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Full text of "Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus"

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University of Toronto 


https://archive.org/details/geschichtedesant01phuoft 


Geſchichte 


des 


antiken Kommunismus 


und 





TASCS He 


Geſchichte 
— 
antiken Köommunismus 
Sozialismus 
Dr. Bobert, Pohlmann, 


o. Profeſſor der alten Geſchichte an der Univerſität Erlangen. 


— 





München 1893 Yy 
C. 5. Beck'ſche Verlagsbuchhandlung 
Oskar Bed, 





Alle Rechte vorbehalten. 


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69. Bechſche Buchdruckerei in Nördlingen. 
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Dormwort 


Eine Gejchichte des antifen Kommunismus und Sozia- 
lismus ift noch nicht geſchrieben.) Die junge Wiſſenſchaft 
der Sozial- und Wirtichaftsgejfchichte Hat ſich aus nahe- 
liegenden Gründen ganz überiwiegend dem Mittelalter und 
der Neuzeit zugewendet, während die Altertumskunde troß 
mancher trefflicher Einzelarbeiten den Fortichritten der mo- 
dernen Staats: und Soztalwiljenichaft noch lange nicht ge— 
nügend gefolgt it. Obwohl wir in Deutjchland nad) dem 
epochemachenden Vorgang von Stein und Gneiſt längit ge 
lernt haben, die ganze Nechts- und Verfalfungsgeichichte auf 
der Gejchichte der Geſellſchaft aufzubauen, hält die Altertums- 
funde noch immer an der mechanischen Scheidung von Staats-, 
Necht3: und Privataltertiimern feſt und erſchwert ſich jo ſelbſt 
den Weg, auf dem ſie allein zu einer umfaſſenden ſozial— 
wiſſenſchaftlichen Analyſe der zahlreichen Probleme gelangen 
könnte, in denen all dieſe Gebiete unauflöslich ineinander— 
greifen.?) 

) Das Buch von Cognetti de Martiis: Socialismo antico (Turin 
1889) behandelt nur einzelne Teile der Aufgabe und läßt es andererjeits zu 
jehr an einer eindringenden Analyje und ſyſtematiſchen Verarbeitung des 


Stoffes fehlen. 
2) Wenn man freilich, wie es joeben wieder in der Ankündigung der 


VI Vorwort. 


Allerdings ſind die Schwierigkeiten derartiger Arbeiten 
außerordentlich groß! Einerſeits wird ſchon die rein philo— 
logiſch-hiſtoriſche Behandlung durch die Beſchaffenheit der 
antiken Überlieferung in hohem Grade erſchwert, andererſeits 
ſieht ſich hier der Forſcher ununterbrochen genötigt, in Ge— 
biete überzugreifen, auf denen er unmöglich allen Fachmann 
ſein kann. Eine allſeitige Würdigung ſozialgeſchichtlicher Er— 
ſcheinungen iſt nicht möglich ohne eine ſyſtematiſche Verwer— 
tung der Ergebniſſe der verſchiedenartigſten Wiſſenszweige: 
der Pſychologie, der Ethik und Rechtsphiloſophie, der Rechts— 
und Staatswiſſenſchaften, der Volkswirtſchaftslehre und Sozial— 
wiſſenſchaft, der allgemeinen Kultur- und Wirtſchaftsgeſchichte 
u. ſ. w. Dazu kommt, daß dieſe Ergebniſſe vielfach höchſt 
ſchwankend, unſicher und widerſpruchsvoll ſind, daß häufig 
nicht einmal über die wiſſenſchaftliche Terminologie eine ge— 
wiſſe Einigung erzielt iſt. Gerade die Sozialwiſſenſchaft 
ftellt auf dDogmengefchichtlichem Gebiete ein Chaos dar!!) 








dritten Auflage von Pauly's Nealenchklopädie geichieht, Staat und Recht 
ala „Antiquitäten“ betrachtet und demgemäß behandelt, jo famı von einer 
lebendigen Auffaffung im Sinne moderner ſtaats- und ſozialwiſſenſchaftlicher 
Auffaſſung nicht die Rede jein. 

1) Die Verwirrung, die auf diejem Gebiete 5. B. über den Begriff 
„Sozialismus“ herrjcht, wird von einem hervorragenden Syjtematifer mit 
Recht als eine „Llägliche“ bezeichnet. ©. Diebel: Beiträge zur Gejch. des 
Sozialismus und Kommunismus. Ztichr. F. Lit. u. Gejch. der Staatsw. T, 1. 
Dazu die Einleitung in das schöne Buch desjelben Bf. über Rodbertus. — 
Aber auch der äußert ſcharfſinnige und anregende Verſuch Diebels, eine 
neue Terminologie zu begründen, iſt nicht ohne Widerjpruch geblieben, und 
es dürfte in dev That nicht möglich fein, eine jo ſcharfe Grenzlinie zwischen 
Sozialismus und Kommunismus zu ziehen, wie es hier gejchteht. 

Diejev unfertige Zuftand auf dogmengejchichtlichem Gebiete mag es 
entjchuldigen, wenn auch die in der vorliegenden Schrift zu Grunde gelegte 
Auffafjung des Sozialismus als des Inbegriffes der auf möglichite Soziali— 


Vorwort. VII 


Allein ſo groß das Wagnis iſt, welches der Altertums— 
forſcher auf ſich nimmt, wenn er unter ſolchen Verhältniſſen 
an eine der ſchwierigſten Aufgaben der Sozialgeſchichte heran— 
tritt, umgehen läßt jich Diejelbe auf die Dauer von der 
Altertumswilfenichaft nicht. Soll es wahr bleiben, was 
Lafjalle im Hinblid auf eine Rede August Böckhs gejagt hat, 
da in Deutjchland gegen das Mancheftertum glüclicherweife 
die antife Bildung ein Gegengewicht bildet, — ſoll diefelbe 
wirklich, wie er noch hoffte,) die „unverlierbare Grundlage 
des deutſchen Geiſtes“ bleiben und fich gegen den einbrechenden 
Materialismus behaupten, dann muß auch eine Darftellung 


des antifen Lebens erreicht werden, die, — um mit dem 
unvergeplichen Nitzſch zu reden, — die alte Welt von den— 


jelben Lebensfragen bis zum Grunde bewegt zeigt, welche 
noch heute zum Teil ungelöft jeden ehrlichen Mann beichäf- 
tigen.?) 

Ver ſolche Fragen mehr oder minder ignorieren zu 
fünnen glaubt, weil dabei, wie ein Bhilologe von des Ver- 
faſſers Buch über die antiken Großſtädte gemeint hat, das 
philologiſche Intereſſe zurücdtrete, der ſetzt ſelbſt den Wert 
herab, welchen die Antike gerade für die Gegenwart ge— 
winnen könnte.“) Jedenfalls wird derjenige, der es nie 


ſierung von Volkswirtſchaft und Geſellſchaft gerichteten Beſtrebungen nicht 
völlig befriedigen kann. 

1) Es berührt uns heutzutage mit einer gewiſſen Wehmut, wenn wir 
einer Zeit gedenken, in der ſelbſt ein radikaler Weltverbeſſerer, wie Laſſalle, 
ſich mit ſolcher Wärme zu den Grundlagen unſerer höheren Bildung be— 
kennen konnte, der Bildung einer Geſchichtsepoche, die er als ſolche doch „im 
Ablaufen begriffen“ wähnte! 

2) In der Vorrede zu den „Gracchen“. 

3) Vgl. meine Abh. über „das klaſſiſche Altertum in jeiner Bedeu— 


VII Vorwort. 


ernftlich verſucht hat, ſich Nechenfchaft zu geben von den 
legten Gründen Jozialen Lebens, nimmermehr dazu gelangen, 
die antike Welt ſich und Anderen wirklich lebendig zu machen. 
Das Ideal aller Humaniftiichen Bildung, auf einem Gebiete 
heimiſch zu jein, von dem aus man die wejentlichjten Inter: 
efjen der Menjchheit zu verftehen vermag, es iſt für ihn 
nicht vorhanden. 

Auch handelt es fich hier ja um Studien, welche für 
die Erkenntnis des antifen Lebens überaus ergebnisteich 
werden können. Wie Curt Wachsmuth in feiner Leipziger 
Antritterede mit Necht bemerkt hat, find auf dem Gebiete 
der antiken Sozial und Wirtfchaftsgefchichte ganz elementare 
ragen noch gar nicht geſtellt, geichweige befriedigend beant- 
worte. Wo Hätten wir 3. B. eine wirklich genügende kri— 
tische Analyſe und fozialpolitiiche Würdigung der platonifch- 
arijtoteliichen Staats: und Gejellichaftstheorie? 

Ver hier von den richtigen Gefichtspunften aus und 
mit der richtigen Frageftellung an die Quellen herantritt, 
wird jelbft da, wo kaum eine Nachlefe möglich ſchien, über- 
raſchende Nelultate gewinnen, wahre Entdederfreude erleben 
fönnen. Auch der vorliegenden Arbeit hat Ddiejelbe nicht 
gefehlt; und wenn Vf. irgend auf Anerkennung rechnen darf, 
jo wird man ihm wenigitens die vielleicht nicht verfagen, 
daß die hier durchgeführte Methode und Betrachtungsweile 
wohl geeignet ift, auf wichtige Seiten des antiken Kultur: 
und Geifteslebens ein neues Licht zu werfen, unfer Wifjen 
von der Antife zu erweitern und zu vertiefen, 


tung für die politifche Grziehung des modernen Stantsbürgers” (Beilage 
3. allgem. Ztg. 1891 No. 26 u. 27.) 


Vorort. 1X 


Leider war es nicht möglich, in dem vorliegenden Bande 
das erſte Buch zum Abſchluß zu bringen. Die Gejchichte 
des Staatsromans und der Jozialen Demokratie in Hellas 
muß dem zweiten (Schluß) Bande vorbehalten bleiben, der 
außerdem noch Rom und die veligiöfen Erſcheinungsformen 
des antifen Sozialismus (im Juden- und Ghriftentum und 
im Mazdatismus) zur Darftellung bringen ſoll. 


Grlangen im DOftober 1893. 


Robert Vöhlmann. 


Intzact. 


Erſtes Buch. Hellas. 
Erſtes Kapitel. Der Kommunismus älterer Geſellſchaftsſtufen. 
Wahrheit und Dichtung 5—146. 
Erſter Abfhnitt. Der Kommunismus der Urzeit. 3—17. 


Wirtſchaftsſyſtem und Gigentumsordnung. Periode des Gejamteigen: 
tums am Grund und Boden 4. — Genoſſenſchaftliche Befiedlung des Landes 7. 
— Gejchlechtsverband und bäuerliche Anfiedlungsgemeinde 8. — Die Frage 
nach der Eigentumsordnung der älteften Agrargemeinde und das angebliche 
„Geſetz“ in Bezug auf das Kolleftiveigentum als eine notwendige Entwidelungs- 
phaje des Agrarrechts 9. — Problematischer Charakter der vergleichenden 
Methode 10 — ſowie der aus dem Genofjenjchaftsbegriff abgeleiteten Ansicht 
Nommfens von der fommuniftischen Organifation der älteſten heflenischen Dorf: 
mark 14. — Angebliche Spuren diejes Kommunismns im griechischen Recht 15. 


Zweiter Abfhnitt, Die Haustommunion und die Frage der Feld: 
gemeinjchaft bei Homer 17—46. 

Der patriarchale Haushalt des Priamus ein Abbild der fommuniftischen 
Hausgemeinschaft 17. — Hausfommunion und Dorfgemeinjchaft 19. — An: 
gebliche Spuren der Feldgemeinſchaft 22 — und des Gejamteigentums im 
Epos 32. — Uralte Entwiclung des Privateigentums im Zujammenhang 
mit dem raſchen Fortjchritt dev wirtichaftlichen Kultur 38. 

Dritter Abfhnitt. Der Kommuniftenjtaat auf Lipara 46—52. 

Der Bericht Diodors 46. — Der Kommunismus der Liparer nicht 
ein „Nachflang aus der Wanderzeit der doriichen Stämme” 48, — jondern 
eine aus den örtlichen Verhältniffen zu erflärende finguläre Ericheinung 49. 
Dierter Abſchnitt. Angebliche Spuren des Kommunismus in Groß: 

griehenland 53—58. 

Falſche gejchichtliche Schlußfolgerungen aus der Phthagoraslegende 53 

— ſowie aus den arijtotelifchen Bemerkungen zur Sozialgejchichte Tarents 


Inhalt. xT 


54. — Wahre Bedeutung derjelben für die Geichichte der jozialen Auffaffung 
des Eigentums 55. 


Fünfter Abfhnitt. Die jtaatlich organifierte Bürgerjpeijung Spartas 
und Kretas und der Sozialismus des friegeriichen Geſellſchafts— 
typus 58—78. 

Die Syifitien Überreft eines agrariichen Kommunismus? 59. — Die 
homerischen Staatsmahle 60. — Die jpartanijch-kretiichen Syifitien in ihrem 
Zujfammenhang mit der Wehrverfaflung und dem Sozialismus des friege: 
rischen Gejellichaftstypus 62. — Sonjtige Formen von Syifitien 66. — Streng 
gemeinwirtichaftliche Organifation des Inſtituts der Bürgerjpeifung auf 
Kreta 69. — Kritik der Anſchauung als ſei diejelbe eine „rein kommu— 
niſtiſche“ 72. 


Sechſter Abfhnitt. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaſſung 78--103. 

Alter der Flurteilung 78. — Verteilung der Landloje 82. — Nr: 
jprüngliche genofjenjchaftliche Organijation des Agrarbefites? 85. — Kritik 
der Argumente für die Annahme eines ftaatlichen Gejamteigentums am Grund 
und Boden 86. — Begriff der noAırız) zwoe« 86. — Die Gebundenheit 
de3 Agrarrechts und der Begriff des Privateigentums 87. — Angebliche 
jozialpolitifche Wirkſamkeit des jpartanifchen Königtums im Intereſſe einer 
möglichjt gleichheitlichen Verteilung des Grundeigentums 93. — Einfluß der 
fozialen Theorie auf diefe Annahme 99. — Unmöglichkeit derjelben angefichts 
der frühzeitigen Entwidlung des Imdividualeigentums am Grund und 
Boden 101. 


Siebenter Abfhnitt. Der Sozialftaat der Legende und das ſozia— 
Liftiijche Naturreht 104—146. 

Angebliche Tradition, dab die ſpartaniſche Grundeigentumsordnung 
grundjäglich auf die Gütergleichheit angelegt gewejen jei 104. — Die 
Legendenbildung und die foziale Frage 105. — Die jozialgejchichtlichen 
Konftruftionen des fünften und vierten Jahrhunderts 108. — Die Lehre 
vom Naturzuftand 110 — und der Glücjeligkeit einer kommuniſtiſchen Ur— 
zeit 111. -— Plato 112. — Dikäarch 113. — Pofidonius und die Stoa 114. 
— Die Idealiſierung der Naturvölfer 117. — Die vouue Bagßegıxa und 
die fommuniftiichen Ideale 118. — Die Legende von dem joztalen Muſter— 
ftaat Sparta 123. — Gejchichtlihe Anknüpfungspuntte 124. — Idealvor— 
ftellungen don dem ethiichen und fozialpolitifchen Wert dev „lykurgiſchen“ 
Snftitutionen 125. — Iſokrates 126. — Ephorus 127. — Die Stva 128. 
— Übereinftimmung der idealifierten Inftitutionen des „Iykurgiſchen“ Sparta 
mit dem VBernunft und Naturrecht 131. — Anfnüpfung an den Tierjtaat 
und an das Leben der Naturvölfer 132. — Volkswirtſchaftliche Schluß— 


x11 Inhalt. 


folgerungen aus diejer naturrechtlichen Auffaffung auf dem Gebiete des Agrar: 
rechts 137. — Angebliches Recht jedes Bürgers auf einen Landanteil 138, 
— Kritiklofigkeit der aus der Schule des Sokrates hervorgegangenen Hifto- 
riographie gegenüber den thatjächlichen Erſcheinungen des fpartanifchen 
Agrarrehts 139. — Verwandtſchaft zwiſchen dem Idealbild Altathens bei 
Iſokrates und dem Mufterftaat Sparta bei Ephorus u. A. 140. — Piycho- 
logische Entjtehungsmotive dieſer fozialpolitiichen Konftruftionen. Moderne 
Analogien 143, 


Zweites Kapitel. Die individnaliſtiſche Ierfekung der Geſellſchaft 
und die Keaktion der philoſophiſchen Stants: und Gefellfhaftstheorie 
146—264. 

Erſter Abſchnilt. Individualiſtiſche Tendenzen 146—156. 


Sozialökonomiſche Mißſtände 146. — Die Souveränität der Geſell— 
ſchaft und ihre Folgen für das ſtaatliche Leben 147. — Der Klaſſenegoismus 
und die Klaſſenherrſchaft 148. — Das individualiſtiſche Naturrecht 150. — 
Der ſoziale Klaſſenkampf 153. 


Sweiter Abſchnilk. Der Kampf der idealiſtiſchen Sozialphiloſophie 
gegen den extremen Jndividualismus. Allgemeine jozialethijche 
Pojtulate 156— 184. 

Allgemeine Richtung der jozialphilofophiichen Gedanfenarbeit des 
vierten Jahrhunderts 156. — Der Weg zum jozialen Frieden 157. — Die 
„organiſche“ Staatsidee 161. — Begründung einer jozialen Ethit 167. — 
Konſequenzen derjelben für die Auffaffung des Staates und ſeiner Auf: 
gaben 177. 

Dritter Abſchnitt. Die platonifche Kritik der gefhichtlichen Staats: 
und Gejellihaftsordnung 184— 198. 

Allgemeiner Ausgangspunkt 184. — Entftehungsgejchichte der Pluto: 
fratie 186. — Das „Drohnen”- und Spefulantentum 189. — Piychologijches 
Ergebnis des arbeitslojen Nentengenuffes 193. —-Rückwirkung auf die niederen 
Volksklaſſen 194. — Kataſtrophe der Plutofratie 195. — Ochlokratiſche 
Herrſchaft der materiellen Intereſſen 196. — Letztes Ergebnis der entfeſſelten 
egoiſtiſchen Triebe: Die Tyrannis 196. — Entartung des Volksgeiſtes 197. 


Vierter Abſchnikk. Angriffe der idealiſtiſchen Sozialphiloſophie auf 
die Grundlagen der beſtehenden wirtſchaftlichen Rechtsordnung 
198 — 264. 

Notwendigkeit des Rückſchlages gegen die bisherige Entwicklung der 
fozialen Zuftände 200. — Einſeitig ökonomiſche Beurteilung derjelben 201 
— und deven Konſequenzen 202. — Hoffnung auf eine fittliche Wiedergeburt 


Inhalt. XIH 


durch die radifale Umgeftaltung der fapitaliftiichen Volkswirtſchaft 203. — 
Der „Kampf gegen Reichtum und Armut“ 204. — Die Lehre von der Natur- 
twidrigfeit des wirtichaftlichen Wettjtreites und von der fozialen Harmonie 
de3 Naturzuftandes 209. — Forderung einer Rückkehr zu älteren, überwiegend 
agrariichen Formen der VBolfswirtichaft 218. — Angriffe auf die jpefulativen 
Tendenzen de3 Handels 221. — Healifierung des „wahren Wertes“, der 
objektiven Gerechtigkeit des Preifes durch die Staatsgewalt 224. — Befeiti: 
gung der Eigenjchaft des Geldes, als Erwerbsvermögen zu dienen, durch 
Ausichliegung des edeln Metalles und aller Kreditgejchäfte 226. — Die 
Lehre von der Naturiwidrigkeit des Geld- und Zinsgejchäftes 229 — und 
der merfantilen Spekulation überhaupt 230. — Kontraſt zwischen diefen 
dem Handel und Gewerbe abgeneigten Anjchauungen und der thatjächlichen 
Entwicklung der hellenijchen Induſtrie- und Handelsjtaaten 236. — Berüh— 
rungen der hellenischen mit der modernen joztaliftiichen Kritik des beftehenden 
MWirtichaftsrechts und Wirtjchaftslebens 242. — Bleibende Errungenschaften 
246. — Der „beite” Staat 262. 


Drittes Kapitel. Organifationspläne zum Aufbau einer neuen 
Stants: und Geſellſchaflsordnung 264—610. 
Erfer Abfhnitt. Das Staatsideal des Phaleas von Chalcedon 


264— 269. 

Mangelhaftigkeit des ariftoteliichen Berichtes. Beſchränkung desjelben 
auf einzelne fonfrete Fragen der jozialen Reform 265. — Die Forderung 
einer Verftaatlichung der Induftrie und ihre Bedeutung im Syſtem 266. — 
Gleiche Berteilung des Grumd und Bodens 267. — Ideenverwandtſchaft 


mit Plato 267. — Die Kritik des Ariftoteles 268, 


Zweiter Abſchnitt. Der VBernunftitaat Platos 269—476. 
1. Der Staat und feine Organe 269— 294. 

Die Erhebung des Staates über den jozial-öfonomijchen Intereſſen— 
jtreit 269. — Herftellung des reinen Amtscharakters des öffentlichen Dienftes 
271. — Konzentrierung aller politifchen Gewalt in den Organen der Gemein: 
ichaft 271. — Das Prinzip der Arbeitsteilung 272. — Syjtematijche Ab- 
ſchließung des Beamtentums und des Wehrftandes gegenüber den Erwerbs— 
jtänden 277. — Die Güter-, Frauen: und Kindergemeinjchaft dev Hüterklaffe 
278. — Die Erziehung derjelben durch den Staat 281. — Die Herrjchaft 
der Philojophen 285. — Erhaltung der Zahl und Tüchtigfeit dev Hüter: 
Elafje durch planmäßige Regelung der Fortpflanzung 290. — 

2. Das Bürgertum 294—-371. 

Gründe des Schweigens Platos über das Sozial: und Wirtſchafts— 

recht der Erwerbsſtände 294. — Falſche Vorausſetzung der herrſchenden Anz 


XIV Inhalt. 


ſicht über die Stellung der letzteren im Vernunftſtaat 298. — Unvereinbarkeit 
des Geſetzesſtaates mit dieſer Anſicht 299. — Angebliche Gleichgiltigkeit des 
Vernunftſtaates gegen das wirtſchaftende Bürgertum 302. — Zeugniſſe für 
das Gegenteil 302. — Analoger Standpunkt des Geſetzesſtaates 304. — Die 
Anſchauungen der Politeia über die intellektuelle und moraliſche Beſchaffen— 
heit der Erwerbsſtände 307. — Analoge moderne Anſichten über die geiſtige 
und ſittliche Unreife der großen Maſſe 318. — Die Ausſchließung der Er— 
werbsſtände von der Politik als logiſche Konſequenz des Syſtems 325. — 
Folgerungen aus der platoniſchen Anſchauung von den Aufgaben der wahren 
Staatskunſt 326, — aus dem Intereſſe des Bernunftitaates an der politifchen 
und jozialen Gefinnung des dritten Standes 328, — aus der Berfafjung 332. 
Sonjequenzen der ganzen Stellung des dritten Standes ſelbſt 332, — der 
Spzialifierung des Arbeitslebens 333 — ſowie der Anforderungen, welche 
der Staat an das Schaffen der „Demiurgen“ ftellt 334. — Bedeutung der 
in den „Geſetzen“ vertretenen Anficht über die Grziehung der Jugend für 
ihren fünftigen Beruf 336. — Folgerungen aus dem gegenjeitigen Verhältnis 
der Stände im VBernunftitaat 337. — Die Tugenden de3 dritten Standes 
343. — Hinweis auf die prinzipiellen Anfichten Platos über Erziehung, 
Unterricht und allgemeine Schulpflicht 345. — Die Frage der Volksfittlichkeit 
zugleich eine twirtjchaftliche und joziale Frage 348. — Intenfivfte Ausnützung 
und Steigerung der individuellen Kräfte eine Eriftenzbedingung des Staates 349. 
— Daher fein arbeitslojes Proletarier- und Nentnertum 351. — Unverein- 
barfeit der herrichenden Anficht über das Wirtjchaftsrecht des dritten Standes 
mit dem Ginheitsgedanfen des Bernunftjtaates 353. — Forderung einer ftaat- 
lichen Regelung der Eigentumsfrage in der wirtichaftenden Gejellichaft 354. 
— Allgemeine Andeutungen 355. — VBolfswirtichaftliche Konjequenzen der 
platonifchen Anficht von der wahren Staatstunft 356 — und von der Ein- 
heitlichfeit des Staates 357. — Angebliche Zeugnifje für eine rein indivi- 
dualiftiiche Gigentumsordnung der Erwerbögejellichaft 359. — Pofitive Zeug- 
nifje für Platos Anficht von der Notwendigkeit einer möglichiten Verallge— 
meinerung der Gemeintirtichaft 361. — Die Kritik des Ariftoteles 363. — 
Allgemeines Ergebnis in Bezug auf die Stellung Platos zum Grundproblem 
der jozialen Ethik. Ariftofratiiche und demokratiſche Geſellſchaftsmoral 365. 
— Das ariftofratiiche Prinzip Platos feine „Herrenmoral“ 367. — Ber: 
jöhnung des Kultur: und des Glücksziels 370. — Herftellung der jozialen 
Harmonie zwiſchen Minderheit und Mehrheit 371. 


3. Die Koinzidenz don Sozialismus und Individualismus im 
platonijchen Staatsideal 371-414. 


Herkömmliche Anficht von der abjoluten Auflöſung aller individua- 
liſtiſchen Tendenzen im Sozialismus des Vernumftftaates 371. — Ihatfächliche 


Inhalt. XV 


Gejtaltung: Boranftellung des Sozialprinzips 374. — Individualiſtiſche 
Elemente der Kosmologie und Religionsphilojophie 377, — der Piychologie 
und Ethik Platos 380. — Ergebnis 387. — Das individuelleeudämoniftijche 
Element in der Staatslehre Platos 338. — Falſcher Ausgangspunkt der 
herrſchenden Anjchauungsweife 391. — Kritik der zur ihren Gunften geltend 
gemachten Stellen der Politeia 395. — Koinzidenz des öffentlichen und des 
individuellen Glüdes 397. — Individualiſtiſche Argumentation zur Gewin- 
nung des Einzelnen für den platonischen Staatsgedanten 399. — Appell an 
das wohlverſtandene Selbjtinterejje 400. — Die Prinzipien der Gerechtigkeit, 
Sreiheit und Gleichheit im Vernunftitaat 405. — Die Koinzidenz des Sozial: 
und Individualprinzips 412. 

4. Die Verwirflihung des Vernunftitaates 414—421. 

Theorie und Praxis 414. — Glaube Platog an die Nealifierbarfeit 
jeineg Staatsideals 415. — Notwendige Vorausſetzung derjelben 416. — 
Die „Reinigung“ der bejtehenden Gejelljchaft 417. — Glaube an die Mög- 
lichkeit einer friedlichen Verwirklichung 419. — Die Erhaltung des Ver: 
numftitaates 421. 

5. Zur geſchichtlichen Beurteilung der Politeia 421—476. 

Die „Utopie“ eine berechtigte Literaturform? 421. — Die Frage der 
praftijchen Verwirklichung 425. — Prüfung der Politeia auf ihren Gehalt 
an bleibenden Ergebnifjen: Die dee einer jelbjtändigen Nepräfentation des 
Staatögedanfens durch eine wahre Amtsgewalt 427. — Emanzipation von 
den Illuſionen des einjeitig politifchen Doktrinarismus in Beziehung auf 
die fortjchreitende Demokratifierung des Staates 428. — Die Überivindung 
des abjtraften Freiheit: und Gleichheitsprinzips der reinen Demokratie 430. 
— Die Erkenntnis der Notwendigkeit der qualifizierten (bevufsmäßigen) Ar: 
beit al3 Grundlage einer techniſch möglichit vollfommenen DVBerwirklichung 
der Staatszwecke 433. — Verwirklichung der dee des jozialen Charakters 
der Privatrechte 434. — Anerkennung der grundjäßlichen Berechtigung einer 
umfaſſenden jtaatlichen Thätigkeit auf dem Gebiete dev Volkswirtſchaft 435. 
— Berührungen mit den jozialreformatorischen Beftrebungen der Gegenwart 
437. — Die Kombination der beiden großen Lebensprinzipien der Geſell— 
jchaft 444. — Verirrungen und Ginjeitigfeiten der Politeia: Die falſche 
naturrechtliche Metaphyfit Platos 445 — und ihre Konjequenzen 447. — 
Die ideale Geiftesarijtofratie Platos und ihre Organifation ein Phantom 
449. — Kulturwidrigkeit der dee, den Staat auf der Stufe eines bloßen 
Berwaltungsorganismus erhalten zu wollen 456. — Falſche Schlußfolgerungen 
aus dem organifchen Staatsprinzip. Verkennung dev Unterfchiede in den Ent: 
twieflungsprinzipien der Soztalgebilde und der phyfiichen Organismen 458. — 
Überipannung des Grundjaßes der Arbeitsteilung 461. — Inkonſequenz in 


XVI Inhalt. 


Bezug auf das individuelle Lebensideal, das ſich im philoſophiſchen Staats— 
mann verkörpern ſoll 463. — Übertriebene Vorſtellungen von der Macht der 
Einzelperſönlichkeit 466. — Das Illuſoriſche der Lehre vom wohlverſtandenen 
Intereſſe 467, — ſowie der dee der Brüderlichkeit 471. — Die Koinzidenz 
de3 Sozial: und Jndividualprinzips eine Leere Abjtraftion 473. — Unmög- 
lichkeit einer jeder Jndividualität gerecht werdenden Organijation de3 menſch— 
lichen Arbeitslebens 474. — Der Bernunftjtaat eine tranzjcendentale dee 
475. — Moderne Nücfälle in diefe Idee 476. 


Dritter Abſchnitt. Der „zweitbeite” Staat Platos 477—581. 
1. Gefhichtliche und piychologijche Vorausjeßungen 477-491. 

Hoffnungen Platos auf den jozialsreformatorischen Beruf der Mon- 
archie 477. — Enttäujchungen 481. — Rückwirkung auf die Gejamtanjchau- 
ung Platos. Konzeſſionen an die Schwäche und Selbitfucht der. Menjchen- 
natur 482. — Verzicht auf das abjolutiftiiche Regierungsſyſtem de3 Vernunft: 
ftaates 484 — und auf den Kommunismus 485. — Konſequenzen in Bezug 
auf die Verteilung der ftaatlichen Nechte und das gegenfeitige Verhältnis der 
Stände 486. — Aufrechterhaltung des Staatsideals der Politeia im Prinzip 488. 

2. Die jozialöfonomijchen Grundlagen des Gejeßesftaates 
491—517. 

Verzicht auf eine revolutionäre Umwälzung im Sinne der Politeia 
491. — Hinweis auf den Weg des freiwilligen Experiments 494. — Eine 
ideale Kolonie 495. — Gittliche und natürliche Borausjegungen 496. — 
Stadtgründung und Flurteilung 500. — Klaſſenſcheidung 502. — Soziale 
Drganijation des — der Vollbürgerjchaft vorbehaltenen — Grundbejites 503. 
— Staatliche Regelung des beweglichen Befites dev Bürger 504. — Be: 
fämpfung aller jpefulativen und fapitaliftichen Tendenzen in Handel und 
Gewerbe 510. 

3. Die Lebensordnung des Bürgerftandes 517—547. 

Das platonijche Ordnungsprinzip 518. — Fürforge des Staates für 
die Erzeugung eines phyſiſch und geiftig tüchtigen Nachwuchjes 519. — Das 
Syſtem der Öffentlichen Erziehung 524. — Staatliche Überwachung des Lebens 
dev Erwachjenen 529. — Das poetifche und künſtleriſche Schaffen und die 
Staatszenfur 533. — Die religiöfe Sanktion des Gemeinweſens und die All: 
macht der Staatsreligion 538. — Bejchränfungen der Freizügigkeit 544. 

4. Die Berfajjung 547—561. 

Zugeſtändniſſe an das demofratijche Prinzip 547. — Schugwehren 
gegen den Mißbrauch desſelben. Beſchränkung der gejeßgeberijchen und richter- 
lichen Gewalten des Demos 548, — Kautelen gegen den Demofratismus des 
allgemeinen Stimmrecht 549. — Organiſation einer ftarfen Amtsgewalt 


Inhalt. XV 


553. — Die höchſte Nepräjentation des Staatsgedanfens in dem „nächtlichen 
Rat” 557. 
5. Zur Beurteilung des Gejeßesjtaates 562—581. 
Verwandtichaft des Staatzideal3 der „Gejege” mit dem der Politeia 


562. — Innere Widerjprüche in den Grundprinzipien der Nouo: 567. -- 
UÜberjpannung des Ordnungsprinzips 568. — Falſche Schematifierung und 


Generalifierung des Geſetzgebers auf volfswirtichaftlichem Gebiete 572. — 
Gehalt der Nouors an fruchtbaren Neformgedanfen: Die „Einführung der 
Moral in die Nationalökonomie” 575 — Erkenntnis wahrer Aufgaben der 
wirtjchaftlichen Thätigkeit von Volk und Staat 576. — Innere Bedeutjamkeit 
de3 Agrarrechts der Nouor und ihrer Auffaffung des Grundeigentums als 
eines jozialrechtlichen Inftituts 577. — Das Prinzip der Öffentlichkeit des 
Gejchäftslebens 580. 

Dierter Abfhnitt. Das Fragment des ariftotelifchen Staatsideals 

581—610. 

Grundjäßlicher Verzicht auf die letzten Konſequenzen der joztaliftiich- 
organischen Auffafjung von Staat und Gejellichaft 581. — Das individuali- 
ftiche Element in dem Verfaffungsprinzip des „beiten“ Staates. Anerkennung 
des Gleichheit3: und Glücdsftrebens des Jndividuums 5854. — Das Gemein: 
ichaftsprinzip des beiten Staates 591. — Die Koinzidenz des Individual: 
und Sozialinterejjeg 592. — Organijation des wirtjchaftlichen Lebens 596. — 
Bevölferungspolitit 598. — Öffentliche Erziehung 604. — Neformideen in 
Bezug auf die Lage der wirtjchaftenden Klaſſen 607. 


Viertes Kapitel. Der ſoziale Weltftant des Stifters der Sion 
610—618. 

Plutarch über die Grundprinzipien von Zenos Staatsideal 610. — 
Die Gemeinjchaftsidee und die Sozialphilojophie der Stoa 612. — Der joziale 
Kosmos Zenos 614. — Beränderte geichichtliche Stellung des Sozialismus 
im Syiteme Zenos 615. — Der Einheitzftaat der Gattung 616. — Moderne 
Analogien 617. — Die Herrichaft des Natur: und Bernunftrechts 617. — 
Der Höhepunkt des Utopismus 618. 





Pöhlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. T. 


2 
2; — 


Kin —— 8 F 
9 





Erſtes Kapitel. 
Der ßommunismus älterer Geſellſchaftsſtufen. 
Wahrheit und Dichtung. 
Erfter Abſchnitt. 
Der Kommunismus der Urzeit. 


Über der Vorzeit der Hellenen liegt ein Dunkel, welches die 
Anfänge ihres nationalen Dajeins unjeren Bliden faft völlig ent- 
zieht. Schmerzlich vermiffen wir in diefem Dunfel — um mit 
Jacob Grimm zu reden — ein Morgenrot, wie es Danf eines 
Römers unfterblicher Schrift die deutſche Urgeſchichte erhellt. Nach 
Sahrhunderten zählende Entwiclungsperioden, auf welche dort das 
volle Licht der Geſchichte fällt, gehören bier der vorgejchichtlichen 
Epoche an. In den ältejten Schriftzeugniffen, die uns einen tieferen 
Einblid in das Leben der Nation gewähren, in den Epen, haben 
wir jchon eine in gewiſſem Sinne fertige Welt vor uns; insbejondere 
läßt das wirtichaftlihe und foziale Leben der epiichen Welt ein — 
im Vergleich mit den ältejten bezeugten Zuftänden der Germanen — 
weit fortgejehrittenes Stadium der Entwiclung erkennen. 

Wenn nun jelbit bei den Germanen troß der unſchätzbaren 
Berichte eines Cäſar und Tacitus über das Haupt: und Grund- 
problem der älteften Agrarverfaffung, über die Frage nach der Ent- 
ftehung und Ausbildung des Privateigentums am Grund und 
Boden ein jicheres Ergebnis aus den Quellen nicht zu gewinnen 
it, und vielfah Schlüffe nad der Analogie primitiver Geſellſchafts— 
zuftände überhaupt die ftreng bijtorifche Beweisführung erſetzen 
müffen, wie viel mehr ift die äußerſte Borficht da geboten, wo die 
geichichtliche Überlieferung eine jo ungleich jüngere ift! — 

1* 


4 Erſtes Buch. Hellas. 


Immerhin wird man jelbjt über die erjten Anfänge des 
nationalen Wirtjchaftslebens einige Vermutungen wagen dürfen. 
Vieles von dem, was wir aus Sprachvergleihung und gejchicht- 
licher Kunde über die Zuſtände der indogermanijchen Völker bei 
ihrem Eintritt in die Gejchichte erfahren, drängt uns nämlich zu 
der Annahme, daß die Hellenen in ihre jpäteren Wohnfige zuerjt 
nomadifierend gekommen jind!) und daß fie daher — troß ihrer 
Bekanntichaft mit einem primitiven Feldbau — ihre erſten Ein- 
richtungen in der neuen Heimat jo getroffen haben werden, wie es 
den Bedürfniſſen eines Wandervolfes entſprach. Schon Thukydides 
ift der Anficht, daß die ältejten Griechen ein Volt von Viehzüchtern 
gewejen feien, die fich nur zu einem notdürftigen Aderbau beguemt 
und ſtets mit Leichtigkeit ihre Wohnſitze gemwechjelt hätten.2) Auch 
er nimmt an, daß die Hellenen längere Zeit gebrauchten, bis fie 
die bei allen Wandervölfern tief eingewurzelte Abneigung gegen das 
mübjelige Gejchäft der Bodenbeitellung, die Luft am Raub- und 
Wanderleben joweit überwunden hatten, daß jte fich zu dauernder 
Siedlung entſchloſſen. 

Sit dieſe Auffaffung richtig, dann würde ſich uns in der, 
That ein beveutjamer Einblid in das Leben der Vorzeit eröffnen. 
Denn mit dem Wirtſchaftsſyſtem dürfen wir auch gewiſſe Grund- 
formen der Eigentums und Gejellichaftsordnung als gegeben anjehen. 
Die angedeutete nomadijierende Wirtichaft hat bejtimmte von der 
Natur gegebene Bedingungen, die mit zwingender Gewalt das menjch- 
liche Dafein beftinnmen.>) 

Da der Boden nur eine bejtimmte Zahl Vieh in Sommer 
und Winter ernähren Tann und allzu große Herden nicht gemein- 

9) Bol. bei. Schrader: Sprachvergleichung und Urgeſchichte? S. 407 ff. 

SALE: 

\ Bol. die allgemeine Charakteriftit dieſes Wirtſchaftsſyſtems bei 
Middendorff: Einblicde in das Ferghana-Thal. Memoiren der Petersburger 
Akademie 1881 ©. 457 ff. und Meißen: Das Nomadentum der Germanen und 
ihrer Nachbarn in Weſteuropa. Abh. des 2. deutichen Geographentages zu 
Halle 1882 ©. 75 ff. — Die Individualwirtjchaft der Germanen u. ſ. w. 
Jahrbücher für Nationaldfonomie und Statiftif 18833 ©. 11f. 





I. 1. Der Kommunismus der Urzeit. 5 
ihaftlich zufammengehen können, müſſen Weidereviere gebildet wer- 
den, deren Grenzen nicht überschritten werden dürfen. Demnach 
zerfallen auch die Beſitzer der Herden in Gruppen, und dieſe Grup— 
pirung vollzieht ſich bei dem geſchloſſenen Familienleben der Hirten— 
völker naturgemäß nah Familien und Sippen. Der Geſchlechts— 
verband betrachtet das beſetzte Gebiet als ſein gemeinſames Eigen— 
tum, ſolange nicht etwa — wie es anfänglich öfters geſchieht — 
die verſchiedenen Weidereviere innerhalb des ganzen Stammes in 
wechſelnde Benutzung genommen werden und demgemäß der Stamm 
als Träger des Eigentums am geſamten Stammesgebiet erſcheint. 
Sedenfalls ift auf diefer Stufe der Grund und Boden immer un- 
getheiltes Gemeingut und die Beitellung einzelner Stüce kann 
höchjtens einen vorübergehenden Beſitz für die Dauer des Getreide: 
baus begründen. Die natürlichen Bedingungen dieſes Wirtjchafts- 
ſyſtems verbieten es, daß der Einzelne einen Teil des Bodens als 
dauerndes und ausjchliegliches Eigen in Anfpruch nehme. Schon 
wegen de3 unvermeidlichen Wechjels der Sommer: und Winterweide, 
welche die Gejamtheit nötigt, die verjchiedenen Streden des Ge- 
bietes in fejter, der Jahreszeit angepaßter Ordnung zu beziehen, !) 
und wegen der ganzen Art und Weife der Bopdenbeftellung, wie fie 
eine wilde, die gejamte anbaufähige Fläche im Wechjel von Saat 
und Weide durchziehende Feldgraswirtichaft mit ſich brachte, konnte 
man diejes Syjtem nicht durch das Belieben der Individualwirt— 
ſchaft und das willfürliche Umfichgreifen des Privateigentums durch— 
brechen laſſen. Dazu kommen die äußeren Schwierigkeiten, mit 
denen das Wolf auf diefer Kulturitufe zu kämpfen hatte. Gegenüber 
den Gefahren, die hier von der Natur für die koſtbarſte Habe, den 
Viehſtand, und von feindlicher Gewalt für Eriftenz und Freiheit 
droht, können Hirtenvölfer die Sicherheit ihres Dajeins nur in der 
Vereinigung der Einzelnen zu einer ftreng organifierten Gemeinjchaft 
finden, die fich bei der Gefchloffenheit des Familienlebens und dem 

1) Bgl. über die in Hellas zu allen Zeiten üblich gebliebenen, durch 
die verjchiedenen Vegetationsregionen beftimmten Wanderungen dev Herden 
Neumann-Partſch: Phyſikaliſche Geographie von Griechenland ©. 404. 


6 Erſtes Bud. Hellas. 


patriarchaliichen Zuschnitt des ganzen Dajeins überhaupt in der 
Kegel mit einer mehr oder minder fommuniftichen Wirtichaft ver: 
bindet. Gemeinfame DBerteidigung, gemeinfame Befahrung der 
Sommer: und Winterweiden, meift auch kommuniſtiſcher Erwerb 
für die Genofjenschaft, fommuniftiiche Leitung durch das Gejchlechts- 
oberhaupt oder den Stammeshäuptling find die charafteriftifchen 
Züge der Entwiclungsitufe, auf der wir uns mit hoher Wahr: 
Icheinlichfeit auch die älteſten Hellenen zu denken haben. Eine 
gewiſſe communiftiiche Organiſation, wenigjtens das Prinzip des 
Gelamteigentums am Grund und Boden würde daher auch für 
Hellas al3 der Ausgangspunkt der jozialen Entwicklung anzunehmen 
fein; wenn auch bei dem Anveiz, mit dem hier Boden und Klima 
zum dauernden Anbau locte und bei den Schwierigkeiten, welche 
dem Naumbedürfnis einer nomadifierenden Wittjchaft die orographifche 
Zerſtücklung des Landes und die geringe Ausdehnung feiner Ebenen 
entgegenftellte, diejer primitive Zuftand rascher überwunden wurde, 
als anderswo. 

Freilich müfjen wir uns bei alledem ſtets bewußt bleiben, 
daß e3 fich hier eben nur um Wahrjcheinlichkeitsergebniffe handeln 
fann, daß die Vorausſetzung, auf der die entwicelte Anficht beruht, 
eine mehr oder minder hypothetiſche ift. Allerdings ergibt eine 
Vergleihung des Griechiſchen mit den übrigen indogermanifchen 
Sprachen, daß fich unter den urzeitlichen Ausdrücen, welche Eigen- 
tum, Habe, Neichtum u. ſ. w. bezeichnen, Feiner befindet, welcher 
fih auf Grund und Boden bezöge.!) Allein was für die indo- 
germaniſche Urzeit gilt, braucht ja nicht notwendig auch auf die 
helleniſchen Einwanderer in die Balkanhalbinſeln zuzutreffen und 
die Möglichkeit, daß die bisherige Sprachforſchung und Urge— 
Ihichte eine allzulange Fortdauer nomadifcher oder halbnomadiſcher 
Zuftände bei den einzelnen indogermanifchen Völkern angenommen 
hat, ift wenigjtens nicht ohme weiteres abzulehnen.) 

1) Schrader a. a. O. ©. 420. 

?) Bgl. die Unterfuchungen von Much: Waren die Germanen Wander: 


I. 1. Der Kommunismus der Nrzeit. 7 


Dod jei dem, wie ihm wolle, mag die angedeutete Form 
der Gemeinwirtichaft einem älteren Stadium der Entwicklung anz 
gehören oder in jpätere Zeit herabreichen, darüber kann nach den 
Ergebnifjen der vergleichenden Wirtſchafts- und Nechtsgefchichte Fein 
Zweifel beftehen, daß das genoſſenſchaftliche Brinzip, welches in jener 
Gemeinmwirtichaft wirffam war, diefelbe lange überdauert hat. Auch 
bei den Hellenen ift der Übergang zur vollen Seßhaftigfeit in ge- 
noſſenſchaftlicher Weiſe erfolgt, ift die endgültige Beſiedlung 
des Bodens nicht Sache des Einzelnen gewejen, fondern der als 
Gemeinjchaften für alle Lebenszwede bejtehenden Verbände der 
Familien und Sippen.‘) Diejer urjprüngliche Zufammenhang 
zwijchen Gejchlechtsverband und bäuerlicher Anfievlungsgemeinde ift 
bei den verjchiedenften indogermanischen Völkern noch deutlich erfenn- 
bar, 2) und was insbejondere die älteſte griechiſche Dorfgemeinde betrifft, 





birten (Ztſchr. F. deutſches Altertum 1892 ©. 97 ff.) und von Hirt: Die 
Urheimat der Indogermanen. Indogermaniſche Forichungen 1392 ©. 485. 

') Diefe die Gemeinde bildenden Verbände fünnen entweder einzelne 
Gejchlechter (was offenbar die Regel) oder Zweige eines großen Gejchlechtes 
oder Vereine mehrerer Gefchlechter jein. 

2) Bei den Iraniern iſt vis nicht nur das Dorf, jondern zugleich 
das Geſchlecht. Vgl. Geiger: Oſtiraniſche Kultur im Altertum ©. 421. Im 
vediſchen Volt wohnt die WVerwandtjchaft (jänman) zujammen in einem 
Dorfe (gräma). Zimmer: Altindifches Leben ©. 159 f. Ebenſo erfolgte bei 
den Germanen der Anbau gejchlechteriweife (cognationes hominum, qui una 
coierunt Gäjar b. g. VI, 22). Und wenn fich das auch noch auf einen halb- 
nomadiichen Zuftand bezieht, jo beweift doch die jpäter für dag Dorf (vicus) 
vorkommende Bezeichnung genealogia (3. B. L. Alam. 87) die Häufigteit 
patronimijcher Ortsnamen u. dgl. m. den Zufammenhang zwiſchen germani- 
ſcher Dorf- und Sippengemeinjchaft. Val. Gierke: Rechtsgefchichte der deutjchen 
Genoſſenſchaft T, 60 f. Schröder D. R. G. I, 12. Brunner D. R. ©. I, 34. 
Was die Slaven betrifft, jo gelten die Angehörigen des Mir (dev ruffiichen 
Dorfgemeinjchaft) wenigftens als Abkömmlinge desielben Stammvaters. ber 
das Gejchlechtsdorf der Südjlaven insb. vgl. Kraus: Sitte und Brauch der 
Südjlaven S. 23 ff. Bei den Römern find affines die Grenznachbarn, aber 
eben deshalb urjprünglic) regelmäßig auch Verwandte. Festus p. 11 affines 
in agris vieini sive consanguinitate conjuncti. Bgl. Leiſt: Gräcositaltjche 


R. 6. ©.103. Schrader a. a. D. ©. 787 f. 


8 Erſtes Bud. Hellas. 


jo hat ſchon Ariftoteles eine urſprüngliche VBerwandtichaft der Ge: 
meindegenofjen angenommen, indem er fich u. a. mit Necht auf die 
mehrfach vorfommende Bezeichnung derjelben als ouoyadaxres 
(Milchvettern) beruft.) 

Sehr treffend hat ferner Nriftoteles im Hinblid auf dieſe 
urjprüngliche Spentität von Gemeinde und Gejchlechtsgenofjenichaft 
den Sab aufgejtellt, daß die Berfaffung der Gemeinde fich anfäng- 
lich mit derjenigen der Geſchlechtsgenoſſenſchaft gedeckt haben müſſe, 
daß die ganze Gemeindeorganijation urjprünglich eine rein patriar- 
chalifche war. Haben ſich Doch auch die Nechtsformen des helleni- 
chen Staates von Anfang an jo enge an die der Familie ange 
lehnt, daß der Sippenverband, wenn auch jpäter in der Geftalt 
eines fünftlichen Syſtems fingierter Gejchlechtsvetterichaft, fich bis 
tief in die geichichtliche Zeit hinein als ein wejentlicher Faktor der 
politischen Drdnung behauptete. — Wenn noch in einer jehr jpäten 
Epoche, wo die auf der Sejchlechterverfaflung beruhende Organi— 
jation und Einteilung des Volkes längſt durch das territoriale 
Prinzip durchbrochen war, die Erinnerung an das urjprüngliche 
Gemeindeprinzip jo zähe fortlebte, daß die Vorausjeßung der Ver: 
wandtjchaft unter den Dorfgenofjen als einer natürlichen mehrfach 
noch feitgehalten werden konnte, jo muß diejes Prinzip in der That 
lange Zeit die beherrjchende Norm des geſamten Bolfslebens und 
daher auch die Grundlage aller agrariſchen Ordnung gewejen fein. 

Wenn aber die Gejchlechtsgenofjenichaft als bäuerlicher An- 
fiedlungsverband (zwun, Inuos) die urjprüngliche Trägerin der 
wirtichaftlihen und fozialen Organiſation des jeßhaft gewordenen 
Volkes war, jo ift fie es geweſen, deren Beſchluß die Art der An— 

i) Politik 1,2, 7. 1252b. Auch die gentilicifche Bezeichnung attifcher 
Gemeinden (Philaidai, Patonidai, Butadai u. a.) wird fich zum Teil aus dem 
Zuſammenhang von Gejchlechtsgenoifenihaft und Anfiedlungsgemeinde erklären. 
Ebenjo gehört hierher die uralte Volfsteilung nach Phratrien (gonren bei 
Homer), die urjprünglich gewiß identifch find mit den ſüdſlaviſchen bratstva 
(territorialen Vereinigungen blutsverwandter Familien). ©. Kraus a. a. O. 
©.2. Zöpfer: „Attiſche Genealogie” geht auf die Frage nicht ein, 


J. 1. Der Kommunismus der Wrzeit. 9 


ſiedlung und die Berteilung von Grund und Boden beftimmte. Sie 
hat nach feiten Normen den Losanteil (zAngos) der Genofjen am 
Mohnareal und Aderland, die Nusung von Weide und Wald ge 
regelt und gewiß auch die Art und Weife des Wirtichaftsbetriebes 
ihrem Einfluß unterworfen, joweit es die öfonomifche Sntereffen- 
gemeinschaft der Genofjen und die dadurch bedingte Gemeinfamfeit 
des Handelns irgend erforderte. 

Erhebliche Zweifel ergeben ſich nun aber freilich fofort, wenn 
wir weiter fragen, wie und in welchem Grade die Gebundenheit 
des Einzelnen durch diefe einheitliche von dem Gefühle innigiter 
Lebensgemeinjchaft durchdrungene Genoſſenſchaft in der Eigen- 
tumsordnung zum Ausdrud gekommen ift. Hat die Ngrargemeinde 
an den gemeinwirtichaftlichen Lebensformen der älteren Wirtjchafts- 
ftufe jo ftrenge fejtgehalten, daß fie die als Gejamteigentum occu— 
pierte Flur auch ferner noch als jolche behandelte? hat fie nicht 
nur an Weide, Wald und Odland dies genoffenfchaftliche Geſamt— 
eigentum behauptet, jondern auch am Kulturboden und daher dem 
Einzelnen nur ein vorübergehendes — periodisch neu geregeltes — 
Nutzungsrecht gewährt, aus dem fich exit allmählich mit den fteigen- 
ven Anforderungen an die Intenſität des Anbaues und dem zus 
nehmenden Streben nach individueller Erwerbsjelbftändigfeit das 
Sondereigentum herausgebildet hat?!) 

Wir können dieje Frage doch nicht ohme weiteres mit der 
Zuverficht bejahen, wie man es nach einer weitverbreiteten Anficht 
über die gejchichtliche Entwicklung der Wirtichaftsformen thun müßte. 
©o zahlreich die fommuniftischen Züge fein mögen, die man in 
dem Agrarrecht der verjchiedeniten Völker nachgewiejen hat, jo ge- 
nügen fie doch noch nicht, um auch für Zeiten völliger Sep: 
haftigfeit die Behauptung zu rechtfertigen, daß „ver Kollektivbeſitz 


1) Wir jehen hier ab von dem gewiß nur als Ausnahme eintretenden 
Fall, daß in Folge bejonderer Terraimverhältniffe oder Stammesneigungen 
die Anfiedlung in Einzelhöfen erfolgte, two die genofjenfchaftliche Agrargemein: 
ſchaft fi” von Anfang an auf Viehweide und Waldnutzung bejchräntt 
haben wird. 


10 Erſtes Buch. Hellas. 


von Grund und Boden al3 eine urgejchichtliche Erſcheinung von 
allgemeiner Geltung angejehen werden Fönne,“ 1) oder — wie 
ein anderer Bertreter derjelben Richtung fich ausdrückt?) —, daß 
wir darin eine „notwendige Entwidlungsphaje der Gejellichaft 
und eine Art von Univerjalgejeß erbliden wüfjen, welches in der 
Bewegung der Grundeigentumsformen waltet”. Diejes „Geſetz“ 
fann als erwiefen nur infoferne anerkannt werden, als man dabei 
die erſten Anfänge wirtfchaftlicher Entwicdlung überhaupt — ohne 
Rückſicht auf die erreichte Stetigfeit des Wohnens — oder nur 
einen Teil des Grund und Bodens im Auge hat. Wenn man 
demjelben jedoch eine allgemeine Gütigkeit auch für die Zeiten 
voller Sehhaftigkeit zufchreibt und zugleich für diejes fortgefchrittenere 
Stadium ohne weiteres die Fortdauer des Kolleftiveigentums auc) 
am Pflugland annimmt, fo beruht das wohl auf einer zu frühen 
Verallgemeinerung, wie fie fich ja bei der einjeitigen Anwendung 
des vergleichenden Berfahrens leicht einftellt.>) 

Wir verfennen den unjchäßbaren Wert der vergleichenden 
Methode Feineswegs. Das Verfahren, welches auf ftreng induk— 
tivem Wege die unbekannten Zuftände eines Volkes durch Nüd- 
Ihlüffe aus den bekannten Verhältniſſen von Ländern mit ver: 
wandter Bevölkerung zu erhellen jucht, jteht von vorneherein weit 
über der in der Altertumswiſſenſchaft ja noch immer verbreiteten 
Art der Deduktion aus vagen allgemeinen Borjtellungen, bei denen 
man die reale Anſchauung mehr oder minder vermißt, ſowie auch 
über jener Außerlichen Verwertung der gejchriebenen Quellen, deren 
legtes Ergebnis auf den Saß hinausfommt: quod non est in 





!) Maine: Lectures on the early history of Institutions ©. 1. 

?) Zaveleye: De la propriete et des ses formes primitives* 1891 
©. 2. 

) Wie unficher der Boden noch ift, auf dem wir uns hier beivegen, 
beweift die Theorie, die Dargun in der Abh.: Urſprung und Entwicklungs— 
geichichte des Eigentums (Zeitjchr. F. vergl. Nechtsw. V) aufgejtellt hat, daß 
nämlich zwar unſer heutiges individuelles Eigentum aus dem Gemeineigentum 
entjtanden, daß aber diefem in den allerrohejten Anfängen individuelles Eigen— 
tum borangegangen jei! 


I. 1. Der Kommunismus der Urzeit. 11 


fontibus, non est in mundo.!) Wir find auch durchaus nicht 
der Anficht, daß etwa die Urfprünglichfeit des privaten Grund— 
eigentums bei den antiken Völkern irgendwie erweisbar2) und daher 
jeder Verſuch, die Anficht von der jefundären Entftehung desielben 
aus der allgemeinen wirtichaftlichen Kulturgeichichte zu begründen, 
überflüffig jei. Allein wenn wir uns die Verfchiedenartigfeit der 
Erſcheinungen vergegenwärtigen, die für einen folchen Verſuch zu 
Gebote jtehen: Die germanijche Feldgemeinjchaft, die Agrarver— 
faſſung der indischen Dorfgemeinde, den Gemeindefommunismus der 
Oſtſlaven (den ruffiichen Mir), den Samilienfommunismus der ſüd— 
ſlaviſchen Hausgemeinfchaft und den Stammkommunismus der 
feltijch-irifchen Klanverfaſſung — jo wird man fich wohl faum der 
Hoffnung bingeben, aus der Fülle diefer eigenartigen jozialen Ge— 
bilde eine bei allen indogermanifchen Völkern nach ihrer Seßhaft— 
werdung gleichmäßig auftretenden Urform der Eigentumsordnung 
erichließen zu Fünnen. Dieſe Mannigfaltigkeit der Entwidlung ge: 
ftattet für Völker, bei denen die Spuren der urjprünglichen Agrar: 
verfallung jo jehr verwilcht find, wie bei den Hellenen, doch gar zu 
verschiedene Annahmen! Die Vergleichung läßt uns bier einer: 
jeits im Dunkeln darüber, mit welcher Form der Folleftiven Boden— 
nußung diefe Völker etwa begonnen haben mögen, mit dem Gejamt- 

) In dieſer Hinficht ſteht vorliegende Arbeit in principiellem Gegen: 
ſatz zu der Methode, welche Büchſenſchütz in dem jonft jo verdienftlichen Buch 
über Beſitz und Erwerb im griechifchen Altertum befolgt hat. 

2) Wenn Fustel de Coulanges (La cité antique!? p. 62 ff.) dieſen 
Beweis aus Religion und Cultus erbracht zu haben glaubt, jo überfieht er, daß 
die Ideen und Anftitutionen, mit denen ex dabei operiert, meift ſchon das Er— 
gebnis eines entwickelten jeßhaften Lebens find, alfo für die Anfänge desjelben 
nichts beweiſen. Wenn er insbejondere den Sat aufftellt: „Il est resulte 
de ces vieilles regles religieuses que la vie en communaute n’a jamais 
pu s’ etablir chez les anciens,“ jo fällt diefe Behauptung einfach durch den 
Hintweis auf das thatfächliche Vorkommen der Feldgemeinfchaft bei den Grie- 
chen auf Lipara (ſ. u.). 

3) So einfach Liegt die Sache doch nicht, wie z. B. Schrader (a. O. 
©. 571) und Kraus (a. O. S.24) annehmen, indem fie ohne weiteres die jüd- 
ſlaviſche Hausgemeinjchaft als „indogermaniſche“ Inſtitution hinſtellen. 


12 Erſtes Buch. Hellas. 


eigentum des Familien- oder des Sippenverbandes; andererjeits 
Ichließ fie die Möglichkeit Feineswegs aus, daß auch bier ſchon von 
dem Moment an, wo die perjönlichen Gejchlechtsverbände zu ding- 
lichen Drtsgemeinden wurden, die einzelnen Famılienhäupter ein 
dDauerndes und erbliches Befitrecht an einzelnen Stücden des 
Acerbodens zugewiefen befamen. Was 3. B. die Germanen betrifft, 
bei denen wir den Proceß der Seßhaftwerdung noch einigermaßen 
verfolgen können, jo begegnen wir zwar auch bier dem agrarischen 
Kolleftiveigentum, in den befannten Schilderungen Cäſars, aber 
diefe Schilderungen beziehen fich auf Zuftände, die von einer feſten 
Beſiedlung des Landes noch weit entfernt waren. Wenige Genera- 
tionen jpäter, als das Bolf zu größerer Sehhaftigfeit gefommen, 
in der Zeit des Tacitus, treten ung Verhältniſſe entgegen, die ganz 
unverkennbar auf das VBorhandenfein bejtimmter und dauernder Be- 
fißrechte der einzelnen Familien hinweiſen.) Während fich bei dem 
ſlaviſchen Gemeindefommunismus der Landanteil aller Gemeinde: 
glieder Durch periodiiche Neuaufteilung immer wider der wechjeln- 
ven Kopfzahl entiprechend verändert, um das Prinzip der gleichen 
wirtschaftlichen Dafeinsberechtigung Aller aufrechtzuerhalten, wäh: 
vend hier demgemäß der Anteil des verjtorbenen Genoſſen an die 
Gemeinde zurücdfällt, jeder zur Gemeinde neugeborene Knabe aber 
ven Teiler mehrt und gleichen Anteil am vorhandenen Liegenſchafts— 
vermögen fordert, findet fich bei der germanischen Feldgemeinschaft 
von alledem feine Spur, weder von einer periodifchen Anderung 
ver Zahl und Größe der Hufen, noch auch von einem auf alle 
Nachgebornenen in gleichem Maße vererblichen Anrecht am geſam— 
ten Aderland, wie e8 dem Prinzip des Kommunismus allein ent 
ſprochen hätte.2) Von einem Kommunismus im Sinne der jlavi- 
ſchen Agrarverfaffung ift alfo hier feine Rede. 


') Vgl. Germ. ce. 20. 

?) Daß bei der germanischen Feldgemeinjchaft die zu einer Hufe ge- 
hörigen Acker alljährlich oder periodijch eine andere vom Los bejtimmte Lage 
befommen können, iſt ebenfalls mit dem Inſtitut des Privateigentums voll- 
fommen vereinbar. 


T. 1. Der Kommunismus der Urzeit. 13 


Sollen wir uns nun das ältejte Zeitalter der nationalen 
Wirtihaftsentwidlung der Hellenen mehr nach germanifchem oder 
ſlaviſchem Mufter vorjtellen ? 

Eine gewiſſe Wahricheinlichkeit hat ja wohl das Exftere für 
ih. Denn von den Hellenen gilt in ganz bejonderen Mafe, was 
ein tiefer volfswirtjchaftlicher Denker der Gegenwart von den Grie- 
hen, Stalifern und Germanen im allgemeinen bemerkt hat: „Sn 
ihnen lebt ein wunderbarer Trieb, deſſen Wejen es ift, daß ihnen 
niemals und auf feinem Gebiete ihres Lebens das genügt hat, was 
fie hatten. Stark find fie in der Verteidigung deſſen, was fie be- 
ſitzen; aber raſtlos ftreben fie weiter, Unbefanntem entgegen. So 
lange fie eine Gejchichte haben, iſt es, als ob die Erde fie nicht 
ruhen ließe, bis fie fie ganz bejigen und genießen. Auch andere 
Völker haben große Weltzüge und Eroberungen aufzumweilen. Aber 
jenen war Eines gemein. Bei ihnen genügte es nicht, daß der 
ganze Volksſtamm ein Land gewann. Sie wollten von dem Ge- 
wonnenen für jeden Einzelnen einen feſten ihm gehörigen Anteil. 
Der Einzelne mit jeiner Kraft und feinem Beſitze war das Ziel 
des Ganzen. Das hat fein Volk des Oſtens je verjtanden.”) Und 
wo hätte diejes Streben nach individueller Erwerbsjelbitändigkeit 
von Anfang an Fräftigere Impulſe erhalten, mannigfalteren Spiel- 
raum für feine Bethätigung gefunden, als in der unendlich reichen 
Berjchiedenartigfeit helleniſcher Landesnatur! 

Allein jo wahrſcheinlich es ift, daß ſchon die ältejte helle: 
nische Agrargemeinde, da, wo die Vorausjfegungen dafür gegeben 
waren, den einzelnen Genofjen oder Familienhäuptern ein ges 
wiſſes Maß individueller Selbitändigfeit einväumte, jo bleibt doch 
auch hier wieder die offene Frage, ob eben jene Bedingungen überall 
von Anfang an vorhanden waren. Es ift jehr wohl möglich, daß 
da, wo noch feine ältere Bevölkerung das Werf der Landeskultur 

in Angriff genommen, wo der hellenijche Anfiedler den ungebro- 


9) L. v. Stein: Die drei Fragen des Grundbeſitzes und jeiner Zu— 
funft. ©. 41. 


14 Erſtes Buch. Hellas. 


chenen Kräften einer wilden Natur entgegentrat, jener Trieb des 
Volfscharafters durch das Bedürfnis des gemeinfamen Kampfes 
gegen die feindlichen Mächte der Unkultur paralyfiert wurde und 
daher auch das gemeinwirtfchaftliche Prinzip ſich ftrenger geltend 
zu machen vermochte, als anderwärts. Hier, wo die Kraft des 
Einzelnen weit weniger bedeutete, mag anfänglich nicht nur das Ge— 
ichäft des Nodens und der Entjumpfung, der Fünftlichen Entwäſſe— 
rung und Bewäſſerung, fondern vielleicht auch des Säens und 
Erntens gemeinfame Sache der Agrargenofjenichaft geweſen jein, 
mag der Einzelne feinerlei feſten Bodenbefig außer der Wohnjtätte 
gehabt haben. — 

Da es fi) demnach hier immer nur um Wahrſcheinlichkeits— 
ergebniffe und um Löſungen von relativer Gültigkeit handeln kann, 
fo erſcheint es don vornherein überaus bedenklich, wenn Mommſen 
aus der bloßen Identität von Gejchlechtsgenofjenjchaft und Gemeinde 
mit Sicherheit jchließen zu dürfen glaubt, daß die hellenische, wie 
die italifche Dorfmark überall in ältefter Zeit „gleihjam als 
Hausmark“ d. h. nach einem Syſtem jtrengfter Feldgemeinjchaft 
bewirtjchaftet wurde, als deren wejentlichen Züge er Gemeinſam— 
feit des Befißes, gemeinjame Beſtellung des Aderlandes 
und Verteilung des gemeinjam erzeugten Ertrages unter 
die einzelnen dem Gejchlechte angehörigen Häufer annimmt.!) Be— 
vor wir einen jo völligen Kommunismus im Grundbeſitz und 
Arbeitzertrag und zugleich die Allgemeinheit diefer Einrichtung als 
Thatſache hinnehmen könnten, müßten uns doch noch ganz andere 
Anhaltspunkte zu Gebote ftehen, wie fie ja Mommſen ſelbſt wenig. 
ſtens für die altrömifche Dorfgemeinde aus der römiſchen Rechts— 
gejchichte zu gewinnen verfucht hat. 

Nun kennt allerdings das ältere griechiiche Necht eine gewiſſe 
Gebundenheit des privaten Grundeigentums, welche der Verfügungs- 
freiheit des Einzelnen, bejfonders über die Erb- und Stammgüter 
zu Gunften der Familie mehr oder minder weitgehende Schranfen 


15252 12736,.182. 


I. 1. Der Kommunismus der Urzeit. 15 


auferlegte; und man hat denn auch nicht gezögert, dieſe Erſcheinung 
al3 Überreft eines uriprünglichen agrarifchen Gemeindefommunis- 
mus, eines genofjenjchaftlichen Gejamteigentums des Gefchlechts- 
verbandes zu erklären. Allein es findet fich doch nirgends ein An- 
halt dafür, daß die Quelle dieſer Gebundenheit in einem jolchen 
Gejamteigentum der Sippe zu juchen jei. Soweit wir die ver- 
mögensrechtlichen Wirkungen der DVerwandtichaft im griechischen 
Necht Feitzuftellen vermögen, jehen wir fie aus den Nechtsverhält- 
nifjen des Haujes, nicht aus der Verfaſſung des Gefchlechtsver: 
bandes hervorgehen. Um das griehiiche Erbrecht mit der nötigen 
Sicherheit aus einem Geſamtbeſitz des Gejchlechtes ableiten zu können, 
müßten jich doch wenigjtens Spuren eines ehemaligen Exrbrechtes 
des ganzen Gejchlechtes finden, !) obgleich jelbjt das für fich allein 
die Frage noch nicht entjcheiden würde. Denn wie das Privat: 
eigentum mit einer Familien- oder Gejchlechtsanwartichaft jehr wohl 
vereinbar ift, jo braucht auch dieſe letztere jelbit Feineswegs not- 
wendig aus einem gentiliziichen Gemeineigentum hervorzugehen, 
fann jogar unter Umständen Folge einer ziemlich jpäten Nechts- 
entwiclung jein.2) 

Ähnliches gilt auch für das Zuftimmungs- und Näherrecht der 
Gemeindegenofjen bei VBeräußerungen, von welchem man im grie— 
chiſchen Necht Spuren gefunden haben will und welches man eben- 
falls mit Unrecht als Beweis für die frühere Exiſtenz der Feld— 





1) Man Zönnte eine jolche Spur vielleicht in dem Stadtrecht von Gortyn 
finden wollen, two befanntlich den Genofjen des Stammesverbandg (dev Phyle) 
nach den Verwandten ein gewiſſes Necht auf die Hand von Erbtöchtern ein: 
geräumt wird (VIII S 8 ff.). Allein der Einwand twird dadurch hinfällig, 
daß diejes Heiratsrecht nach der urjprünglichen Idee der Inſtitution keines— 
wegs als ein jelbjtnütiges vermögensrechtliches Necht erſcheint, ſondern diejen 
Charakter erſt auf einer jpäten Stufe der Rechtsentwiclung angenommen hat. 
Bol. Zitelmann: „Juriſtiſche Erläuterungen” zum Stadtreht dv. Gortyn. 
Rhein. Muf. 1885 Ergänzgsh. ©. 150 f. und Simon: Zur zweiten Hälfte 
der Inſchrift v. Gortyn. Wiener Studien 1887 ©. 8. 

2) Das gilt jelbft für die Familienanwartjchaft, wie Bejeler in der 
„Lehre von den Erbverträgen“ nachgewiejen hat. (©. 48 ff.) 


16 Erſtes Buch. Hellas. 


gemeinschaft und des Kolleftivbefiges am Grund und Boden geltend 
gemacht hat.!) Denn wenn das Necht den Gemeindegenofjen die 
Befugnis einräumte, die Auslieferung einer Hufe an einen ihnen 
ummillfommenen Fremden zu verhindern, jo würde fich das bei dem 
ganzen Charakter des Gemeindeverbandes zur Genüge aus Geſichts— 
punften erklären, die von dem Agrarrecht gänzlich unabhängig find.) 
Übrigens ift uns nicht einmal von diefem Inſtitut des Nachbar 
rechts jelbft etwas Sicheres befannt. Wir wiſſen nur, daß es in 
Hellas vielfach Sitte war, bei der Veräußerung von Grundſtücken 
die Nachbarn als Zeugen oder Bürgen teilnehmen zu lafjen, und 
daß dieſelben bei diejer Gelegenheit da und dort, wie z. B. in 
Thurii, eine kleine Münze erhielten, „urnung Ever« xel ueg- 
rvoias,“ wie TIheophraft hinzufügt.?) Von einem Nachbarrecht ift 
dabei nirgends die Nede, und es iſt völlig ungerechtfertigt, wenn 
Laveleye diefe Sitte mit einem angeblichen Einſpruchsrecht der Ges 
meindegenofjen in Verbindung bringt und die Vermutung aufitellt, 
daß die Münze al3 der Preis für ihre Eimwilligung oder als An- 
erfennung eines gewiſſen Miteigentumstechts zu betrachten jei. Die 
Beteiligung der Nachbarn hat hier offenbar von vornherein Feine 
andere Bedeutung gehabt, als die, die wünjchenswerte Öffentlichkeit 
des Übertragungsattes im Intereſſe feiner Nechtsgültigkeit und zu 
Gunſten Beteiligter und Einjpruchsberechtigter zu wahren. — Wer 
wollte überhaupt in Inftitutionen, die ſich ſelbſt in einer Kolonial- 


1) So bei. Viollet: Le charactere collectif des premieres proprietes 
immobilieres in der Bibliothöque de l’scole des Chartes 1872 (XXXIN) 
©. 465 ff. und nach ihm Laveleye a. a. O. ©. 331. 

2) Vgl. die treffende Bemerkung, die Heusler mit Bezug auf die deutjche 
Markgenofjenichaft gegen Sohm (Die d. Genoſſenſchaft) gemacht hat. „Wohl 
haben die Genofjen, wenn einer die Hufe an einen Ausmärfer verkaufen will, 
ein Zugrecht reſp. Widerſpruchsrecht (L. Sal. tit. IV 5). Aber dasjelbe ent— 
fpringt feiner Vermögensgemeinschaft, jondern dem Band der per— 
fünliden Zujfammengehörigfeit, wie es auch innerhalb der Sippe 
ohne Vermögensgemeinſchaft zur Erblojung geführt hat.“ Göttinger 
Gel. Anz. 1889 ©. 322. 

3) Isoi ovußoAciov bei Stob. Serm. XLIV, 22. 


I. 2. Die Haustommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 17 


gemeinde des perifleifchen Athens finden, einen Anhaltspunkt für 
die Beurteilung der primitiven Agrarverfaffung der Urzeit juchen! 


Zweiter Abjchnitt. 


Die Hauskommunion und die Frage der Feldgemeinſchaft 
bei Homer. 


Mit ungleich größerem Rechte könnte man in dem zuletzt ge 
nannten Sinne verwerten die Schilderungen patriarchalifchen Familien: 
lebens, denen wir im homerischen Epos begegnen. Welcher Leſer 
der Ilias erinnert fi nicht mit Vergnügen der Erzählung von 
dem patriarchaliichen Haushalt am Hofe des greifen Troerfürften, 
der fait die ganze Nachlommenjchaft dejjelben in Einer gemein: 
Ichaftlichen Wirtichaft vereinigt? !) 

— im Innern (des Schönen Palajtes) 
Waren don glänzendem Stein fünfmal zehn Zimmer erbauet, 
Eins ganz dicht an dem andern, und Priamos Söhne, des Herrjcherz, 
Ruhten darinnen mit ihren vermähleten Frau'n auf dem Lager. 
Dann auch waren im Innern des Hofs an der anderen Seite 
Zwölf umdachte Gemächer von glänzendem Stein für die Töchter; 
Eines dem anderen nah und es ruheten drinnen des Königs 
Priamos Schwiegerjöhne vereint mit den würdigen Frauen.?) 

Es kann wohl kaum einem Zweifel unterliegen, daß dem 
Dichter bei dieſer Schilderung wirkliche Thatſachen alten Familien- 
rechtes und alter Familienfitte vorgeſchwebt hatten. Stimmen doch 
die wichtigiten Züge der Darftellung mit einer Inſtitution überein, 
die wir bei den verjchiedenften Völkern nachweilen können, und vie 
bei den Südſlaven vielfach bis in die Neuzeit ein wejentliches 
Element der Agrarverfafjung gebildet hat. Der Hof des Priamus 
it unverkennbar ein Abbild der fogen. Hausgemeinjchaften d.h. 
Vereinigungen von Abkömmlingen desjelben Stammwvaters, Bluts- 





1) IV, 243 ff. 
2) Bgl. auch die Schilderung des Haufes Neſtors in der Odyſſee bei. 
UI 413. 


Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 2 


18 Grites Buch. Hellas. 


verwandten zweiten bis dritten Grades, welche in demjelben Gehöfte 
wohnen, Grund und Boden gemeinjchaftlich befigen und von dem 
Ertrag gemeinfamer Arbeit gemeinfam leben.) 

Aber der vereinzelte Lichtjtrahl, der mit diefer Erkenntnis auf 
geſellſchaftlichen Zuftände von Althellas Fällt, vermag leider das 
allgemeine Dunkel nur wenig zu exhellen. Wir wifjen nicht einmal, 
ob das homerische Bild der Hausgemeinfchaft der Niederfchlag von 
Erinnerungen an eine kommuniſtiſche Familienordnung der Vor: 
zeit ift oder ob es im Hinblid auf den Volksbrauch der eigenen 
Zeit der Sänger entftand. Die Hausgemeinjchaft muß aljo hier 
gar nicht einmal mit Notwendigkeit als ein primitives Inſtitut 
angefehen werden. Sie fann wohl dadurch entjtanden fein, daß 
gleich bei der urjprünglichen Aufteilung des Landes die Ackerloſe 
nicht unter die Einzelnen, ſondern unter die in Hausgemeinschait 
zufammenlebenden Familien verteilt wurden. Allein daneben bleibt 
doch immer die Möglichkeit eines jetundären Urjprunges beftehen, 
dv. h. die Hausgemeinschaft kann auch dadurch entitanden fein, daß 
bei der Aufteilung jedem anteilberechtigten Genoſſen eine wirtjchaft- 
liche Einheit, eine Hufe als Anteil an der gemeinen Feldflur über: 
wiefen wurde, daß dieſe Einheiten aber von Anfang an als uns 
teilbar galten, und daher bei wachjender Bevölkerung zulegt mehrere 
Familien zufammen eine Hufe bewirtichafteten. 

Sp war e8 z. B. in Sparta in Folge der Unveräußerlichkeit 
und Unteilbarkeit des xAn7005 eine nicht ungewöhnliche Erſcheinung, 
daß mehrere Brüder im gemeinfchaftlichen Befig des Familtengutes 
zufammenbhauften.?) Sm der That finden wir die Hausgemeinſchaft 
vielfach gerade in Ländern mit älterer Kultur,3) weil hier eben in 

1) Bol. 3. B. die Schilderung der ſüdſlaviſchen Zadruga, Zudrina 
1. ſ. iv. bei Kraus: Sitte und Brauch der Südjlaven, ©. 64 ff., über Die 
communautes de familles im mittelalterlichen Frankreich, die joint family 
in Indien Laveleye 487 ff., ©. 365 ff., über die Hausgemeinjchaften der 
Kelten Seebohm: Die englifche Dorfgemeinde u. j. w. ©. 126 ff. (D. U. v. 
Bunjen). 

2) Bolybius XII, 6. 

3) 3.8. in Rom cf. Plutarch Aemilius Paullus e. 5, Crassus ce. 1. 


Il. 2. Die Hausfommunton u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft 6. Homer. 19 


Folge der Verdichtung der Bevölkerung der Zwang zum Zufammen- 
wohnen mehrerer Familien auf einer Hufe ſich mit ganz befonderer 
Stärke geltend machen mußte, jolange man fich nicht zur Natural- 
teilung entjchließen Fonnte.!) 

Aber jelbjt wenn es völlig ficher wäre, daß ſchon die ältefte 
hellenijche Gemeinde nicht einen Verband von Einzelfamilien, fon- 
dern von Fommuniftiichen Hausgemeinfchaften darftellte, fo würde 
damit für die Erkenntnis der Gemeindeverfaffung, der agrarischen 
Gemeindeordnung wenig gewonnen fein. ES würde daraus noch 
lange nicht folgen, daß der für die Hausgemeinschaft charakteriftifche 
Familienkommunismus im Bejis und Arbeitzertrag urſprünglich 
auch das beherrjchende Prinzip der Agrargemeinde war, d. h. daß 
die gejamte Feldmark anfänglich als Gemeingut bewirtichaftet wurde, 
dejjen gemeinjam erarbeiteter Ertrag nach Familiengruppen zur 
Verteilung fam. Im Gegenteil würde gerade die Griftenz der 
Hausgemeinichaft innerhalb der Dorfgemeinschaft eher dafür fprechen, 
daß die Gemeinde von Anfang an der Sonderwirtichaft kleinerer 
wirtjchaftliher Einheiten innerhalb des allgemeinen genoſſenſchaft— 
Auch in Attika jcheint fie noch im 4. Jahrh. troß der freien Teilbarkfeit deg 
Grumdbejises nicht ganz jelten gewejen zu jein. Val. Jevons: Kin and 
Custom (Journal of philology XVI 102 ff.), deſſen Borftellungen über die 
Verbreitung der Hausgemeinjchaft im fpätern Hellas allerdings ſtark über— 
trieben find. Cr nimmt vielfach fälſchlich Hausgemeinſchaft an, wo uur 
Bermögensgemeinfchaft bezeugt ift. ©. 3. B. Demofthenes Leochar. p. 1083 
$ 10 und $ 18. Ebenſo verkehrt ift es, wenn englische Forſcher Hausgemein: 
Ichaften da jehen, wo e3 fich unzweifelhaft nur um die engere Familie handelt. 
So hat 3. B. Ridgeway a. a. O.: The Homeric landsystem (Jourmal of 
hellenie studies VI 319) daraus, dab Charondas die Familiengenoſſen ala 
Suooinvor, Epimenides als öuoxerros bezeichnet (Ariftot. Bol. I, 1, 6. 1252) 
den Schluß gezogen, die beiden hätten das Inſtitut der Hausgemeinfchaft im 
Auge gehabt. Als ob nicht ſchon die einfache Familie aus „Speiſe-“ und 
„Hufe“ (oder Herd?) Genoſſen bejtände! 

) Bgl. die treffende Bemerkung Nafjes (Göttinger gel. Anz. 1881 ©. 
275) über die Verbreitung der Hausgemeinjchaft im Mittelalter, wo diejelbe 
3. 2. in dem länger fultivierten und dichter bevölferten Frankreich viel 
häufiger war, als in Deutjchland mit jeinem Überfluß an unbebautem und 


unbejiedeltem Land. 
9* 


30 Grites Buch. Hellas. 


lichen Verbandes einen gewiſſen Spielraum ließ; eine Sonderwirt: 
Ichaft, die ja ſelbſt mit einem Gejamteigentum der Gemeinde ver: 
einbar war, wenn man nur die unter den Hausgemeinschaften ver: 
teilte Feldflur periodiſch neu verlojte. 

Nur unter Einer Borausfeßung ließen ſich für die Annahme, 
daß die fommuniftiiche Agrargemeinde eine notwendige Durch 
gangsphaje der ſozialen Entwicklung der Hellenen gebildet habe, 
genügende Wahrjcheinlichkeitsmomente gewinnen, wenn nämlich die 
auch von neueren Gelehrten !) vielfach geteilte Anficht des Aristoteles 
berechtigt wäre, daß die hellenifche Dorfgemeinde (xzoun) fich überall 
erit aus dem Haufe entwicdelt habe, gewiſſermaſſen als Kolonie 
des Haufes entſtanden ſei.?) 

An ji) wäre eine jolche Entjtehung des Dorfes ja Feines: 
wegs undenkbar. Der Gejchichtsichreiber der Slaven 3. B. hat uns 
einen derartigen Proceß jehr anfchaulich gejchildert.3) Nach ihm 
baute der alte Böhme fein Haus inmitten der ihm eigentümlich 
gehörenden Grundſtücke (dediny). „Seine Nachfommen bewirt: 
ſchafteten das väterliche Erbe oft mehrere Generationen hindurch 
gemeinfchaftlih und ungeteilt. Faßte das Haus ihre vermehrte 
Zahl nicht länger, jo wurden in deſſen Nähe andere Häufer au: 
gebaut und jo entjtanden die älteften Slavendörfer des Landes.” — 
Hätte die hellenifche Dorfgemeinde diejelbe Entjtehungsgejchichte ge— 
habt, jo würden wir allerdings mit höchſter Wahrjcheinlichkeit jagen 
fönnen, daß man, jo lange das patriarchalifche Gemeingefühl fich 
jtarf erhielt, auch für das zum Dorf erweiterte Haus an den 
Lebensnormen der Hausgemeinschaft feitgehalten haben wird. Anz 
gefichtS der großen Beharrlichkeit der agrariſchen Zuftände in Zeiten 
reiner Naturalwirtichaft würde man wohl faum irre gehen, wenn 
man annähme, daß das auf urjprünglicdem Familiengut entitan- 
dene Gejchlechtsdorf noch lange nicht nur Trägerin des Grund: 


Y 3.8. von Jevons a. a. ©. 9. 
?) Pol. 1,1,7.1252b. udktore d’ Eoıze zara« pVow 1) xwun anoızia 
olxias Eivat. 


) Palady: Gejchichte von Böhmen I ©. 168. 


I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft 6. Homer. 91 


eigentums, jondern zugleich eine geichloffene wirtichaftliche Einheit 
blieb, die gemeinjame Dorfflur gemeinfam bewirtfchaftete. Sehen 
wir doch z. B. bei den Südſlaven jelbft in neuerer Zeit, wo die 


a) 


Tendenz zur völligen Auflöfung des Verbandes der Hausgemein- 
Ihaft ſehr ſtark hervortritt, die Theilung noch häufig in der Form 
ih volßiehen, daß zwar das gemeinsame Zufammenmwohnen auf- 
hört und die einzelnen Familien in eigenen Gehöften jede für fich 
wirtichaften, daß jedoch die Grundſtücke auch weiterhin gemeinschaft: 
ih bedaut werden.) — 

Der Verſuch, auf diefem Wege von der Thatjache der Haus- 
gemeinjchaft aus zu der vermuteten fommuniftischen Struktur der 
Dorfgemeinichaft zu gelangen, muß nun aber leider als ein aus- 
fichtslofer bezeichnet werden. Die Annahme, von der er ausgeht, 
daß die Hellenen ihr Land in Einzelhöfen und nicht nach dem Dorf- 
ſyſtem befiedelt hätten, fteht im Widerſpruch mit den Ergebniſſen 
zahlveicher Unterfuchungen über die Gejchichte der beiven Syſteme, 
die zur Genüge gezeigt haben, daß bei den indogermanijchen Völkern 
die weitaus überwiegende primitive Art der Anfiedlung das 
Dorfiyitem geweſen ift und die Niederlaflung nad Einzelhöfen als 
primitive Siedlungsform in der Negel nur da auftrat, wo die 
natürlichen Produktionsbedingungen die gejellichaftliche Niederlaffung 
erichwerten oder wo bejondere Stammesneigungen derjelben ent 
gegenftanden.2) Daher wird man auch vom Standpunkt moderner 
vorrtichaftsgefchichtlicher Erkenntnis an der Anſchauung des Thuky— 
dides feithalten müfjen, daß das Dorf von Anfang an die vor: 
herrichende Form des Wohnens und Wirtjchaftens in Hellas ge 
weien ift (zara zwues — ım malaıy uns EAladag voonw I, 
10). In der That ift gerade für die ländlichen Gebirgsfantone 


) Kraus a. a. O. ©. 114. 

2) Vgl. meine Ausführungen gegen die der ariftoteliichen Anficht 
entjprechende Mommſen'ſche Auffaffung von der Entjtehung des italijchen 
Gejchlechtzdorfes, Anfänge Roms ©. 52 ff. Dazu die treffliche Erörterung 
Geigers über die Niederlafjungen des Aweſtavolkes: Oftivanifche Kultur im 
Altertum ©. 407 ff., Kraus über die Südſlaven a. a. ©. 23. 


22 Erſtes Buch. Hellas. 


des Nordweftens, in deren AZuftänden ſich nach dem Urteil des 
Thukydides das Bild der hellenifchen Vorzeit am getreuejten wider— 
fpiegelte, für Lokris, Ätolien, Akarnanien das Dorfſyſtem als regel- 
mäßige Siedlungsform ausprüclich bezeugt.!) — 

Nun hat man allerdings gemeint, daß neben dem Inſtitut 
der Hausgemeinjchaft im homeriſchen Epos noch eine Reihe anderer 
Thatſachen vorliegen, die mehr oder minder auf eine Zeit ſtreng 
gemeinwirtjchaftlicher Drganijation der Gemeinde hinweiſen jollen.?) 

Man hat in diefer Hinficht zunächſt die befannte Stelle der 
Ilias (XII 421 ff.) geltend gemacht, wo das Ningen der um die 
Bruftwehr des Schiffslagers kämpfenden Hellenen und Troer mit 
dem hartnädigen Streit zweier Bauern verglichen wird, die um Die 
Grenze ihrer Äcker hadern: 

— tie zwei Männer im Streit find wegen der Grenzung 
Und mit dem Maß in der Hand auf gemeinfamer Scheide des Feldes 
Mit einander ftet3 hadern auf wenigem Raum um die Gleichung, 
Aljo jchied auch jene die Bruftiwehr.°) 

Das volle Verſtändnis diefer Schilderung joll — wie man 
gemeint hat — nur dann möglich fein, wenn man der hier vor— 
ausgejegten Agrarverfaſſung mindejtens das zujchreibt, was im 
Syftem der mittelalterlichen Feldgemeinſchaft als das „gemeine“ 

') Thuf. I, 4, 3 und III, 94, 3. Dgl. auch über die Allgemein: 
heit des Dorfiyftems im heutigen Griechenland Philippfon: Uber 
Befiedlung und Verkehr in Morea. Berhandlungen der Gejellichaft für Erd: 
funde zu Berlin 1883 ©. 450. 

2) Sp bejonders Nidgeway in dem genannten Aufſatz über die home: 
riſche Agrarverfaffung und Esmein: La propriete fonciere dans les poëmes 
homeriques. N. revue historique de droit francais et &etranger. 1890. 
©. 821 ff. Die ältefte griechifche Agrargemeinde repräfentiert ihm „denfelben 
Typus” (le möme type d’institutions) wie die kommuniſtiſche Dorfgemeinde 
des ruſſiſchen Mir! 

3) AAN wor’ dugp' ovooıoı dV’ aveos dngidaoHor 

erg’ Ev yEoolv Eyovrss, Enifvrw Ev apoTon 
Wr’ oAyo Evi ywow £giöntov negl long, 
WS doa rovs diespyov Entdkfuss. 


/ 


I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 93 


oder „offene“ Feld (Common Field, Open Field) bezeichnet wird.!) 

tach diefem Syſtem waren urſprünglich nur die Wohnftätten d. h. 
Haus und Hof mit dem Gartenland dauernd eingefriedigt und der 
Privatrechtsiphäre ausschließlich vorbehalten, nicht aber die in Ge 
menglage über die Dorfflur zerjtreuten Anteile der Hufe am Acker— 
lande, das in gewijjem Sinne immer das blieb, was Homer an 
unferer Stelle nennt, eine Erri£vvos d. h. Errizoıvos @govor, „ge 
meines Feld“. Denn Ader und Wieſen unterlagen nicht nur der 
gemeinfamen, durch den Flurzwang geregelten Dorfwirtichaft, ſon— 
dern auch einer gewiſſen gemeinjamen Nubung der Dorfgenofjen. 
Die Sondernugung des Einzelnen dauerte nur jolange, als die 
Zeit der Beitellung und Bebauung währte. Nach der Ernte fielen 
die Einfriedigungen der Felder und trat das Necht Aller zum ges 
meinjchaftlihen DBiehauftrieb, zur Stoppel- und Brachweide in 
Kraft. — Aljo eine Agrargemeinschaft, die allerdings an ſich das 
PVrivateigentum am Aderland nicht mehr ausichließt, dasjelbe jedoch 
noch wejentlichen Einſchränkungen zu Gunsten der Geſamtheit unter 
wirft und daher vielfach als Überreft einer urſprünglich noch ftrenge- 
ven Gemeinjchaft aufgefaßt worden ift. 

Man hat nun die Bemerfung gemacht, daß der Vergleich 
zwijchen dem von den Kriegern umjtrittenen Wall und der ftrittigen 
Feldgrenze ein bejonders treffender wäre, wenn wir unter dem 
Ausdruck ug ovgowı Grenzraine verjtchen würden, wie jie die 
einzelnen Teilftüde einer unter dem Flurzwang ftehenden Feldmark 
von einander zu jcheiden pflegen.) Wir könnten unfererfeit3 hin- 
zufügen, daß unter diefer Vorausfegung der Vergleich auch dem 
Gefichtsfreis des Volkes bejonders naheliegend erjcheinen würde. 
Denn bei einer folchen Feldgemeinjchaft kann es nur zu leicht, 

1) Das ift die Anficht von Nidgeway (a. a. O. ©. 319 ff.) der die 
EniEvvos (d. h. Enixowos) @oovor in diefem Sinne auffaßt. Auch Paſſow 


s. v. betrachtet diejelbe als Gemeindefeld. 
2) Ridgeway ©. 323 a.a. O. DBgl. die übereinftimmende Bemerkung 


Esmeins a. a. D. ©. 833: Ne voilä-t-il pas l’emage exacte de la pro- 
priete collective? 


24 Erſtes Buch. Hellas. 


wenn der alte Gemeingeift im Schwinden begriffen ift, zu unauf- 
hörlichen Grenzitreitigfeiten und dauernden Störungen des öffent 
(ichen Friedens kommen, da die durch die Gemenglage der Ader- 
ſtreifen herbeigeführte Zerſtückelung des ländlichen Befißes ſehr viele 
Grenzraine nötig macht und jo dem Beltreben rücdjichtslofer und 
anmaßender Nachbarn, durch fortwährendes Abpflügen von ven 
Nainen ihre Felder zu vergrößern, reichliche Nahrung gewährt." 
Auch der Ausdrud „eorinrov regt done“ würde auf diefe Weife 
eine bejonders prägnante Bedeutung erhalten. Denn bei der ge 
nannten Flurteilung fommt das Prinzip der Gleichberechtigung jehr 
entjcehieden zum Ausdrud. Um jeder Hufe auch annähernd gleich- 
wertige Anteile am Kulturboden zu verschaffen und in Beziehung 
auf Lage der Feldſtücke zum Wirtichaftshofe, Beichaffenheit des 
Bodens und Äußere Bedingungen feiner natürlichen Fruchtbarkeit 
alle Anteilberechtigten gleichzuftellen, ift bier die geſamte Feldflur 
in größere Abteilungen (Gewanne oder Breiten) geteilt, die ihrer: 
jeitS wieder, um jede Hufe an verjchiedenen Gewannen zu beteiligen, 
durch Die genannten Raine in Aderjtreifen von gleicher Größe 
zerlegt find. Hier drehen fi alfo in der That die Flurftreitig- 
feiten von Grenznachbarn um das gleiche Necht am Aderland der 
Gemeinschaft, errı&vrp Ev @ooVvon — Tregi long. 

Allein jo ſchön fich bei dieſer Auffaſſung alles zuſammen— 
fügen wide, jo zwingend tft ſie doch nicht, daß wir auf ihr irgend— 
wie weiterbauen fünnten. Weiſt doch eine Stelle der Ilias ſelbſt 
auf die Möglichkeit einer ganz anderen Deutung hin! XXL 403 ff., 
wo e3 von der mit Ares fämpfenden Athene beißt: 

„Da trat jene zurück und den zadigen, dunfelen Feldftein 
Hob jie mit nervigter Rechten empor, der dort im Gefild lag, 
Einjt als Grenze der Fluren gejegt von den Männern der Vorzeit.“ >) 

Als Flurgrenze (ov905 doovons) erſcheint hier nicht das 
Merkmal der alten Feldgemeinschaft, der Nain, jondern ſchon ge- 
nau jo, wie in den fpäteren Zeiten der griechisch-römischen Welt 








) Bol. 3. B. Seebohm-Bunſen a. a. 9. ©. 12. 


‚ LO) ‚ ” r 3 3 ’ 
?) tov 0 ardge no0Te90ı Heoav Euusraı 0V00v EEOVONS. 





I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 95 


der Grenzitein (terminus); und es ift doch wohl kaum geftattet, 
ohne einen zwingenden Grund die frühere Stelle des Gedichtes auf 
eine andere Form der Grenzbezeichnung zu deuten. Selbft wenn 
fich nachweifen ließe, daß dieſe Stelle einem älteren Beftandteil der 
Diehtung angehört, als die des 21. Buches, und wenn man damit 
einen Zeitraum gewonnen hätte, in dem fich etiwa der Übergang 
von der Flurgemeinichaft zum vollen arrondierten Eigentum voll 
zogen haben könnte, jelbjt dann würde man Bedenken tragen müſſen, 
ohne ſonſtige Anhaltspunkte der erjten Stelle eine andere Erklärung 
zu geben, als die, welche durch die zweite nahegelegt wird. Auch 
ericheint ja die Schilderung des Grenzitreites bei dieſer Deutung 
feineswegs unzutreffend, zumal, wenn man die Worte Ayo ev 
X0om EoiSyrov in Betracht zieht. Man müßte ſich dann die 
Szene jo denken, daß der Dichter die Teilung eines gemeinfamen 
Privatbefißes im Auge hatte, bei der die von entgegengejeßten Sei- 
ten des abzuteilenden Grundſtückes ausgehenden Parteien mit den 
Meßſtangen — oAym Eri- yuom — aufeinander jtoßen und fich 
nun über die Stelle des Grenziteines nicht einigen können, wobei 
e3 fich naturgemäß eben nur um einen Kleinen Naum handeln Fan. 


Wenn wir demnach darauf verzichten, aus der Form ver 
Flurteilung bei Homer Schlüſſe auf die alte Agrarverfaflung zu 
“ziehen, jo werden wir ung nach anderen agrarijchen Ericheinungen 
umsehen müſſen, um ein Beweismoment für die Fortdauer der 
Flurgemeinſchaft in den Zeiten des epischen Gelanges zu gewinnen. 

Ein folches Zeugnis für die Flurgemeinjchaft hat man in der 
ihönen Schilderung finden wollen, welche der Dichter in der Be- 
ichreibung des Schildes Achills von dem ländlichen Leben der Zeit 
entwirft. Da beißt es SL. XVII 541 ff. von dem Bildner des 
Schildes: 

Weiter ſchuf er darauf ein Brachfeld, locker und fruchtbar, 

Breit, zum Dritten gepflügt; und darauf viel ackernde Männer, 
Welche die Zoch’ in dem Kreis ſtets hierhin trieben und dorthin, 
Immer, jo oft fie, getvendet, des Fruchtlands Grenzen erreichten, 
Nahte ein Mann, den Pokal mit dem Lieblichen Wein in den Händen, 


936 Erſtes Buch. Hellas. 


Gab ihn den Pflügern, und dieſe, zurück zu den Furchen gewendet, 
Strebten von neuem die Grenze der üppigen Flur zu erreichen. 

Man hat gemeint,!) dies weite Brachfeld (veıos evosie) und 
die Mafje der Pflüger (roAAoi aoorHess Ev aurn) erinnere augen- 
fällig an jene großen Flurabteilungen (Gewanne) einer in Feld: 
gemeinschaft betellten Dorfmarf, auf denen befanntlich alle Arbeiten 
des Dorfes zu gleicher Zeit verrichtet werden mußten. 

In der That, wenn man die homerische Schilderung mit 
ähnlichen Daritellungen aus den Zeiten der mittelalterlichen Feld: 
gemeinschaft vergleicht, jo ergibt fich eine merkwürdige Überein- 
jtimmung. Ich erinnere an ein befanntes englisches Gedicht, Die 
Vision of Piers the plowman.?) In diefem Gedichte des „Ackers— 
mannes Piers“ wird ganz wie bei Homer ein „ſchönes Feld voll 
von Leuten” erwähnt, wo der Dichter „allerhand Männer” arbeiten 
ſieht. Einige wandeln hinter dem Pfluge, andere bewegen ſich hin 
und ber beim Säen und Seßen u. j. w. 63 ijt ein Bild der 
Flurgemeinſchaft, welches jämtliche Teilhaber eines Gewannes des 
Common Field zwang, mit dem Pflügen ihrer Aderparzellen zu 
gleicher Zeit zu beginnen. 

Allein wenn nun auch die homerische Schilderung auf die 
Feldgemeinfchaft eben jo gut pafjen würde, wie diejes mittelalter- 
liche Gedicht, welches dieſelbe thatlächlich im Auge hat, folgt daraus, 
daß der antife Dichter fich die Sache notwendig jo vorgeftellt haben 
muß? Kann er nicht ebenfogut an vie über zahlreiche Arbeits- 
fräfte verfügende Wirtfchaft der großen Herrengüter gedacht haben, 
deren Ackerland nach den Schilderungen des Epos teilweije jehr 
ausgedehnt und wohl arrondiert ericheint??) Man vergleiche nur 
die unmittelbar fich anreihende Bejchreibung einer Erntejzene! 


') Nidgeway a. a. D. ©. 330. Auch E3mein ©. 834 findet in der 
Darftellung des Schildes „wenn auch nicht die juriftifchen, jo doch die ökono— 
mijchen Merkmale des Kolleftiveigentums“. Nous trouvons, meint ex 
©. 833, ce régime terrien pittoresquement repr&sente sur le bouclier 
d’ Achille. 

2) Bol. Seebohm-Bunfen a. a. O. ©. 13. 

3) Bgl. 3. B. das SL. IX 578 |. erwähnte reuevos nregixahlts nevrn- 


I. 2. Die Hausfommunton u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 97 


Zwar fehlen auch hier feineswegs die Züge des Bildes, 
welches der Erntetag auf einem mittelalterlichen Gewanne gewährt. 
Wie auf dem vom Adersmann Biers gefchilderten Felde arbeitende 
Zandleute, Bäder, Brauer, Fleiſcher erfcheinen, Köche „heiße 
Paſteten“, Wirte Wein und Braten ausbieten, ift auf dem home- 
riſchen Erntefeld eine Neihe von Schnittern, Garbenbindern, ähren: 
lefenden Knaben thätig, daneben wird unter einer Eiche ein ge 
Ichlachteter großer Stier für die Arbeitenden zum Mahle bereitet 
und Weiber find mit der Heritellung von Mehlipeifen beichäftigt;t) 
auch der Weinausichanf würde vom Dichter gewiß erwähnt worden 
jein, wenn er dies Motiv nicht joeben bei der Beitellungsizene ver- 
wertet hätte. — Würden diejenigen, welche die Dorfgemeinjchaft 
bei Homer gefunden zu haben glauben, einen Moment zaubern, 
in der Erntelzene das anjchaulichite Bild gemeinichaftlicher Dorf: 
wirtschaft zu jehen, wenn der Dichter nicht zufällig oder vielmehr 
aus einem beftimmten poetischen Miotiv,2) mitten unter die Arbei- 
tenden den Grundheren geitellt und damit als Schauplaß diejer 
Szene eine große Gutswirtichaft bezeichnet hätte?3) Oder ſollte der 
Dichter gerade hier den Herrn noch aus einem andern als einem 
rein poetiichen Grunde genannt haben; etwa, wie man gemeint 
hat,t) um ausdrücdlih dem Herrenland der Erntejzene den anderen 
ländlichen Schauplag als Bauernland gegenüberzuftellen ? 

Man legt befonderes Gewicht darauf, daß das Ernteland der 


xovröyvor, To uev Huiov olvoredoro, Murov dE ılmv dgocıw zedioro 
tausoHeı. — Dazu das jehr charakteriftiiche Gleichnis XI 67: 
Oi d’, wor’ duntnoss Evavruoı aAdmkorov 
öyuov Ehavvworw avdoos udzagos zart doovgarv 
nvoWv 7) xoLIEwv' Ta dE doc«yuare Tagpea ninte 
os Towes zei Ayavoi En’ dAkmkoroı Fogövres 
djovv xrA. 
DSER&VIT, 55077 
2) Siehe unten. 
3) — Bacıdev5 d’ Er Toioı owrn Oxnargov Eywv Eormreı En’ 
Oyuov yn9oovvos #0. 
4) Nidgeway a. a. O. ©. 336. 


23 Erſtes Buch. Hellas. 


eriten Szene als ein reusvos!) und der Gutsherr als Baoılevg 
bezeichnet wird. Es könne fich alfo hier nur um den König und 
das regelmäßige Attribut des homeriſchen Königtums, die Kron- 
domäne handeln, für welche eben der Name rewevos ſchlechtweg 
gebraucht wird. Nun fei e8 ferner die Abficht des Dichters, auf 
dem Schild die verjchiedenen Seiten des bürgerlichen Dafeins in 
einer Neihe von Einzelgemälden in der Weile zu veranfchaulichen, 
daß die einzelnen Stände und Klaſſen des Volkes in gewifjen 
charafterijtiichen Situationens dargeftellt werden: der Fürft auf 
jeinem zeusvos, die zum Gericht verfammelten „Volksälteſten“ 
(yggovres) v. 503 ff. und die ebenfalls im Thing vereinigten Ge— 
meinfreien (Aaoi d’siv @yoon-@9ovor) v. 497 f. Da eben das, 
was den König vor den Geronten ſpezifiſch auszeichne, der Befit 
des veuevos jei, jo babe der Dichter für feine Charafteriftif des 
Königs als pafjendjten Zug eine Szene aus der füniglichen Domäne 
gewählt, als Gegenſtück zugleich zu der in einer anderen Schild: 
abteilung dargeftellten Dorfwirtichaft der Gemeinen. 

Ich muß geitehen, daß der Dichter, wenn er wirklich die 
Abficht gehabt hätte, die Stellung des Königtums gegenüber den 
Edlen und Gemeinen zu charakterifieren, mit der Hervorhebung 
eines ausjchlieglich wirtichaftlichen Momentes, der materiellen Aus— 
ftattung des Königtums, nach meinem Gefühl einen recht unglüd- 
lichen Griff gethan hätte; — ganz abgejehen davon, daß das 
veuevos zwar eim notwendiges, aber Feineswegs ausjchließliches 
Attribut des Königtums war.?) Allein der Dichter hat offenbar 
die ihm zugefchriebene Abſicht gar nicht gehabt. Es find keines— 
wegs die jozialen Klafjen des Volkes, welche den leitenden Gedanken 
für die Kompofition des Schildes und das eigentliche Teilungs- 
prinzip für die Gliederung abgeben, fondern vielmehr eine Reihe 
von Erſcheinungen des gefellfchaftlichen und wirtjchaftlichen Lebens, 


!) Ev WErideı TEuEvos Basvaniov zud. 
°) Vgl. Il. IN, 578, XX, 184 über die Verleihung eines Tewevos 
für hervorragende Verdienſte. 


I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 99 


die mit der Klaſſenſcheidung an und für fih gar nichts zu thun 
haben.!) So jtellt der zweite Kreis des Schildes in zwei Abtei- 
lungen eine Stadt im Frieden und eine andere im Kriege dar; wo— 
bei die leßtere Abteilung jich wieder in drei Szenen gliedert: 1) die 
Mauer mit den Verteidigern, 2) Überfall der Herden, 3) Kampf 
der beiden Heere. Wo fände ſich aber nur die geringite Spur 
davon, daß die jo überaus verjchiedene Nolle, welche bei Homer 
gerade im Kampfe die Fürſten und Edlen gegenüber den Gemeinen 
jpielen, von dem Dichter beſonders hervorgehoben wäre, wie es 
doch dem Charakter des ritterlihen Epos vor allem entjprochen 
hätte? Und ganz das Gleiche gilt für die Szenen aus der fried- 
lihen Stadt! Es werden uns hier in verjchiedenen Bildern Epi- 
joden des Hochzeitsfeites und eine Gerichtsizene auf dem Markte 
vorgeführt, alfo Vorkommniſſe aus dem Leben des Gejamtvolfes, 
an denen alle Klaſſen ohne Unterjchied beteiligt jein können, wes— 
halb es auch jelbitverjtändlich ift, daß 3. B. Dei der Bejchreibung 
der Gerichtsperfammlung eben die verichiedenen Beteiligten: die 
jtreitenden Barteien, die richtenden Geronten, die Herolde, der Um: 
ftand der Freien der Neihe nach aufgeführt werden. Die einzelnen 
Gruppen jelbjt werden nur joweit charakterifiert, als es für das 
Verſtändnis und die lebendige DVeranjchaulichung des Borganges 
unbedingt nötig ift. 

Daß das Grundmotiv des Dichters nicht die Schilderung 
ſozialer Typen ift, zeigt gerade die Darftellung des länplichen 
Leben im dritten Kreis des Schildes recht deutlih. Diejelbe glie- 
dert fich nicht nach den Sozialen Berhältniffen der Landwirtichaft, 
jondern nach den Gefichtspunften des Wirtjehaftsbetriebes, nad) der 
Verichiedenheit der Jahreszeiten und der verjchtedenen Art der 
Bodennutzung (Acerbeftellung, Ernte, Weinlefe, Weidetrift). Das 
Feld der erſten Szene wird nicht al3 Dorfflur einer fürftlichen 
Domäne, einem zeusvos Baoıırıov gegenübergeftellt, wie man auf 








) Bgl. Brunn: Rhein. Muſ. N. F. V, 240 ff. und Abh. der bayı, 
AL. philoſ. philol. KU. XI, 3, ©. 10 ff. (1888), 


30 Erſtes Buch. Hellas. 


Grund einer offenbar faljchen Lesart in den Tert hinein erklärt 
hat, jondern als Brachfeld (weiss) einem zeusvog BayvAniov, dem 
Acer, auf dem die Saat hoch aufgeſproßt iſt. 

Dieſes Beiwort ift übrigens zugleich ein Beweis dafür, daß 
bier rewevog gar nicht in dem ausschließlichen Sinne von Krongut 
gemeint fein fann, jondern ganz allgemein eine Feldflur überhaupt 
bezeichnet. Daß aber gerade bei der Bejchreibung des Erntefelds 
auch der Gutsherr genannt wird, Der angefichts der verjchiedenen 
Bedeutung des Wortes Pacıkevs nicht notwendig der König zu 
jein braucht, das erklärt fih aus einem rein poetischen Motiv. Die 
Erſcheinung des glüdlichen Gutsheren, dem die helle Freude am 
Ernteſegen aus dem Antlig jtrahlt, gehört dichteriich jo notwendig 
in das Erntebild, daß es kaum begreiflich ift, wie man bier dem 
Dichter ſtatt eines jo überaus naheliegenden Motives einen nüch— 
teınen ftaatsrechtlichen Gefichtspunft unterichieben fann. Oder hätte 
der Dichter den Heren ſchon bei den Beltellungsarbeiten des Früh: 
lings auftreten laſſen jollen, auf die Gefahr hin, ihn in der uns 
poetischen Nolle des Aufſehers zu zeigen? Er konnte ja das Walten 
des jorgjamen Heren ungleich feinfinniger auch hier veranjchaulichen, 
ohne ihn zu nennen. Und daß er dies in der That gethan, dafür 
jcheint mir die Perſon des Schenken zu jprechen, der jedem der 
Pflüger, wenn er am Ende der Furche angelangt ift, einen Becher 
Weines reicht und fie dadurch zu lebhaften Wetteifer anjpornt. 
Die Art und Weife, wie der Dichter dieſe pſychologiſche Wirkung 
des Weinausichanfes hervorhebt, läßt deutlich erkennen, daß die 
jelbe der Zweck des leßteren ift, aljo von jemand ausgehen muß, 
der ein Intereſſe an der raſchen Ausführung der Feldarbeit bat. 
Und das fann doch eben nur der Gutsherr fein, der mit dienenden 
Arbeitskräften wirtjchaftet! Der Schenk auf. dem Brachfeld handelt 
daher gewiß ebenfo im Herrendienſt, wie Die dienenden Herolde 
und Weiber auf dem Erntefeld. ES iſt unverkennbar als Seiten: 
ſtück zu dieſen gedacht, wie fich ja ähnliche Barallelismen in der 
Kompofition der Schildbejchreibung auch ſonſt finden. 

Man könnte nach alledem höchjtens noch an die Möglichkeit 


I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 31 


denken, daß der Dichter etwa an eine feldgemeinjchaftlich organi- 
ſierte hörige Bauernjchaft gedacht hat. Allein auch das könnte 
für unſere Frage nichts beweiſen. Denn in diefem Falle könnte, 
wie im Mittelalter jo oft, der berrichaftliche Verband die Duelle 
des feldgemeinfchaftlichen Verhältnifjes fein, was einen zwingenden 
Schluß auf die primitive Grumdeigentumsform der Vorzeit von 
vornherein ausjchließt. 

Nun enthält aber zu allem Überfluß die Schilderung des 
Brachfeldes noch ein Moment, welches in jeiner Bedeutung aller: 
dings bisher nicht erfannt ift, das aber meines Crachtens für die 
ganze Frage entjcheidend jein dürfte. Das Brachfeld wird nämlich 
als loder (uadexr)) und „vreimal gepflügt” (roirroAos) bezeichnet. 
Es war aljo einerjeit3 tief umgebrochen, hatte eine tiefe Strume;) 
andererjeit3 war das Umbrechen des Feldes ein mehrmaliges; das 
bier bejchriebene Pflügen könnte möglicherweije jogar als die vierte 
Furche betrachtet werden.2) Dieje energiiche Bearbeitung des Brach— 
feldes zeigt uns, daß die homerifche Landwirtichaft bereits zu dem 
Syſtem der vollen oder, wie fie gewöhnlich genannt wird, der 
reinen, der jehwarzen Brache übergegangen war, ein Syitem, bei 
dem von einer Benügung des Brachfeldes als Viehweide wenig 
mehr die Nede fein konnte. Wo bleibt da das „offene“ Feld der 
alten Feldgemeinfchaft und der gemeine Weidegang der Dorf 
genofjen? 

Sn der That erjcheint Ader und Weidewirtjchaft bei Homer 
ihon ſcharf getrennt. Die letztere beginnt für ihn da, wo Die 
Acerung aufhört, aygod Er Eoyarıns.?) Es iſt bereits diejelbe 
fortgeschrittene Form der Wirtjchaft, wie wir fie in einer viel ſpäte— 
ven Zeit, 3. B. in den Idyllen Theofrits wiederfinden, deſſen Schil- 

1) Thaer: Der Schild des Achill in feinen Beziehungen zur Landwirt: 
ichaft. Philologus 1870 ©. 590 ff. 

2) Bgl. auch die jehr gründliche Brache bei Hefiod: Werke und Tage 
v. 460 ff.. 

3) Vgl. Thaer a. a. O ©. 606. 


33 Erſtes Buch. Hellas. 


derungen in wejentlichen Punkten mit den homerifchen überein 
jtimmen.!) 

Aber ſelbſt wenn ſich in den Zeiten des epiſchen Gejanges 
— was ja jehr wohl möglich, ja wahrjcheinlich iſt? — neben dem 
hier gejchilverten jüngeren Wirtſchaftsſyſtem in einzelnen Landjchaf- 
ten eine alte Feldgemeinschaft mit Flurzwang und gemeinem Weide: 
gang erhalten hätte und für uns noch nachweisbar wäre, mas 
würde damit für die weentlich Joziale Frage nach dem Charakter 
der agrarischen Eigentumsordnung viel gewonnen fein? Wir 
würden damit nur eine Form der Feldgemeinjchaft feſtgeſtellt haben, 
die mit dem Somdereigentum am Aderland jehr wohl vereinbar 
ift,3) ſogar unter der Vorausjeßung, daß bei dieſer Feldgemein- 
ſchaft der „„xAroos“ des Einzelnen, wie man gemeint hat, nur einen 
wechjelnden Losanteil an der Dorfmarf bedeutete. Zahlreiche Bei— 
jpiele der neueren Wirtichaftsgejchichte haben gezeigt, daß Feinerlei 
Art von Wechielland Privateigentum hindert, daß troß völlig freiem 
Eigentum die Acer von Jahr zu Jahr oder periodisch eine andere 
vom Los bejtimmte Lage im Gewann befommen Fönnen.t) Die 
wahre und eigentliche — auf dem Prinzip des Gejamteigentums 
beruhende — Feldgemeinfchaft bedürfte aljo immer noch eines be 
ſonderen Nachweijes. 

Kun hat man freilih Spuren auch diejes Syſtems in den 
homeriſchen Gedichten finden wollen, Spuren einer Nechtsoronung, 
die von dem Prinzip der ftrengiten Feldgemeinjchaft beherrſcht war 

!) Bgl. bei. für die Trennung don Ader- und Weidewirtſchaft 21, 
6—17, bei. v. 14 navreocıv vouoi wde TEedmAores alEv Eaoı, für das 
Brachfeld dv. 25: roımodoıs.... Ev veioloıw ,.. zal Terganokoıoıy, 

?) Ebenſo wie in Altitalien! Vgl. Weber: Die römijche Agrarges 
ichichte in ihrer Bedeutung für das Staat? und Privatrecht. 106 ff. 

>) Mit Recht bemerkt Heusler (a. a. O. 322) gegen die abweichende 
Anficht Sohms, daß mit der Gemeinjamkeit im Bewirtſchaftungsmodus keines⸗ 
wegs auch ſchon eine materiell gemeinſchaftliche Okonomie, eine Bebauung 
„auf gemeinjamen Gedeih und Verderb“ gegeben jet. 


4) DBgl. die treffende Bemerkung von Meitzen: Die Individualwirt— 
jehaft dev Germanen a. a. D. ©. 9, 


I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinichaft b. Homer. 33 


und ein privates Grundeigentum noch nicht kannte. Allein alle 
die Stellen, welche man für diefe Annahme geltend macht, haben 
mit den eben bejprochenen das gemein, daß fie eine fehr verjchie- 
dene Deutung zulaſſen und jchon deshalb nicht beweifen Können, 
was fie beweiſen jollen. 

Es genügt daher, hier die wichtigiten diefer angeblichen Zeug: 
nifje zu bejprechen und im übrigen auf die eingehende Unterfuchung 
zu verweilen, welche die ganze Frage der Feldgemeinjchaft bei Homer 
bereits an anderer Stelle gefunden hat.:) 

In der Ilias XV, 495 ermahnt Hektor die Seinen zu todes- 
mutigem Ausharren, indem er fie darauf hinweiſt, daß fie ja Weib 
und Kind, Haus und Gut (xAno05) ungejchädigt hinterlaffen wür— 
den, falls die Achäer abzögen. Man hat diefe Worte als ein 
Verſprechen aufgefaßt, dahingehend, daß den Hinterbliebenen der 
gefallenen Krieger der Losanteil an der gemeinen Mark in dem— 
jelben Umfang verbleiben jolle, wie ihn bisher die Väter bejefjen. 
K47oos joll hier ein von dem Vorhandenjein arbeitsfähiger Fami— 
lienglieder abhängiger und daher durch den Tod des Familien: 
hauptes unter Umftänden verloren gehender Nußungsanteil am ge 
meinen Felde jein, wie dies 3. B. Nidgeway annimmt.2) Es be 
darf kaum der Bemerkung, daß eine jolche Interpretation höchſtens 
dann einige Berechtigung hätte, wenn eine wahre Feldgemeinjchaft 
für die Zeiten der Ilias bereitS anderweit nachgewiejen wäre. 

Damit erledigt Ti) auch der Hinweis auf die Klage der 
Andromaches) über das Fummervolle Geſchick ihres verwaiften 
Knaben, dem „andere die Felder wegnehmen” würden. ES ift reine 








1) Bol. meinen Aufſatz über die Feldgemeinfchaft bei Homer. Ztſchr. 
für Sozial: und Wirtfehaftsgefhichte I ©. 1 ff. Hier findet fich auch eine 
erichöpfende twirtjchaftsgejchichtliche Erörterung der volkswirtſchaftlichen Mo— 
mente, welche gegen die genannte Anficht ſprechen. 

2) ©. 331. 

2) ST. XXI, 489: 

aiei Toı Tovrw ye novos zei x7dE ONioow, 
Eooovt’ @Ahoı Ydo 0L ErTovENEoVCLV LOOVERS. 
Pohlmann, Gejich. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 3 


34 Erſtes Buch. Hellas. 


Willkür, wenn man in diefer Wegnahme der Felder nicht — was 
doch das Nächitliegende wäre — einen Akt der Vergewaltigung 
fieht, fondern „die Anwendung der primitiven Sitte“,1) der gemäß 
der Grundbefi des BVerftorbenen, der nur Unmiündige hinterließ, 
an die Gemeinschaft zurücdgefallen fein joll. 

Diejelbe gewaltjame Interpretationskunſt hat fi an jener 
ſchönen Stelle der Odyſſee verſucht, wo der ländliche Hof des greifen 
Laörtes gejchildert wird, den er „fern von der Stadt (voagyı roAnos) 
perjönlich bewirtjchaftet. Diefer Hof joll jenfeitS der Flurgrenzen 
der Feld marfgenofjenichaft durch Dffupation im Odland der Allınende 
entjtanden und daher ein Beweisftüd dafür fein, daß damals noch 
— ähnlich wie im deutjchen Mittelalter vor dem Ausbau des 
Landes — ganz allgemein weite Streden unbebauten Kulturbodens 
im Gemeinbefiß waren, an denen jeder Marfgenofje durch Nodung 
und Kultivierung ein individuelles Anrecht erwerben fonnte: Die 
einzige Möglichkeit der Entjtehung von Privateigentum an Grund 
und Boden, welche Esmein — neben den gleich zu erwähnenden 
Schenkungen aus Gemeingut — für die Zeit des Epos gelten lafjen 
will.) Bei dem Hofe des Laörtes jei der „Nechtstitel des Er— 
werbes” einzig und allein die perjönliche Arbeit, wie er es auch in 
den Zeiten jtrengiter Feldgemeinjchaft für das Haus ift, welches 
fi) der Einzelne mit eigener Hand erbaut. 

Und woraus fol alles dies folgen? Einzig aus der Äuße— 
rung des Dichters, daß der Hof „entfernt“ lag, und daß der greife 
Beliter „ihn jelber erworben nach Überftehung vieler Mühſal!“ 
Warım kann aber die Mühjal, deren hier der Dichter mit einer 
bei ihm ganz ftereotypen Wendung gedenkt, nicht etwa auch „Des 
Kriegs mühjelige Arbeit” fein, wie der alte unbefangene Boß ganz 
aus dem Geijte des Liedes heraus überjegt hat? Und was die 
entfernte Lage des Hofes betrifft, ift fie nicht durch die ganze 
Situation hinlänglich motiviert, ja geradezu gefordert?3) 

1) So Esmein ©. 829. 

2) V. a. D. ©. 84. 

?) Dasjelbe gilt für das „arongodı niovas ayoovs“ (Il. XXIU 


I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinschaft b. Homer. 35 


Ebenjowenig wie das Gehöfte des Laörtes kann die „fern an 
Grenze der Flur“ (eygor Er’ Eoyerınc) gelegene Baumpflanzung, 
auf der nach Odyſſee XVII 358 einer der Freier dem als Bettler 
verfleideten Doyfjeus mit höhniſchen Worten Beichäftigung anbietet, 
für die Frage der Feldgemeinjchaft beweifend jein. Man denkt 
dabei ebenfall3 an eine Neuanlage in der Allmende und fieht darin 
ein Symptom für das Beftreben, mit Hilfe von abhängigen Arbeits- 
fräften durch Nodung und Kultivierung von Gemeingründen neben 
den nur zu periodischer Nußniegung überlaffenen Anteilen an der 
bebauten Feldmark Grundjtüde zu vollem Eigentum zu erwerben. !) 

Wir geben ohne weiteres zu, daß auf diefem Wege im frühen 
helleniſchen Mittelalter ebenfo, wie im germanijchen, zahlveiches 
PVrivateigentum aus Gemeingründen entjtanden jein wird,2) allein 
was beweiſt das Recht der freien Nodung im Odland fir die Eigen- 
tumsordnung der fultivierten Feldmark? Diejes Necht it in 
Deutſchland unter der Herrichaft der von Anfang an auf dem 
Prinzip des Individualeigentums beruhenden Hufenverfafjung bis 
tief ins Mittelalter hinein geübt worden. Ja es ift von diefem 
Recht in größerer Allgemeinheit und mit umfaſſenderem wirtſchaftlichen 
Erfolg eigentlich exjt dann Gebrauch gemacht worden, als fich eben 
unter dem Einfluß des Brivateigentums die Zahl der Grundbejtger 
vermehrt hatte, welche durch wirtichaftliche Überlegenheit die Menge 
der Gemeinfreien überragten und den Ausbau des Landes mit 


833). Übrigens kehrt dieje Wendung in ganz ftereotyper Weife wieder. Vgl. 
Od. IV, 757. 

1) Esmein ©. 844. 

2) In dem waldreichen Cypern iſt dies jogar noch in verhältnismäßig 
jpäter Zeit gejchehen, wie Strabo XIV, 5, $ 5 nach Cratojthenes berichtet: 
gpnei d’ 'EoatooHEvns To nakcıöv vAouevoivrwv Toy nediov, WOTE zUTE- 
zeoIaı dovuois zei um yewopyeiocdeı, uızgd uev Enwgpeleiv 005 ToüTo 
TE uerelle, devdoorououvrwv 005 Tv zuicıw Tod yahzor xai To 
doyvoov, roo0yer&odeı JE zul Tv vavınylaev Tov oTolwv, 7dn nAeo- 
uevns ddeos ı7s Yahdoons xal ucerd dvvduswov' Ws d’ ovx Eevixwv, 
Enırokivaı tois BovAousvoıs zai duvauevoıs Exrxonteiv zei 
Eysıv l(d1öxTntov zei arein nv diezadegdEeloev yıv. 


3* 


36 Erſtes Buch. Hellas. 


größerer Energie, weil mit bejjeren und zahlreicheren Arbeitsmittel 
in Angriff nehmen fonnten.!) 

Daß es auch in der Welt des Epos bereits größeren privaten 
Grundbefiß gegeben haben muß, vermag ſelbſt die größte Vorein- 
genommenheit faum zu leugnen. In der Ilias 3. B. VI, 194 
überweifen die Lyfier dem Bellerophon auserlefene Grundſtücke 
Acerlandes und Baumpflanzung — offenbar zu vollem Eigen. 
XX, 184 fragt Achill den Aneas, ob ihm etwa die Troer ein 
ſolches Stück Landes in Ausficht geftellt, wenn ev ihn töte. IX, 
575 verfprachen die Älteften und Prieſter der Ätoler dem Meleager 
für feinen Beiftand in der fetteſten Flur ein ftattliches Gut, fünfzig 
Morgen, zur Hälfte Nebengefilde, zur Hälfte Aderland. 

Freilich find es gerade dieje Stellen, welchen man ein neues 
Argument für das Vorherrſchen der Feldgemeinfchaft entnimmt. Es 
it Gemeingut, welches hier durch Schenkung in den Beſitz Ein- 
zelner übergeht, und das gejchenkte Grundſtück wird wenigitens an 
den beiden erjtgenannten Stellen als 2F0x0» @AAwv bezeichnet, was 
eben die Ausfonderung desjelben aus dem der Feldgemeinjchaft 
unterworfenen Land bedeuten joll.2) i 

Aber auch hier zeigt fi bei näherem Zuſehen jofort das 
Muforische der ganzen Auffaſſungsweiſe. ES it nämlich nicht die 
Agrargemeinde, jondern ſtets die ganze Völkerſchaft, die ftaatliche 
Gemeinschaft, welche diefe Eigentumsübertragungen vollzieht. Wie 
fönnen diejelben aljo für die Frage der Feldgemeinjchaft beweijend 
fein? Und was das Z£oyov @Akov betrifft, warum joll es etwas 
anderes bedeuten, als ein reuevog rregizedkes, wie zu allem Über: 
fluß das gejchenkte Grundftüd an der lebtgenannten Stelle aus: 
drüclich bezeichnet wird? 

Das ift das Material, auf Grund deſſen man behauptet, daß 
es in der Welt des Epos unter der Herrichaft der weitaus über- 
wiegenden Feldgemeinjchaft nur zwei Möglichkeiten zum Erwerb 

) Vgl. Inama-Sternegg: Die Ausbildung der großen Grundherr— 
ſchaften in Deutichland 45 ff. 

2) Esmein ©. 838, 


I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 37 


von Privateigentum an Grund und Boden gegeben habe: Nodung 
und Neubruch einerfeits und Übertragung auf Grund bejonderer 
Verdienſte um die Gejamtheit andererjeits. 

Nicht beſſer ſteht es mit der inneren Wahrfcheinlichkeit diefer 
Anficht: Gegen fie Ipricht Schon der ganze ſoziale Aufbau der homeri- 
Ichen Welt, die Eriftenz eines zahlreichen ritterlichen Adels, welche 
ohne die Ausbildung des Brivateigentums an Grumd und Boden 
und ohne eine lange Rückwirkung desjelben auf die joziale Klaffen- 
Ihichtung nicht zu erklären ft. War doch diefe Wirkung eine jo 
intenfive, daß wenigſtens in der Odyſſee die Bezeichnung für Neich 
und Arm (moAvzAngos — &xAng0c) dem Grundbefis entnommen 
wird! Auch erjcheint bier die indivivualiftiiche Ausgeftaltung des 
Eigentumsrechtes bereits bis zur freien Teilbarfeit des Grund und 
Bodens,!) ja jelbjt bis zu einem Erbrecht der Frau an demjelben?) 
fortgefchritten! Alles Thatfachen, die gewiß einen jehr langen 
Prozeß der Eigentumsentwidlung vorausjegen. — 

Nun hat allerdings Mommſen gemeint, der hellenische Acker— 
bau müſſe ſchon deshalb anfänglich nad) dem Syſtem der Feld— 
gemeinschaft betrieben worden jein, weil in Hellas, wie in Italien 
nicht Grund», jondern Viehbejig der Ausgangs- und Mittelpunkt 
alles Brivatvermögens war.?) Und Laveleye hat im Hinblick auf 


1r 


die große Bedeutung, welche das Vieh in der homerifchen Volks— 
wirtichaft als Taufchmittel gehabt habe, den Sat aufgeftellt, daß 
noch in den Zeiten des Epos der Grund und Boden wenigſtens 
zum größeren Teile Gejamtbefig geweſen jein müſſe. Denn das 
Vieh hätte nicht als Taufchmittel dienen können, wenn nicht der 
größere Teil des Landes Gemeinweide gewejen wäre, auf welcher 
jeder das Necht hatte, fein Vieh zu treiben.*) 

Be) 55. XW, 208. 

2) Od. XIV, 211 ff. myeyounv de yuvaiza noAveiigwv dvdgunwr 
xrA. bezeichnet die Frau des Erzählers zwar nicht mit diveften Worten als 
Erbin des väterlichen Grumdeigentums, aber unmittelbar geht dies doch aus 
dem ganzen Zufammenhang deutlich hervor. 

212.0, 12,.,20: 

#) Zaveleye a. a. D. ©. 369 f. 


38 Erſtes Buch. Hellas. 


Allein dieſe Schlußfolgerungen, die wohlberechtigt find, ſoweit 
fie nur die Anfänge des nationalen Wirtjchaftslebens im Auge 
haben, !) leiden an dem Fehler, daß die hier zu Grunde liegenden 
Rorftellungen von dem Übergewicht der Viehzucht in der Volks: 
wirtſchaft des homeriſchen Zeitalters ohne Zweifel ftarf über: 
trieben find. Laveleye überjieht, daß bei Homer einerjeitS das Vieh 
vielfach ſchon nicht mehr als Taufchmittel, jondern häufig nur noch 
als Wertmefjer zur Preisbeſtimmung fungiert und daß andererjeits 
neben dem Vieh der Gebrauch der Metalle, — des Goldes, Exzes, 
Eijens, — als Taufchmittel vollfommen eingebürgert erſcheint. Ein 
Gebrauch, der im kleinaſiatiſchen Kolonialland um jo älter und 
allgemeiner gewejen jein wird, als ja gerade in Vorderaſien die 
Metalle Schon feit uralter Zeit für das Bedürfnis des Verkehrs in 
handliche Formen gebracht waren, und der lebte entjcheidende Fort: 
jehritt, durch welchen das gewogene Metall zum Geld wurde, Die 
Münzprägung, eine Erfindung des folonialen Hellas oder feines 
Iydiichen Hinterlandes geweſen iſt.) An den älteiten Stätten des 
epijchen Gejanges bat fie, wenn nicht ſchon im achten, jo doch 
ficherlich im Anfang des fiebenten Jahrhunderts Eingang gefunden, ?) 
nachdem ohne Zweifel Jahrhunderte vorbereitender Entwicdlung vor: 
angegangen waren. Selbſt im 9. oder 10. Sahrhundert kann alfo 
das blühende Jonien Kleinafiens und der Inſeln nicht mehr auf 
der primitiven Stufe des Verkehrs gejtanden haben, wie fie Laveleye 
vorausjeßt. 

Man darf übrigens bei gefchichtlichen Schlußfolgerungen aus 
den Lebensformen, in denen fich die Helden des Epos bewegen, 





) Daß in der Veriode der hellenifchen Bolfzwirtjchaft, in welcher die 
„Viehwährung“ in allgemeiner Geltung war, in der That ein großer Teil 
des Grund und Bodens Gemeintweide gewejen jein muß, ift ja far. Denn 
der Gebrauch dieſes „Geldes“ erklärt ſich nur durch die leichte Koftenfreie 
Konjervierung bei „Freier Weide”. Allein wie weit mag diefe Periode in 
dem Entjtehungsgebiet des Epos zurücliegen! 

>) Hultih: Griech. und röm. Metrologie (2. A.) 165 f. 

) Brandis: Münze, Maß- und Gewichtswejen in Worderafien 
u. j. w. 202. 


I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 59 


niemals außer Acht laſſen, wie oft der epijche Stil altertümliche 
Züge des Lebens und der Sitte Fonventionell feitgehalten hat, die 
in der Zeit der Sänger wenig oder feine Realität mehr bejaßen. 
Nur weil man das Efonventionelle Moment in der epifchen Dar- 
jtellung nicht immer genügend würdigt, hat man fich die wirtjchaft- 
lichen Zuftände dieſer Zeit häufig unentwidelter vorgeftellt, als ſie in 
Wirklichkeit waren.) Bewußt oder unbewußt ſchiebt ſich das Bild 
eines primitiven, überwiegend auf Biehzucht bafierten Wirtjchafts- 
lebens dem Erklärer unter und trübt den Bli in einer Weife, daß 
man in dieſem Sinne jogar noch mehr in die Dichtung Hineinkieft, 
als diejelbe für die genannte Anjchauung ohnehin jchon bietet. 
Um 3. B. zu beweijen, daß im Epos bei der Aufzählung 
des Neichtums angejehener Leute die Herden fait immer den wic)- 
tigften Teil desjelben bilden, wird Ilias XIV, 124 angeführt, wo 
„unter dem Befit des Tydeus die Schafherden obenanftehen“ jollen.2) 
Die Stelle lautet: 
Er wohnte 
Rei) an Gut in dem Haus, und der weizengejegneten Fluren 
Hat er genug und mit Bäumen bepflanzt rings Gärten in Menge, 
Viel auch) Schafe beſaß er u. j. w. 
tan fieht: „obenan“ fteht die koſtbare bewegliche Habe im 
Haufe, dann folgt das Kulturland und zuleßt das Vieh, woraus 
wir nun freilich unſererſeits keinen Schluß auf die geringere Wert 
ſchätzung des leßteren ziehen möchten, da die Reihenfolge bei jolchen 
Aufzählungen ja jehr leicht zugleich durch vein formelle, insbe— 
fondere metrifche Gründe beftimmt fein kann. Nicht minder unzus 
läſſig ift die Berufung auf Odyſſee I, 75, wo der Dichter „jelbit 
Schaferden und Kleinodien unmittelbar neben einander gejtellt“ 


1) Man überfieht zu häufig die relative Jugend unferes Homer gegen: 
über feinem Stoffe, und doch darf am wenigjten dev Wirtjchaftshiftorifer 
vergeffen, daß — um mit Wilamowit zu reden — das ältefte Denfmal der 
europätjchen Litteratur verhältnismäßig jo gar un urſprünglich ift! (Home: 
riſche Unterfuhungen ©. 292.) 

2) So Büchſenſchütz a. a. O. ©. 208. 


40 Erſtes Buch. Hellas. 


haben fol.) Bekanntlich erklärt dort Telemach vor dem Volke, 
daß es für ihn vorteilhafter wäre, wenn diejes und nicht die Freier 
jeinen Beſitz an liegenden Gütern und Herden (zeıumdıe ve 7rg0- 
Beoiv ve) aufzehren würde, weil er dann wenigftens Hoffnung auf 
Erſatz haben könnte. „Mein liegendes Gut und was weidet” über— 
jegt treffend der alte Voß, den feine vorgefaßte Meinung an der 
getreuen Wiedergabe des Sinnes gehindert hat. Gänzlich unzu— 
treffend iſt endlich das Argument, welches man aus Od. XIV, 
100 f. entnimmt,2) weil bier Cumäus, um eine Anjchauung von 
dem Neichtum des Odyſſeus zu geben, ausſchließlich die Herden 
aufzählt. Als ob dies vom Standpunkt des Hirten nicht das 
Nächitliegende wäre! Daß jein Herr anders dachte, zeigt die Klage 
Telemachs über den Verluſt der fruchtbaren Acerfluren durch die 
Freier zur Genüge (Eodieral ou oixos 0Awls dE niove 
&oye) IV, 318. 

Wer wollte überhaupt aus folchen individuell bedingten Äuße— 
rungen ohne weiteres den Gejamtcharafter des Wirtichaftslebens 
einer mehrere Sahrhunderte und jehr verjchievenartige Wirtjchafts- 
gebiete umfpannenden Epoche eripließen! Oder war etiwa auf dem 
gebirgigen Felfeneiland Ithaka das Verhältnis zwiichen Ackerbau 
und Viehzucht dasjelbe, wie auf dem üppigen Fruchtboden der weiten 
TIhalgelände Holiens und Joniens? Wie wenig wird doch die 
übliche Auffaffungsweile einer Dichtung gerecht, welche ein jo 
feines Gefühl für die Verſchiedenheit der Naturbedingungen zeigt, 
durch die der Standort der Wirtjchaftszweige bejtimmt wird. Das 
Epos, das überhaupt eine Fülle wirtichaftsgeographiicher Charak- 
teviftif bietet, fehildert eben das Wirtjcehaftsleben auf Ithaka im 
wejentlichen jo, wie es der vorausgejegten Landesnatur entſprach. 


) Nach der Anficht von Büchjenihüs ebd. Als ob das fürftliche 
Domanium von Ithaka eine einzige große Schafweide Sütherland’scher Art 
gewejen wäre und die Geftalten des biederen Eumäos und Philvitios, des 
tückiſchen Melanthios nie exiftiert hätten! 

2) Büchſenſchütz a. a. O. 


I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinſchaft b. Homer. 41 


lach dem Urteil eines jo hervorragenden Geographen, wie Bartjch,!) 

ift der Naturcharakter der Inſel allenthalben jo treffend, mit fo 
feiner Abwägung der Vorzüge und Schattenjeiten wiedergegeben, 
daß in diefer friichen, echten Lofalfärbung ein wejentlicher Reiz des 
Heldengedichtes Liegt.2) Auch über die kultur- und wirtjchafts- 
geographiiche Schilderung wird man in der Hauptjache wenigitens 
nicht anders urteilen können. Ich erinnere nur an den höchit ans 
ſchaulichen Vergleich zwijchen der relativ bejchräntten, auf kargbe— 
mefjene Naturgaben angewiejenen Inſelwirtſchaft und der reichen 
Landesfultur in der gejegneten Fruchtebene Lafevämon!?) Wenn 
aljo die Viehzucht in der Odyſſee, joweit Ithaka ihr Schauplatz ift, 
bejonders in den Vordergrund tritt, jo handelt es ſich bier um 
eine örtlich bedingtet) Erſcheinung, welche auf die Zuftände der 
hellenijchen Welt im allgemeinen fein Licht wirft. 

Übrigens läßt gerade das homeriſche Ithaka deutlich exfennen, 
wie wenig „primitiv“ wir uns den volfswirtichaftlichen Hinter 
grund der Döyfjee zu denken haben. Die — allerdings etwas 
emphathiſche — Schilderung des Wein: und Getreideertrages der 
Inſels) und die Charakteriftif von Telemahs Erbe‘) zeigt uns 

1) Kephallenia und Sthafa. Ergänzungsheft 98 zu Petermanns Mit: 
teilungen ©. 61. 

2) Daß das Ithaka Homers keineswegs das fchattenhafte willkürliche 
Phantafiegebilde eines nur mit Kleinafiens Ufern vertrauten Dichters ift, hat 
gegen den befannten Radikalismus Herchers (Homer und das Ithaka der 
Wirklichkeit: Hermes T, 263 ff.) die Unterfuhung von Partſch zur Genüge 
feſtgeſtellt. 

) Ob. IV, 602 ff. 

4) Die Erörterung don Partſch über die Topographie Ithakas, ins— 
bejondere über die Hochfläche Marathia hat es völlig Elargelegt, daß, wie Die 
Hauptichaupläße der Dichtung überhaupt, jo auch gerade das Weiderevier des 
Eumäus mit großer Treue dev Wirklichkeit entnommen find. 

5) Daß Od. XIII, 242 &v u2v ydo ol oiros adEoperos eine poetijche 
Übertreibung enthält, wird man Hercher ohne weiteres zugeben. Daß er 
aber aus dieſer poetifchen Lizenz übereilte Schlüffe gezogen hat, iſt nach den 
Mitteilungen von Partſch über die Ergiebigkeit der anbaufähigen Zeile 
Sthafas (S. 96) ebenjo unzweifelhaft. 

6) IV, 318. Einen Bejtandteil des Erbes bilden die zlora Eoya. 


42 Erſtes Buch. Hellas. 


bereitS damals die Bevölkerung des Eilands auch um Aderbau und 
Nebenfultur eifrig bemüht.) Schon in den. Zeiten des epijchen 
Geſanges haben alſo in dem Landjchaftsbild Ithakas die emfig ge- 
pflegten Weinterrafen und die jorgfältig beitellten Fluren der Thal- 
gründe nicht gefehlt, welche dort heute das Auge des Bejchauers 
erfreuen. Ja man fann jagen, auch die Weidewirtichaft, wie fie 
die Dichtung ſchildert, enthält unverfennbare Spuren einer fortge- 
gejcehrittenen Stufe wirtjchaftlicher Entwicklung. Wohl zeugt fie 
noch von einer ausgedehnten Bewaldung der Höhen, die den 
Schweinen reichliche Eichelmaft ficherte, jehon find jedoch auch um: 
fafjende Streden dem Weidegang der Ziege verfallen. Die Inſel 
wird geradezu als ein Land der Ziegenweide bezeichnet,2) was da: 
rauf Schließen läßt, daß einerjeitS an den Berglehnen bereits die 
Entholzung begonnen, andererjeitS in den Niederungen der garten 
artige Anbau entjchiedene Fortichritte gemacht hatte. Denn Die 
Ziege, Die nicht, wie das Nind, fetter Wiejen, überhaupt weiter 
Näume bedarf,3) jondern ſich mit dem wilden Strauchwerf der 
heißen Felsabhänge begnügt, ift in den Gebirgslandichaften des 
Südens vecht eigentlich das Haustier des gartenmäßigen Anbaues.*) 
Erſt mit diefer Kulturart findet fie ihre eigentliche Stelle und nüß- 
liche Verwendung. Und Ähnliches gilt von dem Maultier, deſſen 
Einführung — eben wegen feiner größeren Genügjamfeit — gleich 
falls mit dem Umfichgreifen der Baumzucht enge verfnüpft war. 
Seine Verwendung als Arbeitstier — bei der Feldbejtellung fo: 
wohl, wie bei der Beförderung von Laften — erſcheint ſchon in 
der Welt der Jlias allgemein verbreitet und ift in der Ddyjee (IV, 
637) gerade für Ithaka bezeugt. — 


!) Eine Bemühung, die, wie der Dichter treffend bemerkt, troß des 
beſchränkten Terrains infolge der uch des Klimas mit veichem Erfolg ge: 
krönt war, v. 244 f. 

>) IV, 605, XIII, 246 eiyißoros ayadın. 

3) Dies wird als Urjache der ausgedehnten Ziegenzucht Ithakas von 
Homer ausdrüdlich angeführt. 

') Bgl. Hehn: Kulturpflanzen und Haustiere u. ſ. w. (4) ©. 110. 


I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 43 


Die Anfiht, nad) welcher noch in der Entjtehungszeit des 

Epos ganz allgemein in Hellas Viehwirtſchaft und Allmendenbefit 
das Übergewicht bejaß, fteht nun aber ferner auch im Widerfpruch 
mit der Thatjache, daß die helleniiche Staatenwelt in der Geftalt, 
wie fie die homerischen Gedichte vorausjegen, bei weitem nicht in 
dem Grade auf Fulturlofem Boden entitanden war, wie etwa die 
altgermanifche.) Daß das hellenishe Mutterland ſchon in fehr 
alter Zeit ftarf bevölkert und dementiprechend Eultiviert war, be: 
zeugen zur Genüge die zahllofen Überreſte diefer Kultur, ſowie die 
Auswanderermaſſen, die das ägäiſche Meer und die Geftade Klein- 
afiens dem bellenijchen Volkstum gewonnen haben. Dies foloniale 
Hellas vollends, die Wiege dgS epiichen Gefanges, iſt vecht eigent- 
lich auf uraltem Kulturboden erwachjen. Vielfach alfo fanden die 
Stämme, auf denen die Staatenbildung des hiftoriichen Hellas be- 
ruht, das Werf der Landesfultur beveit3 mehr oder minder fort- 
geſchritten. Andererjeits muß dies Werk von ihnen mit großer 
Energie weitergeführt worden fein. Die Zeriplitterung in eine 
Fülle Kleiner Volksgemeinden, denen die Bejchränktheit ihrer Ge— 
biete die Notwendigkeit einer möglichiten Nutzbarmachung derjelben 
bejonders nahe legte, war dem raschen Ausbau im Lande ungemein 
günftig. Die koloniſatoriſche Kraft, welche die DVerteilung des 
nationalen Bodens unter jo viele Kleine Kulturzentren entfefjelte, 
zeigte jich in der That jo überaus wirkſam, daß es der mächtig 
anmwachjenden Bevölkerung jchon jehr bald in der Heimat zu enge 
geworden ift. Welch eine gewaltige Fülle überſchüſſiger Volkskraft 
vermochte die hellenifche Welt feit dem achten Jahrhundert aus 
ihrem Schoß zu entjenden, um die Gejtade des Mittelmeer mit 
helleniſchen Siedlungen zu bededen! 
1) Übrigens iſt jelbjt hier die Entwicklung eine raſchere gewejen, ala 
man gewöhnlich annimmt. Lamprecht (Deutſche Wirtſchaftsgeſchichte I, 12) 
bemerkt mit Recht, daß troß der großen Betonung des Viehftandes 
in den Volksrechten die Viehzucht damals doch nicht mehr im 
Brennpunkt des Wirtſchaftslebens ftand, daß fie jich jchon in weſent— 
lichen Punkten abhängig zeigt von der Kultur des Landes, vom Anbau dev 
Felder und der Ausnügung von Wieje, Weide und Feld. 





44 Erſtes Bud. Hellas. 


Es ift in diefer Hinficht äußerſt bezeichnend, daß in ven 
Kyprien, einer Dichtung des fiebenten Jahrhunderts, welche den 
jüngeren Beftandteilen der Odyſſee noch gleichzeitig ift, die in der 
Ilias erwähnte Bovin des Zeus Ei ein bevölterungspolitiiches 
Motiv zurückgeführt wird, auf die Weiſe Abficht des Gottes, Die 
Erde vom Drude der Übervölferung zu befreien! (aUvdero zov- 
yiocaı avdowv außwroo« yalav.) 

In der That ift nach allgemeiner Volksanſchauung die Landes— 
kultur in Hellas eine fo uralte gewejen, daß die ſchwierigſten Kultur: 
arbeiten auf mythiſche Heroen zurüdgeführt werden konnten, daß 
in vielen Landfchaften die Idee von der Urjprünglichkeit des Ge— 
treidebaues zu Haufe war und fich aufs innigjte mit den ältejten 
mythiſchen Traditionen verflocht.!) Schon für die Slias ift die 
Erde die vielewnährende (XY@v rovAvßorsıoa, yala« rroAvgpogßos), 
und dem entjpricht die Stenfität des Anbaues, von der die Schil- 
derungen der Epen überall Zeugnis ablegen. Nicht nur dab im 
Ackerbau der Erhaltung und Vermehrung der Bodenfruchtbarkeit 
durch jorgfältige Düngung und Brachpflügung Rechnung getragen 
wird,2) jondern man ift auch in der Ausnützung des Bodens be- 
reits bei einer entwicelten Gartenfultur angelangt. Die edle Baum: 
sucht, an fich ſchon ein Kriterium uralter Kultur, jehen wir bereits 
in der Ilias vom Obſt- und Weinbau bis zur Olkulturs) fortge 
ſchritten. Ader und Pflanzung erjcheinen jo jehr als Foordinierte 
Kulturzweige, daß 3. B. unter den Kennzeichen des barbarijchen 
Urzuftandes der Cyklopen die Unbefanntichaft mit der Baumzucht 
ebenfo betont wird, wie die mit dem Aderbau.t) Äußerſt bezeich- 


1) Preller: Demeter und Perjephone ©. 283. 

2) Ilias XXI, 174. 

3) Vol. die don Neumann-Partſch Phyſ. Geogr. d. Griechenland ©. 
413 aufgeführten Stellen der Ilias, die in Verbindung mit den in den prä— 
hiſtoriſchen Anſiedlungen von Santorin entdeckten Ölmühlen das hohe Alter 
der Ölgewinnung und wohl auch der Beredlung des Ölbaums gegen die be: 
fannte Anficht Hehns zur Genüge beweijen. 

) Od. IX, 108 Ovrte Yvrevovoır yeooiv pvröv, oVT’ dgoWwoıv. 


\ 


I. 2. Die Hausfommunion u. d. Frage d. Feldgemeinjchaft b. Homer. 45 


nend für das Gefühl auch der wirtjchaftlichen Überlegenheit, welches 
ven in dieſe Naturwildnis verichlagenen Kulturmenfchen erfüllt, ift 
das Bedauern des Odyſſeus über die Nichtbeftellung des für Pflug 
und Pflanzung jo jehr geeigneten Bodens und der zuverfichtliche 
Ausſpruch, daß das Cyflopenland, wenn es durch den Schiffsver- 
fehr mit den Städten der Menjchen in Verbindung gebracht wer: 
den könnte, bald in eine wohlbebaute Kulturlandjchaft umgewandelt 
jein mwürde.!) Das kann nur aus den Empfindungen einer Zeit 
heraus gedacht fein, in welcher der innere Ausbau des Landes im 
wejentlichen vollendet war und für welche die landichaftliche Phyfio- 
gnomie bereits duch das — Unland und Wald weit zurüd- 
Drängende — Kulturland wohlgepflegter Fruchtgärten und Acker— 
fluren entjcheidend bejtimmt wurde. ?) 

Aus alledem geht zur Genüge hervor, in welch weiten Um: 
fang ſchon in der Entjtehungszeit des Epos der bleibende perſön— 
liche Befiß aus dem gemeinjam benübßten Lande ausgeſchieden jein 
muß. Die allgemeine Verbreitung der edlen, von Bejchaffenheit 
und Güte der perjönlichen Arbeit in hohem Grade abhängigen 
Kulturen, des Weinbaues und der Baumzucht it ein untrügliches 
Symptom der uralten Entwicklung des Privateigentums am Grund 
und Boden, ohne welches dieſe „individuellen” Kulturen nicht ge 
deihen Fünnen. Aber auch der Ackerbau war fiherlic) im großen 
und ganzen den feldgemeinschaftlichen Formen entwachjen. Die 
Ansprüche einer wachſenden Bevölkerung an die Intenſität des An— 
baues, an die Produktivität der Arbeitsleiftung waren offenbar ſchon 


1) Od. IX, 125 (ovd’ avdoss... Evı) 
ol xE opıv zei vjoov £üzriuevnv Exduovro. 
00 uEv ydo Tı xarn Ye, pEooı dE zev @gLe ndvre' 
&v uv yco heıumves dhös nohıoio ag’ Oysas 
vdonkoi, uehazoi" uch zdpdıror Aunehor eier. 
Ev Ö’@oooıs Asin' ucdhe zev BaFo Amlov ale 
eis WoRS dumer' Enei udie niag vn’ ovdes. 
2) Bol. zur Charakteriftit der homerifchen Kulturlandjchaft Od. IX, 
131 ff., XVII, 297 ff. und — ganz analog — auch jchon Ilias V, 87 ff, 
XXI, 257 ff. 


46 Grit Buch. Hellas. 


zu hohe, der Trieb nach individuellem Erwerb und jelbjtändiger 
Bewegung zu jehr entwidelt, als daß — in den fortgejchritte- 
nerven Landjchaften wenigftens — eine gemeimwirtichaftliche Organi— 
jation des Aderbaues dem Bedürfnis der Zeit noch zu genügen 
vermocht hätte. In der That gehört nad) der Anjchauung der 
Odyſſee wenigjtens zu den erſten Alten menschlicher Anſiedlung die 
Austellung der Fluren und zwar unverkennbar zu individuellen 
Eigentum.!) 

Wenn wir nun aber nach alledem nicht im ftande find, neben 
der Hauskommunion noch eine andere Form des agrarischen Kom— 
munismus aus dem Epos zu erweijen, jo müſſen wir weiter fragen, 
ob fich nicht etwa anderwärts Spuren eines Jolchen Kommunismus 
erhalten haben. 


Dritter Abfchnitt. 
Der Kommuniſtenſtaat auf Lipara. 


Eine der wichtigiten Thatjachen, die man für eine verhält- 
nismäßig lange Fortvauer der Feldgemeinjchaft in der hellenifchen 
Welt geltend gemacht bat,2) iſt unjtreitig die berühmte Gejell- 
Ihaftsverfaffung der von den Hellenen Folonifierten lipariſchen 
Inſeln. Wie der Sizilianer Diodor erzählt, waren um das Jahr 
550 v. Chr. Auswanderer aus Knidos und Nhodos nad Sizilien 
gekommen und hatten fich zuleßt auf den lipariichen Inſeln an— 
gefiedelt. Um den Angriffen der Etrusfer gewachjen zu fein, bauten 
fie eine Flotte und organifierten ihr ganzes Gemeinwejen auf Friege- 
riſchem Fuß und zugleich nach ftreng kommuniſtiſchen Grund» 
jägen. Der Grund und Boden der Inſeln blieb im Gejamteigen- 
tum, und während immer ein Teil der Bevölkerung der Bekämpfung 
ver feindlichen Piraten oblag, bebaute der andere das Land, dejjen 


ı) Od, VI, 10. 
2) ©o 3. B. Biollet a. a. DO. 467 ff., Zaveleye 371 ff. 


I. 3. Der Kommuniſtenſtaat auf Lipara. 47 


Ertrag bei öffentlichen Mahlzeiten gemeinſam verzehrt wurde.) 
Diejes Syſtem eines vollfommenen agrariihen Kommunismus 
wurde, wie Diodor berichtet, längere Zeit beibehalten. Dann wurde 
der Boden der Hauptinjel Lipara zur Sondernußung aufgeteilt, 
während die anderen Eilande — offenbar überwiegend als Weide?) — 
auch ferner noch gemeinfam bewirtjchaftet wurden. Zulegt teilte 
man das ganze Inſelgebiet, jedoch nicht zu vollem Eigentum, ſon— 
dern jo, daß alle zwanzig Jahre eine Neuverlojfung vorgenommen 
wurde.?) 

Wir haben feinen Grund an der Nichtigkeit dieſer Erzählung 
zu zweifeln, fie etwa auf Ein Niveau mit jener Schilderung des 
Kommuniftenftaates der Fabelinjel Panchaia zu jtellen, welche Diodor 
in demjelben Buch (V, 45) der iso« avaeyoayr des Euchemeros 
nacherzählt hat. Der Bericht Diodors über Lipara ift gewiß — 
wenn auch nur indireft durch Vermittlung des Timäust) — aus 
der Darjtellung gefloffen, welche Antiochus von Syrafus in feinem 
großen Gejchichtswerf über Sizilien den Inſulanern von Xipara 
gewidmet hat. Sie entipricht dem lebhaften Intereſſe dieſes Ge- 
Ihichtsjchreibers für Verfaſſungs- und Kulturgeſchichte und verdient 





!) Diodor V, 9: "Yoreoov de tav Tuvoönvov Anotevorrwv Ta zarte 
Faharrav TIOAEUOVUEVOL, KUTEOKEVEORVTO vavıızov, zul diskouevor OPEs 
avrods, ol uEv EyEWgyovv Tds vij0oVS xolvds nomoavres, ol de moög Toüs 
Anotas avreratrovro' zul TES oVolas xoıvds noımodusvoi zal bovres zarte 
ovooit« Jıereleoev Ei TIvas Xo0vovS x0LrwviXWs PLODVTES. 

2) Vgl. Strabo VI, p. 276 über die Bodenverhältnifje dieſer Kleinen 
Inſeln. 

3) "Yorsgov ,ν uv Amdocu za9” αν n molıs nv, dievei- 
uavro, Tas dE @Adas Eyewgyovv xowwn. To de TeAevralov ndous Tas vjoovs 
eis Eixooıw Ern dieköuevor, akıy xAmgovyoöcır, ötev Ö xo6vos oVTos 
dıeAgn. 

+) Die Vergleichung Diodors V, 9 mit Pauſanias X, 11, 3 und Thuf. 
III, 88 jpricht wohl gegen die direkte Benützung, wie jie Müller Hist. graec. 
fragm. I, XLV annimmt. Bol. Wölfflin: Antiochus dv. Syrafus und Coelius 
Antipater S. 21 cf. 13. Volquardſen: Unterfuchungen über die Quellen der 
griech. und fizil. Gejchichten bei Divdor ©. 80. Müllenhoff, Deutjche Alter: 
tumskunde 1,2 447 ff. 


48 Erſtes Buch. Hellas. 


ſchon darum allen Glauben, weil Antiochos ernſtlich bemüht war, 
möglichjt Zuverläffiges (Ex Tov aoyaiov Aoyav Ta novorara 
za oeyeorare!)) zu überliefern, und weil er andererjeit$ die 
geſchilderte Geſellſchaftsverfaſſung wenigſtens in ihren jpäteren Ent- 
wicklungsphaſen jehr wohl aus eigener Anſchauung oder perjönlicher 
Grfundigung kennen konnte. Auch liegt fein Grund zu der An— 
nahme vor, daß die Diodoriſche Erzählung den urjprünglichen Bes 
richt und das echte Bild dieſer Verfaſſung in weſentlichen That- 
ſachen entjtellt haben ſollte. Sie zeigt unverkennbar die echten Züge 
einer primitiven Agrarverfaffung und enthält fein Moment, welches 
fich nicht aus der Gejchichte der Feldgemeinschaft vielfach belegen 
ließe. ?) 

Allein wenn wir auch die Feldgemeinjchaft auf Lipara als 
geschichtliche Thatſache anerkennen, jo müſſen wir doch andererjeit3 
die Schlußfolgerungen, die man aus dieſer Thatſache gezogen hat, 
vielfach als zu weitgehend bezeichnen. ES ift durch nichts gerecht: 
fertigt, wenn man die Vermutung ausgejprochen hat, daß der 
Kommunismus der Liparer ſchon in den Zuftänden ihrer urjprüng- 
lichen Heimat wurzle, vielleicht gar ein Nachklang aus der Wander: 
zeit der doriſchen Stämme jei.?) Dagegen jpricht ſchon der Um— 








1) Vol. Dinoyfius v. Halikarnaß I, 12. 

?) Bol. 3. B. Diodor V, 34 über die Feldgemeinjchaft bei den Vaccäern 
in Spanien (Sährliche Berteilung von Aderland und Ertrag), Strabo VII, 
p. 315 über die der Dalmatiner (Alle acht Jahre Neuverteilung des Landes). 
Dal. auch die Schilderung der fozialen Organifation der Sueven bei Cäſar 
B. G. IV, 1, die in wejentlichen Zügen ein Seitenſtück zu der der Liparer 
bietet. „Die, welche im Lande bleiben, jagt Cäſar, bauen den Ader für fi) 
und die Abwejenden und jtatt der letzteren find jie hinwiederum das folgende 
Jahr unter den Waffen, während jene zu Haufe bleiben. Es gibt feinerlei 
Ackerland im Beſitz der Einzelnen und geſondert.“ 

>) So Viollet a. a. O. ©. 468: Peut-etre aussi ces tribus voyageu- 
ses qui des Cyclades s’etaient transportees dans la Carie, qui, peu 
apres (!?), quittaient Cnide et s’unissaient a quelques Rhodiens pour faire 
voile vers la Sicile, peut-&tre ces tribus s’etant fixdes plus tardivement 
que les autres, avaient-elles garde plus longtemps aussi les moeurs et 
les usages qui conviennent aux nomades. 


I. 3. Der Kommuniftenftaat auf Zipara. 49 


jtand, daß Lipara eine der jüngſten Kolonien Siziliens war. AS 
ihre Gründer aus Knidos und Rhodus auszogen, hatten dieſe Ge- 
meinden bereitS eine Gejchichte von mehreren Sahrhunderten hinter 
ih. Die duch die Kolonifation und die Erſchließung Ägyptens 
im fiebenten Jahrhundert mächtig geförderte gewerbliche und mer: 
fantile Blüte der kleinaſiatiſchen Städte, der wirtjchaftlihe Auf- 
Ihwung der auf altem jemitischen Kulturboden begründeten Ge- 
meinden von Rhodus, welches nach dem aus dem fiebenten Jahr— 
hundert jtammenden homeriſchen Schiffskatalog (Sl. II, 670) „von 
Zeus die unendliche Fülle des Neichtums empfangen”, die ariſto— 
kratiſche Verfaſſung, mit der dieje Gemeinden in die Gejchichte 
eintreten, al das läßt auf eine viel zu weit fortgejchrittene Ent- 
wicklung der Eigentumsordnung jchliegen, als daß man bier noch 
für das jechite Jahrhundert die Fortvauer der Feldgemeinjchaft 
vorausjegen könnte. 

Sn der That bedürfen die Zuftände auf den Liparen Feiner 
Anknüpfung an die des Mutterlandes. Sie erklären ſich vollkommen 
aus der bejonderer Situation, in der fich die Inſulaner befanden. 
Mitten im friedlofen, von den Erbfeinden der Hellenen, von Etrus— 
fern umd punifchen Semiten, beherrſchten Meere, auf einem der 
gefährdetjten Außenpoſten der hellenijchen Welt,!) fortwährend von 
Kataftrophen bedroht, wie fie z. B. im Mittelalter jelbjt das weit- 
entlegene Island von afrifanischen Piraten erlitt, hatte die Bevöl- 
ferung von Lipara ihre ganze Eriftenz auf den Kampf geftellt. 
Sa es jpricht alles dafür, daß die Hellenen ſich dieſer Inſeln, die 
als Warten auf hoher See das weitejte Gefichtsfeld beherrjchten, 
von vorneherein in der Abficht bemächtigten, um von hier aus gegen 
Etrusker und Karthager Kaperei zu treiben,?) die ja damals auf 


1) Vgl. Strabo von Lipara — nıgös tes Tov Tvgönvav Enidgouds 
TOMM yoovov avreogev. VI p. 275. 

2) Wie es 3. B. jener Kapitän aus Phokäa ebenfalls in den fizilijchen 
Gewäfjern that, von dem es bei Herodot heißt: Amiorys zarsorjxzee Eilıvor 
uev ouderos Keoyndoviov de xal Tugomvor. VI, 17. In der That ift 
twiederholt von den reichen Zehnten die Rede, welche die Liparer aus dem 

Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I 4 


50 Erſtes Buch. Hellas. 


beiden Seiten als ein ehrliches Gewerbe galt und für welche die 
giparen jo vorzüglich geeignet waren. Haben wir hier aber eine Art 
Korfarenburg!) vor uns, jo tritt die liparische Verfaſſung aus dem 
Nahmen der allgemeinen Volfsentwidlung vollfommen heraus. Sie 
ericheint als ein ebenjo jinguläres Phänomen, wie 3. B. jener weit 
indijche Flibuftierftaat, in welchem ſich ja auch auf Grundlage der 
PBiraterie eine ftreng militärische Drganifation mit fommuniftifchen 
Einrichtungen verband. 

Eben diefe analoge Erjeheinung weit recht deutlich darauf 
bin, daß der lipariſche Kommunismus in den befonderen Verhält— 
niffen wurzelt, in denen wir die Hellenen hier finden. Wie leicht 
konnte der kriegeriſche Korpsgeift einer Bevölkerung, in der fich alle 
al3 Genofjen eines militärifchen Verbandes fühlten, zu jolchen In— 
ftitutionen führen! Wo es ftets für die ganze eine Hälfte der 
Volksgenoſſen feine andere wirtichaftliche Thätigkeit gab, als Beute: 
auszug und Friegeriihen Gewinn, wo man gewohnt war, Beute: 
ſtücke mit den Genoſſen als Erwerbsjtüde kameradſchaftlich zu 
teilen, was lag da näher, als daß man auch den gemeinſam ge— 
wonnenen Boden der neuen Heimat ebenſo behandelte, wie den 
Kriegserwerb? Es entſprach durchaus der Natur der Dinge, daß 
auch der Grund und Boden als Eigentum der ganzen kriegeriſchen 


Beuteertrag ihrer vielen Kämpfe mit den Etruskern dem delphiſchen Gottte 
weihten. Diodor V, 9, Strabo VI, p. 275, Pauſanias XII, 3. 

) Sp bezeichnet Niffen treffend Lipara. Italiſche Landeskunde I, ©. 
122. Bon diejer Stellung Liparas haben ſich in der Gefchichte auch noch 
direfte Spuren erhalten. DBgl. 3 B. den Beriht des Livius V, 23 und 
Diodor XIV, 93. über die Aufhebung einer römischen Gejandtichaft an den 
delphijchen Apoll durch Piraten von Lipara. Mos erat civitatis, bemerkt 
Livius dazu, velut publico latrocinio partam praedam dividere. Alſo 
die von Einzelnen gemachte Beute wird nad) jtreng koumuniſtiſchem Prinzip 
unter alle Bewohner Liparas verteilt! 

Wenn in der Darftelung desjelben Ereigniſſes bei Plutarch (Camil: 
lus c. 8) der Verſuch gemacht wird, dasfelbe in einem anderen Licht ex: 
fcheinen zu laſſen, jo iſt das jpätere tendenziöfe Umdeutung, wie jchon Reinach) 
mit Recht bemerkt hat: Le collectivisme des Grecs de Lipari. Revue des 
etudes grecques 1890 ©. 93, 


I. 3. Der Stommuniftenftaat auf Lipara. 51 


Korporation erſchien, auf deſſen Nutzung jeder an feiner Verteidigung 
beteiligte Kamerad ein wohlerworbenes Anvecht hatte. Dazu famen 
die Vorteile, welche eine jolche Gefellfchaftsordnung gerade für die 
Verhältniffe Liparas haben mußte. Indem fie die Entwicklung 
ausjchlieglichen Eigentums möglichjt verhinderte, wirkte fie zugleich 
im Intereſſe der jtetigen Kriegsbereitichaft, welche den Inſulanern 
ihre Lage auferlegte. Sie erfticte im Keime, was den Friegerifchen 
Sinn hätte jchwächen können, die Neigung zu friedlihem Schaffen 
und Erwerben, jowie die Gewöhnung an reichlicheren und bequemeren 
Lebensgenuß und die — bei dem Inſtitut des Privateigentums un- 
vermeidliche — wirtjchaftliche und joziale Ungleichheit, die größte 
Gefahr für den Geiſt der kriegeriſchen Bruderjchaft.!) 

Bei diefer Auffaflung von den Entjtehungsmotiven der lipa- 
riſchen Gejellichaftsoronung wird man es auch nicht für wahrjchein- 
(ih halten, daß diejelbe eine erheblich längere Dauer gehabt haben 
jollte, al3 die Verhältnifje, denen fie ihren Urſprung verdantte. 
Allerdings bedient ſich Diodor bei der Daritellung ihres leßten Ent- 
wicklungsſtadiums (Sonderbejiß mit periodischer Neuverlofung) des 
Präſens, jo daß man den Eindrud gewinnt, als ob die Liparer 
noch in Diodors Zeit, unter Kaiſer Auguftus, das PBrivateigentum 
nicht vollftändig durchgeführt hätten, als ob ſie damals noch „vor 
den Thoren Noms die von Cäſar in Germanien beobachteten perio- 
diſchen Teilungen übten”.2) Allein dieſer Schluß wird durch die 
nabeliegende Erwägung hinfällig, daß jenes Präſens ein Präfens- 
biftorifum jein kann oder, wenn nicht, daß es von Diodor mög- 
licherweije gevdanfenlos jeiner Duelle nachgejchrieben wurde, was 


1) Was Cäſar don der Agrarverfaffung der friegeriichen Sueven jagt, 
l. c. IV, 22, das gilt genau jo für die Hellenen auf Zipara: Ejus rei mul- 
tas adferunt causas: ne assidua consuetudine capti studium belli gerundi 
agricultura commutent, ne... potentiores humiliores possessionibus 
expellant, ne... quo oriatur pecuniae aviditas, qua ex re factiones 
dissensionesque nascuntur, ut animi aequitate plebem contineant, quum 
suas quisque opes cum potentissimis aequari videat. 

2) So Laveleye 372, Biollet a. a. O. 468. 

4* 


59 Erſtes Bud). Hellas. 
bei einem fo „elenden Skribenten” !) nichts Auffallendes wäre. Auch 
fonft fehlt es ja bei Diodor nicht an Beijpielen dafür, daß er 
Sätze älterer Autoren unverändert herübernimmt, ohne Rückſicht 
darauf, daß fie auf jeine Zeit gar nicht mehr pafjen.?) Für die 
Frage nach der geichichtlichen Stellung und Bedeutung der Feld: 
gemeinjchaft von Lipara ift demnach der genannte Umftand ohne 
jede Beweiskraft. 

Das Präſens in dem Berichte Diodors über Lipara Fünnte 
höchitens joviel beweilen, daß jein Gewährsmann Timäus, dem 
er es nachgejchrieben, von der Feldgemeinjchaft der Liparer wie von 
einer noch bejtehenden Einrichtung geſprochen hat. Und es iſt ja 
ſehr wohl möglich, daß Timäus diejelbe in ihrer legten Entwid- 
lungsphaſe noch erlebt hat. Er beendete jein Werk noch vor der 
Groberung Liparas durch die Nömer, vor der Mitte des dritten 
Sahrhunderts.?) Wer wollte jedoch) annehmen, daß die von ihm 
geichilderten Zuftände noch nach dieſer Zeit fortdauerten oder gar 
noch dann, als Lipara eine römische Kolonie geworden war?t) — 
Wie gründlich fi bis zur Zeit Diodors die Verhältniſſe auf Lipara 
geändert hatten, beweiſen die Angaben Giceros in der dritten An— 
Elagerede gegen Verres, deſſen Mißwirtſchaft auch diefe Inſulaner 
ſchwer zu empfinden hatten. Die Liparer erjcheinen bier als ein 
durchaus friedliches Völkchen, welches jo wenig von den alten 
Traditionen der Inſel bewahrt hat, daß es fich den ungeftörten Bei 
feiner Acker von den Piraten durch regelmäßige Zahlungen erfauft!>) 

I) Dieſe Mommjenjche Charakteriftit Diodors (R. Chronol. ©. 125) 
bleibt gewiß noch immer zu Recht bejtehen, troß der neuejten Divdor gewid— 
meten Nettungsverjuche, wenn diejelben auch in Beziehung auf den Umfang 
feiner Quellenbenügung eine gewiſſe Berechtigung haben. 

?) Bgl. die treffenden Beobachtungen Müllenhoffs (Deutjche Altertum: 
funde II, 180) über eine derartige fritiflog aus Poſidonius abgejchriebene 
Stelle desjelben Buches (V, 32). 

3) Die Einnahme Liparas erfolgte 251. Vgl. Polybius I, 39. 

*) Plinius N. H. II, 9. Eine Thatſache, die Biollet und Laveleye 
völlig ignorieren. 


°) Cicero in Verrem III, 37: tot annis agellos suos redimere a 
piratis solebant. 


I, 4. Angebliche Spuren des Kommunismus in Großgriechenland. 53 


Dierter Abfchnitt. 
Angeblihe Spuren des Kommunismus in Großgriechenland. 


Koch weit problematiicher, als die Nükihlüffe, die man von 
dem immerhin geichichtlichen Kommuniftenjtaat der Liparer auf die 
allgemeine Entwidlung von Hellas gemacht hat, erſcheinen die neuer- 
dings hervorgetretenen Anfichten über gewiſſe Spuren des Kommunis- 
mus im benachbarten Großgriechenland. 

tan hat fich nicht gejcheut, aus dem Wuſte der neupythago- 
reiſchen und neuplatonijchen Litteratur jene fabelhafte Gejchichte 
herauszugreifen, wonach) auf das Wort des Pythagoras mehr als 
2000 (nach anderen 600) Menjchen die Gütergemeinjchaft ange: 
nommen und auf Grund derjelben ein eigenes Gemeinweſen geitiftet 
hätten.!) Die Phantaſie franzöſiſcher Foricher hat ſich — offenbar 
unter dem Einfluß der vorgefaßten Meinung von der Allgemeinheit 
des Inſtituts der Flurgemeinſchaft — zu der Behauptung hinreißen 
lafjen, daß diefer Angabe vermutlich eine alte mißverjtandene Über- 
lieferung über die Entjtehung einzelmer ſüditaliſcher Gemeinden zu 
Grunde liege, die in die jpäteren halb jagenhaften Erzählungen über 
das Leben des Pythagoras „übergegangen“ jei.2) 

Als ob es fich hier überhaupt um „Sage” hundle und als 
ob nicht alles, was wir über die „pythagoreiiche” Gütergemeinjchaft 
erfahren, unverfennbar den Stempel jüngerer Erfindung an ſich 
trüge!3) Es follte doch Faum mehr eines Hinweifes darauf bes 
dürfen, daß die Gejchichtserzählung für die Neupythagoräer und 
Neuplatonifer lediglich eine Form ift, deren fie ſich mit Jouveräner 
Willkür bedienen, um jeden beliebigen Inhalt hineinzulegen und 
durch die Autorität der Vorzeit zu empfehlen.) Es jind die eigenen 


1) ©. die Erzählung des Nikomachus bei Porphyrius Pyth. vita in 
der Didotichen Ausgabe des Divgenes Laert. ©. 91. 

2) Biollet a. a. O. 468, Laveleye a. a. D. 372. 

3) Bgl. Zeller, Philojophie der Griechen It, 290 ff. 

4) Zeller: Pythagoras und die Pythagorasfage. Abhandlungen. 1. 
Sammlung 2. Aufl. ©. 33. 


54 Erſtes Bud. Hellas. 


Ideale, die fie ohne Scheu in den angeblichen Lehren und Schö- 
pfungen des Pythagoras darjtellen. Diefe Ideale aber find wie 
auf jpefulativem, jo auch auf ſozial-politiſchem Gebiete wejentlich 
bedingt durch den Platonismus, ja der Neuplatonismus hat jogar 
ein Projekt zur Verwirklichung des platoniichen Staates in Italien 
aufzuweifen.!) Es unterliegt übrigens um jo weniger einem Zweifel, 
daß die fommuniftischen Elemente der Pythagorasmythe (neben dem 
Mihverftändnis des pythagoreiſchen Lebensprinzips: zowe va rov 
yiAoy2)) der jpäteren Platonifierung der pythagoreiſchen Lehre 
ihren Ursprung verdanken, als die älteren und glaubwürdigeren 
Nachrichten über Pythagoras von der Gütergemeinjchaft noch nichts 
zu melden wiljen.?) 

Dover glaubt man, daß Plato, nachdem er der pythagoreifchen 
Lehre und den Pythagoräern in Italien jelbjt perjönlich jo überaus 
nabegetreten, jich in der Weife über die Undurchführbarfeit des 
Kommunismus hätte äußern können, wie er es in den „Geſetzen“ 
thut, wenn er ein wirklich kommuniſtiſches Experiment des Ordens, 
ein „Phalanſtère“ des Pythagoras vor Augen gehabt hätte? Und 
jelbjt wenn man an ein jolches Experiment glaubt, was ift damit 
für die total verjchiedene Frage nach der Fortvauer einer primis 
tiven Feldgemeinjchaft gewonnen? Die Möglichkeit, daß die Bytha- 
goraslegende in dieſer Hinficht an eine gejchichtliche Thatjache an— 
fnüpfte, wäre höchſtens dann anzunehmen, wenn ſich ivgendwo in 
dem bellenifchen Unteritalien Spuren einer alten Feldgemeinjchaft 
erhalten hätten. Allein das ift nirgends der Fall! Denn das Bei: 
jpiel Tarents, wo man im Hinblid auf eine Stelle des Ariftoteles 
noch im vierten Sahrhundert Nachklänge einer gemeinwirtichaftlichen 
Eigentumsordnung zu finden glaubt, beweift nicht, was fie beweijen 


!) Porphyrius v. Plotin. e. 12. 

2) Wie weit dies Mißverſtändnis ging, zeigt die Notiz des Photius 
8. v. xoıva Ta TWv plhov' Tiuaios pyoıww Ev 1a Hravenv Aeydnvar xare 
nv usyakyv Eiiade, xa9 ovs yoovovs Hvsayopas aveneidE ToVs Tavımv 
xarorxoüvras adıeveunte zExTnoFRL. 


3) Bgl. Zeller a. a. D. 


> 
N 


T. 4. Angebliche Spuren des Kommunismus in Großgriechenland. 55 


joll. Ariftoteles jagt von Tarent weiter nichts, als daß dort die 
befigenden Bürger ihre Güter mit den Armen „gemein machten“, 
indem ſie die letzteren an der Nußnießung teilnehmen ließen.!) So 
allgemein diefe Bemerkung gehalten ift, jo iſt doch foviel Klar, daß 
die hier geſchilderte Sitte in Feiner Weife al3 Überreft alter gemein- 
wirtichaftlicher Verhältniffe aufgefaßt zu werden braucht. Es ift 
völlig willfürlich, wenn man diejelbe den Inſtitutionen von Lipara 
an die Seite geftellt hat.?) 

Die Sitte erweift weiter nichts, al3 die Wirkjamfeit eines 
ausgebildeten fozialen Sinnes, der jich bewußt ift, daß das Privat: 
eigentum nicht ausschließlich dem Individuum, jondern auch dem 
Intereſſe der Gejellichaft zu dienen hat. Und in der umfaſſenden 
Bethätigung dieſes ſozialen Gemeingefühls, welche das Privat— 
eigentum durch den Nießbrauch gewiljermaffen zum Gemeingut 
machte, jtand nach Nriftoteles die Demokratie von Tarent keines— 
wegs allein. Er findet ähnliches auch in anderen Staaten, die Jich 
nach feiner Anficht gefunder bürgerlicher Zuftände erfreuten, mehr 
oder minder verwirflicht;3) wie er denn ausdrücklich auf das Bei- 
jpiel Spartas verweilt, deſſen Bürger fich gegenjeitig an gewiſſen 
Gebrauchsgegenftänden (Pferden, Hunden, Feldfrüchten, Sklaven) in 
beftimmten Fällen ein Mitbenügungsrecht einräumten. Ariftoteles 
hält es daher auch für möglich, auf Grundlage der bejtehenden 
Eigentumsoronung durch die politiiche Erziehung des Bürgers das 
genannte Prinzip überall ins Leben einzuführen. Iſt e3 doch für 


1) Politik (ed. Suſemihl) VII, 5, 5, 1320b: zeAos HEyeı uuueioder 
xal tiv Tapevtivov doynv' Ereivoı ydo zolvd MoLodvTes Ta xıryuarte 
Tois anogoıs Eni nv Konoıv evvovv rrco@oxEvaLovsı TO AmFoS. 

2) Viollet und Laveleye a. a. D. 

3) Ebd. II, 2,5, 1263a: Eorı de zai vov rov TEOTTov Toürov Ev Eviaıs 
noAsoıv ovrwg Vroysyowuusvov os 0x 0v «dvraror, zei udhıora Ev Tais 
xaAws oizovusvaıs Ta udv Eorı, ra dE yeroı’ dv’ idiav yag Exaoros mv 
zıjoıw Eywv Ta uev yomoıua noiel Tois plkoıs, Tois dE yo Tal Ws xol- 
vois, olov zei Ev Aazedeluorı Tois TE dovAoıs yoovraı Tois aAAnkwv as 
sineiv idiors, Erı Ninnos zei zvolv, zav dendooıw Epodiwv <Tolc> Ev 
Tois aygois zarte iv ywoav (oder Ingar?). cf. Xenophon De rep. Lac. 6, 3. 


56 Erſtes Buch. Hellas. 


ihn schon ein einfaches Gebot der Klugheit, daß die befikende und 
herrſchende Klaffe auch entiprechend große Leitungen für die Ge— 
famtheit auf fich nehme, gleichlam als „hohen Preis der Herr— 
jhaft“.') 

Mas Ariftoteles von Tarent berichtet, entſprach den jozial- 
politiichen Spealen des Hellenentums überhaupt. Ganz ähnlich 
erzählt 3. B. Siofrates in jeiner emphatischen Schilderung der 
„guten alten Zeit“ Athens, in der fich eben dieje Ideale wider: 
Ipiegeln, die Neichen hätten damals den Armen jtetS bereitwillig 
gegeben, fie durch Verpachtung von Ländereien gegen geringen Zins?) 
oder durch Zuwendung von einträglichen Arbeiten unterftüßt; und 
jo hätten die Neichen ihren Bett gleihjam zu einem gemeine 
famen Eigentum der Bürgerjchaft gemadt!’) Man fieht, 
es handelt ſich hier um eine ganz jtereotype Wendung, der wir 
daher auch anderwärts wieder begegnen, 3. B. in der plutarchifchen 
Schilderung der Liberalität Cimons,*) wo es geradezu heißt: Cimon 
habe gewifjermaßen die Gemeinjchaft (d. h. Gütergemeinjchaft) des 
goldenen Zeitalter wieder ins Leben zurücgeführt! (Toorov viva 
anv Erri Koovov uvhoAoyovusvnv zoiwwviay eis vov Plov WIRT, 
xarhyEv.) 

Man darf bei der Beurteilung diefer Frage nicht überjehen, 
welch einen ftarfen Anreiz, welch mächtige innere Nötigung zu einem 
derartigen gemeinnügigen Gebrauch des Privateigentums die Zus 


) VII, 4, 6, 1321a — iv’ &xov 6 dyjuos un uereyn (TWv doyuv twv 
zvELWTETWV) zei ovyyvaunv &ym Tois doyovoıw ws uodov noAvdv didovcr 
us dogs. 

2) Darum wird 8 ſich auch in Tarent vielfach gehandelt haben; und 
Schäffle nennt daher mit Recht diefe „Mitnugung von Vermögensteilen der 
Reichen durch die Armen“ in Tarent unter den Übergangs: und Mifchformen 
zwiſchen dem von ihm fogenannten herrfchaftlichen und genofjenjchaftlichen 
Kapitaligmus, zu denen er 3. B. auch die induftrielle Partnerichaft und die 
Taglöhnergenofjenjchaft auf Großgütern rechnet. — Kapitalismus und Sozia— 
lismus ©. 271. 

8) Areopap. 32, 35, cf. 12. 

4) Leben Cimons c. 10. 


I. 4. Angeblihe Spuren de3 Kommunismus in Großgriechenland. 57 


jtände der hellenifchen Welt enthielten. In dem verhältnismäßig 
engen Kreife, in welchem ſich der Bürger des hellenifchen Stadt: 
jtaates bewegte, traten auch die Vrivatverhältniffe, insbejondere der 
Reichtum des Einzelnen, ungleich Elarer und offenfundiger zu Tage, 
al3 dies in der modernen Welt der Fall ift. Auch ließ fich der 
Beſitz von vorneherein ſchwerer verbergen, weil ihm nicht die mannig- 
faltigen Formen der Anlage zu Gebote jtanden, wie ſie die Ent- 
widlung der neueren Kreditwirtichaft geichaffen hat. Der Neichtum 
ftand alfo ungleich mehr unter der Kontrolle der Öffentlichkeit; ein 
Verhältnis, welches naturgemäß einen jtarfen Antrieb zu einem 
liberalen Gebrauch des Eigentums enthielt. Und diefe Tendenz 
wurde noch dadurch verjtärkt, daß die Eitte!) und eine Neihe anderer 
Momente in derjelben Nichtung wirkſam waren: die Beichränftheit 
der Bürgerzahl, die jtetige gegenjeitige Berührung zwijchen den 
Bürgern, wie fie die Konzentrierung des politischen Lebens in dem 
ſtädtiſchen Mittelpunfte des kleinen Gebietes zur Folge hatte, das 
durch die Kleinheit des Staates ftetS lebendig erhaltene Gefühl der 
Abhängigkeit der Wohlfahrt und Eriftenz des Einzelnen von den 
Schidjal des Staates und der Gejamtheit, überhaupt der innige 
Kontaft des Einzelnen mit der Öffentlichkeit, der von jelbft einen 
mächtigen Anreiz enthielt, um die Gunft und Anerkennung der All— 
gemeinheit zu werben u. dal. m.?) 





1) Dal. 3. B. Kenophon Orxovouxos c. 11. 

?) Dies Verhältnis zwiſchen Individuum und Gejamtheit im helleni- 
chen Staat hat u. a. hervorgehoben Felix: Der Einfluß der Sitten und Ge— 
bräuche auf die Entwicklung des Eigentums ©. 71. Dal. die befonders in 
den Gerichtsreden des 4. Jahrh. vorkommenden Hinweiſe auf die Bethätigung 
der ſozialen und politischen Pflichten des Beſitzes, wie ſie Schmidt: Ethik der 
alten Griechen II, 383 zujammengeftellt hat. Dazu bei Xenophon Cyropäd. 
VII, 4, 32 . die charakteriftiiche Betonung des Grundjaßes, fich weder reicher 
noch ärmer zu ftellen, al3 man ift, und dieſe Offenfundigfeit des Beſitzſtands 
zur Grundlage des fozialen Verhaltens zu machen. 

Unrichtig ift es allerdings, wenn Felix a. a. DO. als Urſache des libe— 
ralen Eigentumsgebrauches auch den Mangel einer umfafjenden ftaatlichen 
Armenpflege bezeichnet, welcher die Fürſorge für die Armut und Not weſent— 


58 Erſtes Buch. Hellas. 


Al dem entiprach es auch, daß von der volfswirtjchaftlichen 
Theorie der Griechen in der Frage des Vermögensgebrauches und 
der Güterverwendung das ethiiche und joziale Moment mit bejon- 
derer Entſchiedenheit betont wird, wie jte denn von vorneherein der 
Frage der Verteilung und des Gebrauches des Nationalreich: 
tums ein weit größeres Intereſſe entgegengebracht hat, als der der 
Gütererzeugung. Sn diefem lebhaften Gefühl für die aus dem 
Beſitz erwachjenden Pflichten hat ſich das Griechentum bereits zu 
Anſchauungen erhoben, welche man jonjt nur als chriftliche zu be— 
trachten gewöhnt it. Schon Euripides hat den jchönen — mit 
dem neutejtamentlichen Gleichnis vom anvertrauten Pfund auf das 
Innigſte fich berührenden — Gedanken ausgejprochen, daß das Ver: 
mögen des Einzelnen nicht jein abjolutes Eigentum, jondern ein 
ihm von der Gottheit zur Verwaltung übergebenes Gut jei.!) 

Sp führt uns die ariftotelifche Bemerkung über Tarent wohl 
auf Erſcheinungen, die für die foziale Auffaffung des Eigentums 
bei den Griechen überaus bezeichnend find, die aber für die Ge- 
Ihichte des Sozialrechtes einen Auffhluß nicht gewähren. 


Fünfter Abfchnitt. 


Die ſtaatlich organifierte Bürgerjpeifung Spartas und Kretas 
und der Sozialismus des Triegeriichen Gejellichaitstypns. 


Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen wir, wenn wir uns 
jener vielbejprochenen und jo vielfach falſch beurteilten Inſtitution 
lic) zu einer Sache der Privatthätigfeit gemacht habe. Vgl. 3. B. die neu— 
aufgefundene "497. 704. c. 50 über die ftaatliche Armenpflege in Athen, die 
jedem, der weniger als drei Minen befaß und arbeitsuufähig war, eine täg- 
liche Penſion von zwei Obolen ausſetzte. 

!) Boiwiooat v. 555 f.: 

Ouros Ta yonuer’ idıa xExımvraı Bgorol, 
Ta rov Hewv NEyovres Enıushovusde, 





1. 5. Die jtaatl. org. Bürgerjpeifg. Sparta3 u. Kretas u. d. Sozialismus ec. 59 


zuwenden, welche Tarents Mutterftadt und die verwandten dorischen 
Gemeinden Kreta3 am längiten bewahrt haben: der öffentlichen, 
d. h. jtaatlich organifierten Speifung der Bürger. 

Auch. fie hat man als Überreſt einer primitiven agrarifchen 
Gemeinſchaft in Anjpruch genommen. Wenn man die Früchte des 
Landes gemeinschaftlich verzehrte, jo habe das feinen legten Grund 
darin gehabt, daß man urjprünglich das Land nicht als Domäne 
der Einzelnen, jondern als gemeinjame Ernährerin aller betrachtete. 1) 
Ein klares Licht auf diejes Entitehungsmotiv falle durch die Be— 
merfung Diodors über die Liparer: „Sie machten ihre Güter ge- 
meinfam und jpeiften bei öffentlichen Mahlen.“ Letztere hätten fich 
eben gejchichtlih unmittelbar an die Feldgemeinfchaft angefnüpft 
und verhielten fich zu vderjelben, wie die Wirkung zur Urſache.?) 
Sa das Inſtitut geftatte uns, noch weiter zurüczugreifen über die 
erifte Begründung jeßhafter Gemeinden hinaus auf das Wander— 
leben der patriarchalen Familien. Aus den Zeiten der Nomaden- 
wirtichaft und einer primitiven Feldgemeinjchaft jei es durch Neli- 
gion und Sitte fortgepflanzt und erhalten worden. 

Man vergegenwärtige fich die außerordentlihe Tragweite diefer 
Auffaſſung! Iſt fie richtig, find die Syffitien nur der letzte Über- 
rejt einer alten Agrarverfaffung, welche nicht nur das Land, jondern 
auch den Ertrag als Gemeingut behandelte, d. h. nicht einmal eine 
Verteilung der Aderfrucht an die Einzelnen, jondern nur einen 
ſtreng gemeinfamen Verbrauch von jeiten aller zuließ, jo it die 


Bol. die analoge Äußerung des Bion (Stob. flor. 105, 56) r@ yonuera rois 
nAovoloıs 9 tuyn ov dedwonzev alla dedaveızev, 

1) So Biolett a. a. 9. und ihm folgend Laveleye ©. 375. Vgl. auch 
Trieber: Forſchungen zur jpartanifchen Berfafjungsgeichichte ©. 26, wo die 
Syifitien ebenfalls auf einen „urjprünglich kommuniſtiſchen Beſitz“ zurückge— 
führt werden. 

2) Trieber — und zwar, iwie e3 jcheint, in Übereinftimmung mit einer 
mündlichen Außerung Neumann? — hat in der Stelle Divdor3 „den ſchla— 
gendften Beweis" dafür gejehen, daß der Urfprung der Shilitien fich nur 
durch) ehemalige Gemeinjamfeit alles Beſitzes erklären laſſe. 


60 Grites Buch. Hellas. 


helleniſche Bollswirtichaft in der That durch eine Entwiclungsphafe 
bindurchgegangen, welche fich als die denkbar jtrengite Form eines 
agrariichen Kommunismus darſtellt.) Das älteite Hellas hätte 
Individualeigentum weder am Grund und Boden, noch am Frucht 
ertrag gekannt; eine Verbindung von Gemeinbefiß und Gemeingenuß, 
die dann ihrerjeitS wieder eine ſtreng gemeinjchaftliche, von Drganen 
der Geſamtheit geleitete oder beauffichtigte Bewirtjchaftung des Bodens 
zur notwendigen Vorausjegung gehabt hätte! 

Welch’ tiefer Einblid in das jozialwirtjchaftliche Leben der 
Vorzeit würde ſich da vor unſeren Augen eröffnen! Die Kenntnis, 
die wir auf diefem Wege von der Wirtichafts- und Gejellichafts- 
ordnung der älteſten Hellenen gewännen, würde an innerer Bedeut- 
ſamkeit nicht hinter dem zurücitehen, was wir 3. B. von den ent- 
Iprechenden altgermanijchen Verhältniffen durch unmittelbare Zeug: 
niſſe willen; ja fie würde die aus dieſen Zeugniffen gewonnenen 
Borftellungen an Klarheit und Beſtimmtheit weit übertreffen. 

Man wird nun allerdings die Möglichkeit einer derartigen 
ſtreng gemeinwirtjchaftlichen Durchgangsphafe der helleniſchen Volks— 
entwiclung nicht von vorneherein in Abrede ftellen können. Allein 
mit bloßen Möglichkeiten ift es hier nicht gedient. Vielmehr muß der 
Nachweis erbracht werden, daß das Syilitieninftitut feinen anderen 
Urſprung gehabt haben kann, nur jo in feiner Entjtehung verjtänd- 
ih wird. Sit nun diefer Rückſchluß auf die Feldgemeinjchaft 
wirklich ein jo zwingender? 

Wie die homerifchen Gedichte bezeugen, war es alte Gewohn— 
heit der Fürften und der Edlen des Volkes, fi) gemeinfam des 
Mahles zu freuen, und zwar finden wir bereits bier das öffent: 
liche Mahl, das Mahl als politijches Inftitut. Es werden Mahle 
erwähnt, deren öffentlicher Charakter einerjeits aus ihrer Bedeutung 
als Natsverfammlung, andererſeits daraus hervorgeht, daß fie — 





') Dal. die Aufzählung der verjchiedenen Formen agrarijcher Gemein: 
ſchaft bei Ariftoteleg: Politik II, 2, 1, 1263a: z«i ra yyneda xal oi xapnoi 
xowvot! 


I. 5. Die jtaatl. org. Bürgerfpeiig. Spartas u. Kretas u. d. Sozialismus ıc. 61 


wenigjtens nach dem Zeugnis der Ilias — „von den Achäern zu: 
gerüftet“, d. h. auf öffentliche Koften abgehalten wurden.!) 

Wer wollte diefe homerijchen Staatsmahle aus anderen, als 
politiichen und gejellichaftlichen Motiven ableiten? 

Iſt dem aber jo, erſcheint bier das öffentliche Mahl als 
integrierendes Element der ftaatlichen Drdnung, ohne daß auch nur 
die geringfte Spur eines urſächlichen Zufammenhanges mit der 
Agrarverfaſſung erfichtlih wäre, jo drängt fich von ſelbſt die Frage 
auf, ob das Inſtitut nicht doch auch vielleicht in der Form, in 
der es uns in den Syſſitien des doriſchen Kriegsadels entgegen: 
tritt, wejentlich in den jtaatlichen Verhältniffen wurzelt oder wenig: 
jtens zur Genüge aus ihnen erklärt werden kann. 

In der That, wenn wir die Stellung der Syffitien im Dr: 
ganismus des jpartanijch-Fretiichen Staates näher ins Auge fallen, 
jo leuchtet jofort ein, das die Zurückführung derjelben auf ein rein 
wirtjchaftliches Motiv jedenfalls eine willfürliche iſt. Die Vertreter 
diejer Theorie heben an dem Syſſition allzu einjeitig den Charakter 
der Speiſegenoſſenſchaft hervor, eine Auffafjung, die dem eigentlichen 
Weſen und Zweck desjelben nicht entfernt gerecht wird. 

Es bleibt dabei völlig unberüdjichtigt, daß die Syffitien in 
Sparta, wie auf Kreta, zugleich einen organischen Bejtandteil der 
Wehrverfaſſung, der militäriichen Volkserziehung und der bürger: 
lichen Zucht (eyoyn) bildeten, ein Glied in jenem Syſtem ftetiger 
Kriegsbereitjchaft, welche dem Herrenſtand dieſer Dorergemeinden 
duch die Lage inmitten einer an Zahl weit überlegenen Unterthanen= 
Ihaft und grundhörigen Bauernſchaft aufgenötigt wurde. Die Kriegs 
bereitichaft war hier befanntlich mit einer Konjequenz durchgebildet, 
daß das Gemeinweien als ein fürmlicher Lagerſtaat erſchien (vgl. 


1) Il. IV, 344 önore deitae yEoovomw Eponkiiwuev "Ayeroi. cf. ib. 
XVII, 250, wo Menelaos die Führer des Heeres zu tapferem Kampf aufruft, 
die „bei den Atriden auf Koften des Volkes trinken" (d7ure nivovonv). 
Dazu Fanta (Der Staat in der Ilias und Odyſſee ©. 71 ff.), dev allerdings 
in der Betonung des politifchen Momentes vielfach zu weit geht und dadurch 
zu willfürlichen Konftruftionen fommt. 


62 Erſtes Buch. Hellas. 


Plato von den Kretern: orgarorredov rolıreiav Eyers leg. II, 10 
666e),!) deſſen Bevölkerung fih als eine alle Zeit unter den 
Waffen ftehendes und zum Ausmarſch bereites Heer darftellt. 

Man muß Sich eben, um die Spnftitutionen Spartas und 
Kretas geichichtlich zu verſtehen, in weit höherem Grave, als es 
gewöhnlich geichieht, die Lebensbedingungen und Konjequenzen des 
„kriegeriſchen Gejellichaftstypus” vergegenwärtigen, wie fie neuer: 
dings in jo vortrefflicher Weife von Herbert Spencer analyfiert 
worden find. ?) 

Ein jo ausjchließlich für den Krieg und den Kampf um die 
Eriftenz organiftiertes Gemeinmwejen, wie es der jpartanifch-fretijche 
Lagerftaat war, jah fi) von Anfang an auf eine in ideeller und 
technifcher Hinficht möglichit vollfommene Verwirklichung des Ge— 
meinjchaftsprinzips bingewiejen. Hier mußten — zum Zwecke des 
Angriffes, wie der Abwehr — alle Bürger an ftetiges Zuſammen— 
wirken in gemeinjamer Thätigfeit gewöhnt, mußten alle Kräfte und 
Thätigkeiten der Individuen in möglichſt wirkſamer Weiſe fombiniert 
und auf ein Ziel konzentriert werden. Der „chroniſche Militaris— 
mus“, in welchem die Entwicklung des kriegeriſchen Geſellſchafts— 
typus ihren Ausdruck fand, forderte die innigſte Verknüpfung aller 
Teile des Volksganzen, eine Verſchmelzung, welche den ganzen 
jozialen Aufbau diefer Staaten zu einem Ebenbild der fejtgefügten 
Phalanx ihres Heeresorganismus machte. Das Bedürfnis, über 
die ganze Kraft jedes Einzelnen jeden Augenblid verfügen zu können, 
führte hier mit innerer Notwendigkeit zu dem Ergebnis, daß die 
ſtrenge militärische Ordnung, das „Syftem der Negimentation” ſich 
weit über das Heerweien hinaus verbreitete und alle Seiten des 
bürgerlichen Lebens dem ftaatlichen Zwang und der ftaatlichen Auf- 
ſicht unterwarf.?) Wie fich die taktische Virtuofität des ſpartaniſchen 
Heereskörpers nach dem Urteile des Thukydides daraus erklärt, daß 


!) Dazu Sokrates Archid. 81 von den Spartanern: zyv nodıreiav 
Suoiav XUTEoTnocusda oroaronedw zaAwmg dioızovusvo xrA, 

2) Prinzipien der Soziologie D. W. III, 669 ff. 

3) DBgl. die oben angeführte Stelle des Sokrates. 





1. 5. Die ftaatl. org. Bürgerfpeiig. Spartas u. Kretas u. d. Sozialismus ꝛc. 63 


die einzelnen Glieder desjelben zu einander in zahlreichen Abftufungen 
der Unterordnung jtanden, daß er „faſt ganz aus Vorgejeßten über 
andere Vorgeſetzte bejtand und daher die Sorge um das, was ge 
ſchehen jollte, jehr vielen am Herzen lag“,!) — ebenfo ftellte die 
bürgerliche Gejellichaft Spartas ein Syſtem von ſucceſſiven Ab: 
ftufungen der Unterordnung dar, in welchem jeder ältere Mann zum 
jüngeren im Verhältnis des Höheren zum Niederen ftand. 

Dieſe überall auf das einheitliche Zuſammenwirken in der 
Maſſe gerichtete Thätigkeit des Staates ließ wenig Spielraum für 
die freie Entfaltung des Einzelnen. Das Individuum erſcheint vecht 
eigentlich dazu bejtimmt, in der Maſſe aufzugeben, jeine individuellen 
Neigungen und Wünſche dem Ganzen zu opfern, dem jein Leben 
gehört. Schon beim Eintritt in das Leben entjcheivet die Nückjicht 
auf den Staatszwed über Sein oder Nichtjein des Individuums. 
Wenn die Entjeheivung zu Gunjten desjelben ausfällt, geſchieht es 
nur, um dies junge Leben jobald als möglich in die Zucht und 
Schule des Staates zu nehmen, von welcher exit der Tod befreit.2) 
Alles individuelle Leben wird in die Nichtung bineingezwungen, 
welche der Staatszwec fordert, fein anderer Bildungsgang, Fein 
anderer Beruf dem Bürger gejtattet, als der des Kriegers. Der 
Staat teilt jedem jeine Thätigfeit zu, ftellt ihn ſozuſagen Tag und 
Nacht unter die Zenſur der Öffentlichkeit. Er ſchreibt ihm vor, 
wann er zur Ehe zu jchreiten hat, um dem Staate Bürger zu geben, 
und fucht ihn andererjeit3 wieder dem häuslichen Leben möglichit 
zu entziehen. Ex verfichert fich feiner Perſon für alle Zeiten, in: 
dem er die Auswanderung des Bürgers mit dem Tode bedroht 
und auch jonft die Freizügigkeit in hohem Grade bejchränft. Wie 
der leibeigene Helote an die Scholle gebunden ijt, jo darf auch jein 
Herr — in feiner Eigenfhaft als Soldat — ſich nicht ohne Er— 


ı) v. 66: oyedov yao tı nav nimv ohiyov To orgarinedov Tor 
Aaxsdauuoviov doyovrss doyorrwv £iol, xal To Enuuslis Tod domuevov 
noAkois TTEOONKEIL. 

2) Plutarch Lykurg 15: noWrov usv yag ovx idiovs Njyeiro tor 
netegwv Toüs naldas, aAAd xowvoüs ums nokews 6 Avxoveyos, 


64 Erſtes Buch. Hellas. 


(aubnis von feinem Wohnort entfernen. Auch er ift ein unbedingt 
abhängiges Werkzeug, auch er in gewiſſem Sinne ein Eigentum des 
Staates. !) 

Nicht minder erklärt fi) aus den Lebensbedingungen des 
kriegeriſchen Gejellihaftstypus die Zentralifation der Verwaltung, 
wie fie uns im Ephorat entgegentritt, und die ftaatliche Regulierung 
der gefamten Volkswirtichaft. Wie jede Geſellſchaft von ſolch Frie- 
geriichem Typus durch die Unficherheit ihrer Verkehrsbeziehungen 
zu dem Ausland genötigt ift, eine fich ſelbſt gemügende und jich 
jelbft erhaltende Drganifation zu jchaffen, in ihrem eigenen Bereich 
für die Erzeugnifje aller notwendigen Lebensbedürfniſſe zu Jorgen und 
fich dadurch vom Ausland unabhängig zu machen, jo jehen wir in 
Sparta auch diefe Tendenz in radifalfter Weije verwirklicht, das 
Prinzip der wirtjchaftlichen Autonomie bis zum Verzicht auf ein 
allgemein gültiges Taufchmittel gejteigert. Eine Abjchließung, der 
dann auf der anderen Seite als notwendiges Korrelat innerhalb 
der Bürgerjchaft jelbit eine um jo engere ökonomiſche Gemeinschaft 
entiprach, die — wie ſchon früher erwähnt?) — den Einzelnen 
jogar dazu berechtigte, ji unter Umständen des Eigentums anderer 
Bürger für feinen Gebrauch zu bedienen. 

Wenn man fich diefe ganze Drganifation von Staat und Ges 
jellfchaft vergegenwärtigt, welche durch eine das ganze menjchliche 
Leben umſpannende jtaatliche Leitung, ja durch eine Art von gemein: 
ſchaftlichem Haushalt die Gejamtheit der Bürger zu einem funftooll 
gegliederten Ganzen, zu einem „Kosmos“ vereinigte, jo wird man 
diejelbe als eine ausgeprägt ſozialiſtiſche bezeichnen dürfen. Der 
Staatsjozialismus ijt das naturnotwendige Korrelat des kriegeriſchen 
Gejellichaftstypus; und dieſer Sozialismus ift hier mit einer Kon- 
jequenz Durchgebildet, daß uns aus ihm alle Thatjachen der ſpar— 


1) Plutarch Lykurg: ovdeis Yyao nv agpsıusvos Ws EBovkero Inv, daR 
olov Ev oroaronedo ın rohe zei diatev Eyovres WgLoucvnv za die- 
Tgıßyv negl Ta xowd xai Ohws vouilovres oVy airov, aha ns nargidos 
eivaı dıerelovv xt. 


2) Bal. oben ©. 55. 


I. 5. Die ftaatl. org. Bürgerſpeiſg. Spartas u. Kretas u. d. Sozialismus ıc. 65 


tanisch-Eretifchen Gejchichte, welche Die oben erwähnte Doktrin auf 
den Agrarfommunismus der Urzeit zurückführen zu müfjen glaubt, 
vollfommen verjtändlich werden. !) 

Die Form, in der fich dieſe jozialiftiiche Ausgeftaltung der 
Geſellſchaft vollzog, war — wie ſchon angedeutet — einfach da— 
ducch gegeben, daß man auch im Frieden möglichjt die Ordnungen 
des Feldlagers fejthielt. Und der jprechendfte Beweis dafür tt 
eben das Spyffitieninftitut, die gemeinfame Speifung der ganzen 
Bürgerſchaft, als deren Zweck die Tradition daher mit Recht die 
Erhöhung der Marjchbereitihaft und Schlagfertigteit bezeichnet. 2) 
Die Waffenbruderjchaften, die im Felde zufammenlagerten und in 
der Schlacht zujammenftanden, bejtehen als Tiſchgenoſſenſchaften 
auch im Frieden fort,?) wobei der militäriiche Charakter der Ver— 
bindung jo jtrenge feitgehalten wird, daß als Auffichtsbehörde über 
fie die Polemarchen fungieren und die Genofjen zum gemeinjamen 
Mahle ich bewaffnet verfammeln. 

Angefichts dieſer Thatjachen erjcheint die Ableitung des ſpar— 
taniſch-kretiſchen Syſſitienweſens aus politifch-militärischen Motiven 
al3 die ungezwungenfte und natürlichite Erklärungsweiſe.) Wenig: 
jtens find wir, um das Inſtitut gejchichtlich zu verftehen, in Feiner 





') Ein moderner Nativnalöfonom (Elfter Howb. d. Staatsw. s. v. Plato) 
Spricht geradezu von einem „politiichen Kommunismus” in Sparta. 

2) Plutarch Apophthegm. Lac. p. 226c: onws E£ Eroiuov TE napay- 
yskhousva deywvraı. 

3) Bei Dionyſius dv. Hal. I, 23 heißt es von der „ayoyn neoi te 
gidirie“, dab fie Lykurg eingeführt habe &v noAedum Jeis aido zei ng0- 
voıwv zaraoınoas Exaotov Tor un) zurehıneiv Tov negeordınv, © xei 
GVVEOTIEIGE Kal OVVEIVEE Kal xoıvov lEOWV UETEOYEV. 

4) Auch die Alten haben die Sache nicht anders aufgefaht, bei Plato 
Leg. I, 633a heißt es mit Beziehung auf Sparta: r« Evooiti« pausr zei 
TE yvurcoıa no0s Tov noAeuov Eevonodar to vouodern und ib. I, 625e 
mit Beziehung auf Kreta: Errei zei ra Zvooitie xındvveveı Evvayaysıv 
00WV, WS TIEVTES, ONOTEV OTE«TEUWVT«I, TON vn’ @VTov TOoV E«yuaTos 
avayzabovraı gpvAaxıs avrav Evsxa Evooıreiv ToVroP tor yoovorv. Dal. 
auch Herodot I, 65: 74 Es noAsuor Eyovra' Evwuorias zei tomzddas 
zei ovooitıc. 


Pohlmann, Gejch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus. T. 5 


66 Erſtes Buch. Hellas. 


Weiſe genötigt, noch irgendwelche andere Entjtehungsgründe heran- 
zuziehen, jo daß für eine Anfnüpfung an wirtichaftliche Berhält- 
niffe jeder Anhaltspunkt fehlt. Neben den Tiſchgenoſſenſchaften 
fann auch einmal die Feldgemeinjchaft beitanden haben, wie das 
Beiſpiel des dorifchen Lipara beweift, allein diejelben brauchen keines— 
wegs immer umd überall in einem urſächlichen Zuſammenhang 
mit der Feldgemeinschaft zu ftehen. Iſt es doch angefichts der 
ganzen Stellung, welche die gemeinfame Bürgerjpeifung im Organis- 
mus des dorischen Kriegerftaates einnimmt, ſelbſt für Lipara keines— 
wegs wahrscheinlich, daß die dortigen Syifitien ausſchließlich eine 
Wirkung der Feldgemeinſchaft waren. Sie können auch bier jehr 
wohl, wie die lipariſche Feldgemeinjchaft jelbit, zugleich als Ausfluß 
der Friegerifchen Organiſation der Gemeinde betrachtet werden. — 

Sa wenn die Syifitien in der Geftalt, in der fie ung auf 
Lipara und Kreta, ſowie in Sparta entgegentreten, eine allgemein 
doriſche oder gar althellenische Einrichtung überhaupt gewejen wären, 
— wie man jeit Otfried Müller vielfach angenommen hat — dann 
würde man allerdings berechtigt, ja genötigt fein, zumal für die 


Landichaften, die ſich nicht in der Zwangslage der genannten Ges, 


meinden befanden, ein Entjtehungsmotiv allgemeinerer Art zur Er— 
klärung heranzuziehen, wie es eben die wirtjchaftlichen Verhältniſſe 
darbieten würden. Allen ift für jene Annahme auch nur der 
Schatten eines Beweijes erbracht? 

Die Sitte des gejelligen Zufammenjpeifens hat allerdings zu 
allen Zeiten eine große Nolle im ftaatlihen und gejellichaftlichen 
Leben der Hellenen geipielt, fie ift in der VBerfallszeit ſogar in förm— 
lichen Speifeflubs über alles Maß hinaus gepflegt worden. Allen 
wo auch immer jonft von „Syifitien” die Nede ift, nirgends läßt 
fich erkennen, daß es fich dabei um die regelmäßige und allgemeine 
Speifung ganzer Bürgerjchaften handelte, wie in Sparta over Kreta. 
Und nur diefe kann doch hier überhaupt in Betracht fommen, nicht 
gewöhnliche Dpfer- und Feſtſchmäuſe oder gemeinfame Mahle ein- 
zelner Korporationen, ſei es privaten oder öffentlichen Charakters. 
Oder ſollen wir mit denen, die um jeden Preis Spuren einer 


eV 


I. 5. Die jtaatl. org. Bürgerjpeiig. Spartas u. Kretas u. d. Sozialismus ıc. 67 


kommuniſtiſchen Durchgangsphaſe der jozialen Entwidlung von Hellas 
finden möchten, auch dieſen „Syilitien” eine Beweiskraft für unjere 
Frage einräumen? 

Die Alten ſelbſt haben allerdings die verjchiedenen Formen 
von Syſſitien keineswegs jtrenge auseinandergehbalten. Ariſtoteles 
3. B. vergleicht ohne weiteres mit dem jpartanischen Inſtitut die 
Mahle der „Hetärien” Karthagos,!) bei denen wir doch felbjtver: 
ſtändlich auch dann, wenn fie öffentliche Korporationen waren, nicht 
entfernt an eine tägliche und allgemeine Bürgerjpeifung denken 
dürfen. Auch Dionyjius von Halifarnaß fieht ſich durch die Feſt— 
und Opfermahle der römischen Kurien, die doch vielmehr in den 
Dpferfchmäufen der attiichen Phratrien ein Seitenftüc haben, an 
die ſpartaniſchen Syflitien erinnert; und wieder ein anderer, ein 
Interpolator des Ariftoteles (zu Bolitit IV, 9,2. 13529b) fucht den 
Urſprung des ſpartaniſch-kretiſchen Syſſitienweſens in Süditalien, 
ohne im geringſten anzudeuten, ob die den altitaliſchen Bauern zu— 
geſchriebene Sitte gemeinſamer Mahlzeiten wirklich mit der ſparta— 
niſchen Ähnlichkeit hätte. Wir belächeln dergleichen Kombinationen, 
allein iſt es viel weniger willkürlich, wenn nun auch moderne For— 
ſcher die ſämtlichen, innerlich ſo durchaus verſchiedenen Formen von 
öffentlichen oder gemeinſamen Mahlen als gleichwertig behandeln 
und dieſelben nur als ſpätere Modifikationen eines und desſelben 
urſprünglich zu Grunde liegenden Inſtitutes der Vorzeit gelten laſſen 
wollen, als letztes Überbleibſel einer kommuniſtiſchen Wirtſchaft 
patriarchaler Familiengruppen??) 

Bücher glaubt als ein „beſonders wichtiges“ Beweismoment 
für die Herkunft der Opfermahle der attiſchen Phratrien ans der 
Feldgemeinschaft eben den „patriarchalen” Charakter dieſer Verbände 
hervorheben zu müfjen.3) Allein ift die Beweiskraft dieſes Mo— 
mentes wirklich jo zwingend? Daß der „patriarchale” Zuſammen— 
halt örtlich oder verwandtjchaftlich verbundener Familien urſprüng— 

') Politit II, 8, 2. 1272b. 

2) So Biollet a. a. D. und Laveleye-Bücher: Das Ureigentum ©. 326 ff. 

U, aD Atuterkr 9: 


DE 


68 Erſtes Bud. Hellas. 


lich ftet3 auch einen förmlichen agrarijchen Kommunismus in jich 
geichlofjen habe, ijt eine Anmahme, die in dieſer Allgemeinheit noch 
nicht genügend erwieſen ift. Um jo ficherer ift es dagegen, daß 
in Hellas jede Derartige patriarchale Gemeinschaft zugleich eine 
Kultusgemeinschaft darftellte, mit der dann auch jene gemeinſamen 
Mahle von ſelbſt gegeben waren. Mit den Dpferfeften, in denen 
der ſakrale Zuſammenhang der Genofjenichaft zum Ausdrucd kommt, 
verbindet fic) eben naturgemäß und notwendig das gemeinjame 
Dpfermahl. Bedarf es da zur Erklärung der Sitte noch des 
Kommunismus?!) 

Übrigens wird von der genannten Theorie der weitere wich- 
tige Umstand überjehen, daß gerade bei derjenigen Form des 
öffentlichen Mahles, welche einer primitiven Agrargemeinjchaft am 
meijten entjprechen würde, bei dem jpartanischen und allem An— 
ſcheine nach auch bei dem kretiſchen Bürgermahl von einem Zus 
ſammenhang mit patriarchaliichen Inſtitutionen überhaupt feine 
Rede jein kann. Die jpartanifche Tiſchgenoſſenſchaft bildete ich 
befanntlic) Durch die freie Wahl ihrer Mitglieder, fie nahm jo 
wenig Rückſicht auf Familien und Gejchlechtsverband, daß nicht 
einmal Vater und Sohn Mitglieder eines Syſſition zu jein brauch— 
ten. Ebenſo jpricht alles dafür, daß auch die kretiſchen Syſſitien 
ſolche freigebildete Genofjenichaften waren. ?) 

Gerade hier tritt alfo das Inſtitut aus jedem Zuſammenhang 
mit der Agrarverfaſſung heraus. Das Prinzip der Unteilbarkeit 








) Wenig ſcheint mir auch gedient mit Bücher Hinweis auf die ge 
meinjamen Speifungen verdienter Männer im Stadthaus oder Prytaneum, 
ſowie auf die öffentlichen Speifungen, durch welche der Staat Fremden, be— 
jonders Gejandten jeine Gaftfreundfchaft erwies, worin Bücher einen wichtigen 
„nomadiſchen“ Zug exblict. 

?) Schon Alfried Müller (Dover IL, 203) hat dies zur Erklärung des 
Berichtes über die kretiſchen Syifitien bei Athenäus IV, 143 geltend gemacht. 
— Die Anficht don Leift: Gräfositalifche Rechtsgeſchichte ©. 139, daß die 
Syſſitien Spartas (aljo wohl auch Kretas) „anfangs nach den Oben und 
Gejchlechtern eingerichtet waren, jo daß alfo urſprünglich die Berwandtichaften 
zuſammenſpeiſten“, — entbehrt jeder Begründung. 


I. 5. Die ftaatl. org. Bürgerfpeifg. Spartas u. Kretas u. d. Sozialismus zc. 69 


und Unveräußerlichfeit der alten Stammgüter mochte jehr häufig 
mehrere Familien zu gemeinſamer Wirtfchaft vereinigen, für die 
Zufammenjegung der Tiichgenofjenichaften find dieſe Hausgemein- 
Ichaften ebenjomwenig maßgebend gewejen, wie irgend ein anderes 
agrarwirtichaftliches Berhältnis. Es ift daher auch von dieſem 
Gefichtspunft aus völlig willfürlich, die Sylfitien als Überreft einer 
engeren patriarchaliichen Vermögensgemeinichaft aufzufafjen. Über: 
all, wo wir fonft einen Zuſammenhang zwilchen der Sitte gemein- 
jamer Mahlzeiten und der Feldgemeinjchaft zu erkennen vermögen, 
wie 3. B. bei gewiſſen oftafrifanischen Stämmen, bei den Indianern 
und Siüdfeeinfulanern find es patriacchaliiche Gruppen, von denen 
fie abgehalten werden, die Gejchlechtsgenofjenjchaften oder die auf 
legteren beruhenden Dorfgemeinchaften. ') 

Kun zeigt ja allerdings das Oyjfitieninftitut in der Form, 
wie es uns auf Kreta entgegentritt, ein ausgejprochen gemein 
wirtschaftliches Gepräge. Die ganze Bürgerſchaft wird hier auf 
Koften der Geſamtheit ernährt. Alle Einkünfte, welche der Staat 
von den Allmendegütern,?) aus den Kopfiteuern der unfreien Be— 
völferung 3) oder aus anderen öffentlichen Einnahmequellen bez3og,*) 
insbejondere die Grundſteuern, welche außer den Unterthanen?) vie 
Bürger aus ihrem Anteil am Fruchtertrag ihrer Hörigen zu leiften 
hatten (in Lyktos ein Zehntel der Ernte6)) wurden hier — ſoweit 
fie nicht für den Kultus und ſonſtige Staatszwede zur Verwendung 
famen — für die Syffitien in Anfpruch genommen. Während in 
Sparta das Inſtitut zwar ebenfalls eine Anftalt der Gemeinschaft 
war, aber im übrigen d. h. in feiner Verwaltung und feiner Thä— 
tigfeit für die Gemeinschaft ſich wejentlich mit dem privatwirtichaft- 

1) Vgl. die Angaben bei Laveleye-Bücher ©. 276. 

2) Ariftoteleg Politik IT, 7, 40. 1272a. 

3) Sp wenigſtens jpäter in Lyktos nad) Dofiadas bei Athen. IV, 143a. 

5) Val. die auf die Gemeinde der Drerer fich beziehende Inſchrift bei 
Cauer: Del. inseript. graec.? 121 C 38 ff. 

5) Ariftoteles a. a. D. 

6) Dofiadas a. a. D. 


70 Erſtes Buch. Hellas. 


lichen Prinzip von Leiſtung und Gegenleiſtung begnügte und ſo 
individualiſtiſch organiſiert war, daß — bei gleicher Beitragspflicht 
für alle — jeder für ſeinen Bedarf ſelbſt aufzukommen hatte, ja 
im Unvermögensfalle den Anteil am Staatstiſch jowie das Boll 
bürgergerrecht verlor,!) ift auf Kreta das privatwirtichaftliche Mo— 
ment, der Grundſatz von Leiftung und Gegenleiftung, nur ſoweit 
beibehalten, als es um der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit willen 
erforderlich Tchien. Hier diente das Inſtitut prinzipiell den Bes 
dürfniſſen der Gejamtheit als Gejamtbeit und die Gemeinschaft trat 
daher ſelbſt mit ihren Mitteln für die wirtichaftlich minder Leis 
ftumgsfähigen ein, fo daß auch die Ernährung der Ärmeren voll 
fommen gefichert war.?2) Mochte die Beifteuer der lebteren- hinter 
den Koften ihres Unterhaltes zurücbleiben, fie wurden deswegen 
nicht ausgejchloffen, jondern der Ausfall duch die entiprechende 
Höherbelaftung der VBermögenderen und den Staatsbeitrag aus: 
geglichen. Da ſich die Beiftener des Einzelnen nicht, wie in Sparta, 
nach feinem für alle gleichen Anſpruch an den Staatstiſch, ſondern 
nach) der Größe des Einfommens richtete, jo kamen die Früchte 
des ganzen vaterländiichen Grund und Bodens — mochte er Ge 
mein oder Privatbejiß jein — bis zu einem gewifjen Grade wenig: 
jtens allen zu gute. 

Ja wenn uns die Darftellung diejer merkwürdigen Gejell- 
Ihaftsverfaffung in der ariftoteliichen Politik unverfälicht überliefert 





1) Diafäarch bei Athenäus IV, 1410. Plutarch: Lykurg 12. Bol. 
Hultich: Metr ? 534. Gegen die Annahme Laveleyes a. a. D., daß die ſpar— 
taniſchen Syifitien zugleich auf den Ertrag großer Domänen bafiert geweſen 
jeien, vgl. Fustel de Coulanges: Etude sur la propriete à Sparte. Comptes 
rendus de l’Acad. des sciences morales et politiques 1880, p. 623. 

?) Ariftoteles a. a. D.: ano narrwv ydo Tav yıvousvav zaonWv 
TE zei Booxnudtwv &x av dnuooiwov zul... PoEWwv oüs pEgovoıv ol 
7EELOLXOL, TETEKTEL EOOS TO uEv NI005 ToVSs HEoVS zul Tas Kowvas Asırovo- 
ylas To de Tois ovooırlors, oT Ex zoıvoV ToEYEoFRL navras xal 
yvvaizas zei neidas zei ardgas. — Cf. Ephorug bei Strabo X, 4, 16, 
480 — Onws TWv iowv uerdoyoLev Tols EVTTOGOLS oil nevEotego dmuooi« 
ToEepouervoı. 


I. 5. Die ftaatl. org. Bürgerjpeiig. Spartas u. Kretas u. d. Sozialismus ac. 7] 


iſt,.) jo wäre man auf Kreta in der Durchführung des gemein: 
wirtjchaftlichen Prinzips jomweit gegangen, auch die Ernährung der 
nicht am Männermahl beteiligten Familienmitgliever, der Frauen 
und jüngeren Kinder,2) auf Koften der Gejamtheit zu bejtreiten: 
eine Annahme, die allerdings injoferne großen Bedenken unterliegt, 
als eine jo volljtändige Durchführung des Nechtes auf Eriftenz ohne 
Zweifel einen jehr bedeutenden Teil des Einfommens der vermögen- 
den Klaſſen in Anſpruch genommen hätte und zugleich eine An— 
bäufung großen Befites in wenigen Händen jehr erſchwert haben 
müßte, während fih auf Kreta in Wirklichkeit eine entichiedene 
Tendenz zu großer Ungleichheit der Wermögensverteilung bemerk 
ih madt.°) 

Doh ſei dem, wie ihm wolle, angejichts der gejchilderten 
gemeinwirtjchaftlichen Organiſation des kretiſchen Syſſitienweſens iſt 
jedenfalls ſoviel gewiß, daß dasſelbe ſich mit einem Grundgedanken 
der ſtrengen Agrargemeinſchaft wenigſtens berührt. Es erkennt, 
wie dieſe, jedem Gemeindegenoſſen ein angeborenes Recht auf Mit— 
benützung der äußeren Natur, auf den Mitgenuß der materiellen 
Exiſtenzbedingungen zu, wenn es dieſes Recht auch in weit beſchränk— 
terem Sinne und in den durch das Sondereigentum bedingten 
Formen wirtſchaftlich zur Geltung bringt, d. h. nicht ein Recht am 
Grund und Boden ſelbſt, ſondern nur an einem Teil der jeweilig 
produzierten Genußmittel einräumt. 


1) D. h. wenn die Worte zei yuvvaizas zei neidas zrA. in der eben- 
genannten Stelle der Politif wirklich von Ariftoteles herrühren und nicht 
jpäterer Zujaß find. 

2) D. h. derjenigen, die vom Vater noch nicht ins a@vdostov mitge- 
nommen oder in die ayedaı der Yünglinge aufgenommen werden fonnten, 
welch letztere nach Ephorus ib. p. 483 ebenfall3 auf Staatzfojten erhalten 
wurden. 

3) Außer diefer allgemeinen Erwägung fehlt uns allerdings jeder 
nähere Anhaltspunft für die Beurteilung der Frage, da die Quellen völlig 
darüber jchweigen. Was Onden: Die Staatzlehre des Arijtoteles IL, 386 
für die Annahme einer Sinterpolation der Stelle beibringt, ijt Leider ohne 

jede Beweiskraft. 


72 Erſtes Buch. Hellas. 


Ergibt fih nun aber aus diefer Thatfache irgend ein zwingen 
des Beweismoment für die Annahme, daß wir hier eine durch die 
Entwidlung des Privateigentumd am Grund und Boden hervor- 
gerufene Umgeftaltung und Abſchwächung eines urjprünglichen agra- 
rischen Gemeindefommunismus mit völlig ungetrennter Gemeinjchaft 
des Landbefites vor uns haben? Nachdem ſich ung die Sitte der 
gemeinen Bürgerſpeiſung ſelbſt aus dem Friegeriichen Lebensprinzip 
des Lagerſtaates vollkommen erklärt hat, jollte da die Thatjache der 
gemeinmirtichaftlichen Organiſation des Inſtituts für ſich allein 
genügen, jo weitgehende Schlüfje zu ziehen? 

Sch fürchte Doch jehr, daß hier die herrſchende Anſchauungs— 
weile an einer gewiljen Verwirrung der Begriffe leidet, wenn fie 
das Syifitieninftitut ohne weiteres als eine „rein kommuniſtiſche Ein- 
richtung auffaßt,') welche „auf das Prinzip der Gütergemeinjchaft 
zuriicgehe”,2) nur „aus einem urjprünglich Fommunijtischen Beſitz“ 
zu erklären ſei.)) Dieſe Auffaffung beruht auf der populären aber 
gänzlich unklaren DVorftellung über den Kommunismus, bei welcher 
der Gedanfe an eine abjolute Gemeinjchaft aller Güter, jelbit des 
beweglichen Eigentums und bejonders aller Konjumtionsgegenftände 
vorjchwebt;t) wie man denn in der That ausdrücklich den Satz 
aufgeftellt hat, daß ſich der Urſprung der Syifitien nur durch die 
ehemalige Gemeinſamkeit alles Befißes erklären lajje.?) Bon 


') Tout à fait communiste. Laveleye ©. 378. 

2) Büchſenſchütz a. a. O. ©. 29. 

3) Trieber a. a. D. ©. 25. Auch nach Holm, Griech. Gejch. I, 230, 
herrſchte in Kreta ein weit getriebener Kommunismus. 

4) Wie Hleinwächter: Die Grundlagen und Ziele des jogen. wiſſen— 
Ichaftlichen Kommunismus ©. 137 f. mit Recht bemerkt, iſt dieſer „volle“ 
Kommunismus, eine konſequent durchgeführte Ausjchliegung des Privateigen- 
tums, eine Utopie. Der Menſch kann nicht exiftieren, wenn er nicht die aus— 
jchließliche Dispofition wenigftens über die notwendigen Nahrungsmittel und 
Gebrauchsgegenftände hat, d. h. wenn er nicht das Recht hat, diefelben aus: 
Ichließlich für jeine Perſon zu verwenden und jedem anderen die Mitbenügung 
zu beriwehren. 

5) Trieber ebd. vgl. S. 10, wo die ſpartaniſchen Phiditien als Über- 
veft einer grauen Vorzeit hingeftellt werden, in dev noch Gemeinjamkeit des 


I. 5. Die jtaatl. org. Bürgerfpeijg. Spartas u. Kreta u. d. Sozialismus ıc. 73 


diefem abjoluten Kommunismus haben nun aber die indogerma- 
nischen Völker ſelbſt auf der älteften für uns erkennbaren Stufe 
ihrer Entwiclung nichts gewußt. Schon die indogermanifche Urzeit 
fennt gemeinfame Wurzeln für die Bezeichnung des Stehlens und 
des Diebes, und auch für die Begriffe: Taufchen, Kaufen, Kauf- 
preis umd verwandte finden fich in den indogermanijchen Sprachen 
übereinftimmende Ausdrücke ſchon in alter Zeit entwicelt vor.!) Wenn 
demnach der Begriff des Eigentums jchon der Urzeit aufgegangen 
ift, wo bleibt da die „ehemalige Gemeinſamkeit alles Beſitzes“? 

Überhaupt ift e3 irreführend, von einer „kretiſchen Güter: 
gemeinschaft” in der Allgemeinheit zu reden, wie es jelbjt Nojcher 
gethan hat.) Wer fich die ökonomische Struktur des Fretifchen 
Syifitienweiens im Einzelnen veranschaulicht, wird es als „kommu— 
niſtiſch“ Höchitens injoferne bezeichnen können, als das Inſtitut eben 
Gemeinwirtichaft, insbefondere Zwangsgemeinwirtſchaft war. Diefen 
gemeinwirtichaftlichen Charakter teilt es aber, wie mit der Inſtitu— 
tion des Staates ſelbſt, der ja die höchite Form der Zwangsgemein- 
wirtſchaft darstellt, jo mit jeder ftaatlichen Einrichtung, welche mit 
den Mitteln Aller (d. h. auf der finanziellen Grundlage von Steuern 
und öffentlichem Vermögen) für die Zwede aller d. h. für allge- 


Bodens und alles Bejites beitand. ZTrieber fieht jogar eine Erinnerung 
an diejen urjprünglichen Kommunismus in der Förderung des Stehlens bei 
der jpartanischen Jugenderziehung, „wie denn gewiſſe Völker, die in primi— 
tiven Zuftänden nur Gemeineigentum kannten, noch heutzutage das Stehlen 
für etwas höchſt Unjchuldiges halten.” Vgl. dagegen die Anficht Schraders 
(Linguiftisch = hiftorische Forichungen zur Handelsgeichichte und Warenkunde 
©. 61), daß der Dieb auf niedrigen Kulturftufen eine viel ſtrengere Beurtei: 
lung als auf höheren zu erfahren pflege! Man fieht, wie wenig mit jolch 
allgemeinen Argumentationen gedient ift, denen bei der unendlichen Mannig— 
faltigfeit der Erjcheinungen des Völkerlebens ftet3 pofitive Zeugniſſe auch für 
diametral entgegengefeßte Anfichten zu Gebote ftehen. 

1) Schrader a. a. D. 

2) Syitem der DVBolfswirtichaft I S 833 Anmerk. 6. DBgl. auch den 
Aufſatz Roſchers über Sozialismus und Kommunismus in der Zeitichr. F. 
Geſchichtswiſſenſchaft III, 451, wo von einer „ehr fonfequenten Gütergemein: 
ſchaft in Kreta” die Rede ift. 


74 Erſtes Buch. Hellas. 


meine Staatszwede arbeitet. Wo gäbe es überhaupt eine Nechts- 
ordnung, die nicht in dieſem Sinne eine Menge „kommuniſtiſcher“ 
Elemente in fich ſchlöſſe! (Beichränfungen des Gebrauches und 
Mipbrauches des Eigentums, Ge] Jamteigentum und Gemeinwirtichaft 
in Staat und Gemeinde u. |. w.)9) 


Auch greift das Fretiiche Syifitieninftitut, obgleich es gerade- 
zu eine Lebensbedingung des Staates bildete, in das Privateigen- 
tum prinzipiell durchaus nicht tiefer ein, als etwa das Sozial 
recht des modernen Staates. — Wie bei der Fretiichen Bürger- 
ſpeiſung der Ausfall, welcher dureh die ungenügenden Beiträge der 
Ärmeren entftand, durch Staatszufchüffe und die höheren Beiftenern 
der Neicheren gedecdt wurde, genau jo ergänzt die Sozialgejeßgebung 
des. modernen Staates bei den öffentlichen Leiftungen an Kranken— 
geld, Unfall, Invaliden- und Altersrente das unzureichende Ein- 
fommen der befiglofen Klaſſen aus Leiftungen der Befigenden und 
teilweife auch aus Mitteln des Staates (Neichszufchuß bei ver 
Altersverficherung). Wie auf Kreta das Einfommen der Wohl 
habenden durch den — mit dem Beliß fteigenden — Beitrag zum 
Staatstifch den Armeren mit zu gute fam, jo übertragen auch wir 
durch gejeglichen Zwang an die Arbeiter Einfommensteile, die jonft 
den Arbeitgebern, alfo den Befigenden, zugefallen wären. Und wie 
auf Kreta die Staatsgewalt auch dem Minderbemittelten die Bei- 
tragspflicht auferlegte, jo zwingen auch wir jeden an der Arbeiter: 
verficherung Beteiligten mit einem Teile feines Einkommens für 
die Koften des Inſtitutes mit aufzufommen. Hier wie dort haben 
wir demnach eine Gejeßgebung vor uns, welche in die natürliche 
Verteilung des Volkseinkommens beftändig eingreift und derſelben 


!) Bal. die Schöne Ausführung von Shering: Der Zweck im Recht I, 
521: „Du haft nichts für Dich allein, überall jteht Div die Gefellfchaft oder 
als Vertreter ihrer Intereſſen dag Geſetz zur Seite, überall ift die Geſellſchaft 
Deine Partnerin, die an Allem, was Du haft, ihren Anteil begehrt: an Dir 
jelbit, Deiner Arbeitskraft, Deinem Leib, an Deinen Kindern, Deinem Ber- 
mögen, — das Recht ift die verwirklichte Partnerfchaft des Individuums 
und der Gejellichaft.“ 


I. 5. Die ftaatl. org. Bürgerfpeifg Sparta3 u. Kreta u. d. Sozialismus xc. 75 


mit der Zwangsgewalt des Staates eine der Volkswohlfart ent- 
jprechendere Nichtung gibt. Zugleich bedeutet bier wie dort diefe 
todififation der Einfommensverteilung eine Verſchiebung derjelben 
zu Gunften der wirtichaftlih Schwachen auf Koften der Befigenden. 
Wenn daher die Fretiiche Syilitienverfafjung „rein kommuniſtiſch“ 
fein fol, jo find es auch die Inftitutionen des modernen Sozial- 
rechts, jo groß die Unterſchiede im übrigen auch fein mögen. 
Allerdings ift auf Kreta der Staatszuihuß gegenüber der 
Leiſtung der Beitragspflichtigen weit mehr ins Gewicht gefallen, als 
es in dem Sozialrecht eines Staates der Fall jein kann, dem nicht 
wie in dem dorischen Heerjtaat die Hilfsmittel einer außerhalb der 
Bürgerfchaft ftehenden unterthänigen Bevölkerung zu Gebote ftehen; 
ferner erſcheint in der kretiſchen Bürgerjpeifung das gemeinmirt- 
ſchaftliche Prinzip auch auf die Konſumtion in einem Umfang aus- 
gedehnt, der das bei ähnlichen DVeranftaltungen des modernen 
Staates (bei der Gemeinwirtſchaft des jtehenden Heeres) übliche 
Maß weit überjchritt, endlich war im kretiſchen Staate das Necht 
auf Eriftenz in vollfommenerer Weile verwirklicht, als in unferer 
modernen Armenverforgung und DVerficherungsgejeggebung. Allein 
es handelt jich eben bei alledem nur um ein Mehr oder Weniger. 
Denn die pezifiichen Eigentümlichkeiten einer „rein kommuniſtiſchen“ 
Nechtsordnung, die prinzipielle Negation des PBrivateigentums, Der 
Individualwirtſchaft und des Individualhaushaltes find auch dem 
fretiichen Staate fremd. Er kennt wohl ausgedehnten Domänen: 
befiß, aber fein gemeinjames Eigentum am gejamten Grund und 
Boden, ausgedehnte Allmendenwirtichaft, aber Feine gemeinwirt- 
Ichaftlihe Drganijation der gejamten Güterproduftion, und eben- 
jowenig find feine Männermahle eine Verwirklichung des vein kom— 
muniftiichen Ideals der gemeinwirtjchaftlichen Komjumtion d. h. 
des vollfommen gemeinjamen Haushaltes aller.!) 


1) Über das Fortbeftehen der individuellen Hauswirtfchaft neben 
den dvdosie vgl. Plato Leges VI, 780 e. duiw yao...... Ta uev neol 
Toüs avdoas £vooitie zahos ua zei Orreo sirtov FAVUROTIKÜS KAHEO- 
Tyxev,. — TO de nepi Tas yuraizas ovdauws ogFWs dvouodEerntorv 


16 Erſtes Buch, Hellas. 


Nicht wenig bat zur Entftehung der unklaren Anficht von 
dem kommuniſtiſchen Charakter der Syflitien ohne Zweifel der Um: 
ftand beigetragen, daß ſich diejelben in ihren jozialen Wirkungen 
teilweife mit dem berühren, was auch als praftifches Ziel des 
Kommunismus erjcheint. Im kommuniſtiſchen Staat foll die Be: 
friedigung der Lebensbedürfnifje für alle die gleiche jein, und das 
Syſſitienweſen hat wenigitens in einem Punkte eine jolche Gleich- 
jtellung der Bürger im Genuß zur Folge gehabt. Allein über 
diefer äußeren Ähnlichkeit darf man den fundamentalen Unterjchied 
nicht überjehen! Dort fteht die Gleichheit der Lebensführung in 
ver That in einem organischen Zuſammenhang mit der wirtjchaftlichen 
Nechtsordnung: ſie ift der natürliche Ausdrud des kommuniſtiſchen 
Prinzips der völlig gleichen Verteilung des Bolkseinfommens und 
der durch fie bedingten Gleichheit der ökonomiſchen Lebenslage. 
Dagegen beruht die durch die Syſſitien gejchaffene Gleichheit 
überhaupt nicht auf einem volfswirtjchaftlichen, ſondern einem poli- 
tiſchen Motiv: der durch den Staatszwecd geforderten ſyſtematiſchen 
Disziplinierung der Bürger. Sie iſt demgemäß auch nicht Selbit- 
zweck, wie die Gleichheit des vulgären Kommunismus, jondern eben 
nur ein Mittel zur Sicherung der Lebensbedingungen des Staates.) 

Es erſcheint daher von vornherein durchaus willfürlich, irgend 
eine bejtimmte Eigentumsordnung als die notwendige Voraus: 
jegung des Inſtitutes hinzuftellen. Die durch die Speijegenofjen- 
Ichaften erzielte Gleichheit der Lebensführung war von der Lebens- 


usdeitat xal 0Vx Eis TO Pos yarau To 115 Evooıtias aurov ETLLTN- 
devua xrA. Dazu Ephorus bei Strabo X, 4, $ 19, p. 482. Dieje Thatjache 
ignoriert Salvioni: Il Comunismo nella Grecia antica ©. 19, wenn ex von 
den kretiſchen Syifitien jagt: „come essi avessero realmente l’aspetto di un 
regime comunistico.* Vgl. auch die Bemerfung des Ariftoteles zur Plato— 
nijchen Politik (Bolit. II, 7 Anf.): ovdeis yao ovre mv negi ta Texva 
KoLWOTNTa xal Tas yuvalzas ahkog ZEZAIVOTOUNKEV, OVTE NIEQL TE 0VO- 
OLTLIG TWV yvvalxwv. 

') Plato: Leg. I, 626a: xal oyedov avsvonjasıs ovrW oxonWv Tov 
Kontev vouodermv, ws Eis tov noAsuov ünevrae dnuooig zal idie mulv 
dnroßkenwv ovvsrd£aro,. 


I. 5. Die ftaatl. org. Bürgerfpeifg. Spartas u. Kreta ur. d. Sozialismus ıc. 77 


lage der Bürger vollfommen unabhängig.!) Gerade auf Kreta 
müſſen — wenigitens im vierten Jahrhundert — gleichzeitig mit 
der ſtreng gemeinwirtichaftlichen Drganifation der Syſſitien die 
Ihroffiten wirtjchaftlichen und jozialen Gegenfäge innerhalb ver 
Bürgerichaft bejtanden haben. Ephorus jpricht von Armen und 
Keichen,2) Ariftoteles von mächtigen Familien, deren Zügellofigteit 
und Gewaltjamkeit fih über alle Schranken des Nechtes und der Ver: 
faljung hinwegſetzen Eonnten.3) Er bezeichnet die damalige Ver: 
fafjung der Fretifchen Städte geradezu als ein Dynaftenregiment, 
die ſchlimmſte Form der Dligarchie. Die Maſſe der Bürgerjchaft 
fügte ſich willig den „Mächtigen“ (dvrevor), die ihr offenbar durch 
ausgedehnten Belig an Land und Grundholden weit überlegen 
waren.*) 

Wenn fih die „kommuniſtiſche“ Organiſation des Syifitien- 
wejens mit jolchen gejellichaftlichen Zuſtänden vereinigen ließ, fo ift 
es begreiflich, daß Ariftoteles es für durchaus möglich hält, fie in 
allen Staaten im Einklang mit dem bejtehenden, auf dem Brinzip 
des Privateigentums beruhenden Wirtichaftsrechte durchzuführen. >) 
Ja er ijt jo weit entfernt, das Inſtitut aus der Gütergemeinjchaft 
abzuleiten, daß er es im Gegenteil in feiner Polemik gegen die 
fommunitischen Theorien als Argument dafür verwertet, daß auch 
auf der Grundlage und unter der Herrichaft des Privateigentums 
der Beſitz jeine jozialen Funktionen in befriedigenditer Weiſe zu 
bethätigen vermöge. Er fieht hier nichts Kommuniftijches, als jenes 
„Gemeinmachen des Eigentums durch den Gebrauch”,6) von den 
bereits oben ausführlich die Nede war. 


!) Bol. Thufydides über die Spartaner (I, 6) oos tous noAlovs oäf 
ta usiiw zextnuevor loodiaıror uckıote xzateornoav. 
(2 Zen h / 
ana. aD. 
D)rBolitit 11.27, 65 12726: 
4) Bol. auch Polyb. VI, 45: Ieod de Kontasvor nevre Tovrors 
VNEOYE TEvartia' Twv TE Ya WORV zarte dvvauıy avrois Epiaoıv 00 
0X i len RE N F 
vouoı, to dn Asyousvov, Eis Ereigov zTaoHFa. 
SEI. I, 2, 102 12642; ef. I, 2,.5°12633. 
°) A. a. D.$ 5 gearegov roivor orı BeAtiov eivaı uv idias Tas 


78 Erſtes Buch. Hellas. 


Man wende gegen diefe Auffaffung nicht ein, daß es fich bei 
jenem gemeinnügigen Eigentumsgebrauh um eine Zwangsthätig- 
feit handelte. Denn aus dem Umstand, daß bier die Staatsgewalt 
von der Gejellichaft oder vielmehr von einem Teil derjelben zu 
Gunften des anderen jolche Opfer erzwang, daß fie — im Syſſi— 
tieninftitut — die privatwirtichaftlichen Kräfte zur Leiftung diefer 
Dpfer obligatorisch zujammenfaßte, — aus diefem Moment des 
Zwanges allein kann eine kommuniſtiſche Tendenz nicht abgeleitet 
werden, da dadurch die Nechtsform des Brivateigentums als Grund- 
lage des Wirtichaftslebens in feiner Weife berührt wurde und der 
Staatliche Zwang weiter nichts beabfichtigte, als eine vorbeugende 
Korrektur gewiſſer für die Lebensbedingungen des Staates bedenk— 
lichen Konſequenzen der bejtehenden Wirtichaftsordnung. Jedenfalls 
genügt der jtaatsjozialiftiiche Charakter des kriegeriſchen Geſellſchafts— 
typus vollfommen, um auch diejes Fretiiche Syftem des Syſſitien— 
weſens geichichtlich zu erklären. 


Sechiter Abjchnitt. 
Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaſſung. 


Zu Rückſchlüſſen auf das Agrarweſen der Vorzeit bleibt uns 
nach alledem nur noch das übrig, was wir von der Agrarverfaflung 
ſelbſt in biftorifcher Zeit noch zu erkennen vermögen. — Da jehen 
wir denn in Sparta, wie auf Kreta die Maffe des ländlichen Grund 
und Bodens, joweit er im Eigentum der herrſchenden Klaſſe tan, 
in Meierhöfe zexteilt, die von jchollenpflichtigen Bauern beftellt wur— 
ven. Diele Hofitellen (zA7oor) bildeten gejchlofjene und unteilbare 
wirtjchaftliche Einheiten. Für Kreta ift uns durch das Stadtrecht 
von Gortyn, alfo für das fünfte Jahrhundert wenigjtens foviel 
hinlänglich bezeugt, daß der Befig der „Häusler“ (Forxees), deren 


z0eıs, 7) dE yomosı noeiv zowes und $ 10.... woneo TE regi Tas 
xrseıs Ev Auxedaluorı zai Konrn Tois ovocırlors 6 vouoderns Exoivweerv, 


I. 6. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfafjung. 79 


Stellung der der fpartanifchen Heloten entiprach, nicht wie der 
übrige Nachlaß ihrer Herren der Teilung unter die Erben unter: 
worfen werden fonnte.!) Noch deutlicher iſt diefe Geſchloſſenheit 
der Hufen in Sparta erkennbar. Hier war der Ertrag, den die 
Helotenwirtichaften nach dem von Staatswegen feitgefegten Maßſtab 
den Herren lieferten, für alle derjelbe (82 Medimnen Gerite und 
ein entiprechendes Maß von Ol, Obſt und Wein)?), woraus fich 
mit Notwendigkeit ergibt, daß die xAn000 nicht nur von annähernd 
gleicher, jondern auch von unveränderlicher Größe gewejen jein 
müfjen. Nur jo erklärt es fih auch, daß die innerhalb des par: 
taniſchen Herrenftandes ſchon jehr früh hervortretende Tendenz zur 
Konzentrierung des Grundeigentums die alte auf der Selbitändig- 
feit zahlveicher Kleiner Betriebe beruhende Agrarverfaſſung offenbar 
wenig berührt hat. Das Eigentumsreht an zahlreichen Heloten- 
hufen mochte ſich allmählich in Einer Hand vereinigen, aber es ent- 
ftanden dadurch, da das Verhältnis zwiichen Herr und Bauer nicht 
einfeitig von dem einzelnen geändert werden durfte, Feine zuſammen— 
hängend bewirtjchafteten Gutsfomplere. Die xAno01 bejtanden viel- 
mehr als jelbjtändige Betriebe fort, die nicht zu einer organijchen 
Wirtichaftseinheit verbunden werden Fonnten. — Eine hübjche 

) Allerdings nimmt das Gejeß von der Teilung der Erbmaſſe direkt 
nur das Vieh aus, welches einem Häusler gehört, und die Stadthäufer, denen 
ein Häusler einhauft, der auf der Stelle hauft (IV, 31). Allein es handelt 
ſich an der betreffenden Stelle des Gejeges überhaupt nur um eine Beltim- 
mung über Vieh und Stadthäufer, von denen es heißt, daß fie an die Söhne 
als Präzipuum fallen jollen (gegenüber den Töchtern), joweit fie nicht einem 
auf eigner Stelle jelbjtändigen Häusler gehören. Den Acer des Häuslers 
zu nennen, war gar feine Beranlaffung, da er hier überhaupt nicht in Frage 
fam. Dagegen führt eben die Thatjache, dat Hofitelle und lebendes Inventar 
des Häuslers nicht zur teilbaren Erbmaſſe gehörten, notwendig zu dem Schluß, 
daß der Grund und Boden, den ex bewirtichaftete, derjelben Behandlung 
unterlag, wie jchon Zitelmann mit Necht angenommen hat (Juriftiiche Er: 
läuterungen zum Stadtrecht v. Grotyn. N. Rh. Muf. Bd. 40 Ergänzungsh. 
©. 137 ff.). 

2) Plutarch. Lyk. S. Inst. Lac. 41 Myron v. Priene bei Athenäus 
XIV, 657d (Müller F. H. G. IV, 461). 


80 Erſtes Buch. Hellas. 


Anekdote erzählt von Lykurg, wie er einmal nach der Durchführung 
ſeines Ackergeſetzes von einer Reiſe zurückkehrend durch die friſch 
abgeernteten Felder gekommen ſei und beim Anblick der in regel— 
mäßigen Reihen aufgeſchichteten Getreideſchober geäußert habe, 
Lakonien ſehe aus wie das Eigentum von lauter Brüdern, die ſich 
eben in ihr Erbe geteilt hätten.) Das iſt eine Legende, wie Die 
Gejchichte von der Lykurgiſchen Landaufteilung jelbjt. Allein fie 
enthält doch unverkennbar einen echten Kern. Es jpiegelt ſich in 
diefer angeblichen Hußerung des Gejeßgebers ohne Zweifel der 
Eindrucd wieder, der ji in der That dem Beobachter der Flur— 
teilung und der durch leßtere bedingten Formen der Aderwirtichaft 
in der Gemarkung Spartas aufdrängen mußte. 

Es liegt auf der Hand und ift auch von dem Urheber der 
genannten Erzählung ganz richtig herausgefühlt, daß dieſe Flur: 
teilung nichts Naturwüchliges war, jondern künſtlich gemacht fein 
mußte. E3 leuchtet ferner ein, daß, wenn diejelbe geraume Zeit 
nach der Einnahme des Landes und nach einer längeren Epoche 
der Entwicklung und Ausbildung des Privateigentums am Grund 
und Boden hergeftellt wurde, dies nur möglich war durch eine all- 
gemeine Gütereinziehung und jyitematische Neuaufteilung des ges 
ſamten Agrarbejiges: Die denkbar radikalite jozialrevolutionäre Um— 
wälzung, die von vornherein jo jehr aller inneren Wahrjcheinlichkeit 
entbehrt, daß wir ihre Gejchichtlichkeit nur auf Grund einer aus— 
gezeichnet beglaubigten Tradition annehmen könnten. Wo hätten 
wir aber eine jolche Tradition? Was die Lyfurglegende von einer 
derartigen Umgeftaltung der jpartanifchen Eigentumsordnung dur) 
einen großen Gejeßgeber zu erzählen weiß, beruht überhaupt nicht 
auf Überlieferung, ſondern verdankt feinen Urfprung ganz unver: 
fennbar den jozialpolitifchen Nejtaurationsbeftrebungen und der diejen 
Beitrebungen dienenden Tendenzlitteratur des vierten und dritten 


') Plutarch a. a. OD. Atysraı d’avrov voregov note yoovw mv 
zugav dis£egyousvov EE anodmuias dort TEIEDLEUE/NV 0EWVTa« ToVg 6WPoVs 
rraoaAhmhovs za ouakels ueıdicocı Kal Einelv IO0S ToVs NaPOVTaS, WEM 
Aezorızn geiveraı ncoa nolkov adehpgar eivaı vEewori vevsunusvorv, 


I. 6. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaſſung. st 


Sahrhunderts, Die aus der DOppofition gegen die gejellfchaftlichen 
und ftaatlichen Mißſtände des damaligen Sparta erwachjen: ift. 
Wenn jchon die Perſon des Geſetzgebers jelbit angefichts der mythi- 
ſchen und hieratiſchen Elemente der Lyfurgjage als eine gejchichtliche 
faum mehr anzuerkennen ift, jo kann noch weniger ein Zweifel da— 
rüber bejtehen, daß das ihm zugejchriebene joziale Erlöſungswerk 
nichts iſt als ein PBhantaftegebilde, welches nur eine vorbildliche 
Bedeutung hat, d. h. den Zeitgenojjen im Spiegel der idealifierten 
Vergangenheit vorhält, was fie im Intereſſe einer Wiedergeburt 
von Staat und Gejellichaft zu thun hätten. !) 

So bleibt denn nach diefem negativen Ergebnis nur die andere 
Möglichkeit, daß nämlich die in gejchichtlicher Zeit in der Gemar: 
fung Spartas bejtehende Flurteilung ſchon vollendet war, bevor der 
Grund und Boden in das Sondereigentum der einzelnen Familien 
des Herrenjtandes überging. — Damit fällt ein bedeutſames Licht 
auf die Entjtehungsgeichichte der jpartanischen Agrarverfaſſung. Wir 
jehen, wie das von den Spartiaten offupierte Land, ſoweit es nicht 
im freien Eigentum der unterthänig gewordenen Landesbevölferung 
(der Weriöfen) oder für andere Zwede vorbehalten blieb, von 
Staatswegen in ein Syſtem von Meierwirtichaften (xA7ooı) zerlegt 

) Neben den zahlreichen älteren Unterfuchungen über die Frage, deren 
Ergebniſſe hier natürlich nicht twiederholt werden fünnen, vgl. jetzt bei. E. 
Meyer: Lyfurgos don Sparta, Forfchungen zur alten Gejchichte I, ©. 211 ff. 
Hervorgehoben jet hier nur die Thatjache, dat Plato und Sokrates das Bor: 
fommen eines yns avadaouos in Sparta geradezu in Abrede ftellen. Vgl. 
Plato Geſetze 7366: . . . yms zei yoeWv dnoxonng zei vouns negı dewv 
za Enizuvdivov Eoıv ESepvyev und in Übereinftimmung damit jagt Iſo— 
frates Panath. 259: Ev de 7m Zneoriarwv (sc. moAsı) oudeis av Eı- 
deissiev — molıreiag ustaßoknv ovdE yosov anoxonds oVde yns dva- 
daouov. Mit Unrecht jpricht Meyer a. a. D. der letzteren Stelle die Be: 
weiskraft ab, weil hier nur don der hiftorifchen Zeit, nicht von der Urzeit 
die Rede jei. Dieje Unterfcheidung hat Sokrates jo wenig, wie Plato gemacht. 
Vgl. Geſetze 684 de. Natürlich enthält die Bemerkung des Sokrates noch) 
feinen unmittelbaren Beweis gegen die Gefchichtlichfeit der Lykurgiſchen Land- 
teilung an jich, jondern nur dafür, daß Sokrates ebenfo, wie Plato, nichts 
don ihr gewußt hat. 

Pohlmann, Geh. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 6 


89 Erſtes Buch. Hellas. 


wurde, wie die Größe derjelben mit Rückſicht auf das Intereſſe der 
Landesfultur und den Bedarf für den Unterhalt der Gutshörigen 
und ihrer fFünftigen Herren genau reguliert ward, und wie dann 
die Höfe nebft ihrem lebenden Inventar unter die Mitglieder der 
Herrengemeinde zur Aufteilung kamen. 

Freilich find wir mit der Feititellung diefer Thatſache auch 
ichon an der Grenze unjeres Wiſſens angelangt. Wir vermögen 
nicht zu erkennen, nach welchem Prinzip die urjprüngliche Vertei— 
(ung der Landloſe erfolgte, insbejondere ob diefelbe von Anfang an 
eine definitive war und jofort zur Entjtehung von privatem Grund- 
eigentum führte oder ob das Land noch eine Zeit lang im Gejamt- 
eigentum der eingewanderten Dorer geblieben ift. 

Zunächſt ift ja wohl joviel Klar, daß wir eine wirklich geſchicht— 
fiche Überlieferung über diefe Anfänge des Wirtfchaftslebens nicht be— 
fißen. Die Verhältniffe, die hier in Frage kommen, find weit über 
ein halbes Jahrtauſend älter als die erſten „Zeugen“, die man 
für fie anzuführen vermag, als Plato, der in den „Gejeßen“ (III, 
684 u. V, 736) von den Gründern der Dorerjtaaten Argos, 
Meffenien und Lafonien zu erzählen weiß, daß fie die Aufteilung 
des offupierten Landes an ihr Kriegsvolf auf dem Fuße einer ge— 
wifjen Gleichheit (looıns zıs ris ovoies) vorgenonmen hätten. 
Allerdings wird Plato eine derartige Tradition ſchon vorgefunden 
haben, allein diejelbe beruhte gewiß nicht auf hiſtoriſchen Erinne- 
rungen, jondern auf bloßer Spekulation, die ja wahrjcheinlich das 
Nichtige getroffen hat, aber für die Entſcheidung der Frage nicht 
mehr ins Gewicht fällt, wie etwa moderne Neflerionen über diefe 
Dinge.) 

Dunder hat diefe Lücke durch Heranziehung von Analogien 
ausfüllen zu Können geglaubt, indem er auf die Vorgänge bei zahl- 
reichen anderen Kolonifationen hinwies: auf die germanischen An— 

!) Daher find auch von vornherein die Schlüffe hinfällig, welche 3. B. 
Hildebrand aus diefem „Zeugnis“ auf die urjprüngliche Agrarverfaſſung der 
Doriihen Staaten gezogen hat. (Die joziale Frage der Berteilung des 
Grundeigentums im klaſſ. Altertum: Jahrb. f. Nationalöf. u. Stat. XII, ©. 8.) 


I. 6. Die jpartanifch-fretifche Agrarverfaffung. 3 


ſiedlungen im römischen Neiche, die Nieverlaffung der Normannen 
in England, deren Teilungsfatafter bekanntlich noch erhalten ift, 
auf die deutſche Koloniſation im Dften der Elbe, deren Teilungs- 
maß für die offupierten Gemarfungen (große oder Eleine Hufe) 
auf unferen Flurfarten ebenfalls noch erkennbar ift, auf das Ver— 
fahren der Konquiftadoren, auf die Parzellen der Kolonifationen 
Friedrichs II. und die Landverfäufe der vereinigten Staaten Nord— 
amerifas.!) Duncker ift umſomehr der Anſicht, daß die dorijchen 
Staatengründungen nach dieſer Analogie beurteilt werden müßten, 
weil wir in der That nachweifen können, daß in gejchichtlicher Zeit 
bei den Hellenen die Behandlung eroberter Gebiete eine ganz ähn— 
lihe war, Anſiedlung und Landaufteilung mit einander Hand in 
Hand gingen. Schon das verhältnismäßig alte Lied von den 
Phäaken in der Odyſſee weiß ja zu erzählen, wie bei der Be— 
gründung einer Niederlaffung neben Mauer- und Hausbau die Auf 
teilung der Acer die erſte Handlung der Anſiedler war (VI, 16).?) 
Die Argiver verjagen einen König, weil er ein den Arkadern ab- 
genommenes Gebiet nicht aufgeteilt habe, und als fie (463) Mykenä 
zerftört, teilen fie defjen Landgebiet auf.?) Um zu bezeichnen, daß 
Arkadien feine Bevölkerung nicht gewechjelt habe, d. h. «3 nicht ex: 
obert worden jei, jagt Strabo: „Die Arfader find dem Loſe nicht 
verfallen” (ovx Eurrerriwxaoıw eis vov #Aroov).‘) Von derjelben 
Praris der Aufteilung neubefiedelter Gebiete Durchs Los (zare- 
xAnoovgeiv) zeugen die Bemerkungen Diodors (V, 15, 81, 83, 84) 
über die Kolonifierung der Cykladen, von Tenedos, Lesbos, Sar- 
dinien, die Kleruchien Athens u. |. w. Was Sparta jelbit betrifft, 
jo kann man auf die befannte dem König Bolydor in den Mund 
gelegte Äußerung binweifen, der auf die Frage, warum er gegen 
en !) Die Hufen der Spartiaten. Abh. 3. griech. Geſch. 


?) Vgl. den Spruch der Pythia über die Kolonifation Eyrenes (Herodot 
IV, 159): 
"05 dE xev Es Außvav noAvnoatov voregov EAyn 
Tas avadaroueves, uEte ol noxe pauı usAnoeıv, 
2), Sttabo VIII 8,219,,p. 377. 
“) ib. VII, 1, 2, p. 333, 


84 Erſtes Buch. Hellas. 


die Brüder (die Mefjener) zu Felde ziehe, geantwortet haben fol: 
„er nv @xAmowvov vis Xuoas Padilo.“N) Auch der Drafel- 
ſpruch gehört hierher, den die Pythia den Spartanern in Beziehung 
auf die beabfichtigte Eroberung Arkadiens gegeben haben joll und 
in dem es heißt: ?) 

Avoo 001 Teysnv T7000(200T0v 0041000 Faı 

Kakov sediov oyoivp dıausroroaodeı. 

Dunder hat vollkommen xecht, wenn er meint, daß dieſer 
Spruch, wie jenes Königswort nur aus der Vorftellung heraus er- 
funden fein fonnte, daß die Spartaner erobertes Land „nach der 
Schnur zu vermeſſen“ und aufzuteilen pflegten. 

Allein liegt in alledem ein wirklich zwingender Beweis dafür, 
daß ſchon bei der erjten Anſiedlung des dorijchen Kriegsvolfes im 
Gurotasthal mit dem Grund und Boden in jeder Hinficht ebenjo 
verfahren worden ift, wie bei den jpäteren Gebietserweiterungen 
Spartas? Mer die joziale Entwicklung Spartas nur aus einem 
urfprünglichen Agrarkommunismus begreifen zu können glaubt, wird 
mit Recht einwenden können, daß die angeführten Stolonijationen 
und Groberungen jolchen Zeiten angehören, in denen das Inſtitut 
des Privateigentums am Grund und Boden bereits vollfommen 
entwicelt und daher der Übergang neugewonnenen Landes in das 
Sondereigentum jelbjtverjtändlich war. Soweit ſich auch dieſe Praxis 
der Landaufteilung zurüdführen läßt, die Zeiten der erſten dorifchen 
Staatengründungen liegen doch noch um Jahrhunderte weiter zus 
rüc,5) in deren Verlauf ſich die wirtichaftlichen Anſchauungen und 
Bedürfniſſe wejentlich verändert haben Fönnen. Wenn Dunder 
meint, daß Anfievlungen auf Grund von Croberungen ohne Land— 
teilung für die Eroberer undenkbar find, jo ift das injoferne richtig, 


1) Plutarch: Apophtegm. Lac. 285. 

2?) Herodot I, 60. 

3) Die obigen Bemerkungen Divdor3 über gleich alte Koloniengrüns 
dungen fommen hier natürlich nicht in Betracht, da fie nicht ein Zeugnis 
für die Praxis dev Vorzeit, jondern nur für die der gejchichtlichen Zeit ent- 
halten, 


I. 6. Die jpartanijch-kretifche Agrarverfaffung. 85 


als es ſich um eine Auseinanderſetzung, eine Abteilung mit der 
alten Landesbevölkerung handelte; auch eine neue Flurteilung zur 
Regelung des landwirtſchaftlichen Betriebes auf der der letzteren 
abgenommenen Gemarfung muß, wie wir ſehen, in Sparta als 
Folge der Dffupation angenommen werden. Was aber die Zu- 
teilung der Landloje an die einzelnen Familien des Herrenftandes 
betrifft, jo bleibt die Art und Weiſe derjelben für uns doch noch 
eine offene Frage. Wenn durch das zeraxAngovgeiv der Tpäteren 
Landaufteilungen der Grund und Boden in den bleibenden Beſitz 
der Einzelnen überging, jo braucht das feineswegs von Anfang an 
jo gewejen zu jein. Es it vielmehr wohl denkbar, daß eine jo 
eng verbundene kriegeriſche Genofjenichaft, wie die jpartanifche 
Herrengemeinde, welche die Notwendigkeit jteter Kriegsbereitjchaft 
ohnehin zu gewiſſen gemeinjchaftlichen Inſtitutionen zwang, auch 
dem gemeinfam errungenen Landbeſitz gegenüber an dem genofjen- 
Ichaftlichen Prinzip möglichjt lange fejtgehalten hat. Wenn in dieſen 
dorischen Herrenftaaten eimerjeitS das Hauptmotiv des Eigentums— 
bedürfnifjes, die perjönliche Arbeit und der daraus entipringende 
Anſpruch auf ausschließlichen Genuß ihres Ertrages von vornherein 
wegftel und andererſeits duch die unvermeidlichen Folgen des 
Privateigentums, durch Entfejlelung des Ermwerbstriebes und wirt- 
Ichaftliche Ungleichheit die Kebensbedingungen des Staates befonders 
gefährdet werden mußten, jo erjcheint es immerhin möglich, daß in 
Sparta der Prozeß der Eigentumsbildung ähnlich wie bei ven 
Dorern Liparas durch eine längere Periode der genofjenschaftlichen 
Drganifation des Agrarweſens hindurchgegangen ift, d. h. daß der 
ganze Kompler von Helotenhufen urjprünglich als Gejamteigentum 
der Gemeinde behandelt und demgemäß den Einzelmen nur ein zeit- 
weiliges Nußungsreht an den x47001 eingeräumt wurde. Auch 
dafür ließen fich, wie ſchon das Beiſpiel des dorifchen Lipara be 
zeugt, leicht Analogien finden. Wenn Dunder für feine Annahme 
auf die privatwirtjchaftlichen Formen hinweijt, in denen fich in der 
Neuzeit die Beſiedlung des amerikaniſchen Weſtens vollzieht, jo 
fönnte man mit demjelben Necht Für jene entgegengejegte Auffaſſung 


86 Erſtes Buch. Hellas. 


die älteſte Koloniſation Neuenglands anführen, die bekanntlich viel— 
fach mit einem agrariſchen Kommunismus verbunden war. Doch 
was iſt mit ſolchen problematischen Analogien gedient, ſolange 
andere Anhaltspunkte fehlen? 

Kun glaubt man ja allerdings eine Neihe von jolchen Ans 
haltspunften zu bejißen, welche jeden Zweifel daran ausschließen 
jollen, daß Spartas Agrarverfaſſung bis tief in die hiftorische Zeit 
hinein auf dem Prinzip des Gejamteigentums beruhte, daß hier — 
wie man meint — ver Staat allezeit ein Eigentumsrecht an den 
aufgeteilten Ackerloſen behauptet und die leßteren gewiljermaßen als 
„Staatslehen” betrachtet habe, die ex jeden Augenblick behufs einer 
Keuverteilung wieder einziehen könne.!) 

Für dieſe Anficht beruft man ſich vor allem darauf, daß als 
Gejamtname für den in den unmittelbaren Befiß der jpartanijchen 
Herrengemeinde übergegangenen Teil Lacedämons die Bezeichnung 
„rodrızn gooa“ gebraucht wird,?) wodurch derjelbe deutlich als 
ager publicus charafterifiert werde. Allein ift eine ſolche Er— 
klärung notwendig oder auch nur wahrjcheinlich? ES Liegt abjolut 
fein Grund zu der Annahme vor, daß man in Sparta das Ge- 
meinveland nicht ebenjo genannt haben follte, wie überall fonft 
nämlich To xowor, To dnuoorov. Und warum foll zrokırızı) 
wor etwas anderes bedeuten, als das „Bürgerland” d. h. das 
unter die Bürger aufgeteilte und dem für die Bollbürger geltenden 
Nechte unterworfene Zand im Gegenjat zu dem Unterthanenboden 
der Beriöfenbezirte?3) Was man im Hinblid auf die Verfchieden- 


1) Bol. 3. B. Schömann Gr. U. 13, 225: „Das Eigentum verblieb 
dem Staat, von dem die Befiger damit nur gleichjam belehnt waren." 226: 
„Die Beſitzer (dev Kleren) waren in der That eigentlich nur Nubnieger der 
Güter. Der Staat konnte das Recht nicht aufgeben, die durch Sorglofig: 
feit (?) oder ſonſtige Berhältniffe eingeriffene Ungleichheit, jobald fie dem 
Staatswohl Gefahr drohe, wieder aufzuheben.” 

2) Polybius VI, 45 — ravras Tovs noAites ioov Eysır der ms 
noAttızns Xwoas. 

3) Diefe Auffaffung entjpricht in der That vollfommen dem Sprach: 


I. 6. Die jpartanijch-fretiiche Agrarverfaffung. 87 


beit des Perſonen- und Güterrechts von dem römischen Stalien ge- 
jagt bat, daß es gegenüber dem Brovinzialboden als das eigent- 
lihe Bürgerheim und Bürgerland gegolten babe,!) das trifft un- 
gleich mehr für die zrodırızı) gwo« Lacedämons zu. Sie bildete 
mit ihrer von Staatswegen geficherten Beltellung durch eine unfreie 
Arbeiterichaft die Vorausſetzung der ganzen bürgerlichen Eriftenz 
des Spartiatentums; fie war gewiß auch grundſätzlich der herrichen- 
den Bürgerschaft vorbehalten, jo daß fein Unterthan ohne Eintritt 
ins Bürgerrecht in der Gemarkung, wo die „alten Zandloje” (ei 
aoyalaı wolocı,?) ai aoxhYev dievsrayusvaı woloaı)?) lagen, 
Grundeigentum erwerben konnte. Andererſeits haben die gewohn— 
heitsrechtlichen Normen, welche Erwerb und Veräußerung dieſer 
Landloſe vegelten, beziehungsweife beichränften, naturgemäß auf die 
Grundeigentumsverhältniffe des Beriöfenlandes feine Anwendung 
gefunden. 

Hat uns aber jo der Begriff der rodırızr, gwoe nicht auf 
den der Allmende, jondern auf den Begriff eines ſpezifiſch bürger- 
lichen, dem ftrengen bürgerlichen Recht unterworfenen Bopdeneigen- 
tums im Unterjehied von einem außerhalb dieſes ftrengen Nechtes 
jtehenden geführt, jo drängt ſich alsbald die weitere Frage auf, 
enthielt nicht eben die agrarijche Gebundenheit diefes bürgerlichen 
Nechtes Momente genug, welche die Annahme eines wahren Eigen- 
tums an den Hufen des „Bürgerlandes“ dennoch ausichließen? 

Kun iſt es ja allerdings richtig, daß auf einen Beſitz, der 


gebrauch. Vgl. Staat der Lac. 11, 4, wo die nodırızai uogaı des jparta- 
nischen Heeres offenbar den Periöfenabteilungen gegenübergeftellt werden. 

1) Madvig: Verfaffung u. Verwaltung des röm. Staates II, 100. 

2) Heraclid. Pol. 11, 7. 

>) Plutarch inst. lac. 22. Die Bezeichnung erinnert an die der 
Stammgüter der jüdjlavifchen Hausgemeinjchaften: djedovina oder starina 
(da3 aus alter Zeit Stammende). Kraus a. a. O. 104. 

4) Arift. Polit. IT, 6, 10. 1270a: wveiodeı ydo 7 nwAelv mv 
Undoyovoav (ywoarv) Enroinoevr ov zahov. Heracl. Pol. I, 7 nwAsiv de 
ynv Aaxedaruovioıs aioyoov veroworau' ns (dE) aoyeias uoigas ovde 
E£sotıv. 


88 Erſtes Buch. Hellas. 


weder veräußerlich noch teilbar war und einer ftreng obligatorischen 
Erbfolge unterlag, !) der uns geläufig gewordene Begriff des Privat- 
eigentum3 nicht anwendbar ift. Sollten wir aber deswegen mit 
der traditionellen Altertumsfunde die genannte Frage bejahen? 
Gewiß nicht! Denn nur derjenige kann dem ſpartaniſchen Agrar— 
befiß der hiftorifchen Zeit den Charakter des Eigentums abjprechen, 
der bewußt oder unbewußt von der naturrechtlichen Doktrin aus: 
geht, daß das Weſen des Eigentums in der Unbeſchränktheit der 
Herrſchaft des Eigentümers befteht, und daß daher jede Beſchrän— 
fung desjelben im Grunde einen Eingriff enthält, der der Idee des 
Spnftituts widerspricht.) St aber dieſe abſtrakt-individualiſtiſche 
Auffaflung des Eigentumsrechtes als einer abjoluten Verfügungs— 
gewalt nicht jo ungeschichtlich wie möglich, eine aprioriftiiche Fiktion, 
deren Verwirklichung von vornherein undenkbar it? Wenn es die. 
Aufgabe des Nechtes ift, „die Lebensbedingungen der Gejellichaft in 
der Form des Zwanges zu fichern“ 3) jo kann es auc fein Eigen: 


!) Dieſes Erbfolgerecht beſchränkte urfprünglich ohne Zweifel auch das 
nach Ariftoteles a. a. O. in Sparta ſchon früh anerfannte Recht, über die 
Landloje durch Schenkung und Teftament zu verfügen. Auch die, ſei eg nun 
echte oder Faljche, Tradition über das angebliche Gejeh des Ephors Epitadeus 
datiert die völlige Freigebung dieſes Rechtes, welches offenbar ein verhäng- 
nispolles Werkzeug geworden ift, die Unveräußerlichfeit des Grundbeſitzes 
durch eine legale Fiktion zu umgehen, erſt vom Anfang des vierten Jahr: 
hundert. (Plutarch Agis 5.) 

2) Am Schärfiten hat dieſe individualiftiiche Auffaffung Schömann a. D. 
©. 225 formuliert: „Auch Cigentümer ihrer Güter waren die Spartiaten nicht, 
da ihnen durchaus fein Freies Dispofitionsrecht darüber zuftand. Das Eigen: 
tum verblieb dem Staat.” Zu welchen Konjequenzen dieſe Auffaſſung führen 
fan, zeigt vecht deutlich das Buch von Hall (The effects of civilisation on 
the people in European states 1859 s. 37), welches auf den älteren eng: 
tiichen Sozialismus und dadurch indireft auf die heutige jozialiftiiche Be— 
wegung großen Einfluß geübt hat. Er vergleicht das jpartanifche Agrar: 
Iyftem mit dem Kommunismus des Jejuitenftaates in Paraguay. — 
Übrigens Findet jelbft ein Gelehrter, wie Schrader (a. O. ©. 420), in der 
ſpartaniſchen Agrarverfaffung eine Verwandtſchaft mit der der ſlaviſchen 
Dorfgemeinde! 

3) Jhering: Der Zwed im Recht T, 495. 


I. 6. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaſſung. 89 


tumstecht geben, welches nicht durch die ftete Nückjicht auf die Ge— 
famtheit beeinflußt und gebunden wäre; und diefe Rückſicht kann 
unter Umftänden zu jehr weitgehenden Beichränfungen des Einzelnen 
führen, ohne daß derjelbe aufhört, Eigentümer zu jein.!) 

Auch die Eigentumsbefchränfungen des ſpartaniſchen Agrar: 
rechtes haben feinen anderen Sinn als eben den, die Lebensbedin: 
gungen der bejtehenden Staats: und Gejellihaftsordnung zu fichern. 
Sn dieſem ariſtokratiſchen Ständeftaat beruhte die Wrachtitellung ver 
herrſchenden Klafje ja durchaus auf dem Grundbeſitz. Die Grund- 
vente war für alle Angehöriger derjelben die unentbehrliche Voraus— 
jeßung für die Behauptung eines jtandesgemäßen, von jeder Erwerb3- 
arbeit befreiten Lebens, ſowie für die Erfüllung ihrer ftaatlichen 
Pflichten. Die herrjchende Klaſſe hatte daher das Lebhaftefte Inter— 
efje daran, den zu ihr gehörigen Familien ihren Beſitz an liegenden . 
Gütern möglichit zu fichern, was eben mur dadurch erreichbar war, 
daß man dem Einzelnen in der freien Berfügung über das Grund- 
eigentum weitgehende Schranken auferlegte und dasjelbe als ein 
familienweife gejchlofjenes zu erhalten juchte. Deshalb finden ſich 
in Hellas unter der Herrjchaft der alten ariftofratiichen Verfaſſungen 


) „Die Gejchichte des Eigentums”, jagt Treitſche mit Recht, „zeigt 
einen unabläffigen Wechjel. Denn das Gigentum tritt in Kraft nur durch 
die Anerkennung von jeiten des Staates; und da der Staat durch dieje An— 
erfennung Macht verleiht, jo legt er den Eigentümern auch Pflichten auf, 
jeßt ihrem Willen Grenzen, welche nach den Lebensbedürfniffen der Gejamt- 
heit fich beftändig verändern. Kein Volk hat jemals das Eigentum als ein 
jo unumſchränktes Recht angejehen, wie es in den Theorien des Privatrechts 
losgetrennt vom Staatsrecht erſcheint.“ (Der Socialismus und jeine Gönner. 
Preuß. Ibb. 1882.) Bol. dazu die jchöne Ausführung von Gerber, Zur 
Lehre vom deutjchen Familienfideikommiß (Jahrbb. dv. Ihering I, 60): „Das 
Grundeigentum in Deutichland hat niemals als ein Recht von ſchrankenloſer 
Freiheit gegolten; es ift von jeher durch einen Zuſatz fittlicher oder politis 
ſcher Pflichten gebunden geweſen; es hatte nicht bloß den Charakter eines 
ausjchließlichen Nechts, jondern och mehr den eines Amtes. &3 ift das eine 
der wirkſamſten Grundideen des deutjchen Nechtes, die ſich durch den ganzen 
Verlauf jeiner Entwicklung rechtfertigen läßt und bei der Konſtruktion des 
heutigen Nechts nicht überjehen werden darf.“ 


90 Erſtes Buch. Hellas. 


ganz allgemein genau dieſelben agrariichen Eigentumsbejchränfungen, 
wie in Sparta.!) Sa wir haben hier eine Erſcheinung vor uns, 
welche fich bei den meilten Völkern in gewiljen Stadien ihrer Ent- 
wicklung zu wiederholen pflegt. Wo die gejellichaftliche Ordnung 
noch überwiegend auf der Naturalwirtichaft beruht oder der Grund— 
bejig vorzugsweije den Mittelpunkt des Lebens ausmacht, da ftellt 
ſich überall von jelbit ein ſtarkes Bedürfnis ein, der Familie dies 
Lebensgut zu erhalten, auf das fich allein eine jelbitändige Eriftenz 
gründen ließ, deſſen Verluſt unter den Verhältniſſen eines unent- 
wicelten vwoirtjchaftlichen und ftaatlichen Lebens notwenig zur Ab- 
bängigfeit und zu einer Minderung der jozialen Schätzung ſowohl 
wie des perjönlichen und politischen Nechtes führen mußte. Motive, 
Die Übrigens in Hellas noch Durch ein jehr zwingendes religiöſes 
Intereſſe verftärkt wurden, weil hier das Familiengut zugleich Sik 
des Familienkultus und der Erbbegräbnifje war, deren Pflege zu 
ven heiligjten Pflichten der Nachfommen gehörte. 2) 

Diejes Zuſammenwirken ftändifcher, wirtchaftlicher, religiöſer 
Motive muß in den älteren Zeiten der helleniſchen Welt ganz all- 
gemein eine ähnliche Stabilität der Grundbeſitzverhältniſſe zur Folge 
gehabt haben, wie wir fie in dem Mittelalter anderer Völker wieder: 
finden.?) Auch dem Bewußtſein des althellenischen Bauernſtandes, 
zumal da, wo er feine urſprüngliche Kraft und Haltung zu be 
baupten vermochte, wird es kaum weniger als dem Edelmann 


1) Vgl. unten. Mit Bezug auf Leufas wird die hier urjprünglic 
ebenfalls beftehende Unveräußerlichkeit der Kleren von Ariftoteles ausdrücklich 
als Hauptſtütze der ariftofratijchen Verfaffung, ihre Aufhebung als Urſache 
der Demofratifierung bezeichnet (Il, 4, 4. 1266b). 

2) Ajchines I, 96 wirft dem Timarch vor, daß ex fich nicht entblödet 
habe, die Beſitztümer feiner Vorfahren zu verfaufen; und in der Rede des 
aus über die Erbſchaft des Apollodor (31) wird ebenfalls eine folche Ver— 
äußerung aufs ſchärfſte verurteilt. Vgl. Schmidt: Ethik der Griechen Il, 392. 

3) Dal. z. B. Stobbe: Hdb. des deutfchen Privatrecht? V ©. 53: „Die 
von den Vorfahren ererbten Grundftüce galten nach altem Necht in dem Sinn 
als Familiengüter, daß fie von dem Eigentümer nicht ohne Genehmigung der 
nächiten Erben, bejonders der Söhne, veräußert werden jollten. 


I. 6. Die jpartanifch-fretiiche Agrarverfaſſung. 91 


Ichimpflich (ou za4or!) erſchienen fein, den ererbten Hof ohne drin- 
gende Urſache zu veräußern. In der That geht durch das ganze 
ältere griechische Necht ein Zug hindurch, in welchem fich die an: 
gedeuteten Tendenzen jehr bejtimmt ausprägen, wenn wir auch nicht 
immer far zu erkennen vermögen, inwieweit wir es mit geſetzlich 
firierten Verboten oder mit dem in alter Zeit ja nicht minder 
ftarfen Zwang der Sitte zu thun haben. So bat fich ſelbſt in 
dem Induſtrie- und Handelsjtaat Athen die Erinnerung an eine 
Zeit lebendig erhalten, wo legtwillige Verfügungen über das Ber: 
mögen noch nicht gejtattet waren, weil — um mit Blutarc) zu 
reden!) — Haus und Gut des Verſtorbenen jeiner Familie ver: 
bleiben jollte. Eine Auffaffung, mit der es völlig übereinftimmt, 
wenn PBolybius dem von den zeitgenöfjiichen Böotiern mit der 
Teftierfreibeit getriebenen Mißbrauch die Vererbung „zere yEvos“ 
gegenüberjtellt, wie fie früher auch in Böotien üblich geweſen.?) 

Was ferner die ſpartaniſche Unveräußerlichkeit des ererbten 
Grundbefiges, der „alten Stammgüter”, betrifft, jo iſt diejelbe nach 
dem Zeugnis des Nriftoteles „vor Alters“ in vielen helleniſchen 
Staaten geltendes Necht gewejen.?) Und noch lange, nachdem das 
Prinzip jelbjt aufgegeben war, haben ſich mehr oder minder weit- 
gehende Bechränfungen des VBeräußerungsrechtes erhalten. So war 
3. B. in Lofri noch im vierten Jahrhundert der Verkauf von Liegen: 
Ihaften zwar zugelaffen, aber nur im Falle offenfundiger Not.t) 
Im alten Nechte von Elis war dem Einzelnen die hypothefarifche 

!) Solon ce. 21 evdoxiumos dE zav 1a neoi diaINzWv vouw' TIQO- 
TE0ov yao ovx Einv AM Ev TO yEvsı tod TEdVNK0Tos Eder Ta yonuare 
#ZaL TOV 0LX0V AZETAUEVELV, 

2?) XX,6,5 oi uev ycdo arszvor Tas ovolas ov ToIs xura yYEvos 
Ertiysvoufvors TEAEUTWVTES aneheıntov, OTTEO nv &90s 700’ MUTOLS TO0TEDOV 
ra. Dei Ariftoteles wird es bejonders als ein Bedürfnis oligarchticher 
Staaten bezeichnet: „res zAmoovoules un zara doow eivaı, dad xard 
yEvos“ xt. A.a. ©. VI, 7, 12. 1009a. 

3) Ebd. VII, 2,5. 1319a nv de To doyatov Ev moAdais noAsoı vevo- 
uodernusvov unde nwäieiv E£eivaı Tovs TEWroVS xAmgovs. 


9 Ebd. II, 4, 4. 1266b. 


9% Erſtes Bud. Hellas. 


Belaftung feines Grundbeſitzes nur bis zu einer gewiſſen Quote des- 
jelben geftattet, um wenigitens einen Teil vor der durch die Ver— 
ſchuldung drohenden Gefahr des DVerluftes ficher zu ftellen.!) Für 
andere Staaten find wenigitens im allgemeinen gejeßgeberiiche Maß— 
regeln zur Konfervierung der bejtehenden Agrarverhältnifie, zur 
„Erhaltung der alten Stammgüter” (rovs reiaiovs xAngovs dıa- 
onLew)?) bezeugt, wobei man entweder an Bejchränfungen der 
Teilbarfeit und Beräußerlichkeit, oder an ein ftaatlich geregeltes 
Adoptionsweien denken kann in dem Sinne, wie es die jogenannten 
vonor Ferro in Theben einführten.?) 

Wo findet ſich nun aber bei alledem eine Spur davon, daß 
man mit diefen Bejchränfungen des Liegenjchaftsverfehrs das Inſtitut 
des agrarischen Privateigentums jelbjt negieren wollte? Sie zeigen 
uns wohl ein zu Gunften der Familie und im Intereſſe der bejtehen- 
den Geſellſchaftsordnung gebundenes Grundeigentum, jchließen aber 
den Begriff des Eigentumes ſelbſt feineswegs aus. Wenn daher das 
Bodenrecht in Sparta feine anderen Beſchränkungen des Indivi— 
duums kennt, als jolche, denen wir auch ſonſt in dem älteren grie— 
chiſchen Agrarrecht begegnen, jo fehlt uns jeder Anhaltspunkt für 
die Annahme, daß das Necht des Individuums oder der Familie 
am Grund und Boden in Sparta prinzipiell anders aufgefaßt 
wurde, als ſonſt in Althellas. 

Möglich ift es ja immerhin, daß der Sozialismus des 
friegerischen Gejellfehaftstypus das Gemeinjchaftsprinzip in Sparta 
auch auf dem Gebiete des Bodenbefigrechtes noch in ungleich 
ftrengerer Form zur Geltung brachte, al3 anderwärts. Die Art 
und Weife, wie das thatfächlich bei der beweglichen Habe geſchah, 
macht es ſogar in hohem Grade wahrjcheinlih. ES ift jehr wohl 


1) Ebd. VII, 2, 5. 1319a. 

2) Ebd. II, 4, 4. 1266b. 

3) Ebd. IT, 9, 7. 1274b. vouodErng d’ avrois EyEvero Bılodaos rregi 
T div TIvov zei negi TS neidonories, ovs zakovcıv Exelvor vouovs 
Herizoös' zwi ToüT’ Eotıv idiws ün’ Exeivov verouodernuevov, OnWs 0 
cos uös owLeraı tov xAyowr. 


I. 6. Die jpartanijchzfretiiche Agrarverfafjung. 95 


denkbar, daß ein Staat, der jo wie der ſpartaniſche, die Perſon 
des Bürgers gewiſſermaßen als jein Eigentum behandelte, auch den 
Befib desſelben grundjäglich nicht anders auffaßte, ſich als ven 
Eigentümer alles Grund und Bodens, den Bürger nur als In— 
haber eines abgeleiteten Nutzungsrechtes betrachtete. 

Wenn auf die Frage: Wellen ift das Haus? — Stauffer 
dem Landvogt erwidert: Diejes Haus ijt meines Herrn und Kaiſers 
und Eures und mein Lehen”, jo mochte der alte Spartaner, dem 
fi) der Staat nicht einer Perſon verkörperte, der vielmehr für die 
Abſtraktion des Staates, der rodıs, volles Verſtändnis hatte, ſehr 
wohl auf die gleiche Frage antworten: „Mein Haus und Gut ift 
des Staates.“ Und es mag fi der Begriff der Oberlehensherr- 
lichkeit, des Obereigentums des Staates am Landgebiet urjprünglich 
im Agrarrecht Spartas jcharf ausgeprägt haben. 

Allein indem wir jolche Möglichkeiten erwägen, müſſen wir 
uns andererjeit3 ſtets bewußt bleiben, daß wir es dabei eben nur 
mi Möglichkeiten zu thun haben. ES ift eine, durch die uns zu 
Gebote jtehenden thatjächlichen Anhaltspunkte nicht gevechtfertigte, 
vorschnelle Behauptung, daß die Spartaniichen Kleren fich nach den 
rechtlichen Beltimmungen, welche für fie gelten, als Staatslehen 
ermerlen‘‘.t) 

Kun glaubt man freilich für diefe Eigenjchaft der Spartiaten- 
hufen als Staatslehen ein bejonderes Moment zu bejigen in den 
Befugniſſen, welche dem jpartanischen Königtum in gewiſſen familien- 
rechtlichen, auch für die Belitverhältniffe wichtigen Fragen zus 
famen. Man hat nämlich aus der bekannten Angabe Herodots (VI, 
57), nach welcher die Adoptionen in Sparta vor den Königen 
jtattfanden,2) den Schluß gezogen, daß hier der Staat fich in der 
Perſon des Königs als des Vertreters jeiner Anfprüche an die ein- 
zelnen Kleren mit den Kleveninhabern bei fehlender exrbberechtigter 
Kachkommenjchaft über eine anderweitige Erbfolge verjtändigt habe; 


1) Wie Gilbert: Gr. Staatzaltert. I? 15 behauptet. 


?) jv tıs Herov nalde noeodaı EIEAN, BuoıkEwv Evavriov TOlEEoHeL, 


94 Erſtes Buch. Hellas. 


was eben in der Weile gejchehen ſei, daß der Inhaber des Kleros 
„für eine bejtimmte Adoption die richterliche Entſcheidung des 
Königs provozierte”.!) Durch Ddiefe Fönigliche Gerichtbarfeit Toll 
fi) der Staat als der Eigentümer des Landes zugleich die recht- 
liche Möglichkeit gewahrt haben, auf die Verteilung des Grund 
und Bodens fortwährend einen bejtimmenden Einfluß 
auszuüben. Der König habe es 3. B. in der Hand gehabt, 
Adoptionen zu verhindern, welche die dem Staatsinterejfe zuwider— 
laufende Bereinigung mehrerer Kleren zu Einem Beſitztum herbei— 
geführt hätte, dagegen ſolche Adoptionen zu erzwingen, welche un— 
verforgten Söhnen Finderreicher Häufer zu einem Kleros verhalfen.?) 
Ganz analog hat man ferner ven Umstand gedeutet, daß die richter- 
liche Enticheidung über die Hand von Erbtöchtern, welche nicht 
Ion von jeiten des Vaters verlobt waren, ebenfalls den Königen 
zuftand.?) Auch dies habe feinen anderen Grund gehabt, als den, 
das Eigentumstecht des Staates an dem xAnoos zu wahren und 
dem Staate zugleich die Möglichkeit zu gewähren, zu Gunften ſolcher 
Bürger, die fein eigenes Gut hatten, über die Hand und den Beſitz 
der Erbtöchter zu verfügen.!) 

Gegenüber diefer Auffaſſung ift zunächit zu bemerken, daß, 
jelbit wenn in Sparta das Adoptions- und Exrbtöchterrecht in Jolcher 
Weile einer ſyſtematiſchen ſozialpolitiſchen Thätigfeit des Staates 
dienftbar gewejen wäre, daraus allein doch noch nicht folgen würde, 
daß der Staat bier gleichzeitig als Eigentümer des Grund und 
Bodens gehandelt habe. Ein Staat, der mit jeiner Zwangsgewalt 
jo, wie der ſpartaniſche, auf allen Lebensgebieten die Willens: und 
Nechtsiphäre des Individuums einſchränkte, konnte fich jeher wohl 


1) Gilbert: Studien 3. altipart. Geſch. 169. 

2) Schömann a. D. I, 225. 

3) Herodot a. D. 

4) Schömann a. O. Auch O. Müller: Dorer IT, 199 betrachtet e3 ala 
höchit wahrjcheinlich, daß man zu Männern der Erbtöchter ftet3 jolche nahın, 
welche für Jich feinen xAnoos hatten, alfo nachgeborene Söhne zunächſt inner: 
halb des orxos, dann des Gejchlechtes u. ſ. w. 


T. 6. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaffung. 95 


zu einem derartigen Verfahren ohne weiteres berechtigt halten, auch 
wenn der Grund und Boden Gegenjtand des Vrivateigentums war. 
Der Begriff des Privateigentums konnte eben in einem ſolchen 
Staate von vornherein und prinzipiell die Zul läſſigkeit derartiger 
Beſchränkungen enthalten, die übrigens, wie die , „ouoı Ferixoi“ 
Thebens beweijen, nicht einmal jpeziftich Eh gewejen wären, 
jondern auch anderwärts dem Privateigentum auferlegt wurden. 
Eine weitere Frage ift nun aber die: Findet die genannte 
Anſchauung über die Stellung des jpartanifchen Königtums zum 
Güterrecht irgend eine Stüße in den Quellen? So, wie der einzige 
Bericht über die fragliche Thätigfeit der Könige lautet, gewiß nicht! 
Herodot jagt von den ſpartaniſchen Adoptionen weiter nichts, als 
daß fie in Gegenwart des Königs vollzogen werden mußten. Ob 
und inwieweit leßterer ein Beftätigungsrecht hatte, ob und in wel: 
har Nichtung er überhaupt den Adoptionsakt beeinfluffen konnte, 
ft uns völlig unbekannt. Noch ungünftiger liegt die Sache bei 
der Frage des Erbtöchterrechts. Herodot a. D. bezeichnet die be- 
treffende Thätigkeit des Königs als ein „Nechtiprechen” 1) (dixaCem)?); 
jedenfalls ift es völlig willkürlich, das Wort dıxaler bier in deu 
allgemeinen Bedeutung von entjcheiden überhaupt zu  verjtehen. 
Wenn es Sich aber bei der Verfügung über Hand und Beſitz von 
Erbtöchtern nm eine vichterliche Enticheidung der in Betracht kom— 
menden Nechtsfragen?) handelte, jo war damit die Berückhichtigung 
nichtjuriftiicher, alfo auch jozialpolitiicher Erwägungen von vorn- 


) Dies hat mit Recht außer Balfenaer jchon Grote betont. Hist. of 
Greece (ed. 1834) II 415 gegen die Anficht Thirlwalls, daß der König hier 
al3 Hort der Armut gehandelt habe („that he could interpose in opposition 
to the wishes of individuals to relieve poverty‘). 

?) dixalsıv dE uoVvovs ToVs Paoıkeas Too«de uovve' TaTEoOVYoV TE 
NROFIEVoV TIEQL, Es Tov ixvestar Eyeiv, ıjv UNNEO 0 NaTNE avımv Eyyvyon, 
zei ödov dnuooıEwv TrEgt. 

3) Bgl. über dieje z. B. das verwandte dorifche Stadtrecht von Gortyn 
nebjt den Bemerkungen von Zitelmann: Rhein. M. Bd. 40 Ergänzungsheft 
©. 149 ff. und Simon: Zur zweiten Hälfte der Inschrift von Gortyn, Wiener 
Studien 1887 ©. 4 ff. 


96 Erſtes Buch. Hellas. 


herein ausgejchloffen. Auch wäre es ja jehr jchwer verftändlich, 
warum ein Staat, der Fraft feines Dbereigentums in leßter Inſtanz 
über alle Exbgüter verfügen Fonnte, dieſe jeine Macht nur in jo 
beſchränktem Umfange ausgeübt haben jollte. Müßte man nicht 
vielmehr erwarten, daß die Zuftimmung des Königs zu der Ehe 
einer jeden Erbtochter gefordert wurde, wie es z. B. im fränfijch- 
normanniſchen Lehensrecht ganz folgerichtig geichehen ift? Wie fonnte 
ein „Oberlehensherr”, der es zugleich als feine Aufgabe betrachtete, 
dafür zu forgen, daß „kein Landlos erledigt blieb, und daß die. 
nichtanſäſſigen Mitglieder der Striegergemeinde möglichjt durch Ver: 
heiratung wit Erbtöchtern zu Grundbeſitz gelangten“,!) wie konnte 
der ein abjolutes Entjeheidungsrecht des Vaters anerkennen, das 
gewiß häufig genug eher zu Gunften eines vermögenden, als eines 
armen Bewerbers ausfiel??) Die Beſchränkung des ftaatlichen Ein- 
miſchungsrechts auf Erbtöchter, für welche eine väterliche Willens- 
meinung nicht vorlag, mußte ja der Durchführung jenes Gedankens 
von vorneherein eine empfindliche Grenze jegen.?) In der That hat 
fi) denn auch von der angeblichen fozialpolitifchen Wirkſamkeit des 
Ipartanifchen Königtumes jo wenig in den thatjächlichen Verhält— 
nijjen eine Spur erhalten, daß jchon ein paar Generationen nach 
der von Herodot gejchilverten Zeit zwei Fünftel des gefamten Grund 
und Bodens Spartas in die Hände von Frauen übergegangen war, 

I) Curtius: Gr. Geſch. I? 178. 

2) Dieje Entjcheidung des Vaters konnte — wenigſtens im 4. Jahr— 
hundert — jogar durch letztwillige Verfügung erfolgen. Ariſtoteles a. D. 
II, 6, 11. 1270a. 

») Auch Schömann, der dies ignoriert, wundert fich über „die Un— 
vollfommenheit der auf die Erhaltung der Gleichheit abzweckenden Maßregeln“ 
3. B. darüber, daß „nicht der Anfall mehrerer Güter an Einen Befiter 5.2. 
de3 Gutes eines kinderlos verftorbenen Bruders an einen jchon ſelbſt mit 
einem Gut verjehenen Bruder verboten geweſen jei; ein Fall, der in Kriegs— 
zeiten häufig vorkommen mußte.“ (S. 226.) Auffallen kann dergleichen aber 
nur dem, der eben willkürlich ein agrarpolitifches Syitem in Sparta voraus: 
jet, welches der Zeit, von der der ältefte Zeuge für die genannten Maß— 
regeln, Herodot, jpricht, gewiß fremd war. 


I. 6. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaifung. 97 


während ein großer Teil der Bürger eines genügenden jelbjtändigen 
Grundbeſitzes entbehrte.!) 

Wir haben nach alledem feinen Anlaß, die von Herodot ge- 
jehilderte Kompetenz der jpartanijchen Könige prinzipiell anders auf- 
zufaffen, als diejenige, welche 3. B. der erſte athenifche Archont 
oder die römischen PBontifices auf demjelben Gebiete des Familien— 
rechtes bejaßen. Die Beteiligung der Magiftratur erklärt ſich aber 
in Hellas jehr einfach aus den engen Beziehungen zwiſchen Safral- 
vecht und Familienrecht, aus den von der Berfon des zu Adop— 
tierenden geforderten Qualifikationen, 2) aus der öffentlichsvechtlichen 
Bedeutung des Adoptionsaftes. Denn die Familie, welche ver 
Adoptierte fortjeßt, hat eben auch eine öffentlich-vechtliche Bedeutung 
und die politiiche Gewalt hat daher hier naturgemäß ein entjchei- 
dendes Wort mitzureden, eine Thatjache, die ihren prägnanten Aus- 
druck darin findet, daß 3. B. in Nom der in den Kuriatfomitien 
unter dem Vorſitz des Pontifex maximus verjammelte populus 
Romanus, in Athen der Demos, in Gortyn die Bolksverfammlung 
an dem Alte teilnimmt. Dazu fam, was das Erbtöchterrecht be- 
trifft, der allgemeine Nechtsgrundjaß, Mangels anerkannter Leibes- 
erben over bei Lebzeiten Adoptierter Erbſchaften nur infolge eines 
amtlichen Verfahrens antreten zu laſſen, welches allen Berechtigten 
die Geltendmachung ihrer Anjprüche erlaubte („avssidızov 
eSelvaı Eyeıy unte xAmoov une Erri#Anoov“).?) 

Warum follten wir die amtliche Thätigkeit der Ipartanifchen 


x 
am 


I) Ariſtoteles a. O. 11. 

2) Cicero de domo 13, 34 quae causa cuique sit adoptionis, quae 
ratio generum ac dignitatis, quae sacrorum, quaeri a pontificum collegio 
solet. Vgl. Sfocrates (XIX, 13) über das äginetifche Recht, welches Tovs 
Suolovs xeleveı naides Eeiororsioder und Demojthenes über das attijche 
Necht, welches befahl Ex Wr xar« yEvos Eyyvraro EionoLeiv viov TO Ters- 
Aevrnzoti. (adv. Leochar. p. 1093.) In Beziehung auf Gortyn ſ. Zittel- 
mann a. O. ©. 162. Simon ©. 18. Auch das indiiche Recht fordert die 
Adoption des nächjtitehenden Verwandten und die Benachrichtigung des Kö— 
nigs. Dal, Leift: Altarifches jus gentium ©. 33 cf. 103. 

>) Demojthenes XLVI 1135. 


Pöhlmann, Gef. des antiten Kommunismus u. Sozialismus. I. 7 


98 Erſtes Buch. Hellas. 


Könige auf demfelben Gebiete nach anderen Gefichtspunkten be- 
urteilen? Wir find dazu umfoweniger berechtigt, als gerade hier 
ihr Eingreifen durch ihre ganze öffentliche Stellung jehr wohl 
motiviert erſcheint. MS Vertreter der Gefamtheit gegenüber den 
Landesgöttern im Beſitz der höchften priefterlichen Würde waren fie 
ja zugleich die geborenen Hüter der mit dem Familienrecht zus 
ſammenhängenden religiöfen Intereſſen und daher ſchon aus diejem 
Grunde zur Mitwirkung bei jenen wichtigen familienvechtlichen 
Akten berufen, ganz ebenfo wie die römischen Pontifices. 

Dagegen ergeben ſich ſofort unlösbare Schwierigkeiten, wenn 
man den Königen die Befugnis zu einer jozialiftiichen Regulierung 
der Eigentumsverhältnifje zujchreibt, wenn man fie als die großen 
Segenfpender für die Enterbten der Gejellichaft hinftellt. So wie 
fich bis auf die Zeit Herodots die Verteilung der ftaatlichen Macht: 
verhältnifje in Sparta geftaltet hatte, wäre nicht das Königtum bes 
rufen gewejen, ein Eigentumsrecht der Gejamtheit und ihr Inter— 
eſſe am vaterländifchen Boden zu vertreten, die „Oleichheit des 
Befiges und der Nechte zu üÜberwachen”,!) jondern diejenige Bes 
hörde, welche damals bereits die oberſte Magiltratur in Sparta 
war, nämlich das Ephorat. Hätte die Gemeinde in der genannten 
Weiſe Anfprüche auf die einzelnen Landloje geltend machen wollen, 
jo hätte fie dies damals gewiß durch eben die Drgane gethan, in 
welchen fich vecht eigentlich die fouveräne Gewalt des Volkes (d. h. 
des herrjchenden Standes) und jein Wille verkörperte Bei dem 
eiferfüchtigen Mißtrauen, mit dem die Herrenklaffe jeit Jahrhunder— 
ten bemüht war, zu verhüten, daß aus dem Königtum eine „Tyran— 
nis” werde, wäre es geradezu unbegreiflich gewejen, wenn jte dem 
Königtum eine derartige disfretionäre Gewalt auf einem der wich- 
tigjten Zebensgebiete gelaffen hätte, während fie ſich doch im Gegen— 
ja zum Königtum in dem Ephorat längit ein Drgan gejchaffen 
- hatte, welches al3 Auffichtsbehörde über den gejamten ftaatlichen 
„Kosmos“, als oberjter „Wächter“ über die Wohlfahrt und die 


!) Curtius III? 120. 


I. 6. Die ſpartaniſch-kretiſche Agrarverfaſſung. 99 


Intereſſen des Staates alle Vorausſetzungen für die Ausübung einer 
ſolchen Gewalt in ſich vereinigte.) In der That erſcheint denn 
auch die Entſcheidung der für die Geſtaltung der Beſitzverhältniſſe, für 
die Entwicklung ſozialer Ungleichheit überaus wichtigen Frage, welche 
um die Wende des fünften und vierten Jahrhunderts an Sparta 
herantrat, der Frage nach der geſetzlichen Zulaſſung des Gold- und 
Silbergeldes, ganz weſentlich mit als Sache des Ephorats.?) Was 
vollends das Verfügungsrecht über Gemeindeeigentum betrifft, jo iſt 
in den uns befannten Fällen, d. h. bei der Freilafjung von Heloten 
und der Vergebung von Gemeindeland überhaupt Fein einzelnes 
Negierungsorgan Fompetent gewejen, jondern die jouveräne Ge: 
meinde jelbit.3) 

Angefichts diefer Thatfachen können wir in der modernen 
Auffaſſung des ſpartaniſchen Königtums als eines oberſten Regu— 
lators des Wirtjchaftslebens nichts weiter exrbliden, al3 eine Fort 
ſetzung der gleich zu bejprechenden antiken Legendenbildung über 
den jozialen Mufterftaat Sparta. Auch das bat jene Auffaſſung 
mit der antiken Legende gemein, daß fie diejelben Züge, welche das 
von der ſozialen Theorie gejchaffene Bild eines idealen Staates 
zeigt, in das Leben Altipartas hineinträgt. Denn bewußt over 
unbewußt bat bier ganz unverkennbar der platonijche Geſetzesſtaat 
vorgejchwebt, ein Staat, der in der That auf dem PBrinzipe be— 
ruht, daß jeder feiner Bürger, der am vaterländiichen Boden einen 
Anteil erhalten, „venjelben als etwas der Gejamtheit Gehöriges zu 
betrachten habe“.t) Ebenda finden wir auch zur Verwirklichung 
dieſes Gedanfens eine mächtige Zentralgewalt (zoxn weylorn zei 

1) Man vergegenwärtige ſich nur, wie jehr infolge der fortwährenden, 
die Leitung der Regierung durch die Krone geradezu unmöglich machenden 
Feindichaft zwiſchen den beiden Dynaftien, durch häufige Verurteilung von 
Königen und durch dormundjchaftliche Regierungen ſchon im fünften Jahr— 
hundert die Autorität des Königtums gejhwächt war! 

2) Plutarch: Lyſander 17. 

3) Bol. Niefe: Zur Verfaſſungsgeſchichte Lacedämons. Hiſt. Ztichr. 
1889 ©. 65. 

9 ©. die Darftellung des Gejegesftaates. 


100 Erſtes Buch. Hellas. 


tuuorern), welde „für alle darauf zu ſinnen“ hat, daß der Boden- 
anteil des Einzelnen, die Scholle, „Die jeine Heimat ift und die er 
mehr in Ehren zu balten bat, als Kinder ihre Mutter”, nicht ver: 
ringert werde, und daß womöglich jedem Bürger ein ſolcher Anteil 
zufalle. Ebenjo wird unter den Maknahmen (unxernuere) diejes 
Sozialismus ausdrüdlich die Einweihung nachgeborener Söhne in 
jolde Hufen ausgejprochen, deren Inhaber Feine männliche Nach: 
fommenjchaft haben. — Zugegeben, daß die Snititutionen Spartas 
bedeutiame Analogen zu denen des Gejegesitaates bieten, — wie fie 
denn Plato ohne Zweifel mit als Vorbild gedient haben, — um 
jo jorgfamer werden wir und davor hüten müſſen, die Unter 
jchiede zu verwilchen, die doch auch hier zwijchen Ideal und Wirk 
lichkeit beſtehen.) Für uns kann es jedenfalls feinem Zweifel 
unterliegen, daß auch auf dem agrarpolitichen Gebiete die Entwid- 
[ung des geihichtlihen Sparta eine vielfach andere war als die 
des Sozialjtaates der Legende. Es it ja allerdings in höchſtem 
Grade wahrſcheinlich, daß die erſte Landaufteilung des doriſchen 
Kriegsvolfes im Sinne weitgehenditer Gleichheit erfolgt war. Es 
entſprach das nur dem gegenjeitigen Fameradichaftlichen Verhältnis, 
wie e3 zwiſchen den Genofjen eines erobernden Friegeriihen Ver— 
bandes von vornherein bejteht. Jeder Kamerad hatte hier ein 
wohlerworbenes Recht auf die Nutzung des gemeinjam eroberten 
Landes und dieſes Nußungsreht war naturgemäß ein ebenjo gleich— 
artiges, wie die Stellung der Durhichnittsfreien im Heeresverband; 
höchſtens daß, wie den Heerfünigen, jo den militärifchen Befehls- 
babern überhaupt ein der höheren Leiftung und Ehre entiprechender 

ı) Nicht ohne Einfluß auf die angedeutete moderne Anſchauungsweiſe 
ſcheint auch die jozialiftiiche Theorie des Phaleas gewejen zu jein, der eine 
„Ausgleihung” des Beſitzes am leichtejten dadurch ermöglichen zu können 
glaubte, dat „die Reichen Mitgift gäben, aber nicht nähmen, und die Armen 
umgefehrt nähmen, aber nicht gäben.” Ariftot. Pol. II, 4, 2. 1266b. Wie 
fönnte man jonit ohne weiteres die Angabe als geſchichtlich verbürgt hin- 
nehmen, daß es in Sparta überhaupt feine Mitgiften gab? ©. Mutard) 
Apophth. Zac. p. 149. Alian V. H. VI, 6. Juſtin II, 3. 


I. 6. Die jpartanijch-fretiiche Agrarverfafiung. 101 


größerer Anteil an der Landbeute eingeräumt ward: Ein Vorzug, 
der das Prinzip felbit in feiner Weiſe durchbrach. Ob dann aber 
gleichzeitig eine Agrarverfaflung ins Leben trat, welche auf eine 
dauernde Erhaltung dieſer uriprünglichen Gleichheit berechnet war 
und ein PBrivateigentum an den aufgeteilten Landhufen nicht an— 
erfannte? Wir willen es nit! Soviel ift jedoch gewiß, daß, 
wenn in Sparta je eine ſolche Verfaſſung bejtand, fie verhältnis- 
mäßig frühe außer Übung gefommen ift. Das ältefte Zeugnis der 
jpartanifchen Agrargeihichte, die dem fiebenten Jahrhundert ange 
hörende politiiche Dichtung des Tyrtäus läßt uns bereit einen 
Blick in Verhältniffe thun, in denen das Jndividualeigentum am 
Grund und Boden längjt beitanden haben muß, von einer prin= 
zipiellen Gütergleichheit, wie fie Ephorus und Bolybius jelbit 
noch für eine viel jpätere Zeit annehmen, feine Rede mehr fein 
fonnte. 

Es handelt jih um den aus Tyrtäus geichöpften Bericht des 
Ariftoteles über die ſchwere innere Krifis (orecıs), welche der 
ſpartaniſche Staat in der harten Zeit des zweiten meſſeniſchen 
Krieges durchzumachen hatte. Zum erſten Male in der griehiichen 
Geihichte tritt uns hier die Forderung einer Neuaufteilung des 
Grund und Bodens entgegen, welche damals aus der Mitte der 
durch den Krieg herabgefommenen Bürger (vielleicht der in Meſſe— 
nien mit Kleren Begüterten und nun brotlos Gewordenen?) erhoben 
wurde. Dieje Forderung muß nad) dem „von Empörungen in 
Ariftofratien“ handelnden Bericht ſchon für jene Zeit als eine ebenſo 
revolutionäre gegolten haben, wie jpäter, weshalb fie denn auch 
von Tyrtäus unter Berufung auf das Prinzip der „Wohlgeſetzlich— 
feit“, der svvoufe!) befümpft wurde. Sie mag vielleiht auf der 


1) Politik VIII, 5, 12. 1307a. &» de reis gosrozoarieıs yivorza 

örev ν anoowcı Alev ol d’ zunogooiw. zei 

udhore Ev Tois mol£uoıs Toto yiveraı“ ovyeßn de zei ToVto Ev Auze- 

‚deiuorı Uno Tov Meoonviaxzov nolsuov‘ djkov dE zei Tovto &x Tıjs 

Tvgreiov noLmoews 15 zekovuerns Evvouias' SlıBousvor yeo Tives die 
Tov nolsuov 7flovv Evadaotor noLeiv ınv ywoar xrl. 


102 Erſtes Buch. Hellas. 


anderen Seite mit dem Hinweis darauf begründet worden ſein, daß 
der Einzelne ja fein Aderland urjprünglich von der Gejfamtheit be- 
fiße, und daß daher die Gefamtheit allezeit berechtigt ſei, eine Neu: 
regelung der Befisverhältnifje vorzunehmen. Allein wenn man 
damals die Verwirklichung dieſes Gedankens eben nur noch von 
der Gewalt erwarten durfte, jo beweift das zur Genüge, daß ein 
jo weit gehender Eingriff der Staatsgewalt in die bejtehende Grund: 
befißverteilung der Nechtsordnung und dem vorherrjchenden Rechts— 
bewußtjein jener Zeit nicht mehr entiprad). 

Nie tief muß hier das Inſtitut des privaten Grundeigen- 
tums eingewurzelt gewejen jein, wenn der wenig jüngere Alcäus 
einem Spartaner den Ausſpruch in den Mund legen Eonnte, daß 
„die Habe den Mann macht“ und „fein Armer edel jein” Fünne!!) 
Eine Äußerung, die zugleich ein unverkennbares Symptom dafür 
it, daß ſchon im fiebenten Jahrhundert die natürliche Konjequenz 
des PVrivateigentums, die wirtichaftliche Ungleichheit auch in Sparta 
ſich mehr oder minder fühlbar gemacht hat. Wie hätte man auch) 
damals von einer Anderung der beftehenden Grumdbefigverteihung 
eine Berforgung der offenbar zahlreichen bejiglofen Glemente er: 
warten können, wenn nicht ein beträchtlicher Teil der Spartaner 
ſchon weit mehr als das unentbehrliche Normalmaß an Grund 
und Boden befeffen hätte? | 

Dieſe Ungleichheit reflektiert ich auch in einer bedeutſamen 
wirtichaftlichen TIhatfache. In der Odyſſee, die ung ja bereits die 
Zuftände des doriſchen Sparta jehildert,?) wird Lacedämon wegen 
jeiner Vorzüge für die Roſſezucht gepriejen: 

) Alcäus fr. 41: 

Rs yao Idynor "Agıorodauov Yaıo’ ovx anahauvov Ev Indorg Aoyorv 
einmv' yonuat avno‘ nevıyoos Ö’ ovdeis nreier’ E09Aos ovdE Tiuvos. 
zoHjuere iſt hier, um die Wende des 7. u. 6. Jahrh. noch nicht Geldfapital. 
Ob übrigens Alcäus vecht hat oder Pindar Iſthm. 2, 15, der den Ausspruch 
einem Argiver zufchreibt, ift gleichgültig. Entjcheidend ift, daß man dergleichen — 
überhaupt von einem Spartaner glauben konnte. 

?) Vgl. Niefe: Die Entwicklung der homeriſchen Poeſie ©. 213 f. 


I. 6. Die jpartanifch-fretiiche Agrarverfafjung. 103 


Das „weite Blachfeld” des Eurotas, 

„wo in Maſſe der Lotos gedeiht, wo nährender Galgant 

Wo auch Weizen und Spelt und weißaufbuſchende Gerfte.“ 1) 

Hier muß alſo die Roſſezucht jeit alter Zeit von Einzelnen 
wenigitens mit Eifer betrieben worden fein, und wenn es auch eine 
jtarf übertriebene Behauptung it, daß es feit den Perſernkriegen 
die Spartaner darin allen übrigen Hellenen zuvorgethan hätten,?) 
jo jind uns doch jedenfalls mehrere Spartaner al3 Sieger in den 
olympischen Wettrennen bereits für das fünfte Jahrhundert be 
zeugt.3) Eine Thatjache, die einen ficheren Schluß auf die Ge 
ftaltung der Befitverhältniffe zuläßt, da im Altertum von jeher die 
inzroroogpie al3 ein Zeichen hervorragenden Neichtums und fort- 
gejchrittener wirtichaftlicher Ungleichheit gegolten bat.t) 

Übrigens treten uns in Sparta in diefem Jahrhundert auch 
ſonſt die Beſitzesgegenſätze, der Unterſchied von „ob zroAAor“ und 
„oi va us zerunwevor“ jehr deutlich entgegen;) eine Differen— 
zierung der Gejellichaft, die dann im vierten Jahrhundert mit 
tapiver Schnelligkeit zu dem Gegenfag von Mammonismus und 
Pauperismus entartet ift.®) 


1) IV, 600 ff. Wenn Menelaos ebd. v. 99 von der „roffenährenden 
Argos", ”Aoyos innöporos, ſpricht, jo verjteht er unter diefem vieldentigen 
Begriff jein eigenes Land Lacedämon mit, wie auch v. 174 ff. beweiſt. 

?) Nach Pauſanias VI, 2,1. riednoev navrwv gikorıuorara Eidn- 
vwv 71005 InnWwv TOopEsS. 

>) Bgl. ebd. 

4) Über den großen Reichtum des Spartaners Lichas, der 420 in 
Olympia mit dem Wagen fiegte, vgl. Thuf. V. 20, dazu Xen. Mem. I, 2, 61. 
Plutarch Cimon 10. 

DB —— 

6) Ariſtoteles a. ©. II, 6, 11. 1270a. 


104 Erſtes Buch. Hellas. 


Siebenter Abjchnitt. 
Der Sozialſtaat der Legende und das jozinliftiihe Naturrecht. 


Die Annahme eines agrarischen Kommunismus als Aus: 
gangspunktes der ganzen jozialen Entwicklung Spartas würde eine 
wertvolle Stüße gewinnen, wenn wirklich, wie man gemeint hat, 
in Sparta eine „alte” Tradition bejtand, daß die Grundeigentums- 
ordnung hier prinzipiell auf Gütergleichheit angelegt geweſen jei, 
daß von Nechtswegen jeder Spartiate einen Anlpruch auf gleichen 
Anteil an Grund und Boden der Gejamtheit, am „Bürgerland“ 
bejefjen babe. „Ts mv Aaxsdaruovioy rolıreias — jagt 
Polybius an einer vielbeiprochenen Stelle (VI, 45) — !dıov eivai 
gaoı roWrov dv TE regi Tas Eyyalovg xınosıs, @v oVdevi 
usreorı 1rAsiov, @AAR mavras vous molitag loov Eye del 
ung mokırızns Xwoac. 

Läge bier eine wirkliche und unverfälichte hiſtoriſche Erinne— 
rung vor, jo wäre in der That die Annahme einer ftrengen agra= 
tischen Gemeinschaft für die älteren Zeiten Spartas unabweisbar. 
Um das Prinzip der Gleichheit des Grundeigentums zu verwirk 
lichen, genügte ja nicht bloß eine einmalige gleiche Verteilung der 
Hufen, wie fie Plato bei der Gründung des Staates — wahr: 
Icheinlich mit Necht — annimmt, jondern es hätte dieſe Teilung 
periodisch wiederholt werden müſſen, um die durch die Veränder— 
lichkeit der Bürgerzahl, die Zufälligfeiten der Vererbung und andere 
Momente entjtandenen Ungleichheiten immer wieder zu bejeitigen, 
den Anfpruch eines jeden auf gleichen Anteil zur Wahrheit zu 
machen: ein Verfahren, bei dem von einem Sondereigentum am 
Grund und Boden nicht die Nede jein kann. 

Freilich tritt auch hier wieder die Unficherheit unferer Er- 
fenntnis, die Schwierigkeit, zu einem entjcheidenden pofitiven Er— 
gebnis zu kommen, Klar zu Tage. In der Erörterung des Polybius 
über die ſpartaniſch-kretiſche Verfaſſung, in der fich der obige Sat 
findet, werden nur ſolche Quellen genannt, die im Verhältnis zu 
ven hier in Frage kommenden Zeiten jehr iungen Urjprunges find, 


I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das fozialiftiiche Naturreht. 105 


Plato, Kenophon, Ephorus und Kallifthenes; und was insbejondere 
die Bemerkung über die prinzipielle Gütergleichheit Spartas betrifft, 
jo wird gerade fie überaus problematisch dadurch, daß als ihr Ge— 
währsmann ohne Zweifel Ephorus zu betrachten iſt,) deſſen Un— 
zuverläffigkeit und Unflarheit über die ältere ſpartaniſche Gefchichte, 
deſſen faljcher PBragmatismus und künſtliche Zurechtmahung des 
gefchichtlichen Stoffes von vornherein Mißtrauen gegen feine An— 
gaben erweden. 

Dazu kommt, daß es fih hier um eine Frage von durchaus 
aktuellem Intereſſe handelte, welche ſowohl die Theorie, wie Die 
praktische Volitif der Zeit auf das lebhaftejte bejchäftigte. Ein Mo— 
ment, welches von jeher VBeranlaffung gegeben bat, die Gefchichte 
in den Dienft von Zeitanfchauungen zu ftellen. — Die Litteratur, 
mit der wir es zu thun haben, ijt entjtanden unter den Einwir— 
fungen einer Epoche, in der fich der jpartanische Staat in einer 
tiefgehenden Bewegung und Umwandlung befand. Die um die 
Wende des fünften und vierten Jahrhunderts errungene Großmacht- 
jtellung hatte die Traditionen des altipartanifchen Staats und 
Geſellſchaftslebens auf das jtärkite erjchüttert. Dex demoralifierende 
Einfluß, den der in Sparta zufammenftrömende Neichtum auf die 
Gefinnung der Bürgerſchaft ausübte, äußerte ſich in überhand- 
nehmender Üppigfeit und Habjucht, und in derſelben Nichtung 
wirkte die ohnehin längst fühlbare, aber durch die Verminderung 
der Bürgerzahl in der langen Kriegszeit noch gejteigerte Tendenz 
zunehmender Vermögensungleichheit. Während das Sparta des 
vierten Jahrhunderts als die reichte Stadt von Hellas gepriejen 
wird,?) erſcheint andererjeitS die PVroletarifierung breiter Volks— 
ſchichten ſoweit fortgefchritten, daß für fie die Erfüllung der ftaat- 

!) Dal. Wachsmuth Gött. gel. Anz. (1870) ©. 1811, deſſen Ausfüh— 
rung don Onden (Staat3lehre des Ariftoteles IL, 357) vergeblich angefochten 
worden iſt. Das entjcheidende Bemweismoment für die Abhängigkeit von 
Ephorus hebt treffend E. Mayer hervor: Lyfurgos von Sparta. — For: 
ſchungen 3. alten Gejch. I, 219 f. 

2) Plato Alkibiades I p. 122e: zei yovoo zei aoyvow oi Exel 
nAovoıwraroi eioı twv EAAnvov. cf. Hippias major p. 283d. 


106 Erſtes Buch. Hellas. 


lichen Leiftungen zur Unmöglichkeit geworden war und innerhalb 
der Bürgerſchaft ſelbſt eine recht: und landloſe Mafje der Kleinen 
Zahl derer gegenüberftand, in deren Händen fi) der Grund und 
Boden mehr und mehr Fonzentrierte.') Dazu fam der Geift ge- 
wiſſenloſer Gewaltjamfeit und kühner, vor dem Umsturz der Ver: 
faſſung ſelbſt nicht zurückſcheuender Neuerungsfucht, wie wir fie be 
jonders in Lyſanders Perſon verkörpert jehen, Erjeheinungen, deren 
zerjegender Einfluß um jo gefährlicher war, als gleichzeitig die 
fortdauernde Gährung in der Hörigen- und Unterthanenbevölferung, 
wie in den unteren Schichten der Bürgerjchaft ſelbſt unausgejeßt 
an der Unterwühlung des Staatsgebäudes arbeitete. Gegenüber 
diefen Berhältniffen war eine Reaktion unausbleiblid. Sie mußten 
nicht bloß bei denen, die unmittelbar unter ihnen litten, ſondern 
bei allen patriotifch Denfenden das Verlangen nach Neformen wach: 
rufen und dieſes Neformbedürfnis juchte denn — jo wie die Dinge 
hier lagen — naturgemäß jeine Befriedigung in dem Hinweis auf 
die Ordnungen und LZebensnormen der guten alten Zeit, auf denen 
die innere Stärke Spartas beruht hatte.?) ES ift gewiß nicht zu— 
fällig, daß ein fpartanifcher König eben diejer Zeit, Pauſanias, 
deſſen Stellung ſich ſchon durch feine Gegnerjchaft gegen Lyfander 
und das oligarchiſche Ephorat Fennzeichnet, eine Schrift über Lykurg 
gejchrieben hat, die nach E. Meyers ſcharfſinniger Vermutung nur 
eine Berherrlichung der „lykurgiſchen“ Inſtitutionen enthalten haben 
fann,3) und die fir uns noch dadurch ein befonderes Intereſſe er— 
hält, daß fie von Ephorus als Autorität für jpartanische Dinge 
benüßt worden ift. In diefer Schrift tauchen auch zuerft jene an- 
geblich von Delphi ausgegangenen Drafel auf,t) durch welche man 

1) Ariftoteles Pol. II, 6, 10. 12704. 

?) Es entjpricht genau diefer Zeitftimmung, wenn es bei Ephorus— 
Divdor XIV, 7 heißt: "Or oi Aazedaruorıoı Tois Tod Avzovoyov Yomodusro 
vouols &2 Taneiıvov dvvaroraroı EyEvovto tov EAlnvwv xrA. Merd de raura 
&x Tov zer’ oAlyov zarahvovres ExaoTov TOv vouluwv ..., aneßahov Tmv 
nysuoviev. cf. Plutarch Lyfurg 29. 30. 


®) A.a.D. ©. 233 ff. 
4) nach Strabo VII, 5,5. Dal. dazu E. Meyer ebd. 


I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das fozialiftiiche Naturreht. 107 


die grumdlegenden Normen des altipartanichen Staatslebens in 
idealem Gewande radifizierte und als göttliche Offenbarung (vouoı 
zvF$0xonoror) hinzuftellen verſuchte,) um ihnen eine für alle Zus 
funft verbindliche Autorität zu vindizieren. Konnte es ausbleiben, 
daß dieſe Neftaurationstendenzen auf die Vorftellungen über das 
Weſen der urjprünglichen Staats: und Gejellichaftsordnung Spartas 
umgeftaltend einwirkten, zu einer mehr oder minder weit gehenden 
Idealiſierung der Vergangenheit führten? 

Bewußt oder unbewußt mußten fich die Ideale und Wünfche 
der Gegenwart mit den traditionellen Anſchauungen über die Ber- 
gangenheit verſchmelzen, in der diefe Wünſche ihre Rechtfertigung 
juchten, wie zu allen Zeiten, in denen die Gegner des Beſtehenden 
ſich bemühen, die Gewalt der gejchichtlichen Wirklichkeit durch die 
Macht der Legende zu brechen. 

Und was war andererjeitS natürlicher, als daß die Legenden— 
bildung ſich mit befonderer Intenſität derjenigen Erſcheinungen de3 
Volkslebens bemächtigte, welche im Wordergrunde des öffentlichen 
Intereſſes ftanden? Das war aber eben die joziale Frage, die ſchon 
im Anfang des vierten Jahrhunderts durch die Verſchwörung des 
Kinadon in ihrer ganzen Bedeutung zu Tage trat. In der That 
fönnen wir gerade auf diefem Gebiete das Eindringen tendenziöfer 
Erfindungen deutlich verfolgen. Das angeblich Schon dem Lyfurg 
erteilte Drafel,2) welches fich gegen das Geldfapital wendet (@ gı4o- 
xonuaria Irraorav Ehoı, @Alo Ö2 ovder), iſt gewiß das Produkt 
einer recht ſpäten Zeit und vielleicht nicht älter als die gejchilderte 
Reaktion gegen die Ausfchreitungen des Kapitalismus und die Über- 
flutung Spartas mit Edelmetallen jeit dem Ende des 5. Jahr: 
hunderts.3) Ebenſo ift es eine Entftellung der gejchichtlichen Wahr: 


) Bol. E. Meyer ebd. ©. 236 ff. 

?) Nach Divdor VII, 14,5 (gewiß ebenfalls nach Ephorus). 

3) Bol. übrigens auch die höchſt lehrreiche Art und Weife, wie die 
ſpartaniſchen Sozialvevolutionäre de3 3. Jahrhunderts ihre Ideen mit Orakel 
jprüchen legitimierten. Plut. Agis 9: "Eypaoav ovv zei Te napa ravıns 


108 Erſtes Buch. Hellas. 


heit, wenn fih damals mit den Anſchauungen über die gute alte 
Zeit die Anficht verband, daß die bewegliche Habe früher bei den 
Spartanern gar feine Rolle gejpielt habe,!) oder wenn wir in der 
Litteratur über die Nevolutionzzeit des dritten Jahrhunderts?) leſen, 
daß die angeblih von Lykurg geichaffene Gleichheit des Grund: 
befiges, ja die Zahl der von ihm mit einem Gut ausgeftatteten 
Familien ſich bis auf das befannte Gejeß des Ephors Epitadeus 
unverändert erhalten habe. Borftellungen, deren volfswirtichaftliche 
Adjurdität von ſelbſt einleuchtet, auch wenn ſich die Gegenfäße von 
arm umd reich in Sparta nicht ſoweit zurück verfolgen ließen, wie 
es thatlächlich der Fall if. Liegt da nicht von vorneherein der 
Verdacht nahe, daß auch die Angabe über die prinzipielle Gleichheit 
des Grundeigentum, die mit jenen nachweislich ungejchichtlichen 
Vorftellungen in engem Zufammenbang jteht,?) der jozialpolitifchen 
Nomantik einer ſpäteren Zeit ihren Urſprung verdankt und ebenfo 
Tendenzerfindung ift, wie die Drafel der Göttin Paſiphae, welche 
den Zeitgenofjen des Königs Agis die Wiederhertellung jener ge: 
priejenen Gleichheit befahlen? t) 

In einer von den Gegenjäben des Mammonismus und 
Pauperismus zerrütteten Gejellfchaft ift das Auftauchen kommuni— 
ftiicher Tendenzen eine fo jelbftverjtändliche Erjcheinung, daß man 
ſich wundern müßte, wenn dieſes Schiboleth jozialer Unzufriedenheit 
in dem damaligen Sparta gefehlt hätte. 

Übrigens ift es feineswegs bloß Sparta felbft, wo wir die 
Entftehung und Ausbildung der Legende zu juchen haben. Wir 
jehen vielmehr die Litteratur des vierten Jahrhunderts überhaupt 
(sc. Haoıpdas) uavrsia ngoorarreıv Tols Zuagtidteıs ioovg yevE- 
oHaL navras za# Ov 6 Avzovoyos EE doyns Erafe vouor. 

') Polyb. VI, 45 (offenbar nach Ephorus) cf das ebenfall3 auf Epho— 
rus zurückgehende Exzerpt bet Divdor VII, 14. 7. 

?) Pluturch: Agis c. 5, der hier gewiß die Anſchauung feiner Quellen 
tpiedergibt. 


?) Vgl. die gen. Stelle des Polybius VI, 45. 
4) Bgl. oben ©. 107 Arm. 3. 





I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 109 


von der Tendenz beherrſcht, die fommuniftiichen und ſozialiſtiſchen 
Soeale der Zeit an das „Iyfurgiiche” Sparta anzufnüpfen, das 
Bild desjelben nach diefen Idealen zu geftalten. 

Es iſt daher für eine allfeitige und abjchließende Beurteilung 
der Frage unerläßlich, daß wir uns die jozialgejchichtlichen Kon- 
jtruftionen dieſer Litteratur im allgemeinen, wie in ihrer befonderen 
Anwendung auf Sparta vergegenwärtigen. Auch find ja dieje Kon- 
jtruftionen, jo unergiebig ſie für die Gejchichte des praktiſchen 
Kommunismus find, um jo beveutjamer für die Gejchichte der 
kommuniſtiſchen und jozialiftiichen Ideen. 

Die Schilderung idealer Volkszuſtände tritt uns als eine 
überaus bezeichnende Eigentümlichkeit der hellenischen Gejchichtichrei- 
bung ſchon frühzeitig entgegen. Man denfe nur — von Herodot 
ganz abgejehen — an die in den Gejchichtswerfen des Theopomp 
und des Hefatäus von Abdera enthaltenen Schilderungen völlig frei 
geſchaffener Staats: und Gejellichaftszuftände, fürmliche „Staats- 
tomane”,') die auf die ganze geijtige Atmoſphäre der Zeit, in der 
die Legende von dem Sozialjtaat Sparta erwuchs, ein überaus be- 
deutjames Licht werfen. 

Wie muß die Luft mit Fabeleien diefer Art erfüllt ge 
wejen jein, wenn jelbjt die Gejchichtichreibung dem Neize nicht 
widerſtehen konnte, in ernten hiſtoriſchen Werfen das große Pro— 
blem der Zeit in rein dichterifchem Gewand zu behandeln!2) Sit 
es zu verwundern, daß eine jolche Gejchichtsichreibung auch in der 
Darjtellung des wirklichen Lebens ji) mehr oder minder frei 
gehen ließ, wo fich ihr ein Anknüpfungspunft für ihre Spefula- 
tionen darbot. Auf die Frage, ob die bejtehende Gejellichafts- 
ordnung die allein mögliche oder berechtigte jei, vermochte man ja 
eine noch ungleich wirkſamere Antwort zu geben, wenn man an 
der Hand der Gejchichte jelbit die Durchführbarkeit nnd VBernünftig- 
feit der Gleichheitsiveale darlegen fonnte. Die Thatfachen der Ge- 

') Vgl. das Kapitel über den „Staatsroman” im zweiten Band. 

?) Über die ganz ins Märchenhafte ausjchweifenden Fabeleien Theo: 
pomps vgl. Rohde: Der griechiiche Roman und feine Vorläufer ©. 205, 


110 Erſtes Buch. Hellas. 


ichichte und des Völferlebens allein konnten die Gegenprobe zu den 
allgemeinen Folgerungen der jozialen Theorie und damit den Be— 
weis liefern, daß dieſelben auch eine bejtimmte Geſtaltung ver- 
trugen und wirklich lebensfähig jeien. Eine Probe, die um jo 
überzeugender wirken mußte, je jchärfer und klarer der Allgemein- 
heit der Theorie hier die lebendige Einzelthatjache gegenübertrat, 
d. h. je mehr die Gejchihte zur Dichtung wurde. Allerdings ift 
der erſte bedeutfame Schritt in dieſer Nichtung nicht von der . 
Geſchichtsſchreibung jelbjt gemacht worden, jondern von der jozia- 
len Theorie, allein fie ift derjelben doch alsbald auf dem Fuße 
gefolgt. 

Sn erſter Linie fommt bier in Betracht die Lehre vom 
katurzuftand, wie wir fie zuerit bei Plato ausführlich formuliert 
finden. Dieje Lehre wurzelt in der von der Sozialtheorie der Zeit 
vielfach erhobenen Forderung einer Rückkehr zu möglichit einfachen, 
„naturgemäßen” Formen der Bolkswirtichaft, zu einem Zuftand, 
der fich mit der Vroduftion des „Notwendigen” begnügt und dur) 
möglichjte Annäherung an die Naturalwirtichaft dem wirtichaftlichen 
Egoismus und Spefulationsgeijt die engjten Grenzen ziehen joll.!) 
Während Fühne joziale Idealbilder unendlich weit über alles ge 
ſchichtlich Gewordene in eine bejjere Zukunft hinausweijen, ſchweift 
bier andererſeits der Blick zurüd in die Vergangenheit, die, je mehr 
fie fih von dem „Lünftlihen“ Bau der gegenwärtigen Gejelljchaft 
entfernt, je primitiver, je „naturgemäßer” ſie ift, umjomehr die 
Vermutung für ſich zu haben jeheint, daß bereits hier das deal 
Wirklichkeit gewejen. Die Zuftände der Vergangenheit werden zum 
Gegenftande ſozialphiloſophiſcher Konftruftion, romantischer Ver— 
Härung und Vergeiftigung. Man fucht das erjehnte Neue in dem 
Alten und trägt fo die Ideale des eigenen Herzens in die Ver- 
gangenheit hinein, um gegen die verdorbene und verkehrte Gegen- 
wart die ganze Autorität der Tradition heraufbeſchwören zu können. 
Sp wird in den Gejegen Platos jene jelige Urzeit gejchildert, in 


!) Vgl. über diefe Anfchauung das nächjte Kapitel. 


I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das fozialiftiiche Naturrecht. 111 


welcher die gefährlichen Konfequenzen des Privateigentums noch 
nicht hervorgetreten jein jollen, weil bei der geringen Dichtigkeit 
der Bevölkerung alle notwendigen Bedürfniffe mit Leichtigkeit ihre 
Bedürfniſſe gefunden, alle Menjchen die gleiche Möglichkeit gehabt 
hätten, jich in den Belig der unentbehrlichen Güter zu jegen. Sm 
diefen glücdlichen Anfängen der heutigen Menfchheit, in denen der 
Beſitz der einen noch nicht die Ausichliegung der anderen von den 
Gütern der Erde bedeutete, gab es auch, wie Plato meint, noch 
feine Nivalität, feinen wirtjchaftlihen Dafeinsfampf unter den 
Menfchen. Sn ihrer einfachen Hirteneriftenz ahnten fie noch nichts 
von ven fittlichen DVerheerungen der Erwerbsgier und des Kon- 
kurrenzkampfes, wie fie mit der Entwiclung ftädtifcher Kultur Hand 
in Hand gehen.!) Daher empfanden fie nur Liebe und Wohlwollen für 
einander. Sie fannten eben weder den Mangel der Armut, welcher 
die Menſchen notgedrungen in einen feindlichen Gegenjaß zu einander 
bringt, noch auch den Neichtum.?) „Eine Gemeinjchaft aber, der 
Reichtum ſowohl wie Dürftigfeit ferne ift, möchte ſich wohl der 
größten Sittenreinheit erfreuen; denn bier erzeugt fich fein Frevel 
und fein Unrecht, feine Scheelfucht und fein Neid.”3) Es ift ein 
Zuſtand jeliger Unſchuld, der wohl hinter der Zivilifation jpäterer 
Zeiten zurüchtand, aber viejelben in Beziehung auf die grund: 
legenden jozialen Tugenden, fittliche Selbſtbeſchränkung und Ge— 


!) Leg. 677b: xai dr ToÜs Toiovrovs ye avayzn nov Tov dhkwv 
drteigovus Eivaı TEYVOV zul TWv Ev Tois doreoı no0s dAkmkovs unyavov 
eis te nAcovelias zal gyıhoveizias, Kal 07100’ AA KUXoVEYNURTE 1005 
akhmkovs Enivoovoıv, 

?) Leg. 679ab: Howrov usv jyanov zei Epikopoovovvro aAAmkovs 
di’ eonu ulev, Eneit@ 00 negiudymtos yv avrois j toogpn. vouns yag 
oUx mv onavıs zul, — nevntes uev dm) dia To ToLoürov opoder oVx non 
ovud’ ino nevias avayzalouevoı didpogoı Eavrois Eyiyvorro‘ nAovoioı d’ 
00% dv note Ey&vovro dyovool TE xal dvagyvooı Övres 0 TOTE Ev Exsivors 
naeenv. 

5) ib. 7 I dv notre &vvorxie unte nAodros Evvoin unte nevia, 
oyEdov Ev Tavın yervanorere 799 ylyvorm’ dv: ovte yco vRgıs ovr' adızla, 
Inkoi Te av zwi p9ovor oVx Eyyiyvorrau, 


112 Grftes Buch. Hellas. 


rechtigkeitsfinn, weit übertraf, und dem andererjeit3 die Schatten- 
feiten, Krieg, innerer Zwilt, Nechtshändel und alle die Kunftgriffe 
(ungerai), die der Menſch zum Schaden der Mitmenjchen erſann, 
vollfommen fremd waren. 

Es leuchtet ein, daß auch für diejenige Vorſtellungsweiſe, aus 
welcher die Jentimentale Idylle dieſes unſchuldigen Naturzujtandes 
entjprang, ganz wejentlich das Inſtitut des Privateigentums als 
Duelle menjchlichen Elends erjcheinen mußte. Wenn nur die völlige 
Bedeutungslofigfeit des Brivateigentums das höchſte Glück der 
Menſchheit verbürgt, jo hatte diefes Glüd eben von dem Momente 
an ein Ende, wo infolge der Zunahme der Bevölkerung und der 
Bedürfniſſe der gemeinfame Naturfond den Charakter der Uner- 
Ichöpflichkeit verlor und die Aneignung der Güter durch den Eine 
zelnen immer mehr als Ausichliegung und Verkürzung Anderer 
empfunden wurde. Wenn der auf diefe Weile entitehende Wett— 
bewerb um die wirtichaftlichen Güter zugleich das Grab der Sitt- 
(ichfeit und des jozialen Friedens jein joll, jo it eben die weſent— 
lichjte Entftehungsurjache aller Demoralijation das PBrivateigentum, 
welches diejen Wettbewerb entfejjelt. ES ift daher ebenjo für dieſe 
Lehre vom Naturzuftand, wie für die früheren Ausführungen über 
die beglücdenden Wirkungen des Kommunismus zutreffend, wenn 
Aristoteles die Grumdanfchauung Platos dahin kennzeichnet, daß nach 
ihr der Ursprung aller Übel eben im Brivateigentum liege.2) Jeden— 
falls ift die Lehre vom Naturzuftand in ihrer weiteren Ausbildung 
damals ebenjo, wie jpäter im achtzehnten Jahrhundert bei der 


1) Die Menjchen des Naturzuftandes heiken „sopewveoregon zai Euu- 
zravra dixaworeoor. ib. 679e. 

2) Pol. II, 2, 8. 1263b: eurgoownos u&v ovv 7 Toievrn vouodeoie 
zei pıldvdownos dv eivaı dotsıev‘ € yao dxgoWusvos dousvog anodeyerat, 
vouilwv Eosodaı Yıhlav TIva Havucornv ndoı noös anavras, dAAmS TE xai 
DTEV XETNyoon TISs TWVv viv ünaoyovrwv Ev Tais nokıreiaıis KUXov WS 
yıvousvov did To un zoıvnv eivaı ımv ovolav, Ayo de dixas Te 
71008 dAhjkovs rei ovußokaiwv xal zolosıs zei nAovoLWv 
xolaxeias, wv ovder yiveraı ν dxowwvnoiav ahAd die Tmv uoy- 
Imoiav xrA. 


I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das ſozialiſtiſche Naturrecht. 113 


prinzipiellen Negation des Privateigentums, bei der PBroflamierung 
der Gütergemeinjchaft als des allein wahren und naturgemäßen 
Zuftandes angelangt. 

Eine beveutfame Stellung nimmt in diefer Frage der befannte 
Schüler des Ariftoteles ein, Dikäarch von Meſſana, der in jeiner 
griechischen Kulturgeſchichte (Bros EAAados) bei der Darftellung der 
ftufenweifen Entwiclung der Zivilifation nicht nur die Lehre vom 
katurzuftande im allgemeinen verwertete,!) jondern auch insbeſon— 
dere die Entwidlung des PBrivateigentums als einen Abfall von 
diefem glüdlihen Zuftand, von dem „Geſetze der Natur” zu er 
weiſen Juchte. 

Das Leben der Menjchen im Naturzuftand iſt für dieſen 
Borläufer Noufjeaus?) ebenſo wie für Plato, eitel Friede und Ein- 
tracht und er motiviert dies damit, daß bei der Bedürfnisloſigkeit 
einer Geſellſchaft, die hauptjächli von Früchten lebte und noch 
nicht einmal die Zähmung der Tiere kannte, noch fein Beſitz vor- 
handen war, der al3 nennenswerter Gegenitand des Begehres und 
des Kampfes hätte in Betracht kommen können (ovdE arassıc 
zroög aAkrkovs: aIAov yo ovdEv aSıdkoyov Ev TO WEOW 77O0- 
xeluEvov ÜNOXEV, I7TEo 0Tov Tıs av dieyogav Tooalınv Eve- 


') Daß Dikäarch mit feiner Lehre vom Naturzuftand eine bereits ziem- 
lich verbreitete Theorie twiedergibt, zeigt feine ausdrüdliche Bemerkung: zei 
Tavre ... ouy mueis, aAR oi ra nahaıd borogig dısäeidovres eipyzasır. 
F. H. G. II p. 233. Graf: Ad aureae aetatis fabulam symbola (Leipziger 
Studien VIII 45) jchließt aus diefen Worten, daß Dikäarch auf eine eigene 
Meinung in der Frage verzichte; -—- meines Grachtens faum mit Recht. 

2) Es ijt wohl von Intereſſe, hier darauf hinzuweiſen, daß Dikäarch 
die Gejellichaftstheorie Rouſſeaus direkt beeinflußt hat. Vgl. die ausdrück— 
fie Erwähnung Dikäarchs in dem befannten Discours sur l’origine et les 
fondements de l'inegalite parmi les hommes (Petits chefs- d’oeuvre de 
Rousseau 1864 ©. 111). Allerdings zitiert hier Rouſſeau nicht dag aus: 
führliche Dikäarchfragment des Porphyrius, jondern nur das furze Fragment 
bei Hieron. adv. Jovin IX 230 (F.H.G. 234[2]), wo nur die Ernährungs: 
nicht die Eigentumsfrage berührt wird; aber es wäre doch zu dertvundern, 
wenn er nicht auch jenes gefannt hätte, mit deſſen Inhalt feine eigenen Aus: 
führungen fich jo nahe berühren. 

Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus, I. 8 


114 Erſtes Buch. Hellas. 


ornoero).!) Eine Auffafjung, welche der Urzeit allerdings den 
Begriff des Privateigentums nicht diveft abjpricht, aber doch einen 
Zuftand vorausfegt, in welchem dasfelbe ohne alle Bedeutung ift. — 
Erſt das Streben nach „überflüjfigen Gütern“ und der damit ver- 
bundene Übergang zu Viehzucht und Aderbau entfeffelte den Kampf 
unter den Menjchen infolge des widerjtreitenden Intereſſes der— 
jenigen, welche den Beſitz an diefen Gütern zu erwerben, und 
derer, welche den ſchon gewonnenen Beſitz zu behaupten juchen.?) 
Und mit diefem Wettbewerb menjchlicher Habgier, des gegenfeitigen 
Mehrhabenwollens (eis @AAnkovs rAsovekie) geht dann Hand in 
Hand Unrecht und Gewalt, Berfeindung und Fehde. 

Ganz bejonders jcharf gefaßt ericheint endlich diefe Anſchau— 
ung von den verhängnispollen Folgen der Entwicdlung des Brivat- 
eigentums in einer allerdings jpäten, an Poſidonius fih ans 
lehnenden Formulierung Senefas, die aber gewiß von Poſidonius 
im wejentlichen ſchon der älteren Litteratur entnommen ift.3) „Die 
Habſucht,“ Heißt es bier, „hat die brüderlichen Bande zerriffen, 
welche die Menjchen urjprünglich vereinigte, jo lange fie unver: 
dorben dem Gefege der Natur folgten. Aber diejer Abfall hat 


!) Porphyr. De abstin. IV, 1, 2 (F. H. G. II 233). Dieſelbe Auf- 
faſſung vertritt Dikäarchs Landsmann Theokrit XII, 15: 
Aklrkovs Ö’ Epiimser low Liyo n da tor’ noav 
Xovosıoı dhtv Avdoss, OT’ avrepiino’ 6 pılmdeis. 
2) Mb (Ensidj?) yag aEisAoya zrjuate mv Ündoyovre ol ußv Eni 
To nagslEodeı gıhoriuiav Enoiovvro, aHooıLousvol TE zei napuzeÄoüvrss 
ahlmhovs, oi dE Eni To diepvadkar. Schade, da uns nicht Dikäarch ſelbſt, 
jondern nur das Erzerpt des Porphyrius erhalten ift, deſſen Unvollſtändigkeit 
und tendenzidfe Einfeitigkeit die Dikäarchiſche Auffaſſung nur unvollfommen 
erkennen läßt. Insbeſondere tritt bei Porphyrius feinem Zive gemäß die 
angeblich verhängnisvolle Bedeutung des Übergangs zur Fleiſchnahrung in 
einer Weije gegenüber der Eigentumsfrage hervor, wie dies bei Dikäarch wohl 
faum der Fall war. In diefem Punkte hat Graf a. a. D. gewiß richtig ges 
ſehen. Vgl. über die Exrzerpiermethode des Porphyrius auch Bernays: Theo— 
phraſts Schrift über die Frömmigfeit. passim. 
3) Vielleicht Dikäarch ſelbſt? Vgl. Dümmler: Zu den hiftoriichen 
Arbeiten der älteſten Weripathetifer. Rh. Muj. 1887 ©. 195. 


I. 7. Der Sozialflaat der Legende und das fozialiftiiche Naturrecht. 115 


ihnen feinen Gewinn gebradt. Denn fie (die Erwerbsgier) it 
jelbjt für die, welche fie am meijten beveicherte, nur eine Quelle 
der Armut geworden. Man hörte auf, alles zu bejigen, als man 
ein Eigentum begehrte.” 

Wir find um jo mehr berechtigt, diefe Formulierung des 
Problems für unjere Frage heranzuziehen, als es fich hier um 
Borjtellungen handelt, deren Spuren fi in der ſtoiſchen Schule 
bis zum Stifter der Lehre, dem Zeitgenoffen Dikäarchs, zurück 
führen laffen. Schon die Ethif des Cynismus, an welche jich die 
ältefte Stoa jo enge anjchloß, predigte die Rückkehr zur Selbjt- 
genügjamfeit der erjten Menfchen, die fie zugleich als einen Zus 
ftand wahrer Freiheit pries.?2) Auch der in diefer Hinficht im 
Geiſte des Eynismus gedachte Idealſtaat Zenos?) iſt offenbar von 
der Idee des Naturzuftandes eingegeben. Diejer Staat, in dem es 
feine Tempel, feine Gerichtshöfe, feine Gymnaſien, fein Geld geben 
jollte,*) der die völlige Weibergemeinichaft 5) und möglichite Gleich- 
jtellung der Gejchlechter verwirklichen und die allgemeine Nivellierung 
der Menjchen bis zu einer Lebensgemeinichaft fteigern jollte, die 
ausprücdlich mit dem Gemeinjchaftsleben einer Herde?) verglichen 





') Seneca ep. XIV, 2, 3: inter homines consortium [esse docuit 
philosophia], quod aligquamdiu inviolatum mansit, antequam societatem 
avaritia distraxit et paupertatis causa etiam iis, quos fecit locupletissi- 
mos, fuit. 

2) Vgl. zu der Äußerung des Diogenes über die „Aevdsola ı El 
Koovov“ Weber: De Dione Chrysostomo Cynicorum sectatore. Leipziger 
Studien X ©. 18. 

3) Über diejen ſ. Wellmann: Die Philofophie des Stoikers Zenon, 
Sahrbb. f. kl. Phil. 1873 ©. 437 ff. 

9 Diog. Laert. VII 32$. Bgl. die Erklärung des Diogenes gegen 
den Gebrauch des Metallgeldes bei Athen. IV, 59e. (Knöchelgeld! j. Gom— 
perz: Eine verſchollene Schrift des Stoifers Kleanthes. Ztichr. f. öſtr. Gymn. 
- 1878 ©. 254.) 

>) Diog. ebd. Vgl. 131 über Chryfippus, der ebenfalls dieſe Gemein- 
ſchaft gefordert hat. 

6) ebd. 33. 

’) Hier wird volljter Ernſt gemacht mit dem platonijchen Bilde von 

8* 


116 Erſtes Buch. Hellas. 


wird,') diefer Staat der Liebe, der Freiheit und Eintracht 2) follte 
gewiß auch den allgemeinen Verzicht auf das Privateigentum ver: 
wirklichen, als Die vollendete Verförperung jener Selbſtgenügſamkeit, 
jener avraoxsıe, wie fie eben dem cyniſch-ſtoiſchen Ideal eines 
wahrhaft freien und naturgemäßen Lebens (vov axoAovdms 
ın pvosı Inv) entiprad).?) 

Wie hätte diefe Lehre die „Freiheit“ des Naturzuftandes mit 
dem Inſtitut des Brivateigentums vereinbar halten können?“) Die 
Gütergemeinſchaft ift ja nur der vollendetite Ausdrud jenes all- 
mächtigen Triebes nach Gemeinschaft (orxeiwoıs!), welcher nach der 
Lehre der Stoa alle VBernunftswejen verbindet und vermöge deſſen 
„man nicht für ſich leben Fann ohne für andere zu leben.”5) Wenn 
dies Gejeß der Natur, das zugleich das der Vernunft ift, ein der- 
artiges Aufgehen des einzelnen Individuums in der Lebensgemein- 
Ihaft des Ganzen und im Dienjte für das Ganze fordert,s) wie 
hätte die Stoa — im Anſchluß an die Volksfage vom goldenen 





ben „Menſchenherden, die in den (beiten) Staaten nach den Anordnungen der 
Geſetzgeber weiden“ (dvrdownwv aykkaıs, önooaı zera mov Ev Exdotaus 
vousvorrar xard ToUÜs Tov yomıyarrwv vouovs. IIOM. 295e). 

1) Plutarch: De Alex. fort. I, 6: eis de Bios 7 zei x00Wuos worteg 
ayEhAns ovvvouov vouw Xoro OVVTOEPoUuEvnS. 

?) Athenäus XII 56le: Ev zn modıreig Epn (Zijvov)‘ tov ’Eowra 
Heöv Eivar ovveoyov Undoyovra moös Tv Ts nöhews owrnoiev. Bal. 
ebd. die Auffaffung des Eros als „giklas zai Ehevdsoles Er TE zei — 
volas AOROKEVROTIROS“. 

3) Val. Chryſippus zeoi püsews bei Plutarcd De stoicorum rep. 20: 
Tov ooporv, Ei Tıv ueyiormv ovoiav arroßdkoı, doayunv ulav ExBeßAnxevau 
do£eıw und regt molıreias ib. 21 ovder ndorns Evsxa nocsew, ovdE naoa- 
OXEVAOEOHLL TOVUS TOALTES. 

4) Inwieweit freilich diefe Richtung an die Realifierbarfeit ihrer 
geſellſchaftlichen Ideale glaubte, ift mit Sicherheit nicht zu entfcheiden. In 
Beziehung auf die äÄltefte unmittelbar an den Cynismus ſich anjchliegende 
Stva nimmt allerdings Hirzel einen jolchen Glauben an (die Entwiclung der 
ſtoiſchen Philoſophie. Unter. zu Ciceros philoj. Schriften II, 271). 

5) Seneca ep. 47, 3. 

°) ib. 95, 52. Der Weife ift niemals bloß Privatmann. Cie. Tuse. 
IV, 23, 5l, 


1. 7. Der Sozialjtaat der Legende und das fozialiftiiche Naturrecht. 117 


Zeitalter — die abjolute Herrichaft des Naturrechtes in der glück 
lichen Urzeit des Menfchengeichlechtes lehren können, ohne damit 
zugleich dem ökonomischen Individualismus des nach ihrer Anficht 
aus dem DVerderbnis der Welt entiprungenen pofitiven Nechtes das 
Seal eines wirtſchaftlichen Gemeinjchaftslebens entgegenzu— 
ſtellen? ) — 

In demſelben Ideengang wie dieſe Lehre vom Naturzuſtand 
wurzelt die Idealiſierung der ſogenannten Naturvölker, die wir 
in den ethnographiſchen Schilderungen der Litteratur der Griechen 
und zwar ganz bejonders bei Ephorus finden. 

Eine Anſchauungsweiſe, für welche die Erlöfung von den 
jozialen Krankheitsericheinungen einer hochentwidelten Kultur gleich- 
bedeutend war mit der Nüctehr zur „Natur“, mußte ja das Inter: 
efje und die Einbildungsfraft vor allem auf jene Völker an den 
Grenzen der Kulturwelt lenfen, deren ganzes Dafein als getreues 
Abbild des Naturzuftandes und der geträumten bejjeren Vergangen— 
heit des eigenen Volkes erichien. Hier hatte man eine Wirtjchafts- 
ftufe vor ji, mit deren Armut und Bedürfnislofigkeit ſich von 
jelbjt ein hohes Maß jozialer Gleichheit zwijchen den freien Volfs- 
genofjen verband. Hier ſah man demgemäß auch in in den jozialen 
Gemeinjchaften, welche den Charakter diejes primitiven Völkerlebens 
beherrichten, in Familien, Sippen, Stämmen noch ein außerordentlich 


1) Vgl. oben Poſidonius-Seneka und die von Cie. Fin. III, 21. ex: 
wähnte ftoijche Forderung, daß jowohl die wpeinuere und PAduuere (fitt- 
liche Güter und Übel), als die eiyonsıjuere und dvoyonsrjuere (jonftige 
Borteile und Nachteile) allen Menjchen gemein fein jollen. 

Anders als Pofidonius u. a dachte allerdings Chryfippus, von dem 
wir jogar — dank Gicero (De fin. III 20) — einen Verſuch zur Recht: 
fertigung des Privateigentums befigen, der freilich nichtsfagend genug iſt, 
aber doch dem Lejer nicht vorenthalten jei: Cetera nata esse hominum causa 
et deorum. — Sed quemadmodum theatrum cum commune sit, recte 
tamen diei potest ejus esse eum locum, quem quisque occuparit, sie in 
urbe mundove communi non adversatur jus, quominus suum quidque 
eujusque sit. Sit das etwa in Gegenſatz zu Zeno gejagt, deſſen Anfichten 
Chryſipp jo vielfachen Widerjpruch entgegengejegt hat? 


118 Erſtes Buch. Hellas. 


ftarfes Gemeinschaftsgefühl !) lebendig, welches naturgemäß inner- 
halb diejer Kreife zu Jehr weitgehenden Forderungen wirtichaftlicher 
Gerechtigfeit,?) zu einer Drganifation der Beſitzverhältniſſe führte, 
die ji wenigitens bei den nomadifierenden Skythenftämmen als 
mehr oder minder ausgeprägter Kommunismus dartellte.?) Was 
hat nun aber die ivealiftiiche Spzialphilofophie der Griechen aus 
diefen Thatſachen gemacht? 

Sie reden von den „vowme Beoßagıza“, deren Sammlung 
Hiftorifer und Philoſophen metteifernd betrieben, in einem Ton, 
als ob hier die höchſten politifchen und gefellichaftlichen Ideale des 
Hellenentums Fleiſch und Blut gewonnen hätten! In einer wahr: 
Icheinlich auf Poſidonius, vielleicht auch ſchon auf Ephorus zurüd- 
zuführenden Schilderung der Skythen beißt es, daß ihnen die 
Natur gegeben, was die Griechen troß aller Lehren ihrer Philo— 
fophen nicht zu erreichen vermochten.5) Der rohe Maßſtab wirt 


1) Ein Vorbild, auf das in den politischen und ſozial-reformeriſchen 
ZTendenzjchriften „reoi ouoroles“ offenbar häufig Hingewiejen wurde. — Mit 
Necht vermutet 3. B. Dümmler (Prolegomena zu Platons Staat ©. 46), 
daß Antiphon in jeiner Schrift eoi ouovolas (nach Harpofration s. vv.) 
die uaxgoxepeakor, die ozıenodes und die Uno ynv olxoövres nur zu dem 
Zwede erwähnte, um an ihnen die Durchführbarkeit feiner politischen Ideale 
zu erweiſen. 

?) Vgl. Schmoller: Die Gerechtigkeit in der Volkswirtſchaft. Jahrb. 
f. Geſetzgeb, Verw. u. Volkswirtſch. 1881. ©. 39. 

>) Auf fie bezieht ich wohl zum Teil Wriftoteles Pol. II,2, 1. 1263a. 

4) Eine intereffante Anjpielung auf die Rolle, welche die Naturvölfer 
in der damaligen Theorie jpielten, enthalten die Chorgejänge in den „Vögeln“ 
des Ariftophanes, der hier bei der Mufterung von allerhand Yabelvölfern 
unter den Skiapodes plölich auf Sofrates und Chairephon ſtößt. v. 1470 ff. 
1552 ff. Dal. Dümmler a. a. D. 

sim IL 25 

-— prorsus ut admirabile videatur, hoc illis naturam dare, quod 
Graeci longa sapientium doctrina praeceptisque philosophorum eonsequi 
nequeunt, cultosque mores incultae barbariae collatione superari. tanto 
plus in illis profieit vitiorum ignoratio quam in his cognitio virtutis. 
Hat e3 doch ſelbſt ein Plato nicht verſchmäht, ich im Sntereffe der von ihm 
geforderten Gleichjtellung don Mann und Weib auf das Beifpiel der berittenen 


I. 7. Der Sözialſtaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 119 


Ichaftlicher Gerechtigkeit, welchen das Gleihheitsgefühl einer niedrigen 
Kulturitufe und das Gemeinjchaftsleben im engjten jozialen Kreiſe 
dein Naturmenjchen aufdrängt, wird ohne weiteres mit der hoben 
Idee der jedem das Seine gebenden Gerechtigkeit identifiziert, zu 
welcher ſich eine viele Jahrhunderte alte moraliiche Kulturarbeit 
durcbgerungen hat. Die dixwioovvn erſcheint als Grundtrieb des 
ſkythiſchen Volkscharakters, als leitendes Motiv des ganzen Lebens 
dieſer „gerechteiten” aller Menjchen”,') genau ebenjo, wie fie von 
Plato als das Grundprinzip des Idealſtaates oder von einem be: 
fannten Schüler der Stoa, von Arat, als das Lebenselement jener 
jeligen Urzeit bingeftellt ward, in der Dike noch leibhaftig auf 
Erden waltete.?2) Und an dieſem Muftervolf der jozialen Gerech- 
tigfeit muß fich dann natürlich all das reichlich erfüllt haben, was 
der Idealismus der damaligen Sozialtheorie als notwendiges Er: 
gebnis einer wahrhaft gerechten Lebensordnung anjah. Wenn 
Plato von den Fommuniftiihen Einrichtungen feiner „evvouog 
rrolıs“ erwartet, daß diejelben allen Haß und Streit bejeitigen 
würden, der fich an den Kampf um den Belt zu Fnüpfen pflegt, >) 
jo erſcheint einem Gefchichtsichreiber, wie Ephorus, dieſes Ideal 
durch die eben als zvvowie gepriejenet) Gejellichaftsordnung ge: 
wiſſer ſkythiſcher Stämme thatjächlich verwirklicht. Ihre gemein: 
wirtichaftlichen Inſtitutionen jchließen nach jeiner Anficht alle Er: 
werbsgier aus. Sie find 00 xonueriorei und als jolche frei 
von allen jozialen Übeln, welche Plato als Folgezuftand des xon- 


und wehrhaften Frauen der Sauromaten am ſchwarzen Meere zu berufen! 
(Leg. 804e.) 

1) Val. Ephorus bei Strabo VII p. 463. F. H. Gr. 1, 256 fr. 76. 

2) Phaenom. 100 f. Zu der Anficht von der Verdrängung Difes vgl. 
auch Hefiod Werke u. Tage v. 223. 

3) Staat V 464d: dixzaı re zul Eyaamuare noös ahlmlovus oUx 
oiyyostaı EE avrwrv, ws Eros Eineiv did To umdev idıov Exmodeı mv 
To owua td d’ dhhe xowad' 69Ev In Ündoyei Tovrois COTKOLdoToLg eivar, 
00« yes did yonudıwv 7 naidwv zul Fvyyevov zT701W dvdgwnor oTaold- 
Covow; xt. 


9 A. a. O. 


120 Erſtes Bud. Hellas. 


uerıouös beklagt.) Hab, Neid und ſklaviſche Furcht find ihnen 
fremd. ?) 

Sa Ephorus geht noch weiter. Nachdem die Spekulation 
über das „Gerechte” und den Naturzuftand als wejentlichen Zug 
desjelben auch die Schonung der Tiere und Enthaltung von Fleiich- 
nahrung bingeftellt?) und die ältere Gejchichtsichreibung diefen Zug 
bereits für die idealifierende Schilderung nördlicher Fabelvölfer 
adoptiert hatte,t) trägt Epphorus ebenfalls fein Bedenken anzuneh— 
men, daß die „Frommen” Volksgenoſſen des weiſen Anacharfis das: 
jelbe Lebensideal verwirklicht hätten.) Die alte Bezeichnung diejer 
Nomaden als „Salaftophagen” genügt ihm, ohne weiteres der Ge— 
ſchichte dieſe Legende einzuverleiben, für die er ſonſt abjolut feinen 
Anhaltspunkt hatte. 6) 


I) Staat V p. 465c. 

2) Vol. Nic. Damasc. (fr. 123 bei Müller F. H. Gr. III) nach Ephorus: 
Ieoa rovroıs ovde eis oure pYorov, Ws Yaoiv, olTE uoov oVTE Ypoßov- 
uevos iotoon9n7 die Tnv Tov Blov zoıvörnra zai dıxzavoovvnv, 

>) Vgl. Empedofles Fragm. ed. Sturz 305. 

4) Bgl. Hellanifus dv. Mitylene über die Hyperboräer F. H. Gr. I 
p- 98 fr. 96 dıddoxsoHa DE avroüs — Sc. iotopget — dixzavoovvnv un 
xoEWpeyoÜrvras aAN dxoodovVoıs Kowuevovs. 

5) Dieje Anficht des Ephorus hat ein fpäterer geogr. Dichter unter 
ausdrücklichen Hinweis auf diefen mit den Worten wiedergegeben: 

Nouadıza Ö’ Enızakovuer, EVoEeßn av, 

wv oVdE eis Eurbvyov ddızmoaı not ür, 

olxopopa Öd’, Ws EIoNzE, xai OLToVuEve 

yahazrı tais Exvdızatoi 9 inmouokyiaıs. 
Ephoru3 fr. 78 bei M. F. H. G. 1, 257. 

6) Galaftophagen waren die nomadischen Skythen natürlich nicht in— 
foferne, weil fie fich anderer, insbeſ. Fleiſchnahrung, enthalten hätten, jondern 
weil Milch und Milchprodukte in ihrer Ernährung die Hauptrolle jpielten. 
Eine Tharjache, die ſich aus dem einfachen wirtichaftlichen Motiv erklärt, daß 
diefe Skythen, wie die heutigen Kalmüfen, mit dem Schlachten ihres Viehes 
höchſt ſparſam waren, dab ſie dieſes ihr einziges Kapital nur ungerne an— 
griffen. — Dies hat Neumann (Die Hellenen im Sfythenland ©. 314) richtig 
hervorgehoben, meint aber freilich irrtümlicherweife, daß auch Ephorus die 
Sache nicht anders aufgefaht habe. Die idealijierende Tendenz der Schil- 
derung des Ephorus ift damit völlig verfannt. 


I. 7. Der Sozialſtaat der Legende und das ſozialiſtiſche Naturrecht. 121 


Noch tiefgreifender find die Folgerungen aus den populären 
Mißverſtändniſſen, zu denen das bei einzelnen Völkern des Nordens 
beobachtete, aber in jeinem Weſen nicht erkannte Inſtitut der Poly— 
andrie unter Familiengenofjen, jowie die eigentümliche Stellung der 
Frauen im jEythiichen Ehe: und Erbrecht!) Veranlaffung gab. Wenn 
nach ſkypthiſchem, wie nach mongolifchem Recht das Weib als 
Familieneigentum galt, auf welches die Kinder, wie auf jedes andere 
Familiengut ein Erbrecht bejaßen, jo wird daraus in der Vor: 
jtellung der Griechen jene weitgetriebene Weiber: und Kindergemein- 
Ichaft, wie fie 3. B. die platonifche und noch mehr die cyniſche 
Gejellichaftstheorie im Auge hatte.) Eine Borftellung, mit der 
ſich dann natürlich von vorneherein in derjelben Weife, wie bei 
Plato, die Idee einer ungetrübten Harmonie der Gejellichaft, eines 
uugejtörten jozialen Friedens verband. Wie ſchon Herodot von 
einem Nachbarvolf der Skythen berichtet hatte, daß es völlige 
Frauengemeinschaft hatte, „damit alle unter ſich Brüder und Ver: 
wandte jeien, die weder Neid noch Feindjchaft gegen einander 
heyen“,3) jo weiß auch Ephorus von feinen Galaftophagen zu er: 
zählen, daß bei ihnen infolge verjelben Gemeinschaft jeder ältere 
Mann Bater, jeder Jüngere Sohn, jeder Gleichalterige Bruder ges 
nannt worden jei,!) genau entjprechend der Sitte im platonijchen 
Spealftaat.d) Kein Wunder, daß Ephorus bei feinem Muſtervolk 


!) Bgl. über dieje Inftitutionen Neumann a. a. DO. ©. 296. 

2?) Ephorus fr. 76 M. — oos te aAAmhovs eVvouovvraı zoiwa navte 
Eyovrss ta Te dla zul yurvalzas xal TExva zal Tv OAmv ovyyeveiav' 
fr. 78: Cwow de Tv TE zınoıw dradedeıyores zoırjv endvıov mv TE 
ovvolov ovoler. 

®) IV, 104: Ayasvooo .. .. Enizowov Imnv yvvarxov Tv wulEıy 
noLevvrat, iva xuoiyvntoi Te aAinimv Ewor zul olzmloı Eovres Tdvrtes unTte 
p9ovm unt EyPei yocwvraı &s aAkmkovs, 

*) Ber Nikolaus Damascenus a. a.D. Vgl. Ephorus fr. 76 M. j. oben 
Anmerk. 2. 

5) Bgl. Rep. V, 461d. Daher bezeichnet Strabo VII, 3, 7 (p. 300) die 
Skythen im Sinne diefer Auffafjung als „res yuvarzas nAarwvıxzas 
Eyovras xoves zei rerve, Diejen Zujfammenhang zwiſchen Plato und 


122 Erſtes Buch. Hellas. 


auch auf wirtichaftlichem Gebiete ein Ideal ſozialer Gerechtigkeit ver— 
wirklicht fieht, welches hinter den kühnſten Träumen der ſozialökono— 
mischen Metaphyſik feines Jahrhunderts nicht zurückbleibt. Wir be— 
gegnen in der Schilderung des ſkythiſchen Volkslebens bei Ephorus 
der unklaren Idee des reinen Kommunismus, der Borjtellung von 
einem Gejellichaftszuftand, in dem alles und jedes Privateigentum 
— am Grund und Boden jowohl, wie an Gebrauchs: und Nubß- 
vermögen — fehlt und die wirtjchaftliche Lebensiage und die Be: 
dürfnisbefriedigung für alle Smdividuen oder Familien die abjolut 
gleiche ift. Selbit Blato, deſſen kommuniſtiſches Ideal bier offen- 
bar mit Vorbild war, hat an die Möglichkeit einer vollfommenen 
Verwirklichung dieies Kommunismus nicht zu glauben gewagt. 
Er beſchränkt ihn — als allgemein gültige Lebensnorm — nicht 
bloß auf eine bejondere Klaſſe der Bevölkerung jeines Idealſtaates, 
jondern gibt auch bei diefer die Möglichkeit zu, daß Abweichungen 
von dem rein fommuniftiichen Brinzip unvermeidlich werden könn— 
ten.!) Ephorus fennt jolche Bedenken nicht. Ihm macht e3 Feine 
Schwierigkeit, ohne weiteres ein ganzes Volk in einem ſolchen Zus 
ftand zu denken. Aus der einfachen und klaren Thatjfache noma— 
diſcher Gemeinwirtſchaft wird unter der Hand dieſer Gejchicht- 
ſchreibung ein rein phantaftiicher Kommunismus, der nichts ift, als 
das Gedankengeſpinnſt einer ungejchulten und verworrenen Speku— 
lation über wirtichaftliche Dinge. — 

Von einer Geſchichtſchreibung, die fich ſelbſt über Erſchei— 
nungen des gleichzeitigen Völkerlebens derartigen Selbittäufchungen 








Ephorus hat weiter verfolgt Niefe (Die Idealiſierung der Naturvölfer des 
Nordens in der griech. und röm. Litteratur. Frankfurt. Progr. 1875) ohne 
freilich in Beziehung auf den Grad der Sdealifierung bei Ephorus und feine 
thatjächlichen Anhaltspunkte die im Texte hervorgehobenen Momente zu berück— 
fichtigen. Übrigens dürften auf Ephorus auch die Ideen des Cynismus ein 
gewirkt haben, wie dies bei feinem Mitſchüler Theopomp thatjächlich der Fall 
war. Vgl. Schröder: Theofrit dv. Chios. Jahrb. f. Phil. 1890. 

!) Rep. II, 416d: "0g« dj, einov &yw, El Toiövde Tivd Toonov dei 
avroüs [mv Te zei oixeiv, Ei uEAAovaı ToLovroL 2080IaL" EWTOV uEv oVolev 
xextnusvov undeuiav undeva idiav, ev un ndoa dvayay' zul. 


I. 7. Der Sozialſtaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 123 


hingab, wird man nicht erwarten, daß fie ſich ernftlich bemühte, 
der wirklichen Geichichte ins Auge zu Schauen, !) zumal wo es ſich um 
Zeiten handelte, deren Überlieferung ohnehin von der Legende völlig 
überwuchert wurde. Was die hiftoriiche Phantaſie auf einem Ge: 
biete zu leijten vermochte, das für fie gewifjermaßen ein unbeſchrie— 
benes Blatt war, dafür ift nun gerade die im vierten und dritten 
Sahrhundert jo maſſenhaft anjchwellende Litteratur über das „lykur— 
gische” Sparta ein überaus charakterijtiiches Beijpiel. Es ſei nur 
auf die befannte Thatjache hingemwiefen, daß man 3. B. nad) 
Plutarchs ausdrücklichem Zugeitändnis 2) über Lykurgs Leben und 
Geſetzgebung abjolut nichts Unbejtrittenes wußte, und daß Plutarch 
troßdem aus jener Litteratur die anjchaulichite und in alle Einzel: 
heiten eingehende Erzählung über den Gejeßgeber und fein Werf 
entnehmen konnte. Das jprechendjte Zeugnis dafür, daß die Quellen 
diefer und anderer Erzählungen über die ideale Urzeit Spartas 
mehr oder minder ein romantisches Gepräge gehabt haben müfjen, 
joweit fie nicht etwa jelbit Staatsromane gewejen find. Und wie 
hätte auch in einer Epoche, in der das republifaniiche Hellenentum 
aus einem rein politischen Intereſſe (in dem renophontijchen Staats- 
roman der Cyropädie) ſelbſt das Idealgemälde eines Königs 
ſchuf, der im Geifte der Nation lebendige bildnerische Trieb nicht 
aufs mächtigfte angeregt werden jollen durch eine Staats und 
Geſellſchaftsordnung, welche mit den allerdringendjten Lebensfragen 
und Lebensinterejfen mit all den genannten ſozialpolitiſchen und 
vwirtjehaftsphilojophiichen Ideen des Zeitalter die innigſten Be— 
rührungspuntte darbot? 

Hier hatte man eine jozialpolitiiche Schöpfung vor ſich, in 
welcher die fozialiftiihe Grundanjchauung der damaligen Staats: 
lehre wejentlich ihre Forderungen längſt verwirklicht Jah, in welcher 
die Suprematie des Staates über die Gejellichaft in früherer Zeit 








) Bon der ganzen hiev in Betracht fommenden Litteratur gilt, was 
Strabo (III p. 147) von Pofidonius jagt (ef. fr. 48 Müller II): odz arreyeran 
ns ovrdovs Önropeias, ale ovvevrdovoud taig vneoßokais. 

2) Eyfurg 1. 


124 Erſtes Buch. Hellas. 


wenigjtens mit beifpiellofer Energie gewahrt erſchien. Durch die 
Gleichheit und Strenge feines öffentlichen Erziehungsſyſtems hatte 
diefer Staat die Entwidlung der heranwachſenden Generationen von 
den Einflüſſen des Beſitzes und feiner Verteilung möglichjt unab- 
bängig zu machen gewußt. Auch im Leben der ermwachjenen 
Bürger hatte hier dasselbe Gemeinjchafts- und Gleichheitsprinzip, 
welches dem Einzelnen und feinem Beſitze weitgehende joziale 
Pflichten auferlegte, hatte das Prinzip der Unterordnung unter Die 
Zwecke der Gejamtheit, welches dem rpanfionstrieb des indivi— 
duellen Egoismus überall hemmend entgegentrat, mit jo intenfiver 
Kraft fich bethätigt, daß jelbjt inmitten der Neize und Genüfje 
einer weit fortgefchrittenen Kulturwelt die joldatische Bevürfnislofig- 
feit und Einfachheit der alten Sitte verhältnismäßig ſehr lange 
bewahrt blieb. Mit welch gewaltiger Hand endlich hatte dieſer 
„männerbändigende” 1) Staat in das Güterleben ſelbſt hineinge- 
griffen und dasjelbe durch zähes Feithalten an einem primitiven, 
die Kapitalbildung aufs äußerſte erſchwerenden Münzſyſtem, durch 
eine ſtrenge Gebundenheit des Agrarbefißes und die Ausſchließung 
aller Erwerbsarbeit mit den Lebensbedingungen und Zwecken des 
Staates in Übereinftimmung zu erhalten gefucht! 

Es leuchtet ein, daß eine Gejellfchaftstheorie, für welche die 
Entfefjelung der individuellen Kräfte, insbejondere des Erwerbs— 
triebes, und die Entwicklung des Neichtums gleichbedeutend war 
mit der Zerſtörung des jozialen Glüdes und der nationalen Sitt- 
lichkeit, nächft den Naturvölfern Fein geeigneteres Objekt für die 
geichichtliche Eremplifizierung ihrer Speale finden konnte, als eben 
Sparta. An feinem Beifpiele ließ fich die Möglichkeit einer Ge— 
jellichaftsordnung erweilen, in welcher das Privateigentum nicht bloß 
ven Brivatzweden des Individuums dienſtbar war, jondern vor 
allem der joziale Charakter desjelben gewahrt erſchien. Hier ließ 
jic) zeigen, daß auch die Eigentumsordnung der fortgejchritteniten 
und freiheitlichiten Gemeinweſen der bellenifchen Welt noch nicht 


’) dauasiußooros nad) Simonides cf. Plutarc) Agefil cap. 1. 


I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das fozialiftiiche Naturrecht. 125 


die letzte und vollfommenfte jei, ſondern daß das Privateigentum 
im Intereſſe einer harmoniſchen Entwidlung des Ganzen gemilje 
Einjcehränfungen oder Modifikationen erfahren müſſe. Die jparta- 
nischen Inſtitutionen boten ferner ganz ähnliche Anknüpfungspunkte 
für idealiftiiche Filtionen dar, wie das Leben jener Naturvölfer. 
Wenn man fi eine Epoche vorftellte, wo die gejchilderten, im 
zeitgenöfliichen Sparta allerdings ſtark abgeſchwächten oder in ihr 
Gegenteil verkehrten Tendenzen einer zentraliftiichen oder ſtaats— 
jozialiftiichen Politiki) in urjprünglicher Kraft und - Reinheit 
wirfjam waren, und wenn man fie) bei der Ausgeftaltung diefer 
Borftellung im einzelnen nur einigermaßen von den Ideen beein- 
fluffen ließ, die man fih von dem fozialen Mufterftaat gebildet 
hatte, jo war es für ein Zeitalter fozialer Utopien ein Leichtes, 
Altiparta als Träger einer Eigentums: und Gefellichaftsordnung 
zu denken, welche ſelbſt hinter platonifchen und cynifch-ftoiichen 
Idealen nicht allzumweit zurücblieb und das Prinzip wirtjchaftlicher 
Gleichheit und Gerechtigkeit in radifaler Weije verwirklichte. 

Sehr bezeichnend für diefen Prozeß der Spealifierung find 
die Vorftellungen über den ethischen und jozialpolitichen Wert der 
altipartanischen Smititutionen, wie fie in der griechifchen Litteratur 
— bejonders jeit dem vierten Jahrhundert — zum Ausdruck kom— 
men. Mac der Schrift vom Staate der Lacedämonier war bier 
jenes fittlich-jchöne Leben, wie es die griechiiche Staatslehre als 
böchiten Zweck des Staates aufgeftellt hat, in vollendetjter Weiſe 
verwirklicht. Dank einer einzig daftehenden Pflege der fittlichen 
Intereſſen it Sparta nach diefer Anſchauung eine Verförperung der 
eoern, geworden, wie jonjt fein Staat in der Welt. Seinen In— 
jtitutionen wohnt eine geradezu unwiderftehliche Kraft inne, alle und 
jede Bürgertugend zur Entfaltung zu bringen,2) während die ge 


1) Bol. die ſchöne Formulierung diefes Staatsgedanfens bei Thufyd. 
II, 2 in der Rede des jpartanifchen Königs Archidamos: xaAdıorov yao Tode 
zei dopakeorarov noAkovs Ovras Evi 200UuWw Yowuevovs paiveodeı. 

2) ec. 10. (Avxoögyos) Ev ın LZncorn Nvayxaoe Ömuooig nadvres 
TEOaS doxeiv Tüs agerds. Noreo ovv idıwrar idıiwrov diep£oovoıv doetn 


126 Grites Buch. Hellas. 


fährlichften fozialen Verirrungen, Erwerbsgier und Bereicherungs- 
fucht hier von vornherein undenkbar find.!) Natürlih muß ein 
folches Gemeinweſen auch verjchont geblieben fein von dem Elend 
des Intereſſenkampfes und Klaſſenhaſſes, das die übrige Welt zer 
rüttete, und es ift doch feine bloße Trivialität, ſondern in der 
tiefen Sehnfucht nach jozialem Frieden begründet, wenn bejonders 
diefer Friede, die „bürgerliche Eintracht” unter den idealen Zügen 
des ſpartaniſchen Staats: und Bolfslebens hervorgehoben wird. 

Iſokrates ift es, der für uns als einer der erften diefen Ton 
angejchlagen hat. Die Art von Gleichheit und Freiheit, wie fie 
in Sparta verwirklicht worden jei, gewährte nach feiner Anficht 
eine unbedingte Bürgiehaft für die Aufrechthaltung inneren Frie- 
dens.2) Und fein Schüler Ephorus hat dann denjelben Gedanken 
wieder aufgenommen, indem ex zugleich das Moment der wirt: 
ſchaftlichen Gleichheit bejonders heroorhob.?) In der Erörterung 
des Polybius über den jpartanijchen Staat (VI, 45), der ohne 
Zweifel die Meinung des Ephorus getreu wiedergibt,t) heit es 
oi doxovvres twv duslovvrwv, 0VTW xal 7 Lrdorm Eixotos NaOOV TÜV 
nolewv aoEern diapeoeı, uovn dnuooig Enırmdevovon mv zahoxayahier. 

) ce. 7. Kai yao dn ri nAovros &xei ye onovdaore£os, Evda 
io uer pEgeıv Eis Ta Enitndeia, ouoiws dE dieırcodeı Tafos, Erroinoe um 
ndunadeias Evexa Yonudıwv ogEYEoHaL; xTA. 

ib. Xovoiov yE umv zai doyvgıov Epevvaraı, xai dv Ti nov parı, 
6 Eywv Imwovrar. Ti oVv @v &xei yonuarıouös onovdaloıro Evda 
N xınoıs nAsiovs Aunas 7 m XoMoIs EVpoooVvas nag£yeı. 

?) Panathen. 178. (tTovs Inraoriaras) negE opicı uEv avrols loo- 
vouiav KATKOTNORL zai Imuoxgatiav ToLaVTmv, oiay TEO Yon) Tovs u£khovras 
erevrae Tov yoovov ouovonosw. Höchſt bezeichnend für den hiſtoriſchen 
Sinn dieſer PLitteratur ift die Anficht des Sokrates (ebd. 153), daß das 
Iyfurgiiche Sparta eine Nachahmung de3 älteften — Athen jet! 

) Vielleicht ift ex übrigen auch hier abhängiger von Sokrates, als 
man gewöhnlich glaubt. Vgl. z. B. die Wendung des Sokrates a. a. O. 179: 
vavra dE nod£avres (sc. ol Irregriaraı, Tov IMuov negioixovs noImoavres) 
ms XO0as ns nooonNzev Ioov Eysıv Exaortov, avrors uev Aapßeiv... 
Tv agloryv ... To dE nAndeı TmAıxodtov anroveiuc UEEOS TMS Yelpiorns, 
wor Eniwouws Egyalousvovs uoAıs Eyeıv TO xa9” jucgev. 

) Das beweift nicht nur der Umftand, daß Polybius als Hauptver: 








I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 197 


von dem mythiſchen Gefeßgeber und jozialen Heiland Spartas, daß 
er auf Erden der einzige geweſen jei, der das, worauf es im Staate 
hauptſächlich ankomme, richtig erwogen babe, nämlich die Wehr- 
baftigfeit und die bürgerliche Eintradt. In jeinem Staate fei 
das Beitreben mehr zu haben und mehr zu fein, als andere, die 
rheove&ia oder — wie e8 an einer anderen Stelle heißt — 7) 
zregi vo rrAeiov za vovkerrov gisoriuie, mit der Wurzel aus- 
gerottet, jo daß die Spartaner von innerem Zwift dauernd ver- 
Ihont geblieben und bürgerlicher Zuſtände teilhaftig geworden 
jeien, deren glücdliche Harmonie in ganz Hellas nicht ihres Gleichen 
babe. !) 

Eine ähnliche Idealiſierung würde uns ohne Zweifel auch in 
den verlorenen politijchen Schriften der Stoa entgegentreten, die 
den jpartanischen Staat gewiß nicht bloß deshalb zum Gegenjtand 
litterarifcher Verherrlihung gemacht hat, weil ex ihrer Lehre von 
ver beiten Verteilung der politiihen Gewalten entiprach, ſondern 
mindeitens ebenjojehr wegen der Berührung mit den jozial-öfono- 
mijchen Idealen der Stoa.?) In dem jechiten Buche des Polybius, 
deſſen politijche Erörterungen ganz von ſtoiſchem Geifte durchdrungen 
und teilweije unmittelbar aus der Litteratur der Stoa gejchöpft 


treter der im Text erwähnten Anficht neben den gefinnungsverwandten Schrift- 
ſtellern Plato, Kalliithenes und XKenophon den Ephorus noch einmal ganz 
bejonders nennt, jondern auch der Vergleich der Polybiusftelle mit Divdor 
VII, 14, 3. ©. €. Meyer a. a. 9. 

1) ("Egpogos, Zevopov etc.) noAvv dr tıva Aoyov Ev Errıuetow dıe- 
tiyevrai, Pdoxovres Tov Avxoüpyov uovov TWv YEyovorwv Ta ovv&yorra 
TEeIEWENKEraL" dvolv yao örvrwv, di’ Wr owleraı nohitsvua n&v, vis 71905 
Toüs noAsulovs dvdosias, zul INS TOO OpEs wuTovs Öuovolas' davnon- 
x0Ta ımv nheoveiiav, «ua Tavrn Gvvavnonxevaı naoav Eugpvsuov die- 
Yoo«@v zei ordow' n xai Aaxedauuoviovs EXTOS OvVras Tov zaxov 
Tovtwv xzdhlıora tov 'EAlnvwv Ta noös Opds avrovs nolı- 
TEVEOF+aı zal Ovupgoveliv tavıd, 

2) ©. oben ©. 115. — Das beweist übrigens ſchon die Schrift des 
Stoifers Sphärus Meoi Aazwrızns nokreies, deren Hauptzweck der war, 
dem Könige Kleomenes III. durch ein Idealgemälde Altipartas die hiftoriche 
Grundlage für jeine Sozialveform zu jchaffen. 


128 Erſtes Buch. Hellas. 


find,!) heißt es von dem ſpartaniſchen Staate unter anderem, daß 
hier die Vorzüge und igentümlichkeiten der beiten Berfafjungs- 
arten jo glücklich mit einander verbunden waren, daß niemals durch 
das Überwuchern eines Teiles das für die Gefundheit des Staates 
unentbehrliche Gleichgewicht aller politischen Faktoren geftört werden 
fonnte;2) — und weiter: „Zur Bewahrung der Eintracht unter 
den Bürgern, zur Erhaltung des Gebiets und Sicherung der Frei— 
heit bat Lykurg in Gefeßgedung und DVorausfiht der Zukunft jo 
meifterhaft gehandelt, daß man verjucht ift, eher an göttliche, als 
menschliche Weisheit zu denken. Denn die Gleichheit der Güter, 
die Gemeinjamfeit vesjelben einfachen Lebenswandels mußte die 
Bürger zur Selbjtverleugnung erziehen und dem Staate unerjchüt- 
terlichen Frieden fichern.“ 3) Hier, meint Bolybius, war die Selbft- 
genügſamkeit Lebensprinzip,t) jene avragxsır, die wir bereits als 
ftoifches Lebensidal fennen gelernt haben.>) 

Diejelben Anſchauungen gibt endlich die analoge Darftellung 
in Plutarchs Lykurgbiographie wieder, in der höchltens die Form 
Eigentum des Verfaſſers, aber gewiß fein einziger neuer Zug zu 
dem überlieferten Spealbild hinzugefügt it. ES wird hier den 
lykurgiſchen Inſtitutionen nachgerühmt, daß durch fie Überhebung 
und Neid, Luxus und die noch älteren und ſchlimmeren 
Krankheitserſcheinungen der Gefellichaft: Armut und Reich: 
tum aus dem Staate verbannt worden jeien.6) Die Tendenz dieſer 
Inſtitutionen gehe dahin, daß alle Bürger gleichen Loſes und gleicher 


!) Bgl. dv. Scala: Die Studien des Polybius I, 201 ff. 

2) AV, 10: 

>) VI, 48. H uev ydo negi Tas xTnosıs looryg xal neoi ınv diaırav 
apeleıe xal xoworns oWgpogovas uev Eushle Toös zart’ idiav Biovs napa- 
GREVEOEIV, KoTaolaotov BE mv xoıwnv nagekcodaı nolıtelar, 

*) jb. neoi Tois zur’ idiav Plovs aVT«oxEIs LVTOUS NUDEOKEIKEE 
xzaı Autovc. 

5) cf. c. 31. (Avzoveyos) no05 Tovro ovverafe xal oVvjouooeV, 
onws EAsvFegior zei AUTEQREIS yervousvoi xal OWgppovoVvres Enni nAEloTov 
xo0vov diateivoıv. 


6) Lyfurg ec. 8. 


1. 7. Der Eozialftaat der Legende und das fozialiftiiche Naturrecht. 199 


Stellung mit einander leben follen, daß fie nur einen Unterjchied 
anerkennen jollen, den der Tugend.!) — Belonders das Inſtitut 
des Eijengeldes hat nach diefer Auffaffung Wunder gewirkt. Mit 
dem Gold- und Silbergeld joll eine Unfumme von Immoralität 
von vornherein in Wegfall gekommen fein. Diebjtahl und Be- 
ftehung, Betrug und Naub feien völlig gegenjtandslos geworden, 
weil es feine Werte gab, welche die Habjucht reizen fonnten!?) In 
ebenfo naiv übertreibendem Ton wird — im Anſchluß an eine 
Hußerung Theophrafts, alfo wieder eines Schriftitellers des vierten 
Sahrhunderts — von den Syflitien gerühmt, daß durch fie der 
Neichtum allen Neiz verloren habe und jelber zur Armut geworden 
jei, daß Sparta — wie das Sprichwort jage — das einzige Land 
jei, wo der Neichtum feine Augen babe und daliege gleich einem 
Bilde ohne Seele und Leben?) In der That ein Staatswefen, 
deſſen Schöpfer wohl diejelbe Freude über fein Werk empfinden 
fonnte, wie Gott, als er den Kosmos ſchuf!“) Und die Bythia 
hatte vollfommen vecht, wenn fie in den — ſchon von Ephorus in 
jein Gejchichtswerf aufgenommenen — Berjen die den Spartanern 
gewährte evvonie als eine Gabe rühmt, wie fie feinem anderen 
irdiſchen Gemeinwejen zu teil werden wiirde.) 


1) ib. (Avxovoyos) — ovvensioe — Lbnv uet’ aAlnlov ünevras 
ouwkeis zul dooxAmgovs Tois Ploıs yevousvovs, To dE nOWTeiov der] 
ustiöovras' as dAAns Ereow 7Io0g Eregov 00x ovons diapopas ovdE avı- 
oorntos, nAnv 6omv aioyowv Woyos volle zei zaAov Entavos. 

2) ib. c. 9. VBgl. diefelbe Behauptung im „Staat der Lac.“ e. 7: 
To ye unv EE ddixwv yonuarilsodeı zul Ev Tols toLovrors diexwAvoer 
(Avxovoyos). 

3) ib. ec. 10. weitov de (mv) To Tov nAovrov dlmdov, as gyoi 
Ozopoaoros, zul anAovrov AanEoyALoaod+aı tn xowörnt Tov deinvov xai 
Tu negi Tv diestev sureheig. Xomoıs ydp oVx mv ovdE anoAavoıs ordE 
oyıs OAws m Enideilis ıms noAhms napaoxsvuns Ei TO avro deinvovr to 
nevntı tod nAovoiov BadiLovros‘ worte rovro dn To Hovkovusvovr Ev uovn 
tov Uno Töv MAıov noAewv tn Indorn 0WLEoHaL, Tuphov Ovra tov nAovrov 
zei xElusvov, WOEE Yyoapnv dıpvyov zal dzivntov. 

2r1b..e2 29. 

5) Divdor VII, 11. 


Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u, Sozialismus. I. 9 


130 Erſtes Buch. Hellas. 


Man ſieht, das traditionelle Bild Altſpartas zeigt weſent— 
liche Züge des Staatsromanes; und wenn man dieſe Dichtungs— 
gattung im Sinne Schillers treffend als „ſentimentale Idylle“ 
bezeichnet hat, was iſt der Muſterſtaat Sparta anderes, als eine 
ſolche Idylle, als „die Ausführung eines poetiſchen Bildes, in 
welchem der Kampf, die Spannung, die Not der mangelhaften 
Wirklichkeit völlig abgeworfen wird und das reine Ideal des 
Denkers in reiner und ſtolzer Geſtalt ſich als das echte Wirkliche 
darjtellt?” 1) Es ift vollfommen zutreffend, wenn Montesquieu — 
allerdings ohne fich der Tragweite feiner Worte bewußt zu jein — 
von der Lyfurgbiographie jagt, er habe angefichtS der hier gejchil- 
derten Einrichtungen bei der Lektüre ftet3 den Eindruck gehabt, als 
lefe er die „Geſchichte der Sevarambier”, den befannten Sozial— 
roman von Vairaſſe.?) 

In richtiger Erkenntnis der Berührungspunkte zwiſchen Theorie 
und Tradition, wern auch ohne Ahnung von dem legendenhaften 
Charakter der legteren, der eben dieje Berührungspunfte erklärt, — 
macht Plutarch die Bemerkung, daß das Ziel, welches einem Plato, 
Diogenes, Zeno u. A. bei ihren Theorien vorichwebte, duch den 
Gefeßgeber Spartas zur Wahrheit gemacht worden jei, indem er 
einen über alle Nachahmung erhabenen Staat ins Dafein gerufen 
und denen, welchen das Ideal des Weiſen jelbjt für den Einzelnen 
unerreichbar exjchienen, eine ganze Stadt von Weiſen vor Augen 
geitellt habe. 3) 


1) Definition des Staatsromans bei Rhode ©. 197. 

2) Esprit des lois IV, 6. Eine Beobachtung, die ihn — dank feiner 
Duellengläubigteit — nicht hindert, Sparta, ala die „vollfommenfte wirkliche 
Republik“, der „erhabenften idealen Republik“, der platonifchen, ſowie dem 
fommuniftiichen Sejuitenftaat in Paraguai an die Seite zu ftellen. 

3) Ebd. ec. 31. V dE or yoduuara zai Aoyovs, dAR Eoyo moAt- 
TEIEV auiunrtov Eis Pos TOOEVEYRUUEVOS Xui Tols EvunaoxTov eivau 
nv Aeyousvmv neol Tov 00opov diedeoıw vnokaußevovoıv Enıdeitas 
oAnv Tnv nolıvy pikocopovoev. Bol. übrigens ſchon Plato Prota= 
goras 342d. 

sa nach Plutarch (e. 30) macht Alt-Sparta gar nicht einmal mehr 


I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 131 


Eine Stadt von Weifen! Was föünnte bezeichnender jein für 
die Speenverbindungen, aus denen der Idealſtaat Sparta erwuchs! 
Wir jehen an diefer Wendung, wie das idealifierte Sparta zugleich 
als das politiiche Seitenftüd, als Ergänzung zu dem indivi— 
duellen Idealbild der Sittlichkeit diente, welches die griechifche 
Moralphilojophie jeit den Cynifern, insbejondere die Stoa, in dem 
Begriff des „Weiſen“ gejchaffen hat.!) Wie die ftoifche Ethik in 
diefem Begriff eine yavraoia zeraknreızn, ein mit unmittelbarer 
Überzeugungskraft wirkendes Bild, ein „Kriterium“ bejaß, dem fie 
die Norm für das individuelle Handeln entnahm, jo ift das Ideal— 
bild des altipartaniichen Staates für fie ebenfalls eine jolche 
gyavraoia »aralnntıxn, weldhe das zoımmorov uns aAndeias 
für die beſte Gejtaltung des jtaatlichen Gemeinichaftslebens ent- 
bielt.?) 

Wenn aber der altipartanijche Staat in diefem Maße den 
Forderungen des VBernunftrechtes entiprach, jo lag darin zugleich 
für die Anſchauung aller derer, die, wie die Stoa, in dem „Geſetze 
der Vernunft“ das der Natur jelbit erblickten, eine prinzipielle Über- 
einftimmung mit den Forderungen eines idealen Naturrechts. 
Sn der That berührt fih die Lehre vom Naturzuftand mit den 
geſchilderten Anſchauungen über Altiparta jo nahe wie möglich. 
Finden wir nicht die Hauptzüge desjelben: die Bedeutungsloſigkeit 
der wirtjchaftlichen Güter, die Freiheit von jeder Pleonerie und 
allen Störungen des Jozialen Friedens, die Genügjamkeit, Gleich— 


den Eindrudf eines Staates, jondern den eines Hauſes eines einzigen weiſen 
Mannes: Wr Enızgerovvrwv (se. vouwv) e0TE009 ov noAsws 7) Lrndorn 
nolıteiav aA avdoos doxnTov zei oopod Piov Eyovoa xrA. 

) Für die hier verfolgten Sdeenzufammenhänge ift auch bezeichnend 
die Vorftellung des Bofidonius über die Herrjchaft der Weiſen in der jeligen 
Ürzeit. Vgl. Senefa: Epist. XIV. 2. 5: Illo ergo seculo, quod aureum 
perhibent, penes sapientes fuisse regnum Posidonjus judicat. 

2) Übrigens hat ſchon Plato diefen Ton angejchlagen, indem er Sparta 
wenigftens in Beziehung auf die Grundlagen feiner Verfaſſung al3 einen 
gejchichtlich gegebenen Mufterftant (naoddeıyua yeyovos) anerkennt. Leg. 
692 c. 

9* 


132 Erſtes Buch. Hellas. 


heit und Brüderlichkeit, furz die Harmonie des inneren und äußeren 
Lebens — in genauer wörtlicher Übereinftimmung in dem Bilde 
diefes idealen Mufterftaates wieder? Daß bier ein Zufammenhang 
der Seen befteht, erſcheint mir unzweifelhaft. Iſt es doch, wie 
wir jehen werden, jchon von Plato direft ausgejprochen worden, 
daß der beite unter den bejtehenden Staaten derjenige fei, der in 
jeinen Snftitutionen möglichit die Lebensformen des Naturzuftandes 
nahahme,!) daß es die höchſte Aufgabe der Staatsfunft jei, eben 
jenen Idealen ſich zu nähern, welche fich mit der Borftellung eines 
glücklichen Urzuftandes der Menjchheit verbänden.?2) Welcher Staat 
hätte fich rühmen können, diefes Ziel ernjtlicher verfolgt zu haben, 
als Sparta? 

Für den angedeuteten Einfluß der Lehre vom Naturzuftand 
it beſonders charakteriftiich die Art und Weife, wie die Vor— 
ftellungen über Sparta unmittelbar an das Leben der Naturvölfer, 
ja jogar gewiljer gejelliger Tiere anknüpfen. Für eine Anſchauungs— 
weife, welche in dem „Naturgemäßen” die abjolute Norm und 
Richtſchnur aller menjchlichen Ordnungen ſah, lag es ja überaus 
nahe, ſich auf jene merkwürdigen Formen des Gemeinjchaftslebeng 
zu berufen, welche wir bei den „von Natur gejellichaftlichen” 3) 
Tieren, wie 3. B. bei den Bienen finden. Der Bienenftaat mit 
feiner ftrengen Unterordnung der Individuen unter die Zwecke der 
Geſamtheit, mit jeinen jozialen Einrichtungen von mehr oder minder 
ſozialiſtiſchem und fommuniftiihem Gepräge:) erſchien auf dieſem 

) 2eg. IV, 73la: Tav yao di) noAswv, ov Eung009E Tas Evvorxmocıs 
dinAHouerv, Er E0TEE« Tovrwv naunokv AEyerai Tis dEyN TE xal oixmoLS 
ysyovevav Eni Koövov uad’ evdaluwv, 75 ulumue &yovod Eotıw NLıs Tov 
vov GpLOTa olxeitat. 

2) Ebd. 

®) Cic. de off. I, 2. 

4) Dab diejelben von den Alten genau beobachtet waren, zeigt Virgils 
Georg. IV, 153: 

Solae communes gnatos, consortia tecta 

Urbis habent magnisque agitant sub legibus aevum, 


i. 7. Der Sozialftaat der Legende und das fozialiftiiche Naturrecht. 133 


Standpunkt — als eine gottgewollte Naturordnung!) — zugleich als 
Vorbild für den Menjchen jelbit. Wenn der Menſch das, was 
hier der Inſtinkt des Tieres unter dem unmittelbaren Antrieb der 
„göttlichen Natur“ ſchuf, in feinem vernunftgemäßen Handeln nach- 
bildete und zur Bollendung brachte, folgte ev da nicht dem Gebote 
der großen Zehrmeifterin ſelbſt? Je beſſer daher Staat und Gejell- 
ihaft georonet find, um jo mehr werden fie nach diefer Anſchauung 
in ihren Einrichtungen jenen Gebilden einer unverfälichten Natur 
gleichen,2) die den Romantiker wie ein leibhaftiger Überreft aus 
der glücdlichen Urzeit jelbjt anmuteten. ine Auffaffung, mit der 
wohl auch die Anficht zufammenhängen wird, daß die Bienen und 
ver Bienenftaat ihre Entjtehung dem Zeitalter des Kronos zu ver- 
danken hätten.) 

So dürfen wir uns nicht wundern, daß man jelbit die ftrengfte 
und einfeitigfte, eben an den Tierjtaat erinnernde Form, welche 
das Gemeinjchaftsprinzip im ſtoiſchen Gejellichaftsideal annahm, 
ein herdenartiges Gemeinjchaftsleben, in Sparta verwirklicht fand. 
Nach Plutarchs Lykurgbiographie waren die Spartaner mit ihrem 
Gemeinwejen verwachlen, wie die Bienen mit ihrem Stod (worreg 
uekırraı To zomm ovugveis).t) Sie werden geradezu al3 ein 
„vernunftbegabter Bienenſchwarm von Bürgern” (Aoyızov zei 
zrokırızov ounvos) bezeichnet.>) 


1) Zeus jelbit joll den Bienen ihre Natur gegeben haben. Birgil 
(ebd. 149), der auch hier jelbftverftändlich nur ältere Borftellungen wiedergibt. 

?) Wir finden noch einen Niederichlag diefer Anſchauungsweiſe aller— 
dings in etwas anderer Faſſung in der jpäteren Litteratur 3. B. bei Didymus: 
Geop. XIV, 3: zei ») nodıreia Tovtov tod Iwov 90080128 Tais udhiore 
evvouovusvaıs Tov nölewrv. 

3) „Saturni temporibus* wie es in Golumellas (R. r. IX, 2) Zitat 
aus Nikander, einem griechiichen Autor des 2. Jahrh. dv. Ehr., heißt. 

4) c. 25. Dgl. dazu die oben ©. 116 erwähnte Forderung Zenos: 
eis dE Blos 7 zei x00u0s WOorEE Ay£hns ovrvvöuov vouw KoırW) ovr- 
Toepouerns. 

5) Plutarch a. a. D. Im Sinne diefer Auffafjung jagt übrigens ſchon 
Plato (leg. II 666) von den Spartanern: olov aIo00VS nwAovs Ev dyeiy 


134 Erites Buch. Hellas. 


Nicht minder nahe lag es bei der angedeuteten Ideenver— 
bindung Sparta und die Naturvölfer unter einem Gefichtspunft zu 
betrachten. Wird doch ſchon bei Äſchylus das Land der Sfythen, 
der typiichen Nepräjentanten des Naturzuftandes, und gemeinjam 
mit ihm Sparta als „Wohnfiß der Gerechtigkeit“ gepriefen!?) 
Und es liegt gewiß nur an der Lücenhaftigfeit unferer Über- 
lieferung, daß wir dieſe Parallele nicht weiter verfolgen können. 

Ichien nicht in dieſem „Wohnſitz der Gerechtigkeit” Die 
jelige Urzeit eines unverfälichten Naturdaſeins ſelbſt wiederaufzu— 
leben? In der That, wie den Schilderungen eines goldenen Zeit: 
alters in der attiſchen Komödie und den platonifchen Staatsidealen 
eine Neihe von Zügen des ſpartaniſchen Staats: und Bolfslebens 
als Vorbild gedient hat,2) jo hat ganz unverkennbar die gejchichts- 
philoſophiſche Spekulation umgekehrt die theoretischen Anſchauungen 
über den Naturzuftand und eine naturgemäße Geſellſchaftsordnung 
ohne weiteres auf Sparta übertragen. In der Lyfurgbiographie 
Plutarchs werden 3. B. die eigentümlichen Ehegebräuche Spartas 
ausdrüclich als „naturgemäße” roa«rrousve pvoızos) hingeftellt.?) 
Ganz im Sinne des unfchuldigen Naturzuftandes, in dem es fein 
Hlutvergießen und fein Töten der Tiere gab und der Menſch fich 
mit einfacher vegetabiliicher Nahrung begnügte, wird bier ferner 


veuousvovs pooßddas tous veovs xExrn09e. Dal. die Parallelen mit dem 
Bienenftaat Rep. VII, 520b und 564e 
!) Eumeniden 703 ff. heißt es vom Areopag: 
toivds toi taoßovvres Evdixws Eßas 
Egvud TE YWous zei NOAEWS CWTMELOV 
&yoıt’ @v olov ovrıs avdeWnwv Eyeu 
ovr’ Ev 3xvFaıoıy ovre llEAornos Ev Tonorc. 
2) Bgl. Bergt: Comment. de reliquiis comoediae Atticae antiquae 
p. 197 ff. mit Bezug auf die Komödie des Kratinus vom „Reichtum“. 
3) Zugleich aber auch ala wahrhaft „politiiche” ro«rroueva noAırıza s. 
e. 15. Natürlich wird dabei die Bedeutung diefer Gebräuche weit überjchäßt. 
wenn es im Hinblick auf fie von dem Geſetzgeber heißt: ovx Ex Wr ruyor- 
zwv, aAN Ex TOv aolorwv EBovAsro yEyovoras Eva Tovg a — ie 


im Staate Platos! 


I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das ſozialiſtiſche Naturrecht. 135 


der Lebensordnung des lykurgiſchen Staates die Abjicht einer mög- 
lichſten Beſchränkung, wenn nicht völligen Befeitigung der Fleiſch— 
nahrung zugejchrieben. ES fommt in diefer Auffaffung die an fich 
ja ſehr berechtigte Anfiht zum Ausdruck, daß die joziale tot der 
Zeit und die VBerichärfung der fozialen Gegenſätze zum Teil wenig: 
ftens in einer falichen Lebensweife und deren Folgen: der Genuß: 
jucht, der fortwährenden Steigerung des Bedürfniſſe und der enge 
damit zufammenhängenden allgemeinen Unzufriedenheit wurzle, daß 
die Rückkehr zu einfacheren, natürlicheren und gejunderen Lebens— 
verhältniffen eine Hauptbedingung aller jozialen Reform jet. Und 
wie man von diejer richtigen Einficht aus alsbald zur einfeitigen 
Berherrlihung einer rein vegetarifchen Lebensweiſe fortſchritt,) Fo 
jah man auch diejes deal in dem Staate, der ja tbatjächlich auf 
eine natürliche und gefunde Lebensweife feiner Bürger am folge: 
tichtigften hingearbeitet hatte, mehr oder minder verwirklicht. 

Bei der Berechnung der Abgabe von Getreide und Früchten, 
welche die Spartaner von den Helotenhufen bezogen, ſoll nämlich 
der Geſetzgeber von der Anficht ausgegangen jein, dab fie außer 
diefen Erzeugniffen des Bodens für die Erhaltung des Wohlbefindens 
und der Gefundheit feiner Nahrung weiter bedürften.?) Mit gutem 
Grunde hat daher auch das Evangelium des DVegetarianismus, die 
Schrift des Porphyrius von der Enthaltfamfeit mit der aus Dikäarch 
entnommenen Schilderung des Naturzuftandes eine Verherrlihung 
Sparta3 als desjenigen Staatsweiens verbunden, in welchem fich 
die idealen Urzuftände von Hellas verhältnismäßig am veinjten 

i) Bol. ſchon Plato Rep. II, 372b ff. Auch hier berührt ſich übri- 
gens Altertum und Neuzeit in ihren Ideen unmittelbar. Vgl. 5. B. Die 
Schrift des Vegetarianers Heller: Elend und Zufriedenheit. Uber die Ur— 
ſachen und die Abhilfe der twirtjchaftlichen Not. 

2) Lyk. ec. 8. Aoxlocıw Yao Wero ToGoVTov @vrois TNS Toogns 
1005 gVellav zei vyısiav ixavns ahhov de undevös demoouevovs. 
Nach ec. 12 enthalten fich wenigftens die Alteren der Fleiſchnahrung voll- 
ftändig: Tu de vor evdoziusı udhore neg’ avrois 6 uehas Swuos, 
wore undE xosadiov deiodaı rois nIQEOBVTEDOVS, alla TaoeywoeEiv 
Tois veavioxos, errors dE Tod Lwuov xarayeouevovs Eotiaodlt, 


156 Erſtes Buch. Hellas. 


erhalten hätten.) ine Beobachtung, die der Neuplatonifer natür- 
lich nicht als der Erſte gemacht, jondern wohl ſchon bei feinem 
Gewährsmann Dikäarch gefunden hat, deſſen — in Sparta begeiftert 
aufgenommene — Lobjchrift auf den jpartanischen Staat gewiß 
von demfelben Gedanken beherrieht war. Ja ich zweifle nicht, daß 
Dikäarch feinerfeitS damit nur einer Anſchauung Ausdrud gab, 
die ihm in der vorhandenen Litteratur über die ältefte griechiſche 
Geſchichte ebenjo fertig entgegentrat, wie die Lehre von der Ent: 
wiclung der helleniſchen Menjchheit aus dem Naturzuftand jelbft. 

Übrigens waren in Sparta ja auch die realen Vorausfeßungen 
für eine Verwirklichung diejes Gejellfehaftsiveales in ganz hervor— 
ragender Weife gegeben. Diejelbe Freiheit von der Mühjal und 
Sorge der Arbeit, welche nad) der Lehre vom Naturzuftand Die 
ältefte Menfchheit ihrer Bedürfnisloſigkeit und ihrer Befchränfung 
auf die freiwillig dargebotenen Gaben der Natur verdanfte, gewährte 
den Spartiaten die Drganifation der Gejellichaft, welche dem Voll— 
bürger alle Exwerbsarbeit abnahm und dieſelbe auf die Schultern 
einer abhängigen außerhalb der Gemeinschaft Ttehendeu Bevölkerung 
abwälzte.2) Ein großer Teil der wirticehaftlichen Schwierigkeiten, 
die ſich der Nealifierung gejellfehaftlicher Idealgebilde entgegen: 
zuftellen pflegen, kam bier von vorneherein in Wegfall.) Kein 


DEV zoo: 

2) Vgl. Staat der Laced. c. 7. Evarria yE umv xai tdde Tois 
adhkoıs EAAmoı zareornoev 6 Avxovoyos &v rn Incorn vouue. Ev usv 
yco dymov tais ahkaıs noAeoı navtes yonuarilovrau 000v dvverıai, 6 
usv ydo yEwoyei 6 de vovximgei ö de Eunogsvera, oi dE zwi and Tey- 
vov to&povraı, Ev de ın Lrndorn ö Avzovgyos Tois uev ElevdEgois TOV 
dupi yonuarıouov aneine undevös ünteode, 00« Ö’ Elevdegiav Tais 
noAs0ı negaoxevaleı, taüra Erafe uöva Eoya avrov vouitew. 

3) Schon Aristoteles hebt in feiner Kritik des platonischen Kommunis— 
mus mit Necht hervor, daß demjelben viel weniger Schwierigkeiten da im 
Wege ftehen, wo die Beſitzer nicht zugleich Bebauer des Bodens find. Pol. 
II, 1, 2. 1263a: Ereowv uv orv Orıwv TWv ysopyovvrwv @kkos av Ein 
Toonos zul Ödwv Sc. xoımv noisiv mv Yooav, avrwv d’ Eavrois die- 
novodvrwy Ta neol Tas zımocıs nAeiovg dv napeyoı dvoxoklas' zu. 


I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das jozialiftiiche Naturreht. 137 


Wunder, daß die hiftoriiche Spekulation das Ideal, welches ſich 
auf dieſem günftigen Boden in der Phantaſie aufbauen ließ, auch 
fait bis in die legten wirtjchaftlichen Konjequenzen ausgebildet hat. 

Eine völlig getreue Reproduktion des Naturzuftandes konnte 
man ja allerdings jelbjt in der Eigentumsordnung diejes Miufter- 
volfes nicht erbliden. Während dort der Boden und jeine Früchte 
allen gemein gewejen, wie Luft und Sonnenlicht, war bier auf 
Grundlage eines fejt geregelten Agrarſyſtems der Boden unter die 
Einzelnen verteilt und ſelbſt dem von der Gemeinjchaft ausge 
ſchloſſenen Bebauer des Aders durch die glebae adseriptio ein 
individuelles Anrecht auf denjelben eingeräumt. Aber joweit einem 
ungeſchulten volfswirtichaftlihen Denken und einer ungezügelten 
Phantafie innerhalb dieſer Schranken eine Annäherung an den 
Kommunismus der Urzeit erreichbar jchien, jo weit ift die im 
Zauberring der Nomantif gefangene Hijtorie des ſpätern Griechen: 
tums in ihrer Spealifierung der jpartaniichen Agrarverfaſſung that- 
Jählih gegangen. Für ihre Anfchauungsweife war ja eine freie 
Entfaltung der fittlichen Ideen im Volks- und Staatsleben nur 
verbürgt bei möglichiter Gleichheit der Lebenslage aller Bürger. Wie 
hätte jie ſich alfo eine Gejellichaftsordnung, in der fie den böchiten 
Triumph der Sittlichfeit über die materiellen Intereſſen erblicte, 
ohne die weitgehendfte Gleichheit der wirtichaftlichen Güter denken 
fönnen! Und wo hätte der Doftrinarismus diefer Zeit fich bedacht, 
die logiſchen Folgerungen, die er aus dem Wejen einer jolchen 
Gejellfehaftsordnung in Beziehung auf ihre notwendigen Lebens— 
äußerungen 309, jofort in angeblich geichichtliche Thatſachen um— 
zujfegen?!) Sp erjcheint denn für dieſe Auffaffung die Teilung 


ı) Wie aukerordentlich Leicht Fich die Legendenbildung auf dieſem Ge- 
biete vollzog, dafür bietet ein draftisches Beiſpiel auch die bei Juſtin (III, 2) 
erhaltene Angabe, dab das Iyfurgiiche Sparta von der Geldtwirtjchaft zum 
reinen Naturaltaufch zurücgefehrt jei. (Lyceurgus) emi singula non 
pecunia sed compensatione mercium jussit. Auri argentique usum 
velut omnium scelerum materiam sustulit. Der Urheber diejer Anficht ging 
offenbar don dem Gedanken aus, daß ein Staat, in welchem der Erwerbs: 


138 Erſtes Buch. Hellas. 


des Spartanifchen Grund und Bodens ganz jelbitverjtändlich wie 
eine „Teilung unter Brüdern”; und wenn in der Urzeit, — um 
mit Suftin (d. h. wahrjcheinlich mit Ephorus) zu reden — eine 
Gemeinschaft des Belites bejtanden hatte, al3 ob „Alle insgejamt 
nur Ein Erbe hätten“,') jo konnten die Bürger des jpartanischen 
Mufterftaates wenigftens ſoviel von fi) rühmen, daß es auch unter 
ihnen feine Enterbten gab, daß jeder von ihnen den gleichen Anteil 
am „Bürgerland“ als fein angeborenes Necht beanjpruchen durfte. 

Wie dieje prinzipielle Gleichheit des Grundbeſitzes im einzelnen 
durchgeführt war, ob es überhaupt möglich war, diejelbe bei der 
wechjelnden Bürgerzahl aufrechtzuerhalten, ohne gleichzeitig die Zahl 
und Größe der Landhufen immer wieder von neuem zu Ändern, 
darüber hat man fich natürlich wenig Gedanken gemacht. Man 
ftellte fich die Sache jehr leicht und einfach vor. Wie im Otaate 
der alten Beruaner jeder Familienvater bei der Geburt eines Kindes 
ein neues Stüd Land zugewieſen exhielt,2) ebenjo joll in Sparta 
jedem neugebornen Knaben, deſſen Aufziehung bei der Vorftellung 
in der Gemeindehalle (LXesche) von den Stammesälteften gebilligt 
war, eine Landhufe zuerkannt worden fein.?) Wodurch die Älteſten 








trieb mit all jeinen unfittlichen Konfequenzen radikal ausgerottet fein jollte, 
ein der Anfammlung fähiges Taufchmittel, irgend ein „Geld“ überhaupt nicht 
zugelafjen haben kann. Dieje logiſch forrefte Schlußfolgerung genügte, da— 
raus eine geichichtliche Thatſache zu formulieren und fie al3 jolche weiter zu 
überliefern. — In diejelbe Kategorie gehört die Notiz bei Suftin III, 8 
(Lyeurgus) virgines sine dote nubere jussit; ganz jo wie Plato in feinem 
Gejegesftaat! ©. unten Kap. III. Auch diefe Anficht hat ſich Plutarch an— 
geeignet. Apophthegm. Lac. p. 149 Lye. 15. 

') XLIII, 1: veluti unum cunctis patrimonium esset! cf. Plutarch: 
Lykurg 8: 7 Aazwrırn gaiveraı naoa nolAov adeApav Eivaı vewoti vers- 
unusvorv, 

?) Dal. Steffen: Die Landwirtſchaft bei den altamerifanijchen Kultur: 
völfern. ©. 76 f. 

3) Lykurg e. 16: TO dE yerındEv 00x mv zUglos Ö yErıjoas toEgpeır, 
EAN Epege hußov eis Tonov rıva Akoyyv xahovusvov Ev ® zasImjusvor Tav 
pvAsrav oi noEOBUTaTOL Katauadovres TO naıdagıov, El uev Eunayes Em 


I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 139 


in die Lage verjeßt wurden, jedem Anſpruch diefer Art zu genügen, 
wird uns nicht gejagt; wohl aber wijjen wir, daß die Angabe in 
Ichroffem Widerfpruche jteht mit allem, was jonjt über das jpar- 
tanifche Güterrecht überliefert ift. Denn es leuchtet ein, daß, wenn 
der Staat jeden neugeborenen Bürger mit einem #4r,00c ausstatten 
wollte, der ganze Grund und Boden jederzeit der Geſamtheit zur 
Verfügung jtehen mußte, ein dauerndes Beſitzrecht des Einzelnen 
insbeſondere jedes Erbfolgereht von vorneherein ausgeichloffen 
war,!) während doch derjelbe Plutarch, der die genannte Legende 
unbedenklich wiedergibt, an anderer Stelle zugeitehen muß, daß in 
Sparta jeit uralter Zeit die Landloje regelmäßig auf dem Wege 
der Vererbung vom Vater auf den Sohn übergingen.?) Ebenſo 
hätte es für eine nüchterne und unbefangene Betrachtung der Ver: 
gangenheit klar jein müſſen, daß die Legende unvereinbar it mit 
der thatjächlichen Entwiclung der Jozialen Verhältniſſe Spartas, 
mit der hier bis ins fiebente Jahrhundert zurüczuverfolgenden wirt- 
Ichaftlichen Ungleichheit unter den Bürgern. 

Zu jolch kritifchen Erwägungen war aber freilich die Gejchicht- 
ſchreibung, auf die wir in diejen Fragen angewiejen find, nicht im 
Stande, am wenigjten diejenige, bei welcher uns die Legende von 
der prinzipiellen Gleichheit des ſpartaniſchen Grundbefites mit am 
früheften entgegentritt, das Gejchichtswerf des Ephorus. Die all- 


zei ÖwuckEov, ro&peıv Ex£levov, xAMDO0v avro tov Evazıoyıklov 
ng00vELU«VTES. 

!) Daher begegnen wir im Inkareich neben der genannten Sitte gleich 
zeitig der ftrengften Feldgemeinjchaft. Die Felder gehörten Hier dem ganzen 
Dorf und fielen ſtets wieder an die Gemeinde zurücd, ſie fonnten weder ver— 
äußert noch vererbt werden. Alljährlich wurden fie von neuem verteilt, wo— 
bei der Einzelne bald mehr, bald weniger erhielt, je nachdem die Kopfzahl 
jeiner Familie ab- oder zugenommen hatte. Vgl. Steffen a. a. D. ©. 77. 

2) Agis e. 5. Die Berfuche, die Angabe Plutarchs jo umzudeuten, 
daß der Widerſpruch mit den Thatſachen wegfällt, z.B. die Erklärung Schö— 
manns Griech. Alt. I? 271 (cf. Hermann Ant. Lac. p. 188 ff. 194), thun 
nicht nur dem klaren Wortlaut Gewalt an, jondern verfennen auch den Zu: 
fammenhang der Borftellungen, aus dem fie allein verjtanden werden kann. 


140 Erſtes Buch. Hellas. 


gemeine Auffaffung des Ipartanischen Staates bei Ephorus, ſowie 
jeine Schilderung des ſkythiſchen Naturvolfes ift Beweijes genug 
dafür, was die Rhetorik der tjofrateischen Schule in der Spealifierung 
gejchichtlicher Zuftände zu leiften vermochte. Der Schüler erjcheint 
bier von denſelben phantafievollen Glücjeligkeitvorftellungen, von 
denfelben Slufionen über eine verlorene beſſere Vergangenheit er- 
füllt, wie fie in den Schriften feines Lehrers zum Ausdruck fommen. 
Man vergegenwärtige ſich nur die Art und Weiſe, wie So: 
frates die „aute alte Zeit“ der atheniichen Demokratie jchildert! 
Diejes Altathen des Sokrates hat den Weg zum jozialen 
Frieden gewirflich gefunden. Der Wettjtreit der Parteien, der nicht 
fehlte, war hier nicht ein Kampf um die Macht oder die Ausbeu- 
tung der Herrjchaft, jondern ein edler Wetteifer, fich gegenfeitig mit 
Dienftleiftungen für das gemeine Beſte zuvorzufommen. Wo der 
Trieb zu genoſſenſchaftlichem Zuſammenſchluß die Bildung von 
kleineren Berbänden und Vereinigungen veranlaßte, galt es noch 
nicht der einjeitigen Förderung von Sonderinterefjen, vielmehr fühlte 
fi) jeder Einzelverband nur al3 Drgan im Dienfte des Volks— 
interefjes.!) Ein Geift wechjelfeitigen Wohlwollens verband alle 
Klaffen der Bevölferung.?) Der Arme fannte noch feinen Neid 
gegen den Beligenden und Neichen. Im Gegenteil! Die unteren 
Klaſſen jahen in dem Wohlitand der höheren eine Bürgſchaft für 
ihr eigenes Gedeihen und waren daher ebenjo eifrig bemüht, vie 
Intereſſen derjelben zu fördern, wie die eigenen.3) Die Befigenden 
hinwiederum waren joweit entfernt, auf die Armen herabzufehen, 
daß fie in der Armut vielmehr einen öffentlichen Mißſtand er— 





!) Paneg. 79: ovrw de rolırızas &iyov, WOTE zei Tas oTdoeıs Enor- 
oVvro Troös dAAmAovs ouy ÖnoTegoı Tods Erepovs anolkoavres tov koınWr 
dofovov, AA onoTegoı pInoovra mv nöhw dya9ov Ti Momoavres’ zul 
Tas Eraipeias ovynyov ovy ünto twv idie ovugpsoorrwv, dAA Eni cn Too 
nndovs wopeleie. 

) Areop. 31: 0v yao uovov nregi TWv xoırov Wuovoovv, aAld zei 
regi rov idıov Blov Tooavınv Enowovrro noovoıwv dAlmawv, 00nv TeQ Kon 
ToVs EU PoovVoÖrraS zai nrargidos zoLwWwvoVÖvres. 


) ib. 32. 


— ae 


I. 7. Der Sozialftaat der Legende und das joztaliftiiche Naturrecht. 141 


blieften, der den Beſitzenden jelbit zum Vorwurf gereiche.!) Sie 
waren daher allezeit bereit, zur Befämpfung der Not die Hand zu 
bieten, fei es, daß fie Grundftüde gegen billige Pacht an Dürftige 
überließen oder denjelben durch Geldvorſchüſſe die Mittel zum Be- 
triebe eines Gewerbes gewährten. Sie hatten ja auch nicht zu 
fürchten, daß ihnen die ausgeliehenen Kapitalien verloren gehen 
würden. Denn damals war das ausgeliehene Geld ebenjo ficher, 
wie daheim im Schranke. — Hier lag in Wirklichkeit die Sache 
jo, daß die Fürforge für andere fich zugleich dem eigenen Wohle 
förderlich erwies.?) ES verband fich mit der Sicherheit des Eigen- 
tums ein Gebrauch desjelben, der dasjelbe gewiljermaßen zum Ge— 
meingut aller Bürger machte, die einer Unterftüßung bedurften, 3) 
jo daß es damals niemand gab, der jo arm gewejen wäre, um 
ven Staat durch Betteln beſchämen zu müfjen.t) Syn der richtigen 
Einficht, daß die Not auch die Urſache der fittlichen Mißſtände ift, 
hoffte man durch die Befeitigung diefer „Wurzel der Übel“ auch 
der leßteren Herr zu werden.?) 

In der That ein Zuftand, dem zur Verwirklichung des „beiten 
Staates” kaum mehr viel fehlt,6) und der jelbjt die Hoffnungen 


!) ib. ... vnoluußdvovres aioyvvnv aitois eivaı Tv TWv nohkt- 
Tov anogiev Enmuvvov tais Evdeiaıs. 

2) ib. 35: due yco tous te nolites wgekovv zul Ta opereo’ av- 
Tov Evsoya zaseotaoerv, 

3) ib. xepdhaıov dE Tod zaAos aAAmAoıs Öuikeiv . ei utv yao xri- 
es dopekeis n0av, oloısg zarte To dixaiov Ünoyorv, ai dE yonosıs xol- 
vi naoı tols deousvoıs tov nolrwrv. 

4) ib. 83: 76 de ueyıorov‘ Tore uEv ovdeis jv tWv noAırav Evdens 
Tov dvayzaliwv, oVdE TO00GLTWV ToÜs Evrvyyavovras nv noAıv Karjoyvve, 
viv de nAslovs Eioiv ol onavilovres TOv Eyovrwv. 

5) ib. 44: tous uev yao Unodeeote0ov E«TTOVTaS Eni Tag yEWoYias 
zei Eunoplas Ergenov, Eilores Tas anopias usv die Tas doyias yıyvoueves, 
Tas dE zuzovpyias die Tas drropias' Evamgoüvres ovr nv coynv Tov 
zaxov anahhd£eıv Dovro zai Tov dAhwv ducETNUcTwv Tov uer’ Exeivnv 
yıyvousvorv. 

6) Für Sokrates ift hier der „beſte Staat” bereits verwirklicht. Er 


142 Grftes Buch. Hellas. 


derjenigen rechtfertigen fünnte, die an die Möglichkeit einer radi— 
falen fittlichen Umwandlung des Menfchengejchlechtes glauben und 
davon eine völlige Neugeftaltung der Gefellichaft erwarten. Denn 
wenn die Möglichkeit erwieſen ift, die befißenden Klaſſen jo weit 
zu bringen, daß fie die Armut des Nächiten als perjönlichen Makel 
betrachten, warum ſollte da nicht noch eine weitere Stufe der Ent: 
widlung denkbar jein, wo man es jchon als eine Ungerechtigkeit 
empfinden wird, überhaupt reich zu jein, während andere darben, 
wo jedermann freiwillig auf feinen Überfluß verzichten und alles 
an andere abtreten wird, was in deren Händen mehr nützen kann, 
al3 in feinen eigenen? 

Sedenfalls beſteht eine unmittelbare Kontinuität zwiſchen dem 
Ideenkreiſe, aus dem vdiejes Idealbild Altathens bei Iſokrates er- 
wuchs, und den idealifierenden Anfchauungen über den jozialen 
Mufterftaat Sparta, wie fie in dem Gejchichtswerk feines Schülers 
Ephorus zum Ausdruck kamen. Die Grundlage bilden bier wie 
dort diefelben fozialpolitiichen Konftruftionen, nicht die ächte Über: 
lieferung. | 

Wie jehr dieſe ganze Gefchichtichreibung unter dem Einfluß 
der Theorie ftand, zeigt recht deutlich die Art und Weiſe, wie ie 
die Lehre vom Naturzuftand in die Gejchichte einführte. Wie un- 
endlich leicht hat fie es ſich doch gemacht, den Kernpunkt diejer 
Lehre, die Vorſtellung von dem idylliſchen Frieden primitiver Volks— 
zuftände als gejchichtlich zu erweifen! Nach dem Zeugnis Dikäarchs 
bat fich die Lehre vom Naturzuftande äußerlich in der Weije ent- 
widelt, daß man von den Mythen über das goldene Zeitalter das 
„allzu Fabelhafte” abjtreifte und mit Hilfe derjenigen Elemente der 
mythiſchen Erzählung, welche jich vernünftiger Weife als gejchicht- 
(ih möglich denken ließen, eine neue Urgeſchichte der Menjchheit 
konſtruierte.) Wer wollte andererjeitS bezweifeln, daß unter den 


fragt allen Ernſtes: zairor nos dv yEvoıro Tevrns nAelovog a&ia mohıreig, 
Ts ovIw xaAos andvrwv Tov no«yuctov Enuusindeions; 

5) A. aD. A den xai Eimyoluevos 6 Aızalapyos töv Eni Koovov 
Bio» Towovror eivai pnow ei dei haußaveıv uEv auröv Ws yeyovora zei u) 


I. 7. Der Soztalftaat der Legende und das jozialiftiiche Naturrecht. 143 


Autoren, auf welche ſich Dikäarch bei diejer Gelegenheit beruft, in 
erfter Linie eben Ephorus jtand, deſſen gejchichtliche Methode ſich 
ja durch diejelbe flache Nationalifierung des Mythiſchen, durch die— 
jelbe Berquidung von Fabel und Gejchichte auszeichnet („ovyxeir 
Tov TE ng ioTogias zei Tov Tov uvdov vurov!“)!) 

Doch wozu bedarf es noch eines Hinweijes auf die Schwächen 
dieſer Gejchichtichreibung? Wer die ganze Frage vom univerjal- 
hiſtoriſchen Standtpunft aus betrachtet, der weiß, daß wir es hier 
mit einer jener Erjcheinungen des menjchlichen Geifteslebens zu 
thun haben, die ſich — unabhängig von der erreichten Höhe der 
geſchichtlichen Kritik — als das logijche Ergebnis gewiſſer begriff: 
bildender Seelenvorgänge von ſelbſt einzuftellen pflegen. In allen 
bewegteren Zeiten, in denen die beftehenden fozialen und politischen 
Drdnungen berechtigten Bedürfniffen und Wünfchen nicht mehr ent- 
ſprechen und zu zerbrödeln beginnen, begegnet uns auch dieſes 
Hinausftreben aus dert Zerjegungsprozeß des gegenwärtigen Lebens 
in die Welt der Jdeale. In folchen Übergangsepochen ift es felbft 
für die ftrenge Forſchung überaus ſchwierig, ſich Durch perfönliche 
Wünſche und Hoffnungen nicht den Blick für jene ſchmale Linie 
trüben zu laffen, welche die wirkliche Welt von der begehrten fcheidet, 
ih das reale Bild des wirtjchaftlichen Lebens und feiner Kaufal- 
zujammenhänge nicht durch Idealbilder durchkreuzen zu laſſen. Da— 
her ift — von dem römiſchen Altertum ganz zu ſchweigen?) — 
auch die hiftorifche Spekulation des neunzehnten Jahrhunderts aus 
ähnlichen Motiven zu völlig analogen Anſchauungen über die Ver- 
gangenbeit gelangt, wie die des vierten v. Chr. Wir begegnen in 
udenv Eerunepnuuevov 10 dE Alav uvdızov aperras — Eis To die 
Tod Aoyov pvorxov avayeır. 

1) Strabo IX, 3, 12. p. 423. cf. X, 4, 8. p. 476. 

2) Es bedarf ja faum eines Hinweiſes auf die römiſche „Baſtard— 
Hiftorie” des 4. Jahrhunderts d. St., die im wejentlichen auch nur ein „quaſi— 
hiſtoriſcher Abklatſch“ der agrarpolitifchen und ſozialrevolutionären Bewegungen 
der grackhifch-Tullanifchen Zeit ift. Mommfen: Sp. Caſſius, M. Manlius, 
Sp. Mälius, die drei Demagogen der älteren republifanifchen Zeit. Röm. 
Forſch. 11 153 ff. bei. ©. 198 f. 


144 Erſtes Buch. Hellas. 


unferem von fozialveformatorischem Geift durchdrungenen Zeitalter 
auf fozialpolitiichem Gebiete gejchichtlichen Konftruftionen, deren 
quellenmäßige Unterlage faum weniger problematijch ift, als bie 
Anficht der Alten über die prinzipielle Gütergleichheit Spartas. Ich 
erinnere nur an die Nolle, welche die ojtjlavische Dorfgemeinschaft 
(dev ruſſiſche Mir) in der modernen Agrargefchichte geipielt hat. 
Diefer Slaviiche Gemeindefommunismus verwirklicht die genannte 
Gütergleichheit durch einen periodiihen yjs avadaouos nad) der 
Kopfzahl in radifaliter Weife, während die altgermanijche Feld- 
gemeinjchaft — in den Zeiten der Seßhaftigfeit wenigſtens — feine 
Spur von einem ſolchen Syſtem erkennen läßt.!) Trotzdem hat 
man vielfach, wie 3. B. Laveleye, die germanische Dorfverfaflung 
al3 das vollfommene Abbild der oftjlaviichen, die germanijche Ge— 
meinde als ein vollfommen „kommuniſtiſch organifiertes” Gemein- 
wejen?) hinftellen können! Die modernen Verfündiger des fozia- 
liftiichen Evangeliums der „Bovenverftaatlichung” („nationalisation 
of land“), der „Rückgabe des Landes an das Volk“ reden in der— 
felben Weife von der „Rückkehr zum alten Necht des Gemein- 
befißes am Boden”, wie die Spzialvevolutionäre der Zeiten des 
Agis und der Kleomenes von der Rückkehr zu der wirtichaftlichen 
tooTns xal xowworia des lykurgiſchen Sparta.3) Und jelbjt ein 
Lorenz v. Stein wagt die Behauptung, daß bei den drei großen 
Kulturvölfern Europas, Hellenen, Stalitern, Germanen, die Gemein- 
ſchaft alles Grundbefiges die Grundlage des gefamten Nechtslebens 
gewejen jei. Infolge einer ähnlichen Speenverbindung, wie wir 
fie bei Ephorus, Polybius, Plutarch fanden, ericheint ihm die prin- 
zipielle „Oleichheit des Anteil3 an dem gemeinfamen Gut” als die 





1) Bagl. oben ©. 12. 

2) So auch Kleinwächter: Zur Frage der ftändischen Gliederung der 
Geſellſchaft. Zeitichr. f. d. Staatswiſſenſch. 1888. ©. 318. 

3) Bal. z.B. die Monatzjchrift zur Förderung einer friedlichen Sozial: 
reform. „Deutſch-Land“ Bd. IT, no 1 ©. 20. Engels: Die Entwicklung des 
Sozialismus von der Utopie zur Wifjenjchaft ©. 51 in dem Anhang über 
„die Mark”. 


I. 7. Der Sozialſtaat der Legende und das ſozialiſtiſche Naturrecht. 145 


notwendige wirtjchaftliche Verkörperung der „Gleichheit und Frei- 
heit”, welche nah ihm die „Anfänge der Geſchichte Europas“ 
harakterifiert. „Das Lebensprinzip der drei Völker ift die Freiheit 
des waffenfähigen Mannes, die zur Gleichheit des Belißes der Ein- 
zelnen und zur Gemeinjchaft in Beſitz und Leiſtungen aller 
wird, weil fie nur in der Gemeinjamfeit ihres Beliges verwirk— 
licht werden konnte. Erſt die leßtere war es, welche jedem Ein: 
zelnen die Kraft und das ftolze Bewußtfein des Ganzen gab.“ !) 
Man fteht: die Idee einer glüclichen, leider zerftörten Gejellichafts- 
verfallung der Vorzeit, die Idealvorſtellung einer Art präjtabilier- 
ten Harmonie der Kräfte, um es kurz zu jagen, eines „goldenen 
Zeitalters” 2) tritt hier mit demjelben Anſpruch auf, geichichtliche 
Thatfachen zu reproduzieren, wie die analogen jozialgejchichtlichen 
Konftruftionen der Alten.?) 

Das Ungefchichtlihe und Übertriebene in dem angedeuteten 
Idealgemälde ift in Beziehung auf das germaniſche Altertum neuer: 
dings zur Genüge Elargelegt worden.) Was die hellenijche Welt 
betrifft, jo wird nach dem Geſagten eines weiteren Beweijes nur 
noch derjenige bedürfen, der mit Viollet,5) Laveleye,s) v. Stein”) 


') Die drei Fragen des Grundbefiges und jeine Zukunft ©. 29 u. 37 f. 

2) Der Ausdrud wird direkt gebraucht um die Zuftände des altgerma- 
nijchen Staates zu charakterifieren, bei Lamprecht: Rheiniſche Studien 103 ff. 

>) Wie weit die Analogie zwijchen antiken und modernen Cinfeitig- 
feiten auf diefem Gebiete geht, dafür iſt auch dev Vorwurf bezeichnend, den 
C. Delbrüf (Die indogermanijchen Berwandtjchaftsnamen ©. 215) Lamprechts 
Studien zur Sozialgefchichte der deutſchen Urzeit macht, daß „Diejenigen 
Schablonen, welche innerhalb des Rahmens der Waturvölfer erarbeitet find 
oder zu jein jcheinen, allzu bereitwillig auf andere Völker übertragen werden, 
als ob wir noch in den Zeiten lebten, da die großen Epopden der jpefula- 
tiven Philoſophie die Gemüter gefangen hielten.“ 

) Don Meigen in dem gen. Aufjaß „über die Jndividualwirtichaft 
der Germanen” a.a.D. ©. 717. 

5) Y.a.D. ©. 465 f. 

6, U.a.D. ©. 370. 

) Stein: Die Entwicklung der Staatswiſſenſchaft bei den Griechen. 
Sibgb. der Wien. Akad. (phil. hiſt. KL.) 1879 ©. 255. 


Pöhlmann, Geſch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 10 


146 Erſtes Buch. Hellas. 


u. a. der Anficht ift, daß „vie antiken Dichter im goldenen Zeit: 
alter einen alten Gefittungszuftand jchildern, deſſen Andenken fich 
erhalten hatte!” Wer ſoweit geht und jchließlich mit Laveleye 
jelbjt den befannten Spealftaat des Euhemerus!) al3 eine der wirk: 
lichen Geſchichte angehörige Erſcheinung anerkennt, weil jeine In— 
jtitutionen „die echten Züge der primitiven Agrarverfaffung an ſich 
trügen“, für den find dieſe Ausführungen nicht gejchrieben. 

Wie jehr der Sozialſtaat der Legende ein Gejchöpf des Zeit- 
geiftes ift und nur als jolches vollfommen verständlich wird, könnte 
durch nichts klarer veranfchaulicht werden, als wenn wir uns die 
allgemeinen Zuftände der hellenischen Welt, welche ſich in der be 
jprochenen Litteratur reflektieren, jowie die gewaltige Reaktion ver- 
gegenwärtigen, welche jene Zuftände in dem ganzen politiichen und 
jozialöfonomifchen Denken der edeljten Geifter der Nation hervor: 
gerufen haben. 


Hweites Kapitel. 


Die individnalififce Ierfehung der Geſellſchaft und die Kenktion 
der philoſophiſthen Staats: und Geſellſchafskheorie. 


Erfter Abfchnitt. 
Individualiſtiſche Tendenzen. 

Die jozialen Mißſtände, unter denen das Sparta des vierten 
und dritten Jahrhunderts zu leiden hatte, find typiich für die Ge 
Ihichte Diefer Epoche überhaupt. Faſt überall in Hellas dieſelbe 
Tendenz zur Verſchärfung der wirtjchaftlichen Gegenſätze, infolge 
der zunehmenden Sonzentrierung des Kapitals und des Grundbejißes 
ein unaufhaltiames Zuſammenſchwinden des Mitteljtandes, neben 





') ©. das Kapitel über den Staatsroman im zweiten Band. 
2) Zaveleye a. a. D. : 


IM. 1. Individualiſtiſche Tendenzen. 147 


dem Wachstum der Geldmacht die furchtbare Kebrfeite: der Pau— 
perismus, in allen Schichten des Volkes eine die bejjeren Triebe 
mehr und mehr überwuchernde Begier nach) Gewinn und Genuß, 
rückſichtsloſe Ausbeutung und ausjchweifendfte Spekulation, Ver: 
bitterung und gegenfeitige Entfremdung der verichiedenen Gejell- 
Ihaftsichichten durch Klaſſenneid und Klaſſenhaß. 

Dazu Fam, daß dieje Elemente der fozialen Zerjegung und 
Auflöfung den freieften Spielraum für ihre Bethätigung hatten. 
So wie die Dinge in der republifaniichen Staatenwelt von Hellas 
lagen, fehlte hier eine Organiſation der Staatsgewalt, welche ftarf 
genug gewejen wäre, gegenüber den in der Geſellſchaft vertretenen 
Sonderinterejjen die Idee des Staates als des Vertreters des Ge— 
meininterejjes und der ausgleichenden Gerechtigkeit in genügender 
Weile zur Geltung zu bringen, den Egoismus der Gejelljchaft den 
gemeinfamen Zweden des Staatslebens zu unterwerfen. In dem 
auf dem Prinzip der Volksjouveränität beruhenden Staat, wo in 
Wirklichkeit die Souveränität der Gejellichaft oder vielmehr der je: 
weilig herrſchenden Gejellichaftsklaffe die eigentliche Grundlage der 
Staatsordnung bildet, find ja die jozialen Mächte von vorneherein. 
das ausjchlaggebende Moment auch im öffentlichen Leben. Die 
Bafis der Gejellfehaftsordnung, der Beſitz und feine Verteilung find 
jtetS zugleich maßgebend für die ftaatlihe Drdnung. Die ganze 
Entwiclung des politischen Lebens der helleniſchen Nepublifen hing 
daher im letzten Grunde von der Entjcheivung der Frage ab, welche 
von den verichiedenen jozialen Klafjen, — die Fapitaliftiiche Minder- 
heit, der Mitteljtand, die nichts oder wenig Beligenden, — den 
vorwaltenden Einfluß auf die Staatsgewalt zu erlangen vermochte. 

Solch eine fich ſelbſt überlaffene, durch eine Fraftvolle Reprä— 
jentation des Staatsgedanfens nicht eingeſchränkte Gejellichaft ift 
aber jtetS geneigt, ſich in ihrem jtaatlichen Verhalten durch gefell- 
ſchaftliche Sonderintereſſen bejtimmen zu lafjen, ven Beſitz der 
Staatsgewalt den eigenen Zweden dienjtbar zu machen. Der Kampf 
der egoiſtiſchen Triebe, der in der Gejellichaft als wirtjchaftlicher 
Konkurrenzkampf geführt wird, verpflanzt fi) aus der jozialöfono- 

10* 


148 Erſtes Buch. Hellas. 


mifchen Sphäre auf das ftaatliche Gebiet; und jo jehen wir denn 
auch hier alle Gegenſätze, welche die Geſellſchaft erfüllten, ſtets auch 
im politifchen Leben zum Ausdrud kommen. 

Der Anfpruch der politiichen Parteien auf Beherrſchung der 
Staatsgewalt war in der Negel nichts anderes als der Anſpruch 
auf Durchſetzung ſozialer Intereſſen, das mehr oder minder offen 
anerkannte Ziel des Parteikampfes Fein anderes als die Ausnüßung 
der Staatsgewalt im Sonvderinterefje der einen Geſellſchaftsklaſſe auf 
Koften der anderen. Die Intereſſen des Güterlebens beberrjchten 
vielfach fat mit derſelben elementaren Gewalt, wie die Gejellichaft, 
jo auch den Staat; auch er wurde zum Tummelplaß roher jozialer 
Begierden. 

Wo der Staat in ſolchem Maße den Naturtrieben der Gejell- 
ſchaft preisgegeben war, mußte der öffentliche Geift in der That 
wie von ſelbſt in den Wahn hineingeraten, das politische Recht ſei 
vor allem ein individuelles Necht ohne Berpflichtung gegen das 
Ganze, die politifche Herrſchaft Feine Blichterfüllung für die Ge- 
jamtheit, ſondern ein Mittel zur Befriedigung ſozialer Geltiſte.) 
Denn es it nun einmal tief in den Neigungen der menjchlichen 
Natur begründet, joweit die einzelnen entjcheiden, zuerſt für diefe 
und erſt in zweiter Linie für andere und für das ganze Volk zu 
jorgen. Eine Erfahrung, die ſich überall wiederholen wird, mag 
nun die fapitaliftiiche Minderheit oder die Mafje der Nichtbejigen- 
den duch die politiiche Macht die Möglichkeit erhalten, diejen Nei— 
gungen ungehindert zu folgen. 

Man nahm e3 zuleßt wie etwas Selbftverjtänpliches Hin, 
politische Machtverhältniffe als ſoziale Herrſchafts- und Ausbeutungs- 
verhältniffe aufgefaßt und ausgeübt zu jehen. Die befannte Schrift 
über die athenifche Demokratie erklärt die Klaſſenherrſchaft des 
Demos von deſſen Standpunkt aus als völlig naturgemäß, da 


1) Bol. die bezeichnende Äußerung des Ariftoteles: »dv de die zus 
Wpehsias TÜS ano TWv xowov zal Tas Ex Ts coyns Bovkovraı ovveyws 
doyew, olov &l ovveßaıvev Öyiaiveiv del Tols KoyovoL voo«zegols ovoLr. 
zal yap av ovVrws laws Edimxov TEs doyas. Vol. III, 4, 6. 1279a. 


II. 1. Smdividualiftiiche Tendenzen. 149 


man e3 ja niemand übel nehmen könne, wenn er vor allem für 
jich ſelbſt ſorge; ) und mit der offenherzigiten Unbefangenheit wird 
zugeftanden, daß im umgekehrten Falle die Reichen ihre Herrichaft 
in demjelben Geifte ausmügen würden.?) ine Auffaffung, der e3 
vollfommen entipricht, wenn Nriftoteles die beiden Grundformen 
des damaligen Verfaſſungslebens, Dligachie und Demokratie als 
Regierungsſyſteme definiert, von denen das eine zum Vorteile der 
Reichen, daS andere zum Vorteile der Armen geübt wird.) Denn, 
wie Ariftoteles weiter bemerkt, der Kampf zwiichen Arm und Neich, 
zwijchen Bejigenden und Nichtbejigenden, der das helleniſche Volks— 
und Staatsleben zerrüttete und vergiftete, Fonnte fein anderes Er— 
gebnis haben, al3 daß die jeweilig fiegreiche Partei viel mehr auf 
die Begründung einer Klaſſenherrſchaft bedacht war, als einer die 
gemeinjamen Intereſſen aller jchügenden, die Sonderintereifen aus: 
gleichenden ftaatlichen Drdnung (rodırei« zo) zei lon).t) Inſo— 
ferne iſt es wohl berechtigt, wenn Plato die auf ſolcher Grundlage 
erwachjenen Verfaſſungen geradezu als eine Negation der Staatsidee, 
als Werkzeuge der Zeriprengung, nicht der Erhaltung der bürger: 
lihen Gemeinjchaft bezeichnet. 5) 


) II, 20: dnuozoariev DEya arro uev ro djuw ovyyYıyrW@oxw' 
avrovy ydo EV olsiv navri ovyyvoun Eotiv. 

o 3 N x ce x Mn — Se ’ 

?) I, 16, ei uEv ycdo oi yonotoi Eheyov xai EBovkevov, Tois Öuoloıs 
opioıw avrols nv ayadd, tols dE dmuorizois oVx ayadd. 

3) Bol. III, 5, 4. 1279b: 7 HoAıyapyia noos To (ovupeoov To) 
Tov eunoowv, 7 dE dnuorgatia 005 TO Ovupegov TO TWv dnögwv' oos 
de to To zoıv® Avaırtskoöv ordeuie auror, 

9) ib. VI, 9, 11. 1296a: die To oraaeıs yiyveodaı zul udyas moos 
>) ” - [4 x 2 > ” r r >” — — — 
aklmkovs TO Inuw zai Tols Eurogoıs onoTegois dv uchhov Fvußn xoamjoct 
Tov Everriwv, oV xadıoraoı zotvnv nokıreiav ovd’ Vomv, adAked Ts viens 
asAov my Ünegoynv ıns nokırsias Aaußdvovov, zal ol uev dnuo- 
zoeriev, oi d'olıyaoyiav noiovow. 

5) Leg. 715b ravras dynov pausv Nueis vov ovVr’ eivaı nokıreias, 
orT’ 00F0Vs vouovs, 0001 um Evundonsinsnoisws Evexa Tod zoıvov 
erednoav' old Exexe Tivov, otuoıwreius, dAR ov noAıreias Tovrovs 
pauev, zei TE Tovrwv dizae & Yaoıv eivaı, udrnv eioyodeı. cf. 832 6.: 
Tovrwv yao d) molıreia uev ovdeula, oraoıwrei«a de nao«ı Aeyoırı dv 

07 u un: 


150 Erſtes Bud. Hellas. 


Das ift es offenbar, was Mommfen im Auge hat, wenn er 
von jenem griechiichen Weſen jpricht, das dem Einzelnen das Ganze, 
dem Bürger die Gemeinde aufopferte und zu einer inneren Auf- 
löſung der Gemeindegewalt Telbit führte. Das leßte Ergebnis ift 
in der That ein extremer Individualismus, der bis zu einer fürm- 
lichen Berneinung von Staat und Necht fortfehritt und das Inter— 
eſſe des Individuums al das einzig wahre Intereſſe proflamierte. 
Für die Theorie des Egoismus, wie fie Hand in Hand mit der 
gejehilderten Geftaltung des öffentlichen Lebens Eingang fand, er— 
Ichien das Individuum nicht nur al3 jouveräne Urjache aller Drd- 
mingen und Einrichtungen des Zuſammenlebens, jondern fie be— 
trachtete die Lebenszwece des ijolierten Individuums auc) als einzige 
Zwede alles menschlichen Thuns.!) 

Eine Auffaffung, die mit innerer Notwendigkeit zugleich zum 
ethiichen Materialismus führen mußte! Denn da die Lebenszwede 
des ijolierten oder ijoliert gedachten Individuums eben unbedingt 
egoiftifche find und da fie fich vorzugsweife auf das phyfische Dafein 
beziehen, was fann aus der ausjchließlichen Berückſichtigung diejer 
Zwede anderes entitehen, als der Materialismus, ver fittliche 
Nihilismus?) 

Der Rechts- und Staatsidee wird ein angebliches Naturrecht 


sodorera' Exovrwv ydo Exovoa ovdeula, dAR dxovrwv Exovon doysi odV 
dei tivi Pie, poßovusvos DE doywv «oyousvor oVTE loyvoov ovr' ardgsior 
oVTE TO napanav noAsuuzov ExWv Euosı ylyvsohai Tote, 

) Das ijt in jozialpolitischer Hinficht der Sinn der dem Sabe nrav- 
TWv Yonudtwv WErgov dvdgwnos don einer ſophiſtiſchen Moralphilofophie 
gegebenen Deutung, daß der Menſch in feiner DBereinzlung, das beliebige 
Individuum das Map aller Dinge jei. 

?) Bgl. die Formulierung diefes Standpunftes bei Plato, Gorgias 
491c: — Tovr’ Eorıv TO xara gYvow xaAov zul dixaov, ... . ori der tov 
0eI05 Puwoousvov TÄs usw Enidvuies Tas Eavrod Edv ws usyioras eivaı 
zei un zoldlew, ... . zei anroniunddver ov dv dei y Enidvuia yiyvaraı, 
ef. 492d. 63 iſt der Lieblingsja des ethiſchen Materialismus der Gegen: 
wart, daß der Menſch um fo glücklicher jei, je mehr Bedürfniffe er habe, 
vorausgeſetzt, daß die Mittel zu ihrer Befriedigung vorhanden jind. 


II. 1. Sndividualiftifche Tendenzen. 3 


entgegengeftellt, welches dem Einzelnen in der Befriedigung feiner 
jelbftfüchtigen Triebe feine andere Grenze ſteckt, als das Maß dev 
eigenen Kraft. Wie im Kampfe ums Dafein, in der Tierwelt, 
immer der Stärfere es ift, der die Oberhand über den Schwachen 
gewinnt, jo ift nach diefer Dogmatik des Egoismus das Necht Itets 
auf deſſen Seite, der die Macht hat; es ijt identiſch mit dem Inter— 
effe des Stärkeren.) Die Negierungen machen mit vollem Rechte 
das zum Geſetz, was ihnen nüßt; das jogenannte Gerechte it nichts 
anderes, als der Vorteil der Machthaber.) Nur Thoren und 
Schwächlinge werden ſich daher durch das pofitive Gejeß verhindern 
laſſen, ſtets ihren eigenen Nuten zu verfolgen. 

Die Mehrheit weiß recht wohl, daß ſie Schwach ift, und daß 
die einzige Bürgſchaft für ihr Wohlſein in der Einjchränfung der 


1) Diefe Anſchauungsweiſe wird in Platos Gorgias einem praktischen 
Politiker, im „Staat“, mit etwas verjchiedener Motivierung, einem Sophiften in 
den Mund gelegt. Gorgias 483d: 7 de ye, olueı, puoıs au dnropeivsı 
av, oT dixawov Eortı Tov dusivo Tov yeloovos nAEov Eysıv xai Tor 
dvvarorteoov Tor advverwregov. dmhoi dE Tavre noAleyor ori ovrwWs 
&yeı, zal Ev Tols aAkoıs Lwoıs zei tav dvdoWnwv Ev oAcıs tais noAscı 
xl Tols yEveoıv, OTI 0vTW To dixzaiov zExoıTel, TOV KOEITTW TOD Nrrovos 
@oyEıv zai nAEoy Eysıv. — Die don Grote aufgetvorfene Frage, inwie— 
weit die Sophijten mit Recht oder Unrecht als Träger dieſer Anſchauungsweiſe 
erſcheinen, kommt für uns hier nicht in Betracht. Uns genügt die Thatſache, 
dat fie von „Tauſenden“ geteilt wurde (exovw zei uvoiwv dhkov! wie es 
rep. II, 358c heißt. ef. Gorg. 492d: oapws yado oÜ vor Akysıs, @ oü 
adhoı dievoovvraı uev, Aeyeır dE ovx E9Elovomw). Das „Geheimnis aller 
Welt“ — wie Helvetius don diefer Anficht gejagt hat. — Daß e3 fich dabei 
übrigen? auch um thatſächlich dorgetragene Lehren handelt, ift nach den 
Spuren, die fih in der älteren Litteratur, 3. B. bei Euripides (Jon V, 
621 ff.) und dem von Jamblichos benüsten Sophiften (cf. Blaß, Kieler 
Progr. 1889) finden, ganz unzweifelhaft. Das hat neuerdings wieder 7. 
Dümmler: Prolegomena zu Platonz Staat und der platonifchen und ariftote- 
liſchen Staatölehre (Basler Progr. 1891) ©. 30 gegen Gomperz (Apologie 
der Heilfunft S. 112) mit Recht betont. — Vgl. übrigens auch Thukydides 
V, 105, VI, 82-87. 

2) rep. I, 338e: To dixzauov „ . . TO TOO xgEITToVos ovupeoov! cf. 
ib. 338e. 


152 Erſtes Buch. Hellas. 


Starfen liegt. Zu diefem Zwecke hat fie durch das „xwillkürlich 
ausgedachte” Geſetz das Naturrecht verdrängt. Die von Natur 
Stärferen aber nimmt man von Jugend auf — wie junge Löwen — 
in Zucht, jolange ihr Gemüt noch weich ift, und ſucht fie durch 
allerlei Borfpiegelungen zu bethören und zur Anerkennung der 
Gleichberechtigung der Andern zu erziehen. Wenn aber Einer, der 
eine ausreichend kräftige Natur bejigt, zum Manne wird, dann 
jchüttelt ev das Alles ab, durchbricht den magischen Ideenkreis, in 
den man ihn fünftlich gebannt hatte, jowie alle der Natur wider: 
ftrebenden Gefege, um als Herr und Meifter der Vielen aufzu= 
treten und zu glanzvoller Erjcheinung zu bringen, was von Natur 
techt ijt.!) 

Ganz bejonders gilt dieſes antifoziale Naifonnement dem 
Gebiete der wirtichaftlichen Konkurrenz, den Machtentſcheidungen 
des jozialen Dafeinsfampfes, der von den Vertretern der genannten 
Richtung ganz in derjelben Weiſe nach den Thatjachen der Tier: 
entwiclung beurteilt wurde, wie von ihren modernen Nachfolgern, 
welche die fchlechthinige Souveränität des Egoismus als unabweis- 
bares Poſtulat der natürlichen Zuchtwahl binftellen. Es iſt die 
einfache Übertragung des wilden Gewalt: und Überliftungskrieges 
im Tierreich auf die Intereſſenkämpfe der bürgerlichen Gejellichaft, 
wenn e3 als Naturrecht proflamiert wird, daß „das Belistum der 
Schwächeren und Geringeren eigentlich den Stärferen“, d. h. ven 
„Beſſeren oder Fähigeren” gehöre, daß jene mit dem zufrieden 


) Gorg. 484a: &dv dE ye, oluaı, piow ixevjv yErnraı Eyov dvng, 
ndvra Tavra anroosisdusvos za dieoomkas za [diapvyor] zarenarnoas 
TE NUETEOR yoduuara xal uayyavsvuara xul Erwdas xl vouovs Todg 
TRER Pvoıv ÜÄnavras, Enavaoras avspdvn deonorns nueteoos o dovkos, 
Evraida Eelaupev TO TNS PVosws dixavor. 

cf. Leg. X, 889e: zei dj zei t& zuAd gyvocı ußv dAhe eivaı, vouw 
de Erepa‘ 1a dE di) dizaa 000’ eivaı To naodnev pvoc au, — — To 
dizasöraerov 0 Ti Tıs dv vırd Bualousvog -— — TIO0S TOV ZUTd pVoLw 
0090v Piov, 6 Eotı 17 aAmseige xoarovvra Inv tav div xal un dovAsvew 
ETEDOLOL KATE vouov, 


II. 1. Smdividualiftiiche Tendenzen. 153 


jein müfjen, was ihnen dieje übrig lafjen.!) Eine Forderung, mit 
der die Anjprüche der ausbeutenden Klaſſenherrſchaft ihren Höhe: 
punft erreicht haben. 

So wird der jelbjtfüchtige Wille des Individuums auf den 
Thron gejeßt, die Gejellihaft in ihre Atome aufgelöft. Und was 
fih bier als Theorie gibt, das erſcheint in feiner verhängnisvollen 
Bedeutung für die Wraris des Lebens in dem furchtbaren Urteil, 
welches ein jo nüchterner Beobachter, wie Ariftoteles im Hinblid 
auf den Egoismus jeines Zeitalters gefällt hat: Immer find es 
nur die Schwachen, welche nach Necht und Gleichheit rufen, Die 
Starfen aber fragen nichts nach diefen Dingen.” 2) 

Wo die höheren jozialen Gefühle dem Bewußtſein weiter 
Kreife in ſolchem Maße verloren gegangen waren, da mußte der 
Intereſſenkampf der Individuen und Gejellichaftsklaffen vielfach zu 
einem über alle Schranfen der Sittlichfeit und des Nechtes ſich 
hinwegjeßenden Ningen unverjöhnlicher Kräfte entarten. In den 
wirtſchaftlich und politisch fortgeſchrittenſten Staaten der hellenijchen 
Welt finden wir auf der einen Seite eine plutokratiſch gefinnte 
Minderheit, welche das Prinzip der Bolfsfouveränität, der Geſetz— 
gebung durch das Volk, als eine unnatürliche Knechtung der Stär- 
feren, der jozial und geiftig Höherftehenden, auf das drückendſte 
empfand und jtetS bereit war, fich derjelben mit allen Mitteln zu 
entledigen, auf der anderen Seite das „Volk“, deſſen demofratijches 
Bewußtjein ebenſo einjeitiger Individualismus im Intereſſe der 

') Bol. Plato im Gorgias 484b, wo Kallikles die Verje Pindars 
über den Rinderraub des Herafles zitiert (Eyes dizauov To Bıaıorarov Uneo- 
tere yeıol' Texzuaiooucı Eoyowıy “Hoazxkeos, Erei — anoıdraes —) und 
hinzufügt: Aeysı d’ örı ovre noidusvos ovre dörros tod Inovovov nAdoero 
Tas Bovs, ds Tovrov Ovros Tod dixalov gvosı zei Bors zei taike 
ZINUaTa Eivaı navra Tod Behtiovos TE zul Xx0EITTOVoS rd Tov 
ZELI00VOv TE zei yrrovor, 

?) Politif VII, 1, 14. 13186: meoi ur vor toov zei tov dizeiov, 
zdv n ndvv yaherıov Eigeiv ımv ahndeıav neo aurov, Ouws Ödov Tuyelv 
N ovuneioaı Tois duvvauevovs nAsovexteiv' del yao Imrovaı To dixaov zei 
To ioov oi trovs, oi dE xowrouvres ovdEv poovrifovoıy. 


154 Grites Bud. Hellas. 


Maſſen war, wie das oligarchiſche Prinzip in dem der Neichen. 
Wollte die Geldoligarchie überall die Emanzipation vom ftaatlichen 
Zwang, wo derjelbe ihren Gewinntrieb beengte, jo wollte der radikale 
Teil des Demos alles durch den Staat für die Mafje. Ein Gegen: 
fat, der fich immer mehr verichärfen mußte, je mehr infolge der 
einfeitigen kapitaliſtiſchen Entwicklung der Gejelliehaft dasjenige 
Bolfselement, welches berufen gewejen wäre, den jehlimmjten Aus- 
ſchreitungen und gewaltfamen Ausbrüchen des Klaſſenegoismus ent- 
gegenzumwirken, der bejißende Mitteljtand, im Nüdgang begriffen 
war, und die Kluft zwifchen wenig Überreichen und dem an Zahl 
und Begehrlichkeit ftetig wachlenden Broletariat eine immer größere 
wurde. 

Nichts könnte die vernichtenden Wirkungen diejer Verſchärfung 
und Berbitterung der Klaſſengegenſätze greller beleuchten, als das 
frevelhafte Loſungswort der geheimen oligarchiſchen Klubs der Zeit: 
„Ich will dem Volke feindlich gefinnt fein und durch meinen Nat 
nad) Kräften ſchaden.“ Hier war die Zerftörung der geiftigsfittlichen 
Gemeinjchaft der Volksgenoſſen, die Zerjegung der gemeinjamen 
Speen und Gefühle, welche das Volkstum zufammenhalten, in der 
That vielfach bis zu jenem Punkte gediehen, wo man in Wahrheit 
jagen konnte, was die moderne Demagogie der Gegenwart den 
Maſſen predigt, daß die höheren Stände im Vaterland, wie in 
Feindesland lebten als die geborenen Gegner des kleinen Mannes. 

Iſt es auf der anderen Seite zu verwundern, daß die dem 
Pauperismus verfallene Maſſe, der „das Gemeinwejen gleichgültig 
war, wenn fie nur Brot hatte“,!) ſtets die Neigung zeigte in der 
Ausnützung der Macht, welche die politijche Gleichberechtigung und 
das Gewicht ihrer Zahl verlieh, bis zur äußerſten Grenze zu gehen? 

So wird der politifche Parteifampf mehr oder minder zu 
einem Kampf um den Befiß und daher mit der ganzen Leidenschaft 
lichfeit geführt, der diefem Kampfe eigen zu fein pflegt. Es iſt 
nicht bloß ein Ningen in der politischen Arena, jondern nur zu oft 


) Iſokrates Areop. $ 83. 


u 


I. 1. Individualiſtiſche Tendenzen. 153 


ein Kampf mit Fauft und Schwert, deſſen blutige Gewaltjamkeit 
den überall aufgepeicherten Zimdjtoff des Klaſſenhaſſes zu hellen 
Flammen entfachte und zu denjelben Fucchtbaren Ausschreitungen 
führte, wie die Parteikämpfe der jpäteren römijchen Republik, die 
franzöfische Schredensherrihaft und die Kommune. 

Man denke nur an die Greueljzenen in dem Streite zwiſchen 
den Dligacchen und Demokraten Kerkyras (427), und an die Klaffiiche 
Schilderung, welche Thukydites im Hinblid auf diefe und andere 
Auswüchle des Barteihaders von der Zerrüttung der nationalen 
Sittlichkeit duch den Geift der Selbitjucht unterworfen hat.) Man 
denfe an den jogenannten Sfytalismos in Argos, wo im Jahre 
370 der wütende Pöbel über die Befitenden herfiel und 1500 

tenjchen mit Knütteln erjchlagen wurden. „Das Volk von Argos,“ 
jagt Sokrates, „macht ſich ein Vergnügen daraus, die reichen Bür- 
ger umzubringen, und freut fi), indem es das thut, jo ſehr, wie 
andere nicht einmal, wenn fie ihre Feinde töten.”2) Von den 
Zuftänden im Belogones überhaupt heißt es an einer anderen Stelle: 
„Man fürchtet die Feinde weniger alS die eigenen Mitbürger. Die 
Neichen möchten ihren Belts lieber ins Meer werfen, alS den 
Armen geben, den Armen dagegen iſt nichts erjehnter, als die Be— 
raubung der Reichen. Die Opfer hören auf, an den Altären 
ſchlachten ſich die Menſchen. Manche Stadt hat jegt mehr Emi- 
granten, al3 früher der ganze Beloponnes.”3) So jcheiven die 
jozialen Gegenjäße die Gejellihaft in zwei feindliche Teile, von 
denen der eine dem andern ſtets den Nüchalt ftreitig macht, den 
er am Staat für jeine wirtjchaftliche und gejellichaftliche Erijtenz, 
für jeinen Befis und feine Freiheit hätte haben jollen.*) Die 

1) III, 82. 

2) Philipp. 8 20. 

3) Archidam. 8 28. 

#) Der Staat zerfällt gewiſſermaßen in ziwei fich feindlich gegemüber- 
jtehende Staaten, jagt Plato Rep. 423a: dvo uEv yag, zdv öroüv 7, mroke- 
wie aklmaaıs, 7 uev nevitwv, m de nAovoiwv (sc. mokıreie), Tovrwv d' 
Ev Exareog navv nokkai «is Eav uEv Ws WIE NE00PEEN, TIEVToS dv dUdg- 


156 Erſtes Buch. Hellas. 


Elemente der Einheit find ſoviel ſchwächer geworden als die der 
Trennung, daß nicht jelten die einander befämpfenden Klaffen fich 
zulegt innerlich ferner ftehen, al3 ganz Fremden und Feinden. 


Zweiter Abjchnitt. 


Der Kampf der idealiftiichen Sozialphilojophie gegen den 
extremen Individualismus. Allgemeine jozinlethiiche Poſtulate. 


Es leuchtet ein, daß ein Volt von jo eminenter geiftiger 
Energie, wie es die Hellenen waren, die geichilderte Geftaltung der 
Dinge nicht in ftumpfer Refignation über fich ergehen lafjen konnte. 
Das Jahrhundert, welches alle Kräfte der Zerjegung und Auf— 
löfung zur vollen Entwicklung brachte, ift zugleich vecht eigentlich 
das philoſophiſche Jahrhundert der belleniichen Gefchichte, eine 
Epoche gewaltiger Geiftesarbeit, welche der furchtbaren Widerjprüche 
im inneren und äußeren Leben der Nation Herr zu werden, den 
Weg zu ihrer Löſung zu zeigen juchte. 

Die Richtung, in welcher ſich dieſe ſozial-philoſophiſche Ge— 
dankenarbeit bewegte, war durch die geſchilderten Verhältniſſe des 
Lebens klar vorgezeichnet. Hatte die Zeit das Prinzip des Indi— 
vidualismus auf die Spitze getrieben, das Intereſſe als die Trieb— 
feder alles menſchlichen Handelns proklamiert, ſo mußte die Er— 
kenntnis, daß die Überſpannung dieſes Prinzips nur zur Auflöſung 


rots, Eav DE Ws moAkais, didois TE Tav Ereowv Tols Erägcıs, Konuare 
TE zaL dvrdusıs 7 xaı avrovs, Evuudygoıs ubv aei mohhols gonoeı, noAeuiors 
d’ oAlyoıs. 

Man denkt dabei unwillfürfich an die Worte, welche Disraeli, der 
Ipätere Premier, im Jahre 1848 über dag damalige Verhältnis zwijchen Arm 
und Reich jchreibt: „Sie find gleichham zwei Völker, zwiſchen denen feinerlei 
Verkehr und fein verwandtes Gefühl bejteht, die einander jo wenig fennen 
in ihren Gewohnheiten, Gedanken und Gefühlen, als ob fie die Söhne ver- 
ihiedener Zonen oder die Bewohner verjchiedener Planeten wären. 


11. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphiloi. geg. d. extr. Individualismus ac. 157 


der Geſellſchaft führte, bei allen tiefer Blidenden einen ftarfen 
Rückſchlag in zentraliftiihem Sinne herbeiführen. 

Gegenüber einer Anjchauungsweije, welche das Individuum 
mit Vorliebe in jeiner VBereinzelung ins Auge faßte, jet jetzt in 
der hellenijchen Litteratur eine mächtige Strömung ein, die von 
dem Gedanken getragen tft, daß alles individuelle Leben und Stre— 
ben jtetS zugleich unter dem Gefichtspunft feiner Zufammengehörig- 
feit mit dem Ganzen betrachtet werden müſſe. An die Stelle einer 
Moral, welche mit Bewußtjein der Dogmatik des Egoismus hul- 
digte, deren lettes Ergebnis nur der Kampf aller gegen alle jein 
fonnte, jollte wieder eine veinere Sittlichkeit treten, welche die Ziele 
des menschlichen Wollens über das Individuum hinausverlegte, die 
getrennten und verfeindeten Elemente der Gejellihaft aufs neue zu 
einer lebendigen Gemeinjchaft zufammenzufchließen vermöchte. Die 
ertremeindivivualiftiiche Weltanſchauung jollte innerlich überwunden 
werden durch das, was man mit Comte und Garlyle als „al- 
truiſtiſche“ Moral bezeichnen könnte. 

Das iſt das große Problem, welches jich durch die joziale 
Philoſophie jeit ven Zeiten des großen hellenijchen Bruderkrieges 
wie ein roter Faden hindurchzieht. Sie will an Stelle des über: 
mächtig gewordenen Egoismus wieder mehr die jozialen Motive zur 
Geltung bringen, die Menjchen zum fozialen Handeln erziehen, zu 
einer Thätigkeit, welche ſich nicht ausschließlich auf das eigene Da- 
jein richtet, jondern ſtets zugleich Thätigfeit im Dienjte des Ganzen 
jein will. So joll aus dem Kampfe, der Staat und Gefellichaft 
zu zeriprengen drohte, der Weg gezeigt werden zum ſozialen Frie— 
den, zu einer fortjchreitenden DVereinheitlihung der Glieder des 
Staates. 

Mit Necht wird dabei von Anfang an — ganz ähnlich wie 
von den bahnbrechenden Führern der analogen modernen Bewegung, 
von Fichte, Carlyle u. a. — darauf bingewiefen, daß, wenn die 
Fähigkeit der Einzelnen zu Opfern für die Allgemeinheit gejteigert 
und verallgemeinert werden joll, vor allem das Wechjelverhältnis 
zwijchen den Individuen und Klaffen ein anderes werden müſſe. 


158 Erſtes Buch. Hellas. 


Der Zuftand, in dem die verjchtedenen Klafjen aufgehört haben, 
fich gegenfeitig zu verftehen, Arm und Neich neben einander leben, 
wie zwei feindliche Völker, die ganz verschieden fühlen und ver- 
ichieden denken, dieſer Zuftand, der eben nur zum Kampfe führen 
kann, weil er eine friedliche Berftändigung unmöglich macht, muß 
überwunden und der Staat auf eine neue fittliche Grundlage ge 
ftellt werbdeu. Es iſt darauf hinzuwirken, daß die Klafjengegenfäße 
gemildert werden, und daß die Gejamtheit der Bürger ſich wieder 
mehr als eine fittliche Gemeinschaft, als eine homogene Maſſe fühlen 
fann, welche das alle gleichmäßig umjchlingende Band gemeinjamer 
Empfindungen und Borftellungen und gemeinjamer Ideale innerlich 
zufammenbält, ein Band, das ich jtärfer zu erweilen vermag, als 
der Egoismus der Einzelnen, wie ganzer Klafjen. 

Sn dieſem Sinne wird ſchon von Sokrates mit befonderem 
Nachdruck auf den Bürgereid hingewiejen, der jeden Hellenen vor 
allem auf die Pflege bürgerlicher Eintracht verpflichtet. Die 
„suorore“, die Übereinftimmung einheitlich empfindender Menschen, 
welche allein die trennenden Unterjchteve zwijchen Individuen und 
Klaſſen zu überbrücken vermag, wird bier als das höchfte politische 
Gut proflamiert.!) „IZeoi ouovolas“ wird das mit Vorliebe ge- 
wählte Schlagwort für die Bezeichnung jener offenbar zahlreichen 
publiziſtiſchen Schriften, welche für die radikale Neform des Staates 
und der Gejellichaft eintraten und das Idealbild einer neuen beſſe— 
ven Ordnung der Dinge entwarfen.?) 

In demjelben Sinne erklärt Plato als höchjtes Ziel aller 
Politik Friede und wechjelfeitiges Wohlwollen (eiervn rocs aAAN- 
kovs -aua@ xl gYıhoygoovrn).) Die Gemeinjchaftsgefühle (To 





1) Xen. Mem. IV, 4, 16. 

2) Die unter dieſem Titel befannte Schrift Antiphons fteht gewiß 
nicht allein. DBgl. auch da3 Fragment aus Demofrit (Stob. Flor. XLHI, 
40): Ano öuovoins ta ueyaka Eoya xai moı nnoAıoı Tovs TroAguovg 
Övvarov zareoyalsodeı, dAAws d’ ov. 


3) Leg. X, 628e. 


5 TR 9— 


11. 2. Der Kampf d. idealift. Soztalphilof. geg. d. extr. Jndividualismus zc. 159 


yihov za To xoıwov Ev cn wokeı),‘) die den Staat zufammen- 
halten und feine innere Einheit verbürgen (0 av Evrdn ve xai 
co wiev sc. vv roAıw),2) ſie mühjen vor allem gepflegt werden, 
auf daß der Staat ein „in ich befreundeter” ſei (modıs Yin 
&avrn).3) 

Daher darf der Staatszwed auch nicht bloß das Wohlergehen 
eines Volfsteiles, jondern nur das der Gejamtheit jein.t) Nach 
den Intereſſen und Bedürfniffen der gejamten im Staate lebenden 
Gemeinjchaft ift das Necht zu gejtalten, während das Necht des 
Individuums erſt in zweiter Linie fteht. Ein Ziel, das nur er- 
reicht werden kann, wenn ftaatliche Zucht und ſtaatliche Erziehung 
der Willensiphäre der Einzelnen jolche Schranken gezogen, dieſelben 
jo jeher in das Leben der Gemeinſchaft eingeordnet haben, daß fie 
dem Staate als willige Mitarbeiter an der Befeftigung der die 
ftaatliche Gemeinschaft zufammenhaltenden Bande dienen (erri env 
Evvdsouov uns nroksws!).?) 

Die auf Ddiefes Ziel gerichtete Thätigkeit der Politif, der 
„königlichen Kunft” (Baoıkırns vEyvng) wird von dem genannten 
Gefichtspunft aus mit einem jchönen poetischen Bild als die eines 
„eöniglichen Spneinanderwebens der Gemüter” (Baoıkızng Evvv- 
yavosws Eoyov) bezeichnet, welches durch „göttliche und menjch- 
liche” Bande, durch Eintracht und Liebe eine fittliche Lebensgemein- 
ſchaft heritellt,) das „allerköftlichite Geflechte” (Tavrov weyako- 
7EETEOTETOV Öyaoucrwov za aoıorov), welches alle Glieder des 
Staates mit einander verbindet.?) 


DiEik 111 6977d. 
2) Rep. V, 462d. 
3) Leg. X, 693, ef. 701d. Ähnlich heißt es 743d. 
4) VBgl. die oben ©. 149 angeführte Stelle. Leg. VII, 715b. 
5) Rep. VII, 519e. 
6) Eine Gemeinschaft, wo 
„Alles fich) zum Ganzen webt, 
Eins in dem Andern wirft und lebt!” 
Dsibr 1,5311. 


160 Erſtes Buch. Hellas. 


DersSelbitfucht (j oypoder Eavrov yılla),!) die nichts Fennt, 
als die Bedürfniffe des unerfättlihen Jh (der axoAasie), wird 
entgegengehalten, daß fie im letzten Grunde alle Verfehrsgemein- 
ſchaft zwijchen den Menjchen (die zoıwovie) und damit alle Bande 
der Sympathie (yılia) aufhebt, daß ſie eine allgemeine Drdnung 2) 
und ein Necht eigentlich gar nicht mehr zuläßt und damit alles 
negiert, was „Himmel und Erde, Götter und Menſchen zuſammen— 
hält.“ 3) 

Schon der Begriff der alles umſchließenden und umzwingen- 
den Weltordnung des Kosmos, deſſen Wejen eben „Ordnung“, 
Gebundenheit, Harmonie jei, lafje den Anjpruc des Individuums 
auf ſouveräne Ungebundenheit, eine durch rückſichtsloſe Geltend- 
machung des Eigeninterejjes zu einem Wirrjal- anacchiicher Kräfte 
(axoouie za axokecie) gewordene Gejellichaft als naturwidrig 
ericheinen.) Die rückſichtsloſe Verfolgung der Pleonexie ift un: 
vereinbar mit dem, was Wlato die verhältnismäßige Gleichheit 
nennt,5) vermöge deren fich jeder an jeiner Stelle der Weltordnung 


!) Leg. V, 73l1e Plato nennt (Gorgias 507e) die Praris des Egois— 
mu3 ein ,„LInv Anortov Blov“, 

2) Plato berührt fi) hier unmittelbar mit der hiftorisch-ethijchen 
Richtung der modernen Nationalökonomie, die, wie 3. B. Schmoller, der 
älteren individualiftiichen Schule gegenüber mit Recht betont hat, daß in 
einer nur auf eigennüßigem Handeln der Menjchen beruhenden Gejellichaft 
„Raub und Totjchlag (‚Ansrov Bios!‘) der bejte Verteilungsmodus“ jeien, da 
die individuellen Intereſſen in ihrer Steigerung zur Aufhebung jeder Ord— 
nung und Gejegmäßigfeit führen müßten. 

3) Gorg. 507e: oVrE ydo av dhio avdounn nooopiAns av Ein ö 
ToL0DTOS oVTE FEW xomwwveiv ydo ddvvaros’ O um Evi zowwrvie, 
gılla oVx av Ein. 

9) ib. 508a: yaoi d’ ol vopol, @ Kaklixkeıs, zei orgavov zul yıv 
zul HEoÜs zul dvdoWnovs Tmv xolvwviav ovveyeiv zul pihlav zul %00- 
uieomta zei 0WgYgooVrNV zul dizaioınta, zei To 0Aov tovro die raüra 
x00uov zaAovcıv, 0 Eraigs, oVx dxooulav ovde dxoAaoler. 

°) ib. ou de wor dozeis 0V TIO00EYEIV TÜV voov TOVTOIS, zei TaTTa 
copos mv, ahld heinFEv 08 oT m looLns n) YyEWwWWuEsrToLZN zul Ev Feois 
zul Ev avdownoıs ucya düvera oV de nAsovs£iarv oleı deiv dozeiv' 
yEwuerglag yao auskeis. 


IT. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof. geg. d. extr. Individualismus zc. 161 


dienend einzugliedern hat, von welcher Staat und Gejellfchaft ſelbſt 
ein Teil ift. 

Hatte ein ertremer Individualismus den Staat in ein Ge— 
wirt von atomiftisch neben einander ftehenden Individuen aufgelöft, 
jo ericheint hier das Getrennte wieder zu einer lebendigen Gemein: 
ſchaft verbunden, deren Glieder fich ftets der Pflicht bewußt find, 
daß jeder ſich in feiner Wirkungsiphäre beichränfe (ve Eavrov 
zroarre)!) und zugleich immer jo handle, daß feine Thätigkeit 
auch der Gefamtheit mit zu gute fomme.?) Über die egoiftiichen 
jollen joziale Beweggründe die Herrichaft gewinnen, vor allem die 
fittliche Hingebung an die höchite Gemeinschaft, an den Staat. Der 
zentrifugalen Strömung und den negativen Freiheitsivealen, welche 
das Individuum zum Mittelpunkte der Welt gemacht hatten, tritt 
jo eine ausgejprochene zentraliftiiche Strömung, dem extremen In— 
dividualismus der Sozialismus entgegen. 

Eine Gedankenentwicklung, ganz ähnlich derjenigen, welche in 
der analogen Bewegung des legten Jahrhunderts gegen die Welt- 
anjchauung der Aufklärungsepoche, des individualiftiichen Naturrechts 
und der individualiftiichen Nationalökonomie zu Tage getreten ift. 
ES entjpriht durchaus dem angedeuteten griechischen Vorftellungs- 
freife, wenn Göthe in den Wanvderjahren die Idee ausführt, daß 
jeder nur Verwalter feines Beſitzes ſei, den er zu Gunften des 
Ganzen zu verwalten habe, wenn ferner an jeden Einzelnen die 
Forderung geftellt wird: „Mache ein Drgan aus dir und erwarte, 
was für eine Stelle dir die Menjchheit im allgemeinen Leben zus 
gejtehen wird.“ 


!) Rep. IV, 433d. 

2) ib. VII, 519e: ’EneAcsov, 77 d’ Eyw, nalıv, w giis, ori vouo- 
IErn ov Tovro ueleı, Onws Ev tu yEvos Ev nolsı Diapeoovrws &v no@£et, 
ah Ev OAm Tn noAsı TovVro ungavaraı Eyyeveodeı, Evvaguorrwv Tovs 
noAitas neıdor TE xai avdyxn nowv weradıdovaı akkmkoıs tys 
W@ehsies, Hv dv Exaoroı To zoıvöv dvvaroi woLv Wgeleirv, xal 
AUTOS Eurtoiwv ToLovrovs dvdoas Ev tn mode, oVX Ivo agyın roensodaı 
can Exaoros Bovkeraı, aAR iva xarayontaı avros avrois Eni tov 
Evvdsouov ıns nokewe. 

Pohlmann, Geſch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus. I. nl 


162 Erſtes Buch. Hellas. 


Allerdings haftet dieſer „organischen“ Auffaffung von An— 
fang an — bei Plato, wie in der organijchen Staats: und Sozial- 
theorie der Neuzeit — eine gewilje Einfeitigfeit an. Wenn Plato 
von der Vorftellung ausgeht, daß der Staat „gleichſam der Menſch 
im Großen” fei,!) jo wird bier verfannt, daß die Analogie zwiſchen 
jozialen Erſcheinungen umd natürlichen Drganismen feine univerjelle, 
die Totalität ihres Weſens umfaſſende jein kann, ſondern immer 
nur eine folche, welche ſich auf einzelne bejtimmte Seiten des— 
jelben bezieht.?2) Wie wir bei der Beurteilung der pofitiven Vor— 
ichläge Platos zu einem Neubau von Staat und Gejellichaft jehen 
werden, bat die Konftruktion des Staates als eines Organismus 
zu tiefgreifenden Irrtümern, zu einer Überfpannung des Jozialiftifchen 
Prinzips geführt; allein in der Negative und für die zunächlt- 
liegende Aufgabe der Abwehr einer rein mechanifchen Auffaffung 
der jozialen Erjcheinungen hat die „organische“ Betrachtungsweile 
damals wie in der Neuzeit vortreffliche Dienfte geleiftet. Mit ihr 
brach ſich die Erkenntnis Bahn, daß die ftaatliche Gemeinjchaft nicht 
ein bloßes Aggregat, eine Ordnung äußerer Beziehungen zwiſchen 
mehr oder minder ijolierten Perfonen ift, jondern daß ſich im 
Staate das Volk zu einer Einheit zufammenjchließt, deren einzelne 
Teile, — ähnlich wie im phyfiichen Organismus, — wenn auch 
mit eigenem Leben begabt, jo doch gleichzeitig durch das Leben des 
Ganzen bedingt und bejtimmt find, als „Glieder“ de3 Ganzen fun— 
gieren. Der individualiſtiſch-atomiſtiſchen Anſchauungsweiſe, die den 
Staat ohne weiteres mit jeinen jeweiligen menjchlicheperjönlichen 
Trägern identifizierte und in einen Kompler mechanifcher Einzel- 
beziehungen auflöfte, tritt hier eine Anſchauungsweiſe gegenüber, der 
die Erkenntnis eines nicht in der Summe der Einzelintereffen fich 
erſchöpfenden Intereſſes gejellfchaftlicher Gejamtheiten aufgegangen 
it und die daher auch den Staat als ein einheitliches Ganzes, mit 


!) zasarıeo Eva avdownov Leg. VIII, 829a. Dgl. Rep. 434d. 
2) Bgl. die treffenden Bemerkungen von Menger: Unterſuchungen über 
die Methode der Sozialwiſſenſchaften und der pol. Okonomie. S. 140 ff. 


IT. 2. Der Kampf d. idealiſt. Soztalphilof. geg. d. extr. Individualismussc. 163 


einem von der Summe jeiner Teile verjchiedenen Dafein anzu- 
erfennen vermochte. Gegen die materialiftiiche Herabwürdigung des 
Staates zu einem bloßen Werkzeug atomiftischer Einzelinterefjen er- 
hebt fi) hier daS Bewußtjein von dem jelbftändigen Wefen des 
Staates als eines von der Summe der Fonkreten jeweilig lebenden 
Individuen unterjchiedenen Zweckſubjekts, das Bewußtjein von feinem 
alles individuelle Leben und Streben überragenden, die Generationen 
überdauernden Lebensgehalt, von der durch ihn verwirklichten Ein- 
heit in der Bielheit.!) 

Wie ganz anders erjcheint bei dieſer Auffaſſung die Stellung 
des Individuums in jeinent Verhältnis zum Staat! Wird der 
einzelne Menſch in jeinen jtaatlichen Beziehungen al3 Teil eines 
Ganzen, als Glied eines einheitlichen Gejamtlebens gedacht, jo kann 
er auch nicht mehr ausschließlich fich ſelbſt Zweck ſein und den 
Staat zum Werkzeug diejes jeines jelbjtherrlichen Willens erniedri- 
gen. Iſt der Staat nicht mehr bloß eine Summe ungleich ge 
jtellter, teils herrſchender, teils beherrjchter Einzelperfonen, jo kann 
er auch nicht mehr das jein, wozu ihn die Lehre des ertremen In— 
dividualismus gemacht hatte: die Drganifation der Herrſchaft deu 
einen über die andern zum Behufe bejjever Befriedigung der Inter 
ejjen der Stärkeren duch Ausbeutung der Schwächeren. Über die 
Anſprüche des Egoismus der Individuen und Klaſſen erhebt fich 
die Idee des Staates als einer Macht, welche ihre eigenen fittlich- 
vernünftigen Zwecke verfolgt, welche als die der Gejamtheit aller 
immanente Einheit die Gerechtigkeit gegen alle zu verwirklichen hat. 
Und die Einzelnen hinwiederum, als Elemente diefer Einheit, haben 


) VBgl. die jchöne Ausführung von Gierke: Die Grundbegriffe des 
Staatsrechts und die neueſten Staatsrechtstheorien, Tüb. Ztſchr. F. d. gef. 
Staatsw. 1874 ©. 375, wo auch die platonifche Staatsauffaffung in dieſem 
Punkte eine unbefangene Beurteilung findet. Dagegen kann Ban Krieden: 
Über die jogen. organifche Staatstheorie S. 13 ff. von feinem Standpunkte 
aus zu einer objektiven Würdigung des platonifchen Standpunktes nicht ge- 
langen, joviel Richtiges auch feine Kritik dev Schwächen und Einfeitigfeiten 
der organischen Staatstheorie enthält. 

I 


164 Erſtes Buch. Hellas. 


den Inhalt ihres Dafeins nicht mehr ausschließlich in fich jelbit zu 
fuchen, jondern zugleich in der Beltimmung für das höhere Ge— 
famtleben, für das über allen Einzelwejen jtehende „Gemeinweſen“. 

Darin liegt das Wahre und ewig Gültige in der „organi- 
chen” Auffaſſung des Staates, !) wenn auch die Idee des Drganis- 
mus an und für fich den politischen Einheitsbegriff nur unvoll- 
fommen und in einjeitig übertriebener Weiſe zum Ausdrud bringt. 2) 
Dieje Idee ift es jedenfalls, die, wie Garlyle richtig bemerkt, den 
Weg zur Überwindung eines nicht minder einfeitigen Sndividualis- 
mus gezeigt hat und eine joztalethiiche Auffaffung ermöglicht, wie 
fie ſonſt nur religiöje Zeitalter beiten. Wie der Menſch als 
Einzelwejen durch das Intereſſe, jo iſt er als Glied eines Ganzen 
dureh das geleitet, was bei Carlyle bald als Glaube an „über: 
individuelle Werte”, bald als Liebe, Selbjtüberwindung und „Loyali: 
tät”, bei Götheals „Ehrfurcht“, Entjagung, Selbſtbeſchränkung erjcheint, 
bei Blato als „fittlihe Scheu” (erdwc),3) als Sympathie (gyiÄie), 
Selbitbeherrihung (soyooovrn) und Gerechtigkeit bezeichnet wird, t) 





') Dies ignoriert Dilthey: Einleitung in die Geiſteswiſſenſchaften 
286 ff. 

2) Dilthey hat vollfommen recht, wenn ex den Begriff des Organis— 
mus eine methaphyſiſche Begriffsdichtung nennt und auf die verhängnisvolle 
Rolle hinweiſt, welche dieſe Auffajjung in der Gejchichte der politischen 
Wiſſenſchaften unleugbar gejpielt hat. Allein es ift dem gegenüber ebenjo 
entjchieden zu betonen, daß damals gegenüber der imdividualiftiichen Zer— 
ſetzung des Staatsbegriffes die organische Staatstheorie einen Fortſchritt be— 
deutete. Auch gibt ja Dilthey zu, daß „alles Leben des Staates jo außer: 
ordentlich komplex ift, daß jelbjt die moderne wahrhaft analytijche Willen: 
ſchaft noch am Anfange feiner wifjenjchaftlichen Behandlung fteht.“ 

3) Protagoras 323c, wo aldws zul dixm als nolswv z0ou0L TE xai 
deosuol gıkias ovveywyoi bezeichnt werden. 

*) owgeoovrn und dızauoovyn jollen nach Plato (Gorgias 507e) die 
mahgebende Richtſchnur alles menjchlichen Handels in Geſellſchaft und Staat 
jein. ovros Zuoıys doxel 6 oxonos eivaı, no0os oOv BAenovra dei iv, 
Aal NEVTa EIS TOVTO TE aVUTOV OvVvrelvovra zul Te ns noAews, 
ons dıxaioovuyn nageoraı zei EWEYEOSVVN TO uazaplw uehhovrı Eosodaı, 
oöto nodtrev, oVx Emidvulas &avra dxoAdorovs Eivaı xal Tavtas Ert- 
zElgoövre Amgorv dvivvrov xaxov, Anorod Blov Covre, 


I. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof. geg. d. extr. Individualismusec. 165 


die jedem das ihm Zufommende, das „Oeziemende” gewährt, ja 
jogar lieber Unrecht leidet, als Unrecht thut.!) 

Wenn man den Mann, dejien Fühner Idealismus der un— 
geheuren individualiftiichen Strömung der modernen Welt ein Halt 
gebot umd den Sieg einer neuen Gejellfehaftsauffaifung weſentlich 
mit vorbereitete, wenn man Thomas Garlyle als den „Jeſaias des 
Jahrhunderts“ bezeichnet hat, jo könnte man nicht treffender als 
mit denjelben Worten die Stellung charakterifieren, welche Plato, 
deſſen ganze Sozialphilojophie ein einziger gewaltiger Mahnruf an 
das „Gewiſſen der Gejellichaft” ift, in dem Kampfe gegen die 
Schwäche und den Egoismus jeines Zeitalters, gegen die materia- 
liſtiſche und atomiftiiche Auffaffung gejellichaftlicher und politifcher 
Erſcheinungen einnahm. 

Doch ift es nicht bloß der das öffentliche Gewiſſen wach— 
rufende Prophet und Idealiſt, jondern auch die nüchternere Staats- 
lehre des Ariftoteles, welche wir von derjelben antisindividualiftiichen 
Bewegung ergriffen jehen. 

„Man darf nicht glauben,” jagt Ariftoteles ganz in plato- 
niſchem Sinne, „daß der Bürger nur fich jelbit angehört, vielmehr 
gehören alle dem Staate.” Denn — fügt er hinzu — jeder ift 
ein Teil des Staates.?) — Ein Sab, in dem uns ebenfalls wie- 
der die Auffaſſung des Staates als eines Organismus entgegen- 
tritt. Um das Verhältnis zwiichen Individuum und Staat zu er= 
läutern, wird geradezu der Vergleich mit den Gliedern des menjch: 
lechen Körpers, mit Hand und Fuß herangezogen, die, wenn der 
ganze Menſch zu exiftieren aufgehört hat, ebenfalls nicht mehr da 
find, eS jei denn dem Namen nac.?) Der Teil eines Ganzen ver- 
mag eben ohne dasjelbe jeine Beltimmung nicht zu erreichen, ift 
„ſich nicht jelbjt genua,” gelangt alſo zu voller und wahrer Eriftenz 








) Gorg. 469. 

2) Pol. V, 1, 2. 1337a: @ua de ovdE yon vouiteıw, aurov aürov 
Tıvd Eivaı Tov nolırav, aAAd navras ns NOAEwmS' UOELOV ydo 
&xaoros INS TOAEWS. 


5) I, 1, 11b. 1253a. 


166 Erſtes Bud. Hellas. 


erſt durch das Ganze,!) weshalb Ariftoteles vom Staate jagt, er 
fei als ein Ganzes (bearifflich) früher, als jeine der Autarkie un: 
fähigen Teile, die Individuen?) Nur aus der Idee des Ganzen 
heraus kann das einzelne Glied begriffen werden. 

Als Drganismus ift der Staats ferner nichts Fünftlich Ge- 
machtes, ein bloßes Werf der Willkür und der Neflerion, jondern 
erwachlen aus den in der Natur jelbjt liegenden Triebfeimen,?) die 
jolche wenn auch minder vollfommene Formen der Lebensgemein- 
ichaft ja ſchon im Tierleben, 3. B. im „Bienenftaat“ entjtehen 
laſſen.)) Diejes in der Natur angelegte Gemeinjchaftsitreben er— 
reicht in der ftaatlichen Gemeinjchaft das Endziel der Autarkie d. h. 
des völligen Selbjtgenügens, welches das Weſen alles Glückes aus: 
macht. 

Denn ein wahrhaft glückliches Daſein ijt nicht das der Iſo— 
lierung, in welchem der Menjch möglichjt nur fich jelber lebt, ſon— 
dern ein ſolches, in welchem er als ein gejelliges Wejen zugleich 
für Familie, Freunde und Mitbürger da ift.5) — 

ı) „Seine Zugehörigkeit zur Allgemeinheit läßt fich nicht Fortdenfen. 
ohne das Weſen des Menjchen zu negieren.“ Gierfe a. a. D. 301. 

?) Ebd. 

3) Der Menſch ein von Natur ftaatliches Wejen! dvIownos pvceı 
noAırıxov Coov. Der Staat ein Naturproduft! raoe noAıs pvoeı Eortiv. ib. 

4) Inwieweit diefe Analogie berechtigt ift, kann hier nicht erörtert 
werden. Zurückgewieſen wird fie von dem — in Beziehung auf die allge: 
meine Auffafjung wejentlich mit Ariftoteles übereinftimmenden — Natur: 
forfcher unter den heutigen Philojophen, von Wundt, nach welchem die 
danernden gejelligen Vereinigungen der Tiere ausnahmslos auf dem Ge— 
ichlechtsverhältnis beruhen und daher nur als erweiterte Familien, nicht als 
Staaten gelten können. Ethik 175. Vgl. den Aufſatz über Tierpfychologie 
in den Eſſays 156. Anderer Anficht ift Hädel: Uber die Arbeitsteilung in 
Natur und Menjchenleben 27 und Gierfe a. a. D. 

5) Eth. Nie. (Suſemihl) I, 5. 10976, 8: 76 ... teAsıov dyasov 
avraoxes eivaı doxei. To dE auraoxes Adyousv ovx avro uovo to Lorrı Biov 
uovornv alle zei yovsvoı al TEZVOLIS zei yuvaızı za 0Aws Tols pikoıs 
zaı nokitaıs, Ereidn pvocı nodırızov Cwov 6 dvdownos. cf. 1196b: roAı- 
Tıxcv ydo 6 dvdownos za ovönv nepvxos. Kth. Eud. VII, 1142a: xor- 


* 


II. 2. Der Kampfd. idealift. Sozialphiloj.geg. d. extr. Individualismusec. 167 


Gemäß diejer jozialen Grundauffaffung wird von Arijtoteles 
ein bejonderer Nachdruck gelegt auf die Entwicdlung der ſozial— 
ethiichen Empfindungen, denen er drei volle Bücher der Ethik ge 
wiomet hat, jener gejellichaftlichen Gemeingefühle, welche ex in den 
Begriffe der yıAia zufammenfaßt, ſowie der grundlegenden jozialen 
Tugenden: der Billigfeit und Gerechtigkeit. — 

Gegenüber dem Ipeziftichen LZafter des Egoismus: der Pleo— 
nerie, der Plusmacherei des Stärkeren,!) der im Wettbewerb um 
die heißumftrittenen äußeren Güter rücjichtslos fein Intereſſe auf 
Koften des Schwachen geltend macht,2) erſcheint hier vor allem die 


vovızov Coov. — In gleichem, nur über die nationale Schranke hinaus: 
gehendem Sinne tritt Comte und der Poſitivismus der imdividualiftiichen 
Doktrin mit der Aufftellung des altwuiftiichen Grundjages entgegen: „Lebe 
für den Nächften d. h. für die Familie, das Vaterland, die Menjchheit;" 
wozu Schulge-Gävernig (zum jozialen Frieden II, 14) mit Recht bemerkt, daß 
dies die drei Kreiſe find, durch welche der Menjch in feiner Entwicklung hin: 
durchgegangen ift, und von denen immer der dvorhergehende, weil er noch 
mehr egoiftiiche Triebe in Bewegung jet, al3 Erziehung für den Nachfol: 
genden zu betrachten ift. 

!) Diefe Bekämpfung der „Pleonexie“ ift überhaupt charakteriftiich für 
die ganze hier in Betracht kommende Richtung der Sozialphilofophie. Vgl. 
z. B. jenen unbekannten Antor des 5. Jahrhunderts, den Jamblichus benüßt 
hat (vielleicht Antiphon? Blaß fr. e. Kiel 1889. Univerf.Progr.): "Erı Toivur 
oux Eni nAsoveäiav Öpudv del, ovdE TO xg«ros To Eni ın nAcovedig 
nyeiodeı dosımv eivaı, T6 dE TWv vouwv ünaxovew deiklav' novmgordın 
yco avın 1 didvod Eotı, zul EE avrjs navra Tüvertia Tois dyadols 
yiyveraı, zaxia te zal BAaßn. El yco Epvoav uEv ol dvdgwnoı adv- 
varoı xa®# Eva Lv, AR de won: aAAmkous tn avayan 
Elxovress, naoe den on avrovs Aromen: xal TO TEYVnucTa <Ta> 20: 
avınv, cvv ehAmkais dE Eivaı avrods zul avouie dıastaoFaı ovy olovre 
(usilo ycao avrois Enuiav oürw yiyvsodaı Exsivns Ins zarte Eva dialiens) 
die TaVTaS Toivvv Tas dviiyzas Tov TE vouov zal To dixaov Eußaoıkevev 
Tois ardownors zal ovdaun weraorijvau dv auTd . Pvosı Yao ioyvod 
evdedeodeı tavte. 

2) Die Pleonexie ift die adızie 7) regt uumv 7 Yonuere 7 oWwrnglev 
7 & twı Eyoıuev Evi övouerı negikaßeiv tavra navre, zei dv mndornv 


iv ano tod xeodovs. (N. Eth. V. 4. 11350a, 1.) Sie bejteht in dem nAEor 


168 Grites Buch. Hellas. 


Gerechtigkeit als diejenige fittliche Gefinnung, welche das eigene 
Smtereffe mit dem der anderen möglichit auszugleichen jucht. D. h. 
der Menſch ſoll überall im Verkehr, wo es fi um die Zuteilung 
materieller Vorteile oder Nachteile handelt, das Prinzip der ver: 
hältnismäßigen Gleichheit walten laſſen, indem ev weder von jenen 
fich felbft zu viel und dem Nächten (79 rAnoiov) zu wenig, noch 
von dieſen ich jelbft zu wenig und dem anderen zu viel zueignet, 
ſondern fich ehrlich um das richtige Mittelmaß bemüht.) Gerech- 
tigfeit in diefem Sinne ift alfo die Verwirklichung des suum 
cuique (1) «os di 19 ca avrov Exaoroı Eyovom. rheth. I, 
9). Sm Gegenfaß zu jener Anſchauung, die nur Cine Norm 
diftributiver Gerechtigkeit, das Necht der Kraft Fennt, wird dieſe 
Gerechtigkeit auch dem Schwachen gerecht. Sie gibt daher auch 
dem Nächiten mehr al3 das, was nötigenfall3 durch das Gejeß er— 
zwungen werden Fan; denn fie ift nicht bloß Geſetzlichkeit, ſondern 
auch Billigfeit (0 Errusizes), welche nicht auf dem Buchjtaben 
des formalen Nechtes beiteht, jondern auch da, wo das Geſetz zu 
Gunften de3 eigenen Intereſſes ſpricht, dieſes Intereſſe freiwillig 
hinter dem innerlich berechtigteren Anfpruch des Nächiten zurück— 
treten läßt.2) Die Gerechtigkeit ift, weil fie auch das Wohl des 


aöuro v£usıv Tov ankos ayadov, Eharrov DE Tov anhos zaxov ebd. 10. 
1134a, 34. 

') ebd. 8.1134a,1: 7 uEv dizaioovvn Eoti za9” 17V 6 dixavos AEyeraı 
nouxTıxös Kara TE0«IGEOIV Tod dixalov, zei dLaveunrıxös za erw 
noös dAkov xal Eriow oög Eregov, oUy ovrws, Wore toi uEv aigerov 
nAeov aöro Earrov de ıW nAmolov, too BAußegod d’ avanalıy, alla Tov 
loov tod zart’ dvakoyiarv, Öuolws dE zal dhhw noös ahhov. Mit Recht 
bezieht Schmoller (Grundfragen des Rechtes und der Staatswirtihaft ©. 61) 
das, was Ariftoteles „austeilende Gerechtigkeit” nennt, auch auf den privat- 
wirtſchaftlichen Verkehr, nicht bloß auf die Verteilung öffentlicher Rechte und 
Laſten, wie Trendelenburg (Die ariftotelifche Begriffsbeftimmung und Ein- 
teilung der Gerechtigkeit. Hift. Beiträge zur Philof. III 405), Zeller (Phil. 
d. Gr. I1 [2]? 641), Neumann (Die Steuer nach der Steuerfähigfeit. Jahrb. 
f. Nationalöfon. u. Stat. n. F. 1545) u.a. Bgl. übrigens auch Ahrends: 
Naturrecht 1,6 42. 

2), ebd. V, 14.,1137b, 1. 


II. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof. geg.d. extv. Jndividualismugzc. 169 


andern, nicht bloß das eigene will, zugleich ein „Gut der Mit- 
menschen” (EAAorgıov ayadov, Sri roos Ereoov Eoriv all 
yco Ta ovugysoorra moarre.!) Altruismus!); und infofern ift 
fie auch die „vollendete Tugend“, weil der, welcher fie befitt, die 
Tugend nit bloß als Individuum für jich ſelbſt und in feinem 
inneren Leben, fondern auch im Verhältnis zu anderen zu bethä- 
tigen vermag.?) Denn viele genügen den Anforderungen der «ger 
zwar in Haus und Familie; wo es ſich aber um die Beziehungen 
zu außerhalb Stehenden handelt, bleiben fie mehr oder minder weit 
hinter derfelben zurück.) CS zeigt ſich das bejonders deutlich in 
Lebensftellungen, in denen fich die Thätigfeit des Einzelnen recht 
eigentlich auf die Anderen und auf die Gemeinjchaft richtet, wes— 
halb Bias jehr treffend bemerkt hat, daß exit das Amt den Mann 
erweilt.t) 

Daher ift die Gerechtigkeit zugleih ein „politifches Gut“ 
(roAırıxov ayasov),5) weil fie ein der Gemeinschaft dienendes 
ift (70 own) ovugeoov®)). Sie ift die „Irefflichkeit im Gemein- 
leben“ (zowovız) agern)?). In der Gerechtigkeit, jagt Ariftoteles 
mit einem Dichterwort, ift jede Tugend begriffen; fie it in ge 
wiffen Sinne die aosen ſchlechthin. Nicht der Abendſtern, noch 
der Morgenftern ift jo wunderbar wie fie.®) 


) ebd. V, 3. 10a, 2, 

2) ebd. V, 3. 1129b, 25: eürn uEv ovv 7 dixeioovvn dosın uev &orı 
teleie, aA ovy anhwos aAAd Toos Ereoov . zei did Tovro noAlaxıs XQq- 
tion 10V dostov eivaı doxel 7 dızaioovvn xrA. 

3) ebd. 1130a 5: douoros d’ ouy Ö noos aurov (YoWwuesvos) ın doetn, 
@AR’ 6 noös Eregov' Toiro ydo Eoyov yakenov. 

4) ebd. 1: zei did rovro eu dozei Eysır 10 tod Biavros, Ort „aoye 
Tov üvdoa delle“ mocs Eregov ydo zul Ev zoıvwvia 7m 6 doywv. 

5) Bol. III, 6, 7. 1282b. 

6) Eth. IIT, 11. 1160a, 14. * 

) Pol. IN, 7, 7.1283a: zowwrizv co dosm)v eival pauev vv 
dizaoovvnv, 7 Nadoas dvayzalov arolovdeiv tas aha. 

8) Eth. V, 3. 1129b, 38: &v JE dixzauoouvn ovAAnpßdnv ao’ aosım 
&otıv. cf. 1130a 9: eur udv ovVv 7 dixaioovvn ov u£oos aoerns aAh 6m 
dos Eotıv. 


170 Erſtes Buch. Hellas. 


Indem die Gerechtigkeit darauf hinwirkt, daß im gegenfeitigen 
Verfehre der Menjchen Leiftung und Gegenleiftung fich entſprechen, 
d. h. in billigem Verhältnis zu einander ftehen, erweift fie fich 
recht eigentlich al3 eine Kraft, welche Staat und Geſellſchaft zus 
jammenhält, ven Menſchen an den Menschen feijelt.!) 

Bergegenwärtigen wir uns die Tragweite diefer in der „Ethik“ 
entwickelten dee der Gerechtigkeit für die Entwicklung des Verkehrs— 
lebens, jo ift ſoviel gewiß, daß fie von vornherein jene rein indivi- 
dualiſtiſche Auffaffung der Volkswirtſchaft ausschließt, nach welcher es 
als das „Naturgemäße” erjcheint, wenn der wirtjchaftende Menſch 
für möglichft geringe eigene Leiftungen möglichft hohe Gegen: 
leiftungen der anderen zu gewinnen fucht. Die arijtotelifche Ge— 
techtigfeitsidee enthält vielmehr die Forderung, daß auch bei den 
Erſcheinungen des Marktes, bei der Bildung des Taufchwertes und 
ver Preife nicht der wirtichaftliche Egoismus das allein entjchei- 
dende Moment fei, jondern mit der Bethätigung des berechtigten 
Selbjtintereffes geradezu eine bewußte Rückſichtnahme auf das Wohl 
des Nächften, eine pofitive Förderung desfelben Hand in Hand gehe. 

Es iſt ein hochgefteigertes fittliches deal, welches damit in 
das Verkehrsleben hineingetragen wird. Die Verfolgung des rein 
„wirtſchaftlichen Prinzipes“, vermöge deſſen der Anbietende für 
Hingabe eines möglichit geringen Warenguantums möglichit viel 
Geld, der Nachfragende das Umgefehrte erſtrebt, wird nicht einmal 
dann als „ethiſch farblos“ 2) anerkannt, wenn, wie es ja häufig 
der Fall ift, jeder Teil überzeugt fein darf, daß der andere bei 
dem Gejchäft feine Nechnung findet und durch den Erwerb deſſen, 


') ebd. 8. 1132b, 31: «AA Ev uEv Tais xoıvwviaıs tais aAdazrızals 
GuVSſO0ft TO Tolodrov dixaov To avrınenov9os, zart’ dvakoyiav zal um 
zart loTyTa . TO dvrınoreiv yao avdkoyov ovuusvsı m noAıc. 
Dal. 1133a, 1: 77 usradoosı dE ouuuevovow. Pol.I1,1,5.1261la: deoneo 
zo toov TO avrınenovdos oWleır Tas ToAsıs. 

2) So wird das „wirtichaftliche Prinzip“ von modernen National: 
ökonomen bezeichnet 3. B. v. Diegel: Beiträge zur Methodik der Wirtjchaftz- 
wiſſenſchaft. Jahrb. f. Nationalöf. u. Stat. n. F. IX 34 vgl. 39, Dazu 
Dargun: Egoismus u. Altruismus in dev Nationalöfonomie 84. 


II. 2. Der Kampfd. idealift. Sozialphilof. geg. d. extr. Sndividualismuszc. 171 


was er bedarf, ebenfalls einen wirtjchaftlichen Vorteil davonträgt. 
Der Menſch ſoll eben überhaupt nicht den höchſtmöglichen Lohn 
für feine Arbeit, den höchſtmöglichen Preis für feine Mare, die 
höchſte Rente für fein Kapital erſtreben, ſondern nur ein ſolches 
Maß von Lohn und Preis, welches fich prinzipiell innerhalb der 
Schranken der Billigfeit und Gerechtigkeit hält. Nirgends auf dem 
Gebiete der Produktion, wie der Konjumtion foll uns der Menſch, 
deſſen Konjens oder Mitwirkung wir bedürfen, nur als Mittel 
und Werkeug gelten, auf welches wir andere als wirtichaftliche 
Rücjichten zu nehmen nicht nötig haben, jondern ftetS zugleich als 
Gegenſtand jittlicher Pflichten. 

Es joll das Selbftintereffe in dem Sinne „moralifiert“ !) 
werden, daß der Handelnde jich in jeinen wirtichaftlichen Akten von 
vorneherein nie einjeitig nur um die Wahrung jeines Intereſſes, 
jondern ſtets auch um dasjenige der anderen kümmert, daß er 
dem Mitkontrahenten die Sorge für deſſen Wohl nicht aus: 
Ihließlich überläßt, jondern jelbjt von dem ehrlichen Streben nad) 
gerechter Ausgleichung der beiverjeitigen Anjprüche bejeelt und ge- 
leitet it. 

Man mag über die Nealifierbarkeit diefer Forderung denken, 
wie man will, man mag den Drud, den die wirtjchaftlichen Ver— 
hältnifje auf den Einzelnen ausüben, und der ja leider in unzäh- 
ligen Fällen jeden Gedanken an nichtwirtichaftliche Rückſichten ver- 
prängt,2) noch jo hoch anjchlagen, — darüber fann doch kaum ein 





!) Um einen treffenden Ausdruck von A. Wagner (Orundlegung L,? 
762) zu gebrauchen. 

2) „In jedem Augenblick der wirtjchaftsgejchichtlichen Entwicklung — 
jagt Diegel a. a. DO. mit Recht — werden infolge des Drängens der Bevölke— 
rung auf die Subfijtenzmittel, der DVerfchiedenheit dev Ernten, des Mechjels 
der Konjunktur und der Technik u. ſ. w. zunächit gewiſſe Klaſſen oder Kreife 
der Geſellſchaft in ihrem Beſitzſtand getroffen, fühlen den Druc des bejchränften 
Stoffguantums und reagieren darauf durch eine möglichſt ſtrikte Befolgung 
des „wirtjchaftlichen" Prinzips in ihren wirtjchaftlichen Operationen. Damit 
alterieren fie twieder den Beſitzſtand anderer Klafjen und die Folge iſt eine 
jtete Bewegung in der Richtung diefes Prinzipes.” Freilich jpricht gerade 


172 Erites Buch. Hellas. 


Zweifel beftehen, daß die wünſchenswerte Geftaltung des Verkehrs 
in einer möglichiten Annäherung an das hier aufgeftellte Ideal ge 
jucht werden muß. Aller Fortichritt der fittlichen Kultur hängt 
von der Frage ab, bis zu welchem Grade neben dem auf das 
Wirtichaftliche gerichteten Trieb der Selbitbehauptung und Selbitent- 
faltung die Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit als fittlicher Lebens— 
maßſtab zur Geltung zu gelangen vermag. Wie wäre ferner auf 
dem Wege zur Milderung und Verſöhnung wirtichaftlidder und 
jozialer Gegenjäße weiter zu fommen, als „nach der Norm des 
Strahlenden suum cuique” (Rodbertus)? 

Dver jollen wir es für alle Zufunft als „einfaches Gebot 
berechtigter mit der Liebe zum Nächiten vereinbaren Selbjtliebe“ 
anerkennen, wenn 3. B. der wirtichaftliche Unternehmer „bei dem 
Angebote der Ware Arbeit” unter aleich tüchtigen Arbeitern regel- 
mäßig nur diejenigen anwirbt, welche den geringiten Lohn fordern, 2) 
ohne fich ernftlich die Frage vorzulegen, ob dieſe niedrigite Forde— 
rung nicht etwa eine durch Die Not erzwungene ift, und ob er jelbft 
nicht zu einer befjeren Entlohnung wirtichaftlih vollfommen in der 
Lage wäre? 

Sollen wir es für alle Zufunft als „berechtigt“ anerkennen, 
wenn die wirtichaftlichen Intereſſengruppen den Egoismus ftetig 
fteigern und zu immer unverholenerem Ausdrud bringen? Sollen 
wir diefen Egoismus refigniert hinnehmen als etwas, „wogegen 
nicht zu jagen ift,“ und im übrigen der Staatsgewalt die Sorge 
dafür überlaffen, wie den ſchädlichen Folgen feiner antijozialen 
Thätigfeit zu begegnen fei?2) 
dies für die Notwendigkeit, die in entgegengefegter Richtung twirfenden Ten: 
denzen möglichſt zu verftärfen. 

') Eine Anficht, die z.B. Diebel vertritt, obwohl ex ſelbſt zugibt, daß 
„der Ehrift, der Patriot, der Human und billig Gefinnte auch als wirtjchaft- 
liches Ich nicht unchriftlich, unpatriotifch, hartherzig handeln kann" (a. a. O. 
44) und daß die Annahme von dem ausschließlichen Walten des twirtjchaft- 
lichen Prinzipes im Verkehr nur eine Hypothefe zum Zwecke der Gewinnung 
abitrafter Geſetze jein fünne. n 

?) Ein Standpunkt, wie er 5. DB. von dem deutjchen Reichskanzler in 


II. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof. geg. d. extr. Individualismusec. 173 


Ariitoteles ift anderer Anficht. Nach ihm hat ſich der Staat, 
wie der Einzelne auch hier als Drgan der ausgleichenden Gerech— 
tigfeit zu bethätigen, und das allgemeine Nechtsbewußtfein foll fo: 
weit entwicelt werden, daß es jede Geltendmachung von Privat 
interefjen, welche geeignet ift, das Ganze zu jehädigen, jede Aus— 
beutung wirtjchaftlicher Machtverhältniffe zur Erzielung unbillig 
großen Gewinnes als unſittlich brandmarft. 

„Handle jo, daß die Marime deines Willens jederzeit als 
Prinzip einer allgemeinen Gejeßgebung gelten könnte.” Diefe Kan: 
tiihe Formel will nichts anderes, als das hier entwickelte ariftote- 
liche Moralprinzip, für welches ja ebenfalls die Nückficht auf den 
Nebenmenſchen und auf. die Gejamtheit das fittlih Entſcheidende 
it. Es ift die Idee der Öegenfeitigfeit (des Mutualismus),') durch 
welche auch in den Handlungen des wirtjchaftlichen Verkehrslebens 
ein gewiſſes Gleichgewicht zwijchen den Forderungen berechtigter 
Selbftliebe und denen des Gemeinfinnes zur Verwirklichung ge 
langen joll. 

Und dieſe jelbe Idee der Gegenfeitigkeit führt denn noch weiter 
bis in jene Sphäre menschlichen Handelns hinein, in welcher die 
„altruiſtiſche“ Empfindungsweife geradezu das Übergewicht erhält, 
in das Bereich der Liberalität und Barmherzigkeit, d. h. alles deſſen, 
was man neuerdings als das „Faritative” Syjtem dem „privat- 
wirtjchaftlichen” an die Seite gejtellt hat. Hier erjcheint der ari- 
jtotelifchen Betrachtung über die Gerechtigkeit das, was ein wahr- 
haft gerechter Sinn fordert, durch jene ſchöne Volksſitte vorgezeich- 


1 


net, an den Mittelpunften des bürgerlichen Verkehrs ein Heiligtum 








der großen Rede über die Handelsverträge vom 10. Dezember 1891 ver- 
treten wurde. 

) „In der jozialen Ordnung,“ jagt der — allerdings extrem indivi— 
dualiftiiche — Proudhon, „iſt die Gegenfeitigfeit (reeiprocite, To avrınoeiv!) 
die Formel der Gerechtigkeit. Sie ift die Bedingung der Liebe jelbft. 
Die Gegenfeitigkeit ift in der Formel ausgedrückt: Thue anderen, was du 
willſt, daß man dir thue. Das Übel, das uns verfchlingt, kommt daher, daß 
da3 Geſetz der Gegenjeitigfeit verkannt und verlegt iſt.“ Vgl. Diehl: Proud: 
bon II, 41. 


174 Erſtes Buch. Hellas. 


der Huldaöttinnen (Charitinnen) zu errichten.) Ariftoteles ſieht 
darin eine jtete Mahnung zur Erfüllung der fittlihen Pflicht, dem 
Nächiten Dienft mit Gegendienft zu erwivern, ja noch mehr! — 
ihm mit neuen Liebeserweiiungen zuvorzufommen, wie es eben im 
Weſen der Charis liegt.2) 

Tach alledem gelangt Ariftoteles zu dem Ergebnis, daß die 
Gerechtigkeit in vieler Beziehung etwas von dem an fich) babe, 
was die Griechen gell nannten,?) von jenem Gemeingefühl, 
welches Menſch mit Menſch verbindet, und welches vorhan- 
den fein muß, wenn es zur Übung der Gerechtigkeit im reinften 
und höchſten Sinne kommen ſoll. 

Die yılla iſt ja nicht bloß mit dem perjönlichen Verhältnis 
zwiſchen einzelnen, mit der Freundſchaft identisch. Sie ift zugleich 
der dem Menfchen überhaupt innewohnende Trieb nach dem Leben 
in der Gemeinjchaft.t) Und jo zeigt ſich der Gegenjab gegen 
den ſozialen Atomismus, wie er diefe Auffaffung von der Gerechtig- 
feit auszeichnet, auch in der Erörterung über die „Freundſchaft“, 
indem neben der gyıAra im engeren Sinne die verjchiedenften Formen 
des Gemeinlebens, Korporationen, Genofjenjchaften, kurz Berbände 
aller Art,5) ſowie die verſchiedenartigſten Formen des Gemeingefühls 
ins Auge gefaßt werden, die über das individuelle Leben mehr oder 
minder binausführen. 


1) Wie es 3. B. auf den Marktpläßen von Sparta, Olympia, Oxcho: 
menes der Fall ivar. 

2) Eth. V, 8. 1133a, 2: dio zei Xapitwv isoov Eunodov moiodvzat, 
wa dvranodooıs N‘ ToöTo yag idtov yagıros' dvdvnmgerjoa Te 
yco del TO yaoıcausvo zal nakıv avrov dofaı yagılousvov. Dal. die 
Definition dev Charis Rhet. IL, 7. 2. 

3) Ebd. VIII, 1. 1155a, 29: zei av dixaiwv To ucakıore @ıdlıxov 
eivaı doxei. 

) Bol. III, 5, 14. 128la: 7 yo Tod ovönv nooaiomoıs pıdie. 

5) Auch diefe jozialpolitiichen Gebilde werden ala „gYiAias Eoyov“ be- 
zeichnet, freilich injoferne mit Unvecht, al3 ſolche Genoſſenſchaftsbildung ganz 
überwiegend das Ergebnis von individuellen Intereſſen oder auch von 
jozialen Inſtinkten ift, die nicht notwendig mit altwuiftifcher Empfindungs- 
weiſe zu identifizieren find. 


<a 


IT. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphiloſ. geg.d. extr. Individualismus sc. 175 


Demgemäß ericheint auch hier wieder — al3 eine Form der 
gyılia — die „Einheitlichfeit der Gejinnung” (ouovore),!) die 
„politische Freundſchaft“. Sie hält den Staat zuſammen und bildet 
eine feſte Schußwehr gegen innere Kämpfe, weil, — wo fie vor: 
handen ift — die Einzelnen fih als Glieder einer geiftigsfittlichen 
Gemeinjchaft fühlen, welche gemeinjame Ideale hat, die ihr höher 
jtehen, als das indivivuelle Intereſſe: nämlich die Gerechtigkeit und 
die Wohlfahrt der Gejamtheit.?) 

Aber jelbjt über diefen weiten durch die ftaatliche Gemein: 
ſchaft gegebenen Rahmen führt die Begriffsbeftimmung der yılrz 
bei Ariftoteles hinaus. Er verweilt auf jenen Drang zum Gemein- 
leben, welcher jchon den gemeinfam lebenden Tieren und in noch 
viel höherem Sinn dem Menjchen eigentümlich ijt;?) jenes Gemein- 
gefühl, als deſſen edle Frucht die „Menſchenfreundlichkeit“, 
die yılavIowrcie ericheint, die immer aufs neue erkennen läßt, 


) Ich entnehme dieſen ſehr glücklichen Ausdruck den Ausführungen 
Schmollers, die fi) mit dem ariftoteliichen Standpunkt jo nahe berühren. 
Die „ouovoe“ ift in der That nichts anderes als Schmollers „Einheitlichkeit 
der Gefinnung”, die Gemeinschaft dev Ideen und Gefühle, die Schmoller jo 
ſchön ala den „goldenen Ring” bezeichnet hat, welcher „das Volkstum 
zuſammenhält“. Grundfragen 122. Vgl. Jahrb. f. Gejeßgeb. u. Volksw. 
1890. S. 98 ff. (Das Weſen der Arbeitsteilung und der ſozialen Klaſſenbildung). 

2) Eth. IX, 6. 1167b, 3: Eorıv d’ 7 ron ouovor@ Ev Tols En- 
eixeoıw‘ ovror Yao zei Eauvrois Öuovoovcıv zei ahlmkoıs Ei tov avror 
ÖVTes WS EinElv' TWV TOLOVTWv Yao uereı Ta Bovinueta zul 00 ueraoger 
Wworeg Evgınos, BovAovrei TE TE dixaia zul Te Svugpeoovra‘ tovrwv dE 
xei xoivn Eplevrat. 

Vgl. VII, 1, 1155a, 22: Eoıxev de zul Tas noAsıs ovveyew m 
pihie, zei oi vouoderaı uchAov regi avrnv onovdalsır 7 mv dizauoovvnv' 
7 ydo öuovora Duowv Tı 17 Yilie Eoizev Eivaı, Tavıys dE uahıoıa £pi- 
evraı xrA. cf. Bol. U, 1,16. 1262b: gıliav Te yao olousda ueEyıorov 
eivar Tov dyasov tais noAsoır (oGros ycao dv Nzıora oraoıabouev) zei 
TO ulav eivaı ınv nokıv Enaıvei udho# 0 Zwxrodıns 0 zal doxsi 
xaxeivos eivai pyoL vis Yikias Eoyov xrA. 

3) &th. VIII, 1, 1155a 16: gvosı Te Evvnaoyeiv Eoıze sc. pidie... 
Tois Suoedveoı ıg0s @Almla zul uckıore Tois avdgwnoıs, OEV Tods pihar- 
Hownovs Enaiwvovuer. 


176 Erſtes Buch. Hellas. 


wie „nahe verwandt und lieb der Menſch dem Menfchen ift“ 
(os oixslov areas av$owros avIeWrp xal yikov).!) 

Alle wahrhaft menschlichen Empfindungen verleugnet daher 
der Egoift, der alles nur um jeinetwillen („Ervrov gagıy ravre“) 
und nichts thut, wobei nicht jein Intereſſe im Spiele ift (ovder 
ay Eavror rroarreı), der in dem allgemeinen Konkurrenzkampf 
um die Äußeren Güter des Lebens, um Neichtum, Ehre und Ge— 
nuß einzig dieſem, jeinem jelbjtfüchtigen Intereſſe folgt?) 

Solcher Eigenliebe fteht jene Gefinnung gegenüber, welche — 
je nach der Nähe des perjönlichen Verhältnifjes, nach Würdigkeit 
oder Dürftigfeit — jedem das Seine gewährt und jo all’ den ſitt— 
lichen DVerbindlichkeiten gerecht zu werden jucht, welche die jo ver: 
ſchiedenartigen Beziehungen zu Verwandten, Freunden, Mitbürgern 
und anderen Menjchen dem Einzelnen auferlegen.?) 

) Ebd. Schwer begreiflich ift es, wie Hildenbrand (Geſch. u. Shit. 
der Rechts- und Staatsphil. T, 339) angeſichts dieſer Stelle, die allerdings 
gewöhnlich überjehen wird, die Behauptung aufjtellen kann: Ariftoteles fenne 
„ebenfowenig wie das ganze Heidentum den Begriff der Liebe ala dauernder 
Beichaffenheit des Subjekts, welche jich gegen andere Menfchen äußern joll 
und von der die Freundjchaft nur eine Steigerung und Anwendung ift.“ 
Man Sollte doch mit jolch einjeitigen Anfchauungen über das „Heidentum”, 
nach welchen dasjelbe alles Mögliche nicht gefannt haben joll, endlich einmal 
brechen! Allerdings erklärt es Ariftoteles für unmöglich, viele zu „Lieben“; 
allein der Zufammenhang beweift, daß er hier nur eine bejtimmte Art der 
Liebe im Auge hat, einen hohen Grad perjönlicher Zuneigung (pikov opoder 
eivaı, vrrgoßoAm Yikies), nicht das, was wir unter allgemeiner Menfchenliebe 
verſtehen. (Eth. IX, 10, 1171a, 10.) Die Liebe, heißt es ebd. 4. 1166, 32, 
die mehr ift, als bloßes Wohlwollen, jchließt eine Spannung des Gemütes 
(dierasır) nnd ein lebhaftes Verlangen (oosdır) in fich, wie es naturgemäß 
nur durch Einzelne erregt werden fann. 

>) ebd. 8. 1168b, 15: giAavrovs xaAovcı Toös Eavrois anov&uovras 
To nAeiov Ev yomjuaoı zu. Vgl. 1168a. f 

3) Ebd. 1. 1165a, 29: noös Eraigovs d’ av xal ddeApovs neognolav 
zei EnIEvrwv xzoworntae ,„ xal ovyyEev£oı DE zei pvhetaıs xai nroditaıis zei 
tois Aoınols Enaoıv dei neigarTeorv TO oiXelov anoveusıv, xal OvVyxolveiv 
TE &xd0ToIS Ündoyovra zur’ olxEIornTa xal doETMmVv 7 Xonow . av uev 
orv öuoyerWr ddr ı) zgloıs, av dE dinpegortwv Eoywdsotege . ou ur 





11. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof.geg.d. extr. Sndividualismusac. 177 


Es ift die Aufgabe der Erziehung, diefe ſozialen Gefühle im 
Volke möglichit zu entwickeln und ihre richtige Anwendung zu fichern. 
Die Erziehung zu einem jolchen fittlihen Gemeinschaftsleben aber 
iſt wejentlih Sache des Staates, weil ja im Staate alle Gemein- 
Ichaftlichkeit des Lebens zur Vollendung und abjchliegenden Gejtal- 
tung gelangt.!) Der Staat und feine Inſtitutionen find es vor 
allem, die den Einzelnen zur jozialen PBflichterfüllung, insbejondere 
zu einem gemeinnüßigen Gebrauch des Vrivateigentums zu erziehen 
und auf jene Ausgleihung der Begierden hinzuwirken haben, 
welche für Ariftoteles die erſte Bedingung jozialen Friedens ift.?) 
Ya der Staat hat die Erfüllung auch ſolch höherer jozialer Pflich— 
ten nötigenfall3 zu erzwingen.>) 

Auch mit diefer Auffaffung ſetzt fih Ariftoteles in ausdrüd- 
lichen Widerſpruch zu den einfeitig individualiftiichen Doftrinen. der 
Vorgänger. Er nennt jogar zwei Vertreter derjelben, den ohne 
Zweifel der Sophiſtik naheftehenden Architekten und Staatstheoretifer 
Hippodamos von Milet nnd den Sophilten Lyfophron. 

Die auf dem Boden der Demokratie jtehende Staatstheorie 
des Hippodamos iſt für uns die erſte, welche aus dem abjtraft- 
individualiftiichen Freiheitsprinzip den Schluß gezogen bat, daß der 
Staat und feine Gejeßgebung ſich prinzipiell auf den einen Zweck 
des Nehtsihuses, der Sicherung von Perſon und Eigentum zu 
die ye Todro anoorareov, aAA Ws dv Evdeyerai, ovrws diogioteov. Ein 
interefjantes und glaubwürdiges Zeugnis für die humane Auffaſſung des 
Ariftoteles ift die Erzählung bei Stobäus 37. 32, wonach Ariftoteles, ala 
ihm wegen einer einem Unwürdigen erwieſenen Wohlthat ein Vorwurf gemacht 
wurde, exividerte: „Sch Habe ſie nicht dem Menſchen, jondern der Menjchlich- 
feit (co avdownivo) erwieſen.“ 

1) Bol. II, 2, 10a. 1263b: des nAndos 09 sc. ımv noAıv dıa mv 
naudeiav zoıvnv zul ulav noıueiv. 

2) Ebd. II, 4, 5. 1266b: ucAdovr ydo der Tas Emidvulas öuakilev 
7 Tas ovoias, Toro d’ 0vx Eorı un nawdevousvors izevos uno Tv vouwr. 

3) Ariftoteles verweift in diefer Beziehung auf Kreta und Sparta. 
Eth. I, 13. 1102a, 10 u. X 9. 1180a, 14. Vgl. die analoge Auffaſſung Xeno— 
phons über die erzieherijche Aufgabe des Staates. Staat der Lak. X, 4--7. 
Kyropädie I, 2, 2—3. Erziehung der Bürger zur Gerechtigkeit! ib. I, 2, 6. 


Pohlmann, Geſch des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 12 


17.8 Erſtes Buch. Hellas. 


beſchränken habe.) Noch deutlicher-tritt ung die atomiſtiſch-indivi— 
dualiſtiſche Staatsauffaſſung bei Lykophron entgegen, von dem 
Ariſtoteles die bezeichnende ÄAußerung mitteilt, daß das Geſetz nichts 
ſei, als ein „Bürge der gegenſeitigen Rechtsanſprüche“ (Eyyunens 
allykoıs row dıxaeiov).”) CS iſt das jo recht im Sinne einer 
Anſchauung gedacht, für welche das Individuum der Angelpunft 
des ganzen Nechtes und lediglich für fich jelbft da it. Das Necht 
bejteht nur auf Grund eines Vertrages,?) in dem die Einzelnen ſich 
gegenfeitig perjönliche Sicherheit verbürgen, und dem man ſich nur 
fügt, um fich neben den Anderen behaupten zu können. Der Staat 
hat nur das gewaltſame Übergreifen von einer Freiheitsiphäre in 
die andere zu verhüten und ſich im übrigen gegenüber den Be- 
ftrebungen der Einzelnen möglichjt paſſiv zu verhalten. Zwiſchen 
ihm und den einzelnen Individuen bejteht ebenjomwenig ein inneres 
Berhältnis, wie zwijchen diejen jelbit. 


1) Bol. II, 4, 5. 1267b: @ero D ein... TWv voumv ziva rei 
uovov . eo wv yao ai dir yivovraı, Tola Tavt eivaı Tov doLduor, 
vBow, BAcPßnv, Iaverov. Sehr bezeichnend ift es übrigens, daß jchon diefer 
erſte Vertreter des „abjtrakten Rechtsſtaates“ nicht umhin fann, dem Staate 
Schließlich doch auch wieder TIhätigfeiten im Sinne des Kultur: und Wohl: 
fahrtszweckes zuzuschreiben, welche mit dem allgemeinen Prinzip keineswegs 
völlig übereinftimmen. cf. Arift. ebd. 1268a. 

2) Ebd. II, 5, 11. 1281a. 

3) Da Ariftoteles a. a. D. in unmittelbarem Zufammenhang mit der 
Theorie des Lyfophron auch die VBertragstheorie erwähnt, jo kann es faum 
zweifelhaft fein, daß diejelbe der Anficht Lykophrons entſprach. Es ergibt 
ſich das übrigens ſchon aus dem Begriff der Verbürgung, die eben zivei 
Kontrahenten vorausſetzt. — Die Lehre don der Entjtehung des Staates durch 
Vertrag ift ja überhaupt der Sophiftif eigen. cf. Plato Rep. II. 358e: 
nepvrevar ydo d7 yacı TO usv adızeiv dyadov, To dE adızeiodaı xzuxov, 
nheovı dE zero Üneoßa@dleıv To adızeiodaı 7 aya9o To adızeiv, wor’ 
eneidav aAhmhovs adızaaı TE zul ddızWvraı zei aUPoTEowv YyEiwvraı, 
Tois un dvvauzvoıs TO uEv Expevyev, To dE aigeiv doxeiv Avoutelsiv 
SvvHeodaı dAAmkoıs und adızeır une adızeiodeaı . zai Evrsütev dN 
aofaodaı vouovs TIFEOHaL xl Evvdnjxas aüTov, zul Gvoudoeı Te 
Uno Tod vouov Eniitayuc vouluov TE xal dixaıov zul eivaı du Tavınv 
yEvsoiv TE xal oVolav dixaloovvns. 


+ 42 


1. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof.geg.d. extr. Individualismus ec. 179 


Im Hinblid auf diefe- Dogmatik des Egoismus entwicelt 
Ariftoteles im dritten Buche der Politik die für alle Zeiten maf- 
gebenden Grundgedanken einer Staats und Gejellichaftsanihauung, 
für welche der Staat die weit über das Bedürfnis der Sicherheit 
hinausgehende Aufgabe der pojitiven Förderung von Kultur, Wohle 
fahrt und Sittlichkeit feiner Bürger hat. 

Der Staat, — jo lauten diefe Sätze, die man nicht oft ge 
nug wiederholen kann,) — hat zwar feinen Urſprung in den not- 
wendigſten Bedürfniſſen der Menjchen, aber in feiner Entwicklung 
joll ex der Bervollfommnung ihres — äußeren und inneren — 
Daſeins Ddienen.?2) Der Staat ift auch fein bloßer Schußverein 
gegen Nechtsverlegung und äußere Gewalt oder eine Anftalt für 
den Verkehr?) oder eine Erwerbsgenofjenichaft.t) Denn auch felb- 

) MWenigjtens jolange nicht oft genug, als jelbft Männer, wie Sufe- 
mihl (Anmerk. 250 zur Bolitif) und Onden (Staatslehre d. Arift. I, 214) 
der Nechtsjtaatstheorie don Hippodamos und Lyfophron eine „ſchöpferiſche“ 
Bedeutung zufchreiben oder fie — wie wenigjtens Onden — als eine geijtige 
Errungenschaft feiern, mit der Hippodamos feine Zeit weit überholt habe 
und ich neben den römischen Juriſten als Vorläufer des modernen Staates 
darjtelle, der „im Gejege nur die Schutzwehr gegen Störungen der öffent: 
lichen Ordnung ſieht.“ 

Übrigens behauptet Sujemihl (Einl. z. Bol. 27) mit Unrecht, daß 
Ariftoteles nicht einmal den Verſuch mache, dieſes Prinzip der „Bejchränfung 
der Gejeßgebung” zu widerlegen. Als ob nicht gerade die obige Erörterung 
dieſe Widerlegung enthielte! Aber auch zugegeben, daß dem Philojophen 
wirklich, wie Sujemihl ihm vorwirft, „jede Meinung über die Aufgabe des 
Staates ohne weiteres damit als widerlegt erſchien, wenn fie auf eine jolche 
Anſchauung von dem Geſetz hinausläuft,” — würden wir ihm heutzutage 
daraus einen Vorwurf machen? Erſcheint nicht in der That gerade auf dem 
heutigen Standpunkt jtaatstwiijenjchaftlicher Erkenntnis eine Widerlegung der 
extremen Rechtsjtaatstheorie vollkommen überflüffig? 

2) Bol. I, 1,8. 1252b: 7 noAıs yıvousvn uv Tod Cv Evexev, ovo« 
de tor eu Giv. cf. III, 5, 10. 1280a. 

3) Ebd. II, 5, 10: ... unre ovuueyias Evezev, Onws Uno undevos 
adızavrai, unte did Tas ahlayas xal Tv YXomoıw Tmv noos aAhmkovs xrA. 

In der befannten Polemik gegen den Anfpruch der Plutofraten auf 
politifche Privilegierung des Befites (a. a. O.) heißt es: ed ur yao av 

12* 


180 Erſtes Buch. Hellas. 


ftändige Staaten jehließen unter ſich Schutzbündniſſe und Handels: 
verträge ab, Fümmern ſich aber nichts um die Sittlichfeit und 
Bildung des DVolfes, mit dem das BVertragsverhältnis befteht; 
während doch gerade dies ideale Moment, die Förderung der Sitt- 
lichkeit und Gerechtigkeit, von der Idee einer wahren jtaatsbürger: 
lichen Gemeinjchaft unzertrennlich ift. 

Daher macht auch die Einheit des Ortes an fich noch feinen 
Staat. Wenn man zwei in fich verjchiedenartige Gemeinwejen — 
Ariftoteles nennt beijpielsweile Megara und Korinth — jo zus 
ſammenrücken könnte, daß fie eine ununterbrochene Häuferreihe 
bildeten, jo würde dadurch noch Fein einheitlicher Staat entjtehen. 
Dover wenn eine Anzahl von Individuen zwar gejondert lebte, 
aber doch nahe genug, um mit einander verkehren zu können, und 
wenn fie überdies noch einen Friedensverein unter fich jchlöffen zur 
Vermeidung von Nechtsverlegungen, jowie eine Verbindung zur 
gemeinjamen Verteidigung, jo wäre auch das noch fein Staat. Ja 
ſelbſt gejeßt den Fall, fie entjchlöffen fich zu einem fürmlichen 
Synoifismos und zögen zufammen, jeder Einzelne aber würde fort: 
fahren, fein eigenes Haus wie einen Staat für fich zu betrachten 
und ſich ſelbſt nur als Mitglied eines Schußvereins, der zu nichts 
verpflichtet, als zum Beiftand gegen äußere Gewalt, jo würde eine 
wahrhaft jtaatliche Gemeinschaft ebenjomwenig bejtehen, wie zuvor, 
da ſich ja in Beziehung auf Art und Zweck des gegenfeitigen Ver: 
fehres nichts geändert hätte!) 

Es ift alfo Elar, daß der Staat mehr ift, als eine bloße Ge: 
meinjchaft des Wohnortes oder ein Verein zur Verhütung des Un— 
zyudtwvy ydoiv ExoivWvnoev zul GvrnAdov, TOGOVTOV WETEYOVOL TNS TIO- 
Aews 0007 reg zei rs zrmosws. — Man wird dabei lebhaft an die Polemik 
Gneift3 gegen das moderne Manchejtertum erinnert, das den Staat wie eine 
Altiengejellfchaft betrachtet oder wie eine mit Geldbeiträgen erfaufte Majchine, 
die den Privatperjonen möglichjt viele Genüſſe fichern joll. 

) Ebd. 13.128la: & ydo zei ovveidoıev oVUTW zoLıvWvoVvres Exaotog 
uevroı ygBTo rn ldig olizig aoneo nokeı zal opioıw wvrols wg Enti- 
ucyies oVons Bom}ovrtes EN Tode ddixzoövras uovov, 0V0’ ovrws Ev Eivau 
doFeıe nohts Tols dxgLBOS Hewgovcıv, Eineo Öuolws outkolev Gvvehdovtes. 





| 


— 


IT. 2. Der ſtampf b. idealiſt. Sozialphilof.geg. b. ertr. Individualismus ꝛc. 181 


rechtes und zur Förderung des Verfehres.") All das ift zwar Die 
notwendige Borausfegung für das Beitehen des Staates, das Weſen 
besjelben aber ift Die Gemeinihaft zur möglichſt vollfommenen und 
befriedigenden Verwirklichung aller menihlichen Lebenszwede.?2) Das 
Biel diefer Gemeinichaft ift nicht das bloße Zujammenleben, fon- 
dern ein Gemeinſchaftsleben, welches zugleid; das Schöne und Gute 
eritrebt.?) 

Inſoferne ift der Staat zugleih eine Anftalt zur Berwirk 
lihung menſchlicher Glüdfeligkeit; nit in dem materialiftiichen 
Sinne des Wortes — „denn e3 widerſpricht einer hochherzigen und 
wahrhaft liberalen Gefinnung, alles nur auf den äußeren Nußen 
zu beziehen” 4) --; dieſe Glücdjeligfeit bejteht vielmehr vor allem 
in der Vervollkommnung deſſen, was der edelite Teil des menſch— 
lichen Wejens ift, in der Entwicklung der geiftigen und fittlichen 
Anlagen des Menjchen.?) hr gegenüber find die äußeren Güter 
(t& Extis, va Ee&wregize) von jefundärer Bedeutung. Sie find 
bi3 zu einem Grade unentbehrli, aber während der geiftige und 
fittlihe Fortichritt feiner Natur nad ein unbegrenzter ift und fein 
foll, verbürgt das feine Schranken fennende Streben nad) Bermeh- 
tung der materiellen Güter weder das Glüd der Gejamtheit, noch 
des Einzelnen. Im Gegenteil! Der materielle Reichtum kann, 


!) ib. gavegov roivvv tœ ovz £arıv m nölıs zowwvie Tonov zei 
too um «ddızeiv opas aitovs zei 15 ueredooews yagıv. 

?) ib. 128la: modıs di N yevov zei zwuov zoıvovia Cons tektias 
zul autapxovs <ycgıw> ‚roüro d’ Eoriv, ds gaufv, 10 Inv evdanuovos 


zei zus. 

) ib. zuv zahAuv dga nodkewv [ydgw] Yerkov eivaı tiv nokırızmv 
xowwvlar, ahh 00 Too ovLnv. 

s) ib. 13382. 


5) Pol. IV 1,5.1323b: Or uev ovv Exdorw ıns eidaıuovias Emı- 
Ba@adeı rooourov, Goov eo dgEImS zei goovjosws zei TOD ngdtreıv zerd 
teures, toro ovvouokoynulvov Tulv, udorvoı TO Bew yomukvors, ds 
evdeiuwv u£v korı zei uazdpios, di’ ovdiv dE ruv Ewrsgizov ahld di 
aördv autos zai To nos Tıs eivar Tyv güsww, £nei zei tiv evrugiar ris 
eideıuovias did radr dvayzalov Erigev eivaı, 





182 Erſtes Buch. Hellas. 


wenn er ein gewilles Maß überjchreitet, auch zum Unheil aus: 
ſchlagen und die fittlichen Lebenszwecke ſelbſt gefährden.!) 

Nun aber find es ja, wie Ariftoteles in der Grörterung der 
Ethif über den Egoismus hervorhebt, gerade die äußeren Güter: 
Neichtum, Ehre und Sinnengenuß, welche die meiften Menfchen als 
die höchiten in heißem Bemühen erjtreben und welche daher Gegen- 
ftand des beftändigen Kampfes der Leidenschaften und Begierden 
ſind.)) Insbeſondere ift es das Gigentümliche des auf das Geld 
gerichteten Erwerbstriebes, daß er dasjelbe ins Grenzenlofe zu ver: 
mehren trachtet.°2) Den meiften Menſchen ift es eben nur um das 
äußere Dafein, nicht um die VBeredlung des Lebens zu thun.t) Da 
aber die Grenze des Lebens unbekannt ift, jo ift auch die Lebens: 
fürforge eine unbegrenzte und damit auch das Beftreben, ein mög- 
lichft reiches Maß von Mitteln zum Leben fich zu verfchaffen. Die: 
jenigen aber, die auch nach DVerjchönerung des Lebens trachten, 
haben dabei meift die äußeren Genüſſe im Auge, und da die Vor— 
ausſetzung, fich ſolche zu ſchaffen, eben der Beſitz ift, jo richtet ſich 
auch bei ihnen das ganze Dichten und Trachten auf den Ber: 
mögengerwerb. Auch kennt dann naturgemäß diefer Erwerbstrieb 
ebenjowenig eine Grenze, wie der Genuß, der fein Ziel ift.5) Sm: 
dem jo das Leben der großen Mehrheit von einfeitigen Trieben 
beherrjcht wird, entiteht ein Antagonismus zwiſchen den Lebens- 
zwecken des Einzelnen und den Zwecken des Staates als des Trä- 
ger3 der höheren Güter der Menfchheit, deren Verwirklichung eine 
harmonische Ausgleichung der menjchlichen Triebe, das richtige 


!) ib. 4. Ta uev yao &xros Eyeı TTEORS, WONEO Voyavov Tı (nav 
yco To yoyoıuov Eorıw, av tv üneoßoknv 1) BAdnreiv dveyzatov 7) under 
ogysAos Eivaı airov tois &yovam). 

2) Eth. IX, 8, 1168b, 19. Bol. IV, 1,3. 13238. 

3») Ebd. I, 3, 18. 1257b: nevres yap Eis dnreigov av&ovow ol Xon- 
uarılousror TO vououe. 

4) Ebd. 19. 1258a. 

5) ib. Mriftoteles wiederholt hier nur die Auffaſſung Platos über den 
Zujammenhang zwiſchen dev Unerfättlichkeit dev Gewwinnjucht und der Maß— 
loſigkeit der Bedürfniſſe. Leg. XI, 918d. 


IT. 2. Der Kampf d. idealift. Sozialphilof. geg.d.extr. Individualismus ꝛc. 183 


fittliche Maß bedeutet. Wenn es daher recht eigentlich) Aufgabe 
de3 Staates ift, den Egoismus der Einzelnen dem Wohle des 
Ganzen zu unterwerfen, jo wird das Objekt, an welchen jich diejer 
Egoismus bethätigt, und aus welchem er immer neuen Anreiz und 
neue Nahrung erhält, das Gebiet der materiellen Intereſſen, für 
den Staat, dem es mit feinen fittlichen Zielen Ernſt ift, ein Gegen: 
ftand bejonderer Aufmerkſamkeit fein müſſen. 

Er hat um diefer feiner Ziele willen mit Entjchiedenheit 
Stellung zu nehmen gegen den extremen Jndividualismus auf wirt: 
ſchaftlichem Gebiet. Gegenüber einer Lehre, welche unter Berufung 
auf den Kampf um das Dafein in der Natur und das natürliche 
Recht des Starken über den Schwachen, dem Eingreifen des Staates 
in den wirtjchaftlichen Konkurrenzkampf prinzipiell ablehnend gegen- 
überftand, welche das „freie Gehenlaſſen“, das „rarr« Eareov‘“!) 
als das Naturgemäße proflamierte, jtellt Arijtoteles — ebenſo wie 
Plato — dem Staate die Aufgabe einer fittlichen Neinigung des 
Wirtſchaftslebens, einer pofitiven Bekämpfung der einfeitigen Aus— 
artung oder Übertreibung des wirtichaftlichen Selbjtinterefjes. Auch 
auf wirtjchaftlichem Gebiete joll nicht einjeitig das Jndivivuum 
zum Zwecke des Gemeinjchaftslebens gemacht, ſondern erſt nach den 
Bedingungen dieſes Gemeinjchaftslebens die Sphäre indiviouellen 
Wollens und Handelns beftimmt werden. Der Naturgewalt der 
materiellen Snterefjen, welche die Gejellfehaft beherrfchen und überall 
des Beſſeren im Menschen Herr zu werden trachten, wird die hohe 
Idee des Staates als einer fittlichen Lebensgemeinichaft gegenüber: 
geftellt, welche den Beruf und — bei richtiger Drganifation — auch 
die Kraft hat, dem höheren echte der ethijchen Ziele über die ein- 


1) Ariſtoteles a. a. O. IT, 4, 12b. Die Stelle hätte wohl verdient 
in der Gejchichte de „Laissez-faire* genannt zu werden, das ung hier zum 
erſtenmale entgegentritt. Allerdings bezeichnet Ariftoteles a. a. O. das Prinzip 
des nevre Eareov nicht mit ausdrüclichen Worten als Bejtandteil der indi— 
vidualiftiichen Theorien; aber es war das ebenjowenig notwendig, wie bei 
der Vertragstheorie, da jenes Prinzip in der von ihm befämpften Idee des 
bloßen Rechtzftaates implicite enthalten war. 


154 Erſtes Buch. Hellas. 


jeitig wirtjchaftlichen Zwede, und ſei es auch durch Zuhilfenahme 
ftaatlicher Zwangsgewalt, zum Siege zu verhelfen. 

63 jollte dem Egoismus nicht bloß durch die Erziehung der 
Einzelnen zur Sittlichfeit entgegengewirkt, ſoudern ihm unmittelbar 
der Boden ſelbſt ftreitig gemacht werden, auf dem er fich am rück— 
fichtslojeften Hatte zur Geltung bringen fünnen, der Boden des 
wirtschaftlichen Verkehrslebens. 


Dritter Abfchnitt. 
Die platoniſche Kritik der geſchichtlichen Staats: und Geſell— 
ſchaftsordnung. 

Wenn die Erhebung des Staates über die einſeitige Herr— 
ſchaft des Güterlebens als ein fundamentables Problem der Politik 
aufgeſtellt wurde, jo ergab ſich für die philoſophiſche Staatslehre 
von ſelbſt die weitere Aufgabe, durch eine einſchneidende Kritik der 
beſtehenden Wirtſchafts- und Geſellſchaftsordnung ihrerſeits den 
Kampf aufzunehmen und das öffentliche Bewußtſein ſo eindringlich 
wie möglich auf die Gefahren hinzuweiſen, mit welchen das Über— 
gewicht des wirtſchaftlichen Egoismus das ganze Volks- und Staats— 
leben bedrohte. Gegenüber dem Quietismus, der den beitehenden 
Zuftand der Dinge hinnimmt, wie er ift, weil er nach feiner An— 
jicht gar nicht anders fein kann, mußte, um mit Fichte zu reden, 
die Frage erhoben werden: auf welche Weije ift denn der gegen: 
wärtige Zuftand der Dinge entftanden, aus welchen Gründen hat 
die Welt fich gerade jo gebildet, wie wir fie vor uns finden? Denn 
indem jo das hiſtoriſch Gegebene ſich als das Erzeugnis ganz bes 
jtinmter „oft gar verwunderlicher und willfürlicher” Verhältniſſe 
herausftellte, gewann der Denker, der „nicht nur das wirklich Vor- 
handene durch den Gedanken nachzubilden, jondern auch das Mög- 
liche durch denjelben frei in fich zu erſchaffen gewöhnt ift,“ eine 
Rechtfertigung für den verjuchten Nachweis, daß „noch ganz andere 
Verbindungen und Verhältniffe dev Dinge als die gegebenen mög: 


II. 3. Die platon. Kritik der gefchichtl. Staats: u. Gejellfchaftsordnung. 185 


lich und jedenfalls natürlicher und vernunftgemäßer ſeien.“) Aus- 
drücklich hat Plato für die politiichen Wiſſenſchaften die Notwendig- 
feit betont, fich nicht bloß auf „leere“ Theorien zu bejchränfen, 
jfondern auch auf die Geſchichte und die Erſcheinungen des that- 
fächlichen Lebens einzugehen.?) Insbeſondere jcheint ihm eine Unter: 
fuchung über das deal der „Gerechtigkeit?, wie er jie mit der 
Konftruftion des „beiten Staates“ verbindet, ohne eine Analyje 
des -gegenteiligen PBrinzipes und jeiner thatjächlichen Lebensäuße- 
rungen unvollitändig.?) 

In wahrhaft großartiger Weile führt uns auf diefem Wege 
Plato zu der Erkenntnis des innerjten Weſens der jozialen Mif- 
jtände jeines Volkes. Das achte Buch der modırei« mit jeiner 
einjchneidenden Kritik eines ganz in der Geſellſchaft aufgegangenen 
und von der Gefellichaft beherrichten Staatslebens ift eine einzige 
gewaltige Anklagejchrift gegen die plutofratiiche jowohl, wie gegen 
die ochlofratifche Souveränität der materiellen Intereſſen. 

Plato geht aus von dem Punkte der Entwiclungt), wo jtatt 


ı) Fichte: Der gefchloffene Handelsſtaat S. W. III 449, wo ähnlich, 
wie im platonifchen Staat, ein ganzes Buch der „Kritik der Zeitgefchichte” 
gewidmet wird, wie denn überhaupt dieſer erſte Verſuch der modernen deut- 
ſchen Bhilojophie auf dem Gebiete des Sozialismus jehr bedeutfame Analogien 
mit dem platonijchen Sozialismus aufzuweiſen hat. 

?) Leg. III 684a: negıruyovres yco Eoyoıs yerouevors, Ws Eoizev, 
Ei Tov avrov Aoyov Einkudauev, WoTE 0V neol zevöov Ti Üntmoousv 
Tov aurov Aoyov, aAAQ negl yeyovos re zul Eyov aAndEıarv. 

3) Rep. VIII 545a. Bgl. 473b. 544a: zor de Aoınav nolıreiov 
Epnode, Ws urnuoveviw, terrega Eidn Eeivaı, ov zul negı hoyov deiov 
ein Eyeıv zal ldeiv airav Ta dueornuare zei Toüs &xeivams av 
öuolovs TA. 

+) Wenn ich von „Entwicklung“ vede, jo ift dies nicht jo zu verſtehen, 
al3 ob der von Plato gejchilderte Auflöfungsprozeh ſich mit dem thatjäch- 
lichen Verlauf der politifchen Entwicklung in den einzelnen Hellenenjtaaten 
bis ins Einzelne und chronologisch genau dede. Plato konnte angefichts der 
unendlichen Mannigfaltigfeit der hellenischen Staatenentwicklung nur ein 
ideales Durchichnittsbild geben, welches in großen allgemeinen Zügen zeigt, 
wie die Kräfte der jozialen Zerſetzung mit innerer Notiwendigfeit zu einer 


156 Erſtes Buch. Hellas. 


fozialer, Staat und Geſellſchaft zufammenhaltender Motive ein zer- 
feßender, die fozialen Bande auflöjender Egoismus, und mit ihm 
die „Jagd nach dem Golde” (gonueriouos) wenigftens für einen. 
Teil der Gefellfchaft die allgewaltige Triebfeder des Handelns ge 
worden ift.!) Diefe Wandlung des öffentlichen Geiftes erzeugt 
nach Plato jelbft in einer ariftofratiichen Geſellſchaft eine Klaſſe 
von Menschen, deren Göße das Geld ift, das fie insgeheim mit 
roher Leidenfchaft verehren. Ihre Hauptiorge gilt ihren Geld— 
ſchränken und den Depots, wo fie dasjelbe ficher bergen können. 
An ihren Wohnungen jehägen fie vor allem die Mauer, die fie 
von der Außenwelt feheidet. Denn fie jollen ihr „ureigenftes Neſt“ 
jein, in deſſen Dunkel fie mit Weibern und, mit wen e3 ihnen 
ſonſt beliebt, ungeſtört dem Genuffe leben und ihre Handlungen 
dem Auge des Gejeßes entziehen können. Sie werden erfinderifch 
in neuen Formen des Aufwandes und modeln darnach jelbjt die 
Gelege um, die Bürgen alter Einfachheit des Lebens, denen fie 
und ihre Frauen untreu werden.?) 

Der goldgefüllte Geldjchranf der Reichen (Tauıstov Exetvo 
xovoiov zrAnoovusvor)?) beginnt nun aber jehr bald feine Anz 
ziehungskraft auf die Allgemeinheit auszuüben. Es wird unter 
dieſen jelbft und dann in immer weiteren Kreifen, indem ftetS der 
Eine auf den Anderen blickt, ein fürmlicher Wettkampf um den 
materiellen Befit entfeffelt, der die Erwerbsgier ftetig fteigert, 
während andererjeits die idealen Güter (die Zosrn) in der öffent- 
lichen Wertſchätzung finfen. Cine Entwiclung, die auf den Volks— 
geift notwendig entfittlichend wirken muß. Denn wo man fich vor 
dem Reichtum und den Neichen beugt, da wird man naturgemäß 
die Tugend und die „Guten“ geringer achten. (Virtus post 
ftufenweifen DBerjchlechterung der ftaatlichen Verhältniſſe führen mußten, 
mochte auch da und dort der gefchichtliche Verlauf im Einzelnen von dem 
hier aufgeftellten Schema abweichen. 

1) 547 ff. 

2) 548a. 

>) 550d. 





II. 3. Die platon. Kritik der gejchichtl. Staats- u. Geſellſchaftsordnung. 187 


nummos!) Das aber, was einer fteten Achtung fich erfreut, wird 
geübt, das gering Geachtete vernachläffigt.!) 

Die Folge diefer Herrichaft des Geldes und der Spekulation 
it dann natürlich die, daß auch der Staat in Abhängigkeit von 
den Geldmagnaten gerät; und der Ausdruck diefer Abhängigkeit ift 
die politiſche Herrichaft des Kapitals, die Blutofratie?) oder die Herr- 
Ichaft der Wenigen. Der Reichtum allein wird gepriefen und be: 
wundert, er wird der Weg zu den höchiten Ehren des Staates, 
während der Nichtbefigende ſchon um dieſer feiner Armut willen 
mißachtet wird. Eine Summe Geldes (nArj$os xonuarov) bildet 
den Maßitab, der über das Necht des Einzelnen im Staat ent- 
Icheivet.3) Der Staat zerfällt gewißermaßen in zwei Staaten, den 
der Neichen und der Armen, die denjelben Raum bewohnend fic) 
feindfelig gegemüberftehen und wenigjtens insgehein fich fortwährend 
befehden.*) Auch äußerlich wird der Staat durch dieſe Entwiclung 
ver Dinge geſchwächt. Seine Wehrhaftigkeit leidet. Denn die 
Befigenden, die an ihrem Gute hängen, jcheuen die finanziellen 
Dpfer, welche die Landesverteidigung erheifcht, und fie haben andrer- 


!) ib. VIII, 55la: Tıuwuevov dr nAovrov Ev noAsı zai Tov nAovolwv 
aTıuoTeoe doETY TE zul ol ayadyoi. Amkov . Aozeiraı dr) To del TLuWuevor, 
quehsitaı dE To arıualöuevov. Wie treffend diefe Beobachtung ift, zeigt 
die analoge Kritif des modernen Kapitalismus bei Schäffle (Bau und Leben 
des jozialen Körpers III 439), der die von Plato hervorgehobene Erfcheinung 
mit Recht daraus erklärt, daß, wo das Ringen um materielle Vorteile Haupt: 
ſächlich entiwicelt ift, dev Ausdrud des Wertes der rivalifierenden Perſonen 
borzugsiweife ein materieller fein wird. Der materielle Ausdrud des 
jozialen Wertes rivalifierender Parteien und die Selbjtbefriedigung der im 
Konkurrenzkampf fiegreichen Individuen erfolge eben darum in großem Auf: 
wand und raſchem Wechjel der Formen luxuriöſer Erjcheinung. 

2) Der Ausdruck wird allerdings an diejer Stelle nicht gebraucht; ex 
findet jich aber bereit3 bei Platos Lehrer, Sokrates, auf die Geldherrichaft 
angewandt. Vgl. Xenophon Mem. IV, 6, 12. 

2) ib. 551h. 

4) 55ld: ... dbo dvdyan eivar Tmv Towvımv noMv, Tv ußv 
nevntwv, ım]v dE nAovoiwv oixovvras Ev TW av, dei EnußovAslovras 
akkmkoıs. 


188 Erſtes Buch. Hellas. 


feit3, wenn fie die Mafjen unter die Waffen rufen, ſtets zu fürchten, 
daß ihnen diefelben gefährlicher werden könnten, als der auswärtige 
Feind.) 

Das größte aller Übel aber ift nach Plato die dem Geifte 
ver Geldherrſchaft entjprechende, oder wenigitens von ihr zugelafjene 
abjolute Freiheit der Veräußerung und des Erwerbes der Güter. 
Es entjteht dadurch jene ungefunde Anhäufung des Kapitals, welche 
Einzelne überreich macht, während Andere in einen Zuftand hoff 
nungslojer Armut herabjinfen. Die SKehrjeite des Mammonismus 
it der Pauperismus und das Broletariat oder — um uns enger 
an die Ausdrucksweiſe Wlatos anzufchließen — die Klaſſe der 
„völlig Befiglofen“, die im Staate leben ohne einen Teil des— 
jelben auszumachen, weder wirtjchaftlich, als Gejchäftsleute und 
Handwerker, noch militäriich, für den Roß- und Hoplitendienft, ins 
Gewicht fallen, die eben nichts find als die „Armen“, die „Dürf: 
tigen“.?) 

Dffenbar im Hinblid auf die fortwährende Vernichtung der 
fleinen Vermögen durch die wenigen großen, die VBerfnechtung des 
Volkes duch Pacht und Schulden, wie fie die jozialöfonomifche 
Entwicdlung der Zeit charakterifiert, ftellt Plato es al3 eine allge- 
meine Erfahrung bin, daß die Plutofratie die große Mafje ver: 
jenigen, welche fich nicht zur herrſchenden Klaſſe emporzufchwingen 
vermögen, am Ende in eine proletarifche Eriftenz herabdrüdt.?) 

Er iſt fi aljo völlig Klar darüber, daß der zügelloje Kapitalismus 

) 5öle. 

2) 552a: Opa N, ToVTWwv ndvrwv TWv zuXWov El Tode WUEYIoToV 
avrn nEwrn naoadeyera. To notov; To E£eivaı navra Ta KÜTOV 
anodooyetı, zul dAAD xTNoaoH+aL TE Tovrov, xai dnodouevor 
olzelv Ev an noAsı undev Ovre« TWv TS NOAEWS UEOWvV, UNTE yonuarıornv 
unte Önwovoyov unte innea unte Onkirmv, ahhd nevnta xal Ärıogov 
zexhmusvov. Mowın Ey. Ovxovv diaxwAverai yE Ev Taig OALyapyovusvaus 
16 toioÖrov‘ od ydo dv ol ußv Uneonkovro noav, ol DE narvıd- 
TAOL WEVNTES. 

3) 552d: Ti ovVr; 87 Teig oAtyapyovusvaıs NOAEOL NTWYOUS 00 
oogs Evovras; OAlyov y’, Epn, navres TOÜS ExTös TÜV coyövrwr. 


ee Ze — 


II. 3. Die platon. Kritik der geſchichtl. Staats- u. Gejellfchaftsordnung. 189 


die Tendenz in fich ſchließt, den Abitand der Eleinen Leute von 
der Ariftofratie des Beſitzes ftetig zu vergrößern, daß alfo durch 
ihn die großen Einkommen und Vermögen bedeutend rascher wachien 
als der Gejamtwohlitand, und gleichzeitig diejenige Klaſſe der Be: 
völferung, die ohne Belt von der Hand in den Mund lebt, ſowohl 
abjolut, wie relativ eine immer größere wird. 

Dazu kommt die durch den Mammonisuus großgezogene 
Klaſſe der Müßiggänger und Verſchwender, die Plato ſehr treffend 
als Drohnen bezeichnet. Diejes Drohnentum ift ein Krebsjchaden 
der Gejellihaft (voonux mroAsws)') und jehlimmer, als das im 
Bienenjtaat. Denn die geflügelten Drohnen hat die Gottheit wenig: 
ſtens jtachellos gejchaffen, jene menjchlichen aber teilweife mit argen 
Stacheln verjehen. Aus ihnen refrutiert ſich beſonders das in der 
plutofratiihen Gejellichaft jo zahlreiche Kontingent der Diebe, 
Beutelfchneider, QTempelräuber und Anftifter aller ſonſtigen Unbill, 
deren die Staatsgewalt nur mit Mühe Herr wird. Allerdings 
gibt es im Menjchenftaat auch Drohnen, welche nicht in diefer 
Weiſe ftachelbewehrt d. h. minder beherzt find, als ihre ent- 
ſchloſſeneren Genofjen, die im Kampf gegen Sittlichfeit und Necht 
voranftehen. Dafür aber ſchweben fie auch ftets in Gefahr, im 
Alter zu Bettlern zu werden und jo doch wieder die Zahl der ge- 
fährlichen Klaffen zu vermehren.?) 

eben diefem Drohnentum, das überall, wo es auftaucht, 
ähnliche Störungen im jozialen Organismus erzeugt, wie Schleim 
und Galle im phyſiſchen Körper,?) tritt uns als typijche Charakter— 
erſcheinung der plutofratiihen Gefellichaft das Spefulantentum 
entgegen: die Leute, von denen Plato jagt, daß fie Begehrlichkeit 
und Geldgier auf den Herricherfiß in ihrer Seele erheben und mit 





1) Die durch den Kapitalisınus großgezogenen Faulenzer nennt ganz 
im Sinne diejes platonifchen Bildes Schäffle (Kapitalismus und Sozialismus 
©. 33) „nicht bloß Tagediebe, jondern auch Räuber an der Gejellfchaft, der 
fie Lebenskraft entnehmen, ohne Leben aus eigener Kraft zu exjegen“. 

2) 554. 

3) 564b. 


190 Erſtes Buch. Hellas. 


Stirnbinden, goldenen Ketten und Ehrenſäbeln angethan zum Groß: 
fönig in ihrem Innern erkiejen.!) 

Um fich aus niederer Lage emporzuarbeiten, gehen fie mit 
ihrem ganzen Dichten und Trachten auf im Erwerbe. Während aber 
ihre Habe durch beharrliche Sparſamkeit und unermüdliche Thätig- 
feit fich mehrt, verarmen fie an Geiſt und Gemüt, indem fie Beides 
zum Sklaven der Erwerbsgier machen und den Verſtand über nichts 
Anderes Forschen und finnen lafjen, als wodurch geringeres Ver: 
mögen ſich mehrt, das Herz aber nichts Anderes bewundern und 
in Ehren halten lafjen, als den Reichtum und die Neichen.?) 
Schmutzige Seelen, die ihren Ehrgeiz auf weiter gar nichts richten, 
als auf Gelderwerb und was demjelben etwa förderlich ift, Die 
aus allem und jedem Nußen zu ziehen wiffen für den Einen Zweck 
der Kapitalanhäufung. Alles Bildungsinterefje geht ihnen ab; 
denn wie könnten fie jonft „einen Blinden zum Neigenführer” er: 
fielen? 

Auch in dieſen Menjchen beginnen fi) drohnenartige Be— 
gierden (anprpwdsıs erridvuier) zu vegen, jobald ſich ihnen Die 
Möglichkeit zur Ausbeutung von Schwachen 3. B. hilflofen Waijen, 
oder ſonſt — 3. DB. bei der Berwendung fremder Gelder — 
eine Gelegenheit bietet, ungeftraft Unvecht zu thun.t) Und dabei 
können dieje Zeute im gejchäftlichen Verkehr als ehrenwerte Männer 
daftehen! Denn fie find Flug genug, zur rechten Zeit ihre Begierden 
zurüdzudrängen, weil fie wohl zu berechnen willen, wo ihnen die 


) 5530. 

—— 

3) Der Gott des Reichtums, Plutos, wurde bekanntlich als blind ge— 
dacht. Reigenführer wird er inſofern genannt, als bei ſeinen Verehrern die 
Geldgier alles andere überwiegt, gewiſſermaßen den Reigen ihrer Wünſche 
führt, wie dev Chorführer im Drama. — 

Zu dem Urteil jelbft vgl. die treffende Bemerkung von Schmoller, daß 
gegenwärtig die Unbildung und Unkultur nicht bloß beim Proletariat, jon- 
dern gerade bei den an Befi am jchnellften wachjenden Geſellſchaftskreiſen 
zunehme. Grundfragen ©. 108. 

4) 5460 ff. 


II. 3. Die platon. Kritik der gejchichtl. Staats- u. Gejellfchaftsordnung. 191 


Unehrlichkeit teurer zu ftehen fommen würde, als der Verzicht auf 
wiverrechtlichen Gewinn. Ste erjcheinen wohlanftändiger, als viele 
Andere, obgleich fie von der echten Tugend einer mit ich ſelbſt 
einigen, harmoniſch gejtimmten Seele himmelweit entfernt find.!) 

Übrigens arbeitet das Prinzip der Kapitalherrichaft ſelbſt 
diefem Spefulantentum in die Hand. Der Unerfättlichfeit der kapita— 
liſtiſchen Gejellichaft, die von dem was fie als das höchſte Gut 
betrachtet, niemals genug haben kann,?) entjpricht jo recht jene 
ſchrankenloſe wirtjchaftliche Freiheit, welche Jedem geftattet, beliebig 
über feinen Beliß zu verfügen und ihn zu veräußern, damit ja 
das Kapital Gelegenheit befommt, durch Darlehensgejichäfte und 
Ichließlich duch den Ankauf verjehuldeter Güter ſich zu bereichern.?) 
Dieje Freiheit bringt vor allem denjenigen den Ruin, welche der 
Tendenz des Fapitaliftiichen Zeitalter zum unwirtjchaftlichen Kon— 
jum, zum Luxus, exrliegend den Geldmännern in die Hände fallen.*) 

Die Verarmten nun, fährt Plato im Sinne des oben er: 
wähnten Bildes fort, kauern im Staate mit Stacheln und jonftigen 
Waffen ausgerüftet, die einen mit Schulden überbürdet, die andern 
ehrlos geworden, wieder andere von beidem betroffen, alle aber 


1) 554e. 

?) 555hb: anAmortia Tov mooxeiıuevov dyaFod, Tod WS TTAOVCLWTATOV 
deiv yiyvsodau. 

3) 5550. dre, oluaı, Eoyovres &v auın ol doyovrss Dia To mohhl 
XEexTmodaı, 0Ux EFHEAOVCLV Eloysıv vouw tov vewv 0001 dv @xöAaotoL 
yiyvovraı, un Eeivaı avrols avahioxeıv TE zul anoAAvvaı TE TWv Tolov- 
Twvy zul eiodavsißovrss Erı nA0ovVOIWTEgOoL zul Evriuoregoi yiyvwvrat, 

9 MWie nahe fich dieje platonijche Kritik des Kapitalismus mit ana- 
logen Erjcheinungen der modernen Litteratur berührt, zeigt u. a. da3 drama: 
tiihe Sittengemälde von Henri Becque, „Die Raben“. Das Leitende Motiv 
der Handlung ift hier wie dort L’Argent, der Goldraufh. Es wird ganz 
in platonifchem Sinne an dem Leben der modernen Gejelljchaft gezeigt, wie 
die diefem Rauſche Berfallenen niemals befriedigt und immer von neuem 
dürjtend ohne Rückſicht und Erbarmen über die mwirtichaftlih Schwachen 
hinwegjchreiten, ſich wie freſſende Aasgeier über fie ftürzen, Leib und Seele, 
Ehr und Gut derjelben als willfommene Beute betrachten, ja ſelbſt Recht und 
Geſetz nach ihrem Willen zu beugen wiſſen. 


192. Erſtes Buch. Hellas. 


voll Hab und über Anfchlägen brütend gegen die, welche jte um 
das Shrige gebracht, wie überhaupt gegen alle Welt, begierig 
lauernd auf einen allgemeinen Umfturz.”') Die Geldmänner aber, 
die geduckt umherſchleichen wie das leibhaftige böfe Gewiljen, und 
diefe ihre Opfer gar nicht zu bemerken jcheinen „ſchleudern, ver- 
wundend unter den Übrigen auf den, der fich ihnen preisgibt, den 
Pfeil des Geldes nnd erzeugen, indem fie in ven Zinſen eine 
reiche Nachkommenſchaft ſolchen Vaters (d. h. des Geldes) an ſich 
bringen, der Drohnen und Bettler die Menge im Staate.” 

Dabei ift ihnen die Stimmung, die fie durch all das in der 
Gejellfehaft hervorrufen, jo wenig eine Mahnung, daß fie ruhig 
zuſehen, wie. insbejondere die jüngere Generation fich der Schwelgerei 
ergibt, allen Anftrengungen des Körpers und Geiftes abgeneigt, 
weichlich und ſchlaff wird,?) während ſie ſelbſt gleichgiltig gegen 
alles Andere, al3 den Gelverwerb, um wahre Tugend fi eben 
jo wenig bemühen, wie der verachtete Proletarier.) 


1) 555d: oö de dn yonuarıorai Eyzüiavrss, oVdE doxodvres Tovrovs 
oo@v, twv Aoınov Tov «el üUneixovra Evievres COYVELOV TITOWOKOVTES, Kal 
Tod naroog Exyovovs ToxXovs noAhankaoiovg zouılousvor, roAdv TOv Anpiva 
zei nTWyov Eunorovoı zn mode. — 63 erinnert lebhaft an diefe Ausführung 
Platos über den Zufammenhang zwijchen Kapitalnugung und jozialer Frage, 
wenn 3. B. Proudhon jagt, daß dieſe Kapitalnugung in Geftalt von Rente, 
Binfen, Profit, Agio u. f. w. notwendig den Barajitismus, den Bettel, 
das Dagabumdentum, den Diebjtahl, Mord u. j. w. zur Folge haben müſſe. 

2) Dieje Unterjcheidung der im Reichtum aufgewachjenen Generation 
von derjenigen, welche denjelben in zäher Arbeit errungen, ift jehr bezeichnend. 
Sie lehrt ung, wie unvichtig es ift, wenn gewöhnlich, z.B. von Lange (Geſch. 
des Materialismus II? 456) behauptet wird, daß in den fapitaliftiichen Perioden 
des Altertums nicht, wie heutzutage, die Kapitalbildung, jondern der unmittel 
bare Genuß das mahgebende Intereſſe gebildet Habe. 

3) 556b. Man fieht, e3 finden fich in der platonifchen Schilderung 
alle wejentlichen Züge des Bildes, welches die moderne Plutofratie gewährt, 
von der 3. B. Lange (Die Arbeiterfrage ©. 59) jagt: „Sie geht mit verhält: 
nismäßig jeltenen Ausnahmen von dem Prinzip des bloßen Erwerbs nicht 
ab. Sie begnügt ſich leicht mit einem äußeren Anftric) von Bildung, ver: 
achtet das Einfache und Edle, verſäumt es in ihrer Nachkommenſchaft dor 
allen Dingen männlichen Mut und Erhabenheit über den Wechjel äußerer 


IT. 3. Die platon. Kritik der geſchichtl. Staats- u. Geſellſchaftsordnung. 193 


So zieht man jelbit jene gefährliche Schmarogerpflanze auf 
dem Boden der Geldherrichaft groß, den berufsmäßigen Müßig— 
gang, der mit Hilfe des ererbten Nenteneinfommens fich jelbjt von 
Beruf und Arbeit dispenfiert. Plato hat das Leben diejer reichen 
Mühiggänger, das zum Spiel der ephemerften Stimmungen und 
Launen wird, in feiner ganzen inneren Haltlofigkeit mit ſcharfem 
Griffel gezeichnet. Der Verfall aller geiftigen und moralijchen 
Energie, wie ihn der arbeitsloje Nentengenuß mit pſychologiſcher 
Notwendigkeit herbeiführt, könnte kaum anjchaulicher gejchildert 
werden, als in dem Bild, welches Blato von dem „demokratiſchen“, 
d. h. perjönliche Ungebundenbeit über alles Liebenden Sohne des 
„oligarchiſchen“ gelomachenden Vaters entworfen hat: 

„Sp lebt der Mann von Tag zu Tage, jedesmal der Be- 
gierde, die ihn gerade anmwandelt, nachgebend; jetzt zecht er und 
läßt Flötenjpielerinnen kommen, dann wieder trinft er Brunnen 
und braucht eine Entfettungsfur; jetzt treibt ex allerlei Leibesübungen, 
ein andermal liegt er ganz träge und fümmert fi um gar nichts, 
dann wieder thut er, als gäbe er fich mit Studien ab. Sehr ge 
wöhnlich ift, daß er Politik treibt, die Tribüne befteigt und jagt 
und betreibt, was ihm gerade beifällt; oder fein Blie fällt auf 
Leute, die beim Kriegswejen find oder auch beim Bankweſen, als: 
bald wirft er fi mit Eifer hierauf. Und fo ift in feinem Leben 
feine Ordnung, feine Notwendigkeit; er jedoch nennt ein ſolches 
Leben jüß und frei und lebt es bis an fein Ende.” 1) 

Freilich arbeitet er mit dieſem „freien und glüdlichen” Leben, 
das feine Pflichten Fennt, gleichzeitig an der Bejchleunigung des 
Gerichtes, welches die herrichende Geſellſchaftsklaſſe durch das ge 
Iehilderte Thun und Denken ihrer erwerbenden, wie ihrer genießenden 
Elemente über ſich jelbjt heraufbeſchwört. 

Plato hebt dabei vor Allem die piychologische Rückwirkung 
auf die unteren Volksklaſſen hervor. 


Geſchicke zu erzeugen; und jo bleibt ihre vermeintlich jo unüberwindliche Geld- 
macht ein Koloß auf thönernen Füßen. 
1) 561c. 


Pohlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. T. 13 


194 Erſtes Buch. Hellas. 


„Nenn bei folder Gemütsverfaffung Herrfchende und Bes 
herrſchte mit einander in nähere Berührung kommen, bei Reifen, 
Wallfahrten, Heereszügen u. dgl., insbeſondere, wenn in den Ges 
fahren des Krieges der Eine den Andern beobachtet, wird da der 
Reiche Beranlafjung haben, auf den Armen verächtlich herabzufehen? 
Wird nicht vielmehr das Gegenteil eintreten, wenn etwa ein jchlanfer, 
von der Sonne verbrannter Mann aus dem Volke in der Schlacht 
feine Stelle neben einem Neichen erhält, der an ſchattige Behaglich- 
feit gewöhnt ift oder an übermäßiger Wohlbeleibtheit leidet, und 
er deſſen SKeuchen und Not mit anfieht? Wird dem Armen da 
nicht der Gedanke kommen, dergleichen Menſchen jeien nur durch 
ihre Schlechtigfeit reich? Und wenn nun das Volk unter fi iſt, 
wird da nicht einer dem andern zuflüftern: Unfere Herren find 
im Grunde gar nicht® wert?!) 

Diefer zum Bewußtjein der Maſſe gefommene Widerſpruch 
zwischen der Unmwürdigfeit der Regierenden und ihrem Anfpruch auf 
Beherrf hung von Staat und Gefellichaft gräbt der politifchen 
Kapitalherrichaft das Grab. Durch die unerjättliche Begier nad) 
dem, was fie als höchltes Gut erſtrebt und wodurch je jelbit ent— 
ftand, durch die Vernachläſſigung alles anderen um des Geld» 
erwerbes willen richtet fie ich jelbjt zu Grunde.2) 

Wie e3 aber bei einem gejchwächten Körper nur einer ge: 
ringen Veranlaffung bedarf, damit er erkranke, ja wie er bisweilen 
auch ohne Anſtoß von außen das innere Gleichgewicht verliert, jo 
fann auch über den Frankhaften Drganismus der plutofratijchen 
Gefellichaft aus geringfügigem Anlaß die Kataftrophe hereinbrechen. 
Der längft entzündete Unheilsbrand (TO xax0v Exxavouevorv),?) 





1) 556d — co’ oieı aurov ovy HyElodaı zaxig Tn OpEr£og nAovreiv 
ToÜs ToLovVrovs, zal dAov dA nagayyekkeıv orav dig Evyyiyvovraı, Otı 
Avdoss nuertegoı eiolv ouder, 

2) 562b: 6 rgoVsero ayadorv zal di ov 9) oAıyapyia zasiorero — 
Toto d’ mv Öneondovros' 7 ydo; Nei. H nAovrov Toivvv anıyoria zei 
N tWv dhlwv ducksıe die yonueriouöv avrjv anwäkr. 

3) Hö6e. 


IT. 3. Die platon. Kritik der gejchichtl. Staat3- u. Gejellfchaftsordnung. 195 


den die Herrjchenden nicht zu Stillen verjtanden, dem fie im Gegen: 
teil immer neue Nahrung zugeführt, ex lodert in hellen Flammen 
empor. 

Die Geldoligarchie erntet jeßt, was fie geläet. Denn au) 
die Volksherrſchaft, die an ihre Stelle tritt, bleibt ein Tummelplatz 
der drohnenhaften Begierden, welche der Kapitalismus großgezogen. 
Kur erhalten jest die wirtichaftlich Schwachen, die wenig oder nichts 
Beligenden die Macht, ihrerjeits dieſen Begierden gegenüber dem 
Kapital die Zügel jchießen zu laſſen.) Die Drohnen d. h. die 
ruinierten Verſchwender und Nichtsthuer ftellen fich zwijchen die 
Beligenden und die — in der Demokratie zahlreichite — Klaſſe 
derer, die von der Arbeit ihrer Hände leben. Sie willen die Mafje 
des arbeitenden Volkes an ſich zu feſſeln, indem ſie deſſen Gelüfte 
nach dem „Honig“ nähren, der nunmehr auf Koften der Befißen- 
den zu exbeuten it. Der Neichtum wird zum Drohnenfutter 
(znpivov PBoravn).?) Jetzt genügt der bloße Beſitz des Neich- 
tums, um als Volfsfeind verdächtigt zu werden.?) Die frühere 
Ausbeutung duch das Kapital vergilt jebt die Maſſe und ihre 
Führer mit einer rücjichtslofen Bekämpfung des Neichtums, mit 
Verbannungen, Hintichtungen und Konfisfationen, mit Anträgen 
auf Schuldenkaſſierung und Aufteilung des Grundbefißes. Die 
bisherigen Träger des Ausbeutungsprinzipes fallen nun ihm jelbjt 
zum Opfer. 


) 5654 ff. 

2) ib. 

3) 566c. Bgl. übrigens jchon die Verſe des Euripides in den „Schuß: 

flehenden” 238—45: 
„Drei Bürgerflafjen gibt es: was die Reichen anbetrifft, 
Sie nügen niemand, trachten nur für fich nach mehr. 
Die Armen, die des Lebenzunterhalts ermangeln, 
Sind ungeftüm und richten ſchnöderem Neide zugewandt 
Auf die Begüterten der Scheelfucht Pfeile, 
Getaucht in Zungengift verlodender DBerleiter. 
Der Mitteljtand nur ift dev wahre Bürgerftand, 
Für Zucht und Ordnung wachend, die das Volk gebot.“ 
13* 


196 Grites Buch. Hellas. 


Aber auch die aus der Demokratie entjtehende ochlofratifche 
Herrſchaft der materiellen Intereſſen, welche das vom Kapitalismus 
auf wirtjchaftlichem Gebiet verwirklichte Prinzip der Freiheit auf 
alle möglichen anderen Lebensgebiete überträgt, muß an der Über- 
treibung dieſes ihres Prinzipes zu Grunde gehen. Sie erliegt zu— 
(et dem, in welchem ſich der Egoismus und. die Selbftherrlichkeit 
des Individuums am Neinjten verkörpert, der in der rüchfichtslofen 
Geltendmachung des Eigeninterejjes ſich als der Stärkſte erwieſen 
und „ein Nieje riefenhaft fich redend“ 1) aufrecht ftehen bleibt auf 
dem Stuhle des Stuatswagens, nachdem er viele andere zu Boden 
geſtreckt.) So erwächſt aus Kapitalismus und PBauperismus umd 
aus dem freien Spiele rein individualiftiicher Kräfte zuletzt die Ge— 
waltherrichaft, die Tyrannis.?) 

Plato vergleicht an einem andern Ort diejes über alle objek— 
tiven jittlichen Mächte fich hinwegſetzende Ningen brutaler Natur: 
inftinfte mit dem Anſturm der Titanen gegen die Himmliſchen. 
Der Soziale Dafeinsfampf ſcheint ihm mit diefem Erwachen titanen- 
bafter Gelüfte in der Menjchenbruft zu den rohen gewaltjamen 

) ucyas ueyaAwori; ein dem Homer (3. B. Ilias XVI 776) ent: 
lehnter Ausdrud. 

2) 566d. 

3) Die größte Freiheit jchlägt in die ärgfte Knechtichaft um. “H yao 
dyav EhsvIegia Eoızev oVx Eis aAdo Tı 7 Eis dyav dovisiav ueraßadleıv 
za idıivrn zei modeı. 564a. Eine intereffante Parallele zu diejer Erklä— 
rung der Tyrannis bildet die Ausführung des don Jamblichos benüßten 
Sophiften (Antiphon? Blaß fr. f. 20): Tiyveraı de zai 7 tugavwvis.... 
ovx EE dAAov TIvös 7 dvouias' olovraı dE TIves TWv dvdoWnwv 0001 um 
aoIus ovußdkaovrai, Tigavvov E£ dhhov TIvög zadioraodeı, Aal TOovs 
avFownovs oTE0lOXEOFuL Ins EAevdegias 09% MÜToÖS aitiovg Ovras, 
alla BıaoFEvras UNO Tod XETaoTaFEVTos Tvodvvov, 00% 00905 tavra Aoyı- 
Löusvor . borıs yao jyeitaı Baoıhkea 7) tvoavvov EE dAhov TIvos yiyveodaı 
7 EE dvouias te xai nAsoveäias, uaoos Eoriv . Eneidav yapg ünavres 
gnt xaxXiav TE«IWVTEL, TOTE TOOTO yiyveraı .„0v ydo olov TE av$QwWTmovs 
dvev vouwv zei dans Cyv' Otev ovv tevıa ta dVo &x Tod nAmdovg &xAinn, 
6 te vouos zai 7) dien, Tore non Eis Eva drroyweeiv mv Enıtgoneiev Tov- 
Twv za pviaxıyv. 


II. 3. Die platon. Stritif der geſchichtl. Staats u. Geſellſchaftsordnung. 197 


Formen eines vormenjchlichen Zeitalters zurüczufehren.!) Sa es 
findet fich hier bereits Begriff und Wort des bellum omnium contra 
omnes des Hobbes (‚ro roAswlovs eivaı mavras r&oıv“),2) in 
welchem die fozialiftiihe Kritif der Gegenwart das charakteriftifche 
Kennzeichen der modernen Gejellichaft erblicdt.3) 

Mit denfelben düfteren Farben wird die Entartung des Volfs- 
charafters durch den Egoismus eines jehranfenlofen Ermwerbstriebes 
an einer jpäteren Stelle gefchildert: Die Liebe zum Neichtum, heißt 
es dort, raubt den Bürgern alle Zeit, für etwas Höheres Sorge 
zu tragen, als für das eigene Vermögen. Ihre ganze Seele hängt 
daran, jo daß ſie ſich kaum noch um etwas anderes befümmern 
fann, als um den täglichen Gewinn.t) Die Unterweifung und die 
Einrichtungen, die diefem Zwecke förderlich find, nimmt jeder bereit- 
willig an, anderes aber dünkt ihm lächerlich (vor dE @Alor 
xaraysAc!).>) 

Daher kommt es, daß jedermann in umerfättlicher Begier 
nach Gold und Silber jedes Gewerbe, jedes Mittel, ſei es ein 
ehrenhaftes oder nicht, fich gefallen läßt, wenn es nur zum Neich- 
tum führt, daß man vor feiner Handlung zurücichredt, mag fie 
nun gottgefällig oder gottlos und noch jo ſchimpflich fein, wenn fie 

Zi hose — 

2) ib. I, 626e. 

3) Nach Marx hat die moderne bürgerliche Gejellfchaft den „allfeitigen 
Kampf von Mann wider Mann“ erzeugt; fie „hat als oberſtes Gejeß den 
Krieg aller nur mehr durch ihre Jndividualität von einander abgejchlofjenen 
Individuen gegen einander oder mit einem Worte die Anarchie”. Vgl. Adler: 
Die Grundlagen der Marrifchen Kritik der beftehenden Volkswirtſchaft ©. 254. 
Ebenſo ift es nur die wirtjchaftliche Motivierung des platonifchen Satzes von 
dem unvermeidlichen Siege des Stärkſten im jozialen Dafeinfampf, wenn 
Proudhon in feinem Syſtem der ökonomiſchen Widerjprüche als notwendiges 
Endergebnis der Konkurrenz, als Ausdruck dev jtegreichen Freiheit und der 
Kampfgier das Monopol bezeichnet. 

*) Leg. VII, 831c. 

°) ib. Die VBerwilderung des Philiftertums! 


198 Erſtes Buch. Hellas 


nur die Möglichkeit gewährt, dem ſchrankenloſen Bauch und 
Phallusdienſt zu Fröhnen. !) 

Diejes Streben nach ſinnlichem Lebensgenuß und nach den 
Mitten zu feiner Befriedigung ift eine der Haupttriebfräfte der 
fozialen Zerfeßung. Denn indem man unbefannt mit dauernden 
und reinen Luftgefühlen nad Art des Viehes auf der Weide 
ftet3 nach unten blickend und zur Erde und zur Krippe bingebüdt 
mit Freſſen und Befriedigung der Liebesbrunft ſich gütlich thut, 
Ichlägt man fi” um den Vorzug in diefen Dingen gegenfeitig tot, 
mit eifernen Hörnern und Hufen aufeinanderftoßend, in der Gier 
der Unerfättlichfeit, weil diefe Genüffe nicht das Wirkliche (die 
Seele) mit wirklichen Genüffen erfüllen. Dieſe Traumbilder wahren 
Zuftgefühles erzeugen ein vajendes Verlangen in den Unverftändigen 
und werden jo zum Gegenjtand blutigen Kampfes, wie das Trug: 
bild der Helena in Ilion.?) 


Dierter Abfchnitt. 


Angriffe der idealiſtiſchen Sozialphilojophie anf die Grund: 
lagen der beſtehenden wirtſchaftlichen Rechtsordnung. 


Der Widerſpruch zwiſchen dem von der philoſophiſchen Staats— 
lehre aufgeſtellten Ideal der ſittlichen und geiſtigen Entfaltung der 
Perſönlichkeit und der durch den Beſitz und ſeine Verteilung be— 
dingten, zu den ſchwerſten Verſuchungen führenden Ungleichheit der 
Lebenslagen, die Unvereinbarkeit des die Geſellſchaft beherrſchenden 
Egoismus der materiellen Intereſſen mit den fittlichen Ideen, die 
nad) den Forderungen vderjelben Staatslehre in Staat und Necht 


1) ib. S31d: die Tv To® yovood TE zul doyvoov aninoriev naoav 
uEv TEeyvnv zei unyarıv xahlio TE zul doynuovsotegav EHElEıv Vrrousveiv 
nevıa avdoa, ei uehkeı nAovorog E0E0Iaı, za nod£ıv ModTreıv 0010v TE 
zei dvöcıov zei TÄvrWs ioyocv, undev dvoysoaivorre, Edv uovov &yn 
dvvauıv zadaneo HImoiw Tod Yayeiv navrodane zul nIIEIV WORVTWS Kai 
dpoodisiwv aoav EvTWs ag«oyElIv Amouornv. 


2) Rep. 586a ff. 


II. 4. Angriffed. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Rechtsordg. 199 


zur Verwirklichung gelangen jollen, all das hätte feinen jchärferen 
Ausdruck finden können, als in dem Nachtgemälde, welches hier 
Plato von der gejellichaftlichen und politischen Entwiclung feines 
Volkes entworfen hat. 

Allerdings treten in diefem fozialpolitichen Zeitbild eben nur 
die Mißſtände der kapitaliſtiſchen Geldwirtſchaft und dieſe in grellfter 
Beleuchtung hervor; auch fehlt es nicht an tendenziöfen Übertrei— 
bungen, wie 3. B. bei der Motivierung des Prinzips der wirt: 
ſchaftlichen Freiheit. Aber man wird folche Einfeitigfeit nur zu 
begreiflich finden, wenn man fich angefichts der thatjächlichen fitt- 
lichen und öfonomifchen Übelftände der Zeit in die Empfindungen 
hineinverjeßt, welche den philofophiichen Denker auf der reinen Höhe 
ſozial⸗ethiſcher Weltanſchauung gegenüber dem materialiftichen Egois— 
mus und ftaatsfeindlichen Individualismus der Zeit erfüllen mußte. 

Die helleniiche Staatslehre hat wahrlich des Großen genug 
für alle Zeiten geleijtet, indem fie diefem extremen Smdividualis- 
mus eine wahrhaft joziale Auffafjung entgegenftellte, welche die 
Freiheits- und Eigentumsfragen aus den Bedingungen des Gemein- 
Ichaftslebens heraus zu entjcheiden juchte und damit ein Ziel auf- 
jtellte, zu dem wir ſelbſt am Ende des neunzehnten Jahrhunderts 
uns nur mühjelig dDucchzuringen vermögen. Das vierte Jahrhundert 
v. Chr. hat und den Kampf vorgefämpft, in welchem wir felbft 
mitten inne ftehen.!) Es hat einen guten Teil der Geilteswaffen 
gejehmiedet, deren wir uns heute noch wie damals in diefem Stampfe 
bedienen. 

Wenn die hellenijche Sozialphilojophie in dem großen Brin- 


1) &3 ift umrichtig, wenn Naſſe (Entwicklung und Krifis des wirt- 
schaftlichen Individualismus in England. Preuß. Jahrb. XXX ©. 429) ge: 
meint hat, daß der Individualismus und Sozialismus d. h. das Streben 
nach möglichiter Freiheit der Einzelnen in ihrer Willensiphäre einerjeits und 
nach Unterordnung derjelben unter die Zwede der Gefamtheit und Leitung 
ihres Handels nach gemeinfamen Plane andererjeits fich faum jemals jo jcharf 
entgegengetreten jind, tote in unjerer Zeit. Naſſe hat dabei nicht an das 
vierte Jahrhundert dv. Chr. gedacht. 


200 Erſtes Buch. Hellas. 


zipienftreit zwifchen Individualismus und Sozialismus das vechte 
Mittelmaß zwiſchen den Ertremen nicht zu finden vermochte und 
in der Verfolgung ihres jozialiftiichen Foeenganges teilweiſe ſelbſt 
wieder zu extremen und utopifchen Forderungen gekommen ijt, jo 
hat gewiß das Jahrhundert, in welchem Sozialismus und Kom— 
munismus eine „Lonftante Erſcheinung“ geworden find,!) ohne daß 
eine Ausgleichung gefunden wäre, feine DVeranlafjung, auf das 
Zeitalter Platos und Ariftoteles geringſchätzig herabzujehen, deren 
fozialpolitiiche Spekulationen troß der ungleich geringeren exakten 
Kenntnis ſozialökonomiſcher Zuftände und Entwicklungsgeſetze um 
nichts utopifcher find, al3 die des modernen Sozialismus von Dwen 
und St. Simon bis herunter zu Hertzka und Bellamy. 

Nach dem die Entwicklung des menjchlichen Geifteslebens be— 
herrſchenden Geſetz von Aktion und Neaktion konnte es gar nicht 
ausbleiben, daß der unvermeidliche heftige Rückſchlag gegen die 
Einfeitigfeiten einer hochgefteigerten materiellen Kultur, gegen Die 
jozialen Disharmonien einer Fapitaliftiihen Wirtichaftsepoche zu 
prinzipiellen Angriffen auf die Grundlagen diejer Fapitaliftifchen 
Volkswirtſchaft führte. 

Man Jah, wie gerade mit der fortjchreitenden Ausbildung 
und zunehmenden Macht des Brivatfapitals die Auflöfung der alten 
Sitte und Sittlichkeit, jteigender Egoismus, größere Genußfucht, 
immer jchamlofere Arten des Gelderwerbes und wucheriſche Aus— 
beutung der Schwachen Hand in Hand gingen. Man ſah durch 
die übermäßige Anhäufung des Bejiges in den Händen Einzelner 
bei gleichzeitiger Verkümmerung Anderer Klaſſengegenſätze entjtehen, 
deren Forrumpierende Einflüſſe die höchiten Intereſſen von Staat 
und Gejellichaft gefährdeten. Man empfand es in den Kreifen 
aller tiefer Denfenden auf das Schmerzlichite, Daß gerade der durch 
die Entwiclung der kapitaliſtiſchen Geldwirtſchaft herbeigeführte 
materielle Fortjchritt für die idealen, ethischen Intereſſen vielfach 


!) Ausdrud Helds: Sozialismus, Sozialdemokratie und Sozialpolitik 
Seite 4. 


II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 201 


Rückſchritt und Verfall bedeutete. Was lag da näher als der Ge- 
danke, daß eben in dieſem materiellen Fortichritt und in der Ent- 
wicklung des Reichtums an und für fich ſchon die Urfache aller 
jozialen Krankheitserfcheinungen zu juchen ſei? Unter dem über: 
mächtigen Eindrud‘, den die Erkenntnis des unleugbaren Zufammen- 
hanges zwiſchen dieſen Erjceheinungen einerjeitS und dem Kapi- 
talismus und Pauperismus andererjeitS auf die Gemüter hervor- 
brachte, traten andere, für die Beurteilung der Dinge nicht minder 
bedeutjame Momente unmillfürlich in den Hintergrund. Man über: 
jah, daß die Wurzeln des Guten und Böjen unendlich viel tiefer 
liegen, als in irgend einer Verfaſſung der Volfswirtichaft, daß die 
Duellen des phyfiihen und moralijchen Elends unerichöpffich find. 
Und jo machte man denn für die Schattenfeiten des fozialen Lebens 
ver Zeit allzu einſeitig jenes wirtichaftliche Moment verantwortlich, 
welches jo viele moraliſch und materiell in Feſſeln ſchlug d. h. 
eben das Kapital. 

Indem man aber jo von einer einjeitig öfonomijchen Be— 
urteilung der jozialen Zuftände ausging und daher nicht minder 
einjeitige Hoffnungen für Menjchenglüd und Menfchenwohl an die 
heilende Kraft einer Umgeftaltung der Wirtſchaftsordnung Enüpfte, 
mußte die Theorie mit innerer Notwendigkeit bis zu einem mehr 
oder minder radikalen Bruch mit dem ganzen bejtehenden Wirt- 
Ihaftsiyitem, bis zur Aufftellung eines völlig neuen Prinzipes für 
die Ordnung des wirtschaftlichen Güterlebens fortichreiten. War 
die legte Urjache aller ſozialen Übelftände der Gegenjag von Arm 
und Neich, jo Fonnte in der That eine idealiftiiche Gejellichafts- 
philojophie nicht vor der Forderung zurücichreden, daß die be- 
ftehenden Formen des Kapitalerwerbes und die Grundlagen der 
Kapitalbildung, aus denen fich dieſer Gegenfaß täglich neu erzeugte, 
zu bejeitigen und durch andere zu erjegen feien. 

Daraus ergab fi ein prinzipieller Widerfpruch gegen die 
berrjchende Auffaffung des Inftitutes des Vrivateigentums und das 
ganze Eigentums und Berfehrsreht. Ein Widerjpruch, der im 
einzelnen ja vielfach das Richtige traf, aber doch — bei der Ein- 


202 Erſtes Buch. Hellas. 


feitigfeit des Ausgangspunktes — in der Verfolgung einer an ſich 
berechtigten Tendenz viel zu weit führte. 

War durch die ganze bisherige Entwicklung — wenigftens in 
den Induſtrie- und Handelsftaaten — die Kapitalbildung und der 
Kapitalerwerb möglichit begünftigt, das PBrivateigentum an beweg- 
lichen und unbeweglichen Gütern auf das jchärfite ausgebildet und 
— innerhalb gewiffer durch die Natur der Stadtitaatwirtjchaft 
bedingter Grenzen — zu einem Rechte freieften Gebrauches der 
Güter entwicelt worden, war überhaupt durch die im Weſen der 
Geldwirtichaft liegende Beweglichkeit aller Verkehrs: und Lebens— 
verhältniffe der menschlichen Selbſtſucht reichſte Gelegenheit ges 
Ichaffen worden, fich zur Geltung zu bringen, jo führte jet der 
Rückſchlag gegen die auflöfenden Wirkungen diefer Vorherrſchaft 
individualiftiicher Tendenzen zu einer Überfpannung des Sozial- 
prinzipes, zu dem Verlangen nad) einer Fellelung des Privateigen— 
tums und des Einzelwillens, welche nicht nur der Bethätigung eines 
unfittlihen Egoismus, ſondern auch dem legitimen Kapitalerwerb, 
ja ſchon dem Erwerbstrieb und damit der Kapitalbildung über: 
haupt die weitgehendften Schranken auferlegt hätte. Und wenn fich 
insbefondere al3 das Nefultat des entfejjelten Intereſſenkampfes eine 
übermäßige Ungleichheit der VBermögensverteilung ergeben hatte, jo 
trat man jeßt den auf dem Boden diejer Ungleichheit entjtandenen 
Disharmonien nicht nur mit der Forderung einer gerechteren, der 
harmonischen Ausgeftaltung des Volks- und Staatslebens günftigeren 
Vermögensverteilung entgegen, jondern man ging in der Überfpan- 
nung dieſer an fich ja tiefberechtigten Forderung jo weit, eine 
möglichite Nivellierung der wirtſchaftlichen Unterſchiede überhaupt 
zu verlangen. 

Sp, meinte man, würde das Privateigentum feiner anti- 
jozialen Wirkungen entledigt und der Widerftreit der indivionellen 
Intereſſen gegen die der Allgemeinheit in die engſten Grenzen ge— 
bannt werden. 

Wie hätte man aber hoffen dürfen, das genannte Ziel voll- 
fommener zu erreichen als dadurch, daß man die leßten Konſe— 


ara a TEE U En A ne 


u 


er u 


H. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 903 


quenzen jenes ganzen Ideenganges 309 und bis zur Negation des 
Privateigentums jelbjt fortichritt? 

Solange ein Privateigentum an den wirtjchaftlichen Gütern 
bejteht, jolange wird ja immer demjenigen Teile der Gefellfchaft, 
dem ein jolches Eigentum zufällt, ein anderer gegenüberftehen, der 
fich von demfelben mehr oder minder ausgefchloffen fieht. ES wird 
für den Erwerbstrieb und den Egoismus immer ein Objekt der’ 
Bethätigung übrig bleiben, welches den fittlichen Intereſſen Abbruch 
thun kann. Wer daher ſchon den bloßen Nichtbefit ebenfo als 
ein joziales Krankheitsiymptom anjah,!) wie die einfeitige Konzen- 
trierung des Beſitzes, wer die Entartung des Erwerbstriebes und 
des Selbjtinterejjes Schon im Keime verhindern wollte, der mußte 
dem Urgrund aller Beſitzloſigkeit, dem Beſitze jelbit den Krieg er= " 
klären; jein Ideal mußte ein Zuftand der Dinge fein, in welchem 
es ein perjönliches Eigentum überhaupt nicht mehr gibt. 

Als der erſte Theoretifer, welcher fich prinzipiell gegen die 
wirtschaftliche Ungleichheit ausiprach, ericheint für ung Phaleas 
von Chalcevdon. Er gehörte nach Ariftoteles zu denjenigen, welche 
in diejer Ungleichheit die eigentliche Urſache aller bürgerlichen Zwie— 
tracht Jahen?) und von ihrer Beleitigung?) zugleich eine durch— 
greifende Berbejjerung der Bolfsfittlichkeit erwarteten,t) wenigjtens 
eine Beleitigung der Gigentumsfrevel, die in der bejtehenden Ge— 
ſellſchaft duch „Froft und Hunger“ hervorgerufen werden.) 


) Bol. die Wendung bei Plutarch Lyfurg 8. ©. oben ©. 128. 

2) Pol. II, 4, 1.1266a: dozei yag tioı 10 nepi Tas oVcies eivau 
ueyıorov teraydaı zus‘ TTEEL Yydo Tovtwv noLlElodel paoı Tas 
oraosısnavras.dio Bakcas 6 Kakxndovios TOVT’ EIonvsyze TToWtos. pyol 
yco deiv isas eivaı tas zrjocis tav nolırov. Diefe Ausgleihung laſſe fich, 
meint Phaleas, am Leichtejten dadurch erreichen, daß die Reichen Mitgift gäben, 
aber nicht nähmen, und die Armen umgekehrt nähmen, aber nicht gäben (1266 b). 

3) Nach Arijtoteles hätte er dabei allerdings nur die Ausgleichung 
des Grundbeſitzes im Auge gehabt (12b. 1267a). 

4) Ebd. 7: ov uovor # oi dvdownor DE TE avayzala adızovoır, 
Br dxos eivaı voullsı (Bakdas) Tv looryra Ts ovoies, Wore un Awro- 
dvrsiv did TO ÖLyoVv n neivnv ar, 


) Ebd. 


204 Erſtes Buch. Hellas. 


An Phaleas reiht ſich unmittelbar Plato an. Sein fozial- 
öfonomifcher Standpunkt charakteriftert ſich vor allem durch die 
Energie, mit der er der vulgären Auffaffung entgegentritt, als 
beftände eine der wichtigften Aufgaben der Politik in der Fürforge 
für die möglichjte Steigerung des Neichtums.!) Die wahre Staats- 
kunst erſtrebt nach jeiner Anſicht das Glück und, da wirkliches 
Glück nicht ohne Tugend erreichbar iſt, die Sittlichfeit der 
Bürger.?2) Steigerung des Neichtums bedeutet alfo an ich noch 
feine Steigerung des Glücdes, wenn die, welche ihn bejißen, Die 
erfte Bedingung dazu, die Sittlichfeit, nicht leiften und erfüllen. 
Sit aber gerade von dem Neichen die Erfüllung diefer Bedingung 
zu erwarten? Wlato glaubt diefe Frage überall da verneinen zu 
müffen, wo der in Einer Hand vereinigte Beſitz ein gewiſſes Maß 
überjchreitet. Nach jeiner Meinung kann der Beliger außer: 
ordentlichen Neichtums kaum ein wahrhaft fittlicher Menfch fein. 3) 
Denn wer einerjeit3 alle unfittlihen und unehrenhaften Wege der 
Bereicherung ftrenge meidet und andererjeitS der dem Beſitz ob- 
liegenden Berpflihtung zu Opfern für „edle und gute“ Zwecke 
(zaia avalouere)*) voll und ganz gerecht wird, bei dem wird 
es kaum zur Aufhäufung übermäßiger Schäge kommen.s) Über: 
haupt bejteht zwijchen Neichtum und Sittlichfeit von Natur ein 


!) Leg. V, 742d: Too voor Eyovros noArıxod Bovimors, 
pauev, ovy Nvrıeo dv ol noAhol Yaiev, deiv BovAsodauı Tov dyayov vouo- 
Heryv ds weyioryv te Eivaı ımv now, N voov Ev vouoseroi, zei Oö Tu 
udkıora nAovoiav, xextnucvnv OD ad yovoia xzai doyvpia xai 
zured yıv xal xara Iakarrav doyovoav or nAsiorwv. 

2) 742. 

3) Ebd. 742e: Aovoiovs d’ av opoden zui ayayoos ddvvaror 
(yiyveodaı) cf. 743a: ayadyor dE Ovrae diapspovrws xei tAovorov Elvaı 
diapsoovrws advraror. 

+4) 743a. 

5) 743b: 6 de dvadioxwv TE Eis TE zule zul xTauevos Ex Tov 
dızeiwv uovov oÜT dv diepeowv nhovtw Öcdiws dv note yEvoıto ovd’ 
dv opodon nıevns . wore 6 Aoyos yulv 00905, Ws 0vx Eloiv ol naunkovoror 
ayadoi’ ei dE un dyadol, ovdE svdaluoves. 


II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Rechtsoxdg. 205 


jolher Antagonismus, als lägen beide in den Schalen einer Wage 
und zögen jtet3 nach entgegengejegten Nichtungen.!) - 

Der Neichtum wirkt nachteilig durch die Begünftigung von 
Schwelgerei, Müßiggang und Neuerungsjuht, er vernichtet den 
Geift der fittlichen Selbſtbeſchränkung;?) feine unvermeidliche Kehr- 
jeite dagegen, die Dürftigkfeit, erzeugt Umfturzbegierden, Gemeinheit 
der Gefinnung (eveisvFsoie)?), und treibt die Seelen der Menjchen 
durch das Elend zur Schamlofigkeitt) oder zu jElavifcher Unter: 
würfigkeit.5) Selbſt die wirtjchaftlichen Intereſſen des Volkes 
leiden unter beiden Extremen. Denn der reich gewordene Gewerbs- 
mann will nicht mehr arbeiten und der in Armut verfommende 
fann es nicht in entjprechender Weije, weil ihn die unentbehrlichen 
Borausjeßungen für den genügenden Betrieb feines Handwerkes 
fehlen.) Das Schlimmite aber ift der Klaſſenhaß und der Bürger- 
frieg, welcher das lebte Ergebnis des Gegenjages von Arm und 
Neich zu jein pflegt. ”) 

Die Gejellihaft Fällt ſchließlich in zwei feindliche Hälften 
auseinander, oder, um mit Plato zu reden, der Staat in zwei 
Staaten, den der Armen und der Neichen, die fich gegenfeitig 
nicht mehr verjtehen und mit unverjöhnlichem Haſſe verfolgen.) 
Es erwächſt, wie wir jagen würden, in dem Broletariat eine eigene 
joziale Gruppe, die dem Intereſſe des Ganzen ihr bejonderes 
Klafjeninterefje und ihre bejonderen Klafjenforderungen gegenüber: 

!) Rep. VIII, 550e: 7 ovy ovrw nAovrov «gern dieotnzev, Worteg 
Ev nAcorıyyı Lvyoo xeıuevov Exateoov, dei Tovvaevriov ÖENoVTE; zei 
uch’, Epn. 

2) Ebd. III, 422a. Leg. 555 c. 

>) Ebd. 

4) Leg. XI, 919b. 

5) Ebd. V, 729a: ra udv vUneooyxza yco Exdotwv TovVrwv (sc. Ts 
Tov yonudıwv zal zınudıwv zIn0Esws) EyYoas zei orTaosıs aneoyalerau 
Tais nölsoı zul idie, Ta dE Ehkeinovre dovieies as TO noAv. 

6) Rep. 421d. 

?) Leg. V, 744d. 

8) Rep. 422e. 


206 Erſtes Buch. Hellas. 


ftellt. Das Ziel diefer Forderungen aber ift nichts Geringeres, 
al3 der Beſitz der politifchen Macht, um die Gefamtheit zu Gunften 
der „Bettler und Hungerleider“ zu plündern. Die öffentliche Ge- 
walt wird jo Gegenftand eines unaufhörlichen Kampfes, der zus 
legt die Kämpfenden jelbjt und mit ihnen den Staat zu Grunde 
richtet. !) 

Will daher der Staat diejer „ſchlimmſten Krankheit” (we- 
yıocov voonue) entgehen, jo wird er weder die Entjtehung großen 
Reichtums, noch drüdender Armut (meria xgaskerır) zulafjen.?) 
Überhaupt ericheint der „Kampf gegen Armut und Reichtum“ als 
eine der wichtigjten Aufgaben aller Gejeßgebung.3) Diejer Kampf 
gilt insbefondere dem vom Kapitalismus unzertrennlichen Drohnen- 
tum, welches „überall, wo es auftaucht, zerrüttend wirkt wie Galle 
und Schleim im Körper.” — „Gegen dieſe Drohnen muß der Arzt 
oder Gejetgeber des Staates ebenjo gut, wie der verjtändige Zeivler 
frühzeitig fich vorjehen, am beiten damit fie fich nicht einniften, 
niften fie fich aber ein, damit fie jchleunigft zufamt den Waben 
herausgejchnitten werden.” t) 

In allen wejentlichen Punkten jtimmt mit der entwicelten 
Grundanſchauung Ptatos der Standpunkt feines größten Schülers 

1) 52la: ee de nrwyoi zai neivavres ayadav idiwrv Eni ra 
dnuosıe iacıy, Evrsddev olouevoı Tayadov deiv aondLeıv ovx Eorı (Sc. 
dvvern yevcodaı nohıs EV olxovusrvm)' TIEQLUGYEroV yag TO Eoyeıw yıy- 
vousvov, oiXElos Wv xul Evdov 0 ToLoürog noAsuog avrovg TE dnnohAvoı zei 
nv aAlnv nor. 

2?) Leg. a. a. D. 

3) Rep. 421e. Leg. 919b: 0090» uev dr nakaı TE eionusvov, wg 
7005 dvo udysodaı zai Evavria yaherıov, zaydrıeg Ev Teig voooıg roAkois 
te ahkoroı' zei DIN zul vor N TOVUTWv zei TEL TaÜTE Eoti roög dvo udyn' 
neviav xal nAoörov, Tov ußv wuynv dIepdagxoT« TovpN Tov avdoW- 
nov, ımv dE Aunaıs nootTerewuuevnv Eis avamoyvvriav avrmv .Tig ovv di 
INS v000v TaVImS LEWYn yiyvort’ av Ev voiv Eyovon nold; 

*) Rep. 564e. Ein Sab, der lebhaft an die Forderung Proudhons 
erinnert, der Taugenichts, der ohne irgend eine ſoziale Aufgabe zu erfüllen, 
tie ein anderer, ein Produkt der Gejellichaft verzehrt und oft noch mehr, 
müſſe wie ein Dieb und Paraſit verfolgt werden. 


IT. 4. Angriffe d. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Nechtsordg. 207 


überein. So wenig Arijtoteles die Anficht teilt, al3 jei in den 
wirtſchaftlichen Güterleben und in dem Eigentumsvecht die alleinige 
Urſache des fittlichen und materiellen Elends der Gejellichaft zu 
ſuchen, jo iſt doch auch er hinter den genannten wirtjchaftspoliti- 
ſchen Forderungen der älteren Theorie nicht zurückgeblieben. Auch 
er will der Vermehrung der Gütererzeugung prinzipiell eine Grenze 
gejeßt willen. Er unterjcheivet den „wahren“ Netchtum, der nur 
die für die ftaatliche und häusliche Gemeinfchaft „notwendigen und 
nüglichen“ Güter umfaßt, von dem vulgären Begriff des Neich- 
tums, dem „fein Ziel, erkennbar den Menfchen, geſteckt ift.“') 
Jene Berichönerung und Vervollkommnung des Lebens, in der er 
das Wejen des Glückes erblict, bedarf nur eines bejcheivenen Maßes 
äußerer Güter und finnlicher Genüffe, und eine Überjchreitung 
diefes Maßes kann nad jeiner Anficht das wahre Glück des 
Menjchen nur gefährden. Ariſtoteles verwirft daher von vorne 
herein jene fapitaliftiiche Spekulation, jene Chrematiftit, welche Die 
Schuld trägt, daß es für Neichtum und Erwerb nit Maß und 
Ziel zu geben feheint.?2) Und er bleibt bei dieſer prinzipiellen 
Negation nicht jtehen! 

Da eine freiwillige Selbjtbeichränfung der Einzelnen — zumal 
auf dem Gebiete der Geldjpefulation — nicht zu erwarten ift, jo 
verlangt er, daß die Gejeggebung im Sinne wirtjchaftlicheı Aus: 
gleihung dem Grwerbstrieb die entjprechenden Schranken ſetze. Der 
Staat darf das „unverhältnismäßige Emporkommen“ Einzelner?) 
nicht dulden; er muß durch jeine Gejeßgebung präventiv dahin 
wirken, daß es überhaupt zur Anfammlung übermäßigen Neichtums 
in einzelnen Händen (zu einer vrregoxı) rrAovrov) nicht fomme,t) 

) Bol. I, 3, 9. 1256b: 7 yao ns TaaVINS xIN0EwWs auraorsıa 
noös ayadnv Cwnv oVx areıoos Eotıv, WonEO 2Z0Awv pnoi noımoas nAovrov 
d’ ovdev TEoua nepaousvov avdoaoı zeiraı. 

2) Ebd. 1257a: ... gonuariorixmv, di’ ıjv ovdev doxei negas eivaı 
NAOVUTOV XUi XIM0EWS. 

3) avänoıs nao« to avdAoyov VIII, 2, 3, 7. 1302b. 

9) VIII, 7, 7b. 1305b: zai ucAıore usv neiododeı Tois vouoıs ovrw 
6v&uileıv, worte undeva Eyyiyvsodaı noAv UnEoEYovra dvraueı 


208 Erſtes Buch. Hellas. 


ebenfo dahin, daß auch das entgegengejeßte Extrem, unverhältnis- 
mäßige Armut, verhütet werde. Es darf feinen Beſitz geben, der 
jo groß ift, daß er Üppigfeit erzeugt, oder fo Klein, daß er zum 
Darben führt!) Denn „vie Armut erzeugt Aufruhr und Ver— 
brechen.”2) Ja vom Standpunkt des beiten Staates hat Ariftoteles 
wenigftens in Beziehung auf das Eigentum an Grund und Bopden 
geradezu das Prinzip völliger Befißesgleichheit als eine Forderung 
der Gerechtigkeit aufgeftellt. >) 

Am ſchärfſten hat endlich den prinzipiellen Gegenſatz gegen 
den Kapitalismus die Ethik der cynischen Schule formuliert. „Syn 
einem reichen Staat, wie in einem reihen Haus,” jagt Diogenes, 
„fann die Tugend nicht wohnen.”*) Die Liebe zum Beſitz ift für 
ihn „die Mutterftadt aller Übel.”5) Von Natur, fagt ein jpäterer 
Anhänger dieſer Ethik, find die Menſchen zur Tugend gejchaffen, 
die meifte Unfittlichfeit ftammt aus dem Neichtum; zahlloſe Übel 
wären nicht, wenn der Neichtum nicht wäre. 6) 

Ebenjo ift es nur die Wiederholung von Ideen aus der 





unte pilov unjte yonudtov, ei de un, anodnuntizds nolsioder TS 
raoaordoes avrov. Vgl. 1303a über die politifche Gefahr der Konzen- 
trierung des Neichtums. 

1) II, 4, 5. 1266b: — (ovoier) 7 Alav noAAnv worte toupav, 7 
diav oAlynv worte nv Yhloyows. 

2) 7 dE nevia oTaoıw Eunoist zei xaxovoyiav (1, 3, 7. 1265b). 

s) IV, 9, 8. 1330a ſ. jpäter. 

4) Stob. flor. 93, 35. Jıoyevms Edeys, unte Ev nohsı nAovolg umte 
Ev oixig agsrmv olxeiv dvvaodaı. 

5) pıhapyvola untoonokıs navrwov Tov xaxov. Diogen. Laert. VI, 50. 
Sn Beziehung auf die Armut nimmt allerdings die Ethik des Cynismus eine 
andere Stellung ein, infoferne al3 fie eine aurcoxsıe, eine Emanzipation des 
Individuums von allen über das primitivfte Maß hinausgehenden Bedürf- 
niffen predigt, welche die Armut von vorneherein als ungefährlich, ja ala 
Vorzug ericheinen läßt. Diogenes nennt fie befanntlich geradezu eine Tugend. 
Stob. flor. 95, 19: erie aurodidaxros aoern. 

°) Teles bei Stob. 93: zeI” wirtois uEv dvdownor rIE05 aoETmV 
yeyovası, ovtos dE (sc. 6 nAodros) Ep’ airov ro&nsı: — EE airoö dE ei 
nAsioreı TO övu novngiaı‘ zei uigie TWV xaxWv Oix dv mv, Ei u) 6ö 
nAovTos nv. 


IT. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Nechtsordg. 209 


Gedanfenwelt dieſer Epoche, wenn in Plutarchs Biographien des 
Lyfurg!) und des Königs SKleomenes ?) Neichtum und Armut 
ſchlechthin — nicht bloß ein Ubermaß — als Grundübel und 
ſchlimmſte Kranfheitsformen der bürgerlichen Geſellſchaft bezeichnet 
werden, deren Heilung als das höchſte Problem für den wahrhaft 
großen Staatsmann erjcheint. 

Was nun die in ſolchen Anſchauungen wurzelnde Kritik der 
Snftitutionen betrifft, aus denen fich Mammonismus und Bauperismus 
das fittliche und materielle Elend immer wieder von neuem ewzeugt, 
jo richten fich die Angriffe des Sozialismus hauptlächlich auf Drei 
Einrichtungen der bejtehenden Gejellfchaft: das Inſtitut des Privat: 
eigentums, den Gebrauch des Geldes und den Handel. 

Plato erhoffte noch in der Zeit, als er den „Staat“ jchrieb, 
von einer Rechtsordnung, welche mit dem Brivateigentum gebrochen, 
eine vollfommene Berwirklihung des jozialen Friedens. Er be 
zeichnet es als ein „NWuseinanderreißen der bürgerlichen Gemein: 
ſchaft“ (dıeomav ınv moAıy), wenn der Eine das, der Andere 
jenes jein Eigen nennt, wenn jeder fih in dem ausjchließlichen 
Beſitz einer Behaufung befindet, in welcher er Alles zuſammenraffen 
fann, was er irgend vor den Anderen zu erwerben vermag: Ein 
Erwerb, der das Individuum ijoliert, weil fein Ergebnis, der 
Alleinbeji, nur jolde Empfindungen, jei es der Luſt oder des 
Leides, erregt, die von dem Einzelnen allein empfunden werden. 
Gegenüber dieſer Sfolterung durch das PBrivateigentum ift Platos 
Ideal ein Zultand, in welchem alle diejenigen, für welche derjelbe 
durchführbar ift, infolge völliger Gemeinfchaft der Güter „möglicht 

1) ec. 8: Vßoww xai pFoVov zul zuzovoylav zei TOVUPNV xei TE Tov- 
Twv Erı nosoßBvreou za uelbw voonuara nokıreiag, nAovrov xai 
Teviav, EEsladvwv ovveneise (AvzoVoyos) ... [nv uel’ aAlyaov ünevras 
ou@keis zul looxAmgovs Tois Ploıs yevousvovs zT. 

2) c. 10: & uEv oVv dvvarov nv dvev opayns anahkaiaı Tas Erreio- 
axrovs ıns Aaxedeiuovos 17005, Tovgpas za nohıtektiag ui 0ER zei 
deveıouods zal Ta TEEOBUTEE«T TOoVTwv zaxd, neviavxai nkodrorv, 
EurvyEorarov dv nyelodaı navıov Baoıkewv Eavrov WOoNEE laTE6V dvw- 
divws laodusvov nv netoide. 

Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. T. 14 


210 Erſtes Buch. Hellas. 


denjelben Schmerz und diejelbe Freude teilen.“) Ein folcher Zu- 
ftand, wo niemand etwas für fich befißt, würde nach Platos Anficht 
die Befreiung von all dem Kampf und Streit bedeuten, welcher 
unter den Menjchen um des Beſitzes irdiſcher Güter willen zu ent: 
jtehen pflegt. 2) 

Allerdings war Plato von Anfang an überzeugt, daß fo, 
wie die große Mehrzahl der Menjchen nun einmal ift, dieſer ideale 
Kommunismus nur annähernd zu verwirklichen jei; und ſpäter hat 
er befanntlich auch diefe Hoffnung wejentlich herabgeftinimt.3) Allein 
die Art und Weife wie er auch da noch in den unvermeidlichen 
Stonjequenzen des PBrivateigentums, in der zunehmenden wirt: 
Ichaftlichen Differenzierung der Gejellihaft die Erklärung für den 
Verfall der Sittlichkeit juchte, beweilt zur Genüge, daß er fich 
innerlich niemals mit dem Inſtitute ausgeſöhnt hat. 

Überaus bezeichnend ift im diefer Hinficht feine Lehre von 
dem Sozialen Frieden und der fittlichen Neinheit des primitiven 
Katurzuftandes, die er — wie wir ſahen — noch in feinem letten 
Werke vertrat.*) 

Dieſe jozialiftiiche Lehre vom Naturzuftand ift die völlige 
Umkehrung der früher erwähnten rein individualiftiichen Auffaffung 
des Naturzuftandes als des rückfichtslofen Gewalts: und Über: 
liftungsfrieges der Starken gegen die Schwachen. Doch jtimmt fie 


!) Rep. V, 464e: °4’ owv oV%, ..... roıst un diconav ımv noAıy, 
To Euov ovoudlovras un To avro, aA aAhov dAho, Tov uEv Eis ımv aurov 
oixiav EAxovra 0 Ti dv durntaı ywois TWv dhlkwv xInoaodat, Tov dE &is 
Tv Eavrov Eregav oVoav, xai yuralza TE zul naides Eregovs ndoras TE 
xai aAyndovas Eunorovvras idiwv Ovrwv idias, aAA Evi doyuarı Tod olzelov 
eg Eni TO @VTO Teivovras navras Eis TO dvvarov ÖOuonudels Avuns te 
zei ndorns eivau; 

?) Ebd. 464d: dixas re zul Eyraımuara noös aAAmAovs ovx olymoestaı 
EE avrwv, ws Enos eineiv, dia To undev idıov Exrnodaı nAmv TO oWug, 
ta 0’ alla zoıva; O9Ev dN ÜnKoyEL ToVrois EOTaOLEOTOLS sivaı, 00@ y& 
JIE yonudtwv 7 neidwv xal Euyyevov xıyoıw dvdownor otaoıdLovoıv; 

3) leg. V, 739b. 

2) ©. oben ©. 111. 


IT. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a.d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsoxdg. 311 


mit dieſer leßteren injoferne überein, als auch fie aus ihrer An— 
ſchauung über das wahrhaft Naturgemäße unmittelbar praftifche 
Konjequenzen für die Gejtaltung der gegenwärtigen Gejelljchaft 
zieht. Freilich in durchaus entgegengejeßtem Sinn! Während der 
Sndividualismus den freien Konkurrenzkampf als eine Forderung 
des Naturrechtes proflamierte, will der naturrechtliche Sozialismus 
Platos im Gegenteil die möglichite Beleitigung der Nivalität, des 
Mettjtreites um die wirtjchaftlichen Güter, in welchem er nur eine 
Duelle jittlichen Elends und fozialen Unfriedens zu erbliden ver- 
mochte. 

Dffenbar von diefem Gefichtspunft aus meint Plato, indem 
er an die volkstümliche Auffaſſung des unſchuldsvollen Naturzuftandes 
als eines goldenen Zeitalters unter der Herrichaft des Kronos an- 
fnüpft, daß für die bürgerliche Gejellichaft der einzige Weg aus 
Unheil und Elend darin beftehe, daß fie „auf alle mögliche Art 
die Lebensweile, wie fie nach der Sage unter Kronos bejtanden, !) 
nachahme, und dem, was ſich Unfterbliches in uns befindet (d. h. 
der Bernunft) gehorfam das häusliche und öffentliche Leben zu 
gejtalten jucht, als Gejeß vorzeichnend, was die Vernunft feft- 
jeßt.” 2) 

Daß die Verwirklichung dieſes Vernunftsrechtes, welches fo 
zugleich als das wahrhaft naturgemäße Recht erjcheint, einen radikalen 
Bruch mit dem Beftehenden bedeuten würde, wird von Plato jelbjt 
an der genannten Stelle unzweideutig ausgejprochen. Im Nahmen 
der Staats- und Gejellichaftsordnung der Wirklichkeit, über welche 


1) Diejelbe wird jchon im „Staatzmann” (2716) al3 ein Zuftand des 
abjoluten Friedens charafterifiert, der „edonvn, aidos, evvoula, apsovia 
dians.“ cf. ib. eoraoiaore zei evdaluove TE TOv dvIEWTWv aneigya- 
Gero yern. Wenn alfo Plato Leben und Sitte des jagenhaften ſaturniſchen 
Zeitalter als Mufter hinftellt, jo iſt das im Ergebnis dasjelbe, als wenn 
er unmittelbar an jeine Theorie vom Naturzuftand angefnüpft hätte, 

2) Leg. 713e: «Ad wuslodaı deiv jucs oiereı ndon unyarn töv 
Eni vov Koovov Agyousvov Blov, zul 000v Ev nulv adavaoias Evsotı, 
Tovrw neIFousvovs dmuooig zei idie Tas T’ oixmosıs xal Tas noAsıs dror- 
zeiv, yv Tod vov dievounv Enovoudlovras vouor, 


14* 


212 Erſtes Buch. Hellas. 


nicht da3 Vernunftrecht waltet, jondern das „endloje und unerjätt- 
Liche Übel” (evrjvvrov zai aninorov xaxov voonue) menschlicher 
Begierden, gibt es nach Plato Fein Mittel der Rettung (owrnores 
ungern).:) Der Abjolutismus des Naturrechtes und der unver- 
fälſchten Naturfittlichfeit tritt den vermeintlich fünftlichen Drdnungen 
der verfälichten Wirklichkeit hier ebenſo Ichroff ablehnend gegenüber, 
wie in der neueren Philoſophie. An Stelle des fchlechten von der 
Selbftfucht und der Unwiſſenheit diktierten pofitiven Nechtes joll 
ohne weiteres das durch die Vernunft gefundene Naturrecht zum 
Staatlichen Geſetze werden. 

In der Lehre vom Naturzuftande hatte der Sozialismus das 
geiftige Nüftzeug gefunden, mit dem ex die beitehende Wirtjchafts- 
und Gefellfchaftsordnung zu überwinden gedachte. Wurde dieſe 
Lehre anerkannt, fo hörte die ganze joziale Ordnung und das durch) 
fie legitimierte Inſtitut des PBrivateigentums auf, als etwas Un— 
antaftbares zu gelten. Die Geſellſchaft und ihre Organiſationsform 
jelbft war als ein Produkt der gejchichtlichen Entwiclung erkannt 
und damit die Möglichkeit gegeben, den als joziales „Grundübel“ 
proflamierten Gegenfab von Arm und Neich und alle feine Folge 
zuftände als den Ausfluß der bejtehenden fozialen und der auf fie 
gegründeten rechtlichen Verhältniſſe hinzuftellen, die grundſätzliche 
Umgeftaltung der leßteren im Namen der Geſchichte jelbjt zu for 
dern. Die große Frage nach der Möglichkeit und Durchführbarkeit 
einer Wirtſchafts- und Gejellfehaftsordnung, die auf völlig anderen 
Grundlagen, al3 die bejtehende beruhte, war in bejahendem Sinne 
beantwortet. 

Wenn auch Plato — wie gefagt — auf das Hußerfte, auf 
die Beſeitigung des Privateigentums thatlächlich verzichten gelernt 
hatte, jo erſcheint doch angejichts der ganzen Art und Weiſe, wie 
er den Kommunismus wenigftens als Ideal feithielt, wie er noch 
in feinem leßten jozialpolitiihen Werk das Privateigentum durch 
die möglichite Fejjelung des Eigentumsgebrauches und des Erwerbs- 
triebes unschädlich zu machen fuchte, der prinzipielle Gegenjaß gegen 

1) ib. 714a. 





II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a.d. Grunde. d. wirtich. Rechtsordg. 913 


die ganze bisherige gefchichtliche Entwicklung nirgends aufgegeben. 
Eine joziale Theorie, welche den Wettjtreit um ven Erwerb des 
Eigentums, die Konkurrenz, in ſolchem Grade unterdrücken will, 
jeßt fih mit den hiſtoriſchen Grundlagen der Gefellichaft kaum 
weniger in Widerjpruch als der Kommunismus. 

Es war ja an fich vollfommen gerechtfertigt, wern Plato die 
entjittlichenden Wirkungen der reinen und ausschließlichen Konkur— 
venz um den Geldvorteil, den Materialismus des Zeitgeiftes und 
die Verdrängung der edleren Triebe durch die Pleonerie mit flam- 
menden Worten geißelte. Man wird ihm auch zugeben müjjen, 
daß er bei jeiner Polemik wejentlich die eine Seite der Konkurrenz: 
den Kampf, den wirtichaftlichen Intereſſenſtreit, im Auge hat, und 
daß eine Entwiclung der Gejellichaft, welche das Gebiet dieſes 
Kampfes möglichjt einjchränkt,t) in dev That ein wünjchenswertes 
Ziel ift. Die Beftrebungen der edelften Geifter der Gegenwart 
drängen ja ebenfalls auf diejes Ziel hin. Ich erinnere an die Idee 
des Schiedsgerichtes, welches den Antagonismus der wirtjchaftlichen 
Parteien wenn auch nicht aufhebt, jo Doch auf freundjchaftliche 
Weile ausjöhnen will, an die weitergehende Idee der Kooperation, 
welche eine nterefjengleichheit und Intereſſengemeinſchaft zwifchen 
den am PVroduftionsprozeß Beteiligten — Unternehmern und Arbei- 
tern — beritellen und jo durch Bejeitigung des Zwietrachtsitoffes 
ein lebendes Gefühl der Solidarität erzeugen will: Ideen, die, jo 
neu fie find, doch ſchon da und dort dem Prinzip der Konkurrenz 
d. h. des wirtichaftlichen Intereſſenkampfes Terrain abgewonnen 
haben und in der Zukunft ohne Zweifel noch mehr abgewinnen 
werden. 

So jehr nun aber in gewiſſer Beziehung der hellenifche Sozia- 
lismus mit jeinem Kampf gegen die Entartung der Konkurrenz 
recht hat, jo ift Doch andererfeitS nicht minder gewiß, daß das von 
ihm aufgeitellte Ideal eines abjolut konkurrenzloſen Zuſtandes eine 

ı) Was der Amerikaner John Bla in feiner philosophy of wealth 
(1886) als „non competitive economics“, als „displacement of competi- 
tion“ bezeichnet. 


214 Erſtes Buch. Hellas. 


reine Utopie und die reaftionäre Verherrlichung primitiverer Gejell- 
Ichaftszuftände, völlig abgeftorbener volfswirtichaftlicher Lebensformen 
eine Berirrung ift. 

Schon die gejchichtliche Grundanſchauung, die hier zum Aus— 
druck kommt, thut der Natur der Dinge Gewalt an. Nicht der 
Friede bildet den Ausgangspunkt der Entwiclung, jondern es find 
vielmehr tierähnliche Daſeinskämpfe geweſen, welche die Anfänge 
der Menſchengeſchichte beherricht haben müſſen. Wenn auch das 
„Raum für alle hat die Erde” damals in extenfiver Nichtung volle 
Wahrheit befaß, jo galt dasjelbe doch nicht wirtichaftlich in dem 
Grade, wie die Lehre vom Naturzuftand vorausjegt. Sie überfieht, 
daß der primitive Menſch noch viel zu wenig die Ausnützung des 
von der Natur Gebotenen verjtand, daß er daher unvermeidlich 
durch den Erhaltungs- und Entfaltungstrieb auch zum Kampf um 
die Siherung md Erweiterung der Eriftenzbedingungen getrieben 
wurde. Sie überfieht ferner, daß diefer Kampf die unentbehrliche 
Vorausſetzung alles Kulturfortjchrittes geweſen ift und innerhalb 
gewifjer Schranken im Intereſſe der höchſtmöglichen Kraftentwichung 
der Produktion immer unentbehrlich bleiben wird. 

Denn in einer Gejelliehaftsordnung, in welcher die aus der 
natürlichen Verſchiedenheit der Individuen enſpringenden Intereſſen— 
gegenſätze überhaupt keinen Raum mehr für ihre Bethätigung fän— 
den, würde mit dem wirtſchaftlichen Intereſſenkampf aller Wett— 
ftreit d. h. alles Wettftreben überhaupt und damit auch die 
Vervollkommnung der Gejellichaft, wie der Individuen aufhören. 
Der Wettjtreit it die höchſte Form der vervollfommmenden Auslefe 
im Dafeinsfampf der Smdividuen.!) Das Prinzip der Kooperation 
und der Solidarität wird daher neben dem des Wettjtrreites immer 
nur eine relative Geltung beanſpruchen können und im übrigen 
wird, was den leßteren jelbit angeht, der Fortichritt darin zu ſuchen 
fein, daß der Wettjtreit möglichft humane und edle Formen an- 
nimmt, daß der mit Gewalt und Lift durchgeführte Streit, der 








) Bol. Stein: Darwinismus und Sozialwiſſenſchaft. Geſammelte 
Aufſätze 34. 


II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Nechtsordg. 215 


tierische Vernichtungsfampf zwiſchen den Individuen möglichjt be- 
jeitigt wird. Wer daher, wie der naturrechtliche Sozialismus der 
Griechen, das Heil der Geſellſchaft in Zuftänden fieht, welche eine 
radifale Unterdrückung des wirtjchaftlichen Wettbewerbes bedeuten 
würden, der bekämpft zugleich den wirtjchaftlichen Fortſchritt und 
damit die höhere Zivilifation überhaupt. 

Sn der eynifchftoischen Auffaſſungsweiſe tritt das ja befannt- 
ih ganz deutlich zu Tage. Aber auch ſchon bei Plato jehen wir, 
daß er fich diejer Konjequenz des genannten Standpunftes Feines- 
wegs gänzlich hat entziehen können. 

Allerdings denkt Plato nicht entfernt daran, im Sinne cynijch- 
ſtoiſcher Ideale der ganzen Kultur feiner Zeit den Scheivebrief zu 
geben. Die Art und Weiſe, wie er einmal das LZeben einer nad) 
feiner Anficht wahrhaft geiunden Gejellihaft (medıs aA) 
dyıns) ſchildert, ihre heitere Genügſamkeit und jinnvolle Selbit- 
beiehränfung des Daſeins,) — ijt doch wejentlich verjchieden von 
der quietiftiichen und Fulturfeindlichen Anſchauungsweiſe derjenigen, 
welche die Geſellſchaft am liebjten auf den Standpunkt von armen 
Wilden zurüdgejchraubt hätten.) Auch zeigt feine bekannte Forde— 
rung, durch eine weitgehende Arbeitsteilung, die Leiſtungen der tech- 
nischen Produktion möglichjt zu fteigern, daß ihm die Vervollkomm— 
nung der materiellen Lebensbedingungen keineswegs gleichgültig war, 

1) Rep. II, 369b ff. 

2) Dies verfennt Zeller vollftändig, wenn er meint, Plato habe bei 
der Schilderung der „rödıs Öyujs“ das chnifche Staatsideal (de3 Antifthenes) 
im Auge gehabt; eine Anficht, bei der dann der weitere — jehr verbreitete — 
Irrtum unvermeidlich it, daß jene Schilderung nur ironisch gemeint jet. 
Phil. d. Gr. TI(d)! 325 A. 5 u. 893. — Wie Dümmler (Prolegomena 62) 
angefichts der entwickelten Arbeits- und Ständegliederung, der zur Weinkultur, 
zur Geldwirtjchaft, ja zum auswärtigen Handel fortgejchrittenen Volkswirt— 
fchaft der „modrs Liyıys“ von „tierifchen Zuftänden“ veden kann, bei denen 
ſelbſt von moralischen Vorftellungen, von „dixn und adızie noch gar nicht 
die Rede fein” könne, ift mir unbegreiflich. Steht nicht der in den „Geſetzen“ 
als idealer Hort der Gerechtigkeit gepriefene Naturzuftand noch auf einem 
weit niedrigeren Kulturniveau? — 





216 Erftes Buch. Hellas. 


daß er diefelbe al3 die Grundlage alles höheren geiftigen Auf 
ſchwunges ſehr wohl zu ſchätzen wußte. 

Allein es war doch andererſeits die unvermeidliche Konſequenz 
der oben genannten Einſeitigkeit in den ſozial-ethiſchen Grundan— 
ſchauungen Wlatos, daß die Frage des wirtichaftlichen Fortichrittes 
zuleßt Doch auch bei ihm nicht zu ihrem Nechte kommt. Wo Ein 
Gefihtspunkt alles andere jo jehr überragt, wie es bei dem hoch— 
geipannten ethiſchen Idealismus diejes Syſtems der Fall ift, da 
müffen notwendig andere Intereſſen verhältnismäßig leiden, muß 
alles übrige Denken ſich gleichſam unter die Herrichaft diefes Einen 
Grundzuges beugen, von ihm das charakteriftiiche Gepräge erhalten.) 

Bezeichnend dafür iſt die Art und Weiſe, wie in der Schil- 
derung des Verfalles der urjprünglich gefunden Geſellſchaft unter 
den Symptomen der Entartung neben den Äußerungen des Lurus 
und der Ausschweifung auch Errungenschaften der Kultur aufgezählt 
werden, die feineswegs an und für fich, jondern nur dur Miß— 
brauch oder Übertreibung zu einer Gefahr für das fittliche umd 
phyfische Wohl werden können, und die ex jelbjt im idealen Ver— 
nunftitaat nicht alle auszujchließen vermag. Plato kann ſich nicht 
genug thun, der Gefellfchaft dasjenige, was ihm als Urjache ihres 
„Fieberzuſtandes“ erſcheint, bis ins Einzelfte hinein vor Augen zu 
jtellen: Den Lurus, der für die prunfoolle Ausstattung der häus- 
lichen Einrichtung und der Kleidung „die Malerei und die Bunt- 
färberei in Bewegung ſetzt“ und nur in der Verwertung des foft- 
bariten Materials, wie Gold und Elfenbein, fein Genügen findet, 
die Jonftigen immer mannigfalter werdenden Befriedigungsmittel der 
Üppigfeit, Salben und Näucherwerk, Leckereien und Luftdirnen, — 


1) Es gilt in diefem Sinne für Plato und die verwandte Literatur 
dasjelbe, was Endemann über die ökonomiſchen Grundſätze der fanoniftifchen 
Lehre (Jahrb. f. Nationalök. u. Stat. I) und Schmoller (Ztſchr. F. d. Staatsw. 
1860. 470 ff.) über die nationalökonomiſchen Anfichten der deutſchen Nefor- 
mationsperiode bemertt hat, die überhaupt mit ihrem einfeitigen, veligids- 
fittlichen Ausgangspunkt die bedentjamften Analogien zu der platonifchen 
Sozialphilofophie darbieten, vielfach ja jogar direft an Plato anknüpfen. 


to 


II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 917 


den „Schwarm überflüſſiger Menjchen”, wie Jäger aller Art (fol), 
nachbildende Künftler (wurzei), d. h. Bildhauer, Maler, Muſiker; 
die Dichter mit ihren Handlangern, den Rapſoden, Schauspielern, 
Chortänzern, Entrepreneuren; die Bijouterie und Putzwarenfabri— 
fanten, Kinderauffeher, Ammen, Wärterinnen, Kammermädchen und 
Pusmacherinnen, Barbiere, Köche, Ledereienhändler u. |. w.) Dieſe 
verichiedenartigen Elemente — der Künftler ebenfo wie die Luſt— 
dirne, der Dichter wie der Lieferant gaftronomijcher Genüſſe — fie 
alle werden hier zu einer einzigen homogenen Maſſe zuſammen— 
gefaßt, die nur dazu gejchaffen jcheint, den Leidenjchaften, dem 
Laſter und der Thorheit zu dienen, dem Materialismus zum Siege 
zu verhelfen, obgleich ſonſt Plato Feineswegs verfennt, was 3. B. 
die ſchönen Künfte für die idealen Intereſſen zu leiften vermögen. 

Aber ſtärker als ſolche Erwägungen ift der düſtere Eindrud, 
welchen der Mißbrauch der Kulturerrungenfchaften, die wirtjchaft- 
lichen, fittlichen und politischen Gefahren einer einfeitigen Luxus— 
produftion, ſowie die Überſchätzung der äußeren Güter auf das 
Gemüt des Denkers ausübte. Ich erinnere nur an die bereits in 
einem früheren Dialog ausgejprochene Verurteilung des perikleijchen 
Athens und der ganzen Bolitit der Demokratie, welche die Stadt 
reichlich mit Häfen, Mauern, Werften, Tributen und anderem jolchen 
„Tand“ (romvrov gAvagıov) ausgejtattet habe, jtatt mit dem 
Geiſte der Bejonnenheit und Gerechtigfeit.?) 

Sp wenig bedeuten von diefem Standpunkt aus die „joges 
nannten Güter“,3) daß Plato feinen Augenblid Bedenken trägt, 


!) Rep. 373a ff. 

?) Gorgias 517. 

’) ta Asyousva dayade nAovToL TE zul TEE N TOL«VTN TAOROKEVN. 
Rep. 495a. Übrigens fei hier auch, um Plato völlig gerecht zu werden, auf 
die Klage des Demofthenes hingewieſen, daß infolge der einfeitigen Hinz 
gabe des Volksgeiſtes an die materiellen Intereſſen jelbft die damals glänzenden 
äußeren Machtmittel des Staates nahezu wertlos geworden ſeien. Phil. III, 
120, 40: Enei toımosıs ye zai owudtov nAjbog zei gonudrwv zal 
Ins dAAns zataoxevns apdovia, zai TEAM ols Ev Tis loyvew Tas noAsıs 
zoivoi, vov draoı zal nheiw za usilw Eori ıWv Tore noAlo . dAAd Tavı’ 


218 Erſtes Buch. Hellas. 


um des fozialethiichen Intereſſes willen Forderungen zu jtellen, 
deren VBerwirklihung die Produktivität der gefamten Volkswirtſchaft 
auf ein um Jahrhunderte niedrigeres Niveau herabgedrückt hätte. 
Es genügt ihm, daß damit zugleich der Kreis der Güter beſchränkt 
worden wäre, an welchen fich Rivalität und Leidenschaft entzünden 
fan, daß die bürgerliche Gefellichaft gezwungen wäre, in Produktion 
und Konfumtion fi) auf das wirklich „Notwendige“ zu beſchränken 
und allen überflüffigen, Fünftlichen Bevürfniffen zu entjagen, Die 
jest die Gejellfehaft in einen „Fieberzuſtand“ verjegen.!) 

Diefe Forderungen finden ihren Ausdrud zunächit darin, daß 
dem Aderbau, überhaupt der Urproduktion, die erſte Stelle Hoch 
über allen anderen Erwerbszweigen angewiejen wird. Der Erwerb 
joll vor allem und bauptjächlich in dem gefucht werden, „was der 
Landbau hergibt und erzeugt“, weil dies den Erwerbenden nicht 
nötigen wird, „das zu vernachläffigen, um deſſen willen man Er: 
werb jucht, nämlich Seele und Xeib.“?) Im Aderbau liegt nad) 
diefer Anschauung die beſte Gewähr für die Erhaltung reiner und 
einfacher Sitte, während von Handwerk, Handel und Geldgejchäft 
jchwere Nachteile für das phyfiiche und fittliche Wohlfein befürchtet, 
insbejondere Geld und Handel als Haupturfache der Belitesungleich- 
beit, der jozialen Zerfegung und der Selbtjucht mit größtem Miß- 
trauen betrachtet werden. 

Daher foll neben dem Aderbau für die anderen Erwerbs- 
zweige nur joweit ein Spielraum übrig bleiben, als es unabweis— 
bare Bedürfniffe notwendig erſcheinen laffen. Es foll, wie Plato 
ſich ausdrüct, „ein eifriger Erwerb durch handwerfsmäßiges Treiben 
nicht ftattfinden,“3) und ebenjo foll der Stand der Handelsleute 
jo wenig zahlveich fein, als nur immer möglich.t) Eine Forderung, 





@XENoTa, üngaxra, dvövnra ind twv nwAovvıwv yiyveraı (infolge 
der Beftechlichkeit). Vgl. IV, 144. 

!) Der beftehende Staat ift eine nrodıs pAeyuaivovoa. ib. 372e. 

?) Leg. 743e. 

>) yonuarıouos noAvs dia Bavavoias. ib. 743d. 

1b. 919. 


II. 4. Angriffe d. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Nechtsordg. 219 


die Luther in ähnlicher Unterſchätzung der nichtlandwirtichaftlichen 
Erwerbsthätigfeiten in die Worte gekleidet hat, daß es „viel gött— 
licher: wäre, Aderwerf mehren, dieſe feine und ehrlihe Nahrung, 
und Kaufmannschaft mindern.“ !) 

Auch dieſe feindlihe Stellung gegenüber dem Handel ift die 
unvermeidliche logische Konjequenz der ganzen gejchilderten Gedanken: 
richtung und findet fich daher zu allen Zeiten wieder, wo wir ähn- 
lichen jozialpolitifchen Speen begegnen. Die Wirkſamkeit des Eigen- 
nußes und der Selbitfucht würde in der That durch) möglichite 
Annäherung an naturalwirtichaftliche Zuftände bedeutend an Terrain 
verlieren. Wo man fast ausichließlich Für fih und ſeine Familie 
arbeitet und in der Negel nicht mehr produziert, als man für feine 
Wirtſchaft braucht, wo der Einzelne überwiegend auf jeine eigene 
Kraft und Leitung angewiefen ift und jelten in die Lage kommt, 
die Arbeitsprodufte Anderer durch Tauſch in Anſpruch zu nehmen, 
wo demnach der Verkehr noch unentwickelt ift, da ift der Spiel— 
raum für die Bethätigung des wirtichaftlichen Egoismus natur- 
gemäß ein mehr oder minder befchräntter. 

Wenn dagegen der Handel und die Maffe der zum Tauſch 
geeigneten und bejtimmten Güter zunimmt, wenn „dem Bauern 
der Händler gegenübertritt, dem Fremden der Fremde, jeder bedacht 
jo billig zu faufen und jo teuer zu verkaufen als möglich, ohne 
Nückficht auf Nußen oder Schaden des Andern“, dann entwidelt 
fih jenes „verſteckte Ningen in friedlicher Form”,2) welches recht 
eigentlich unter dem Bann des Egoismus fteht. Während Die 
Thätigkeit des für fich jelbft arbeitenden Landwirtes, Viehzüchters 
u. |. w. dem Einzelnen Vorteile Schafft, ohne daß fie einem Anderen 


) S. W. XXI, 329. Bol. Zwingli, der ebenfall® von der Bevor: 
zugung de3 „dem Frieden und der Tugend förderlichen“ Aderbaues hofft, 
daß „damit die unnüßen Handwerk, die zur Hoffart erdacht find, abnehmen“ 
würden (S.W. Züri 1823—41 II 416). 

2) Vgl. die Ausführung von Dargun: Egoismus und Altruismus i. 
d. Nationalökonomie 35 ff. und dazu Sar: Grundlegung der theor. Staats: 
wirtſchaft 24. 


220 Erſtes Buch. Hellas. 


Schaden zu bringen oder mit deſſen Intereſſen zu Eollidieren braucht, 
entjteht mit dem Handelsgeihäft eine wirtichaftlihe Thätigkeit, 
welche fich ſtets mit dem wirtjchaftlichen Streben Anderer kreuzt, 
zum Intereſſe Anderer in einen Gegenſatz tritt, weil, je vorteil- 
hafter das Gejchäft des Einen, deſto weniger vorteilhaft das Ge- 
Ihäft des Anderen ift. Jeder wünjcht hier, — wenigſtens joweit 
die Durchſchnittsmoral in Betracht fommt —, joviel als möglich 
für fich jelbft zu gewinnen, unbefümmert darum, wieweit das Inter— 
ejje des Anderen dabei Befriedigung findet oder nicht. Für die 
Durchſchnittsmoral gilt im Gejchäft feine Freundfchaft, iſt „geichäfts: 
mäßig“ und „egoiftiich” ein und dasjelbe. Jedenfalls gibt dies 
Prinzip der Pleonexie dem Verkehr, joweit er frei den eigenen 
TIriebfräften folgen kann oder vielmehr unter dem Drude einer 
übermäßigen „freien Konkurrenz“ fteht, in ungleich höherem Grade 
jeinen Charakter, als jenes Bemühen um die „verhältnismäßige 
Gleichheit“, um das richtige Mittelmaß in der Zuteilung der ma— 
teriellen Vorteile over Nachteile, wie es eben die platonijch-ariftote- 
liſche Ethik im Intereſſe wirtjchaftlicher Gerechtigkeit gefordert hat. 
Auch zeigen ja die Erfahrungen aller höheren Kulturepochen un: 
zweideutig genug, daß die durch die merfantile und induftrielle 
Entwicklung gefteigerte Intenſität des Lebens infolge der Verallge— 
meinerung und Verſchärfung des Kampfes um die Eriftenz und 
um die Erhöhung der Eriftenz auch die egoiftiichen Triebfräfte zu 
jteigern, den Egoismus intenfiver und rücjichtslofer zu machen 
pflegt. !) 

Soll daher ohne Rückſicht auf andere Kulturinterefjen alles 
der Gerechtigkeitsidee Widerftrebende möglichſt ausgemerzt, der 

') Man vergleiche nur 3.8. das Wirtjchaftsleben einer älteren Epoche, 
wie es in abgelegenen Landichaften, alten Städten, £leinen Orten noch in die 
Gegenwart hineinvagt, mir dem modernen Leben! Der Exrwerbstrieb exjcheint 
bier, wie Cohn (Syftem der Nationalöfonomie I 389) treffend bemerft hat, 
„äſſiger, behaglicher und namentlich vechtichaffener geartet, der Geſchäftsmann 
in Handwerk und Handel viel weniger im Wirtjchaftlichen aufgehend, ein 
kleiner Meifter, Gaftwirt, Kaufmann als Menjch oft viel mehr, denn im 
neuen Leben große Induſtrielle und Spekulanten“. 


> Tan Ei Er Eee 


| 
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IT. 4. Angriffed. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 991 


Spielraum des Egoismus im Wirtichaftsleben möglichjt eingeengt 
werden, jo bleibt nichts übrig als die wirtschaftliche Reaktion oder 
die Bejeitigung des privatwirtichaftlichen Handelsbetriebes oder min- 
dejtens der Freiheit des Tauſchgeſchäftes. 

Trogdem hat ſich Plato auf die Dauer wenigftens die 
weiteftgehende dieſer Schlußfolgerungen eines fozialethiihen Nadi- 
falismus nicht angeeignet. Der Gedanke jpäterer Sozialiften an 
einen Zuftand, in welchem durch jtaatliche Drganijation der Volks— 
wirtſchaft over durch unmittelbaren Verkehr zwiſchen Broduzent und 
Konjument die volfswirtjchaftliche Funktion des Handels gänzlich 
überflüffig werden ſoll, ift von Plato wenigftens nirgends pofitiv 
ausgejprochen worden. Wenn auch in dem von fommuniftifchen 
Speen erfüllten Entwurf des Idealſtaates jeine Gedanken fich ent- 
ſchieden in diefer Richtung bewegen, !) jo findet ſich doch jelbjt hier 
eine Ausführung, welche die Inſtitution des Handels in ihren ge— 
ſchichtlichen Entſtehungsmotiven mit großer Unbefangenheit würdigt.2) 
Sedenfalls kann in dem jpäteren Werke, in den „Geſetzen“, in 
welchem er von vorneherein am Privateigentum und an der privat- 
wirtichaftlichen Produktionsweiſe feithält, von jener radikalen For: 
derung nicht die Nede fein. 

Die Vorichläge, die er hier für die Negelung des Erwerbs: 
lebens macht, jegen überall eine Gliederung der Produktion nach 
jelbjtändig nebeneinander ftehenden Einzehwirtichaften voraus. Wie 
wäre aber eine jolche Arbeitsgliederung nach ſelbſtändigen Zweigen, 
von denen fich jeder die Befriedigung eines bejonderen Bedürfniſſes 
zur Aufgabe jtellt, einigermaßen aufrecht zu erhalten, wenn nicht 
jede Einzelwirtſchaſt hinreichend Gelegenheit hat, den Überſchuß 
ihrer Erzeugnifje über den eigenen Bedarf gegen die zur Befriedi- 
gung ihrer Bedürfnifie notwendigen Erzeugniſſe anderer Arbeits: 
zweige auszutaujchen? Dieſer wechjeljeitige Austaufch andererfeits, 
wie würde er bei einiger Ausdehnung des Marktes und einiger 


1) Bol. fpäter. 
2) Rep. 3716. 


399 Erſtes Buch. Hellas. 
maßen entwicelter Arbeitsteilung exjchwert fein, wenn Produzenten 
und Konjumenten auf einander allein angewiejen blieben! 

Plato, der bei feiner hohen Wertichägung der Arbeitsteilung!) 
gerade die Spezialifierung der verjchiedenen Produktionszweige mög- 
lichſt ſtrenge durchgeführt wiſſen wollte, konnte fich unmöglich der 
Einficht verichließen, daß eS bei der Fortdauer des bloßen Tauſch— 
handels eben durch dieſe von ihm geforderte Spezialifierung für 
den einzelnen Broduzenten immer jchiwieriger werden müßte, ſtets 
diejenigen Konjumenten zu finden, die Bedarf nach jeiner Ware 
haben und zugleich als Produzenten in der Lage find, eine wert 
entjprechende Ware feines eigenen Bedarfes in Tauſch zu geben. 
Daraus ergab fi für Plato von jelbjt die Anerkennung der Un- 
entbehrlichfeit eines vermittelnden Drganes, welches dem Vroduzenten 
jeine Erzeugniffe auf Vorrat abnimmt und jo in der Lage ift, 
einem Seven als Konſumenten die Gegenjtände jeines Bedarfes in 
Tauſch zu geben.?) Er erklärt von diefem Gefichtspunfte aus den 
Handel geradezu als eine Wohlthat für die Gejellfchaft, weil „er 
den unverhältnismäßigen und ungleichfürmigen Beliß beliebiger Waren 
zu einem verhältnismäßigen und gleichfürmigen umgeftaltet,“ 3) 
weil er „allen Bedürfniſſen abhilft und eine Gleichmäßigkeit des 
Beſitzes herbeiführt.”*) 

Wie hätte ferner Plato das Prinzip der Arbeitsteilung, auf 

!) Rep. II 369e. Leg. VIII, 846d. 

N 2) Rep. II, 371e: "4v ovv xouioas 0 YEwmoyos Eis Tmv ayooav TU 
wv noLei m) Tıs dAAos TWv dnuLovoyWv un Eis Tv auTov Yoovov Man Tols 
deousvoıs Ta rap’ avrod wAAdkaodeı, doymosı Ts aurovd dmuiovoyias 
xaIjusvos &v ayood; Ovdauos, 7) d’ ös, @AA Eioiv ol Tovro HgWvres &uv- 
Tovs Ennt nv diexoviav TETToVOL TavTmv, 

3) Leg. XI, 91Sb. zennieie ydo xard noAv naoa YEyovev oV 
PAdßns Evexa To YyE xara vor, nav de Tovvertiov' NWS Yao ovVx 
EVEOYETNS nas, 65 dv oVolav yonudrov Wvrırmvoov dovuuergorv 
0U0aV xai dvauakov OuaAnv TE zul OVuuEsroov aneoyalerar 
ToVTo Njulv yon pavaı xal mv tod voulouaros aneoyalsodeı durauı, 
xai Tov Eunogov Eni Tovrw rerdydau dei Akysır. 

9) ib. I1Se: . . . ndou Enixovoiay Tais yosiaıs EEgvrogeiv xal 
ouckornta Tais ovolaıs (sc. duvaraı). 





IT. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 993 


das er Hinfichtlich der Produktion jo großen Wert legte, aus dem 
Handel verbannen können? Wenn er im Intereſſe der Güte der 
Arbeit von dem Produzenten forderte, ich auf die Erzeugung einer 
beftimmten Warengattung zu bejehränfen, wie hätte ev dem Händler 


verwehren jollen, die Vorzüge der Arbeitsteilung — im Intereſſe 
der Allgemeinheit — auch jeinem Gewerbe nubbar zu machen. 


Das heißt er mußte auch jene Form des Handels als eine be 
techtigte anerkennen, bei der fich der einzelne Händler mehr und 
mehr darauf bejchränft, den Austausch von Waren beftimmter 
Art zu vermitteln, um dieje ſtets da auffuchen zu können, wo fie 
am reichlichiten erzeugt werden und dahin zu Schaffen, wo der ſtärkſte 
Bedarf nach ihnen ift. 

Damit ift eine Geftaltung des Verkehrs gebilligt, bei der der 
einzelne Händler immer weniger in der Lage ift, jedem Produzenten 
den Gegenjtand feines bejonderen Bevdarfes in Tauſch zu geben 
oder von jedem beliebigen Konſumenten gerade den Überſchuß 
von deſſen Erzeugniffen in Tauſch zu nehmen, wo fi alſo für 
ihn die Notwendigkeit herausitellt, jtetS eine Ware bereit zu halten, 
die er womöglich jedem Produzenten für deſſen Ware anbieten 
und deshalb auch von jedem Konjumenten annehmen fann. Kurz 
es ijt damit die Notwendigkeit eines allgemeinen Taufchmittels 
anerkannt, des Geldes, deſſen Unentbehrlichfeit für die wechjel- 
feitige Ausgleihung der Bedürfniſſe von Plato ausdrüdlich zuge: 
geben wird. !) 

So klar fih nun aber Plato über die Funktionen war, 
welche der Handel als Drgan einer auf dem PBrivateigentum be— 
ruhenden Volkswirtſchaft auszuüben berufen it, jo entjchiedenen 
Widerſpruch erhob er andrerjeit3 gegen diejenigen Zwede, welche 
der Handel neben jeiner eigentlichen Aufgabe, der Vermittlung 
zwiichen Produktion und SKonjumtion, von dem privatwirtichaft- 
lihen Standpunkt des Einzelnen aus zu befriedigen ſucht. 

Wie jpäter die Kanonijten, die Neformatoren, Fourier und 
andere Sozialiften wirft er die Frage auf: Sit es zuläſſig, daß der 

1) Bal. die ©. 222 U. 3 angeführte Stelle 9186. 


224 Erſtes Buch. Hellas. 


Kaufmann in Wirklichkeit feineswegs bloß als Drgan zur Er- 
reichung dieſes allgemeinen Zweckes thätig jein will, ſondern ein: 
feitig ſich ſelbſt als Zweck feßt und „in jchimpflicher Weife den 
dem dringenden Bedürfnis geleiteten Beiftand (zıv ıns arrogeiac 
ErIR0VO70Ww)!) zum Werkzeug des Privateigentums herabwürdigt? 
Dürfen die Handeltreibenden aus dem Handel ein Geſchäft machen, 
bei dem es ihnen in erfter Linie um ihre eigene Bereicherung, 
nicht um die Befriedigung der Bedürfniffe zu thun ift? 

Indem Plato dieje Tendenz des Handels prinzipiell ver- 
wirft und jede Handelsthätigkeit unterdrückt wiſſen will, bei der es 
auf „Bereicherung“ abgejehen ift und nur gefauft wird um 
teurer zu verfaufen,2) ftellt ev die Forderung auf, daß bei allem 
Kauf und Verkauf der Preis einfach nach dem bejtimmt werden 
joll, was ev — allerdings ohne nähere Begriffsbeitimmung — den 
„wahren Wert“ nennt?) Diefen wahren Wert, die objektive 
Gerechtigkeit des Preifes, zu realifieren ift Sache der Staatsgewalt, 
welche jich zu dem Zwed mit Sachverftändigen aus dem Handels— 
und Gewerbejtand ins Benehmen zu jegen hat, denen die Bejtim- 
mung des wahren Wertes nach Platos Anficht feine Schwierigkeit 
machen Fann.t) 


1) Ebd. 919b. 

2) Ebd. 847e: zanmdeiev DE Evsxa yonuertiouwv wire owv Tov- 
tov unte aAhov umdevos Ev N Ywo« OAn zul noksı yulv yiyveodaı. 

5) Ebd. 921b: zei avaıpovusvo d’ Epyov EuußovAsvrijs vowos, Ereg 
to nwAovvrı Evveßovieve, un nAEovos tTıuav dianeıoWuevorv, dA 
"cs anhorortara ns dEias, Tairov dm nYoOTETTEL xal Ta avamovusı m“ 
yıyvooxeı yao 0 yE dnuiovoyos mv afiev. Plato hat hier offenbar das— 
jelbe im Auge, was der moderne Sozialismus, z. B. Proudhon, als „gerechten 
Preis” bezeichnet, der ſich nach Proudhon jederzeit durch genaue ftatiftifche 
Treisberechnungen u. ſ. to. jicher erkennen lafje. Vgl. Diehl: Proudhon II 123. 

9 Ebd. 920e. Bei direktem Verkauf von jeiten der gewerblichen Pro— 
duzenten denkt Plato offenbar an den jogen. Arbeits: und Produftionswert; 
denn nur in Beziehung auf diefen fann ex von dem Handwerfsmann jagen, 
daß er den wahren Preis jehr wohl kenne. ©. oben 921b. — DBgl. auch 
den ähnlichen Gedanfengang der fanoniftischen Lehre über den „richtigen“ 
Preis (Endemann a. a. O. 358 ff.) und dazu Luthers Schrift über die Kauf: 


IT. 4. Angriffe d. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 225 


Seines jpefulativen Charakters völlig entkleidet joll jo der 
Handel zu einer Art Amt werden, das feine Aufgabe nur darin 
zu ſehen bat, gewiſſe volfswirtichaftliche Funktionen dem Bedürf— 
nifje der Geſamtheit entiprechend durchzuführen und welches fich 
mit dem begnügt, was ihm die Allgemeinheit für die Ausübung 
diefer Funktionen wie eine Art Gehalt zuerkennt. 

Auf diefe Weiſe joll dem Handel jener „mäßige“ Ertrag!) 
gefichert bleiben, welcher notwendig ift, um die wirtjchaftliche 
Grijtenz der handeltreibenden Klaſſe zu erhalten, welcher aber die 
Anfammlung größeren Kapitals von vorneherein unmöglich macht. 

Um diejes legtere Ziel noch ficherer zu erreichen, verlangt 
ferner Plato die Ausſchließung der edlen Metalle und damit des 
Gold: uud Silbergeldes aus dem gejamten inländiichen Verkehre. 
Er ſpricht fi Für die Einführung einer Landesmünze aus, die 
ähnlich wie das ſpartaniſche Eijengeld im Auslande wertlos ift. 

Es wird damit zugleih der auswärtige Handel an der 
Wurzel getroffen, den Plato wegen feiner Gefahren für die Ein- 
fachheit und Strenge der Sitten auf ein möglichit niedriges Niveau 
herabdrücken möchte, indem er die Einfuhr aller foftbaren, nur dem 
Luxus dienenden Waren verpönt und nur den Import von Gegen- 
jtänden des notwendigen Bedarfes zulaſſen will.2) Ein Verbot, 
das Übrigens auch den Handel an fich trifft, da ja die prinzipielle 
Beichränfung der Produktion und Konſumtion auf das Notwendige 
eine ganze Neihe von Handelszweigen und Gewerben von vorneherein 
überflüffig macht. 

Natürlich joll ſich auch die volfswirtichaftliche Funktion der 
Landesmünze nach Platos Anficht nur auf das Notwendige be 


handlung (X, 1090), ſowie andere Schriften der Reformatoren, die ala „öko— 
nomiſch“ d. h. als produktiv nur den Handel gelten Laffen, der Überfluß und 
Mangel ausgleicht, dagegen allen Handel veriverfen, der nur fauft, um teurer 
zu verkaufen. Eine Auffaffung, die zum Zeil direft an Plato anfnüpft. 
(corp. ref. XVI 427. cf. XI 394.) 

!) xeodos ueroiorv ib. 

2) EEd. 847c. 


Pohlmann, Gejch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus, T. 15 


226 Erſtes Buch. Hellas. 


ſchränken; d. h. fie joll nichts Anderes mehr fein, als ein Hülfs— 
mittel des Güterumjaßes und Preismaßjtab.!) 

Inſoferne das Geld — infolge feiner unbejchränkten Auf- 
bewahrungs- und Anfammlungsfähigfeit und feiner allfeitigen von 
Zeit und Det unabhängigen Verwendbarkeit — den Erwerbstrieb 
und die Erwerbsfähigfeit des Einzelnen und damit den wirtjchaft- 
lichen Konkurrenzkampf fteigert, die Möglichkeit zur Anfammlung 
von Neichtum vervielfältigt, mußte e3 ja ein Gegenftand des Miß- 
trauens und der Abneigung für eine Theorie jein, welche in der 
Konkurrenz und in dem Gegenjag von Arm und Reich) an fich 
ſchon Symptone jozialer Erkrankung erblidte.2) 

Dieje dem beweglichen Kapital dur) das Geld zugeführte 
Macht joweit zu Schwächen, al3 es ohne Beleitigung des Geldes 
jelbjt möglich war, jeheute der abſtrakte Dogmatismus der Theorie 
vor den äußerſten Konjequenzen nicht zurüd. Wie fie die An— 
jammlung größerer Werte mit Hülfe des Geldes einfach dadurch 
unmöglich gemacht willen wollte, daß das edle Metall im Münz- 
wejen duch Stoffe von ungleich geringerem Taujch- und Gebrauchs: 
wert erjeßt wird, jo will jte die — in ihrem Ergebnis auch wieder 
jener Konzentrierung von Werten fürderlihe — Eigenjchaft des 
Geldes, jeinem Beliger als Erwerbsvermögen zu dienen, in radikaler 
Weiſe dadurch bejeitigen, daß fie prinzipiell die Berechtigung der— 
jenigen Gejchäfte negiert, durch welche das Geld ſelbſt Mittel des 
Erwerbes wird. Das heißt: es jollen alle Kreditgejchäfte unmög— 
(ich gemacht werden durch die Unterdrückung derjenigen Inſtitution, 
welche die Seele des Kredite ift, nämlich der Zinsbarfeit ‘des Dar- 


’) vououe ovußolov ıms aAkayns Evexae. Rep. Il 371b. Das Geld 
feine Ware mehr, jondern nur noch ein Symbol, ein bloßes Zeichen! 

2) Auch in dieſer jchon oben (©. 115) bei den Eynifern Eonftatierten 
Abneigung gegen das Geld berührt fich der antife mit dem modernen Sozialis— 
mus. „Das Geld", jagt Proudhon, „ift der Depot der Zirkulation, der 
Tyrann des Handels, das Haupt der faufmännijchen Feudalität, das Symbol 
des Eigentum? Das Geld müfjen wir vernichten!” (Vgl. Diehl a. a. O. 
IT, 53.) 


II. 4. Angriffed. ideal Sozialphil.a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 227 


lehens,!) ſowie durch das Verbot, auf Kredit zu kaufen oder zu 
verkaufen. 2) | 

Das Kaufgeichäft joll möglichit den Charakter des Taufch- 
geichäfts bewahren, der Kauf dem Tauſch möglichft nahe gerückt 
werden, um jede freiere Geftaltung des Kaufes, wie fie eben der 
Kredit geftattet, von vorneherein unmöglich zu machen. Der Kauf 


joll nach diefer — auf möglichite Annäherung an die Natural: 
wirtschaft hinftrebenden — Anſchauungsweiſe nichts fein, als ein 


Tauſch mit fofortiger Nealifation, der ſich von demjenigen der 
Naturalwirtichaft nur dadurch unterjcheivet, daß auf Seite des 
einen Kontrahenten eine Geldſumme den Inhalt der Taufchleiftung 
bildet. 3) 

Auf diefe Weife joll das Geld, wie der Handel, aufhören, 
Habjucht und Mammonismus einerjeits, Armut und Ausbeutung 
des Armen andererjeitS zu fördern. 

Man wird der allgemeinen Tendenz, welche in diefen Er: 
örterungen zum Ausdrude kommt, eine gewiſſe Sympathie ja nicht 
verjagen fünnen. Gerade die Gegenwart empfindet es als eine der 
verhängnisvolliten und gefährlichiten Konſequenzen hochentwicelter 
Geld- und Kreditwirtichaft, daß es durch fie einer kleinen Minorität 





) Wer Geld auf Zins ausleiht, dem ſoll der Schuldner nicht einmal 
mehr das Kapital zurüdzuzahlen brauchen. Leg. V, 742c: und& daveißsır 
Ertl T0x0, Ws EEov um anodıdova TO nagenev TW davsıoauevo unte Toxov 
unte zepaheıor. Ähnlich ſchon im „Staat“, wo es für wünſchenswert erklärt 
wird, daß die Hingabe von Gelddarlehen nur auf „eigene Gefahr“ erfolgen 
ſollte. 556: E&«v yao Eni TO avrov zıvdvvw Ta noAkd Tıs TWv Exovoiwv 
Evußoleiov noooreırn Evußadleıv, yomuerilovro uv üv mrrov dvados 
Ev ın noAeı, EAcdrrw Ö’ Ev aut Yrloıro TWv ToLlovVTwv xazov, oliv vor dm 
EITTOUEV. 

2) Leg. XI, 915d: Vod de die TIvos wvns n zul nodoews aAAdrre- 
Tai dis Eregos dAım, ddovra Ev ywg« ın Terayusvn Exdorois za’ dyogav 
xal deyousvov Ev TO nepayoyue tuunv ovrws daAharreodaı, EhAodı de 
undauov, und’ Eni avaßoin nocoıw unmde wrnv noLeiodeı undevos. 

3) Sehr bezeichnend für diefe Tendenz, den Kauf möglichit dem Taufch 
zu nähern, iſt die Art und Weife, wie Plato an der eben genannten Stelle 
bon einem „Eintaujchen durch Kauf oder Verkauf” ſpricht. 

15* 


228 Erſtes Buch. Hellas. 


ermöglicht wird, dank ihren techniſchen Kenntniſſen und ihrer aejchäft- 
lichen Beherrſchung des Kreditverfehrs die Gejamtheit in unver— 
hältnismäßiger Weiſe auszubeuten. Allein es ift leider ebenjowenig 
zu verfennen, daß die von Plato gemachten Vorſchläge zur Ber- 
hütung und Heilung dieſes fozialen Übels in Feiner Weife aus- 
gereift, jondern ideologiihe Träume eines jozialpolitiichen Adepten 
find, der feine Wünſche und Hoffnungen an die Stelle der Neali: 
täten feßt. Es bedarf für uns feines Beweijes, daß jelbjt in dem 
verhältnismäßig beſchränkten Rahmen der antifen Stadtſtaatwirt— 
ichaft, auf welche ſich dieſe platonifchen Vorſchläge prinzipiell be- 
jchränfen, das Heil der Geſellſchaft unmöglich in der wirtjchaft- 
lichen Reaktion gejucht werden konnte, wenn auch der Zweck Platos, 
ftabile und gerechte Wertverhältniffe zu erzeugen, unanfechtbar ift. 

Um fo auffallender exjcheint es bei dieſem utopijchen Charakter 
feiner Theorie, daß die Anfichten Platos über Güterumfag und Geld- 
verkehr nicht etwa in abgejhwächter, Jondern eher in noch radi— 
falerer Faſſung bei einem ſonſt jo nüchternen Denker und jcharfen 
Beobachter ſozial-ökonomiſcher Erjcheinungen, wie Ariftoteles wieder: 
fehren. Wie gewaltig muß die antifapitaliftiiche Bewegung geweſen 
fein, welch tiefer und nachhaltiger Eindrud muß der Gedanke einer 
einfchneidenden Umwandlung der bejtehenden Wirtfchaftsordnung in 
den Gemütern hinterlaffen haben, wenn jelbjt ein jo gearteter Den- 
fer, der in der grundlegenden Frage der Eigentumsordnung ſich nie 
in der Weife wie Plato vom Boden der Wirklichkeit entfernte, — 
wenn Nriftoteles in feiner Kritif der Konſequenzen einer privat: 
wirtschaftlichen Nechtsordnung, in jeinen Anſchauungen über den 
Güterumſatz, die freie Konkurrenz, die Geldwirtichaft und die Kapital— 
rente fich nicht nur an den Gevdanfengang Platos enge anjchloß, 
jondern über denjelben noch hinausging! 

Aristoteles erkennt, wie Plato, den Fortjehritt von der Natural- 
zur Geldwirtichaft an, und feine Erörterung über die Entjtehung 
und Natur des Geldes darf als eine klaſſiſche bezeichnet werden.) 


1) Bgl. Pol. I, 8, 13. 1957a f. 


II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil.a.d. Grundf. d. wirtſch. Rechtsordg. 229 


Doch fügt er ebenjo, wie Plato, die prinzipielle Einſchränkung hin— 
zu, daß das Geld nur zur Vermittlung des Güterumfages, nicht 
als Werkzeug der „Bereicherung“ dienen ſollte. Der Gewinn aus 
Zinsdarlehen und jonjtigen Geldgeſchäften erjcheint ihm als durch- 
aus widernatürlich (uakıora rreoa Yvow), weil auf diefe Weife 
das Geld ſelbſt Mittel des Erwerbes und nicht dazu gebraucht 
wird, wozu e3 erfunden ift. „Denn nur zur Erleichterung des 
Taufches Fam es auf, nicht um durch den Zins fich jelber zu ver: 
mehren.“ !) 

Ebenſo, wie alles diejes, iſt es ganz platonijch gedacht, wenn 
Ariftoteles ein Symptom der Entartung darin Sieht, daß durch 
Geld und Handel eine wirtjchaftliche Thätigkeit hervorgerufen wird, 
die wejentlich darauf gerichtet tft, „wie und mit welchen Mitteln 
man beim Umſatz möglichit viel gewinnen könne.““) Er ftimmt 
mit Plato darin völlig überein, daß aller Erwerb ſich auf die Bes 
ſchaffung des Unterhaltsbedarfes beichränfen und an den vernünf— 
tigen Bedürfniffen des Menjchen von vorneherein jein Maß und 
feine Grenze haben mülje;?) daß daher die ganze thatjächliche Ent- 
widlung des Handels, insbejondere des Geldhandels eine verwerf- 
liche fei, weil derjelbe in der Verfolgung jeines Zieles eine ſolche 
Schranke nicht anerkennt, ſondern auf „unbegrenzten Gelderwerb” 
bedacht ift.t) . 

Da der „wahrhafte” Neichtum nach der Anficht des Arijto- 
tele8 nur in dem für das Leben Notwendigen und Nützlichen be— 
jteht und das für ein vernunftgemäßes Dajein genügende Maß 


1) Ebd. I, 3, 23. 1258b. 
2) Ebd. I, 3, 15. 1257b: nosev zai nws ueraßellouevov nAsiorov 


roımoeı xEodos. 


») 8. 1256b. 
4) 17. 1257: zei Tavıns TS yonucuouzns ovx Eortı Tod Telovs 
neoas, tEhos BE 0 ToLovros nAo0rog zei yonudtov zımoıs. cf. 18: -— m 


uv geiveraı avayzalov Eivaı navrös nAovrov rIEQaS, Ei de TWv yıro- 
usvov ÖoWuEev ovußaivoy Tovvavılov' Idvrss ydo Eis AnEIVov avSovoıv 


ob yonuarılousvor To vowoug,. 


230 Erſtes Bud. Hellas. 


eines ſolchen Befißes nicht ins Unendliche geht,!) jo tritt Arifto- 
teles dem aus Handel und Geldgeichäft entjtehenden Neichtum, der 
feiner Natur nach ohne Ziel und Grenze ift,2) ebenjo feindlich ent- 
gegen, wie der platoniiche Sozialismus. 

Dem „naturgemäßen“ Gütererwerb, deſſen Ziel die Befrie- 
digung des naturgemäßen Bedarfes des Familien und öffentlichen 
(Staats)haushaltes ift (orxovoman, 1) zreoi nv Toognv) wird als 
naturwidrig die Gelderwerbsfunft (gonuerıorızı,) gegenübergeftellt. 

Diefe auf das Geld als jolches gerichtete Spekulation tritt 
zuerst „in ganz einfacher Geſtalt“ (41400 fons) auf im Klein 
handel, jpäter „bei vermehrter Erfahrung fünftlicher”. Alsdann 
handelt es fich bei dem Umſatz nicht mehr bloß um die Anſchaffung 
des Hausbedarfes, jondern um ein auf den meilten Profit (xeodos) 
gerichtetes Spefulationsgejchäft. Die Erwerbskunſt ift die Kunft 
geworden zu jpefulieren, wo viel Geld herauszuſchlagen it. An 
die Stelle des durch den Hausbedarf begrenzten natürlichen Reich— 
tums und Gütererwerbs ift das jpefulative Kapital getreten, das 
den Gelderwerb als Selbitzwecd betrachtet „und maßlos, wie. dieje 
Geldbereicherung, werden dann die Bedürfnifje der entfeſſelten 
ſchrankenloſen Leidenschaften, die nach maßlojen Befriedigungsmitteln 
des ſchrankenloſen Sinnengenufjes ftreben.“ 3) 

Wie all dies echt platonifch ift, jo ift-eS auch die Polemik 
gegen ven Fapitaliftiichen auswärtigen Handel, dem fie möglichit 
enge Schranfen gezogen wiſſen will. Auch der ariftotelifche Sozial: 
ftaat läßt denſelben nur joweit zu, als er im Intereſſe des Aus— 
taufches überſchüſſiger Landeserzeugniffe und unentbehrlicher, nur 
aus dem Ausland zu beziehender Bedarfsgegenftände nicht zu um: 
geben tjt.t) 


') 20h: zard pic 7 negi Tnv toogNv, 0vX Wwoneo avın (sc. 7 un 
dvayzala yonueriorizm) aneıpos aAAd Eyovoa Ögorv. 

>) 17: dnrsıgog ö nAovros 6 ano Tawıns TS Konuatiotizms. 

s) 19. 

4) Der ariftotelische Sozialſtaat begrügt fich mit diefem Austaufch für 
den eigenen Bedarf; er „gibt fich nicht zum Markt für andere her“, weil es 


II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 231 


Der Handel erjcheint auch bier in feiner geſchichtlich gewor— 
denen Geftalt wejentlich als ein Barafit der VBolkswirtichaft, deſſen 
Thätigkeit zur Produktion nichts hinzufügt, ſondern immer nur für 
den einen gewinnt, was fie den anderen nimmt.!) 

Bei diefer Auffaffung kann es nicht zweifelhaft jein, daß 
Aristoteles auch vom Standpunkt feines Gejellfchaftsiveales aus 
die möglichite Unſchädlichmachung 2 „Naturwidrigen” Tendenzen 
des Handels fordern mußte, wenn ſich auch leider die Art und 
Meife, wie er fich die Verwirklichung diefer Forderung dachte, 
unjerer Kenntnis entzieht. Ja es ift jogar die Möglichkeit nicht 
ausgejchloffen, daß er in feiner Darftellung der wirtjchaftlichen 
Drganifation des beften Staates, die befanntlich in der uns über: 
lieferten Gejtalt nicht über die erſten Grundlinien hinausfommt, 
zu einem abjchliegenden Ergebnis in diejer jchwierigen Frage über: 
haupt nicht gelangte. 

Immerhin jteht wenigstens in negativer Beziehung foviel feit, 
daß er die Anficht Wlatos, als fünne der gewerbsmäßige Handel 
bis zu einem gewiſſen Grade mit der Ethik in Einklang gebracht 
werden, ſeinerſeits nicht geteilt, alfo thatlächlich eine noch ab- 
lehnendere Haltung gegen den Handel eingenommen bat, als «3 
Plato wenigitens in feiner legten jozialpolitiihen Schrift gethan 
hatte. Und es ift diefer Peſſimismus von den oben genannten 
Prämifjen aus ja jehr begreiflich! 


dabei nur auf Bereicherung abgefehen wäre. An „jolcher Gewinnfucht” ſoll 
er fein Teil haben. IV, 5, 5. 1327a: «urn ydo Eunogiziv, dA ov Tois 
dhhous dei eva ımv nolıv' oi dE nageyovtes opds avrois naoıv dyogav 
710000dov yaoır Tavr« nodtrovoiv' nv de un dei nokıy Toi@vTns UETEYEIV 
nAeoveiias, ovud’ Eunogiov dei zextnjodeı Toiovror. 

ı) Nur jo ift es meines Grachtens zu verftehen, wenn die auf den 
bloßen Handelsgewinn berechnete Erwerbskunſt getadelt wird, weil fie „ov 
zarte gvowwv, aAN ar ahdmyıov Eotiv“ (23. 1258b). Denn der Handel kann 
doch nicht deshalb getadelt werden, weil ex in „gegenfeitiger Übereinkunft“ 
(itatt in der Natur) gegründet ift, wie Suſemihl auch überjegen will. Denn 
auch der Gebrauch des Geldes ift „durch Übereinkunft eingeführt“ ($ 14) 
und wird trogdem von Arijtoteles vollkommen gebilligt. 


232 Erſtes Buch. Hellas. 


Wer als Ideal einen Verkehr vor Augen hat, der nur um 
des „wahren Bedürfniffes“ und des Gebrauchswertes der Güter 
willen ftattfindet, dem kann ja im Grunde nur dasjenige Kauf— 
geichäft als fittlich unbedenklich erjcheinen, bei dem der Erwerler 
die Abficht hat, die erworbene Sache jelbit zu gebrauchen, der Ver— 
fäufer, anderen den Gebrauch zu verſchaffen. Der gewerbsmäßige 
Handel aber kann feiner Natur nach nicht nur dieſes wollen. 
Denn er Fauft und verfauft die Dinge, weil fie neben den Ge- 
brauchswert einen in Geld ausprüdbaren Taufchwert enthalten. 
Bei ihm ift jeder Kauf notwendig zugleich Spekulationsfauf, bezw. 
Verkauf d. h. um des Taufchwertes oder, was dasſelbe ift, um 
des Geldwertes willen. Der privatwirtichaftliche Zwech der mit 
den volfswirtichaftlichen Leiftungen des Handels immer Hand in 
Hand geht, ift der durch die Nealifierung diefes Taufchwertes zu 


erzielende Geldgewinn, der Mehrwert, welcher — um mit Marr 
zu reden — durch die Verwandlung von Geld in Ware und die 


Kücverwandlung von Ware in Geld entjteht; weshalb Ariftoteles 
in diefem Sinne d. h. von dem pridatwirtjchaftlichen Stand— 
punkt des Handelsgewerbes aus nicht Unrecht bat, wenn er das 
Geld das Element und das Ziel des Handelsumjaßes nennt. !) 

Wie könnte man demnach von dem Handel, ohne ihn feiner 
eigenen Triebfraft zu berauben und ihn damit jelbjt zu vernichten, 
mit Plato verlangen, daß er dieſen feinen jpefulativen Charakter 
völlig aufgäbe d. h. fich bei Kauf und Berfauf aller Gedanken an 
einen Gewinn entichlage, der als Bereicherung gefaßt werden 
könnte? 

In der That wird von Ariſtoteles die Frage unzweideutig 
verneint, indem er den Satz aufſtellt, daß die auf die merkantile 
Spefulation gerichtete Erwerbskunſt ihrer ganzen Natur nach eine 
ſolche Grenze niemals innerlich anerkennen werde, jo wenig „wie 
die Heilfunft ein Maß und eine Grenze habe, bis wohin fie die 
Erzeugung der Gelundheit ausdehnen darf.” 2) 

1,3, 1751957R., 

2 Rip. 7; 








NZ 


II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Rechtsordg. 233 


Wenn aber der gewerbsmäßige Handelsbetrieb grundſätzlich 
mit der wahren Sittlichfeit unvereinbar ift, wenn ex feiner wahren 
Tendenz nach auf die Vernichtung jener wirtichaftlichen Gleichheit 
binarbeiten muß, welche Ariſtoteles al3 geſellſchaftliches Ideal auf- 
stellt, jo mußte fich auf feinem Standpunkt bei einiger Konjequenz 
die weitere Frage aufvrängen: Sit die Eriftenz eines bejonderen 
Handelsgewerbes unter allen Umftänden notwendig, oder ift nicht 
etwa ein Gejellichaftszuftand denkbar, welcher die Vermittlung des 
Kaufmanns überflüfftig macht? 

Welche Antwort er freilih auf diefe Frage hatte, darüber 
laffen fi nach) dem oben Geſagten höchſtens Bermutungen auf: 
ftellen. Einige Iußerungen der Politik erwecken wohl den Anfchein, 
als ob fich Ariftoteles von der Entbehrlichfeit des Handelsgewerbes 
doch nicht habe überzeugen können. Es find das die Stellen, wo 
er eine Aufzählung der für die Geftaltung des Berfaffungslebens 
in Betracht Fommenden Bolfsklaffen gibt und in der That neben 
dem Bauern» und Handwerkeritand als dritten organijchen Beſtand— 
teil des Volkes die handeltreibende Klafje nennt.) Aber es fann 
das in feiner Weiſe als entjcheidend angejehen mwerden.?) Denn 
Ariftoteles hat es in dem Teil der Bolitif, welchem dieje Stellen 
angehören, nur mit der Pathologie und Therapie der beftehenden 
Staats: und Gejellichaftsordnung zu thun, deren wirtjchaftliche 
Grundlagen er bier als gegeben hinnimmt. Ein Beweis wäre alſo 
nur dann erbracht, wenn auch die ideale Gefelliehaftsordnung des 
„beiten“ Staates einen bejonderen Handelsitand Fennen würde. 

Kun stellt Sich aber bei näherem Zuſehen die bedeutjame, 
bisher merfwürdigerweile völlig überjehene Thatſache heraus, daß 
Ariftoteles bei der wiederholten Aufzählung der volfswirtjchaftlichen 
Borausfeßungen und der wirtichaftlichen Berufe, ohne welche auch) 
jein bejter Staat nicht bejtehen Tann, das Handelsgewerbe mit 

I) A, 121291 A, 3.132178: 

2) Wie das z. B. Rau thut (Anfichten der Volkswirtſchaft 15) und 
Kautz: Gefchichtliche Entwicklung dev Nationalökonomik 139. 


234 Erſtes Buch. Hellas. 


völligem Stillſchweigen übergeht.) Zugegeben, daß die eine oder 
die andere dieſer Aufzählungen eine erſchöpfende Überſicht vielleicht 
nicht beabſichtigt, ſo erſcheint doch dieſes vollſtändige Schweigen be— 
redt genug. Kann es Zufall ſein, daß das Handelsgewerbe zwar 
bei der Charakteriſtik der beſtehenden Volkswirtſchaft ausdrücklich 
genannt wird, dagegen bei der Schilderung der wirtſchaftlichen 
Grundlagen de3 Idealſtaates — und das an drei verjchiedenen 
Stellen gänzlich ignoriert wird??) Wenn bier aber die Abficht un: 
verfennbar ift, jo bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder hat der 
ariftotelifchen Sozialtheorie in der That der Gedanke vorgejchwebt, 
die Güterwelt durch die Verftaatlihung des Handels von allen 
Mittelsperfonen zu befreien, oder ihre Tendenz ging wenigftens da- 
hin, den gewerbsmäßigen Handel in eine für den Gejamtcharafter 
der Volkswirtſchaft möglichft bedeutungsloſe Stelle herabzudrüden. 

Doch jei dem wie ihm wolle! joviel geht aus allem hervor, 
daß die Verwirklichung der ariftotelifchen jowohl, wie auch der 
platonijchen Theorie thatfächlih eine mehr oder minder vadifale 
Zerſtörung des Handels bedeutet hätte. Schon die Auffaffung von 
der Stellung des Geldes in der Volkswirtſchaft muß zu Konfes 
quenzen führen, die geeignet find, den Lebensnerv des Handels zu 
lähmen. 

Zwar bat Ariſtoteles — wie man im Gegenſatz zu Der 
üblichen Auffaffung anerkennen muß — durchaus recht, wenn er 
jagt, daß die wejentliche und einzige Funktion des Geldes in der 
Vermittlung und Erleichterung des Taufches bejteht und daß eine 
Summe von Geldftücden an fich Feine Zinfen erzeugen, ſich alſo 
auch nicht ſelbſt durch den Zins vermehren könne. Allein es wird 





) IV, 8, 1. 13286: der doa yewoywv T eivar Amos, 08 naoa- 
oxevaLovor Tv TOoPINv, xal TEyvites, #ai TO WUdyıuov xal TO EUIOgoV 
zai iegEIS zul xoıras av dizalov xal ovupsoorrwv. cf. 7, 4 und 
921718292. 

) Die Erwähnung eines Marktes beweift nichts. Selbjt in dem 
fommuniftifchen Ntopien des Thomas Morus gibt es Märkte, obwohl hier 
von einem privativirtjchaftlich organifierten Handel nicht die Rede jein kann. 


I. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 935 


dabei andererjeits überjehen, daß, wenn auch das Geld nicht ſelbſt 
und unmittelbar produktiv ift, es doch für feinen Befiger mittelbar 
dadurch produktiv zu werden vermag, daß es ihm die Aneignung 
von Gütern ermöglicht, die zum Erwerb und zur Produktion neuer 
Güter dienen fünnen. Es wird daher auch verfannt, daß, wenn 
durch Überlaffung von Geld an einen anderen diefem die Möglich: 
feit verichafft wird, fi in den Befit von Erwerbsvermögen und 
Produftionsmitteln d. h. eines Kapitals zu jegen, der Darleihende 
einen wohlbegründeten Anſpruch auf die Beteiligung an dem Er— 
trage dieſes SKapitales erhält. Dies leugnen heißt aber nichts 
anderes als das Darlehensgeichäft ſelbſt bejeitigen, die Entwid- 
lung alles Kredites und damit die wirtjchaftliche Leiſtungsfähigkeit 
aller derjenigen unterbinden, welche darauf angewiejen find, ſich das 
für die Bethätigung ihrer Arbeitskraft und ihres Unternehmungs- 
geiftes nötige Kapital auf dem Wege de3 Kredites zu verichaffen. 
Was würde aber der Handel, deſſen Seele Geld und Kredit ift, in 
einem voltswirtichaftlichen Syjtem bedeuten, welches die Produktivität 
der Arbeit, die Kapitalbildung und vermehrung in diefer Weife 
lähmen würde? — 

Man ift vielfach geneigt, die Weite des Abitandes zu unter 
Ihäßen, welcher die gejchilderte platonijch-ariftoteliiche Wirtſchafts— 
theorie von der thatjächlichen Geftaltung des Lebens trennte. Man 
fieht in ihr — insbeſondere in der Befämpfung des Brivathandels 
— ein Symptom des relativen Zurückbleibens der antiken Volks— 
wirtichaft, der fittlichen Geringſchätzung und des Mißtrauens, mit 
welchem der Handel bei geringer entwidelter Kultur, wo man jeiner 
verhältnismäßig weniger bedarf, ſtets betrachtet zu werben pflegt. 
Ebenſo jollen die Angriffe auf die Zinsbarkeit des Darlehens 
wejentlich der Nefler einer geringen Ausbildung der Kapitalwirt- 
Ihaft und der hiermit unvermeidlich verbundenen Abneigung gegen 
das Zinsnehmen jein.!) 


1) Selbjt Suſemihl (Anmerk. zu Ariſtoteles' Politik IT 30) bekennt 
fich zu der Anficht, daß die „Nechtmäßigkeit und vernunftgemäße Notwendig- 
feit des Zinjes den Alten nicht klar geworden fein könne“, weil das „Kapital 


236 Erſtes Buch. Hellas. 


Allein wie wenig zutreffend erjcheinen doch dieje Borftellungen 
angeficht3 der thatjächlichen Entwicklung der damaligen Volkswirt 
ichaft! So richtig der Sat Suſemihls ift, daß das ariftotelijch- 
platoniſche Staatsideal die Vorausſetzungen eines griechifchen Stadt: 
ftaates in ſich hinübernimmt, jo ift es doch eine völlige Verkennung 
der ganzen wirtichaftlichen Situation des Stadtftaates, wenn unter 
diefen VBorausfeßungen auch die „Verachtung des Betriebes von 
Handel, Snduftrie und Gewerbe” genannt wird. 

Wenn man fich die wirkliche Lage der Dinge Klar veranſchau— 
licht, jo wird man erkennen, daß gerade in den Berhältnifjen des 
hellenijchen Kleinſtaates der mächtigite Anreiz zu fommerzieller und 
induftrieller Thätigfeit lag. Bei ihrer Kleinheit waren diefe Staaten 
frühzeitig darauf angewiejen, wichtige Gegenftände des Bedürfniffes, 
welche die unvermeidlich einfeitige Produktion eines jo engen Ge 
bietes nicht zu liefern vermochte, von auswärts zu beziehen. ALS 
Gegenwert hatten fie zunächit die Exrträgniffe ihrer Landwirtſchaft 
zu bieten, Wein, OL, Wolle u. f. w., die ſchon fehr frühe als 
Gegenſtand der Maffenausfuhr und eines weit ausgedehnten Ber- 
fehres erjcheinen. Nun waren aber der Steigerung der landwirt- 
Ihhaftlichen Produktion naturgemäß mehr oder minder enge Grenzen 
geſteckt, und daher die hellenische Stadtſtaatwirtſchaft vecht eigentlich 
Bawerk: Kapital und Kapitalzins I, 17, wo die ariftotelische Anſchauung aus 
einer „dem Darlehenszins äußerſt mihgünftigen, in der geringen Entwicklung 
des Kreditweſens mehr oder minder begründeten allgemeinen Zeitftrömung“ 
erklärt wird. 

Auf einer ähnlichen Einfeitigkeit beruht e3, wenn Simmel in feiner 
geiftvollen Schrift über joziale Differenzierung (S. 125) die Anficht ausfpricht, 
der „Mangel an Arbeitsteilung” habe im helleniſchen Wirtichaftsleben eine 
jolche Reibung zwiſchen den Handeltreibenden erzeugt, daß die Kräfte von 
dem eigentlichen wirtichaftlichen Ziel der „Befiegung des Objekts“ ganz ein- 
jeitig auf die „perjönliche Befiegung der Mitbewerber” abgelenkt worden jeien, 
und e3 feien daher die griechifchen Sozialpolitifer zu dem Urteil bered- 
tigt gewejen, daß der eigentliche faufmännifche Beruf dem Staatswejen ver— 
derblich und nur dev Landbau ein geziemender und gerechter Erwerb ſei, daß 
nur dieſer feinen Nuben nicht von Menjchen und deren Beraubung nähme! 


IT. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Rechtsordg. 937 


auf diejenigen Thätigfeiten hingewiejen, die einer größeren Aus— 
dehnung fähig waren, als die Agrikultur d. h. eben Gewerbefleiß 
und Handel. 2 

Am früheften und intenftoften tritt dieſe Tendenz da hevvor, 
wo eimerjeitS der Boden an Landbauproduften weniger ergiebig 
war, dagegen wichtige Rohſtoffe für die Induſtrie 3. B. Thon und 
Erzlager u. |. w. darbot, oder wo eine günftige Verkehrsſtellung, 
befonders die Lage am Meere, die Entwidlung der Schiffahrt be— 
günftigte, wie e3 an zahllofen Drten der hellenifchen Welt der Fall 
war. Hier war — bei der ausgeprägten Begabung der Bevölfe- 
rung — der Keim zu einer Handelsgröße gegeben, wie fie auf 
Grund ähnlicher Berhältniffe den Phöniziern, ſpäter den Benetianern, 
Genueſern und Holländern zu teil geworden ift. Einen mächtigen 
Anreiz in derjelben Richtung enthielt die außerordentliche Zunahme 
der Bevölkerung, die in der koloniſatoriſchen Ausbreitung des 
Hellenentums einen jo großartigen Ausdrud gefunden hat. 

In der That beginnt die merkantile Entwicklung der helleni- 
ſchen Küftenftaaten diesſeits und jenjeitS des ägäischen Meeres be- 
reits in einer Zeit, welche weit jenfeits der beglaubigten Gejchichte 
liegt. Schon im achten Jahrhundert ijt ein umfaſſendes Syſtem 
von Handelswegen und Handelsverbindungen gejichaffen, an deren 
Erweiterung und Vervollkommnung mit unabläſſigem Eifer ge 
arbeitet ward. Diejes zähe und zielbewußte Streben jehuf eine 
Welthandelkonjunktur, welche es ermöglichte, die Waren der ent- 
legenjten Produftionsgebiete: die Luxuserzeugniſſe der alten Kultur— 
länder des Oſtens, wie die für die Entwicdlung der heimiſchen 
Induſtrie und für die Ernährung einer zahlreichen gewerblichen Be— 
völferung jo wichtigen Naturprodukte der nordischen Länder in Maſſe 
und mit der nötigen Negelmäßigfeit zu beziehen, eine Welthandels- 
fonjunftur, welche den Erzeugnifjen der heimijchen Produktion ein 
Abſatzgebiet eröffnete, das von dem innerſten Winkel des jchwarzen 
Meeres bis zum atlantischen Dzean reichte. 

Welche Bedeutung jo gerade die merfantilen Intereſſen ge: 
wannen, daß zeigt neben dem frühzeitigen Übergang von der Natural- 


238 Erſtes Buch. Hellas. 


zur Geldwirtſchaft die Fommerzielle Rivalität, wie fie ſchon in alter 
Zeit in fürmlichen Handelskriegen und in friedlichen Beranftaltungen, 
3. DB. den — an die Kauffahrerhöfe der Hanjen erinnernden — 
Faktoreien in Naufratis zu QTage tritt. Das zeigt das Empor: 
Steigen des Handel: und Gewerbeftandes zur politifchen Macht, die 
Entwielung der Kapital und Geldherrſchaft (Xoruare« gonuer 
arro! Das Geld, ja das Geld macht den Mann! Ein Wort, 
das ganz an das amerifaniiche to make mony erinnert). Wie 
bat endlich . das Athen des fünften Jahrhunderts die Machtmittel 
feines Neiches im handelspolitifchen Intereſſe auszubeuten gewußt! 
Welch ruheloſer Handelsgeift erfüllte diefe Stadt, von deren Bes 
wohnen Thukydides gejagt hat, daß fie immer vaftlos thätig, immer 
außer Landes feien, um ihren Befiß zu mehren, denen die Arbeit 
nicht Mittel jondern Zwed ſei und die daher auch nur wenig zum 
ruhigen Genießen des Grarbeiteten gelangten, weil fie immer nur 
wieder auf einen neuen Erwerb ſännen!) 

Dieſes Athen ift die Geburtsjtätte der platonifch-ariftotelijchen 
Wirtichaftstheorie! Ein Welthanvdelsemporium, wo fich auf der 
Grundlage einer entwicelten Geldwirtſchaft ein wahrhaft inter: 
nationales Verfehrsleben entfaltete, ein Stapelplaß, wo die Erzeug- 
niſſe fait des ganzen befannten Länderkreiſes zufammenftrömten, ein 
Geldmarkt, auf dem die Konzentration des Kapitals ſolche Fort- 
Ichritte gemacht hatte, daß von bier aus weithin im Umkreis der 
öſtlichen Mittelmeerwelt bis zu den fernften überſeeiſchen Bläßen 
regelmäßig beträchtliche Handelsfapitalien vorgeſchoſſen wurden. 

Vie kann man hier an die VBerhältniffe denten, welche das 
frühe „Mittelalter“ der Völker charakterifiert, wo der Produktiv— 
fredit wenig entwidelt ift, wo alle Darlehen nur fonfumtiv und 
meist Notdarlehen find, wo der Gläubiger gewöhnlich reich, der 
Schuldner arm ift und daher der Zins als gehäſſige Ausbeutung 
des Armen, die Unentgeltlichkeit der Kreditgewähr in den Verhält— 
niſſen ſelbſt begründet erjcheint? 


7,270. 





II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtſch. Nechtsordg. 239 


Welche Fülle von Kapital nahm in der gewerbreichen helle— 
nischen Welt die in vielen Zweigen zum Fapitaliftiichen Großbetrieb 
und zu fabrifmäßiger Mafjenproduftion entwicelte Induſtrie in 
Anſpruch, die wie 3. B. die Gewebeinduftrien den Bedürfniſſen 
eines hochgeiteigerten Lurus ebenjo, wie dem Maſſenkonſum des 
gemeinen Mannes dienten und — dank der fortgejchrittenen Drgani- 
jation des Handel3 — ihre Erzeugniffe über drei Weltteile ver- 
jandten! Hat es etwa hier in den Zentren des Handels und der 
Broduftion, wo der Einzelne in der Ausdehnung feines Gewerbe- 
betriebes rechtlich einen jehr freien Spielraum hatte, an bedeutenden 
gewerblichen Unternehmungen gefehlt, welche fremden Kapitales be- 
durften? 

Oder bot etwa die Landwirtjchaft weniger Gelegenheit fich 
mit Kapital zu befruchten? in einer Zeit der intenfipften Garten- 
fultur und des jpefulativen Anbaues von Handelsgewächlen, wie 
Wein, DL, u. |. w., die ebenfalls einen Weltmarkt beſaßen? Und 
war nicht der Boden jelbit, nachdem die jeine Veräußerung, Teilung 
u. j. w. hemmenden Feſſeln, die Gebundenheit und Gejchloffenheit 
ver Landgüter ſeit Sahrhunderten bejeitigt waren, längjt ein ex: 
gtebiges Feld für das ſpekulative Kapital geworden? Schuf bier 
nicht der mit der Mobilifierung des Grund und Bodens jtetig 
jteigende Verkehr in Grundftüden, durch den der Boden jelbit zur 
Handelsware wurde, die durch die freie Teilbarfeit dem Erben auf- 
erlegte Notwendigkeit, Miterben abzufinden u. dgl. m. zahlloje Ver— 
anlafjungen zu Anlehen, um Ländereien anzufaufen oder als Exbe 
übernehmen zu könuen? Welche Kapitalien mußte endlich der Auf- 
ſchwung des Handels und des Geldgejchäftes flüſſig machen, welches 
die Seele diejes hochentwidelten Wirtichaftslebens bildete! 

Wer jich prinzipiell auf den Boden dieſes Wirtichaftslebens 
jtellte, und den Bedürfniſſen desjelben gerecht werden wollte, der 
fonnte den jpefulativen Handelsgewinn und den Leihzins an fich 
unmöglich al3 ungerecht und als Übervorteilung verwerfen. Und 
in der That, wenn man die in den eigenen Erfahrungen und 
dem eigenen Willen des wirtichaftlich thätigen Volkes wurzelnden 


240 Erſtes Buch. Hellas. 


Anſchauungen der Praris und den Geift des ganzes Verfehrsrechtes 
ins Auge faßt, in welchen die zur Herrichaft gelangten Anfichten 
von den Gegenftänden und Mitteln des Verfehres, vom materiellen 
Güterleben überhaupt ihren Ausdruck fanden, jo ericheint die Frage 
zu Platos Zeiten längit in modernem Sinne entjchieden. 

Wir finden in den Induſtrie- und Handelsitaaten, wie Athen, 
ein Kredit: und Bankweſen, das — bei aller Antipathie gegen die 
wucherifche Ausbeutung desjelben — das größte gejchäftliche Ver— 
trauen genoß, und infolgedefjen der Zinsverfehr in jo allgemeiner 
und regelmäßiger Übung ftand, daß er auch von der Geſetz— 
gebung längft rückhaltlos anerkannt war. Und dieſe geſetzliche 
Zinsfreiheit erjcheint um jo bedeutjamer, wenn man die Höhe des 
üblichen Zinsfußes, überhaupt der Gewinne aus produktiv ange: 
legten Fonds in Betracht zieht, welche die Ausbeutung des Schwachen 
durch das Kapital in hohem Grade begünftigte und nur zu ge 
eignet war, Mißſtimmung gegen alle merkantile Spekulation zu 
erzeugen. 

Wie die für die Praxis des Verkehres und für die Geſetz— 
gebung maßgebende Anſchauungsweiſe das Zinsproblem auffaßte, 
dafür iſt überaus bezeichnend der Umftand, daß die griechifche 
Geſchäftsſprache den Kapitalzins zoxos nennt, das „Geborene“, den- 
jelben aljo aus einer direkten wertzeugenden Kraft de3 Geldfapitals 
ableitet, neben der der Faktor Arbeit als verſchwindend Klein völlig 
außer Acht gelafjen wird. Der Geldzins hat für diefe Vorftellungs: 
weile jeinen Entjtehungsgrund einfach darin, daß das Leihfapital 
ihn gewißermaßen ſelbſt erzeugt, jo daß jede weitere Frage nad) 
der Berechtigung des durch den Zins dem Kapitaliften zufallenden 
Mehrwertes vollfommen gegenftandslos wird. Eine Auffaffung, 
welche jich auf das Engſte mit weitverbreiteten modernen Rapital- 
zinstheorien berührt, die dem Kapital in ganz ähnlicher Weife eine 
„aktive Rolle” zufchreiben, den Mehrwert ohne weitere Zwiſchen— 
motivierung aus der produftiven Kraft des Kapitals hervorgehen 
lajjen.) 

') Wenn von Böhm-Bawerf a. a. O. I 134 als der Urheber der 


11. 4. Angriffe d. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 241 


Kann es einen einjchneidenderen Gegenſatz geben, als zwijchen 
der platonifch-ariftoteliichen Lehre, welche kaum eine mittelbare 
Produktivität des Geldes anerkennt, und dieſe in Volkswirtſchaft 
und Necht zum Siege gelangte Anſchauung, welche das Geldfapital 
ohne Weiteres als eine originäre Güterquelle, al3 eine jelbjtändige 
Produktivkraft hinftellte, deren Wirken vollfommen gleichartig mit 
der Arbeit des Menſchen erſchien? 

Diejer grelle Kontraft zwiſchen dem Standpunkt der fozialen 
Theorie und den Anſchauungen der Praris zeigt recht deutlich, wie 
ganz anders, als bisher, wir die gejchichtliche Stellung jener Wirt: 
ichaftsphilofophie zu beurteilen haben. Diejelbe ift nicht der den 
thatſächlichen Zuftänden und Bedürfniffen mehr oder minder 
entjprechende Ausdrud einer relativ niedrigen Stufe der Volkswirt: 
ſchaft, ſondern vielmehr das Erzeugnis einer Neaktion gegen die 
Auswüchſe einer hochentwicelten volfswirtjchaftlichen Kultur, einer 
der ganzen thatjächlichen Geftaltung des Wirtfchaftslebens prinzipiell 
feindlichen Weltanjchauung. 

Nicht weil das mobile Kapital als Broduftionsmittel noch 
wenig zu bedeuten gehabt hätte, jondern im Gegenteil, weil durch 
die Entwidlung der Fapitaliftifchen Geldwirtichaft das Geld eine 
dominierende Machtitellung gewonnen, weil der Materialismus 
dieſer Geldherrichaft zu einer übermäßigen Wertſchätzung der äußeren 
Güter und vor allem des Geldes, als des Inbegriffes aller Güter, 
zu einer raftlos gierigen Jagd nad) Gewinn und Genuß geführt 
hatte, Fonnte jich der edelſten Beifter der Gedanke bemächtigen, daß 
das Geld durch eine weitgehende Beſchränkung feiner wirtschaftlichen 
Funktionen möglichjt feines Wertes und feiner Macht entkleidet 
werden müſſe, um dem Egoismus und Materialismus jeinen Haupt: 
nährboden zu entziehen. Nicht weil der Erwerb aus Handel und 


Theorie, welche die Exiſtenz de3 dem Kapitaliften zufallenden Mehrwertes 
einfach mit der Produftivfraft des Kapitals jelbjt begründet, der von Böhm 
jogen. naiven Produftionstheorie, 3. B. Say genannt wird, jo dürfte jet 
nach dem oben Bemerkten der eigentliche Urjprung dieſer Theorie bei den 
griechischen Geſchäftsleuten und Bankiers zu juchen ſein. 


Pohlmann, Geich. des antiken Kommunismus u. Sozialismus I. 16 


243 Erſtes Buch. Hellas. 


Smduftrie neben dem Landbau wenig zu bedeuten gehabt hätte, 
fondern im Gegenteil, weil gerade dieſer Erwerb durch feine inten: 
five und extenfive Steigerung zu einem einfeitigen Übergewicht der 
Geldmacht und der merkantilen Intereſſen geführt hatte, die als 
ein verhängnisvoller materieller und jittlicher Druck empfunden 
wurde, darum wurde jeßt in naturgemäßem Rückſchlag ebenjo ein: 
jeitig dem mobilen Kapital der Grund und Boden als das einzig 
fruchtbringende Stapital, als das wertvollite aller Güter entgegen: 
ſtellt, darum follte jein Ertrag, der wahrhaft naturgemäße Erwerb, 
jein Bejib der wahre Neichtum fein. Weil die jelbft den Grund 
und Boden zur Handelsware machende Geldwirtichaft alle die Unter: 
Ichiede zu vertilgen drohte, auf denen die Gejundheit des Volks— 
und Staatslebens beruht, jo wurde jeßt diejer Unterſchied zwiſchen 
Boden- und Geldfapital, zwijchen Bodenertrag und Handelsgewinn 
um jo entſchiedener betont und der Widerſpruch gegen die zunehmende 
Auffaugung des Grundbejiges durch das Geldfapital bis zu der 
Forderung gefteigert, daß man allen nicht aus Grund und Boden 
fließenden Erwerb neben dem Grundbeſitz wirtichaftlich, ſozial und 
politiſch zur Bedeutungslofigfeit herabdrüden und jo die Macht 
des Geldes volllommen brechen müſſe. 

Der Radikalismus dieſer Forderungen begreift fih nur, wenn 
man diejelben als Ausfluß einer allumfaſſenden ſozial-ökonomiſchen 
Geſamtanſchaunng auffaßt, welche jtet3 das Ideal eines von dem 
Beſtehenden mehr oder minder weit entfernten, wahrhaft guten und 
gerechten Zuftandes der Gejellfchaft im Auge hatte, welche, wenn 


nicht den Menjchen überhaupt, jo doch wenigftens die Mitglieder . 


des bürgerlichen Gemeinwejens grundſätzlich in eine andere Stellung 
zur Außenwelt und zum materiellen Güterleben zu bringen wünjchte, 
als es in der Wirklichkeit der Fall war. 
Es ijt mit einem Worte der „Jozialiftiiche” 1) Charakter diejer 
Soztalphilojophie, welcher in den genannten Forderungen jeinen 
) Sozialiftiich in dem ſpezielleren Sinne des modernen ertremen 


Sozialismus, wie ex befonders in Frankreich und Deutjchland zur Ausbildung 
gelangt ift. 





I. 4. Angriffed. ideal. Sozialphil. a. d. Grunde. d. wirtjch. Nechtsordg. 243 


Ausdrud findet. Daher tritt auch bereit bier diejenige Theorie, 
welche an der Wiege des modernen Sozialismus ftand und Jich 
Hand in Hand mit demjelben entwicelt hat, die heute in Angriff 
und Abwehr bei dem Streit um die Organifation der Volkswirt— 
Ihaft vor allem in Frage kommt: die Kapitalzinstheorie jo beveut- 
Jam in den Vordergrund. 

Zwar richtet ſich bei Plato — wenigitens jeitvem er auf den 
Kommunismus verzichten gelernt hatte — jowie bei Ariftoteles der 
Angriff nicht wie bei dem modernen Sozialismus gegen die Kapital: 
tente in jeder Geftalt, insbejondere nicht gegen das unbewegliche 
Kapital und die Grundrente. Wenn das Bürgertum des plato- 
nischen Geſetzesſtaates und des ariftotelifchen bejten Staates von 
wirtjchaftlicher Arbeit und wirtichaftlichen Sorgen frei nur der 
jittlihen und geiftlichen Entfaltung der PBerjönlichkeit und dem 
Dienjte des Staates leben, und wenn die Eriftenz diejes Bürger: 
tums auf den Grundbefiß baſiert werden jollte, jo war die An- 
erfennung der Grundrente ja unvermeidlich. Andererjeits ift dieſem 
antifen Sozialismus in Beziehung auf den Darlehenszins die Unter: 
ſcheidung fremd, Die der moderne Sozialismus macht, indem der- 
jelbe die Leihzinſen nur den Arbeitern gegenüber, „auf deren Koſten 
fie in legter Linie bezahlt werden“, für unvechtmäßig erklärt, nicht 
auch den Unternehmern gegenüber, die fie zahlen. Denn dort 
handelte es fich nicht um die Idee einer Emanzipation der Arbeit 
vom Kapital, um die Herjtellung der „Identität von Arbeiter und 
Kapitalift” duch Die Unentgeltlichfeit des Kredites im Sinne 
Proudhons; im Gegenteil das gejellichaftliche deal, welches dort 
vorſchwebte, jeßte gerade die Abhängigkeit der wirtfchaftlichen Arbeit 
voraus. 

Allein jo bedeutſam dieſer Unterichied tft, eine gewiſſe 
Analogie beider Erſcheinungen it doch) unverkennbar. Wie die 
moderne jozialiftiiche Kritit des Kapitalzinjes der jogenannten Pro— 
duftivitätstheorie die Ausbeutungstheorie entgegenftellt, nach welcher 
ein Teil der Gejellichaft, die Kapitalijten, ſich Drohmenartig einen 
Teil vom Werte des Produktes aneignet, das der andere Teil der 

16% 


244 Erſtes Buch. Hellas. 


Geſellſchaft, die Arbeiter allein hervorgebracht haben, ſo ſetzt auch 
der antike Sozialismus wenigſtens in Beziehung auf das Geld— 
kapital und auf den Darlehenszins in ganz ähnlicher Weiſe dem 
Begriff der Produktivität des Kapitals den der Ausbeutung ent— 
gegen. Ja der Leihzins iſt ihm unter allen Umſtänden nicht bloß 
gegenüber der Arbeit eine natur- und rechtswidrige Ausbeutung des 
Mitmenſchen. 

Auch die allgemeine Tendenz der Angriffe gegen den Leih— 
zins und das Geldweſen, gegen Zwiſchenhandel und freie Konkur— 
renz, der Widerwille gegen die geldoligarchiſche Entwicklung der 
Geſellſchaft, gegen die Konzentrierung des Beſitzes überhaupt be— 
gegnet ſich mit den antikapitaliſtiſchen Grundanſchauungen des 
modernen Sozialismus.!) Dieſe Tendenz iſt eine jo mächtige, daß 
Plato und Ariftoteles mit ihren Forderungen der Konzentrierung 
des Kapitals auf allen Gebieten des Wirtjchaftslebens entgegentreien 
und daher auch die Grundeigentumsverhältnifje einer mehr oder 
minder radikalen Umgeftaltung im Sinne wirtichaftlicher Ausglei- 
hung unterworfen willen wollen. 

Bon der Art und Weiſe, wie Ariftoteles den Umſchlag des 
„Hausvermögens” in jpefulatives Kapital, des Gütererwerbs in 
die Spekulation auf den Geldprofit (Zins) analifiert, hat Schäffle 
ausdrüdlich anerkannt, daß fie „im Kern die ganze moderne 
Kritik des Kapitals” d. h. die negative Arbeit der jozialiftifchen 
Theorien enthalte,2) insbejondere jei die Marx'ſche Werttheorie 


') Unmittelbar mit den gejchilderten Angriffen auf den yonueriouos 
und Handel berührt fich z. B. Fourier, wenn er den Vorwurf gegen jeine 
Zeit erhebt, daß in der jegigen Phaſe der Zivilifattion der Handelsgeift die 
Politik dominiere und vegiere; daß die Kaufleute in der jozialen Ordnung 
nichts ſeien als eine Truppe vereinigter Piraten, welche in jeder Beziehung 
den ſozialen Körper Enechten. — Ähnlich ſpricht auch Marx von der „mo- 
dernen Schacherwelt”. Vgl. Adler: Die Grundlagen der Marrifchen Kritik 
der bejtehenden Bolkswirtichaft 215, 246. —- Überhaupt ift ja die Abneigung 
gegen die „Zwiſchenperſonen“ (intermediaires) ein durchgehender Zug im 
Sozialismus. 

?) Bau und Leben des jozialen Körpers I, 256. 


II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 945 


im leßten Grunde eine Entlehnung aus der Wucherkritik des Ari- 
jtoteles. !) 

Es iſt daher durchaus zutreffend, wenn der Sozialift Rod— 
bertus die ariftotelifche Kritik der „Chrematiftif“ jener Zeit mit der 
urodernen Reaktion gegen die von Nodbertus fogen. „Kapitaliftif“ 
der Gegenwart vergleicht,2) zu welcher der Sozialismus den erften 
Anſtoß gegeben. In der That lieft es fich wie eine einfache Um: 
ſchreibung der Anklagen des Stagiriten gegen die fieberhafte Geld— 
ipefulation feiner Zeit, wenn Nodbertus das prophetifche Wort 
ausipricht: „Nachdem erſt auf wirtjchaftlichem Gebiet alles als 
Kapital behandelt worden, was und bloß weil es für Geld feil ift, 
jo wird auch bald alles, was überhaupt für Geld feil ift, als 
Kapital dienen, auch das, was immerdar weit über das wirtjchaft- 
liche Gebiet hinausfallen follte. Macht heute nicht das Gründungs- 


) Die Bekämpfung der Sozialdemofratie ohne Ausnahmegeſetz. Tüb. 
Ztſchr. f. d. g. Stw. 1890 ©. 213. 

?) Allerdings einigermaßen in Widerjpruch mit jeiner Gejamtanficht 
von der antiken Bolfswirtjchaft, der nach Rodbertus der „heutige Gegenſatz 
von Grundbeſitz und Kapitalbefik, von Grund: und Kapitalvente gefehlt haben 
joll, weil es vom Grundbeſitz abgefonderte Fabrifationsgewerbe nur ganz 
ausnahmsweiſe gegeben habe und daher der unbewegliche und bewegliche Befit 
noch in dem einheitlichen „Difenvermögen” vereinigt gewefen, demfelben aljo 
auch umngeteilt die gefamte Rente zugefallen ſei. Unterfuchungen auf dem 
Gebiete der Nationalötonomie de3 klaſſ. Altertums, Jahrb. f. Nationalöf, 
IV, 344 ff. DBerfuch, die Höhe des antiken Zinsfuhes zu erflären, ebd. N. F. 
VII, 520 ff. 

Würde der Grundbefit ſelbſt in den fortgejchrittenften Induſtrie- und 
Handelsjtaaten der hellenijchen Welt dieje abjolut dominierende Stellung ein- 
genommen haben, hätten „jalt alle produftiven Kapitalanlagen mehr oder 
weniger die Natur von Firierungen im Boden” gehabt, jo müßte man aller: 
dings die Stellung der ariftoteliichen Zinzlehre zur Wirklichkeit ähnlich be— 
urteilen, wie die des fanoniftifchen Wucherverbotes im früheren Mittelalter. 
Allein die genannte Anficht, die ja allerdings einen richtigen Kern hat, ift 
doch ſtark übertrieben und Rodbertus felbit äußert ſich an der u. gen. Stelle 
über Arijtoteles dahin, daß „das Geld in deſſen Zeit diejen einheit- 
lichen Bejiß zerjegt und aufgelöft und durd die Chrematiftif 
verdrängt habe! 


246 Erſtes Buch. Hellas. 


fieber auch ſchon Ehre und Amt zu Kapital? So ift heute die 
Kapitaliftif zugleich die Paſſion der Zeit und unſere Zeitfranfheit 
geworden, die auch in die bitterfte Paſſionsgeſchichte auslaufen 
wird.“ ) — 

„Wenn ſie,“ ſagt Ariſtoteles von ſeinen Zeitgenoſſen, „ihren 
Zweck nicht durch die geſchäftliche Spekulation ſelbſt erreichen können, 
ſo jagen ſie ihm auf anderen Wegen nach und wenden alle Künſte 
und Talente ihrer natürlichen Beſtimmung entgegen zu dieſem 
Zwede an. Denn die Tapferkeit iſt nicht dazu da, um Geld zu 
erzeugen, ſondern Heldenmut, und die Kriegs und Heilkunſt hat 
gleichfalls nicht jene Beſtimmung, jondern die erjtere will den Sieg, 
leßtere die Gefundheit verschaffen. Was aber machen fie aus alle- 
dem? Eine Geldjpefulation, al3 wäre das Geld das Ziel und 
der Zweck von allem.?) — 

Wir haben damit einen Punkt berührt, der von neuem zeigt, 
daß auch der antife Sozialismus troß aller Berirrungen und Ein: 
jeitigfeiten einen tiefberechtigten Kern, unleugbare Wahrheiten von 
ewiger Gültigkeit enthält. 

Es ift das unsterbliche Verdienft der helleniſchen Sozialtheorie, 
für alle Zukunft den Nachweis erbracht zu haben, daß das Glück 
der Völker nicht bloß von der Erzeugung einer möglichſt großen 
Maſſe von Gütern, ſondern in gleichem, wenn nicht höherem Grade 
von der Art und Weife der Verteilung derjelben abhängt. Wenn 
man fich den einfeitigen Produktions ja Produzentenftandpunft ver 
gegenwärtigt, der für die neuere Nationalökonomie bis tief in unjer 
Sahrhundert hinein maßgebend war, jo wird man eine gewiſſe Be- 
Ihämung empfinden angefichts der hohen geiltigen und fittlichen 
Energie, mit welcher helleniſche Denker die Frage nach den volks— 
wirtſchaftlichen und fozialzethifchen Wirkungen der verjchiedenen 


) Zur Erklärung und Abhilfe der heutigen Kreditnot des Grund- 
bejiges II? 273 ff. vgl. die Borrede VI ff. Dazu R. Meyers Berliner Revue 
1872 289 f. 

?) 1,3, 19 5. 1258a: 06 de naoas nowüoı yonugtiorixzds, WS TOVTO 
telos ov, noös dE To reios ünavra deov anavıarv. 


II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil.a.d. Grundl. d. wirtjch. Nechtsordg. 247 


Formen der Einkommens: und Vermögensverteilung, die Frage nach 
der wünjchenswerten Verteilung überhaupt, nach dem Ziel, welches 
in dieſer Hinficht erſtrebt werden joll, in den Vordergrund gerückt 
und zu löſen verjucht haben. 

Hier findet fich zum erjtenmale jene jcharfe prinzipielle 
Erörterung des Verteilungsproblems, der fich gerade die Gegen: 
wart immer weniger wird entziehen fünnen. Hier wird zum erſten— 
male mit aller Entjchiedenheit für die Wiſſenſchaft das Necht in 
Anfpruch genommen, ein ideales — wenn auch durch Zeit und 
Volk bedingtes — Ziel für die Entwicklung der Vermögens: und 
Einfommensverteilung aufzuftellen. Und wenn ein moderner Sozial 
theoretifer von dieſem Standpunkt aus als deal volfswirtjchaft- 
licher Verteilung der Güter diejenige bezeichnet, welche die an Ver— 
vollfommnung der Gejellichaft fruchtbarſte ift, bei welcher die 
Gemeinſchaft zum höchiten Maße der Gefittung und biedurch zum 
höchſten Maße aller wahrhaft menschlichen Befriedigungen zu ge: 
langen vermag, — worin unterjcheivet fich diefe Formulierung des 
Poſtulates prinzipiell von der Art und Weife, wie die hellenijche 
Soziallehre den Begriff des ev Cr als Maßſtab für die Beurtei- 
lung der ftaatlichen Thätigfeit auf dem Gebiete der Güterverteilung 
hinſtellt? 

Nicht anders iſt es mit dem Kampf gegen die einſeitig indivi— 
dualiſtiſche, den Zuſammenhang mit dem Ganzen und die Pflichten 
gegenüber dem Ganzen ignorierende Auffaſſung des Eigentums— 
begriffes, welche dem Einzelnen das abjolut zufpricht und zu 
fichern verlangt, was er gerade befitt. Einer der hervorragenpften 
Nechtslehrer unferer Zeit, ein Mann, der durch die ftreng indivi— 
dualiſtiſche Schule des römischen Nechts Hindurchgegangen tft, fieht 
„eine Zeit fommen, wo das Eigentum eine andere Gejtalt an fich 
tragen wird, als heute, wo die Gejellichaft das angebliche Necht 
des Eigentümers, von den Gütern dieſer Welt beliebig viel zu— 
fammenzufcharren, ebenfowenig anerfennen wird, als das Necht des 
altrömiichen Familienvaters über Tod und Leben feiner Kinder, 
als das Fehderecht und den Straßenraub des Nitters, als das 


248 Erſtes Buch. Hellas. 


Strandrecht des Mittelalters.) Demgemäß verlangt Ihering vom 
Staate, daß derjelbe „auf das Privateigentum einen Druck ausübe, 
welcher dem Übermaß feiner Anhäufung auf einzelnen Punkten vor- 
beugt und die Möglichkeit jchafft, den Druck auf andere Teile des 
jozialen Körpers zu verringern, eine den Intereſſen der Gefelljchaft 
mehr entiprechende d. h. gerechtere Verteilung der Güter herbei- 
zuführen, als fie unter dem Einfluß eines Eigentums herbeigeführt 
worden iſt und möglich war, welches, wenn man es beim rechten 
Namen nennt, Unerfättlichfeit des Egoismus ift.“2) Und in dem: 
jelben Gedanken begegnet ſich mit dem deutſchen Nomaniften der 
befannte amerikanische Publiziftt Michaelis, deſſen Schrift gegen 
Bellamys Zufunftsitaat gerade von der mancheiterlichen Preſſe dies— 
jeitS und jenjeitS des Dzeans mit Jubel aufgenommen wurde, ob: 
wohl auch fie zu Forderungen kommt, welche der doktrinäre Libe— 
ralismus ohne weiteres al3 „ſozialiſtiſch“ verwirft. 

Welch ein Zeichen der Zeit! Selbſt dieſer warme Bertei- 
diger des freien MWettbewerbes fieht ſich genötigt, „gegen Die 
Monopolwirtichaft, welche die Anhäufung riefenhafter Neichtümer 
ermöglicht,“ die Staatsgewalt in die Schranken zu rufen. Gr be 
zeichnet — ganz im Sinne der ariftoteliichen Oerechtigkeitsidee — 
die Bildung von trusts d. h. jede Vereinigung zum Zwecke un— 
verhältnismäßiger Steigerung der Warenpreife als einen Naubver- 
juch, gegen den das Volk durch die Gejeße geſchützt werde müjfe.?) 
Er verlangt ferner einfchneivdende Maßregeln der jtaatlichen und 
internationalen Gejeggebung zur Belämpfung der übermäßigen Anz 
bäufung des mobilen Kapitals, wie des Grundbefißes in einzelnen 
Händen.*) 


) Shering: Der Zweck im Recht I, 519. 

?) Ebd. 521. 

3) Ein Bli in die Zukunft ©. 83. (Neclam.) 

) 933 ff. Michaelis berührt fich hier direkt mit der hiſtoriſch-ethiſchen 
Richtung der deutſchen Nationalökonomie, deren Führer Schmoller ebenfalls 
durch maßvolle progreſſive Einkommens- und Erbſchaftsſteuern die Anhäu— 
fung übergroßer Reichtümer beſchränkt wiſſen will. (Grundfragen 95.) 


——— 


II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 949 


Sp fehrt die moderne Welt von den verjehiedensten Aus- 
gangspunften ber zu dem Grundgedanken der hellenifchen Sozial- 
philofophie zurück, daß die feine Grenzen fennende Pleonexie der 
Individuen ihre prinzipiellen Schranken in den Forderungen des 
gemeinfamen Wohles aller finden müſſe. Mit unmiderftehlicher 
Gewalt beginnt fi) von neuem die Erkenntnis Bahn zu brechen, 
daß der Staat als das Organ der Gejamtheit berufen ift, einer 
der nationalen Wohlfahrt und Sittlichkeit ſchädlichen Geftaltung der 
Einfommens- und Belisverhältniffe mit feiner Zwangsgewalt und 
durch Neformen des echtes, insbejondere des Brivatrechtes ent 
gegenzuarbeiten. | 

Auch in Beziehung auf die ethiſche Auffaſſung des Güter: 
lebens treten in der fozialpolitifchen Litteratur der Gegenwart 
— hervorgerufen durch analoge gejellfchaftliche Mißftände — Anz 
Ihauungen hervor, die ſich mit antiken Lebensivealen nahe be 
rühren. 

Wenn es gilt, der Haft und Gier des Erwerbslebens der 
Gegenwart, dem alles in jeinen Strudel hineinziehenden Kampf um 
die Befriedigung endlos gefteigerter Bevürfnifje eine höhere menfchen- 
würdigere Lebensanficht und Lebenspraris entgegenzuftellen, werden 
wir da nicht von jelbjt auf einen der grundlegenden Gedanfen der 
jozialen Ethik der Hellenen hingewieſen, daß es ein gewiſſes Maß 
gibt, welches in allen Dingen das Heilfamfte ift, und daß der 
wahre Zebensgenuß nicht von der Mafje der befriedigten Bedürf- 
niſſe und der Schwierigkeit der Befriedigung abhängt, fondern von 
jener reineren und edleren Geftaltung der Genüffe, zu welcher dem 
modernen Menjchen durch das beftändige Halten und Wühlen der 
ſchrankenloſen Erwerbſucht Neigung und Fähigkeit mehr und mehr 
verloren gehen? 

Und wenn wir weiter fragen, wie wohl ein Umſchwung von 
dem ethiſchen Materialismus der Zeit zu einem gefunden Spealis- 
mus möglich wäre, hat die moderne Ethik darauf eine andere Ant- 
wort, als die Sozialphilofophie der Hellenen? Sie ſieht genau wie 
dieje die Möglichkeit einer veränderten Geiftesrichtung nur in einer 


250 Grites Buch. Hellas. 


großartigen Belebung des Gemeinfinnes und in dem Zurücktreten 
der überwuchernden Bleonerie.!) 

Sprechen doch am wenigiten die Erfahrungen der Gegenwart 
für die ausichließliche Geltung jenes Dogmas der neueren Volks— 
wirtichaftslehre, nach welchem das Wohlergehen des Menſchen am 
beften dadurch gefördert werden joll, daß man ihre Bedürfniffe 
fteigert, weil jo mehr produziert werde und die Menge der vor: 
handenen Werte zunehme. Vielmehr zeugt die ganze Phyſiognomie 
unferer modernen Gejellfehaft nur zu deutlich für die Nichtigkeit der 
antifen Lehre, daß das Glück in der verftändigen Bejchränfung der 
Bedürfniffe zu juchen fei, daß es fich immer weiter zurüchieht, je 
mehr der Kreis deſſen, was zum Leben begehrenswert erjcheint, fich 
erweitert. 

Nichts Fönnte die genannte Anfchauung der hellenifchen Sozial 
philofophie glänzender betätigen, al3 die Schilverung eines modernen 
Denfers, welchem ebenfo, wie für jene, alle fozialen Fragen zugleich 
fittliche Fragen find, und der es verfteht, unferer Zeit duch „ihr 
oft jo Fummervolles Auge bis auf den Grund des Herzens“ 
zu jehen. 

„Inmitten des ungeheuerjtien Aufſchwunges von Reichtum 
und Macht — heißt es hier — fieht man weder, daß die Haft 
und Gier des Erwerbes in den befißenden Klaffen ſich auch nur im 
mindeften mäßige, noch die Befriedigung der unteren Volksklaſſen, 
troß großer, leicht ziffermäßig nachweisbarer Forſchritte in ihrer 
allgemeinen Lebenslage ſich in Fenntlichem Maße gejteigert habe. 
65 ift eine traurige aber allbefannte Wahrheit, daß unfere Zeit, 
ausgerüftet mit den ungeheuerften Mitteln des Genuffes, das wirk- 
liche Genießen kaum verfteht, weil fie alles von aufen erwartet, 
weil die Vorbereitungen zum Genuß jo umftändfich geworden find, 
dab fie immer ſchon drei Viertel des Genufjes jelbft verfchlingen, 
und daß infolge deffen das Eine Bedürfnis, möglichft viel zu be- 
figen, jo überwiegend geworden ift, daß auf diefem Wege eine be- 
ſtändige Steigerung der Gütererzeugung und der Mittel zum Ges 

) Bgl. 3. B. Lange: Gejchichte des Materialismus II,’ 460. 


II. 4. Angriffed. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Rechtsordg. 251 


nuſſe denkbar wird, ohne daß das Glück irgend eines Menfchen 
dadurch wejentlich erhöht würde.” 

Sit diefe Schilderung nicht ein frappantes Seitenftüc zu dem 
Bilde, welches Plato im „Staate” von dem Fieberzuftand der Gefell- 
Ichaft (der rodıs pAsyuaivovoe) entwirft, wie er nach feiner Anz 
ficht ficd aus dem Überhandnehmen Fünftlicher Bedürfniffe und aus 
der unerjättlichen Bethätigung des Erwerbstriebes notwendig ex: 
zeugen muß und nach den Erfahrungen feiner, wie unjerer Zeit 
thatlächlich erzeugt? 

Es ijt wahr, der ethiiche Idealismus Platos und Arijtoteles’ 
wird der Frage des wirtichaftlichen Fortſchrittes nicht gerecht, aber 
diefe Einjeitigfeit ift nur die Kehrfeite eines großen Vorzuges: der 
Haren Erfenntnis, daß auch diefe Frage eben nur im engjten Zus 
Jammenhang mit den ethiſchen Fragen zu beurteilen ift. 

Mußte nicht ferner diefe analoge Beurteilung des Güterlebens 
überhaupt zu einer gewiſſen analogen Beurteilung der Güterpro- 
duftion insbejondere führen? In der That beginnt auch die moderne 
Wiſſenſchaft fi) darin wieder der antiken Sozialphilofophie zu 
nähern, daß fie bei der Frage nach der Höhe und Beichaffenheit 
der Produktion nicht mehr bloß von wirtjchaftlich-technifchen Ge— 
jichtspunften ausgeht, ſondern auch das ethijche Intereſſe wieder zu 
jeinem Nechte kommen läßt. Auch fie ftellt wieder ein ideales Ziel 
der Produktion auf, indem fie eine ſolche Bejchaffenheit derjelben 
verlangt, welche für die Befriedigung der gerechtfertigten materiellen, 
geiftigen und fittlichen Bedürfniſſe des Volkes ausreicht d. h. fie 
weder unterjchreitet, noch überſchreitet.) Wir erkennen es heutzu— 
tage als eine ſchwere Schädigung der wirtfchaftlichen und idealen 

1) Theobald Ziegler: Die joziale Frage eine fittliche Frage ©. 30. 
Vgl. Wolf: Sozialismus und fapitaliftiiche Gejellfchaftsordnung ©. 389: 
„Bir find in das nervöſe Zeitalter getreten. Der Kleine Reſt von Beſchau— 
Yichkeit, den frühere Jahrhunderte uns itberlieferten, iſt preisgegeben. Fieber: 
haft jagen wir nach einem unfindbaren Glück — unfindbar, denn Glück ift 
bloß möglich in der Beſchränkung, und dieje ift uns unleidlich.“ 

?) Adolf Wagner über „ſyſtematiſche Nationalökonomie” in den Jahr. 
f. Nat. u. Stat. 1886 ©. 238. 


959 Erſtes Buch. Hellas. 


Spntereffen des ganzen Volkes, wenn die ungleiche Verteilung des 
Volkseinfommens hauptjächlich zur reichlicheren und üppigeren Be— 
friedigung der materiellen Bedürfniffe der beſſer Situierten führt. 
Wir verwerfen einen Luxus, der die höheren Klafjen ſelbſt phyſiſch 
und ſittlich Tchädigt, den Neid der niederen immer mehr aufftachelt 
und zu einer ungünftigen Nichtung der ganzen Güterproduftion 
(Lurusgüter für die Neichen, ftatt Mafjengüter für alle) führt und 
der, abgejehen vom Kunftlurus, fein Kulturintereſſe des Volkes 
fördert. Auch wir beginnen einzufehen, daß, wenn es joweit ge— 
fommen it, die Gefeßgebung eine gewiſſe Ausgleihung in der Ber: 
teilung des Volkseinkommens ins Auge faſſen müfje.!) 

Man fieht: es ift prinzipiell derjelbe Gefichtspunft, nach wel- 
chem bereitS Plato die Produktion beurteilt hat, wenn ex auch über 
die Mittel zur Erreichung jenes idealen Zieles, über das, was 
als gerechtfertigtes Bedürfnis anzuerkennen ſei, teilweife anderer 
Meinung war. 

tun könnte es allerdings jcheinen, als ob Plato in einer 
nicht minder wichtigen Frage, nämlich) in der Beurteilung des wirt- 
ſchaftenden Menſchen von unferer heutigen Auffaffung um jo 
weiter entfernt fei. 

Für Plato erichien das thatſächliche wirtjchaftliche Arbeits- 
(eben wenigjtens in Handel und Gewerbe ausjchließlich von ego— 
iſtiſchen Triebfevern beherrſcht. Die Selbitfucht ſoll das große 
Triebrad der Volkswirtſchaft fein, das rückſichtslos verfolgte Eigen- 
intereffe, die nimmer raftende Gier nad) Gewinn und Genuß, das 
ganze Sinnen und Denken des wirtichaftenden Menfchen gefangen 
halten. 

Allein jo einfeitig diefe Auffaffung ift, ſie iſt es doch bei 
weiten nicht in dem Grade, wie die jcheinbar gleichartige, aber 
innerlich grundverjchiedene Beurteilung des Wirtjchaftslebens, welche 
fich bei den modernen Doftrinären des Sndividualismus ſeit Bayle 
und Mandeville und im extremen Mancheftertum findet. Diefelbe 


) So 3.8. Wagner: Grundlegung 1,? 152. 


IT. 4. Angriffed. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Nechtsoxdg. 255 


Beobachtung, welche den antiken Denker mit Trauer und Abneigung 
erfüllt, wird bier mit Befriedigung zur Orundlage der ganzen 
Wirtſchafts- und Soziallehre gemacht. ES wird nicht nur als eine 
naturgemäße, jondern als eine für Staat und Gejellichaft geradezu 
wohlthätige, für den Fortjchritt unentbehrliche Thatfache hingeftellt, 
daß auf dem mirtjchaftlichen Gebiet der Egoismus und zwar der 
Egoismus allein das maßgebende Motiv, der eigentliche ſeeliſche 
Motor it. Das- ganze menjchlihe Dajein wird grumdjäßlich in 
zwei ftreng gejonderte Lebensiphären zerriffen, eine für das Handeln 
nach Intereſſen, eine andere für die Übung der Tugend. 

Diefe Auffaffung, für welche von Rechtswegen Sittlichkeit und 
„Brüderlichfeit exit da beginnt, wo das Wirtſchaften und der Staat 
aufhört, 1) konnte unmöglich diejenige von Männern jein, welchen 
Ihon die Konjequenzen der politiichen Souveränität der gewerbe- 
treibenden Klaſſen die klare Erkenntnis der Gefahren aufprängen 
mußten, mit welchen der wirtjchaftliche Egoismus das ganze Volks— 
und Staatsleben bedrohte. 

Sn der That jehen wir, wie troß der pejjimiftischen Beurtei- 
lung des wirtichaftlichen Arbeitslebens, zu welcher der hochgeipannte 
Tugendbegriff des ethijchen Idealismus und das jchmerzlich em— 
pfundene Mißverhältnis zwiſchen der damaligen politischen Macht: 
jtellung des Gewerbeſtandes und jeiner moralischen, wie intellef- 
tuellen Befähigung ja notwendig führen mußte, bei Plato dennoch 
die Erkenntnis duchbricht, daß auch das ökonomiſche Leben fich 
bis zu einem gewiſſen Grade mit fittlihen Empfindungen erfüllen 
fönne und müſſe. Dem rein ökonomiſchen Arbeitsbegriff, der in 
der Wirklichkeit als ausſchließlich herrſchend angenommen wird, 
wird als fittliches Soll, als Ideal das Prinzip der Arbeit im 
ſozial⸗ethiſchen Sinne gegenübergejtellt. Es wird gezeigt, wie auch 
die wirtjchaftliche Arbeit wahrhaft geadelt werden könnte, wenn fie 
nicht bloß als Mittel zur Befriedigung des wirtjchaftlichen Egois- 
mus ausgebeutet, jondern im Geiſte vernünftigsjittlicher Selbit- 
9 Huperung von Schulze-Delitzſch: Kapitel zu einem Arbeiterfatechig: 
mus ©. 91. 


254 Grites Buch. Hellas. 


bejchränfung und in dem Bewußtfein geübt würde, daß fie zugleich 
eine in den notwendigen Bedürfniffen der Menjchen begründete 
foziale Dienftleiftung it (77 uns amogies Enıxovonosı T@0E0- 
xEv@x0g).!) 

Plato ift der Anficht, daß ſelbſt die durch den Mißbrauch 
verächtlich gewordenen Berufsarten, wie 3. B. Krambhandel u. dal. 
von wahrhaft fittlichen Menjchen in tadellojer Weiſe betrieben fich 
der volliten Sympathie und Wertſchätzung erfreuen wür— 
den, daß man fie wie eine Mutter und Pflegeamme in Ehren 
halten würde?) Denn warum follte man nicht jeden, der mit 
vedlicher Arbeit zur Befriedigung der allgemeinen Bedürfnifje bei: 
trägt, al3 einen „Wohlthäter” anerkennen, der fortwährend dem 
Bolfe und dem Lande Dienite leijtet? 

Es iſt die dee eines jozialen Dienftpoftens, eines volfs- 
wirtichaftlichen Beamtentums, wie fie neuerdings wieder von Rod— 
bertus, Ihering u. a. aufgeftellt worden tft, welche uns bereits bier 
vollfommen Kar ausgeſprochen entgegentritt. Zwar ift für Plato 
dieſe Auffaffung der wirticehaftlichen Arbeit eben nur ein Ideal, 
auf deſſen Nealifierung er wenigjtens in dem le&ten Stadium feines 
wirtjchaftstheoretiichen Denkens verzichtet, weil eine ſolche Idealität 
der Gefinnung nur von außergewöhnlich guter Charakteranlage und 
jorgfältiger Erziehung zu erwarten ſei und der großen Mafje ewig 
fremd bleiben werde.) Allein ev hält doch ſelbſt hier noch eine 


') Leg. 919b. Es ift aljo unrichtig, wenn Hildenbrand (Rechts: und 
Staatsphil. T 159) meint, Plato habe „nirgends den Gedanken erfaßt, daß 
auch im der niedrigjten Bejchäftigung und in der Herrjchaft über den toten 
fachlichen Stoff des Vermögens der Adel des menschlichen Geiftes ſich offen- 
baren könne.“ 

2) 918e: . . . & xara Aoyov adıapyogov yiyvorto, Ev uMToos av 
xl TEOPOO oynucti TIUWTO TE ToLwir« navıe, 

3) 918b: Ws yao ovx evegyerns LES, 05 dv ovolev zoyuctov 
WrvrivWvodr do® UUETOOV ovo«r xai drouakov ouakıv TE zal GVUUETOOV 
dnegyalntaı; ef. 9I00: ovroı di) navres ywoav zei Ijuov Feganevovres 
diersdovorv, 


*) 9184. 


II. 4. Angriffed. ideal. Sozialphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Rechtsordg. 955 


„wenn nicht vollftändige jo doch wenigjtens teilweife Heilung“ für 
möglich !) und fieht in der Fürjorge für die fittlihe Gefundung des 
wirtschaftlichen Verkehrs und Arbeitslebens, für die Moralität der 
wirtjchaftlich arbeitenden Volksklaſſen eine der wichtigiten Aufgaben 
der Staatlichen Gemeinſchaft,“) der fie ſich troß der Größe und 
Schwierigkeit derjelben 3) nicht entziehen kann und darf. 

So treten uns auch hier Ideen entgegen, deren unverlierbarer 
Wert nicht zu verfennen ift, wenn fie auch andererjeits mit An— 
Ihauungen verquict find, die ihre Bedeutung wieder einjchränfen. 
Man fragt ja mit Recht: Wie konnte die Verfittlihung des Arbeits: 
lebens, die Schäßung der Arbeit Fortjcehritte machen, jolange die 
auch von Plato wenigſtens nicht prinzipiell mißbilligte unfreie 
Arbeit fort und fort ihre entfittlichenden Wirkungen zu äußern und 
dem Geijte des mirtjchaftlichen Egoismus ſtets neue Nahrung zus 
zuführen vermochte? Sehen wir aber von ſolch unvermeidlichen in 
Zeitanſchauungen wurzelnden Einfeitigfeiten ab, jo müſſen wir auch) 
für dieſes Gebiet zugeben, daß es wahre Aufgaben der menjchlichen 
Gefelliehaft find, die hier erkannt werden. 

Wie nahe fih antifes und modernes Denken gerade auf 
diejem Gebiete berühren, zeigt vecht deutlich die Idee des ſozialen 

tenjchen, wie fie die ariftoteliiche Ethik formuliert hat, die arifto- 

telifche Forderung eines ftetigen Zuſammenwirkens des Gemein- 
finnes mit dem Selbjtinterejje zur Verwirklichung der verteilenden 
und ausgleichenden Gerechtigkeit. 

Schon die Art und Weiſe, wie Adam Smith in den Mittel- 
punkt jeiner Theorie der moralifchen Gefühle das Sympathieprinzip 





1) 9I8c: idwusv, iw el un xai To OAov, dAM’ ovv usom ye EE- 
LaoWuEFa vouw,. 

?) Es ift die Aufgabe, rois uereoyovoı rovrwv ray Enitndevuctwv 
EÜEEIV unygavnv, ONWs MIN un avednv dvaoyvvrias TE zul dvehsvheoov 
Yuyns uctoya ovußmostaı yiyveodaı Öadiws. 919ec. cf. 920a: onws 
WS EELOTOS 7 Xal xUXöS WS MALOT« 0 ToloVros Mulv n Euvoıxos Ev Im 
noAsı zT. 

3) 919e: nocyu’ 69, ws Eoızev, ov gpevkor, ovde ouızods de- 
Susvor dpETnS. 


256 Erſtes Buch. Hellas. 


ftefft, wie er hier und in der politifhen Ökonomie die Selbftfucht 
(selfishness) duch die Wirkſamkeit der jozialen Triebe eingedämmt 
willen will und prinzipiell nur ein ſolches Maß von Selbjtintereffe 
anerkennt, welches ſich innerhalb der Schranken der Gerechtigkeit 
hält, die Forderung endlich einer harmonischen Ausgleichung der 
Gefühle und Leidenfchaften durch die Überwindung unferer jelbft- 
jüchtigen und die Ausbildung unferer wohlwollenden Gefühle, ') all 
das läßt in den jozialethiichen Grundfragen eine gewiſſe Ideen— 
verwandtichaft mit der geſchilderten arijtoteliichen Sozialphiloſophie 
erkennen, jo weit auch im übrigen und zwar gerade in der poli- 
tiichen Okonomie die Standpunkte auseinandergehen. 

Ungleich inniger freilich ift die Berwandtichaft mit der modernen 
ethiichen Nichtung der Nationalökonomie. Es ijt ganz ariftotelifch ge— 
dacht, wenn v. Thünen und Sinies die Rückſichtnahme der wirtjchaftlich 
thätigen Einzelperfonen (nicht bloß auf ihren eigenen Borteil, ſon— 
dern auch) auf das wirtjchaftliche Intereſſe „anderer Leute” fordern, 
und wenn dann Knies den Saß aufitellt: „Daß irgend ein höheres 
Maß mirtichaftlicher Güter auf den Wegen der Selbjtiucht, des 
gegen den Nächiten und das Gemeinwejen rückſichtsloſen Eigen- 
nußes von den Einzelnen gewonnen wird, jteht im Widerſpruch mit 
dem materiellen und fittlichen Wohle aller Einzelnen, mit dem Ge— 
meinwohl, ja mit dem jittlihen Wohle des Erwerbenden jelbt.“ 2) 
Wenn ferner A. Wagner meint: „Die Beweggründe individuellen 
wirtichaftlichen Vorteiles find wenigſtens möglichit zu verbinden mit 
und zu erjegen durch altruiftiiche Beweggründe, und das, was in 
diefer Hinficht der Einzelne und eine Verkehrsgeſellſchaft erreicht, 
bildet den Maßſtab ihres fittlichen Wertes und ihrer wahren Kultur: 
höhe;“s) — Jo entipricht das genau dem von der arijtotelijchen 
Ethik aufgeftellten Ideal. Dasfelbe gilt für den Führer der hifto- 


1) Bol. Hasbach: Die allgemeine philoj. Grundlagen der von Francois 
Quesnay und Adam Smith begründeten politischen Ökonomie ©. 114 f. und 
desjelben Unterfuchungen über Adam Smith ©. 54 ff. 

2) Politiſche Ökonomie vom geſch. Standpunkt (2) 238 f. 

>) Jahrb. f. Nationalöf. u. Stat. 1886. &. 230, 


IT. 4. Angriffe d. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtjch. Rechtsordg. 957 


riſchen Schule, für Schmoller, für welchen es ebenfalls die „ent: 
ſcheidende Frage” ift, wie und in welchen Maße „ver Trieb, alles 
auf die eigene Perſon und ihre Förderung zu beziehen, fich mit 
jittlichen und rechtlichen VBorftellungen durchjegt und getränkt hat.“ ') 

Auch iſt diefe vielfache Berührung antifen und modernen 
Denkens feineswegs eine zufällige. Allerdings erklärt fich dieſelbe 
vor allem daraus, daß es bis zu einem gewiſſe Grade analoge 
Übelftände des Volfslebens waren, welche hier, wie dort eine höhere 
jozialzethiihe Auffaffung des Güterlebens, eine tiefere Anſchauung 
von Weſen und Beruf des Staates, eine gejteigerte Empfänglichkeit 
für foziale Gerechtigkeit hervorriefen. Allein gleichzeitig beſteht doch 
ein unmittelbarer bewußter Zuſammenhang. 

So wahr das Wort au ift, daß ver joziale Sammer die 
Bolkswirtichaftslehre der Ethif wieder in die Arme geführt hat, jo 
Darf doch amdererjeitS nicht vergeſſen werden, daß es eine auf 
humaniftiicher Grundlage erwachjene Wiſſenſchaft war, welche fich 
zum Träger dieſes gewaltigen Umſchwunges des modernen Geiftes- 
lebens gemacht hat; und es wird in der That in einem der grund- 
legenden Werfe der hiftorifchen Schule der Nationalökonomie aus- 
drücklich anerkannt, daß wir hier zugleich das Ergebnis einer Be— 
fruchtung der modernen Wiſſenſchaft durch altklaffiihe Anſchauungen 
vor uns haben.?) 

Schon bei einem der erſten großen Vorkämpfer gegen Die 
einfeitig-individualiftiiche Auffaſſung ökonomischer Phänomene, bei 
Sismondi, tritt diefer Zuſammenhang Kar hervor. Er knüpft jeine 
Polemik gegen die sience de l’accroissement des richesses un— 
mittelbar an die jozialpolitiichen Erörterungen an, welche Ariftoteles 
in der Bolitif der Chrematiſtik gewiomet hat.’) Und ganz in dem: 
jelben Sinne hat unter den Deutſchen ſchon im Jahre 1849 Nojcher 


1) Grundfragen ©. 57. 

2) Knie a.a. D. 438. 

3) Etudes s. 1. con. pol. 1,3. Bgl. Elfter: Simonde de Sismondi. 
Ein Beitrag zur Gejchichte der Volkswirtſchaft. Jahrb. f. Nationalöfonomie 
und Stat. N. 3. XIV 321 ff. 


Pohlmann, Gejh. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 17 


258 Erſtes Buch. Hellas. 


in feiner jchönen Abhandlung über das Verhältnis der National- 
öfonomie zum klaſſiſchen Altertum der herrſchenden Zeitvoftrin die 
politifche Ofonomie der Griechen gegenübergeftellt, weil diefelbe nie- 
mals den großen Fehler begangen habe, über dem Neichtum der 
Menfchen zu vergejjen.!) 

Ihm folgt Nodbertus mit der Forderung, daß wir unfere 
Bolitif wieder etwas mehr mit antitem Geifte erfüllen jollten,2) 
und Lorenz von Stein, der aus dem Studium der antifen Staats- 
wiſſenſchaft die Überzeugung geſchöpft hat, daß wir, indem wir 
durchforiehen, was die Alten gewejen und gethan, „uns gleichjam 
jelbjt zum zweitenmal exleben.”3) Im Hinblid auf den noch immer 
nicht überwundenen einjeitigen Individualismus der modernen Staats- 
auffaſſung erklärt es Adolf Wagner von jedem politiichen Stand» 
punfte aus für unvermeidlich, wieder an antike Anjchauungen an- 
zufnüpfen. Für die Nationalökonomie, welche dies viel zu jehr aus 
den Augen verloren habe, find nach Wagners Anficht die grund: 
legenden Sätze des Ariftoteles über den Charakter des Staates 
ſämtlich auch Fundamentalprinzipien für die VBolkswirtjchaftslehre.t) 
Endlih hat — wie im Anfang des Jahrhunderts Sismondis 
Theorie vom Reichtum auf Axiftoteles hinweiſt — in der Gegen: 
wart Schmoller feine Zehre von der Verteilung des Einkommens 
nach dem Verdienſt durch den Hinweis datauf unterjtüßt, daß er 
damit mur eine Theorie wiederhole, die bereits Nriftoteles in feiner 
Ethik aufgeitellt.5) Schon bewegt ſich ja auch unfere moderne 
Gejeßgebung genau in derjelben Nichtung. Sit es nicht eine An 
näherung an das ariftotelifche Ideal der verteilenden und aus— 
gleichenden Gerechtigkeit im Verkehr, wenn Dank diefer Gejeßgebung 

) Anfichten der Volkswirtſchaft aus dem geſchichtlichen Standpunkt 
12) 7. 

?) Zur Erklärung u. Abhilfe der heutigen Kreditnot des Grundbeſitzes 
IL) 370. 

3) Die drei Fragen des Grumdbefites und feine Zukunft. ©. 14. 

#) Grumdlegung der politifchen Ötonomie 18 859. 

5) A. a. O. ©. 61. 


IT. 4. Angriffe d. ideal. Soztalphil. a. d. Grundl. d. wirtich. Rechtsordg. 959 


der Kreis von Individuen, auf welche der wirtjchaftende Menſch 
Rückſicht zu nehmen hat, in bejtändigem Wachjen begriffen it? 

Doch jehen wir von den einzelnen Problemen ab und halten 
uns an die Auffaffungsweife des bellenifchen Sozialismus im All— 
gemeinen. 

Müſſen wir nicht auch da troß aller Verivrungen eines ab: 
ftraften und ideologiſchen Dogmatismus anerkennen, daß in der 
ganzen Art und Weije, wie bier die Dinge angejchaut werden, ein 
Fortichritt von größter Bedeutung lag, der Ergebnifjfe von bleiben: 
dem Werte zeitigte und jo ebenfalls bis auf die Gegenwart herunter 
nachzumirken vermochte? 

Die Kritif, welche der helleniſche Sozialismus an der Wirk 
lichfeit übte, ift nicht bloß eine Kritik der ökonomiſchen Berhältniffe, 
fondern eben jo jehr auch der moralifchen, geiftigen, politiſchen 
Zuftände des Volkes. Da dieſem Sozialismus von Anfang an 
die Idee einer Umbildung des gejamten Lebens des Volkes vor- 
ſchwebte, jo gab es ja von vorneherein kaum ein Gebiet, welches 
er nicht in das Bereich feiner reformatorifchen Gedanken gezogen 
hätte. Das wirtjchaftliche Güterleben und die auf der Verteilung 
der Güter beruhende Ordnung der Gejellichaft wird von dieſem 
umfafjenden Standpunkt aus Gegenſtand einer Betrachtungsweile, 
welcher jich die Sozialwiſſenſchaft niemals hätte entfvemden jollen, 
und welche ja gerade die Gegenwart wieder zur ihrigen ge 
macht hat. 

Die helleniſche Staatslehre hat für alle Zukunft gezeigt, daß 
für die Nealifierung der Ideen, welche in Staat und Recht zur 
Berwirklihung zu gelangen ſuchen, nicht bloß das Syſtem der poli- 
tiſchen Smititutionen, die Drdnung und Verteilung der ftaatlichen 
Gewalten von Bedeutung ijt, jondern noch mehr die Welt der 
Güter und Intereſſen, jener gewaltigen bei der Gejtaltung aller 
menjchlichen Dinge mitwirkenden Faktoren, die durch ihre Macht 
über den Einzelnen auch auf die Geſellſchaft mit elementarer Kraft 
zu wirken vermögen. Zum erjtenmale tritt uns hier in der Ge— 
ſchichte der politiſchen Wiſſenſchaften ein tieferes Verſtändnis für 

IT 


2360 Erſtes Buch. Hellas. 


die Natur der gejellichaftlichen Gegenfäte und für die Gefahren 
entgegen, mit welchen das wirtſchaftliche Güterleben und die Ver- 
teilung des Beſitzes das Edelfte im Menſchen, die höchften Kultur: 
interejfen der Geſamtheit bedroht. 

Wie hoch fteht die hellenifche Staatslehre mit dieſer Erkennt— 
nis über jenem Doktrinarismus, der Staat und Volk nur als eine 
Summe von Individuen zu denken vermag und über dem aus- 
Ichließlihen Gegenjaß von Individuum und Staat jene wichtige 
zwifchen dem Leben des Einzelnen und dem des Staates in der 
Mitte liegende Sphäre überſieht, die wir Gefellfehaft nennen. Durch 
ihre Analyſe der jozialen Erſcheinungen hat die hellenijche Staats- 
lehre jene tiefere Auffaffung des Staates und der ftaatlichen Zwecke 
begründet, welche ihr Augenmert vor Allem darauf richtet, in 
welchen DVerhältnis die jozialen Zuftände des Volkes zu feinem 
politiichen Leben ſtehen, wie ſich die verjchiedenen Glemente der 
Gejellfchaft, die jozialen Klaffen zu einander und zum Staate ver- 
halten oder verhalten jollen, wie überhaupt Staat und Gejellichaft 
als zwei jeldjtändige in ewigem Antagonismus fich gegenüberftehende 
und Doch wieder ſich ſtets gegenfeitig zu durchdringen ftrebende 
Lebenskreiſe auf einander wirken. 

Diefe ſoziale Auffalfung der Dinge, welche die Negierungs- 
ſyſteme vor Allem auf ihre joziale Brauchbarkeit hin beurteilt, hat 
einen Ariſtoteles befähigt, den Wechjel der Verfallungsformen und 
die Geftaltung der politischen Barteifämpfe in ihrem Zuſammen— 
hang mit der wirtjchaftlichen Gliederung des Volkes, die Abhängig: 
feit der ftaatlichen Entwicdlung von der Gefellfehaftsordnung und 
von der materiellen Grundlage derjelben, der Berteilung des Be 
ſitzes in einer Weiſe Elarzulegen, daß einer der hervorragendften 
Vertreter der modernen Staatswiljenfchaft von ihm gejagt hat, feine 
Politik würde in diefer Hinficht für die Staatswiſſenſchaft der Zukunft 
das jein, was Kopernifus’ Organon für die Ajtronomie geweſen.) 








)2 v. Stein: Verwaltungslehre I? 32. Dal. Steins Aufſatz über 
die Entwicklung der Staatswifjenjchaft bei den Griechen. ©ib.Ber. der Wien. 
Ak. (phil. Hit.) Bd. 93. i 











II. 4. Angriffed. ideal. Sozialphil. a.d. Grundl. d. wirtfch. Nechtsordg. 261 


Andererſeits iſt jedoch Die arijtoteliiche Staatslehre in 
der Betonung der ökonomischen Faktoren Feineswegs ſoweit ge 
gangen, wie der jogenannte wiljenjchaftliche Sozialismus der 
Gegenwart. 

So bedeutfam das volfswirtichaftlihe Moment, insbejondere 
das des Klafjenfampfes in jeiner Analyſe verfallungsgejchichtlicher 
Entwicklungen in den Vordergrund tritt, Ariftoteles ift Doch weit 
entfernt von jener materialiftiichen, die Gejchichte einzig und allein 
vom Standpunkte des Klaſſenkampfes aus betrachtenden Anfchauungs- 
weife, welche das ökonomische Moment geradezu als das immer 
und überall beſtimmende, für die Geftaltung der Gejellichaft einzig 
und allein ausfchlaggebende hinjtellt und das gejamte politische, 
rechtliche, geiltige und religiöfe Dafein des Bolfes nur als einen 
Überbau gelten läßt, deſſen Geftaltung durch das öfonomifche Fun- 
dament und die wirtichaftlihe Struktur der Geſellſchaft unbedingt 
vorgezeichnet jet. 

Diejer Glaube an die Allmacht der rein wirtjchaftlichen 
Faktoren mußte ja von vorneherein einer Auffafjungsweije fremd 
bleiben, welche die leichberechtigung der wirtichaftlichen Zwecke 
mit den ethiichen Zielen prinzipiell leugnete und das höchſte End— 
ziel aller Bolitif darin jah, den Staat, feine Gejeßgebung und 
Verwaltung von den gemeinen Intereſſen des Güterlebens möglichit 
zu emanzipieren. 

Allerdings hat auch der helleniſche Sozialismus mit pſycho— 
logijcher Notwendigkeit durch eine Entwiclungsphaje hindurchgehen 
müffen, die fich durch eine ftarfe Überſchätzung der Abhängigkeit 
des fittlichen Lebens von wirtschaftlichen Faktoren charakterifiert. 
In den überfchwänglichen Hoffnungen, welche Blato auf eine fitt- 
liche Wiedergeburt durch den Kommunismus jeßte, und in der Art 
und Weife, wie er das Mrivateigentum für den Verfall der Sitt- 
lichkeit verantwortlich machte, trat uns dieſe Verirrung draſtiſch 
genug entgegen. Allein wie raſch iſt gerade hier die Korrektur 
erfolgt! Schon der ariftotelifche Sozialismus hat ſich von diejen 
Illuſionen über die allheilende Kraft des Kommunismus wieder 


262 Erſtes Buch. Hellas. 


emanzipiert und ihnen gegenüber die fittliche Unvollfommenheit der 
Menfchennatur mit einer Schärfe und Klarheit betont,!) von der 
der moderne Sozialismus in feiner ökonomiſtiſchen Einfeitigfeit noch 
weit entfernt ift. 

Um fo mehr teilt freilich die antife Sozialphilofophie eine 
andere Schwäche moderner Weltverbefferer. Ihr Idealismus bleibt 
in der Schäßung deſſen, was die menjchliche Vernunft und der 
Staat vermögen, um das Güterleben in ihrem Sinne zu regeln, 
in nicht3 hinter den modernen Optimiſten zurüd, die angefichts der 
großartigen Fortjcehritte auf allen Lebensgebieten die Gemüter mit 
überipannten Hoffnungen auf die Möglichkeit und Leichtigkeit noch 
unendlich viel gewaltigerer Umgeftaltungen erfüllt haben. Wie im 
Zeitalter Bellamys jo begegnen wir auch in der hellenifchen Sozial— 
theorie des vierten Jahrhunderts v. Chr. den denkbar höchſten Vor— 
jtellungen von der Macht menschlicher Vernunft und menschlicher 
Inſtitutionen. Mit derſelben gefteigerten Empfindlichkeit für Die 
Ichmerzlichen Gebrechen der bejtehenden Gejellichaft verbindet ſich 
auch bier dasjelbe ungemefjene Vertrauen auf die Fähigkeit Des 
Menjchen, alle jene Gebrechen zu heilen, dasjelbe ungeduldige Ber- 
langen nach einem jchnellen und radikalen Heilverfahren. 

Wurde doch gerade bier dieſe Nichtung der Geifter von 
allen Seiten her gefördert und genährt durch die thatlächliche 
Entwicklung des Staatlichen Lebens! Welch ein unaufhörlicher 
Wechſel der VBerfaflungsformen in diefem Mikrokosmos der klein— 
jtaatlichen Hellenenwelt, die — um ein Wort Ciceros von den 
griechischen Inſelſtaaten zu gebrauchen — „amt ihren Inſtitu— 
tionen und Sitten gewiſſermaſſen auf ven Fluten zu Schwimmen“ 


1) Bol. II, 2, 8. 1263b: . ... wv (zaxwv) oVdev yivsraı die mv 
axoıvwvnolev ahıd ba ınv uoysmoiev, Errei zul Toüs xoıvd KERTNUEVOVS 
xai xoıwwvovvrag oA diepegousvovs uchdor bEWuEv 7 TOoUs YWois Tas 
ovoies Eyovras. Mit aller Entjchiedenheit wird hier auch betont, daß es 
eben die umerjättliche Begierde, nicht die Not ift, welche die meiften Verbrechen 
erzeugt, und daß es daher ein Irrtum ift, von dev Aufhebung der Not einen 
radikalen fittlichen Umfchwung zu erwarten. 


II. 4. Angriffe d. ideal. Sozialphil. a.d. Grund. d. wirtich. Rechtsordg. 263 


ſchien!) Sn joldem ewigen Wandel der Dinge mochte in der 
That das Staatswejen wie ein beliebig zu geitaltender Thon in 
der Hand des „Geſetzgebers“ und feine Umgeftaltungsfähigfeit eine 
unbegrenzte erjcheinen, mochte die Vernunft fich förmlich dazu ge- 
drängt fühlen, mit Bewußtjein eine neue Grundlegung von Staat 
und Gejellichaft als ihre eigene freie Schöpfung zu volßiehen. 

Angefichts der Fülle von Entwicklungsformen, welche die un- 
erichöpflichen Triebfräfte des politifchen und jozialen Lebens der 
Hellenen erzeugt hatten, ohne Doch auf die Dauer eine gejunde Ge- 
jtaltung desjelben herbeizuführen, verzweifelte die Sozialphiloſophie 
daran, daß die Leiden der Gejellichaft durch gewöhnliche Mittel 
geheilt werden könnten, während fie andererjeitS eben aus jener 
unerjchöpflichen Geſtaltungskraft des gejchichtlichen Lebens die Hoff- 
nung entnahm, die in fortwährender Umbildung begriffene Staats- 
und Gejellfchaftsordnung vollends aus den Angeln heben und nach 
einem freigefchaffenen Gedantenbild neuaufbauen zu können. In— 
mitten des allgemeinen Zerfalles der überfommenen wirtjchaft- 
lichen, fozialen, politifchen Ordnungen, eines Zerfalles, aus dem 
ſich doch nirgends eine hoffnungsreichere Neugeltaltung erheben 
wollte, empfand die Theorie den unwiderſtehlichen Drang, die 
Kluft zwiichen Vergangenheit und Zukunft durch einen ſolchen Ge- 
danfenbau zu überbrücen, durch das Idealgemälde einer anderen 
und bejjeren Ordnung der Dinge, der die Zukunft gehören follte, 
an der ji) die Gemüter wieder aufzurichten und zu jtärfen ver- 
mochten. 

Die Theorie veripra den Weg zu einem neuen Dajein zu 
zeigen, in welchem alle abjtoßenden Züge des gegenwärtigen Lebens 
in ihr jtrahlendes Gegenbild verwandelt erjcheinen, in welchen alles 
was die Welt von heute bedrüct, verjchwinden joll, alles was die 
Edelſten erjehnt, zur Wahrheit und Wirklichkeit geworden ift. Denn 
dieſe, die führenden Geiſter der Nation ſelbſt find es, denen wir 





!) Rep. 2. 9: Fluctibus cinctae natant paene ipsae simul cum 
eivitatum institutis et moribus. 


264 Erſtes Buch. Hellas. 


auf ſolchem Wege begegnen. Bei ihnen war mit der Anlage zur 
Abſtraktion, Deduktion und Konſtruktion die Richtung auf den 
ſozialiſtiſchen Utopismus von ſelbſt gegeben, und ſie kamen dem 
eigenen Bedürfnis ebenſo, wie dem der Zeit entgegen, indem ſie 
mit der ſchärfſten, rückſichtsloſeſten Kritik des Beſtehenden umfaſſende 
Organiſationspläne zum Aufbau einer neuen, beſſeren Staats- und 
Geſellſchaftsordnung verbanden. 

So entſtand das Zukunftsbild des wahrhaft guten, des „beiten“ 
Staates. 


Drittes Kapitel. 
Orannifationspläne zum Aufbau einer neuen Staats- und 
Gelellihaftsordnung. 


Erfter Abſchnitt. 
Das Staatsidenl des Phaleas von Chalcedon. 


„Der erſte Privatmann, der es unternahm, etwas über den 
beiten Staat zu jagen,“ 2) it der bekannte Architeft Hippodamos 
von Milet, der Erbauer der Hafenjtadt des PViraeus. Doch kann 
diefer erſte Verſuch, der Wirklichkeit ein deal gegenüberzuftellen, 
für die Gejchichte des Sozialismus kaum in Betracht fommen. 
Wenigitens enthält das, was uns Nrijtoteles über die Ideen des 
Mannes mitteilt, nirgends einen prinzipiellen Widerſpruch gegen 
die Grundlagen der beitehenden Gejellichaftsordnung. Im Gegen- 
teil, die individualiftiiche Grundtendenz der bisherigen jozialen und 
politiihen Entwicklung wird hier, wie wir bereits früher gejehen 
haben, nur noch konſequenter durchgeführt, indem die Gejeßgebung 
auf die negative Aufgabe des Rechtsſchutzes beſchränkt und damit 
in jozialötonomifcher Hinficht zur Unfruchtbarkeit verurteilt wird.2\ 


1) Ariſtoteles Politik IL, 5, 1. 1267 b. 
2), S.70ben S: 177: 


a 


III. 1. Das Staatsideal de3 Phaleas von Chalcedon. 265 


Die Geſchichte der ſozialiſtiſchen Staatsideale des Hellenen— 
tums kann daher erſt mit der Politie des Phaleas von Chalcedon 
beginnen, die vielleicht noch vor Platos „Staat“ verfaßt!) und 
daher hier an erſter Stelle zu nennen iſt. Allerdings iſt uns das 
Werk verloren und das Wenige, was unſer einziger Zeuge — Ari— 
ſtoteles — über den Inhalt jagt, läßt gerade eine weſentliche 
Frage unberührt, die Frage nach der dogmengeſchichtlichen Stellung 
des Syſtems, nach der Bedeutung, welche demſelben in dem Ent— 
wicklungsgang der ſozialen Ideen überhaupt zukommt. Während 
Ariſtoteles bei der Beurteilung des platoniſchen Idealſtaates die 
dogmatiſche Prüfung auf die grundlegenden ethiſchen und politiſchen 
Prinzipien hin, aus denen heraus die Theorie als ein Ganzes gedacht 
iſt, wenigſtens nicht völlig unterläßt, begnügt er ſich hier mit einer 
Kritik der einzelnen Forderungen, welche Phaleas an die Praxis 
ſtellt. Er regiſtriert und kritiſiert einige der „Spezifika“, welche 
nach der Anſicht des letzteren geeignet ſein ſollen, die ſozialen 
Krankheitserſcheinungen zu heilen. Wie aber der ſozialphiloſophiſche 


Aufbau des beſprochenen Staatsideals — als ein theoretiſches 


Ganzes, als ein Syſtem von Prinzipien betrachtet — ausſah, 


) Die Äußerung des Ariſtoteles, auf welche ſich dieſe Annahme ſtützt, 
iſt allerdings nicht ſicher beglaubigt. Ariſtoteles weiſt hier darauf hin, welche 
Wichtigkeit ſchon don den früheren Theoretikern auf eine günſtige Verteilung 
des Beſitzes gelegt worden ſei, und führt dann fort: dio Badkas 6 XaArn- 
dovıos Toür’ Eionveyze nowrog xl. un findet ſich aber auch die Lesart 
no@rov, die zwar der minder guten Überlieferung angehört, aber doch jehr 
wohl die richtige fein könnte, ja dem Sinne nach zu dem VBorhergehenden 
noch bejjer paffen würde. Damit wird uns für die nähere Beltimmung der 
Zeit des Phaleas jeder feſte Anhaltspunkt entzogen. Die inneren Gründe, 
die Sujemihl (in der Anmerk. zu der Stelle) für die Priorität des Phaleas 
gegenüber Plato anführt, die „augenfcheinliche Dürftigfeit” feines Entwurfes 
und deſſen „Mangel an aller feineren Durchbildung“ können nichts beweifen. 
Auch Fragt es ſich doch jehr, ob wir berechtigt find, auf Grund des einzigen 
uns erhaltenen höchſt Ddürftigen Berichtes über den Idealſtaat des Phaleas 
ein jo ungünftiges Urteil zu fällen. Wie würden wir über Platos Politie 
oder „Geſetze“ urteilen, wenn wir fie einzig und allein aus dem einfeitigen 
und unvollftändigen Berichte des Ariftoteles kennen würden? 


966 Erſtes Buch. Hellas. 


darüber geht die arijtotelifche Darjtellung mit Stillfehweigen hinweg. 
Wir erhalten Fein Bild von der willenjchaftlichen Individualität 
des Mannes, noch auch von ihrem Zuſammenhang mit den Ver: 
hältnifjen feiner Zeit und Umgebung.) 

Sp bleiben uns nur Rückſchlüſſe aus dem, was Phaleas in 
Beziehung auf einzehre konkrete Fragen der fozialen Reform ge- 
äußert bat. 

Den deutlichjten Fingerzeig für feinen allgemeinen Stand- 
punft dürfte wohl der Vorſchlag enthalten, die geſamte Induſtrie 
zu verftaatlichen und alle Angehörigen der gewerblichen Klaſſen zu 
dienenden Organen einer ftaatlichen Kollektivwirtſchaft zu machen. 
Denn dieje radikale Umgeftaltung der ganzen wirtichaftlichen Exiſtenz 
der gewerblichen Bevölkerung bedeutet ihm zugleich eine politifche 
Degradierung. Sie hört auf ein Teil des Staatsbürgertums zu 
jein?) und ſinkt in ein Verhältnis der Unterthänigfeit, wenn nicht 
gar der Unfreiheit herab.) Ein untrüglicher Beweis dafür, daß 
die Forderung Folleftivwirtfchaftlicher Produktion hier nicht Ausfluß 
eines fozialen Demofratismus ift, der die ertreme Durchführung 
des individualiftiichen Gleichheitsprinzipes im Auge bat, jondern 
einer antisindividualiftiichen Auffaffungsweile, für welche dieſe Aus— 
Dehnung der Staatswirtichaft nur ein Mittel ift, durch die denkbar 
radikalſte Unterordnung der gejamten gewerblichen Bevölkerung 

) Trotzdem ift freilich Ariftoteles der Anficht, alles, was an den 
Theorien jeiner Vorgänger irgend bemerkenswert fei, zur Genüge erörtert zu 
haben! II, 9, 1. 1273b. — Mit Recht bemerkt 2. dv. Stein zu dieſer Be— 
hauptung, daß die Alten überhaupt feinen Sinn für das hatten, was wir 
die Gejchichte der Litteratur und Wiſſenſchaft nennen. „Die jtaatswifjenjchaft- 
liche Theorie der Griechen vor Ariftoteles und Plato.“ Tüb. Ztſchr. f. d. 
gej. Staatsw. IX 149. 

2) Ariftoteleg Pol. II, 4, 13. 1267b: gpaiveraı d’ Ex ns vouodeoias 
zaraoxsvdiov nv rohr wixgdv, Ei y’ ol Teyviraı ndvres dmuooioı Esovraı 
zei un nAnowua tı nag£fovrau Ts TIOAEwS. 

3) Der don den Getwerbetreibenden gebrauchte Ausdruck „dryuooror“ 
(öffentliche Diener) läßt es zweifelhaft, ob fich Phaleas diejelben als Fremde 
und Beifaſſen oder als Sklaven gedacht hat. 


—— 


II. 1. Das Staatsideal de3 Phaleas von Chalcedon. 267 


unter die Zwangsgewalt des Staates ihre, wenn auch gleichzeitig 
antifapitaliftifchen, jo doch in erſter Linie antivemofratiichen Ziele 
zu verwirklichen. !) 

Diefe antivemofratifche Grundtendenz des Bolitifers Phaleas 
it ferner ein Beweis dafür, daß, wenn er den Grund und Boden 
unter die Vollbürger jeines Staates auf dem Fuße vollfommener 
Gleichheit verteilt wiſſen will,2) dieſe Gleichheit ebenfalls nicht 
ausschließlich aus individualiftiiher Wurzel ſtammt. D. h. 
Phaleas kann auch hier nicht einjeitig feinen Ausgangspunkt von 
dem Intereſſe des Individuums genommen haben und von deſſen 
Anſpruch, auf Grund der Gleichwertigfeit Aller möglichit gleichen 
Anteil an den wirtfchaftlichen Gütern und dem durch fie erreich- 
baren LZebensgenuß zu erhalten. Den Ausgangspunkt oder wenig. 
ſtens das wejentlich mitentjcheidende Moment bildet das ſoziale 
Intereſſe, das Intereſſe des Ganzen, wie wir das noch jeßt Daraus 
erkennen, daß bei Ariftoteles als der Zweck, um dejjenwillen Phaleas 
die Gütergleichheit einführen wollte, die Sicherung des joztalen 
Friedens?) und die Hebung der Volksfittlichkeit bezeichnet wird.*) 

Dasselbe gilt endlich für die Forderung gleicher Erziehung 
Aller durch den Staat.5) Auch fie iſt hier eine Konfequenz des 
Prinzips der Gemeinjchaft, der xowwvie, nicht der Freiheitsidee 
des Individualismus. 

Eine Ideenverwandtſchaft mit der Staats: und Gejellichafts- 
theorie Platos ift jo ganz unverkennbar, wenn wir auch nicht die 
Anfichts) teilen können, daß das eine der platonischen Staatsideale, 


1) Dies wird betätigt durch die Ihatjache, dat in Chalcedon in der 
That jeit dem Anfange des vierten Jahrhunderts die Demokratie zum Siege 
gelangt war (Theopomp bei Athenäus II 526d). Gegen dieſe Bolfsherrjchaft 
bedeutet der Idealſtaat des Phaleas eine ähnliche Reaktion, wie der des Plato 
gegen die Demokratie von Athen. 

2) Ariftoteles Bol. II, 4, 1. 1266 b. 

3) Ebd. II, 4, 1. 1266a. 

4) Ebd. II, 4, 7. 1267a. Dal. oben ©. 203. 

5) Ebd. II, 4, 6. 1266b. 

6) Bon Sujemihl a. a. O. Anmerk. 255. 


268 Erſtes Buch. Hellas. 


der Gefeßesftaat, „ſich Fat durchweg als eine verfeinerte Ausbildung 
dieſes Staatsideals des Phaleas bezeichnen laſſe.“ Zu einer folchen 
Annahme reichen die wenigen Notizen, die wir zur Charakteriftit 
des leßteren anführen konnten, Feineswegs hin. 

Was Ariftoteles ſonſt über Phaleas bemerkt, fügt zu dem 
Geſagten nichts weſentlich Neues hinzu. Die Forderung, daß die 
Reichen Mitgift geben, aber nicht nehmen, die Armen umgekehrt 
nehmen, aber nicht geben jollen, bezieht ſich überhaupt nicht auf den 
beiten Staat, ſondern joll nur einen Fingerzeig dafür gewähren, wie 
man zunächlt innerhalb der beftehenden Gefellichaftsordnung am 
leichteften eine Nusgleichung der Befitesgegenfäße herbeiführen 
könne.) Wenn ferner Ariftoteles an dem Staate des Phaleas 
auszuſetzen hat, daß derjelbe fein wirtjchaftliches Gleichheitsprinzip 
nicht auch auf das mobile Kapital ausdehne,?2) daß er die zur 
Aufrechterhaltung der wirtjchaftlichen Gleichheit unbedingt notwen- 
digen bevölferungspolitiichen Maßregeln, wie z. B. eine ftaatliche 
Regelung der Kinderzeugung u. ſ. w. unterlafje,’) daß e3 endlich 
zweifelhaft bleibe, ob er mit feiner öffentlichen Erziehung das er: 
reichen wolle und fünne, was noch wichtiger fei, als die Aus— 
gleichung des Beſitzes, nemlich die Ausgleichung der Begierden,t) — 
jo müſſen wir unfererfeit3 es dahingeftellt fein laſſen, inwieweit 
dieje Kritik wirklich zutreffend ift oder nicht. 

Aristoteles zeigt fich in der Darftellung der Theorien feiner 
Vorgänger jo ſehr von dem Beltreben beherricht, die Mangel: 
baftigfeit derſelben zu erweiſen,“) er hat fi) dadurch, — mie feine 
Kritik der platonifchen Staatsiveale beweiſt —, vielfach zu jo un— 
begründeten und ungerechten Ausftellungen verführen lafjen, daß 
wir auf feine Ausſage allein bin ein ficheres Urteil nicht fällen 
können. Wenn Plato jo manches ausdrüdlich erörtert hat, was 

') Ariftoteles Pol. II, 4, 2. 1266b. 

an, 4, 106, TobTae 

s) II, 4, 3. 1266b. 

#) II, 4, 6. 1266b. 

D)EBaL., A 





II. 2. 1. Der platonifche Bernunftftaat und feine Organe. 969 


er nach der Behauptung des Ariftoteles gar nicht erwähnt haben 
joll, wenn er in Anderem von ihm völlig mißverftanden worden 
üt, jo ift doch hier die Möglichkeit, ja die Wahrjcheinlichfeit nicht 
abzumeijen, daß das beurteilte Werk in Wirklichkeit vielfach anders 
ausjah, als in den Augen feines Kritikers. 


Hweiter Abfchnitt. 
Der Bernunititant Platos. 


ie 
Der Staat und feine Organe. 


Die grundlegenden Gedanken des platoniichen Idealſtaates find 
unmittelbar aus der thatjächlichen Entwicklung des gejchichtlichen 
Staates geſchöpft. War in der helleniſchen Staatenwelt überall die 
Staatsgewalt zum Zankapfel der einzelnen Gejellichaftsklafien und 
den — dem Leben der Gejelljchaft entipringenden — Sonderinter— 
eſſen mehr oder minder dienftbar geworden, war die jelbitändige 
Staatsidee ſozuſagen in der Gejellichaft untergegangen, jo will der 
platonijche Idealſtaat dem Staatsgedanfen wieder ein Daſein jchaffen, 
in welchem der Staat unabhängig und jelbitjtändig über der Ge 
jellichaft jteht und daher auch von ihren Intereſſen nicht beherrjcht 
wird. Aus dem rüdjichtslojen Wettitreit, in welchem die einzelnen 
Teile der Gejellichaft, jei es Individuen oder Klafjen, ſich gegen- 
jeitig ihren Sonderzweden und Sonderinterefjen dienftbar zu machen 
juchen, erhebt ſich das Bild eines Gemeinwejens, welches die be 
rechtigten Intereſſen Aller befriedigen will, welches den Beruf und 
die Macht hat, den Egoismus der einzelnen Teile den Zwecken des 
Ganzen, das Sonderinterefje dem der Gejamtheit zu unterwerfen. 

„ir gründen — jagt der Sokrates des Dialoges — unferen 
Staat nicht in der Abficht, daß Eine Klaſſe vor allen glüclich ſei, 
jondern möglichft der ganze Staat.”!) Der Staat ift hier in der 
That für Alle da. Denn die Staatsgewalt fteht hier nicht den 


) IV 420be ef. VII 519e. 


270 Erſtes Buch. Hellas. 


ftärferen Sntereffen zu Gebote, die zu ihrer Geltendmachung den 
größten Einfluß und die größte Macht aufwenden können, jie dient 
vielmehr in jelbftlofer Hingebung gerade zum Schuße der Schwa— 
hen.) Indem jo der in der Wirklichkeit durch den Egoismus 
der Gefellfchaft verdunfelte Staatsgedante voll und ganz zur Ber: 
wirflichung gelangt, erhebt der platonische Idealſtaat zugleich den 
Anspruch, der Nechtsftaat zer’ E£oynv, die höchſte Verkörperung der 
Gerechtigkeit zu jein.?) 

Um die angedeutete Aufgabe zu erfüllen, d. h. über der Ge- 
jellfehaft ftehend ihr Herr und Meifter zu bleiben, bedarf der Staat 
Drgane, welche die Macht und den Willen haben, unabhängig von 
einfeitigen Sntereffen die wahre Idee des Staates zu vertreten und 
zur Geltung zu bringen. Es muß im Staat ein Machtelement geben, 
bis zu welchem das gejellfchaftliche Intereſſe nicht mehr heranreicht. 

Der beftehende ſei es oligarchiiche oder demokratiſche Staat 
entbehrte ſolche Organe durchaus. Die Herrſchaft der Gejellichaft 
über den Staat findet hier ihren Ausdruck eben vor allem darin, 
daß die gefellfchaftlihen Intereſſen fich des öffentlichen Dienftes zu 
bemächtigen und denſelben in feinen Funktionen von fi) abhängig 
zu machen wußten; eine Abhängigkeit, die eine Außerliche und inner: 
liche zugleich war. Indem das Beamtentum durch Los oder Wahl 
unmittelbar aus den um die Macht ringenden wirtichaftlichen Klafjen 
der Geſellſchaft ſelbſt hervorging, brachte es die piychologiiche Ab— 
hängigfeit von Klaſſenintereſſen und Klaſſenanſchauungen in das 
Amt mit hinein, von denen es fich auch bei ehrlichem Willen des 
Einzelnen, der Allgemeinheit zu dienen, niemals auf die Dauer zu 
emanzipieren vermocht hat. Wie wäre auch bei der Kürze der 


) Bal. die einleitende Polemik gegen das angebliche Recht des Stär- 
keren auf die egoiftifche Ausbeutung der politifchen Gewalt I, 338 ff. Dazu 
346c und 347d über die Verpflichtung jeder Negierungsgewalt gegenüber 
den Negierten und den Schwachen. 

?) 420b: ov unv noos rovro PAEnovres znv nolv oixilouev, On@g 
Ev Tu Yulv EIvos Eoraı diapeoövrws eudaruov, aA Oonws 0 Tu uckiora 
0m 7) nohıs’ WnINUEV ydo Ev TH Toiwvrny udhuor’ av Eigeiv dixaioovvnv. 
cf. 480d: 00 dr) Evsxza navra Emtouuev dızauoovvn. 


IM. 2. 1. Der platoniſche Bernunftitaat und feine Organe. 971 


Amtsfriſt und dem MWechjel der zur Herrichaft gelangenden Barteien 
eine Berwaltung möglich gewejen, die ſich dauernd auf den jtaat- 
lihen Boden gejtellt und nur als Drgan der Allgemeinheit gefühlt 
hätte? Wie hätten insbefondere bei dem ftarken Übergewicht, wel- 
ches die materiellen Intereſſen in dem Induſtrie- und Handelsitaat 
des vierten Jahrhunderts gewannen, Elemente, die durch ihre ganze 
bürgerliche Stellung mehr oder minder in das Getriebe des Er- 
werbslebens verflochten waren, die Unabhängigkeit des Staates 
gegenüber der Naturgewalt dieſer Intereſſen behaupten Fönnen! 

Damit war für Plato der Weg Elar vorgezeichnet, auf wel- 
chem die Emanzipation des Staates von der Herrichaft der Gefell- 
Ihaft gejucht werden mußte. Sollte der reine Amtscharafter des 
öffentlichen Dienjtes wieder zur Geltung fommen und das Amt in 
den Stand gejeßt werden, jene jittliche Aufgabe des Staates zu 
verwirklichen, wie fie ihm feiner Idee nach zufommt, jo war der 
erſte Schritt aller Neform die Erhebung des Amtes zu voller 
Selbftändigfeit. 

Zu diefem Zwecke verlangt Blato die abjolute Loslöſung der 
mit der Vollſtreckung des jtaatlichen Willens betrauten Individuen 
von dem Erwerbs: und Wirtjchaftsleben, d. h. die Schaffung eines 
ftabilen Beamtenförpers, dejjen Eriftenz dur Sold und Gehalt 
fichergeftellt ift, und der ausschlieglih und allein dem Dienfte des 
Staates lebt. 

Sa Plato geht noch weiter. Sollte der Einfluß der wirt 
Ichaftenden Geſellſchaft und der ſozial-ökonomiſchen Sonderinterefjen 
für das ftaatliche Leben vollfommen unſchädlich gemacht werden, jo 
mußte nach jeiner Anficht nicht nur die Ausübung des ftaatlichen 
Willens, Verwaltung und Regierung diejem ihrem Einfluß entzogen 
werden, jondern fie durfte auch feinen Anteil mehr haben an der 
Bildung des ftaatlichen Willens, an der Gejebgebung. Die ganze 
Fülle der jtaatlichen Gewalt mußte jih in jenen nur dem Zwecke 
des Staates lebenden Organen der Gemeinſchaft konzentrieren. Sie 
ind die alleinigen Träger aller Staatlichen Funktionen. Cine Macht: 
jtellung, die freilich nur dadurch gefichert erjcheint, daß fie zugleich 


272 Erſtes Buch. Hellas. 


den bewaffneten Arm des Staates darjtellen. Die ganze übrige 
Bevölkerung ift eben nichts als rein wirtichaftende Geſellſchaft; fie 
it vom Wehrdienſt ausgeſchloſſen und derjelbe einer ftehenden Elite- 
truppe anvertraut, die ein unbedingt zuverläffiges Werkzeug der 
Negierungsgewalt ift und die vollkommene Unabhängigkeit des 
Staatswillens verbürgt. 

Und noch eine andere Idee ift es, welche durch diefe Organi— 
jation des öffentlichen Dienjtes zur Verwirklichung fommt: Das 
Prinzip der Arbeitsteilung d. h. der dauernden individuellen, 
das ganze Leben ergreifenden und beherrſchenden Anpafjung an eine 
Ipezialifierte Lebensaufgabe, welche den Einzelnen in den Dienft der 
Anderen jtellt.!) Diejes Geſetz der Arbeitsteilung, in welchem Plato 
die unbedingt maßgebende Norm für die äußere Ordnung des 
menjchlichen Dafeins erblickt, ift ihm ein Naturgejeß, weil die 
Menſchen nit einander gleich, jondern mit indivivuellver- 
Ichiedenen Anlagen geboren werden.?) Es ift ihm ferner durch das 
Intereſſe der Geſamtheit gefordert, weil die Konzentrierung auf 
Eine Thätigfeit die Leiftungen jedes Einzelnen jteigert.?) Jeder 
bat ſich mit feiner ganzen ungeteilten Kraft und Zeit in den Dienft 
feines Berufes zu Stellen, darf ihn nicht al3 Nebengeichäft (Ev 
ragsoyov weoeı) betreiben, jondern muß von allen jonjtigen Ver— 
pflichtungen frei fein (oxoAıv vov @Almv ayov).t) 

) Nach der jchönen Definition von Schmoller (Das Weſen der Arbeits: 
teilung u. d. ſozialen Klaffenbildung a. a. D.), eine Definition, die im weſent— 
lichen derjenigen Platos entjpricht: Evi Exdorw Woavrus Ev anedidouer, 
005 6 nepVxeı Exaoros xal Ep’ w Euslde Twv alAwv oXolıv dyav did 
Blov auto Eoyalouevos, 00 nagieis TOis xuigoVs, xaAug anegyaLsodat. 
II, 374b. 

?) 370b: — zusv gverat Exaoros 0 nIavv Ouolog Exdorw dhAe 
diepeowv Tmv pic, dAhos En’ dAkov Eoyov nousıw. cf. V, 456d: Hos 
ovv &ysıs dosns tod Tororde negı; Tivos dn; Toö ÖnoAaußeveıv nagd 
cewvıo Tov ulv ausivo dvdor, Tov dE yeiow' 7 ndvres Öuolovs Myel; 
ovdauws. 

s) 370b: Ti dal; noregov xaAlıov nodrroı dv rıs eis @v moAlds 


, ‚ 2 ’ 5 5 cr 2 ’ 
teyvas Eoyaböuevos, 7 Otev ulav eis; Ortav, n d’ 05, Eis uier. 


) ib, 


IT. 2. 1. Der platontiche Vernunftftaat und feine Organe. 973 


Wenn dies Schon für die gewöhnliche Handarbeit gilt, wie 
viel mehr für die höheren Berufe, insbejondere für den Dienft des 
Staates! Die Thätigkeit des Negenten und Geſetzgebers, des Be— 
amten und Militärs ſetzt nicht nur eine bejfondere Veranlagung, 
jondern auch ein Willen voraus, welches nur durch eine ſyſtema— 
tiiche Erziehung für diefen bejonderen Beruf erworben werden fann. 
Sie nimmt ferner die Kraft des ganzen Mannes in Anſpruch, mehr 
als irgend ein anderer Beruf.!) 

Wie alfo überhaupt in dem Vernunftitaat fich Feine „Doppel: 
und vielgejtaltige” Berjönlichkeit findet, jondern „jeder nur Eines 
treibt, der Schufter nur Schulter und nicht zugleich Steuermann, 
der Landwirt nur Landwirt umd nicht zugleich auch Nichter, der 
Soldat nur Soldat und nicht zugleich Geſchäftsmann ift,“2) jo ift 
auch alle politiiche Thätigkeit Gegenftand eines eigenen Berufes, fie 
kann nicht zugleich Nebengejchäft der von der wirtichaftlichen Arbeit 
in Anſpruch genommenen Klafjen fein. 

Eine jolche aktive Beteiligung aller Klaſſen an Gejeßgebung 
und Verwaltung würde ebenjo den Forderungen der Natur, wie 
der Gerechtigkeit widerjprechen, welche „jedem das Seine” zuweijt 
und eben damit jein Necht widerfahren läßt.>) 

Auch dieſe jchroffe Formulierung des Prinzips der Arbeits: 
teilung (Der orxsiorrgeyie)*) iſt weientlih durch die Erfahrungen 
de3 gejchichtlichen Staatslebens bedingt. Sie beveutet eine jcharfe 
Reaktion gegen den Anfpruch der herrjchenden Majoritäten, der 
kompetenteſte Richter über alles, legte Inſtanz und oberjtes Tribunal 
in jeder Frage zu jein, eine Neaktion gegen die Anjprüche der 


) 374e: Ovxoöv, mv d’ &y@, How ueyıorov 10 TWv pvAdzwv Eoyor, 
Tovovrw oyoAjs te rWv dAdov nAcioıns dv Ein zul au Teyvns Te xai 
ertuueisiag ueylorns deousvor. 

2) III, 397e: — ovx Eorı dindovs avno rag’ yulv ovde roAkandovs, 
ErteLdn) ExXaoTos Ev Tou@ttei' xTA, 

3) 433a: 70 ra Eavrod nodtrsıv zal um noAunoayuoveiv dixauoovvn 
£otiv. cf. 434b, c. 

*) 427d. 


Pöhlmann, Geſch. des antiken Kommunismus u. Soztalismus, I. 18 


274 Erſtes Buch. Hellas. 


Mittelmäßigkeit und Unbildung, !) gegen die roAvrroeyuoovvn, wie 
fie unter der Herrfchaft des Freiheits- und Gleichheitsprinzipes der 
Demokratie fih breit machte. Cine Neaktion, die nun begreiflicher- 
weije ihrerfeits in der Betonung des gegenteiligen Standpunftes 
joweit ging als nur immer möglich, das Prinzip der Differenzierung 
ebenjo auf die Spibe trieb, wie das der Zentralifation. 

Diefer enge Zufammenhang von Theorie und Erfahrung wird 
von all denen verfannt, welche wie 3. B. Zeller der Anficht find, 
daß Plato die Lehre von der Arbeitsteilung erſt nachträglich zur 
wiſſenſchaftlichen Rechtfertigung jeines Prinzips der Ständegliede- 
rung hinzugefügt habe.?) 

Eine ſolche Anficht ift nur da möglich, wo fich auf Kojten 
der biftorisch-politiihen Auffaflung eine einfeitig jpefulative Be— 
trachtung geltend macht. So erſcheint hier unter den ausjchlag- 
gebenden Entjtehungsmotiven des platonifchen Staatsiveals einer- 
jeitS der rein jpefulative Gedanke, daß durch dieſe Ständeteilung 
der Staat diejelbe Gliederung erhielt, wie fie die Pſychologie Platos 
für die Menfchenjeele, und jeine Kosmologie für das Weltganze an- 
nimmt, andererſeits ein angeblich „plaftiiches Intereſſe, das be— 
grifflih Verſchiedene auch äußerlich) auseinander zu halten, die 
Momente des Begriffes zu Haven und abgerundeten Anſchauungen 
zu verdichten.“ Beſonders dieſem letzten Intereſſe zu Liebe joll 
Plato die verjchiedenen politiichen Thätigfeiten an eben jo viele 
Stände verteilt haben, damit fie ſcharf geſchieden nur ihrer eigen- 
tümlichen Aufgabe leben, „nur diefen bejtimmten Begriff in fi 
darſtellen“ follen. 

Es ift längft bemerkt worden,*) daß, wenn dies richtig ift, 


I) Die Ausführungen Platos leſen fich wie eine Antwort auf die Ver: 
herrlichung der Unbildung durch Kleon bei Thuk. III, 37: 00 de paväAoregoı 
ToVv avdeWnwv nos Tods Evverwregovs Ws Eri TO nAslov dusıvov olxovcı 
Tas nroieıs. 

2) Philojophie der Griechen IT*, 1, 903. 

>) Ebd. 904. 

) Bon Nohle: Die Staatslehre Platos in ihrer gefchichtlichen Ent— 


II. 2. 1. Der platonifche Vernunftftaat und feine Organe. 975 


über Plato als Politiker von vorneherein das Urteil gefprochen 
wäre Eine Staatslehre, für welche der Aufbau der menschlichen 
Gejellihaft nur dazu da wäre, um das Logijche Verhältnis der 
Teile eines Begriffes zu verfinnlichen oder eine Nachbildung der 
Gliederung des Kosmos und der Einzelfeele zu geben, eine folche 
Staatstheorie wäre für ung eine Abjurdität. Sie würde in der 
Geſchichte der Staats wiſſenſchaft wenigjtens feinen Anfpruch auf 
eine ernjtlihe Würdigung erheben können. 

Plato jpricht an den beiden (einzigen) Stellen, auf welche 
ji) die genannte Anficht berufen Tann, von dem Gerechtigfeits- 
prinzip des Staates. Wovon geht aber die Erörterung aus? Etwa 
von der pſychologiſchen Analyje der Seele oder der Ordnung des 
Kosmos? Nichts weniger als das! 

Schon an der erſten Stelle ift der Ausgangspunkt ein rein 
hiftorifcher, nämlich der Gedanke, daß man, um zu erfennen, wie 
Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit im Staate entjteht, fich über die 
Entjtehungsgefchichte des Staates jelbjt klar werden müfje.!) Und 
es wird dann der gejellfchaftliche Differenzierungsprozeß, die Ent- 
ftehung einer gejelljchaftlichen und ftaatlichen Dronung aus dem 
Ergänzungsbedürfnis des Individuums und der Entwidlung der 
Arbeitsteilung abgeleitet. Eine Auffaſſung, welche in genialer Weife 
die Ergebniffe der modernen Sozialwiſſenſchaft vorwegnimmt.?) 
Ebenſo iſt es das Prinzip der Arbeitsteilung und andere rein jozial- 
politiihe Momente, welche an der zweiten Stelle?) für die Frage 
widlung XV. Übrigens ſetzt ſich Zeller ſelbſt mit feiner Auffaffung in Wider: 
ſpruch, indem er ausdrücklich zugibt, daß „die Scheidung der Stände und Die 
unbedingte Unterordnung der niederen unter die höheren jchon durch Platos 
politijche Anfichten gefordert” war. 

!) IT 369a: 40’ ovv, mv d’ Eya, ei yıyvouernv nokMv Heaoaiucsde 





koyw, zei ımv dixaioovvnv avıns Woıuev dv yıyvousrvnv zei ımv adızlav; 
Tag’ av, 0 66. 

2) Bgl. dieſe Ausführungen Platos (369b) 3. B. mit denen Stein 
(Gejchichte der ſozialen Bewegung in Frankreich I, XIX) oder Schmollers 
(Wejen der Arbeitsteilung a. a. O. ©. 48 ff.). 

3) IV, 433a ff. 

18% 


276 Erſtes Buch. Hellas. 


nad) dem Wefen der Staatlichen Gerechtigkeit entjcheivend find. Die 
PBarallelifierung mit der Menfchenfeele erfcheint dagegen als etwas 
Sefundäres, gewiſſermaßen als Probe auf die Richtigkeit der hiftorifch- 
politiichen Nejultate Hinzugefügtes. Sie will nur zeigen, daß das 
für die ftaatlihe Drdnung jchon vorher und auf jelbitändigem 
Wege gefundene!) Gerechtigkeitsiveal feine Richtigkeit eben dadurch 
erweife, daß es auch mit demjenigen Sittlichfeitsprinzip überein- 
ſtimmt, welches al3 die Bedingung einer gefunden ſeeliſchen Kon— 
ftitution, als individuelles Sittlichkeitsideal zu gelten habe?) Die 
Staatslehre wird bier alfo nicht auf die Piychologie begründet, 
ſondern jucht in derjelben nur die Beltätigung ihrer Ergebniffe. 

Es iſt ja allerdings Klar, daß auch jo dieſe Parallelifierung 
eine Verirrung und nur zu geeignet ift, die politiihe Auffuffung 
der Dinge jelbjt zu trüben. Allein wir würden ihr eine über: 
triebene Bedeutung beilegen, wenn wir die jelbjtändige Conception 
diefer politischen Auffaffung leugnen und annehmen wollten, daß 
Nlato Momente, die er jelbit ausdrücklich voranftellt, erſt nach: 
träglich zur Nechtfertigung hinzugefügt habe. 

Davon kann um jo weniger die Rede jein, als die aus dem 
Prinzip der Arbeitsteilung abgeleitete Forderung eines für jeinen 
Beruf, für feine zexvn bejonders vorgebildeten Beamtentums be 
kanntlich bereits von Sokrates aufgejtellt war?) und Plato nur 
die legten Konſequenzen dieſer Forderung gezogen hat. Diejelbe 
it eben recht eigentlich der Nefler deſſen, was fich unmittelbar vor 
den Augen des Denkers abjpielte. So jtarf das doftrinäre Element 
bei Blato überwiegt, die genannte Auffaljung iſt doch wejentlich 
das Erzeugnis der thatfächlichen gejchichtlichen Bewegung, der fie 
fih auf Grund einer kritiſchen Analyje der Lebensbedingungen von 
Staat und Geſellſchaft unmittelbar entgegenftellt. Platos Staat 
it eben, — um das jchöne Wort eines modernen Nechtslehrers zu 


) Das wird ausdrücklich betont 369. 
2) IV, 434d. 
®) Xenophon Mem. II, 7, 5. ef. II, 1, 4. 


III. 2. 1. Der platonifche Bernunftitaat und feine Organe. 20 


gebrauchen,) — nicht ein müßiges Phantaſiegebilde, ſondern ein 
der Wirklichkeit zugewandtes, nach allen Seiten von den Fäden der 
Geſchichte durchwobenes Werk. 

Doch kehren wir zu unſerem Ausgangspunkt zurück! 

Um die genannte Trennung zwiſchen den Organen des öffent— 
lichen Dienſtes, den „Hütern“ des Staates, wie Plato ſie nennt, 
und dem wirtſchaftenden Bürgertum (dem yEvos gonueriorıxov) 
jo vollitändig als möglich zu machen, ftellt er die Forderung auf, 
daß die Erfteren ſogar aus dem Wohnverband mit der übrigen 
Bevölkerung gelöft werden müßten. Eine Forderung, deren Ver— 
wirklihung allerdings dadurch wejentlich erleichtert wird, daß Plato 
bei feinem Berfafjungsentwurf prinzipiell die DVerhältniffe des 
bhellenifchen Stadtjtaates zu Grunde legt. Das geſamte Perſonal 
des Civil- und Militärdienftes mit Frauen und Kindern denkt er 
fieh in einem feiten Lager — ähnlich wie die Spartiaten in der 
Zagerftadt Sparta — auf demjenigen Punkte des Kleinen Gebietes 
fonzentriert, welcher jowohl zur Abwehr auswärtiger Feinde, wie 
zur Beherrſchung der Landesbevölferung am geeignetjten jet.2) 

Freilich ergibt ſich hier alsbald ein Bedenken, dem fich auch 
Plato Feineswegs verjchließt, nämlich die Frage, ob denn dieſe 
vadifale Unterwerfung der mirtichaftenden Geſellſchaft unter Die 
Drgane der Staatsgewalt nicht auch über den beiten Staat gerade 
das heraufbeſchwören würde, was er prinzipiell vermeiden wollte, 
die Gefahr einer ausbeuteriihen Klaſſenherrſchaft. 

Merden dieſe Hüter des Staates, denen die Bürgerjchaft 
völlig wehrlos gegenüberjteht, ſich allegeit nur als die Vertreter 
des Staatsgedanfens, als xmdsuoves rs moAewns?) fühlen und 
der Verfuhung, welche in der Macht liegt, nicht am Ende doch 
erliegen? Werden nicht auch ſie als die Stärferen das Intereſſe 
der Bürgerichaft, das ihrem fouveränen Willen anvertraut ift, 


1) Hildenbrand: Geſch. u. Syſtem der Recht: und Staatsphilojophie 
all. 

2) Aldd. 

3) 412c. 


278 Erſtes Buch. Hellas. 


ſelbſtſüchtigen Negungen nachfegen und zuleßt „Statt Hunden Wölfen“, 
statt „wohlwollenden Verbündeten der Bürger ſchlimmen Feinden“ 
gleichen?“ !) 

Da die Abwehr dieſer Gefahr die Grundbedingung für den 
ganzen Beltand des beiten Staates iſt, jo iſt Plato bereit, der— 
felben mit allen Mitteln (mevri voor) zu begegnen. Er ver: 
folgt den Ideengang, auf welchem fich die Konftruftion dieſes 
Staates aufbaut, mit rückſichtsloſer Kühnheit bis zu den letzten und 
äußersten Konfequenzen. Ex fieht nämlich wohl ein, daß die bloße 
äufßerliche Trennung der ftaatlichen Drgane von den Erwerbs— 
klaſſen noch nicht eine vollkommene innerliche Befreiung von der 
Gewalt der materiellen Intereſſen ſelbſt bedeutet, jolange Die Lebens- 
ordnung diefer Drgane diejelbe ift, wie die der beſtehenden Gejell- 
ſchaft, d. h. wenn auch hier das Inſtitut des Privateigentums, 
de3 Erbrechtes und der Erwerbsfreiheit, ſowie die damit verbun— 
denen Unterjchiede des Beſitzes beftehen und ihre Wirkungen auf 
den Einzelnen auszuüben vermögen. Unter ſolchen Berhältnifjen 
ift nach Platos Anficht an eine vollfommene Emanzipation der 
Negierenden von den Intereſſen des wirtjchaftlichen Güterlebens, 
an eine Unterordnung des Individuums und feiner egoiftilchen 
Triebe unter den Staatszweck nicht zu denken. Solange die Beamten, 
jagt Plato, im Beſitz von Geld, Häufern und Ackern find, ift ftets 
Gefahr vorhanden, daß fie fih mehr als Haus: und Landwirte, 
denn als Verwalter des Gemeinwejens fühlen.) 

Sp verlangt er denn von den Organen feines Staates nichts 
Geringeres als den Verzicht auf das Privateigentum. Nicht 
der Einzelne ſoll von der Erwerbsgeſellſchaft bejoldet werden, 
fondern das gefamte Beamten- und Soldatentum als ſolches; und 
zwar ſoll der jährliche Betrag, den die Erwerbsflaffen zu dieſem 
Zweck in ihren Steuern aufbringen, nicht größer fein, als der 





1 N 3 , ’ ‚ \ PT — — 

) 416b: ovxo0v gviazteov nevri Toonw, un ToLovtoy mulv o Erti- 
zovooı TONOWOL 7IE05 Tovs oAltas, Ereid) aurov xgeiTtoVs Eloiv' dvri 
Evuudywv eVusvov deonorais ayploıs EPouoLwdwWor; 


2) 417a. 


II. 2. 1. Der platonifche Vernunftſtaat und jeine Organe. 379 


Unterhalt der Bejoldeten unbedingt erheiſcht, jo daß „venjelben 
zwar nichts mangelt, aber auch nichts übrig bleibt.”1) Der Sold 
wid in Naturalien geleiltet. Denn mit Geld, mit Gold und 
Silber, das in der Hand der Mafje ſoviel Verruchtheit erzeugt,2), 
jollen die Hüter des Staates nichts zu Schaffen haben. Sie follen 
es nicht unter ihrem Dache dulden, noch ſich Schmudes oder Ge- 
rätes aus edlem Metall bevienen.?) Sie bedürfen auch des Geldes 
nicht, da fie feinen Vrivathaushalt führen, fondern alle ihre Be- 
dürfniffe in gemeinfamen Speifehäufern und Magazinen befriedigt 
finden. Sie entbehren — mit Ausnahme des Notwendigiten — 
allen eigenen Befiges. Nicht einmal Wohnungen haben fie, zu 
denen Anderen der Zutritt verjchloffen wäre.t) 

Aber mit der Bejeitigung des Individualeigentums an den 
Sachgütern find noch nicht alle Quellen der Selbjtjucht verjtopft. 
Es bleibt für fie immer noch ein weites Feld der Bethätigung, 
jolange jene individuellen Nechtsverhältniffe und Sonderbeziehungen 
zwischen Berfon und Perſon bejtehen, welche das Inſtitut der Ehe 
erzeugt. ES bleibt die Möglichkeit einer Zerſetzung und Spaltung 
der Hüterklaſſe durch widerftreitende Familieninterejfen und da— 
mit einer Gefährdung des unentbehrlichen einheitlichen Zuſammen— 


1) 416d. „Nur an Konjummitteln — modern geiprohen — follen 
fie Eigentum haben, nicht mehr an Produktionsmitteln“. Dießel: Bei: 
träge zum Geſch. des Sozialismus und des Kommunismus. Ztſchr. f. Lit. u. 
Gejch. der Staatzw. I, 391. 

2) Albe: yovolov de zwi doyigiov eineiv aurols, Ortı Helov age 
HEov dei Ev 1) Woyn &yovoı zal ovdev rgoodeoyrai Tod avdowneiov, ovde 
001 Tmv Exeivov Know Tn ToV HVnTov yQvooV xıj0&ı Fvuuiyvvvras ulei- 
veıv, diori TTOAAR zul avooıe EOL TO TWv noAAwv voulou« yEyovs, TO ap 
exeivoıs dE axnoarov. 

3) 41T7a: dAAd uovois avrois Twv Ev m noAsı uerayeıpileodaı zul 
nischœts yovooO zul doyvoov ov YEuıs, oVd’ Uno Tov aurov 600Yorv levau 
oudE regiawaodeı ovde iivsıv EE doyvgov 7 XQvooV „ xal ovrW ulv ow- 
Lowwro 7’ av zei oWLoLev ımv nodıv. 

+) 416d: neWrov uev (dei aurovs Inv) ovoiav zextnusvovr undeulav 
undeva idiev, dv un naoa arayan' Ensite olxmolv al tauısiov underi 
eivaı under roovrov, Eis 0 0v us 0 BovAousvos Eioeıoı, 


250 Erſtes Buch. Hellas. 


wirfens der Träger des Staatswillens, der Einheit des Staats: 
willens ſelbſt. 

Damit ift für Plato — ſoweit die dem Staate dienende 
Klaſſe in Betracht fommt — das Urteil auch über die Familie 
gejprochen. Wie hier das Privateigentum und die Individual— 
wirtichaft durch den Gemeinbefiß und die Gemeinmwirtichaft exjeßt 
wird, jo die Familie durch die Frauen und Kindergemeinjchaft. 
Die Frauen, welche nach der Bejeitigung des Yamilienhaushaltes 
einen bejonderen jozialöfonomifchen Beruf nicht mehr zu erfüllen 
haben, jollen in ihrer ganzen Grziebung und Lebensweife dem 
männlichen Gejchlechte gleichgeftellt werden, !) fie jollen im Prinzip 
„allen Männern gemein jein und Feine mit feinem in bejonderer 
Gemeinjchaft zufammenleben.”2) in Zuftand, der übrigens eine 
ſtrenge Negelung des Gejchlechtsverfehrs durch den Staat Feines: 
wegs ausjchließt?) und mit „freier Liebe” nichts zu thun bhat.t) 
Ebenjo jollen auch die Kinder Gemeingut fein, und weder der Vater 
den Sohn, noch der Sohn den Vater Fennen.5) 

Plato hofft, daß die Angehörigen einer jo organifierten 
Körperichaft alle Empfindungen der Sympathie und des Wohl- 
wollens, die unter der Herrichaft von Ehe und Eigentum gewiljer- 
maßen indivivuell gebunden erjcheinen, auf die Gemeinjchaft und 
alle ihre Mitgliever übertragen würden. Mit dem Alleinbejit wir: 
ven auch die allein empfundenen Freuden und Schmerzen aufhören.) 
Wo jeder in dem anderen möglicherweile einen Bruder oder eine 
Schweiter, einen Vater oder eine Mutter, einen Sohn oder eine 
Tochter vor ſich hat,”) wo alle dasjelbe Mein nennen,s) da würde 


) Selbft der höchſte Beruf, der des Negenten, ift ihnen zugänglich! 540c. 
2) 451 f. 

>) VBgl. weiter unten. 

4) Nur diejenigen, welche über das zeugungsfähige Alter hinaus find, 

genießen diejelbe innerhalb gewiſſer Schranten. 461b. 

5) 457. 

6) 464d. 

) 463c. 

8) 462. 


a» 


III. 2. 1. Der platonifche Vernunftftaat und feine Organe. 281 


eine völlige Gemeinjchaft der Empfindungen in Freude und Schmerz, 
eine ungeftörte Harmonie der Intereffen alle miteinander wie zu 
einer einzigen großen Familie verbinden.!) Sie würden wie die 
Glieder des gefunden phyſiſchen Organismus zufammenleben und 
zufammenwirfen im Dienjte des Ganzen, als „echte Hüter” des 
Staates. ?) 

Plato glaubt diefe Wirfung von den vorgeichlagenen Inſtitu— 
tionen um jo eher erwarten zu dürfen, als ex gleichzeitig die ganze 
Hüterflaffe von zartejter Kindheit an durch ein rein ftaatliches Er- 
ziehungsiyftem einer ſyſtematiſchen Disziplinierung und Durchbil- 
dung unterworfen wifjen will, um fie auf das höchſtmögliche Niveau 
der Sittlichfeit und Intelligenz zu erheben. 

Die für den Dienft des Staates Beltimmten werden auch 
ausschließlich Durch den Staat erzogen. Er bemächtigt fich ihrer 
jofort nach der Geburt, indem er die Neugeborenen in öffentliche 
Pflegeanjtalten bringen läßt und zugleich Sorge dafür trägt, dab 
Kinder und Eltern ſich gegenfeitig völlig unbekannt bleiben.?) 

Die Erziehung ſelbſt ift auf eine harmonische Durchbildung 
von Leib und Seele gerichtet, auf die möglichit gleihmäßige Ent- 
widlung aller leiblichen, ſeeliſchen und geiftigen Kräfte.) Um der: 
einjt im Dienfte der Gemeinschaft harmonifch zuſammenwirken zu 
fönnen, müfjen die Einzelnen vor allem mit fich ſelbſt im Einklang 
jein.5) Was Gymnaftif, Muſik, Poeſie, bildende Kunſt in diefem 
Sinne leijten kann und ſoll, wird eingehend erörtert. Ja es wird 
Die ganze Entwicklung der Schönen Litteratur und Kunſt jelbit, da— 
mit fie diefen exzieheriihen Beruf auch thatlächlich erfülle, unter 
die Zenfur des Staates gejtellt. Alles was Verweichlichung, Un- 


1) 462b. ef. 465b: Havraeyn dn €&x TWv vouwv eionvnv noos dAdn- 
dovs ol avdoss d£ovoi; noAkmv Ye. 

2) A64e: ansoyalsraı (sc. TE Eionusve) avrovs aAmFıvoVs pv- 
Aazas zai note um dieonav ımv nolıv. 

3) 460b ff. 

*) 410b ff. Dal. 591b. Ziel ift: 7 Ev To oauerı douovie und 7 
Ev tn Wuyn Evupwrie. 

5) gudouooroı 412a. 


282 Erftes Buch. Hellas. 


fittlichfeit, Unwahrhaftigfeit, Srreligiofität fördern kann, ſoll rück— 
ſichtslos aus ihr ausgemerzt werden.) 

Der Dichter wird fi in dem beiten Staat zum Organ des 
Sittlihen und Guten machen müfjen oder — „gar nicht dichten”.2) 
Ebenfo wird die ftaatlihe Aufficht über Künfte und Handwerke 
dahin wirken, daß an Statuen, Gebäuden und jonjtigen Werken 
alles Unfittliche, Gemeine, Häßliche und Maßloſe vermieden werde. 
Wer das nicht zu leiten vermag, dem foll e3 nicht geftattet jein, 
bier feine Kunft auszuüben, damit nicht die Hüter des Staates 
unter Nachbildungen der Schlechtigfeit, wie bei jchlechter Koft auf: 
gewachlen und davon Tag für Tag in fich aufnehmend unvermerkt 
ein großes Unheil in ihrer Seele erwachjen laſſen. Nur das Schöne 
und Wohlanftändige ſoll duch Kunft und Gewerbe zur Darftellung 
fommen, damit „die Sünglinge, wie an gejundem Orte wohnen, 
aus allem Nußen ziehen, von welcher Seite immer etwas von den 
Ihönen Werken ber in ihr Auge oder Ohr fällt, einem Luftzug 
ähnlich, der aus heilfamen Gegenden Gejundheit bringt, und ſchon 
von Kindheit auf umvermerft fie zur Befreundung und Überein- 
jtimmung mit dem Schönen treibt.” 3) 

Ein Hauptgewicht legt Plato auf die Erziehung zu einer hoch- 
gejteigerten Neligiofität, da er ohne die Mitwirkung jehr ftarker 
religiöfer Triebfedern die von ihm geforderte Hingebung des Indi— 
viduums an den Dienft der Gemeinschaft für unmöglich hält. Bon 
der Anficht ausgehend, daß fittlihe Poſtulate fih am wirkſamſten 


vealifieren, wenn fie zugleich al3 Forderungen religiöfer Überzeugung 

1) Daher der Ausschluß der dramatischen Kunft, die auch das Schlechte 
nachahmt und eine Erregung der Affekte beabfichtigt, der Ausſchluß Homer 
und anderer Dichtungen, welche „unwürdige Vorſtellungen über die Götter” 
verbreiten. Vgl. übrigens, was die dramatische Poefie betrifft, die merkwür— 
digen ganz analogen Auberungen Göthes in den Wanderjahren (im 7. Kap. 
des 2, Buches) in der Schilderung der „pädagogischen Provinz”. 

2) 401b: de’ owv Tois nomrais Nuiv uovov Enioteryreov zal 
AOOG@VAYACOTEOV TNv Tod ayaHod Eixove MYIoVS Eurtoleiv Tols TTOLMUROLV 
7 un neo’ nulv noıeiv, 


3) 40lec. 


III. 2. 1. Der platonifche VBernunftftaat und feine Organe. 283 


auftreten, führt er in das Erziehungsiyitem gewiſſe autoritative 
Slaubensvorftellungen ein, welche — in Form von Mythen — der 
beranmwachjenden Generation eingeprägt werden ſollen, um diejelbe 
mit wahrhaft jozialem Geijte zu erfüllen, die egoiftifchen, antifozialen 
Motive in ihrem Thun und Denken nicht auffommen zu lafjen: 
Da „vie künftigen Wächter des Staates es für ſchimpflich erachten 
jollen, wenn man aus geringer Urſach fich untereinander befeindet,“ 
fo Sollen fie nichts zu hören befommen von den angeblichen Kämpfen 
der Götter und Heroen; man ſoll vielmehr durch geeignete Sagen 
womöglich den Glauben in ihnen erweden, daß jelbit auf Erden 
unter den Bürgern Eines Gemeinweſen wenigitens alle Feindichaft 
Simde fei, ja daß in Wirklichkeit eine jolche Sünde im Staate 
(d. h. im beſten Staat) niemals vorgekommen fei.!) Durch einen 
eigentümlichen Schöpfungsmythus ſoll ferner allen Klaſſen der Be 
völferung, den Negierenden, wie den Negierten die Überzeugung 
beigebracht werden, daß alle Angehörigen des Staates als Kinder 
ein und derjelben Mutter Erde, als Sproſſen des Landes, das 
ihnen zu gemeinjamer Pflege anvertraut ward, untereinander Brü- 
der ſeien.?) 

Plato ſieht wohl ein, daß derartige Vorftellungen vom rein 
indivipualiftiichem Standpunkt aus ſchlechterdings unverſtändlich 
find. Aber er hofft eben von der Kraft des Glaubens, daß fie 
die Mächte der Selbjtfucht überwinden werde. Die Neligion hat 
für ihn diejelbe jozialaufbauende Bedeutung, wie z. B. für Carlyle, 
weil fie den Mittelpunkt, um den fich das Dafein des Einzelnen 
bewegt, aus dem Individuum hinausverlegt und durch den Glauben 
an außerindividuelle d. h. außerhalb des Individuums liegende 
Werte die Fähigkeit entwicelt, Opfer für die Gemeinschaft zu bringen, 
ih in das Leben derjelben einzuordnen. 

1) 378e: dAR Ei ws ueAAousv nelosıv, Ws oldeis Worte noAitns 
 Eregos Er&ow arınyY#ero ovd’ Eorı Tovro doLov, rorwira hexrea uchkov 7rgos 
Te nedie EUFÜs zei YEOoVOL zei yowvoi zul NOEOBVTEOOLS Yıyvouevors, 
xal ToUs nomtas Eyy’s ToVrwv avayzaoreov hoyorousirv. 

2) 4l5a: Eore uev yag dm navres ol Ev rn noAsı adeigpoi, 
WS Ynoousv no0S aurovg wuHohoyovvres. 


254 Erſtes Buch. Hellas. 


Allerdings ſiud es nicht die überfommenen religiöſen Formen, 
von denen er fi) eine genügende Förderung dieſes Prozeſſes der 
Spzialifierung verſpricht; denn fie haben die Herrichaft des Egois- 
mus über das Handeln der Menjchen nicht zu verhindern vermocht. 
Die Abficht Platos, die Hüter feines Staates nicht nur zur Gottes- 
furcht, ſondern „zu möglichiter Gottähnlichkeit” N) zu erziehen, fett 
zu ihrer Verwirklichung eine Berinnerlihung und Vergeiftigung der 
Religion voraus, welche vor allem der Sinnenwelt eine ganz andere 
Stellung anmweift, als die herfömmliche Volksreligion. Die Welt: 
anſchauung, für welche die Sinnenwelt und damit das der Sinnen- 
welt angehörige Individuum einen abjoluten und höchiten Maßftab 
abgibt, joll überwunden werden durch einen Idealismus, welcher 
der Sinnenwelt al3 der unvollfonmenen Erſcheinung eines höheren 
unfichtbaren Seins nur eine bejchräntte, untergeordnete Bedeutung 
zuerfennt und die legten Ziele menjchlichen Strebens weit über das 
Individuum und das flüchtige Exdenleben hinausverlegt. 

Die „göttlichen Ausfichten” (Helaı Fewolaı),?) welche die 
Schöpferfraft einer genialen dichterifchen Phantaſie in dem unver: 
gleichlichen Bilde von der Höhle im fiebenten Buche und in den 
großartigen Spekulationen am Schluffe des Werkes dem „ſterb— 
lichen, dem Tod geweihten Gefchlecht” eröffnet,3) der Hinweis auf 
ein göttliches Strafgericht, welches dem Gerechten im Jenſeits mit 
paradiefischer Seligfeit, dem Ungerechten mit zehnfachen Dualen 
lohnt,t) die Lehre von der wahren überirdiſchen Heimat der für 
unsterblich erklärten Seele, dies alles wird die Gläubigen auf den 
Pfade der Tugend und Gerechtigkeit verharren laſſen, der „Für fie 
im Leben und nad) dem Tode der befte ift,“5) auf dem Wege der 
„mach oben“ Führt, in den Himmel.®) 

1) 388. 

2) 517d. 

3) Hrntov yEvos Favarjyogor, vgl. 61l7e yuyai Epnuegor. 

4) 6l4c. 6lde. 

5) 618e. 


6) Asia nopeie zai ovoavia 619e, vgl. 621 den Schlußfat der rodı- 
teia: aAN dv Euoi neıda usde, voullovres dddvarov ıyoynv xal dvvaryv 


II. 2. 1. Der platonische Vernunftftaat und feine Organe. 285 


Dieſe Glaubenslehre deckt ſich vollfommen mit den Grund: 
gedanken der ivealiftiichen Bhilojophie, welche fich als die Blüte 
des geſamten Unterrichtes im platonifchen Staate darftellt, und deren 
innerliche Aneignung die Bedingung für das Emporfteigen zur 
höchiten Amtsgewalt bildet. Die duch die Jugenderziehung bereits 
entwidelten „richtigen Vorſtellungen“ jollen bei den befähigiten 
Elementen der Hüterklaffe duch eine ſyſtematiſche wiljenfchaftliche 
und philoſophiſche Schulung, welche bis zum Mannesalter (bis 
zum 35. Lebensjahre reicht), auf die Höhe begrifflicher Erkenntnis 
erhoben werden. !) 

In diefer Erkenntnis, deren höchjtes und letztes Ziel das wahr: 
haft Seiende und Ewige, die dee des Guten ift, einer Erkenntnis, 
welche nicht in der Einzelericheinung aufgeht, ſondern ftet3 auch auf 
das Ganze, auf „alles Göttliche und Menſchliche“ zugleich gerichtet 
iſt,) bejigen die zur Herrſchaft Berufenen ein Gut von jo befeli- 
gendem Wert (zzijue 7dv za uaxagıor), daß ihm gegenüber alle 
anderen Intereſſen in den Hintergrund treten. 

Wen „echtes Weisheitsitreben” auf ſolche Höhe des Denkens 
geführt hat, dem kann das Äußere Dafein jo wenig „als etwas 
Großes“ erjcheinen, daß ſelbſt der Tod alle Schreden für ihn ver- 
liert.*) In wejenlojem Scheine liegt das Leben des bloßen Sinnen- 
genufjes unter ihm, überhaupt alles, was die große Maſſe zur ruhe— 
lojen Jagd nach dem Golde jtachelt.5) Denn „wo die Triebfräfte 
der Seele mit aller Macht, einem abgeleiteten Strome gleich, auf 
Einen Punkt hindrängen, da wirken ſie nach allen anderen Seiten 
hin um jo jchwäcer.”6) Darum find diejenigen, für welche die 


ndvra uEv xaxd avkysodaı, navre DE ayadd, TS dvwm Odov dei EE- 
susda zei dixaioovvnv UETE POOVNOEDS avri TOoNW Eritndevoouerv, iva 
zei nulv avroig pihou wuev xal ToIG FE0lG ATA, 

) 5352 ff. 

2) 490b. 486a. 

») 496. 

+) 486a. 

5) 485d, e. 

°) Ebd, 


Erkenntnis das Höchſte ift, zur Leitung aller anderen berufen, weil 
fie allein ein einziges und feites Ziel im Leben haben, welches 
ihrem gejamten Fühlen und Handeln eine abjolut einheitliche Rich— 
tung gibt.!) 

Sie find umſomehr zur Herrichaft befähigt, je weniger gerade 
für fie der Beſitz der Macht Gegenftand einfeitig egoijtiicher Gelüſte 
jein fann. Sie haben ja den unausjprehlichen Reiz eines „beſſe— 
ren“ Lebens fernen gelernt, in welchem fie fi jchon auf Erden 
nach den Inſeln der Seligen verjett glauben.?) Was Fünnte fie 
bejtimmen, von den reinen Höhen der Forihung und Erkenntnis) 
binabzufteigen in das Dunkel eines „Ichlechteren“ Lebens?) Wenn 
fie es — im beiten Staat — troßdem thun, jo thun fie es nur 
notgedrungen 5) und gehorjfam dem Gejes, jowie in der Erfüllung 
der Dankfespflicht, weldhe fie dem Staate als ihrem Erzieher ſchul— 
den, dem Staate, der fie „zu ihrem und des Staates Frommen 
wie in Bienenftöden zu Weijeln und Königen beranbilden ließ.“) 

Indem jo die Ausübung der oberften Regierungsgewalt in 
die Hände von Männern gelegt wird, für welche diejelbe grumd- 
ſätzlich ein Amt und eine Pflicht ift, ericheint auch die Verwirk 
lihung des Staatszwedes durch die Träger der Staat3gewalt ge 
ſichert.) Die Idee des Staates hat einen Ausdrud gefunden, in 
welchem jie über alle Intereſſen erhaben daſteht. 

Hier gibt es daher auch feinen Kampf mehr um die poli- 
tiihe Macht, wie er daS Leben des wirflihen Staates vergiftet, 
in welchem blinder Wahn „um einen Schatten kämpft und über 
die Herrſchaft fich entzweit, als ob diefe ein hohes Gut wäre.“®) 


286 - Erftes Buch. Hellas. 


!) 519e: ... oxonör &r to Bio ... Eyovsır Eve, ov oroyaLousvovs 
dei änerre nodtreıv, & Er nocrrwoiv idie TE xai dnuocie zu. 
2) 519e. | 


) Wo fie && ro xadaos verweilen. 520d. vgl. 500b. 
*) 519d vgl. 500e u. 520b, c. 

5) ws En’ avayxaiov 520e. 

6) 520b. 

) 52la u. 521b. 

°) 520, 


— 


III. 2. 1. Der platoniſche Vernunftſtaat und ſeine Organe. 287 


Hier herrſchen in Frieden die Repräſentanten des wahrhaften Reich— 
tums, nicht des Goldes, jondern desjenigen Reichtums, der für das 
Glüd unentbehrlich ift, der Sittlichfeit und Vernunſt,) während dort 
„Bettler und nach eigenem Nuten Hungernde ſich auf den Staat 
werfen, in der Meinung, von ihm das Gute erbeuten zu müfjen“, 
und jo den inneren Kampf entzündend ſich und ihre Mitbürger 
zu Grunde rihten.?) 

Statt der „Träumenden“ herrichen hier die „Wachenden”,3) 
ftatt der „zur Gemeinichaft Untauglichen“, Antijozialen (dvo- 
zowornto)*) die wahrhaft jozial Gejinnten (of gılomokıdee), 
ftatt der jittlih und geiftig Unreifen die durch „Unterricht und 
Alter zur Vollendung Gelangten” (Te/sımFeis naıdeig Te zei 
nAızie)d). An Stelle der Blinden, deren Geifte überhaupt fein 
deutliches Urbild der Dinge (Evaoyts magadsıyue) innewohnt, 
find bier die Wiſſenden getreten, welche den Staat nad) jeinem 
göttlichen Mufterbild (FElov eoadeıyue)®) zu formen verftehen, 
diejenigen welche allein im Stande find, an alles Gegebene den 
Maßſtab der Idee anzulegen und die Wirklichkeit ideengemäß zu 
geitalten. Denn fie haben das Höchſte, die fittlihe dee geſchaut 
(t7v Tov ayayor ideav, ueyıorov nasynne),‘) welche den bleiben- 
den Mittelpunkt alles jozialen und politiihen Denkens und Handelns 
bilden ſoll. 

AN dies hat Plato im Auge, wenn er es auszufprechen 
„wagt”, daß im beiten Staat die treuejten der Hüter zu „Weis: 


1) 52la: & uovn yao aurn @pkovemw oi To oyrı nkovanoı, 0V ygv- 
iov, dAR ov dei töv evdeiuore Aovreiv, [wis ayadıjs TE zai Euggovos. 

2) Ebd.: ei de nrwyoi xai neiıvovres ayasov idiwv Eni Ta dmuocıe 
iaoıy, Evreidev oiouovor Tayasov deiv condlsw, oVx Eotı' MEDLU«YNTor 
Yao TO Goyeiv yıyvöusvor, oixeios wv xal Evdov 6 rorodzos nolsuos av- 
Tovs Te anokkvoı zei ımv Ally nohır. 

) 520. 

4) 486b. 

5) 487a. 

6) 500e. 

”) 505. 


988 Erſtes Buch. Hellas. 


heitsfreunden” (yeAocogor) gebildet werden müßten,!) und daß 
die Staaten der Wirklichkeit exft dann von ihren Übeln exlöft 
werden würden, wenn die „Philoſophen“ in ihnen zur Herrfchaft 
famen.?) Allerdings werden es immer nur Wenige jein, welche 
ſich auf eine ſolche Höhe der Intelligenz und idealer Geſinnung 
zu erheben vermögen, wie fie hier von den oberiten Lenfern des 
Staates verlangt wird,?) allein die Zahl der zur Negierung Ge— 
langenden ift fir Plato gleichgültig. Mag die Negierungsform 
eine monarchiſche!) oder eine ariftofratiiche (im beiten Sinne des 
Wortes) fein, wenn es nur gelingt, durch eine jorgfältige Auslefe 
wirklich die beiten Männer an die Spige zu bringen. 

Zu diefem Zwed hat fich die heranwachjende Generation der 
Hüterklaffe einer Neihe von Prüfungen zu unterwerfen, die neben 
geiftiger Begabung und wiſſenſchaftlichem Fortſchritt ganz bejonders 
die Charakterentwidlung des Individuums ins Auge faſſen. Alle 
diejenigen, welche nicht in den niederen Stellungen des Verwaltungs- 
und Militärdientes zurückbleiben wollen, müſſen ſich Durch ftrenge 
wiſſenſchaftliche Studien zu einer Höhe der Bildung, zu einer har— 
monifchen Geſamtanſchauung der Dinge erhoben haben, die fie 
befähigt, ftetS auch) ven allgemeinen Zuſammenhang alles Einzel- 


1) 503b: vor de roüro uEv TEeroAunosw Elneiv, OTL ToÜg dxoıßeore- 
tovs pvAaxas Yıkooopovs der xadıoravat. 

2) 487e: 00 n1007800v zuxWv navoovraı wi noAgıs oliv adv Ev av- 
tais oi pılooogpoı do£woıv. 

5) Hohır. 293a: Enousvov dE oluaı Tovrw Tv uev 0gdMv doymv 
neol Eva Tiva zei Ivo zei navrenaoıv oAlyovs deiv Snteiv. „Unter taujend 
Männern brauchen noch nicht fünfzig Staatsmänner zu ſein“ 292e ff. vgl 
297e f. Gorgias 521d f. 537 f. 

4) Überragt ein Einzelner alle Anderen, jo ſoll er König fein. 
445d: Eyysvousvov uEv Yao avdoos Evös Ev Tolg Goyovoı dıiapegovros 
Baoıkeia av xAmyein, nAsıovov dE aoLoToxgarie. — 

Bol. das Lob der (wahren) Monarchie 5760: zei djAov navri, oT 
Tvoavvovuevns (noAsws) uLv ovx Eorıv a9Aımreoa, Baoıhevoutvns dE ovVx 
evdauuoveoreg«. 506b: evxovv nulv 7 nolıreia navreAog KEX00UMoETE«L, 
EQv 6 TOL0ÜTos airnv Errioxonn pVheE 6 Tovtwv Erriormuwv; Allerdings 


wird die Philofophenherrichaft überhaupt als ein Baorkevewv bezeichnet. 473d, 











IT. 2. 1. Der platonifche Vernunftftaat und feine Organe. 989 


wiſſens klar zu erfaffen. Sie müſſen andererſeits durch die ent- 
ſchiedenſten Proben von Charafterfeftigkeit und DOpferfähigfeit dem 
Staate eine Bürgſchaft dafür gegeben haben, daß fie ihr ganzes 
Leben hindurch) das Wohl des Ganzen zur leitenden Norm ihres 
Handelns machen werden.!) „Weit jorgfältiger als Gold im Feuer 
geprüft” müfjen ſie gezeigt haben, daß nichts auf der Welt, nicht 
Gewalt, noch Trug, noch Begierde fie jemals in ihrer Hingebung 
an ven Staat wanfend machen könne.?) 

Die aljo Erprobten treten mit fünfunddreißig Jahren in die 
höheren Ämter der Nerwaltung und des Heerweiens ein, um fich 
jene umfafjende praftiiche Erfahrung und Tüchtigkeit anzueignen, 
welche auch nach Plato für den Staatsmann unentbehrlich ilt.>) 
Diejenigen aber, welche ſich hier in jeder Hinficht den Forderungen 
der Praxis gewachjen gezeigt, jollen an der Schwelle des Alters 
— im fünfzigiten Lebensjahre — dem „letten Ziele zugeführt” und 
veranlaßt werden, ihr geiftiges Auge emporzurichten zu dem, was 
Allem Licht verleiht. Sie jollen die Muße erhalten, ſich in die 
Welt der Begriffe zu verjenten, voll und ganz das zu erkennen, 
was in allem Wechjel des Einzelnen das ewig Bleibende, Allge— 
meine, daS von dem Zufall der Erſcheinung abgelöfte wahre Wejen 
der Dinge ift. Zugleich ſoll ihnen die Macht zu Teil werden, nad) 
diefem höchſten Maßſtab, den ihnen die begriffliche Erkenntnis, die 
Einfiht in das „an fi” Gute“ an die Hand gibt, alles jtaatliche 
und individuelle Leben zu geftalten.*) 





1) Al2d: ExAsxreov do’ &x TWv dAkmv pvAdzwv Tolovrovs dvdoes, 
ol dv 0xXonoVow „7ulv udlore Yaivoryraı nage navre Tov Bloy, 0 usv 
av ın noAsı nynowovraı Evugeoeiv, ndon noosvuie noteiv, 6 d’ av un, 
undervi roonw nocaı dv EIEleıv, 

2) 412e. Dal. 413d. 

3) Die „Philofophen”, die Plato zur Herrichaft berufen wiſſen till, 
find aljo geſchulte Praktiker, keineswegs bloß Männer der Theorie. Sie 
ftehen an Erfahrung (Eurreigie) hinter Keinem zurüd. A84d. Dies darf 
man nicht außer acht lafjen, wenn man die platoniiche Philofophenherrichaft 
mit der der „Gelehrten“ bei Fichte oder St. Simon vergleicht. 

») 540a. 


Pohlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 19 


290 Erſtes Buch. Hellas. 


Zu dem Zweck dürfen fie zwar fortan den größten Teil ihrer 
Zeit der Erkenntnis widmen, allein gleichzeitig wird ihnen die Ver- 
pflichtung auferlegt, in periodifchem Wechſel wenigſtens vorüber: 
gehend die oberfte Leitung des Staates zu übernehmen, wenn die 
Reihe fie trifft, ich „der Mühjfeligfeit der Staatsgefchäfte zu unter- 
ziehen.”1) Die Macht, die fie ausüben, ift eine abjolute. Sie 
find die eigentlichen „vollfommenen Hüter” (pviaxes mwavrekeic 
relesoı) de3 Staates, ihnen gegenüber alle Standesgenofjen nur aus— 
führende Organe, „Helfer und Förderer des Willens der Herrſcher,“ 
(Ertixovool ve ai BonFoi Tvois Tov aoxovrav doyuaoıy),?) wie 
diefe jelbft nur Werkzeuge der Staatsidee fein wollen. So offen- 
bart fich in allen Drganen des Staates die hohe fittliche Idee, für 
welche fie bejtehen und funktionieren; fie ift als allgegenwärtiges 
und allbeftimmendes Prinzip in allen Handlungen der öffentlichen 
Gewalten wirkjant. 

Sp unerjchöpflih nun aber auch die Fülle jittlicher und 
geiftiger Kräfte erjcheinen mag, welche durch den gejchilderten Er: 
ziehungs- und Bildungsprozeß entwidelt werden joll, — Eine Sorge 
bleibt noch vor dem weitfchauenden Geifte des Denkers beitehen: 
Wird fich diefe mühlam errungene Summe von Kräften auch uns 
geſchwächt erhalten oder jpäteren Generationen wieder verloren 
geben ? 

Obgleich die ideale Beamten: und Kriegerklaſſe als Ganzes 
genommen eine Elite darftellt, die unvermeidlichen Gradunterfchiede 
in der Tüchtigfeit der einzelnen Individuen find doch auch bier 
feineswegs geringe. Wie nun, wenn die für die höchiten ftaat- 


1) 540b. 

2) 414b. Sie find auch deren Schüler. Dal. den Schlußſatz der 
Grörterung über die Träger der Negierungsgewalt, der für die ganze Stellung 
derjelben bezeichnend ift 540b: „Nachdem fie immer wieder Andere zu jolchen 
Männern herangebildet und an ihrer Statt al3 Hüter des Staates zurüd- 
gelafjen, mögen fie nach den Inſeln der Seligen von dannen ziehen, um dort 
ihre Heimat zu finden, der Staat aber ihnen, wenn der Pythia Spruch dem 
beiftimmt, als Halbgöttern, wo nicht als Götterlieblingen und Gottähnlichen 
Denkmäler und Opfer weihen.“ 


I. 2. 1. Dex platonische Vernunftftaat und feine Organe. 991 


lichen Aufgaben befähigten Talente fich nicht in der nötigen Anzahl 
reproduzieren, dagegen ein unverhältnismäßig großer Anteil der 
Vermehrung auf die minder begabten Clemente trifft? Ein Er: 
gebnis ganz unvermeidlich bei einer Menſchenklaſſe, welche durch 
den Kommunismus der Sorge um das tägliche Brot vollkommen 
überhoben ijt, in welcher daher auch die auf die Werminderung der 
geringerwertigen Individuen hinwirkende Tendenz des Dajeins- 
fampfes von vorneherein fehlt. 

Nato jtand hier einfach vor der Alternative: entweder der 
von den äußeren Zufälligfeiten der Fortpflanzung drohenden Ver— 
ſchlechterung der „für das Gemeinwejen bejtimmten” Klaſſe ihren 
freien Lauf zu laſſen und damit auf die Dauerhaftigkeit feiner 
Staatlichen Schöpfung von vorneherein zu verzichten oder aber — 
die Fortpflanzung ihres zufälligen und rein individuellen Charakters 
zu entfleiven. So abjtoßend für unjer Empfinden die Konſequenzen 
find, zu denen man auf leßterem Wege notwendig gelangen muß: 
die jtaatliche Regelung der Fortpflanzung durch die bewußte und 
fünftliche Auslefe oder Zuchtwahl, — bei Plato konnte feine Nede 
davon fein, daß er auf eine Forderung verzichtet hätte, welche ſich 
aus jeinem ganzen Syjtem mit logiicher Folgerichtigkeit ergab. 

Tach feiner Anficht ift ſchön und gut, was dem Staatszwece 
nüßt, unfittlicp und häßlich nur das, was denjelben jchädigt.!) 
Denn der Staatszwed ift ja das Glüd und, weil das Glüd, au 
die Sittlichfeit Aller. Wie fünnte alfo das, was diefem Zwecke 
dient, der Sittlichfeit widerftreiten? Allerdings fordert es auch ein 
großes, nach unferem Gefühl zu großes Opfer an Freiheit und 
Selbſtbeſtimmung. Allein gibt es für den Beamten und Soldaten 
des Bernunftftaates, das unbedingt ergebene Drgan für die Durch: 

) 70 uev wpelıuor xuhov, To dE PAaßeoov aioyoov 457b. Wir 
haben hier, nebenbei bemerkt, bereits eine Formulierung des Syſtems des 
gejellfhaftlihen Utilitarismus vor ung, wie es in einem ganz ana= 
logen Sat von Leibnig zum Ausdrud kommt (omne honestum publice i. e. 
generi humano et mundo utile, omne turpe damnosum), und wie es neuterz 
dings Ihering eingehend zu begründen unternommen hat. (Der Zweck im 


Recht II 158 ff.) a 


393 Erſtes Buch. Hellas. 


führung des Staatszwedes, irgend ein Opfer, welches gegenüber 
diefem Zweck ein zu großes wäre? 

Übrigens widerſprach ja dem Empfinden des antiken Menjchen 
ein Zwang gerade auf diefem Gebiete nicht in dem Grade wie 
unferem modernen. Der Hellene war gewöhnt, jelbjt die Ehe — 
als das Snftitut, welches dem Staate Bürger zu geben hat — 
unter einem rein politiichen Gefichtspunft zu betrachten;!) und es 
ift nur die äußerſter Konfequenz diefer Auffaffung, wenn der befte 
Staat, der, um der befte zu fein, fich auch feine Organe felbft 
ichaffen zu müſſen glaubt, den Anſpruch erhebt, durch eine plan- 
mäßige Negelung des Fortpflanzungsgejchäftes fich die ftetige Wieder: 
erzeugung der für feinen Dienft geeignetiten Individuen dauernd 
zu jichern. 

Sp legt denn der Vernunftſtaat feinen Dienern d. h. Beamten 
und Soldaten die Verpflichtung auf, ſich bei der Erzeugung der 
„für das Gemeinwejen bejtimmten Kinder“ an die Altersgrenzen 
zu halten, welche nach feiner Anficht die ficherite Bürgichaft für 
einen tüchtigen Nachwuchs gewähren.?2) Er verlangt von ihnen 
den Verzicht auf die Ehe d. h. auf freiwillige und dauernde Ver— 
bindungen, und die Unterwerfung unter die fünjtlichen Veranftal- 
tungen, durch welche die Staatsgewalt für jeden einzelnen Fall 
die Einzelnen zufammenführt, obgleich dabei rückſichtslos nach den 
züchterifchen Grundſätzen der individuellen Ausleje’) die tüchtigften 
Individuen vor den minder Tauglichen bevorzugt werden.t) Prinzip 








1) Vgl. 3. B. die fpartanifchen Chegebräuche, die um die Erhaltung 
der Familie zu fichern, im Unvermögensfalle des Mannes den monogamijchen 
Charakter der Ehe unbedenklich preisgeben. Xen. Rep. Lac. I, 7 ff. 

2) Die Zeugung darf weder in zu jugendlichen noc in zu hohem Alter 
erfolgen. 459a ff. 

3) Plato beruft ſich ausdrüclich auf die Analogie der fünftlichen Tier: 
züchtung 459a. 

4) Allerdings jollen die Mittel, durch welche die Regierung dies er 
reicht, das Geheimnis derjelben bleiben. Die Zuteilung der Frauen joll durch 
eine „ſchlaue Verloſung“ erfolgen, welche den Anfchein der Unparteilichkeit 
erweckt. 


III. 2. 1. Der platonische Bernunftftaat und feine Organe. 993 


ilt, daß „die Belten jih am häufigſten mit den Beften verbinden 
und umgekehrt die Schlechteften nur mit den Schlechteften.” Die 
Tüchtigjten jollen eine möglichit zahlreiche Nachfommenfchaft er— 
zeugen, weshalb z.B. allen denen, welche im Kriegs- oder Friedens: 
dienſt ſich hervorgethan — zugleich als Belohnung — eine „häufi— 
gere Begünftigung des Beilagers” zu Teil wird. Sa die Grund: 
ſätze der Zuchtwahl werden jo ftrenge durchgeführt, daß die Kinder 
der minder tüchtigen Individuen von vorneherein als außerhalb 
der Klafje ihrer Eltern ftehend behandelt werden. Sie follen ebenso 
wie etwaige gebrechliche Kinder ihrer tüchtigeren Standesgenofjen 
„bei Seite gejchafft werden“.) Ferner follen alle Früchte einer 
von der Obrigkeit nicht angeordneten Verbindung abgetrieben, oder, 
wo das nicht möglich, jo behandelt werden, als „ſei für ihre 
Auferziehung fein Platz vorhanden;“2) d. h. — wie Blato felbjt 
jpäter zur Erklärung hinzugefügt hat, — alle diefe von der Er- 
ziehung für den Staatsdienit ausgejchlojfenen Kinder jollen auf dem 
Wege heimlicher DVerteilung in der übrigen Bürgerfchaft unter: 
gebracht werden.?) 

Indem jo Generationen hindurch immer wieder Diejenigen 
Individuen zur Nachzucht gewählt werden, welche die durch ſyſte— 
matische Erziehung und Disziplinierung entwidelten Charaftereigen- 
Ichaften in hervorragendem Maße bewähren, den anderen dagegen, 
welche ſich den höchſten Staatszwecden weniger anzupafjen vermögen, 
die Vererbung innerhalb des Standes verjagt bleibt, werden die 
dem Staatszwed angepaßten Eigenjchaften der Elite des Soldaten- 
und Beamtenjtandes nicht nur erhalten, ſondern dur) Häufung 


) 460c dal. 459e. 

2) 46le. 63 joll eben die naheliegende Gefahr einer zügellofen ge 
jchlechtlichen Vermiſchung möglichſt verhütet werden, indem jeder nicht legalt- 
fierte gefchlechtliche Umgang als „Sünde“ gegen den Staat verboten wird. 
Kinder, twelche unter Übertretung des Sernalfoder gezeugt find, heißen „eine 
Frucht der Finfternis und Schwerer Unkeuſchheit“ (461a). 

) Timaeus 19a. Darnach bejtimmt jich auch der Sinn von Rep. 459e- 
Von einem Förmlichen „Ausſetzen“ der Kinder nach jpartanischem Borbild, 
wie es 3. B. noch Zeller annimmt, ift nicht die Rede. 


994 Erſtes Buch. Hellas. 


fo jehr gefteigert, daß Plato an demjelben eine „Herde von mög- 
lichſter Vollkommenheit“ zu erhalten hofft. 

Aber auch noch in anderer Beziehung kommt dieſes Syftem 
dem Beftande der Klaſſe zu Gute. Indem es die Fruchtbarkeit 
derjelben der Willkür des Einzelnen entzieht und fie ſtets mit Den 
gegebenen Verhältniſſen auszugleichen fucht, begegnet es zugleich 
der Gefahr eines alu ftarfen Angebotes von Kräften, für welche 
der Staat feine Verwendung bätte.?) Und diefe Gefahr ift ja 
hier eine befonders große, wo der Kommunismus nicht nur Jedem 
für fi volle Verforgung gewährt, jondern ihm auch die Fürjorge 
fie den Unterhalt feiner Nachkommenſchaft gänzlich abnimmt. Eine 
ſolche folidarifch verbundene Gefellichaft könnte überhaupt nicht bes 
ftehen, wenn fie der Vermehrung ihrer Mitglieder Feine Schranke 
jeßen und es als ein Ur und Grundrecht der Bürger anerkennen 
wollte, die Gemeinfchaft mit einer beliebig großen Zahl von Spröß: 
lingen zu belaften. 

Sp find denn auch hier die Vorjchläge Platos, jo verwerf 
lich fie für unfer Gefühl erſcheinen, aus den vorausgefeßten Zu— 
ftänden mit ftrengfter Folgerichtigfeit entwickelt; Für diejenigen, 
welche die Vorausfegungen annehmen, find fie logisch unabweis- 
bar. Eine andere Frage ijt freilich die, ob all das, was Plato 
fi von ihrer Durchführung verspricht, auch wirklich eintreten 
würde! 

2. 
dns Bürgerkum. 

Zu der Ausführlichkeit der Darftellung, welche Plato dem 
Soldaten und Beamtentum widmet, fteht in eigentümlichem Gegen- 
jaß die Kürze, mit welcher er über die Lebensordnung der Erwerbs— 
geſellſchaft hinweggeht. 

!) noiuvıov 6 tı axoorerov. 459e. 

°) 460a: To de nAndos TWv yauwv Erti Tols doyovoi TToImoouer, 
iv’ ws udhore diaoWLwoı Tov avrov agıyuov Tov avdowr, oös roAguovg 
TE xOL VOOOVS XML TIÄVTE TE TOLRÜTE ÜITOGKONOUVTES, Kal umte ueyahn 
yuiv 7) nolıs zera To dvrarov umte ouıxga yiyrnraı. 











III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 395 


Man hat darin feit Ariftoteles eine Lücke des ganzen poli- 
tiichen Syſtems fehen wollen‘) und die bereits bei Arijtoteles 
ziemlich deutlich ausgejprochene Vermutung daran geknüpft, als fei 
Plato vor den Schwierigkeiten zurückgeſchreckt, welche dieſe Frage 
einer ſyſtematiſchen Behandlung entgegenftellt.2) 

Kun ift es ja allerdings richtig, daß Plato nähere An: 
weilungen für die Drdnung des Wirtichaftslebens im Sdealjtaate 
nicht gibt, während ex in feinem der Wirklichkeit mehr angenäherten 
Drganijationsentwurf des „Geſetzesſtaates“ einen ausführlichen Plan 
für die ftaatlihe Negulierung der geſamten Volkswirtſchaft dieſes 
zweitbejten Staates ausgearbeitet hat. Auch ijt es, wie wir jehen 
werden, nicht zu leugnen, daß Plato ſelbſt nicht zu einem ab- 
Ichließenden Urteil darüber gelangt ift, wie und in welchem Um: 
fange in der Praris das zu verwirklichen jet, was ihm als das 
Ideal einer Wirtfchaftsordnung des beiten Staates vorjchwebte. 

Troß alledem ift es jedoch nicht berechtigt, daraus eine „Lücke 
des Syſtems“ zu konſtruieren. Plato jelbft hat nämlich dieſen 
Vorwurf ſehr wohl vorausgejehen und fich daher jo klar und be: 
jtimmt wie möglich darüber ausgeſprochen, warum ev in dem 
Entwurf des idealen Vernunftſtaates auf detaillierte Vorſchläge nach) 
der genannten Seite hin verzichtete. 

Er hat ein lebhaftes Gefühl dafür, daß gegenüber der uns 
endlichen Mannigfaltigkeit, Verſchlungenheit und Wandelbarfeit der 
gejellfchaftlichen Zuftände, gegenüber dem nicht minder verjchieden- 
artigen und wandelbarem Menfchengemüt alle pofitive Satzung nur 
einen relativen Wert beanspruchen kann. Nach feiner Überzeugung 
it es immer mißlich, das Leben durch ftarre Regeln meiltern zu 
wollen, welche überall und immer Geltung beanfpruchen. Denn 
fein Gefeßgeber fei im ftande, genau im Voraus zu bejtimmen, was 
„für alle das Befte und Gerechtefte” ift, und „indem er allen ins— 


) Noch Zeller ift diefer Anficht II, 1, 907. 
2) Ariftotleg Pol. II, 2, 11”. 1264a. 
3, Modır. 294b: ... vöuos ovx dv note dvraıro To TE dgLOToV Kai 


10 dizoraerov dxgeıßos lu ndoı nepikeßev 1o Pehriorov Enuirdrrew' ai 


296 Erſtes Buch. Hellas. 


gefamt Vorfehriften gibt, genau jedem Einzelnen das ihm An— 
gemefjene zuzuteilen“. Als ein Einfaches, welches feinem Weſen 
nad) niemals mit dem Komplizierten ſich decken wird,?) könne das 
geſchriebene Gejeg — zumal auf dem Gebiete des jo verwidelten 
wirtjchaftlichen Verkehrsrechtes — nur mit „groben Durchichnitten“ 
rechnen,?) niemals wirklich genügend auf das Individuelle eingehen. 
Die Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit, wie fie in denkbar 
idealfter Weife der Vernunftitaat bezweckt, wird daher dem pofitiven 
Recht immer nur innerhalb enger Grenzen möglich fein. Es gibt 
fein formales Necht, welches nicht um den Preis teilweifer mate- 
rieller Ungerechtigkeit erfauft wäre. 

Von diefem Geſichtspunkte aus erſcheint die Unterwerfung der 
Negierenden unter das gejchriebene Geſetz nur als ein Notbehelf, 
welcher unentbehrlich ift, um das Intereſſe der Regierten gegen 
deren Unverſtand oder Egoismus zu hüten.) Wie aber, wenn 
die Negierung aus Männern bejteht, bei welchen es eines jolchen 
Schutzes nicht bedarf, „wahrhaften Staatsmännern”, welche der 
„königlichen Wiſſenſchaft“ (ertorjun Baoıkızı,) voll und ganz 
Meifter find? Sollen ihnen die Feſſeln (Eurrodisuere) gejchrie- 
bener Satzungen angelegt werden, welche der praftifchen Verwirk— 
lichung ihrer höheren Einficht überall Hindernd und ftörend in den 
Weg treten, einer Einficht, die fich bei freier Bethätigung notwendig 
bejjer bewähren muß, als alles Gejeß? 5) 
ydo dvoumorntes TWV TE AYIOWNWV zei Tov nodsewv zei Tod unmdenote 
undev, os Eros eineiv, Novylavr dyeıv TWov dvd9gwnivav oVdEv Euoıww 
dnhovv Ev ovderi negi dndvrwv xal Eni ndvra Tov Xg0vov anopaiveodaı 
teyvnv oVd’ nvrivovv. 

1) 2952. 

2) 294c: oVxodv ddvarov EV &ysır nno0s Ta umdenore ankd To did 
navros yıyvousvov arhovv; xzıvdvvevet. 

3) rayitegov ... ds Eni To old xai Ei noAlovs 294e. 

‘) Ebd. 3008 ff. 

5) Val. das berühmte Bild dom Steuermann ebd. 297a: woreg 6 
zuBegvnems 10 Tijs veos zei vevrov dei Evuploov nagapvkdrıov, or 
yoduuara tıdeis aAAd Tmv Teyvnv vouov nageyouevos, OWLEı Tovs ovV- 





III. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftftaate Platos. 2397 


Es iſt nur die einfache und unabweisbare logische Konſequenz 
dieſer bereits in dem Dialog über den „Staatsmann“ d. h. das 
wahre Königtum entwicelten Auffaffung, wenn Plato darauf ver: 
zichtet, den Negenten jeines Idealſtaates über die Art und Weife, 
wie fie zu regieren hätten, „viele und weitläufige” (oA xai 
meyaie) Borjchriften zu machen.) Er ift ja überzeugt, daß die 
von ihm vorgefchlagene Erziehung und Drganifation des Beamten: 
tums dem Staate eine Negierung verbürgt, welche das denkbar 
höchſte Maß praktiſcher Erfahrung und theoretischer Erkenntnis in 
ſich verförpert, ein höheres jedenfalls, als es der bloße Theoretifer 
für ih in Anfpruch nehmen konnte. Er würde alfo mit feinen 
eigenen Anſchauungen über das Verhältnis der echten Staatsfunft 
zum gejchriebenen Gejeß in Widerjpruch geraten fein, wenn er es 
„gewagt“ hätte, einer jo vollfommenen Regierung, welche „in den 
meijten Fällen“ die notwendigen gejeßlichen Vorſchriften leicht ſelbſt 
finden werde,2) für alle Zukunft die Hand zu binden. Nicht die 
tote, gegenüber der raftlojen Bewegung des Lebens ftarı ſich gleich: 
bleibende Satzung joll die Grundlage der im Vernunftftaat zu 
verrirklichenden idealen Gerechtigkeit fein, ſondern die lebendige, 
aus dem ewig friſchen und unerjchöpflichen Born praftifcher Er: 


VEUTOS, OVUTW XUl KALTE TOV aUTOV TE6NOV TOVToV IROE TWV 0VTWS doyeiv 
dvvausvov 0097 yiyvon’ dv nolıreie, mv Ts Teyvns Öwunv tov vouwr 
NEOEKOUEVOV KOETTO; Xi NEvTa moL0Ö0L Tols Eupoooıv Eoyovaıv 0Vx 
Eotıv ducgrnua, ueyoı neo dv Ev ueya pvAdrrwoi, TO uErd vov zei 
teyvns dizawrarov «si diaväuovres Tols Ev ın noAsı, OWwLeıw TE avrous 
oloi TE WOoL zei dusivovs &x yeıpovav anorshtiv zard 1ö dvvarov; 

!) Rep. 423d. 

2) 425d: ti de, @ no0s Yewv, Eypyv, rede Ta dyogalia Evußokaiov 
Te regL zart’ ayogav Exaoroı & noös ahkmhovs Evußaihovoıv, &i de Boväkı, 
zei yeıoorsyvızov neol Erußokeiov zei Aowdopıwv za aizlas zei dızav 
Anfews xai dIXaoTWV zaraotdoews, zul Ei nov TeADv TIves ı) nodgeıc 7 
HEoEIS dvayxalol Eioıy n xat’ ayooads n Auusvas, 7 xal TO naganav dy000- 
vouıxd dıra 7) dotvvouxd 7) Ehhuuevixd 7) 000 dia ToLadre, Tov- 
Twv rolumsouev rı vouossreiv; AAN ov2 dEiov, Eypn, avdodoı zahois 
zadyadois Enırdrreiv‘ TE nolld yco wvınv, 00a dei vouoseryoaodet, 
dadims tov EVoNoovEıv. 


298 Erſtes Buch. Hellas. 
fahrung und wiffenschaftlicder Erkenntnis jchöpfende Weisheit feiner 
leitenden Staatsmänner. 

Durch diefe Anſchauung iſt es prinzipiell ausgeſchloſſen, daß 
der Entwurf des Idealſtaates ſich, „wie man vielleicht erwarten 
mag,“i) auf Detailvorſchriften über Fragen der Wirtſchaftspolitik 
u. dgl. m. einläßt. 

Man fieht wie gründlich man Plato mißverftehen würde, 
wenn man mit Zeller annähme, daß Platos Idealſtaat die Erwerbs— 
ftände „durchaus fich ſelbſt überlafje”.2) 

Eine ſolche Auffaffung ift nur möglich, wenn man die 
Stellung der wirtjchaftlichen Klaſſen in dieſem Staate völlig ver- 
fennt. Sie beruht auf der falfchen Vorausſetzung, daß hier nur die 
Angehörigen der Hüterklaffe als Staatsbürger zu betrachten jeien, 
und daß ſich daher das Intereſſe des Staats an der materiellen und 
fittlichen Wohlfahrt feiner Bürger einzig und allein auf diefe Klafje 
befchränfe. Die „Mafje des Volkes“ erjcheint auf dem hier voraus— 
gefeßten Standpunkt nur als die unentbehrliche materielle Unterlage 
für die VBerwirklihung der mit dem Staatszweck ſelbſt zuſammen— 
fallenden Lebensziele einer höheren Geſellſchaftsklaſſe. Sie ift nichts, 
al3 die misera plebs contribuens, die feinen Anjpruch darauf 
hat, die eigenen Lebenszwecke in gleicher Weiſe, wie die jener Bevor— 
zugten, als Objekt ftaatlicher Fürforge anerkannt zu ſehen. „Ihre 
Befchaffenheit ift für das Gemeinweſen gleichgültig.” 3) 

Hätte Plato wirklich jo gedacht, jo wäre jein ganzes politifches 
Syftem eine Abfurdität. Diefes Syftem, welches ausdrücklich er— 
flärt, daß e8 Feine Alaffe der Bürger auf Koften der anderen 
glücklich machen will, es ſoll alles, was nicht Beamter vder Soldat 
it, als ein ganz unweſentliches Mitglied der Gejellichaft, als reines 
Mittel zum Zweck behandelt haben, es foll das ganze arbeitende 


1) ws doksıev &v tıs. (423d.) Man fieht, Plato hat den erwähnten 
Vorwurf von Ariftoteles, Zeller u. a. jehr wohl vorausgejehen. 

2, Ma: D. ©. 907. 

3) Das ift die Borausfegung, auf der die „berühmtefte, weithin alles 
beherrjchende” Darjtellung Zellers beruht. 





IH. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftitaate Plato2. 299 


Bürgertum — vom gemeinen Sandlanger bis hinauf zum Künftler 
— aß eine Mafje Hingeftellt haben, deren geiftiges und fittliches 
Niveau ein jo niedriges ſei, daß von ihrem Wohle weiter nicht die 
Rede zu jein braude, daß man über ihr Schidjal einfach zur 
Tagesordnung übergehen könne! 

Was würde ferner der fulturpolitiihe Wert eines Staates 
bedeuten, deſſen Leiftungsfähigkeit in einfeitigfter Weile einem kleinen 
Bruchteil des Volkes zu Gute fäme, während er für die ungeheure 
Mebrheit,!) vielleicht für 1920, weder in materieller, noch in fitt- 
licher, noch in geiftiger Hinſicht irgend einen Fortichritt gegenüber den 
bejtehenden Zuftänden bedeutet hätte! Warum hätte endlich) Plato 
ohne irgend eine innere oder äußere Nötigung das für den Beltand 
jeines Idealſtaates überaus gefährlihe Erperiment machen jollen, 
die kleine rein ſozialiſtiſch und zentraliftiih organifierte Korporation 
feiner Hüter in den Mittelpunft einer Gejellihaft zu jtellen, deren 
ganzes Leben durch daS diametral entgegengeiegte Prinzip des 
laisser faire (de$ ravre Eareov) beherriht worden wäre? Und 
vorausgejegt, man traut ihm eine jolche politiiche Ungeheuerlichkeit 
zu, wie läßt ſich mit den oben entwidelten ſozialökonomiſchen Grund- 
anſchauungen Platos die Anficht vereinbaren, er habe die indivi- 


dualiſtiſche Wirtſchafts- und Gejellihaftsordnung der Wirklichkeit 


einfach in jeinen Vernunftſtaat herübergenommen und die Verwirk- 


lichung der fein ganzes Denken und Fühlen beherrichenden jozia- 


liſtiſchen Ideen grundjäglih auf einen ganz unverhältnismäßig 
Kleinen Teil der Volkes beihränft? 

Plato hat befanntlich in dem ipäteren Merfe?) zu zeigen ge 
jucht, wie der Staat auch bei dem Verzicht auf die iweale Mufter- 
regierung des Vernunftitaates zu relativ befriedigenden Zuſtänden 

!) Nato bejtimmt einmal beijpieläweije die Zahl der Hüter auf Tan- 
jend, denen ein Bauern-, Handiverfer- und Handeläftand von mindeſtens 
20000 Köpfen gegenüberjtehen mußte. 

2) Jch zweifle nicht an dem platoniichen Urſprung der „Geiege* umd 
jehe in denjelben eine überaus wertvolle Duelle für die Erfenninis des jozial- 
politijhen Gedanfenjyitems Platos; ein Hilfsmittel, deifen Bedeutung noch 
lange nicht genügend gewürdigt iſt. 


300 Erſtes Buch. Hellas. 


gelangen könne. Er hat ich hier genötigt gejehen, die Aufgabe, 
deren Löſung er in der Politie getroft der „königlichen Kunft“ der 
fünftigen Lenker feines beiten Staates anheimftellen konnte, feiner: 
jeit3 in Angriff zu nehmen und der geringeren Einficht einer weniger 
vollkommenen Regierung durch Aufftellung von pofitiven Normen 
für die Einzelheiten der Verwaltung zu Hilfe zu fommen. Diefe 
Normen, deren Beobachtung ihm für die Wohlfahrt von Volk und 
Staat umerläßlich ericheint, bezweden eine mehr oder minder ſozia— 
liftifche Negulierung der gefamten Volkswirtſchaft und erftreden 
fih daher auch auf das Leben aller Klafien des Volkes. Mit 
großer Grindlichkeit vertieft ex fich hier in die „niedere Welt des 
Marktes”, von der er fich in den früheren Werke mit „vornehmer 
Geringſchätzung“ abgefehrt haben foll.*) 

Es ift unbegreiflich, zeigt aber wieder einmal vecht draftisch, 
wie jehr die Macht vorgefaßter Meinungen den Blick für das 
Nächitliegende trüben kann, daß allem Anjcheine nach noch nieman- 
dem der unlösbare Widerfpruch aufgefallen ift, der fich bei der 
herrjchenden Auffaffung. aus diefer Thatſache ergibt. Hier in den 
„Sejegen” ein Staat, der zwar in Beziehung auf die Güte der 
Regierung hinter den höchſten Anforderungen zurickbleibt, aber den 
Negierten doch noch des Guten genug leiftet und ihnen nichts Ge— 
tingeres verheißt, als Erlöfung von den ſchlimmſten Krankheits— 
formen der beftehenden Gefellfchaft, von Mammonismus und Baupe- 
vismus und ihren Folgezuftänden,2) ein Staat, der mit der größten 
Energie auf die Berfittlichung des ganzen Verkehrs: und Arbeits— 
lebens hinarbeitet;?) — und dort in der rodıreia ein Staat, 
welcher der wahrhaft vernunft- und naturgemäße zu fein beansprucht 
und die denfbar befte Negierung haben will, in welchem aber für 
die ungeheure Mehrheit der bürgerlichen Gefellfchaft dieſe vortreff- 

) So Dietzel (Rodbertus IT, 228), der in diefer Hinficht Plato auf 
Eine Linie ſtellt mit Schelling und Hegel, im Gegenfaß zu Fichte und feinem 
„Geſchloſſenen Handelftaat”. 

) Vgl. 3. B. die antikapitaliftiiche Handels: und Gewerbepolitif des 
Gejegesftaates im nächſten Abſchnitt! 

°) Bgl. Leg. XI, 919 und oben ©. 224 ff., ſowie Abſchnitt 3. 


II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Plato2. 301 


liche Negierung eine gänzlich unfruchtbare ift und fie in der Haupt- 
und Grundfrage der Zeit vollfommen im Stiche läßt, — ein Staat, 
der in der abjoluten Unabhängigkeit der Negierungsgewalt von allen 
jozialen und wirtjchaftlichen Sonderintereſſen und Borurteilen Die 
denkbar beſte Bürgſchaft für eine gevdeihliche Löſung gerade diejer 
Frage bejißt, der aber unbegreiflicherweife von jolch einzigartigem 
Vorzug feinen Gebrauch macht!) 

Und das ſoll der Staat gewejen fein, der ausdrüdlich den 
Anſpruch erhebt, daß durch ihn das Wohl aller Bürger gefördert 
werden joll, der Staat, in welchen PBlato auch dann noch das 
höchſte politische Ideal erblicte, als er es unternahm, jenen zweit- 
beiten Staat zu Eonftruieren? 

Diejer Entwurf des zweitbeiten Staates ift, wie ſchon be— 
merkt, ganz und gar von fozialreformatorischem Geifte erfüllt. Ex 
erkennt ausdrücklich als ein „verftändiges Gemeinweſen“ (rodıs 
vovy Exovoe) nur ein ſolches an, welches die „Heilung“ der jozialen 
Krankheitericheinungen (Ts v000Vv revınc @owyrw) ernjtlich und 
auf breitefter Bafis in Angriff nimmt;2) und er fpricht anderer 
jeit$ die Erwartung aus, daß ein folches verftändiges Gemeinwesen 
bei der Durchführung diefer und aller fonftigen ftaatlichen Auf: 
gaben ſich jo enge als nur immer möglich an das Vorbild des 
idealen VBernunftitaates anjchließen werde.?) 


1) Ber jolcher Auffafjung iſt es allerdings begreiflich, daß man neuer— 
dings ſogar eine Ahnlichkeit zwiſchen Plato und dem doftrinären Liberalismus 
unjeres Jahrhunderts entdeckt Hat! „Unfere politiiche Litteratur — jagt 
Krohn: Der platonijche Staat S. 29 — hatte eine Zeit, two fie mit der Ab- 
handlung der Berfafjungsfragen alles gethan zu haben meinte. Die ſchwie— 
rigeren Fragen, die für die Wohlfahrt und den Beſtand des Staates außer— 
halb des formellen Organismus der Gewalten in Betracht kommen, fanden 
feine Würdigung. Einer ähnlichen Einfeitigfeit unterlag Plato. Mit der 
Bildung zu den Staatzämtern hielt ex die Sache für erledigt, radd« 
Enera“. 

LEERE 91IEZT 

>) ib. 739e: dio d7 napadsıyua ye nokırsiag ovux @Akn on 
GxXoneiv, aAA' Eyousvovs Tavıns mv 0 Ti uchıore Toiwvenv Inreiv zare 
dvvauır. 


303 Grites Buch. Hellas. 


Wie wäre eine ſolche Auffaffung möglich gewejen, wie hätte 
Plato auch damals noch den Bernunftsjtaat als das iveale Mufter- 
bild für jeden fozialen Zufunftsitaat aufitellen können, wenn der- 
jelbe fein jozialpolitifches Intereſſe ausschließlich auf feine Beamten 
und Soldaten Fonzentriert und die ganze übrige Geſellſchaft dem 
„größten Übel“ (dem ueyıoror voonue) überlaffen, alfo ſelbſt 
nicht den Anforderungen entjprochen hätte, welche Plato an ein 
verftändiges Gemeinwejen ftellt? 

Sn den „Gejeßen” heißt es, jelbjt in einem Staate mit nur 
mittelmäßiger Berfaffung und Berwaltung müſſe für alle Freier 
und Sklaven joweit Sorge getragen werden, daß niemand in den 
äußerſten Grad der Armut verfinfen könne und dadurch zum Betteln 
genötigt werde.!) Im beiten Staate dagegen joll jogar die große 
Mehrzahl der Bürger völlig fich ſelbſt überlaſſen bleiben! 

Das einzige pofitive Zeugnis, welches für die angebliche 
„Sleichgültigfeit” des Vernunftitaates gegenüber dem gejamten er- 
werbenden und wirtjchaftlich thätigen Bürgertum geltend gemacht wird, 
it die befannte Bemerkung der Bolitie, daß für den Beitand des 
Staates die Beichaffenheit der an Negierung und Gejeßgebung Be- 
teiligten wichtiger fei, alS die der Negierten. „Auf die übrigen — 
d. h. wer nicht Beamter und Soldat it, — kommt es weniger 
an. Denn wenn auch die Schuhmacher ſchlecht geworden und vor— 
geben das Gegenteil, d. h. gute Schufter zu fein, ohne es wirklich 
zu fein, jo liegt darin noch feine Gefahr für den Staat. Wenn 
aber die Hüter der Gejeße und des Staates das nicht find, mas 
fie heißen, jondern es nur feheinen, dann fieht man, daß fie den 
ganzen Staat von Grund aus verderben, wie e3 ja auch allein in 
ihrer Hand liegt, den Staat zu einem gut verwalteten und glüd- 
lichen zu machen.“ 2) 

1) Leg. 936. 

?) 42la: «Ada av uev aAlov EiAdtwv Aoyoc' vevgoßodgpot yao 
Yavkoı yevousvor za bIapFagEvrss za IE00NOLMEAUEVOL Eivat, UN OVTEs, 
noAsı ovdev deıwov' gpiiaxes dE vouwv Te zul noAews um Ovres, aAAc 
doxovuvres, opds d7 or naoav dodyv nom anoAdvaoı xal av Tod &Ü 
oizeIv zul Evdauıuoveiv uovor Tov xuıgov Eyovoıv. 


IT. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftitaate Platos. 303 


Daß diefe Bemerkung für die herrichende Auffaffung nichts 
beweift, liegt auf der Hand. Nur vorgefaßte Meinung kann in 
derjelben einen falſchen Ariſtokratismus finden. Es iſt nicht 
ariftofratiiches Vorurteil, jondern einfach wahr, daß der Staat in 
eriter Linie an der Fähigkeit jeiner Drgane interejfiert ift und erſt 
in zweiter an der QTüchtigfeit der einzelnen Privaten. !) 

Übrigens ift dieſe letztere Plato Teineswegs gleihgültig.2) 
Die Negierung feines Spealftaates hat jorgfältig darüber zu wachen, 
daß nicht bloß die Negierenden, jondern auch alle anderen Klaſſen 
ihr Tagewerk in möglichſt tüchtiger Weiſe betreiben?) Daher 
finden fih auch gerade in dem Entwurf des Idealſtaates die be: 
fannten Grörterungen, wie durch die Vervollkommnung der Arbeits: 
teilung und die Bekämpfung des Mammonismus und Pauperismus 
die Tüchtigkeit des wirtichaftenden Volkes gehoben werden Fünne. 
Diefe Thatjache kann nur derjenige überjehen, der mit Zeller der 
Anficht ift, daß bei einem „Verächter allev Erwerbsthätigkeit“ wie 
Plato „von volfswirtjchaftlichen Gefichtspuntten überhaupt feine 
Rede ſein“ Fönne! 

Nun ſoll aber die Stelle nicht bloß beweiſen, daß Plato die 


ı) Thomas Morus, der gewiß fein Verächter wirtſchaftlicher Arbeit 
ift, hat den Sat Platos noch jchroffer formuliert: Reipublicae, heißt es in 
der Utopia (II. 217), . . . salus et pernieies a moribus magistratuum pendet. 
Dol. auch die Bemerkung Paulſens (Ethik II 750) über die Bedingungen des 
Intereſſes der Gejamtheit an dem Erfolg der twirtjchaftlichen Arbeit des 
Einzelnen. 

2) Zeller überjieht, daß es nicht heißt zur Amy ovdeis Aoyos, 
fondern EAdtrwv Aoyos. Das hat Freilich jchon Hegel ignoriert (Geſch. der 
Phil. I, 286), deſſen Auffaſſung der Politie überhaupt die Anſchauungen der 
Folgezeit in hohem Grade beeinflußt Hat. 

3) 421e. Plato ift alſo ebenfo, wie fein Kritifer Ariftoteles IL, 2, 
14. 1264b, überzeugt, daß in der That die Beichaffenheit der letzteren für 
den Beitand des Idealſtaates eine wichtige Sache tft. — Das hat auch bereits 
Nohle: Die Staatslehre Platos in ihrer gejchichtlichen Entwicklung (S. 145) 
big zu einem gewiſſen Grade wenigſtens erkannt; eine Schrift, die überhaupt 
— trotz mancher Einfeitigfeiten und Übertreibungen — mehrfach richtigere 
Wege eingejchlagen hat, als die herkömmliche Auffaſſungsweiſe. 


304 Erſtes Buch. Hellas. 


praftifche QTüchtigfeit der arbeitenden Klaffen gering geſchätzt, ſon— 
dern noch mehr, daß ihm auch für ihre Moralität das nötige Inter— 
eſſe fehlte.) Nach der Anficht Zellers hätte Wlato, wenn ihm an 
der Erziehung der gewerblichen Klaffen etwas gelegen war, Diejes 
andeuten, er hätte jagen müffen: Ob der Schufter ein Schufter oder 
nicht, berührt den Staat nicht groß, aber ob er ein rechtjchaffener 
Mann ift, berührt ihn.“ 

Darauf iſt einfach zu erwivdern, daß nach dem ganzen Zus 
ſammenhang dieſer Stelle eine ſolche Bemerkung gar nicht am 
Nabe war, daß dagegen Plato unmittelbar darauf, wo er von den 
genannten wirtichaftspolitifchen Maßregeln zur Hebung des dritten 
Standes |pricht, in der That fein Intereſſe an der Sittlichfeit des— 
jelben jo deutlich wie nur möglich zu erkennen gibt! Er will die 
Bürger des dritten Standes vor Not, wie vor Überfluß bewahrt 
willen, weil fie dadurch nicht bloß zu jchlechten Arbeitern, ſon— 
dern auch zu Schlechten Menſchen würden,?) weil ſonſt Aus— 
Ichweifung, Müßiggang, gemeine Gejinnung (avsdisvteore) unter 
ihnen überhand nehmen könnte.?) 

Ebenjo leicht erledigt fi die Behauptung, daß Plato, wenn 
ihm an der Sittlichfeit des dritten Standes etwas lag, auch hätte 
angeben müfjen, wie derjelbe dazu erzogen werde. 

Wir jahen, daß Plato der Regierung des beiten Staates 
ſolche Detailvorfehriften in Beziehung auf den dritten Stand über- 
haupt nicht macht.*) Andererjeit enthält der Organifationsentwurf 
des zweitbeiten Staates in der That jolche Angaben über die Art 
und Weile, wie auch die Moralität der wirtfchaftenden Klaffen zu 
heben jei — und zwar nicht bloß im öffentlichen Intereſſe, ſon— 








’) Letzterer Anficht ift übrigens auch Nohle. 

?) 42le: yelow uEv TE TWv Teyvov Eoya, yeloovs de avroi. 

3) 449a. 

*) Ebenjowenig wie über andere wichtige Lebensfragen de3 Staates 
3. B. die Organifation der Juſtiz, Verwaltung u. ſ. w. Warum zieht Zeller 
daranz nicht den Schluß: „Wenn Plato an einer guten Zuftiz, Verwaltung 
u. ſ. w. etwas lag, jo hätte ex auch angeben müſſen, wie diefelbe zu organi— 
fieren ſei.“ 





IT. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftftaate Platos. 305 


dern zu deren eigenem Bejten.!) Plato jagt dort, die Hüter der 
Geſetze hätten ſtets zu bedenken, daß fie nicht bloß Leute zu regieren 
haben, deren Charakterbildung die Wohlthat einer guten Abkunft 
und guten Erziehung zu teil geworden, und die daher vor gejegwidri- 
gem und jchlechtem Thun leichter zu bewahren ſeien, als diejenigen, 
denen dieſes verjagt ift und die noch dazu durch ihren Beruf ftarfen 
jittlihen Verſuchungen ausgejeßt find. Diefe müßten bejonders 
jorgfältig überwacht werden. Es müßten Mittel und Wege ge 
funden werden, daß ſelbſt der Charakter des niedrigſten Krämers 
„nicht jo leicht ein jchmußiger und ſchamloſer werde”, daß wir 
auch „an einem jolchen einen möglichit wackeren oder doch einen 
möglichit wenig Tadel verdienenden Mitbewohner unjeres Staates 
haben.”2) Ja Plato geht noch weiter und gibt jelbjt ausführliche 
Anweilungen über die Hebung derjenigen Menfchenklaffe, deren 
moraliſche Verfümmerung für die Anſchauung des Hellenen wohl 
als eine hoffnungsloje ericheinen konnte, nämlich der Unfreien. 
Gegenüber der Anficht, daß an der Sklavenfeele nichts Geſundes fei 
(ös vyıds ovVdev Woyng dovang), und daß man dem Sklaven in 
allem und jedem mißtrauen mühe, hebt Plato die TIhatjache her- 

daß viele Sklaven in jeder Art von Tüchtigfeit ihre Herren 
überträfen (xgsirrovs rrooös aoeınv acer). Cr erklärt es als 
eine Angelegenheit von großer W Wichtigkeit für das öffentliche, wie 
für das private Intereſſe, dieſe Tüchtigfeit im Sklaven zu ent- 
wiceln, und er verlangt zu dem Zwecke eine jorgfältige moralifche 
!) Leg. 920e: zei oyedov ovrws av — d.h. nach Verwirklichung 
der platonijchen Vorſchläge — xzenmisie Ta uEv wpehol Exdorovs, 0 ULXE0- 
tara de av BAanıtoı Tovs Ev tais noleoı yowue£vovs. 

2) 920a: Onws ws doıortos zal KUXOS WS NxrLoTa 06 ToLovros nuiv 
n Evvoıxos Ev rn noAdı, Toos vouopvAazas yon vonoaı pvhazas eivaı un uovov 
&xeivwv, OU pvharreıv ögdıov un naoavouovs zal zazoVüs ylyveodaı, 00qL 
yev£ocı zul zeugigiz ev nenaldevvraı, tods dE un Torovrovg Ertndevuere 
TE enıtndevovtes, & donnv Eyeı TtLvo lo yvocv 7005 To 1E0TEENELV 
xaxoüs yiyvsosaL,pvAaxr£ov uckhkorv. Bgl.I19e:... Tois uereoyovaı 
Tovrwv TWv Enıtndevudeov EvgElV ungarnv, OnNWs 797 un dvednv avaı- 
oyvvrias TE xal avehsvdegov wuyjs uEToya ovußmoereı yiyveodaı badiws. 

Pohlmann, Geſch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. 1. 2) 


306 Erſtes Buch. Hellas. 


Einwirkung auf defjen feelifches Leben. Der Staat wie der Einzelne 
muß wünschen, daß die Sklaven ihren Herren möglihjt wohl: 
wollend gegenüberjtehen.!) In der Behandlung der Sklaven zeigt 
es fi), wer im ftande ift, „eine fruchtbare Tugendjaat aus- 
zuſtreuen“ (orreiosıw £is @osrhs Exgyvow).?) Es handelt ſich 
um eine fittliche Pflicht, deren Erfüllung — weil von dem Starken 
gegenüber dem Schwachen geübt — das echtejte Kriterium einer 
wahrhaft gottesfürchtigen und gerechten Gefinnung fei.?) 

In folcher Gefinnung nimmt fich der platoniſche Gefeßesftaat 
jelbft der Sklaven an, die nicht einmal Hellenen, ſondern verachtete 
Barbaren find, da Plato in feinem Staat alles, was hellenifchen 
Stammes ift, von vorneherein vom Sflavenlos verjchont willen 
will.) Und bei ſolchen Anſchauungen jollte es Plato für „gleich 
giltig” erklärt haben, ob in feinem Vernunftſtaat der Gewerbes 
treibende, der hier noch dazu dem Staate als Bürger angehört, 
ein rechtfchaffener Menfch ift oder nicht, während in den „Geſetzen“ 
als die einzige Steuer, welche der Staat von den Gewerbetreiben- 
den fordert, deren Nehtlichfeit bezeichnet wird.) Derſelbe Mann, 
der jogar den nichtgriechifchen Sklaven zum „Wohhvollen“ gegen 
feinen Heren erzogen wiljen will, jollte es nicht „ver Mühe wert” 
gefunden haben,) im Vernunftſtaat auf die Gefinnung der großen 
Mehrheit der Bürger einzuwirken, ev jollte ſich „mit dem pafjiven 
Gehorfam des dritten Standes begnügt haben, der im Notfall er: 
zwungen werden Fann??) 





) yon dovkovs ws EUUEVEOTETOVG ExImodai xai dolortovg. 
776d vgl. 777e, wo am gejchichtlichen Beifpielen des Gegenteil beiviejen 
wird, wie gefährlich die Nichterfüllung diefer Forderung werden fann. 

2) 777e. 

s) 777. 

4) Diefe Forderung der Aufhebung der Unfreiheit für alle Hellenen 
wird bereits im Staate (469b) aufgeftellt. 

5) Der Geſetzesſtaat verlangt don ihnen weroiziov undE ouıxgov nAnv 
tov owpooveiv xri. Leg. S50b. 

6) Zeller ©. 890. 

) Ebd, ©. 908. 


III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 30% 


Wenn dem wirklich jo wäre, jo müßte Plato feine Stellung 
zur wirtschaftlichen Arbeit und zum wirtichaftenden Bürgertum in 
der Zeit von der Abfaffung des „Staates“ bis zu der der „Ge— 
jege” völlig geändert haben. Er wäre dann aber auch für uns 
ein pſychologiſches Nätjel! In der von dem Fühnften Optimismus 
erfüllten Epoche feines Lebens, in welcher ev von der idealen Ent- 
wicklungsfähigkeit der menschlichen Natur jo hoch wie möglich dachte, 
hätte ev dem wirtichaftenden Bürgertum in all feinen Gliedern die 
Möglichkeit des fittlichen Fortichrittes grundſätzlich abgelprochen; 
ſpäter dagegen, als bei ihm mit der gejteigerten Empfindlichkeit für 
die Schwächen der menjchlichen Natur auch die Neigung zur herben 
Beurteilung der Menjchen überhaupt zugenommen, al3 traurige 
perjönliche Erfahrungen jeinen Glauben an die Menjchheit er- 
Iehüttert und ihn zum Verzicht auf die Ausführung feiner Liebiten 
Ideale bejtimmt hatten, hätte er gerade über die der fittlichen Ver- 
juchung und Entartung am meiſten ausgejeßte Mafje des Volkes 
ungleich günstiger geurteilt! 

Nun find es allerdings gerade Äußerungen der „Politik“, 
auf welche fich diejenigen ftüßen, die da meinen, Plato habe es 
ih gar nicht anders denken können, als daß derjenige, welcher ſich 
der wirtjchaftlichen Arbeit widmet, „keinerlei perjönliche Tüchtigkeit 
erlange.”) Allein haben die Worte Platos wirklich diefen Sinn? 

Er klagt einmal über die unberufenen Glemente, welche fich 
— bejonders aus gewerblichen Kreifen — zu den Studien drängten, 
um deren jehöner Außenfeite willen „von der Technik zur Philo— 
jophie” überjprängen, obgleich fie entweder von Haus aus unge 
nügend veranlagt Seien oder durch die unvermeidlichen Nachteile 
einer handwerfsmäßigen Beihäftigung eine Störung und Hemmung 
in ihrer leiblichen und geiftigen Entwidlung erlitten hätten. Worin 
diejes Zurüchbleiben der körperlichen und geiftigen Entwiclung be 
jteht, wird nicht gejagt. ES wird nur mit bildlichem Ausdruck 
von einer „Niederbeugung”, einer „Knickung“ der Piyche ges 


!) Zeller ebd. 890. 
20* 


508 Erſtes Buch. Hellas. 


ſprochen. Dieſelbe erſcheint wie ein Baum, dem die Krone ge— 
brochen und damit die Fähigkeit zum Emporwachſen genommen.)) 

Aber dem ganzen Zuſammenhange nach kann der Sinn der 
Stelle nur folgender ſein: Wer durch mechaniſche Arbeit ſein Brot 
erwerben muß, vermag ſich nicht jene Harmonie der phyſiſchen und 
geiſtigen Kräfte zu erhalten, welche die Hauptbedingung erfolg— 
reicher Gedankenarbeit iſt. Auch liegt es in der Natur der mecha— 
niſchen Arbeit und der Sorge für den täglichen Erwerb, daß ſie 
jene geiſtige Energie und jenen idealen Aufſchwung der Seele nicht 
aufkommen läßt, welche die höchſten Berufe, insbeſondere der des 
Denkers vorausſetzen. 

Es iſt das dieſelbe Anſchauung, wie wir ſie z. B. bei Fichte 
wiederfinden, wenn er „über das Weſen des Gelehrten“ ſagt, daß 
die große Maſſe der Menſchen ausſchließlich in der Welt der ſinn— 
lichen Erſcheinung lebe und in dem, was dieſelbe für Realität 
nimmt, niemals ſich zur Erkenntnis deſſen aufzuſchwingen vermöge, 
was aller Erſcheinung zu Grunde liegt. Die moderne Sozialwiſſen— 
ſchaft betrachtet ſogar das als eine offene Frage, ob „der mecha— 
niſche Handarbeiter je die Nerven: und Denkentwicklung erreichen 
wird, wie unfere heutigen Kaufleute und Mittelftände.“2) Wie 
fann man es da als Ausfluß ariftokratifchen Hochmutes gegenüber 
den bandarbeitenden Klaſſen bezeichnen, wenn Plato denjelben nicht 
die Nerven- und Denkentwicklung zutraut, welche die höchiten Be 
rufe bedingen? Don Klafjenvorurteilen kann bier jo wenig die 
Jede fein, wie bei dem Handwerkerſohn Fichte, der, obwohl ein 
lebhafter Borfämpfer bürgerlicher Freiheit und Gleichheit, aus den— 
jelben Prämiſſen, wie Plato, den Schluß zieht, daß politiſche 


!) Rep. 495d: & twv reyvov Exındwoıw Eis mv gıAooogpiav, oL 
av xouvoraroı Ovres TVyydrwoı nIEOl TO WürWv TEYVIov.. 0uUws Kao din 
1005 yE Tas dhhas TEyVas xuineo 0VTW IE«TTOVONS PLAocogpias 10 dEiwua 
ueyakongenioregov Asinsraı' 0ov db Egyıeusvor moAdoi dreieis uev Tüs 
pvVosıs, ondo dE TWv Teyvov TE zei Ömuiovoyiwv, woneo ta owuara Aeho- 
Pnvrai, ovrw xal Tds ıyuyas ovyrsxharousvor TE xal anorsdovuusvor did 
Tas Pavavoias Tvyydvovamv .n) 00% avayan; xal udha, Epn. 


) Schmoller in dem Aufſatz über die Arbeitsteilung a. a. O. ©. 102. 


II. 2. 2. Das Bürgertum im DVernunftitaate Platos. 309 


Freiheit höchſtens nur für Einen notwendig fei, daß die Über: 
tragung der Negierungsgewalt an diefen Einen oder einen „Aus— 
ſchuß“ den Vorteil gewähre, daB „die Bürger alsdann ruhig fort- 
fahren können, dasjenige zu treiben, was fie verſtehen!“i) 

Wir befigen eine intereffante Parallele zu der Äußerung des 
Philoſophen an der Erörterung über den Beruf des Schriftgelehrten 
in dem jüdiichen Spruchbuch Jeſus Sirach. Hier heißt es wört— 
ih: „Die Weisheit des Schriftgelehrten [geveihet] in glücklicher 
Muße und wer in feinen Gejchäften erleichtert ift, wird weile. 2) 
Wie kann weiſe werden, wer den Pflug führet und fich des Stachel- 
ſtecken rühmet, Ochſen treibet und in ihrer Arbeit lebt und webt, 
umd dejjen Gejpräh nur von jungen Stieren ift? Seinen Sinn 
richtet er darauf, Furchen zu ziehen, und feine Sorgfalt aufs Futter 
für die Rinder. Alſo jeglicher Werfmeifter und Baumeifter, welcher 
Tag wie Nacht (mit Arbeit) zubringet; die Stecher der Siegelvinge: 
Eines Solchen beharrliches Streben iſt manichfaltiges Gebild an— 
zubringen; feinen Sinn richtet er darauf, die Abbildung ähnlich 
zu machen, und ift früh und jpät daran, das Werk zu vollenden. 
Alfo der Schmied, welcher am Amboß fitet und auf das Werk 
des Eifens Acht hat. Der Dampf des Feuers zehret jeinen Körper 
ab, und mit der Hiße der Eſſe hat er zu fämpfen. Der Schlag 
des Hammers betäubet jein Ohr und auf das Mufter des Gerätes 
jtehen jeine Augen. Seinen Sinn richtet er auf die Vollendung 
feiner Werke, und ift früh und jpät daran, fie mit Zierlichkeit zu 
vollenden. Alſo der Töpfer, welcher bei feinem Werke fißet und 
mit jeinen Füßen die Scheibe umdrehet; der in bejtändiger Sorge 
wegen jeines Werkes, und dem zugezählet ift ſeine Arbeit. Mit 
jeiner Hand bildet er ven Thon und vor den Füllen biegt er die 
feite Maffe. Seinen Sinn richtet er darauf, die Glaſur zu voll 


1) Gef. Werfe VII 160. Man leje auch die düftere Schilderung des 
Arbeitslebens und Verkehrs im zweiten Buche des „gejchlojfenen Handels: 
ftaates” — und man wird Plato richtiger beurteilen! 

2) 38. 24: oogia yoauuateiws Ev evxaıpie oyoAjs, zei 6 EAaooov- 
uevos nodseı @uTov GOPLOFMEET«L. 


310 Erſtes Buch. Hellas. 


enden, und it früh und jpät daran den Dfen zu fegen. Dieſe 
alle verlaffen fih auf ihre Hände, und jeglicher beweijet bei jeiner 
Arbeit jeine Kunft. Ohne fie kann feine Stadt erbauet werden 
und niemand kann darin wohnen noch verkehren. Aber in der 
Gemeinde ragen fie nicht herror, figen nicht auf dem Nichterftuhle, 
erforschen das Geſetzbuch nicht, noch können fie Necht und Gerechtig- 
feit an den Tag bringen, und in Sprüchen werden fie nicht er— 
funden. Sondern fie erhalten die Schöpfung der Welt und ihr 
Verlangen gehet auf die Arbeit der Kunft.!) — Anders, wer 
jeinen Geift darauf richtet und finnet über das Geſetz des Höchſten!“ 

Lieſt ſich Diefe ganze Erörterung nicht wie ein Kommentar 
zu dem Urteile Platos über die wirtjchaftliche Arbeit? Und doch 
bat wohl Niemand daran gedacht, jo weitgehende Schlußfolgerungen 
aus den Sprüchen des Jeſus Sirach zu ziehen, wie aus jenem 
Satze Blatos. Im Gegenteil! Ein gewiß nicht „volfsfeindlich“ 
gefinnter moderner Staatslehrer, Bluntichli, hat ſich zur Wider: 
legung eines falſchen Gleichheitsprünzips u. a. auch dieſer nad) 
feiner Anficht „kerngeſunden“ Sprüche bedient,2) obgleich diejelben 
das Prinzip der Arbeitsteilung zu Ungunften der Erwerbsklaffen nicht 
minder einfeitig überjpannen, als Plato. 

Kun iſt es allerdings richtig, daß von Wlato das Banaufen- 
tum mit einer gewiſſen Schroffheit in feine Schranfen zurücgewiejen 
wird. Aber es ift damit doch noch nicht gejagt, daß bei einer 
bandwerfsmäßigen oder gewerblichen Thätigkeit überhaupt von 
feinerlei .perjönlicher Tüchtigfeit mehr die Nede fein könne, daß 
jeder Gewerbsmann notwendig das fein müſſe, was wir einen „an 
Leib und Seele verfümmerten” Menſchen nennen. 

Wenn Plato in der Handarbeit eine Urſache zu vielfacher 
Schwächung der phyfiichen, jeelifchen und geiftigen Kräfte fieht, 
folgt daraus, daß er diefe Verfümmerung für eine jo weitgehende 





') 33: zai Ev ExzAmoig ovy ünegakoövreı . Ertl dipoov dixaorod ov 
zadoörraı zai Hadnenv xoluaros ov dievondmoortat, oVdE un Expavwoıv 
dixaioovvyv zei zolua' zal Ev nagaßokais ovy EVEEIMEOVTEL AT. 


?) Allgemeines Staatsrecht (6) 662. 


III. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftftaate Platos. 311 


und rettungsloſe hielt, um das ganze produzierende Bürgertum 
einfach ſeinem Schickſale zu überlaſſen? So ungünſtig auch die 
Vorſtellungen geweſen ſein mögen, welche ſich Plato bei ſeiner 
Einſicht in das Getriebe der Volkswirtſchaft und der techniſchen 
Produktion!) und in die Wirkungen einer weitgediehenen indu— 
jtriellen Arbeitsteilung ja notwendig aufdrängen mußten, peſſimi— 
ftifcher find feine Äußerungen jedenfalls nicht, als diejenigen, welche 
der Begründer der modernen Nationalökonomie über die nach feiner 
Anfiht in fortgejchrittenen Induſtrie- und Handelsftaaten unver: 
meidliche Verfümmerung der handarbeitenden Klafjen gethan hat. 

Es ift von Intereſſe, diefe Ausführung Adam Smiths fich zu 
vergegenwärtigen. Sie vereinigt an Einer Stelle alle die Klagen, in 
welchen der doktrinäre Liberalismus, wenn fie bei antiken Autoren 
auftreten, nur Vorurteile eines falſchen Arijtofratismus zu ſehen pflegt. 

„Bei der immer weiter getriebenen Teilung der Arbeit, jagt 
Adam Smith, kommt es endlich dahin, daß der größte Teil derer, 
die von ihrer Hände Arbeit leben, d. h. der größte Teil des Volkes 
auf einige wenige Berrichtungen eingeſchränkt ift. Nun wird aber 
der Verſtand der meilten Menjchen bloß durch ihre gewöhnliche 
Beichäftigung gebildet. Der Menjch, welcher fein ganzes Leben 
damit zubringt, einige einfache Operationen unaufhörlich zu wieder: 
holen, Operationen, deren Erfolg auch immer derjelbe oder Doch 
jehr gleichförmig ift, kommt nie in den Fall, jein Nachdenken an- 
zufteengen oder feine Erfindungskraft zu üben. Er verliert aljo 
gewöhnlich die Fähigkeit nachzudenken und wird mit der Zeit jo 
unwiſſend und bejchränft, als nur irgend ein menjchliches Gejchöpf 
werden fann. Die Schlaffucht, in welche jein Geift verfinkt, macht 


1) Man denfe nur an die mannigfaltigen treffenden Vergleiche und 
Beijpiele aus den verjchiedenften Produftionsgebieten, 3. B. die Ausführungen 
im „Staatsmann“ über die Technik der Gewebeinduftrie, an die Erörterungen 
über die Entftehung des Geldes und des Handels, über die Vorzüge der 
Arbeitsteilung u. dgl. m. — Wie Dilthey: Einleitung i. d. Geiſtesw. ©. 286 
angeficht3 diefer Ausführungen behaupten kann, Plato habe in „faljcher Vor— 
nehmheit“, infolge feiner „Falfchen vornehmen Richtung Arbeit, Gewerbe und 
Handel feiner Unterfuchung unterzogen“, iſt mir unbegveiflich. 


312 Erſtes Buch. Hellas. 


ihn nicht nur unfähig für vernünftige Disfuffton, ſondern erſtickt 
auch in ihm alle edleren Gefühle des Herzens und erlaubt ihm 
daher nicht einmal die gewöhnlichen Pflichten des Privatlebens 
gehörig zu erfüllen. Über die großen und umfasfenden Gegenftände 
des öffentlichen Wohles ift er durchaus unvermögend ein Urteil 
zu fällen, und wenn nicht außerordentliche Vorkehrungen getroffen 
find, den Wirkungen feiner Lebensweiſe entgegenzuarbeiten, fo ift 
er auch unfähig, jein Vaterland im Kriege zu verteidigen. Die 
Einförmigteit feiner fißenden Lebensweiſe ſchwächt jeinen natür— 
lichen Mut und bewirkt, daß er das unftete, mühjelige und gefahr: 
volle Leben eines Soldaten mit Furcht und Abjcheu anfieht. Sie 
ichwächt jogar feine förperlichen Kräfte und erlaubt ihm nicht, Die 
Stärke und Beweglichkeit feiner Glieder anhaltend und angeftrengt 
in irgend einer anderen Beichäftigung, als in der Arbeit feines 
gewöhnlichen Berufes zu gebrauchen. Die Gejchielichkeit in jeinem 
Gewerbe ſcheint alfo auf Koften all feiner geiftigen, jozialen und 
friegeriichen Tugenden erworben zu jein. In diefem Zuftand muß 
aber der arbeitende Arme, alſo der größte Teil des Volkes bei 
einer Nation, die in Gewerbe und Handel große Fortichritte macht, 
notwendig geraten, wenn nicht der Staat ſich jeiner Erziehung und 
Ausbildung annimmt.” Ohne dies würde nach Smith „der große 
Haufe völliger Verwilderung anbeimfallen.“ !) 

Man jieht, ſelbſt die denkbar ungünftigite Vorftellung über 
die Wirkungen der Lebenslage der Mafjen braucht an und für ſich 
noch feinen Verzicht auf die Forderung zu enthalten, daß diejen 
Wirkungen von Seiten der Gejamtheit entgegengearbeitet werden 
müſſe. Wenn man die analogen Äußerungen Wlatos anders be 
urteilt, als die des liberalen Volkswirtes, jo liegt dies eben nur 
an den Übertriebenen Vorftellungen, die man fich von feinem „jtarren 
Ariſtokratismus“ macht. Aus feinen Äußerungen ſelbſt läßt fich 
ein jolcher Berzicht nicht herauslefen. 

Noch weniger ift ein ſolcher Verzicht ausgejprochen in der 


) W. of. 2. V, 3.1.2. 


II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Plato2. 313 


einzigen Stelle der Nepublif, welche neben der eben beiprochenen über- 
haupt noch in Betracht fommt. Dieje zweite Stelle ift gewiljermaßen 
die Ergänzung der erſteren. Wie dieſe hauptfächlic auf Grund der 
geiftigen Snferiorität der großen Mafje einen Proteſt gegen das Ein- 
dringen des Banaufentums in die Gebiete rein geiftigen Thuns 
enthält, jo tritt jene den politifchen Anfprüchen desjelben mit einem 
Hinweis auf die fehlende moraliiche Qualifikation entgegen. 

Die große Mafje wird für unreif zu politifcher Selbjt- 
bejtimmung erklärt. Sie muß ſich von Nechtswegen durch die 
jenigen leiten lafjen, welche „das Göttliche als Herrſchendes in fich 
tragen”, und dieſe Forderung wird mit dem Hinweis auf die Maſſe 
derjenigen begründet, duch welche Handwerk und Handarbeit ver 
ächtlich würden, weil fie nicht verjtünden, dem edleren Teile ihres 
Selbjit auf die Dauer die Herrſchaft über Leidenschaft und Begierde 
zu verjchaffen, jondern dazu erſt des äußeren Zwanges des Gejeßes 
bedürfen. ') 

Auch diefe Äußerung enthält nicht die abjolute Verurteilung, 
die man aus ihr herauszulefen pflegt. Sie gibt nur ein Urteil 
über die thatlächliche Durchichnittsgefinnung der Mafje. Sie jagt 
feineswegs, daß die Handarbeit an und für ſich oder gar jede 
wirtſchaftliche Arbeit überhaupt den Menjchen unfähig mache, ein 
gewiſſes Maß von Sittlichkeit zu erwerben. Plato jelbjt erkennt 
ja ausdrüdlich eine Art des Erwerbes an, den Landbau, — in 
welcher wenigitens die leitende wirtichaftlihe Arbeit „den Er: 
werbenden nicht nötigt, das zu vernachläſſigen, um 
dejjfenwillen man Erwerb ſucht, nämlich Seele und Leib.“ 2) 
Aber ſelbſt die industrielle Klaſſe des Idealſtaates kann er fich 
nicht förperlich und moraliſch jo verfümmert vorgeftellt haben, wie 
man gewöhnlich annimmt. Er unterjcheivet unter den Bürgern 
des Idealſtaates diejenigen, welche „an Leib und Seele gut ge 
artet find”, (eugyveis va owuare zei vas Wvyas) von denjenigen, 

1) 590. 

f ?) Leg. 743d: ... 0n00@ un yonuerılousvov dvayxaocı aueheiv 
Wv Evsxa TEDVXE TE yonuare, 


314 Erſtes Buch. Hellas. 


welche „ver Seele nach jchlecht geartet und unheilbar find” (zovs 
dE zara ınv Woxıv zaxogvels za avıarovs). Nach der herrfchen- 
den Auffaffung könnten die wirtichaftenden Klaffen nicht zu den 
erjteren gehören, jondern nur zu den lebteren. Daß davon aber 
feine Nede fein kann, beweilt das Schickſal, welches diejer „Schlecht: 
gearteten“ im Spealjtaate harıt: Sie müſſen jterben!” 1) 

Wir dürfen eben nicht vergeſſen, daß Plato zweierlei Arten 
von Sittlichkeit Fennt: Jene ideale auf der vernunftgemäßen Er— 
fenntnis der Wahrheit, auf dem „Wiſſen“ beruhende Sittlichkeit, 
die philoſophiſche Tugend, und jene „volkstümliche“, bürgerliche 
Tugend (dyuorien) zei zroAırızn @osen)?), welche durch Ange: 
wöhnung und Übung entjteht (£E &Iovs ve zal weiseng yeyovviav 
avsv yılocogyiag TE xal vor). 

Diefe „bürgerliche“ Tugend, die fich insbefondere als „Be: 
ſonnenheit“ und Nechtichaffenheit (onyeoovrn re zai dizawoovvn) >) 
äußert, Ipricht Plato dem dritten Stande des Idealſtaates jo wenig 
ab, daß er fie vielmehr für den Beſtand des Staates geradezu un- 
entbehrlich nennt.*) 

Auch Zeller kann das nicht leugnen,5) und ftellt ung damit 
vor das unlösbare piychologiiche Nätjel, wie diefelben Menſchen, 
von denen es fich Plato „gar nicht anders denken kann, als daß in 
ihrem Innern die niedrigen Kräfte über die edleren die Herrichaft 
gewinnen”, daß fie „keinerlei perſönliche Tüchtigkeit“ erlangen 
können, gleichzeitig zur Übung diefer Tugenden befähigt fein follen! 

Wer das Göttliche nicht „als ein Herrichendes in ſich trägt”, 
der braucht eben noch lange nicht immer ein willenlojes Opfer nied- 
riger Triebe zu fein. Was ihm fehlt, iſt nur jene höhere Erfennt- 
nis, welche der „Wiffende” von dem wahren Wejen, von den 


UA 


Gründen und der Notwendigkeit des Sittlichen hat. Er kann nur 


!) Rep. 410a. 
2) Phädon 82a. 
3) Rep. 500d. 
9 Val. unten. 
eU.20.9.281. 


II. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftitaate Platos. 315 


das erreichen, was Plato eine „richtige Vorftellung” nennt, die 
doge @AnIns, welche ji) von jener Erkenntnis, der emiornun, da— 
durch untericheidet, daß fie als ein bloßes Meinen immer die Mög: 
lichkeit des Nücfalls in falſche Vorftellungen zuläßt,!) wie ſie eben 
das Willen als feit gegründete Erkenntnis der Wahrheit von vorne: 
herein ausſchließt. Das Wifjen kann durch Feine Überredung wan- 
fend gemacht werden, die bloße richtige Vorftellung dagegen kann 
es, weil fie ſelbſt durch Überredung, durch Einwirkung auf das 
wandelbare Gemüt erzeugt ift, nicht durch die Erhebung des In— 
telleft3 zu einem Willen, das jeiner Natur nach unantaftbar ift.2) 

Die für die große Mehrheit erreichbare Sittlichkeit exjcheint 
von diefem Standpunkt aus als ein unficherer und mwandelbarer 
Beſitz. Sie genügt, um den Einzelnen zu einem „leidlich guten“ 
Menjchen (errjo weroros)?) zu machen, aber nicht, um eine über alle 
Anfechtungen erhabene Herrichaft des Göttlichen in feiner Seele zu 
erzeugen, welche „vie Richtung auf das, was droben ift“, uner- 
jehütterlich feſthält.) Sie gibt — zumal großen Verfuchungen gegen: 
über — nicht die Bürgſchaft der Unantaftbarkeit, wie fie Plato von 
demjenigen fordert, der Anſpruch auf die politische Herrichaft macht. 

Ber wollte leugnen, daß dieſe Auffaffung mit ihrer einfei: 
tigen Ableitung der Sittlichfeit aus der Erkenntnis der „nichtphilo- 
ſophiſchen“ Tugend keineswegs gereht wird! Sie unterſchätzt die 
untefleftierte Sittlichfeit des geiftig Tieferftehenden und verkennt 
daher, daß die höchſte Tugend in jeder Schichte der Gefellichaft 
mögli und indiviouell auch thatſächlich vorhanden ift. Allein 
dieje Unterihägung des für den Niedrigiten erreichbaren Maßes in: 
dividueller Sittlichfeit berechtigt uns nicht, in dem Urteil über die 
thatfächliche Durchfchnittsgefinnung der großen Mehrheit den Aus— 
druck hochmütiger Mißachtung zu ſehen. Es ift ein Urteil, das 
gerade damals angefichts der Klafjenherrichaft des Demos nur zu 


) Meno 97 ff. Rep. 500e. 
2) Timäus 5le. 

>) Phädon 82b. 

*) Rep. 621c. 


316 Erſtes Buch. Hellas. 


begreiflich exfcheint, und dem fich ganz analoge Hußerungen durchaus 
volfsfreundlicher Beobachter an die Seite ftellen lafjen. „Bei den 
Maſſen“, jagt 3. B. Schmoller, „bleibt der Egoismus innerlich, 
wenn auch gebändigt durch die fittlichen Ergebniſſe des fozialen 
Lebens, die Urſache der meisten Handlungen”.!) Andererfeits 
jollte man nie vergeffen, daß Plato der einer ungeftörten Muße fich 
erfreuenden Geldarijtofratie genau diejelbe fittliche Unzulänglichkeit 
für die politische Herrſchaft zufchreibt, wie der Handarbeit, überhaupt 
Anforderungen an die Charakter- und Geiftesbildung der Negieren- 
den ftellt, welchen unter taufend Menſchen im günftigften Falle einige 
Wenige, in der Regel höchitens einer oder zwei zu genügen vermögen.?) 

Wir haben es eben hier mit einer Auffaffung zu thun, bei 
ver die Frage nach dem Berufe und der fozialen Stellung des Ein- 
zelnen infoferne an Bedeutung verliert,3) als gegenüber der „könig— 
lichen Kunſt“, die mit ihrer Einficht daS Ganze umfaßt und das 
Ganze beherricht, jede andere Thätigkeit, welche im Dienfte für 
einzelne Bedürfniſſe der Gejellfehaft aufgeht, in gleicher Weife als 
eine dienftbare erſcheint (rexvn, Erriormun diexovos). Der Land: 
wirt wie der Gewerbsmann, der Lohnarbeiter, wie der Bankier 
und Kaufmann, der Ningmeifter wie der Arzt, der Schreiber 
wie der Prieſter und Seher,*) fie alle exrjcheinen ihm eben wegen 
ver Schranken ihrer Thätigkeit und ihres Wifjens von den Anforde 
rungen „ſtaatsmänniſchen Thuns“ (rodırızng rrow£ews) gleich weit 
entfernt.) In dieſer Beziehung befteht für Plato kein Unterjchied 








!) In dem Aufſatz über die Gerechtigkeit in der Volkswirtſchaft a. a. O. 

?) Dabei urteilt Plato über die Niedrigkeit der Gefinnung der Durch: 
ſchnittsmenſchen immer noch günftiger, als einer der größten modernen 
Menſchenkenner (Shafefpeare im Hamlet): „To be honest, as this world 
goes, is to be one man pick’d out of ten thousands. 

) Vgl. Hodır. 297: @s 00x dv note nANFos 0Vd’ Wvrivwvodr 
Tv Toiwvrnv AaBov Erormunv olov U’ dv yEroıro uerd vod diozeiv noir, 
aA nregl ouıxgov Ti zei oAlyov zal To Ev Eorı Ünrnteov ınv ulav Exeivnv 
nohıreiav ımv 0091v xıA. (sc. E0O79M). 

) Bol. die Aufzählung ebd. 267e, 290a. 

5) Ebd. 289 e. 





II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Plato2. 317 


zwijchen dem bejcheivenen Arbeiter und dem „hochmütigen wegen 
der Wichtigkeit jeines Berufes hochangeſehenen“ Briefter.!) 

Sollte es nun aber Plato deswegen, weil ihm die Ange 
hörigen aller anderen Berufe dem zur Leitung des Ganzen befähigten 
philoſophiſchen Staatsmann gegenüber eine niedrigere Stufe des 
Wiſſens und der Einficht repräfentieren, für gleichgültig erklärt 
haben, ob diejelben überhaupt ein höheres oder geringeres Maß 
von QTüchtigkeit befüßen? Man fteht, zu welchen Konjequenzen die 
herrſchende Anſchauungsweiſe Führt! 

Übrigens findet unſere Auffaſſung auch in dieſer Frage ihre 
volle Beſtätigung durch die „Geſetze“. Auch im zweitbeſten Staate 
werden politiſche Rechte nur ſolchen eingeräumt, welche Gewinn aus 
Handel und Gewerbe „verſchmähen“ und ihre „wahrhaft freie“ Ge— 
ſinnung nicht in „ſchimpflichem Handwerkerſinn“ untergehen laſſen.?) 
Und trotz dieſer Auffaſſung wird gleichzeitig die möglichſte Verſitt— 
lichung des Arbeitslebens bis herunter zum verachteten Trödler, ja 
zum Sklaven gefordert! Warum ſollte alſo eine ſolche Forderung mit 
dem Standpunkt des Idealſtaates unvereinbar ſein, in welchem der 
Handwerker noch dazu eine ungleich geachtetere Stellung einnimmt? 

Die herrſchende Auffaſſungsweiſe läßt ſich eben viel zu ſehr 
durch den Eindruck beſtimmen, welchen die ſchroffe Form mancher 
platoniſcher Hußerungen macht, und fie zieht daher Konſequenzen 
aus ihnen, die dem Urheber jelbjt ferne lagen. Sie überfieht, daß 
die oft Leidenjchaftlich bewegten und wohl auch gelegentlich fich 
widersprechenden Äußerungen einer genialen Perfönlichkeit, eines von 
rücfichtslofem Eifer befeelten Apoſtels anders beurteilt werden 
müffen, als die fühl abgewogenen Säße eines reinen Berjtandes- 
menschen, welcher den Dingen ohne innere Anteilnahme gegenüber: 
fteht. Sie überfieht vollftändig, daß jene Schroffheit des Ausdrudes 
bei einem Manne, der mit der größten Unbefangenheit über den 
Wert und die Ehrenhaftigfeit jeder Arbeit zu urteilen vermochte, ?) 

ı) 290d. 


2) 74le. ‚ 
3) Vgl. oben ©. 254. 


318 Erſtes Buch. Hellas. 


nicht bloß in Borurteilen wurzeln kann, daß ſie vielmehr ganz 
wejentlich der pſychologiſche Nefler von Zuftänden ift, die dem für 
die höchſten Aufgaben des Staates begeifterten Sinn des Denkers 
unerträglich erſchienen, und deren Urheber eben der ſtädtiſche Demos 
war. Diefe Empfindung eines unerträglichen Drudes mußte fich 
mit elementarer Gewalt in bittere und harte Worte umfeßen, wenn 
— wie in unferen Dialogen — unter gleichgejtinnten Männern das 
Geſpräch auf die Leute Fam, die draußen auf der Agora „um die 
Nednerbühne ſaßen und jedes mißliebige Wort tobend niederſchrieen,“ 
in deren Händen felbft die ivealfte Funktion des Staates, das Werk 
der Gerechtigkeit, zur Karrifatur werden fonnte. Erkennen wir jo 
die pſychologiſche Wirkung des Gegenjages, jo wird ung ſelbſt das 
Härtefte begreiflich, vollends, wenn es — wie in jenen Hußerungen — 
dem Manne in den Mund gelegt wird, der jelbjt der intellektuellen 
und moralifchen Schwäche der Maſſe zum Dpfer gefallen war. 
Hat der Terrorismus der Mehrheit, des „vielköpfigen Dejpoten“ 
(Aristoteles) nicht zu allen Zeiten genau in derſelben Weiſe auf evlere, 
fittlich und äfthetifch feiner organifierte Naturen gewirtt? Grimnern 
wir und 3. B. des Nefleres, welchen die Thaten der franzöftjchen 
Demokratie in den Werfen unferer Geiftesheroen hinterlaffen haben! 
Die Art, wie Goethe in taufend Sprüchen von der Menge 
fpricht, gibt den platonischen Außerungen kaum etwas nad). Un: 
mittelbar an das Wort des platonischen Sokrates von dem hin- 
dDämmernden Traumleben der meiften Menfchen, die fih nie über 
die bloße Vorftellung zur begrifflichen Erkenntnis zu erheben ver: 
mögen, klingt der Spruch Goethes an: Weh denen, die dem ewig 
Blinden des Lichtes Himmelsfakel Leihen.“ Mit platonifcher Schroff: 
heit erklärt Goethe in den Wanderjahren: „Nichts iſt wiverwärtiger 
als die Majorität. Denn fie beiteht aus wenigen fräftigen Vor— 
gängern, aus Schelmen, die fich accommodieren, aus Schwachen, die 
fich affimilieren, und der Maſſe, die nachtrollt, ohne nur im mindeſten 
zu willen, was fie will.” — Eine Auffaffung, die übrigens Goethe 
nicht gehindert hat, gerade in dem Entwurf des Gejellichaftsiveales, 
welches die Wanderjahre enthalten, die Frage nad) der Stellung 


II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 319 


der wirtjchaftlichen Arbeit in wahrhaft hHumanem, von Klaffenvor- 
urteilen vollfommen freiem Geiſte zu beantworten. 

Und der „demokratiſche“ Schiller, jagt er uns nicht?: 

„Mehrheit ıft Unſinn, 
Verſtand ift ftets bei Wenigen nur geweſen. 
Kümmert fi) um da3 Ganze, wer nichts hat?“ 

Aber auch bei ven Herolden und Führern der Demofratie jelbft 
finden fich ähnliche Klagen: „Schwer ift es — jagt Rouſſeau in den 
Bekenntniſſen — adelig zu denken, wenn alles Denken der Erhaltung 
des Lebens gelten muß.” Und noch weit jchärfer der größte Wortführer 
der Revolution, Mirabeau: „Verachtet das Volk und helft ihm”. — 
Die Arbeit für das Wohl des Volkes wird als Pflicht anerkannt und 
troßdem: „Verachtet!“ Eine Devife, die übrigens die Staatsmänner 
des platonijchen Spealftaates nicht zu der ihrigen gemacht hätten. 

Man denke fi eimmal bei uns die Monarchie durch das 
rein parlamentarifche Prinzip thatlächlich befeitigt und die Parla— 
mentsmehrheit in den Händen der Maſſe, Behördenwahl und Necht- 
Iprechung durch das Volk nach atheniſchem Mufter! Wer wollte 
bezweifeln, daß die unvermeidliche Neaktion der gebildeten Minder- 
heit zu derſelben jchroffen Beurteilung der Maſſe, ihrer intelleftuellen 
und Sittlichen Unveife führen würde, wie in den Zeiten der athe- 
niſchen Demokratie? Die Illuſionen des doftrinären Liberalismus, 
der jebt noch auf die in folchen politifchen Verhältniſſen ergrauten 
antifen Denker herabzufehen gewohnt ift, würden wie Seifenblajen 
verſchwinden und einem Peſſimismus Platz machen, der hinter dem 
der antifen Staatslehre kaum wejentlich zurücbleiben dürfte. Es 
it vollfommen richtig, wenn ein befannter Führer der Sozialdemo— 
fratie gemeint hat, daß in dem Momente, wo viejelbe die Mehr: 
beit in den Parlamenten erringen wide, die Minderheit das all 
gemeine gleiche Stimmrecht einfach aufheben, aljo die große Maſſe 
ebenjo zu politischer Ohnmacht verurteilen würde, wie Dies Plato 
thut; — wobei übrigens nicht zu vergeſſen ift, daß Plato auch von 
der Minderheit noch eine ganz andere Zegitimation zur Herrichaft 
fordert, als dieje bis jetzt aufzuweiſen vermag. 


320 Erſtes Bud. Hellas. 


Schon jetzt ift unter dem gewaltigen Eindrud des Fühnen 
Emporftrebens der Mafjen die „realiftiiche” Nichtung der modernen 
Staatslehre, welche den Anſpruch erhebt, mit dem thatjächlichen Leben 
und feine Forderungen in engjter Fühlung zu ftehen, genau bei den— 
jelben Anfehauungen angelangt, welche dem modernen Liberalismus 
an der Staatslehre der Griechen jo ganz unverftändlic waren. 
Sie erklärt, wie diefe, das Prinzip der Majorität für ein „durch: 
aus unrichtiges und faljches”. Es „unterliegt ihr — um die 
Worte eines der moderniten Vertreter dieſes Realismus zu ge 
brauchen — abjolut feinem Zweifel, daß die Mafje immer gedanfen- 
(08 und roh ift, Vernunft und Adel der Gefinnung nur einer ver- 
ichwindend Kleinen Minorität der Menjchen eigen iſt“. Eine That: 
jache, die nur dadurch gemildert werden fönne, daß die große Maſſe 
duch die Minorität von jedem Einfluß auf den Gang der öffentlichen 
Angelegenheiten ferngehalten und ausgejchlofjen bleibt.') Das hätte 
auch Plato nicht ſchroffer ausdrücen können! 

ilder, aber doch in ähnlichem Sinne urteilt der Altmeifter 
der hiſtoriſchen Richtung der politischen Ofonomie. „Steigt man — 
jagt Roſcher — mit der Anteilgewährung an der Souveränität 
immer tiefer herunter, jo it wohl zu bedenken, daß eine den Körper 
unmäßig anftrengende Hantierung, ewige Nahrungsjorgen, enger 
Gefichtsfreis von Jugend auf, jorgloje Erziehung feine gute Schule 
für den Staatsmann bilden.“?) — Gerade in den unterjten Klaſſen 
ist, wie Schmoller mit echt bemerkt,3) die Gefahr am größten, 
daß ſich das Individuum ganz und ausschließlich dem Klafjengeift 
ergibt, je mehr die Faktoren der allgemeinen Bildung, des Staat3- 
und Nationalgefühls zurüdtreten. Selbſt ein jo liberaler Politiker, 
wie Hirth, nähert ſich der platonifchen Charakterijtif der Demokratie, 
wenn er in feinen „Freifinnigen Anfichten des Staates und der Volks— 
wirtſchaft“ jagt: „Zu der enorm großen Rolle, welche heute bei ung 
das Individuum als Wähler und indireft als Geſetzgeber, als 

') Gumplomwicz: NRechtsftaat und Sozialismus ©. 260. 

2) Umriſſe zur Naturlehre der Demokratie ©. 28. 

?) Das Weſen der Arbeitsteilung a. a. O. ©. 9. 


II. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftitaate Platos. 3931 


Steuerzahler und Vaterlandsverteidiger Ipielt, zu dem ftolzen Selbjt- 
bewußtjein, das ihm die Gleichheit vor dem Geſetze gibt, zu alle- 
dem ſteht die wirkliche Nehtsfultur in gar feinem Vers 
bältnis. Die große Mafje tappt im Finftern. Wohl ihr 
und dem Staate, wenn fie zum wenigjten guten Inſtinkten folgt. 
Das iſt alles, was wir hoffen dürfen.) — „Was in erregten 
Augenbliden, — jagt Cohn, — nur als ein Recht exrjchien, deſſen 
man ſich nur zu bemächtigen habe, um es auszuüben, erwies fich 
in der Erfahrung als eine Schwierige Pflicht, welcher der 
moderne Menſch und feine individualiftifhe Lebensrich— 
tung nit gewachſen war.“2) — Eben das, was Plato von 
der antifen Demokratie behauptet! 

Und jolche Anſchauungen find feineswegs vereinzelt! Sie treten 
uns genau jo, wie im Altertunt, gerade da entgegen, wo jich die 
Entwidlung des ftaatlihen Lebens am „freiheitlichſten“ gejtaltet, 
dem antifen Nepublifanismus am meijten genähert hat. Es ift 
wahr, jagt ein Staatsmann des republifanifchen Zürich, daß es 
Einzelne gibt, welche fich über die bloße vernünftige Selbitliebe er- 
heben, welche von der höheren göttlichen Liebe getrieben ſich dem 
Organismus des Staates unterordnen, bingeben, bereit jogar, ſich 
für denfelben aufzuopfern. Dies ift eben die Tugend. Aber es ift 
Selbittäufhung, diejelbe als das allgemeine, die Einzelnen leitende 
und bewegende Prinzip, für den Gejamtwillen zu halten, da es 
vielmehr nur eine jeltene Ausnahme it, obgleich viele ſich den An— 
ſchein derjelben zu geben fuchen. — Rari in vasto gurgite nantes!” 
— „Übrigens — wird ‚zur milderen Beurteilung der menjchlichen 
Natur nach dem Durchichnittswert‘ hinzugefügt — kann jener tugend- 
hafte Batriotismus von vielen, ja den meiſten nach ihrer Bildungs: 
ſtufe und unter dem Drude täglicher Anftvengungen und Sorgen 
für den dürftigen Lebensunterhalt gar nicht gefordert werden.” >) 

Seit diefer Hußerung ift ein Menfchenalter verfloffen, in 

1) ©. 66. 

FA. ©4338. 

3) U. Eſcher: Praktifche Politik I, 41. 


Pohlmann, Geſch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 21 


333 Erftes Buch. Hellas. 


welchen der Demofratismus im Sinne des antiken Prinzips der 
unmittelbaren Gejeßgebung durch das Volk weitere Fortjchritte ge 
macht, gleichzeitig aber auch die Folgen der immer höher anjchwel- 
(enden demokratiſchen Strömung jelbjt in „Liberalen“ Kreifen eine 
Kandlung herbeigeführt haben, die in immer ſchärferen und jchrofferen 
Hußerungen zu Tage tritt. So eröffnete die neue Züricher Zeitung 
im Sahre 1891 einen Feldzug gegen die direkte Volfsgejeßgebung, 
gegen das Neferendum, mit folgender Erklärung, welche direkt aus 
der platonischen Staatslehre entlehnt fein fünnte: „Vom Gejeßgeber 
wird verlangt! Sum für Billigfeit und Gerechtigfeit, ein weiter 
Blick und umfassende Kenntniffe ALU dieſe Dinge find bei 
der großen Maſſe des DBolfes nicht vorhanden. Wie 
fann man alſo leßtere zum oberjten Gejeßgeber machen? Das 
Referendum jollte zur politiihen Schulung des Volkes dienen. 
Statt deſſen ift es Urſache, daß die ſchlimmſten menjchlichen Eigen: 
ichaften, welche die Unzufriedenheit mit den ökonomiſchen Verhält- 
niſſen erzeugt, nämlich Neid, Selbjtjucht und Engherzigfeit in poli— 
tifchen Dingen wachgerufen und ausjchlaggebend werden.” 

Die gegnerische demokratiſche Preſſe fieht in diefer Kritik 
natürlich nur engherzigen volfsfeindlichen Arijtofratismus, genau 
jo, wie man den über alles Getriebe der Partei erhabenen antiken 
Denker zum ariftofratiichen Parteimann gejtempelt und unter die 
Leute geworfen hat, die „in der Hetärie dem Demos den Tod ge= 
Iehworen.“ ı) 

Sit Plato Ariftofrat in diefem Sinne, dann ift es auch 
Carlyle, der von Athen und Rom gejagt hat, daß fie „ihr Werk 
nicht durch laute Abjtimmungen und Debatten der Mafjen, jondern 
duch die weiſe Einſicht und Herrſchaft der Wenigen vollbracht 
baben;“?) — dann ift auch ein anderer hervorragender britifcher 
Denker, Henry Maine, engherziger Ariſtokrat, weil er gejagt hat: 








!) Bgl. die von diefer einfeitigen Anfchauungsweife beherrichten Aus: 
führungen Ondens (Ariſtoteles T, 115), der fi) damit Plato gegenüber auf 
denjelben Standpunkt ftellt, wie die Ankläger des Sofrates gegen dieſen. 


?) Chartism e. 5. 


II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernimftitaate Platos. 323 


„les was England berühmt und alles was England reich gemacht 
hat, it das Werk von Minoritäten und oft von ſehr Eleinen. Es 
Iheint mir unumftößlich ficher, daß, wenn jeit vierhundert Jahren 
ein ausgedehntes Wahlrecht und eine zahlreiche Wählerichaft bier 
zu Lande beftanden hätte, wir weder eine veligiöje Neform, noch 
einen Wechjel der Dynaftie gehabt, noch Glaubensfreiheit, nicht 
einmal einen richtigen Kalender erlangt hätten. Die Dreſchmaſchine, 
ver mechanische Webftuhl, die Spinnmaſchine und möglicherweife 
die Dampfmaschine wären verboten worden. Und wir fünnen ganz 
allgemein jagen, daß die immer näher kommende Herrſchaft der 
Mafjen von der übeljten VBorbedeutung für alle Gejeßgebung ift, 
die fi) auf wifjenjchaftlicher Kenntnis gründet, die geijtige Ans 
ftrengung exheifcht, fie zu verftehen, und Überwindung, ſich ihr zu 
unterwerfen.“ 1) 

Hat aber andererjeits das „bejigende und gebildete” Bürger: 
tum von den freien Verfaſſungsformen des modernen Staates den 
Gebrauch gemacht, daß das Mißtrauen, welches Wlato auch der 
Bourgoifie entgegenbringt, lediglich als Ausfluß antiker Vorurteile 
gelten könnte? Keineswegs! Die Erfahrungen des freiheitlichen 
Staatslebens der Neuzeit haben unwiderleglich gezeigt, daß, wie 
Schmoller treffend bemerkt hat,?) „die Mehrzahl der Menjchen, auch 
der Gejchworenen, der Stadtverordneten, der Abgeordneten, daß alle 
die, welche nicht eine ſehr hohe geiftige und moraliſche Bildung 
haben, die Abſtraktionskraft und Fähigkeit nicht befigen, ihr Denken 


) Volkstümliche Regierung ©. 63. Vgl. auch die Kritik der ameri— 
kaniſchen Demokratie in dem befannten Aufſatz Herbert Spencers „Von der 
Greiheit zur Gebundenheit”: „Wie wenig jahen die Männer, welche die ameri- 
fanijche Unabhängigfeitserflärung erließen, voraus, daß nach einigen Menſchen— 
altern die Geſetzgebung in die Gewalt der „Drahtzieher” gleiten, daß ihre 
Geftaltung ganz von der Amterjagd abhängen würde, daß die Wähler, ftatt 
felbftändig zu urteilen, durch ihre „Boſſes“ zu Taujenden als Stimm: 
vieh an die Wahlurne getrieben werden und daß alle anjtändigen Menjchen 
fi) vom politifchen Leben zurücdziehen, um den Bejchimpfungen und Ver: 
leumdungen der gewerbsmäßigen Politiker zu entgehen.” 

?) Grundfragen ©. 133. 
21% 


394 Erſtes Buch. Hellas. 


und Fühlen als Gejchäftsinhaber von dem als Vertreter öffentlicher 
Intereſſen ganz zu trennen.” — 

Es wird dadurch mur das betätigt, was einer der größten 
Meifter piychologiicher Beobadhtung, Schopenhauer, in feiner „Welt 
als Wille und Borftellung” gejagt hat: „Der Vorteil übt eine ge- 
heime Macht über unfer Urteil aus. Was ihm gemäß tft, erjcheint 
uns alsbald billig, gerecht, vernünftig; was ihm zumwider ift, Stellt 
fih uns im vollen Ernſt al3 ungerecht und abjcheulich oder zweck 
widrig und abjurd dar. Daher jo viele Vorurteile des Standes, 
des Gewerbes, der Nation, der Sekte, der Religion.” 

Wenn aber jhon die Schwierigkeit des uninterejfierten und 
jtimmungslojen Denkens für die Meiften eine kaum überwindliche 
it, wie viele bejißen jene Fähigkeit zur bejtändigen Selbſtkritik 
gegenüber den in den Schranken der Subjektivität wurzelnden 
Ürteilstrübungen, jene Kraft der Abftraktion, ohne welche die höchite, 
allen Standpunften und Intereſſen gerecht werdende Objektivität 
nicht möglich ift? — Die Antwort, welche die gejchichtliche und 
piychologiihe Erfahrung auf dieſe Frage gibt, lautet in der Formu— 
lierung eines modernen Kritifers des Sozialismus: „Die Fähigkeit 
abjoluter Objektivierung ift die Gabe der auserleſenſten Geifter allein. 
Die größten Philoſophen, die größten Staatsmänner find Meifter 
der Objektivierung gemwejen. Das Volk ift ftets Stümper darin.” !) 
— Und was folgt daraus für die Sozialtheorie, wenn e3 gilt, Die 
Grundſätze feitzuftellen, nach denen eine Gerechtigfeit höherer Ord— 
nung zu verfahren hat? Sie „muß es ablehnen, ji) an die Be— 
teiligten zu wenden”. Sie hat aus der klaren Erkenntnis der 
Motive, von den die verfchiedenen Gejellichaftsklaffen bewußt oder 
unbewußt fich leiten lafjen, die Einficht gewonnen, „wie verfehlt 
es wäre, die Direftive für das jozialpolitiihe Handeln von ihnen 
entnehmen zu wollen”.2) Sie fordert für die Feſtſtellung der 
„Formel der Gerechtigkeit” eine Inſtanz, welche vollfommen jelb- 
ſtändig und frei über dem Getriebe der Gejellichaft ſteht. 

) Wolf: Syſtem der Sozialpolitik I, 593. 
2) Wolf ebd. ©. 592. 





III. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftitaate Platos. 3 


G 
[eo] 


Bergegenwärtigen wir uns al’ diefe Thatjachen, deren wir 
uns erſt in der Schule des modernen politifchen Lebens wieder voll 
und ganz bewußt geworden find, die aber dank analogen Erfah: 
rungen bereits dem antifen Denter klar vor Augen ftanden, jo 
müſſen wir jagen: Wenn Blato aud) bier, wie jonjt, ohne Rückſicht 
auf andere, für den gejchichtlich gewordenen Staat in Betracht kom— 
menden Momente, die legten, rein logiſchen Konjequenzen ziehen 
wollte, jo konnte er fich als den idealen Nepräfentanten feines Ge- 
vechtigfeitsprinzipes nur den philojophiichen Staatsmann denken, 
fonnte unmöglich der Erwerbsgejellichaft einen Einfluß auf das 
jtaatliche Leben einräumen, der mit dem Eindringen ihrer „Urteils: 
trübungen” gleichbedeutend gewejen wäre, die reine Durchführung 
des Gerechtigkeitsprinzips von vorneherein in Frage geftellt hätte! 
— Ob dieſe Löſung eine praftiich mögliche, das ijt eine andere 
Frage. Uns kommt es hier nur darauf an, feitzuftellen, daß die 
Ausſchließung der Erwerbsftände von der Politik durch die jtreng 
logijche Konjequenz des ganzen Syſtems unbedingt gefordert war. 

Dies verkennen alle Diejenigen, die da meinen, daß in den 
politiichen Dialogen Platos dur” den Mund des Sokrates nur 
arijtofratiiche Vorurteile des Verfafjers zum Ausdrud fommen. Daß 
dem nicht jo ift, beweift jchon die bedeutfame Thatjache, daß auch 
der geschichtliche Sokrates, der Bildhauersfohn, der Mann der 
Arbeit, als politifcher Denker aus ähnlichen Motiven tiber die poli- 
tiſche Herrſchaft der Erwerbsklafien nicht minder jchroff geurteilt 
bat, als Plato. Bon ihm, der doch jeder Arbeit ihre Ehre gab,!) 
ftammt das berbe Urteil über den jouveränen Demos, den „uns 
wiljenden und ohnmächtigen Haufen von Walfern, Schuftern, 
Zimmerleuten, Schmieden, Bauern, Händlern und Krämern, Die 
nie über Politik nachgedacht haben”.2) Und trogdem! Wäre nicht 
gerade Sofrates der Lebte geweſen, der darauf verzichtet hätte, 
über dieſen unwiſſenden Haufen eine „fruchtbare Tugendjaat aus- 


!) Xenophon Mem. III, 9, 15. val. I, 2. 5. 
2) Ebd. II, 7, 5. 


396 Erſtes Buch. Hellas. 
zuftreuen”, ihn aufzuklären über fich jelbft und jeine Stellung in 
der Gejamtheit? Hat nicht gerade Sokrates die Disfufftion über 
die ittlichen Aufgaben des Menjchen hinausgetragen auf den Markt, 
in die Baläftra und die Buden der Handwerker?!) Und ift es 
nicht das Glück des gejamten Bolfes, in deſſen Dienft er alle 
Staatsgewalt ftellt? 2) 

Auch der platonifche Sokrates denkt troß feiner ungleich 
größeren Zurüchaltung gegen die Maſſe in der Hauptſache nicht 
anders.3) Denn darin liegt ja gerade das Wejen der von ihm 
verfündeten „wahren Staatsfunft”, daß durch fie der Staat zu 
einer Anftalt wird, welche möglichit alle zum Guten zu erziehen 
jucht.2) Wenn e3 auch immer jolche geben wird, deren „Ungelehrig- 
feit und niedrige Gefinnung” (auadie zei vansıyorng) aller Er— 
ziehung ſpottet, jo kann doch bei dieſer Auffaffung der Staat un: 
möglich von vorneherein ganze Klaſſen oder gar die große Mehr: 
heit feiner Bürger von ſolcher Erziehung ausichließen. Ein Staat, 
ver, wie der platonifche, nicht das Glück irgend eines einzelnen 
Standes, jondern des ganzen Volkes will, muß auch die unent— 
behrliche Borausfeßung alles Wohlbefindens, ein gewijjes Maß 
von. Sittlichfeit möglichft zu verallgemeinern juchen. Alle anderen 

1) Bol. was Plato ſelbſt in der Apologie (29d) Sofrates von fich 
jagen läßt: ov un navooucı piAooopov zal dulv ragaxehsvouevos TE xui 
evdsizvuusvos 0TD dv del Evrvyyaro Öuwv, Aywv olarıeo Eiwde, 
ori W dowıs dvdgwv.... yonudıwv uEv 00x wloyiveı Enıushovusvog..., 
poovnosws dE zul aimselas xal Ts wouyns Onws ws BeAtiorn Eoraı, 00% 
ertrusdel oVtE poovrißeıs; 

?) Xen. Mem. III. 2. 2: xzai Baoılsvs adyados, oUx El Uovov Tod 
Eavrod PBlov xaAwsg TTEOEOTMKOL, AAN El zul, ov Beoıhsvor, Tovrous svdar- 
wovias aituos ein. $4: zal ovrws Enioxonwv, Tis EIN ayaFov mysuovos 
dem, ta uev dhda negimoei, zareisıne dE TO evdaiuoves noisiv wv 
av nynraı. 

) Bgl. die bezeichnende Frage des Sofrates im Gorgias 5l5a: Peoe, 
Kekkızdns 7dn tıva Beitim nenoimze Tov nohırWv; Eotıv Os TIS I00TE00V 
zovn90s wv Üdıxos TE zai axoAaoTos xal dpowv did Kaddızkkau xahös TE 
xcyados yEyovev 7 EEvos N aoros, 7) dovAog 7) EAevdEgog; 

2) Hot. 308 f. 





III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 327 


Wohlthaten, die den Bürgern erwieſen werden können, find ja nach 
Platos Anficht für diefelben vollfommen wertlos, wenn es nicht 
gelingt, fie zugleich auch fittlich zu bejjern.!) Und Blato kann diefe 
Aufgabe feinem Staate umjoweniger abgeiprochen haben, da er der 
Überzeugung lebt, daß für niemand Beruf oder Stand ein abjo- 
lutes Hindernis bildet, je nach feiner Individualität ein größeres 
oder geringeres Maß von Sittlichfeit zu erreichen. ?) 

Nichts könnte auf diefe Anſchauung Platos ein Elareres Licht 
werfen, als die Anklage, welche er gegen die politifchen Führer der 
atheniſchen Demokratie, gegen Berikles, feine Vorgänger und Nach: 
folger erhebt. Er kann fie nicht als „gute Staatsmänner” (00x 
ayadoi a molırıza),’) ja nicht einmal als gute Staatsbürger 
anerkennen, „weil fie es verabjäumt hätten, ihre Mitbürger aus 
Schlechteren zu Beſſeren zu machen” (Peiriovs avri xeıgovov),t) 
was doc „das alleinige Streben eines guten Bürgers fein muß“.>) 

Sollte aber für denjelben Mann, der die Staatsmänner des 
-geiehichtlichen Staates in ſolcher Weiſe für den Stand der all- 
gemeinen DVolksfittlichfeit verantwortlich macht, der die Bolitifer 
und Nedner der Demokratie vor allem als jehlechte Volkserzieher 
verwirft und den Staat als eine Erziehungsanftalt für alle profla- 

1) Ebd. 5l3e: dp’ 007 ovrws Erysipmreov nulv Eoriv 17 noAı zei 
tTois noAitaıs Feoaneveiv, Ws BehArtiorovs aurTougs toTs noAitas 
ToLoÖVTaS; Evsv yao dn Tovrov... ovdev opekos aAAnv EvVEo- 
ysolav ovdsuiav nooogpE£oeıv, Edv un xaAn xayadn m didvore 7 tWv 
usAlovrov 7 yoruara noAla haußdveıv 7 aoynv tivov 7 ahkıyv duvauıy 
HrrıvoVV. 

?) ©. die ſchöne Stelle über die Wahl der Lebenzloje Rep. 617e: 
no@rtos de 6 Auyav noWros wigeio9w Plov, W ovv&orau EE avayans.. doetn 
de adeonorov, nv TıuWv zul arıudlov nAELov xal EAarrov 
arıns Exaoros Efsı alria Edouevov' YEos aveitıos. Vgl. Leg. 
904d, e. 

3) Gorgias 517a. 

4) Ebd. 5ldd. { 

5) uovov Eoyov «yadovd moAirov 517b. Vgl. 5l5b: 7 «Adov Tov 
doa ν E&9av Ei Ta 17S noAews nodyucra 7 Onws € Tu 
Bekrioror nokta wuerv; 


3928 Erſtes Buch. Hellas. - 


miert, jollte für den bei dem Entwurf feines Staatsiveals dieſe 
Frage, ſoweit es ſich um die große Mehrzahl der Bürger handelt, 
gar nicht mehr vorhanden gewejen fein?!) Eine ganz undenfbare 
Annahme, welche zugleich die weitere Konjequenz in ſich ſchlöſſe, 
daß der Vernunftſtaat für die Sache der Volkserziehung noch weniger 
geleijtet haben würde, als der bejtehende. 

Adam Smith weift in der erwähnten Grörterung über die 
ſchädlichen Folgen der Arbeitsteilung rühmend auf die Gejeßgebung 
ver helleniſchen Staaten hin, welche durch ihre Fürforge fir die 
muſiſche und gymmaftifche Ausbildung aller Staatsangehörigen den 
Einfeitigfeiten einer gewerblichen und merkantilen Entwidlung ent- 
gegengewirkt hätten. Kann man Blato im Ernſte die Abficht zu— 
trauen, in jeinem alle beglücenden Staat die ungeheure Mehrheit 
diefer Wohlthat zu berauben und damit eine der wertoolliten 
Schranken phyfiiher und fittlicher Entartung felbft niederzureißen? 

Übrigens befigen wir von Plato ſelbſt eine Äußerung, in der 
er fich mit der genannten Thätigkeit des beftehenden Staates voll- 
fommen einverjtanden erklärt. Im Krito- werden die Gejete des 
Staates vedend eingeführt; fie weiſen den eingeferferten Sofrates 
auf die Fürſorge hin, mit der fie fich feiner von Kindheit auf an- 
genommen, und ver er die „Erziehung und Bildung“, die mufische, 
wie die gymmaftiiche, zu verdanken habe, die ihm fein Vater eben 
den Geſetzen gemäß habe angedeihen laſſen. Sofrates d. h. 
Plato jelbjt erkennt ausdrücklich dieſe ſtaatliche Fürforge, die auch 
der Kinder des armen Handwerkes nicht vergißt, als etwas „Schönes“ 
an.2) 0 handelt es fich dabei nicht um ein vom Staate jelbft 


) Und das, obgleich er noch im „Staatsmann“ denjelben Standpunkt 
eiunimmt! Es heißt hier (297b) von den Eugpoorves doyovess, daß fie owdeır 
oioi TE wor xel dueivovs &x yeıoovwv anoreleiv (ToVs Ev tn noAsı) are 
To dvvarov. 

2) 50d: 7 ov zaAws 1g00ETaTToV Nuov oi Eni Tovroıs (Sc. 
TgopN ai naudeig) rerayuevoı vouor, nagayy£ikovres to narei ro 
CD CE Ev uovoızn zai yvurasıızn nardeveırv. Auch dieſe für die 
Benrteilung der jozialpolitichen Stellung Platos überaus wichtige Thatfache, 





III. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftftaate Platos. 3939 


geleitetes Erziehungswejen, jondern im weſentlichen nur um mittel- 
bare Maßregeln, welche dem Staate eine gewiſſe Bürgichaft dafür 
geben jollen, daß die heranwachſenden Bürger nicht ohne Erziehung 
und Unterricht bleiben. Allein für die prinzipielle Frage, auf 
welche Klaſſen fih nah Blatos Anficht die Unterrichtspolitif des 
Staates zu erftreden hat, ift das ohne Belang. 

Aber auch im Entwurf des Idealſtaates fehlt es Feineswegs 
an Anhaltspunften dafür, daß Plato nach wie vor die TIhätigfeit 
des Staates im Intereſſe der Erziehung und des Unterrichts dem 
gefamten Bürgertum zu Gute fommen laſſen will. 

Das harmonifche Verhältnis, welches der Idealſtaat zwifchen 
allen Klaſſen der Gejellichaft herzuftellen jucht, Toll nicht bloß das 
Werk des Zwanges, jondern in exrjter Linie eine Frucht der freien 
Überzeugung, der „Überredung“ fein.!) Diefem Zweck dienen unter 
anderem die Glaubensvoritellungen, welche Plato den Angehörigen 
der Erwerbsitände, den „übrigen Staatsbürgern”, ebenjo eingeprägt 
wiſſen will, wie den Beamten und Kriegern: der jehon erwähnte 
Shöpfungsmythus, der durch die Lehre von der Verwandtichaft 
aller Bürger das ganze Volt mit dem Geiſte dev Bruderliebe 
erfüllen joll,2) ferner die ebenfalls mythiſch eingefleidete Lehre, daß 
die Scheidung der drei Stände des Vernunftjtaates ein Werk der 
Gottheit jelber jei,3) endlich der Götterſpruch, nach welchem jede 
Veränderung in dem gegenfeitigen Verhältnis diefer Stände, jedes 
Hinausitreben eines Standes über die ihn durch die Verfaſſung des 
Staates zugewiefene Nechtsiphäre den Staat ſelbſt mit dem Unter: 
gang bedrohen würde.) 
daß Plato jelbit fich für die mufifche und gymnaſtiſche Ausbildung aller 
Staat3angehörigen ausgejprochen hat, iſt bisher völlig überjehen worden, 
jelbft von Strümpell, der in jeiner Gejchichte der praftiichen Philojophie der 
Griehen (©. 387) in der Sache jelbjt bis zu einem gewiſſen Grade das Rich— 
tige gejehen hat. 

!) Rep. 519e. 

?) 414e ff. 

>) 415a. 

9 Ale. 


330 Erſtes Buch. Hellas. 


Auch Für Die Negierten ſoll die Staatsordnung nicht bloß 
etwas Hußerliches fein, ſondern ihrem Innenleben vermittelt werden. 
Sie müſſen diejelbe, um ihr innerlich zuftimmen zu können, als das 
Werk der höchjten Dronerin aller Dinge, der Gottheit, auffaſſen 
lernen, deſſen Berechtigung von vornherein außer Frage fteht. Das 
Individuum foll in den Stand gejegt werden, alle Zweifel an der 
Gerechtigkeit der ftaatlichen Ordnung und alle Gedanken der Auf 
lehnung zu überwinden, dadurch, daß ihm diejelbe zu einer gött- 
lichen wird, daß es die Bejonderheit feiner eigenen Stellung und 
Berufsarbeit als den Ausdrud eines göttlichen Willens, feine Unter: 
werfung unter das Ganze al eine religiöjfe Pflicht erfaſſen lernt. 

Die Unterweifung in diefen Glaubensvoritellungen bildet bei 
der Hüterflaffe einen Beftandteil des muſiſchen Unterrichtes in dem 
bergebrachten Sinne des Wortes, des Unterrichtes in Poeſie und 
Mufif und in den yoruuere d. h. Lejen und Schreiben. Folgt 
daraus nicht mit Notwendigkeit, daß Plato, wenn er dieje Unter: 
weilung auch auf die Jugend des dritten Standes ausdehnen wollte, 
diejelbe zugleih an dem lementarunterricht und der auf der ge 
reinigten Volksreligion ruhenden fittlihen Erziehung beteiligen 
mußte? Plato jagt ſelbſt in der Erörterung über dieje fittliche 
Erziehung, daß das Gepräge (zvrros), welches man dem Fühlen 
und Denken der Menſchen zu geben wünjcht, ſich am Leichteften in 
dem lenkbaren Gemüt der Jugend erzeugen läßt.) Wie hätte er 
das Gepräge, welches er dem ethifch-politifchen Empfinden des dritten 
Standes geben will, auf anderem Wege juchen follen, als dem der 
Sugenderziehung! Plato will ja auch die Jugend der bürgerlichen 
Klaffen vor unwürdigen Vorftellungen über die Götter behütet 
wiffen. Ale Mythen, welche jolche Vorjtellungen enthalten, wie 3. B. 
die Gefchichte von Giganten und Götterfämpfen u. dgl. dürfen im 
Bereich feines Staates überhaupt „nicht erzählt” werden, dürfen 
„vor den Ohren Feines Knaben“ erwähnt werden, ſelbſt wenn fie 


1) 377b: oVxoWv 0109, Otı doyn navıos Eoyov uEyıoTov, dhAws TE 
udhora yao dn Tore nAdrrereu zai Evdverau 
tunos, ov dv Tıs BovAeraı Evonumvaodaı ExdoTw. 





zul vEew zei dnah) OTWoDV; 





III. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftitaate Platos. 331 


nur im jymboliihen Sinne gemeint find.!) „Denn der Knabe 
vermag nicht zu unterjcheiden, was Sinnbild ift, was nicht, auch 
pflegen die Borjtellungen, die der Menſch in dieſem Alter in fich 
aufnimmt, nnaustilgbar und unveränderlich feitzuhaften.”2) Der 
Soealjtaat wird daher unter feinen Umſtänden (ovd’ önworiovv) 
zugeben, daß „die Knaben die eriten beiten Sagen, die von den 
erſten Beſten erdichtet ind, anhören und in ihre Seele Borftel- 
lungen aufnehmen, die größtenteils denen entgegengejegt find, von 
denen wir glauben, daß ſie diefelben im jpäteren Leben feithalten 
müjjen.“ >) 

Wenn aber die heranmwachjende Jugend des dritten Standes 
fih desselben ftaatlihen Schuges gegen das Eindringen ſtaats— 
und fittengefährlicher Vorſtellungen erfreut, wie die der Hüterklaffe, 
ſoll ihr nicht auch das pofitive Ergebnis der platonifchen Pädagogik 
zu Gute kommen, nach welcher es eben wegen der Nachhaltigkeit 
der Jugendeindrücke „für das Allerwichtigite anzufehen ift, daß Die 
Kinder in dem, was ſie zuerjt hören, Dichtungen hören, deren Er- 
zählung zur Tugend anzureizen vermag?”t) Liegt es nicht im 
Intereſſe des Idealſtaates jelbit, die fittlichen, religöſen und ſozialen 
Borftellungen, welche auch die Angehörigen des dritten Standes 
„feſthalten“ müſſen, und die Dichtungen, durch welche fich diejelben 
erzeugen follen, zum Gegenjtand einer ſyſtematiſchen Jugenderziehung 
zu machen, welche nach Platos eigener Anficht dem Staate mehr 
al3 irgend etwas anderes die Nachhaltigkeit ſolcher moralifcher Vor: 
ftellungen und Gefinnungen verbürgen kann? 

Und fordert nicht Schon die Verfaſſung des Bernunftitaates 
ein gewiſſes Maß öffentlicher Erziehung für alle Volksklaſſen? Die 
Ständegliederung Toll hier ja durchaus nicht zu einem ftarren Kaften- 
wejen führen, welches den Niedriggeborenen unter allen Umſtänden 


') 378b: ... 00 Aszıdun .... &v ı7 Hyusreog noAeı (sc. oörot od 
Aoyoı) oudE Aszreov ven axovovr. 378d: ou nagadexreov eis ımv noAıy. 
2) Ebd. 

:) 377b. 


#) 378e. 


332 Erſtes Buch. Hellas. 


an feinen Stand feſſelt, fie joll nicht der Ausdrud von ftändifchen 
Privilegien und Monopolen fein, jondern einzig und allein ein 
Werkeug für die DVerwirklihung des Staatszwedes, der jede 
Klafjenpolitif ausjchließt. Um des Staatszwedes willen werden 
bier die Söhne der oberen Klafje bis hinauf zu den Negenten, 
wenn fie fich für den militärischen oder politifchen Beruf der Väter 
ungeeignet erweiſen, rücjichtslos „zu den Handwerkern und Bauern 
binabgeftoßen”, während der begabte Handwerker und Bauernjohn 
ungehindert zu den höheren Bernfen, ja zur oberiten Negierungs- 
gewalt emporfteigen fann.!) Dem Genie und Verdienft winkt hier 
im wahrjten Sinne des Wortes die Krone?) Wie vermag aber 
der Staat die für feine Zwecke hervorragend begabten Glemente 
des dritten Standes zu erkennen, wenn er demjelben nicht ein ge- 
willes Maß von Erziehung und Unterricht zu teil werden läßt? 
Oder jollen die Kinder, wie in dem Utopien des ungariichen Fauſt 
nach Maßgabe ihrer Schädelbildung den einzelnen Berufen zuge 
wiejen werden? Wenn ferner Blato in feinem Staat jedem Ein- 
zelmen durch die Gejamtheit den Beruf zuweilen will, der feiner 
indiviouellen Naturanlage entipricht,?) wie kann diefe Naturanlage 
fich offenbaren, wenn der Staat nicht Durch ein öffentliches Unter- 
richtsſyſtem allen feinen Angehörigen die Gelegenheit dazu bietet? 
Plato ſelbſt verlangt die allerforgfältigite ftaatliche Überwachung der 
gejamten hevanwachjenden Jugend, damit fich der Staat über Die 
Anlagen des Einzelnen ein Urteil bilden könne. Wie ift diefe 
Überwachung anders möglich als mittels der Schule? 

Zu demjelben Ergebnis gelangen wir, wenn wir ung die 
Stellung vergegenwärtigen, welche der dritte Stand jelbit im Idealſtaat 
einnimmt. Wir fehen, daß doch auch dieſem Stand ein fittliches 
Ziel gefteckt wird, welches feineswegs ein niedriges iſt. Im Ideal— 
ftaat wird von dem wirtfchaftenden Bürgertum erwartet, daß es 


) Alde. 

2) Bol. die Bezeichnung der Regenten des Idealſtaates als „Könige“ 543a. 
3) 423d ſ. jpäter. 

4) Alec. 





II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftftaate Platos. 333 


ſich nicht bloß gezwungen, jondern in freiwilliger Selbſtbeſchränkung 
und aus innerer Überzeugung in die Unterordnung unter die zur 
Herrſchaft Berufenen füge.) Es iſt der Geift der fittlichen Selbft- 
zucht (owgyooovvn), der jich hier von oben ber über alle Stände 
verbreitet,2) und mit dem fich andererſeits auch bei dem dritten 
Stande die Fähigkeit verbindet, den Anforderungen zu entjprechen, 
welche das Gerechtigkeitsprinzip des Vernunftjtaates an den Ein- 
zelmen jtellt. 

Diejes Gerechtigkeitsprinzip wird verwirklicht durch das „an- 
gemefjene” Thun (orzeiorsoryie) aller Volsgenofjen.3) Jeder hat 
die Stellung im allgemeinen Arbeitsleben, welche ihm die Geſamt— 
heit nach dem Maße feiner Kräfte und Gaben angewiefen, voll und 
ganz auszufüllen, auf fie hat er feine ganze Thätigkeit zu konzen— 
trieren umd nicht in Wirkungsiphären überzugreifen, welche außer: 
halb feiner befonderen Lebensaufgabe oder Befähigung liegen. Keiner 
dat mur ſich jelbft und jeinem Intereſſe zu leben, ſondern als 
Teil eines Ganzen auch im Sinne des Ganzen thätig zu fein, fo 
daß das, was der Einzelne der Gejamtheit zu nützen vermag, der— 


1) 431d: zei umv eineo av &v ahln nokeı 1) aurn dose Evsorı 
Tois Te @oyovoı xai doyoue£voıs neol Tod ovorıvas dei doyeır, 
zei Ev TavIN av Ein TovTo Evov.n ov doxei; zei udie, Egpn, opodee. 

2) Die owgpooovrn iſt die Tugend, welche die Negierten mit den Re— 
gierenden gemein haben, wie Plato ausdrüdlich jagt. 43le: & oreoos 
oVv gross tWv noArov TO OWggoveiv Eveivaı, Ortev ovrws &ywoıv; &v 
Toig Goyovoıw mM Ev Tois agyousvors; Ev aupoT£goıs nov, Eyn. Wie 
fann man (3. DB. Ziegler: Gejch. d. Ethik J, 89) angejichts dieſer Stelle be- 
haupten, daß der dritte Stand „überhaupt feine Tugend habe’? Die owgeo- 
ovvn iſt allerdings nicht die beſondere Tugend desjelben; aber das jchließt, 
tie Hirzel mit Recht bemerkt, feineswegs aus, da fie im Sinne der plato: 
nijchen Piychologie „eine Tugend des dritten Seelenteils“ d. h. eben des mit 
dem dritten Seelenteile von Plato in Parallele gejeßten dritten Standes ift. — 
„Über den Unterichied der dezauoovvn und der swpgoovrn in der plat. Re 
publik“: Hermes VIII, 383. 

3) 434C: yomuatıorıxod, ErTLXOVOLXOV, PVvArzıXod YEvovg OLKELOTE«YIG, 
EXLOTOV TOVTWV TO Euvrod TO«TToVToS Ev noldı, ToVvavtiov Exeivov (Sc. TS 
noAvngayuoovvns ztA.) dizaioovvn T’ dv Ein zei Tıjv nokv dizalav nagEyoL, 


334 Erſtes Buch. Hellas. 


jelben auch wirklich zu Gute fommt.!) Alles Thun des Einzelnen 
erhält jo ein foziales Gepräge und wird dadurch ein Mittel nicht 
der Trennung und Verfeindung, des ſozialen Friedens, der 
harmonifchen Übereinftimmung der Volksgenoſſen. 

Diefe Sozialifierung des gejamten Arbeitslebens, die wie ja 
Plato ſelbſt zugibt, nicht bloß durch äußere Gewalt und mechanische 
tiederhaltung der egoiftiichen Triebe und Begierden der Wider: 
ftvebenden, fondern mindeftens ebenfojehr durch „Überzeugung“ der 
verftändigeren und bejjeren Elemente erreicht fein will, fie fann nur 
das Ergebnis einer ſyſtematiſchen Erziehung zum Gemeinfinn fein, 
welche ſchon das Gemüt des Kindes in ihre Zucht und Pflege nimmt, 
welche das Bewußtfein der höheren Beſtimmung des Mannes für 
das Ganze ſchon in der Seele des Knaben wedt. 

Wie könnte überhaupt die Erziehung derjenigen für den Staat 
gleichgültig fein, welche — zum Teil wenigftens — dereinft ſelbſt 
befähigt fein follen, in ihrem Schaffen die höchiten Ziele desjelben 
zu unterftügen! Wir ſehen, welches Gewicht Plato darauf legt, 
daß in den Schöpfungen der redenden und bildenden Künſte, wie 
in den Erzeugniffen des Handwerkes nur das Schöne, Edle, Maß: 
volle zum Ausdruck komme, alles Gemeine, Häßliche, Unfittliche 
ferne bleibe, damit ſchon die ganze äußere Umgebung das empfäng- 
liche Gemüt der heranwachſenden Jugend mit harmonischen Eindrüden 
erfülle, fie überall nur auf das Gute, Schöne, Ideale hinweile. Die 
„Demiurgen” müſſen ſich, wie Göthe in dem Idealſtaat der Wander: 
jahre von den Künftlern fordert, zuleßt dergeftalt über das Gemeine 
erheben, daß die ganze Volksgemeinde in und an ihren Werfen 
fich veredelt fühle! Sollte Plato wirklich) geglaubt haben, dieſes 
hohe Ziel durch rein negative Mittel, durch polizeiliche Repreſſiv— 
maßregeln erreichen zu fünnen? 

Daß dies nicht der Fall ift, geht zur Genüge aus feiner 
ausdrücklichen Erklärung hervor, daß das, was er in den Werfen 
der Dichter, der Künstler und der „übrigen Demiurgen“ zum Aus: 


!) 519e. 











II. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftitaate Platos. 335 


druck gebracht wiſſen will, im wejentlichen die Frucht der fittlichen 
Beichaffenheit derjelben ift (eo zijs wugns nYIeı Errerau)!) und 
zwar einer guten fittlichen Beichaffenheit (coypoovos re zai ayayov 
n7>ovs),2) die Frucht einer Gefinnung, welche den „Charakter 
gut und ſchön geftaltet hat.”?) Wie kann er es bei Diefer 
Anſchauung einzig und allein dem Zufall überlaſſen haben, ob ſich 
Poefie, Kunjt und Kunſthandwerk überhaupt auf die Stufe fittlichen 
und äfthetiichen Empfindens erheben und auf ihr behaupten würde, 
welche die Erfüllung jeiner Anforderungen vorausjeßt! Wie kann 
er von ihnen ohne Weiteres erwartet haben, daß fie immer befähigt 
jein würden, „vem Wejen des Schönen und Wohlanftändigen nach— 
zujpüven” (eyvevsım ınv Tod zaAod ve zal evoyr,wovog yvoıv),t) 
wenn die — allerdings unentbehrlide — Anlage dazu bei den 
Einzelnen nicht entwicelt und gejchult wird? 
Plato jelbit jagt an der nämlichen Stelle, wo er dieſe iveale 
Forderung an die künſtleriſche und gewerbliche Produktion des 
Idealſtaates jtellt: „Von der größten Wichtigkeit für die Erziehung 
it die mufifche Bildung. Sie erzeugt eine mwohlanjtändige Ge- 
finnung (yeosı unv EvVoxnuoovvnp). Nur wenn er richtig erzogen 
wird, wird der Menſch zu einem ſolchen Wohlanjtändigen, wenn 
nicht, zum Gegenteil.) Je beſſer die Erziehung, um jo jchärfer 
wird der Blic für das „mangelhaft Gebliebene und unſchön Aus- 
geführte oder von Natur unſchön Gebildete“,6) um jo empfindlicher 


1) 400d. 

2) 401a. 

3) 400d: evAoyia doa zei evaguooria zul EVOyNUoovyN zul evgvduie 
eundeig axohovdel, oby Ijv dvoiev ovoev vnoxogılousvor zaAovusv Ws Eu- 
n9eıav, ahAa iv ös dAN9Ws EV re zul xuAwg To og xursoxeva- 
sucvnv didvorer. 

9 401c. 

5) 401d: zei rousi (sc, 7) uovoıxm TOOYPN) EVoynjuore, Eav Tıs 00+WS 
zoagpn, Ei dE un tovvarriov. — Endziel ift die Liebe des Schönen der de 
nov TEehevTEv TE UovoLxa Eis TE ToV xahod Eowrixd. 406. 

6) TOv nagakeınoukvwv zal un zaAos InuovoyndEvrov 7 um zuhas 
püvrov 401e. 


336 Erſtes Buch. Hellas. 


wird der Einzelne für das Hähliche werden und voll Freude am 
Schönen und dasjelbe in jeine Seele aufnehmend darin feine Nahrung 
finden, das Häßliche und Gemeine dagegen ſchon als Süngling 
verabjcheuen, bevor er noch den Grund davon zu erkennen im 
Stande ift. 

Allerdings wird dieſe Beobachtung in der Erörterung über 
die Erziehung des Hüterftandes ausgejprochen. Aber fie jelbit ift 
doch ganz allgemein gehalten und beruft ſich auf allgemeine, für 
alle Menſchen in gleicher Weile gültige Erfahrungen. Wir find 
daher wohl berechtigt, die Konjequenz diefer ganzen Auffaffung zu 
ziehen und zu jagen: Sie führt zu dem logifch unabweisbaren 
Schluß, daß, wenn in den Schöpfungen der Künftler und Kunft- 
handwerker nur der Geift des Schönen und Wohlanftändigen zum 
Ausdruck kommen joll, diefelben auch in dieſem Geifte erzogen und 
gebildet werden müſſen. Aus mangelnder Erziehung würde ja, 
um mit Blato jelbjt zu reden, nur das „Gegenteil“ entſpringen 
fönnen: „Mufenentfremdung und Unempfindlichkeit für das Schöne” 
(auovoia za arneıgoxahle).t) 

Man fieht, in welch’ unlösliche Widerjprüche die herrjehende 
Anficht Plato verwideln würde Sollen wir bei dem „guößten 
Lehrmeiſter der Welt” ohne jeden zwingenden Grund auf feinem 
eigenften Gebiet jolche Widerſprüche vorausjegen? 

Übrigens befigen wir eine, allerdings fpätere Hußerung Platos, 
aus welcher wenigitens ſoviel hervorgeht, daß ex auch der Erziehung 
der „arbeitenden“ und wirtichaftenden Klafjen ein lebhaftes Intereſſe 
entgegengebracht hat. Er jpricht bier die Anficht aus, daß, wer 
als Mann es zu etwas QTüchtigem bringen will, von Kindheit auf 
in Spiel und Ernſt in allem fie üben müſſe, was feinen fünf 
tigen Beruf angeht.2) „Wer ein tüchtiger Landwirt oder Baus 

) Ebd. 

?) Leg. 643b, ce: Ayo d7 zei gnui Tov oTiovv ayadov dvdoa 
uehkovra Eosodaı TOÜTo avro &x naidwv EVIÜS uslergv deiv nailovre TE 


’ m Ar r ’ ‚ T 
zei onovdaLovre Ev Tolc To TO«YURTOS EXLOTOIS TIOO0WKOVOLW . 0lov ToV . 


uehkovra ayadov EosoIaı yEwgyorv 7 tıva olxodouov, Tov ulv olxodo- 


II. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftitaate Platos. 337 


meilter werden will, deſſen Spiel muß — bei dem Einen — in 
der Aufführung Eindlicher Bauwerke, — bei dem Anderen — in 
landwirtfchaftlihen Beichäftigungen beftehen, und die Erziehung muß 
bei Beiden für Feines Handwerksgeräte, Nachbildungen des wirt 
lichen, jorgen. Überhaupt muß die Erziehung darauf hinwirfen, 
daß ſchon die Jugend gewiſſe Kenntniſſe und Fertigkeiten, deren 
fie in ihrem jpäteren Berufe bedarf, ſich möglichjt ſpielend erwerbe, 
daß ſchon durch die findlichen Übungen den Neigungen und Trieben 
der Knaben die Richtung gegeben werde, in welcher fie bei ihrer 
fünftigen Berufsthätigfeit zu beharren haben.!) Welche Bedeutung 
von dieſem Gejichtspunft aus die Volfserziehung für einen Staat 
erhalten muß, der Allen die Möglichkeit zu größter Berufstüchtig- 
feit verjchaffen will, das liegt doch wohl auf der Hand! 

Daß Plato in der That keineswegs den ganzen dritten Stand 
als eine einzige „Itumpfe und unbildfame Menge” betrachtet und 
behandelt wiſſen wollte, wie man ihm in völliger Verfennung feiner 
ganzen Anſchauungsweiſe unterjchiebt,2) dafür ſpricht jogar, — fo 
parador es Elingen mag, — die politifche Stellung, welche er dem 
dritten Stande in feinem Idealſtaate zuweiit. Allerdings fehlt den 
uoövrd tı Twv naıdeiwv oixodoumudtwv naiteıw 409, Tov d’ av yEwgyoövre 
zei 0oyava EXaTEow ouıxod, TOv aAmdırov uunuare, nagwozevdleıy Tov 
ToEpovra avrWv Exarepov’ zul dN] zul TWv uasNUudLwv 000 dvayaala 
noousuadnxevaı ngouavdaveıv, 0olov TEXTOVG usrgeiv 7) oradudodaı zul. 
Plato nimmt hier Gedanken vorweg, welche der modernften Volkserziehung 
angehören, die Idee des Kindergartens und der Erweiterung desjelben zu einem 
fürmlichen Arbeitzunterricht. 

1) Ebd.: . . . zai neıgaodeı (pnui deiv) die TWv naıudınv Exeioe 
Toeneıv Tas mdoras zei Enıdvulas tov naldwrv, ol dpızousvovs avrovs 
det TEAos Eyeıv .„ zepahaıov On naideias Aeyousv mv 009Mv Toopmv, N 
Tov naibovros mv yuynv Eis Egwra 0 tu udhıora dafs Tovrov, 6 demosı 
yevousvov Gvdo’ avrov tEheıov Eivaı TS Tod NOLYUcTos dOETNS. 

2) So Euden: Die Lebensanfchauungen der großen Denfer ©. 56. 
Hätte Plato wirklich jo gedacht, jo würde es allerdings don vorneherein 
abjurd erjcheinen, daß er nicht nur gehofft hat, mit feinen Borjchlägen „irgend 
etwas zu jtande zu bringen” — wie Euden meint —, jondern jogar einen 
Zuftand allgemeinen Wohlbefindens verwirklichen zu können! 

Pohlmann, Gejih. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 22 


338 Erſtes Buch. Hellas. 


Grwerbsflaffen das Recht der Mitwirkung an der Bildung des 
Staatswillens, alſo das, was nach demokratijcher Anſchauung von 
dem Begriff des Staatsbürgertums unzertrennlich ift. Allein daraus 
folgt feineswegs, daß fie deswegen im Staate Platos weniger 
Bürger find, als die Klafje der Hüter, die man gegen die aus— 
drücliche Erklärung Platos allein zu Bürgern des DVernunftitaates 
geftempelt hat. Sit etwa das Staatsbürgerreht in dem eben- 
genannten Sinne das auszeichnende Vorrecht dieſer legteren Klafje? 
Gewiß nicht! Die Angehörigen derjelben jtehen als Beamte und 
Soldaten in einem reinen Subordinationsverhältnis zu der allmäch- 
tigen Negierung. Der Eine oder die Wenigen, welche „am Steuer 
de3 Staates” ftehen, find im Beſitze der vollen und ungeteilten 
Souveränität. Ihrer abjoluten Machtvolllommenheit gegenüber tt 
die rechtliche Stellung aller anderen Klaſſen prinzipiell die gleiche: 
die der unbedingten Unterordnung. !) 

Zwar genießt die Hüterklaffe infoferne einen Vorzug, als die 
Zaufbahn des Soldaten und Beamten die Vorbedingung für die 
dereinftige Erlangung der oberjten Gewalt bildet, und die Kinder 
der Klaſſe von vorneherein wieder für den Beruf der Väter erzogen 
werden. Mlein ganz abgejehen davon, daß nur ein verjchwindend 
Feiner Bruchteil das genannte Ziel wirklich zu erreichen und damit 
aus den Neihen der Gehorchenden herauszutreten vermag, eine 
Klaſſenherrſchaft ſoll damit ja in feiner Weije geichaffen werben. 
Der erjtere Borzug beruht auf dem Grundſatz der Arbeitsteilung 
und der daraus abgeleiteten Alleinberechtigung der praktiichen und 
theoretiichen Fachbildung, der zweite auf der Fünftlichen phyfto- 
logischen Auslefe, der die „für die Gemeinjchaft beitimmten Kinder” 
ihr Dafein verdanken, und in welcher der Staat die unentbehrliche 
Garantie für die Erzeugung eines feinen Zwecken entjprechenden 

1) Gegenüber den doyovres bilden die orgerıwraır zei 7 Alm nodıs 
eine unterthänige Maſſe. 414d. Die nichtphilojophiichen Hüter werden 
ebenjo als „Beherrichte" aoyouevos bezeichnet, wie das wirtſchaftende Bolt 
3. B. 459e. Es ift daher irreführend, wenn man mit Zeller Regenten und 
Krieger ohne Unterjchied als „Aktivbürger“ bezeichnet. 


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IT. 2. 2. Da3 Bürgertum im Vernunftftaate Platos. 339 


Nachwuchſes fieht, ohne dabei jedoch gleichbefähigte Elemente aus 
anderen Klaſſen auszujchließen. Hier gibt es nicht, wie im ftändijchen 
Staat ein Recht der Kaftenangehörigfeit als ſolcher und daher 
auch Feine Vergewaltigung durch erzwungene Ebenbürtigfeit der Un— 
ebenbürtigen. Überhaupt erkennt der Staat dem Intereſſe der 
Hüterklaffe feinen höheren Anſpruch auf Berüdjihtigung zu, als 
den der „übrigen Bürger”. „Wir gejtalten ung,” jagt Wlato, 
„ven glücklichen Staat nicht, indem wir einen Teil von der Gejamt- 
heit ausjcheiden und eine Minderheit in ihm als glüdlih an- 
nehmen, jondern den gefamten (Staat).!) Der Gejeßgeber küm— 
mert fich nicht darum, daß fih im Staate Ein Stand vor Anderen 
wohl befinde, jondern er jucht zu bewirken, daß es Allen im 
Staate wohl ergebe.) 

Daher ftehen fih hier auch die Angehörigen der verjchiedenen 
Volksklaſſen nach den Intentionen Platos feineswegs als Herren 
und Unterthanen gegenüber, vielmehr können fi alle Staats: 
angehörigen, der Beamte, wie der Gewerbsmann, der Soldat, wie 
der Bauer als Mitbürger:) ja als Brüder fühlen!) Dieſes 


1) 420c und 421b 2) 519e. Über die Bedeutung diefer Stellen vgl. 
die Ausführung im nächiten Paragraph. 

°) Im platonifchen Staat jpricht Jeder den Andern als „Bürger“ 
an, wie in der Demokratie. 463a: Hokirtas udv dr) navres ovroL ahımkous 
71000800001; nos Ö’ ou; Daher bezeichnet auch Plato überall gegenüber den 
Hütern die Angehörigen der Erwerbsklaſſen als die „übrigen Bürger (4. B. 
417b) oder als „Bürger“ jchlechthin (3. B. 416a). — Nriftoteles hat alfo 
bier Plato ganz richtig verjtanden, wenn er jagt, daß die Hüter eigentlich 
eine militärifche Beſatzung darjtellen und als Bürger jchlechthin die Bauern, 
Handiverfer u. ſ. iv. zu betrachten feien. II, 2, 12. 1264a. Vgl. Plato 415d. 
419: woreo Enixovoor uoswroi Ev Tn noAsı palvovraı zaINcIaL oVder 
a@Alo 7) PoovVooVrTES. 

©. auch Ariſtoteles ebd. 11P: zairoı oyedov To yes nAndos 
ts nolews Te Twv dAAov nokırov yivercı nAnFos. — Daß man nad) 
griechiſcher Anſchauung durch Ausihliegung von der «or keineswegs not- 
wendig zum Nichtbürger wird, darüber vgl. Szanto: Das griechijche Bürger: 
recht ©. 6 ff. 

4) ©. oben ©. 283, 

22* 


340 Erſtes Buch. Hellas. 


Solidaritätsgefühl ift ein jo inniges, die Wechjelbeziehungen zwiſchen 
a einzelnen Ständen find jo jehr von dem Geifte gegenfeitigen 

Wohlwollens und Vertrauens erfüllt, daß man im Idealſtaat die 
Träger der Staatsgewalt nicht einmal mit dem Namen bezeichnet, 
den man jelbft in der reinen Demokratie ohne Bedenken gebraucht, 
nämlich al3 Negierende (woxovres) fondern als Erhalter und 
Helfer (owrjoss zei Errizovoon); und ebenjfowenig fühlen die 
Männer der Negierung fih als die „Herren“ (deomoraı) des 
Volkes, ſondern fie ehren in demjelben ihre Lohngeber und Er: 
nährer (wo Jodoras TE zar roopeac). Negenten, Beamte, Sol- 


daten erjcheinen als „gefällige Verbündete” der übrigen Bür— 


ger.) Sie fehen in ihnen nicht „Schüßlinge und Untergebene” 
(regioizovs TE za olxeras), Jondern freie Männer, Freunde 
und Grnährer (Edevdeoovs Yikovs TE xal ToopEas).?) Den 
Mann der Handarbeit verbindet mit dem Geijtesarbeiter, der den 
höchſten Zielen der Gemeinfchaft dient, von vorneherein ein ge 
wiljes ideelles Band, der von Plato ausgejprochene Gedante, daß 
auch jener in gewiffen Sinne ein Werfmeifter ift, der ſich in feinem 
a möglichft tüchtig zu erweilen hat, ebenjo, wie die „anderen 
Werfmeifter”.?) 

Sp erfreuen ſich hier die Erwerbsftände einer Wertſchätzung, 
von der Plato ſpäter in den Gejegen gejagt hat, daß fie dem 
Gewerbe nur dann allgemein und unbeftritten zu Teil werden 


) Eruueyoı tov dAmv nolrov A17b. Bol. 4162: Evuueayor 
ETTLELKEIG. 

2) 547e. Sn diefer Hinficht berührt fich der platonifche Staat un— 
mittelbar mit dem deal, welches Schäffle im „Bau und Leben des joztalen 
Körpers" 4. 279 aufgeftellt Hat, mit dem ideale „eines berufganftaltlich 
bo beten Gejellichaftsförpers, in welchem von Herrichaft überhaupt nicht 
mehr die Rede ift, jondern nur von politischer Berufsarbeit”. 

3) 42]: Tods ’ Enızovgovs TovVrovS zei ToUs pukaxas Exeivo dvay- 
zaoTEov TIOLEIV Xei TIELIOTEOV, ONWS 6 TI doLoroı OmuLovgyol Tov Eav- 
Tov Egyov Eoovrai, zei Tods aAkovs inevras woavtws. cf. 421d: tous 
akkovs av Ömwovgyoös oxoneı Ei rede diapdeigsı zrA, Eine Auffaſſung! 
die übrigens noch in den „Geſetzen“ (921d) feſtgehalten wird. 





II. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftftaate Platos. 341 


würde, wenn e3 in den Händen von wahrhaft fittlihen Menfchen 
wäre Im DVernunftitaat genießt in der That die wirtjchaftliche 
Arbeit die Achtung, welche ihr — mie wir fahen — nad den 
„Geſetzen“ unter jener Vorausſetzung gebührt: Sie wird „geliebt 
und in Ehren gehalten wie eine Mutter und Pflegerin (Toogyos).!) 

Allerdings wird hier diefe Anerkennung der Ehre der Arbeit 
nicht von einer jo ivealen Bedingung abhängig gemacht, wie dort, 
allein darüber kann doch Fein Zweifel bejtehen, daß Plato als 
unentbehrlihe Grundlage ſolcher Berufsehre wenigjtens ein im 
Bergleih mit der damaligen Wirklichkeit ziemlich hohes Durch- 
ſchnittsniveau der allgemeinen Bolfsfittlichfeit notwendig voraus- 
jeßen mußte. Wie wäre ſonſt jene Gemeinjamfeit der Gefühle 
und Anschauungen möglich, die doch — Dis zu einem gewiſſen 
Grade wenigſtens — vorhanden fein muß, wenn auch der Höchit- 
gebildete und Höchititehende in dem Manne der Handarbeit den 
„Freund und Bruder“ jehen joll, wenn „Alle — derjelben Herr- 
ſchaft d. h. der Vernunft unterthan — nach Vermögen einander 
ähnlich und befreundet” fein jollen?2) 

Man mache ſich nur vecht deutlich, wie hochgeſpannt das 
Seal ift, welches die joziale Drganifation des Vernunftjtaates ver- 
wirklichen will. Hier ijt ja in vollem Maße das verwirklicht, was 


!) Vgl. oben ©. 254. Man fieht, wie ſehr man Plato mißverfteht, 
wenn man mit Zeller (Der platoniiche Staat u. |. w. ©. 65) die „Trennung 
der Stände” bei Plato ableitet „aus der Verachtung des Griechen gegen die 
Handarbeit, welche den Meiften das Gewerbe, den Spartanern jelbjt den 
Landbau al eine Erniedrigung für den freien Bürger erjfcheinen ließ“. 
Gerade im platonifchen Vernunftſtaat gibt auch die wirtfchaftliche Arbeit dem 
freien Bürger jeine Ehre. y 

2) 590c: .... va Eis duvauıy navres Ouoloı WuEV za gpikor To 
aUrD zUBsovQuevot. 

Alle die im Text entwicelten Gefichtspunfte ignoriert Noble, wenn ex 
meint, dab die geiftige oder jittliche Ausbildung des dritten Standes nir- 
gends durch das Intereſſe des Ganzen gefordert werde, daß die Gewerbe: 
treibenden ihre Beftimmung vollfommen erfüllen, wen fie die nötige tech— 
niſche Fertigkeit haben (©. 145). 


349 Erſtes Buch. Hellas. 


von Plato in einem früheren Werfe als das höchfte Ziel wahrer 
Staatskunſt bingeftellt worden war, jenes „Sneinanderweben der 
Gemüter, “') welches diejelben durch ein „göttliches Band“ 2) in 
Einklang bringt und das Zujammenleben der verschiedenen Klaſſen 
zu einem Abbild der Harmonie der Töne macht.?) Diejes ideale 
Wechſelverhältnis der Stände aber jet hinwiederum voraus, daß 
wenigftens die verjtändigen Glemente auch der Negierten „eine 
richtige Vorftellung von dem haben, was jchön, gerecht und gut 
ift,“4) oder daß, wie es im Staate heißt, alle Klaſſen darin 
übereinftimmen, „was im Staate, wie in der Seele jedes Ein- 
zelnen von Nechtswegen das Herrichende jein müfje,5) weil eine 
jolche Anſchauungsweiſe allein „wenigitens in Beziehung auf den 
Staat zu einer befonnenen und verjtändigen Haltung führen Fann.“ 6) 

Mit der Harmonie, welche das Ganze erfüllt, muß fich auch 
das Seelenleben der einzelnen Bürger möglichſt in Einklang jeßen. 
Soll der Staat ein „in fich befreundeter” jein, ſollen nad) Mög— 
lichfeit alle Bürger einander ähnlich und befreundet fein, jo 
kann nicht die ungeheure Mehrheit derjelben fi) in einer Seelen: 
verfaffung befinden, welche Plato al3 eine anarchiſche bezeichnet, 
in welcher aus der „Verwirrung und verkehrten Richtung“ (Teoaxr 
za rar) der verſchiedenen Seelenkräfte fich immer wieder von 
neuem „Untecht und Zügellofigkeit, Gemeinheit und Unwifjenbeit, 
kurz jede Schlechtigkeit erzeugt.) Der Staat will nicht bloß 
aus möglichit vollfommenen technischen Einheiten zujammengejeßt 


!) Hodır. 311b. 

2) Helm Evrapuooauevn deouo. Ebd. 309». 

3) Vgl. Rep. 432a die Bezeichnung des im Vernunftftaat alle Klafjen 
beherrichenden Geiftes der owgpoosvvyn al3 die naowv napeyousvn Evvd- 
dovras. Dazu 43le: douorie tıvi 7 OWgpgo0oVrn Wuolwrat,. 

4) Hoiır. 309. 

5) Rep. 432a: wors oodorer’ av gYealusv Tavımv Tmv ouovolav 
OWFEOOVVNV Eivaı, ysigovos TE zul dusivovos zurd Yvow Evupwviar, 
önoregov dei Goysıv zul Ev nroAsı zul Ev Evi Exdorw. 

6) Hokır. 309. 

7) 444c. 








III. 2. 2. Das Bürgertum im DVernunftftaate Platos. 343 


jein, wie das Getriebe eines toten Mechanismus, und muß daher 
notwendig die jittliche Forderung aufitellen, daß jeder Bürger fich 
bemühe, durch eine verjtändige Regelung des geſamten Trieblebens 
zu einer gewiſſen Herrichaft über fich zu gelangen. 

Schon die Forderung, daß jedem Bürger die feiner Natur: 
anlage entjprechende Beichäftigung zuzumweifen fei, wird mit der 
Notwendigkeit motiviert, daß Jeder „zu Einem, nicht zu einer Viel- 
heit und damit auch die Gefamtheit der Einzelnen zu einer Einheit, nicht 
zu einer Vielheit ſich geitalte.!) Soll diefe für den Einzelnen erreich— 
bare Einheitlichfeit weiter nichts als die Konzentrierung auf ein tech— 
nijches Arbeitsgebiet bedeuten und nicht auch zugleich eine gewiſſe 
Bereinheitlihung des moraliſchen Menjchen? Die Antwort kann 
nicht zweifelhaft fein. Plato jelbit bezeichnet eben dies leßtere Ziel 
als die Richtſchnur für jedes Thun und Handeln, mag es fi nun 
auf den wirtjchaftlichen Erwerb (Teoi gonuerwov zujow) und den 
wirtichaftlihen Verkehr (Treo va ldıe Evußokcıe) vder auf das 
jtaatsbürgerliche Verhalten beziehen.2) Und wenn auch Plato vor: 
ausſieht, daß jelbit im Spealjtaat unter den Erwerbsklaſſen die 
Zahl derer überwiegen wird, welche diefer Forderung nur unvoll- 
fommen und unter der Einwirkung des auf fie durch” die Ber: 
jtändigeren geübten Zwanges gerecht zu werden vermögen,>) fo 
ericheint Doch die gejchilderte Gemütsverfaffung bis zu einem ge— 
wiſſen Grade auch für den dritten Stand erreichbar. Ohne fie 
würde ja auch von vorneherein von einem Glück dieſes Standes 
nicht die Rede fein können. 

Die Tugenden nun, in welchen jich diefe Gemütsverfaffung 
äußert, find die „Nechtlichkeit” (dixwwoovvn) oder, wie Hegel über- 
ſetzt, Nechtichaffenheit, und jenes fittliche Verhalten, welches Plato 


1) 423d: zei ToVs @Akovs nokites, 700g 0 TIs NEPVxE, TIO0S 
tovto Eva no0s Ev Ezaotoy Eoyov del zouilew, Onws av Ev T6 avrov 
Erindeiwv Ezaotos un noAkoi ahkd Eis yiyvnrar zei ovrw di 
&uuneoe mn nols ule ponta dAhc un nokkal. 

) 443e. 

3) 43le. 


344 Erſtes Buch. Hellas. 


als owgyooovvn bezeichnet.!) Die onyooovvn iſt fittliche Selbft- 
beherrſchung, weil fie des Unvernünftigen in uns, der blinden Triebe, 
der Selbitjucht und der Luft Herr wird,2) maßvolle Selbftbejchei: 
dung, weil fie in dem richtigen Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit 
ſich willig in die Unterordnung unter diejenigen fügt, welche durch 
ihre höhere Einficht zur Leitung des ganzen berechtigt find,?) fie ift 
der Geiſt ſtrengſter und treuefter Pflichterfüllung in dem indivi- 
duellen Berufe, kurz „Ihun des Guten” (moakıs av ayayav),t) 
„Geſundheit der Seele”.5) Sie „macht diejenigen, welche fie be 
figen, zu guten Menschen” (eyaYoVs mrorel, ois &v 7agn).°) 
Daß ein ſolches Maß von fittlicher Tüchtigfeit nur das Er— 
gebnis der Erziehung fein kann, leuchtet von ſelbſt ein und wird 
von Plato in dem Dialog, in welchem er das Wefen der o@gygo- 
ovrn näher zu bejtimmen verjucht hat, ausdrücklich anerfannt.?) 
Er verlangt eine Yegarreie Wuyns, wie eine Diätetif des Körpers; 
und dieſelbe Forderung ehrt wieder in einer jpäteren Schrift — 
im Gorgias, — wo er von den „Borjehriften und Anordnungen 
für die Seele” fpricht, den vafsıs ve ai zoounoeıs vhs Wvxnc),®) 
welche nötig jind, „damit fich in den Seelen der Bürger Necht: 
Ichaffenheit und Bejonnenheit erzeuge.” Welches find aber die An- 


') Bgl. über die owpgoovvn ala Vorausſetzung alles Glüdes Char: 
mides 175e: ueya Tu dyasov eivaı zei einep ys Eyeıs «vd uaxdgıov 
eivaı 08. — 176a: — 00W7TE0 OWppoveotegos &, TO0OVoW Eivau zul EÜ- 
daıuoveorsoorv. 

?) Rep. 430e: x00uos nov TIs..... 7 OWppoovVvn Eoti xai ndovwor 
tıvov zal Enidvuov Eyzoateia zu. 

3) 442d. 

*) Charmides 163. 

5) Ebd. 157a. 

°) Ebd. 161a vgl. 160e: ouxovVv zai ayayol avdoss ol OWwppovss; vai. 

) Ebd. 157a: wo Sofrates — angeblich mit den Worten des Za— 
molxis — erklärt: Heganevcoda mv wuynv Enwdais toi‘ Tas d’ Enwdas 
Taitas ToUs Aoyovs eivaı ToVs xaAoös' &x DE TOV Tolovrwv Aoywv Ev 
tais wuyais O@pgo0VVnV yiyvaodaı. 

8) H04d. 


III. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftitaate Platos. 345 


ordnungen für die Seele, welche Plato, wie man fieht, allen 
Bürgern ohne Unterfchted zu gute fommen laſſen will? Der Ent- 
wurf des beiten Staates gibt darauf die Antwort:t) ES ift die 
„einfache“ muſiſche und aymmaftiiche Erziehung, durch die allein jene 
Ausgleihung der Triebe, jene richtige moralische Vorftellungsweije 
zu erzielen ijt, welche den Einzelnen befähigt, im Sinne des Ge- 
rechtigfeitsprinzipes des beiten Staates freiwillig „das Seine zu 
thun“.2) Ohne fie würde der Staat Gefahr laufen, daß die ge 
ſamte Lebensweiſe aller durch das Übergewicht der niederen Seelen- 
triebe verfehrt würde (Edurevre vov Plov navrov avargsım).?) 
Durch eine mangelhafte Erziehung (Toon) zexr), wie durch ſchlech— 
ten Umgang muß das Belfere der Übermacht des Schlechteren 
(mir Is vovs xeloovos) erliegen.t) Wer daher in der Necht- 
Ichaffenheit auch das Glück fieht, der wird anerkennen, daß man 
duch That und Wort auf all das hinwirken müſſe (revra« Asysır 
zei Tavra Troarreıw), wodurch der innere Menſch (6 Evros 
&vI0@7ros, die guten Triebe im Menjchen, „ver wahre Menſch“) 
die größere Gewalt erhält, daß man die „vielgeitaltige” Menjchen- 
jeele „io behandelt wie der Landınann, der das Nubbare pflegt 
und veredelt,d) das wilde Unkraut aber nicht aufkommen läßt”, 
daß man allen Triebkräften der Seele jorgfältige Aufmerkſamkeit 
ſchenkt, fie zu gegenfeitiger Übereinftimmung erzieht. — Es ift der- 
jelbe Standpunkt, der in dem Worte Kant’3 zum Ausdruck kommt, 
daß der Menſch nur Menſch wird durch Erziehung. — Wenn der 
Menſch, heißt in den „Geſetzen“, nicht hinveichend oder nicht gut 
erzogen wird, jo kann er fehr leicht, obwohl ex zu den zahmen Ge- 
ſchöpfen zählt, das wildejte von allen werden, welche die Erde 


!) Rep. 441e vgl. 410a: oü de dr veor ... dnkov ori EvAaßnoovrai 
co dixaotızns Eis yosiav lEvaı, ın ann Exeivn uovoizn yowusvot, 7v dm 
Epausv 6WPEO00VVNV Evrixreiv, 

2) 442a. Timäus 73a. 

®) 442b. 

*) 431a. 

5) 589h: ra uEv Nusoa ToEPwv zei TIFa0EvVwv xTA, 


346 Grites Buch. Hellas. 


erzeugt.) Daher die eminente Wichtigkeit des Erziehungswefens 
für den Staat!?) 

Mit befonderer Schärfe wird dieſer Gedanke wiederholt in 
dem unmittelbar an den Soeengang der Bolitie fich anjchließenden 
Timäus. Plato kann es ſich auch bier gar nicht anders denken, 
als daß der, welcher ohne Erziehung und Unterricht aufwächlt, der 
nicht „von Jugend auf die als Heilmittel gegen das Schlechte er- 
forderliche Kenntnis erworben hat, ſchlecht ) werden” muß. Die 
„Überredung“ d. h. doch wohl in erfter Linie die Erziehung er: 
zeugt jene richtigen Vorftellungen, welche die Grundlage der Volks— 
moral find.) Daher „muß jedermann, joweit es in feiner Macht 
ſteht, nach der Erziehung, der Lebensweife, den Kenntniſſen ftreben, 
durch welche er der Schlechtigfeit zu entrinmen und ihr Gegenteil 
zu erreichen vermag“.5) Unter den Erziehern aber, die an diefem 
Werfe mitarbeiten, fteht voran der Staat. Er trägt durch jeine 
Einrichtungen und durch das, „was in ihm öffentlich und privatim 
gelehrt wird“, wefentlich die Mitſchuld, wenn es mit der ©ittlich- 
feit des Volkes ſchlecht beftellt ift.®) 

Die Mängel der Volksſchulbildung werden daher von Plato 
in feiner Kritik des Betehenden ſcharf hervorgehoben. Ex ftellt in 
den „Geſetzen“ al3 Vorbild Ägypten auf, wo die große Maffe 


!) Leg. 766a: dv9owros dE, ws pauev, nusoov, Ouws unv naudeias 
usv 009NS Tuyov zul Yicsws Eurvyoos HElorarov NUusgWTarov Te Ioov 
yiyvsodaı gılei, un ixavos dE m un xaAos ToapEv dypıararov 
0N000 Ve y7. 

>) Cbd.: ww Evexa od deviregov oVdE ndgsgyov dei Tv naidwv 
ToopNv Tov vouodernv Eav yiyveodat. 

3) xaxos Timäus S6c. 

1) Ebd. 5le. DBgl. die Definition in den „Geſetzen“ 795d: ze de 
uadnueTtd nov dirrd, ws y’ eineiv, yonoaostaı Evußeivor dv, Ta uev 00« 
NEQL TO wur Yvuraotızns, TE OD evipuyias yapıv uovoızms. 

5) 87h. 

6) Ta: ... oOrav .. . molırsiaı zaxal xal Aoyoı zara noAsıs ldie 
zei Önuooi« heydvow, Erı dE ua9MuaTa undaun Tovrwv iarızd &x veov 
uavddvnraı, ravın xaxoi ndvres ol xaxoi did dio axovoiwwWrare 
yıyvousda. 


III. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftftaate Plato2. 347 


der Kinder (Taurodvs neidwv oyAos) einen Elementarunterricht 
genieße, mit dem ich das helleniſche Unterrichtsweien nicht mefjen 
fünne. Er „ſchämt fich fire fih und alle Hellenen“, daß in Hellas 
der Elementarunterricht in gewiſſen Dingen (in der Beurteilung der 
einfachiten Naumverhältnifje) die Jugend in einer „lächerlichen und 
ſchamloſen“ Unwifjenheit!) laſſe, wie fie nicht Menſchen, ſondern 
einer Herde von Schweinen zufomme.?2) Es wird gewiljermaßen 
ein Menfchenrecht anerkannt auf das nach dem Stande der Gefittung 
unentbehrliche Maß der Bildung. Gleichzeitig geht der Gejeßesitaat 
joweit, daß er die Kinder der höchjten Würdenträger mit denen des 
ärmſten Arbeiters, ja des Sklaven — bis zu einem gewiljen Alter 
wenigitens — gemeinjam erziehen läßt! 3) Und wenn dann auch eine 
Scheidung zwijchen Freien und Unfreien eintritt, jo wird doch für 
die erjteren das Prinzip der allgemeinen Schulpflicht ftrenge 
ducchgeführt.*) 

Sit es bei ſolcher Anſchauung denkbar, daß Wlato fein 
Ideal in einem Staate gejehen haben jollte, der fich einzig und 
allein um die Erzeugung guter Soldaten und Beamten kümmert 
und fich gegen die Frage der Volfserziehung völlig gleichgültig ver: 
hält, einem Staate, der die ungeheure Mehrheit der Bürger der 
Gefahr der Entjittung und Verrohung preisgibt? Wenn die Kräfte, 
die das Gejamtleben bejtimmen, nur durch Erziehung und Unter: 


1) yeloia TE xai aloyoa ayvore. Leg. 819d. 

2) Ebd.: ® gihs Käsivie, navranaoi yes unv xal autos dxovVoas 
ÖryE note TO reEl Tara yuov naFos EIavunoe, xal Edo£f uoı Tovro 0Vx 
dvdownıvov ahhd imvov Tivov eivar uchlov Iosuudtov, Noyvvanv 
TE 00x Unto Euavrod uovov, dd zai Uinto dnarrov tov EiAlnvov. 

3) Die hier eingerichteten ftaatlichen Kindergärten find allen Volks— 
flafjen gemein. 794b. 

4) 819a: Too@de Toivvv E2dotwv yon Yavar uavddveıv deiv 
tous EAevdeoovs, 00€ zei ndunokvs Ev Alyinto naidov oykos aua 
yocuucoı uevdarveı. Allerdings find unter EAsvHeoor zunächjt die Bürger 
gemeint, allein aus der Gefamtauffaffung Platos geht doch unverkennbar her: 
vor, daß er ein Mindeſtmaß von Kenntniſſen für alle Freien für not: 
wendig hält. 


348 Erſtes Buch. Hellas. 


richt in jedem Einzelnen gewect und entwicelt werden fönnen, muß 
da nicht gerade in einem Staate, der die möglichjt vollfommene 
und der Gelamtheit Förderliche Entfaltung aller individuellen Kräfte 
anftrebt, die Unterrichtsfrage ein wichtiger Gegenftand des öffent: 
lichen Intereſſes ſein? Wie kann vollends ein Staat, in welchem 
auch der Höchitftehende in jedem Volksgenoſſen einen Freund und 
Bruder ehren fol, die Maſſe in einem Zuftand lafjen, den Plato 
mit dem einer Schweineherde vergleicht? 

Sa wir können noch weiter gehen und jagen: Mit der Frage 
der Volfserziehung ift die Aufgabe des Idealſtaates gegenüber feinen 
Bürgern noch lange nicht erſchöpft. Der Staat, der das Glüd 
womöglich aller wollte, der eben Deswegen und um feines eigenen 
Beſtandes willen an dem fittlichen Fortfehritt, an der Berufstüchtig- 
feit, wie an dem äußeren Gedeihen der wirtjchaftenden Klafjen auf 
das Lebhaftefte intereifiert war, der konnte unmöglich das gejamte 
arbeitende Volk in allen übrigen Beziehungen fich ſelbſt überlaffen. 
Für Plato ift, wie wir fahen, die Frage der Volfsfittlichkeit zus 
gleich eine wirtjchaftliche und joziale Frage. Er ſieht diejelbe überall 
durch Die ungefunden Auswüchſe der beftehenden Wirtſchaftsordnung, 
durch Mammonismus und Bauperismus, auf das jchwerite ge- 
fährdet, und zwar gerade diejenigen Eigenjchaften am meiften, die 
der Spealftaat bei jeinen Bürgern in erſter Linie vorausfegt. Für 
die ſittliche Selbſtbeſchränkung, die Ewgyeoovrn, aus der ſich hier 
das harmonische Verhältnis zwiſchen allen Volksklaſſen erzeugt, 
kennt Plato feinen jehlimmeren Feind als den Gegenjab von Neic) 
und Arm, die Quelle aller Überhebung, Schamlofigkeit und Um— 
fturzbegiexde.!) Dem Geifte der Einfachheit, der Mäßigkeit und 
Arbeitfamfeit, in dem-Blato eine Grundbedingung gejunder gejell- 
Ihaftlicher Zuftände fieht, widerjtreitet insbefondere der Reichtum, 
der Erzeuger von Üppigfeit, Lurus und Müßiggang;?) er ermög— 
licht das faule Nentierleben, welches der Arbeit hochmütig den 


!) ©. oben ©. 204 f. 
2) Rep. 42le. 


II. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 349 


Rücken kehrt und damit dem vaterländischen Gewerbe leiftungsfähige 
Kräfte entzieht,) wie denn überhaupt die bejtehende Verteilung des 
Befiges nach Plato nicht bloß moralifche, jondern auch volfswirt- 
liche Nachteile im Gefolge hat, deren Befeitigung er in dem Ent- 
wurf des Soealftaates ausdrücklich ins Auge faßt. So wird ge 
rade hier auf den ſchweren Übelftand bingewiefen, den die Kehr— 
feite des Neichtums, die Beſitzloſigkeit hervorruft, daß ſich jo viele 
aus Mangel an Betriebsfapital nicht die nötigen Broduktionsmittel 
verschaffen und daher nicht das leisten können, wozu fie befähigt 
wären.?2) Plato beflagt es lebhaft, daß auf dieſe Weile „Durch 
beides, durch Reichtum und Armut, die Produktion, jowohl, wie die 
fittlihe und technifche Tüchtigkeit der Produzierenden verjchlechtert 
wird,3) ein Ergebnis, das mit den Forderungen des Bernunftitaates 
abjolut unvereinbar ift. 

Wir jahen bereitS bei der Drganifation des Zivil- und 
Militärdienftes, mit welcher Konfequenz diefer Staat den Gedanken 
verfolgt, jede individuelle Kraft an die Stelle zu bringen, die fie 
ihrer Eigenart nach am beiten auszufüllen vermag. Diejes Prinzip 
— jeder an feinem Plate für und durch das Ganze — wird von 
Plato ausdrücklich auch auf die wirtjchaftenden Klaſſen übertragen. 
„Auch von den andern Bürgern, jagt er, joll jedem Einzelnen 
durch die Negierung die Beichäftigung zugemiefen werden, zu Der 
ihn feine natürlichen Anlagen befähigen, „damit jeder das Eine, 
ihm Zukommende betreibe”.t) Der Staat wird dadurch nicht nur 

1) 421d: nAovrmoas yvrosis doxer 001 Eri Hehnosıv Eniusdeiodet 
ns teyvns; ovdauws Epy. Aoyos dE za dusAns yermostaı udhkov autos 
@ÜToV; NoAv ve, ovxovv zuxlwv YUTosds yiyveraız; x@i ToVTo, Epn, noAv. 

2) Ebd.: zei umv zul doyava yE un Eywv napeyeodaı Uno nevias 
N Tu AAho TWv Eis Tmv TEYVNV, TE TE EOYa TIOVMOOTEOR Eoydostaı xal tous 
vieis, 7 @Ahovs, oVs av didaozn, XEloovs dnuovpyovs didaserat. 

3) 42le. Dal. oben ©. 204 f. und 304. 

4) Plato erwähnt 423c die früher von ihm ausgejprochene Anficht, 
ws eo, Edv TE TWV pvAdzwv Tis pavkos Exyovog yErntat, Eis Toüs dAhovs 
avrov anon£uneoda, Edv T’ Ex Tov alkmv onovdaios, Eis Tod pihazas; 
woran die weitere Bemerkung geknüpft wird: roöro d’ EBovkero dnAovv ort 


350 Erſtes Buch. Hellas. 


dem Anspruch des Individuums auf eine feiner perfönlichen Leiſtungs— 
fähigkeit entfprechende Lebenzitellung gerecht, jondern er erreicht 
damit zugleich auch, daß jede Kraft im Dienfte der Gefamtheit voll 
und ganz Verwendung findet. Denn der platoniſche Staat darf 
feine Kraft unbenüßt laſſen. Da er, um die innere Einheit des 
Staates nicht zu gefährden, fih grundſätzlich auf ein kleines Gebiet 
beſchränkt,) muß er das, was ihm an Größe und Bürgerzahl fehlt, 
duch eine möglichſt intenfive Anjpannung und Ausnüßung aller 
Kräfte zu erjegen fuchen. Schon die oben erwähnte Gmanzipation 
de3 weiblichen Gefchlechtes ift wejentlich durch dieſen Gedanken ver— 
anlaßt. Es ift nach Platos Anficht mit dem jtaatlichen Intereſſe 
unvereinbar, daß die ganze Eine Hälfte der Staatsangehörigen, die 
weibliche, unter den bejtehenden Verhältniffen nicht das leiftet, was 
fie bei einer vollftändigen Ausbildung ihrer Anlagen leiften könnte.?) 
Denn dadurch bleibt, wie es in den „Geſetzen“ heißt, beinahe die 
Hälfte der im Staat vorhandenen Geſamtkraft ungenüßt, jo daß 
bei gleichartiger Ausbildung beider Gejchlechter das doppelte von 
dem erreicht werden könnte, was jeßt erreicht wird.3) Er hat daher, 
wie wir jahen, wenigftens den Frauen der für den öffentlichen 
Dienft beftimmten Klaffe die denkbar weitgehenditen Bildungsziele 
gefteckt, um eben damit zugleich die Leiltungsfähigkeit dev ganzen 
Klaſſe zu erhöhen. Noch bezeichnender für dieſe Tendenz tft die 
Klage, welche Plato in feinem fpäteren fozialspolitiichen Werk aus: 
fpricht, daß wir „in Beziehung auf unjere Hände durch den Un— 
verftand der Mütter und Wärterinnen gewiſſermaßen gelähmt wor— 
den Find“, weil wir die linfe Hand nicht in gleicher Weiſe aus— 
bilden, wie die rechte. Auch dieſen Mangel will Plato bejeitigt 


zei Toüs dAdovs ToAites, TEOS 6 TIS NEPVUXE, TI00S TovTo Eva TIQ0S Ev 
Exaotov Eoyov del xoulleıv, xTA. 

1) 423b: ueyor 00 üv EIEAm (M noAıs) avEouevn eivas wie, ueygL 
Tovrov avfeıv, Eoa de un. 

2) 4566. 

®) Leg. 8056: oysdov yco oAlyov naoa nulosıa noAs avri di- 
nAaoias ovrw Eoti xrA, 


ee 





III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftitaate Plato2. 351 


wiſſen. Die Jugenderziehung ſoll jorgfältig darüber wachen, daß 
beide Gefchlechter im Gebrauch ihrer Glieder jo geſchickt wie mög: 
lich würden und nicht durch falſche Gewöhnung die von Natur ver- 
liehenen Fähigkeiten verfümmern laſſen.) Es ift, als ob man 
einen modernen Techniker vor fich hätte, der es nicht mitanfehen 
kann, daß irgend eine Kraft ungebraucht verloren geht.?) Eben 
darum legt ja auch Plato ein jo großes Gewicht auf die ftrengite 
Durchführung des Prinzips der Arbeitsteilung in dem gefamten 
Gebiete der Produktion, weil fie die intenfivfte Ausnützung und 
Steigerung der individuellen Arbeitskräfte geitattet. 

Wenn aber in dem Bernunftitaat feine Kraft unbenützt bleiben 
oder verkommen joll, jo muß er notwendig dahin ftreben, eine ge- 
wiſſe Untergrenze aufrecht zu erhalten, unter welche überhaupt feine 
Klafje der Bevölkerung herabſinken darf. Er kann feine Zwerg— 
wirtichaften, Feine verfommenen Handwerker dulden, er kann den 
Bürger nicht zum arbeitslofen und arbeitsjcheuen Proletarier wer- 
den lajjen, der für das Wirken am Wohle des Ganzen d. h. für 
den Staat überhaupt verloren iſt und damit nach Wlatos Anficht 
aufhört, ein „Teil des Staates” zu fein.?) 

Der DVernunftftaat duldet feine Drohnen,*) Feine fozialen 
Schmarogereriftenzen. Daher ift hier auch Fein Naum für das andere 
Ertrem, für das faule Nentierleben der Neichen. Ebenſo entjchie- 
den, wie gegen hoffnungslofe Verarmung muß er gegen eine An- 
Jammlung des Neihtums anfämpfen, welche für ganze Klaſſen allen 
Anreiz zur Arbeit bejeitigen würde. Jeder, der eine Arbeit zu 
verrichten vermag, die dem Wohle der Gejamtheit förderlich ift, 
der ſoll auch arbeiten. ES ift nad) Plato von dem Begriff eines 
wohlgeordneten Staates unzertrennlich, daß allen ohne Unterjchied 
irgend eine Thätigfeit auferlegt ift, der fie jich nicht entziehen fönnen.5) 





!) Leg. 794e. 

2) Ein treffender Vergleich Nohles! (S. 136.) 
») ©. oben ©. 188. 

4) 564e ſ. oben ©. 189. 


5) 433a: moAddzıs EAeyousv ori Eva Exaorov Ev dEoı Enıtndeveiv 


352 Erſtes Buch. Hellas. 


Der angebliche Verächter der Arbeit begegnet fich hier une 
mittelbar mit dem Bewußtſein des arbeitenden Volkes, wie es bei 
dem bäuerlichen Boeten von Askra zum Ausdrud kommt. Er 
knüpft ſelbſt unmittelbar an Hefiod an, von dem wir das ſchöne Wort 
befigen, daß „keinerlei Arbeit ſchändet, ſondern allein die Arbeits: 
ſcheu.“ Das Bild von den parafitiichen Drohnen ift von Plato 
aus Hefiod entnommen. Wie dem Dichter, jo iſt ihm der vor— 
nehme und der gemeine Tagedieb (Tovpwv za aueing «oyog Te) 
gleich verhaßt. Noch in feinem legten Werk kommt er auf den 
Fluch Hefiods gegen den „arbeitjcheuenden” Mann zurück:!) 

Der ift den Göttern verhaßt und den Sterblichen, welcher ohn’ Arbeit 
Fortlebt, gleich an Werte den unbetwaffneten Drohnen, 

Die der emfigen Bienen Gewirk aufzehren in Trägheit, 

Nur Miteffer. (W. u. T. 302—6.) — 

Zu diefem Kampf gegen Mammonismus und Pauperismus 
ift aber der Vernunftjtaat noch) aus anderen Gründen gezwungen. 
Seine ganze Eriftenz beruht auf der Entjagungsfraft und Opfer: 
fähigkeit feines Beamtentuns und feiner Armee. Darf er hoffen, 
den mühſam groß gezogenen Geift der Bebürfnislojigfeit und Ans 
ſpruchsloſigkeit aufrecht zu erhalten, wenn der Beamte und Soldat 
zuſehen muß, wie diejenigen, um derenwillen er dient, und denen 
fein Verzicht auf Befis und Genuß wejentlih zu gute kommt, 
ſchrankenlos Befis auf Beſitz, Genuß auf Genuß häufen und teil- 
weije wenigjtens ein Leben führen, das jozujagen ein ewiges Zeit?) 
fein würde? 


Tov neol Tv nölıw, Eis 6 avroo N Yvoıs Eritmdsiorern nepvxvia Ein. 
Dal. die charakteriftiiche Stelle über die Heilfunft (406e), two es für verfehrt 
erklärt wird, dem an unheilbarer Krankheit Zeidenden das Leben künstlich 
durch eine Behandlungsweife zu verlängern, welche denfelben an jeder Aus— 
übung eines Berufes hindern würde. . . . Orı naoı Tois evvouovuevors E9yov 
Tı Exdorw Ev rn noieı noootetezrai, 6 avayzalov Eoyalsodaı, zal ouderi 
oyoAn die PBiov xauveıv largsvousvo. 

!) Leg. X 90la. 

?) Bgl. Rep. 429e. — Wenn in der ganz allgemein gehaltenen Ex: 
drterung über die Motive der Arbeitsteilung und der jozialen Hlafjfenbildung 
die Unvermeidlichkeit des Krieges und damit eines eigenen Wehrjtandes aus 


III. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftftaate Platos. 355 


Und die Negierten jelbft? Werden fie ſich auf die Dauer 
in einem Zuftande abjoluter Unterordnung erhalten laſſen, wenn in 
ihren Neihen im Gefolge des Neichtums das Selbtgefühl ftetig 
wächſt, wenn fich unter den Handwerkern und Gewerbetreibenden 
Leute erheben, die „übermütig geworden durch den Reichtum“ oder 
ven Beſitz Jonjtiger äußerer Machtmittel den Gedanken faſſen können, 
fie) den Zutritt zu den höheren Klaffen zu erzwingen?!) Wie wäre 
überhaupt auch nur im Entferntejten an den von Plato mit der 
Harmonie der Töne verglichenen Einklang der Gemüter im Ideal— 
ſtaat zu denken gewejen, wenn verjelbe die Mafje der Bevölkerung 
einfach in den überfommenen Zuſtänden belafjen haben würde, in 
denen Plato nur die Brutftätte der ſchlimmſten Leidenschaften ex: 
blidte! Er würde damit ja, wie ſchon Nriftoteles bemerkt hat, 
alles was er an der beftehenden Gefellfehaftsordnung verwerflich 
findet, in jeinen Idealſtaat hineingetragen haben. ?) 

ie wir jahen, hört nach Platos Anficht durch den Gegen: 
fa von Arm und Neich der Staat auf, ein einheitlicher Staat zu 
jein, ex zerfällt gewilfermaßen in zwei einander feindliche Staaten. 
Konnte es bei diefer Auffaffung gleichgültig ericheinen, ob im beten 
Staat durch die ungeheure Mehrheit des Bolfes ein jo gewaltiger 
Riß hindurchging? Allerdings war ja die Einheit des Staates 
bier, wo die Staatsidee eine jelbjtändige Eriftenz über der Erwerbs- 
gejellfchaft gefunden hatte, durch die jozialen Gegenfäße nicht jo 





dem Dafeinsfampf erklärt wird, den der Staat zu führen hat, jobald eine 
einjeitige Lurusproduftion und das Anwachſen unproduftiver Klaſſen die 
Dollsernährung gefährdet und eine Gebietserweiterung auf Koften der Nach: 
barn fordert, — wenn aljo hier der Schuß einer rovpwo« nosıs als Ent- 
ſtehungsurſache eines bejonderen Wehrftandes erjcheint (374a), jo darf daraus 
doch gewiß nicht mit C. F. Hermann (Die hiftorifchen Elemente des platoni= 
ſchen Staatsideals Gej. Abh. 140) auf die Verhältniſſe des Idealſtaates ge: 
jchlojjen werden! Hier fanır doch von dem Schuß einer roupWo« nokıs auch) 
nicht entfernt die Rede fein! 

!) 434b. 

2) Ariftoteles Pol. TI, 2, 13. 1264a: EyxAnuara de zai dire zei 
doa ahhu Tais ToAgoıv Ündoysiv pnoi zaxd, nav® Undofsı zei Tovrors. 

Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. T. 23 


354 Erſtes Buch. Hellas. 


unmittelbar bedroht, wie in dem Staate der Wirklichkeit, wo ſich 
dieſelben ftet3 auch auf das ftaatliche Gebiet verpflanzten. Allein 
Daran war doch nicht zu denken, daß jelbjt der geſündeſte Beamten- 


und Heeresorganismus in der ftetigen und — bei aller örtlichen 
Abfonderung — unvermeidlichen Berührung und Reibung mit 


einem kranken fozialen Körper, mit einer Gejellihaft, im „Fieber: 
zuftand“, auf die Dauer gegen ſolche Anſteckungsgefahr gefeit blei- 
ben würde. Aber felbft wenn man diefe Möglichkeit zugeben 
wollte, wie wäre mit dem politifchen Einheitsbegriff Platos ein 
Staat vereinbar, der „nut die „Jilbernen“ Seelen in das Joch 
der Pflicht, in den Dienft der „Kolleftivität“ zwingt, während die 
niederen Naturen frei erwerben und genießen dürfen?!) Ein 
Staat, der, wie ſchon Ariftoteles richtig bemerkt hat, aus zwei 
Gemeinwesen beftünde, deren innerer Gegenſatz notwendig zu einer 
gegenfeitigen Verfeindung führen würde, einer mwodıs vyırs und 
einer zrodıs yAeyualvovo«.?) 

In der That kennt Plato feine Staatliche Angelegenheit, welche 
für die Negierung des Spealftaates — nächſt der Aufrechterhaltung 
der kommuniſtiſchen Drganifation des Hüterjtandes — wichtiger 
wäre, als die ftaatlihe Regelung der Eigentumsfrage in 
‚in der wirtjchaftenden Gejellihaft.?) Die Negierung hat 
nach Platos ausdrüclicher Anweiſung jorgfältig darüber zu wachen, 
„daß nicht etwa unbemerkt in den Staat fich einfchleiche die Armut 
und der Reichtum.” 4) 

’) Nach der Formulierung, welche Diebel (Rodbertus I, 22) der herr— 
jchenden Anjchauung gegeben hat. Vgl. dagegen Rep. 742a. 

2) Ebd. II, 2, 12. 1264a. 

3) Dieje Frage ift mit der erſteren gewifjermaßen „verſchwiſtert“ (To 
tovrov adeApor) 421e. 

4) 421e: Erega di, Ws Eorxe, Tols golakıy EVonzausev, & navi 
Toonw pvAazt£ov, ONWs UMnots wurodg Amosı Eis tv nölv nepadvvre, 
loi« taöre; MMAovros, mv d’ 2yW, xai nevia, WS Tod UEV ToVpNV zal 
aoyiav zai vewregiouov Eurtotodvros, Tod dE dvehsvdeglav xal zaxovoyiav 
7005 TO vewreoiud. Die Bedeutung diefer Stelle ift Zeller (©. 609) völlig 
entgangen. Kein Wunder, daß Kleinwächter ohne weiteres behauptet, auch 


IT. 2. 2. Da3 Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 355 


Wie fie diefe Forderung zu verwirklichen habe, dafür hat 
Plato allerdings eine genauere Anweijung nicht gegeben. Es fehlt 
zwar nicht an einzelnen Andeutungen über Reformen des Wirt: 
Ichaftsrechtes, durch welche fih nad Platos Anficht dem Kapitalis- 
mus und Pauperismus entgegenwirken lafje. So verlangt er z. B. 
in der Kritik der Plutokratie ftarfe Einſchränkungen des Vertrags: 
rechtes; er will nicht, daß jedermann in der Verfügung über fein 
Eigentum oder in der Erwerbung fremden Gutes völlig unbejchränkt 
jei, weil dadurch „die Einen überreih, die Andern dagegen ganz 
arm werden”.)) Er will den Geldwucer an der Wurzel treffen, 
indem er den Grundjaß aufitellt, daß die Klagbarkeit der Gelb: 
Darlehen aufgehoben werden müfje”.?) Er will endlich im Ideal— 
ftaat fein Gold- und Silbergeld dulden.3) Allein dieſe verein- 
zelten und auf die Negation des Beltehenden ſich beichränfenden 
Äußerungen gewähren in feiner Weife einen Anhaltspunkt dafür, 
wie er ſich die pofitive Neugeftaltung der Wirtfehaftsordnung im 
Idealſtaat vorgejtellt hat. Auch beziehen fie ſich ja nicht einmal 
auf die oben ausgejprochene Forderung der Bejeitigung von Neich- 
tum und Armut an fich, jondern fallen nur die Entartung des 
erjteren zu übermächtiger Kapitalberrfchaft, der letzteren zum 
Pauperismus und zur Not ins Auge Doch läßt fih immerhin 
mit einiger Sicherheit wenigjtens die Frage beantworten: Was 
wohl dem Verfaſſer der Bolitie als die wünjchenswertefte Lö— 
jung des Eigentumsproblems vorgeichwebt haben mag. 

Zunächſt fragt es fih: Was lag in der unabweisbaren Stone 


die jpäteren Kommuniften hätten doch wenigſtens eine Borftellung davon, daß 
die Verteilung der Güter unter der heutigen Wirtſchaftsordnung zu wünfchen 
übrig laſſe, und fie wollten mit ihrem Kommunismus doch wenigſtens Übel: 
jftände bejeitigen, Not und Elend verbannen, während Plato diejer Ge: 
danke vollfommen fremd gemwejen jeil! 

ı) 552a. Dal. 556a. 

?) 556b. 

>) 422d. Vgl. 422a die Bezeichnung des Idealſtaates al3 einer rodıs 
Xonuete un xzezımuevn und 422e als einer modıs un nAovrovoe. 

23* 


356, Erſtes Buch. Hellas. 


fequenz der Aufgaben, welche Plato der wahren Staatsfunft und 
damit dem Idealſtaate teilt? 

Wir fönnen das, was der Staat nad) Wlato „fein ſoll“, nicht 
beſſer veranfchaulichen, als durch die Charafteriftif, welche das in 
wejentlichen Bunkten ganz platoniſch gedachte Staatsiveal von Rod— 
bertus bei feinem neuejten Biographen gefunden hat: Der Staat 
foll danach die zentrale Drganijation des jozialen Körpers fein. 
Das Wefen jeder Organifation aber befteht in der Kongruenz und 
Harmonie der Teile, deren jeder eine bejtimmte auf das Geſamt— 
(eben bezogene und mit der Thätigkeit aller übrigen Teile in Wechfel- 
wirkung ftehende Funktion zu erfüllen hat. Je zentralifierter und 
arbeitsteiliger, deſto vollkommener ift der Staat. Von feinem „über: 
fichtlichen Standpunkt” aus kann und muß der Staat das Thun 
der individuellen Vielheiten in Einverjtändnis und Einklang jeßen, 
als der formende Bildner der jozialen Materie, als die gejell- 
ichaftliche Vorfehung. Ihm gebührt auf allen Gebieten des fozialen 
Lebens die „nitiative und dominierende Macht” auf dem Gebiete 
der intellektuellen und fittlichen, wie auf dem der wirtjchaftlichen 
Kultur.) 

Im wejentlichen genau dasjelbe meint Plato, wenn er ein— 
mal von der „königlichen Kunft“ jagt: „Sie ift die Urſache alles 
richtigen Handelns im Staate (airia rot 0gIas ngarreıw Ev m 
zroAsı), fie ſitzt am Steuer des Staates und alles lenfend und 
überall herrichend (Tarr« zuBegvooa zai ravrwov @exovo«) macht 
fie alles nutzbringend“ (Tavra« goroıua zrorsi).2) Denn ihr allein 
jteht die vernunftgemäße Entſcheidung darüber zu, wie alles Thun 
und Handeln feinem höchiten Zweck, der allgemeinen Wohlfahrt am 
Beten dienftbar gemacht werden kann. Ihre Aufgabe ift es daher, 
alle einzefnen Thätigkeiten auf dieſes Ziel hinzuleiten, fie jo zu 
regeln, wie es der gemeinfame Zwed aller erfordert. Sie ijt der 
oberjte Negulator des gejamten Arbeitsleben.) 





J Dießel: K. Rodbertus II, 47. 
?) Euthydemus 291h. 
3) Ebd. (Edofe juli) tadın ın regen 9 TE orgarmyızn zui ai ahhaı 


III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 557 


Wie hätte der Idealſtaat diefe Brinzipien verwirklichen können, 
wenn er das Inſtitut des Privateigentums in dem Umfang, wie 
es beſtand, feitgehalten hätte. Um jede wirtjchaftliche Kraft an der 
richtigen Stelle verwerten zu können, mußte er ja unbedingt allezeit 
in der Lage fein, derjelben die nötigen Arbeitsmittel zuzuweifen. 
Und damit war wiederum Zweierlei gefordert: Staatliches Geſamt— 
eigentum an den Produftionsmitteln und gemeinfame Wirtfchaft 
bei der Güterproduftion. 

Ob Plato jelbit fich diefer Konfequenzen Elar bewußt war, 
wird von ihm nicht ausdrüclich gejagt. Wohl aber wiſſen wir, daß 
er Ideen ausgefprochen hat, welche noch über diefe beiden Forderungen 
hinausgehen und auch in Beziehung auf das Privateigentum am 
Genußvermögen, wie auf die PBrivatwirtichaft im Haushalt, einen 
mehr oder minder radikalen Bruch mit dem Beftehenden bedeuten. 

Plato wirft nämlich die Frage auf, worin das höchfte von 
dem Gejeßgeber vor allem Anderen zu erjtrebende Glück de3 Staates 
beftehe, worin das größte Übel.) Die Antwort lautet: Es gibt 
für den Staat fein größeres Gut, als was ihn innerlich zufammen- 
hält und einigt, Fein größeres Übel, als was ihn trennt und fpaltet.2) 
Nichts aber wirft jo einigend, wie die Gleichheit der Intereſſen 
oder — platonifch gejprochen — die „Gemeinfchaft von Freude 
und Schmerz“3) nichts jo trennend, wie ihre Geteiltheit.+) Es ift 


negadıdvaı doysır tav Egywv, Wv aural dnuiovgyol eiow, ws uovn 
Erlotauevn yonotaı. 

1) 462a: Ti notre To ueyıorov Eyousv Elneiv Eis NOAEWS KUTaoxEvNv, 
ov dei oroyaLousvov Tov vouosErnv TıFevaı ToVis vouovs, zei Ti uEyıorov 
zaXoV ; 

2) 462b: Eyouer ovv tı usilov zuxov mohsı m &xeivo, Ö dv auımv 
diaond zei non noAAds avri wies; n usllov ayadov Tod 6 dv Evvdn Te 
zal nom Wiev; 00x Eyouer. 

3) Ebd.: ovVxzoWv 7 uev ndors te zei Avnıns zowwvla Evvdei, otav 
ori udkıore avres ol nodirer TOv avıor yYıyyousvov TE zal anoAAvusvov 
neoenımoios zalowoı zal hunovraı; nevıdnaoı utv ovv Em. 

*) Ebd.: 7 de ye rWwv raoVTwv Idiwoıs diekvei, Orev ol uev eQt- 
ahyeis, ol dE negıyapeis yiyrovraı Eni Tols @vrols nedmucoı vs nolews 
TE xal Tav Ev ın nokeı. 


358 Erſtes Buch. Hellas. 


zu wünſchen, daß möglichſt alle Bürger (our uadıora mavres 
os zroAiraı) bei denjelben Vorkommniſſen des Lebens eine gleich- 
artige Empfindung, ſei es der Freude oder der Trauer haben können, 
daß nicht diefelben Begegniſſe die Einen hoch erfreuen, die Andern 
mit tiefem Kummer erfüllen.) Wie bei dem einzelnen Individuum 
der ganze Körper den Schmerz oder das Wohlgefühl einzelner Teile 
mitempfindet, jo Soll auch im Staate, der um jo vollfonmener ift, 
je mehr er in Beziehung auf innere Einheitlichfeit ein Abbild des 
menjchlichen Organismus wird, die Gejamtheit aller fich mitfreuen 
oder mitbetrüben Fünnen, wenn dem Einzelnen etwas Gutes oder 
Übles widerfährt.2) Was ift es aber, was in der beftehenden Ge: 
jellfehaft gerade das Gegenteil: die Geteiltheit der Intereſſen und 
der Empfindungen und damit die Trennung der Gemüter verewigt? 
ach Plato einzig und allein der Umftand, daß nicht von 
allen Gütern des Xebens ebenfo gut das Wort gilt, „das 
ift mein“ und „das ift nicht mein,“ daß durch das PBrivateigen- 
tum der Gewinn und die Freude des Einen zum Verhuft und 
Schmerz des Anderen werden fann.>) 

Wenn wir uns die ganze Tragweite diefer Sätze vergegen- 
wärtigen, jo leuchtet ein, daß Plato im Prinzip wenigſtens bei 
dem Kommunismus des Beamten: und Heereskörpers unmöglich 
jtehen bleiben konnte, daß er vielmehr eine möglichſte Verallge- 
gemeinerung des Kommunismus gewünscht haben muß. Das 
Seal ftaatlicher Einheit, welches hier aufgeftellt wird, war ja nur 
dann voll und ganz zu verwirklichen, wenn nicht bloß der Beamte 


') Vgl. auch Leg. 739d, wo genau in derjelben Allgemeinheit die 
Forderung wiederholt wird: Erawveiv 7’ av zai weysıy xa9° Ev ori 
uekıora Evunavras Eni Toig aUTOIg yeigovras xal Avrtovuevovs. 

?) Rep. 462d: &vos di) olueı, ndoyovros av molırav Ötioiv N 
dyadöv m) xaxov 7 Towvım nohıs wmehord Te Yyocı Eavrjs eiwaw To 
1Coyov, za 7 Evvnodmosta &raoa n EvAhunmjoeraı .. avdayan, &pm, Tmv ye 
evvouor. 

3) 462c: ap’ odv &x torde ro rowvde yiyveraı, Orav m) due pIEyY- 
yovra Ev q)) nodsı ra Toidde Ömuere, TO TE Euov xal TO 00% Euov; xai 
ıeol Tod wAhorpiov zard Tavre; 


III. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftitaate Platos. 359 


und Soldat, jondern womöglich das ganze Volk lebte und wirt- 
I%haftete, wie eine große Familie. 

Die legten Wünſche Platos in Beziehung auf die wirtjchaf 
tende Gefellfchaft gingen alfo auch über jenen halben Kommunis- 
mus hinaus, welcher für eine ftaatlihe Drganifation der Arbeit 
genügt hätte. Als lebtes und höchſtes Ideal ericheint auch bier 
der volle und ganze Kommunismus d. h. das gemeinfame Eigen— 
tum nicht bloß an den Broduftionsmitteln, jondern auch an dem 
Genußvermögen, die gemeinfame Wirtichaft jowohl bei der Güter: 
produktion, al3 auch im Haushalt. 

Diefe Shlußfolgerung ift unabweisbar, ſelbſt wenn fich in 
einem früheren Teile der Politie ÄAußerungen zu Gunften der reinen 
Individualwirtſchaft der Erwerbitände fänden. Es wide das weiter 
nichts beweifen, als daß eben im Verlaufe der Arbeit ſelbſt Plato 
duch die Konfequenzen feines Gedankenſyſtems auf der Bahn des 
Kommunismus weiter gedrängt wurde, als es jeinen urjprünglichen 
Sntentionen entſprach. Allein meines Erachtens gibt es ſolche Äuße— 
rungen nicht. Die Stellen, welche man als Beweis dafür anzu— 
führen pflegt, daß Plato „bei der Mafje des Volkes die übliche 
Lebensweije” vorausjegt, beweiſen dies abjolut nicht. 

An der einen Stelle begründet Plato den Kommunismus 
feiner Beamten und Soldaten damit, daß fie, wenn man ihnen 
Privateigentum an Grundbefis, Käufern oder mobilem Kapital ge 
ftattete, aus „Hütern” zu Haus: und Landwirten werden und als 
feindliche Herren, ftatt als „Verbündete“ ihrer Mitbürger auftreten 
und ihr ganzes Leben hindurch Haß hegend und erregend Urheber 
und Gegenftand feindfeliger Nachitellungen jein würden.) 

Man erklärt diefe Worte jo, als wollte Blato jagen: Der 
Beamte und Soldat des Idealſtaates würde durch das Privateigen- 


') AlTa: önore d’ wuroi ynv TE idiev zei olxies zei voulouar« 
zıjoovrai, olzovouoı uEv zul yEwoyoi dvri pulczwv Eoovraı, deonoreı 
d ErYool avri Evumdywv Tov dhhav nokıtav yErmoovreı, wiooVvres de 
dN7 zei wioovusvo zui Enußovievoyres zul ErrıßovAsvouevo didfovoı avra 


zov Blov. 


360 Erſtes Buch. Hellas. 


tum im dieſelbe privatrechtliche und wirtfchaftliche Lage verjegt 
werden, wie fie der Bauer u. ſ. w. in demjelben Staate einnimmt. 
Allein diefe Beziehung auf den dritten Stand des Idealſtaates ift 
doch, wie ſchon einzelne Erklärer richtig erkannt haben,!), in die 
Stelle erſt fünftlich hineingelegt. Der Sinn der Äußerung ift offen: 
bar ein ganz allgemeiner, nämlich der: die Hüter würden ihrem 
Berufe entfremdet, wenn fie zugleich bäuerliche und andere Privat— 
wirte wären, d. h. ſie würden ein höheres Intereſſe an der. Ver: 
mehrung ihres Vermögens und der Bewirtichaftung ihres Grund- 
bejiges haben, als an ihrer Amtspflicht. 

Ebenjo allgemein ift die andere bier in Betracht kommende 
Stelle gehalten, wo eimer der Unterredner des Dialoges gegen die 
fommuniftiiche Lebensordnung der Hüter den Einwand erhebt, daß 
diejelbe doch wenig Naum für das Glück lafje, welches der Ideal— 
jtaat jeinen Angehörigen verheißt. Dieſe Leute hätten den ganzen 
Staat in ihrer Hand und trogdem von dem Staate nicht den ge- 
vingiten äußeren Vorteil, „da fie ja nicht, wie Andere (oiov &AAoı), 
Ländereien erwerben, ſchöne große Häufer bauen und entjprechend 
ausjtatten können, fein Gold und Silber, furz nichts von alldem 
befigen dürfen, was man bei denjenigen fucht, welche für glücklich 
gelten jollen” (mavra« 00@ vowileran vois uehkovoı uaxagloıg 
ever) ?). 

Es ift Far, daß bier nicht, wie man gewöhnlich annimmt, 
die Lage der höheren Klaſſen des Idealſtaates derjenigen der übrigen 
Bürger desjelben gegenüber geftellt wird, — e3 heißt ja auch in 
den meiften Handjchriften einfach „aAAloı“ nicht „or aAdoı“, — 
jondern ganz allgemein dem Leben anderer Menjchen überhaupt, 
wie es der vulgären Auffaffung vom Glüd entjpricht. 

Selbjt diejenige Stelle, an welcher die Beamten und der 
Wehrſtand in wirtichaftlicher Hinficht wirklich zu den übrigen Bür— 





2] 


a8 
5 


') 3. B. Praetorius: De legibus Platonieis a Philippo Opuntio 
retractatis p. 8. Allerdings find die hier vorgebrachten Argumente nur teil- 
weiſe ftichhaltig. 

2) 419. 


III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftitaate Platos. 361 


gern in Gegenfab gebracht werden, fteht mit unſerer Auffaſſung 
nicht in Widerſpruch. Man könnte ja aus der Äußerung Platos, 
daß unter allen Bürgern allein den Angehörigen jener Stände 
die Berührung von Gold und Silber verboten fei,!) den Schluß 
ziehen, daß in dem Wirtfchaftsleben der übrigen Klaſſen den edlen 
Metallen Feine wejentlih andere Nolle zugedacht war, als in der 
bejtehenden Wirtjcehaftsordnung; und man würde darin ohne Zweifel 
ein Hauptbeweismoment für die herrſchende Anficht jehen, wenn 
nicht Plato ſelbſt Furz darauf ausdrüclich erklärt hätte, daß der 
Gebrauch des Goldes und Silber der Bevölkerung des Ideal— 
jtaates überhaupt duch das geltende Necht verjagt jei,2) — ſo 
daß ulfo an jener erjten Stelle nur jenes Minimum von Gold- und 
Silbergeld gemeint fein kann, auf deſſen Beſitz die Volkswirtſchaft 
eines Stadtitaates wegen des auf die Dauer kaum zu entbehrenden 
Importes notwendiger Bedürfniſſe aus dem Ausland niemals voll- 
fommen verzichten kann, welches aber im Inlandverkehr ftrenge 
verpönt ijt.?) 

Während nun aber aus diefen Stellen über die Eigentums: 
ordnung der wirtjchaftenden Gejellichaft des Idealſtaates nichts zu 
entnehmen ift, fehlt es andererſeits Feineswegs an Hußerungen 
Platos, welche ung zur Genüge erfennen lajjen, daß er fich der 
volfswirtichaftlichen Konſequenzen jeiner allgemeinen ſozialpolitiſchen 
Auffaſſung jehr wohl bewußt war, daß wir mit unjerer Auffaſſung 
die Lehren Platos nicht willfürlich weiter ausgedehnt haben, als fie 
von ihm jelbit gemeint waren. 

Er erklärt nämlich ausdrüdlich, daß die vollendetjte Organi— 
jation von Staat und Geſellſchaft da bejtehen würde, wo Die 
„Meiften“ von denjelben Dingen jagen fünnten: Das iſt mein 


1) 417a. 

2) 422d: HNjuels uEv ovdEr yovsio ovd’ coyvelw gowusde, ou 
nulv FEuus. 

>) Wenn man die Sache jo auffagt, Fällt auch dev Widerjpruch weg, 
den man hier gewöhnlich (3. B. Krohn ©. 35) Plato unterjchiebt. 


362 Erſtes Buch. Hellas. 


und das ift nicht mein.!) Und in voller Übereinftimmung damit 
bezeichnet er es in feinem jpäteren Werfe als ein Grundprinzip 
der beiten Berfaffung, daß durch fie möglichjt im ganzen Staate 
der alte Spruch in Erfüllung gebe, der da lautet: Unter Befreun- 
deten iſt in Wirklichkeit alles gemein.?) Der Staat kann fi) nad) 
Nato im Intereſſe feiner inneren Einheit 3) und damit zugleich der 
Sittlichfeit feiner Bürger fein höheres Ideal vor Augen halten, als 
einen Zuftand, wo alles, was Eigentum heißt, überall im 
menschlichen Leben durchaus befeitigt tft.) Daß freilich 
diefes höchfte feiner fozialöfonomijchen Ideale jemals vollfommen 
zu verwirklichen jei, das hat Plato offenbar jelbft auf dem Höhe: 
punkt jeines Optimismus nicht zu hoffen gewagt. Er begnügt fich, 
wie wir ſahen, in dem Entwurf des Idealſtaates ausdrüclich damit, 
daß die Bürger nad Möglichkeit over, wie es an der anderen 
Stelle heißt, die Meiften an dem Segen der Güter und Intereſſen— 
gemeinschaft beteiligt würden. 5) 

Auch ift Plato über die allgemeine Formulierung des Brob- 
lems nicht hinausgegangen. Über alle Detailfragen, die fich dabei 
ergeben, wie ſich denn diefe Forderung in Verwaltungsgejebe, vie 
Verwaltungsgejeße in Verwaltungsmaßregeln, die leßteren in die 
gewünschte Neugeftaltung der jozialen Verhältniffe umfegen liegen — 
darüber und damit auch über das Maß des Erreichbaren über: 
haupt bat ex fich eine Klare und bejtimmte Borftellung nicht ges 
bildet. Er gibt nur im Allgemeinen die Richtung an, in welcher 
fie) die Neform der Wirtfchaftsordnung zu bewegen bat. Er will 

1) 462e: &v yrıvı dr) moAsı nAsloroı Eni TO wird xard tavıd 
tovro Aeyovoı TO Euov zul TO 00x Euöov, avrn dgıora diowxeitai; oAv Ye. 

?) Leg. 739b: own uev roivov nodıs TE Eotı zei nolıreia zei 
vouoL @oLoToL, Onov TO ndhaı Aeyousvov @v yiyvnrar zatd naoav ımv 
nokıv 0 tı udkıora' Aeyeraı dE, WS Ovrwg Eoti xoıvd Ta pihwr. 

3) 739d: zard duvauıv oitıves vouoı ulav 6 ri udkiora 
nöokıy eneoyabovraı, tovrwv ünegßoAn TTOOS doETNv ovdeis note 000v 
dAkov HEusvos OEF0TERov ovdE Beiriw Inosrau. 

ı) 739. 


>) ©. oben Anmerf. 1 und ©. 358. 


III. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 363 


die Wirtjchaftspolitif des beiten Staates von dem Gedanken geleitet 
willen, daß die Volfswirtichaft jo ſehr als nur immer möglid) 
Staatswirtjchaft werde. Allein die Entjeheivung über das Maß 
der Verwirklichung diejes Gedankens überläßt ex jener Einficht, die 
fih al3 das Ergebnis der vollendetjten theoretiichen und praktischen 
Schulung in der Perſon der philoſophiſchen Herricher verkörpern wird. 

Aristoteles hat daher den Standpunkt Platos nicht ganz 
richtig erfaßt, wenn er in jeiner Polemik gegen den Idealſtaat 
meint, Plato laſſe e8 völlig unentjchieden, ob die Lebensordnung 
de3 dritten Standes auf der Grundlage des Kommunismus oder 
des Privateigentums beruhen folle.!) Die Frage, welche Plato 
offen läßt, lautet nicht: Privat: oder Gejamteigentum, Privat- 
oder Gemeinwirtjchaft? Sondern jo: In welchen Umfang wird 
man das Privateigentum und die Privatwirtichaft neben dem in 
eriter Linie und fo allgemein als möglich zu verwirflichenden 
Prinzip des Oejamteigentums und der Gemeinwirtſchaft notge- 
drungener Weife noch zulaſſen müfjen?“2) 

Immerhin ift Ariftoteles in diefer Frage der Auffaffung 
jeines Lehrers ungleich näher gekommen, als die modernen Be: 
urteiler, welche ihm ein völliges Mifverftändnis Wlatos vorwerfen, 
weil er auch nur die Möglichkeit zugibt, daß Plato in der That 
an eine mehr oder minder weitgehende kommuniſtiſche Drganijation 

1) oA. II, 2, 12. 1264a: ov umv dAN ovde ö Toonos ns Odns 
noltteias Tis Eorai Tois xoıwwavoVcır, oVT’ Elonxsv 6 Zwxodıns ovde Hadıov 
eiteiv .. zaltoı oysdov TO ye nAmdos ns nolews To twv aAhwv nokırov 
yivedau nlj90c, rIeol @v ovdEv dinoLoTai, TOTEOOV zGL TOIS YEWQYols Kolvas 
eivaı del Tas xrnosıs 7 xu#° Exaotov idiov, Erı dE yuvalzas zal naldas 
(diovs 7 xoWwovVs, 

2) Ein Unterschied zwiſchen der wirtfchaftlichen Organiſation des Hüter: 
ftandes und der deg Nährjtandes wird alſo immer bejtehen bleiben und Plato 
kann daher (464a) jehr wohl fpeziell von dem Kommunismus der erjteren 
Klaſſe reden, ohne damit eine teil weiſe Verwirklichung fommuniftijcher Ten: 
denzen innerhalb der leßteren ausschließen zu wollen. Damit erledigt fich der 
Einwand von Beger: Thomas Morus und Plato. Ztichr. F. d. gef. Staats— 
wiſſenſch. 1879 ©. 419 ff. 


364 Erſtes Buch. Hellas. 


des dritten Standes gedacht habe. Ariftoteles ſoll mit der Er- 
wägung diefer Möglichkeit eine Unfähigfeit an den Tag gelegt 
haben, fi) in den Gedankenfreis des Bekämpften zu verfegen, wie 
fie jtärfer nicht wohl gedacht werden könne.) In der That, wenn 
Plato das gewollt und gejagt hat, was ihm die moderne Auf- 
faſſung der Politie unterjchiebt, wenn er feinen idealen Vernunft: 
ftaat auf der Grundlage einer rein individualiftifchen Volkswirt— 
ſchaft aufgebaut wiſſen wollte, dann ift die ariftotelifche Kritik 
eine jo ftümperhafte und oberflächliche, jo allen Verftändnifjes bare, 
daß ihr Urheber von vorneherein unfähig erjcheint, in der Frage 
mitzureden. 

Nun iſt es ja richtig, daß diefe Kritik infolge ihres einfeitig 
polemifchen Charakters mehrfach auch zu höchſt einfeitigen und 
Ichiefen Ergebnifjen gekommen ift und die — allerdings nur ge: 
legentlihen — Äußerungen Wlatos im „Staat“ und in den „Ge: 
jeßen” unbeachtet gelaffen hat, welche einen Fingerzeig für die 
richtige Beurteilung enthalten. Allein diefe Mängel, die er ja zum 
Teil auch mit der neueren Kritik gemein bat, berechtigen ung doch 
noch lange nicht bei Platos größtem Schüler eine jo Findliche Ver: 
jtändnislofigfeit vorauszufegen, wie es die moderne Anfchauungs- 
weile notgedrungen thun muß. Liegt hier nicht vielmehr der Ge: 
danke nahe, daß die moderne Auffaffung des platonischen Staates, 
die zu ſolchen Konfequenzen in Beziehung auf Ariftoteles führt, 
von falfchen Vorausſetzungen ausgeht?“ 2) 


) So Suſemihl Anmerf. 170 zur Politik. 

?) Wenn übrigens Suſemihl eine ftärfere Unfähigkeit, fi in den 
Gedanfengang Platos zu verjegen, faum für möglich hält, jo vergißt er, daß 
er eine noch weit größere Unfähigkeit bei dem genialften neueren Beurteiler 
der Politie, bei Hegel, annehmen müßte, dev das, was Ariftoteles immerhin 
nur al3 mögliche Anficht Platos bezeichnet, geradezu ale Thatjache voraus— 
jest. Hegel jagt von dem dritten Stand: „Er treibt Handwerke, Handel, 
Aderbau, ex jchafft das Nötige für das Allgemeine herbei, ohne Eigentum 
Durch jeine Arbeit zu gewinnen; fondern das Ganze ift eine Familie, 
worin jeder fein angewieſenes Gejchäft treibt, aber das Produft der Arbeit 
gemeinjam ift, und ex don feinem, wie von allen Produkten das erhält, was 


IIT. 2. 2. Das Bürgertum im Vernunftſtaate Platos. 365 


Sedenfalls kann es nur zur Beftätigung der hier entwicelten 
Anficht dienen, daß bei ihr allein uns auch Ariftoteles und feine 
Kritik der Bolitie verjtändlicher wird. 

Wenn wir uns nach alledem noch einmal die Montente ver: 
gegenwärtigen, auf welche ſich unjere Auffaſſung des platonifchen 
Staates und jeiner Stellung zum dritten Stande ftüßt, jo werden 
wir über die ganze Stellung Platos zum Grundproblem der fozialen 
Ethif richtiger und gerechter urteilen, als e3 der herrſchenden An- 
ficht möglich war. 

Die Wege, auf denen man die Löſung des genannten Brob- 
lems jucht, führen — heute, wie in Platos Zeit — nach zwei 
diametral entgegengejegten Richtungen auseinander. Auf der einen 
Seite finden wir die Vertreter einer ariftofratijch-erflufiven, auf 
der anderen die einer demokratiſch-egalitären Geſellſchaftsmoral. 
Die Erfteren gehen davon aus, daß immer nur eine Heine Minder— 
heit zu höherer geijtiger Kultur erzogen werden fünne und in ihrer 
Kultur den Fortſchritt vepräfentiere. Sie ftellen den Kultur: 
zwed und das höhere Recht der von Natur glücklicher Begabten 
auf die Geltendmachung ihrer Überlegenheit allen anderen Rück— 
fihten voran und legen demgemäß das entjcheidende Gewicht auf 
die möglichite Differenzierung und möglichſt ariftofratifche Gliede- 
rung der Gefellichaft, welche der Bethätigung diefer Überlegenheit 
den günftigjten Boden darbietet.!) 





er braucht” Gejch. der Phil. II 291. Diefe Auffaffung ift allerdings un— 
richtig, injoferne als fie die fommuniftiiche Organijation der Volkswirtſchaft 
vollfommen durchgeführt denkt, während Plato nur eine annähernde 
Verwirklichung zu hoffen wagt. Auch die Motivierung, welche Hegel gibt, 
it ungenügend, ja irreführend, allein das, was Plato als höchſtes deal 
vorſchwebte, Hat Hegel richtig gezeichnet, und infoferne zeugt jeine Auffafjung 
von einer innigeren und tieferen Verſenkung in den Gedanfengang Platos, 
als die der jpäteren Kritik. 

) In diefem Sinne meint Renan: „Das Wefentliche befteht weniger 
darin, aufgeflärte Maſſen zu Schaffen, als vielmehr darin, große Meifter 
herborzubringen und ein Publikum, das fähig ift, fie zu verſtehen. Wenn 


366 Erſtes Buch. Hellas. 


Dem gegenüber betonen die Anhänger des anderen Stand: 
punkte den berechtigten Anjpruch der großen Mehrheit, ihrerjeits 
an den Errungenfchaflen der Kultur und an den Gütern mit be 
teiligt zu werden, welche geeignet find, das für den Einzelnen erreich- 
bare Maß menschlichen Glüdes zu erhöhen. Über dem Kultur: 
zweck ſteht ihnen der Glüdszwed oder — um mit Bentham zu 
reden — das größtmögliche Glück der größten Anzahl.) 

Beide Anſchauungen enthalten einen berechtigten Kern, beiden 
haftet aber auch eine gewiſſe Einfeitigfeit an. Während hier eine 
ſtarke Tendenz zu kulturwidriger Nivellierung hervortritt, wird 
dort nur zu leicht die fittliche Forderung vergefjen, daß der Menſch 
im Menfchen niemals bloß ein Mittel jehen joll. Der „Herren— 
moral“, wie der extremſte Vertreter der ariſtokratiſchen Richtung, 
Nietzſche, dieſelbe genannt hat, erſcheint unwillkürlich Die bevorzugte 
Stellung der Hervorragenden als Selbjtzwed, fie nimmt e3 geradezu 
mit Befriedigung bin, daß „die Menſchheit als Mafje dem Gedeihen 
einer einzelnen ftärferen Spezies Menſch,“ das Wohl der Meiften 
dem „Wohle der Wenigſten“ geopfert wird. Die Mafje, das 
nüßliche und arbeitfame Herdentier, erjcheint nur dazu da, um Die 
Folie zu bilden für die Entfaltung der feinften Blüten der Kultur, 
wie bei einem Baum nur der Wipfel dazu da it, Blüten und 
Früchte zu treiben, während der Stamm die Laft zu tragen hat. 
Der Gejellichaftszwed ift einzig und allein der, den ganzen 
Menfchen das Feld zu bereiten. „Man lege einen ſolchen Menjchen 
— Sagt Nietzſche — in die eine Wagſchale und die breite wogende 

taffe, die Herde, in die andere, jo wird dieje leßtere abjtürzen 


hierzu die Unwiſſenheit eine notwendige Bedingung ift, nun um fo jchlimmer! 
Die Natur Hält fich bei ſolchen Bedenken nicht auf, fie opfert ganze Gat- 
tungen, damit andere die notwendigen Lebensbedingungen finden.“ — Philo- 
fophiihe Dialoge D. A. ©. 77. 

!) Vgl. die Formulierung dieſes Gegenjaßes bei Ariftoteleg Pol. II, 
7, 13. 1283b: drogovoı ydo Tives, OTEDOV TO vouoFErn vouosernTeor, 
BovAousvo TIdEoHaL ToUs OEFoT«ToVS vouovs, TOÖS TO TWrv Bekrıovov 
GvupEgov 7 ngös To Tav nAsıovwv, 


II. 2. 2. Das Bürgertum im Bernunftitaate Plato2. 367 


bis an die Grenze der Möglichkeit. Denn, was fie faßt, find nichts 
als Nullen.” Daher Untergang oder Knechtung aller Minder— 
begabten ! 

Wem fällt bei diefer Auffaffung nicht fofort das Bild ein, 
welches man von dem Geſellſchaftsideal Wlatos zu zeichnen liebt? 
Sn der That ift wiederholt auf den Ideenzuſammenhang hinge— 
wiefen worden, der zwiichen Plato und diefer Sozialphilofophie 
des modernen Ariſtokratismus bejtehen fol. Und fie ſelbſt Hat 
fi mit Vorliebe auf ihn berufen. Ein jo ausgezeichneter Kenner 
des Altertums, wie Nießjche, preift ihn, den „Eöniglichen und pracht- 
vollen Einſiedler des Geiſtes,“ ob feiner „Geringſchätzung des Mit- 
leives,“ ob feines „Pathos der Vornehmheit und Diftanz.” Ja 
jelbit die Onckenſche Anficgt von dem angeblih oligarchiſchen 
Grundzug des platonifchen Denkens wird von ihm wiederholt. 
„Unter jeder Oligarchie — jagt er — liegt das tyrannijche Gelüft 
verftedt. Jede Dligarchie zittert beftändig von der Spannung ber, 
welche jeder Einzelne in ihr nötig hat, Herr über dieſes Gelüft zu 
bleiben. So war es 3. B. griechisch. Plato bezeugt es an hundert 
Stellen. Plato, der jeinesgleihen fannte — und fich ſelbſt!“ 

Daß dieſe Anficht auf den Standpunkt PBlatos ein faljches 
Licht wirft, kann nach den Ergebniffen unferer eingehenden Analyfe 
des platonijchen Staates nicht zweifelhaft jein. Allerdings ift Plato 
lebhaft von der Notwendigkeit überzeugt, daß — um ein befanntes 
Wort von Treitſchke zu gebrauchen — die Millionen adern, Schmieden 
und hobeln müfjen, damit einige QTaufend forſchen und regieren 
können. Und er hat auf Grund diefer Überzeugung eine fehr 
Starke Differenzierung der Gejelliehaft gefordert — eine zu ftarke, 
wie wir ohne Weiteres zugeben —, allein die Art und Weije, wie 
er fih die Stellung der hervorragenderen Elemente des jozialen 
Drganismus denkt, ijt doch unendlich) von jener Gedankenwelt der 
„oberen Zehntauſend“ entfernt, von der Herbert Spencer (the Man 
versus State) gemeint bat, daß ſie heute noch im Wejentlichen 
durch die Geſellſchaftsanſchauungen des klaſſiſchen Altertums bes 
jtimmt werde. 


368 Erſtes Buch. Hellas. 


Um als Repräfentant dieſer Geſellſchaftsanſchauungen zu gelten, 
müßte Plato vor Allem die fortjchreitende Differenzierung der Ge— 
jellichaft auf Grund einer möglichjt weitgehenden Verſchiedenheit 
der materiellen Lebenslage gefordert haben. Denn das ilt es 
eben, was von dem gejchilderten Ariftofratismus mehr oder minder 
offen al3 begehrenswertes Ziel der jozialöfonomijchen Entwiclung 
bingeftelt wird: die mit der Konzentrierung des Neichtums gegebene 
Möglichkeit einer raffinierten ariftofratiichen Geiftesfultur, einer 
üppigen Entfaltung aller Blüten des höheren Lebensgenufjes, freiefte 
Bahn für jene Virtuofen des Genufjes, die zugleich Virtuoſen des 
Geiftes feien, und die, wie z.B. ein W. v. Humboldt, Gent 
und Heine, ihre Kräfte eben nur in der Luft eines verfeinerten ſinn— 
lichen Dafeins zu entwideln vermöchten.!) Ein Kulturideal, deſſen 
volle Berwirflihung das „Opfer einer Unzahl von Menfchen” 
vorausfegt, welche, wie Nießjche meint, um jener „Glücklichen“ 
willen zu unvollftändigen Menſchen, Sklaven und Werkzeugen herab: 
gedrüct und vermindert werden müſſen. 

Wie ganz anders Plato! Er verlangt für die Ariftofratie 
feines Soealftaates überhaupt feine äußere Stellung, welche mit 
der materiellen Ausbeutung des wirtjchaftenden Volkes oder gar 
mit dem Maffenelend erfauft werden müßte. Die Anficht Treitjchkes, 
daß den Talenten al3 Kulturbildnern und Vermittlern eine materiell 
ausgezeichnete Poſition gebühre, würde er in dieſer Faſſung ohne 
Zweifel als eine oligacchifche verworfen haben. Er deutet jelber 
an, daß auf einem Standpunkt, bei dem das materielle Moment 
eine jo entjcheidende Nolle jpielt, das Los der Hüterklaffe im Speal- 
ftaat „nicht eben als ein jehr glücliches“ erſcheinen Fünne.?) Er 
verlangt ja für fie nichts, al3 was für die Erhaltung ihrer phyfi- 
ſchen und geiftigen Leiftungsfähigteit notwendig ijt: Befreiung von 

) Bekanntlich hat Treitfchke in dem Aufjfa über den Sozialismus 
und feine Gönner (Preuß. Jahrb. 1874) dieſe Beiſpiele gewählt, um die Not: 
wendigfeit jtarfer wirtjchaftlicher Kontrafte zu erweiſen. 

2) 419, 


III. 2. 2. Das Bürgertum im VBernunftitaate Platos. 369 


gemeinem Mangel und von körperlicher Arbeit.) Es ift das be 
ſcheidene Lebensideal, zu welchen fich einmal Schiller in den Worten 
befannt hat: „Um glüdlih zu fen, muß ih in einem gewifjen 
jorgenfreien Wohlitand leben, und diefer muß nicht von den Pro— 
duften meines Geiftes abhängig jein.” Das wirtichaftende Volk 
des Idealſtaates nimmt feinen Negenten, Beamten, Soldaten die 
Sorge für das tägliche Brot ab, indem es ihnen einen Lohn 
zuteil werden läßt, bei dem fie „nicht notleiden, der ihnen aber 
auch nichts übrig läßt.“2) Es iſt das Minimum von Opfern, 
welche die Gejellihaft nun einmal bringen muß, wenn fie fich eine 
ihren eigenen Beſtand fichernde Elite der Intelligenz und Wehr- 
baftigfeit erhalten will. Ein Dpfer jedenfalls, für welches die 
Gejamtheit nach den Intentionen Platos in den Leiftungen diejer 
Elite vollfommenen Erjaß findet, und welches fie daher im leßten 
Grunde nicht diejer, jondern in ihrem eigenen Intereſſe bringt. 

Denn nicht darum wird bier ja ein Teil der Gejellichaft 
über alle anderen erhoben, weil ihm jeine höhere Veranlagung als 
ſolche ein Necht darauf gibt, jondern darum, weil ihn dieſe Ver- 
anlagung zu den höchiten Leiftungen für den Dienft des Ganzen 
befähigt. Keineswegs bloß um feiner jelbjt willen gelangt der 
Einzelne in den Kreis dieſer Auserlejenen, jondern zugleich um 
aller Anderen willen. So wenig daher die Ariftofraten Platos 
von dem bejeelt find, was der Borfämpfer des modernen Ariſtokra— 
tismus als „Willen zur Macht” bezeichnet hat, und jo wenig ihre 
Exiſtenz die rückſichtsloſe Opferung und den „totalen Verbrauch“ 
der Anderen verlangt, jo wenig fühlen fi) die leßteren als die 
Bergewaltigten und Gedrüdten, als die Leidenden und Unfreien. 
Sie opfern fich für jene nicht in höherem Grade, als jene für fie. 


') 416d: re d’ Enırydeia, 00Wwv deovraı dvdoes dyAntai nok£uov 
GoOGPoOoVfG TE zul dvdosior, ta&auevovs naoa tWov @AAwv noktov deysodaı 
90 0 X 
1090v INS guvAazıs ToooVToV, 0009 UNTE TTEELELIVEL aVTois Eis Tov 
u ns — N E un & 
Eviavröv unte Evdeiv, 
?) Bgl. die charakteriftiiche Bezeichnung der „Wächter“ als „zäher und 
magerer Hunde. 
Pohlmann, Gejch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus. T. 24 


370 Erſtes Buch. Hellas. 


Nicht „Herren und Sflavenmoral“ ftehen ſich hier in unverſöhn— 
licher SFeindfchaft gegenüber, vielmehr ift e3 die Idee von den 
Pflichten der jozialen Wechſelwirkung, welche Regierende und Negierte 
in harmoniſcher Eintracht verbindet. 

Wir haben mit Einem Wort in dem platonijchen Staat einen 
Verſuch vor uns, das Kulturziel und das „Wohl der Wenigiten“ 
in Einklang zu bringen mit dem Glüdsziel und dem „Wohl der 
Meijten”. 

Der platoniſche Staat huldigt dem Ariftofratismus durch die 
Schaffung feiner Hüterklafje, andererſeits aber gibt er dieſer Arifto- 
fratie ein allgemein ftaatliches Gepräge, indem diejelbe alle für den 
Dienft de3 Staates ungeeigneten Clemente abjtößt und ſich hin- 
wiederum durch Heranziehung der Talente aus dem Volke beitändig 
erneuert. So ſcharf ferner der durch die Verjchiedenheit der Auf: 
gaben bedingte Unterjchied von Individuen und Klaſſen in jozial- 
ariſtokratiſchem Sinne ausgebildet erſcheint, jo bedeutjam tritt in der 
überaus bejcheidenen ökonomiſchen Ausftattung der höheren Klafje 
die fozial-demofratifche Tendenz hervor, die Ungleichheit nicht über 
das Maß deffen emporwachſen zu laffen, was die Harmonie des 
Geſamtlebens erfordert. Der platonijche Staat will Feine Ungleich- 
heit, welche eine große Anzahl von Händen nötigt, — ftatt für not- 
wendige Bedürfniffe Aller — für die unverhältnismäßige Erhebung 
Einzelmer tiber die ſozialökonomiſche Lage ihrer Mitmenſchen thätig 
zu fein. Er ift weiterhin demokratisch, indem ev gleichzeitig das 
Benthamfche Prinzip der Fürforge für Alle oder möglichjt Viele auf 
jeine Fahne jchreibt und als Richtſchnur für das gegenfeitige Ver— 
halten aller Bürger die Moral des gemeinfamen Mitleivens und 
der gemeinfamen Mitfreude proflamiert, welche die Soztalphilojophie 
des Ariftofratismus, die Herrenmoral des Stolzes, der Eigenmacht 
und Härte!) als fozialiftiiche Bruderſchaftsſchwärmerei jedenfalls 
weit von ſich weiſen würde. 

Hat doc) Plato aus dem Glüdsprinzip fogar noch radifalere 





') Die 416e ausdrücklich zurückgewieſen wird. 


111. 2.3. Die Koinzidenz v. Sozialism. u. Sndividualism.t.plat. Staatsideal. 371 


Folgerungen gezogen, als jelbjt der ebengenannte moderne Vertreter 
diejes Brinzipes, Bentham. Auch diefer ift der Anficht, daß die 
Summe der Glücjeligkeit um jo größer ſei, je mehr ſich das Ver— 
hältnis des Befistums der Bürger der Gleichheit nähere. Allen 
der hohe Wert, den er auf den Beſitz der materiellen Güter als 
Grundlage perfönlicher Wohlfahrt legt, hindert ihn, diefen Gedanken 
bis zu feiner legten Konjequenz, bis zur Forderung des Kommunis- 
mus zu verfolgen. An Stelle gleichheitlicher Verteilung des Be— 
figes tritt bei ihm eine gleichheitliche Verteilung der Nechte und 
der Macht, von der er ein hinlänglich befriedigendes Ergebnis für 
die Wohlfahrt der Gejamtheit erhofft, weil die Wohlfahrt, nad) 
welcher die fouveräne Gejamtheit der Bürger Streben würde, ſtets 
diejenige von allen fein werde. Plato, der diefe Hoffnung nicht 
teilt und die gleiche Berteilung der Nechte nicht bedarf, um das— 
jelbe Ziel zu erreichen, welches hier dem politischen Demofratismus 
gejtellt wird, jchreitet um jo fühner auf der Bahn der ökonomiſchen 
Gleichheit vorwärts. Da für ihn das höchite individuelle Glüc nur 
ein geringes Maß von materiellen Gütern vorausfeßt, erjcheint ihm 
die Ausgleichung des Intereſſes der Minderheit an der möglichiten 
Intenſität des für fie erreichbaren Glüdes und des Intereſſes der 
Mehrheit an der möglichſt extenfiven Ausbreitung des Glückes als 
ein gerade auf dem Boden der Vollswirtichaft lösbares Problem 
und damit die joziale Harmonie zwijchen Mehrheit und Minderheit 
zur Genüge verbürgt. 


3. 


Die Koinzulenz von Sozialismus und Indiwidunlismus im platonifden 
Stanfsuleal. 


Wir find feit Hegel gewohnt, den platonifchen Staat als das 
Prototyp eines Sozialismus anzujehen, aus dem alle und jede 
individualiftiiche Tendenz in denkbar radikalſter Weiſe ausgemerzt 
it, in dem alles individuelle Leben und Streben durch die Allge— 
meinheit verichlungen wird. 

Der Geift der platonischen Republik beſteht nach Hegel wejent- 


24* 


372% Erſtes Buch. Hellas. 


(ich darin, daß alle Seiten, worin ſich die Einzelheit (Individualität) 
als jolche fixiert, im Allgemeinen aufgelöft werden, alle nur als 
allgemeine Menjchen gelten.!) Diejer Beftimmung gemäß, das 
Prinzip der Subjektivität auszufchließen, ift jeder Teil nur als 
Moment im Ganzen.?) Während im modernen Staat jedes Indivi— 
duum für feine Intereſſen ich ergehen kann (sie!), ift dies aus der 
platonischen Idee ausgejchlofjen.?) Plato- betrachtet nur, wie die 
Drganifation des Staates die befte ſei, nicht wie die fubjeftive 
Individualität.) „Daß die Individuen nicht aus Achtung und 
Ehrfurcht für die Inſtitutionen des Staates, des Vaterlandes han- 
deln, jondern aus eigener Überzeugung, nach einer moralischen 
Überlegung einen Entſchluß aus fich fafjen, ſich darnach bejtimmen, 
— dieſes Prinzip der jubjektiven Freiheit ift ein fpäteres, ift ein 
Prinzip der modernen Zeit. In die griechifche Welt ift es zwar 
auch gekommen, aber nur als das Prinzip des Verderbens für die 
griechischen Staaten und das griechiiche Leben. Plato wollte es 
verbannen und unmöglich machen in feiner Nepublif! 5) 

„Der platonijche Staat,” jagt Stahl, „opfert den Menfchen, 
jein Glüd, feine Freiheit, jelbft feine fittliche Vollendung. Denn 
dieſer Staat — nur um ſeiner ſelbſt willen, um der Herrlich— 
keit ſeiner Erſcheinung willen, und der Bürger iſt nur dazu be— 
ſtimmt, als ein dienendes Glied ſich in die Schönheit ſeines Baues 
fügen. So hat er den darſtellenden Charakter. Er iſt ein 

Kunſtwerk, das minder für ſeine —— Teile da zu ſein ſcheint, 
ala für den Befchauer.” 6) 

An Einwänden gegen dieſe Auffaffung hat es zwar nicht ganz 
gefehlt, ”) aber fie waren nicht überzeugend genug begründet, um die 

1) Gefchichte der Philojophie II, 289. 

2) 283, 

3,7278. 

4) 289, 

5) 278. 

°) Gejchichte dev Nechtsphilojophie (2) 16. 

) Bgl. 3. B. Sufemihl: Platonifche Philofophie IT 283 und Nohle 
0.0.9. TR. 








11. 2.3. Die Koinzidenz d. Soztalism. u. Jndividualism.t.plat. Staatsideal. 373 


Herrſchaft derjelben zu erichüttern. Die verbreitetfte moderne Dar- 
jtellung, die von Zeller, fteht in der Hauptiache noch ganz auf dem 
Standpunkte Hegels. Zeller ſieht das Charafteriftifche der plato— 
nijchen Staatsidee in der Unterdrücdung aller, auch der berech- 
tigften perfünlichen Intereſſen, in der Nechtlofigkeit des Einzelnen 
gegenüber dem Staat, in dem Prinzip, daß die Bürger um des 
Staates willen da jeien, nicht der Staat um der Bürger willen. !) 
Sm platonischen Staat muß nach Zeller der Einzelne allen per 
Jönlichen Wünfchen entlagen und fich zum reinen Werkzeug der 
allgemeinen Gejege, zur Darftellung eines allgemeinen Begriffes 
läutern. Denn dieſer Staat denkt nicht daran, die Nechte der 
Einzelnen mit denen der Geſamtheit verlöhnend zu vermitteln, weil 
jene in jeinen Augen diefer gegenüber gar Fein Necht haben,?) weil 
der Menſch überhaupt auf alle perjünlichen Zwecke verzichten joll, 
um nur für das Ganze zu leben.?) Im Gegenjaß zu den Staats- 
romanent) der neueren Zeit haben bier dem einen exzieheriichen 
Zwed des Staates alle anderen ſich unterzuordnen, ihm werden 
alle Einzelintereffen rückſichtslos geopfert, er verlangt eine un: 
bedingte Selbjtentäußerung aller Bürger. Plato will das Privat: 
interefje aufheben, jeine modernen Nachfolger wollen es befrie- 
digen, jener ftrebt nad) DVollfommenheit des Ganzen, dieſe nach 
Beglücung des Einzelnen, Jener behandelt den Staat al3 Zweck, 
die Perſonen als Mittel, diefe die Perſonen als Zwed, den Staat 
und die Gejellihaft als Mittel.>) 

Auch die moderne Staatswijjenichaft hat fi von dieſer An— 
ſchauungsweiſe noch nicht loszumachen vermocht. Die neuefte Dar- 
jtellung der Staats: und Korporationslehre des Altertums, welche 

!) Der platonifche Staat in feiner Bedeutung für die Folgezeit. (Bor: 
träge u. Abh. ©. 65.) Geich. d. Phil. II? 921. 

2) Der plat. Staat a. a. D. 67. 

>) Ebd. 78. 

*) Zeller schließt ſich hier der unzutreffenden Anficht an, welche die 
platonifche Politie zu den Staatsromanen zählt. 

°) Ebd. 79. 





374 Erſtes Bud. Hellas. 


wir Gierke verdanten,!) ſchließt ſich rücdhaltlos dem eben genannten 
Sabe an, daß für Plato das Individuum nicht Selbftzwed, ſon— 
dern nur Mittel für den Zweck des Ganzen jei. Gierfe gibt zwar 
zu, daß von Wlato „das Einzelleben als ein im ſich Bejonderes er- 
kannt“ ift, allein es foll in dem Gemeinleben, welches ſich als 
naturnotwendige höhere Dajeinsform im Staate verkörpert, voll- 
fommen bejchlojjen jein, in ihm fein alleiniges Maß und 
Ziel haben, an feinem Punkte feine Schranken überragen.?) Die 
platonifche Staatslehre erſtrebt nach Gierfe die vollfommene Ab- 
jorption des Individuums durch die Gemeinjchaft, fie weiß nichts 
von einem Nechte der Berjönlichkeit;3) der Staat ift bier Fein 
Mittel fir die Zwecke der Individuuen, jondern fich jelbit Zwec.t) 

Suchen wir uns unjererjeitS den Ideengang Platos zu ver- 
gegenwärtigen, jo iſt nach den früheren Ausführungen über die 
allgemeine Tendenz der platonifchen Staatslehre jo viel ohne weiteres 
zuzugeben, daß das Sozialprinzip von derjelben mit großer Ent- 
jchievdenheit als das leitende Prinzip vorangeftellt wird (To zomwow 
Nyovusror!)5) Sie nimmt ihren Ausgangspunft nicht von dem 
Individuum, macht nicht die Sntereffen und Wünfche des Einzelnen 
zur Norm für Staat und Gejfellichaft, jondern die Bedürfniffe der 
Geſamtheit. Der DVBernunftitaat will eine Drdnung des Gejant- 
lebens des Volkes jein, welche das größtmögliche Glüd der Gejamt- 
heit verwirklicht und dieſem Ziele das Streben des Individuums 
nach) dem eigenen größten Glüd grundſätzlich unterordnet. Nicht 
darauf ift nach Plato die wahre Staatskunft gerichtet, daß einzelne 
Klaſſen oder Individuen das höchſte Maß menschlichen Glüdes er- 
reihen auf Koften der übrigen, jondern daß das Glüd und Ge 
deihen der Gejamtheit der Bürger ein möglichſt vollfommenes fei. 
Das Glückſtreben des Einzelnen findet hier feine prinzipielle Schranfe 

') sn dritten Bande des deutschen Genofjenjchaftsrechtes. 

) A. a. O. © 8. 

—60 

4) Ebd. ©. 13. 

5) Leg. IX 875b. 


ITI. 2.3. Die Koinzidenz d. Sozialism. u. Jndividualism.i.plat. Staatsideal. 375 


in dem Grundſatz, daß es nirgends die Erhaltung und Entfaltung 
Anderer oder gar Aller jchädigen darf. Das Glück des Ganzen ift 
der Maßſtab, nach welchem exit das der einzelnen Teile zu be 
meſſen ift. 

Daraus folgt, daß die Organe der Gemeinschaft mit dem 
äußeren Zwange ausgeftattet fein müffen, um den widerjtrebenden 
Egoismus zu brechen und fein Sonderintereffe zur Geltung kommen 
zu laſſen, welches nach ihrer Anficht mit dem Intereſſe der Gemein- 
Ihaft in Widerſpruch fteht. Die Gemeinschaft, der Staat aljo ent- 
ſcheidet. Und dieſe Entſcheidung ift die oberjte Richtſchnur für das 
Handeln des Einzelnen, nicht das individuelle Urteil. Denn diejes 
Urteil der Einzelnen ift nicht immer ein unbefangenes, weil die 

teiften einfeitig an das eigene Glüd denten. Es gibt Feine ge= 
nügende Bürgſchaft dafür, daß das fich ſelbſt überlafjene Indivi— 
duum das Glüd der Gejamtheit als Richtſchnur für feine Hand— 
lungen unentwegt fejthalten wird.!) Daher kann der Staat nicht 
‚zugeben, daß „jeder die Nichtung einfchlage, die ihm behagt“.?) 
Eine jolche Freiheit würde nur die Willfür des Individuums auf 
den Thron jegen, würde gleichbedeutend jein mit Anarchie und 
Desorganijation. 

Damit erhält auch alles Glücjtreben von vorneherein eine 
bejtimmte Nichtung. Das Glüc, welches der Einzelne im Sozial— 
ftaat findet, kann nur ein jolches fein, welches mit dem Intereſſe 
des Ganzen harmoniert. Es ift nicht ein möglichit intenfives 
materielleg Genießen, wie es der vorzugsweile auf das finnliche 
Dafein gerichtete Egoismus exitrebt. Denn dadurch wide, wie 
Plato bemerkt, aus dem Beamten alles andere eher, al3 ein guter 
Beamter, aus dem Landwirt oder Töpfer alles andere eher, als 
ein guter Landwirt oder Töpfer werden.?) Überhaupt würde fi) 
unter der Herrſchaft eines einjeitig materialiftiichen Eudämonismus 
das Verhältnis des Einzenen zur Gejamtheit der Anderen in einer 

!) Leg. V 731d ff. 

2)... 00x va apın rocncodeı, onn Exaoros BovAeraı ep. 520. 


s) 420. 


376 Erſtes Buch. Hellas. 


Weiſe geftalten, wie es mit den Lebensbedingungen der ftaatlichen 
Gemeinschaft umverträglic wäre!) Diefe Lebensbedingungen de3 
Ganzen verbieten es, daß die einzelnen Bürger oder ganze Gefell- 
ſchaftsklaſſen das Leben gewifjermaßen ‚als eine Feftfeier (ravr- 
yvors) anjehen und demgemäß ihre Lebensführung einrichten. Der 
Staat kann nicht ein Tummelplag für panegyriiche Ungebundenheit 
jein, denn er ift eine Ordnung, welche nicht nur Nechte gibt, fon: 
dern vor allem Pflichten und damit Opfer auferlegt.?2) Der Staat 
jelbft ift ja nur das Glied eines höheren Organismus, deffen einzelne 
Teile bis zum denkbar Eleinften Atom herunter nach der Anord- 
nung jeines göttlichen Lenkers in dem, was fie wirfen, wie in dem, 
was jie erleiden, der Erhaltung und Vervollkommnung des Ganzen 
dienen.?) Wie der Staat, jo ift auch der Einzelne dem Univerfum 
gegenüber „nur ein Teikchen, welches, obwohl nur ein winziges 
Atom, doch ftet3 auf das Ganze gerichtet mitwirkt”.) Die 
Welt iſt nicht um dieſes Atomes willen entjtanden, fondern die 
Teile entitehen, weil e8 die Lebensbedingungen des großen Ganzen 
jo erfordern.) 

So wird im Gegenjaß zu den Prinzipien des Egoismus, die 
von dem nur an fich denfenden Individuum ausgehen, bei Plato 
der Menjc von vorneherein zugleich als Glied der Gattung) auf: 

) 421la. 

2) 421c. 

) Leg. 903a: nreidwuev Tov veaviav Tois Aoyoıs, WS TW TOD Iavrög 
Erttushovusvo NIO0S mv oWrnoiav zei dosımv tod OAov nüvt £ori ovv- 
Terayusve, W@v zei To WEQos Eis divauıv Exaotov TO 7T000Nx20V NEOKEL 
HaL TIOLEL, 

+) 903b: wv &v zei to oov, © oyerkıs, uogLov Eis To av Evvreivei 
PAenov dei, zaineo ndvouıxgov OV. 

3) oè de Aeinde — wird ebd. dem Zweifler erwidert — zregl Tovro 
auro, ws yEveoıs Evexa Exeivov yiyveraı nüoe, Onws 7 7) TO Tod navrog 
Bio Öndoyovoa eidaluwv ovoie, ouy Evexa 000 yıyvousvn, oo de Evexa 
EXELVOD, 

6) Dez ganzen dv9ownuvov yEvos Rep. 473d. — Yewv ye Ba, #Tn- 


uaerd gpauev eivar ndvra, ON6OR Ivnta Coa, WrrLEo zal Tov oVgavor 
ökov. Leg. 902b. 


re — ——— 


II. 2.3. Die Koinzidenz dv. Sozialism. u. Individualism. i. plat. Staatsideal. 377 


gefaßt, in welcher Eigenfchaft demjelben die Mitarbeit an der Ver 
vollfommmung der menschlichen Gefamtheiten zu einer naturgemäßen 
und primären Zebensaufgabe wird. Da ferner der Erfolg dieſer 
Mitarbeit wefentlich bedingt ift durch Die Drganifation der ſtaat— 
lichen Gemeinfchaft, welche alle einzelnen Kräfte zur Erfüllung der 
menschlichen Kulturaufgaben zufammenfaßt, jo werden die Pflichten 
gegen die Gattung von ſelbſt zu Pflichten gegen diejenige Gemein— 
ſchaft, welche das Hauptorgan zur Erreichung der Gattungszwede 
daritellt. 

Soll nun aber die opferwillige Hingebung Aller an den die 
Gefamtheit oronenden Staat, welche alles Necht zugleich als eine 
Pflicht auffaßt, zu leiten und zu dienen, — ſoll diefe Hingebung 
gleichbedeutend fein mit einer ſolch unbedingten Selbjtentäußes 
rung und einem jo völligen Aufgehen des Einzelnen in der 
höheren Einheit des Staates, daß daneben alles individuelle Zweck 
jtreben verjchwindet, der Menſch ſich überhaupt nicht mehr als 
Selbftzwed, fondern nur noch als Mittel und Werkeug für den 
Zwed des Ganzen fühlen kann? 

Plato weiß von einer folchen Auffaffung nichts. Seine Ab— 
ficht wenigftens ift eg nicht, die Menjchen zu fleiſch- und blutlojen 
Schemen der von ihm vertretenen Ideen zu machen. Selbſt für 
die gewaltige Theodicee, welche in dem oben angeveuteten Sinn 
den einzelnen Lebeweſen ihre Stellung im Weltall anweift, it das 
Individuum fein jo völlig bedeutungsloſer Punkt neben zahllojen 
anderen, daß e3 aufhören müßte, als Ich zu fühlen. Denn gerade 
diefe Theodicee beruft fich gegenüber dem Widerſtreben „ſtarrſin— 
niger” Zweifler ausdrüclich darauf, daß die Annahme ihrer Lehre 
durchaus nicht einen Verzicht auf alle perjönlichen Zwecke fordere. 
Sie apelliert mit dien Worten an das wohlverftandene Eigen: 
intereffe des Smdividuums, welchem das, was dem Weltganzen 
frommt, ſoweit es die allgemeinen Gejeße des Werdens geltatten, 
notwendig mit zu gute kommen müfje.!) Sie behauptet eine prä— 





1) Zwar heißt e8 (903b): &s yao iaroos xai nas Evreyvos Omut- 


378 Erſtes Buch. Hellas. 


ſtabilierte Harmonie zwiſchen dem richtig verſtandenen 
Einzelintereſſe und dem des Ganzen, deſſen göttlicher Er— 
halter und Lenker jedem die ihm „gebührend e”!) individuelle Lebens— 
förderung zu teil werden läßt, alſo doch auch ein gewiſſes „Recht 
der Verjönlichkeit” anerkennt. 

Wenn mın aber nach Platos Anfiht Schon im unendlichen 
AM, das doch ausschließlich ſich ſelbſt Zweck und nicht um des 
Menschen willen da ift, der Menſch mehr bedeutet als ein bloßes 
Moment im Ganzen, wenn ſelbſt bier das Bedürfnis nach einer 
„verjöhnenden Bermittlung” zwiichen dem Ganzen und den An: 
ſprüchen des Menjchenherzens auf die Anerkennung jeiner indivi— 
duellen Lebenszwede in einer Weiſe betont wird, welche ganz an 
die individualiſtiſchen Glücjeligkeitstheorien des achtzehnten Jahr— 
hundert3 und ihre Zehre von der angeblichen Identität des allge: 
mein Nüglichen mit dem individuell Nüßlichen erinnert,2) — wie 
kann da Nato die Berechtigung jolcher Anjprüche gegenüber jenem 
Teilchen des Kosmos geleugnet haben, das ſich Staat nennt und 
das in diametralem Gegenfaß zu jenem recht eigentlich) ein Drgan 
eo» joll für die Erreihung menſchlicher Lebenszwede, für die 


ovoyös revrös ußv Evexa navra Eoyalerar noös To xoiwn Evvreivwv PBEI- 
u£oos uv Evsxa 6hov zul ovy Ohov uEgovs Evexa anegyaberaı. 
Aber, wird jofort Hinzugefügt: ad ayavazxreis dyvoov, onn To negi 08 
doworov To navri Evußaiveı zal 00l xard duvauıy Tmv is 


Tıorov, 


KoLVNS YEVEOEWE. 

!) vo nooonzov! 903a. 

2) Bgl. den befannten Sat von Leibnitz: Deus accedens effecit ut 
quidquid publice i. e. generi humano et mundo utile est, idem fiat etiam 
utile singulis atque ita omne honestum sit utile et omne turpe damnosum. 
Ebenſo ſtimmt die platonijche Theorie von der Koinzidenz der Glückſeligkeit 
des Alls und der des Individuums bis zu einem gewilfen Grade überein mit 
dev theory of moral sentiments von Adam Smith, wo die Überzeugung 
ausgefprochen wird, daß Gott „in feinem Wohlwollen und jeiner Weisheit 
von Ewigkeit her dieg ungeheure Getriebe des Weltall3 jo anorönete und 
feitete, daß es jederzeit die größtmögliche Menge von Glück hervorbringt”, 
weshalb er auch „in das Syftem feiner Regierung fein partielles Übel auf- 
nehmen könne, welches nicht für das allgemeine Bejte notwendig wäre”. 





III. 2.3. Die Koinzidenz v. Sozialism. u. Jndividualism.i.plat. Staatzideal. 379 


Berwirflichung eines möglichſt hohen Maßes menschlichen Glüdes? 
Wenn Zeller mit Emphaſe ausruft: „Wir werden uns nie über: 
zeugen, daß es zur Bollfommenheit des Staatsganzen dienen Toll 
oder daß es erlaubt ſei, die wejentlichen Nechte und Intereſſen der 
Einzelnen feinen Zweden zu opfern”; — jo ift das gegenftandslos. 
Denn auch PBlato will feine Vervollkommnung des Staatsganzen 
auf Koſten wefentlicher Nechte und Intereſſen des Einzelnen. 
Sein optimiftiicher und iveologijcher Dogmatismus gibt nicht einmal 
die Möglichkeit zu, daß der Menſch als Atom im Natur: und Welt: 
ganzen den Zweden desjelben rückſichtslos geopfert werden könne; 
er kann ſich feine Vollkommenheit des AllS denken, welches mit dem 
Intereſſe des Menſchen an eigenem Glück und eigener Vervollkomm— 
nung im MWiderjpruch ftünde. Wie hätte Blato bei dieſer Anſchau— 
ungsweife eine abjolute Abjorption des Individuums durch den 
Staat forvern können? 

Dagegen ſpricht Schon die allgemeine fpektulative und reli- 
giöje Auffaſſung Platos. Sie ſteckt gerade der einzelnen Perſön— 
lichkeit rein individuelle Ziele, die weit über das ftaatlihe Leben 
binausragen. Indem fie dem jtrebenden Geift ein Reich der Wahr: 
beit eröffnet, in welchem zu verweilen jein höchites Glück bildet, 
gibt fie gerade den Edelſten des Volkes die Richtung auf ein deal, 
welches ihr Fühlen und Denken über die „Schattenwelt der Er— 
ſcheinungen“, alfo auch über den Staat weit hinausführt. 

Die Erkenntnis, welche ſich hier dem Einzelnen erichließt, 
wird ausdrücklich für wichtiger erklärt, als alle irdiſchen Inter— 
eſſen !), und ein der Erfenntnis geweihtes Leben für befjer, als das 
Leben im Staate und für den Staat.?) Nur der Not und der 
fittlichen Pflicht gehorchend fteigen die zur Leitung des Staates 
Berufenen von den feligen Höhen wiljenschaftlicher Betrachtung 
herab zu den Gejchäften des Lebens. Auch thun fie das feines- 
wegs bloß um des Staates willen, jondern ebenjojehr um ihrer 

le 

2) 519e. 


380 Erſtes Buch. Hellas. 


ſelbſt willen, weil ein gut regierter Staat die unerläßliche Voraus— 
ſetzung für das Gedeihen der Wiſſenſchaft, für die erfolgreiche Pflege der 
idealen Intereſſen iiberhaupt bildet.) Dieſe Intereſſen ſelbſt aber weiſen 
nach Plato immer und immer wieder gebieteriſch auf ein höheres, 
unſterbliches Daſein, welches eine Ausgleichung irdiſcher Mißver— 
hältniſſe in Ausſicht ſtellt, wie ſie ſelbſt der vollendetſte Staat nicht 
zu erreichen vermag. Daher endigt auch der Entwurf des Ideal— 
ſtaates ſehr bezeichnend nicht etwa, wie der Sozialftaat Fichtes, mit 
einer Verherrlichung der durch ihn verwirflichten Zuftände, ſondern 
mit einem Ausblid auf ven Pfad, der nach dem führt, „was droben 
it”, und auf dem fich diejenigen, welche ihn unentwegt verfolgen, 
ſchon bienieden weniger als Bürger des irdischen Staates, denn als 
die Fünftigen Himmelsbürger fühlen. Denn fie leben der Über: 
zeugung, daß nichts Irdiſches das oberjte Anrecht auf fie bat, 
jondern jene Macht, der „wir Sterblichen alle zu eigen gehören“ 
d. t. Öott. 

Wie fann Gierke mit diefer Anſchauungsweiſe die Anficht ver: 
einigen, daß bei Plato das Einzelleben vollfommen im ftaat 
lichen Gemeinleben bejchloffen jei, in ihm jein alleiniges Ziel 
babe, an feinem Punkte jeine Schranken überrage? 2) 

Aber nicht bloß die Kosmologie und NReligionsphilofophie, 
jondern auch die Pſychologie und Ethif Platos jteht mit der Anficht 
jeiner modernen Beurteiler in Widerſpruch. Allerdings hat Plato im 
Staat eine theoretiiche Auseinanderjegung über das Verhältnis der 
egoiftiichen und altwuiftiichen Triebe der Menjchenfeele nicht gegeben. 
Dagegen finden ſich in den „Geſetzen“ einige Andeutungen, die auf 
den Standpunkt Platos ein bedeutfames Licht werfen. Cr beflagt 
es bier al3 das größte aller Übel, daß die Naturanlage der meiften 








1) 492e. ©. jpäter. 

>) Nichtiger als Gierfe urteilt in diefer Beziehung Ahrens Naturrecht 
1°. 42, der den „transcendenten, das ixdiiche Leben überragenden Zug im 
platonischen Erziehungsſtaat“ hervorhebt gegenüber Ariftoteles, nach defjen 
Anſchauung das menschliche Leben feine Befriedigung und feinen Abſchluß 
in einem fich jelbjt genügenden autarkiſchen Staate finde. 


11.2.3. Die Koinzidenz dv. Sozialism. u. Individualism. i.plat. Staatsideal. 381 


Menjchen eine tief jelbjtfüchtige jei. Die Meiften dächten und han: 
velten nach dem Prinzip, daß von Natur und Nechtswegen jeder 
Menſch von Liebe zu fich ſelbſt erfüllt ſei.) ine Bemerkung, die 
zunächft den Anſchein erwect, als würde die Berechtigung der Selbft- 
liebe abjolut verneint, Selbitliebe ohne weiteres mit Selbftfucht 
ientifiziert. 

Daß das aber nicht die Meinung Blatos fein kann, beweift 
der Einwand, den er unmittelbar darauf gegen das erwähnte Durch: 
jcehnittSurteil erhebt, daß nämlich „die übertriebene Selbitliebe”, 
7 opodga Eavrov yıkla, die Duelle aller Lafter jei. Sie, alfo die 
Selbftfucht ift e3, deren Überwindung von jedem gefordert wird, 
To opodga yılzly Eavrov,?) nicht die Verleugnung aller Selbjt- 
liebe überhaupt, ein naturwidriger Verzicht auf jegliche Berhätigung 
des Selbjtinterefjes. Nur dem jelbjtfüchtigen Individuum, nicht der 
Selbitliebe an ſich tritt Plato feindlich entgegen. 

Das zeigt ſich recht Har in der Stellung des platonifchen 
Menjchen zum Sittengejeß. Hätte die herrjchende Auffaſſung Necht, 
jo hätten demfelben die jittlichen Normen einzig und allein in der 
Form des Ffategorischen Imperatives der Pflicht zum Bewußtſein 
fommen müjjen, dem ji) der Einzelne blindlings zu unterwerfen 
hat. Plato müßte für den Einzelmeu feine andere Neflerion übrig- 
lafjen, als die Eine, wie muß ic) handeln, damit das Beitehen und 
das Wohl der Gejamtheit gefördert wird? Der Gedanke an 
das liebe Jh und an die Vorteile, welche die Förderung des Ge— 
meinwohles für dasjelbe abwirft, hätte als treibendes Motiv des 
Handelns völlig in Wegfall kommen müſſen. 

Das ift nun aber durchaus nicht der Fall! Gerade der Ent- 


) 731d: navrwv dE ueyıorov zaxov dvdowWnous Tols noAkols Eugpvrov 
&v tais wouyais &oriv, ov nds &avıo ovyyrounv Eyov dnopvynv oddE ulav 
ungavartaı' tovro d’ Eotıv 6 Akyovoıv, WS PlAos aürW nas AvYOoWnos 
ice 7’ Lori zul 00905 Lyeı 1ö deiv eivaı rorovitov , ro DE dAmdela ye 
navrov ducornuctov dia nv opodo« Eavrov pıklav aitıov Exdorw 
yiyveraı Exaorore. 

2) 732a: dio navra avdomnov Kon pevyeır TO 0p0do« Yılsiv autor, 


382 Erſtes Buch. Hellas. 


wurf des Spealftaates begnügt ſich nicht damit, die jittlichen Nor- 
men als Naturbedingungen der menschlichen Gemeinjchaft zu er— 
weiſen; ex jucht vielmehr ihre Anerkennung von jeiten des Ein- 
zelnen zugleich dadurch zu fichern, daß er Impulſe zu Hilfe ruft, 
welche aus den Tiefen der menjchlichen Natur ſelbſt ftammen. 
Der platonifche Menſch handelt fittlih nicht bloß um der 
Gemeinschaft willen, ſondern auch um jeinetwillen. Er fühlt fich 
jogar zu der Frage berechtigt: Iſt das Gerechte auch ſubjektiv 
nüglich,!) ift es vorteilhafter als die Ungerechtigfeit??) Und er 
handelt fittlich, indem ex zugleich überzeugt ift, daß die Tugend 
al3 „die Gejundheit der Seele” ebenſoſehr Grundbedingung des 
individuellen. Wohlſeins ift, wie die Gejundheit des Körpers.?) Er 
denkt dabei allerdings zunächit nicht an die Äußeren Erfolge der 
Tugend, wie Lohn, Ehre u. j. w., jondern an ihren idealen Wert, 
weil ex eben „vie Gerechtigkeit an und für fich jehon als das für 
die Seele Beſte erfunden”.t) Allein bleibt bier nicht immer ein 
jelbjtiiches, wenn auch nicht im fehlechteiten Sinne jelbjtiiches Motiv 
als Triebfeder des individuellen Handelns bejtehen? Die getreue 
Befolgung des Sittengejeßes erſcheint als ein Mittel zur Steige: 
rung des perjönlichen Glüdes. Das Glüd, welches ſich an Das 
fittlide Handeln knüpft, die inpividuelle Vollkommenheit, wird dem 
Einzelnen unzweideutig al3 Ziel vor Augen geftellt, in welchem ex 
den Lohn der Tugend zu juchen hat.) Er wählt das Gerechte, 





!) Rep. 339b: .. . Evupe&gov yE tı zivaı xai &ya duoAoyo To 
dizeıov. E 

?) 345a: &yW yag dr voı AEywm To y’ Euov, Or ov neidouct ovd" 
orucı adıziav dixaioovvns zegdadswregov eivaı. Bol. 445a. 

3) Ein für das individualiftiiche Moment in Platos Ethif bejonders 
bezeichnender Vergleich! 445b. 

62 Bgl. 367 e. 

>) Wenn es 612d heißt, daß die Gerechtigkeit Diejenigen nicht täujcht, 
welche fie erlangen, jo wird die Luft, welche fich nach Plato an das jittliche 
Handeln knüpft, offenbar ala eine vom Individuum erwartete Folge hin: 
gejteltt, fie wird Zweck und Motiv des fittlichen Handelns zugleich. 


IH. 2.3. Die Koinzidenz d. Sozialism. u. Individualism.i.plat. Staatsideal. 383 


weil diefe Wahl für ihn im Leben und im Sterben die befte ift,') 
weil er jo „vie höchite Glückſeligkeit erreicht” .2) 

Man könnte hier jogar die Frage aufwerfen, ob in diejer 
Anſchauung nicht das jubjektiv-individualiftiiche Moment in einer 
Weije zur Geltung kommt, wie es der wahren Bedeutung des Sitt- 
lichen nicht entjpricht. Doch begnügen wir uns mit der Feftftellung 
der Thatjache, daß der joziale Eudämonismus Platos das jubjeftiv 
eudämoniſtiſche und jubjektiv utilitarifche Element keineswegs aus- 
ſchließt.“)) Geht doch Plato in feiner Rückſichtnahme auf den nim- 
merjatten Glücjeligfeitstrieb des Individuums jo weit, daß er 
„meben den Gütern, welche die Gerechtigkeit ſelbſt gewährt“ +) zu- 
legt doch nicht umhin kann, noch des „großen und herrlichen 
Lohnes“ zu gedenken, den fie der Menſchenſeele bei Göttern und 
Menjchen erwirbt im Leben, wie nach dem Tode! >) 

Der Gerechte im Sinne Platos begnügt ſich nicht mit dem 
ſpinoziſtiſchen: beatitudo non praemium virtutis, sed ipsa virtus. 
Er erhebt vielmehr jehr entjchiedene Anjprüche auf die bejondere 
Gunft des Himmels. Er fühlt fi) zu dem Glauben berechtigt, 
dab „wenn er in Armut, Krankheit oder fonftiges Unglück verfällt, 
dies ihm im Leben oder nad) dem Tode zu irgend einem Seile 
geveichen müfje”.) Wird ihm doch — in der Negel wenigftens 
— jelbjt bei den Menſchen der äußere Lohn feines Thuns nicht 
vorenthalten bleiben! 

Wie der tüchtige Läufer das Ziel erreicht, den Siegespreis 


') 618e: ori Lwyri te xai teievrmoavrı avım xoatlorn algescıc. 

2) 619b: oßeo yap evdauuoveoraros yiyveraı dvdowrnos. Vgl. die: 
ſelbe Auffaffung bei Thukydides (I, 42): 76 Te yao Evugeoov, Ev © dv tıs 
EAayıoıq duaoravn, udhıora Enerar. 

?) Vgl. auch die interejfante Statiftif über das Auftreten utilitariſcher 
Ausdrüce in den Schriften Platos, bei. in der Republik bei Fosl: Der echte 
und der xenophontiſche Sokrates ©. 435. 

4) 6l4a: ... aIAd TE zei ulodoi zei doge yiyveraı (to dizaiw) 
1005 Exsivors ToIs dyaols, ois avın nageiyero 7 dizaioovvn zrA. 

5) 612b. 

6) 613a und übereinftimmend damit Leg. 732d, 


354 Grites Buch. Hellas. 


empfängt und befränzt wird, jo wird es auch dem Gerechten er— 
gehen; ex wird gegenüber dem Ungerechten die Siegespreife bei den 
Menschen, Anjehen, Ehre u. ſ. w. davontragen. Und vollends 
nach diefem Leben, da harren feiner Preiſe, Belohnungen und 
Gaben, die jeden irdischen Maßſtab überfteigen, !) namenloſe Wonnen, 2) 
während der Ungerechte jede Schuld mit zehnfachen Qualen büßen 
wird! — Kurz, die Tugend wird ebenjo als Quelle äußeren, wie 
inneren Glückes exftrebt.3) Darum werden wir — heißt es im 
Schlußwort der Politiet) — die Gerechtigkeit mit Überlegung auf 
alle Weile üben, Damit wir jo mit uns jelbjt, wie mit den Göttern 
uns befreunden, und fo lange wir hier verweilen und nachdem wir 
die Preife derjelben davontrugen, ringsumher wie befränzte Sieger 
unferen Lohn einfammeln,’) kurz damit es uns jowohl hier, wie 
dort wohlergebe. 

Es ift derſelbe Standpunkt, den der fterbende Sofrates im 
Nhacdon- vertritt. Die Herrlichkeit der Seligen (uaxa«owmv evdaı- 
movie) ift das Motiv, „um dejjentwillen (Evex«!) man alles 
thun muß, daß man im Leben der Tugend und der Vernunft 
teilhaftig werde. Denn jchön ift der Preis und die Hoffnung 
groß“.6) 

Kann es etwas geben, was inpivivualiftiicher gedacht wäre, 
als diefe Lohn: und Straftheorie, dieſe alle Gedanken der Nefig- 
nation möglichft von fich weifende Moral der Hoffnung und Furcht, 


1) 614a. 

2) gunadeıeı xal Hear aunyavoı to xahdos 61da. 

3) Vgl. Apol. 30b: ovx &x yonudrwv «osrn ylyveraı, ahA’ EE agers 
xoyuara zei Ta dia dyasa rols dvdowWnors enavra xal idie zei Önuooig. 

*) 621c. 

5) Anfpielung auf die Tim. Gloss. p. 215 erwähnte Sitte: Hegueysıoo- 
uEvoL vixmpogoı . ol vızmoavres &v dmuoolm ayorvı zei Jog« apa Tor 
püowv zal oixeiov kaußdvovres zaı negriorres. Ein in der That für 
Platos Auffaſſung jehr bezeichnender Vergleich! 

) 115d: «Ale Tovrwv UM Evexa XoN... av noLeiv wore 
EgEITS xal PgovjoEsws Ev TO Piw usraoyeiv' xuhöv yao To dIAov xai 7 
EAnis usyaan. 


II. 2.3. Die Koinzidenz dv. Sozialism. u. Zndividualism.t.plat.Staatsideal. 385 


die jo ganz und gar in dem Tehnen und Wünſchen des egoi: 
ſtiſchen Menſchenherzens wurzelt, bei der alles fittliche Handeln Ge- 
fahr läuft zu einer Bolitif der verjtändigen Eigenliebe zu werden? 
Durch diefen Wechlel auf die Sterne, durch den Hinweis auf den 
Ausgleich im Senfeits, auf die Fürſorge der Gottheit für den durch 
die Sittlichfeit zur Gottähnlichkeit fich exhebenden Menſchen wird 
der Menſch als „Liebling der Götter” !) zulegt doch wieder zum 
Mittelpunkt der Welt gemacht. Es triumphiert das ſchrankenloſe 
Glücjeligkeitsftreben des Individuums, das es nicht faſſen will, daß 
der Mensch zugleich ein Stück Natur ift und als folches in feinen 
Dafein natürlichen Geſetzen unterliegt, die nur allzu oft jeinen 
edeljten Bedürfniſſen, feinen ivealften Forderungen eine unüberfteig- 
bare Schranke feßen. 

er jo indivivualiftiich zu empfinden vermochte, der konnte 
in der That gegen das, was am Individualismus unzweifelhaft be- 
rechtigt ift, aljo auch gegen das Streben nad) dem eigenen Wohl: 
jein an und für fich nichts einzuwenden haben. Demgemäß handelt 
auch der platonifche Menſch, „Damit es ihm wohl ergehe“ (va eu 
zroarron). Wohljein aber heißt nichts anderes, als ein Zuftand 
befriedigter Luftgefühle oder der Befreiung von Unluftempfindungen ;2) 
und die Theorie der Luftgefühle gewinnt daher auch für Plato eine 
ſolche Bedeutung für Ethik und Politik, daß ſelbſt der Entwurf 
des Spealftaates auf die Frage nach dem ſubjektiven Wert der Luſt— 
gefühle eingeht, welche die Befriedigung der verjchiedenen Triebe, 
wie 3. B. des Wiljenstriebes, der Chrbegierde, des Erwerbstriebes 


1) HeopuAns Philebos 39e. 

2) Bgl. über die Jdentität des „guten“ und angenehmen Lebens Protag. 
351b: & jdEws Buoös zov PBlov TeAevınosıev, oVx EÜ dv co doxot ovrws 
Beßiorevaı; 354b: ravra de ayada Eotı di’ aAko u m or Eis mdoras 
anorsievid zal Avnov anahlayas zei anorgonds; m Eyere tı dAdo 
TElos Akyeıv, Eis Ö anoßlewarres aura ayayd xadeıre, aAh Ndovas te 
zal Aunnas; 357a: Eneidn dEndorns zai Avnns Evogdn zn aloeoeı 
Epdvn julv 7 owrnoiae tov PBlov ovoa xri. Kin Standpunkt, der, 
wie die ©. 386 f. angeführten Stellen der Bolitie und der „Gejege” beweijen, 
auch jpäter feitgehalten wird. 


Pohlmann, Gejch. des antiten Kommunismus u. Soztalismus. I, 25 


336 Erſtes Buch. Hellas. 


gewährt.) Die mannigfachen durch diefe Triebe bedingten Lebens— 
richtungen werden daraufhin geprüft, welche von ihnen die ange 
nehmfte und von Unluftgefühlen freiefte jet (wis rovrov Piov 
hdıoros, 10 Ndıov zei aAvrroregov.?) 

„Etwas feiner Natur nach jo recht Menjchliches — heißt es 
in den „Geſetzen“s) — find die Gefühle der Luft und des Leides 
und die Begierden. Das Sinnen und Trachten aller Sterblichen 
ift mit Naturnotwendigfeit durch fie bedingt und beherrſcht.“ Da- 
her haben auch die Menfchen, wenn fie an die Aufrichtung von 
Gefegen denken, dabei faft ihre ganze Aufmerffamfeit auf 
die Freuden und Schmerzen zu richten, wie fie fi im Leben 
der Gejamtheit und im Gemüte des einzelnen Jndividuums 
erzeugen.t) Denn auf der Art und Weife, wie man aus diejen 
beiden ewig fließenden Quellen ſchöpft, beruht das Glück des 
Staates, wie des einzelnen Bürgers.?) 

Es ergibt fi) aus alledem die Berechtigung eines indivi— 
duellen Lebensideales, d. h. des Strebens nach dem denkbar ſchönſten 
Leben, deſſen Vorzug — neben der Ehre, die es bringt — darin 
befteht, daß e3 „was wir alle erjtreben“, während feiner ganzen 
Dauer mehr dev Freude, als des Leides gewährt.) Da wir mit 
echt wünfchen, daß uns Luft zu teil werde?) oder daß in unjerem 


!) Rep. 580d ff. 

2) 581ec. Dal. 588a, wo eine fürmliche Bilanz gezogen wird zwiſchen 
den Luftgefühlen des „Gerechten” und Ungerechten. 

3) 732e: Eorı dn) Ypvoc dv9oWreiov ucdkiora novel zul Aunraı xai 
erıdvulaı, £E Wr dvayan 10 Ivnrov nav Cwov drexgvos olov Eimornosei 
TE zul EXXOEULUEVOV eivaı onovdais Tolc ueyioraus. 

4) 636d: vouwv dE negı dieozonovusvwv avd0W@nwv oAlyov naoa 
&otıv 7 ox&wıs negl TE Tas ndords zai ras Aunnag Ev TE noAeoı 
zal Ev idloıs NYEoLV, s 

5) Ebd.: dvo yap avraı myai uedeivreı pVosı dev, wv 0 udv 
aovrousvos OWEV TE del xal ONOTE zul 0N000V evdaıuovel, zei moAg 
ouolws zei ldıW ns za Swov anav zul. 

6) 733a: zoqrei zui TovTw, 6 ndvres Inrovuev, TO yaigsiw nAeiw, 
eicrıo JE Aunsiohei age Tov Blov anavre, 

’) 733b: dornv BovAousde nulv eivat, 


111. 2.3. Die Koinzidenz d. Sozialism. u. ndividualism.t.plat. Staatsideal. 387 


Leben wenigftens die Luftgefühle überwiegen,!) jo muß fich in dem 
glücklichiten Leben, deſſen der Menſch fähig ift, mit den unentbehr- 
lichen fittlichen Gütern auch das verbinden, was uns „lieb und ans 
genehm ift”.2) Gerade ein fittliches Leben bewährt fi) von diefem 
Standpunkte aus als das Beſſere und Begehrenswertere, weil «8 
„in Beziehung auf Leib und Seele angenehmer ift, als ein der 
Schlechtigkeit ergebenes, weil die Tugend bewirkt, daß der gute 
tenjch ein glüdlicheres Leben führt, als der Schlechte.” Und 
ähnliches gilt von der Erkenntnis, von der in einem früheren, eine 
ausführliche Theorie der Luftgefühle enthaltenden Dialog gerühmt 
wird, daß durch die mit ihr verbundenen Genüſſe (ei zov uesn- 
uarov Tdovei) eine vollfommenere Befreiung der Luft von der Un— 
luft zu erreichen ift, als Durch irgend welche andere Geuüfje.3) Ein 
der Erkenntnis geweihtes Leben wird in der Politie zugleich als 
das angenehmite (Bios Hdıoros) bezeichnet, weil die mit ihm ver: 
bundenen Luſtgefühle nach Inhalt und Dauer alle andere Luft über: 
träfen.t) Ohne die Süßigkeit diejer Luftempfindungen würde jelbjt 

das Leben des Denkers nicht lebenswert fein.?) 
Sit es nach alledem zuviel gejagt, wenn wir den Sab auf: 


) 733e: &v © udv Bio... vneoBdilsı TE tav jdorav, BovAousde, 
&v © dE 1E Everria, or BovAousde. 

2) 733d: tives dj zei 10001 eioi Bior, wv reg dei ngosAouevov 10 
BovAntov Te zul Exovoiov, aBovAmtov TE zei adxovoıov idovre, Eis vouor 
Eavro rafausvov, TO Pidov dua zul YOU xai EgLoToV TE xui xal- 
Auorov Ekouevov Lv, ws oiov T’ Eoriv AVIEOWTOV URKUOLWOTATR; — 
Ebenjo Rep. 580c. Der ESittlichjte zugleich der Glücklichſte! — Plato be: 
rührt fich auch hier unmittelbar mit dev Moralphilojophie des achtzehnten 
Sahrhunderts. Leslie Stephen hätte ebenjogut von Plato wie von Hutchefon 
jagen können, daß nach ihm infolge einer präftabilierten Harmonie der 
Zeiger des moraliſchen Sinnes jtet3 auf Handlungen gerichtet 
fei, die das größte Glüd erzeugen. Vgl. Hasbach: Adam Smith I 103. 

3) Bhilebus 52h. 

4) Rep. 582a ff. 583a. 585e. 586e. 

5) Phileb. 2le: & rs dekaıı’ dv ar Inv Nucv PoovyoLw ußv zei 
voovy xal Eniormumv „.. KEXTNUEVoS, Ndorns dE uereywv unte ueya unte 
cuızo0v und’ av Aunns, aAld To neganev anadjs ndvıwv IWv roloVrwv; 


25 * 


388 Erſtes Buch. Hellas. 


ftellen, daß für die bier ausgeſprvchene Anſchauungsweiſe der Wert 
des Lebens fich wejentlich mit nad) dem Neinertrag an Luftgefühlen 
beftimmmt, welches es bringt?!) Es ijt daher eine völlige Ver— 
fennung des Standpunktes Platos, wenn derjelbe von Zeller als 
Vertreter eines rein ſozialen Eudämonismus (des ausschließlichen 
Strebens nad der Vollfommenheit des Ganzen) in einen kontra— 
diftorifchen Gegenſatz gejeßt wird zu feinen modernen Nachfolgern, 
wie Thomas Morus und Fichte, als den Vertretern eines vein 
individualiftiichen Sozialismus (des Strebens nach der Beglüdung 
des Einzelnen). 
Die Menjchen des platonischen Idealſtaates find von Dem: 
jelben energiſchen Glücdsbedürfnis erfüllt, wie die Utopier des 
ſtorus und die Bürger des gejchlojenen Handelsjtaates. Sie denken 
gar nicht daran, gegenüber der Gejamtheit „allen perjönlichen 
Wünſchen zu entjagen” oder gar fi „zur Darftellung eines all- 
gemeinen Begriffes zu läutern“. Ihr Empfinden und Handeln 
erſcheint keineswegs ausschließlich altruiftiich motiviert. Sie willen 
zwar, daß das menschliche Einzelleben nicht ſchlechthin Selbſtzweck 
jein darf, allein fie halten ebenjo entſchieden daran feit, daß es 
auch nicht ſchlechthin Mittel für die Förderung der Gattung oder 
eines menjchlichen Gattungsverbandes d. h. des Staates jein Fünne. 
Daher beantwortet der platoniſche Menſch 3. B. die Frage nad 
der Entftehungsurjfache des Staates mindeftens ebenfojehr vom Stand— 
punkt des Individuums aus, wie dem der Öattung. Er gibt nicht 
einmal zu, was doch jelbjt Individualiſten, wie Grotius und Lode 
annehmen, daß es ein uninterejfierter Trieb, das Gattungsgefühl, 
der Spzialtrieb gewejen ſei, welcher die Menſchen zur ftaatlichen 
Gemeinschaft zufammengeführt habe. Der Staat entjteht ihm viel: 
mehr recht eigentlich) aus dem Selbfterhaltungsbedürfnis des Indivi— 
duums, „da feiner von uns für Jich jelbjt eriftieren kann, ſondern 
jeder vieler Anderer bedarf”.2) — „Indem der Eine den Anderen 
') Vgl. die eigentümliche Abjchägung der Luft und Schmerzquanta 
im Leben des Gerechten und Ungerechten; eine fürmliche Luftbilanz Rep. 588a. 
?) Ebd. 369b: Tiyvsrau toivor, 1 Ö' &yo, möhts, Ws EyWuaı, Eneudn 


III. 2.3. Die Koinzidenz d. Sozialism. u. Individualism. i. plat. Staatsideal. 389 


für verſchiedene Zwecke zu Hilfe nimmt, verfammelten wir — vieler 
Dinge bevürftig — viele Genoſſen und Helfer an Einem Wohnort 
und legten diefem Zufammenwohnen den Namen Staat bei.“) — 
Es ift alfo das Intereſſe, „um dejjenwillen, — wie es ausdrüd- 
lich heißt, — wir einen Staat grimdeten”.2) Die Individuen 
treten zu einer Gemeinschaft zufammen, um einen Verkehr zu 
organifieren, der es ihnen ermöglicht, einander die Früchte ihrer 
Arbeit mitzuteilen;?) eine Mitteilung, bei der jeder — ſei es als 
Gebender oder als Empfangender eben am beiten fein Intereſſe zu 
befriedigen glaubt.*) Die Individuen fügen jich in einen jtaat- 
lihen Verband, weil fie willen, daß „es jo für fie jelbit 
bejjer ijt“. 

Man fieht, Platos PBolitie zwingt durchaus nicht zu einem 
Verzicht auf die Frage: Was leiftet der Staat für die Beglüdung 
des Einzelnen? Ebenſowenig denken die Bürger des, Gejeßes- 
jtaates an einen ſolchen Verzicht. Mit der Frage, wie der Staat 
am zweckmäßigſten einzurichten ſei, verbinden fie unmittelbar die 
andere, wie der Einzelne als ſolcher am beiten zu leben ver- 
möge.5) Und wenn jelbit Fichte, „ver ftrenge Moralphiloſoph“, 
den Bürgern feines Sozialftaates verkündet, daß jeder „jo angenehm 
leben joll, als er vermag“,“) jo glauben auch die Bürger Platos 


Tuyyaveı juov Exaotos 00x avraoxns, ahıd nohlov Evdens' m tiv’ oieı 
doyiv ühkmv nohıv oizitew; ovdeulav, 7 d’ 6s. 

ı) 369e: oſcao M do« neoahaußdvov dhhog Ehkov En’ ahhov, Tov 
d’ En’ @Adov yoeig, olAov deouevor, noAkous Eis ulav oixmoLw ayeigavres 
zowwvolis te zei Bomtovs, tavtn ın Evvoizige EIEUEFa okıv Ovoug. 

?2) 371b: wv dj Eveza zei zoıvwvievy nomodusvoı mol Wxioauer. 
Dal. 372a: goeie twi ın noös dAdmkovs. 

—— — 

4) 369e: Meradidwoı U Ehdos dh, Ei Tı ueradidwoıv, N uere- 
haußavesı olöusvos aÜTO dusıvov eivaı. 

5) Leg. 702a: teire yao ndvra eiontaı Tod xarıdeiv Evexa, Ws 
nor’ dv nölıs doiora oizoln, zai (die nos dv rıs Bektıora Töv av- 
tov Biov dıayayoı. 


°) Gejchlojjener Handelftaat S. W. III 412. 


390 Erftes Buch. Hellas. 


Anspruch zu haben auf den Pros Ndıoros,!) zu dem ihnen eben 
der Vernunftitaat der ſicherſte Führer zu jein verfpricht, weil er 
mit dem öffentlichen zugleich das individuelle Glück verbürgt.?) 
Vom Standpunkt des platonischen Eudämonismus ift das Indivi— 
duum genau ebenjo zu der Frage berechtigt, in welchem Maße es 
feine Rechnung im Staate finde, wie etwa von dem Standpunft 
des in dieſer Hinficht ganz indivivualiftiich gedachten Syftems des 
gejellfchaftlichen Utilitarismus in der Formulierung Sherings. „Bes 
fomme ich für meinen Einfchuß ein entiprechendes Äquivalent, 
macht fi das, was ich dem Staate leiſte, bezahlt in dem, 
was ih von ihm erhalte? Bekommen nicht andere im Ver— 
hältnis zu mir mehr, als ihnen gebührt, entipricht die Vertei— 
fung der Vorteile der ftaatlichen Gemeinſchaft über ſämtliche 
Mitglieder den Grundjägen der Gerechtigkeit?”3) — all dieſe 
Fragen nach dem „Zweck im Recht” ftellt ſich auch der platonifche 
Menſch. 

Allerdings hat dieſer individualiſtiſche Eudämonismus Platos 
nichts von vulgärem Hedonismus an ſich. Alles Glückſtreben des 
Einzelnen erhält hier unbedingt Regel und Richtſchnur durch die 
Forderungen der Vernunft und Sittlichkeit. Allein iſt das etwa 
bei Morus oder gar Fichte weniger der Fall? Und gehört nicht 
gerade das frohſinnige von dem geſundeſten Individualismus er— 
füllte Völkchen der Utopier zu den eifrigſten Verehrern Platos? 
Seine Schriften ſind die geleſenſten in Utopien, doch wohl ein 
Beweis dafür, wie nahe ſich ihr Inhalt mit den Lebensidealen des 
Volkes berührt. In der That handelt und empfindet dasfelbe in 
vielen Dingen ganz platonifch und wenn auch in feiner Moral 
philofophie und Lebenspraris unter den Bedingungen menschlichen 


!) Vergleiche die ©. 385 f. angeführten Stellen. Protag 351b und 
Rep. 880d. 

?) Rep. 473e. Dadurch legitimiert ex fich eben ala der befte Staat, 
OT oVr dv din Tıs Erdamoryosısv ovre idig ovre dmuooige. Dal. 
Leg. 875b. 

3) Jhering: Zweck im Recht I 537. 


III. 2.3. Die Koinzidenz v. Sozialisın. u. jndividualism.i.plat.Staatzideal. 391 


Glückes die äußeren Güter mehr zur Geltung fommen, als in der 
theoretiichen Wertung derjelben bei Wlato, jo find die Utopier 
doch weit entfernt, die Glückſeligkeit im Sinne des Hedonismus der 
Sinnenluft gleichzujegen. Vielmehr wird von ihnen ebenjo ent- 
ſchieden wie von Plato der jehr verjchtevdenartige Wert der einzelnen 
Zuftformen und der weitaus überwiegende fittliche Wert der geiftigen 
Genüſſe anerkannt. Auch fie „miſchen den Honig der Luft mit 
dem Flaren nüchternen Waſſerquell der Einficht“.) 

Nichts könnte auf die ganze Tendenz des platonifchen Staats- 
iveals ein bedeutjameres Licht werfen, als die Thatſache, daß der 
Bater des modernen Sozialismus und die Bürger jeines Speal- 
ſtaates, — weit entfernt, jih in einem prinzipiellen Gegenſatz zu 
Plato zu fühlen, wie man fälichlich angenommen hat, — fich mit 
Begeifterung gerade zu den platonifchen Lebensidealen bekennen. 
Wäre das nicht ein piychologiiches Nätjel, wenn dieſe Ideale an 
ih ſchon und prinzipiell eine ſyſtematiſche Ertötung alles indivi— 
duellen Lebens und Strebens bedeutet hätten? 

Sn der That enthält denn auch die platonische Staatstheorie 
indivivualiftiiche Züge genug, welche man nur darum überjehen hat, 
weil man unter dem Einfluß des ertremen Individualismus der 
Aufklärung und des Naturrechtes die Grundanſchauungen Blatos 


ı) Mit Plato unterjcheiden fie die wahre Luft von der Scheinluft und 
den „thörichten” Freuden des großen Haufens. So wenig wie Plato dulden 
fie in ihrem Staat die „inanium voluptatum artifices* und die otiosa turba 
der Müßiggänger. Die höchfte Luft ift auch ihnen die, welche mit der „Be: 
trachtung der Wahrheit” verbunden ift. Alle andere Luft findet ihre Grenze 
in der Nüchternheit, Mäßigkeit, Arbeitjamkeit, in der ftetigen Rückſichtnahme 
auf das Wohl der Anderen und des Ganzen. Und jo hoch auch die Utopter 
die Luft Stellen als Bedingung irdiſchen Glüdes, jo gilt ihnen doch, wie 
Tlato, nichts im Leben ale größeres Glüd, denn ein feliger Tod. Der 
ichmerzlichite Tod, der zu Gott führt, erjcheint ihnen bejjer, als das glück— 
lichite Leben, weshalb fie denn auch voll Begeijterung die Gejchichte dom 
Opfertod der Märtyrer und die Predigt vom Heiland annehmen! Das höchite 
Glück des Lebens jehen fie mit Plato in der Erhebung über den Dienft der 
Leiblichkeit zur Freiheit des Geijtes. 


392 Erſtes Bud. Hellas. 


von vorneherein in Bausch und Bogen verwarf und zu einem un— 
befangenen Durchdenken des Einzelnen nicht fähig war. Die 
Menjchen der Nenaifjance, welche die Antike nicht durch dieſe Brille 
des Doktrinarismus anfahen, hatten auch dafür ein ſcharfes Auge. 
Sp fonnte 68 3. B. einem Thomas Morus unmöglich einfallen, 
ficd Deswegen wie 3. B. Zeller!) im Gegenjaß zur „hellenifchen 
Staatsidee” zu fühlen, weil die Griechen „ſich ein menſchenwürdiges 
Dafein überhaupt nur im Staate zu denken willen“, oder weil die 
jelben eine „Verlegung berechtigter Intereſſen der Einzelnen überall 
da nicht anerkennen, wo das Staatsinterejje diejes fordert (sic!), 
überhaupt den Staat nicht für verpflichtet hielten, feinen Ange— 
hörigen ein größeres Maß von Nechten zu gewähren, als es feine 
eigenen Zwecke mit ſich bringen”.2) In allen diefen Punkten bat 
eben Morus die Anſchauung der Antike durchaus geteilt, ebenfo 
wie die moderne Staatslehre, ſoweit fie ſich von den Sllufionen des 
doftrinären Liberalismus emanzipiert hat. Wer dagegen noch ſo 
jehr im Banne des naturrechtlichen Individualismus fteht, daß er, 
wie Heller, dem Staate das Necht zur Beichränfung der Inter— 
ejfen und Rechte des Individuums in dem eben angedeuteten Um— 
fang prinzipiell abjpricht, wer mit Zeller von der „naturwüchfigen“ 
Entwiclung der Einzelnen und der Gejellfchaft ein jo befriedigen- 
des Ergebnis erwartet, daß er ſich ohne weiteres auf den „aus der 
freien Bewegung der Einzelnen fi erzeugenden Gemeingeiſt“ ver- 
lafjen zu können glaubt und daher „eine jelbjtändige Nepräfentation 
ver Staatsidee” für unnötig erklärt?) wer fich ſogar ein menſchen— 
wirdiges Dafein außerhalb des Staates denken kann,) bei dem ift 
e3 nicht anders zu erwarten, als daß er bei Wlato eben nur den 
denkbar extremſten Sozialismus zu jehen vermag, der das Indivi— 
duum in jeder Beziehung prinzipiell den Staatsgedanfen ge— 
opfert babe. 


1!) Der platonifche Staat a. a. D. ©. 80. 

?) Zeller ebd. 

3) Wie Zeller: Geſch. der Phil. IT (1) ©. an 
*) Wie Zeller: Plat. Staat ©. 80. 


TU. 2.3. Die Koinzidenz d. Sozialism. u. Individualism. i.plat. Staatsideal. 393 


Hätte diefe Auffaffung recht, dann würde es überhaupt feinen 
Staat geben, der nicht auf einer Vergewaltigung des Individuums 
beruhte. Dem wo iſt ein Staat, der ein „berechtigtes“ Intereſſe der 
Einzelnen gegen das Staatsintereffe, ein „Recht“ des Einzelnen 
gegen den Staat in Wirklichkeit anerkannt? Der Borwurf, den 
geller vom Standpunkte einer falſchen naturvechtlichen M etaphyfit 
3. B. gegen Fichte erhebt, daß fein ganzes jozialiftiiches Gebäude 
einer „naturrechtlichen Grundlage” entbehre,!) ift gar fein Vorwurf. 
Denn der Staat kann ein „Neht“ nur im Staat und durch 
den Staat anerfennen, fein „Gejeß”, das mit uns geboren; er 
kann nicht zugeben, daß ihm die einzelnen Individuen als ſou— 
veräne Inhaber von urjprünglichen „Rechten“ gegenüberjtehen, die 
der Staat bereit3 vorgefunden und die er als abjolute Grenze 
feines Nechtes anerkennen müſſe, zu deſſen Schuß er von den Ein- 
zelnen ins Leben gerufen jei. Der Staat würde fich ſelbſt negieren, 
wenn er nicht grundfäglich feine Befugniffe ebenfo, wie die Pflicht 
des Einzelnen zum Gehorfam als vechtlich unbegrenzt ſetzen würde, 
mag der Spielraum, den er der individuellen Selbjtbeitimmung 
geitattet, ein noch jo ausgedehnter fein.?) ES kann alfo auch beim 
platoniſchen Staat nicht die Nede davon fein, daß er Deswegen, 
weil er ſein Necht als das höhere jeßt, das Individuum grund 
fäßlich geopfert habe. 

Übrigens ift ja Plato ſelbſt fo ſehr ein Kind feiner Zeit und 

) Fichte als Politiker. Vorträge und Abh. ©. 166. 

2) VBgl. die Schöne Ausführung von Paulfen: Ethif S.799. Wie ehr 
Zeller in diefen Dingen unter dem Einfluß ungejchichtlicher Zeitanfchauungen 
fteht, beweift feine Bemerkung gegen Fichte a. a. O. 165: „E3 ift unrichtig, 
dab das Eigentumsrecht erſt im Staate entftehe, fondern der Staat findet es 
ebenjo, wie die Unverleglichkeit der Perfon und der Verträge als ein natür— 
liches Recht des Einzelnen vor, das er nicht zn Schaffen, ſondern nur zu 
ordnen und zu ſchützen hat (!!). Übrigens irrt Zeller, wenn er glaubt, daß 
auf der naturrechtlichen Grundlage der „natürlichen Freiheit” notwendig auch 
ein freiheitliches wirtjchaftspolitiiches Gebäude errichtet werden müſſe. Vgl. 
3. B. was Hasbach: Unterjuchungen über Adam Smith ©. 195 don Hutchejon, 
den englischen Bearbeiter des pufendorfiichen Naturrechtes, anführt. 


394 Erſtes Buch. Hellas. 


ihres ſozialpolitiſchen Nationalismus, ſteht jelbft jo durchaus auf 
dem Boden einer naturrechtlichen Metaphyfit, daß er, wenn auch fein 
Recht gegen den Staat, jo doch naturrechtlich begründete Anz 
jprüche des Individuums an den Staat entſchieden anerkennt, wie 
bereits aus dem bisher Gefagten hervorgeht und fpäter bei der 
Analyje jeines Oerechtigfeits-, Freiheit: und Gleichheitsprinzipes 
noch deutlicher werden wird. 

Kun ift freilich auch das Maß freier Bethätigung, welches 
der Vernunftſtaat dem Einzelnen thatfächlich einräumt, überaus eng 
begrenzt. Er zwingt mit ummiderftehlicher Gewalt die Individuen 
in die feſtbeſtimmten Bahnen, welche durch die Staatsidee vor: 
gezeichnet find. Die Auffaſſung des Staates als eines einheitlichen 
Organismus ift bis zu der utopifchen Forderung überfpannt, daß 
ein abjoluter Sozialwille die einzelnen Individuen zu einer fozialen 
Lebensgemeinschaft verjchmelze, in der das Streben und Handeln 
jelbftändig empfindender und denfender Weſen genau ebenfo Harmo- 
nich imeinandergreifen fol, wie die Funktionen der jeelenlofen Teile 
eines organischen Naturganzen. Und dieſes Ziel wird durch eine 
zentralifierte Staatsleitung zu erreichen verfucht, welche alle Fragen 
des politifchen, jozialen und wirtjchaftlichen Lebens von oben und 
von Einer Stelle aus löſen, alles indivivnelle Sein und Thun in 
die Sphäre ftaatlichen Einfluffes und ftaatlicher Ordnung binein- 
ziehen ſoll. 

Allein ſelbſt dieſe extrem-ſozialiſtiſche Drganifationsform, die 
ſich zu ihrer Verwirklichung und Vervollfommnung des Individuums 
als unbedingt abhängigen Werkzeuges bedient, ift — was ihren 
Endzweck betrifft — keineswegs jo konſequent anti-individualiftisch 
gedacht, wie man gewöhnlich annimmt. Wenn Schmoller einmal 
von Fichte geſagt hat, „er ſei zu ſehr vom germaniſchen Geiſt ent— 
ſproſſen, um das Individuum ganz untergehen zu laſſen in dem 
Getriebe der Maßregelung“,) jo kann man in ähnlichem Sinne 


) J. ©. Fichte. (Zur Litteraturgefchichte der Staats- und Sozial: 
wiljenjchaften ©. 62.) 


III. 2.3. Die Roinzidenz dv. Sozialism. u. Individualism. i.plat. Staatsideal. 395 


auch von Plato jagen: Er ift viel zu ſehr Hellene, ex fteht ſelbſt 
zu jehr auf dem Boden der die ganze helleniiche Ethik und Spzial- 
philofophie beherrfchenden eudämoniftischen Grundanfchauung,!) als 
dab er ſich eine vollendete Drganifation des jozialen Ganzen zu 
denfen vermöchte ohne die gleichzeitige Befriedigung des individuellen 
Glückſtrebens und der berechtigten Lebenszwecke der Einzelnen, der 
allein wirklich lebenden, bedürfenden, fühlenden menschlichen Indi— 
viduen. Es ift einer der Grundgedanken jeines ganzen Syitems, daß 
im Bernunftftaat ſelbſt der äußerte Zwang nur ein Zwang zum 
Glücke fein wird, — auch für den Einzelnen ! 

Kun hat man allerdings im Sinne der herrjchenden Auf: 
faljung gemeint: Der Sofrates der Politeia erkläre ja jelber aus: 
drüclich, daß es in der That gar „nicht jeine Abjicht fei, Einzelne 
glücklich zu machen, jondern das Ganze.”2) Allein kommt in dieſer 
Formulierung der Sinn der betreffenden Stelle wirklich voll und 
ganz zum Ausdrud? 

Es handelt fih bier um die Widerlegung des Einwandes, 
daß die Philofophen und Krieger des Bernunftitaates nicht eben 
ſehr glüdlih (ravv vı evdaruoves) zu nennen jeien, da fie zwar 
ven ganzen Staat in ihrer Gewalt, aber infolge ihres Verzichtes 
auf materiellen Bejit und Genuß feinen Vorteil von der Herr— 
Ihaft hätten.?) Wäre die herfömmliche Beurteilung des platonischen 
Staates die richtige, Jo müßte Sokrates auf diefen Einwand ein- 
fach erwidern: „Da der Staat nur Selbjtzwed, das Individuum 
einzig und allein dienendes Mittel für die Zwecke des jozialen 


) Val. Heinze: Der Eudämonismus in der griehiichen Philojophie. 
Abh. der ſächſ. Gel. d. Wiſſenſch. NIX 645 ff. Wie Euden angefichts der 
hier und im Text hervorgehobenen Thatſachen behaupten fan, es fei der 
antifen Lebensanfchauung überhaupt eigentümlich, daß das Individuum 
nirgends als Selbſtzweck erſcheint, ift mix unbegreiflich. — Lebensanſchau— 
ungen großer Denker 123. Die Suggeftion, welche die überlieferte Lehre von 
einer angeblichen „antiken Staatsidee” ausübt, macht blind gegen die offen- 
fundigften Ihatjachen der Gejchichte. 

?) Sp Diebel Rodbertus II, 22. 

3) 419 f. 


396 Erftes Buch. Hellas. 


Körpers ift, jo hat es überhaupt feinen Anfpruch auf Befriedigung 
jeines eigenen Glücksſtrebens im Staat und durch den Staat.” 
Wie lautet nun aber die Antwort in Wirklichkeit? 

Zunächſt wird entſchieden bejtritten, daß von einem bejon- 
deren Glück der genannten Klaſſe nicht die Nede fein fünne. Es 
wäre im Gegenteil unter jolchen Lebensbedingungen nicht zu ver- 
wundern, wenn jie jogar des allerhöchſten Glückes teilhaftig würde! 
Es wird alfo die Aufwerfung des individuellen Glücksproblems 
feineswegs als unzuläffig abgelehnt, jondern als berechtigt an— 
erkannt. Was zurücgewiefen wird, ift nur eine einfeitige Löfung 
diejes Problems zu Gunften einer beitimmten Zahl von Individuen. 
Inſoferne wird die Frage als faljch gejtellt bezeichnet, als fie ſich 
auf das Glück einer befonderen Klaffe bezieht. Denn „nicht in 
der Abficht,“ Fährt Sokrates fort, „gründen wir unferen Staat, 
daß ein einzelner Stand (Ev zı 2Ivos) vor Allen (diegegovrus!) 
beglüct fei, fondern daß es möglichft die ganze Gemeinde fei (6 zı 
uakıore Ohm 7) modıs)'), d. h. die ganze Bürgerfchaft.?2) Es 
dürfen nicht einige Wenige al3 Träger des im Staate zu ver- 
wirklichenden Glücdes ausgeſchieden werden.?) 

Man fieht, es handelt ſich an diejer Stelle gar nicht um 
ven Gegenſatz zwijchen dem abjtraften Kolleftivindivivuum Staat 
und jeinen Drganen, jondern um den Gegenjag Tonfreter Biel- 
heiten, d. h. der Gejamtheit der zu einem Staate vereinigten Indi— 
viouen, dem Volksganzen einerjeit3 und einer bejonderen Gruppe 
derjelben andererſeits.) Daher wird die Frage noch bejtimmter 


!) 420b. 

?) Für die Berechtigung dieſer Überſetzung ſpricht auch Leg. 742de 
und 743c, wo direkt das Glück der Bürger als Ziel der Geſetzgebung be— 
zeichnet wird. — Vgl. übrigens auch Rep. 500e und Leg. 945d. 

3) 420e: viv ußv oVv ws olwusda Tıjv eidaluorve (sc. noAıy) nAdr- 
Touev 00x drroAaßovtes oAlyovs Ev aurn rolovrovs Tivas tıyevrss, dA Ohm. 

*) Darüber darf auch der hier gebrauchte Vergleich des Geſetzgebers 
mit dem Maler, dev eine Statue zu bemalen hat (420e), nicht Hintwegtäufchen. 
Plato kann hier diefen Vergleich gebrauchen, weil für ihn, wie wir jehen 
werden, ein Gegenſatz zwijchen dem Intereſſe des Staates als jelbjtändigen 


II. 2.3. Die Roinzidenz d. Sozialism. u. Jndividualism.t.plat. Staatsideal. 397 


dahin formuliert: Soll die Hüterklaffe jo geitellt fein, daß in ihr 
das höchite Glück erwachje oder jollen wir mit Rückſicht auf den 
ganzen Staat erforschen, ob es in diefem ſich finde?!) Der Staat 
ſoll nicht ein einfeitig ausgebeutetes Machtmittel in der Hand der 
herrſchenden Klafje fein, jondern er ſoll eine möglichſt allgemeine 
Glückſeligkeit, das Glück möglichjt der gejamten Bürgerichaft ver 
wirklichen. Denn — To heißt es weiter — jo wird er am meiften 
den Forderungen der Gerechtigkeit entjprechen.) 

Der Gerechtigkeit! Iſt etwa jene andere Frage, ob der Staat 
die Glüdjeligkeit der Einzelnen als jeine Aufgabe zu betrachten 
habe, oder ob die Individuen nichts find, als „Material“, welches 
die Politik zu verarbeiten hat im Dienfte der Vervollfommnung 
des höchſten Drganismus, des Staates, ift dieſe Frage eine Frage 
der Gerechtigkeit? 

Wie fih Plato das Glück des „ganzen Staates“ denkt, zeigt 
der weitere Verlauf der Darftellung, aus der unzweideutig hervor: 
geht, daß die Vorausfegung diefes Glücdes das der Einzelnen ift. 
Damit der „ganze Staat” glücklich jei, müſſen möglichit alle Bürger 
es fein, nicht in der Weife, daß Jedermann einem jchrantenlojen 
Genußitreben folgen kann, — das würde die bürgerliche Gemein- 
ſchaft jelbit unmöglich machen,3) — jondern daß jedem Einzelnen 
das zu Teil wird, was ihm gebührt (T« rooonxovre).t) Und 
an einer jpäteren Stelle, an der Plato wieder auf diefe Erörterung 
zurückkommt, heißt es: Damit nicht ein Übermaß des Glückes auf 
Eine Klafje ſich häufe, jondern daß das Glüd im ganzen Staate 


Zweckſubjekts (interet general) und dem (wohlverſtandenen) Intereſſe der 
Gejamtheit jeiner Bürger (dem inter&t de tous) nicht eriftiert. 

1) 421b: oxenteov ovVv, noTEgov 1005 Tovro BAfnovres ToVs pühazas 
zasloTWuev, Onws 0 Ti nAelorn avrois eudaruovia Eyyermostei, 7) TovTo 
uev Eis mv nohıv Ohmv Bhenovras Heateov, Ei Exeivm Eyyiyvaraı zul, 

2) 420b: wmImuev yco Ev Tn toLavın udkıora adv EÜgeElv 
dixzaioovvnv zei av Ev 17 zdxıore oixovulvn ddıziav, xarıdovres de 
zoivaı av, 0 naher Inrovuerv, 

») 420e f. 

#) 419d, 


398 Erſtes Buch. Hellas. 


fie finde, müfjen die Bürger fo erzogen werden, daß fie einander 
gegenjeitig an dem Nuten teilnehmen lafjen, den ein jeder der 
Gejamtheit bringen kann.) Man ſieht, was der Gemeinschaft für- 
derlich ijt, erjcheint bei diefer Auffaſſung gleichzeitig auch als ein 
Förderungsmittel indivivuellen Wohles. 

Vie groß allerdings der Anteil der einzelnen Klaffen an der 
allgemeinen Glückſeligkeit fein wird, läßt Plato dahingeftellt. Er 
erklärt jeine Aufgabe für gelöft, wenn es ihm gelungen ift, für den 
Staat die Drganijationsform zu finden, welche diefe allgemeine 
Glückjeligfeit zu erzeugen vermag.?) Allein es wird dadurch an der 
ganzen Auffafjung nicht das Geringfte geändert. Denn diefer Ber: 
zicht liegt ja in der Natur der Sache ſelbſt, d. h. in den unvermeid— 
lichen Schranken, welche allem gejchriebenen Necht geſetzt find. Der 
„Geſetzgeber“ ift eben von vorneherein nicht in der Lage für die 
Verwirklichung der distributiven Gerechtigkeit im Einzelnen ge 
naue Normen aufzuftellen, weil jede einmal firierte rechtliche Ord— 
nung zu jehr auf den Durchſchnitt berechnet, zu wenig elaftifch 
it, um das suum cuique in idealer Weife verwirklichen zu 
fünnen. >) 

Der Geſetzgeber, der jeine Sagungen „für Alle insgefamt“ 
gibt, ift einfach nicht im Stande, genau jedem Einzelnen das ihm 
Gebührende zuzuerteilen” (exgıfos Evi &xaorp To rgochxov arcodı- 
dovaı).t) Alfo nicht, weil er dem individuellen Glücsftreben 
jeden Anfpruch auf Berücjichtigung abjpricht, jondern im Gegen- 
teil, um eine gerechte Befriedigung desjelben zu ermöglichen, läßt 


') 5l9e: Eneiddov, . ... oT vouw ov Tovro weile, onws Ev U 
y£vos Ev nölsı duapsgovrws EV nodle, ahh Ev Öhn m noAsı toüro 
unyararaı Eyyeveodaı, Evvaguortwv Tovs ToAitas TIEIFOL TE zul avdyan, 
nowv ueradıdovaı aAAmkoıs ıys wpeisias, iv dv Exaoroı TO xoıvor 
dvvaroi wow sigpslsiv xrA. 

2) 42le: xzai ovrw Evundons ms noAewg avsavouerns xai XaAQs 
oixılouevns Euteov, ONWs Exdortoıs Tols E$veoıv 7 pvoıs anodidwoı 
Tov uerahkaußdveiv evdaıuovias. 

2) ©. oben ©. 295 f. 

*) IoA. 295 a. 





II. 2.3. Die Koinzidenz v. Soztalism. u. Individualism. i.plat. Staatsideal. 399 


der DVerfaflungsentwurf des Idealſtaates die Frage feinerfeits un- 
gelöſt. Denn fie joll deshalb nicht etwa überhaupt ungelöft bleiben! 
Gerade dazu hat ja der Bernunftitaat feine idealen Staatsmänner, 
die frei von den Felleln des Irrtums und ftarrer Saßung jeder: 
zeit allen Bürgern „das nach Vernunft und Kunſt Gerechtefte zu 
gewähren”) und jene Koincivenz des öffentlichen und individuellen 
Glückes herbeizuführen vermögen, welche eben den Vernunftitaat 
zum beften Staate macht. 

Und beruht nicht eben darauf auch die ganze Hoffnung Blatos, 
den Einzelnen auf dem Wege vernunftgemäßer Überzeugung zu 


—2 


freiwilliger Unterwerfung unter die Prinzipien des Vernunft— 
jtaates bejtimmen zu können? Man vergegenwärtige fi nur das 
Argument, welches ihm als das überzeugungskräftigfte erſcheint. 
Es iſt ein entſchieden indtvidualiftiiches! 

Plato geht nämlich dabei von dem Saße aus, daß alle indi— 
viduelle Fürſorge am meiſten Demjenigen gewidmet wird, was man 
liebt. Vor Allem aber — meint er — lieben wir das, womit 
uns die engfte Intereſſengemeinſchaft verbindet, oder — um mit 
Blato zu reden — für welches wir eben dasjelbe erſprießlich 
halten, wie für uns ſelbſt, und wovon wir glauben, daß es 
bei feinem Wohlergehen zumeift auch uns wohl ergebe und im 
gegenteiligen Falle jchlecht.2) Das gilt aber nah Plato recht 
eigentlich vom Staat. ES ift aljo nicht einfeitig die ftarre, nur 
Dpfer heijchende Pflicht, welche den Einzelnen an das Gemeinwejen 
fettet, jondern zugleich die Sympathie, die aus der Zuverficht er— 
wächſt, daß er, indem er fih in den Dienft des Ganzen jtellt, am 
beiten zugleich für die eigene Wohlfahrt jorgt. Der Bürger des 
platoniſchen Staates ift überzeugt, daß es für das Beſondere 


) Bol. die Stelle oben ©. 296 Anmerk. 5. 

2) 412d: xmdorto de y’ dv Tıs udkiore Tovrov, 0 Tvyyavor pL- 
Adv, — dvdyan . — xal unv Toüro y’ dv udhore gpıhoi, © Evupegeir 
nyolto t« würd xal Eavro, zal Orav udkıora Exeivov ußv eV 
noetrovros oloıro Evußalivsır zal Eavro EV nodtreıv, un) de 
Tovvavriov.. — oVTws, Em. 


400 Erſtes Buch. Hellas. 


ebenso eriprießlich fei, wie für das Ganze, wenn es vor Allem 
mit dem leßteren gut beitellt ift.') 

Selbſt bei dem opferfreudigiten und idealitgefinnten Element 
des Nernunftftaates, bei den philofophiichen Negenten hält e3 Plato 
fir - notwendig, an die menjchliche Selbftliebe zn appellieren. Es 
ift allerdings ein Opfer, welches der philofophiiche Denker bringt, 
wenn er von den ſeligen Höhen der Erkenntnis herabjteigen muß, 
um das, was er dort erblicdt, auf die Sitten der Menjchen im 
öffentlichen und privaten Zeben zu übertragen, ftatt bloß der eigenen 
Vervollkommnung zu leben.?2) Allein er bringt diejes Dpfer doc) 
nicht bloß aus Pflichtgefühl, ſondern auch deswegen, weil er mit 
feinem perfönlichen Glüd in hohem Grade dabei interefftert ift.?) 
Auch auf dieſem Wege findet er ja Freuden, Die zur Bervoll- 
fommnung jeines Daſeins dienen. Denn eine ijolierte Eriſtenz 
wie ſie der Philoſoph notgedrungen im Staate der Wirklichkeit 
führt, kann für ihn niemals die Quelle höchſter Vollkommenheit 
und höchſten Glückes werden.) Dazu bedarf es der Ergänzung 
durch eine glücdliche Drganifation der bürgerlichen Gemeinjchaft, 
welche ihn ſelbſt perfönlich fördert, ihn „größer“ macht, indem fie 
ihm eine erfolgreichere Arbeit an der eigenen Vervollfommnung, 
wie derjenigen der Allgemeinheit ermöglicht.5) Unter den bejtehenden 

1) Leg. 875a: Euugpeosi TO xowo TE xal idie Toiv augoiv, nv ro 
zowov tyra xahos ucdhov 7 To idrov. Vgl. die Außerung Platos über 
den Nuten, den der Bernunftjtaat dem Volke bringt, in dem er entjteht, 
Rep. 54la: xai ovrw Tayıord TE xai 6dora nelıy TE xai noAreiav, mv 
EAEYouEv, KETaoTGoav avımv TE Eidaıuovjosiv za Te Edvos, Ev w dv 
eyy&vntaı, nAelora ovmosır. 

2) Rep. 500d. 

s) 592a. . 

4) 497 a: ovdE yes, einov, Ta u£yıora (sc. av dianoufduevos anad- 
Acdtroito), un TuyWv nolıreias TE00NKOVOnS' Ev YAE TI000NX0V0N avTos 
te uchhov arlinosreı zal uerd Tov ldiwv td zoıvad OWoeL. 

5) Im beftehenden Staat fehlen die VBorausjegungen für die richtige 
Erziehung zur Philofophie und für den Philoſophen ſelbſt die Möglichkeit, 
fie Anderen im wünjchenswerten Umfang zu geben, wodurch er jelbjt perjön: 
lich verliert. 





NT. 2.3. Die oinzidenz dv. Soztalism. u. ndividualism.i.plat. Staatsideal. 401 


Staaten gibt es nad Platos Anficht auch nicht Einen, der für die 
Entwidlung eines echt philofophiichen Kopfes der rechte Boden 
wäre. Das hat zur Folge, daß die Philoſophie ſelbſt unter den 
bejtehenden Verhältniſſen am jchwerjten leidet. Sie artet aus, und 
wird ihrem urjprünglichen Weſen entfremdet. Es gebt ihr, wie 
einem ausländischen Gewächs, das — in ein anderes Erdreich ver- 
pflanzt — endlich den üblen Einflüſſen der neuen Heimat erliegt.!) 
Nur unter den Verhältniffen des VBernunftitaates findet die Philo— 
jophie den geeigneten Boden für ihr Gedeihen. 

Der Bernunftitaat aber hat eine politiiche Drganifation, die 
undenkbar ift, wenn nicht die „Philoſophen“ als die einzigen wahr: 
haft Befähigten die Negierung übernehmen. Und fie werden das 
um jo lieber thun, weil fie damit zugleich jehweres Unheil von 
fich jelbjft abwenden. Denn würden fie die Negierung minder 
Würdigen überlaffen, jo winden fie ein Leid über ſich herauf: 
bejhwören, das ihnen nur als eine ſchwere Züchtigung erjcheinen 
fönnte, nämlich den unerträglichen Zwang, Schlechteren gehorchen 
zu müſſen, ihrem Haß und ihrer Verfolgung ausgejegt zu jein.?) 
Die Vermeidung diefes Zwanges, überhaupt all der Übel, von denen 
fie im bejtehenden Staat bedroht find,?) wird geradezu als der 
Lohn bezeichnet, der für fie, wie überhaupt für alle zum Dienjte 
des Staates Berufenen das mit Necht begehrte:) Aquivalent ihrer 
Dienfte bildet. Ja Plato geht jogar joweit, anzuerkennen, daß 
ohne jolch individuellen Antrieb die Beſetzung der Amter im beften 
Staat ihre Schwierigkeiten haben würde: weil ſonſt Jeder es vor- 


1) 497. 

?) 347c. 

3) Bgl. die Schilderung 487b--497 a. 

9 347 a. Plato folgt übrigens auch hier nur dem Beijpiel des 
Sofrates, der mit derjelben utilitarijehen Begründung zur Beteiligung am 
politijchen eben auffordert. Xen. Mem. III, 7. 9: zei un dueksı twv ms 
n0AEws, & Ti dvvarov Eotı dia 08 Pehtiov Eyeiv . TOVIWVv yao xahas 
&yövrwv ov uövov ol aAkoı nokta, aAhl zul oi ol gihoı za arrög oU 
ovx Eayıore WPEAnoN. 

Pohlmann, Geſch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 26 


402 Erſtes Buch. Hellas. 


ziehen würde, von Anderen Nugen zu ziehen, al3 jich jelber durch 
deren Förderung Unruhe zu beveiten!!) 

Wie läßt fih mit diefer ganzen Anjchauungsweile die An: 
ficht vereinigen, Plato habe es auf eine prinzipielle Negierung aller 
perfönlichen Intereſſen abgejehen, ex wiſſe nichts von einem Rechte 
der Perſönlichkeit? Erkennt er nicht gerade ein ſolches „Necht der 
Perſönlichkeit“ ausdrüdlich an, indem er fich ſelbſt den Einwand 
macht, ob fein Staat den Negierenden nicht etwa ein Unrecht zu- 
fügt, dadurch daß er fie nötigt, ftatt des bejjeren Lebens, zu dem 
fie befähigt find, ein jchlechteres zu führen??) 

Die Gefeße des Staates werden redend eingeführt, wie fie 
den Einzelnen zu überzeugen juchen, daß eben das, was fie von 
ihm fordern, jein gutes Necht nicht beeinträchtigt.) Sie ftellen 
ihm vor, daß im bejtehenden Staate allerdings von Natur: und 
Nechtswegen die Philofophen fich nicht am politischen Leben zu 
beteiligen brauchen. „Denn hier erwachjen fie von ſelbſt ohne Pflege 
von feiten der jeweiligen Negierung; und das Selbjtwüchlige, das 
niemandem jeine Ernährung verdankt, ift auch berechtigt (dixyv 
Zyeı), fich der Zahlung von Abungskoften zu entſchlagen. — Wir 
aber (d. h. die Gejeße des Staates) ließen Euch zu Euerem eige— 
nen und des Staates Beiten,t) zu Weiſeln und Königen wie im 
Bienenſtock heranwachſen, beſſer und vollfommener ausgebildet, als 
jene (ſelbſtwüchſigen Philoſophen), und bejjer befähigt, Euch an Beiden 
(d. h. an Philoſophie und Politik) zu beteiligen.” — So wandelt 
fich der gefeßliche Zwang in eine freiwillig übernommene Leiſtung, 
„weil eben nur „Gerechtes Gerechten” (dixae dixaiors) 5) anbe- 


) 347d: Wore nas dv 6 yıyvoorwv To wgeleiodaı uaAhov Ehoıto 
in’ @dkov 7 dhhov WpEAov nodyuare Eyeiv. 

2) 519d: Zneir’ Epn, ddız moouev avrovs, xai TTOLOouEVv yEigov 
Inv, dvvarov aurois Ov @usıvov; 

) 520a: oxdıbaı Toivov, &inov, & Tiavzwr, ötı ovd’ adızyoouev 
tous ao’ Hulv giAooogpovs yıyvousvovs ahhd Sixaıa TOO auToüs Eoovuev, 
nooo«vayxdlovres tov dAAwv Enuuskeiodei Te zei poharıeıv, 

4) vulv te avrois ım te dAAn noAsı. 5206. 


>) 520e. 


IIT. 2.3. Die Koinzidenz dv. Sozialism. u. Individualism. i. plat. Staatsideal. 403 


fohlen wird, und diefe unmöglich einen Anſpruch an ihre Perſon 
zurückweiſen können, den fie ſelbſt als einen gevechtfertigten aner- 
fannt haben. !) 

Aber auch der Beamte und Soldat ift feineswegs ein aller 
Subjeftivität beraubtes blindes Werkzeug der Staatsgewalt. Auch 
fein Gehorfam wird wefentlich mit durch die Überzeugung verbürgt, 
daß das, was von ihm verlangt wird, nicht bloß für den Staat, 
jondern auch für ihn ſelbſt am erjprießlichiten ift,2) daß ihm „ein 
Leben zu teil wird, weit ſchöner und beſſer, als das der 
Sieger von Dlympia.3) Ein Leben, das frei iſt von Nahrungs- 
jorgen und der entwürdigenden Abhängigkeit vom Neichtum,*) das 
er daher jedem anderen Leben vorziehen muß, wenn er nicht eine 
unverftändige und jugendlich unbejonnene Anficht von den Bein: 
gungen der eigenen Glückſeligkeit hat.5) So bringt auch der Be- 
amte und Soldat aus freier Entjchließung jedes Opfer, weil er 
dafür nur größeres Glück eintaufcht. Für ihn ift in der That, 
um mit Hejtod zu reden, die Hälfte mehr al3 das Ganze.) Ge— 
rade durch den Verzicht gelangt er zur höchſten Glückſeligkeit.“) 

1) 520d. 

2) 458b. 

) 466a. Er fünnte ebenjo von fich jagen, wie Sokrates (Mem. IV. 
8.6): 00% 0109, örı uEyoı usv Tovde Tod yoovov Eyo ovderi ardownwarv 
Upelunv av ovre Beitiov 009° MdLov Euod Beßıwzevar; 

4) 465. 

5) 66h: wvontos TE za usıpaxzınadns dose evdaruovias neo. 3 
ift umbegreiflih, wie Zeller (Geſch. d. Phil. a. a. ©. 921) unter völliger 
Ignorierung der hier angeführten Thatjachen von den Regenten und Kriegern 
des Idealſtaates jagen kann, die Idee des Staates fünne fich derfelben nur 
dadurch bemächtigen, daß diejelben alles deſſen, worin das individuelle Inter: 
eſſe Befriedigung findet, entfleidet werden. ine Karikatur freilich nach der 
andern Seite it es, wenn Kleinwächter (Staatsromane ©. 40) zu Platos 
Schilderung des Lebens der „Wächter“ die Bemerkung macht, diejelbe „bejage 
mit dürren Worten: „Damit es den Soldaten nicht einfalle, über den fried- 
lichen Bürger herzufallen und ihm feine Kartoffeln und fein Bier vom Munde 
wegzufchnappen, muß man ihnen täglich Braten und Wein vorjegen“. (!!) 

6) 466%. 


) 420b: .. . zei ovroı ovrws evdaıuoveoraroi eioww. 
26* 


404 | Erſtes Buch. Hellas. 


Und was für die Organe des Staates gilt, das trifft nicht 
minder auch für die Negierten zu. Sie wiffen, daß fie in einem 
Staate leben, in welchem das Gejeß allen Staatsangehörigen „ver- 
bündet“ ift, (m&cı vois Ev a) moAsı Evuuexos)'!) daß es das 
Glück eines Jeden und zwar ganz bejonders der Negierten will?) 
und daß hier das Wohl und Wehe des Einzelnen, jeine Luft und 
fein Schmerz der jympathiichen Teilnahme Aller ficher fein darf. 
Sie wiſſen, daß fie das Mittel zur Herjtellung der allgemeinen und 
damit ihrer eigenen Glücfeligfeit, eine gute Negierung, nicht ſelbſt 
zu erzeugen vermögen, und fie find daher, joweit fie nicht Ver— 
blendung und Leidenschaft an der Erkenntnis ihrer wahren Inter— 
efjen hindert, freiwillig damit einverftanden, daß ihnen dieſe Negie: 
rung duch Andere zu teil wird. Eben deswegen, weil die richtige 
Einficht in ihr eigenes Intereſſe den Bürgern diejes Staates jagt, 
daß es für Jeden das Beſte ift, ſich der in der Negierung ver: 
förperten Herrſchaft der Vernunft unterzuordnen,?) entjteht bier jene 
allgemeine Überzeugung von der inneren Berechtigung der be: 
ftehenden Staats- und Gejellfchaftsordnung, jene ſpontane Hingebung 
an das Ganze, welche dem ftaatlichen und jozialen Zeben fein har— 
monijches Gepräge gibt.*) 

Man fieht, der platonifche Idealſtaat will jene Bürger nicht 
automatenhaft durch einen fremden Willen, d. h. ausschließlich Durch 
die Zwangsgewalt des Staates bejtimmen, ſie zu bloßen Trieb: 
rävern im Mechanismus des Ganzen machen. Der Wille des 
Bürgers ſoll vielmehr ebenfo gut, wie durch die Gejfamtheit, In— 
halt und Nichtung aus feinem eigenen Innern empfangen, das ob- 
jeftive und jubjeltive Moment zur Geftaltung des fozialen Lebens 
harmonisch zufammenwirken. 


) 590e. 

2) 347d: ori To Oyrı aAmdıwos doywv 0v NEpvxE TO auro Evugpeoor 
Groneiodeı, aid TO TO aoyousvo. 

>) 590d. 

*) Wie kann man nach alledem diefe Hingebung mit Stahl (a. a. O.) 
eine don dem Einzelnen „ohne Rücbeziehung auf fich ſelbſt“ geübte nennen? 





III. 2.3. Die Koinzidenz d. Sozialism. u. Judividualism.i.plat. Staatsideal. 405 


Diefe Tendenz zeigt ji ja von Anfang an darin, daß neben 
der Idee der Gemeinschaft, die vem Ganzen das Seine zumeilt 
und die Forderungen des Ganzen über die Anfprüche der Teile 
jtellt, ein anderer wejentlich entgegengejegter Gedanke ſich wie ein 
roter Faden durch den ganzen Entwurf des Spealftaates hindurch- 
zieht: die Idee der Gerechtigkeit, welche jedem Einzelnen das 
Seine geben will. 

Ein Kenner des menschlichen Herzens, wie Blato, ſah jehr 
wohl ein, daß Feine große joziale oder wirtjchaftliche Reform einzig 
und allein durch den Hinweis auf ihre Zweckmäßigkeit und gefell- 
ſchaftliche Nüßlichkeit den trägen Wiverftand zu überwinden vermag, 
der ich ihr naturgemäß überall entgegenftellt. Er wußte, daß folche 
Forderungen, um zu zünden und die Geiter in Bewegung zu jeßen, 
an Empfindungen anknüpfen müſſen, aus denen das Individuum 
jelbjt feine Lebensideale, die Borftellungen über das „Seinjollende” 
zu Schöpfen pflegt. Daher jucht ſich der Idealſtaat vor dem in- 
dividuellen Bewußtjein der Einzelnen durch den Hinweis darauf zu 
legitimieren, daß er mit feinen Forderungen möglichjit dem ent- 
jprechen "will, was fie ſelbſt im innerſten Herzen als das Sein: 
jollende, d. h. als das Gerechte fordern müſſen. 

Indem er jo die Idee der Gerechtigkeit als ein Funda- 
mentalprinzip feiner eigenen Drdnung anerkennt, nimmt der Ideal— 
ftaat ein unverkennbar indivivualiftiiches, wenn auch durchaus be 
rechtigt individualiſtiſches Element in fih auf. Die Frage, ob 
beftimmte Einrichtungen und Handlungen gerecht oder ungerecht find, 
bildet ja geradezu den Angelpunft alles Individualismus. Vom 
individualiftiichen Standpunkt aus verlangen wir Gerechtigkeit, Pro— 
portionalität der Vflichten und Nechte, während die Gejamtheit und 
ihr Intereſſe in erjter Linie Opfer fordert und nicht jelten genötigt 
it, die Folgerungen, die fi) aus jenem Grundprinzip des Indivi— 
dualismus ergeben, zu befämpfen oder abzuichwächen.!) 


!) Bal. die fchönen Ausführungen von Schmoller: Die Gerechtigkeit 
in der Volkswirtſchaft. Jahrb. f. Gejebgek. 1881 ©. 25. Damit fteht nicht 
im Widerjpruch, daß der Einzelne, um gerecht zu jein, gleichzeitig im ftande 


406 Erſtes Buch. Hellas. 


Sndividualiftifch, wie dieſe Idee der Gerechtigkeit, ift auch die 
der Freiheit, welche fih mit ihr in der Anſchauungsweiſe Platos 
auf das innigfte verbindet. Indem Plato ſich bemüht, jeine poli- 
tijchen Forderungen vor dem Forum der indivivuellen Bernunft 
als eine Konfequenz der Gerechtigkeit zu erweilen, und ein entjchei- 
dendes Gewicht darauf legt, daß diejelben von allen Verftändigen 
als Necht erkannt und gewollt werdeu, zeigt er, daß der jtaatliche 
Zwang nicht fein leßtes Wort ift, daß es ihm vielmehr um eine 
möglichjt Freiwillige Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze 
zu thun ift. Der rechtlich beitehende Zwang joll für alle einficht- 
vollen Elemente des Idealſtaates thatjächlich entbehrlich werden, in- 
dem die äußere gejeßlihe Norm zu einem freiwillig befolgten 
Glaubensjag wird, der im Gemütsleben des Volkes, im innerften 
Zentrum des menschlichen Seelenlebens jelbft Wurzel gejchlagen 
bat. Der platonijche Staat will über freie Geijter herrſchen, nicht 
über knechtiſche. 

Daher heißt es von der wahren Staatsfunft im „Staat3- 
mann”, daß fie, im Gegenjab zum Dejpotismus eine Herrichaft 
über Freiwillige fei (ermiueisıe Exovoros za Exovoiwov)!); fie 
joll eine Herrichaft fein, die mit Luft geübt und der mit Luft ge: 
horcht wird (Exovror Exovce oyeı), während in den gegen: 
wärtigen Staaten das Bejtehen jeder Negierung jtet3 mit einem 
gewifjen Zwang (ovv «ei rırı Pig) verbunden jei und nur die Re— 
gierenden jelbjt zu befriedigen vermöge, bei dem Beherrichten da— 
gegen nur Empfindungen des Wiverwillens erwede.2) Die Auf 
gabe aller Gejeßgebung geht daher dahin, daß der Staat ein wahr: 
baft freier werde, d. h. von aller Zügellofigkeit ebenfo weit ent- 
fernt fei, wie von jeder Überfpannung ftaatlichen Zwanges, die auch 
nach Platos Anficht nur ſchädlich wirken fann.>) 
jein muß, altwuiftifch zu empfinden und zu handeln, daß vom Standpunkt 
des Individuums Gerechtigkeit zugleich Altruismus fein kann. ©. oben 
©. 168. 

1) oA. 276e. 

2) Leg. 832c. 


) Ebd. 70Le. 





III. 2.3. Die Roinzidenz dv. Sozialism. u. Individualism. i.plat. Staatsideal. 407 


Plato lehnt ausdrüclich den Vorwurf ab, daß der Zwang, 
den die Verwirklichung jeiner Staatsidee dem Individuum auf- 
erlegt, weniger berechtigt ſei, als derjenige, welchen die bejtehenden 
Staatsordnungen, ſei es Blutokratie oder Demokratie, ausüben. Sit 
etwa der Zwang, — fragt er, — den ein unwiſſender Neicher oder 
Armer übt, mehr oder weniger gerecht oder ungerecht, als wenn 
er von dem jachverjtändigen Staatsmann fommt?!) Sit nicht viel- 
mehr dies das Entjcheivende, daß die jtaatliche Praxis das Nich- 
tige trifft, daß die Wohlfahrt der Negierten den Händen einer 
weifen und guten Regierung anvertraut ift 22) - 

Indem eben die Regierung das Bedürfnis der großen Mehr: 
beit, die nicht ſelbſt herrſchen kann, wahrhaft befriedigt, wird ihre 
Herrſchaft nicht als ein Zwang empfunden. Die einftchtsvollen 
Bürger des VBernunftitaates würden ſich auch bei freier Wahl feine 
andere Negierung geben, als eben dieſe, jo daß bier das thatläch- 
liche Endrefultat fein anderes ift, als wenn die Negierung aus dem 
Willen Aller hervorgegangen wäre, vorausgefeßt, daß der Wille der 
Verftändigen für die Mehrheit beftimmend ift. Der Staat wird 
zu einem freien Staat, weil hier die Staatsgewalt und die Staats: 
ordnung geitüßt und getragen wird durch den einheitlichen Gejamt: 
willen des Volkes, weil fie der freiwilligen Zuftimmung (Evugyo- 
vie) aller Klaffen, des Starken wie des Schwachen, der geiftig 
Höchititehenden wie der Niedrigften ficher jein darf.?) Den Ge: 
horſam, den der Einzelne der Staatsgewalt Teiftet, leistet ev in dem 
Bewußtjein, daß ihm nichts auferlegt wird, was nicht auch durch 
den Willen aller Verftändigen gefordert, ja durch die Bernunft und 
die Natur der Dinge jelbjt vorgezeichnet ift.?) 

Da der Einzelne nur das will, was jeiner Individualität 





1) MoA. 296d. 

2) Ebd. 296. 

®) Rep. 432a. 

4) Vgl. 474e, wo es don den Negierenden, bezw. Regierten heißt, Orı 
Tois uev NE00MzEL PVosı anısodai TE Yıhoooplas myeuovsvew T’ Ev 
toAgı, Tols Ü' dhkoıs umte anteodaı dxokovdeiv TE TD Nyovusvo. 


408 Erftes Buch. Hellas 


angemeffen ift (70 reocnzov), ſo fommt er im Idealſtaat nicht in 
Konflikt mit der wahren Freiheit, ſondern nur mit der inneren Un- 
freiheit, der Verblendung durch Selbſtſucht und Leidenschaft, welche 
den Menjchen über die Poſtulate feiner eigenen fittlich-fozialen Natur 
täuſcht. Denn aller Zwang wirkt ja hier genau nur in vderjelben 
Richtung, wie dieſe wahrhaft freie Selbitbeitimmung.!) Jeder Ein- 
zelme wird durch den ftaatlichen Machtwillen an der Erreichung der 
jeinem eigenften Wejen und Beruf entiprechenden Ziele in Feiner Weile 
gehemmt, jondern vielmehr ſyſtematiſch gefördert. Indem hier Jedem 
nach jeinen phyſiſchen und geiftigen Anlagen der Beruf zugänglich 
gemacht wird, der jeiner Individualität am beiten entjpricht, in dem 
er daher auch jeine Befriedigung findet, wird recht eigentlich jede 
Individualität auf den ihr ausſchließlich zufagenden Weg geleitet 
und dadurch wahrhaft frei gemacht. — „Denn, — um ein ſchönes 
Wort von Lagarde zu gebrauchen, — frei ift nicht, wer thun kann, 
was er will, jondern wer werden kann, was er foll. Frei ift, 
wer feinem anerfchaffenen Lebensprinzip zu folgen im ftande ift. 
Frei tft, wer die von Gott in ihn gelegte Idee erkennt und zu 
voller Wirkſamkeit entwickelt.“ 

Enthält die im Idealſtaat verwirklichte Unterwerfung Aller 
unter die Herrſchaft der Vernunft ſchon negativ eine Befreiung in— 
ſoferne, als ſie den Menſchen von der Herrſchaft der Leidenſchaft, 
der zweck und zielloſen ſich ſelbſt unklaren Willkür befreit, jo ver— 
wirklicht ſich hier andererſeits eben jene poſitive höhere Freiheit, 
indem Jeder einen inhaltsvollen und in ſeinem Werte anerkannten 
Kreis der Thätigkeit erlangt, in welchem er ſein individuelles Weſen 
entfalten kann, ſo weit es der Anſpruch der Anderen auf gleiche 
Entfaltung ihrer Perſönlichkeit geſtattet. Da endlich die Bürger 
zugleich gelernt haben, dieſen individuellen Beruf als einen ſozialen 
aufzufaſſen, fo bedarf es für alle verftändigen, der vernünftigeu Über: 
redung (reıIo) zugänglichen Elemente nicht des äußeren Zwanges. 


) Plato hätte daher auch von jeinem Staat mit Rouſſeau jagen 
fünnen, daß der Zwang, den ex dem Ungehorjamen auferlegt, „nichts anderes 
bedeutet, als ihn nötigen, frei zu fein“. (Contr. soc. I, 7.) 





111. 2.3. Die Koinzidenz v. Sozialism. u. Individualism. i.plat. Staatzideal. 409 


Sie ftellen ſich freiwillig in den Dienft diefes Berufes. Das, was 
ihre Beitimmung ift, wird, wie ſchon Hegel treffend bemerkt hat, !) 
wirklich zum eigenen Sein und Wollen der Individuen. 

Indem aber jo Jedem die Möglichkeit erſchloſſen wird, nach 
feiner befonderen Anlage und Neigung zum Werke des Ganzen bei- 
zutragen und damit zugleich den Platz innerhalb der Gemeinjchaft 
zu erringen, welcher feiner Bedeutung und feinem Werte für das 
Ganze entipricht, wird mit der wahren Freiheit zugleich auch Die 
wahre Gleichheit verwirklicht. Auch die dee der Gleichheit hängt, 
wie die der Freiheit, aufs Engite mit der Gerechtigkeitsidee zufammen. 
Der Ipeziftiche Begriff der Gerechtigkeit, der hier vor allem in Be 
tracht fommt, ift der der verteilenden Gerechtigkeit. Derſelbe 
verlangt Broportionalität zwiichen den Leiftungen und den pofitiven 
oder negativen Gütern, die zu verteilen find. Sie will das Gleiche 
gleich, das Ungleiche ungleich behandelt willen, jo daß fein einzelnes 
Glied der Gemeinschaft zu viel, das andere zu wenig erhält. Diefer 
Forderung unjeres individuellen Bewußtſeins wird Plato dadurch 
gerecht, daß er die Gleichheit der Demokratie, welche „Oleichen und 
Ungleichen in demſelben Maße Gleichheit zu Teil werden läßt,“ als 
eine Vergewaltigung des Individuums verwirft2) und ein Gleich— 
heit3prinzip proflamiert, „welches dem Überlegenen mehr, dem Schwä- 
cheren weniger, d. h. jedem das feiner Natur Angemeſſene zuteilt“ 
und zu gleichen Funktionen nur Gleiche, zu ungleichen aber nur Un— 
gleiche beruft.) Szene abjolute Gleichheit würde dem Prinzip der 
Gerechtigkeit widerjprechen, welche eben nur eine relative Gleichheit 
fennt, — relativ der ungleichen Individualität. — So wird auch 
hier die Individualität nach den Intentionen Platos wenigjtens 
wieder in ihr Necht eingefeßt. 
ae. 19.286; 

2) 598c. 

3) 757c: TO uev yado usidorı nAeiw, TO d’ EAdrrovi OuixgoTEo« 
veusı (N loorns) ueroıe didoise no0S Tv avrav puvoıv Exarkow, zei 
d7 zul Tiuds ueilooı uEv rIoös dosımv dei welßovs, tois dE ToVvertior 
Eyovay agsıms TE xal naudeias TO noEtov Exarepoıs dnoväusı zara Aoyov, 
&orı ydo dj nov zei To mokırızov muiv «ei Toür’ avro 10 dixwor. 


410 Erſtes Buch. Hellas. 


Selbjt Hegel, der darin meitfichtiger ift, als feine Nachfolger, 
hat — allerdings in unvereinbarem Widerſpruch mit feiner Ge 
jamtauffafjung des platonifchen Staates — das individualiftifche 
Element anerkennen müſſen, welches das Freiheits-, Gleichheits- und 
Gerechtigfeitsprinzip Platos in deſſen Staatsideal hineingebracht hat. 

Dadurch, daß im platonischen Staat „Fever das, zu dem er 
geboren ift, aufs befte treiben lernt und treibt“, fommt er — wie 
Hegel ausprücdlich zugibt — „als beftimmte Individualität 
allein zu jeinem Recht. Denn er fommt in den ausgebildeten 
Bei und Gebrauch feiner Natur, feiner eigentlichen Habe.“ ') 
Indem Plato durch jein Gerechtigfeitsprinzip jeder befonderen Be— 
ſtimmung ihr Necht widerfahren läßt, befriedigt er die Forderung, 
welche Hegel zugleich al3 eine jolche der „Freiheit“ erklärt, daß „vie 
Partifularität des Individuums ausgebildet, zum Nechte, zum Da- 
jein komme“, daß „jeder an feiner Stelle fei, jeder feine Be: 
ſtimmung erfülle und jo jedem fein Necht widerfahre”. Hier 
wird in der That das verwirklicht, was ein moderner Spzial- 
politifer als eine Hauptforderung jozialer Gerechtigkeit, als „Toziales 
Grundrecht” bezeichnet hat: Das Necht auf fich jelbit, d. h. das 
Necht der Verjönlichkeit auf den Bollgenuß ihrer ſpezifiſchen brauch: 
baren Begabung. ?) 

Wer wollte verkennen, daß in dieſen Punkten die platonijche 
Staatslehre ſich mit der Nechtstheorie des modernen Individualis— 
mus berührt? Wie die letere bekleidet auch die platoniiche Sozial: 
philojophie das Individuum mit unveräußerlichen und unzerjtör- 
baren Rechten, mit Naturrechten und ebenfo mit Naturpflichten. 
Der platoniſche Staat erfennt — wenn auch mit Beichränfung auf 
die Nationalität — ein Necht auf Freiheit an, ein Recht auf Gleich- 
heit, ein Necht des Individuums auf volle Entfaltung feiner ſpezi— 
fiſchen Begabung, auf einen feiner Individualität zufommenden 
Lebensinhalt; ex verhilft jedem Einzelnen zu feinem natürlichen 
Recht und zwingt ihn andererjeits zur Anerkennung feiner natür— 
rn. 9. 281 

) Wolf a. a. O. ©. 608 (über die „Formel der Gerechtigkeit”). 





III. 2.3. Die Koinzidenz v. Sozialism. u. Sndividuralism.i.plat. Staatsideal. All 


lichen Pflichten. Die Stellung, welche das Individuum im Otaate 
einnimmt, ſei es herrjchend oder dienend, ijt eine naturrechtlich 
begründete (mooonzsı yvosı!). Auch bei Plato „ſchweben dieſe 
Naturrechte und Naturpflichten als objeltiveg gYvaeı bejtehendes 
Soll über Individuum und Geſellſchaft, ift die Verwirklichung diejer 
‚natürlichen‘ Drdnung die dem Staate gejebte Aufgabe, fein ideales 
Ziel“. ) Auch die Nechtsordnung des Bernunftjtaates legitimiert 
ih vor dem individuellen Bewußtſein dadurch, daß fie von der 
Bernunft als übereinjtimmend mit der vernünftigen Natur erkannt 
wird, als vouos zera gylow,?) daß ſie der natürlichen Gerech— 
tigfeit entjpricht, der Gerechtigkeit, deren Berwirklichung geradezu 
als der Endzweck des Vernunftftantes bezeichnet wird (od Ever 
zravra Cnvovwer!).”®) 

Die Nealijierung diefes Gerechtigkeitsprinzipes enthält von 
jelbft auch die der grundlegenden Ideale des Naturrechts, der 
„wahren“ Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Auflöfung ver 
Spntereffengegenfäße in einer vollendeten Intereſſenharmonie, Die 
Rückkehr zu der paradiefiihen Welt der Eintracht, welche die Ge- 
ſchichtsphiloſophie Platos ja genau ebenſo an den Beginn der ge 
ſchichtlichen Entwicklung ftellt und genau ebenfo als ideales Ziel 
derjelben feithält, wie Grotius und Lode. Allerdings ſieht Plato 
das Mittel zur Verwirklichung diejer Ideale nicht in der politischen 
Emanzipation des Individuums, fondern in einer abjoluten Staats: 
gewalt; er ift weit davon entfernt, das Individuum und feine 
Autonomie einjeitig als Zwed des Staates hinzuftellen; allein dieſe 
grundſätzliche Verſchiedenheit darf uns doch über die thatjächlich 
vorhandenen individualiftiichen Elemente jeiner Staats- und Sozial— 
theorie nicht hinmwegtäufchen. 

Man Sieht, eine unbefangene Erwägung aller in Betracht 
kommenden Momente führt zu Ergebniffen, welche mit den herr: 
!) Sp tharakterifiert Diegel im Howb. der Staatsw. ©. 531 die in: 
dividualiftiiche Rechtstheorie Grotes und Lockes. 

2) Dal. 3. B. 456c. 

3) ©. oben ©. 270 Anmerf. 2. 


412 Erſtes Buch. Hellas. 


fehenden Anſchauungen über den platonifchen Staat vielfach in 
Widerſpruch ftehen. Sie zeigt, daß der Sozialismus Platos Feines: 
wegs in einem kontradiktoriſchen Gegenjab zum Individualprinzip 
an ſich fteht, dasjelbe vielmehr innerhalb gewiſſer Schranfen als 
berechtigt anerkennt. Zwar geht Plato von den Pflichten gegen die 
Gejamtheit aus, aber er jucht auf der anderen Seite auch dem 
Individuum und den Forderungen des individuellen Bewußtjeins 
gerecht zu werden. Gr wendet fich nicht bloß an das fittliche 
Gefühl, jondern zugleich an den Intellekt, indem er den prinzi- 
piellen Wert feines Idealſtaates darin erblickt, daß hier Jeder, in- 
dem er fir das Ganze ſorgt, am beften zugleich für fich jelber 
jorgt. Es ift mit Einem Wort die Koinzidenz der beiden 
Prinzipien, — des ſozialiſtiſchen und des individualiftiichen, — 
welches ſich als das lebte Ergebnis der platonifchen Staatstheorie 
herausftellt. Von der Übereinftimmung der Bürger über das, „was 
das Herrichende fein ſoll im Staat und in der Seele des Einzelnen“ 
erwartet Blato, daß hier alle Verftändigen das, was ihre Pflicht 
gegenüber der Gejamtheit ift, freiwillig.thun werden, daß fie wollen 
werden, was fie jollen.!) Eine Koinzivenz von Freiheit und 
Zwang, bei der jeder jeinen Vorteil findet, weil er ihn eben — 
individuell und fittlic) genommen — richtig verjteht.?) Die Grund- 
lage des ganzen Staatsgebäudes ift die durch die ſyſtematiſche Er— 
ziehung und Belehrung der Negierenden und der Negierten erzielte 
moraliſche und intellektuelle Bildung, welche nötig ift, um ‘jene 
Koinzivenz herbeizuführen. 

Damit bejtimmt fich auch die Stelle, welche der platonifche 
Soealftaat in der Gejchichte der jozialpolitifchen Idealbilder ein- 
nimmt. 


!) Für den Bürger des Idealſtaates gilt dasjelbe, was Poſidonius 
von dem Menfchen der jeligen Urzeit jagt (bei Senefa Ep. XIV, 2, 4: tantum 
enim, quantum vult, potest, qui se nisi quod debet, non putat posse). 

2) „Der gute Menjch, der gute Staat, die gute Welt beruhen alle auf 
derjelben Harmonie.” Hermann: Die hiftorifchen Elemente des platoniſchen 
Staatsideals. Gel. Abh. ©. 135. 





II. 2.3. Die Koinzidenz d. Soztalism. u. Jndividualism.i.plat. Staatsideal. 413 


Er jteht prinzipiell auf feinem anderen Standpunkt, als die 
ältejte und erhabenſte aller Utopien, die Schilderung eines goldenen 
Zeitalters, wie wir fie bei Jeſaias leſen.) Wenn die Herrichaft 
des Mammons gebrochen, wenn der Herr die Tarfisichiffe der reichen 
Kauffahrer vernichtet haben wird, gleichwie er die hohen Gedern 
des Libanon herabjtürzt, dann wird er ein Neich des Glüdes und 
des Friedens ins Daſein rufen, das zu feiner Verwirklichung feiner 
anderen Vorausſetzung bedarf, als daß „von Zion ausgeht Be— 
lehrung und das Wort Jehovas von Jeruſalem“. „Nichts Böſes 
und nichts VBerderbliches thun fie auf meinem ganzen heiligen Berge, 
denn voll ift das Land von Erkenntnis Jehovas, wie die Waſſer 
das Meer bededen.” j | 

Sit es nicht genau diejelbe utopiſche Vorausſetzung, auf der 
ſich dieſes deal des Sehers, wie der von der Erkenntnis beherrjchte 
Bernunftitaat Platos aufbaut? Die Vorausfegung nämlich), dab 
die Menjchheit, wenn fie die wahren Wege, die jte wandeln joll, 
erfannt bat, notwendig auch zu einem glücjeligen Dajein ge 
langen muß? 

Kur injoferne geht Plato über Jeſaias hinaus, als er zuerit 
eine ausführliche theoretifche Erörterung der Frage gegeben hat, 
worin denn die VBorbedingung der VBorbedingung jenes deals be— 
jtehe, d. h. unter welchen Umftänden die fittliche und intellektuelle 
Bildung den Grad erreichen wird, daß Jeder will, was ex ſoll. 
Andererfeits ift Plato bei feiner Unterfuchung zu dem Ergebnis 
gekommen, daß die genannte Koinzivenz von Freiheit und Zwang 
in Wirflichfeit nie eine allgemeine jein könne, d. h. daß es 
ſtets einen mehr oder minder großen Bruchteil von Menſchen geben 
werde, bei dem feine Belehrung den äußeren Zwang überflüflig 
machen fann. 


ı) Das hat zuerft richtig erkannt Jaſtrow: Ein deutjches Utopien 
(Schmoller? Jahrb. 1891 ©. 527), obwohl ex eine nähere Begründung nicht 
gegeben hat. Sch kann feiner Auffafjung des prinzipiellen Verhältniſſes 
zwischen Jeſaias, Plato und den jpäteren Utopiſten im wejentlichen nur zu: 
ftimmen. 


414 Erſtes Buch. Hellas. 


Doch es bedeutet das eben nur eine Modifikation, eine Ein- 
ſchränkung der Lehre, Feine theoretifche Fortbildung, von der ja 
überhaupt bei einer derartigen in ſich gejchloffenen, von Anfang 
an vollfommen fertig auftretenden Doftrin feine Rede jein Tann. 
Daher ift auch in feinem der Idealbilder, in welchem das gleiche 
Prinzip zum Ausdruck kommt, in diefer Beziehung ein theoretijeh 
bedeutfamer Fortjehritt über Plato hinaus zu erkennen. Selbſt die 
genialfte moderne Utopie, Hertzkas Freiland, jo wejentlich ſie von 
Plato durch ihr ausſchließlich individualiftiiches Grundprinzip ab: 
weicht, lenkt wieder ganz in deſſen Bahnen ein, indem fie den Sozial— 
ftaat auf der Vorausfegung aufbaut, daß feine Bürger ihren Vor— 
teil richtig verftehen. 

4. 
Die Verwirklichung des Vernunftfiantes. 


Wenn wir den platonischen Idealſtaat in die Neihe der 
Utopien ftellen, jo joll damit nicht gejagt fein, als ob Plato ſelbſt 
der Meinung gemwejen wäre, ein Ideal menschlicher Zuftände zu 
ſchildern, an deſſen Verwirklichung nicht zu denken jei. Er be 
zeichnet zwar diefe Schilderung als ein dichteriſches Bhantafiegebilde !) 
und betont mit aller Entjchievenheit, daß ſchon die bloße Auf- 
jtellung eines ſolchen „Mufterbildes“,2) die rein theoretische Be— 
lehrung über das Seinjollende an und für ſich von hohem Werte 
jei, weil fie eben dem Handeln der Menfchen Ziel und Nichtichnur 
gibt. Auch räumt er ausprüdlich ein, daß zwiſchen Theorie und 
Praris immer eine gewiſſe Entfernung bleiben werde, daß bei der 
Umfegung der theoretiichen Exkenntnis in die Wirklichkeit eine 
abjohut genaue Übereinftimmung zwifchen dem praktifchen Ergebnis 
umd der Idee nicht zu erzielen jei,3) weshalb man fich auf jeden Fall 

!) molıreia nv uvshoAoyovuev Aoyw. 50le. 

?) negadsıyua ayaıns noAews. 472e. 

°) 473a: 40’ oiov TE Tu ngaydmvar ws Akyeraı, 7 Yvoww Eyet 
ngasıy hElews Nrrov ahmIeias Epanteodeı, zav Ei um tw doxei, dAAd oÜ 
nortegov Öuokoyeis ovrws 7) 00; OuoAoyo, Epn. 





IIT. 2. 4. Die Verwirklichung des platonischen Bernunftitaatee. 415 


mit dem Nachweis begnügen müſſe, daß die Wirklichkeit dem Ideale 
wenigftens nahe zu fommen vermöge.!) Allein je eifriger ich Wlato 
im weiteren Verlaufe der Darjtellung bemüht, eben diefen Nachweis 
zu erbringen und die Mittel und Wege zur Verwirklichung feines 
Ideals darzulegen, um jo mehr Nachdrud wird von ihm gerade 
auf die Ausführbarkeit desfelben gelegt. Und beim Abſchluß des 
ganzen Entwurfes ſpricht er die zuverfichtliche Überzeugung aus, 
man werde ihm rücdhaltlos zugeben, daß er feineswegs nur Fromme 
Wünfche geäußert habe, und daß die Ausführung feiner Vorfchläge, 
wenn auch nicht leicht, jo Doch möglich, und zwar in feiner anderen, 
al3 der von ihm angegebenen Weile möglich jei.2) 

Das Kriterium aber für die Nealifierbarfeit feiner Staats: 
idee findet er darin, daß die Forderungen derjelben zugleich Forde— 
rungen der Natur jeien, während das Beltehende mehr oder min- 
der naturwidrig jet.?) Er folgert daraus, daß Neformen auf den 
Boden des Beltehenden nichts als dürftige Notbehelfe find, welche 
auf die Dauer doch nie zu wirklichen Berbejjerungen, ſondern im 
Gegenteil nur zu einer Verſchlimmerung der gejellichaftlichen Miß— 
jtände führen fünnen. Er vergleicht die Thätigfeit der Staats- 
männer, welche immerfort Gejege gäben und an dem Beftehenden 


1) Ebd.: Toviro uEv dr) un arayzabe us, oia rw Aoyo dimAdouer, 
ToLeüra nevranaoı zul TO E0yW deiv yıyvousva anopealivew' aA, Eav 
oloi TE yEerWusde EÜgEIV, WS dv Eyyvrara Tov siomuevwv nolıs olxmosıEv, 
pavar nuds EEevonxevar, Ws dvvara tavra yiyveodaı, & 00 Enitatreig. 

2) 540d: Evyywoeite negi Ts moAews TE xal nolıteias uN navra- 
naoıw Nuds Euyds Elonxevar, ahhe yahend uev, duvara de mm xuA.; 

Dal. dazu Göthe: Marimen und Reflexionen (6): Man denke ſich das 
Große der Alten, vorzüglich der jokratijchen Schule, daß fie Quelle und Richt: 
ſchnur alles Lebens und Thuns vor Augen ftellt, nicht zu leerer Spefulation, 
jondern zu Leben und That auffordert. 

3) 456e: oVx Goa ddvvar« ye ovdE evyals Ouoıa Evouoderoüuer, 
ETIEINEO KaTd PVoıv Erideuev Tov vouov' dAd td vov napa Tadra 
yıyvöusva Tagd« Yvorw udhkov, ws Eoıze, yiyveraı. Gin Sab, der fich 
allerdings zunächit auf die Forderung der Frauenemanzipation bezieht, aber 
ebenjogut von dem Syſtem überhaupt gilt. 


416 Erſtes Buch. Hellas. 


nachzubeffern fuchten, mit dem Herumfchneiden an der Hydra, der 
für jeden abgejchlagenen Kopf zehn neue nachwachſen.) Dem Staate 
gehe es bei all diefer nur auf Symptome gerichteten Neformarbeit 
wie dem Kranken, der duch fortwährendes Medizinieren geſund zu 
werden hofft und dabei doch die Lebensweiſe fortjeßt, die ihn krank 
gemacht hat.?) 

Freilich folgt aus dieſem Wiverjtreben der kranken Gejellichaft 
gegen einen radikalen, das Übel an der Wurzel faffenden Eingriff, 
daß fie fih den Boftulaten der Natur und Bernunft niemals 
frewillig unterwerfen wird. Soll daher der bejte Staat feine bloße 
Utopie bleiben, jo müfjen diejenigen, welche das „Urbild“ desjelben 
in der Seele tragen, die Möglichkeit erhalten, mit unumfchränkter 
Machtvollfonimenheit über die Geſchicke des Staates zu entjcheiden.?) 
Ein „alüdlicher Zufall” muß es fügen, daß die im beftehenden 
Staat zur Unthätigkeit verurteilten Denker (TE Yılocoyov yevos)!) 
an das Staatsruder gelangen und in die Notwendigkeit verſetzt 
werden, ſich des Staates anzunehmen, oder daß aus der Neihe der 
Fürſten ein philoſophiſcher Geift exjteht, der von „göttlicher Be— 
geifterung ergriffen“ die Machtmittel der abjoluten Monarchie in 
den Dienjt des großen Werkes tell.) Der Staatsmann, der zum 
Netter und Befreier von der Unnatur des Beftehenden werden fol, 
muß den Staat in feiner Hand haben, wie der Maler jeine Tafel, 
auf daß er die Umriſſe des Neubaues ganz nad) dem göttlichen 
Urbild entwerfen und dies Aboild dann im einzelnen „bier auss 
löjchend, dort hinzuzeichnend” — frei ausgejtalten könne.6) 

Kur im Belige ſolch abjoluter Autorität Tann er auc der 
Hindernifje Here werden, welche die Gemüter der Menjchen ver- 
nunftgemäßer Belehrung unzugänglic” macht, und jo das Volks— 


1) 426e. 

2) 426a. 

3) Wiſſen und Macht müfjen zujammenfallen. 473c. 
4) 497h. 

>)5499b. Bol AY3d: 

6) 500e. 501e. 


III. 2. 4. Die Verwirklichung des platonifchen Vernunftſtaates. 417 


leben mit einem neuen fittlichen Geift erfüllen, ohne welchen die 
beſte jtaatliche Organiſation feinen Beſtand hätte.) 

Auf dies piychologische Moment legt Plato begreiflicherweife 
das höchfte Gewicht. Die Verfaſſungen, meint ex, wachjen nicht 
wie Eicheln auf den Bäumen, noch entjpringen fie wie Quellen 
aus den Felſen, jondern die Sinnesart der Bürger ift es, worin 
fie wurzeln und wodurch ſie ihr ganzes Gepräge erhalten. ?) 

Der große Neinigungsprozeß, welchen die Gejelliepaft durch— 
machen muß,3) wenn der Aufbau des Idealſtaates möglich werden 
joll, bejteht daher vor allem darin, daß der reformatoriſche Staats- 
mann das Werk der Erziehung in die Hand nimmt. Dieje Er: 
ziehung ſoll gemeinjchaftlihe Mafjenerziehung fein, weil nur fie 
jenes ideelle Maffengefühl und jene durch Eine Anſchauungs- und 
Gefühlsweile, Eine Meinung und Gefinnung, Eine Abficht und Ein 
Ziel iveell verbundene Maſſe jchaffen kann, deren der Sozialftaat 
zu jeinem Beſtande bedarf. Plato hofft, daß eine Jugend, die von 
Anfang an den disziplinierenden Einfluß der Gemeinschaft an fich 
verjpürt, dieſen Einfluß auch in ihrem jpäteren Leben nicht ver- 
leugnen und jelbft in den individuellften Außerungen die Rückſicht 
auf das Ganze nicht außer Acht lafjen wird. 


1) Ebd.: zei To u8v dv, oiuaı, EEahsipouev, TO dE nddıy Eyyocgoıev, 
Ews 0 Ti udlıore EvdoWneie 797 Eis 0009 Evdeyerau Heogıln nomjosıer. 

2) 544d: 0169 owv, mv d’ &yw, dt zul avdounwr eidn Tooaur« 
dvdyzn T00NWv Eivaı, Vo«neQ zui molurteiov; ı) olcı &x dovos oder ı) &x 
netoes Tas nokıreias yiyveodaı, AN oVyi &x Tov Nov TWv Ev tais 
nöhsoıw, & dv wonso Öfwarra tahıa Epeizvonta; Ovdauds Eyoy’, &ypn, 
adhogev 7 Evrevder. Wer denft hier nicht an das jchöne Wort W. vd. Hum— 
boldt3, dab „ſich Staatsverfaſſungen nicht auf Menſchen wie Schößlinge auf 
Bäume pfropfen laſſen“. — „Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, 
da iſt es, al3 bindet man Blüten wie Fäden an. Die exrjte Mittagjonne ver- 
ſengt ſie.“ 

) 50la: Aaßovres, nv d’ 290, wonse niraza nokıy te zei 
NN AVIEHTNWV, NOWTov UV zuIapdv nomosıev dv‘ 06 0v ndvv Öddıov' 
daR orv 0109, orı Tovtw dv EVhüs tov dAkwv dıeveyxoıev, TO unte idiw- 
tov unte nolews EHehjocı dv adaodaı umdE yodpeıv vouovs, noiv m) 
negahaßeiv zadaocv 7 avroi nomoaı. Kai 00905 y’, Egpn. 


Pohlmann, Gejch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus, I, DT 


418 Erſtes Buch. Hellas. 


Es ift derjelbe DVorjehlag, mit welchem an der Schwelle 
unferes Sahrhunderts patriotifche deutſche Denker hervortraten, als 
dem einzigen Mittel, welches dem Verfall alles Bürgergeiftes und 
aller Bürgerkraft en und von neuem die Gemeinjchaftsbande 
entftehen Tafjen fünne, die zu einem wahren Bürgertum erziehen. 
„Die Zöglinge dieſer neuen Erziehung, jagt Fichte in den Reden 
an die deutjche Nation, werden, obwohl abgejondert von der jchon 
erwachjenen Gemeinschaft, dennoch unter einander jelbjt in Gemein: 
ichaft leben und jo ein abgejondertes und für fich jelbit beftehendes 
Gemeinweſen bilden, das jeine genau bejtimmte, in der Natur der 
Dinge begründete und von der Vernunft durchaus geforderte Ver- 
faffung habe. Das allererfte Bild einer gefelligen Ordnung, zu 
deffen Entwerfung der Geift des Zöglings angeregt wird, ſei dieſes 
der Gemeine, in der ex felber lebt, alfo daß er innerlich gezwungen 
jei, diefe Dronung Punkt für Punkt gerade jo ſich zu bilden, wie 
fie wirklich vorgezeichnet ift, und daß er diejelbe in allen ihren 
Teilen al3 durchaus notwendig aus ihren Gründen verſteht.“!) 

Verwirklicht denkt fich Plato das Prinzip der Maffenerziehung 
in der Weife, daß die ganze jugendliche und noch bildſame Gene- 
ration unter zehn Jahren von der unter den alten Zuftänden auf- 
gewachjenen getrennt und, ungeftört durch die jchädlichen Einflüffe 
der leßteren, nach den oben entwicelten Grundſätzen erzogen wird, 
Eine Iſolierung, die dadurch erreicht werden joll, daß alle über 
zehn Jahre alten Bewohner der Stadt diejelbe zu räumen und fich 
Draußen im Landgebiet anzuftedeln haben!?) In der Stadt bleibt 
nur die Negierung mit ihren Schußbefohlenen, aus denen fie jich 
das für die Zwede des neuen Staates nötige Beamten und Sol— 
Datenmaterial heranzieht. So — meint Plato — würde jich der- 
jelbe am ſchnellſten und Leichteften verwirklichen laſſen und die 
Glücjeligfeit, die er gewährt, offenbar werden. 

Daß diefer Dioikismos eine gewaltige Ummwälzung der Bes 


’) Werke VII 293, 
2) 54l: 


u 


II. 2. 4. Die Verwirklichung des platonischen Vernunftftaates. 419 


figverhältniffe, eine unendlich tiefgehende Störung der ganzen Volks— 
wirtichaft bedeutet hätte, hat für den rückſichtsloſen Neformeifer 
Platos nichts Bedenkliches. !) 

Eine radikale volfswirtjchaftliche Nevolution ift ja ohnehin 
die unvermeidliche und von vorneherein gewollte Konjequenz feines 
ganzen Syftems. Gr bedarf ihrer nicht bloß zur Erreichung des 
bereitS genannten Zwedes, jondern auch zur VBerwirklichung feines 
wirtichaftspolitifchen Speales. In der „Stadt“ joll zugleich das 
Zentrum und die Herzkammer der verhaßten kapitalistischen Geld- 
wirtſchaft unschädlich gemacht und jo die Umkehr des Handels und 
Smoduftrieftaates zum Acerbauftaat erzwungen werden. 

Dabei ift Plato jo ganz und gar von dem Glauben an die 
unmiderjtehliche Macht jeiner reformatorischen Ideen erfüllt, daß 
er troß der Verlegung zahllofer Intereſſen, welche eine ſolche Um— 
wälzung zur Folge haben müßte, nicht auf die Hoffnung verzichtet, 
auch die erwachjene Generation für die neue Drdnung der Dinge 
zu gewinnen. Er meint: Wenn die Bürger nur einmal die Seg- 
mungen des neuen Staates aus Grfahrung kennen und wahre 
Staatsmänner am Werfe jehen würden, dürfte es gewiß nicht un— 
möglich jein, fie allmählich zu freiwilligem Gehorfam zu beftimmen.?) 


!) Die Sache erjcheint allerdings injoferne weniger ungeheuerlich, ala 
eine jolche Auflöſung jtädtifcher Gemeinden in der griechifchen Gejchichte feines: 
wegs etwas Unerhörtes war. Man erinnere ſich nur an den Dioikosmos 
Mantineas (385), mit welchem ſich nach dem allerdings tendenziöſen Berichte 
Xenophons wenigſtens der konſervative Teil der Bevölkerung vollkommen 
ausgeſöhnt haben ſoll. Hell. V. 2. 7: zei To usv noW@rov jονrο, otı 
Tas uev Ünaoyovous oixias Ede zadaıgeiv, dAhas dE orxodousiv' Enei de 
ob Eyovres Tas oVolas Eyyvreoov uEv Wxovv TWv Ywolwv, Orrwv aurois 
NELL Tas xWurs, OLOToRgeTiE Ö’ Eyoovro, dnnkheyutvor Ö nocv Wr 
Begewv dnueyoyorv. Ndovro rois nenpayusvos. Wenn das auch Schön- 
färberei ift, jo wirft es doch ein bedeutjames Licht auf die Art und Weife, 
wie man auf antidemofratifcher Seite über jolche Umwälzungen dachte. 

2) 502b: doyorros ydo mov, jr 0’ £yo, TIIevros Tois vouorg zei 
te enıtndevuare, & dıehmkvdauev, ov dnnov adivarov EIEAsIV orsiv ToVs 
zokitas . Ovd’ Onworiovv. 


97% 


| 


420 Erjtes Buch. Hellas. 


Denn was hindert, daß „das, was uns gut erjcheint, auch anderen 
jo exjcheine?” 1) 

Wenn fich die große Maſſe des Bürgertums gegenwärtig den 
Forderungen des Denkers verjchließe, jo fei dies nur die Folge 
mangelnder Erfahrung und abjichtlicher Jrreführung.?2) Würde 
das Volk durch freundliche Belehrung über die wahren Intentionen 
der Philoſophie auf den richtigen Weg geleitet, jo würde es ein- 
jehen, daß dieſelbe nur jein Beſtes will, und ihr nicht länger wider 
ftreben.3) Denn warum jollte man feindfelig gegen den Gütigen, 
gehällig gegen den Wohlwollenden gefinnt fein, wenn man jelbjt 
frei von Mißgunft ift und ein gutes Herz hat?t) 

Daß ſich aber das Volk in jeiner großen Mehrheit jo gut 
geartet erweifen werde, wird von Plato gegenüber einer jfeptijchen 
Beurteilung der Maſſe ohne Weiteres behauptet,5) obwohl ex ſelbſt 
furz vorher die Ausfchreitungen des — allerdings von den Dema- 
gogen mißleiteten — Demos in den düfterften Farben gejchildert 
hatte.) Das Volk, dejjen leidenjchaftliches Gebahren auf der Agora 
ihn an die Unbändigkeit und Wildheit eines ſtörriſchen Tieres er- 
innert,?) das Bolf, welches das gut heißt, was ihm angenehm, 
ichlecht, was ihm zuwider ift,3) welches dem, der fich um feinen 
Beifall bemüht, einen wahrhaft unerträglichen Zwang auferlegt,?) 
diejes jelbe Volk wird fi), wenn es nicht mehr als einheitliche 

1) Ebd.: aid dr, Eneo julv doxei, do&aı zai ahkoıs Favuaorov Tu 
zai adiverov; Ovx orweu Eywye, 7 0’ ös. $ 

2) 499e. DBgl. 498d: To uevrou ua) neideoduı Tols AEyouevols Tovs 
nokhods Haduc oVder' oV Yydo Worte Eidov yevousvov TO vor Aeyousvor. 

3) 500e. 

9 500a: 7 zei, &dv ovrw Hewvraı, ahkoiav TE PI0OELS aurovs dosav 
Ampeodaı zal dAka anozoweioder; 7 olsı Tıvd yahenaiveiv TO un) Xahkeno 
7 gp9oveiv TO un PIovsow Eyp9ovov TE zui noGov OvIe; 

5) 499d. 

°) 492b ff. 

“ 7) 4932. 

8) 493c. 

») 4934. 





II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 49] 


Maſſe zu ſouveränen Machtenticheivungen zujammentreten Tann, 
willig und neidlos der Leitung der geiſtig Höherſtehenden überlafjen 
und zur lammfrommen Herde werden! 

Co wird ein Staat entjtehen, der zwar das Los alles Irdiſchen, 
die Vergänglichkeit, auch von ich nicht abzuwenden vermag, ver 
aber doch nach der Meinung jeines Urhebers die denkbar beite 
Bürgſchaft für lange ungeftörte Dauer gewährt. !) 

Eigentlih iſt es nur Ein Moment, von dem Plato eine 
Schwächung und Zerrüttung feines Staates befürchtet, der Natur: 
lauf, der in einer Lebensfrage des Ganzen, nämlich in Beziehung 
auf die ftetige Wiedererzeugung der für den Staatsdienft geeigneten 
Kräfte und Talente alle menschliche Berechnung illuſoriſch zu machen 
vermag.?) Ebenjowenig, wie Mißwachs, kann menjchliche Voraus: 
ficht verhüten, daß einmal ein Gejchlecht geboren wird, dem die 
Natur die für die höchiten Berufe notwendigen Anlagen verjagt 
hat, das aber trogdem den Zutritt zu denjelben erlangt. Dann 
aber werde die unvermeidliche Folge fein, daß die Einheit der Ge- 
ſinnung unter den Trägern und Drganen der Staatsgewalt ver- 
loren geht und Zwieſpalt einreißt, womit die Auflöfung des Ver— 
nunftitaates entjchieden ift.3) Dan ſieht, was diefen Staat bedroht, 
it einzig und allein ein Naturprozeb, dem gegenüber Menjchen- 
wille und Menjchenklugheit ohnmächtig iſt. Soweit es ſich um rein 
geichichtliche Berhältniffe, um Schwierigkeiten und Gefahren han: 
delt, welche diefer Wille und dieſe Einficht zu beherrſchen ver: 
mag, glaubt der Bermunftitaat des Erfolges unbedingt ſicher 
zu fein. 

5 
Zur gefhidtlichen Beurteilung der Polikeia. 

Die Anficht über Wert und Bedeutung des platonijchen 

Werkes hängt vor allem von der Entjeheidung der VBorfrage ab, 





1) 546a. 
2) Ebd. 
>) Ebd. 


499 Erſtes Buch. Hellas. 


ob die Zeichnung eines Idealſtaates, wie fie bier verjucht wird, 
überhaupt als eime in der Wiſſenſchaft berechtigte Litteraturform 
anzuerkennen it over nicht. Wer die Frage verneint, wer die 
„Utopie“ als eine Verirrung, als das müßige Spiel einer aus— 
jehweifenden Phantaſie grundjäglich verwirft, für den ift auch das 
Urteil über Plato gejprochen. Er wird mit dem neueften Hiftorifer 
der „Staatsromane” in den platonijchen Theorien nichts anderes 
erblicken können als Luftſchlöſſer, welche luftig ins Atherblau hinein- 
gebaut find und welche ihren Urheber auf eine Linie etwa mit 
Jules Berne ftellen. !) 

Daß dieſes Urteil nicht das lebte Wort einer wahrhaft ge: 
ſchichtlichen Auffaffung der Dinge fein kann,“) wird dem Unbe: 
fangenen kaum zweifelhaft erſcheinen in einer Zeit, in der gerade 
die Aufſtellung jolcher ideeller Gebilde eine noch vor kurzem völlig 
ungeahnte Bedeutung gewonnen bat, und felbjt von anerkannten 
Vertretern der Wiſſenſchaft — man denke nur an Herbfa — nicht 
verſchmäht wird, um als Nüftzeug in dem großen Kampf der 

1) So KHleinwächter: Die Staatsromane ©. 27. 

?) Bei Kleinwächter hat es thatjächlich zu einer xeinen Karikatur 
geführt. Bon dem genannten Standpuntt aus ift eben ein liebevolles Der: 
jenfen ins Einzelne, ohne welches ein richtiges Bild nicht möglich ift, von 
vorneherein überflüſſig. 

Irreführend ift es übrigens auch, wenn hier die Politeia ohne weiteres 
unter die „Staatsromane” gezählt wird, die uns in einem jpäteren Kapitel 
bejchäftigen werden. Wie ſchon Mohl (Geſch. u. Lit. der Staatsw. I, 172) 
mit Necht bemerkt hat, gibt hier Plato durchaus nicht ein vein Ddichterifches 
Bild, die Schilderung eines beſtimmten erfonnenen Staates in Form einer 
Erzählung, jondern eine theoretifche Erörterung über die Inſtitutionen, welche 
er zum Aufbau eines idealen Staates überhaupt für nötig erachtet. Damit, 
daß dieſe Inſtitntionen in gewijjem Sinne „exdichtet” oder, um mit Klein: 
wächter zu reden, „Produkte der jpefulativen Philoſophie und des deduktiven 
Denkens“ find, iſt doch noch lange nicht der Begriff des Romans gegeben! 
Die Politeia ift fein Noman, jondern ein Aktionsprogramm. Sch jehe daher 
nicht ein, warum es „unwiſſenſchaftlich“ fein fol, die Utopien in Romanform 
bon denen in Abhandlungsform zu trennen. (Wie Oldenberg in Schmollers 
Jahrb. 1893 ©. 255 gemeint hat.) 





III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der PBoliteia Platos. 493 


Geifter zu dienen, der um die Grundlagen der bürgerlichen Gejell- 
ſchaft entbrannt ift. 

Angefichts der frappanten Analogie, die auch hier das 19. Jahr: 
hundert mit dem vierten v. Chr. darbietet, drängt ſich ja ganz 
von jelbjt die Erkenntnis auf, daß wir es in dem Utopismus mit 
einer gejchichtlichen Erſcheinung zu thun haben, die mit der Geſamt— 
entwiclung der Bölfer aufs Engjte zufammenhängt und daher 
unter analogen gejchichtlichen Vorausſetzungen mit pſychologiſcher 
Notwendigkeit fi) immer wieder von neuem einftellt, auch wo man 
fie längft als „überwunden“ anſah. 

Wie Hohn Stuart Mill mit Necht bemerkt bat, ift Der 
Utopismus das naturgemäße Ergebnis aller Epochen, in denen, 
wie eben in der Gegenwart und im Zeitalter Blatos eine allgemeine 
neue Prüfung der Grundprinzipien des Staates und der Gefell- 
Ihaft als unvermeidlich erkannt iſt.) Se tiefer und ſchmerzlicher 
bei jolcher Prüfung die Unvereinbarfeit des Bejtehenden mit be- 
vechtigten Intereſſen und Wünfchen dev Menjchheit empfunden wird, 
je hartnädiger andererjeitS der gedankenloſe Alltagsmenſch an die 
Ewigkeit der Zuftände glaubt, in denen ex die Befriedigung feiner 
kleinen perſönlichen Intereſſen findet, um jo zwingender macht ſich 
andererjeitS das Bedürfnis geltend, den Kontraft zwijchen der Wirk 
lichkeit und den Forderungen der Vernunft und Gerechtigkeit eben 
dadurch mit möglichjter Stlarheit vor Augen zu ftellen, daß der— 
jelben das Idealbild einer beijeren Staats und Gefellihaftsordnung 
entgegengejebt wird, ein Ideal menjchlicher Zultände, wie fie fein 
jollten und unter Umftänden vielleicht auch jein könnten. Durch 
die Gegenüberftellung von Ideal und Wirklichkeit ſchafft ſich der 
menschliche Geift ein mächtiges Hilfsmittel, um das Bejtehende 
ſchärfer begreifen und beurteilen zu lernen, jeine Lücken und Fehler 
jih und Anderen möglichſt Kar zum Bewußtjein zu bringen. 

Gegenüber der quietiftiichen Bejchränktheit, welche die jeweilig 
bejtehende Ordnung der Dinge als die allein richtige oder allein 


1) Grundjäge der pol. Ökonomie I, 237 (D. X.). 


494 Erſtes Buch. Hellas. 


mögliche anfieht, it daher das Auftauchen ſolcher Spekulationen 
über die Möglichkeit anderer und befjerer Zuftände ftets ein Symptom 
des Fortichrittes und fie werden darum auch nie ganz verſchwinden, 
folange der menschliche Geift ſelbſt im Fortjchreiten begriffen ift. 
In ihnen stellt fich gegenüber der gedankenloſen Vergötterung des 
Beftehenden die Erkenntnis dar, daß dasjelbe doch weſentlich mit 
das Werk wandelbarer menschlicher Anordnung ift, und fo ericheinen 
fie, foweit fie Begründetes enthalten, als die Vorkämpfer fin das 
höhere Necht der Zukunft gegenüber dem, was ohne innere Be— 
rechtigung durch das Schwergewicht äußerer Momente noch fort- 
befteht. In den Idealen, die ſich jo ein Volk durch feine Denker 
ichafft, reflektiert fich jene höhere Stufe des politischen Bewußtſeins, 
auf der mit der Erkenntnis des Gegenwärtigen ſich das lebendige 
Gefühl für die Zukunft verbindet. 

Darauf beruht der Wert und die Bedeutung diejer Idealen 
Konſtruktionen, daß fie — ſoweit fie nicht hohle Bhantafieen, ſondern 
das Ergebnis ernſter Gedanfenarbeit und der Erkenntnis wahrer 
Bedürfniſſe find, — der Arbeit der Zukunft die Probleme jtellen, 
der gejchichtlichen Entwiclung und der organischen Neformarbeit 
Ziel und Nichtung weisen. 

Daher hat jelbjt ein jo nüchtern denkender und durchaus 
fonfervativ gefinnter Mann, wie Robert von Mohl ſich entſchieden 
gegen Diejenigen ausgejprochen, welche aus den dem Wtopismus 
anbaftenden Irrtümern ſchließen zu dürfen glauben, daß derjelbe 
überhaupt Für Leben und Theorie feine Bedeutung haben Fünne. 
Er erkennt vollfommen au, daß „dieſe Irrtümer durchaus nicht in 
wefentliher Beziehung zu der Aufgabe ftehen, und daß ein 
Schriftitellev von Geift und Talent, der das Problem von der 
rechten Seite faſſen winde, die Wiſſenſchaft zu zwingen vermöchte, 
jein Werk ihren Schäßen beizuzählen”.1) 


) A. a. ©. 214. Lange, der übrigens die Anfiht Mohls vollkommen 
teilt, hat freilich in Beziehung auf die letztgenannten Worte bemerkt, daß 
die Utopie zwar Gegenftand wiſſenſchaftlicher Betrachtung jein und auf Die 
Wiſſenſchaft wie auf das praftifche Leben befruchtend und anvegend zurück— 


III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 425 


Eine andere Frage it nun aber freilich die, ob es zur Auf: 
gabe diejer Litteraturform gehört, Projekte zu entwerfen, welche auf 
unmittelbare praftiiche Verwirklichung berechnet find. Bei aller 
Achtung für die moraliiche und wiſſenſchaftliche Energie, mit welcher 
der gelehrte Verfaffer der beveutendften modernen Utopie die prak— 
tiiche Verwirklichung feiner Bläne in die Hand genommen bat, 
muß Doch diefe Frage entjchieden verneint werden. Es bat fi) 
bisher wenigitens noch immer unmöglich erwieſen, irgend eine neue 
Form des Staates und der Geſellſchaft zu erfinden, von der man 
wie von einer auf dem Papier konſtruierten Machine die Wirkungs- 
weile im voraus beitimmen fönnte, 

Ein Kritiker von Freiland, der zugleich Hiſtoriker ift, hat 
ſehr treffend bemerkt, daß fich der Idealſtaat zur praftiichen Volks— 
wirtichaftslehre verhalte, wie etwa die phyſikaliſchen Beobach- 
tungen im luftleeren Naum zur Mechanik.) Sämtliche Fallgejebe, 
die für den Luftleeren Raum aufgeftellt ind, find richtig, aber 
fie gelten für eine Vorausſetzung, die im wirklichen Leben niemals 
zutrifft. „Der Mechaniker kann dieſe Gejege nicht entbehren; ex 
muß fie kennen und muß fie benüßen. Aber ev muß jedesmal 
den Widerftand des Mediums als jtörenden Faktor mit einjegen. 
Der Phyſiker, der verlangen würde, daß die Gefeße, die er 
durch Experimente und Berechnung im luftleeren Raum gefunden 
bat, von den Mechanifern entweder widerlegt oder angewendet 
werden jollen, würde fi) dem Schickſal ausgejeßt jehen, daß weder 
das Eine noch das Andere gejchteht, daß ſeine Ergebniſſe gelobt, 
aber zu einem ganz anderen Zwecke verwertet werden, als er ge 
wünſcht hat. Und in derſelben Lage befindet fich der Volkswirt, 
der jeine Beobachtungen in einer Gemeinjchaft macht, welche von 
Thorheit und Leivenjchaft jo Frei it, wie der Naum unter der 
Zuftpumpe von Luft frei ift. Soweit feine Ergebniſſe richtig find, 
können fie praktisch exit angewendet werden, wenn man alle Störungen 





wirken fann, daß fie aber ihrer eigenen Natur nach niemals ein Werk der 
Wiſſenſchaft, ſondern nur ein Werk der Dichtung ſein könne. 
) Saftrow a. a. 9. ©. 211. 


496 Erites Buch. Hellas. 


und Neibungen des wirklichen Lebens mit ihren wahren Koeffizienten 
einzulegen vermag.“ 

Erſt unter dieſer Vorausſetzung und mit diefer Einfchränfung 
iſt der Gedanke an die Nealifierung eines Staatsideals disfutierbar. 
Und es ift ja in der That im Berlaufe der Geſchichte wiederholt 
verjucht worden, in Kleinen Kreifen, in denen duch die Ausſchließung 
aller fremden und ftörenden Einwirkungen die Neibungswiderjtände 
möglichjt reduziert waren, Ideen zu verwirklichen, zu denen man 
als den äußerten Konjequenzen eines folgerichtigen Denkens über 
den Zuſammenhang der menschlichen Handlungen gekommen war. 
Sp iſt vielleicht der Gedanke, Staat und Geſellſchaft als Kunſt— 
werk zu geitalten, als einheitlichen Mechanismus zu konſtruieren, 
von Niemanden jo folgerichtig durchgeführt worden, als von dem 
fühnen Dominikaner, der — in Platos Fußltapfen wandelnd — 
ein Staatsiveal rein nach den Grundjäßen der natürlichen Vernunft 
entwarf. Und doch iſt Gampanellas Sonnenjtaat innerhalb eines 
halben Jahrhunderts in feinen wejentlichen Zügen in den Urwäldern 
Südamerikas verwirklicht worden!!) Freilich zeigt gerade dieſes 
Beilpiel, wie weit doc immer der Abjtand zwiſchen Ideal und 
Wirklichkeit, zwiichen dem Anſpruch, etwas Bollfommenes, ein 
Höchſtes an ſich zu Ichaffen und dem thatſächlich Erreichten blei— 
ben wird. 


Prüfen wir die Boliteia des Plato von diefen Geſichtspunkten 
aus, jo kommt zunächſt die Frage nach ihren theoretijchen Ergeb— 
niſſen in Betracht. Welches ift ihr Gehalt an bleibenden Errungen- 
ſchaften politiſcher und jozialöfonomifcher Erkenntnis? Hat fie 
Ideen gezeitigt, welche in der That der Zukunft als Leitjtern dienen 
konnten und, ſoweit fie nicht verwirklicht ſind, auch heute noch dienen 
können? 

) Bgl. die intereſſante Parallele zwiſchen dem Sonnenſtaat und dem 
amerikaniſchen Jeſuitenſtaat bei Gothein: Der chriſtlich-ſoziale Staat der 
Jeſuiten in Paraguay ©. 3 ff., wobei es allerdings zweifelhaft bleibt, inwie— 
weit eine bewußte Nachbildung vorliegt oder nicht. 





III. 2. 5. Zur gefchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 427 


Im allgemeinen ift die Frage bereits bejaht durch die poli- 
tijche Ökonomie der Gegenwart. Wenigſtens hat einer ihrer hervor: 
ragendſten Vertreter es von jedem politiichen Standpunkt aus für 
unvermeivlich erklärt, wieder an gewiſſe antike Grundanjchauungen 
anzufnüpfen, wie ſie — neben der Mriftotelifchen Politik — in 
Platos Staat niedergelegt find. !) 

Gemeint find hier vor allem jene Sätze, welche im Gegen: 
jaß zur atomiſtiſch-individualiſtiſchen Staatsauffaffung und ihrer 
Boranftellung des Individuums in erjter Linie die Notwendigkeit 
der Unterordnung des Einzelnen unter den Staat und feiner Ein: 
ordnung in den Staat betonen. Bon ihnen bat Adolf Wagner 
anerkannt, daß fie — richtig verftanden — nicht nur berechtigt 
jind für altgriechiſche Verhältniſſe, ſondern unbedingt wahr, nicht 
Sätze von hiſtoriſcher Nelativität, ſondern von logiſcher Abjolutheit.2) 

Aus der Boranftellung des Gemeinschaftsprinzips ergibt fich zu— 
nächjt das von der Gegenwart in jeiner Berechtigung immer tiefer 
empfundene Verlangen nach einer jtarfen und zugleich über der Gejell- 
Ichaft jtehenden Negierungsgewalt, welche die Kraft und den Willen 
hat, das Intereſſe der Individuen unter die Intereſſen und Zwecke 
der Gemeinschaft zu beugen, das Verlangen nach einer wahren d. h. 
nicht bloß als Mandat einer Mehrheit oder Minderheit der Gefell 
Ihaft aufgefaßten und ausgeübten Amtsgewalt, wie fie nur dur) 
ein jelbjtändiges, von der Gejellichaft und deren jozialöfonomischen 
Sonderintereſſen unabhängiges Beamtentum verwirklicht werden kann. 

Erſcheint diefe Forderung nicht geradezu wie ein prophetijcher 
Hinweis auf eine wahrhaft jtaatlihe Monarchie, wie ſie vor allem 
der deutſche Staat verwirklicht hat? Wie ein moderner Sozial- 
politiker mit Necht bemerkt, beruht die Gejundheit des modernen 
Staates und der modernen Gejellihaft im Gegenjag zum antiken 
und teilweile auch zum mittelalterlihen Staate darauf, daß neben 
die Bejigenden, die jo leicht der Abhängigkeit von ihren Sonder: 

') U. Wagner: Grundlegung I? 859. 

SO a2 


4938 Grites Buch. Hellas. 


intereffen erliegen, eine breite einflußreiche Geſellſchaftsſchicht trat, 
die eine durchſchnittlich ivealere Geſinnung, nicht dieſe piychologijche 
Abhängigkeit von egoiſtiſchen Klaffenintereffen dat: unjere heutigen 
Staats- und Kommunalbeamten, Geiftliche, Lehrer, Offiziere u. ſ. w., 
in der Mehrzahl Leute, denen ohne oder doch ohne großen Befit 
die höchſte Bildung zugänglich ift, die auf eine mäßige, aber ihren 
Berdienften wenigftens ungefähr entiprechende Einnahme angewiesen, 
ihre Joziale Stellung von Generation zu Generation nicht Durch ihr 
Vermögen, Jondern nur durch die Erziehung ihrer Kinder behaupten, 
die nicht ſo Direkt in das Getriebe des Erwerbslebens verflochten, 
bei ihrem Einfluß auf das Staatsleben leichter von höheren Motiven 
als der bloßen Erwerbsluft ausgehen.!) Eben dies, die Schaffung 
einer jo geftellten und jo gefinnten Gejellichaftsichicht, wie fie der 
moderne Staat befißt und der damalige entbehrte, ift von Plato 
mit genialem Scharfblid als eine Haupt und Grundfrage aller 
Politik erkannt worden. Eine Erkenntnis, die ihrerſeits von feiner 
tiefen Einficht in die Mißftände zeugt, zu welchen die Souveränität 
ver Gefellichaft zuleßt notwendig führen muß, mag nun der ein 
jeitig individnaliftiiche Wille einer bejigenden Minderheit oder der 
großen Mehrheit den Staatswillen bejtimmen. 

Wahrhaft vorbildlich für die Gegenwart ift die Schilderung 
der ummiderftehlichen Gewalt, mit der bier die egoiftischen Inter— 
eſſen überall in die Poren des Staatskörpers einzudringen ſuchen. 
Die Hoffnungen auf die jegensreichen Wirkungen einer immer 
weiter fortjchreitenden Demokratifierung der Staaten, wie fie der 
einjeitig politiſche Doftrinarismus des legten Jahrhunderts groß: 
gezogen, und denen unjer Bürgertum jo ſchwer zu entjagen vermag, 


jie werden bereits von Plato auf Grund einer wahrhaft jozial- 


politiichen Auffaffung der Dinge als Jllufionen erwieſen. Grote, 
deſſen griechische Geſchichte durchaus von diefen Sllufionen erfüllt 
it, bemerkt in feiner Kritif des befannten Staatsmannes Dion, 
daß derjelbe nur deshalb den Wert des reinen Volfsftaates in 


') Schmoller: Grundfragen ©. 115. 





II 2.792 Zur geſchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 429 


Frage geſtellt habe, weil ſeine Anſchauungen nicht durch die Er— 
fahrungen des praktiſchen Lebens und der beſten praktiſchen Staats— 
männer, ſondern durch die Lehren der Akademie und Platos be— 
ſtimmt worden ſeien.) Kann es einen größeren Triumph für die 
Auffaffung Platos geben, als das Urteil, zu welchem derjelbe 
Grote gerade durch die politifche Erfahrung jeiner |päteren Jahre 
in Beziehung auf die Bedeutung der engliichen Wahlen gekommen 
it? „Nimm einen Bruchteil der Geſellſchaft,“ lautet ein Wort 
von ihm aus diejer jpäteren Zeit, „mache einen Durchſchnitt davon 
von oben bis unten und prüfe dann die Zufammenjegung der auf- 
einander folgenden Schichten. Sie find von Anfang bis zu Ende 
einander ſehr ähnlich. Die Anfehauungen gründen ſich ſämtlich 
auf die gleichen fozialen Inſtinkte, niemals auf eine klare und 
erleuchtete Erkenntnis der Intereſſen des Ganzen. Jede bejondere 
Klaſſe verfolgt ihre eigenen, und das Nejultat ift ein allgemeiner 
Kampf um die Vorteile, welche aus der Herrichaft einer Partei 
erwachjen.“ 2) 

Das hätte Wlato genau ebenjo jagen können, wie er es ja 
dem Sinne nach thatlächlich gefagt bat. 

Mit der Sicherheit eines Naturgefeßes jehen wir in der 
klaſſiſchen Schilderung der Politeia vor unjerem geiftigen Auge jenen 
verhängnispollen Prozeß ſich vollziehen, wie durch die abjolute Selbjt- 
regierung der Geſellſchaft der Staat unvermeidlich Mittel und 
Werkzeug für die Bereicherung der zu politifchem Einfluß gelangten 
Volkselemente wird und jo zu einer Klaſſenherrſchaft der Beligenden 
entartet, wie dann in naturgemäßem Nücjchlag bei Ffortichreitender 
Radikaliſierung der öffentlichen Inftitutionen die große Maſſe die 
Möglichkeit zu gleichem Mißbrauch erhält, bis am Ende die „freieſte“ 
Verfaſſung in ihr diametrales Gegenteil, in den eäſariſchen Despo- 
tismus umjchlägt. 

Das wertoollfte und für die Gegenwart wichtigfte Ergebnis 


!) History of Greece X, 477. 
) The personal life of G. Grote p. 313. 


450 Erſtes Buch. Hellas. 


diefer geſchichtlichen Erörterung ift die wiffenjchaftliche Überwindung 
des abjtraften Freiheitsprinzipes eines extremen Demofratismus, der 
in feinem Streben nach einer möglichjt abjoluten perjönlichen Freiheit 
alle Freiheit einfeitig als individuelles Necht anfieht und die mit 
diejem Nechte notwendig verbundenen jozialen und politiichen Pflichten 
mehr oder minder ignoriert. Unwiderleglich ift der Nachweis, daß 
da, wo die atomiſtiſchindividualiſtiſche Freiheits- und Gleichheitsidee 
der „reinen” Demokratie voll und ganz verwirklicht und der Maſſen— 
mebrheitswille das entjcheidende Moment für Negterung, Geſetz— 
gebung und Verwaltung geworden tft, der Staat einer zur Erfüllung 
dieſer Pflichten ebenjfo wenig fähigen, wie gewillten Maſſenherrſchaft 
anheimfällt, und daß dieſe Mehrheit die politische Macht für die 
Sonderinterefjen derjenigen, welche die Mehrheit bilden, ſtets ebenjo 
rückſichtslos ausbeuten wird, wie fie die plutofratiiche Minderheit 
nur jemals für fih auszubeuten verjtand. Die unerbittliche Logik 
diefer Schlußfolgerungen läßt nirgends mehr Naum für den opti 
miſtiſchen Troſt derjenigen, die da wähnen, das durch nichts be= 
ſchränkte allgemeine Stimmrecht trage die Heilung ſolcher Übelftände 
in ſich jelbit. 

Dem Glauben an die abjolute Bortrefflichkeit der gegen- 
gewichtslojen Herrſchaft des allgemeinen Stimmvechts, welcher ohne 
weiteres den durch dieſes Stimmrecht allein erzielbaren augenblid- 
lihen Mehrheitswillen mit dem „Volkswillen“ identifiziert und, — 
als ob niemals auf ein perikleiſches Zeitalter eine Kleonepoche ge: 
folgt wäre, — die Beichlüffe der jeweiligen Maſſenmehrheit für den 
beiten „allgemeinen“ Willen, die Erwählten derjelben für die ge- 
eignetſten Träger ftaatlicher Funktionen hält, — dieſem naiven 


Glauben des politiihen Nadikalismus wird von Plato die Klare 


Erkenntnis der geſchichtlichen Thatſache entgegengejeßt, daß das 
abjolute Majoritätsprinzip ftetS auf die Vergewaltigung eines 
mehr oder minder großen Teiles der bürgerlichen Gefelljchaft hinaus: 
läuft und jo gerade das, was e3 verjpricht, die „gleiche Freiheit 
Aller” am wenigften zu erreichen vermag. Der Kampf, den die 
deutſche Staatswiſſenſchaft der Gegenwart mit ihrer grundſätzlichen 


III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurterlung der Politeia Platos. 431 


Forderung einer machtvollen Darjtellung des Staatsgedanfens gegen 
die bei jo vielen modernen Völkern mehr oder weniger durchgeführte 
Gejtaltung des Staatsweiens nad) den Grundjäßen der Volks— 
jouveränität führt, diefer Kampf ift im Grunde bereitS durch die 
platoniſche Staatslehre entſchieden. 

Es iſt ja begreiflich, daß der doktrinäre Liberalismus des 
neunzehnten Jahrhunderts für Erörterungen, wie die im achten 
Buche der Boliteia, Fein Verſtändnis hatte, jolange die befigende 
Bourgeoifte mit ihrem Intereſſe an individueller Freiheit und die 
beſitzloſe Maſſe mit ihrer Forderung politischer Gleichheit noch einig 
Hand in Hand gingen. Jetzt, wo die Scheidung eingetreten, 
welche Plato längſt als eine notwendige Entwiclungsphaje der 
Demokratie erkannt hat, it uns die Nichtigkeit feiner Darftellung 
des Entwiclungsprozeijes der rein individualiftiichen Freiheits- und 
Sleichheitsivee mit erſchreckender Deutlichfeit aufgegangen. Wir 
willen jeßt, wie er, daß die Freiheitsliebe der wirtichaftlich Stärkeren, 
der Beſitzenden und Gebildeten, und der Gleichheitsdurft der niederen 
Maſſe niemals auf die Dauer miteinander Hand in Hand gehen 
können, weil die Freiheit ſtets die Tendenz in fich trägt, zur Herr: 
Ihaft der Starken über die Schwachen, die Gleichheit aber die, 
zur Freiheitsbeſchränkung und DVergewaltigung der Stärferen zu 
entarten. 

Wahrhaft vorbildlich für die Gegenwart iſt die Ausführung 
Platos, daß das Freiheitsprinzip der wirtjchaftlich ſtarken und be- 
ſitzenden Klafjen, welches den Staat von allem weg haben will, was 
ihren Gewinntrieb einengt, ſtets ihr unvermeidliches Korrelat findet 
in der gleich extrem individualiſtiſchen Freiheits- und Gleichheitsidee 
der Mafje, dab diejelbe aus ihrem politischen Individualismus 
allezeit ebenjo rein wirtjchaftliche Konjequenzen ziehen wird, wie das 
befiGende Bürgertum, und daß jo diejes ſelbſt in der politischen 
Demokratie den Feind jeiner Freiheit und jeines Eigentums heran— 
zieht, den die Gegenwart als Sozialdemokratismus bezeichnet. 

Mit diefem aus einer unvergleichlichen geichichtlichen Erfahrung 
geichöpften Nachweis ift für alle Zeiten das Wahnideal des ſchranken— 


439 Erſtes Buch. Hellas. 


(ofen Smdividualismus auf dem Gebiete des Berfaljungsrechtes 
zerftört, der das Volk nur als Summe von Einzelnen, den Staats: 
willen nur als Maffenmehrheitswillen aufzufallen vermag und an 
Stelle des gegliederten Bolfes eine Individuenmaſſe jeßt. Siegreic) 
bricht fich bier die Erkenntnis Bahn, daß der Staat nicht der 
Kopfzahlmehrheit, jondern dem ganzen Volke in feiner lebendigen 
Gliederung gehört, und daß daher dieſe Gliederung auch im 
Drganismus der Verfaſſung zum Ausdruck kommen muß, wenn 
nicht die Eriftenzbedingungen des Ganzen geſchädigt werden jollen. 

Denn dieje, die Lebensbedingungen des Ganzen, nicht ein 
atomiftischer Freiheits- und Gleichheitsbegriff, werden alS das maß- 
gebende Moment für die Verteilung der öffentlichen Nechte und 
Nflichten erkannt. Mit fiherem Blie für die wahren Bedürfniſſe 
des staatlichen Lebens wird an die Stelle des abjoluten Gleichheits- 
prinzipes der Demokratie der Begriff der „wahren“ Gleichheit gejeßt, 
d. h. der Verhältnismäßigkeit zwiſchen politiichem Machtanteil und 
perjönlicher Leiftung. Es wird endlich nicht minder treffend jener 
Gleichheitsforderung der Demokratie das von Plato als eine Lebens- 
frage für den ftaatlichen Organismus erkannte Poſtulat der Einheit 
des Staates entgegengeftellt, in der richtigen Erkenntnis, daß ein 
Prinzip, Durch welches die DVielheit als jolche (oi roAdor!) zur 
Herrin des Staatlichen Willens wird, die unentbehrliche Einheit diejes 
Willens unmöglich macht und jo den ftaatlichen Organismus jelbjt 
mit dem Zerfalle bedroht. 

Hatte der Volksſtaat das Necht des Einzelnen und zwar jedes 
Einzelnen anerkannt, zu regieren und Gefege zu geben, zu verwalten 
und zu richten oder Nichter, Verwaltungs: und Negierungsorgane 
gleichberechtigt zu wählen, jo jchöpfte dagegen Plato aus der 
lebendigen Einficht in die Konjequenzen diejes Syftems die Erkenntnis, 
daß die ftaatliche Thätigkeit in Negierung, Verwaltung und Gejeb- 
gebung eines befonderen ausgebildeten Drganismus bedarf, der 
nicht heute durch den momentanen Willensaft eines Wählerhaufens 
in das Dajein gerufen ift, um binnen furzem in dieſem Moloc) 
wieder zu verſchwinden. Dem einjeitig politischen Doktrinarismus, 


II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 433 


der in einem Jolchen Zuſtand jeine Befriedigung findet, wird Die 
gefunde realpolitiihe Erwägung entgegengefeßt, daß es für die Ent- 
ſcheidung der Frage, ob eine Verfaſſung als Beeinträchtigung wahrer 
Freiheit und Gleichheit empfunden wird, vor allem darauf ankommt, 
ob das Volk feine Angelegenheiten in den Händen einer gerechten 
und weilen Negterung wilje oder nicht. Plato ſpricht damit nur 
einen Gedanfen aus, der gerade von der öffentlichen Meinung der 
Gegenwart mehr und mehr geteilt wird, daß nämlich die Verwaltung 
des Staates für das Wohl und Wehe der großen Mehrzahl der 
Bevölkerung noch mehr bedeutet, als die Verfajlung.!) 

Die hohen Anforderungen, welche Blato von diefem Stand» 
punkte aus an die Thätigkeit des Staates und damit an die 
Leiſtungen feiner Drgane jtellt, Schließen aber noch weitere Boftulate 
in fich, welche recht eigentlich auf den modernen Staat hinweijen. 
Plato iſt nämlich zu der Erkenntnis gelangt, daß die technisch 
möglichjt vollfommene Berwirklihung der Staatszwecke — des 
Kultur und Wohlfahrtszwedes ebenfo wie des Machtzwedes — 
gleich dem Produktionsprozeß der Volkswirtſchaft nur durch die 
qualifizierte (bevufsmäßige) Arbeit erreichbar it, daß alſo von 
vornerherein ein Teil der Bevölkerung nach dem PBrinzipe der 
Arbeitsteilung ſich ausichließlich dem Staatsdienjte zu widmen und 
lich für denjelben eigens auszubilden hat, um den hohen Anforde 
rungen an die Qualität der Staatsleiftungen wirklich entiprechen zu 
fönnen. In dieſer Beziehung ift der platonische Staat ein moderner 
Staat, in dem er wie diejfer mit feſt angeftellten, berufsmäßig ge 


bildeten und bejoldeten Beamten arbeitet. „Was Blato, — jagt 
ein moderner Sozialpolitifer, — jo tiefſinnig durch Die jorgfältige 


Erziehung der „Wächter in jenem Staate erreichen wollte, iſt heute 
ein größeres praftiches Bedürfnis, als jemals. In diefem Bunkte 
jind feine Anfchauungen wieder von ewigen Werte. Daher muß 
wohl auch hier wieder mehr an Ideen angefnüpt werden, wie fie 








') Vgl. mit diefer Schon im „Staatsmann“ 2964 ausgejprochenen An— 
jicht die Bemerkung von Gneift: Das englifche Verwaltungsrecht der Gegen- 
wart IP’ (IX). 


Pohlmann, Gejd. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. T. 23 


434 Erſtes Buch. Hellas. 


eben in Platos Staat über die Notwendigkeit einer richtigen Staats- 
dDienererziehung entwidelt worden find.” ') 

Diefelbe Betonung des Sozialprinzipes, derjelbe Gegenjaß zu 
der atomiſtiſch-individualiſtiſchen Auffaſſung des Freiheitsbegriffes, 
aus welchem ſich für Plato die angevdeuteten muftergiltigen Grund— 
ſätze der Berfaffungspolitif ergaben, ift dann natürlich auch maß- 
gebend auf dem Gebiete des Privatrechtes und ver Verwaltungs: 
politif. Nachdem er die Bedingungen einer erfolgreichen extenfiv 
und intenfiv gefteigerten Thätigfeit des Staates Flargelegt, zeigt er 
mit derjelben überzeugenden Kraft, daß der Staat auch bei diejer 
Thätigkeit berufen und im Stande ift, den gefährlichen Konſequenzen 
eines einjeitigen Freiheitsbegriffes entgegenzutreten. Mit dem 
Fortjchritt, den der platonifche Staat auf dem Gebiete der Staats- 
pbilojophie und des öffentlichen Nechtes bedeutet, verknüpft fich jo 
zugleich ein bedeutjamer Fortichritt auf dem Gebiete der privaten 
Nechtsordnung. Wie die Frage der ftaatsbürgerlichen Freiheit vor 
allem aus den Bedingungen des Gemeinſchaftslebens heraus be- 
urteilt wird, jo auch die der wirtchaftlichen Freiheit. Auch darin in 
Übereinftimmung mit der immer fiegreicher ſich geltend machenden 
jozialen Nichtung der modernen Staatswiſſenſchaft. Dieſelbe gebt 
ja längft nicht mehr von dem natürlichen Freiheitsvecht des als 
abjolut gedachten Individuums und ſeinen Anforderungen an die 
Geſtaltung des Eigentums- und wirtichaftlichen Verfehrsrechtes aus, 
um darnach exit die Nechte der Gemeinjchaft gegenüber dem Einzelnen 
und jeinem Eigentum zu bejtimmen; jie fragt vielmehr umgekehrt: 
Welches ind die Bedingungen des gejellichaftlichen Zufammenlebens, 
insbejondere des wirtjchaftlichen emeinfchaftslebens? Wie muß 
daher die Freiheitsfphäre des Individuums, das Vermögensrecht, 
das Eigentums- und Vertragsrecht mit Rückſicht auf diefe vor allem 
zu erfüllenden Bedingungen des jozialen und ökonomiſchen Zuſammen— 
lebens geregelt werden??) 


V Adolf Wagner a. a. 9. 915. 922. 
2) A. Wagner: Allgem. Volkswirtſchaftslehre 12 351 





III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 435 


Diejelbe Auffaffung liegt der Rechtsordnung des platoniſchen 
Staates zu Grunde. Er geftaltet — um mit Ihering zu reden!) — 
alles Recht nach Maßgabe der gejellichaftlichen Zweemäßigfeit. Es 
it der Gedanke des jozialen Charakters der Brivatrechte, welcher 
hier jiegreich zum Durchbruch kommt. Der platonijche Staat er- 
fennt fein Necht an, welches nicht durch die ftetige Rückſicht auf 
die Gemeinschaft beeinflußt und gebunden ift. ES zeugt bei einem 
Manne, der der Geburts: und Belitesarijtofratie angehörte, von 
großartiger Unbefangenheit des Urteils, daß er dieſe jeine Auf- 
fallung auch gegenüber den großen Grumdinftituten des Privat: 
rechtes, wie 3. B. dem Eigentumstvecht, mit rüchichtslofer Energie 
zur Geltung bringt. Die moderne Sozialwiſſenſchaft muß Dies 
ganz und voll anerkennen, jo wenig fie auch mit der Art jeiner 
Neaktion gegen das bejtehende Eigentumsrecht und mit den ertvemen 
Folgerungen einverftanden fein kann, die ev aus dem Sozialprinzip 
zu Ungunften des Privateigentums und der Vertragsfreiheit ge- 
zogen hat. 

Dasselbe gilt für einen Teil der allgemeinen Grundanſchauungen, 
welche Blato vom Standpunkt des Gemeinjchaftsprinzipes und des 
damit enge zufammenbängenden ftaatlichen Wohlfahrtsprinzipes über 
die grumdjäßliche Berechtigung und die Notwendigkeit einer um— 
fallenden Staatsthätigfeit im der Volkswirtſchaft und des Zwanges 
in volfswirtichaftlichen Verhältniffen im Entwurfe des Spealftaates 
zum Ausdruck bringt. Er nimmt auch hier Gedanken der Zukunft 
vorweg, indem er aus den Übeljtänden, welche ein Ubermaß von 
Freiheit auf dem Gebiete des Güterlebens zur Folge habe, den 
jozialpolitifchen Beruf des Staates und die Notwendigkeit erweilt, 
an Stelle einer einjeitigsindivionaliftiichen, für die wirtjchaftlich 
Starken und Mächtigen allzu freie Bahn Ichaffenden Geftaltung des 
wirtſchaftlichen Verkehrsrechtes eine in ſtärkerem Maße gemein, be- 
ſonders zwangsgemeimmwirtjchaftlich organifierte Volkswirtſchaft an— 
zuſtreben. Auch darin ſich enge berührend mit einer Zeit, die, wie 


) Der Zweck im Recht ©. 517. 


28 + 


436 Erſtes Buch. Hellas. 


die Gegenwart, unter dem Zeichen einer fortjchreitenden Ausdehnung 
der gemeinmwirtichaftlichen auf Koften der privatwirtjchaftlichen Unter: 
nehmung fteht, einer Zeit, in welcher ſelbſt jolche, welche nichts 
weniger als lauter Staatsgewerbe wünschen, auf eine Zeit hoffen, 
in der ohne Schaden für die Selbjtthätigfeit der Individuen Staat 
und Gemeinde manches übernehmen fünnen, was fie bisher noch 
nicht oder nur teilweife und nicht ohne gewiſſe Gefahren über: 
nehmen konnten. !) 

Dabei bleibt fich Plato vollfommen Eonjequent, wenn er aus 
demjelben Sozialprinzip, das ihn zur Verwerfung eines einjeitigen 
Demofratismus auf dem Gebiete der Verfaſſungspolitik geführt, 
die Notwendigkeit einer jtärferen Demofratijierung der Volks— 
wirtichaft folgert. 

Dieſe Forderung verlangt vom Staate mit Necht ein Doppeltes: 
einmal die Bekämpfung des extremen ndividualismus und der 
jozialen und politifchen Überhebung des Fapitaliftiichen Großbürger- 
tums, die Aufrichtung von Schußwehren gegen die Blutofratie, 
andererſeits Maßregeln pofitiver Soztalpolitit im Intereſſe der 
möglichjten Sicherftellung der Maſſe gegen Nahrungsnot und Er— 
werbslofigkeit. Was die Gegenwart als ein berechtigtes Verlangen 
ver letzteren anerkennt, ein bejcheivenes, mindejtens das Notwendige 
jicher gewährendes wirtjchaftliches Ausfommen, es wird bereits hier 
als ein Hauptziel ſtaatlicher Wohlfahrtspolitif hingeftellt. 

Für Blato ift es ebenjo gewiß, wie für Adam Smith, „daß 
fein Staat blühend und glüclich fein fann, wenn der weitaus 
größte Teil feiner Bürger arm und elend ift.” Gr erkennt, daß 
eine Bolkswirtichaft, welche den Ertrag der nationalen Broduftion 
jo verteilt, daß eine unverhältnismäßig große Zahl der Bürger 
faum ihr Leben friften kann, nicht mehr den Zielen des ganzen 
Volkes dient, jondern nur noch denen eines Teiles. Denn er hat 
ein außerordentlich Lebhaftes Gefühl für die fittliche Herabwürdigung 
und die „Knechtung“ der Verjönlichkeit, welche eine ſolche zur reinen 


') ©. Schmoller: Grundfragen ©. 100, 





(sb) 


II. 2. 5. Zur gefchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 4 


Klaſſenherrſchaft entartete Volkswirtſchaft für die Mafje der Befit- 
loſen zur Folge hat, und er verlangt daher auch für den nievrigiten 
Volksgenoſſen die Möglichkeit einer gewiſſen Entfaltung der Ber: 
Jönlichkeit im fittlicher und wirtichaftlicher Hinficht. Ex verwirft 
grundſätzlich Zuftände, welche den Einzelnen ökonomiſch oder rechtlich 
in eine Lage verjegen, in der jeine Perjönlichkeit gänzlich aufhört, 
fich jelbit Zwed zu fein. Gin Standpunkt, von dem aus er einer: 
ſeits die perfönliche Freiheit fordert für alles, was Hellenenantliß 
trägt, und andererfeitS mit voller Entjchiedenheit die Verpflichtung 
aller jtaatlichen Verwaltung anerkennt, eine Verwaltung der jozialen 
Reform zu fein. 

Die platonijche Staatstheorie fordert eine ununterbrochene 
Arbeit für die Erhöhung des Niveaus, auf dem die unteren Mit- 
glieder der bürgerlichen Gejellichaft verharren müſſen, fie proflamiert 
die große Idee der Hebung der unteren Klafjen, den Kampf gegen 
die „Armut“ d. h. gegen die Vernichtung und Verfrüppelung ganzer 
Gefellfehaftsichichten, zu welcher die fteigende Differenzierung der 
Gejellichaft durch die übermäßige Ungleichheit der VBermögensver- 
teilung notwendig führen muß. 

Damit tritt die platoniſche Staatslehre in die Neihe der 
Theorien vom joztalen Fortjchritt und einer humanen Umbildung 
der volfswirtjchaftlichen Drganifationsformen, und allezeit wird Plato 
in der Gejchichte der jozialen Theorie unter den Erften genannt 
werden müſſen, welche jenen Kampf aufgenommen haben, in dem 
wir jelbjt mitten inne jtehen: den Kampf gegen den Quietismus 
und Peſſimismus, der nicht zugeben will, daß es in der fozialen 
Gliederung einen wejentlichen Fortichritt geben kann, der eine ftetig 
und dauernd zunehmende Ungleichheit der Einfommensverteilung 
und damit fteigende Klaſſengegenſätze als etwas normales, ja not- 
wendiges und wünjchenswertes betrachtet. 

Aber die Berührung mit den jozialreformatorischen Beftrebungen 
der Gegenwart gebt noch weiter. Plato will nicht nur verhindert 
willen, daß die unteren Schichten der Gejellichaft unter ein gewiljes 
Niveau herabſinken, jondern es ſoll auch allen aufjtrebenden, nach 


435 Grites Buch. Hellas. 


Bethätigung ringenden Talenten derjelben die Möglichkeit gejchaffen 
werden, auf der jozialen Stufenleiter fo hoch emporzufteigen, als 
die perfönliche Begabung geftattet. ES ſoll womöglich einem Jeden 
der Beruf zugänglich gemacht werden, für ven jeine körper— 
lichen und geiftigen Anlagen am beiten pafjen. Ein Ziel, das nicht 
blos als eine joziale Gerechtigkeits>, jondern auch eine Zweckmäßigkeits— 
forderumg erſten Nanges gerade von der Gegenwart immer ent» 
ichiedener anerkannt wird, jo wenig dieſelbe auch verkennt, daß es 
fich hier immer nur um eine gewiſſe Annäherung an ein niemals 
vollkommen zu verwirklichendes Ideal handeln kann. 

Der platoniſche Staat weit der Vollserziehung der Zukunft 
Ziel und Wege, indem er den begabtejten Kindern des Volkes Die 
Möglichkeit exfchließt, auf dem Wege der Bildung in den Belit 
der höheren Kulturgüter, ſowie der Macht zu gelangen. Den Genies 
und Talenten aller Klaffen ſoll die Gelegenheit zur Ausbildung für 
alle ihrer Eigenart entfprechenden Berufszweige, jelbft für die höchſten 
gewährt werden. Hier wird in der That ein auch vom Stand- 
punkt der Gejamtheit aus berechtigtes Gleichheitsverlangen des 
Volkes erfüllt. Es Sollen feine begabteſten, geſchickteſten, ſtreb— 
famften Köpfe emporfommen können, nicht bloß dem Nechte nach, 
ſondern auch den erforderlichen Mitteln nad. Die Talente aus 
dem Volke follen, ftatt in Haß und Neid gefährliche Wühler und 
Umftürzler zu werden, die höheren Klaffen verjtärfen. Wer be 
fähigt ift, zu bereichen, wer die gejchiefteften Hände hat, joll nicht 
durch willkürliche Schranken gehindert werden, auch wirklich zur 
Herrſchaft zu gelangen, fein Geſchick auch wirklich zu bethätigen. 
Nicht bloß in feinem eigenen, jondern vor allem im Intereſſe des 
Ganzen ſoll jedem Einzemen die Möglichkeit zur Geltendmachung 
jeiner individuellen Fähigkeiten gewährt werden. 

Der angedeutete geſunddemokratiſche Zug, der in dem jozialöfono- 
miſchen Syitem Platos zum Ausdrucd kommt, zeigt ſich auch in ver 
Bekämpfung jener volfswirtichaftlich jo überaus nachteiligen Richtung 
der Produktion, welche auf Kosten der Bedürfnisbefriedigung der 
Maſſen einfeitig dem Luxuskonſum der Wohlhabenden zu gute fommt. 





III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung dev Politeia Platos. 439 


Nato erkennt, daß die Tendenz der Fapitaliftifchen Geſell— 
Ichaft, durch die Bedürfniffe des Lurus der Erzeugung notwendiger 
Grijtenzmittel des Bolfes eine unverhältnismäßige Menge von 
Arbeitskräften, Kapital und Boden zu entziehen und damit den 
Kahrungsipielraum des Volkes überhaupt zu gefährden, durch die 
Staatsgewalt ihre grundſätzliche Schranke finden muß. 

Er erkennt, daß dieſe Tendenz durch nichts mehr gefördert 
wird, als durch eine allzugroße Ungleichheit des Beſitzes; und fo 
ift es fir ihn das unabweisbare Ergebnis einer jozialen Auf: 
fafjung der Dinge, daß feinem Teile des Volkes ein unbedingtes 
Recht auf ein Übermaß von Einfommen und Beſitz zugeftanden 
werden Fönne, durch welches einem anderen Teile ſelbſt die Be- 
friedigung der notwendigen Erijtenzbedürfniffe mittelbar oder un- 
mittelbar unmöglich gemacht würde. ES wird die Berechtigung 
einer abjoluten Schranke der Ungleichheit des Einkommens, ſowie 
die Berechtigung der zur Aufrechterhaltung diefer Schranfe not- 
wendigen Eingriffe der Staatsgewalt in das PBrivateigentum für 
alle Zukunft fejtgeftellt. 

Die Geſchichte von Hellas jelbit, wie die der ganzen Folgezeit, 
hat unwiderleglich dargethan, daß das, was Blato als Kampf gegen 
Keihtum und Armut bezeichnet, einen unleugbar richtigen Kern 
enthält, innerhalb gewiſſer Grenzen geradezu durch das Lebensinter- 
efje der Völker gefordert ift. Eine große Ungleichheit der Ver— 
mögensverteilung bat ja bisher noch zu allen Zeiten den Berfall 
ihrer Gefittung eingeleitet. Sie waren um fo langlebiger, je jpäter 
und langjamer die VBermögensungleichheit eintrat.‘) Und daher 
drängt fi) gerade unjerer modernen Sozialwiſſenſchaft mehr und 
mehr dieſelbe Einficht auf, welche Plato durch die analogen Er— 
fahrumgen jeiner Zeit nahegelegt waren, daß ein Wolf, welches be- 





!) Das hat neuerdings bejonders treffend hervorgehoben Schmoller. 
Grundfragen ©. 111. Schmoller befürchtet geradezu den Untergang unferer 
Kultur, wenn uns nicht eine gewiſſe Ausgleichung der Beſitzesgegenſätze ge- 
lingt, wenn wir in dem „elementaren Strudel einer wachſenden Vermögens- 
ungleichheit forttreiben“. 


440 Grites Bud. Hellas. 


reits das für die Entwidlung höherer Kultur unentbehrliche Maß 
von Wohlftand erreicht Kat, um jo gefunder bleiben wird, je ge: 
vinger die zunehmende Ungleichheit fteigt, je mehr es gelingt, eine 
aleichmäßigere Verteilung des Volkseinkommens herbeizuführen. 

Das Wort von dem Kampf gegen Armut und Reichtum, zu 
dem der platonifche Staat aufruft, wird in gewiſſem Sinne, wenn 
auch nicht ganz fo, wie es fein Urheber gemeint, die Parole wer: 
den für die Staatsfunft der heraufziehenden Jahrhunderte.) Schon 
jeßt ift die ernfte Wiſſenſchaft mit Erfolg bemüht, die Einwände 
zu befeitigen, mit denen der Doktrinarismus einer älteren Epoche 
den Gedanken, die Einfommensverteilung in gefündere Bahnen zu 
(enfen, für immer abgethan zu haben glaubte. Sie nimmt einfach 
das leitende Motiv der platonifchen Spozialpolitif wieder auf, in- 
dem fie „die joziale Neform im Sinne einer gleichmäßigeren Ver— 
teilung des Volkseinkommens“ nicht nur als eine Forderung ver 
Humanität und Gerechtigkeit, ſondern auch als die Bedingung der 
wirtjchaftlihen Wohlfahrt und jeder ftaatserhaltenden Politik zu er— 
weiſen jucht.2) 

Wenn fie auch diefe gleihmäßigere Verteilung des Nein- 
ertrages der nationalen Produktion nicht mit den Mitteln herbei- 
geführt wiſſen will, die Plato im Auge hat, und wenn fie auch 
anvererfeits im Gegenfaß zu diefem einen mehr oder minder weiten 
Abſtand zwiſchen größtem und Eleinften Beſitz, eine ausgebildete 
wirtschaftliche Klaſſenordnung im Intereſſe der  wirtjchaftlichen 
Leiftungsfähigkeit des Volkes und jeiner Kultur für unbedingt not: 
wendig hält, in der Überzeugung begegnet fie ſich doc) unmittelbar 
mit ihm, daß der ich ſelbſt überlaffene Verkehr die Tendenz zu 
einer Ungleichheit der Einkommens: und Bermögensverteilung in 
fich schließt, welche ebenfo die wirtichaftlichen, wie die fittlichen 

') Vgl. die ſchöne Ausführung über die volfswirtjchaftliche und fitt- 
liche Aufgabe des „Kampfes gegen die Armut“ bei Ziegler: Die joziale Frage 
eine Jittliche Frage ©. 146. 

) ©. Herner: Die foziale Reform als Gebot des wirtſchaftlichen 
gortichritts. Dazu Sombart: Archiv für joziale Reform 1892 ©. 600. 


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III. 2. 5. Zur geichichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 441 


Intereſſen der Völker gefährdet, daß daher „vie Einkommensvertei— 
lung aus einer bloß durch blinde Naturfaktoren bedingten Erſchei— 
nung zu einer von Sitte und Necht beherrichten” werden müſſe.!) 
Es ift recht eigentlich im Sinne Platos, wenn die moderne Sozial- 
wiſſenſchaft die Forderung aufſtellt, es jei immer mehr dahin zu 
wirken, daß „auch der größte Beſitz nicht aufhört, von der Arbeit 
zu entbinven, daß auch die geringste Arbeit zu einigem Beſitze führe, 
daß die Überlegenheit des Befiges als ſolchen über die Arbeit ver 
mindert, der Ausbeutung der Nichtbefigenden, der Überlegenheit der 
Beltgenden über = Kichtbejigenden überhaupt, immer mehr Terrain 
entzogen werde”. Was Plato als Sohn eines von Jozialvevolutio- 
nären Strömungen erfüllten Zeitalters klar vor Augen Jah: daß alle 
die, welche nur Renten verzehren ohne Gegenleiftungen, an dem 
Kommen des Gerichtes arbeiten, wie könnte es noch länger von der 
Gegenwart ignoriert werden ?>) 

Selbjt diejenige Konſequenz, die Plato aus einer ſolchen Auf: 
fallung der Dinge zieht, die Anerkennung des jtaatlichen Nechtes, 
dureh unmittelbare Eingriffe in die Ordnung des Brivateigentums, 
in die Vermögens- und Einfommensverteilung einer übermäßigen 
Ungleichheit Schranken zu ſetzen, hat, wie wir jahen, von feiten der 
modernen Nechts- und Sozialwiſſenſchaft Nachfolge gefunden. 

Sind es doch die Thatfachen der Gejchichte ſelbſt, analoge 
gejcehichtliche Erfahrungen, welche hier wie dort der Theorie un— 
zweideutig genug die Wege N haben. Die ſoloniſche Wirt: 
ſchafts- und Sozialveform, das Werk des größten Sozialveformers 
der antifen Welt dort, die modernen Agrarrefornen und Die 
Stein-Hardenbergifche Gefeggebung hier find — um das Wort eines 


) Schmoller a. a. O. ©. 96 f. Auch diejer ift, wie Plato, der An— 
ficht, daß „koloſſale Neichtümer unter feinen Umſtänden gejellfchaftliches Be: 
dürfnis find und dab daher eine forrigierende Cozialvolitif, die don den 
Reichen und Neichften nimmt, um den Armen zu geben, weit entfernt davon 
iſt, fulturwidrig zu fein. 

) Schmoller a. a. D. 

3) Bgl. die Beinerfung von Pauljen: Ethik IT 417. 


442 Erſtes Buch. Hellas. 


modernen Beurteilers derjelben zu gebrauchen — „Beifpiele der 
großartigjten Art, wie eine hochherzige Politik in die Eigentums: 
ordnung eingreifen kann und foll, wie die Sühne für Jahrhunderte 
langes Unrecht die Verlegung taufendfacher Einzelintereffen, ja ſo— 
gar Maßregeln unvermeidlich machen fan, die man geradezu als 
eine Neuverteilung des Eigentums bezeichnen darf, die aber darum 
noch Feine Jozialiftiichen Maßregeln im Fchlimmen Sinne des Wortes 
waren.) Inſoferne hat die Gejchichte des athenischen, wie Die 
des modernen deutſchen Staates feit den Agrarreformen des lebten 
Jahrhunderts einer wahrhaft fozialen Auffaſſung der Dinge in 
gleich hohem Grade vorgearbeitet, als fie unwiderleglich dargethan 
hat, daß das zu allen Zeiten gegen eine kraftvolle Durchführung 
des Spztalprinzipes erhobene Gejchrei über Eigentumsverlegung und 
Beraubung, über Verwirrung und Erjchütterung der Nechtsbegriffe 
verjtummen wird und muß, wenn nicht Böbelleivenschaft, ſondern 
eine ihrer Pflicht voll und ganz bewußte Staatsgewalt jolche Maß: 
regeln durchführt, wenn nicht „die Willfür da nahm, um dort zu 
verjchenfen, jondern ſyſtematiſch nach feiten Grundfäßen die neuen 
Eigentumslinien gezogen wurden“.?) 

In demfelben Zufammenbange ergibt ſich aber für Plato 
noch ein weiteres Necht der ftaatlichen Gemeinjchaft gegenüber dem 
Individuum. Er erkennt, daß auch der erfolgreichite Kampf gegen 
die übermäßige Konzentrierung des Neichtums und die einfeitige 
Entwicklung der auf Werkzeuge der Üppigkeit gerichteten Luxusarbeit 
für ſich allein nicht ausreichen wird, die Lage der großen Mehrheit 
des Volkes auf die Dauer günftig zu gejtalten. Als Bewohner 
eines dichtbebauten und Ddichtbevölferten Kleinftaates it ex ſich ſehr 
deutlich der Thatjache bewußt, daß es nicht bloß die ungleiche Ver— 
teilung des Volkseinkommens und Volfsvermögens ift, durch welche 
die auf den Einzelnen fallende Quote von Unterhaltsmitteln über 





) Schmoller a. a. D. ©. 9%. 

°) Schmoller ebd. Gibt doch ſelbſt Treitichte zu, dab die Ackergeſetze 
dev Zukunft tiefer in die Eigentumsordnung einjchneiden werden, als die 
Fabrikgeſetze. Der Sozialismus und feine Gönner. Wa. O. ©. 137. 





II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 443 


mäßig verkürzt werden kann, jondern auch die an natürliche und 
unüberfteigliche Grenzen gebundene Größe des Volkseinkommens. 
Plato hatte ja ftets den höchſt intenfiven wirtichaftlichen Dafeins- 
fampf vor Augen, den der hellenijche Stadtitaat zu beftehen hatte, 
um den Ertrag feiner Volkswirtſchaft im Gleichgewicht mit feiner 
Bollszahl zu erhalten. Er war daher von vorneherein frei von 
dem Optimismus des Bewohners großer Staaten, die noch um— 
faſſende Flächen unangebauten oder ſchwach bevölferten Bodens be— 
figen. Das Bevölferungsproblem, welches der ökonomiſche Sozia— 
lismus, wie der ökonomiſche Liberalismus der Neuzeit in leicht: 
herziger Dberflächlichfeit mehr oder minder ignorieren zu Dürfen 
glaubte, es ſtand ihm in feiner ganzen furchtbaren Bedeutung klar 
vor Augen. Wenn der moderne Sozialismus diejes Problem ein 
fach durch die Erwägung bejeitigen zu können meint, daß die Ge— 
fahr einer Übervölferung nur als das Produkt der beftehenden 
indivioualiftiichen Nechts: und Wirtjehaftsordnung eintreten könne, 
unter der Herrſchaft einer Jozialiftiichen Organifation von Produktion 
und Berteilung überhaupt nicht zu fürchten ei, jo bat ſich ver 
helleniſche Sozialismus von diefer Illuſion frei gehalten. 

Von Plato wenigftens wird es als ein Hauptſymptom geſunder 
jozialer Verhältniſſe hervorgehoben, wenn ein Volk in verftändiger 
Fürſorge gegen die Gefahr des Maſſenelendes oder des Krieges!) 
„nicht über die Unterhaltsmittel hinaus Kinder erzeugt“.2) Selbjt- 
verjtändlich erſcheint es dann von dieſem Standpunkte aus als ein 
unveräußerliches Necht der ftaatlichen Gemeinschaft gegenüber dem 
Individuum, mittelbar oder unmittelbar durch die Geſetzgebung auf 

1) Dieſe Bejorgnis vor der Entftehung don Kriegen infolge von Über: 
völferung ift bezeichnend für die Bedeutung des Bevdlferungsproblems im 
helleniſchen Kleinſtaat. Wenn der Grund und Boden nicht mehr ausreicht, 
die zunehmende Bevölkerung zu ernähren, bleibt ihm oft nichts anderes übrig, 
als der Weg der gewwaltfamen Annexion von Weide: und Aderland auf Koften 
der Nachbarn. ©. Plato Rep. 373d. 

?) Die Betwohner einer roAıs Öyıns werden (372e) bezeichnet als ovy 
Uno Tmv ovVoley nowwvusror Tois naldes gvAaßovusvor neviev n) noAsuor, 


444 Erſtes Buch. Hellas. 


eine Einjchränfung des Volkswachstums hinzuwirken, wenn dasjelbe 
das Gleichgewicht zwiſchen Produktion und Konſumtion dauernd in 
Frage Stellt. So verwerflich nach unferen fittlichen Begriffen Die 
bevölferungspolitifchen Vorſchläge Platos im Einzelnen find, jo ſehr 
er gerade hier im Banne von Zeitanjchauungen fteht, an fich ift 
doch die Aufnahme des Bevölferungsproblems in das Syſtem der 
Politik, der Hinweis auf die Gefahren der Übervölferung, welche 
dem modernen Europa erjt jeit einem Jahrhundert durch Malthus 
zum Bewußtjein gefommen find, die Anwendung des Gemeinjchafts- 
prinzipes auch auf diefe Frage ein Fortſchritt von prinzipieller 
Bedeutung. i 
Indem nun aber jo das Sozialprinzip Platos die Ordnung 
von Staat ımd Necht, von Geſellſchaft und Volkswirtſchaft nad) 
den Bedürfniſſen des Volkes als einer Totalität gejtaltet willen 
will, beabfichtigt ev mit diefem feinen Sozialismus feineswegs 
eine abjolute Negation alles Jndividualismus. Er ift ich Klar be- 
wußt, — md auch darin berührt ex ſich mit der neueren deutjchen 
Wiſſenſchaft, — dab dem leteren ebenfo feine bejondere Berech- 
tigung zufommt, wie dem erfteren, daß es ſich alfo nicht um eine 
gegenfeitige Ausichliegung, ſondern nur um eine Kombination der 
beiden großen Lebensprinzipien der Gelellihaft handeln kann. Die 
Stellung, welche die platoniſche Sozialtheorie dem Selbjtinterefle 
einräumt, jein Freiheits-, Gleichheits: und Gerechtigkeitsprinzip 
wurzelt in der richtigen Erkenntnis, daß es fich nicht um Indivi— 
Dualismus oder Sozialismus handelt, Fondern um Jndividualismus 
und Sozialismus, daß die theoretiiche und praktische Streitfrage 
nicht ein Entweder — oder ift, jondern ein Sowohl — als aud).') 
Allezeit wird dem platonifchen Staat der Ruhm bleiben, die exfte 
theoretische Vermittlung zwiſchen den mächtigen jozialen Geftaltungs- 





) Bol. U. Wagner: Über fyftematiiche Nationalökonomie. Jahrb. F. 
Nationaldf. u. Stat. 1886 ©. 201. Dazu Sar: Theoretiſche Staatswirtjchaft 
©. 31: „Welche Bahnen immer die joziale Fortentwicklung des Menjchen: 
gejchlechtes einjchlagen mag, ftet3 werden die Kategorien des Jndividualismus 
und Kollektivismus als lebendige Potenzen bejtehen bleiben.“ 





III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung dev Politera Platos. 445 
g ) 


tendenzen verfucht zu haben, welche alles menjchliche Leben in ewig 
wechjelnden Formen beherrichen. — 

Vergegenwärtigen wir ums noch einmal all’ das, was wir 
vom heutigen Standpunkt jtaats und ſozialwiſſenſchaftlicher Er— 
fenntnis aus in Platos Ergebniffen als Errungenschaften von bleiben- 
dem Werte anerfennen müſſen, jo wird es nicht zuviel gejagt er— 
jeheinen, wenn wir -- anfnüpfend an die Worte, die Nanfe einer 
friegeriichen Nuhmesthat der athenischen Bürgerfchaft gewidmet hat, 
— das geniale Geifteswerf ihres größten Sohnes ein Werk nennen, 
das „voll von Zukunft“ ist. Was Schmoller an dem Sozialftaat 
Fichtes gerühmt hat,!) es gilt auch, — Joweit man eben nur Die 
hervorgehobenen Momente ins Auge faßt, — von Plato: „Was 
er erkennt, jind die wahren Aufgaben der menjchlichen Geſellſchaft.“ 

Dieſer Nuhmestitel bleibt, jo ſchwer auch in die andere Wag- 
ſchale das fällt, worin er geirrt bat. Denn daß bier mit der 
Fülle der Erkenntnis die größten und folgenjchwerften Irrtümer 
Hand in Hand gehen, das tritt ja nicht minder Klar zu Tage! 

Die Einfeitigfeit jenes ideologischen Dogmatismus, der uns 
bereits in der Darftellung der platonischen Wirtjchaftstheorie ent- 
gegengetreten ift, hat eben auch die Ausgejtaltung des platonijchen 
Staats und Geſellſchaftsideals in verhängnisvoller Weije beeinflußt. 
Sp entjchieden auf der einen Seite die platonijche Theorie der 
„irklichkeit zugewandt” ift, und jo beveutjam die Ergebniffe find, 
welche fie der jcharfen Beobachtung der realen Erſcheinungen, der 
Induktion aus den empirischen Thatſachen des Staats= und Gejell- 
ichaftslebens verdankt, jo hat doch andererjeit3 das ſchon durch die 
Natur des ganzen Problems bedingte Übergewicht der apriorifchen 
Deduktion und Konſtruktion vielfach dazu beigetragen, die Theorie 
auf falſche Bahnen zu leiten. 

Schon das Ziel jelbit, das bier aufgejtellt wird, zeigt uns 
die Theorie noch ganz im Kindesalter einer falſchen Fonftruierenden 
Metaphyſik. 





) Zur Litteraturgeſch. der Staats- und Sozialwiſſenſchaften ©. 72, 


446 Grites Buch. Hellas. 


Plato bezeichnet, wie wir ſahen, als Endzweck feines Staats: 
ideals die Verwirklichung der Idee der Gerechtigkeit. Wonach be 
ſtimmt ſich aber der Inhalt deijen, was das Gerechte jein joll? 
Einfach darnach, daß der platonifche Staat den Anſpruch erhebt, 
der „naturgemäße” Staat zu jein (xaera« yvorv oixıoJeloa mokıs).!) 
Das Necht, das er jchaffen will, it daher ebenfalls „ver Natur 
gemäß”. Es iſt Necht, nicht weil es irgendwo auf Erden gilt, — 
das erſcheint völlig gleichgültig,2) — jondern weil es der unver— 
fälichten menjchlichen Natur als folcher, überhaupt der ewigen Natur 
ordnung und damit der über der Natur waltenden Vernunft ent- 
jpricht.3) Im Himmel mag wohl der „im Neiche der Ideen liegende 
Staat” (modıs Ev Aoyoıs zeıwern)!) als ein heiliges Mufterbild zu 
finden fein für denjenigen, der ihn ſchauen will.5) Daher ift auch 
das Necht, das der Idealſtaat verwirklicht, nicht bloß „Recht“ für 
eine bejtimmte Zeit und unter bejtimmten konkreten Verhältniffen, 
jondern es iſt — zumal dem Wandel des jeweiligen pofitiven 
echtes gegenüber — das überall Gleiche, Ewige, Unveränderliche. 
Es bat als das abjolut Vernünftige und Vollkommene feine Ent: 
wiclung, da das, was für die Vernunft heute gilt, ebenfo für alle 
Zeiten und unter allen Umftänden Geltung beanjprucht.6) Wo es 
gelingt, dieſes Necht als das Uriprüngliche, im Laufe der Gejchichte 
nur Berfälichte und VBerdorbene in jeiner Neinbeit wieder herzu— 
jtellen, die durch Egoismus und Unverſtand hevorgerufenen Miß— 
bildungen und Entjtellungen wieder zu beſeitigen, da ijt das Neich 
der Vernunft und des Glückes auf Erden begründet! 

Diefe ganze Auffaffung ift, wie ſchon angedeutet, das Pro: 

ı) IV, 428. 

2) 592b: diepeosı dE ovder, eite nov Eotıv EitE Eoraı‘ TE yao 
TavINS uoryS dv nod£eıev, dAdns dE ovdeuias (0 ye voov &xwv). 

>) ©. oben ©. 415 Anmerfung 3 

4) 592a. 

°) 592b: Ev ovoar® iows nregadeıyur arazeıraı To PBovkouevo 
vp«v za vEW@rTı Eavrov zuroızileıv. 

°) Allerdings ift die Verwirklichung nur Gallen möglich. 


= 





II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 447 


duft einer falſchen Metaphyſik. Der Begriff eines Nechtes an und 
für ſich it ein Phantom und zwar ein höchſt verhängnisvolles, da 
er die Sozialtheorie vor ein Problem jtellt, welches ebenſo unlösbar 
it, wie etwa die Quadratur des Zirkel. 

Nichts Fönnte die Unfruchtbarkeit der hier formulierten Auf- 
gabe drafticher beweilen als die TIhatjache, daß der Inhalt der 
„naturrechtlichen“ Forderungen zu verſchiedenen Zeiten ein höchſt 
verschiedener gewejen ift. Wie ganz anders ſieht das Naturrecht 
Platos aus im Vergleich mit dem Naturrecht der damaligen Auf- 
Härungsphilojophie oder dem Naturrecht dev modernen Metaphyſik 
des Nechtes! Der beſte Beweis dafür, daß das Naturrecht eben 
in Wirklichkeit nicht aus einer Menfchennatur in abstracto ent- 
wicelt it, jondern aus den Anſchauungen und Bedürfniffen von 
Individuen oder Gruppen verjelben, daß es das Ergebnis ganz 
beftimmter hiftorifcher VBorausjegungen, eines ganz beſtimmten Stand» 
punktes der ethischen Kultur iſt.!) 

Das zrowrov Wevdos der naturrechtlichen Metaphyſik ift 
die völlige Verkennnung der Thatjache, daß eben auch ihren For- 
derungen nur eine relative Berechtigung zukommen kann. Daher 
der naive Optimismus im Beziehung auf die Ausführbarkeit der: 
jelben! Was ein entwiceltes jittliches Bewußtjein als „echt“ 
fordert, exfcheint auf diefem Standpunkt ohne weiteres auch als 
möglich. Die Frage, ob es von den realen Kräften des Lebens 
überhaupt geleiftet werden kann, ift von vorneherein bejaht. Eine 
Illuſion erzeugt eben die andere! Die für jede Gejeßgebungs: 
politif grundlegende Frage, od überhaupt in einer beſtimmten Zeit 
die Bedingungen für die Verwirklichung der betreffenden Forde- 
rungen gegeben find, braucht bei diejer Auffaſſung nicht ernftlich 
erwogen zu werden. Um ei Recht, das vom Anfang aller Ge— 
Ihichte an „echt“ iſt und in der Natur der Dinge ſelbſt wurzelt, 

) Bgl. die jchöne Abhandlung von Jodl über das Weſen de Natur— 
rechts und jeine Bedeutung in der Gegenwart. Juriſtiſche Bierteljahresichrift 
1893 8. 23. 


448 Grites Buch. Hellas. 


zur Anerkennung zu bringen, erjcheint auch die Kraft eines Ein- 
zelnen binveichend, wenn er nur die nötige Macht befißt. Daß die 
Umwandhung ſozial-ethiſcher Ideen in Normen oder nftitute des 
pofitiven Nechts durchaus abhängig ift vom Stande der allgemeinen 
Kultur und ganz bejonders der ethiichen Kultur, welche die bür- 
gerliche Geſellſchaft jeweilig erreicht hat, das wird mehr oder minder 
verfannt. Daher auch der Grundirrtum Platos, daß es fich bei 
der Aufftellung eines Staatsiveals um ein Projekt handle, welches 
die unmittelbare praftiiche Verwirklichung verträgt. 

In eigentümlichem Gegenjaß zu dieſem Anfpruch auf Die 
unmittelbare Nealifierbarfeit des Staatsiveals ſteht die Art und 
Weiſe, wie — allerdings der Natur des Problems entiprechend — 
der Stoff vor Allem ſyſtematiſch zu bewältigen verjucht wird, 
wie alles Gewicht auf die logische Korrektheit der deduktiv gewon- 
nenen Säbe, auf die Formulierung von Ariomen gelegt wird, aus 
denen fich alles Weitere mit logischer Notwendigfeit ergeben joll, 
während doch die Neibungswiderftände des wirklichen Lebens un— 
vermeidlich außer Anjaß bleiben müſſen. 

Sm den Beftreben nach Syftematifierung wird nur zu häufig 
verfannt, daß feine menschliche Inſtitution ihre äußerſten Konſe— 
quenzen verträgt, daß ſich für die praftifche Ausführung eines all- 
gemeinen Brinzipes infolge des Entgegenwirkens anderer gleichbe- 
rechtigter Ideen und Bedürfniſſe immer mehr oder minder weit- 
gehende Begrenzungen ergeben werden. Was der Biograph eines 
modernen Nachfolgers Platos als einen „durchaus modernen“ Fehler 
rügt,) das Auftürmen mächtiger Konftruftionen, ohne daß ſorg— 
fältig genug unterfucht wäre, ob das Fundament fie zu tragen 
vermag, — eben das gilt für den platonischen Staat in beſonderem 
Maße. 

Diefe Beobachtung drängt ſich uns gleich bei dem grund: 
legenden Brinzip der Berfaflung des Idealſtaates auf. So be= 
vechtigt Die Forderung einer ſelbſtändigen Nepräfentation des Staats— 


') Dießel: Rodbertus II, 181. 


II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 449 


gedanfens durch die möglichite Konzentrierung der Macht in den 
Händen der Befähigten ihrem Sterne nach it, jo einfeitig ift die 
Löſung, welche dies jchwierige Problem bei Plato gefunden hat. 
Er will nicht bloß eine ſtarke, jondern eine geradezu allmächtige 
Negierung, weil er durch jein Erziehungsſyſtem dem Staate Ne- 
genten geben zu können glaubt, welche durch die Tiefe und Unis 
verjalität ihres Wiſſens und ihrer Erfahrung, durch die Idealität 
ihrer Geſinnung eine jo eminente Bürgſchaft für die dem Geſamt— 
wohl fürderlichite Verwirklichung der jtaatlichen Aufgaben gewähren 
würden, daß jede Fonftitutionelle Beichränfung ihres Willens nur 
eine Lähmung der Energie und KLeijtungsfähigfeit des Staates 
ſelbſt wäre. 

Zwar haben wir es hier mit einem Gedanken zu thun, der 
jeit Blato immer und immer wieder und nicht am wenigiten in 
der Neuzeit die Geifter angezogen bat. Von Fichte und Saint 
Simon bis auf Niegiches Philoſophen: „die cäſariſchen Züchtiger 
und Gewaltmenjchen der Kultur, die da jagen: jo joll es fein, 
die das Wohin? und Wozu? des Menschen bejtimmen und mit 
Ichöpferifcher Hand nach der Zukunft greifen, deren Erkennen Schaffen, 
deren Schaffen Gejeßgebung!”!) Unter dem Eindrud der Erfahrungen 
der modernen franzöfiichen Demokratie fommt ein Nenan zu der 
Ueberzeugung, daß die Entwicklung der menjchlichen Wohlfahrt, 
der Fortjchritt in der Nealifterung von Wahrheit und Gerechtigkeit 
ſich nicht durch „Alle“, nicht durch die Demokratie vollenden könne, 
jondern nur durch das, was er ganz platonifch „Negierung der 
Wiſſenſchaft“ nennt, eine Ariftofratie, welche „der Menjchheit als 
Kopf dienen und in welche die Menge den Sammelplat für ihre 
Vernunft verlegen würde.” Dieſe Ausleje der Geifter wide im 
Belige der bedeutſamſten Geheimniſſe des Dajeins die Welt durch 
die mächtigen, in ihrer Gewalt jtehenden Wirkungsmittel beherrjchen. 2) 


) Jenſeits von Gut und Böſe ©. 141 vgl. 151. 

2) Al3 materielle VBorausjegung dieſer Macht wird allerdings ange- 
nommen, daß e3 in Zukunft möglicherweile Kriegsmajchinen geben werde, 
welche ohne die Leitende Hand von Gelehrten Werkzeuge ohne jede Wirkſam— 


Böohlmann, Ge;d. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 29 
) ) 


450 Erſtes Buch. Hellas. 


Die Idee einer geiftigen, auf die Meberlegenheit der Intelligenz 
gegründeten Macht könne zur Wirklichkeit werden, ohne daß dieje 
unumſchränkte Herrſchaft eines Teiles der Menjchheit über einen 
anderen etwas Gehäſſiges an ji haben würde. Denn die Arifto- 
fratie, von der er träume, würde nicht von perjönlichem oder 
Klaſſenegoismus geleitet werden, ſondern die Verförperung der Ber: 
nunft fein. — Schade nur, daß Nenan ſelbſt dieſe dee eines 
Zeitalters, in welchem „die Kraft die Herrichaft der Vernunft be- 
gründen wird“, al3 einen Traum bezeichnen muß! Und das wird 
fie in der That bleiben, jo viele auch nach ihm noch diefen Traum 
Platos nachträumen werden. 

Schon die Vorausjegung, von der Plato ausgeht, der Glaube 
an die Möglichkeit und den Beltand einer Gefellichaftsklaffe, welche 
in ununterbrochener Stontinuität aus fich ſelbſt die denkbar höchiten 
und idealiten Leiftungen auf rein geiftigem, wie auf politifch-mili- 
täriichem Gebiete zu erzeugen vermag, kann vor einer nüchternen 
Anſchauung der Dinge nicht beftehen. Die Mittel, durch welche 
Plato den Beſtand einer jolchen Klafje fichern zu können glaubt, 
find mehr oder minder illuforiih. So hoch man die Macht einer 
rationellen Erziehung, den Einfluß wiljenschaftlicher Durchbildung 
anjchlagen mag, — Hoffnungen, wie jie Blato auf jein Erziehungs— 
ſyſtem aufbaut, werden ſich nie erfüllen. Darüber wird fi am 
wenigiten die Gegenwart einer Täuſchung bingeben, jeitdem fie auf 
die Erfahrungen einer Zeit zurücbliden kann, in der das allge- 
meinte Intereſſe ich auf die Förderung des pädagogiſchen Prob— 
lems fonzentrierte, in der man von einer „natur und vernunft 
gemäß” erzogenen Jugend das Heil der Welt erwarten zu Dürfen 
glaubte; — ein Glaube, der fih längſt als trügerifch erwieſen hat. 
Wenn auch die jozialiftiichen Erziehungsoptimiften der Neuzeit noch 
jo felt überzeugt jein mögen, daß das Genie fich züchten Laffe, 
daß jeder Menjch auf eine die bloße Hand» oder Körperfähigkeit 
feit, in dieſer Hand aber furchtbare Hilfsmittel zur Vernichtung aller Wider: 
jtvebenden werden wirrden. — Philoſophiſche Dialoge. D. A. ©. 75 ff. 





III. 2. 5. Zur geichichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 451 


erheblich überfteigende Ausbildungsitufe hinauferzogen werden könne, 
die ideale Geiftesariftofratie des platonifchen Staates ift nicht 
minder ein Phantom, wie die Maſſe von Michelangelos und Lio- 
nardos, welche Bebel für jeinen Sozialjtaat in Ausficht ftellt. 

Insbeſondere hat Plato — in dieſem Punkte ift auch er 
ganz ein Kind der Aufklärung — die ethiſche Bedeutung des 
Wiſſens weit überſchätzt. Das richtige Wilfen verbürgt durchaus 
nicht in dem Grade die richtige Gefinnung und das richtige Han— 
deln; Intelligenz und Sittlichfeit find durchaus nicht in der Weiſe 
Storrelate, wie das die platoniiche Moralphiloſophie annimmt. Die- 
jelbe verfennt die Doppelheit der Menfchennatur, in der Wille und 
Sntelleft die Gegenpole bilden und jo immer wieder jene traurige 
Zwiejpältigkeit entjteht, daß das Individuum ein Leben, das es 
als das bejte erkannt, deſſen Wert es ſtark und aufrichtig empfindet, 
dennoch thatſächlich nicht lebt, daß die deutlichite Einſicht in die 
Berfehrtheit des Willens dennoch an jeiner Natur nichts zu ändern 
vermag. 

Auf gleich irrtümlicher Schätzung beruhen ferner die An: 
ſichten Platos über die pſychologiſchen Wirkungen der Inſtitutionen, 
in denen er eine weitere Bürgſchaft für die fittliche Integrität 
der höheren Klaſſen ſucht. Wie utopiih it die Hoffnung, welche 
er an den Kommunismns knüpft, die Erwartung, daß mit der 
Aufhebung des PBrivateigentums und der Familie alle Quellen der 
Selbitjucht und Begierden verfiegen würden! Man bat Ddiejer 
Illuſion, welche übrigens bei allen jpäteren Utopiſten mehr oder 
minder wiederfehrt, längſt die Erfahrung entgegengehalten,!) daß 
die menschliche Leidenschaft fich unter allen Umftänden mit Gier 
ihre Objekte jucht, daß unter Männern, die Feine Nahrungsiorge 
mehr kennen, mit um jo ungezügelterer Leidenschaft der Kampf um 
das Weib entbrennen würde, daß in einem folchen Gejchlecht Ehr— 





I) Val. die treffenden Bemerkungen Jaſtrows gegen Hertzkas „reis 
land’ a.a 9. Eine Illuſion ift natürlich auch die Annahme, daß Jich bei 
diefem Kommunismus, der den Einzelnen um ein gutes Stück idealer Lebens— 
befriedigung brächte, die Hüterklaffe im höchiten Grade glücklich fühlen würde. 

29* 


452 Erſtes Buch. Hellas. 


geiz und Ruhmſucht die Stelle frei finden würden, welche die Ge— 
winnjucht verlaffen bat, daß mit Einem Wort im Menschen ein 
Quantum von Leidenjchaft enthalten ift, mit welchem überall ge 
rechnet werden muß, wo es ſich um einen auch nur etwas größeren 
Kreis von Individuen handelt. 

Gegen jolche Gefahren gewährt auch die rein jozialiftische 
Drganijation der Jugenderziehung, die zwangsweile Erziehung in 
Staatsanftalten feine Gewähr. Im Gegenteil! Die Art und 
Weile, wie im platonischen Staat der fünftige Krieger und Beamte 
ſchon von zartefter Kindheit an von der ganzen übrigen Bevölkerung 
ſtändiſch abgejchloffen wird, iſt nichts weniger als geeignet, jenes 
voltsfreundliche und volfstümliche Beamtentum zu erziehen, auf 
welches Plato jo großen Wert legt. Biel eher würde hier der 
Geift der Überhebung großgezogen werden, der mit pfychologiicher 
Kotwendigkeit die Entartung zur Klaſſenherrſchaft herbeiführen 
müßte. Auf der anderen Seite wide die Überfpannung des 
ftaatlichen Zwanges in diefem Syſtem und die übermäßige Kon- 
zentrierung der Macht in der Hand der Negierenvden bei der Hüter- 
flafje die Devotion nach oben, den Geift des Strebertums und 
der Kriegerei ebenso ſyſtematiſch begünftigen, wie die Überhebung 
nad) unten. Der Mut, der feft zur eigenen Überzeugung fteht, 
die fittlihe Kraft, welche auch vor der Ungnade des Mächtigen 
nicht feige zurückweicht, fie würden extötet durch die Charakterlofig- 
feit, die immer erſt nach oben fieht, die vor allem Neden und 
Handeln immer exit fragt, ob es auch „genehm” ift und „gerne 
gejehen” wird. Gerade das, was den führenden Clementen des 
Bolfes nicht minder notthut, als der Geift dev Zucht und Drdnung: 
Charakterfeſtigkeit, Selbſtändigkeit, Kraft der Smitiative würde hier 
unvermeidlich verfümmert werden. Welche Gefahr aber in einem 
Syſtem liegt, das die Entwidelung der jo nahe miteinander ver: 
wandten deſpotiſchen und Fnechtifchen Anlagen der menschlichen Natur 
in ſolcher Weiſe begünftigt, das bedarf Feines weiteren Beweifes. 
Übrigens ift das ganze Syftem auch feineswegs jo „naturgemäß“, 
wie Plato annimmt. Die Grundlage desjelben: die allgemeine 





| 
| 
j 


III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 453 


Erſetzung der Familienerziehung durch die Staatsammenjchaft it 
eine Abjurdität. Selbſt im Bienenftaat find die Ammen, welche 
zugleich die einzigen Arbeiterinnen find und die Kinder einer ein- 
zigen Eöniglichen Generalmutter erziehen, wenigitens gejchlechtslofe 
Individuen.) 

In der That muß ſogar Plato ſelbſt die Unzulänglichkeit 
der zur Organiſation der Hüterklaſſe vorgeſchlagenen Maßregeln 
unwillkürlich einräumen, indem er, um dieſelbe möglichſt frei von 
innerem Zwiſt zu erhalten, — insbeſondere bei der obrigkeitlichen 
Regelung des geſchlechtlichen Verkehrs — als „Arzneimittel“ ein 
Syſtem des Truges und der Lüge für notwendig hält, welches 
zu der vorausgeſetzten Geſinnung dieſer Klaſſe in eigentümlichem 
Widerſpruch ſteht.) Welche Gewähr bietet eine Regierung, 
welche jolcher Mittel bedarf, um ihrer eigenen Drgane ficher 
zu jein? 

Damit ift im Grunde auch das Vroblematijche der eben nur 
durch Lug und Trug realifierbaren phyliologiichen Experimente zu— 
gejtanden, im denen Plato ein Hauptmittel für die Erzeugung und 
Erhaltung einer zum öffentlichen Dienſt prädeftinierten Klaſſe ge: 
funden zu haben glaubt. 

Zwar ift gerade diefer Gedanke von der Neuzeit wieder auf- 
genommen worden. Ich erinnere nur an die Aeußerung Schopen- 
hauers: „Will man utopische Pläne, jo jage ich: Die einzige Lö— 
jung des Problems wäre die Dejpotie der Weifen und Edlen, 
einer echten Ariftokratie, eines echten Adels, erzielt auf dem 
Wege der Generation, dur) Vermählung der evelmütigjten 

!) Darauf hat mit Recht Schäffle Hingewiefen. Ausfichtslofigkeit der 
Sozialdemokratie? ©. 40. 

2) 459e: ovyv® To wevdeı xai tn anarn zZiwvdvvevsı mulv 
denosıv yonsdaı roös doyovras En’ wopektig av doyousvorv. Eine „Ichlaue 
Verloſung“ ſoll e3 ermöglichen, daß der Einzelne, dev mit dem ihm zuge: 
fallenen Werbe nicht zufrieden iſt, dem Zufall und nicht der Regierung Die 
Schuld gibt. 460a. Uber die Zuläffigfeit der Täufchung als Regierungs- 
prinzip vgl. auch 339b. 


454 Erites Buch. Hellas. 


Männer mit den Flügften und geiftreichten Weibern. Dieſer Vor: 
Ichlag ift mein Utopien und meine Nepublif des Platon.) 

Ein Gedanke, der übrigens der Gegenwart durch Die mo- 
dernen naturwiffenichaftlichen, zumal die darwiniftiichen Ideen be— 
jonders nahegelegt war. Wenn es richtig ift, daß fi) im Laufe 
der Zeiten aus den niedrigjten Organismen die höherjtehenden 
Lebeweſen und zuleßt der Menſch entwicelt hat, warum jollte ſich 
da nicht am Ende aus dem Menſchen ein noch höheres Weſen 
entwickeln können, deſſen geiftige und moraliiche Kräfte Anforde: 
rungen zu genügen vermögen, denen ſich die menjchliche Natur 
bisher nicht gewachjen zeigte? — Nenan hat auch diefe Idee auf- 
genommen. Er meint: „Eine ausgedehnte Anwendung der Ent: 
deckungen auf dem Gebiete der Phyfiologie und des Prinzips der 
natinlichen Zuchtwahl könnte möglicherweife zur Schöpfung einer 
höherftehenden Naffe führen, deren Necht zu regieren nicht nur 
in ihrem Wiffen, ſondern jelbft in dem Vorzug ihres Blutes, 
ihres Gehirns und ihrer Nerven begründet wäre.“ 2) 

Wer denkt Hier nicht umvillfürlich an die Idee vom „Über- 
menjchen“, wie fie die Sozialtheorie Nietzſches — allerdings in 
wejentlich anderem Sinne als Plato — entiwidelt hat, an die 
Lehre von der Veredlung der menschlichen Natur, die er als „Er: 
höhung Des Typus Menſch“ bezeichnet und die er ſich ebenfalls 
als das Werk einer ariftofratifchen Gefellichaftsverfaffung denkt? 
Auch bier wird die Hoffnung ausgejprochen, daß ſich auf Folcher 
Grundlage eine ausgejuchte Art Weſen zu einer höheren Aufgabe, 
überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben vermöge, als die 
bisherige Menſchheit, „vergleichbar jenen jonnenfüchtigen Kletter— 
pflanzen auf Java, welche mit ihren Armen einen Eichbaum jo 
lange und jo oft umflammern, bis fie endlich hoch über ihm, aber 
auf ihn geftügt, in freiem Lichte ihre Krone entfalten und ihr 
Glück zur Schau tragen können.” 


!) Barerga und PBaralipomena II, 275. 
2) A. a. O. ©. 86. 


II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 455 


Allen was können ſolche Spekulationen über den „Menſchen 
der Zukunft“ für die Soziallehre bedeuten? Man mag fich mit 
dem Philojophen des Ariftofratismus an der Vorſtellung beraufchen, 
was alles noch unter befonders günftigen VBerhältniffen aus dem 
Menjchen zu züchten wäre, wie der Menjch noch unausgejchöpft für 
die größten Möglichkeiten ift, ſoviel ift gewiß, daß eine Sozialtheorie, 
deren Verwirklichung eine derartige Erhöhung des Typus Menjch 
bedingt, auf unabjehbare Zeit eine utopifche bleibt. Damit ift auch 
die Frage der Ausführbarfeit des platoniſchen Staates entjchieden! 
Denn Plato ſelbſt hat, wie wir jehen werden, in einer fpäteren Phaſe 
jeines Joztalpolitischen Denkens zugeben müſſen, daß ſein Negierungs- 
ideal nicht vealifierbar ift ohne das, was man eben den „Über: 
menschen“ nennen könnte. Er ift zuleßt ſelbſt zu der Erkenntnis 
gelangt, daß die vorgejchlagene foziale Drganifationsform — ins— 
bejondere der ideale Kommunismus — Menfchen vorausfegen würde, 
die auf einem unendlich viel höheren Niveau der Sittlichfeit und 
Spntelligenz ſtehen müßten, als es für die gegenwärtige Menschheit 
erreichbar jei: e8 müßten ſozuſagen Götter und Götterjöhne fein. !) 

Die Gewalt jelbit, welche den Negenten des Vernunftitaates 
eingeräumt wird, ftellt die menjchliche Natur auf eine Probe, der 
fie, wie Plato ebenfalls fpäter zugibt, auf die Dauer nicht gewachfen 
wäre. Eine jo jchranfenlojfe Macht exrträgt eben der Menſch nicht. 
Sie wird in jeiner Hand zuleßt immer zum Werkzeug der Selbft- 
jucht werden.?2) Daher ift es eine Lebensbedingung des wirklichen 
Staates, daß jede Gewalt in ihm mit Schußvorrichtungen gegen 
ihren Mißbrauch umgeben werde, daß — um mit I. Stuart Mill 
zu reden — in feiner Verfaſſung ein Zentrum des Widerſtandes gegen 
die vorherrichende Gewalt enthalten jet. Und wie ein Gegengewicht 
ihrer Macht, jo erfordert die Menjchlichkeit und Gebrechlichkeit ſelbſt 
der beiten Negierung eine bejtändige Ergänzung, wie fie eben nur 
die jelbjtthätige Beteiligung der Bürger an der Bildung des Staats- 


1) Leg. 740a j. jpäter. 
) Leg. 875b f. fpäter. 


456 Erſtes Buch. Hellas. 


willens zu gewähren vermag, vorausgeleßt, daß der Stand der all- 
gemeinen Kultur eine ſolche Mitwirkung geftattet. 

Ja gerade im Interefje der Soztalveform Liegt eine möglichit 
allgemeine Heranziehung des Volkes. Denn die Gejchichte aller 
Ariſtokratien, auch der beiten, läßt nur zu deutlich erkennen, dab 
— ſo, wie die menschliche Natur nun einmal it, — ohne den An— 
trieb der Maſſe des Volkes eine allfeitig Durchgreifende, dem Klaſſen— 
egoismus und Klaſſenvorurteil rückſichtslos entgegentretende Reform— 
politik, ein poſitives Wirken für das „Volk“, wie es ja gerade der 
Sozialſtaat Platos will, auf die Dauer kaum denkbar iſt. 

Wenn alſo Plato glaubt, daß eine allmächtige Staatsgewalt 
in einem „wahrhaft freien” Staate denkbar ſei und daß eine ſolche 
Negierung jo ſehr den idealiten Anforderungen zu genügen vermöge, 
daß ihre Herrſchaft verftändiger Weile von Niemand als drücender 
Zwang empfunden werben könne, jondern al3 die beſte Vertretung 
der Intereſſen Aller die freie Zuſtimmung aller Klaffen finden würde, 
jo ift diefer Gedanke eine reine Utopie. So richtig Plato das Endziel 
aller Politik erfaßt hat, wenn er das Ideal einer Regierung in der 
freiwilligen Unterordnung der Negierten, in der harmonischen Aus— 
gleichung zwijchen der Idee der Freiheit und der Notwendigkeit 
ftaatlihen Zwanges exrblidt, — in den Mitten zur Erreichung 
diefes Zieles hat ex vollfommen fehlgegriffen. 

Diefe Mittel — vor allem die Züchtung einer Ariftofratie 
von Halbgöttern, zu der ein politifch durchaus unmiündiges Volk 
nur mit ſcheuer Ehrfurcht umd Bewunderung emporzublieen ver 
möchte, — ftehen übrigens auch in einem unverföhnlichen Gegenfaß zu 
dem Ergebnis, welches die Gejchichte der Kulturmenjchheit wenig: 
ſtens bisher gegeitigt hat. Wie durch den bisherigen Verlauf der 
Kulturgeschichte eine früher ungeahnte Berallgemeinerung der Güter 
der Zivilifatton herbeigeführt, der Kreis der an den Errungen- 
ſchaften der Kultur teilnehmenden Volkselemente ftetig erweitert 
worden ift, jo haben die Maſſen auch) mehr Nechte und größeren 
Einfluß auf das jtaatliche Leben erlangt. Und daß troß der gleich: 
zeitigen unleugbaren Bertiefung der Kluft zwiſchen der Lebens: 


III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 457 


haltung des Proletariers und der höheren Stände die genannte 
Tendenz auch in Zukunft mächtig fortwirfen wird, das kann für 
den nicht zweifelhaft fein, der fich die Entwiclung der Menschheit 
von der Völkerknechtung vrientalifcher Deipotien bis zur Epoche 
der Koalitionsfreiheit und des allgemeinen Stimmrechts vergegen- 
wärtigt. Auch wenn man das Wirkliche in der Gejchichte Feines- 
wegs zugleich als das Bernünftige anertennt und bereitwillig zu— 
gibt, daß fich abjolute Urteile über das ſoziale Seinfollen aus 
der Empirie nicht gewinnen laſſen, wird man doch kaum geneigt 
jein anzunehmen, daß dieſe ganze Entwicdlung nur ein einziger 
großer Irrtum der Gejchichte jei.!) 

Daher kann der Grundjaß: „Nichts dureh das Volk, wenn 
auch alles für das Wolf” immer nur zeitweilige Anwendung finden; 
nur Übergangszuftände können es rechtfertigen, den Staat zu einem 
bloßen VBerwaltungsorganismus zu machen, wie dies Plato beab- 
ſichtigt. Je mehr der Fortichritt und die Verallgemeinerung der 
Kultur die perfönliche Entwicklung des Einzelnen fördert und da— 
mit das ganze geiftige und moralische Niveau breiterer Volksſchichten 
jteigert, um jo intenfiver und allgemeiner macht ſich auch das Be— 
dürfnis geltend, nicht bloß Gegenſtand obrigkeitlicher Fürſorge und 
Bevormundung zu fein, jondern duch einen freien Akt der Selbjt- 
beftimmung an der Entjcheivung über die eigenen Geſchicke mit- 
beteiligt zu werden. Erſt das Necht ſolcher Mitentjcheidung, welches 
wenigjtens einen Antrieb enthält, den Einzelnen über den engen 
und beengenden Kreis jeines individuellen Dafeins zu erheben, er— 
möglicht die volle Entfaltung perjönlicher Kraft und perjönlicher 
Würde, welche gerade vom Standpunkt des Staates aus einer mög- 
lihjt großen Anzahl jeiner Bürger zu wünjchen ift. 

) Bol. die jchöne teilweije allerdings zu optimiftiiche Ausführung von 
Lange über den „Kampf um die bevorzugte Stellung” in dem Buche über 
die Arbeiterfrage (2) ©. 55 ff. Er bezweifelt mit Recht, daß das Gejeb der 
„natürlichen Züchtung“ (dev natural selection) je dahin wirken werde, den 
bevorzugten Klaſſen ein jo ftetig wachjendes Übergewicht zu geben, dab da= 
durch eine völlige Spaltung in eine höhere und niedere Nafje als Reſultat 
der Differenzierung hervortreten müßte. 


458 Grites Buch. Hellas. 


Wenn der platoniiche Staat — um mit Stahl zu reden!) 
— die innere Harmonie, die er erjtrebt, mur dadurch herftellen 
fann, daß er zugleich als ein Neich der Freiheit befteht, wenn „die 
Schönheit ſeines Baues nicht bloß wie die Natur da ift, fondern 
von Wollenden, für fie Begeifterten in jedem Augenblicke gleichſam 
aufs Neue geichaffen wird“,2) — fo erjcheint feine Verwirklichung 
von dem genannten Gefichtspunfkte aus von vorneherein unmöglich. 

Wenn dies Plato verfennt, jo liegt das an den falſchen Schluß: 
folgerungen, die er aus der Auffaffung des Staates als eines Dr: 
ganismus gezogen hat. So fruchtbar fich die Barallele in Einer 
Hinficht erwieſen bat, der Glaube, daß ſich in einer einigermaßen 
entwickelten Gejellichaft ein ähnliches Smeinandergreifen und Zus 
ſammenwachſen der Individuen zu einem abjolut einheitlichen, von 
Einem Zentrum aus vegulierten Ganzen erreichen lafje, wie im natür- 
lichen Organismus, beruht nichts dejtoweniger auf einer Sllufion. Ex 
verfennt die fundamentalen Unterſchiede in den Entwicklungsprin— 
zipien der gejellichaftlichen Gebilde einerjeits und der phyſiſchen 
Drganismen andererfeits. 

Indem Plato die Vollendung des Staates darin erblickt, daß 
in ihm alles Leben und alle Bewegung ebenjo von einem Zentral 
organ ausgeht, wie im Drganismus, jet er ſich in Widerſpruch 
zu der Thatfache, daß das, was im Naturleben den Höhepunkt 
der Entwiclung darftellt, auf jozialem Gebiete gerade der roheſten 
und primitivften Stufe eigen ift. Die geformte organische Sub» 
tanz iſt in ihrer niederjten Erſcheinungsform, wie allerdings Blato 
noch nicht ahnen konnte, ein Klumpen Brotoplasma, das in feinen 
Teilen in feiner Weife differenziert ift und deſſen Leben ausjchließ- 
ih in dieſen Teilen, nicht in einem einheitlichen Lebenszentrum 
beruht. Je höher entwicelt und leiftungsfäbiger dagegen der phy— 
ſiſche Organismus ift, je mehr er ſich aus differenzierten, durch die 
Verrichtung verſchiedener Funktionen ſich gegenjeitig ergänzenden Or— 

VEN 

?) Stahl ebd. 





III. 2. 5. Zur geichichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 459 


ganen zuſammenſetzt, umſomehr entwicelt Fich ein Teil, der allein der 
Sit der Empfindung, das Zentrum des Lebens des Ganzen ift. 
— Durchaus verſchieden geitaltet fich der Verlauf bei den ſozialen 
Gebilden. Se mehr fich hier bei der fortjchreitenden Arbeitsteilung 
die einzelnen Teile differenzieren, umſomehr ftrebt bier auch Die 
befondere Individualität derjelben zur jelbjtändigen Geltung zu 
fommen, deſto mehr tritt die Tendenz hervor, den Einfluß, den das 
Ganze durch Autorität und Herkommen auf das Einzelleben aus: 
übt, abzujchwächen. Während dort das Endergebnis eine immer 
jtärfere Konzentration alles Lebens in Einem Drgan iſt, iſt es bier 
eine mehr oder minder weitgehende Berjelbjtändigung der einzelnen 
Teile!) Und ganz folgerichtig ftellt fi daher auf der Höhe der 
Entwicklung die Forderung ein, daß es eine Sphäre des Indivi— 
duums geben müſſe, die nur ihm eignet, einen Kreis geiftiger und 
jittliher Bethätigung, vor welchen der Staat mit jeinem Zwange 
Halt macht, Die er anerkennt und jchüßt, aber nicht mehr inhalt 
lich beſtimmt. Eine Forderung, die feine „naturrechtliche”, ſondern 
recht eigentlich ein Erzeugnis der Kultur und des Kulturftaates ift. 

Nun ſetzt ſich ja allerdings die platoniſche Anſchauungsweiſe 
mit ihrer Predigt von der Rückkehr zur Natur und zum Natur— 
recht in einen gewiſſen Gegenfaß zu den Fortichritten der Kultur, 
deren Nejultat dieſes Verhältnis zwijchen Staat und Individuum 
it. Im „Naturzuftand” zeigen die jozialen Gebilde in der That 
die Organifation, welche Plato exjtrebt. Der fommuniftiiche So: 
ztalverband der Urzeit hat ein einheitliches Zentrum, von dem alles 
Leben ausgeht, das mit unumſchränkter Autorität das Ganze be 
herricht. Allein wie kann dann noch von einer Geftaltung des 
„beiten” Staates nach der Analogie des phyfiichen Drganismus 
die Nede fein, wenn eben das, was auf dem Gebiete der organischen 
Natur fich als ein Fortichritt erweiſt, auf jozialem Gebiete nur als 
ein gewaltiger Nücjchritt denkbar it? 

’) Vgl. die jchöne Darlegung dieſes Prozefjes bei Brentano: Die Volks— 
wirtjchaft und ihre konkreten Grundbedingungen. Zeitſchr. für Sozial: u. 
Wirtſchaftsgeſch. L, 98. 


460 Grites Buch. Hellas. 


Auch ergäbe ſich ja bei Jolcher Rückkehr zu der primitiven 
Drganijationsform der jozialen Gebilde ſofort ein neuer Wider: 
ſpruch!  Diejelben haben nämlich auf diefer Stufe mit den untersten 
Entwiclungsphalen phylischer Organismen das gemein, daß fie in 
ihren Teilen in feiner Weiſe differenziert find, daß — abgejehen 
von der Arbeitsteilung zwilchen Mann und Weib — alle ihre 
Glieder genau diefelben Funktionen verrichten. Die bejondere wirt 
Ichaftliche, rechtliche, moraliſche Individualität der einzelnen Teile 
des jozialen Ganzen eriftiert auf einer jo niedrigen Stufe des wirt- 
Ihaftlichen und gejellfehaftlichen Lebens noch nicht.) Allein gerade 
in diefem Punkt, in dem fich die Entwiclungsgejchichte der ſozialen 
Drganismen wirklich mit der der phyſiſchen nahe berührt, verjagt 
bei dem platoniichen Staat die Analogie durchaus. Diefer Staat 
jeßt ja gerade die möglichite Vervollkommnung der Arbeitsteilung 
und die ſtärkſte Differenzierung feiner Glieder voraus. Die recht- 
liche, geiftige und moralifche Individualität von Einzelnen, wie 
von ganzen Klafjen erjcheint in hohem Grade entwidelt. Es ſoll 
jich hier alfo mit der niederjten Organifationsform der jozialen 
Gebilde, der denkbar ſtärkſten Konzentration, dasjenige vereinigen, 
was beim phyfiichen, wie beim fozialen Organismus am Ende der 
Entwiclung fteht: die möglichite Differenzierung der Teile.. Daß 
diefe Verfnüpfung von Anfang und Ende einen verhängnisvollen 
Wiverjpruch enthalten würde, daß im jozialen Drganismus die 
Differenzierung gerade eine mächtige Tendenz in entgegengejeßter 
Richtung in Sich chließt, die Individuen mit einem unwiderſteh— 
lihen Drang nach jelbjtändiger Bewegung und jelbjtändiger Be 
thätigung erfüllt, das bleibt bei Plato vollfommen unbeachtet. 

Yun bat ja allerdings auf einzelnen Gebieten gerade der 
Fortſchritt der Kulturentwidlung zu der genannten Kombination 
von äußerſter Differenzierung und ftrengfter Konzentration geführt. 
Infolge der Errungenschaften der induftriellen Erfindſamkeit hat fich 
auf volkswirtichaftlichem Gebiete eine Technik der Menjchenzufanmen- 


') Vgl. Brentano a. a. 9. ©. 99. 








III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. A461 


fafjung herausgebildet, welche große Maſſen von Individuen zu 
bloßen Triebrädern im Gefüge eines Me einheitlichen, von Einem 
Zentrum aus vegulierten Organismus gemacht hat. Allein einer: 
ſeits gravitiert doch der technische Fortſchritt glüclicherweife nicht 
ausſchließlich nach dieſer Nichtung Hi, da die Kultur auch wieder 
neue Mittel für die individuelle Thätigkeit Tchafft und vielfach ge 
trade das Individuum zu großen, früher der Gejamtheit vorbehal- 
tenen Zeiftungen befähigt, andererjeits ijt es nur zu befannt, welche 
Disharmonien in das moderne Kulturleben gerade Durch jene den 
indivioualiftiichen Grundtendenzen desjelben jo ſchroff wiederſprechende 
Konzentration — worden ſind: Diſſonanzen, die recht 
deutlich beweiſen, daß eine Verallgemeinerung des zentraliſtiſchen 
Organiſationsprinzips eben in den innerſten ſeeliſchen Triebkräften, 
in den Bedürfniſſen und Anſchauungen des Kulturmenſchen eine 
unüberwindliche Schranke finden würde, daß ſie jedenfalls nichts 
weniger als die ſoziale Harmonie und den ſozialen Frieden zu 
ſchaffen vermöchte. 

Was uns die thatſächliche Entwicklung der Kultur und des 
Völkerlebens lehrt, enthält nun aber noch einen weiteren Wider— 
ſpruch gegen die Normen, nach denen ſich die Rechtsordnung des 
Vernunftſtaates geſtalten ſoll. Wir ſahen, daß es neben der Idee 
einer machtvollen Vertretung des Staatsgedankens und des Sozial— 
prinzips ganz beſonders die Idee der Arbeitsteilung iſt, aus welcher 
Plato die Notwendigkeit einer unbedingten Trennung aller poli— 
tiſchen und aller wirtſchaftlichen Thätigkeit gefolgert hat. Auch 
dieſe Folgerung beruht auf der Überſpannung eines an ſich ja 
durchaus berechtigten Grundgedankens. 

So ſehr bei fortſchreitender Kultur mit der zunehmenden 
Kompliziertheit der Verhältniſſe im ſtaatlichen Leben diejenigen Auf— 
gaben das Übergewicht erhalten, bei denen die techniſche Kenntnis 
der Sache entſcheidet und nicht die Volksüberzeugung, ſo ſehr man 
alſo gerade mit Plato von den politiſchen Einrichtungen eine Bürg— 
ſchaft dafür verlangen muß, daß in allen ſolchen Fragen in Regie— 
rung und Verwaltung nur Sachverftändige die letzte Entſcheidung 


462 Erſtes Buch. Hellas. 


fällen, nicht minder bedeutſam tritt Doch gerade auf der Höhe der 
Kultur das Bedürfnis und das Streben hervor, den für die Volfs- 
wohlfahrt gefährlichen Konſequenzen einer übermäßigen Arbeits— 
teilung entgegenzutreten. Und dieſes Streben bricht ſich Bahn 
jelbjt auf die Gefahr hin, daß Fortſchritte der Arbeitsteilung wieder 
rückgängig gemacht werden müſſen. 

Während 3. B. Plato um des Brinzipes der Arbeitsteilung 
willen die vein berufsmäßige DOrganifation der Wehrverfaſſung vor- 
Ihlägt, hat dagegen die Neuzeit den entſchiedenſten Rückſchritt in 
der Arbeitsteilung gemacht, indem fie zu dem Prinzip der allge 
meinen Wehrpflicht zurückkehrte, in der Erkenntnis ſowohl ihrer 
militärischen Bedeutung, wie ihres Wertes für die Erhaltung der 
phyfischen und moralischen Gejundbeit des Volkes. — Plato ver- 
langt im Intereſſe der Arbeitsteilung die ausschließliche politifche 
Herrſchaft der Sachkenntnis, die Neuzeit ſetzt neben die Minifter 
umd ihre Näte d. h. neben die Techniker und Fachleute ein Ab— 
georonetenhaus, d. h. zum großen Teile Laien. Blato will, daß 
der Schujter nichts als Schufter, der Landwirt nur Landwirt und 
nicht auch Nichter ſei u. ſ. w., die Neuzeit jebt auf allen Gebieten 
durch die Ausdehnung der lofalen Selbitverwaltung und der Ge— 
Ihworenenjuftiz, durch unbezahlte Ehrenämter, durch Einführung von 
Vertretungen neben den Beamten in Gemeinde und Staat die 
Laien neben die Techniker. Und fie begeht alle dieſe Sünden gegen 
die Arbeitsteilung, weil die Teilnahme am öffentlichen Leben ein 
Gegengewicht gegen die fittliche und geiftige Verfümmerung von In— 
dividuen und Klafjen bildet, weil fie im Intereſſe einer alljeitigeven 
Erziehung der Nation und eines größeren Gleichgewichtes der Kräfte 
unentbehrlich ift.!) 

Das hat bereits der größte Gefchichtichreiber der Antike Elar 
ausgejprochen, indem er es feinen Perikles als einen Nuhmestitel 
des damaligen Athens verkünden läßt, daß bier ein und dieſelben 





') Bgl. die schöne Ausführung Schmollers: Grundfragen ©. 127. 
Dazu „Uber das Weſen der Arbeitsteilung a. a. O. ©. 65. 


II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 463 


Männer die Verwaltung öffentlicher Ämter mit privatwirtjchaftlicher 
Thätigkeit vereinigten und auch das arbeitende Volk ein binläng- 
liches DVerftändnis für öffentliche Dinge befiße.!) Allerdings wird 
hier das Bejtehende von dem Redner der Demokratie idealifiert und 
in ftarfer Überfhägung der Negierungsfähigfeit und der politifchen 
Bildung der Mafjenmehrheit die Autonomie der Gejellichaft ebenfo 
einjeitig verherrlicht, wie die philoſophiſchen Gegner der Demokratie 
das entgegengejeßte Prinzip überjpannt haben, allein die Ueber: 
treibung thut der allgemeinen dee, die der perikleischen Auffafjung 
zu grunde liegt, feinen Abbruch. Dem in der menjchlichen Natur 
jelbjt liegenden Bildungstriebe, wie den Lebensbedingungen des 
Kulturjtaates wiverjpricht es in gleicher Weije, wenn das Denken 
und Fühlen des Einzelnen durch die einjeitige Thätigkeit in feinem 
befonderen Lebensberuf vollkommen abjorbiert und jo mehr oder 
minder unempfänglich wird für alles, was jenjeitS der eigenen 
Lebens und Intereſſenſphäre liegt. Die Bildungsgegenfäße, die 
dadurch entjtehen, enthalten womöglich eine noch ſchlimmere joziale 
Gefahr, als die Gegenſätze des Beliges. Sie durch möglichite 
Hebung der Intelligenz und politiichen Bildung der unteren Klaffen zu 
mildern, ift eine Hauptaufgabe aller fozialen Neform. — 

Zu der rücjichtslofen Konſequenz, mit der Plato bei der Dr: 
ganijation der Staatsgewalt den Grundjaß der Arbeitsteilung zur 
Geltung bringt, fteht in eigentümlichem Widerſpruch das indivi- 
duelle Lebensiveal, welches er für diejenigen aufitellt, denen ex 
die StaatSgewalt anvertraut wiſſen will. Diejes Ideal des voll- 
fommen barmonijch ausgebildeten, körperlich und geiltig vollendeten 
Menjchen, das der philojophiiche Staatsmann Platos in feiner 
Perſon verwirklicht, beruht auf einer Verfennung der Schranken, 
in welche eben die Notwendigkeit der Arbeitsteilung das ſchwache 
und Furzlebige Menjchenwefen gebannt hält. indem Plato in dem 
Ideal jeines Staatsmannes die intenfivfte Kraft Tpefulativen Denkens 
eines IT, 40: Erı Te rois avrois oixeiov Gun zei nokırızov 
eriudheın zei Er£ooıs 005 Eoya Tergauusvors ta nolrxd wi) Evdews 


yrovat. 


464 Erites Buch. Hellas. 


mit der Fülle des Fachwiſſens und praktiſcher Erfahrung vereinigt 
denkt, häuft er auf Eine Perſon, was durch ſpezialiſierte Ausbil- 
dung der Kräfte in jehr verjchiedenartigen Lebensberufen als das 
Höchfte erreicht werden fan. In der Perſon des philojophijchen 
Staatsmannes joll das Unmögliche möglich werden, in ihr ich 
eine Summierung von Kräften verkörpern, die nur in unjeren Ge: 
danken vollziehbar iſt. Dazu die piychologijche Unmwahrjcheinlichkeit, 
daß ſich in denſelben Berjönlichfeiten öfters gerade die entgegen- 
gefeßteften Gaben vereinigen werven: Das Talent zur augenblid: 
lichen und doch zugleich volljtändigen Würdigung der Gegenwart, 
zum ununterbrochenen „PBulsfühlen der Zeit”, das den Staatsmann 
macht, und das jo wejentlich verjchiedene Talent der rein abjtraften 
Spekulation!) 

Yun iſt freilich die Inkonſequenz, der wir bier bei dem 
eifrigen Berteidiger der Arbeitsteilung begegnen, pſychologiſch voll: 
kommen begreiflich! Plato mußte dieſe Inkonſequenz begehen, wenn 
er nicht von vorneherein auf die Verwirklichung feines Staatsiveals 
verzichten wollte. Soll die Intelligenz und Leiftungsfähigfeit einer 
Regierung all das aufwiegen, was Willen und Urteilsfraft aller 
Übrigen etwa zur Löſung ihrer Aufgaben beitragen könnte, dann 
muß man in der That von dem Einen oder den Wenigen, welche 
dieſe Negierung darftellen, nichts geringeres verlangen, als daß fie 
das Unmögliche möglich machen. 

Man fieht, wie auf den abjtraften Höhen der begriffsmäßigen 
Konftruftion, die alles auf möglichſt einfache Prinzipien zurüdführen 
‚will, jelbft bei einem ſonſt durch Scharfe und feinſinnige Beobachtung 
des Menfchenlebens und feiner Schwächen ausgezeichneten Denker 
das Gefühl für die Unvollfommenheit alles Irdiſchen völlig verloren 
gehen kann. Die der Wirklichkeit gegenüber jo oft befundete Schärfe 
des Urteils verjagt dev Möglichkeit gegenüber gänzlich) und macht 





1) Vol. die von Nofcher (Grundlagen der Nationalöfonomie $ 25) 
hervorgehobene Ihatjache, daß gerade die genialften Staatsmänner — tie 
Pitt von jich äußerte — weit mehr inftinftmäßig ihren Weg zu fühlen, als 
ihn mit einer Klarheit, die ihn für andere bejchreiben könnte, zu ſehen pflegen. 








IIT. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 465 


der reinen Phantaſtik Platz. Wenn aber das Negenteniveal Blatos 
em Phantom ift, wenn es nie ein Negierungsiyften geben wird, 
deſſen leitenden Mittelpunkt eine „alles umfaſſende“ Vernunft bildet, !) 
dann iſt auch das gefamte harmonische Lebensbild des Idealſtaates 
eine Utopie. Wenn niemals eine Negierung im Stande jein wird, 
den ganzen unendlich Fomplizierten Organismus der Gejellfchaft von 
Einer Stelle aus jo zu leiten, daß innerhalb desjelben jedes einzelne 
Glied völlig zu ſeinem Nechte kommt, daß mit dem Intereſſe ver 
Geſammtheit zugleich jedes berechtigte Intereſſe und Bedürfnis der 
Einzelnen befriedigt wird, dann ijt auch das ideale Verhältnis 
zwilchen Negierenden und Negierten, wie es Plato durch die wahre 
Staatsfunft verwirklicht denkt, eine Illuſion. Die zahlreichen Sn: 
dividuen, welche ſich durch die rechtlich allmächtige, aber gegenüber 
der Größe der ihr gejtellten Aufgabe ewig unzulängliche und irrtums— 
fühige Negierung verhindert jehen würden, ihre Individualität fo 
zur Geltung zu bringen, ſich jo zu entwiceln und auszuleben, wie 
fie es nach ihren perjünlichen Anlagen und Kräften beanjpruchen 
fönnten, alle die, welche bei der Unmöglichkeit der freien Berufs— 
wahl durch ſolche DVerkennung gewaltfam in eine faljche Berufs— 
und Lebensrichtung bineingezwungen würden, fie wären ebenfoviele 
beredte Zeugen gegen ven Anfpruch des platonischen Staates, ein 
eich vollfommener Gerechtigkeit, wahrer Freiheit und Gleichheit zu 
jein. In dem Momente, wo man mit der Verwirklichung dieſes 
Staates Ernſt machen wollte, würden auch die Kräfte wirkſam 
werden, welche jeine beiten Intentionen in ihr Gegenteil verkehren 
würden, fein Gerechtigkeitsiveal in drückend empfundene Ungerechtig- 
feit, jein Freiheits- und Gleichheitsprinzip in Zwang und Ver— 
gewaltigung. Statt eines lebendigen Organismus, der er nach der 
Abficht jeines Urhebers fein follte, hätten wir das jeelenloje Räder— 
werf einer Majchine vor uns. Das politiche Gebilde, welches als 


!) Der voös, der Erri av 00% zei BAEreı, wie es Leg. 875d von 
der Einficht des wahren Staatzmanns heißt. Vgl. Hoi. 301d4: EHeAsır zei 
dvvarov eivar us dosıms zul Emiormjuns deyorra TE dixuue zai bci 
diar£usıv 00905 nıaoıv. 


Pohlmann, Geſch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus. TI. 30 


466 Erſtes Buch. Hellas. 


bloßes Mufterbild im Lichte idealer Verklärung ftrahlt, würde — in 
den Staub des Irdiſchen herabgezogen — in der That zu jenem 
Zerrbilde werden, welches die moderne Kritif aus dem platonijchen 
Staat gemacht hat, indem fie ihn nicht darnach beurteilte, wie ev im 
Geiſte feines Schöpfers lebte, jondern nach der Mißgejtalt, welche 
ihm das wirkliche Leben geben wiirde. 

Übrigens ift nicht bloß die Negierung, die alles fieht und 
alles kann, das Erzeugnis eines ideologiſchen Dogmatismus, jondern 
auch das Verhalten, welches Wlato ihr gegenüber von dem Re— 
gierten erwartet. Welche Verkennung der Menjchennatur, zu glauben, 
daß, wenn nur der wahre Herricher in der Welt erjchiene, alle 
Herzen ihm zufliegen würden,!) daß in diefem Falle die indivi- 
duellen Ideen des Einzelnen über das Gerechte hinreichen würden, 
die Gemüter zu diefen Idealvorſtellungen zu befehren und uralte 
Inſtitutionen durch Gebilde der abftraften Vernunft zu erſetzen, 
troß der dabei unvermeidlichen Verlegung zahllojfer berechtigter In— 
tereſſen und tiefgewurzelter Anſchauungen und Lebensgewohnheiten, 
an denen nun einmal die ungeheure Mehrheit mit Leidenschaft zu 
hängen pflegt! Als ob die alten Menjchen von heute unter vers 
änderten Lebensbedingungen notwendig auch neue Menjchen werden 
müßten! E3 ift verjelbe vulgäre Fehler, der bei den meiſten Uto— 
piften wiederkehrt, daß fie den Menjchen nach dem beurteilen, was 
fie jelbft in gleicher Lage empfinden und thun würden. 

Allerdings hofft Plato einen Wandel in den Motiven menſch— 
lichen Handelns gleichzeitig von der überzeugenden Macht der Belehrung, 
welche von den philoſophiſchen Begründern des neuen Gemein— 
wejens ausgehen ſoll. Allein auch dieſe Hoffnung it eine rein 
utopifche. Sie beruht auf der Theorie von dem wohlverjtandenen 
Intereſſe des Individuums, ſowie auf der platoniſchen Überſchätzung 
von Erziehung und Belehrung, die zu den Atavismen aus der Auf- 
flärungsepoche, aus der Sophiftenzeit gehört, ein Erbe, an dem das 
platonische Denken reicher ift, als man ſich gewöhnlich vergegenwärtigt. 


1) IIoA. 301d. 





IT. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politera Platos. 467 


Zwar hat fich gerade die Lehre vom wohlverjtandenen In— 
terefje bis auf den heutigen Tag behauptet, von den ja auch der 
Aufklärung entiprungenen Katechismen der franzöfiichen Nevolution 
durch die Schule Benthams hindurch bis zu dem Syftem des ge 
jellfehaftlichen Utilitarismus, welches in Iherings „Zweck im Necht“ 
zur Darjtellung kommt. Wie für Plato beruht auch für Fhering 
die politifche Bildung des Individuums wejentlich auf dem „richtigen 
Berftändnis der eigenen Intereſſen“, ſowie auf ver Erkenntnis, daß 
„das eigene Wohlergehen bedingt it Durch das des Ganzen, und daß 
man, indem man leßteres fördert, zugleich fein eigenes Intereſſe 
fördert”, daß „die gemeinjamen Intereſſen zugleich die des Einzelnen 
ſind.“) — Mlein man wird troß diefer bedeutſamen Nachfolge nicht 
jagen fünnen, daß es gelungen ift, die Einwände gegen die theoretifche 
Nichtigkeit und praftiiche Anwendbarkeit der Lehre zum Schweigen 
zu bringen. Wer das Verhältnis zwiichen Individuum und Staat 
auf eine jo einfache Formel zurüctühren zu können glaubt, wird 
vor allem die Schwierigkeit, den Einzelnen für den Staat zu ge 
winnen und zum joztalen Handeln zu erziehen, jehr leicht unter- 
Ihäßen. Dies zeigt Sich Schon bei Plato. Er gibt ſich der Täufchung 
bin, daß die einfache und klare Formel, in der er ſelbſt die Löſung 
der Disharmonie zwiſchen individuellem und ftaatlichem Wollen ge- 
funden zu haben glaubt, auch für alle Anderen oder wenigitens die 
Mehrzahl faßbar und für ihr Handeln beftimmend jein werde. 
Als ob es jo leicht wäre, jein eigenes Beſtes oder gar das der 
Geſamtheit zu erkennen! Als ob fich überhaupt ein Standpunkt 
objeftiver Beurteilung finden ließe für das, was der Wohlfahrt des 
Einzelnen, dem „wohlverftandenen” Intereſſe entjpricht! 

Wenn es aber feinen folchen abjoluten Maßſtab gibt, wie 
ift da zu erwarten, daß fich der Einzelne bei der Entjceheidung 
einer idealphilojophiichen Ethik beruhigen werde, die fein wahres 
Intereſſe beifer zu verjtehen behauptet, als er ſelbſt? Wie läßt fich 
') ©. diefen Cab don der Koinzidenz des öffentlichen und privaten 
Intereſſes, der unmittelbar aus Plato entnommen fein könnte a. a. ©. I, 549, 


52 
2 


dazu 553. 
30* 


A468 Grites Buch. Hellas. 


z. B. der Sab von der Koinzivenz des Glückes und der Sittlichkeit, 
welcher die Hauptgrundlage der platonischen Sozialphilojophie bildet, 
für das individuelle Bewußtjein beweilen? Der berechnende Egois— 
mus des Klugen und Starken wird immer Mittel Fennen oder zu 
fennen glauben, welche ihn eine unfittliche Ausbeutung Anderer ge 
ftatten, ohne daß fein individuelles Glüdsgefühl darunter leidet 
oder gar dem Gefühl des Elends Bla macht. Schon Viele haben 
in ſolchem Glück ein hohes Alter erreicht, ohne daß es ihnen irgend: 
wie zum Bemwußtjein gefommen wäre, daß der Gejamtertrag ihres 
Lebens an Glück duch ein wahrhaft fittliches und joziales Verhalten 
wejentlich gefteigert worden wäre. Wer will ihnen beweifen, daß 
fie ihr Spntereffe nicht wohl verftänden? Wer will dem Egoiften, 
der die beglüdende Rückwirkung der Mitfreude und der Opfer: 
willigfeit, der liebevollen Hingebung an die Mitmenschen und an 
die großen Intereſſen der Gejamtheit gar nicht kennt, dasjenige 
Maß von Wohlbefinden mit Erfolg abjtreiten, welches ex thatfächlich 
zu befißen behauptet? Was will ihm gegenüber eine Aufforderung 
zu angeblich Beſſerem, wenn er erklärt, ex ſei nun einmal jo be 
jeheiven, daß er fih mit dem „geringeren“ Glüdsgrad begnüge?') 
Was der Einzelne als Glück fühlt, it eben viel zu verjchiedenartig, 
als daß es durch ein abjolutes Prinzip vegulierbar wäre. Wie naiv 
it vollends der Glaube, die Menſchen ſelbſt davon überzeugen zu 
fönnen, daß Für fie ſogar der Berzicht auf das Leben das Beſte 
jei, wenn es duch unheilbare Krankheit oder Gebrechlichfeit „nutz— 
los“ geworden, daß der Staat nur zu ihrem eigenen Glück fie 
dahinfterben läßt und die Ärzte verbannt, die ihnen etwa dies nub- 
(oje Leben zu friften wagen! 

Nicht minder problematiſch ift die Hoffnung, daß die Idee 
der Intereſſenſolidarität zwiſchen Individuum und Gelellichaft je— 
mals ſo allgemein und ſo intenſiv das Handeln der Einzelnen be— 
ſtimmen werde, wie es im Vernunftſtaat der Fall ſein ſoll. So 

') Nach der einleuchtenden Bemerkung Schuppes gegen Ihering in 


Schmollers Jahrb. 1882 1122: „Ethiſche Standpunkte. Dazu Schuppes 
„Ethik“ passim. 











III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 469 


richtig es ift, daß das perfönliche Wohlergehen in hohem Grade 
von der Gelamtwohlfahrt abhängt, daß das Wohlbefinden jedes 
Einzelnen auf mancherlei Weile mit dem Wohlbefinden Aller ver 
fnüpft ift, die präftabilierte Harmonie zwiſchen individuellen und 
allgemeinem Intereſſe, zwischen dem Wohl des Einzelnen und dem 
der Gejellichaft, wie fie die platonische Sozialtheorie vorausjegt, 
iſt eine Abjtraftion, welche vor dem wirklichen Leben nicht bejtehen 
kann, obgleich auch dieſe Theorie jeitden vielfach wiederholt worden 
it.) Es ift eine Illuſion, wenn noch neuerdings Herbert Spencer 
gemeint hat, die allgemeine Tendenz der gejchichtlichen Entwicklung 
jtrebe bejtändig einem Zuftande entgegen, in welchem „beide Sn: 
terejjen, die der einzelnen Bürger und die der Gejamtheit in Eins 
verihmelzen und die den einen und den andern entiprechenden 
Gefühle zu vollfommener Übereinftimmung gelangen.“ 2) 

Wenn Blato für die Opfer, welche der Einzelne der Gemein: 
Ichaft bringt, demjelben gleichzeitig eine individuelle Lebensförderung 
duch den Staat in Ausficht jtellt, welche die in der Hingabe an 
die Gemeinschaft liegende indiviouelle Lebensopferung mehr oder 
minder aufwiegt, jo ignoriert er, daß diefe Ausgleichung doch nur 
für das abjtrafte Individuum gilt, während das Fonfrete ſehr 
wohl einen jolchen Erſatz nicht finden und ganz und gar zum Opfer 
fallen faın. Bon einer Identität des Intereſſes der Gejamtheit 
und ver Einzelnen kann eben nur injoferne die Nede fein, als man 
unter leßteren den Durchſchnitt verjteht, nicht dieſes oder jenes be- 
jtimmte Individuum. Zwiſchen diefem Einzelnen und der Geſamt— 
beit fann ſehr wohl ein jcharfer Intereſſengegenſatz entſtehen, eine 
Thatſache, die ja Plato ſelbſt unmillfürlich anerkennt, indem ex fich 
die befannten Wendungen aneignet, daß das Intereſſe des Einzelnen 





) Sch jehe Hier eine gewiſſe Ideenverwandtſchaft ſelbſt mit Ricardo, 
Adam Smith und Malthus, deren Anfichten über die präftabilierte Harmonie 
zwijchen dem Wohl des Ginzelnen und der Gejellichaft, über die Wirkſamkeit 
des „wohlverftandenen” Selbjtinterejjes faum weniger optimiftiich find, als 
die entjprechenden platontjchen. 

2) Thatjachen der Ethik. D. U. ©. 263. 


470 Erſtes Buch. Hellas. 


fih dem Ganzen unteroronen müſſe, daß die wahre Staatskunft 
nicht einjertig den Nugen des Einzelnen, ſondern das allgemeine Wohl 
im Auge habe, daß hetzteres dem erjteren vorangehen müſſe, und was 
dergleichen Hußerungen mehr find, aus denen Klar hervorgeht, daß 
die Nechnung bezüglich der Intereſſenharmonie eben doch nicht ohne 
Bruch aufgeht. 

Übrigens ift auch Platos eigenes Vertrauen auf die tiber: 
zeugende Kraft der ganzen Lehre jo wenig ein unbedingtes, daß er 
zur Stüße derjelben und „um die Bürger geneigter zu machen, für 
den Staat und für einander Sorge zu tragen“,') noch ein anderes 
und zwar ſehr bedenkliches Hilfsmittel heranziehen zu müſſen glaubt, 
nämlich „zwecmäßige Täuſchungen“, wie fie ihm die Neligion und 
der Mythus an die Hand gab.?) 

Zwar ift es an und für fich ja durchaus Fonfequent, wenn 
Plato, um von der Wahrheit feines Staatsideals zu Überzeugen, 
zulegt an den Glauben appelliert. Die oberſten Prinzipien der 
Spzialphilofophie find wie die aller Philoſophie Ariome, die als 
jolche feinen exakten wiljenfchaftlichen Beweis, jondern nur ein ſub— 
jeftives Fürwahrhalten zulaffen. Jede Anficht über den Zweck des 
Staates, über die Zwecke feiner Glieder und ihr Verhältnis zum 
Staatsganzen ift mehr oder minder Glaubensjache, worüber fich am 
wenigiten die moderne Staatswiljenichaft täufchen kann.) Und 
wenn auch Plato perfönlich überzeugt war, feinen Staatsbegriff voll: 
kommen hinreichend begründet zu haben, jo hat er doch injoferne 
inftinktiv das Nichtige gefühlt, al3 ex die Notwendigkeit anerkannte, 
denjelben nicht bloß der Maſſe, Jondern womöglich auch dem Höchit- 
jtehenden eben zugleich als einen Glaubensbegriff nahe zu bringen. 

) 415d: aA xei ToVto .... EU dv &yoı no0S To ucAAov auroug 
ts nokews te zul dAkmAwv xmdeodeaı, 

2) 414b: Tis av ovVv nuw, nv d’ €/0, unyarn yvoro tov 
vevdw@v TWv Ev dEovriı yıyvou£vwv, Wr dn viv EAEyousv, YyErvaiov 
zu Ev aevdousvovg reioaı ucdhore uEv al auroüg org doyorıes, ei de 
un, ınv aAAnv nodıy; 


) Das hat neuerdings befonders treffend hervorgehoben Dietzel: Rod: 
bertus II, 214. 


u 


III. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 471 


Allein To folgerichtig das war, nichts könnte doch die innere 
Schwäche der Grundlagen, auf denen fich das harmonische Lebens- 
bild des Idealſtaates aufbaut, klarer darthun, als gerade diefe Be- 
rufung auf die religiöje Sanftion, die ihr Urheber jelbit als eine 
„Lüge“ anerkennen muß und die er nur durch echt Tophiftiiche 
Argumentation zu rechtfertigen vermag.!) Es ift als ob Plato jelber 
empfunden babe, wie wenig das Gefühl der „Brüderlichkeit“, von 
vem die Volksgenoſſen feines Staates für einander erfüllt ſein ſollen, 
den thatjächlichen Volksinſtinkten, der niederen ebenfo, wie der 
höheren Schichten, entjpricht, wenn er es für notwendig hielt, dies 
Gefühl durch ein Märchen hevvorzurufen. 

Die Erfahrungen der Neuzeit haben wahrlich zur Genüge 
gezeigt, daß von den drei Grumdforderungen des doftrinären Demo— 
fratismus, der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Feine weniger in 
dem inftinftiven Bedürfnis des Volkes wurzelt, als die dee der 
„Brüderlichkeit“. In den aus der Kargheit der Natur ewig neu 
ſich gebärenden und zugleich für die Vervollkommnung des Menfchen- 
geſchlechtes unentbehrlichen Wettbewerb um den Lebensbedarf, in 
dent furchtbaren Kampf um das Dafein, der unaufhörlich die 
Schwachen durch Elend, Hunger, Siechtum dahinvafft, unter jolchen 
naturgegebenen Lebensbedingungen, welche den Kampf geradezu 
verewigen und immer von neuem Sieger und Beſiegte ſchaffen, ift 
die Idee der allgemeinen Berbrüderung ein Phantom. 

Allerdings glaubt Plato, diefen Kampf durch die Berwirk 
lihung jeiner radikalen Neformpläne auf den Gebiete des Eigen- 
tums= und Cherechtes, durch „Beleitigung von Armut und Reich— 
tum“, wenn nicht ganz aus der Welt zu jchaffen, jo doch feiner 
gefährlichiten Wirkungen zu entkleiven. Allein jo jehr wir die 
Energie des fittlichen Idealismus bewundern mögen, mit der Diele 
Spzialphilojophie bemüht ift, in den Kampf der Gejellichaft den 
Frieden, in ihre jelbjtlüchtige Zerfahrenheit den Gemeinfinn und die 
Harmonie hineinzutragen, nicht minder augenfällig iſt es, daß Platos 
ee bie ganz den Geift der Sophijtif atmende Ausführung über die 
Zuläffigfeit dev Täujchung und tendenziöjen Legendendichtung 382c F. 


472 Erſtes Buch. Hellas. 


praktische Vorſchläge zur Erreichung dieſes Zieles ebenjo utopiſch 
und überſpannt find, wie das Ziel ſelbſt, daß die Aufhebung von 
Eigentum, Ehe u. ſ. w. niemals jene Wandlung in dem fittlichen 
Empfinden und Handeln der Menjchen herbeiführen würden, vie 
Plato von ihnen erhofft hat. 

Auch it es eine Illuſion zu glauben, daß auf diefem oder 
irgend einem anderen Wege die Gefühle, welche in dem Familien— 
zuſammenhange wurzeln, ſich jemals auf die große politiiche Ge: 
meinjchaft übertragen laſſen würden, und dieſe dadurd auf ein 
Marimum von Zulammenschluß und Kraft gebracht werden könne. 
Die weiteften Bande find nicht immer die fefteften!!) Die ftetige 
Beziehung zu einer großen weiten Gemeinjchaft kann zwar dazu 
beitragen, den Einzelnen über einen engherzigen Egoismus empor: 
zubeben. Allein abgejehen von jenen höchſten Gebieten, auf denen 
die Energie der Arbeit in idealen Antrieben wurzelt, wird in der 
Regel das joziale Bewußtjein um jo ſchwächer, die Gleichgültigkeit 
um jo größer, je umfafjender der joziale Kreis ift, für den und in 
dem ſich der Einzelne zu bethätigen hat. Die menjchliche Natur 
und die menschlichen Verhältniſſe find eben in vieler Hinficht jo 
angelegt, daß das Individuum, wenn jeine Beziehungen eine gewille 
Größe des Umfanges überjchreiten, um jo mehr auf ich Jelbft 
zurückgewieſen wird.?) Schon Ariftoteles hat gegen den platonijcheu 
Idealſtaat den Einwand erhoben, daß ex ich ſelbſt Schwäche, indem 
er das ſtarke Intereſſe für das Eigene und Einzelne durch das un— 
aleich ſchwächere für die Gemeinschaft erjege. Je mehr etwas Vielen 
gemeinjant jet, dejto weniger Sorgen mache ſich darum der Einzelne. 
Ein platonijcher Bürger, der gleichſam taujend Söhne hätte, würde 
id nicht etwa um alle gleich viel, ſondern um alle gleich wenig 
fümmern.?) Beſſer ein wirklicher Vetter jemands zu jein, als auf 


) r de ein heißt nicht: Alle lieben, fondern: den Nächten Lieben 
wie jich ſelbſt.“ Ziegler: Soziale Frage ©. 103. 

2) Bgl. die Beobachtungen von Simmel: Über foziafe Differenzierung 
©. 61 ff. 

3) Bol. II, 1, 10. 1261b: 7xıora yao Enıuelsias Tuyyaveı 10 nkei- 


II. 2. 5. Zur gefchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 475 


platonijche Weife jein Sohn! Die Freundichaft und Liebe würde 

durch eine derartige Gemeinjchaft nur verwäſſert werden, wie ein 

wenig Süßigkeit unter viel Waſſer gegoffen wirkungslos wird. !) 
So große Fortichritte daher auch Die joziale Schulung der 


Völker in der Zukunft noch machen mag, — und wer wollte an 
der Möglichkeit ſolchen Fortichrittes verzweifeln! — jene vollfom- 


mene ımd allgemeine Gefühlsgemeinjchaft von Luft und Leid, die 
Zufammenjchmelzung alles individuellen zu Einem jozialen Leben 
it eine pſychologiſche Unmöglichkeit, — wenn auch diefer Traum 
immer wieder von neuen geträumt werden wird.?) 

Aus alledem gebt zur Genüge hervor, daß die von dem Ideal— 
ſtaat verheißene Koinzivenz des Individual- und des Sozialprinzipes, 
von Individualismus und Sozialismus eine leere Abjtraktion it 
und niemals zur Wirklichkeit werden wird. 

Solange der erbarmungsloje Mechanismus der Naturordnung 
unzähliges organiſches Leben ſchafft, das nur dazu da jcheint, um 
von anderen verbraucht und wieder vernichtet zu werden, jolange 
wird auch der Mechanismus der Gejellichaft, der bis zu einem ge 
willen Grade ja ebenfalls Naturordnung ift, unzählige Menſchen— 
leben verbrauchen, die der harte Zwang der Notwendigkeit nie zur 
vollen Entfaltung deſſen fommen läßt, was an Keimen zu einer 
höheren Entwicklung in ihnen liegt. Solange die Eriftenz einer 
zahlreichen dienenden und mehr oder minder hart arbeitenden Maſſe 
eine Naturnotwendigkeit ift, — und Plato erkennt diejelbe ja ſchon 
durch die Zulafjung der Sklaverei an, — jolange wird auch einem 
beträchtlichen Bruchteil des Volkes, vielleicht der Mehrheit, Die 


orov zxoıvov' TWOv yco ldiwv udkıore poovrilovoiv, tov de xowov nrrov, 
n 000» &xdorw Enıßahhsı zra. 

TE. 1,17. 1262. 

2) Man vgl. z. B., was ein platontichen Anjchauungen jonft jo ferne 
jtehender Schriffteller wie Herbert Spencer in Bezug auf die Vertiefung und 
Erweiterung des Mitgefühls, auf die „Umprägung und Umgeftaltung des 
Menſchen und der Gejellichaft zu gegenjeitigem Zuſammenſtimmen“ in der 


Zufunft für möglid Hält. A. a. O. ©. 263 ff. 


474 Erſtes Buch. Hellas. 


Möglichkeit einer höheren Ausbildung feiner menjchlichen Fähigkeiten 
und Anlagen fehlen. Er wird ſich in der Hauptſache damit be- 
gnügen müſſen, der Minderheit bei der Ausbildung ihrer Anlagen 
bebilflih zu jem.!) Die Bervollfommung der gejellfchaftlichen 
Drganifation, die Berallgemeinerung und Vertiefung des jozialen 
Pflichtgefühls, welches jeden Menjchen als jolchen zugleich als Selbſt— 
zwecd anerkennt, wird diefe Opfer qualitativ und quantitativ ver: 
ringern und auch die Entwiclungsfähigfeit der Maffen im Ganzen, 
wie die Möglichkeit zum Emporfommen des Einzelnen bedeutend 
ſteigern können, aber all das bat doch gewiſſe in der Natur der 
Dinge liegende Grenzen, welche menjchliche Kraft nicht zu beſei— 
tigen vermag. ES ift ein utopischer Gedanke, eine Drganijation 
des menjchlichen Arbeitslebens finden zu wollen, welche im Stande 
wäre, jedem Einzelnen die Entwicdlung feiner Anlagen und Die 
Stellung im Organismus des Staates und der Gefellichaft zu ver: 
bürgen, welche diefen Anlagen entjpricht. Selbjt die jorgfältige 
Überwachung der Jugend im platonifchen Staate würde nicht ver- 
hindern können, daß zahlreiche Talente in der Werkſtatt und hinter 
dem Pfluge unerkannt oder infolge mangelnder Verwendbarkeit uns 
entwidelt bleiben würden. 

Plato löſt die Aufgabe nicht, jondern umgeht fie, indem er 
eine Theorie von der Vererblichkeit der Anlagen und Talente auf: 
ftellt, die — wenn fie richtig wäre — das ganze Problem aller: 
dings wefentlich vereinfachen wide. Er nimmt an, daß bei allen 
Berufsftänden die Anlagen der Kinder größtenteils denen der Väter 
entjprechen: daß, wie der Sohn des Beamten und Soldaten, jo 
auch der des Bauern, des Handwerfers und Handarbeiters in den 
meilten Fällen ſchon durch die anererbte Anlage wieder zum Berufe 
des Vaters fürmlich prädeftiniert, alfo ſchon durch eine von Ge: 
burt an einfeitige Begabung zum Verzicht auf jede andere Stel 
ung gezwungen fei, als die, in welche er hineingeboren.?) Nicht 


') Das Wird man der „realiftiichen” Stantslehre zugeben müſſen. 
©. Gumplomwit: Nechtsjtaat und Sozialismus ©. 500. 
2) 415b. 





II. 2. 5. Zur gejchichtlichen Beurteilung der Politeia Platos. 475 


die Geſellſchaft iſt 8, die den Einzelnen zum unvollftändigen Men- 
chen herabdrückt, jondern er wird ſchon als jolcher geboren. 

Man braucht nur diefe naturgegebene Thatlache dadurch dem 
allgemeinen Volfsbewußtjein nahe zu bringen, daß man fte in die 
Form des Mythus Eleivet, des Märchens von der Berjchiedenartig- 
feit der Menfchenfeelen, von denen der eimen Gold, der anderen 
Silber, der anderen Erz und Eiſen beigemijcht ift,!) — und Die 
öffentliche Meinung ift für den Glauben gewonnen, daß die Stel- 
lung des Einzelnen in der Gefellichaft eine naturrechtlich begründete, 
ja daß fie das Werk des perjonifizierten VBaterlandes ſelbſt iſt, das 
jeine Kinder bei der Bildung aus feiner Erde jo verichieden be- 
dacht hat. Auf Solche Weile ift es allerdings leicht, ein Bild der 
Gejellichaft zu Eonitruieren, in welchen jich alles in Harmonie und 
Gleichgewicht befindet! Und doch! ift etwa der Irrtum des mo— 
dernen Liberalismus geringer, wenn er dasjelbe ideale Ergebnis von 
dem Syſtem der freien Konkurrenz erhoffte, von dem ja auch nichts 
Geringeres zu erwarten jein follte, als daß jeder Einzelne diejenige 
hohe oder niedere Staffel auf der ſozialen Leiter finden werde, 
welche ihm  gerechterweife — als verdient oder verjchuldet durch 
jeine Individualität — gebühre? 

So führt jeder Verfuch, die Idee eines abjolut guten Staates 
in Eonfreter Anſchauung auszuführen, immer wieder zu demjelben 
Reſultate. Ste erweiſt ſich — um mit Kant zu reden — als eine 
transjcendentale Idee, d. h. als ein Begriff, zu dem eine kongru— 
ievende Wirklichkeit in der ſinnlichen Welt nicht gegeben werden 
kann. Was wäre auch ein Staat, der alle feine Aufgaben gelöft 
hat! Er würde fich ſelbſt aufheben, weil es in ihm für menjch- 
liches Streben feinen Inhalt und fein Problem mehr gäbe. Alles 
menschliche Streben jet die Möglichkeit eines weiteren Fortichrittes 


') 415a. Cine Theorie, die allerdings nicht willfürlicher ift, als ge: 
wiſſe Hypothejen des modernen Sozialismus 3. B. von Yourier über das 
harmonische Wechjelverhältuis zwiichen der Summe der Berufsarten, welche 
die Gejellichaft bedarf, und der Summe der einzelnen VBeranlagungen, welche 
die Natur in die Gejamtheit der Menjchen legte. 


476 Erſtes Buch. Hellas. 


und der Fortſchritt die ewige Wandelbarkeit und Umbildungsfähig— 
keit aller menſchlichen Dinge voraus. Der vollkommene Staat, der 
nur als ein ſtationäres Non plus ultra gedacht werden kann, 
negiert dies alles und damit ſeine eigene Ausführbarkeit. 

Wir haben übrigens keinen Grund, auf die idealiſtiſche Sozial— 
philoſophie Platos herabzuſehen, weil fie dieſe einfachen Wahrheiten 
verkannt hat. Der Zauber des Gedankens, der hier vorliegt, iſt 
ein ſo mächtiger, daß er bis auf den heutigen Tag die Geiſter 
immer wieder gefangen genommen bat. Selbſt unſer ,„hiſtoriſches“ 

Jahrhundert hat es erlebt, daß Männer, die mitten in der moder— 
nen ſozialökonomiſchen Forſchung jtanden, in Platos Irrtum zurück 
gefallen find. 

„Ich blickte vorwärts — jagt Stuart Mil — in ein zu: 
fünftiges Zeitalter, deſſen Anſchauungen und Einrichtungen jo feſt— 
gegrümpdet auf Vernunft und die wahren Anforderungen des Lebens 
jein würden, daß fie niemals wieder gleich allen früheren und gegen: 
wärtigen religiöfen, ethiſchen und politischen Meinungen umgeftoßen 
und durch andere erſetzt werden Fünnten.“') Und ähnlich äußert 
ſich Laveleye in dem prophetijchen Ausblid am Ende feines Buches 
über das Ureigentum: „ES gibt eine Ordnung der menschlichen 
Dinge, welche die beſte iſt . . . Gott kennt fie und will fie. Der 
Mensch muß fie entdecken und einführen.” 

Daß ſolche Rückfälle in platonische Anſchauungen noch immer 

möglich ind, fteht in eigentümlichem Kontraſt zu den Wandlungen, 
welche das platonifche Denken jelbjt auf dieſem Gebiete erfahren 
hat. Eine Sinnesänderung, die Plato bekanntlich dazu führte, wenn 
ne nicht grumdjäglich, jo doch thatjächlich auf die Verwirklichung 
des abſolut guten Staates zu verzichten, jich mit dem Ideal einer 
bloß relativ beiten d. h. mit den derzeitigen Dafeinsbedingungen 
der Menjchheit vereinbaren Staats: und Gejellichaftsordnung zu 
begnügen. 


) Autobiographie ©. 166. 





III. 3.1. Der plat. Geſetzesſtaat nach }. geich. u. piychol. Borausjegungen. 477 


Dritter Abjchnitt. 
Der „zweitbejte” Staat Platos. 


1% 
Geldudtliche und pfyhologifhe Vorausfeßungen. 


Wie wir ſahen, war nad Platos Anficht eine radikale Ne- 
form von Staat und Gejelliehaft nur auf dem Wege des Abſolu— 
tismus zu erwarten. Trotz der vernichtenden Kritik, welche er 
in der Bolitie an der Tyrannis geübt, it er gleich den meiſten 
Doktrinären — man denfe nur an Rouſſeau und St. Simon, an 
Laflalle und Nodbertus! — in gewiſſem Sinne Anhänger des 
Cäſarismus, — vorausgejegt, daß fich derjelbe zum Träger jeiner 
Speale macht.) „Gebt mir einen Staat, — heißt es noch in 
jeinem legten Werfe — der von einem abjoluten Fürsten beherrſcht 
wird. Der Fürft aber ſei in jugendlichem Alter, mit gutem Ge— 
dächtnis und leichter Faſſungsgabe ausgerüftet, unerichroden und 
edelgeſinnt; dazu füge es ein glüclicher Zufall, daß er unter feinen 
Zeitgenojjen einen Mann als Berater findet, der zum Gejeßgeber 
berufen ift. Dann fann man jagen: Gott hat jo ziemlich alles 
gethan, was er thun muß, wenn er einem Staat eine außer: 
gewöhnlich glückliche Zukunft bereiten will.) Jedenfalls iſt kaum 
ein jehnellever und bejjerer Weg denkbar, auf dem der Staat in 
den Beſitz einer Verfaſſung gelangen könnte, welche ihm dauerndes 
Glück verbürgt.” 3) 

Es ift gewiß fein zufälliges Zufammentreffen, daß in der 
jelben Zeit, wo in der joztalpolitiichen Theorie die Monarchie jo 
bedeutjam in den Vordergrund tritt, eben die Monarchie für die 
helleniſche Welt eine jtetig jteigende Bedeutung erhielt. Während 





') Vgl. Rep. 499. Dazu oben ©. 416. 

2) Leg. 710d. 

3) 710b: Tevımv Toivvv mulv 6 TVoRVVoS Tv pVoıw EyEtw ntoös 
Exeivaus TaIs pvosoıw, &ı uehhsı nokıs WS duvarov Eotı TayIoTa zai LOLOT« 
oyıjsew nokıreiaev, ıv haßovoa eidaıuoveotara diaseı . Iarrwv ydo tavıns 
zei aueivorv nohreies dicHeoıs oVT Eorıv OUT’ dv note yevorto, 


478 Erſtes Buch. Hellas. 


fi im Norden die Erhebung des mafedonischen Königtums vor- 
bereitete und in Hellas ſelbſt die Tyrannis wieder ihr Haupt zu 
erheben begann, war der größte Teil des hellenifchen Weftens 
durch die gewaltige Hand des erjten Dionys zu Einem Neiche 
verſchmolzen worden, deſſen Beftand ſelbſt durch den Übergang 
der Negierung auf einen jungen unerprobten Nachfolger nicht mehr 
in Frage geftellt werden konnte. Welch eine Ausficht, wenn dieſe 
ſtarke Monarchie der Sehnſucht der edeljten Geifter nach einer 
machtoollen Darftellung des Staatsgedanfens verjtändnisvoll ent- 
gegenfam, wenn fie ihre Aufgabe im Sinne jenes jozialen König: 
tums erfaljen lernte, wie es eben die Staatslehre des vierten Jahr— 
hunderts als eines ihrer politifchen Ideale proflamiert hat!!) Eine 
Ausficht, auf deren Verwirklichung man übrigens um jo mehr 
hoffen durfte, als mit der Thronbejteigung des jüngeren Dionys 
eine Konftellation eintrat, welche in überrafchender Weile alle die 
Borausjegungen zu enthalten jchien, von denen Plato felbjt eine 
mehr oder minder weitgehende Verwirklichung jeiner Ideen erwartete. 

Auf dem Throne des mächtigsten Hellenenftaates ein jugend- 
licher Fürft, deſſen lebhafter und empfänglicher Geijt bei richtiger 
Leitung einer höheren Auffaſſung feiner Stellung feineswegs un: 
zugänglich ſchien, — ihm zur Seite einer der hervorragendfteu 
Staatsmänner der Zeit, Dion, der ganz von dem Geifte der Aka— 
demie erfüllt und ein Bewunderer ihres Meifters, für Plato als 
der geborene Geſetzgeber erjcheinen mußte, und beide, — der Fürft, 
wie fein Minifter — einig in dem Wunſch, den gefeierten Denker 
jelbft in ihre unmittelbare Nähe zu ziehen, einig auch, wie es 
wenigftens den Anfchein hatte, in dem Wunſch, daß in feiner Unter: 
weilung der fürftliche Jüngling fich zum wahren Staatsmann bilde! 

Iſt 68 zu verwundern, daß Blato, als der Nuf nad) Syrakus 
an ihn herantrat, fich demfelben nicht verfagt hat? Er fonnte in 


') Vgl. die Bemerkungen Platos im Mosır. 302 und 296 f. über die 
Monarchie, ſowie des Arifloteles über das „wahre Königtum“ ala eine Schub: 
wehr gegen die Klaſſenherrſchaft IIT, 5, 2. 1279a. — VIII, 8, 6. 1311a. — 
MSIE: 





11.3.1. Der plat. Gejegesitaat nach 5. geſch. n. pſychol. Borausfegungen. 479 


diefer Einladung von jeinem Standpunkte aus nur einen jener 
„glücklichen Zufälle” erkennen, von denen er ſelbſt im „Staate“ 
anerkennt, daß fie dem Philoſophen die Notwendigkeit auferlegen, 
ſich in den Dienft des Staates zu ftellen, er mag wollen oder nicht.) 

Wie weit allerdings die Hoffnungen gingen, mit denen er 
nad Syrakus Fam, das läßt fih bei dem apogryphen Charafter 
unferer Überlieferung nicht mehr quellenmäßig feftitellen. Zwar 
wird allen Ernftes berichtet, er habe vom Fürften Land und Leute 
erbeten, um mit ihnen den Verſuch zu einer Verwirklichung des 
Idealſtaates jelbjt zu machen, und Dionys habe ihm auch die Er- 
füllung diefer Bitte in Ausficht geftellt.2) Allein wenn dabei auch 
von der richtigen Borausfegung ausgegangen wird, daß in dem 
damaligen Sizilien, wo jo manche Hellenengemeinde verödet und 
in Trümmern lag, die Möglichkeit zu Neugrimdungen reichlich 
vorhanden war, jo it Doch die Nachricht ſelbſt allzu jchlecht be— 
glaubigt. Nur jo viel wird man fiher annehmen dürfen: Plato 
muß mit großen Erwartungen, mit weitausfehenden Plänen ge- 
kommen jein. Denn wie hätte ex fich ſonſt entjchloffen, das be- 
glücdende Dafein im Haine der Akademie, die behagliche Stille der 
Schule im SKreife bewundernder Schüler aus allen Teilen der 
Hellenenwelt mit dem jehlüpfrigen Boden und geräufchvollen Treiben 
eines Tyrannenhofes zu vertaufchen? 

Ein jo großes perjönliches Dpfer wird nur dann verjtänd- 
ih, wenn er in der That überzeugt war, daß der junge Fürft 
feinen Spealen ein hohes Maß von Empfänglichkeit entgegen- 
bringen werde. Was aber eine ſolche Überzeugung gerade bei 
einem Plato zu bedeuten hatte, das wird uns klar, wenn wir ums 

') Rep 599b. In dieſer Beziehung hat der Bf. des fiebenten pſeudo— 
platonifchen Briefes die Situation richtig beurteilt, wenn er Dion die Be— 
rufung Platos mit den Worten motivieren läßt: rivas Ydo zuıooVs uelLovs 
NEOLUEVOVUEV TOV vov TaQayEYovorwv Heie Tri TUN; 327 e. 

?) Diog. Laert. III, 21: Jevreoov no0S vewreoov re Atovvorov 
aitov yıv zul ardownovs ToVS zarte Tıv nokıreiav aurod Imsoufvovs' 6 de 
zaineo VnooyÖuervos 00% Ertoimoer. 


480 Erſtes Buch. Hellas. 


den umverwüftlichen Optimismus vergegenwärtigen, mit dem er 
bis zulegt den Glauben an eimen wahrhaft Wunder wirkenden 
Einfluß machtvoller Berjönlichkeiten feftgehalten bat. 

Noch in den „Geſetzen“ äußert er die Anficht, daß das, 
wovon das Schicjal aller großen jozialen und politiihen Um— 
geftaltungen abhängt, die fittliche Erneuerung des Volkes, für einen 
unumſchränkten Monarchen durchaus Feiner bejonderen Anftren- 
gungen, ja nicht einmal jehr langer Zeit bedürfe.) Wenn er nur 
ſelbſt zuerft den Weg betritt, auf den er die Bürger binleiteu 
will, und durch jeinen eigenen Vorgang in allem Thun und 
Handeln das Mufter aufitellt, indem er zugleich darauf bedacht ift, 
daß denen, die dem Beiſpiel folgen, Lob und Ehre, allen Wider: 
Itrebenden aber für jede verpönte Handlung Tadel und Schande 
zu teil wird! 2) Wen ſolche Überredungsmittel und ſolche Macht 
zu Gebote jtünden, dem würden die anderen Bürger in Bälde 
nachfolgen.?) Glücklich der Staat unter ſolch' vorbildlicher Herricher: 
leitung; fie wird für ihn die Urheberin taufendfältigen, ja alles 
denkbaren Guten,*) fie eröffnet den Pfad zur „beiten Verfaſſung 
und den beiten Gejeten.“ >) 

Dieſe Anſchaungsweiſe läßt ein helles Licht auf das Ziel 
fallen, welches Plato vorſchwebte, als er den Boden Siziliens be 
trat. Auf dem Thron von Syrafus jollte ſich ohne Zweifel die 
erjehnte Sneinsbildung der politischen Macht mit der Philoſophie 
vollziehen, der an dem jchöpferischen Geiſt des Denkers herange— 
bildete philoſophiſche Herrjcher alsdann die Erhebung der Gefell- 


') 711b: oudev der novwr ovVdE tıvos aunoAkov Xoovov TO TVodvro 
ustaßakeiv Bovinderrı noAews 747‘ Togeveoder dE aurov dei noWrov 
tevrn, Onnneo dv EFehnjon, Edv TE NOOS EEETNS Eritndevuare NOoTgENEOHeL 
Toüs nolites £dv TE Eni ToVvevtiov, aUTOV NOWTOV NEVTE BNOYO«porta 
TO nodrreıv, TE uv Eneivoirre zei Tiuovre, TE Ö’ au Eos Woyor 
ayovre, xal Tov w) neıdousvor arıudlovra za9° Exaotas tov noasewr. 

) Ebd. 

Te: 

end: 


Sl. 





IIT. 3.1. Der plat. Geſetzesſtaat nach ſ. geich. u. pfychol. Borausjegungen. 481 


ichaft zu einer höheren Sittlichkeit, die Ausbreitung der von der 
Doktrin verfündeten jozialethiichen Grundwahrheiten, die Samm— 
lung des duch ſchroffe innere Gegenfäße geipaltenen Volkes unter 
dem Zeichen der ethifchen Neform in feine Hand nehmen und fo 
die Möglichkeit gewinnen für den Ausbau einer neuen, bejjeren 
Drdnung des Staates und der Gefellichaft.!) 

Se erhabener die Aufgabe war, die hier der Monarchie zu: 
gedacht wurde, um jo jchmerzlicher mußte die Enttäufcehung fein, 
wenn der Träger der Gewalt, mit welcher dem reformatoriſchen 
Eifer jo Großes erreichbar ſchien, all diefe Hoffnungen zu nichte 
machte. 

Wie gründlich die Enttäufchung gerade bei Dionys war, ift 
befannt. Es iſt — bei aller zur Schau getragenen äußeren Ver: 
ehrung für Plato — kaum ein jchärferer Kontrast denkbar, als 
der, welcher zwijchen den Soealen der Akademie und dem Thun 
und Denken des Tyrannen zu Tage trat, ſowie derjelbe die Zeit 
für gekommen bielt, ſich in jeiner wahren Geftalt zu zeigen. Mit 
erſchreckender Deutlichkeit fiel hier am Tyrannenhofe gerade das 
ins Auge, was Plato bei dem Aufbau feines Staatsideals nur 
ungenügend gewürdigt hatte: die furchtbare Verſuchung, welche bei 
der Schwäche der menschlichen Natur in dem Beliß einer unbe 
ſchränkten Gewalt liegt. — Hatte damals der Gedanke, daß mur 
mit Hilfe einer jolchen Gewalt das erjehnte deal zu verwirklichen 
jei, jede andere Erwägung ſiegreich zurüdgedrängt, jo mußte fich 
jeßt unter dem Eindrucke unmittelbarfter perjönlicher Erfahrung die 
nüchterne Erwägung der Thatlache auforängen, daß dieſelbe Ge 
walt, welche das Ideal jchaffen kann, zugleich ihrer ganzen Stellung 
nach fürmlich darauf angelegt erſcheint, in ihrem Träger die Eigen- 
Ichaften zu ertöten, deren er für jeine ideale Aufgabe am meiften 
bedürfte. 


1) Auch der Verf. des genannten Briefes (328b0 und 3366) hat — 
ſei es auf Grund guter Überlieferung oder der angeführten Auberungen 
Platos — jolche Hoffnungen bei diefem angenommen. 

Pöhlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus T. 31 


489 Erſtes Buch. Hellas. 


Es lieft fich wie ein elegischer Rückblick auf die befannten 
Geſchicke Dionys des Zweiten und feines DVerhältnifjes zu Dion, 
wenn es in den „Gejegen” heißt: „ES gibt feine fterbliche Seele, 
die jung und in unverantwortlicher Machtftellung ſtark genug wäre, 
die höchſte Gewalt unter den Menjchen zu ertragen, ohne von Un— 
vernunft ergriffen und dadurch ſelbſt den nächiten Freunden ver: 
haft zu werden, was dann die unvermeidliche Folge hat, daß ver 
Herricher in Furzer Zeit zu Grunde gerichtet und jeine ganze Macht 
zerjtört wird. !) 

Bor allem fieht der greife Plato durch den Befit der abjo- 
(uten Gewalt das gefährdet, was ihm als eine der fundamentalften 
Tugenden des Bürgers erjcheint, nämlich die Fähigkeit, die richtige 
Stellung zu finden zu dem Intereſſe des Ganzen. Wenn es für 
den Einzelnen an ſich ſchon ſchwer genug jei, fi) davon zu über: 
zeugen, daß die Staatsfunft nicht einfeitig den Nutzen des Indivi— 
duums, jondern das Wohl der Gejamtheit im Auge haben müffe, 
und daß die Verwirklichung dieſes Prinzipes auch feinem eigenen 
Intereſſe am beten entipricht, jo würde am wenigjten der unume 
ſchränkte und unverantwortliche Herrſcher fich ſtark genug erweiſen, 
diefer Überzeugung Zeit feines Lebens treu zu bleiben und vor 
allem anderen ftetS das allgemeine Beſte zu fördern, ihm das eigene 
Sonderintereffe unter allen Umständen nachzuftellen. Die Schwäche 
der Menfchennatur wird ihn vielmehr nur zu leicht verführen, den 
Antrieben ver Selbſtſucht und der Begierde zu folgen, jtatt den 
Forderungen der Gerechtigkeit; immer größere Finfternis wird ſich 
über jeine Seele breiten, und jo zuleßt äußerftes Unheil auf ihn 
jelbjt und den ganzen Staat ſich häufen. 

Die Verfuhungen des Abjolutismus erjcheinen jetzt Plato 
al3 jo überwältigende, daß dadurch jogar die Grundanficht feiner 
Ethik, der Glaube an die ethiiche Bedeutung des Wiſſens und die 
Unfreiwilligfeit der Sünde einigermaßen ins Wanfen gerät. Er 
macht jebt das bedeutſame Zugeftändnis, daß ſelbſt von demjenigen, 


1) 691e. 








II. 3.1. Der plat. Gejeßesftaat nach ſ. geſch. u. piychol. Borausfegungen. 483 


der auf dem Wege der „Kunſt“ d. h. der philofophifchen Ethik 
und Staatslehre zur Klaren Erkenntnis des naturgemäßen Verhäl- 
niſſes zwilchen Individuum und Staat durchgedrungen, auf Die 
Dauer faum ein diefer Erkenntnis entiprechendes Verhalten zu er- 
hoffen jei, wenn ihm eine Macht zu teil werde, die feine Schranfe 
fennt. Die Ideale, mit denen ſich fein Geift erfüllt hat, (zaAoi 
Ev Wovyn Aoyoı Evovres) würden ihn nicht hindern, ihnen in allen 
Stüden zuwiderzubandeln!!) Das Gegenteil würde -eine fittliche 
Größe vorausjegen, die äußert jelten, ja vielleicht nirgends zu 
finden jei.2) Jedenfalls wäre es als eine bejondere göttliche Fü- 
gung zu betrachten, wenn einmal ein Menſch von jolcher Seelen- 
jtärfe geboren würde.?) 

So iſt es nicht minder als die Unwiſſenheit, die Willens: 
ihwäche der menschlichen Natur,t) welche die Theorie bei ihrem 
Kalkül in Rechnung zu Stellen hat; und Plato zögert nicht, auch 
hier die volle Konjequenz jeines Gedankenganges zu ziehen. Sit der 
beſte Staat nur unter der Vorausſetzung zu verwirklichen, daß die 
größte Macht ſich mit (dev größten) Weisheit und Bejonnenheit 
in ein und derjelben Perſon vereinigt,5) jo erſcheint jegt für Plato 
angefichts der thatlächlichen Lage der Dinge der Gedanke an das 
Eintreten diefer Möglichkeit nahezu ausſichtslos. Ex gibt zu, daß 
fein Gejeßgeber e8 wagen darf, der Negierung eines Staates eine 


) 875h: Eav dpa zei TO yrvovai tıs, HTı Taita ovTw regpvxrs, Aapy 
ixevos Ev TEYVN, Erd dE ToVTo dyvnsvdvvos TE zul QUTOXO«TWO doEN 
NOAEWS, 00% dv note duvarro Euusivaı tovrw to doyuarı za dießtiovav 
10 uev xowor myolusvor toEpwr Ev ın noAeı, 10 dE idiov Enousvov Two 
zowo, daR Ei nAeoveiiev za Ödiomgeyiav 7) Hrn pioıs aurov bgumoeı 
dei, Yevyovoa ucv aloyws Tv Avnmv, diwzovoe dE ımv ndorıjv, tod de 
dizauoreoov TE zwi ausivovog EriN0009Ev CUPW TOVTW TTOOOTNOETLI, zul 
6x0T05 ansoyalouevn Ev aim narıwv zerov Eunhmoeı no0s To tedos 
aiııv TE zei ımv nokıv oAnv. Bol. 689e. 

2) S75d: 00 ydo Eotıv ovdauuod ovdauns, dA 7 zerd BoayV, 

:) 875e. 

4) 734b. 

>), 712. 


484 Erſtes Bud. Hellas. 


jo diskretionäre Gewalt anzuvertrauen, wie er ſie für die Herrſchaft 
der Intelligenz im Idealſtaat gefordert hatte.) 

Aber auch da, wo die furchtbare Verſuchung des Allmachts- 
gefühles nicht in Frage kommt, urteilt er jetzt ungleich nüchterner, 
refignierter. Seine Hoffnungen in Beziehung auf das, was der 
Menfchennatur überhaupt zugemutet werden darf, ericheinen außer 
ordentlich herabgeftimmt. Wie tief muß der greife Denker vie 
dämonische Macht der Selbftjucht empfunden haben, „des größten 
den Seelen der meisten Menſchen eingebovenen Üebels,“ wenn er 
ihon das als einen für den menschlichen Geiſt Schwer faßlichen 
Gedanken bezeichnet, daß der Staat nicht einfeitig zur Förderung 
individueller Intereſſen, ſondern für das Wohl der Gejamtheit da 
jei. Und wie jchwierig vollends erjcheint ihm jeßt der Verſuch, den 
Einzelnen für den ungleich) weniger einleuchtenden Gedanken zu 
gewinnen, daß eine präftabilierte Harmonie zwijchen dem mwohlver: 
ftandenen Einzelinterefje und dem der Gejamtheit beitehe, daß der 
Einzelne daher am beiten für fich ſelbſt Jorge, wenn er zugleich 
für das allgemeine Wohl forgt! —2) Eine Überzeugung, von 
der doch notwendig die große Mehrzahl der Bürger lebendig er 
griffen jein muß, wenn nicht die Intereſſengemeinſchaft und Inter: 
ejjenharmonie im Sinne des Idealſtaates von vorneherein ein 
Phantom jein joll. 

Aber jelbft da, wo es gelingt, den Einzelnen in vernunft- 
gemäßer Weiſe aufzuklären über das, was zu feinem eigenen Beſten 
und dem des Staates dient, drängen ſich dem greifen Plato die 
ſchwerſten Bedenken und Zweifel auf. Wird der zur richtigen 


1) 693h: ov dei ueydhas dogs oVd’ av duiztovs vouodereir. 

2) ST5a: ... picıs evdoWnwv ovdevös ixavn gVereı Worte yrvorai 
TE TG ee darHoWnois Eis Tohreiev zul yvovoa To Behriotov dei 
Övvaodai TE za EIEAEIV TORTTEIV ., yvovaı usv Ydo NOWTov KahEenov, OTL 
nohırızn zul aAmIEl Teyvn ov TO idiov dAAd TO xoıwor avayan uekeıy, — 
To uev yao xoıwov Evrdst To dE idiov diese Tas noAsıs, -— xal ori Evu- 
PEgeı TO xowo TE xal idw ToIw augolv, 7v TO xowov tıImtar zaAws, 


uckkov n co idıorv, 





11.3.1. Der plat. Geſetzesſtaat nach ſ. geich. u. pſychol. Borausjegungen. 485 


Einficht Gelangte auch ſtets die Kraft und den Willen haben, feine 
richtige Erkenntnis im Leben zu bethätigen? Auch diefer Frage 
fteht der Plato der Gejege ungleich ſkeptiſcher gegenüber, als der 
ver Bolitie.') 

Kein Wunder, daß fein Glaube an die Möglichkeit einer jo 
vollfommenen Ausgleichung des Individual- und Sozialprinzipes, 
wie fie der Idealſtaat verwirklichen jollte, auf das tieffte erſchüttert 
it. Der Staat, in dem der Glaube an die Harmonie aller wahren 
Intereſſen die denkbar innigite, jelbjt auf Ehe und Eigentum ver: 
zichtende Lebensgemeinjchaft erzeugt, ein jolcher Staat ift jegt für 
ihn in der That zur Utopie geworden, an deren Verwirklichung 
wenigjtens in der damaligen Welt nicht zu denken war. Nur 
Götter und „Götterföhne”, meint ev in den „Geſetzen“, würden 
die Güter-, Frauen: und Sindergemeinjchaft des beiten Staates 
vertragen können.?) 

Durch den Verzicht auf den Kommunismus werden nun 
aber auch die Hoffnungen hinfällig, welche Plato auf die ethischen 
und jozialpolitiichen Wirkungen kommuniſtiſcher Inſtitutionen ſetzte. 
Wurde der individuelle Beſitz und die Individualwirtſchaft von 
Plato für die damalige Menjchheit als unvermeidliche Grundlage 
ver gejellfehaftlichen Drdnung anerfannt, jo war auch die Unmög— 
lichkeit zugeftanden, eine ganze Gejellichaftsklaffe von dem Getriebe 
der wirtjchaftlichen Intereſſen vollfommen loszulöfen und der Staats- 
idee eine jo ideale und über den gelellichaftlichen Intereſſenkampf 
jo völlig erhabene Vertretung zu ſchaffen, wie fie die Hüterklaffe 
des beiten Staates daritellte. Ein Verzicht, der dann Plato natur: 
gemäß zu weiteren tiefgreifenden Konſequenzen in Beziehung auf 
die ganze Gejtaltung des jtaatlichen Lebens führen mußte. 

Erſchien es — jo wie die Dinge einmal lagen — als un: 
abweisbare Notwendigkeit, die Verwaltung und Gejeßgebung des 
Staates in die Hände von Individuen zu legen, die durch ihr 

) Bgl. die zulegt angeführte Stelle. 


2) 7394. Über den Sinn des Ausdrucks „Götter und Götterſöhne“ 
ſ. unten. 


486 Erſtes Buch. Hellas. 


Eigentum, jei es Grund- oder Kapitalbefig, immerhin mit dem 
wirtschaftlichen Spntereffengetriebe verknüpft waren, jo trat an die 
politifche Theorie, wenn fie nicht von vorneherein an einer wenig: 
ftens velativ befriedigenden Verwirklichung ihrer Ziele verzweifeht 
wollte, eine neue wichtige Aufgabe heran. 

Sie ſah fi durch die Konjequenz ihres allgemeinen Stand: 
punktes zu der Frage gedrängt: Wie läßt ſich der Spielraum, den 
das ökonomiſche Selbftinterefje im Leben der zu politiichen Funk: 
tionen berufenen Volkselemente einnimmt und damit die Gefähr- 
dung der etbiichen Ziele der ftaatlichen Gemeinfchaft durch vie öko— 
nomifche Selbftjucht auf ein möglichit geringes Maß reduzieren? 

Die Antwort darauf lautet ebenjo einfach, wie vadifal: Die 
Grundlage aller politifchen Berechtigung muß derjenige Beruf 
werden, der den Menschen nach Platos Anficht ') am wenigften 
an der harmonischen Ausbildung von Leib und Seele hindert, der 
Landbau. Die bürgerliche Geſellſchaft des relativ beiten Staates 
kann nur eine aderbauende fein. Nachdem es einmal als unver: 
meidlich anerfannt war, daß alle Bürger zugleich „Haus und 
Landwirte” 2) jeien, jo follte der Druck der wirtjchaftlichen Inter— 
effen auf den Staat wenigjtens dadurch möglichſt abgeichwächt 
werden, daß man diejenigen Gebiete, auf denen ſich der wirtjchaft- 
liche Intereſſenkampf intenfiv und extenſiv am meiſten geltend 
machte, Handel und Gewerbe, zu völliger Bedeutungslofigkeit herab- 
drückte, ja die ganze Handel und Gewerbe treibende Klaſſe außer: 
halb der ftaatlichen Gemeinschaft ſtellte. 

Der Idealſtaat hatte auch die Angehörigen dieſer Klafje 
als Bürger anzuerkennen vermocht. Dank dem jtrahlenden Bor: 
bild jeiner philofophiichen Negenten und dank jeinen gemeinwirt- 
ihaftlicden Inſtitutionen nach Platos Anficht zur denkbar günjtigiten 
Einwirkung auf das Gemütsleben aller Klafjen befähigt, hatte dieſer 
Staat auch in allen Klaffen diejenige Geſinnung erzeugen zu 





) ©. oben ©. 218. 
>) Was der beſte Staat um jeden Preis hatte vermeiden wollen. ©. 





II. 3.1. Der plat. Gejeßesftaat nach ſ. geſch. u. piychol. Vorausſetzungen. 487 


können geglaubt, welche im Intereſſe eines harmonischen Zuſammen— 
lebens, eines wahrhaft befriedigenden Wechjelverhältniffes der Stände 
erforderlich jchien. Er hatte feinen Beruf von der ftaatlichen 
Gemeinschaft auszuſchließen gebraucht. Anders lag die Sache, 
wenn die erzieheriiche Kraft jenes idealen VBernunftsregimentes und 
entwicelter gemeinwirtjchaftlicher Spnititutionen in Wegfall Fam. 
War ohne fie bei den der fittlihen Verſuchung am meiften aus: 
gejeßten Elementen des Volkes auf jenen Grad von Einficht und 
Selbitzucht zu rechnen, ohne welchen die auch jet noch als unent- 
behrlich geforderte harmoniſche Uebereinjtimmung der Bürger über 
die höchjten Ziele jtaatlichen Lebens von vorneherein unmöglich war? 

Blato verneint in den „Geſetzen“ dieſe Frage unbedingt und 
zieht dann eben daraus mit ver ganzen rückſichtsloſen Folgerichtigkeit, 
die ihm eigen war, den Schluß, daß die genannten Elemente aus 
der politischen Gemeinſchaft mit den übrigen ausfcheiven müßten. 
Die Berwirklihung des ſchönen Traumes von einem alle Teile des 
Volkes beglüdenden Gemeinweſen it in nebelhafte Ferne gerückt. 
In der rauhen Wirklichkeit der beitehenden Welt erſcheint ihm der 
Glückszweck des Staates nur noch Für diejenigen Glemente des 
Volkes realifterbar, welche dazu ganz bejondere Vorausſetzungen 
mitbringen. Der Gewerbsmann und Lohnarbeiter, den im deal: 
ſtaat auch die Höchititehenden wie einen Bruder lieben und als 
ihren Ernährer in Ehren halten jollen, vermag nach der Anficht 
der „Geſetze“ dieſen Borausfeßungen nicht zu entiprechen und muß 
lid in eine abjolute Unterordnung unter die Zwecke jener bevor- 
zugten VBolfsfreife fügen. ine unüberjchreitbare Scheivelinie, wie 
fie der Idealſtaat — abgejehen von dem Inſtitut der Sklaverei — 
nicht gekannt hatte, trennt hier auch den reiten vom Freien. Was 
in der Bolitie Scharf verurteilt und als ein Symptom des Ver— 
falles des Idealſtaates bezeichnet worden war, — Die Herab— 
drückung der wirtichaftenden Klaſſen in ein Beiſaſſen- und Unter: 
thanenverhältnis!) — wird hier wenigitens für einen Teil derjelben 
geradezu gefordert. 


!) Rep. 547b, wo e3 von den „Hütern“ heiht: Buadousvov de zai 


458 Erſtes Buch. Hellas. 


So jehen wir aus dem ftoßen Bau eines idealen Staates 
einen Stein nach dem andern herausgebrochen, DIS das ganze Ge— 
bäude von der Hand des Meifters ſelbſt zertrümmert am Boden liegt. 

Man begreift, wenn dem Greis, der ſich zu ſolchem Zerftö- 
rungswerk verurteilt Jah, quälende Gedanken an die Nichtigkeit und 
Vergeblichkeit wdischen Thuns auffteigen, wenn er fich fragt, ob die 
menjchlichen Dinge überhaupt eines großen und ernſten Strebens 
wert jein,!) und von den Menſchen als von „Eintagsgeichöpfen” 
und von „Drabtpuppen” jpricht, von denen man nicht wiſſe, ob 
fie von den Göttern bloß zu deren Spielzeug oder wirklich zu einem 
ernfteren Zweck geſchaffen worden ſeien.?) 

Doch war Plato nicht der Mann, um die mächtigen refor— 
matoriſchen Impulſe ſeines Geiſtes durch ſolche Stimmungen lähmen 
zu laſſen. An derſelben Stelle, wo er erklärt, daß die menſchlichen 
Dinge eines eifrigen Strebens unwert ſeien, und daß dasſelbe jeden— 
falls nichts Beglückendes für uns habe, erkennt er an, daß ein 
ſolches Streben gleichwohl eine Notwendigkeit ſei, der wir uns nicht 
entziehen dürfen.?, Auch geht Plato in der Reſignation keineswegs 
joweit, daß er nun jein Staatsiveal als ein für die praftiiche Ge- 
ftaltung der Dinge abjolut beveutungslojes Spiel der Phantaſie 
einfach zu den Toten geworfen hätte. Im Gegenteil! Die Glut 
jeines veformatorischen Eifers iſt jo wenig exlojchen, daß ex ich 
auch jest noch nicht genug thun kann in der begeifterten Schilve- 
rung der Herrlichkeit und Glücheligkeit eines Gemeinwejens, in dem 
der Einzelne nichts mehr bejigt, was ihm allein zu eigen ift, wo ſogar 
das, was ihm die Natur zum unmittelbariten Befigtum verliehen, 
dvrırsivovtov ahlmkoıs, Eis uEoov WuoAoynoav ynv uEv zai olxias Kata- 
veıuausvovs (diwoaodet, Toüg de ıoiv puvharrousvovs in’ avrov Ws Ehev- 
HEoovs pikovg TE xai ToopEas dovAwoduesvoı Tore NEQLolXoUg 
TE xal olxetas EyXovrss avrol nol£uov TE zul pvhaans aurov Ertt- 
uereiodeı. Und dazu vergl. die Bejtimmung der „Geſetze“ 920a: weroızor 
eivaı XoEWv n EEvov, Os dv uElAn xanınkevosır. 

!) Leg. 803b. 

2) 923a, 644d. 

>) 803h: avayxalov ye umv onovdabeır, 





nn re 


11.3.1. Der plat. Gejeßesftaat nach ſ. geſch. u. pſychol. Borausfeßungen. 489 


durch die Einheit von Wollen und Handeln zum Gemeingut wird, 
wo alle Augen, Ohren und Hände nur in Gemeinjchaft jehen, hören, 
handeln, wo alle Herzen durch ein und dasjelbe zu Freud und Leid 
geſtimmt, zu Lob und Tadel bewegt worden!!) 
Auch glaubt Plato, wie wir jahen, ſelbſt jeßt noch an die 
Möglichkeit einer wahrhaft Wunder wirkenden Neformthätigkeit in 
dieſer Nichtung, wenn fich nur der gewaltige veformatorische Genius 
dazu finden würde. Und jo jehr jeine Hoffnung auf das Kommen 
eines ſolchen Erlöſers gejunfen it, etwas abjolut Undenkbares 
it es ihm doch auch jest noch nicht. Durch eine außerordentliche 
„göttliche Fügung“ könne es immerhin geichehen, daß einmal eine 
wahrhaft philojophiiche Herrſchernatur in diefer Welt ericheine.?) 
Wenn er daher auch an einer früheren Stelle einmal den 
ivealen Kommunismus des Bernunftitaates und Dielen Staat ſelbſt 
eine Einrichtung „Für Götter und SS nennt, jo kann ex 
denjelben damit doch nicht als ein Ideal bingeftellt haben, das 
menjchlichem Streben und menschlicher Kraft für immer entrückt 
it. Denn wie könnte er ſonſt an jene Möglichkeit überhaupt noch 
gedacht haben? „Götter und Götterföhne” kann bier nur eine 
ſprichwörtliche Wendung fein zum Ausdruck eines Ideales perjün- 
licher Vollkommenheit, auf deſſen Verwirklichung Plato zwar bei 
der gegenwärtigen Bejchaffenheit des Menſchengeſchlechtes verzichtete, 
das er aber damit doch nicht Ichlehthin für unerreichbar er— 
Eläven wollte.) Sagt ev doch ſelbſt von jenem idealen Kommunis— 
mus nur jo viel, daß derjelbe für das „jebige“ Menſchengeſchlecht 
und das „jebt“ erreichte Niveau yittlicher und geitiger Kultur zu 


— 

2?) 875cd. 

>) In diefer Hinficht ftimme ich mit Steinhart (Platons Werke VII 
[1] 210) überein, jo wenig ich dejjen Anficht teile, daß die genannte Bezeich: 
nung des DVernunftitaats feine jtärferen Zweifel an deſſen Ausführbarfeit 
befunde, als gewiſſe Stellen der Politeia ſelbſt (3. B. 592ab). Damit ift 
der Abjtand zwiſchen dem optimiftischen Grundzug der Politeia und der Ne: 
fignation der „Geſetze“ völlig verfannt. 


490 Erſtes Buch. Hellas. 


hohe Anforderungen ſtellt,)) womit doch unzweideutig genug vie 
Möglichkeit einer Erhöhung des Typus Menſch und einer Steige: 
rung jeiner Fähigkeit zur Befriedigung Jolcher Anforderungen immer 
noch offen gelafjen wird.2) Und es findet ſich in der That in dem— 
jelben Zufammenhang eine Wendung, welche die Verwirklichung 
jenes Kommunismus in der Zukunft ausdrüdlich als eine mögliche 
und denkbare Gventualität behandelt.?) 

Doch ſei dem wie ihm wolle, Thatjache iſt jedenfalls, daß 
Plato grundfäglich wenigſtens an dem Staatsideal der Politie bis 
suleßt feitgehalten hat. Er hat zwar erkannt, daß es auf unab- 
jehbare Zeit hinaus auf Flugfand bauen hieße, wenn man inter 
den bisher gegebenen Verhältniffen des menschlichen Dajeins an die 
Aufführung jenes kühnen Baues denken wollte. Trotzdem it ihm 
das Spealbild des Vernunftſtaates allezeit der Leititern geblieben, 
der allein den rechten Weg durch das Labyrinth; der großen Pro— 
bleme des Staates und der Geſellſchaft zeigen fan. Der Ideal— 
ftaat bleibt nach wie vor die vegulierende Norm, das mujftergültige 
Vorbild für alle Bolitif. Dieſes Vorbild hat jeder praftiiche Staats— 
mann feft im Auge zu behalten und joweit, als es die Unvoll- 
kommenheit der menſchlichen Dinge irgend zuläßt, die Wirklichkeit 
nach ihm zu gejtalten.*) 

Sm diefem Sinne hat Plato no am Ende jeines Lebens 

') 740a: ned) 10 ToıTtov weißov N xere Tv vürv yEveoıv xail 
Toopyv zei neidevow elonrat. 

2) Eujemihl (Genet. Entw. d. plat. Philof. II 622) glaubt allerdings, 
diefe Auffaſſung jei unmöglich angefichts der Bemerkung Platos (853e), daß 
der Entwurf des Gejeßesftaates auch auf das Kriminalrecht eingehen müſſe, 
weil derjelbe nicht für „Heroen, für Götterfühne, jondern für Menſchen“ 
Sejebe gebe. — Allein eine Antitheje zum Vernunftſtaat ift doc) hier gewiß 
nicht beabfichtigt! Denn auch der Vernunftftaat ift keineswegs jo göttergleich, 
daß ex der Strafjuftiz völlig entbehren fünnte. 

q >) 739e, wo es von dem Kommunismus des Idealſtaates heißt: Tovz’ 
oVv Elite nov vor Eorıv Eid’ Eotai notre zu, 

9) 739e: dio di) negadeıyud ys nokıreiag 00% dhlm XoN oxoneiv, 
ah Eyousvovs Tavıns Tv 5 Tu udhore vor@vryv Inteiv xard dvvauır. 





III. 3. 2. Die jozialölon. Grundlagen des platon. Gejeßesitaates. 491 


in den „Geſetzen“ das Bild eines „zweitbeiten” Staates entworfen, 
der zwar den Forderungen des realen Lebens mehr angepaßt it, 
aber doch andererjeitS dieſe Forderungen mit den Grundgedanken 
der Politie möglichſt auszugleichen ſucht. 


2. 
Die Fozinlökonomifden Grundlagen des Geſehesſtaafes. 


Den Standpunkt des greiſen Plato, der an den Idealen jeiner 
Mannesjahre zwar grundjäglich feſthält, jedoch einen Glauben an 
die Umbildungsfähigkeit menjchlicher Zuftände bedeutend berabge- 
ſtimmt bat, könnte nichts beſſer charakterifieren, als die Erörterung 
der „Geſetze“ über die Art und Weile, wie überhaupt die Umge— 
jtaltung der beftehenden Staats: und Geſellſchaftsordnung im Sinne 
idealer Anforderungen praktiſch durchführbar fei. 

Wir jahen, mit welch’ naivem Optimismus ſich der Entwurf 
des Soealjtaates über den Gedanken an die gewaltige jozialöfono- 
miſche Revolution hinweggeſetzt hatte, die auf den Trümmern der 
alten Geſellſchaft Raum für einen völligen Neubau jchaffen jollte. 
Wie verhältnismäßig leicht und einfach hatte-es ji) Plato damals 
gedacht, die Einwohner eines ganzen Staates, wenn auch nur eines 
Kleinen Stadtjtaates unter ganz andere Lebens und Wirtſchaftsbe— 
dingungen zu verlegen und dadurch nach allen Seiten bin zugleich 
andere Menjchen aus ihnen zu machen! !) Sm den „Sejegen“ ur— 
teilt ex über die Möglichkeit einer ſolchen Umwälzung weit nüch- 
terner. Er bat erkannt, daß es ein Gejeß der hiſtoriſchen Kon— 
tinuität im Völkerleben gibt, das es verbietet, ohne weiteres in 
einen DVernichtungsfampf mit den bis dahin wirkſamen hiſtoriſchen 
Kräften einzutreten. Er vergegenwärtigt fich jest ſehr lebhaft die 
Schwierigkeiten, mit denen der Gejeßgeber zu kämpfen hat, der im 
Intereſſe einer wiünjchenswerten Ausgleichung der Beſitzverhältniſſe 
fich genötigt fieht, tiefer in die bejtehende Eigentumsordnung ein- 
zugreifen. Sobald e3 jemand wagen würde, „an jo etwas auch 


1) ©. oben ©. 419. 


492 Erſtes Buch. Hellas. 


nur zu rühren“, würde ihm von allen Seiten der Vorwurf ins 
Geficht geichleudert werden, daß er an Dingen rüttle, die unantaft- 
bar jeien. Wollte er vollends zur unbedingt notwendigen Neu— 
regulierung des Grumdeigentums und Kaffterung von Schulden 
jehreiten, jo werde er unter der Wucht der allgemeinen Verwün— 
ſchungen in eine jehr bedenkliche Lage geraten.) 

Ja Plato geht joweit, angefichts dieſes unausbleiblichen hef— 
tigen Widerftandes auf ein raſches und vadifales Vorgehen in der 
Frage der Jozialen Neform überhaupt zu verzichten. Eine umfaſſen— 
dere Neform der Gefellfehaft jei zwar nicht möglich, ohne den Streit 
um Yandaufteilung und Schuldenerlaß anzufachen, doch dürfe Fein 
Staat wagen, es auf diefen „Fucchtbaren und gefährlichen Kampf“ 
ankommen zu laſſen.) Auch die Emanzipation des weiblichen Ge— 
jchlechts, ohne welche ſich Plato eine radikale Geſellſchaftsreform 
nicht denken kann, würde auf unüberwindliche Schwierigkeiten ſtoßen. 
„Sewohnt in Verborgenheit und Dunkel zu leben“, würden die 
Frauen jelber dem, der fie „mit Gewalt ans Licht ziehen wollte”, 
allen erdenklichen Widerſtand entgegenjegen und gewiß in dieſem 
Kampfe Sieger bleiben. >) 

Der Staat, welcher die realen Berhältniffe würdigt, muß ſich 
daher, wenn nicht mit frommen Wünjchen, jo doch jedenfalls mit 
einem ſehr allmäbhlichen und behutiamen Fortſchritt begnügen, bei 
dem man in langer Zeit nur um ein Geringes vorwärts fommt. Und 
auch Jo hängt das Gelingen noch von bejonvders günjtigen Um: 
ftänden ab. Es muß nämlich diejenige Gefellfchaftsflaffe, auf deren 
Koſten allein die joziale Neform möglich ift, und welche derjelben 
Dpfer zu bringen hat, es müſſen vor allem die Bejigenden für Die 
Sache des jozialen Fortfehritts gewonnen fein. Nur dann, jagt 





1) 684e. 
?) Bgl. die Bemerkung über die yrs zei yoswov anoxonns zei vouns 
negı deiwnv zei Enızivdvvor vouosereloder dvayxaodeion 


’ av ziveiv dvvarov 


un = > n =’ “ 2 — J 
noÄgı TWv doyeiov oiTE Edv olov TE «zivmtov ovr 
— — 

Eoti tive toonov T36d. 


3) 781e. 





111. 3. 2. Die jozialöton. Grundlagen des platon. Geſetzesſtaates. 493 


Nato, wird die Neform Erfolg haben, wenn diejenigen fich zum 
Träger derjelben machen, welche jelbjt viel Grundbeſitz oder viele 
Schuldner haben und zugleich bereit find, mit dem Armen groß- 
herzig zu teilen, d. h. Schulden zu erlaſſen und Ackerland abzu: 
treten.!) Und eine jolche Dpferfähigkeit iſt wiederum nicht denkbar 
ohne eine Wandlung der fittlichen Anſchauungen über das, was 
im Berhältnis der verjchiedenen jozialen Klaſſen das Nechte, „Das 
Gerechte” jei. Jeder große Fortichritt in der Geftaltung des Wirt- 
ſchaftslebens wird ſtets zugleich ein Sieg ſittlicher Ideen fein müſſen, 
das Ergebnis eines geläuterten Sittlichfeits: und Gerechtigfeitsge- 
fühles, durch welches allein der Widerftand des geborenen Gegners 
aller Reform, des wirtichaftlichen Egoismus, gebrochen werden 
fann.2) Ar Stelle der feine Grenzen fennenden Gewinnjucht muß 
das Freimwilligsfihgenügenzlafen an einem gewiſſen Mittelmaß von 
Gütern treten, die Überzeugung, daß nicht jede Verminderung 
des Beſitzes Verarmung bedeutet, wohl aber jede Zunahme der 
Unerfättlichfeit.?) Erſt wo dieſe Gejinnung fi eingebürgert hat, 
kann man jagen, daß ein wirklich guter Anfang zur Rettung des 
Staates gemacht ift, daß das feite uud fichere Fundament gelegt ift, 
auf dem fich ein Neubau von Staat und Gejellichaft aufführen läßt.') 
Wo dagegen der moralifche Fortichritt ausbleibt, da ift jede weitere 
jozialpolitifche Neformarbeit eine mehr oder minder vergebliche.?) 








') ib.: 7 de (sc. uere@ßaoıs) TOv zıwovvrwv dei xexztmusvov uev av 
- > Pl} c ” * x N > [4 c ar n 4 

Tov yıv dpsovov Urdoyei, zexrnuevov dE zai ogpeıkerag autois nokkovs, 
&9elovrwr TE TOVTWv Im Tols anogovusvors di Enieizeiav zoıvwveiv, Ta 
uEv dpievras, TE dE veuouevovg. 

—— 7 EHE lose 5 N 

) 737a: eiojodo dn vür, orı die ToVv un gYıhoygnuareiv were 
dixns, @lm d’ 00x Eotıv ovr’ Evosie oVUTE OTEVM TNS Tol@vrns ungars 

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diegvyn . zei Toto ußv olov Egue TOAEWS Nulv zEL0IW Ta vor. 

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) 736e: ... @um yErım Ts wergiörmros Eyouevovs zei neviev jyov- 
uevovs eivaı un 10 Tv ovolav Eldrıw noieiv dhhd To Tyv enhmotlaev nheiw. 

4) 736e: FWwrngles TE Yo «oy:) usyiorn nokews avın yiyveraı zei 
Eni Tavıns olov zonntdos uoviuov Erroızodousiv duvarov, Ovtiva dv voTEgorv 
&notxodoun TIS x00uov ToAlTızov TIQOONKOPTE TN TOLMÜTN KUTaoTdoeı. 

5) 737a: tevıms de oadoas ovons Ts uetaßdoews 00% EUTIO00S 9) 


UETE TaVT« mnosırızı) noakıs ovdeud yiyvorı av nokeı, 


494 Erſtes Buch. Hellas. 


Kann man die Machtlofigkeit einer Gefebgebung, die fremd 
und unvermittelt einem Volk oder einer Zeit aufgezwungen wird, 
unumwundener anerfennen? Kann man entjchiedener die Notwendig— 
feit betonen, überall an das Beitehende anzuknüpfen, es Schritt für 
Schritt umzubilden, zu reformieren und zu bejjern? 

Von einer gewaltſamen revolutionären Umwälzung, von einer 
„dramatiſchen Löſung“, wie fie die Politie zur Ausführung des 
Staatsideals vorgefchlagen, fann unter jolchen Umständen feine 
Rede mehr fein. Und wenn auch Plato nicht darauf verzichtet, der 
Welt noch ein zweites Mal das Mufterbild eines Staates vor 
Augen zu Stellen, — der Gedanke, auch nur diefen zweitbeiten Staat 
ohne weiteres auf dem Boden der gegebenen Zuftände verwirklichen 
zu können, fällt für ihn von vorneherein weg. 

Nun ift aber freilich Plato noch immer viel zu ſehr Spealift 
und Doktrinär, um fich mit der völlig unficheren Möglichkeit zu be 
gnügen, daß die Nation auf jenem langjamen, für die Ungeduld 
des Neformeifers allzu langſamen Wege der Evolution in ideale 
Zuftände bineinwachjen werde. Er will nicht umſonſt der harten 
Wirklichkeit Konzeffionen gemacht haben, er will wenigjtens für die 
relativ vollfommenen Zuftände, die ihm in diefer unvollfommenen 
Wirklichkeit noch erreichbar ericheinen, die Möglichkeit einer raſcheren 
und leichteren Verwirklichung gewinnen. 

Das führt ihn auf einen Weg, der jeitvem von dem Sozia- 
(ismus theoretifch und praktifch immer wieder von neuem betreten 
worden iſt. Wenn nämlich die Zukunftsbilder einer glüclicheren 
Gemeinschaft keinen genügenden Widerhall in der Gefelljchaft finden, 
wenn fich Diefelbe nicht durch einen plöglichen Umſturz zu einer 
jolchen Gemeinjchaft umwandeln läßt, jo ſoll der Welt gezeigt 
werden, was ferne von dem materiellen und fittlichen Elend der 
beitehenden Gejellichaft auf dem Wege des freiwilligen Erperiments 
ein Verein von Männern zu leiten vermag, die für das große 
Werk ver fozialen Erlöfung gewonnen und zu den nötigen Opfern 
bereit find. Wie in der Neuzeit Eabet ferne von der Verderbnis 
der gealterten europäischen Kultur fein Ikarien ins Werk zu jeßen 


IM. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des platon. Gejeßesitaates. 495 


fuchte, wie Hertfas „Freiland“ im Innern des dunklen Exdteils 
eritehen ſoll, jo denkt fich Plato den zweitbeiten Staat in Geftalt 
einer Kolonie verwirklicht, die ferne von dem großen Getriebe des 
helleniſchen Verkehrslebens an einer für die Zwecke dieſes Staates 
bejonders günftig gelegenen und ausgeftatteten Erdenſtelle begründet 
werden Toll. 

Plato ſieht fich durch diefen Ausweg mit einem Schlag von 
all’ den Hindernifjen befreit, welche fih im Nahmen des Beftehen- 
den feinen Idealen entgegenftellten. Dex Gejeßgeber, der ſich außer: 
halb diejes Nahmens befindet, entgeht eben damit „jenem beftigiten 
aller Vorwürfe” und den furchtbaren Gefahren jener Kämpfe, welche 
die Erjehütterung einer felteingewurzelten Eigentumsordnung ent- 
felleln würde. Er fteht auf neuem Boden, wo ihn fein ererbtes 
Necht und Geſetz behindert. Eine ähnliche glückliche Lage, wie die, 
in welcher ſich die Gründer und Gejeggeber der peloponnefischen 
Dorerjtaaten, „vie Kolonien der Herakliden“, befunden hätten, als 
fie ihr Gemeinwejen auf der Grundlage weitgehender Beſitzesgleich— 
heit einvichteten.!) 

Freilich taucht dafür eine Schwierigkeit auf, welche nad) 
Platos Anficht im bejtehenden Staat in diefem Grade nicht vor: 
handen ift, nämlich die Frage: Wie find von der Koloniftengemeinde 
alle Elemente fern zu halten, welchen die für din Neubau der Ge— 
ſellſchaft unentbehrlichen fittlichen und geiftigen Eigenschaften fehlen? 
Der Gejeßgeber des beftehenden Staates habe genügende Anhalts- 
punkte, um eine „Säuberung” vorzunehmen. Er kenne die ſchlimm— 
ſten Elemente, welche ſich als unbeilbar erwieſen, und könne fie 
durch Verbannung und Todesitrafe bejeitigen. Er kenne insbejon- 


1) 736c: ode de un Aavdaveıw yıyvousvov Nuds EuTUynuR, oT 
zadaneo Eeinousv Tv tov Hoazleıdov anoıziav EUTvyeiv, Os yns zei 
49E0v anozonns zei vouns negı deiwnv zei Ennizuvdiwov Eoıv EEepvyer. — 
684d: Olx mv tois vouodeteıs 7 ueyiorn Tov ucwmyewv, loöryte« @vTois 
Tıva zaraorevaLovoı TS ovolas, neo Ev ahlaıs vouoderovuevaıs noAeot 
noAkais yiyveraı, Ecav Tıs men yns TE zIıoIv zıveiv zal yosov diakvoww, 
0pWv Ws oUx dv Övraıro dvev ToVTWv yev£odaı note To ioov ixuvos, 


496 Erſtes Buch. Hellas. 


dere den Pöbel, der ſich allezeit bereit erwiejen, feinen Führen 
zum Kampfe gegen die Befigenden zu folgen, und entferne ihn „als 
eine im Staat ausgebrochene Krankheit” auf möglichjt milde Weile 
durch eine ſyſtematiſche Drganijation der Auswanderung.!) Eine 
Säuberung, die um jo grümdlicher jein werde, je größer die Macht 
des Gefeßgebers ift, am gründlichſten, wenn er zugleich abjoluter 
Fürſt ift. 

Anders der Leiter des Unternehmens, welches Plato im Auge 
hat. Er ift fein allmächtiger Dejpot und hat es amdererjeits mit 
Elementen zu thun, welche ſich ſchwer überjehen laſſen, weil fie aus 
verjchiedenen Teilen der helleniſchen Welt zujammengebracht find. 
Die junge Kolonie wird mit einem See verglichen, in welchem 
Duellen und Gießbäche von allen Seiten her zufammenftrömen. Es 
bedarf ganz bejonderer Aufmerkfjamkeit, den „Zuſammenfluß des 
Wafjers jo rein als möglich zu erhalten.“2) a eine wirklich be- 
friedigende Antwort laſſe fich auf die Frage, wie denn die Neint: 
gung am beiten gelingen werde, a priori überhaupt nicht geben. 

Trotzdem zweifelt Wlato nicht, — und darin ift er wieder 
ganz Optimift und Doktrinär, — daß die Schwierigkeiten und Ge- 
fahren, welche in der Zufammenfeßung des für jein Experiment zur 
Verfügung jtehenden Denjchenmateriales liegen, von der Praris 
ſchon überwunden werden würden. Er jchneidet alle weiteren Ein- 
wände durch einen Machtſpruch ab, indem er ſich darauf beruft, 
daß es fich für ihn ja zunächſt nur um die litterarijche Darjtellung 
des Grperiments, nicht um deſſen praftiiche Ausführung handle! 
Er Lädt den Leſer ein, vorläufig mit ihm anzunehmen, die Bürger: 
ſchaft der neuen Kolonie ſei bereits zufammengebracht und zugleich 
die Säuberung derjelben von allen unlauteren Clementen nad) 
Wunſch gelungen. Die fchlecht gearteten Individuen unter den 
ſich Meldenden jeien nach einer genügend langen und jtrengen 
Prüfung beſtimmt worden zurücdzubleiben, tugendhafte Leute aber 


IT. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des platon. Gejeßesftaates. 497 


nach Kräften duch wohlwollendes Entgegenfommen für die DBe- 
teiligung gewonnen. !) 

Wie ich Plato diefe Prüfung denkt, wird nicht gefagt. Immer— 
hin Liegt Schon in der bloßen Forderung, daß jedem derartigen 
Unternehmen eine jorgfältige moralijche Ausleſe vorangehen müffe, 
ein gewiſſer Vorzug der platonischen Auffaffung vor der jo mancher 
anderen Sozialiften. Man vergleiche 3. B. wie leicht der Schöpfer 
von „Freiland“ über das ganze Problem hinmweggeht! Eines Schönen 
Tages läßt er durch die Preſſe zweier Weltteile verfünden, daß 
fi) eine Anzahl von Männern aus allen Teilen der zivilifierten 
Welt zu dem Werfe vereinigt hätten, einen praftiichen Verſuch zur 
Löſung des jozialen Problems ins Werk zu jeßen. ine völlig ge: 
nügende Bürgſchaft für die Qualifikation ihrer Mitglieder findet 
diefe internationale Gejellichaft in deren Glauben an die Segnungen 
des geplanten Gemeinwejens und ihrer opferfreudigen Begeifterung. 
Diejelben leben in dem echt platonischen Gedanken, einen Staat 
zn gründen, der „Armut und Elend an der Wurzel faſſen, und 
mit diejen zugleich auch all jenen Jammer und die Neihe von Laflern 
vernichten wird, die als Folgeübel des Elends anzujehen find.” 
Und fie haben diefe Überzeugung nicht bloß in Worten, fondern in 
ihrer Handlungsweife zum Ausdruck gebracht, indem fie — jeder 


nach jeinen Kräften — zur Verwirklihung des gemeinfamen Zieles 
beigefteuert. „Dieſe Wohlhabenden und Neichen, — jagt der Grün- 


der der Gefellfehaft und legt darauf ganz bejonderen Nachdruck —, 
die zum Teil mit vielen taufenden von Pfunden an unſerer Kaffe 
erjcehienen, fie find uns bis auf geringe Ausnahmen nicht bloß als 
Helfer, jondern zugleich als Hilfefuchende beigetreten; fie wollen 
das neue Gemeinwefen nicht bloß für ihre darbenden Mitbrüder, 
jondern zugleich für fich jelbit gründen. Und daraus mehr als aus 
allem Anderem ſchöpfen wir die felfenfefte Überzeugung von dem 
Gelingen unjeres Werkes.” 2) 

Plato teilt diefe Hoffnung nicht. Er verlangt von dem Ge— 
BETT 

2) Herkfa: Freiland ©. 6. 

Pohlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u, Sozialismus, T, 





© 
Id 


498 Erſtes Buch. Hellas. 


nofjen feiner idealen Kolonie ftärfere Bürgschaften als den Glauben 
an das verheißene Glück und die Leiftung der materiellen Opfer, 
die fie um dieſes Glücdes willen bringen. Während die Verwirk- 
lichung von Freiland gefichert it, wenn die Mitgliederlifte der inter: 
nationalen Gelellfehaft eine genügende Anzahl von Beiträgen auf 
weist, ift dies bei Platos Kolonie erſt dann der Fall, wenn es un: 
zweifelhaft feitjteht, daß deren Mitglieder einen genügenden Fond 
von jittlihen Kräften mitbringen. Auch jucht Plato noch eine 
weitere Bürgichaft darin, daß jeine Koloniften in ihren Nechtsan- 
ſchauungen, ihren fittlichen und religiöſen Ideen von vorneherein 
ein gewifjes einheitliches Gepräge zeigen; er will fie vorwiegend 
aus Ländern dorischen Stammes, aus Kreta und dem PBeloponnes 
genommen willen, ) wo er in Staat und Gejelljchaft bereit3 jo manches 
verwirklicht fand, was ſich mit jeinen eigenen Idealen berührte. 

Aber nicht nur das Volkstum, welches zum Träger dieſer 
Ideale berufen wird, muß ganz bejtimmten Vorausſetzungen ent 
Iprechen, jondern auch die Äußeren, phyſiſchen Bedingungen, unter 
denen der neue Staat ins Dafein treten ſoll, müſſen ganz befonders 
günftige fein. Sorgfältig werden die Einflüffe erwogen, welche die 
Berhältniffe der Äußeren Natur auf Volksgeiſt und Volksgemüt 
ausüben. Wenn man neuerdings gefordert hat, daß die Wifjen- 
ichaft der Politik auf die Naturgejchichte des Volkes im Zuſammen— 
bang mit dem Lande zu begründen jet, jo erſcheint hier Plato als 
einer der Erften, welche diefer Forderung gerecht zu werden juchten. 
Seine Erörterungen über das Ineinanderwirken der phyfiichen und 
moralijchen Welt, über den Kaujfalzufammenhang zwilchen Landes- 
und Volksnatur berühren fich unmittelbar mit den Ergebniffen der 
damaligen Naturwiſſenſchaft, wie fie in den hochbedeutſamen Unter: 
juchungen des Hippofrates über die pfychologisch-phyftologischen Ein- 
wirfungen von Boden, Klima u. j. w. vorlagen. 

Ganz im Geifte des großen Arztes von Kos nimmt Plato 
einen Zuſammenhang zwijchen der Landesnatur md der größeren 


ı) 708a. 





III. 3. 2. Die joztalöfon. Grundlagen des platon. Gejegesftaates. 499 


oder geringeren fittlichen und intellektuellen Tüchtigfeit des Volkes an. 
Er hebt die einzelnen phyſikaliſchen Verhältniſſe hervor, die nad) 
jeiner Anficht nicht bloß auf den Körper, jondern auch auf das 
Seelenleben einen guten oder jchlimmen Einfluß auszuüben ver- 
mögen: Das Syſtem der Luftſtrömungen, die Temperatur der At- 
mojphäre, die Bejchaffenheit des Waſſers und der Nahrung, !) und 
er fordert daher auch von dem Staatsmann und Gejeßgeber eine 
jorgfältige Erwägung aller in Betracht kommenden Naturfaktoren 
und geographiichen Berbältniffe, die jeine Bemühungen um die ſitt— 
liche und aeiftige Hebung der Völker ebenjojehr erleichtern, wie 
erſchweren können.) 

Bon diefem Gefichtspunft aus erjcheint als eine der wich- 
tigften Vorfragen die richtige Ortswahl. Wlato nimmt an, daß 
auch diefe Frage befriedigend gelöft jei. Er weiſt auf einen herren: 
lojen Landftrich im Innern der Inſel Kreta hin,?) wo fich alle die 
geographiichen Vorausſetzungen finden jollen, die für das Gedeihen 
des geplanten Gemeinwejens notwendig jeien. 

Der Platz für die Stadtgründung ift SO Stadien (zwei geo- 
graphiiche Meilen) von der Meeresküfte entfernt. Cine nach Platos 
Anſchauung ſehr günftige Lage! Denn der Staat nach ſeinem 
Herzen kann ja nur ein Agrikulturftaat fein, in dem Handel und 
Gewerbe zu möglichjter Beveutungslofigkeit herabgedrüct jind.*) 
Diefer Staat flieht daher die Nachbarschaft des Meeres, weil fie 
die Bürger mit Dandelsgeift und krämeriſcher Gewinnfucht exfülle, 
den Volfscharafter trügeriſch und unzuverläjlig mache und jo die 
Bürger im Verkehr unter ſich, wie mit anderen Menjchen der Treue 

) 747d. 

?) Ebd. Vgl. meine „Hellenischen Anſchauungen über den Zuſammen— 
hang zwijchen Natur und Gejchichte” ©. 59 ff. 

>) Nach) Plato war die im Ausſicht genommene Gegend einjt von 
thejjalijchen Magneten bewohnt gewejen, danı aber — feit deren Auswan— 
derung nach Alien — umnbefiedelt und wüſte Liegen geblieben. Daher be- 
zeichnet ev die nee Anlage wiederholt als „Stadt der Magneten“. 704c, 860d. 

9 ©. oben ©. 218. 

32* 


500 Erſtes Buch. Hellas. 


und dem Wohlwollen entfremde.') Auch ift hier gar fein beſon— 
deres Bedürfnis nach Seeverfehr und überſeeiſchem Handel vor: 
handen. Denn das Land bringt faſt alle notwendigen Erzeugnifje 
jelbft hervor, es bedarf Feiner nennenswerten Einfuhr, andererjeits - 
ift infolge feines gebirgigen Charakters diefe Ergiebigfeit feine ſo 
große, daß fie zu einem lebhaften Ausfuhrhandel Veranlaſſung geben 
könnte. Überhaupt ift eine maritime und kommerzielle Entwiclung 
außerordentlich dadurch erſchwert, daß das Material für den Schiffs: 
bau jo gut wie völlig fehlt. Alle die Hölzer, welche derjelbe be— 
darf, die Tanne, die Fichte, die Föhre, die Cypreſſe, die Platane, 
find entweder in ungenügender Zahl oder in ungenügender Größe 
vorhanden. Angefichts diejer „glücklichen“ Naturverhältniffe iſt auch) 
nicht an eine ſtarke Entwiclung der Geldwirtichaft zu denken. Mit 
dem auswärtigen Handel kommt die größte Gefahr für die Volks— 
moral, die Überſchwemmung des Landes mit Gold- oder Silbergeld 
von vorneherein in Wegfall.2) 

So fann denn mit gutem Vertrauen auf die Zukunft Die 
Einrichtung des neuen Gemeinweſens in Angriff genommen werden. 
Möglichſt in der Mitte des ganzen Gebietes erhebt ji von einer 
freistunden Ningmauer umgeben die Zandesburg mit dem Heilig: 
tum der Schußgötter des Staates, der Heltia, des Zeus und der 
Athene. Radial von diefem Zentrum aus wird das anjchließende 
Stadtgebiet in zwölf Quartiere eingeteilt und dementſprechend das 
ganze platte Land in zwölf Flurbezirke, und zwar find die Flur— 
bezirfe ihrer Größe nach ungleich, d. h. breiter oder ſchmäler, in— 
dem die mit gutem Boden einen Kleineren Umfang befommen, die 
weniger ergiebigen einen größeren. Durch eine weitere Unterabtei- 
lung wird dann — der Zahl der Bürger entjprechend — die ge 
ſamte Landesmark nach demjelben Prinzip unter genauer Beobach— 
tung der Bodenbejchaffenheit in 5040 ungleich große, aber dem 
Ertrag nach Aleiche Grundſtücke zerlegt, und von dieſen wieder jedes 





III. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des Platon. Gejeßesitaates. 501 


in zwei Teile.) Je zwei dieſer Teiljtücle werden zu Einem Los 
vereinigt, welches den Landanteil des einzelnen Bürgers repräfentiert 
umd zwar in der Weile, daß immer ein in der Nähe der Stadt 
gelegenes Stück mit einem ferner liegenden kombiniert wird.?) Die 
Zuweilung diefer zweigeteilten Hufen an die Bürger erfolgt dur) 
das Los, jo daß die denkbar vollfommenfte Gleichheit alles Grund: 
befiges hergeftellt ift. Aber auch das bewegliche Vermögen, das 
die Kolonisten mitbringen, ſoll mit dem Gleichheitsprinzip einiger: 
maßen in Einklang gebracht werden. Es wird öffentlich aufgezeich- 
net umd dann möglichit gleihmäßig unter die zwölf Abteilungen 
verteilt, in welche die Bürgerschaft — entiprechend den zwölf Be— 
zirken des Landes — gegliedert it.) Endlich erhält jeder Bürger 
zwei Häufer, eines in der Stadt und eines auf dem platten Zanpde.t) 

Wie das ganze Land feinen Mittelpunkt in der Stadt findet, 
jo jeder der zwölf Bezirke in dem Marktflecken, der in feiner ganzen 
baulichen Einrichtung ein Abbild der Stadt im Fleinen ift. Gr hat 
einen Marktplatz mit den Heiligtüimern der Stadtgötter umd der 
befonderen Schußgottheiten des Bezirkes, zu deren Feſten die Be— 
wohner desjelben fich bier zu verſammeln pflegen; er ift Stügpunft 
der Landesverteidigung und zugleich Wirtichaftszentrum, indem hier 
als Beilaßen und Fremde die Gewerbetreibenden zufammenwohnen, 
deren die Landwirte der Umgegend bedürfen.) Was die übrige 

) Die Zahl 5040 iſt mit Rückſicht auf die fomplizierten Teilungen 
gewählt. Da fie durch alle einfachen Zahlen bis 10 und dann Wieder durd) 
12 ohne Bruch teilbar ift, jo bietet fie eine bequeme Grundlage für die 
Flurteilung, wie für die politifche und militärifche Gliederung des Volkes. 737 e. 

2) 745d. 

3) ib.: veiuaoda dE der zul ToVs drdoas dwdexe ueon, mv ms 
adlns ovolav £is ioa« 0 tı uckıora ra dwdexa ucon ovvrafdusvov, dno- 
yoagns ndvrov yeroukvns. Diefe Ausgleihung ift allerdings nur eine 
annähernde. (vgl. 745a.) Der reichere Kolonift muß fich mit einem gewiſſen 
Marimum begnügen, damit für den ärmeren ein Minimalbefik zur Verfü: 
gung stehe. 

) 745e. cf. 775e. Die Höfe auf dem platten Lande find insbeſondere 
für die erwachjenen Söhne und Erben der Hufner bejtimmt. 

5) 848e. 


502 Erſtes Buch, Hellas. 


gewerbliche Bevölkerung betrifft, jo bewohnt fie das Weichbild der 
Stadt in eigenen Vororten, die ſich — je einem der zwölf Stadt: 
quartiere entjprechend — rings um die Stadt herumziehen, jo daß 
die in der Stadt wohnenden Bürger von der gewerbetreibenden 
Bevölkerung räumlich vollfonmen getrennt find. 

Dieje räumliche Trennung joll auch eine wirtjchaftliche und 
Klaſſenſcheidung ſein. Denn der Bollbürger hat feinen anderen 
Beruf, als die Pflege der politischen Tugend. „Die allgemeine 
Drdnung des Staates herzuftellen und zu erhalten ift eine Kunft, 
welche den Bürger vollftändig in Anfpruch nimmt, viel Übung und 
mannigfache Kenntnifje erfordert und ſich nicht als Nebenwerk be 
treiben läßt.!) — Wer es zum Hauptwerk feines Lebens macht, 
jeine Leibes- und Seelenkräfte zur Vollkommenheit zu bringen, findet 
zweimal joviel, ja noch weit mehr zu thun, als derjenige, dem das 
Streben nach dem pythiichen oder olympischen Sieg zu allen andern 
Gejchäften des Lebens Feine Zeit übrig läßt.?2) Daher ijt den Bür- 
gern jeder Betrieb von Handel und Gewerbe auf das jtrengite unter- 
jagt. Die wirtichaftliche Grundlage ihrer Eriftenz ift einzig und allein 
der — von unfreien Zandarbeitern bejtellte — Grundbefiß, der für den 
mäßigen Unterhalt einer Familie ausreicht. Auch erhält der Grund: 
befiß eine ſoziale Organiſation, welche alles jorgfältig fernehält, was 
das Eindringen merkantiler Spekulation und einfeitig kapitaliſtiſcher 
Tendenzen begünftigen, was überhaupt die einmal fejtgejegte Ord— 
nung jtören könnte, 

Wenn auch auf den gemeinwirtichaftlichen Betrieb des Acer: 
baues als auf ein unausführbares deal verzichtet wird, jo ſoll 
doch der Gedanke jtrenge fejtgehalten werden, daß aller Grund und 
Boden als Gemeingut des ganzen Staates zu betrachten ift, daß 
daher der Befiß, welcher dem Einzelnen durchs Los zugefallen, dem— 
jelden nur ein Nußungsrecht gewährt.) Der Boden, den er be 


1) 846d. 
2) 807e. 


) 739e: veucodov d’ ovv roıgde diavoig nws, Ws doa dei iv 





II. 3. 2. Die joztalöfon. Grundlagen des platon. Gejeßesftaates. 503 


baut, iſt des Vaterlandes Erde, die er noch forgfältiger hegen und 
pflegen muß, als Kinder ihre Mutter.!) Eine Auffaffung, die ihren 
rechtlichen Ausdruck darin findet, daß jede Veräußerung, jeder Kauf 
over Verfauf von Grund und Boden unbedingt ausgejchloffen ift.?) 
Der Landanteil jedes Bürgers iſt für alle Folggzeit in den heiligen 
Iempelfataftern auf cypreſſenen Tafeln verzeichnet,?) er kann als 
ein unteilbares und unveränderliches Ganze von dem Vater ftets 
nur auf einen einzigen Sohn, beziehungsweife Adoptivjohn über- 
gehen, der in allen Stüden, in den Verpflichtungen gegen Haus 
und Staat, gegen Götter und Menjchen, Nechtsnachfolger des Vaters 
iſt.) So foll die Zahl von 5040 Hufen als ebenjovieler Befites- 
einbeiten ſtets unverrückt aufrecht erhalten werden. 

Plato verhehlt ſich nicht, daß das feine großen Schwierig: 
feiten haben werde, und er denkt auch auf mancherlei Mittel, den: 
jelben zu begegnen. Die Söhne, die auf der väterlichen Hufe feine 
Verforgung finden, follen von anderen Bürgern adoptiert werden, 
die feine männliche Nachfommenschaft haben und zwar von jolchen, 
„denen fie der Vater am liebjten gibt und die fie am Lliebjten 
nehmen“.5) Wenn fi) das aber auf dem Wege der Freiwilligkeit 
nicht erreichen läßt, oder wenn ein Bürger eine zu große Zahl von 
Söhnen hat over von Töchtern, die er nicht alle verheiraten kann, 
jo joll die Staatsgewalt die nötigen Maßregeln ergreifen. Ihre 
Sache ift es überhaupt, mit allen Mitteln der Übervölferung vor: 
kayovra ınv Ansıv Taviımv vouileıv uEv xoıvnv avınv ın5 nokewms 
Evundons zu. 

1) jb.: neroidos dE ovons ns XWwous Heoaneveiv avuımv dei 
usılovos 7 unteoe ntaides. 

2) 741b. Der Bürger joll bedenfen, daß fein Land den Göttern ge: 
heiligt ift (as yrjs isods oVons Tor navıov Ssov) und daß Priefter und 
Priefterinnen unter Darbringung don nicht weniger als drei Opfern im 
Gebete erfleht haben, e3 möge den Käufer oder Verkäufer des Landlojes die 
verdiente Strafe treffen. 

>) 74lc. 

4) 740b. 

>) 740c. Die Adoption erfolgt zard yaoıy udkıore, 


504 Erſtes Buch. Hellas. 


zubeugen, wie fie auch in dem umgekehrten Falle mit ihrer Für: 
jorge eintritt, wenn der Nachwuchs der Bevölkerung nicht genügen 
jollte, die Bürgerſchaft volßählig zu erhalten. Unter den „zahl: 
reichen” Mitten, welche „allzu veichliche Zeugung“ hemmen, oder, 
wenn nötig, zur Aufziehung von Kindern ermuntern jollen, nennt 
Nato öffentliche Auszeichnungen bezw. Ehrenftrafen, Ermahnungen 
und Zurechtweifungen der jüngeren Männer von jeiten der älteren, !) 
und, wenn all dies verfagt, im Falle dauernden Übergewichtes der 
Sterblichkeit über die Geburtsziffer Aufnahme von Fremden bis 
zur Herftellung der normalen Bürgerzahl,2) im Falle der Über- 
völferung dagegen eine jtaatlich organifierte Auswanderung, bei der 
allerdings von Plato vorausgejeßt werden muß, daß es Feines 
Zwanges bedürfen werde, um diejenigen, welche der Regierung für 
die Teilnahme an einer Koloniegründung geeignet erjcheinen wür— 
den, zum Berzicht auf die Heimat zu beftimmen.?) Um jo größer 
ift der Zwang, der — allerdings in Übereinjtimmung mit den be 
ftebenden Nechtsanfchauungen — dem weiblichen Geſchlecht auf: 
erlegt wird. Der nad) diefer Anſchauung den Verwandten zus 
jtehende Nechtsanfpruch auf die Hand von Erbtöchtern, über welche 
der Water nicht legtwillig verfügt hat, wird auch im platoniſchen 
Staate anerkannt, nur wird dieſes Necht im fozialpolitischen Inter— 
eſſe dahin modifiziert, daß derjenige Verwandte den Borzug erhält, 
der noch nicht im Beſitz eines Landloſes ift.*) 

Dank diefer Agrar und Bevölferungspolitif kann es unter 
den Bürgern weder landloje Broletarier, noch Latifundienbefiger 
geben. Nur Eine Möglichkeit jozialer und ökonomischer Ungleich- 
heit bleibt auch hier: die des mobilen Stapitalbejiges. Ste ganz 
zu beſeitigen, ift bei der privatwirtchaftlichen Drganifation der 


1) 740d. 

2) 74le. 

>) 740e. Auf die gewaltfamen Mittel, welche die Bevölferungspolitif 
des Gdealftaates zur Anwendung bringt (vergl. oben ©. 293), kommt hier 
Plato nicht mehr zurück. 

1) 924 e. 





III. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des platon. Gejekesftaates. 505 


agrariichen Betriebe und bei der Inſtitution des Brivateigentums 
undenkbar. So joll wenigitens duch Aufftellung eines Minimal 
oder Marimalbefises der Entjtehung größerer Gegenſätze vorgebeugt 
werden, und zwar joll als Eleinftes Maß beweglichen Bermögens, 
dejfen Verringerung nicht zuläſſig ift, der Wert einer Hufe, — 
eines vollen Losanteiles, — angenommen werden, als Maximum 
das Vierfache dieſes Betrages.!) Was jemand darüber erwirbt, 
joll bei Schwerer Strafe dem Staat und feinen Göttern dargebracht 
werden. Eine Vorschrift, mit deren Durchführung eine der höchiten 
Behörden betraut ift, welche jorgfältige Aufzeichnungen über das 
bewegliche Vermögen der Bürger zu führen und jo eine gleich ſtrenge 
Kontrole über dasjelbe zu üben hat, wie über das Grumdeigentum.?) 

Auch darin erſcheint die Stellung des mobilen Kapitals den 
Nechtverhältniffen des Grundbeſitzes möglichit angenähert, daß ver 
Einzelne nur ein ftarf beichränktes Verfügungsrecht über jeine be 
wegliche Habe beſitzt. Bezeichnend it die Begründung, mit welcher 
Plato die in diefer Hinficht für legtwillige Verfügungen aufgeftell- 
ten Vorſchriften einleitet. 

„Freunde, läßt er den Gejeßgeber zu den Sterbenden jagen, 
es it Schwer für Euch, Eure Verhältniſſe und noch ſchwerer — um 
mit der Pythia zu reden — Euch ſelbſt zu erkennen. Daher er- 
kläre denn ich Euch, der ich Euer Gejeßgeber bin, daß nicht ein— 
mal Ihr ſelbſt Euer Eigen ſeid und noch weniger Diele 
Eure Habe, jondern daß diejelbe Eurem ganzen Gejchlechte ge- 
hört, ſowohl dem, das vor Euch war, als dem, das nah Euch 
fommen wird, ja noch mehr, daß dieſes ganze Gejchlecht 
jamt feinem Bermögen dem Staate gehört.) Wenn dem 

') 744d: Eorw d) nevias u&v 0005 7 Tod zAmoov ruun, ov dei ueveiv 
zai öv doywv ovdeis ovderi note egiorpera Ehdıro yıyvouevor, 

2) 745 a. 

3) 923a: Eyoy’ ovVy vouodEerns ou ν wuroveivar 
Tiymut oVTE Tmv oVoigv Tavımv, Zuurevtos de ToV yEvovs luov rov TE 
Eungoo#ev zai Tod Eneıta Eooufvov, zai Erı uahkov ıns nokewg Eivaı 
To TE yEvos navy xal ıov ovoiav. Dal. 877d: ovdeis olxos ıuv 


506 Grites Buch. Hellas. 


nun aber jo ift, Jo werde ich es nicht qutwillig zugeben, daß Euch 
jemand, während Euer Geift von Krankheit und Alter erjchüttert 
it, mit Schmeicheleien umjchleiht und Euch zu Anoronungen be 
ſchwatzt, welche dem gemeinen Beſten widerſprechen. Vielmehr werde 
ih) im Hinblid auf dieſes gemeine Belte, auf das Wohl Eures 
ganzen Gejchlechtes, wie des ganzen Staates Euch Durch Gejege 
beſchränken, indem ich mit vollem Nechte den Borteil des Einzelnen 
geringer anjchlage, als den der Gejamtheit.!) Darum möget Ihr 
in Frieden und Wohlwollen gegen uns den Weg gehen, den Ihr 
jegt nach der Ordnung der menschlichen Natur betretet und Euch 
darauf verlajfen, daß wir für alles, was Euch gehört, nach beften 
Kräften Jorgen werden.“ 

Nach ſolchem „Freundlich ermahnenden” Eingang verfügt das 
Geſetzt Der Erblafjfer hat das Necht, denjenigen feiner Söhne, 
welchen er für den würdigſten erachtet, zum Erben der Hufe und 
des gejfamten dazu gehörigen Inventars einzufegen. Hat er noch 
andere Söhne, Die nach dem Gejeß möglicherweile in eine Kolonie 
ausgeſandt werden könnten, jo kann er das übrige Vermögen nad) 
Belieben unter fie verteilen. Dasjelbe gilt für unverlobte Töchter. 
Dagegen dürfen Söhne, die bereits ein Haus haben (als Erben der 
väterlichen Hufe oder als Adoptivföhne von Hufenbefigern), nichts 
von dieſem Vermögen erhalten, ebenjowenig Qöchter, die bereits 
verlobt find. — Letzteres entiprechend dem Geſetz, das hier gleich 
miterwähnt jei, daß in diefem Staat niemand eine Mitgift nehmen 
oder geben darf,2) damit nicht „Übermut bei den Weibern und 
ſklaviſche Kriecherei um des Geldes willen bei den Männern ent: 


TETTEE«LXoVT« xl nevraxıioyıdlov TOD EvoLzovdvrog Eoriv ovdE Evunevrog 
ToV yEvovs 0VTWS WS TS TOAEmS Gmuooıos TE xal idvos.dei dy 
Tyv yes nökıw ToVs aurjs olzovs WS ÖOLWIETOVS TE Kal EUTVYEOTETOVS 
ZELTNIIRL xXard dvvauır. 

) 923b: 0 ru dE rn modeı TE dpLoTov naon xal YErEi, 005 av 
tovro BAerıwv vouodErnow, 10 Eros ExdoTov zararıdeis Ev uolgaıs EAdTrooL 
dixaiwms. 

2) 742. 





III. 5. 2. Die ſozialökon. Grundlagen des platon. Geſetzesſtaates. 507 


ſtehe.“) — Ebenfo ſollen diejenigen Söhne oder Töchter, welche 
nach der Abfaffung des Teitamentes durch Adoption bezw. Heirat 
ihre Berforgung gefunden haben, das ihnen vermachte mobile Kapital 
an den Haupterben abtreten. Hat der Erblaffer nur Töchter, Yo 
joll er nach freier Wahl einer derjelben einen Gatten bejtimmen, 
der natürlich noch Feine Hufe befigen darf, und denfelben als Erben 
der Hufe an Sohnes Statt einjegen. Falls eine ſolche Willens— 
erklärung fehlt und unverheiratete Töchter vorhanden jind, beſtimmt 
die Bormundjchaftsbehörde Für die Erbtochter einen Mann und 
zwar womöglich den nächſten Verwandten des Erblajjers, dem dan 
das Erblos zugeteilt wird. Macht endlich jemand ein Tejtament, 
der völlig Einderlos ift, So joll ev nur über den zehnten Teil des 
zum väterlichen Grundbeſitz hinzuerworbenen Vermögens frei ver: 
fügen können; alles übrige hat ex demjenigen zu hinterlafjen, den 
er dem Gejeß gemäß adoptieren und zum Exben der Hufe Deftellen 
muß, damit ev fih jo an ihm in ungejchmälerter Achtung einen 
dankbaren Sohn erhalte.) 

Aber ſelbſt in dieſer umfaſſenden, überall den individuellen 
Willen den Zweden der Gemeinjchaft unterwerfenden Negelung des 
Vermögensrechtes ſieht Plato noch Feine genügende Bürgſchaft für 
die volle Verwirklichung diefer Zwede. Er verbindet damit jenes 
noch ungleich tiefer eingreifende, jede Fapitaliftiiche Entwicklung der 
Volkswirtichaft im Keime exftidende Syſtem ftaatlicher Wirtjchafts: 
politik, welches wir bei der Darftellung der antifapitaliftifchen Ge— 
jamtanjchauung Platos bereits in jeinen Grundzügen kennen gelernt 
haben.) Der Staat läßt nicht zu, daß Silbers- oder Goldesteich- 
tum einen feiten Wohnfiß in ihm erhalte;t) er duldet daher im 





') 774d. Ausgenommen ift nur die Ausftattung in Stleidern u. j. w. 
im Werte von 50, 100, 150, 200 Drachmen (ca. 120 M.) je nad) der 
Cenſusklaſſe. 

2) 923 c—924 a. 

2) ©. oben ©.-213 ff. 

4) 801: . . . ovre doyvoovv dei nAovrov ovte yovoovv Ev nıodeı 
idovusvov Evoizeiv, 


508 Erſtes Buch. Hellas. 


inländischen Verkehr nur eine Landesmünze von unedlem Metall, 
die außerhalb jeiner Grenzen feine Gültigkeit hat. Helleniſches 
Kourant, Gold- und Silbergeld bejigt nur der Staat, der dasselbe 
für jeinen nicht ganz zu vermeidenden Verkehr mit dem Ausland 
nicht entbehren fann. Der Brivatmann, der ins Ausland reift, 
was er Übrigens nur mit Erlaubnis der Negierung thun darf, muß 
ſich ſolches Geld an der Staatskaſſe einwechleln. Ebenſo hat er 
alles, was er aus dem Ausland —— an derſelben Kaſſe 
wieder in Landesmünze umzutauſchen.,) Was den Gebrauch dieſer 
letzteren betrifft, jo ift auch er ein außerordentlich befehränfter. Sie 
dient faft nur als Taufchmittel und Wertmaßftab. Das eigentliche 
Geld- und Kreditgeichäft ift in der bereits früher geſchilderten Weife 
durch die Unklagbarfeit von zinsbaren Darlehen, durch das Ber: 
bot des Zinsnehmens überhaupt unmöglich gemacht.?) 

Übrigens würde dasjelbe für den Bürger von vorneherein 
nicht in Betracht kommen. Der Bürger hat ji) durchaus mit dem 
Ertrage des Landbaues zu begnügen. Eben deshalb ift ihm ja auch) 
jede Beteiligung an Sntbefsgefähkften an gewerblicher und Hand— 
werksthätigkeit und ſei es auch nur mittelbar durch jeine Sklaven 
unter Androhung ſchwerer Strafen unterjagt.?) 

Selbjt in der Verwertung des Ertrages jeiner Grundftüce 
jind ihm enge Grenzen geſteckt. Zunächſt it die Ernährung fait 
der ganzen bürgerlichen Bevölkerung Sache des Staates. In öffent: 
lichen Speifehäufern vereinigen fich die Bürger und — infolge der 
grumdjäglichen Gleichitellung des weiblichen Gejchlechtes — aud) die 
Bürgerinnen mit ihren Kindern alltäglich zu gemeinfamen Mahl: 


1) 742b. 
?) 742c. ©. oben ©. 226 5. 
3) 846d: . . . Ereyworos umdeis Eotw TWv nIE0OL TE dmutovpyırd 


Teyrnuata dtenovovvrwv, unde oizeıns ardoös Enıywoiov. Vgl. 741c 
und die Strafbeitimmung 919d: Wer irgend ein Gewerbe treibt, das ins 
Gebiet des Kleinhandels einjchlägt, macht ſich „der Beſchimpfung feines Ges 
ſchlechtes“ jchuldig und wird zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Hilft 
das nicht und wird ex rückfällig, jo wird die Gefängnisftrafe verdoppelt und 
jo in jedem weiteren Falle! 





II. 3. 2. Die jozialöton. Grundlagen des platon. Gejegesftaates. 509 


zeiten, zu denen nach dem Vorbild des Fretiichen Syflitieninftitutes 
alle Bürger einen Teil der Erträge ihrer Landwirtſchaft zu jteuern 
haben.) Aber auch in der Verfügung über das, was dem Ein- 
zelnen nach dieſer Abgabe übrig bleibt, ift er durch den Staat viel- 
fach gebunden. 

Handelt es fich doch bier um ein Gebiet der Vollswirtichaft, 
welches bereits der bejtehende Staat vor allen anderen zum Gegen: 
ſtand ftaatlicher Bevormundung und Leitung gemacht hatte. Die 
ganze Situation der Stadtjtaatwirtichaft mit ihrem  bejchränften 
Produftionsgebiet, die außerordentliche Größe der Gefahren, die hier 
Schwierigkeiten in der Verſorgung mit den unentbehrlichen Lebens— 
mitteln für den Beſtand des Staates ſelbſt enthielten, hatte auch 
in ven fortgejchritteniten Gemeinwejen zu einem Syftem ftaatlicher 
Negulative geführt, welches durch Gelege gegen Auffauf und Korn: 
wucher, durch Ausfuhrverbote, Stapelvechte u. ſ. w. den Nahrungs: 
mittelverfehr im Intereſſe der Gefamtheit künstlich zu regeln juchte.:) 

Der platonijche Idealſtaat, der alle Vorausſetzungen der Stadt- 
ſtaatwirtſchaft herübernimmt und die Schwierigkeiten derjelben durch 
möglichite Iſolierung gegenüber der Außenwelt noch vermehrt, ift 
natürlich genötigt, auch diejes jtaatliche Bevormundungsiyiten nach 
allen Seiten hin auszubauen und zu verjchärfen. 

Die Grundlage jeiner Agrarpolitik ift das unbedingte Verbot 
jeder Ausfuhr von landwirtichaftlichen Erzeugniſſen, jowie die volle 
Öffentlichfeit der Ernteerträge und Vorräte, ihr Ziel, die leßteren 
jtets in vichtigem Verhältnis zum augenbliclichen und fünftigen 
Bedarf zu erhalten. Es joll nicht zu wenig und nichts zu teuer 
auf den Markt kommen. Zu dem Zweck haben alle Bürger den 
geſamten Jahresertrag ihrer Landwirtſchaft in zwölf Teile zu teilen 
und jedes Zwölftel wieder in drei verhältnismäßige Teile nach einem 
Maßſtab, der durch das Zahlenverhältnis von Bürgern, Unfreien 
und Beiſaſſen beſtimmt wird.?) Der lebtere Teil wird wie eine 





) 780b ff. 
?) Vgl. Böckh. Staatshaushaltung der Athener 1?. 103 ff. 
») 847e. 


510 Grites Buch. Hellas. 


Art Lieferung aufgefaßt, welche die Landwirte in fejtgeregelter Weife 
gegen Entgelt der gewerblichen Bevölkerung zu leiſten haben. Keiner 
darf etwa in ſpekulativer Abſicht Vorräte länger zurückhalten oder 
eher veräußern, oder in anderen Quantitäten oder anderswo — 
etwa an Aufkäufer — verkaufen, al3 der Staat vorjchreibt. Viel: 
mehr ſoll jeder Bürger in monatlichen Zwijchenräumen den zwölf- 
ten Teil der zum Verkauf an die Beiſaſſen beftimmten Vorräte 
durch eigens dazu bejtimmte Mittelsperfonen — nichtbürgerlichen 
Standes — auf den „Fremdenmarkt” bringen laſſen, damit das 
gewohnte Angebot niemals willkürlich gejtört, die Größe und der 
Preis der zu Markte gebrachten Vorräte möglichſt vor Schwankungen 
bewahrt bleibe.) Was vollends die für den eigenen Bedarf der 
bürgerlichen und aderbauenden Bevölkerung vorbehaltenen Erzeug- 
niſſe der Landwirtſchaft betrifft, jo ſoll bier jede Vermittlung durch 
den Zwiſchenhandel, wie er für die Beifafjen umd Fremden — 
allerdings nur in der Form der „Höckerei“ — ausdrücklich zus 
gelafjen wird, in Wegfall fommen. Der Landwirt joll von dieſem 
Teil feiner Erzeugniffe immer nur wieder an den Landwirt d. h. 
der Bürger an den Bürger verfaufen.?) 

Die Wirkjamkeit diefer Gefeßgebung reicht nun aber natürlich 
noch weiter über den Kreis des Bürgertums hinaus. Auch in der 
Handel und Gewerbe treibenden Klaſſe ſollen jpefulative und kapi— 
taliftiiche Tendenzen feinen Nährboden finden. Die für den In— 
faffen ebenfo, wie fir den Bürger geltenden Beftimmungen über 
Geld- und Kreditverkehr ſtecken dem Erwerbstrieb auch diejer Klaſſe 
von vornherein die engiten Grenzen. 

Sie hat ja ohnehin feine Zukunft in einem Staat, der als 





') 849b. Am erften Monatstag ift Kornmarft, wo fich jeder Beis 
jaife und Fremde auf einen Monat mit Brotfrucht zu verjorgen hat; am 
zehnten Markt für alle flüjfigen Erzeugniffe, am zwanzigften Viehmarkt, immer 
für die gleiche Zeit. An dem legten Markttag jollen auch alle Nebenprodufte 
der Landwirtichaft zum Verkauf kommen, wie Felle und jonjtige Bekleidungs- 
jtoffe, Geflechte, Filzwaren u. j. w. 

2) 849c. 





11. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des platon. Geſetzesſtaates. 511 


reiner Agrikulturftaat ſich noch etwas darauf zugute thut, daß er 
— dank jeinen unentwidelten volfswirtichaftlichen Verhältniſſen — 
„nicht Halb jo viel Geſetze“ braucht, wie die meiften anderen Staaten, 
insbejondere „fait fein Gejeß über Seeweſen, über Groß- und Klein: 
handel, über Gafthäufer, über Zölle!) und Bergwerfe, über Darlehen 
und Wucher“, — in einem Staat, der „das alles ruhig von der 
Hand weiſen kann, weil er es nur mit Aderbauern, Hirten, Bienen: 
züchtern und jolchen zu thun bat, welche jenen die nötigen Hilfs: 
mittel und Werkzeuge bejorgen.” 2) 

Die ganze Thätigkeit von Handel und Gewerbe bat fich eben 
darauf zu bejchränfen, einer aderbauenden Bevölkerung die unent— 
behrlichjten Handwerkserzeugniffe und ſonſtigen Bedarfsgegenftände 
zu liefern. ine Grenze, die dadurch noch enger gezogen wird, daß 
der Staat Jorgfältig darauf bedacht ift, die Lebensbedürfniffe der 
herrichenden Klafje auf einem möglichit beſcheidenen Niveau zu er— 
halten, und daher von vornherein überhaupt nur jolche Gewerbe 
zuläßt, welche „notwendige“ Bedürfniſſe befriedigen.) 

Der ganze ohnehin im allerengiten Nahmen ſich bewegende 
Ein und Ausfuhrverkehr ſteht unter Ichärfiter ftaatlicher Kontrolle, 
welche nur das ins Land läßt, was nun einmal nicht entbehrt 
werden kann, und andererjeitS jede Ausfuhr der im Innern ver- 
wendbaren Erzeugnifje des Landes unmöglich macht.*) 

Und nicht genug, daß der Kreis der Objekte, an denen fich 
der geichäftliche Unternehmungsgeit bethätigen könnte, ein überaus 
enger iſt, auch innerhalb der ihm thatlächlich zugeitandenenen Sphäre 
it Gewerbe und Handelsverfehr in hohem Grade gebunden. 

Adgejehen von den ohnehin ſchon Schwer genug auf ihm laſten— 
den Normen über Geld» und Kreditweſen jteht ſich dieſer ganze 
Verkehr einem Syſtem ftaatlicher Regulative unterworfen, welches 
den Handel- und Gewerbetreibenden auf Schritt und Tritt daran 





) &3 gibt in diefem Staat weder Einfuhr: noch Ausfuhrzöfle S47b, 
2) 842d. 

>) 920. 

#) 847b ff. 


512 Erſtes Buch. Hellas. 


erinnert, daß er nichts als ein wirtfchaftlicher Funktionär im Dienfte 
des Landes fein ſoll,) daß er fich daher jeder jpefulativen Aus— 
beutung jeines Berufes, jedes Gedanfeus der „Bereicherung“ ent- 
ichlagen und mit dem „mäßigen“ Ertrag jeiner Arbeit zufrieden fein 
muß, den der Staat als zuläfftg anerfennt.‘) 
Um alle Überteuerung und Übervorteilung zu verhindern, 
werden die Preiſe Jämtlicher Waren nach) dem Nate der Sachver- 
ſtändigen von den jtaatlichen Behörden feitgejeßt.?) Diefelben haben 
zugleich jorgfältig darüber zu wachen, daß der Kapitalismus und 
und die Fapitaliftische Spekulation, welche aus dem Hauptnahrungs- 
zweig Des Landes, aus der Agrikultur, verbannt find, nicht auf 
anderen Gebieten der Volkswirtſchaft emporkomme. Wie es feinen 
Großgrundbeſitz geben joll, jo auch Feine fapitaliftiichen Großunter— 
nehmmmgen, die zur Konzentrierung bedeutender Kapitalien im Handel 
und Gewerbe führen fünnten. Die Stleinbetriebe jollen erhalten 
bleiben, allev Handel möglichſt nur Kleinhandel (zaerrydere), alle 
Induſtrie nur Handwerk fein. Die faufmännische Vermittlung ſoll 
möglichit ausgejchloffen und zu dem Zwed von StaatSwegen auf 
eine ſyſtematiſche Beichränfung der Zahl der im Zwijchenhandel 
beſchäftigten Individuen und Gewerbe bingearbeitet werden.!) Was 
insbeſondere die Handwerke betrifft, jo Joll die von der kapitaliſtiſchen 
Spefulation der Zeit jo energiſch ausgebeutete Möglichkeit, durch 
Beſchäftigung zahlreicher in verichiedenen Techniken ausgebildeter 
Sklaven gleichzeitig mehrere Gewerbebetriebe in der Hand eines 
Unternehmers zu Fonzentrieren, völlig bejeitigt werden. Jeder joll 
nur das Gewerbe treiben, das er jelbjt erlernt hat, und nicht etwa 
aus der Thätigkeit zahlreicher Sklaven, die er für ſich in anderen 
Handwerken bejchäftigt, größere Einkünfte beziehen, als aus dem 


') 920e. Bgl. oben ©. 224 f. 254 f. 

?) 847d. Hier fommen die ©. 224 F. beiprochenen Grundanſchauungen 
Platos über die Bejeitigung des jpefulativen Charakters des Handels zum 
prägnanten Ausdruck. 

>) 847b, 920. 

») 919. 





IH. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des platon. Gejegesftaates. 513 


Gewerbe, das er jelber veriteht.) ine Betimmung, die zwar 
durch das auch hier ſtrenge durchgeführte Prinzip der Arbeitsteilung 
gefordert ift, die aber unverkennbar — wie ja die von Plato ge 
wünschte Arbeitsteilung ſelbſt — ein Kampfmittel gegen das Kapital 
und die Fapitaliftiiche Betriebsweiſe bildet. 

Sollte e8 aber troß al’ dieſer Schranfen einem Handel oder 
oder Gewerbe treibenden Beiſaſſen gelingen, jein Vermögen über 
das Durchſchnittsmaß deſſen zu jteigern, was der grundangeſeſſene 
Bürger bejist, jo iſt feines Bleibens nicht länger im Lande! 
Während für den Bürger der vierfache Wert einer Landhufe als 
Marimum des Erwerbes feitgejegt ift, wird dem Beiſaſſen nur das 
Doppelte dieſes Wertes, aljo die Hälfte des für den Bürger erreich- 
baren Kapitalbeſitzes geftattet.2) Alle Beifaffen, deren Vermögen 
die Schagung der dritten von den vier Zenſusklaſſen der Bürger: 
Ichaft überiteigt, jollen binnen Monatsfrift von dem Tage an, wo 
diejer Vermögenszuwachs eintritt, mit ihrer ganzen Habe das Land 
verlaffen, und es joll den Behörden nicht gejtattet jein, ihnen die 
Erlaubnis zu längerem Bleiben zu gewähren! Wer ſich dem zu 
entziehen jucht, joll mit dem Tode beftraft und jein Vermögen für 
den Staatsſchatz eingezogen werden!?) — Übrigens ift dem Ber- 
mögenserwerb der Beiſaſſen ſchon dadurch eine abjolute Grenze ge— 


1) S4be: umdeis yeixsiwv due Textaweodw, und’ av rezreıwöousvos 
zehrsvovrwv dhlwv Erriusrtiodn uchAov 7 Ts autov TEyvns, nO0paoLV 
Eyor, ws ToAlov oixerWv Eniuskovusvos Eavrd ÖMuiovoYoVvTWVv EIXOTWS 
uahhov Eniuskeitai Exeivov die To nv n0000dov Exsidev auro nAeiw 
yiyvsosaı ts airovo reyvns, adAR Eis ulav Exaoros Teyynv Ev nöheı 
HEZTNUEVOS ENO TaVINS Qua za To Inv zrdodw. 

2) Dasjelbe gilt für den Freigelaffenen, nur daß diejer infofern einer 
noch größeren Bejchränfung unterliegt, als er auf feinen Fall veicher werden 
darf, als jein Herr, und alles, was er mehr erwirbt, an diejen abliefern 
mnb. 915a. 

3) 915b: Eav dE tw aneksvdegwdern 7 zei Twv akhov Two Fevar 
ovcie nAslwv yYiyvmraı Tod roltov ueyEdeı Tuumuatos 1 dv tovro nusog 
yEvntal, TOLERoVTE NUEsOWv dno tavıns vs nucgas kadov enitw TE Eav- 
Tod zei umdeule 175 uovns neoairyoıs Er TOVTW aQ’ doyovrwv yıyveodw, 

Pöhlmann, Gejch. des antifen Kommunismus ıı. Sozialismus. 1. 33 


514 Erſtes Buch. Hellas. 


steckt, daß diejelben überhaupt nicht zu immerwährenden Aufenthalt 
und Gewerbebetrieb zugelafjen werden. Steiner darf länger als 
zwanzig Jahre — vom Tage jeiner Einjchreibung an — im Lande 
bleiben; ift diefe Zeit um, jo hat er mit feinem Hab und Gut 
von dannen zu ziehen! Nur ausnahmsmweile wird auf Grund her— 
vorragender Verdienfte um das Land von Nat und Volksverſamm— 
fung ein Aufſchub oder die Erlaubnis zum Bleiben auf Lebenszeit 
bewilligt. Gleiches gilt für die Söhne der Beiſaſſen, bei denen 
das vollendete fünfzehnte Lebensjahr als Anfangstermin angenommen 
wird, ſowie für die Freigelafjfenen.!) 

Eine weitere Konjequenz der antikapitaliftischen Handels- und 
Gewerbepolitik des Geſetzesſtaates ift die unbedingte Offentlichkeit 
des geſchäftlichen Lebens. Wenn diejer Staat ſchon die ungleich 
ducchfichtigeren Vermögensverhältniſſe der grundbeſitzenden Klaſſe 
einer ſyſtematiſchen Kontrolle unterwerfen zu müſſen glaubte, wie viel 
mehr mußte er auf einer beſtändigen Offenlegung des gewerblichen 
Lebens beſtehen, deſſen wirtſchaftlicher Ertrag ohne das volle Licht 
der Publizität ſich aller Beurteilung entzieht! Ohne die Publizität des 
Geſchäftsbetriebes hätte ja nichts den Geſchäftsmann verhindern können, 
den Gewinnertrag ſeines Gewerbes, und mochte ſich derſelbe ver— 
doppeln, verdreis oder verzehnfachen, jo zu verſchleiern und zu ver— 
heimlichen, daß die Vorjehriften über das zuläſſige Marimum des 
gewerblichen Kapitalbefites mehr oder minder illuſoriſch geworden 
wären. Wie daher der Staat durch Grundkataſter und fortlaufende 
Aufzeichnungen über den gejamten beweglichen und unbeweglichen 
Belig der Bürgerfchaft unterrichtet ift, jo ſcheut er auch vor der 
jehwierigeren, aber von feinem Standpunkte aus unabweisbaren 
Aufgabe nicht zurüd, durch analoge Aufzeichnungen über Vermögen 
und Erwerb der Beiſaſſen den Ertrag von Handel und Gewerbe, 
das Quantum des Verdienftes jedes Einzelnen, die Zus oder Ab- 
nahme jeines Vermögens allezeit evivent zu erhalten.) 

') 850be, 915b. In letzterem Falle tritt auch noch die Erlaubnis 
des Freilaſſers Hinzu. 

) S50a: To dE wrndEr 7) noaHevr How nÄEov av 7 zai nAEovogs N 








IT. 3. 2. Die jozialöfon. Grundlagen des platon. Geſetzesſtaates. 515 


Dieje amtliche Statiftik iſt hier zu einer Vollfommenheit aus: 
gebildet gedacht, daß niemand die Art und Weife, wie er feine 
Arbeitskraft und fein Kapital verwendet, geheimbalten kann, daß 
alle geichäftlichen Unternehmungen und die Höhe der dabei euzielten 
Erträgnifje bis ins Einzelne hinein den Staatlichen Gewalten Far vor 
Augen liegen. ES ift in der denkbar vollfommenften Weife dafür 
gejorgt, daß Niemand ſich für feine Perſon den Konjequenzen jener 
großen allgemeinen Prinzipien zu entziehen vermag, auf denen fich 
der Staat aufbaut. — 

Daß ein ſolcher Staat auch außerordentliche Mittel anwenden 
wird, um Chrlichfeit und Solidität im Warenverfehr, im Handel 
und Wandel zu fördern, ift von vorneherein zu erwarten, und es 
wird uns in der That eine Anzahl von Beitimmungen aus dem 
Polizeirecht, insbefondere aus der Marktordnung!) des Geſetzesſtaates 
mitgeteilt, die durchaus im Geifte des bisher entwicelten Syſtems 
gehalten jind. ES wird da vorgejchrieben, daß aller Kauf und Ber: 
fauf auf dem Markte und an den für die einzelnen Warengattungen 
angewiejenen Stellen jtattfinde und zwar in der Weife, daß die 
Ware jofort von dem Käufer in Empfang genommen MR baar 
bezahlt wird.) Wer außerhalb des Marktes oder auf Borg ver: 
kauft, thut dies auf eigene Gefahr, denn das Gejeß gewährt ihm 
fein Klagerecht gegen den Käufer.) Da ferner die obrigfeitlichen 
Warentaren nur eine Marimalgrenze feitfegen, innerhalb deren dem 
Berfäufer für die Preisbejtimmung immerhin ein gewiſſer Spiel- 
raum bleibt, jo werden die Mibftände, die ſich daraus im Berfehr 
ergeben Fönnten, duch die Borjehrift befämpft, daß alle Preiſe 


XaTE ToVv vouov, OS EIONZE TI0O00V TIEOOYEVOUEVOV Xai anoysvousvov dei 
umdersg« Tovrwv noisiv, Evayoapnto tor’ 70 naga rols vouopvaakı To 
nleor, E£ahsıpeodw dE TO Evavrlov „ra avrd dE zul nıeol uerolzwv Eotw 
TS Avaygapns nnegı Ts ovolas. 

!) Diejelbe ift auf eine Säule vor dem Amtshaufe der Marktaufjeher 
eingegraben. 917e. 

?) 915d, vgl. 849d. 

3) 915e. Eine Ausnahme bilden die auf Leftellung gelieferten Ar: 
beiten. ©. unten. 

39 * 


516 Erſtes Bud. Hellas. 


wenigftens fejte jein ſollen. Niemand joll doppelte Preiſe führen. 
Wenn er daher das, was er für feine Waaren einmal gefordert 
hat, nicht erhalten kann, ſoll er diejelben lieber wieder mit nad) 
Haufe nehmen, als an dem betreffenden Tage die Preiſe ändern.!) 
Ebenſo jind alle Mittel der Neklame ftrenge verpönt: Kein Ber: 
fäufer joll jeine Waaren anpreiſen oder gar ihre Güte mit einem 
Schwur beteuern.?) 

Wer ſich gegen dieſe VBorjcehrift vergeht, Fann von jedem — 
über dreißig Jahre alten — Bürger, der die eivliche Anpreifung 
vernommen, körperlich gezüichtigt werden! a, es iſt dies jogar die 
Pflicht des Bürgers, deren Verſäumnis er mit der öffentlichen Nüge 
büßt, daß er „das Gejeß verraten.“?) Wer vollends im Waren: 
verkauf betrügt, 3. B. verfälichte Waren verkauft, ſoll nicht nur 
derjelben verluftig gehen, jonvdern auch für jede Drachme des ge 
forderten Breifes vom Herold auf öffentlichem Markt einen Geißel- 
bieb erhalten, nachdem vorher der Grund der Beitrafung von dem: 
jelben öffentlich verkündet werden.*) 

Harte Strafe trifft auch den Kontraktbruch. Der Lohn: 
bandwerfer,5) der Arbeiter, der die ausbedungene Arbeit nicht 
leiftet, der Gewerbsmann, der die bejtellte Ware böswilliger Weife 
nicht zur verabredeten Zeit liefert, hat dem Beſteller nicht nur den 
vollen Wert der Arbeitsleiftung oder der Ware zu entrichten, jondern 
fie überdies in der vorher ausbedungenen Zeit unentgeltlich zu 
liefern.) Andererſeits joll auch der Bejteller, der für geleijtete 
Arbeit nicht zur bejtimmten Zeit den verjprochenen Lohn oder Preis 
zahlt, ven doppelten Betrag vesjelben ſchuldig jein, und wenn er 
die Zahlung über ein Jahr anftehen läßt, joll er überdies monatlich 


1) 917b. 

WEN 

>) Ebd. 

4) 9174. 

°) Das Handwerk ift für dieſe ganze Auffaſſungsweiſe offenbar mehr 
Lohnhandwerk ala Waren verfaufendes Handwerk. 

°) 921. 








II. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Geſetzesſtaates. 517 


von jeder Drachme einen Dbolus (!/s) alfo jährlich 200% als Zins 
bezahlen, troß des ſonſt geltenden Grundſatzes der Zinslofigfeit aller 
Schuldfapitalien.!) 

Auch die Religion wird angerufen, um die Zwede diefer Ge 
jeßgebung zu erreichen. Es wird ein großer Nachdrud darauf ge- 
legt, daß das Gewerbe unter der Obhut der Götter fteht, des 
Hephäftus und der Athene, in welchen bejonders die Metalltechnif 
und die Gemwebeinduftrie ihre Patrone verehrt. Sie ericheinen ge 
wiljermaßen als die Ahnherren aller Gewerke, und daher die einzelnen 
Gewerksgenoſſen naturgemäß bejtrebt, ihnen durch gejeßwidrige 
Handlungen feine Schande zu machen.?) 


> 


Die Lehensordnung des Bürgerflandes. 

Wie Plato auf dem gefamten Gebiete der materiellen Intereſſen 

und des wirtſchaftlichen Dafeins dem individuellen Leben und 
Streben feine Bahnen vorjchreibt und feine Ziele jegt, jo joll auch 
auf allen anderen Lebensgebieten, welche für die Erreichung der 
Staatszwede irgend in Betracht fommen, der einzelne Bürger der 
bejtändigen Zucht und Leitung des Staates unterworfen fein. 
Gegenüber dem individualiftiichen Freibeitsprinzip der Demofratie 
mit jeiner eimjeitigen Betonung „ver Freiheit des individuellen 
Denkens und Handelns“ 3) wird hier ebenjo einfeitig das Ordnungs— 
prinzip bis in feine äußerſten Konfequenzen zur Geltung gebract. 
Mas Perikles in der Lobrede auf die Demokratie als einen ihrer 
größten Vorzüge gepriefen, daß ſie unbejchadet der Gejeglichkeit und 
Sittlichfeit der Bürger alle „läſtige“ jtaatlihe Einmiſchung in das 
Privatleben und den Privatverfehr unterlafen könne,“) das wird 


1) 921e. 

: 90 e: ols (dnuoveyois) dn nıegl ra roiwüre 0v noEnov dv ein 
weudeotat, FEoÜs Ig0YovovSs aurov aidovuevovs. 

3) liberty of individual thought and action, liberty and diversity 
of individual life, wie der moderne Gejchichtfchreiber der helleniſchen Demo— 
fratie dies ihr Prinzip bezeichnet. 

) Thufydides II, 37. 


518 Erſtes Bud. Hellas. 


hier ohne weiteres als eine Illuſion bezeichnet. Wenn man der 
Anficht fei, daß das Geſetz das Verhalten der Einzelnen nur ſo— 
weit zu regeln habe, als Fragen des öffentlichen Nechtes und des 
jozialen Zufammenlebens in Betracht kämen, daß es dagegen für 
das Vrivatleben „nicht einmal der aller dringendften Gejeße bedürfe“, 
jo jei das ein Irrtum. Das Gejeb könne nie darauf rechnen, 
daß der Einzelne in jeinem politifchen und fozialen Verhalten allen 
Anforderungen gerecht werden würde, wenn es nicht gleichzeitig 
auch das Leben des Individuums einer ſyſtematiſchen Ordnung 
unterwerfe, welche Niemandem geftattet, „jeine Tage nach Belieben 
zu verbringen“.!) 

Darin liegt nach Platos Anficht Fein ungerechtfertigter Zwang 
— auch der Gejeßesitaat joll ja ein wahrhaft freier Staat jein?) 
— vielmehr iſt nur jo der Anſpruch Aller auf die Erreichung des 
höchſtmöglichen Glücdes duch den Staat realifierbar.3) Sollen fie 
duch den Staat glücdlich werden, jo müſſen fie, da die Vorbedin- 
gung alles Glückes die Tugend ift, ſich auch vom Staate zur Sittlichkeit 
erziehen laſſen.) Daher ericheint auch die Hoffnung berechtigt, daß der 
Einzelne in richtiger Erkenntnis der Notwendigkeit und des Segens 
jolcher Negelung des individuellen Lebens dem Gejege willig gehorchen 
und dabei als PBrivatmann, wie als Bürger ji glücklich 
fühlen wird.?) Das Geſetz ſelbſt Jucht dieſe richtige Erkenntnis auf alle 


ı) 780a: dorıs dr) dievoeiraı nnoAsoıv drropeiveodeı vouovs, um TE 





Omuooıe zul zoıwd avrovg yon Inv nodrrovres, twv dE idimv 0009 avdyzn 
unde oisraı deiv, E£ovolav de &xdotois eivat nv nucoav Inv OTWS av 
EHEAN, zei un ndavra dia ra£ewg deiv yiyveosaı, ngo&uevos dE Ta 
idıe dvouodEernra Nysiraı TE ye xoıva zul dmuooıe EHeAmosıv airovs Cnv 
die vouwv, ovx 00F05 dievosiraı, 

2) 693h: dv 2AevdEgav re eivaı dei. Bgl. 719-723 und 
897e. Die Gejege find für Freie! 

3) Val. die Poklamierung des Glüdsprinzips als Grundmotiv der 
Gejeßgebung 742de und 743c. “Huiv de 7 Twv vouwv Unodeoıs Evravdu 
EBkerıev, Onws Ws EVdaıuov£oraroı Eoovraı zul 0 tu udhıora dAkmkoıs 
gikoı (oi moklzeı). 

9 742 de. 

>) 7b: ra rwr dsonorwv TE xal EAsvdeowv Ev tais nokeoıw 797 








II. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejeßesftaates. 519 


Weiſe zu fördern, indem es in der liebevollen und verjtändigen 
Art eines Vaters oder einer Mutter zu den Bürgern Tpricht, nicht 
im Tone eines Despoten, der jchlechtweg drohende Befehle gibt, 
die er einfach an der Mauer anjchlagen läßt, ohne irgend etwas 
dazu zu thun, um ihnen gütlich Eingang zu Schaffen.) In Platos 
Staat wirkt die Geſetzgebung jelbit aufklärend und exziehend, indem 
den Gejeben eine Einleitung vorausgeichiet wird, welche durch 
ausführliche Darlegung der Motive von Gebot und Verbot Geift 
und Gemüt empfänglic) und willig macht.2) 

Überhaupt verbreitet fich die Geſetzgebung, wie fie Plato im 
Auge hat, über vieles, „was mehr auf Belehrung und Ermahnung 
binausläuft, als wirklichen Gefeßen ähnlich fieht.” — ES kommen 
eben im Privatleben und im Innern des Hauſes viele an fich ge: 
tingfügige Dinge vor, für welche fich Fein Gejeß mit Strafandrohung 
geben läßt, welche aber bei völligem Gehenlaſſen in den Sitten 
der Bürger leicht Abweichungen von dem allgemeinen Geift der 
Geſetzgebung erzeugen können. Hier, wo der Zwang verjagt, aber 
auch „völliges Schweigen unmöglich it”, muß der Gejeßgeber 
wenigjtens duch Lehre und Ermahnung der VBolksfitte die Nichtung 
zu geben juchen, welche feinen Intentionen entipricht.2). 

Die Einwirkung des Staates anf das Einzelleben beginnt 
bereits lange vor der Geburt. Im Intereſſe der ftaatlichen Ge- 
meinjchaft, wie der fünftigen Bürger ſelbſt wird mit allen Mitteln 
darauf hingearbeitet, daß möglichſt ſolche Ehen geſchloſſen werden, 
welche die Erzeugung einer phyſiſch und geiftig tüchtigen Nach: 
fommenjchaft verbürgen. Da diefer Zwed der Ehe leicht dadurch 


Tey’ dv dxoVoavre Eis ovvvor@v dpixot dv Tv 009M7v, Ortı Ywois ys 
dies dıowmmoews Ev Tais noAsoıw 0045 yıyvouevns udenv dv TE xovd 
tıs oloıro E£sıv Tiva BEßaiörmte FEDEwS vouwv, ZU TAUTE Evvoov @vTog 
vouoıs dv tols vor OMFEloı XOWTo, zul KoWwusvos EV mv TE olziav zei 
noAıy due tv airod dioızWv gVdaıuorvot. 

) 859a. 

2) 720a. 722b. 857e. 

®) 7882 f. 


920 Erſtes Buch. Hellas. 


gefährdet wird, daß in Folge ungenügender gegenfeitiger Bekannt— 
ichaft der eime Ehegatte über die Eigenjchaften des anderen in 
einer Täufchung befangen ift, jo joll der heranwachjenden Jugend 
vor allem Gelegenheit gegeben werden „zu ſchauen und gejchaut 
zu werden.” Zahlreiche religiöſe Felte, die zugleich dazu dienen, 
daß die Bürger mit einander näher befannt und befreundet wer- 
den,!) öffentlihe Spiele, bei denen Jünglinge und Mädchen in 
Neigentänzen auftreten, erleichtern e3 dem jungen Bürger „ein 
Mädchen nach feinem Sinn zu finden, von dem er jich für Die 
Erzeugung und gemeinfchaftliche Auferziehung von Kindern Gutes 
verjpricht.“ 2) 

Bevor er aber wählt, fommt ihm wiederum die ftaatliche 
Fürforge zur Hilfe, indem er durch die Einleitung in das Che: 
vecht Iyftematifch darüber belehrt wird, wie er eine geeignete Ge: 
fährtin zu juchen habe. — „Mein Sohn“, jagt das Gejeß „ou 
mußt eine Ehe jchließen, welche auf den Beifall verjtändiger Leute 
rechnen darf; und diefe werden dir raten, der Verbindung mit 
einer ärmeren Familie nicht aus dem Wege zu gehen, ja unter 
übrigens gleichen Verhältniffen gerade einer jolchen Verbindung jtets 
dev Verſchwägerung mit dem Neichtum den Vorzug zu geben. 
Das wird ſowohl dem Staate, wie den betreffenden Familien ſelbſt 
zum Heile gereichen. Denn es liegt im Sinne der Gleichheit und 
Mäßigung und damit auch der Tugend.“ — Ferner ift im Intereſſe 
einer harmonifchen pſychiſchen Konftitution der Kinder auch auf eine 
richtige Miſchung der Temperamente zu jehen, indem möglichſt die 
entgegengejegten Charaktere den Ehebund ſchließen. Überhaupt hat 
der leitende Gedanke bei ver Ehejchließung der zu jein, daß ever 
die für den Staat eriprießlichite, nicht die ihm jelbjt am meiften 
zujagende Wahl treffe.?) 

Wieweit freilich der Einzelne dieſen Direftiven folgen will, 


e 
E \ S ? S B — 
3b: zei zarte narros Eis Eotw udFos yauov' Tor — zn noAeı 


dei ovup 


Ex 


& urnotev JELV yduor EXaoTov, oV tov ndıoror aü To. 











II. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Geſetzesſtaates. 521 


liegt in feiner Hand. Denn „es winde nicht bloß lächerlich fein, 
ſondern auch bei Vielen nur Unwillen erregen, wenn das Geſetz 
ausdrücklich vorjchreiben wollte, daß die Wermögenderen und Mäch- 
tigeren nicht wieder die Töchter von ihresgleichen freien, oder daß 
Männer von leidenjchaftlihem Naturell fi) nur nach Frauen von 
ruhiger Gemütsart und ruhigere Männer nur nach lebhaften Frauen 
umſehen dürfen.” 1) 

Wo dagegen die Regelung durch den Staat Feine Schwierig- 
feit zu haben jeheint, da tritt fie auch ein. Dies gilt zunächit für 
die Zeit der Eheſchließung. Die in die Ehe Tretenden jollen 
einerjeit3 eine gewilje Neife erlangt haben, anvdererjeitS aber auch 
nicht zu alt fein. Der Staat gejtattet daher feinem Bürger Die 
Ehe vor dem 25. Lebensjahre?) und läßt ebenjowenig zu, daß die 
Ehe jpäter, als mit 35 Fahren geichlojjen wird. ?) 

Was das eheliche Leben ſelbſt betrifft, Jo verzichtet zwar der 
Staat jo lange, al3 der Durcchichnittsftand der allgemeinen Volks— 


DlTabe. 

?) 772d val. 785b, wo allerdings im Widerjpruch damit das 30.— 35. 
Jahr al Zeit für die Eheſchließung feitgefeßt wird. Für das Mädchen 
wird hier das 16.—20. Jahr, an einer anderen Stelle (833d) dag 18.—20. 
bejtimmt. Sa e3 findet ſich jogar völlig abweichend davon im Erbtöchter: 
recht die Beitimmung, daß die Angemefjenheit des Alters zum Heiraten von 
dem Nichter beurteilt werden fol, dev zu dem Zweck die Jünglinge ganz 
nact, die Mädchen bis zum Nabel entblößt befichtigen darf. (925a). Eine 
Vorſchrift, die Übrigens in den gefchichtlichen Nechten des Altertums nicht 
ohne Analogie ift. 

Es kann fich hier nur darum handeln, diefe Widerjprüche zu konſta— 
tieren. Inwieweit fie auf Plato ſelbſt und die Unfertigfeit jeines Werkes 
oder auf Interpolation zurücdzuführen find, läßt ſich nicht entjcheiden. Über: 
haupt können Fragen, wie die der Kompofition der „Gejege” in einer Ge— 
ichichte des Sozialismus nicht erörtert werden. 

3) Es ſoll übrigens damit zugleich die Eheloſigkeit befämpft werden. 
Empfindliche, jährlich fich wiederholende Geldftrafen treffen jeden, dev nach 
feinem 35. Jahre noch nicht verheirathet ift. „Er joll nicht glauben, das 
fedige Leben bringe ihm Eriparnis und Bequemlichkeit. 721b f. Die an 
den Tempelichag der Hera zu zahlenden Strafgelder betragen 30, 60, 70, 
100 Drachmen je nach der Steuerklajje. 774a. 


5939 Grites Buch. Hellas. 


fittlichfeit ein befriedigender ift, auf ein unmittelbares Eingreifen; 
er „läßt die Sache ftillichweigend auf fich beruhen und gibt fein 
Geleß darüber.” Nur Belehrungen, „wie fie Kinder zu zeugen 
haben,” werden den jungen Eheleuten zu teil. Zeigen fich aber 
infolge diejes Gewährenlaſſens Mißſtände und fruchten die Beleh- 
tungen nichts, jo ſcheut er auch nicht vor der weitgehendſten Be 
vormundung zurüd. Die Ehe wird dann unter ftrenge öffentliche 
Kontrolle geftellt, die vor allem darauf zu jehen hat, daß ihr Zweck 
auch wirklich erreicht wird. Dieje Kontrolle liegt in der Hand 
von Matronen, die von der Negierung als „Aufjeherinnen über 
die Ehen” (zvoreı vov yauor) beſtellt ſind.) Diejelben verfam- 
meln fich alltäglich im Heiligtum der Geburtsgöttin, der Eileithyia 
(Juno Lucima), um ſich gegenfeitig Mitteilung zu machen, - wenn 
eine von ihnen „einen Ehemann oder eine Chefrau in den zur 
Zeugung bejtimmten Jahren entdeckt bat, die ihr Augenmerk auf 
etwas anderes richten, als auf das, was ihnen unter bochzeitlichen 
Dpfern und heiligen Handlungen geboten wurde.” Un das zu 
verhüten, der „Unerfahrenheit und etwaigen Fehltritten der jungen 
Eheleute zu ſteuern“, haben die Aufjeherinnen das Recht und die 
Pflicht, diejelben in ihrer Wohnung zu bejuchen und durch gütliches 
Zureden oder Durch Drohungen auf den rechten Weg zu führen. 
Gelingt ihnen das nicht, jo wenden fie ſich an die oberſte Negierungs- 
behörde, die jogenannten Gejegesbewahrer, und wenn auch dieſe 
nichts erreichen, erfolgt Anklage vor dem Volksgericht, die im Falle 
der Verurteilung zur Aberkennung gewifjer bürgerlicher Ehrenrechte 
führt.?2) Eine Strafe, die da, wo offenfundiger, zum öffentlichen 

1) 794b. 

2) Der jchuldige Mann darf fich an feiner Hochzeit und feinen Opfer: 
feften beteiligen, welche zur Feier der Geburt von Kindern ftattfinden; und 
wenn er es dennoch thut, kann ihn jeder förperlich züchtigen! Dasfelbe 
Verbot trifft die Fchuldige Frau, die außerdem auch an feinem Feftaufzug 
der Frauen oder jonftigen Auszeichnungen ihres Gejchlechtes mehr teilnehmen 
darf. 784d. Sit die Konkubine eine Sklavin, jo wird fie ſamt ihrem Kinde 
ins Ausland verichiekt. 930e. Am Liebften würde freilich Plato jeden, auch 
den geheimen Ehebruch ftrafrechtlich verfolgen. S44d. 








II. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Geſetzesſtaates. 593 


Ärgernis gewordener Konkubinat oder widernatürliche Lafter vor- 
liegen, zu völliger Ehrloserklärung gefteigert werden fann.!) 

Dieje Beauffichtigung der Ehe dauert zehn Sahre, worauf 
diejenigen, welche kinderlos geblieben jind, gejchieden werden !?) 
Aber auch damit ift das Einmiſchungsrecht des Staates nicht er— 
ſchöpft. Der Wittwer 3. B., der Söhne und Töchter hat, muß 
es fich gefallen laflen, daß ihn das Gejeß zwar nicht zwingt, aber 
ihm doch dringend empfiehlt, feinen Kindern feine Stiefmutter zu 
geben. Iſt er dagegen Finderlos, jo wird er geradezu genötigt, 
fich wieder zu verehelichen, „bis er für fein Haus und den Staat 
eine hinlängliche Anzahl von Kindern gezeugt bat,“ d. h. mindeſtens 
einen Knaben und ein Mädchen. Stirbt der Mann mit Hinter: 
laſſung diejer Kinderzahl, jo ſoll die Mutter verpflichtet jein, Wittwe 
zu bleiben und ihre Kinder aufzuziehen. Nur wenn fie noch zu 
jung ift, um ohne Gefahr für ihre Tugend ehelos leben zu können, 
follen die Angehörigen in gemeinfchaftlicher Beratung mit den Auf: 
feherinnen der Ehen „mit ihr verfahren, wie es ihnen am beiten 
ſcheint“. Dasjelbe bat „zum Zweck der erforderlichen Kinder: 
erzeugung” zu geichehen für den Fall, daß die Ehe Einderlos war. >) 

Natürlich tritt Die ftaatliche Fürjorge, die ſich bereits der 
ungeborenen Generation angenommen, nach der Geburt in erhöhten 
Maße ein. Wenn auch der Gejebgeber, „um nicht zum Oelächter 
zu werden“ darauf verzichtet, das häusliche Leben durch gejeßliche 
Borihriften über das Verhalten der Mütter, die Pflege der Neu— 
geborenen u. ſ. w. zu meiltern und auf Schritt und Tritt mit 
Strafen zu bedrohen,*) jo ſorgt ex doch durch ſyſtematiſche öffent 
liche Belehrung und Aufklärung über die vationelljte leibliche und 
pſychiſche Behandlung der Kinder dafür, daß fich in diefer Hinficht 
vernünftige freiwillig befolgte Sitten herausbilven.>) 


) 84le. 

2) 784h. 

3) 930b ff. 

4) 788a. 790a. 

5) Plato verſchmäht es nicht, ſelbſt ſolche Anweiſungen zu geben. 789 d ff. 


524 Erſtes Buch. Hellas. 


Auch tritt dev häuslichen Erziehung jo bald als nur immer 
möglich die öffentliche zur Seite. Eine Offentlichfeit, die zugleich 
von Anfang an eine bejondere Steigerung dadurch erhält, daß — 
ähnlich wie in Sparta — alle Bürger zur Mitwirkung an der 
Sugenderziehung berufen werden, indem jeder nicht mur berechtigt, 
jondern jogar bei eigener ſchwerer Verantwortung verpflichtet ift, 
Vergehen der Kinder auf der Stelle durch Förperliche Züchtigung 
zu ahnden. 

Das erſte Stadium des ftaatlichen Erziehungsſyſtems bildet 
dev Kindergarten. Vom vollendeten dritten bis zum vollendeten 
jechiten Jahre haben fich die Kinder jedes Gemeindebezirfes, Knaben 
und Mädchen, in Begleitung ihrer Wärterinnen alltäglich bei den 
Gotteshäufern auf gemeinfamen Spielplägen zu verfammeln, welche 
unter der jorgfältigen Dbhut öffentlicher Auffeherinnen stehen.) 
Mit dem jechiten Jahre beginnt dann der ſyſtematiſche Unterricht 
in den beiden Hauptzweigen der Jugendbildung: Gymnaftif und 
Mufit, und zwar für beide Gejchlechter getrennt, obgleich Plato 
auch hier daran feithält, daß das weibliche Gejchlecht an der Bil- 
dung und Beichäftigung des männlichen möglichjt Anteil haben 
fol?) und daher auch die Mädchen, die ſich irgend dazu anlafjen, 
im Neiten, Bogen-, Speer, Schleuderjchießen, in jeder Art von 
Waffentanz und Kampfipiel unterrichtet werden jollen,?) damit die 
Kraft des Staates ſich verdopple. — Die Schulen find durchweg 
Staatsſchulen, die Lehrer vom Staat befoldet und der Beſuch für 
Alle ein obligatorifcher. Denn, „da die Kinder mehr dem Staate 
als ihren Eltern angehören“, darf fie der Staat zwingen, ich 
möglichſt diejenige Bildung anzueignen, die er für notwendig hält, 
und kann es nicht etwa dem Water freijtellen, jeine Kinder die 


) 794h. 

2) 8S05e: 70 d’ Njucregov diazekevun Ev TovToig 00% drTooßmoerau Te 
un ob Akysır, ws del naudeies TE zul tov dhhwv 6 tu udhıoru zowwveir 
70 Imhv yEvos yulv TO TOv dogEvov yEveı. 

3) 794d. Sehr bezeichnend ift dabei der Hintweis auf das Beijpiel 
gewifjer Naturvölfer, wie der Sauromaten S04e. 





IH. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejeßesitaates. 595 


Schule bejuchen zu laſſen oder nicht und fie jo ohne die bier mit- 
geteilte Bildung aufwachlen zu laſſen.) 

Was den Inhalt diefer Bildung jelbit betrifft, jo geben zu— 
nächſt die Spiele und die den Leibesübungen gemwidmeten Kurſe 
Gelegenheit, die Kinder mit den nötigiten Zahlen und Naumver- 
hältniſſen jpielend vertraut zu machen. Erſt im zehnten Jahre 
beginnt der ſyſtematiſche Unterricht im Leſen und Schreiben (den 
jogen. yoauuere) und im Auswendiglernen von geeigneten Leſe— 
jtüden in Boejie und Profa.?2) Daran reiht fich dann vom 13. 
bis 16. Jahre die im engeren Sinn muſiſche Unterweifung in 
Zitherjpiel und Gejang, und — wahricheinlich in derjelben Zeit — 
die Drcheftif, die durch die Verbindung mit Poeſie und Muſik in 
der choriſchen Lyrik zugleich zu einem wertvollen ethijchen Erziehungs: 
mittel wird.?) Weitere Gegenftände des Unterrichtes find Arithmetif, 
Geometrie und Njtronomie, welch’ letztere Disziplinen allerdings 
nur von den Begabtejten in befonderen Kurſen eingehender betrieben 
werden, während fich die große Mehrheit mit den für das prak— 
tiiche Leben unentbehrlichen Elementen begnügt.*) 

Den wichtigiten Lehrftoff aber bilden die Schriften des Gejeß- 
gebers jelbit, die — „nicht ohne einen Anhauch göttlicher Begeifte- 
rung” geſchaffens) — den ſicherſten Prüfftein für die Beurteilung 
aller Fragen des Lebens darbieten.6) Denn dieſe Schriften ent: 
balten nicht bloß Geſetzgebung im eigentlichen Sinne des Wortes, 

’) Vol. die berühmte Formulierung des Prinzips der allgemeinen 
Schulpflicht S04d: Ev dE rovroıs nacı dideoxdhovs Exdotwv TETTEISUEVOVS 
uıcHois oixovvras £Evovs |dei?] didaozeıv Te navre 600 n1gös Tov noksuorv 
Eotı ucFNucTe Tous poıtWvras 000 TE NIQ0S uovoızyjv, 0VUy Ov uev dv 
ö nerno Bovintaı, portwrre, Ov d’ av un, Eovra tes nawdeias, ahhr 
to Aeyousvov ndrt’ dvdoa zei naide zare T6 dvvarov, ds ıjs nohlews 
udhkov 7 av yervvnToowv Ovras, nudevreov & avdyans. 

2) 809e—812b. 

5) 795d f., 812b—813a. 814d f. 

s) 817e fj. 

5) 8l1e. 

6) Y97d. 


926 Erſtes Buch. Hellas. 


jondern zugleich eine ganze Ethik, indem der Gejeßgeber „alles, 
was er für löblich oder tadelnswert hält — wenn auch nicht in 
der Form gejeglicher Beitimmungen — mit in jeine Gejeße ver: 
webt, auf daß es der quite Bürger nicht minder treu beobachte als 
das, was das Gejeb unter Androhung von Strafe befiehlt.”1) Hier 
wird dem heranmwachjenden Knaben und Jüngling ausführlich dar: 
gelegt, „wie man jich gegen Verwandte und Freunde, Mitbürger 
und Fremde zu verhalten habe, um ſich jo nach der Anleitung 
des Gejeges das eigene Leben möglichit erfreulich und ſchön zu 
geitalten.”2) Insbeſondere find es die in poetiicher Proſa abge: 
faßten 3) ethiſchen Einleitungen in die Gejeße, welche dieje Beleh— 
rung enthalten und welche daher die Schüler bei diefem Unterricht 
in der Gejeßesfunde vor allem ihrem Gedächtnis einzuprägen haben. 

Die Grundnorm diefes von Staats wegen aufgeftellten Syſtems 
der Ethik ift wie in der PBolitie die Lehre von der Koinzidenz der 
Tugend und Glüdjeligkeit, von deren Wahrheit der Gejetgeber 
„mit allen Mitten dur” Gewöhnung, Lobjprühe und Gründe 
überzeugen ſoll.“ Dabei wird, ebenjall$ wie in der PBolitie, die 
Bemerfung hinzugefügt, daß jelbjt dann, wenn diejer ethiſche Sat 
nicht richtig wäre, der Gejeßgeber an ihm fejthalten müßte und 
„ſich wohl erfühnen dürfe, zur Beförderung der Tugend gegenüber 
den Jünglingen eine Lüge auszufprechen. Denn er könnte ſchwer— 
lich eine erfinnen, welche nübßlicher als dieje wäre und mehr als 
fie zu bewirken vermöchte, daß man nicht gezwungen, jondern frei- 
willig das Nechte thut.”+) Plato erinnert dabei an die Kadmos— 
jage, die troß ihrer Umwahrjcheinlichfeit Glauben gefunden habe. 


1) 823.8. 

?) 71Sa: — 70V Eavrov Biov paıdovrdusvov zata vouov zoouelv KT. 

3) Es wird von ihnen in ähnlichen Ausdrüden gejprochen, wie dont 
Hymnen und anderen Gejängen oder von Zauberjprüchen. Die „Überredung“ 
durch das Gejeh ift ein Enddeıw 773d. Vgl. Site: raevra nuov ddovrwrv 
7EOOLUIE Tois navra Taüre« Ennwoovow xt. — 903b: Erwdav ye unv 
ngo0deio#ei uoı doxei uvdywv Er Tivor. 


4) 6734. 





IIT. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejeßesitaates. 597 


„Der beite Beweis dafür, daß es dem Geſetzgeber ſchon gelingen 
werde, die Gemüter der Jugend von allem zu überzeugen, 
was er will!” ') 

Wie lange diefer Unterricht dauert, wird nicht bemerkt. 
Aber in gewilem Sinne fann man jagen, daß die muſiſche Er— 
ziehung der Bürger, wie die Erziehung überhaupt, niemals gänz- 
ih aufhört.2) Der Gejeßgeber „Toll jedes nur erdenkliche Mittel 
ausfindig zu machen juchen, das in irgend eimer Art dazu dient, 
daß die ganze Bürgergemeinde über das vom Gejeßgeber Gehörte 
ihr ganzes Leben hindurch in Lied, Sage und Rede ſtets Diejelbe 
Sprache führe.” Insbeſondere dienen die allezeit mit Luft ge- 
jungenen Lieder dazu, daß Sich gegenfeitig „Alt und Jung, Freier 
und Sklave, Mann und Weib, kurz das ganze Volk dem ganzen 
Volk ohn' Unterlaß die bejprohenen Grundſätze gleichjam wie 
Bauberformeln in den verjchtevenartigften Variationen jozufagen 
einfingt.“ 3) 

Die ganze Bürgerichaft, Jung und Alt, wird in Chöre ein- 
geteilt, deren Geſänge alle jittlihen Grundjäße, beſonders die 
„Hauptlehre”, daß das angenehmjte und das fittliche Leben nach) 
dem Ausjpruch der Götter ein und dasjelbe jei, den Bürgern ſchon 
von zarter Kindheit an einjingen und gewijjermaßen einzaubern 
jollen.*) Den Mufen geweiht ift der Neigen der Knaben, dev „mit 
allem Eifer jene Lehren der ganzen Bürgerfchaft vorzufingen hat ;“ 
ihm folgt der Chor der Jünglinge, welcher Apoll zum Zeugen für 
die Wahrheit des Worgetragenen aufrufen und ihn anflehen ſoll, 
daß er fie gnädig mit dem feiten Glauben an dieſe Wahrheit ex 
füllen möge; und die Vollendung der ganzen Einrichtung ftellt der 
dionyfiihe Chor dar, der aus den reifen Männern von 30—60 
Sahren bejteht und nur für diefen engeren Kreis, nicht für das 
ganze Volt beftimmt ift. 


1) 663. 
2) 631e. 
3) 665. 
) 6646, 


528 Erſtes Buch. Hellas. 


Was die Greife betrifft, die fich nicht mehr am Geſange be- 
teiligen fünnen, jo jollen fie wenigitens als „Sugenerzähler” am 
Werke der Belehrung und Mahnung mitwirken. Sie find das 
berufene Drgan für jene Form der Pädagogik, welche die Prin— 
zipien der Ethik im Gewande der Legende, der aus grauer Vorzeit 
ftammenden Überlieferung mitteilt, die als ſolche geradezu auf 
göttlichen Ursprung zurücgeführt werden kann.) 

Mit der Ausbildung von Geiſt und Gemüt geht Hand in 
Hand die förperlihe Schulung, der aymnaftische Unterricht im 
weitelten Sinn, der mit dem 17. und 18. Jahre zugleich ein mehr 
militärisches Gepräge erhält. Mit dem 20. beginnt der eigentliche 
Heerdienft, der den Bürger während der ganzen Dauer der Dienjt- 
pflicht bis zum 60. Lebensjahre in Anfpruch nimmt. Jeden Monat 
finden mindeftens einmal größere militärische Übungen und Feld» 
manöver ftatt, zu welchen die Bürger jämtlic) oder in einzelnen 
Abteilungen einberufen werden. Denn wenn der Staat auch grund- 
fäßlid ein Staat des Friedens ift, jo ift er doch eben um ver 
Erhaltung dieſes Eoftbaren Gutes willen genötigt, jeine Wehrkraft 
auf das äußerſte anzuſpannen und fie in der denkbar vollkommenſten 
Weiſe auszubilden.) | 

Daher wird auch das weibliche Geſchlecht bis zu einem ge 
wien Grad an den Übungen beteiligt und für den Krieg vor- 
gebildet. ES gilt für ſchimpflich, wenn die Frauen vor dem an— 
ftürmenden Feind gleich zu den Altären und QTempeln flüchten, 
feiger als das ſchwächſte Tier, das ſtets für feine Jungen zu käm— 
pfen umd zu fterben bereit ift.°) 


1) 664d: roös de uerd Tavre — 0V yao Erı dvvaroi pegsıv Wdds — 
uvFoloyovs neol TWv autov 790v dia Helas pryuns xaraheheipder. 

2) 785b. 829a f. 

3) 8144. Mllerdings ift dieſe Verpflichtung des weiblichen Gejchlechtes 
— im Unterjchied vom Idealſtaat — nur eine jubjidiäre. Sie tritt nur 
in Ausnahmefällen ein, wenn 3. B. die gefamte wehrfähige Bürgerjchaft ins 
Held rüden muß und zur Bewachung der Stadt nicht die nötigen Kräfte 
vorhanden find, 8136 ff. 





IT. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejeßesitaates. 529 


Bon Intereſſe it die Art und Weile, wie Plato diefe An— 
näherung der weiblichen Erziehung an die des männlichen Gejchlechtes 
motiviert. Das weibliche Gejchlecht joll nicht die Sklavin des 
Mannes fein, wie etwa bei den Thrafern und anderen fulturlojen 
Völkern, bei denen die ganze Laſt des Acerbaues und der Vieh- 
zucht auf dem Weibe ruht. ES fol auch nicht auf das Haus— 
regiment, auf Webituhl und Wollarbeit beichränft werden, wie bei 
den Athenern. Selbjt die freiere ſpartaniſche Sitte bleibt hinter 
den höchſten Anforderungen zurück, jo jehr es zu billigen ift, daß 
fie die Mädchen an mufischen und gymnaſtiſchen Übungen beteiligt, 
das Weib von der Wollarbeit befreit und es in würdiger Thätig— 
feit zur Genoffin des Mannes macht, die am Dienfte der Götter, 
der Verwaltung des Haufes und der Erziehung der Kinder „man 
darf wohl jagen, den halben Anteil bat.” ES fehlt dem Weibe 
jelbjt in Sparta noch vieles: ES hat nicht gelernt, wenn der Staat 
in Gefahr ift, für Vaterland und Kinder zu fämpfen, in Gemein: 
Ichaft mit den Männern gleich den Amazonen Bogen und Wurf: 
geſchoß Funftgerecht zu handhaben, noch auch Schild und Speer 
nach dem Mufter jeiner Göttin zu ergreifen. Sauromatiiche Frauen 
würden im Bergleich mit Spartanerinnen in der Stunde der Gefahr 
wie Männer gegen Weiber erjcheinen. Auch werden die Frauen 
dadurch, daß der Staat im ſeltſamen Widerſpruch mit feiner Für: 
jorge für das männliche Geſchlecht auf die gejeßliche Negelung 
ihrer Lebensweiſe verzichtet, zu Aufwand und Zügellojigfeit ver: 
führt. Dem Staate aber entgeht jo die Hälfte des Glückes, welches 
ihm zu teil würde, wenn die Bildung und die Thätigfeit des 
weiblichen Gejchlechtes der des Mannes möglichit gleichfäme. !) 

Die Äußerung über die Notwendigkeit einer ftaatlichen Negelung 
der weiblichen Lebensweiſe führt uns über Erziehung und Unterricht 
hinaus zum Leben des erwachjenen Bürgers, das — wie wir bereits 





an dem Cherecht geſehen — ebenfalls einer ſyſtematiſchen Über: 
wachung durch den Staat und die Dffentlichfeit unterliegen joll.:) 
) 80de ff. 
2) Bgl. 631e. 


Pohlmann, Gejch. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 34 


530 Erſtes Buch. Hellas. 


Die beveutfame Thätigkeit, welche der Staat feinen Bürgern 
durch die Befreiung von wirtjchaftlichen Sorgen und regelmäßiger 
wirtfchaftliher Arbeit ermöglicht und von ihnen fordert, jest eine 
bejtändige Übung des Körpers und ein ftetiges Fortjchreiten in 
„Tugend“ und Wiſſen voraus. Sie haben jtetS deſſen eingedenf 
zu fein, daß fie „zur Arbeit geboren” find.!) Der ganze Tag 
und die ganze Nacht — meint Plato — würde faum ausreichen, 
um in der Erfüllung diejes Lebensberufes zur Vollendung und 
zu einem völlig befriedigenden Ziele zu gelangen. ?) 

Daher muß das ganze Leben der Bürger einer ftrengen Drd- 
nung unterworfen werden, welche fie anweilt, wie fie „die ganze 
Zeit — faft von einem Sonnenaufgang zum andern — tagtäglic) 
verwenden” jollen.) Zwar joll ſich dabei der Gejeßgeber nicht 
auf eine Eleinliche Negelung des Details einlafjen, 3. B. feine 
Verfügung darüber treffen, „wie weit etwa der Bürger, der un— 
abläffig und mit aller Sorgfalt für das Wohl des Staates zu 
wachen hat, jeine nächtliche Ruhe verkürzen“ müſſe. Aber er 
legt doch einen Schimpf darauf, wenn etwa ein Bürger die ganze 
Nacht Fchlafend zubringen und fich nicht vor allem Hausgefinde 
ſtets al3 der Erſte beim Nufftehen zeigen wollte, oder wenn die 
Hausfrau ſich von ihren Dienerinnen weden lafjen wollte, ftatt 
jelbft alle anderen zu weden:5) Ein Schimpf, deſſen zwingende 
Gewalt in diefem Staat gegenüber dem Einzelnen kaum jchwächer 


1) !ſnt To noveiv yeyovores. 7794. 

2) 07a ff: 

3) 807d: ovrw dr) Toitwv nepvaoıwy ra&ıv dei yiyvsodaı naoı 
tois EAsvHegoıs TNS dıLargLßns neol Töv Yo0ovov anavıa, 0%Eedov 
aofdusvov 2E Ew ueyoı vis Erepas del Evveyws Ew TE zal yAlov avaroins. 

9 807e: noAla uev oVv xal nurvd zul suzod Aeyav dv TIS vouo- 
HErns doymuwov gpelvoro negl TWv zur’ oixiav bioıznoewv, ta Te dAla zul 
00« vixtwo dünvias neo moensı Tols u£khovoı did TEhovs puhafeıv naoav 
nöhlv dxoLßos. 

5) Wenn, wie Plato vorjchreibt, die Kinder fchon mit dem Morgen: 
grauen zur Schule jollen (808e), jo müffen auch die Erwachſenen frühzeitig 
an die Arbeit gehen. 





IT. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Geſetzesſtaates. 531 


wäre, als wenn an Stelle der durch den Gejetgeber gebeiligten 
Sitte das Gejeß ſelbſt treten würde. Das „ganze Haus“, die 
Kinder, ja jogar Sklaven und Sflavinnen werden gegen die Zus 
wiverhandelmden zum Nichter aufgerufen. Die engjte Umgebung 
des Bürgers muß der Gemeinjchaft behülflich ſein, die Zucht der 
Geſinnung zu jchaffen, die den Einzelnen ihrem Willen unbedingt 
unterwirft. !) 

Mit der ganzen Autorität des pojitiven Geſetzes vollends 
wird jene Offentlichfeit des Lebens erzwungen, wie fie durch die 
Ausdehnung der Speijegenofjenfchaften auf Kinder und Frauen 
erreicht werden joll. Diejes tägliche Zujammenjein ift für alle 
Bürger, für Mann und Weib, für Mt und Jung eine ununter: 
brochene joziale Schulung zur Pflege des Gemeinfinnes, zur Be: 
fämpfung der Selbitjucht, überhaupt aller gejelliehafts- und gleich- 
heitswidrigen Inſtinkte, von Unmäßigkeit, Üppigfeit und Ver— 
ſchwendung. 

Unterſtützt wird dieſe Tendenz des Syſſitienweſens durch eine 
ſtrenge Luxusgeſetzgebung. So wenig fröhliche Luſt und heiterer 
Genuß in dieſem Staate verpönt ſein ſoll, der Staat behält ſich 
doch vor, auch hier dem individuellen Belieben gewiſſe Schranken 
zu jeßen. Über den Weingenuß 3. B. enthält das Geſetz weit- 
läufige Vorſchriften. Er ift dem Soldaten im Felde, dem Beamten 
während jeines Amtsjahres, dem Nichter auf die Dauer feiner 
Funktionen jchlechterdings verboten, ebenfo Jedem, Der in einer 
wichtigen Angelegenheit an einer beratenden Verſammlung teilzu— 
nehmen bat. Sa bei Tage joll überhaupt Jedermann des Weines 
fich enthalten, wenn er ihn nicht zur Stärkung in Krankheit oder 
für Leibesübungen bedarf. Um dieje Einfchränfung des Wein— 
fonfums zu erzwingen, jeßt der Staat, wie der Produktion aller 
anderen Landeserzeugnille, jo auch dem Weinbau eine fejtbeitimmte 
Grenze, er läßt nur den kleinſten Teil des Kulturbodens mit Neben 
bepflanzen.?) 


) 807e. 
?) 674c: worte zard tov Aoyoy Tovrov oVd’ dunekuvov dv noAlov 


34* 


532 Erſtes Buch. Hellas. 


Hieher gehören auch die Beftimmungen über Hochzeiten und 
Begräbniffe. Bei erjteren jollen nur fünf Freunde des Bräutigams 
und fünf Freundinnen der Braut, ſowie beiderſeits ebenjoviele 
Rerwandte zugelaffen werden. Der Aufwand, der dabei gemacht 
wird, ſoll bei der erſten Zenfusklaffe den Betrag einer Mine, bei 
der zweiten den einer halben Mine u. ſ. f. in abjteigender Linie nicht 
überſchreiten. Zuwiderhandelnde werden bejtraft als jolche, die 
„ver Geſetze der hochzeitlihen Mufen unfundig ſind“.) — Bei 
den Begräbniffen fungiert geradezu ein Vertreter des Staates, der 
von den Verwandten des Verftorbenen aus der Neihe der ſogenann— 
ten Gejegesbewahrer gewählt wird und welcher dafür verantwortlich 
ift, daß die ganze Leichenfeier in „maßvoller und Löblicher” Weife 
vor ſich geht. Dabei ſoll der gejamte Aufwand für ein Leichen: 
begängnis je nad) der Zenfusklaffe nicht mehr als 5, bezw. 3, 2 
und 1 Mine betragen. Der Grabhügel joll nicht Höher aufgeworfen 
werden, als es fünf Männer in fünf Tagen vermögen, und der 
Srabftein ſoll nur fo groß fein, als Naum nötig iſt für ein furzes 
der od" yrıvı nohsı, Taxe DE ad U’ ahha Ev Ein yEwoyyuara zul ndoe 
n diete, za dN Ta ye negi oivor oyEdov dndvrov £uuetoöraere xaL 
okiyıora yiyvor’ av, — Ich kann mich nicht entjchließen, diefe Ausführung 
über den Wein und die Rebenfultur Plato abzufprechen und dem Redaktor 
zuzuschreiben, wie es Bruns thut. (Platos „Geſetze“ vor und nach ihrer 
Herausgabe durch Philipp von Oropus ©. 51.) Dagegen verzichte ich aller: 
dings darauf, die fich durchaus widerfprechenden, auf verjchiedene Entwürfe 
beziehungsweife fremde Zuſätze zurüczuführenden Satungen über die Trink: 
vereine im erſten Buch und über den dionyfischen Chor im zweiten (bejon- 
ders 649a 5. und 666a f.) für die Charafteriftit des Gejegesftaates zu ver— 
werten. Einerſeits handelt es ſich hier um Fragen, don denen wir nicht 
wiſſen, toie ſich Plato ſelbſt ihre endgültige Löjung gedacht hat, anderer: 
ſeits enthalten fie fein neues charakteriftiiches Moment für die Gejchichte des 
Sozialismus. 

’) 775a. Daran jchließen ſich Ermahnungen zur Mäßigkeit im Ins 
terejfe der fünftigen Generation, Vorſchriften über Wohnfig und Haushalt 
des jungen Paares, der von dem der Eltern und Verwandten getrennt jein 
joll. Eine Solierung, von der Plato zugleich eine Steigerung der Ber: 
wandtenliebe eriwartet. 776a. 





IH. 3. 3. Die Lebensordnung dev Bürger des platon. Gejegesftaates. 533 


Epigramm auf den DVerftorbenen, das nicht mehr als vier Hera: 
meter enthalten darf. !) 

Wie Schon aus diejer le&teren Beltimmung hervorgeht, ex 
ſtreckt ſich die „ſorgſame Aufficht des Staates über jedes Lebens: 
alter” 2) nicht bloß auf die äußere materielle Seite des Lebens. 
Alles, was auf das Gemüt zu wirken vermag, alle vedenden und 
bildenden Künfte jollen ſich vom Staate die Richtung vorfchreiben 
laſſen, welche feinen Zweden am beiten zu entjprechen jcheint. 

Gleich bei der Begründung des Staates wird eine Klommij- 
fion eingejeßt, — beftehend aus Männern über fünfzig Jahren, — 
welche die bereitS vorhandene poetilche und muſikaliſche Litteratur 
einer jtrengen Sichtung unterwirft und alles den Prinzipien des 
neuen Gemeinmwejens Widerjtreitende von demjelben unbedingt aus- 
ſchließt. Genügen die zugelafjenen Dichter: und Tonwerke nicht, 
um alle Anforderungen der muſiſchen und choreutifchen Erziehung, 
jowie des Kultus zu befriedigen, jo zieht die Kommiſſion tüchtige 
Muſiker und Dichter Hinzu, welche genau nach den Intentionen des 
Geſetzgebers und unter möglichjtem Verzicht auf eigene Neigungen 
die nötigen Terte und Melodien zu liefern haben. Alles was dem 
großen Haufen zujagt und den Sinnen jchmeichelt, ift aus der bier 
geduldeten Kunft unbedingt verbannt; nur mit der „maßvollen und 
wohlgeregelten” Muſe joll der Bürger Verkehr pflegen, mag ſie auch 
dem Ungebildeten froftig und veizlos erjcheinen. >) 


!) 959de. — Man foll ſich nicht zu übermäßigen Aufwand durch 
den Gedanken verführen laſſen, daß „die Fleiſchmaſſe, die da begraben wird, 
ein Anverwandter fei, jondern Jedermann ſoll denken, daß fein Sohn oder 
Bruder oder wen er jonft mit Schmerzen zu beftatten jcheint, in Wahrheit 
vielmehr dahin ‚gegangen ift, um jein Schidjal zu vollenden. Das was 
jedem von uns jein Dafein verleiht und was er wirklich ift, das unfterbliche 
Weſen, das Seele heißt, wandert zu den Göttern, um dort Rechenjchaft ab- 
zulegen, wobei ihm Niemand helfen kann. Der Dienft, den der Menfch dem 


Toden erweilt, gilt nur einem Schatten, einem Nichts. 959a ff. — Weitere 
vielfach an das attiſche Necht ſich anjchliegende Bejchränfungen ſ. 960a. 
2) 959e. 


») 8022 ff. 


554 Erſtes Buch. Hellas. 


Nachdem jo die „feſten Typen“ für alle Poeſie und Kunſt 
aufgeftellt find, tritt an die Stelle der außerordentlichen Kommiſſion 
eine ftändige Zenjurbehörde, welche dafür zu jorgen hat, daß fich 
auch in Zukunft alles poetische und künſtleriſche Schaffen in den 
vorgezeichneten Bahnen bewege. Der Gefeßgeber kann dem Dichter 
feine Freiheit gewähren, weil derjelbe fein genügendes Urteil darüber 
hat, was er dem Staate für Schaden bringen kann. „Wenn der 
Dichter auf dem Dreifuß der Mufe fißt, ift er nicht mehr bei 
vollem nüchternen Bewußtſein und läßt wie ein Quell ungehemmt 
hervorſprudeln, was da hervorjprudeln mag!“ !) 

Das Hauptaugenmerk diefer Zenfur ift darauf gerichtet, daß 
niemand in Wort oder Schrift von den ethiichen Grundwahrheiten 
abweiche, auf die der Staat jeine Eriftenz gründet. Der Dichter 
hat von jeiner Darftellung alles ferne zu halten, was nicht vom 
Staate al3 gejeßlih und gerecht, als ſchön und qut anerkannt ift. 
Auch Für die rein poetische Darjtellung ift das Dogma von der 
Koinzivenz der Tugend und Glückſeligkeit, des Gerechten und Nütz— 
lichen unbedingt Negel und Richtſchnur. „So ziemlich die härtefte 
Strafe trifft jeden, der es wagt, die Anficht zu äußern, daß es 
Menschen geben könne, die ein unfittliches und doch dabei angeneh- 
mes Leben führen, oder daß das Gerechte nicht auch zugleich das 
Nügliche und Gewinnbringenpfte jei.“2) Um folche moraliiche Ver: 
rungen ſchon im Keime zu erſticken, müſſen alle dichteriichen Er: 
zeugniffe vor ihrer Veröffentlichung erſt die Billigung der Zenſur— 
behörde erlangt haben. Nicht einmal privatim dürfen fie vorher 
irgend jemand mitgeteilt werden.) 

Überaus bezeichnend ift die Motivierung diefer Zenjur, wie 
fie Blato in der Form einer Anfprache an den dramatiichen Dichter 
gibt: „Wir jelbft, — Sagt der Gefeßgeber zu dem Fremdling, der um 
Erlaubnis zur Aufführung feiner Dramen bittet, — wir felbft find 
Dichter eines Dramas, welches, ſoweit wir vermögen, das jchönfte 

9 719be. 


2) 662b. 
>) 801d. 





IM. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejeßesftaates. 535 


und beſte werden joll. Unfere ganze ftaatliche Ordnung befteht ja 
in der Nahahmung des ſchönſten und beiten Lebens, und eine ſolche 
joll eben nach unferen Begriffen das wahrhafte Drama fein. So 
jind wir denn beide Dichter in dem gleichen Fach und Ihr habt 
uns als Nebenbuhler in der Kunft und als Mitbewerber um den 
Preis des ſchönſten Dramas anzujeben, zu deſſen Vollendung, wie 
wir hoffen, ihrer Natur nach allein die richtige Gejeßgebung ge- 
eignet it. Wähnet daher nicht, daß es Euch jemals jo ohne weiteres 
geftattet werden wird, Eure Schaubühne auf unſerem Markte auf- 
zuſchlagen und Eure Schaufpieler, die mit ihren jchönen Stimmen 
die unſrige übertönen würden, zu Knaben und Weibern und zum 
ganzen Volke reden uud über diejelben Einrichtungen nicht die gleichen 
Anfichten, wie wir, verkünden zu laſſen, jondern meijtens gerade 
das Gegenteil. Denn wir und der ganze Staat müßten ja gänz- 
lih von Sinnen jein, wenn wir Euch dies alles geftatten und nicht 
vielmehr zuvor durch die Behörde prüfen ließen, ob ihr Schidliches 
gedacht habt und was fich ziemt, öffentlich vorgetragen zu werden. 
Darum, Ihr Söhne der jchmeichelnden Mufen, werden wir erſt 
Eure Gejänge neben den unfrigen!) den Häuptern unferes Staates 
zur Brüfung vorlegen und exit, wenn dieſe finden, daß die Eueren 
gleiche oder beſſere Grundjäße enthalten, Euch einen Chor (zur 
Aufführung) bewilligen, im entgegengejeßten Falle aber nicht.“ 2) 

Was hier über die Zenjur der Tragödie gejagt wird, gilt 
natürlich in noch höherem Grade für die Komödie, die zudem einer 
ganz bejonderen Beichränfung dadurch unterliegt, daß das Gejeß 
feinem Dichter oder Künftler geftattet, „sich in Wort oder Bild über 
einen Bürger luftig zu machen”.>) 

Ähnliche ftrenge Normen gelten ferner für die mufifalifche 


) D. h. den Geſetzen, die wegen ihrer poetifcherhetorifchen Redeweiſe 
mit Dichtungen verglichen werden. 

) 935e. Eine Ausnahme bilden nur die 829b f. erwähnten Fälle, 
to das Spottlied im Dienfte der Staatspädagogif offiziell zur Anwen— 
dung fommt. 


5536 Erſtes Buch. Hellas. 


Produktion !) und für die bildende Kunft. Wie jene alles zu ver— 
meiden hat, was nur den Sinnen jehmeichelt, jo iſt aus der bilden- 
den Kunft alles verbannt, was nur dem Prunke dient oder allzu 
großen Aufwand an Mühe und Koften erfordert. Gold und Silber 
ift auch in der Plaſtik unbedingt verpönt, ebenjo alle Erzeugniſſe 
der Webekunſt, an denen ein Weib länger als einen Monat zu 
arbeiten hätte. Auch follen — abgejehen vom Kriegsihmud — 
alle Gewebe ungefärbt, einfach weiß fein, — die den Göttern an: 
genehmfte Farbe. — In Beziehung auf die Malerei wird wenig: 
ftens ſoviel bemerkt, daß die ſchönſten Geſchenke für die Götter 
folche Bilder find, welche ein Maler an Einem Tag vollendet hat. (!) 
Dazu fommen Verbote, welchen die verjchiedenartigiten Motive zu 
Grunde liegen. So joll Elfenbein nicht für die Plaſtik verwandt wer: 
den, weil e3 von einem toten Leibe ftamme, und daher auch nicht 
für ein reines Weihgefchenf verwertbar jei. Eijen und Erz ift aus: 
gefchloffen, weil es für den Gebrauch des Krieges dient. Nur an 
Holz und Stein hat der Bildhauer feine Kunft zu bethätigen.?) 

Allerdings gelten die meiften diefer Beitimmungen zunächit 
nur für Kunftwerke, die in Tempel geweiht find. Allein es wird 
am Schluffe ausdrücdlich hinzugefügt, daß „nach dem Vorbilde diejer 
Weihgeſchenke alles andere zu geitalten jei”.?) 

Was die Mufif betrifft, jo wird die bloße Inſtrumentalmuſik, 
das Lied ohne Wort verpönt als eine „Saufelei und Abirrung von 
den Mufen“. Flöten und Zitherfpiel ſoll nur zur Begleitung des 
Geſanges und Tanzes dienen, wie auch der le&tere nur in Ver: 
bindung mit jenem zugelaffen wird.*) Ohne die Verbindung mit 
dem gejungenen Wort würde das, was die Tonkunſt an ethiichem 
Inhalt zum Ausdruck bringen fol, den Hörern nicht zum klaren 
Bewußtjein kommen. 

Daß die „feiten Typen“, an welche jo alle Kunftübung ge 


) 802e: dvayzalov dn zei Tovrwv Ta oynuatd yE vouodEreiv. 
?) 955a ff. 
3) 96h: zei rahla Foto zera Ta raiwvre avadjucre uguunusve, 


1) 669). 





III. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejebesftaates. 537 


bunden jein foll, notwendig zu einer völligen Stagnation alles 
fünftlerifchen Schaffens führen müßten, kümmert Plato nicht. Im 
Gegenteil! ES Liegt ja geradezu in der Natur des Idealſtaates, 
daß er eine eigentliche Entwidlung ausschließt; und jo ift eg nur 
fonjequent,!) wenn Plato in feinem doftrinären Eifer ſoweit gebt, 
Ägypten als das Mufterbeifpiel ausgezeichneter Staatsflugheit zu 
rühmen, weil es weder Malern, noch Bildhauern, noch Muſikern 
geftatte, „irgend welche Neuerungen zu machen und irgend etwas 
von den bergebrachten vaterländijchen Sitten Abweichendes zu er— 
finden,“ jo daß Gemälde und Statuen von heute ganz denen glichen, 
welche vor zehntaujend Jahren entitanden feien!?) 

Doch was will jelbit das bedeuten gegen die VBergewaltiguug 
der Geiftesfreiheit, welche fich als die legte und äußerſte Konjequenz 
diejes Sozialismus herausstellt? 

Wie wir jahen, war ſich Wlato ſehr wohl dejjen bewußt, 
daß, um mit Schopenhauer zu reden, Moral predigen leicht, Moral 
begründen ſchwer ift. Insbeſondere hat er fich feiner Täufchung 
darüber bingegeben, daß wieder aanz bejonders ſchwer vor dem 
natürlichen menjchlichen Empfinden die Prinzipien der jozialen Ethik 
zu begründen find, auf denen fich fein Staats: und Gejellichafts- 
ideal aufbaut. Alle möglichen Mittel der Belehrung und Über— 
redung werden vorgefchlagen, um Berftand und Herz der Bürger 
für diefe Grundfäge zu gewinnen und trogdem erjcheinen fie ihm 
zur vollen Erreihung des Zieles nicht genügend! Er ſieht ſich 


) Das verfennt Bergf, wenn ev — im Anſchluß an jeine Hypotheſe 
von den in dert Nowor angeblich enthaltenen Entwürfen zweier Staatsideale — 
die Überwachung der Dichter nur in der (dem beiten Staat nächititehenden) 
jogen. „devreoe noAıs“ für denkbar hält, während in der zeirn nolıreia“ 
welche ſich „möglichjt der allgemeinen Sitte und dem Volfsberwußtjein anzu 
pafjen“ juche, für diefe Paradorie fein Raum jei. („Platos Geſetze“ in den 
„Fünf Abhandlungen zur. Gejch. der griech. Philojophie und Aſtronomie“ 
©. 85). - - Eine jo weitgehende Anpafjung an das „Volksbewußtſein“, an 
den „freien helleniſchen Geift”, wie fie hier Bergk vorausſetzt, wäre für Plato 
mit dem Verzicht auf jedes Staatzideal gleichbedeutend geweſen. 

2) 656e. 


538 Erſtes Buch. Hellas. 


auch bier, wie in der Politie, mit logischer Notwendigkeit dazu ge 
drängt, die Beihilfe von Vorftellungen anzurufen, deren Heran— 
siehung im Grunde genommen ven Verzicht auf die Möglichkeit einer 
durchſchlagenden Begründung der inneren Vortrefflichfeit feiner Ideale 
bedeutete. Dieſe Vorftellungen liegen auf dem Gebiete der Neligion, 
die fich ja mit Platos Sozialphilojophie injoferne enge berührt, als 
auch ihre Ideale weſentlich ftabiler Natur find, ſich als ewige 
Wahrheiten geben. Die religiöje Sanktion ift es, deren jich der 
Geſetzgeber bedient, um jeinen fittlihen und politiſchen Vorſchriften 
die volle Wirkfamfeit im Wollen und Handeln feiner Bürger zu 
fichern. Er fucht „die Bewahrheitung feines Prinzips in der Har— 
monie desjelben mit dem Höchiten, was der Menjch zu erkennen 
oder zu ahnen vermag. Bon dem bloßen Syſtem der Gefellichaft 
wendet er fich der Gottheit zu.” 1) 

Der Gefeßgeber ift fich einer befonderen göttlichen Führung 
und Eingebung bewußt.?) Er fünnte mit Saint Simon jagen: 
„Bott ift es, der zu mir geredet hat.“ Wenn er Zuftimmung 
findet, iſt es wejentlih Gottes Werk.) Alle jeine Sabungen und 
die Snftitutionen feines Staates werden zu göttlichen Drdnungen *) 
und damit jeder Verftoß gegen fie zu einer VBerfündigung gegen 
die Götter felbft.5) Dieſe göttliche Sanktion des Staatsgejeßes 
wäre aber illuforifeh, wenn die Bürger den Glauben daran nicht 


) L. dv. Stein von St. Simon: Gefchichte der jozialen Bewegung in 
Frankreich II, 125. 

2) 682e. 722c. 

>) 662b. 

*) 762e. 

5) 634d twird das ſpartaniſch-kretiſche Geſetz gerühmt, welches „allen 
jungen Leuten verbietet, den Vorzügen oder Mängeln der bejtehenden Ein- 
richtungen nachzuforichen, ihnen dagegen befiehlt, wie mit Einer Stimme 
und aus Einem Munde einhellig zn befennen, daß Alles als göttliche 
Sabung in beſter Ordnung ſei;“ — Ein Gefeß, welches nur den Greifen 
geftattet, an dem Beftehenden etwas auszuſetzen, und auch dies nur im der 
Weiſe, daß fie jolche Bemerkungen ausjchließlich in Gegenwart eines der 
oberjten Magiftvate und von Altersgenofjen machen, nie vor Jüngeren. 





II. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gefeßesftaates. 539 


teilen, wenn fie der Staatsreligion innerlich ferne ftehen würden. 
Daher fordert der Staat geradezu den Glauben an die Neligions- 
vorftellungen, welche durch ihn als die „richtigen“ anerkannt find. 
Seine Bürger jollen ein ſtets fich erneuerndes Gefchlecht von „Dienern 
Gottes” jein.!) Dpferfefte und heilige Chöre jollen ihr ganzes 
Leben lang das wichtigite Geſchäft für ſie jein,?) und jo jehen wir 
auch hier den Sozialismus dem innerjten Zuge feines Weſens fol- 
gend zur Religion werden. Ganz ähnliche Tendenzen machen fich 
bemerkbar, wie in der Theofratie Fichtes, in Saint Simons Nou- 
veau christianisme, in Nodbertus’ Kombination des weltlichen 
„utilitären” Prinzipes mit dem religiöjen, in jeiner Berufung „auf 
den Willen des Weltgeiftes”. Was dieſer moderne Apojtel der 
ertremen Einheitsidee al3 notwendige Folgerung aus dem Sozial: 
prinzip proflamiert, die Staatsficche neben der Staatsſchule, ijt be— 
reit3 von der platonifchen Sozialphilojophie als unabweisbare 
Konjequenz ihres Sozialismus gefordert worden. 

Zwar wird auch hier nicht ſofort mit der ganzen Schroffheit 
ftaatlichen Zwanges vorgegangen, jondern zunächit der mildere Weg 
freundlicher Belehrung verjucht, wenigjtens joweit es ſich um Indivi— 
duen handelt, deren jugendliches Alter noch einen Wandel der Ge- 
finnung erwarten läßt. „Mit Unterdrüdung alles Zornes und in 
aller Sanftmut” ſoll der jugendliche Zweifler etwa in folgendem 
Sinne zuvechtgewiefen werden: „Mein Sohn, Du biſt noch jung 
und der Fortſchritt der Zeit wird Dich ehren, über viele Dinge 
ganz anders, ja geradezu entgegengejeßt zu denken, wie im Augenblid. 
Warte alfo zu, bevor Du über das Allerwichtigite aburteilft. Denn 
das wichtigfte unter allem ift, wie der Menſch in feinem Leben zu 
den Göttern fteht. Eines aber verhehle ic) Dir nicht, worin Du 
mich nicht als Lügner erfinden wirst. Du bijt nicht der Erſte und 
Einzige, der am Dafein der Götter zweifelt, jondern es find ihrer 
ſtets mehr oder weniger, die von dieſer Krankheit befallen find. 


1) 773e. 
?) 803e. 


540 Erſtes Buch. Hellas. 


Aber Feiner noch it jung gewejen und alt geworden, der bei diefer 
Leugnung beharıt wäre. (I) Wenn Du alfo mir folgen willit, jo 
warteft Du ab, bis Du Dir ein zuverläffiges Urteil über dieſe 
Fragen gebildet haft, und denkſt zu diefem Zweck exit genau darüber 
nach, wie fich die Sache verhält, und ziehjt auch Andere und vor 
allem den Gefeßgeber zu Nate. Inzwiſchen aber erfreche Dich nicht, 
wider die Götter zu freveln.“!) 

Sp joll der Gejeßgeber ſich feine Mühe verdrießen laſſen, 
alle Gründe aufufinden, welche geeignet erxjcheinen, den Ein- 
zelnen auch nur einigermaßen zu überzeugen; er muß jozujagen 
„alle Töne anfchlagen”, um den Glauben an das Dajein der 
Götter und an die Wahrheit alles deſſen, was er von ihnen aus— 
jagt, zu ftüßen.?) In den Schriften des Gejeßgebers, bejonders 
in den Vorreden zu den Gejegen wider die „Gottloſigkeit“ findet 
der Bürger eingehende religionsphilojophiiche und theologische Er: 
örterungen, deren fleißige Lektüre ihm „Oelegenheit zu ruhiger 
Prüfung gibt.”) Er lernt da, wie der Atheismus im Materialis- 
mus wurzle, diefer aber leicht als unhaltbar nachzuweiſen jei.t) 
Er findet ferner eine Widerlegung der ftaatsgefährlichen Irrlehre, 
daß es zwar Götter gäbe, diefe aber um die menschlichen Anz 
gelegenbeiten fich nicht fümmern,5) — jowie des nicht minder ges 
führliden Wahnglaubens, daß die Götter gegen das Unrecht Feines: 
wegs unerbittlich ſeien, ſondern fich durch Dpfer und Weihegaben 
zu Gunften der Schlechten bejtechen ließen.s) Er wird endlich) nach— 
vrüclich darauf aufmerffam gemacht, daß des Menſchen — ver: 
möge ſeiner Unfterblichfeit — in einer jenfeitigen Welt ein göttliches 
Gericht harıt, welches dem Guten herrlichen Kohn an einem para= 
dieſiſchen Wohnfit verheißt, den Sünder aber mit der Hinabftoßung 








1) 8885 f. 

2) 890. 

») 891a. 

9 893a— 899d. 
5) 899-905. 

°) 905d— 907. 





II. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Gejeßesftaatee. 541 


in jene unterivdiiche Hölle bedroht, welche „unter dem Namen des 
Hades und anderen verwandten Bezeichnungen ein gewaltiger 
Schreden der Seelen it im Wachen, wie im Traume, im Leben, 


wie nach der Ablöjung von dem Leibe.”!) — „Du wirft, — hört 
er den Gejeßgeber jagen, — dem Walten der Götter niemals ent- 


rinnen und wäreſt Du noch jo Elein und verfröcheit Dich in den 
Tiefen der Erde oder erhöbeſt Dich noch) jo hoch und ſchwängeſt 
Dih in den Himmel empor, Du wirjt doch Die verdiente Strafe 
erleiden müſſen.?). 

Wie nun aber, wenn die theologische Argumentation des 
Gejeßgebers die überzeugende Kraft nicht bewährt, die er fich opti- 
miftifch genug von ihr verjpricht? Wenn ein Anaragoras, Empe— 
dofles oder Demofrit aufträte und Anfichten über die Natur der 
Himmelsförper, über die jtreng mechanifche Gejegmäßigfeit der 
Naturprozefje, über das Weſen der in der Natur wirkenden Kräfte 
ausjpräche, welche jener Argumentation die ſtärkſten Stüßen ent- 
ziehen würden und daher von dem Gejeßgeber ausprüclich zurück— 
gewiejen jind??) Wenn ein PBrotagoras deſſen Beweiſe für das 
Dafein der Götter für nicht beweijend erklärt, wenn ein Aristoteles 
käme und behauptete, es mit dem Begriff von einem vollfommenen 


Leben nicht vereinbaren zu fünnen, daß Gott — die reine Sn: 
telligenz — jeine Thätigkeit über fich jelbit hinaus auf die Welt 
richte, — wenn er jeine Lehre vertreten jollte, daß alle bejondere 


Gejtaltung der Dinge ſich nach) den ihnen innewohnenden Gejegen 
vollziehe und daher von einer überlegenen fittlihen Weltordnung 
und einer Vorſehung nicht die Nede jein könne? — Dder aber, 
wenn ein neuer Neligionslehrer aufträte und dem Staatsdogma 
von dem unverjöhnlichen „Rechtsbrauch“ der Götter die Lehre ent: 
gegen halten würde, daß die Gottheit auch gegen den Sünder nicht 
unerbittlich jei? — Der wenn der DVerfünder einer rein menjch- 
lichen Ethik die Wirkſamkeit der von dem Gejeggeber zur Bändi- 

1) 9040 f. 

) 905a. 

3) Val. z. B. die Polemik 8860 f. und 880b f. 


549 Erſtes Buch. Hellas. 


gung gefahrdrohender Naturinjtinkte für unentbehrlich angejehenen 
religiöfen Zuchtmittel dadurch gefährden würde, daß er die Vor- 
ftellungen über Paradies und Hölle für Ausgeburten der religiöjfen 
Phantaſie erklärt? 

Für fie alle ohne Unterfchted, — jelbit für Platos größten 
Schüler — wäre in diefem Staate fein Raum! Wenn fich jemand 
nicht auf gütlichem Wege von dem Dajein der Götter überzeugen 
(läßt und trotz aller Belehrung fich nicht dazu verftehen will, „Die 
jelben fich gerade jo zu denken und vorzujtellen, wie das Geſetz 
es ihm gebietet,“!) jo jeßt er fi all den jchlimmen Folgen aus, 
mit welchen die harte Strafjuftiz des Gejegesjtaates den Wider— 
ftand gegen das Geſetz bedroht. Die Gefahren, welche jchon die 
im beftehenden Staat geltenden Geſetze gegen „Aſebie“ für die Geiftes- 
freiheit enthielten, man erinnere fi nur an Anaxagoras, Prota= 
goras, Sokrates, Ariftoteles u. U.,2) — fie würden in dieſem 
Spealftaat in gewaltig verjtärktem Maße wiederfehren. Nicht bloß 
der frivole Spötter, welcher die Religion verächtlich macht, ſondern 
auch der ernſte Denker, der bloß Anfichten äußert und verbreitet, 
welche den Dogmen der Staatsreligion wiverjtreiten, wird wie ein 
Verbrecher verfolgt.) Alle, die ſolche Außerungen hören, find dur) 
das Gejeß zur Anzeige verpflichtet, welche eine öffentliche Anklage 
vor dem Gerichtshof für Neligionsfrevel nach ich zieht.) Wird 
der Angeklagte verurteilt, jo wird er jelbjt in dem legteren Falle, 
„wenn er etwa nur — wie Plato ſich ausdrüdt — aus Unverftand 
und nicht aus Bosheit des Herzens und Charakters dergeſtalt ge— 
fallen ift“, auf nicht weniger als fünf Jahre in das „Beljerungs: 


) 890b: . . . 8 u) groovoıw eivaı Heoös zul dievondnoorreu 
do&ddovrss toLovrovg olovs Ynolv 0 vouos. 

2) Vgl. Meier-Schömann: Der attifche Prozeß (2) ©. 370, wo aller: 
dings mit Recht das weſentlich politifche Motiv dieſer Religions-Prozefje 
betont wird. 

>) Und das, obwohl Plato unbefangen genug ift, anzuerkennen, daß 
auch der, welcher nicht an Götter glaube, eine natürliche NRechtjchaffenheit 
des Charakters befiten fünne! 9086. 

*) 9074. 





IM. 3. 3. Die Lebensordnung der Bürger des platon. Geſetzesſtaates. 543 


haus“ (owgpoeorıorneıov) eingejchloffen. Während diefer Zeit darf 
Jemand mit ihm verkehren, ausgenommen jene auf der Höhe philo: 
ſophiſcher Bildung ftehenden Männer, welche zugleich Mitglieder der 
höchſten jtaatlichen Körperjchaft, des jogenannten nächtlichen Rates 
find, und die durch Willen und Autorität am meiſten befähigt er— 
jcheinen, ihn zu „befehren und jeine Seele zu retten.) Nach Ab- 
lauf der Haftzeit ſoll er, „wenn er Hoffnung gibt, daß er zur 
Vernunft gefommen jei, auch wieder unter den Bernünftigen wohnen. 
Wenn aber die Befehrungsverjuche fehlſchlagen, joll ihm von 
neuem der Prozeß gemacht und die Todesſtrafe über ihn verhängt 
werden (!!) 

Doch nicht bloß der Unglaube, jondern auch das, was die 
Staatsreligion als Aberglaube brandmarkt, wird Friminell verfolgt: 
Zauberei aller Art, Totenbejhwörung, die jogenannte Magie der 
Gebete und Opfer u. dgl. m. Hier tritt an Stelle der Beſſerungs— 
anftalt — zumal wenn Betrug im Spiele ift — das Straf oder 
Zuchthaus,2) welches — in der ödejten und wildeiten Gegend des 
Landes gelegen — „schon durch jeinen Namen den chimpflichen 
Charakter bezeichnen und einen heiligen Schauder einflößen jol.“3) 

Endlih wird, um diefen und anderen Verirrungen des reli- 
giöſen Lebens von vorneherein vorzubeugen und die Entftehung von 
Brivatreligionen neben der Staatsreligion zu verhindern, jeder andere 
Kult außer den öffentlichen verboten. Niemand darf in feinem 
Haufe bejondere Heiligtümer oder Privatfapellen haben, Niemand 
feierliche Opfer und Gebete anders als öffentlih und im Beifein 
ver Prieſter verrichten.) Drängt das religiöfe Bedürfnis den 
Einzelnen zur Stiftung neuer Kulte oder Heiligtümer, jo ſollen 
jene in die öffentlichen Tempel verpflanzt, dieſe zu öffentlichen 


!) Eni vovdermjos TE xal ım Tms Wuyns owrnoig ouikovvres heißt 
es don ihnen mit einer jchon ganz an das Chriftentum erinnernden Termino— 
logie. 909a. . 

2) 909b. 

>) 908a. 

') 909, 


544 Erſtes Buch. Hellas. 


Heiligtüimern erhoben werden, falls ihre Zulafjung feinen Bedenken 
unterliegt. !) 

Allerdings räumt der Staat der von ihm anerkannten Re— 
ligion diejes Monopol nur unter der Vorausſetzung ein, daß ſie 
jelbft ihm und feinen Zweden unbedingt dienjtbar bleibt. Er 
nimmt die Nechtgläubigfeit nicht darum unter die Volizeiverordnungen 
auf, um ſich unter das Goch des Prieftertums zu beugen. So 
ausgeprägt hierarchiſch der ganze Gedankengang diejes Sozialismus 
it, von einer Prieſterherrſchaft will er nichts willen. Die Prieſter 
finden bier feinen Boden für die „vünfelvolle Haltung“, die Plato 
an ihnen jo jcharf verurteilt;?) fie jollen nur einfache Diener 
des Staates jein und werden daher durch das 208 aus der Zahl 
aller Bürger auf ihren Posten berufen, um denjelben — in der 
Negel wenigjtens — nad ahresfrift wieder zu verlafjen.?) 

Daß ein Staat, der das ganze Äußere und innere Leben des 
Volkes einer derartigen Bevormundung unterwirft, in dem, um mit 
Plato zu reden, „womöglich nichts ohne Aufjicht bleiben joll“,4) 
zugleich das lebhafteſte Intereſſe daran hat, die Wirkungen feines 
Erziehungs und Bevormundungsſyſtems nicht durch unfontrollierbare 
Einflüffe von außen gefährden zu lafjen, liegt auf der Hand. 
Daher bildet den logischen Abjchluß des ganzen Syitems eine jcharfe 
Überwachung des Reiſe- und Fremdenverfehres, welche durch eine 
weitgehende Beſchränkung ver Freizügigkeit jede „Vermengung der 
Sitten”, jedes Eindringen unliebjamer Neuerungen aus der Fremde 
zu verhüten jucht.5) 

Vor dem vierzigiten Lebensjahre joll überhaupt fein Bürger 
außer Landes gehen dürfen und auch dann mur im öffentlichen 
Auftrag oder im öffentlichen Intereſſe. Man reift entweder als 


DEILOCHE 

2) Vol. 290c. 

3) 759d. Sn diefer Beziehung berührt fich die Praxis des Geſetzes— 
ſtaates enge mit der des demofratijchen Athens. 

+) 760a: @goovonrov de di) undev eis duvauıy Eorw. 

5) 949e. 





II. 3. 3. Die Lebenzordnung der Bürger des platon. Gejegesitaates. 545 


Herold, als Gejandter oder als Feltabgeordneter zu den vier großen 
Hattonaljpielen, oder man jucht duch das Studium der in anderen 
Staaten bejtehenden Berhältniffe und durch die perfönliche Befannt- 
Ichaft mit hervorragenden Geiftern des Auslandes jeine Kenntnifje 
und Erfahrungen zu vermehren, um dann dejto erfolgreicher an der 
Vervollkommnung des eigenen Staates mitwirken zu fönnen: denn 
man erhält jo eimerjeits die Möglichkeit, daS vereinzelte Gute, das 
die Fremde bietet, ſich anzueignen, andererſeits fehlt es dann nie - 
an Männern, welche die Jugend aus eigenen Anſchauungen zu be- 
(ehren vermögen, daß im großen und ganzen die Inſtitutionen aller 
anderen Staaten jchlechter find, als die heimijchen. 

Die Feitgefandten werden aus der Zahl der förperlich und 
geiltig tüchtigiten Männer von der Negierung ausgewählt. Wer 
als „Beobachter“ von Land und Leuten (Iewooc) reifen will, hat 
dazu die obrigfeitliche Erlaubnis nötig, die ihm erteilt wird, wenn 
er mindeltens fünfzig und nicht über ſechzig Jahre alt ift und 
durch hervorragende bürgerliche und militärifche Tugenden genügende 
Garantieen dafür bietet, daß er einerjeitS jeine Mitbürger im Aus: 
lande würdig vertreten, andererjeitS gegen forrumpierende fremde 
Einflüſſe unzugänglich jein wird. 

Sit ein jolcher Beobachter heimgefehrt, jo hat er fich jofort 
in die „zur oberjten Aufſicht über die Geſetze“ beitehende Nats- 
verjammlung zu begeben, welche wir als den jogenannten nächt- 
lihen Nat noch kennen lernen werden.!) Hier hat er förmlich 
Rechenschaft abzulegen und jeine Erfahrungen über Gejeßgebung, 
Erziehung und Jugendbildung mitzuteilen. Sit der Eindrucd des 
Berichtes auf die Verſammlung ein günftiger, exjcheint ihr der 
Heimgefehrte an Einficht und Tugend gewachjen, jo werden dem- 
jelben öffentliche Ehren zu teil. Zeigt fich aber, daß er im Aus- 
land „verdorben“ wurde, jo wird er von aller Teilnahme am öffent: 
lichen Leben ausgejchlofjen. Er hat in äußerfter Zurücgezogenheit 
zu leben und jich jorgfältig vor jeder Außerung oder Handlung zu 


1) ©. u: ©. 557. 
Pohlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u, Sozialismus. I. 35 


546 Erſtes Buch. Hellas. 


hüten, die ihn in den Verdacht bringen könnte, auf Neuerungen 
in Gefeßgebung und Erziehung zu finnen. Fügt er fich dieſem 
Zwange nicht, jo foll er mit dem Tode beftraft werden (!) 

Was den Verkehr mit Fremden im eigenen Lande betrifft, 
jo werden vier Arten von Reiſenden zugelafjen. Erſtlich die vegel- 
mäßig jeden Sommer wiederkehrenden Handelsleute, die „gleich den 
Zugvögeln über das Meer geflogen kommen“ umd, nachdem fie ihre 
Gejchäfte erledigt, das Land wieder verlaffen. Sie werden von 
der Bolizeibehörde in öffentlichen außerhalb der Stadt gelegenen 
Gebäuden untergebracht und einer forgfältigen Ueberwachung unter: 
worfen. Dann Diejenigen, welche zur Teilmame an ejtvarftel- 
lungen und muftschen Aufführungen kommen. Sie follen für die 
Zeit diefer Aufführungen gaftfreundliche Aufnahme in den zu den 
Tempeln gehörigen Herbergen finden, wo Briejter und Tempeldiener 
für ihre Bewirtung zu jorgen haben. Ferner die Gejandten fremder 
Staaten, welche Gäfte des Staates find. Sie follen bei feinem 
andern Bürger Wohnung nehmen, als bei den Strategen, Neiter- 
oberiten und Hauptleuten, welche ihr Amt ohnehin in nähere Be 
rührung mit dem Ausland bringt.?2) Endlich — die jeltenjte Art 
— Fremde, die zur Bereicherung ihres Wiffens in ähnlicher Abficht 
reifen, wie die „Beobachter“ des Geſetzesſtaates, und welche für 
die ernſten Abfichten ihrer Neife dem Staate ſchon durch ihr höheres 
Alter eine gewilje Bürgicehaft gewähren. Sie finden uneingeladen 
gaftfreie Aufnahme bei dem Vorftande des Erziehungswejens oder 
denjenigen alljeitig erprobten und eine der wichtigiten Vertrauens— 
ftellungen im Staate3) einnehmenden Bürgern, welchen jeiner Zeit 
von der gejamten Biürgerjchaft der höchſte Tugendpreis, Die Be— 
fränzung mit dem Lorbeer zuerkannt worden war.t) Durch dieſe 


1) 9496-9524. 

?) Sie haben die Aufficht über die Ein: und Ausfuhr von Kriegs: 
material. 847c. 

) Als jogen. Euthynen, vor denen die Beamten Rechenschaft für ihre 
Amtsführung abzulegen haben. ©. u. 

4) 9524--953d. 








II. 3. 4. Die Berfaffung des platoniſchen Gejeßesitaates. 547 


Negelung des Verkehres hofft der Gefeßesitaat die rechte Mitte ge 
funden zu haben zwijchen der Freizügigkeit in Staaten wie Athen 
und der rigorofen Art der Abjperrung, wie fie von Agyptern und 
Spartanern gehandhabt werde. Er will fih nicht durch die „Ver— 
bannung der Fremden von feinen Tiſchen und Altären* oder durch 
die verhaßte Praris der Fremdenaustreibungen in den üblen Nuf 
einer rohen und ungejelligen Geſinnung bei der Mitwelt bringen, 
auf deren Achtung er den höchiten Wert legt.!) 


4, 
Die Verfallung. 


ie wir ſahen, enthielt der Verzicht Platos auf die im 
philojophiichen Staatsmann verkörperte VBernunftherrichaft zugleich 
ven Verzicht auf eine der Geſellſchaft abjolut jelbjtändig gegenüber: 
jtehende Negierungsgewalt. Dieje ideale Selbftändigfeit würde eine 
Machtfülle in ſich Ichließen, welche in der Hand minder hoch— 
jtehender Geifter eine allzugroße Gefahr des Mißbrauches enthielte. 
Andererjeits erichten die unter diefen Umſtänden unabweisliche Ver- 
ftärfung des Einflufjes der Gejellichaft auf die Staatsgewalt ader 
vielmehr des Einfluffes der in der Gejellichaft herrſchenden Klaſſe 
weniger bedenklich in einem Staatswejen, in welchem, wie im Ge 
jeßesftaat, diefe Klaſſe dem Intereſſenkampf des Erwerbslebens 
möglichſt entrüct war, wo eine das ganze Leben ergreifende und 
beherrjchende ftaatlihe Schulung und Disziplinierung alle Bürger 
ausschließlich für den Dienſt des Staates erzog, die Mitarbeit an 
der Verwirklichung des Staatsgedantens recht eigentlich zu ihrer 
Lebensaufgabe machte. 

Angefichts dieſer ſyſtematiſchen Anpaffung aller Bürger an 
den ſpezifiſch politiichen Beruf, die im Grunde einen jeden der: 
jelben zum ftaatlihen Funktionär erhob, glaubte Plato fich den 
Zuftänden der Wirklichkeit ſoweit nähern zu dürfen, daß der Volks— 
gemeinde ein Anteil an der gejeßgebenden und richterlichen Gewalt 


ı) 950b. 958e. 


548 Grites Buch. Hellas. 


und durch das Necht der Beamtenwahl auch ein Einfluß auf die 
Grefutive eingeräumt wird. Die veränderte Auffaſſung der Menjchen 
und Dinge und die Nücficht auf die Verhältniffe des Stadtſtaates 
läßt ihm jeßt diefe Zugeftändniffe im Intereſſe der „Freiheit“ uns 
abweislich erſcheinen. 

Freilich werden gleichzeitig auch im Intereſſe der Ordnung 
und des inneren Friedens!) ftarfe Schußwehren gegen den Miß— 
brauch diefer Freiheit aufgerichtet. Seine gejeßgebende Gewalt 
teilt das Volk mit allen im Staate überhaupt vorhandenen Autori- 
täten. Kein beftehendes Geſetz kann abgeändert werden, wenn 
neben dem Nolfe nicht auch alle anderen öffentlichen Körperjchaften, ° 
alle in diefem Staate jo überaus zahlreichen Behörden, auch die 
geiftlichen, d. b. „alle Drafel* ihre Zuftimmung geben.?) Ya in 
al’ den Fällen, wo es ſich nur um die Ausfüllung von Lücken 
in der Gefeßgebung und um jolche Neuerungen handelt, welche 
feine Anderung des beftehenden Nechtes enthalten, Liegt die legis— 
lative Gewalt ganz in den Händen der Magijtratur.?) 

Was die richterlihe Gewalt betrifft, jo fteht über den rein: 
demokratischen durch das Los beitellten Bezirksgerichten in Zivilpro- 
zeffen als oberſte Appellinftanz ein Gerichtshof (Das xowov dıxa- 
orrorov), der alljährlich auf Grund eines überaus jorgfältigen 
Wahlverfahrens von den Mitgliedern aller Behörden aus ihrer 
eigenen Mitte ernannt wird.) In Staats und Kriminalprozeſſen 
find zwar für eine Neihe von Fällen Voltsgerichte zugelaffen, aber 
gerade für die wichtigiten und ſchwierigſten find magiftratifche Ge— 
richte zuftändig, insbeſondere ver höchite Staatsgerichtshof, der aus 
jenen „auserlefenen” Nichtern des xoıwor dixaorroıov mit Zu— 
ziehung der ſogenannten Gejegesbewahrer gebildet wird.) Auch 
gibt es von den Gerichten Feine Appellation an das Bolf. Bon 


) 744 be. 
2) 772. 
3) 7720. 
4) 767c. 
5) 8550. Über lektere |. u. ©. 554. 





II. 3. 4. Die Berfafjung des platonifchen Geſetzesſtaates. 549 


einem Teile derjelben kann unter Umftänden jogar die Todesitrafe 
verhängt und zum Bollzuge gebracht werden. — Plato geht eben 
nur jo weit, al3 ihm unbedingt nötig erjcheint, um in dem Bolfe 
das Bewußtfein lebendig zu erhalten, daß es von der „Gewalt 
mitzurichten” nicht ausgeſchloſſen tft, weil es fich ſonſt dem gefähr- 
lihen Glauben hingeben fönnte, vom Staate überhaupt ausge 
ſchloſſen zu fein.) 

Auch dem wichtigiten Nechte der VBolfsgemeinde, dem Wahl 
vechte, wird eine Gejtalt gegeben, welche den demokratiſchen Cha- 
tafter wejentlich modifiziert, obgleich ſchon die Wähler eine Elite 
darftellen, welche in ihrer eigenen Intelligenz und moralifchen Tüch- 
tigfeit weitgehende Bürgſchaften für eine richtige Wahl geben. Das 
Wahlverfahren ift für die verjchievdenen öffentlichen Körperjchaften 
und Behörden ein verjchtedenes. Entweder wird die Bedeutung 
des allgemeinen Stimmrechtes duch Fünftliche Kombinationen mit 
dem Syſtem der indirekten Wahl und jonftige Komplizierung des 
Wahlmodus abgejchwächt; oder es wird dasjelbe gar mit dem Sy— 
jtem der Klafjfenwahl verbunden, das paſſive Wahlrecht und die 
aktive Wahlpflicht in eigentümlicher Weile nach den vier Zenfus- 
klaſſen bejchränft; oder es wird von vornherein die Bejegung zahl- 
reicher Beamtenftellen in die Hände der Behörden gelegt. Endlich 
wird jeder Gewählte einer Prüfung, einer Dokimaſie, unterworfen, 
welche fich nicht bloß, wie in der Demokratie, auf feine äußeren 
Berhältniffe, ſondern wejentlich auch auf feine perfönliche Tüchtig- 
feit richtet und jo jederzeit die Handhabe zur Korrektur der Wahl 
bietet. 2) 


1) 768hb: 6 yao dxoıwwovntos wv E£ovoiag Tov ovvdixdlsıv myeitaı 
Lo napdnev 175 nohews 00 uEeToXoS Eiva. 

?) Ein großes Gewicht legt Plato auch darauf, daß in jeinem Staate 
fh die Bürger untereinander genau fennen und ſchon darum in der Lage 
find, den rechten Mann an den gebührenden Plaß zu jtellen. 738e: 

... usilov ovdev noleı ayadov 7 Yrwoluovs avrtors aitois eivaı . Onov 
yco un pos dhkmkoıs Eoriv akkmkwv Ev Tois Tgonoıs aAke 0%0T05, ovr 
dv duns ıns «Elias oVT’ doyWv oVrE dixns note Tis dv INS NO00NxXoVvOnS 


550 Erſtes Buch. Hellas. 


Selbft der „Nat“, der ähnlich dem Nate der Fünfhundert 
in Athen die ganze Volfsgemeinde repräjentiert und wahrscheinlich, 
wie diefer, die oberſte Finanzbehörde ift, geht aus einem Wahl 
verfahren hervor, welches eine wejentliche Beſchränkung des gleichen 
Stimmrechtes bedeutet. Auf die 360 Natsfige haben nämlich nicht 
alle Bürger gleichen Anſpruch. Die Verteilung der Natsitellen 
erfolgt vielmehr nah dem Klaſſenſyſtem, indem jeder der vier 
Cenſusklaſſen dieſelbe Anzahl (90) eingeräumt wird, troß der 
naturgemäß geringeren Zahl der höheren Klaſſen. Die Wahl jelbit 
erfolgt in der Weiſe, daß zunächit für jede der vier Klaſſen eine 
Kandidatenlifte aufgeftellt wird. Dies geichieht durch Volksabſtim— 
mung, doch jo, daß nur die Mitglieder der zwei erſten Klafjen bei 
Strafe verpflichtet werden, an den Wahlen teilzunehmen, während 
die der dritten nur die Kandidaten der drei erjten, die der vierten 
Klaffe nur die aus den zwei erſten Klaſſen mitzuwählen brauchen. 
Aus diefer Kandidatenlifte werden ſodann durch eine allgemeine 
Wahl, an der alle Bürger ohne Unterichied teilnehmen müſſen, 
für jede Klaſſe 150 Männer bezeichnet, von denen die eine Hälfte 
durch 2003!) ausgejchieden wird, die andere nach bejtandener Prü— 
fung zum Eintritt in den Nat berechtigt ift.?) 

Das ſonſt durchweg fejtgehaltene Prinzip, daß vie Wahl eine 
öffentliche Funktion und daher das Wahlrecht zugleich die Wahl: 
pflicht in Sich Ichließt, wird übrigens auch in einem anderen Falle 
modifiziert, 100 es ſich um Sachverftändigenwahlen handelt. So 
jollen zur Teilnahme an den Wahlen der Ordner der mufischen 
Wettkämpfe nur die Kunftverjtändigen verpflichtet jein.3) 


00905 Tuyydvoı' der dn navra dvdoa Ev noos Ev ToVro onevVdeıv Ev Tdoaıs 
noAsoıw, OnWs umte avrös xißdmAos Tote paveiraı orwovv, ankovg dE xal 
aimIns dei, ujre dhAos rolodros Wv avrov dienarmocı. 
) Um auch dem Prinzip der „quantitativen“ Gleichheit einigen Ein- 
fluß zu geftatten. 
?) 756e. Die Gemwählten verteilen ſich, wie in Athen, in 12 Aus— 
ichüffe, von denen jeder einen Monat hindurch die laufenden Gejchäfte bejorgt. 


2), 7654. 





I. 3. 4. Die Verfaſſung des platonifchen Geſetzesſtaates. 551 


Wo eine ſolche Untericheidung zwiſchen den Wählern nicht 
möglich ift, ſoll wenigitens die wiederholte Sichtung der zu Wäh— 
(enden eine gewiſſe Bürgichaft gewähren. So ift 3. DB. bei der 
Wahl der jogenannten Gejegesbewahrer, einer der wichtigjten und 
einflußreichiten Negierungsbehörden, das Wahlverfahren ein äußerft 
verwideltes. Es ift, wie allerdings jede Beamtenwahl, mit bejon- 
derer Heiligkeit umgeben: Wahllofal ift der Tempel des höchiten 
Gottes. Die Stimmtafen werden vom Altare entnommen und 
wieder dafelbit abgegeben, die Wähler aber durch einen heiligen 
Eid verpflichtet, nur nach beſtem Wiffen und Gewiſſen ihre Stimme 
abzugeben.) Die Wahl jelbft ift injofern eine öffentliche, als jeder 
Wähler auf der Stimmtafel neben dem Namen des Kandidaten 
jeinen eigenen anzugeben bat, und gleichzeitig jedem Wähler das 
Necht eingeräumt wird, diejenigen Tafeln, mit deren Inhalt ex 
nicht einverftanden ift, einfach wegzunehmen und mindeftens dreißig 
Tage auf dem Markte auszuftellen! Cine Art Mißtrauensvotum 
gegen den Kandivaten und feinen Wähler, welches zu erneuter 
Prüfung des zu Wählenden auffordert. Dann werden von der 
Behörde die Täfelchen mit den Namen derjenigen dreihundert 
Bürger, welche die meisten Stimmen erhielten, ebenfalls der ganzen 
Bürgerſchaft zur Anficht vorgelegt und dieſelbe zu einer neuen 
Wahl aus dieſen dreihundert berufen. Die Namen der hundert 
Bürger, welche aus diejer engeren Wahl als die Meiftgewählten 
hervorgehen, werden in derjelben Weife publiziert, worauf in einem 
dritten Wahlakt aus diefen hundert Erlefenen die definitive Wahl 
der 37 Mitglieder der genannten Behörde erfolgt.?) 

Eine ähnliche Sichtung der Kandidaten findet jtatt bei Der 
Mahl der jogenannten Euthynen, vor welchen alle Beamten nac) 


) Was allerdings für die Wahlen überhaupt gilt. 948 e. 

2) 753b f. Ariſtoteles bezeichnet als Konfequenz diejer Einrichtung 
der nochmaligen Wahl aus den durch Vorwahl Bezeichneten, daß, wenn auch 
nur eine mäßige Anzahl‘ von Bürgern zujfammenhielte, immer nach deren 
Willen gewählt werden würde. (Pol. II, 3, 12. 1266a.) Sollte Plato jelbit 
etwas derartiges beabfichtigt haben? 


5592 Erſtes Buch. Hellas. 


Ablauf ihrer Amtszeit Nechenfchaft abzulegen haben, und welche 
daher Männer von ganz hervorragender fittliher Tüchtigfeit fein 
müſſen.) 

Alljährlich nach der Sommerſonnenwende verſammelt ſich die 
Bürgerſchaft in dem Haine des Helios und Apollo, und jeder 
Bürger „nennt hier dem Gott“ drei Männer — nicht unter 50 
Jahren — die er in jeder Beziehung für die Ausgezeichnetſten 
hält. Von den alſo Vorgeſchlagenen werden diejenigen, welche die 
meiſten Stimmen erhielten, bis zur Hälfte der Geſamtzahl einer 
neuen Wahl unterworfen, aus der nur drei als die definitiv Ge- 
wählten hervorgehen.?) Natürlich trägt auch diefe Wahl dasjelbe 
veligiöfe Gepräge, wie die vorhin bejchriebene, worauf ja ſchon der 
Wahlort und die charakteriftiiche Bezeichnung des Wahlaktes hinweift. 

Wird doch in anderen Fällen die Entjeheidung geradezu der 
Gottheit jelbit anheimgegeben! Sp werden die „Exegeten der Kultus: 
jagungen” zwar gewählt, dann aber aus den Gewählten — zum 
Teil wenigſtens — eine Auslefe durch das delphifche Drafel vor: 
genommen. ?) 

Bei anderen Ämtern, wie 3. B. allen militärifchen, ift das 
Wahlrecht beſchränkt durch ein Vorjchlagsrecht der Behörden. Bei 
ver Wahl der höchften Offiziere und Meilitärbeamten hat die mit 
ver ſtärkſten Erefutivgewalt bekleidete Behörde dev Gejegesbewahrer 
ein Borjchlagsrecht, während in Bezug auf die Unterbefehlshaber 
die Vorgeſetzten jelbit ein Vorſchlags- ja zum Teil Ernennungs: 


1) Über die Bedeutung diefer Inftitution vgl. die für die Gejamt- 
auffajjung Platos charakteriftiiche Stelle 945d: dv uEv yao oi Tois @oyovras 
e&svduvorıes BeArlovs WoW &xelvav, ai Todr’ &v din TE zei dueuntws, 
j nüoe ovıw Yahhsı Te zui evdaıuorei ywoa zai nolıs' E&iv 0’ dAlws Ta 
1801 Tag EVHUV«S TWv EOYoVTWv yiyvnraı, Tore AvFElongs-ıns ta navıe 
nokırevuara Evvsyovans Eis Ev dixns raum naoa aoyn dieondosn 
xwois Erega an’ @dins, zal 00x Eis TaVrTOV Erı vevovoaı, noAkds Ex 
urds ınv nöokıvy ToLovo«ı, oT«oewv Eunimoaocı Tayd diwksser, 

?) 946a. 

3) 7594. 

ı) 7555 f. 








III. 3. 4. Die Berfaffung des platoniſchen Gejeßesitaates. 553 


recht beſitzen.) Überhaupt werden die Unterbeamten in der Negel 
von den oberen Behörden ſelbſt ernannt, jo die Gehilfen der mit 
der Volizeigewalt auf dem platten Lande betrauten Agronomen von 
diejen ſelbſt,) die weiblichen Auffichtsbeamten über die Ehen von 
den Gejebesbewahrern u. |. w.2) 

Doch find e3 auch fehr Hohe Inter, bei denen die Volks— 
wahl ausgejchloffen ift. Das von Plato als das weitaus wichtigite 
der höchſten Staatsämter bezeichnete Amt des Unterrichtsminifters, 
des „Vorſtehers des Erziehungswejens”, ſowie die Nichterftellen an 
dem hohen Staatsgerichtshof der „auserlejenen Nichter” werden von 
einem Wahlförper bejegt, der nur aus Beamten beiteht.>) 

Sp ijt Plato unerſchöpflich in der Erfindung immer neuer 
Sicherungsmaßregeln gegen den Demofratismus des allgemeinen 
Stimmrecdtes. Er muß im dem der damaligen Wirklichkeit zu— 
gewendeten Geſetzesſtaat dieſem Demokratismus erhebliche Zugeſtänd— 
niſſe machen; um jo mehr it er bemüht, Mittel und Wege zu 
zeigen, wie troßdem der Staat Organe erhalten kann, welche eine 
Ariftofratie der Intelligenz und Tugend darjtellen. Ex beſchränkt 
daher den Einfluß der Wähler noch weiter dadurch, daß er für die 
höheren Inter eine höhere allgemeine und Fpezifiiche Fachbildung 
fordert. Wie zum Aufzug andere Wolle genommen werde, als zum 
Einichlag, jo müſſe auch zwiſchen denen, welche hohe obrigkeitliche 
Würden im Staate befleiven jollen, und denen, welche nur in ge 
tingem Maße die Probe ihrer Erziehung zu beitehen haben, ein 
wejentlicher Unterſchied ftattfinden.t) 

Eine Hauptbürgichaft für die Tiichtigkeit von Negierung und 
Verwaltung fieht Plato ferner auch hier in der möglichiten Steige 
rung der Autorität der Magiftratur, in einer möglichjt ſtarken 


) 760b. 

2) 794b. 

>) 765d F. 767e. f. Sm erfteren Falle ift jelbft der Rat und feine 
Prytanen vom Wahlrecht ausgefchloifen. 766. 

) 735a. Das Nähere über diefe Bildung der höheren Beamten 
ſ. unten. 


554 Erſtes Buch. Hellas. 


Amtsgewalt. Zu diefem Zweck wird für gewiſſe Beamte ein reiferes 
Alter vorgeichrieben, für die Gejeßesbewahrer 3. B. und deu Chef 
des Unterrichtswejens das fünfzigite Lebensjahr.) ES wird allem 
Anſcheine nach Die längere Bekleidung desjelben Amtes durch die 
einmal bewährten Männer begünftigt, — bei den eben genannten 
Beamten ericheint eine Amtsdauer von zehn bis zwanzig Sahren 
offenbar als nicht ungewöhnlich, — oder es wird von vorneherein 
eine längere Amtsdauer gejeßlich vorgejchrieben, jo bei dem Vor: 
fteher des Erziehungsweſens fünf Jahre,“) bei den Mitgliedern des 
hohen Gerichtshofes der Euthynen geradezu Lebenslänglichkeit.3) 
Demjelben Zwede dient die Fülle von Gewalten, welche in den 
Händen der Magiſtrate vereinigt wird. Die Juſtizgewalt, die er 
einen Teile derjelben einräumt, vergleicht Plato geradezu mit könig— 
lihen Machtbefugnifjen.t) 

Vergegenwärtigen wir ums nur die imponierende Machtitel: 
lung, welche die von Wlato als die eigentlichen Negenten des Staates, 
als aoxovres ſchlechthin bezeichneten Gefegesbewahrer einnehmen! 
Ihr amtlicher Einfluß erſtreckt fich faſt auf ſämtliche Gebiete des 
Lebens. Sie haben in allen oben angeveuteten Fällen gejeßgeberifche 
Gewalt, fie bilden — zujammen mit den auserlefenen Richtern — 
den höchſten Staatsgerichtshpof in Kapitalfachen, haben auch ſonſt 
beveutjame richterliche Befugniſſe 3. B. bei Vergehungen religiöfer 
Art,5) ſowie die wichtige Jurisdiktion über einen Teil der Beamten, 
insbejondere die bevdeutendften vichterlichen Beamten.*) Sie haben 


1) 755 a. 

2) 766h. 

3) Die Euthynen fungieren jolange, als fie dem in fie gejeßten Ver— 
trauen entjprechen. 946c. 

9 7616. 

5) 910c. 

°) 767a. 3.8. über die auserlefenen Richter und über die Eythynen 
948a; über die letzteren allerdings nur in Verbindung mit den augerlejenen 
Richtern und den übrigen Euthynen. — Auch bei anderen Gerichten find fie 
wenigjtens beteiligt, jo z. B. am Chejcheidungsgericht. 929e. 





IT. 3. 4. Die Verfaſſung des platoniſchen Geſetzesſtaates. 


[day i 
(el 
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durch ihre Vorſchlagsrecht bei den Strategenwahlen einen jtarfen 
Einfluß ſelbſt auf die militäriiche Gewalt und durch ein ganz all- 
gemeines Necht der Dberauflicht !) auf das Beamtentum überhaupt. 
Sie greifen endlich mit ihrer ausgedehnten polizeilichen Gewalt nach 
allen Seiten hin in die Berwaltung ein. In ihrer Hand liegt die 
amtliche Statiftit über die gejamten VBermögensverhältniffe der 
Bürger und Beijaffen?) und im Zufammenhange damit die Für— 
jorge für die Aufrechterhaltung der Gejeße über den unverrüchbaren 
Beltand der Landloſe und der Bürgerzahl.?) Eben damit hängt 
noch zufammen ihr Dberauflichtsrecht über das eheliche Leben der 
Bürger, das Necht zur Ernennung der Cheaufleherinnen, die Für— 
forge für die Erbtöchter, überhaupt die Dbervormundjchaftt) und 
ſonſtige Befugniffe auf dem Gebiete des Familienrechtes.5) Der: 
jelben Behörde fteht ferner die Handhabung der Lurusgefeße zu, 6) 
jowie die Fürſorge für die Durchführung der Aus: und Einfuhr: 
geſetze.,) Sie ift aber auch zugleich die litterariſch-muſiſche Zenſur— 
behörde, überhaupt mit der Ausführung aller Gejeße über die 
mufische Kunft betraut,®) fie gibt oder verweigert endlich die Er- 
laubnis zu Reiſen ing Ausland. ?) 

Sp werden gefliffentlich geſetzgeberiſche, vichterliche, erefutive 
Gewalten in bunter Fülle auf ein und diejelbe Negierungsbehörde 
gehäuft. Die Allgewalt des alles menschliche Leben und Streben 
jeiner Bevormundung unterwerfenden Staates joll fich, Toweit es 
ohne die Gefahr des Abjolutismus möglich ift, in der Magiftratur 
wiederjpiegeln. Wenn auch auf demokratiſcher Grundlage erwachjen, 


1) 762e. 

2) 754d. 

s) 740d, 877d, 929ec, 930e. 

4) 926e. 

5) 9294, 9326 f. 

6) 775b, 959. 

7) 847c f. 

°) 799b. Hier in Berbindung mit den Prieftern. SOld, 810e, 829d 
EIoLa: 


556 Erſtes Buch. Hellas. 


joll diejelbe doch die Einbheitlichkeit, Feltigkeit und Autorität mon 
archiſchen Negimentes nicht vermiffen lafjen.') 

Auch der glänzende Nimbus äußerer Ehren fehlt der Magi- 
ftratur nicht. Dasjenige Amt, deffen Übertragung zugleich die 
Zuerfennung des höchiten Preiſes für Bürgertugend vorausjeßt, 
die Mitgliedjchaft des hohen Nechenjchaftsrates der Euthynen ge 
währt wenigitens im Tode Anſpruch auf wahrhaft fürftliche Ehren, 
welche den Gefeierten weit über das Maß gewöhnlicher Sterblicher 
hinausheben. In weiße priefterliche Gewänder gehüllt, werden die 
verjtorbenen Euthynen aufgebahrt allem Volke zur Schau. Knaben— 
und Mäpdchenchöre umftehen die Bahre, den ganzen Tag über in 
Wechjelgelängen den Toten jelig preifend. Mit Anbruch des nächſten 
Tages findet das feierliche Leichenbegängnis ſtatt: Voran die ganze 
waffenfähige Bürgerfchaft zu Fuß und zu Noß in voller Waffen: 
rüjtung, dann die Bahre von hundert Jünglingen getragen und ge 
leitet von Knaben, die das Nationallied (70 rargıov weAos) fingen, 
dann Jungfrauen und Matronen, endlich alle Prieſter und Prieſter— 
innen. Die Beifeßung erfolgt in einem Hain in Steinfärgen und 
in fteinernen wie für die Ewigkeit gebauten Grabgewölben, über 
welche ein Hügel aufgejchüttet wird, — an die alten Königsgräber 
erinnernd! — Endlich wird das Andenken der hier Bejtatteten all- 
jährlich durch mufische und gymniſche Wettfämpfe verherrlicht, gleich 
dem der Heroen.?) 

Aber Plato geht noch weiter! Trotz der materiell und ideell 
jo bedeutfamen Ausftattung der Amtsgewalt jucht er der Magi— 
ftratur noch einen ganz bejonderen Rückhalt zu jchaffen in einer 
Inſtitution, deren Bedeutung ex ſich zunächit allerdings mehr als 
eine iveale denkt, in welcher er aber die ftärfite Bürgjchaft für 
die allfeitige und dauernde Verwirklichung feines Staatsgedankens 
erblict. 


') Die Verfaſſung des Gejegesftaates ſoll die Mitte halten zwiſchen 
Monarchie und Demokratie. 756e. 

?) 947b ff. Diefe Ehren veichen faft an die Hinan, welche den philo- 
ſophiſchen Negenten des Bernunftftantes zu teil werden. Rep. 540b. 








IT. 3. 4. Die Verfaffung des platonijchen Gejeßesftaates. 


or 


— 


Dieſe Einrichtung beſteht in einem Staatsrat, der — aus 
der geiſtigen Elite der Bürgerſchaft zuſammengeſetzt und durch die 
Befugnis der Selbſtergänzung völlig unabhängig — recht eigentlich 
dazu berufen iſt, die Repräſentation des Staatsgedankens za 
eSoynv darzuftellen, wo es gilt, durch die in ihm verkörperte Ein- 
fiht in Wejen und Ziele des Staates auf die öffentliche Meinung 
aufflärend zu wirken, durch feinen Einfluß alle Glieder des Staates, 
Negierende und Negierte auf dem rechtem Wege zum „gemeinfamen 
Ziele aller Gejege” 1) zu erhalten. Erſt durch dieſen Erhaltungs- 
tat, den vuxregivog ovAAoyos, wie er nach der Zeit ſeiner Situngen 
genannt wird, ericheint der Beſtand des Staates gejichert, weil der 
Staat in ihm unter allen Umstände ein Drgan befibt, welches den 
Zweck desjelben (den oxorrös roAırızos) lebendig erfaßt hat, die 
dem Staate immanente Vernunft in fich verförpert.?) Die „nächt— 
lihe Verſammlung“ beiteht aus einem fejten Stern lebenslänglicher 
Mitglieder: nämlich all’ denen, welche den Preis der Tugend er: 
hielten, d. h. den Mitgliedern des Nechenfchaftsrates, allen, welche 
das Unterrichts und Erziehungsweſen geleitet, ſowie denjenigen 
Bürgern, welche mit Erfolg politiiche Studien ım Ausland gemacht 
und nad jorgfältiger Prüfung von der Verfammlung würdig er- 
funden worden, ihre für immer anzugehören. Dazu fommen, um 
den nächtlichen Nat in ftetiger Fühlung mit den maßgebenden Be- 
hörden zu erhalten, die zehn älteſten Gejebesbewahrer und der je— 
mweilige Vorſtand des Unterrichtsweiens.?) Allgemeine Voraus: 
jegung der Aufnahme ift der Befit einer höheren wiljenjchaftlichen, 
insbefondere philojophijchen Bildung,t) die Zurücklegung eines län: 
geren genau vorgeschriebenen Studienganges,?) welcher „ein wahr: 
haftes Wifjen von allen wichtigen Dingen“ gewähren joll.‘) 

1) Der aoeın. 9632. | 

2) 632c, 961e ff. 965a. 

) 95le, 96la. 

>) 366, 968a f. 

>) Über den allerdings nähere Bejtimmungen erſt für die definitive 
Begründung des Staates vorbehalten werden. I68d. 

°) 966b. 


558 Erſtes Buch. Hellas. 


Die allnächtlid von Sonnenuntergang bis Aufgang auf der 
Burg tagende DVerfammlung diejer erlefenen Männer kann alle 
Fragen ftaatlicher Gejeßgebung und Berwaltung zum Gegenftand 
ihrer Beratung und Beichlußfaffung machen und jo für die praf: 
tiſche Entſcheidung derſelben durch die zuftändigen öffentlichen Ge— 
walten wenigftens ein jehr gewichtiges Präjudiz ſchaffen.) Ferner 
joll die Fülle des Wiſſens, welche in diefer Verfammlung Eunzen- 
tiert ift, für die Heranziehung jüngerer Staatsmänner verwertet 
und damit die Berfammlung zu einer hohen Schule gemacht werden, 
welche eben jene vorhin genannte Höhere Bildung vermittelt.2) Zu 
dem Zweck iſt jedes Mitglied berechtigt, beſonders begabte und tüch- 
tige jüngere Bürger im Alter von 30 bis 40 Jahren in die Ver: 
ſammlung einzuführen. Diejelben erhalten hier nicht nur Gelegen- 
heit, zu lernen, jondern auch Proben ihres Könnens abzulegen, Die 
ihnen, wenn fie der Berfammlung genügend exjcheinen, eine wert 
volle Anwartichaft für die Zukunft gibt. Denn dieſe Anerkennung 
der höchſten Autoritäten ift dazu bejtimmt, die Blicke der gejamten 
Bürgerfchaft auf fie zu lenten,?) fie derjelben als die geeignetiten 
Kandidaten für alle höheren Ämter zu empfehlen. Eine Empfeh- 
lung, deren zwingender Gewalt ſich die Bürgerichaft kaum entziehen 
fann. Denn bier werden ihr von der höchiten und ehrwürdigſten 
Autorität im Staate diejenigen bezeichnet, durch welche der Staat 
jelbjt wohlberaten fein würde, weil fie dank ihrem gewonnenen 
Wiffen „klar über alles jehen, was die Geſetze angeht,“5) — wäh: 
rend diejenigen, welche nicht durch diefe Schule gegangen find oder 
die genannte Approbation nicht erhalten haben, damit als ſolche 
charakterifiert exjcheinen, welche dieſer Klarheit mehr oder minder 
entbehren, 6) durch welche daher der Staat jchlecht beraten fein würde. 


1) 9522 f. 
2) Y5ld. 
3) 9526. 
9 962b. 
5) 9528. 
6) ebd, 





IT. 3. 4. Die Verfaſſung des platoniſchen Geſetzesſtaates. 559 


Wird der Bürger, der öffentlih wählt und durch einen Eid 
verpflichtet ift, nur die „Beſten“ zu wählen, gegen dieſe von einer 
unantaftbaren Autorität eben als die Beſten Gefennzeichneten zu 
jtimmen oder fie zu übergehen wagen? Gerade bei den wichtigjten 
Ämtern ift dies Übrigens auch vechtlih unmöglich. Zum Gefeßes- 
bewahrer 3. B. und zum Mitglied des Oberrechenichaftshofes kann 
von vorneherein überhaupt nur derjenige gewählt werden, welcher 
fih ein höheres Willen erworben, aljo dur die Schule der 
nächtlichen Verſammlung gegangen iſt und deren Approbation er= 
halten bat.!) 

Aber auch damit iſt Die Bedeutung des nächtlichen Nates 
noch feineswegs erſchöpft. Plato behält ſich vor, venjelben noch 
mit ganz bejonderen Bollmachten auszuftatten, wenn er nur ext 
nad Wunsch Eonftituiert fein würde.2) Worin diefe Machtjteigerung 
bejtehen joll, wird allerdings nicht gejagt. Aber über ihre allge 
meine Tendenz kann fein Zweifel fein. Wenn irgendwo, jo trifft 
hier die Behauptung des Ariftoteles zu, daß der Gefeßesitaat all- 
gemach wieder in den Verfaflungsplan des Bernunftjtaates einlenfe.?) 
Das abjolute Bhilofophenregiment ijt für ihn unerreichbar, To ſucht 
er wenigftens einen Erjaß, der diefem Ideale möglichit nahe kommt. 

Der nächtliche Nat joll für den ftaatlichen Organismus wenig- 
jtens annähernd die Bedeutung gewinnen, wie fie der denkende 
Kopf für den menjchlichen Körper befißt. Er ſoll es ermöglichen, 
daß im Zentrum des Staatskörpers ebenfo wie im inpividuellen 
Diganismus Ein Wille, d. h. ein in all feinen Hußerungen auf 

1) 966c. Wer dies höhere Willen nicht hat, iſt nicht geeignet für 
ein NRegierungsamt, fondern nur für jubalterne Stellen. (968a.) Die Stelle 
632. ſteht damit nicht in Widerjpruch, bejtätigt vielmehr die hier aufgeftellte 
Forderung, indem fie alle Beamten (denn dieje find hier unter den „Hütern 
der Gejege” offenbar gemeint, nicht bloß die Gejeßesbewahrer) in zwei Kate: 
gorien einteilt, jolche, welche im Beſitze der Erkenntnis, und folche, welche 
bloß in dem der „wahren Vorſtellung“ find. 

2) 968. 

3) Pol. II, 3, 2. 1265a: xzai ravımv PBovAousvos xKolvoreoav TIoLelv 
tais noAeoı zard uizocv negieyeı nehıv Eis mv Ereoav nokıreiar, 


560 Grites Buch. Hellas. 


Einen oberften Zweck gerichteter einheitlicher Wille vorhanden jet, ') 
der — wenn auch nicht allmächtig, wie im Vernunftftaat — jo 
doch einen über das ganze politifche und joziale Leben ſich erſtrecken— 
den Einfluß zu üben vermag. 

Gegenüber der Vielheit der individuellen Willen, welche nun 
einmal durch die Zulaffung des allgemeinen Stimmrechtes und der 
Imterwahl als Machtfaftor im ftaatlichen Leben anerfannt war, 
foll der nächtliche Nat die Einheit des Staates vertreten. Cr bat 
die Aufgabe, dahin zu wirken, daß auch die Magiftratur ſich dauernd 
auf den ftaatlichen Boden ftelle und in ihrem öffentlichen Thun 
nur als Drgan der Allgemeinheit fühle. Er foll ferner eine technijch 
möglichft vollfommene Durchführung der ftaatlichen Aufgaben von 
feiten der Magiftratur verbürgen, indem er der qualifizierten be- 
rufsmäßigen Arbeit die ihr gebührende Stellung in Verwaltung und 
Regierung verschafft; und er ſoll damit endlich zugleich für Die 
möglichjt weitgehende Verwirklichung des Gerechtigkeits- und Gleich— 
heitsprinzipes Gewähr leiften, welches dem geijtig und fittlich Höher- 
ftehenden auch höhere Ehre zuerfennt.?2) Kurz der nächtlich Nat ift 
dazu beſtimmt, daß ideale Zentrum des ganzen jtaatlichen Organis— 
mus, das für den Sozialismus wunentbehrliche Zentralorgan zu 
werden, >) und die Nechte, welche Plato für ihn in Ausfiht nimmt, 


') %62d: ... zai dei di Toitov (Tov oVAloyor) Taoav doemv 
Eyeıv' ns dogs To un nAavaodaı zu nohhe Duo EEONIRDOR; ahh eis Ev 
BAenrovrte noös roüro dei te ndvra olov Behm dgıkvar. Dal. 963a über 
den Einen Zwed aller Geſetzgebung: noös yao Ev Epausv deiv dei ν 
jur Te TWv vouwr BhErovt’ Eivat, Toito d’ agermv nov Evveywgoiuer 
ndvv 009W5 Akysodaı. Dazu 630c, 631a f. 

2) 757d über das Gleichheitsprinzip. Vgl. dazu mit ſpezieller Be— 
ziehung auf die Beamten 7150: ds d’ dr Tois redeloı vouoıs EVneLFeoteTos 
Un za vird Tavımy Tmv viamv Ev ın noksı, Tovıw pauev zei Tmv TWV 
———— (mach Drelli ft. Hewr) vnmosoiav doteov sivaı mv — zo 
noWTw zei devriger TO TE devreg« xgqroVvLi, zul zurd hoyor oVTo Tois 
Epeins Ta uste Tai9" Exaorta anodoreov eivaı, 

3) Diefer Einheit bedarf der Gejeßesftaat gegenüber der Vielheit der 
Magiftratur unbedingt. ES ift daher ſchon aus diefem Grunde unzuläjlig, 
mit Bruns (©. 220) anzunehmen, daß die Beftimmungen XIT 960b über 





II. 3. 4. Die Verfaſſung des platonifchen Gejegesitaates. 561 


fönnen daher nur einen Ausbau der Verfaffung im zentraliftijchen 
Sinne bedeuten. 

Plato deutet das jelbjt in dem Bilde an, in welchem er den 
ganzen Nat mit dem menjchlichen Haupte, die greifen Mitglieder 
der Berfammlung mit dem vovs und die jüngeren mit dem Seh— 
vermögen vergleicht. Die durch Energie und Schärfe der Beob- 
achtung ausgezeichneten jüngeren Genoſſen jollen „gleichlam auf ver 
Höhe des Hauptes (gleihjam wie die Augen des Staates) rings 
umber den ganzen Staat beobachten und was fie jo wahrgenommen, 
ihrem Gedächtniffe einprägen, um jo von Allem, was im Staate 
vorgeht, den älteren Mitglievern Kunde zu geben.” Dieje erwägen 
al3 der vovs, was die Augen gejehen, und nachdem fie mit den 
Jüngeren zu Nate gegangen und ihre Beichlüfle gefaßt, bringen fie 
diejelben durch jene zur Ausführung und erhalten jo den ganzen 
Staat.” ES wird aljo ein Necht der Verfammlung zu Eingriffen 
in die Erefutive anerkannt, Durch welches fie eine Stellung über 
allen Behörden erhält. !) 

Durch all das wird die „götterähnliche Verſammlung“ (0 Heros 
£vAkoyos) geradezu zum „Anker des Staates”.?) „Ihrer Obhut 
fann man getrojt den Staat übergeben und es wird fich dann in 
Wahrheit vollenden, was eben noch wie ein Traum erjchien.“ >) 
Mit diefer Verheigung endet der Entwurf des zweitbeiten Staates.*) 


den vuzregivos ovAkoyos ein Bruchſtück eines Älteren Entwurfes jet, welcher 
dem Staate der Politie noch näher jtand, ala der Hauptbeftandteil der „Nowor“. 
Bei der im Text vertretenen Auffafjung, die allerdings von der üblichen 
(3. B. von Zeller ©. 967 ff.) weſentlich abweicht, fallen übrigens auch die 
Widerjprüche weg, welche Bruns zwijchen den verjchiedenen Beftimmungen 
über den nächtlichen Nat findet. 

!) 964e. 

2) ayxvo@ naons ıns nokews. 96le. 

3) 969b. 

+) Der Vollftändigkeit halber jei zum Schlufje noch darauf hinge— 
wiejen, daß die „Geſetze“ Platos auch das Straf, Privat: und Prozeßrecht 
in einer für den Juriften vielfach jehr intereffanten Weiſe behandeln, worauf 
wir hier nicht näher eingehen können. 

Pöhlmann, Geſch des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 36 


Erſtes Buch. Hellas. 


N 
(er) 
— 


Zur Beurteilung des Geſehesſtaakes. 


Wir ſahen, daß — nach der richtigen Beobachtung des Ari— 
ſtoteles — der Entwurf des zweitbeſten Staates unwillkürlich wieder 
in die Bahnen der Politeia einlenkt. Es wird uns das nicht Wunder 
nehmen, wenn wir uns die Geſamtanſchauung vergegenwärtigen, 
aus der heraus dieſes Staatsideal als ein Ganzes gedacht iſt. 

Zunächſt finden wir die naturrechtliche Metaphyſik der Poli— 
teia auch hier wieder. Der alles beherrſchende Maßſtab iſt hier 
wie dort die rein vernunftmäßige Erkenntnis und das Ziel des 
Erkennens eine möglichſt „natürliche“, d. h. eben vernunftgemäße 
Ordnung des menſchlichen Zuſammenlebens.) Daher auch ein 
ganz ähnlicher Abjolutismus der Löjungen, wie in der Politie. 
Selbſt auf die Gefahr hin, den Anjchein zu erweden, „al3 ob er 
Träume erzähle oder einen Staat und feine Bürger gleihjam aus 
Wachs formen wollte“,2) hält Plato auch hier daran feit, daß es 
fi) bei der Konftruftion eines idealen Mufterbildes einzig und 
allein um die Erreichung der höchſtmöglichen „Schönheit“ und 
Wahrheit Handle.) Alles kommt ihm hier wie dort auf die innere 
Wahrheit, d. h. auf die Übereinftimmung mit den dem Mufterbilde 
zu Grumde liegenden Ideen an, auf die logische Folgerichtigkeit des 
ganzen Gedankenbaues, die „ein in allen Stüden in fich jelbit 
harmonisch zufammenftimmendes” und darum ſchönes Ganze er— 
gibt.t) Erſt dann, wenn jo das Ideal die Geſtalt eines vollen- 
deten Kunftwerfes gewonnen, „wenn der Gejeßgeber feinen Entwurf 


l) zarte Tov Toonov ıns pvcsws dıiaßıwoorreau heißt es von 
den Bürgern des Geſetzesſtaates S64a. Bol. 690. 

2) 746a. VBgl. 969b. 

3) 746b: ahha ydo Ev Exdorois twv uerlhovrwor EosoHaı dixaiotatov 
orucı Tode eivaı, Tv To regadsıyua deizvüvte, olov dei To Enyeigov- 
usvov yiyveodaı, undev dnokeineıw tov zulhiorwv te zul aAmFEorarwv, 
Dal. 712a. 

*) 746C: TO yYao Öuokoyovusvov avro auro del nov navrayı 
anegyaßsodaı zei Tv Tod puvkordrov dnuovoyov dEtov Eoousvov Aoyov. 





IH. 3. 5. Zur Beurteilung des platonijchen Gejeßesitaates. 563 


ruhig zu Ende geführt hat,“ kann und ſoll die Frage der Aus— 
führung erwogen werden. !) 

Aber auch ſonſt zeigt ſich zwischen Vernunft und Geſetzesſtaat 
eine enge VBerwandtichaft. Wenn auch der zweitbeite Staat darauf 
verzichtet, die legten und äußerſten Konſequenzen des platonijchen 
Sozialismus zu ziehen, an den grundlegenden Gedanken jelbjt wird 
doch zum Teil wenigftens entſchieden feitgehalten. Die Idee des 
großen Menjchen in der individuellen Form des Volkes Fehrt auch 
bier wieder. Auch bier wird der Staat als ein jozialer Organis— 
mus konſtruiert, in den die Individuen als jchlechthin abhängige 
Drgane, als unbedingt unterthänige Funktionäre und Werkzeuge des 
Geſamtzweckes ſich einzuglievern haben, in dem Bewußtſein, daß ſie 
mehr dem Staate angehören, als fich jelbit. Die Pflicht it auch 
bier der ſoziale PBrimärbegriff, nicht das Necht der Individuen; 
und die Erziehung zur Sittlichkeit ift die erſte und oberjte Aufgabe, 
welche ein wahrhaft guter Staat zu löjen hat. 

Eben darum verjpricht aber derjelbe Staat andererfeits, zus 
gleich dem wahren und bleibenden Intereſſe der Einzelnen gerecht 
zu werden, fie glüclich und zufrieden zu machen. Als Erziehungs: 
anftalt zur Tugend?) erhebt auch er den Anfpruch, den Weg zur 
allgemeinen Glückſeligkeit zu zeigen?) Auch er verheißt dem 
Bürger: Laß dich vom Gejeß zum Guten leiten und du wirft das 
angenehmfte und glücdlichite Leben führen.t) Die Lehre von der 
Koinzidenz der Tugend und Glückſeligkeit, in der jo viele Illuſionen 





) 746c: tov vouodErnv d’ Eaocı TEkos Enıdeivan tn BovAmosı, yEvo- 
uevov dE TorTov, Tor’ dm xoıvn UET' Exeivov oxoneiv, 0 Ti te Evugpegei 
Tov Elomusvwv zul TI NO00@VTES Elomtaı ns vouodesias. 

) 708d: «AA Ovrws Eoti vouodsoia zal noAewv olzıouoi Tavıwv 
TeAewrarov O0 aoermv avdoov. 963a: 005 ydo Ev Epauev deiv aei 
nave mnulv Te Tov vouwv ABAEToVT eivat, tovro d* aosımv nov Evve- 
YwooVusv navv 00905 Aeysodat 

3) Seine Inſtitutionen haben den Zweck, den Bürgern den Erwerb 
von „beiderlei Gütern“, den menjchlichen und göttlichen, zu ermöglichen. 
631d. Dazu 742de, 743c. ©. oben ©. 518. 

*) 790b. 864a. 

36* 


564 Erſtes Buch. Hellas. 


der Politie wurzeln, ift auch hier ohne weiteres zu Grunde gelegt 
und zum Staatsdogma erklärt.) Auf ihr vor allem beruht auch) 
hiev die Hoffnung des „Geſetzgebers“, das Individuum für feine 
Staatsidee gewinnen und zu dem gewünschten ſozial-ethiſchen Ver— 
halten beftimmen zu fünnen.?) Auch bier bejteht jene Harmonie 
zwijchen dem wohlverftandenen Selbtinterefje und dem der Geſamt— 
heit, welche mit dem Glücde des Ganzen zugleich das der einzelnen 
Glieder verbürgt.’) Und wenn auch nicht die vollendete Einheit des 
Vernunftftaates erreicht wird, jo ſind doch auch hier die Individuen 
mit ihrem gejamten Dafein in den Lebensprozeß des jozialen Ganzen 
verflochten. Sie vermögen ji in eine Form des Sozialismus 
hineinzuleben, von der Plato jelbjt gejagt hat, daß fie in Bezug auf 
die Verwirklichung der Einheitsivee die nächjte Stelle unmittelbar 
nach dem Bernunftftaat einnimmt.*) Gin Ergebnis, das anderer: 
ſeits wieder eine jo ideale Verwirklichung der verteilenden Gerechtig- 
feit vorausfeßt,5) wie fie eben nur im Vernunftitaat übertroffen 
werden kann. Es joll auf dieſe Weife ein Zuftand erreicht werden, 
in welchem „die ganze Gemeinde im gleichen Genuffe der gleichen 
Freuden ftetS unverändert diejelbe bleibt und alle Bürger in mög- 
lichfter Gleichheit ein gutes und glücjeliges Leben führen.”6) Und 


) 660e: roös omas dvayxalere AEyeıv, Ws 0 uev dyasos avn)o 
WEYWV Wr zul dixaios evdaluwv Eoti zal uaxdopLog, Edv TE UEYaS zul 
lo yvoös Edv TE owuıxgös zul dogevns 1, zai Eav nAovrn zei un‘ Eav de 
doa nhovrn uev Kıreoa te zai Mida ucAhov, 7 de ddıros, dYAos T’ Lori 
za avıegos In. T42e: oyEdov uev yao evdaeiuovas @ua xzal ayadols 
avayan yiyveodar. ©. oben ©. 518. 

2) 663b: ovxoov 6 ur un ywoilwr Aoyos ydV TE zul dizaov zei 
ayadov TE zul zahov ıdaros y', El umdev Ereoov, 005 To tira EHEAsıv 
Inv Tov 0010v zai dixaıov Blov, WOoTE vouodErn yE aioyıoros Aoywv zul 
EVAVTIWTATOS, ÖS dv un pn Teüra ovıwg Eyeıv' ovdeis yag dv Exov 
EHEhoL nEeiFEoHRL TEKTrELV TOoVTO, OTO un To yalgsıy Tor 
Avnstodaı nAEov Eneraı. 

°®) 875b. 790b. 

4) 739e. DBgl. 942c. 

5) 945d. 

6) 816ec. 





III. 3. 5. Zur Beurteilung des platonifchen Geſetzesſtaates. 565 


jo darf denn der Geſetzesſtaat mit Necht von fich jagen, daß er, 
wenn er wirklich ins Leben treten jollte, die engite Annäherung an 
das felige Dafein im Staate der „Unfterblichkeit” zur Folge haben 
würde. !) 

Man fieht, der Abjtand zwijchen deal und Wirklichkeit iſt 
auch hier noch ein unendlich großer, und der Gedanke einer Neali- 
fierung dieſes Staatsideals faſt ebenſo utopiich, wie e8 der Traum 
vom DVernunftftaat geweſen. ES bedarf, um diejen Gedanken zu 
faffen, in der That der ganzen „göttlichen Begeifterung”, mit der 
auch bei minder hochgeſtecktem Ziele die ideale Bedeutſamkeit feiner 
Aufgabe die Seele des Verfaſſers erfüllt.?) 

Freilich muß er ſelbſt zugeben, daß unter dem mächtigen 
Anhauch diefer göttlichen Begeilterung jeine ganze Darftellung einer 
Dihtung ähnlich geworden jeil?) Ya er bezeichnet ſich geradezu 
als den Dichter eines Dramas. +) Und wenn er auf die Hoffnung, 
daß diefe Dichtung jemals Wahrheit werde, nicht verzichten will, 
ja eine ſolche Hoffnung wiederholt ausjpricht,“5) — die Grund- 
ftimmung, in der der Verzicht auf den VBernunftitaat und die Idee 
eines nur relativ beſten Staates ſelbſt wurzelt, iſt doch eine zu 
nachhaltige, als daß fie alle Bedenken und Zweifel zum Schweigen 
bringen ließe. 

Sp gibt Plato ohne weiteres zu, daß wenigſtens einzelne 
feiner Speen die Probe auf ihre Ausführbarfeit möglicherweise 
nicht beftehen würden. Ja wenn er ſich vergegenwärtigt, was er 


) 739e: ıv dE vor nueis Eruzeyeignjxauev, Ein TE dv yevouevn 
1ws ddavaoias Eyyvrara zei 7 ula devregws. 

2) Slle: vor yao anoßkeıyas ngös toüs Aoyovs, oüs E£ Ew uEyou 
devoo di dieimivgauer Njueis, ds uEv Euoi pawöusde, oUx dvsv TIvös 
enınvolas Feav, &doker D’ oVr uoı narrdnaoı nomoeL Tivi 10000u0LWS 
sionoscı. Vgl. 934e, wo die dem Df. verliehene Gabe der Gejeßgebung ala 
ein Gefchent von Göttern und Götterfühnen bezeichnet wird: Onws dv nulv 
negeizwoı HEol zei Heavy nraldes vouo#eteiv. 

3) ©. die Anmerf. 2 angeführte Stelle. 

2) 8172. 

5) 752a. 859ec. 


566 Erſtes Buch. Hellas. 


doch auch jeßt noch für Anforderungen an die Bürger eines idealen 
Gemeinweſens stellen muß, wenn er am Schluffe jeiner Ausführungen 
über die grundlegenden Spnititutionen des zweitbeiten Staates noch) 
einmal al jeine Vorschläge im Zufammenbhange überblidt: die von 
der Wiege bis zur Bahre alles individuelle Leben beherrichende 
und regelnde fozialiftiiche Lebensgemeinschaft, die Beſchränkungen 
des Ermwerbes, den Verzicht auf das Gold, die Fünftlihe Grund- 
befißverteilung, die Zwangspohtif in Beziehung auf das eheliche 
Leben und jo vieles Andere, was ihn — wie gejagt — Jelbit 
gleich einem Traume anmutet, — jo muß er fi) geradezu ge 
ftehen, daß auf ein Zufammentreffen jo günftiger Umjtände, wie 
fie die vollitändige Verwirklichung jeines Entwurfes vorausjeßen 
wide, wohl kaum jemals zu hoffen jei.”) Er iſt darauf gefaßt, 
daß man bei der Ausführung das eine oder andere Stüc werde 
fallen laſſen müfjen,?) und daß jo das Endergebnis möglicherweife 
nur ein Mufterftaat dritten Nanges jein fünnte.3) Das ganze 
Projekt ericheint ihm wohl als ein verwegenes Wageftücd,') deſſen 
Gelingen genau ebenfo Glücdsjache fei, wie ein Wurf im Würfel: 
jpiel!5) Ja Die ganze Erörterung wird wiederholt jelbjt als ein 
Spiel, wenn auch als „verjtändiges“ Spiel hingeftellt, als edler 

) 745e: Ervosiv dE Judas TO Toiovd’ Eoti YoEWv € I@VTos TOOToV, 
WS TE voV ElONUueve ndvre 0vx dv NOTE Eis TOLOVTOVS xuIVoVs Evuneoot, 
worEe Evußnvar xard Aoyov ovrw Elunavra yerousva dvdoas Te, oi um 
dvoysgarovocı mv roiwvrnv Evvoiziav, aA vnousvovoı Komuard TE Eyovres 
taxta za uergie die Piov navrös zei naldwv yerkosıs Üds ElONKauEv 
EXAOTOIS, Kal YOVOOd OTEXOUEVOL zul Ereowv wv ImAos 0 vouosEerns nooc- 
te£wv Eotiv &x Tovrwv TWv voy EIONUuEvov, Er dE XWgus TE Xu doTEos, 
WS EIONKE, UEOOTNTES TE zul Ev xUram olxmaeıs, ndvın oyEdov olov ovei- 
gara Aeywv 17 nAdrrwv xaddneg &x xgoV Tiwa nokıv zei nolitas. 

?) 746c: w dE adivarov tı Evußaivsı Toitwv yiyveosaı, Tovto uev 
avTto Exxhiveiv zei un nodtrew, 8 Tu dE Tovrov ıWv AoınWv Eyyvrard 
Eotı zal Euyyerkorarov Epv TÜV IO00NKOVIWY o«tteıv, todr' avro die- 
ungarvasdaı Onws dv yiyrynraı. Dal. 805. 

— V3 

) ©. den Vergleich mit einem höchſt gewagten Zug im Brettſpiel ebd. 


5 ( 38 NG x N * > n b) > x * ” c — 
) 968e: zo Aeyousvor, W@ pidol, Ev zo) Kal UEOW EoLXev MUlv 


e.V —— 





II. 3. 5. Zur Beurteilung des platonifchen Gejebesftaates. 56 


2 


Zeitvertreib, welcher über die Trübſal des Greifenalters hin— 
wegbilft.!) 

Menn wir uns dieje beiden Grundjtimmungen vergegenwär- 
tigen, die fi durch den gejamten Entwurf hindurchziehen, auf der 
einen Seite den heiligen Eifer „göttlicher Begeifterung”, der ganz 
in der Idee der radikalen Weltverbefferung aufgeht und die er— 
lehnten Ideale um jeden Preis verwirklicht jehen möchte, auf der 
anderen das gejchärfte Gefühl des Alters für die in in ver Schwäche 
der Menjchennatur und in den Neibungswiverftänden des Lebens 
jelbjt liegenden Schwierigkeiten der Ausführung, jo wird uns eine 
weitere Eigentümlichfeit des Gejeßesitaates verjtändlich, Die derſelbe 
allerdings mit manchen anderen fozialiftiichen Syitemen teilt: näm— 
lich der Widerfpruch zwiſchen der proflamierten Freibeitsivee und 
der Unterwerfung des ganzen individuellen Dafeins unter eine bis 
ins äußerſte Detail durchgeführte ftaatlihe Bevormundung. 

Der Bürger des Gejeßesitaates joll fih als ein freier Mann 
fühlen; die pädagogisch -divattiiche Tendenz der gefamten Geſetz— 
gebung ift darauf berechnet, daß die ideale fittliche Drdnung, welche 
bier verwirklicht werden joll, möglichjt von innen heraus, aus der 
Harmonie der Einzelwillen, aus der innerlichen Einheit der Gefin- 
nung der Bürger erblühe, daß die freie Selbjtbeftimmung den 
äußern Zwang des Gejeges thatjächlich überflüffig mache. Trotz— 
dem und troß der naiven Zuverjicht auf die unwiverjtehlich über 
zeugende Kraft des Gejeßeswortes fehlt doch der rechte Glaube an 
die Möglichkeit einer folchen Freiheit. Obwohl jeder Einzelne weiß, 
daß er in einem Staate lebt, der ihm jein individuelles Glüc, fein 
geiftiges und materielles Wohlbefinden, wie fein anderer verbürgt, 
bedarf doch dieſer Staat eines gewaltigen Beamtenheeres, einer in 


zeiodeı, zei Eineg xivdvveveıw eol ans nolırteiag EdEkousv Evundons, N 
tois EE, gpaoiv, 7 toeis xUßovs BdAkovras, Tavra zromteor. 

) 685a: @AAd unv del ye muds ToVro Ev TW viv 0XonoVÜvras zei 
eferabortes neoi vouwv, eilovres naudıdv nosoßvrıznv ougoov« dıeAdeiv 
mv 0dov ahinws, Ws Eyauev nviza noyousda nogeveodeı. Dgl. 6886. 
690d. 769a. 


568 Erſtes Buch. Hellas. 


die perjönlichiten Beziehungen eindringende Kontrolle, um des ge 
jegestreuen Verhaltens feiner Bürger ficher zu jein! Das Andi: 
viduum wird in eine ftraff zentraliftiiche Zucht genommen, welche 
der Freiheit der eigenen Entſchließung die allerengjten Grenzen 
ſteckt. Dem Worte des Gejebgebers, deſſen Idealismus bei aller 
zur Schau getragenen „Sanftmut“ etwas Starres, Hartes und 
Herrichlüchtiges hat, Fommt ein raffiniert ausgedachtes Syſtem 
mechanifchen Zwanges zu Hilfe, welches die Individuen mit un: 
wiverftehlicher Gewalt zufammenjchmiedet, ihr perfönliches, wie ihr 
Familienleben, ihr Denken und Forichen, wie ihr Fünftlerijches 
und religiöjes Empfinden, kurz ihr gefamtes Außeres und inneres 
Sein inhaltlich zu bejtimmen und in die von dem Gejeßgeber ge 
wünſchte Nichtung hinein zu zwingen jucht. Der ausgeprägt hier— 
archiſche Zug des Denkens, den der extreme Sozialismus ſeitdem nie 
wieder verleugnet hat, tritt ung hier in ganz bejonders charakterifti: 
cher Form entgegen. Und ein jolches Leben joll für den Kultur- 
menschen noch Lebenswert, ja die Quelle des höchſten perjönlichen 
Glückes fein! 

Derjelbe Mann, der individualiftiich genug empfindet, um 
offen zuzugeben, daß, „wenn Alles nach Vorſchriften gejchehen 
jollte, daS Leben, das ohnehin ſchon ſchwer genug, völlig unerträg- 
lich wide“, derſelbe Mann erſcheint von einem unüberwindlichen 
Mißtrauen gegen jede Befreiung des Individuums von der Zwangs— 
gewalt äußerer Normen bejeelt. „Alles, was im Staate nach fefter 
Ordnung und Sabung gefchieht, bringt allen möglichen Segen, aber 
das gar nicht oder ungenügend Geordnete bringt meift einen Teil 
dieſes Wohlgeoroneten wieder in Verwirrung“.) MS ob nicht 
gerade durch die äußerliche ftatutarische Negelung von Dingen, 
welche durchaus nur aus dem guten Willen der Einzelnen hervor- 
gehen können, das ideale Ziel der ganzen Gefeßgebung in Frage 
geitellt würde! In der engen Sphäre, welche diefer platonijche 





') 780d: av uev yae, 6 Ti neo av Taisws zai vouov uerlyov &v 
noAeı Ylyvnra, navın ayaya ansoyalerai, Tov DE ardxtwv 7 Tav Kaxos 


q 


Toydevrov Ave 1a noAAd Tov EÜ Terayucvov ahıa Ereoe, 





III. 3. 5. Zur Beurteilung des platonifchen Geſetzesſtaates. 569 


Sozialſtaat von ſolcher Regelung frei läßt, würde die geiftige 
Spannkraft und Neglamkeit des Individuums, deren gerade dieſer 
Staat zu feiner Erhaltung jo notwendig bedürfte, ſyſtematiſch ge— 
lähmt und untergraben; unter dem Zwange der Negulative, der 
ihn auf Schritt und Tritt begleitet, würde der Einzelne ſchwerlich 
zu jener Selbjtändigfeit des Charakters und Geiftes gelangen, ohne 
welche die von Plato jelbit gewünjchte wahrhaft freie Selbitbe- 
jtimmung überhaupt nicht möglich it. 

Es iſt ein verhängnisvollee — freilich bis auf den heutigen 
Tag immer und immer wiederfehrender Irrtum —, zu glauben, 
daß bei der Löſung jozialer Aufgaben die private Initiative mög- 
lichjt auszujchließen und durch Nechtsnormen und gejeßgeberiiche 
Technik zu erjegen ſei; ein Prinzip, das folgerichtig durchgeführt, 
die öffentlichen Spnftitutionen zu einem geiſtloſen Mechanismus 
machen würde, der bejtändig der Direktion der Werkmeiſter bedürfte. 

Gerade das Umgefehrte des genannten platonifchen Satzes 
it richtig! Nicht diejenige Drganijation des Staates iſt die 
idealſte, weiche das Ffunftreichite Syftem der Negulative ausgebildet 
bat, jondern in welcher — unbejchadet der Lebensinterejlen der 
Geſamtheit — der Zwang aus den menschlichen Beziehungen mög- 
lichjt hat entfernt werden können. Se mehr die ſpontane Thätig- 
feit der Einzelmen oder der kleineren Kreiſe eine befriedigende Löſung 
der Staatlichen und gejellichaftlichen Aufgaben erwarten läßt, um fo 
befjer! „Jede Minderung der jpontanen Thätigkeit des Einzelnen 
it Steaftverluft unter dem Gefichtspunfte der Gejamtheit und Ver— 
luft an Freude und eigentümlicher Bildung für den Einzelnen.“ ') 

Freilich iſt gerade dieſe individuelle Bildung, die Mannig- 
faltigfeit individuellen Denfens und Empfindens ein Gegenftand 
des Mißtrauens für den jozialiftiichen Doftrinär, weil fie die Unter: 
werfung der Geifter unter jeine mit dem Anſpruch auf alleinige 
Wahrheit verfündeten Sabungen in höchſtem Grade erichwert, eine 
jtete Duelle von Konflikten zwijchen der ftarren Autorität dieſer 


) Bauljen: Ethik ©. 845. 


570 Erſtes Buch. Hellas. 


abjoluten Normen und dem Bewußtjein des Einzelnen werden muß. 
Um solchen Konflikten ſchon im Entjtehen vorzubeugen und die für 
die Aufrechterhaltung des Syſtems unentbehrliche „Einheitlichkeit“ 
der Gefinnung zu erzielen, ſieht ſich dieſer Sozialismus zu der 
verhängnisvollen Konſequenz gedrängt, gerade in diejenigen Gebiete 
des menschlichen Dafeins requlierend einzugreifen, welche durchaus 
individualifiert und perjönlicher Natur find, und deren Wert ganz 
wejentlich auf ihrer Individualiſierung beruht, — die aber eben 
deshalb auch der Überwachung und Beeinfluffung durch Gejeß und 
Polizei am wenigiten zugänglich find: Die Gebiete geitigen Schaf: 
fens, moralischen und religiöjen Empfindens, der Sitten und Lebens— 
gewohnbeiten des Haufes u. j. w. 

Daß hier die geringfte Überjpannung ftaatlichen Zwanges 
wahrhaft verderblich und zerjtörend wirken fann, daß das einfeitige 
Drdnungsprinzip, von welchem Plato ausgeht, nichts weniger als 
geeignet ift, die erträumte Harmonie zwilchen Staat und Indivi— 
duum zu Schaffen, das wird im Eifer der radikalen Weltverbefferung 
vollfommen verfannt. Was joll man vollends zu der ungeheuer? 
lichen Verirrung jagen, Metaphyſik, Glauben, Forſchung zur Staats: 
jache machen zu wollen? Nichts könnte die Kulturwidrigfeit des 
doftrinären Sozialismus draftiicher beleuchten, als dieje Seite de3 
platonischen Staatsiveals. Das ift in der That die lette Konſe— 
quenz, zu welcher der einjeitig fozialiftiiche Staat notwendig ges 
langen muß: die Anebelung aller Geiftesfreiheit. Daß der moderne 
Sozialismus dies leugnet, ift nur ein Zeichen feiner Unflarheit 
oder Unwahrhaftigkeit. Die unerbittliche Logik und unbeftechliche 
Wahrheitsliebe des antifen Denfers läßt hier feine Illuſion auf: 
kommen. 

Um ſo größer iſt freilich die Illuſion, in der er ſelbſt ſich 
befindet. Er ſieht nicht, daß ſich in dieſer Frage der extreme 
Sozialismus in einem ewigen Zirkel bewegt. Der einſeitig ſozia— 
liſtiſche Staat kann, ohne ſeinen eigenen Beſtand zu gefährden, 
unmöglich Freiheit des Denkens und Glaubens gewähren; ſeine 
innerſte Natur treibt ihn dazu, auch das geiſtig-perſönliche Leben 


is A 


| 





II. 3. 5. Zur Beurteilung des platonifchen Gejeßesjtaates. 571 


mit den Mitteln der allmächtigen Staatsgewalt zu regeln und zu 
beherrſchen. Und doch lehrt andererjeits die Gejchichte auf taufend 
Hlättern, daß diefes Bemühen ein erfolglojes fein muß, weil es 
mit den Lebensbedürfniiien des Kulturmenjchen in einem unver: 
Jöhnlichen Widerſpruch fteht. 

Günftiger liegt die Sache für den »platoniichen Standpunkt 
auf volfswirtichaftlichem Gebiete. Im wirtichaftlichen Verkehr, 
in der wirtichaftlichen Produktion handelt es ſich nicht entfernt in 
dem Grade, wie auf geijtigeethiichem Gebiete um die Betätigung 
des individuellen und perjönlichen Lebens, jondern — in weiten 
Umfange wenigftes — um gleichartige und unperjönliche Thätig- 
feit. Wirtichaftlihe Handlungen, wirtſchaftliche Leiſtungen find 
daher in ungleich größerem Umfang kontrollierbar und erzwingbar, 
als Meinungen, Überzeugungen und Lebensgewobnheiten, und dem— 
nach auch die Bedenken gegen jtaatliche Negulierung weit geringer. 

Freilich ift bier eben deshalb die Verſuchung zu einer über: 
mäßigen Ausdehnung der Staatsiphäre und der ftaatlichen Be— 
vormundung eine bejonders große. Und in der That iſt auch 
Plato diefer Verſuchung erlegen. Sein Drdnungsprinzip, welches 
„womöglich nichts ohne Aufficht” laſſen möchte, iſt ſelbſt in jeiner 
Anwendung auf das volfswirtjchaftliche Gebiet eine großartige Ver- 
irrung. So recht er mit jeiner Forderung bat, daß die Vernunft 
auch diefe Dinge überjehen und beherrichen, fte nicht einfach dem 
blinden Zufall überlaffen jol, jo verkehrt ift es, daß er Zwang 
und Negulative, die ohne Schädigung der individuellen Energie 
doch immer mehr nur als Ausnahme und Nachhilfe eintreten Fönnen, 
auch hier zur Negel erhebt und an die Stelle eines lebendigen 
Drganismus eine Mafchine, einen von einer Stelle aus zu lenfen- 
den Mechanismus jebt. 

Die Art und Weile, wie im Gejeßesjtaate alle ſozialökonomi— 
ſchen Probleme von Staatswegen und von oben her gelöft werden, 
die planmäßig zentralifierte Staatsleitung von Produktion, Kon: 
fumtion und Verkehr, welche über die gefamte Volkswirtſchaft wie 
über eine große Hauswirtichaft Jchaltet, die rückſichtloſe Unterwer- 


572 Erſtes Bud. Hellas. 


fung aller Individualwirtſchaften unter ein Syitem allgemeiner 
Normen, die nicht aus den Bedürfnifjen der lebendigen Wirklichkeit, 
fondern aus den Abjtraftionen einer abjoluten Doktrin erwachjen 
find, die abjchredenden polizeiftaatlichen Mittel, mit denen dieſe 
ganze Politik der Zentralifation und Nivellierung ins Werk geſetzt 
wird, — all das kann doch gewiß nicht als ein wünjchenswertes 
Biel erjcheinen, ganz abgejehen davon, daß nicht einmal die Mög— 
lichkeit der Durchführung erwiejen ift. 

Es genügt doch nicht, wenn der Gejeggeber auf dem Papier 
den Anteil beftimmt, der nach feinen theoretijchen Überzeugungen 
den Grundbefigern, Kaufleuten, Handwerkern u. j. w. am Volks— 
vermögen und «Einkommen gebührt! Er muß auch zeigen, wie der 
Apparat bejchaffen fein und fungieren joll, der die ſyſtematiſche 
Regulierung aller Befig: und Einfommensverhältniffe zu verwirk— 
lichen bat. 

Darauf erwartet man vergeblich eine befriedigende Ahıtwort. 
Plato begnügt fich, die Wahlen zu der betreffenden Behörde mit 
gewifjen Kautelen zu umgeben und diejelbe mit weitgehenden Macht- 
befugniffen auszuftatten. Als ob damit eine hinlängliche Bürg— 
Ichaft für die genügende Durchführung der ihr gejtellten unendlich 
ſchwierigen Aufgabe gegeben wäre! Nicht einmal dafür ijt der 
Nachweis erbracht, wie es möglich fein joll, in einem Wirtſchafts— 
ſyſtem, in welchem dem Haupthebel aller wirtichaftlichen Kraft: 
äußerung, dem individuellen Intereſſe ein jo unendlich bejcheidener 
Spielraum zu einer Bethätigung übrig bleibt, auch nur den 
ungeftörten Fortgang und eine genügende Leiftungsfähigfeit des 
Produktions und Verkehrsprozeſſes zu erhalten. Solche Fragen 
laffen ſich eben nicht fo einfach bei Seite jchieben, wie dies hier 
geichehen ift, — wenigftens dann nicht, wenn man Vorſchläge für 
das praktiiche Leben machen will. Und darauf verzichtet ja Plato 
feineswegs, obwohl er die Frage der Ausführbarfeit als eine jefun- 
däre behandelt. 

Die hier geſchilderte Gefeßgebung würde ſchon darum Gefahr 
laufen, ein toter Buchjtabe zu bleiben oder in unlösbare Wider: 





II. 3. 5 Zur Beurteilung des platoniſchen Geſetzesſtaates. 573 
Iprüche mit den thatjächlichen Berhältniffen zu geraten, weil fie in 
unerträglicher Weile jchematifiert und generalifiert. In das ideale 
Schema feines Syſtems gebannt fennt Plato die Nücdfichten nicht, 
welche der Gejeßgeber auf die Mannigfaltigfeit der Dafeinsbedin- 
gungen menjchlicher Wirtichaft, auf die BVielgeftaltigfeit der Be— 
ztehungen zwijchen den wirtjchaftlichen Intereſſenkreiſen zu nehmen 
bat. Er Sieht nicht, daß jede Wirtjchaftspolitif um jo erfolgreicher 
jein wird, je mehr ſie indivivualifiert, um jo wirfungslofer, je mehr 
fie verallgemeinert. 

Man vergegenwärtige fich nur das Agrarrecht des Geſetzes— 
jtaates, auf welchem der ſoziale Aufbau des ganzen Staatskörpers 
beruht! Dasjelbe ift offenbar das Ergebnis einer Neaktion gegen 
die Zuftände, wie fie fih in Platos Zeit im Zufammenhange mit 
der Mobilifierung des Grundeigentums, der Bodenzerjplitterung 
und der Auffaugung des Grundbeſitzes durch das Geldfapital her— 
ausgebildet hatten. Das Urteil, das fih Plato auf Grund diejer 
lofalen Beobachtungen über die Erfordernifje einer rationellen Agrar- 
politif gebildet hatte, wird echt doktrinär ohne weiteres zur Höhe 
einer allgemein gültigen Wahrheit erhoben. Das Stennzeichen einer 
gefunden Agrarverfaſſung kann von diefem Standpunkte aus nur 
die ſtrengſte Gebundenheit jein: Abjolute Unteilbarfeit und Unver- 
äußerlichfeit des Grundbeſitzes, jorwie ein die ungeteilte Vererbung 
und den mirtjchaftlichen Beſtand der Anweſen ficherndes Zwangs— 
erbenrecht. Damit joll die Banacee für die Heilung, beziehungs- 
weile Verhütung der ſchlimmſten ſozialen Krankheitserſcheinungen 
gefunden Sein! Daß die Stabilifierung einer gewillen Größe der 
Landgüter nur unter der Vorausjeßung eines ganz bejtimmten genau 
und gleichförmig feftgehaltenen Betriebes richtig fein kann, daß 
eine ſchematiſche Feſtſetzung dieſer Größe durch die Gefeßgebung 
niemals den Berjchiedenheiten von Boden, Klima und Anbauver- 
hältniſſen genügend Nechnung tragen könnte, daß nicht der Gejeß- 
geber, jondern nur der Landwirt jelbjt am beiten weiß, wie groß 
jein Gut jein muß, um der Volkswirtichaft die beiten Dienfte zu 
leiften — furz, daß die ganze Frage der Freiheit und Gebunden: 


574 Erſtes Buch. Hellas. 


heit des Grundeigentums überhaupt nur bedingt, d. h. nur für 
beftimmte Gegenden und mit Nücjicht auf die gegebenen Wirt: 
ſchafts- und Kultuwverhältniffe beantwortet werden fann,!) das 
fommt Plato nicht zum Bewußtſein. 

Obgleich die Volfswirtihaft eines Staates, der in jeiner 
Iſolierung „ſich jelbit genügen” muß, notwendig alle Formen der 
landwirtjchaftlichen Produktion, Viehzucht, Aderbau und garten: 
mäßige Kulturen umfaßt und daher ſchon durch das Produktions: 
interejje auf eine Individualiſierung des Wirtjchaftsrechtes hinge— 
wiejen iſt, wird doch die ganze Agrarpolitif des Gejegesftaates auf 
rein doftrinären Erwägungen und Schlagworten aufgebaut; und 
darnach wird das ganze agrarische Wirtſchafts- und Verkehrsleben 
ohne Nücjicht auf die Verſchiedenartigkeit der Eriftenzbedingungen 
in ftreng uniformer Weije geregelt, eine ſtarre Unbeweglichfeit der 
einmal gegebenen Beligverhältnifje erziwungen. Ebenſowenig wer: 
den die jchwerwiegenden jozialpolitifchen, privat: und volfswirt- 
Ichaftlichen Momente gewürdigt, welche auf dem Gebiete des Er- 
werbsrechtes einer doktrinären GleichheitSmacherei entgegenftehen. 
Die Mißſtände, welche die allgemeine und ausschließliche Durch: 
führung der Individualſucceſſion (des Anerbenrechtes) unvermeid: 
lich zur Folge haben würde, ſcheinen für den platonifchen Sozial- 
ftaat nicht vorhanden zu fein. Über die Schwierigkeiten 3. B., 
welche im Anerbenrecht die Gejtaltung der Abfindungsnormen 
macht, Hilft er jich mit einer ganz jchablonenhaften Negelung der 
Frage hinweg. Der in der Natur diefes Nechtsinftitutes liegende 
Intereſſengegenſatz zwijchen Anerben und Gejchwiftern kommt bier 
jo wenig zum Bewußtjein, der Gemeinfinn und die Überzeugung 
von der Notwendigkeit des Inſtitutes ift eine jo ftarke, daß zu 
Gunften des Anerben die Exrbanteile der Geſchwiſter auf ein ganz 
kümmerliches Maß herabgedrücdt werden können, ohne den Fami: 
lienfrieden und die foziale Harmonie irgendwie zu ftören! Ja der 


') Bgl. die jchönen Ausführungen von Buchenberger: Agrarwejen und 
Agrarpolitik L, 431 ff. 








I. 3. 5. Zur Beurteilung des platoniſchen Geſetzesſtaates. 575 


leichtherzige Optimismus mit dem der Gefeßgeber hier der Ent- 
wicklung der Dinge entgegenfteht, verjteigt ſich ſogar zu der naiven 
Erwartung, daß die durch die Gejchlofjenheit des Grundbefites 
immer wieder von neuem notwendig werdende Abjtoßung eines 
Teiles der nachwachjenden Generation ſich ohne jeden Zwang werde 
bewerfitelligen lafjen, daß die Enterbten in die Entfernung von 
ver heimatlichen Erde fich allezeit freiwillig fügen würden! Welchen 
Wert Nechtsnormen haben, welche nur unter jolchen utopifchen 
Vorausſetzungen realifierbar find, bedarf feiner Ausführung. Hier 
gewinnt man in der That den Eindrud, als handle es fi um 
ein Spiel mit Wachsfiguren, nicht um Menjchen, die von Leiden: 
Ihaften und Intereſſen bewegt find. 

Und was für das Agrarwejen gilt, trifft auch für alle ans 
deren Gebiete der Wirtichaftspolitif zu: Überall derjelbe Geift der 
Schablone und der Schematifierung, welche den Dingen und Men- 
ſchen, wie fie nun einmal in Wirklichkeit find, fortwährend Gewalt 
anthut, und daher in der Praris fat durchweg an unüberwind— 
lichen technifchen und pſychologiſchen Schwierigkeiten fcheitern würde. 
Die iveale Nepublif Magnefia würde ihrem „Geſetzgeber“ wahrjchein- 
lich daſſelbe Schickſal bereitet haben, welches Cabet, der Erfinder, 
Sejeßgeber und Patriarch Ikariens erfuhr, der nach endlofen Strei- 
tigfeiten und allgemeiner Enttäufchung von feinen Ikariern ver- 
trieben, von jeinen Freunden verlaffen in Armut und Einſamkeit 
gejtorben ift! — So zeigt ſchon dieſer erſte Entwurf einer eine 
jeitig ſozialiſtiſchen Organifation der Volkswirtichaft die Unfähigkeit 
des extremen Sozialismus, mit feinen einfachen logiſchen Formen 
der jozialen Probleme wirklich Herr zu werden. Ein Mißerfolg, 
der uns übrigens nicht abhalten darf, die großen und fruchtbaren 
Gedanken anzuerfennen, die doch auch hier keineswegs fehlen. 

Man hat im Hinblid auf den „geichloflenen Handeljtaat” 
von Fichte gejagt, Derjelbe jei der Erſte geweien, der die Moral 
in die Nationalökonomie einführt.) In Wirklichkeit ift dies das 








') Schmoller: Zur Geſch. u. Lit. der Staatsw. 77. Manches don dem, 


576 Erſtes Buch. Hellas. 


Verdienſt des platonischen Staates, der gewiß nicht mit geringerer 
Energie als der Sozialſtaat Fichtes, das hohe Ziel verfolgt, daß 
auch in allen öfonomifchen Beziehungen immer mehr Recht und 
Billigfeit, Vertrauen und reelle Dffenheit an die Stelle von Täus 
ſchung, Betrug und Schwindel trete. 

Auch darin ift Plato ein Vorläufer Fichtes, daß er in den 
Grundzügen feines ökonomischen Syftems Aufgaben zeichnet, die in 
der That al3 das wahre deal einer richtigen Ofonomie des Güter: 
(ebens anzuerkennen find. Wenn die Wirtſchaftspolitik des Ge- 
jegesftaates ihr Augenmerk vor allem darauf richtet, daß die Be 
völferung nach den verjchiedenen Erwerbszweigen richtig verteilt ſei 
und daß die Ofonomie des Gattungslebens im Gleichgewicht mit 
der wirtjchaftlichen Eriftenzmöglichfeit bleibe, jo exjcheint fie von 
einer richtigen Einfiht in die Grumdbedingungen einer gefunden 
Volkswirtſchaft geleitet. Ebenſo ift ihr Bejtreben, eine allzu große 
Ungleichheit des Befiges zu verhüten, an und für fich ein durch— 
aus berechtigtes. Wenn auch das gegenjeitige Verhältnis der 
Stände in diefem Staate keineswegs idealen Anforderungen ent 
jpricht und die Lage der gewerbetreibenden Klafje z. B. eine ge 
radezu unbaltbare und unerträgliche ift, darin liegt doch ein zus 
funftsreiher Gedanke, daß in einem gejunden Gemeinwejen die 
Bedingungen für die Eriftenz und das Gedeihen eines zahlreichen 
befriedigten, fittlih und politijch tüchtigen Mitteljtandes vorhanden 
jein müſſen, — als der beiten Schußwehr gegen das Entftehen 
einer Übermacht der Extreme, gegen Mammonismus und Raupe: 
rismus, Dligacchie und Ochlofratie und gegen die Tyrannis. Ein 
Gedanke, der durch die klaſſiſchen Ausführungen der ariftotelifchen 
Bolitif über die joziale Miſſion des Mittelftandes zum Gemeingut 
der politiihen Wifjenjchaften geworden ift.)) Mit Necht wird 
ferner in dem Geſetzesſtaat der größte Wert darauf gelegt, daß der 


was hier don Fichte gejagt wird, gilt wörtlich auch von Plato und iſt daher 
auch im Text zum Teil wörtlich wiederholt worden. 

') Man vergißt gewöhnlich, daß Ariftoteles auch hier platonifche Ideen 
weiter ausführt, | 





II. 3. 5. Zur Beurteilung des platonijchen Gejegesjtaate. 577 


Gang der wirtichaftichen Entwiclung ein möglichjt ficherer jei, daß 
der DVerfehrsprozeß ſich möglichit vegelmäßig und gleihmäßig ge 
stalte, Wert: und Breisichwanfungen und ſonſtige Hab und Gut 
des Einzelnen gefährdende Störungen immer jeltener werden, daß 
endlich durch dies Alles ein möglichjt hoher Grad von Sicherheit 
des Beſitzes und der Erijtenz der Einzelnen erreicht werde. Das 
find in der That wahre Aufgaben der wirtichaftlichen Ihätigkeit 
jedes Volkes und Staates. 

Worin Plato irrt, das find — ähnlich wie bei Fichte, — 
die Mittel der Ausführung; und häufig beſteht fein Irrtum nur 
darin, daß er unter dem Banne feines einjeitigen Drdnungsprinzipes 
eine Aufgabe für den Staat in Anſpruch nimmt, welche diejer nicht 
von ſich aus löſen kann, jondern nur die Gefellfehaft von dem 
Einzelnen aus, und wobei Staat und Necht höchjtens mittelbare 
Beihilfe gewähren können. 

Ja ſelbſt die Mittel, welche Plato zur Herftellung gefunder 
jozialöfonomifcher Verhältniffe empfiehlt, find wenigitens teilweife 
und unter der Borausfeßung, daß ſie eben nur bedingte Geltung 
beanjpruchen können, in hohem Grade beherzigenswert. Und ebenſo 
verdienen die allgemeinen Gefichtspunkte, in denen dieſe Vorjchläge 
ihren Nechtfertigungsgrund finden, die größte Beachtung. 

Ein Agrarrecht 3. B., welches die ungeteilte Erhaltung der 
Heimftätten im Erbweg fichert, kann unter Umständen ſehr wohl 
durch das Bedürfnis der Produktion und im Intereſſe der Gejant- 
wohlfahrt des Volkes gefordert jein. Und daß in diefem Falle 
der Staat berufen ijt, mit feiner Zwangsgewalt einzugreifen, daß 
es eine Illuſion wäre, fi auf einen freiwillig richtigen Eigen— 
tumsgebrauch zu verlafen, das hat die Gejchichte zur Genüge 
gezeigt. 

Bon wahrhaft vorbildlicher Bedeutung iſt es, wie die Geſetz— 
gebung des platonischen Gejegesjtaates den Grund und Boden als 
das Wertvollite proflamiert, was ein Volk jein Eigen nennt, wie 
fie den innigen Zuſammenhang zwiſchen Bodenbeſitz und Boden- 
wirtſchaft einerfeitS und den wichtigiten Lebensintereſſen des Volkes 


om 
‘ 


Pöhlmann, Gejch. des antiten Kommunismus u. Sozialismus. I. 5) 


578 Erſtes Bud. Hellas. 


andererfeitS erkennt und mit rückſichtsloſer Energie das Necht des 
Staates geltend macht, dahin zu wirken, daß der Grundbeſitz im 
Einklang mit den Bedürfniſſen der Geſamtheit genußt und bewirt- 
ichaftet werde. So wenig man ſich mit dem Monopole der Voll— 
bürger auf die Grundrente und mit dem Loſe befreumden 
fann, welches den Bebauern des Bodens auferlegt wird, jo ſym— 
pathifch berührt es, daß das öffentliche Nechtsbewußtjein des Ge— 
jegesftaates diejes Nenteneinfommen nur in der Vorausjegung an- 
erfennt, daß es von feinen Empfängern als die Grundlage für 
eine dem öffentlichen Wohle gewidmete raſtſtloſe Thätigfeit, für die 
Übernahme wichtiger öffentlicher Funktionen benügt wird, daß fie 
nicht faule Drohnen, jondern Männer der ſtrengſten Arbeit und 
Plichterfüllung find. 

Nicht minder vorbildlich it die Art und Weiſe, wie aus 
diefen Grundanjchauungen heraus alles PBrivateigentum zugleic) 
unter den öffentlich rechtlichen Geſichtspunkt gejtellt wird, wie 
insbejondere das Grundeigentum nirgends als ein bloß privatrecht- 
liches, ſondern als ein ſozialrechtliches Inſtitut aufgefaßt und be— 
handelt wird. Während die rein individualijtiichen Privatrechts- 
ſyſteme Inhalt und Umfang des PBrivateigentums einfeitig durch 
den individuellen Willen des Eigentümers bejtimmt werden lafjen 
umd durch die unvermeidlichen Ausnahmen, in denen fie das ftaat- 
lihe Eingreifen „im öffentlichen Intereſſe“ zulaſſen müſſen, eine 
Art Kriegszuftand zwijchen öffentlichem und Privatrecht herbeiführen, 
wird hier der Privateigentumsordnung ein Nechtsprinzip zu Grunde 
gelegt, welches die dem Wrivateigentum zuftehenden Rechte von 
vorneherein jo umgrenzt, wie es dem Bedürfnis der Gemein: 
Ichaft entjpricht. 

Es ift von höchſtem Intereſſe, zu jehen, wie auch hier die 
Neuzeit da, wo fie mit einer jozialvechtlichen Geftaltung des Brivat- 
eigentums wirklich Ernſt macht, ganz von jelbjt den bereits von 
Plato vorgezeichneten Meg bejchritten hat. Wenn in Platos Sozial- 
ftaat der Bürger ſich ftet3 vor Augen hält, daß ex in feinem Grund 
und Boden ein „gemeinfchaftliches Gut des ganzen Staates” be 





IIT. 3. 5. Zur Beurteilung des platonifchen Gejeßesitaatee. 579 


wirtichaftet, jo hat auch Juſtus Möfer das Necht des Ttaatlichen 
Eingreifens in die Bopdenbejigverteilung mit den ganz platonijchen 
Worten motiviert: „Die Erde ift des Staates“. Und die modernen 
Beitrebungen, an die Stelle des abjoluten Privateigentumstechtes 
und der üblichen römisch-rechtlichen Beftimmung desjelben ein wahr- 
haft joziales Necht zu jegen, haben zur Aufftellung eines Eigen- 
tumsbegriffes geführt, nach welchem das (Ober-)Eigentum an 
Grund und Boden dem Gemeinwejen (Staat, Gemeinde u. j. w.) 
zuftehen joll, dem Individuum dagegen nur ein abgeleitetes (aller- 
dings vererbliches und veräußerliches) Necht. Ein Eigentumsbe- 
griff, nach welchem das Individuum nicht mehr Necht hat, 
al3 ihm eben verliehen it. Mit einem ſolchem Necht hofft man 
eine fejte Grundlage zu gewinnen, von der aus Bodenwucher und 
Überſchuldung des Grumdbefiges wirkſamer zu befämpfen wäre, 
während dies da, wo man an dem xvömifcherechtlichen Eigentums: 
begriff in feiner Anwendung auf Grund und Boden fefthält, ohne 
Willkür und innere Widerſprüche nicht möglich ift. 

Es iſt nicht Sache des Hiftorifers, dieſe Konftruftion des 
Bodeneigentums als Erblehens auf ihre Haltbarkeit hin zu beur- 
teilen. Die zu Grunde liegende allgemeine Idee aber wird er 
ganz und voll anerkennen müſſen, weil fie fich als eine unabweis- 
bare Forderung des gejchichtlichen Lebens ſelbſt herausgeftellt hat, 
daß wir nämlich einen igentumsbegriff brauchen, welcher die 
Eventualität von geſetzlichen Beſchränkungen der Berfügungsbefug- 
nilje des Eigentümers und jelbjt von Verpflichtungen zu einem 
Thun, welche dem lebteren hinfichtlich der Benügung feines Eigen- 
tums auferlegt werden können, mit in fich aufnimmt!) Dieſer 
Forderung wird fi ein wahrhaft nationales und volfstümliches 
Recht auf die Dauer nimmermehr entziehen können, jo jehr auch 
ein einjeitiger Individualismus und Formalismus fich dagegen 
fträuben mag. Es würde einen verhängnisvollen Rückſchritt zu 


') In diejer Beziehung ftimme ich überein mit A. Wagner: Grund: 
legung (2) 580 und Pfizer: Soziales Recht (Allgem. Ztg. 1893 Beil. 55). 


am: 
— 


580 Erſtes Buch. Hellas. 


einer bereits vom Hellenentum überwundenen Nechtsauffafjung be- 
deuten, wenn die Kopdiftfation des usus modernus Pandectarum, 
die man dem deutichen Volke als bürgerliches Gejeßbuch darzubieten 
beabfichtigt, wirkliches Necht würde! 

Eine andere Idee von ungeheurer Tragweite ift das Prinzip 
der Öffentlichkeit des Geſchäftslebens, das eines der wich— 
tigften Hilfsmittel dev Wirtjchaftspolitif des Gejegesitaates bildet. 
Sp wenig an die extreme Durchführung diefes Prinzipes im Sinne 
Platos zu denken ift, darüber kann doch Zweifel bejtehen, daß 
derjelbe hiev mit genialer Intuition einen Gedanken erfaßt hat, 
dem noch eine große Zukunft bevorjteht. Schon iſt Vieles und 
Hochbeveutjames in dieſer Nichtung geichehen. Der moderne Staat 
fordert unbedingte Bublizität für die Banken und Aftiengejellichaften, 
öffentliche Hypotbefenbücher, offene über die Kreditbajis des Kauf- 
manns orientierende Handelsregifter. NKurszettel und Dividenden- 
berichte haben nicht bloß über die Betriebe, die fich der Form der 
Aktiengejellichaft bedienen, jondern auch über alle verwandten Be: 
triebe und über den Ertragreichtum von Handel und Induſtrie 
überhaupt ein jo ungeahntes Licht verbreitet, daß das Bedürfnis 
der Gejellichaft, genau und gut über das Thun und Treiben ihrer 
einzelnen Mitglieder unterrichtet zu jein, in hohem Grade gewachjen 
it. Wir haben erfannt, daß die Möglichkeit, die befißenden und 
namentlich die gewerbetreibenden Klaſſen ihrer vollen Leiſtungs— 
fähigkeit entiprechend zu Opfern für joziale Neformen, zu ftaatlichen 
und joztalen Leiftungen heranzuziehen, weſentlich davon abhängt, 
wieweit wir in der Dffenlegung des gewerblichen Lebens fortzu- 
jcehreiten vermögen. Auch der moderne Staat arbeitet an der fte 
tigen Bervolllommmung einer amtlichen Statijtif, welche unſere 
Einfiht in die Verhältniffe der Produktion, der Beſitzes- und Ein- 
fommensverteilung ftetig erweitert und vertieft und jo ein immer 
wirkjameres Hilfsmittel ftaatlicher Wohlfahrtspoltif werden wird. 

AU das muß man fich vergegenwärtigen, wenn man das hier 
geſchilderte Geſellſchaftsideal in feiner vollen geſchichtlichen Bedeu— 
tung erkennen will. So vielfach die von Plato gewieſenen Wege 





III. 4. Das Fragment des ariftoteliichen Staatsideal2. 581 


in Irrſal und Abgründe führen, immer gelangt man doch auch) 
wieder auf lichte Höhen und zu Ausbliden, die „voll find von 
Zukunft“. 


Dierter Abfchnitt. 
Das Fragment des ariftoteliichen Staatsideals. 


Wie wir jahen, hatte die platoniiche Sozialphilojophie auf 
die Verwirklichung der letzten und äußerſten Konfequenzen der 
ſozialiſtiſchorganiſchen Auffaſſung von Staat und Gejellfehaft zwar 
jo gut wie verzichtet, diejelbe aber doch grundjäglich als das Ideal 
feftgehalten, zu welchem die dee der Gemeinjchaft mit logiſcher 
kotwendigfeit hindrängt. Bei Ariftoteles wird der thatjächliche 
Verzicht zu einem prinzipiellen. 

Dbgleich auch er die Beurteilung der ftaatlichen Gebilde nad) 
der Analogie phyſiſcher Organismen vollfommen billigt,!) it ex 
doch nicht gewillt, diefen Vergleich mit Plato bis zu der Schluß: 
folgerung zu treiben, daß die Durch die Konzentration alles Lebens 
in Einem Drgan erzeugte Einheitlichkeit des phyfiichen Organismus 
zugleich als das Prototyp für die ivealfte Form ftaatlicher Gemein- 
ſchaft zu betrachten jei. Für Ariftoteles ift es von vornherein eine 
naturwidrige Überfpannung des Gemeinichaftsprinzips, wenn Plato 
eine derartige DVereinheitlihung des ſozialen Organismus für mög- 
lich oder auch nur für begehrenswert hält. 

Ariftoteles weilt darauf bin, daß der Staat jeiner Natur 
nach aus einer Vielheit beiteht,2) die nur in gewiſſen Beziehungen 
zur Einheit werden kann und joll,?) weil fie aus Elementen zu— 
jammengejeßt it, die unter ſich verjchieden find; eine Verſchieden— 


1) ©. oben ©. 165. 

) Bol. I, 2, 4. 126la: Amos yao Tu Tv Yvow £otiv m nolıs, 
ywousvn te ula uckhov olxie uev Ex Nolewc, dvdownos d’ EE olzias Eotat. 

>)#11,2.962.12636b: 

4) I, 2, 4. 126la: ov uovov dE &x nAsıorwv avdewnwv £otiv 
nöhıs aAlc xal E& Eideı diapeoovrwr' ov yao yivsraı nolıs EE öuolwr. 


589 Grites Buch. Hellas. 


heit, welche die von Plato erträumte Einheitlichfeit des Fühlens, 
Denkens und Wollens unmöglich macht. 

Wenn Plato die joziale Harmonie (ovugyorie) feines Speal- 
ftaates mit dem Zuſammenklang der Töne vergleicht, jo meint 
Ariftoteles, eine Einheitlichkeit, wie die platonifche, würde die Sym: 
phonie zur Monotonie, die rythmiſche Kompofition zu einem ein- 
zigen Takt ummwandeln!), d. h. jtatt des harmonifchen Zufammen- 
wirfens individuell verjchiedener und gerade dank dieſer Verſchieden— 
heit nach gegenfeitiger Ergänzung ftrebender lebendiger Kräfte, würde 
eine rein mechanische Einförmigfeit, eine lebloſe Monotonie ent- 
Stehen, während doch die Harmonie nicht darin bejteht, daß immer 
derjelbe Ton, jondern im Einklang viele Töne angejchlagen 
werden. 

Bortrefflih hat dieſe ariſtoteliſche Anſchauung Montesquien 
formuliert: „Was man die Einheit eines Staatsförpers nennt, — 
jagt er in der Schrift von den Urſachen der Größe und des Ver: 
falles der Römer,“) — ift etwas jehr Zweideutiges. Die wahre 
Geſtalt derjelben iſt eine Einheit der Harmonie, welche jchafft, 
daß alle Teile, wie entgegengefeßt fie ung erjcheinen mögen, zu: 
ſammenwirken zum allgemeinen Wohl der Gejellichaft, wie in der 
Muſik Diffonanzen fich auflöfen in der Harmonie des Hauptaffords. 
Es ift damit, wie mit den Teilen des Univerfums, die ewig ver- 
knüpft find duch die Aktion der einen und die Neaftion der 
anderen.” 

Wenn aber die individuelle Verſchiedenheit der einzelnen 
Perſönlichkeiten, aus denen die Gefellfchaft fih zufammenfeßt, eine 
Einheitlichfeit verbietet, in dev — um mit Nodbertus?) zu reden 
— alles individuelle Leben zu fozialem Leben zufammenjchmilzt 


') II, 2, 9b. 1263b: Wwoneg x&v Ei Tıs mv Ovupwviav nomosıer 
suopwriav 7 Tov Öv9uov Bdow uiav. 

are. 9. 

) Der bekanntlich die platonifche dee des uazoavsewnos am jchärf- 
ſten formuliert hat, allerdings unter gleichzeitiger Übertragung des Begriffes 
dom Staat auf die Gattung. Vgl. Dietzel ©. 45. 





III. 4. Das Fragment des ariftotelifchen Staatsideals. 583 


und die Gejellichaft perfonifiziert ift zu Einem Willen, Einer Ein- 
ficht, Einer Gewalt — das Analogon des Menſchen“, — fo ver- 
bietet dieſelbe Artverjchiedenheit nach der Anficht des Ariftoteles 
auch die mechaniſche Nivellierung, welche der platonifche Spzialis- 
mus duch die Aufhebung des Jndividualeigentums und der Einzel 
ehe herbeizuführen ſucht, um jene Einbeitlichfeit auf die höchfte 
Ausbildungsitufe zu erheben. Die Bedürfniffe der einzelnen Indi— 
viduen und die Arten des Genufjes, in denen «8 Befriedigung 
findet, find überaus verfchieden; und nicht minder ungleich find 
die Leiftungen und die Anjprüche, die der Einzelne eben auf Grund 
dieſer Ungleichartigfeit der Arbeitsleiftung zu ftellen berechtigt ift. !) 
Eine Schwierigkeit, die auf Grundlage der Gütergemeinfchaft nie: 
mals gelöft werden fann, ganz abgejehen davon, daß gerade Die 
Gemeinſchaft hier leicht zu einer Quelle von Entzweiungen werden 
fan, zu denen bei Individualwirtſchaft und Individualbeſitz Fein 
Anlaß ift.2) 

Auch injofern wird die Gütergemeinfchaft dem Individuum 
nicht gerecht, als „die von der Natur einem Jeden eingepflanzte” 
und eben darum berechtigte Liebe zu ſich Telbft das Verlangen nach 
Erwerb und Beſitz perjünlichen Eigentums naturgemäß in fich 
Ihließt. Die Abjchaffung des Privateigentums würde den Menſchen 
des „unſäglichen Genuſſes“ berauben, den es für ihn hat, irgend 
etwas ſein Eigen nennen zu fönnen.?) Er würde überhaupt fo 
vieler und jo großer Güter verluftig gehen, daß es für ihn gerade- 
zu unmöglich jein würde, das Leben in einem jolhen Zuftande 
zu ertragen.®) 


2-11, 2,.2.:12633. 

°) Ebd. 3. Communio est mater discordiarium! Hobbes: De 
cive I], 6. 

3) II, 2, 6. 1263a. »7dovn auväntos! 

*) IL 2,9. 1263b: & dE dizaov un uovor Akysır 6owv oTegyoor- 
Taı zuA0v xoWwWvmoavtes, ala zul 00Wv dyadov paiverau Neivaı 
naunev ddvveros 6 Blos. Wie Gierke angefichts diefer Ausführungen (a. 
a. 0. ©. 12) behaupten kann, daß Ariftoteles jeine ausführliche Polemik gegen 


984 Grjtes Buch. Hellas. 


Mit der gleichen Entjchievenheit, mit der hier auf fozial- 
öfonomifchem Gebiet vom Standpunkt des Individuums aus der 
Überfpannung des jozialiftiichen Gedankens entgegengetreten wird, 
fommt das individualiftiiche Moment zur Geltung bei der Haupt- 
und Grundfrage aller ftaatlichen Drganifation, der Frage nad) 
dem Träger und der Ausübung der Sonveränität. 

Vom Standpunkt des Ganzen aus, im Sntereffe der Ein— 
heitlichfeit des Staates und einer technisch möglichit vollfommenen 
Staatsthätigkeit ift es jedenfalls beijer, wenn „immer diefelben 
herrſchen“, als wenn die Träger der Amtsgewalt beftändig wechjeln. 
Aristoteles gibt dies ausdrücklich zu.) Trotzdem läßt ex in feinem 
„beiten Staat” alle Bürger in vegelmäßigem Wechjel zur Negie- 
vung und zu den Ämtern berufen werden. Und welches ift das 
Motiv? Ein entjchieden individualiftifches! 

Unter den Vollbürgern des ariftoteliichen Idealſtaates befteht 
in fozialöfonomifcher, wie in fittlich-intelleftueller Hinficht ein hohes 
Maß von Gleichheit. Darin jchließt fich derjelbe durchaus den 
platonischen Gefeßesitaat an. Wie in diefem, fo ift auch in ihm 
Bürger nur derjenige, welcher die volle Mufe zur Entwidelung 
al’ feiner Anlagen und zu bingebender politifcher Thätigkeit befikt, 
während die Bebauer des Bodens Leibeigene oder Hinterſaſſen 
von ungriechischer Herkunft find?) und ebenjo, wie auch die handel- 
und gewerbetreibenden Klaffen vom Bürgerrecht ausgejchloffen 
bleiben.) Alle Bürger erfreuen fich der gleich gefiherten und 
ausreichenden wirtichaftlichen Eriftenz, indem Jeder einen gleich 
die Frauen-, Güter: und Kindergemeinſchaft durchweg mur auf das wahre 
Weſen und die wohlverftandenen Intereſſen des Ganzen ftüße, nirgends 
aber das Recht der Perjönlichkeit dagegen ins Treffen führe, ift mir unbegreiflic). 

') II, 1, 6. 126la. 

») IV, 8, 5. 13292 f. 9. 

°) Ebd. Die wirtjchaftliche Arbeit geht ganz in dem Streben nad) 
den Mitteln des Lebens auf, fie ermöglicht nicht das höhere Leben jelbit, 
welches der führen muß, der das Leben des Staates mitleben will. Vgl. 


Bradley: Die Staatslehre des Ariftoteles. D. bearb. don Zmelmanıı 
S. 4 ff. 








III. 4. Das Fragment des ariftotelijchen Staatsideale. 585 


großen Anteil am Grund und Boden des Landes befißt.!) Alle 
haben das gleiche Ziel und ven gleichen Beruf: die Ausbildung 
zu höchſter fittlicher und geijtiger Tüchtigkeit, zu welcher der Staat 
ihnen in jeinem für Alle gemeinfamen Erziehungs: und Unterrichts: 
ſyſtem die gleiche Möglichkeit gewährt.) 

Die durchſchnittliche Gleichwertigfeit nun der Individuen als 

tenjchen und Bürger, welche der bejte Staat auf diefe Weiſe zu 
erzielen hofft, wird bei Ariftoteles zum Ausgangspunkt für die 
Behandlung des ganzen Verfaffungsproblems. Nicht einjeitig aus 
dem Necht und dem Intereſſe des Ganzen leitet er bei der Kon— 
jtruftion der Verfaſſung des beiten Staates feine Deduktionen ab; 
er geht vielmehr aus von der angedeuteten leichwertigfeit Der 
Individuen und ihrem daraus abgeleiteten Anjpruch auf die gleiche 
Beteiligung Aller an der Herrichaft. 

Wo alle Bürger in wejentlichen Stüden von gleicher Be: 
ichaffenheit erjcheinen, wie es im beſten Staate in Beziehung auf 
allgemeine Bürgertugend der Fall ift, da fordert die Gerechtigkeit, 
fraft deren Gleichen Gleiches zu teil werden muß,’) daß Alle ohne 
Unterfchied an der Herrfchaft Anteil erhalten, mag dies nun für 
die Ausübung derjelben ein Vorzug oder ein Nachteil jein.t) 

Nicht minder bezeichnend für die individualiltiiche Tendenz 


') Nach demjelben Prinzip, wie im platonifchen Geſetzesſtaat, befitt 
Seder ein Grundſtück in der Nähe der Stadt und eines nach der Landes: 
grenze zu. IV, 9, 7b. 1330a. 

2) Über diefe vom 7.—21. Lebensjahre dauernde ftantliche Erziehung 
j. weiter unten. 

3) II, 5, 8. 1280a: olov doxsi icov ro dixauor eivar xal Eorıv, 
aA ov naoıv dAhe Tois 1o0Ls. 

4) II, 1, 6. 126la: dijAov ws ToVs aurois «si PBeAriov doyeır El 
duvarov ' &v ols BE un duvaröv die TO mv gYioıw ioovs eivaı ndvres, due 
dr zei dizaov, ei’ daya9ov Eirg pavkov TW doysiv, nEvras auToV UETE- 
zew »ıh. Auch das wird don Gierfe völlig ignoriert, wenn ex meint, dab 
im ariftotelifchen Staat überall Lediglich von der Gemeinjchaft aus und 
um der Gemeinjchaft willen das individuelle Recht zugeteilt und bemeifen 
wir. (Ua 9. ©.18.) 


586 Erſtes Buch. Hellas. 


diefer Drganifation ift der Hinweis darauf, daß die genannte 
Sleichheitsidee zugleih der allgemeinen Anſchauungsweiſe ent 
ſpreche.) In diejer Hinficht beiteht zwijchen dem Verfaſſungs— 
prinzip des beiten Staates und dem der Dligarchie, wie der Demo: 
fvatie fein Unterichied. Und es wird ausdrücklich anerkannt, daß 
eben durch dies Prinzip auch die leßteren Staatsformen „jich der 
wahren Gerechtigkeit nähern”. Wenn ihnen das nur bis zu einem 
gewiſſen Grade gelingt und fie nicht die ganze und volle Gerechtig- 
feit exfaffen,?) jo liegt dies nur daran, daß die Vertreter der 
Dligarchie wie der Demokratie ſich über das, was die Einzelnen 
gleich -oder ungleich macht, in einer Täuſchung befinden. Jene 
glauben, wenn gewiſſe Individuen in Einer Hinficht ungleich jeien, 
nämlich an Befiß, jo feien fie damit überhaupt ſchon ungleich, — 
die Demokraten dagegen, wenn diejelben in Einem Punkte gleich 
jeien, nämlich in Beziehung auf perfönliche Freiheit, jo jeien fie 
damit jehon überhaupt gleih. Der befte Staat dagegen hat den 
richtigen Maßſtab gefunden für das, was die Gleichheit oder Un— 
gleichheit der Menfchen ausmacht, a0 die es bei Verteilung der 
Nechte und Güter im Staate ankommt.t) In dieſer richtigen Be- 
ftimmung des Inhalts des Gleichheitsprinzips, nicht in Beziehung 
auf den grumdjäßlichen Ausgangspunkt ſelbſt unterjcheidet er fich 
von den unvollfommenen Staatsordnungen der Wirklichkeit. 
Allerdings werden mit Rückſicht auf den Staatszwed im 
beften Staat die Ämter, überhaupt öffentliche Funktionen, nicht 


) II, 7, 1. 1282b: doxsi de nacıv ivov tu TO dixaov eivau zei 
ueygı yE tıwos Öuokoyovsı tois zard gıhocopiav Aöyoıs, Ev ols diwprotau 
negl TWv mIızov (Ti yo zei Tıoi To dizavov, zei deiv rois looıs ivov 
eivaı paoiv), 

2) II, 5, 8. 1280a: Annteov de noWrov Tivas 0g0VS AEyovar Ts, 
ohıyagyias zei dnuozgarias, zei Ti 16 dixaıov To Te Ohıyapyızöv zai In- 
UOXOETIXOV ' navres yco Üntovraı dixalov TIvös, dAAa uEygL TIVög TT90EQ- 
Kovraı xai JEyovoıw 0v dv TO xvolws dixavov. 

®) III, 5, 9. 1280a. 

*), II, 7, 1. 1282h: nolov 0’ lsorns Eori zul ntolwv dvıoorns, de 
u) Aavdaveıv . Eye yag Tovı aropiav zai pıkooopiav odırızıv. 








III. 4. Das Fragment des ariftoteliichen Staatsideals. 587 


Allen ohne Unterfchied, jondern exit den Männern im reiferen 
Lebensalter zugänglich, welches dem Staate eine größere Bürgichaft 
für Wiffen und Können gewährt,!) allein gerade darin liegt auch) 
wieder nur eine Verwirklichung des leichheitsprinzips, welches 
eben jedem das ihm Gebührende gewährt und daher die Durch) 
den Altersunterjchied bedingte Verſchiedenheit der Leiftungsfähigkeit 
notwendig mit berücjichtigen muß. Auch ift diefe Scheidung eine 
naturrehtlich begründete. Denn fie entjpricht dem von der 
tatur jelbjt geichaffenen Gegenſatz zwijchen zwei Generationen, von 
denen es der älteren geziemt, zu befehlen, der jüngeren zu gehorchen. 
Daher empfindet es auch Niemand als eine Nechtsverlebung, um 
feiner Jugend willen gehorchen zu müſſen, zumal, wenn er weiß, 
daß er jelbit einft den Ehrenvorzug, zu befehlen, erhalten wird, 
ſobald er daS geeignete Alter erreicht bat.2) Und das ift eben 
im beften Staate der Fall. Denn das Gleichheitsprinzip it hier 
jo ftrenge durchgeführt, daß die durch ihr Alter zum Amt Be 
fähigten und injofern einander Gleichen ſtets einander weichen 
müſſen, d. h. daß fein Amt dauernd in derjelben Hand bleibt, 
jondern bald diefem, bald jenem Bürger zugänglich wird. „Alle 
haben in gleicher Weife Anteil am abwechjelnden Herrjchen und 
Beherrjcehtiwerden.” 3) 


1) IV, 8, 4. 1229a. Erſt nach Ablauf des dienftpflichtigen Lebens— 
alters, aljo wohl erſt mit dem 50. Lebensjahre erlangt der Bürger Zutritt 
zur Bolfsverfammlung, zum Gejchwornengericht, die Fähigkeit zur Bekleidung 
eines Amtes. Dem höchſten Alter bleibt die Sorge für den Kultus vorbe- 
halten. Da der Geift ebenjo altert, wie der Körper (II, 6, 17. 1271a), jo 
fönnen die Greife jo wenig wie dem uEoos Onkırızov, dem wEgos Bovkevrı- 
x0v mehr angehören. Sie finden als Priefter einen angemejjenen „Ruhe— 
pojten” (evanevoıv). IV, 8, 6. 1329a. 

2) IV, 13, 3. 1332b: Asireraı roivvv Tols avrois uEv augporeoors 
anodıdovaı mv nolreiev tavımv, un due de, aAM woneo nepvxev, m 
usv divauıs Ev vewrepors, 7 dE poovnoıs Ev OEOBVTEGOIS Eotiv' ovxoDrV 
OUTWS dupolv vevsujodaı Ovupegeı zal dixaiov' Eysı ydo avın n dieigeois 
To zar’ o&iev. 

3) TI, 1, 6. 1261b: ol u&v ydo doyovaıv ol d’ Coyovraı |zera wegos] 
woreg dv ahhoı YEvousvol, Zei Tov avıov dN TE0N0v doyovrwy EregoL 


588 Grites Buch. Hellas. 


it der Anerkennung des Gleichheitsprinzipes iſt übrigens 
nur ein Teil der Anfprüche befriedigt, welche vom Standpunkte 
des Individuums aus an den Staat gejtellt werden. An der: 
felben Stelle, wo Ariftoteles die Naturgewalt betont, welche die 
denſchen inftinktiv in die jtaatliche Gemeinjchaft hineinzwingt, fügt 
er die bedeutiamen — noch Feineswegs hinlänglich gewürdigten — 
Worte Hinzu: „Damit ſoll jedoch nicht gejagt jein, daß nicht auch 
der gemeinfame Nutzen fie zufammenführt, inſofern ja auf jeden 
Einzelnen ein Anteil an der Vervollfommmung und Glückſeligkeit 
de3 Dafeins kommt, (welches eben nur im Staate erreichbar ift.) 
Vielmehr ift dies gerade das eigentliche Ziel, welches fie alle 
in Gemeinschaft und jeder Einzelne (in der ftaatlichen Bereinigung) 
verfolgen.” ?) Das Streben nah Glüd, nad Luft im weiteiten 
Sinne des Wortes ift fir Aristoteles ein alles durchdringender 
Naturtrieb. „Ganz augenscheinlich flieht die Natur das Schmerz: 
hafte umd begehrt das Angenehme.”?) — Das Mittel aber zur 
ivealften Befriedigung dieſes Strebens nad) dem „Eu Env“ ift die 
Verfaſſung des beiten Staates.?) 


Erepas doyovaı doyas. — IV, 13, 2. 1332b: die moAlds airias avay- 
xalov TIETTES OU0lWmS K0IvWvelvr TOD zUTE WEOOS doyeiv zul doysodat . To 
te yco ioov [zei ro dizarov nad) Sujem. Ergänzung] revzov Tois öuolors 
zul yahenov ueveiw ımv nolıreiev Tv Ovveornrviav nad To dixcwor. 
Dal. III, 4, 6. 1279a: dio zei Tas noAtızds doyas, Otav 7 xar’ isoryra 
Tov noAıov Gvv&oıyrvie zal xa# ÖuoloınTa, zard UEgoS aiovcıw Egger, 
1o6TEgoV uev, 1 negpuxev, dEiodvres Ev uggeı Asırovoyelv zal oxoneiv Tiva 
dhtv TO aror dyasov, WOrTEO TIOOTEEOV aUTOS Loywv Eoxoneı TO Exeivov 
ovugpeoor. 

') III, 4, 3. 1278b: o® unv dla zei To zo Ovupigov Gvvayeı, 


udkıora uev 


za9 000v Enıßakksı u£gos Exaorw tod [nv zualws; 
oVv tour’ Lori r&Aos, zei zown ndoı zei Ywois. 

?) Nie. Eth. 1157b 16. Mit Recht bemerkt dazu Eucken (Ariftoteles 
Urteile über die Menjchen. Archiv f. G. der Phil. III 546), dag uns von 
Ariftoteles nirgends zugemutet werde, auf dieſes Streben zu verzichten. 

) Pol. IV, 12, 2. 1331b: örı uev owv Tod re EU Lyv zei ıns 
evdaıuovias&pievrau ndvres, pavegov, dAAR TOvrWv Tois uEv EEovale 
Tvyyaveıy, tois dE oV, did Tıva pvow 1) wuymw ...., old’ Eudog oux 0095 





II. 4. Da3 Fragment des ariftotelischen Staatsideal2. 589 


Kann das individuelle Intereſſe Elarer zum Ausdruck gebracht 
werden? Der Trieb des Individuums nach Erhaltung und Glüd- 
jeligfeit ift es, dejjen Befriedigung durch den Staat als das Ziel 
der Natur ſelbſt exicheint. Derſelbe Trieb, der die niedrigeren 
Formen menjchlicher Gemeinichaft, Familie und Gemeinde erzeugt 
bat, führt die Menjchen zu einem umfafjenden jtaatlichen Verband 
zufammen, weil erſt der Staat die möglichit vollkommene Erreichung 
ihrer Lebenszwecke verbürgt.!) Daher erjcheinen auch diejenigen 
Staatlichen Inſtitutionen, welche den Wohlfahrtszwed befriedigen, 
als gerecht, diejenigen, welche ihm wideriprechen, als ungerecht. 

Das Verlangen nah Glückſeligkeit, „die ja das höchſte Gut 
it,“ beberricht jo Tehr alles Leben und Streben der Menjchen im 
Staat, daß man geradezu jagen kann: In ihm it die leßte Urjache 
davon zu juchen, daß es verjchiedene Formen von Staat und von 
Staatsverfaffung gibt. „Denn indem die Menjchen auf verjchiedene 
Weile und mit verjchiedenen Mitteln jenem Zwecke nachjagen, 
rufen fie dadurch auch eine DVerjchiedenheit der Lebensrichtungen 
und der Staatsverfaflungen beroor.”2) Das Kriterium des beiten 
Staates aber wird demgemäß darin bejtehen, daß er jeine Bürger 
auf den richtigen Pfad zum Glüde führt und jo eben das er— 
reicht, was die anderen mehr oder minder vergeblich erjtreben. Wie 
die wahre Gleichheit, jo verwirklicht er auch das wahre Glück. 


Inroicı nv zudauuoviav, E£ovoias VUneEyovons . Enei de TO TTOOXELUEVOV 
Eotı mv doioryv nolıreiav ideiv, avın d’ Eori za9' 7v agıor’ dv nokt- 
tevVorto nolıs, doiore ν nohrsvoro xaH 77 Evdanuoveiv udkıore 
Evdeyerau ınv nokır  Inkov orı Tv eidaıuoviav dei, Ti Eotı, un havdaveı, 

) III 5, 14. 1281b: nodıs yevov za zwuwv zoıwwvia Lons 
Teleias zal @uraoxovs <ydoiv> 'Toviro d’ Eotiv, os pauev, to Inv svdaı- 
uovos zei zaAos. Vgl. IV, 7, 2b. 1328a: 7 de nodıs xoıwwrie tis ori tov 
ouolwv, Evszev dE Lwns ts Evdeyoufvns aglorns. 

2) ]V, 7, 3. 1328a: Enei d’ Eotiv evdaıuovia TO «oLoTov, avım 
dE ageıns Evkoysıa zul yomois tıs Teheios, GvußEßnxe dE oVTwc, Wore tous 
uiv Evdeyeodaı usreysiv avıjs toüs dE wıxgöv m) under, dmkov Ws roür 
airıov TO yivsodaı oAews eidn zei diapogas zul nokıreiag nıkelovus' dAkov 
yco roonov zai di akkwr Exaotoı Tovro IMgEVorvTes tous TE Plovs Er&govs 
nrotoVvrau zal Tas nokıteias, 


590 Erſtes Buch. Hellas. 


In ihm ift es in der That „mit jedem Einzelnen aufs Beſte be- 
ftellt, führt ein Jeder ein glüdliches Leben.“ 1) 

Sa diefer individualiſtiſche Ideengang wird von Ariſtoteles 
io weit verfolgt, daß da, wo eine weitgehende Gleichheit zwiſchen 
den einzelnen Bürgern bejteht, — wie in der Vollbürgerjchaft des 
beiten Staates, — ein Necht auf möglichſt gleich mäßige Befrie- 
digung ihres Glüdsftrebens anerkannt wird. Das äußere materielle 
Subftrat eines glücdlichen Daſeins, der Beſitz, it unter fie gleich 
verteilt, nicht bloß, weil es im Intereſſe der Erhaltung des Staates 
ift,2) ſondern ebenjojehr deshalb, weil es die Gleichheit und da- 
mit die Gerechtigkeit jo erfordert.) „Die Glieder der jtaatlichen 
Gemeinjchaft verdienen entweder gar nicht den Namen von Staats: 
bürgern oder aber fie müſſen auch alle den Mitgenuß an den 
Borteilen derjelben haben.“ +) 

Trifft auf diefe Anſchauung nicht in gewiſſem Sinne eben 
das zu, was man neuerdings als pezifiiches Kennzeichen eines 
individualiftiichen Kommunismus bingeftellt hat?) Verlangt nicht 
Aristoteles ebenjo wie diefer Kommunismus, daß der Staat für 
die Individuen Urſache eines bejtimmten Lebensinhaltes werde, 
ein Gemeingut, an deſſen realen Nußungen alle Individuen einen 





') IV, 2,3. 1324a: örı udv oWv dvayzalov eivaı nohıreiev doioımv 
tavınv 209° Mv Tafıry zdv 60TLIE00V dgıore nodrroı xzal [on uazagiws, 
gpaveoov Eorıv. Vgl. II, 1, 1. 12606: Enei noo«goVuEde Hewonoaı nregi 
ns xoıwwviag Ts nohırızns, TIS ZORTIETN naoov Tolis Dvrauevous Imv 
ötı udAıora zart’ evynv xl. — IV, 1, 1. 1328a: @pıor« yao nodt- 
TEIv TIO00MREL TOÜS dpIoTe ntoltevousvovs Ex TWV ÜNEEZOVTWV @VTOIS, Edv 
un Tı yivsraı nagdkoyor, 

2) Wegen der größeren Einmütigfeit gegen auswärtige Yeinde. 

>) IV, 9, 8. 1330a: 76 te yao ioov ovrws Eysı zai TO dixaıov zai 
TO 1005 ToVÜg aorvyeitovas oA&uovs ÖUOVONTIKWTEOOV KU, 

*) III, 5, 1b. 1279a: 7 yco 00 noAites pareov eivaı tods uereyov- 
Tas, 7 del xoıvwveiv ToV Gvupegovros. 

5) Dietzel a. a. D. ©. 9 ff. In diefer Auffaſſung lag jogar die Ver— 
juchung zu einer übermäßigen Betonung des individualiftiichen Moments. Das 


beweiſt recht draftiich die Ethik des Ariftotelifers Eudemos. Vgl. 3. B. VIII, 
10, 1242, 





II. 4. Das Fragment de3 ariftotelifchen Staatzideal2. 591 


gleichen Anteil haben jollen, ein gleiches Mittel für Alle zur mög: 
lichjt gleichen Befriedigung der Intereſſen Aller? Wird nicht auch 
bier aus der Gleichwertigfeit der Individuen direft ein Anſpruch 
auf ein bonheur commun gefolgert? Daß der Kreis der Indi— 
viduen, für welche dieje leßtere Deduktion gilt, ein beſchränkter ift, 
weil die im beiten Staate erjtrebte Glückſeligkeit von vorneherein 
nur für die Bürger desselben erreichbar exjcheint, macht doch für 
die prinzipielle Auffaffung feinen Unterichied. Die ganze Schluß: 
folgerung ift darum nicht minder individualijtiih. Und ebenfo- 
wenig verliert jie diefen Charakter dadurch, daß das Glüdsziel 
bier ein hohes und ideales und ein wejentlich anderes ift, als der 
vulgäre Hedonismus, um den es ſich bei jenem Kommunismus 
handelt. 

Inſofern bejteht allerdings ein bedeutſamer Unterſchied, als 
Ariftoteles natürlich ſehr weit von der einjeitigen und ausjchließ- 
lichen Deduftion aus dem Individualintereſſe entfernt it, wie fie 
die eben nur im Individualismus wurzelnde Anſchauungsweiſe 
jenes modernen Kommunismus Fennzeichnet. Mit der Deduktion 
aus dem Einzelinterejje geht überall diejenige aus dem Sozial: 
intereffe Hand in Han. 

Wenn der Staat den Anjpruch des Individuums auf die . 
Befriedigung feines Gleichheits: und Glüdsjtrebens anerkennt, jo 
thut ex dies nicht allein deswegen, weil er damit eben dem Einzelnen 
gerecht wird, jonvern zugleich im Intereſſe des Ganzen, weil diefe 
Gerechtigkeit gegenüber dem Einzelnen zugleich „ein Gut für den 
Staat und dem Gemeinwohle förderlich“ ift.!) Der Staat felbit 
„will möglichſt aus gleichen oder ähnlichen Gliedern bejtehen”,2) 
er will eine Herrjchaft über Freie und möglichſt Gleiche jein.?) 


) III, 7,1. 1282b: &otı de moAırızov ayad9ov To dixaiov, Tovro 
d’ Eoti To zoıvyn Ovugpeoorv, 

2) ©. die Erörterung über den Mittelftand VI, 9, 6. 1295b. 

3) ],2,21b. 1255b: 7 de noAırızn (doyn) EAevdeonv zei lowv aoyn. 
Dal. IV, 7, 2b. 1328: 7 de noAıs xoırwvia Tis Eotı TWv Ouolwy, Evsxev 
de Cuns ts Evdeyousvns dolorns. 


5923 Erſtes Buch. Hellas. 


Denn nur zwijchen folchen ift jene „Befreundung” möglich, welche 
die Grundlage jeder wahren Gemeinjchaft und inSsbejondere der 
„vollendetiten und höchſten“ der ftaatlichen Gemeinschaft ift.) 
Wenn ferner der beſte Staat allen Bürgern das gleiche Necht 
der Mitbeftimmung gewährt, jo thut er dies nur, indem er ihnen 
sugleih Pflichten auferlegt. Er weiß, daß hier „jeder die ihm 
geftellte Aufgabe gut erfüllen wird,“ weil im beiten Staate jeder 
Einzelne mit der individuellen Tüchtigfeit zugleich die des guten 
Bürgers verbindet, der die Fähigkeit und den Willen hat, ſich 
regieren zu laſſen und zu vegieren zum Zwecke eines Lebens in 
geiftiger und fittlicher Tüchtigkeit.) Auch fühlen fi) hier die 
Einzelnen nirgends in einem Gegenſatz zum Ganzen, jondern jtets 
als Lebendige Glieder der Gemeinſchaft. Alle Erziehung ift darauf 
gerichtet, diefes Gemeinschaftgefühl zu entwideln, damit der Staaf 
— unbeſchadet feiner natürlichen Vielheit — in ſich Eins werde.) 
Und wenn e8 auch zur Herftellung diefer Gemeinschaft und Einheit 
nicht des Kommunismus bedarf, jo wird doch bei den Bürgern’ 
des beiten Staates eine jo vollfommene „Ausgleichung der Bes 
gierden”t), eine jo intenfive joziale Gejinnung vorausgejeßt, daß 
Keiner mehr fein und mehr haben will, als der Andere,5) daß 
aller Beſitz — wenn auch PBrivateigentum — jo doch „durch den 
Niepbrauch zum Gemeingut“ gemacht wird.) Sogar das Grund- 


1) VI, 9, 5. 1295b heißt e8 von den „entarteten” Staaten: wo# ol 
uv doyeiv ovx Enlorevraı aM doysotaı dovkamv doyyv, old’ doysodaı 
usv ovdewd don, doysıv dE deonoriziv doyijv . yiveraı ovv dovkwr zei 
deonorov rtöls, add oUx Elevdegwr, za tor uöv gp3ovoivrwv tor de 
xarappovovvrwv' & nAsIotov aneyeı pihlas zei zoıwwvias modırıans’ 9 
ycg xoıwwvia piAıxov. Vgl. I, 1. 1. 1252a. I, 1, 8. 1252b. 

°) III, 7, 9. 1284a: 6 duvausvos zei TO0RLEOVUEVoS GdoyEoduı xaL 
GoyEıw ngoös tov Biov tov zar’ aosımv. Dal. III, 12, 1. 1288a. IIT, 2, 
3. 1276b. 
) I, 2, 10. 1263b. ©. oben ©. 177 Anmerk. 1. 
*) II. 4, 5b. 1266b. 
>).11, 54, 12, 1267: 
6) II, 2, 5. 1263a. ©. oben ©. 55. 





II. 4. Das Fragment des ariftotelischen Staatsideals. 593 


prinzip der jozialen Ethik Wlatos, daß der Bürger felber „nicht 
ih, jondern dem Staate gehört”, wird, wie wir jahen, von 
Ariftoteles wörtlich wiederholt.) Und ebenjo wird aus der An: 
Ihauung, daß die Stellung des Einzelnen im Staate die eines 
Gliedes im Drganismus ift, hier wie dort der Schluß gezogen, 
daß „vie richtige Fürforge für den Einzelnen (als Glied des 
Staates) immer nur diejenige ift, welche dabei die für das Ganze 
im Auge bat.” 2) 

Allerdings meint dies Arijtoteles ebenjowenig wie Blato in 
dem Sinne, daß das Individuum fih nur,nodh als Drgan des 
Staatsinterejjes fühlen und gänzlich aufhören joll, fich ſelbſt Zweck 
zu jein. Für eine Staatsauffallung, die in der Anerkennung des 
Individualintereſſes jo weit geht, wie die ariftoteliiche, kann eben 
der Einzelne unmöglich nur um eines Ganzen willen da fein, welches 
ohne Nüdjicht auf Wohl und Wehe des Individuums jeiner eigenen 
Vollendung zuftrebt. Wenn daher hier auch die Gemeinjchaft den 
Einzelnen als dienendes Drgan in Pflicht nimmt, jo geichieht Dies 
nicht, weil für fie allein die Geſellſchaft Zwed, das Individuum 
nur Mittel, das joziale Ganze Alles, das Individuum nichts ift, 
vielmehr darf jeder Bürger des beiten Staates überzeugt fein, daß 
er, indem er den Zweden des Ganzen dient, zugleich die eigenen 
Lebensziele am beiten fördert. 

Genau jo, wie im platonijchen Staat löſt ſich im beiten 
Staate des Nrijtoteles der Gegenjab von Individualismus und 
Sozialismus in einer höheren Einheit auf, in der Koinzidenz des 
Individual- und des Sozialinterefjes. Der Endzwed der jtaat- 
lihen Gemeinschaft, — die Glückſeligkeit, welche in der vollendeten 
Bethätigung geiftiger und fittlicher Tüchtigkeit bejteht, — iſt hier 
wirklich ein und der nämliche, wie der des indiviouellen Dafeins.?) 


1) ©. oben ©. 165. 
») V,1,2.1337a: 7) 0’ emiusksıa nepvxev Exdotov uopiov BAgTeıv 
005 mv Tod OAov Emuuchksıev. 
3) IV, 15, 16. 1334a: nei dE 10 auro tehog eivar yalveraı zei 
Pöhlmann, Geh. des antiken Kommunismus u. Sozialismus. I. 38 


594 Erſtes Buch. Hellas. 


Daher ift das, was für den Staat das Beite ift, zugleich 
auch das Befte für den Einzelnen und umgekehrt (Tevra yao 
aoıcıe zei ldle zei zomn).') Und wenn es, wie im vollfommenen 
Staat, dem Gefeßgeber gelingt, diefe Überzengung den Seelen ver 
Menſchen einzuflößen,?2) kann fich der Einzelne fein anderes Ziel 
ftecefen, al3 die Gejamtheit. Das „Intereſſe Aller” (intördt de 
tous, der ravres ws Exreoros!) findet hier ebenſo feine Befriedi- 
gung, wie das Intereſſe der Gemeinjchaft als ſolcher (interet 
general, der ravres ouolwc!). „Es it undenkbar, daß das 
Ganze glücjelig jei, wenn nicht von Allen oder doch den Meiften 
oder bejtimmten Teilen?) das Gleiche gilt. Denn mit der Glüd- 
jeligfeit ift eS nicht, wie mit der geraden Zahl: diefe kann recht 
wohl dem Ganzen zulommen, während feiner von den Teilen eine 
jolche ausmacht, aber bei der Glüdjeligkeit ijt jo etwas un: 
möglich.) — Wenn daher „vie bejte Verfaffung diejenige ift, 
durch welche der Staat am glüdlichiten wird,5) jo ift diefe Glück— 
jeligfeit zugleich diejenige aller Bürger.‘) 

Man fieht, jo entjchieden Ariftoteles das Necht der Gemein- 
Ihaft und die Pflicht des Individuums ihr gegenüber zur Geltung 


zowrn zal ldi« Tois dv9oWnors, zul Tor aiTov 6009 dvayzalov eivaı tw 
TE colorw avdgi zei tn coiorn nolıreig zu). 

1) IV, 13, 13. 1333b. gl. Nie. Eth. I, 2, 1094b7: ... zavror 
Eotıv (sc. TO ayador) Evi zai noölcı. 

2) zov vouoderyv — führt Ariftoteles an der eben gen. Stelle der 
PBolitit fort — Eunossiv der rairte rais Wuyals tov even. Ganz 
wie Plato! 

8) D. h. den für den Staat überhaupt als fonftitutive Elemente in 
Betracht kommenden Teilen, wie es die VBollbürger des beiten Staates find, 
die allein als „wahrhafte” Teile des Staates gelten. Nur fie allein können 
ja der Glücfjeligfeit teilhaftig werden, welche der Zweck des Staates ift. 

*) II, 2, 16. 1264b: «dvvarov de eudanuoveiv OAyv (Tyv nor) un 
Te v nAEloTWv 7) NÄvıwv uEoWv 7 Tivov £yovrwv mv evdanuoviar. 

°) IV, 8, 2. 1328b: even (sc. 7 deiorn nolıreia) Eori xa9 vn 
nölls av Ein uchor' svdeiumv, 

°) IV, 8,5.1329a: svdaluova de oA oVx Eis u£oos ru BAewarres 
dei Akysır avıns, @AM Eis navras Toüg nolirag, 





II. 4. Das Fragment des ariftoteliichen Staatsideals. 595 


bringt, ein Sozialismus in dem Sinne, wie ihn der moderne Er— 
finder des Wortes im Auge hatte, d. h. ein Sozialismus, welcher 
das Individuum der Gemeinschaft opfert und zwar grundſätzlich 
opfert,!) wird auch von dem arijtotelifchen Staat nicht beabfichtigt. 
Allerdings unterwirft auch er jeine Bürger einer mehr oder minder 
fontplizierten Ordnung, welche die Freiheit des Einzelnen aufs 
Äußerſte einſchränkt und ihm die weitgehendften Pflichten auferlegt. 
Allein es gejchieht das nicht bloß um der Entfaltung und Vollen- 
dung des jozialen Ganzen willen, jondern eben jo jehr darum, 
weil diefe Ordnung ein bejjeres, ficherer funktionierendes Mittel 
jein joll, um dein naturrechtlich begründeten Intereſſe des Indivi— 
duums an der Vervolllommnung und dem Glüde des eigenen 
Dajeins zu jeinem Nechte zu verhelfen, als die Freiheit der bejte- 
henden Gejellichaftsoronung. Der Zwang, der an dem Einzelnen 
geübt wird, rechtfertigt fih auch hier vor dem individuellen Be— 
wußtjein damit, daß er jich zugleich als der Weg zum Glüd, zum 
„möglichit wünjchenswerten” Leben daritellt.?) 

Wie freilich eine politiihe Gemeinjchaft möglich ſein ſoll, 
in welcher das Intereſſe der Einzelnen mit dem des Ganzen regel- 
mäßig zujammenfällt, dafür kann von der ariftoteliihen Sozial- 
philojophie ebenjomwenig ein Beweis erbracht werden, wie von Plato. 
Es find dieſelben unerwiejenen und unbeweisbaren Ariome, die— 
jelben Illuſionen, auf denen die aprioriftische Konftruftion der ab- 
ſtrakten Gejelliehaft hier wie dort beruht. Die ariftoteliichen Aus- 
führungen bejtätigen nur die jchon bei der Darftellung des plato- 
niſchen Staatsideals gemachte Beobadhtung, daß im Nahmen der 

') Une organisation politigue dans laquelle I” individu serait 
sacrifi6 à cette entite, qu’ on nomme la societe. Vgl. das Zitat bei 
Diegel: Rodbertus II, 31. 

2) Bgl. VIII, 7, 22. 1310a über das faliche Prinzip der Demokratie, 
die Freiheit und Gleichheit darin zu juchen, dab jeder thun kann, was ihm 
beliebt. wors [7 Ev Tais Toiwvraıs dnuozoeriaıs ExaoTos, ws PBovkerat, 
zei eis 6 yonlov, ws naiv Evginidns’ Tovro d Eoti pavkov' ou ydo 
dei oisodaı, dovAsiav eivaı ro nv noös ınv nokıreiav, aAkc 


cwrnmoiev, 
38* 


596 Grites Buch. Hellas. 


genannten Lehre jeder theoretiſch bedeutſame Fortjchritt von vorne- 
herein ausgejchloffen ift. 

Wie enge fih die ariftoteliiche Staatstheorie in den fozialen 
Grundprinzipien an Plato anjchließt, zeigt recht deutlich die Art 
und Weife, wie ſich Ariftoteles jeinen beiten Staat im Einzelnen 
geitaltet Denkt. 

Auch bier erhält die jtaatlihe Gemeinschaft, die zomwmni« 
zro4ırızn, eine Drganijation, in welcher die perjönliche Freiheit 
der Einzelnen durch die Geſamtheit genau ebenjo verſchlungen wird, 
wie im platonifchen Staat. Der Staat wird auch hier das oberjte 
faujale Agens zur Gejtaltung des Lebensinhaltes der Individuen, 
indem er mit jeiner Allgewalt ihr gefamtes Dafern in feite, obrig- 
feitlich vorgezeichnete Bahnen einzwängt. Die auf der Grundlage 
des individualiftiichen Gleichheitsprinzipes beruhende Negierungs: 
gewalt wird in durchaus joztaliftiihem Sinne gehandhabt. Ya 
der Geilt des Polizeiftaates tritt uns bier in mancher Beziehung 
noch abjtoßender entgegen als bei Plato. 

Auch im ariftoteliichen Staat ift die geſamte Volkswirtſchaft 
einer zentralifierten Staatsleitung unterworfen; ſie joll durch eine 
ſyſtematiſche Regelung des Umlaufes und der Verteilung der Güter 
zu eimer in ſich möglichjt einheitlichen, d. h. von Einem Willen 
gelenkten Wirtſchaft werden. 

Wie ſich freilich Ariſtoteles dieſe Organiſation der Volkswirt— 
ſchaft vorgeſtellt hat, wie er ſich ſeine bereits ausführlich beſprochene 
antikapitaliſtiſche Wirtſchaftstheorie) in die Praxis umgeſetzt dachte, 
darüber erfahren wir nur ſehr wenig, ſei es, daß Ariſtoteles ſelbſt 
nicht mehr dazu kam, das Wirtſchaftsſyſtem ſeines beſten Staates 
darzulegen, ſei es, daß uns die betreffende Partie der Politik ver— 
loren gegangen iſt. Immerhin genügt jedoch das Wenige, was 
wir erfahren, um die angedeutete enge Verwandſchaft des ariſto— 
teliſchen und platoniſchen Sozialismus klar zu erkennen. 

Ganz platoniſch ſind die Vorſchläge zur Beſchränkung des 


') ©. oben ©. 228 ff. 





III. 4. Das Fragment des ariftoteliichen Staatsideals. 597 


internationalen Handelsverkehrs,i) die Forderung einer ftrengen 
Fremdenpolizei, d. h. von Geſetzen gegen die Freizügigkeit, „durch 
welche man beſtimmt, welche Perſonen beiderſeits mit einander 
verkehren dürfen und welche nicht, “2) endlich die Vorſchläge zur 
Herjtellung der Gütergleichheit unter den Bürgern?) und des ge- 
meinfamen Haushaltes der Speiſegenoſſenſchaften, bei denen Arifto- 
teles daS gemeinwirtjchaftliche Prinzip jogar noch ftrenger durch— 
geführt wifjen will, als Plato, indem ex die Syſſitien nicht, wie 
diefer, auf Beiträge der einzelnen Bürger bafiert, jondern von 
vorneherein einen großen Teil des Grund und Bodens als Gemein- 
gut erklärt willen will, um aus dem Ertrag desjelben die Koften 
der Syſſitien zu beftreiten.) Nur darin ift er minder radikal als 
Plato, das er auf die Beteiligung des weiblichen Gejchlechtes verzichtet. 

Was die Stellung zum mobilen Kapital betrifft, jo findet 
ji darüber in der uns erhaltenen Darftellung des Spealftaates 
nichts, als die befannte Forderung, daß aller Befit dadurch gewiſſer— 

5, 5. 1327b. ©. oben ©. 230. In der allgemeinen Beurtei- 
lung des auswärtigen Handels weicht Ariftoteles allerdings von Plato etwas 
ab. Er will nicht die ſchroffe Abſchließung insbefondere gegen den See: 
verfehr wie Plato. Vgl. die Erörterung über die geographiſchen Vor— 
ausſetzungen des beſten Staates IV, 5, 

) IV, 5, 5. 1327b, wo zur Erleichterung dieſer polizeilichen Maß: 
regeln die Trennung von Stadt und Hafen verlangt wird. &rei de zul vor 
soWuev nolkais Ündoyorre ywocıs zul noAsoıy eniveia zul Auusvas eVpvos 
xelueve NOS Tv nolıv, Gore unte veusır aiıo To dor unte 1000w 
av, Aha zoareiodeı Teiyeoı zei Toiovtors dAkoıs EQUUROL, garvsoov Ws 
El uEv dyadov tı ovußeivei yivesdaı die ı7s xoirwviag evıov, ündokeı 
un nmokeı ToVro To dyadorv, ei dE Tu BAaßegov, pvAdkaodaı öddıov 
Tois vrowoıs poddovras zai duogibovras tiveas ov dei zul Tivas 
eniuloyeosdaı dei noos dAAmkovs. 

3) Die wie bei Plato durch. Unteilbarfeit und Unveräußerlichteit der 
Landloſe aufrecht erhalten wird. ©. die Bemerkung über Lykurg IL, 6, 
10. 1270a. 

*) Er beruft fich dabei auf das Borbild Kretas, deifen Spifitien- 
organiſation ex wegen ihres gemeintirtjchaftlichen Charakters der ſpartaniſchen 
weit vorzieht. IL, 6, 21. 1271a. 1V, 9, 7®. 1330b. ©. oben ©. 69 ik 27; 


598 Erſtes Buch. Hellas. 


maßen ein gemeinfamer werden müſſe, daß man ſich desjelben wie 
unter Freunden bedient. Wie jehr jedoch Ariftoteles auch hier ein 
ſyſtematiſches Eingreifen der Staatögewalt für notwendig hielt, 
zeigt die Kritit der Vorgänger, welche er der Ausführung feines 
eigenen Staatsideals vorausſchickt. 

An der Stelle, wo er über die Gütergleichheit im Idealſtaate 
des Phaleas Spricht, macht er es demjelben zum Vorwurf, daß er 
fih auf die Ausgleichung des Grundbeſitzes beſchränkt und das ge: 
famte bewegliche Kapital, den Belig an Sklaven, Vieh, Gelo, 
Hausrat u. |. w. bei feiner Neform außer Acht gelafjen habe. 
Aristoteles meint, entweder laſſe man Alles gehen, wie e3 will, over 
man muß — (wenn man nämlich wirklich einen durchgreifenden 
Erfolg erzielen will) — auch in Beziehung auf das bewegliche 
Kapital nach einer gleichen Verteilung oder wenigitens nach einem 
feft bejtimmten mittleren Maße ftreben.!) Damit wird eine jozia- 
liſtiſche Negelung der Berhältniffe des mobilen Beſitzes, wie fie 
Plato im Geſetzesſtaate im Auge hatte, grundſätzlich als berechtigt 
anerkannt, wenn wir auch nicht willen, welche Konjequenzen Ari: 
ſtoteles aus dieſer prinzipiellen Anerkennung für den jozialen Auf: 
bau feines eigenen Spealftaates gezogen hat. 

Daß er aber vor den äußerſten und legten Konſequenzen des 
einmal angenommenen Standpunttes nicht zurückſchreckte, das jehen 
wir an der Art und Weife, wie ex die Gleichheit und Stabilität 
der Eigentumsverhältnifie in jeinem Staate aufrecht erhalten willen 
will. Er geht wie Plato von dem Gedanken aus, daß dieſe Sta- 
bilität des Beſitzes als ihr Korrelat notwendig auch eine folche 
der Bevölkerung fordert. Würde die Zahl der Bürger jemals 
die für alle Zeit firierte Zahl der Familiengrundſtücke überjchreiten, 
jo würden bei der Unteilbarkeit derjelben die Überzähligen in eine 
Notlage geraten und ein befitlojes Vroletariat entjtehen,?) während 
doch im beiten Staate fein Bürger des notwendigen Lebensunter: 








Y) 11, 4, 12». 1267a: 7 nevıwv ovv Tovewv looınra Imımreov ı 
tafıv TIVd ueroiev, N ndvra Eareor, 


2) II, 3, 6. 1265b. 





N VE EEG 


III. 4. Das Fragment des ariftotelifchen Staatsideals. 598 


haltes entbehren, jeder ein Necht auf Eriftenz haben ſoll.) Die 
unvermeidliche Folge würde Aufruhr und Verbrechen jein;2) jeden- 
fall3 wäre unter jolchen Umftänden das ganze Syitem einer ftaat- 
lich geregelten und gebundenen Grundeigentumsordnung nicht auf 
recht zu erhalten, es müßte unvermeidlich der Auflöfung anheim 
fallen. 3) 

it welchen Mitteln läßt ſich nun aber verhüten, daß ein 
jolches Mibverhältnis zwiſchen den duch das Wirtjchaftsrecht ge: 
Ichaffenen Lebensbedingungen und der Bevölferungszahl entjtehe? 
Plato hatte geglaubt, durch moralifche Einwirkung auf die Einzelnen 
und durch ſyſtematiſche Regelung der Auswanderung die Bevölferungs- 
zunahme des Gejegesjtaates genügend in Schranken halten zu können. 
Er hatte aber damit freilich auch zugegeben, daß auf diefem Wege 
eine vadifale Verhütung jeder, auch temporären Übervölferung nicht 
möglich jei, daß man fich damit zufrieden geben müſſe, derjelben, 
wenn jie einmal eingetreten, mit einem ficher wirkenden Mittel be- 
gegnen zu können, wie er es eben in der Kolonialpolitif zu befigen 
glaubte. Seinem großen Schüler erſcheint diefer Standpuntt unge 
nügend und zwar jo jehr, daß er die platonifche Löſung der ganzen 
Frage nicht Scharf genug verurteilen fann und jchroff bis zur Un— 
gerechtigkeit im Eifer des Widerſpruches dieſelbe fälſchlich jo charaf- 
terifiert, als hätte fich Plato hier mit dem Prinzip des abjoluten 
Gehenlaſſens begnügt und die Slufion gehegt, daß „die Sache fich 
ſchon von ſelbſt genügend ausgleichen werde.” t) 

Hinter dem, was Nriftoteles fordert, bleiben die platonijchen 
Vorſchläge Freilich weit zurück! Ariſtoteles ſpricht es mit dürren 
Worten aus, daß eine ſtaatliche Regelung der Vermögens- und 
Einkommensverteilung, wie er und Plato fie im Auge hatte, nur 
unter der VBorausjegung duchführbar ift, daß der Staat auch die 





) IV, 9, 6. 1330a: ovre (pauev deiv) anogeiv ovdera Twv noAt- 
Tov ToogpnS. 

al, 8,1. 12606. 

®) II, 4, 3. 1266b. 

211,3, 6.1265, 


600 Erſtes Buch. Hellas. 


Freiheit der Volfsvermehrung aufhebt, d. h. „jedem Bürger vor: 
Schreibt, nicht mehr als eine beftimmte Anzahl von Kindern zu er- 
zeugen.) — „Wer für die Größe des Einzelbefites ein beſtimm— 
tes Maß aufftellen will, der muß auch die Größe der zuläfligen 
Kinderzahl geſetzlich Fejtlegen;“?) und Ariftoteles zögert nicht die 
unabweisbare, furchtbare Konjequenz dieſes logiſch unanfechtbaren 
Saßes zu ziehen! Eingriffe von empörender Härte und Inhuma— 
nität, die allerdings in den thatjächlichen Lebensgewohnheiten der 
antifen Welt ihr Vorbild fanden, und die ja zum Teil auch von 
Plato im Bernunftitaat zugelaffen worden waren, ſie werden bier 
ohne Weiteres als berechtigt, ja wie etwas Selbjtverjtändliches an- 
erkannt. Findet eine Empfängnis flatt, durch welche die für den 
Einzelnen zuläffige Normalzahl von Kindern überjchritten zu werden 
droht, jo wird die Abtreibung der Leibesfrucht durch das Geſetz 
vorgejchrieben.?) Auch die Ausjegung wird nicht gänzlich zurück— 
gewiefen. Nur „Gewohnheit und Sitte“, alfo nicht das Geſetz 
verbietet e8, zur Beſchränkung der Kinderzahl Neugeborene aus: 
zufeßen; und bei körperlicher Untauglichfeit wird die Ausſetzung 
geradezu gefordert. *) 

Wie das freilich im Einzelnen praktiſch durchführbar ift, wie 
ein Syitem der Ueberwachung möglich fein joll, das die Verwirk— 


2) 1,8, 7. 12656. 

») II, 4, 3. 12666: dei de unde roüro Aavdaveır ToVs ovrW vouo- 
Herovvras, 6 Aurddveiı vor, ori TO ıns ovoles terrovres nAmPos goONzEI 
zei Tov Texvov Te nAndos Tarreıw' Edv yag Ünegaion Tjs ovoiag To uE- 
yEdos 6 TWv TEXVWv dgidIuös, dvayan Tov ye vouov hvcodu, zul Zwois 
ins Avosws pavkov To nollovs £x nAovoiw yivsodaı nevntes' Egyov yag 
UN VEWTEOONOLOVS Eivat TOÖÜS ToLoVrovVg, 

°) Diejelbe ſoll allerdings noch dor dem vierten Monat erfolgen, bevor 
das Kind „Empfindung und Leben“ hat. IV, 14, 10. 1355b. 

*) Ebd. — Ariftoteles geht joweit, dat er jogar die Frage über die 
Zuläſſigkeit oder Verwerflichkeit der Bäderaftie als eines Hilfsmittel der 
Bevölferungspolitif, „damit die Männer ſich mehr von den Frauen ferne 
halten“, vorläufig wenigjtens als eine offene behandelt und einer jpäteren 
ausführlichen Beſprechung vorbehält (die ung nicht erhalten ift). 11,7, 5.1272a. 





III. 4. Das Fragment des ariftotelifchen Staatsideals. 601 


lihung diejer Forderung verbürgt, darüber hören wir nichts. Ein 
Machtwort genügt, — darin ijt der Schüler ebenjo doftrinär wie 
der Lehrer, — um die jchwierigiten Probleme mit Einem Schlag 
zu erledigen. 

Kur Eine Frage wird wenigſtens berührt, woher nämlich) 
der Maßſtab für die Aufftellung eines Normaletats der Bevölke— 
rung zu entnehmen je. ES werden ftatiftiiche Erhebungen vorge: 
Ichlagen über das Verhältntnis zwijchen Geburten und Todesfällen, 
zwijchen Einderreichen und kinderloſen Familien und nach dem ſich 
ergebenden Durchſchnitt Joll das Maß der zuläffigen Kinderzeugung 
berechnet werden.!) Allein jo fruchtbar der Gedanke an ſich wäre, 
jozialpolitifche Maßregeln auf ſyſtematiſche Maffenbeobachtungen zu 
begründen, in der Form, in der er hier auftritt, it er ebenfowenig 
ausgereift, wie die anderen Vorjchläge. Sein Urheber hat fich 
offenbar von den technischen Einzelheiten des ftatiftiichen Problems, 
von dem böchit zweifelhaften Wert der etwa gefundenen mathema— 
tiihen Formeln und den Schwierigkeiten ihrer Anwendung auf 
das praftifche Leben eine Klare Vorſtellung nicht gebildet. Jeden— 
fall3 würde ein Staat, der nach dieſem Nezept eine Regelung der 
Bevölferungsbewegung ins Werk jegen wollte, jehr bald zu der 
Erkenntnis fommen, daß es von vorneherein unmöglich ift, Vers 
bältnifje, die von jo vielen und jo veränderlichen Faktoren ab- 
hängen, in einer einfachen mathematifchen Formel zufammenzufaffen, 
die Wachstumstendenzen oder die Wachstumsfähigfeiten einer Be— 
völferung und darnach das Maß der zuläfjigen Volksvermehrung 
mathematisch zu bejtimmen. 

Um fo mehr wird man jedoch auf der anderen Seite die 
Unbefangenheit anerkennen, mit der Ariftoteles zugibt, daß das 
Wirtſchaftsſyſtem feines Sozialftaates einen viel engeren Bevölfe- 
rungsjpielraum haben würde, als die Eigentumsordnung der be- 
ftehenden Gefellichaft, daß in ihm das Schredfgeipenjt der Über- 
völferung nicht verjchwinden werde, wie es der moderne Sozialis— 


1) II, 3, 7. 1265. 


IE 


602 Erſtes Bud. Hellas. 


mus von feiner Berteilungsordnung erhofft, jondern fich gerade 
erſt recht fühlbar machen werde. Ariſtoteles denkt auch infofern 
nüchterner, wie der lebtere, als er in feiner neuen Geſellſchaft 
feineswegs eine jo völlige Umwandlung der phyfiihfinnlichen und 
geiftigsfittlichen Natur des Menjchen erhofft, daß man alles der 
moraliichen Selbſtbeſchränkung anheim ftellen könnte. Das Wirt 
Ihafts- und Berteilungsiyftem jeines Idealſtaates wäre in der 
That nicht aufrecht zu erhalten ohne adminiftrative Hemmungs- 
mittel der Voll3vermehrung, ohne Neprejfion und Zwang. Daß 
ver ariftoteliiche Sozialismus dies offen anerkennt, daß er fich 
nicht vor der Gefahr verjchließt, ſondern rückſichtslos die lebten 
Konfequenzen feines Standpunftes zieht, das ift ein Verdienft. 
Freilich zeigen gerade die bevölferungspolitiichen Konjequenzen 
de3 ariftoteliihen Gejellichaftsiveales, wie unhaltbar diejes Ideal 
jelbit ift. 

Daß ſich mit diefer Kontrolle der Kindererzeugung im beften 
Staate auch weitgehende Bejchränfungen der Eheſchließung ver 
binden würden, wäre von vorneherein zu erwarten, auch wenn e3 
nicht der uns erhaltene Tert ausdrüclich bezeugt. Das Grund: 
prinzip des im platonifchen Geſetzesſtaat geltenden Cherechtes wird 
als durchaus berechtigt anerfannt und die wichtigfte Konfequenz 
desjelben ohne weiteres angenommen. Der Staat hat dafür zu 
jorgen, „daß die Leiber der jungen Bürger nach jeinem Wunjch 
und Willen ausfallen“, umd beſchränkt daher den (fruchtbaren) 
Gejchlechtsverkehr auf ee Lebensalter, welches die beſte Bürg- 
Ihaft für einen phyſiſch und geiftig tüchtigen Nachwuchs gewährt. 
Das Weib darf nicht vor dem achtzehnten, der Mann nicht vor 
dem fiebenunddreißigften Jahre in die Ehe treten.?2) Andererjeits 
darf die Kindererzeugung nicht über die Zeit hinaus fortgejegt 
werden, in welcher „der Geift feine höchfte Entwidlungsftufe er- 
reicht.” Wer das vier- oder fünfundfünfzigfte Lebensjahr über 








') IV,13,2.1335a: &uı 0, ö9ev doyousvor devüo uereßnmuev, Orts 
TE oWurte Tov YEvV@uEvWv ÜNEEYN TIOOS TmVv Tod vouo#Erov BovAnoıw 


ARE ERISe 





III. 4. Das Fragment des ariftotelifchen Staatsideals. 603 
, 

jehritten hat, „muß darauf verzichten, Kinder zu zeugen, welche 
wirklich das Licht der Welt erbliden follen;“1) mit anderen Wor- 
ten es tritt auch hier der Zwang zur Vernichtung des werdenden 
Lebens ein! Endlich ift den Ehegatten — zumal während der zur 
Kinderzeugung bejtimmten Zeit — jeder außereheliche Geſchlechts— 
verkehr bei Androhung ſchwerer Strafe unterjagt.?) 

Selbſt in die individuellſten Lebensgewohnheiten dringt der 
Geſetzgeber ein, wenn es gilt, jeinen Zweck zu erreihen. Um 3.8. 
die Frauen, „denen die Ehre der Schwangerjchaft zu Teil geworden“, 
daran zu verhindern, daß fie ſich einer trägen, für die Leibesfrucht 
ſchädlichen Ruhe bingeben, jchreibt ihnen das Geſetz direkt vor, 
daß fie täglich einen Gang zu den Heiligtümern der Götter machen 
und denjelben ihre Verehrung darbringen jollen!?) Eine Aus- 
vehnung des jtaatlichen Zwanges, die jogar noch das von Plato 
gewollte Maß überichreitet. 

Wie ſich Freilich dieſe durchaus anti-individualiftiiche Geſetz— 
gebung, die in letzter Inſtanz nur aus dem Intereſſe der Gemein— 
ſchaft begründet werden kann, in den Rahmen einer Auffaſſung 
fügen ſoll, welche auch den Wünſchen und Bedürfniſſen des Indi— 
viduums gerecht werden will, das iſt ſchwer zu ſagen. Was 
Ariſtoteles beibringt, um die Vorteile ſeiner Vorſchläge für den 
Einzelnen zu erweiſen) und jo auch hier die Lehre von der Koin— 


!) dgpeiodeı det Ts Eis To parsoov yervyoeos. IV, 14, 11. 1335. 

2) Ebd. 12. 

3) Ebd. 9. 

9 Es joll im Intereſſe des Individuums ſelbſt liegen, wenn 
der Staat durch gejegliche VBorjchriften dafür ſorgt, daß zwiſchen Mann und 
Weib in Beziehung auf das zeugungsfähige Alter ein richtiges Verhältnis 
bejteht. Denn es würde dadurch all der eheliche Zwiſt vermieden, der ent- 
ftehen müſſe, wenn im Verlauf dev Ehe ein Zeitpunkt eintritt, wo der eine 
Teil noch zeugungsfähig ift, der andere nicht. Ferner würde eine allzu große 
und eine allzu geringe Altersdifferenz zwijchen Eltern und Kindern unmöglich, 
und dadurch einerjeits verhütet, daß die Eltern im Alter die Unterftügung 
der Kinder, die Kinder diejenige der Eltern entbehren müſſen, andererjeitz, 
dab die Ehrfurcht ivor den Eltern leidet oder Ziviftigfeiten über das Ver: 


604 Grites Buch. Hellas. 


zidenz des Gemeinfchaftsintereffes und des mohlverftandenen Sn: 
terefjes der Individuen zu retten, erſcheint doch recht unzulänglich 
und jedenfalls nicht entfernt ausreichend, die letteren mit einem 
joldden Zwangsſyſtem innerlich zu verjöhnen. Immerhin wird hier 
doch wenigſtens ein Verſuch gemacht, das Sozialrecht des beften 
Staates zugleich auch vor dem individuellen Bewußtſein zu recht: 
fertigen. Ein Verſuch, der bei der einzigen in unferem Text der 
Politik noch behandelten Frage nicht wiederholt wird. 

Diefe Frage betrifft die Erziehung der Bürger des beften 
Staates, die wichtigite Aufgabe, welche e8 nach dem Urteile des 
Arijtoteles für den Staat überhaupt geben kann. Ihre Löjung 
wird durchweg aus dem Gefichtspunft des Staates, aus dem Be- 
dürfnis des jozialen Ganzen zu begründen verfucht. Das Organi— 
jationsprinzip und die Drganijationsform des jozialen Ganzen, die 
„Verfaſſung“, fordert unbedingt eine ihr genau entjprechende 
Form der Erziehung.?) Denn nur wenn dem eigentümlichen Geifte 
der Verfaſſung auch der Charakter der Bürgerſchaft entipricht, 
trägt fie in fich die Gewähr der Dauer. Die beiten Geſetze hel- 
fen nichts, wenn die Jugend nicht im Sinne und im Geifte der 
Verfaffung auferzogen ift. Sie in folchem Geifte zu erziehen, ift 
daher das wichtigfte und wirkſamſte Mittel zur Erhaltung der 
ganzen Staatlichen Ordnung.?) 

Diefe Erziehung muß für alle Staatsbürger ein und diefelbe 
jein. Denn der Zwed der ftaatlichen Verbindung ift für Alle ein 
und derjelbe (Allen gemeinfam). Die Erziehung muß daher auch 
eine gemeinfame und Sache des Staates fein. Mas gemeinjame 
mögen enttehen. Endlich würde das Verbot, in zu jugendlichem Alter eine 
Che zu jchließen, für die Gejundheit des Mannes tvie des Weibes von größten 
Vorteil fein. IV, 13, 16 f. 1334b. 

) Ariftoteles verfteht unter roArrei@ nicht bloß die Regierungsform, 
ſondern auch die ganze jozialöfonomijche Rechtsordnung auf der fie beruht. 

VS Lader yco nos Exdornv (se. noAıteiav) naudeveodet. 

°) VIII, 7, 20. 1310a: ueyıorov de ndvıwr tur eionuevwv TIOOS 


To dieuevsıv Tüs nodıteias, 00 vor olywooVGı ndvres, TO nadsveodei 
11005 Tas niodureias, 





IH. 4. Das Fragment de3 ariftotelifchen Staatsideals. 605 


Angelegenheit Aller ift, daS muß auch gemeinfam betrieben werden. 
Es fann unmöglich jo, wie es in den meijten Staaten der Fall 
it, jedem Einzelnen überlaſſen bleiben, für feine Kinder in diejer 
Hinficht jelbit zu jorgen und fie auf eigene Hand erziehen zu laſſen, 
wie es ihm gut dünkt.!) Das Necht der Gemeinjchaft aber auf 
jolche jtaattihe Regelung des gejamten Erziehungswejens unter- 
liegt feinem Zweifel. Es beruht auf der Anſchauung, daß Feder 
ein Glied des Staates ift, daß daher fein Bürger nur fich jelbt, 
jondern Alle dem Staate angehören und für Jeden der Sab gilt, 
nach welchem die richtige Sorge für das einzelne Glied eben immer 
nur diejenige jein kann, welche dabei zugleich das Ganze im 
Auge hat. ?) 

Wie bei diefem Alles umfafjenden und Alles regelnden Er— 
ziehungsſyſtem auch das Individuum zu feinem Nechte fommt, dar: 
auf erhält man feine Antwort. Freilich ift für den Bürger des 
beiten Staates die Frage bereits beantwortet, ja fie exiftiert im 
Grunde für ihn gar nicht. Er weiß, daß das, was dem Ganzen 
frommt, zugleich auch für ihn das Beite ift, daß die Durchführung 
des Gemeinjchaftsprinzips in der Erziehung eben nur der natur: 
gemäße Ausdruck dieſer Identität der Intereſſen und Ziele ift. 
Und jo kann das Bewußtjein einer Unterdrückung feiner Perſön— 
lichkeit und jeiner individuellen Wünſche in ihm gar nicht auf 
fommen, wenn er nur jein Intereſſe richtig verfteht. 

Was die Einzelheiten diejes jtaatlichen Erziehungsſyſtemes 
betrifft, jo macht ſich Ddasjelbe für den Bürger ſchon im zarten 
Kindesalter fühlbar. Wenn auch nicht, wie in den Kindergärten 
Platos die öffentliche Erziehung bereits mit dem dritten Lebens— 
jahre beginnt, jondern wie in Sparta erſt mit dem jiebenten, jo 


Y V, 1, 2b. 1337a: E&nei d' Ev 10 TElos Tn moAsı ndon, pavsoov 
dtı xel mv neıdeiav ulav zul ıyv aimjv dvayzalov eivar ndvrwv zei 
Tevrns ınv Ermuucksiev eivaı zoırnv zei um zart idiev, Ov Toonov Exaortos 
vov Enuuskeireı Tov avtod Texvwv ldie TE za ucdsnoıv idiev, 7v dv dosn, 
didaoxwr . det yao TWv xoıvov xoıynv noLslodeı zei mv doxmoıw, 


2) Ebd. 2. ©. oben ©. 593. 


606 Erſtes Buch. Hella. 


wird doch die häusliche Erziehung einer ftrengen ftaatlichen Auf- 
fiht unterworfen, welche jorgfältig darüber wacht, daß den Kin- 
dern dieſes Alters eine zwecentiprechende Beichäftigung zu Teil 
werde, und daß ihnen alles ferne bleibe, was fie in moralijcher 
Hinficht ſchädigen fünnte.) Vom fiebenten bis einundzwanzigjten 
Sahre nimmt dann der Staat jelbit die Jugend in jeine Schule. 
Er beftimmt, was Gegenftand des Unterrichtes zu jein hat (Gym— 
naftif, Grammatik, Muſik, Zeichenfunft), was als unvereinbar mit 
dem Ziele der Staatsichule: der Erziehung zum vollendeten Bür- 
gertum, grundjäßlich auszuſchließen it. Er jchreibt genau vor, in 
welchem Sinn und Geift die einzelnen Studien zu betreiben find, 
damit fie die gewünschte ethiſche Wirkung haben können.?) 

Aber auch damit ift die erzieherische Thätigkeit des Staates 
nicht beendigt. Er will ebenjo, wie der platoniſche Staat, den 
Bürger nicht nur auf den richtigen Pfad führen, jondern ihn auch 
fernerhin auf demjelben erhalten. Er jehreibt daher ganz im Geifte 
Nlatos jedem Lebensalter, auch den Erwachjenen, bejtimmte Nor: 
men der Lebensführung durch das Gejeß vor.) Die Erziehung 
des Einzelnen durch den Staat hat als fittliche Zeitung durch das 
ganze Leben fortzudauern, und eine eigene Behörde ift zu dem 
Zwede eingejeßt, um darüber zu wachen, „daß Niemand eine der 


1) IV, 15, 4 ff. 1336a. Die oben erwähnte Kontrolle ift Sache der 
jogen. Knabenaufſeher, welchen nach jpartanischem Vorbild die Sittenpolizei 
über die ganze männliche Jugend und deren Erziehung obliegt. Dal. ebd. 
6°. 1336b. — Was dieſe Sittenpolizei über die reifere Jugend betrifft, jo 
gehört hierher das Verbot, junge Leute vor ihrer Aufnahme in die Syifitien 
(vor dem 17. Jahre?) an dem DVortrage von Jamben und der Aufführung 
von Komödien als Zuhörer oder Zufchauer teilnehmen zu laſſen. Ebd. 9. 

) Bgl. die ganz platonisch gedachten Bejchränfungen des Mufikbetriebes 
in Bezug auf die Zufäffigkeit oder Verwerflichkeit gewiſſer Inſtrumente und 
Zonarten V, 6, 4 ff. 134laf. Dazu 2, 1. 1337b über die Ausjchliegung 
„handwerksmäßiger“ Kenntniffe und Fertigkeiten. 

») Ethit X, 10. 1180a 1: ovy ixevorv d’ iows veovs övras TOOpNS 
zei Enueheies tuyeiv 0095, dA Eneıdn zei dvdowderras dei enıtndevew 
avrd zul &HiLeoIaı, za negi taira deoiued’ dv vouwv, zei OAws dj regt 
navre Tov Biov, 





III. 4. Das Fragment de3 ariftoteliichen Staatsideals. 607 


Staatlichen Drdnung zum Schaden aereichende Lebensweile führe.” !) 
Freilich gehört auch diefe Frage zu den vielen Anderen, welche in 
unjerer fragmentarifchen Darftellung nicht mehr zur Erörterung 
fommen.?) 

Diefer fragmentarifche Charakter der Überlieferung ift umfo- 
mehr zu bedauern, als gerade einige der wichtigſten Punkte, jo 
3. B. die Frage nach der Ausführbarfeit des Staatsiveals, die 
Frage nach der Regelung von Produktion und Verkehr, nach den 
für die Erwerbsitände geltenden Nechtsnormen unbeantwortet bleiben. 

Angefichts der früher gejchilderten Anſchauungen des Arifto- 
teles über Handel und Geloverfehr,?) angefichts der im Entwurfe 
des Idealſtaates mit bejonderer Entichievenheit betonten Anficht, 
daß im Intereſſe einfacher und maßvoller Sitte die Produktion und 
der Bolfsreichtum gewiſſe Grenzen nicht überjchreiten dürfe,t) wird 


1) Dieſe Forderung findet ich zwar nicht in der Darftellung des beſten 
Staates jelbft, aber fie wird unter den Maßregeln aufgeführt, welche Ari: 
ſtoteles als Lebensbedingung jeder Verfaffung erklärt. VIII, 7, 8. 1308b: 
Enel dE zai die ToVs idiovs Blovs vewreoilovew, der Euroisiv doynv tıva 
Tv Enorbouevnv Toüs Lovras dovupoows noös mv nolkıreiev, Ev uev 
Önuoxgerie noös nv dnuoxoeriev, Ev de oAıyaoyig noös tv Okıyagyier, 
ouoiws dE zui Tov aAkwv okreiov Eder. 

2) Daß auch im beiten Staate des Ariftoteles diefe Regelung de3 Lebens 
der Erwachjenen jehr weit gegangen wäre, zeigen gelegentliche Bemerkungen 
im erhaltenen Teile des Entwurfes jelbft und an anderen Stellen der Bolitie. 
3. B. die Forderung ftaatlicher Aufficht über die Frauen II, 5, 6. 1269b, 
die Anerkennung von Lurusgejegen und Mäpigkeitsvorfchriften IL, 7, 5. 1272a, 
die Beſchränkung des Singen: und Mufiziereng Erwachſener V, 4, 7. 1339b, 
die Anordnung bejonderer mufitalifcher Aufführungen für die Bürger einer- 
jeit3 und für Handwerker, Lohnarbeiter u. ſ. w. andererjeits. (Der wahrhaft 
freie Mann wird nur Mufit im höheren Stile hören, die mehr auf das Sinn— 
Yiche gerichtete Muſik, in der die Mafje ihre Erholung jucht, ift für ihn ver- 
pönt.) V.7,7.1342a. — Vgl. auch die gelegentlichen Außerungen —V—— 
6. 1331b. — IV, 15, 7. 1336b. 

3) ©. oben ©. 228. 

+) IV, 5, 1. 1326b. Nähere Ausführungen über diefe Frage werden 
einer jpäteren Erörterung über Beſitz und Bolfzeigentum vorbehalten, die wir 
leider in unſerem Texte nicht mehr befißen. 


608 Erſtes Buch. Hellas. 


man ja im allgemeinen nicht darüber zweifelhaft jein können, daß 
die Lage der wirtichaftenden Klaſſen im ariftoteliichen Idealſtaat 
eine ganz ähnliche gewejen wäre, wie im Gejeßesitaate Platos. 
Allein es wäre doc von hohem Intereſſe, wenn wir die Erörte 
rung, die er jelbjt wiederholt über diefe Dinge in Ausficht geſtellt 
hat,!) noch bejäßen. Sie würde uns ficherlich manche Züge bieten, 
die wir bei dem Vorgänger nicht finden. 

Sp hat Aristoteles — unter Hinweis auf eine jpätere aus: 
führliche Behandlung der Frage — ganz gelegentlich die Bemerkung 
gemacht, daß der bejte Staat allen Hörigen und Sklaven als Lohn 
für gutes Verhalten die Freiheit in Ausficht tell.) Schon aus , 
diefer bedeutjamen, — wie gejagt, — ganz gelegentlich hingewor— 
fenen xeformatorischen Spdee, einer dee, die — in ihren Konſe— 
quenzen durchdacht — gewiß von größter Tragweite erjcheint, können 
wir den Schluß ziehen, daß der ariftoteliiche Staat auch für die 
anderen wirtichaftenden Klaſſen in jozialteformatorischer Hinficht 
nicht unfruchtbar bleiben jollte, troß der untergeordneten Stellung, 
die er ihnen anweiſt. Und eben darauf führt uns noch eine andere 
Erwägung! 

Arijtoteles nennt einmal unter den Mitteln, durch welche eine 
fortgefchrittene Demokratie fih am beiten aufrechterhalteu laſſe, die 
Begründung eines dauernden Wohlitandes der großen Mafje des 
Volfes;3) und er jchlägt zur Erreichung dieſes Zieles überaus weit 
gehende und tiefeingreifende, ja geradezu utopifche Maßregeln vor. 
Wenn es nach Laſſalle der Staat fein foll, der mit feiner Kapital 
macht den Beſitzloſen in ihrem Ningen nach wirtjchaftlicher Selb: 
jtändigfeit zu Hilfe kommt, wenn nad) Louis Blanc der Staat der 
Banquier der Armen jein fol, jo ift es etwas ganz Ähnliches, in 
gewiſſem Sinne nur noch Nadifaleres, was Ariftoteles von dem 
demokratiichen Staatsmann verlangt, daß er nämlich die Überjchüffe 


') IV, 9, 9. 1330a und die eben genannte Stelle. 

2):1V,.9,79213308; 

°) VII, 3, 4. 1320a: dAAa dei Tov dAmdıwos dnuorızov öpev Onws 
To nAndos un Alav drogor n. 


IM. 4. Das Fragment des ariſtoteliſchen Staatsideals. 609 - 


der Staatseinfünfte verwende, um möglichſt vielen Beſitzloſen die 
Mittel zum Erwerb eines Gütchens oder wenigitens zur Begrün— 
dung eines Kramhandels, zur Übernahme einer Kleinen Feldpachtung 
zu gewähren.!) Eine Politik, zu deren Unterftügung ex weiterhin 
die Befigenden auffordert, die noch übrige Mafje der Unbemittelten 
„unter fich zu verteilen“ umd Jedem durch Überlaffung eines Eleinen 
Betriebsfapitals den Anreiz und die Möglichkeit zu jelbjtändiger 
wirtichaftlicher Thätigkeit zu geben!?) nolich "wird auf das Bei- 
jpiel der beſitzenden Klaſſe Tarents verwiejen, die durch die Ber 
teiligung der Armen an der Nutznießung ihrer Güter die lebteren 
gewiſſermaßen zu einem Gemeingut mache.) 

Nun hat allerdings Aristoteles — wie bereitS angedeutet — 
diefe Vorſchläge in dem Teile jeines Werkes gemacht, der von 
den Lebensbedingungen der radikalen Demokratie handelt, und es 
wäre daher durchaus unberechtigt, aus dem bier von ihm einge: 
nommenen Standpunft ohne weiteres darauf jchließen zu wollen, 
wie er ſich zu der genannten Frage im beiten Staate geftellt haben 
würde, der ja von dem Volksſtaat durch eine weite Kluft getrennt 
it und derartiger Maßregeln zu feiner Erhaltung überhaupt nicht 
bedürfte. Allein ganz ohne Fingerzeig läßt uns die Ausführung 
des Ariſtoteles doch nicht! ES werden nämlich jene Forderungen 
feineswegs ausſchließlich als jolche bingeftellt, denen jich die be- 
figenden Klaſſen im Volksſtaat eben nur aus politischer Klugheit 
und in ihrem wohlverftandenen Intereſſe fügen müfjen, um fich 
vor den noch weitergehenden Gelüſten des jouveränen Böbels zu 
ſchützen; die Opfer, die von ihnen verlangt werden, exjcheinen nicht 


') Ebd.: . . . TE uEv ano Tor T00000Wv yırousva ovvadgoilarras 
c900@ yon dıav&usır Tols anropoıs, udlora uev Ei Tıs Övvaraı ToooVTorv 
ovvedooidsıv 0009 Eis yndiov zımoıw, &i de un, no0S dpopunv Euroglas 
xui yEwpyias, zei El un naoı dvvarov, ahld zara puAds 9 Ti u£0og Eregorv 
Ev u£oeı diareusır. 

?) Ebd. 5: yapıEvrav Ö’ Eoti xai vovv Eyovrwv yrvooluwv zul die- 
Aaußdvovres Tods drropgovs dpoouds didovras toeneıvy En’ Eoyaoias, 

3) Ebd. und dazu oben ©. 55. 

Pohlmann, Gejch. des antifen Kommunismus u. Sozialismus. I. 39 


610 Erſtes Buch. Hellas. 


bloß als ein auf dem Boden der Demokratie unvermeidliches Übel, 
fie werden vielmehr von Ariftoteles zugleich als der Ausfluß einer 
edlen „liebreichen“ Gefinmung, als etwas Schönes und Nad)- 
ahmenswertes hingeftellt.‘) Und wir haben ja gejehen, daß 
von einem in jozialer Hinficht jo Fonfervativ gefinnten Mann, wie 
Iſokrates ganz ähnliche Ideen angeregt worden jind.?) 

Kann Aristoteles bei diefer Auffaſſung das fozialveformato- 
tische Intereſſe des beiten Staates bloß auf die herrjchende Klaſſe 
befchränft haben? Gewiß nicht! Wir dürfen annehmen, daß wir 
ihm auch hier auf den Wegen Platos begegnen würden, ob frei- 
(ih auf minder utopiſchen, das wird man angefichtS des opti- 
miftifchen Doftrinarismus, der die genannten Natjchläge für die 
Demokratie Fennzeichnet, billig bezweifeln dürfen. 


Diertes Kapitel. 
Der ſoziale Weltfinnt des Stifters der Ston. 


Aus der Neihe der Staatsideale, von denen uns nichts als 
ver Titel over einzelne völlig ungenügende Notizen erhalten find, >) 


5) yaoıEvıwv Eori! — zahAos d' Eyeı wiueiodaı zei mv TWv 
Tagervtivov aoyyv zur. heißt es an der genannten Stelle. 

5) ©. oben ©. 56 und 141. 

) Ariftoteles (II, 4, 1. 1266a) erwähnt eine ganze Litteratur der Art, 
von der er im allgemeinen bemerkt, daß fie zwar Reformen in Bezug auf die 
Verteilung des Beſitzes enthält, aber feine jo radikalen Neuerungen, wie die 
beiden platonifchen Staatzideale, Frauen» und Kindergemeinjchaft u. ſ. w. 
Eine Äußerung, die allerdings jchon nicht mehr für das Staatsideal Zenos 
zutrifft. — eioi dE Tives nosıreien zei dhheı, al uv YıLhooogwr zul 
idiwrov ai dE nokırızov, naceı DE TWv zaFeoınzVWv zul zu9” &s nokt- 
Tevovraı vöy Eyyvreoov Eioı ToVTWwv dugporigwv , ovVdeis Ya ovre mv 
negl TE Teva xowörnte zul Tas yuvalzas GAAogs KEREIVOTOUNKEV, OVTE 
negl TE 0ovoolta Tov yvvaızov, EAN uno TWv dvayzaeiov doyovrau 
u@Akoy . doxet ydg Tioı To eol Tas oVoias Eivaı ueyıorov terdydau zahös. 





IV. Der joziale Weltjtaat des Stifters der Stoa. 611 


erhebt ſich der „vielbewunderte” :) Sozialftaat des Stifters der 
Stoa, über den wir wenigjtens jo viel wiſſen, daß wir ihn in die 
Kette ſozialphiloſophiſcher Gedankenſyſteme als ein neues bedeut— 
James Glied einfügen können. 

Allerdings ſcheint auch hier in Beziehung auf den prinzi- 
piellen Kern der Theorie ein Fortſchritt über die platoniſch-ariſto— 
teliihe Sozialphilojophie hinaus nicht vorzuliegen. Wenigſtens 
berührt ich nach der Anficht Plutarchs der Staat Zenos in feinen 
Grundprinzipien unmittelbar mit dem Sozialismus des Iyfurgifchen 
Sparta und dem Spealftaate Platos. Auch Zeno ſoll ausgehend 
von der Koinzivenz der Tugend und Glückſeligkeit die Sittlichfeit 
als Staatszweck aufgeftellt und damit zugleich das platonische Ein- 
heits- und Gemeinjchaftsprinzip verbunden haben. Die rodıreias 
vrodecıs ſei hier wie dort diejelbe.?) 

tan könnte vielleicht fragen, ob wir berechtigt find, auf 
dieſes Zeugnis hin die dogmengejchichtliche Stellung der Staat: 
und Sozialtheorie Zenos zu beſtimmen. Plutarch war gewiß nicht 
der Mann dazu, ſozialphiloſophiſche Theorien auf die ihnen zu 
Grunde liegenden Ideen methodijch zu prüfen, ihren ethischen Kern 
mit kritiſcher Schärfe zu erfaflen; und es fragt fi, ob er bei 
feiner Gleichſtellung Platos und Zenos mehr die leitenden und 
treibenden Seen des Syſtems im Auge hat oder die praftiichen 
Ziele, in denen fih Zeno mit Plato inſoferne nahe berührt, als 
auch er vor Forderungen, wie der Bejeitigung des Geldes, der 
Frauen- und Kindergemeinschaft nicht zurüchcheut.?) 


!) 7 noAd Savualouevn nolıreia tod Zmvovos. Plutarch De Alex. 
fort. I, 6. 

2) Lykurg 31: (Avzoveyos) worreg Evös dvdgos Pi zai noAsws OAns 
vouißwv evdaıuorviev an’ doeıms Eyyiyveodaı xal Ouovolas NS 1g05 @ü- 
Tıv, 005 Toro ovrerafe zwi ovymguooer, unms ELEUFENLOL zul AUTEOXEIS 
yervousvor Kal oWgoovoVvres Eni nAelorovr yo0vov dieteiWor . Tavınv zul 
IMdrwv Ehaße Ts nohıreiag ÜnosEoıv xai Avoyerns zei Zyvwv xai navres 
6001 TI NEQl TOVTWV ENLyELONOaVTES EINELIV ENGLVODVTAL. 

3) Freilich wiſſen wir nicht, welche Geftalt diefe Forderungen bei Zeno 
annahmen. Wenn nach Divgen. Laert. (VII, 132) im Staate Zenos, wie in 

39* 


612 Erſtes Bud. Hellas. 


Doch jpricht allerdings das, was wir ſonſt von der Spztal- 
philofophie der Stoa wiſſen, im wejentlichen für die Auffaffung 
Plutarchs. Gerade die Gemeinschaftsivdee wird hier mit bejon- 
derer Entjchievenheit betont. Das Gejeß der Natur, welches zu: 
gleich das der Vernunft und daher für alle vernunftbegabten Weſen 
ein und dasjelbe ift, verbindet diejelben zu einer idealen Einheit, 
indem es ihnen allen diejelben fittlichen Ziele ſteck. jeder Ein: 
zelne hat ſich daher als Teil eines großen, innerlich zujammen- 
gehörigen Ganzen, als Glied einer Gemeinjchaft zu fühlen. Der 
Trieb nach Gemeinſchaft ift allen Bernunftwejen geradezu einge: 
boren, fie ift ein Gebot der Natur. 

Die antisindividualiftiiche Tendenz dieſer Auffaffung liegt 
far zu Tage Schon der abjolute „Kanon“ des Natur: und 
Vernunftgefeßes, welches die Grundlage diefer Gemeinschaft bildet, 
fordert unbedingte Unterwerfung alles individuellen Wollens und 
Denfens. Es wird von — definiert als „der König über 
göttliche und menſchliche Dinge, der Fürſt und Herrſcher über 
Rühmliches und Verwerfliches, die Richtſchnur für Gerecht und 
Ungerecht, der Gebieter über Thun und Laſſen der von der Natur 
zur ſtaatlichen Gemeinſchaft geſchaffenen Wejen.“?) Eine Begriffs: 


dem des Chryfippus Diejelbe Frauengemeinjchaft verwirklicht werden jollte, 
wie im platonifchen Staate, und wenn dieje Gemeinjchaft zugleich eine der: 
artige jein jollte, wore Tv Evrvyorre tn Evrvyovon zonoseı, jo liegt das 
Verkehrte dieſes Berichtes auf der Hand. Sein Bf. gehört zu denen, bon 
welchen Lucian (Fugitiv. 18) jpricht al® den ovx eidores Onws 6 leoos 
Exeivos (d. h. Plato) 7£lov xoıwvas nyeloder tag yuveizas. Gntweder trat 
hier Zeno in die Fußftapfen Platos, dann kann ex nicht in der genannten 
Weiſe die freie Liebe gepredigt haben, oder er that das Lebtere, dann ift fein 
Standpunkt hier ein anderer als der platonijche. 

') Seneca ep. 95, 32: membra sumus corporis magni . natura nos 
cognatos edidit. 

?) Fr. 2 Dig. De lege. 1, 3: ö vouos erıwv £oti Baoıheis Yelov 
TE xal rögwnirwr noayudıov' dei dE autor —— TE Eivaı ν 
zehov zei Tav aioyoWv zei doyovra zai nysuorve, zal zate ToVTo zavor [04 
TE eivaı dixaiwv zei adizwv zei tor Dauer nolrızaov Iowr TEOOTEKTIXOV 
uev or nLoLmteov ENa@yogevrırov de wrv oð nomtéov. 





IV. Der joziale Weltitaat des Stifter der Stoa. 613 


bejtimmung, deren Bedeutung der römiſche Staatsabjolutismus 
jehr wohl erkannte, als er ſie für jeine Kodififation des Nechtes 
verwandte. Allerdings iſt es ein tendenziöfer Mißbrauch, wenn 
bier der ftoische Begriff des „Geſetzes“ ohne Weiteres auf das 
pofitive Necht des einzelnen gejchichtlichen Staates übertragen und 
für dieſes genau diejelbe Allgewalt in Anjpruch genommen wird, 
wie für jenes, obgleich doch gerade jenes „ewige Gejeß” der Stoa 
das Individuum unter Umftänden geradezu zur Auflehnung gegen 
das Gejeß des beitehenden Staates berechtigt. Allein für die 
prinzipielle Auffallung fommt das nicht in DBetradt. Im 
„beiten“ Staate, in welchem das Vernunftrecht eben wirklich ans 
erfanntes Necht geworden, it es in der That der abjolute Bes 
herrſcher alles individuellen Lebens und Strebens. Hier gibt es 
nirgends einen Gegenjab des Willens der Einzelnen gegen den der 
Gemeinschaft. 

Natürlich gewinnt nun aber auch die Gemeinschaft ſelbſt 
von diefem Standpunft aus eine ganz bejondere Bedeutung für 
das Leben der Einzelnen. Das Recht der Gefellichaft, die Pflicht 
des Individuums ihr gegenüber wird mit aller Entjchiedenheit 
jeinen perjönlichen Spnterefjen und Anjprüchen vorangejtellt. Der 
Einzelne erſcheint auch bier ganz wejentlich zugleich um der Anderen 
und um des Ganzen willen da,!) wird betrachtet als Dienendes 
Drgan?) des jozialen Drganismus. Er fann nicht für ſich leben, 
ohne für andere zu leben;?) und der „Weiſe“ ift daher für die 





!) Cicero De fin. II, 19 (64): mundum autem censent regi numine 
deorum eumque esse quasi communem urbem et civitatem hominum et 
deorum, et unumquemque nostrum ejus mundi esse partem, ex quo 
illud natura consequi, ut communem utilitatem nostrae anteponamus. — 
III, 20 (67): praeclare enim Chrysippus, cetera nata esse hominum causa 
et deorum, eos autem communitatis et societatis suac ete. Vgl. Mark 
Aurel IX. 23. 

2) Ein organisches Glied (ein weios, nicht bloß ein weoos) an dem 
gemeinjamen Leibe des gejellichaftlichen Ganzen. Marf. Aurel. I, 1. VIL, 13. 

®) Seneca 47, 3: alteri vivas oportet, si vis tibi vivere haec 
societas . . . nos homines hominibus miscet etc. 


614 Erſtes Buch. Hellas. 


Stoa „niemals Brivatmann“.!) Er fühlt fich jo jehr als ein orga- 
niſches Glied des auf möglichite Vervollkommnung?) gerichteten 
Lebensprozefjes der Gattung, daß er es als eine unabweisbare 
Pflicht anerkennt, „auch für die kommenden Gejchlechter um ihrer 
jelbjt willen Sorge zu tragen;” eine Forderung, die ſich ja aus 
der organifchen Staats und Gejellichaftstheorie von ſelbſt ergibt.3) 
Ebenfo ift es durchaus im Geijte diefer Theorie, wenn — in fajt 
wörtlichem Anſchluß an die joziale Ethif des Ariftoteles — die 
Gerechtigkeit als die wejentlih auf die Gemeinschaft bezügliche 
Tugend formuliert wird, wenn fie und die Menfchenliebe als die 
grundlegenden jozialen Tugenden hingeſtellt werden, welche „die 
menschliche Gejellichaft zulammenbalten.“t) 

Man wird wohl annehmen dürfen, daß dieſe die ganze Schule 
beherrichenden Anſchaungen bereitS dem Staatsideale des Stifters 
der Stoa zu Grunde lagen. Zwar joll Zeno bei der Abfafjung 
jeiner PBolitie noch halb im Lager des Cynismus gejtanden jein,?) 
jo daß man wohl zunächſt an eine mehr individualiftiiche Färbung 
jeiner Lehre denken könnte. Allein es entjpricht doch ganz dem 
angedeuteten Ideengang der ſtoiſchen Sozialphilojophie, wenn es 
bei Zeno von der bürgerlichen Gejellihaft heißt, daß fie im Ideal— 
ftaat ein durchaus „einheitliches“ Leben führt, einen Kosmos dar: 
jtellt, wie eine friedlich zufammenweidende Herde, daß es der Eros 
it, welcher diefe Gemeinschaft mit zufammenhält.‘) 








') Bgl. den ftoifchen Spruch bei Cie. Tuse. IV, 23 (51): nunquam 
privatum esse sapientem. 

?) Die Entjcheidung der Frage, ob fich der Weiſe am Leben des be- 
ftehenden Staates beteiligen joll, ift davon abhängig, ob in demjelben ein 
Sortjchritt zur Bollfommenheit wahrzunehmen ift. Stob. Ecl. II, 186. 

3) Dev Gipfel der Verruchtheit ift für die Stoa das apres nous le 
deluge, daS Euod Farovros yale wrIHTto vgl des extremen Jndividualis- 
mus. ©. Cicero De fin. III, 19 (64). 

Cie Derotalsueon: 

5) Diog. Laert. VII, 4. 

°) ©. die oben ©. 116 Anmerk. 1 u. 2 angeführten Stellen des Plu- 
tarch und Athenäus. 








IV. Der foziale Weltitaat de3 Stifter der Stoa. 615 


tan ſieht, al das führt uns prinzipiell kaum über die ältere 
Sozialphilofophie hinaus, es ift diefelbe Überfpannung des Ge- 
meinjchaftsprinzips, die uns. hier wie dort entgegentritt. Wenn 
wir trotzdem den Idealſtaat Zenos als eine neue und beveutjame 
Erſcheinung bezeichnet haben, jo liegt das daran, daß bier der 
Sozialismus eine ganz andere geichichtliche Stellung erhält, als 
bisher. 

Der platonijch-ariftoteliiche Idealſtaat hält fich durchaus inner- 
halb der Schranken nationaler Abjonderung. Er will in mehr 
oder minder jtrenger Abgeſchloſſenheit der eigenen Vollendung leben. 
Mag jenjeitS feiner Grenzen „ver Krieg Aller gegen Alle” Die 
Signatur des menschlichen Dajeins bilden, wenn nur er jelbft in 
jeinem Inneren vom Kampf zum Frieden gefommen tft und dadurch 
zugleich die Kraft gewonnen hat, in den auch ihm nicht erſpart 
bleibenden Kämpfen mit der feindlichen Außenwelt feine Erijtenz 
zu behaupten. 

Das Fonnte nicht das legte Ideal und Ziel einer Epoche 
bleiben, in welcher fich jener gewaltige Vereinigungsprozeß der 
damaligen Kulturmenjchheit vollzog, der eben in ver Zeit Zenos — 
mit der Verſchmelzung von Drient und Deeident beginnend -—- im 
römischen Weltftaat endete. Zeno, deſſen Wiege auf einem Boden 
geftanden, in welchem ſich hellenifches und orientalijches Volkstum 
auf. das Engſte berührte, Zeno, der vielleicht ſelbſt feiner Abſtam— 
mung nach zweien Nacen angehörte, war recht eigentlich dazu be: 
rufen, die Schranken zu durchbrechen, welche das Einheits- und 
Gemeinjchaftsprinzip der antiken Sozialphilojophie bis dahin ſich 
ſelbſt geftect hatte.) Zwar hat er den Gedanken des Weltbürger- 
tums an fich bereit vom Eynismus überfommen, allein das Haupt- 
interefje ift bei dem leßteren doch offenbar ein ganz einjeitig indi— 
vidualiftiiches, nämlich das Beitreben des Philoſophen, die Feſſeln 
der bejtehenden gejellichaftlichen und ſtaatlichen Ordnungen abzu- 


1) Auf dieje Differenz wird ſich wohl in erſter Linie beziehen, was 
Plutarch von Zeno jagt: avreygawe ,. . 7905 mv IMerwvos nolıreier, 
De Stoicorum rep. 8, 2. 


616 Erſtes Buch). Hellas. 


fteeifen, für das Individuum eine größere Freiheit der Bewegung, 
die Möglichkeit zum ſchrankenloſen Ausleben jeiner Eigenart zu 
gewinnen. Eine Tendenz, die ja auch im Stoicismus feineswegs 
fehlt, — iſt doch deſſen Intereſſe an der Heranbildung der Einzel- 
perjönlichkeit zu dem Ideale des Weifen ein ausgeprägt individua- 
Kiftifches, — Die aber doch von Anfang an fich mit der Gemein: 
Ichaftsidee verbindet, mit der dee eines fozialen Kosmos, deſſen 
Weſen eben die Drdnung und Gebundenheit ift. 

Indem Zeno den gejellfchaftlichen Organismus feines Ideal— 
Staates als Kosmos bezeichnet, gibt er dem vein negativen und 
individualiſtiſchen Ideal des Cynismus einen pofitiven und zugleich 
ausgeprägt joztaliftiichen Inhalt. Er will die Sonderungen durd) 
die fommunalen, politiichen, nationalen Schranken, die Verſchieden— 
heiten in Necht und DVerfaffung nicht bloß darum bejeitigen, die 
Menschen nicht bloß darum zu Bürgern Eines Staates machen, 
weil die volle Entfaltung der Perjönlichkeit im Sinne des ftoischen 
Ideals duch die Sprengung jener engeren Verbände begünftigt 
würde, jondern e3 it ihm dabei gleichzeitig ebenfofehr darum zu 
thun, fie alle einer höheren objektiven Lebensordnung zu unterwerfen 
und durch die aus der Unterordnung unter „Ein Geſetz“ hervor: 
gehende Willensgemeinfchaft zu einer fozialen Lebensgemeinfchaft, 
alles individuelle zu jozialem Leben zu verichmelzen. Das Gemein: 
Ichaftsprinzip ift es, welches hier in dem Einheitsitaat der Gattung 
jeinen höchſten Ausdrud findet. Die zomrwori« der älteren Staats: 
ideale joll ſich zu einer alljeitigen Gemeinfchaft des ganzen Menſchen— 
gejchlechtes erweitern, der Eine Menjchheitsitaat zugleich der Spzial- 
jtaat der Zukunft fein. Und innerhalb diefer Gemeinschaft ſoll 
ſich hinwiderum die abſolute Einheitlichfeit alles ſozialen Lebens 
verwirklichen, dank dem Alles beherrfchenden und Alles umfaffenden 
Walten des Geſetzes der Vernunft, welches nicht zuläßt, daß die 
Entwidelung des fozialen Ganzen durch individuelle Willfür ge: 
jtört werde. 


) Plutarch De Alex. fort. I, 6, 








IV. Der joziale Weltitaat des Stifter3 der Stoa. 617 


Alles das erinnert an Ideen, wie fie uns im modernen 
Sozialismus in dem Gottesreich Fichtes, in der association uni- 
verselle Saint Simons und in dem jozialen Weltitaat von Nod- 
bertus entgegentreten, in welchem die Menjchheit zum Gipfelpunft 
ihres Dafeins emporfteigen joll, indem fie zu einer immer innigeren 
Verihmelzung der Individuen mit dem Lebensprozeß der Gattung 
fortichreitet. Freilich mit dem Unterjchied, daß die „Eine Gejell- 
ſchaft“ dieſes modernen Sozialismus als eine ftreng vrganifierte 
Gemeinjchaft gedacht ift, während das Zufunfsideal der Stoa zurüc- 
weit auf jtaatsloje Zuftände und völlig in Eins zujammenfließt 
mit der Vorftellung jenes idealen Naturzuftandes, für den es feines 
anderen als des natürlichen Rechtes bedarf. Denn diejes natür- 
liche Recht ift im Einklang mit den Gejegen der Natur, wie mit 
denen der Vernunft, welche das Weltganze beherrſcht und feinen 
Lauf beftimmt. Die Herrichaft des Naturrechtes ift daher iventijch 
mit der des ethiichen Gejeßes, wie des Vernunftgejeßes, das eben 
fein anderes jein kann, als dasjenige, welches in der Natur der 
Dinge jelbit liegt. Daher gibt es in diefem Zuftand der harmo- 
nischen Übereinftimmung des Lebens der Gefellfchaft mit der all: 
gemeinen Weltordnung feinen Gegenjaß gegen das Sittengejeß, 
feine Kriminalität. Der bejte Staat — jagt Zeno — bat feine 
Gerichtshöfe. Das als erfanntes Naturgefeß in den Gemütern 
(ebendig gewordene Gejeß der Vernunft wirkt als allgewaltiges 
organifierendes Prinzip, unter deſſen Herrſchaft ſich alles individuelle 
Leben zu einem fich jelbjt ordnenden Kosmos harmonijch zufammen- 
jcehließt, widerjtrebende Tendenzen von vorneherein nicht auffommen 
können. 

Eine reine Phantasmagorie, durch welche das ganze Staats— 


1) Dabei bleibt freilich der Widerſpruch ungelöſt, daß auch in dieſem 
idealen Staate „Weiſe“ und Thoren fich ebenjo gegenüberftehen, wie in der 
Wirklichkeit, und dat die Forderung, alle Menjchen als Mitbürger gelten 
zu lafjen, am Ende wieder dahin modifiziert wird: Nur die „Weiſen“ fünnten 
im eigentlichen und wahren Sinne als Freie und Bürger anerkannt werden, 
Diog. Laert. VII, 33. 








618 Erſtes Buch. Hellas. 


ideal auf das Innerliche und Unfinnliche geftellt wird; was ja 
noch weiterhin feinen Ausdrucd darin findet, daß in diefem Staat, 
wie dag Necht Feiner Gerichtshöfe, jo der Gottesdienft feiner Tempel, 
die Erziehung feiner Gymnaſien, der Verkehr Feines Taufchmittels 
bedürfen fol.) ES verflüchtet ſich hier alles ins Unbejtimmte und 
Nebelhafte. Der jpefulative doftrinäre Geift des extremen Sozia- 
lismus bat mit der Idee des jozialen Menjchheitsitaates einen 
Höhepunkt erflommen, auf dem fich die Wirklichkeit und die Be 
dingungen realer Geftaltung der Ideen jeinen Bliden völlig ent 
zogen haben. Das utopijche Element im Sozialismus, jein un— 
widerftehlicher Drang, ſich in unermeßliche Berjpektiven zu ver 
lieren, hat den denkbar reinſten Ausdrud gefunden. 


!) Diog. Laert. ebd. ©. oben ©. 115. 














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