipiel unterrichtet werden jollen,?) damit die
Kraft des Staates ſich verdopple. — Die Schulen find durchweg
Staatsſchulen, die Lehrer vom Staat befoldet und der Beſuch für
Alle ein obligatorifcher. Denn, „da die Kinder mehr dem Staate
als ihren Eltern angehören“, darf fie der Staat zwingen, ich
möglichſt diejenige Bildung anzueignen, die er für notwendig hält,
und kann es nicht etwa dem Water freijtellen, jeine Kinder die
) 794h.
2) 8S05e: 70 d’ Njucregov diazekevun Ev TovToig 00% drTooßmoerau Te
un ob Akysır, ws del naudeies TE zul tov dhhwv 6 tu udhıoru zowwveir
70 Imhv yEvos yulv TO TOv dogEvov yEveı.
3) 794d. Sehr bezeichnend ift dabei der Hintweis auf das Beijpiel
gewifjer Naturvölfer, wie der Sauromaten S04e.
IH. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejeßesitaates. 595
Schule bejuchen zu laſſen oder nicht und fie jo ohne die bier mit-
geteilte Bildung aufwachlen zu laſſen.)
Was den Inhalt diefer Bildung jelbit betrifft, jo geben zu—
nächſt die Spiele und die den Leibesübungen gemwidmeten Kurſe
Gelegenheit, die Kinder mit den nötigiten Zahlen und Naumver-
hältniſſen jpielend vertraut zu machen. Erſt im zehnten Jahre
beginnt der ſyſtematiſche Unterricht im Leſen und Schreiben (den
jogen. yoauuere) und im Auswendiglernen von geeigneten Leſe—
jtüden in Boejie und Profa.?2) Daran reiht fich dann vom 13.
bis 16. Jahre die im engeren Sinn muſiſche Unterweifung in
Zitherjpiel und Gejang, und — wahricheinlich in derjelben Zeit —
die Drcheftif, die durch die Verbindung mit Poeſie und Muſik in
der choriſchen Lyrik zugleich zu einem wertvollen ethijchen Erziehungs:
mittel wird.?) Weitere Gegenftände des Unterrichtes find Arithmetif,
Geometrie und Njtronomie, welch’ letztere Disziplinen allerdings
nur von den Begabtejten in befonderen Kurſen eingehender betrieben
werden, während fich die große Mehrheit mit den für das prak—
tiiche Leben unentbehrlichen Elementen begnügt.*)
Den wichtigiten Lehrftoff aber bilden die Schriften des Gejeß-
gebers jelbit, die — „nicht ohne einen Anhauch göttlicher Begeifte-
rung” geſchaffens) — den ſicherſten Prüfftein für die Beurteilung
aller Fragen des Lebens darbieten.6) Denn dieſe Schriften ent:
balten nicht bloß Geſetzgebung im eigentlichen Sinne des Wortes,
’) Vol. die berühmte Formulierung des Prinzips der allgemeinen
Schulpflicht S04d: Ev dE rovroıs nacı dideoxdhovs Exdotwv TETTEISUEVOVS
uıcHois oixovvras £Evovs |dei?] didaozeıv Te navre 600 n1gös Tov noksuorv
Eotı ucFNucTe Tous poıtWvras 000 TE NIQ0S uovoızyjv, 0VUy Ov uev dv
ö nerno Bovintaı, portwrre, Ov d’ av un, Eovra tes nawdeias, ahhr
to Aeyousvov ndrt’ dvdoa zei naide zare T6 dvvarov, ds ıjs nohlews
udhkov 7 av yervvnToowv Ovras, nudevreov & avdyans.
2) 809e—812b.
5) 795d f., 812b—813a. 814d f.
s) 817e fj.
5) 8l1e.
6) Y97d.
926 Erſtes Buch. Hellas.
jondern zugleich eine ganze Ethik, indem der Gejeßgeber „alles,
was er für löblich oder tadelnswert hält — wenn auch nicht in
der Form gejeglicher Beitimmungen — mit in jeine Gejeße ver:
webt, auf daß es der quite Bürger nicht minder treu beobachte als
das, was das Gejeb unter Androhung von Strafe befiehlt.”1) Hier
wird dem heranmwachjenden Knaben und Jüngling ausführlich dar:
gelegt, „wie man jich gegen Verwandte und Freunde, Mitbürger
und Fremde zu verhalten habe, um ſich jo nach der Anleitung
des Gejeges das eigene Leben möglichit erfreulich und ſchön zu
geitalten.”2) Insbeſondere find es die in poetiicher Proſa abge:
faßten 3) ethiſchen Einleitungen in die Gejeße, welche dieje Beleh—
rung enthalten und welche daher die Schüler bei diefem Unterricht
in der Gejeßesfunde vor allem ihrem Gedächtnis einzuprägen haben.
Die Grundnorm diefes von Staats wegen aufgeftellten Syſtems
der Ethik ift wie in der PBolitie die Lehre von der Koinzidenz der
Tugend und Glüdjeligkeit, von deren Wahrheit der Gejetgeber
„mit allen Mitten dur” Gewöhnung, Lobjprühe und Gründe
überzeugen ſoll.“ Dabei wird, ebenjall$ wie in der PBolitie, die
Bemerfung hinzugefügt, daß jelbjt dann, wenn diejer ethiſche Sat
nicht richtig wäre, der Gejeßgeber an ihm fejthalten müßte und
„ſich wohl erfühnen dürfe, zur Beförderung der Tugend gegenüber
den Jünglingen eine Lüge auszufprechen. Denn er könnte ſchwer—
lich eine erfinnen, welche nübßlicher als dieje wäre und mehr als
fie zu bewirken vermöchte, daß man nicht gezwungen, jondern frei-
willig das Nechte thut.”+) Plato erinnert dabei an die Kadmos—
jage, die troß ihrer Umwahrjcheinlichfeit Glauben gefunden habe.
1) 823.8.
?) 71Sa: — 70V Eavrov Biov paıdovrdusvov zata vouov zoouelv KT.
3) Es wird von ihnen in ähnlichen Ausdrüden gejprochen, wie dont
Hymnen und anderen Gejängen oder von Zauberjprüchen. Die „Überredung“
durch das Gejeh ift ein Enddeıw 773d. Vgl. Site: raevra nuov ddovrwrv
7EOOLUIE Tois navra Taüre« Ennwoovow xt. — 903b: Erwdav ye unv
ngo0deio#ei uoı doxei uvdywv Er Tivor.
4) 6734.
IIT. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejeßesitaates. 597
„Der beite Beweis dafür, daß es dem Geſetzgeber ſchon gelingen
werde, die Gemüter der Jugend von allem zu überzeugen,
was er will!” ')
Wie lange diefer Unterricht dauert, wird nicht bemerkt.
Aber in gewilem Sinne fann man jagen, daß die muſiſche Er—
ziehung der Bürger, wie die Erziehung überhaupt, niemals gänz-
ih aufhört.2) Der Gejeßgeber „Toll jedes nur erdenkliche Mittel
ausfindig zu machen juchen, das in irgend eimer Art dazu dient,
daß die ganze Bürgergemeinde über das vom Gejeßgeber Gehörte
ihr ganzes Leben hindurch in Lied, Sage und Rede ſtets Diejelbe
Sprache führe.” Insbeſondere dienen die allezeit mit Luft ge-
jungenen Lieder dazu, daß Sich gegenfeitig „Alt und Jung, Freier
und Sklave, Mann und Weib, kurz das ganze Volk dem ganzen
Volk ohn' Unterlaß die bejprohenen Grundſätze gleichjam wie
Bauberformeln in den verjchtevenartigften Variationen jozufagen
einfingt.“ 3)
Die ganze Bürgerichaft, Jung und Alt, wird in Chöre ein-
geteilt, deren Geſänge alle jittlihen Grundjäße, beſonders die
„Hauptlehre”, daß das angenehmjte und das fittliche Leben nach)
dem Ausjpruch der Götter ein und dasjelbe jei, den Bürgern ſchon
von zarter Kindheit an einjingen und gewijjermaßen einzaubern
jollen.*) Den Mufen geweiht ift der Neigen der Knaben, dev „mit
allem Eifer jene Lehren der ganzen Bürgerfchaft vorzufingen hat ;“
ihm folgt der Chor der Jünglinge, welcher Apoll zum Zeugen für
die Wahrheit des Worgetragenen aufrufen und ihn anflehen ſoll,
daß er fie gnädig mit dem feiten Glauben an dieſe Wahrheit ex
füllen möge; und die Vollendung der ganzen Einrichtung ftellt der
dionyfiihe Chor dar, der aus den reifen Männern von 30—60
Sahren bejteht und nur für diefen engeren Kreis, nicht für das
ganze Volt beftimmt ift.
1) 663.
2) 631e.
3) 665.
) 6646,
528 Erſtes Buch. Hellas.
Was die Greife betrifft, die fich nicht mehr am Geſange be-
teiligen fünnen, jo jollen fie wenigitens als „Sugenerzähler” am
Werke der Belehrung und Mahnung mitwirken. Sie find das
berufene Drgan für jene Form der Pädagogik, welche die Prin—
zipien der Ethik im Gewande der Legende, der aus grauer Vorzeit
ftammenden Überlieferung mitteilt, die als ſolche geradezu auf
göttlichen Ursprung zurücgeführt werden kann.)
Mit der Ausbildung von Geiſt und Gemüt geht Hand in
Hand die förperlihe Schulung, der aymnaftische Unterricht im
weitelten Sinn, der mit dem 17. und 18. Jahre zugleich ein mehr
militärisches Gepräge erhält. Mit dem 20. beginnt der eigentliche
Heerdienft, der den Bürger während der ganzen Dauer der Dienjt-
pflicht bis zum 60. Lebensjahre in Anfpruch nimmt. Jeden Monat
finden mindeftens einmal größere militärische Übungen und Feld»
manöver ftatt, zu welchen die Bürger jämtlic) oder in einzelnen
Abteilungen einberufen werden. Denn wenn der Staat auch grund-
fäßlid ein Staat des Friedens ift, jo ift er doch eben um ver
Erhaltung dieſes Eoftbaren Gutes willen genötigt, jeine Wehrkraft
auf das äußerſte anzuſpannen und fie in der denkbar vollkommenſten
Weiſe auszubilden.) |
Daher wird auch das weibliche Geſchlecht bis zu einem ge
wien Grad an den Übungen beteiligt und für den Krieg vor-
gebildet. ES gilt für ſchimpflich, wenn die Frauen vor dem an—
ftürmenden Feind gleich zu den Altären und QTempeln flüchten,
feiger als das ſchwächſte Tier, das ſtets für feine Jungen zu käm—
pfen umd zu fterben bereit ift.°)
1) 664d: roös de uerd Tavre — 0V yao Erı dvvaroi pegsıv Wdds —
uvFoloyovs neol TWv autov 790v dia Helas pryuns xaraheheipder.
2) 785b. 829a f.
3) 8144. Mllerdings ift dieſe Verpflichtung des weiblichen Gejchlechtes
— im Unterjchied vom Idealſtaat — nur eine jubjidiäre. Sie tritt nur
in Ausnahmefällen ein, wenn 3. B. die gefamte wehrfähige Bürgerjchaft ins
Held rüden muß und zur Bewachung der Stadt nicht die nötigen Kräfte
vorhanden find, 8136 ff.
IT. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejeßesitaates. 529
Bon Intereſſe it die Art und Weile, wie Plato diefe An—
näherung der weiblichen Erziehung an die des männlichen Gejchlechtes
motiviert. Das weibliche Gejchlecht joll nicht die Sklavin des
Mannes fein, wie etwa bei den Thrafern und anderen fulturlojen
Völkern, bei denen die ganze Laſt des Acerbaues und der Vieh-
zucht auf dem Weibe ruht. ES fol auch nicht auf das Haus—
regiment, auf Webituhl und Wollarbeit beichränft werden, wie bei
den Athenern. Selbjt die freiere ſpartaniſche Sitte bleibt hinter
den höchſten Anforderungen zurück, jo jehr es zu billigen ift, daß
fie die Mädchen an mufischen und gymnaſtiſchen Übungen beteiligt,
das Weib von der Wollarbeit befreit und es in würdiger Thätig—
feit zur Genoffin des Mannes macht, die am Dienfte der Götter,
der Verwaltung des Haufes und der Erziehung der Kinder „man
darf wohl jagen, den halben Anteil bat.” ES fehlt dem Weibe
jelbjt in Sparta noch vieles: ES hat nicht gelernt, wenn der Staat
in Gefahr ift, für Vaterland und Kinder zu fämpfen, in Gemein:
Ichaft mit den Männern gleich den Amazonen Bogen und Wurf:
geſchoß Funftgerecht zu handhaben, noch auch Schild und Speer
nach dem Mufter jeiner Göttin zu ergreifen. Sauromatiiche Frauen
würden im Bergleich mit Spartanerinnen in der Stunde der Gefahr
wie Männer gegen Weiber erjcheinen. Auch werden die Frauen
dadurch, daß der Staat im ſeltſamen Widerſpruch mit feiner Für:
jorge für das männliche Geſchlecht auf die gejeßliche Negelung
ihrer Lebensweiſe verzichtet, zu Aufwand und Zügellojigfeit ver:
führt. Dem Staate aber entgeht jo die Hälfte des Glückes, welches
ihm zu teil würde, wenn die Bildung und die Thätigfeit des
weiblichen Gejchlechtes der des Mannes möglichit gleichfäme. !)
Die Äußerung über die Notwendigkeit einer ftaatlichen Negelung
der weiblichen Lebensweiſe führt uns über Erziehung und Unterricht
hinaus zum Leben des erwachjenen Bürgers, das — wie wir bereits
an dem Cherecht geſehen — ebenfalls einer ſyſtematiſchen Über:
wachung durch den Staat und die Dffentlichfeit unterliegen joll.:)
) 80de ff.
2) Bgl. 631e.
Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 34
530 Erſtes Buch. Hellas.
Die beveutfame Thätigkeit, welche der Staat feinen Bürgern
durch die Befreiung von wirtjchaftlichen Sorgen und regelmäßiger
wirtfchaftliher Arbeit ermöglicht und von ihnen fordert, jest eine
bejtändige Übung des Körpers und ein ftetiges Fortjchreiten in
„Tugend“ und Wiſſen voraus. Sie haben jtetS deſſen eingedenf
zu fein, daß fie „zur Arbeit geboren” find.!) Der ganze Tag
und die ganze Nacht — meint Plato — würde faum ausreichen,
um in der Erfüllung diejes Lebensberufes zur Vollendung und
zu einem völlig befriedigenden Ziele zu gelangen. ?)
Daher muß das ganze Leben der Bürger einer ftrengen Drd-
nung unterworfen werden, welche fie anweilt, wie fie „die ganze
Zeit — faft von einem Sonnenaufgang zum andern — tagtäglic)
verwenden” jollen.) Zwar joll ſich dabei der Gejeßgeber nicht
auf eine Eleinliche Negelung des Details einlafjen, 3. B. feine
Verfügung darüber treffen, „wie weit etwa der Bürger, der un—
abläffig und mit aller Sorgfalt für das Wohl des Staates zu
wachen hat, jeine nächtliche Ruhe verkürzen“ müſſe. Aber er
legt doch einen Schimpf darauf, wenn etwa ein Bürger die ganze
Nacht Fchlafend zubringen und fich nicht vor allem Hausgefinde
ſtets al3 der Erſte beim Nufftehen zeigen wollte, oder wenn die
Hausfrau ſich von ihren Dienerinnen weden lafjen wollte, ftatt
jelbft alle anderen zu weden:5) Ein Schimpf, deſſen zwingende
Gewalt in diefem Staat gegenüber dem Einzelnen kaum jchwächer
1) !ſnt To noveiv yeyovores. 7794.
2) 07a ff:
3) 807d: ovrw dr) Toitwv nepvaoıwy ra&ıv dei yiyvsodaı naoı
tois EAsvHegoıs TNS dıLargLßns neol Töv Yo0ovov anavıa, 0%Eedov
aofdusvov 2E Ew ueyoı vis Erepas del Evveyws Ew TE zal yAlov avaroins.
9 807e: noAla uev oVv xal nurvd zul suzod Aeyav dv TIS vouo-
HErns doymuwov gpelvoro negl TWv zur’ oixiav bioıznoewv, ta Te dAla zul
00« vixtwo dünvias neo moensı Tols u£khovoı did TEhovs puhafeıv naoav
nöhlv dxoLßos.
5) Wenn, wie Plato vorjchreibt, die Kinder fchon mit dem Morgen:
grauen zur Schule jollen (808e), jo müffen auch die Erwachſenen frühzeitig
an die Arbeit gehen.
IT. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Geſetzesſtaates. 531
wäre, als wenn an Stelle der durch den Gejetgeber gebeiligten
Sitte das Gejeß ſelbſt treten würde. Das „ganze Haus“, die
Kinder, ja jogar Sklaven und Sflavinnen werden gegen die Zus
wiverhandelmden zum Nichter aufgerufen. Die engjte Umgebung
des Bürgers muß der Gemeinjchaft behülflich ſein, die Zucht der
Geſinnung zu jchaffen, die den Einzelnen ihrem Willen unbedingt
unterwirft. !)
Mit der ganzen Autorität des pojitiven Geſetzes vollends
wird jene Offentlichfeit des Lebens erzwungen, wie fie durch die
Ausdehnung der Speijegenofjenfchaften auf Kinder und Frauen
erreicht werden joll. Diejes tägliche Zujammenjein ift für alle
Bürger, für Mann und Weib, für Mt und Jung eine ununter:
brochene joziale Schulung zur Pflege des Gemeinfinnes, zur Be:
fämpfung der Selbitjucht, überhaupt aller gejelliehafts- und gleich-
heitswidrigen Inſtinkte, von Unmäßigkeit, Üppigfeit und Ver—
ſchwendung.
Unterſtützt wird dieſe Tendenz des Syſſitienweſens durch eine
ſtrenge Luxusgeſetzgebung. So wenig fröhliche Luſt und heiterer
Genuß in dieſem Staate verpönt ſein ſoll, der Staat behält ſich
doch vor, auch hier dem individuellen Belieben gewiſſe Schranken
zu jeßen. Über den Weingenuß 3. B. enthält das Geſetz weit-
läufige Vorſchriften. Er ift dem Soldaten im Felde, dem Beamten
während jeines Amtsjahres, dem Nichter auf die Dauer feiner
Funktionen jchlechterdings verboten, ebenfo Jedem, Der in einer
wichtigen Angelegenheit an einer beratenden Verſammlung teilzu—
nehmen bat. Sa bei Tage joll überhaupt Jedermann des Weines
fich enthalten, wenn er ihn nicht zur Stärkung in Krankheit oder
für Leibesübungen bedarf. Um dieje Einfchränfung des Wein—
fonfums zu erzwingen, jeßt der Staat, wie der Produktion aller
anderen Landeserzeugnille, jo auch dem Weinbau eine fejtbeitimmte
Grenze, er läßt nur den kleinſten Teil des Kulturbodens mit Neben
bepflanzen.?)
) 807e.
?) 674c: worte zard tov Aoyoy Tovrov oVd’ dunekuvov dv noAlov
34*
532 Erſtes Buch. Hellas.
Hieher gehören auch die Beftimmungen über Hochzeiten und
Begräbniffe. Bei erjteren jollen nur fünf Freunde des Bräutigams
und fünf Freundinnen der Braut, ſowie beiderſeits ebenjoviele
Rerwandte zugelaffen werden. Der Aufwand, der dabei gemacht
wird, ſoll bei der erſten Zenfusklaffe den Betrag einer Mine, bei
der zweiten den einer halben Mine u. ſ. f. in abjteigender Linie nicht
überſchreiten. Zuwiderhandelnde werden bejtraft als jolche, die
„ver Geſetze der hochzeitlihen Mufen unfundig ſind“.) — Bei
den Begräbniffen fungiert geradezu ein Vertreter des Staates, der
von den Verwandten des Verftorbenen aus der Neihe der ſogenann—
ten Gejegesbewahrer gewählt wird und welcher dafür verantwortlich
ift, daß die ganze Leichenfeier in „maßvoller und Löblicher” Weife
vor ſich geht. Dabei ſoll der gejamte Aufwand für ein Leichen:
begängnis je nad) der Zenfusklaffe nicht mehr als 5, bezw. 3, 2
und 1 Mine betragen. Der Grabhügel joll nicht Höher aufgeworfen
werden, als es fünf Männer in fünf Tagen vermögen, und der
Srabftein ſoll nur fo groß fein, als Naum nötig iſt für ein furzes
der od" yrıvı nohsı, Taxe DE ad U’ ahha Ev Ein yEwoyyuara zul ndoe
n diete, za dN Ta ye negi oivor oyEdov dndvrov £uuetoöraere xaL
okiyıora yiyvor’ av, — Ich kann mich nicht entjchließen, diefe Ausführung
über den Wein und die Rebenfultur Plato abzufprechen und dem Redaktor
zuzuschreiben, wie es Bruns thut. (Platos „Geſetze“ vor und nach ihrer
Herausgabe durch Philipp von Oropus ©. 51.) Dagegen verzichte ich aller:
dings darauf, die fich durchaus widerfprechenden, auf verjchiedene Entwürfe
beziehungsweife fremde Zuſätze zurüczuführenden Satungen über die Trink:
vereine im erſten Buch und über den dionyfischen Chor im zweiten (bejon-
ders 649a 5. und 666a f.) für die Charafteriftit des Gejegesftaates zu ver—
werten. Einerſeits handelt es ſich hier um Fragen, don denen wir nicht
wiſſen, toie ſich Plato ſelbſt ihre endgültige Löjung gedacht hat, anderer:
ſeits enthalten fie fein neues charakteriftiiches Moment für die Gejchichte des
Sozialismus.
’) 775a. Daran jchließen ſich Ermahnungen zur Mäßigkeit im Ins
terejfe der fünftigen Generation, Vorſchriften über Wohnfig und Haushalt
des jungen Paares, der von dem der Eltern und Verwandten getrennt jein
joll. Eine Solierung, von der Plato zugleich eine Steigerung der Ber:
wandtenliebe eriwartet. 776a.
IH. 3. 3. Die Lebensordnung dev Bürger des platon. Gejegesftaates. 533
Epigramm auf den DVerftorbenen, das nicht mehr als vier Hera:
meter enthalten darf. !)
Wie Schon aus diejer le&teren Beltimmung hervorgeht, ex
ſtreckt ſich die „ſorgſame Aufficht des Staates über jedes Lebens:
alter” 2) nicht bloß auf die äußere materielle Seite des Lebens.
Alles, was auf das Gemüt zu wirken vermag, alle vedenden und
bildenden Künfte jollen ſich vom Staate die Richtung vorfchreiben
laſſen, welche feinen Zweden am beiten zu entjprechen jcheint.
Gleich bei der Begründung des Staates wird eine Klommij-
fion eingejeßt, — beftehend aus Männern über fünfzig Jahren, —
welche die bereitS vorhandene poetilche und muſikaliſche Litteratur
einer jtrengen Sichtung unterwirft und alles den Prinzipien des
neuen Gemeinmwejens Widerjtreitende von demjelben unbedingt aus-
ſchließt. Genügen die zugelafjenen Dichter: und Tonwerke nicht,
um alle Anforderungen der muſiſchen und choreutifchen Erziehung,
jowie des Kultus zu befriedigen, jo zieht die Kommiſſion tüchtige
Muſiker und Dichter Hinzu, welche genau nach den Intentionen des
Geſetzgebers und unter möglichjtem Verzicht auf eigene Neigungen
die nötigen Terte und Melodien zu liefern haben. Alles was dem
großen Haufen zujagt und den Sinnen jchmeichelt, ift aus der bier
geduldeten Kunft unbedingt verbannt; nur mit der „maßvollen und
wohlgeregelten” Muſe joll der Bürger Verkehr pflegen, mag ſie auch
dem Ungebildeten froftig und veizlos erjcheinen. >)
!) 959de. — Man foll ſich nicht zu übermäßigen Aufwand durch
den Gedanken verführen laſſen, daß „die Fleiſchmaſſe, die da begraben wird,
ein Anverwandter fei, jondern Jedermann ſoll denken, daß fein Sohn oder
Bruder oder wen er jonft mit Schmerzen zu beftatten jcheint, in Wahrheit
vielmehr dahin ‚gegangen ift, um jein Schidjal zu vollenden. Das was
jedem von uns jein Dafein verleiht und was er wirklich ift, das unfterbliche
Weſen, das Seele heißt, wandert zu den Göttern, um dort Rechenjchaft ab-
zulegen, wobei ihm Niemand helfen kann. Der Dienft, den der Menfch dem
Toden erweilt, gilt nur einem Schatten, einem Nichts. 959a ff. — Weitere
vielfach an das attiſche Necht ſich anjchliegende Bejchränfungen ſ. 960a.
2) 959e.
») 8022 ff.
554 Erſtes Buch. Hellas.
Nachdem jo die „feſten Typen“ für alle Poeſie und Kunſt
aufgeftellt find, tritt an die Stelle der außerordentlichen Kommiſſion
eine ftändige Zenjurbehörde, welche dafür zu jorgen hat, daß fich
auch in Zukunft alles poetische und künſtleriſche Schaffen in den
vorgezeichneten Bahnen bewege. Der Gefeßgeber kann dem Dichter
feine Freiheit gewähren, weil derjelbe fein genügendes Urteil darüber
hat, was er dem Staate für Schaden bringen kann. „Wenn der
Dichter auf dem Dreifuß der Mufe fißt, ift er nicht mehr bei
vollem nüchternen Bewußtſein und läßt wie ein Quell ungehemmt
hervorſprudeln, was da hervorjprudeln mag!“ !)
Das Hauptaugenmerk diefer Zenfur ift darauf gerichtet, daß
niemand in Wort oder Schrift von den ethiichen Grundwahrheiten
abweiche, auf die der Staat jeine Eriftenz gründet. Der Dichter
hat von jeiner Darftellung alles ferne zu halten, was nicht vom
Staate al3 gejeßlih und gerecht, als ſchön und qut anerkannt ift.
Auch Für die rein poetische Darjtellung ift das Dogma von der
Koinzivenz der Tugend und Glückſeligkeit, des Gerechten und Nütz—
lichen unbedingt Negel und Richtſchnur. „So ziemlich die härtefte
Strafe trifft jeden, der es wagt, die Anficht zu äußern, daß es
Menschen geben könne, die ein unfittliches und doch dabei angeneh-
mes Leben führen, oder daß das Gerechte nicht auch zugleich das
Nügliche und Gewinnbringenpfte jei.“2) Um folche moraliiche Ver:
rungen ſchon im Keime zu erſticken, müſſen alle dichteriichen Er:
zeugniffe vor ihrer Veröffentlichung erſt die Billigung der Zenſur—
behörde erlangt haben. Nicht einmal privatim dürfen fie vorher
irgend jemand mitgeteilt werden.)
Überaus bezeichnend ift die Motivierung diefer Zenjur, wie
fie Blato in der Form einer Anfprache an den dramatiichen Dichter
gibt: „Wir jelbft, — Sagt der Gefeßgeber zu dem Fremdling, der um
Erlaubnis zur Aufführung feiner Dramen bittet, — wir felbft find
Dichter eines Dramas, welches, ſoweit wir vermögen, das jchönfte
9 719be.
2) 662b.
>) 801d.
IM. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejeßesftaates. 535
und beſte werden joll. Unfere ganze ftaatliche Ordnung befteht ja
in der Nahahmung des ſchönſten und beiten Lebens, und eine ſolche
joll eben nach unferen Begriffen das wahrhafte Drama fein. So
jind wir denn beide Dichter in dem gleichen Fach und Ihr habt
uns als Nebenbuhler in der Kunft und als Mitbewerber um den
Preis des ſchönſten Dramas anzujeben, zu deſſen Vollendung, wie
wir hoffen, ihrer Natur nach allein die richtige Gejeßgebung ge-
eignet it. Wähnet daher nicht, daß es Euch jemals jo ohne weiteres
geftattet werden wird, Eure Schaubühne auf unſerem Markte auf-
zuſchlagen und Eure Schaufpieler, die mit ihren jchönen Stimmen
die unſrige übertönen würden, zu Knaben und Weibern und zum
ganzen Volke reden uud über diejelben Einrichtungen nicht die gleichen
Anfichten, wie wir, verkünden zu laſſen, jondern meijtens gerade
das Gegenteil. Denn wir und der ganze Staat müßten ja gänz-
lih von Sinnen jein, wenn wir Euch dies alles geftatten und nicht
vielmehr zuvor durch die Behörde prüfen ließen, ob ihr Schidliches
gedacht habt und was fich ziemt, öffentlich vorgetragen zu werden.
Darum, Ihr Söhne der jchmeichelnden Mufen, werden wir erſt
Eure Gejänge neben den unfrigen!) den Häuptern unferes Staates
zur Brüfung vorlegen und exit, wenn dieſe finden, daß die Eueren
gleiche oder beſſere Grundjäße enthalten, Euch einen Chor (zur
Aufführung) bewilligen, im entgegengejeßten Falle aber nicht.“ 2)
Was hier über die Zenjur der Tragödie gejagt wird, gilt
natürlich in noch höherem Grade für die Komödie, die zudem einer
ganz bejonderen Beichränfung dadurch unterliegt, daß das Gejeß
feinem Dichter oder Künftler geftattet, „sich in Wort oder Bild über
einen Bürger luftig zu machen”.>)
Ähnliche ftrenge Normen gelten ferner für die mufifalifche
) D. h. den Geſetzen, die wegen ihrer poetifcherhetorifchen Redeweiſe
mit Dichtungen verglichen werden.
) 935e. Eine Ausnahme bilden nur die 829b f. erwähnten Fälle,
to das Spottlied im Dienfte der Staatspädagogif offiziell zur Anwen—
dung fommt.
5536 Erſtes Buch. Hellas.
Produktion !) und für die bildende Kunft. Wie jene alles zu ver—
meiden hat, was nur den Sinnen jehmeichelt, jo iſt aus der bilden-
den Kunft alles verbannt, was nur dem Prunke dient oder allzu
großen Aufwand an Mühe und Koften erfordert. Gold und Silber
ift auch in der Plaſtik unbedingt verpönt, ebenjo alle Erzeugniſſe
der Webekunſt, an denen ein Weib länger als einen Monat zu
arbeiten hätte. Auch follen — abgejehen vom Kriegsihmud —
alle Gewebe ungefärbt, einfach weiß fein, — die den Göttern an:
genehmfte Farbe. — In Beziehung auf die Malerei wird wenig:
ftens ſoviel bemerkt, daß die ſchönſten Geſchenke für die Götter
folche Bilder find, welche ein Maler an Einem Tag vollendet hat. (!)
Dazu fommen Verbote, welchen die verjchiedenartigiten Motive zu
Grunde liegen. So joll Elfenbein nicht für die Plaſtik verwandt wer:
den, weil e3 von einem toten Leibe ftamme, und daher auch nicht
für ein reines Weihgefchenf verwertbar jei. Eijen und Erz ift aus:
gefchloffen, weil es für den Gebrauch des Krieges dient. Nur an
Holz und Stein hat der Bildhauer feine Kunft zu bethätigen.?)
Allerdings gelten die meiften diefer Beitimmungen zunächit
nur für Kunftwerke, die in Tempel geweiht find. Allein es wird
am Schluffe ausdrücdlich hinzugefügt, daß „nach dem Vorbilde diejer
Weihgeſchenke alles andere zu geitalten jei”.?)
Was die Mufif betrifft, jo wird die bloße Inſtrumentalmuſik,
das Lied ohne Wort verpönt als eine „Saufelei und Abirrung von
den Mufen“. Flöten und Zitherfpiel ſoll nur zur Begleitung des
Geſanges und Tanzes dienen, wie auch der le&tere nur in Ver:
bindung mit jenem zugelaffen wird.*) Ohne die Verbindung mit
dem gejungenen Wort würde das, was die Tonkunſt an ethiichem
Inhalt zum Ausdruck bringen fol, den Hörern nicht zum klaren
Bewußtjein kommen.
Daß die „feiten Typen“, an welche jo alle Kunftübung ge
) 802e: dvayzalov dn zei Tovrwv Ta oynuatd yE vouodEreiv.
?) 955a ff.
3) 96h: zei rahla Foto zera Ta raiwvre avadjucre uguunusve,
1) 669).
III. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejebesftaates. 537
bunden jein foll, notwendig zu einer völligen Stagnation alles
fünftlerifchen Schaffens führen müßten, kümmert Plato nicht. Im
Gegenteil! ES Liegt ja geradezu in der Natur des Idealſtaates,
daß er eine eigentliche Entwidlung ausschließt; und jo ift eg nur
fonjequent,!) wenn Plato in feinem doftrinären Eifer ſoweit gebt,
Ägypten als das Mufterbeifpiel ausgezeichneter Staatsflugheit zu
rühmen, weil es weder Malern, noch Bildhauern, noch Muſikern
geftatte, „irgend welche Neuerungen zu machen und irgend etwas
von den bergebrachten vaterländijchen Sitten Abweichendes zu er—
finden,“ jo daß Gemälde und Statuen von heute ganz denen glichen,
welche vor zehntaujend Jahren entitanden feien!?)
Doch was will jelbit das bedeuten gegen die VBergewaltiguug
der Geiftesfreiheit, welche fich als die legte und äußerſte Konjequenz
diejes Sozialismus herausstellt?
Wie wir jahen, war ſich Wlato ſehr wohl dejjen bewußt,
daß, um mit Schopenhauer zu reden, Moral predigen leicht, Moral
begründen ſchwer ift. Insbeſondere hat er fich feiner Täufchung
darüber bingegeben, daß wieder aanz bejonders ſchwer vor dem
natürlichen menjchlichen Empfinden die Prinzipien der jozialen Ethik
zu begründen find, auf denen fich fein Staats: und Gejellichafts-
ideal aufbaut. Alle möglichen Mittel der Belehrung und Über—
redung werden vorgefchlagen, um Berftand und Herz der Bürger
für diefe Grundfäge zu gewinnen und trogdem erjcheinen fie ihm
zur vollen Erreihung des Zieles nicht genügend! Er ſieht ſich
) Das verfennt Bergf, wenn ev — im Anſchluß an jeine Hypotheſe
von den in dert Nowor angeblich enthaltenen Entwürfen zweier Staatsideale —
die Überwachung der Dichter nur in der (dem beiten Staat nächititehenden)
jogen. „devreoe noAıs“ für denkbar hält, während in der zeirn nolıreia“
welche ſich „möglichjt der allgemeinen Sitte und dem Volfsberwußtjein anzu
pafjen“ juche, für diefe Paradorie fein Raum jei. („Platos Geſetze“ in den
„Fünf Abhandlungen zur. Gejch. der griech. Philojophie und Aſtronomie“
©. 85). - - Eine jo weitgehende Anpafjung an das „Volksbewußtſein“, an
den „freien helleniſchen Geift”, wie fie hier Bergk vorausſetzt, wäre für Plato
mit dem Verzicht auf jedes Staatzideal gleichbedeutend geweſen.
2) 656e.
538 Erſtes Buch. Hellas.
auch bier, wie in der Politie, mit logischer Notwendigkeit dazu ge
drängt, die Beihilfe von Vorftellungen anzurufen, deren Heran—
siehung im Grunde genommen ven Verzicht auf die Möglichkeit einer
durchſchlagenden Begründung der inneren Vortrefflichfeit feiner Ideale
bedeutete. Dieſe Vorftellungen liegen auf dem Gebiete der Neligion,
die fich ja mit Platos Sozialphilojophie injoferne enge berührt, als
auch ihre Ideale weſentlich ftabiler Natur find, ſich als ewige
Wahrheiten geben. Die religiöje Sanktion ift es, deren jich der
Geſetzgeber bedient, um jeinen fittlihen und politiſchen Vorſchriften
die volle Wirkfamfeit im Wollen und Handeln feiner Bürger zu
fichern. Er fucht „die Bewahrheitung feines Prinzips in der Har—
monie desjelben mit dem Höchiten, was der Menjch zu erkennen
oder zu ahnen vermag. Bon dem bloßen Syſtem der Gefellichaft
wendet er fich der Gottheit zu.” 1)
Der Gefeßgeber ift fich einer befonderen göttlichen Führung
und Eingebung bewußt.?) Er fünnte mit Saint Simon jagen:
„Bott ift es, der zu mir geredet hat.“ Wenn er Zuftimmung
findet, iſt es wejentlih Gottes Werk.) Alle jeine Sabungen und
die Snftitutionen feines Staates werden zu göttlichen Drdnungen *)
und damit jeder Verftoß gegen fie zu einer VBerfündigung gegen
die Götter felbft.5) Dieſe göttliche Sanktion des Staatsgejeßes
wäre aber illuforifeh, wenn die Bürger den Glauben daran nicht
) L. dv. Stein von St. Simon: Gefchichte der jozialen Bewegung in
Frankreich II, 125.
2) 682e. 722c.
>) 662b.
*) 762e.
5) 634d twird das ſpartaniſch-kretiſche Geſetz gerühmt, welches „allen
jungen Leuten verbietet, den Vorzügen oder Mängeln der bejtehenden Ein-
richtungen nachzuforichen, ihnen dagegen befiehlt, wie mit Einer Stimme
und aus Einem Munde einhellig zn befennen, daß Alles als göttliche
Sabung in beſter Ordnung ſei;“ — Ein Gefeß, welches nur den Greifen
geftattet, an dem Beftehenden etwas auszuſetzen, und auch dies nur im der
Weiſe, daß fie jolche Bemerkungen ausjchließlich in Gegenwart eines der
oberjten Magiftvate und von Altersgenofjen machen, nie vor Jüngeren.
II. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gefeßesftaates. 539
teilen, wenn fie der Staatsreligion innerlich ferne ftehen würden.
Daher fordert der Staat geradezu den Glauben an die Neligions-
vorftellungen, welche durch ihn als die „richtigen“ anerkannt find.
Seine Bürger jollen ein ſtets fich erneuerndes Gefchlecht von „Dienern
Gottes” jein.!) Dpferfefte und heilige Chöre jollen ihr ganzes
Leben lang das wichtigite Geſchäft für ſie jein,?) und jo jehen wir
auch hier den Sozialismus dem innerjten Zuge feines Weſens fol-
gend zur Religion werden. Ganz ähnliche Tendenzen machen fich
bemerkbar, wie in der Theofratie Fichtes, in Saint Simons Nou-
veau christianisme, in Nodbertus’ Kombination des weltlichen
„utilitären” Prinzipes mit dem religiöjen, in jeiner Berufung „auf
den Willen des Weltgeiftes”. Was dieſer moderne Apojtel der
ertremen Einheitsidee al3 notwendige Folgerung aus dem Sozial:
prinzip proflamiert, die Staatsficche neben der Staatsſchule, ijt be—
reit3 von der platonifchen Sozialphilojophie als unabweisbare
Konjequenz ihres Sozialismus gefordert worden.
Zwar wird auch hier nicht ſofort mit der ganzen Schroffheit
ftaatlichen Zwanges vorgegangen, jondern zunächit der mildere Weg
freundlicher Belehrung verjucht, wenigjtens joweit es ſich um Indivi—
duen handelt, deren jugendliches Alter noch einen Wandel der Ge-
finnung erwarten läßt. „Mit Unterdrüdung alles Zornes und in
aller Sanftmut” ſoll der jugendliche Zweifler etwa in folgendem
Sinne zuvechtgewiefen werden: „Mein Sohn, Du biſt noch jung
und der Fortſchritt der Zeit wird Dich ehren, über viele Dinge
ganz anders, ja geradezu entgegengejeßt zu denken, wie im Augenblid.
Warte alfo zu, bevor Du über das Allerwichtigite aburteilft. Denn
das wichtigfte unter allem ift, wie der Menſch in feinem Leben zu
den Göttern fteht. Eines aber verhehle ic) Dir nicht, worin Du
mich nicht als Lügner erfinden wirst. Du bijt nicht der Erſte und
Einzige, der am Dafein der Götter zweifelt, jondern es find ihrer
ſtets mehr oder weniger, die von dieſer Krankheit befallen find.
1) 773e.
?) 803e.
540 Erſtes Buch. Hellas.
Aber Feiner noch it jung gewejen und alt geworden, der bei diefer
Leugnung beharıt wäre. (I) Wenn Du alfo mir folgen willit, jo
warteft Du ab, bis Du Dir ein zuverläffiges Urteil über dieſe
Fragen gebildet haft, und denkſt zu diefem Zweck exit genau darüber
nach, wie fich die Sache verhält, und ziehjt auch Andere und vor
allem den Gefeßgeber zu Nate. Inzwiſchen aber erfreche Dich nicht,
wider die Götter zu freveln.“!)
Sp joll der Gejeßgeber ſich feine Mühe verdrießen laſſen,
alle Gründe aufufinden, welche geeignet erxjcheinen, den Ein-
zelnen auch nur einigermaßen zu überzeugen; er muß jozujagen
„alle Töne anfchlagen”, um den Glauben an das Dajein der
Götter und an die Wahrheit alles deſſen, was er von ihnen aus—
jagt, zu ftüßen.?) In den Schriften des Gejeßgebers, bejonders
in den Vorreden zu den Gejegen wider die „Gottloſigkeit“ findet
der Bürger eingehende religionsphilojophiiche und theologische Er:
örterungen, deren fleißige Lektüre ihm „Oelegenheit zu ruhiger
Prüfung gibt.”) Er lernt da, wie der Atheismus im Materialis-
mus wurzle, diefer aber leicht als unhaltbar nachzuweiſen jei.t)
Er findet ferner eine Widerlegung der ftaatsgefährlichen Irrlehre,
daß es zwar Götter gäbe, diefe aber um die menschlichen Anz
gelegenbeiten fich nicht fümmern,5) — jowie des nicht minder ges
führliden Wahnglaubens, daß die Götter gegen das Unrecht Feines:
wegs unerbittlich ſeien, ſondern fich durch Dpfer und Weihegaben
zu Gunften der Schlechten bejtechen ließen.s) Er wird endlich) nach—
vrüclich darauf aufmerffam gemacht, daß des Menſchen — ver:
möge ſeiner Unfterblichfeit — in einer jenfeitigen Welt ein göttliches
Gericht harıt, welches dem Guten herrlichen Kohn an einem para=
dieſiſchen Wohnfit verheißt, den Sünder aber mit der Hinabftoßung
1) 8885 f.
2) 890.
») 891a.
9 893a— 899d.
5) 899-905.
°) 905d— 907.
II. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejeßesftaatee. 541
in jene unterivdiiche Hölle bedroht, welche „unter dem Namen des
Hades und anderen verwandten Bezeichnungen ein gewaltiger
Schreden der Seelen it im Wachen, wie im Traume, im Leben,
wie nach der Ablöjung von dem Leibe.”!) — „Du wirft, — hört
er den Gejeßgeber jagen, — dem Walten der Götter niemals ent-
rinnen und wäreſt Du noch jo Elein und verfröcheit Dich in den
Tiefen der Erde oder erhöbeſt Dich noch) jo hoch und ſchwängeſt
Dih in den Himmel empor, Du wirjt doch Die verdiente Strafe
erleiden müſſen.?).
Wie nun aber, wenn die theologische Argumentation des
Gejeßgebers die überzeugende Kraft nicht bewährt, die er fich opti-
miftifch genug von ihr verjpricht? Wenn ein Anaragoras, Empe—
dofles oder Demofrit aufträte und Anfichten über die Natur der
Himmelsförper, über die jtreng mechanifche Gejegmäßigfeit der
Naturprozefje, über das Weſen der in der Natur wirkenden Kräfte
ausjpräche, welche jener Argumentation die ſtärkſten Stüßen ent-
ziehen würden und daher von dem Gejeßgeber ausprüclich zurück—
gewiejen jind??) Wenn ein PBrotagoras deſſen Beweiſe für das
Dafein der Götter für nicht beweijend erklärt, wenn ein Aristoteles
käme und behauptete, es mit dem Begriff von einem vollfommenen
Leben nicht vereinbaren zu fünnen, daß Gott — die reine Sn:
telligenz — jeine Thätigkeit über fich jelbit hinaus auf die Welt
richte, — wenn er jeine Lehre vertreten jollte, daß alle bejondere
Gejtaltung der Dinge ſich nach) den ihnen innewohnenden Gejegen
vollziehe und daher von einer überlegenen fittlihen Weltordnung
und einer Vorſehung nicht die Nede jein könne? — Dder aber,
wenn ein neuer Neligionslehrer aufträte und dem Staatsdogma
von dem unverjöhnlichen „Rechtsbrauch“ der Götter die Lehre ent:
gegen halten würde, daß die Gottheit auch gegen den Sünder nicht
unerbittlich jei? — Der wenn der DVerfünder einer rein menjch-
lichen Ethik die Wirkſamkeit der von dem Gejeggeber zur Bändi-
1) 9040 f.
) 905a.
3) Val. z. B. die Polemik 8860 f. und 880b f.
549 Erſtes Buch. Hellas.
gung gefahrdrohender Naturinjtinkte für unentbehrlich angejehenen
religiöfen Zuchtmittel dadurch gefährden würde, daß er die Vor-
ftellungen über Paradies und Hölle für Ausgeburten der religiöjfen
Phantaſie erklärt?
Für fie alle ohne Unterfchted, — jelbit für Platos größten
Schüler — wäre in diefem Staate fein Raum! Wenn fich jemand
nicht auf gütlichem Wege von dem Dajein der Götter überzeugen
(läßt und trotz aller Belehrung fich nicht dazu verftehen will, „Die
jelben fich gerade jo zu denken und vorzujtellen, wie das Geſetz
es ihm gebietet,“!) jo jeßt er fi all den jchlimmen Folgen aus,
mit welchen die harte Strafjuftiz des Gejegesjtaates den Wider—
ftand gegen das Geſetz bedroht. Die Gefahren, welche jchon die
im beftehenden Staat geltenden Geſetze gegen „Aſebie“ für die Geiftes-
freiheit enthielten, man erinnere fi nur an Anaxagoras, Prota=
goras, Sokrates, Ariftoteles u. U.,2) — fie würden in dieſem
Spealftaat in gewaltig verjtärktem Maße wiederfehren. Nicht bloß
der frivole Spötter, welcher die Religion verächtlich macht, ſondern
auch der ernſte Denker, der bloß Anfichten äußert und verbreitet,
welche den Dogmen der Staatsreligion wiverjtreiten, wird wie ein
Verbrecher verfolgt.) Alle, die ſolche Außerungen hören, find dur)
das Gejeß zur Anzeige verpflichtet, welche eine öffentliche Anklage
vor dem Gerichtshof für Neligionsfrevel nach ich zieht.) Wird
der Angeklagte verurteilt, jo wird er jelbjt in dem legteren Falle,
„wenn er etwa nur — wie Plato ſich ausdrüdt — aus Unverftand
und nicht aus Bosheit des Herzens und Charakters dergeſtalt ge—
fallen ift“, auf nicht weniger als fünf Jahre in das „Beljerungs:
) 890b: . . . 8 u) groovoıw eivaı Heoös zul dievondnoorreu
do&ddovrss toLovrovg olovs Ynolv 0 vouos.
2) Vgl. Meier-Schömann: Der attifche Prozeß (2) ©. 370, wo aller:
dings mit Recht das weſentlich politifche Motiv dieſer Religions-Prozefje
betont wird.
>) Und das, obwohl Plato unbefangen genug ift, anzuerkennen, daß
auch der, welcher nicht an Götter glaube, eine natürliche NRechtjchaffenheit
des Charakters befiten fünne! 9086.
*) 9074.
IM. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Geſetzesſtaates. 543
haus“ (owgpoeorıorneıov) eingejchloffen. Während diefer Zeit darf
Jemand mit ihm verkehren, ausgenommen jene auf der Höhe philo:
ſophiſcher Bildung ftehenden Männer, welche zugleich Mitglieder der
höchſten jtaatlichen Körperjchaft, des jogenannten nächtlichen Rates
find, und die durch Willen und Autorität am meiſten befähigt er—
jcheinen, ihn zu „befehren und jeine Seele zu retten.) Nach Ab-
lauf der Haftzeit ſoll er, „wenn er Hoffnung gibt, daß er zur
Vernunft gefommen jei, auch wieder unter den Bernünftigen wohnen.
Wenn aber die Befehrungsverjuche fehlſchlagen, joll ihm von
neuem der Prozeß gemacht und die Todesſtrafe über ihn verhängt
werden (!!)
Doch nicht bloß der Unglaube, jondern auch das, was die
Staatsreligion als Aberglaube brandmarkt, wird Friminell verfolgt:
Zauberei aller Art, Totenbejhwörung, die jogenannte Magie der
Gebete und Opfer u. dgl. m. Hier tritt an Stelle der Beſſerungs—
anftalt — zumal wenn Betrug im Spiele ift — das Straf oder
Zuchthaus,2) welches — in der ödejten und wildeiten Gegend des
Landes gelegen — „schon durch jeinen Namen den chimpflichen
Charakter bezeichnen und einen heiligen Schauder einflößen jol.“3)
Endlih wird, um diefen und anderen Verirrungen des reli-
giöſen Lebens von vorneherein vorzubeugen und die Entftehung von
Brivatreligionen neben der Staatsreligion zu verhindern, jeder andere
Kult außer den öffentlichen verboten. Niemand darf in feinem
Haufe bejondere Heiligtümer oder Privatfapellen haben, Niemand
feierliche Opfer und Gebete anders als öffentlih und im Beifein
ver Prieſter verrichten.) Drängt das religiöfe Bedürfnis den
Einzelnen zur Stiftung neuer Kulte oder Heiligtümer, jo ſollen
jene in die öffentlichen Tempel verpflanzt, dieſe zu öffentlichen
!) Eni vovdermjos TE xal ım Tms Wuyns owrnoig ouikovvres heißt
es don ihnen mit einer jchon ganz an das Chriftentum erinnernden Termino—
logie. 909a. .
2) 909b.
>) 908a.
') 909,
544 Erſtes Buch. Hellas.
Heiligtüimern erhoben werden, falls ihre Zulafjung feinen Bedenken
unterliegt. !)
Allerdings räumt der Staat der von ihm anerkannten Re—
ligion diejes Monopol nur unter der Vorausſetzung ein, daß ſie
jelbft ihm und feinen Zweden unbedingt dienjtbar bleibt. Er
nimmt die Nechtgläubigfeit nicht darum unter die Volizeiverordnungen
auf, um ſich unter das Goch des Prieftertums zu beugen. So
ausgeprägt hierarchiſch der ganze Gedankengang diejes Sozialismus
it, von einer Prieſterherrſchaft will er nichts willen. Die Prieſter
finden bier feinen Boden für die „vünfelvolle Haltung“, die Plato
an ihnen jo jcharf verurteilt;?) fie jollen nur einfache Diener
des Staates jein und werden daher durch das 208 aus der Zahl
aller Bürger auf ihren Posten berufen, um denjelben — in der
Negel wenigjtens — nad ahresfrift wieder zu verlafjen.?)
Daß ein Staat, der das ganze Äußere und innere Leben des
Volkes einer derartigen Bevormundung unterwirft, in dem, um mit
Plato zu reden, „womöglich nichts ohne Aufjicht bleiben joll“,4)
zugleich das lebhafteſte Intereſſe daran hat, die Wirkungen feines
Erziehungs und Bevormundungsſyſtems nicht durch unfontrollierbare
Einflüffe von außen gefährden zu lafjen, liegt auf der Hand.
Daher bildet den logischen Abjchluß des ganzen Syitems eine jcharfe
Überwachung des Reiſe- und Fremdenverfehres, welche durch eine
weitgehende Beſchränkung ver Freizügigkeit jede „Vermengung der
Sitten”, jedes Eindringen unliebjamer Neuerungen aus der Fremde
zu verhüten jucht.5)
Vor dem vierzigiten Lebensjahre joll überhaupt fein Bürger
außer Landes gehen dürfen und auch dann mur im öffentlichen
Auftrag oder im öffentlichen Intereſſe. Man reift entweder als
DEILOCHE
2) Vol. 290c.
3) 759d. Sn diefer Beziehung berührt fich die Praxis des Geſetzes—
ſtaates enge mit der des demofratijchen Athens.
+) 760a: @goovonrov de di) undev eis duvauıy Eorw.
5) 949e.
II. 3. 3. Die Lebenzordnung der Bürger des platon. Gejegesitaates. 545
Herold, als Gejandter oder als Feltabgeordneter zu den vier großen
Hattonaljpielen, oder man jucht duch das Studium der in anderen
Staaten bejtehenden Berhältniffe und durch die perfönliche Befannt-
Ichaft mit hervorragenden Geiftern des Auslandes jeine Kenntnifje
und Erfahrungen zu vermehren, um dann dejto erfolgreicher an der
Vervollkommnung des eigenen Staates mitwirken zu fönnen: denn
man erhält jo eimerjeits die Möglichkeit, daS vereinzelte Gute, das
die Fremde bietet, ſich anzueignen, andererſeits fehlt es dann nie -
an Männern, welche die Jugend aus eigenen Anſchauungen zu be-
(ehren vermögen, daß im großen und ganzen die Inſtitutionen aller
anderen Staaten jchlechter find, als die heimijchen.
Die Feitgefandten werden aus der Zahl der förperlich und
geiltig tüchtigiten Männer von der Negierung ausgewählt. Wer
als „Beobachter“ von Land und Leuten (Iewooc) reifen will, hat
dazu die obrigfeitliche Erlaubnis nötig, die ihm erteilt wird, wenn
er mindeltens fünfzig und nicht über ſechzig Jahre alt ift und
durch hervorragende bürgerliche und militärifche Tugenden genügende
Garantieen dafür bietet, daß er einerjeitS jeine Mitbürger im Aus:
lande würdig vertreten, andererjeitS gegen forrumpierende fremde
Einflüſſe unzugänglich jein wird.
Sit ein jolcher Beobachter heimgefehrt, jo hat er fich jofort
in die „zur oberjten Aufſicht über die Geſetze“ beitehende Nats-
verjammlung zu begeben, welche wir als den jogenannten nächt-
lihen Nat noch kennen lernen werden.!) Hier hat er förmlich
Rechenschaft abzulegen und jeine Erfahrungen über Gejeßgebung,
Erziehung und Jugendbildung mitzuteilen. Sit der Eindrucd des
Berichtes auf die Verſammlung ein günftiger, exjcheint ihr der
Heimgefehrte an Einficht und Tugend gewachjen, jo werden dem-
jelben öffentliche Ehren zu teil. Zeigt fich aber, daß er im Aus-
land „verdorben“ wurde, jo wird er von aller Teilnahme am öffent:
lichen Leben ausgejchlofjen. Er hat in äußerfter Zurücgezogenheit
zu leben und jich jorgfältig vor jeder Außerung oder Handlung zu
1) ©. u: ©. 557.
Pohlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u, Sozialismus. I. 35
546 Erſtes Buch. Hellas.
hüten, die ihn in den Verdacht bringen könnte, auf Neuerungen
in Gefeßgebung und Erziehung zu finnen. Fügt er fich dieſem
Zwange nicht, jo foll er mit dem Tode beftraft werden (!)
Was den Verkehr mit Fremden im eigenen Lande betrifft,
jo werden vier Arten von Reiſenden zugelafjen. Erſtlich die vegel-
mäßig jeden Sommer wiederkehrenden Handelsleute, die „gleich den
Zugvögeln über das Meer geflogen kommen“ umd, nachdem fie ihre
Gejchäfte erledigt, das Land wieder verlaffen. Sie werden von
der Bolizeibehörde in öffentlichen außerhalb der Stadt gelegenen
Gebäuden untergebracht und einer forgfältigen Ueberwachung unter:
worfen. Dann Diejenigen, welche zur Teilmame an ejtvarftel-
lungen und muftschen Aufführungen kommen. Sie follen für die
Zeit diefer Aufführungen gaftfreundliche Aufnahme in den zu den
Tempeln gehörigen Herbergen finden, wo Briejter und Tempeldiener
für ihre Bewirtung zu jorgen haben. Ferner die Gejandten fremder
Staaten, welche Gäfte des Staates find. Sie follen bei feinem
andern Bürger Wohnung nehmen, als bei den Strategen, Neiter-
oberiten und Hauptleuten, welche ihr Amt ohnehin in nähere Be
rührung mit dem Ausland bringt.?2) Endlich — die jeltenjte Art
— Fremde, die zur Bereicherung ihres Wiffens in ähnlicher Abficht
reifen, wie die „Beobachter“ des Geſetzesſtaates, und welche für
die ernſten Abfichten ihrer Neife dem Staate ſchon durch ihr höheres
Alter eine gewilje Bürgicehaft gewähren. Sie finden uneingeladen
gaftfreie Aufnahme bei dem Vorftande des Erziehungswejens oder
denjenigen alljeitig erprobten und eine der wichtigiten Vertrauens—
ftellungen im Staate3) einnehmenden Bürgern, welchen jeiner Zeit
von der gejamten Biürgerjchaft der höchſte Tugendpreis, Die Be—
fränzung mit dem Lorbeer zuerkannt worden war.t) Durch dieſe
1) 9496-9524.
?) Sie haben die Aufficht über die Ein: und Ausfuhr von Kriegs:
material. 847c.
) Als jogen. Euthynen, vor denen die Beamten Rechenschaft für ihre
Amtsführung abzulegen haben. ©. u.
4) 9524--953d.
II. 3. 4. Die Berfaffung des platoniſchen Gejeßesitaates. 547
Negelung des Verkehres hofft der Gefeßesitaat die rechte Mitte ge
funden zu haben zwijchen der Freizügigkeit in Staaten wie Athen
und der rigorofen Art der Abjperrung, wie fie von Agyptern und
Spartanern gehandhabt werde. Er will fih nicht durch die „Ver—
bannung der Fremden von feinen Tiſchen und Altären* oder durch
die verhaßte Praris der Fremdenaustreibungen in den üblen Nuf
einer rohen und ungejelligen Geſinnung bei der Mitwelt bringen,
auf deren Achtung er den höchiten Wert legt.!)
4,
Die Verfallung.
ie wir ſahen, enthielt der Verzicht Platos auf die im
philojophiichen Staatsmann verkörperte VBernunftherrichaft zugleich
ven Verzicht auf eine der Geſellſchaft abjolut jelbjtändig gegenüber:
jtehende Negierungsgewalt. Dieje ideale Selbftändigfeit würde eine
Machtfülle in ſich Ichließen, welche in der Hand minder hoch—
jtehender Geifter eine allzugroße Gefahr des Mißbrauches enthielte.
Andererjeits erichten die unter diefen Umſtänden unabweisliche Ver-
ftärfung des Einflufjes der Gejellichaft auf die Staatsgewalt ader
vielmehr des Einfluffes der in der Gejellichaft herrſchenden Klaſſe
weniger bedenklich in einem Staatswejen, in welchem, wie im Ge
jeßesftaat, diefe Klaſſe dem Intereſſenkampf des Erwerbslebens
möglichſt entrüct war, wo eine das ganze Leben ergreifende und
beherrjchende ftaatlihe Schulung und Disziplinierung alle Bürger
ausschließlich für den Dienſt des Staates erzog, die Mitarbeit an
der Verwirklichung des Staatsgedantens recht eigentlich zu ihrer
Lebensaufgabe machte.
Angefichts dieſer ſyſtematiſchen Anpaffung aller Bürger an
den ſpezifiſch politiichen Beruf, die im Grunde einen jeden der:
jelben zum ftaatlihen Funktionär erhob, glaubte Plato fich den
Zuftänden der Wirklichkeit ſoweit nähern zu dürfen, daß der Volks—
gemeinde ein Anteil an der gejeßgebenden und richterlichen Gewalt
ı) 950b. 958e.
548 Grites Buch. Hellas.
und durch das Necht der Beamtenwahl auch ein Einfluß auf die
Grefutive eingeräumt wird. Die veränderte Auffaſſung der Menjchen
und Dinge und die Nücficht auf die Verhältniffe des Stadtſtaates
läßt ihm jeßt diefe Zugeftändniffe im Intereſſe der „Freiheit“ uns
abweislich erſcheinen.
Freilich werden gleichzeitig auch im Intereſſe der Ordnung
und des inneren Friedens!) ftarfe Schußwehren gegen den Miß—
brauch diefer Freiheit aufgerichtet. Seine gejeßgebende Gewalt
teilt das Volk mit allen im Staate überhaupt vorhandenen Autori-
täten. Kein beftehendes Geſetz kann abgeändert werden, wenn
neben dem Nolfe nicht auch alle anderen öffentlichen Körperjchaften, °
alle in diefem Staate jo überaus zahlreichen Behörden, auch die
geiftlichen, d. b. „alle Drafel* ihre Zuftimmung geben.?) Ya in
al’ den Fällen, wo es ſich nur um die Ausfüllung von Lücken
in der Gefeßgebung und um jolche Neuerungen handelt, welche
feine Anderung des beftehenden Nechtes enthalten, Liegt die legis—
lative Gewalt ganz in den Händen der Magijtratur.?)
Was die richterlihe Gewalt betrifft, jo fteht über den rein:
demokratischen durch das Los beitellten Bezirksgerichten in Zivilpro-
zeffen als oberſte Appellinftanz ein Gerichtshof (Das xowov dıxa-
orrorov), der alljährlich auf Grund eines überaus jorgfältigen
Wahlverfahrens von den Mitgliedern aller Behörden aus ihrer
eigenen Mitte ernannt wird.) In Staats und Kriminalprozeſſen
find zwar für eine Neihe von Fällen Voltsgerichte zugelaffen, aber
gerade für die wichtigiten und ſchwierigſten find magiftratifche Ge—
richte zuftändig, insbeſondere ver höchite Staatsgerichtshof, der aus
jenen „auserlefenen” Nichtern des xoıwor dixaorroıov mit Zu—
ziehung der ſogenannten Gejegesbewahrer gebildet wird.) Auch
gibt es von den Gerichten Feine Appellation an das Bolf. Bon
) 744 be.
2) 772.
3) 7720.
4) 767c.
5) 8550. Über lektere |. u. ©. 554.
II. 3. 4. Die Berfafjung des platonifchen Geſetzesſtaates. 549
einem Teile derjelben kann unter Umftänden jogar die Todesitrafe
verhängt und zum Bollzuge gebracht werden. — Plato geht eben
nur jo weit, al3 ihm unbedingt nötig erjcheint, um in dem Bolfe
das Bewußtfein lebendig zu erhalten, daß es von der „Gewalt
mitzurichten” nicht ausgeſchloſſen tft, weil es fich ſonſt dem gefähr-
lihen Glauben hingeben fönnte, vom Staate überhaupt ausge
ſchloſſen zu fein.)
Auch dem wichtigiten Nechte der VBolfsgemeinde, dem Wahl
vechte, wird eine Gejtalt gegeben, welche den demokratiſchen Cha-
tafter wejentlich modifiziert, obgleich ſchon die Wähler eine Elite
darftellen, welche in ihrer eigenen Intelligenz und moralifchen Tüch-
tigfeit weitgehende Bürgſchaften für eine richtige Wahl geben. Das
Wahlverfahren ift für die verjchievdenen öffentlichen Körperjchaften
und Behörden ein verjchtedenes. Entweder wird die Bedeutung
des allgemeinen Stimmrechtes duch Fünftliche Kombinationen mit
dem Syſtem der indirekten Wahl und jonftige Komplizierung des
Wahlmodus abgejchwächt; oder es wird dasjelbe gar mit dem Sy—
jtem der Klafjfenwahl verbunden, das paſſive Wahlrecht und die
aktive Wahlpflicht in eigentümlicher Weile nach den vier Zenfus-
klaſſen bejchränft; oder es wird von vornherein die Bejegung zahl-
reicher Beamtenftellen in die Hände der Behörden gelegt. Endlich
wird jeder Gewählte einer Prüfung, einer Dokimaſie, unterworfen,
welche fich nicht bloß, wie in der Demokratie, auf feine äußeren
Berhältniffe, ſondern wejentlich auch auf feine perfönliche Tüchtig-
feit richtet und jo jederzeit die Handhabe zur Korrektur der Wahl
bietet. 2)
1) 768hb: 6 yao dxoıwwovntos wv E£ovoiag Tov ovvdixdlsıv myeitaı
Lo napdnev 175 nohews 00 uEeToXoS Eiva.
?) Ein großes Gewicht legt Plato auch darauf, daß in jeinem Staate
fh die Bürger untereinander genau fennen und ſchon darum in der Lage
find, den rechten Mann an den gebührenden Plaß zu jtellen. 738e:
... usilov ovdev noleı ayadov 7 Yrwoluovs avrtors aitois eivaı . Onov
yco un pos dhkmkoıs Eoriv akkmkwv Ev Tois Tgonoıs aAke 0%0T05, ovr
dv duns ıns «Elias oVT’ doyWv oVrE dixns note Tis dv INS NO00NxXoVvOnS
550 Erſtes Buch. Hellas.
Selbft der „Nat“, der ähnlich dem Nate der Fünfhundert
in Athen die ganze Volfsgemeinde repräjentiert und wahrscheinlich,
wie diefer, die oberſte Finanzbehörde ift, geht aus einem Wahl
verfahren hervor, welches eine wejentliche Beſchränkung des gleichen
Stimmrechtes bedeutet. Auf die 360 Natsfige haben nämlich nicht
alle Bürger gleichen Anſpruch. Die Verteilung der Natsitellen
erfolgt vielmehr nah dem Klaſſenſyſtem, indem jeder der vier
Cenſusklaſſen dieſelbe Anzahl (90) eingeräumt wird, troß der
naturgemäß geringeren Zahl der höheren Klaſſen. Die Wahl jelbit
erfolgt in der Weiſe, daß zunächit für jede der vier Klaſſen eine
Kandidatenlifte aufgeftellt wird. Dies geichieht durch Volksabſtim—
mung, doch jo, daß nur die Mitglieder der zwei erſten Klafjen bei
Strafe verpflichtet werden, an den Wahlen teilzunehmen, während
die der dritten nur die Kandidaten der drei erjten, die der vierten
Klaffe nur die aus den zwei erſten Klaſſen mitzuwählen brauchen.
Aus diefer Kandidatenlifte werden ſodann durch eine allgemeine
Wahl, an der alle Bürger ohne Unterichied teilnehmen müſſen,
für jede Klaſſe 150 Männer bezeichnet, von denen die eine Hälfte
durch 2003!) ausgejchieden wird, die andere nach bejtandener Prü—
fung zum Eintritt in den Nat berechtigt ift.?)
Das ſonſt durchweg fejtgehaltene Prinzip, daß vie Wahl eine
öffentliche Funktion und daher das Wahlrecht zugleich die Wahl:
pflicht in Sich Ichließt, wird übrigens auch in einem anderen Falle
modifiziert, 100 es ſich um Sachverftändigenwahlen handelt. So
jollen zur Teilnahme an den Wahlen der Ordner der mufischen
Wettkämpfe nur die Kunftverjtändigen verpflichtet jein.3)
00905 Tuyydvoı' der dn navra dvdoa Ev noos Ev ToVro onevVdeıv Ev Tdoaıs
noAsoıw, OnWs umte avrös xißdmAos Tote paveiraı orwovv, ankovg dE xal
aimIns dei, ujre dhAos rolodros Wv avrov dienarmocı.
) Um auch dem Prinzip der „quantitativen“ Gleichheit einigen Ein-
fluß zu geftatten.
?) 756e. Die Gemwählten verteilen ſich, wie in Athen, in 12 Aus—
ichüffe, von denen jeder einen Monat hindurch die laufenden Gejchäfte bejorgt.
2), 7654.
I. 3. 4. Die Verfaſſung des platonifchen Geſetzesſtaates. 551
Wo eine ſolche Untericheidung zwiſchen den Wählern nicht
möglich ift, ſoll wenigitens die wiederholte Sichtung der zu Wäh—
(enden eine gewiſſe Bürgichaft gewähren. So ift 3. DB. bei der
Wahl der jogenannten Gejegesbewahrer, einer der wichtigjten und
einflußreichiten Negierungsbehörden, das Wahlverfahren ein äußerft
verwideltes. Es ift, wie allerdings jede Beamtenwahl, mit bejon-
derer Heiligkeit umgeben: Wahllofal ift der Tempel des höchiten
Gottes. Die Stimmtafen werden vom Altare entnommen und
wieder dafelbit abgegeben, die Wähler aber durch einen heiligen
Eid verpflichtet, nur nach beſtem Wiffen und Gewiſſen ihre Stimme
abzugeben.) Die Wahl jelbft ift injofern eine öffentliche, als jeder
Wähler auf der Stimmtafel neben dem Namen des Kandidaten
jeinen eigenen anzugeben bat, und gleichzeitig jedem Wähler das
Necht eingeräumt wird, diejenigen Tafeln, mit deren Inhalt ex
nicht einverftanden ift, einfach wegzunehmen und mindeftens dreißig
Tage auf dem Markte auszuftellen! Cine Art Mißtrauensvotum
gegen den Kandivaten und feinen Wähler, welches zu erneuter
Prüfung des zu Wählenden auffordert. Dann werden von der
Behörde die Täfelchen mit den Namen derjenigen dreihundert
Bürger, welche die meisten Stimmen erhielten, ebenfalls der ganzen
Bürgerſchaft zur Anficht vorgelegt und dieſelbe zu einer neuen
Wahl aus dieſen dreihundert berufen. Die Namen der hundert
Bürger, welche aus diejer engeren Wahl als die Meiftgewählten
hervorgehen, werden in derjelben Weife publiziert, worauf in einem
dritten Wahlakt aus diefen hundert Erlefenen die definitive Wahl
der 37 Mitglieder der genannten Behörde erfolgt.?)
Eine ähnliche Sichtung der Kandidaten findet jtatt bei Der
Mahl der jogenannten Euthynen, vor welchen alle Beamten nac)
) Was allerdings für die Wahlen überhaupt gilt. 948 e.
2) 753b f. Ariſtoteles bezeichnet als Konfequenz diejer Einrichtung
der nochmaligen Wahl aus den durch Vorwahl Bezeichneten, daß, wenn auch
nur eine mäßige Anzahl‘ von Bürgern zujfammenhielte, immer nach deren
Willen gewählt werden würde. (Pol. II, 3, 12. 1266a.) Sollte Plato jelbit
etwas derartiges beabfichtigt haben?
5592 Erſtes Buch. Hellas.
Ablauf ihrer Amtszeit Nechenfchaft abzulegen haben, und welche
daher Männer von ganz hervorragender fittliher Tüchtigfeit fein
müſſen.)
Alljährlich nach der Sommerſonnenwende verſammelt ſich die
Bürgerſchaft in dem Haine des Helios und Apollo, und jeder
Bürger „nennt hier dem Gott“ drei Männer — nicht unter 50
Jahren — die er in jeder Beziehung für die Ausgezeichnetſten
hält. Von den alſo Vorgeſchlagenen werden diejenigen, welche die
meiſten Stimmen erhielten, bis zur Hälfte der Geſamtzahl einer
neuen Wahl unterworfen, aus der nur drei als die definitiv Ge-
wählten hervorgehen.?) Natürlich trägt auch diefe Wahl dasjelbe
veligiöfe Gepräge, wie die vorhin bejchriebene, worauf ja ſchon der
Wahlort und die charakteriftiiche Bezeichnung des Wahlaktes hinweift.
Wird doch in anderen Fällen die Entjeheidung geradezu der
Gottheit jelbit anheimgegeben! Sp werden die „Exegeten der Kultus:
jagungen” zwar gewählt, dann aber aus den Gewählten — zum
Teil wenigſtens — eine Auslefe durch das delphifche Drafel vor:
genommen. ?)
Bei anderen Ämtern, wie 3. B. allen militärifchen, ift das
Wahlrecht beſchränkt durch ein Vorjchlagsrecht der Behörden. Bei
ver Wahl der höchften Offiziere und Meilitärbeamten hat die mit
ver ſtärkſten Erefutivgewalt bekleidete Behörde dev Gejegesbewahrer
ein Borjchlagsrecht, während in Bezug auf die Unterbefehlshaber
die Vorgeſetzten jelbit ein Vorſchlags- ja zum Teil Ernennungs:
1) Über die Bedeutung diefer Inftitution vgl. die für die Gejamt-
auffajjung Platos charakteriftiiche Stelle 945d: dv uEv yao oi Tois @oyovras
e&svduvorıes BeArlovs WoW &xelvav, ai Todr’ &v din TE zei dueuntws,
j nüoe ovıw Yahhsı Te zui evdaıuorei ywoa zai nolıs' E&iv 0’ dAlws Ta
1801 Tag EVHUV«S TWv EOYoVTWv yiyvnraı, Tore AvFElongs-ıns ta navıe
nokırevuara Evvsyovans Eis Ev dixns raum naoa aoyn dieondosn
xwois Erega an’ @dins, zal 00x Eis TaVrTOV Erı vevovoaı, noAkds Ex
urds ınv nöokıvy ToLovo«ı, oT«oewv Eunimoaocı Tayd diwksser,
?) 946a.
3) 7594.
ı) 7555 f.
III. 3. 4. Die Berfaffung des platoniſchen Gejeßesitaates. 553
recht beſitzen.) Überhaupt werden die Unterbeamten in der Negel
von den oberen Behörden ſelbſt ernannt, jo die Gehilfen der mit
der Volizeigewalt auf dem platten Lande betrauten Agronomen von
diejen ſelbſt,) die weiblichen Auffichtsbeamten über die Ehen von
den Gejebesbewahrern u. |. w.2)
Doch find e3 auch fehr Hohe Inter, bei denen die Volks—
wahl ausgejchloffen ift. Das von Plato als das weitaus wichtigite
der höchſten Staatsämter bezeichnete Amt des Unterrichtsminifters,
des „Vorſtehers des Erziehungswejens”, ſowie die Nichterftellen an
dem hohen Staatsgerichtshof der „auserlejenen Nichter” werden von
einem Wahlförper bejegt, der nur aus Beamten beiteht.>)
Sp ijt Plato unerſchöpflich in der Erfindung immer neuer
Sicherungsmaßregeln gegen den Demofratismus des allgemeinen
Stimmrecdtes. Er muß im dem der damaligen Wirklichkeit zu—
gewendeten Geſetzesſtaat dieſem Demokratismus erhebliche Zugeſtänd—
niſſe machen; um jo mehr it er bemüht, Mittel und Wege zu
zeigen, wie troßdem der Staat Organe erhalten kann, welche eine
Ariftofratie der Intelligenz und Tugend darjtellen. Ex beſchränkt
daher den Einfluß der Wähler noch weiter dadurch, daß er für die
höheren Inter eine höhere allgemeine und Fpezifiiche Fachbildung
fordert. Wie zum Aufzug andere Wolle genommen werde, als zum
Einichlag, jo müſſe auch zwiſchen denen, welche hohe obrigkeitliche
Würden im Staate befleiven jollen, und denen, welche nur in ge
tingem Maße die Probe ihrer Erziehung zu beitehen haben, ein
wejentlicher Unterſchied ftattfinden.t)
Eine Hauptbürgichaft für die Tiichtigkeit von Negierung und
Verwaltung fieht Plato ferner auch hier in der möglichiten Steige
rung der Autorität der Magiftratur, in einer möglichjt ſtarken
) 760b.
2) 794b.
>) 765d F. 767e. f. Sm erfteren Falle ift jelbft der Rat und feine
Prytanen vom Wahlrecht ausgefchloifen. 766.
) 735a. Das Nähere über diefe Bildung der höheren Beamten
ſ. unten.
554 Erſtes Buch. Hellas.
Amtsgewalt. Zu diefem Zweck wird für gewiſſe Beamte ein reiferes
Alter vorgeichrieben, für die Gejeßesbewahrer 3. B. und deu Chef
des Unterrichtswejens das fünfzigite Lebensjahr.) ES wird allem
Anſcheine nach Die längere Bekleidung desjelben Amtes durch die
einmal bewährten Männer begünftigt, — bei den eben genannten
Beamten ericheint eine Amtsdauer von zehn bis zwanzig Sahren
offenbar als nicht ungewöhnlich, — oder es wird von vorneherein
eine längere Amtsdauer gejeßlich vorgejchrieben, jo bei dem Vor:
fteher des Erziehungsweſens fünf Jahre,“) bei den Mitgliedern des
hohen Gerichtshofes der Euthynen geradezu Lebenslänglichkeit.3)
Demjelben Zwede dient die Fülle von Gewalten, welche in den
Händen der Magiſtrate vereinigt wird. Die Juſtizgewalt, die er
einen Teile derjelben einräumt, vergleicht Plato geradezu mit könig—
lihen Machtbefugnifjen.t)
Vergegenwärtigen wir ums nur die imponierende Machtitel:
lung, welche die von Wlato als die eigentlichen Negenten des Staates,
als aoxovres ſchlechthin bezeichneten Gefegesbewahrer einnehmen!
Ihr amtlicher Einfluß erſtreckt fich faſt auf ſämtliche Gebiete des
Lebens. Sie haben in allen oben angeveuteten Fällen gejeßgeberifche
Gewalt, fie bilden — zujammen mit den auserlefenen Richtern —
den höchſten Staatsgerichtshpof in Kapitalfachen, haben auch ſonſt
beveutjame richterliche Befugniſſe 3. B. bei Vergehungen religiöfer
Art,5) ſowie die wichtige Jurisdiktion über einen Teil der Beamten,
insbejondere die bevdeutendften vichterlichen Beamten.*) Sie haben
1) 755 a.
2) 766h.
3) Die Euthynen fungieren jolange, als fie dem in fie gejeßten Ver—
trauen entjprechen. 946c.
9 7616.
5) 910c.
°) 767a. 3.8. über die auserlefenen Richter und über die Eythynen
948a; über die letzteren allerdings nur in Verbindung mit den augerlejenen
Richtern und den übrigen Euthynen. — Auch bei anderen Gerichten find fie
wenigjtens beteiligt, jo z. B. am Chejcheidungsgericht. 929e.
IT. 3. 4. Die Verfaſſung des platoniſchen Geſetzesſtaates.
[day i
(el
[ey 8
durch ihre Vorſchlagsrecht bei den Strategenwahlen einen jtarfen
Einfluß ſelbſt auf die militäriiche Gewalt und durch ein ganz all-
gemeines Necht der Dberauflicht !) auf das Beamtentum überhaupt.
Sie greifen endlich mit ihrer ausgedehnten polizeilichen Gewalt nach
allen Seiten hin in die Berwaltung ein. In ihrer Hand liegt die
amtliche Statiftit über die gejamten VBermögensverhältniffe der
Bürger und Beijaffen?) und im Zufammenhange damit die Für—
jorge für die Aufrechterhaltung der Gejeße über den unverrüchbaren
Beltand der Landloſe und der Bürgerzahl.?) Eben damit hängt
noch zufammen ihr Dberauflichtsrecht über das eheliche Leben der
Bürger, das Necht zur Ernennung der Cheaufleherinnen, die Für—
forge für die Erbtöchter, überhaupt die Dbervormundjchaftt) und
ſonſtige Befugniffe auf dem Gebiete des Familienrechtes.5) Der:
jelben Behörde fteht ferner die Handhabung der Lurusgefeße zu, 6)
jowie die Fürſorge für die Durchführung der Aus: und Einfuhr:
geſetze.,) Sie ift aber auch zugleich die litterariſch-muſiſche Zenſur—
behörde, überhaupt mit der Ausführung aller Gejeße über die
mufische Kunft betraut,®) fie gibt oder verweigert endlich die Er-
laubnis zu Reiſen ing Ausland. ?)
Sp werden gefliffentlich geſetzgeberiſche, vichterliche, erefutive
Gewalten in bunter Fülle auf ein und diejelbe Negierungsbehörde
gehäuft. Die Allgewalt des alles menschliche Leben und Streben
jeiner Bevormundung unterwerfenden Staates joll fich, Toweit es
ohne die Gefahr des Abjolutismus möglich ift, in der Magiftratur
wiederjpiegeln. Wenn auch auf demokratiſcher Grundlage erwachjen,
1) 762e.
2) 754d.
s) 740d, 877d, 929ec, 930e.
4) 926e.
5) 9294, 9326 f.
6) 775b, 959.
7) 847c f.
°) 799b. Hier in Berbindung mit den Prieftern. SOld, 810e, 829d
EIoLa:
556 Erſtes Buch. Hellas.
joll diejelbe doch die Einbheitlichkeit, Feltigkeit und Autorität mon
archiſchen Negimentes nicht vermiffen lafjen.')
Auch der glänzende Nimbus äußerer Ehren fehlt der Magi-
ftratur nicht. Dasjenige Amt, deffen Übertragung zugleich die
Zuerfennung des höchiten Preiſes für Bürgertugend vorausjeßt,
die Mitgliedjchaft des hohen Nechenjchaftsrates der Euthynen ge
währt wenigitens im Tode Anſpruch auf wahrhaft fürftliche Ehren,
welche den Gefeierten weit über das Maß gewöhnlicher Sterblicher
hinausheben. In weiße priefterliche Gewänder gehüllt, werden die
verjtorbenen Euthynen aufgebahrt allem Volke zur Schau. Knaben—
und Mäpdchenchöre umftehen die Bahre, den ganzen Tag über in
Wechjelgelängen den Toten jelig preifend. Mit Anbruch des nächſten
Tages findet das feierliche Leichenbegängnis ſtatt: Voran die ganze
waffenfähige Bürgerfchaft zu Fuß und zu Noß in voller Waffen:
rüjtung, dann die Bahre von hundert Jünglingen getragen und ge
leitet von Knaben, die das Nationallied (70 rargıov weAos) fingen,
dann Jungfrauen und Matronen, endlich alle Prieſter und Prieſter—
innen. Die Beifeßung erfolgt in einem Hain in Steinfärgen und
in fteinernen wie für die Ewigkeit gebauten Grabgewölben, über
welche ein Hügel aufgejchüttet wird, — an die alten Königsgräber
erinnernd! — Endlich wird das Andenken der hier Bejtatteten all-
jährlich durch mufische und gymniſche Wettfämpfe verherrlicht, gleich
dem der Heroen.?)
Aber Plato geht noch weiter! Trotz der materiell und ideell
jo bedeutfamen Ausftattung der Amtsgewalt jucht er der Magi—
ftratur noch einen ganz bejonderen Rückhalt zu jchaffen in einer
Inſtitution, deren Bedeutung ex ſich zunächit allerdings mehr als
eine iveale denkt, in welcher er aber die ftärfite Bürgjchaft für
die allfeitige und dauernde Verwirklichung feines Staatsgedankens
erblict.
') Die Verfaſſung des Gejegesftaates ſoll die Mitte halten zwiſchen
Monarchie und Demokratie. 756e.
?) 947b ff. Diefe Ehren veichen faft an die Hinan, welche den philo-
ſophiſchen Negenten des Bernunftftantes zu teil werden. Rep. 540b.
IT. 3. 4. Die Verfaffung des platonijchen Gejeßesftaates.
or
—
Dieſe Einrichtung beſteht in einem Staatsrat, der — aus
der geiſtigen Elite der Bürgerſchaft zuſammengeſetzt und durch die
Befugnis der Selbſtergänzung völlig unabhängig — recht eigentlich
dazu berufen iſt, die Repräſentation des Staatsgedankens za
eSoynv darzuftellen, wo es gilt, durch die in ihm verkörperte Ein-
fiht in Wejen und Ziele des Staates auf die öffentliche Meinung
aufflärend zu wirken, durch feinen Einfluß alle Glieder des Staates,
Negierende und Negierte auf dem rechtem Wege zum „gemeinfamen
Ziele aller Gejege” 1) zu erhalten. Erſt durch dieſen Erhaltungs-
tat, den vuxregivog ovAAoyos, wie er nach der Zeit ſeiner Situngen
genannt wird, ericheint der Beſtand des Staates gejichert, weil der
Staat in ihm unter allen Umstände ein Drgan befibt, welches den
Zweck desjelben (den oxorrös roAırızos) lebendig erfaßt hat, die
dem Staate immanente Vernunft in fich verförpert.?) Die „nächt—
lihe Verſammlung“ beiteht aus einem fejten Stern lebenslänglicher
Mitglieder: nämlich all’ denen, welche den Preis der Tugend er:
hielten, d. h. den Mitgliedern des Nechenfchaftsrates, allen, welche
das Unterrichts und Erziehungsweſen geleitet, ſowie denjenigen
Bürgern, welche mit Erfolg politiiche Studien ım Ausland gemacht
und nad jorgfältiger Prüfung von der Verfammlung würdig er-
funden worden, ihre für immer anzugehören. Dazu fommen, um
den nächtlichen Nat in ftetiger Fühlung mit den maßgebenden Be-
hörden zu erhalten, die zehn älteſten Gejebesbewahrer und der je—
mweilige Vorſtand des Unterrichtsweiens.?) Allgemeine Voraus:
jegung der Aufnahme ift der Befit einer höheren wiljenjchaftlichen,
insbefondere philojophijchen Bildung,t) die Zurücklegung eines län:
geren genau vorgeschriebenen Studienganges,?) welcher „ein wahr:
haftes Wifjen von allen wichtigen Dingen“ gewähren joll.‘)
1) Der aoeın. 9632. |
2) 632c, 961e ff. 965a.
) 95le, 96la.
>) 366, 968a f.
>) Über den allerdings nähere Bejtimmungen erſt für die definitive
Begründung des Staates vorbehalten werden. I68d.
°) 966b.
558 Erſtes Buch. Hellas.
Die allnächtlid von Sonnenuntergang bis Aufgang auf der
Burg tagende DVerfammlung diejer erlefenen Männer kann alle
Fragen ftaatlicher Gejeßgebung und Berwaltung zum Gegenftand
ihrer Beratung und Beichlußfaffung machen und jo für die praf:
tiſche Entſcheidung derſelben durch die zuftändigen öffentlichen Ge—
walten wenigftens ein jehr gewichtiges Präjudiz ſchaffen.) Ferner
joll die Fülle des Wiſſens, welche in diefer Verfammlung Eunzen-
tiert ift, für die Heranziehung jüngerer Staatsmänner verwertet
und damit die Berfammlung zu einer hohen Schule gemacht werden,
welche eben jene vorhin genannte Höhere Bildung vermittelt.2) Zu
dem Zweck iſt jedes Mitglied berechtigt, beſonders begabte und tüch-
tige jüngere Bürger im Alter von 30 bis 40 Jahren in die Ver:
ſammlung einzuführen. Diejelben erhalten hier nicht nur Gelegen-
heit, zu lernen, jondern auch Proben ihres Könnens abzulegen, Die
ihnen, wenn fie der Berfammlung genügend exjcheinen, eine wert
volle Anwartichaft für die Zukunft gibt. Denn dieſe Anerkennung
der höchſten Autoritäten ift dazu bejtimmt, die Blicke der gejamten
Bürgerfchaft auf fie zu lenten,?) fie derjelben als die geeignetiten
Kandidaten für alle höheren Ämter zu empfehlen. Eine Empfeh-
lung, deren zwingender Gewalt ſich die Bürgerichaft kaum entziehen
fann. Denn bier werden ihr von der höchiten und ehrwürdigſten
Autorität im Staate diejenigen bezeichnet, durch welche der Staat
jelbjt wohlberaten fein würde, weil fie dank ihrem gewonnenen
Wiffen „klar über alles jehen, was die Geſetze angeht,“5) — wäh:
rend diejenigen, welche nicht durch diefe Schule gegangen find oder
die genannte Approbation nicht erhalten haben, damit als ſolche
charakterifiert exjcheinen, welche dieſer Klarheit mehr oder minder
entbehren, 6) durch welche daher der Staat jchlecht beraten fein würde.
1) 9522 f.
2) Y5ld.
3) 9526.
9 962b.
5) 9528.
6) ebd,
IT. 3. 4. Die Verfaſſung des platoniſchen Geſetzesſtaates. 559
Wird der Bürger, der öffentlih wählt und durch einen Eid
verpflichtet ift, nur die „Beſten“ zu wählen, gegen dieſe von einer
unantaftbaren Autorität eben als die Beſten Gefennzeichneten zu
jtimmen oder fie zu übergehen wagen? Gerade bei den wichtigjten
Ämtern ift dies Übrigens auch vechtlih unmöglich. Zum Gefeßes-
bewahrer 3. B. und zum Mitglied des Oberrechenichaftshofes kann
von vorneherein überhaupt nur derjenige gewählt werden, welcher
fih ein höheres Willen erworben, aljo dur die Schule der
nächtlichen Verſammlung gegangen iſt und deren Approbation er=
halten bat.!)
Aber auch damit iſt Die Bedeutung des nächtlichen Nates
noch feineswegs erſchöpft. Plato behält ſich vor, venjelben noch
mit ganz bejonderen Bollmachten auszuftatten, wenn er nur ext
nad Wunsch Eonftituiert fein würde.2) Worin diefe Machtjteigerung
bejtehen joll, wird allerdings nicht gejagt. Aber über ihre allge
meine Tendenz kann fein Zweifel fein. Wenn irgendwo, jo trifft
hier die Behauptung des Ariftoteles zu, daß der Gefeßesitaat all-
gemach wieder in den Verfaflungsplan des Bernunftjtaates einlenfe.?)
Das abjolute Bhilofophenregiment ijt für ihn unerreichbar, To ſucht
er wenigftens einen Erjaß, der diefem Ideale möglichit nahe kommt.
Der nächtliche Nat joll für den ftaatlichen Organismus wenig-
jtens annähernd die Bedeutung gewinnen, wie fie der denkende
Kopf für den menjchlichen Körper befißt. Er ſoll es ermöglichen,
daß im Zentrum des Staatskörpers ebenfo wie im inpividuellen
Diganismus Ein Wille, d. h. ein in all feinen Hußerungen auf
1) 966c. Wer dies höhere Willen nicht hat, iſt nicht geeignet für
ein NRegierungsamt, fondern nur für jubalterne Stellen. (968a.) Die Stelle
632. ſteht damit nicht in Widerjpruch, bejtätigt vielmehr die hier aufgeftellte
Forderung, indem fie alle Beamten (denn dieje find hier unter den „Hütern
der Gejege” offenbar gemeint, nicht bloß die Gejeßesbewahrer) in zwei Kate:
gorien einteilt, jolche, welche im Beſitze der Erkenntnis, und folche, welche
bloß in dem der „wahren Vorſtellung“ find.
2) 968.
3) Pol. II, 3, 2. 1265a: xzai ravımv PBovAousvos xKolvoreoav TIoLelv
tais noAeoı zard uizocv negieyeı nehıv Eis mv Ereoav nokıreiar,
560 Grites Buch. Hellas.
Einen oberften Zweck gerichteter einheitlicher Wille vorhanden jet, ')
der — wenn auch nicht allmächtig, wie im Vernunftftaat — jo
doch einen über das ganze politifche und joziale Leben ſich erſtrecken—
den Einfluß zu üben vermag.
Gegenüber der Vielheit der individuellen Willen, welche nun
einmal durch die Zulaffung des allgemeinen Stimmrechtes und der
Imterwahl als Machtfaftor im ftaatlichen Leben anerfannt war,
foll der nächtliche Nat die Einheit des Staates vertreten. Cr bat
die Aufgabe, dahin zu wirken, daß auch die Magiftratur ſich dauernd
auf den ftaatlichen Boden ftelle und in ihrem öffentlichen Thun
nur als Drgan der Allgemeinheit fühle. Er foll ferner eine technijch
möglichft vollfommene Durchführung der ftaatlichen Aufgaben von
feiten der Magiftratur verbürgen, indem er der qualifizierten be-
rufsmäßigen Arbeit die ihr gebührende Stellung in Verwaltung und
Regierung verschafft; und er ſoll damit endlich zugleich für Die
möglichjt weitgehende Verwirklichung des Gerechtigkeits- und Gleich—
heitsprinzipes Gewähr leiften, welches dem geijtig und fittlich Höher-
ftehenden auch höhere Ehre zuerfennt.?2) Kurz der nächtlich Nat ift
dazu beſtimmt, daß ideale Zentrum des ganzen jtaatlichen Organis—
mus, das für den Sozialismus wunentbehrliche Zentralorgan zu
werden, >) und die Nechte, welche Plato für ihn in Ausfiht nimmt,
') %62d: ... zai dei di Toitov (Tov oVAloyor) Taoav doemv
Eyeıv' ns dogs To un nAavaodaı zu nohhe Duo EEONIRDOR; ahh eis Ev
BAenrovrte noös roüro dei te ndvra olov Behm dgıkvar. Dal. 963a über
den Einen Zwed aller Geſetzgebung: noös yao Ev Epausv deiv dei ν
jur Te TWv vouwr BhErovt’ Eivat, Toito d’ agermv nov Evveywgoiuer
ndvv 009W5 Akysodaı. Dazu 630c, 631a f.
2) 757d über das Gleichheitsprinzip. Vgl. dazu mit ſpezieller Be—
ziehung auf die Beamten 7150: ds d’ dr Tois redeloı vouoıs EVneLFeoteTos
Un za vird Tavımy Tmv viamv Ev ın noksı, Tovıw pauev zei Tmv TWV
———— (mach Drelli ft. Hewr) vnmosoiav doteov sivaı mv — zo
noWTw zei devriger TO TE devreg« xgqroVvLi, zul zurd hoyor oVTo Tois
Epeins Ta uste Tai9" Exaorta anodoreov eivaı,
3) Diefer Einheit bedarf der Gejeßesftaat gegenüber der Vielheit der
Magiftratur unbedingt. ES ift daher ſchon aus diefem Grunde unzuläjlig,
mit Bruns (©. 220) anzunehmen, daß die Beftimmungen XIT 960b über
II. 3. 4. Die Verfaſſung des platonifchen Gejegesitaates. 561
fönnen daher nur einen Ausbau der Verfaffung im zentraliftijchen
Sinne bedeuten.
Plato deutet das jelbjt in dem Bilde an, in welchem er den
ganzen Nat mit dem menjchlichen Haupte, die greifen Mitglieder
der Berfammlung mit dem vovs und die jüngeren mit dem Seh—
vermögen vergleicht. Die durch Energie und Schärfe der Beob-
achtung ausgezeichneten jüngeren Genoſſen jollen „gleichlam auf ver
Höhe des Hauptes (gleihjam wie die Augen des Staates) rings
umber den ganzen Staat beobachten und was fie jo wahrgenommen,
ihrem Gedächtniffe einprägen, um jo von Allem, was im Staate
vorgeht, den älteren Mitglievern Kunde zu geben.” Dieje erwägen
al3 der vovs, was die Augen gejehen, und nachdem fie mit den
Jüngeren zu Nate gegangen und ihre Beichlüfle gefaßt, bringen fie
diejelben durch jene zur Ausführung und erhalten jo den ganzen
Staat.” ES wird aljo ein Necht der Verfammlung zu Eingriffen
in die Erefutive anerkannt, Durch welches fie eine Stellung über
allen Behörden erhält. !)
Durch all das wird die „götterähnliche Verſammlung“ (0 Heros
£vAkoyos) geradezu zum „Anker des Staates”.?) „Ihrer Obhut
fann man getrojt den Staat übergeben und es wird fich dann in
Wahrheit vollenden, was eben noch wie ein Traum erjchien.“ >)
Mit diefer Verheigung endet der Entwurf des zweitbeiten Staates.*)
den vuzregivos ovAkoyos ein Bruchſtück eines Älteren Entwurfes jet, welcher
dem Staate der Politie noch näher jtand, ala der Hauptbeftandteil der „Nowor“.
Bei der im Text vertretenen Auffafjung, die allerdings von der üblichen
(3. B. von Zeller ©. 967 ff.) weſentlich abweicht, fallen übrigens auch die
Widerjprüche weg, welche Bruns zwijchen den verjchiedenen Beftimmungen
über den nächtlichen Nat findet.
!) 964e.
2) ayxvo@ naons ıns nokews. 96le.
3) 969b.
+) Der Vollftändigkeit halber jei zum Schlufje noch darauf hinge—
wiejen, daß die „Geſetze“ Platos auch das Straf, Privat: und Prozeßrecht
in einer für den Juriften vielfach jehr intereffanten Weiſe behandeln, worauf
wir hier nicht näher eingehen können.
Pöhlmann, Geſch des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 36
Erſtes Buch. Hellas.
N
(er)
—
Zur Beurteilung des Geſehesſtaakes.
Wir ſahen, daß — nach der richtigen Beobachtung des Ari—
ſtoteles — der Entwurf des zweitbeſten Staates unwillkürlich wieder
in die Bahnen der Politeia einlenkt. Es wird uns das nicht Wunder
nehmen, wenn wir uns die Geſamtanſchauung vergegenwärtigen,
aus der heraus dieſes Staatsideal als ein Ganzes gedacht iſt.
Zunächſt finden wir die naturrechtliche Metaphyſik der Poli—
teia auch hier wieder. Der alles beherrſchende Maßſtab iſt hier
wie dort die rein vernunftmäßige Erkenntnis und das Ziel des
Erkennens eine möglichſt „natürliche“, d. h. eben vernunftgemäße
Ordnung des menſchlichen Zuſammenlebens.) Daher auch ein
ganz ähnlicher Abjolutismus der Löjungen, wie in der Politie.
Selbſt auf die Gefahr hin, den Anjchein zu erweden, „al3 ob er
Träume erzähle oder einen Staat und feine Bürger gleihjam aus
Wachs formen wollte“,2) hält Plato auch hier daran feit, daß es
fi) bei der Konftruftion eines idealen Mufterbildes einzig und
allein um die Erreichung der höchſtmöglichen „Schönheit“ und
Wahrheit Handle.) Alles kommt ihm hier wie dort auf die innere
Wahrheit, d. h. auf die Übereinftimmung mit den dem Mufterbilde
zu Grumde liegenden Ideen an, auf die logische Folgerichtigkeit des
ganzen Gedankenbaues, die „ein in allen Stüden in fich jelbit
harmonisch zufammenftimmendes” und darum ſchönes Ganze er—
gibt.t) Erſt dann, wenn jo das Ideal die Geſtalt eines vollen-
deten Kunftwerfes gewonnen, „wenn der Gejeßgeber feinen Entwurf
l) zarte Tov Toonov ıns pvcsws dıiaßıwoorreau heißt es von
den Bürgern des Geſetzesſtaates S64a. Bol. 690.
2) 746a. VBgl. 969b.
3) 746b: ahha ydo Ev Exdorois twv uerlhovrwor EosoHaı dixaiotatov
orucı Tode eivaı, Tv To regadsıyua deizvüvte, olov dei To Enyeigov-
usvov yiyveodaı, undev dnokeineıw tov zulhiorwv te zul aAmFEorarwv,
Dal. 712a.
*) 746C: TO yYao Öuokoyovusvov avro auro del nov navrayı
anegyaßsodaı zei Tv Tod puvkordrov dnuovoyov dEtov Eoousvov Aoyov.
IH. 3. 5. Zur Beurteilung des platonijchen Gejeßesitaates. 563
ruhig zu Ende geführt hat,“ kann und ſoll die Frage der Aus—
führung erwogen werden. !)
Aber auch ſonſt zeigt ſich zwischen Vernunft und Geſetzesſtaat
eine enge VBerwandtichaft. Wenn auch der zweitbeite Staat darauf
verzichtet, die legten und äußerſten Konſequenzen des platonijchen
Sozialismus zu ziehen, an den grundlegenden Gedanken jelbjt wird
doch zum Teil wenigftens entſchieden feitgehalten. Die Idee des
großen Menjchen in der individuellen Form des Volkes Fehrt auch
bier wieder. Auch bier wird der Staat als ein jozialer Organis—
mus konſtruiert, in den die Individuen als jchlechthin abhängige
Drgane, als unbedingt unterthänige Funktionäre und Werkzeuge des
Geſamtzweckes ſich einzuglievern haben, in dem Bewußtſein, daß ſie
mehr dem Staate angehören, als fich jelbit. Die Pflicht it auch
bier der ſoziale PBrimärbegriff, nicht das Necht der Individuen;
und die Erziehung zur Sittlichkeit ift die erſte und oberjte Aufgabe,
welche ein wahrhaft guter Staat zu löjen hat.
Eben darum verjpricht aber derjelbe Staat andererfeits, zus
gleich dem wahren und bleibenden Intereſſe der Einzelnen gerecht
zu werden, fie glüclich und zufrieden zu machen. Als Erziehungs:
anftalt zur Tugend?) erhebt auch er den Anfpruch, den Weg zur
allgemeinen Glückſeligkeit zu zeigen?) Auch er verheißt dem
Bürger: Laß dich vom Gejeß zum Guten leiten und du wirft das
angenehmfte und glücdlichite Leben führen.t) Die Lehre von der
Koinzidenz der Tugend und Glückſeligkeit, in der jo viele Illuſionen
) 746c: tov vouodErnv d’ Eaocı TEkos Enıdeivan tn BovAmosı, yEvo-
uevov dE TorTov, Tor’ dm xoıvn UET' Exeivov oxoneiv, 0 Ti te Evugpegei
Tov Elomusvwv zul TI NO00@VTES Elomtaı ns vouodesias.
) 708d: «AA Ovrws Eoti vouodsoia zal noAewv olzıouoi Tavıwv
TeAewrarov O0 aoermv avdoov. 963a: 005 ydo Ev Epauev deiv aei
nave mnulv Te Tov vouwv ABAEToVT eivat, tovro d* aosımv nov Evve-
YwooVusv navv 00905 Aeysodat
3) Seine Inſtitutionen haben den Zweck, den Bürgern den Erwerb
von „beiderlei Gütern“, den menjchlichen und göttlichen, zu ermöglichen.
631d. Dazu 742de, 743c. ©. oben ©. 518.
*) 790b. 864a.
36*
564 Erſtes Buch. Hellas.
der Politie wurzeln, ift auch hier ohne weiteres zu Grunde gelegt
und zum Staatsdogma erklärt.) Auf ihr vor allem beruht auch)
hiev die Hoffnung des „Geſetzgebers“, das Individuum für feine
Staatsidee gewinnen und zu dem gewünschten ſozial-ethiſchen Ver—
halten beftimmen zu fünnen.?) Auch bier bejteht jene Harmonie
zwijchen dem wohlverftandenen Selbtinterefje und dem der Geſamt—
heit, welche mit dem Glücde des Ganzen zugleich das der einzelnen
Glieder verbürgt.’) Und wenn auch nicht die vollendete Einheit des
Vernunftftaates erreicht wird, jo ſind doch auch hier die Individuen
mit ihrem gejamten Dafein in den Lebensprozeß des jozialen Ganzen
verflochten. Sie vermögen ji in eine Form des Sozialismus
hineinzuleben, von der Plato jelbjt gejagt hat, daß fie in Bezug auf
die Verwirklichung der Einheitsivee die nächjte Stelle unmittelbar
nach dem Bernunftftaat einnimmt.*) Gin Ergebnis, das anderer:
ſeits wieder eine jo ideale Verwirklichung der verteilenden Gerechtig-
feit vorausfeßt,5) wie fie eben nur im Vernunftitaat übertroffen
werden kann. Es joll auf dieſe Weife ein Zuftand erreicht werden,
in welchem „die ganze Gemeinde im gleichen Genuffe der gleichen
Freuden ftetS unverändert diejelbe bleibt und alle Bürger in mög-
lichfter Gleichheit ein gutes und glücjeliges Leben führen.”6) Und
) 660e: roös omas dvayxalere AEyeıv, Ws 0 uev dyasos avn)o
WEYWV Wr zul dixaios evdaluwv Eoti zal uaxdopLog, Edv TE UEYaS zul
lo yvoös Edv TE owuıxgös zul dogevns 1, zai Eav nAovrn zei un‘ Eav de
doa nhovrn uev Kıreoa te zai Mida ucAhov, 7 de ddıros, dYAos T’ Lori
za avıegos In. T42e: oyEdov uev yao evdaeiuovas @ua xzal ayadols
avayan yiyveodar. ©. oben ©. 518.
2) 663b: ovxoov 6 ur un ywoilwr Aoyos ydV TE zul dizaov zei
ayadov TE zul zahov ıdaros y', El umdev Ereoov, 005 To tira EHEAsıv
Inv Tov 0010v zai dixaıov Blov, WOoTE vouodErn yE aioyıoros Aoywv zul
EVAVTIWTATOS, ÖS dv un pn Teüra ovıwg Eyeıv' ovdeis yag dv Exov
EHEhoL nEeiFEoHRL TEKTrELV TOoVTO, OTO un To yalgsıy Tor
Avnstodaı nAEov Eneraı.
°®) 875b. 790b.
4) 739e. DBgl. 942c.
5) 945d.
6) 816ec.
III. 3. 5. Zur Beurteilung des platonifchen Geſetzesſtaates. 565
jo darf denn der Geſetzesſtaat mit Necht von fich jagen, daß er,
wenn er wirklich ins Leben treten jollte, die engite Annäherung an
das felige Dafein im Staate der „Unfterblichkeit” zur Folge haben
würde. !)
Man fieht, der Abjtand zwijchen deal und Wirklichkeit iſt
auch hier noch ein unendlich großer, und der Gedanke einer Neali-
fierung dieſes Staatsideals faſt ebenſo utopiich, wie e8 der Traum
vom DVernunftftaat geweſen. ES bedarf, um diejen Gedanken zu
faffen, in der That der ganzen „göttlichen Begeifterung”, mit der
auch bei minder hochgeſtecktem Ziele die ideale Bedeutſamkeit feiner
Aufgabe die Seele des Verfaſſers erfüllt.?)
Freilich muß er ſelbſt zugeben, daß unter dem mächtigen
Anhauch diefer göttlichen Begeilterung jeine ganze Darftellung einer
Dihtung ähnlich geworden jeil?) Ya er bezeichnet ſich geradezu
als den Dichter eines Dramas. +) Und wenn er auf die Hoffnung,
daß diefe Dichtung jemals Wahrheit werde, nicht verzichten will,
ja eine ſolche Hoffnung wiederholt ausjpricht,“5) — die Grund-
ftimmung, in der der Verzicht auf den VBernunftitaat und die Idee
eines nur relativ beſten Staates ſelbſt wurzelt, iſt doch eine zu
nachhaltige, als daß fie alle Bedenken und Zweifel zum Schweigen
bringen ließe.
Sp gibt Plato ohne weiteres zu, daß wenigſtens einzelne
feiner Speen die Probe auf ihre Ausführbarfeit möglicherweise
nicht beftehen würden. Ja wenn er ſich vergegenwärtigt, was er
) 739e: ıv dE vor nueis Eruzeyeignjxauev, Ein TE dv yevouevn
1ws ddavaoias Eyyvrara zei 7 ula devregws.
2) Slle: vor yao anoßkeıyas ngös toüs Aoyovs, oüs E£ Ew uEyou
devoo di dieimivgauer Njueis, ds uEv Euoi pawöusde, oUx dvsv TIvös
enınvolas Feav, &doker D’ oVr uoı narrdnaoı nomoeL Tivi 10000u0LWS
sionoscı. Vgl. 934e, wo die dem Df. verliehene Gabe der Gejeßgebung ala
ein Gefchent von Göttern und Götterfühnen bezeichnet wird: Onws dv nulv
negeizwoı HEol zei Heavy nraldes vouo#eteiv.
3) ©. die Anmerf. 2 angeführte Stelle.
2) 8172.
5) 752a. 859ec.
566 Erſtes Buch. Hellas.
doch auch jeßt noch für Anforderungen an die Bürger eines idealen
Gemeinweſens stellen muß, wenn er am Schluffe jeiner Ausführungen
über die grundlegenden Spnititutionen des zweitbeiten Staates noch)
einmal al jeine Vorschläge im Zufammenbhange überblidt: die von
der Wiege bis zur Bahre alles individuelle Leben beherrichende
und regelnde fozialiftiiche Lebensgemeinschaft, die Beſchränkungen
des Ermwerbes, den Verzicht auf das Gold, die Fünftlihe Grund-
befißverteilung, die Zwangspohtif in Beziehung auf das eheliche
Leben und jo vieles Andere, was ihn — wie gejagt — Jelbit
gleich einem Traume anmutet, — jo muß er fi) geradezu ge
ftehen, daß auf ein Zufammentreffen jo günftiger Umjtände, wie
fie die vollitändige Verwirklichung jeines Entwurfes vorausjeßen
wide, wohl kaum jemals zu hoffen jei.”) Er iſt darauf gefaßt,
daß man bei der Ausführung das eine oder andere Stüc werde
fallen laſſen müfjen,?) und daß jo das Endergebnis möglicherweife
nur ein Mufterftaat dritten Nanges jein fünnte.3) Das ganze
Projekt ericheint ihm wohl als ein verwegenes Wageftücd,') deſſen
Gelingen genau ebenfo Glücdsjache fei, wie ein Wurf im Würfel:
jpiel!5) Ja Die ganze Erörterung wird wiederholt jelbjt als ein
Spiel, wenn auch als „verjtändiges“ Spiel hingeftellt, als edler
) 745e: Ervosiv dE Judas TO Toiovd’ Eoti YoEWv € I@VTos TOOToV,
WS TE voV ElONUueve ndvre 0vx dv NOTE Eis TOLOVTOVS xuIVoVs Evuneoot,
worEe Evußnvar xard Aoyov ovrw Elunavra yerousva dvdoas Te, oi um
dvoysgarovocı mv roiwvrnv Evvoiziav, aA vnousvovoı Komuard TE Eyovres
taxta za uergie die Piov navrös zei naldwv yerkosıs Üds ElONKauEv
EXAOTOIS, Kal YOVOOd OTEXOUEVOL zul Ereowv wv ImAos 0 vouosEerns nooc-
te£wv Eotiv &x Tovrwv TWv voy EIONUuEvov, Er dE XWgus TE Xu doTEos,
WS EIONKE, UEOOTNTES TE zul Ev xUram olxmaeıs, ndvın oyEdov olov ovei-
gara Aeywv 17 nAdrrwv xaddneg &x xgoV Tiwa nokıv zei nolitas.
?) 746c: w dE adivarov tı Evußaivsı Toitwv yiyveosaı, Tovto uev
avTto Exxhiveiv zei un nodtrew, 8 Tu dE Tovrov ıWv AoınWv Eyyvrard
Eotı zal Euyyerkorarov Epv TÜV IO00NKOVIWY o«tteıv, todr' avro die-
ungarvasdaı Onws dv yiyrynraı. Dal. 805.
— V3
) ©. den Vergleich mit einem höchſt gewagten Zug im Brettſpiel ebd.
5 ( 38 NG x N * > n b) > x * ” c —
) 968e: zo Aeyousvor, W@ pidol, Ev zo) Kal UEOW EoLXev MUlv
e.V ——
II. 3. 5. Zur Beurteilung des platonifchen Gejebesftaates. 56
2
Zeitvertreib, welcher über die Trübſal des Greifenalters hin—
wegbilft.!)
Menn wir uns dieje beiden Grundjtimmungen vergegenwär-
tigen, die fi durch den gejamten Entwurf hindurchziehen, auf der
einen Seite den heiligen Eifer „göttlicher Begeifterung”, der ganz
in der Idee der radikalen Weltverbefferung aufgeht und die er—
lehnten Ideale um jeden Preis verwirklicht jehen möchte, auf der
anderen das gejchärfte Gefühl des Alters für die in in ver Schwäche
der Menjchennatur und in den Neibungswiverftänden des Lebens
jelbjt liegenden Schwierigkeiten der Ausführung, jo wird uns eine
weitere Eigentümlichfeit des Gejeßesitaates verjtändlich, Die derſelbe
allerdings mit manchen anderen fozialiftiichen Syitemen teilt: näm—
lich der Widerfpruch zwiſchen der proflamierten Freibeitsivee und
der Unterwerfung des ganzen individuellen Dafeins unter eine bis
ins äußerſte Detail durchgeführte ftaatlihe Bevormundung.
Der Bürger des Gejeßesitaates joll fih als ein freier Mann
fühlen; die pädagogisch -divattiiche Tendenz der gefamten Geſetz—
gebung ift darauf berechnet, daß die ideale fittliche Drdnung, welche
bier verwirklicht werden joll, möglichjt von innen heraus, aus der
Harmonie der Einzelwillen, aus der innerlichen Einheit der Gefin-
nung der Bürger erblühe, daß die freie Selbjtbeftimmung den
äußern Zwang des Gejeges thatjächlich überflüffig mache. Trotz—
dem und troß der naiven Zuverjicht auf die unwiverjtehlich über
zeugende Kraft des Gejeßeswortes fehlt doch der rechte Glaube an
die Möglichkeit einer folchen Freiheit. Obwohl jeder Einzelne weiß,
daß er in einem Staate lebt, der ihm jein individuelles Glüc, fein
geiftiges und materielles Wohlbefinden, wie fein anderer verbürgt,
bedarf doch dieſer Staat eines gewaltigen Beamtenheeres, einer in
zeiodeı, zei Eineg xivdvveveıw eol ans nolırteiag EdEkousv Evundons, N
tois EE, gpaoiv, 7 toeis xUßovs BdAkovras, Tavra zromteor.
) 685a: @AAd unv del ye muds ToVro Ev TW viv 0XonoVÜvras zei
eferabortes neoi vouwv, eilovres naudıdv nosoßvrıznv ougoov« dıeAdeiv
mv 0dov ahinws, Ws Eyauev nviza noyousda nogeveodeı. Dgl. 6886.
690d. 769a.
568 Erſtes Buch. Hellas.
die perjönlichiten Beziehungen eindringende Kontrolle, um des ge
jegestreuen Verhaltens feiner Bürger ficher zu jein! Das Andi:
viduum wird in eine ftraff zentraliftiiche Zucht genommen, welche
der Freiheit der eigenen Entſchließung die allerengjten Grenzen
ſteckt. Dem Worte des Gejebgebers, deſſen Idealismus bei aller
zur Schau getragenen „Sanftmut“ etwas Starres, Hartes und
Herrichlüchtiges hat, Fommt ein raffiniert ausgedachtes Syſtem
mechanifchen Zwanges zu Hilfe, welches die Individuen mit un:
wiverftehlicher Gewalt zufammenjchmiedet, ihr perfönliches, wie ihr
Familienleben, ihr Denken und Forichen, wie ihr Fünftlerijches
und religiöjes Empfinden, kurz ihr gefamtes Außeres und inneres
Sein inhaltlich zu bejtimmen und in die von dem Gejeßgeber ge
wünſchte Nichtung hinein zu zwingen jucht. Der ausgeprägt hier—
archiſche Zug des Denkens, den der extreme Sozialismus ſeitdem nie
wieder verleugnet hat, tritt ung hier in ganz bejonders charakterifti:
cher Form entgegen. Und ein jolches Leben joll für den Kultur-
menschen noch Lebenswert, ja die Quelle des höchſten perjönlichen
Glückes fein!
Derjelbe Mann, der individualiftiich genug empfindet, um
offen zuzugeben, daß, „wenn Alles nach Vorſchriften gejchehen
jollte, daS Leben, das ohnehin ſchon ſchwer genug, völlig unerträg-
lich wide“, derſelbe Mann erſcheint von einem unüberwindlichen
Mißtrauen gegen jede Befreiung des Individuums von der Zwangs—
gewalt äußerer Normen bejeelt. „Alles, was im Staate nach fefter
Ordnung und Sabung gefchieht, bringt allen möglichen Segen, aber
das gar nicht oder ungenügend Geordnete bringt meift einen Teil
dieſes Wohlgeoroneten wieder in Verwirrung“.) MS ob nicht
gerade durch die äußerliche ftatutarische Negelung von Dingen,
welche durchaus nur aus dem guten Willen der Einzelnen hervor-
gehen können, das ideale Ziel der ganzen Gefeßgebung in Frage
geitellt würde! In der engen Sphäre, welche diefer platonijche
') 780d: av uev yae, 6 Ti neo av Taisws zai vouov uerlyov &v
noAeı Ylyvnra, navın ayaya ansoyalerai, Tov DE ardxtwv 7 Tav Kaxos
q
Toydevrov Ave 1a noAAd Tov EÜ Terayucvov ahıa Ereoe,
III. 3. 5. Zur Beurteilung des platonifchen Geſetzesſtaates. 569
Sozialſtaat von ſolcher Regelung frei läßt, würde die geiftige
Spannkraft und Neglamkeit des Individuums, deren gerade dieſer
Staat zu feiner Erhaltung jo notwendig bedürfte, ſyſtematiſch ge—
lähmt und untergraben; unter dem Zwange der Negulative, der
ihn auf Schritt und Tritt begleitet, würde der Einzelne ſchwerlich
zu jener Selbjtändigfeit des Charakters und Geiftes gelangen, ohne
welche die von Plato jelbit gewünjchte wahrhaft freie Selbitbe-
jtimmung überhaupt nicht möglich it.
Es iſt ein verhängnisvollee — freilich bis auf den heutigen
Tag immer und immer wiederfehrender Irrtum —, zu glauben,
daß bei der Löſung jozialer Aufgaben die private Initiative mög-
lichjt auszujchließen und durch Nechtsnormen und gejeßgeberiiche
Technik zu erjegen ſei; ein Prinzip, das folgerichtig durchgeführt,
die öffentlichen Spnftitutionen zu einem geiſtloſen Mechanismus
machen würde, der bejtändig der Direktion der Werkmeiſter bedürfte.
Gerade das Umgefehrte des genannten platonifchen Satzes
it richtig! Nicht diejenige Drganijation des Staates iſt die
idealſte, weiche das Ffunftreichite Syftem der Negulative ausgebildet
bat, jondern in welcher — unbejchadet der Lebensinterejlen der
Geſamtheit — der Zwang aus den menschlichen Beziehungen mög-
lichjt hat entfernt werden können. Se mehr die ſpontane Thätig-
feit der Einzelmen oder der kleineren Kreiſe eine befriedigende Löſung
der Staatlichen und gejellichaftlichen Aufgaben erwarten läßt, um fo
befjer! „Jede Minderung der jpontanen Thätigkeit des Einzelnen
it Steaftverluft unter dem Gefichtspunfte der Gejamtheit und Ver—
luft an Freude und eigentümlicher Bildung für den Einzelnen.“ ')
Freilich iſt gerade dieſe individuelle Bildung, die Mannig-
faltigfeit individuellen Denfens und Empfindens ein Gegenftand
des Mißtrauens für den jozialiftiichen Doftrinär, weil fie die Unter:
werfung der Geifter unter jeine mit dem Anſpruch auf alleinige
Wahrheit verfündeten Sabungen in höchſtem Grade erichwert, eine
jtete Duelle von Konflikten zwijchen der ftarren Autorität dieſer
) Bauljen: Ethik ©. 845.
570 Erſtes Buch. Hellas.
abjoluten Normen und dem Bewußtjein des Einzelnen werden muß.
Um solchen Konflikten ſchon im Entjtehen vorzubeugen und die für
die Aufrechterhaltung des Syſtems unentbehrliche „Einheitlichkeit“
der Gefinnung zu erzielen, ſieht ſich dieſer Sozialismus zu der
verhängnisvollen Konſequenz gedrängt, gerade in diejenigen Gebiete
des menschlichen Dafeins requlierend einzugreifen, welche durchaus
individualifiert und perjönlicher Natur find, und deren Wert ganz
wejentlich auf ihrer Individualiſierung beruht, — die aber eben
deshalb auch der Überwachung und Beeinfluffung durch Gejeß und
Polizei am wenigiten zugänglich find: Die Gebiete geitigen Schaf:
fens, moralischen und religiöjen Empfindens, der Sitten und Lebens—
gewohnbeiten des Haufes u. j. w.
Daß hier die geringfte Überjpannung ftaatlichen Zwanges
wahrhaft verderblich und zerjtörend wirken fann, daß das einfeitige
Drdnungsprinzip, von welchem Plato ausgeht, nichts weniger als
geeignet ift, die erträumte Harmonie zwilchen Staat und Indivi—
duum zu Schaffen, das wird im Eifer der radikalen Weltverbefferung
vollfommen verfannt. Was joll man vollends zu der ungeheuer?
lichen Verirrung jagen, Metaphyſik, Glauben, Forſchung zur Staats:
jache machen zu wollen? Nichts könnte die Kulturwidrigfeit des
doftrinären Sozialismus draftiicher beleuchten, als dieje Seite de3
platonischen Staatsiveals. Das ift in der That die lette Konſe—
quenz, zu welcher der einjeitig fozialiftiiche Staat notwendig ges
langen muß: die Anebelung aller Geiftesfreiheit. Daß der moderne
Sozialismus dies leugnet, ift nur ein Zeichen feiner Unflarheit
oder Unwahrhaftigkeit. Die unerbittliche Logik und unbeftechliche
Wahrheitsliebe des antifen Denfers läßt hier feine Illuſion auf:
kommen.
Um ſo größer iſt freilich die Illuſion, in der er ſelbſt ſich
befindet. Er ſieht nicht, daß ſich in dieſer Frage der extreme
Sozialismus in einem ewigen Zirkel bewegt. Der einſeitig ſozia—
liſtiſche Staat kann, ohne ſeinen eigenen Beſtand zu gefährden,
unmöglich Freiheit des Denkens und Glaubens gewähren; ſeine
innerſte Natur treibt ihn dazu, auch das geiſtig-perſönliche Leben
is A
|
II. 3. 5. Zur Beurteilung des platonifchen Gejeßesjtaates. 571
mit den Mitteln der allmächtigen Staatsgewalt zu regeln und zu
beherrſchen. Und doch lehrt andererjeits die Gejchichte auf taufend
Hlättern, daß diefes Bemühen ein erfolglojes fein muß, weil es
mit den Lebensbedürfniiien des Kulturmenjchen in einem unver:
Jöhnlichen Widerſpruch fteht.
Günftiger liegt die Sache für den »platoniichen Standpunkt
auf volfswirtichaftlichem Gebiete. Im wirtichaftlichen Verkehr,
in der wirtichaftlichen Produktion handelt es ſich nicht entfernt in
dem Grade, wie auf geijtigeethiichem Gebiete um die Betätigung
des individuellen und perjönlichen Lebens, jondern — in weiten
Umfange wenigftes — um gleichartige und unperjönliche Thätig-
feit. Wirtichaftlihe Handlungen, wirtſchaftliche Leiſtungen find
daher in ungleich größerem Umfang kontrollierbar und erzwingbar,
als Meinungen, Überzeugungen und Lebensgewobnheiten, und dem—
nach auch die Bedenken gegen jtaatliche Negulierung weit geringer.
Freilich ift bier eben deshalb die Verſuchung zu einer über:
mäßigen Ausdehnung der Staatsiphäre und der ftaatlichen Be—
vormundung eine bejonders große. Und in der That iſt auch
Plato diefer Verſuchung erlegen. Sein Drdnungsprinzip, welches
„womöglich nichts ohne Aufficht” laſſen möchte, iſt ſelbſt in jeiner
Anwendung auf das volfswirtjchaftliche Gebiet eine großartige Ver-
irrung. So recht er mit jeiner Forderung bat, daß die Vernunft
auch diefe Dinge überjehen und beherrichen, fte nicht einfach dem
blinden Zufall überlaffen jol, jo verkehrt ift es, daß er Zwang
und Negulative, die ohne Schädigung der individuellen Energie
doch immer mehr nur als Ausnahme und Nachhilfe eintreten Fönnen,
auch hier zur Negel erhebt und an die Stelle eines lebendigen
Drganismus eine Mafchine, einen von einer Stelle aus zu lenfen-
den Mechanismus jebt.
Die Art und Weile, wie im Gejeßesjtaate alle ſozialökonomi—
ſchen Probleme von Staatswegen und von oben her gelöft werden,
die planmäßig zentralifierte Staatsleitung von Produktion, Kon:
fumtion und Verkehr, welche über die gefamte Volkswirtſchaft wie
über eine große Hauswirtichaft Jchaltet, die rückſichtloſe Unterwer-
572 Erſtes Bud. Hellas.
fung aller Individualwirtſchaften unter ein Syitem allgemeiner
Normen, die nicht aus den Bedürfnifjen der lebendigen Wirklichkeit,
fondern aus den Abjtraftionen einer abjoluten Doktrin erwachjen
find, die abjchredenden polizeiftaatlichen Mittel, mit denen dieſe
ganze Politik der Zentralifation und Nivellierung ins Werk geſetzt
wird, — all das kann doch gewiß nicht als ein wünjchenswertes
Biel erjcheinen, ganz abgejehen davon, daß nicht einmal die Mög—
lichkeit der Durchführung erwiejen ift.
Es genügt doch nicht, wenn der Gejeggeber auf dem Papier
den Anteil beftimmt, der nach feinen theoretijchen Überzeugungen
den Grundbefigern, Kaufleuten, Handwerkern u. j. w. am Volks—
vermögen und «Einkommen gebührt! Er muß auch zeigen, wie der
Apparat bejchaffen fein und fungieren joll, der die ſyſtematiſche
Regulierung aller Befig: und Einfommensverhältniffe zu verwirk—
lichen bat.
Darauf erwartet man vergeblich eine befriedigende Ahıtwort.
Plato begnügt fich, die Wahlen zu der betreffenden Behörde mit
gewifjen Kautelen zu umgeben und diejelbe mit weitgehenden Macht-
befugniffen auszuftatten. Als ob damit eine hinlängliche Bürg—
Ichaft für die genügende Durchführung der ihr gejtellten unendlich
ſchwierigen Aufgabe gegeben wäre! Nicht einmal dafür ijt der
Nachweis erbracht, wie es möglich fein joll, in einem Wirtſchafts—
ſyſtem, in welchem dem Haupthebel aller wirtichaftlichen Kraft:
äußerung, dem individuellen Intereſſe ein jo unendlich bejcheidener
Spielraum zu einer Bethätigung übrig bleibt, auch nur den
ungeftörten Fortgang und eine genügende Leiftungsfähigfeit des
Produktions und Verkehrsprozeſſes zu erhalten. Solche Fragen
laffen ſich eben nicht fo einfach bei Seite jchieben, wie dies hier
geichehen ift, — wenigftens dann nicht, wenn man Vorſchläge für
das praktiiche Leben machen will. Und darauf verzichtet ja Plato
feineswegs, obwohl er die Frage der Ausführbarfeit als eine jefun-
däre behandelt.
Die hier geſchilderte Gefeßgebung würde ſchon darum Gefahr
laufen, ein toter Buchjtabe zu bleiben oder in unlösbare Wider:
II. 3. 5 Zur Beurteilung des platoniſchen Geſetzesſtaates. 573
Iprüche mit den thatjächlichen Berhältniffen zu geraten, weil fie in
unerträglicher Weile jchematifiert und generalifiert. In das ideale
Schema feines Syſtems gebannt fennt Plato die Nücdfichten nicht,
welche der Gejeßgeber auf die Mannigfaltigfeit der Dafeinsbedin-
gungen menjchlicher Wirtichaft, auf die BVielgeftaltigfeit der Be—
ztehungen zwijchen den wirtjchaftlichen Intereſſenkreiſen zu nehmen
bat. Er Sieht nicht, daß jede Wirtjchaftspolitif um jo erfolgreicher
jein wird, je mehr ſie indivivualifiert, um jo wirfungslofer, je mehr
fie verallgemeinert.
Man vergegenwärtige fich nur das Agrarrecht des Geſetzes—
jtaates, auf welchem der ſoziale Aufbau des ganzen Staatskörpers
beruht! Dasjelbe ift offenbar das Ergebnis einer Neaktion gegen
die Zuftände, wie fie fih in Platos Zeit im Zufammenhange mit
der Mobilifierung des Grundeigentums, der Bodenzerjplitterung
und der Auffaugung des Grundbeſitzes durch das Geldfapital her—
ausgebildet hatten. Das Urteil, das fih Plato auf Grund diejer
lofalen Beobachtungen über die Erfordernifje einer rationellen Agrar-
politif gebildet hatte, wird echt doktrinär ohne weiteres zur Höhe
einer allgemein gültigen Wahrheit erhoben. Das Stennzeichen einer
gefunden Agrarverfaſſung kann von diefem Standpunkte aus nur
die ſtrengſte Gebundenheit jein: Abjolute Unteilbarfeit und Unver-
äußerlichfeit des Grundbeſitzes, jorwie ein die ungeteilte Vererbung
und den mirtjchaftlichen Beſtand der Anweſen ficherndes Zwangs—
erbenrecht. Damit joll die Banacee für die Heilung, beziehungs-
weile Verhütung der ſchlimmſten ſozialen Krankheitserſcheinungen
gefunden Sein! Daß die Stabilifierung einer gewillen Größe der
Landgüter nur unter der Vorausjeßung eines ganz bejtimmten genau
und gleichförmig feftgehaltenen Betriebes richtig fein kann, daß
eine ſchematiſche Feſtſetzung dieſer Größe durch die Gefeßgebung
niemals den Berjchiedenheiten von Boden, Klima und Anbauver-
hältniſſen genügend Nechnung tragen könnte, daß nicht der Gejeß-
geber, jondern nur der Landwirt jelbjt am beiten weiß, wie groß
jein Gut jein muß, um der Volkswirtichaft die beiten Dienfte zu
leiften — furz, daß die ganze Frage der Freiheit und Gebunden:
574 Erſtes Buch. Hellas.
heit des Grundeigentums überhaupt nur bedingt, d. h. nur für
beftimmte Gegenden und mit Nücjicht auf die gegebenen Wirt:
ſchafts- und Kultuwverhältniffe beantwortet werden fann,!) das
fommt Plato nicht zum Bewußtſein.
Obgleich die Volfswirtihaft eines Staates, der in jeiner
Iſolierung „ſich jelbit genügen” muß, notwendig alle Formen der
landwirtjchaftlichen Produktion, Viehzucht, Aderbau und garten:
mäßige Kulturen umfaßt und daher ſchon durch das Produktions:
interejje auf eine Individualiſierung des Wirtjchaftsrechtes hinge—
wiejen iſt, wird doch die ganze Agrarpolitif des Gejegesftaates auf
rein doftrinären Erwägungen und Schlagworten aufgebaut; und
darnach wird das ganze agrarische Wirtſchafts- und Verkehrsleben
ohne Nücjicht auf die Verſchiedenartigkeit der Eriftenzbedingungen
in ftreng uniformer Weije geregelt, eine ſtarre Unbeweglichfeit der
einmal gegebenen Beligverhältnifje erziwungen. Ebenſowenig wer:
den die jchwerwiegenden jozialpolitifchen, privat: und volfswirt-
Ichaftlichen Momente gewürdigt, welche auf dem Gebiete des Er-
werbsrechtes einer doktrinären GleichheitSmacherei entgegenftehen.
Die Mißſtände, welche die allgemeine und ausschließliche Durch:
führung der Individualſucceſſion (des Anerbenrechtes) unvermeid:
lich zur Folge haben würde, ſcheinen für den platonifchen Sozial-
ftaat nicht vorhanden zu fein. Über die Schwierigkeiten 3. B.,
welche im Anerbenrecht die Gejtaltung der Abfindungsnormen
macht, Hilft er jich mit einer ganz jchablonenhaften Negelung der
Frage hinweg. Der in der Natur diefes Nechtsinftitutes liegende
Intereſſengegenſatz zwijchen Anerben und Gejchwiftern kommt bier
jo wenig zum Bewußtjein, der Gemeinfinn und die Überzeugung
von der Notwendigkeit des Inſtitutes ift eine jo ftarke, daß zu
Gunften des Anerben die Exrbanteile der Geſchwiſter auf ein ganz
kümmerliches Maß herabgedrücdt werden können, ohne den Fami:
lienfrieden und die foziale Harmonie irgendwie zu ftören! Ja der
') Bgl. die jchönen Ausführungen von Buchenberger: Agrarwejen und
Agrarpolitik L, 431 ff.
I. 3. 5. Zur Beurteilung des platoniſchen Geſetzesſtaates. 575
leichtherzige Optimismus mit dem der Gefeßgeber hier der Ent-
wicklung der Dinge entgegenfteht, verjteigt ſich ſogar zu der naiven
Erwartung, daß die durch die Gejchlofjenheit des Grundbefites
immer wieder von neuem notwendig werdende Abjtoßung eines
Teiles der nachwachjenden Generation ſich ohne jeden Zwang werde
bewerfitelligen lafjen, daß die Enterbten in die Entfernung von
ver heimatlichen Erde fich allezeit freiwillig fügen würden! Welchen
Wert Nechtsnormen haben, welche nur unter jolchen utopifchen
Vorausſetzungen realifierbar find, bedarf feiner Ausführung. Hier
gewinnt man in der That den Eindrud, als handle es fi um
ein Spiel mit Wachsfiguren, nicht um Menjchen, die von Leiden:
Ihaften und Intereſſen bewegt find.
Und was für das Agrarwejen gilt, trifft auch für alle ans
deren Gebiete der Wirtichaftspolitif zu: Überall derjelbe Geift der
Schablone und der Schematifierung, welche den Dingen und Men-
ſchen, wie fie nun einmal in Wirklichkeit find, fortwährend Gewalt
anthut, und daher in der Praris fat durchweg an unüberwind—
lichen technifchen und pſychologiſchen Schwierigkeiten fcheitern würde.
Die iveale Nepublif Magnefia würde ihrem „Geſetzgeber“ wahrjchein-
lich daſſelbe Schickſal bereitet haben, welches Cabet, der Erfinder,
Sejeßgeber und Patriarch Ikariens erfuhr, der nach endlofen Strei-
tigfeiten und allgemeiner Enttäufchung von feinen Ikariern ver-
trieben, von jeinen Freunden verlaffen in Armut und Einſamkeit
gejtorben ift! — So zeigt ſchon dieſer erſte Entwurf einer eine
jeitig ſozialiſtiſchen Organifation der Volkswirtichaft die Unfähigkeit
des extremen Sozialismus, mit feinen einfachen logiſchen Formen
der jozialen Probleme wirklich Herr zu werden. Ein Mißerfolg,
der uns übrigens nicht abhalten darf, die großen und fruchtbaren
Gedanken anzuerfennen, die doch auch hier keineswegs fehlen.
Man hat im Hinblid auf den „geichloflenen Handeljtaat”
von Fichte gejagt, Derjelbe jei der Erſte geweien, der die Moral
in die Nationalökonomie einführt.) In Wirklichkeit ift dies das
') Schmoller: Zur Geſch. u. Lit. der Staatsw. 77. Manches don dem,
576 Erſtes Buch. Hellas.
Verdienſt des platonischen Staates, der gewiß nicht mit geringerer
Energie als der Sozialſtaat Fichtes, das hohe Ziel verfolgt, daß
auch in allen öfonomifchen Beziehungen immer mehr Recht und
Billigfeit, Vertrauen und reelle Dffenheit an die Stelle von Täus
ſchung, Betrug und Schwindel trete.
Auch darin ift Plato ein Vorläufer Fichtes, daß er in den
Grundzügen feines ökonomischen Syftems Aufgaben zeichnet, die in
der That al3 das wahre deal einer richtigen Ofonomie des Güter:
(ebens anzuerkennen find. Wenn die Wirtſchaftspolitik des Ge-
jegesftaates ihr Augenmerk vor allem darauf richtet, daß die Be
völferung nach den verjchiedenen Erwerbszweigen richtig verteilt ſei
und daß die Ofonomie des Gattungslebens im Gleichgewicht mit
der wirtjchaftlichen Eriftenzmöglichfeit bleibe, jo exjcheint fie von
einer richtigen Einfiht in die Grumdbedingungen einer gefunden
Volkswirtſchaft geleitet. Ebenſo ift ihr Bejtreben, eine allzu große
Ungleichheit des Befiges zu verhüten, an und für fich ein durch—
aus berechtigtes. Wenn auch das gegenjeitige Verhältnis der
Stände in diefem Staate keineswegs idealen Anforderungen ent
jpricht und die Lage der gewerbetreibenden Klafje z. B. eine ge
radezu unbaltbare und unerträgliche ift, darin liegt doch ein zus
funftsreiher Gedanke, daß in einem gejunden Gemeinwejen die
Bedingungen für die Eriftenz und das Gedeihen eines zahlreichen
befriedigten, fittlih und politijch tüchtigen Mitteljtandes vorhanden
jein müſſen, — als der beiten Schußwehr gegen das Entftehen
einer Übermacht der Extreme, gegen Mammonismus und Raupe:
rismus, Dligacchie und Ochlofratie und gegen die Tyrannis. Ein
Gedanke, der durch die klaſſiſchen Ausführungen der ariftotelifchen
Bolitif über die joziale Miſſion des Mittelftandes zum Gemeingut
der politiihen Wifjenjchaften geworden ift.)) Mit Necht wird
ferner in dem Geſetzesſtaat der größte Wert darauf gelegt, daß der
was hier don Fichte gejagt wird, gilt wörtlich auch von Plato und iſt daher
auch im Text zum Teil wörtlich wiederholt worden.
') Man vergißt gewöhnlich, daß Ariftoteles auch hier platonifche Ideen
weiter ausführt, |
II. 3. 5. Zur Beurteilung des platonijchen Gejegesjtaate. 577
Gang der wirtichaftichen Entwiclung ein möglichjt ficherer jei, daß
der DVerfehrsprozeß ſich möglichit vegelmäßig und gleihmäßig ge
stalte, Wert: und Breisichwanfungen und ſonſtige Hab und Gut
des Einzelnen gefährdende Störungen immer jeltener werden, daß
endlich durch dies Alles ein möglichjt hoher Grad von Sicherheit
des Beſitzes und der Erijtenz der Einzelnen erreicht werde. Das
find in der That wahre Aufgaben der wirtichaftlichen Ihätigkeit
jedes Volkes und Staates.
Worin Plato irrt, das find — ähnlich wie bei Fichte, —
die Mittel der Ausführung; und häufig beſteht fein Irrtum nur
darin, daß er unter dem Banne feines einjeitigen Drdnungsprinzipes
eine Aufgabe für den Staat in Anſpruch nimmt, welche diejer nicht
von ſich aus löſen kann, jondern nur die Gefellfehaft von dem
Einzelnen aus, und wobei Staat und Necht höchjtens mittelbare
Beihilfe gewähren können.
Ja ſelbſt die Mittel, welche Plato zur Herftellung gefunder
jozialöfonomifcher Verhältniffe empfiehlt, find wenigitens teilweife
und unter der Borausfeßung, daß ſie eben nur bedingte Geltung
beanjpruchen können, in hohem Grade beherzigenswert. Und ebenſo
verdienen die allgemeinen Gefichtspunkte, in denen dieſe Vorjchläge
ihren Nechtfertigungsgrund finden, die größte Beachtung.
Ein Agrarrecht 3. B., welches die ungeteilte Erhaltung der
Heimftätten im Erbweg fichert, kann unter Umständen ſehr wohl
durch das Bedürfnis der Produktion und im Intereſſe der Gejant-
wohlfahrt des Volkes gefordert jein. Und daß in diefem Falle
der Staat berufen ijt, mit feiner Zwangsgewalt einzugreifen, daß
es eine Illuſion wäre, fi auf einen freiwillig richtigen Eigen—
tumsgebrauch zu verlafen, das hat die Gejchichte zur Genüge
gezeigt.
Bon wahrhaft vorbildlicher Bedeutung iſt es, wie die Geſetz—
gebung des platonischen Gejegesjtaates den Grund und Boden als
das Wertvollite proflamiert, was ein Volk jein Eigen nennt, wie
fie den innigen Zuſammenhang zwiſchen Bodenbeſitz und Boden-
wirtſchaft einerfeitS und den wichtigiten Lebensintereſſen des Volkes
om
‘
Pöhlmann, Gejch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus. I. 5)
578 Erſtes Bud. Hellas.
andererfeitS erkennt und mit rückſichtsloſer Energie das Necht des
Staates geltend macht, dahin zu wirken, daß der Grundbeſitz im
Einklang mit den Bedürfniſſen der Geſamtheit genußt und bewirt-
ichaftet werde. So wenig man ſich mit dem Monopole der Voll—
bürger auf die Grundrente und mit dem Loſe befreumden
fann, welches den Bebauern des Bodens auferlegt wird, jo ſym—
pathifch berührt es, daß das öffentliche Nechtsbewußtjein des Ge—
jegesftaates diejes Nenteneinfommen nur in der Vorausjegung an-
erfennt, daß es von feinen Empfängern als die Grundlage für
eine dem öffentlichen Wohle gewidmete raſtſtloſe Thätigfeit, für die
Übernahme wichtiger öffentlicher Funktionen benügt wird, daß fie
nicht faule Drohnen, jondern Männer der ſtrengſten Arbeit und
Plichterfüllung find.
Nicht minder vorbildlich it die Art und Weiſe, wie aus
diefen Grundanjchauungen heraus alles PBrivateigentum zugleic)
unter den öffentlich rechtlichen Geſichtspunkt gejtellt wird, wie
insbejondere das Grundeigentum nirgends als ein bloß privatrecht-
liches, ſondern als ein ſozialrechtliches Inſtitut aufgefaßt und be—
handelt wird. Während die rein individualijtiichen Privatrechts-
ſyſteme Inhalt und Umfang des PBrivateigentums einfeitig durch
den individuellen Willen des Eigentümers bejtimmt werden lafjen
umd durch die unvermeidlichen Ausnahmen, in denen fie das ftaat-
lihe Eingreifen „im öffentlichen Intereſſe“ zulaſſen müſſen, eine
Art Kriegszuftand zwijchen öffentlichem und Privatrecht herbeiführen,
wird hier der Privateigentumsordnung ein Nechtsprinzip zu Grunde
gelegt, welches die dem Wrivateigentum zuftehenden Rechte von
vorneherein jo umgrenzt, wie es dem Bedürfnis der Gemein:
Ichaft entjpricht.
Es ift von höchſtem Intereſſe, zu jehen, wie auch hier die
Neuzeit da, wo fie mit einer jozialvechtlichen Geftaltung des Brivat-
eigentums wirklich Ernſt macht, ganz von jelbjt den bereits von
Plato vorgezeichneten Meg bejchritten hat. Wenn in Platos Sozial-
ftaat der Bürger ſich ftet3 vor Augen hält, daß ex in feinem Grund
und Boden ein „gemeinfchaftliches Gut des ganzen Staates” be
IIT. 3. 5. Zur Beurteilung des platonifchen Gejeßesitaatee. 579
wirtichaftet, jo hat auch Juſtus Möfer das Necht des Ttaatlichen
Eingreifens in die Bopdenbejigverteilung mit den ganz platonijchen
Worten motiviert: „Die Erde ift des Staates“. Und die modernen
Beitrebungen, an die Stelle des abjoluten Privateigentumstechtes
und der üblichen römisch-rechtlichen Beftimmung desjelben ein wahr-
haft joziales Necht zu jegen, haben zur Aufftellung eines Eigen-
tumsbegriffes geführt, nach welchem das (Ober-)Eigentum an
Grund und Boden dem Gemeinwejen (Staat, Gemeinde u. j. w.)
zuftehen joll, dem Individuum dagegen nur ein abgeleitetes (aller-
dings vererbliches und veräußerliches) Necht. Ein Eigentumsbe-
griff, nach welchem das Individuum nicht mehr Necht hat,
al3 ihm eben verliehen it. Mit einem ſolchem Necht hofft man
eine fejte Grundlage zu gewinnen, von der aus Bodenwucher und
Überſchuldung des Grumdbefiges wirkſamer zu befämpfen wäre,
während dies da, wo man an dem xvömifcherechtlichen Eigentums:
begriff in feiner Anwendung auf Grund und Boden fefthält, ohne
Willkür und innere Widerſprüche nicht möglich ift.
Es iſt nicht Sache des Hiftorifers, dieſe Konftruftion des
Bodeneigentums als Erblehens auf ihre Haltbarkeit hin zu beur-
teilen. Die zu Grunde liegende allgemeine Idee aber wird er
ganz und voll anerkennen müſſen, weil fie fich als eine unabweis-
bare Forderung des gejchichtlichen Lebens ſelbſt herausgeftellt hat,
daß wir nämlich einen igentumsbegriff brauchen, welcher die
Eventualität von geſetzlichen Beſchränkungen der Berfügungsbefug-
nilje des Eigentümers und jelbjt von Verpflichtungen zu einem
Thun, welche dem lebteren hinfichtlich der Benügung feines Eigen-
tums auferlegt werden können, mit in fich aufnimmt!) Dieſer
Forderung wird fi ein wahrhaft nationales und volfstümliches
Recht auf die Dauer nimmermehr entziehen können, jo jehr auch
ein einjeitiger Individualismus und Formalismus fich dagegen
fträuben mag. Es würde einen verhängnisvollen Rückſchritt zu
') In diejer Beziehung ftimme ich überein mit A. Wagner: Grund:
legung (2) 580 und Pfizer: Soziales Recht (Allgem. Ztg. 1893 Beil. 55).
am:
—
580 Erſtes Buch. Hellas.
einer bereits vom Hellenentum überwundenen Nechtsauffafjung be-
deuten, wenn die Kopdiftfation des usus modernus Pandectarum,
die man dem deutichen Volke als bürgerliches Gejeßbuch darzubieten
beabfichtigt, wirkliches Necht würde!
Eine andere Idee von ungeheurer Tragweite ift das Prinzip
der Öffentlichkeit des Geſchäftslebens, das eines der wich—
tigften Hilfsmittel dev Wirtjchaftspolitif des Gejegesitaates bildet.
Sp wenig an die extreme Durchführung diefes Prinzipes im Sinne
Platos zu denken ift, darüber kann doch Zweifel bejtehen, daß
derjelbe hiev mit genialer Intuition einen Gedanken erfaßt hat,
dem noch eine große Zukunft bevorjteht. Schon iſt Vieles und
Hochbeveutjames in dieſer Nichtung geichehen. Der moderne Staat
fordert unbedingte Bublizität für die Banken und Aftiengejellichaften,
öffentliche Hypotbefenbücher, offene über die Kreditbajis des Kauf-
manns orientierende Handelsregifter. NKurszettel und Dividenden-
berichte haben nicht bloß über die Betriebe, die fich der Form der
Aktiengejellichaft bedienen, jondern auch über alle verwandten Be:
triebe und über den Ertragreichtum von Handel und Induſtrie
überhaupt ein jo ungeahntes Licht verbreitet, daß das Bedürfnis
der Gejellichaft, genau und gut über das Thun und Treiben ihrer
einzelnen Mitglieder unterrichtet zu jein, in hohem Grade gewachjen
it. Wir haben erfannt, daß die Möglichkeit, die befißenden und
namentlich die gewerbetreibenden Klaſſen ihrer vollen Leiſtungs—
fähigkeit entiprechend zu Opfern für joziale Neformen, zu ftaatlichen
und joztalen Leiftungen heranzuziehen, weſentlich davon abhängt,
wieweit wir in der Dffenlegung des gewerblichen Lebens fortzu-
jcehreiten vermögen. Auch der moderne Staat arbeitet an der fte
tigen Bervolllommmung einer amtlichen Statijtif, welche unſere
Einfiht in die Verhältniffe der Produktion, der Beſitzes- und Ein-
fommensverteilung ftetig erweitert und vertieft und jo ein immer
wirkjameres Hilfsmittel ftaatlicher Wohlfahrtspoltif werden wird.
AU das muß man fich vergegenwärtigen, wenn man das hier
geſchilderte Geſellſchaftsideal in feiner vollen geſchichtlichen Bedeu—
tung erkennen will. So vielfach die von Plato gewieſenen Wege
III. 4. Das Fragment des ariftoteliichen Staatsideal2. 581
in Irrſal und Abgründe führen, immer gelangt man doch auch)
wieder auf lichte Höhen und zu Ausbliden, die „voll find von
Zukunft“.
Dierter Abfchnitt.
Das Fragment des ariftoteliichen Staatsideals.
Wie wir jahen, hatte die platoniiche Sozialphilojophie auf
die Verwirklichung der letzten und äußerſten Konfequenzen der
ſozialiſtiſchorganiſchen Auffaſſung von Staat und Gejellfehaft zwar
jo gut wie verzichtet, diejelbe aber doch grundjäglich als das Ideal
feftgehalten, zu welchem die dee der Gemeinjchaft mit logiſcher
kotwendigfeit hindrängt. Bei Ariftoteles wird der thatjächliche
Verzicht zu einem prinzipiellen.
Dbgleich auch er die Beurteilung der ftaatlichen Gebilde nad)
der Analogie phyſiſcher Organismen vollfommen billigt,!) it ex
doch nicht gewillt, diefen Vergleich mit Plato bis zu der Schluß:
folgerung zu treiben, daß die Durch die Konzentration alles Lebens
in Einem Drgan erzeugte Einheitlichkeit des phyfiichen Organismus
zugleich als das Prototyp für die ivealfte Form ftaatlicher Gemein-
ſchaft zu betrachten jei. Für Ariftoteles ift es von vornherein eine
naturwidrige Überfpannung des Gemeinichaftsprinzips, wenn Plato
eine derartige DVereinheitlihung des ſozialen Organismus für mög-
lich oder auch nur für begehrenswert hält.
Ariftoteles weilt darauf bin, daß der Staat jeiner Natur
nach aus einer Vielheit beiteht,2) die nur in gewiſſen Beziehungen
zur Einheit werden kann und joll,?) weil fie aus Elementen zu—
jammengejeßt it, die unter ſich verjchieden find; eine Verſchieden—
1) ©. oben ©. 165.
) Bol. I, 2, 4. 126la: Amos yao Tu Tv Yvow £otiv m nolıs,
ywousvn te ula uckhov olxie uev Ex Nolewc, dvdownos d’ EE olzias Eotat.
>)#11,2.962.12636b:
4) I, 2, 4. 126la: ov uovov dE &x nAsıorwv avdewnwv £otiv
nöhıs aAlc xal E& Eideı diapeoovrwr' ov yao yivsraı nolıs EE öuolwr.
589 Grites Buch. Hellas.
heit, welche die von Plato erträumte Einheitlichfeit des Fühlens,
Denkens und Wollens unmöglich macht.
Wenn Plato die joziale Harmonie (ovugyorie) feines Speal-
ftaates mit dem Zuſammenklang der Töne vergleicht, jo meint
Ariftoteles, eine Einheitlichkeit, wie die platonifche, würde die Sym:
phonie zur Monotonie, die rythmiſche Kompofition zu einem ein-
zigen Takt ummwandeln!), d. h. jtatt des harmonifchen Zufammen-
wirfens individuell verjchiedener und gerade dank dieſer Verſchieden—
heit nach gegenfeitiger Ergänzung ftrebender lebendiger Kräfte, würde
eine rein mechanische Einförmigfeit, eine lebloſe Monotonie ent-
Stehen, während doch die Harmonie nicht darin bejteht, daß immer
derjelbe Ton, jondern im Einklang viele Töne angejchlagen
werden.
Bortrefflih hat dieſe ariſtoteliſche Anſchauung Montesquien
formuliert: „Was man die Einheit eines Staatsförpers nennt, —
jagt er in der Schrift von den Urſachen der Größe und des Ver:
falles der Römer,“) — ift etwas jehr Zweideutiges. Die wahre
Geſtalt derjelben iſt eine Einheit der Harmonie, welche jchafft,
daß alle Teile, wie entgegengefeßt fie ung erjcheinen mögen, zu:
ſammenwirken zum allgemeinen Wohl der Gejellichaft, wie in der
Muſik Diffonanzen fich auflöfen in der Harmonie des Hauptaffords.
Es ift damit, wie mit den Teilen des Univerfums, die ewig ver-
knüpft find duch die Aktion der einen und die Neaftion der
anderen.”
Wenn aber die individuelle Verſchiedenheit der einzelnen
Perſönlichkeiten, aus denen die Gefellfchaft fih zufammenfeßt, eine
Einheitlichfeit verbietet, in dev — um mit Nodbertus?) zu reden
— alles individuelle Leben zu fozialem Leben zufammenjchmilzt
') II, 2, 9b. 1263b: Wwoneg x&v Ei Tıs mv Ovupwviav nomosıer
suopwriav 7 Tov Öv9uov Bdow uiav.
are. 9.
) Der bekanntlich die platonifche dee des uazoavsewnos am jchärf-
ſten formuliert hat, allerdings unter gleichzeitiger Übertragung des Begriffes
dom Staat auf die Gattung. Vgl. Dietzel ©. 45.
III. 4. Das Fragment des ariftotelifchen Staatsideals. 583
und die Gejellichaft perfonifiziert ift zu Einem Willen, Einer Ein-
ficht, Einer Gewalt — das Analogon des Menſchen“, — fo ver-
bietet dieſelbe Artverjchiedenheit nach der Anficht des Ariftoteles
auch die mechaniſche Nivellierung, welche der platonifche Spzialis-
mus duch die Aufhebung des Jndividualeigentums und der Einzel
ehe herbeizuführen ſucht, um jene Einbeitlichfeit auf die höchfte
Ausbildungsitufe zu erheben. Die Bedürfniffe der einzelnen Indi—
viduen und die Arten des Genufjes, in denen «8 Befriedigung
findet, find überaus verfchieden; und nicht minder ungleich find
die Leiftungen und die Anjprüche, die der Einzelne eben auf Grund
dieſer Ungleichartigfeit der Arbeitsleiftung zu ftellen berechtigt ift. !)
Eine Schwierigkeit, die auf Grundlage der Gütergemeinfchaft nie:
mals gelöft werden fann, ganz abgejehen davon, daß gerade Die
Gemeinſchaft hier leicht zu einer Quelle von Entzweiungen werden
fan, zu denen bei Individualwirtſchaft und Individualbeſitz Fein
Anlaß ift.2)
Auch injofern wird die Gütergemeinfchaft dem Individuum
nicht gerecht, als „die von der Natur einem Jeden eingepflanzte”
und eben darum berechtigte Liebe zu ſich Telbft das Verlangen nach
Erwerb und Beſitz perjünlichen Eigentums naturgemäß in fich
Ihließt. Die Abjchaffung des Privateigentums würde den Menſchen
des „unſäglichen Genuſſes“ berauben, den es für ihn hat, irgend
etwas ſein Eigen nennen zu fönnen.?) Er würde überhaupt fo
vieler und jo großer Güter verluftig gehen, daß es für ihn gerade-
zu unmöglich jein würde, das Leben in einem jolhen Zuftande
zu ertragen.®)
2-11, 2,.2.:12633.
°) Ebd. 3. Communio est mater discordiarium! Hobbes: De
cive I], 6.
3) II, 2, 6. 1263a. »7dovn auväntos!
*) IL 2,9. 1263b: & dE dizaov un uovor Akysır 6owv oTegyoor-
Taı zuA0v xoWwWvmoavtes, ala zul 00Wv dyadov paiverau Neivaı
naunev ddvveros 6 Blos. Wie Gierke angefichts diefer Ausführungen (a.
a. 0. ©. 12) behaupten kann, daß Ariftoteles jeine ausführliche Polemik gegen
984 Grjtes Buch. Hellas.
Mit der gleichen Entjchievenheit, mit der hier auf fozial-
öfonomifchem Gebiet vom Standpunkt des Individuums aus der
Überfpannung des jozialiftiichen Gedankens entgegengetreten wird,
fommt das individualiftiiche Moment zur Geltung bei der Haupt-
und Grundfrage aller ftaatlichen Drganifation, der Frage nad)
dem Träger und der Ausübung der Sonveränität.
Vom Standpunkt des Ganzen aus, im Sntereffe der Ein—
heitlichfeit des Staates und einer technisch möglichit vollfommenen
Staatsthätigkeit ift es jedenfalls beijer, wenn „immer diefelben
herrſchen“, als wenn die Träger der Amtsgewalt beftändig wechjeln.
Aristoteles gibt dies ausdrücklich zu.) Trotzdem läßt ex in feinem
„beiten Staat” alle Bürger in vegelmäßigem Wechjel zur Negie-
vung und zu den Ämtern berufen werden. Und welches ift das
Motiv? Ein entjchieden individualiftifches!
Unter den Vollbürgern des ariftoteliichen Idealſtaates befteht
in fozialöfonomifcher, wie in fittlich-intelleftueller Hinficht ein hohes
Maß von Gleichheit. Darin jchließt fich derjelbe durchaus den
platonischen Gefeßesitaat an. Wie in diefem, fo ift auch in ihm
Bürger nur derjenige, welcher die volle Mufe zur Entwidelung
al’ feiner Anlagen und zu bingebender politifcher Thätigkeit befikt,
während die Bebauer des Bodens Leibeigene oder Hinterſaſſen
von ungriechischer Herkunft find?) und ebenjo, wie auch die handel-
und gewerbetreibenden Klaffen vom Bürgerrecht ausgejchloffen
bleiben.) Alle Bürger erfreuen fich der gleich gefiherten und
ausreichenden wirtichaftlichen Eriftenz, indem Jeder einen gleich
die Frauen-, Güter: und Kindergemeinſchaft durchweg mur auf das wahre
Weſen und die wohlverftandenen Intereſſen des Ganzen ftüße, nirgends
aber das Recht der Perjönlichkeit dagegen ins Treffen führe, ift mir unbegreiflic).
') II, 1, 6. 126la.
») IV, 8, 5. 13292 f. 9.
°) Ebd. Die wirtjchaftliche Arbeit geht ganz in dem Streben nad)
den Mitteln des Lebens auf, fie ermöglicht nicht das höhere Leben jelbit,
welches der führen muß, der das Leben des Staates mitleben will. Vgl.
Bradley: Die Staatslehre des Ariftoteles. D. bearb. don Zmelmanıı
S. 4 ff.
III. 4. Das Fragment des ariftotelijchen Staatsideale. 585
großen Anteil am Grund und Boden des Landes befißt.!) Alle
haben das gleiche Ziel und ven gleichen Beruf: die Ausbildung
zu höchſter fittlicher und geijtiger Tüchtigkeit, zu welcher der Staat
ihnen in jeinem für Alle gemeinfamen Erziehungs: und Unterrichts:
ſyſtem die gleiche Möglichkeit gewährt.)
Die durchſchnittliche Gleichwertigfeit nun der Individuen als
tenjchen und Bürger, welche der bejte Staat auf diefe Weiſe zu
erzielen hofft, wird bei Ariftoteles zum Ausgangspunkt für die
Behandlung des ganzen Verfaffungsproblems. Nicht einjeitig aus
dem Necht und dem Intereſſe des Ganzen leitet er bei der Kon—
jtruftion der Verfaſſung des beiten Staates feine Deduktionen ab;
er geht vielmehr aus von der angedeuteten leichwertigfeit Der
Individuen und ihrem daraus abgeleiteten Anjpruch auf die gleiche
Beteiligung Aller an der Herrichaft.
Wo alle Bürger in wejentlichen Stüden von gleicher Be:
ichaffenheit erjcheinen, wie es im beſten Staate in Beziehung auf
allgemeine Bürgertugend der Fall ift, da fordert die Gerechtigkeit,
fraft deren Gleichen Gleiches zu teil werden muß,’) daß Alle ohne
Unterfchied an der Herrfchaft Anteil erhalten, mag dies nun für
die Ausübung derjelben ein Vorzug oder ein Nachteil jein.t)
Nicht minder bezeichnend für die individualiltiiche Tendenz
') Nach demjelben Prinzip, wie im platonifchen Geſetzesſtaat, befitt
Seder ein Grundſtück in der Nähe der Stadt und eines nach der Landes:
grenze zu. IV, 9, 7b. 1330a.
2) Über diefe vom 7.—21. Lebensjahre dauernde ftantliche Erziehung
j. weiter unten.
3) II, 5, 8. 1280a: olov doxsi icov ro dixauor eivar xal Eorıv,
aA ov naoıv dAhe Tois 1o0Ls.
4) II, 1, 6. 126la: dijAov ws ToVs aurois «si PBeAriov doyeır El
duvarov ' &v ols BE un duvaröv die TO mv gYioıw ioovs eivaı ndvres, due
dr zei dizaov, ei’ daya9ov Eirg pavkov TW doysiv, nEvras auToV UETE-
zew »ıh. Auch das wird don Gierfe völlig ignoriert, wenn ex meint, dab
im ariftotelifchen Staat überall Lediglich von der Gemeinjchaft aus und
um der Gemeinjchaft willen das individuelle Recht zugeteilt und bemeifen
wir. (Ua 9. ©.18.)
586 Erſtes Buch. Hellas.
diefer Drganifation ift der Hinweis darauf, daß die genannte
Sleichheitsidee zugleih der allgemeinen Anſchauungsweiſe ent
ſpreche.) In diejer Hinficht beiteht zwijchen dem Verfaſſungs—
prinzip des beiten Staates und dem der Dligarchie, wie der Demo:
fvatie fein Unterichied. Und es wird ausdrücklich anerkannt, daß
eben durch dies Prinzip auch die leßteren Staatsformen „jich der
wahren Gerechtigkeit nähern”. Wenn ihnen das nur bis zu einem
gewiſſen Grade gelingt und fie nicht die ganze und volle Gerechtig-
feit exfaffen,?) jo liegt dies nur daran, daß die Vertreter der
Dligarchie wie der Demokratie ſich über das, was die Einzelnen
gleich -oder ungleich macht, in einer Täuſchung befinden. Jene
glauben, wenn gewiſſe Individuen in Einer Hinficht ungleich jeien,
nämlich an Befiß, jo feien fie damit überhaupt ſchon ungleich, —
die Demokraten dagegen, wenn diejelben in Einem Punkte gleich
jeien, nämlich in Beziehung auf perfönliche Freiheit, jo jeien fie
damit jehon überhaupt gleih. Der befte Staat dagegen hat den
richtigen Maßſtab gefunden für das, was die Gleichheit oder Un—
gleichheit der Menfchen ausmacht, a0 die es bei Verteilung der
Nechte und Güter im Staate ankommt.t) In dieſer richtigen Be-
ftimmung des Inhalts des Gleichheitsprinzips, nicht in Beziehung
auf den grumdjäßlichen Ausgangspunkt ſelbſt unterjcheidet er fich
von den unvollfommenen Staatsordnungen der Wirklichkeit.
Allerdings werden mit Rückſicht auf den Staatszwed im
beften Staat die Ämter, überhaupt öffentliche Funktionen, nicht
) II, 7, 1. 1282b: doxsi de nacıv ivov tu TO dixaov eivau zei
ueygı yE tıwos Öuokoyovsı tois zard gıhocopiav Aöyoıs, Ev ols diwprotau
negl TWv mIızov (Ti yo zei Tıoi To dizavov, zei deiv rois looıs ivov
eivaı paoiv),
2) II, 5, 8. 1280a: Annteov de noWrov Tivas 0g0VS AEyovar Ts,
ohıyagyias zei dnuozgarias, zei Ti 16 dixaıov To Te Ohıyapyızöv zai In-
UOXOETIXOV ' navres yco Üntovraı dixalov TIvös, dAAa uEygL TIVög TT90EQ-
Kovraı xai JEyovoıw 0v dv TO xvolws dixavov.
®) III, 5, 9. 1280a.
*), II, 7, 1. 1282h: nolov 0’ lsorns Eori zul ntolwv dvıoorns, de
u) Aavdaveıv . Eye yag Tovı aropiav zai pıkooopiav odırızıv.
III. 4. Das Fragment des ariftoteliichen Staatsideals. 587
Allen ohne Unterfchied, jondern exit den Männern im reiferen
Lebensalter zugänglich, welches dem Staate eine größere Bürgichaft
für Wiffen und Können gewährt,!) allein gerade darin liegt auch)
wieder nur eine Verwirklichung des leichheitsprinzips, welches
eben jedem das ihm Gebührende gewährt und daher die Durch)
den Altersunterjchied bedingte Verſchiedenheit der Leiftungsfähigkeit
notwendig mit berücjichtigen muß. Auch ift diefe Scheidung eine
naturrehtlich begründete. Denn fie entjpricht dem von der
tatur jelbjt geichaffenen Gegenſatz zwijchen zwei Generationen, von
denen es der älteren geziemt, zu befehlen, der jüngeren zu gehorchen.
Daher empfindet es auch Niemand als eine Nechtsverlebung, um
feiner Jugend willen gehorchen zu müſſen, zumal, wenn er weiß,
daß er jelbit einft den Ehrenvorzug, zu befehlen, erhalten wird,
ſobald er daS geeignete Alter erreicht bat.2) Und das ift eben
im beften Staate der Fall. Denn das Gleichheitsprinzip it hier
jo ftrenge durchgeführt, daß die durch ihr Alter zum Amt Be
fähigten und injofern einander Gleichen ſtets einander weichen
müſſen, d. h. daß fein Amt dauernd in derjelben Hand bleibt,
jondern bald diefem, bald jenem Bürger zugänglich wird. „Alle
haben in gleicher Weife Anteil am abwechjelnden Herrjchen und
Beherrjcehtiwerden.” 3)
1) IV, 8, 4. 1229a. Erſt nach Ablauf des dienftpflichtigen Lebens—
alters, aljo wohl erſt mit dem 50. Lebensjahre erlangt der Bürger Zutritt
zur Bolfsverfammlung, zum Gejchwornengericht, die Fähigkeit zur Bekleidung
eines Amtes. Dem höchſten Alter bleibt die Sorge für den Kultus vorbe-
halten. Da der Geift ebenjo altert, wie der Körper (II, 6, 17. 1271a), jo
fönnen die Greife jo wenig wie dem uEoos Onkırızov, dem wEgos Bovkevrı-
x0v mehr angehören. Sie finden als Priefter einen angemejjenen „Ruhe—
pojten” (evanevoıv). IV, 8, 6. 1329a.
2) IV, 13, 3. 1332b: Asireraı roivvv Tols avrois uEv augporeoors
anodıdovaı mv nolreiev tavımv, un due de, aAM woneo nepvxev, m
usv divauıs Ev vewrepors, 7 dE poovnoıs Ev OEOBVTEGOIS Eotiv' ovxoDrV
OUTWS dupolv vevsujodaı Ovupegeı zal dixaiov' Eysı ydo avın n dieigeois
To zar’ o&iev.
3) TI, 1, 6. 1261b: ol u&v ydo doyovaıv ol d’ Coyovraı |zera wegos]
woreg dv ahhoı YEvousvol, Zei Tov avıov dN TE0N0v doyovrwy EregoL
588 Grites Buch. Hellas.
it der Anerkennung des Gleichheitsprinzipes iſt übrigens
nur ein Teil der Anfprüche befriedigt, welche vom Standpunkte
des Individuums aus an den Staat gejtellt werden. An der:
felben Stelle, wo Ariftoteles die Naturgewalt betont, welche die
denſchen inftinktiv in die jtaatliche Gemeinjchaft hineinzwingt, fügt
er die bedeutiamen — noch Feineswegs hinlänglich gewürdigten —
Worte Hinzu: „Damit ſoll jedoch nicht gejagt jein, daß nicht auch
der gemeinfame Nutzen fie zufammenführt, inſofern ja auf jeden
Einzelnen ein Anteil an der Vervollfommmung und Glückſeligkeit
de3 Dafeins kommt, (welches eben nur im Staate erreichbar ift.)
Vielmehr ift dies gerade das eigentliche Ziel, welches fie alle
in Gemeinschaft und jeder Einzelne (in der ftaatlichen Bereinigung)
verfolgen.” ?) Das Streben nah Glüd, nad Luft im weiteiten
Sinne des Wortes ift fir Aristoteles ein alles durchdringender
Naturtrieb. „Ganz augenscheinlich flieht die Natur das Schmerz:
hafte umd begehrt das Angenehme.”?) — Das Mittel aber zur
ivealften Befriedigung dieſes Strebens nad) dem „Eu Env“ ift die
Verfaſſung des beiten Staates.?)
Erepas doyovaı doyas. — IV, 13, 2. 1332b: die moAlds airias avay-
xalov TIETTES OU0lWmS K0IvWvelvr TOD zUTE WEOOS doyeiv zul doysodat . To
te yco ioov [zei ro dizarov nad) Sujem. Ergänzung] revzov Tois öuolors
zul yahenov ueveiw ımv nolıreiev Tv Ovveornrviav nad To dixcwor.
Dal. III, 4, 6. 1279a: dio zei Tas noAtızds doyas, Otav 7 xar’ isoryra
Tov noAıov Gvv&oıyrvie zal xa# ÖuoloınTa, zard UEgoS aiovcıw Egger,
1o6TEgoV uev, 1 negpuxev, dEiodvres Ev uggeı Asırovoyelv zal oxoneiv Tiva
dhtv TO aror dyasov, WOrTEO TIOOTEEOV aUTOS Loywv Eoxoneı TO Exeivov
ovugpeoor.
') III, 4, 3. 1278b: o® unv dla zei To zo Ovupigov Gvvayeı,
udkıora uev
za9 000v Enıßakksı u£gos Exaorw tod [nv zualws;
oVv tour’ Lori r&Aos, zei zown ndoı zei Ywois.
?) Nie. Eth. 1157b 16. Mit Recht bemerkt dazu Eucken (Ariftoteles
Urteile über die Menjchen. Archiv f. G. der Phil. III 546), dag uns von
Ariftoteles nirgends zugemutet werde, auf dieſes Streben zu verzichten.
) Pol. IV, 12, 2. 1331b: örı uev owv Tod re EU Lyv zei ıns
evdaıuovias&pievrau ndvres, pavegov, dAAR TOvrWv Tois uEv EEovale
Tvyyaveıy, tois dE oV, did Tıva pvow 1) wuymw ...., old’ Eudog oux 0095
II. 4. Da3 Fragment des ariftotelischen Staatsideal2. 589
Kann das individuelle Intereſſe Elarer zum Ausdruck gebracht
werden? Der Trieb des Individuums nach Erhaltung und Glüd-
jeligfeit ift es, dejjen Befriedigung durch den Staat als das Ziel
der Natur ſelbſt exicheint. Derſelbe Trieb, der die niedrigeren
Formen menjchlicher Gemeinichaft, Familie und Gemeinde erzeugt
bat, führt die Menjchen zu einem umfafjenden jtaatlichen Verband
zufammen, weil erſt der Staat die möglichit vollkommene Erreichung
ihrer Lebenszwecke verbürgt.!) Daher erjcheinen auch diejenigen
Staatlichen Inſtitutionen, welche den Wohlfahrtszwed befriedigen,
als gerecht, diejenigen, welche ihm wideriprechen, als ungerecht.
Das Verlangen nah Glückſeligkeit, „die ja das höchſte Gut
it,“ beberricht jo Tehr alles Leben und Streben der Menjchen im
Staat, daß man geradezu jagen kann: In ihm it die leßte Urjache
davon zu juchen, daß es verjchiedene Formen von Staat und von
Staatsverfaffung gibt. „Denn indem die Menjchen auf verjchiedene
Weile und mit verjchiedenen Mitteln jenem Zwecke nachjagen,
rufen fie dadurch auch eine DVerjchiedenheit der Lebensrichtungen
und der Staatsverfaflungen beroor.”2) Das Kriterium des beiten
Staates aber wird demgemäß darin bejtehen, daß er jeine Bürger
auf den richtigen Pfad zum Glüde führt und jo eben das er—
reicht, was die anderen mehr oder minder vergeblich erjtreben. Wie
die wahre Gleichheit, jo verwirklicht er auch das wahre Glück.
Inroicı nv zudauuoviav, E£ovoias VUneEyovons . Enei de TO TTOOXELUEVOV
Eotı mv doioryv nolıreiav ideiv, avın d’ Eori za9' 7v agıor’ dv nokt-
tevVorto nolıs, doiore ν nohrsvoro xaH 77 Evdanuoveiv udkıore
Evdeyerau ınv nokır Inkov orı Tv eidaıuoviav dei, Ti Eotı, un havdaveı,
) III 5, 14. 1281b: nodıs yevov za zwuwv zoıwwvia Lons
Teleias zal @uraoxovs <ydoiv> 'Toviro d’ Eotiv, os pauev, to Inv svdaı-
uovos zei zaAos. Vgl. IV, 7, 2b. 1328a: 7 de nodıs xoıwwrie tis ori tov
ouolwv, Evszev dE Lwns ts Evdeyoufvns aglorns.
2) ]V, 7, 3. 1328a: Enei d’ Eotiv evdaıuovia TO «oLoTov, avım
dE ageıns Evkoysıa zul yomois tıs Teheios, GvußEßnxe dE oVTwc, Wore tous
uiv Evdeyeodaı usreysiv avıjs toüs dE wıxgöv m) under, dmkov Ws roür
airıov TO yivsodaı oAews eidn zei diapogas zul nokıreiag nıkelovus' dAkov
yco roonov zai di akkwr Exaotoı Tovro IMgEVorvTes tous TE Plovs Er&govs
nrotoVvrau zal Tas nokıteias,
590 Erſtes Buch. Hellas.
In ihm ift es in der That „mit jedem Einzelnen aufs Beſte be-
ftellt, führt ein Jeder ein glüdliches Leben.“ 1)
Sa diefer individualiſtiſche Ideengang wird von Ariſtoteles
io weit verfolgt, daß da, wo eine weitgehende Gleichheit zwiſchen
den einzelnen Bürgern bejteht, — wie in der Vollbürgerjchaft des
beiten Staates, — ein Necht auf möglichſt gleich mäßige Befrie-
digung ihres Glüdsftrebens anerkannt wird. Das äußere materielle
Subftrat eines glücdlichen Daſeins, der Beſitz, it unter fie gleich
verteilt, nicht bloß, weil es im Intereſſe der Erhaltung des Staates
ift,2) ſondern ebenjojehr deshalb, weil es die Gleichheit und da-
mit die Gerechtigkeit jo erfordert.) „Die Glieder der jtaatlichen
Gemeinjchaft verdienen entweder gar nicht den Namen von Staats:
bürgern oder aber fie müſſen auch alle den Mitgenuß an den
Borteilen derjelben haben.“ +)
Trifft auf diefe Anſchauung nicht in gewiſſem Sinne eben
das zu, was man neuerdings als pezifiiches Kennzeichen eines
individualiftiichen Kommunismus bingeftellt hat?) Verlangt nicht
Aristoteles ebenjo wie diefer Kommunismus, daß der Staat für
die Individuen Urſache eines bejtimmten Lebensinhaltes werde,
ein Gemeingut, an deſſen realen Nußungen alle Individuen einen
') IV, 2,3. 1324a: örı udv oWv dvayzalov eivaı nohıreiev doioımv
tavınv 209° Mv Tafıry zdv 60TLIE00V dgıore nodrroı xzal [on uazagiws,
gpaveoov Eorıv. Vgl. II, 1, 1. 12606: Enei noo«goVuEde Hewonoaı nregi
ns xoıwwviag Ts nohırızns, TIS ZORTIETN naoov Tolis Dvrauevous Imv
ötı udAıora zart’ evynv xl. — IV, 1, 1. 1328a: @pıor« yao nodt-
TEIv TIO00MREL TOÜS dpIoTe ntoltevousvovs Ex TWV ÜNEEZOVTWV @VTOIS, Edv
un Tı yivsraı nagdkoyor,
2) Wegen der größeren Einmütigfeit gegen auswärtige Yeinde.
>) IV, 9, 8. 1330a: 76 te yao ioov ovrws Eysı zai TO dixaıov zai
TO 1005 ToVÜg aorvyeitovas oA&uovs ÖUOVONTIKWTEOOV KU,
*) III, 5, 1b. 1279a: 7 yco 00 noAites pareov eivaı tods uereyov-
Tas, 7 del xoıvwveiv ToV Gvupegovros.
5) Dietzel a. a. D. ©. 9 ff. In diefer Auffaſſung lag jogar die Ver—
juchung zu einer übermäßigen Betonung des individualiftiichen Moments. Das
beweiſt recht draftiich die Ethik des Ariftotelifers Eudemos. Vgl. 3. B. VIII,
10, 1242,
II. 4. Das Fragment de3 ariftotelifchen Staatzideal2. 591
gleichen Anteil haben jollen, ein gleiches Mittel für Alle zur mög:
lichjt gleichen Befriedigung der Intereſſen Aller? Wird nicht auch
bier aus der Gleichwertigfeit der Individuen direft ein Anſpruch
auf ein bonheur commun gefolgert? Daß der Kreis der Indi—
viduen, für welche dieje leßtere Deduktion gilt, ein beſchränkter ift,
weil die im beiten Staate erjtrebte Glückſeligkeit von vorneherein
nur für die Bürger desselben erreichbar exjcheint, macht doch für
die prinzipielle Auffaffung feinen Unterichied. Die ganze Schluß:
folgerung ift darum nicht minder individualijtiih. Und ebenfo-
wenig verliert jie diefen Charakter dadurch, daß das Glüdsziel
bier ein hohes und ideales und ein wejentlich anderes ift, als der
vulgäre Hedonismus, um den es ſich bei jenem Kommunismus
handelt.
Inſofern bejteht allerdings ein bedeutſamer Unterſchied, als
Ariftoteles natürlich ſehr weit von der einjeitigen und ausjchließ-
lichen Deduftion aus dem Individualintereſſe entfernt it, wie fie
die eben nur im Individualismus wurzelnde Anſchauungsweiſe
jenes modernen Kommunismus Fennzeichnet. Mit der Deduktion
aus dem Einzelinterejje geht überall diejenige aus dem Sozial:
intereffe Hand in Han.
Wenn der Staat den Anjpruch des Individuums auf die .
Befriedigung feines Gleichheits: und Glüdsjtrebens anerkennt, jo
thut ex dies nicht allein deswegen, weil er damit eben dem Einzelnen
gerecht wird, jonvern zugleich im Intereſſe des Ganzen, weil diefe
Gerechtigkeit gegenüber dem Einzelnen zugleich „ein Gut für den
Staat und dem Gemeinwohle förderlich“ ift.!) Der Staat felbit
„will möglichſt aus gleichen oder ähnlichen Gliedern bejtehen”,2)
er will eine Herrjchaft über Freie und möglichſt Gleiche jein.?)
) III, 7,1. 1282b: &otı de moAırızov ayad9ov To dixaiov, Tovro
d’ Eoti To zoıvyn Ovugpeoorv,
2) ©. die Erörterung über den Mittelftand VI, 9, 6. 1295b.
3) ],2,21b. 1255b: 7 de noAırızn (doyn) EAevdeonv zei lowv aoyn.
Dal. IV, 7, 2b. 1328: 7 de noAıs xoırwvia Tis Eotı TWv Ouolwy, Evsxev
de Cuns ts Evdeyousvns dolorns.
5923 Erſtes Buch. Hellas.
Denn nur zwijchen folchen ift jene „Befreundung” möglich, welche
die Grundlage jeder wahren Gemeinjchaft und inSsbejondere der
„vollendetiten und höchſten“ der ftaatlichen Gemeinschaft ift.)
Wenn ferner der beſte Staat allen Bürgern das gleiche Necht
der Mitbeftimmung gewährt, jo thut er dies nur, indem er ihnen
sugleih Pflichten auferlegt. Er weiß, daß hier „jeder die ihm
geftellte Aufgabe gut erfüllen wird,“ weil im beiten Staate jeder
Einzelne mit der individuellen Tüchtigfeit zugleich die des guten
Bürgers verbindet, der die Fähigkeit und den Willen hat, ſich
regieren zu laſſen und zu vegieren zum Zwecke eines Lebens in
geiftiger und fittlicher Tüchtigkeit.) Auch fühlen fi) hier die
Einzelnen nirgends in einem Gegenſatz zum Ganzen, jondern jtets
als Lebendige Glieder der Gemeinſchaft. Alle Erziehung ift darauf
gerichtet, diefes Gemeinschaftgefühl zu entwideln, damit der Staaf
— unbeſchadet feiner natürlichen Vielheit — in ſich Eins werde.)
Und wenn e8 auch zur Herftellung diefer Gemeinschaft und Einheit
nicht des Kommunismus bedarf, jo wird doch bei den Bürgern’
des beiten Staates eine jo vollfommene „Ausgleichung der Bes
gierden”t), eine jo intenfive joziale Gejinnung vorausgejeßt, daß
Keiner mehr fein und mehr haben will, als der Andere,5) daß
aller Beſitz — wenn auch PBrivateigentum — jo doch „durch den
Niepbrauch zum Gemeingut“ gemacht wird.) Sogar das Grund-
1) VI, 9, 5. 1295b heißt e8 von den „entarteten” Staaten: wo# ol
uv doyeiv ovx Enlorevraı aM doysotaı dovkamv doyyv, old’ doysodaı
usv ovdewd don, doysıv dE deonoriziv doyijv . yiveraı ovv dovkwr zei
deonorov rtöls, add oUx Elevdegwr, za tor uöv gp3ovoivrwv tor de
xarappovovvrwv' & nAsIotov aneyeı pihlas zei zoıwwvias modırıans’ 9
ycg xoıwwvia piAıxov. Vgl. I, 1. 1. 1252a. I, 1, 8. 1252b.
°) III, 7, 9. 1284a: 6 duvausvos zei TO0RLEOVUEVoS GdoyEoduı xaL
GoyEıw ngoös tov Biov tov zar’ aosımv. Dal. III, 12, 1. 1288a. IIT, 2,
3. 1276b.
) I, 2, 10. 1263b. ©. oben ©. 177 Anmerk. 1.
*) II. 4, 5b. 1266b.
>).11, 54, 12, 1267:
6) II, 2, 5. 1263a. ©. oben ©. 55.
II. 4. Das Fragment des ariftotelischen Staatsideals. 593
prinzip der jozialen Ethik Wlatos, daß der Bürger felber „nicht
ih, jondern dem Staate gehört”, wird, wie wir jahen, von
Ariftoteles wörtlich wiederholt.) Und ebenjo wird aus der An:
Ihauung, daß die Stellung des Einzelnen im Staate die eines
Gliedes im Drganismus ift, hier wie dort der Schluß gezogen,
daß „vie richtige Fürforge für den Einzelnen (als Glied des
Staates) immer nur diejenige ift, welche dabei die für das Ganze
im Auge bat.” 2)
Allerdings meint dies Arijtoteles ebenjowenig wie Blato in
dem Sinne, daß das Individuum fih nur,nodh als Drgan des
Staatsinterejjes fühlen und gänzlich aufhören joll, fich ſelbſt Zweck
zu jein. Für eine Staatsauffallung, die in der Anerkennung des
Individualintereſſes jo weit geht, wie die ariftoteliiche, kann eben
der Einzelne unmöglich nur um eines Ganzen willen da fein, welches
ohne Nüdjicht auf Wohl und Wehe des Individuums jeiner eigenen
Vollendung zuftrebt. Wenn daher hier auch die Gemeinjchaft den
Einzelnen als dienendes Drgan in Pflicht nimmt, jo geichieht Dies
nicht, weil für fie allein die Geſellſchaft Zwed, das Individuum
nur Mittel, das joziale Ganze Alles, das Individuum nichts ift,
vielmehr darf jeder Bürger des beiten Staates überzeugt fein, daß
er, indem er den Zweden des Ganzen dient, zugleich die eigenen
Lebensziele am beiten fördert.
Genau jo, wie im platonijchen Staat löſt ſich im beiten
Staate des Nrijtoteles der Gegenjab von Individualismus und
Sozialismus in einer höheren Einheit auf, in der Koinzidenz des
Individual- und des Sozialinterefjes. Der Endzwed der jtaat-
lihen Gemeinschaft, — die Glückſeligkeit, welche in der vollendeten
Bethätigung geiftiger und fittlicher Tüchtigkeit bejteht, — iſt hier
wirklich ein und der nämliche, wie der des indiviouellen Dafeins.?)
1) ©. oben ©. 165.
») V,1,2.1337a: 7) 0’ emiusksıa nepvxev Exdotov uopiov BAgTeıv
005 mv Tod OAov Emuuchksıev.
3) IV, 15, 16. 1334a: nei dE 10 auro tehog eivar yalveraı zei
Pöhlmann, Geh. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 38
594 Erſtes Buch. Hellas.
Daher ift das, was für den Staat das Beite ift, zugleich
auch das Befte für den Einzelnen und umgekehrt (Tevra yao
aoıcıe zei ldle zei zomn).') Und wenn es, wie im vollfommenen
Staat, dem Gefeßgeber gelingt, diefe Überzengung den Seelen ver
Menſchen einzuflößen,?2) kann fich der Einzelne fein anderes Ziel
ftecefen, al3 die Gejamtheit. Das „Intereſſe Aller” (intördt de
tous, der ravres ws Exreoros!) findet hier ebenſo feine Befriedi-
gung, wie das Intereſſe der Gemeinjchaft als ſolcher (interet
general, der ravres ouolwc!). „Es it undenkbar, daß das
Ganze glücjelig jei, wenn nicht von Allen oder doch den Meiften
oder bejtimmten Teilen?) das Gleiche gilt. Denn mit der Glüd-
jeligfeit ift eS nicht, wie mit der geraden Zahl: diefe kann recht
wohl dem Ganzen zulommen, während feiner von den Teilen eine
jolche ausmacht, aber bei der Glüdjeligkeit ijt jo etwas un:
möglich.) — Wenn daher „vie bejte Verfaffung diejenige ift,
durch welche der Staat am glüdlichiten wird,5) jo ift diefe Glück—
jeligfeit zugleich diejenige aller Bürger.‘)
Man fieht, jo entjchieden Ariftoteles das Necht der Gemein-
Ihaft und die Pflicht des Individuums ihr gegenüber zur Geltung
zowrn zal ldi« Tois dv9oWnors, zul Tor aiTov 6009 dvayzalov eivaı tw
TE colorw avdgi zei tn coiorn nolıreig zu).
1) IV, 13, 13. 1333b. gl. Nie. Eth. I, 2, 1094b7: ... zavror
Eotıv (sc. TO ayador) Evi zai noölcı.
2) zov vouoderyv — führt Ariftoteles an der eben gen. Stelle der
PBolitit fort — Eunossiv der rairte rais Wuyals tov even. Ganz
wie Plato!
8) D. h. den für den Staat überhaupt als fonftitutive Elemente in
Betracht kommenden Teilen, wie es die VBollbürger des beiten Staates find,
die allein als „wahrhafte” Teile des Staates gelten. Nur fie allein können
ja der Glücfjeligfeit teilhaftig werden, welche der Zweck des Staates ift.
*) II, 2, 16. 1264b: «dvvarov de eudanuoveiv OAyv (Tyv nor) un
Te v nAEloTWv 7) NÄvıwv uEoWv 7 Tivov £yovrwv mv evdanuoviar.
°) IV, 8, 2. 1328b: even (sc. 7 deiorn nolıreia) Eori xa9 vn
nölls av Ein uchor' svdeiumv,
°) IV, 8,5.1329a: svdaluova de oA oVx Eis u£oos ru BAewarres
dei Akysır avıns, @AM Eis navras Toüg nolirag,
II. 4. Das Fragment des ariftoteliichen Staatsideals. 595
bringt, ein Sozialismus in dem Sinne, wie ihn der moderne Er—
finder des Wortes im Auge hatte, d. h. ein Sozialismus, welcher
das Individuum der Gemeinschaft opfert und zwar grundſätzlich
opfert,!) wird auch von dem arijtotelifchen Staat nicht beabfichtigt.
Allerdings unterwirft auch er jeine Bürger einer mehr oder minder
fontplizierten Ordnung, welche die Freiheit des Einzelnen aufs
Äußerſte einſchränkt und ihm die weitgehendften Pflichten auferlegt.
Allein es gejchieht das nicht bloß um der Entfaltung und Vollen-
dung des jozialen Ganzen willen, jondern eben jo jehr darum,
weil diefe Ordnung ein bejjeres, ficherer funktionierendes Mittel
jein joll, um dein naturrechtlich begründeten Intereſſe des Indivi—
duums an der Vervolllommnung und dem Glüde des eigenen
Dajeins zu jeinem Nechte zu verhelfen, als die Freiheit der bejte-
henden Gejellichaftsoronung. Der Zwang, der an dem Einzelnen
geübt wird, rechtfertigt fih auch hier vor dem individuellen Be—
wußtjein damit, daß er jich zugleich als der Weg zum Glüd, zum
„möglichit wünjchenswerten” Leben daritellt.?)
Wie freilich eine politiihe Gemeinjchaft möglich ſein ſoll,
in welcher das Intereſſe der Einzelnen mit dem des Ganzen regel-
mäßig zujammenfällt, dafür kann von der ariftoteliihen Sozial-
philojophie ebenjomwenig ein Beweis erbracht werden, wie von Plato.
Es find dieſelben unerwiejenen und unbeweisbaren Ariome, die—
jelben Illuſionen, auf denen die aprioriftische Konftruftion der ab-
ſtrakten Gejelliehaft hier wie dort beruht. Die ariftoteliichen Aus-
führungen bejtätigen nur die jchon bei der Darftellung des plato-
niſchen Staatsideals gemachte Beobadhtung, daß im Nahmen der
') Une organisation politigue dans laquelle I” individu serait
sacrifi6 à cette entite, qu’ on nomme la societe. Vgl. das Zitat bei
Diegel: Rodbertus II, 31.
2) Bgl. VIII, 7, 22. 1310a über das faliche Prinzip der Demokratie,
die Freiheit und Gleichheit darin zu juchen, dab jeder thun kann, was ihm
beliebt. wors [7 Ev Tais Toiwvraıs dnuozoeriaıs ExaoTos, ws PBovkerat,
zei eis 6 yonlov, ws naiv Evginidns’ Tovro d Eoti pavkov' ou ydo
dei oisodaı, dovAsiav eivaı ro nv noös ınv nokıreiav, aAkc
cwrnmoiev,
38*
596 Grites Buch. Hellas.
genannten Lehre jeder theoretiſch bedeutſame Fortjchritt von vorne-
herein ausgejchloffen ift.
Wie enge fih die ariftoteliiche Staatstheorie in den fozialen
Grundprinzipien an Plato anjchließt, zeigt recht deutlich die Art
und Weife, wie ſich Ariftoteles jeinen beiten Staat im Einzelnen
geitaltet Denkt.
Auch bier erhält die jtaatlihe Gemeinschaft, die zomwmni«
zro4ırızn, eine Drganijation, in welcher die perjönliche Freiheit
der Einzelnen durch die Geſamtheit genau ebenjo verſchlungen wird,
wie im platonifchen Staat. Der Staat wird auch hier das oberjte
faujale Agens zur Gejtaltung des Lebensinhaltes der Individuen,
indem er mit jeiner Allgewalt ihr gefamtes Dafern in feite, obrig-
feitlich vorgezeichnete Bahnen einzwängt. Die auf der Grundlage
des individualiftiichen Gleichheitsprinzipes beruhende Negierungs:
gewalt wird in durchaus joztaliftiihem Sinne gehandhabt. Ya
der Geilt des Polizeiftaates tritt uns bier in mancher Beziehung
noch abjtoßender entgegen als bei Plato.
Auch im ariftoteliichen Staat ift die geſamte Volkswirtſchaft
einer zentralifierten Staatsleitung unterworfen; ſie joll durch eine
ſyſtematiſche Regelung des Umlaufes und der Verteilung der Güter
zu eimer in ſich möglichjt einheitlichen, d. h. von Einem Willen
gelenkten Wirtſchaft werden.
Wie ſich freilich Ariſtoteles dieſe Organiſation der Volkswirt—
ſchaft vorgeſtellt hat, wie er ſich ſeine bereits ausführlich beſprochene
antikapitaliſtiſche Wirtſchaftstheorie) in die Praxis umgeſetzt dachte,
darüber erfahren wir nur ſehr wenig, ſei es, daß Ariſtoteles ſelbſt
nicht mehr dazu kam, das Wirtſchaftsſyſtem ſeines beſten Staates
darzulegen, ſei es, daß uns die betreffende Partie der Politik ver—
loren gegangen iſt. Immerhin genügt jedoch das Wenige, was
wir erfahren, um die angedeutete enge Verwandſchaft des ariſto—
teliſchen und platoniſchen Sozialismus klar zu erkennen.
Ganz platoniſch ſind die Vorſchläge zur Beſchränkung des
') ©. oben ©. 228 ff.
III. 4. Das Fragment des ariftoteliichen Staatsideals. 597
internationalen Handelsverkehrs,i) die Forderung einer ftrengen
Fremdenpolizei, d. h. von Geſetzen gegen die Freizügigkeit, „durch
welche man beſtimmt, welche Perſonen beiderſeits mit einander
verkehren dürfen und welche nicht, “2) endlich die Vorſchläge zur
Herjtellung der Gütergleichheit unter den Bürgern?) und des ge-
meinfamen Haushaltes der Speiſegenoſſenſchaften, bei denen Arifto-
teles daS gemeinwirtjchaftliche Prinzip jogar noch ftrenger durch—
geführt wifjen will, als Plato, indem ex die Syſſitien nicht, wie
diefer, auf Beiträge der einzelnen Bürger bafiert, jondern von
vorneherein einen großen Teil des Grund und Bodens als Gemein-
gut erklärt willen will, um aus dem Ertrag desjelben die Koften
der Syſſitien zu beftreiten.) Nur darin ift er minder radikal als
Plato, das er auf die Beteiligung des weiblichen Gejchlechtes verzichtet.
Was die Stellung zum mobilen Kapital betrifft, jo findet
ji darüber in der uns erhaltenen Darftellung des Spealftaates
nichts, als die befannte Forderung, daß aller Befit dadurch gewiſſer—
5, 5. 1327b. ©. oben ©. 230. In der allgemeinen Beurtei-
lung des auswärtigen Handels weicht Ariftoteles allerdings von Plato etwas
ab. Er will nicht die ſchroffe Abſchließung insbefondere gegen den See:
verfehr wie Plato. Vgl. die Erörterung über die geographiſchen Vor—
ausſetzungen des beſten Staates IV, 5,
) IV, 5, 5. 1327b, wo zur Erleichterung dieſer polizeilichen Maß:
regeln die Trennung von Stadt und Hafen verlangt wird. &rei de zul vor
soWuev nolkais Ündoyorre ywocıs zul noAsoıy eniveia zul Auusvas eVpvos
xelueve NOS Tv nolıv, Gore unte veusır aiıo To dor unte 1000w
av, Aha zoareiodeı Teiyeoı zei Toiovtors dAkoıs EQUUROL, garvsoov Ws
El uEv dyadov tı ovußeivei yivesdaı die ı7s xoirwviag evıov, ündokeı
un nmokeı ToVro To dyadorv, ei dE Tu BAaßegov, pvAdkaodaı öddıov
Tois vrowoıs poddovras zai duogibovras tiveas ov dei zul Tivas
eniuloyeosdaı dei noos dAAmkovs.
3) Die wie bei Plato durch. Unteilbarfeit und Unveräußerlichteit der
Landloſe aufrecht erhalten wird. ©. die Bemerkung über Lykurg IL, 6,
10. 1270a.
*) Er beruft fich dabei auf das Borbild Kretas, deifen Spifitien-
organiſation ex wegen ihres gemeintirtjchaftlichen Charakters der ſpartaniſchen
weit vorzieht. IL, 6, 21. 1271a. 1V, 9, 7®. 1330b. ©. oben ©. 69 ik 27;
598 Erſtes Buch. Hellas.
maßen ein gemeinfamer werden müſſe, daß man ſich desjelben wie
unter Freunden bedient. Wie jehr jedoch Ariftoteles auch hier ein
ſyſtematiſches Eingreifen der Staatögewalt für notwendig hielt,
zeigt die Kritit der Vorgänger, welche er der Ausführung feines
eigenen Staatsideals vorausſchickt.
An der Stelle, wo er über die Gütergleichheit im Idealſtaate
des Phaleas Spricht, macht er es demjelben zum Vorwurf, daß er
fih auf die Ausgleichung des Grundbeſitzes beſchränkt und das ge:
famte bewegliche Kapital, den Belig an Sklaven, Vieh, Gelo,
Hausrat u. |. w. bei feiner Neform außer Acht gelafjen habe.
Aristoteles meint, entweder laſſe man Alles gehen, wie e3 will, over
man muß — (wenn man nämlich wirklich einen durchgreifenden
Erfolg erzielen will) — auch in Beziehung auf das bewegliche
Kapital nach einer gleichen Verteilung oder wenigitens nach einem
feft bejtimmten mittleren Maße ftreben.!) Damit wird eine jozia-
liſtiſche Negelung der Berhältniffe des mobilen Beſitzes, wie fie
Plato im Geſetzesſtaate im Auge hatte, grundſätzlich als berechtigt
anerkannt, wenn wir auch nicht willen, welche Konjequenzen Ari:
ſtoteles aus dieſer prinzipiellen Anerkennung für den jozialen Auf:
bau feines eigenen Spealftaates gezogen hat.
Daß er aber vor den äußerſten und legten Konſequenzen des
einmal angenommenen Standpunttes nicht zurückſchreckte, das jehen
wir an der Art und Weife, wie ex die Gleichheit und Stabilität
der Eigentumsverhältnifie in jeinem Staate aufrecht erhalten willen
will. Er geht wie Plato von dem Gedanken aus, daß dieſe Sta-
bilität des Beſitzes als ihr Korrelat notwendig auch eine folche
der Bevölkerung fordert. Würde die Zahl der Bürger jemals
die für alle Zeit firierte Zahl der Familiengrundſtücke überjchreiten,
jo würden bei der Unteilbarkeit derjelben die Überzähligen in eine
Notlage geraten und ein befitlojes Vroletariat entjtehen,?) während
doch im beiten Staate fein Bürger des notwendigen Lebensunter:
Y) 11, 4, 12». 1267a: 7 nevıwv ovv Tovewv looınra Imımreov ı
tafıv TIVd ueroiev, N ndvra Eareor,
2) II, 3, 6. 1265b.
N VE EEG
III. 4. Das Fragment des ariftotelifchen Staatsideals. 598
haltes entbehren, jeder ein Necht auf Eriftenz haben ſoll.) Die
unvermeidliche Folge würde Aufruhr und Verbrechen jein;2) jeden-
fall3 wäre unter jolchen Umftänden das ganze Syitem einer ftaat-
lich geregelten und gebundenen Grundeigentumsordnung nicht auf
recht zu erhalten, es müßte unvermeidlich der Auflöfung anheim
fallen. 3)
it welchen Mitteln läßt ſich nun aber verhüten, daß ein
jolches Mibverhältnis zwiſchen den duch das Wirtjchaftsrecht ge:
Ichaffenen Lebensbedingungen und der Bevölferungszahl entjtehe?
Plato hatte geglaubt, durch moralifche Einwirkung auf die Einzelnen
und durch ſyſtematiſche Regelung der Auswanderung die Bevölferungs-
zunahme des Gejegesjtaates genügend in Schranken halten zu können.
Er hatte aber damit freilich auch zugegeben, daß auf diefem Wege
eine vadifale Verhütung jeder, auch temporären Übervölferung nicht
möglich jei, daß man fich damit zufrieden geben müſſe, derjelben,
wenn jie einmal eingetreten, mit einem ficher wirkenden Mittel be-
gegnen zu können, wie er es eben in der Kolonialpolitif zu befigen
glaubte. Seinem großen Schüler erſcheint diefer Standpuntt unge
nügend und zwar jo jehr, daß er die platonifche Löſung der ganzen
Frage nicht Scharf genug verurteilen fann und jchroff bis zur Un—
gerechtigkeit im Eifer des Widerſpruches dieſelbe fälſchlich jo charaf-
terifiert, als hätte fich Plato hier mit dem Prinzip des abjoluten
Gehenlaſſens begnügt und die Slufion gehegt, daß „die Sache fich
ſchon von ſelbſt genügend ausgleichen werde.” t)
Hinter dem, was Nriftoteles fordert, bleiben die platonijchen
Vorſchläge Freilich weit zurück! Ariſtoteles ſpricht es mit dürren
Worten aus, daß eine ſtaatliche Regelung der Vermögens- und
Einkommensverteilung, wie er und Plato fie im Auge hatte, nur
unter der VBorausjegung duchführbar ift, daß der Staat auch die
) IV, 9, 6. 1330a: ovre (pauev deiv) anogeiv ovdera Twv noAt-
Tov ToogpnS.
al, 8,1. 12606.
®) II, 4, 3. 1266b.
211,3, 6.1265,
600 Erſtes Buch. Hellas.
Freiheit der Volfsvermehrung aufhebt, d. h. „jedem Bürger vor:
Schreibt, nicht mehr als eine beftimmte Anzahl von Kindern zu er-
zeugen.) — „Wer für die Größe des Einzelbefites ein beſtimm—
tes Maß aufftellen will, der muß auch die Größe der zuläfligen
Kinderzahl geſetzlich Fejtlegen;“?) und Ariftoteles zögert nicht die
unabweisbare, furchtbare Konjequenz dieſes logiſch unanfechtbaren
Saßes zu ziehen! Eingriffe von empörender Härte und Inhuma—
nität, die allerdings in den thatjächlichen Lebensgewohnheiten der
antifen Welt ihr Vorbild fanden, und die ja zum Teil auch von
Plato im Bernunftitaat zugelaffen worden waren, ſie werden bier
ohne Weiteres als berechtigt, ja wie etwas Selbjtverjtändliches an-
erkannt. Findet eine Empfängnis flatt, durch welche die für den
Einzelnen zuläffige Normalzahl von Kindern überjchritten zu werden
droht, jo wird die Abtreibung der Leibesfrucht durch das Geſetz
vorgejchrieben.?) Auch die Ausjegung wird nicht gänzlich zurück—
gewiefen. Nur „Gewohnheit und Sitte“, alfo nicht das Geſetz
verbietet e8, zur Beſchränkung der Kinderzahl Neugeborene aus:
zufeßen; und bei körperlicher Untauglichfeit wird die Ausſetzung
geradezu gefordert. *)
Wie das freilich im Einzelnen praktiſch durchführbar ift, wie
ein Syitem der Ueberwachung möglich fein joll, das die Verwirk—
2) 1,8, 7. 12656.
») II, 4, 3. 12666: dei de unde roüro Aavdaveır ToVs ovrW vouo-
Herovvras, 6 Aurddveiı vor, ori TO ıns ovoles terrovres nAmPos goONzEI
zei Tov Texvov Te nAndos Tarreıw' Edv yag Ünegaion Tjs ovoiag To uE-
yEdos 6 TWv TEXVWv dgidIuös, dvayan Tov ye vouov hvcodu, zul Zwois
ins Avosws pavkov To nollovs £x nAovoiw yivsodaı nevntes' Egyov yag
UN VEWTEOONOLOVS Eivat TOÖÜS ToLoVrovVg,
°) Diejelbe ſoll allerdings noch dor dem vierten Monat erfolgen, bevor
das Kind „Empfindung und Leben“ hat. IV, 14, 10. 1355b.
*) Ebd. — Ariftoteles geht joweit, dat er jogar die Frage über die
Zuläſſigkeit oder Verwerflichkeit der Bäderaftie als eines Hilfsmittel der
Bevölferungspolitif, „damit die Männer ſich mehr von den Frauen ferne
halten“, vorläufig wenigjtens als eine offene behandelt und einer jpäteren
ausführlichen Beſprechung vorbehält (die ung nicht erhalten ift). 11,7, 5.1272a.
III. 4. Das Fragment des ariftotelifchen Staatsideals. 601
lihung diejer Forderung verbürgt, darüber hören wir nichts. Ein
Machtwort genügt, — darin ijt der Schüler ebenjo doftrinär wie
der Lehrer, — um die jchwierigiten Probleme mit Einem Schlag
zu erledigen.
Kur Eine Frage wird wenigſtens berührt, woher nämlich)
der Maßſtab für die Aufftellung eines Normaletats der Bevölke—
rung zu entnehmen je. ES werden ftatiftiiche Erhebungen vorge:
Ichlagen über das Verhältntnis zwijchen Geburten und Todesfällen,
zwijchen Einderreichen und kinderloſen Familien und nach dem ſich
ergebenden Durchſchnitt Joll das Maß der zuläffigen Kinderzeugung
berechnet werden.!) Allein jo fruchtbar der Gedanke an ſich wäre,
jozialpolitifche Maßregeln auf ſyſtematiſche Maffenbeobachtungen zu
begründen, in der Form, in der er hier auftritt, it er ebenfowenig
ausgereift, wie die anderen Vorjchläge. Sein Urheber hat fich
offenbar von den technischen Einzelheiten des ftatiftiichen Problems,
von dem böchit zweifelhaften Wert der etwa gefundenen mathema—
tiihen Formeln und den Schwierigkeiten ihrer Anwendung auf
das praftifche Leben eine Klare Vorſtellung nicht gebildet. Jeden—
fall3 würde ein Staat, der nach dieſem Nezept eine Regelung der
Bevölferungsbewegung ins Werk jegen wollte, jehr bald zu der
Erkenntnis fommen, daß es von vorneherein unmöglich ift, Vers
bältnifje, die von jo vielen und jo veränderlichen Faktoren ab-
hängen, in einer einfachen mathematifchen Formel zufammenzufaffen,
die Wachstumstendenzen oder die Wachstumsfähigfeiten einer Be—
völferung und darnach das Maß der zuläfjigen Volksvermehrung
mathematisch zu bejtimmen.
Um fo mehr wird man jedoch auf der anderen Seite die
Unbefangenheit anerkennen, mit der Ariftoteles zugibt, daß das
Wirtſchaftsſyſtem feines Sozialftaates einen viel engeren Bevölfe-
rungsjpielraum haben würde, als die Eigentumsordnung der be-
ftehenden Gefellichaft, daß in ihm das Schredfgeipenjt der Über-
völferung nicht verjchwinden werde, wie es der moderne Sozialis—
1) II, 3, 7. 1265.
IE
602 Erſtes Bud. Hellas.
mus von feiner Berteilungsordnung erhofft, jondern fich gerade
erſt recht fühlbar machen werde. Ariſtoteles denkt auch infofern
nüchterner, wie der lebtere, als er in feiner neuen Geſellſchaft
feineswegs eine jo völlige Umwandlung der phyfiihfinnlichen und
geiftigsfittlichen Natur des Menjchen erhofft, daß man alles der
moraliichen Selbſtbeſchränkung anheim ftellen könnte. Das Wirt
Ihafts- und Berteilungsiyftem jeines Idealſtaates wäre in der
That nicht aufrecht zu erhalten ohne adminiftrative Hemmungs-
mittel der Voll3vermehrung, ohne Neprejfion und Zwang. Daß
ver ariftoteliiche Sozialismus dies offen anerkennt, daß er fich
nicht vor der Gefahr verjchließt, ſondern rückſichtslos die lebten
Konfequenzen feines Standpunftes zieht, das ift ein Verdienft.
Freilich zeigen gerade die bevölferungspolitiichen Konjequenzen
de3 ariftoteliihen Gejellichaftsiveales, wie unhaltbar diejes Ideal
jelbit ift.
Daß ſich mit diefer Kontrolle der Kindererzeugung im beften
Staate auch weitgehende Bejchränfungen der Eheſchließung ver
binden würden, wäre von vorneherein zu erwarten, auch wenn e3
nicht der uns erhaltene Tert ausdrüclich bezeugt. Das Grund:
prinzip des im platonifchen Geſetzesſtaat geltenden Cherechtes wird
als durchaus berechtigt anerfannt und die wichtigfte Konfequenz
desjelben ohne weiteres angenommen. Der Staat hat dafür zu
jorgen, „daß die Leiber der jungen Bürger nach jeinem Wunjch
und Willen ausfallen“, umd beſchränkt daher den (fruchtbaren)
Gejchlechtsverkehr auf ee Lebensalter, welches die beſte Bürg-
Ihaft für einen phyſiſch und geiftig tüchtigen Nachwuchs gewährt.
Das Weib darf nicht vor dem achtzehnten, der Mann nicht vor
dem fiebenunddreißigften Jahre in die Ehe treten.?2) Andererjeits
darf die Kindererzeugung nicht über die Zeit hinaus fortgejegt
werden, in welcher „der Geift feine höchfte Entwidlungsftufe er-
reicht.” Wer das vier- oder fünfundfünfzigfte Lebensjahr über
') IV,13,2.1335a: &uı 0, ö9ev doyousvor devüo uereßnmuev, Orts
TE oWurte Tov YEvV@uEvWv ÜNEEYN TIOOS TmVv Tod vouo#Erov BovAnoıw
ARE ERISe
III. 4. Das Fragment des ariftotelifchen Staatsideals. 603
,
jehritten hat, „muß darauf verzichten, Kinder zu zeugen, welche
wirklich das Licht der Welt erbliden follen;“1) mit anderen Wor-
ten es tritt auch hier der Zwang zur Vernichtung des werdenden
Lebens ein! Endlich ift den Ehegatten — zumal während der zur
Kinderzeugung bejtimmten Zeit — jeder außereheliche Geſchlechts—
verkehr bei Androhung ſchwerer Strafe unterjagt.?)
Selbſt in die individuellſten Lebensgewohnheiten dringt der
Geſetzgeber ein, wenn es gilt, jeinen Zweck zu erreihen. Um 3.8.
die Frauen, „denen die Ehre der Schwangerjchaft zu Teil geworden“,
daran zu verhindern, daß fie ſich einer trägen, für die Leibesfrucht
ſchädlichen Ruhe bingeben, jchreibt ihnen das Geſetz direkt vor,
daß fie täglich einen Gang zu den Heiligtümern der Götter machen
und denjelben ihre Verehrung darbringen jollen!?) Eine Aus-
vehnung des jtaatlichen Zwanges, die jogar noch das von Plato
gewollte Maß überichreitet.
Wie ſich Freilich dieſe durchaus anti-individualiftiiche Geſetz—
gebung, die in letzter Inſtanz nur aus dem Intereſſe der Gemein—
ſchaft begründet werden kann, in den Rahmen einer Auffaſſung
fügen ſoll, welche auch den Wünſchen und Bedürfniſſen des Indi—
viduums gerecht werden will, das iſt ſchwer zu ſagen. Was
Ariſtoteles beibringt, um die Vorteile ſeiner Vorſchläge für den
Einzelnen zu erweiſen) und jo auch hier die Lehre von der Koin—
!) dgpeiodeı det Ts Eis To parsoov yervyoeos. IV, 14, 11. 1335.
2) Ebd. 12.
3) Ebd. 9.
9 Es joll im Intereſſe des Individuums ſelbſt liegen, wenn
der Staat durch gejegliche VBorjchriften dafür ſorgt, daß zwiſchen Mann und
Weib in Beziehung auf das zeugungsfähige Alter ein richtiges Verhältnis
bejteht. Denn es würde dadurch all der eheliche Zwiſt vermieden, der ent-
ftehen müſſe, wenn im Verlauf dev Ehe ein Zeitpunkt eintritt, wo der eine
Teil noch zeugungsfähig ift, der andere nicht. Ferner würde eine allzu große
und eine allzu geringe Altersdifferenz zwijchen Eltern und Kindern unmöglich,
und dadurch einerjeits verhütet, daß die Eltern im Alter die Unterftügung
der Kinder, die Kinder diejenige der Eltern entbehren müſſen, andererjeitz,
dab die Ehrfurcht ivor den Eltern leidet oder Ziviftigfeiten über das Ver:
604 Grites Buch. Hellas.
zidenz des Gemeinfchaftsintereffes und des mohlverftandenen Sn:
terefjes der Individuen zu retten, erſcheint doch recht unzulänglich
und jedenfalls nicht entfernt ausreichend, die letteren mit einem
joldden Zwangsſyſtem innerlich zu verjöhnen. Immerhin wird hier
doch wenigſtens ein Verſuch gemacht, das Sozialrecht des beften
Staates zugleich auch vor dem individuellen Bewußtſein zu recht:
fertigen. Ein Verſuch, der bei der einzigen in unferem Text der
Politik noch behandelten Frage nicht wiederholt wird.
Diefe Frage betrifft die Erziehung der Bürger des beften
Staates, die wichtigite Aufgabe, welche e8 nach dem Urteile des
Arijtoteles für den Staat überhaupt geben kann. Ihre Löjung
wird durchweg aus dem Gefichtspunft des Staates, aus dem Be-
dürfnis des jozialen Ganzen zu begründen verfucht. Das Organi—
jationsprinzip und die Drganijationsform des jozialen Ganzen, die
„Verfaſſung“, fordert unbedingt eine ihr genau entjprechende
Form der Erziehung.?) Denn nur wenn dem eigentümlichen Geifte
der Verfaſſung auch der Charakter der Bürgerſchaft entipricht,
trägt fie in fich die Gewähr der Dauer. Die beiten Geſetze hel-
fen nichts, wenn die Jugend nicht im Sinne und im Geifte der
Verfaffung auferzogen ift. Sie in folchem Geifte zu erziehen, ift
daher das wichtigfte und wirkſamſte Mittel zur Erhaltung der
ganzen Staatlichen Ordnung.?)
Diefe Erziehung muß für alle Staatsbürger ein und diefelbe
jein. Denn der Zwed der ftaatlichen Verbindung ift für Alle ein
und derjelbe (Allen gemeinfam). Die Erziehung muß daher auch
eine gemeinfame und Sache des Staates fein. Mas gemeinjame
mögen enttehen. Endlich würde das Verbot, in zu jugendlichem Alter eine
Che zu jchließen, für die Gejundheit des Mannes tvie des Weibes von größten
Vorteil fein. IV, 13, 16 f. 1334b.
) Ariftoteles verfteht unter roArrei@ nicht bloß die Regierungsform,
ſondern auch die ganze jozialöfonomijche Rechtsordnung auf der fie beruht.
VS Lader yco nos Exdornv (se. noAıteiav) naudeveodet.
°) VIII, 7, 20. 1310a: ueyıorov de ndvıwr tur eionuevwv TIOOS
To dieuevsıv Tüs nodıteias, 00 vor olywooVGı ndvres, TO nadsveodei
11005 Tas niodureias,
IH. 4. Das Fragment de3 ariftotelifchen Staatsideals. 605
Angelegenheit Aller ift, daS muß auch gemeinfam betrieben werden.
Es fann unmöglich jo, wie es in den meijten Staaten der Fall
it, jedem Einzelnen überlaſſen bleiben, für feine Kinder in diejer
Hinficht jelbit zu jorgen und fie auf eigene Hand erziehen zu laſſen,
wie es ihm gut dünkt.!) Das Necht der Gemeinjchaft aber auf
jolche jtaattihe Regelung des gejamten Erziehungswejens unter-
liegt feinem Zweifel. Es beruht auf der Anſchauung, daß Feder
ein Glied des Staates ift, daß daher fein Bürger nur fich jelbt,
jondern Alle dem Staate angehören und für Jeden der Sab gilt,
nach welchem die richtige Sorge für das einzelne Glied eben immer
nur diejenige jein kann, welche dabei zugleich das Ganze im
Auge hat. ?)
Wie bei diefem Alles umfafjenden und Alles regelnden Er—
ziehungsſyſtem auch das Individuum zu feinem Nechte fommt, dar:
auf erhält man feine Antwort. Freilich ift für den Bürger des
beiten Staates die Frage bereits beantwortet, ja fie exiftiert im
Grunde für ihn gar nicht. Er weiß, daß das, was dem Ganzen
frommt, zugleich auch für ihn das Beite ift, daß die Durchführung
des Gemeinjchaftsprinzips in der Erziehung eben nur der natur:
gemäße Ausdruck dieſer Identität der Intereſſen und Ziele ift.
Und jo kann das Bewußtjein einer Unterdrückung feiner Perſön—
lichkeit und jeiner individuellen Wünſche in ihm gar nicht auf
fommen, wenn er nur jein Intereſſe richtig verfteht.
Was die Einzelheiten diejes jtaatlichen Erziehungsſyſtemes
betrifft, jo macht ſich Ddasjelbe für den Bürger ſchon im zarten
Kindesalter fühlbar. Wenn auch nicht, wie in den Kindergärten
Platos die öffentliche Erziehung bereits mit dem dritten Lebens—
jahre beginnt, jondern wie in Sparta erſt mit dem jiebenten, jo
Y V, 1, 2b. 1337a: E&nei d' Ev 10 TElos Tn moAsı ndon, pavsoov
dtı xel mv neıdeiav ulav zul ıyv aimjv dvayzalov eivar ndvrwv zei
Tevrns ınv Ermuucksiev eivaı zoırnv zei um zart idiev, Ov Toonov Exaortos
vov Enuuskeireı Tov avtod Texvwv ldie TE za ucdsnoıv idiev, 7v dv dosn,
didaoxwr . det yao TWv xoıvov xoıynv noLslodeı zei mv doxmoıw,
2) Ebd. 2. ©. oben ©. 593.
606 Erſtes Buch. Hella.
wird doch die häusliche Erziehung einer ftrengen ftaatlichen Auf-
fiht unterworfen, welche jorgfältig darüber wacht, daß den Kin-
dern dieſes Alters eine zwecentiprechende Beichäftigung zu Teil
werde, und daß ihnen alles ferne bleibe, was fie in moralijcher
Hinficht ſchädigen fünnte.) Vom fiebenten bis einundzwanzigjten
Sahre nimmt dann der Staat jelbit die Jugend in jeine Schule.
Er beftimmt, was Gegenftand des Unterrichtes zu jein hat (Gym—
naftif, Grammatik, Muſik, Zeichenfunft), was als unvereinbar mit
dem Ziele der Staatsichule: der Erziehung zum vollendeten Bür-
gertum, grundjäßlich auszuſchließen it. Er jchreibt genau vor, in
welchem Sinn und Geift die einzelnen Studien zu betreiben find,
damit fie die gewünschte ethiſche Wirkung haben können.?)
Aber auch damit ift die erzieherische Thätigkeit des Staates
nicht beendigt. Er will ebenjo, wie der platoniſche Staat, den
Bürger nicht nur auf den richtigen Pfad führen, jondern ihn auch
fernerhin auf demjelben erhalten. Er jehreibt daher ganz im Geifte
Nlatos jedem Lebensalter, auch den Erwachjenen, bejtimmte Nor:
men der Lebensführung durch das Gejeß vor.) Die Erziehung
des Einzelnen durch den Staat hat als fittliche Zeitung durch das
ganze Leben fortzudauern, und eine eigene Behörde ift zu dem
Zwede eingejeßt, um darüber zu wachen, „daß Niemand eine der
1) IV, 15, 4 ff. 1336a. Die oben erwähnte Kontrolle ift Sache der
jogen. Knabenaufſeher, welchen nach jpartanischem Vorbild die Sittenpolizei
über die ganze männliche Jugend und deren Erziehung obliegt. Dal. ebd.
6°. 1336b. — Was dieſe Sittenpolizei über die reifere Jugend betrifft, jo
gehört hierher das Verbot, junge Leute vor ihrer Aufnahme in die Syifitien
(vor dem 17. Jahre?) an dem DVortrage von Jamben und der Aufführung
von Komödien als Zuhörer oder Zufchauer teilnehmen zu laſſen. Ebd. 9.
) Bgl. die ganz platonisch gedachten Bejchränfungen des Mufikbetriebes
in Bezug auf die Zufäffigkeit oder Verwerflichkeit gewiſſer Inſtrumente und
Zonarten V, 6, 4 ff. 134laf. Dazu 2, 1. 1337b über die Ausjchliegung
„handwerksmäßiger“ Kenntniffe und Fertigkeiten.
») Ethit X, 10. 1180a 1: ovy ixevorv d’ iows veovs övras TOOpNS
zei Enueheies tuyeiv 0095, dA Eneıdn zei dvdowderras dei enıtndevew
avrd zul &HiLeoIaı, za negi taira deoiued’ dv vouwv, zei OAws dj regt
navre Tov Biov,
III. 4. Das Fragment de3 ariftoteliichen Staatsideals. 607
Staatlichen Drdnung zum Schaden aereichende Lebensweile führe.” !)
Freilich gehört auch diefe Frage zu den vielen Anderen, welche in
unjerer fragmentarifchen Darftellung nicht mehr zur Erörterung
fommen.?)
Diefer fragmentarifche Charakter der Überlieferung ift umfo-
mehr zu bedauern, als gerade einige der wichtigſten Punkte, jo
3. B. die Frage nach der Ausführbarfeit des Staatsiveals, die
Frage nach der Regelung von Produktion und Verkehr, nach den
für die Erwerbsitände geltenden Nechtsnormen unbeantwortet bleiben.
Angefichts der früher gejchilderten Anſchauungen des Arifto-
teles über Handel und Geloverfehr,?) angefichts der im Entwurfe
des Idealſtaates mit bejonderer Entichievenheit betonten Anficht,
daß im Intereſſe einfacher und maßvoller Sitte die Produktion und
der Bolfsreichtum gewiſſe Grenzen nicht überjchreiten dürfe,t) wird
1) Dieſe Forderung findet ich zwar nicht in der Darftellung des beſten
Staates jelbft, aber fie wird unter den Maßregeln aufgeführt, welche Ari:
ſtoteles als Lebensbedingung jeder Verfaffung erklärt. VIII, 7, 8. 1308b:
Enel dE zai die ToVs idiovs Blovs vewreoilovew, der Euroisiv doynv tıva
Tv Enorbouevnv Toüs Lovras dovupoows noös mv nolkıreiev, Ev uev
Önuoxgerie noös nv dnuoxoeriev, Ev de oAıyaoyig noös tv Okıyagyier,
ouoiws dE zui Tov aAkwv okreiov Eder.
2) Daß auch im beiten Staate des Ariftoteles diefe Regelung de3 Lebens
der Erwachjenen jehr weit gegangen wäre, zeigen gelegentliche Bemerkungen
im erhaltenen Teile des Entwurfes jelbft und an anderen Stellen der Bolitie.
3. B. die Forderung ftaatlicher Aufficht über die Frauen II, 5, 6. 1269b,
die Anerkennung von Lurusgejegen und Mäpigkeitsvorfchriften IL, 7, 5. 1272a,
die Beſchränkung des Singen: und Mufiziereng Erwachſener V, 4, 7. 1339b,
die Anordnung bejonderer mufitalifcher Aufführungen für die Bürger einer-
jeit3 und für Handwerker, Lohnarbeiter u. ſ. w. andererjeits. (Der wahrhaft
freie Mann wird nur Mufit im höheren Stile hören, die mehr auf das Sinn—
Yiche gerichtete Muſik, in der die Mafje ihre Erholung jucht, ift für ihn ver-
pönt.) V.7,7.1342a. — Vgl. auch die gelegentlichen Außerungen —V——
6. 1331b. — IV, 15, 7. 1336b.
3) ©. oben ©. 228.
+) IV, 5, 1. 1326b. Nähere Ausführungen über diefe Frage werden
einer jpäteren Erörterung über Beſitz und Bolfzeigentum vorbehalten, die wir
leider in unſerem Texte nicht mehr befißen.
608 Erſtes Buch. Hellas.
man ja im allgemeinen nicht darüber zweifelhaft jein können, daß
die Lage der wirtichaftenden Klaſſen im ariftoteliichen Idealſtaat
eine ganz ähnliche gewejen wäre, wie im Gejeßesitaate Platos.
Allein es wäre doc von hohem Intereſſe, wenn wir die Erörte
rung, die er jelbjt wiederholt über diefe Dinge in Ausficht geſtellt
hat,!) noch bejäßen. Sie würde uns ficherlich manche Züge bieten,
die wir bei dem Vorgänger nicht finden.
Sp hat Aristoteles — unter Hinweis auf eine jpätere aus:
führliche Behandlung der Frage — ganz gelegentlich die Bemerkung
gemacht, daß der bejte Staat allen Hörigen und Sklaven als Lohn
für gutes Verhalten die Freiheit in Ausficht tell.) Schon aus ,
diefer bedeutjamen, — wie gejagt, — ganz gelegentlich hingewor—
fenen xeformatorischen Spdee, einer dee, die — in ihren Konſe—
quenzen durchdacht — gewiß von größter Tragweite erjcheint, können
wir den Schluß ziehen, daß der ariftoteliiche Staat auch für die
anderen wirtichaftenden Klaſſen in jozialteformatorischer Hinficht
nicht unfruchtbar bleiben jollte, troß der untergeordneten Stellung,
die er ihnen anweiſt. Und eben darauf führt uns noch eine andere
Erwägung!
Arijtoteles nennt einmal unter den Mitteln, durch welche eine
fortgefchrittene Demokratie fih am beiten aufrechterhalteu laſſe, die
Begründung eines dauernden Wohlitandes der großen Mafje des
Volfes;3) und er jchlägt zur Erreichung dieſes Zieles überaus weit
gehende und tiefeingreifende, ja geradezu utopifche Maßregeln vor.
Wenn es nach Laſſalle der Staat fein foll, der mit feiner Kapital
macht den Beſitzloſen in ihrem Ningen nach wirtjchaftlicher Selb:
jtändigfeit zu Hilfe kommt, wenn nad) Louis Blanc der Staat der
Banquier der Armen jein fol, jo ift es etwas ganz Ähnliches, in
gewiſſem Sinne nur noch Nadifaleres, was Ariftoteles von dem
demokratiichen Staatsmann verlangt, daß er nämlich die Überjchüffe
') IV, 9, 9. 1330a und die eben genannte Stelle.
2):1V,.9,79213308;
°) VII, 3, 4. 1320a: dAAa dei Tov dAmdıwos dnuorızov öpev Onws
To nAndos un Alav drogor n.
IM. 4. Das Fragment des ariſtoteliſchen Staatsideals. 609 -
der Staatseinfünfte verwende, um möglichſt vielen Beſitzloſen die
Mittel zum Erwerb eines Gütchens oder wenigitens zur Begrün—
dung eines Kramhandels, zur Übernahme einer Kleinen Feldpachtung
zu gewähren.!) Eine Politik, zu deren Unterftügung ex weiterhin
die Befigenden auffordert, die noch übrige Mafje der Unbemittelten
„unter fich zu verteilen“ umd Jedem durch Überlaffung eines Eleinen
Betriebsfapitals den Anreiz und die Möglichkeit zu jelbjtändiger
wirtichaftlicher Thätigkeit zu geben!?) nolich "wird auf das Bei-
jpiel der beſitzenden Klaſſe Tarents verwiejen, die durch die Ber
teiligung der Armen an der Nutznießung ihrer Güter die lebteren
gewiſſermaßen zu einem Gemeingut mache.)
Nun hat allerdings Aristoteles — wie bereitS angedeutet —
diefe Vorſchläge in dem Teile jeines Werkes gemacht, der von
den Lebensbedingungen der radikalen Demokratie handelt, und es
wäre daher durchaus unberechtigt, aus dem bier von ihm einge:
nommenen Standpunft ohne weiteres darauf jchließen zu wollen,
wie er ſich zu der genannten Frage im beiten Staate geftellt haben
würde, der ja von dem Volksſtaat durch eine weite Kluft getrennt
it und derartiger Maßregeln zu feiner Erhaltung überhaupt nicht
bedürfte. Allein ganz ohne Fingerzeig läßt uns die Ausführung
des Ariſtoteles doch nicht! ES werden nämlich jene Forderungen
feineswegs ausſchließlich als jolche bingeftellt, denen jich die be-
figenden Klaſſen im Volksſtaat eben nur aus politischer Klugheit
und in ihrem wohlverftandenen Intereſſe fügen müfjen, um fich
vor den noch weitergehenden Gelüſten des jouveränen Böbels zu
ſchützen; die Opfer, die von ihnen verlangt werden, exjcheinen nicht
') Ebd.: . . . TE uEv ano Tor T00000Wv yırousva ovvadgoilarras
c900@ yon dıav&usır Tols anropoıs, udlora uev Ei Tıs Övvaraı ToooVTorv
ovvedooidsıv 0009 Eis yndiov zımoıw, &i de un, no0S dpopunv Euroglas
xui yEwpyias, zei El un naoı dvvarov, ahld zara puAds 9 Ti u£0og Eregorv
Ev u£oeı diareusır.
?) Ebd. 5: yapıEvrav Ö’ Eoti xai vovv Eyovrwv yrvooluwv zul die-
Aaußdvovres Tods drropgovs dpoouds didovras toeneıvy En’ Eoyaoias,
3) Ebd. und dazu oben ©. 55.
Pohlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 39
610 Erſtes Buch. Hellas.
bloß als ein auf dem Boden der Demokratie unvermeidliches Übel,
fie werden vielmehr von Ariftoteles zugleich als der Ausfluß einer
edlen „liebreichen“ Gefinmung, als etwas Schönes und Nad)-
ahmenswertes hingeftellt.‘) Und wir haben ja gejehen, daß
von einem in jozialer Hinficht jo Fonfervativ gefinnten Mann, wie
Iſokrates ganz ähnliche Ideen angeregt worden jind.?)
Kann Aristoteles bei diefer Auffaſſung das fozialveformato-
tische Intereſſe des beiten Staates bloß auf die herrjchende Klaſſe
befchränft haben? Gewiß nicht! Wir dürfen annehmen, daß wir
ihm auch hier auf den Wegen Platos begegnen würden, ob frei-
(ih auf minder utopiſchen, das wird man angefichtS des opti-
miftifchen Doftrinarismus, der die genannten Natjchläge für die
Demokratie Fennzeichnet, billig bezweifeln dürfen.
Diertes Kapitel.
Der ſoziale Weltfinnt des Stifters der Ston.
Aus der Neihe der Staatsideale, von denen uns nichts als
ver Titel over einzelne völlig ungenügende Notizen erhalten find, >)
5) yaoıEvıwv Eori! — zahAos d' Eyeı wiueiodaı zei mv TWv
Tagervtivov aoyyv zur. heißt es an der genannten Stelle.
5) ©. oben ©. 56 und 141.
) Ariftoteles (II, 4, 1. 1266a) erwähnt eine ganze Litteratur der Art,
von der er im allgemeinen bemerkt, daß fie zwar Reformen in Bezug auf die
Verteilung des Beſitzes enthält, aber feine jo radikalen Neuerungen, wie die
beiden platonifchen Staatzideale, Frauen» und Kindergemeinjchaft u. ſ. w.
Eine Äußerung, die allerdings jchon nicht mehr für das Staatsideal Zenos
zutrifft. — eioi dE Tives nosıreien zei dhheı, al uv YıLhooogwr zul
idiwrov ai dE nokırızov, naceı DE TWv zaFeoınzVWv zul zu9” &s nokt-
Tevovraı vöy Eyyvreoov Eioı ToVTWwv dugporigwv , ovVdeis Ya ovre mv
negl TE Teva xowörnte zul Tas yuvalzas GAAogs KEREIVOTOUNKEV, OVTE
negl TE 0ovoolta Tov yvvaızov, EAN uno TWv dvayzaeiov doyovrau
u@Akoy . doxet ydg Tioı To eol Tas oVoias Eivaı ueyıorov terdydau zahös.
IV. Der joziale Weltjtaat des Stifters der Stoa. 611
erhebt ſich der „vielbewunderte” :) Sozialftaat des Stifters der
Stoa, über den wir wenigjtens jo viel wiſſen, daß wir ihn in die
Kette ſozialphiloſophiſcher Gedankenſyſteme als ein neues bedeut—
James Glied einfügen können.
Allerdings ſcheint auch hier in Beziehung auf den prinzi-
piellen Kern der Theorie ein Fortſchritt über die platoniſch-ariſto—
teliihe Sozialphilojophie hinaus nicht vorzuliegen. Wenigſtens
berührt ich nach der Anficht Plutarchs der Staat Zenos in feinen
Grundprinzipien unmittelbar mit dem Sozialismus des Iyfurgifchen
Sparta und dem Spealftaate Platos. Auch Zeno ſoll ausgehend
von der Koinzivenz der Tugend und Glückſeligkeit die Sittlichfeit
als Staatszweck aufgeftellt und damit zugleich das platonische Ein-
heits- und Gemeinjchaftsprinzip verbunden haben. Die rodıreias
vrodecıs ſei hier wie dort diejelbe.?)
tan könnte vielleicht fragen, ob wir berechtigt find, auf
dieſes Zeugnis hin die dogmengejchichtliche Stellung der Staat:
und Sozialtheorie Zenos zu beſtimmen. Plutarch war gewiß nicht
der Mann dazu, ſozialphiloſophiſche Theorien auf die ihnen zu
Grunde liegenden Ideen methodijch zu prüfen, ihren ethischen Kern
mit kritiſcher Schärfe zu erfaflen; und es fragt fi, ob er bei
feiner Gleichſtellung Platos und Zenos mehr die leitenden und
treibenden Seen des Syſtems im Auge hat oder die praftiichen
Ziele, in denen fih Zeno mit Plato inſoferne nahe berührt, als
auch er vor Forderungen, wie der Bejeitigung des Geldes, der
Frauen- und Kindergemeinschaft nicht zurüchcheut.?)
!) 7 noAd Savualouevn nolıreia tod Zmvovos. Plutarch De Alex.
fort. I, 6.
2) Lykurg 31: (Avzoveyos) worreg Evös dvdgos Pi zai noAsws OAns
vouißwv evdaıuorviev an’ doeıms Eyyiyveodaı xal Ouovolas NS 1g05 @ü-
Tıv, 005 Toro ovrerafe zwi ovymguooer, unms ELEUFENLOL zul AUTEOXEIS
yervousvor Kal oWgoovoVvres Eni nAelorovr yo0vov dieteiWor . Tavınv zul
IMdrwv Ehaße Ts nohıreiag ÜnosEoıv xai Avoyerns zei Zyvwv xai navres
6001 TI NEQl TOVTWV ENLyELONOaVTES EINELIV ENGLVODVTAL.
3) Freilich wiſſen wir nicht, welche Geftalt diefe Forderungen bei Zeno
annahmen. Wenn nach Divgen. Laert. (VII, 132) im Staate Zenos, wie in
39*
612 Erſtes Bud. Hellas.
Doch jpricht allerdings das, was wir ſonſt von der Spztal-
philofophie der Stoa wiſſen, im wejentlichen für die Auffaffung
Plutarchs. Gerade die Gemeinschaftsivdee wird hier mit bejon-
derer Entjchievenheit betont. Das Gejeß der Natur, welches zu:
gleich das der Vernunft und daher für alle vernunftbegabten Weſen
ein und dasjelbe ift, verbindet diejelben zu einer idealen Einheit,
indem es ihnen allen diejelben fittlichen Ziele ſteck. jeder Ein:
zelne hat ſich daher als Teil eines großen, innerlich zujammen-
gehörigen Ganzen, als Glied einer Gemeinjchaft zu fühlen. Der
Trieb nach Gemeinſchaft ift allen Bernunftwejen geradezu einge:
boren, fie ift ein Gebot der Natur.
Die antisindividualiftiiche Tendenz dieſer Auffaffung liegt
far zu Tage Schon der abjolute „Kanon“ des Natur: und
Vernunftgefeßes, welches die Grundlage diefer Gemeinschaft bildet,
fordert unbedingte Unterwerfung alles individuellen Wollens und
Denfens. Es wird von — definiert als „der König über
göttliche und menſchliche Dinge, der Fürſt und Herrſcher über
Rühmliches und Verwerfliches, die Richtſchnur für Gerecht und
Ungerecht, der Gebieter über Thun und Laſſen der von der Natur
zur ſtaatlichen Gemeinſchaft geſchaffenen Wejen.“?) Eine Begriffs:
dem des Chryfippus Diejelbe Frauengemeinjchaft verwirklicht werden jollte,
wie im platonifchen Staate, und wenn dieje Gemeinjchaft zugleich eine der:
artige jein jollte, wore Tv Evrvyorre tn Evrvyovon zonoseı, jo liegt das
Verkehrte dieſes Berichtes auf der Hand. Sein Bf. gehört zu denen, bon
welchen Lucian (Fugitiv. 18) jpricht al® den ovx eidores Onws 6 leoos
Exeivos (d. h. Plato) 7£lov xoıwvas nyeloder tag yuveizas. Gntweder trat
hier Zeno in die Fußftapfen Platos, dann kann ex nicht in der genannten
Weiſe die freie Liebe gepredigt haben, oder er that das Lebtere, dann ift fein
Standpunkt hier ein anderer als der platonijche.
') Seneca ep. 95, 32: membra sumus corporis magni . natura nos
cognatos edidit.
?) Fr. 2 Dig. De lege. 1, 3: ö vouos erıwv £oti Baoıheis Yelov
TE xal rögwnirwr noayudıov' dei dE autor —— TE Eivaı ν
zehov zei Tav aioyoWv zei doyovra zai nysuorve, zal zate ToVTo zavor [04
TE eivaı dixaiwv zei adizwv zei tor Dauer nolrızaov Iowr TEOOTEKTIXOV
uev or nLoLmteov ENa@yogevrırov de wrv oð nomtéov.
IV. Der joziale Weltitaat des Stifter der Stoa. 613
bejtimmung, deren Bedeutung der römiſche Staatsabjolutismus
jehr wohl erkannte, als er ſie für jeine Kodififation des Nechtes
verwandte. Allerdings iſt es ein tendenziöfer Mißbrauch, wenn
bier der ftoische Begriff des „Geſetzes“ ohne Weiteres auf das
pofitive Necht des einzelnen gejchichtlichen Staates übertragen und
für dieſes genau diejelbe Allgewalt in Anjpruch genommen wird,
wie für jenes, obgleich doch gerade jenes „ewige Gejeß” der Stoa
das Individuum unter Umftänden geradezu zur Auflehnung gegen
das Gejeß des beitehenden Staates berechtigt. Allein für die
prinzipielle Auffallung fommt das nicht in DBetradt. Im
„beiten“ Staate, in welchem das Vernunftrecht eben wirklich ans
erfanntes Necht geworden, it es in der That der abjolute Bes
herrſcher alles individuellen Lebens und Strebens. Hier gibt es
nirgends einen Gegenjab des Willens der Einzelnen gegen den der
Gemeinschaft.
Natürlich gewinnt nun aber auch die Gemeinschaft ſelbſt
von diefem Standpunft aus eine ganz bejondere Bedeutung für
das Leben der Einzelnen. Das Recht der Gefellichaft, die Pflicht
des Individuums ihr gegenüber wird mit aller Entjchiedenheit
jeinen perjönlichen Spnterefjen und Anjprüchen vorangejtellt. Der
Einzelne erſcheint auch bier ganz wejentlich zugleich um der Anderen
und um des Ganzen willen da,!) wird betrachtet als Dienendes
Drgan?) des jozialen Drganismus. Er fann nicht für ſich leben,
ohne für andere zu leben;?) und der „Weiſe“ ift daher für die
!) Cicero De fin. II, 19 (64): mundum autem censent regi numine
deorum eumque esse quasi communem urbem et civitatem hominum et
deorum, et unumquemque nostrum ejus mundi esse partem, ex quo
illud natura consequi, ut communem utilitatem nostrae anteponamus. —
III, 20 (67): praeclare enim Chrysippus, cetera nata esse hominum causa
et deorum, eos autem communitatis et societatis suac ete. Vgl. Mark
Aurel IX. 23.
2) Ein organisches Glied (ein weios, nicht bloß ein weoos) an dem
gemeinjamen Leibe des gejellichaftlichen Ganzen. Marf. Aurel. I, 1. VIL, 13.
®) Seneca 47, 3: alteri vivas oportet, si vis tibi vivere haec
societas . . . nos homines hominibus miscet etc.
614 Erſtes Buch. Hellas.
Stoa „niemals Brivatmann“.!) Er fühlt fich jo jehr als ein orga-
niſches Glied des auf möglichite Vervollkommnung?) gerichteten
Lebensprozefjes der Gattung, daß er es als eine unabweisbare
Pflicht anerkennt, „auch für die kommenden Gejchlechter um ihrer
jelbjt willen Sorge zu tragen;” eine Forderung, die ſich ja aus
der organifchen Staats und Gejellichaftstheorie von ſelbſt ergibt.3)
Ebenfo ift es durchaus im Geijte diefer Theorie, wenn — in fajt
wörtlichem Anſchluß an die joziale Ethif des Ariftoteles — die
Gerechtigkeit als die wejentlih auf die Gemeinschaft bezügliche
Tugend formuliert wird, wenn fie und die Menfchenliebe als die
grundlegenden jozialen Tugenden hingeſtellt werden, welche „die
menschliche Gejellichaft zulammenbalten.“t)
Man wird wohl annehmen dürfen, daß dieſe die ganze Schule
beherrichenden Anſchaungen bereitS dem Staatsideale des Stifters
der Stoa zu Grunde lagen. Zwar joll Zeno bei der Abfafjung
jeiner PBolitie noch halb im Lager des Cynismus gejtanden jein,?)
jo daß man wohl zunächſt an eine mehr individualiftiiche Färbung
jeiner Lehre denken könnte. Allein es entjpricht doch ganz dem
angedeuteten Ideengang der ſtoiſchen Sozialphilojophie, wenn es
bei Zeno von der bürgerlichen Gejellihaft heißt, daß fie im Ideal—
ftaat ein durchaus „einheitliches“ Leben führt, einen Kosmos dar:
jtellt, wie eine friedlich zufammenweidende Herde, daß es der Eros
it, welcher diefe Gemeinschaft mit zufammenhält.‘)
') Bgl. den ftoifchen Spruch bei Cie. Tuse. IV, 23 (51): nunquam
privatum esse sapientem.
?) Die Entjcheidung der Frage, ob fich der Weiſe am Leben des be-
ftehenden Staates beteiligen joll, ift davon abhängig, ob in demjelben ein
Sortjchritt zur Bollfommenheit wahrzunehmen ift. Stob. Ecl. II, 186.
3) Dev Gipfel der Verruchtheit ift für die Stoa das apres nous le
deluge, daS Euod Farovros yale wrIHTto vgl des extremen Jndividualis-
mus. ©. Cicero De fin. III, 19 (64).
Cie Derotalsueon:
5) Diog. Laert. VII, 4.
°) ©. die oben ©. 116 Anmerk. 1 u. 2 angeführten Stellen des Plu-
tarch und Athenäus.
IV. Der foziale Weltitaat de3 Stifter der Stoa. 615
tan ſieht, al das führt uns prinzipiell kaum über die ältere
Sozialphilofophie hinaus, es ift diefelbe Überfpannung des Ge-
meinjchaftsprinzips, die uns. hier wie dort entgegentritt. Wenn
wir trotzdem den Idealſtaat Zenos als eine neue und beveutjame
Erſcheinung bezeichnet haben, jo liegt das daran, daß bier der
Sozialismus eine ganz andere geichichtliche Stellung erhält, als
bisher.
Der platonijch-ariftoteliiche Idealſtaat hält fich durchaus inner-
halb der Schranken nationaler Abjonderung. Er will in mehr
oder minder jtrenger Abgeſchloſſenheit der eigenen Vollendung leben.
Mag jenjeitS feiner Grenzen „ver Krieg Aller gegen Alle” Die
Signatur des menschlichen Dajeins bilden, wenn nur er jelbft in
jeinem Inneren vom Kampf zum Frieden gefommen tft und dadurch
zugleich die Kraft gewonnen hat, in den auch ihm nicht erſpart
bleibenden Kämpfen mit der feindlichen Außenwelt feine Erijtenz
zu behaupten.
Das Fonnte nicht das legte Ideal und Ziel einer Epoche
bleiben, in welcher fich jener gewaltige Vereinigungsprozeß der
damaligen Kulturmenjchheit vollzog, der eben in ver Zeit Zenos —
mit der Verſchmelzung von Drient und Deeident beginnend -—- im
römischen Weltftaat endete. Zeno, deſſen Wiege auf einem Boden
geftanden, in welchem ſich hellenifches und orientalijches Volkstum
auf. das Engſte berührte, Zeno, der vielleicht ſelbſt feiner Abſtam—
mung nach zweien Nacen angehörte, war recht eigentlich dazu be:
rufen, die Schranken zu durchbrechen, welche das Einheits- und
Gemeinjchaftsprinzip der antiken Sozialphilojophie bis dahin ſich
ſelbſt geftect hatte.) Zwar hat er den Gedanken des Weltbürger-
tums an fich bereit vom Eynismus überfommen, allein das Haupt-
interefje ift bei dem leßteren doch offenbar ein ganz einjeitig indi—
vidualiftiiches, nämlich das Beitreben des Philoſophen, die Feſſeln
der bejtehenden gejellichaftlichen und ſtaatlichen Ordnungen abzu-
1) Auf dieje Differenz wird ſich wohl in erſter Linie beziehen, was
Plutarch von Zeno jagt: avreygawe ,. . 7905 mv IMerwvos nolıreier,
De Stoicorum rep. 8, 2.
616 Erſtes Buch). Hellas.
fteeifen, für das Individuum eine größere Freiheit der Bewegung,
die Möglichkeit zum ſchrankenloſen Ausleben jeiner Eigenart zu
gewinnen. Eine Tendenz, die ja auch im Stoicismus feineswegs
fehlt, — iſt doch deſſen Intereſſe an der Heranbildung der Einzel-
perjönlichkeit zu dem Ideale des Weifen ein ausgeprägt individua-
Kiftifches, — Die aber doch von Anfang an fich mit der Gemein:
Ichaftsidee verbindet, mit der dee eines fozialen Kosmos, deſſen
Weſen eben die Drdnung und Gebundenheit ift.
Indem Zeno den gejellfchaftlichen Organismus feines Ideal—
Staates als Kosmos bezeichnet, gibt er dem vein negativen und
individualiſtiſchen Ideal des Cynismus einen pofitiven und zugleich
ausgeprägt joztaliftiichen Inhalt. Er will die Sonderungen durd)
die fommunalen, politiichen, nationalen Schranken, die Verſchieden—
heiten in Necht und DVerfaffung nicht bloß darum bejeitigen, die
Menschen nicht bloß darum zu Bürgern Eines Staates machen,
weil die volle Entfaltung der Perjönlichkeit im Sinne des ftoischen
Ideals duch die Sprengung jener engeren Verbände begünftigt
würde, jondern e3 it ihm dabei gleichzeitig ebenfofehr darum zu
thun, fie alle einer höheren objektiven Lebensordnung zu unterwerfen
und durch die aus der Unterordnung unter „Ein Geſetz“ hervor:
gehende Willensgemeinfchaft zu einer fozialen Lebensgemeinfchaft,
alles individuelle zu jozialem Leben zu verichmelzen. Das Gemein:
Ichaftsprinzip ift es, welches hier in dem Einheitsitaat der Gattung
jeinen höchſten Ausdrud findet. Die zomrwori« der älteren Staats:
ideale joll ſich zu einer alljeitigen Gemeinfchaft des ganzen Menſchen—
gejchlechtes erweitern, der Eine Menjchheitsitaat zugleich der Spzial-
jtaat der Zukunft fein. Und innerhalb diefer Gemeinschaft ſoll
ſich hinwiderum die abſolute Einheitlichfeit alles ſozialen Lebens
verwirklichen, dank dem Alles beherrfchenden und Alles umfaffenden
Walten des Geſetzes der Vernunft, welches nicht zuläßt, daß die
Entwidelung des fozialen Ganzen durch individuelle Willfür ge:
jtört werde.
) Plutarch De Alex. fort. I, 6,
IV. Der joziale Weltitaat des Stifter3 der Stoa. 617
Alles das erinnert an Ideen, wie fie uns im modernen
Sozialismus in dem Gottesreich Fichtes, in der association uni-
verselle Saint Simons und in dem jozialen Weltitaat von Nod-
bertus entgegentreten, in welchem die Menjchheit zum Gipfelpunft
ihres Dafeins emporfteigen joll, indem fie zu einer immer innigeren
Verihmelzung der Individuen mit dem Lebensprozeß der Gattung
fortichreitet. Freilich mit dem Unterjchied, daß die „Eine Gejell-
ſchaft“ dieſes modernen Sozialismus als eine ftreng vrganifierte
Gemeinjchaft gedacht ift, während das Zufunfsideal der Stoa zurüc-
weit auf jtaatsloje Zuftände und völlig in Eins zujammenfließt
mit der Vorftellung jenes idealen Naturzuftandes, für den es feines
anderen als des natürlichen Rechtes bedarf. Denn diejes natür-
liche Recht ift im Einklang mit den Gejegen der Natur, wie mit
denen der Vernunft, welche das Weltganze beherrſcht und feinen
Lauf beftimmt. Die Herrichaft des Naturrechtes ift daher iventijch
mit der des ethiichen Gejeßes, wie des Vernunftgejeßes, das eben
fein anderes jein kann, als dasjenige, welches in der Natur der
Dinge jelbit liegt. Daher gibt es in diefem Zuftand der harmo-
nischen Übereinftimmung des Lebens der Gefellfchaft mit der all:
gemeinen Weltordnung feinen Gegenjaß gegen das Sittengejeß,
feine Kriminalität. Der bejte Staat — jagt Zeno — bat feine
Gerichtshöfe. Das als erfanntes Naturgefeß in den Gemütern
(ebendig gewordene Gejeß der Vernunft wirkt als allgewaltiges
organifierendes Prinzip, unter deſſen Herrſchaft ſich alles individuelle
Leben zu einem fich jelbjt ordnenden Kosmos harmonijch zufammen-
jcehließt, widerjtrebende Tendenzen von vorneherein nicht auffommen
können.
Eine reine Phantasmagorie, durch welche das ganze Staats—
1) Dabei bleibt freilich der Widerſpruch ungelöſt, daß auch in dieſem
idealen Staate „Weiſe“ und Thoren fich ebenjo gegenüberftehen, wie in der
Wirklichkeit, und dat die Forderung, alle Menjchen als Mitbürger gelten
zu lafjen, am Ende wieder dahin modifiziert wird: Nur die „Weiſen“ fünnten
im eigentlichen und wahren Sinne als Freie und Bürger anerkannt werden,
Diog. Laert. VII, 33.
618 Erſtes Buch. Hellas.
ideal auf das Innerliche und Unfinnliche geftellt wird; was ja
noch weiterhin feinen Ausdrucd darin findet, daß in diefem Staat,
wie dag Necht Feiner Gerichtshöfe, jo der Gottesdienft feiner Tempel,
die Erziehung feiner Gymnaſien, der Verkehr Feines Taufchmittels
bedürfen fol.) ES verflüchtet ſich hier alles ins Unbejtimmte und
Nebelhafte. Der jpefulative doftrinäre Geift des extremen Sozia-
lismus bat mit der Idee des jozialen Menjchheitsitaates einen
Höhepunkt erflommen, auf dem fich die Wirklichkeit und die Be
dingungen realer Geftaltung der Ideen jeinen Bliden völlig ent
zogen haben. Das utopijche Element im Sozialismus, jein un—
widerftehlicher Drang, ſich in unermeßliche Berjpektiven zu ver
lieren, hat den denkbar reinſten Ausdrud gefunden.
!) Diog. Laert. ebd. ©. oben ©. 115.
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